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German Pages 502 [504] Year 2022
thomas tschögele
Die Erzählungen des Valerius Maximus
Universitätsverlag
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Heidelberg
bi bli oth ek d er klassisc hen a ltertu m sw is s ens cha f t en Herausgegeben von
j ürg en paul sc h w i n dt Neue Folge · 2. Reihe · Band 165
thomas tschögele
Die Erzählungen des Valerius Maximus
Universitätsverlag
winter
Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
umschlagbild Valerius-Maximus-Handschrift von Albrecht von Eyb, geschrieben 1449–51 Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 2° Cod 104
d 188
isbn 978-3-8253-4919-6 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2022 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier. Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de
Vorwort Dieses Buch ist die leicht bearbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2021 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Sie versteht sich als Beitrag zur Wiederentdeckung eines Werkes, das in der Renaissance zu den meistgelesenen und -geschätzten der antiken Literatur zählte, seither aber ein unverdientes, sich erst in den letzten drei Jahrzehnten langsam wieder aufhellendes Schattendasein fristet. Der Weg zum Verständnis seiner Besonderheit führt – so die meinem Ansatz zugrundeliegende Überzeugung – weniger über die Suche nach originellen Aussagen als über eine Auseinandersetzung mit der formal-gestalterischen Seite. Darum wird im Folgenden (nach einer allgemeinen Einführung in das Werk) eine umfassende erzähltechnische und strukturelle Analyse vorgelegt, die in zwei Hauptteilen und einer Schlussbetrachtung vom mikrostrukturellen Detail zu einer gattungstheoretischen und literarhistorischen Neubewertung fortschreitet. Für die Betreuung dieser Arbeit möchte ich Frau Prof. Dr. Melanie Möller herzlich danken, die ihr Entstehen mit Interesse und Sympathie begleitet und durch kritische Lektüre und weiterführende Fragen viele wichtige Verbesserungen angeregt hat. Gleiches gilt für Herrn Prof. Dr. Bernd Roling, der freundlicherweise bereit war, das Zweitgutachten zu übernehmen. Beiden danke ich auch für die Gelegenheit, mein Projekt in verschiedenen Stadien seiner Ausführung in den latinistischen Forschungscolloquia zur Diskussion zu stellen. Meine Auseinandersetzung mit [eorie und Praxis der Anekdote profitierte von mehreren Tagungen und Workshops des an der Freien Universität angesiedelten DFG-Teilprojekts Die Anekdote als Medium des Wissenstransfers, die von Melanie Möller, Sophie Buddenhagen und Matthias Grandl organisiert wurden. Herrn Matthias Grandl danke ich überdies für die großzügig gewährte Einsicht in seine noch unpublizierte Dissertation. Den Anstoß zur Beschäftigung mit Valerius Maximus gab mir Michael von Albrechts Geschichte der römischen Literatur, die mich auf das Potential einer formalen Untersuchung seines Werks aufmerksam machte und deren Fazit „Valerius Maximus bleibt zu entdecken“ ich als Einladung verstand. Das Land Berlin hat mein Promotionsvorhaben mit dem Elsa-Neumann-Stipendium gefördert. Für die Aufnahme des Ergebnisses in die Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften bin ich Herrn Prof. Dr. Jürgen Paul Schwindt (Heidelberg) dankbar.
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Vorwort
Einen wesentlichen Anteil am Zustandekommen dieser wie aller meiner Forschungsarbeiten haben meine akademischen Lehrer während meines Studiums in Wien, besonders Herr Prof. Dr. Hartmut Wulfram und Frau Prof. Dr. Danuta Shanzer; auch ihnen möchte ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen. Der wichtigste Beitrag von allen war jedoch die langjährige Förderung durch meine Eltern, die mir in mehr als einem Sinne die wissenschaftliche Tätigkeit möglich gemacht hat. Ihnen sei diese Arbeit gewidmet.
Inhalt Einleitung
I
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1 Geschichte des Werks 1.a Autor und Datierung 1.b Überlieferung und Druckgeschichte 2 Grundlagen des Werks 2.a Quellen 2.b Intention 3 Gestalt des Werks 3.a Sprache und Stil 3.b Aufbau des Gesamtwerks 3.c Anekdotizität der Einzelerzählungen
11 11 15 20 20 24 25 25 30 42
Die Anekdoten
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1 Ordre 1.a Häufigkeit der Anachronien 1.b Prolepsen vs. Analepsen 1.c Umfang der Anachronien 1.d Ausgangspunkte und Verschachtelung 1.e Reichweite und Ausdehnung 1.f Intern vs. extern 1.g Partiell vs. komplett 1.h Homo- vs. heterodiegetisch 1.i Funktionen und Faktizität 1.j Diegetischer vs. narrativer Ursprung 1.k Sprachliche Form 2 Durée 3 Fréquence 4 Mode (Distanz und Perspektive) 5 Voix (Erzähler und Erzählsituationen) 6 Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky 6.a Abstract 6.b Orientierung 6.c Komplikation 6.d Evaluation
58 63 64 65 67 69 72 76 78 80 86 101 104 111 120 132 145 153 156 162 163
Inhalt
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6.e Ergebnis 6.f Coda 6.g Narratives Gerüst 6.h Fazit 7 Vergleiche 7.a Historische Groß- und ovidische Kleinerzählung 7.b Apophthegma und Exemplum 7.c Parallelstellen bei Cicero und Livius 7.d Die Anekdotensammlungen Plutarchs und Aelians II Die Kapitel 1 Übergangstechnik 1.a Umrahmung 1.b Personengleichheit 1.c Vorgeschichte 1.d Abwesenheit oder Abweichung 1.e Genealogie 1.f Sonstige Beziehungen zwischen Personen 1.g Ortsgleichheit 1.h Bewegung 1.i Gleichzeitigkeit 1.j Zeitliche Abfolge 1.k Kausale Folge 1.l Ausbleiben einer Reaktion 1.m Ähnlichkeiten in [ema und Handlung 1.n Gegensätzlichkeit 1.o Einzelne Dinge oder Begriffe 1.p Übergangsfiguren und -erzählungen 1.q Extradiegetisches 1.r ‚Mechanische‘ Verknüpfung 1.s Isolation 1.t Gesamtbild und ergänzende Vergleiche 2 Anordnung der Anekdoten 3 Das Kapitel als typologisch-episodische Erzählung 3.a Typologie 3.b Episodizität 3.c Literarhistorische Vergleiche 3.d Erzählstruktur des Kapitels 4 Das Kapitel als historisch-moralische Diskurseinheit
171 174 175 176 178 180 195 200 213 221 223 236 237 239 241 241 243 244 245 246 247 248 249 249 254 256 257 260 262 262 262 272 306 307 312 313 328 332
Inhalt
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Schlussbetrachtung. Valerius Maximus und das Potential der Anekdote
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Anhang
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1 Auswahlcorpus 1.a Aufbereitung nach Genette (für die Kapitel Ordre und Durée) 1.b Aufbereitung nach Labov/Waletzky 2 Liste der Übergänge Zitierte Literatur 1 Editionen und Übersetzungen 1.a Valerius Maximus (und Epitomai) 1.b Autoren der klassischen Antike 1.c Sonstige Autoren 2 Sekundärliteratur (inkl. Kommentare)
367 367 425 458 467 467 467 468 471 474
Einleitung 1
Geschichte des Werks
1.a
Autor und Datierung
Valerius Maximus ist uns nur aus seinem eigenen Werk bekannt. Die relevanten Stellen erlauben auch nicht, sein Leben oder seine Herkunft genau zu rekonstruieren, sondern geben nur wenige punktuelle Einblicke. In der einzigen Anekdote, in der er selbst als handelnde Person auftritt (2,6,8),1 reist er mit einem Sextus Pompeius nach Kleinasien. Die Anekdote spielt in Iulis auf Keos, der (abgesehen von Makronisos) der attischen Küste nächstgelegenen Kykladeninsel, wo sie auf dem Wege Halt machen – und Zeugen des Selbstmords einer alten Frau werden, die die Präsenz des offensichtlich prominenten Römers Pompeius als Ehre empfindet (mortemque suam Pompei praesentia clariorem fieri magni aestimaret2). Dies passt zur von der Forschung fast einhellig3 vertretenen 1 2
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Siehe auch unten S. 240 und 246 sowie bei Fn. 311, 772 und 842. Die Textzitate hier und in den weiteren einleitenden Abschnitten (sowie der Schlussbetrachtung, unten S. 353–366) folgen der Edition von John Briscoe, Valeri Maximi Facta et dicta memorabilia, 2 Bde., Bibliotheca Teubneriana, Stuttgart 1998; die von D. R. Shackleton Bailey, Valerius Maximus: Memorable Doings and Sayings, 2 Bde., Loeb Classical Library, Cambridge, Mass. 2000, wurde verglichen und stimmt an allen zitierten Stellen (bis auf orthographische Details) überein. Siehe zu den Editionen unten S. 18f., zu ihrer Verwendung in den beiden Hauptteilen dieser Arbeit unten Fn. 176 und bei Fn. 647. Valerii Maximi Factorum et dictorum memorabilium libri novem cum incerti auctoris fragmento De praenominibus, hg. von Carolus Kempfius, Berlin 1854, S. 3f., Giovanni Comes: Valerio Massimo, Rom 1950, S. 7f., Rudolf Helm: Valerius, Nr. 239, in: RE VIIIA.1 (1955), Sp. 90–116, hier 90, Konrad Gries: Valerius – Maximus an Minimus?, in: CJ 51 (1956), S. 335–340, hier 336, Brent W. Sinclair: Valerius Maximus and the Evolution of Silver Latin, Diss. Univ. of Cincinnati 1980, S. 2, Ronald Syme: History in Ovid, Oxford 1978, S. 161f., G. Maslakov: Tradition and Abridgement. A study of the exempla tradition in Valerius Maximus and the Elder Pliny, Diss. Macquarie Univ., Sydney 1978, S. 135, und Valerius Maximus and Roman Historiography. A Study of the exempla Tradition, in: ANRW II.32.1 (1984), S. 437–496, hier 456f., John Briscoe, Some Notes on Valerius Maximus, in: Sileno 19 (1993), S. 395–408, hier 399f., und Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia, Book 8. Text, Introduction, and Commentary, Berlin 2019, S. 2f., Valère Maxime: Faits et dits mémorables, hg. und übers. von Robert Combès, 2 Bde. [nur Bücher 1–6], Collection des Universités de France, Paris 1995/97, Bd. I, S. 8, Clive Skidmore: Practical Ethics for Roman Gentlemen. Se
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Einleitung
Identifikation des Sextus Pompeius mit dem gleichnamigen Konsul von 14 n. Chr., der Ovid auf seiner Reise in die Verbannung 8 n. Chr. unterstützt hatte (weshalb Ovid im Konsulat des Pompeius einen Grund zur Hoffnung sah).4 Valerius Maximus geht auf seine Freundschaft mit Pompeius auch noch an anderer Stelle ein, am Ende des Kapitels De amicitia (4,7, ext. 2), wo er ihn mit Alexander und implizit sich selbst mit Hephaistion vergleicht. Aus seiner Würdigung geht hervor, dass er dem inzwischen Verstorbenen viel verdankt – darunter auch die Möglichkeit zur „glänzenderen und muntereren“ Entfaltung seiner Studien – und dass er um diese Freundschaft von anderen beneidet wurde.5 Beides klingt nach Mäzenatentum im vollen – auch materiellen – Sinn, was das Bekenntnis zu einem paruolus census in 4,4,11 (am Ende des Kapitels De paupertate) glaubwürdig erscheinen lässt. Sowohl der unmittelbare Kontext6 als auch der ganze Kapitelinhalt machen aber klar, dass es sich nur um ein Bekenntnis zu geringem Vermögen, nicht zu niedriger sozialer Herkunft handelt.7
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Work of Valerius Maximus, Exeter 1996, S. xv, Andreas Weileder: Valerius Maximus. Spiegel kaiserlicher Selbstdarstellung, München 1998, S. 27, Shackleton Bailey in seiner Edition, Bd. I, S. 1, Andrea jemann-Steinke: Valerius Maximus. Ein Kommentar zum Zweiten Buch der Facta et Dicta memorabilia, Trier 2008, S. 16–28, und Emily Gowers: Dangerous Sailing. Valerius Maximus and the Suppression of Sextus Pompeius, in: CQ 60 (2010), S. 446–449, hier 447, Anm. 7. Dagegen C. J. Carter: Valerius Maximus, in: Empire and Aftermath. Silver Latin II, hg. von T. A. Dorey, London 1975, S. 26–56, hier 31f., und Jane Bellemore: When did Valerius Maximus write the Dicta et Facta Memorabilia?, in: Antichthon 23 (1989), S. 67–80, hier 76 (mangels Erwähnung von Ämtern und der entfernten Verwandtschaft mit Augustus), tendenziell auch D. Wardle: Valerius Maximus. Memorable Deeds and Sayings. Book 1, Oxford 1998, S. 1f. Ov. Pont. 4,1; 4,4–5; 4,15. Siehe zu ihm generell Syme, S. 156–168. […] clarissimi ac disertissimi uiri promptissimam erga me beniuolentiam expertus. […] a quo omnium commodorum incrementa ultro oblata cepi, per quem tutior aduersus casus steti, qui studia nostra ductu et auspiciis suis lucidiora et alacriora reddidit. itaque paui inuidiam quorundam optimi amici iactura, uidelicet quia fructu torseram, non quidem meo merito, gratiam meam, quantacumque fuit, cum iis qui ea uti uoluerunt partitus. Entgegen jemann-Steinke, S. 27, ist aus dem Begriff auspicia nicht abzuleiten, dass die Studien des Valerius Maximus gerade während des Konsulatsjahrs des Pompeius Fortschritte gemacht (und die Vorarbeiten zu seinem Werk also schon vorher begonnen) hätten. Haec igitur exempla respicere, his adquiescere solaciis debemus, qui paruolos census nostros nunquam querellis uacuos esse sinimus. nullum aut admodum parui ponderis argentum, paucos seruos, septem iugera aridae terrae, indigentia domesticae impensae funera, inopes dotum filias, sed egregios consulatus, mirificas dictaturas, innumerabiles triumphos cernimus. Vgl. auch die distanzierend wirkenden Bezugnahmen auf Gewerbetreibende in 5,2,10 (nulli alii rei quam quaestui uiuentes), Kleinstädter und Söhne von Freigelassenen in 6,2,8 (municipali homini, seruitutem paternam redolenti) und Zenturionen in 3,8,7; zur Frage der Relevanz solcher Stellen für das intendierte Publikum siehe unten Fn. 304.
Geschichte des Werks
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Die Abfassung der Facta et dicta wird mehrheitlich in die späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre n. Chr. datiert,8 unter Berufung auf 6,1, praef., wo die im Jahr 29 verstorbene Livia als lebend behandelt wird, und 9,11, ext. 4, wo der im Herbst 31 entmachtete Sejan als Mörder und Hochverräter auftritt. Allerdings wird keine der beiden Personen von Valerius Maximus eindeutig identifiziert, weshalb es auch Gegenvorschläge gibt. In 6,1, praef. wird der Name Iulia gebraucht, der
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Die von Skidmore: Practical Ethics, S. 115, jemann-Steinke, S. 16, und Heiko Sebastian Westphal: Valerius Maximus on Moderatio. A Commentary on Facta and Dicta Memorabilia 4.1, Diss. Univ. of Western Australia 2018, S. 16, herangezogene Stelle 5,5, praef., wo von Ahnenmasken die Rede ist – was auf vornehme Herkunft hindeuten würde, auch wenn sie vielleicht nicht wirklich ein Privileg von Amtsträgern ab dem kurulischen Ädil waren (siehe Wilhelm Kierdorf: Imagines maiorum, in: DNP 6, 1998, Sp. 946f.) –, ist nicht auf den Autor zu beziehen, sondern eine generelle Formulierung von Gründen, warum man sich seinem Bruder verbunden fühlen kann (Hanc caritatem proximus fraternae beniuolentiae gradus excipit: […] quam copiosae enim suauitatis illa recordatio est: in eodem domicilio antequam nascerer habitaui, […] parem ex maiorum imaginibus gloriam traxi!; in diesem Sinne schon Weileder, S. 26, Anm. 123, und Shackleton Bailey in seiner Edition, Bd. I, S. 1). Die v. a. bei frühneuzeitlichen Gelehrten zu findende Annahme, Valerius Maximus habe der patrizischen gens Valeria angehört (so z. B. Sicconis Polentoni Scriptorum illustrium Latinae linguae libri XVIII, hg. von B. L. Ullman, Rom 1928, S. 216f.; eine seit 1494 in verschiedenen Druckausgaben zu findende Vita – wiedergegeben in Kempfs Edition von 1854, S. 1f., und bei Skidmore: Practical Ethics, S. 113 – erfindet zusätzlich eine Mutter aus der gens Fabia; beides ohne Diskussion übernommen von Comes, S. 7), wird von Skidmore: Practical Ethics, S. 113–117, wieder vertreten. Er verweist auf andere Patrizier des 1. Jhds. v./n. Chr., die ebenso überholte cognomina wiederbelebten – in der gens Valeria war Maximus im 3. Jhd. v. Chr. durch Messalla ersetzt worden –, und einen inschriftlich belegten, offenbar aus der gens Valeria adoptierten M. Aurelius Cotta Maximus Messalinus. Kempf in seiner Edition von 1854, S. 3–8; Comes, S. 8; Francis Royster Bliss: Valerius Maximus and His Sources. A Stylistic Approach to the Problem, Diss. Univ. of North Carolina, Chapel Hill 1951, S. 1f.; Helm: RE, Sp. 91–93; Gries, S. 335f.; Sinclair: Evolution, S. 2–4; Gabriela Schmied: Die literarische Gestaltung der Factorum et dictorum memorabilium libri novem des Valerius Maximus, Diplomarb. Wien 1990, S. 5; W. Martin Bloomer: Valerius Maximus & the Rhetoric of the New Nobility, Chapel Hill, N.C. 1992, S. 1, Anm. 1; Hans-Friedrich Otto Mueller: Exempla tuenda. Religion, Virtue, and Politics in Valerius Maximus, Diss. Univ. of North Carolina, Chapel Hill 1994, S. 16f., Anm. 3, und Roman Religion in Valerius Maximus, London 2002, S. 184, Anm. 18; Skidmore: Practical Ethics, S. xv; Weileder, S. 27f.; Shackleton Baileys Edition, Bd. I, S. 2f.; Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur. Von Andronicus bis Boethius und ihr Fortwirken, 2 Bde., Berlin 32012, S. 908; Isabella Wiegand: Neque libere neque vere. Die Literatur unter Tiberius und der Diskurs der res publica continua, Tübingen 2013, S. 148; Jeffrey Murray: Valerius Maximus on Vice. A Commentary on Facta et Dicta Memorabilia 9.1–11, Diss. Univ. of Cape Town 2016, S. 16–19; John Atkinson: Valerius Maximus on Coriolanus, in: AClass 60 (2017), S. 1– 21, hier 2f.; Westphal: Commentary, S. 18–23; Briscoe: Book 8, S. 2–4.
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Einleitung
neben Livia, der testamentarisch in die gens Iulia adoptierten Witwe des Augustus, auch auf dessen bereits 14 n. Chr. verstorbene Tochter zutreffen würde.9 Der in 9,11, ext. 4 behandelte Bösewicht wird überhaupt nicht mit Namen genannt und könnte daher auch der 16 n. Chr. angeklagte M. Scribonius Libo Drusus sein.10 Sehr überzeugend sind diese Alternativen beide nicht. Die von Augustus gegen dessen Willen mit Tiberius verheiratete und dann unter Vorwurf sexueller Zügellosigkeit verbannte Iulia wäre als Idealbild der keuschen Ehefrau11 eine klare Fehlbesetzung12 – außerdem entstünde ein chronologischer Konflikt mit Stellen früherer Bücher, die den kurz vor ihr verstorbenen Augustus bereits als tot voraussetzen oder Tiberius als Herrscher identifizieren.13 Und die Argumentation zugunsten von Libo – sie beruht auf dem Wort parricidium, das auf seinen Plan im wörtlicheren Sinn zutreffe,14 und dem Nachweis, dass sein Fall ebenso wie der Sejans eine cause célèbre war – wiegt nicht die Übereinstimmung der von Valerius Maximus gebrauchten Formulierung omni cum stirpe sua populi Romani uiribus obtritus mit der überlieferten Hinrichtung der Kinder Sejans auf.15 9
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So Carter: Valerius Maximus, S. 32f., und Bellemore, S. 76 („perhaps“). Wardle: Book 1, S. 2f., ergänzt mit Pighius (vgl. zu diesem unten bei Fn. 61) Iuliae , womit die Frage gegenstandslos würde. So Bellemore, S. 77–79, und jemann-Steinke, S. 19–21. Die Stelle lautet: Vnde te uirorum pariter ac feminarum praecipuum firmamentum, Pudicitia, inuocem? tu enim prisca religione consecratos Vestae focos incolis, tu Capitolinae Iunonis puluinaribus incubas, tu Palati columen augustos penates sanctissimumque Iuliae genialem torum adsidua statione celebras, […] So schon Briscoe: Some Notes, S. 400, und Book 8, S. 3f., Wardle: Book 1, S. 2, und jemann-Steinke, S. 18f. Schon in 1,7,1–2 und 3,8,8 (sowie später in 7,7,3–4, 7,8,6 und 9,15,2) wird Augustus als verstorben oder diuus vorgestellt, in 2,9,6 und 5,5,3 Tiberius als princeps identifiziert (ohne Namensnennung, aber dennoch eindeutig – über seine Abstammung von Claudius Nero und Livius Salinator sowie seinen Bruder Drusus; siehe zu diesen Stellen Bellemore, S. 67), was eine Datierung von Buch 6 auf spätestens 14 n. Chr. wenig plausibel erscheinen lässt. Carter und Bellemore gehen dem Problem aus dem Weg, indem sie es – ebenso unplausibel – für möglich halten, dass die Passage, die von Iulia im Präsens spricht, dennoch nach ihrem Tod geschrieben wurde. jemann-Steinke, S. 20: „Scribonia, Augustus’ zweite Frau, war Scribonius’ Großtante, und durch diese Verbindung war er auch mit Tiberius indirekt verwandt“, und in den vier vorangehenden Exempla gehe es ebenfalls um Verwandtenmord; sie gesteht allerdings zu, dass das im Zusammenhang mit dem fraglichen parricidium zweimal verwendete Wort amicitia in die gegenteilige Richtung weist. So schon Briscoe: Some Notes, S. 401f., und Book 8, S. 4, Wardle: Book 1, S. 4, und Marcela Nasta: Valerio Máximo y la conspiración de Seyano (Facta et dicta memorabilia 9.11.ext.4), in: AFC 27 (2014), S. 81–98, hier 84f. Siehe Tac. ann. 5,9 und Cass. Dio 58,11,5 – und andererseits Tac. ann. 2,31,3–32,2 (mit den postumen Beschlüssen gegen Libo, die nichts Derartiges enthalten, sowie Tiberius’ Behauptung, er würde sogar das Leben des Angeklagten selbst geschont haben, wenn dieser nicht voreilig Selbstmord begangen hätte).
Geschichte des Werks
15
Auch der in 4,7, ext. 2 vorausgesetzte Tod des Sextus Pompeius scheint auf eine Abfassung frühestens in den Zwanzigerjahren hinzudeuten, da bei Tacitus ein wohl mit ihm zu identifizierender Träger dieses Namens in den Jahren 20 und 21 lebend auftritt.16 Für die Datierung der Facta et dicta nicht relevant ist die Reise nach Kleinasien. Da in 2,6,8 nicht gesagt wird, zu welchem Zweck sie erfolgte, ist die übliche Annahme, es gehe um einen Amtsantritt als Prokonsul, nur Spekulation – es ist nicht einmal belegt, dass Pompeius überhaupt Prokonsul von Asia war.17 1.b
Überlieferung und Druckgeschichte
Die Frage der Rezeption des Valerius Maximus in der Antike ist eng verknüpft mit der weiter unten zu besprechenden Quellenfrage, d. h. der Frage, ob Parallelen bei späteren Autoren auf Benutzung des Valerius Maximus zurückgehen oder aus ihnen auf eine gemeinsame, für uns verlorene Vorlage zu schließen ist.18 Namentlich zitiert wird er im 1. und 2. Jahrhundert von Plinius dem Älteren (nat. 1: in der Literaturliste zu den Büchern 7 und 33), Plutarch (Brutus 53,5; 16
17
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Tac. ann. 3,11,2 und 3,32,2. Die sonst einhellig vertretene Identifikation mit dem Konsul von 14 n. Chr. wird von jemann-Steinke, S. 25f., angezweifelt, allerdings mit einem eher schwachen Argument (da der taciteische Pompeius im von Werner Eck/Antonio Caballos/Fernando Fernández: Das senatus consultum de Cn. Pisone patre, München 1996, edierten Senatsbeschluss in einer sonst hierarchisch geordneten Zeugenliste nur an dritter Stelle – hinter einem Suffektkonsular – stehe, sei er nicht der ehemalige consul ordinarius, sondern ein sonst unbekannter Mann prätorischen Ranges; sie gesteht aber zu, dass die hierarchisch ‚falsche‘ Reihenfolge der drei Konsulare immerhin der Chronologie der drei Konsulate – also einer Reihung nach Anziennität – entspräche), und die erste der beiden Tacitusstellen spricht klar dafür, dass der genannte Sex. Pompeius, den Piso als Verteidiger gewinnen will, wie die anderen vier potentiellen Verteidiger (drei Konsulare und ein Prätorier, der aber als Redner berühmt war; siehe die Einträge in RE und DNP) eine prominente Persönlichkeit war. Tatsächlich unwahrscheinlich ist dagegen die Gleichsetzung unseres Pompeius mit dem – ohne Vornamen – bei Sen. dial. 9,11,10 erwähnten, der von Caligula (aber noch unter Tiberius) getötet wurde; siehe Syme, S. 162, und jemann-Steinke, S. 24f. Terminus ante quem für den Tod des Sex. Pompeius bleibt 29 n. Chr. wegen Val. Max. 6,1, praef. Syme, S. 160–162, nennt nur die Valerius-Maximus-Stelle, Briscoe: Some Notes, S. 399, und Book 8, S. 2, bezeichnet sie ausdrücklich als „the only clear evidence“. Der hypothetische Amtsantritt wird üblicherweise ins Jahr 23, 24, 25 oder 27 datiert; jemann-Steinke, S. 21f., meint, dass auch 15 (direkt nach dem Konsulat), 18 und 19 in Frage kämen, aber siehe Briscoes Rez. in: ExClass 14 (2010), S. 379–382, hier 380. Siehe unten Fn. 48; ergänzend Combès in seiner Edition, Bd. I, S. 76, und Weileder, S. 32, Anm. 160, mit der (weit hergeholten und wohl zu Recht schon von Sinclair: Evolution, S. 16, verworfenen) Vermutung, die Kritik an rhetorischem Schmuck in Petron. 1,3 spiele auf Valerius Maximus und den Werktitel Facta et dicta an.
16
Einleitung
Marcellus 30,4) und Gellius (12,7,8) sowie um 500 vom Grammatiker Priscian (gramm. II 195,24 = 6,1,2).19 Die Spätantike brachte überdies zwei Kurzfassungen des Werks hervor – von Iulius Paris und Ianuarius Nepotianus (beide ca. 4. Jhd.).20 Beide lassen eine gewisse Zahl von Anekdoten weg und reduzieren die verbleibende Mehrheit auf die bloße Handlung, verzichten also auf Kapitelpraefationes, Überleitungen zwischen den Anekdoten und die meisten evaluierenden Passagen.21 Begründet wird das Vorhaben einmal als Erleichterung des Auffindens von Exempla für Reden und Debatten22 und einmal als generelle Verbesserung der Lesbarkeit des Werks, dessen Weitschweifigkeit seiner Rezeption schade.23
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So Helm: RE, Sp. 114, Carter: Valerius Maximus, S. 47 mit 55, Anm. 58, und Combès in seiner Edition, S. 77–80. Zu Plinius vgl. auch unten Fn. 48. Zur Irrtümlichkeit des Zitats in der Marcellus-Vita siehe Rudolf Zimmermann: Die Quellen Plutarchs in der Biographie des Marcellus, in: RhM 79 (1930), S. 55–64, und Alfred Klotz, Die Quellen der plutarchischen Lebensbeschreibung des Marcellus, in: RhM 83 (1934), S. 289–318 (die über die Frage der direkten Benutzung uneins sind), zu sonstiger Valerius-Maximus-Rezeption bei Plutarch H. J. Rose: Introduction, in: Se Roman Questions of Plutarch. A New Translation with Introductory Essays & a Running Commentary, Oxford 1924, S. 11–113, hier 18, Anm. 22, und 34, Luc Van der Stockt: Plutarch’s Use of Literature. Sources and Citations in the Quaestiones Romanae, in: AncSoc 18 (1987), S. 281–292, hier 283–287, und Marie-Laure Freyburger/Anne Jacquemin: Plutarque et Valère Maxime, in: Valeurs et mémoire à Rome. Valère Maxime ou La Vertu recomposée, hg. von Jean-Michel David, Paris 1998, S. 157–181. Siehe Peter Lebrecht Schmidt: Iulius Paris, Epitoma historiarum diversarum exemplorumque Romanorum, Ianuarius Nepotianus, Epitoma librorum Valeri Maximi, in: Handbuch der lateinischen Literatur der Antike. Fünfter Band. Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr., hg. von Reinhart Herzog, München 1989, S. 193–195 (einen echten terminus ante quem gibt es nur für Nepotianus, der um 500 von Ennodius zitiert wird). Die Epitome des Paris ist vollständig erhalten – die Überlieferung hat als vermeintliches zehntes Buch noch ein eindeutig nicht dazugehöriges Kapitel De praenominibus hinzugefügt (dazu unten Fn. 103) –, während die des Nepotianus in der Anekdote 3,2,7 abbricht. Den Text beider Epitomai findet man in der Edition von Briscoe; eine separate Nepotianus-Edition soll demnächst erscheinen (Rainer Jakobi: Die Valerius Maximus-Epitome des Ianuarius Nepotianus, Berlin 2022). Zur wichtigen Rolle dieser Elemente bei Valerius Maximus selbst siehe unten S. 163– 171, 223–272 und 329–332. So Paris in seinem Widmungsbrief: Exemplorum conquisitionem cum scirem esse non minus disputantibus quam declamantibus necessariam, decem Valerii Maximi libros dictorum et factorum memorabilium ad unum uolumen epitomae coegi. quod tibi misi, ut et facilius inuenires si quando quid quaereres, et apta semper materiis exempla subiungeres. So Nepotianus in einem Widmungsbrief, der sich an einen fleißig die litterae studierenden adulescens richtet: igitur de Valerio Maximo mecum sentis opera eius utilia esse,
Geschichte des Werks
17
Aus dem Mittelalter gibt es Spuren relativ intensiver Valerius-Maximus-Rezeption, beginnend im 9. und verstärkt seit dem 11. Jahrhundert: Exzerpte – separat oder als Teil breiter angelegter Florilegien –, eine umfangreiche Versifikation, diverse Zitate und Erwähnungen.24 Entgegen einer früheren Meinung (die teilweise eine forschungsgeschichtliche Fiktion sein dürfte25) scheint sich aber in den letzten Jahren die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass die Phase seiner größten Popularität nicht das Mittelalter im Ganzen umfasst, sondern erst im 14. Jahrhundert einsetzt.26 Aufschlussreich ist der von Bernard Guenée vorgenommene Vergleich der Zahl der (erhaltenen und auf ein bestimmtes Jahrhundert datierbaren) Handschriften von fünf im Mittelalter beliebten antiken Werken historischen Inhalts:27
Cassiod. hist. Ios. ant. Iud. Oros. hist.
24 25
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27
6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. Jhd. Jhd. Jhd. Jhd. Jhd. Jhd. Jhd. Jhd. Jhd. Jhd. — — — 2 26 18 31 15 8 33 1 — 1 8 9 16 67 27 13 28 1 2 9 18 13 26 47 28 28 64
si sint breuia: digna enim cognitione componat, sed colligenda producat, dum se ostentat sententiis, locis iactat, fundat excessibus, et eo fortasse sit paucioribus notus, quod legentium auiditati mora ipsa fastidio est. Siehe unten Fn. 1068. Der in der englischsprachigen Forschungsliteratur oft (meist in Form von Sekundärzitaten) wiederholte, Niebuhr zugeschriebene Satz, Valerius Maximus habe im Mittelalter als das wichtigste Buch neben der Bibel gegolten, ist das Produkt eines Übersetzungsfehlers (Lecture XII, in: B. G. Niebuhr: Lectures on the History of Rome from the Earliest Times to the Fall of the Western Empire. Vol. I, übers. von Leonhard Schmitz, London 31852, S. xcv–xcvii, hier xcvi–xcvii: „jroughout the middle ages, Valerius Maximus was considered the most important book next to the Bible: it was the mirror of virtues […]“; richtig Wichtigkeit der römischen Geschichte, in: ders.: Historische und philologische Vorträge, an der Universität zu Bonn gehalten. Erste Abtheilung. Römische Geschichte bis zum Untergang des abendländischen Reichs. […] Erster Band. Von der Entstehung Rom’s bis zum Ausbruch des ersten punischen Krieges, Berlin 1846, S. 78–80, hier 79: „Valerius Maximus war im ganzen Mittelalter der Tugendspiegel der neben der heiligen Schrift von jedem gelesen wurde“). Vgl. Franz Brunhölzl: Valerius Maximus im Mittelalter, in: Lexikon des Mittelalters. VIII, München 1997, Sp. 1390f. („von der gewaltigen Verbreitung, von der gewöhnl. gesprochen wird, kann bis ins späte MA nicht die Rede sein“) und Marijke Crab: Exemplary Reading. Printed Renaissance Commentaries on Valerius Maximus (1470–1600), Zürich 2015, 11 („the Memorable Deeds and Sayings was only truly revived at the beginning of the fourteenth century“, durch Aufnahme in Schulcurricula, eine verstärkte Handschriftenproduktion sowie Übersetzungen und Kommentare). Bernard Guenée: Histoire et culture historique dans l’Occident médiéval, Paris 2011, S. 271–274.
Einleitung
18 Ruf. Fest. Val. Max.
— —
1 —
— —
3 2
1 —
1 1
3 6
2 14
6 113
66 283
Das Fazit daraus lautet, dass Valerius Maximus im Mittelalter vor allem „l’objet […] d’un tardif engouement“ war – im Gegensatz etwa zu Orosius, der die abendländische Geschichtskultur während des gesamten Mittelalters prägte.28 Dies wiederum trifft im Fall des Valerius Maximus auf die Renaissance – also das 14. bis 16. Jahrhundert – zu. Auf diese Hochphase des ‚engouement‘ folgte eine ungefähr gleich lange Phase moderaterer Wertschätzung, vermischt mit (schon im 16. Jahrhundert vereinzelt aufgekommener) Kritik, die sich im 19. und 20. Jahrhundert schließlich zur völligen Verachtung steigerte.29 In Peter Burkes Zählung der von 1450 bis 1699 erschienenen Druckausgaben (einschließlich Übersetzungen) antiker Geschichtswerke nimmt Valerius Maximus mit 198 Ausgaben den dritten Platz hinter Sallusts Catilina und Iugurtha (282 und 271), aber vor Caesar (189), Curtius Rufus (179) und Livius (160) ein.30 Davon erschienen 29 Ausgaben in der zweiten Hälfte des 15. und 89 in der ersten des 16. Jahrhunderts (jeweils Platz 3 hinter Sallust), 33 in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Platz 5 hinter Caesar und Livius), 25 in der ersten und 22 in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Plätze 8 und 9; die ‚Aufsteiger‘ dieser Zeit sind vor allem Tacitus und Curtius Rufus). Von den über 600 insgesamt erhaltenen Handschriften (Epitomai und Übersetzungen nicht eingerechnet)31 sind nur die drei ältesten von grundlegender Bedeutung 28 29
30
31
Guenée, S. 274. Siehe zur Renaissance und der anschließenden Entwicklung ausführlicher unten S. 332–352, wo der Zusammenhang von Werturteilen und Interpretationen für die gattungsmäßige Einordnung des Werks nutzbar gemacht wird. Zusätzlich zur dort zitierten Literatur vgl. v. a. noch Andor Pigler: Valerius Maximus és az újkori képzőművészetek, in: Petrovics Elek emlékkönyv, Budapest 1934, S. 87–108 [mit französischer Zusammenfassung, S. 213–216], sowie Roberto Guerrini: Studi su Valerio Massimo (con un capitolo sulla fortuna nell’iconografia umanistica: Perugino, Beccafumi, Pordenone), Pisa 1981, S. 61–136 (dazu ergänzend die Rez. von Robert Combès in: Gnomon 55, 1983, S. 317–321, hier 319–321), und Allattamento filiale e pietas erga parentes in Valerio Massimo. Dall’imagine al testo, in: Pietas e allattamento filiale. La vicenda, l’exemplum, l’iconografia. Colloquio di Urbino, 2–3 maggio 1996, hg. von Renato Raffaelli/Roberto M. Danese/Settimio Laciotti, Urbino 1997, S. 15–37, über Valerius Maximus als ikonographische Quelle frühneuzeitlicher Kunst. Peter Burke: A Survey of the Popularity of Ancient Historians, 1450–1700, in: H&T 5 (1966), S. 135–152, hier 137. Die Zahl für Caesar inkludiert beide Commentarii, während bei Tacitus die Germania (164 Ausgaben im Gesamtzeitraum) von Annalen und Historien (zusammen 152) unterschieden wird. Ich übernehme die Zahl von Briscoe: Book 8, S. 15, der anmerkt, dass nur von einem einzigen (nicht christlich-theologischen) lateinischen Prosaautor – dem Grammatiker Priscian – mehr Handschriften erhalten sind. Siehe auch die Handschriftenliste bei
Geschichte des Werks
19
für die Textkonstitution: der Bernensis und der Ashburnhamensis (beide aus dem 9. Jhd.), die auf derselben verlorenen Vorlage beruhen, und der erst in den 1930erJahren ins Licht der Aufmerksamkeit gerückte Bruxellensis (11. Jhd.), der nach Ansicht mancher Forscher von dieser unabhängig ist.32 Die beiden im mittleren 19. Jahrhundert erschienenen wissenschaftlichen Editionen33 von Karl Kempf (1854) und Karl Halm (Teubner, 1865) beruhten im Wesentlichen auf dem Bernensis, Kempfs zweite Ausgabe (Teubner, 1888) zusätzlich auf dem Ashburnhamensis. Die letztgenannte, für mehr als ein Jahrhundert maßgebliche Edition wurde 1998 durch eine neue Teubneriana von John Briscoe ersetzt, die erstmals den Bruxellensis berücksichtigt. Daneben ist aber auch – trotz minimalem Apparat – die 2000 erschienene zweisprachige Loeb-Ausgabe heranzuziehen, die von David R. Shackleton Bailey stammt; sie unterscheidet sich von der Teubneriana unter anderem durch die geringere Rolle, die dem Bruxellensis eingeräumt wird,34 sowie durch eine größere Bereitschaft zur Konjektur.35 Die zweisprachige Edition von Robert Combès (Budé, 1995/97) enthält zwar einen umfangreichen Apparat, ignoriert aber den Bruxellensis gänzlich36 und ist überdies unvollendet (es liegen nur die Bücher 1–6 vor). Moderne Übersetzungen (aus dem 19. bis 21. Jahrhundert) findet man in Bibliothekskatalogen des deutschen, englischen, französischen, italienischen und spanischen Sprachraums insgesamt 18 (ohne Teilübersetzungen in Kommentaren), davon 14 vollständige. 37 Moderne Kommentare liegen (von knapperen
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33
34 35
36 37
Dorothy M. Schullian: A Revised List of Manuscripts of Valerius Maximus, in: Miscellanea Augusto Campana II, Padua 1981, S. 695–728, sowie die Studie von Christopher John Carter: Se Manuscript Tradition of Valerius Maximus, Diss. Cambridge [1967]. So die ‚Entdeckerin‘ Dorothy M. Schullian: A Neglected Manuscript of Valerius Maximus, in: CPh 32 (1937), S. 349–359, sowie Briscoe in seiner Edition, S. vii–xxvii, und Book 8, S. 15–23. Skeptisch sind Michael Winterbottom: Rez. der Edition von Briscoe, in: SCI 18 (1999), S. 191–194, und Shackleton Bailey in seiner Edition, Bd. I, S. 5 („I have to state a different impression, admittedly not based on detailed research“; er hält die korrekteren Lesarten des Bruxellensis für mittelalterliche Konjekturen). Zur Editionsgeschichte (auch der früheren, beginnend mit dem Erstdruck von ca. 1470) siehe Dorothy M. Schullian: Valerius Maximus, in: Catalogus translationum et commentariorum. Mediaeval and Renaissance Latin Translations and Commentaries. Annotated Lists and Guides. Volume V, hg. von F. Edward Cranz, Washington 1984, S. 287–403, hier 301f., und Briscoe: Book 8, S. 24–28. Siehe oben Fn. 32. Briscoe neigt dazu, cruces unaufgelöst zu lassen (und Konjekturvorschläge lediglich im Apparat zu referieren), auch an Stellen, wo nur der exakte Wortlaut und nicht der Sinn fraglich ist. Demgegenüber bekennt sich Shackleton Bailey, Bd. I, S. 6, explizit zu größerer Entscheidungswilligkeit. Siehe Bd. I, S. 62–74; auf Schullian: Neglected Manuscript wird nicht eingegangen. Ins Deutsche: eine anonyme (1805/07) sowie zwei weitere von Friedrich Hoffmann (1828/29) und Ursula Blank-Sangmeister (1991, Auswahlübersetzung); ins Englische
Einleitung
20
Anmerkungsapparaten in Editionen und Übersetzungen abgesehen) zu den Büchern 1, 2 und 8 sowie dem Großteil von Buch 9 und einem Kapitel von Buch 4 vor.38 2
Grundlagen des Werks
2.a
Quellen
Valerius Maximus sagt in seiner Vorrede, er wolle denkwürdige facta und dicta, die man bisher nur verstreut finde, aus den Werken berühmter Autoren auswählen und geordnet darstellen.39 An 23 Stellen im Werk nennt er zudem insgesamt 21 verschiedene Quellenautoren mit Namen, darunter zehn lateinische und elf grie-
38
39
neben Shackleton Bailey eine von Henry John Walker (2004); ins Französische neben Combès vier weitere von Charles Peuchot/E. P. Allais (1822), Claude Frémion (1827/ 28), jéophile Baudement (1841) und Pierre Constant (1935); ins Italienische fünf von Michele Battagia (1821), Andrea Carpani (1841), Rino Faranda (1971), Luigi Rusca (1972) und Luca Canali (2006, anscheinend Auswahlübersetzung), außerdem eine Neubearbeitung der Übersetzung von Giorgio Dati aus dem 16. Jhd. (1826); ins Spanische drei von José Velasco y García (1926, nur Bücher 1–3), Fernando Martín Acera (1988) und Santiago López Moreda/Maria Luisa Harto Trujillo/Joaquín Villalba Álvarez (2003). Manche dieser Übersetzungen erschienen als zweisprachige Ausgaben (auch ohne eigene Textrezension, z. B. Valerio Massimo: Detti e fatti memorabili, übers. von Rino Faranda, Turin 1971, auf der Grundlage von Valeri Maximi Factorum et dictorum memorabilium libri novem. Cum Iulii Paridis et Ianuarii Nepotiani epitomis, hg. von Carolus Kempf, Bibliotheca Teubneriana, Leipzig 1888). Auffälligerweise entstand – zumindest in den hier berücksichtigten Sprachen – keine einzige neue Übersetzung in der zweiten Hälfte des 19. und nur zwei (davon eine unvollendet) in den ersten zwei Dritteln des 20. Jhds. Wardle: Book 1 und Alicia Schniebs et al.: Valerio Máximo. Facta et dicta memorabilia. Hechos y dichos memorables. Libro primero, Buenos Aires 2014 (jeweils Buch 1), jemann-Steinke (Buch 2), Westphal: Commentary (4,1), Briscoe: Book 8 (Buch 8), Simon Robert Matravers: Commentary on Valerius Maximus’ book IX.1–10. A discourse on vitia. An apotreptic approach, Diss. Birmingham 2016 (9,1–10) und Murray: Vice (9,1–11); der Schwerpunkt liegt bei Briscoe eher auf sprachlichen und textkritischen, sonst auf historisch-antiquarischen und ethisch-ideologischen Fragen. An der Universität Freiburg (Schweiz) sind in einem SNF-Projekt unter der Leitung der Althistorikerin Tanja Itgenshorst (Im Spiegel der Republik. Valerius Maximus’ Facta et Dicta Memorabilia) eine neue deutsche Gesamtübersetzung und ein historischer Kommentar in Arbeit. 1, praef.: Vrbis Romae exterarumque gentium facta simul ac dicta memoratu digna, quae apud alios latius diffusa sunt quam ut breuiter cognosci possint, ab inlustribus electa auctoribus digerere constitui […]. Das Wort digerere ist eine auf Johannes Meursius zurückgehende, von allen modernen Editoren (spätestens seit Kempfs Edition von 1854) übernommene Konjektur; überliefert ist deligere.
Grundlagen des Werks
21
chische (woraus freilich nicht notwendigerweise folgt, dass er alle diese Autoren selbst eingesehen hat).40 Die Quellenfrage bildete im 19. und 20. Jahrhundert den Schwerpunkt der Valerius-Maximus-Forschung. Nach einigen früheren Versuchen, konkrete Quellen ausfindig zu machen, ohne die Angaben des Autors grundsätzlich in Zweifel zu ziehen,41 wurde 1909 von Alfred Klotz die [ese aufgestellt, dass Valerius Maximus statt aus inlustribus auctoribus (wie z. B. Cicero und Livius) großteils aus einer älteren Exemplasammlung schöpfe.42 In leicht abgewandelter Form wurde diese [ese auch von Clemens Bosch vertreten.43 Adriana Ramelli, Rudolf Helm, Giovanni Comes, Francis Bliss, Michael Fleck und Brent Sinclair argumentierten ebenso dagegen wie W. Martin Bloomer, in dessen Valerius-Maximus-Monographie die neueste ausführliche Auseinandersetzung mit der Quellenfrage zu finden ist.44 Auch die knapperen Stellungnahmen anderer Forscher zeigen, dass sich die traditionelle Auffassung wieder vollständig durchgesetzt hat.45 40
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44
45
Siehe die Liste bei Bloomer: Rhetoric, S. 62f., der darauf hinweist, dass es sich mindestens zum Teil um Sekundärzitate handeln dürfte (z. B. Platon und Coelius Antipater nach Cicero). Auffälligerweise stehen von den 23 Zitaten 13, darunter alle Zitate griechischer Autoren mit Ausnahme des von Cicero übernommenen Platonzitats, in den zwei Kapiteln 8,13–14 (und die sieben griechischen in 8,13 finden sich, wie Comes, S. 36f., hervorhebt, alle bei Plin. nat. 7 wieder). Siehe etwa (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Kempf in seiner Edition von 1854, S. 12–26, Franciscus Zschech: De Cicerone et Livio Valerii Maximi fontibus, Diss. Berlin 1865, Max Kranz: Beiträge zur Quellenkritik des Valerius Maximus, Königl. Friedrich-Wilhelms-Gymnasium zu Posen 1876, Bogdanus Krieger: Quibus fontibus Valerius Maximus usus sit in eis exemplis enarrandis, quae ad priora rerum Romanarum tempora pertinent, Diss. Berlin 1888, Siegfried Maire: De Diodoro Siculo Valerii Maximi auctore, Diss. Rostock 1899, und Guilelmus jormeyer: De Valerio Maximo et Cicerone quaestiones criticae, Diss. Göttingen 1902. Zur Litteratur der Exempla und zur Epitoma Livii, in: Hermes 44 (1909), S. 198–214, und Studien zu Valerius Maximus und den Exempla, München 1942. Die Sammlung wird in die augusteische Zeit datiert und mit den (von Gell. 10,18,7 bezeugten) Exempla des Hyginus identifiziert. Die Quellen des Valerius Maximus. Ein Beitrag zur Erforschung der Litteratur der historischen Exempla, Stuttgart 1929. Er nimmt zusätzlich eine ältere Sammlung an, die auch von Cicero benutzt worden sei. Ramelli: Le fonti di Valerio Massimo, in: Athenaeum 14 (1936), S. 117–152; Helm: Valerius Maximus, Seneca und die ‘Exemplasammlung’, in: Hermes 74 (1939), S. 130– 154, und Beiträge zur Quellenforschung bei Valerius Maximus, in: RhM 89 (1940), S. 241–273; Comes, S. 21–43; Bliss, S. 19–45; Fleck: Untersuchungen zu den Exempla des Valerius Maximus, Diss. Marburg 1974; Sinclair: Evolution, S. 176–214; Bloomer: Rhetoric, S. 59–146. Maslakov: Tradition and Abridgement, S. 137–146, und Historiography, S. 457–461; Schmied, S. 8–13; Skidmore: Practical Ethics, S. 47f.; Jean-Michel David: Les enjeux de l’exemplarité à la fin de la République et au début du principat, in: Valeurs et mémoire, hg. von dems., S. 9–17, hier 10, Anm. 7; Martine Chassignet: La deuxième
22
Einleitung
Die Argumentation der einzelnen Beiträge soll hier nicht im Detail referiert werden. Es genügt, auf die Schwäche der von Klotz und Bosch verwendeten Hauptargumente hinzuweisen.46 Der Ausgangspunkt ihrer [ese sind die beim Vergleich mit Parallelstellen bei Cicero und Livius beobachteten inhaltlichen Abweichungen, die diese Stellen als direkte Quellen ausschließen sollen. Dieses Argument ist jedoch nicht zwingend, wie der Vergleich mit anderen Autoren zeigt, bei denen sich derartige Änderungen auch in Fällen nachweisen lassen, wo die Quellenlage eindeutig ist.47 Hinzu kommt die Möglichkeit der Kontamination mit anderen Quellen – sowie die Schwierigkeit, dass Klotz und Bosch keine separate Traditionslinie, sondern eine von Cicero und Livius abhängige Zwischenquelle (im Fall Boschs zusätzlich auch eine von Cicero selbst verwendete Exemplasammlung) annehmen, so dass sich die Frage der Erklärung der Abweichungen lediglich verschöbe. Auch der Versuch, aus Übereinstimmungen bei späteren Autoren die Notwendigkeit einer gemeinsamen, für uns verlorenen Quelle abzuleiten, überzeugt nicht, da sich nicht ausschließen lässt, dass Valerius Maximus selbst von den Späteren benutzt wurde.48
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guerre punique dans l’historiographie romaine. Fixation et évolution d’une tradition, ebd., S. 55–72, hier 68; Wardle: Book 1, S. 15–18; Weileder, S. 10–13; jemannSteinke, S. 42f.; Erik Gunderson: Valerius Maximus and the Hysteria of Virtue, in: Classical Myth and Psychoanalysis. Ancient and Modern Stories of the Self, hg. von Vanda Zajko/Ellen O’Gorman, Oxford 2013, S. 199–212, hier 199; Tara Welch: Was Valerius Maximus a Hack?, in: AJPh 134 (2013), S. 67–82, hier 67f.; und Briscoe: Book 8, S. 6–9. Nur Albrecht: Geschichte, S. 909, bleibt (was Livius angeht) unschlüssig. Der letzte explizite Anhänger der Gegenmeinung scheint Carter: Valerius Maximus, S. 38, gewesen zu sein. Auch zugunsten der traditionellen Auffassung werden mitunter problematische Argumente vorgebracht, die aber weniger schwer wiegen – etwa dass das Werk, wenn die jese von Klotz und Bosch zuträfe, ein Plagiat wäre, ein solches aber weder dem Kaiser gewidmet worden noch anstelle der Vorlage(n) erhalten geblieben wäre (Helm: ‘Exemplasammlung’, S. 131 und 152f.; aber der Wert des Werks könnte doch auch z. B. in verstärkter Moralisierung und besserer formaler Gestaltung liegen). Siehe etwa jomas Tschögele: Historiam narrare propositum est. Petrarcas livianische ‹Biographie› des Cato Censorius, in: MLatJb 53 (2018), S. 461–480, hier 469–475, zu Petrarcas Umformung von Liviusstellen in De viris illustribus, zu deren Mitteln – neben dem Einsatz von Synonymen, Kürzungen und Ausschmückungen, Vereinfachungen und Erklärungen und eingefügten Werturteilen – auch Änderungen der Fakten gehören, die teils als moralische oder tendenziöse Zensur zu erklären sind, teils aber auch als Versuch, durch korrigierende oder ergänzende Mutmaßungen der Wirklichkeit näher zu kommen als Livius. Für Valerius Maximus zeigt Bloomer: Rhetoric, S. 65–70, anhand des von Klotz: Litteratur verwendeten Beispiels Liv. 2,8,6–8/Val. Max. 5,10,1, dass die beanstandeten Unterschiede gattungs- und kontextbedingte Anpassungen sein können („refashioning of an event into an exemplum“). Klotz: Litteratur, S. 199, behandelt die Nichtbenutzung durch Seneca d. J. als nicht weiter zu begründende Selbstverständlichkeit, Bosch und Klotz: Studien argumentieren
Grundlagen des Werks
23
Man darf also mit der Mehrheitsmeinung davon ausgehen, dass Cicero und Livius von Valerius Maximus ausgiebig benutzt wurden. Die alleinigen Quellen waren sie jedoch unbestreitbar nicht,49 es bleibt also viel Raum für Spekulation. Aus der uns erhaltenen Literatur sind bisher nur Sallust und Diodor als zusätzliche Quellen vorgeschlagen worden – Bloomer nimmt zehn Salluststellen als punktuelle Quellen an,50 verneint dagegen die Benutzung Diodors.51 Alle übrigen in Frage kommenden Werke sind (bis auf Fragmente und Auszüge) verloren: die Universal-
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(für mehrere Autoren) mit inhaltlichen Unterschieden. Zugestanden wird von Klotz: Studien die Benutzung durch Ammianus Marcellinus (siehe auch David Rohrbacher: Ammianus Marcellinus and Valerius Maximus, in: AHB 19, 2005, S. 20–30) und marginal – für eine Minderheit der Parallelstellen – durch Plinius d. Ä., Frontinus und Laktanz; ausschließlich von einer gemeinsamen Quelle abhängig seien Seneca, Sueton, Apuleius und Macrobius. Dagegen kommt Fleck, S. 22–56, der Seneca, Sueton und Laktanz untersucht, zu dem Ergebnis, dass alle drei – im Fall des Laktanz indirekt – aus Valerius Maximus schöpfen. Am plausibelsten scheint die jese einer nur marginalen Verwendung im Fall des Plinius (so auch Fleck, S. 8, 12–15 und 72, Anm. 14). Überhaupt nicht von Valerius Maximus abhängig ist (laut Catherine Schneider: La ‘réception’ de Valère Maxime dans le recueil des Grandes déclamations pseudo-quintiliennes, in: InvLuc 23, 2001, S. 223–237) der von Klotz und Bosch nicht behandelte Pseudo-Quintilian; für direkte Verwendung durch Orosius argumentiert Peter Van Nuffelen: Orosius and the Rhetoric of History, Oxford 2012, S. 95–103, für Spuren in der Historia Augusta Diederik Burgersdijk: Valerius Maximus’ Facta et dicta memorabilia and the Roman Biographical Tradition, in: Reading by Example. Valerius Maximus and the Historiography of Exempla, hg. von Jeffrey Murray/David Wardle, Leiden 2022, S. 287–315, hier 299–304. Zu expliziten Valerius-Maximus-Zitaten bei antiken Autoren siehe oben bei Fn. 19. Nach Bliss, S. 279–295, bieten sie Parallelen zu insgesamt 404 Valerius-MaximusAnekdoten (inkl. Teilanekdoten in Bliss’ eigener Aufteilung), also rund 40% gemessen an den 1012 im Originaltext erhaltenen Anekdoten (in der Aufteilung der Edition von Shackleton Bailey). „Reliable imitations“ sollen davon laut Bliss, S. 264, etwas weniger als ein Drittel bzw. rund 12% der Gesamtmenge sein. Dies muss sich auf die in seinen Listen mit ‚L.C.‘ (vgl. Bliss, S. 147 und 278) gekennzeichneten Fälle beziehen, die aber nur 90, also rund 22% von 404, sind. Mit den Kategorien ‚S.C.‘ und ‚S.D.‘, wo Bliss direkte Umarbeitung für weniger sicher, aber ebenfalls für plausibel hält, sind es summiert bereits 231, also 57% von 404 und nicht ganz ein Viertel der Gesamtmenge. In weiteren 37 Anekdoten erkennt er punktuelle Benutzung der Parallelstellen (‚B.A.‘). Die übrigen 136 hält er für unabhängig (‚L.V.‘, ‚S.‘ und ‚rejected parallels‘), wobei – neben struktureller und sprachlicher Unähnlichkeit – auch größere inhaltliche Abweichungen als Ausschlusskriterium dienen. Im Fall des Livius kann die tatsächliche Abhängigkeit natürlich schon durch die für uns verlorenen Bücher erheblich größer sein. Rhetoric, S. 108–113, einen Vorschlag von Guerrini: Studi, S. 29–60, aufgreifend; auch Anne Jacquemin: Valère Maxime, lecteur et utilisateur de Salluste (l’image du deuxième siècle), in: Valeurs et mémoire, hg. von David, S. 97–110, bejaht die Benutzung Sallusts. Rhetoric, S. 79–99, 107, 146, gegen Maire (20 Anekdoten).
Einleitung
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geschichte des Pompeius Trogus (laut Bloomer eine Hauptquelle für nichtrömische Inhalte), die kulturhistorischen Schriften Varros, die Annalen des Valerius Antias und diverse andere (einschließlich der älteren Exemplasammlungen).52 2.b
Intention
Die programmatischen Aussagen des Valerius Maximus (an einigen wenigen Stellen im Werk) scheinen auf mindestens zwei – verschiedene, aber einander nicht widerstreitende – auktoriale Zielsetzungen hinzudeuten. In der Werkpraefatio (1, praef.) geht es zunächst recht unspezifisch um die leichtere Auffindbarkeit der bei anderen Autoren verstreut dargestellten dicta und facta zwecks documenta sumere (was sich als ‚Beispiele wählen‘ im Sinne rhetorischer Exempla, aber auch im Sinne moralischer Vorbilder oder genereller Belehrung verstehen lässt53): Vrbis Romae exterarumque gentium facta simul ac dicta memoratu digna, quae apud alios latius diffusa sunt quam ut breuiter cognosci possint, ab inlustribus electa auctoribus digerere constitui, ut documenta sumere uolentibus longae inquisitionis labor absit.
Drei Sätze später54 werden im Rahmen einer Anrufung des Kaisers uirtutes und uitia als [emen angekündigt: te igitur huic coepto, penes quem hominum deorumque consensus maris ac terrae regimen esse uoluit, certissima salus patriae, Caesar, inuoco, cuius caelesti prouidentia uirtutes, de quibus dicturus sum, benignissime fouentur, uitia seuerissime uindicantur […]
Ebenfalls noch im ersten Buch findet man eine Stelle, die klar einen utilitären Zweck als Sammlung vom Leser in eigene Texte einzubauender Exempla voraus52
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Siehe Bloomer: Rhetoric, S. 99–108 (Pompeius Trogus), 113–126 (Varro), 126–138 (Valerius Antias) und 138–145 (‚minor authors‘). Zu den älteren Exemplasammlungen siehe auch unten S. 365f. Siehe I. Kapp: documentum (docim-), in: SLL V.1, fasc. VIII (1928), Sp. 1803–1809, zur Wortbedeutung: generell ‚id quo quis docetur‘, im Speziellen u. a. ‚exemplum ad admonendum vel maxime deterrendum propositum‘, ‚exemplum ad discendum res aut imitandas aut ad imitationem aliquo modo aptas propositum‘, ‚exemplum quod probat aliquid‘ oder ‚quodcumque in iudicio adfertur ad aliquid probandum‘. Dazwischen steht eine Distanzierung von universalhistorischen Ambitionen: nec mihi cuncta complectendi cupido incessit: quis enim omnis aeui gesta modico uoluminum numero comprehenderit, aut quis compos mentis domesticae peregrinaeque historiae seriem felici superiorum stilo conditam uel attentiore cura uel praestantiore facundia traditurum se sperauerit?
Gestalt des Werks
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setzt (1,6, ext. 155): […] attingam igitur externa, quae Latinis litteris inserta, ut auctoritatis minus habent, ita aliquid gratae uarietatis adferre possunt. Dasselbe gilt für 2,10, ext. 1: Dandum est aliquid loci etiam alienigenis exemplis, ut domesticis aspersa ipsa uarietate delectent (was sich nicht auf das Werk des Valerius Maximus selbst beziehen kann, da die externen Anekdoten dort ja gerade nicht verstreut, sondern abgesondert am Kapitelende stehen56). Dagegen geht es in der Vorrede des zweiten Buches (2, praef.) eindeutig um moralische Belehrung durch die Erzählungen: […] opus est enim cognosci huiusce uitae, quam sub optimo principe felicem agimus, quaenam fuerint elementa, ut eorum quoque respectus aliquid praesentibus moribus prosit. Auch sonst wird vereinzelt eine angestrebte Wirkung auf das Gemüt des Lesers angesprochen (z. B. 8,1, praef.: Nunc, quo aequiore animo ancipites iudiciorum motus tolerentur, […] oder 8,2, praef.: Publicis iudiciis adiciam priuata, quorum magis aequitas quaestionum delectare quam immoderata turba offendere lectorem poterit), die deutliche Mehrheit der Vorreden besteht allerdings aus allgemeingültiger Moralphilosophie ohne konkrete Zielsetzung. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte wurde das Werk fast durchwegs auf einen einzigen Zweck festgelegt. Lange Zeit galt es als moralisierte Geschichte oder Moralphilosophie mit historischen Beispielen, im 19. und 20. Jahrhundert dann als bloße Fundgrube exemplarischer Geschichten zur Verwendung durch Redner und Redeschüler – erst in den letzten Jahrzehnten hat die Forschung den moralischen Zweck wiederentdeckt (und zum Teil auch den politisch-gesellschaftlichen Propagandawert betont). Auf diese Entwicklung wird in einem eigenen Kapitel ausführlicher eingegangen.57 3
Gestalt des Werks
3.a
Sprache und Stil
Auseinandersetzungen mit dem Stil des Valerius Maximus waren meist eher wertend als analytisch. Die historischen Rezipienten sind dabei keineswegs zu einem einstimmigen Urteil gelangt, sondern haben – ähnlich wie über andere Aspekte des Werks – ihre Meinung im Laufe der Jahrhunderte radikal geändert.
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So die Edition von Briscoe; bei Shackleton Bailey als 1,6, ext. praef. abgetrennt. Siehe unten bei Fn. 96 und 843. Weniger eindeutig auf Verwendung durch andere gemünzt ist 9,3, ext. praef.: Neque ab ignotis exempla petere iuuat (ein Urteil, das Valerius Maximus übrigens nicht daran hindert, immer wieder Anekdoten mit namenlosen oder unbedeutenden Protagonisten zu erzählen). Unten S. 332–352; siehe außerdem oben Fn. 22 zum spätantiken Epitomator Iulius Paris, der seine Epitome gerade für den praktischen Zweck der Exemplasuche anfertigen zu müssen meint (also den Volltext für ungeeignet hält).
26
Einleitung
In der Renaissance fiel das Stilurteil überwiegend positiv aus. Coluccio Salutati lobt den Stil des Valerius Maximus in einem Brief von 1365: […] Maximus Valerius, cuius sepenumero expolitam facundiam sermonisque vim, ornatum et pondus admirari sum solitus […].58 Enea Silvio Piccolomini (De liberorum educatione, 1450) zählt ihn zu den antiken clari auctores, die – im Gegensatz zu manchen modernen Historikern – gerade wegen ihrer sententiae und ihres ornatus zu schätzen seien.59 Antonio Urceo Codro (Sermo de uirtute, in Valerium Maximum, 1484/85) beschäftigt sich mit ihm unter anderem propter stili maturitatem, quæ uiris etiam eruditis plurimum confert.60 Stephanus Pighius, Herausgeber der für längere Zeit maßgeblichen Edition von 1567, lobt seine Eleganz recht wortreich – gipfelnd in dem Satz exquisita verborum proprietate decorus, breuitate concinnus, ac mira varietate gratus vbique reperitur –, muss ihn aber auch schon gegen ungenannte Kritiker verteidigen, die ihm schlechten Stil und inkorrektes Latein vorwerfen.61 Diesen schließt sich Joseph Justus Scaliger († 1609) an, der das Werk ansonsten ausdrücklich für wertvoll hält, aber Sprache und Stil negativ hervorhebt. Er nennt Valerius Maximus einmal Ineptus affectator sententiarum und schreibt an anderer Stelle Equidem multa notavi apud Val. Maximum non bene Latina, multa etiam inepte affectata.62 Noch im 18. Jahrhundert findet man neben solcher Kritik auch maßvoll positive Urteile, so in der Historisch-critischen Einleitung zu nöthiger Kenntniß und nützlichem Gebrauche der alten lateinischen Schriftsteller von Gottfried Ephraim Müller, die ein umfangreiches Kapitel über Valerius Maximus enthält.63 Dort heißt 58
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Epistolario di Coluccio Salutati. Volume primo, hg. von Francesco Novati, Rom 1891, S. 9–12 (= 1,4: an Luigi de’ Gianfigliazzi, 26.12.1365), hier 10. Humanist Educational Treatises, hg. und übers. von Craig W. Kallendorf, Cambridge, Mass. 2002, S. 126–259, hier 224 = § 73, im Anschluss an eine Empfehlung mehrerer antiker Autoren, darunter Valerius, historicus et philosophus (dazu unten bei Fn. 1055), und generelle Ausführungen über die Nützlichkeit historischer Lektüre: Non tamen usque ad supervacuum laborem te volumus occupari, sed receptas aut a claris auctoribus memoratas satis est historias didicisse. Nullo autem pacto vel Bohemorum historias vel Hungarorum atque his similes, si me penes auctoritas fuerit, tradi puero permiserim. Sunt enim ab indoctis scriptae, multas ineptias continent, multa mendacia, nullas sententias, nullos ornatus. Abgedruckt u. a. in: Val. Max. Libri IX. in quibus, quod Philosophi alijque scriptores præceptionibus, hic uir prudens & sapiens facinorum memorabilium exemplis tradit, [hg. von Heinrich Petri], Basel 1536, S. 514–523, hier 514. Es handelt sich um einen einleitenden Vortrag zu einer Vorlesung über Valerius Maximus. Zur Datierung siehe Lucia Gualdo Rosa: Cortesi Urceo, Antonio, detto Codro, in: DBI 29 (1983). Valerii Maximi Dictorum factorumque memorabilium libri IX, Antwerpen 1567, S. 8– 11. Er verweist zur Verteidigung des Valerius Maximus auf die Fehlerhaftigkeit der Handschriften. Beide Stellen zitiert bei George W. Robinson: Joseph Scaliger’s Estimates of Greek and Latin Authors, in: HSPh 29 (1918), S. 133–176, hier 173.
Gestalt des Werks
27
es, die Schreibart sei „eben nicht so gar barbarisch und unlateinisch […], als es einige verzärtelte Kunstrichter dünken wollen“, ja „das Valerische Silber, könne, nach dem Verhältnisse des Goldes gegen das Silber gerechnet, beym Ciceronischen Golde, schon noch bestehen“.64 Das Problematische am Stil des Valerius Maximus sieht er in der Übertreibung einer grundsätzlich positiv zu wertenden Neigung zum „vollen und saftigen Ausdruck“: „Die Perioden sind ausgefüllet und wohlklingend genug. Allein, sie sind dennoch bisweilen allzusehr zusammen gestopfet, verdrehet und fast schwelgerisch und üppig“.65 Im 19. und großen Teilen des 20. Jahrhunderts galt Valerius Maximus als Extrembeispiel ungenießbaren Stils.66 Die ersten ernsthaften Versuche, seine vielgescholtene Affektiertheit konkreter zu beschreiben, finden sich in der Einleitung zur ersten Edition von Kempf und einer wenig später entstandenen Dissertation, wo diverse Kategorien ungewöhnlicher – meist bildlicher – Ausdrücke, Junkturen und Antithesen aufgezählt werden.67 Über die folgenden Jahrzehnte kamen in mehreren Dissertationen und Schulprogrammen systematischere, nach grammatischen
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Historisch-critische Einleitung zu nöthiger Kenntniß und nützlichem Gebrauche der alten lateinischen Schriftsteller. Fünfter Seil. Die ersteren lateinischen Schriftsteller des silbernen Sprachalters. Phädrus – Mela, Dresden 1751, S. 331–414. Ebd., S. 368. Ebd., S. 386. Siehe etwa das stilgeschichtliche Standardwerk von Eduard Norden: Die antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance. Erster Band, Leipzig 3 1915, wo eine nähere Auseinandersetzung mit Valerius Maximus ausdrücklich verweigert wird: „Valerius Maximus eröffnet die lange Reihe der durch ihre Unnatur bis zur Verzweiflung unerträglichen Schriftsteller“, „Auf das Widerliche seines Stils, an dem der tumor am meisten charakteristisch ist, habe ich keine Lust einzugehen“ (S. 303f.). Ähnlich urteilen G. Bernhardy: Grundriss der Römischen Litteratur, Braunschweig 5 1872, S. 727 („Ungeschmack“ usw.), W. S. Teuffel: Geschichte der römischen Literatur, Leipzig 1870, S. 545, und ders./Wilhelm Kroll/Franz Skutsch: Geschichte der römischen Literatur. Zweiter Band. Die Literatur von 31 v. Chr. bis 96 n. Chr., Leipzig 7 1920, S. 195 („schwülstig, geschmacklos und albern“), Martin Schanz: Geschichte der römischen Litteratur bis zum Gesetzgebungswerk des Justinian. Zweiter Teil. Die Zeit vom Ende der Republik (30 v. Chr.) bis auf Hadrian (117 n. Chr.), München 1892, S. 351, und ders./Carl Hosius: Geschichte der römischen Literatur bis zum Gesetzgebungswerk des Justinian. Zweiter Teil. Die römische Literatur in der Zeit der Monarchie bis auf Hadrian, München 41935, S. 589 („unnatürlich“, „ungenießbar“), H. J. Rose: A Handbook of Latin Literature. From the Earliest Times to the Death of St. Augustine [urspr. 1936], London/New York 1966, S. 356 („a most atrocious style“), A. D. Leeman: Orationis ratio. Se Stylistic Seories and Practice of the Roman Orators, Historians and Philosophers, 2 Bde., Amsterdam 1963, S. 254 („stylistic insania“), und besonders wortreich Carter: Valerius Maximus, S. 40–47. Zu möglichen Gründen dieser verschärften Abneigung siehe unten Fn. 1085. Kempfs Edition von 1854, S. 34–43, und Carolus Fridericus Gelbcke: Quaestiones Valerianae, Diss. Berlin 1865, S. 8–23.
28
Einleitung
Kategorien gegliederte Sammlungen von Auffälligkeiten68 sowie eine Abhandlung zum Klauselrhythmus69 hinzu. Danach wurden stilistische Untersuchungen erst wieder im mittleren 20. Jahrhundert in Angriff genommen. Während Giovanni Comes wiederum einen Katalog grammatischer und lexikalischer Besonderheiten (sowie in geringerem Maße rhetorischer Stilmittel) bietet,70 behandelt Francis Bliss die stilistische Variation als Mittel der Umarbeitung der mutmaßlichen Vorlagen (Beobachtungen zu Stilpräferenzen des Valerius Maximus fallen beiläufig an).71 Als Nächstes wurden – erneut mit größerem zeitlichem Abstand – von Enrique Otón Sobrino ein Léxico de Valerio Máximo72 und von Brent Sinclair die bisher gründlichste Aufarbeitung rhetorischer Stilmittel (der 15 im Werk prominentesten von adnominatio bis sententia) vorgelegt.73 Mehrere seither erschienene Arbeiten haben hauptsächlich den Charakter von Nachträgen zu den älteren Katalogen.74 Drei Forscher haben aber auch noch sub-
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71 72 73
74
Ricardus Seelisch: De casuum obliquorum apud Valerium Maximum usu. Liviani et Tacitei dicendi generis ratione habita, Diss. Münster 1872; Rudolf Blaum: Quaestionum Valerianarum specimen, Beilage zum Programm des Kaiserl. Lyceums Strassburg i. E. 1876, S. 3–28; Anton Gehrmann: Jncunabula incrementaque proprietatum sermonis Valerii Maximi. (Pars I.) [mehr nicht ersch.], Königl. Gymnasium zu Rössel: Nachrichten für das Schuljahr Ostern 1886–87; Joseph Ungewitter: De Vellei Paterculi et Valeri Maximi genere dicendi. Quaestiones selectae, Diss. München [1903] (rein lexikalisch); Ehrenfried Lundberg: De elocutione Valeri Maximi I. [mehr nicht ersch.], Diss. Uppsala 1906 (mit lexikalischem Schwerpunkt). Victor Muench: De clausulis a Valerio Maximo adhibitis, Diss. Breslau 1909. Comes, S. 64–93 (davon 89–93 zu rhetorischen Stilmitteln). Sein Fazit lautet, Valerius Maximus – den er gegen die damals vorherrschende Abwertung in Schutz nimmt – sei ein Bindeglied zwischen ‚goldenem‘ und ‚silbernem‘ Latein. Vgl. oben Fn. 49. 4 Bde., Madrid 1977–91. Sinclair: Evolution (zu den sententiae auch in knapperer Form ders.: Declamatory sententiae in Valerius Maximus, in: Prometheus 10, 1984, S. 141–146). Für ihn ist Valerius Maximus ein ‚Barometer‘, an dem sich die Veränderung des stilistischen Geschmacks in den ersten Jahrzehnten der Kaiserzeit ablesen lässt (Evolution, S. 175). Chiara Taddei: Per uno studio sulla lingua di Valerio Massimo, in: AFLS 9 (1988), S. 241–245, Bengt Löfstedt: Notizen zu Valerius Maximus, in: AClass 34 (1991), S. 154–158, Roberto Guerrini: L’exemplum in contesto di variazione. Vocaboli nuovi e nomina agentis in Valerio Massimo, in: MD 33 (1994), S. 207–219, und Lentiginosi oris. Val. Max. I,7, ext. 6. Gli aggettivi in -ōsus nei Fatti e detti memorabili, in: Athenaeum 82 (1994), S. 61–74, auch Combès in seiner Edition, Bd. I, S. 51–62 (dort bes. zu Sinclair: Evolution, u. a. mit der Beobachtung, dass unter den 750 dort – teils abschließend, teils nur beispielhaft – angeführten Stellen 80% der Anekdoten der Bücher 3 und 4, aber nur 50% der Bücher 1 und 8 vertreten sind, was auf eine ungleiche Verteilung der Stilmittel hinzudeuten scheint), und beiläufig Weileder, S. 222–225 (zu militä-
Gestalt des Werks
29
stantiellere Beiträge geleistet. W. Martin Bloomer bespricht in einem Kapitel seiner Valerius-Maximus-Monographie die Wortwahl, die von früheren Forschern erstaunlicherweise eher vernachlässigten [emen Wortstellung und Satzbau sowie den Klauselrhythmus und ausgewählte rhetorische Figuren.75 Andrea [emannSteinke hat für die Einleitung ihres Kommentars zu Buch 2 nicht bloß einen neuen Katalog der dort zu findenden Auffälligkeiten (einschließlich einiger von Sinclair nicht behandelter rhetorischer Stilmittel) erarbeitet, sondern schließt eine ausführliche Analyse an,76 deren wohl wichtigste [ese lautet, dass Valerius Maximus sprachlich – vor allem in Hinblick auf Vokabeln und Junkturen, von denen einige bei ihm erstmals in Prosa belegt sind, aber auch in einzelnen syntaktischen Konstruktionen – von der augusteischen Dichtung beeinflusst sei.77 Alicia Schniebs wiederum untersucht ein einzelnes Stilmittel – die dubitatio – auf seinen Beitrag zur Aussage hin.78 Dass zum Stil des Valerius Maximus noch nicht das letzte Wort gesagt ist, zeigt sich nicht nur im Vergleich mit der Forschungsliteratur zu anderen Autoren, selbst abseits der allergrößten Stilklassiker – zu wünschen wären insbesondere weiterführende Untersuchungen zu Wortstellung und Satzbau, die Anwendung textlinguistischer Ansätze und die systematische Erkundung der mit den diversen grammatischen und rhetorischen Mitteln verfolgten Ausdrucksziele79 –, sondern auch an beiläufigen, Forschungsfragen eröffnenden Bemerkungen wie der, dass Valerius
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rischen Ausdrücken und Metaphern, im Rahmen einer ideologisch-propagandistisch interessierten Analyse des Werks). Vgl. auch die stilistischen Bemerkungen zu einzelnen Stellen in den Kommentaren und bei Guerrini: Allattamento (einer Art Kommentar zu 5,4,7–ext. 1) sowie Elena Bozzi: Il vocabolario dei sogni in Valerio Massimo, in: Fontes 2.3–4 (1999), S. 209–222, zum Vokabular im Kapitel 1,7 (De somniis). Bloomer: Rhetoric, S. 230–254. jemann-Steinke, S. 48–103. Der Kommentar von Briscoe zu Buch 8 enthält einleitend eine viel knappere Auflistung hauptsächlich lexikalischer Auffälligkeiten (9–14). So für ein Stilmittel (die Apostrophe) bereits Sinclair: Evolution, S. 88f.; dagegen möchte Bloomer: Rhetoric, S. 235f., vermeintlich Poetisches eher auf den Sprachgebrauch der zeitgenössischen Deklamatoren zurückführen. jemann-Steinke sieht Valerius Maximus überdies nicht bloß – wie Comes und Sinclair – „an der Schwelle zur ‚Silbernen‘ Latinität“, sondern misst ihm einen „nicht unbedeutenden Einfluß“ auf deren Herausbildung zu (103). Dubitatio y exemplum en Valerio Máximo. El funcionamiento de la ejemplaridad y la memoria en Roma, in: Circe 17 (2013), S. 85–100. Vgl. beispielsweise Hellmut Roemer: Ausdrucks- und Darstellungstendenzen in den urbanen Erzählungspartien von Petrons Satyricon, Diss. Göttingen 1961, zu Abundanz, Intensivierung, Anschaulichkeit und dramatischer Zeitgestaltung in der Erzählprosa des Petronius. Ansätze zu einer solchen Auseinandersetzung gibt es immerhin bei Robert Honstetter: Exemplum zwischen Rhetorik und Literatur. Zur gattungsgeschichtlichen Sonderstellung von Valerius Maximus und Augustinus, Diss. Konstanz 1977, S. 70–74.
Einleitung
30
Maximus möglicherweise einen typischen, auch bei anderen Autoren wiederzufindenden Exemplastil repräsentiere.80 3.b
Aufbau des Gesamtwerks
Die Facta et dicta memorabilia81 liegen uns in neun Büchern vor, die aus insgesamt 91 Kapiteln bestehen (oder 86, wenn man 2,1–6 als ein Kapitel zählt82). Drei Kapitel (1,2–4) sind im Originaltext verloren, weshalb moderne Editionen üblicherweise den Text der beiden spätantiken Epitomai einsetzen.83 Die Kapitelthemen lauten wie folgt:84 1,1
De ominibus De prodigiis De somniis De miraculis
2,1–6 2,7 2,8 2,9 2,10
De institutis antiquis De disciplina militari De iure triumphi De censoria nota De maiestate
3,1 3,2 3,3 3,4
De indole De fortitudine De patientia De humili loco natis qui clari euaserunt
Jean Soubiran und Roland G. Mayer im Diskussionsteil zu R. G. Mayer: Roman Historical Exempla in Seneca, in: Sénèque et la prose latine. Neuf exposés suivis de discussions. Vandœuvres – Genève 14–18 août [1989], hg. von Pierre Grimal, Genf 1991, S. 141–176, hier 175f., anlässlich einer stilistisch untypischen Senecastelle. Kennzeichnend für diesen Exemplastil soll eine extreme hypotaktische Verdichtung sein. So lautet der Titel übereinstimmend in den drei maßgeblichen Handschriften; siehe Briscoe: Book 8, S. 5. Anders als im Fall von 5,4–6 (wo überdies auch die gemeinsame Überschrift die drei Einzelthemen ausspricht: De pietate erga parentes et fratres et patriam) gibt es keine separaten Praefationes (nur 2,4,1 würde sich allenfalls als solche eignen; dazu unten Fn. 664). Die sechs Teile haben den Charakter von Sachgruppen, wie es sie auch sonst innerhalb von Kapiteln gibt – siehe unten bei und in Fn. 799. Ihre editorische Auflösung ist wohl bloß durch die Länge bedingt. Siehe zu diesen oben S. 16. Die Lücke umfasst auch die letzten Anekdoten von 1,1 (ext. 5–ext. 8 bei Briscoe, ext. 5–ext. 9 in Kempfs Edition von 1888 und bei Shackleton Bailey; Briscoe fügt die von Kempf und Shackleton Bailey als ext. 9 behandelte weiter oben als 18a ein). Ich zitiere die Überschriften im laufenden Text. Die in den Handschriften vorangestellte Kapitelübersicht (zu finden in der Edition von Briscoe) weicht gelegentlich ab. Sie steht vor 1,1,16, scheint also für die im Original erhaltenen Anekdoten 16–21 und ext. 1–ext. 4 sowie die nachfolgenden, nur aus Epitomai bekannten zu gelten – auf mindestens eine davon trifft sie aber nicht zu (siehe unten Fn. 795).
Gestalt des Werks 3,5
Qui a parentibus claris degenerauerunt Qui ex inlustribus uiris in ueste aut cetero cultu licentius sibi quam mos patrius permittebat indulserunt De fiducia sui De constantia
3,6
3,7 3,8 4,1 4,2
De moderatione Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine De abstinentia et continentia De paupertate De uerecundia De amore coniugali De amicitia De liberalitate
4,3 4,4 4,5 4,6 4,7 4,8 5,1 5,2 5,3 5,4–6 5,7 5,8 5,9 5,10
De humanitate et clementia De gratis De ingratis De pietate erga parentes et fratres et patriam De parentum amore et indulgentia in liberos De seueritate patrum in liberos De parentum aduersus suspectos liberos moderatione De parentibus qui obitum liberorum forti animo tulerunt
6,1 6,2 6,3 6,4 6,5 6,6 6,7 6,8 6,9
De pudicitia Libere dicta aut facta De seueritate Grauiter dicta aut facta De iustitia De fide publica De fide uxorum erga uiros De fide seruorum De mutatione morum aut fortunae
7,1 7,2 7,3
De felicitate Sapienter dicta aut facta Vafre dicta aut facta
86
31
7,4 7,5 7,6 7,7 7,8
Strategemata De repulsis De necessitate De testamentis quae rescissa sunt Quae rata manserunt cum causas haberent cur rescindi possent (mit Zwischenüberschrift für 5–9: Quae aduersus opiniones hominum heredes habuerunt)
8,1
8,13 8,14 8,15
Infames rei quibus de causis absoluti aut damnati sint De priuatis iudiciis insignibus Quae mulieres apud magistratus pro se aut pro aliis causas egerunt De quaestionibus De testibus Qui quae in aliis uindicarant ipsi commiserunt De studio et industria De otio Quanta uis sit eloquentiae Quantum momentum sit in pronuntiatione et apto motu corporis Quam magni effectus artium sint (mit Zwischenüberschrift für ext. 5–ext. 7: Quaedam nulla arte effici posse)86 Suae quemque artis optimum et auctorem esse et disputatorem De senectute De cupiditate gloriae Quae cuique magnifica contigerunt
9,1 9,2 9,3 9,4 9,5 9,6 9,7 9,8 9,9 9,10
De luxuria et libidine De crudelitate De ira aut odio De auaritia De superbia et impotentia De perfidia De ui et seditione De temeritate De errore De ultione
8,2 8,3 8,4 8,5 8,6 8,7 8,8 8,9 8,10 8,11
8,12
In diesem Fall ist die Kapitelüberschrift irreführend; siehe unten Fn. 649.
Einleitung
32 9,11 9,12 9,13
Dicta improba aut facta scelerata De mortibus non uolgaribus De cupiditate uitae (mit Zwischenüberschrift für ext. 2–4: Quam exquisita custodia usi sint quibus suspecti domestici fuerunt)
9,14 9,15
De similitudine formae De iis qui infimo loco nati mendacio se clarissimis familiis inserere conati sunt
Die Kapitelüberschriften gelten den meisten Forschern als nicht auf den Autor zurückgehend,87 greifen aber in der Regel Begriffe und Formulierungen aus den Kapitelpraefationes auf und geben die tatsächlichen [emen fast immer korrekt wieder.88 Bei den allermeisten dieser [emenstellungen handelt es sich entweder um persönliche Eigenschaften und deren Manifestationen (allgemein oder im Umgang
87
88
So H. E. Dirksen: Die historische Beispiel-Sammlung des Valerius Maximus, und die beiden Auszüge derselben, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Philologische und historische Abhandlungen 1845, S. 99–126, hier 104–113 (wegen Überflüssigkeit angesichts der Praefationes, wegen zu ungenauer Bezeichnung mancher Kapitelinhalte und weil maiestas im Titel von 2,10 nicht in die Zeit passe – obwohl der Begriff im Text ebenso gebraucht wird); jormeyer, S. 33f. (unter Berufung auf Dirksen, zudem wegen der uneinheitlichen Stellung der Überschriften – teils vor, teils nach den Praefationes – und weil sie manchmal durch Unterbrechung von relativen Anschlüssen u. dgl. den Lesefluss stören); Helm: RE, Sp. 97; Honstetter, S. 22–25; Combès in seiner Edition, Bd. I, S. 24; Briscoe in seiner Edition, S. xxvii; Wardle: Book 1, S. 6, Anm. 22; Ute Lucarelli: Exemplarische Vergangenheit. Valerius Maximus und die Konstruktion des sozialen Raumes in der frühen Kaiserzeit, Göttingen 2007, S. 35, Anm. 74; Isabelle Cogitore: Début de livre, début de chapitre, début d’exemplum chez Valère Maxime, in: Commencer et Finir. Débuts et fins dans les littératures grecque, latine et néolatine. Actes du colloque organisé les 29 et 30 septembre 2006 par l’Université Jean Moulin-Lyon 3 et l’ENS-LSH, Bd. I, hg. von Bruno Bureau/ Christian Nicolas, Lyon 2008, S. 71–82, hier 71; Albrecht: Geschichte, S. 908; und Julie Černá: Valerius Maximus a exemplum, Diss. Prag 2014 [mit englischem Abstract; S. 82–113 gelesen in automatischer deutscher Übers. mittels ], S. 83f. Dagegen meint Bloomer: Rhetoric, S. 18, Anm. 7, es sei schwer denkbar, dass der Autor eines solchen Werks auf Überschriften verzichtet hätte, und Schmied, S. 16, hält Marginalien des Autors für möglich. Die Überschriften der Epitomai stimmen weitgehend, aber nicht immer mit den für den Originaltext überlieferten überein, sagen also angesichts der Ableitbarkeit aus den Praefationes wenig aus. Eindeutig nicht authentisch ist das dem Originaltext in den Handschriften vorangestellte Kapitelverzeichnis, in dem die verlorenen Kapitel 1,2–4 fehlen. Mit der bereits erwähnten Ausnahme 8,11. Den Titel von 3,6 (Qui ex inlustribus uiris in ueste aut cetero cultu licentius sibi quam mos patrius permittebat indulserunt) muss man nicht mit Honstetter, S. 24, als dem (eher neutralen oder entschuldigenden als, wie Honstetter meint, positiv wertenden) Kapitelinhalt widersprechende Verurteilung deuten; als Beschreibung ist er zutreffend.
Gestalt des Werks
33
mit bestimmten Menschen)89 oder um bestimmte Arten von Vorfällen.90 Nur vereinzelt ist das [ema eine allgemeiner gefasste Situation, ein bestimmter Lebensbereich oder ein historischer Kontext91 oder hat den Charakter einer [ese.92 Das einzelne Kapitel besteht aus einer Praefatio (mit sehr wenigen Ausnahmen)93 sowie durchschnittlich einem Dutzend einzelner Anekdoten94 – das 89
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93 94
45 Kapitel in den Büchern 2–9 (davon 5 mit der Bezeichnung dicta aut facta): De maiestate (2,10), De indole (3,1), De fortitudine (3,2), De patientia (3,3), De fiducia sui (3,7), De constantia (3,8), De moderatione (4,1), De abstinentia et continentia (4,3), De paupertate (4,4), De uerecundia (4,5), De amore coniugali (4,6), De amicitia (4,7), De liberalitate (4,8), De humanitate et clementia (5,1), De gratis (5,2), De ingratis (5,3), De pietate erga parentes et fratres et patriam (5,4–6), De parentum amore et indulgentia in liberos (5,7), De seueritate patrum in liberos (5,8), De parentum aduersus suspectos liberos moderatione (5,9), De pudicitia (6,1), Libere dicta aut facta (6,2), De seueritate (6,3), Grauiter dicta aut facta (6,4), De iustitia (6,5), De fide publica (6,6), De fide uxorum erga uiros (6,7), De fide seruorum (6,8), De felicitate (7,1), Sapienter dicta aut facta (7,2), Vafre dicta aut facta (7,3), De studio et industria (8,7), De otio (8,8), De cupiditate gloriae (8,14), De luxuria et libidine (9,1), De crudelitate (9,2), De ira aut odio (9,3), De auaritia (9,4), De superbia et impotentia (9,5), De perfidia (9,6), De temeritate (9,8), Dicta improba aut facta scelerata (9,11), De cupiditate uitae (9,13). 27 Kapitel in allen Büchern: De simulata religione/Qui religionem simulauerunt (1,2), De auspicio (1,4), De ominibus (1,5), De prodigiis (1,6), De somniis (1,7), De miraculis (1,8), De censoria nota (2,9), De humili loco natis qui clari euaserunt (3,4), Qui a parentibus claris degenerauerunt (3,5), Qui ex inlustribus uiris in ueste aut cetero cultu licentius sibi quam mos patrius permittebat indulserunt (3,6), Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine (4,2), De parentibus qui obitum liberorum forti animo tulerunt (5,10), De mutatione morum aut fortunae (6,9), De repulsis (7,5), De necessitate (7,6), De testamentis quae rescissa sunt (7,7), Quae rata manserunt cum causas haberent cur rescindi possent (7,8), Infames rei quibus de causis absoluti aut damnati sint (8,1), Quae mulieres apud magistratus pro se aut pro aliis causas egerunt (8,3), Qui quae in aliis uindicarant ipsi commiserunt (8,6), Quae cuique magnifica contigerunt (8,15), De ui et seditione (9,7), De errore (9,9), De ultione (9,10), De mortibus non uolgaribus (9,12), De similitudine formae (9,14), De iis qui infimo loco nati mendacio se clarissimis familiis inserere conati sunt (9,15). Zehn Kapitelüberschriften in den Büchern 1–2 und 7–8: De religione (1,1), De superstitionibus (1,3), De institutis antiquis (2,1–6), De disciplina militari (2,7), De iure triumphi (2,8), Strategemata (7,1), De priuatis iudiciis insignibus (8,2), De quaestionibus (8,4), De testibus (8,5), De senectute (8,13). Hinzu kommt das Kapitel 8,11 über effectus artium. Drei Kapitel ausschließlich in Buch 8: Quanta uis sit eloquentiae (8,9), Quantum momentum sit in pronuntiatione et apto motu corporis (8,10), Suae quemque artis optimum et auctorem esse et disputatorem (8,12). Hinzu kommt die irreführende Überschrift Quam magni effectus artium sint (8,11; treffender ist De effectu artium in der Epitome des Iulius Paris). Zur Rolle der Praefationes siehe unten S. 329–332. Die Wahl dieses Begriffs wird unten S. 42–51 begründet.
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Einleitung
kürzeste Kapitel hat zwei, die längsten rund dreißig95 –, von denen die, die nichtrömische Protagonisten haben, am Kapitelende gruppiert sind.96 Ansonsten gibt es innerhalb der Kapitel kein allgemeingültiges Ordnungsprinzip, sondern ein Neben- und Ineinander verschiedenster Ordnungen.97 Dem ersten Kapitel ist eine Gesamtpraefatio vorangestellt, ein Schlusswort nach der letzten Anekdote fehlt jedoch, was als – natürlich keineswegs zwingender – Hinweis darauf gedeutet werden könnte, dass das Werk unvollendet oder unvollständig erhalten ist. Erstaunlicherweise wird diese Frage in der Forschung relativ selten thematisiert.98 Die übliche Zählung der Anekdoten geht auf die frühneuzeitliche Edition von Stephanus Pighius zurück.99 Es gab aber auch zuvor bereits diverse Einteilungsversuche, sowohl in Handschriften (etwa mit Paragraphenzeichen100) als auch in Druckausgaben (etwa mit durchlaufender Zählung und/oder Einzelüberschriften101). Da Pighius an manchen Stellen mehrere Anekdoten unter einer Nummer zusammenfasst, nehmen neuere Editoren zusätzliche Aufteilungen (mit Kleinbuchstaben) vor. Bei Kempf und Briscoe, die dies nur in vier Fällen tun (3,7,1; 5,1,1; 95 96
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Einmal sogar rund fünfzig, wenn man 2,1–6 als ein Kapitel betrachtet. Siehe auch unten bei Fn. 843. Es gibt eine relativ große Minderheit von Kapiteln, die rein römisch sind (teils weil sie spezifisch römische Institutionen betreffen). Wo es ‚externe‘ Anekdoten gibt, sind sie meist – aber nicht immer – weniger zahlreich als die römischen. Zu Valerius Maximus’ Sicht auf das Fremde siehe generell Sarah Jane Lawrence: Inside Out. Se Depiction of Externality in Valerius Maximus, Diss. Univ. of Sydney 2006. Siehe unten S. 272–306. Dass der Schluss verloren ist, halten immerhin Helm: RE, Sp. 97, Wardle: Book 1, S. 6, und Černá, S. 100, für möglich oder wahrscheinlich; Carter: Valerius Maximus, S. 29, erwägt auch die Möglichkeit, dass das Werk durch den Tod seines Autors unvollendet blieb. Schanz/Hosius, S. 588, Anm. 2, meinen dagegen, ein Epilog sei „nicht absolut notwendig“. Comes, S. 18, hält 9,15, ext. 1 (tatsächlich nur die vorletzte Anekdote!) für einen passenden Abschluss. Zur jese, 9,11, ext. 4 sei der ursprüngliche Schluss gewesen, siehe unten bei Fn. 844. Siehe Briscoe: Book 8, S. 28f. So (abwechselnd blau und rot) in: Liber Valerÿ maximi scriptus per me Albertum de Eÿbe […] In Vtroque tunc Iure Bononie Scolarem, Ms. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 2° Cod 104, entstanden 1449–51. Siehe Crab: Exemplary Reading, S. 150f. sowie 157, Anm. 40, zur expliziten Auseinandersetzung eines der Editoren mit der Frage (Iodocus Badius Ascensius: Valerius maximus cum duplici commentario historico videlicet ac litterato, [Paris] 1510, S. 227r, trennt 5,9, praef. von 5,8 und kommentiert: Breuis est pręfatio in narrationem de moderatione parentum aduersus susceptos [gemeint: suspectos] liberos: in qua dicenda dictis quodammodo comparat: quocirca quidam superiori annexam habent hanc partem: quam malui segregare). Die Anekdotenüberschriften greifen zumindest bei Badius durchwegs die Namen der Hauptpersonen auf.
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5,3,2; 6,3,1), ergeben sich insgesamt 975 Anekdoten, bei Shackleton Bailey, der häufiger aufteilt, 1039 (davon jeweils 27 aus den Epitomai ergänzte).102 Die Werkstruktur auf und über der Buchebene ist nicht auf den ersten Blick einleuchtend; zusätzlich verkompliziert wird die Frage durch zwei Hinweise darauf, dass die uns vorliegende Bucheinteilung nicht die ursprüngliche sein könnte – der Epitomator Iulius Paris spricht in seiner Praefatio von zehn Büchern,103 und Gellius (12,7,8) zitiert eine Stelle aus dem achten Buch (8,1, amb. 2) als aus dem neunten stammend.104 Offensichtlich ist die thematische Geschlossenheit der Bücher 1 (Religion, Vorzeichen und Wunder) und 2 (römische Institutionen), während die übrigen Bücher als solche ziemlich durchmischt wirken. Wenn man die Buchgrenzen ignoriert, fällt aber auch hier eine klare Neigung zur Blockbildung auf. Das Sammelthema ‚Tugenden und Talente‘ bildet einen großen Block mit einer Unterbrechung (3,1–3 und 3,7–6,8),105 innerhalb dessen es punktuelle Zusammenstellungen wie De amore coniugali und De amicitia (4,6–7), die je drei Kapitel De 102
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Auch Shackleton Bailey erfasst nicht alle Fälle, in denen eine Aufteilung sinnvoll wäre (siehe unten Fn. 177 und 647); selten tritt die zusätzliche Schwierigkeit auf, dass in der herkömmlichen Einteilung als Anekdote gezählte Stellen eher Kapitelpraefationes sind oder umgekehrt (unten Fn. 363 und 650). Vgl. jetzt außerdem David Wardle: “Not Putting Roman History in Order?”. Regal, Republican and Imperial Boundaries, in: Reading by Example, hg. von Murray/Wardle, S. 17–46, hier 18, der 1051 Anekdoten zählt. Die Handschrift, in der uns die Epitome überliefert ist, teilt die Anekdoten nach den uns bekannten Büchern ein und fügt ein nicht dazugehöriges Kapitel De praenominibus (sowie in einem vorangestellten Inhaltsverzeichnis weitere fünf Kapitel über Namen und Wortarten, die im Volltext fehlen) als Buch 10 hinzu. Vermutlich hat ein Schreiber die in der Epitome ursprünglich fehlende Bucheinteilung nach einer in neun Bücher eingeteilten Handschrift des Originalwerks – und mit fälschlicher Einbeziehung des in seiner Vorlage auf die Epitome folgenden Texts – rekonstruiert (siehe Briscoe in seiner Edition, S. xix–xxi, und Book 8, S. 21). Helm: RE, Sp. 115, hält diese Erklärung für die plausibelste (im Gegensatz zu anderen Vorschlägen „nicht undenkbar“); Wardle: Book 1, S. 6, Anm. 21, und 9, neigt eher dazu, die Angaben von Gellius und Paris für Irrtümer zu halten (die mit der „relative looseness“ der Einteilung erklärbar seien). Der Vorschlag von [Ludwig] Traube: Untersuchungen zur Ueberlieferungsgeschichte römischer Schriftsteller, in: Sitzungsberichte der philosophisch-philologischen und historischen Classe der k. b. Akademie der Wissenschaften zu München 1891, S. 387–428, hier 395, dass es wie bei Plin. nat. – aber als nicht vom Autor stammende Hinzufügung – ein als Buch 1 gezähltes Inhaltsverzeichnis gegeben habe, wird von Helm: RE, Sp. 97f., zu Recht abgelehnt, weil nicht glaubhaft ist, dass ein solches den Umfang eines Buchs erreicht hätte (wohingegen der Umstand, dass die Werkpraefatio direkt zum vorhandenen Buch 1 überleitet, nur gegen die von Traube angenommene Einschaltung an dieser Stelle spricht; ein nachträglich hinzugefügtes Inhaltsverzeichnis hätte aber auch – wie die Kapitelliste in den Handschriften – vor der Praefatio stehen können). Ich inkludiere auch 4,2 (Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine), obwohl hier das jema als Handlungsablauf statt als Eigenschaft formuliert wird (denkbar
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Einleitung
pietate (5,4–6) und De fide (6,6–8) und die vier über Tugenden in der Beziehung von Eltern und Kindern (5,7–10) gibt. Die sonstigen Blöcke und Paare handeln von sozialem Aufstieg und Dekadenz (3,4–6), Glück und Unglück (6,9–7,1), Klugheit und Verschlagenheit (7,2–4), dem Prozesswesen (7,7–8,6), Arbeit und Muße (8,7–8), Rede- und sonstiger Kunst (8,9–12),106 Lastern und Untaten (9,1– 11), dem Tod (9,12–13) und zweifelhaften Identitäten (9,14–15). Als Solitäre verbleiben nur die Kapitel 7,5–6 und 8,13–15, also fünf von insgesamt 73. Ein die Anordnung dieser Blöcke vollständig erklärendes Gesamtkonzept scheint es nicht zu geben. Das Streben, eines zu finden, hat in der Forschungsliteratur mitunter zu recht artifiziellen, unplausiblen Vorschlägen geführt – ebenso wie das Insistieren darauf, die Bücher als thematische Einheiten zu erweisen.107 Teilweise ist es der Forschung aber doch gelungen, in Teilen des Werks ideelle Zusammenhänge aufzuzeigen, die über die unmittelbar sichtbaren hinausgehen. Der ausgefeilteste Vorschlag stammt von Robert Honstetter, der den Aufbau des Werks auf ein System von ethischen Konzepten zurückführen will.108 Er teilt das Werk in drei unterschiedlich große Teile, von denen der erste (Bücher 1–2) von Pflichten und der zweite (Bücher 3–8) von Tugenden handle, während der dritte (Buch 9) das sonstige Material versammle. Die Pflichten seien unterteilt in Pflichten gegenüber Göttern (Buch 1) und Menschen (Buch 2), diese wiederum in familiäre (2,1) und das öffentliche Leben betreffende (2,2–10).109 Innerhalb des
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wäre etwa placabilitas), und 5,3 (De ingratis) als Ergänzung zu 5,2 (De gratis). Nicht inkludiert sind die Kapitel 7,2–3 und 8,7, die zwar ebenfalls von Tugenden handeln, aber sich eindeutig in anders definierte Blöcke einordnen. Auch 8,7 handelt, obwohl mit einer allgemeinen Praefatio über industria eingeleitet, faktisch ausschließlich von Rede, Kunst und Gelehrsamkeit und verbindet insofern die beiden Blöcke. Umgekehrt konnte die Neigung, die Bücher einzeln zu betrachten, auch zu einem übertrieben negativen Befund führen, so bei Carter: Valerius Maximus, S. 26–29. Vielleicht nur ein Versehen ist die Tabelle bei Comes, S. 19, die jedem Buch als jema das seines ersten Kapitels zuweist. Bliss, S. 9, gibt eine vereinfachende, nach Büchern gegliederte Übersicht über die jemenkreise, ohne dass daraus wie behauptet ein „over-all principle“ ersichtlich würde (und verweist zudem auf eine vage Ähnlichkeit mit dem Aufbau von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik: Einleitung – Tugenden – Laster – Freundschaft – Lust – Glück). Honstetter, S. 25–51. Zu seiner (überzeugenderen) Auseinandersetzung mit dem Aufbau der Kapitel siehe unten S. 272–276. Nicht nur die postulierte Trennung von Pflichten und Tugenden, sondern auch die Aufteilung der Pflichtenkapitel bringt Honstetter (sowie ihn zitierend Albrecht: Geschichte, S. 912) mit stoischer Ethik in Verbindung – unter Berufung auf Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 2 Bde., Göttingen 1948/255, Bd. I, S. 288 und 298f., der ein im 2. Jhd. n. Chr. bei Hierokles (in Exzerpten bei Stobaios) zu findendes Pflichtenschema mit der Abfolge Götter – Vaterland – Familie als „herkömmlich“ verallgemeinert. Eine stoische Neigung zu separater Behandlung von Pflichten- und Tugendlehre kann ich weder Pohlenz noch dem ebenfalls zitierten Artikel von O. Gigon:
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Tugendblocks seien die Bücher 3–5 „genau je eine thematische Einheit“: ‚Stärke‘ (Buch 3), ‚Selbstbeschränkung‘ (Buch 4), ‚mitmenschliches Handeln‘ (Buch 5). Gemeinsam mit den Kapiteln 6,1–8 (‚diverse Tugenden‘) bilden sie für Honstetter einen Block über ‚virtutes im engeren Sinn, d. h. normative Handlungsmodelle, die die imitatio als angemessene Reaktion erfordern‘, dem ein zweiter Block über ‚virtus im weiteren Sinne‘, d. h. ‚Lebensklugheit‘,110 mit den konkreten [emen ‚Wechsel der fortuna‘ oder ‚Wechselfälle des Lebens‘ (6,9–7,6), ‚Unwägbarkeiten bei Gericht‘ (7,7–8,6) und ‚Geistesleistungen‘ oder ‚Bildung‘ (8,7–12) gegenüberstehe. Viele dieser Einteilungen sind problematisch. Schon die Subsumption von Buch 1 unter ein Großthema ‚Pflicht‘ ist im Grunde bloß eine Verallgemeinerung des [emas von 1,1 (mit 1,2–3 als negativen Gegenstücken), während die Kapitel 1,4–8 eindeutig die Zeichen und Wunder als solche zum [ema haben, mit oder ohne ethische Implikationen. Auf Buch 2 trifft das [ema wohl im Wesentlichen zu, allerdings nicht mehr als auf manche Kapitel späterer Bücher – am explizitesten die sechs De pietate (5,4–6) und De fide (6,6–8). Auch die Integration des Blocks 3,4–6 (wovon zumindest 3,4–5 dem [ema von 6,9 nahestehen) in das Großthema ‚virtutes im engeren Sinn‘ scheint kaum haltbar. Tugenden und sonstige [emen, die etwas über das Leben aussagen – denn mehr kann mit ‚Lebensklugheit‘ nicht gemeint sein, wenn auch das Schicksal (6,9–7,1) und ein Kapitel wie Qui quae in aliis uindicarant ipsi commiserunt (8,6) dazugehören –, sind also nicht so scharf getrennt wie es Honstetters Schema vorsieht. Sein Unterthema ‚Stärke‘ trifft wohl auf 3,1–2 und 7–8 zu, auf 3,4–6 aber eben nicht, und De patientia (3,3) könnte ebenso gut der ‚Selbstbeschränkung‘ zugeordnet werden. Diese wiederum trifft zwar als [ema von 4,1–5 zu; schwer einzusehen ist aber, warum De amore coniugali und De amicitia (4,6–7) zu einer anderen Art von Tugend gehören sollten als die entsprechenden Kapitel über Eltern, Geschwister und Kinder (5,4–5 und 7), und auch De liberalitate (4,8) würde bestens neben De humanitate et clementia (5,1) unter die Rubrik ‚mitmenschliches Handeln‘ passen. Fraglich ist zudem, was 7,2–4 (Klugheit im engeren Sinn) mit 6,9–7,1 und 7,5–6 (fortuna und ‚Wechselfälle‘ im engeren Sinn) verbinden soll.111
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Ethik, in: Lexikon der Alten Welt, hg. von Carl Andresen et al., Zürich 1965, Sp. 880– 886, entnehmen; eher wird diese in jene integriert (vgl. Peter Steinmetz: Die Stoa, in: Die Philosophie der Antike. Band 4. Die hellenistische Philosophie. Zweiter Halbband, hg. von Hellmut Flashar, Basel 1994, S. 491–716, über das Register s.v. ‚Pflicht‘ zu erschließen, und Günter Gawlick/Woldemar Görler: Cicero, ebd., S. 991–1168, hier 1047–1050). Dies erinnert an die aristotelische Unterscheidung von ‚ethischen‘ und ‚dianoetischen‘ Tugenden (eth. Nic. 1,13 = 1103a), Honstetter stellt diesen Zusammenhang jedoch nicht her. Auch die ziemlich künstliche Verknüpfung in der Praefatio von 7,2 – es sei ein Glück, sapientia zu haben – kann eine solche Zusammengehörigkeit kaum herstellen.
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Die thematisch unzusammenhängenden Kapitel 8,13–15 werden von Honstetter wenig überzeugend als ‚Endpunkte v. virtus‘ gruppiert und gemeinsam mit 3,1 (De indole) zu einem ‚Rahmen‘ um die Tugendbücher erklärt. Buch 9 gilt ihm als Sammlung ‚übriggebliebenen‘ Materials, enthält aber mit 9,1–11 sogar einen der größeren geschlossenen Blöcke im Werk, hat also keinen disparateren Inhalt als die Bücher 3, 7 und 8. Die Identifikation seiner thematischen Einteilung mit der vermuteten ursprünglichen Einteilung in zehn Bücher (6,1–8 = Buch 6; 6,9–7,6 = Buch 7; 7,7– 8,6 = Buch 8; 8,7–15 = Buch 9; Buch 9 = Buch 10) wird bereits von Honstetter selbst mit der gebührlichen Skepsis vorgetragen, da die von Gellius zitierte Stelle weiterhin in Buch 8 statt 9 stünde.112 Weniger schematisch als Honstetter gehen Gabriela Schmied und Franz Römer vor, die die vier stoischen (und platonischen), auch von Cicero aufgegriffenen Kardinaltugenden als Erklärungsansatz für die Bücher 3–8 heranziehen, aber dabei ‚Raum für variatio‘ zugestehen.113 Nach einem angemessenen Einstieg mit ‚Virtusträgern, die sehr früh ihre spätere Tatkraft erkennen ließen‘ (De indole) werde als erste Kardinaltugend die fortitudo behandelt (3,2), auf die in 3,3 und 3,7–8 drei ihrer vier bei Cic. inv. 2,163 genannten Aspekte – wenngleich mit teilweise abweichenden Bezeichnungen (fiducia sui statt fidentia, constantia statt perseuerantia) – folgten (der fehlende Aspekt ist die magnificentia). Dass 3,4–6 nicht dazugehören, wird also anerkannt. Die moderatio (4,1) entspreche der Kardinaltugend temperantia (Cic. inv. 2,164), ihr folge zunächst ein ‚Spezialfall‘ (4,2: Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine), auf diesen die Aspekte continentia und paupertas (4,3–4; bei Cicero continentia und modestia), der dritte Aspekt clementia dagegen erst in 5,1. Die Kapitel 4,6–8 gehören eingestandenermaßen nicht dazu; nach Schmied und Römer leiten sie vielmehr das in Buch 5 weitergeführte [ema ‚zwischenmenschliche Beziehungen‘ ein, das also die Abfolge der Kardinaltugenden unterbricht. Nicht nur 5,2–10 seien diesem [ema gewidmet (5,2–3: De gratis und De 112
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Siehe oben bei Fn. 103. Zu Recht kein Problem sieht er hingegen in den sich durch seine Einteilung ergebenden ungleichen Buchlängen (27 bis 56 Druckseiten, während die überlieferten Bücher ziemlich einheitlich sind). Er verweist dazu auf die Listen von Buchlängen bei jeodor Birt: Das antike Buchwesen in seinem Verhältniss zur Litteratur, Berlin 1882, S. 327–333; aus ihnen ergibt sich z. B. in Cic. fin. und den erhaltenen Liviusbüchern zwischen geringster und größter Buchlänge ein Verhältnis von rund 1 : 1,7, in Plin. nat. sogar von rund 1 : 3,4, während es bei Valerius Maximus nach Honstetters Einteilung rund 1 : 2,1 betrüge. Man könnte noch das Argument hinzusetzen, dass die ungleichen Buchlängen eine gute Erklärung für die spätere Neueinteilung böten. Die folgende Darstellung beruht primär auf Römer: Zum Aufbau der Exemplasammlung des Valerius Maximus, in: WS 103 (1990), S. 99–107, die meisten Punkte finden sich aber auch – und zwar anscheinend zuerst – bei Schmied, S. 32–37 (beide ohne Kenntnis der Arbeit von Honstetter).
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ingratis als direktes Gegenstück zu 4,8: De liberalitate), sondern auch 5,1 werde durch seine an 4,8 anknüpfende Praefatio eingebunden. In den Büchern 6–8 erkennen Schmied und Römer noch zwei Blöcke zu den verbleibenden Kardinaltugenden, die aber die Bücher im Ganzen nicht mehr dominieren: 6,5–8 über iustitia und ihre Grundlage fides (im Sinne von Cic. off. 1,23: Fundamentum autem est iustitiae fides), 7,2–4 über sapientia. Zudem bilde der Block über Rechts- und Gerichtswesen (7,7–8,6) eine Ergänzung zur sonst knapp behandelten iustitia, und 8,15 (Quae cuique magnifica contigerunt) schließe den ‚virtus-Komplex‘ mit dem Motiv ‚Lohn der virtus‘ passend ab. All dies ist überzeugender als das Schema Honstetters (dessen Ansätze für die Bücher 3–5 Schmied und Römer immerhin prinzipiell bestätigen, aber auf ein realistischeres Maß zurückführen und besser begründen). Die oben skizzierte Blockeinteilung ist also um die Erkenntnis zu ergänzen, dass die Anordnung der Kapitel innerhalb des Sammelthemas ‚Tugenden und Talente‘ (3,1–3 und 3,7–6,8) auch abseits der schon auf den ersten Blick offensichtlichen Zusammenstellungen (4,6– 7; 5,4–6; 5,7–10; 6,6–8) nicht rein willkürlich, sondern von moralphilosophisch begründbaren Schwerpunktbildungen geprägt ist – die aber nicht bis zu einem konsequenten Ordnungsprinzip entwickelt werden. Wieder weniger plausibel ist die von W. Martin Bloomer in seiner ValeriusMaximus-Monographie aufgestellte [ese, das [ema der Bücher 1–3 sei ‚religion most broadly conceived‘; diese werde zuerst (am Anfang von Buch 1) im Kontext von ‚formal state ceremonies‘ betrachtet und schließlich (in Buch 3) in Form rein persönlicher moralischer Qualitäten, während Buch 2 als Mischung von Öffentlichem und Individuellem den Übergang bilde.114 Weder ist ersichtlich, inwiefern die Bücher 2–3 stärker von Religion – oder selbst religio im Sinne von ‚Gewissenhaftigkeit‘ – geprägt sein sollen als die folgenden Bücher, noch darf der Gegensatz der Sphären überbetont werden. Die Zeichen- und Wunder-Kapitel in Buch 1 enthalten auch Geschichten aus der rein privaten Sphäre (was Bloomer für die externen Teile zugesteht; hinzu kommen aus den römischen Teilen 1,5,4, 1,7,8 und 1,8,12, im letzten Fall freilich mit der Einleitung Aliquid admirationis ciuitati nostrae […] attulit), während umgekehrt in Buch 3 solche mit öffentlicher Bedeutung die klare Mehrheit bilden. Zutreffend ist immerhin, dass die Kapitelthemen ab Buch 3 persönlicher gefasst sind (als Charaktereigenschaften oder biographische Abläufe). Robert Combès vertritt in der Einleitung zu seiner Edition115 wie Schmied und Römer eine nicht streng schematische Orientierung an den vier Kardinaltugenden,
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Bloomer: Rhetoric, S. 20–26 (ohne Kenntnis der Arbeiten von Honstetter, Schmied und Römer). Stark vereinfachend heißt es ferner, die Bücher 2–6 böten individuelle moralische Vorbilder, Buch 9 die Laster. Für die Bücher 7–8 werden Blockbildungen ähnlich den oben beschriebenen (mit einzelnen Abweichungen) anerkannt. Bd. I, S. 24–45 (ohne Kenntnis der Arbeiten von Honstetter, Schmied, Römer und Bloomer).
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die er darüber hinaus als direkten Einfluss rhetorischer [eorieschriften erklärt.116 Während seine Behandlung von fortitudo, temperantia und sapientia nur im Detail von der bei Schmied und Römer abweicht, weitet er die iustitia wohl etwas übermäßig aus. Er sieht die Bücher 1–2 von ihr geprägt – was nur in einem sehr abstrakten Sinn argumentierbar ist – und verleibt ihr in den Büchern 5–6 nicht bloß die [emen Dankbarkeit (5,2–3), pietas (5,4–6) und seueritas (6,3) ein, sondern sogar libertas (6,2; als Gegenteil des zur iustitia gehörenden Respekts vor Höherstehenden) und grauitas (6,4; weil sie der ueritas verwandt und diese ein Aspekt der iustitia sei). Hingegen führt die verstärkte Anbindung an rhetoriktheoretische Kategorien dazu, dass die Kapitel über Prozesse (7,7–8,6) nicht der iustitia zugerechnet, sondern als Abwendung von der bisher das Werk prägenden [ematik verstanden werden; sie beträfen den Bereich der Gerichtsrede (genus iudiciale), die grundsätzlich nicht auf die Kardinaltugenden rekurriere. Zu diesem zählt Combès auch noch den anschließenden [emenkreis studium et industria (von ihm erweitert um die Kunst-Kapitel 8,9–12 sowie um 8,13 und 8,15) wegen seiner großteils unpolitischen Inhalte. Dass eine konsequente Trennung der beiden Bereiche nicht vorliegt, zeigen aber nicht nur einzelne Gegenbeispiele (das ganze Kapitel 8,15 und manche Anekdoten in den Kapiteln über Redekunst; umgekehrt natürlich auch private Anekdoten in den vorangehenden Werkteilen), sondern auch die ‚Leidenschaften‘ in 8,14 und Buch 9, in denen Combès selbst eine antithetische Rückkehr zur Tugendthematik erkennt. Der letzte hier zu besprechende Vorschlag,117 die von Nikolaus [urn – anknüpfend an die von Valerius Maximus verwendete Formulierung humanae uitae
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Die Rolle und Einteilung der Tugenden ist in den drei von Combès genannten Schriften recht unterschiedlich. In Ciceros De inventione erscheinen sie als Teil einer umfassenden ethischen Systematik (2,155–176), die als Argumentenschatz für deliberative Reden (argumentandi loci et praecepta; zu den Redegattungen siehe unten Fn. 324) dienen soll; in diesen gehe es nämlich um honestas und utilitas, und zu den honesta gehöre die uirtus – die darum in ihren vier Haupt- und deren Unterkategorien dargestellt wird. Die anonyme Rhetorica ad Herennium enthält eine ähnliche Systematik in knapperer Form (3,2,3–3,6), mit modestia statt temperantia und ohne weitere Unterteilung der vier Tugenden. Ciceros Partitiones oratoriae, die die Tugenden anlässlich der epideiktischen Rede einführen (70–82), weichen vom Viererschema ab, indem sie fortitudo und iustitia als Aspekte der temperantia behandeln; sie bieten sich – worauf Combès nicht eingeht – auch dadurch als mögliche Inspiration für Valerius Maximus an, dass sie explizit die Möglichkeit der Gruppierung von facta nach Tugenden – als Alternative zur chronologischen Abfolge – ansprechen (75: Deinde est ad facta veniendum, quorum conlocatio triplex est: aut enim temporum servandus ordo est aut in primis recentissimum quidque dicendum aut multa et varia facta in propria virtutum genera sunt digerenda). Wardle: Book 1, S. 6–8, jemann-Steinke, S. 31–39, Černá, S. 87–102, und Sara Paulin/Florencia Cattán/Maricel Radiminski: Temas y organización interna, in: Schniebs et al.: Libro primero, S. 47–53, gehen nicht über die jeweils (teils zustimmend, teils kritisch) besprochenen Vorgänger hinaus.
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partes persequi propositum est (6,2, praef.; ähnlich an anderen Stellen) – konstruierte Einteilung nach Lebensaltern, ist mit Abstand der gewagteste.118 Die Bücher 1–2 sind laut [urn der pueritia (durch die ihr zuzuordnenden [emen religio und mos maiorum), 3–4 der adulescentia (fortitudo), 5–6 dem vir constantis aetatis (gravitas), 7–8 der senectus (praecepta und sapientia) und 9 dem Tod (vitia) gewidmet. Die Begründungen dafür lassen sich im Einzelnen zwar oft rechtfertigen, wirken im Gesamtbild aber doch willkürlich, weil sie – selbst abgesehen von den Kapiteln, die nur durch Assoziation mit anderen in die jeweilige Altersgruppe integriert werden119 – völlig verschiedene und sogar konträre Kriterien heranziehen. Ein Kapitel kann nach [urn zu einem bestimmten Lebensalter gehören, weil dieses die betreffende Eigenschaft in besonderem Maß habe (z. B. die Jugend fortitudo), weil es sie im Gegenteil entbehre (moderatio als „Heilmittel gegen die Heißblütigkeit der Jugend“), weil man in diesem Alter über das [ema belehrt werde (Religion und mos maiorum als Inhalte der Kindererziehung), weil man es selbst lehren könne (alte Leute die sapientia oder auch – infolge ihrer generell größeren Lebenserfahrung – das Führen von Prozessen), weil es eine erst in diesem Alter zugängliche Sphäre betreffe (die libertas das Staatswesen), weil man in diesem Alter bestimmte Handlungen setze (Jugendliche schließen Freundschaften,120 alte Leute machen Testamente121) oder weil man eine in einem anderen Lebensalter wichtigere Tugend immerhin überwachen könne (der erwachsene Mann die pudicitia seiner Familienmitglieder), ja selbst auf Grund einer rein allegorischen Verbindung (Laster sind „schlimmer als der Tod“) oder einer indirekten 118
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Der Aufbau der Exemplasammlung des Valerius Maximus, in: Hermes 129 (2001), S. 79–94. Sein vierteiliges Lebensalterschema stützt sich auf Cic. Cato 33 (wo iuvenis und adulescens synonym gebraucht werden), er nennt aber auch (ohne Quelle) ein alternatives Schema, das infantia und pueritia, adulescentia und iuventus unterscheidet, und erkennt ausdrücklich an, dass es eine „normierte Einteilung der aetates“ nicht gab (vgl. auch Melanie Möller: Das Spiel mit der Zeit. Beobachtungen zur agonalen Struktur in den ‚Alters‘-Elegien des Mimnermos und des Solon, in: Philologus 58, 2014, S. 26–52, und die Übersicht bei Marie-Luise Deißmann-Merten: Alter, in: DNP 1, 1996, Sp. 556– 559, zu numerischen Schematisierungsversuchen, z. B. in Hebdomaden, sowie zur ganzen jematik ausführlich Franz Boll: Die Lebensalter. Ein Beitrag zur antiken Ethologie und zur Geschichte der Zahlen, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 31, 1913, S. 89–145). So z. B. 5,4–6 (über pietas, u. a. erga parentes) ins Mannesalter wegen der Zusammengehörigkeit mit 5,7–10, wo es um das Verhalten von Eltern gegenüber den Kindern geht. So wird die Einordnung von De amicitia (4,7) – und durch Assoziation auch von De uerecundia und De amore coniugali (4,5–6) – in die adulescentia begründet, obwohl es im Kapitel nicht speziell um die Entstehung von Freundschaften, sondern hauptsächlich um das standhafte Festhalten an ihnen geht. In diesen Kapiteln (7,7–8) stehen aber nicht die Erblasser, sondern Erben und Enterbte im Mittelpunkt. Schematisch würden sie sicherlich besser zur Todesthematik passen.
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Einleitung
Assoziation, die überdies eine spezifische philosophische Lehre voraussetzt (in 9,14–15 gehe es um Dinge, die durch die Geburt bedingt seien, und die Geburt gehöre im pythagoreischen Sinne zum Tod). 3.c
Anekdotizität der Einzelerzählungen
Die nähere Auseinandersetzung mit der Werkgestalt auf und unterhalb der Kapitelebene bildet den Inhalt der beiden Hauptteile dieser Arbeit. Ein einzelner Aspekt ist aber noch vorweg zu besprechen, weil er sich auf die im gesamten Verlauf der Arbeit verwendete Terminologie auswirkt. Die Einzelerzählungen, aus denen sich die Kapitel zusammensetzen, werden hier als Anekdoten – statt, wie sonst meist üblich, als Exempla – bezeichnet. Die definitorischen Überlegungen auf den folgenden Seiten sollen diese Präferenz begründen und klarstellen, was unter der den Erzählungen zugeschriebenen Anekdotizität verstanden wird.122 Exemplum ist – wie auch das vergleichbare griechische παράδειγμα – ein Begriff der antiken Rhetoriktheorie.123 Schon Aristoteles (rhet. 1,2,8 = 1356b) behandelt das παράδειγμα als eine von zwei rhetorischen Argumentationsweisen, nämlich die induktive (= ἐπαγωγή) im Gegensatz zum deduktiven (= συλλογισμός) ἐνθύμημα. In der pseudo-aristotelischen, heute seinem Zeitgenossen Anaximenes von Lampsakos zugeschriebenen sogenannten Rhetorica ad Alexandrum (7,2 = 1428a und 8,1 = 1429a) erscheint es als Beweis (πίστις) durch vergangene Ereignisse (πράξεις ὅμοιαι γεγενημέναι καὶ ἐναντίαι ταῖς νῦν ὑφ’ ἡμῶν λεγομέναις). Für Cicero (inv. 1,49) gilt: Exemplum est quod rem auctoritate aut casu alicuius hominis aut negotii confirmat aut infirmat. Der Auctor ad Herennium definiert den Einsatzzweck weiter, aber ebenfalls klar instrumental (4,49,62): Exemplum est alicuius facti aut dicti praeteriti cum certi auctoris nomine propositio. Id sumitur isdem de causis, quibus similitudo (d. h. laut 4,45,59: aut ornandi causa aut probandi aut apertius dicendi aut ante oculos ponendi). Quintilian, der das exemplum als Unterkategorie der probatio artificialis (5,9,1) behandelt, fasst unter dem Begriff 122
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Sie verfolgen also eine eng begrenzte Zielsetzung. Das Bedeutungspotential der Anekdote erschöpft sich keineswegs in der hier gegebenen Begriffsdefinition – und die Einzelerzählungen des Valerius Maximus nicht im Anekdotischen. Siehe unten S. 306–366 mit weiterführenden Ergebnissen zu beiden jemen. Eine generelle Geschichte der Vokabel exemplum (einschließlich des Gebrauchs außerhalb der Rhetorik) findet man bei Hildegard Kornhardt: Exemplum. Eine bedeutungsgeschichtliche Studie, Diss. Göttingen 1936, und eine ausführliche Darstellung der rhetorischen Exemplatheorie von Aristoteles und Anaximenes bis Quintilian bei Bennett J. Price: Παράδειγμα and Exemplum in Ancient Rhetorical Seory, Diss. Univ. of California, Berkeley 1975. Einen Überblick über die antike Exemplaverwendung gibt Adolf Lumpe: Exemplum, in: RAC VI (1966), Sp. 1229–1257.
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zunächst das παράδειγμα und die παραβολή (= similitudo) zusammen (5,11,1–2) und sagt dann zu jenem (quod proprie vocamus exemplum): id est rei gestae aut ut gestae utilis ad persuadendum id quod intenderis commemoratio (5,11,6). Man sieht, dass das Exemplum viel eher über die Funktion definiert wird als über die Form, die – wenn überhaupt – nur vage bezeichnet wird (propositio, commemoratio). Die moderne Forschungsliteratur – die hier exemplarisch von drei einflussreichen, jeweils Antike und Mittelalter verbindenden und vergleichenden Veröffentlichungen repräsentiert werden soll124 – ist in ihrem Exemplumsverständnis zum Teil restriktiver, indem sie die von den antiken [eoretikern nicht angesprochene Narrativität zum Kriterium erhebt,125 zum Teil hält sie aber auch am rein funktionalen Charakter des Exemplumsbegriffs fest und betont ausdrücklich, dass die Erzählung nicht die einzig mögliche Form des Exemplums ist.126 In jedem Fall bleibt klar, dass das Exemplum etwas Instrumentales an sich hat, auch wenn über die konkreten Zwecke, denen es dienen kann, dieselbe Uneinigkeit besteht wie zwischen den antiken [eoretikern: teils wird das Exemplum ausschließlich als Überzeugungsmittel verstanden,127 teils der Anwendungsbereich deutlich weiter gefasst.128 124
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Nämlich von einer ‚Table Ronde‘ von 1979 (Rhétorique et histoire. L’exemplum et le modèle de comportement dans le discours antique et médiéval, [hg. von Jean-Michel David], in: MEFRM 92, 1980, S. 9–179, darin ders.: Présentation, S. 9–14), dem einschlägigen Band in der Typologie des sources du moyen âge occidental (Claude Bremond/Jacques Le Goff/Jean-Claude Schmitt: L’«Exemplum», Turnhout 1982) und einer Monographie von Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policraticus“ Johanns von Salisbury, Hildesheim 21996. Vgl. Jacques Le Goff: Définition et problèmes, in: Bremond/Le Goff/Schmitt, S. 27–38, hier 36f., allerdings speziell für das Mittelalter. An anderer Stelle, ders.: Évolution. 1. Les étapes de l’«exemplum», ebd., S. 43–57, hier 46f., wird das exemplum der Antike als nicht notwendigerweise narrativ bezeichnet. Le Goff behandelt also exemplum im antiken und im mittelalterlichen Sinne (Kritik an dieser bei näherer Betrachtung unhaltbaren Dichotomie übt Moos: Topik, S. 122–134) als zwei separate – wenngleich homonyme – Begriffe, statt die Unterschiede lediglich deskriptiv zu erfassen. Vgl. Jean-Michel David: Maiorum exempla sequi. L’exemplum historique dans les discours judiciaires de Cicéron, in: Rhétorique et histoire, hg. von dems., S. 67–86, hier 82f., und Présentation, S. 13, Alessandro Vitale-Brovarone: Persuasione e narrazione. L’exemplum tra due retoriche (VI–XII sec.), ebd., S. 87–112, hier 101 und 108f. („altre forme esemplarie“ wären etwa „iconografiche, drammatiche, gestuali“), und Moos: Topik, S. x, 89, 173. Auch Lumpe führt Werke der bildenden Kunst unter den Exempla auf. David: Présentation, S. 9: ‚un appel au passé dans une stratégie de la persuasion‘; Le Goff: Définition, S. 37f.: ‚destiné à être inséré […] pour convaincre un auditoire‘. Zur Einordnung des Exemplums in die ‚storia dell’argomentazione induttiva‘ vgl. auch Nevio Zorzetti: L’«esemplarità» come problema di «psicologia storica». Un bilancio provvisorio, in: Rhétorique et histoire, hg. von David, S. 147–152.
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Im Gegensatz zum Exemplum ist der Begriff ‚Anekdote‘ als Bezeichnung für eine Textsorte nicht antik129 und wohl darum in der Klassischen Philologie lange Zeit kaum verwendet oder gar theoretisch diskutiert worden.130
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Moos: Topik, S. xi: das Exemplum ist ‚ein in pragmatischer, strategischer oder theoretischer Absicht zur Veranschaulichung, Bestätigung, Problemdarlegung und Problemlösung, zur Reflexion und Orientierung aus dem ursprünglichen Kontext ad hoc isolierter, meist (in einer historia) erzählter oder nur anspielend erwähnter (commemoratio) Ereigniszusammenhang aus dem wirklichen oder vorgestellten menschlichen Leben naher oder ferner Vergangenheit‘. Zur Begriffsgeschichte in der (frühen) Neuzeit vgl. Lionel Gossman: Anecdote and History, in: H&T 42 (2003), S. 143–168, bes. 147–155, und Rüdiger Zill: Geschichten in Bewegung. Zum Funktionswandel der Anekdote im 17. und 18. Jahrhundert, in: Wissen en miniature. Seorie und Epistemologie der Anekdote, hg. von Matthias Grandl/Melanie Möller, Wiesbaden 2021, S. 163–176, sowie (ausgehend von französischen Wörterbüchern des 17.–20. Jhds.) Dany Hadjadj: L’anecdote au péril des dictionnaires, in: L’Anecdote. Actes du colloque de Clermont-Ferrand (1988), [hg. von Alain Montandon], Clermont-Ferrand 1990, S. 1–20. Mit potentiell vergleichbaren oder sich mit dem modernen Anekdotenbegriff überschneidenden antiken Termini (neben dem Exemplum: ἀφορισμός, γνώμη, ἀπομνημόνευμα, ἀπόφθεγμα, χρεία) befassen sich Marion C. Moeser: Se Anecdote in Mark, the Classical World and the Rabbis, London 2002, S. 57–87, und Jan Stenger: Apophthegma, Gnome und Chrie. Zum Verhältnis dreier literarischer Kleinformen, in: Philologus 150 (2006), S. 203–221. Zumindest ansatzweise definiert wird er von Moeser und Stenger sowie Olof Gigon: Antike Erzählungen über die Berufung zur Philosophie, in: MH 3 (1946), S. 1–21, Dennis Pausch: Biographie und Bildungskultur. Personendarstellungen bei Plinius dem Jüngeren, Gellius und Sueton, Berlin 2004, Simon Goldhill: Se Anecdote. Exploring the Boundaries between Oral and Literate Performance in the Second Sophistic, in: Ancient Literacies. Se Culture of Reading in Greece and Rome, hg. von William A. Johnson/Holt N. Parker, Oxford 2009, S. 96–113, Ana Martínez Gea: Tal como eran y cómo los vieran. La anécdota literaria en Valerio Máximo, in: SPhV, Anejo 1 (2017), S. 95–104, Melanie Möller/Matthias Grandl: Epistemische Konstruktionen des (Auto-) Biographischen in antiken und modernen Texten, in: Wissen en miniature, hg. von dens., S. 3–27, und Frank Wittchow: Vom exemplum zur Anekdote? Das Erbe der Annalistik bei Caesar, Livius und Tacitus, ebd., S. 51–66 (vgl. unten Fn. 132, 136, 142, 144, 147). Fritz Wehrli: Gnome, Anekdote und Biographie, in: MH 30 (1973), S. 193–208, behandelt „anekdotisch eingekleidete“ Apophthegmata, ohne sich zum Anekdotenbegriff zu äußern; auch Véronique Boudon-Millot: Anecdote et antidote. Fonction du récit anecdotique dans le discours galénique sur la thériaque, in: Antike Medizin im Schnittpunkt von Geistes- und Naturwissenschaften. Internationale Fachtagung aus Anlass des 100jährigen Bestehens des Akademienvorhabens Corpus Medicorum Graecorum/Latinorum, hg. von Christian Brockmann/Wolfram Brunschön/Oliver Overwien, Berlin 2009, S. 45–61, verzichtet darauf. Hans Armin Gärtner: Anekdote, in: DNP 1 (1996), Sp. 697f., Mark Beck: Plutarch’s Use of Anecdotes in the Lives, Diss. Univ. of North Carolina, Chapel Hill 1998, Frank Wittchow: Exemplarisches Erzählen bei Ammianus Marcellinus. Episode, Exemplum, Anekdote, München 2001, Graziano Arrighetti: Anekdote
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In den Neuphilologien und der neuphilologisch geprägten Literaturwissenschaft ist dies zwar anders – insbesondere die Germanistik und deutschsprachige Literaturwissenschaft verfügt über eine relativ umfangreiche Literatur zur Anekdote131 –, aber die Definitionsversuche variieren stark und sind zum Teil auch für sich genommen problematisch. Teils laufen sie darauf hinaus, die Anekdote mit dem Apophthegma gleichzusetzen – eine terminologische Verdoppelung, die wenig sinnvoll scheint.132 Teils wird die Anekdote (unter anderem) über den
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und Biographie. Μάλιστα τὸ μικρὸν φυλάττειν, übers. von Stefan Schorn, in: Die griechische Biographie in hellenistischer Zeit. Akten des internationalen Kongresses vom 26.–29. Juli 2006 in Würzburg, hg. von Michael Erler/Stefan Schorn, Berlin 2007, S. 79–100, und Maddalena Vallozza: La voce di Demostene nella tradizione aneddotica, in: Maia 64 (2012), S. 209–219, beziehen sich auf vorhandene Definitionen v. a. aus der Germanistik, Elizabeth Hazelton Haight: Se Roman Use of Anecdotes in Cicero, Livy, & the Satirists, New York 1940, Richard Saller: Anecdotes as Historical Evidence for the Principate, in: G&R 27 (1980), S. 69–83, und John P. Murphy: Se Anecdote in Suetonius’ Flavian ‘Lives’, in: ANRW II.33.5 (1991), S. 3780–3793, auf die des Oxford English Dictionary (was m. E. eine gute Wahl ist; vgl. unten bei Fn. 143). Seit 2017 untersucht das Teilprojekt Die Anekdote als Medium des Wissenstransfers im Sonderforschungsbereich Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die frühe Neuzeit an der Freien Universität Berlin die Rolle der Anekdote in der lateinischen Literatur mit epistemologischem Schwerpunkt; erste Ergebnisse bieten Matthias Grandl: „(Nicht) auf den Mund gefallen“. Caesars Rhetorik zwischen Schlagfertigkeit und Sprachlosigkeit in Suetons apophthegmatischen Anekdoten, SFB 980. Working Paper No. 13, Berlin 2019, und Ciceroniana. Zur anekdotischen Strategie in Ciceros rhetoriktheoretischen und philosophischen Schriften, Wiesbaden 2022 [im Erscheinen], Melanie Möller, Konfiguration des Wissenstransfers in biographischen Anekdoten. Seoretische Grundlegung im Fokus der Konzepte „Medium“, „Wissensoikonomie“ und „Negation“, SFB 980. Working Paper No. 18, Berlin 2019, und der Tagungsband Wissen en miniature, hg. von Grandl/Möller (siehe unten Fn. 559 sowie S. 196f. und 353–366 im Vergleich mit Valerius Maximus). Siehe als Einstieg Heinz Grothe: Anekdote, Stuttgart 21984, sowie die Lexikonartikel Elfriede Moser-Rath: Anekdote, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Band 1, hg. von Kurt Ranke, Berlin 1977, Sp. 528–541, und Heinz Schlaffer: Anekdote, in: RDL I (1997), S. 87–89. Vgl. etwa Rudolf Schäfer: Die Anekdote. Seorie – Analyse – Didaktik, München 1982, S. 7f., der unter ‚Anekdote‘ ausschließlich das Apophthegma versteht, wofür er sich auf dessen fast alleinige Präsenz in gegenwärtigen ‚Anekdoten‘-Sammlungen beruft (er gesteht zu, dass es sich „streng genommen“ um Apophthegmata handle, aber dieser Begriff sei nun einmal nicht mehr üblich). Die besagten Sammlungstitel können natürlich in keiner Weise als repräsentativ für den Sprachgebrauch gelten – das Wort kommt schließlich auch noch in vielen anderen Kontexten vor. Dem Apophthegma sehr nahe kommen auch Gigon: Berufung, S. 1, der die Anekdote als „von ihrer ‚Pointe‘ lebend“ kennzeichnet, und Stenger, S. 204, Anm. 7. Zu apophthegmatischen Strukturen bei Valerius Maximus siehe unten S. 195–198.
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historischen Stoff definiert.133 Teils wird sie auf den Zweck der Personencharakterisierung festgelegt,134 während andere wiederum ‚Charakter-Anekdoten‘ und ‚Situations-Anekdoten‘ unterscheiden.135 Teils werden andere intentionale oder wirkungsbezogene Bedingungen gestellt, die dem Exemplumsbegriff nahekommen können.136 Kurzum: „About the one thing most anecdote theorists agree upon is that there is often little agreement about what an anecdote is.“137 133
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Vgl. Joel Fineman: Se History of the Anecdote. Fiction and Fiction, in: Se New Historicism, hg. von H. Aram Veeser, New York 1989, S. 49–76, bes. 56f. (‚directly pointed towards or rooted in the real‘, ‚the smallest minimal unit of the historiographic fact‘), und die übrigen Vertreter des ‚New Historicism‘, für die sein Anekdotenbegriff maßgeblich geworden ist (u. a. Stephen Greenblatt: Introduction, in: ders.: Learning to Curse. Essays in early modern culture, New York 2007, S. 1–21, hier 6f.). Zur Frage des Realitätsbezugs als definierenden Kriteriums siehe auch unten Fn. 143. Vgl. schon A. C. K[ayser]: Ueber den Werth der Anekdoten, in: Der Teutsche Merkur, 2. Vierteljahr (Apr. 1784), S. 82–86, hier 82 (manchmal fälschlich Herder zugeschrieben): „Ich definire mir Anekdote so, daß sie eine charakterisirende Herzens- oder Geistesäusserung einer Person enthalte“. Ähnlich u. a. Victor Lange: Epische Gattungen, in: Das Fischer Lexikon. Literatur II. Erster Teil, hg. von Wolf-Hartmut Friedrich/Walther Killy, Frankfurt a. M. 1965, S. 209–235, hier 213. Auch der Mittellateiner Peter von Moos schreibt in seiner Studie zum Exemplum (Topik, S. 173): „Eine Anekdote dient der (biographischen) Charakterisierung eines beachtenswerten Menschen durch einen kleinen, unscheinbaren, vielleicht allzumenschlichen Umstand oder Vorfall aus dem Privatleben und stellt ein ‚repräsentatives Momentbild‘ dieser Persönlichkeit dar. Das Exemplum dagegen will […] mit Hilfe der Ereignis- oder Personendarstellung eine argumentative oder lehrhafte Schlußfolgerung für die gegenwärtige Situation ziehen. Das repräsentative historische Detail wird in der Anekdote als Synekdoche für das Ganze der Persönlichkeit gesetzt und dient dem biographischen Erzählzusammenhang, während das Exemplum diese Darstellung zum Zwecke eines Vergleichs mit einer völlig fremden causa übersteigt“. Der Sammelband Anekdote – Biographie – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den schönen Künsten, hg. von Melanie Unseld/Christian von Zimmermann, Köln 2013, enthält keine eigene Definition, geht aber ebenfalls von der personenbezogenen Anekdote aus (Unseld/Zimmermann: Vorwort. Anekdote – Biographie – Kanon, ebd., S. ix–xv, hier x–xi, und Unseld: Eine Frage des Charakters? Biographiewürdigkeit von Musikern im Spiegel von Anekdotik und Musikgeschichtsschreibung, ebd., S. 3–18, hier 4, zitieren auf Charakterisierung abstellende Definitionen; vgl. aber auch die Bemerkung von Frank Hentschel: Wie der ohnmächtige Dr. Martin Luther durch Musik wieder zu Bewusstsein kam. Lutherfiktionen im deutschen Musikschrifttum des 19. Jahrhunderts, ebd., S. 145–158, hier 156–158, wonach Personen durch Anekdoten stereotypisiert und entindividualisiert werden können!). Klaus Doderer: Die Kurzgeschichte in Deutschland. Ihre Form und ihre Entwicklung, Darmstadt 41969, S. 20. Vgl. Hans Peter Neureuter: Zur Seorie der Anekdote, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 458–480, hier 463 (‚was ihren Gehalt angeht, Repräsentanz, das heißt Spiegelung eines Großen im Kleinen […], was die Wirkung betrifft, die Haltung der Nachdenklichkeit‘), 467–472 und 477–480, [Alain Montandon], Préface, in: L’Anecdote, hg. von dems., S. v (u. a. ‚représentativité‘ und ‚effet qui donne à penser‘),
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Der einzige Ausweg aus dieser Begriffsverwirrung dürfte – wenn man auf die Anekdote als theoretisch-systematische Kategorie nicht überhaupt zugunsten eines rein historischen Verständnisses verzichten will138 – darin liegen, die Vagheit des Konzepts zu akzeptieren und eine Definition zu finden, die die gesamte Breite des von verschiedener Seite als anekdotisch bezeichneten Materials abdeckt. Einen Schritt in diese Richtung unternimmt Michael Niehaus mit seinem Vorschlag zweier ‚Pole, in deren Kraftfeld das Anekdotische steht, oder […] Ideen, an denen das Anekdotische teilhat‘.139 Auf der einen Seite stünde die ‚sprechende‘ (d. h. apophthegmatische) Anekdote mit formaler Definition,140 auf der anderen die ‚stumme‘ (d. h. nicht-apophthegmatische), die über den Inhalt zu definieren wäre. ‚Anekdote‘ wäre somit der gemeinsame Name zweier ganz verschiedener
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Ernst Rohmer: Anekdote, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 1, hg. von Gert Ueding, Tübingen 1992, Sp. 566–579, hier 566 (‚Erzählung eines historischen Geschehens von geringer Wirkung, aber großer Signifikanz‘; aufgegriffen von Stenger, S. 204, Anm. 7), François Lecercle: Avant-propos, in: La théorie subreptice. Les anecdotes dans la théorie de l’art (XVIe–XVIIIe siècles), hg. von Emmanuelle Hénin/François Lecercle/Lise Wajeman, Turnhout 2012, S. 9–17, hier 10 (‚valeur de symptome‘, ‚soit que l’événement ait une valeur généralisable, soit qu’il invite à en déduire une vérité inconnue ou méconnue‘, die Anekdote stamme insofern vom Exemplum ab), Martínez: Tal como eran, S. 96 (‚se presenta como ejemplo o entretenimiento‘), oder Wittchow: Vom exemplum zur Anekdote?, S. 51 (‚Zeigegestus‘). Paul Fleming: Se perfect story. Anecdote and exemplarity in Linnaeus and Blumenberg, in: Sesis Eleven 104 (2011), S. 72–86, hier 74. Die Anekdote ist „protéiforme“ (François Lecercle/Guillaume Navaud: Introduction, in: Anecdotes philosophiques et théologiques de l’Antiquité aux Lumières. Actes du colloque organisé à l’université Paris-Sorbonne les 22 et 23 octobre 2010, hg. von dens., Paris 2012, S. 7–18, hier 11). Monika Fludernik: Towards a ‘Natural’ Narratology, Abingdon 1996, S. 85–91 (Überschrift: Exemplum and/or anecdote), sieht sich wegen der „unpräzisen“ und „inkonsistenten“ Terminologie dazu gezwungen, auf eine Differenzierung von Exemplum und Anekdote zu verzichten. Mindestens ein jeoretiker, André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Halle 1930, meidet den Begriff ‚Anekdote‘ gänzlich, und Gossman, S. 147, schreibt: „scholars cannot even agree whether there is anything definable there“. Vgl. Volker Weber: Anekdote. Die andere Geschichte. Erscheinungsformen der Anekdote in der deutschen Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie, Tübingen 1993, S. 14, der (nach einer Auseinandersetzung mit modernen Definitionsversuchen) „die konsequente Berücksichtung des Phänomens“ fordert, „daß es zwar zu den verschiedensten Zeiten Texte gab, die sich nach heutigen Vorstellungen als Anekdoten bezeichnen ließen“, die Anekdote als so bezeichnete Gattung aber erst im 18. Jhd. entstanden sei: „Die Untersuchung geht dementsprechend primär nicht von den Texten aus, die man als Anekdoten bezeichnen kann, sondern von denen, die man als Anekdoten bezeichnet hat, widmet sich also weniger Anekdoten als ‚Anekdoten‘“. Die sprechende und die stumme Anekdote, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 132 (2013), S. 183–202, bes. 199–201. Im Sinne von Schäfer, S. 29–37 (vgl. dazu unten bei Fn. 512).
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– wenngleich in beliebiger Intensität kombinierbarer – Kategorien. Eine solche Auffächerung des Anekdotenbegriffs erscheint zwar auf den ersten Blick attraktiv und ist gegenüber den meisten bisherigen Definitionsversuchen wohl auch als Fortschritt zu werten, vermeidet allerdings nicht die Schwierigkeiten, die sich bei dem Versuch ergeben müssen, die ‚stumme‘ Anekdote näher zu bestimmen.141 Als Alternative bietet sich die Beschänkung auf einen einzigen Anekdotenbegriff an, der so allgemein gefasst ist, dass er das Apophthegma ohne weiteres inkludiert (und daher als zweiten definitorischen ‚Pol‘ überflüssig macht) und zugleich die gesamte Debatte über anekdotische Stoffe, Intentionen und/oder Wirkungsweisen von der definitorischen Ebene auf die der Beschreibung konkreter historischer Anekdotentraditionen verschiebt.142 Eine solche Minimaldefinition findet man m. E. zur Perfektion gebracht im Oxford English Dictionary: ‚[e narrative of a detached incident, or of a single event, told as being in itself interesting or striking‘.143 Anders formuliert: Der Begriff ‚Anekdote‘ bezeichnet eine Erzählung einer einzelnen Begebenheit,144 deren Relevanz nicht von der Eingliederung in eine Handlungskette oder Argumentation abhängt.145
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Niehaus, S. 199–201, spricht von ‚historischen Splittern‘ und zitiert Fineman (vgl. oben Fn. 133), entscheidet sich also wiederum für einen der vielen bereits bekannten einschränkenden Definitionsansätze, der aber auch in diesem Rahmen mit Verweis auf die anderen relativiert werden kann. Es stünde auch weiterhin zu befürchten, dass historisch oder allgemeinsprachlich als Anekdoten bezeichnete Texte aus der Definition herausfielen und neue terminologische Notfälle einträten. So verstanden – als in bestimmten Zeiten oder Kontexten typische (aber eben nicht begriffsnotwendige) Eigenschaften – können dann auch Elemente der hier kritisierten Anekdotendefinitionen ihre Berechtigung haben; analog gilt dies auch für die von Schäfer dargestellte Struktur des Apophthegma. Die Notwendigkeit einer Unterscheidung von obligatorischen und fakultativen Gattungsmerkmalen betonen auch Möller/Grandl, S. 4–6 (mit Vorschlägen für beide). Se Oxford English Dictionary. Volume I, Oxford 21989, s.v. anecdote, 2.a. Diese Definition wird bereits von Saller und Murphy benutzt (bei jenem aber mit der problematischen Festlegung der Narrativität auf ‚a sequence of at least two narrative elements‘; vgl. dazu unten bei Fn. 319); Moeser, S. 20f., erweitert sie um teils redundante Zusätze (u. a. ‚involves one or more persons‘, ‚focuses on an action, saying, or dialogue‘). Dieser Teil der Definition findet sich auch bei Pausch: Biographie, S. 34 (‚zumindest minimale erzählerische Expansion‘, ‚auf das Handeln eines Protagonisten in einer bestimmten Situation beschränkt‘), und Karine Abiven: La cristallisation narrative comme embrayeur de signification dans le récit anecdotique, in: Anecdotes dramatiques de la Renaissance aux Lumières, hg. von François Lecercle/Sophie Marchand/ Zoé Schweitzer, Paris 2012, S. 13–26 (beide Punkte stärker zuspitzend) sowie natürlich auch im Rahmen darüber hinausgehender Definitionsversuche (z. B. bei Fineman, S. 56: ‚narration of a singular event‘; dasselbe meint wohl Gigon: Berufung, S. 1, der von der ‚isolierten […] Anekdote‘ als Gegenpol zum großen Geschichtswerk spricht).
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Dieser Definition sehr ähnlich ist auch die der Anekdotik in einem Werk von Benedetto Croce über Geschichtsschreibung – ‚notizie su singoli particolari staccati, i quali perciò stanno per sé e non in riferimento a qualcosa di superiore‘ –,146 besonders wenn man das letzte Kriterium nur als Unabhängigkeit von (und nicht Unvereinbarkeit mit) übergeordneten Bezugspunkten interpretiert. Dagegen erweisen sich die Anekdotenbegriffe mehrerer anderer Forscher bei genauerer Betrachtung als nicht so minimalistisch wie sie auf den ersten Blick scheinen.147 Wenn man dem hier vorgeschlagenen Ansatz folgt, erscheint die Anekdote als Überbegriff, der nicht nur das Apophthegma zur Gänze als Teilmenge, sondern
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Eine solche Eingliederung wird damit nicht ausgeschlossen. Wenn sie Teil einer kohärenten (nicht notwendigerweise chronologischen) Gesamterzählung ist, kann die Anekdote auch zugleich Episode sein (Matías Martínez: Episode, in: RDL I, 1997, S. 471– 473, hier 471: ‚Relativ selbständige, in einen größeren narrativen Zusammenhang gehörende Teil- oder Nebenhandlung‘); vgl. unten S. 306–332. Benedetto Croce: La storia come pensiero e come azione [urspr. 1938], Neapel 2003, S. 117 (allerdings im weiteren Verlauf, S. 119, eingeschränkt durch das Kriterium des Faktizitätsanspruchs). Die Autonomie oder ‚auto-suffisance‘ der Anekdote ist zudem auch Teil des Kriterienkatalogs bei Lecercle/Navaud, S. 11. Vgl. etwa die des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft (Schlaffer, S. 87: ‚Kurze, pointierte Geschichte, die einer wirklichen Person nachgesagt wird‘, wobei mit ‚Geschichte‘ offenbar die Erzählung mitgemeint ist), die nicht nur am unklaren Begriff der Pointiertheit leidet, den man im Sinne der Zuspitzung auf eine Einzelbegebenheit oder aber viel anspruchsvoller (‚pointiert‘ = ‚mit Pointe‘ wie beim Witz oder Apophthegma) verstehen kann, sondern auch zwei zusätzliche Einschränkungen enthält, über die man – mit Bedacht auf die Möglichkeit der zeitlupenhaften Ausdehnung einer Anekdote ohne Einführung breiterer Inhalte (denkbar etwa als nouveau roman?) sowie die Möglichkeit, zumindest über manche Arten von nichthistorischen Personen, etwa mythologische, auf ganz dieselbe Weise Anekdoten zu erzählen wie über historische – durchaus streiten kann. (Erwägenswerter als die Einschränkung auf reale Personen scheint mir, was Lecercle, S. 10, über den ‚lien au réel‘ der Anekdote sagt: ‚Elle dit qu’un événement s’est produit, ou bien qu’il a été pensé, raconté voire cru‘, was immerhin die offene fiktionale Neuschöpfung ausschlösse.) Ähnlich wie Schlaffer definieren Goldhill, S. 100 (‚short and pointed narrative‘), und die Bearbeiter des Grimm’schen Wörterbuchs (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. 2. Band, Stuttgart 1998, s.v. Anekdote, 2: ‚geschichtchen, kleine, pointierte (nicht beglaubigte) erzählung‘, mit dem Zusatz: ‚häufig bekannte persönlichkeiten betreffend‘; bei Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Erster Band, Leipzig 1854, fehlt das Lemma). Die Definition bei Émile Littré: Dictionnaire de la langue française. Tome 1 [21873], Paris 1970, s.v. anecdote, 1o: ‚Particularité historique‘, könnte man abwandeln zu einem recht treffenden ‚récit d’une particularité‘; ähnlich auch die von Novalis: Anekdoten [urspr. 1798], in: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Band 2. Das philosophisch-theoretische Werk, hg. von HansJoachim Mähl, München 1978, S. 355–358, hier 356: ‚ein historisches Element – ein historisches Molecule oder Epigramm‘.
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Einleitung
auch die meisten Exempla als Schnittmenge umfasst148 (wobei dieselbe Anekdote auch Apophthegma und Exemplum zugleich sein kann, weil die beiden Begriffe über voneinander unabhängige Kriterien definiert sind – das Exemplum über den Zweck oder die Wirkung,149 das Apophthegma dadurch, dass es ein dictum als Kern aufweist150). Dies steht durchaus im Einklang mit einem bestehenden Sprachgebrauch mancher Vertreter der Exemplaforschung, die den Anekdotenbegriff zwar nicht ausdrücklich terminologisch einführen, ihn aber dennoch auf eine beiläufige Weise als dem (narrativen) Exemplum übergeordneten Begriff benutzen.151 Außerdem – und das ist hier das Entscheidende – erhalten wir mit der genannten Definition eine Begrifflichkeit, deren Gültigkeit zumindest für die immense Majorität der Kleinerzählungen des Valerius Maximus schon prima facie selbstverständlich ist. Dass sich auch die in einer Minderheit den Hauptinhalt bildenden Bräuche und Sitten strukturell als ‚detached incidents‘ und ‚single events‘ auffassen lassen, wird sich im Laufe der Untersuchung zeigen.152 Das Exemplum hingegen existiert bei Valerius Maximus nur in potentia, da sein Werk zwar – unter anderem! – eine Materialsammlung für Redner ist, die Exemplarisierung dieses Materials aber durch jeden Redner selbst erfolgen muss. Im Kontext dieses Werks ist die Vokabel exemplum, die ja auch der Autor selbst
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Ebenfalls keine Unter-, sondern nur eine sich überschneidende Kategorie ist die (narrative) Parabel (die die Fabel einschließt; vgl. zu diesen Begriffen jomas Tschögele: Beccadelli und der ‚Schatz des Blinden‘. Der Weg einer Fabel von Lullus zu La Fontaine, in: WS 128, 2015, S. 223–245, hier 232, Anm. 42), da auch sie zwar unter den eben definierten Anekdotenbegriff fallen kann, aber nicht muss. Die ‚Exemplarität‘ einer Anekdote ist also nicht immanent, sondern wird von außen (vom Autor/Erzähler/Kontext oder vom Leser) hineininterpretiert. Vgl. auch Fleming, der anhand von Carl von Linnés Nemesis Divina und Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt a. M. 1987, zwei gegensätzliche Arten der Anekdotenverwendung illustriert (Linné: exemplarisierend; Blumenberg: anti-exemplarisch, die Kontingenz herausstellend). Die Einordnung des Apophthegma als Unterkategorie der Anekdote gilt nur, wenn man von seiner traditionellen Definition als dictum, das in eine Situation eingebettet ist – also narrativ präsentiert wird –, ausgeht (vgl. jeodor Verweyen/Gunther Witting: Apophthegma, in: RDL I, 1997, S. 106–108). Wollte man es dagegen rein etymologisch verstehen, wäre auch das ‚nackte‘ dictum erfasst – es würde also auch Apophthegmata geben, die keine Anekdoten wären. Vgl. etwa Le Goff: Évolution, S. 44 (das antike Exemplum überzeugt „d’abord par le prestige de l’Histoire, du passé où se situe l’anecdote, ensuite par le prestige du héros de cette anecdote“) und 47 („l’Histoire de Saint Louis de Joinville, suite d’anecdotes proches de l’exemplum“). Vgl. unten S. 118f. Die äußerst wenigen ‚Einheiten‘, auf die der Anekdotenbegriff gar nicht zutrifft, sind eher als Inkonsistenzen in der editorischen Texteinteilung anzusprechen (vgl. unten S. 259; zu deren Ursprung oben bei Fn. 99).
Gestalt des Werks
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verwendet,153 zwar im allgemeinen Sinn von ‚Beispiel‘ zulässig, von einer Exemplarisierung im rhetorischen Sinn kann man jedoch nur sprechen, wenn man sich für die weitesten der oben zitierten Definitionen entscheidet154 und es nicht unverhältnismäßig findet, die Anekdoten als Instrumente im Dienst der knappen Allgemeinaussagen in den Praefationes darzustellen.155 Die Bevorzugung des Anekdotenbegriffs ergäbe sich für unsere Zwecke freilich auch schon aus dem simplen Wunsch, solchen Entscheidungen – gerade wenn, wie im Fall des Valerius Maximus, die Intentions- und Wirkungsfrage keineswegs banal ist – nicht bereits durch die Bezeichnung der Struktureinheiten vorzugreifen.
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Vgl. 1,1,9, 1,1,11, 1,5, ext. 1 und ungezählte weitere Fälle. Also für die des Auctor ad Herennium und von Peter von Moos (oben Fn. 128), die neben dem persuasiven Zweck u. a. auch den des ante oculos ponendi bzw. der ‚Veranschaulichung‘ vorsehen. Zum Kommentator Dionigi da Borgo San Sepolcro, der genau dies tut, siehe unten bei Fn. 1033.
I
Die Anekdoten
Literarische Technik ist ein facettenreiches [ema, und bei einem anekdotenhaften Werk wie den Facta et dicta ist dies in besonderem Maße der Fall. Während bei ‚monolithischen‘ Erzählwerken wie dem klassischen Roman oder Geschichtswerk eine grobe Zweiteilung in Stilistik (im weitesten Sinn) und Erzähltechnik möglich ist, kommt hier als dritter Komplex die Struktur überhalb der Einzelerzählungen hinzu, die je nach Werk recht unterschiedliche methodische Ansätze nötig machen kann. Mit dem Titel Die Erzählungen des Valerius Maximus ist bereits angedeutet, dass die vorliegende Arbeit in weiten Teilen eine erzähltechnische Zielsetzung verfolgt. Auf eine Behandlung des Stils muss in diesem Rahmen verzichtet werden, und von den Strukturebenen überhalb der Anekdote wird – im zweiten Hauptteil mit der Überschrift Die Kapitel – nur diejenige behandelt, die sich ebenfalls noch als ein Produkt erzählerischer und nicht bloß redaktioneller Leistung auffassen lässt. Zuvor aber ist – im nun beginnenden ersten Hauptteil – die Erzähltechnik auf der Ebene der Anekdoten unter die Lupe zu nehmen, was mit Hilfe zweier methodischer Ansätze strukturalistischer Prägung156 geschehen soll. Die von Gérard Genette in seinem Discours du récit (ursprünglich Teil des Sammelbandes Figures III) erarbeitete Narratologie157 ist längst in allen Philologien zu einem selbstverständlichen Teil des Methodenrepertoires geworden158 156
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Zum Unterschied von strukturalistischer (= ‚klassischer‘) und ‚postklassischer‘ Erzähltheorie siehe David Herman: Introduction. Narratologies, in: Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis, hg. von dems., Columbus, Ohio 1999, S. 1–30, und Ansgar und Vera Nünning: Von der strukturalistischen Narratologie zur ‚postklassischen‘ Erzähltheorie. Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen, in: Neue Ansätze in der Erzähltheorie, hg. von dens., Trier 2002, S. 1–33. Gérard Genette: Discours du récit. Essai de méthode, in: ders.: Figures III, Paris 1972, S. 67–282; dazu ergänzend ders.: Nouveau discours du récit, Paris 1983 (eine Antwort an Kritiker). Der Begriff ‚Narratologie‘ wurde ursprünglich von Tzvetan Todorov: Grammaire du Décaméron, Den Haag 1969, S. 10, geprägt („une science qui n’existe pas encore, […], la science du récit“). Mehrere literaturwissenschaftliche Handbücher bezeichnen die genettesche Narratologie als lingua franca der Erzähltechnik (siehe die Zitate bei Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell, Berlin 2011, S. 18). Etwas verspätet war ihre Rezeption in der Germanistik und deutschsprachigen Literaturwissenschaft, wo v. a. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1955, und Franz K. Stanzel: Seorie des Erzählens, Göttingen 1979, dominierten, aber auch dies hat sich
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Die Anekdoten
und hat sich, obwohl primär mit Blick auf den modernen Roman konzipiert, auch in der Anwendung auf nicht-fiktionale Erzähltexte schon bewährt.159 Die Erzählungsanalyse (narrative analysis) nach William Labov und Joshua Waletzky160 wurde in den 1960er-Jahren im Rahmen der oral-narrative-Forschung entwickelt – anhand eines Corpus kurzer, durch Interviewfragen erlangter Erzählungen von Sprechern ohne höhere Schulbildung in diversen städtischen und ländlichen Milieus der USA161 –, aber ihre Anwendbarkeit auf schriftliche und literarische Erzählungen ist bereits verschiedentlich demonstriert worden.162 Für
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mittlerweile geändert (dazu Kuhn, S. 1f. und 19 mit Verweisen). Zur Narratologie in der Klassischen Philologie siehe Irene J. F. de Jong: Narratology and Classics. A Practical Guide, Oxford 2014, sowie unten Fn. 436. Schon Genette: Fiction et diction [urspr. 1991], in: ders.: Fiction et Diction, précédé de Introduction à l’architexte, Paris 2004, S. 85–236, hier 141–168, bejahte die Anwendbarkeit seiner Methode auf nicht-fiktionale Erzählungen (auch zwecks Erkundung der Unterschiede zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen). Zu einer Valerius Maximus relativ nahen Textgattung – der antiken Geschichtsschreibung – siehe de Jong: Narratology and Classics, S. 167–195 (die u. a. zeigt, dass die von Dorrit Cohn: Se Distinction of Fiction, Baltimore 1999, behauptete prinzipielle Verschiedenheit von Fiktion und Historiographie auf die Antike kaum zutrifft), und die unten S. 180–195 zitierte Literatur. Labov/Waletzky: Narrative Analysis. Oral Versions of Personal Experience, in: Essays on the Verbal and Visual Arts. Proceedings of the 1966 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society, hg. von June Helm, Seattle 1967, S. 12–44, und Labov: Se Transformation of Experience in Narrative Syntax, in: ders.: Language in the Inner City. Studies in the Black English Vernacular, Philadelphia 1972, S. 354–396. Anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums des ersten Artikels erschien der Sammelband Oral Versions of Personal Experience. Sree Decades of Narrative Analysis, hg. von Michael G. W. Bamberg = Journal of Narrative and Life History 7 (1997), special issue, der – mit Würdigungen, Kritik und vielfältigen Anwendungsbeispielen – dessen anhaltenden Einfluss bezeugt (darin auch Labov: Some Further Steps in Narrative Analysis, S. 395–415, mit kleineren terminologisch-definitorischen Revisionen sowie soziolinguistischen Erweiterungen). Zur Einordnung als strukturalistisch siehe Cynthia Bernstein: Labov and Waletzky in Context, ebd., S. 45–51, die dem Versuch widerspricht, Labov und Waletzky zu Vertretern eines rein soziolinguistischen ‚Kontextualismus‘ zu erklären. Die für sich genommen strukturalistische narrative analysis war allerdings tatsächlich in ein Projekt mit soziolinguistischen Endzielen eingebunden (vgl. Labov/ Waletzky, S. 13), und Labovs spätere Publikationen über mündliches Erzählen oder Konversation sind klar von soziolinguistischen Fragestellungen dominiert (vgl. Labov/ David Fanshel: Serapeutic Discourse. Psychotherapy as Conversation, New York 1977, und Labov: Speech Actions and Reactions in Personal Narrative, in: Georgetown University Round Table on Languages and Linguistics 1981. Analyzing Discourse. Text and Talk, hg. von Deborah Tannen, Washington 1982, S. 219–247). Nähere Angaben bei Labov/Waletzky, S. 42, Anm. 2; Labov: Transformation beschränkt sich auf denjenigen Teil des Corpus, der von afroamerikanischen Sprechern aus Harlem stammt.
Die Anekdoten
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die Erforschung antiker Literatur wurde sie bisher nur selten und in geringem Ausmaß nutzbar gemacht,163 gerade für ein Werk wie das des Valerius Maximus scheint eine in Auseinandersetzung mit kurzen, anekdotenhaften Erzählungen entstandene Methode jedoch vielversprechend.164
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Vgl. Mary Louise Pratt: Toward a Speech Act Seory of Literary Discourse, Bloomington, Ind. 1977, S. 38–78, für neuzeitliche Romane und Kurzgeschichten; Suzanne Fleischman: Evaluation in Narrative. Se Present Tense in Medieval “Performed Stories”, in: Yale French Studies 70 (1986), S. 199–251, und Tense and Narrativity. From Medieval Performance to Modern Fiction, London 1990, S. 135–167 und 327–369, für mittelalterliche (v. a. altfranzösische und altspanische) Erzählwerke in Prosa und Vers (mit Anpassungen an deren Länge und komplexere Struktur); außerdem dies.: Se “Labovian Model” Revisited With Special Consideration of Literary Narrative, in: Oral Versions of Personal Experience, hg. von Bamberg, S. 159–168, mit grundsätzlichen Bemerkungen zur Nützlichkeit der labovschen Analyse – und ihren Beschränkungen – bei der Arbeit mit komplexer fiktiver Literatur. Elizabeth Minchin: Homer and the Resources of Memory. Some Applications of Cognitive Seory to the Iliad and the Odyssey, Oxford 2001, S. 181–202, Wittchow: Exemplarisches Erzählen, bes. S. 89–109 (Ammianus Marcellinus), Rutger J. Allan: Sense and Sentence Complexity. Sentence Structure, Sentence Connection, and Tense-Aspect as Indicators of Narrative Mode in Sucydides’ Histories, in: Se Language of Literature. Linguistic Approaches to Classical Texts, hg. von dems./Michel Buijs, Leiden 2007, S. 93–121, hier 110–118, und Towards a Typology of the Narrative Modes in Ancient Greek. Text Types and Narrative Structure in Euripidean Messenger Speeches, in: Discourse Cohesion in Ancient Greek, hg. von Stéphanie Bakker/Gerry Wakker, Leiden 2009, S. 171–203, hier 186–203, Iwona Wieżel: Herodotus’ Histories as natural narrative. Croesus’ logos I. 6–92, in: Amsterdam International Electronic Journal for Cultural Narratology 6 (2010/11), Kompozycja pierścieniowa w Dziejach Herodota na tle stylu oralnego wczesnej literatury greckiej – ujęcie kognitywne, in: Quaestiones oralitatis I.1 (2015), S. 77–93 [mit englischem Abstract; Haupttext gelesen in automatischer deutscher Übers. mittels ], Natural Narratology and the Oral Structure of Narrative Genres in Ancient Greece, in: Eos 103 (2016), S. 7–30, hier 27, und Legein ta legómena. Herodotus’ Stories as Natural Narrative, Berlin 2018, S. 67– 98, jeweils anhand weniger ausgewählter Episoden. Kurz erwähnt wird Labov zudem auch bei de Jong: Narratology and Classics, S. 39–41 (mit einem weiteren Anwendungsbeispiel aus Euripides). Dies wird im vorliegenden ersten Hauptteil die einzige Abweichung vom von Genette vorgezeichneten Pfad bleiben. Es wird also kein Versuch unternommen, alle vom Discours du récit nicht abgedeckten Randbereiche der Erzähltechnik zu erkunden, z. B. die Technik der Beschreibung (vgl. Jean-Michel Adam: Les Textes. Types et prototypes, Paris 42017, S. 71–116, dens./André Petitjean: Le texte descriptif. Poétique historique et linguistique textuelle, [Paris] 1989, Philippe Hamon: Du descriptif, Paris 41993; siehe unten immerhin S. 111 zum Fehlen deskriptiver Pausen), des Spannungsaufbaus (vgl. Raphaël Baroni: La tension narrative. Suspense, curiosité et surprise, Paris 2007, oder exemplarisch Dennis Pausch: Livius und der Leser. Narrative Strukturen in ab urbe condita, München 2011, S. 191–250; unten immerhin die Bemerkungen bei und in Fn.
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Die Anekdoten
Beide Methoden sollen hier mit besonderer mikrostruktureller Tiefe (bis hinab zur Ebene einzelner Wörter) angewendet und die dabei gemachten Beobachtungen soweit möglich durch quantitative Angaben präzisiert werden. Der vorliegende erste Hauptteil ist insofern auch als Experiment einer ‚quantitativen Narratologie‘ – nach dem Vorbild der quantitativen Linguistik und Stilistik – zu verstehen, die bei breiterer Umsetzung erheblich aussagekräftigere Vergleiche zwischen Autoren, Gattungen und Epochen zu ermöglichen verspricht.165
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444–450) oder der Figurengestaltung (vgl. Philippe Hamon: Pour un statut sémiologique du personnage, in: Littérature 6, Mai 1972, S. 86–110, und Le personnel du roman. Le système des personnages dans les Rougon-Macquart d’Emile Zola, Genf 2 1998, Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin 2004, Vincent Jouve: Pour une analyse de l’effet-personnage, in: Littérature 85, Feb. 1992, S. 103–111, und L’effet-personnage dans le roman, Paris 1992). Das Studium der Personen als solcher schließt Genette: Nouveau discours, S. 93f., zu Recht als Gegenstand narratologischen Interesses aus – es gehört in den Bereich der literarischen Schöpfung und nicht der literarischen Technik. Aber die Mittel der Personendarstellung müssten doch zumindest als Randaspekt der Erzähltechnik in Frage kommen. Genette gibt dies auch zu („La caractérisation, c’est bien évidemment la technique de constitution du personnage par le texte narratif. Son étude me semble la plus grande concession que la narratologie, au sens strict, puisse faire à la considération du personnage“), lehnt es aber ab, diejenigen erzählerischen Mittel, die die Figuren betreffen, als eigene Kategorie herauszusondern. Demgegenüber sind auch die unten S. 178–219 unternommenen – punktuellen oder auf vorhandener Sekundärliteratur beruhenden – Vergleiche noch von provisorischem Charakter. Einen Überblick über die quantitative Linguistik bietet der Band Quantitative Linguistik/Quantitative Linguistics. Ein internationales Handbuch/An International Handbook, hg. von Reinhard Köhler/Gabriel Altmann/Rajmund G. Piotrowski, Berlin 2005 (darin Juhan Tuldava: Stylistics, author identification, S. 368–387, und Fiona J. Tweedie: Statistical models in stylistics and forensic linguistics, S. 387–397, zur Stilometrie), zur erst im Aufbau befindlichen quantitativen Narratologie vgl. Inderjeet Mani: Se Flow of Time in Narrative. An Artificial Intelligence Perspective, in: Time. From Concept to Narrative Construct. A Reader, hg. von Jan Christoph Meister/Wilhelm Schernus, Berlin 2011, S. 217–236, Annelen Brunner: Automatische Erkennung von Redewiedergabe. Ein Beitrag zur quantitativen Narratologie, Berlin 2015, Evelyn Gius: Erzählen über Konflikte. Ein Beitrag zur digitalen Narratologie, Berlin 2015, dies./Janina Jacke: Zur Annotation narratologischer Kategorien der Zeit. Guidelines zur Nutzung des CATMA-Tagsets, 22016 , und Friedrich Michael Dimpel: Narratologische Textauszeichnung in Märe und Novelle, in: Quantitative Ansätze in den Literatur- und Geisteswissenschaften. Systematische und historische Perspektiven, hg. von Toni Bernhart et al., Berlin 2018, S. 121–147 (stets mit dem Versuch der Automatisierung, die aber bis auf weiteres doch auf manueller Annotation beruhen oder auf wenige einfache Fragestellungen beschränkt bleiben muss). Ansätze zu ‚historischer‘ oder ‚diachronischer‘ Narratologie (vgl. Irene J. F. de Jong: Diachronic Narratology. (Se Example of Ancient Greek Narrative), letzte Änderung 24.1.2014, in: Se Living Handbook of Narratology,
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Die intensive Anwendung der Methoden auf ein relativ großes, von den ursprünglichen Anwendungsfällen verschiedenes Textcorpus hat außerdem schon für sich genommen einen über dieses hinausreichenden Erkenntniswert. Durch Beschreibung bisher unberücksichtigter Erscheinungsformen und Kombinationen der erzähltechnischen Mittel und Überprüfung der von Genette, Labov und Waletzky darüber (sowie über ihre Häufigkeit) getroffenen Allgemeinaussagen leistet sie einen Beitrag zu einer vollständigeren erzähltechnischen Phänomenologie. Die Untersuchung umfasst sechs Kapitel. Fünf entsprechen denen des Discours du récit, deren Überschriften übernommen werden (Ordre, Durée und Fréquence betreffen die zeitliche Struktur der Anekdoten, d. h. die Beziehungen von ‚Erzählzeit‘ und ‚erzählter Zeit‘,166 Mode den ‚Erzählmodus‘, d. h. die Kriterien ‚Distanz‘ und ‚Perspektive‘, Voix die ‚Erzählstimme‘, d. h. die Erzähler und Erzählsituationen), das sechste ist die Analyse nach Labov und Waletzky.167 Bis auf wenige punktuelle Ausnahmen (im Kapitel Voix) wird in diesem ersten Hauptteil ausschließlich mit neun aus dem Gesamtwerk ausgewählten Beispielkapiteln gearbeitet: De somniis (1,7), dem ersten Kapitel De institutis antiquis (2,1), De constantia (3,8), Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine (4,2), De parentum amore et indulgentia in liberos (5,7), Libere dicta aut facta (6,2), De testamentis quae rescissa sunt (7,7), Quanta uis sit eloquentiae (8,9) und De ui et seditione (9,7). Sie enthalten zusammen 89 Anekdoten – nicht ganz ein Zehntel der Gesamtzahl – und wurden mit Bedacht so gewählt, dass sie möglichst viel von der Breite des Gesamtwerks abdecken.168 Es ist nicht nur jedes der neun Bücher vertreten, sondern auch jeder der verschiedenen Typen, in die sich die Kapitel nach der Art der [emenstellung einteilen lassen, die sie zusammenhält.169 Fast von selbst ergibt sich so auch eine Mischung von Kapiteln mit Schwerpunkt auf öffentlichem und auf privatem Leben, von Anekdoten mit und ohne Affinität zu den
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hg. von Peter Hühn et al. , und das Handbuch Historische Narratologie, hg. von Eva von Contzen/Stefan Tilg, Berlin 2019) fallen bisher überwiegend makroperspektivisch aus. Diese Begriffe zitiert Genette: Discours, S. 77, aus Günther Müller: Erzählzeit und erzählte Zeit, in: ders.: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1968, S. 269–286. Am Anfang jedes Kapitels steht eine zusammenfassende Darstellung der Methode, wobei im Fall der genetteschen Kapitel versucht wird, den von einem konkreten Werk (A la recherche du temps perdu) ausgehenden Discours du récit auf das hier relevante allgemeine narratologische System zu reduzieren, also allzu Proust-spezifische Punkte zu eliminieren, zugleich aber auch keine Vorurteile hinsichtlich der bei Valerius Maximus zu erwartenden Gestaltungsmittel walten zu lassen. D. h. der Berücksichtigung möglichst aller im Werk vorkommenden erzähltechnischen Mittel und Tendenzen wurde Vorrang gegeben vor der statistischen Repräsentativität der Auswahl für das Gesamtwerk, der mit einer Zufallsstichprobe am besten gedient wäre. Siehe oben S. 32f.
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Inhalten klassischer Geschichtsschreibung – allerdings, wie auch im Gesamtwerk, mit einem starken Übergewicht der jeweils ersten Kategorie. Gänzlich von der Untersuchung ausgeschlossen bleiben vorerst die Praefationes. 1
Ordre
In diesem Abschnitt geht es um das Verhältnis zwischen der Abfolge der Ereignisse in der Geschichte (oder der Diegese170) und ihrer Anordnung in der Erzählung.171 Abweichungen dieser von jener heißen Anachronien. Sie lassen sich in einer Art Formel sichtbar machen, indem man die einzelnen Elemente der Erzählung in der Reihenfolge ihres Auftretens mit Buchstaben versieht und ihre zeitliche Reihenfolge in der Geschichte mit Zahlen kennzeichnet. Das Ergebnis kann beispielsweise A4-B5-C3-D2-E1 lauten. Es können aber auch mehrere Elemente auf derselben Zeitstufe stehen (beispielsweise A2-B1-C2-D1-E2-F1-G2-H1-I2). Sprünge in andere Zeitebenen können Vorausblicke (Prolepsen) oder Rückblicke (Analepsen) sein. Deren Unterordnung unter das sie auslösende Element lässt sich mit Klammern kenntlich machen: etwa A2 [B1] C2 [D1 (E2) F1 (G2) H1] I2. In diesem Beispiel ist von A2 (Quelquefois en passant devant l’hôtel il se rappelait) der Rückblick B1 (les jours de pluie où il emmenait jusque-là sa bonne, en pèlerinage.) abhängig. C2 (Mais il se les rappelait sans) steht dagegen auf derselben Stufe der Hierarchie wie A2. Die Elemente D1–H1 sind ein weiterer, diesmal von C2 abhängiger Rückblick in die Zeitebene 1, der seinerseits zwei Vorausblicke auf die Zeitebene 2 enthält (D1: la mélancolie qu’il pensait alors / davon abhängig E2: devoir goûter un jour dans le sentiment de ne plus l’aimer. / F1: Car cette mélancolie, ce qui la projetait ainsi d’avance / davon abhängig G2: sur son indifférence à venir, / H1: c’était son amour.). I2 (Et cet amour n’était plus.) ist wieder unabhängig. An einem anderen Beispiel, A4 [B3] [C5-D6 (E3) F6 (G3) (H1) (I7 ) N6] O4, sieht man nicht nur, dass mehrere Elemente demselben Element untergeordnet sein können, ohne ihrerseits voneinander abhängig zu sein, so B3 (qu’il avait tenu à l’écart jusque-là) und C5 (et qu’il invita à déjeuner.) bis N6 unter A4 (Swann trouvait maintenant … intelligents … le prince de Guermantes et mon camarade Bloch) oder J3 und K8 unter I7, sondern auch, dass nicht jeder Wechsel der Zeitstufe eine Pro- oder Analepse ist: der Bindestrich in C5-D6 bezeichnet eine bloße zeitliche Abfolge ohne Anachronie. In den meisten Erzählungen sind Prolepsen seltener als Analepsen. Besonders naheliegend ist die Verwendung von Prolepsen in Ich-Erzählungen wegen deren explizit retrospektiven Charakters. 170
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Darunter versteht Genette das ‚Universum‘, in dem die Geschichte stattfindet (siehe die Klarstellung bei Genette: Nouveau discours, S. 13). Meine zusammenfassende Darstellung folgt Genette: Discours, S. 77–121. Auch die Beispiele (zumeist Prouststellen) sind von dort übernommen.
Ordre
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Kriterien für die genauere Analyse einer Pro- oder Analepse sind zunächst ihre Reichweite (portée), d. h. wie weit sie zeitlich vom Ausgangspunkt wegführt, und ihre Ausdehnung (amplitude), d. h. über welche Zeit sie sich erstreckt. Dabei geht es weniger um absolute Zeiteinheiten als um das Verhältnis zur ‚Primärerzählung‘ (récit premier),172 von der die Pro- oder Analepse abhängig ist. Liegt sie zur Gänze außerhalb des von der Primärerzählung erfassten Zeitraums, heißt sie extern; liegt sie zur Gänze innerhalb, heißt sie intern; und wenn sie über den Zeithorizont der Primärerzählung hinausreicht, aber doch teilweise innerhalb liegt, heißt sie gemischt (mixte). Interne und gemischte Pro- oder Analepsen lassen sich unterteilen in heterodiegetische mit einem der Primärerzählung fremden Inhalt (z. B. der Vorgeschichte einer in die Primärerzählung neu eingeführten Person oder den Erlebnissen einer zwischenzeitlich aus dem Blickfeld geratenen) und homodiegetische, die dieselbe Handlungslinie betreffen wie die Primärerzählung – und sich darum mit ihr überschneiden oder mit ihr in Konflikt treten können. Es gibt zwei Haupttypen von homodiegetischen Analepsen. Der kompletive Typ (Verweise, renvois) füllt im Nachhinein eine Lücke in der vorausgehenden Erzählung – sei es eine zeitliche Lücke (Ellipse) oder eine sonstige Weglassung von Information (Paralipse) oder auch eine Vielzahl gleichartiger Lücken (iterative Ellipse). Der repetitive Typ (Erinnerungen, rappels) wiederholt etwas schon zuvor Erzähltes, meist zum Zweck eines Vergleichs der gegenwärtigen mit einer früheren Situation, kann aber auch dessen Bedeutung nachträglich verändern (etwa durch Verleihung größerer Wichtigkeit, durch Uminterpretation, durch Auflösung eines Rätsels). Auch für homodiegetische Prolepsen gelten diese zwei Haupttypen. Der kompletive Typ füllt Lücken in der nachfolgenden Erzählung, der repetitive (Ankündigungen, annonces) nimmt später Erzähltes vorweg (mit oder ohne explizite Formulierungen wie On verra plus tard que …). Solche annonces sind nicht mit den sogenannten amorces (auf Deutsch etwa ‚Keimen‘) zu verwechseln, d. h. mit Elementen, die erst später nachträglich bedeutend werden, aber nichts direkt vorwegnehmen und daher keine Prolepsen sind.173 Zu beachten ist ferner, dass die Begriffe ‚Ankündigung‘ und ‚Erinnerung‘ nichts Absolutes sind. Durch Verschachtelung von Anachronien kann – für den Leser – auch eine Analepse zur Ankündigung und eine Prolepse zur Erinnerung werden; wenn z. B. innerhalb einer Analepse eine Prolepse auf ein Ereignis stattfindet, das in der Primärerzählung bereits erzählt 172
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Genette verwendet diesen Begriff in verschiedenen Kapiteln mit verschiedener Bedeutung. Hier ist der nicht-anachronische Teil des Erzähltexts gemeint, im Kapitel Voix dagegen die Erzählung durch den primären Erzähler im Gegensatz zu darin eingeschalteten Erzählungen durch andere Personen (siehe unten bei Fn. 295). Dies gilt natürlich erst recht für leurres, d. h. Elemente, die vom Leser bloß fälschlich für amorces gehalten werden sollen (sie sind auch unter der englischen Bezeichnung red herrings bekannt). Amorces und leurres sind wiederum zu unterscheiden von ‚bedeutungslos‘ bleibenden effets de réel (siehe unten bei Fn. 268).
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worden ist, liegt in der Diegese eine Ankündigung und zugleich für den Leser eine Erinnerung vor. Externe Analepsen heißen komplett, wenn sie bis zum Anfang der Primärerzählung reichen, interne und gemischte Analepsen dann, wenn sie bis an den Punkt zurückführen, wo sie einsetzten. Partielle Analepsen sind dagegen solche, die mit einer Zeitellipse enden; sie wollen typischerweise nur isolierte Informationen mitteilen, während komplette oft – etwa nach einem Beginn in medias res – ein wichtiger Teil der Gesamterzählung sind. Komplette Prolepsen wären für Genette theoretisch solche, die – im Falle von internen Prolepsen – bis zum Ende der Primärerzählung oder – im Falle von externen und gemischten – bis zum Moment des Erzählens (moment narratif) reichen; er kennt allerdings keine Beispiele und neigt der Ansicht zu, dass alle Prolepsen partiell seien.174 Nach einer Pro- oder Analepse kann die Primärerzählung entweder fortfahren, als wäre sie nie unterbrochen worden, oder auf die Präsenz der Pro- oder Analepse Bezug nehmen (z. B. mit Formulierungen wie Voici pourquoi …). Bei kompletten internen oder gemischten Analepsen ist auch ein nahtloser, stillschweigender Übergang in die Primärerzählung möglich. Bisher ist nur von eindeutigen Pro- und Analepsen die Rede gewesen. Möglich sind aber auch Anachronien, deren zeitliche Einordnung unklar gelassen wird, etwa weil sie im Kontext nicht relevant scheint. Dies trifft unter anderem auf Syllepsen zu: Gruppen von anachronischen Erzählungen, die nach nicht-zeitlichen Kriterien zusammengestellt sind (z. B. je eine Anekdote zu jedem während einer Reise durchfahrenen Ort).175 In welchem Ausmaß und mit welchem Zweck Valerius Maximus die verschiedenen Anachronien einsetzt, ist nun in einem mehrstufigen Prozess herauszufinden. 174
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Man könnte die komplette Prolepse freilich auch anders definieren. Genette geht es bei Pro- wie Analepsen stets um den Endpunkt, d. h. bei externen Analepsen und internen Prolepsen um das Verhältnis zur Primärerzählung, bei internen Analepsen um das zum Ausgangspunkt und bei externen Prolepsen um das zu einem nach der Primärerzählung liegenden Bezugspunkt. Naheliegender wäre es, bei den Prolepsen – spiegelbildlich zu den Analepsen – auf den Anfang der Anachronie abzustellen, so dass es bei allen internen und gemischten Anachronien einheitlich um das Verhältnis zum Ausgangspunkt und bei allen externen um das zur Primärerzählung ginge; eine interne oder gemischte Prolepse würde also komplett heißen, wenn sie an dem Punkt beginnt, wo sie einsetzt, und eine externe, wenn sie direkt an das Ende der Primärerzählung anschließt. Eine Vereinheitlichung in die andere Richtung wäre hingegen nur bei den internen Anachronien möglich (nach dem Verhältnis zur Primärerzählung), nicht bei den externen und gemischten (weil der Erzählzeitpunkt kein vor der Primärerzählung liegendes Gegenstück hat). Siehe auch unten bei Fn. 1009.
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Die Anekdoten der neun ausgewählten Kapitel werden als Anhang 1.a im Volltext wiedergegeben176 und zunächst – wie in den Beispielen Genettes – durch Einsetzung von Buchstaben in ihre einzelnen zeitlichen Elemente unterteilt,177 deren Zeit- und Abhängigkeitsverhältnisse anschließend als Formeln dargestellt werden.178 Für die Abgrenzung der Elemente wurde bewusst die Entscheidung getroffen, auf gedankliche Inhalte und nicht auf grammatische Strukturen Wert zu legen 176
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Unten S. 367–424. Grundlage ist Kempfs gemeinfreie und auf mehreren Plattformen elektronisch verfügbare Ausgabe von 1888, die ich – neben der Korrektur offensichtlicher Druckfehler, einer orthographischen Normalisierung (impius statt inpius, rettulit statt retulit u. Ä. m.) und der Weglassung der eckig eingeklammerten athetierten Wörter – an den wenigen Stellen, wo für die Zwecke dieses ersten Hauptteils potentiell relevante Unterschiede bestehen, nach den drei neueren Editionen (Combès, Briscoe, Shackleton Bailey) revidiere. Siehe die jeweiligen Fußnoten (und zu den Editionen generell oben S. 18f.). Von mir neu eingeführt wird dabei der Unterstrich (_), der anstelle eines Buchstabens die im weitesten Sinn extradiegetischen Textteile repräsentiert: kommentierende, mit der vorigen Anekdote vergleichende oder auf das Erzählen selbst Bezug nehmende Passagen oder auch solche, die konstante Charaktereigenschaften einer Person ausdrücken. In einigen wenigen Fällen (2,1,5; 2,1,9; 3,8,2; 4,2,4; 6,2,12) ist es zudem nötig, eine ‚Anekdote‘ in mehrere aufzuteilen, weil sie mehrere Erzählungen enthält, die entweder in keinem identifizierbaren zeitlichen Verhältnis zueinander stehen oder offensichtlich ohne jedes Interesse für die Chronologie zusammengestellt sind und daher sinnvollerweise nur separat analysiert werden können (bei 2,1,5 und 2,1,9 handelt es sich um mehrere allgemeine Bräuche, d. h. um ‚habituelle Erzählungen‘ – vgl. unten bei Fn. 262 –, bei 3,8,2, 4,2,4 und 6,2,12 um mehrere Beispiele für einen Charakterzug einer Person, von denen jeweils mindestens eines eine ‚habituelle Erzählung‘ ist; im Fall von 2,1,5 teilt auch Shackleton Bailey die Anekdote auf, allerdings nur in zwei Teile statt drei). Einige Aussagen über die Struktur solcher Sammelanekdoten werden sich im Rahmen der Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky (unten S. 145–178) ergeben. Dabei muss die Notation – auch weil die Anekdoten des Valerius Maximus zum Teil erheblich komplexer sind als die Beispiele bei Genette – in einigen weiteren Punkten angepasst werden. So dient der von Genette: Discours, S. 86f. (bei der Analyse der Makrostruktur der Recherche), zur Bezeichnung von ‚Varianten‘ einer Zeitstufe eingeführte Apostroph im Folgenden meist zur Unterscheidung von Realem und Kontrafaktischem (eventuell nötige dritte und vierte ‚Varianten‘ werden mit Doppel- und Dreifachapostrophen bezeichnet), während die ‚Variation‘ bei Genette in einer größeren oder kleineren Ausdehnung besteht (z. B. liegt D5' innerhalb von C5 oder B2 innerhalb von E2'). In solchen Fällen wird, wenn nötig, stattdessen die längere Ausdehnung als Intervall dargestellt (also z. B. B3 innerhalb von E2–4). Auch sonst kommt die Zuordnung eines Textelements zu mehreren Zeitstufen vor. Klammerausdrücke werden ohne Abstand an das sie auslösende Element angefügt, damit deutlich wird, ob sie vom vorausgehenden oder vom nachfolgenden Element abhängen. Verzichtet wird dagegen auf den Bindestrich als Symbol für die bloße zeitliche Abfolge. Wenn ein Element nach einer eingeschalteten Anachronie fortgesetzt wird – d. h. wenn zeitgleiche Textteile vor und nach einer Anachronie so eng zusammenhängen, dass sie sinnvollerweise nicht als
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– darum wird z. B. in der Formulierung et M. Colonium, a quo damnatus fuerat, rerum suarum procuratorem habendo keine Analepse angenommen, sondern unterteilt: (C) et M. Colonium, a quo damnatus fuerat, (D) rerum suarum procuratorem habendo, denn der Personenname gehört gedanklich zu beiden Ereignissen und ist daher noch kein Beginn einer Mitteilung des zweiten Ereignisses. Auf die Formel folgt jeweils eine siebenspaltige Tabelle,179 die der genauen Klassifikation der einzelnen Anachronien dient. Sie enthält zu jeder Anachronie: 1. den Buchstaben, mit dem sie in Volltext und Formel bezeichnet wird, 2. die Art der Anachronie (Pro- oder Analepse), 3. ihren Ausgangspunkt (die Primärerzählung der Anekdote, eine übergeordnete Pro- oder Analepse, ein extradiegetischer Textteil oder eine nichttextuelle extradiegetische Motivation180), 4. ihre Position im Verhältnis zur Primärerzählung der Anekdote181 (intern, extern oder gemischt), 5. die Handlungslinie, der sie zugehört (homo- oder heterodiegetisch182), 6. ihre Einordnung als partiell oder komplett (bei Prolepsen ‚komplett →‘ nach Genettes Definition, ‚komplett ←‘ nach der von mir vorgeschlagenen alternativen Definition oder ‚komplett ↔‘ nach beiden183) und 7. ihre Funktion aus der Perspektive
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separate Elemente gelten können –, wird auch sein Buchstabe in der Formel wiederholt (z. B. A1[B2]A1). Nur in neun Fällen kann die Tabelle mangels Anachronien entfallen (siehe unten S. 63). Zu jeder Anekdote folgt noch eine weitere Tabelle, die zum Kapitel Durée gehört (siehe unten bei Fn. 248). Recht häufig wird am Anfang einer Anekdote deren Handlung – oder ein Teil davon – proleptisch zusammengefasst (vgl. unten S. 97f.), wobei es nicht immer einen extradiegetischen Text gibt, von dem die Prolepse abhängig ist. Extradiegetisch motiviert ist sie aber in jedem Fall. Ein anderer Sonderfall ist die Amalgamierung einer Anachronie mit dem auslösenden Erzählelement (vgl. unten S. 65–67). Reichweite und Umfang der Anachronien werden also hier nicht zur jeweils unmittelbar übergeordneten Ebene in Beziehung gesetzt, sondern stets zur (nicht-anachronischen) Gesamtheit der Anekdote, d. h. zur obersten hierarchischen Ebene. Genette: Discours, S. 90, definiert zwar die Primärerzählung zunächst als die Ebene, von der die Anachronie abhängt – und stellt auch ausdrücklich fest, dass diese selbst eine Anachronie sein kann –, fügt dann aber hinzu, dass man auch den Gesamtkontext (‚l’ensemble du contexte‘) als Primärerzählung betrachten könne. Im Fall der Anekdoten des Valerius Maximus ist die oberste Ebene schon deswegen der einzig sinnvolle Bezugspunkt, weil sie meist als einzige eine wirkliche Handlungslinie enthält, während die Anachronien überwiegend Einzelereignisse sind. Auch dies wird auf die Primärerzählung der Anekdote als ganzer, nicht auf die Handlung der unmittelbar übergeordneten Ebene bezogen. Als Kriterium wird bei zeitlichörtlich entfernten Ereignissen v. a. die Identität oder Verschiedenheit der handelnden Personen herangezogen. Zur von Genette nicht vorgesehenen, aber von mir versuchten Anwendung der Einteilung auf externe Anachronien siehe unten S. 78–80. Siehe oben Fn. 174 und unten bei Fn. 202. Zu beachten ist außerdem, dass für den Zweck der Einordnung als partiell oder komplett manche Prolepsen von Analepsen wie Analepsen und manche Analepsen von Prolepsen wie Prolepsen behandelt werden müssen (siehe unten Fn. 208f. und 211).
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des Lesers (kompletiv, rappel, annonce,184 gegebenenfalls mit dem Zusatz ‚kontrafaktisch‘ oder ‚fragend‘185). Die formel- und tabellenhafte Auswertung im Anhang bildet die Grundlage für die nun folgende zusammenfassende Analyse. 1.a
Häufigkeit der Anachronien
Fast alle der 89 ausgewählten Anekdoten enthalten Anachronien. Nur vier kommen ganz ohne sie aus (2,1,7; 6,2,7; 6,2,9; 8,9,3), und in drei der fünf in separate Einzelanekdoten zu unterteilenden gibt es mindestens eine ohne Anachronien (eine von dreien in 2,1,5; drei von vier in 3,8,2; eine von zweien in 6,2,12). Alle neun anachroniefreien Einzelanekdoten sind recht kurz (11 bis 62 Wörter unter Einschluss extradiegetischer Teile). Inhaltlich handelt es sich zweimal um rein synchronisch dargestellte Bräuche (in 2,1,7 mit einer einzigen Zeitstufe, die nur durch extradiegetische Einschaltungen in drei Elemente zerfällt; in 2,1,5 mit zwei Zeitstufen – einer Unterlassung und der dadurch ausbleibenden Folge), dreimal um dicta (8,9,3 besteht in einem einzigen Ausspruch; 6,2,7 enthält einen Ausspruch und eine nonverbale Reaktion darauf; in 6,2,12 folgt auf eine verbale Reaktion noch einmal eine Antwort) und dreimal um mit 6,2,7 vergleichbare Abfolgen von Provokation und Reaktion (in 3,8,2, mit zwei bis drei Zeitstufen). Nur 6,2,9 passt in keine dieser Kategorien – die Anekdote berichtet zuerst in drei Stufen den Ablauf einer pompeiusfeindlichen Demonstration während einer [eatervorführung und teilt dann als viertes Element das Vorkommen einer zweiten solchen Demonstration im weiteren Verlauf der Vorführung mit. Insgesamt kommen in den 97 Einzelanekdoten der untersuchten Kapitel 407 Anachronien vor, also durchschnittlich rund vier (bei einem Medianwert von drei). Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass diese Werte von Kapitel zu Kapitel stark variieren, während auf der Ebene der Einzelanekdoten positive Extremfälle ebenso selten sind wie negative. Die Durchschnittswerte reichen von rund 2 (25 : 12 in 2,1; 14 : 7 in 9,7) und 2½ (19 : 8 in 4,2), über rund 4 (19 : 5 in 5,7; 23 : 6 in 8,9) und 4½ (76 : 17 in 3,8; 74 : 16 in 6,2) bis hin zu rund 5½ (40 : 7 in 7,7) und 6½ (117 : 18 in 1,7), die Medianwerte von 2 (in 2,1, 4,2 und 9,7) und 2½ (in 6,2) über 3½ (in 8,9) und 4 (in 3,8 und 5,7) bis 6 (in 1,7 und 7,7). Nur acht Einzelanekdoten enthalten zehn oder mehr (maximal 17) Anachronien; davon befinden sich vier in 1,7, eine in 3,8 und drei in 6,2, wo sie den im Vergleich zum Medianwert deutlich höheren Durchschnittswert erklären.
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Anders als Genette ordne ich diese Funktionen auch externen und heterodiegetischen Anachronien zu. Siehe unten S. 80–86. Vgl. unten S. 81–86.
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Die anachronienreichsten Kapitel De somniis (1,7) und De testamentis quae rescissa sunt (7,7) sind wohl nicht zufällig zwei Kapitel, deren [ematik die Verbindung mehrerer separater Zeitebenen geradezu notwendig macht. Träume können nach antiker Vorstellung186 prophetisch sein, sind also oft Vorausblicke in die Zukunft.187 Eine Testamentsaufhebung ist eine Reaktion auf einen zu einem früheren Zeitpunkt erfolgten Willensakt, und die Argumente für die Aufhebung sind oft ebenfalls in der Vergangenheit zu suchen. Die beiden [emen sind wesensmäßig diachronisch, was man von De institutis antiquis (2,1), De constantia (3,8), De parentum amore et indulgentia in liberos (5,7), Libere dicta aut facta (6,2), Quanta uis sit eloquentiae (8,9) oder De ui et seditione (9,7) nicht behaupten kann. Freilich bestehen auch zwischen diesen sechs Kapiteln große Unterschiede, die so nicht zu erklären sind – ebenso wenig wie der Umstand, dass das doch eindeutig diachronische [ema Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine (4,2) mit recht wenigen Anachronien abgehandelt wird. Umso bemerkenswerter ist, dass sich der Unterschied zwischen 4,2 und 7,7 in den Praefationes und den (vielleicht nicht auf Valerius Maximus zurückgehenden188) Überschriften widerspiegelt: Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine präsentiert die gesamte diachronische Entwicklung als zusammenhängende Handlung (praef.: humani animi ab odio ad gratiam deflexum), De testamentis quae rescissa sunt lässt nur die letzte Zeitstufe als Haupthandlung erscheinen. Die zu behandelnden Inhalte sind also für die Anachronizität der Erzählungen nicht allein bestimmend, sondern werden – anscheinend bewusst – chronologischen oder anachronischen Erzählschemata unterworfen. 1.b
Prolepsen vs. Analepsen
Entgegen der (wohl etwas vorschnell vom neuzeitlichen Roman her verallgemeinerten) Aussage Genettes, dass Prolepsen in den Texten der abendländischen Erzähltradition deutlich seltener seien als Analepsen,189 herrscht bei Valerius Maximus zwischen diesen beiden Kategorien ein ziemliches Gleichgewicht. Von den 407 Anachronien sind 191 Prolepsen (rund 47%) und 216 Analepsen (rund 53%).190 Neben den neun anachroniefreien Einzelanekdoten gibt es 13, die nur Prolepsen, und 15, die nur Analepsen enthalten. In 21 Einzelanekdoten kommen 186
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Vgl. die differenzierende Auseinandersetzung bei William V. Harris: Dreams and Experience in Classical Antiquity, Cambridge, Mass. 2009, bes. S. 123–228. Bei der Auswertung der Anekdoten wurden Trauminhalte als Prolepsen behandelt, wenn sie (wie etwa in 1,7,8) anachronische Vorwegnahmen späterer realer Ereignisse – oder hypothetischer Alternativen dazu – sind. Symbolisch-phantastische Erlebnisse wie etwa in 1,7,5 oder 1,7, ext. 1 wurden dagegen wie reale nächtliche Erlebnisse behandelt, gelten also grundsätzlich nicht als anachronisch. Siehe oben Fn. 87. Genette: Discours, S. 105.
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Prolepsen und Analepsen in gleicher Zahl vor, in 33 überwiegen die Prolepsen und in 34 die Analepsen. Wiederum gibt es Unterschiede zwischen den Kapiteln, die aber weniger bedeutend ausfallen als bei der Gesamthäufigkeit der Anachronien. Die Anteile von Pro- und Analepsen reichen – auf ganze Prozente gerundet – von 60%/40% (in 1,7) über 53%/47% (in 5,7), 48%/52% (in 2,1), 47%/53% (in 4,2 und 8,9), 43%/ 57% (in 3,8 und 6,2) und 36%/64% (in 9,7) bis 25%/75% (in 7,7). Die beiden anachronienreichsten Kapitel sind also auch diejenigen, in denen eine der beiden Arten von Anachronien jeweils am stärksten überwiegt – was zu der oben vorgeschlagenen Erklärung ihres Anachronienreichtums passt, denn die angeführten thematischen Gründe begünstigen bei De somniis (1,7) recht einseitig die Prolepse und bei De testamentis quae rescissa sunt (7,7), da die letzte Zeitstufe als Haupthandlung erscheint, die Analepse. Die übrigen Kapitel befinden sich mit Ausnahme von De ui et seditione (9,7) allesamt im Bereich zwischen 53% : 47% und 43% : 57%, die Variation ist hier also minimal – und auch De somniis und De ui et seditione sind mit 60% : 40% und 36% : 64% noch nicht allzu weit vom Durchschnitt entfernt. Nur in De testamentis quae rescissa sunt ist die Dominanz der Analepsen extrem. 1.c
Umfang der Anachronien
Was die Länge der Anachronien (gemessen in zeitlich abgrenzbaren Handlungselementen191) angeht, zeigt sich eine klare Dominanz punktueller, einzelne Ereignisse evozierender Anachronien, während anachronische Erzählstränge oder Verschachtelungen von zwei oder gar mehr Elementen nur selten vorkommen. Insgesamt machen die Anachronien dennoch fast die Hälfte des Umfangs der untersuchten Anekdoten aus. Für sich genommen, d. h. ohne Berücksichtigung eingeschalteter weiterer Anachronien, bestehen 358 der 407 in den Beispielkapiteln vorkommenden Anachronien (rund 88%) nur aus einem einzigen Element. Anachronien von zwei Elementen findet man noch immerhin 29mal (rund 7%), während längere anachronische Erzählketten nur rund 2% ausmachen (es handelt sich um insgesamt neun Fälle, davon je vier Ketten mit drei und vier Elementen und eine mit sechs); rund 3% machen die elf Anachronien aus, die nicht in von der Ausgangserzählung unterscheidbaren Elementen bestehen, sondern in einem Element mit dieser
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Diese Gegenüberstellung zweier Arten von Anachronien in der Erzählung ist keineswegs mit einer von Ankündigungen und Rückblicken in der Diegese gleichzusetzen. Diese können nämlich in der Erzählung auch nicht-anachronische Formen annehmen, und umgekehrt gibt es auch genügend Anachronien, die ihren Ursprung nicht in der Diegese, sondern im Erzählprozess haben. Vgl. unten S. 86–101. Siehe oben bei Fn. 177.
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amalgamiert sind.192 Die Durchschnittslänge einer Anachronie beträgt (die amalgamierten als halbes Element zählend) rund 1,1. Wenn man zu jeder der 330 Anachronien erster Ebene (in eckigen Klammern) sämtliche darin enthaltenen Anachronien (in runden und spitzen Klammern) addiert, enthalten immer noch 251 (rund 76%) der so entstehenden anachronischen Blöcke nur ein Element, 53 zwei (rund 16%) und 19 mehr als zwei (von drei bis elf; zusammen rund 6%); sieben sind mit der Primärerzählung amalgamierte Anachronien ohne weitere Einschaltungen (rund 2%). Die Durchschnittslänge eines anachronischen Blocks beträgt rund 1,4 Elemente. Bei Berücksichtigung der Verschachtelung steigt also die Zahl der mindestens zwei Elemente umfassenden anachronischen Stellen von 38 auf 72 (oder von rund 0,4 auf rund 0,7 pro Einzelanekdote), die der mehr als zwei Elemente umfassenden von 9 auf 19, ohne dass sich darum das Gesamtbild ändern würde. Auch zwischen den neun Kapiteln gibt es in dieser Hinsicht nur geringe Unterschiede. Die Durchschnittslängen der Einzelanachronien schwanken lediglich von rund 1,0 bis rund 1,4 und die der anachronischen Blöcke von rund 1,1 bis rund 1,6, während die Medianlänge in beiden Fällen stets 1 ist (amalgamierte Anachronien werden bei diesen Berechnungen jeweils als ein halbes Element gezählt). Es gibt keine besondere Häufung der langen Anachronien in einzelnen Kapiteln; nur bei den anachronischen Blöcken fällt auf, dass sich von den sieben, die fünf oder mehr Elemente umfassen, drei im Kapitel 6,2 (Libere dicta aut facta) befinden. Dieses hat auch – gemeinsam mit 8,9 (Quanta uis sit eloquentiae) – mit rund 1,6 die höchste durchschnittliche Blocklänge, die allerdings nur wenig über dem Gesamtdurchschnitt von rund 1,4 liegt. Trotz der Kürze der meisten Anachronien beträgt ihr Gesamtumfang 455 von 957 Elementen, d. h. rund 48% des Umfangs der untersuchten Anekdoten. Die Unterschiede zwischen den Kapiteln sind hier freilich etwas auffälliger – die Anteile reichen von rund 36% (in 2,1) und 37% (in 5,7) über rund 40% (in 9,7), 42% (in 4,2), 46% (in 1,7), 47% (in 3,8) und 52% (in 6,2) bis rund 61% (in 7,7) und 62% (in 8,9). Von den beiden Kapiteln mit der höchsten Anachronienanzahl weist somit nur eines auch einen besonders hohen Anachronienumfang auf (7,7: De testamentis quae rescissa sunt), während das andere (1,7: De somniis) im Mittelfeld liegt. Gleiches gilt auch für die beiden Kapitel mit der geringsten Anzahl (2,1: De institutis antiquis; 4,2: Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine). Den zweitgeringsten Anachronienumfang weist zudem mit 5,7 (De parentum amore et indulgentia in liberos) ein Kapitel auf, das bei der Anzahl nur knapp unter dem Durchschnitt liegt – gleichauf mit 8,9 (Quanta uis sit eloquentiae), dessen Anachronienumfang der höchste ist. Das Ausmaß der Anachronien korreliert also nicht besonders stark mit ihrer Häufigkeit. Immerhin stimmt die Hälfte der jeweiligen
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Siehe auch unten S. 67.
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Extremfälle überein, und kein Kapitel gehört in den zwei Kategorien gegenteiligen Extremen an. In 43 der 97 Einzelanekdoten (rund 44%) sind mindestens die Hälfte aller Elemente anachronisch. In den einzelnen Kapiteln betragen die Anteile rund 20% (in 5,7), 29% (in 9,7), 31% (in 2,1), 33% (in 1,7), 44% (in 6,2), 47% (in 3,8), 50% (in 4,2), 84% (in 8,9) und 86% (in 7,7). Solche anachronienlastigen Einzelanekdoten sind also in denselben zwei Kapiteln am häufigsten, die auch insgesamt den größten Anachronienumfang aufweisen – nur mit noch größerem Abstand als dort. Den größten anachronischen Anteil aller 97 Einzelanekdoten hat mit rund 86% eine Anekdote aus dem Kapitel De somniis (1,7,2), in der die Traumgeschichte als ganze analeptisch ist (eine Traumvision Caesars, die Augustus als Mahnung dient). Insgesamt gibt es 18 Einzelanekdoten (rund 19%), die Werte von zwei Dritteln oder mehr aufweisen. In den Kapiteln machen sie 0% (in 2,1) sowie rund 13% (in 4,2), 17% (in 1,7 und 8,9), 18% (in 3,8), 19% (in 6,2), 20% (in 5,7), 29% (in 9,7) und 57% (in 7,7) aus. Die Anteile von Pro- und Analepsen am Gesamtumfang der Anachronien unterscheiden sich nur minimal von denen an der Anzahl der Anachronien. Sie betragen rund 45% (203 Elemente) und 55% (252 Elemente), in den Kapiteln rund 61%/39% (in 1,7), 50%/50% (in 5,7), 45%/55% (in 2,1), 43%/57% (in 3,8 und 4,2), 41%/59% (in 6,2), 37%/63% (in 8,9), 28%/72% (in 9,7) und 19%/81% (in 7,7). Der größte Unterschied zu den für die Anzahl der Pro- und Analepsen errechneten Werten besteht in einem noch etwas stärkeren Überwiegen der Analepsen in 9,7: rund 72% statt rund 64%. 1.d
Ausgangspunkte und Verschachtelung
Die deutliche Mehrheit der Anachronien sind Anachronien erster Ebene, die direkt von der Primärerzählung ausgehen. Dies gilt für alle untersuchten Kapitel – das Ausmaß dieser Dominanz variiert jedoch ebenso deutlich wie die Verteilung der übrigen Fälle auf die zwei alternativen Möglichkeiten, verschachtelte Anachronien und solche mit extradiegetischem Auslöser. Von den 407 Anachronien der neun Kapitel haben 299 (138 Pro- und 161 Analepsen) ausschließlich die Primärerzählung als Ausgangspunkt (davon acht – sechs Pro- und zwei Analepsen – in amalgamierter Form). Bei Berücksichtigung einer weiteren Prolepse, die zugleich von der Primärerzählung und einer mit ihr amalgamierten Analepse abhängig ist, kann man von 299½ Anachronien (138½ Pro- und 161 Analepsen) oder rund 74% (73% der Pro- und 75% der Analepsen) sprechen. Von extradiegetischem Text sind 25 Anachronien (16 Pro- und neun Analepsen) abhängig, zudem gibt es fünf Prolepsen, die ohne solchen Text extradiegetisch motiviert sind. Daraus ergibt sich insgesamt ein Anteil von rund 7% aller Anachronien (11% der Pro- und 4% der Analepsen) und eine durchschnittliche Häufigkeit von rund 0,3 pro Einzelanekdote.
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Von übergeordneten Anachronien abhängig sind 77 oder mit der bereits erwähnten doppelt abhängigen Prolepse 77½ Anachronien (31½ Pro- und 46 Analepsen), d. h. rund 19% (16% der Pro- und 21% der Analepsen) oder rund 0,8 pro Einzelanekdote. Davon haben 62½ (rund 15% aller Anachronien) eine Anachronie erster Ebene als Ausgangspunkt (einschließlich einer Prolepse, die mit einer Prolepse, und zweier, die mit Analepsen erster Ebene amalgamiert sind), 15 (rund 4%) eine Anachronie zweiter Ebene und keine einzige eine Anachronie dritter Ebene. In 28 Fällen handelt es sich um Analepsen von Analepsen, in 18 um Analepsen von Prolepsen, in 18½ um Prolepsen von Analepsen (darunter die zwei amalgamierten) und in 13 um Prolepsen von Prolepsen. Zwischen den Kapiteln variieren die (gerundeten) Anteile der von der Primärerzählung ausgehenden Anachronien von 58% (in 4,2) über 61% (in 8,9), 64% (in 9,7), 68% (in 3,8), 74% (in 5,7 und 6,2), 75% (in 7,7) und 78% (in 1,7) bis 92% (in 2,1), die der von extradiegetischem Text ausgehenden oder sonst extradiegetisch motivierten von 3% (in 6,2 und 7,7), 4% (in 1,7 und 2,1), 9% (in 8,9) und 11% (in 3,8) bis 16% (in 5,7), 21% (in 9,7) und 26% (in 4,2) und die der von Anachronien ausgehenden von 4% (in 2,1) über 11% (in 5,7), 14% (in 9,7), 16% (in 4,2), 18% (in 1,7), 21% (in 3,8) und 23% (in 6,2 und 7,7) bis 30% (in 8,9). Wenn man statt des Anteils an der Gesamtzahl der Anachronien die absolute Häufigkeit, d. h. die durchschnittliche Anzahl pro Einzelanekdote, heranzieht, ergeben sich Werte von rund 0,1 (in 2,1, 6,2 und 7,7), 0,3 (in 1,7 und 8,9), 0,4 (in 9,7), 0,5 (in 3,8) und 0,6 (in 4,2 und 5,7) für die Anachronien mit extradiegetischem Anlass sowie von rund 0,1 (in 2,1), 0,3 (in 9,7), 0,4 (in 4,2 und 5,7), 0,9 (in 3,8), 1,1 (in 1,7 und 6,2), 1,2 (in 8,9) und 1,3 (in 7,7) für die von einer Anachronie ausgehenden. Die relativ stärkste Präsenz extradiegetischer Anlässe ist also in den Kapiteln Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine (4,2) und De parentum amore et indulgentia in liberos (5,7) festzustellen, gefolgt von De constantia (3,8). Anachronien als Auslöser erreichen in 3,8 sowie in vier anderen Kapiteln (1,7: De somniis; 6,2: Libere dicta aut facta; 7,7: De testamentis quae rescissa sunt; 8,9: Quanta uis sit eloquentiae) eine noch deutlich größere Häufigkeit. Von diesen fünf Kapiteln sind vier identisch mit den Kapiteln, denen im vorigen Abschnitt dieser Untersuchung die größte Häufigkeit von Anachronien insgesamt bescheinigt wurde (1,7 und 7,7, gefolgt von 3,8 und 6,2); vier gehören zugleich zu den Kapiteln, in denen Anachronien von Anachronien einen überdurchschnittlichen Anteil an der Gesamtzahl der Anachronien ausmachen (in absteigender Reihenfolge 8,9, 6,2 und 7,7, 3,8). Die große Häufigkeit dieser speziellen Art von Anachronien ist also nicht bloß eine Folge der generellen Anachroniendichte in diesen Kapiteln, sondern offenbar begünstigen dieselben inhaltlichen193 Faktoren, die zu häufigem Auftreten von Anachronien führen, zugleich auch deren Verschachtelung. Ausnahmen sind das 193
Vgl. oben S. 64.
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69
Kapitel 8,9 (Quanta uis sit eloquentiae), wo Anachronien insgesamt nur durchschnittlich häufig sind, die verschachtelten Anachronien aber durch den größten Prozentanteil aller neun Kapitel die zweitgrößte absolute Häufigkeit erreichen, und das Kapitel 5,7 (De parentum amore et indulgentia in liberos), wo die Gesamthäufigkeit der Anachronien ebenfalls durchschnittlich ist, Anteil und Häufigkeit der verschachtelten Anachronien aber zu den niedrigsten gehören. Dagegen bestätigt sich der Zusammenhang bei den zwei Kapiteln mit der niedrigsten Gesamthäufigkeit von Anachronien (2,1 und 9,7) – sie sind zugleich die mit dem niedrigsten und dem drittniedrigsten Anteil verschachtelter Anachronien. Das Kapitel 2,1 (De institutis antiquis) ist überdies das einzige, in dem beide Arten nicht von der Primärerzählung ausgehender Anachronien gleichermaßen unüblich sind. 1.e
Reichweite und Ausdehnung
Bei der Auseinandersetzung mit den Ausgangs- und Zielzeitstufen der Anachronien194 bestätigt sich die bereits konstatierte Neigung zu Kürze und Einfachheit – die Anachronien führen überwiegend nicht allzu weit vom Ausgangspunkt weg und bleiben punktuell, statt längere Zeiträume zu behandeln. Auffällig ist auch die Häufigkeit mehrfacher anachronischer Verweise auf dieselbe Zeitebene und dasselbe Ereignis. Von den 319 Anachronien, die jeweils von einer einzigen klar bestimmbaren Zeitstufe195 zu einer anderen führen, sind 149 Pro- und 170 Analepsen. Von den Prolepsen reichen 66 nur eine Stufe in die Zukunft, 36 zwei, 18 drei, 11 vier und 16 fünf bis zehn; von den Analepsen reichen 69 nur eine Stufe zurück, 43 zwei, 20 drei, 14 vier und 24 fünf bis vierzehn. Der Durchschnitt beträgt rund 2,4 bei den Pro- und 2,6 bei den Analepsen, der Medianwert bei beiden 2. Zusätzlich gibt es 85 Anachronien (39 Pro- und 46 Analepsen), deren Ziel und/oder Ausgangspunkt sich über mehrere Zeitstufen erstreckt (in 82 Fällen handelt es sich ausschließlich um das Ziel, nur in zweien ausschließlich um den Ausgangspunkt und in einem einzigen um beide). Als Reichweite soll bei diesen Anachronien der Abstand von der zielnächsten Ausgangszeitstufe zur fernsten Zielzeitstufe gelten. Er beträgt bei den Prolepsen 3mal eins, 13mal zwei, 7mal drei, 1mal vier, 5mal fünf und 9mal sechs bis fünfzehn (Durchschnitt rund 4,2,
194
195
Da absolute Zeitangaben dem Text in der Regel nicht oder nicht mit für Vergleichszwecke ausreichender Genauigkeit zu entnehmen sind (weder explizit noch implizit; vgl. auch unten bei Fn. 251 zur Unbestimmtheit der Ellipsen), sind die Zeitstufen der Erzählung selbst die einzigen Zeiteinheiten, die der Untersuchung zugänglich sind. Bei Anachronien mit extradiegetischem Auslöser zählt als Ausgangszeitebene die des letzten vorausgehenden narrativen Elements (oder des ersten narrativen Elements der Einzelanekdote, falls die Anachronie vor diesem steht).
70
Die Anekdoten
Medianwert 3), bei den Analepsen 14mal zwei, 10mal drei, 6mal vier, 4mal fünf und 13mal sechs bis dreizehn (Durchschnitt rund 4,6, Medianwert 3). Bei drei weiteren, jeweils von einer einzigen Zeitstufe ausgehenden Anachronien (zwei Prolepsen und einer Analepse) lässt sich die zeitliche Position des Ziels und folglich auch die Reichweite nicht bestimmen. Wenn man beide Gruppen von Anachronien mit bestimmbarer Reichweite (insgesamt 404 Anachronien) gemeinsam auswertet, ergibt sich eine durchschnittliche Reichweite von rund 2,8 für die Pro- und 3,1 für die Analepsen sowie für beide ein Medianwert von 2. In den Kapiteln ergeben sich für Pro- und Analepsen Durchschnitte von rund 3,4 und 3,5 (in 1,7), 1,5 und 1,6 (in 2,1), 3,0 und 3,3 (in 3,8), 2,3 und 1,6 (in 4,2), 2,5 und 3,5 (in 5,7), 2,4 und 4,0 (in 6,2), 1,4 und 2,4 (in 7,7), 1,6 und 2,2 (in 8,9) sowie 3,4 und 2,2 (in 9,7) und Medianwerte von 3 und 3½ (in 1,7), 1½ und 1½ (in 2,1), 2 und 2 (in 3,8), 2 und 1 (in 4,2), 1½ und 3 (in 5,7), 2 und 3 (in 6,2), 1 und 2 (in 7,7), 1 und 2 (in 8,9) sowie 3 und 2 (in 9,7). Prolepsen und Analepsen unterscheiden sich also im Gesamtbild zumindest auf den ersten Blick kaum voneinander, aber dies ist vor allem auf das Gewicht der beiden recht umfangreichen Kapitel 1,7 (De somniis) und 3,8 (De constantia) zurückzuführen. In sechs anderen Kapiteln gibt es Unterschiede, die von ähnlicher Größe sind wie die Unterschiede zwischen den Kapiteln. In 4,2 (Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine) und 9,7 (De ui et seditione) haben die Prolepsen größere Reichweiten als die Analepsen, in 5,7 (De parentum amore et indulgentia in liberos), 6,2 (Libere dicta aut facta), 7,7 (De testamentis quae rescissa sunt) und 8,9 (Quanta uis sit eloquentiae) verhält es sich umgekehrt. Insgesamt findet sich der höchste Durchschnittswert bei den Analepsen in 6,2, gefolgt von denen in 1,7 und 5,7, den Prolepsen in 1,7 und 9,7 und beiden Gruppen in 3,8. Die niedrigsten Werte finden sich in 2,1 (De institutis antiquis) sowie bei den Prolepsen in 7,7 und 8,9 und den Analepsen in 4,2. Wie bereits aus dem oben Gesagten hervorgeht, umfassen 321 der 404 Anachronien mit bestimmbarem Ziel (rund 79%) nur eine einzige Zielzeitstufe. Für die übrigen 83 (rund 21%) soll hier die zeitliche Ausdehnung durch die Entfernung zwischen frühester und spätester Zeitstufe repräsentiert werden. Bei den Prolepsen beträgt sie 24mal eine Zeitstufe, 3mal zwei, 1mal drei, 6mal fünf und je 1mal sechs, acht und zehn (Durchschnitt rund 2,4, Medianwert 1) – in einem weiteren Fall ist die früheste Zeitstufe nicht bestimmbar –, bei den Analepsen 19mal eine Zeitstufe, 10mal zwei, 4mal drei, 3mal vier, 1mal fünf, 2mal sechs, 2mal acht, 1mal neun, 2mal zehn und 1mal elf (Durchschnitt rund 3,0, Medianwert 2). Zu beachten ist, dass die Anachronie im Fall einer Entfernung von mehr als einer Zeitstufe (insgesamt 39 Fälle) nicht unbedingt das gesamte Kontinuum von der frühesten bis zur spätesten umfassen muss (dies ist immerhin am häufigsten der Fall: 24mal in einem einzigen Element und 5mal in mehreren), sondern auch lediglich zwei oder mehr unzusammenhängende Zeitebenen vereinen kann (2mal in einem Element und 8mal in mehreren).
Ordre
71
In den Kapiteln betragen die Anteile der Anachronien mit mehr als einer Zielzeitstufe rund 15% (in 1,7 und 6,2), 20% (in 2,1 und 7,7), 22% (in 8,9), 25% (in 3,8), 26% (in 4,2 und 5,7) und 43% (in 9,7) und die Durchschnittswerte für die Ausdehnung dieser Pro- und Analepsen rund 2,7 und 4,2 (in 1,7), 1,0 und 1,5 (in 2,1), 2,9 und 4,5 (in 3,8), 1,3 und 1,0 (in 4,2), 1,3 und 4,5 (in 5,7), 2,5 und 3,6 (in 6,2), 1,5 (in 7,7; nur Analepsen), 2,0 und 1,0 (in 8,9), 5,0 und 2,2 (in 9,7). Von den Kapiteln mit der größten Häufigkeit solcher Anachronien weisen also drei auch überdurchschnittliche Ausdehnungen auf (9,7: De ui et seditione für die Prolepsen, 3,8: De constantia und 5,7: De parentum amore et indulgentia in liberos für die Analepsen), während sich in 2,1 (De institutis antiquis), 4,2 (Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine), 7,7 (De testamentis quae rescissa sunt) und 8,9 (Quanta uis sit eloquentiae) große oder mittlere Häufigkeit mit geringer Ausdehnung sowohl der Pro- als auch der Analepsen verbindet. Das Gegenteil ist in 1,7 (De somniis) der Fall: geringe Häufigkeit, aber große Ausdehnung der Analepsen. In vielen Anekdoten verweisen mehrere Anachronien auf dieselbe Zielzeitstufe. Um dieses Phänomen zu quantifizieren, kann man die Zahl der in jeder Anekdote vorkommenden verschiedenen Zielzeitebenen zählen (wobei auch Kombinationen mehrerer Zeitstufen jeweils als eigenes Ziel gelten) und die Zahl der Anachronien durch diese dividieren. In 47 der 88 Einzelanekdoten mit Anachronien (rund 53%) ergibt sich der Wert 1, d. h. jede Anachronie hat ein anderes Ziel. In den übrigen 41 (rund 47%) kommt mindestens ein Ziel mehrmals vor. Der höchste erreichte Wert ist 3 (in 6,2,10, wo alle drei Anachronien dasselbe Ziel haben); einmal kommt (gerundet) 2,3 vor, fünfmal 2, die übrigen Werte liegen zwischen 1 und 2. Der Gesamtdurchschnitt beträgt rund 1,2 und der Medianwert 1. In den Kapiteln betragen die Durchschnitts- und Medianwerte rund 1,4 und 1,3 (in 1,7), 1,4 und 1,1 (in 6,2), 1,3 und 1,2 (in 3,8 und 8,9), 1,2 und 1 (in 4,2), 1,1 und 1 (in 2,1, 5,7, 7,7) sowie 1,0 und 1 (in 9,7). Die Anteile der Einzelanekdoten mit zwei- oder mehrfachem Vorkommen mindestens eines Ziels betragen rund 72% (13 von 18 Einzelanekdoten mit Anachronien in 1,7), 60% (3 von 5 in 8,9), 57% (8 von 14 in 3,8), 54% (7 von 13 in 6,2), 43% (3 von 7 in 7,7), 27% (3 von 11 in 2,1), 25% (2 von 8 in 4,2), 20% (1 von 5 in 5,7) und 14% (1 von 7 in 9,7). Die vier Kapitel, in denen solche Mehrfachverweise in mehr als der Hälfte der überhaupt über Anachronien verfügenden Einzelanekdoten vorkommen, sind also auch die mit den höchsten Durchschnittswerten: De somniis (1,7), De constantia (3,8), Libere dicta aut facta (6,2) und Quanta uis sit eloquentiae (8,9). Wie sich weiter unten196 zeigen wird, sind sie zugleich die Kapitel mit den höchsten Anteilen kontrafaktischer Anachronien, was kein Zufall ist, denn die Erörterung verschiedener potentieller Ereignisse oder Entwicklungen – realer und irrealer – begünstigt Mehrfachverweise auf dieselbe Zeitstufe. Von den insgesamt
196
Siehe unten bei Fn. 229.
Die Anekdoten
72
58 Zeitstufen, auf die mehrmals verwiesen wird, werden 22 (rund 38%) mindestens einmal kontrafaktisch behandelt. Soweit sie nicht kontrafaktisch sind, betreffen die Anachronien nicht bloß dieselbe Zeitstufe, sondern auch dasselbe Ereignis (oder denselben Zustand). Hiervon gibt es nur wenige Ausnahmen.197 Dasselbe Ereignis wird aber sehr häufig unter unterschiedlichen Gesichtspunkten (z. B. in 1,7,4 derselbe Traum als somnium und als imperii sui) oder mit unterschiedlichen Graden an Präzision und Spezifikation (z. B. in 1,7,8 dreimal derselbe Todesfall als certo euentu, retiarii se manu confodi und exitii) dargestellt. 1.f
Intern vs. extern
Wenn man nun die Reichweite der Anachronien nicht, wie bisher geschehen, in Zeitstufen misst, sondern ihre Stellung im Verhältnis zur Primärerzählung (d. h. der nicht-anachronischen Gesamtheit der Anekdote198) betrachtet, findet man ein in etwa ausgeglichenes Verhältnis von internen und externen Anachronien vor – aber mit deutlichen, meist speziell Pro- oder Analepsen betreffenden Unterschieden zwischen den Kapiteln. Von den möglichen Inhalten externer Anachronien überwiegen diejenigen, die einen engen Bezug zur Primärhandlung aufweisen. Es gibt insgesamt 205 interne, 179 externe und 19 gemischte Anachronien (rund 50%, 44% und 5% aller Anachronien), davon 104 interne, 75 externe und 9 gemischte Prolepsen (rund 54%, 39% und 5% aller Prolepsen) sowie 101 interne, 104 externe und 10 gemischte Analepsen (rund 47%, 48% und 5% aller Analepsen), während bei drei Prolepsen und einer Analepse die Zuordnung unklar ist. In den Kapiteln betragen die gerundeten Anteile (der jeweils zuordenbaren Pro-/Analepsen an der Gesamtzahl der Pro-/Analepsen):
1,7 2,1 3,8 4,2 197
198
intern 60% 75% 48% 67%
Prolepsen extern gemischt 34% 6% 25% — 48% 3% 33% —
intern 68% 69% 56% 40%
Analepsen extern gemischt 32% — 23% 8% 35% 7% 60% —
In 1,7, ext. 4, wo die Gegenüberstellung von Vorher und Nachher in den Elementen I–N drei Analepsen zu drei verschiedenen Gepflogenheiten auf derselben Zeitstufe enthält; in 3,8,1 und 8,9,2, wo jeweils eine von mehreren Analepsen heterodiegetisch ist; in 3,8, ext. 5, wo es in zwei Analepsen um den Umgang zweier Hauptpersonen mit der jeweils anderen geht; in 6,2,3, wo sich sieben Analepsen auf zwei verschiedene heterodiegetische Ereignisse beziehen; und in 8,9, ext. 2, wo es einmal um eine einzelne Rede des Peisistratos, einmal um ihn generell geht. Vgl. oben Fn. 181.
Ordre 5,7 6,2 7,7 8,9 9,7
90% 41% 20% 40% 60%
— 53% 60% 40% 40%
10% 6% — 10% —
73 67% 19% 27% 69% 11%
22% 76% 70% 31% 67%
11% 5% 3% — 22%
Prolepsen sind also überwiegend intern in fünf Kapiteln (1,7; 2,1; 4,2; 5,7; 9,7) und extern in zweien (6,2; 7,7), Analepsen überwiegend intern in fünf (1,7; 2,1; 3,8; 5,7; 8,9) und extern in vier Kapiteln (4,2; 6,2; 7,7; 9,7). In drei Kapiteln überwiegen interne Pro- und Analepsen (1,7; 2,1; 5,7), in zweien externe Pro- und Analepsen (6,2; 7,7), während in zweien überwiegend interne Prolepsen externen Analepsen gegenüberstehen (4,2; 9,7) und in zweien nur bei den Analepsen ein Überwiegen der internen festzustellen ist (3,8; 8,9). Eine Einzelanekdote enthält im Durchschnitt rund 1,5 externe Zeitstufen und 2,3 externe Elemente (wenn man gemischte und amalgamierte zur Hälfte zählt), die insgesamt rund 23% aller Elemente ausmachen. Der Anteil variiert in den Kapiteln von rund 6% (in 5,7) über rund 10% (in 2,1), 16% (in 1,7), 20% (in 4,2), 21% (in 3,8), 28% (in 8,9) und 29% (in 9,7) bis rund 36% (in 6,2) und 42% (in 7,7), ist also am höchsten in drei Kapiteln mit überwiegend externen Analepsen, die auch zu den Kapiteln mit ingesamt hohem Analepsenanteil gehören. Die Mehrheit der externen Elemente betrifft die Vergangenheit, d. h. die Zeit vor den Zeitstufen der Primärerzählung (rund 65%, während Analepsen generell nur rund 55% des Umfangs aller Anachronien ausmachen), und zwar selbst in denjenigen Kapiteln, in denen insgesamt die Prolepsen überwiegen – allerdings mit großer Schwankungsbreite, von rund 51% (in 1,7), 53% (in 3,8) und 57% (in 2,1) über rund 67% (in 4,2) und 70% (in 6,2 und 8,9) bis rund 82% (in 7,7), 85% (in 9,7) und 86% (in 5,7). Inhaltlich lassen sich die externen Anachronien und externen Teile der gemischten in die folgenden fünf Gruppen einteilen (die Asterisken bezeichnen Anachronien mit intradiegetischem Auslöser199): (1) Vorstufen oder Voraussetzungen der Primärhandlung (einschließlich persönlicher Vorgeschichten mit kausaler Relevanz wie z. B. „Cassius war ein Anhänger des Marcus Antonius gewesen“ oder auch, kontrafaktisch ausgedrückt, „wenn Alexander vom Schicksal mit mehr Vorsicht ausgestattet worden wäre“): 1,7,2 D 1,7,7 B 1,7, ext. 2 C 1,7, ext. 4 I 1,7, ext. 4 K 1,7, ext. 4 M 1,7, ext. 5 L 199
2,1,3 B * 2,1,3 D–E * 2,1,10 E * 3,8,1 C 3,8,8 B–E 3,8, ext. 2 B 3,8, ext. 2 C
Siehe zu diesen auch unten S. 86–97.
3,8, ext. 2 D * 3,8, ext. 2 E * 3,8, ext. 2 G * 3,8, ext. 2 H–I * 3,8, ext. 3 B 3,8, ext. 3 C 3,8, ext. 3 F *
3,8, ext. 3 G * 3,8, ext. 3 H 4,2,2 E 4,2,2 I * 4,2,4 (a) B 4,2,5 B 4,2,5 D
Die Anekdoten
74 5,7,2 E 6,2,1 C 6,2,3 D 6,2,3 H * 6,2,3 I * 6,2,3 M * 6,2,3 O * 6,2,11 C–D * 6,2,11 G * 6,2,12 (a) B 6,2,12 (a) D
6,2, ext. 2 G * 6,2, ext. 2 I–Q * 6,2, ext. 2 J * 6,2, ext. 2 M * 6,2, ext. 2 P * 6,2, ext. 3 D * 7,7,2 B–C 7,7,2 D–E 7,7,2 G 7,7,2 H 7,7,2 I
7,7,2 K–L 7,7,3 B–C 7,7,3 G 7,7,5 B 7,7,5 C–D * 7,7,5 E * 7,7,5 J * 7,7,5 K * 7,7,6 E 7,7,6 G 7,7,6 J *
7,7,7 C 7,7,7 F * 7,7,7 G * 7,7,7 H * 9,7,2 B 9,7,2 C 9,7,2 D–E * 9,7,2 F–H * 9,7, mil. Rom. 1 F * 9,7, mil. Rom. 2 D 9,7, mil. Rom. 3 B–C
(2) Nebenumstände mit charakterisierendem, orientierendem200 oder ausschmückendem Wert (z. B. die Angabe non procul a Vesuuii montis radicibus positis castris in 1,7,3, die Verprügelung des dann hingerichteten Sklaven in 1,7,4 oder die „schrecklichen Taten“ des Palicanus in 3,8,3): 1,7,3 E 1,7,4 E 1,7, ext. 2 I 3,8,3 D 3,8,4 I * 3,8,5 J * 3,8,6 F–G 3,8, ext. 6 L
4,2,3 E 5,7,2 C 6,2,3 F 6,2,3 U * 6,2,3 X 6,2,3 Y 6,2,3 Z 6,2,3 AA *
6,2,3 CC * 6,2,8 C * 6,2,8 F * 6,2,8 G–O * 6,2,8 H * 6,2,8 J * 6,2,8 L * 6,2,8 M *
6,2,8 N * 6,2,8 P * 6,2,8 R 6,2,8 S 6,2,11 B 7,7,1 H 9,7,3 C
(3) Ergebnisse, d. h. Weiterführungen oder unmittelbare Konsequenzen der Primärhandlung (z. B. die Verwirklichungen im Traum angekündigter Ereignisse im Kapitel De somniis), mit besonders vielen diegetisch motivierten und/oder kontrafaktischen Fällen: 1,7,3 C 1,7,3 F–I * 1,7,5 L * 1,7,5 N * 1,7,7 S 1,7, ext. 1 H * 1,7, ext. 2 D 1,7, ext. 2 F 1,7, ext. 2 H * 1,7, ext. 2 P 1,7, ext. 4 B–C 200
1,7, ext. 4 E 1,7, ext. 4 P 1,7, ext. 5 B * 1,7, ext. 5 G * 1,7, ext. 5 K * 1,7, ext. 6 E–F * 1,7, ext. 7 C * 1,7, ext. 7 D 2,1,9 (a) C * 2,1,9 (a) E 2,1,9 (a) F
3,8,3 I–J * 3,8,3 L * 3,8,3 N * 3,8,3 O * 3,8,3 Q 3,8,7 C 3,8,7 E * 3,8,8 G * 3,8,8 I–J * 3,8, ext. 5 B * 3,8, ext. 5 E *
3,8, ext. 5 G * 3,8, ext. 5 H * 3,8, ext. 5 I * 5,7, ext. 1 E * 6,2,1 L * 6,2,1 P * 6,2,1 Q–R * 6,2,4 D–H * 6,2,4 F * 6,2,4 G * 6,2,4 I *
Diesen Begriff entlehne ich von einem der Funktionselemente in der Strukturanalyse nach Labov und Waletzky (bei dem es sich wohlgemerkt nicht notwendigerweise um Nebensächliches oder überhaupt um Ereigniserzählung handeln muss; vgl. die Definition unten S. 148).
Ordre 6,2,5 C 6,2,10 C * 6,2,10 G 6,2,10 H
6,2,11 E * 6,2,11 J * 7,7,3 E * 7,7,4 F *
7,7,4 H * 7,7,5 F * 7,7,5 H * 7,7,7 D *
75 8,9,1 E 8,9, ext. 3 D * 9,7,1 B * 9,7, mil. Rom. 1 B *
(4) Coda-Inhalte201 betreffend das spätere Leben der handelnden Personen oder das ‚Nachleben‘ des erzählten Geschehens in Gestalt indirekter oder zeitlich entfernterer Folgen oder seiner Überlieferung und Beurteilung durch Spätere (z. B. die spätere „Unsterblichkeit“ des Augustus in 1,7,1, das „Staunen“ über die Traumvision in 1,7,3 oder der „bevorstehende“ Sieg Alexanders in 3,8, ext. 6): 1,7,1 K 1,7,3 B 1,7, ext. 3 O 1,7, ext. 3 P
3,8, ext. 6 G * 4,2,1 G 4,2,2 B * 4,2,2 C
6,2,3 E 6,2,6 C * 6,2, ext. 2 C * 6,2, ext. 2 D *
6,2, ext. 2 R–S * 8,9,1 F * 8,9, ext. 1 A
(5) historische Vergleiche oder Beispiele (z. B. die analeptische Caesar-Geschichte in 1,7,2 oder die Ermordung des Tiberius Gracchus in 1,7,6): 1,7,2 B 1,7,2 E–H * 1,7,2 I * 1,7,2 J 1,7,2 K
1,7,2 M * 1,7,2 N * 1,7,2 P 1,7,2 Q * 1,7,6 F *
2,1,10 B 3,8,2 (d) F 3,8,2 (d) H 5,7,2 J–K 7,7,7 B
8,9, ext. 2 B–H 8,9, ext. 2 C 8,9, ext. 2 E * 8,9, ext. 2 F–G * 8,9, ext. 2 J
Die Häufigkeitsverteilung der fünf Gruppen in den untersuchten Kapiteln sieht (in absoluten Zahlen) wie folgt aus: 1,7 2,1 3,8 4,2 5,7 6,2 7,7 8,9 9,7 insg. (1) Vorstufen/Voraussetzungen 7 3 13 5 1 16 20 — 7 72 (2) Nebenumstände 3 — 5 1 1 19 1 — 1 31 (3) Ergebnisse 19 3 14 — 1 13 6 2 2 60 (4) Coda-Inhalte 4 — 1 3 — 5 — 2 — 15 (5) historische Vergleiche/ 10 1 2 — 1 — 1 5 — 20 Beispiele insg. 43 7 35 9 4 53 28 9 10 198
Insgesamt dominieren also klar die Inhalte mit engstem Bezug zur Primärhandlung (Punkte 1 und 3), die rund 67% der externen Anachronien ausmachen. CodaInhalte sind am seltensten (rund 8%) – und die beiden verbleibenden Gruppen
201
Die Abgrenzung von ‚Ergebnis‘ und ‚Coda‘ übernehme ich wiederum von Labov und Waletzky (vgl. unten S. 150f.).
Die Anekdoten
76
externer Anachronien wären nicht größer, wenn sie nicht in gewissen Anekdoten gehäuft aufträten. Die gezählten 20 Anachronien der Kategorie ‚historische Vergleiche und Beispielfälle‘ (rund 10% der externen Anachronien) stammen nämlich zu 70% aus nur zwei Anekdoten, 1,7,2 und 8,9, ext. 2, wo Hauptinhalte anachronisch präsentiert werden: in 1,7,2 die Caesar-Anekdote als warnendes Vorbild für Augustus, in 8,9, ext. 2 die Anekdote von der Peisistratos-ähnlichen Rede des jungen Perikles, die das zuvor in allgemeinen Begriffen über ihn Gesagte exemplifiziert. Auch für die Nebenumstände gilt Ähnliches. Rund 58% der so eingeordneten Anachronien stehen in den Anekdoten 6,2,3 (Siege des Scipio Aemilianus und seiner Vorfahren) und 6,2,8 (niedere Herkunft des Helvius und Vorwürfe gegen Pompeius) – sie machen zugleich rund 34% aller extradiegetischen Anachronien in 6,2 aus und tragen damit viel dazu bei, sie in diesem Kapitel als besonders zahlreich erscheinen zu lassen. Das andere Kapitel mit externer Anachronienmehrheit (7,7) erreicht diese durch extreme Häufigkeit der extern anachronischen Vorstufen und Voraussetzungen, die durch die Entscheidung bedingt ist, die Aufhebungen der Testamente – nicht Familienkonflikte und Testamentsstreitigkeiten als solche – als primäres Kapitelthema zu wählen. 1.g
Partiell vs. komplett
Wie bereits oben ausgeführt,202 kann man Anachronien unter verschiedenen Gesichtspunkten als ‚komplett‘ bezeichnen: im Sinne eines zeitlichen Anschlusses an den Ausgangspunkt (möglich bei internen und gemischten Anachronien), an Anfang oder Ende der Primärerzählung (möglich bei allen Anachronien) oder zu einem Bezugspunkt jenseits der Primärerzählung (möglich nur bei externen und gemischten Prolepsen). Im Folgenden wird das erste Kriterium auf alle internen und gemischten Anachronien angewendet, das zweite auf alle externen. Die von Genette für die Prolepsen vorgesehenen abweichenden Fragestellungen (nach dem zweiten Kriterium für interne, nach dem dritten für externe und gemischte) werden ergänzend berücksichtigt. Bei den internen und gemischten Analepsen ist das Verhältnis fast ausgewogen: 57 sind partiell (rund 56%), während 45 (rund 44%) mit ihrem spätesten Ereignis lückenlos an den Zeitpunkt anschließen, an dem sie in der übergeordneten Erzählung eingefügt sind.203 Auch von den 93 hier relevanten internen und gemischten Prolepsen204 beziehen sich immerhin 38 (rund 41%) auf einen unmittel202 203
204
Siehe oben Fn. 174. In neun weiteren Fällen stellt sich die Frage wegen des extradiegetischen Ausgangspunkts nicht. Nicht mitgezählt sind die 20 Fälle mit extradiegetischem Ausgangspunkt.
Ordre
77
bar an den Ausgangspunkt anschließenden Zeitraum (in den Tabellen: komplett ← oder ↔).205 Bis zum Ende der Primärerzählung reichende interne Prolepsen (komplett → oder ↔), darunter faktische oder kontrafaktische Bezugnahmen auf das Ergebnis der Geschichte206 und erzählerische Vorwegnahmen der ganzen Haupthandlung zu Beginn der Anekdote,207 sind mit 53 von 103 relevanten Fällen,208 d. h. rund 51%, noch etwas häufiger. Nur zwölf interne Prolepsen (rund 12%) gehören beiden Gruppen an, decken also den ganzen Zeitraum vom Ausgangspunkt bis zum Ende der Primärerzählung ab (komplett ↔). Von den externen Analepsen sind 72 partiell (rund 70%), während 31 (rund 30%) an den Anfang der Primärerzählung anschließen,209 meist als deren Vorstufen oder Voraussetzungen.210 Von den 70 relevanten externen Prolepsen211 schließen 27 (rund 39%) direkt an das Ende der Primärerzählung an (komplett ← oder ↔); sie beziehen sich fast stets auf das in der Primärerzählung selbst nicht inkludierte Ergebnis der Geschichte.212 Nur sieben von 79 relevanten externen und gemischten Prolepsen (rund 9%) reichen als Coda-Inhalte213 bis zum Erzählzeitpunkt (komplett → oder ↔), und nur zwei externe Prolepsen (rund 3%) decken den ganzen Zeitraum zwischen Primärerzählung und Erzählzeitpunkt ab (komplett ↔). Vergleicht man die Werte für die einzelnen Kapitel, so ergeben sich zu den insgesamt acht Punkten durchaus verschiedene Rangfolgen, wobei jedoch die – in Hinblick auf die Gesamthäufigkeit und (in Zeitstufen bemessene) Reichweite der Anachronien eher unterdurchschnittlichen – Kapitel 2,1 (De institutis antiquis), 4,2 (Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine) und 8,9 (Quanta uis sit eloquentiae) durch wiederholte Präsenz auf den ersten Plätzen auffallen. Von den internen und gemischten Analepsen, die keinen extradiegetischen Ausgangspunkt haben, schließen einmal 0% (von 8 in 7,7) sowie rund 23% (7 von 31 in 1,7), 33% (2 von 6 in 5,7), 50% (2 von 4 in 4,2), 60% (6 von 10 in 6,2), 61% 205
206 207 208
209
210 211
212 213
Die Anachronie entsteht in diesen Fällen nur durch gewissermaßen parenthetische Einschaltung (mit anschließender Rückkehr zur Ausgangszeitebene) oder indem über die unmittelbar folgende hinweg noch weitere Zeitstufen berührt werden. Vgl. unten S. 150 (Definition nach Labov und Waletzky). Vgl. unten S. 97f. Nicht mitgezählt ist eine von einer Analepse abhängige Prolepse mit rappel-Charakter in 7,7,4; sie ist, als Analepse beurteilt, partiell. Nicht mitgezählt ist eine Analepse in 6,2,4, die von einer Prolepse abhängig ist und zeitlich nach der Primärerzählung liegt; sie ist, als Prolepse beurteilt, partiell. Vgl. oben S. 73f. (26 von 31). Nicht mitgezählt sind fünf Prolepsen in 1,7,2 und 8,9, ext. 2, die von Analepsen abhängig sind und zeitlich vor der Primärerzählung liegen; die in 8,9, ext. 2 ist, als Analepse beurteilt, komplett, die übrigen partiell. Vgl. oben S. 74f. (25 von 27). Vgl. oben S. 75.
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Die Anekdoten
(14 von 23 in 3,8), 63% (5 von 8 in 8,9), 67% (2 von 3 in 9,7) und 78% (7 von 9 in 2,1) an den Ausgangspunkt an,214 von den entsprechenden Prolepsen einmal 0% (von 1 in 7,7) sowie rund 30% (13 von 43 in 1,7), 31% (4 von 13 in 3,8), 46% (6 von 13 in 6,2), 50% (4 von 8 in 5,7; 2 von 4 in 8,9), 78% (7 von 9 in 2,1) und 100% (von 2 in 4,2).215 Die Anteile der bis zum Ende der Primärerzählung reichenden internen Prolepsen betragen rund 33% (1 von 3 in 9,7), 44% (je 4 von 9 in 2,1 und 5,7; 7 von 16 in 3,8), 48% (20 von 42 in 1,7), 62% (8 von 13 in 6,2), 75% (3 von 4 in 8,9), 84% (5 von 6 on 4,2) und 100% (von 1 in 7,7), die Anteile der vom Ausgangszeitpunkt bis zum Ende der Primärerzählung reichenden dreimal 0% (von 16 in 3,8, von 1 in 7,7, von 3 in 9,7) sowie rund 5% (2 von 42 in 1,7), 15% (2 von 13 in 6,2), 22% (2 von 9 in 5,7), 25% (1 von 4 in 8,9) und 33% (3 von 9 in 2,1; 2 von 6 in 4,2). Von den relevanten externen Analepsen schließen dreimal 0% (von 6 in 4,2, von 2 in 5,7, von 4 in 8,9) sowie rund 16% (5 von 31 in 6,2), 24% (5 von 21 in 7,7), 47% (7 von 15 in 1,7), 53% (8 von 15 in 3,8) und 67% (2 von 3 in 2,1; 4 von 6 in 9,7) an die Primärerzählung an, von den externen Prolepsen einmal 0% (von 3 in 4,2) sowie rund 20% (4 von 20 in 1,7), 29% (5 von 17 in 6,2), 33% (1 von 3 in 2,1), 50% (8 von 16 in 3,8, 1 von 2 in 9,7), 67% (2 von 3 in 8,9) und 100% (6 von 6 in 7,7).216 Die Anteile der bis zum Erzählzeitpunkt reichenden externen und gemischten Prolepsen betragen sechsmal 0% (von 3 in 2,1, von 17 in 3,8, von 1 in 5,7, von 19 in 6,2, von 6 in 7,7, von 2 in 9,7) sowie rund 17% (4 von 24 in 1,7), 25% (1 von 4 in 8,9) und 67% (2 von 3 in 4,2); die vom Ende der Primärerzählung bis zum Erzählzeitpunkt reichenden externen Prolepsen machen in 1,7 immerhin 10% aus (2 von 20), während in den übrigen Kapiteln keine vorkommen. 1.h
Homo- vs. heterodiegetisch
Bei der Untersuchung der diegetischen Zugehörigkeit der Anachronien geht es Genette hauptsächlich um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Überschneidungen und Konflikten mit der Primärerzählung. Diese Frage stellt sich bei externen Anachronien von vorneherein nicht, was wohl der Grund ist, weshalb er ausschließlich interne und gemischte Anachronien in homo- und heterodiegetische einteilt. Im Folgenden soll diese Einteilung jedoch, von Genette abweichend, auch 214
215 216
Hier und auch in den folgenden Kapitelvergleichen fällt mitunter die Gesamthäufigkeit der jeweils auszuwertenden Anachroniengruppe so niedrig aus, dass der Aussagewert der ermittelten Werte zweifelhaft wird (weil große Prozentunterschiede von absoluten Unterschieden abhängen, die so gering sind, dass man sie leicht für ein Werk des Zufalls halten kann, z. B. 1 von 3 = 33%, 2 von 3 = 67%). Da dies jedoch immer nur auf einzelne Kapitel zutrifft, wird auf die Vergleiche dennoch nicht verzichtet. In 9,7 gibt es keine hier relevanten Prolepsen. In 5,7 gibt es keine externen Prolepsen.
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auf die externen angewendet werden, da man auch bei ihnen zwischen solchen unterscheiden kann, die mit der Primärerzählung eine einzige kontinuierliche Handlungslinie bilden, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist.217 Dabei zeigt sich, dass die Homodiegetizität bei den externen Prolepsen wie bei den internen und gemischten Anachronien klar dominiert, während das Verhältnis bei den externen Analepsen deutlich ausgewogener ist. Insgesamt gibt es in den untersuchten Kapiteln 338½ homo- und 68½ heterodiegetische Anachronien (rund 83% und 17%).218 Von den 113 klar internen oder gemischten Prolepsen sind 112 homo- und nur eine einzige (in 5,7) heterodiegetisch, von den 111 entsprechenden Analepsen 101½ homo- und 9½ heterodiegetisch (rund 91% und 9%). Interne oder gemischte Prolepsen führen also fast nie andere Handlungsstränge ein, Analepsen auch nur in weniger als einem Zehntel der Fälle. In den Kapiteln betragen die Anteile heterodiegetischer Analepsen (an der Gesamtzahl der klar internen oder gemischten Analepsen) dreimal 0% (von je 10 in 2,1 und 6,2, von 9 in 7,7) sowie rund 7% (2 von 30 in 1,7; ½ von 7 in 5,7), 11% (3 von 27 in 3,8; 1 von 9 in 8,9), 25% (1 von 4 in 4,2) und 67% (2 von 3 in 9,7).219 Von den 75 klar externen Prolepsen sind 63 homo- und 12 heterodiegetisch (genau 84% und 16%) und von den 104 klar externen Analepsen 60 homo- und 44 heterodiegetisch (rund 58% und 42%). Die heterodiegetischen Anteile sind also durchwegs größer als bei den internen und gemischten Anachronien und bei den Analepsen noch einmal um vieles größer als bei den Prolepsen. Dennoch sind die homodiegetischen Fälle – also Anachronien, die lediglich die Primärerzählung nach vorne oder hinten verlängern – in der Mehrheit. In den acht Kapiteln, in denen externe Prolepsen überhaupt vorkommen, betragen die Anteile der heterodiegetischen dreimal 0% (von 3 in 2,1, von 6 in 7,7, von 2 in 9,7) sowie rund 12% (2 von 17 in 6,2), 13% (2 von 16 in 3,8), 21% (5 von 24 in 1,7), 25% (1 von 4 in 8,9) und 67% (2 von 3 in 4,2). Bei den externen Analepsen betragen die Anteile einmal 0% (von 6 in 4,2) sowie rund 7% (1 von 15 in 3,8), 14% (3 von 21 in 7,7), 33% (2 von 6 in 9,7), 50% (8 von 16 in 1,7; 1 von 2 in 5,7), 67% (2 von 3 in 2,1), 74% (23 von 31 in 6,2) und 100% (4 von 4 in 8,9). Es gibt also auch bei relativ hohen Fallzahlen teils deutliche Unterschiede; siehe 6,2 (Libere dicta aut facta) mit hohem heterodiegetischem Anteil und 7,7 (De testamentis quae rescissa sunt) – ein Kapitel, dessen [ema (im Gegensatz zu 217
218
219
Zu diesen werden hier auch die beiden extern analeptischen Handlungslinien in 6,2,3 (betreffend die Gracchen und ihre Ermordung einerseits, den Sieg des Scipio Aemilianus – und die seiner Vorfahren – andererseits) gezählt, von denen die zweite die Hauptperson, die erste aber den Auslöser und Streitgegenstand der Primärhandlung beisteuert; beide sind ‚Vorgeschichten‘, aber keine ist für sich genommen ‚die‘ Vorgeschichte. Eine gemischte Analepse (in 5,7,2) ist homodiegetisch für den internen und heterodiegetisch für den externen Teil ihrer Reichweite und wird daher hier je zur Hälfte gezählt. Auch in diesem Abschnitt gilt für die Kapitelvergleiche der oben in Fn. 214 geäußerte Vorbehalt.
Die Anekdoten
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Libere dicta aut facta) zum Erzählen homodiegetischer Vorgeschichten einlädt – mit niedrigem. Die vier Anachronien, die sich nicht klar als intern, extern oder gemischt einordnen lassen, sind in je zwei Fällen homodiegetisch (zwei Prolepsen) und heterodiegetisch (eine Pro- und eine Analepse). Für die Inhalte der heterodiegetischen externen Anachronien kann auf die obige Auswertung der externen Anachronien verwiesen werden,220 wo sich zeigt, dass es unter den ‚Vorstufen und Voraussetzungen‘ ebenso wie unter den deutlich weniger zahlreichen Nebenumständen und Coda-Inhalten erhebliche Anteile heterodiegetischer Anachronien gibt (während Ergebnisse naturgemäß nicht heterodiegetisch sein können, historische Vergleiche und Beispielfälle es dagegen notwendigerweise sind). Die wenigen heterodiegetischen internen Anachronien sind meist Vorgeschichten neu in die Erzählung eintretender Personen, je einmal aber auch ein Senatsbeschluss, über den ein Gerücht auftaucht (3,8,1), eine zusätzliche Vorgeschichte zu einer der zwei Hauptpersonen, nachdem die Anekdote mit der gemeinsamen Vorgeschichte begonnen hat (4,2,7), ein Versprechen betreffend die selbst nicht auftretenden Söhne der anderen Hauptperson (5,7,2) und der potentielle Selbstmord namenloser Dritter als Folge der von Ptolemaios verbotenen Reden des Hegesias (8,9, ext. 3). 1.i
Funktionen und Faktizität
Genette sieht nur für die internen und gemischten homodiegetischen Anachronien eine Einteilung in funktionale Typen (kompletiv, annonce, rappel) vor. Wie im Folgenden zu zeigen ist, lassen sich diese Funktionen aber sehr wohl auch bei externen und – mit Einschränkungen – heterodiegetischen Anachronien wiederfinden. Vorauszuschicken ist erstens, dass mit den funktionalen Typen ein zumindest potentieller Unterschied in der Erkennbarkeit der objektiv vorliegenden Anachronien durch den Leser einhergeht. Während die Anachronizität von annonces und rappels schon prinzipiell selbstverständlich und offensichtlich ist, ist dies bei kompletiven und heterodiegetischen Anachronien nur dann der Fall, wenn es sich um verbale oder gedankliche Ankündigungen oder Rückblicke innerhalb der Diegese221 handelt. Sonstige kompletive oder heterodiegetische Anachronien könnten theoretisch vom Leser unbemerkt bleiben – was praktisch allerdings fast nie mög-
220 221
Oben S. 73–75. Zu diegetischen vs. narrativen Anachronien siehe unten S. 86–101. Von den dort aufgelisteten diegetischen Anachronien wären hier freilich diejenigen auszuschließen, die keine eigene diegetische Äußerung begründen, sondern bloß zusätzliche Anachronien innerhalb einer solchen sind.
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lich ist, weil sie durch Semantik, Grammatik oder Kontext als anachronisch kenntlich gemacht werden (z. B. immortalitati in 1,7,1 durch die Wortbedeutung und durch destinatum; audiuerat in 1,7,2 durch das Tempus und durch den vorangehenden Satz Augustum […] exemplum […] admonuit; positis castris in 1,7,3 und uerberibus mulcatum in 1,7,4 durch die Partizipialform; pompa induceretur in 1,7,4 durch priusquam; supplicium in 1,7,4 durch ad und egisset; etc. etc.).222 Zweitens soll die funktionale Einteilung in diesem Abschnitt noch um eine weitere Nuance – die Frage der Faktizität – erweitert werden. Zahlreiche Anachronien bei Valerius Maximus verweisen auf hypothetische Ereignisse und Entwicklungen, die entweder durch in der Anekdote selbst explizit dargestellte Fakten als irreal erwiesen werden oder deren Kontrafaktizität zur historischen Allgemeinbildung gehört.223 Solche kontrafaktischen Anachronien werden im Folgenden – wie schon in der tabellenhaften Auswertung der einzelnen Anekdoten – explizit von der großen Masse der faktischen unterschieden. Neben diesen zwei Kategorien gibt es – unter der Bezeichnung ‚fragend‘ – auch noch eine dritte Kategorie für offen formulierte Fragen, die sich einer Einordnung als faktisch oder kontrafaktisch entziehen (z. B. quidnam […] esset faciendum in 6,2,1). Insgesamt herrscht in den untersuchten Kapiteln ein ausgewogenes Verhältnis von annonce- oder rappel-Anachronien und kompletiven (173½ und 175 Fälle, die jeweils rund 43% aller Anachronien ausmachen; zusätzlich 58½ oder rund 14% nicht zuordenbare). Wir werden aber sehen, dass es in Hinblick auf die Häufigkeit der Funktionen deutliche Unterschiede zwischen den drei zu behandelnden Anachroniengruppen gibt – interne homodiegetische sind fast zu vier Fünfteln annonces oder rappels, externe homodiegetische fast zwangsläufig kompletiv und heterodiegetische nur ausnahmsweise mit einer dieser Funktionen verbunden. In Hinblick auf die Kontrafaktizität ist dagegen eher der Unterschied zwischen Pro- und Analepsen relevant, indem jene fast zu einem Drittel, diese nur selten
222
223
Zu Ausnahmefällen, wo nicht aus dem Text ableitbares Geschichtswissen nötig ist, um die Anachronizität zu erkennen, siehe unten Fn. 1180 (eine ganze Teilanekdote), 1184 und 1190 (sowie Fn. 1167, 1181 und 1190 zu Fällen, wo externe Quellen eine Anachronie ausschließen oder ihr Fehlen die Entscheidung unmöglich macht). Im Gegensatz zu kaum voraussetzbarem Detailwissen wie dem Tod des zum Volkstribun gewählten falschen Gracchussohns Equitius vor oder bei Amtsantritt (vgl. App. civ. 1,4,33, Briggs L. Twyman: Se Day Equitius Died, in: Athenaeum 67, 1989, S. 493– 509, J. Lea Beness/T. W. Hillard: Se Death of Lucius Equitius on 10 December 100 B. C., in: CQ 40, 1990, S. 269–272), der die Prolepse tribunatumque in 9,7,1 als kontrafaktisch erscheinen lassen könnte. Dass ein gewisser kollektiver Wissensschatz vorausgesetzt wird, gilt als typisch für anekdotisches Erzählen überhaupt (vgl. unten bei Fn. 1136). Die generelle Tendenz des Valerius Maximus, in seine Anekdoten kontrafaktische Alternativen einzubauen, bemerkt schon Honstetter, S. 72–74, der darin ein Mittel zur „Steigerung der affektischen Einstellung des Lesers“ durch Betonung des „Ausnahmecharakter[s]“ der tatsächlichen Ereignisse erblickt.
Die Anekdoten
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kontrafaktisch sind. Auf Kapitelebene wird sich zudem zeigen, dass Kontrafaktizität mit intradiegetisch ausgelöster Anachronizität sowie mit Mehrfachverweisen auf dieselbe Zeitstufe korreliert. Für die insgesamt 103 in den untersuchten Kapiteln vorkommenden internen homodiegetischen Prolepsen lauten die Zahlen wie folgt:
1,7 2,1 3,8 4,2 5,7 6,2 7,7 8,9 9,7 insg. = rund
faktisch 22 1 7 4 6 6 1 2 3 52 50%
annonce kontrafakt. 10 — 7 1 1 5 — 2 — 26 25%
fragend — — 1 — — 1 — — — 2 2%
kompletiv faktisch kontrafakt. 10 — 7 1 1 — 1 — 1 — 1 — — — — — — — 21 1 20% 1%
rappel faktisch — — — — — — 1 — — 1 1%
Für die internen homodiegetischen Analepsen (insgesamt 95):
1,7 2,1 3,8 4,2 5,7 6,2 7,7 8,9 9,7 insg. = rund
rappel faktisch kontrafakt. 24 1 3 2 12 1 1 — 4 — 7 — 8 — 5 — 1 — 65 4 68% 5%
kompletiv faktisch kontrafakt. 3 — 4 — 7 — 1 — 2 — — — — — 3 — — — 20 — 21% —
annonce faktisch kontrafakt. 1 1 — — 1 1 1 — — — 1 — — — — — — — 4 2 4% 2%
Der hauptsächliche Unterschied besteht also darin, dass Kontrafaktizität bei den annonce-Prolepsen deutlich häufiger ist als bei den rappel-Analepsen (25% aller
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internen homodiegetischen Prolepsen gegenüber rund 5% der internen homodiegetischen Analepsen), also die – naturgemäß ungewisse – Zukunft mehr als die Vergangenheit zum Gegenstand kontrafaktischer Aussagen wird. Die besondere Kategorie der ‚fragenden‘ Anachronien, die so unkonkret sind, dass man sie weder als faktisch noch als kontrafaktisch beurteilen kann, kommt überhaupt nur bei den Prolepsen vor (2%). Dagegen ist das Phänomen der Funktionsumkehrung durch Verschachtelung224 bei den Analepsen häufiger. Rund 6% der internen homodiegetischen Analepsen sind für den Leser annonces und nur 1% der Prolepsen rappels. Nur bei den kompletiven Anachronien stimmen die Werte für Pro- und Analepsen weitgehend überein. Kompletiv sind je rund 21%, zugleich kontrafaktisch rund 1% und 0% aller internen homodiegetischen Pro- und Analepsen. Bei den – in den obigen Tabellen nicht enthaltenen – gemischten Anachronien ist zu beobachten, dass sie in internem und externem Teil meist verschiedene Funktionen aufweisen: im externen Teil eine kompletive, im internen die einer annonce (bei Prolepsen) oder eines rappel (bei Analepsen). In den untersuchten Kapiteln gibt es fünf gemischte homodiegetische Analepsen mit derartiger kombinierter Funktion (je eine in 2,1, 3,8 und 7,7; zwei in 6,2), nur eine rein kompletive (in 3,8) und eine halbe mit rappel-Funktion225 (in 5,7). Alle sind faktisch. Gemischte homodiegetische Prolepsen kommen sogar ausschließlich mit kombinierter Funktion vor. Sechs sind faktisch (vier in 1,7, je eine in 6,2 und 8,9) und drei kontrafaktisch (je eine in 3,8, 5,7 und 6,2), es ändert sich also nichts am Eindruck einer stärkeren Neigung zur Kontrafaktizität bei Prolepsen. Homodiegetische externe Anachronien haben in der Regel eine kompletive Funktion, denn sie vermitteln in der Primärerzählung weggelassene Zeitabschnitte der primären Handlungslinie – nicht anders als kompletive interne Anachronien, wenn sie Zeitellipsen innerhalb der Primärerzählung ausfüllen. Eine Erzählung, die homodiegetische externe Analepsen enthält – oder enthalten könnte –, beginnt also gewissermaßen mit einer Zeitellipse, die dadurch entsteht, dass sie nicht ab ovo, d. h. mit dem frühesten der primären Handlungslinie zuordenbaren Ereignis, einsetzt, und Analoges gilt auch für Erzählungen mit homodiegetischen externen Prolepsen. Eine Funktion als annonce oder rappel ist nur (zusätzlich zur Möglichkeit der kompletiven Funktion) innerhalb des externen Zeitraums möglich – als Vor- oder Rückverweis auf ein anderswo in einer externen Anachronie erzähltes Ereignis. Bei kontrafaktischen externen Anachronien wird zwar das reale Ereignis nicht in der Primärerzählung erzählt, aber der Leser kann den kontrafaktischen 224 225
Vgl. oben nach Fn. 173. Es handelt sich um eine gemischte Analepse, die nur im internen Teil homodiegetisch, im externen aber heterodiegetisch und daher hier nur zur Hälfte zu berücksichtigen ist.
Die Anekdoten
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Charakter dennoch fast immer erkennen – sei es, weil das reale Ereignis innerhalb desselben oder eines anderen externen Segments erzählt wird, sei es durch die Art und Weise, wie auf das irreale Ereignis Bezug genommen wird, oder durch geschichtliche Allgemeinbildung. In den untersuchten Kapiteln finden sich externe homodiegetische Prolepsen wie folgt:226
1,7 2,1 3,8 4,2 5,7 6,2 7,7 8,9 9,7 insg. = rund
annonce faktisch kontrafakt. — — — — — — — — — — 2 — — — — — — — 2 — 3% —
faktisch 17½ 3 4 1 — 2 4 1 1 33½ 53%
kompletiv kontrafakt. 1½ — 10 — — 10 2 2 1 26½ 42%
fragend — — — — — 1 — — — 1 2%
Externe homodiegetische Analepsen: rappel faktisch 1,7 2,1 3,8 4,2 5,7 6,2 7,7 8,9 9,7 insg. = rund
226
kontrafakt. — — — — — 1 4 — — 5 8%
— — — — — — — — — — —
kompletiv faktisch kontrafakt. 6 1 1 — 13 1 6 — 1 — 3 5 14 — — — 4 — 48 7 80% 12%
In 1,7 gibt es eine, die nur partiell kontrafaktisch ist und daher je zur Hälfte als faktisch und kontrafaktisch gezählt wird.
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Aus diesen Tabellen ist zu ersehen, dass externe annonces und rappels relativ seltene Ausnahmefälle – und auffälligerweise nie kontrafaktisch – sind und dass Prolepsen wie schon bei den internen Anachronien viel häufiger kontrafaktisch sind als Analepsen. Die externen Prolepsen erreichen sogar einen noch höheren kontrafaktischen Anteil als die internen (rund 42% gegenüber 26%). Der ‚fragende‘ Typ kommt wiederum nur bei den Prolepsen vor. Bisher nicht berücksichtigt wurden zwei homodiegetische Prolepsen (in 7,7), die sich wegen Unklarheiten hinsichtlich ihrer Reichweite nicht als intern, gemischt oder extern einordnen lassen. Eine ist kompletiv und faktisch, die andere eine kontrafaktische annonce. Bei den nun zu besprechenden heterodiegetischen Anachronien gibt es, was ihre möglichen Funktionen angeht, keine Unterschiede zwischen internen, gemischten und externen Anachronien. Heterodiegetische Anachronien, die direkt von der Primärerzählung oder einer homodiegetischen Anachronie abhängig sind, lassen sich keiner der von Genette definierten Funktionen zuordnen – auch nicht der kompletiven, da sie im Gegensatz zu den homodiegetischen externen Anachronien keine Handlungslinie vervollständigen, sondern eine gänzlich neue einführen.227 Nur innerhalb des heterodiegetischen Segments (oder gegebenenfalls der in Form mehrerer Segmente präsentierten heterodiegetischen Erzählung) kann es annonces, rappels und kompletive Anachronien geben – analog zur Möglichkeit von homodiegetischen annonces und rappels innerhalb von externen Segmenten. In den untersuchten Kapiteln kommen solche Funktionen bei internen und gemischten heterodiegetischen Anachronien – obwohl prinzipiell möglich – nicht vor, wohl weil diese in allen Fällen (eine interne Prolepse in 5,7; je zwei interne Analepsen in 1,7 und 3,8 sowie je eine in 4,2 und 8,9; eine gemischte Analepse in 3,8, zwei in 9,7 und eine halbe228 in 5,7) bloß punktuell bleiben, statt längere Erzählstränge zu bilden. Dagegen gibt es unter den externen heterodiegetischen Analepsen neben den 40 nicht funktional zuordenbaren (je eine in 3,8, 5,7 und 9,7; je zwei in 2,1 und 8,9; drei in 7,7; sieben in 1,7; 23 in 6,2) auch eine mit rappel-Funktion (in 8,9, faktisch) und drei mit kompletiver Funktion (in 1,7, 8,9 und 9,7, alle faktisch). Unter den externen heterodiegetischen Prolepsen gibt es zwar keine mit annonce-Funktion, aber fünf mit kompletiver (drei faktische und eine kontrafaktische in 1,7, eine faktische in 8,9) und eine mit rappel-Funktion (faktisch, in 1,7), 227
228
Es gibt freilich besondere Fallkonstellationen, die heterodiegetische Analepsen als quasi-kompletiv erscheinen lassen können. So etwa in 8,9,2: is enim solus in aditu expers Antonianae eloquentiae steterat; die Analepse ist zwar heterodiegetisch, da sie die Vorgeschichte einer neu in die Handlung eintretenden Person darstellt, aber deren Zugehörigkeit zu einer Gruppe, deren übrige Mitglieder bereits zuvor präsent waren, rückt die Nichterwähnung ihrer Abwesenheit doch zumindest in die Nähe der Paralipse. Siehe oben Fn. 225.
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Die Anekdoten
während die sechs nicht zuordenbaren (je zwei in 3,8, 4,2 und 6,2) nur die Hälfte der Fälle ausmachen. Zu erwähnen sind schließlich noch je eine heterodiegetische Pro- und Analepse (jene in 8,9, diese in 3,8), die sich wegen unklarer Reichweite nicht als intern, gemischt oder extern einordnen lassen; beide sind keiner Funktion zuordenbar. Von allen 407 Anachronien der untersuchten Kapitel sind insgesamt 71½ oder rund 18% kontrafaktisch (13 Analepsen oder rund 6%, 58½ Prolepsen oder rund 31%). In den Kapiteln betragen die Anteile kontrafaktischer Anachronien rund 5% (1 von 19 in 4,2: Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine), 7% (1 von 14 in 9,7: De ui et seditione), 8% (3 von 40 in 7,7: De testamentis quae rescissa sunt), 11% (2 von 19 in 5,7: De parentum indulgentia in liberos), 12% (3 von 25 in 2,1: De institutis antiquis), 13% (15½ von 117 in 1,7: De somniis), 17% (4 von 23 in 8,9: Quanta uis sit eloquentiae) und 28% (21 von 76 in 3,8: De constantia; 21 von 74 in 6,2: Libere dicta aut facta). Wie bereits weiter oben vermerkt wurde,229 sind die Kapitel mit den höchsten Werten zugleich die, die am stärksten dazu neigen, in derselben Anekdote mit mehreren Anachronien auf dieselbe Zeitebene zu verweisen. Unter ihnen stehen an erster Stelle auffälligerweise die beiden Kapitel über (meist gegen die Wünsche anderer zu behauptende) Charaktereigenschaften, von denen eines, wie weiter unten gezeigt wird,230 auch den größten Anteil diegetisch motivierter Anachronien aufweist – diese wiederum machen insgesamt rund 83% aller kontrafaktischen Anachronien aus (59½ von 71½).231 Der ‚fragende‘ Typus kommt insgesamt nur dreimal vor (in 3,8 und 6,2 je einmal als interne annonce), wobei zu beachten ist, dass dies – wie bereits oben festgehalten – nicht alle in der Diegese gestellten Fragen inkludiert, sondern nur diejenigen, die so allgemein oder offen gestellt sind, dass man das Abgefragte nicht als eingetreten oder nicht eingetreten beurteilen kann. 1.j
Diegetischer vs. narrativer Ursprung
Es gibt zwei fundamental verschiedene Gründe für Anachronien in erzählenden Texten. Manche sind die Folge von verbalen oder gedanklichen Ankündigungen oder Rückblicken durch Personen in der Diegese (die ihrerseits aber nicht in jedem Fall zu Anachronien führen müssen). Andere entstehen erst im Zuge des Erzählprozesses selbst.232 229 230 231 232
Siehe oben bei Fn. 196. Siehe unten S. 87. Siehe unten bei Fn. 236. In Time in Ancient Greek Literature. Studies in Ancient Greek Narrative, volume two, hg. von Irene J. F. de Jong/René Nünlist, Leiden 2007, heißen die hier als diegetisch und narrativ bezeichneten Anachronien ‚aktorial‘ und ‚narratorial‘.
Ordre
87
Nur diese sind stets im vollen Sinn erzähltechnische Gestaltungsmittel. Der Erzähler oder Autor hat allerdings auch bei den diegetisch begründeten Anachronien einen gewissen Entscheidungsspielraum. Denn erstens ist es, wie bereits angedeutet, durchaus möglich, Ankündigungen und Rückblicke in nicht-anachronischer Form zu erzählen.233 Zweitens gibt es die Möglichkeit, zusätzlich zur Anachronie deren Gegenstand auch an der seinem Zeitpunkt entsprechenden Stelle in der Primärerzählung zu erwähnen – oder aber darauf zu verzichten, womit die Anachronie eine kompletive Funktion erhält.234 In den Anekdoten der ausgewählten Kapitel finden sich insgesamt fast genau gleich viele Anachronien beider Kategorien: 205, die sich als diegetisch begründet einordnen lassen, und 202 rein narrative (gerundet jeweils 50%). Die Anteile variieren recht stark zwischen den Kapiteln, von rund 64%/36% (47 : 27 in 6,2: Libere dicta aut facta) über rund 56%/44% (14 : 11 in 2,1: De institutis antiquis), 52%/48% (61 : 56 in 1,7: De somniis), 51%/49% (39 : 37 in 3,8: De constantia), 45%/55% (18 : 22 in 7,7: De testamentis quae rescissa sunt) und 42%/58% (8 : 11 in 5,7: De parentum amore et indulgentia in liberos) bis rund 36%/64% (5 : 9 in 9,7: De ui et seditione), 35%/65% (8 : 15 in 8,9: Quanta uis sit eloquentiae) und 26%/74% (5 : 14 in 4,2: Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine). Die beiden Kategorien treten fast immer getrennt voneinander auf – auch Verschachtelungen bestehen meist zur Gänze aus narrativen oder aus diegetischen. Für die Einschaltung von diegetischen Anachronien in narrative finden sich in den untersuchten Kapiteln nur 18 Beispiele (drei in 1,7, je zwei in 4,2 und 7,7; vier in 3,8; eines in 5,7; fünf in 8,9; eines in 9,7), für den umgekehrten Fall – d. h. anachronische auktoriale Bemerkungen innerhalb diegetischer Anachronien – gar nur drei (die Elemente E in 1,7, ext. 4, L in 1,7, ext. 5 und C in 3,8, ext. 5). Um direkte Reden handelt es sich nur bei einer Minderheit der diegetischen Anachronien, die sich zudem auf wenige Kapitel konzentriert. In sechs der neun untersuchten Kapitel kommen diegetische Anachronien überhaupt nicht als direkte 233
234
Wenn die Geschichte zeitlich zwischen Auslöser und Ziel der Ankündigung oder des Rückblicks liegende Ereignisse vorsieht, kann man diese aus dem Weg schaffen, indem man sie an anderer Stelle anachronisch erzählt – man hat also die Wahl zwischen einer Anachronie an dieser oder an jener Stelle; wenn keine solchen Ereignisse vorkommen müssen, ist eine nicht-anachronische Erzählung natürlich umso leichter und bietet sich vor allem bei Ankündigungen geradezu von selbst an. So ist etwa eine Prophezeiung keine Prolepse, wenn gleich als nächstes Element der Primärerzählung ihre Erfüllung erzählt wird und keine der Zeitebene des Prophezeiens angehörenden Wörter dazwischen stehen. Bei Rückblicken ist das letzte Kriterium wohl seltener erfüllt, da auslösende Verben und Zeitangaben meist eher voran- als nachgestellt werden. An solchen Beispielen erkennt man im Übrigen, dass das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Anachronie mitunter von bloßen Details der Wortstellung und des Satzbaus abhängen kann, die in den meisten Fällen nicht auf bewusste Entscheidungen für oder gegen anachronische Darstellung zurückgehen dürften. Zur Häufigkeit der beiden Möglichkeiten siehe unten S. 96.
Die Anekdoten
88
Reden oder innerhalb direkter Reden vor, in 1,7 machen diese Fälle rund 2% der diegetischen Anachronien aus (1 von 61), in 3,8 rund 15% (6 von 39) und in 6,2 rund 57% (27 von 47). Dominant sind diese Fälle also nur im Kapitel Libere dicta aut facta, in dem die diegetischen Anachronien auch insgesamt am stärksten überwiegen. Im Folgenden soll versucht werden, anhand der 407 Anachronien der untersuchten Kapitel eine Typologie der Situationen aufzustellen, in denen Anachronien entstehen, und dabei herauszuarbeiten, welche auslösenden Situationen mit welchen der in den bisherigen Kapiteln untersuchten Eigenschaften von Anachronien korrelieren. Im Fall der 205 diegetisch begründeten Anachronien handelt es sich bei diesen Situationen um Äußerungen und Gedanken der in den Anekdoten vorkommenden Personen. Man kann sie nach ihren Inhalten in 15 Typen einteilen, die sich jeweils einem von zwei großen Bereichen, dem des Handelns und Wollens (im Folgenden Punkte 1–6) oder dem des Wissens und Meinens (Punkte 7–15), zuordnen lassen. Manche der 15 Punkte werden im Folgenden auch noch durch Untergliederung weiter spezifiziert. Zu jeder Spezifikation werden die vorkommenden Fälle aufgelistet, wobei jede der 205 diegetischen Anachronien nur einmal zugeordnet wird – im seltenen Fall, dass eine längere Anachronie die Kriterien mehrerer Punkte erfüllt, wird also eine Entscheidung zugunsten des hauptsächlichen Inhalts gefällt. Anachronien, die ihren Sinn nur in Verbindung mit einer eng zusammengehörigen anderen Anachronie oder nicht-anachronischen Textteilen entfalten, werden nach dem Gesamtsinn der Verbindung eingeordnet (so z. B. impunitate donata in quaesiuitque qualem cum eis Romani pacem habituri essent impunitate donata in 6,2,1 oder unde ipse surrexerat in hortarique coepit ut eo transiret unde ipse surrexerat in 5,7, ext. 2). Ein Asterisk kennzeichnet diejenigen Anachronien, die direkte Reden oder Teile von direkten Reden sind. Zusätzlich zur Liste der Fälle wird zu jeder Spezifikation auch mindestens ein paraphrasiertes Beispiel gegeben. (1) Positive Handlungsaufforderungen: Befehle und Mahnungen (z. B. „Iuppiter lässt mitteilen, dass die Stadt in große Gefahr geraten wird, wenn die Spiele nicht wiederholt werden“; „Alexander wird im Traum gemahnt, besser auf sein Leben aufzupassen“) sind meist homodiegetische Prolepsen und kontrafaktisch, werden also von den Angesprochenen meist nicht beherzigt (die zwei Analepsen sind eine Aufforderung, die als Voraussetzung für die von ihr abhängige Folge formuliert ist, und eine Analepse als Teil einer eigentlich nicht-anachronischen Aufforderung): 1,7,4 J–K * 1,7, ext. 2 B 3,8,7 D 3,8,7 E
3,8, ext. 5 B 3,8, ext. 6 N 5,7,2 D 5,7, ext. 2 J
6,2,2 D 6,2,10 C 6,2, ext. 3 G 8,9,2 D
8,9, ext. 2 E
Ordre
89
Bitten (z. B. „Ein in einen Hinterhalt geratener Reisender bittet durch eine Traumerscheinung einen Freund, herbeizueilen und ihn zu retten“) haben ähnliche Eigenschaften: 1,7, ext. 10 E–G
1,7, ext. 10 E
1,7, ext. 10 N
3,8, ext. 4 C
Juridische Anordnungen oder Anträge (z. B. „Augustus ordnet an, dass der enterbte Tettius dennoch das Vermögen seines Vaters erhalten solle“) finden sich – zumindest als Anachronien – nur in einem der neun Kapitel (De testamentis quae rescissa sunt). Sie sind stets homodiegetische Prolepsen, meist extern und kompletiv: 7,7,3 E 7,7,4 F
7,7,5 F 7,7,6 C
7,7,7 D
Überzeugungs- oder Überredungsversuche (z. B. „Blassius versucht Dasius davon zu überzeugen, ihm bei der Vertreibung der Punier zu helfen“) sind Prolepsen unterschiedlicher Art: 3,8, ext. 1 D
8,9, ext. 3 B
Implizite Aufforderungen bilden eine Sonderkategorie mit nur einem einzigen Fall („Eine Frau sagt, sie wolle gegen die Entscheidung des betrunkenen Philipp Berufung einlegen. Auf die Frage, an wen, antwortet sie: ‚An Philipp, aber einen nüchternen!‘“): 6,2, ext. 1 E *
Rein rhetorische Aufforderungen (z. B. „Ein Zenturio antwortet auf die Frage des Antonius, was man mit ihm tun solle: ‚Lass mich hinrichten, denn ich werde gewiss nicht zu deiner Seite überlaufen‘“) finden sich je zweimal in zwei Anekdoten, immer kontrafaktisch und meist extern:235 3,8,8 G *
3,8,8 I–J *
6,2,4 F *
6,2,4 G *
(2) Verbote und negative Handlungsaufforderungen (z. B. „Augustus wird davor gewarnt, der Schlacht fernzubleiben“) sind immer Prolepsen, meist extern (im Gegensatz zu Befehlen und Bitten), kontrafaktisch (wie Befehle und Bitten) und kompletiv:
235
Die Anachronien F und G aus 6,2,4 stehen hier als Teil der in D enthaltenen Aufforderung; die Anachronie D–H selbst wurde – wegen H – weiter unten bei den Ankündigungen eigenen Handelns eingeordnet.
Die Anekdoten
90 1,7,1 E 1,7, ext. 2 H
7,7,4 H 7,7,5 H
8,9, ext. 3 D
(3) Eigene Handlungen: Ankündigungen eigenen Handels oder Unterlassens (z. B. „Ich werde ihn nicht als Konsul verkünden“) sind immer Prolepsen, in je über zwei Dritteln der Fälle extern und kompletiv, in knapp über der Hälfte der Fälle kontrafaktisch und auffällig oft direkte Reden: 3,8,3 O * 3,8, ext. 5 G 3,8, ext. 5 H
5,7,2 G 6,2,1 O * 6,2,1 P *
6,2,1 Q–R * 6,2,3 S * 6,2,4 D–H *
6,2,4 I * 6,2,11 J
Für Androhungen eigenen Handelns gibt es nur ein Beispiel („Lysimachos droht [eodoros mit dem Tod“): 6,2, ext. 3 B
Handlungsabsichten ohne verbale Äußerung (z. B. „Die Konsuln haben vor, das Vorhergesagte entweder durch ihr Opfer abzuwenden oder, falls die Opferschau die Notwendigkeit bestätigt, auszuführen“; „Atys lässt sich losschicken, um einen Eber zu töten“) sind immer intern und homodiegetisch und fast immer annonces: 1,7,3 J 1,7,3 K–L
1,7,3 O–P 1,7, ext. 4 T
3,8,1 I 3,8,1 J
3,8,1 R 8,9,2 B
Für Handlungszweifel gibt es wiederum nur ein Beispiel („Der Senat berät, was mit der besiegten Stadt zu tun sei“), das zugleich einer der insgesamt vier Fälle des ‚fragenden‘, d. h. unkonkreten und daher nicht als faktisch oder kontrafaktisch identifizierbaren Anachronientypus ist: 6,2,1 E
(Rhetorische) Fragen nach Handlungsempfehlungen (z. B. „Der Gesandte wird gefragt, welche Strafe seine Stadt verdiene“) sind stets homodiegetische Prolepsen und gehören zweimal dem kontrafaktischen, einmal dem ‚fragenden‘ Typus an: 3,8,8 F
6,2,1 H
6,2,11 E *
(4) Fremde Handlungen: Fragen nach Handlungsabsichten (z. B. „Piso wird gefragt, ob er Palicanus als gewählten Konsul verkünden würde“) sind meist externe Prolepsen und entweder ‚fragend‘ oder kontrafaktisch: 3,8,3 I–J
3,8,3 N *
6,2,1 L
6,2,1 M
Ordre
91
Für Fragen nach Handlungsgründen findet sich nur ein Beispiel („Dionysios fragt die alte Frau, womit er es verdient habe, dass sie für ihn bete“): 6,2, ext. 2 G
Aufhebungen fremder Rechtsakte (z. B. „Augustus hebt die letzte Ehe und das Testament der Septicia auf“) sind nur im Kapitel De testamentis quae rescissa sunt belegt und in beiden Fällen partielle rappels: 7,7,4 D–E
7,7,6 H
(5) Positiver Wille: Direkt ausgedrückte Wünsche (z. B. „Die Götter wollen, dass Caesar wisse, was ihm bevorsteht“) sind öfter extern als intern, meist Prolepsen, homodiegetisch und partiell: 1,7,2 M 1,7,2 O
1,7,5 N 3,8, ext. 6 V
4,2,2 A 4,2,2 B
6,2, ext. 2 J * 6,2, ext. 2 M *
Hierher gehören auch Gebete – zumindest solche, die nicht als Dialog mit einem konkreten Gott erscheinen (z. B. „Die Syrakusaner beten für den Tod des Tyrannen“). Man findet sie nur in einer einzigen Anekdote, mit unterschiedlichen Eigenschaften: 6,2, ext. 2 C
6,2, ext. 2 D
Wünsche als Endziele von Handlungen oder vorgelagerten Wünschen (z. B. „Die Götter wollen Caesars Tod, damit er vergöttlicht werde“; „Jemand wirft eine Lanze, um damit den Eber zu töten“) sind meist intern und homodiegetisch und haben fast gleich oft kompletive und annonce-Funktion: 1,7,2 Q 1,7, ext. 4 W 2,1,5 (a) A
2,1,10 C 5,7,1 C 5,7,3 H
6,2,3 I 6,2,3 J 9,7, mil. Rom. 1 B
Für Bewerbungen findet sich nur ein Beispiel („Equitius bewirbt sich als Tribun“): 9,7,1 B
(6) Negativer Wille (z. B. „Caesar erscheint im Senat, damit man nicht denke, er habe sich vom Traum einer Frau beeinflussen lassen“; „Kroisos tut alles, um den angekündigten Tod seines Sohnes zu verhindern“): Fast alle Fälle sind homodiegetische Prolepsen, die meisten intern, je ungefähr die Hälfte partiell, kompletiv und kontrafaktisch:
Die Anekdoten
92 1,7,2 I 1,7,4 M 1,7,4 N 1,7, ext. 4 H
1,7, ext. 5 A 1,7, ext. 5 B 1,7, ext. 5 G 1,7, ext. 5 K
2,1,5 (a) D 2,1,5 (c) A 2,1,5 (c) C 2,1,9 (b) E
3,8,1 M 4,2,2 J 6,2, ext. 2 R–S *
(7) Berichte über Vergangenes: Einfache Berichte (z. B. „Latinius teilt dem Senat mit, was ihm widerfahren ist“) sind stets partielle rappels: 1,7,4 Z
1,7,5 I
1,7,7 L
Für Richtigstellungen falscher Behauptungen findet sich nur ein – durch Verschachtelung zwei Anachronien ausmachender – Beispielfall („Metellus weist darauf hin, dass Tiberius Gracchus nur drei Söhne hatte, die alle bereits verstorben sind“): 9,7,2 D–E
9,7,2 F–H
Historische Zeugnisse (z. B. „Der Historiker Caelius schreibt, er habe noch zu Lebzeiten des Gaius Gracchus von der Sache erfahren“) sind partielle rappels: 1,7,6 K
1,7, ext. 3 N
Rhetorische Fiktionen (z. B. „Helvius sagt, er komme aus der Unterwelt und habe dort die Opfer des Pompeius gesehen und ihre Klagen gehört“) kommen nur in einer Anekdote vor, wo acht von ihnen eine einzige direkte Rede bilden. Sie sind stets externe Analepsen, meist heterodiegetisch und partiell: 6,2,8 C 6,2,8 F * 6,2,8 G–O *
6,2,8 H * 6,2,8 J * 6,2,8 L *
6,2,8 M * 6,2,8 N * 6,2,8 P *
(8) Meinungen über Vergangenes: Einfache Meinungen (z. B. „Simonides ist froh, auf seinen Traum gehört zu haben“; „Man ehrte Frauen, die mit einer einzigen Ehe zufrieden waren, statt verwitwet wieder zu heiraten“) sind meist heterodiegetische Analepsen, mit ansonsten durchmischten Eigenschaften: 1,7,4 I 1,7, ext. 3 K 1,7, ext. 3 L 2,1,3 B 2,1,3 D–E
2,1,3 F 2,1,4 D 3,8, ext. 2 D 3,8, ext. 2 E 3,8, ext. 2 G
3,8, ext. 2 H–I 3,8, ext. 3 E 5,7, ext. 1 K 5,7, ext. 1 L 6,2,3 H
6,2,3 O 7,7,7 F 7,7,7 G
Ordre
93
Für glatte Irrtümer (z. B. „Hamilcar meint, ihm sei im Traum ein Sieg versprochen worden“) findet sich nur ein Beispiel: 1,7, ext. 8 D
Ebenso für eindeutig als solche bezeichnete Gerüchte (z. B. „Es geht das Gerücht, der Senat habe ein milderes Urteil gefällt“): 3,8,1 L
Argumentativer Gebrauch der Vergangenheit (z. B. „Ich werde nicht Marius, der die Stadt und Italien gerettet hat, zum Feind erklären“) findet stets in Form von Analepsen statt, die meist extern, homodiegetisch und partiell sind. Auch direkte Rede ist relativ häufig: 3,8,5 J * 3,8, ext. 3 F 3,8, ext. 3 G
6,2,3 U * 6,2, ext. 2 I–Q * 6,2, ext. 2 P *
7,7,4 I 7,7,5 J 7,7,5 K
7,7,6 J 7,7,7 H
Klagen (z. B. „Der Ermordete fordert seinen Freund auf, ihn zu rächen, nachdem er ihn schon nicht gerettet hat“; „Terentius beklagt sich, von seinem Sohn enterbt worden zu sein“) sind meist homodiegetische Analepsen: 1,7, ext. 10 M
6,2,11 G
7,7,5 C–D
7,7,5 E
Inkriminierende Behauptungen (z. B. „Dasius sagt, Blassius habe in Gegenwart des Hannibal versucht, ihn für die römische Sache anzuwerben“) sind Analepsen mit unterschiedlichen Eigenschaften: 3,8, ext. 1 K
3,8, ext. 5 D
3,8, ext. 6 O
(9) Fragen nach Vergangenem (z. B. „Iuppiter fragt, ob Latinius nicht durch seinen Ungehorsam schon genug gelitten habe“; „Cassius fragt die Sklaven, ob sie jemanden ein- oder ausgehen gesehen hätten“) sind rappels und kommen nur im Kapitel De somniis vor: 1,7,4 R
1,7,4 S
1,7,4 T
1,7,7 J
(10) Erinnerung und Vergessen: Erinnerungen an historische Vorbilder (z. B. „Augustus erinnert sich an den von Caesar missachteten Traum der Calpurnia“) sind externe und partielle heterodiegetische Analepsen: 1,7,2 E–H
1,7,6 F
8,9, ext. 2 F–G
Die Anekdoten
94
Vom Vergessen (z. B. „Livius Salinator beschloss, das ihm angetane Unrecht zu vergessen“) ist nur einmal anachronisch die Rede: 4,2,2 I
(11) Aussagen über die Gegenwart: Anhaltende Zustände und Situationen (z. B. „Ein Reisender teilt einem mitreisenden Freund durch eine Traumerscheinung mit, dass er in einen Hinterhalt geraten ist“; „Lepidus beendet als Zensor die Feindschaft mit seinem Amtskollegen, weil er meint, man solle nicht verfeindet sein, wenn man gemeinsam in ein Amt gewählt wurde“) werden durch homodiegetische Analepsen ausgedrückt, die häufiger intern als extern und in der Hälfte der Fälle direkte Reden sind: 1,7, ext. 10 D 1,7, ext. 10 O
3,8,5 H * 4,2,1 D
6,2,11 C–D * 6,2, ext. 3 D *
Für anachronische Verweise auf zu lösende Probleme findet sich nur ein Beispiel („Es gab ein Fest namens Caristia, bei dem eventuell aufgetretene Streitigkeiten zwischen Verwandten beigelegt werden sollten“): 2,1,8 C
Ebenso für Vergleiche von Bisherigem mit Künftigem („Die Soldaten sind empört darüber, dass sie statt Sulla nun Marius unterstehen sollen“): 9,7, mil. Rom. 1 F
(12) Information über Zukünftiges: Einfache Informationen (z. B. „Caesar erfährt, was ihm bevorsteht“) sind stets Prolepsen, fast stets homodiegetisch und meist kompletiv. Sie kommen nur im Kapitel De somniis vor: 1,7,2 N 1,7,5 L 1,7,6 B
1,7,6 D 1,7,6 E 1,7, ext. 1 H *
1,7, ext. 7 C 1,7, ext. 9 B 1,7, ext. 9 C
Warnende Zukunftsschau (z. B. „Haterius wird im Traum von einem Gladiator getötet“) hat öfter den Charakter einer annonce: 1,7,8 D 1,7, ext. 4 D
1,7, ext. 6 E–F 3,8, ext. 5 E
6,2,6 C *
Ordre
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Für irreführende Zukunftsankündigungen findet sich nur ein Beispiel („Hamilcar erfährt im Traum, dass er am nächsten Tag in Syrakus speisen wird“): 1,7, ext. 8 B
Zukunftswissen als Handlungshilfe (z. B. „Ein Traum besagt, dass dasjenige Heer, das in der Schlacht einen Feldherrn verliert, die Schlacht gewinnen wird“; „Metellus erkennt, welchen Schaden Saturninus anrichten wird, wenn man nichts dagegen unternimmt“) ist in zwei Anekdoten zu finden, je einmal als Pro- und als Analepse, aber immer homodiegetisch und meist mit annonce-Funktion: 1,7,3 F–I
1,7,3 H
3,8,4 D
3,8,4 E
(13) Annahmen über Zukünftiges: Einfache Annahmen, Hoffnungen oder Befürchtungen (z. B. „Man befürchtet die Tötung des Atys durch Waffengewalt, nicht durch einen Eber“; „Hamilcar rechnet auf Grund eines missverstandenen Traums mit einem sicheren Sieg“; „Frauen durften ihre Haare färben, da man damals nicht mit Ehebrechern rechnete“) sind fast immer homodiegetische Prolepsen, mit ansonsten durchmischten Eigenschaften: 1,7, ext. 4 U 1,7, ext. 8 E 2,1,5 (c) E
3,8,2 (d) E 3,8, ext. 5 I 3,8, ext. 6 G
5,7, ext. 1 E 6,2,3 L 6,2,3 M
8,9,1 F 8,9, ext. 2 I
Für gegenüber anderen geäußerte Vermutungen findet sich nur ein Beispiel („Piso sagt, er glaube nicht, dass Palicanus gewählt werden würde“): 3,8,3 L
(14) Rückverweise auf wahr gewordene Zukunftsankündigungen (z. B. „Haterius sagt, dass der in die Arena einziehende Gladiator der ist, von dem er im Traum getötet wurde“) kommen nur zweimal im Kapitel De somniis vor, als partielle rappels: 1,7,8 I
1,7, ext. 6 K
(15) Abzuwartende Termine (z. B. „Die Jungen warteten an der Tür darauf, die Alten nach Hause zu begleiten“) finden sich nur in einer Anekdote des Kapitels De institutis antiquis, als kompletive homodiegetische Prolepsen: 2,1,9 (a) C
2,1,9 (b) D
96
Die Anekdoten
Insgesamt befinden sich unter den 205 diegetisch begründeten Anachronien 119 Pro- und 86 Analepsen, also rund 58% : 42% gegenüber 47% : 53% in der Gesamtmenge der Anachronien. In den meisten anderen Punkten unterscheiden sich die diegetischen Anachronien weniger vom Gesamtbild. 146½ gehen von der Primärerzählung, 58½ von Anachronien und keine von extradiegetischen Auslösern aus (rund 71% : 29% : 0% gegenüber 74% : 19% : 7%), 101 sind intern, 93 extern, 10 gemischt und 3 nicht zuordenbar (rund 49% : 45% : 5% : 1% gegenüber 50% : 44% : 5% : 1%), 174 homo- und 31 heterodiegetisch (rund 85% : 15% gegenüber 83% : 17%). Rund 37% und 44% der internen und gemischten Pro- und Analepsen schließen an den Ausgangspunkt an (gegenüber rund 41% und 44%), rund 56% und 20% der externen an die Primärerzählung (gegenüber rund 39% und 30%); rund 54% der internen Prolepsen reichen bis zum Ende der Primärerzählung, rund 5% der externen und gemischten bis zum Erzählzeitpunkt (gegenüber rund 51% und 9%). 98 Anachronien sind mindestens zum Teil annonces oder rappels, 83 rein kompletiv und 24 nicht zuordenbar (rund 48% : 40% : 12% gegenüber 43% : 43% : 14%). Am auffälligsten ist wohl, dass 59½ oder rund 29% (gegenüber rund 18%) kontrafaktisch sind – sie machen rund 83% aller kontrafaktischen Anachronien aus.236 Das Vorkommen der 15 Punkte sowie der zwei großen Bereiche ‚Handeln und Wollen‘ und ‚Wissen und Meinen‘ in den neun untersuchten Kapiteln lässt sich zusammenfassend (in absoluten Zahlen) wie folgt darstellen:237
(1) positive Handlungsaufforderungen (2) Verbote und negative Handlungsaufforderungen (3) eigene Handlungen (4) fremde Handlungen (5) positiver Wille (6) negativer Wille (7) Berichte über Vergangenes (8) Meinungen über Vergangenes (9) Fragen nach Vergangenem (10) Erinnerung und Vergessen (11) Aussagen über die Gegenwart (12) Information über Zukünftiges
236 237
1,7 2,1 3,8 4,2 5,7 6,2 7,7 8,9 9,7 insg. 5 — 8 — 2 6 5 3 — 29 2 — — — — — 4 — 5 8 5 5 4 2 2 15
— — 2 4 — 4 — — 1 —
7 2 1 1 — 12 — — 1 3
— — 2 1 — — — 1 1 —
2
1 —
5
1 11 — 1 — — 3 2 — — 2 6 — — 2 — 1 — — — — 9 — — 2 2 6 9 — — — — — — — — — — 1 — — 2 — — 1 — 1 — — —
24 7 20 15 16 38 4 4 8 19
Vgl. schon oben bei Fn. 231. An dieser Stelle ist nochmals darauf hinzuweisen, dass die Zahlen nichts über die Häufigkeit der diegetischen Inhalte als solcher aussagen, da diese ja auch in nicht-anachronischer Form vorkommen. Die Tabelle zeigt nur, wie oft sie Gegenstand von Anachronien werden.
Ordre (13) Annahmen über Zukünftiges (14) Rückverweise auf wahr gewordene Zukunftsankündigungen (15) abzuwartende Termine (1)–(6) ‚Handeln und Wollen‘ insg. (7)–(15) ‚Wissen und Meinen‘ insg.
2
97 2 —
12
2 — — — — — — — —
2
— 24 37
1
4 —
1
2 —
2 — — — — — — — 2 6 19 3 5 27 9 5 2 100 8 20 2 3 20 9 3 3 105
Die beiden großen Bereiche ‚Handeln und Wollen‘ und ‚Wissen und Meinen‘ machen also jeweils ungefähr die Hälfte der 205 diegetischen Anachronien aus, und auch in den einzelnen Kapiteln ist die Verteilung relativ gleichmäßig; sie schwankt lediglich – bei zum Teil sehr kleinen absoluten Zahlen – zwischen rund 39% : 61% und rund 63% : 38%. Wenn man ‚Handeln‘ (Punkte 1–4) und ‚Wollen‘ (Punkte 5–6) voneinander trennt, ändert sich das Bild freilich etwas – in drei Kapiteln (2,1: De institutis antiquis; 4,2: Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine; 9,7: De ui et seditione) kommen keine diegetischen Anachronien des Handelns vor, in zwei anderen keine des Wollens (7,7: De testamentis quae rescissa sunt; 8,9: Quanta uis sit eloquentiae). Es gibt unter den 15 Kategorien keine, die in ausnahmslos jedem der Kapitel vorkäme. Noch am nächsten kommen einer solchen Omnipräsenz die Punkte ‚positiver Wille‘ (sieben Kapitel), ‚positive Handlungsaufforderungen‘, ‚Meinungen über Vergangenes‘, ‚Aussagen über die Gegenwart‘ und ‚Annahmen über Zukünftiges‘ (je sechs Kapitel). Am anderen Ende des Spektrums befinden sich die drei Kategorien, die Besonderheiten eines einzelnen Kapitels sind, d. h. dort in mehreren Anekdoten, in den anderen acht aber überhaupt nicht vorkommen: ‚Fragen nach Vergangenem‘ und ‚Rückverweise auf wahr gewordene Zukunftsankündigungen‘ (1,7: De somniis) sowie ‚abzuwartende Termine‘ (2,1: De institutis antiquis). Hinzu kommen drei spezifischere anachronische Situationen, die ebenfalls nur einem Kapitel eigen sind: die ‚einfachen Informationen‘ aus der Kategorie ‚Information über Zukünftiges‘ (De somniis) sowie die ‚juridischen Anordnungen oder Anträge‘ aus dem Bereich ‚positive Handlungsaufforderungen‘ und die ‚Aufhebungen fremder Rechtsakte‘ aus dem Bereich ‚fremde Handlungen‘ (7,7: De testamentis quae rescissa sunt). Die 202 rein narrativ begründeten Anachronien sind zunächst in drei Gruppen einzuteilen: Vorwegnahmen am Anfang der Anekdote (29 Fälle oder rund 14%), Rekapitulationen am Schluss (28 Fälle oder rund 14%) und Anachronien im Inneren der Anekdote (145 Fälle oder rund 72%). Vorwegnahmen am Anfang kommen in 26 der 97 Einzelanekdoten vor (rund 27%): 1,7,1 B 1,7,2 B
1,7,2 C 1,7,3 B
1,7,3 C 1,7,4 A
1,7,8 B 1,7, ext. 1 A
Die Anekdoten
98 1,7, ext. 3 B 1,7, ext. 4 B–C 3,8,1 A 3,8,3 A 3,8,4 A–B 3,8,6 A–B
4,2,2 C 4,2,3 A 4,2,6 A 4,2,6 B 4,2,7 A 5,7,2 A
5,7,3 A 5,7, ext. 2 B 6,2,3 A–B 6,2, ext. 2 A 7,7,6 A 8,9,2 A
9,7,3 A 9,7,4 A 9,7, mil. Rom. 2 A
Ziemlich häufig sind sie in den Kapiteln De parentum amore et indulgentia in liberos (5,7), Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine (4,2), De somniis (1,7) und De ui et seditione (9,7) mit 60% (3 von 5 Einzelanekdoten), 50% (4 von 8), rund 44% (8 von 18) und rund 43% (3 von 7). Deutlich seltener sind sie in De constantia (3,8), Quanta uis sit eloquentiae (8,9), De testamentis quae rescissa sunt (7,7) und Libere dicta aut facta (6,2) mit rund 24% (4 von 17), 17% (1 von 6), 14% (1 von 7) und 13% (2 von 16), während sich in De institutis antiquis (2,1) überhaupt keine Fälle finden. Die Vorwegnahmen sind nie kontrafaktisch. Sie sind meist interne Prolepsen und verweisen als annonces auf den Hauptinhalt (z. B. den Traum in 1,7,4 oder 1,7, ext. 3) oder auf den Ausgang oder die Pointe der Erzählung. Manchmal handelt es sich auch nur um eine recht unkonkrete Angabe (wie certo euentu in 1,7,8) oder einen bloßen Verweis auf den entscheidenden Zeitpunkt (wie die Schlacht in 1,7,1) ohne Vorwegnahme des Ausgangs, manchmal um die Ankündigung der die entscheidende Handlung prägenden Tugend (z. B. constantia in 3,8,1) oder ein Urteil über das noch zu berichtende Handeln der Hauptperson (z. B. in 3,8,3 oder 3,8,6). In wieder anderen Fällen ist die Prolepse dagegen geradezu eine Zusammenfassung der ganzen Anekdote (z. B. in 1,7, ext. 1 oder 9,7,4). Seltener bezieht sich die Vorwegnahme als externe Prolepse auf die in der Primärerzählung nicht berichteten glücklichen Folgen des Erzählten (in 1,7,3) und/ oder die Bewunderung anderer (in 1,7,3 und 4,2,2) oder – in nur einem Fall – als externe Analepse auf ein Ereignis, das im weiteren Verlauf der Anekdote dadurch wichtig wird, dass jemand sich daran erinnert (in 1,7,2). Anachronische Vorwegnahmen stehen oft nach einer extradiegetischen Einleitung, wobei sie entweder direkt von dieser oder vom ersten Element danach abhängig sein können. Von den 40 extradiegetischen Einleitungen in den untersuchten Anekdoten ziehen 14 auf eine dieser beiden Arten je eine narrative Anachronie nach sich. Hinzu kommen drei Fälle, wo die Anachronie dem extradiegetischen Text nachgestellt oder mit ihm verwoben ist, und fünf Vorwegnahmen, die nicht von extradiegetischem Text abhängig, aber dennoch extradiegetisch motiviert sind. Von den insgesamt 29 Vorwegnahmen haben somit nur sieben ausschließlich die Primärerzählung als Auslöser. Rekapitulationen am Schluss sind zwar in einzelnen Anachronien gemessen fast ebenso zahlreich wie die Vorwegnahmen: 1,7,1 I 1,7,1 K
1,7,2 J 1,7,2 K
1,7,2 L 1,7,2 P
2,1,10 E 2,1,10 F
Ordre 3,8,1 AA 3,8,1 BB 3,8,1 CC 3,8,1 DD 3,8, ext. 4 F
3,8, ext. 6 U 5,7,2 J–K 6,2,4 J 6,2,4 L 6,2, ext. 1 J–K
7,7,2 K–L 7,7,3 F 7,7,3 G 7,7,4 K–M 7,7,4 K
99 7,7,4 N 8,9,2 L 8,9,2 M 8,9, ext. 2 J 9,7, mil. Rom. 1 H
Sie kommen aber nur in 16 der 97 Einzelanekdoten vor (rund 16%), da es sich sehr oft um mehrere Anachronien in einer Anekdote handelt, die gemeinsam einen Rekapitulationsabschnitt bilden. Die Verteilung des Vorkommens auf die Kapitel ist durchaus anders als bei den Vorwegnahmen. Sie reicht von 43% der Einzelanekdoten (3 von 7 in 7,7) über 33% (2 von 6 in 8,9), 20% (1 von 5 in 5,7), 18% (3 von 17 in 3,8), 14% (1 von 7 in 9,7), 13% (2 von 16 in 6,2), 11% (2 von 18 in 1,7) und 8% (1 von 12 in 2,1) bis 0% (von 8 in 4,2). Es gibt kein Kapitel, in dem sowohl Vorwegnahmen als auch Rekapitulationen häufig sind – und auch nur fünf Anekdoten, die beides aufweisen. Die Rekapitulationen sind typischerweise interne homodiegetische Analepsen und rappels; nur eine einzige wird kontrafaktisch formuliert. Von den acht externen Anachronien (zu denen auch alle fünf zur Gänze heterodiegetischen Anachronien gehören) sind sieben nur Teil eines längeren, auch interne umfassenden Rekapitulationsabschnitts, und auch die achte ist bloß ein historischer Vergleich innerhalb einer hauptsächlich nicht-anachronischen (extradiegetischen) Rekapitulation. Darüber hinaus gibt es nur noch eine weitere Anachronie ohne rappelFunktion (in 2,1,10); sie ist ebenfalls nur Teil einer nicht-anachronischen (extradiegetisch eingeleiteten) Rekapitulation. Die sonstigen, im ‚Inneren‘ der Anekdoten eingeschalteten narrativen Anachronien sind 145: 1,7,2 D 1,7,3 E 1,7,4 C 1,7,4 E 1,7,4 F 1,7,4 BB 1,7,6 H 1,7,6 I 1,7,7 B 1,7,7 R 1,7,7 S 1,7,8 L 1,7, ext. 2 C 1,7, ext. 2 D 1,7, ext. 2 F 1,7, ext. 2 I 1,7, ext. 2 O
1,7, ext. 2 P 1,7, ext. 3 O 1,7, ext. 3 P 1,7, ext. 3 Q 1,7, ext. 4 E 1,7, ext. 4 I 1,7, ext. 4 K 1,7, ext. 4 M 1,7, ext. 4 O 1,7, ext. 4 P 1,7, ext. 4 Y 1,7, ext. 4 Z 1,7, ext. 4 AA 1,7, ext. 5 C 1,7, ext. 5 D 1,7, ext. 5 F 1,7, ext. 5 I
1,7, ext. 5 J 1,7, ext. 5 L 1,7, ext. 7 D 1,7, ext. 8 I 1,7, ext. 8 K 1,7, ext. 10 T 2,1,1 C 2,1,1 E 2,1,1 F 2,1,2 A 2,1,6 G 2,1,9 (a) E 2,1,9 (a) F 2,1,9 (b) H 2,1,10 B 3,8,1 C 3,8,1 F
3,8,1 P 3,8,1 U 3,8,1 W 3,8,1 Z 3,8,2 (d) D 3,8,2 (d) F 3,8,2 (d) H 3,8,3 D 3,8,3 Q 3,8,4 I 3,8,6 F–G 3,8,7 C 3,8,8 B–E 3,8, ext. 1 C 3,8, ext. 1 M–N 3,8, ext. 1 R 3,8, ext. 2 B
Die Anekdoten
100 3,8, ext. 2 C 3,8, ext. 3 B 3,8, ext. 3 C 3,8, ext. 3 H 3,8, ext. 3 K 3,8, ext. 5 C 3,8, ext. 6 L 3,8, ext. 6 S 4,2,1 G 4,2,2 E 4,2,3 D–F 4,2,3 E 4,2,4 (a) B 4,2,4 (b) A 4,2,5 B 4,2,5 D 4,2,7 D 5,7,1 F 5,7,2 C 5,7,2 E
5,7,2 H 5,7,3 F 5,7,3 G 5,7, ext. 1 F 6,2,1 C 6,2,1 K 6,2,1 T 6,2,3 D 6,2,3 E 6,2,3 F 6,2,3 X 6,2,3 Y 6,2,3 Z 6,2,3 AA 6,2,3 CC 6,2,5 C 6,2,6 D 6,2,8 R 6,2,8 S 6,2,10 G
6,2,10 H 6,2,11 B 6,2,11 H 6,2,12 (a) B 6,2,12 (b) D 6,2, ext. 3 F 7,7,1 F 7,7,1 H 7,7,1 J 7,7,2 B–C 7,7,2 D–E 7,7,2 G 7,7,2 H 7,7,2 I 7,7,3 B–C 7,7,3 B 7,7,5 B 7,7,6 E 7,7,6 G 7,7,7 B
7,7,7 C 8,9,1 E 8,9,1 H 8,9,1 I 8,9,2 F 8,9,2 J 8,9,2 K 8,9, ext. 1 A 8,9, ext. 1 C 8,9, ext. 1 D 8,9, ext. 2 B–H 8,9, ext. 2 C 9,7,2 B 9,7,2 C 9,7,3 C 9,7, mil. Rom. 2 D 9,7, mil. Rom. 3 B–C
Unter diesen Anachronien befinden sich 39 Pro- und 106 Analepsen (rund 27% : 73%, gegenüber 58% : 42% bei den diegetischen Anachronien), 130 gehen von der Primärerzählung, 14 von Anachronien und 1 von extradiegetischem Text aus (rund 90% : 10% : 1% gegenüber 71% : 29% : 0%), 61 sind intern, 76 extern, 7 gemischt und 1 nicht zuordenbar (rund 42% : 52% : 5% : 1% gegenüber 49% : 45% : 5% : 1%), 115 homo- und 30 heterodiegetisch (79% : 21% gegenüber rund 85% : 15%). Rund 56% und 49% der internen und gemischten Pro- und Analepsen schließen an den Ausgangspunkt an (gegenüber rund 37% und 44%), rund 35% und 38% der externen an die Primärerzählung (gegenüber rund 56% und 20%); rund 38% der internen Prolepsen reichen bis zum Ende der Primärerzählung, rund 14% der externen und gemischten bis zum Erzählzeitpunkt (gegenüber rund 54% und 5%). 39 Anachronien sind mindestens zum Teil annonces oder rappels, 77 rein kompletiv und 29 nicht zuordenbar (rund 27% : 53% : 20% gegenüber 48% : 40% : 12%). Im Gegensatz zu den diegetischen Anachronien überwiegen hier also die Analepsen deutlich, Verschachtelungen sind seltener, externe Anachronien häufiger und rein kompletive ebenso. Der kontrafaktische Anteil ist mit 11 von 145 oder rund 8% (gegenüber rund 29%) ganz erheblich geringer. Mit den eben aufgezählten Eigenschaften gehen zum Teil besondere Funktionen einher. Interne homodiegetische Anachronien (16 Pro- und 40 Analepsen, zusammen rund 39%) sind – als annonces, rappels oder kompletive Anachronien – bewusst eingesetzte oder unbewusst entstandene zeitliche Verformungen der zentralen Geschichte.
Ordre
101
Externe homodiegetische Analepsen (38 oder rund 26%; davon 20 mindestens zum Teil in den ersten drei Elementen der jeweiligen Anekdote) präsentieren die Vorgeschichte dazu. Externe homodiegetische Prolepsen (17 oder rund 12%) setzen die primäre Handlungslinie über das letzte Ereignis der Primärerzählung hinaus fort, indem sie Konsequenzen, spätere Wendungen oder – kontrafaktisch – durch die Haupthandlung abgewendete spätere Entwicklungen mitteilen. Heterodiegetische Anachronien (30 oder 21%) führen separate Handlungslinien ein, etwa im Zusammenhang mit neu in die Haupthandlung eingeführten Personen, aber auch (so im Fall aller drei heterodiegetischen Prolepsen) indem sie mit vergleichender oder kontextualisierender Absicht auf ein anderes historisches Ereignis verweisen. In den Kapiteln kommen diese vier Gruppen eingeschalteter narrativer Anachronien in den folgenden Häufigkeiten vor (in Fällen pro Einzelanekdote): interne homodieg. Anachronien 1,7 2,1 3,8 4,2 5,7 6,2 7,7 8,9 9,7
1,1 0,4 0,6 0,3 1,0 0,3 0,3 1,0 —
externe homodieg. Analepsen Prolepsen 0,4 — 0,5 0,6 0,2 0,1 1,4 — 0,6
heterodieg. Anachronien 0,4 0,2 0,1 0,1 — 0,2 — 0,2 —
0,3 0,1 0,2 0,1 0,2 0,8 0,1 0,5 1
Sicherlich der auffälligste Wert ist die – wohl durch das [ema bedingte – extreme Häufigkeit von narrativ begründeten externen homodiegetischen Analepsen, also anachronisch eingeführten Vorgeschichten, im Kapitel 7,7 (De testamentis quae rescissa sunt), einem auch insgesamt besonders anachronien- und speziell analepsenreichen Kapitel. 1.k
Sprachliche Form
Als Abschluss der Untersuchung der Anachronien soll noch auf ihre grammatische Form eingegangen werden, wobei zwischen narrativen und diegetischen Anachronien sowie Pro- und Analepsen unterschieden wird. Die folgende Tabelle erfasst, in wie vielen Anachronien die betreffende Konstruktion den anachronischen Inhalt auf der ersten syntaktischen Ebene unterhalb der auslösenden Ebene (d. h. ohne Berücksichtigung von Nebensätzen u. dgl.
102
Die Anekdoten
innerhalb der Anachronie) vermittelt. Manche Anachronien werden also mehrfach gezählt (z. B. quod dissimulare eum ad mortem usque paratus esset ipsius pudori in 5,7, ext. 1, wo ein faktischer quod-Satz und ein Substantiv als direktes und indirektes Objekt von imputans abhängig sind, also syntaktisch auf gleicher Ebene stehen),238 aber für jede Konstruktion nur einmal, auch bei mehrmaligem Vorkommen. diegetisch narrativ Prolepsen Analepsen Prolepsen Analepsen Hauptsätze/Hauptsatzprädikate … im Ind. Präs. … im Imp./Konj. Präs. … im Ind. Impf. … im Ind. Perf. … im Ind. Plusqpf. … im Konj. Plusqpf. … im Ind. Fut. … mit Prädikatsellipse Nebensätze … final (oder relativ mit finalem Nebensinn) … indirekt fragend … kausal … kondizional … konsekutiv … konzessiv … mit quin … faktisch mit quod … relativ (ohne finalen Nebensinn)
238
— 4 — — — — 3 2
2 — 1 4 — — — —
1 — 2 12 — 1 — 5
1 — 4 12 6 — — —
27
—
2
—
4 — 2 1 — 1 — —
3 5 4 — 1 — 1 14
1 1 — — — — — 6
1 8 2 — 4 — 2 24
Insgesamt trifft dies auf 16 Anachronien zu. In einem Fall werden nur Hauptsätze verschiedener Zeiten kombiniert (Impf./Perf./Präs. in einer diegetischen Analepse) und in 15 Fällen unterschiedliche Konstruktionen (Finalsatz/AcI in einer diegetischen Prolepse; faktischer quod-Satz/Substantiv in einer diegetischen Analepse; je einmal Substantiv/Hauptsatz im Perf., Hauptsatz im Imperfekt/Substantiv/Präpositionalausdruck und Substantiv/Hauptsatz mit Prädikatsellipse in narrativen Prolepsen; sowie je einmal Kondizionalsatz/adverbialer Ablativ, Part. coni./Abl. abs. mit Partizip, Temporalsatz/ Part. coni., Temporalsatz/Abl. abs. mit Partizip, Hauptsatz im Plusqpf./Part. coni., Part. coni./Substantiv, Konzessivsatz/Hauptsatz im Perf./Konzessivsatz, Hauptsatz im Präsens/Temporalsatz, Konzessivsatz/Hauptsatz im Impf./Hauptsatz im Perf., AcI/Hauptsatz im Perf. in narrativen Analepsen).
Ordre … temporal … vergleichend Sonstige Konstruktionen … AcI/NcI … bloßer Infinitiv … Abl. abs. mit Partizip … Abl. abs. mit Nomen … Gerundium/Gerundivum … Präpositionalausdruck/Ablativ als adverbiale Bestimmung/Vergleichsglied … Participium coniunctum239 … Adjektivattribut … substantiviertes Partizip als Subjekt/Objekt … Substantiv(gruppe) als Subjekt/Objekt/Attribut/Apposition/Teil eines AcI oder einer adverbialen Bestimmung240
103 — 1 (donec) — —
5 2
7 5
31 2 2 — 9
16 — 2 — —
2 — — — 3
2 — 7 1 1
2
10
5
5
3 1
10 —
4 3
23 —
—
1
1
1
24
16
20
25
Die Substantiva und Substantivgruppen sind die einzige Form mit hohen Zahlen in allen vier Spalten – diese Art von Anachronien macht insgesamt rund ein Fünftel aller Fälle aus. Accusativus und Nominativus cum infinitivo sind typisch für die diegetischen und Hauptsätze für die narrativen Anachronien. Diegetische Prolepsen sind zudem auch häufig Finalsätze, diegetische Analepsen Relativsätze und narrative Analepsen Relativsätze oder Participia coniuncta. Dass Hauptsätze unter narrativen Anachronien öfter zu finden sind als unter diegetischen (44 von 217 Fällen = rund 20%, gegenüber nur 16 von 209 = rund 8%), ist angesichts der Seltenheit der bei diesen hierfür allein in Frage kommenden direkten Reden241 nicht überraschend. Interessanter ist die relative Häufigkeit des Perfekts in narrativen Anachronien (24 von 217 = rund 11%), das – wie auch das Imperfekt – einen Verzicht auf die grammatische Darstellung des Zeitverhältnisses bedeutet242 (das Plusquamperfekt ist seltener,243 die Coniugatio periphrastica findet sich überhaupt nicht). 239
240
241 242
Einschließlich der Fälle, wo es mit einem Substantiv steht, dieses aber nicht schon für sich genommen die anachronische Aussage enthält (also z. B. corpus enim suum a caupone trucidatum in 1,7, ext. 10, wohingegen z. B. instantis uictoriae in 3,8, ext. 6 bei den Substantiva eingeordnet wird). Z. B. ein Substantiv, das Teil eines Ablativus absolutus ist, wenn das dazugehörige Partizip nicht Teil derselben Anachronie ist. Siehe unten S. 125–130. Es gibt Ausnahmefälle, wo die Verbbedeutung das Zeitverhältnis ausdrückt, z. B. in der Prolepse alteri longus adhuc uirtutum orbis restabat in 1,7,2.
Die Anekdoten
104
Nebensätze sind insgesamt als grammatische Form diegetischer und narrativer Anachronien gleich häufig (63 von 209 = rund 30%, 70 von 217 = rund 32%), aber die Arten von Nebensätzen und damit verbundenen Aussagen unterscheiden sich. Finalität wird sehr oft in diegetischen und fast nie in narrativen Anachronien zum Ausdruck gebracht, während anachronische Temporal- und interessanterweise auch Vergleichssätze (in geringerer Zahl) klar zur Domäne des Narrativen gehören. In narrativen Anachronien häufiger sind zudem auch Kausal- und Konzessivsätze, dagegen Kondizional- und indirekte Fragesätze wiederum in diegetischen. Bei den sonstigen Konstruktionen (131 von 209 = rund 63% in diegetischen Anachronien, 104 von 217 = rund 48% in narrativen) fällt neben der bereits angesprochenen Häufigkeit anachronischer Substantiva und Substantivgruppen sowie der weitgehenden Beschränkung der AcI und NcI auf diegetische Anachronien und der Participia coniuncta auf narrative Analepsen – die mit den syntaktischen Kombinationsmöglichkeiten dieser Konstruktionen erklärbar ist – vor allem die generelle Seltenheit anachronischer Ablativi absoluti auf.244 2
Durée
Nach der Abfolge geht es nun darum, die Dauer von Ereignissen oder Handlungsabschnitten in Diegese und Erzählung zu vergleichen.245 Unter der ‚Dauer‘ in der Erzählung kann dabei, da die Lesedauer als etwas höchst Subjektives nicht in 243
244
Abseits von Analepsen verwendet Valerius Maximus das Plusquamperfekt auch in Fällen wie pecuniam pro captiuis Hannibali numerauerat, fraudatus ea publice tacuit (in 3,8,2), wo es – sofern es überhaupt einen Zweck und/oder Effekt hat – nur der Betonung des zeitlichen Abstands (der ‚Zeitellipse‘; vgl. das folgende Kapitel) dient, während die zeitliche Ordnung eindeutig linear ist. Viel häufiger gebraucht Valerius Maximus vorzeitige Abl. abs. in chronologisch korrekter Voranstellung. Eine Zählung in den Beispielkapiteln ergibt 42 eindeutig vorzeitige Abl. abs. in Voranstellung (36 mit Perfektpartizipien und 6 mit Präsenspartizipien, z. B. 1,7,7: quibus affirmantibus neminem illuc accessisse, iterum se quieti et somno dedit; nicht ausgewertet wurden Fälle mit Perfektpartizip, die bei der Einteilung in Zeitstufen als gleichzeitig behandelt wurden, wie z. B. in 1,7,8: illi sermone suo metu eius discusso causam exitii misero attulerunt = „indem sie die Furcht zerstreuten, […]“). Die Voranstellung perfektischer Abl. abs. gilt manchen Grammatikern als allgemeine Regel, Johannes Müller-Lancé: Absolute Konstruktionen vom Altlatein bis zum Neufranzösischen. Ein Epochenvergleich unter Berücksichtigung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1994, S. 148, widerspricht jedoch auf der Grundlage eines Corpus ausgewählter Texte von Plautus bis Tacitus, in dem von 93 absoluten Konstruktionen mit passivem Perfektpartizip nur 32 der übergeordneten Proposition voranstehen. Insgesamt variiert die Position der absoluten Konstruktionen stark von Autor zu Autor – laut Müller-Lancé, S. 144, überwiegt die Voranstellung u. a. bei Caesar und teilweise Cicero (in den Tusculanae disputationes), die Mittelstellung bei Sallust, Vergil und teilweise Cicero (in den Reden gegen Catilina), die Nachstellung bei Tacitus (im Agricola).
Durée
105
Frage kommt, nur die Textlänge verstanden werden. Folglich ist auch keine ‚Isochronie‘ im Sinne einer ‚Identität‘ von Dauer in der Diegese und Dauer in der Erzählung vorstellbar – selbst bei reinen Dialogszenen kann die Textlänge nicht mit einer Zeitdauer identifiziert werden, weil diese neben dem Text auch von Sprechgeschwindigkeit und Sprechpausen abhängt. Als ‚isochronischer‘ degré zéro dient daher stattdessen eine (hypothetische) Erzählung, in der die Erzählgeschwindigkeit, also das Verhältnis zwischen Zeitdauer in der Geschichte und Textlänge, immer gleich bliebe. In Wirklichkeit weist freilich so gut wie jede Erzählung Anisochronien, d. h. Schwankungen der Erzählgeschwindigkeit, auf. Die beiden Extreme, zwischen denen sich diese bewegen können, sind die unendliche Geschwindigkeit der Ellipse (ein Nullsegment der Erzählung entspricht einer beliebig langen Dauer der Geschichte; temps de récit = 0, temps d’histoire = n) und die absolute Langsamkeit der deskriptiven Pause (ein beliebig langes Segment des erzählenden Textes entspricht einer diegetischen Nulldauer; TR = n, TH = 0). Die beiden üblichen Erzähltempi (mouvements) dazwischen sind die Szene (scène; TR = TH) und die Zusammenfassung (sommaire; TR < TH). Dagegen kommt das Tempo TR > TH (eine Art Zeitlupe) kaum vor; wenn Szenen extrem ausgedehnt wirken, liegt dies meist eher an extradiegetischen Elementen oder deskriptiven Pausen. Die Zusammenfassung ist die typische Erzählweise von Rückblicken, besonders von kompletten Analepsen. Deskriptive Pausen können vermieden werden, indem man eine Figur betrachten lässt, so dass der Beschreibung eine Handlung in der Diegese entspricht. Es ist also nicht jede Beschreibung eine Pause – aber alle hier relevanten Pausen sind Beschreibungen, da nicht-deskriptive Unterbrechungen wie z. B. kommentierende Eingriffe des Autors nicht dem narrativen Diskurs angehören.246 Ellipsen lassen sich einteilen in bestimmte (déterminées; die Dauer der übersprungenen Zeit ist angegeben oder erkennbar) und unbestimmte (indéterminées) sowie in explizite, implizite und hypothetische. Explizit ist eine Ellipse, deren Präsenz im Text angezeigt wird – durch einen Satz über den Zeitablauf wie z. B. quelques années passèrent (dann ist die ‚Ellipse‘ eigentlich nur ein Extremfall der Zusammenfassung, denn TR ist nicht ganz 0) oder durch eine Angabe nach der Ellipse (z. B. deux ans plus tard). Explizite Ellipsen können zusätzlich noch durch nicht-zeitliche Informationen qualifiziert werden, indem etwa statt von quelques années von quelques années de bonheur die Rede ist oder die Überspringung von Jahren damit begründet wird, dass in ihnen nichts Nennenswertes passiert ist. Implizite Ellipsen sind solche, die der Leser eigenständig erkennen muss. Eine hypothetische Ellipse ist eine, deren Existenz von einer in der Erzählung enthaltenen 245
246
Wie im vorigen Abschnitt fasse ich zunächst die methodischen Grundlagen zusammen und folge dabei Genette: Discours, S. 122–144. Auch die Überschrift Durée ist von dort übernommen. Genette: Nouveau discours, S. 23, schlägt stattdessen Vitesse oder Vitesses vor. Siehe zur Frage auch Genette: Nouveau discours, S. 25.
106
Die Anekdoten
Anachronie vorausgesetzt wird, ohne dass sie irgendwo im Text zu lokalisieren wäre. Die Auswertung der Anekdoten des Valerius Maximus wird hier dadurch erschwert, dass die absolute Dauer der darin vorkommenden Ereignisse und der Zeitabstände dazwischen selten angegeben wird und oft auch kaum zu schätzen ist. Schon deswegen erscheint es unmöglich, etwa für die einzelnen Elemente oder Abschnitte der Anekdoten – oder auch für die Anekdoten als ganze – ein Verhältnis von Dauer und Wortanzahl zu errechnen. Es kann hier also nur darum gehen, scènes und sommaires, Ellipsen und deskriptive Pausen in den Anekdoten zu identifizieren, nicht aber darum, die unterschiedlichen Erzählgeschwindigkeiten mit Zahlenwerten darzustellen.247 In den dreispaltigen Tabellen in Anhang 1.a248 werden die Anekdoten der neun Beispielkapitel (ohne extradiegetische Textteile) in scènes und sommaires unterteilt – und zwar so, dass es innerhalb einer scène oder eines sommaire keine bei der jeweiligen Erzählgeschwindigkeit wahrnehmbaren Ellipsen gibt. Die Unterscheidung von scènes und sommaires beruht nicht auf einem rein relativen Vergleich innerhalb der Einzelanekdoten – indem etwa der jeweils ‚langsamste‘ Abschnitt als scène definiert würde –, sondern erfolgt mit Blick auf das gesamte Beispielcorpus. Es gibt also auch Anekdoten, die ausschließlich aus sommaires bestehen. Anachronische Einschaltungen werden in der Regel als Bestandteile der sie umgebenden Primärerzählung behandelt. Gesondert aufgeführt werden nur diejenigen Anachronien, die als Vorwegnahmen am Anfang oder Rekapitulationen am Schluss249 dienen (sie sind ausnahmslos sommaires), essentielle Abschnitte der primären Handlungslinie eigenständig darstellen oder gar den Hauptinhalt der Anekdote ausmachen (in diesen – seltenen – Fällen können sie auch die Gestalt von scènes annehmen). Solche zur Gänze anachronischen scènes und sommaires werden ausdrücklich als pro- oder analeptisch gekennzeichnet (auch zur Unterscheidung von nicht-anachronischen oder nur zum Teil aus Anachronien bestehenden Vorwegnahmen und Rekapitulationen). In denselben Tabellen werden, wo vorhanden, die zwischen den scènes und sommaires zu konstatierenden Ellipsen vermerkt, wobei die Abstände zwischen dem Haupttext und den Vorwegnahmen und Rekapitulationen nicht als Ellipsen gelten.250 247
248
249
Vgl. zum Problem schon Tim Rood: Sucydides. Narrative and Explanation, Oxford 1998, S. 35, anlässlich von jukydides. Anders verhält es sich z. B. im Roman des Heliodor (siehe Marília P. Futre Pinheiro: Time and Narrative Technique in Heliodorus’ ‘Aethiopica’, in: ANRW II.34.4, 1998, S. 3148–3173, hier 3152f., mit tabellarischer Gegenüberstellung von Tagen und Seiten- bzw. Zeilenzahlen). Sie folgen jeweils auf den Volltext und die formel- und tabellenhafte Auswertung für das Kapitel Ordre (siehe oben S. 61–63). Siehe oben S. 97–99.
Durée
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Aus der tabellarischen Auswertung ergibt sich die nun folgende Analyse, die kapitelweise präsentiert wird. Für das Kapitel 1,7 (De somniis) lässt sich auf Grund seiner besonderen inhaltlichen Homogenität eine Liste von dreizehn möglichen inhaltlichen Abschnitten aufstellen, deren Reihenfolge nicht variiert, von denen aber nicht alle in jeder Anekdote vorkommen: 1. eine Vorwegnahme zentraler Inhalte (in 8 von 18 Anekdoten, stets als sommaire, davon nur einmal proleptisch; einmal kombiniert mit einer Angabe über die Wirkung auf die Nachwelt), 2. ein Rückblick in der Diegese zur Einleitung einer analeptischen Traumgeschichte (1 von 18, als sommaire), 3. eine Vorgeschichte (3 von 18, stets als sommaire), 4. ein direkter Anlass des Traums (1 von 18, als scène), 5. der Traum selbst (18 von 18), in der Regel als scène (einmal als Analepse, einmal zwei Träume in einer scène – diese, die zusätzlich auch Reaktionen enthält, ist mit 19 Elementen eine der zwei längsten des ganzen untersuchten Corpus), nur in vier Anekdoten als sommaire (darunter eine mit zwei Träumen in zwei sommaires, von denen einer analeptisch ist; drei der vier Anekdoten bestehen ausschließlich aus sommaires, nur eine hat anderweitige scènes – sie betreffen die Verwirklichung des Traums), 6a. eine Deutung des Traums durch einen Traumdeuter (1 von 18, als sommaire) oder 6b. eine Reaktion auf den Traum (11 von 18; siebenmal als scène, davon dreimal gemeinsam mit dem Traum oder den Träumen, einmal mit der Verwirklichung des Traums und einmal mit Konsequenzen der Reaktion; dreimal als sommaire sowie in einer Anekdote zwei sommaires mit Reaktionen auf zwei Träume) oder 6c. ein Anlass oder eine Vorgeschichte der Verwirklichung des Traums (2 von 18; einmal als scène, einmal als sommaire und scène mit Ellipse dazwischen), 7. eine Verwirklichung des Traums (11 von 18; zehnmal als sommaire, einmal als scène gemeinsam mit der Reaktion auf den Traum), 8. eine Reaktion auf die Verwirklichung (2 von 18, stets als scène), 9. eine weitere Reaktion darauf (1 von 18, als sommaire), 10a. eine Rekapitulation (3 von 18, stets als sommaire und nie analeptisch) oder 10b. Angaben zur Überlieferung der Geschichte (1 von 18, als zwei sommaires: Erzählungen der Hauptperson zu Lebzeiten, Berichte späterer Historiker). Zeitellipsen kommen am häufigsten zwischen Traum und Reaktion (acht Fälle, darunter die Sonderfälle in 1,7, ext. 5: erster Traum–erste Reaktion, Reaktion auf 250
Die hier (mit wenigen Ausnahmen) auch sonst nicht behandelte jematik der durch Anachronien ausgelösten Ellipsen wird durch den Abschnitt zu partiellen und kompletten Anachronien im vorigen Kapitel abgedeckt. Siehe oben S. 76–78.
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Die Anekdoten
zweiten Traum–zweiter Traum als Analepse) sowie vor der Verwirklichung (acht Fälle; nach dem Traum, einer Reaktion darauf oder einer Vorgeschichte der Verwirklichung), außerdem je dreimal zwischen Vorgeschichte und Traum sowie vereinzelt an weiteren Stellen vor. Die allermeisten Ellipsen (23 von 28) sind lediglich implizit. Die fünf expliziten sind vier zwischen Traum und Reaktion (von diesen hat nur eine eigenen Text – interposito deinde tempore in 1,7, ext. 2 –, die übrigen werden durch nachträgliche Zeitangaben wie luce proxima oder postero die explizit) und eine, die in Kombination mit einem die Verwirklichung des Traumes ausdrückenden sommaire am Ende des Textes steht (inter hanc noctem et supplicium capitis, quo eum Caesar affecit, paruulum admodum temporis intercessit). Quantitativ überwiegen die scènes gegenüber den sommaires und expliziten Ellipsen. Der Durchschnitt der (in Elementen bemessenen) scène-Anteile in den einzelnen Anekdoten beträgt rund 60%. Im Kapitel 2,1 (De institutis antiquis), das (mit Ausnahme von 2,1,4) nicht singulären Ereignissen, sondern Bräuchen und Sitten gewidmet ist, dominieren die sommaires (Anteil durchschnittlich rund 73%). Nur in vier der dreizehn Einzelanekdoten kommen scènes vor (immer mit habituellem, nie mit diachronischem Inhalt). Die meisten Anekdoten bleiben zeitlich zu vage, um Ellipsen entstehen zu lassen. Von den vier (stets impliziten) Ellipsen, die vorkommen, stehen drei innerhalb des habituellen Ablaufs, nur eine zwischen zwei Stufen einer diachronischen Entwicklung. Das Kapitel 3,8 (De constantia) ist heterogener als 1,7 oder 2,1 und darum weniger leicht zu typisieren. Nur vier Einzelanekdoten bestehen ausschließlich aus sommaires (darunter drei Teilanekdoten derselben Sammelanekdote), alle anderen haben mindestens eine scène, die fast immer den Hauptinhalt – den Beweis der constantia, meist im Konflikt mit anderen Personen – darstellt (nur in 3,8, ext. 4 liegt dieser Tugendbeweis in einem sommaire über die erfolgreiche Fortführung des Prozesses nach einem als scène dargestellten emotionalen Überzeugungsversuch des Sohns des Angeklagten). Nur zwei – besonders lange – Einzelanekdoten haben mehrere scènes (3,8,1 und 3,8, ext. 1). In einer weiteren langen Anekdote (3,8, ext. 6) findet sich die – in Elementen bemessen – viertlängste scène der untersuchten Kapitel (17 Elemente). Durchschnittlich überwiegen die scènes mit rund 58%. Zeitellipsen liegen immer wieder zwischen der Vorgeschichte und dem Hauptinhalt, oft aber auch innerhalb des Hauptinhalts. Von den 21 Ellipsen wird nur eine einzige explizit gemacht – durch die nachträgliche Zeitangabe non ita multo post. Das Kapitel 4,2 (Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine) ist wieder sommaire-lastiger als das zuletzt besprochene (vier von acht Einzelanekdoten bestehen nur aus sommaires; durchschnittlicher Anteil rund 77%), wohl weil das [ema weniger prägnante Äußerungen und Wortwechsel mit sich bringt und mehr Akte, deren Bedeutung nicht in ihrer konkreten Ausgestaltung, sondern in ihrem bloßen Stattfinden im konkreten Fall liegt, in dem man sie nicht erwartet hätte (wie z. B. eine Eheschließung oder die Übernahme einer Verteidigung vor
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Gericht). Die zwölf impliziten Zeitellipsen liegen überwiegend zwischen dem Entstehen oder der Manifestation der Feindschaft und deren Überwindung. In zwei Einzelanekdoten werden Akte der Feindschaft auch (ebenfalls mit Ellipse) analeptisch nachgereicht. Jede Anekdote des Kapitels 5,7 (De parentum amore et indulgentia in liberos) hat genau eine scène, die jeweils den Beweis der Liebe und Treue der Eltern zu ihren Söhnen enthält (also den Tugendbeweis wie im Kapitel De constantia). Die scènes überwiegen durchschnittlich mit rund 59%. Es gibt nur zwei implizite Zeitellipsen, die beide zwischen Vorgeschichte und Haupthandlung liegen. 5,7, ext. 1 und 5,7, ext. 2 sind besonders langsame Anekdoten, die sehr detaillierte (in 5,7, ext. 1 fast romanhaft anmutende) scènes enthalten, die über mehrere Elemente hinweg die einzelnen Bewegungen der Akteure nachvollziehen. Die in 5,7, ext. 2 ist mit 13 Elementen zugleich die sechstlängste scène in den untersuchten Kapiteln. Alle Anekdoten des Kapitels 6,2 (Libere dicta aut facta) – mit Ausnahme der zwei in 6,2,12 – haben je eine scène, die einen Beweis der libertas enthält (analog zu den Tugendbeweisen in 3,8 und 5,7). Es gibt fünf Anekdoten, die nur aus einer einzigen scène bestehen, also u. a. ohne eigenen Abschnitt zur Vorgeschichte auskommen – zum Verständnis des Hintergrunds genügt in diesen Fällen die Situation, in der die scène selbst angesiedelt ist. Im Kapitel finden sich außerdem drei der fünf – in Elementen bemessen – längsten scènes des untersuchten Corpus (die Anekdote 6,2,2 ist eine scène mit 18 Elementen; 6,2,7 und 6,2, ext. 2 enthalten scènes mit 19 und 15 Elementen), und der durchschnittliche scène-Anteil ist mit rund 72% der mit Abstand höchste. Die sieben impliziten Zeitellipsen liegen überwiegend zwischen der Vorgeschichte oder dem Anlass der in einen libertasBeweis mündenden Begegnung und dieser selbst, nur einmal zwischen zwei gleichartigen Akten der libertas (in 6,2,9, wobei der erste scène und der zweite sommaire ist). Das Kapitel 7,7 (De testamentis quae rescissa sunt) besteht großteils aus sommaires (durchschnittlicher Anteil rund 79%). Nur in zwei der sieben Anekdoten gibt es scènes. Inhaltlich ist das Kapitel sehr homogen, und die Struktur der Anekdoten folgt jeweils einem von zwei Schemata. Vier Anekdoten beginnen mit einer Enterbung (nur in 7,7,4 steht davor noch eine Vorgeschichte) oder einer ungünstigen Entscheidung einer unteren Gerichtsinstanz; nach einer Zeitellipse folgt dann der Prozess, der zur Aufhebung der Enterbung führt (dreimal als sommaire, einmal als scène). Solche Ellipsen machen vier der insgesamt fünf – stets impliziten – Fälle in diesem Kapitel aus (die fünfte Ellipse liegt zwischen der Enterbung und ihrer Vorgeschichte in 7,7,4). Drei Anekdoten bestehen jeweils aus einem einzigen Abschnitt (zweimal sommaire, einmal scène), der den endgültigen Prozess darstellt. Von den sechs Anekdoten des Kapitels 8,9 (Quanta uis sit eloquentiae) enthalten drei nur sommaires, drei enthalten je eine scène (einmal als Analepse nach einem langen, eine ganze Epoche – die politische Dominanz des Perikles in Athen – charakteristisch zusammenfassenden sommaire). Die uis eloquentiae wird
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Die Anekdoten
stets eher behauptet als illustriert (dies gilt auch für die scènes, von denen zwei lediglich Äußerungen über die uis eloquentiae anderer Personen gewidmet sind, während die dritte die Folgen einer Rede darstellt, aber diese selbst nicht einmal ansatzweise wiedergibt: sermone eius obstupefacti etc.). Quantitativ überwiegen die sommaires mit durchschnittlich rund 63%. Von den vier impliziten Zeitellipsen liegen zwei zwischen historischen Ereignissen oder Epochen (wobei das erste Ereignis in 8,9,1 nur als Hintergrund dient, während es in 8,9, ext. 2 explizit um den Vergleich geht), eine zwischen der unmittelbaren Veranlassung einer Begegnung und dieser selbst (8,9,2) und eine zwischen den fatalen Reden und deren Verbot (8,9, ext. 3). Vier der sieben Anekdoten des Kapitels 9,7 (De ui et seditione) bestehen ausschließlich aus sommaires; durchschnittlich machen sie rund 70% aus. Die drei scènes bestehen in einer Rede (9,7,2) und zwei besonders dramatischen Passagen (9,7,1 und 9,7,4; Ähnliches kommt allerdings auch in den übrigen vier Anekdoten in Form von sommaires vor). Die sechs Ellipsen sind alle implizit. Sie stehen an ganz verschiedenen Stellen (viermal vor und einmal nach der dramatischsten Passage, einmal zwischen Voraussetzung und unmittelbarem Anlass). Wie wir sahen, variiert die Prävalenz von scènes und sommaires von Kapitel zu Kapitel – die in Handlungselementen bemessenen Anteile der scènes an der Textmenge der durchschnittlichen Anekdote reichen (auf ganze Prozente gerundet) von 72% (in 6,2), 60% (in 1,7), 59% (in 5,7) und 58% (in 3,8) bis lediglich 37% (in 8,9), 30% (in 9,7), 27% (in 2,1), 23% (in 4,2) und 21% (in 7,7), die Anteile der Einzelanekdoten mit mindestens einer scène von 100% (in 5,7), 88% (in 6,2), 83% (in 1,7) und 76% (in 3,8) über 50% (in 4,2 und 8,9) und 43% (in 9,7) bis 31% (in 2,1) und 29% (in 7,7). Durchgehend die Ausnahme ist das Vorkommen von mehreren scènes in einer Einzelanekdote (zehn Fälle, davon fünf in 1,7). Meist gibt es nur eine einzige, die dann stets den inhaltlichen Höhepunkt enthält. Auch Zeitellipsen sind unterschiedlich häufig. Die (gerundete) Durchschnittsanzahl pro Einzelanekdote variiert von 1,6 (in 1,7), 1,5 (in 4,2) und 1,2 (in 3,8) über 0,9 (in 9,7) und 0,7 (in 7,7 und 8,9) bis lediglich 0,4 (in 5,7 und 6,2) und 0,3 (in 2,1). Die große Mehrheit der Ellipsen ist implizit (89 von 95 oder rund 94%). Die wenigen expliziten (5 von 28 in 1,7; 1 von 21 in 3,8) sind dies häufiger durch adverbiale Angaben nach der Ellipse (vier Fälle) als durch Sätze oder Partizipialausdrücke über den Zeitablauf (zwei Fälle). Zwischen Ellipsen mit bestimmter und unbestimmter zeitlicher Ausdehnung ist zwar der Übergang fließend (weil auch solche Ellipsen als bestimmt gelten, deren Dauer nicht explizit angegeben ist, aber vom Leser erschlossen werden kann – was nicht immer mit demselben Grad an Genauigkeit und Sicherheit möglich ist). Dennoch lässt sich klar feststellen, dass Valerius Maximus wenig Wert auf zeitliche Präzision legt251 und seine Ellipsen meist – wenn überhaupt – nur recht 251
Dies wurde bereits oben (Fn. 194) bei der Untersuchung der Anachronien festgestellt.
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ungenau bestimmbar sind. Bei impliziten ist dies der Fall, weil die sie umgebenden Ereignisse nicht datiert sind (was der Leser nur durch die Konsultation textfremder Quellen kompensieren kann – und dies tendenziell auch nur bei Ellipsen zwischen größeren, datierbaren historischen Ereignissen, nicht etwa bei Ellipsen in der Größenordnung von Tagen oder Stunden). Aber auch bei expliziten Ellipsen gibt es in der Hälfte der Fälle nur vage Zeitangaben (wie interposito deinde tempore); die einzigen relativ genauen sind postero die und luce proxima, die bei drei der sechs expliziten Ellipsen vorkommen. Hypothetische Ellipsen – d. h. Fälle, wo eine Anachronie ein in der Primärerzählung ausgelassenes Ereignis mitteilt, ohne dass aus dem Text erkennbar wäre, an welcher Stelle es zu stehen hätte – können in den untersuchten Kapiteln auch bei vollständiger Prüfung der als intern identifizierbaren kompletiven Anachronien (einschließlich einer gemischten, die auch im internen Teil kompletiv ist) nicht festgestellt werden.252 Ebenso abwesend sind (bei der jeweiligen Erzählgeschwindigkeit wahrnehmbare) deskriptive Pausen; die einzigen Pausen in der Erzählung sind also die extradiegetischen Passagen.253 3
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Frequenz bedeutet Repetitivität; für die Zwecke des Vergleichs von Geschichte und Erzählung ist der Begriff der Wiederholung allerdings nicht allzu streng zu fassen – es muss sich nicht immer um völlig identische Wiederholung handeln.254
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Von diesen 42 Anachronien lassen sich 20 auf in den obigen Listen aufgeführte Ellipsen beziehen, während 14 die Erzählung ausschließlich um zusätzliche Aspekte oder Parallelhandlungen ergänzen, also im weitesten Sinn Paralipsen füllen (in 1,7,4, 2,1,2, 2,1,5, 3,8,2, 3,8,4, 3,8, ext. 3, 3,8, ext. 5, 4,2,4, 5,7,1, 5,7,2 und – als kontrafaktische Präzisierung – in 6,2, ext. 2; in 3,8,2 handelt es sich um das Hauptgeschehen eines in der Primärerzählung bereits mit einer Zustandsaussage ausgefüllten Zeitraums). Sechsmal (in 2,1,1, 2,1,8, 2,1,10 und 8,9, ext. 1) liegt keine Ellipse vor, weil die Zeitstufe der Anachronie die erste oder letzte einer Haupthandlung (meist eines Brauches) ist und nur durch die Präsenz zeitlich über diese hinausreichender andersartiger Elemente (diachronischer Entwicklungen im Fall von Bräuchen, eines dauernden Zustands in 8,9, ext. 1) als intern erscheint, und in zwei ähnlichen Fällen (in 1,7,2) gibt es nach der Zeitstufe der beiden Anachronien überhaupt keine eigentliche Primärerzählung mehr, sondern nur noch eine wegen ihrer Stellung am Schluss des Textes formal nicht anachronische diegetische Zukunftsankündigung. Bemerkenswerterweise kommen selbst die von Emma Brobeck: Efficacior Pictura. Morality and the Arts in Valerius Maximus, in: Reading by Example, hg. von Murray/ Wardle, S. 261–284, behandelten Anekdoten über Kunstwerke (außerhalb der hier untersuchten Kapitel) mit einem Minimum an Beschreibung aus. Meine Zusammenfassung folgt Genette: Discours, S. 145–182.
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Die Anekdoten
Für das Verhältnis von Frequenz in der Geschichte und Frequenz in der Erzählung gibt es drei Möglichkeiten. Die n-malige Erzählung n-maligen Geschehens (nR/nH, z. B. Lundi, je me suis couché de bonne heure, mardi je me suis couché de bonne heure etc.) einschließlich der einmaligen Erzählung einmaligen Geschehens (1R/1H, z. B. Hier, je me suis couché de bonne heure) kann man auch singulative Erzählung nennen. Die n-malige Erzählung einmaligen Geschehens (nR/1H), auch repetitive Erzählung genannt, reicht von der simplen wörtlichen Wiederholung (z. B. Hier, je me suis couché de bonne heure, hier je me suis couché de bonne heure, hier je me suis couché de bonne heure) bis zur Wiederholung mit stilistischer Variation oder mit variierendem Standpunkt (wie z. B. in Rashōmon). Auch repetitive Pro- und Analepsen gehören hierher. Bei der einmaligen Erzählung n-maligen Geschehens (1R/nH) oder iterativen Erzählung (z. B. tous les jours je me suis couché de bonne heure) wird mehrmaliges Vorkommen zusammengefasst (im Gegensatz zum bloßen paradigmatischen Erzählen eines einzigen Vorkommens, das ein besonderer Anwendungsfall des singulativen Erzählens ist). Jede Iteration ist eine Serie von wiederholten Einzelereignissen. Eine solche Serie wird definiert durch ihre diachronische Abgrenzung (Determination), den Rhythmus des Auftretens der Einheiten (Spezifikation) und die zeitliche Ausdehnung der einzelnen Einheit (Extension). Die Serie ‚Sonntage im Sommer 1890‘ hat beispielsweise die Determination ‚Sommer 1890‘, die Spezifikation ‚alle 7 Tage‘ und die Extension ‚24 Stunden‘ oder ‚die Stunden zwischen Aufstehen und Nachtruhe‘. Der Zeitablauf innerhalb der einzelnen Einheit, also über die Dauer der Extension, heißt interne Diachronie, der über die Dauer der Determination externe Diachronie. Die Determination kann absolut datiert, relativ zu einem Ereignis der Diegese datiert, unbestimmt (z. B. A partir d’une certaine année) oder auch unendlich sein (z. B. im Satz Le soleil se lève tous les matins). Eine einfache Spezifikation kann unbestimmt (z. B. parfois oder certains jours), absolut bestimmt (z. B. tous les jours oder tous les dimanches) oder auf vagere Weise bestimmt sein (z. B. les jours de beau temps). Wenn mehrere Frequenzen sich überlagern, liegt eine komplexe Spezifikation vor (z. B. tous les mois de mai + tous les samedis = tous les samedis du mois de mai). Determinationen und Spezifikationen können explizit ausgedrückt werden oder implizit sein; so kann z. B. über der expliziten Spezifikation tous les samedis die implizite Spezifikation tous les ans entre Pâques et octobre stehen – und darüber noch die implizite Determination pendant mes années d’enfance. Nicht in jeder iterativen Serie müssen alle einzelnen Elemente wirklich komplett identisch sein. Variation ist möglich – in längeren, detailliert ausgestalteten iterativen Erzählungen sogar fast zwingend – und kann auf zwei Arten erreicht werden. Serien255 können sich durch (unbestimmte oder bestimmte) interne Determinationen in Subserien aufteilen, die sich jeweils durch irgendeine Variation
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– die Wirkung eines eingeschalteten singulären Ereignisses sein kann – unterscheiden. Es kann auch vorkommen, dass nicht alle Subserien bei derselben Gelegenheit erzählt werden, sondern z. B. eine erst später als Analepse hinzutritt. Die andere Möglichkeit ist die interne Spezifikation, die keine Abfolge, sondern eine Abwechslung bedeutet; z. B. kann es innerhalb der Spezifikation tous les après-midis sauf le dimanche die internen Spezifikationen beau temps und mauvais temps geben – oder auch unbestimmte Spezifikationen wie parfois … mais d’autres fois. Es gibt auch pseudo-iterative Szenen, die so detailliert sind, dass nicht glaubhaft ist, dass sie sich tatsächlich – ohne Variationen – mehr als einmal zugetragen haben. Dies ist normalerweise ein rhetorisches Mittel, eine Art Hyperbel, die ausdrücken soll, dass sich oft Ähnliches zugetragen hat; bei Proust lässt es sich aber nicht immer so deuten, vielmehr scheint die Iteration zum Selbstzweck geworden zu sein. Iterative Erzählung kann, ähnlich wie Beschreibungen, hinter der singulativen zurücktreten und eine Art Hintergrund für diese bilden; im traditionellen neuzeitlichen Roman bleibt sie weitgehend auf diese Rolle beschränkt. Sie kann aber auch – wie bei Flaubert und Proust – selbständig und extensiv verwendet werden (die ersten drei Bücher der Recherche du temps perdu sind zu mehr als der Hälfte iterativ; generell tritt bei Proust die Abwechslung von Singulativem und Iterativem an die Stelle der sonst romantypischen Abwechslung von scène und sommaire). Iterative Einschaltungen in singulativen Szenen unterteilen sich in generalisierende oder externe Iterationen, die über die diegetische Dauer der Szene hinausreichen, und synthetisierende oder interne, die nur innerhalb der Szene stattfinden. Singulative Erzählung kann mit iterativer aber auch so verbunden werden, dass ein singuläres Ereignis entweder eine Iteration illustriert (z. B. Ainsi un jour …) oder als Ausnahme eingeführt wird (Une fois pourtant …). Für Genette steht hier das Singulative im Dienste des Iterativen, „réduit à le servir et à l’illustrer, positivement ou négativement“,256 aber im Grunde ist in beiden Fällen (Ainsi un jour … und Une fois pourtant …) auch das Umgekehrte – und damit wieder der in den meisten Texten geltenden Normalität Entsprechende – denkbar: dass die ganze iterative Serie nur da ist, um das singuläre Ereignis einzuleiten oder seine Besonderheit zu unterstreichen. Bisher war hauptsächlich davon die Rede, dass ein iteratives Segment einer singulativen Szene ein- und untergeordnet ist oder umgekehrt. Aber es gibt auch komplexere Beziehungen, z. B. kann eine singulative Anekdote eine iterative Entwicklung illustrieren, die ihrerseits einer singulativen Szene untergeordnet ist. 255
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Genette stellt in diesem Zusammenhang an die den Subserien bzw. internen Spezifikationen übergeordneten Serien keine sehr strikten Anforderungen; er inkludiert z. B. auch eine deskriptive Passage über die Wechselhaftigkeit von Aussehen und Ausstrahlung einer Person, wo das ‚mehrmalige Geschehen‘ lediglich in der aus dem Faktum der Beschreibung zu erschließenden mehrmaligen Wahrnehmung der Person durch den Erzähler besteht. Genette: Discours, S. 166f.
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Auch fließende Übergänge und Vermischungen kommen vor. Oft werden zwischen iterative und singulative Passagen ‚neutrale‘ Elemente eingeschoben, die den Übergang verdecken: extra-narrative Exkurse im Präsens, Dialoge ohne einleitende Verba dicendi sowie Verbformen, die sich wahlweise iterativ oder singulativ deuten lassen. Nun zu Valerius Maximus. Da mehrmalige Darstellungen einmaliger Ereignisse in den meisten Fällen durch Anachronien (annonces und rappels) zustande kommen, kann hier sogleich auf das entsprechende Kapitel verwiesen werden. Dort wurde auch bereits auf das Vorkommen mehrfacher anachronischer Verweise auf dieselbe Zeitstufe eingegangen, bei denen es sich fast stets um mehrfache Wiederholungen desselben faktischen oder kontrafaktischen Ereignisses (wenn auch oft unterschiedlich detailliert oder konkret oder unter Hervorhebung unterschiedlicher Aspekte) oder um eine Mischung aus faktischen Wiederholungen und kontrafaktischen Alternativen handelt.257 Bei Valerius Maximus gibt es zudem auch Wiederholungen in Gestalt nichtanachronischer Vorwegnahmen und Rekapitulationen. Sie wurden, soweit sie größere Handlungsteile betreffen, im letzten Kapitel identifiziert. Kleinere punktuelle Ereignisverdoppelungen im Inneren der Anekdoten sind – von seltenen Ausnahmen (5,7,3: das Hauptsatzpaar ei se neci, quam euaserat, obtulit occidendumque militibus tradidit, das als rein stilistisches Abundanzphänomen anzusprechen ist258; 6,2, ext. 1: excussit crapulam oscitanti nach ‘ad Philippum’ inquit, ‘sed sobrium’ als Auslöser eines ganzen neuen Handlungsschritts259) abgesehen – Evaluationen (z. B. uerbis arma sumpserat exasperatosque patrum conscriptorum animos inflammauerat direkt anschließend an eine mit respondit eingeleitete direkte Rede in 6,2,1) und werden als solche in der strukturellen Analyse nach Labov und Waletzky behandelt werden.260 Als eigentliches [ema des vorliegenden Kapitels verbleiben somit nur noch die iterativen Darstellungen, d. h. die einmaligen Darstellungen wiederholter Ereignisse – die in den meisten untersuchten Kapiteln kein allzu häufiges oder prägendes Phänomen sind. Man findet sie insgesamt nur in 35 der 97 (ohne extradiegetische Textteile ausgewerteten) Einzelanekdoten (rund 36%). Oft handelt es sich nur um kurze anachronische Einschaltungen in Form von Nebensätzen, Partizipialkonstruktionen (wie consummatis uictoriis oder exceptas […] cicatrices) oder Substantiven (wie funesti conatus, efficacis operae forensis oder Caesare omnium iam et externorum domesticorum hostium uictore):261 257 258
259 260 261
Siehe oben S. 71f. Vergleichbar mit Fällen wie uisceribus ac medullis in diuersi affectus isdem uisceribus ac medullis inclusi (5,7, ext. 1). Nämlich des sogleich als nächste Zeitstufe explizit ausgesprochenen resipiscere. Siehe unten S. 164–166. Diese und auch die folgende Liste stehen unter dem Vorbehalt, dass weder die Abgrenzung der zusammengefassten wiederholten Ereignisse von den hier nicht relevanten
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1,7, ext. 6: multis urbibus exitio futurum; 3,8,3: cuius taeterrimis actis; 3,8,4: Saturnini tribuni plebis funesti conatus; 3,8,6: eo loci […] ubi principum ciuitatis perturbari frons solebat; 3,8,8: centurio diui Augusti, cum Antoniano bello saepenumero excellentes pugnas edidisset; 3,8, ext. 3: eius potestatis […] cuius arbitrio plebei scita ordinarentur; 3,8, ext. 4: efficacis operae forensis fidei non latentis Athenis Ephialtes; 5,7,1: quinque consulatibus summa cum gloria peractis omnibusque et uirtutis et uitae meritis stipendiis; 5,7,1: quem ipse paruulum triumphis suis gestauerat; 5,7,2: ab Caesare omnium iam et externorum domesticorum hostium uictore; 6,2,3: quia beneficio Aemiliae Corneliaeque gentis multi metus urbis atque Italiae finiti erant; 6,2,11: diuum Iulium consummatis uictoriis.
Manchmal handelt es sich um Haupt- oder Nebensätze, die entweder als eigenständige sommaires oder als Teile von scènes oder sommaires (nicht aber als eigenständige scènes) mehr oder weniger wichtige Funktionen im Gesamtgefüge der Anekdoten übernehmen – als Zeugnis für die Wahrheit des Hauptinhalts der Anekdote (1,7,6), als Vergleich der Zustände vor und nach einem Teil der Haupthandlung (1,7, ext. 4), als einen Teil der Haupthandlung auslösendes Problem (1,7, ext. 4), als Hintergrund, vor dem die Haupthandlung stattfindet (3,8,3), als Verweis auf die Rezeption der Haupthandlung durch diverse Autoren (4,2,1), als sekundärer Teil der Haupthandlung selbst (6,2,9), als Handlung, auf die die Haupthandlung reagiert (6,2, ext. 2), als anachronisch präsentierte Vorgeschichte (7,7,1), als Rekapitulation eines Handlungsteils (7,7,4) oder als mit der Haupthandlung gleichzeitige sekundäre Handlung (9,7,2): 1,7,6: id ex Graccho priusquam tribunatum, in quo fraternum exitum habuit, iniret multi audierunt; 1,7, ext. 4: solitus erat iuuenis ad bella gerenda mitti, domi retentus est […] gladio cinctis comitibus utebatur […]; 1,7, ext. 4: cum enim ingentis magnitudinis aper Olympi montis culta crebra cum agrestium strage uastaret […]; 3,8,3: nec deerat consternatae multitudini furialis fax tribunicia, quae temeritatem eius et ruentem comitaretur et languentem actionibus suis inflammaret; 4,2,1: id iudicium […] nobis ueteres annalium scriptores laudandum tradiderunt […]; 6,2,9: reuocatusque aliquotiens a populo sine ulla cunctatione nimiae illum et intolerabilis potentiae reum gestu perseueranter egit. eadem petulantia usus est in ea quoque parte […]; 6,2, ext. 2: omnibus Dionysii tyranni exitium […] expetentibus sola cotidie matutino tempore deos ut incolumis ac sibi superstes esset orabat; 7,7,1: maximos labores ac plurima pericula tolerauerat, aduerso corpore exceptas […] cicatrices; 7,7,4: spernis quos genuisti [sowohl durch ihre Heirat als auch durch ihr
konstanten Zuständen noch die von wiederholten und einmaligen Ereignissen immer zweifelsfrei möglich ist. So werte ich z. B. die diutinae ac uehementes inimicitiae in 4,2,1 als Zustand (langjährige Feindschaft), man könnte aber auch an über einen langen Zeitraum wiederholt stattfindende feindselige Akte denken. Ebenso beziehe ich quibus Caesar se incrementa dignitatis benigne daturum in 5,7,2 auf eine einmalige Förderung und die Anekdote 3,8, ext. 5 (quibusdam monentibus etc.) auf ein einmaliges Gespräch, obwohl man beides auch iterativ interpretieren könnte.
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Die Anekdoten Testament]; 9,7,2: cum interim improuida concitatae multitudinis temeritas […] principesque suos omni petulantiae genere uexauit.
Es gibt aber auch Anekdoten, in denen die wiederholten Ereignisse selbst die Hauptinhalte ausmachen und die man daher als ‚habituelle Erzählungen‘262 bezeichnen kann: 2,1,1: Apud antiquos non solum publice, sed etiam priuatim nihil gerebatur nisi auspicio prius sumpto. quo ex more nuptiis etiam nunc auspices interponuntur, qui […] ipso tamen nomine ueteris consuetudinis uestigia usurpantur. 2,1,2: Feminae cum uiris cubantibus sedentes cenitabant […] 2,1,2: […] nam Iouis epulo ipse in lectulum, Iuno et Minerua in sellas ad cenam inuitabantur. quod genus seueritatis aetas nostra diligentius in Capitolio quam in suis domibus conseruat, uidelicet quia magis ad rem pertinet dearum quam mulierum disciplinam contineri. 2,1,3: Quae uno contentae matrimonio fuerant corona pudicitiae honorabantur: existimabant enim eum praecipue matronae sincera fide incorruptum esse animum, qui depositae uirginitatis cubile egredi nesciret, multorum matrimoniorum experientiam quasi legitimae cuiusdam intemperantiae signum esse credentes. 2,1,5 (a): Sed quo matronale decus uerecundiae munimento tutius esset, in ius uocanti matronam corpus eius attingere non permiserunt, ut inuiolata manus alienae tactu stola relinqueretur. 2,1,5 (b): Vini usus olim Romanis feminis ignotus fuit, ne scilicet in aliquod dedecus prolaberentur […] 2,1,5 (c): ceterum ut non tristis earum et horrida pudicitia, sed honesto comitatis genere temperata esset – indulgentibus namque maritis et auro abundanti et multa purpura usae sunt –, quo formam suam concinniorem efficerent, summa cum diligentia capillos cinere rutilarunt: nulli enim tunc subsessorum alienorum matrimoniorum oculi metuebantur, sed pariter et uidere sancte et aspici mutuo pudore custodiebatur.
262
Den Begriff entlehne ich von Catherine Kohler Riessman: Se Teller’s Problem. Four Narrative Accounts of Divorce, in: dies.: Divorce Talk. Women and Men Make Sense of Personal Relationships, New Brunswick, N.J. 1990, S. 74–119, Narrative Analysis, Newbury Park, Calif. 1993, S. 18, und Narrative Methods for the Human Sciences, Los Angeles 2008, S. 97–99, sowie Jenny Cheshire/Sue Ziebland: Narrative as a resource in accounts of the experience of illness, in: Se Sociolinguistics of Narrative, hg. von Joanna jornborrow/Jennifer Coates, Amsterdam 2005, S. 17–40, hier 23–25 (vgl. auch unten Fn. 341).
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2,1,6: Quotiens uero inter uirum et uxorem aliquid iurgii intercesserat, in sacellum deae Viriplacae, quod est in Palatio, ueniebant et ibi inuicem locuti quae uoluerant contentione animorum deposita concordes reuertebantur. […] placandis uiris […] 2,1,8: Conuiuium etiam sollemne maiores instituerunt idque caristia appellauerunt, cui praeter cognatos et affines nemo interponebatur, ut, si qua inter necessarias personas querella esset orta, apud sacra mensae et inter hilaritatem animorum et fautoribus concordiae adhibitis tolleretur. 2,1,9 (a): […] quocirca iuuenes senatus die utique aliquem ex patribus conscriptis aut propinquum aut paternum amicum ad curiam deducebant affixique ualuis exspectabant, donec reducendi etiam officio fungerentur. qua quidem uoluntaria statione et corpora et animos ad publica officia impigre sustinenda roborabant breuique processurarum in lucem uirtutum suarum uerecunda laboris meditatione ipsi doctores erant. 2,1,9 (b): Inuitati ad cenam diligenter quaerebant quinam ei conuiuio essent interfuturi, ne seniorum aduentum discubitu praecurrerent, sublataque mensa priores consurgere et abire patiebantur. […] cenae quoque tempore quam parco et quam modesto sermone his praesentibus soliti sint uti. 2,1,10: Maiores natu in conuiuiis ad tibias egregia superiorum opera carmine comprehensa † pangebant, quo ad ea imitanda iuuentutem alacriorem redderent. […] pubertas canis suum decus reddebat, defuncta cursu aetas ingredientes actuosam uitam feruoris nutrimentis prosequebatur. […] 3,8,2 (c): compluribus praeterea iniuriis lacessitus in eodem animi habitu mansit nec umquam sibi rei publicae permisit irasci. […] 3,8,2 (d): […] plurimis comminationibus Hannibalis irritatus, saepe etiam specie bene gerendae rei oblata […] ubique ira ac spe superior apparuit. ergo ut Scipio pugnando, ita hic non dimicando maxime ciuitati nostrae succurrisse uisus est: alter enim celeritate sua Karthaginem oppressit, alter cunctatione id egit, ne Roma opprimi posset. 4,2,4 (b): idemque P. Vatinium […] duobus publicis iudiciis tutatus est, ut sine ullo crimine leuitatis ita cum aliqua laude […] 6,2,12 (b): idem cum multa de temporibus liberius loqueretur, amicique ne id faceret monerent, duas res, quae hominibus amarissimae uiderentur, magnam sibi licentiam praebere respondit, senectutem et orbitatem.263
263
In diesem Fall legen sich zwei Übersetzer (Faranda und Shackleton Bailey) auf eine iterative Deutung fest, indem sie aus multa ‚oft‘ oder ‚habituell‘ machen, während ein dritter (Combès) das Wort unübersetzt lässt.
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Die Anekdoten 8,9, ext. 2: […] egit enim illam urbem et uersauit arbitrio suo, cumque aduersus uoluntatem populi loqueretur, iucunda nihilominus et popularis eius uox erat. itaque ueteris comoediae maledica lingua, quamuis potentiam uiri perstringere cupiebat, tamen in labris hominis melle dulciorem leporem fatebatur habitare inque animis eorum, qui illum audierant, quasi aculeos quosdam relinqui praedicabat. […] 8,9, ext. 3: […] qui sic mala uitae repraesentabat, ut eorum miseranda imagine audientium pectoribus inserta multis uoluntariae mortis oppetendae cupiditatem ingeneraret: […] ulterius hac de re disserere prohibitus est.
Das Kapitel 2,1 (De institutis antiquis) besteht fast zur Gänze aus solchen ‚habituellen Erzählungen‘. Von seinen dreizehn Einzelanekdoten sind sechs (2,1,3, die drei Teilanekdoten von 2,1,5 und die beiden von 2,1,9) komplett iterativ – sie berichten ausschließlich den Ablauf eines oder mehrerer früherer Bräuche oder Handlungsmuster. Fünf weitere (2,1,1; 2,1,2; 2,1,6; 2,1,8; 2,1,10) verbinden mit solchen iterativen Darstellungen auch diachronische Aussagen über das Aufkommen (2,1,8) oder die Fortentwicklung des Brauchs (2,1,1 und 2,1,2, jeweils bis in die Gegenwart) oder über Folgen und Reaktionen (die Benennung einer Göttin nach dem Brauch in 2,1,6, den Beitrag des Brauchs zur Heranbildung großer römischer Heerführer und Politiker in 2,1,10). 2,1,4 und 2,1,7 enthalten als einzige Anekdoten dieses Kapitels keine wiederholten Handlungen, sondern nur – im Fall von 2,1,4 – die Angabe des Zeitraums, in dem es in Rom keine Ehescheidungen gab, und den singulativen Bericht von der ersten Ehescheidung sowie – im Fall von 2,1,7 – eine habituelle Unterlassung und die ihr zugrundeliegende Geisteshaltung. Von den sechs hier relevanten Anekdoten aus anderen Kapiteln sind nur zwei (6,2,12 und die dritte Einzelanekdote aus 3,8,2) komplett iterativ. Dagegen stellt die vierte Einzelanekdote aus 3,8,2 dem iterativen Hauptinhalt eine orientierende Einleitung in singulativer Form voran, 4,2,4 stellt eine singulative und eine iterative Tatsache gegenüber (die stetige Feindseligkeit des Vatinius gegen Cicero und seine zweimalige Verteidigung durch diesen), 8,9, ext. 2 lässt auf einen iterativen Abschnitt (zur Regierungszeit des Perikles) eine singulative Anachronie (nämlich eine Warnung vor Perikles) folgen, und 8,9, ext. 3 verbindet einen wiederholten Ablauf (die Reden des Hegesias und ihre Folgen) mit einer singulativen Reaktion (ihrem Verbot durch Ptolemaios). Es verdient ausdrücklich festgehalten zu werden, dass die ‚habituellen Erzählungen‘ des Valerius Maximus zwar erzähltechnisch gewisse Eigenheiten aufweisen – dies gilt besonders für die allgemein gehaltenen des Kapitels 2,1264 –, sich
264
Wir haben bereits gesehen, dass sie stark zu hoher Erzählgeschwindigkeit neigen (vgl. oben S. 108); siehe außerdem unten S. 128 und 132 zur Seltenheit von ‚Worterzählungen‘ und dem besonderen Charakter der Fokalisierungen. Auf die – konkreten Personen gewidmeten – ‚habituellen Erzählungen‘ der anderen Kapitel trifft von diesen Eigen-
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aber durchwegs auf dieselbe Weise untersuchen lassen wie die singulativen.265 Bei der Auswertung für das Kapitel Ordre konnten in rein habituellen Anekdoten die Schritte des iterativ geschilderten Ablaufs als Zeitstufen aufgefasst werden, und selbst im Fall der Verbindung von derartigen Abläufen mit diachronischen Entwicklungen war dies meist unproblematisch, da der ganze Brauch diachronisch einer einzigen Zeitstufe angehörte und diese folglich einfach zur Erfassung der einzelnen Schritte in mehrere aufzulösen war.266 In allen obigen Listen – zu allen drei Kategorien iterativer Stellen – wurden explizite Angaben zu Determination, Spezifikation und Extension durch Fettdruck gekennzeichnet. Es fällt auf, dass solche Angaben, wenn überhaupt vorhanden, fast immer höchst vage sind. Die Determination wird nur in einigen der ‚habituellen Erzählungen‘ aus 2,1 explizit benannt, und dort handelt es sich stets um ungenaue Einordnungen wie „einst“ oder „bei den Alten“ oder auch „in unserer Zeit“. Ansonsten ergibt sich eine Determination lediglich – ebenfalls vage – aus dem Kontext, etwa daraus, dass die wiederholten Handlungen zwischen zwei erwähnten singulativen Ereignissen liegen, die aber ihrerseits weder absolut noch relativ zueinander datiert werden, oder daraus, dass sie einer bestimmten geschichtlichen Ära oder der Lebenszeit einer bestimmten Person angehören. Die Spezifikation hat fast nie den Charakter einer festen Periodizität (Ausnahme: cotidie in 6,2, ext. 2), und selbst die bloße Anzahl der wiederkehrenden Fälle ist fast nie genau angegeben (Ausnahmen: quinque in 5,7,1, duobus in 4,2,4), sondern wird entweder völlig offengelassen oder nur mit Angaben wie „mehrmals“ oder „häufig“ bestimmt. Die Extension der einzelnen Fälle wird nie explizit angegeben und kann vom Leser allenfalls aus der typischen Dauer der betreffenden Handlungen oder Ereignisse, d. h. aus seiner Lebenserfahrung, erschlossen werden.
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heiten nur die Dominanz hoher Erzählgeschwindigkeiten zu (vier der sechs bestehen ausschließlich aus sommaires). Entgegen der Auffassung von William Labov; vgl. unten Fn. 341. Auch die Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky ist problemlos anwendbar. Die Bemerkung von Riessman: Analysis, S. 18, dass die habituelle Erzählung auf Grund des mehrmaligen Geschehens keinen Höhepunkt haben könne („events happen over and over and consequently there is no peak in the action“), ist nicht logisch und wohl nur eine Verallgemeinerung von Besonderheiten der von ihr (in Riessman: Teller’s Problem) untersuchten Fälle – bei Valerius Maximus wird die Unterscheidung von Orientierung, Komplikation (most reportable event) und Ergebnis (siehe unten S. 148–150) durch die Iterativität jedenfalls nicht beeinträchtigt. Nur in einer Anekdote (2,1,1) war eine Abweichung von der üblichen Zählung der Zeitstufen nötig. Es gibt dort sowohl Elemente, die die diachronische Zeitstufe des Brauchs als ganze behandeln, als auch solche, die die einzelnen Schritte behandeln; daher musste eine diachronische Zeitstufe mit zwei Unterteilungen angenommen werden (1, 1a, 1b).
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Die Anekdoten
Bei den kurzen iterativen Stellen der ersten Tabelle handelt es sich stets um generalisierende oder externe, d. h. in jedem Fall aus der Zeitstufe der Umgebung hinausführende Einschaltungen. Von denen der zweiten Tabelle kann man vier Stellen (3,8,3; 6,2,9; 7,7,4; 9,7,2) als interne Einschaltungen in scènes oder sommaires betrachten, die erste Stelle aus 1,7, ext. 4 als teils interne und teils externe und die zweite als externe. Die übrigen Stellen (1,7,6; 4,2,1; 6,2, ext. 2) bilden selbst die Hauptinhalte eigenständiger sommaires und sind daher ebenso wenig überhaupt als Einschaltungen zu betrachten wie die ‚habituellen Erzählungen‘ der dritten Tabelle. Die meisten der von Genette angeführten komplexeren Spielarten iterativer Darstellung – Variationen, pseudo-iterative Szenen, mehrschichtige gegenseitige Abhängigkeiten iterativer und singulativer Passagen – lassen sich in den untersuchten Kapiteln nicht nachweisen. Als Vermischungen von Iterativem und Singulativem kommen zunächst die Verbindungen von Bräuchen und diachronischen Entwicklungen im Kapitel 2,1 in Frage, außerdem – mit nicht oder kaum sichtbarer Abgrenzung – vier Stellen, wo Iteratives und Singulatives gemeinsam Teil einer Aufzählung wird. In 1,7, ext. 4 werden drei Vorher-Nachher-Vergleiche unternommen, von denen der erste in beiden Punkten iterativ und der zweite in beiden singulativ (einmal dauernd und einmal punktuell) ist, während der dritte das Vorher iterativ und das Nachher singulativ darstellt; in 7,7,1 handelt es sich um eine singulative und eine iterative Zusammenfassung derselben Aktivität sowie einen iterativen Teilaspekt (florem iuuentae pro re publica absumpserat, maximos labores ac plurima pericula tolerauerat, aduerso corpore exceptas ostendebat cicatrices); in 7,7,4 erscheinen eine Iteration und ihre zwei Einzelfälle als vier Punkte einer Aufzählung (spernis quos genuisti, nubis effeta, testamenti ordinem uiolento animo confundis, neque erubescis ei totum patrimonium addicere cuius pollincto iam corpori marcidam senectutem tuam substrauisti); und in 9,7,2 wird eine singulativ-generelle Angabe einer Tendenz mit einer iterativen Manifestation konkretisiert (cum interim improuida concitatae multitudinis temeritas – pro impudentia et audacia! – aduersus consulatum et censuram tetendit principesque suos omni petulantiae genere uexauit). 4
Mode (Distanz und Perspektive)
Erzählmodi definieren sich über zwei Kriterien, Distanz und Perspektive. Die Distanz, um die es beim ersten Kriterium geht, ist die zwischen Geschichte und Erzählung.267 Statt von größerer oder geringerer Distanz kann man auch von Vermitteltheit vs. Unmittelbarkeit oder von unterschiedlichen Graden der Illusion von Mimesis sprechen. Auch die im englischen Sprachraum übliche – und stark nor267
Meine Zusammenfassung folgt Genette: Discours, S. 183–203.
Mode (Distanz und Perspektive)
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mativ besetzte – Unterscheidung von showing und telling bezieht sich auf diese Frage. Platon unterschied Textpassagen, in denen ein Poet in eigenem Namen spricht, von solchen, in denen er eine andere Person sprechen lässt, und bezeichnete nur diese als μίμησις (und jene als ἁπλὴ διήγησις). Aber wenn unter Mimesis die unmittelbare Abbildung der Wirklichkeit verstanden werden soll, ist diese Dichotomie nicht gültig, denn dieser Effekt – oder diese Illusion – lässt sich in der Ereigniserzählung (récit d’événements) ebenso erzielen wie in der Worterzählung (récit de paroles). Ereigniserzählung ist notwendigerweise Umsetzung von Nichtverbalem in Worte. Um echte Mimesis kann es sich darum von vorneherein nicht handeln. Zwei Faktoren können aber den Eindruck der Mimesis erwecken. Der erste ist eine große Quantität narrativer Information: effets de réel (also sachlich unnötige Details, die nur da sind, um zu demonstrieren, dass alles, was in der ‚Wirklichkeit‘ da ist, wiedergegeben wird268), genereller Detailreichtum, langsames Erzähltempo; dass effets de réel mimetisch wirken, wurde instinktiv auch schon von Platon erkannt, denn trotz seiner auf Redepassagen eingeengten Definition der Mimesis kürzt er bei der Umsetzung der von ihm als Beispiel herangezogenen Homerstelle in die ἁπλὴ διήγησις in den drei nicht-dialogischen Versen einen effet de réel weg.269 Der zweite Faktor ist die Absenz oder minimale Präsenz des Erzählers, die im Idealfall vergessen lässt, dass es ihn überhaupt gibt (weshalb Ich-Erzählungen tendenziell weniger mimetisch sind). In hochgradig mimetischen Werken wie den realistischen Romanen eines Henry James oder Flaubert ist dieser Faktor ebenso gegeben wie der erste, während andere Autoren – darunter Proust und, in schwächerer Ausprägung, Balzac, Dickens und Dostojewski – großen narrativen Informationsreichtum mit dauernder starker Präsenz des Erzählers kombinieren. Worterzählung – einschließlich der Erzählung bloß gedachter Worte – ist auf drei Arten möglich, die der echten Mimesis unterschiedlich nahe kommen.270 Die narrativisierte oder erzählte Rede (discours narrativisé oder raconté, z. B. J’informai ma mère de ma décision d’épouser Albertine oder Je décidai d’épouser
268
269 270
Die Erzielung des mimetischen Effekts setzt dabei voraus, dass der Leser diese Details nicht als amorces oder leurres (vgl. oben bei Fn. 173) missversteht, was in manchen Genres (v. a. dem Kriminalroman) eher geschieht als in anderen; siehe dazu Genette: Nouveau discours, S. 33. Der Begriff effet de réel geht auf Roland Barthes: L’Effet de Réel, in: Communications 11 (1968), S. 84–89, zurück. Genette: Discours, S. 186. Die Stelle ist Plat. rep. 3,394a. Genette: Nouveau discours, S. 38f., übernimmt – mit kleinen Vorbehalten – eine noch feinere Systematik von Brian McHale: Free Indirect Discourse. A Survey of Recent Accounts, in: PTL. A Journal for Descriptive Poetics and Seory of Literature 3 (1978), S. 249–287, hier 258–260, in der von den hier dargestellten drei Typen der erste und der letzte in je zwei und der mittlere in drei Typen geteilt wird.
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Die Anekdoten
Albertine) behandelt die Worte oder Gedanken als Ereignis. Sie schafft die größte Distanz und neigt auch am stärksten zur Reduktion. Die indirekte oder transponierte Rede (discours transposé, z. B. Je dis a ma mère qu’il me fallait absolument épouser Albertine oder Je pensai qu’il me fallait absolument épouser Albertine) ist zwar mimetischer, aber zusätzlich zur grammatischen Umsetzung in die indirekte Rede bleibt auch dadurch eine gewisse Distanz bestehen, dass der Erzähler die Freiheit zu darüber hinausgehender Bearbeitung hat – etwa durch Straffung oder durch Umsetzung in seinen Stil. Die direkte oder wiedergegebene Rede (discours rapporté, z. B. Je dis à ma mère oder je pensai: il faut absolument que j’épouse Albertine) ist am mimetischsten. Ihr ähnlich ist auch die unmittelbare Rede (discours immédiat), d. h. ein ‚innerer Monolog‘ ohne Einleitung durch von einem Erzähler stammende Verba dicendi.271 Die Illusion der Mimesis kann verstärkt werden, indem der Autor den einzelnen Figuren stilistische Autonomie und Idiolekte gibt, aber die Wirkung dieses Mittels kann ins Gegenteil umschlagen, wenn es hyperbolisch angewandt wird und künstlich wirkt. Die Frage der Perspektive (‚Wer sieht?‘)272 hat nichts zu tun mit der erst im nächsten Kapitel zu behandelnden Frage nach dem Erzähler (‚Wer spricht?‘), denn die Person, aus deren Perspektive erzählt wird, muss nicht mit diesem identisch sein. Die Ausrichtung der Erzählung auf die Perspektive einer bestimmten Figur kann man Fokalisierung nennen. Bei nicht-fokalisierter Erzählung (récit non-focalisé) oder Nullfokalisierung (focalisation zéro) wird nicht aus der Perspektive einer Figur erzählt. Dem entspricht die von Tzvetan Todorov geprägte Formel ‚narrateur > personnage‘, d. h. der Erzähler sagt mehr als irgendeine einzelne Figur weiß.273 Bei der internen Fokalisierung sagt der Erzähler nur, was eine bestimmte Figur weiß (Todorov: ‚narrateur = personnage‘). Sie ist entweder fix (durch die gesamte Erzählung nur eine Figur) oder variabel (im Laufe der Erzählung zwischen mehreren Figuren wechselnd) oder multipel (wenn dasselbe Ereignis aus der Perspektive mehrerer Figuren erzählt wird, wie in Briefromanen oder Rashōmon).274 Die reinsten Formen der internen Fokalisierung sind der innere Monolog und – im Film – die subjektive Kamera. Die Figur, auf die fokalisiert wird, kann dieselbe Person
271
272
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Genette: Nouveau discours, S. 35, übernimmt hierfür den von Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton 1978, S. 17 und 217–265, geprägten Begriff des ‚autonomen Monologs‘. Meine Zusammenfassung folgt Genette: Discours, S. 203–223. Genette: Nouveau discours, S. 43, präzisiert ‚Wer sieht?‘ zu ‚Wer nimmt wahr?‘. Tzvetan Todorov: Les catégories du récit littéraire, in: Communications 8 (1966), S. 125–151, hier 141f. Genette: Nouveau discours, S. 45, betont allerdings, kein (nicht-filmisches) Beispiel für multiple Fokalisierung ohne entsprechende Erzählerwechsel zu kennen.
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wie der Erzähler sein, aber solche fokalisierten Ich-Erzählungen sind eher die Ausnahme, da die Ich-Erzählung im Gegenteil besonders dazu einlädt, späteres Wissen des nunmehrigen Erzählers einfließen zu lassen (außer bei quasi-gleichzeitiger Erzählung wie im Brief- oder Tagebuchroman oder inneren Monolog). Die externe Fokalisierung (z. B. in den Kriminalromanen von Dashiell Hammett) folgt einer Figur, ohne aber Einblick in deren Innenleben zu gewähren, der Erzähler sagt also weniger als die Figur weiß (‚narrateur < personnage‘).275 Um eine externe Fokalisierung handelt es sich auch dann, wenn der Erzähler über Gedanken oder Gefühle der Figur lediglich spekuliert (z. B. le tintement contre la glace sembla donner à Bond une brusque inspiration). In manchen Werken wird die externe Fokalisierung nur anfangs verwendet und dann zugunsten einer internen aufgegeben (oft gleichzeitig mit der Enthüllung der zuvor nicht als bekannt vorausgesetzten Identität der Figur276). Auch sonst kann sich innerhalb eines Werkes die Fokalisierung ändern, und mitunter ist sogar gleichzeitig eine interne Fokalisierung auf eine Figur und eine externe auf eine andere zu konstatieren. Vereinzelte Abweichungen von der sonst durchgehaltenen Fokalisierung heißen Alterationen. Bei einer Paralipse wird weniger Information gegeben als von der Fokalisierung verlangt (z. B. wenn in einem Kriminalroman trotz interner Fokalisierung auf den Detektiv dem Leser einzelne Dinge, die der Detektiv schon weiß, bis zur Enthüllung am Schluss vorenthalten werden). Bei eine Paralepse gibt der Erzähler mehr Information als er eigentlich dürfte (z. B. einen Einblick in das Innenleben einer Figur in einer ansonsten extern fokalisierten Erzählung; oder bei interner Fokalisierung ein Einblick in das Innere einer anderen Figur; oder Fakten, die die Figur nicht kennt, wohl aber der Erzähler – der auch dieselbe Person zu einem späteren Zeitpunkt sein kann – oder der allwissende Autor). Das Werk des Valerius Maximus vermittelt insgesamt keinen starken mimetischen Eindruck. Für rein dem effet de réel dienende Details – d. h. solche, die nicht nur für den Fortgang der Handlung irrelevant sind, sondern denen sich auch weder ein charakterisierender noch ein orientierender Wert zuordnen lässt (oder zumindest keiner, der nicht schon im selben Kontext durch abstraktere Formulierungen
275
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Dashiell Hammett kann auch als Beispiel dafür dienen, dass sich die externe Fokalisierung ebenso wie die interne mit Ich-Erzählung kombinieren lässt. Seine fünf Romane sind allesamt – mit Ausnahme weniger Passagen – extern fokalisiert, und drei sind zugleich Ich-Erzählungen (Red Harvest, Se Dain Curse, Se Sin Man). Vgl. Genette: Nouveau discours, S. 45 und 83f. Zur Einführung von Hauptfiguren als bekannt oder unbekannt siehe auch Genette: Nouveau discours, S. 46–48, der die jese aufstellt, dass Romane des 17. bis späten 19. Jhds. dazu neigen, die Hauptfigur dem Leser explizit vorzustellen – entweder sofort oder nach einem änigmatischen Anfang –, während moderne Romane darauf eher verzichten.
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Die Anekdoten
vollständig ausgedrückt ist)277 – finden sich in den untersuchten Kapiteln nur die folgenden Beispiele: 1,7,4: cum […] pater familias […] seruum suum uerberibus mulcatum sub furca ad supplicium egisset […]; 1,7, ext. 1: cuius monitu primo uestigia nullam in partem secutus oculis, mox humani ingenii prona uoluntate uetita scrutandi pone respiciens animaduertit […]; 1,7, ext. 6: […] inter quietem opinione sua caelum conscendit atque ibi deorum omnium lustratis sedibus animaduertit […]; 1,7, ext. 6: […] Himeraeorum moenia inter effusam ad officium et spectaculum eius turbam intrantem ut aspexit […]; 2,1,10: Maiores natu in conuiuiis ad tibias egregia superiorum opera carmine comprehensa † pangebant […]; 3,8,3: […] cum hinc atque illinc ambissent ac Palicanum suffragiis populi consulem creatum renuntiaturus esset interrogaretur […]; 3,8,6: coacta es eo loci consistere, ubi principum ciuitatis perturbari frons solebat […]; 5,7, ext. 1: itaque diuersi affectus isdem uisceribus ac medullis inclusi, summa cupiditas et maxima uerecundia, ad ultimam tabem corpus eius redegerunt. iacebat ipse in lectulo moribundo similis, lamentabantur necessarii, pater maerore prostratus de obitu unici filii deque sua miserrima orbitate cogitabat, totius domus funebris magis quam regius erat uultus; 6,2,3: […] P. Africanum a Numantiae ruinis summo cum gloriae fulgore uenientem ab ipsa paene porta in rostra perductum quid de Ti. Gracchi morte, cuius sororem in matrimonio habebat, sentiret interrogauit […]; 7,7,1: florem iuuentae pro re publica absumpserat, maximos labores ac plurima pericula tolerauerat, aduerso corpore exceptas ostendebat cicatrices […]; 8,9,2: […] destrictos iam et uibrantes gladios cruore uacuos uaginis reddiderunt.
Der Erzähler hingegen ist geradezu durchgehend in der Wahrnehmung des Lesers präsent. Schon die Struktur des Werks – das ständige Neuansetzen der Erzählung durch den (vermittelten oder unvermittelten) Übergang von einer Anekdote zur anderen,278 die Einteilung in jeweils einem abgegrenzten [ema gewidmete Kapitel, die den meisten Kapiteln vorangestellten Einleitungen279 – verhindert eine Ausblendung der Erzählsituation durch den Leser. Zusätzlich greift der Erzähler auch noch sehr häufig mit extradiegetischen Bemerkungen in den Text ein – in 59 der 89 untersuchten Anekdoten (rund 66%) gibt es solche Einschaltungen (10 von 18 in 1,7; 6 von 10 in 2,1; 12 von 14 in 3,8; 4 von 7 in 4,2; 4 von 5 in 5,7; 10 von 15 in 6,2; 3 von 7 in 7,7; 5 von 6 in 8,9; 5 von 7 in 9,7).280 277
278 279
An dieser Stelle sei bemerkt, dass man solche Effekte – im Grunde inhaltliche Manipulationen, die in den Bereich der Diegese und damit der literarischen Schöpfung gehören – ihrer Wirkung nach ebenso gut in die Stilistik wie in die Erzähltechnik einordnen kann. Vgl. beispielsweise Roemer, S. 158–168, und jomas Tschögele: Petronische Prosa von John Barclay bis Harry Schnur. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Satyrica, in: GFA 22 (2019), S. 1–68, hier 6, 19f., 47f., zu Bewegungen, Gesten, Gebärden und Mienen als Stilmittel bei Petronius und von ihm inspirierten neulateinischen Autoren. Zu den Übergängen siehe unten S. 223–272. Siehe unten S. 329–332.
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Für die Untersuchung der in Hinblick auf Mimesis noch am ehesten in Frage kommenden Worterzählungen wurde versucht, alle in den neun Kapiteln (ohne die extradiegetischen Textteile) vorkommenden Mitteilungen mündlich oder schriftlich geäußerter oder auch lediglich gedachter Worte zu identifizieren (nicht aber von bloßen Gefühlen, Meinungen, Vorstellungen oder sinnlichen Wahrnehmungen, die nicht als verbalisierte Gedankengänge aufzufassen sind) und in narrativisierte, indirekte und direkte Reden einzuteilen. Die folgenden Listen, in denen die 321 relevanten Stellen jeweils durch mindestens ein sinntragendes Wort (meist ein Prädikat) repräsentiert werden, steht unter dem Vorbehalt, dass es nicht immer zweifelsfrei möglich ist, verbalisierte von nicht verbalisierten Gedanken281 oder auch verbale von nonverbalen Handlungen282 zu unterscheiden. Narrativisiert: 1,7,4: consilio amicorum; ordine […] exposito; 1,7,5: audito […] casu; consultum […] est factum; 1,7,6: denuntiata est; ex Graccho […] audierunt; sermonem de ea re; 1,7,7: inclamauit; 1,7,8: consessoribus narrauit; sermone suo; 1,7, ext. 1: cuius monitu; 1,7, ext. 2: adiecto uersu; 1,7, ext. 3: admonitionem; carmine […] consecrauit; 1,7, ext. 4: ad bella gerenda mitti; domi retentus est; imploratum esset; extorsit; mitteretur; mandata erat; 1,7, ext. 6: sermone uulgauit; 1,7, ext. 7: consultoque […] interprete; 1,7, ext. 10: damnauit; precibus; 2,1,4: reprehensione; 2,1,5 (a): in ius uocanti; 2,1,6: locuti quae uoluerant; 2,1,8: caristia appellauerunt; 2,1,9 (b): inuitati; sermone […] soliti sint uti; 2,1,10: carmine […] † pangebant; 3,8,1: promissis; decreti; rumore […] orto; 3,8,2 (c): iniuriis lacessitus; 3,8,2 (d): comminationibus; 3,8,3: blanditiis; temeritatem […] comitaretur; actionibus suis inflammaret; absciso responso; 3,8,5: de hac re interrogatus; sententiam dicere noluit; truculentius sibi instanti; 3,8,6: instabat; clamor; totum forum […] 280
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In zwei Anekdoten (3,8,6 und 7,7,4) findet sich sogar eine Extremform bewusst unmimetischen Erzählens: die Erzählung in der zweiten Person (Anrede der Hauptperson durch den Erzähler). Zu punktuellen erzählerischen Anreden und rhetorischen Fragen an verschiedenen Stellen (Rekapitulationen, Übergänge) siehe unten S. 164f. und 263– 265. Sinclair: Evolution, S. 72–89, konstatiert, Valerius Maximus stimme in seiner freien Verwendung auch ausgedehnterer Apostrophen mehr mit den römischen Epikern überein (88f.: „perhaps in reaction to a stimulus emanating directly from Ovid“) als mit Livius oder Cicero; vgl. auch jemann-Steinke, S. 96f. und 112f. (sowie 54f., 64–66, 91f. zu sonstigem poetischem Einfluss). Bei Vokabeln des Wollens u. dgl. wird argumentative Ausführung als Anzeichen von Verbalisierung gewertet. Grundsätzlich nicht berücksichtigt werden ‚alleinstehende‘, d. h. mit einer Handlung und nicht mit einem Verbum dicendi/sentiendi verbundene Finalsätze; bei großzügigerer Auslegung könnte man hierin aber ebenfalls eine Weise sehen, Gedanken der handelnden Person auszudrücken (der Finalsatz entspräche einem vor oder während der Handlung im Kopf des Handelnden verbalisiert präsenten Gedankengang). Problematisch sind in dieser Hinsicht Handlungen (etwa Rechtsakte), die notwendigerweise auch Worte einschließen, aber nicht primär als verbale Äußerungen wahrgenommen werden.
126
Die Anekdoten nitebatur; reppulisti; 3,8,7: cum […] salus ab eo daretur; 3,8, ext. 1: temptare ausus est; sermonem eius; adiectis quae […]; rettulit; quaestioni illi; negotium tractatur; sollicitari; iactabatur; ad se traxit; 3,8, ext. 2: suaserat; non […] damnauit; existimans; 3,8, ext. 3: obiecit; contionis fragore et […] minis; 3,8, ext. 4: accusare publice iussus; nomen deferre coactus est; preces expromere; sincera fide accusatum; sontem opprimeret; 3,8, ext. 6: attentissimo consilio; quorum […] sententiae; indicio; 4,2,1: censores renuntiati sunt; laudandum tradiderunt; 4,2,2: ignotum […] esse noluerunt; testimonio; reuocatum; 4,2,3: concordiam communicasse; despondit; 4,2,4 (a): defendit; 4,2,4 (b): publicis iudiciis tutatus est; 4,2,5: accusatus; reum patrocinio suo protexit; perorauerat; 4,2,6: damnauerat; a quo damnatus fuerat; 4,2,7: publica quaestione prostrato; auxilium […] implorasset; absenti adfuit; recitauit etiam […] epistolam; 5,7, ext. 1: lamentabantur; de obitu […] cogitabat; exposuit; filio cedere; 5,7, ext. 2: inuitatusque; regem appellauit; 6,2,1: incitauerant; consilium agitabat283; precibus; uerbis arma sumpserat; animos inflammauerat; regressum […] dicto obtulit; qua uoce; 6,2,2: loqui […] ausus est; segnitiam […] exprobrans; 6,2,3: esset locuturus; cui dicto; tribunicio furore; succlamasset; orto […] murmure; correptus erat; 6,2,4: reum ageret; gratia Pompeii eripi; multa […] defensori obiecit; sustinuit reos […] accusatione; libertate; professione; 6,2,5: laudationem eius; 6,2,6: quereretur; assensusque […] clara uoce; querella; lamentatione; 6,2,7: regias […] uires exprobrans; 6,2,8: accusabat; humilitatem […] exprobrans; Pompeio maledicere; 6,2,9: pronuntiauit; reuocatusque; perseueranter egit; eadem petulantia usus est; 6,2,11: uenditionem exprobrando; 6,2,12 (a): formulam componeret; 6,2,12 (b): multa […] loqueretur; 6,2, ext. 1: damnata; sententiam ferre; aequitatem […] extorsit; impetrare non potuerat; 6,2, ext. 2: uotis expetentibus; 6,2, ext. 3: mortem sibi minitanti; 7,7,1: de morte filii […] nuntium; aliis heredibus scriptis; in foro togatam […] militiam; contendit; 7,7,2: testamentum; heres scriptus esset; in iudicio […] negotii fuit; aduersus nitebantur; heredes fecerat; sacramento […] contendere; ad defendendas; 7,7,3: exheredatum; 7,7,4: testamento; aditus; improbauit; ordinem […] confundis; patrimonium addicere; 7,7,5: praetoris urbis constitutio; exheredatum; possessionem ei dedit; exheredatos; 7,7,6: decretum; impetrauerat; tabulas testamenti; appellatus; heredem fecerat; abrogauit; petiti iuris; 7,7,7: petenti; non dedit; comprobare uoluit; 8,9,1: subuenisset eloquentia; oratione […] reuocatum; uerbis ergo facundis; 8,9,2: missi; sermone eius obstupefacti; eloquentiae; imperium; uocem eius; 8,9,3: in accusatione; quem reum egit; questa est; 8,9, ext. 1: oratione capti; niteretur; contiones; 8,9, ext. 2: loqueretur; contioni; contionantem; orationi; oratio; 8,9, ext. 3: mala uitae repraesentabat; hac de re disserere; 9,7,1: se Ti. Gracchi filium simulabat; tribunatumque […] petebat; 9,7,2: censum recipere nolebat; omni petulantiae genere; 9,7,4: causam debitorum susceperat; concitati; 9,7, mil. Rom. 1: decreta esset; missum; scita plebis; 9,7, mil. Rom. 2: senatus iussu. Indirekt: 1,7,1: praecepit; moneret; iussit; 1,7,2: audiuerat; rogare non destitisse; 1,7,3: praedixit; conuenitque; 1,7,4: praecepit; diceret; ueritus; interrogatus; 1,7,5: interrogantem; diceret; 1,7,6: dicentis; scribit; 1,7,7: interrogatum; respondisse;
283
In diesem Fall folgt zwar ein indirekter Fragesatz, doch da sich dieser nicht auf eine einzelne konkrete Äußerung bezieht, wird er hier nicht als indirekte Rede gewertet.
Mode (Distanz und Perspektive)
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sciscitatusque est; affirmantibus; iussit; uetuit; 1,7,8: dixit; 1,7, ext. 1: interrogauit; 1,7, ext. 3: admonitus; laetatus est; 1,7, ext. 4: iussum; uetiti sunt; 1,7, ext. 5: iubendo; 1,7, ext. 6: interrogatoque; audiit; uociferata est; 1,7, ext. 7: cognouit284; 1,7, ext. 8: nuntiantem; 1,7, ext. 10: orantem; obsecrauit; 2,1,3: existimabant; credentes; 2,1,4: arbitrabantur; 2,1,9 (b): quaerebant; 3,8,1: iusso; 3,8,2 (d): melius ratus; 3,8,3: interrogaretur; respondit non existimare; 3,8,7: affirmasset; 3,8,8: interrogatusque; 3,8, ext. 1: iussi sunt; monere […] coepit; proclamat; 3,8, ext. 2: diceret; 3,8, ext. 4: ad se exorandum; 3,8, ext. 5: monentibus; respondit; 3,8, ext. 6: litterae […] admonentes; 4,2,1: existimans; 5,7,2: abdicare filium […] iuberetur; pollicebatur; 5,7,3: falso clamore accepit; 5,7, ext. 1: referens; imputans; 5,7, ext. 2: hortarique coepit; iussus erat; iussit; considere coegit; 6,2,1: interrogatus; quaesiuitque; 6,2,2: dixit; iuberet; 6,2,3: interrogauit; non dubitabat; respondit; 6,2,4: interrogatus; 6,2,5: legem recitando, qua […]; 6,2,8: dixisset; 6,2,10: iubente; dicente; 6,2,11: iussit; 6,2,12 (b): monerent; respondit; 6,2, ext. 1: uociferata est; 6,2, ext. 2: orabat; interrogauit; 6,2, ext. 3: iussisset; 7,7,1: postulabant; 7,7,3: iussit; 7,7,4: iussit; uetuit; 7,7,5: querellam detulisset; passus non est; 7,7,6: iuberet; diceret; decretum, quo prouisum est; 7,7,7: existimauit; 8,9,3: dicendo; 8,9, ext. 2: fatebatur; praedicabat; exclamaret; 8,9, ext. 3: prohibitus est; 9,7,2: affirmantem. Direkt: 1,7, ext. 1: inquit; 3,8,3: dicerent; inquit; 3,8,5: inquit; 3,8,7: respondere non dubitavit; 3,8,8: inquit; 5,7,2: respondere sustinuit; 6,2,1: respondit; inquit; 6,2,2: inquit; 6,2,3: inquit; ait; 6,2,4: inquit; 6,2,6: inquit; 6,2,7: inquit; 6,2,8: inquit; 6,2,9: haec sententia; in ea quoque parte; 6,2,10: respondit; 6,2,11: interpellare sustinuit; 6,2, ext. 1: inquit; 6,2, ext. 2: inquit; 6,2, ext. 3: inquit; ait.
Die Listen enthalten 199 narrativisierte Reden (rund 62%), 98 indirekte (rund 31%) und nur 24 (rund 7%) direkte. Es dominieren also sehr deutlich die weniger mimetischen Formen der Worterzählung. 23 der 24 direkten Reden (rund 96%)285 sowie 73 der 98 indirekten (rund 74%) und 104 der 199 narrativisierten Reden (rund 52%) stehen innerhalb von scènes – direkte und indirekte Reden treten also ganz überwiegend in langsameren und schon dadurch mimetischeren Erzählpassagen auf, viel seltener in sommaires (und dann nur in solchen, die Teil des Corpus der Anekdote sind, nie hingegen in Vorwegnahmen oder Rekapitulationen). Dort dominiert die narrativisierte Rede. In den untersuchten Kapiteln nicht zu finden ist der discours immédiat oder ‚innere Monolog‘. Auch eine Mimetisierung der direkten Reden durch Wiedergabe (oder Erfindung) von Idiolekten oder Individualstilen der Sprecher scheint zumindest auf den ersten Blick nicht vorzuliegen.286 284 285
286
Es handelt sich um eine Rede und nicht um bloßes abstraktes Erkennen. Die Ausnahme ist die zweite direkte Rede in 6,2,9: eadem petulantia usus est in ea quoque parte, ‘uirtutem istam ueniet tempus cum grauiter gemes’. Da dasselbe geschieht wie bei der ersten, genügt der summarische Verweis; die direkte Rede besteht in beiden Fällen in einer Wiedergabe der vom Schauspieler zu sprechenden Textstelle. Eine definitive Aussage darüber wäre natürlich nur im Rahmen einer umfassenden Analyse des Stils des Valerius Maximus möglich.
Die Anekdoten
128
Zwischen den einzelnen untersuchten Kapiteln bestehen zum Teil recht deutliche Unterschiede in der Prävalenz der drei Typen von Worterzählung. Die Durchschnittshäufigkeiten pro Einzelanekdote betragen gerundet: narrativisiert 1,7 2,1 3,8 4,2 5,7 6,2 7,7 8,9 9,7
indirekt 1,3 0,5 2,1 2,3 1,2 2,7 4,4 3,5 1,4
direkt 1,9 0,3 0,8 0,1 1,8 1,2 1,4 0,8 0,1
insgesamt 0,1 — 0,3 — 0,2 1,1 — — —
3,3 0,8 3,2 2,4 3,2 4,9 5,9 4,3 1,6
Das Kapitel 1,7 (De somniis) ist stark von indirekten Reden geprägt. Im Traum erfolgende Ankündigungen und Warnungen haben in aller Regel diese Form, während die narrativisierte Rede tendenziell eher in den Passagen zu finden ist, die die Reaktionen auf die Träume oder auf deren Verwirklichung darstellen. Eine weitere Verwendung für die narrativisierte Rede besteht in der Vorwegnahme des in der eigentlichen Traumszene dann in indirekter Rede Mitgeteilten (so in 1,7,6 und 1,7, ext. 3) oder einer Art narrativem Echo darauf (so in 1,7, ext. 10 mit familiaris precibus compulsus). Die direkte Rede findet sich in diesem Kapitel nur ein einziges Mal (in 1,7, ext. 1), als prägnanter Ausspruch, der den End- und Höhepunkt des Traums und der ganzen Anekdote bildet (Hannibal sieht ein zerstörtes Italien, fragt seinen Führer in indirekter Rede, was dies bedeute, und erhält zur Antwort: Italiae uides […] uastitatem: proinde sile et cetera tacitis permitte fatis). Das Kapitel 2,1 (De institutis antiquis) ist generell arm an Reden – wohl infolge der inhaltlichen Ausrichtung auf Allgemeines und Unpersönliches. Diejenigen Worterzählungen, die zum Ablauf der geschilderten Bräuche gehören, sind mit einer einzigen Ausnahme (in 2,1,9: diligenter quaerebant quinam ei conuiuio essent interfuturi) stets von narrativisierter Form. Indirekte Reden dienen zur Wiedergabe von in der behandelten Zeit herrschenden Meinungen, wobei zweifelhaft ist, ob man in diesen Fällen überhaupt von verbalisierten Gedankengängen ausgehen soll. Direkte Reden kommen nicht vor. Das Kapitel 3,8 (De constantia) weist – neben narrativisierten und indirekten Reden – immerhin vier Anekdoten mit direkten Reden auf (3,8,3; 3,8,5; 3,8,7; 3,8,8). Dabei handelt es sich stets – wie schon in 1,7, ext. 1 – um Schluss- und Höhepunkte, die hier – dem Gegenstand des Kapitels entsprechend – dazu dienen, die constantia der Hauptperson in prägnanter Form zu beweisen. Sie sind meist – wiederum wie in 1,7, ext. 1 – Reaktionen auf narrativisiert oder indirekt präsentierte Fragen, Aufforderungen oder Drohungen; nur in 3,8,3 wird bereits die nach
Mode (Distanz und Perspektive)
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einem ersten Frage-Antwort-Dialog in indirekter Rede dem finalen non renuntiabo unmittelbar vorausgehende Frage in direkter Rede gestellt (age, si uentum fuerit?). Im Kapitel 4,2 (Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine) dominieren die narrativisierten Reden; daneben kommt nur eine einzige indirekte Rede vor (als mutmaßlich verbalisierter Gedanke in 4,2,1). Im Kapitel 5,7 (De parentum amore et indulgentia in liberos) findet sich neben narrativisierten und indirekten Reden auch eine direkte (in 5,7,2), die wiederum den Höhepunkt der Anekdote bildet – die Weigerung des Caesetius, wie von Caesar gefordert seinen Sohn zu verstoßen – und auf einen Befehl in indirekter Rede (sowie eine ebenfalls in indirekter Rede anachronisch nachgereichte Versprechung) reagiert. Das Kapitel 6,2 (Libere dicta aut facta) ist als einziges der untersuchten Kapitel ausgesprochen reich an direkten Reden, die in fast jeder Anekdote vorkommen (die Ausnahmen sind 6,2,5 und die ersten zwei Einzelanekdoten in 6,2,12). Auch hier sind die direkten Reden – meist eine, seltener zwei pro Einzelanekdote – die Höhepunkte. Sie reagieren auf indirekte oder narrativisierte Reden. Mehrmals finden sich zudem narrativisierte Vorwegnahmen, Rekapitulationen oder ‚Echos‘ der direkten Reden (wie schon der indirekten Traumreden im Kapitel 1,7). Die ‚Echos‘ unterscheiden sich von den weiter oben behandelten Rekapitulationen287 dadurch, dass sie nicht in einem separaten Rekapitulationsabschnitt, sondern in derselben scène oder gar demselben Satz wie die direkte Rede stehen (z. B. in 6,2,7: ‘non refert’ inquit ‘qua in parte sit corporis diadema’, exigui panni cauillatione regias ei uires exprobrans). Einmal (in 6,2,1) findet sich auch ein gewissermaßen vorauseilendes Echo, also eine eng anschließende Vorwegnahme (allerdings vor einer indirekten, nicht direkten Rede): regressum animoso eius dicto obtulit quaesiuitque etc. Im Kapitel 7,7 (De testamentis quae rescissa sunt) gibt es keine direkten Reden. Es überwiegen wie im Kapitel 4,2 die narrativisierten Reden – für die Enterbungen wie für die Anfechtungen –, allerdings kommen daneben immer wieder auch indirekte Reden vor, die sich meist auf den – als Befehl und/oder Verbot formulierten – Akt der Testamentsaufhebung beziehen (z. B. in bona paterna ire […] iussit). Vergleichbar mit dem ‚vorauseilenden Echo‘ im vorigen Kapitel ist eine Stelle in 7,7,6, wo auf eine in knapper Form narrativisiert mitgeteilte Entscheidung als indirekte Rede die Begründung folgt: praetoriam iurisdictionem abrogauit, quod diceret etc. Auch im Kapitel 8,9 (Quanta uis sit eloquentiae) überwiegen die narrativisierten Reden deutlich vor den indirekten, während direkte überhaupt nicht vorkommen. Auffällig ist, dass es sich bei den indirekten Reden nie um die Beispielfälle für die den Gegenstand des Kapitels ausmachende wirkmächtige Eloquenz handelt – von diesen ist ausschließlich narrativisiert die Rede –, sondern stets um Äußerungen darüber oder Reaktionen darauf. Valerius Maximus verzichtet also völlig 287
Siehe oben S. 97–99 und 106 (sowie die Tabellen unten S. 367–424).
Die Anekdoten
130
darauf, seinem Leser auch nur einen Abglanz der mächtigen Rhetorik vermitteln zu wollen – wohl in dem Bewusstsein, ihr im Rahmen seiner Anekdoten ohnehin nicht gerecht werden zu können. Im Kapitel 9,7 (De ui et seditione), in dem physische Gewaltakte im Vordergrund stehen, sind Reden insgesamt – ähnlich wie im Kapitel 2,1 – wenig zahlreich. Abgesehen von einer einzigen indirekten Rede (in 9,7,2) kommen sie ausschließlich in narrativisierter Form vor. Die Erzählperspektiven werden im Folgenden jeweils für eine Einzelanekdote unter Weglassung alles nicht der Haupthandlung angehörenden Materials (d. h. der extradiegetischen Textteile, Vorwegnahmen und Rekapitulationen, Rückverweise auf vorhergehende Anekdoten und separaten Rezeptionsabschnitte288) diagnostiziert. Dies kann nur anhand objektiver Tatbestände geschehen, aus deren Erfüllung nicht vorschnell auf eine bewusste Entscheidung des Valerius Maximus für oder gegen die so entstehende oder nicht entstehende Fokalisierung geschlossen werden sollte. Als Anekdoten mit Nullfokalisierung gelten solche, die Informationen enthalten, die zum relevanten Zeitpunkt nicht von der Wahrnehmung oder dem Weltwissen der Hauptperson(en) erfasst sind, oder deren Darstellung der Fakten von Standpunkten oder Interpretationen geprägt ist, die nicht ihrer Sicht entsprechen. Anekdoten, die nicht in diese Kategorie fallen, zählen als intern fokalisiert, wenn Einblicke in das Innenleben der Hauptperson(en) gewährt werden (auch z. B. in Form von Kausalsätzen, die die Motive ihres Handelns mitteilen), und als extern fokalisiert, wenn nur von außen Wahrnehmbares berichtet wird. Die sich so ergebenden Listen enthalten 46 Einzelanekdoten mit Nullfokalisierung (rund 47%), 41 mit interner (rund 42%) und 10 mit externer Fokalisierung (rund 10%). Nullfokalisierung: 1,7,1 1,7,5 1,7,6 1,7, ext. 2 1,7, ext. 3 1,7, ext. 4 1,7, ext. 6 1,7, ext. 7 1,7, ext. 9 2,1,1 2,1,2 2,1,3 288
2,1,4 2,1,5 (c) 2,1,10 3,8,3 3,8,5 3,8,6 3,8, ext. 1 3,8, ext. 6 5,7,1 5,7,3 5,7, ext. 1 5,7, ext. 2
Siehe die Tabellen unten S. 367–424.
6,2,1 6,2,3 6,2,7 6,2,8 6,2,10 6,2,11 6,2, ext. 2 7,7,1 7,7,2 7,7,3 7,7,4 7,7,6
8,9,1 8,9,2 8,9, ext. 1 8,9, ext. 2 8,9, ext. 3 9,7,1 9,7,3 9,7, mil. Rom. 1 9,7, mil. Rom. 2 9,7, mil. Rom. 3
Mode (Distanz und Perspektive)
131
Interne Fokalisierung: 1,7,2 (Rahmenhandlung289) 1,7,3 (auf beide Hauptpersonen) 1,7,4 1,7,7 1,7,8 1,7, ext. 1 1,7, ext. 5 1,7, ext. 8 1,7, ext. 10 2,1,5 (a)
2,1,5 (b) 2,1,6 2,1,7 2,1,8 2,1,9 (a) 2,1,9 (b) 3,8,1 3,8,2 (c) 3,8,2 (d) 3,8,4 3,8,7 3,8,8
3,8, ext. 2 3,8, ext. 3 3,8, ext. 4 3,8, ext. 5 4,2,1 4,2,2 4,2,3 4,2,4 (a) 4,2,4 (b) 4,2,5 5,7,2 6,2,2
6,2,4 6,2,12 (a) 6,2, ext. 3 (auf den Gegner290) 7,7,5 (auf den Richter) 7,7,7 (auf den Richter) 9,7,2 9,7,4
6,2,9 6,2,12 (b) 6,2,ext. 1
8,9,3
Externe Fokalisierung: 3,8,2 (a) 3,8,2 (b) 4,2,6
4,2,7 6,2,5 6,2,6
In vier der neun Kapitel überwiegt die Nullfokalisierung deutlich: 5,7 (De parentum amore et indulgentia in liberos), 7,7 (De testamentis quae rescissa sunt), 8,9 (Quanta uis sit eloquentiae) und 9,7 (De ui et seditione). Die interne Fokalisierung überwiegt knapp in 2,1 (De institutis antiquis), stärker in 3,8 (De constantia) und noch stärker in 4,2 (Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine), während sie in 1,7 (De somniis) wie die Nullfokalisierung exakt die Hälfte ausmacht. In 6,2 (Libere dicta aut facta) sind interne und externe Fokalisierung zusammen geringfügig häufiger als die Nullfokalisierung, wobei die externe ebenso geringfügig häufiger ist als die interne. Fokalisierte Anekdoten überwiegen also in drei der vier Kapitel, die explizit inneren Einstellungen oder Eigenschaften konkreter Personen gewidmet sind (3,8; 4,2; 6,2; die Ausnahme ist 5,7), in De somniis herrscht Gleichgewicht, und in den drei Kapiteln mit weniger persönlichen [emenstellungen (7,7; 8,9; 9,7) dominiert die Nullfokalisierung. Das Innenleben der Hauptpersonen wird in den meisten fokalisierten Anekdoten miteinbezogen (interne Fokalisierung). Die externe Fokalisierung ist in 1,7 durch das obligatorische Vorkommen von Trauminhalten schon von vorneherein kaum möglich,291 aber auch sonst eher selten – den höchsten Anteil (und die Hälfte 289 290
291
Die analeptisch erzählte Traumgeschichte ist nicht fokalisiert. Das Kriterium trifft in diesem Fall nicht auf den Protagonisten, der libertas beweist, zu, sondern auf den ihn bedrohenden König. Denkbar wäre natürlich, von einem Traum ausschließlich anachronisch in Gestalt einer Rede der Hauptperson zu berichten – dann wäre er kein Einblick in ein verborgenes
132
Die Anekdoten
aller insgesamt vorkommenden Fälle) findet man in 6,2, vielleicht weil in einem Kapitel, das großteils verbalen Äußerungen gewidmet ist,292 leicht alle relevanten Gedanken und Gefühle in diesen Äußerungen enthalten sein können. Das Kapitel 2,1 ist ein Sonderfall, da es meist nicht um konkrete Personen geht (mit Ausnahme von 2,1,4, wo – nicht fokalisiert – die erste in Rom vorkommende Ehescheidung behandelt wird); die in mehr als der Hälfte der Einzelanekdoten dennoch zu konstatierenden Fokalisierungen beziehen sich vielmehr auf die Menschen der betreffenden Zeit generell oder diejenigen unter ihnen, die in den dargestellten Brauch involviert waren. Von vorneherein ausgeschlossen ist – bei der hier praktizierten Betrachtung der Einzelanekdoten in ihrer Gesamtheit – eine Fokalisierung in denjenigen Anekdoten, die habituelle Abläufe mehrerer Zeiten gegenüberstellen oder diachronische Entwicklungen enthalten, deren Dauer ein Menschenalter übersteigt (2,1,1, 2,1,2 und 2,1,10 im Gegensatz zu den kürzeren diachronischen Entwicklungen in 2,1,6 und 2,1,8). 5
Voix (Erzähler und Erzählsituationen)
Der Erzähler, mit dessen Stimme ein erzählender Text spricht, muss weder mit dem Autor293 noch – wie bereits im vorigen Kapitel festgestellt – mit der Person, aus deren Perspektive er erzählt, identisch sein. Folglich kann auch die Situation, in der erzählt wird, von der, in der der Text geschrieben wurde, völlig verschieden sein.294
292
293
294
Innenleben. Von dieser Möglichkeit macht Valerius Maximus in diesem Kapitel aber nicht Gebrauch. Von den 16 Einzelanekdoten diesen Kapitels zielen 15 auf (meist in direkter Rede berichtete) dicta ab. Nur die erste der zwei Einzelanekdoten in 6,2,12 enthält ausschließlich eine Weigerung (nullius […] aut gratia aut auctoritate compelli potuit ut […] formulam componeret). Reine facta-Anekdoten gibt es also nicht. Vgl. dazu weiterführend Genette: Nouveau discours, S. 94–104, wo die Frage eines ‚impliziten‘ oder ‚induzierten‘ Autors als möglicher dritter Rolle zwischen oder neben Erzähler und realem Autor erörtert wird; Genette bejaht die Sinnhaftigkeit dieses Konzepts nur in Fällen, wo auch bei Lesern, die Erzähler und Autor unterscheiden, falsche Vorstellungen über diesen geschaffen werden: Fälschungen, Ghostwriting, Texte von Autorenkollektiven, wenn der Leser mangels aufklärenden Paratexts an einen Einzelautor denkt. Zusätzlich sollte man wohl auch die Fälle einschließen, wo es ausschließlich der Paratext ist, der die Fiktion schafft (etwa eines anderen Geschlechts, einer anderen Ethnizität oder des Adelsstandes durch ein entsprechendes Pseudonym; einer anderen Originalsprache oder Entstehungszeit des Werks; oder durch eine komplett fiktive Biographie im Klappentext); bloß punktuelle biographische Fiktionen (dazu auch unten Fn. 303) oder die Verwendung eines Pseudonyms ohne verfremdende Konnotationen begründen hingegen wohl noch keine eigene persona. Meine Zusammenfassung folgt Genette: Discours, S. 225–251.
Voix (Erzähler und Erzählsituationen)
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Die Frage nach dem Ort des Erzählens wird in den meisten erzählenden Texten offengelassen und vom Leser auch gar nicht gestellt. Der Zeitpunkt des Erzählens ist dagegen immer sehr wahrnehmbar – nicht unbedingt in absoluter Zeit, aber im Verhältnis zur Zeit der Geschichte. Vier Verhältnisse sind möglich: das Erzählen im Nachhinein (narration ultérieure), das in Vergangenheitstempora erfolgt und der mit Abstand häufigste Fall ist; das Erzählen im Voraus (narration antérieure oder récit prédictif) im Futur oder Präsens, das z. B. für Prophezeiungen verwendet und kaum auf ganze längere Werke angewendet wird; das gleichzeitige Erzählen (narration simultanée) im Präsens, das entweder das Erzählen hinter der Handlung zurücktreten lässt (wie z. B. in den Romanen Alain Robbe-Grillets) oder umgekehrt (wie beim inneren Monolog); und das zwischengeschaltete Erzählen (narration intercalée), das zwischen einzelnen Abschnitten der Handlung stattfindet (z. B. bei Erzählungen in Brief- oder Tagebuchform). Der genaue Zeitpunkt des Erzählens im Nachhinein bleibt oft unbestimmt, und der Leser interessiert sich für ihn tendenziell auch nur dann, wenn der Erzähler selbst eine handelnde oder beobachtende Figur der Erzählung ist (also bei IchErzählungen). Von der Dauer des Erzählens wird fast immer völlig abstrahiert, zwischen dem Erzählen der ersten und der letzten Zeile selbst eines mehrere hundert Seiten umfassenden Romans wird kein Zeitablauf angenommen – nur in einem so spielerischen Roman wie Tristram Shandy wird von dieser Konvention abgewichen. Eine Erzählsituation kann ihrerseits innerhalb einer Erzählung liegen. Wenn dies nicht der Fall ist, ist sie extradiegetisch und steht damit auf der untersten diegetischen Ebene. Eine Ebene darüber stehen die Ereignisse in der aus dieser primären Erzählsituation hervorgehenden Erzählung (Primärerzählung295). Sie heißen diegetisch oder intradiegetisch. Zu ihnen kann, wie gesagt, auch ein sekundäres Erzählen gehören. Die in der Sekundärerzählung vorkommenden Ereignisse bilden schließlich die metadiegetische Ebene. Metadiegetische Erzählung (oder Erzählung zweiten Grades) tritt in mehreren Typen mit verschiedenen Funktionen auf.296 Sie kann explikativ oder prädiktiv sein, indem der Sekundärerzähler einer anderen Figur – und dadurch dem Leser – die Vorgeschichte erklärt oder die Zukunft vorhersagt. Sie kann einen rein thematischen Zusammenhang mit der Primärerzählung aufweisen, z. B. als Kontrast oder Analogie fungieren (mit dem Extremfall der mise en abyme). Sie kann auf eine Wirkung innerhalb der Primärerzählung abzielen (persuasive Funktion), z. B. als Exemplum, das andere Figuren von etwas überzeugt wie die Magen-und-GliederParabel des Agrippa bei Liv. 2,32,9–11. Wenn kein Zusammenhang zwischen 295
296
Der Begriff (Genette: récit premier) bedeutet hier nicht dasselbe wie im Kapitel Ordre, wo es sich um den nicht-anachronischen Teil der Erzähltexts handelte (siehe oben bei Fn. 172). Ich übernehme die von John Barth: Tales Within Tales Within Tales, in: Antaeus 43 (Herbst 1981), S. 45–63, beeinflusste erweiterte Klassifikation der Funktionen bei Genette: Nouveau discours, S. 61–63.
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Die Anekdoten
Primär- und Sekundärerzählung besteht, hat innerhalb der Primärerzählung nur der Umstand, dass erzählt (und nicht stattdessen etwas anderes getan) wird, Bedeutung (distraktive oder – bei stärkerem Einfluss auf die Primärhandlung – obstruktive Funktion, diese z. B. in Tausendundeiner Nacht), nicht aber der Inhalt der Sekundärerzählung. Nicht in allen Texten werden die diegetischen Ebenen strikt auseinandergehalten. Wenn Elemente einer Ebene in eine andere eindringen (z. B. der extradiegetische Erzähler – nicht bloß dieselbe Person als intradiegetische Figur – in die intradiegetische Welt oder umgekehrt Figuren der Erzählung in die extradiegetische), spricht man von einer narrativen Metalepse.297 Um ‚pseudodiegetisches‘ Erzählen handelt es sich, wenn der Primärerzähler eine Sekundärerzählung einleitet, sich diese dann aber zu eigen macht und sie, die sekundäre Erzählsituation ‚vergessend‘, als Teil der Primärerzählung weiterführt. Was die Person des Erzählers angeht, sind zwei Möglichkeiten zu unterscheiden.298 Bei heterodiegetischer Erzählung kommt die Person, die Erzähler ist, nicht selbst in der Erzählung vor, bei homodiegetischer Erzählung ist sie zugleich eine Hauptfigur (dann heißt die homodiegetische Erzählung autodiegetisch) oder eine beobachtende Nebenfigur (wie z. B. Ishmael in Moby-Dick).299 Zu beachten ist, dass auch bei homodiegetischer Erzählung trotz der Personalunion von Erzähler und Figur wichtige Unterschiede zwischen diesen bestehen können, da die Person in der zwischen der erzählten Situation und der Erzählsituation vergangenen Zeit zusätzliches Wissen erlangt oder sich in anderer Weise verändert haben kann. In Kombination mit der Dichotomie ‚extradiegetisch – intradiegetisch‘ ergeben sich insgesamt vier Möglichkeiten für den Status der Erzählers: extra-heterodiegetisch (z. B. Homer), intra-heterodiegetisch (z. B. Scheherazade), extra-homodiegetisch (z. B. Marcel in der Recherche du temps perdu) und intra-homodiegetisch (z. B. Odysseus). Die Funktionen, die der Erzähler erfüllt, sind potentiell fünf, von denen aber nicht alle in jedem Text gleich stark ausgeprägt oder gleich explizit sind. Die erste ist die eigentliche erzählende Funktion, also die Verwandlung von Geschichte in Text. Die übrigen sind die innere Organisation des Texts (fonction de régie), die kommunikative Funktion (Kommunikation mit dem Adressaten der Erzählung), die testimoniale Funktion (hinsichtlich seiner eigenen Beziehung zur Geschichte – von seinen Quellen bis zu seinen emotionalen Reaktionen auf das Erzählte) und die ideologische Funktion (Kommentierung des Erzählten), die als einzige auch einer anderen Figur übertragen werden kann. Wie der Erzähler vom realen Autor ist auch der Adressat der Erzählung (narrataire) vom realen Leser zu unterscheiden. Sekundärerzählungen haben intradiege297 298 299
Vgl. dazu auch Genette: Métalepse. De la figure à la fiction, Paris 2004. Meine Zusammenfassung folgt Genette: Discours, S. 251–267. Zur Möglichkeit von Grenzfällen siehe Genette: Nouveau discours, S. 70f.
Voix (Erzähler und Erzählsituationen)
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tische Adressaten und Primärerzählungen als extradiegetischen Adressaten einen ‚virtuellen‘ Leser (oder Zuhörer). Neben dem Adressaten des Erzählers und dem realen Leser gibt es freilich auch noch den Adressaten des Autors, der ebenfalls ein virtueller Leser ist, da der reale Leser erst nach der Abfassung zu einem solchen wird.300 Was die Facta et dicta memorabilia betrifft, scheint es unproblematisch, davon auszugehen, dass der (Primär-)Erzähler – wie wohl in den meisten nicht-fiktionalen Erzählwerken – mit dem realen Autor als Person identisch ist. Genau genommen ist sogar festzuhalten, dass uns Valerius Maximus ausschließlich über seine Eigenschaft als Primärerzähler des Werks bekannt ist; das Wenige, was wir über die Person des Autors wissen oder zu wissen meinen, ist aus Äußerungen des Erzählers abgeleitet301 (mit Ausnahme des Namens, der uns vielmehr als Teil des Paratexts der Handschriften überliefert ist302). Da es auch keine positiven Anhaltspunkte dafür gibt, an der Wahrheit dieser Äußerungen zu zweifeln, hätte ein Versuch, zwischen zwei Identitäten zu differenzieren, von vorneherein keine Grundlage.303 300 301 302
303
Vgl. dazu Genette: Nouveau discours, S. 103f. Siehe oben S. 11f. Zum Autornamen als Teil des Paratexts (Peritexts) vgl. Genette: Seuils [urspr. 1987], Paris 2002, S. 41–58. Und selbst wenn einzelne autobiographische Angaben eines Autors/Erzählers nicht wahr sind (de Jong: Narratology and Classics, S. 171, nennt als Beispiel die Gespräche Herodots auf seinen Reisen, die vielleicht nicht alle stattgefunden haben), sollte man ihn deswegen nicht automatisch in zwei Identitäten spalten, sondern sich die Frage stellen, ob denn eine solche Differenzierung intendiert ist und/oder vom Leser vollzogen wird. In der Regel dürfte das in nichtfiktionalen Gattungen (zur Dichtung, wo die Frage etwas heikler ist, vgl. Diskin Clay: Se Seory of the Literary Persona in Antiquity, in: MD 40, 1998, S. 9–40, Roland G. Mayer: Persona Problems. Se Literary Persona in Antiquity Revisited, in: MD 50, 2003, S. 55–80, und Martin Korenjak: Tityri sub persona. Der antike Biographismus und die bukolische Tradition, in: A&A 49, 2003, S. 58– 79) nicht der Fall sein: Aussagen eines historiographischen Erzählers über sich selbst sind, auch wenn sie nicht wahr sind, als Aussagen über den realen Autor gemeint und werden auch so verstanden (d. h. entweder geglaubt oder als Lüge vorgeworfen; vgl. auch John Marincola: Authority and Tradition in Ancient Historiography, Cambridge 1997, S. 131f.: „It was expected that the character most on display in any history was that of the historian himself. Where moderns might speak of a narrator or implied narrator, the ancients spoke of the man himself“). Soweit man davon sprechen kann, dass der hinter dem Werk stehende reale Mensch bewusst eine Rolle vorspielt, handelt es sich (im Gegensatz zum Roman) wohl weniger um eine Erzählerrolle als um eine, die auch den Akt des realen Schreibens, ja die gesamte der Öffentlichkeit zugewandte Seite seines Lebens inkludiert – die Rolle als Historiker oder Publizist. Wir sehen also, dass die Frage der Identität von Autor und Erzähler von der Wahrheitsfrage recht unabhängig ist.
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Die Anekdoten
Dasselbe gilt folgerichtig auch für die intendierten Adressaten. Sie werden vom Autor und Erzähler allerdings kaum definiert – er wendet sich sehr unspezifisch an diejenigen, die über sein [ema documenta sumere wollen (1, praef.) –, können also auch von uns nur durch Mutmaßungen eingegrenzt werden. Zu denken ist wohl in erster Linie an seine Zeitgenossen – soweit sie halbwegs gebildet und des Lateinischen mächtig sind304 – und in zweiter Linie an die Nachwelt (vielleicht dum Capitolium scandet cum tacita virgine pontifex305?). Alle weiteren denkbaren Einschränkungen des anzunehmenden Adressatenkreises hängen von der angenommenen Gesamtintention (und Bedeutung von documenta sumere) ab – von der Frage, ob das Werk ausschließlich als Hilfsmittel für einen konkreten praktischen Zweck konzipiert war.306 Der in der Praefatio des ersten Buches angesprochene Kaiser (Tiberius307) gehört natürlich zum weiten Adressatenkreis der lateinischsprachigen Zeitgenossen. Aber ein vom Autor/Erzähler konkret ins Visier genommener virtueller Leser ist er nicht. Die ‚Widmung‘ hat ausschließlich den Charakter einer Anrufung (te igitur huic coepto […] inuoco),308 die mit einer Götteranrufung vergleichbar ist – und verglichen wird (nam si prisci oratores ab Ioue optimo maximo bene orsi sunt, si 304
305 306 307 308
Vgl. auch Pausch: Livius und der Leser, S. 38–45 (mit Verweisen), zum Publikum der römischen Historiker und dessen Erweiterung im Laufe der späten Republik. Rebecca Langlands: Gender and Exemplarity in Valerius Maximus, Diss. Cambridge 2000, S. 33f., schließt aus der bei Valerius Maximus immer wieder vorkommenden Verwendung von nos, noster und proprius für ‚römisch‘ und der expliziten Abscheu vor für Rom unrühmlichen Dingen (etwa in 9,2, ext. 1) auf eine spezifische Ausrichtung auf römische Bürger („invokes a bond of ‘Romanness’ which is shared between writer and reader“; vgl. ferner S. 42f. über den intendierten Leser als „Roman, male and elite: those, in other words, traditionally afforded an education in rhetoric“, freilich mit der Relativierung, auch „alternative readers“ würden vom Text impliziert, etwa Frauen durch weibliche Protagonisten; zu Valerius’ Umgang mit römischer Identität vgl. generell Lawrence: Inside Out). Welch hebt anhand von zwei Beispielen hervor, dass gründlichere literarische Bildung nicht gefordert ist, da Valerius Maximus seine Anekdoten nicht als intertextuell, sondern als allgemeine Tradition präsentiert. Skidmore: Practical Ethics, S. 103–107, argumentiert für ein im engeren Sinn elitäres Zielpublikum, weil Zenturionen, immerhin die höchsten nicht-ritterlichen ‚Offiziere‘, als Personen niedrigen Standes behandelt werden (3,8,7) und – einen praktisch-instruktiven Zweck voraussetzend – weil die jemenauswahl (Politik und Militär; Erbschaften in 7,7) nur für die Elite relevant sei. Zu zwei weiteren sozial positionierenden Stellen (aus 5,2,10 und 6,2,8) siehe oben Fn. 7; mir scheint es allerdings gewagt, aus der Selbstinszenierung des Autors/Erzählers auf das intendierte Publikum schließen zu wollen – ist ihm nicht auch zuzutrauen, auf einen Teil desselben offen herabzusehen? Hor. carm. 3,30,8–9; vgl. auch Ov. met. 15,877–879. Siehe oben S. 24f. Siehe oben S. 13–15. Wie Tore Janson: Latin Prose Prefaces. Studies in Literary Conventions, Stockholm 1964, S. 104f., feststellt, ist sie ‚invocation‘, nicht ‚dedication‘.
Voix (Erzähler und Erzählsituationen)
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excellentissimi uates a numine aliquo principia traxerunt […]).309 Mit keinem Wort wird in der Praefatio gefordert, dass der Kaiser das Werk lesen soll, oder vorausgesetzt, dass er es lesen wird.310 Valerius Maximus ist ein extra-heterodiegetischer Erzähler – nicht nur in den neun Beispielkapiteln, sondern im gesamten Werk mit Ausnahme der einen Anekdote, die von einer Beobachtung während einer Reise berichtet, an der er selbst teilnahm (2,6,8; dort ist er extra-homodiegetischer Erzähler in einer Beobachterrolle).311 Von den in manchen Anekdoten zu findenden Feststellungen über Nachwirkungen des Erzählten oder Gegensätze dazu in der Gegenwart312 kann in diesem Zusammenhang abgesehen werden, weil dabei nur in einem sehr weiten Sinne von einer beobachtenden Anwesenheit des Valerius Maximus die Rede sein kann (er ist nicht als individuelle Figur präsent, sondern bloß Mitglied des Kollektivs der Zeitgenossen). Der Zeitpunkt des primären Erzählens ist identisch mit dem der Abfassung des Werks und liegt nach dem erzählten Geschehen (narration ultérieure). Erzählung im Voraus (narration antérieure/récit prédictif) gibt es in den untersuchten Kapiteln nur durch Personen innerhalb der Diegese.313 Gleichzeitige Erzählung im 309
310
311
312 313
Der Verweis auf die in anderen Gattungen übliche (oder üblich gewesene) Götteranrufung erinnert an die verkappte Götteranrufung des Livius, die er im letzten Satz seiner Vorrede (praef., 13) im Irrealis vornimmt: cum bonis potius ominibus uotisque et precationibus deorum dearumque, si, ut poetis, nobis quoque mos esset, libentius inciperemus, ut orsis tantum operis successus prosperos darent. Darin ist vielleicht – bei beiden Autoren – nicht nur ein bewusster Anschluss an die „prestigeträchtige epische Dichtung“ (so Pausch: Livius und der Leser, S. 68, für Livius; ähnlich Eugen Cizek: À propos de la poétique de l’histoire chez Tite-Live, in: Latomus 51, 1992, S. 355–364, hier 358) zu sehen, sondern auch ein authentisches Bedürfnis nach höherer Patronage, dessen klassische Ausdrucksform allerdings als gattungswidrig betrachtet wird: Livius verklausuliert sie, Valerius Maximus ersetzt die Götter durch den Kaiser. Zur Entwicklung der Anreden in der römischen Geschichtsschreibung vom namentlichen Adressaten (etwa bei Coelius Antipater) zum anonymen lector (etwa bei Sallust und Livius) vgl. Pausch: Livius und der Leser, S. 65 (allerdings ohne Differenzierung von virtuellem Leser und bloßem Widmungsträger). Livius kommt an mehreren Stellen seines Werks auf die vermuteten Bedürfnisse und Motive des Lesers zu sprechen (siehe ebd., S. 71–74). Man beachte, dass diese homodiegetische Einkleidung in einer reinen Materialsammlung für Redner – da von ihnen nicht zu übernehmen – sinnlos wäre (zumal sie im Gegensatz zur extradiegetischen Stelle über Sextus Pompeius in 4,7, ext. 2 auch kaum als Widmung gewertet werden kann). Für die untersuchten Kapitel findet man sie unten in den Tabellen auf S. 367–424. Vgl. unten S. 142–144 zu prädiktiven Erzählungen (darunter nur acht direkte Reden; von diesen inkludieren sechs ein Prädikat im Futur – drei davon sind die auf S. 102 genannten Anachronien im Futur –, eine die Ellipse eines im Futur zu denkenden Prädikats und drei ein Prädikat im Imperativ). Der Primärerzähler nimmt auf die Zukunft, d. h. die Zeit nach dem Zeitpunkt des Erzählens, nie konkret Bezug, es gibt lediglich
138
Die Anekdoten
Präsens (narration simultanée), die den Erzähler erzählen lässt, während er die Handlung miterlebt,314 findet man nicht aus dem Munde des Primärerzählers und auch nur selten bei Sekundärerzählern – in den untersuchten Kapiteln gibt es zwei klare Fälle, in 8,9,3 (dicendo in accusatione Cn. Dolabellae, quem reum egit, extorqueri sibi causam optimam C. Cottae patrocinio) und 8,9, ext. 2 (ueteris comoediae maledica lingua […] inque animis eorum qui illum audierant quasi aculeos quosdam relinqui praedicabat).315 Überhaupt nicht zu finden ist die narration intercalée, also das zwischen einzelnen Abschnitten der Handlung stattfindende Erzählen. Von der Dauer des Erzählens wird zwar innerhalb der Primärerzählungen der Anekdoten stets entsprechend der generellen Konvention abstrahiert, aber in den extradiegetischen Einleitungen wird sie sehr wohl gelegentlich angesprochen (1,7, ext. 10: Proximum somnium etsi paulo est longius, propter nimiam tamen euidentiam ne omittatur impetrat; die Anekdote ist absolut gesehen nicht ungewöhnlich lang – und innerhalb des Kapitels nur die zweitlängste –, folgt aber auf drei sehr kurze).316 Erzählsituationen innerhalb der Primärerzählungen (intradiegetische Erzählsituationen – metadiegetische Erzählungen) kommen relativ zahlreich vor und sollen darum ausführlicher analysiert werden.
314
315
316
abstrakte Ausdrücke der Beständigkeit (wie in 1,7, ext. 3: aeternitati und diuturnius in animis hominum, bezogen auf ein Gedicht des Simonides). Passagen im historischen Präsens sind hier also ebenso wenig relevant wie Angaben des Erzählers zu in der Gegenwart anhaltenden Zuständen. Wohl nicht strikt gleichzeitig ist die Erzählung in dem Satz licet […] mihi agmina militum […] ostentes, licet mortem identidem miniteris in 3,8,5, wo trotz Präsens eher an unmittelbar vorangehende Äußerungen zu denken ist. In anderen Kapiteln kommt auch die extradiegetische Rechtfertigung flüchtig-verknappter Erzählung vor – siehe 2,7,5 (Briscoe: † Non digna exempla tam breuiter, nisi maioribus urguerer, referrentur †; Shackleton Bailey: Non digna exempla tam breviter, nisi maioribus urguerer, referrentur) und 4,1,12 (Briscoe: Sentio quos ciues quaeue facta eorum ac dicta quam † breuissimo † ambitu orationis amplectar. sed cum magna † mihi atque per†multa breuiter dicenda sint, claritate excellentibus infinitis personis rebusque circumfusus utrumque praestare † non potuit itaque † propositi quoque nostri ratio non laudanda sibi omnia sed recordanda sumpsit. quapropter bona cum uenia duo Metelli, Macedonicus et Numidicus, maxima patriae ornamenta strictim se narrari patientur; Shackleton Bailey: Sentio quos cives quaeve facta eorum ac dicta quam angusto ambitu orationis amplectar. sed cum magna mihi atque permulta breviter dicenda sint, claritate excellentibus infinitis personis rebusque circumfusus utrumque praestare non potuit. itaque propositi quoque nostri ratio non laudanda sibi omnia sed recordanda sumpsit. quapropter bona cum venia duo Metelli, Macedonicus et Numidicus, maxima patriae ornamenta, strictim se narrari patientur; vgl. auch noch D. Wardle, Valerius Maximus on His Own Activity (4.1.12), in: CQ 70, 2020, S. 756–761), ebenso das schlichte Bekenntnis dazu (8,13,6: […] quarum aliquas strictim rettulisse me satis erit).
Voix (Erzähler und Erzählsituationen)
139
Als metadiegetische Erzählungen werden dabei diejenigen unter den im vorigen Abschnitt (Mode) aufgeführten317 narrativisierten, indirekten und direkten Reden betrachtet, die geäußert werden und narrativen Inhalts sind (im Gegensatz zu bloß gedachten Worten sowie zu Aufforderungen, reinen Meinungsäußerungen etc.); dazu zählen auch vergangenes Handeln betreffende Vorwürfe318 sowie Ankündigungen eigenen zukünftigen Handelns (auch verneinte oder mit Bedingungen versehene). Das von manchen [eoretikern vertretene Kriterium, dass eine Erzählung aus mehreren Ereignissen bestehen oder eine Entwicklung darstellen muss, wird, in Übereinstimmung mit Genette, nicht angewendet – ein einzelnes Ereignis genügt.319 Die folgende Liste nennt zu jeder relevanten Stelle die Art von Rede, um die es sich handelt (direkt, indirekt, narrativisiert), die Funktion der Erzählung (hier: prädiktiv, persuasiv, explikativ), den Status des Erzählers (homo- oder heterodiegetisch)320 und seine über das reine Erzählen hinausgehenden Funktionen (hier: testimonial, ideologisch), sofern solche in expliziter Form in den Text eingebaut sind.321 Ein Asterisk kennzeichnet Erzählsituationen, die in Träume oder in Erzählungen oder sonstige Äußerungen (z. B. Aufforderungen) anderer Personen eingeschaltet sind – einschließlich stark narrativisierter Äußerungen wie cum uno modo salus ab eo daretur, si […]. 1,7,3 * 1,7,4 * 1,7,4
317 318
319
320
321
praedixit diceret (abh. v. praecepit ut) ordine […] exposito
indir. indir. narr.
präd. pers. pers.
heterod. homod. homod.
— — —
Siehe oben S. 125–130. Sogar ein Ausdruck wie damnauerat kann als narrativer Vorwurf verstanden werden, wenn nicht im strengen Sinne ‚verurteilt‘, sondern ‚erfolgreich angeklagt‘ gemeint ist. Vgl. Genette: Nouveau discours, S. 14f., zur Frage der ‚Minimalerzählung‘ sowie die Definition bei Genette: Discours, S. 71f.: ‚le discours oral ou écrit qui assume la relation d’un événement ou d’une série d’événements‘. Den berühmten Beispielsatz „je king died and then the queen died“ (E. M. Forster: Aspects of the Novel [urspr. 1927], London 2005, S. 87, eigentlich zur Abgrenzung der einfachen story vom durch Kausalität geprägten plot) reduziert er auf „je king died“. Im Fall einer marginalen, nur beobachtenden Präsenz des Erzählers beim erzählten Ereignis kommt es im Prinzip darauf an, ob er diese erwähnt (was die Erzählung zur homodiegetischen macht) oder nicht (dann ist sie heterodiegetisch). Dies ist aber nur bei Erzählungen in direkter Rede sicher zu entscheiden. Bei indirekten und narrativisierten Erzählungen stellt sich die Frage, ob man eine Erwähnung der eigenen Beobachterrolle annehmen darf, wenn sie lediglich plausibel ist, aber nicht durch den Primärerzähler explizit vermittelt wird. Ich tue dies im Fall des mit diceret eingeleiteten Erzählauftrags in 1,7,4. Bei indirekten und narrativisierten Reden ist manchmal schwer zu entscheiden, ob ein wertender Ausdruck als Teil der metadiegetischen Erzählung zu werten oder dem Primärerzähler zuzurechnen ist. Ich behelfe mir in der Liste mit Fragezeichen.
Die Anekdoten
140 1,7,5 *
narr. narr. + 1,7,6 * denuntiata est + dicentis indir. 1,7,6 ex Graccho […] audierunt narr. 1,7,6 * sermonem de ea re (abh. v. scribit) narr. 1,7,6 scribit indir. 1,7,7 affirmantibus indir. 1,7,8 consessoribus narrauit narr. 1,7,8 dixit indir. 1,7, ext. 3 carmine […] consecrauit narr. 1,7, ext. 6 * audiit indir. 1,7, ext. 6 sermone uulgauit narr. 1,7, ext. 6 uociferata est indir. 1,7, ext. 7 cognouit indir. 1,7, ext. 8 * nuntiantem indir. 2,1,10 carmine […] † pangebant narr. 3,8,1 rumore […] orto narr. 3,8,3 inquit dir. 3,8,5 3,8,7 * 3,8,8 3,8, ext. 1 3,8, ext. 1 3,8, ext. 1 3,8, ext. 4 3,8, ext. 6 4,2,1 4,2,2 4,2,2 4,2,5 4,2,5 4,2,6 4,2,6 5,7,2 5,7,2 5,7,3 5,7, ext. 1 6,2,1
audito […] casu
inquit affirmasset (abh. v. cum uno modo salus ab eo daretur, si) inquit adiectis quae […] + rettulit proclamat iactabatur sincera fide accusatum litterae […] admonentes laudandum tradiderunt ignotum […] esse noluerunt testimonio accusatus perorauerat damnauerat a quo damnatus fuerat respondere sustinuit pollicebatur falso clamore accepit exposuit inquit
expl.
homod.
—
präd.
heterod.
—
expl. expl. expl. expl. expl. expl. expl. präd. expl. expl. präd. präd. pers. expl. pers. expl. + präd.
homod. heterod. homod. homod. homod. homod. homod. heterod. homod. homod. heterod. heterod. heterod. heterod. homod.
— — testim. — — — testim. — — — — — — — —
homod.
testim.
indir.
präd.
homod.
—
dir. narr. indir. narr. narr. indir. narr. narr. narr. narr. narr. narr. narr. dir. indir. indir. narr. dir.
präd. pers. pers. pers. pers. pers. expl. expl. pers. pers. pers. pers. pers. präd. pers. expl. expl. präd.
homod. homod. homod. homod. heterod. heterod. heterod. heterod. heterod. heterod. heterod. heterod. heterod. homod. homod. heterod. homod. homod.
— — — — — — ideol. (?) ideol. (?) — — ideol. (?) — — — ideol. (?) — — —
dir.
Voix (Erzähler und Erzählsituationen) 6,2,3 6,2,3 6,2,4 6,2,6 6,2,8 6,2,8
141
respondit ait inquit inquit dixisset inquit interpellare sustinuit + uenditionem exprobrando
indir. dir. dir. dir. indir. dir. dir. + narr.
expl. präd. präd präd. pers. pers.
heterod. homod. homod. heterod. heterod. homod.
ideol. — — — — ideol.
expl.
homod.
—
6,2, ext. 2
inquit
dir.
expl.
homod.
6,2, ext. 3 7,7,1 7,7,5 7,7,6 8,9,3 8,9, ext. 2 9,7,2
inquit de morte filii […] nuntium querellam detulisset diceret dicendo praedicabat affirmantem
dir. narr. indir. indir. indir. indir. indir.
expl. expl. pers. expl. pers. expl. expl.
heterod. heterod. homod. heterod. homod. heterod. heterod.
6,2,11
testim. + ideol. ideol. — — ideol. — ideol. —
Die in dieser Liste erfassten Erzählungen machen nur eine Minderheit von 58 der 321 Reden aus, die es ingesamt in den untersuchten Kapiteln gibt. Davon sind 24 narrativisierte, 22 indirekte und 12 direkte Reden. Indirekte oder direkte Reden und deren narrativisierte Vorwegnahmen wurden in der Liste gemeinsam aufgeführt, ebenso finite Verba dicendi und dazugehörige Partizipialausdrücke, die dieselbe Wortmeldung näher bestimmen. Die 58 Reden lassen sich so zu 55 Stellen zusammenfassen. Nur eine einzige Erzählung ist selbst (als narrativisierte Rede) in eine Sekundärerzählung eingeschaltet (in 1,7,6), wobei die übergeordnete Erzählung kein Teil der Haupthandlung, sondern ein am Schluss der Anekdote stehender Quellenbeleg ist – ein Historiker berichte, dass bereits zu Lebzeiten des Gracchus von dem Traum erzählt worden sei. Zwei Erzählungen sind (als indirekte Reden) in Aufforderungen handelnder Personen eingeschaltet und bilden jeweils den Gegenstand der Aufforderung (in 1,7,4 und 3,8,7). Eine dieser Aufforderungen (in 1,7,4) findet innerhalb einer Traumvorstellung statt. Dasselbe gilt für fünf weitere Erzählungen in indirekter oder narrativisierter Rede (in 1,7,3, 1,7,5, 1,7,6, 1,7, ext. 6, 1,7, ext. 8). Im weitesten Sinn gibt es also insgesamt sieben Erzählungen auf dritter Ebene und eine auf vierter (darunter keine in direkter Rede). Bei den restlichen 47 Stellen handelt es sich um gewöhnliche Erzählungen zweiten Grades – also solche, deren Erzählsituation unmittelbar der primären Handlungsebene angehört. Von den Funktionen, die Erzählungen haben können, soll die persuasive zuerst besprochen werden, weil sie – auch wenn dies bei Genette nicht deutlich wird – als Kategorie von etwas anderer Art ist als die anderen Funktionen. Sie umfasst Erzählungen, die sich jeweils auch einer der anderen Funktionen zuordnen lassen
142
Die Anekdoten
könnten – sowohl explikative und prädiktive als auch bloß thematische Sekundärerzählungen können dem Zweck dienen, innerhalb der Primärerzählung etwas zu erreichen. Die persuasive Funktion entspricht der klassischen Zielsetzung der Rhetorik (vgl. Cic. de orat. 1,138, als Punkt 1 einer Aufzählung von omnium communia et contrita praecepta: oratoris officium esse dicere ad persuadendum accommodate322), zu deren Mitteln in vielen Fällen auch die Erzählung gehört.323 Für die Beschreibung ihrer Varianten bieten sich darum die von Aristoteles definierten Redegattungen an.324 Bei der großen Mehrheit der persuasiven Erzählungen (13 von 19) handelt es sich um Vorwürfe, deren Ziel die Beeinflussung des Ausgangs eines Prozesses ist, also um Elemente der Gerichtsrede (γένος δικανικόν).325 Es gibt sie mit homodiegetischem Erzähler (3,8, ext. 1: drei Denunziationen; zweite Stelle in 6,2,8: längerer fiktionaler Bericht aus der Unterwelt über Schandtaten des Pompeius zur Schwächung seiner Autorität in einem Prozess; 7,7,5: Klage vor dem Prätor; 8,9,3: Beschwerde über jemandes Einfluss bei einem Prozess) ebenso wie mit heterodiegetischem (3,8, ext. 4: Anklage; 4,2,2: Zeugenaussage; 4,2,5: zweimal dieselbe Anklage; 4,2,6: zwei Anklagen; erste Stelle in 6,2,8: polemischer Vorwurf, der Ankläger sei aus der Unterwelt hervorgekommen). Ihre Beziehung zur Primär-
322
323
324
325
Ähnlich auch Cic. de orat. 2,115 und orat. 69 (ut flectat); dagegen scheint sich der Begriff movere in Cic. Brut. 185 (ut doceatur is apud quem dicetur, ut delectetur, ut moveatur vehementius) und Quint. inst. 3,5,2 nur auf emotionale Bewegtheit zu beziehen. Laut Aristot. rhet. 3,13,3 = 1414a ist sie nur in der Gerichtsrede ein wesentliches Strukturelement. Quint. inst. 4,2 behandelt sie ebenfalls nur in diesem Kontext, Rhet. Alex. 30–31 = 1438a–b, Rhet. Her. 1,8,11–9,16 und Cic. inv. 1,27–30 dagegen als mögliche Bestandteile von Reden allgemein; bei allen vier Autoren wird klar, dass nicht nur direkt zum Fall gehörige Fakten, sondern auch bloß thematisch verwandte Erzählungen wie z. B. Gleichnisse (sogar fiktionale) relevant sein können; Rhet. Alex. und Quint. inst. 4,2,3 erwähnen außerdem die Möglichkeit prädiktiver Erzählungen. Siehe auch Josef Martin: Antike Rhetorik. Technik und Methode, München 1974, S. 75–89. Aristot. rhet. 1,3,3 = 1358b: γένος συμβουλευτικόν (zu- oder abratend, die Zukunft betreffend), δικανικόν (anklagend oder verteidigend, die Vergangenheit betreffend) und ἐπιδεικτικόν (lobend oder tadelnd, vorwiegend die Gegenwart betreffend). Diese Dreiteilung wird u. a. von Rhet. Her. 1,2,2 und Cic. inv. 1,7 aufgegriffen, wo die Bezeichnungen genus deliberatiuum, iudiciale und demonstratiuum lauten; weitere Stellen nennt Martin, S. 9f. Fast alle sind tatsächlich Äußerungen vor Gericht (Anklagereden oder Teile davon, belastende Zeugenaussagen, im Fall der ersten Stelle in 6,2,8 ein Vorwurf an den Ankläger als Teil einer Verteidigungsrede), nur die erste Denunziation in 3,8, ext. 1 geht dem Prozess voraus. Am Beispiel von 8,9,3 ist zu erkennen, dass Aristoteles’ Feststellung, die Gerichtsrede betreffe die Vergangenheit, zwar für den Gegenstand der Persuasion, aber nicht notwendigerweise für ihre Mittel gilt.
Voix (Erzähler und Erzählsituationen)
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handlung ist stets eine explikative. Mit einer einzigen Ausnahme – der zweiten, recht langen Erzählung in 6,2,8 – sind sie indirekte oder narrativisierte Reden. Die übrigen sechs gehören der deliberativen Rede an (γένος συμβουλευτικόν), die zukünftiges Handeln beeinflussen will. Sie sind ebenfalls mit einer Ausnahme (in 3,8,3) indirekte oder narrativisierte Reden, fallen aber ansonsten heterogener aus, sowohl mit Blick auf Kontext und Form (mündliche Erzählungen in verschiedensten öffentlichen und privaten Situationen,326 in 3,8, ext. 6 sogar ein Brief) als auch auf die Beziehung zur Primärhandlung. Drei sind explikative Erzählungen vergangener Ereignisse, zweimal mit homodiegetischem Erzähler (1,7,4: Bericht vor den Konsuln, damit diese ein Fest wiederholen327) und einmal mit heterodiegetischem (3,8, ext. 6: Warnung vor einem angeblich bestochenen Arzt). Zwei sind Ankündigungen eigenen Handelns, also prädiktiv mit homodiegetischem Erzähler (3,8,3: Ankündigung der Weigerung, einen Kandidaten als Konsul zu verkünden, damit er gar nicht erst gewählt wird; 5,7,2: Versprechen, um jemanden zu einem politischen Seitenwechsel zu bewegen). Eine ist nur thematisch relevant (2,1,10: Gesang von den Heldentaten der Vorfahren, um die Jugend zur Tugend anzuspornen); sie steht als eine Art Lobrede zwar der dritten, epideiktischen Gattung nahe, unterscheidet sich von dieser aber durch ihr praktisches Ziel.328 Rein epideiktisch gemeinte Reden sind unter den untersuchten Sekundärerzählungen nicht anzutreffen. Nicht-persuasive explikative Erzählungen – also Erzählungen, die vergangene Ereignisse mit kausalem Bezug zur primären Handlungslinie betreffen329 – finden sich an 24 Stellen (darunter vier direkte Reden). Siebenmal (zweimal in direkter Rede) dienen sie den – meist homodiegetischen – Erzählern dazu, anderen Personen die aktuelle Situation verständlich zu machen (1,7,5, die zweite Stelle in 1,7,8, 3,8,5 – dort auch mit prädiktivem Teil –, 5,7, ext. 1, 6,2, ext. 2, 7,7,6, 9,7,2). Sechs sind Quellenberichte, die der Beglaubigung des Geschehenen oder der Information über dessen Aufnahme durch Betroffene oder die Nachwelt dienen (dreimal in 1,7,6, je einmal in 1,7, ext. 3, 4,2,1, 4,2,2) und meist homodiegetische Erzähler haben. Eine ist eine rein informative Beantwortung einer Frage (1,7,7, mit hetero-
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Schon Arist. rhet. 1,3,3 = 1358b spricht ausdrücklich von ἰδίᾳ συμβουλεύοντες und κοινῇ δημηγοροῦντες (während Cic. inv. 1,7 die Gattung nur in disceptatione ciuili verortet). An der ersten Stelle wird der Protagonist zu einem solchen Bericht aufgefordert, an der zweiten berichtet er tatsächlich. Vgl. Cic. de orat. 2,341, orat. 37 und part. 72 zum bloß unterhaltenden Zweck des γένος ἐπιδεικτικόν. Sie sind nicht notwendigerweise homodiegetisch in dem Sinn, wie der Begriff im Kapitel Ordre gebraucht wurde (vgl. die Gegenbeispiele in 3,8,1 und 6,2,3), weil dort bei der Abgrenzung im Wesentlichen auf die Identität oder Verschiedenheit der handelnden Personen abgestellt wurde (vgl. oben Fn. 182), während es hier auf die Kausalität der Ereignisse ankommt.
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Die Anekdoten
diegetischen Erzählern). Sechs sind zunächst unmotiviert scheinende Erzählungen, die vom Primärerzähler zur Vorbereitung einer zweiten metadiegetischen Erzählung eingebaut werden (die erste Stelle in 1,7,8, mit homodiegetischem Erzähler) oder deren Bedeutung für die Primärerzählung in einer vom Sekundärerzähler nicht intendierten oder vorhergesehenen Reaktion besteht (die zwei öffentlichen Äußerungen über den Traum in 1,7, ext. 6 mit homodiegetischer Erzählerin, die Gerüchte in 3,8,1, 5,7,3 und 7,7,1 mit heterodiegetischen Erzählern). Vier (darunter zwei direkte Reden) sind – meist von heterodiegetischen Erzählern – als Wertungen intendiert (die erste Stelle in 6,2,3 sowie 6,2,11, 6,2, ext. 3, 8,9, ext. 2). Nicht-persuasive prädiktive Erzählungen – betreffend zukünftige Ereignisse der primären Handlungslinie – finden sich an 13 Stellen (darunter sieben direkte Reden). Die Erzählungen haben im Kapitel De somniis stets heterodiegetische Erzähler (viermal sagen Traumfiguren die Zukunft vorher, in 1,7, ext. 7 ein Traumdeuter), während sie in den anderen Kapiteln, in denen sie vorkommen, ganz überwiegend Ankündigungen eigenen Handelns sind (Affirmationen eigener Standhaftigkeit in 3,8,5 – mit explikativem Teil –, 3,8,8, 5,7,2 und der zweiten Stelle in 6,2,3; in 3,8,7 – auf dritter Ebene – die Ankündigung eines Seitenwechsels, zu der jemand genötigt werden soll; in 6,2,1 die Ankündigung eigener möglicher Reaktionen auf gute oder schlechte Friedensbedingungen; in 6,2,4 die – nur polemisch gemeinte – Ankündigung einer Anklage), von denen drei direkte Reden sind. Nur im Kapitel Libere dicta aut facta findet sich daneben auch ein heterodiegetischer Fall, ebenfalls in direkter Rede (6,2,6: eine an das Volk gerichtete Bemerkung über eine angeblich bevorstehende Beschränkung seiner Freiheit, dem Redner zuzustimmen). Nicht-persuasive Erzählungen mit rein thematischer Funktion – etwa solche, die Analogien oder Kontraste zwischen der Primärhandlung und anderen Vorfällen herstellen sollen – finden sich in den untersuchten Kapiteln überhaupt nicht. Sekundärerzählungen beschränken sich also – mit Ausnahme der einen thematischpersuasiven Stelle in 2,1,10 – strikt auf Inhalte, die in einem Kausalzusammenhang mit der Primärhandlung stehen. Was den Erzähler angeht, sind von den vier möglichen Funktionen, die er zusätzlich zur eigentlichen narrativen Funktion übernehmen kann, nur die testimoniale und die ideologische gelegentlich explizit im Text ausgeformt, nie aber die fonction de régie oder die kommunikative Funktion. Die testimoniale Funktion verbindet sich ausschließlich mit explikativen Erzählungen homodiegetischer Erzähler (vier Fälle), die ideologische (zehn Fälle) häufiger mit explikativen als mit persuasiven Erzählungen und häufiger mit heterodiegetischen als mit homodiegetischen Erzählern (jeweils 7 : 3). Auffällig ist die Häufung der ideologischen Funktion in den Kapiteln 4,2 (Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine: drei Fälle – mit Fragezeichen – in acht Einzelanekdoten) und 6,2 (Libere dicta aut facta: vier Fälle – ohne Fragezeichen – in 16 Einzelanekdoten), während sie in 1,7 (De somniis) und 3,8 (De constantia) trotz der insgesamt größeren Zahl von Einzelanekdoten und Se-
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kundärerzählungen gar nicht vorkommt. Dort wiederum stehen drei der vier insgesamt vorkommenden testimonialen Erzählungen. Die vier genannten Kapitel sind gemeinsam mit 5,7 (De parentum amore et indulgentia in liberos) auch diejenigen, die insgesamt die größte Häufigkeit von Sekundärerzählungen im Verhältnis zur Zahl der Einzelanekdoten aufweisen: gerundet 0,9 (in 1,7 und 4,2), 0,8 (in 5,7) und 0,6 (in 3,8 und 6,2) pro Einzelanekdote gegenüber 0,4 (in 7,7), 0,3 (in 8,9) und 0,1 (in 2,1 und 9,7). Erzählungen in direkter Rede, in denen sich die sekundäre Erzählinstanz am deutlichsten von der primären absetzt, konzentrieren sich großteils in den Kapiteln 3,8 und 6,2 (drei und acht von insgesamt zwölf, d. h. alle bis auf eine) und machen in 6,2 sogar die Mehrheit der Sekundärerzählungen aus. Sie sind überwiegend Ankündigungen eigenen Handelns (je drei Fälle in 3,8 und 6,2 sowie einer in 5,7) oder Wertungen (drei Fälle in 6,2); dass solche direkten Reden oft als prägnante Schlusspunkte von Anekdoten dienen – gerade in den Kapiteln 3,8 und 6,2, wo sie die constantia oder libertas der Hauptperson beweisen –, wurde bereits im Kapitel Mode festgestellt.330 Bei den beiden verbleibenden Fällen (6,2,8 und 6,2, ext. 2) handelt es sich um längere Erzählungen, die so detailliert wohl kaum in narrativisierter und nur höchst unelegant in indirekter Rede möglich wären. Die Verschmelzung von Primär- und Sekundärerzählung durch komplexe erzähltechnische Kunstgriffe – oder Versehen – wie narrative Metalepsen und ‚pseudodiegetisches‘ Erzählen kommt in den untersuchten Kapiteln nicht vor. 6
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
Die Makrostruktur der Anekdoten des Valerius Maximus wurde von Roberto Guerrini als dreiteilig dargestellt.331 Über 80% der Anekdoten bestünden aus den Abschnitten esordio-presentazione, racconto storico und riflessione conclusiva (die restlichen nicht ganz 20% in der Regel aus den ersten oder den letzten zwei Elementen). Allerdings wird dieses Schema sogleich durch das Eingeständnis kompliziert, dass es Sätze und Satzteile gebe, die als ‚Scharnier‘ (cerniera) zwischen zwei Abschnitten fungierten. An den letzten Handlungssatz angehängte, der eigenen expliziten Bewertung vorausgehende (oder, wenn eine solche fehlt, den Abschluss bildende) Nebensätze, Partizipialausdrücke, Gerundia oder Appositionen könnten etwa Motive oder Interpretationsmöglichkeiten andeuten,332 und zwischen den beiden ersten Abschnitten gebe es ‚Scharniere‘, die zugleich dem
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Siehe oben S. 128f. Studi, S. 13–21 (auch zur Reduktion der Struktur durch den Epitomator Iulius Paris, der jeweils die bloße res gesta isoliere und damit dem Benutzer eine neue Exemplarisierung ermögliche). Vgl. auch unten bei Fn. 560 zu seinem Vergleich mit Cicero und Livius und bei Fn. 643 zu seiner Auseinandersetzung mit der Verknüpftheit der Anekdoten. Ebd., S. 15, Anm. 14.
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Die Anekdoten
historischen Kontext dienten und eine Bewertung der Handlung vorwegnähmen.333 Das mit diesem Modell doch eher behelfsmäßig beschriebene Zusammenspiel strukturell-funktionaler Elemente in den Anekdoten soll im vorliegenden Kapitel eingehender untersucht werden – mit den Mitteln der gerade für solche Zwecke entwickelten Erzählungsanalyse (narrative analysis) nach William Labov und Joshua Waletzky.334 Ihr Ausgangspunkt ist in gewisser Weise ein Gegenstück zu Genettes Kapitel Ordre. Hier wie dort wird die Struktur eines erzählenden Texts mit dem Zeitverlauf in der (von Labov und Waletzky nicht so genannten) Diegese in Beziehung gesetzt. Die zu untersuchende Textstruktur besteht aber bei Labov und Waletzky im Gegensatz zu Genette nicht aus gedanklichen, sondern aus syntaktischen Einheiten, und auch das Erkenntnisziel ist nicht dasselbe. Bei Genette ist die Beziehung zwischen Erzählung und Geschichte der Gegenstand der Untersuchung, bei Labov und Waletzky wird sie nur verwendet, um die innere Organisation der erzählenden Äußerung selbst zu erhellen. Das konkrete Ziel besteht zunächst darin, aus dem Gesamttext ein Gerüst von Hauptsätzen herauszuarbeiten, deren Reihenfolge sich nicht verändern lässt, ohne die erzählte Geschichte zu verändern. Diese Sätze bilden nach Labovs und Waletzkys Terminologie die eigentliche ‚Erzählung‘ (narrative). Um sie herum stehen verschiedene Arten sonstiger Hauptsätze. Nebensätze werden von Labov und Waletzky nicht berücksichtigt, weil sie durch ihre Unterordnung unter die Hauptsätze auf einer anderen Ebene stehen und nicht Teil der primären zeitlichen Struktur sein können.335 Partizipien lassen sich dagegen manchmal als verkürzte Hauptsätze auffassen.336 Alle Hauptsätze eines Textes können in der Reihenfolge ihres Vorkommens mit Buchstaben versehen werden. Mit tiefgestellten Zahlen vor und nach dem Buchstaben wird angezeigt, vor wie viele der vorausgehenden und nach wie viele der nachfolgenden Sätze der Satz (wenn nötig mit Anpassung ana- oder kataphorischer Verweise337) gestellt werden könnte, ohne die Reihenfolge dieser anderen Sätze zu ändern.338 333 334
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Ebd., S. 18, Anm. 20. Meine Darstellung folgt Labov/Waletzky, S. 20–32, und Labov: Transformation, S. 359–362, mit einzelnen Revisionen nach Labov: Further Steps. Durch die bereits angedeutete Einschränkung der Untersuchung auf die tatsächlich vorhandenen syntaktischen Einheiten spielt es auch keine Rolle, dass die gedanklichen Inhalte von Nebensätzen oft genauso gut als Hauptsätze im Text stehen könnten. Vgl. Labov/Waletzky, S. 24 und 42, Anm. 4: we was doing the 50-yard dash, racing, but […] = we was doing the 50-yard dash, racing, but […]. Vgl. ebd., S. 24. Labov: Further Steps verzichtet auf die Zahlennotierung, wenn die Zahlen alle vorausgehenden und alle nachfolgenden Sätze umfassen.
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
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Beispielsweise könnte in dem Text w and they was catchin’ up to me x and I crossed the street y and I tripped, man.
der Satz w auch nach x oder y stehen (xwy, xyw), daher 0w2; der Satz x könnte auch vor w stehen (xwy), aber nicht nach y (wyx), daher 1x0; der Satz y kann überhaupt nicht verschoben werden, ohne auch die Reihenfolge von w und x zu ändern (xyw, aber nicht ywx oder wyx), daher 0y0. Jeder Satz bildet gemeinsam mit den Sätzen, vor oder nach die er verschoben werden könnte, ein displacement set (DS). In dem obigen Beispiel gilt: DS(w) = {w, x, y}, DS(x) = {w, x}, DS(y) = {y}. Als gebundene narrative Sätze339 kann man nun diejenigen definieren, in deren displacement set entweder keine Null-Subskripte vorkommen oder lediglich ein linkes beim ersten und/oder ein rechtes beim letzten Satz; dies inkludiert natürlich auch alle Sätze, die nur sich selbst als displacement set haben. Es handelt sich folglich um eine Gruppe von Sätzen, die nur über ihr nicht angehörende Sätze, nicht aber übereinander hinweg verschoben werden können, da zwischen ihnen eine feste zeitliche Abfolge (temporal juncture) besteht.340 Eine Ausnahme gilt für koordinierte Sätze (coordinate clauses), d. h. solche mit identischen displacement sets. Sie können zwar miteinander vertauscht werden (wobei – in genettescher Terminologie – keine Anachronie entsteht, da sie Gleichzeitiges ausdrücken), aber gemeinsam dennoch Teil des starren narrativen Gerüsts sein. Das finite Verb eines narrativen Satzes heißt narrative head und das eines koordinierten Satzes coordinate head.341 Neben gebundenen gibt es ‚freie‘ und ‚beschränkte‘ Sätze. Die freien (free clauses) sind diejenigen, deren displacement set sämtliche Sätze des Texts umfasst, die also über den ganzen Text verschoben werden können. Sie stehen mit keinem anderen Satz in einem festen Verhältnis zeitlicher Abfolge. Sätze, deren displacement set weder die Voraussetzungen für gebundene noch die für freie 339
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Narrative clauses bei Labov/Waletzky und Labov: Transformation; bound clauses bei Labov: Further Steps. Labov: Further Steps führt für einen Satz, der potentiell Teil einer temporal juncture sein kann, den Begriff sequential clause ein. Vgl. Labov/Waletzky, S. 28f., zu den Tempora und den Arten von Verben, die (im Englischen) als narrative heads vorkommen (insbesondere keine Plusquamperfekte). Labov: Transformation, S. 361f., behauptet zudem, dass generalisierend-iterative Verben (z. B. used to …, would … oder das generalisierende Präsens) keine Erzählung tragen könnten, doch siehe oben S. 116–119 sowie schon Riessman: Teller’s Problem, Analysis, S. 18, und Methods, S. 97–99, und Cheshire/Ziebland, S. 23–25, zu ‚habitual narratives‘.
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Die Anekdoten
Sätze erfüllt, heißen beschränkte Sätze (restricted clauses), da sie beschränkt verschiebbar sind.342 Die temporal juncture der narrativen Sätze entspricht semantisch dem Wort ‚dann‘. Das Vorkommen von ‚x, dann y‘-Verhältnissen ist für Labov und Waletzky das fundamentale Faktum, das eine Erzählung ausmacht. Um diese Verhältnisse so deutlich wie möglich hervortreten zu lassen, kann man den Text ‚aufräumen‘, indem man alle freien Sätze an den Anfang und alle beschränkten Sätze an die frühestmögliche Stelle verschiebt und alle koordinierten Sätze zu Einheiten verschmilzt. So kann z. B. ein Text 0a18 1b17 2c16 3d15 4e14 5f13 6g0 0h0 0i1 1j0 0k1 1l0 0m3 13n5 6o3 7p2 0q0 0r0 0s0 auf die ‚primäre Abfolge‘ (primary sequence) 0a–n9 1g0 0h0 0o–p5 1i–j0 0k–l0 0m0 0q0 0r0 0s0 (oder genauer: 0abcdefn9 1g0 0h0 0op5 1ij0 0kl0 0m0 0q0 0r0 0s0) zurückgeführt werden. In der Praxis weichen die allermeisten erzählenden Texte stark von diesem theoretisch möglichen einfachen Aufbau ab. Warum dem so ist, wird klar, wenn man sich näher mit ihrer Gesamtstruktur – und im Zuge dessen mit den Funktionen der nicht-narrativen Sätze – befasst. Labov und Waletzky identifizieren im zweiten Schritt ihrer Untersuchung343 sechs strukturelle und/oder funktionale Elemente, die in einer voll ausgebildeten Erzählung vorhanden sind. Es handelt sich (in der postulierten typischen Reihenfolge) um Abstract, Orientierung, Komplikation, Evaluation, Ergebnis und Coda. Das Abstract steht am Anfang und beantwortet gewissermaßen die Frage ‚What was this about?‘. Es fasst in einem oder zwei Sätzen die Erzählung zusammen, kann aber auch Elemente der Evaluation aufgreifen. Die Orientierung (betreffend Personen, Zeit, Ort, Situation: ‚Who, when, what, where?‘) erfolgt oft in einem eigenen Abschnitt in Form von freien Sätzen; sie kann allerdings auch von Ausdrücken innerhalb der narrativen Sätze oder von freien Sätzen an anderer Stelle übernommen werden. Die Komplikation oder komplizierende Handlung344 (‚[en what happened?‘) ist eine Serie von Ereignissen innerhalb des narrativen Gerüsts, die den Hauptinhalt der Erzähung (das most reportable event) inkludiert. Sie kann auch auf mehrere Abschnitte verteilt werden. Die Evaluation ist nötig, damit die Erzählung eine Bedeutung hat, als erzählenswert (reportable) anerkannt wird und nicht mit dem Einwand ‚So what?‘ 342
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In der revidierten Terminologie bei Labov: Further Steps sind sie wie die bound clauses eine Unterart der narrative clauses, während sie bei Labov/Waletzky und Labov: Transformation als dritte Katgeorie neben narrative clauses (den späteren bound clauses) und free clauses eingeführt wurden. Meine Darstellung folgt Labov/Waletzky, S. 32–41, und Labov: Transformation, S. 362–393, mit Ergänzungen aus Labov: Further Steps. Der Begriff bezieht sich auf eine Komplikation der Ausgangssituation und hat nichts zu tun mit der Unterscheidung von ‚einfacher‘ und ‚komplizierter‘ Handlung nach Aristot. poet. 10 = 1452a (dazu Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 21973, S. 583–587).
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
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abgetan werden kann. Fehlt die Evaluation, wirkt die Erzählung sinnlos (pointless).345 Der Evaluationsabschnitt steht typischerweise in Form von multikoordinierten Sätzen oder Gruppen von freien oder beschränkten Sätzen zwischen Komplikations- und Ergebnisabschnitt und dient auch dazu, diesen Übergang zu betonen. Die Evaluation kann aber auch mit dem Ergebnisabschnitt zu einem narrativen Satz verschmolzen werden, der die nach dem most reportable event liegenden Ereignisse zugleich mitteilt und bewertet. Sie kann sogar innerhalb von narrativen Sätzen über die ganze Erzählung verteilt erfolgen (manchmal mit einer Art Fokus am Punkt zwischen Komplikations- und Ergebnisabschnitt). Evaluationen können in unterschiedlichem Maß in die sie umgebende Erzählung eingebettet werden.346 Bei der externen Evaluation unterbricht der Erzähler selbst die Erzählung und wendet sich direkt an den Zuhörer (was u. a. in therapeutischen Interviews oder mündlichen Erzählungen von Angehörigen der Mittelschicht häufig vorkommt). Eine schwache Stufe der eingebetteten Evaluation besteht darin, dass der Erzähler die evaluierende Bemerkung sich selbst in der erzählten Situation zuschreibt (z. B. I said to myself: this is it). Stärker wird die Einbettung, wenn die Bemerkung an eine andere Figur innerhalb der Erzählung gerichtet ist, und noch stärker, wenn sie überhaupt einer anderen Figur zugeschrieben wird (was eher von älteren, geübten Erzählern aus der Arbeiterklasse als von Erzählern aus der Mittelschicht praktiziert wird). Am stärksten internalisiert sind Evaluationen in Gestalt symbolischer Handlungen (z. B. I was shakin’ like a leaf oder I crossed myself). Viele Evaluationen lassen sich zudem als Modifikationen der ‚normalen‘ syntaktischen Struktur des narrativen Satzes347 beschreiben und einer von vier
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Dies ist vielleicht eine Übertreibung. Viele Inhalte bedürfen, wie auch Labov: Transformation, S. 370 (mit Beispiel: Mord), anerkennt, keiner Unterstützung, um als reportable zu gelten – die Evaluation hat dann lediglich eine unterstreichende, das Interesse verstärkende Funktion. Vgl. dazu Labov: Transformation, S. 370–393. Labov/Waletzky, S. 37–39, bieten eine bescheidene Vorstufe dazu, von der ich nur einzelne Beispielsätze übernehme. Sie besteht laut Labov: Transformation, S. 375–377, aus maximal acht nicht hierarchisierten Elementen: 1. Satzadverbialien (Konjunktionen und Temporaladverbialien: so, and, but, then), 2. einer Subjekt-Substantiv-Phrase (einfachen Subjekten wie Pronomina und Substantiva: this girl, my father) und 3.–8. einer Verbphrase, die wiederum aus 3. dem was/were des past progressive oder Quasi-Modalverben wie start, begin, keep, used to, want (aber nicht Futura, echten Hilfs- und Modalverben oder Negationen), 4. einem Verb in einer Vergangenheitszeit, 5. Komplementen (direkten und indirekten Objekten), 6. Modal- (manner) oder Instrumentaladverbialien, 7. Lokaladverbialien und 8. Temporal- und Komitativadverbialien (Labov schreibt Temporal adverbials and comitative clauses und gibt für die zweiten keine Beispiele, aber es muss sich um Adverbialien wie with … oder together handeln) besteht.
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Die Anekdoten
funktionalen Kategorien zuweisen, denen jeweils bestimmte äußerliche Formen entsprechen.348 Intensifikatoren (intensifiers), d. h. Verstärker einzelner Ereignisse, haben die Form von Gesten (oft begleitet von deiktischem this oder that: and I do like that), expressiver Phonologie (z. B. Vokaldehnung: for a lo-o-ong ti-i-me), Interjektionen (z. B. powww!! oder shhhh!), quantifizierenden Ausdrücken (z. B. he was all wounded oder He was beat up real, real bad), Wiederholungen (z. B. re rock went up—I mean went up oder And he didn’t come back. And he didn’t come back) oder ‚rituellen Äußerungen‘, d. h. scheinbar unexpressiven Sätzen, die durch Konvention einen evaluierenden Wert haben (z. B. And there it was im Sinne von „and then the real action started“). 349 Komparatoren (comparators), d. h. Vergleiche (und zwar, im weitesten Sinn, von Faktischem mit Potentiellem), sind Negationen, Futura, Modalverben, Quasi-Modalverben, Fragen, Imperative, Disjunktionen, Superlative und Komparative. Korrelativa (correlatives) vereinen mehrere gleichzeitige Ereignisse, Handlungen oder Beobachtungen; sie sind Präsenspartizipien, Appositionen und Attribute.350 Explikationen (explications) sind Erklärungen, bei denen es nicht auf Gleichzeitigkeit ankommt, und der Form nach Nebensätze.351 Die Auflösung (resolution) oder das Ergebnis (result) umfasst den Teil der die Ausgangssituation komplizierenden Handlung, der zeitlich nach dem most reportable event liegt.352 Er beantwortet die Frage ‚What finally happened?‘ und folgt typischerweise auf einen Evaluationsabschnitt oder ist mit diesem verschmolzen. 348
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Zu einer alternativen Klassifikation der Evaluationen vgl. Ruth A. Berman: Narrative Seory and Narrative Development. Se Labovian Impact, in: Oral Versions of Personal Experience, hg. von Bamberg, S. 235–244, hier 239f. Zwei der von Labov vorgesehenen Intensifikatoren – Gesten und expressive Phonologie – sind grundsätzlich nur der mündlichen Kommunikation eigen, können aber behelfsmäßig verschriftlicht werden (Gesten durch Beschreibung, expressive Phonologie durch unkonventionelle Rechtschreibung wie im zitierten Beispiel). Umgekehrt kennt die schriftliche Kommunikation Intensifikatoren, die in Labovs Liste fehlen, z. B. Unterstreichung, Fett- und Kursivsatz. Labov spricht speziell von doppelten Appositionen und Attributen (z. B. an unsavorylooking passenger in the back of the cab = „I looked into the back of the cab / I saw this character / I didn’t care for the way he looked“), aber es gibt keinen Grund, einfache auszuschließen. Wie sich unten (S. 168f.) zeigen wird, können zudem auch adverbiale Bestimmungen, Attribute, Subjekte und Objekte korrelativ evaluieren. Für Labov unterscheiden sich Nebensätze von den korrelativen Partizipialausdrücken dadurch, dass sie nicht notwendigerweise mit dem finiten Verb des narrativen Satzes gleichzeitig sind. Da dies aber auch nicht auf alle Partizipien zutrifft (selbst im Englischen nicht!), sollte man auch die Möglichkeit explikativer Partizipialausdrücke anerkennen. Umgekehrt gibt es natürlich auch strikt gleichzeitige Temporalsätze, die auszuschließen und den Korrelativa zuzurechnen wären. Vgl. außerdem unten S. 169 zu explikativen Attributen und Prädikaten mit (impliziter) Kopula. So Labov: Further Steps, S. 414 (‚the set of complicating actions that follow the most reportable event‘). Die bei Labov/Waletzky, S. 39, gegebene Definition als ‚that portion
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
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Die Coda bildet den Schlusspunkt und soll deutlich machen, dass sich die Fragen ‚So what?‘ und ‚What finally happened?‘ nun nicht mehr stellen. Dies kann mittels einer Deixis (also eines auf die gerade abgeschlossene Erzählung zurückweisenden Satzes wie z. B. rat was it oder And that was that oder rat was one of the most important) oder zur Gegenwart der Erzählens überleitender Informationen (betreffend das spätere Leben einer beteiligten Person oder die späteren Folgen des Erzählten) geschehen. Immer besteht temporal juncture zwischen Ergebnisabschnitt und Coda.353 Die beschriebene Abfolge ist die ‚Normalform‘ einer Erzählung, die also (hauptsächlich wegen der Evaluation) von der ‚primären Abfolge‘ sehr verschieden ist. Voll ausgeprägt ist sie nach Labovs und Waletzkys Erfahrung vor allem bei Erzählungen persönlicher Erlebnisse, während bei solchen aus zweiter Hand (vicarious experience), wie z. B. Nacherzählungen gesehener Filme oder Fernsehsendungen, oft die Orientierung und die Evaluation fehlen. Unbedingte Voraussetzung für das Vorliegen einer Erzählung ist freilich nur ein einziger der sechs Punkte – die Komplikation. Im Folgenden sollen nun die von Labov und Waletzky entwickelten Kategorien auf Valerius Maximus angewendet werden. Natürlich wäre es kaum durchführbar, jeden einzelnen Hauptsatz des relativ großen Beispielcorpus mit vollständigen displacement sets zu versehen. Dies wäre auch wenig sinnvoll, da die oben dargestellte Buchstaben- und Zahlennotation ohnehin primär definitorischen Zwecken dient. Sie hilft verständlich zu machen, was das narrative Gerüst ist – hier soll aber genügen, es zu finden.354 Die Anekdoten werden als Anhang 1.b erneut im Volltext abgedruckt355 und dabei so in ihre einzelnen, jeweils um einen Hauptsatz herum aufgebauten Satzgefüge unterteilt, dass im Druckbild jedes als eigener Absatz erscheint.356 Auf eine radikale Auflösung der Sammelanekdoten wird diesmal verzichtet, es werden nur
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of the narrative sequence which follows the evaluation‘ ist weniger sinnvoll und wurde zu Recht schon bei Labov: Transformation nicht wiederholt. So Labov/Waletzky, S. 40. Allerdings trifft dies schon auf eines der dort gegebenen Beispiele nicht unbedingt zu. Ein Satz wie Sat was one of the most important könnte z. B. auch nach dem Abstract stehen (in der konkreten Erzählung – siehe den vollständigeren Abdruck bei Labov: Transformation, S. 358f. – nach Well, one, I think, was with a girl). Und selbst Angaben zum späteren Leben einer Person könnten so formuliert werden, dass sie Teil einer Personenorientierung am Anfang sein könnten. Auch Labov: Transformation verzichtet auf Zahlen und displacement sets. Unten S. 425–457. Zur Textgrundlage siehe oben Fn. 176. Die für die genettesche Untersuchung eingeführten Zeitstrukturbuchstaben (vgl. oben bei Fn. 177) werden nur zur Vergleichszwecken (funktionale Einteilung vs. Szeneneinteilung und extradiegetische Textteile) beibehalten und haben hier sonst keine Bedeutung.
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Die Anekdoten
die Übergänge zwischen den Einzelanekdoten mit Doppelstrichen (||) gekennzeichnet.357 Das narrative Gerüst (bestehend aus gebundenen und koordinierten Sätzen) wird durch Fettdruck gekennzeichnet und die Funktion jedes Satzgefüges in abgekürzter Form (ABST, OR, KOMP, EV, ERG, CODA) am Rand notiert, evaluierender Text überdies unterstrichen. Als Hauptsätze gelten dabei auch Sätze, die zwar in der Interpunktion des abgedruckten Texts als Relativsätze erscheinen, sich aber ebenso gut als Hauptsätze mit relativem Anschluss verstehen ließen. Dies betrifft vor allem – aber nicht nur – solche nachgestellten Relativsätze, die die Handlung des vorangehenden Hauptsatzes fortführen. Partizipialkonstruktionen werden wie Nebensätze als unselbständig – weil in einem starren zeitlichen Verhältnis zum umgebenden Satz stehend – behandelt. Präsenspartizipien als verkürzte Hauptsätze zu verstehen,358 ist im Lateinischen mangels eines mit solchen Partizipien gebildeten periphrastischen Tempus nicht möglich. Nur bei Perfektpartizipien kann es Fälle geben, wo zwischen Participium coniunctum und Hauptsatz zu entscheiden ist (vgl. accusare publice iussus, et […] nomen deferre coactus est in 3,8, ext. 4, wo man selbst ohne das et zwei Hauptsätze annehmen könnte). Aus mehreren Hauptsätzen bestehende direkte Reden werden wie bei Labov und Waletzky in diese aufgelöst, wobei zu jedem Satz das einleitende Verb hinzugedacht wird.359 Zwischen solchen Sätzen kann eine temporal juncture nicht nur durch die zeitlich geordneten Inhalte der Rede selbst entstehen,360 sondern auch dadurch, dass der erste Satz zusätzlich zur Rede und ihrer Einleitung weitere Angaben (v. a. Orientierungen) in Form von Partizipialkonstruktionen oder Nebensätzen enthält, die eine Voranstellung des zweiten Satzes verunmöglichen – ein Fall, der bei Labov und Waletzky nicht vorkommt, bei Valerius Maximus aber öfters.361 Wenn keine temporal juncture zwischen den Sätzen besteht, sind sie in der Regel koordinierte Sätze innerhalb eines größeren narrativen Gerüsts, weil der Sprechanlass selbst zeitlich an einer festen Stelle steht.362 Oft vereint ein Satzgefüge mehrere Funktionen. In diesem Fall stehen die Abkürzungen einheitlich in der Reihenfolge des von Labov und Waletzky als normal 357
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Die völlige Auftrennung war notwendig für die Untersuchung der Zeitstruktur (vgl. oben Fn. 177) und auch noch unproblematisch in den Kapiteln Mode und Voix, weil es stets um die Beziehung von Erzählung und Geschichte ging und die Sammelanekdoten eben mehrere Geschichten separat erzählen. Hier, wo der Gegenstand der Untersuchung die innere Organisation der erzählenden Äußerung ist (vgl. oben S. 146), scheint es angemessen, die Einheit zu betonen – zumal manche funktionalen Elemente zusammenfassend für alle Einzelanekdoten gelten können. Vgl. oben Fn. 336 zum englischen Beispielfall bei Labov/Waletzky. Vgl. Labov/Waletzky, S. 23, 28 und 42, Anm. 4f. So ebd., S. 28. Vgl. 3,8,7, 6,2,6, 6,2,8, 6,2,11 und 6,2, ext. 3. So bei Labov/Waletzky, S. 23.
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
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postulierten Vorkommens der Funktionen innerhalb von Erzählungen (also z. B. stets ABST/OR/EV), nicht in der ihres tatsächlichen Vorkommens innerhalb des Satzgefüges. Die nun folgende, auf der Aufbereitung im Anhang beruhende Auswertung geht zunächst von den sechs von Labov und Waletzky postulierten Funktionen aus. Es soll festgehalten werden, inwieweit sie bei Valerius Maximus präsent sind, in welchen Reihenfolgen sie vorkommen, wie sie kombiniert werden, worin genau die entsprechenden Abschnitte bestehen und welche von ihnen typischerweise das narrative Gerüst ausmachen. 6.a
Abstract
Abstracts sind, wenn man von den Anekdotentexten in der Abgrenzung der Editionen von Kempf und Briscoe ausgeht, in 50 der 89 Anekdoten vorhanden (rund 56%),363 wobei so gut wie immer ein Abstract-Satz364 das erste funktionale Element der Anekdote ist.365 Hinzu kommt ein Fall, wo zwei Sätze die Abstractfunktion innehaben, die von allen Editoren366 als letzte Sätze einer vorausgehenden Anekdote betrachtet werden, aber keine der von Labov und Waletzky vorgesehenen Funktionen innerhalb dieser erfüllen.367 Abstracts kommen allein (8 Sätze) sowie in den Kombinationen ABST/OR/EV (34 Sätze), ABST/OR (8 Sätze), ABST/EV (7 Sätze), ABST/OR/KOMP/EV und ABST/OR/EV/CODA (je 1 Satz) vor. Von den insgesamt 59 Sätzen mit AbstractFunktion sind also 44 (rund 75%) zugleich orientierend und 43 (rund 73%) zugleich evaluierend, während nur in einem einzigen Fall die sonst am Ende der
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Darunter sind zwei Anekdoten (1,7,1 und 9,7,1), deren (einzige) Abstracts nicht ihnen, sondern dem Kapitel als ganzem gelten und insofern vielleicht eher als Praefationes behandelt werden sollten. Shackleton Bailey tut dies im Fall von 1,7,1 – wo es sich im Gegensatz zu 9,7,1 um ein ganzes Satzgefüge handelt –, und viele durchaus vergleichbare Kapitelanfänge werden auch von Kempf und Briscoe als Praefationes abgetrennt. Da die einzelnen Haupt- und Nebensätze in der hier praktizierten Erzählungsanalyse nur eine marginale Rolle spielen, wird der Begriff ‚Satz‘ hier und im Folgenden stets als Bezeichnung für das gesamte Satzgefüge verwendet. Die einzige Ausnahme ist 3,8, ext. 1, wo dem Abstract eine Orientierung für den ganzen nichtrömischen Kapitelteil vorausgeht. Geprüft wurden die Editionen von Halm (Valeri Maximi Factorum et dictorum memorabilium libri novem. Iulii Paridis et Ianuarii Nepotiani epitomis adiectis, hg. von Carolus Halm, Bibliotheca Teubneriana, Leipzig 1865), Kempf, Faranda, Combès, Briscoe und Shackleton Bailey. Nämlich die letzten zwei Sätze von 6,2,7, die ein gemeinsames Abstract für die zwei Anekdoten 6,2,8 und 6,2,9 bilden.
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Die Anekdoten
Anekdote stehende Coda-Funktion zum Abstract gezogen wird – und eine Verbindung des Abstracts mit Komplikation und/oder Ergebnis außer im Sonderfall des Kapitelabstracts368 schon definitorisch ausgeschlossen ist. ABST/OR/EV kann geradezu als die für Valerius Maximus typische Anekdoteneinleitung bezeichnet werden. Sie bildet das erste funktionale Element in 33 der 89 Anekdoten (rund 37%) und ist damit die häufigste Art, eine Anekdote zu beginnen (vor OR/KOMP mit rund 15%). Dies gilt auch in allen einzelnen Kapiteln außer 2,1 (nur 1 Fall in 10 Anekdoten, dafür 3 Fälle von OR/KOMP) und 9,7 (nur 1 Fall in 7 Anekdoten). Auf die sprachliche Form der Verbindung von Abstracts mit Orientierungen und Evaluationen wird anlässlich dieser einzugehen sein. In den meisten Anekdoten, die über ein Abstract verfügen, beschränkt sich dieses auf einen einzigen Satz (so stets in den Kapiteln 2,1, 4,2, 5,7, 7,7, 8,9 und 9,7). Nur sechsmal erstreckt sich ein für die ganze Anekdote (oder zwei) geltendes Abstract über mehr als einen Satz.369 Zudem weist die Sammelanekdote 3,8,2 zusätzlich zum gewöhnlichen, die Einzelanekdoten zusammenhaltenden Gesamtabstract (vgl. auch 2,1,9, 4,2,4 und 6,2,12) noch ein zweites Abstract für die letzte von ihnen auf (quid? in bello gerendo nonne par eius constantia?). Auf die Kapitelabstracts in 1,7,1 und 9,7,1 folgt dagegen kein zweites Abstract für die konkrete Anekdote, die vielmehr nur mit einer Orientierung eingeleitet wird (im selben bzw. einem zweiten Satz); auch die Anekdoten 6,2,8 und 6,2,9 haben keine eigenen Abstracts neben dem am Ende von 6,2,7 gegebenen gemeinsamen. Inhaltlich lassen sich die Anekdotenabstracts in zwei Gruppen einteilen. Die einen fassen die Haupthandlung relativ konkret zusammen (meist als Satz, z. B. in 1,7,3: Illud etiam somnium […] quod eadem nocte duo consules […] uiderunt; seltener als Schlagwort, z. B. in 1,7,4: Sequitur aeque ad publicam religionem pertinens somnium). Die anderen begnügen sich mit der Angabe des abstrakten [emas (meist als Schlagwort, z. B. in 3,8,1: latius mihi circumspicienti ante omnia se Fuluii Flacci constantia offert). Klare Präferenzen für die eine oder andere Art von Abstract lassen sich in den Kapiteln 1,7, 4,2 und 9,7 (zugunsten des Konkreten) sowie den beiden Tugendkapiteln 3,8 und 6,2 (zugunsten des Abstrakten) beobachten. Auch die Gesamthäufigkeit von Abstracts variiert von Kapitel zu Kapitel. Sie reicht (gerundet) von einer Präsenz in 71% der Anekdoten (10 von 14 in 3,8; 5 von 7 in 4,2), 67% (12 von 18 in 1,7; 10 von 15 in 6,2370), 60% (3 von 5 in 5,7), 368
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In 9,7,1 wird einem OR/KOMP/EV-Satz ein Kapitelabstract als Nebensatz vorangestellt: Sed ut uiolentiae seditionis tam togatae quam etiam armatae facta referantur […]. ABST/OR/EV und ABST/EV in 1,7, ext. 1; ABST/OR/EV und ABST in 1,7, ext. 2; zweimal ABST/EV mit vier orientierenden und/oder evaluierenden Sätzen dazwischen in 3,8,6; dreimal ABST in 6,2,3; zweimal ABST/OR in 6,2,5; ABST/OR und ABST in 6,2,7 für 6,2,8 und 6,2,9. Das Abstract in 6,2,7 für 6,2,8 und 6,2,9 (siehe oben Fn. 367) wird nur einmal gezählt.
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
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57% (4 von 7 in 9,7), 43% (3 von 7 in 7,7) und 33% (2 von 6 in 8,9) bis lediglich 20% (2 von 10 in 2,1). Die Variation lässt sich in diesem Fall wohl kaum mit den [emen der Kapitel erklären – und auch nicht mit den durchschnittlichen Gesamtlängen der Anekdoten,371 auch wenn insgesamt die 52 Anekdoten mit mindestens einem Abstract372 (durchschnittlich rund 5,7 Sätze) doch ein wenig länger sind als die 37 ohne Abstract (rund 5,0 Sätze). Ein Abgleich sämtlicher Abstracts mit der anlässlich der Untersuchung der Zeitstruktur vorgenommenen Szeneneinteilung (scènes, sommaires, extradiegetische Textteile) ergibt, dass der naheliegende Fall der Übereinstimmung von Abstracts mit als ‚Vorwegnahme‘ klassifizierten sommaires zwar sehr häufig ist, aber keineswegs alle Abstracts überhaupt in diesem Teil der Untersuchung erfasst wurden. Einige wurden nicht von der auf sie folgenden Haupterzählung (meist scène) unterschieden, weil sie nicht durch Anachronie oder Änderung der Erzählgeschwindigkeit auffielen. Nach funktionalen Einheiten als solchen wurde nicht gesucht, und das bloße Vorkommen zweier Formulierungen derselben Sache galt nicht als scène-spaltend. Manche der Sätze, die sich nun nach Labov und Waletzky als Abstracts identifizieren ließen, erschienen also noch als bloße Redundanzen. Außerdem gibt es – neben der häufigen Einbettung schlagwortartiger ‚Vorwegnahme‘-Abstracts in extradiegetische Sätze (die wertenden Charakter haben oder den Erzählprozess selbst thematisieren373) – auch nicht wenige Abstracts, deren Text zur Gänze als extradiegetisch eingestuft wurde, weil sie zu allgemein gefasst waren, um als anachronische Vorwegnahmen einer konkreten in der Anekdote vorkommenden Handlung zu gelten. Dies gilt für zwölf Abstracts einzelner Anekdoten (2,1,7; letzte Teilanekdote in 3,8,2; 3,8,6; 3,8,7; 3,8, ext. 4; 3,8, ext. 5; erster Abstractsatz in 6,2,3; 6,2,4; 6,2,5; 6,2,10; 6,2, ext. 3; 8,9, ext. 3), außerdem für sämtliche Kapitelabstracts (1,7,1 und 9,7,1) und gemeinsamen Abstracts von Sammelanekdoten (2,1,9; 3,8,2; 4,2,4; 6,2,12) sowie das in 6,2,7 vorweggenommene Abstract für 6,2,8 und 6,2,9.
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Siehe die Zahlen unten auf S. 162. Einschließlich 6,2,8 und 6,2,9. Extradiegetische Sätze, die den Erzählprozess starten, entsprechen dem, was Minchin, S. 185, nach Livia Polanyi: Literary Complexity in Everyday Storytelling, in: Spoken and Written Language. Exploring Orality and Literacy, hg. von Deborah Tannen, Norwood, N.J. 1982, S. 155–170, hier 158, Anm. 4, als entrance talk bezeichnet (= ‚preliminary negotiation […] between the would-be storyteller and his potential audience‘).
Die Anekdoten
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Orientierung
Die Orientierungsfunktion ist in jeder der 89 Anekdoten gegeben. Sie wird 77mal (also in rund 87% der Anekdoten) im ersten funktionalen Satz eingeführt,374 achtmal ist sie die zweite und viermal die dritte Funktion im Text (d. h. sie folgt auf mindestens einen Satz, in dem bereits eine oder zwei andere Funktionen eingeführt wurden); dreimal wird sie zudem in den letzten Sätzen der vorhergehenden Anekdote (nach der Einteilung Briscoes) vorweggenommen.375 Sie kommt allein (39 Sätze) sowie in den Kombinationen OR/KOMP (48 Sätze), ABST/OR/EV (34 Sätze), OR/KOMP/EV (16 Sätze), OR/EV (10 Sätze), ABST/OR (8 Sätze), ABST/OR/KOMP/EV, ABST/OR/EV/CODA, OR/KOMP/ ERG, OR/EV/ERG und OR/ERG (je 1 Satz) vor. Von den insgesamt 160 Sätzen mit Orientierungsfunktion enthalten also 66 (rund 41%) zugleich eine Komplikation, 63 (rund 39%) eine Evaluation und 44 (rund 28%) ein Abstract, während eine Verbindung mit der Ergebnis- oder der Coda-Funktion selten ist. Mehrfaches Vorkommen der Funktion in derselben Anekdote ist deutlich häufiger als bei den Abstracts – es gibt durchschnittlich rund 1,8 orientierende Sätze pro Anekdote (1,6 pro Einzelanekdote). Orientierungen in mehreren Sätzen sind allerdings nicht in allen Kapiteln gleich häufig. Außer infolge von Sammelanekdoten kommen sie in 2,1 fast nicht vor (nur in 2,1,4), und auch in 1,7 sind sie auffällig selten (4 von 18 oder rund 22% der Anekdoten). In den übrigen Kapiteln findet man sie in rund 43% (3 von 7 in 9,7), 50% (3 von 6 in 4,2), 67% (4 von 6 in 8,9), 71% (10 von 14 in 6,2; 5 von 7 in 7,7), 85% (11 von 13 in 3,8) und 100% (von 5 in 5,7) der Nicht-Sammelanekdoten.376 Nur in drei Anekdoten werden die letzten Orientierungen in den Komplikationsabschnitt eingeschaltet (in 3,8, ext. 6 als parenthetischer OR-Satz) oder nach ihm nachgereicht (in 5,7,1 als OR/EV/ ERG-Satz, in 5,7,2 als OR-Satz); sonst stehen Orientierungen ausschließlich vor der Komplikation oder werden mit dem ersten Komplikationssatz kombiniert. Bei Sammelanekdoten kann eine einmal gegebene Orientierung für mehrere Einzelanekdoten gelten – auf die jeweils erste Orientierung trifft dies in den untersuchten Kapiteln in allen Fällen zu. In 2,1,5 werden in der ersten Einzelanekdote nur die Personen, um die es geht, spezifiziert (Sed quo matronale decus im OR/ KOMP/EV-Satz), während in der zweiten diese Angabe mit einer zusätzlichen Zeitangabe wiederholt (olim Romanis feminis im OR/KOMP/EV-Satz) und in der dritten nur auf diese zweite Orientierung verwiesen wird (earum im KOMP/EV-
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Davon einmal (in 3,8, ext. 1) zunächst für den ganzen nichtrömischen Kapitelteil. Schon Bliss, S. 16, beobachtet, dass meist im ersten Satzgefüge einer Anekdote „the initial information“ (einschließlich des Namens des Protagonisten) mitgeteilt wird. In 6,2,7 für 6,2,8 und 6,2,9, in 6,2,8 für 6,2,9 und in 8,9,3 für den ganzen nichtrömischen Kapitelteil. Die Zahlen inkludieren 6,2,9 und 8,9, ext. 1, wo jeweils ein OR/KOMP-Satz auf einen noch zur vorhergehenden Anekdoten gezählten OR-Satz folgt.
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
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Satz). Die anderen vier Sammelanekdoten beginnen jeweils mit einem allgemeingültigen ABST/OR/EV-Satz, der als Orientierung ausschließlich Personennennungen enthält (Senectuti iuuenta in 2,1,9; die Namen der Protagonisten in 3,8,2, 4,2,4 und 6,2,12); die Orientierungen für die Einzelanekdoten bestehen dann in der Präsentation der konkreten Ausgangssituationen (iuuenes senatus die für die erste und Inuitati ad cenam für die zweite Einzelanekdote in 2,1,9, jeweils in einem OR/KOMP- oder OR/KOMP/EV-Satz; je ein eigener OR-Satz für die erste und vierte Einzelanekdote in 3,8,2, während die zweite und dritte direkt mit der Haupthandlung einsetzen; die Namen der Feinde und die Feindschaften als Ausgangssituationen in den beiden Einzelanekdoten in 4,2,4, in einem OR/KOMP- und einem OR/KOMP/EV-Satz; rerum, quas triumuiri dederant und cum multa de temporibus liberius loqueretur in 6,2,12, jeweils in einem OR/KOMP-Satz). Die in Anhang 1.b hinter der Abkürzung OR zu findenden hochgestellten Buchstaben P, O, Z und A bezeichnen die nun zu besprechenden vier typischen Inhalte von Orientierungen: Identität der Hauptperson(en), Ort,377 Zeit und Ausgangssituation.378 (1) Fast jede Anekdote enthält irgendeine Art von Personenidentifikation – und sei es auch nur die Nennung des Namens. Selbst in den Anekdoten des Kapitels 2,1, in denen es nicht um Individuen geht, gibt es fast immer identifizierende Angaben (zu Geschlecht, Alter oder Verwandschaftsverhältnissen der in die Bräuche und Sitten involvierten Personen). Nur 2,1,1 ist so allgemein, dass keinerlei Orientierung zu Personen gegeben wird (apud antiquos ist eine reine Zeitangabe, und die Haupthandlung ist im Passiv formuliert: nihil gerebatur nisi auspicio prius sumpto).
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Berücksichtigt werden nur Angaben zu Orten, die Schauplatz der gesamten Haupthandlung oder des Großteils der Haupthandlung von ihrem Anfang an sind – nicht zu Orten, die entweder nur Schauplatz der Ausgangssituation sind (wie per circum Flaminium in 1,7,4) oder erst nach Beginn der Haupthandlung aufgesucht werden. Demonyme zu beteiligten Personen können ebenfalls oft als eine Form der Ortsangabe betrachtet werden – aber nicht immer (eques Romanus in 5,7,2 und 7,7,2 ist ein Titel, Seodorus Cyrenaeus in 6,2, ext. 3 offenkundig eine reine Herkunftsbezeichnung – Lysimachos war nicht König in Kyrene –, und Cyrenaicus in 8,9, ext. 3 steht für die Philosophenschule). Auszuschließen ist auch 5,7, ext. 2, wo zwar vom kappadokischen Königtum die Rede ist, aber unklar bleibt, ob die erzählte Begegnung dort stattfand. Die Abgrenzung von Zeit und Ausgangssituation ist etwas problematisch, weil historische Ereignisse, die als (Teil der) Ausgangssituation relevant sind, zugleich auch datierend wirken können (dies ist sogar fast die einzige Art von Einordnung in die absolute Chronologie, die in den untersuchten Kapiteln vorkommt). Solche Fälle werden hier nur als Orientierungen zur Ausgangssituation gezählt, während die Sigle Z für die wenigen sonstigen Zeitangaben reserviert bleibt.
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Die Anekdoten
Wenn es mehrere orientierende Sätze zu einer Anekdote379 gibt, findet sich im ersten stets eine Personenangabe380 (mit der einzigen Ausnahme 3,8,6, wo zuerst die Ausgangssituation präsentiert und erst danach eine Person eingeführt wird). In den übrigen können noch weitere Hauptpersonen eingeführt werden. Nur selten erstreckt sich dagegen die Einführung einer einzelnen Person über mehr als einen Satz (im Fall von 3,8,7 und 6,2,9 erst eine namenlose Einführung – für 6,2,9 im letzten Satz von 6,2,8 –, dann die Namensnennung; in 6,2,5 ein rhetorisches FrageAntwort-Paar: libertas sine Catone? non magis quam Cato sine libertate). Orientierungen zu Personen machen nur selten ganze Sätze aus (je einmal in 1,7,1, 3,8,7 und 3,8, ext. 6, in 6,2,8 für 6,2,9 sowie in 6,2, ext. 1). Meist sind sie eingeschaltet in Sätze, die entweder auch Komplikationen und/oder Orientierungen zur Ausgangssituation enthalten (52mal ist jenes, 67mal dieses, davon 44mal beides zugleich der Fall),381 oder solche mit Abstracts und/oder Evaluationen (sämtliche 44 Sätze, die Abstracts mit Orientierungen verbinden, enthalten Personenangaben; in Sätzen mit Evaluationen kommen sie 57mal vor, davon 37mal zugleich mit Abstracts und 15mal mit Komplikationen). Die sprachliche Form ist in aller Regel die eines Subjekts oder Objekts oder eines Genetivus subiectivus. Nur selten gibt es längere Angaben zur Person wie in 8,9, ext. 2 (als Apposition): Pericles autem, felicissimis naturae incrementis sub Anaxagora praeceptore summo studio perpolitis instructus. (2) Orientierende Angaben zum Ort sind mit 29 Fällen relativ selten und auffälligerweise in den nichtrömischen Abschnitten ebenso minoritär wie in denen, wo Rom als Schauplatz der meisten Anekdoten vorausgesetzt werden kann (15 von 55 römischen Anekdoten382 = rund 27%, 13 von 34 nichtrömischen = rund 38%). Anscheinend ist die örtliche Einordnung der Geschichten kein essentieller Teil dessen, was Valerius Maximus dem Leser vermitteln will. In den ‚römischen‘ Anekdoten handelt es sich bei den angegebenen Orten meist um solche außerhalb Roms,383 nur zweimal um Rom selbst (2,1,5: Romanis feminis; 3,8,5: occupata urbe) und dreimal um spezifische Orte innerhalb Roms 379
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Die für die nichtrömischen Kapitelteile als ganze geltenden Orientierungen in 3,8, ext. 1 und 8,9,3 sind also hier nicht berücksichtigt. Meist also im ersten funktionalen Satz der Anekdote (vgl. oben bei Fn. 374). Hier nicht gezählt wird der parenthetisch in einen KOMP-Satz eingeschaltete ganze Satz in 3,8, ext. 6. Nicht mitgezählt ist die Anekdote 8,9,3, die im Schlusssatz die Information enthält, dass die bisherigen Anekdoten – im Gegensatz zu den folgenden – ‚zu Hause‘ spielten (cuius facta mentione, quoniam domesticum nullum maius adiecerim exemplum, peregrinandum est). 1,7,1: in campis Philippiis; 1,7,3: non procul a Vesuuii montis radicibus; 1,7,5: in uilla quadam campi Atinatis; 1,7,7: Athen; 1,7,8: Syrakus; 3,8,1: Capua; 3,8,8: Alexandria; 6,2,10: Placentia; 8,9,1: iuxta ripam fluminis Anienis in colle, qui sacer appellatur; 9,7, mil. Rom. 1: Asia.
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(2,1,6: in Palatio; 6,2,2: pro rostris; 6,2,11: in foro). In den nichtrömischen handelt es sich einmal um eine nicht näher bezeichnete Küste (1,7, ext. 3: ad litus), sonst stets um konkrete geographische Angaben,384 davon fast die Hälfte in Form von Demonymen. Hinzu kommen die generellen Überleitungen vom römischen zum nichtrömischen Kapitelteil in 3,8, ext. 1 (stilo meo ad externa iam delabi permittam) und 8,9,3 (peregrinandum est). Mit diesen zwei Ausnahmen macht keine Ortsangabe den alleinigen Inhalt eines Satzes aus; 23 treten in Verbindung mit Ausgangssituationen und 20 mit Personen auf, davon 17 mit beiden. In Anekdoten mit zwei Orientierungssätzen steht die Ortsangabe viel öfter im zweiten (12 Fälle) als im ersten (3 Fälle). Das Vorkommen mehrerer örtlicher Orientierungen (entsprechend der hier vorausgesetzten Definition385) ist in Nicht-Sammelanekdoten prinzipiell nicht möglich, aber auch in Sammelanekdoten nicht zu beobachten. Sofern es sich nicht um Demonyme handelt, ist die sprachliche Form der Ortsangaben meist die einer adverbialen Bestimmung (auch als Richtungsangabe wie z. B. Athenas confugit oder Megaram uenerunt), gelegentlich die eines Objekts (z. B. cum obsideret Syracusas oder Capuam […] occupauerat). In einem Fall kann über die adverbiale Bestimmung hinaus der ganze Nebensatz als ausschließlich der Verortung dienend gewertet werden (1,7,5: cum in uilla quadam campi Atinatis deuersaretur). Dasselbe gilt für den ad externa überleitenden Hauptsatz in 3,8, ext. 1, während die unkonkrete Ortsangabe in 8,9,3 sogar das Prädikat ausmacht (peregrinandum est). (3) Für die zeitliche Einordnung der Anekdoten sind in der Regel die historischen Ereignisse oder Situationen, vor deren Hintergrund oder als deren Fortsetzung die Haupthandlung stattfindet, die einzigen im Text vorhandenen Anhaltspunkte.386 Die expliziten orientierenden Zeitangaben sind lediglich acht (alle in den Kapiteln 1,7 und 2,1), davon sieben relativ oder vage (z. B. in 1,7,1: nocte, quam dies insecutus est, quo […] = Datierung der Haupthandlung relativ zu einem historischem Ereignis, das später den Ergebnisabschnitt bildet387) und nur eine absolut und präzis (2,1,4: in Jahren seit Gründung der Stadt). Nur einmal tritt eine zeitliche Orientierung allein auf (in 2,1,1 in einem OR/ KOMP-Satz). In den übrigen sieben Fällen verbindet sie sich stets mit solchen zu Personen (davon fünfmal zugleich mit Ausgangssituationen und/oder Orten). 384
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1,7, ext. 6: Himerae femina; 1,7, ext. 8: Syrakus; 1,7, ext. 10: Megara; 3,8, ext. 1: Salapia, 3,8, ext. 2 und 3,8, ext. 3: Athenienses; 3,8, ext. 4: Athen; 3,8, ext. 5: Syracusanus Dio; 3,8, ext. 6: Kilikien; 6,2, ext. 2: Syrakus, 8,9, ext. 1: Athenienses, 8,9, ext. 2: Athen. Vgl. oben Fn. 377. Sie werden hier als Ausgangssituationen behandelt (vgl. oben Fn. 378). Weitere Fälle: 1,7,3: eadem nocte duo consules […] uiderunt; 2,1,1: Apud antiquos und 2,1,8: maiores; 2,1,5: olim und 2,1,7: aliquamdiu; 2,1,9: senatus die = „immer, wenn eine Senatssitzung stattfand“.
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Die Anekdoten
Sprachlich ist die explizite Zeitangabe in sieben Fällen eine adverbiale Bestimmung (die einmal einen Relativsatz einschließt), einmal aber liegt sie im Subjekt (maiores). (4) Ausgangssituationen sind nach Personen der häufigste Gegenstand von Orientierungen. In sechs Kapiteln (3,8, 4,2, 5,7, 6,2, 7,7, 9,7) kommen sie in jeder Anekdote vor, und in den übrigen sind sie ebenfalls gut vertreten (rund 67% der Anekdoten in 8,9, 61% in 1,7 und 50% in 2,1). Im Vergleich zu Personen- und Ortsangaben treten sie relativ oft allein auf (16mal, stets im Anschluss an andere Orientierungssätze). Auf die Häufigkeit der Kombination mit Personen- und/oder Ortsorientierungen wurde bereits eingegangen (67 und 23 Fälle, davon 17 mit beiden). Hinzuweisen ist aber auch auf die ebenfalls häufige Kombination mit Komplikationssätzen (57 Fälle – mit oder ohne zusätzliche Personen-, Orts- und Zeitorientierungen), während die mit Abstractsätzen sehr selten ist (4 Fälle). In Anekdoten mit zwei oder drei Orientierungssätzen stehen Ausgangssituationen öfter im zweiten (und dritten) als im ersten – sie treten typischerweise nach oder in Kombination mit der Personenorientierung auf, nur selten davor. Relativ oft erstrecken sie sich über zwei oder mehr Sätze (13 Fälle in den Kapiteln 3,8, 4,2, 5,7, 6,2, 7,7 und 8,9), in 7,7,1 sind es sogar sechs (davon vier, von einer Evaluation eingeleitet, nach dem ersten Komplikationssatz) und in 5,7, ext. 1 fünf (insgesamt kommen 100 Sätze auf 76 Anekdoten). In vier der insgesamt fünf Sammelanekdoten gibt es separate Ausgangssituationen für die Einzelanekdoten (nur 2,1,5 kommt ganz ohne Ausgangssituation aus). Die sprachliche Form der Ausgangssituationen ist nur dann der Hauptsatz, wenn sie allein auftreten oder mit anderen Orientierungen (Personen, Orten, Zeiten) kombiniert sind, sowie in einem der zwei OR/EV-Sätze mit Ausgangssituationen (5,7, ext. 1). In OR/KOMP(/EV)-Sätzen ist der Hauptsatz fast stets für die Komplikation reserviert (entsprechend dem Prinzip ‚Hauptsachen in Hauptsätze‘388), während die Ausgangssituationen meist Ablativi absoluti, Participia coniuncta oder Nebensätze (am häufigsten mit cum + Konjunktiv, aber auch z. B. Relativsätze) sind; je einmal kommen zudem ein Präpositionalausdruck (2,1,10: in conuiuiis) und ein ganzes, partizipial gebildetes Hauptsatzsubjekt (2,1,9: Inuitati ad cenam) vor. Ähnlich sieht es auch in ABST/OR/EV-, ABST/OR/KOMP/ EV-, OR/KOMP/ERG- und OR/EV/ERG-Sätzen aus – nicht die Ausgangssituation bildet den Hauptsatz, sondern stets eine der (oder beide) anderen Funktionen. Inhaltlich handelt es sich in 1,7 (De somniis) meist um öffentliche oder private Ereignisse, die dem Traum vorausgehen oder in der Traumnacht noch andauern, oder um den Schlaf als solchen, einmal um die familiäre Situation, auf die der 388
So lautet bekanntlich eine klassische (neusprachliche) Stilschulmeisterregel (vgl. etwa Ludwig Reiners: Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa, München 1961, S. 114 und 182–184). Dass das Prinzip bei Valerius Maximus nicht universell gültig ist, zeigen (unten bei Fn. 418) die KOMP/ERG-Sätze.
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Traum Einfluss nimmt; in 2,1 (De institutis antiquis) meist um die ersten Stufen oder den institutionellen Rahmen habitueller Abläufe, nur einmal um die Sitte als ganze, die durch das – ausnahmsweise die Haupthandlung ausmachende – Einzelereignis beendet wird; in 3,8 (De constantia) um historische Ereignisse, Zustände und Konflikte389 oder deren Auswirkungen auf die Hauptperson (z. B. ihre Gefangennahme), seltener um personenbezogene Vorgeschichten von geringerer historischer Bedeutung; in 4,2 (Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine) stets um die Feindschaften und deren Gründe; in 5,7 (De parentum amore et indulgentia in liberos) meist um die konkreten (oft bedrohlichen) Situationen, in denen sich die Treue des Vaters zum Sohn erweist, und einmal um die gemeinsame Vorgeschichte von Vater und Sohn; in 6,2 (Libere dicta aut facta) manchmal wie in 3,8 um historische Ereignisse, häufiger aber um die konkreten Anlässe der libere dicta (oder der Provokationen, auf die diese dann reagieren) – meist Reden oder Prozesse, aber auch anderes (z. B. eine [eateraufführung); in 7,7 (De testamentis quae rescissa sunt) meist um die Enterbungen und die ihnen vorausgehenden familiären Entwicklungen (einmal zusätzlich um den Militärdienst des Enterbten und seine Rückkehr), einmal um die Einsetzung eines unwürdigen Erben und dessen Vorleben; in 8,9 (Quanta uis sit eloquentiae) einmal um eine politische Krise, zweimal um unmittelbare Anlässe (einmal für eine wirkmächtige Rede und einmal für eine Äußerung über die Macht der Rede) und einmal um einen historischen Präzedenzfall; in 9,7 (De ui et seditione) um politische Konflikte oder Entscheidungen oder um Zustände im Militär. In der Szeneneinteilung entsprechen die Ausgangssituationen den dort als ‚Vorgeschichte‘ bezeichneten sommaires, außerdem noch einigen weiteren sommaires und scènes mit präliminären Inhalten (‚Anlass des Traums‘, ‚Auftrag zur Anklage‘, ‚langjährige Feindschaft‘ usw.). Noch etwas zahlreicher sind allerdings diejenigen, die nicht als eigene scènes oder sommaires identifiziert wurden, sondern in denen der Haupthandlung (= Komplikation) aufgehen.390 Es gibt dabei deutliche Unterschiede zwischen den Kapiteln: in 3,8, 4,2 und 9,7 überwiegen klar die eigenen sommaires oder scènes, in 1,7, 2,1 und 6,2 das Aufgehen in anderen. Nur ein einziges Mal (in 3,8,6) wurde eine Ausgangssituation dem extradiegetischen Text zugerechnet – sie ist allgemein formuliert und in eine vom Abstract ausgehende allgemeingültige Erwägung eingeschaltet ([…] sed ubi domestica quies seditionum agitata fluctibus est, […]).
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In 3,8,6 werden diese in allgemeiner Form ausgedrückt, weil die konkret betroffenen Personen noch nicht eingeführt sind. Wie schon im Fall der Abstracts kann auch bei den Ausgangssituationen nicht davon ausgegangen werden, dass zwangsläufig jede durch Anachronie, Präsenz einer Ellipse oder Änderung der Erzählgeschwindigkeit auffällt. Außerdem wurden – wie bereits auf S. 106 angekündigt – anachronische Einschaltungen bei der Szeneneinteilung nur in gewissen Sonderfällen berücksichtigt.
Die Anekdoten
162 6.c
Komplikation
Die als ‚Komplikation‘ bezeichneten Sätze (der Begriff ist relativ zur – oft, aber nicht immer, im Orientierungsabschnitt explizit dargestellten – Ausgangssituation zu verstehen) enthalten die wichtigsten, das Interesse des Lesers (und Autors) an der Anekdote auslösenden Ereignisse. Diese erstrecken sich in den untersuchten Kapiteln sehr oft über mehrere Sätze. Es gibt insgesamt 233 Sätze mit ‚komplizierendem‘ Inhalt, also durchschnittlich rund 2,6 pro Anekdote (2,4 pro Einzelanekdote); davon sind 143 (also rund 61% oder 1,6 pro Anekdote) ausschließlich Komplikationssätze und die übrigen mit anderen Funktionen kombiniert.391 In den Kapiteln variiert die Zahl der komplizierenden Sätze pro Anekdote von rund 3,6 (in 5,7), 3,5 (in 1,7 und 6,2), 3,3 (in 3,8) und 2,4 (in 7,7) bis lediglich 1,5 (in 2,1), 1,4 (in 4,2), 1,1 (in 9,7) und 1,0 (in 8,9). Die Verteilung korreliert tendenziell mit der der Gesamtlängen der Anekdoten, die von rund 7,6 (in 5,7), 7,3 (in 3,8), 6,5 (in 6,2), 6,0 (in 1,7) und 5,7 (in 7,7) Sätzen bis 4,3 (in 8,9), 3,6 (in 2,1), 2,9 (in 4,2) und 2,3 (in 9,7) reichen. Da es in den untersuchten Kapiteln stets Orientierungen gibt, beginnt keine Anekdote unvermittelt mit einem reinen Komplikationssatz; 22, d. h. rund 25%, beginnen mit einem Satz, der Orientierung und Komplikation verbindet – rund 60% (6 von 10) in 2,1, 43% (3 von 7) in 9,7, 33% (2 von 6) in 8,9, 29% (2 von 7) in 7,7, 20% (1 von 5; 3 von 15) in 5,7 und 6,2, 14% (2 von 14; 1 von 7) in 3,8 und 4,2, 11% (2 von 18) in 1,7.392 In allen anderen Fällen beginnt die Haupthandlung frühestens im zweiten funktionalen Satz (42mal im zweiten, 17mal im dritten, 5mal im vierten, 1mal im sechsten und 2mal im siebten), nach Orientierungen (60mal), Abstracts (49mal) und/oder Evaluationen (48mal), je einmal auch nach einem vorgezogenen Ergebnis und einer vorgezogenen Coda. Mit sehr wenigen Ausnahmen besteht die Komplikation in jeder Anekdote (im Fall von Sammelanekdoten in jeder Einzelanekdote) nur aus einem einzigen, oft mehrere Sätze umfassenden Abschnitt, der weder durch vollständig andersartige Sätze unterbrochen wird (dies geschieht nur in 3,8, ext. 6 durch einen parenthetischen Orientierungssatz, in 6,2,1 durch Evaluations- und in 7,7,1 durch Evaluations- und Orientierungssätze) noch durch Kombinationen mit anderen Funktionen, mit Ausnahme der Evaluation (nur in 4,2,5 stehen zwei OR/KOMP-Sätze hintereinander; sonst findet man die Kombination von Komplikation und Orientierung nur im ersten Komplikationssatz und die mit einem Ergebnis nur im letzten). Die Komplikation ist nur eher selten der Schlusspunkt der Anekdote. Von den 97 Einzelanekdoten der untersuchten Kapitel enden zehn mit reinen Komplikations- und fünf mit OR/KOMP-Sätzen (zusammen rund 15%). In allen anderen
391 392
Siehe die Abschnitte zu den jeweiligen anderen Funktionen. Darunter sechs Anekdoten, die überhaupt nur einen funktionalen Satz enthalten: zwei in 9,7 sowie je eine in 2,1, 4,2, 7,7 und 8,9.
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
163
Fällen ist dem letzten Komplikationssatz ein Ergebnis, eine Evaluation und/oder eine Coda nachgestellt oder beigemischt. 6.d
Evaluation
Die Evaluationsfunktion kommt zwar im Gegensatz zur Orientierungs- und Komplikationsfunktion nicht in allen, aber doch in fast allen Anekdoten vor (87 von 89).393 Sie treten allein (77 Sätze) sowie in den Kombinationen ABST/OR/EV (34 Sätze), KOMP/EV (22 Sätze), EV/ERG (18 Sätze), OR/KOMP/EV (16 Sätze), OR/EV (10 Sätze), ABST/EV (7 Sätze), EV/CODA (5 Sätze) sowie ABST/OR/ KOMP/EV, ABST/OR/EV/CODA und OR/EV/ERG (je 1 Satz) auf. Im Durchschnitt gibt es pro Anekdote rund 2,2 Sätze (pro Einzelanekdote rund 2,0), die Evaluationen enthalten – mit starken Unterschieden zwischen den Kapiteln: 3,6 (in 3,8), 3,2 (in 5,7), 2,2 (in 8,9), 2,1 (in 6,2 und 7,7), 2,0 (in 4,2), 1,9 (in 2,1), 1,3 (in 1,7 und 9,7) pro Anekdote. Davon sind im Durchschnitt 0,9 reine Evaluationssätze – in den Kapiteln 1,6 (in 7,7), 1,5 (in 8,9), 1,2 (in 3,8), 1,1 (in 6,2), 1,0 (in 2,1), 0,5 (in 1,7), 0,4 (in 5,7), 0,3 (in 9,7) und 0,1 (in 4,2). Reine Evaluationssätze oder Gruppen solcher Sätze stehen 33mal am Ende der Anekdote oder Teilanekdote, 4mal am Anfang, 4mal zwischen KOMP(/EV) und (EV/)ERG, 3mal zwischen (oder eingeschoben in) KOMP(/EV), 2mal zwischen OR(/EV) und je 1mal zwischen ABST/EV und OR/EV, ABST/OR/EV und OR, OR/KOMP und EV/CODA, KOMP und OR sowie ERG und OR/KOMP. In der Seltenheit der bei Labov und Waletzky als Regelfall erscheinenden Stellung der Evaluation als eigener Abschnitt zwischen Komplikation und Ergebnis (in rund 4% aller Teilanekdoten und 11% derjenigen, die über Evaluation und Ergebnis verfügen) liegt wohl der eklatanteste strukturelle Unterschied zwischen den Anekdoten des Valerius Maximus und den meisten der von Labov und Waletzky untersuchten mündlichen Erzählungen. Labov und Waletzky selbst bezeichnen diese Art von Evaluationsabschnitt als typisch für Erzählungen eigenen Erlebens,
393
Von den hier gemeinten Evaluationen abzugrenzen sind einerseits Sätze, die nicht durch verbale Mittel, sondern lediglich kraft der berichteten Ereignisse die Relevanz des Hauptinhalts erhöhen (z. B. die Verwirklichungen der Traumvisionen), und andererseits Wertungen, die nicht den Hauptinhalt betreffen – an die Orientierung angeschlossene Wertungen sind nur dann Evaluationen, wenn sie zur Bedeutung des Hauptinhalts beitragen (wie z. B. in 8,9,1, wo die düstere Bewertung der Ausgangssituation deren Beendigung umso verdienstvoller erscheinen lässt; also nicht z. B. diui Augusti sacratissima memoria in 1,7,1). Die zwei Anekdoten, in denen keine Evaluationen festgestellt wurden, sind 2,1,1 und 2,1,8; hinzu kommen die zweite Teilanekdote in 3,8,2 (wo es allerdings in der ersten einen ABST/OR/EV-Satz gibt, der für alle gilt) und die zweite in 6,2,12.
164
Die Anekdoten
während sie in ihren Beispielen für Erzählungen aus zweiter Hand fehlten.394 Ihre relative Seltenheit bei Valerius Maximus könnte aber auch mit der bei ihm im Vergleich zu den von Labov und Waletzky gesammelten Erzählungen zu den [emen ‚street fight‘ und ‚a situation where you were in serious danger of being killed‘ weniger ausgeprägten Ausrichtung auf emotionale Höhepunkte zu erklären sein.395 Mehrere (reine oder kombinierte) Evaluationen in einer Anekdote folgen meist direkt aufeinander – in fünf Anekdoten sind sogar alle Sätze evaluierend (2,1,5; 3,8,4; 3,8, ext. 3; 4,2,7; 5,7,1). Separiert, zwischen anderen Sätzen ohne Evaluationen (aber innerhalb derselben Teilanekdote), findet man sie in 26 Anekdoten. Von den 97 Einzelanekdoten enden 57 mit evaluierenden Sätzen (rund 59%), die Evaluation ist damit die mit deutlichem Abstand am häufigsten am Textende vorkommende Funktion. Die reinen Evaluationssätze und aus mehreren solchen Sätzen (sowie eventuell einzelnen kombinierten Sätzen) bestehenden Evaluationsabschnitte lassen sich einteilen in Rekapitulationen, sonstige nicht-extradiegetische Evaluationen und direkt kommentierende extradiegetische Textteile. Rekapitulationssätze am Ende – teils mit extradiegetischen Sätzen oder Satzteilen eingeleitet oder abgeschlossen, ansonsten mit den in den Tabellen zur durée identifizierten Rekapitulationen identisch396 – finden sich in 21 der 89 Anekdoten, d. h. rund 24%; in den Kapiteln sind es rund 67% (4 von 6 in 8,9), 29% (4 von 14 in 3,8; je 2 von 7 in 7,7 und 9,7), 27% (4 von 15 in 6,2), 20% (1 von 5 in 5,7), 17% (3 von 18 in 1,7), 10% (1 von 10 in 2,1) und 0% (von 7 in 4,2). Sie präsentieren eine Art Essenz oder moralische Zuspitzung der Erzählung, die ihren Wert als Lehrbeispiele erhöht.397 Dies kann – inhaltlich wie formal – auf unterschiedliche Weise geschehen. Manche Rekapitulationen werden durch extradiegetische Textteile eingeleitet – ganze Sätze (1,7,2: † non est inter patrem et filium ullius rei comparationem fieri praesertim diuinitatis fastigio iunctos) oder Satzteile (3,8, ext. 4: uictoriam nescio laude an tormento maiore partam, quoniam […]), beides auch in Form rhetorischer Fragen (z. B. 1,7,1: quid ergo aliud putamus quam […]?398) oder rhe394
395
396
397
398
Labov/Waletzky, S. 34. Die zwei Beispielfälle (Nacherzählungen von Fernsehsendungen) sind allerdings auch sonst unevaluiert und stammen von weniger erfahrenen Erzählern (Kindern). Vgl. ebd., S. 34–37, zum Evaluationsabschnitt als „suspen[sion of] the action at a critical moment“ zwecks „emphasizing the point where the complication has reached a maximum“ sowie unten bei Fn. 419 zur Verschiedenheit von most reportable event und emotionalem Höhepunkt bei Valerius Maximus. Vgl. unten S. 367–424. Ausnahmen sind die dort genannten Rekapitulationen am Ende von 3,8, ext. 6 und 5,7,2, die lediglich Nebensätze sind und daher hier wegfallen. Siehe oben S. 24f. und unten S. 332–352 zum (u. a.) moralistischen Zweck der Facta et dicta. Weitere Fälle: 2,1,10: quid hoc splendidius, quid etiam utilius certamine?; 3,8,4: potest aliquis hoc uiro dici constantior, qui […]; 7,7,4: si ipsa Aequitas hac de re cognosceret,
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
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torischer Anreden an das Publikum, in der zweiten Person (3,8,1: qua constantia uictoriae quoque gloriam antecellit, quia, si eum intra se ipsam partita laude aestimes, maiorem punita Capua quam capta reperias) oder unpersönlich im Passiv formuliert (5,7, ext. 1: subiciatur animis senex rex amans: iam patebit […]). Es kommt auch vor, dass der einleitende Kommentar nach der Rekapitulation mit einer neuen extradiegetischen Frage fortgeführt wird (2,1,10: quas Athenas, quam scholam […] praetulerim?), dass eine solche nach einer anders eingeleiteten Rekapitulation steht (8,9, ext. 2: nec hominem aut aestimatio eloquii aut morum augurium fefellit. quid enim inter Pisistratum et Periclen interfuit, nisi quod ille armatus, hic sine armis tyrannidem gessit?), und dass nicht die extradiegetische Einleitung, sondern die folgende Rekapitulation die Form einer Anrede hat – dann aber an eine Person in der Geschichte (7,7,4: spernis quos genuisti etc.). In anderen Fällen besteht der Übergang von der Komplikation oder dem Ergebnis zur Rekapitulation lediglich in einem Konnektor wie enim (1,7, ext. 5), ergo (3,8,2; 8,9,1), ita (6,2,4), tunc (6,2,6), itaque (6,2,8), igitur (6,2, ext. 1), sed (7,7,2 und 8,9, ext. 1, wo jeweils der Satz davor mit der Erwähnung eines Grundes endet, der für einen anderen Ausgang gesprochen hätte), nec (8,9, ext. 2: nec hominem aut aestimatio eloquii aut morum augurium fefellit), oder -que (9,7, mil. Rom. 3). Die zwei inhaltlichen Pole, zwischen denen sich die Rekapitulationssätze bewegen, sind die mehr oder weniger abstrahierende Paraphrase (Reduktion der Handlung auf das Wesentliche, z. B. von dem Brauch, dass die Alten den Jungen Heldengeschichten vorsangen, um sie zur Nachahmung anzuspornen, zu defuncta uitae cursu aetas ingredientes actuosam uitam feruoris nutrimentis prosequebatur, oder von der Entscheidung des Metellus, ins Exil zu gehen, statt das von Saturninus eingebrachte Gesetz anzuerkennen, zu ne sententia sua pelleretur, patria […] carere sustinuit) und der direkte Kommentar. Die Paraphrase ist das, was die Rekapitulation definiert, aber der Kommentar ist fast immer präsent, um den (evaluierenden) Sinn deutlich zu machen. Nur ganz ausnahmsweise begnügt sich Valerius Maximus mit der Paraphrase allein (in 8,9,1: uerbis ergo facundis ira consternatio arma cesserunt). In allen anderen Fällen wird sie kommentiert – wenn nicht durch explizite Wertung, dann zumindest durch eine über das zuvor Gesagte hinausgehende Erklärung (wie qua solum poterat in 6,2,4, […] potius praesidium a libertate quam ab innocentia mutuata in 6,2, ext. 1, wohl auch artissimum in 7,7,2). Die Kommentare können in einzelnen Attributen oder sonstigen Ausdrücken bestehen (z. B. destinatum iam immortalitati und indignam caelesti spiritu in 1,7,1399), mit den einleitenden oder fortführenden rhetorischen Fragen (1,7,1;
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potuitne iustius aut grauius pronuntiare?; 8,9,2: quam disertum igitur eum fuisse putemus, quem […]?; 9,7, mil. Rom. 2: sed quis ferat militem scita plebis exitio legati corrigentem? Weitere Fälle: caelestium iudicio destinatam in 1,7, ext. 5; suum decus reddebat in 2,1,10; inuidiosa und miserabili in 6,2,6; spernis, effeta usw. in 7,7,4; ne […] quidem,
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Die Anekdoten
2,1,10; 3,8,4; 7,7,4; 8,9,2; 8,9, ext. 2; 9,7, mil. Rom. 2) oder Zweifeln (3,8, ext. 4: uictoriam nescio laude an tormento maiore partam, quoniam […]) identisch sein oder ganze Aussagesätze ausmachen (mit eingebauten knappen ‚Paraphrasen‘ in Form von Subjekten, Objekten oder Partizipialausdrücken; so in 3,8,1, 6,2,8 und 8,9, ext. 1, wo jeweils zwei Dinge oder Aspekte gegeneinander abgewogen werden, sowie in 8,9, ext. 2, wo eine Äußerung als richtig bewertet wird). Sie können überdies Verdoppelungen aufweisen (3,8,1, innerhalb eines Satzgefüges: qua constantia uictoriae quoque gloriam antecellit und maiorem punita Capua quam capta reperias400), aus mehreren Sätzen bestehen, die die Paraphrasen zwischen sich einschließen (so die rhetorischen Fragen in 2,1,10), oder noch komplexere Muster bilden (so in 1,7,2, wo der Ausgang der Augustus-Anekdote 1,7,1 in drei Satzteilpaaren mit dem der analeptisch in 1,7,2 eingeschalteten Caesar-Geschichte verglichen401 und auf den Willen der Götter zurückgeführt wird402). Soweit zu den Rekapitulationen. Die 15 übrigen nicht-extradiegetischen Evaluationsabschnitte sind ebenfalls recht heterogen. Eine eigene kleine Gruppe bilden Evaluationen am Ende in Gestalt von Einblicken in die Gedankenwelt der Handelnden – viermal die Gründe hinter einem Brauch (2,1,3; letzter Satz von 2,1,5; 2,1,7; erste Teilanekdote in 2,1,9), je einmal die Entscheidungsgründe des Prätors in einem Rechtsstreit (7,7,5), die einer Person zugeschriebene Wahrnehmung der Gefährlichkeit ihres Handelns (3,8, ext. 3: nec timuit Socrates ne consternatae patriae undecimus furor mors ipsius exsisteret; dies wird analeptisch nachgetragen, es liegt also eine Paralipse vor403) und die Gründe, warum das Volk sich eine provokante Äußerung gefallen ließ (6,2,3 in drei Sätzen: recens ipsius uictoria […] et patris […] totius tunc fori clauserunt usw.); die Parenthese im vorletzten Satz von 2,1,5 (indulgentibus namque maritis et auro abundanti et multa purpura usae sunt) dient ebenfalls der Erklärung einer Handlung, allerdings indirekt durch Kontext und Analogie. Die Verallgemeinerung am Ende von 3,8,3 (multa et terribilia Piso contempsit, dum speciosum mentis suae flecti non uult
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sustinuit und modo in 8,9,2; maximo scelere coinquinari und prauos ac taetros mores in 9,7, mil. Rom. 3. Ein weiteres Beispiel bietet 3,8,2: Scipio pugnando, […] hic non dimicando maxime ciuitati nostrae succurrisse uisus est, dann dasselbe in zwei Sätzen etwas konkreter formuliert: alter enim celeritate sua Karthaginem oppressit, alter cunctatione id egit, ne Roma opprimi posset. Der letzte Satz fungiert zugleich als Ergebnissatz (EV/ERG). 1,7,1 berichtet von der Traumvision des Artorius, die von Augustus beherzigt wird, so dass er überlebt; die Haupthandlung von 1,7,2 besteht darin, dass er gehört hatte, dass Caesar eine ihn vor dem Mordanschlag warnende Traumvision missachtet habe. Vgl. schon oben S. 67 sowie unten S. 236 im Kapitel zur Übergangstechnik. [1a] sed iam alter operibus suis aditum sibi ad caelum instruxerat, [1b] alteri longus adhuc terrestrium uirtutum orbis restabat. [2a] quapropter ab hoc tantummodo pendentem status cognosci, [2b] ab illo etiam differri di immortales uoluerunt, [3a] ut aliud caelo decus daretur, [3b] aliud promitteretur. Siehe zu diesem genetteschen Begriff oben S. 59 und zu weiteren Fällen oben Fn. 252.
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rigorem) kann dagegen als quasi-rekapitulierend bezeichnet werden, und im Kapitel Libere dicta aut facta findet sich dreimal eine Art Teilrekapitulation vor Abschluss der Handlung, mitten zwischen den Komplikationssätzen (6,2,1: uerbis arma sumpserat exasperatosque patrum conscriptorum animos inflammauerat, direkt nach der im Perfekt eingeleiteten direkten Rede) oder zwischen Komplikation und Ergebnis (6,2,3: uniuersus populus ab uno iterum contumeliose correptus erat – quantus est honos uirtutis!; 6,2,11: palam atque aperte ei bonorum Pompeii uenditionem exprobrando ut a tribunali submoueretur meruerat). In 8,9,1 wird eine bedeutungssteigernde Evaluation der Haupthandlung im Voraus durch Schwarzmalen der Ausgangssituation erreicht: eratque non solum deformis, sed etiam miserrimus rei publicae status, a capite eius cetera parte corporis pestifera seditione diuisa (zwischen orientierenden Sätzen). In 8,9,2 besteht wieder eine Evaluation in der Füllung einer (Quasi-)Paralipse,404 die hier als Parenthese in den Ergebnissatz eingeschaltet wird und die Wirksamkeit der behandelten Rede unterstreicht (der eine Soldat, der den Protagonisten letztlich tötet, hat sie nicht gehört: is enim solus in aditu expers Antonianae eloquentiae steterat). In 8,9, ext. 2 wird ein Ergebnis internalisiert evaluiert, indem im Anschluss an den zur Personenorientierung vorgezogenen Ergebnisabschnitt (dazu unten) die Alte Komödie (ueteris comoediae maledica lingua) in indirekter Rede mit Aussagen zur Eloquenz des Perikles und ihrer Wirkung zitiert wird. Was die extradiegetischen (und nicht mit Rekapitulationen kombinierten) Kommentare angeht, so stehen sie in den Kapiteln 1,7 und 3,8 öfters am Anfang der Anekdote – als erster Satz (1,7,5; 1,7,7; 1,7, ext. 10; 3,8, ext. 6) oder mit Abstract- und Orientierungssätzen verwoben (zwei Sätze in 3,8,6; 3,8,7); diese evaluierenden Anfänge sind teils direkte Bezugnahmen auf den konkreten Vorfall (z. B. Ac ne illud quidem inuoluendum silentio in 1,7,5), teils von allgemeingültigem Charakter (z. B. nam ut humilius amplitudinem uenerari debet, ita nobilitati fouenda magis quam spernenda bonae indolis nouitas est in 3,8,7 nach einem ABST/OR/EV-Satz). Fünfmal findet man extradiegetische Kommentare am Ende (z. B. 3,8,2, dritte Teilanekdote: tam perseuerans in amore ciuium405), nur je einmal inmitten der Komplikationssätze (7,7,1: die rhetorische Frage quid enim illis inuerecundius?, auf die eine nachgereichte erweiterte Orientierung folgt, und das alleinstehende Wort acerbe) sowie zwischen Komplikation und Ergebnis (internalisiert in 6,2,10: obstipuerunt tot legiones tam robustas senectutis reliquias intuentes).
404 405
Vgl. oben Fn. 227. Weitere Fälle: 3,8,7: sine ullis imaginibus nobilem animum!; 3,8, ext. 2: Bestätigung und Verallgemeinerung des von Phokion vertretenen Standpunkts und nachträgliche Charakterisierung in teilweise internalisierter Form: quos optime profecto consensus omnium bonitatis cognomine decorandos censuit; 4,2,7: factum propter eximiam humanitatem ne sub Caelio quidem auctore repudiandum; 6,2,5: huic facto persona admirationem adimit: nam quae in alio audacia uideretur, in Catone fiducia cognoscitur.
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Die Anekdoten
Diejenigen Evaluationen, die mit anderen Funktionen im selben Satz kombiniert sind, haben am häufigsten die Form von Attributen (z. B. 1,7, ext. 9: miserabilem exitum haud fallaci […] imagine speculatus est) oder adverbialen Bestimmungen (Adverbien, Präpositionalausdrücke wie magna cum omnium admiratione u. a., auch vergleichend wie diligentius in Capitolio quam in suis domibus in 2,1,2 oder als rhetorischer Ausruf wie Quam bene […] in 1,7, ext. 2; selten ist der Ablativus absolutus). Es folgen Nebensätze verschiedenster Art406 sowie Hauptsätze und Prädikate. Deutlich seltener handelt es sich um Participia coniuncta und Appositionen sowie um Subjekte oder Objekte (wie z. B. causam exitii misero attulerunt in 1,7,8). Manche der evaluierenden Attribute und adverbialen Bestimmungen können im labovschen Sinn als Intensifikatoren gelten (‚quantifizierende Ausdrücke‘ im weitesten Sinn wie z. B. palam atque aperte […] denuntiata in 1,7,6, tantumque a paenitentia dicti afuit in 6,2,2 oder uim facundiae proprie expressit in 8,9,3; auch Elative wie maximoque contionis fragore und incitatissimis minis in 3,8, ext. 3 gehören wohl eher hierher als zu den Komparatoren), andere wiederum als Korrelativa (darunter u. a. adverbiale Bestimmungen, die eigenständige gleichzeitige Handlungen in substantivierter Form enthalten wie z. B. magna cum omnium admiratione in 1,7,4, obwohl Labov diese Form für Korrelativa nicht vorsieht407). Von den übrigen Arten von Intensifikatoren kommen neben Gesten und expressiver Phonologie, die prinzipiell auf mündliche Kommunikation beschränkt sind,408 auch evaluierende Interjektionen, Wiederholungen und ‚rituelle Äußerungen‘ in den untersuchten Kapiteln zumindest in reiner Form nicht vor. Immerhin gibt es Verdoppelungen wie pia dissimulatione contegebat (5,7, ext. 1), die nicht 406
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Einer davon, der Kausalsatz uidelicet quia magis ad rem pertinet dearum quam mulierum disciplinam contineri in 2,1,2, ist ironisch zu verstehen. Shackleton Bailey bemerkt in seiner Ausgabe: „A rare touch of humour“. In der Tat ist derartiger ‚extradiegetischer‘ Humor bei Valerius Maximus unüblich – eher weisen Erzählungen als solche humoristische Züge auf, etwa die Anekdote 6,2, ext. 1, die im Kern mit einem Witz aus dem Φιλόγελως übereinstimmt (264: Εὐτράπελος ἐπὶ ἡγεμόνος ἐδικάζετο. τοῦ δὲ νυστάζοντος ἐβόησεν· Ἐκκαλοῦμαι, ὁ δὲ ἔφη· Ἐπὶ τίνα; κἀκεῖνος· Ἐπὶ σὲ γρηγοροῦντα), oder auch 6,2,7. Zu diesen und weiteren Stellen vgl. Anthony Corbeill: Controlling Laughter. Political Humor in the Late Roman Republic, Princeton 1996, und Mary Beard: Laughter in Ancient Rome. On Joking, Tickling, and Cracking Up, Berkeley 2014 (über die Register erschließbar), zu einem möglichen Fall von mit 2,1,2 vergleichbarer punktueller Ironie David Wardle: Valerius Maximus on ‘Undeserved Triumphs’ (2.8.5), in: AClass 63 (2020), S. 231–240. Der Grund ihres Fehlens ist wohl darin zu suchen, dass derartige Substantivierungen in mündlichem, umgangssprachlichem Englisch nicht üblich sind. Simple Adverbien (wie z. B. demum oder diligenter) werden von Labov wohl darum nicht einbezogen, weil sie keine Abweichungen von der ‚Normalstruktur‘ sind (die Modaladverbialien vorsieht). Funktional können aber dennoch auch sie als Korrelativa gelten, da sie eine Handlung ohne Zeitwechsel um einen zusätzlichen Aspekt erweitern. Siehe oben Fn. 349.
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
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direkt wiederholen, aber dennoch intensivierend wirken,409 und Interjektionen als Begleiter anderweitiger Evaluationen (z. B. pro impudentia et audacia! in 9,7,2). Als Korrelativa kann man neben Präsenspartizipien, Appositionen und den bereits erwähnten Adverbialien auch einige qualitative Attribute sowie Subjekte und Objekte auffassen, die Gleichzeitiges ausdrücken (z. B. causam exitii misero attulerunt in 1,7,8), als Explikationen neben evaluierenden Nebensätzen und Perfektpartizipien auch qualitative Attribute ohne Gleichzeitigkeitscharakter (z. B. Alcibiades […] miserabilem exitum […] haud fallaci […] imagine speculatus est in 1,7, ext. 9) sowie entsprechende Prädikate mit (impliziter) Kopula (z. B. Illud etiam somnium et magnae admirationis et clari exitus in 1,7,3 oder Egregia […] Calpurnii Pisonis praetoris urbis constitutio in 7,7,5). Die diversen Arten von Komparatoren treten meist als Teil von Haupt- und/ oder Nebensatzprädikaten auf (wie z. B. etsi non eiusdem splendoris est, at aeque certum […] haberi potest experimentum in 3,8, ext. 4 oder nescio an […] concitatioris et ardentioris […] beniuolentiae fuerit in 5,7,3), wenn nicht überhaupt in selbständigen EV-Sätzen (wie z. B. nec timuit Socrates usw. in 3,8, ext. 3, wo die Evaluation in der potentiellen Furcht besteht, satiusque duxit maximo scelere coinquinari quam usw. in 9,7, mil. Rom. 3 oder den oben besprochenen rhetorischen Fragen und Aufforderungen); es gibt aber auch Ausnahmen (z. B. nec accessio […] sed auctor spectatus est in 5,7,1). Die Fälle, wo die Evaluation das Prädikat ausmacht – und zum Teil noch weitere Teile des Hauptsatzes durchzieht –, sind in ihrer großen Mehrheit Kombinationen mit Abstracts und/oder Orientierungen: ABST/OR/EV (1,7,3; 1,7, ext. 4; 3,8,2; 3,8,3; 3,8,7; 3,8, ext. 1; 3,8, ext. 3; 3,8, ext. 5; 4,2,3; 4,2,5; 4,2,7; 5,7,2; 5,7,3; 6,2,4; 6,2,10; 6,2,11; 6,2,12; 6,2, ext. 2; 6,2, ext. 3; 7,7,5; 7,7,6; 7,7,7; 8,9, ext. 3), ABST/OR/EV/CODA (4,2,2), ABST/EV (3,8,6; 3,8, ext. 4; 9,7,3) oder OR/EV (1,7, ext. 5; 3,8,5; 3,8,6; 8,9,1; 9,7, mil. Rom. 1). Die zweite wichtige Gruppe bilden die Kombinationen EV/ERG (3,8,2; 3,8, ext. 6; 6,2,8; 6,2, ext. 2; ähnlich der prädikatlose Ausruf in 5,7,3: miseros adulescentis oculos […]) und EV/CODA (2,1,10; zwei in 4,2,1), wohingegen evaluierende Prädikate in Komplikationssätzen verhältnismäßig selten sind (OR/KOMP/EV in 5,7,1: […] grauatus non est sowie KOMP/EV in drei weiteren Anekdoten 410 ). In den meisten dieser Sätze bilden die Evaluationen eigene, von den Abstracts und/oder Orientierungen abgrenzbare Satzteile (z. B. in 1,7,3: Abstract = Subjekt des Hauptsatzes und Relativsatz, Ausgangssituation = zwei Ablativkonstruktionen im Relativsatz, Evaluation = Prädikat des Hauptsatzes und zwei Attribute im Relativsatz). Es können aber auch dieselben Worte sein, die den Fortgang der Handlung und die Evaluation ausdrücken. Dies ist in den EV/CODA-Sätzen und in vier KOMP/EV-Sätzen in 409
410
Dieses Mittel kann auch auf Begriffe angewendet werden, die für sich genommen bereits Evaluationen sind (z. B. pro impudentia et audacia! in 9,7,2). 3,8, ext. 4: […] sustinuit und […] passus est; 5,7, ext. 2: vier Sätze ‚symbolische Handlungen‘ – exciderunt lacrimae iuueni usw. – sowie laetus erat […], tristis […]; 6,2,2: tantumque a paenitentia dicti afuit, ut etiam […].
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Die Anekdoten
5,7, ext. 2 der Fall, wo die Handlung als solche evaluierenden Wert hat, geschieht aber auch in manchen sonstigen Komplikations- und Ergebnissätzen durch Ausdrücke mit entsprechender Konnotation (z. B. punire erubuit statt neutral non puniit in 6,2, ext. 2 oder inimica Syracusarum usw. in 1,7, ext. 6, wo bildlich und wertend die Machtergreifung des Dionysios mitgeteilt wird) und in Sätzen, in denen die Benennung einer Tugend als Abstract fungiert (z. B. in 6,2,10: M. etiam Castricii libertate inflammatus animus); in einem Sonderfall ist ein der evaluierenden Rekapitulation angehöriger Finalsatz zugleich die erste (implizite) Nennung des Ergebnisses (3,8,2: alter cunctatione id egit, ne Roma opprimi posset). Zu den typischen Gesamtinhalten von Evaluationen – alleinstehenden ebenso wie kombinierten – gehören die Benennung einer in der Anekdote unter Beweis gestellten Tugend (z. B. huiusce generis humanitas in 4,2,4), die Etablierung ihres Vorliegens im konkreten Fall und damit meist auch der Angemessenheit der Anekdote im thematischen Rahmen des Kapitels (z. B. potest aliquis hoc uiro dici constantior, qui + Paraphrase in 3,8,4), eine sonstige moralische Bewertung (positiv – auch in Form von Zweckzuschreibungen wie z. B. Sed quo matronale decus uerecundiae munimento tutius esset und ut inuiolata manus alienae tactu stola relinqueretur in 2,1,5 – oder negativ), der emotionale Effekt der Anekdote auf Erzähler und/oder Leser (z. B. ad iucundiora cognitu ueniamus in 5,7, ext. 1), die Zurückführung des Erzählten oder zu Erzählenden auf einen göttlichen Plan oder Willen (häufig im Kapitel 1,7) sowie die Schwierigkeit und Außergewöhnlichkeit des vom Protagonisten Unternommenen (z. B. maximoque contionis fragore et incitatissimis minis compulsus non est usw. in 3,8, ext. 3). Während all dies mit Labov und Waletzky als Etablierung von Erzählwert (reportability) aufgefasst werden kann, gibt es zum [ema Schwierigkeit und Außergewöhnlichkeit auch den Fall der abwägenden (6,2,8: itaque eodem tempore et fortissimum erat Cn. Pompeio maledicere et tutissimum) und sogar den der minimierenden Evaluation (6,2,5: huic facto persona admirationem adimit: nam quae in alio audacia uideretur, in Catone fiducia cognoscitur), der besonders bemerkenswert ist. Hier wird nämlich entgegen Labov und Waletzky ein Evaluationssatz explizit dazu verwendet, den Inhalt der konkreten Anekdote zumindest vordergründig weniger erzählenswert zu machen – und gerade dadurch erscheint die Hauptperson bewundernswerter. Valerius Maximus gibt also im Zweifel der Erhöhung der Person (hier Cato Uticensis) Vorrang vor der Betonung des Erzählwerts der einzelnen Geschichte – dessen Verminderung freilich nur behauptet und vom Leser kaum mitvollzogen wird. Der überwiegende Teil der Evaluationen in den untersuchten Kapiteln erfolgt extern durch den Erzähler. Internalisierung durch Zuschreibung an den Erzähler selbst in der erzählten Situation ist wegen des durchgehend heterodiegetischen Charakters der Anekdoten grundsätzlich ausgeschlossen. Die Zuschreibung an sonstige Personen innerhalb der Erzählung findet sich dagegen sehr wohl. Neben den nicht wenigen eindeutigen Fällen (z. B. 1,7,4: magna cum omnium admira-
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
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tione411) gibt es auch eine Handvoll indirekte und narrativisierte Reden, wo die Zuschreibung der enthaltenen Evaluationen zweifelhaft ist (z. B. 3,8,1: Campanum senatum impii decreti auctorem funditus delere constituit412). Für die nach Labov stärkste Form der Internalisierung, die ‚symbolische Handlung‘, finden sich immerhin drei Beispielstellen, davon eine lange und mehrteilige (3,8, ext. 4: operto capite flens et gemens; 5,7, ext. 2: exciderunt lacrimae iuueni, cohorruit corpus, delapsum diadema est, nec quo iussus erat progredi potuit; 6,2,9: nimiae illum et intolerabilis potentiae reum gestu perseueranter egit). 6.e
Ergebnis
Eine Fortsetzung der Haupthandlung nach ihrem relevantesten Ereignis gibt es in 39 der 97 Einzelanekdoten (rund 40%). 413 Diese Inhalte kommen meist allein (27 Sätze), seltener in den Kombinationen EV/ERG (18 Sätze), KOMP/ERG (4 Sätze), OR/ERG, OR/EV/ERG und OR/KOMP/ERG (je 1 Satz) vor. Ihre Präsenz in den Kapiteln variiert gerundet von 80% (4 von 5 in 5,7) und 78% (14 von 411
412
413
Weitere Fälle: 1,7,7: perterritus deinde taetro uisu et nomine horrendo; 2,1,4: qui […] reprehensione tamen non caruit; 3,8,2: ergo ut Scipio pugnando, ita hic non dimicando maxime ciuitati nostrae succurrisse uisus est; 3,8,4: cum […] animaduerteret quo tenderent […] funesti conatus quantoque malo rei publicae […] erupturi essent; 3,8, ext. 2: quos optime profecto consensus omnium bonitatis cognomine decorandos censuit; 3,8, ext. 3: indignum iudicans tot et tam bene meritos indicta causa impetu inuidiae abripi; 3,8, ext. 6: pro […] iudicio […] a dis immortalibus mercedem recepit; 4,2,1: id iudicium animi eius et praesens aetas comprobauit et nobis ueteres annalium scriptores laudandum tradiderunt; 4,2,2: ignotum posteritati esse noluerunt; 4,2,4: sine ullo crimine leuitatis ita cum aliqua laude; 4,2,5: factum adeo uisum est probabile, ut imitari id ne […] P. Pulcher dubitauerit; 5,7,1: Fabius Rullianus […] legatus ire […] filio […] grauatus non est […] idem triumphantem equo insidens sequi […] in maxima uoluptate posuit, nec accessio […] sed auctor spectatus est; 5,7, ext. 1: memor quam improbis facibus arderet, impium pectoris uulnus […] contegebat; 5,7, ext. 2: laetus erat; 6,2,3: orto deinde murmure; 6,2,10: obstipuerunt tot legiones tam robustas senectutis reliquias intuentes; 6,2, ext. 2: tam facetam audaciam Dionysius punire erubuit; 7,7,4: ad inferos usque caelesti fulmine afflata es; 8,9, ext. 2: itaque ueteris comoediae maledica lingua usw.; 9,7,1: per summam animorum alacritatem; 9,7, mil. Rom. 2: curia castris cedere se confessa; 9,7, mil. Rom. 3: satiusque duxit maximo scelere coinquinari usw. Weitere Fälle: 3,8,4: funesti im bereits zitierten Satz; 4,2,2: iniuriae, quam grauissimam acceperat, obliuisci sibi imperauit; 5,7,3: miseros adulescentis oculos, quibus amantissimum sui patrem ipsius opera sic exspirantem intueri necesse fuit; 7,7,3: diuus Augustus in bona paterna ire decreto suo iussit, patris patriae animo usus, quoniam Tettius […] summa cum iniquitate paternum nomen abrogauerat. Hier wird mit Einzelanekdoten gerechnet, weil Ergebnisabschnitte im Gegensatz zu Abstracts und Evaluationen grundsätzlich nicht für mehrere Teilanekdoten gemeinsam gelten können.
172
Die Anekdoten
18 in 1,7) der Einzelanekdoten über 53% (9 von 17 in 3,8), 50% (3 von 6 in 8,9), 31% (5 von 16 in 6,2) bis lediglich 15% (2 von 13 in 2,1), 14% (1 von 7 in 9,7), 13% (1 von 8 in 4,2) und 0% (von 7 in 7,7), wobei sich der letzte Wert dadurch erklärt, dass das späteste erzählte Ereignis in diesem inhaltlich sehr homogenen Kapitel stets das thematisch relevanteste – der Ausgang des Rechtsstreits – ist.414 Ergebnisabschnitte sind in aller Regel kurz und kompakt. In denjenigen Einzelanekdoten, wo solche Inhalte überhaupt vorkommen, verteilen sie sich im Durchschnitt auf rund 1,3 Sätze – also auf weniger als die Orientierungen oder gar Komplikationen (rund 1,6 und 2,4, bezogen auf alle 97 Einzelanekdoten) –, nur zweimal gibt es mehr als zwei (5,7, ext. 2; 6,2,3), und nie werden sie durch andersartige Sätze getrennt. Sie stehen mit einer einzigen Ausnahme (dem OR/ERG-Satz und den anschließenden drei ERG-Sätzen in 8,9, ext. 2) stets – der diegetischen Chronologie entsprechend – nach dem Komplikationsabschnitt oder an dessen Ende. Dass dazwischen ein Evaluationsabschnitt steht, kommt in den untersuchten Kapiteln hingegen nicht so regelmäßig vor wie von Labov und Waletzky postuliert; sofern überhaupt Evaluations- und Ergebnisabschnitt gegen Ende der Anekdote auftreten,415 ist die umgekehrte Reihenfolge etwa gleich häufig (elfmal steht mindestens eine Evaluation im oder nach dem letzten Komplikationssatz, zehnmal folgt mindestens eine nach dem Ergebnisabschnitt oder darin eingeschaltet416). Insgesamt gibt es 30 Einzelanekdoten (rund 31%) mit Ergebnisinhalten im letzten Satz – deutlich mehr als mit Komplikation oder Coda, aber deutlich weniger als mit Evaluationen. In den fünf Satzgefügen, in denen Ergebnis- mit Komplikationsinhalten verbunden sind, sieht die sprachliche Verbindung der beiden Ereignisarten dreimal so aus, dass die Komplikation – also der Hauptinhalt der Anekdote – den Hauptsatz ausmacht und das spätere Ereignis darin eingeschaltet wird,417 während zweimal das Gegenteil der Fall ist.418 414
415 416
417
Dafür, dass die Testamentsaufhebung und nicht der Rechtsstreit als solcher die Hauptsache ist, spricht u. a. der Umstand, dass es (unmittelbar anschließend als 7,8) auch ein eigenes Kapitel über Testamente gibt, deren Gültigkeit bestätigt wurde. Valerius Maximus baut Evaluationen oft viel früher ein. Siehe oben Punkt d. Nicht mitgezählt sind die 17 Evaluationen, die mit dem ersten Ergebnissatz zusammenfallen. In 1,7, ext. 2 als Nebensatz, in 1,7, ext. 7 als indirekte Rede mit Präpositionalkonstruktion certo cum euentu (beides KOMP/ERG-Sätze); in der Ein-Satz-Anekdote 2,1,8 (OR/KOMP/ERG) bilden der Hauptsatz und ein Relativsatz die Komplikation (mit beigemischter Orientierung zu Zeit und Personen: Conuiuium etiam sollemne maiores instituerunt idque caristia appellauerunt, cui praeter cognatos et affines nemo interponebatur), ein Finalsatz das Ergebnis (ut […] tolleretur), darin eingeschaltet ein Kondizionalsatz die Ausgangssituation (si qua inter necessarias personas querella esset orta) sowie ein Präpositionalausdruck und ein Ablativus absolutus eine weitere Formulierung der Komplikation (apud sacra mensae et inter hilaritatem animorum et fautoribus concordiae adhibitis).
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
173
Inhaltlich geht es in den Ergebnisabschnitten in 1,7 entweder um die Verwirklichung oder die letzte Phase der Verwirklichung des Geträumten (zweimal in proleptischer Form, sonst als eigene scènes oder sommaires) oder um Reaktionen auf Traum oder Verwirklichung sowie deren Folgen (einmal in einer scène mit der Coda, sonst eigene scènes oder sommaires); in 2,1 um das erreichte Ziel des Brauchs (stets Teil von scène oder sommaire zum ‚einstigen Brauch‘); in 3,8 meist um die Umsetzung der als constantia gewürdigten Entscheidung und/oder deren Folgen (als eigene sommaires oder scènes und/oder in einer scène mit der Komplikation; zweimal in oder mit einer Rekapitulation), zweimal um die direkte Reaktion des Gegners auf die constantia; in 4,2 (nur ein Fall) um einen gemeinsamen Sieg als Folge der Beendigung der Feindschaft (Ende einer scène und eigenes sommaire); in 5,7 je einmal um einen vom Vater gern miterlebten Erfolg des Sohns (eigene scène), die Reaktion des Gegners auf die väterliche Treue (eigenes sommaire), eine indirekte Konsequenz derselben (eigenes sommaire) und ihre Unterstützung durch einen anderen (Ende einer scène); in 6,2 stets um die Reaktion des Gegners auf die libertas (immer als unmittelbarer Teil desselben Wortwechsels und daher nie als eigene scènes oder sommaires); in 8,9 je einmal um einen Beleg für die Wirksamkeit einer Rede (nur der, der sie nicht gehört hat, kann den Redner töten; Ende einer scène), die Errichtung einer auf der Macht der Rede basierenden Herrschaft (eigenes sommaire im ersten Satz gemeinsam mit der Personenorientierung, während der Hauptinhalt am Anfang der politischen Karriere angesiedelt ist) und eine obrigkeitliche Reaktion auf schädliche Reden (eigenes sommaire); in 9,7 (nur ein Fall) um die ausbleibende Bestrafung einer Gewalttat (eigenes sommaire). In nicht wenigen Fällen sind die Ereignisse des Ergebnisabschnitts der emotional am stärksten wirkende Teil der Erzählung (so etwa die Ermordung der Frau in 1,7, ext. 6, des Vaters in 5,7,3 und des Antonius in 8,9,2 oder das Todesurteil in 3,8, ext. 3), der also nicht mit dem vom Kapitelthema determinierten most reportable event identisch sein muss.419
418
419
In 1,7, ext. 9 ist die Komplikation ein Relativsatz im Plusquamperfekt (quo enim pallio amicae suae dormiens opertum se uiderat, interfectus et insepultus iacens contectus est); in 2,1,6 besteht sie aus zwei Partizipialkonstruktionen (et ibi inuicem locuti quae uoluerant contentione animorum deposita concordes reuertebantur). In den genannten Fällen handelt es sich bei diesem um den Traum und seine Verwirklichung (1,7, ext. 6), die Selbstpreisgabe des Vaters unabhängig von ihrem Ausgang (5,7,3), die Nichttötung des Antonius durch die Soldaten, die seine Rede gehört haben (8,9,2), sowie die Verweigerung des Sokrates (3,8, ext. 3). In den von Labov und Waletzky behandelten Erzählungen fallen größte reportability und emotionaler Höhepunkt dagegen typischerweise zusammen; das most reportable event ist z. B. in den Erzählungen zum jema ‚a situation where you were in serious danger of being killed‘ der Moment, wo die Todesgefahr am größten ist, und hier liegt auch der emotionale Höhepunkt – nicht etwa in der Auflösung der Situation (zumal es ja keine Erzählungen gibt, in denen der Protagonist tatsächlich stirbt).
Die Anekdoten
174 6.f
Coda
Über eine Coda verfügen nur relativ wenige Anekdoten. Innerhalb des jeweiligen Anekdotentexts (in der Abgrenzung der Editionen von Kempf und Briscoe) findet man sie achtmal, davon viermal im Kapitel 2,1 und nie in Sammelanekdoten. In 1,7,6 sind es zwei Sätze über die Überlieferung der Traumvision (Gracchus selbst sprach zu Lebzeiten davon, und der Historiker Caelius bezeugt dies), die zwei sommaires entsprechen; in 1,7, ext. 3 geht es ebenfalls um die Überlieferung (Simonides verewigte das Geschehene in einem Gedicht), hier als Teil einer scène über die Reaktion(en) des Simonides auf die Verwirklichung seines Traums. In 2,1,1 und 2,1,2 lässt sich jeweils der von der Zeit des ursprünglichen Brauchs wegführende Teil der Anekdote (sommaire zum ‚heutigen Brauch‘; zwei sommaires in drei Sätzen zur Übertragung des Brauchs und seinem Überleben, mit Evaluation im letzten Satz) als Coda auffassen, in 2,1,6 der Satz (sommaire) über die Benennung einer Göttin nach dem Brauch, in 2,1,10 ein sommaire (mit Evaluation) der guten Folgen, die der Brauch im Laufe der römischen Geschichte hatte (Heranzüchtung ruhmreicher Personen). Am Ende von 4,2,1 handelt es sich um ein sommaire in zwei Sätzen (mit Evaluation) über die Billigung des Erzählten durch Zeitgenossen und Annalisten, und in 4,2,2 wird ein ähnlicher Inhalt ausnahmsweise in den ersten – also direkt an die Coda von 4,2,1 anschließenden – Satz der Anekdote vorgezogen, der zugleich Abstract und Personenangabe enthält (sicuti Liuii quoque Salinatoris finiendorum simultatium illustre consilium ignotum posteritati esse noluerunt).420 Die acht Anekdoten enthalten insgesamt 13 Coda-Sätze, darunter die Kombinationen EV/CODA (fünfmal in vier Anekdoten) und ABST/OR/ EV/CODA (einmal). In sieben der Anekdoten macht die Coda den letzten Satz oder die letzten Sätze aus – dies sind rund 7% aller Einzelanekdoten in den untersuchten Kapiteln. Analog zu einem bereits bei den Abstracts und Orientierungen beobachteten Phänomen können als Coda aber auch Sätze fungieren, die von den Editoren421 bereits zur Folgeanekdote gezählt werden. Huius modi inter coniuges uerecundia am Anfang von 2,1,7 ist klar ein deiktischer Schlusspunkt zu 2,1,6 (also eine zweite Coda zu dieser Anekdote – der einzigen, in der beide von Labov und Waletzky erwähnten Arten von Coda-Inhalten422 nebeneinander vorkommen), auch wenn er dazu benutzt wird, ein Abstract für 2,1,7 anzuschließen (quid, inter ceteras necessitudines nonne apparet consentanea?). Ebenfalls als Coda für die vorhergehende Anekdote auffassen lässt sich der ABST/OR/EV-Satz am Anfang von 4,2,5 (Ciceronis autem factum adeo uisum est probabile, ut imitari id ne inimicissimus quidem illi P. Pulcher dubitauerit), der die Handlung der Anekdote als Folge 420
421
422
Hier wird also der Überleitung wegen von der üblichen Reihenfolge der Funktionen abgewichen. Vgl. auch unten Fn. 704. Geprüft wurden die Editionen von Halm, Kempf, Faranda, Combès, Briscoe und Shackleton Bailey. Siehe oben S. 151.
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
175
des in 4,2,4 Erzählten darstellt (und damit in die zweite Gruppe von Coda-Inhalten gehört). Diese Sonderfälle sind zu unterscheiden von vergleichenden Sätzen wie z. B. Atque ista quidem seueritatis, illa uero pietatis constantia admirabilis am Anfang von 3,8,2, wo der Rückverweis auf die vorige Anekdote so unselbständig ist, dass er keinesfalls als Schlusspunkt, sondern nur als Teil einer Überleitung zu etwas anderem gelesen werden kann.423 Selbst bei formal abgeschlossenen Hauptsätzen kann dies der Fall sein: Sic in senatu loqui Priuernas ausus est (Teil eines Vergleichs am Anfang von 6,2,2) wäre als Abschluss von 6,2,1 – nach einem Ergebnissatz über die Reaktion auf die Rede! – völlig ungeeignet. Insgesamt enden also lediglich neun Anekdoten mit einer Coda (rund 10% der Einzelanekdoten) – noch weniger als mit Komplikationen. 6.g
Narratives Gerüst
Soweit zu den sechs funktionalen Elementen. Was das in der Auswertung – unter relativ großzügiger Anwendung der von Labov und Waletzky vorgesehenen Anpassung ana- und kataphorischer Verweise424 – durch Fettdruck markierte ‚Gerüst‘ der gebundenen und koordinierten Sätze angeht, so fällt zunächst auf, dass in fast der Hälfte der Einzelanekdoten (48 von 97 oder rund 49%) keines feststellbar ist; in den Kapiteln sind es rund 19% (3 von 16 in 6,2), 28% (5 von 18 in 1,7), 40% (2 von 5 in 5,7), 47% (8 von 17 in 3,8), 50% (3 von 6 in 8,9), 71% (je 5 von 7 in 7,7 und 9,7), 75% (6 von 8 in 4,2) und 85% (11 von 13 in 2,1, dem Kapitel der ‚habituellen Erzählungen‘). Dies kann aus mehreren Gründen der Fall sein: weil der gesamte Ereignisablauf in einem einzigen Satzgefüge mitgeteilt wird (34 der 48 haben nur einen Komplikations- und/oder Ergebnissatz), weil es zwar mehrere solche Sätze gibt, aber diese zumindest annähernd gleichzeitig oder gleichbedeutend sind (12 Fälle, einschließlich dreier, wo ein Ergebnis zwar nicht selbst mit der Komplikation gleichzeitig, aber in einen diese rekapitulierenden oder ergänzenden Evaluationssatz eingeschaltet ist), weil die zeitliche Ordnung durch Formulierungen im Plusquamperfekt in jeder Reihenfolge klar bleibt (eine Teilanekdote in 3,8,2) oder weil Ergebnis und Komplikation von vorneherein in ‚verkehrter‘ Anordnung präsentiert werden (8,9, ext. 2: erst das Ergebnis im Perfekt, dann der Hauptinhalt mit fertur eingeleitet).425
423 424 425
Vgl. das Kapitel zur Übergangstechnik im zweiten Hauptteil (unten S. 223–272). Siehe oben Fn. 337. Solche Phänomene gibt es natürlich auch in Anekdoten, die anderweitig sehr wohl ein ‚narratives Gerüst‘ aufweisen – so würde z. B. in 3,8, ext. 3 der Satz Vniuersa ciuitas […] tristem sententiam tulerat Teil des ‚Gerüsts‘ sein, wenn er nicht im Plusquamperfekt stünde.
Die Anekdoten
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Es ist deutlich zu sehen, dass trotz der wichtigen Rolle der Anachronien in seinem Werk auch Valerius Maximus in denjenigen Erzählungen, die einen mehrteiligen Handlungsablauf darstellen, selten ohne ein ‚Gerüst‘ aus nicht-anachronischen426 Sätzen mit temporal juncture auskommt und die große Zahl von Anekdoten ohne ein solches zum größten Teil auf die reichlich vertretenen Erzählungen mit nichtdiachronischer Haupthandlung zurückzuführen ist. In den insgesamt 49 Einzelanekdoten mit ‚Gerüst‘ besteht dieses in erster Linie aus fast sämtlichen Sätzen mit Komplikationen (169 von 174 in diesen Anekdoten enthaltenen; 4 der 5 übrigen stehen in einer einzigen Anekdote, 1,7, ext. 4) und Ergebnissen (39 von 41), was die eben konstatierte Nicht-Anachronizität der Haupthandlungen bestätigt, sowie etwas mehr als der Hälfte der Sätze mit Orientierungen (50 von 91, davon 30 OR/KOMP- und 18 reine OR-Sätze sowie je ein ABST/OR- und OR/ERG-Satz) und mehr als einem Drittel der Sätze mit Evaluationen (40 von 107, darunter allerdings nur ein reiner EV-Satz – eine internalisierte Evaluation in 6,2,10). Weniger vertreten sind dagegen Sätze, die ein Abstract oder eine Coda enthalten (1 von 33; 1 von 5) sowie solche, denen keine Funktion nach Labov und Waletzky zugewiesen wurde (1 von 5). Nie Teil des ‚Gerüsts‘ sind Sätze, die zur Gänze extradiegetisch sind. Besondere Erwähnung verdient ferner der Umstand, dass die Coda – entgegen dem von Labov und Waletzky angenommenen Regelfall427 – meist nicht Teil des ‚Gerüsts‘ ist. Die Coda-Sätze in den Anekdoten mit ‚Gerüst‘ behandeln zwar sämtlich Entwicklungen, die zeitlich nach dem Hauptinhalt liegen, aber mit einer Ausnahme (1,7, ext. 3) würde dies durch Inhalt und/oder Formulierung bei jeder Anordnung der Sätze verständlich bleiben (in 2,1,6 geht es um die Benennung der Göttin Viriplaca nach dem geschilderten Brauch, in 4,2,1 – in zwei Sätzen – und 4,2,2 – zum Abstract vorgezogen – um die Überlieferung und allgemeine Billigung des Geschehenen). 6.h
Fazit
Die Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky hat, so darf am Ende des Experiments geurteilt werden, am Beispiel des Valerius Maximus ihre Anwendbarkeit auf die Anekdotenliteratur unter Beweis gestellt – die festgestellten Abweichungen von der bei Labov und Waletzky als typisch erscheinenden Struktur sind als Ergebnis schließlich ebenso legitim wie die Übereinstimmungen.428 426
427 428
Gemeint sind die Hauptsatzprädikate. Die einzige (scheinbare) Ausnahme sind aus mehreren Sätzen bestehende direkte Reden; ihre Prädikate können anachronisch sein, doch kommt es in diesem Kontext nur auf das übergeordnete Verbum dicendi an, das zu jedem einzelnen Satz hinzuzudenken ist (vgl. oben bei Fn. 359). Siehe aber schon oben Fn. 353. Darum erübrigt sich auch ein Großteil der in der Forschungsliteratur vorgebrachten Einwände gegen die Methode oder ihre Anwendbarkeit auf andere als die von Labov
Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky
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Als Labovs und Waletzkys größte theoretische Schwachpunkte müssen die Beschränkung auf Hauptsätze (oder genauer: Satzgefüge, da die Nebensätze nicht gestrichen, sondern den Hauptsätzen einverleibt werden) und der von ihnen vertretene Erzählungsbegriff gelten. Sie beeinträchtigen die Nützlichkeit der Methode aber kaum, zumal wenn diese nicht als alleingültig behandelt, sondern mit anderen Ansätzen, wie eben der ‚klassischen‘ genetteschen Narratologie, kombiniert wird.429 Wie bereits einleitend angedeutet,430 verstehen Labov und Waletzky unter ‚Erzählung‘ (narrative) nur diejenige Darstellungsweise vergangener Ereignisse, die deren reale Abfolge mit einer Abfolge von Sätzen nachbildet. Syntaktische Einbettung (Hypotaxe) gilt ihnen als ‚Alternative‘ zur Erzählung, ebenso wie die Verwendung des Plusquamperfekts.431 Dieser rein lineare Erzählungsbegriff verträgt sich schlecht mit den Erkenntnissen Genettes zur Anachronie als Mittel der Erzähltechnik und entsprach auch schon vor Genette nicht dem Stand der erzähltechnischen [eoriedebatte.432 Aus dem hierauf fußenden Konzept des narrativen
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und Waletzky verwendeten Textsorten – zu oft wird die Relevanz der Fragen mit der Verallgemeinerbarkeit der Antworten verwechselt, indem z. B. ein Problem darin gesehen wird, dass viele Romane keinen Ergebnis-/Auflösungsabschnitt haben (vgl. Seymour Chatman: What Can We Learn from Contextualist Narratology?, in: Poetics Today 11, 1990, S. 309–328, hier 318, und Fleischman: Model, S. 164f., beide mit Verweis auf Meir Sternberg: Expositional Modes and Temporal Ordering in Fiction, Baltimore 1978: manche Romane orientieren und komplizieren auch noch nach der Auflösung des Plots) oder die Orientierung verweigern (Jerome Bruner: Labov and Waletzky Sirty Years On, in: Oral Versions of Personal Experience, hg. von Bamberg, S. 61–68, hier 63, über Kafkas Schloss und Prozess, als Argument dafür, dass Erzählstruktur erst im Kopf des Zuhörers entstehe). Labov und Waletzky behaupten auch selbst ausdrücklich nicht, dass jede Erzählung alle Funktionen aufweisen müsse oder dass diese immer eigene Abschnitte bildeten (für die von Bruner als Beispiel herangezogenen Orientierungen vgl. etwa Labov/Waletzky, S. 32). Beides ist im Übrigen auch bei mündlichen Erzählungen oft genug nicht der Fall, insbesondere in ‚lebendigeren‘ Gesprächssituationen (vgl. etwa Alexandra Georgakopoulou, Conversational Stories as Performances. Se Case of Greek, in: Narrative Inquiry 8, 1998, S. 319–350, hier 329, zu weitgehend auf Komplikation und interne Evaluation reduzierten ‚conversational stories‘). Auch die von Fleischman: Model, S. 160–162, angeführten – für Valerius Maximus weniger relevanten – Mängel in Sachen ‚peaks and narrative tension‘ und Repetitivität sind lediglich Unvollständigkeiten, die durch andere Methoden kompensiert werden können; die von ihr, S. 165f., ebenfalls vermisste Möglichkeit der Differenzierung zwischen verschiedenen evaluierenden Erzähler- und Sprecherebenen ist über das Konzept der Internalisierung zumindest im Ansatz gegeben. Siehe oben S. 146. Labov/Waletzky, S. 20. Vgl. etwa Lämmert, S. 95–195. Das Vorgehen von Labov/Waletzky ist ganz grundsätzlich nicht von literaturwissenschaftlicher oder philologischer Forschung informiert, sie
Die Anekdoten
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Gerüsts ließ sich für Valerius Maximus aber dennoch eine die genettesche Untersuchung sinnvoll ergänzende Aussage gewinnen. Die Weigerung, Nebensätze (und sonstige einzelne Satzbestandteile) als eigenständige Strukturelemente zu behandeln,433 würde zwar im Prinzip bei Valerius Maximus zu einer im Vergleich mit den von Labov und Waletzky untersuchten Erzählungen – deren Sätze kürzer und einfacher gebaut sind – weniger vollständigen Durchdringung der Mikrostruktur führen. Deren wichtigster Aspekt – mikrostrukturelle Anachronien – wird aber ohnehin von der genetteschen Untersuchung abgedeckt,434 und die Rolle der Satzbestandteile als Träger der von Labov und Waletzky definierten Funktionen – in den bei Valerius Maximus als Folge der komplexeren Satzstrukturen viel häufigeren kombinierten Sätzen – konnte im Zuge der Auswertung recht einfach ergänzt werden. 7
Vergleiche
Nun soll versucht werden, die Anekdoten des Valerius Maximus durch Vergleiche in ihren literarhistorischen und gattungstechnischen Kontext einzuordnen – was kein einfaches Unterfangen ist. Auf die Seltenheit an Labov und Waletzky orientierter Untersuchungen zu antiker Literatur wurde bereits hingewiesen.435 Aber auch narratologische Studien, die die genettesche (oder ähnliche) Methodik in ihrer gesamten Breite und mit der zu wünschenden mikrostrukturellen Tiefe auf Einzelwerke anwenden, sind nicht zahlreich – nur für einen Teil der hier potentiell interessierenden Texte liegen überhaupt narratologische Arbeiten vor436 –, und auf
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zitieren auch – mit Ausnahme von Vladimir Propp: Morphology of the Folktale [Морфология сказки, 1928], übers. von Laurence Scott, Bloomington, Ind. 1958, von dessen stärker thematisch orientierter und makrostruktureller Arbeit sie sich abgrenzen – keine aus diesen Fachgebieten stammende Literatur. Fleischman: Model, S. 164f., nennt den Erzählungsbegriff als einen der Gründe, die Philologen und Literaturwissenschaftler von der Anwendung der Methode abhielten, und verweist mit Carl Vetters: Foreground and background. Weinrich against Labov, in: Meaning and Grammar. Cross-Linguistic Perspectives, hg. von Michel Kefer/Johan van der Auwera, Berlin 1992, S. 372, darauf, dass etwa in A la recherche du temps perdu bei Reduktion auf das ‚narrative Gerüst‘ gerade das verloren ginge, was das Werk ausmacht. Kritisiert u. a. schon von Vetters, S. 375–379 (mit Blick auf die Möglichkeit von Nebensätzen mit temporal juncture), und Alexandra Georgakopoulou: Narrative Performances. A Study of Modern Greek Storytelling, Amsterdam 1997, S. 59. Natürlich kann die Satzstruktur auch noch unter weiteren Gesichtspunkten für die literarische Gestaltung relevant sein. Diese fallen aber (zumindest großteils) in den Bereich der Stilistik und nicht der Erzähltechnik. Siehe oben bei Fn. 163. Der erzähltechnisch meisterforschte unter den nichtfiktionalen antiken Prosaerzählern ist wohl Herodot, gefolgt von Livius, jukydides und Plutarch (Viten). Zu einer Vielzahl griechischer Autoren verschiedenster Gattungen (auch nicht primär als narrativ
Vergleiche
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die hier unternommene Quantifizierung der beobachteten Phänomene ist bisher leider fast stets verzichtet worden. Alle diese Gründe haben nicht nur dazu geführt, dass die Vergleiche nicht in den obigen Kapiteln en passant erfolgen konnten, sondern verleihen ihnen auch notwendigerweise einen stichprobenartigen und hinsichtlich der Breite und Tiefe des Vergleichs mit den verschiedenen Autoren etwas ungleichmäßigen Charakter. Der erste Schritt ist ein Vergleich der in den vorangehenden Kapiteln konstatierten generellen Tendenzen mit Beobachtungen aus der Forschungsliteratur zu drei Historikern, also Vertretern einer inhaltlich mit Valerius Maximus verwandten Gattung,437 sowie zu den Sekundärerzählungen in Ovids Metamorphosen, einem relativ gut erforschten Beispiel kurzer Einzelerzählungen, die überdies aus einem Werk stammen, das auf anderer Ebene bemerkenswerte Parallelen mit Valerius Maximus aufweist.438 In einem zweiten Abschnitt werden die Anekdoten des Valerius Maximus mit den in der Forschungsliteratur postulierten typischen Strukturen und Eigen-
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geltender) vgl. immerhin die Beiträge in Narrators, Narratees, and Narratives in Ancient Greek Literature. Studies in Ancient Greek Narrative, volume one, hg. von Irene de Jong/René Nünlist/Angus Bowie, Leiden 2004, und Time in Ancient Greek Literature, hg. von de Jong/Nünlist. Eine vorbildliche, umfassende genettesche Studie bietet Massimo Fusillo: Il tempo delle Argonautiche. Un’analisi del racconto in Apollonio Rodio, Rom 1985, zu dem gattungsmäßig weiter entfernten, hier nicht herangezogenen Apollonios von Rhodos (entgegen dem Titel auch zu mode und voix); ähnlich auch Anastasios D. Nikolopoulos: Ovidius Polytropos. Metanarrative in Ovid’s Metamorphoses, Hildesheim 2004, zu den Sekundärerzählungen in Ovids Metamorphosen und (auf anderer theoretischer Grundlage) Tomas Hägg: Narrative Technique in Ancient Greek Romances. Studies of Chariton, Xenophon Ephesius, and Achilles Tatius, Stockholm 1971. Dorothea Berger: Cicero als Erzähler. Forensische und literarische Strategien in den Gerichtsreden, Frankfurt a. M. 1978, ist keine erzähltechnische Arbeit, sondern behandelt die Funktion der (Sachverhalts-)Erzählung im ‚Überredungsprozess‘ und ihre Verflechtung mit der Argumentation. Ebenfalls noch keine nennenswerten erzähltechnischen Untersuchungen gibt es m. W. zu anderen Anekdotensammlungen aus der Antike (siehe unten S. 213–219; zu einem partiell anekdotischen Werk jetzt Beate Beer: Aulus Gellius und die Noctes Atticae. Die literarische Konstruktion einer Sammlung, Berlin 2020, mit Schwerpunkt voix) oder dem lateinischen Abendland. Von den in Narrators, Narratees, and Narratives und Time in Ancient Greek Literature enthaltenen werden Herodot und jukydides als die bedeutendsten herausgegriffen; hinzu kommt Livius anhand von Pausch: Livius und der Leser. Von den sonstigen Textgattungen in Narrators, Narratees, and Narratives und Time in Ancient Greek Literature wären insbesondere die Erzählungen in Gerichtsreden von Interesse, weil sie gleich Anekdoten einzelne bemerkenswerte Vorfälle zum Inhalt haben, aber die ihnen gewidmeten Kapitel beruhen – jedenfalls was die Zeitstruktur angeht – auf zu wenigen Reden, um sinnvollerweise für einen generalisierenden Vergleich herangezogen zu werden (vgl. M. J. Edwards: Antiphon, Lysias, Demosthenes, in: Time in Ancient Greek Literature, S. 321–327, 328–336, 337–342). Siehe unten bei Fn. 575 und 1099 sowie S. 231–265 und 364–366.
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Die Anekdoten
schaften der apophthegmatischen Anekdote sowie zweier historischer Erscheinungsformen des Exemplums in Beziehung gesetzt. Als dritter und vierter Punkt folgen schließlich eine Analyse ausgewählter Parallelstellen der mutmaßlichen Quellenautoren Cicero und Livius und ein vergleichender Blick in die Werke der neben Valerius Maximus bekanntesten Anekdotensammler der Antike, Plutarch und Aelian. 7.a
Historische Groß- und ovidische Kleinerzählung
Die vergleichende Skizze gliedert sich in sechs Punkte, die den fünf Teilen der genetteschen Untersuchung und – zu einem Punkt zusammengefasst – der Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky entsprechen. (1) Ordre: Anachronien, von Valerius Maximus in fast jeder Anekdote verwendet, sind auch in der Geschichtsschreibung ein zahlreich anzutreffendes Phänomen,439 zwischen dem Anachroniengebrauch des Valerius Maximus und dem der Historiker zeigen sich aber mehr Unterschiede als Übereinstimmungen. Zu den Übereinstimmungen gehören Prolepsen am Anfang von Abschnitten – Auftragserteilungen an die gewählten Magistrate zu Jahresanfang (berichtet durch den Erzähler, aber intern fokalisiert) bei Livius,440 abstractartige headers als Episodeneinleitungen bei Herodot und [ukydides441 –, die sich als wiederkehrendes Strukturelement mit den Vorwegnahmen am Beginn von Anekdoten vergleichen lassen. Auch für Rekapitulationen am Episodenende finden sich Beispiele,442 diese scheinen allerdings weniger – wie so oft bei Valerius Maximus – der Evaluation als vielmehr einem rein äußerlichen strukturellen Zweck zu dienen. Eine Folge der chronologisch-linearen Grundstruktur der Geschichtswerke ist es, dass darüber hinaus auch Andeutungen zukünftiger Folgeereignisse am Episodenende 439
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Die Ausgangspunkte meiner Darstellung sind T. Rood: Herodotus, in: Time in Ancient Greek Literature, hg. von de Jong/Nünlist, S. 115–130, hier 123–130, und Sucydides, ebd., S. 131–146, hier 139–146, sowie Pausch: Livius und der Leser, S. 89–101. Soweit nicht anders angegeben, stammen die Aussagen über diese drei Autoren von dort. Proleptische Abschnitte am Jahresanfang können freilich auch noch andere Inhalte haben, etwa die Prodigien des jeweiligen Jahres an dessen Anfang (wie umgekehrt die im Laufe des Jahres verstorbenen Priester an dessen Ende); dazu Pausch: Livius und der Leser, S. 83, Anm. 34. Zu ähnlichen Erscheinungen bei Tacitus vgl. Judith Ginsburg: Tradition and Seme in the Annals of Tacitus, New York 1981, S. 10–52. Siehe Rood: Herodotus, S. 119, und Sucydides, in: Time in Ancient Greek Literature, S. 142, Rosaria Vignolo Munson: Telling Wonders. Ethnographic and Political Discourse in the Work of Herodotus, Ann Arbor 2001, S. 24–32, und de Jong: Narratology and Classics, S. 174 (in Herodots Fassung der auch bei Val. Max. 1,7, ext. 4 erzählten Geschichte); man findet sie zuvor schon bei Homer und Pindar. Munson: Wonders, S. 25 (für Herodot).
Vergleiche
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– also Coda-Sätze, wie sie auch bei Valerius Maximus gelegentlich vorkommen – zu Anachronien werden (proleptic closure). Abseits solcher strukturbildender Anachronien fallen die Unterschiede noch deutlicher aus – sowohl in Hinblick auf einzelne Anachroniephänomene als auch auf quantitative und qualitative Gesamtaussagen. Von den in der Literatur zu den hier herangezogenen Historikern – sei es zu allen dreien oder nur zu einzelnen – als typisch oder auffällig beschriebenen Punkten finden sich bei Valerius Maximus die Häufigkeit proleptischer Absichtserklärungen, Warnungen, Träume und Visionen und die analeptischen Begründungen von Freund- und Feindschaften zwischen zwei Personen wieder.443 In den untersuchten Kapiteln nicht oder kaum zu beobachten sind dagegen kontrafaktische Prolepsen als Gestaltungsmittel zur Erzeugung von Spannung444 (denn kontrafaktische Prolepsen sind zwar sehr häufig, aber meist diegetisch oder durch die Kapitelthemen bedingt und schon wegen der Kürze der Anekdoten kaum geeignet, Spannung zu erzeugen), Analepsen – meist diegetische – zur Präsentation und/oder argumentativen Ausnutzung historischer Vergleichsfälle445 (historische Vergleiche haben ihren Platz eher in den auktorialen Übergängen zwischen
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Das Erste wurde bei Livius, das Zweite bei Herodot beobachtet. Für Valerius Maximus vgl. die Untersuchung der diegetischen Anachronien (auch bekannt als ‚aktoriale‘ – im Gegensatz zu ‚narratorialen‘ –, so in Time in Ancient Greek Literature), oben S. 88–97, sowie das Kapitel 4,2 (Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine). Pausch: Livius und der Leser, S. 200–202 und 246–248. Ganz ähnlich schon George Eckel Duckworth: Foreshadowing and Suspense in the Epics of Homer, Apollonius, and Vergil, Diss. Princeton 1933, S. 21, über ‚false foreshadowing[s]‘ bei Homer („they keep the interest of the reader fixed on the events in store for the characters“); vgl. auch Irene J. F. de Jong: Aspects narratologiques des Histoires d’Hérodote, in: Lalies 19 (1999), S. 217–275, hier 236f., zu Kontrafaktizitäten bei Herodot sowie Jonas Grethlein: Experience and Teleology in Ancient Historiography. ‘Futures Past’ from Herodotus to Augustine, Cambridge 2013 (siehe im Register unter ‚counterfactuals‘ und ‚sideshadowing‘) zu mehreren Autoren. Zu antizipatorischen Andeutungen bei Livius generell Pausch: Livius und der Leser, S. 223–242 (sowie 195–199 zu den Möglichkeiten von Spannung selbst im Fall, dass der Ausgang mitantizipiert wird oder allgemein bekannt ist: ‚wie-Spannung‘ und anomalous suspense; dazu schon Duckworth, S. 21, den bereits zitierten Satz fortsetzend: „even though he [the reader] knows the true outcome“), zu Herodot de Jong: Aspects, S. 242–251, mit einer Beispielanalyse und einem allgemeinen (an Homer erarbeiteten) Katalog spannungserzeugender Mittel. Siehe die Beiträge in Time and Narrative in Ancient Historiography. Se ‘Plupast’ from Herodotus to Appian, hg. von Jonas Grethlein/Christopher B. Krebs, Cambridge 2012. Bei Herodot kann man sie teils auch als Andeutungen einer generellen Repetitivität der Geschichte verstehen (Rood: Herodotus, S. 119f.), während er an anderen Stellen dem Leser die Analepse ‚erspart‘, indem er die redende Figur darauf verweisen lässt, dass die Sache ihrem Publikum – stellvertretend für den Leser – bereits bekannt sei (ebd., S. 119).
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Die Anekdoten
den Anekdoten446), analeptisch anlässlich ihrer Erfüllung nachgetragene Prophezeiungen (als Kunstgriff besonders im Kapitel De somniis denkbar, aber nicht verwendet), anachronische Exkurse einschließlich analeptischer Lebensrückblicke, im Kontext irrelevanter Anekdoten zu einer Person oder deren Verwandten und heterodiegetischer Analepsen zur Vorgeschichte neu in die Primärhandlung eintretender Städte und Völker447 (all dies wäre weder mit der Spezifizität der Kapitelthemen noch mit der kurzen Form oder der Anekdotizität als solcher vereinbar448), Anachronien als Ergebnis der Verschränkung parallel ablaufender Handlungslinien, z. B. an unterschiedlichen Kriegsschauplätzen,449 oder der – spannungssteigernden – Unterbrechung einer Handlungslinie durch einmalige Einschaltung einer anderen450 (in anekdotischen, also auf einen singulären Vorfall konzentrierten Erzählungen kaum möglich451), Anachronien zur Relativierung oder Korrektur der vom Erzähler selbst gefällten Urteile (zu finden z. B. bei Herodot in Gestalt 446 447
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Siehe unten S. 249–256; zu den wenigen vergleichenden Analepsen oben S. 75. Sie spielen bei dem stark ethnographisch interessierten Herodot eine noch viel wichtigere Rolle als bei Livius. Bei diesem bleiben sie außerdem meist intern (reichen also nicht bis vor die Gründung Roms zurück, mit der er beginnt), während Herodot in seine ca. 560 v. Chr. beginnende Primärerzählung externe Anachronien bis zurück in die Zeit um 3000 einbaut (de Jong: Narratology and Classics, S. 172) und bei jukydides durch externe Analepsen der Eindruck einer Gesamtschau der griechischen Geschichte entsteht (Antonios Rengakos: Sucydides’ Narrative. Se Epic and Herodotean Heritage, in: Brill’s Companion to Sucydides, hg. von dems./Antonios Tsakmakis, Leiden 2006, S. 279–300, hier 286). Dass das Ethnographische als Mittel zur Anknüpfung von Anekdoten sehr wohl nutzbar gemacht wird, werden wir weiter unten sehen (S. 238 und 243–245). ‚Exkurse‘ gibt es nur auf der Ebene der Kapitel, aber auch dort nicht im Sinne eines Abgehens vom Kapitelthema; zu Unterbrechungen von Ordnungsprinzipien, z. B. durch Einschaltung einer Sachgruppe in eine andere, siehe unten im Kapitel zur Anordnung der Anekdoten (S. 272–306), zur explizit als deverticulum bezeichneten Anekdote 2,6,8 auch S. 240 und 246. Vgl. Rood: Sucydides, in: Time in Ancient Greek Literature, S. 142, und Pausch: Livius und der Leser, S. 87f. Livius versucht in diesen Fällen manchmal, sich durch möglichst kurzatmige ‚Schnitte‘ auch in der Darstellungsweise der Gleichzeitigkeit anzunähern – also die Anachronizität zu reduzieren –, wobei zudem Spannung erzeugt wird (ebd., S. 202–205). Ebd., S. 88. Am ehesten in Betracht kommen die parallelen Vorgeschichten in 7,7,1 (Irrtum des Vaters/Militärdienst des Sohnes; jener nicht-anachronisch am Anfang der Anekdote, dieser nach nicht-anachronischer Mitteilung des Dienstendes analeptisch ausgemalt: florem iuuentae pro re publica absumpserat usw.) sowie die Haupthandlungen von 1,7, ext. 10 (zwei gemeinsam Reisende übernachten in verschiedenen Häusern; der eine erfährt, was dem anderen gerade geschieht/geschehen ist, und zwar spannungssteigernd in zwei Träumen, zwischen denen er ihm beinahe zur Hilfe eilt) und 8,9,2 (die Soldaten nehmen unter dem Eindruck der Rede des Antonius davon Abstand, ihn zu töten – aber einer hat sie nicht gehört: is enim solus in aditu expers Antonianae eloquentiae steterat).
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von Prolepsen in die spätere Geschichte einer Stadt) oder der von Personen innerhalb der Diegese gepflegten Vorstellungen (zu finden z. B. bei [ukydides als narrative externe Analepsen) sowie die multiperspektivischen Kombinationen von rappels (z. B. von Kriegsereignissen im Zuge von Debatten um die Vergabe eines Triumphs) durch verschiedene Erzähler und mit verschiedenen Fokalisierungen, in denen die hervorstechendste Besonderheit des Anachroniengebrauchs bei Livius zu liegen scheint. Insgesamt steht den überwiegend kompletiven und zugleich oft (sowohl der Textmenge als auch der behandelten Zeit nach) langen Anachronien bei Herodot452 bei Valerius Maximus eine Mehrheit von kurzen, punktuellen Anachronien mit annonce- oder rappel-Funktion gegenüber. Statt der bei [ukydides beobachteten Konzentration der rappels in diegetischen Analepsen453 findet sich eine gleichmäßigere Verteilung.454 Und während bei Livius oft nicht klar ist, inwieweit die Abfolge der Ereignisse innerhalb der schematischen Abschnitte (d. h. Jahre) der Chronologie entspricht,455 sind die zeitlichen Verhältnisse in den Einzelanekdoten bei Valerius Maximus – wohl auf Grund der stärkeren sachlich-kausalen Zusammengehörigkeit der in ihnen berichteten Ereignisse – fast durchwegs eindeutig.456
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De Jong: Aspects, S. 232f. Rood: Sucydides, in: Time in Ancient Greek Literature, S. 133 (diegetische Analepsen sind mehrheitlich rappels, und die, die es nicht sind, beziehen sich meist auf Ereignisse, die von dem als bekannt vorausgesetzten Herodot berichtet werden; narrative rappels sind dagegen unüblich). Es gibt 37 rappels unter 205 diegetischen Anachronien bzw. 86 Analepsen (rund 18% bzw. 43%), 47 unter 202 narrativen Anachronien bzw. 130 Analepsen (rund 23% bzw. 36%), davon 19 in Rekapitulationen am Anekdotenende. Pausch: Livius und der Leser, S. 83; John Rich: Structuring Roman History. Se Consular Year and the Roman Historical Tradition, in: Histos 5 (2011), S. 1–43, hier 5f.: Livius präferiert vage Angaben wie ea aestate oder sub idem tempus, und gelegentlich lässt sich auf Grund anderer Quellen nachweisen, dass die Abfolge anachronisch ist – der Eindruck durchgehender Chronologizität ist ein „illusionistischer Effekt“. Dass auch Tacitus sich nicht immer an die Chronologie innerhalb des Jahres hält, zeigt Ginsburg, S. 53–79, anhand von vier Beispieljahren (S. 78: „the preservation of thematic coherence, the desire to contrast one set of events with another or one character with another, the need for emphatic turning points or decisive conclusions in the plot, the anticipation of a signal event […] count for more than adherence to strict chronology“). Punktuelle chronologische Unklarheiten (betreffend die Reihenfolge der Ereignisse oder auch bloß die Reichweite einer Anachronie) fanden sich in 1,7, ext. 5, 3,8,3, 3,8, ext. 6, 4,2,6, 5,7, ext. 1, 6,2,11, 7,7,3, 7,7,6 und 9,7,2, also in 9 von 97 Einzelanekdoten der Beispielkapitel; siehe die Formeln und Fußnoten in der Aufbereitung für das Kapitel Ordre (unten S. 367–424). Die fünf Sammelanekdoten sind dagegen sämtlich achronisch, setzen also ihre Einzelanekdoten in keine zeitliche Beziehung zueinander. Zur Bedeutung der Chronologie für die Kapitelstruktur siehe unten S. 286f.
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Die Anekdoten
Ein noch fundamentalerer Gegensatz als zwischen Valerius Maximus und den Historikern besteht zu den – kurzen und anekdotenhaften,457 aber sich durch poetische Form und mythologischen Inhalt von den Anekdoten des Valerius Maximus unterscheidenden – Erzählungen der Sekundärerzähler in Ovids Metamorphosen: Anachronien sind dort laut der maßgeblichen narratologischen Studie von Anastasios Nikolopoulos nur „a few exceptions“ – in 37 Sekundärerzählungen (oder Abfolgen mehrerer desselben Erzählers) findet er vier proleptische Abstracts und drei Analepsen zur Vorgeschichte von Personen.458 (2) Durée: Bei Valerius Maximus gibt es in der Regel eine einzige breiter ausgeführte scène pro Anekdote und daneben nur sommaires, eine absolute Quantifizierung der Erzählgeschwindigkeit wird indes durch das Fehlen ausreichender Anhaltspunkte für die Dauer der Ereignisse verunmöglicht. Das Problem der Vagheit der Ereignisdauer wird auch für Herodot und [ukydides konstatiert.459 Bei Herodot kämen immerhin die datierbaren Regierungszeiten der diversen Könige als Material für einen groben Vergleich mit der Textlänge in Frage (wobei natürlich die allgemeinen ethnographischen Abschnitte ausgeschlossen würden), und manche – nicht alle – Kriegsberichte weisen eine Gliederung nach Tagen auf. Ähnliche Ausnahmepassagen gibt es auch bei [ukydides. Bei Livius ist die zeitliche Dauer der Ereignisse schon als Folge des annalistischen Schemas besser fassbar als bei Valerius Maximus.460 Trotzdem wird auch in der narratologischen Liviusliteratur wenig quantifiziert; lediglich für Buch 34 wurde exemplarisch gezeigt, dass ein Sechstel des Umfangs eine kurze Episode (die Debatte um die Abschaffung der lex Oppia) abdeckt und die restlichen fünf Sechstel einen Zeitraum von drei Jahren.461 Die Abwechslung von detaillierten,
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Zumindest die oben bei Fn. 143 vorgeschlagene Definition der Anekdote wird von den Verwandlungsgeschichten in aller Regel erfüllt; siehe dort auch zur Frage der Beschränkung des Anekdotischen auf reale Personen. Nikolopoulos, S. 51–54 und 67 (ordre innerhalb der Sekundärerzählungen; siehe auch S. 41–51 und 66f. zu deren hier nicht relevantem zeitlichem Verhältnis zur Primärerzählung). Von Nikolopoulos nicht berücksichtigt werden die bei H. Peters: Symbola ad Ovidii artem epicam cognoscendam, Diss. Göttingen 1908, S. 88, zitierten abstrahierend-evaluierenden (und insofern den Rekapitulationssätzen bei Valerius Maximus ähnelnden) Vorwegnahmen, von denen sieben zu Sekundärerzählungen gehören – davon vier als Prolepsen (Ov. met. 2,551–552, 4,285–287, 7,692–693 und 10,152–154; Solis […] amores in 4,169–170 ist wohl zu allgemein, um als Prolepse zu gelten; 4,51–52 und 5,576 stehen in indirekter oder narrativisierter Rede außerhalb der eigentlichen Sekundärerzählung). Hier und im Folgenden: Rood: Herodotus, S. 121f., und Sucydides, in: Time in Ancient Greek Literature, S. 137f. Pausch: Livius und der Leser, S. 75; Philip A. Stadter: Se Structure of Livy’s History, in: Historia 21 (1972), S. 287–307, hier 304–306. Pausch: Livius und der Leser, S. 107.
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mit direkten oder indirekten Reden ausgestatteten Passagen (also scènes) und annalistischen sommaires gilt auch generell als „zentrales Element der livianischen Darstellung“, das durch die Jahresgliederung umso auffälliger hervortritt (mit dem Extremfall der Jahre, aus denen ausdrücklich gar nichts berichtet wird, z. B. nihil dignum memoria actum).462 Dem entspricht bei Valerius Maximus die Durchmischung von rein summarischen und mit scènes ausgestatteten Anekdoten, freilich anders als bei Livius mit (teils) thematisch erklärbaren quantitativen Unterschieden zwischen den Kapiteln. Stattdessen wird bei allen drei Historikern die Erzählung langsamer, je mehr sie sich der Gegenwart nähert463 – während bei Valerius Maximus die zeitliche Verankerung keinen Unterschied zu machen scheint.464 In den ovidischen Sekundärerzählungen465 erscheint wie in den Anekdoten des Valerius Maximus die Kombination von zentraler scène und ergänzenden sommaires (für ‚background information‘, d. h. Orientierung, oder Elemente von geringer Relevanz für die Verwandlungsthematik) als Regelfall. Die Erzählgeschwindigkeit wird aber auch von Faktoren beeinflusst, die bei Valerius Maximus nicht präsent sind, insbesondere den persönlichen Interessen (im Sinne emotionaler oder faktischer Involviertheit) der Erzähler und Adressaten – und mindestens einmal dem Wunsch, durch Langsamkeit466 den Höhepunkt einer Szene spannungssteigernd zu verzögern (Ov. met. 10,446–464, hinsteuernd auf drei Worte in 464). Die von Valerius Maximus gemiedenen deskriptiven Pausen begegnen in zwei Anwendungen: in kurzer Form als Beschreibungen der verwandelten Formen (thematisch bedingt) und in noch kürzerer als poetische Vergleiche (gattungsbedingt).
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Ebd., S. 105f. mit Verweisen. Im Gegensatz dazu erklärt Herodot zwar öfters, dass es über eine Person nicht mehr zu erzählen gebe, bekennt sich aber nicht zu Zeitellipsen. Zur Weise, wie er ‚szenische‘ (‚dramatische‘) Passagen in die summarische Geschichtserzählung einflicht, siehe Rosaria Vignolo Munson: Transitions in Herodotus. An Analysis Based Principally on the First Book, Diss. Univ. of Pennsylvania, 1983, S. 166– 181. Für Livius: Pausch: Livius und der Leser, S. 108. Bei jukydides gilt dies nicht nur für die Bücher 6–7 zur Sizilienexpedition, der er bekanntlich besondere Bedeutung beimisst, sondern auch für Buch 8. Das zu summarischer Erzählung neigende Kapitel De institutis antiquis (siehe oben S. 108) ist als Sammlung ‚habitueller Erzählungen‘ ein Sonderfall. In den 39 Einzelanekdoten der übrigen Beispielkapitel, die (laut Fußnoten in der Edition von Shackleton Bailey) das 1. Jhd. v. Chr. betreffen, machen scènes durchschnittlich rund 51% des (in Elementen bemessenen) Umfangs aus, in den ebenfalls 39 ins 6.–2. Jhd. datierbaren rund 55%. Siehe Nikolopoulos, S. 54–63 und 67. Sie könnte auch als Anreihung von effets de réel beschrieben werden.
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Die Anekdoten
(3) Fréquence: Mehrmalige Erzählungen einmaligen Geschehens sind bei Valerius Maximus häufig – in Form von rappels und annonces, einschließlich der besonderen Gruppe der Vorwegnahmen und Rekapitulationen der Hauptinhalte am Anfang und Ende der Anekdote. Darauf und auf das Vorkommen vergleichbarer Elemente in Geschichtswerken wurde bereits anlässlich der Anachronien eingegangen. Iterationen – bei Valerius Maximus nur in ungefähr einem Drittel der Anekdoten zu finden, teils als knappe und marginale Bemerkungen, teils aber auch als wichtigere Handlungsteile und sogar (stark kapitelmäßig konzentriert) als ganze Anekdoten – kommen bei Herodot als sommaires vor allem in den früheren Büchern zur entfernteren Vergangenheit vor (z. B. wiederholte Handlungen eines Königs).467 Bei [ukydides findet man in der Erzählung des ersten Kriegsjahrs iterative Vorwegnahmen von Vorgängen, die den ganzen Krieg hindurch regelmäßig stattfanden, und auch sonst werden einmal erzählte Ereignisse (z. B. Ansprachen, Rufe, Debatten) nicht selten explizit oder implizit als im Laufe des Krieges öfters vorkommend oder sogar allgemein für eine bestimmte Situation typisch kenntlich gemacht.468 Es gibt also beiläufige oder verdeckte Annäherungen an die ‚habituelle‘ Erzählform, die im Werk des Valerius Maximus offen praktiziert wird und sogar für ganze Anekdoten und Kapitel bestimmend ist; zugleich dient Iteration der Verdichtung einer im Gegensatz zu den Anekdoten des Valerius Maximus diachronisch ausgedehnten Großerzählung. Die ovidischen Sekundärerzählungen enthalten Iterationen nur in orientierenden Passagen (‚presentation of characters and background information‘); im Gegensatz zu Valerius Maximus finden sich mehrmals (fast) unmerkliche Übergänge von iterativer zu singulativer Szene, vereinzelt sogar die echte Pseudo-Iteration.469 (4) Mode: Die Erzählung des Valerius Maximus ist wenig mimetisch. Den wenigen effets de réel steht sehr viel Präsenz des Erzählers gegenüber (bedingt durch die Werkstruktur, aber auch in Form von extradiegetischen Bemerkungen zwischendurch). Eine Fokalisierung (negativ definiert als Abwesenheit von Informationen, die die betreffende Person nicht kennen kann, und Tendenzen, die ihr fremd sind) ist in ungefähr der Hälfte der Anekdoten festzustellen – selbst im ‚unpersönlichen‘ Kapitel De institutis antiquis –, wobei meist Einblicke in das Innenleben der Hauptpersonen hinzukommen (interne Fokalisierung). Auch in der Geschichtsschreibung ist der Erzähler immer wieder explizit im Text präsent, etwa durch extradiegetische Rückverweise wie de quo ante dictum
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Rood: Herodotus, S. 118. Rood: Sucydides, in: Time in Ancient Greek Literature, S. 133–136. Nikolopoulos, S. 63–65 und 68. Dort wird für die Pseudo-Iteration nur eine Stelle angeführt, die mit einer ‚pseudo-direkten‘, d. h. als iterativ präsentierten direkten Rede (Ov. met. 4,73–77) einhergeht; Nikolopoulos, S. 83, konstatiert aber – anlässlich der Erzählmodi – noch eine zweite solche Rede (4,305–307), die ebenso als Pseudo-Iteration anerkannt werden sollte.
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est.470 In besonderem Maße ist dies bei Herodot der Fall,471 der nicht nur häufig bewertet und kommentiert, sondern auch seine dem Werk zugrundeliegenden Reisen, Forschungen und Befragungen regelmäßig thematisiert.472 [ukydides gilt dagegen als eher zurückhaltend.473 Auf die multiperspektivischen Rückblicke bei Livius wurde bereits anlässlich der Anachronien verwiesen. Auch sonst sind Fokalisierungen bei ihm von punktuellem und wechselhaftem Charakter – sie können etwa dazu dienen, die (in einem generellen, nicht unbedingt narratologischen Sinn) bei Livius vorherrschende römische Perspektive474 um eine gegnerische zu ergänzen.475 Für [ukydides
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Pausch: Livius und der Leser, S. 119f., konstatiert im erhaltenen Liviustext 38 Fälle von (sic)ut/de quo ante dictum est/dixi(mus), wovon 29 auf ein Ereignis im selben Buch verweisen. Einige Beispiele für verschiedene Arten von auktorialen Bemerkungen in den ersten drei Liviusbüchern gibt jemann-Steinke, S. 113. Zu Herodot hier und für das Folgende: Irene J. F. de Jong: Herodotus, in: Narrators, Narratees, and Narratives, hg. von ders./Nünlist/Bowie, S. 101–114, hier 102–107; zu jukydides: T. Rood: Sucydides, ebd., S. 115–128, hier 115–121. Marincola: Authority, S. 9, und ihn zitierend Rood: Sucydides, in: Narrators, Narratees, and Narratives, S. 121, finden Herodot im Vergleich zu jukydides „intrusive“. Zu Herodots Textpräsenz vgl. ausführlicher de Jong: Aspects, S. 226–229 (dort auch zum vermuteten Einfluss der epideiktischen Rhetorik; die Gemeinsamkeiten bestehen u. a. in den auch bei Valerius Maximus – siehe oben S. 164f. und unten S. 263–265 – zu findenden rhetorischen Fragen und Anreden an den Leser). Es ließe sich sogar behaupten, dass diese extradiegetischen Passagen selbst den Charakter einer in die historische Erzählung eingewobenen zweiten Primärerzählung annähmen (de Jong: Herodotus tut dies nicht, aber die Idee, das Werk auch als Reisebericht zu lesen, ist naheliegend; vgl. etwa Lionel Casson: Travel in the Ancient World, Baltimore 1994, S. 95–111, über Herodot als „the first travel writer“). Vgl. auch unten bei Fn. 485. Grethlein, S. 51 („authorial reticence“). Pausch: Livius und der Leser, S. 125–136. Er entspricht damit einer in der antiken historiographischen Debatte immer wieder – wenngleich nicht einhellig – erhobenen Forderung nach patriotischer Tendenz (ebd., S. 125–129). Die römische Perspektive manifestiert sich u. a. in der Gliederung nach römischen Konsuljahren, der Art der geographischen Angaben, dem rein quantitativen Überwiegen von Informationen über die römische Seite, das die Identifikation des Lesers beeinflusst, sowie expliziten Affirmationen der Rom-Bezogenheit des Werks in der Praefatio und anderswo; die Verwendung von nos und noster für ‚Rom‘ und ‚römisch‘ kommt dagegen nur in Sonderfällen vor, v. a. bei Gegenwartsbezug (ebd., S. 129–136; zu Valerius Maximus vgl. dagegen oben Fn. 304). Ebd., S. 136–157; die Abwechslung der Perspektiven kann einen konkreten erklärenden Zweck haben (richtige Lageeinschätzung – Sieg, falsche Lageeinschätzung – Niederlage), aber auch der Unterhaltung dienen und zu geschichtstheoretischer Reflexion anregen. Zu den (internen) Fokalisierungen bei Livius vgl. auch weiterführend Chrysanthe Tsitsiou-Chelidoni: History beyond Literature. Interpreting the ‘Internally Focal-
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Die Anekdoten
wird eine generelle Neigung zur Fokalisierung auf die jeweiligen Akteure konstatiert.476 Wie Valerius Maximus geben auch die Historiker Einblicke in nichtöffentliche Situationen sowie Gedanken und Motive der handelnden Personen,477 was freilich längst nicht immer eine interne Fokalisierung bedeuten muss – der über weite Strecken dominierende Erzählmodus ist eher die Nullfokalisierung mit dem Anschein der Allwissenheit (zumindest Herodot gibt manchmal aber auch explizit zu, dass er die Gedanken einer Person nicht kennt oder nur Mutmaßungen darüber anstellen kann478). Die Forschung zur Historiographie zieht die ordnend-abwägende Erzählerpräsenz und die vorgetäuschte Allwissenheit als Kriterien zur Herausarbeitung zweier grundsätzlich verschiedener Erzählhaltungen heran, die dementsprechend auch bei Valerius Maximus beide zu beobachten sind – mit der mehr oder weniger wissenschaftlichen, mit moderner Historiographie vergleichbaren Haltung, die sich an den realen Wissensstand des Autors hält und durch Abwägung von Quellen die Wahrheit herauszufinden versucht, vermischt sich eine fiktionalisierende, mit dem Roman vergleichbare.479
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ized’ Narrative in Livy’s Ab urbe condita, in: Narratology and Interpretation. Se Content of Narrative Form in Ancient Literature, hg. von Jonas Grethlein/Antonios Rengakos, Berlin 2009, S. 527–554. Grethlein, S. 34–36 („prominence“, „pervasive“) und 48 („draws heavily on internal focalization“); im selben Band auch zu anderen Historikern und (Auto-)Biographen (zum nicht immer eindeutigen Verhältnis von Fokalisierung und Gattungszuordnung vgl. Christopher Pelling: Seeing through Caesar’s Eyes. Focalisation and Interpretation, in: Narratology and Interpretation, hg. von Grethlein/Rengakos, S. 507–526, anhand von Caesar bei verschiedenen Historikern und Biographen). Zur Fokalisierungen bei Herodot siehe Emily Baragwanath: Motivation and Narrative in Herodotus, Oxford 2008 (über das Register zu erschließen), zu jukydides auch James V. Morrison: Reading Sucydides, Columbus, Ohio 2006, bes. S. 39–43. Wie de Jong: Aspects, S. 224, bemerkt, wird die Zuschreibung von Gedanken im Gegensatz zur Nachschöpfung direkter Reden (dazu juk. 1,22,1) nicht nur von Herodot, sondern auch von jukydides weder gerechtfertigt noch sonst thematisiert. Siehe ebd., S. 224f. Vorbildlich ausgeführt von Peter Kuhlmann: Der Erzähler in Curtius Rufus’ Alexandergeschichte zwischen Geschichtsschreibung und Roman, in: Der römische Alexanderhistoriker Curtius Rufus. Erzähltechnik, Rhetorik, Figurenpsychologie und Rezeption, hg. von Hartmut Wulfram, Wien 2016, S. 49–71, für Curtius Rufus (dort, S. 68f., auch eine Skala der Fiktionalität, die – aufsteigend geordnet – von jukydides und Polybios über Sallust und dann Livius bis zum besonders stark fiktionalisierten Curtius Rufus reicht). Diese wichtige Unterscheidung muss man m. E. nicht als Frage von Autor vs. Erzähler oder verschiedenen ‚Stimmen‘ (so Pausch: Livius und der Leser, S. 11f.) formulieren. Es genügt, in der Kombination einen Ausdruck der nicht im vollen modernen Sinn wissenschaftlichen Methodik des erzählenden Autors zu sehen (und selbst wenn man meint, dass Fiktionalität per se die Identifikation des Erzählers mit dem Autor ausschließe, kann man an der Einheit der Erzählstimme festhalten, denn Fiktionalisierung
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Stilistische Mimetisierung direkter Reden ist bei Livius ebenso wenig üblich wie bei Valerius Maximus, kommt aber sonst in der Geschichtsscheibung zumindest andeutungsweise vor.480 Präzise Häufigkeitsuntersuchungen zu direkten, indirekten und narrativisierten Reden scheinen für die Historiker ebenso wenig vorzuliegen wie über das Beiläufige hinausgehende Studien zu den effets de réel oder überhaupt dem Informationsreichtum der Erzählung, der nach Genette die Illusion von Mimesis im récit d’événements ausmacht (während die Erzählerpräsenz als antimimetischer Faktor entgegenwirkt).481 Auf einen Anwendungsfall gehäufter effets de réel in den ovidischen Sekundärerzählungen wurde bereits eingegangen.482 Reden innerhalb der Sekundärerzählungen (die ihrerseits direkte Reden sind483) treten im Gegensatz zu Valerius Maximus viel häufiger in direkter als in indirekter Form auf (145 Fälle gegenüber lediglich 13), während die bei Valerius Maximus stark überwiegenden narrativisierten Reden zumindest nicht selten sind.
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und wissenschaftliche Abwägung erscheinen ja nur in moderner Sicht als unvereinbar – für den antiken Leser klingt beides wie die Stimme eines Historikers). Dennis Pausch: Der Feldherr als Redner und der Appell an den Leser. Wiederholung und Antizipation in den Reden bei Livius, in: Stimmen der Geschichte. Funktionen von Reden in der antiken Historiographie, hg. von dems., Berlin 2010, S. 183–209, hier 204, und John Marincola: Speeches in Classical Historiography, in: A Companion to Greek and Roman Historiography. Volume I, hg. von dems., Malden, Mass. 2007, S. 118–132, hier 129, mit Verweisen v. a. zu jukydides und Tacitus. Was Livius angeht, ist Derartiges bisher anscheinend nur in einem Fall – der Catorede in 34,1,1–8,3 – behauptet worden; vgl. dazu aber John Briscoe: A Commentary on Livy. Books XXXIV– XXXVII, Oxford 1981, z. St., der die jese einer durchgehenden Stilisierung verwirft, wenngleich es „a few phrases or idioms which are reminiscent of the historical Cato“ geben möge. Für Valerius Maximus gilt der oben in Fn. 286 geäußerte Vorbehalt. Wenn in der Forschung von Mimesis die Rede ist, ist dies meist nicht vorrangig im genetteschen (d. h. platonischen) Sinne gemeint – meist handelt es sich um einen breiteren Mimesisbegriff, der auch die ‚Lebhaftigkeit‘ der Erzählung und/oder die emotionale Involvierung des Lesers einschließt. Vgl. etwa Grethlein: Experience (‚re-experience‘; nur zweimal, S. 84 und 254, wird ein effet de réel diagnostiziert) oder auch Françoise Frazier: Contribution à l’étude de la composition des ‘Vies’ de Plutarque. L’élaboration des grandes scènes, in: ANRW II.33.6 (1992), S. 4487–4535, zu Plutarchs Biographien (es geht um direkte Reden und effets de réel der Personenbeobachtung, aber auch um Fokalisierungen und kurze, einfache Sätze; herodoteische Parallelstellen erscheinen im Vergleich weniger ‚mimetisch‘). Siehe oben bei Fn. 466. Ebenfalls bereits angesprochen wurde die von manchen Forschern konstatierte Ähnlichkeit des – gegenüber den Historikern ausgeweiteten – Apostrophengebrauchs des Valerius Maximus mit dem ovidischen, wobei es allerdings nicht speziell um die Sekundärerzählungen geht (oben Fn. 280). Alles nun Folgende beruht auf Nikolopoulos, S. 69–101. Zwei Sonderfälle (in indirekter und freier indirekter Rede; siehe zu dieser Genette: Discours, S. 192) werden von Nikolopoulos ausdrücklich aus seiner Untersuchung ausgeschlossen.
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Die Anekdoten
Obwohl die direkten Reden meist nur wenige Verse umfassen, machen sie insgesamt (auch dank einzelnen besonders langen, die sogar Erzählungen dritter und vierter Ebene enthalten) rund 28% der Textmenge aus. Die Unterschiedlichkeit der Perspektiven ist im Corpus der Sekundärerzählungen anders als bei Valerius Maximus zum Teil durch persönliche Eigenschaften der Erzähler zu erklären: Götter und ‚künstlerische Erzähler‘ wie Orpheus treten als allwissend auf, homodiegetische menschliche Erzähler erzählen fokalisiert (allerdings mit einzelnen Durchbrechungen durch später erlangtes Wissen – oder umgekehrt das Eingeständnis von Erinnerungslücken). (5) Voix: Es gibt keine Grundlage für eine Differenzierung des Erzählers Valerius Maximus vom Autor Valerius Maximus. Über seinen Adressatenkreis sind nur Mutmaßungen möglich. Er ist (mit Ausnahme einer einzigen Anekdote) ein extraheterodiegetischer Erzähler. In der Geschichtsschreibung ist die Einordnung des Primärerzählers als homooder heterodiegetisch mitunter schwierig. Der herodoteische Erzähler wird als heterodiegetisch eingeordnet,484 weil er in seiner historischen Erzählung nicht auftritt, allerdings enthält das Werk auch relativ prominente Passagen über Herodots eigene Reise- und Forschungstätigkeit, über deren extradiegetischen Status man streiten könnte.485 Der thukydideische Erzähler wird teils als stellenweise homodiegetisch angesehen und teils ausdrücklich trotz der Rolle des [ukydides in der Diegese als heterodiegetisch.486 Im Fall des Livius sind die Bücher, die seine eigene Lebenszeit betreffen, nicht erhalten.487 484
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So de Jong: Aspects, S. 220, und Herodotus, S. 101, sowie Rood: Sucydides, in: Narrators, Narratees, and Narratives, S. 116. Vgl. oben Fn. 472. Rood: Sucydides, in: Narrators, Narratees, and Narratives, S. 116, gegenüber Irene J. F. de Jong: Introduction. Narratological Seory on Narrators, Narratees, and Narrative, ebd., S. 1–10, hier 9 (‚external‘ und ‚internal‘ sind Synonyme für hetero- und homodiegetisch; vgl. ebd., S. 1, Anm. 5). Die entscheidende Frage ist, ob der diegetische jukydides nur mit dem Autor (so 4,104,4: ὃς τάδε ξυνέγραψεν) oder auch mit dem Erzähler zu identifizieren ist. De Jong meint, „jucydides […] expressly forestall[s] any identification of author and narrator by employing an external rather than an internal narrator“, aber m. E. zu Unrecht. Zwar wird der Autor in der 3. Person vorgestellt (u. a. 1,1,1: Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε), aber da der Erzähler von sich in der 1. Person als Textgestalter, Forscher und Zeitzeuge spricht (siehe die bei Rood, S. 117, genannten Stellen), hieße Differenzierung zwischen dem Erzähler und dem Autor nichts anderes als Differenzierung zwischen dem Urheber sowohl des Inhalts wie der Werkgestalt einerseits und einem ‚Autor‘ andererseits, der dann nur noch ein rein mechanischer Schreiber wäre. Dass jukydides dies im Sinn gehabt haben soll, scheint mir wenig plausibel (vom Publikum ganz zu schweigen). Und in 5,26,5 blickt der Erzähler sogar in der 1. Person auf τὴν ἐς Ἀμφίπολιν στρατηγίαν des Akteurs zurück, den er in 4,104,4 ausdrücklich mit dem Autor gleichgesetzt hat. Es wird also nicht einmal die von Rood, S. 116, konstatierte Objektivitätsgeste konsequent durchgehalten, die darin
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Was die Adressaten angeht,488 wird bei Herodot nur die Selbstverständlichkeit ausgesprochen, dass es sich um Griechen handelt, während [ukydides immerhin andeutet, dass er mit Rezipienten in der Zukunft rechnet (1,22,4: κτῆμά τε ἐς αἰεὶ μᾶλλον ἢ ἀγώνισμα ἐς τὸ παραχρῆμα ἀκούειν ξύγκειται), und das von ihm gewünschte Erkenntnisziel des Lesers formuliert (1,22,4: ὅσοι δὲ βουλήσονται τῶν τε γενομένων τὸ σαφὲς σκοπεῖν καὶ τῶν μελλόντων ποτὲ αὖθις κατὰ τὸ ἀνθρώπινον τοιούτων καὶ παραπλησίων ἔσεσθαι), also viel präzisere Vorstellungen zu haben scheint (oder zu äußern bereit ist) als Valerius Maximus mit seinem documenta sumere uolentibus. Livius benennt weder den anvisierten Leserkreis noch den Lektürezweck,489 bemüht sich aber intensiv um „eine möglichst starke Involvierung des Lesers in die Handlung und den Fortgang des Textes“ – mehrere seiner erzähltechnischen Mittel sind darauf ausgerichtet, und die Gefahr der Langeweile wird gelegentlich direkt thematisiert.490 Zumindest dies tut auch Valerius Maximus, wenn er davon spricht, wie interessant oder relevant eine Anekdote ist, oder sich dafür entschuldigt, dass sie lang ist.491 Wie Valerius Maximus wenden sich auch Historiker manchmal in der zweiten Person oder mit rhetorischen Fragen an den Leser.492 Zumindest bei [ukydides machen Sekundärerzählungen wie bei Valerius Maximus nur eine Minderheit der Figurenäußerungen aus (bei [ukydides sind diese
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liegt, dass jukydides von sich als historischem Akteur wie von allen Akteuren in der dritten Person spricht, während er als Historiker/Autor/Erzähler die erste Person verwendet (außer in den Vorreden und an Jahresenden, wo die Namensnennung als ‚framing device‘ dient – so Rood, S. 117). Anders als Xenophon oder Caesar scheint jukydides auf die Eindeutigkeit seiner Identität durchaus Wert zu legen. Da Livius allem Anschein nach selbst nicht politisch-militärisch aktiv war, darf man immerhin annehmen, dass eine eventuelle Homodiegetizität in den verlorenen Büchern von ebenso punktuellem und peripherem Charakter wäre wie bei Valerius Maximus. Hier und im Folgenden beziehe ich mich, soweit nicht anders angegeben, auf de Jong: Herodotus, S. 107–114, und Rood: Sucydides, in: Narrators, Narratees, and Narratives, S. 121–128. Die Stellen Liv. praef., 5 und 43,13,2 betreffen – zumindest explizit – nicht, wie Pausch: Livius und der Leser, S. 64, meint, die „delectatio des Rezipienten […] als eines der mit seinem Werk verfolgten Ziele“, sondern die Wirkung des Stoffes auf den Autor/Erzähler selbst. Ebd., S. 71–74, unter Verweis auf Stellen wie Liv. praef., 4 ([…] et legentium plerisque haud dubito quin primae origines proximaque originibus minus praebitura uoluptatis sint […]) oder 10,31,10–15 (eine Würdigung der Samniten, die in den Satz mündet: Quinam sit ille quem pigeat longinquitatis bellorum scribendo legendoque quae gerentes non fatigauerunt?). Siehe auch schon oben bei und in Fn. 444–450 zum jema Spannung. Siehe oben bei Fn. 316. Für Livius: Pausch: Livius und der Leser, S. 65 („häufig“, entgegen jemann-Steinke, S. 113). Zu Valerius Maximus siehe oben S. 164f. und unten S. 263–265.
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Die Anekdoten
großteils deliberative Reden). Oft sind sie nur kurze Textstückchen.493 Ebenso wenig neigt er zur Verschachtelung von Erzählungen, wie man sie etwa im griechischen Roman findet. Wie für Valerius Maximus wurde auch für Herodot konstatiert, dass Sekundärerzählungen in indirekter Rede häufiger sind als in direkter. Hier wie dort dominiert die persuasive Funktion (bei Valerius Maximus gemeinsam mit der explikativen). In den untersuchten Kapiteln der Facta et dicta nicht zu finden sind die ‚Aufwertung‘ einzelner Sekundärerzähler zum alter ego des Autors/Erzählers (wie z. B. Solon bei Herodot)494 und die für Livius typische Gegenüberstellung rekapitulierender Reden miteinander und/oder mit der Primärerzählung zur Schaffung von Multiperspektivität.495 Die Erzähler und Adressaten der ovidischen Sekundärerzählungen496 unterscheiden sich als intradiegetische Figuren so fundamental von denen der Facta et dicta und der Geschichtswerke, dass ein Vergleich ihrer Identitäten und Motive wenig sinnvoll wäre; zu erwähnen ist das Vorkommen direkter Anreden und rhetorischer Fragen,497 das allerdings in der mündlichen Erzählsituation naheliegender und daher weniger bemerkenswert erscheint als in den schriftlich vermittelten bei Valerius Maximus und den Historikern. Eingeschaltete Tertiärerzählungen, die mit den Sekundärerzählungen bei Valerius Maximus vergleichbar wären, sind auffällig selten – es gibt nur vier (in 37 Sekundärerzählungen oder Abfolgen mehrerer desselben Erzählers) und in einer davon eine Quartärerzählung, wobei von den vier Tertiärerzählungen drei den Sekundärerzähler zum Adressaten haben, also Weitergaben von persönlich Gehörtem sind.498 (6) Erzählungsanalyse nach Labov und Waletzky: Dieser Ansatz scheint, was antike Geschichtsschreibung angeht, bisher nur auf Herodot und Ammianus Marcellinus explizit angewendet worden zu sein. Durch Analyse einzelner Herodotstellen wurde gezeigt, dass das Werk Episoden sowie mit Unterbrechung durch andere Inhalte erzählte Geschichten enthält, deren Präsentation sich als Abfolge von Abs-
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Rood: Sucydides, in: Narrators, Narratees, and Narratives, S. 128: „snippets“. Interne Evaluationen (siehe oben S. 170f.) sind fast immer nonverbale oder stark narrativisierte direkte Wertungen (wie z. B. magna cum omnium admiratione oder tam facetam audaciam […] punire erubuit), keine Erzählungen. Pausch: Livius und der Leser, S. 157–190. Siehe Nikolopoulos, S. 103–256. Zur vereinzelten metaleptischen Durchbrechung der Sekundärerzählung durch anachronistische oder aus anderen Gründen kaum dem Sekundärerzähler zuschreibbare Vergleiche siehe Nikolopoulos, S. 98f., anlässlich der Erzählperspektiven. Siehe unter den ‚Signals of the Narratee‘ bei Nikolopoulos, S. 226–238. Nikolopoulos, S. 117f.
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tract, Orientierung, Komplikation, Ergebnis, Evaluation und Coda (mit dem Ergebnis- vor dem Evaluationsabschnitt!) beschreiben lässt.499 Eine Stelle aus Ammianus wurde mit Hilfe des von Fludernik erweiterten Modells analysiert, das zwecks Berücksichtigung längerer ‚Handlungsketten‘ mehrmalige Abfolgen von Orientierungen, Komplikationen und Ergebnissen vorsieht.500 Aber auch unabhängig von diesem methodischen Ansatz wird, wie bereits anlässlich der Anachronien festgestellt,501 sowohl bei Herodot als auch bei [ukydides die (bereits auf Homer und Pindar zurückgehende) Verwendung von zusammenfassenden headers beobachtet, die man als Episodenabstracts bezeichnen kann, und bei Livius findet man abstractartige Vorschauen oft anlässlich des Amtsantritts der Konsuln und anderen Magistrate – sie nehmen die Ereignisse des Jahres in Gestalt der diesen übertragenen Aufgaben vorweg und haben zugleich orientierenden Wert (betreffend die „handelnden Akteure der römischen Seite“),502 kombinieren also zwei auch bei Valerius Maximus häufig zusammen auftretende Funktionen. Wie bei Valerius Maximus finden sich auch bei den Historikern zwei wesentlich verschiedene Arten von Abstracts: mehr oder weniger konkrete Handlungszusammenfassungen, die man narrative Abstracts nennen könnte, und – zumindest vereinzelt – generelle [emenangaben, die auf ethisch-philosophisches Interesse schließen lassen.503 Geäußert werden die Abstracts hier wie dort vom Primärerzähler, im Unterschied etwa zu den abstractartigen Ankündigungen durch der
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Wieżel: Croesus’ logos, Kompozycja, Oral Structure, S. 27, und Legein ta legómena, S. 67–98. Wittchow: Exemplarisches Erzählen, S. 92–109. Die ‚basic story structure‘ bei Fludernik: ‘Natural’ Narratology, S. 65–69 (und ders.: Se historical present tense yet again. Tense switching and narrative dynamics in oral and quasi-oral storytelling, in: Text 11, 1991, S. 365–397), lautet Abstract – Orientierung – Episoden – Evaluation – Coda; die Inhalte der Episoden entsprechen Orientierungen, Komplikationen und Ergebnissen im Sinne Labovs und Waletzkys (werden aber von Fludernik anders aufgegliedert). Dass solche und ähnliche Strukturen aber auch recht gut mit den Begriffen Labovs und Waletzkys ohne die Erweiterungen Fluderniks beschrieben werden können, zeigt sich bei Minchin, S. 190–195, anhand zweier Stellen aus der Ilias (11,670–762 und 24,602– 613) sowie bei Christoph Rühlemann: Narrative in English Conversation. A Corpus Analysis of Storytelling, Cambridge 2013, S. 27–30, für conversational narrative mit eingeschalteten exkursartigen ‚nested stories‘. Siehe oben bei Fn. 440f. Pausch: Livius und der Leser, S. 82. Zum ersten Typus gehören die meisten der in der zitierten Sekundärliteratur genannten Abstracts und headers. Für den zweiten entnehme ich ihr lediglich die Stellen Hdt. 1,5,3 (πρῶτον ὑπάρξαντα ἀδίκων ἔργων ἐς τοὺς Ἕλληνας, Gesamtabstract für einen Abschnitt mit mehreren Episoden) und 1,34,1 (ἔλαβε ἐκ θεοῦ νέμεσις μεγάλη Κροῖσον, für eine Einzelepisode).
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Die Anekdoten
Handlungsebene angehörige Personen im Drama, von denen sie sich auch durch ihre größere Zuverlässigkeit abheben.504 Die bei Valerius Maximus häufigen Evaluationsabschnitte in Form von Rekapitulationen scheinen in der Geschichtsschreibung weniger üblich zu sein – abschließende Rekapitulationen haben eher eine strukturelle Funktion und stehen damit der deiktischen Coda nahe, die ihrerseits auch in Reinform vorkommt.505 Überdies gibt es abschließende Ergebnis- sowie spätere Ereignisse betreffende Coda-Abschnitte, die durch die Einbettung der Episoden in einen chronologischen Kontext meist als Prolepsen erscheinen (proleptic closure).506 Die ovidischen Sekundärerzählungen wurden noch nicht mit den Mitteln der Erzählungsanalyse Labovs und Waletzkys untersucht. Das Vorkommen von Abstracts und Orientierungen konnte dennoch in den obigen Abschnitten beiläufig festgestellt werden.507 Evaluationen ergeben sich aus der von Nikolopoulos behandelten testimonialen und ideologischen Funktion der Erzählungen,508 wurden aber von ihm nur auf ihre Inhalte (Werturteile, Erklärungen usw.), nicht auf ihre Form oder (abgesehen von der Möglichkeit parenthetischer Erklärungen) auf ihre Stellung hin geprüft. In der Gesamtschau ergibt sich ein sehr komplexes Bild. Die Erzähltechnik des Valerius Maximus ist mit keiner der verglichenen schlechthin deckungsgleich. Vielmehr gibt es – auch wenn die Bilanz tendenziell wohl eher zugunsten der Historiker ausfällt – mit allen eine Vielzahl punktueller Übereinstimmungen und
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Zu den hauptsächlich für Euripides typischen Vorwegnahmen von Hauptinhalten in – meist von Göttern gesprochenen und von den menschlichen Personen des Stücks nicht gehörten – Prologen siehe Richard Hamilton: Prologue Prophecy and Plot in Four Plays of Euripides, in: AJPh 99 (1978), S. 277–302, und Hartmut Erbse: Studien zum Prolog der euripideischen Tragödie, Berlin 1984. Proleptische Erzählungen im Inneren von Dramen (eher bei den Tragikern als bei Aristophanes; siehe J. Barrett: Aeschylus, in: Time in Ancient Greek Literature, hg. von de Jong/Nünlist, S. 255–273, Irene J. F. de Jong: Sophocles, ebd., S. 275–292, M. A. Lloyd: Euripides, ebd., S. 293–304, und A. M. Bowie: Aristophanes, ebd., S. 305–317) sind dagegen oft eher von punktuellem Charakter als echte Abstracts abgrenzbarer Werkteile. Siehe oben bei Fn. 442. Beispiele für deiktische Coda-Sätze (bei Herodot) gibt Munson: Wonders, S. 25 und 29, freilich ohne den Begriff zu verwenden. Siehe oben S. 180f. Von den vier von Nikolopoulos, S. 53f., angeführten Abstracts sind drei relativ konkrete Handlungsvorwegnahmen und nur eine stark abstrahierend (Ov. met. 11,349–350: magnae tibi nuntius adsum / cladis). Von den aus Peters, S. 88, zu ergänzenden (vgl. oben Fn. 458) sind vier eher konkret (4,51–52, 7,692–693 und 10,152–154, außerdem 4,285– 287 nur für das Ergebnis) und drei eher abstrakt-thematisch (2,551–552, 4,169–170, und 5,576). Nikolopoulos, S. 185–221, anlässlich der Auseinandersetzung mit Erzählern und Adressaten.
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Differenzen, von denen sich nur wenige einfach auf Unterschiede in der Dimension der Erzählungen (so zum Teil die abweichende Anachronienverwendung bei den Historikern) oder der Gattungszugehörigkeit (so die Präferenz für direkte statt indirekter Reden in der ovidischen Dichtung) zurückführen lassen. Umso wünschenswerter erschienen vertiefende – und breiter angelegte, möglichst viele Autoren auf dieselben Fragestellungen hin untersuchende – Vergleichsstudien zur antiken Geschichtsliteratur sowie zur Vielfalt der Kurzerzählungen, zu denen neben metadiegetischen Einschaltungen in der Dichtung509 natürlich auch die exemplarisch gebrauchten oder um ihrer selbst willen gesammelten Prosaanekdoten gehören.510 Valerius Maximus hat in beiden Vergleichskontexten seinen Platz. 7.b
Apophthegma und Exemplum
Weder für die Anekdote in ihrer oben gegebenen weiten Definition noch für das Exemplum als rein funktionale Kategorie511 ist an die Etablierung allgemeingültiger Strukturen zu denken. Es kann hier und im Folgenden also nur um den Vergleich des Valerius Maximus mit konkreten Unterkategorien und historischen Erscheinungsformen gehen, die nicht wegen der Prominenz der Autoren oder wegen des Umstandes, dass zu ihnen bereits strukturelle Schemata erarbeitet wurden, zur Norm erhoben werden dürfen. Strukturell am leichtesten greifbar ist eine Unterkategorie der Anekdote, das Apophthegma, auf das Rudolf Schäfer ein vom (narrativen) Witz her übertragenes dreiteiliges Schema anwendet.512 Der erste Teil, die Einleitung oder occasio, dient der Einführung von Personen und ‚Requisiten‘ sowie ‚räumlich-lokalen‘ und ‚zeitlichen Gegebenheiten‘, entspricht also in etwa der Orientierung im Sinne von Labov und Waletzky (dass sich Personen, ‚Requisiten‘, Ort und Zeit zu einer Ausgangssituation verdichten 509
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Vgl. neben Einschaltungen in narrativer Dichtung auch die von Irene J. F de Jong: Narrative in Drama. Se Art of the Euripidean Messenger-Speech, Leiden 1991, in Hinblick auf mode und voix behandelten tragischen Botenberichte. Siehe zu diesen die skizzenhaften Vergleiche in den folgenden Abschnitten. Siehe oben S. 42–51. Schäfer, S. 29–37. Rohmer, Sp. 568, übernimmt das vermeintlich „von R. Schäfer aus einer festgestellten Nähe der A[nekdote] zum Apophthegma gewonnen[e]“, tatsächlich vielmehr eine schlichte Gleichsetzung der beiden Begriffe (vgl. oben Fn. 132) voraussetzende Schema, fügt aber hinzu, die provocatio sei nur der Anekdote, aber nicht dem Apophthegma eigen, und bei der Anekdote könne die Pointe statt eines dictum auch ein factum sein. Die Monographie von Wilhelm Gemoll: Das Apophthegma. Literarhistorische Studien, Wien 1924, behandelt das Apophthegma literarhistorisch und inhaltlich, aber nicht strukturell.
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Die Anekdoten
können, darf wohl, wenngleich von Schäfer nicht angesprochen, vorausgesetzt werden). Es folgen eine Überleitung oder provocatio, also eine Handlung oder Äußerung – häufig eine Frage –, die die Pointe vorbereitet (gern in indirekter Rede, um die Pointe in direkter Rede wirkungsvoller zu machen), und schließlich die Pointe oder das dictum selbst als Höhe- und Schlusspunkt, der also immer den Charakter einer Replik hat. Dieses Schema wird auch von der neueren Anekdotenforschung – deren Schwerpunkt grundsätzlich nicht auf strukturellen Fragen liegt – oft aufgegriffen, sowohl im Rahmen theoretischer Erwägungen513 wie in praktischer Anwendung. Unter anderem konnte es (teils mit facta statt dicta im letzten Glied) in Anekdoten bei Quintilian,514 Plutarch,515 Sueton,516 Diogenes Laertios,517 Macrobius,518 dem Maréchal de Bassompierre († 1646)519 und Hans Blumenberg520 nachgewiesen werden. In Suetons De grammaticis et rhetoribus gibt es darüber hinaus sogar ganze Kurzviten, die „wie eine einzige Anekdote“ apophthegmatisch aufgebaut 513
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Beck: Use of Anecdotes, S. 12–15; Gossman, S. 149 (ohne Bezugnahme auf Schäfer oder Rohmer und mit leicht abweichenden Bezeichnungen); Arrighetti, S. 80; Niehaus, S. 186–195 (dort auch zum Problem der Abgrenzung der apophthegmatischen Anekdote vom Witz); Möller/Grandl, S. 6. Nur auf das letzte der drei Glieder beziehen sich Falk Quenstedt: Mediation neuen Wissens. Anekdoten in Marco Polos Divisament dou monde und dessen deutschsprachigen Fassungen, in: Wissen en miniature, hg. von Grandl/Möller, S. 85–105, hier 90, und Mira Becker-Sawatzky: Anekdoten im frühneuzeitlichen Kunstdiskurs. Kontexte und Funktionen am Beispiel akademischer Zirkel in Rom und Paris, ebd., S. 227–279, hier 231 (jeweils unter dem Begriff der Pointe). Zu anekdotischen dicta vgl. übrigens auch jomas Schirren: Quam efficax est animi sermonisque grauitas. Dicta als Marker symbolischer Interaktion, in: Acting with Words. Communication, Rhetorical Performance and Performative Acts in Latin Literature, hg. von jerese Fuhrer/Damien Nelis, Heidelberg 2010, S. 79–100, der – mit Beispielen aus Valerius Maximus – zeigt, dass sie (innerhalb der Diegese und im Fall von Exempla indirekt auch gegenüber dem Rezipienten) als Sprechakte fungieren können. Vallozza, S. 211f. Beck: Use of Anecdotes, S. 30–36 (zu den Apophthegmensammlungen) und wiederholt bei der Besprechung einzelner Anekdoten aus den Viten. Grandl: „(Nicht) auf den Mund gefallen“, S. 13–17. Niehaus, S. 188. Ebd., S. 190f. Alain Montandon: Anecdote et nouvelle. De Bassompierre à Hofmannsthal, in: L’Anecdote, hg. von dems., S. 211–226, hier 215. Vgl. aus der frühen Neuzeit auch Montaigne, dessen Anekdoten zumindest pointenhafte dicta aufweisen (Simon Godart: Heiterkeit. Anekdotische Isosthenie bei Montaigne, in: Wissen en miniature, hg. von Grandl/Möller, S. 107–129, hier 125). Katharina Hertfelder: Bewegungslinien der Anekdote bei Hans Blumenberg, in: Wissen en miniature, hg. von Grandl/Möller, S. 177–202, hier 183f. und 191. Vgl. auch Matthias Grandl: Wie sich Anekdoten kommentieren. Seorie einer ‚Affordanz‘ der Anekdote (nach H. Blumenberg, L. Sciascia und M. T. Cicero), ebd., S. 203–224, zu anekdotischen Pointen bei Blumenberg, Leonardo Sciascia und Cicero.
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sind,521 und auch der Ἀγὼν Ὁμήρου καὶ Ἡσιόδου lässt sich (wenngleich mit überlanger provocatio) so beschreiben.522 Von denselben Forschern wird jedoch auch immer wieder explizit festgehalten, dass es unter den von ihnen als Anekdoten behandelten Texten auch solche mit anderen – besonders mit einfacheren oder unschärferen – Strukturen gibt.523 Bei Valerius Maximus finden wir einerseits ganze Reihen von Anekdoten, auf die das dreigliedrige Schema zutrifft, sowohl in Gestalt des klassischen Apophthegma (etwa in den Kapiteln De constantia und Libere dicta aut facta; oft in direkter Rede nach Provokationen in indirekter oder narrativisierter Rede524) als auch im weiteren Sinn mit factum statt dictum (vgl. die Anekdoten über aufgehobene Testamente in 7,7 mit der Aufhebung als provoziertem factum; in 8,9, ext. 3 könnte man die Reden des Hegesias als Provokation, deren Verbot als Reaktion verstehen, allerdings wäre entgegen dem Schema die Provokation der Hauptinhalt). Es ist auch anzuerkennen, dass provocatio und dictum ein Strukturphänomen beschreiben, das von den Kategorien Labovs und Waletzkys nicht erfasst wird (da das dictum in der apophthegmatischen Anekdote most reportable event ist, bildet es keinen Ergebnis-, sondern verschmilzt mit der provocatio zum Komplikationsabschnitt). Andererseits lässt sich die manchmal mögliche Übertragung auf nicht-apophthegmatische Anekdoten nicht generalisieren (eindeutig kein Provokation-Reaktion-Schema gilt z. B. in den Traumanekdoten in 1,7, wo die zentralen Handlungselemente Traum und Verwirklichung sind, oder den meisten Anekdoten in 2,1).525 Zudem wird am Beispiel des Valerius Maximus offensichtlich, dass das Schema nicht nur durch einfachere Erzählungen unterboten werden kann, sondern in seiner eigenen Einfachheit der strukturellen Komplexität vieler apophthegmatischer Anekdoten nicht gerecht wird – diese können schließlich ebenso wie andere 521
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Melanie Möller: Am Anfang war … die Kloake. Wissensanekdoten in antiker Biographik, ebd., S. 67–82, hier 80 („hier und da“). Arrighetti, S. 89f. Beck: Use of Anecdotes, S. 32–36 (zu vereinfachten Apophthegmata bei Plutarch; vgl. unten Fn. 563); Gossman, S. 149f. (zu „relatively unstructured short narratives“); Arrighetti, S. 80 (das Schema gelte nur für ‚Charakteranekdoten‘); Möller/Grandl, S. 6 (ein „relativ konstante[s]“, aber doch „fakultative[s]“ Gattungsmerkmal). Bei Niehaus ist die apophthegmatische Anekdote einer von zwei separat definierten Anekdotentypen (siehe oben S. 47f.). Vgl. oben S. 128f. In seltenen Fällen widersetzen sich sogar Apophthegmata dem provocatio-dictumSchema: vgl. 6,2,7 (ausgehend von dem schon in der vorangehenden Anekdote eingeführten Pompeius): Cui candida fascia crus alligatum habenti Fauonius ‘non refert’ inquit ‘qua in parte sit corporis diadema’, exigui panni cauillatione regias ei uires exprobrans. at is neutram in partem mutato uultu utrumque cauit, ne aut hilari fronte libenter agnoscere potentiam profiteri uideretur. Hier ist das dictum (obwohl Hauptsache gemäß Kapitelthema) eher selbst provocatio denn Reaktion auf eine solche.
198
Die Anekdoten
Anekdoten über Abstract, Evaluation(en), Ergebnisabschnitt und Coda verfügen (z. B. gibt es Fälle, wo auf das provozierte dictum noch eine Reaktion des ursprünglichen Provokateurs als Ergebnisabschnitt folgt).526 Das zwiespältige Gesamtbild der bisherigen Forschung wird also durch die Anwendung auf Valerius Maximus nicht bloß bestätigt, sondern dank der strukturellen Analyse nach Labov und Waletzky noch um einen Aspekt erweitert. Nicht näher einzugehen ist angesichts dieses Ergebnisses auf das noch einfachere Schema, das Harold Gotoff anhand der Apophthegmata in drei Schriften Ciceros (Pro Archia, Cato maior de senectute, Tusculanae disputationes) entwickelt hat. Es sieht die Personenorientierung (‚identification of the speaker‘) als erstes Element vor, worauf eine Ausgangssituation (‚circumstantial information necessary for understanding the occasion and appositeness of the remark‘) und dann das dictum folge.527 Im Gegensatz zu Schäfer werden also die generelle occasio (soweit sie nicht die Person betrifft) und eine allfällige provocatio nicht unterschieden; dafür geht die Personenorientierung zwingend den übrigen Orientierungsinhalten voraus – was ihrer üblichen Stellung bei Valerius Maximus entspricht. Einen ‚Archetyp‘ des römischen moralischen Exemplums hat – ausgehend von dreien der berühmtesten exemplarischen Geschichten über patriotische Helden (Mucius Scaevola, Valerius Corvinus und M. Curtius) – Rebecca Langlands zu rekonstruieren versucht.528 Zwar geht es ihr dabei hauptsächlich um die Ebene der histoire, drei der insgesamt sechs verwendeten Textstellen (Gell. 9,11, Liv. 7,6, 1–6, Val. Max. 5,6,2) werden aber auch zum Anlass genommen, eine ‚typische literarische Form‘ zu beschreiben. Sie besteht aus fünf Merkmalen,529 von denen nur zwei mit dem Regelfall der Anekdote bei Valerius Maximus übereinstimmen: die konzise Erzählweise ohne überflüssige Details und Beschreibungen530 und der ‚interpretative frame‘ aus expliziten Evaluationen. Dagegen ist eine genaue räumlich-zeitliche Einordnung nicht einmal in der von Langlands herangezogenen Anekdote 5,6,2 festzustellen.531 Bezugnahmen auf die Überlieferung der Geschichte gibt es bei Valerius 526
527
528 529
530 531
Vgl. die Auswertungen der weitgehend apophthegmatischen oder vom ProvokationReaktion-Schema bestimmten Kapitel 3,8 und 6,2 auf S. 435–441 und 445–451 sowie speziell zu Reaktionen auf Reaktionen oben S. 173. Cicero’s Style for Relating Memorable Sayings, in: ICS 6 (1981), S. 294–316, hier 295; es folgt eine Besprechung der Darstellungsvarianten v. a. des zweiten Elements sowie ein Vergleich mit zwei Parallelstellen bei Platon und Herodot. Exemplary Ethics in Ancient Rome, Cambridge 2018, S. 16–46. Nicht dazu rechne ich die ebenfalls diagnostizierten ‚iconic visual details‘, mit denen nämlich keine erzähltechnischen Mittel (wie deskriptive Pausen oder effets de réel) gemeint sind, sondern spektakuläre Elemente als Kernbestandteil der histoire. Vgl. oben S. 111 und 123f. Umgekehrt fehlt der ‚interpretative frame‘ in einem anderen ihrer Beispieltexte (Liv. 7,6,1–6), der darum in seinem Kontext gar nicht wirklich als Exemplum (d. h. Argu-
Vergleiche
199
Maximus nur gelegentlich,532 und interne Evaluation durch ein intradiegetisches Publikum ist zwar relativ häufig, aber längst nicht allgegenwärtig.533 Angesichts der von Langlands ausdrücklich eingestandenen Unverbindlichkeit ihrer (formalen wie inhaltlichen) Postulate534 sollte man hieraus freilich kein kategorisches Urteil über das Verhältnis des Exemplums zur Anekdote ableiten. Eingehendere erzähltechnische oder strukturelle Untersuchungen zu den in der römischen Literatur und Rhetorik vorkommenden Exempla stehen noch aus.535 Die in struktureller Hinsicht am besten erforschte historische Erscheinungform des Exemplums scheint vielmehr das mittelalterliche Predigtexemplum zu sein – dank der von Claude Bremond vorgelegten Analyse der (von älteren Forschern gesammelt publizierten) Exempla aus den Predigten des Jakob von Vitry († 1240).536 Sie zerfallen regelmäßig in einen Kern (die ‚exemplarische Anekdote‘), bestehend aus einem meist vagen Quellenverweis sowie der eigentlichen Erzählung (die auch eine ‚habituelle Erzählung‘ sein kann), und eine davor und/oder danach stehende ‚Lehre‘, d. h. eine Evaluation, die den Zusammenhang zwischen der Anekdote und der im Kontext relevanten generellen, auf die persönliche Lebensführung der Adressaten anwendbaren Regel aufzeigt – sei es durch explizite Identifikation oder auch durch eine bloße Formulierung der Regel, an die die Anekdote mit Konnektoren wie autem oder igitur angeknüpft wird.
532 533 534
535
536
ment) bezeichnet werden kann. Zur geringen Bedeutung der räumlich-zeitlichen Einordnung bei Valerius Maximus vgl. oben S. 158–160. Vgl. oben S. 174. Vgl. oben S. 170f. Langlands: Exemplary Ethics, S. 17: „Plenty of Roman exempla do not follow this pattern“. Es scheint ihr vielmehr darum zu gehen, auch um den Preis der Künstlichkeit einen Maßstab zu schaffen, mit dem andere Exempla verglichen werden können („their alternative pattern is always outlined with this paradigm in mind“, „jis is the form of exemplum against which all subsequent and variant exempla are to be measured“). Siehe als bescheidenen Beitrag die vergleichende Besprechung von vier Cicero-Exempla im folgenden Abschnitt (S. 200–212). Zu Exempla in der Dichtung vgl. immerhin Roberto Gazich: ‘Exemplum’ ed esemplarità in Properzio, Mailand 1995, S. 144–147, der bei Properz ein zwei- bis dreiteiliges Schema beobachtet (als Kern eine ‚sezione narrativa o comunque evocativa‘, davor und/oder danach eine ‚sezione normativa e istruzionale‘). Structure de l’«exemplum» chez Jacques de Vitry, in: ders./Le Goff/Schmitt, S. 109– 143, hier 111–131 (eine Edition der Predigten als solcher lag ihm noch nicht vor; heute existiert immerhin ein erster Band: Iacobi de Vitriaco Sermones vulgares vel ad status. Tomus I. Prologus, I–XXXVI, hg. von Jean Longère, Turnhout 2013). Eine umfassende Geschichte des Predigtexemplums bis ins 15. Jhd. findet man bei J.-j. Welter: L’exemplum dans la littérature religieuse et didactique du Moyen Age, Paris 1927. Guy Demerson/Michel Bellot-Antony: Formes et fonctions de l’anecdote exemplaire chez Rabelais (Quart livre), in: L’Anecdote, hg. von Montandon, S. 131–154, befassen sich auf Bremond aufbauend mit exemplarischen Anekdoten bei Rabelais.
200
Die Anekdoten
Die Notwendigkeit des Übergangs zwischen Anekdote und nicht-narrativem Predigtkontext führt also zu einer gegenüber Valerius Maximus deutlich vereinfachten, weniger verflochtenen Darbietung der Evaluation. Die so hervorgehobene Relevanz der Anekdote kann eine synekdochische als Manifestation der allgemeinen Regel (z. B. in einer Predigt über die Gefahr der Verführung durch Dämonen ein Beispielfall einer solchen Verführung), aber auch eine metaphorische als Parallele zum eigentlich Gemeinten (z. B. „Ces séducteurs des âmes sont semblable au loup qui […]“) sein. Die erste Variante ist ein direktes Gegenstück zur Relevanz durch Manifestation des Kapitelthemas bei Valerius Maximus, während die uneigentliche Anekdote (Parabel) in seiner Sammlung keinen Platz hat. An den narrativen Partien der Predigtexempla lässt sich überdies zeigen, dass Strukturschemata nicht nur kontextuell und intentional, sondern sogar weltanschaulich bedingt sein können. Aus dem mérite-récompense- oder déméritechâtiment-Schema, das laut Bremond in den meisten von ihnen auftritt (im Anschluss an circonstances introductrices, d. h. eine Orientierung/occasio, und eine mise à l’épreuve, d. h. provocatio), spricht die christliche Überzeugung von der unfehlbaren göttlichen Gerechtigkeit, deren sich die heidnische Antike viel weniger sicher war.537 Bei Valerius Maximus ist die gerechte Vergeltung denn auch nicht nur kein dominantes Motiv, sondern es gibt sogar Anekdoten, in denen Tugend bestraft wird (z. B. 5,7,3, 6,2, ext. 3 und 9,7, mil. Rom. 3) oder ausdrücklich festgehalten wird, dass ein begangenes Verbrechen ungestraft blieb (z. B. 9,7, mil. Rom. 2). 7.c
Parallelstellen bei Cicero und Livius
Zu den Anekdoten der neun oben benutzten Beispielkapitel finden sich in den von Francis Royster Bliss erarbeiteten Listen 42 Parallelstellen bei Cicero und Livius.538 Acht davon sind für die Einordnung des Valerius Maximus von besonderem Interesse, weil sie ihrerseits vier Parallelenpaare bilden (je eine Cicero- und eine Liviusstelle zu einer Anekdote). Diese Stellen sind es, die nun genauer betrachtet und mit den entsprechenden Stellen bei Valerius Maximus verglichen werden sollen.539 Dabei geht es wohlgemerkt trotz der Heranziehung von Parallelstellen nicht um die Weise, wie Valerius Maximus die konkreten Texte umformt540
537
538
539
Siehe etwa Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte [urspr. 1898–1902], 4 Bde., Darmstadt 1956/57, Bd. II, S. 113f. Bliss, S. 279–295 (darunter teils mehrere zur selben Anekdote; zwei der Parallelstellen stammen aus dem nur fragmentarisch erhaltenen vierten Buch von Ciceros De re publica: Cic. rep. 4,6 zu Val. Max. 2,1,5 und Cic. rep. 4 ohne konkrete Stellenangabe zu Val. Max. 3,8, ext. 3). Die Stellenangaben werden zum Teil nach den aktuellen Ausgaben vervollständigt oder revidiert.
Vergleiche
201
(vorausgesetzt, dass sie tatsächlich seine Quellen waren541), sondern um einen generellen Vergleich der Erzähltechnik mit Schwerpunkt auf der Gesamtstruktur im Sinne von Labov und Waletzky und ihrer Bedingtheit durch Kontext und Werkgattung. Das erste Vergleichspaar betrifft die Anekdote 1,7,4 aus dem Kapitel De somniis:542 Cic. div. 1,55 — OR/EV CODA CODA OR OR OR KOMP KOMP KOMP KOMP KOMP KOMP
540
541
542
543
(_) Sed quid ego Graecorum? nescio quo modo me magis nostra delectant. (A) omnes hoc historici, Fabii, Gellii, (B) sed proxume Coelius: (C) cum bello Latino ludi votivi maxumi primum fierent, (D) civitas ad arma repente est excitata, (E) itaque ludis intermissis (F) instaurativi (G) constituti sunt. qui ante quam (H) fierent, (I) cumque iam populus consedisset, (J) servus per circum, cum virgis caederetur, furcam ferens ductus est. (K) exin cuidam rustico Romano dormienti visus est venire, (L) qui diceret (M) praesulem sibi non placuisse ludis, idque (N) ab eodem iussum esse543 (O) eum senatui nuntiare; (P) illum non esse ausum. (Q) iterum esse idem iussum et monitum, (R) ne vim suam experiri vellet: (S) ne tum quidem esse ausum. (T) exin filium eius esse mortuum,
Im Gegensatz etwa zu Bliss sowie Maslakov: Tradition and Abridgement, S. 147–338, und Historiography, S. 461–484 (oder vergleichbaren Untersuchungen zu anderen Autoren, u. a. Tschögele: Historiam narrare zu Petrarca), die sich allerdings auf sprachlich-stilistische und inhaltliche Änderungen konzentrieren (punktuellere Vergleiche dieser Art finden sich – anlässlich der Quellenfrage – auch noch in zahlreichen weiteren Arbeiten zu Valerius Maximus). Vgl. zur Quellenfrage oben S. 20–24. Von den 42 Stellen gelten nach Bliss’ Methodik (siehe oben Fn. 49) 24 als sichere oder mutmaßliche Hauptvorlagen (darunter 5 der 8 hier ausgewählten Stellen), 6 als von Valerius Maximus mutmaßlich punktuell benutzt und 12 als nicht benutzt (darunter Cic. div. 1,49 und 1,55 sowie Liv. 2,32,2–33,3). Vgl. zu diesem Kapitel auch Bozzi, die es unter einem wiederum anderen Aspekt – dem Vokabular in den Wortfeldern Schlaf, Traum und Vision – mit Cicero vergleicht. Ich behandle diesen und die folgenden losgelösten AcI wie Hauptsätze. Cicero wechselt hier anakoluthisch vom Indikativ in einen AcI, der wohl von omnes hoc historici (scil. habent o. ä.) abhängig zu denken ist (bis er im letzten Satz durch memoriae proditum est eine neue Rechtfertigung erhält). Das Ergebnis ähnelt zwar dem bekannten Phänomen der Fortsetzung eines NcI als AcI (jorsten Burkard/Markus Schauer: Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik, Darmstadt 52012, S. 703f.), aber visus est kommt als Auslöser wohl dem Sinn nach nicht in Frage.
202 KOMP KOMP ERG ERG EV/ERG/CODA
Die Anekdoten (U) eandem in somnis admonitionem fuisse tertiam. (V) tum illum etiam debilem factum (W) rem ad amicos detulisse, (X) quorum de sententia (Y) lecticula in curiam esse delatum, (Z) cumque senatui somnium enarravisset, (AA) pedibus suis salvum domum revertisse. itaque (BB) somnio (CC) comprobato (DD) a senatu ludos illos iterum instauratos (EE) memoriae proditum est. _ [A23 B24] C1 D2 E3 [F7]G4 [H7]I5 J6 K8 L9[M6] N10 O11 P11' Q12[R14] S13 T14 U15 V16 W17 X18 Y19 Z20 AA21 [BB8– 10+12+15]CC21 DD22 EE23–24
Liv. 2,36 ERG EV OR KOMP KOMP KOMP KOMP
EV KOMP KOMP
EV KOMP EV ERG
EV/ERG
(A) Ludi (_) forte (B) ex instauratione (A) magni (B) Romae parabantur. Instaurandi (C) haec causa fuerat. (D) Ludis mane seruum quidam pater familiae, nondum (E) commisso spectaculo, (D) sub furca caesum medio egerat circo; (F) coepti inde ludi, uelut (G) ea res nihil ad religionem pertinuisset. (H) Haud ita multo post T. Latinio, de plebe homini, somnium fuit; uisus Iuppiter dicere (I) sibi ludis praesultatorem displicuisse; (J) nisi magnifice instaurarentur ii ludi, (K) periculum urbi fore; (L) iret, (M) ea (N) consulibus nuntiaret. (O) Quamquam haud sane liber erat religione animus, uerecundia tamen maiestatis magistratuum timorem uicit, (P) ne in ora hominum pro ludibrio abiret. (Q) Magno illi (R) ea cunctatio (Q) stetit; filium namque intra paucos dies amisit. Cuius repentinae cladis (S) ne causa dubia esset, (T) aegro animi eadem illa in somnis obuersata species uisa est rogitare, satin magnam (U) spreti numinis (T) haberet mercedem; (V) maiorem instare (W) ni eat propere ac nuntiet consulibus. (X) Iam praesentior res erat. Cunctantem tamen ac prolatantem (Y) ingens uis morbi adorta est debilitate subita. (Z) Tunc enimuero deorum ira admonuit. Fessus igitur (AA) malis praeteritis (BB) instantibusque, (CC) consilio propinquorum adhibito, (DD) cum uisa atque audita et obuersatum totiens somno Iouem, minas irasque caelestes (EE) repraesentatas casibus suis (FF) exposuisset, (GG) consensu inde haud dubio omnium qui aderant (HH) in forum ad consules lectica defertur. (II) Inde in curiam iussu consulum delatus, (JJ) eadem illa (KK) cum patribus ingenti omnium admiratione enarrasset, (LL) ecce aliud miraculum:
Vergleiche ERG/CODA
203
(MM) qui captus omnibus membris delatus in curiam esset, (NN) eum functum officio (OO) pedibus suis domum redisse (PP) traditum memoriae est. [A17]_B16[A17]B16[C1(–15) D1(E2)D1 F2(G1) H3(I1)(J5 K6)(L4 N4) O4'(P5') Q5''(R4')Q5'' S6' T6''(U4')T6'' (V8)W7 X7' Y8 Z10(AA5''+8)(BB15)(CC9)(DD3+6'' EE5''+8)FF10 GG11 HH12 II13 (JJ3+5''–6''+8)KK14 LL15' (MM13 NN14)OO15']PP18
Keiner der beiden Autoren stellt der Anekdote ein Abstract voran. Cicero544 beginnt stattdessen mit einer Ortsorientierung und einer rein darauf bezogenen Evaluation (Äußerung einer generellen Präferenz für Römisches) sowie einer Quellenangabe (die im Schema Labovs und Waletzkys als ‚Coda‘ erscheint, weil sie die Brücke in die Gegenwart schlägt). In der Orientierung zur konkreten Geschichte (Ausgangssituation) greift er zeitlich weiter aus, ordnet historisch besser ein als Valerius Maximus. Generell ist seine Erzählung kleinteiliger – weniger hypotaktisch und in mehr zeitliche Elemente und Zeitstufen unterteilt (der Komplikationsabschnitt hat neun Zeitstufen statt fünf, was auch – aber nicht nur – diegetisch, durch einen zusätzlichen Traum, bedingt ist). Im letzten Satz findet man eine Evaluation zur thematischen Relevanz in Form einer Rekapitulation, also eine Kombination zweier auch bei Valerius Maximus häufiger funktional-formaler Elemente,545 sowie eine zweite, vage formulierte Coda zur Überlieferung. Livius präsentiert die ganze Haupthandlung der Anekdote als Analepse, nur die letztliche Folge – die Wiederholung der Spiele, deren tatsächliches Stattfinden von Valerius Maximus überhaupt nicht mehr mitgeteilt wird – gehört als Auslöser der Analepse der primären Handlungskette des Kontexts an.546 Es gibt nicht nur kein Abstract, sondern im Gegensatz zu Cicero auch keine historische Orientierung, die im Kontext einer chronologischen Geschichtserzählung schlicht nicht nötig ist. Die Komplikation hat hier wiederum nur sechs Zeitstufen (es gibt auch nur zwei Träume). Auffällig sind die mehrmals zwischengeschalteten, teils vor den respektiven Handlungssätzen stehenden Evaluationen in Form kurzer Hauptsätze – eine bei Valerius Maximus unübliche Vorgehensweise. Der erste leitet vom Auslöser zur Analepse über. Die übrigen zielen nicht etwa – wie die Schlussevaluation bei Cicero – auf thematische Relevanz ab, sondern, abgesehen von einer diegetischen, auf die Bewertung der Person (Herausstellung ihrer Begriffsstutzigkeit) und die generelle Gefährlichkeit des Ungehorsams gegenüber Göttern. Der Ergebnisabschnitt über den Auftritt vor dem Senat ist länger als bei Cicero und Valerius Maximus – schließlich stellt er die Verbindung mit dem (bezogen auf die Anekdote 544
545 546
Auf die Sprecher innerhalb der (dialogischen) Cicerotexte und die Frage, ob Cicero deren Erzähltechnik differenziert, kann in diesem Rahmen nicht eingegangen werden. Siehe oben S. 164–166 und 170. Liv. 2,37, direkt an die Anekdote anschließend, berichtet von Entwicklungen während der Spiele (Ausschluss der Volsker), die einen Krieg provozieren.
204
Die Anekdoten
ebenfalls als Ergebnis erscheinenden) Auslöser her und ist daher hier, anders als dort, Voraussetzung für die Relevanz der Geschichte im Kontext.547 Eine Überlieferungsangabe mit beglaubigendem Wert gibt es bei Livius im Gegensatz zu Cicero nicht, sondern nur ein vages traditum memoriae est. Beim zweiten Vergleichspaar handelt es sich ebenfalls um eine Traumgeschichte (Val. Max. 1,7, ext. 1), die Cicerostelle stammt aus demselben philosophischen Dialog: Cic. div. 1,49 CODA CODA OR/KOMP KOMP KOMP KOMP KOMP KOMP KOMP KOMP/EV KOMP KOMP
(A) hoc item in Sileni, (B) quem Coelius sequitur, (A) Graeca historia est (is autem diligentissume res Hannibalis persecutus est): (C) Hannibalem, cum cepisset Saguntum, (D) visum esse in somnis a Iove in deorum concilium vocari;548 (E) quo cum venisset, (F) Iovem imperavisse, (G) ut Italiae bellum inferret, (H) ducemque ei unum e concilio datum, (I) quo illum utentem cum exercitu progredi coepisse; (J) tum ei ducem illum praecepisse, (K) ne respiceret; (L) illum autem id diutius facere non potuisse elatumque cupiditate respexisse; (M) tum visam beluam vastam et inmanem circumplicatam serpentibus, quacumque incederet, omnia arbusta, virgulta, tecta pervertere, et eum admiratum (N) quaesisse de deo, quodnam illud esset tale monstrum; (O) et deum respondisse vastitatem esse Italiae (P) praecepisseque, (Q) ut pergeret protinus, quid retro atque a tergo fieret, ne laboraret. [A14(B15)A14] C1 D2 E3 F4[G6] H5 I6 J7[K8] L8' M9 N10 O11 P12 Q13
547
548
Was grundsätzlich nicht bedeuten muss, dass der wahre Grund ihrer Einschaltung nicht doch in ihrem rein anekdotischen Wert liegt (im konkreten Fall ließe sich aber auch argumentieren, dass der unbegründete Ausschluss der Volsker – vgl. Liv. 2,37,8: auctor magis, ut fit, quam res, ad praecavendum vel ex supervacuo movit – und der daraus folgende Krieg eine Erfüllung der – am Ende der Anekdote also nur scheinbar abgewendeten – Traumwarnung nisi magnifice instaurarentur ii ludi, periculum urbi fore seien, was die Kontextrelevanz enorm verstärken würde; Livius selbst stellt diese Verbindung allerdings nicht her). Für den hier angestrebten strukturellen Vergleich konnte ungeachtet dieser Erwägungen nur eine Bestimmung des most reportable event (= Komplikationsabschnitt) auf der Grundlage einer isolierten, anekdotischen Lektüre in Frage kommen. Hier und in mehreren noch folgenden als AcI-Ketten erzählten Anekdoten behandle ich die einzelnen AcI wie Hauptsätze.
Vergleiche
205
Liv. 21,22,6–9 KOMP/EV
KOMP KOMP KOMP KOMP KOMP KOMP KOMP KOMP
(A) Ibi (_) fama est (A) in quiete uisum ab eo iuuenem diuina specie qui (B) se ab Ioue (A) diceret (B) ducem in Italiam Hannibali missum; (C) proinde sequeretur neque usquam a se deflecteret oculos. (D) Pauidum primo, nusquam circumspicientem aut respicientem, secutum; (E) deinde cura ingenii humani cum, quidnam id esset quod respicere (F) uetitus esset, (E) agitaret animo, temperare oculis nequiuisse; (G) tum uidisse post sese serpentem mira magnitudine cum ingenti arborum ac uirgultorum strage ferri ac post insequi cum fragore caeli nimbum. (H) Tum quae moles ea quidue prodigii esset quaerentem, (I) audisse uastitatem Italiae esse; (J) pergeret porro ire nec ultra inquireret sineretque fata in occulto esse. A2_A2[B1]A2[B1] C3[–4] D3 E4'[F2]E4' G5 H6 I7 J8
Cicero ist auch hier wieder historisch konkreter – Valerius Maximus bietet zu dieser Geschichte weder eine Ausgangssituation noch eine zeitliche Einordnung jenseits der bloßen Nennung des allbekannten Namens Hannibal – und kleinteiliger in Zeit- und Satzstruktur. Es gibt wieder kein Abstract, diesmal aber auch keine einleitende oder rekapitulierende Gesamtevaluation durch den Erzähler (sondern nur ein internalisiertes admirari). Vorangestellt findet sich erneut eine Quellenangabe, von der in diesem Fall die gesamte Erzählung (als AcI-Kette) abhängig ist. Livius gibt der Erzählung dieselbe Form, die auslösende Quellenangabe ist allerdings weder beglaubigend noch überhaupt eine erzählende ‚Coda‘, sondern ein nicht-diachronisches fama est, das man (im Gegensatz etwa zum aussageschwachen Stützwort fertur549) als distanzierende Evaluation der ganzen Geschichte betrachten kann. Es gibt keinerlei eigene Orientierung – sie ist durch den Kontext gegeben –, und über einen Ergebnisabschnitt verfügt die Anekdote ohnehin bei keinem der drei Autoren (diegetisch wäre das ‚Ergebnis‘ der tatsächliche Italienfeldzug Hannibals, der als bekannt vorausgesetzt werden kann550). Das dritte Paar betrifft eine beendete Feindschaft (Val. Max. 4,2,1), die Cicero in einer politischen Rede erwähnt:
549
550
Dieses wurde auch sonst bei der Anekdotenauswertung weder als Evaluation noch als extradiegetischer Textteil gewertet (vgl. Val. Max. 2,1,6 und 8,9, ext. 2). Bei Livius wird davon natürlich in weiterer Folge berichtet – zwischen dem Traum (in Spanien) und seiner Verwirklichung (Ankunft in Italien: Liv. 21,38) steht aber noch der Zug durch Gallien.
206
Die Anekdoten
Cic. prov. 20–21 OR
OR/KOMP/EV/ CODA
(_) quid? si ipsas inimicitias depono rei publicae causa, quis me tandem iure reprehendet? praesertim cum ego omnium meorum consiliorum atque factorum exempla semper ex summorum hominum factis mihi censuerim petenda. (A) an vero M. ille Lepidus, qui bis consul (B) et pontifex maximus fuit (C) non solum memoriae testimonio, sed etiam annalium litteris et summi poetae voce laudatus est, quod (D) cum M. Fulvio collega quo die censor est factus, homine inimicissimo, in campo statim rediit in gratiam, (E) ut commune officium censurae communi animo ac voluntate defenderent? […] _ [A1 B?–3]C4[D2 E3]
Liv. 40,45,6–46,15 OR OR OR OR KOMP KOMP
551
[…] (A) Censorum inde comitia habita; creati M. Aemilius Lepidus pontifex maximus et M. Fuluius Nobilior, (B) qui ex Aetolis triumphauerat. (C) Inter hos uiros nobiles inimicitiae erant, saepe multis et in senatu et ad populum atrocibus celebratae certaminibus. (D) Comitiis confectis, (_) ut traditum antiquitus est, (E) censores in Campo ad aram Martis sellis curulibus consederunt. (F) Quo repente principes senatorum cum agmine uenerunt ciuitatis, inter quos (G) Q. Caecilius Metellus uerba fecit. (H)551 ‘Non obliti sumus, censores, uos paulo ante ab uniuerso populo Romano moribus nostris praepositos esse, et nos a uobis et admoneri et regi, non uos a nobis debere. Indicandum tamen est quid omnes bonos in uobis aut offendat aut certe mutatum malint. Singulos cum intuemur, M. Aemili M. Fului, neminem hodie in ciuitate habemus quem, si reuocemur in suffragium, uelimus uobis praelatum esse. Ambo cum simul adspicimus, non possumus non uereri ne male comparati sitis, nec tantum rei publicae prosit quod omnibus nobis egregie placetis, quam quod alter alteri displicetis noceat. Inimicitias per annos multos uobis ipsis graues et atroces geritis, quae periculum est ne ex hac die nobis et rei publicae quam uobis grauiores fiant. De quibus causis hoc timeamus, multa succurrunt quae dicerentur, nisi forte implacabiles † fueritis † implicauerint animos uestros. Has ut hodie ut in isto templo, finiatis simultates quaesumus uos uniuersi, et quos coniunxit suffragiis suis populus Romanus, hos etiam reconciliatione gratiae coniungi a nobis sinatis; uno animo, uno consilio legatis senatum, equites recenseatis, agatis censum, lustrum condatis;
Die hier zu einem Element zusammengefasste Rede enthält in Wirklichkeit mehrere Satzgefüge und zahlreiche Anachronien, aber für den Vergleich genügt eine vereinfachte Darstellung.
Vergleiche
KOMP KOMP KOMP KOMP KOMP KOMP EV/ERG EV/ERG
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quod in omnibus fere precationibus nuncupabitis uerbis “ut ea res mihi conlegaeque meo bene et feliciter eueniat”, id ita ut uere, ut ex animo uelitis euenire, efficiatisque ut quod deos precati eritis, id uos uelle etiam homines credamus. T. Tatius et Romulus, in cuius urbis medio foro acie hostes concurrerant, ibi concordes regnarunt. Non modo simultates sed bella quoque finiuntur; ex infestis hostibus plerumque socii fideles, interdum etiam ciues fiunt. Albani diruta Alba Romam traducti sunt; Latini, Sabini in ciuitatem accepti. Volgatum illud, quia uerum erat, in prouerbium uenit, amicitias immortales, mortales inimicitias debere esse.’ (I) Fremitus ortus cum adsensu, (J) deinde uniuersorum uoces idem petentium confusae in unum orationem interpellarunt. (K) Inde Aemilius questus (L) cum alia tum bis a M. Fuluio se certo consulatu deiectum, (M) Fuluius contra queri (N) se ab eo semper lacessitum et in probrum suum sponsionem factam. (O) Tamen ambo significare, si alter uellet, (P) se in potestate tot principum ciuitatis futuros. (Q) Omnibus instantibus qui aderant, (R) dextras fidemque dedere remittere se ac finire odium. (S) Deinde conlaudantibus cunctis deducti sunt in Capitolium. (T) Et cura super tali re principum (U) et facilitas censorum egregie (V) comprobata ab senatu et laudata est. A5[B3] [C2–4] D5_E6 F7 G8[H1–17] I9 J10 K11[L2–4] M12[N2– 4] O[11]–12[P14] Q13 R14 S15 [T7–13 U11–14]V16
Diese Geschichte wird von Valerius Maximus sehr knapp und ohne Abstract erzählt. Bei Cicero erscheint sie aber, anders als bei den beiden bisher besprochenen Vergleichsfällen, noch radikaler verknappt. Die ganze Haupthandlung steht in einem einzigen Kausalsatz; im selben Satzgefüge finden sich die Orientierung (abgesehen von der sehr allgemeinen Personenorientierung summorum hominum factis im Satz davor) und eine der Überlieferung (= ‚Coda‘) zugeschriebene Evaluation. Livius erzählt die Geschichte dagegen sehr ausführlich – es gibt mehr diegetisches Detail, und selbst bei zusammengefasster Darstellung der direkten Rede weist die Erzählung eine große Zahl von Elementen und Zeitstufen auf. Es handelt sich immerhin um einen Vorfall bei einer Zensorenwahl, also einem regelmäßig von Livius berichteten Ereignis. Anders als bei Valerius Maximus wird nicht mit der Feindschaft als Orientierung (Ausgangssituation) eingesetzt, die durch die Wahl und ihre Folgen kompliziert wird, sondern mit ebendieser, die selbst die primäre Ausgangssituation ist. Die Feindschaft wird als zweite, heterodiegetischanaleptische Ausgangssituation eingeschaltet. Die Komplikation beginnt (repente) mit der Intervention der Senatoren, deren Kernstück eine historiographietypisch
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Die Anekdoten
lange Rede ist, wie man sie bei Valerius Maximus nicht findet. Anstelle evaluierender Coda-Elemente über die Billigung des Geschehenen durch die Nachwelt steht ein in der konkreten historischen Situation verbleibender Ergebnisabschnitt über die unmittelbare Reaktion des Senats. Das letzte Vergleichspaar betrifft eine Geschichte, die von Cicero in einem rhetoriktheoretischen Dialog und von Valerius Maximus im Kapitel über die Macht der Rede verwendet wird (Val. Max. 8,9,1): Cic. Brut. 54 OR
OR/KOMP EV/ERG EV/ERG
(_) videmus item (A) paucis annis post (B) reges exactos, (A) cum plebes prope ripam Anionis ad tertium miliarium consedisset eumque montem, qui Sacer appellatus est, occupavisset, (C) M. Valerium dictatorem dicendo sedavisse discordias, (D) eique ob eam rem honores amplissumos habitos et eum primum ob eam ipsam causam Maxumum esse appellatum. […] _A2[B1]A2 C3 D4
Liv. 2,32,2–33,3 OR/CODA OR EV/CODA OR
OR/EV OR/EV OR/EV OR/EV OR/EV OR/EV OR/EV OR/EV OR/KOMP
KOMP
[…] (A) Sicinio quodam auctore iniussu consulum in Sacrum montem secessisse. (_) Trans Anienem amnem est, tria ab urbe milia passuum. Ea frequentior fama est quam cuius Piso auctor est, (B) in Auentinum secessionem factam esse. (C) Ibi sine ullo duce uallo fossaque communitis castris quieti, rem nullam nisi necessariam ad uictum sumendo, per aliquot dies neque lacessiti neque lacessentes sese tenuere. Pauor ingens in urbe, metuque mutuo suspensa erant omnia. Timere relicta ab suis plebes (D) uiolentiam patrum; (C) timere patres residem in urbe plebem, incerti (E) manere eam (F) an abire (C) mallent: quamdiu autem tranquillam quae secesserit multitudinem fore? (G) quid futurum deinde si quod externum interim bellum exsistat? (C) Nullam profecto nisi in (H) concordia ciuium (C) spem reliquam ducere; (I) eam per aequa, per iniqua reconciliandam ciuitati esse. (J) Sic placuit igitur (K) oratorem ad plebem mitti Menenium Agrippam, facundum uirum et quod (L) inde oriundus (K) erat plebi carum. (M) Is intromissus in castra (N) prisco illo dicendi et horrido modo nihil aliud quam hoc narrasse fertur:
Vergleiche KOMP
KOMP/EV ERG ERG
ERG ERG ERG EV/ERG ERG
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(O)552 tempore quo in homine non ut nunc omnia in unum consentiant, sed singulis membris suum cuique consilium, suus sermo fuerit, indignatas reliquas partes sua cura, suo labore ac ministerio uentri omnia quaeri, uentrem in medio quietum nihil aliud quam datis uoluptatibus frui; conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent, nec os acciperet datum, nec dentes conficerent. hac ira, dum uentrem fame domare uellent, ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem uenisse. inde apparuisse uentris quoque haud segne ministerium esse, nec magis ali quam alere eum, reddentem in omnes corporis partes hunc quo uiuimus uigemusque, diuisum pariter in uenas maturum confecto cibo sanguinem. (P) Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres, flexisse mentes hominum. (Q) Agi deinde de concordia coeptum, (R) concessumque in condiciones ut (S) plebi sui magistratus essent sacrosancti quibus auxilii latio aduersus consules esset, neue cui patrum capere eum magistratum liceret. (T) Ita tribuni plebei creati duo, C. Licinius et L. Albinius; (U) hi tres collegas sibi creauerunt. In his Sicinium fuisse, (V) seditionis auctorem; (W) de duobus, qui fuerint, (_) minus conuenit. Sunt qui (X) duos tantum in Sacro monte creatos tribunos esse dicant, ibique sacratam legem latam. A3_B3' C4[D8]C4[E6?][F6'?]C4[G6''?]C4[H10]C4[I8'''–10] J5 K6'''[L2]K6''' M7 N8'''[O1] P8''' Q9 R10[S11–13] T11 U12[V3] [W11']_[X3''?]
Auch diese Geschichte wird bei Cicero radikal verknappt (als AcI von einem einzigen, am Anfang stehenden videmus abhängig). Dennoch ist die Erzählung wieder historisch präziser als bei Valerius Maximus, der als zeitliche Einordnung nur Regibus exactis gibt, also den zeitlichen Abstand verschweigt. Der bei Valerius Maximus fehlende Ergebnisabschnitt über die Ehrung des Valerius (der unter anderem den Beinamen Maximus erhielt!) ist zugleich internalisierte Evaluation. Extern evaluiert wird die Anekdote, die eines von mehreren aneinandergereihten Exempla ist, nicht (zumindest nicht individuell). Livius erzählt die Geschichte nicht nur von einem anderen Protagonisten (Menenius Agrippa), sondern auch viel ausführlicher im Rahmen einer Darstellung der Sezession als ganzer. Die Ausgangssituation ergibt sich wieder aus der laufenden Handlung.553 Eine recht ausgiebige Evaluierung der Situation wird in internalisierter Form eingebaut. Die Einführung des Protagonisten (Personenorientierung)
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Wieder zu einem Element vereinfacht. Der vorangehende Text (Liv. 2,32,1–2) lautet: Timor inde patres incessit ne, si dimissus exercitus foret, rursus coetus occulti coniurationesque fierent. Itaque quamquam per
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Die Anekdoten
erfolgt an derselben späten Stelle wie bei Cicero und Valerius Maximus. Im Gegensatz zu diesen, die beide absolut nichts über den Inhalt der Rede sagen,554 gibt Livius diese (in indirekter Rede) wieder. Die Mitteilung des Umstands, dass die Rede erfolgreich war – bei Cicero und Valerius Maximus die exemplarische bzw. thematische Hauptsache –, verschmilzt Livius mit einer evaluierenden Rekapitulation der Rede selbst. Es folgt ein Ergebnisabschnitt zu den sich aus der Entscheidung, die Sezession zu beenden, ergebenden Verhandlungen und Beschlüssen.555 Hier und am Anfang evaluiert Livius abweichende Überlieferungen. Weder bei ihm noch bei Cicero findet man die von Valerius Maximus unternommene Gesamtevaluation durch kontrafaktische Geschichtsbetrachtung (ni Valerii subuenisset eloquentia, spes tanti imperii in ipso paene ortu suo corruisset). Fassen wir nun die Tendenzen zusammen, die sich in den besprochenen Vergleichspaaren zu manifestieren scheinen! Keine der acht Vergleichsstellen weist ein Abstract auf, wie es bei Valerius Maximus die Regel ist. Bei beiden zum Vergleich herangezogenen Autoren scheint es eine gewisse Tendenz zur grammatischen Unselbständigkeit der Anekdoten zu geben (je zwei von vier werden gänzlich als Ketten von AcI erzählt, hinzu kommt bei Cicero eine Anekdote mit Haupthandlung als Kausalsatz). In anderen Punkten unterscheiden sie sich jedoch. Was Cicero angeht, sind die Anekdote aus einer Rede und die aus einem rhetoriktheoretischen Dialog sehr knapp gehalten,556 die zwei aus einem philosophi-
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dictatorem dilectus habitus esset, tamen quoniam in consulum uerba iurassent sacramento teneri militem rati, per causam renouati ab Aequis belli educi ex urbe legiones iussere. Quo facto maturata est seditio. Et primo agitatum dicitur de consulum caede, ut soluerentur sacramento; doctos deinde nullam scelere religionem exsolui, […]. Der vorletzte Hauptsatz bildet ein Abstract für die Sezession als ganze. Bei Betrachtung als Geschichte der Sezession statt als Redner-Anekdote würde er wohl den Übergang von der Orientierung (Ausgangssituation) zur – vollständig von dicitur abhängigen – Komplikation signalisieren. Möglicherweise war dieser nur in Verbindung mit dem Protagonisten Agrippa, nicht aber in der Variante mit Valerius überliefert (dafür spricht, dass Valerius Maximus in einer externen Evaluation selbst eine andere Körpermetapher einführt: a capite eius cetera parte corporis divisa). Danach wird zu anderen Ereignissen übergeleitet mit dem Satz Per secessionem plebis Sp. Cassius et Postumus Cominius consulatum inierunt. Hans Schoenberger: Ueber die Quellen und die Verwendung der geschichtlichen Beispiele in Ciceros Briefen, Programm des K. Humanistischen Gymnasiums Ingolstadt 1914, S. 34–36, nennt die Exempla in Ciceros öffentlichen Schriften einschließlich der Reden generell „ausführlicher“ als die in den Briefen (vgl. auch S. 38f. zur Extremform des bloß angedeuteten Exemplums), was stimmen mag, aber die von ihm zitierte Stelle Cic. Balb. 11–12 ist ebenfalls nur eine Aneinanderreihung knapper Exempla. Dass Erzählungen kurz und schlicht sein sollen, ist im Übrigen eine gängige Forderung der
Vergleiche
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schen Dialog dagegen ausführlicher und kleinteiliger als bei Valerius Maximus.557 Generell scheint er zu konkreterer historischer Orientierung zu neigen sowie dazu, sich eingangs auf (mehr oder weniger genau bezeichnete) Quellen zu berufen, was bei Valerius Maximus eher unüblich ist.558 Einmal (im philosophischen Dialog) bedient er sich der bei Valerius Maximus häufigen Evaluation zur Herstellung thematischer Kontextrelevanz. Livius ist meist am ausführlichsten und inkludiert in zwei Fällen längere – in direkter oder indirekter Form wiedergegebene – Reden. Die Ausgangssituation bildet zweimal einen fließenden Übergang vom Kontext zur vergleichsrelevanten Erzählung, einmal wird diese aber auch abrupt in eine vollständig etablierte Situation hineingestellt (ibi fama est […]) und einmal analeptisch präsentiert (mit einem ‚Ergebnissatz‘ als Auslöser). Die Ausgangssituation kann kontextbedingt eine andere sein als bei Valerius Maximus und Cicero. Ergebnisabschnitte können über ihre Rolle innerhalb der Anekdote (‚What finally happened?‘) hinaus auch der Verbindung zwischen einer exkursartigen Anekdote und der historischen Haupthandlung (und damit implizit der Rechtfertigung jener) dienen und/oder Ereignisse mitteilen, die im größeren Kontext gleich wichtig sind wie die anekdotischen Hauptinhalte. Evaluationen sind nicht von Bedeutung für die Relevanz im (nicht thematisch definierten) Kontext. Eine Quellenangabe findet sich nur in einem der Texte – sie dient nicht der Beglaubigung, sondern betrifft eine abzulehnende Alternativüberlieferung.
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Rhetoriktheorie, die man u. a. bei Cic. inv. 1,28–29 findet (bezogen auf die Fallerzählung; ähnlich Quint. inst. 4,2,31–32 und 40–43, der jedoch auch Gegenstimmen zu Wort kommen lässt). Alle vier Anekdoten sind komplexer als Ciceros apophthegmatische Anekdoten – zumindest in der von Gotoff schematisierten Form (siehe oben bei Fn. 527). Siehe oben S. 174 (in den untersuchten Kapiteln vier Verweise auf die Überlieferung, davon einer am Anekdotenanfang). Manche Exempla-Forscher sehen übrigens die Berufung auf Quellen ebenso wie die Verwendung unbedeutender Personen (Cic. div. 1,55: cuidam rustico Romano!) als typisch ‚mittelalterlich‘ an. Vgl. etwa David: Présentation, S. 12–14, für den das antike Exemplum seine Autorität aus der historisch bedeutenden Person des ‚Helden‘ bezieht („c’est le héros qui donne son poids au précédent“), das mittelalterliche hingegen aus der Glaubwürdigkeit der Quelle („on cite l’informateur et c’est lui qui donne son crédit à l’anecdote“). Ähnlich auch Le Goff: Évolution. Die erste Cicerostelle ist in beiden Punkten ein klares Gegenbeispiel, allerdings scheinen Anekdoten über unbekannte Personen bei ihm doch eher selten zu sein (vgl. Hans Schoenberger: Beispiele aus der Geschichte, ein rhetorisches Kunstmittel in Ciceros Reden, Programm des K. humanistischen Gymnasiums St. Stephan in Augsburg 1911, S. 13–41, zu den exemplarischen Personen in den Reden). Was Quellenangaben – hier in drei der vier Stellen – angeht, schreibt Schoenberger: Briefe, S. 36, dass Cicero sie in den Reden meide, gemeint sind aber wohl nur namentliche (auch in unseren Beispielen bleibt die Rede vager als der philosophische Dialog).
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Die Anekdoten
Das Gesagte steht natürlich unter dem Vorbehalt der möglichen Widerlegung bei Vorliegen weiterer Studien zur Anekdotentechnik von Cicero und Livius,559 bedeutet aber immerhin einen Fortschritt gegenüber Roberto Guerrini, der – ausgehend von seiner Gliederung der Anekdoten des Valerius Maximus in esordiopresentazione, racconto storico und riflessione conclusiva – anhand zweier Parallelstellen von Livius und einer (!) von Cicero lediglich die Beobachtung macht, dass das Exemplum bei Cicero im Gegensatz zu Livius ebenfalls eine Einleitung und eine Schlussevaluation aufweise, die aber nicht mit denen der entsprechenden Anekdote bei Valerius Maximus übereinstimmten.560 Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Anekdote und (historiographischer oder auch fiktionaler) Episode wird Teil des zweiten Hauptteils sein.561
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Die ausführlichsten Auseinandersetzungen mit der Form der ciceronischen Anekdoten scheinen zur Zeit immer noch Schoenberger: Reden und Briefe (Einleitungsfloskeln und Stilfiguren) und (speziell zu Apophthegmata) Gotoff zu bieten, während Langlands: Exemplary Ethics, S. 16–46, versucht, die typische Form römischer Exempla überhaupt zu beschreiben (siehe oben S. 198f.). Ansonsten konzentriert sich die latinistische Exemplaforschung weitgehend auf die – argumentative oder ideologische – Funktion; vgl. etwa Michel Rambaud: Cicéron et l’histoire romaine, Paris 1953, S. 25–54, J. H. D’Arms: Pro Murena 16 and Cicero’s Use of Historical Exempla, in: Phoenix 26 (1972), S. 82–84, Arthur Wirt Robinson: Cicero’s Use of People as exempla in His Speeches, Diss. Indiana Univ. 1986, Malcolm Schofield: Cicero for and against Divination, in: JRS 76 (1986), S. 47–65, hier 51–53, Jane D. Chaplin: Livy’s Exemplary History, Oxford 2000, Matthew B. Roller: Exemplarity in Roman Culture. Se Cases of Horatius Cocles and Cloelia, in: CPh 99 (2004), S. 1–56, Marc van der Poel: Se Use of exempla in Roman Declamation, in: Rhetorica 27 (2009), S. 332–353, David C. Urban: Se Use of exempla from Cicero to Pliny the Younger, Diss. Univ. of Pennsylvania 2011, und Melanie Möller: Beispiel und Ausnahme. Überlegungen zu Ciceros Rechtshermeneutik, in: Ancilla Iuris 2015, S. 81–91. Grandl: Ciceroniana untersucht Ciceros ‚anekdotische Strategie‘ unter den Gesichtspunkten Argumentationstechnik und Epistemologie (vgl. dazu auch unten S. 353–366), jeoretisierung (unter dem Begriff facetiae) und Figurengestaltung (Anekdotengebrauch als Teil des Individualstils der Sprecher in den Dialogen). Eine Auseinandersetzung mit der Anekdote bei Livius könnte vergleichend von Geneviève Demerson: Histoire et histoires chez Ammien Marcellin, in: L’Anecdote, hg. von Montandon, S. 69–77, ausgehen. Studi, S. 13–21. Vgl. zu seinem dreiteiligen Schema schon oben bei Fn. 331. Die letztgenannte Beobachtung passt zu den unten bei Fn. 746 konstatierten unterschiedlichen Überleitungen bei parallelen Mehrfachexempla. Bei der ciceronischen ‚Einleitung‘ handelt es sich nicht um ein Abstract, sondern um eine orientierend-evaluierende Überleitung (Cic. off. 1,33: Ne noster quidem probandus; danach beginnt übrigens der Hauptinhalt als AcI-Kette in einem Kondizionalsatz!). Unten S. 306–332.
Vergleiche
7.d
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Die Anekdotensammlungen Plutarchs und Aelians
Die neben Valerius Maximus prominentesten aus der Antike erhaltenen Anekdotensammlungen (im Unterschied zu nur partiell anekdotisch-narrativer Buntschriftstellerei wie z. B. Gellius) sind wohl Plutarchs Βασιλέων ἀποφθέγματα καὶ στρατηγῶν (= Plut. mor. 172b–208a)562 und die Ποικίλη ἱστορία des Claudius Aelianus. Das erste Werk enthält Apophthegmata, das zweite auch anders geartete Anekdoten, darunter nicht wenige ‚habituelle Erzählungen‘ (über Bräuche bestimmter Städte u. Ä.).563 Beide stammen aus späterer Zeit und sind daher kaum Gegenstand von Vergleichen durch an der Quellenfrage interessierte ValeriusMaximus-Forscher geworden.564 Auf der Grundlage allgemeiner Beobachtung und einzelner ausgewählter Parallelstellen soll im Folgenden versucht werden, einen groben Eindruck von der Gestalt der Anekdoten in diesen Werken und den auffälligsten Unterschieden zwischen ihnen und denen des Valerius Maximus zu vermitteln. Die Unterschiede auf der Ebene der Werkstruktur und der Anekdotenverknüpfung werden weiter unten erörtert.565 Eine gründlichere erzähltechnische Untersuchung bleibt ein Desiderat.566 562
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Das früher für unecht gehaltene Werk (siehe insbesondere Richard Volkmann: Leben, Schriften und Philosophie des Plutarch von Chaeronea. Erster Seil. Plutarchs Leben und Schriften, Berlin 1869, S. 210–239, der auch eine Abhängigkeit von Plutarch ablehnt) gilt heute als von Plutarch auf der Grundlage seiner auch in den Viten benutzten Materialsammlung erarbeitet – siehe Christopher Pelling: Se Apophthegmata Regum et Imperatorum and Plutarch’s Roman Lives, in: ders.: Plutarch and History. Eighteen Studies, Swansea/London 2002, S. 65–90, und Philip A. Stadter: Plutarch’s Compositional Technique. Se Anecdote Collections and the Parallel Lives, in: GRBS 54 (2014), S. 665–686. Am Anfang von Buch 1 stehen einige ‚habituelle‘ Anekdoten über Tiere, die eigentlich jema eines anderen Werks des Autors sind (Περὶ ζῴων ἰδιότητος). Als vereinzelte Ausnahmen kommen nicht-apophthegmatische Anekdoten auch in Plutarchs Sammlung vor – siehe Stenger, S. 203, der (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) sechs Fälle anführt; Beck: Use of Anecdotes, S. 30–36, zeigt außerdem, dass die tatsächlichen Apophthegmata nicht immer dem typischen dreiteiligen Schema (vgl. oben S. 195–198) entsprechen, sondern mitunter auf occasio oder provocatio verzichtet wird (im Extremfall wird das dictum sogar nur mit einem Verbum dicendi eingeleitet, womit es nicht mehr unter die heute übliche Definition des Apophthegma fällt). Bosch, S. 96–98, vergleicht Ael. var. 12,45–46 unter inhaltlichen Gesichtspunkten mit Val. Max. 1,6, ext. 2–ext. 3 sowie Cic. div. 1,73 und 78, um daraus ein Argument für seine jese einer von Cicero und Valerius Maximus benutzten Exemplasammlung abzuleiten (diese schöpfe ihrerseits aus einer griechischen Quelle, die von Aelian direkt benutzt werde). Sonst finde ich in der einschlägigen Literatur (oben Fn. 42–44) nur wenige beiläufige Erwähnungen der beiden Werke (ebd., S. 56 und 108; Helm: Quellenforschung, S. 257; Klotz: Studien, S. 34, 36, 48, 72; Fleck, S. 48, Anm. 27). Siehe bei Fn. 586 und 629.
214
Die Anekdoten
Vier Allgemeinaussagen – drei davon für beide Werke identisch – scheinen bereits nach einfacher Lektüre möglich: 1. Die Apophthegmen Plutarchs sind im Durchschnitt deutlich knapper gehalten als die Anekdoten des Valerius Maximus – viele umfassen nur einen einzigen Satz von zwei bis drei Druckzeilen –, während die Durchschnittslänge bei Aelian in etwa in der bei Valerius Maximus entspricht.567 2. Abstracts oder Rekapitulationen sind unüblich. 3. Noch mehr als bei Valerius Maximus wird darauf Wert gelegt, die Personenorientierung an den Anfang (der Anekdote und des ersten Satzes) zu stellen. Dies gilt bei Plutarch natürlich nur für die jeweils erste Anekdote des einer Person gewidmeten Abschnitts, bei Aelian für diejenigen Anekdoten, die überhaupt einer identifizierbaren Einzelperson gewidmet sind. 4. Die Anekdoten werden viel weniger evaluiert. Im Regelfall gibt es überhaupt keine Evaluation der Gesamthandlung – nur interne Bewertungen einzelner Äußerungen oder Gedanken, die notwendiger Teil der Geschichte sind (wie z. B. οὐχ ὑπέμεινεν oder διοργισθείς in den unten zitierten Beispielen).568 Für den Vergleich mit Parallelstellen kann nicht wie bei Cicero und Livius auf Parallelstellen zur selben Anekdote in beiden Vergleichscorpora zurückgegriffen werden,569 die Auswahl der Vergleichsstellen muss also separat erfolgen.
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Ansätze dazu gibt es für Episoden – einschließlich apophthegmatischer – in den hier nicht besprochenen plutarchischen Biographien (siehe v. a. Frazier: Contribution und dies.: Histoire et morale dans les Vies parallèles de Plutarque, Paris 2016; nicht die Erzähltechnik, sondern Form und Zweck der verbalen Äußerungen als solcher betrifft die von Vicente Ramón: Morfología del apotegma en la obra biográfica de Plutarco. Propuestas y perspectivas de estudio, in: Estudios sobre Plutarco. Aspectos formales. Actas del IV Simposio español sobre Plutarco, Salamanca, 26 a 28 de Mayo de 1994, hg. von José Antonio Fernández Delgado/Francisca Pordomingo Pardo, Salamanca/ Madrid 1996, S. 281–289, vorgenommene Klassifikation von Apophthegmata in zwei ausgewählten Viten). Wie schon verschiedentlich bemerkt (Beck: Use of Anecdotes, S. 31; Pelling: Apophthegmata, S. 74; Stadter: Technique, S. 678), sind sie meist auch knapper als die Parallelstellen in den Viten oder sonstigen Schriften Plutarchs (Volkmann, S. 222f., findet dort 276 der 498 in der Sammlung enthaltenen Apophthegmata wieder). Im Gegensatz dazu ist Aelians Περὶ ζῴων ἰδιότητος stark moralisiert (siehe Jan Fredrik Kindstrand: Claudius Aelianus und sein Werk, in: ANRW II.34.4, 1998, S. 2954–2996, hier 2964f. und 2969; die dortige Vermutung, der Unterschied sei durch die epitomierte Form der Ποικίλη ἱστορία bedingt, wird durch Vergleiche mit durch Zitate überlieferten unepitomierten Anekdoten aber eher nicht bestätigt – siehe unten bei Fn. 573). Zumindest im Apparat der Valerius-Maximus-Edition von Briscoe (und bei T. Robert S. Broughton: Se Magistrates of the Roman Republic, 3 Bde. + 1 Suppl., New York/Atlanta 1951–86, auf den dort bisweilen verwiesen wird) findet sich kein solcher Fall – sehr wohl freilich mit anderen Werken Plutarchs, darunter einmal den Ἀποφθέγματα
Vergleiche
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Im Fall der Βασιλέων ἀποφθέγματα καὶ στρατηγῶν gibt es zwei Parallelstellen zu Anekdoten aus den untersuchten Kapiteln der Facta et dicta. Die erste behandelt Dion von Syrakus und entspricht Val. Max. 3,8, ext. 5: 176f–177a = Dion OR/KOMP
(A) Δίων ὁ Διονύσιον ἐκβαλὼν ἐκ τῆς τυραννίδος, (B) ἀκούσας ἐπιβουλεύειν αὐτῷ Κάλλιππον, ᾧ μάλιστα τῶν φίλων καὶ ξένων ἐπίστευεν, (C) οὐχ ὑπέμεινεν ἐλέγξαι, βέλτιον εἶναι φήσας (D) ἀποθανεῖν ἢ ζῆν μὴ μόνον τοὺς πολεμίους ἀλλὰ καὶ τοὺς φίλους φυλαττόμενον. A1 B2 C3 D4
Die Länge stimmt in diesem Fall exakt mit der der Anekdote bei Valerius Maximus überein (36 Wörter), die Struktur ist aber deutlich einfacher. Es gibt weder Abstract noch Evaluation – bei Valerius Maximus im ersten von zwei Hauptsätzen –, ebenso wenig die bei Valerius Maximus zahlreich und verschachtelt vorhandenen Anachronien, obwohl der Inhalt (mit Ausnahme der bei Valerius Maximus fehlenden Vorgeschichte Dions im ersten Partizipialausdruck) bis ins Detail identisch ist. Die Haupthandlung wird nur in drei statt vier Zeitstufen aufgelöst, indem der Tod nicht als Gegenstand des φυλάττεσθαι, sondern nur als Alternative zu diesem benannt wird. Die zweite Parallelstelle betrifft Philipp II. von Makedonien und entspricht Val. Max. 6,2, ext. 1: 178f–179a = Philipp, Nr. 25: OR KOMP KOMP KOMP KOMP/ERG ERG
(A) Μαχαίτᾳ δέ τινι κρίνων δίκην καὶ ὑπονυστάζων οὐ πάνυ προσεῖχε τοῖς δικαίοις (B) ἀλλὰ κατέκρινεν· (C) ἐκείνου δ’ ἀναβοήσαντος ἐκκαλεῖσθαι τὴν κρίσιν (D) διοργισθείς «Ἐπὶ τίνα;» εἶπε· (E) καὶ ὁ Μαχαίτας «Ἐπὶ σέ, βασιλεῦ, αὐτόν, (F) ἂν ἐγρηγορὼς καὶ προσέχων ἀκούῃς.» (G) Τότε μὲν οὖν ἀνέστη· (H) γενόμενος δὲ μᾶλλον ἐφ’ ἑαυτῷ καὶ γνοὺς (I) ἀδικούμενον τὸν Μαχαίταν τὴν μὲν κρίσιν (J) οὐκ ἔλυσε, τὸ δὲ τίμημα τῆς δίκης αὐτὸς ἐξέτισεν. A1 B2 C3 D4 E5[F7] G6 H7[I2]J8
Λακωνικά (Plut. mor. 227a = Lykurg, Nr. 7; Ael. var. 13,23), es handelt sich dabei aber um eine Geschichte, auf die bei Valerius Maximus nur kurz angespielt wird (5,3, ext. 2: oculo etiam priuatus).
Die Anekdoten
216
In diesem Fall ist der Unterschied in der Präsentation der Haupthandlung geringer,570 es gibt in dieser sogar eine zusätzliche Anachronie. Wiederum fehlt aber jede Evaluation, einschließlich der bei Valerius Maximus gegebenen anachronischen Rekapitulation, und ebenso die extradiegetische orientierende Einleitung (an deren Stelle eine bei Valerius Maximus nicht vorhandene explizite Mitteilung des Endergebnisses – also des genauen Inhalts von Philipps revidiertem Entschluss – steht). Plutarch erzählt nur die bloße Geschichte ohne Zusätze. Die Ποικίλη ἱστορία enthält, abgesehen von drei kurzen Bemerkungen als Teil längerer Anekdoten oder Aufzählungen,571 keine Parallelstellen zu Anekdoten der untersuchten Kapitel. Daher sollen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten anhand des Anekdotenpaars Val. Max. 1,6, ext. 2–ext. 3 demonstriert werden, dem die Sammelanekdote Ael. var. 12,45 (mit Hinzufügung eines dritten Punktes) und (für den zweiten Teil des Paares) die ausführlichere Anekdote 10,21 entsprechen: Val. Max. 1,6, ext. 2–ext. 3572 OR/KOMP KOMP/ERG EV/ERG ERG
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572
(A) Midae uero, cuius imperio Phrygia fuit subiecta, (B) puero dormienti formicae in os grana tritici congesserunt. (C) parentibus deinde eius quorsus (D) prodigium (C) tenderet explorantibus (E) augures responderunt (F) omnium illum mortalium futurum ditissimum. (G) nec uana praedictio (H) exstitit: nam Midas cunctorum paene regum opes abundantia pecuniae antecessit,
Auf die sachlichen Unterschiede (Geschlecht der Prozesspartei, Art der Indisposition Philipps) kommt es hier nicht an. In Ael. var. 2,38 (nach Mitteilung identischer Gesetze in Massilia und Milet) entsprechend Val. Max. 2,1,5 (b): […] τί δὲ οὐκ ἂν εἴποιμι καὶ τὸν Ῥωμαίων νόμον; καὶ πῶς οὐκ ὀφλήσω δικαίως ἀλογίαν, εἰ τὰ μὲν Λοκρῶν καὶ Μασσαλιωτῶν καὶ τὰ Μιλησίων διὰ μνήμης ἐθέμην, τὰ δὲ τῆς ἐμαυτοῦ πατρίδος ἀλόγως ἐάσω; οὐκοῦν καὶ Ῥωμαίοις ἦν ἐν τοῖς μάλιστα νόμος ὅδε ἐρρωμένος. οὔτε ἐλευθέρα γυνὴ ἔπιεν ἂν οἶνον οὔτε οἰκέτις, οὐδὲ μὴν τῶν εὖ γεγονότων οἱ ἀφ’ ἥβης μέχρι πέντε καὶ τριάκοντα ἐτῶν. In 3,17 (einer Aufzählung zum jema Philosophen und Politik mit mehreren Punkten zu Sokrates) entsprechend 3,8, ext. 3: […] καὶ διὰ ταῦτα οὔτε ἐπεψήφισεν Ἀθηναίοις τὸν τῶν δέκα στρατηγῶν θάνατον […]. In 8,16 (einer längeren Anekdote über die Machtergreifung des Peisistratos und Solons Haltung dazu) entsprechend 8,9, ext. 1: […] ὁρῶν δὲ τοὺς Ἀθηναίους τῶν μὲν αὐτοῦ λόγων ῥᾳθύμως ἀκούοντας, προσέχοντας δὲ τῷ Πεισιστράτῳ, ἔφη ὅτι τῶν μέν ἐστι σοφώτερος, τῶν δὲ ἀνδρειότερος. […] Zur Textgrundlage siehe oben Fn. 176 (es gibt in diesem Fall keine relevanten Unterschiede zwischen den Ausgaben). Mit den beiden Anekdoten – sowie der hier nicht zu besprechenden Parallelstelle Cic. div. 1,78 – befassen sich auch Bosch, S. 96–98 (siehe oben Fn. 564), und Welch, S. 69–79 (unter dem Gesichtspunkt der Intertextualität; dazu oben Fn. 304).
Vergleiche EV/ERG
217
(I) infantiaeque incunabula (J) uili deorum munere donata (K) onustis auro atque argento gazis pensauit. [A5]B2 C3[D2]C3 E4[F5] G4 H5 [I2(J1)]K5
ABST/EV EV OR/KOMP/EV/ ERG/CODA KOMP/ERG EV
(A) Formicis Midae (_) iure meritoque (B) apes Platonis (_) praetulerim: (C) illae enim caducae ac fragilis, (D) hae solidae et aeternae felicitatis (E) indices exstiterunt, dormientis in cunis paruuli labellis mel inserendo. qua re (F) audita (G) prodigiorum interpretes (H) singularem eloquii suauitatem ore eius emanaturam (G) dixerunt. (I) ac mihi quidem illae apes non montem Hymettium thymi flore redolentem, sed Musarum Heliconios colles omni genere doctrinae uirentis (J) dearum instinctu (I) depastae (K) maximo ingenio dulcissima (L) summae eloquentiae (K) instillasse uidentur alimenta. A1_[B5]_ C2 [D8–9]E5 F6 G7[H8]G7 [I4(J3)I4 K5(L8)K5]
Ael. var. 12,45 CODA OR/KOMP OR/KOMP OR/KOMP
(A) Φρύγιοι καὶ ταῦτα ᾄδουσι λόγοι· (B) Μίδου τοῦ Φρυγὸς ἔτι νηπίου καθεύδοντος μύρμηκας εἰσέρπειν εἰς τὸ στόμα καὶ πάνυ φιλοπόνως καὶ φιλέργως εἰσφέρειν τοὺς πυρούς. || (A) Πλάτωνος δὲ μελίττας εἰς τὸ στόμα κηρίον ἐργάζεσθαι. || (A) καὶ Πινδάρῳ τῆς πατρῴας οἰκίας ἐκτεθέντι (B) μέλιτται τροφοὶ ἐγένοντο, ὑπὲρ τοῦ γάλακτος παρατιθεῖσαι μέλι. [A2] B1 || A1 || A1 B2
Ael. var. 10,21 OR OR OR KOMP/ERG
(A) Ὅτι τὸν Πλάτωνα ἡ Περικτιόνη ἔφερεν ἐν ταῖς ἀγκάλαις· (B) θύοντος δὲ τοῦ Ἀρίστωνος ἐν Ὑμηττῷ ταῖς Μούσαις ἢ ταῖς Νύμφαις, οἱ μὲν πρὸς τὴν ἱερουργίαν ἦσαν, ἡ δὲ κατέκλινε Πλάτωνα ἐν ταῖς πλησίον μυρρίναις δασείαις οὔσαις καὶ πυκναῖς. (C) καθεύδοντι δὲ ἐσμὸς μελιττῶν, Ὑμήττιον μέλι ἐν τοῖς χείλεσιν αὐτοῦ καθίσασαι, (D) ὑπῇδον (E) τὴν τοῦ Πλάτωνος εὐγλωττίαν (D) μαντευόμεναι ἐντεῦθεν. A1 B2 C3 D4[E5]D4
Der Coda-Satz am Anfang von 12,45 (zur Überlieferung) kann sich wohl nur auf die erste Geschichte beziehen, die allein einen Phrygien-Bezug aufweist, und ist auch keine Anknüpfung an die vorangehenden Anekdoten, da diese nichts mit
218
Die Anekdoten
Phrygien zu tun haben. Er bleibt die einzige Anachronie in dieser Sammelanekdote. Die beiden zu vergleichenden Haupthandlungen werden maximal reduziert erzählt – als einzelne OR/KOMP-Sätze mit jeweils einer einzigen Zeitstufe (wobei im zweiten Fall die Orientierung nur in der Namensnennung besteht). Auch die ausführlichere Erzählung der Platon-Anekdote fällt gegenüber dem Äquivalent bei Valerius Maximus sehr einfach aus – ähnlich wie in den beiden plutarchischen Beispielen auf die reine Handlung reduziert und fast frei von Anachronien. Zwar handelt es sich (wie am einleitenden Ὅτι erkennbar) um eine derjenigen Anekdoten, die in einer wohl in frühbyzantinischer Zeit verkürzten Fassung vorliegen.573 Zitate in den Ἐκλογαί des Johannes Stobaios (5. Jhd. n. Chr.), die zu drei anderen solchen Stellen den mutmaßlichen Originalwortlaut verraten, scheinen aber nicht darauf hinzudeuten, dass die Kürzungstechnik in einer strukturellen Vereinfachung bestanden hätte (Ael. var. 7,7, 9,3 und 14,3, in den Editionen als 7a und 7b, 33a und 33a, 3a und 3b abgedruckt): 7,7a: Ὅτι Πυθέας ἐπέσκωπτεν εἰς Δημοσθένην τὸν Δημοσθένους, ἐπιλέγων αὐτῷ τὰ ἐνθυμήματα ἐλλυχνίων ὄζειν, ὅτι ἐκεῖνος διὰ τῆς νυκτὸς πάσης ἠγρύπνει φροντίζων καὶ ἐκμανθάνων ἃ ἔμελλεν ἐρεῖν ἐλθὼν εἰς τοὺς Ἀθηναίους. 7,7b = Stob. 3,29,60: Δημοσθένης ὁ Δημοσθένους, εἰ ἔμελλε τῆς ὑστεραίας ἔσεσθαι ἐκκλησία, ἀλλὰ ἐκεῖνός γε διὰ τῆς νυκτὸς ἠγρύπνει πάσης, διαφροντίζων δηλονότι καὶ ἐκμανθάνων ταῦτα ἃ ἔμελλεν ἐρεῖν. ὁ τοίνυν Πυθέας ἐκ τούτων ἐμοὶ δοκεῖν ἀπέσκωπτεν εἰς αὐτόν, ἐπιλέγων αὐτοῦ τὰ ἐνθυμήματα ἐλλυχνίων ὄζειν. 9,33a: Μειράκιον Ἐρετρικὸν Ζήνωνι προσεφοίτησε πλείονα χρόνον. ἐπανελθὸν δὲ ἤρετο ὁ πατὴρ τί ἄρα μάθοι σοφόν. ὁ δὲ ἔφη δείξειν. χαλεπήναντος δὲ τοῦ πατρὸς καὶ πληγὰς ἐντείναντος, τὴν ἡσυχίαν ἀγαγὼν καὶ ἐγκαρτερήσας τοῦτο ἔφη μεμαθηκέναι, φέρειν ὀργὴν πατρός. 9,33b = Stob. 4,25,39: Μειράκιον Ἐρετρικὸν προσεφοίτησε Ζήνωνι πλείονος χρόνου, ἔστ’ [ἂν καὶ] εἰς ἄνδρας ἀφίκετο. ὕστερον οὖν εἰς τὴν Ἐρετρίαν ἐπανῆλθεν, καὶ αὐτὸν ὁ πατὴρ ἤρετο ὅ τι ἄρα μάθοι σοφὸν ἐν τῇ τοσαύτῃ διατριβῇ τοῦ χρόνου. ὁ δὲ ἔφη δείξειν, καὶ οὐκ εἰς μακρὰν ἔδρασε τοῦτο. χαλεπήναντος γὰρ αὐτῷ τοῦ πατρὸς καὶ τέλος πληγὰς ἐντείναντος, ὁ δὲ τὴν ἡσυχίαν ἀγαγὼν καὶ ἐγκαρτερήσας τοῦτο ἔφη μεμαθηκέναι, φέρειν ὀργὴν πατέρων καὶ μὴ ἀγανακτεῖν. 14,3a: Ὅτι Τιμόθεος πρὸς Ἀριστοφῶντα ἄσωτον ὄντα πικρότατα καθικόμενος αὐτοῦ εἶπεν· „ᾧ ἱκανὸν οὐδέν, ἀλλὰ τούτῳ γε αἰσχρὸν οὐδέν.“ 14,3b = Stob. 3,13,67: Τιμόθεος ὁ Κόνωνος πρὸς Ἀριστοφῶντα τὸν Ἀζηνιέα πάντων ἄριστα ἔχοντα λόγον εἶπεν. ἐπεὶ γὰρ ἄσωτος ἦν ὁ Ἀριστοφῶν, πικρότατα αὐτοῦ καθίκετο ὁ Τιμόθεος εἰπών· „ᾧ ἱκανὸν οὐδέν, τούτῳ γε αἰσχρὸν οὐδέν.“ 573
Siehe Einleitung und Anmerkungen der Ausgabe Aelian: Historical Miscellany, hg. und übers. von N. G. Wilson, Loeb Classical Library, Cambridge, Mass. 1997.
Vergleiche
219
In den beiden letzten Fällen handelt es sich um strukturneutrale lineare Kürzung, im ersten um eine Verbindung von linearer Kürzung mit anachronischer Umstellung, also Verkomplizierung. Nur in einer der drei Anekdoten bringt die vollständige Fassung eine weggekürzte Evaluation zum Vorschein (ἄριστα ἔχοντα λόγον), während das – für die Ποικίλη ἱστορία untypische – Abstract dieser Anekdote auch in der gekürzten Fassung beibehalten wird (wenngleich reduziert auf den Partizipialausdruck πικρότατα καθικόμενος). Vielleicht das interessanteste Ergebnis dieses kurzen Blicks in vermeintlich gattungsgleiche Werke ist, dass sich Valerius Maximus mit seiner intensiven Evaluierung des Erzählten von solchen Sammelwerken abhebt und der exemplarischargumentativen ebenso wie der historiographischen Anekdotenverwendung, wie wir sie bei Cicero einerseits und Livius andererseits sahen, näher steht.574
574
Vgl. unten S. 332–352 zu seinen Kapiteln als historisch-moralischen Diskurseinheiten.
II
Die Kapitel
Der zweite Hauptteil, der nun in Angriff zu nehmen ist, verlässt die Ebene der Anekdote, um das Kapitel als Struktureinheit zu würdigen. Dabei kann nicht im selben Maße wie bisher von etablierten, Punkt für Punkt anwendbaren Methodensystemen ausgegangen werden: die ungewöhnliche, bisher theoretisch kaum erfasste Textsorte verlangt nach einer individuell auf sie zugeschnittenen Vorgehensweise. Als Rahmen sollen vier Abschnitte dienen, von denen der erste die Übergangstechnik (also die Verbindung aufeinanderfolgender Anekdoten) und der zweite die Anordnung der Anekdoten innerhalb der Kapitel behandelt, während der dritte eine neue gattungstheoretische Einordnung der Kapitel zur Debatte stellt und der vierte die Rezeptionsgeschichte für die Strukturinterpretation nutzbar zu machen versucht. Zwei in der vorhandenen Sekundärliteratur in knapper Form ausgesprochene Vergleiche werden im gesamten Verlauf der Untersuchung als Bezugspunkte dienen. Rudolf Helm und Michael von Albrecht fühlen sich von der Übergangstechnik des Valerius Maximus an die Metamorphosen Ovids erinnert.575 W. Martin Bloomer vergleicht ihn dagegen mit einem eher plan- und formlosen mündlichen Erzähler: „He rambles on like a sententious conversationalist who cannot stop stringing anecdotes together and yet never tells all the details, or never builds his stories to full yarns, but darts along to another instance“.576 Diese zweite Assoziation legt natürlich die Heranziehung von Erkenntnissen der conversational-narrative-Forschung nahe, die neben soziolinguistischen und psychologischen immer wieder auch strukturelle Fragen behandelt.577 Allerdings
575 576
577
Helm: RE, Sp. 95; Albrecht: Geschichte, S. 910 und 915. Bloomer: Rhetoric, S. 10. Anderswo (S. 31) schreibt er übrigens, etwas widersprüchlich, das „stringing together of exempla—familiar stories incongruously, that is imaginatively, joined“ sei „a feature of the rhetorical schools and of Roman declamation in general“ (mit Berufung auf Sen. contr. 2,2,12 – gemeint wohl 2,2,9, wo Ovid als Redner kritisiert wird, weil er sine certo ordine per locos discurrebat – und Henri Bornecque: Les déclamations et les déclamateurs d’après Sénèque le père, Lille 1902, S. 98f., wo es bloß um sachliche Irrelevanz von Exempla geht). Zu ihr und zum ganzen Komplex der oral- oder personal-narrative-Forschung, dem sie angehört, vgl. Anna De Fina/Alexandra Georgakopoulou: Analyzing Narrative. Discourse and Sociolinguistic Perspectives, Cambridge 2012, und Se Handbook of Narrative Analysis, hg. von dens., Chichester 2015, sowie exemplarisch Martin Cortazzi: Narrative Analysis, London 1993, und Georgakopoulou: Narrative Performances. Eine
222
Die Kapitel
bleibt sie dabei in den allermeisten Fällen entweder auf die Ebene der Einzelerzählung beschränkt oder konzentriert sich auf die Einbettung in dialogische Kontexte (Auslöser von Erzählungen, turn-taking, Hörerreaktionen usw.),578 während mit Valerius Maximus vergleichbare monologische Ketten kaum vertreten sind. Gleiches gilt im Übrigen auch für die mit ähnlichem Material arbeitende ethnologische Erzählforschung (folklore), ungeachtet der in vielen Gesellschaften zu konstatierenden Beliebtheit längerer ‚Erzählsitzungen‘.579 Es konnten also nur sehr wenige Studien ausfindig gemacht werden, die aufeinanderfolgende mündliche Erzählungen (stets mehrerer Erzähler) unter strukturellen Gesichtspunkten miteinander in Beziehung setzen.580 Besser erforscht ist dagegen die literarische Technik Ovids, die im Kapitel zur Übergangstechnik zur Grundlage eines katalogartigen Vergleichs gemacht werden kann. Zuvor jedoch soll ein etwas weiter ausschweifender Blick auf die Vielfalt der narrativen Sammelwerke verschiedener Zeiten und die darin vorkommenden Kohäsionsmittel geworfen werden, der eine bessere Einordnung der Ergebnisse dieses Vergleichs ermöglichen wird.
578
579
580
Verbindung von Psychologie und struktureller Analyse findet man z. B. bei Carole Peterson/Allyssa McCabe: Developmental Psycholinguistics. Sree Ways of Looking at a Child’s Narrative, New York 1983. Andere häufige Erkenntnisziele betreffen den ideellen Gehalt, die Konstruktion von Identitäten usw. (vgl. etwa Elinor Ochs/Lisa Capps: Living Narrative. Creating Lives in Everyday Storytelling, Cambridge, Mass. 2001, und De Fina/Georgakopoulou: Analyzing Narrative, S. 155–190). Zum Dialogischen vgl. etwa die dezidiert formal-strukturell (und nicht soziolinguistisch) interessierte Arbeit von Uta M. Quasthoff: Erzählen in Gesprächen. Linguistische Untersuchungen zu Strukturen und Funktionen am Beispiel einer Kommunikationsform des Alltags, Tübingen 1980, einige der Beiträge in Oral Versions of Personal Experience, hg. von Bamberg, sowie Neal R. Norrick: Conversational Narrative. Storytelling in Everyday Talk, Amsterdam 2000, und Rühlemann. Interaktion ist generell ein wichtiger Schwerpunkt der neueren Forschung, die teils die Erzählung als wesensmäßig kooperativ auffasst; vgl. etwa De Fina/Georgakopoulou: Analyzing Narrative, S. 86–124. Vgl. etwa Folklore. Performance and Communication, hg. von Dan Ben-Amos/Kenneth S. Goldstein, Den Haag 1975, A Companion to Folklore, hg. von Regina F. Bendix/ Galit Hasan-Rokem, Chichester 2012, und Johannes Merkel: Hören, Sehen, Staunen. Kulturgeschichte des mündlichen Erzählens, Hildesheim 22018 (darin aber auch viel zu literarischen Werken). Insgesamt dominieren die inhaltliche und die soziologische Herangehensweise. Zu längeren Erzählabenden vgl. etwa Ruth H. Finnegan: Limba Stories and Story-Telling, Oxford 1967, S. 64–69, und Se Oral and Beyond. Doing Sings with Words in Africa, Oxford/Chicago/Pietermaritzburg 2007, S. 114–124. Eine an Labov und Waletzky erinnernde strukturelle Untersuchung von Einzelerzählungen bietet beispielsweise Dell Hymes: Breakthrough into Performance, in: Folklore, hg. von BenAmos/Goldstein, S. 11–74. Siehe unten S. 265f.
Übergangstechnik
1
223
Übergangstechnik
Die konsequent durchgeführte direkte Verkettung von Erzählungen, die nicht als Episoden einer Gesamterzählung (wie in Epen, Romanen oder Geschichtswerken) gelten, ist in der Weltliteratur eher selten anzutreffen. Die große Mehrheit der Anekdoten-, Apophthegmen-, Exempla-, Fabel- und Novellensammlungen (sowie auch der Gedichtsammlungen unabhängig vom Grad der Narrativität der Gedichte581) lässt sich, was die rein formale Beziehung der Einzeltexte zueinander angeht,582 einer von zwei anders vorgehenden Gruppen zuweisen, die man als die isolierende und die umrahmende bezeichnen kann. Isolierende Sammlungen präsentieren die Einzeltexte ohne sichtbare Kohäsionsmittel (was innere Zusammenhänge wohlgemerkt nicht ausschließt). Der Leser nimmt zwischen den Texten eine Pause und einen Neuansatz wahr, was sich meist auch im Schriftbild durch (vom Autor oder von Späteren stammende) Einzelüberschriften, Nummern583 und/oder Abstände widerspiegelt. Dies ist wohl die häufigste Form von Anekdoten-, Apophthegmen- und Exemplasammlungen; beispielhaft lassen sich die Strategemata des Frontinus (1. Jhd. n. Chr.),584 die Στρατηγήματα oder Στρατηγικά des Polyainos (2. Jhd. n. Chr.),585 die Ποικίλη 581
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Die klassische Unterscheidung von Epik (im allgemeinen Sinn von narrativer Dichtung) und Lyrik ist nicht einwandfrei durchzuführen. Wenige Gedichte kommen komplett ohne narrative Elemente aus. Zu Perspektiven narratologischer Lyrikanalyse vgl. auch Peter Hühn/Jens Kiefer: Se Narratological Analysis of Lyric Poetry. Studies in English Poetry from the 16th to the 20th Century, übers. von Alastair Matthews, Berlin 2005, und Jörg Schönert/Peter Hühn/Malte Stein: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 2007, sowie mehrere Beiträge in Narrators, Narratees, and Narratives, hg. von de Jong/Nünlist/Bowie, und Time in Ancient Greek Literature, hg. von de Jong/Nünlist. Zu anderen (für das deutsche Mittelalter erarbeiteten) Klassifikationen von Erzählsammlungen, die freilich stärker auf die Herstellung inhaltlicher Kohärenz abstellen, vgl. Hans-Joachim Ziegeler: Reimbispel-Sammlungen, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Band 7, Berlin 21989, Sp. 1143–1152, Maryvonne Hagby: man hat uns fur die warheit … geseit. Die Strickersche Kurzerzählung im Kontext mittelalterlicher ‚narrationes‘ des 12. und 13. Jahrhunderts, Münster 2001, S. 293f., und Michael Schwarzbach-Dobson: Exemplarisches Erzählen im Kontext. Mittelalterliche Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel in narrativer Argumentation, Berlin 2018, S. 170f. Die nur in modernen philologischen Ausgaben (v. a. antiker Texte) existierenden Paragraphennummern, über die der Leser hinwegliest, sind hier natürlich nicht mitgemeint. Mit thematischen Kapitelüberschriften (siehe unten bei Fn. 999). Die einzelnen Anekdoten beginnen fast stets mit dem Personennamen. Verknüpfungen gibt es ausnahmsweise bei mehreren Anekdoten zur selben Hauptperson (idem), sehr selten kommen auch Gleichsetzungen wie eadem ratione vor. Nach Personen gegliedert, mit Namensüberschriften. Auch im Fließtext beginnen die meisten Anekdoten mit dem Namen der Hauptperson; gibt es mehrere zur selben
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Die Kapitel
ἱστορία des Claudius Aelianus (2.–3. Jhd. n. Chr.),586 die Gesta Romanorum (13.– 14. Jhd.),587 die Dicta et facta Alphonsi Regis Aragonum des Antonio Beccadelli (1455)588 und die Percy Anecdotes (1821–23)589 oder aus anderen Kulturen das Zhànguó Cè (3. Jhd. v. Chr.),590 das Shìshuō xīnyǔ (5. Jhd. n. Chr.),591 die Hadithe
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Person, wird nicht verknüpft, sondern der Name (und gegebenenfalls die Ausgangssituation) wiederholt. Ohne Einzelüberschriften; die Anekdoten (darunter auch ‚habituelle Erzählungen‘) sind trotzdem komplett unverbunden, mit wenigen Ausnahmen (wie 1,32 mit dem Einleitungssatz Λόγος οὖν καὶ οὗτος Περσικός oder den als 12,1 zusammengestellten Episoden über Aspasia und Kyros). Gesta Romanorum, hg. von Hermann Oesterley, Berlin 1872. Mit Einzelüberschriften. Vgl. zum Werk auch die umfassende Monographie von Brigitte Weiske: Gesta Romanorum, 2 Bde., Tübingen 1992, sowie Schwarzbach-Dobson, S. 207–238 (218–220 auch zu einer Parallelstelle zu Valerius Maximus); die Debatte, ob es sich um ein ‚Predigtrepertoire‘ oder erbaulich-unterhaltsame Lektüre handle (vgl. Weiske, Bd. I, S. 1), erinnert natürlich an Valerius Maximus. Mit Einzelüberschriften in Gestalt von Adverbien wie grauiter, fortiter, facete usw.; eine Minderheit der Anekdoten weist über die Überschriften hinweg verbindendes autem, uero oder quoque auf. In Ermangelung einer kritischen Ausgabe sind die zu benutzenden Texte die des Erstdrucks Antonij panormite Alfonsi regis dictorum ac factorum memoratu dignorum lib[ri], Pisa 1485, und des Drucks von Jacob Spiegel: Antonii Panormitae De dictis et factis Alphonsi regis Aragonum libri quatuor, Basel 1538 (vgl. dazu sowie zum Werk generell Tschögele: Beccadelli, S. 224–230; auf die dort noch benutzte Ausgabe Antonio Beccadelli el Panormita: Dels fets e dits del gran rey Alfonso, hg. von Eulàlia Duran/Mariàngela Vilallonga, Barcelona 1990, kann verzichtet werden, seit der Erstdruck, den sie – leider nicht völlig getreu – wiedergibt, digitalisiert verfügbar ist). Beccadelli schöpft inhaltlich immer wieder aus Valerius Maximus (vgl. Nikolaus jurn: Antonio Panormitas De Dictis et Factis Alphonsi Regis Aragoniae Libri Quattuor als literarisches Kunstwerk, in: De litteris Neolatinis in America Meridionali, Portugallia, Hispania, Italia cultis, hg. von Dietrich Briesemeister/Axel Schönberger, Frankfurt a. M. 2002, S. 199–219, hier 206, Anm. 24). Sholto and Reuben Percy [= Joseph Clinton Robertson/jomas Byerley]: Se Percy Anecdotes. Original and Select, 20 Bde., London 1821–23. Die Anekdoten sind thematisch geordnet und mit Einzelüberschriften versehen. Selten werden zwei Anekdoten zur selben Person (mit deren Namen als Überschrift und einer gemeinsamen Einleitung) verknüpft (etwa Bd. II, S. 7 des Kapitels Patriotism: „je behaviour of Epaminondas to Jason was still more noble“), ähnlich den Sammelanekdoten bei Valerius Maximus. Chan-Kuo Ts‘e, übers. von J. I. Crump, Jr., Oxford 1970. Die Anekdoten sind grob historisch-chronologisch (also nicht thematisch) geordnet und haben Einzelüberschriften; bei unmittelbarer chronologischer Fortsetzung und Personengleichheit finden sich manchmal verknüpfende Temporalsätze (z. B. endet 93: „He […] dispatched a coach to summon Fan Chü“, und 94 beginnt: „When Fan Chü arrived, […]“), die weitaus größere Zahl einleitender Temporalsätze kann jedoch als autark orientierend gelten. Liu I-ch’ing: Shih-shuo Hsin-yü. A New Account of Tales of the World, übers. von Richard B. Mather, Minneapolis 1976. Das Werk ist, abgesehen von der isolierenden Form, dem Valerius Maximus in der Anlage und wohl auch der Intention sehr ähnlich.
Übergangstechnik
225
Mohammeds,592 die sogenannten Analekten des Konfuzius (Lúnyǔ),593 der Mèngzǐ,594 der daoistische Zhuāngzǐ,595 die Jātaka Buddhas596 und die buddhistischen kōan-Sammlungen597 anführen. Nicht ganz zu dieser Gruppe gehörig, aber
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1129 historisch-moralische Anekdoten verteilen sich (höchst ungleich, 2 bis 156!) auf 36 Kapitel zu den jemen ‚Virtuous Conduct‘, ‚Speech and Conversation‘, ‚Affairs of State‘, ‚Letters and Scholarship‘, ‚je Square and the Proper‘, ‚Cultivated Tolerance‘, ‚Insight and Judgment‘, ‚Appreciation and Praise‘, ‚Classification According to Excellence‘, ‚Admonitions and Warnings‘, ‚Quick Perception‘, ‚Precocious Intelligence‘, ‚Virile Vigor‘, ‚Appearance and Behavior‘, ‚Self-renewal‘, ‚Admiration and Emulation‘, ‚Grieving for the Departed‘, ‚Living in Retirement‘, ‚Worthy Beauties‘, ‚Technical Understanding‘, ‚Skill and Art‘, ‚Favors and Gifts‘, ‚je Free and Unrestrained‘, ‚Rudeness and Contempt‘, ‚Taunting and Teasing‘, ‚Contempt and Insults‘, ‚Guile and Chicanery‘, ‚Dismissal from Office‘, ‚Stinginess and Meanness‘, ‚Extravagance and Ostentation‘, ‚Anger and Irascibility‘, ‚Slander and Treachery‘, ‚Blameworthiness and Remorse‘, ‚Crudities and Slips of the Tongue‘, ‚Blind Infatuations‘, ‚Hostility and Alienation‘. Ich beziehe mich hier auf zwei der bekanntesten Sammlungen (es gibt noch zahlreiche weitere). Beide, die von al-Buḫārī (gest. 870) = El-Bokhâri: Les Traditions islamiques, übers. von O. Houdas/W. Marçais, 4 Bde., Paris 1903–14, und die Riyāḍ aṣ-Ṣāliḥīn von an-Nawawī (gest. 1277) = Gardens of the Righteous. Riyad as-Salihin of Imam Nawawi, übers. von Muhammad Zafrulla Khan, London 1975, sind in thematische Kapitel (mit Überschriften und relevanten Koranstellen) und innerhalb dieser nach Quellen gegliedert, aus denen die Apophthegmata wörtlich wiedergegeben werden (mit Einleitungen wie „Selon Anas le Prophète a dit: […]“). Konfuzius: Gespräche (Lun-yu), übers. von Ralf Moritz, Stuttgart 1998. Neben Apophthegmata enthält die Sammlung auch zahlreiche Aussprüche ohne Anlass („Konfuzius sprach: […]“) sowie einige ‚habituelle Erzählungen‘ über die Lebensweise des Konfuzius (Kǒngzǐ, gest. 479 v. Chr.). Mencius, übers. von D. C. Lau, London 2004. Mèngzǐ oder Menzius (4. Jhd. v. Chr.) war der bedeutendste Nachfolger des Konfuzius. Die Sammlung enthält – oft längere, dialogische – Apophthegmen sowie Aussprüche ohne Anlass. Se Complete Works of Chuang Tzu, übers. von Burton Watson, New York 1968. Das Zhuāng Zhōu (4. Jhd. v. Chr.) zugeschriebene Werk besteht aus auf unterschiedliche Weise definierten Kapiteln, die jeweils mehrere Anekdoten sowie nicht-narrative Abschnitte enthalten (diese oft am Anfang; in sie können zudem einzelne kurze Anekdoten, v. a. ‚habituelle Erzählungen‘, eingeschaltet sein). Ich beziehe mich auf die Sammlung, die im Sutta-piṭaka überliefert ist: Jātakam. Das Buch der Erzählungen aus früheren Existenzen Buddhas, übers. von Julius Dutoit, 6 Bde., Leipzig 1908–16. Die Erzählungen weisen Einzelüberschriften auf und werden von – zum Teil recht langen – Erzählungen der Erzählanlässe eingeleitet, die aber keine zusammenhängende Rahmenerzählung bilden. Die drei wohl bekanntesten sind das Bìyán lù von Yuánwù Kèqín (gest. 1135) = Se Blue Cliff Record, übers. von jomas Cleary, Berkeley 1998, das Cóngróng lù von Wànsōng Xíngxiù (gest. 1246) = Se Book of Equanimity. Illuminating Classic Zen Koans, übers. von Gerry Shishin Wick, Boston 2005, und das Wúménguān von Wúmén Huìkāi (gest. 1260) = Se Gateless Barrier. Se Wu-men Kuan (Momonkan), übers. von
226
Die Kapitel
doch – auf unterschiedliche Weise – dem Anekdotischen nahestehend sind z. B. die Noctes Atticae des Gellius (2. Jhd. n. Chr.)598 und das Bówùzhì des Zhāng Huà (gest. 300 n. Chr.),599 die mytho- und paradoxographischen Werke von Palaiphatos (Περὶ ἀπίστων ἱστοριῶν, 4. Jhd. v. Chr.),600 Hyginus (Fabulae, 1. Jhd. v. oder 2. Jhd. n. Chr.),601 Antoninus Liberalis (Μεταμορφώσεων συναγωγή, 2.–3. Jhd. n. Chr.) und Iulius Obsequens (Prodigiorum liber, 4. Jhd. n. Chr.),602 der charaktertypische Kitāb al-Buḫalāʾ des al-Ǧāḥiẓ (gest. 869)603 sowie der Φιλόγελως (terminus post quem: 248 n. Chr.604) und die Facetiae des Poggio Bracciolini († 1459),605 die ebenfalls eine isolierende Form aufweisen. Sie ist überdies die
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Robert Aitken, New York 1991. Auf jede der – zum Teil sehr kurzen, meist apophthegmatischen – Anekdoten folgen ein Kommentar und Verse; je nach Sammlung kann vor der Anekdote auch noch eine Einleitung und/oder nach den Versen ein eigener Kommentar zu diesen stehen. Nur teilweise narrativ-anekdotisch. Vgl. zu diesem Aspekt des Werks auch Pausch: Biographie, S. 167–172 und 191–226, dens.: Demosthenes im literarischen Salon. Biographisches Wissen in den noctes Atticae des Aulus Gellius, in: Anekdote – Biographie – Kanon, hg. von Unseld/Zimmermann, S. 61–83, und jetzt v. a. Beer (dort S. 27f. und 62–64 zu „sparsam“ eingesetzten Anekdotenverknüpfungen). Roger Greatrex: Se Bowu Zhi. An Annotated Translation, Diss. Stockholm 1987. Anekdoten werden mit naturkundlichen und geographischen Ausführungen vermischt. Mit Einzelüberschriften; die ‚wahre‘ Geschichte wird jeweils im Anschluss an eine knappe (meist ebenfalls narrative) Darstellung des unglaublichen Mythos erzählt, mit einem Übergangssatz wie τὸ δὲ ἀληθὲς ἔχει ὧδε. Mit Einzelüberschriften; unter die Einzelerzählungen mischen sich auch thematische Listen (viele ähnliche Geschichten in je einem Satz oder bloß stichwortartig zusammengefasst). Beide mit Einzelüberschriften (bei Iulius Obsequens die Jahreskonsuln, darunter gegebenenfalls auch mehrere Prodigien ohne Verknüpfung). Ǧāḥiẓ: Le Livre des avares, übers. von Charles Pellat, Paris 1951. Das Werk besteht aus Kapiteln, die teils Einzelpersonen oder Einwohnern bestimmter Gegenden gewidmet sind, teils ‚anecdotes diverses‘ enthalten. Innerhalb der Kapitel kommen zwar vereinzelte Verknüpfungen unterschiedlicher Art vor (mechanisch: „Voici une autre anecdote“, über eine Person: „Cet Abū ʿAbd Allāh était […]“, eine gemeinsame Quelle: „Abū Isḫāq m’a également raconté celle-ci“ oder generelle Ähnlichkeit: „Dans le même genre“, im Kapitel Histoires de masǧidī-s basriens über eine Rahmenerzählung), aber die Isolation bleibt der Regelfall. Witz 62: Σχολαστικὸς τῆι ἐτηρίδι, ἣ διὰ χιλίων ἐτῶν ἄγεται ἐν Ῥώμηι, ἡττηθέντα ἀθλητὴν [καὶ] δακρύοντα ἰδών, παραμυθούμενος Μὴ λυποῦ, ἔφη· τὴν γὰρ ἄλλην χιλιετηρίδα σὺ νικήσεις. Mit Einzelüberschriften; trotz diesen wird wie bei Aelian die Isolation in einigen seltenen Fällen durchbrochen, allerdings durch punktuelle Rahmenerzählungen (z. B. Nr. 93: Dum hoc in corona recitaretur […]); siehe dazu Marta Barbaro: «… tanquam in scena, recitatae sunt». Dimensione narrativa e scenica nelle «Facetiae» di Poggio Bracciolini, in: La letteratura degli italiani 4. I letterati e la scena, Atti del XVI Congresso Nazionale Adi, Sassari-Alghero, 19–22 settembre 2012, hg. von G. Baldassarri
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Regel in Sammlungen von Satiren (vgl. Horaz, Persius, Juvenal), Fabeln und Märchen (vgl. Phaedrus, ‚Äsop‘ in der Collectio Augustana, Babrios, Abstemius,606 La Fontaine, Perrault, die Brüder Grimm) sowie lyrischen und epigrammatischen Gedichtbüchern (vgl. Catull,607 Tibull,608 Properz, Horaz, Ovid, Martial und so verschiedene abendländische Dichter wie Petrarca und Baudelaire). Aber auch in manchen Novellensammlungen findet man sie: etwa in den Maqāmāt des al-Hamaḏānī (gest. 1007),609 den Cent nouvelles nouvelles (1462),610 den chinesischen huàběn-Sammlungen,611 Cervantes’ Novelas ejemplares (1613) und Balzacs
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et al., 2014 , S. 8f. Hecatomythium (1495) und Hecatomythium secundum (1505) = Abstemius: Hecatomythium primum – Hecatomythium secundum, hg. von Paul joen/Tiphaine Rolland [Abschrift der Erstdrucke], 2015 . Der Druck von 1495 weist in manchen Exemplaren einen Titel auf, der die gemeinsam mit Lorenzo Vallas ‚Äsop‘-Übersetzung abgedruckten Fabeln als ebenfalls aus dem Griechischen übersetzt ausgibt (siehe den Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Nr. 00126, letzte Änderung 26.11.2012 ). Der Abstemius-Druck von 1499 ist nicht (wie in Tschögele: Beccadelli angenommen) Erstdruck des zweiten Hecatomythium, sondern nur ein Nachdruck des ersten. Zu subtileren (inhaltlich-assoziativen) Verbindungen zwischen manchen aufeinanderfolgenden Catull-Gedichten siehe Marius Lavency: L’ode à Lesbie et son billet d’envoi (Catulle, L et LI), in: AC 34 (1965), S. 175–182, und Farouk F. Grewing: Der Anfang vom Ende oder das Ende als Anfang? Überlegungen zu closure in Ovids Metamorphosen, in: Anfänge und Enden. Narrative Potentiale des antiken und nachantiken Epos, hg. von Christine Schmitz/Jan Telg genannt Kortmann/Angela Jöne, Heidelberg 2017, S. 140–168, hier 161–164; zur inneren Ordnung römischer Gedichtbücher generell unten S. 305f. Eine Ausnahme bildet der erste Vers von 2,4 (Hic [andere Lesart: Sic] mihi servitium video dominamque paratam), der an 2,3 anknüpft. Auch in archaisch-frühklassischer griechischer Lyrik kommen – meist simple – Verkettungen vor; siehe B. A. van Groningen: La composition littéraire archaïque grecque. Procédés et réalisations, Amsterdam 2 1960, S. 34–50 (daneben auch zu Orakelsammlungen, Homer und Herodot). Al-Hamadhânî: Vernunft ist nichts als Narretei. Die Maqâmen, übers. von Gernot Rotter, Lenningen 2004. Alle Novellen haben denselben – homodiegetischen – Erzähler. Die Novellen werden zwar durch die Überschriften jeweils einer von mehreren Erzählerpersönlichkeiten zugeschrieben, dennoch gibt es keine Rahmenerzählung. Hóng Pián, Qīngpíngshāntáng huàběn (um 1550) = Contes de la Montagne Sereine, übers. von Jacques Dars, Paris 1987; Féng Mènglóng, Gǔjīn xiǎoshuō oder Yùshì míngyán (1620), Jǐngshì tōngyán (1624) und Xǐngshì héngyán (1627) = Feng Menglong: Stories Old and New. A Ming Dynasty Collection, Stories to Caution the World. A Ming Dynasty Collection. Volume 2 und Stories to Awaken the World. A Ming Dynasty Collection. Volume 3, alle übers. von Shuhui Yang/Yunqing Yang, Seattle 2000, 2005 und 2009; Líng Méngchū, Pāi’àn jīngqí (1628/33) = Ling Mengchu: Slapping the Table in Amazement. A Ming Dynasty Story Collection, übers. von dens., Seattle 2018; Jīngǔ
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Contes drolatiques (1832–37)612 sowie fast allen Novellen- und Kurzgeschichtensammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts (einer Zeit, in der solche Sammlungen oft Zweitpublikationen einzeln in Zeitungen und Zeitschriften erschienener Texte waren). Gattungsmäßig schwerer einzuordnende isolierende Werke sind das Tàipíng guǎngjì (10. Jhd.), in dem aber die übernatürlich-legendären Erzählungen gegenüber den historisch-anekdotischen zu überwiegen scheinen,613 und das erbauliche Mas̱nawī-yi Maʿnawī des Rūmī (gest. 1273), das als Kombination von Erzählsammlung und Lehrgedicht bezeichnet werden kann.614 Umrahmende Sammlungen lassen sämtliche Texte metadiegetisch von einer einzelnen Rahmenerzählung ausgehen.615 Dieses Gestaltungsmittel findet sich
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qíguān (wohl zwischen 1640 und 1644) = Spectacles curieux d’aujourd’hui et d’autrefois (Jingu qiguan), übers. von Rainier Lanselle, Paris 1996. Der huàběn-Erzähler tritt gern in der Pose des mündlichen Geschichtenerzählers auf, spricht den Leser oder ‚Zuhörer‘ an und lässt sich zum Teil sogar von ihm anreden (zusätzlich kann es ‚Anmerkungen‘ des von diesem fiktiven Erzähler unterschiedenen Autors geben). Die isolierten Erzählungen werden von Gedichten und meist historischen Ausführungen eingeleitet, dann sagt der Erzähler teils explizit, er werde jetzt eine Geschichte erzählen. Manchmal enthält die historische Einleitung eine kurze Anekdote mit verknüpfendem Übergang von dieser zur Novelle, so in Gǔjīn xiǎoshuō, Novelle 6 (Stories Old and New, S. 123– 132, hier 123f.), mit der Überleitung „Storyteller, is there really not even one other man like him? Dear audience, let me tell of another one“. In diesen beiden Sammlungen wird die Isolation je einmal punktuell durchbrochen: die letzte der Novelas ejemplares hängt metadiegetisch von der vorletzten ab, in den Contes drolatiques knüpft der Anfang der letzten Novelle explizit an die erste an. Mit seinen thematischen Kapiteln (einige jemen nennt Solange Cruveillé: Études et traductions occidentales sur le Taiping Guangji (Vaste recueil de l’ère de la Grande Paix), in: Impressions d’Extrême-Orient 2, 2011, § 3) erinnert es äußerlich an Valerius Maximus und das Shìshuō xīnyǔ. Vgl. zum Werk auch Johannes L. Kurz: Das Kompilationsprojekt Song Taizongs (reg. 976–997), Bern 2003, S. 89–98 (auch zur wechselnden Einordnung als lèishū oder xiǎoshuō, d. h. Enzyklopädik oder Belletristik). Es gibt keine Komplettübersetzung des sehr umfangreichen Werks (zu den Teilübersetzungen Cruveillé, § 9). Für den strukturellen Vergleich am brauchbarsten ist der Band von Birthe Blauth: Altchinesische Geschichten über Fuchsdämonen. Kommentierte Übersetzung der Kapitel 447 bis 455 des Taiping Guangji, Frankfurt a. M. 1996, der immerhin neun Kapitel vollständig enthält. Die Erzählungen stehen dort isoliert mit Einzelüberschriften. Se Mathnawí of Jalálu’ddín Rúmí, hg. und übers. von Reynold A. Nicholson, 8 Bde., London 1925–40. Die einzelnen Erzählungen und nicht-narrativen Abschnitte werden jeweils durch kurze Abstracts eingeleitet, Verknüpfungen – durch die Abstracts oder über sie hinweg – sind selten (zu beachten ist, dass es auch Abstracts gibt, die lediglich als Gliederungs- und Evaluationselemente innerhalb durchgehender Erzählungen dienen). Diese Kategorie ist weitgehend deckungsgleich mit der, die Christine Mielke: Zyklischserielle Narration. Erzähltes Erzählen von 1001 Nacht bis zur TV-Serie, Berlin 2006,
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in erster Linie in Novellensammlungen wie Tausendundeiner Nacht (Alf layla wa-layla),616 Boccaccios Decameron (1349–51/53),617 Chaucers Canterbury Tales (ca. 1387–1400), dem Heptaméron der Margarete von Navarra (1559) oder Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795), teils mit zusätzlicher metadiegetischer Verschachtelung wie in Tausendundeiner Nacht. Aber auch in Fabel- und Märchensammlungen wie Le piacevoli notti von Giovan Francesco Straparola (1550/53) und dem Pentameron des Giambattista Basile (1634/36) kommt es vor, und Raimundus Lullus hat es mit seinem Fèlix (1287–89, eigentlich Llibre de meravelles) sogar auf bemerkenswerte Weise in die philosophische Literatur übernommen.618 Man findet es in den verschiedensten Kulturen und Zeiten, so schon im ägyptischen Westcar-Papyrus (19.–17. Jhd. v. Chr.).619 Aus Indien liegen unter anderem das Pañcatantra (spätestens 6. Jhd. n. Chr.),620 der Kathāsaritsāgara des Somadeva (11. Jhd.)621 und die Śukasaptati (12.–13. Jhd.)622 vor,
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unter der Bezeichnung ‚zyklische Rahmenerzählung‘ behandelt – auch wenn die Definition dort stärker funktional und hier rein formal gefasst ist. Siehe auch Ugo Dionne: La voie aux chapitres. Poétique de la disposition romanesque, Paris 2008, S. 111–131, zum ‚recueil encadré‘. Les Mille et Une Nuits, übers. von Jamel Eddine Bencheikh/André Miquel, 3 Bde., Paris 2005/06. Siehe zu diesem auch unten S. 327f. Ramon Llull: Llibre de meravelles, hg. von Lola Badia et al., 2 Bde., Palma 2011/14; Raymond Lulle: Félix ou le Livre des Merveilles, übers. von Patrick Gifreu, Monaco 2000. Als Rahmenhandlung dient die Reise des Fèlix, der durch die Welt zieht, um das Wundern zu lernen. Darin führt er philosophische Dialoge mit diversen Gesprächspartnern, die zahlreiche – von diesen oder von ihm erzählte – Exempla enthalten. Größere jemenwechsel (z. B. an Kapitel- oder Buchgrenzen) werden oft durch Ortswechsel oder Wechsel des Gesprächspartners verwirklicht. Eingeschaltet wird ein ‚Buch der Tiere‘ (zu einer zusammenhängenden romanhaften Erzählung verarbeitete orientalische Tierfabeln; so Gifreu, S. 21f.), das als Teil der Primärerzählung eingeführt wird (Felix […] aná en aquell loch on les besties volien elegir rey), dann aber ohne Fèlix auskommt und am Schluss als Buch bezeichnet wird, das er einem König mitgebracht habe (die Rahmenhandlung wird dann einfach fortgesetzt). Trotz der Einbettung der Exempla in philosophische Gespräche kommt gelegentlich auch die simple Verbindung mit Verba dicendi vor (dix l’ermitá, dix Felix). Vgl. die Monographie von Verena M. Lepper: Untersuchungen zu pWestcar. Eine philologische und literaturwissenschaftliche (Neu-)Analyse, Wiesbaden 2008, mit Übersetzung und Kommentar. Die letzte der fünf Erzählungen steht isoliert außerhalb des Rahmens. Les Cinq Livres de la sagesse. Pañcatantra, übers. von Alain Porte, Arles 2012. Jedes der fünf Bücher hat seine eigene Rahmenerzählung (im Fall des fünften Buches löst zuerst die Primärerzählung eine Sekundär- und diese eine Tertiärerzählung aus, die dann Rahmenerzählung für den Rest des Buches ist). Somadeva: Océan des rivières de contes, übers. von Nalini Balbir, Paris 1997. An den Buchanfängen finden auktoriale Neuansätze in Gestalt von die Rahmenerzählung unterbrechenden Götteranrufungen statt – und manchmal, etwa im sechsten Buch, auch ein
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während das extrem umfangreiche Mahābhārata (8. Jhd. v. Chr.–4. Jhd. n. Chr.) zwar meist als Epos mit eingeschalteten Sekundärerzählungen gilt, aber ebenso gut als Sammlung mit epischer Rahmenerzählung eingeordnet werden könnte.623 Aus dem arabischen Raum ist neben Tausendundeiner Nacht vor allem die schon viel früher in Europa populäre624 Fabelsammlung Kalīla wa-Dimna zu nennen (von al-Muqaffaʿ um 750 n. Chr. aus einem verlorenen persischen Original des 6. Jhds. mit Erweiterungen übersetzt und verwandt mit dem Pañcatantra).625 In China ist die Rahmenerzählung ungewöhnlich, aber immerhin durch die satirische Novellensammlung Dòupéng xiánhuà des Àinà (um 1660) vertreten.626 Die dritte Kategorie, die man die verknüpfende nennen kann, besteht zu einem großen Teil627 aus Minimalbeispielen: isolierenden Sammlungen mit vereinzelt eingestreuten Verknüpfungen628 und Sammlungen, die zwar mehr oder weniger konsequent verknüpfen, sich dabei aber auf wenig aussagekräftige Konnektoren wie δέ oder καί beschränken: dies ist etwa der Fall in den Βασιλέων ἀποφθέγματα καὶ στρατηγῶν und Ἀποφθέγματα Λακωνικά des Plutarch (1.–2. Jhd. n. Chr.), soweit es mehrere Anekdoten zur selben Person gibt,629 ferner im zweiten Buch der
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Sprung zu einer anderen Erzählsituation (innerhalb des Lebens des Naravāhanadatta, das den Rahmen für das Gesamtwerk – mit Ausnahme des noch eine diegetische Ebene darüber stehenden ersten Buchs – bildet). Śukasaptati. Das indische Papageienbuch, übers. von Wolfgang Morgenroth, Köln 1986. Se Mahabharata, übers. von Bibek Debroy, 10 Bde., Gurgaon 2015. Vgl. zu den griechischen und spanischen Übersetzungen Johannes Niehoff-Panagiotidis: Übersetzung und Rezeption. Die byzantinisch-neugriechischen und spanischen Adaptionen von Kalīla wa-Dimna, Wiesbaden 2003. Se Fables of Kalilah and Dimnah. Adapted and translated from the Sanskrit through the Pahlavi into Arabic by ʿAbdullah ibn al-Muqqaffaʿ AD 750, übers. von Saleh Saʿadeh Jallad, London 2002. Im Gegensatz zum Pañcatantra weist sie eine durchgehende Rahmenerzählung auf. Zur Textgeschichte siehe Niehoff-Panagiotidis, S. 9– 60. Aina the Layman: Idle Talk under the Bean Arbor. A Seventeenth-Century Chinese Story Collection, übers. von Li Qiancheng et al., Seattle 2017; vgl. auch dort, S. xi, zur Seltenheit der Form: „No other Chinese story collection produced before the turn of the twentieth century had this sort of framing device“. Auf vier verknüpfende Erzählsammlungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, von denen eine explizit ein neuer Valerius Maximus sein will, wird erst am Ende dieses Kapitels eingegangen (S. 267–272). Vgl. oben Fn. 584, 586, 588, 590, 598, 603, 605, 608, 612, 614. Die verschiedenen Personen folgen isoliert aufeinander (mit Einzelüberschriften). Die Verknüpfungen innerhalb der Personenabschnitte bestehen mit sehr wenigen Ausnahmen (wie Ἀποφθέγματα Λακωνικά 209e–f: Ἐν μὲν οὖν τοῖς πλείστοις τοιοῦτος ὑπὲρ τῶν φίλων ὁ Ἀγησίλαος· ἔστι δὲ ὅπου πρὸς τὸ συμφέρον ἐχρῆτο τῷ καιρῷ μᾶλλον. Ἀναζυγῆς γοῦν ποτε γενομένης […]) in simplem δέ. Weniger konsequent wird verknüpft in den Νόμιμα Λακωνικά (‚habituellen Erzählungen‘ von ähnlicher Art wie die Kapitel De institutis Romanis des Valerius Maximus) und den Γυναικῶν ἀρεταί (dann
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pseudo-aristotelischen Οἰκονομικά (3. Jhd. v. Chr.), den Werken Περὶ ἐρωτικῶν παθημάτων von Parthenios (1. Jhd. v. Chr.)630 und Περὶ θαυμασίων von Phlegon von Tralleis (2. Jhd. n. Chr.)631 sowie den ‚habituellen Erzählungen‘ von [eophrasts Ἠθικοὶ χαρακτῆρες (4.–3. Jhd. v. Chr.).632 Komplexer sind Xenophons Ἀπομνημονεύματα (4. Jhd. v. Chr.), die zwar stellenweise eher als argumentative Schrift mit eingeschalteten Beleganekdoten erscheinen,633 stellenweise aber auch als Sammlung, deren Anekdoten und Apophthegmata634 entweder durch argumentative Überleitungen (wie z. B. 4,4,25–4,5,1: Τοιαῦτα λέγων τε καὶ πράττων δικαιοτέρους ἐποίει τοὺς πλησιάζοντας. Ὡς δὲ καὶ πρακτικωτέρους ἐποίει τοὺς συνόντας ἑαυτῷ, νῦν αὖ τοῦτο λέξω) oder – bei gleichem argumentativem Wert – bloß durch einfaches δέ (oder Varianten wie οἶδα δὲ καί und πάλιν δέ) verknüpft werden. Eine bemerkenswerte Verbindung von Umrahmung und Verknüpfung findet man in Tausendundeiner Nacht, wo die Erzählerin Šahrazād Verknüpfungen herstellt, indem sie sagt, die eben erzählte Geschichte sei noch nicht so erstaunlich wie die folgende.635 Als das Meisterwerk der Verknüpfung schlechthin können aber wohl doch Ovids Metamorphosen (ca. 2–8 n. Chr.) gelten. Sie wenden dieses Mittel nicht nur durchgehend, sondern auch in elaborierter und vielfältiger Weise an und verdanken wesentlich auch ihm ihre Wirkung als abgerundetes Kunstwerk.636 Das
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aber über die Einzelüberschriften hinweg; zu jeder Frau oder Frauengruppe gibt es nur eine – oft längere – Anekdote). In den Λακαινῶν ἀποφθέγματα tritt im anonymen Abschnitt die Verknüpfung mit ἄλλη oder ἑτέρα hinzu. Den plutarchischen Werkaufbau imitiert Erasmus von Rotterdam (Des. Erasmus Roterodamus: Apophthegmatum, sive Scite Dictorum Libri Sex, Basel 1531; Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami IV.4. Apophthegmatum libri I–IV, hg. von Tineke L. ter Meer, Leiden 2010), mit Verknüpfungen wie idem, caeterum oder rursus. Eine Ausnahme ist 3: Οὐ μόνον δὲ Ὀδυσσεὺς περὶ Αἴολον ἐξήμαρτεν, ἀλλὰ καὶ […]. Neben δέ oder καί kommt seltener auch die Verknüpfung mit Ausdrücken wie ὁμοίως, ἕτερος oder ὁ αὐτός vor (dieses bezogen auf den Quellenautor, mit dessen Nennung die meisten Anekdoten beginnen). Die verschiedenen Charaktere werden mit δέ verknüpft, die einzelnen ‚habituellen Erzählungen‘ innerhalb dieser mit δέ oder καί. Vor allem im ersten Buch ist der extradiegetische, argumentierend-apologetische Text zu dominant als dass man ihn als ‚verknüpfend‘ ansprechen könnte. Sie sind recht vielfältig: neben zahlreichen längeren Dialogen mit direkten Reden gibt es u. a. auch kurze ‚habituelle Erzählungen‘. Die Erzählnächte enden nicht am Ende einer Geschichte, sondern unterbrechen diese, d. h. der Übergang zur nächsten erfolgt während der Nacht – meist mit dialogischer Beteiligung des zuhörenden Königs (der auf eine Andeutung Šahrazāds hin nachfragt, worum es denn in der angesprochenen Geschichte geht), seltener auch ohne. Wenn auch nicht ausschließlich ihm (vgl. Grundy Steiner: Ovid’s Carmen Perpetuum, in: TAPhA 89, 1958, S. 218–236, der noch mehrere andere bindende Faktoren nennt). Erstaunlicherweise wurde der Wert der ovidischen Übergangstechnik früher oft verkannt. Quintilian war sie lediglich zu entschuldigen bereit (Quint. inst. 4,1,77: Illa uero
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ovidische carmen perpetuum (Ov. met. 1,4) ist schon darum der ideale Vergleichsmaßstab für eine Studie zur Verknüpfungstechnik, wie sie hier für Valerius Maximus zu leisten ist. Obwohl von der Forschung bisweilen eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Werken angedeutet wurde,637 fehlt eine solche Untersuchung bisher. Die Literatur zur Verknüpfungstechnik des Valerius Maximus besteht fast nur aus knappen Bemerkungen.638 Rudolf Helm etwa erkennt als Verknüpfungsmittel Personengleichheit, ‚Gleichheit oder Ähnlichkeit der Ereignisse‘, Gegensätzlichkeit und ‚eine gewisse Wertordnung‘ (bzw. deren Vorspiegelung) und führt jeweils ein paar Beispiele an,639 Ursula Blank-Sangmeister nennt im Nachwort zu ihrer Übersetzung dieselben Möglichkeiten und fügt hinzu, manchmal stehe „auch bloß schlichtes iungendus est, contemplemur nunc, restat ut usw. oder gar nichts“,640 Isabelle Cogitore betont, dass Gleichsetzung oft mit Nuancierungen einhergeht,641 und führt als Übergangsarten neben den bereits genannten (von denen die Personengleichheit fehlt) Gleichzeitigkeit und zeitliche Abfolge sowie Ausrufe und rhetorische Fragen an,642 und Roberto Guerrini spricht von ὁμοίωσις nach den Kriterien
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frigida et puerilis est in scholis adfectatio, ut ipse transitus efficiat aliquam utique sententiam et huius uelut praestigiae plausum petat, ut Ouidius lasciuire in Metamorphosesin solet; quem tamen excusare necessitas potest, res diuersissimas in speciem unius corporis colligentem), und noch manche Späteren stießen sich an der Künstlichkeit oder Oberflächlichkeit der Übergänge (vgl. dazu Stephen M. Wheeler: A Discourse of Wonders. Audience and Performance in Ovid’s Metamorphoses, Philadelphia 1999, S. 122– 125; Steiner, S. 229, findet sie z. B. „often too clever“, eine Verteidigung der ovidischen Übergangskunst unternimmt dagegen J.-M. Frécaut: Les transitions dans les Métamorphoses d’Ovide, in: REL 46, 1968, S. 247–263). Die generelle Abneigung gegen Überleitungen wird übrigens auch von modernen Stilschulmeistern geteilt: vgl. etwa Reiners, S. 742–745, der warnt, sie seien oft „überflüssiges Gerede oder sogar Schaumschlägerei“ (seine Beispiele stammen aus Literaturgeschichten), und die Isolation mit Leerzeilen und Asterisken empfiehlt. Vgl. die oben in Fn. 575 genannten Stellen (sowie u. a. auch Ursula Blank-Sangmeister in: Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia. Denkwürdige Taten und Worte [Auswahl], übers. von ders., Stuttgart 1991, S. 340, die sich auf Rudolf Helm beruft; dagegen wertet Carter: Valerius Maximus, S. 46, die Übergänge bei Valerius Maximus gegenüber denen Ovids als „stereotyped and mechanical“ ab). Zusätzlich zu den hier besprochenen systematisierenden Bemerkungen werden die Verknüpfungen natürlich auch anlässlich der Frage der Anordnung der Anekdoten (dazu unten S. 272–306) sowie in Kommentaren (siehe oben Fn. 38) beiläufig thematisiert. RE, Sp. 95f. Blank-Sangmeister, S. 339f. Début, S. 74: „un exemple en attire un autre qui s’en rapproche et s’en démarque à la fois“. Vgl. unten Punkt m, §§ (5) bis (7). Ebd., S. 74f. Zu den beiden letzten Punkten, die im Folgenden nicht als eigene Verknüpfungsmittel behandelt werden, siehe unten S. 263–265.
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ex simili, ex dissimili, ex contrario, a maiore und a minore.643 Eine vergleichsweise ausführliche Darstellung findet sich in einer unpublizierten Diplomarbeit von Gabriela Schmied (mehrere Seiten zu den Verknüpfungsmitteln ‚Chronologie‘, ‚Person‘, ‚Vergleich‘, ‚inhaltliche Steigerung‘, ‚Sachgruppen‘ und ‚Exkurs‘), aber auch sie ist noch ziemlich unvollständig und summarisch.644 Als ovidische Grundlage für das nun Folgende dient eine Dissertation von 1937/38, die die Übergangsarten in den Metamorphosen katalogartig aufarbeitet.645 Die dort vorgenommene Klassifikation wird allerdings in einigen Punkten angepasst,646 die oft sperrigen Bezeichnungen der Übergangsarten werden gekürzt oder präzisiert. Auch in dieser neuen Einteilung wird wohlgemerkt keine Exklusivität der Kategorien angestrebt – es gibt (bei beiden Autoren) nicht wenige
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Studi, S. 22, Anm. 32 (mit Beispielen entsprechender Vokabeln wie idem oder autem sowie extradiegetischer Übergangsformeln wie ut […] transgrediar; die von ihm aufgegriffenen fünf Kriterien stammen aus Quint. inst. 5,11, wo sie sich auf das Verhältnis des Exemplums zum Gegenstand der Rede beziehen). Vgl. schon oben bei Fn. 331 zu seinem Strukturschema für die Einzelanekdoten. Schmied, S. 46–54 (leider nicht konsequent zwischen Überleitungen und faktischen Ordnungprinzipien unterscheidend). Die Arbeit ist in der Wiener Universitätsbibliothek einsehbar. Reinhard Schmidt: Die Uebergangstechnik in den Metamorphosen des Ovid, Diss. Breslau 1938. Auch von ihm werden noch gelegentlich einzelne Übergänge als „gezwungen“ und „gesucht“ kritisiert (z. B. ebd., S. 67). Zur älteren Forschung siehe ebd., S. 9–11 (darunter eine erste, weniger detaillierte Klassifikation bei Frank J. Miller: Some Features of Ovid’s Style. III. Ovid’s Methods of Ordering and Transition in the Metamorphoses, in: CJ 16, 1921, S. 464–476). Eine stärker abstrahierende Klassifikation findet man bei Gilles Tronchet: La Métamorphose à l’œuvre. Recherches sur la poétique d’Ovide dans les Métamorphoses, Löwen 1998, S. 282–329 (ohne Kenntnis der Arbeit von Schmidt), Besprechungen einzelner Übergänge natürlich auch in anderen Studien zur Gestalt der Metamorphosen wie z. B. A. M. Keith: Se Play of Fictions. Studies in Ovid’s Metamorphoses Book 2, Ann Arbor 1992. Mit dem ‚Verschwimmen‘ von Anfängen und Enden in den Metamorphosen infolge der ‚Überlappung‘ verschiedener Strukturen (und Gattungen) befasst sich Grewing: Anfang. Schmidt: Uebergangstechnik geht nach eigenem Bekunden (S. 11f.) in zwei Schritten vor, zuerst nach der Art des herzustellenden Zusammenhangs, dann nach den verwendeten ‚Motiven‘: das Ergebnis ist, dass Übergangs- und Gruppierungstechnik (sichtbare Kohäsionsmittel und innere Zusammenhänge) nicht immer unterschieden werden, dass phänotypisch Zusammengehöriges (z. B. verschiedene Arten von Parallelen und Vergleichen) getrennt und nicht Zusammengehöriges gruppiert wird (dies v. a. unter den Überschriften ‚Äußerliche Verknüpfungen‘ sowie ‚Kunst- und Schmuckmittel, die durchgehend innerhalb der einzelnen Übergänge für die Ankündigung neuer Geschichten angewendet werden‘). Solche Kategorien werden von mir aufgetrennt bzw. zusammengeführt. Zwei von Schmidt gänzlich übersehene Übergangsarten füge ich neu hinzu: ‚sonstige Beziehungen zwischen Personen‘ (unten bei Fn. 675) und ‚ausbleibende Reaktion‘ (unten bei Fn. 697).
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Übergänge, die mehrere Techniken kombinieren und darum mehrfach zugeordnet werden können. Die zugrunde gelegte Edition des Valerius Maximus ist in diesem und den folgenden Kapiteln die Loeb-Ausgabe von Shackleton Bailey, der nicht wenige Nummern der herkömmlichen Einteilung zu Recht in mehrere Anekdoten auftrennt (in Form von Buchstabenzusätzen),647 was eine etwas vollständigere Erfassung der Übergänge ermöglicht. Berücksichtigt werden selbstverständlich nur diejenigen Anekdoten, die im Originaltext vorliegen, nicht die lediglich als Epitome überlieferten Kapitel 1,2–4 und Anekdoten am Ende von 1,1 (sowie 1,1,18a bei Briscoe).648 Gezählt nach Shackleton Bailey ergeben sich somit 1012 Anekdoten in 83 eigenständigen Kapiteln (2,2–6 sind nahtlose Fortsetzungen ohne eigene Überschriften oder Praefationes649), d. h. 929 zu klassifizierende Übergänge zwischen Anekdoten.650 Eine sämtliche Übergänge umfassende Klassifikation wird in Anhang 2 als Tabelle wiedergegeben.651 Sie ist nicht als definitiv zu verstehen – zwar vermittelt sie einen im Ganzen wohl verlässlichen Eindruck von der Häufigkeit der verschiedenen Verknüpfungsarten sowie von ihrer Durchmischtheit, für die Zuordnung der 647
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Seine Vorgehensweise ist dabei weniger radikal als die oben bei der narratologischen Untersuchung praktizierte – von den fünf ‚Sammelanekdoten‘ der obigen Beispielkapitel (2,1,5; 2,1,9; 3,8,2; 4,2,4; 6,2,12) trennt er nur eine auf (2,1,5) und auch diese nur in zwei Teile statt in drei. Die Epitomatoren, deren Produkte nicht nur in den meisten Ausgaben für die fehlenden Kapitel eintreten, sondern in der von Briscoe als Anhang vollständig (im Fall des Ianuarius Nepotianus: soweit erhalten) abgedruckt sind, streichen fast sämtliche Übergänge (bei den wenigen Ausnahmen handelt es sich meist um idem bei Personengleichheit). Siehe unten Fn. 664 zum Zweifelsfall 2,4. Die Kapitel 5,5–6 stehen zwar unter der Überschrift von 5,4, haben aber ausgearbeitete Praefationes. Vier Kapitel (1,1; 7,8; 8,11; 9,13) werden trotz Zwischenüberschriften als Einheiten behandelt – die Zwischenüberschriften bezeichnen keine jemenwechsel, sondern nur besondere Aspekte oder Spielarten des in der Praefatio angekündigten Kapitelthemas (im Fall von 8,11 ist die Kapitelüberschrift Quam magni effectus artium sint irreführend – das jema laut Praefatio sind die effectus artium überhaupt, wozu sowohl die tatsächlichen magni effectus der ersten sechs Anekdoten als auch die letzten drei zum jema Quaedam nulla arte effici posse gehören). Die Anknüpfungen der jeweils ersten Anekdote an die Praefatio sowie der Praefatio an das vorangehende Kapitel (einschließlich eines Falles wie 1,7,1, wo es bei Briscoe den Anschein hat, dass die erste Anekdote direkt an das vorangehende Kapitel anknüpft, während Shackleton Bailey in der Anknüpfung wohl zu Recht eine Praefatio sieht, sowie 3,4,1, 4,8,1 und 5,3,1, wo der faktisch als Praefatio fungierende extradiegetische Kapitelübergang von beiden Editoren entweder zur ersten Anekdote oder zur letzten des vorigen Kapitels gezählt wird, und 6,7,1 und 9,7,1, wo er zum Nebensatz – Atque ut uxoriam quoque fidem attingamus, Sed ut violentiae […] facta referantur – geschrumpft ist) sind hier nicht Untersuchungsgegenstand. Siehe unten S. 329–332. Siehe unten S. 458–466.
Übergangstechnik
235
Einzelfälle ließen sich aber oft genug mehrere (einander ergänzende oder ersetzende) Vorschläge vertreten. Die Darstellung der einzelnen Übergangsarten, die im Anschluss versucht wird, geht von der in der Tabelle enthaltenen Klassifikation aus, wobei die Beispiele für die zahlreicheren Gruppen überwiegend den ersten drei Büchern entnommen werden. Auf die Abschnitte dieser Darstellung beziehen sich auch die Siglen a bis s: a) b) c) d) e) f) g) h) i) j) k) l) m)
Umrahmung Personengleichheit Vorgeschichte Abwesenheit oder Abweichung Genealogie Sonstige Beziehungen zwischen Personen Ortsgleichheit Bewegung Gleichzeitigkeit Zeitliche Abfolge Kausale Folge Ausbleiben einer Reaktion Ähnlichkeiten in Sema und Handlung (1a) Benennung des gemeinsamen Leitgedankens ohne Ausdrücke der Gleichsetzung (1b) Benennung gemeinsamer Handlungsdetails ohne Ausdrücke der Gleichsetzung (2) generelle Gleichsetzung ohne Benennung des Leitgedankens (3a) Benennung und Gleichsetzung des gemeinsamen Leitgedankens (3b) Benennung und Gleichsetzung gemeinsamer Handlungsdetails (4) Hierarchisierung (5) Übertragung des Leitgedankens auf einen anderen Personenkreis
n) o) p) q)
r) s)
(6) Übertragung des Leitgedankens auf einen anderen Anwendungsbereich (7) Variation der näheren Umstände bei gleichbleibendem Leitgedanken Gegensätzlichkeit Einzelne Dinge oder Begriffe Übergangsfiguren und -erzählungen Extradiegetisches (1) bloße Ausdrücke der Hinzufügung (2) Rechtfertigung oder Entschuldigung (3) gleiche (nicht thematisch relevante) Bewertung der Anekdoten (4) Bewertung einer Anekdote im Lichte der anderen (5) athematische Überleitung zu einem anderen Ort oder Volk (6) athematische Überleitung zu einer anderen Person (ohne Beziehung zwischen den Personen) (7) explizite Beendigung eines Exkurses ‚Mechanische‘ Verknüpfung Isolation
Sie stehen immer bei der angeknüpften Anekdote, auch wenn die anknüpfenden Worte in den Textausgaben noch zur vorangehenden gehören (wie z. B. in 6,2,8– 9 oder 8,9,3–ext. 1), und – da es um Einzelverknüpfungen geht – immer nur bei einer, auch wenn eine thematische Gruppe angekündigt wird652 (z. B. 7,8,5: Aeque felicis impunitatis sed nescio an taetrioris haec delicti testamenta; bei 7,8,6 interessiert dann nur die Anknüpfung an 7,8,5). 652
Siehe zu solchen im Kapitel zur Anordnung der Anekdoten (unten S. 272–306).
Die Kapitel
236 1.a
Umrahmung
Die Einschaltung von Sekundär- und Tertiärerzählungen, anderswo in der Weltliteratur ein Strukturprinzip ganzer Werke,653 wird auch von Ovid nicht selten für seine Zwecke nutzbar gemacht,654 sowohl in Form von punktuellen Einschaltungen als auch von längeren Gesprächssituationen (etwa Gastmählern oder Götterversammlungen), die als Rahmenerzählungen dienen. Sie kann auf verschiedene Weise motiviert werden, etwa als Beantwortung einer Frage, als Überzeugungsmittel, als warnendes Beispiel, als Rechtfertigung, als Erklärung, als Versuch, Liebe oder Mitgefühl zu wecken oder Trost zu spenden, oder auch nur als Zeitvertreib (so im Fall der Töchter des Minyas in Buch 4). Übergänge zwischen Sekundärerzählungen im Rahmen von Gesprächen erfolgen insbesondere durch Fragen und Einwände (Perseus erzählt von der Tötung der Medusa, dann fragt jemand nach, wie sie zu ihren Schlangenhaaren gekommen sei; Tlepolemus beschwert sich, dass Hercules bisher übergangen wurde). Den Sekundärerzählern stehen auch grundsätzlich alle Verknüpfungstechniken zur Verfügung, die der Primärerzähler gebraucht. Bei Valerius Maximus ist diese Art der Präsentation äußerst selten. Sekundärerzählungen kommen zwar, wie wir gesehen haben, innerhalb der Anekdoten vor,655 aber nicht als Mittel der Verknüpfung mehrerer Haupthandlungen untereinander (sei es direkt oder mit Hilfe von Übergangserzählungen). Die einzige Ausnahme findet sich im Kapitel De somniis, dessen zweite Anekdote (1,7,2) als warnender Präzedenzfall eingeführt wird, der zum glücklichen Ausgang der ersten beigetragen hat. Augustus hat der im Traum gegebenen Anordnung Folge geleistet. Dazu bestimmte ihn neben seiner generellen Geistesstärke auch ein recens et domesticum exemplum. Denn er hatte gehört (audiverat enim), dass … – nun folgt die Geschichte vom Traum der Calpurnia vor der Ermordung Caesars, den dieser missachtete. Erzähler und Erzählsituation bleiben völlig unbestimmt, da es nur auf den Adressaten ankommt. Auf die Sekundärerzählung lässt Valerius Maximus eine die beiden Anekdoten vergleichende Evaluation folgen. 653 654
655
Siehe oben S. 228–230. Schmidt: Uebergangstechnik, S. 35–42, 43–53, 68–73. Eine Liste der Sekundärerzählungen in den Metamorphosen gibt Wheeler: Wonders, S. 207–210, eingehendere Untersuchungen Kurt Gieseking: Die Rahmenerzählung in Ovids Metamorphosen, Diss. Tübingen 1965 (dort auch Vergleiche mit Vorgängern), Alexandra Bartenbach: Motivund Erzählstruktur in Ovids Metamorphosen. Das Verhältnis von Rahmen- und Binnenerzählungen im 5., 10. und 15. Buch von Ovids Metamorphosen, Frankfurt a. M. 1990, und Nikolopoulos. Neben ‚echten‘ Sekundärerzählungen durch Figuren kann wohl auch die durch den Primärerzähler erfolgende Ekphrasis entsprechender künstlerischer Darstellungen – bei Ovid die Gewebe Arachnes und Minervas (die Schmidt: Uebergangstechnik, S. 15f., lediglich als Teil des Minerva-Komplexes einordnet) – als diegetisch eingerahmte Erzählung gelten. Siehe oben S. 138–145.
Übergangstechnik
1.b
237
Personengleichheit
Mehrere Erzählungen können durch die Präsenz einer ‚gemeinsamen Person‘ (in einer aktiven Rolle oder im Hintergrund) zusammengehalten werden: beispielsweise endet eine ovidische Erzählung damit, dass Tiresias die Sehergabe erhält, und die nächste beginnt damit, dass Liriope ihn als Seher konsultiert.656 Diese Art der Verknüpfung ist bei Valerius Maximus schon deutlich häufiger als die zuletzt besprochene, wobei zu beachten ist, dass sie auf mehr oder weniger explizite Weise umgesetzt werden kann. Bei den verbindenden Personen handelt es sich in der Regel um die Protagonisten, manchmal aber auch um deren Gegner (z. B. 3,2,2: adversus eundem hostem, nämlich die Etrusker unter Porsenna), Vorgesetzte (z. B. Caesar in 3,2,23a und 23b)657 oder Lehrer (8,7, ext. 11: Chrysippi praeceptis percipiendis vacantem) oder um Gottheiten und Personifikationen, die aktiv ins Geschehen eingreifen (z. B. 1,8, ext. 9: Eodem oraculo = Apollo als Orakelgott, 7,4,4: Iuppiter, 7,6,2: die personifizierte Necessitas) oder nur Gegenstand menschlichen Handelns sind (z. B. in 1,1,1c und 3,2,4); die Verknüpfung kann selbst den Übergang von einer passiven zu einer aktiven Rolle bilden (so für die Gottheit in 1,1, ext. 1, mit Rekapitulation und Abstract: Quae, quod ad Pleminii facinus pertinuit, bene a patribus conscriptis vindicata, quod ad violentas regis Pyrrhi sordes attinuerat, se ipsa potenter atque efficaciter defendit). In einem Fall beschränkt sich die Präsenz in der angeknüpften Anekdote auf ein Bildnis (8,1, damn. 3: quod Saturnini imaginem domi habuerat).
656 657
Schmidt: Uebergangstechnik, S. 13–23. In 3,2,23b möglicherweise zusätzlich auch die Hauptperson. Diese heißt in der Edition von Briscoe nach den meisten Handschriften Scaeua (Tuum uero, Scaeua; einige Handschriften haben auch sceuola oder scheuola, siehe die Edition von Combès), wie der Held von 3,2,23a. Shackleton Bailey konjiziert allerdings – mit Kempfs Edition von 1888 – Scaevi, unter Verweis auf Cass. Dio 37,53,3 (Πούπλιος Σκαίουιος) und Plut. Caesar 16,3 (Κάσσιος Σκεύας als Held der anderen Anekdote, dann ein anonymer στρατιώτης als Held der fraglichen) und weil Tuum vero wie die Einführung einer neuen Person klinge. Aus diesem letzten Grund geht auch Combès, der an Scaeua festhält, von zwei verschiedenen Personen aus, er ist aber alles andere als zwingend. Valerius Maximus ist ohne weiteres zuzutrauen, auch nach einer Rekapitulation wie Tales in castris divi Iulii disciplina milites aluit, quorum alter dextera, alter oculo amisso hostibus inhaesit, ille post hanc iacturam victor, hic ne hac quidem iactura victus (zu 3,2,22 und 23a) noch eine zweite Anekdote zu einem der Helden nachzuschieben (vgl. etwa den unten, S. 302, besprochenen expliziten Bruch einer Ankündigung in 3,2, praef. durch 3,2,2), zumal 3,2,23b als weitere Heldentat unter dem Kommando Caesars diesen scheinbaren Abschluss in jedem Fall konterkariert – und dass vero nicht gegen Personengleichheit spricht, zeigen mehrere oben zitierte Fälle. Die abweichenden Parallelstellen wiederum werfen nur die Frage auf, wer sich worin geirrt hat.
238
Die Kapitel
Neben Einzelpersonen kommen auch Kollektive in Betracht, die, von ihren wechselnden Mitgliedern abstrahierend, als personengleiche Akteure mit konstanter Identität behandelt werden658 (z. B. der Senat in 1,1,21, die Soldatenschaft in 2,3,2, das römische Volk in 4,3,14b, eine Familie in 4,4,9 und die griechische Nation in 8,15, ext. 3 – beides als Eadem gens –, auch Rollen oder Typen in ‚habituellen Erzählungen‘ wie die Frauen in 2,1,3–6, Junge und Alte in 2,1,10 und die Beamten in 2,2,8). In einem Fall wird an eine kollektive Handlung der vorigen Anekdote angeknüpft und deren individueller Initiator erst bei dieser Gelegenheit identifiziert (1,5,2: Huius tam praeclari operis auctor Camillus, Bezug nehmend auf den Senatsbeschluss in 1,5,1). Die Person kann bei der Verknüpfung durch eine Eigenschaft repräsentiert werden, z. B. in 9,5,2: Quae a M. quoque Druso […] vexata est, anknüpfend an ordinis […] maiestate (nämlich des Senats) in 9,5,1. Was die sprachliche Umsetzung angeht, besteht die Minimalvariante in der schlichten Subjektlosigkeit des die neue Anekdote beginnenden Satzes, die die Beibehaltung der bisherigen Hauptperson lediglich – wenngleich unmissverständlich – impliziert. Dies kommt allerdings praktisch nur dann vor, wenn zugleich andere Verknüpfungsarten vorliegen und mit Konnektoren explizit gemacht werden – etwa Parallelen der Handlung (z. B. 1,1,21: Tam me hercule quam […] vindicavit), ideelle Gleichwertigkeit (z. B. 3,7,1b: Eademque [scil. fiducia] in ipsa Hispania usus est) oder gleiche Bewertung durch den Erzähler (z. B. 3,7, ext. 1b: Itaque etiam quod Alcestidi tragico poetae respondit probabile). Einmal wird sogar das Prädikat weggelassen (9,2, ext. 3: Tam hercule quam Mithridatem regem, nämlich wie im letzten Satz von 9,2, ext. 2 senatus […] ad voluntariam mortem compulit). Zugleich expliziter und schwächer – weil der isolierten Präsentation ähnlicher – ist die einfache Namenswiederholung (z. B. 1,7,2: Augustum vero,659 2,9,6b: Salinator vero, wobei die vorige Anekdote mit Salinator und Claudius Nero zwei Hauptpersonen hatte, 3,2,23b: C. Caesar als der Feldherr, unter dem die Hauptpersonen kämpfen,660 oder 4,3,6b mit ideeller Gleichsetzung). Ihr ähnlich ist die Umschreibung der in der vorigen Anekdote identifizierten Personen, etwa der Dioskuren als duos iuvenes excellentis formae (1,8,1b, mit expliziter Handlungsparallele: Item bello Macedonico […]). Vergleichbare Mittel – Vokabelwiederholung und Synonymgebrauch – überwiegen bei den Kollektivpersonen. Stärkere Anknüpfung bewirkt ein mit der Namenswiederholung verbundenes ‚auch‘ (z. B. 1,8,1c: Castorem vero et Pollucem etiam illo tempore; nur ausnahms658
659 660
Für den Senat und das römische Volk erkennt dies schon Schmied, S. 47, die zusätzlich auch die unten als Punkt e separat behandelten genealogischen Verknüpfungen (zu unterscheiden von kollektiver Zusammenfassung einer Familie wie in 4,4,9!) unter das Verknüpfungsmittel ‚Person‘ subsumiert. Siehe zu dieser Anekdote oben Punkt a. Zu einer möglichen zweiten Namenswiederholung in dieser Anekdote, die die Hauptperson selbst beträfe, siehe oben Fn. 657.
Übergangstechnik
239
weise, so in 6,6,5, knüpft etiam über die letzte Anekdote hinweg an die vorletzte an), ebenso der relative Anschluss (z. B. 1,1,1c: Cuius cum in urbe pulcherrimum templum haberent, oder 1,1, ext. 1: Quae […] se ipsa potenter atque efficaciter defendit) und Demonstrativpronomina wie ille und is (z. B. 3,7,1c: illius und 3,7,1e: eius), die anaphorisch auf die Nennung der Person in der letzten Anekdote verweisen. Besonders betont wird die Gleichheit durch idem, das auch deutlich häufiger begegnet als die zuletzt genannten Pronomina – alleinstehend als Subjekt am Satzanfang (2,2,4b, 2,2,9b, 3,1,2b, 3,5,1b, 3,7,10b und öfter) oder in anderen Kasus und Positionen (z. B. 1,6, ext. 1b: Eidem, 2,10,8: Eodem, 3,7,1g: Non fatigabor eiusdem facta identidem referendo) sowie attributiv mit Namen oder Substantiva (z. B. 2,10,2b: Ad eundem Africanum, 3,2,6b: Idem Scipio Aemilianus, 1,8, ext. 9: Eodem oraculo, 3,2,23a: eiusdem imperatoris centurio, 3,2,2: adversus eundem hostem, 3,2,4: eidem deo). Es ist überdies derjenige Ausdruck der Personengleichheit, der am ehesten als alleiniges Verknüpfungsmittel gebraucht wird. Insgesamt findet man die Anknüpfung durch Personengleichheit in ungefähr 11% der Anekdoten, was sie zum zweithäufigsten Verknüpfungsmittel (nach zwei Arten der inhaltlichen Ähnlichkeit) macht.661 Sie gehört auch zu denjenigen Verknüpfungsarten, die relativ oft gruppiert auftreten: sechsmal folgen drei oder mehr Anknüpfungen durch Personengleichheit unmittelbar aufeinander (je einmal in De institutis antiquis und De disciplina militari: 2,1,3–6 und 2,7,15b–15f, viermal in Kapiteln über persönliche Eigenschaften: 3,7,1b–1g, 5,1,1b–1f, 6,2,6–8, 7,2, ext. 1b–ext. 1d).662 1.c
Vorgeschichte
Ein früherer Vorfall kann als Vorgeschichte einer Person oder Sache (die darin mitunter bloß marginal ist, so z. B. in Ov. met. 14,514–516 die Höhle, in der einst die Nymphen lebten, denen die Geschichte widerfuhr) oder als ‚Illustration einer die betreffende Person oder Sache kennzeichnenden Eigenart‘, mit oder ohne Konnektor (z. B. nam) oder Gegenüberstellung von Vorher und Nachher (z. B. nunc – ante – nam), eingeschaltet werden.663
661
662
663
Angesichts der generellen Häufigkeit ist auffällig, dass die Personengleichheit in mehr als der Hälfte der Kapitel überhaupt nicht vorkommt (49 von 89: 2,4–6, 2,8, 3,3–4, 3,6, 3,8, 4,2, 4,5–7, 5,3–10, 6,1, 6,3, 6,7–9, 7,1, 7,4, 7,7–8, 8,2–6, 8,8–14, 9,1, 9,4, 9,6, 9,8– 14), was allerdings ein zufälliges Ergebnis des jeweiligen Quellenmaterials sein dürfte, denn die genannten Kapitel sind ein Querschnitt durch alle Arten von jemen. Übertroffen wird diese Zahl nur von den Ähnlichkeiten in jema und Handlung (unten Punkt m) in der Variante (3a) mit neun Stellen – es folgen (1a) mit fünf Stellen und die Ortsgleichheit (unten Punkt g) mit drei. Schmidt: Uebergangstechnik, S. 54–58.
240
Die Kapitel
Dies trifft bei Valerius Maximus auf rund 2% der Anekdoten zu. Teils handelt es sich um ein Stück ‚Vorgeschichte‘ der das Kapitelthema bildenden Tugend in Gestalt eines früheren Beispielfalls (1,1,1b, als Übergang von den in 1,1,1a im Präsens mitgeteilten noch gegenwärtig anhaltenden Bräuchen zu einzelnen Vorfällen aus der Vergangenheit: Tantum autem studium antiquis […] fuit ut […]; 3,2,7: Magnum inter haec fortitudinis exemplum antiquitas offert; 8,7, ext. 2: Atque ut ad vetustiorem Industriae actum transgrediar), öfter aber um eine Anknüpfung an konkrete Inhalte der vorangehenden Anekdote. So wird etwa eine dort angesprochene Sache auf ihren Anfang zurückgeführt (2,4,2, nach einer Allgemeinaussage664 über die unerfreulichen Effekte der theatra: Quae incohata quidem sunt a Messalla et Cassio censoribus. ceterum auctore P. Scipione Nasica […]; 2,4,4: Nunc causam instituendorum ludorum ab origine sua repetam) oder die den Schauplatz bildende Stadt auf ihre Frühzeit (2,6,7c: Ceterum a condita urbe [scil. Massilia], worauf ein seit damals bestehender Brauch folgt; in 2,4,3 sind mit der Angabe Per quingentos autem et quinquaginta et octo annos unmissverständlich die ersten 558 Jahre Roms gemeint). Auch die Genealogie665 erlaubt zeitliche Rückschritte (1,7, ext. 7: Tutioris somni mater eiusdem Dionysii; 3,2,16: Felicior progenie sua superior Cato, a quo Porciae familiae principia manarunt; 6,4, ext. 4: apud patrem eius; 9,14,2: Quod quidem fortuitum ludibrium quasi hereditarium ad eum penetravit: nam pater quoque eius […]). Auffällig ist dagegen das fast völlige Fehlen der persönlichen Vorgeschichte als Verknüpfungsmittel.666 Nur in 1,1, ext. 1 scheint die ‚biographische‘ Chronologie mit einem – vereinzelten – Plusquamperfekt angedeutet (es geht um die Göttin Proserpina: Quae, quod ad Pleminii facinus pertinuit, bene a patribus conscriptis vindicata, quod ad violentas regis Pyrrhi sordes attinuerat, se ipsa potenter atque efficaciter defendit), und in 8,9, ext. 2 erfolgt immerhin die Überleitung zu der wohl den Höhepunkt der Anekdote ausmachenden Analepse über das Lebensalter (fertur quidam, cum […] primae contioni Periclis adulescentuli interesset […]). Gelegentlich ist die Beziehung der angeknüpften Anekdote zur vorigen aitiologisch (2,6,8: Quam consuetudinem Massiliensium non in Gallia ortam sed ex Graecia translatam inde estimo, womit die dann erzählte Anekdote aus der Gegenwart zu einer virtuellen Vorgeschichte wird; 9,14,2 durch die Behauptung einer Vererbung). Ein Sonderfall der Aitiologie ist der die handelnden Personen beeinflussende Präzedenzfall (2,7,15b: Succurrebat enim illis quam animosa seve664
665 666
Man könnte diese (d. h. die ganze Anekdote 2,4,1) auch als Praefatio auffassen – dass sie in den Editionen nicht als solche erscheint, dürfte der Analogie mit 2,2 und 2,3–6 geschuldet sein, die das in 2,1 begonnene jema De institutis antiquis ansonsten nahtlos fortsetzen. Zur Genealogie als Verknüpfungsmittel siehe auch unten Punkt e. Mehrere aufeinanderfolgende Anekdoten zur selben Person bleiben in ihrem zeitlichen Verhältnis meist unbestimmt. Es gibt aber auch Fälle von Gleichzeitigkeit (2,1,10; 2,9,6b; 3,1,2b; 3,2,2; 9,15, ext. 1) und zeitlicher Abfolge (3,2,23a; 3,7,1b; 3,7,1d; 3,7,10b; 5,1, ext. 4; 7,4,4).
Übergangstechnik
241
ritate […] maiores […]; 8,14, ext. 1, wenngleich kontrafaktisch: Sed melius […] remistoclis ardorem esset aemulatus); hierher gehört auch die Anekdote über Caesar in 1,7,2,667 die durch die Einkleidung des Präzedenzfalls als Sekundärerzählung gleich doppelt analeptisch ist (einmal durch das Plusquamperfekt audiverat, dann durch die indirekte Rede im Infinitiv Perfekt). 1.d
Abwesenheit oder Abweichung
Die vorangehende Erzählung mündet bei Ovid manchmal in eine Versammlung, wobei der Erzähler auf die Abwesenheit einer bestimmten Person hinweist und deren Geschichte erzählt, die meist entweder die Abwesenheit begründet oder der Person dort widerfährt, wo sie stattdessen ist. Es kann sich aber auch um eine ‚Abwesenheit‘ im übertragenen Sinn (Abweichung von einem Konsens) handeln, z. B. wenn gesagt wird, dass alle die göttliche Abstammung des Bacchus anerkennen außer Acrisius. Und das Ziel der Überleitung muss nicht immer der Abwesende selbst sein, wie dasselbe Beispiel zeigt, das vollständig lautet: Cadmus und Harmonia finden Trost in ihrem Enkel Bacchus, dessen göttliche Abstammung leugnet einzig Acrisius, der sie auch dem Perseus abspricht (dem Abwesenheitsmotiv wird also eine genealogische Verknüpfung vor- und eine Parallelität nachgeschaltet).668 Dieses originelle Verknüpfungsmittel konnte bei Valerius Maximus nicht festgestellt werden. 1.e
Genealogie
Zwischen den Personen zweier Erzählungen können genealogische Bezüge hergestellt werden, auch in mehreren Schritten (z. B. Ov. met. 10,297–298: illa Paphon genuit, de qua tenet insula nomen. / Editus hac ille est […]).669 Auf diese Weise werden bei Valerius Maximus rund 3% der Anekdoten angeknüpft, wobei es teils um näher bezeichnete Verwandtschaftsbeziehungen geht, teils vager um die Zugehörigkeit zur selben Familie (mit einer gewissen Dominanz der Scipionen). Im ersten Fall erfolgt die Anknüpfung meist entweder in Form eines relativen Anschlusses (z. B. in 3,1,3, anknüpfend an den in der vorigen Anekdote als Gegner vorkommenden Sulla: Cuius filium Faustum […] in schola proscriptionem paternam laudantem 670 ) oder verbunden mit einer vergleichenden Verknüpfung im 667 668 669 670
Siehe schon oben Punkt a. Schmidt: Uebergangstechnik, S. 64–67. Ebd., S. 94. Von Schmied, S. 47, dem Verknüpfungsmittel ‚Person‘ zugeordnet. Weitere Fälle: 3,2,15: Cuius filia minime muliebris animi; 8,7,2: Cuius mirifica proles, propior aetati nostrae Cato; 8,11, ext. 4: Cuius coniugem [scil. des Vulcanus, um des-
242
Die Kapitel
weitesten Sinn – gleichsetzend oder gegensätzlich (z. B. in 1,1,19: Nec minus efficax ultor contemptae religionis filius quoque eius Aesculapius oder in 1,1, ext. 9: Tutioris somni mater eiusdem Dionysii 671 ). Je einmal dient der Verwandte als Zeuge der vorigen Anekdote (Schlusssatz der Laelius-Anekdote 8,8,1: idque se P. Crassus ex socero suo Scaevola, qui gener Laelii fuit, audisse saepenumero praedicavit, dann 8,8,2: Scaevola autem) und als potentiell tröstender Parallelfall (5,3,2c: Talia passo, credo, quae fratri eius [des älteren Scipio Africanus] accidere solacio esse potuerunt). Einmal wird rein extradiegetisch angeknüpft (7,6,6: Atque ut divi iam filii [= Augustus] mentionem caelesti patris recordationi subnectam). Bei bloßer Betonung der gemeinsamen Familienzugehörigkeit ist die rein extradiegetische Form häufiger (z. B. in 3,7,3: In quamcumque memorabilium partem exemplorum convertor, velim nolimve, in cognomine Scipionum haeream necesse est: qui enim licet hoc loci Nasicam praeterire 672 ). Daneben findet man Vergleiche (z. B. in 5,3,2e: Quis ignorat tantum laudis Scipionem Nasicam toga quantum armis utrumque Africanum meruisse 673 ) und Namenswiederholungen mit differenzierenden Angaben wie Vor- und Beinamen und chronologischen Attributen oder expliziter Bezugnahme auf Namensgleichheit und Verwandtschaft (z. B. in 2,7,13, nach dem älteren Scipio Africanus: Nam posterior Africanus674).
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sen Statue es in der vorigen Anekdote ging] Praxiteles in marmore quasi spirantem […]. Weitere Fälle: 1,8, ext. 10: Quae tam pertinax necessitas in patre filio Alexandro consimilis apparuit; 2,10,4: Ne filii quidem tui Scipionis Aemiliani […] maiestati parum honoris tributum est; 3,2,16: Felicior progenie sua superior Cato, a quo Porciae familiae principia manarunt; 3,7,2: Aviti spiritus egregius successor Scipio Aemilianus; 5,3,2d: Nihilo virtute posterior Africanus avo minor; 5,6,6: Unicum talis imperatoris specimen esset [scil. Decius Mus], nisi animo suo respondentem filium genuisset; 6,4, ext. 4: Atque haec quidem [betreffend Alexander] et animi magnifici et prosperi status: illa vero, qua legati Lacedaemoniorum apud patrem eius […]; 9,3, ext. 3, nach quattuor enim puerilis aetatis filios in der vorigen Anekdote: E quibus Hannibal mature adeo patris vestigiis subsecutus est; 9,14,2: Quod quidem fortuitum ludibrium quasi hereditarium ad eum penetravit: nam pater quoque eius […]). Weitere Fälle: 5,3,2f: In eodem nomine versor necdum Corneliae gentis querellas exhausi: namque P. Lentulus […]; 6,4, ext. 1, nach M. Brutus: Cuius mentio mihi subicit quod adversus D. Brutum in Hispanis graviter dictum est referre; 8,15,4, nach Scipio Nasica: Tradunt subinde nobis ornamenta sua Scipiones commemoranda: Aemilianum enim […]. Weitere Fälle: 4,7,2: In eadem domo [nämlich den Gracchen – es handelt sich um den Übergang vom einen Bruder zum anderen] aeque robusta constantis amicitiae exempla oboriuntur; 4,6,3: Eiusdem ut nominis ita amoris quoque M. Plautius; 6,4,1b: Par illius quoque Manlii gravitas. Weitere Fälle: 3,6,2 nach einer Anekdote über P. Scipio: L. vero Scipionis; 4,1,13, nach einer Ankündigung von duo Metelli, Macedonicus et Numidicus am Anfang der vorigen Anekdote: Numidius autem Metellus; 4,3,12: posterior Cato; 4,4,6: Eiusdem nominis et sanguinis Atilius Regulus.
Übergangstechnik
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Eine Verwandtschaft im übertragenen Sinn – ein Mensch als ‚Abkömmling‘ einer Stadt – dient in 1,8,8 als Anknüpfung: Facta mentione urbis e qua primordia civitas nostra traxit [scil. von Alba Longa], divus Iulius, fausta proles eius, se nobis offert. 1.f
Sonstige Beziehungen zwischen Personen
Auch anders geartete Beziehungen und Gemeinsamkeiten zweier Personen können herangezogen werden, etwa im Fall von Arachne und Niobe die persönliche Bekanntschaft und gemeinsame Herkunft aus Lydien.675 Dies trifft bei Valerius Maximus auf deutlich unter 2% der Anekdoten zu. Meist werden die Personen über eher äußerliche bis oberflächliche Gemeinsamkeiten miteinander in Verbindung gebracht: Namensgleichheit ohne Verwandtschaft (3,3, ext. 3: Eiusdem nominis philosophus; 7,3, ext. 8: Alter Hannibal = Hannibal Barca, nach einer Anekdote über einen superior Hannibal = Hannibal Gisco), Innehabung desselben Amtes (1,6,9: consulatus collegium […] a Ti. Graccho ad Marcelli memoriam me trahit; 6,5,4: Magnam laudem et illud collegium tribunorum tulit), gleiche Nationalität und gleiches Vergehen (2,7,14: eiusdem generis et culpae homines), gleiches Geschlecht (3,2, ext. 9: Muliebris fortitudinis exemplo aeque fortem duarum puellarum casum adiciam), gemeinsame Zugehörigkeit zu einer von der Nachwelt definierten Gruppe (4,1, ext. 7, nach einer Anekdote über Pittakos, der zu den ‚sieben Weisen‘ zählt: Huius viri mentio subicit ut de septem sapientium moderatione referam), generelles Ansehen (4,4,2: Quantae amplitudinis Menenium Agrippam fuisse arbitremur […]?, nach amplificavit in 4,4,1), die Eigenschaft als Brüderpaare (5,4, ext. 4: Notiora sunt fratrum paria Cleobis et Biton, Amphinomus et Anapius, nach Vos quoque, fratres […] in 5,4, ext. 3) oder als Dichter (9,12, ext. 5: Sicut illi excessus illustrium poetarum et moribus et operibus indignissimi). Deutlich seltener handelt es sich um persönliche Beziehungen im eigentlichen Sinn: die Begegnung der beiden Männer in kriegerischem Kontext (4,1,7, nach einer Hannibal-Anekdote: At M. Marcellus, qui primus et Hannibalem vinci […] posse docuit) und die Eigenschaft als Anführer eines in der vorigen Anekdote auftretenden Kollektivs (9,2, ext. 2: Eorum [scil. der Karthager] dux Hannibal). Nur hypothetisch ist das Lehrer-Schüler-Verhältnis in 4,3,7 (Curii et Fabricii
675
Ov. met. 6,148–150. Schmidt: Uebergangstechnik erwähnt diesen Übergang dreimal, ohne das, worauf es hier ankommt, zu berücksichtigen (S. 24: „allgemein gehaltene, beinahe chronologisch bedingte Überleitung“ innerhalb des thematischen Komplexes ‚Strafe für Hochmut und Verachtung der Götter‘; S. 53: innerhalb einer angedeuteten Erzählsituation; S. 93: zeitliche Abfolge, die Erzählung „geht […], ohne auch nur zu stocken, weiter“).
Die Kapitel
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Q. Tuberonem cognomine Catum discipulum fuisse merito quis existimaverit),676 ebenso die vom Erzähler polemisch vorgeschlagene Adoption in 9,1,2 (Huic nimirum magis Aesopius tragoedus in adoptionem dare filium suum […] debuit). Auch die weiter oben als ‚Personengleichheit‘ angeführte bildliche Präsenz einer Person im Hause einer anderen (8,1, damn. 3: quod Saturnini imaginem domi habuerat) könnte man stattdessen hier einordnen. 1.g
Ortsgleichheit
Beim ‚Prinzip gleichen Lokals‘, d. h. statischer Ortsgleichheit,677 handelt es sich in den Metamorphosen anscheinend eher um ein Mittel der Gruppierung (zu Lokalsagenkomplexen)678 als der Überleitung etwa durch ortsbezogene Konnektoren. Bei Valerius Maximus wird immerhin rund 1% der Anekdoten über die Ortsgleichheit angeknüpft. Dreimal (in 2,6,4–6, 2,6,7b–7e und 5,3, ext. 3b–ext. 3d) folgen mindestens drei solche Anknüpfungen aufeinander, was bei den meisten anderen Verknüpfungsarten gar nicht oder allenfalls einmal vorkommt.679 Fast immer handelt es sich um Städte oder Länder (andere Arten von Orten: curia in 2,2,7, scaenae eiusdem bildlich für ‚dieselbe Kunst‘ in 3,7, ext. 2), entweder als physischer Schauplatz der Geschichte oder – etwa im Fall von Schlachten oder Gesandtschaften – als Herkunftsort der Akteure. Rom, der selbstverständliche Schauplatz der großen Mehrheit der Anekdoten, wird nur selten überhaupt namhaft gemacht und dient daher auch selten als Anknüpfungspunkt. Das häufigste Kohäsionsmittel ist die einfache Wiederholung der Ortsbezeichnung, auch in Form des entsprechenden Demonyms (z. B. in 1,7, ext. 8: At […] Hamilcar, cum obsideret Syracusas, nach zwei Anekdoten von Träumen über Dionysios mit der expliziten Verortung Dionysio Syracusano in 1,7, ext. 6680), der die Aufgreifung durch Synonyme und Umschreibungen an die Seite zu stellen ist (2,6,7c: Ceterum a condita urbe = Massilia; 5,3,2a: civitatis nostrae nach Urbis nostrae in 5,3,1; 7,6,1b: urbem nostram nach iuventute Romana in 7,6,1a). 676
677 678 679
680
Das echte in 8,7, ext. 11 ist ein Fall von Personengleichheit, weil der ‚Unterricht‘ selbst Teil der Handlung ist (diurno Chrysippi praeceptis percipiendis vacantem). Zu Reisebewegungen siehe den nächsten Punkt. Schmidt: Uebergangstechnik, S. 30–34. Die Ausnahmen sind die Varianten (1a) und (3a) der Ähnlichkeit in jema und Handlung (unten Punkt m) und die Personengleichheit (oben Punkt b). Weitere Fälle: 2,2,7: curia; 2,6,6: Age, quid illud institutum Athenarum; 3,2,8: Romanae iuventuti, nach Romani in 3,2,7; 3,4,2: ad Romanum imperium occupandum, nach imperium Romanum rexit in 3,4,1; 3,8, ext. 3: Atheniensium; 4,8,5: Illius vero Romanae liberalitatis; 5,3, ext. 3b–ext. 3d und 5,3, ext. 3f: Atheniensibus, Athenienses, Athenas, Atheniensibus; 5,6, ext. 2: Atheniensium; 6,4, ext. 5: Spartani cuiusdam; 8,7, ext. 3: Aegyptum und Italiam; 8,7, ext. 4: Athenis.
Übergangstechnik
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Stärker wirken anaphorische Pronomina wie idem (z. B. in 1,8, ext. 9: Eodem oraculo = Delphi681) oder eorum (2,6,7d: Duae etiam ante portas eorum arcae, das Demonym Massilienses in 2,6,7a aufgreifend, während dazwischen von civitas und urbs die Rede war; 9,2, ext. 2: Eorum [scil. der Karthager] dux Hannibal) sowie Identität andeutende Adverbien wie quoque oder porro (2,10, ext. 2: Quantum porro […] Athenis; 5,1,1f: Ne […] quidem Romanae humanitatis expers fuit; 5,2,2: Quid illa quoque iuventute Romana gratius; 6,6,2: Speciosa illa quoque Romana fides) und die Gegenüberstellung von Rekapitulation der vorigen und Abstract der neuen Anekdote in einem Satz, der es erlaubt, die Ortsangabe zu jener auch auf diese zu beziehen (3,2, ext. 5: Excellentissimos Spartanae virtutis proventus miserabilis lapsus sequitur). In deutlich weniger Fällen wird die Ortsgleichheit extradiegetisch festgestellt (z. B. in 5,1, ext. 1a, nach Philippi campi in 5,1,11: Commemoratione Romani exempli in Macedoniam deductus, morum Alexandri praeconium facere cogor682). Sonderfälle sind die Ortsgleichheit als Teil einer zweigliedrigen Überleitung (1,1,8: Non mirum igitur si […] nostra civitas […] in qua – die Anekdote wird als ortsgleich mit einer den Übergang bildenden allgemeinen Feststellung eingeführt) und die nachträgliche Verortung der vorangehenden Anekdote im Zuge eines Vergleichs mit der angeknüpften (9,1, ext. 6, die Hauptperson von 9,1, ext. 5, Ptolemaios Physkon, verallgemeinert aufgreifend: Consentaneus igitur regibus suis gentis Aegyptiae populus). 1.h
Bewegung
Jemand reist von einem Ort zu einem anderen und damit von einer Geschichte zur anderen, sei es als Teilnehmer oder als Beobachter oder auch nur als Besucher eines Ortes, zu dem exkursartig eine Vorgeschichte erzählt wird (Ov. met. 14,514– 516: Venulus kommt zu einer Höhle, die früher von Nymphen bewohnt war, denen das Folgende widerfuhr).683 Bei Valerius Maximus findet sich diese Art der Verbindung von Anekdoten nur dreimal. Scipio begibt sich nach Spanien und dann nach Afrika (3,7,1a handelt von
681
682
683
Weitere Fälle: 2,6,2: Eiusdem civitatis = Sparta; 2,6,4 und 2,6,5: Eiusdem urbis und Eadem = Athen; 2,6,7b und 2,6,7e: Eadem civitas und in ea civitate = Massilia; 2,7,11: In eadem provincia; 3,7, ext. 2: Adiciam scaenae eiusdem exemplum; 6,5,1b: Eadem civitas = Falerii. Weitere Fälle: 5,10,3: Uno etiam nunc domestico exemplo adiecto; 7,4,2: Et ne continuo a nostris regibus recedam; auch 1,8, ext. 2: Et quoniam ad externa transgressi sumus, wo die Ortsgleichheit negativ definiert ist, und 2,6,9: Sed ut ad Massiliensium civitatem, unde in hoc deverticulum excessi, revertar, wo über einen aitiologischen Exkurs hinweg die Ortsgleichheit mit einer früheren Anekdote hergestellt wird. Schmidt: Uebergangstechnik, S. 59–63.
Die Kapitel
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Scipios Entschluss, nach Spanien zu gehen – es folgt 3,7,1b: Eademque [scil. fiducia] in ipsa Hispania usus est; 3,7,1c betrifft seinen in Africam transitus – es folgt 3,7,1d: Cui facto par illa fiducia, quod, postquam Africam attigit, […]), und in 2,6,10 wird der Schauplatzwechsel gegenüber 2,6,9 auf ungewöhnlich konkrete, an periegetische Literatur erinnernde Weise684 als physische Bewegung – Durchschreiten eines Stadttors – verbildlicht (Horum moenia egresso vetus ille mos Gallorum occurrit). Im Gegensatz dazu ist die ‚Rückkehr‘ von einem Exkurs in 2,6,9 (Sed ut ad Massiliensium civitatem, unde in hoc deverticulum excessi, revertar) noch rein konventioneller Sprachgebrauch und evoziert beim Leser schwerlich eine räumlich-bildliche Vorstellung. Bei dem Exkurs selbst (2,6,8) handelt es sich um die einzige homodiegetische Anekdote des Werks – über ein Erlebnis des Erzählers auf Keos während einer Reise nach Asien –, und man darf vermuten, dass die Nähe der starken Reisemetapher zur echten Reise kein Zufall ist.685 1.i
Gleichzeitigkeit
Zwei Geschichten werden – etwa mit Konnektoren wie interea, dum, iam oder auch verdoppeltem nuper – als gleichzeitig gekennzeichnet.686 Bei Valerius Maximus geschieht dies in deutlich unter 2% der Anekdoten. Fast immer handelt es sich um historische Perioden oder Momente, nur je einmal um einen habituellen Anlass (2,1,10: in conviviis, nach Invitati ad cenam in 2,1,9) und einen Lebensabschnitt einer Einzelperson (3,1,2b: Idem, cum […] praetextatus […], nach Catonis pueritiae in 3,1,2a). Als Kohäsionsmittel ist idem am häufigsten (z. B. in 1,1,11: Eadem rei publicae tempestate687), daneben findet man ille (7,6,3: In illa obsidione), den relativen Anschluss (9,12,5: Qua tempestate rei publicae), quoque und etiam in Verbindung mit einem auf die Zeit verweisenden Substantiv (2,1,8: Convivium etiam sollemne maiores instituerunt; 7,4,3: Illud quoque maioribus, wobei unter dem vagen Stichwort maiores Königszeit und Galliereinfall zusammengezogen werden), die Wiederaufnahme in der vorigen Anekdote gebrauchter Anlass- und Zeitbezeichnungen 684
685
686 687
Vgl. Paus. 1,1,1: καὶ λιμήν τε παραπλεύσαντι τὴν ἄκραν ἐστὶ καὶ ναὸς Ἀθηνᾶς […] Πλέοντι δὲ ἐς τὸ πρόσω Λαύριόν τέ ἐστιν, 1,2,1: Ἐσελθόντων δὲ ἐς τὴν πόλιν ἐστὶν Ἀντιόπης μνῆμα […] und ungezählte ähnliche Stellen. Honstetter, S. 55, verwendet die Reisemetapher als Argument für seine Lektüre des ganzen Kapitels als „Reise aus der Kulturwelt in exotisch-barbarische Länder“. Vgl. dazu aber unten S. 272f. Schmidt: Uebergangstechnik, S. 77–80. Weitere Fälle: 3,2,2: Immemorem me propositi mei Cloelia facit paene eadem tempestate […] ausa facinus; 3,2,11: Eiusdem temporis […] miles qui […]; 4,8,2: Itaque eiusdem temporis femina; 7,6,1c: Propter eandem cladem; 9,15, ext. 1: Eodem praeside rei publicae, nach Caesariana aequitas in 9,15,5.
Übergangstechnik
247
durch Synonyme (2,1,10 und 3,1,2b), das Aufgreifen einer Person aus der vorigen Anekdote unter Zuschreibung einer Handlung, die nur in der dort eingeführten Situation denkbar ist (2,9,6b, nach einer Anekdote über Entscheidungen während der gemeinsamen Zensur von Claudius Nero und Livius Salinator: Salinator vero quattuor atque triginta tribus inter aerarios referre non dubitavit, cum se damnassent, postea consulem et censorem fecissent) sowie auch einen Fall von extradiegetischer Feststellung der Gleichzeitigkeit (7,4,2: Et ne continuo a nostris regibus recedam, wo es freilich nur um die Königszeit als historische Phase, nicht um exakte Gleichzeitigkeit geht – die Anekdoten betreffen zwei verschiedene Könige). 1.j
Zeitliche Abfolge
Die zeitliche Abfolge kann mit Zeitpartikeln wie tum, inde, ubi, postquam, tum vero oder tandem kenntlich gemacht werden, versteht sich mitunter aber auch von selbst.688 Bei Valerius Maximus ergibt sich die zeitliche Abfolge, die als Verknüpfungsmittel in rund 3% der Anekdoten vorkommt, oft als Nebenaspekt einer Verknüpfung durch Genealogie (1,8,8, 1,8, ext. 10, 4,3,12; siehe oben Punkt e), das Reisemotiv (3,7,1b und 3,7,1d; siehe oben Punkt h) oder das Motiv der Nachahmung (2,7,2, 3,3, ext. 4, 4,2,5, 4,3,7, 5,2,9, 5,4,4, 5,8,2, 6,1,12, 6,3,4 und 6,6,4) oder sonstiger kausaler Folge (5,1, ext. 4; siehe unten Punkt k). In den übrigen Fällen – sowie zusätzlich in manchen der bereits genannten – wird sie durch direkte chronologische Angaben (z. B. in 3,7,10b: Idem post aliquot annos689) oder Wörter wie sequi ausgedrückt, wobei bei diesen nicht immer klar ist, ob sie zeitlich oder bloß textlich zu verstehen sind. Zu den eindeutigen Fällen gehören die Perfekta in 2,4,6 (Religionem ludorum crescentibus opibus secuta lautitia est) und 3,2,23a (Classicam Acilii gloriam terrestri laude M. Caesius Scaeva […] subsecutus est), aber auch manche Präsensformen (5,2,9: C. Marii vestigia ubique L. Sulla certamine laudis subsequitur; 5,6,4: Genucius laudis huius, qua maior vix cogitari potest, successionem tradit Aelio praetori), während bei anderen die zeitliche Interpretation naheliegt, ohne alternativlos zu sein (z. B. in 1,6,7: Flaminii autem praecipitem audaciam C. Hostilius Mancinus vesana perseverantia subsequitur690). 688 689
690
Schmidt: Uebergangstechnik, S. 93f. Weitere Fälle: 4,3,12: spatio annorum; 5,1, ext. 4: ultimo fati sui tempore; 5,5,3: Hoc exemplo vetustas, illo saeculum nostrum ornatum est; 6,3,7: Consimili severitate senatus postea usus; 7,4,4: Idem Iuppiter postea; 9,1,4 für 9,1,5: atqui incohatam a se lautitiam posteris relinquere […] maluerunt. Weitere Fälle: 3,2, ext. 5: Excellentissimos Spartanae virtutis proventus miserabilis lapsus sequitur; 6,9, ext. 7: Sequitur hunc Syphax rex. Hiervon zu unterscheiden sind Formulierungen wie quod sequitur, die sich eindeutig auf die Anekdote als solche beziehen.
Die Kapitel
248 1.k
Kausale Folge
Eine Geschichte wird als von der vorigen kausal abhängig, als deren Folge oder als Reaktion auf sie dargestellt, sei es durch explizite Kausalsätze (Pygmalion bleibt ledig unter dem Eindruck der Propoetiden-Geschichte: Quas quia Pygmalion […] / uiderat […]),691 andere die Kausalität ausdrückende Begriffe (admonitus)692 oder sie implizierende Rekapitulationen (Cadmus weiß nicht, dass Ino und Melicertes jetzt Meeresgötter sind, und irrt verzweifelt umher).693 Bei Valerius Maximus geschieht dies in rund 2% der Anekdoten. Meist geht die kausale Folge mit einer zeitlichen Verknüpfung einher, einmal als Belohnung früheren Handelns (5,1, ext. 4: Cuius tam mitis ingenii debitum fructum ultimo fati sui tempore cepit), zumeist aber als Nachahmung einer Handlung oder Person durch eine andere (z. B. in 2,7,2: Eius sectam Metellus secutus, cum694). Nicht um tatsächliche Nachahmung, aber um einen naheliegenden Anschein handelt es sich in 4,3,7 (Curii et Fabricii Q. Tuberonem cognomine Catum discipulum fuisse merito quis existimaverit). Eine Nachahmung im weitesten Sinn liegt auch in 9,1,5 vor, wo der Luxus des Metellus Pius als Weiterentwicklung des von der älteren Generation begonnenen dargestellt wird.695 Es gibt aber auch Fälle, in denen nicht die eine Haupthandlung aus der anderen folgt, sondern die Kausalität an andere Punkte anknüpft oder Teil eines mehrgliedrigen Übergangs ist. So erfolgt in 1,1,8 (Non mirum igitur si pro eo imperio augendo custodiendoque pertinax deorum indulgentia semper excubuit […] quia numquam remotos ab exactissimo cultu caerimoniarum oculos habuisse nostra civitas existimanda est. in qua […]) die Überleitung zur neuen Anekdote auf dem Umweg über die göttliche Gnade, die als Folge der in den vorangehenden Anekdoten demonstrierten – und hier noch einmal im Kausalsatz festgestellten – 691 692
693
694
695
Schmidt: Uebergangstechnik, S. 26 und 94. Das Beispiel ist Ov. met. 10,243–244. Ov. met. 7,294–296 (Viderat ex alto tanti miracula monstri / Liber et admonitus iuuenes nutricibus annos / posse suis reddi capit hoc a Colchide munus). Bei Schmidt: Uebergangstechnik, S. 80, wird die Stelle nur – aber immerhin zu Recht – unter den Parallelen genannt. Ebd., S. 93 (eingeordnet als ‚zeitlich folgend oder sich […] als notwendige Folge ergebend‘). Auch im zuletzt genannten Beispiel liegt natürlich eine solche Rekapitulation vor. Weitere Fälle: 3,3, ext. 4: Talis patientiae aemulus Anaxarchus; 4,2,5: Ciceronis factum autem adeo visum est probabile ut imitari id ne inimicissimus quidem illi P. Pulcher dubitaverit; 5,2,9: C. Marii vestigia ubique L. Sulla certamine laudis subsequitur; 5,4,4: Hanc pietatem aemulatus, 5,8,2: Huius aemulatus exemplum; 6,1,12: Hoc movit C. Marius imperatorem; 6,3,4: Id factum imitatus; 6,6,4: Cuius exemplum superior Africanus secutus. 9,1,4: atqui incohatam a se lautitiam posteris relinquere quam a maioribus acceptam continentiam retinere maluerunt, 9,1,5: Quid enim sibi voluit princeps suorum temporum Metellus Pius […]?; er ist noch Zeitgenosse, aber eine Generation jünger als die Hauptpersonen von 9,1,4.
Übergangstechnik
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Religiosität Roms erscheint, woran die Anekdote selbst als ortsgleich angeknüpft wird. Vier Anekdoten werden aus einer die vorige Anekdote abschließenden Verallgemeinerung abgeleitet (z. B. 2,2,1a: numquam enim taciturnitatem […] labefactari volebant, darauf 2,2,1b: Ergo […]696) und eine weitere aus Entscheidungen, die in der vorigen Anekdote analeptisch erwähnt oder vorausgesetzt werden (2,9,6b: cum se damnassent, postea consulem et censorem fecissent, nach einer Anekdote über die Ausübung der Zensur, die die Analepse quia populi iudicio damnatus esset enthält). 1.l
Ausbleiben einer Reaktion
Auch das Ausbleiben einer Reaktion kann verwendet werden (Ov. met. 6,150: Niobe hat aus der Verwandlung der Arachne nichts gelernt).697 Valerius Maximus tut dies in der umgekehrten Richtung – das verschmähte Vorbild nachschiebend – in 8,14, ext. 1: Sed melius aliquanto, si aliena imitatione capiebatur, remistoclis ardorem esset aemulatus. 1.m
Ähnlichkeiten in [ema und Handlung
Die Gemeinsamkeit eines ‚Leitgedankens‘ (d. h. eines zentralen Motivs) kann entweder als rein innerer Zusammenhang zu diagnostizieren sein – dann ist sie für uns hier nicht relevant – oder auf die eine oder andere Weise im Text realisiert werden, etwa durch vergleichende Konnektoren (z. B. quoque, non secus, ut, sic) und/oder Fragen (quid? non et […]?) oder auch durch ad hoc eingeschaltete Erzählsituationen (als jemand einmal diese – die eben abgeschlossene – Geschichte erzählte, fühlte sich ein anderer dadurch an die folgende erinnert).698 Punktuelle Handlungsparallelen scheinen bei Ovid seltener mit vergleichenden Konnektoren angeknüpft zu werden, dafür aber auch auf Umwegen wie z. B. einer Frage nach 696
697
698
Weitere Fälle: 4,4,9: nihil eorum quae virtuti debentur emere pecunia licebat, inopiaeque illustrium virorum publice succurrebatur, darauf 4,4,10: Itaque […]; 4,7, ext. 2a: Quod ita esse rex Alexander sensit; 8,8, ext. 1: Idque vidit […] Socrates. Nicht bei Schmidt: Uebergangstechnik (vgl. oben Fn. 675). Auch die ebd., S. 80, bei den Parallelen eingeordnete Versteinerung des Polydectes durch Perseus gehört hierher (Ov. met. 5,242–244: Te tamen […] / nec iuuenis uirtus per tot spectata labores / nec mala mollierant; die Parallelität mit den anderen Versteinerungen ist nur ein innerer Zusammenhang, angeknüpft wird vielmehr an die erzählten Perseusabenteuer insgesamt durch die Bezugnahme auf tot labores und mala). Schmidt: Uebergangstechnik, S. 23–29. Auch einer der ebd., S. 84, als ‚Anknüpfung an einen Begriff‘ angeführten Fälle gehört hierher (Ov. met. 4,169–170: hunc quoque […] / cepit amor; angeknüpft wird nicht an einen bloßen ‚Begriff‘, sondern an ein zentrales Handlungsmotiv).
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Die Kapitel
ihrem Grund (Ov. met. 5,548–553: uixque mouet natas per inertia bracchia pennas; / foedaque fit uolucris […] / […] / Hic tamen indicio poenam linguaque uideri / commeruisse potest; uobis, Acheloides, unde / pluma pedesque auium […]?).699 Diese Gruppe von Verknüpfungen ist bei Valerius Maximus mit großem Abstand die beliebteste – man findet sie in rund 72% aller Anekdoten (auffällig selten ist sie mit rund 20% im thematisch vielseitigen Kapitelkomplex 2,1–6: De institutis antiquis). Sowohl der sprachlichen Form wie dem Gegenstand und Umfang der Gleichsetzung nach fächert sie sich so mannigfach auf, dass dem Phänomen hier kaum Genüge getan werden kann. Ich begnüge mich mit einer Einteilung in sieben einigermaßen klar definierbare Spielarten, zwei davon (mit den Buchstaben a und b) unterteilt nach ihrer Anwendung auf Leitgedanken oder Detailparallelen; die dazu gegebenen Beispiele dienen der Illustration und beanspruchen nicht, die Möglichkeiten der sprachlichen Umsetzung vollständig darzustellen. Grundlegende inhaltliche Gemeinsamkeiten sind bei Valerius Maximus natürlich schon durch die thematische Kapiteleinteilung stets gegeben (wenngleich nicht immer – worauf es hier ankommt – explizit ausgedrückt). Für das Folgende wurde die Entscheidung getroffen, die Kapitelthemen auch dann unter die Leitgedanken zu rechnen, wenn sie nicht generelle Ideen, sondern ganz konkrete Handlungsmuster sind; ebenso inkludiert werden Ideen, die mit der Kapiteldefinition mehr oder weniger gleichbedeutend sind oder wichtige Aspekte derselben abbilden (z. B. obsequium oder oboedientia im Kapitel De religione), sowie typologische Unterteilungen des Kapitelthemas (z. B. Religionsfrevel und deren Bestrafung in De religione700). Alle übrigen Übereinstimmungen der Handlung (z. B. ein guter oder schlechter Ausgang des thementypischen Ereignisses) lassen sich als akzidentiell auffassen und machen die Kategorie der Detailparallelen aus. (1a) Das schwächste hier zu behandelnde Kohäsionsmittel besteht in der bloßen Subsumption der Anekdote unter den mit den umgebenden Anekdoten geteilten Leitgedanken durch explizite Benennung, aber ohne Ausdrücke der Gleichsetzung (z. B. in 1,1,11: C. Fabius Dorsuo memorabile exemplum servatae religionis dedit701). Man findet es in rund 14% der Anekdoten, allerdings kaum als alleiniges Verknüpfungsmittel: bei den Mitteln, mit denen es kombiniert wird, handelt es sich oft bloß um aussageschwache Konnektoren wie autem (zu solchen ‚mechanischen‘ Verknüpfungen vgl. auch unten Punkt r), in fast der Hälfte der Fälle zusätzlich oder stattdessen um beliebige andere nicht den Leitgedanken betreffende
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700 701
Ebd., S. 80f. und 85. Von den dortigen Beispielen ist die Versteinerung des Polydectes auszuschließen (vgl. oben Fn. 697), nicht aber die Verjüngung der Ammen des Bacchus (oben Fn. 692), die gleichzeitig als Reaktion und als Parallele (durch admonitus usw.) gekennzeichnet wird. In diesem Fall sogar mit einer eigenen Zwischenüberschrift: De neglecta religione. Weitere Beispiele: 1,1,20: Q. autem Fulvius Flaccus impune non tulit, quod […]; 1,5,5: C. autem Mario observatio ominis […]; 1,6,6: […] nihilque eo prodigio inhibitus […]; 1,7, ext. 3: […] cuius salutarem inter quietem admonitionem […].
Übergangstechnik
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Verknüpfungen. An fünf Stellen folgen mindestens drei Verknüpfungen dieser Kategorie aufeinander (6,1,5–7; 7,5,3–5; 8,6,2–4; 8,7, ext. 2–ext. 5; 9,5,4–ext. 2). (1b) Viel seltener – in weniger als 1% der Anekdoten – geschieht dasselbe mit inhaltlichen Detailparallelen (z. B. der Flucht in 1,5,6: Pompeius vero […] fuga quaerens salutem, nach Sullae victricia effugit am Ende von 1,5,5). (2) In rund 3% der Anekdoten findet man die zugleich explizite und generelle Gleichsetzung der Anekdoten ohne die unter (4) bis (7) zu besprechenden Aspekte und ohne Benennung oder anaphorische Aufgreifung des Leitgedankens (z. B. in 1,1,4: Consimili ratione […]702). (3a) Die mit Abstand häufigste Art der Verknüpfung bei Valerius Maximus – in rund 22% aller Anekdoten zu finden und in rund 14% das alleinige Verknüpfungsmittel – ist die Verbindung der unter (1a) und (2) besprochenen: Benennung und explizite Gleichsetzung des Leitgedankens (z. B. in 1,1,12: Magna conservandae religionis etiam P. Cornelio Baebio Tamphilo […] acta cura est703). An neun Stellen folgen drei oder mehr Verknüpfungen dieser Kategorie aufeinander (1,1,17– 19; 3,2,12–14; 3,7,1b–1d; 4,2,2–4; 4,6,2–5; 5,1,7–9; 7,3, ext. 5–ext. 7; 7,4,3–5; 8,15,2–6). Die Gleichsetzung kann darin bestehen, dass der Erzähler sich durch die eine Geschichte an die andere erinnert fühlt (z. B. 5,1,9: Haec L. Paulli humanitas admonet me ne de Cn. Pompeii clementia taceam; 6,4, ext. 1: Cuius mentio mihi subicit quod adversus D. Brutum in Hispania graviter dictum est) oder denselben Vergleich benutzt (8,15,1: imaginem in cella Iovis Optimi Maximi positam habet […] unique illi instar atrii Capitolium est, darauf 8,15,2: Tam hercule quam curia superiori Catoni, cuius effigies […]), oder auch nur vorgegeben werden, während in Wirklichkeit eine Variation des Leitgedankens vorliegt (8,9,3: Divus quoque Iulius […] vim facundiae proprie expressit dicendo, statt wirkungsvoller Reden nun eine Aussage darüber). Auf den Leitgedanken bezogene relative Anschlüsse (z. B. 1,1, ext. 4: In quam, nach vindictam und divina ira am Ende von 1,1, ext. 3) vereinigen Gleichsetzung und Nennung in einem Ausdruck. (3b) In rund 5% der Anekdoten werden inhaltliche Details explizit gleichgesetzt, wobei sie notwendigerweise zumindest grob benannt werden (z. B. in 1,1,5: 702
703
Weitere Beispiele: 1,5, ext. 1: Adici […] duo eiusdem generis exempla […] possunt; 2,7,8: Eiusdem ordinis quod sequitur; am Anfang von 9,12, ext. 9 für 9,12, ext. 10 vorweggenommen: Iungam illos quos et propositum et exitus pares fecit; auch die schlichte Anknüpfung mit gleichsetzenden Konnektoren wie etiam gehört hierher, z. B. in 1,6,12: Cn. etiam Pompeium […], 2,1,8: Convivium etiam sollemne […], 2,9,3: Sicut Porcius Cato […]. Weitere Beispiele: 1,1,17: Hercules quoque detractae religionis suae […] poenam exigisse traditur; 1,1,21: Tam me hercule quam Pleminii […] avaritiam […] vindicavit; 1,8,9: Iam quod […] miraculum est; 2,7,10: Nec minus Pisone acriter Q. Metellus; 3,1,2a: Hic spiritus ne M. quidem Catonis pueritiae defuit; 3,2,5: Ne M. quidem Marcelli memoriam ab his exemplis separare debemus, in quo tantus vigor animi fuit; 3,2,6a: Eodem et virtutis et pugnae genere usi sunt […]; 3,2,9: Strenuus ille quoque flos ordinis equestris, cuius mira virtute Fabius Maximus Rullianus […].
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Die Kapitel
At Sulpicio inter sacrificandum e capite apex prolapsus idem sacerdotium abstulit704). (4) An die Stelle der Gleichsetzung kann eine Hierarchisierung – durch expliziten Vergleich oder einen (oft exklamatorischen) Verweis auf die besondere Qualität der zu erzählenden Anekdote – treten (z. B. in 1,1,1b: Tantum autem studium antiquis non solum servandae sed etiam amplificandae religionis fuit ut […]705). Mit rund 10% der Anekdoten gehört auch dies zu den häufigsten Verknüpfungsmitteln. Das hierarchische Verhältnis ist dabei in der Regel das einer Steigerung oder zumindest Bejahung von Intensität und Relevanz. Die Anknüpfung einer eingestandenermaßen schwächeren Anekdote ist eher selten (z. B. 3,2,4: Ab Romulo proximus706). Anknüpfende Hierarchisierungen scheinen sich zudem konsequent auf Leitgedanken (im oben definierten weiten Sinn) und nie auf bloße Details zu beziehen. (5) In rund 9% aller Anekdoten findet ein expliziter Übergang zu einem anderen Personenkreis bei gleichbleibendem Leitgedanken statt (z. B. in 1,1,10: Quod animi iudicium in privatorum quoque pectoribus versatum est707). Auch die meisten der nicht besonders zahlreichen Übergänge zu anderen Ländern (5,1,1f: Ne 704
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Weitere Beispiele: 1,5,8: Consentaneo vocis iactu; 1,6,9: par genus mortis a Ti. Graccho ad Marcelli memoriam me trahit; 1,8,1b: Item […] existimavit duos iuvenes; 1,8,12b: L. quoque Lamiae […] aeque vocem fuisse super rogum constitit; 1,8, ext. 9: Eodem oraculo; 1,8, ext. 10: Quae tam pertinax necessitas […] filio Alexandro consimilis apparuit; immer wieder handelt es sich um den guten oder schlechten Ausgang der Geschichte, z. B. 1,5, ext. 2: Ne Apolloniatae quidem paenitentiam egerunt, 1,6,2: Aeque felicis eventus, 1,7, ext. 9: Alcibiades quoque miserabilem exitum suum, mehrmals auch um Reaktionen auf diese, z. B. 1,6,5: Praecipuae admirationis etiam illa prodigia, 3,7, ext. 1a: Ne Euripides quidem arrogans visus est, 4,2,2: sicuti Liuii quoque Salinatoris finiendarum simultatium illustre consilium ignotum posteritati esse noluerunt. Siehe zu diesem letzten Fall, wo ein typischer ‚Coda‘-Inhalt an den Anfang gezogen wird, bereits oben bei Fn. 420. Weitere Beispiele: 1,1,14: Sed quae ad custodiam religionis attinent, nescio an omnes M. Atilius Regulus praecesserit, qui […]; 1,8, ext. 1: Quae minus admirabilia fore Eris Pamphylii casus facit; 2,7, ext. 1: Leniter hoc patres conscripti, si Carthaginiensium senatus […] violentiam intueri velimus; 2,10, ext. 2: Quantum porro honoris Athenis Xenocrati […] tributum est!; auch 6,9,8: At P. Rupilius non publicanum in Sicilia egit, sed operas publicanis dedit, d. h. er stieg von noch weiter unten auf. Weitere Fälle: 4,8,2: Itaque eiusdem temporis femina Busa nomine […] merito quidem liberalitatis testimonium receperit, sed excellentes opes suas Fabianis rei familiaris angustiis non comparaverit; 7,2, ext. 18: Multis et magnis sapientiae exemplis parvulum adiciam; 7,3,10: His uno adiecto levioris notae exemplo. Weitere Beispiele: 1,8, ext. 11: Regios interitus magnitudine miraculi remigis casus aequat; 2,1,7: Huius modi inter coniuges verecundia: quid? inter ceteras necessitudines nonne apparet consentanea?; 2,3,1: Laudanda etiam populi verecundia est; 2,6,1: Idem sensit […] Spartana civitas; 2,9,7: Equestris quoque ordinis bona magnaque pars […] censoriam notam […] sustinuerunt; 3,2,19: Sed ut armorum et togae superius, nunc etiam siderum clarum decus […]; 3,3, ext. 6: Apud Indos vero patientiae meditatio tam
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Aegyptus quidem Romanae humanitatis expers fuit; 6,3, ext. 1: Ceterum etsi Romanae severitatis exemplis totus terrarum orbis instrui potest, tamen externa summatim cognosse fastidio non sit; 9,1, ext. 1: At Campana luxuria […]) kann man hier subsumieren, da im Grunde deren Einwohner gemeint sind. Der Übergang von einer Einzelperson zur anderen (ohne Bezugnahme auf deren Zugehörigkeit zu einem Kollektiv) ist prinzipiell zu selbstverständlich, um als besondere Variation der gedanklichen Gleichsetzung zu gelten, aber es gibt doch seltene Fälle, in denen er so stark hervorgehoben wird, dass er ebenfalls hier einzuordnen ist (4,1,2: Vix iuvat abire a Publicola, sed venire ad Furium Camillum libet, cuius tam moderatus […]). Die Übertragung des Leitgedankens auf vermeintlich mindere oder weniger relevante Personenkreise ist der häufigste Anlass für Rechtfertigungen oder Entschuldigungen des Angeknüpften durch den Erzähler (z. B. in 1,1,9: Obruitur tot et tam inlustribus consulatibus L. Furius Bibaculus [weil er nur Prätor ist], exemplique locum uix post Marcellum inuenit, sed pii simul ac religiosi animi laude fraudandus non est708). (6) Auf einen anderen Anwendungsbereich übertragen wird der Leitgedanke in rund 3% der Anekdoten (z. B. in 1,8, ext. 12: Quid? illa nonne ludibria Naturae in corporibus humanis […]709). Auch ein Fall von Ortsübertragung gehört hierher (4,3,2: Verum ut huius viri abstinentiae testis Hispania ita M. Catonis Epiros, Achaia, Cyclades insulae, maritima pars Asiae, provincia Cypros). (7) In rund 8% der Anekdoten werden bei gleichbleibendem Leitgedanken die näheren Umstände explizit – aber nicht hierarchisch – variiert (z. B. in 1,1, ext. 1: Quae, quod ad Pleminii facinus pertinuit, bene a patribus conscriptis vindicata, quod ad violentas regis Pyrrhi sordes attinuerat, se ipsa potenter atque efficaciter defendit710).
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obstinate usurpari creditur ut […]; 3,3, ext. 7: Haec e pectoribus altis et eruditis orta sunt, illud tamen non minus admirabile servilis animus cepit. Weitere Beispiele: 3,8,6: Quid feminae cum contione? si patrius mos servetur, nihil: sed […]; 3,8,7: Non indignabuntur lumina nostrae urbis si inter eorum eximium fulgorem centurionum quoque virtus spectandam se obtulerit. Weitere Beispiele: 2,4,1: Proximus militaribus institutis ad urbana castra, id est theatra, gradus faciendus est; 2,9,8: Turpis etiam metus […] poenam; 3,2,17: Togae quoque fortitudo militaribus operibus inserenda est; 3,2,23a: Classicam Acilii gloriam terrestri laude M. Caesius Scaeva […] subsecutus est; 3,3, ext. 1 für ext. 2: Est et illa vehemens et constans animi militia […] Philosophia. Weitere Beispiele: 1,5,4: At Caecilia Metelli […] ipsa fecit; 2,9,2: Horum severitatem M. Valerius Maximus et C. Iunius Brutus Bubulcus censores non simili genere animadversionis imitati sunt; 4,1, ext. 2a: Nimis liberalis Archytae moderatio, temperantior Platonis; 5,1, ext. 2a: Non tam robusti generis humanitas; 5,2,4: Fabio autem etiam incolumi (= noch zu Lebzeiten); auch 8,8, ext. 16: Cuius utriusque industriae laudem duo reges partiti sunt (d. h. was zuletzt in einer Person vereint war, ist hier auf zwei aufgeteilt).
Die Kapitel
254 1.n
Gegensätzlichkeit
Die Anknüpfung von Gegensätzlichem erfolgt bei Ovid mit Konnektoren wie at oder tamen (die ihrerseits freilich nicht immer echte Gegensätzlichkeit anzeigen, sondern auch für andere Verknüpfungsarten verwendet werden) oder mit einer allgemeinen Feststellung, auf die die Ausnahme oder das Gegenargument folgt (Ov. met. 3,131–139: poteras iam […] uideri / […] felix. […] / […] / prima nepos inter tot res tibi, Cadme, secundas / causa fuit luctus).711 Auch bei Valerius Maximus können adversative Partikeln jede beliebige Verknüpfungsart begleiten (zur ‚mechanischen‘ Verknüpfung durch solche – ohne Gegensatzbedeutung gebrauchte – Partikeln allein siehe unten Punkt r). Tatsächlich über eine Gegensätzlichkeit (zu unterscheiden von den oben besprochenen Variationen und Übertragungen von Leitgedanken) werden rund 4% der Anekdoten angeknüpft. Die größte inhaltliche Gruppe bilden moralische Gegensätze (z. B. in 1,1,15: Quanto nostrae civitatis senatus venerabilior in deos!, d. h. der römische Senat ist gottgefällig im Gegensatz zum karthagischen712). Nicht ganz vergleichbar ist das Werturteil in 4,1, ext. 3, das weder moralisch ist noch wie die bisher genannten 711
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Schmidt: Uebergangstechnik, S. 81–83. Manche der dortigen Beispiele wären vielleicht besser dem oben behandelten Abwesenheitsmotiv zuzuordnen (das natürlich ein Sonderfall der Gegensätzlichkeit ist). Weitere Fälle: 1,1, ext. 2: At non similiter Masinissa rex, der Tempelgüter freiwillig zurückgibt nach einer Anekdote über violentas regis Pyrrhis sordes; 1,1, ext. 3, nach einer Bemerkung über den Punier Masinissa: Quamquam quid attinet mores natione perpendi? in media barbaria ortus sacrilegium alienum rescidit: Syracusis genitus Dionysius tot sacrilegia sua […] iocosis dictis prosequi voluptatis loco duxit, wobei zum moralischen Gegensatz die Gegenüberstellung von Barbar und Syrakusaner hinzukommt; 1,8, ext. 8: Non invitus huic subnecto Daphnitem, ne quis ignoret quantum interfuerit cecinisse deorum laudes et numen obtrectasse, bezogen auf das Vorleben des Simonides und des Sophisten Daphnites; 2,2,6: Sed ut a luxu perditis moribus ad severissima maiorum instituta transgrediar; 2,6,11: Avara et feneratoria Gallorum philosophia, alacris et fortis Cimbrorum et Celtiberorum; 2,6,15: Cuius gloriae Punicarum feminarum, ut ex comparatione turpius appareat, dedecus subnectam; 2,8,4: Sapientiores igitur Q. Fulvius […] et L. Opimius; 4,3,11: atqui ista patientissime superior Cato toleravit, im Gegensatz nicht zur vorigen Anekdote, sondern zur Einleitung über gegenwärtige Sitten: Age, si quis hoc saeculo […]?; 4,4,3: In C. vero Fabricii et Q. Aemilii Papi, principum saeculi sui, domibus argentum fuisse confitear oportet, eher eine Nuancierung als ein echter Gegensatz, da dieser scheinbare Luxus sogleich entschuldigt wird; 7,3, ext. 10: At Volscorum ducis Tulli exsecrabile consilium; 7,7,7: Multo Q. Metellus praetorem urbanum severiorem egit quam Orestes gesserat; 8,1, absol. 2: Acrem se tunc pudicitiae custodem populus Romanus, postea plus iusto placidum iudicem praestitit; in 7,6, ext. 2 geht der Gegensatz zu den übrigen Anekdoten so weit, dass man von einem Ausschluss aus dem Kapitelthema De necessitate sprechen muss: nulla est in his necessitatis excusatio: nam quibus mori licuit, sic vivere necesse non fuit.
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den Hauptinhalt der Anekdote angeht (Nequaquam Platoni litterarum commendatione par Syracusanus Dio, sogleich aufgewogen mit einer den Hauptinhalt betreffenden Hierarchisierung: sed quod ad praestandam moderationem attinuit, vehementioris experimenti). Es folgen Gegensätze des Ausgangs oder der ihn determinierenden Voraussetzungen (z. B. in 1,1,7: Maximae vero virginis Aemiliae discipulam exstincto igne tutam ab omni reprehensione Vestae numen praestitit, d. h. ein gutes Ende nach einer Anekdote über eine wegen Ausgehens des Feuers bestrafte Vestalin713). Sonstige Gegensätze der Handlung oder der ihr zugeschriebenen Effekte betreffen meist den Hauptinhalt (z. B. in 1,1,2, nach einer Anekdote über eine religiös motivierte Reise: Metellus vero pontifex maximus Postumium consulem […] urbem egredi non passus est714). Es gibt aber auch Gegenbeispiele: in 7,5,3 wird hervorgehoben, dass die Hauptperson sich nicht desselben Fehlers schuldig machte wie die der vorangehenden Anekdote (Nullus error talis in L. Aemilio Paullo conspectus est), die das Kapitelthema bildende Wahlniederlage findet aber dennoch statt, und in 8,1, absol. 11 (Sed quemadmodum splendor amplissimorum virorum in protegendis reis plurimum valuit, ita opprimendis non sane multum potuit) und 8,1, absol. 12 (Tam vehementes iudices adversus excellentissimum accusatorem quam mites in longe inferioris fortunae reo) wird ein gleichbleibender Hauptinhalt – der Angeklagte wird freigesprochen – auf gegensätzliche Einstellungen der Richter zurückgeführt. Eine besondere Gruppe bilden schließlich Gegensätze, die statt der Geschichte selbst deren Rezeption oder Bekanntheit betreffen (z. B. in 2,4,5: Et quia ceteri
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Weitere Fälle: 1,6, ext. 3: Formicis Midae iure meritoque apes Platonis praetulerim: illae enim caducae ac fragilis, hae solidae et aeternae felicitatis indices exstiterunt; 1,7, ext. 3: Longe indulgentius di in poeta Simonide, cuius salutarem inter quietem admonitionem consilii firmitate roborarunt; 1,7, ext. 7: Tutioris somni mater eiusdem Dionysii; 3,2,16: Felicior progenie sua superior Cato; 3,2, ext. 5: Excellentissimos Spartanae virtutis proventus miserabilis lapsus sequitur; 5,3,2g: Atque horum quidem secessus voluntarii: Ahala vero […] exsilio suo poenas pependit; 6,2, ext. 3: Inter has et Seodorum Cyrenaeum quasi animosi spiritus coniugium esse potuit, virtute par, felicitate dissimile; 7,6, ext. 1: Cretensibus nihil tale praesidii adfulsit; 8,11, ext. 5: Ceterum Natura, quem ad modum saepenumero aemulam virium suarum Artem esse patitur ita aliquando irritam fesso labore dimittit (unter der Zwischenüberschrift Quaedam nulla arte effici posse; vgl. oben Fn. 649). Weitere Fälle: 1,8, ext. 4: Hoc modo Fortuna saeviens vocem ademit, illo propitia donat; 2,2,8: Quorum quemadmodum maiestas amplificabatur [nämlich in der vorigen Anekdote] ita abstinentia artissime constringebatur; 2,8,3: Quid facias Cn. Fulvio Flacco, qui tam expetendum aliis [z. B. in der vorigen Anekdote] triumphi honorem decretum sibi a senatu ob res bene gestas sprevit ac repudiavit; 3,7,9: Contra M. Antonius ille disertus – non enim respuendo sed amplectando causae dictionem quam innocens esset testatus est; 8,4,2, nach einer Anekdote über ein falsches Geständnis: Contra P. Atinii servus […] sexies torus pernegavit.
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Die Kapitel
ludi [d. h. die in 2,4,4 besprochenen Consualia und Atellanen] ipsis appellationibus unde trahantur apparet, non absurdum videtur saecularibus initium suum, cuius minus trita notitia est, reddere715). Wie wir sehen, kommen quer durch alle inhaltlichen Gruppen nicht wenige Anknüpfungen ohne explizite Vokabeln der Gegensätzlichkeit aus. Stattdessen begegnen Verben des Übergangs, der Unterscheidung oder des Vergleichs (z. B. interfuit in 1,8, ext. 8 oder transgrediar in 2,2,6), Komparative, die keine Steigerung ausdrücken, sondern sich auf Eigenschaften beziehen, die in der vorangehenden Anekdote überhaupt nicht zutreffen (1,1,15: venerabilior; 1,7, ext. 3: indulgentius; 1,7, ext. 7: Tutioris; 2,8,4: Sapientiores; 3,2,16: Felicior; 7,7,7: severiorem), Negationen (7,5,3; 7,6, ext. 1; 7,6, ext. 2) sowie Gegenüberstellungen von Rekapitulationen und Abstracts (mehrmals unter Verwendung der scheinbar gleichsetzenden Formel tam/quemadmodum […] ita […]). 1.o
Einzelne Dinge oder Begriffe
Ähnlich wie Personen können auch einzelne Dinge oder Begriffe zwei Erzählungen zusammenhalten (Ov. met. 1,448–451: die Sieger bei den Pythischen Spielen erhielten Eichenkränze, da es den Lorbeer noch nicht gab; darauf die – zunächst scheinbar nur durch die Person des Phoebus eher schwächlich verknüpfte716 – Daphne-Geschichte, die mit der Entstehung des Lorbeers endet), ihre Einführung kann zudem auch als Vorwand für andere Übergangsarten dienen (2,531–535: Iunos Wagen wird von bunten Pfauen gezogen – diese sind erst kürzlich bunt geworden – ebenso der Rabe erst kürzlich schwarz; die Erwähnung der Buntheit gibt den Anlass zu einer Vorgeschichte, an die sodann eine Parallele und Gleichzeitigkeit angehängt wird).717 Nicht in Betracht kommen hier solche Dinge und Begriffe, die bloß Teil einer zu vergleichenden Handlung im Sinne von Punkt m oder n sind (bei Valerius Maximus z. B. das Vestalinnentum in 1,1,6–7). Die Kategorie sollte auch nicht auf Isotopien ausgedehnt werden (z. B. 2,6,7c: iugulantur, 7d: arcae, sepulturae, luctus, funeris, 7e: mors, egredi vita, excedere, finiendi spiritus, exitu), womit die Grenze von der Kohäsion zur Kohärenz überschritten wäre, sondern auf echte Rekurrenzen und Synonyme beschränkt bleiben.
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Weitere Fälle: 6,5,1d: Moenibus nostris et finitimis regionibus quae adhuc rettuli; quod sequitur per totum terrarum orbem manavit; 5,4,3: Auribus ista tam praeclara exempla Romana civitas accepit, illa vidit oculis (hier ist die unterschiedliche Wahrnehmung im Grunde eine Umschreibung eines Ortsunterschieds). Ov. met. 1,450–452: nondum laurus erat longoque decentia crine / tempora cingebat de qualibet arbore Phoebus. / Primus amor Phoebi Daphne Peneia, quem non / […]. Schmidt: Uebergangstechnik, S. 84f. Beim dritten der dortigen Beispiele handelt es sich eher um eine einfache Verknüpfung durch einen Leitgedanken (siehe oben Fn. 698).
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Bei den unter dieser Definition relevanten Verknüpfungen, die bei Valerius Maximus in rund 1% der Anekdoten zu finden sind, geht es am häufigsten um politische Ideen und Institutionen wie das ‚Vaterland‘ in 2,2,1a (patriae nach imperii nostri am Ende von 2,1,10), die Funktion des Legaten in 2,2,5 (Relatis Q. Fabii laudibus, offerunt se […] viri, qui legati a senatu Tarentum […], nach Idem a senatu legatus ad filium consulem Suessam missus in 2,2,4b), der Konsulat in 3,4,5 (Non parvus consulatus rubor M. Perperna, nach ad consulatum […] conscendit in 3,4,4) und 4,1,5 (Fabius vero Maximus, cum se quinquies et a patre avo proavo maioribusque suis saepenumero consulatum gestum animadverteret, nach Age, L. Quinctius Cincinnatus qualem consulem gessit! in 4,1,4) sowie die Komitien in 4,5,4 (Ac ne protinus comitiis abeamus). Die übrigen Fälle betreffen Zähne (1,8, ext. 13: ordine dentium wie in 1,8, ext. 12) und Gastmähler (2,1,10: conviviis nach cenam und cenae in 2,1,9; dies lässt sich aber auch als Gleichzeitigkeit auffassen) sowie die abstrakten Begriffe Verrücktheit (7,8,2: Vita Tuditani demens, Aebutiae autem […] tabulae testamenti plenae furoris, nach Quam certae, quam etiam notae insania Tuditanus! in 7,8,1718) und Knechtschaft (8,9, ext. 2: Pericles autem […] liberis Athenarum cervicibus iugum servitutis imposuit, nach quo evenit ut alioqui prudentissima civitas libertati servitutem praeferret am Ende einer Anekdote über Peisistratos719). Die sprachliche Form der Verknüpfung ist zumeist die der Wortwiederholung oder des Synonymgebrauchs (kombiniert mit anderen Verknüpfungsarten oder ‚mechanischen‘ Konnektoren, in 3,7, ext. 2 mit einem potentiell irreführenden quoque), je einmal begegnen aber auch eine extradiegetische Bezugnahme auf die Übereinstimmung (4,5,4) und eine Gegenüberstellung von Rekapitulation und Abstract, die die unterschiedlichen Anwendungsbereiche des Begriffs verdeutlicht (7,8,2). 1.p
Übergangsfiguren und -erzählungen
Wir haben bereits mehrere ovidische Übergänge erwähnt, die in mehreren Schritten, durch kurz gefasste Zwischenschaltung gewisser Personen (Acrisius zur Verbindung von Cadmus und Harmonia mit Perseus; genealogische Zwischenstufen) oder Verwandlungen (die Pfauen wurden bunt) erfolgen. In erweiterter Form verwendet Ovid diese Methode in zwei Gruppen von Fällen. Erstens können größere Übergänge von einem Kontext zum anderen mit Erzählungen über ‚Hilfsfiguren‘ 718
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Der Begriff wird also von einem als verrückt geltenden Menschen polemisch auf ein ungerechtes Testament übertragen. Iugum servitutis imposuit und servitutem praeferret sind zu verschiedenartig, um als implizite Gleichsetzung verstanden zu werden, als Gegensätze können sie allerdings auch nicht gemeint sein – und der Vergleich der beiden Herrscher im weiteren Verlauf von 8,9, ext. 2 knüpft nicht an 8,9, ext. 1 an, sondern an eine Analepse innerhalb der Anekdote.
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verwirklicht werden, die sich mit beiden in Verbindung bringen lassen (der Weg von der Schöpfungs- und Weltaltergeschichte zum Komplex der in sterbliche Frauen verliebten Götter führt über die Schlange Python, die infolge der Sintflut entstand und nach deren Erlegung durch Apoll die Pythischen Spiele gestiftet wurden, bei denen es noch keinen Lorbeerkranz gab).720 Zweitens kann eine Gottheit auf das eben Erzählte reagieren und damit die nächste Geschichte auslösen – durch gezielten Beschluss (Iuppiter lässt aus Mitleid mit Io den Argus töten) oder auf beiläufigere Weise (Iuppiter bereist als Reaktion auf das Geschehene die Erde und sieht dabei Callisto; nach dem glücklichen Ausgang der Bacchusgeschichte scherzt er mit Iuno und wirft dabei die Frage auf, die dann Tiresias entscheiden muss).721 Bei Valerius Maximus reduziert zwar die thematische Kapitelabgrenzung prinzipiell den Bedarf nach diegetischen Überleitungen zwischen disparaten Inhalten. Dennoch bedient sich auch er – in rund 2% der Anekdoten – verschiedener Übergangsfiguren und -erzählungen, sowohl im Sinne der Einschaltung peripherer, für die Hauptinhalte der Anekdoten nicht notwendiger Personen und Textteile als auch im Sinne der Positionierung ganzer Anekdoten als Brücken zwischen Kapitelteilen.722 Periphere Übergangserzählungen sind stets die Stadt oder eine Zeit charakterisierende ‚habituelle Erzählungen‘. Mehrmals gehen sie als Evaluation aus der einen Anekdote hervor und bilden den Anknüpfungspunkt für die folgende (z. B. in 1,1,8: Non mirum igitur si pro eo imperio augendo custodiendoque pertinax deorum indulgentia semper excubuit quo tam scrupulosa cura parvula quoque momenta religionis examinari videntur, quia numquam remotos ab exactissimo cultu caerimoniarum oculos habuisse nostra civitas existimanda est, dann relativer Anschluss in qua […]723). In 4,3,11 handelt es sich dagegen um eine an die vorhergehende Anekdote nur mechanisch angeknüpfte rhetorische Frage (Age, si quis hoc saeculo […] nonne miserabilis existimetur?), auf die die eigentliche Anekdote als Gegensatz folgt (atqui ista patientissime superior Cato toleravit […]), und in 3,3, ext. 1 wird zunächst der Leitgedanke übertragen (Est et illa vehemens et constans animi militia […] Philosophia. quae ubi pectore recepta est […]) und dann extradiegetisch angeknüpft (Incipiam autem Zenone Eleate). 720
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Schmidt: Uebergangstechnik, S. 86–92. Hier handelt es sich also um eine besondere Verwendung der Personengleichheit. Ebd., S. 74–76. Der letzte Punkt berührt sich mit dem generellen Problem des Kapitelaufbaus, das weiter unten, S. 272–306, zu erörtern ist. Einstweilen geht es nur um diejenigen Positionsentscheidungen, die vom Erzähler explizit in einem hier relevanten Sinn begründet werden. Ähnlich 1,1,9 für 1,1,10 mit Anknüpfung über den Leitgedanken, 4,4,9 für 4,4,10 mit Anknüpfung als Konsequenz. Zweimal werden sie in den Editionen der ‚evaluierten‘ Anekdote zugerechnet (1,1,9 und 4,4,9), einmal – weniger sinnvoll – der angeknüpften (1,1,8 statt 1,1,7).
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Diesen Erzählungen funktional sehr ähnlich und darum hier zu erwähnen sind die nicht-narrativen Ausführungen über Freundschaft am Ende von 4,7, ext. 1 (mit Anknüpfung von 4,7, ext. 2a als Konsequenz: Quod ita esse rex Alexander sensit) und der Relativsatz über die menschliche Natur am Ende von 8,8, ext. 1 (8,8, ext. 2: Idque vidit […] Socrates). Die explizite Präsentation einer ganzen Anekdote als Übergang kommt nur am Ende des römischen und Anfang des ‚externen‘ Abschnitts vor (z. B. in 4,1,15: Ad externa iam mihi exempla transire conanti M. Bibulus […] manu inicit, weil diese Geschichte trotz römischem Protagonisten in Syrien und Ägypten spielt – 4,1, ext. 1 folgt dann übrigens ohne jede Verknüpfung724). In zwei weiteren Fällen darf man Textteile, die in den Editionen als ganze Anekdoten gezählt werden, zu peripheren Übergangserzählungen erklären – sofern man sie nicht überhaupt aus der Untersuchung ausschließen möchte. 2,4,1, ein Vergleich von Kriegswesen ([ema von 2,3) und theatra ([ema von 2,4), enthält zwar Elemente einer ‚habituellen Erzählung‘, ist aber in seiner extremen Allgemeinheit wohl eher als Kapitelabstract denn als eigenständige Erzählung gemeint (die erste solche, 2,4,2, wird als Vorgeschichte angeknüpft: Quae incohata quidem sunt […]). 4,4,4 verallgemeinert und interpretiert die Anekdoten 4,4,5–6 (die beiden Atilii aus Pupinia; 4,4,4 ist ‚mechanisch‘ angeknüpft, 4,4,5 ebenso, 4,4,6 dann über die Familienzugehörigkeit) und könnte diesen als Abstract und Evaluation zugeordnet werden. Übergangsfiguren sind bei Valerius Maximus seltener als Übergangserzählungen. In 3,7,11 wird der Held der Anekdote ausdrücklich als Übergangsfigur eingeführt (Magno spatio divisus est a senatu ad poetam Accium transitus. ceterum ut ab eo decentius ad externa transeamus, producatur in medium); er eignet sich dafür gleich aus zwei – vom Erzähler nicht genannten – Gründen: durch die ständisch-politische Rangfolge (Senatoren – einfacher Bürger – Ausländer) und weil die folgenden drei Anekdoten ebenfalls Dichter (und die zwei danach andere Künstler) betreffen.725 Die übrigen Fälle sind peripherer Natur, d. h. die Figur wird in mindestens eine der beiden Anekdoten des Übergangs wegen eingeführt, obwohl sie für deren Handlung eigentlich nicht von Bedeutung ist. Dies geschieht dreimal mit natürlichen Personen (z. B. in 4,1,7: At M. Marcellus, qui primus et Hannibalem vinci […] posse docuit […], nach einer Anekdote über Hannibal726).
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Weitere Fälle: 5,1, ext. 1a (nachträglich über 5,1,11): Commemoratione Romani exempli [Marcus Antonius bei Philippi] in Macedoniam deductus, morum Alexandri praeconium facere cogor; 4,5, ext. 1 (die Übergangsfunktion wird dadurch hergestellt, dass die Anekdote als Grenzfall erscheint): Quod sequitur externis adnectam, quia ante gestum est quam Etruriae civitas daretur. Siehe auch unten bei Fn. 834. Weitere Fälle: am Ende der Kampanier-Anekdote 5,1, ext. 5 als Coda: quo animo si pro imperio nostro adversus Hannibalem quoque usi fuissent, truculentis securibus materiem saeviendi non praebuissent, darauf 5,1, ext. 6: Facta mentione acerrimi hostis
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Eine Übergangsfigur ist aber auch die Personifikation der Necessitas, die in 7,6,1c eingeführt wird (als Anrede: te scilicet, Necessitas, iubente) und die Anknüpfung von 7,6,2 durch Personengleichheit ermöglicht. 1.q
Extradiegetisches
Nur einmal scheint bei Ovid ein rein extradiegetischer Übergang durch den Primärerzähler vorzukommen – ein Neuansatz in Form eines Musenanrufs (Ov. met. 15,622–625: Pandite nunc, Musae, […] / […] / unde Coroniden circumflua rybridis alti / insula Romuleae sacris adlegerit urbis).727 Bei Valerius Maximus wird dem Extradiegetischen hingegen auch in der Übergangstechnik erheblich mehr Raum gegeben. Wir haben bereits nicht wenige Fälle kennengelernt, wo verschiedene inhaltliche Verknüpfungsmittel extradiegetisch eingekleidet werden (mit Sätzen wie Nunc causam instituendorum ludorum ab origine sua repetam oder Atque ut divi iam filii mentionem caelesti patris recordationi subnectam). Es gibt aber auch – und zwar immerhin in rund 8% der Anekdoten – Formulierungen, die den Zusammenhang zwischen den Anekdoten rein (oder mit nur schwacher inhaltlicher Beimischung) auf der Ebene des Erzählvorgangs oder der Bewertung durch den Erzähler herstellen. Dabei sind sieben Varianten zu unterscheiden: (1) Die Anekdote wird einfach als Hinzufügung präsentiert, ohne die sie motivierende inhaltliche Gleichwertigkeit anzusprechen und ohne dass zugleich eine andere Art von Verknüpfung ausgedrückt würde. Dies geschieht mit Formulierungen wie z. B. Adiciendum his quod […] (1,1,6), Hoc loco apte referuntur […] (1,8, ext. 17), Ac ne illud quidem involvendum silentio (1,7,5), Referam nunc […] (1,8,7), His illud subnectam (2,8,6) oder mens […] iam transit alio (8,7, ext. 4 für 8,7, ext. 5); vergleichbar ist auch Incipiam autem Zenone Eleate nach einer verallgemeinernden Übergangserzählung über Philosophie (3,3, ext. 2). Diese Variante ist relativ selten (unter 2% der Anekdoten). (2) Die Verwendung der Anekdote oder ihre Position im Kapitel wird gerechtfertigt oder entschuldigt. Dies ist noch einmal deutlich seltener: es begegnet in 1,7, ext. 10 (Proximum somnium etsi paulo est longius, propter nimiam tamen evidentiam ne omittatur impetrat), 3,7,11 (gerechtfertigt als Übergang), 4,5, ext. 1 (Rechtfertigung der Position), 7,3,4a (Quod sequitur narrandum est)728 und 9,3, ext. praef. (ein ganzer Paragraph zur Entschuldigung negativer Anekdoten über große Männer wie Alexander in 9,3, ext. 1). Häufiger sind Entschul-
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[…]; 7,4,3–4, wo Iuppiter beide Male den Römern in der Schlacht ‚beisteht‘, ohne tatsächlich eine aktive Rolle zu spielen, mit der Verknüpfung Idemque Iuppiter […]. Schmidt: Uebergangstechnik, S. 85 (als ‚Übergang durch Apostrophe‘ im Kapitel ‚Äußerliche Verknüpfung‘!). Die Edition von Briscoe hat hier bloß: Quod sequitur † narrandum † est.
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digungen, wie wir gesehen haben, im Rahmen einer Übertragung des Leitgedankens auf andere, vermeintlich mindere Personenkreise. (3) Die Verknüpfung erfolgt über eine nicht thematisch relevante extradiegetische Bewertung,729 mit gleichsetzenden Formulierungen (z. B. 2,6,17: Ne Numidae quidem reges vituperandi, qui […], 3,7, ext. 1b: Itaque etiam quod Alcestidi tragico poetae respondit probabile, 5,4, ext. 4: Notiora sunt fratrum paria […]), aber auch in hierarchisierender Variante (z. B. 1,6, ext. 3: Formicis Midae iure meritoque apes Platonis praetulerim, 1,8, ext. 3: Miserabilior tamen sequentis casus narratio, 4,6,2: Vilior Graccho […] victima […] C. Plautius Numida) oder eine anlässlich der vorangehenden Anekdote ausgesprochene allgemeingültige Aussage aufgreifend (2,6,13: Quocirca recte Lycii […]). Derartiges findet man in rund 2% der Anekdoten. (4) Die eine Anekdote ist im Lichte der anderen zu sehen – das Urteil über die eine folgt aus der anderen. Dies ist selten: 1,6,8 (Minus miram in homine parum considerato temeritatem Ti. Gracchi gravissimi civis tristis exitus […] facit), 2,2,3 (Quapropter non es damnandus rustici rigoris crimine, C. Mari, quia […]), 2,10,2a (Sed quid mirum si debitus honos a civibus […] tributus est, quem […] etiam hostis praestare non dubitavit?), 4,1, ext. 2b (Quo minus miror quod […]). (5) Der Erzähler wechselt explizit zu einem anderen Ort oder Volk, ohne die Anekdoten inhaltlich zu vergleichen oder den Ortswechsel als Reisebewegung (vgl. oben Punkt l) zu verbildlichen. Hierher gehören z. B. 3,1, ext. 1 (Et ut a Graecis aliquid, Alcibiades ille […]) und 3,4, ext. 1 (Sed ut Romanis externa iungamus), wohl auch Fälle wie 2,10, ext. 1 (Dandum est aliquid loci etiam alienigenis exemplis, ut domesticis aspersa ipsa varietate delectent), 1,6, ext. 1a (als 1,6, ext. praef.), 3,3, ext. 1 (am Ende von 3,3,2) und 3,8, ext. 1, wenn man nicht in der Verwendung des Worts exemplum bereits eine gedankliche Gleichsetzung sehen will. Wie schon die Beispiele nahelegen, kommt diese Kategorie ausschließlich als Übergang zum nichtrömischen Abschnitt vor; sie macht aber mit 14 Fällen nur einen kleinen Teil dieser Übergänge aus.730 (6) Der Erzähler wechselt explizit zu einer anderen Person, ohne inhaltliche Ähnlichkeiten oder Gegensätze oder einen familiären oder sonstigen Bezug zwischen den Personen anzusprechen (z. B. 2,2,5: Relatis Q. Fabii laudibus, offerunt se mirificae constantiae viri, qui […], wobei constantia nicht als verbindender Leitgedanke erscheint, 4,1,10a: Ne Africanus quidem posterior nos de se tacere
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Also eine, die weder in der Zuschreibung einer das Kapitelthema bildenden Tugend besteht noch damit einhergeht wie in 3,3,2: Pompeii etiam probabilis virtus oder 1,1,3: Laudabile duodecim fascium religiosum obsequium, laudabilior quattuor et viginti in consimili re oboedientia). Es gibt insgesamt 59 (da ja nicht jedes Kapitel einen ‚externen‘ Teil aufweist). Selbst wenn man die 19 hier relevanten Fälle von Übertragung des Leitgedankens (auf ein anderes Volk) hinzurechnet, stellt man fest, dass fast die Hälfte der Übergänge mit anderen Mitteln erfolgt. Siehe auch unten S. 291f.
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patitur, 6,2,5: Quid ergo? libertas sine Catone?). Dies ist in deutlich unter 2% der Anekdoten der Fall. (7) Der Erzähler beendet explizit einen Exkurs – so beginnen zwei Anekdoten (2,6,9: Sed ut ad Massiliensium civitatem, unde in hoc deverticulum excessi, revertar; 3,2,3: Redeo nunc ad Romulum). 1.r
‚Mechanische‘ Verknüpfung
Die ‚mechanische‘ Verkettung mit nichtssagenden Konnektoren wie autem ist als Begleiter der verschiedenen von Valerius Maximus verwendeten und von uns im Vergleich mit Ovid besprochenen Verknüpfungsmittel nahezu allgegenwärtig. Ihre alleinige Verwendung, die in so vielen anderen Erzählsammlungen das Höchste ist, was an Verknüpfungstechnik vorkommt, macht bei ihm aber nur rund 8% der Fälle aus (und findet sich nie mehr als zweimal unmittelbar hintereinander). Die dabei verwendeten Konnektoren sind autem (29mal), vero (20mal), Nam (fünfmal, ohne erklärend-begründende Bedeutung731), Age, At und Quid?/Quid […]! (je dreimal), etiam und quoque (je zweimal) sowie Et, Iam und Verum (je einmal). 1.s
Isolation
Für rund 2% der Anekdoten – über das ganze Werk verstreut (nur zweimal, 2,5,1– 3 und 6,9,4–5, in direkter Abfolge hintereinander) – konnte keinerlei Anknüpfung festgestellt werden. 1.t
Gesamtbild und ergänzende Vergleiche
Auf den obigen Seiten konnten nicht bloß die vier bereits von Rudolf Helm angesprochenen Verknüpfungsarten auf breiterer empirischer Grundlage untersucht und in ihrer inhaltlichen und formalen Vielfalt dargestellt werden, sondern die Orientierung an Ovid erlaubte uns, eine Anzahl weiterer, teils höchst raffinierter Techniken im gestalterischen Repertoire des Valerius Maximus nachzuweisen. Mit einer einzigen Ausnahme fanden sich alle von Ovid bekannten Gruppen auch bei ihm wieder. 731
Vgl. N. H[olmes]: nam, in: SLL IX.1, fasc. I (2011), Sp. 7–31, II: ‚inducitur novum argumentum‘, mit Beispielen u. a. von Plautus, Cicero und Livius (entgegen J. B. Hofmann/Anton Szantyr: Lateinische Syntax und Stilistik, München 1972, S. 505f., wo das ‚anknüpfende‘ nam „erst für die späte, nicht für die silberne Latinität“ anerkannt wird). Otón s. v. nam inkludiert solche Fälle wohl zu Unrecht unter dem Punkt ‚Valor aseverativo: en verdad‘.
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Das Bild ovidischer Buntheit, das sich bei deren Durchsicht bietet, wird freilich durch die Häufigkeitsverhältnisse etwas relativiert. Zwei Kategorien, die der Ähnlichkeiten in [ema und Handlung und die der (rein) extradiegetischen Verknüpfungen, ragen heraus und erinnern an die Unterschiede in Gesamtstruktur und literarischer Gattung. Ähnlichkeit in [ema und Handlung, bei Ovid nur eine Übergangsart unter vielen, ist in den thematisch angelegten Kapiteln des Valerius Maximus klar dominant. Erzähler und (primäre) Erzählsituation treten beim mythologischen Dichter stark zurück, während der historisch-anekdotische Erzähler sich – an den Übergängen wie auch sonst – nicht scheut, Präsenz zu zeigen.732 An diese Feststellung können wir die Erörterung gewisser allgemeiner Gestaltungsmittel anknüpfen, die Valerius Maximus unabhängig von den konkreten Verknüpfungsarten an den Anekdotenübergängen gebraucht. Denn neben den eigentlich extradiegetischen Anknüpfungen begegnen auch die übrigen immer wieder in extradiegetischer Einkleidung (z. B. Personengleichheit: Non fatigabor eiusdem facta identidem referendo, Vorgeschichte: Atque ut ad vetustiorem Industriae actum transgrediar, Genealogie: Atque ut divi iam filii mentionem […] subnectam, sonstige Personeneigenschaften: consulatus collegium […] a Ti. Graccho ad Marcelli memoriam me trahit, Ortsgleichheit: Et ne continuo a nostris regibus recedam, Gleichzeitigkeit: immemorem me propositi mei Cloelia facit paene eadem tempestate […] ausa facinus, Ähnlichkeit: Adici […] duo eiusdem generis exempla […] possunt, Gegensätzlichkeit: Formicis Midae […] apes Platonis praetulerim: illae enim caducae et fragilis, hae solidae et aeternae felicitatis indices exstiterunt, einzelne Dinge: Ac ne protinus comitiis abeamus). Insofern ähnelt der extradiegetische Bezug bei Valerius Maximus denjenigen Gestaltungsmitteln, die man mit Schmidt als ‚Kunst- und Schmuckmittel, die durchgehend innerhalb der einzelnen Übergänge für die Ankündigung neuer Geschichten angewendet werden‘ bezeichnen kann, also den rhetorischen Anreden, 732
Noch stärker ausgeprägt scheint die Extradiegetizität der Übergänge in der Rhetorik zu sein; zumindest erscheinen die transitio zwischen verschiedenen erzählenden Passagen und generell die ‚Sach-aversio‘ (Abwendung von einer Sache), deren Sonderfall sie ist, in der theoretischen Literatur durchwegs als etwas durch den Redner explizit Erfolgendes (vgl. Lausberg, S. 422f.). Dabei finden sich auch Beispiele, die Zusammenhänge ähnlich wie bei Ovid und Valerius Maximus herstellen (etwa in Rhet. Her. 4,26,35: Modo in patrem cuiusmodi fuerit, habetis: nunc parens qualis extiterit, considerate [so die neueste Edition; die meisten anderen lesen in patriam und in parentes, was die Ähnlichkeit noch deutlicher macht]); theoretisch erfasst wird aber nur der jemenwechsel als solcher (ebd.: Transitio uocatur quae cum ostendit breuiter, quid dictum sit, proponit item breui, quid consequatur), und eine umfassende Untersuchung der in antiken Reden vorzufindenden Übergangsarten scheint auch vonseiten der modernen Forschung noch nicht vorzuliegen. Es gibt also kein allzu starkes Argument dafür, bei Valerius Maximus eine (primäre oder sekundäre) didaktische Intention der Verknüpfungstechnik – als Vorbild für die Verknüpfung mehrerer Exempla oder fallbezogener Erzählpassagen – anzunehmen; auszuschließen ist sie freilich ebenso wenig.
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Ausrufen und Fragen,733 die ihrerseits auch bei Valerius Maximus immer wieder verschiedenste Übergänge begleiten.734 Angeredet werden kann sowohl die Hauptperson der angeknüpften Anekdote (von den oben zitierten Übergängen z. B. 2,2,3: Quapropter non es damnandus […] C. Mari, 5,4, ext. 3: Vos quoque, fratres) als auch die der vorigen, wenn ein Bezug besteht (2,10,4: Ne filii quidem tui), oder eine künstlich des Übergangs wegen eingeführte Personifikation (7,6,2: Eadem […] voluisti, anknüpfend an te scilicet, Necessitas, iubente in 7,6,1c). Ausrufe haben durchwegs etwas quantitativ oder qualitativ Wertendes an sich (z. B. in 1,1,15: Quanto nostrae civitatis senatus venerabilior in deos!735), während das von Schmidt allein angeführte ecce nicht vorkommt.736 Bei den rhetorischen Fragen (z. B. in 1,1, ext. 3: Quamquam quid attinet mores natione perpendi?737) dominieren verschiedene Anwendungen von quid (als echtes Fragepronomen oder als eine Art Interjektion zur Einleitung einer Wahlfrage – ähnlich in 4,3,11 mit einer anderen Interjektion: Age, si quis hoc saeculo […], nonne miserabilis existimetur?).738 Viel seltener finden sich Ausrufe und rhetorische Fragen als alleinige Verknüpfungen (4,1,4: Age, L. Quinctius Cincinnatus qualem consulem gessit!; dreimal Quid? oder Quid […]!), in welchem Fall man sie unter die ‚mechanischen‘ Verknüpfungen rechnen kann, weil sie (wie autem oder vero) Kohäsion herstellen, ohne eine Aussage über die konkrete Beziehung der beiden Texte oder ihrer Inhalte zu transportieren. Die Charakterisierung als „chevilles, […] marqueurs de début, ayant la même fonction que nos modernes alinéas dans la mise en page“, nämlich „marque[r] le passage à un autre exemple et ravive[r] l’intérêt“,739 trifft also auf diese Fälle durchaus zu. Sie ist allerdings um den Hinweis zu ergänzen, dass nicht 733
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Schmidt: Uebergangstechnik, S. 94–96 (neben einigen zu Unrecht dort, S. 93–100, subsumierten Dingen; vgl. oben Fn. 646). Dass Ovid die Verwendung der Apostrophe gegenüber Vergil ausweitet, konstatierte schon Johann Endt: Der Gebrauch der Apostrophe bei den lateinischen Epikern, in: WS 27 (1905), S. 106–129. Zu Anreden und rhetorischen Fragen an anderer Stelle in den Anekdoten – nämlich in Rekapitulationen – vgl. oben S. 164f., zu ausgedehnteren Anreden oben Fn. 280. Weitere Beispiele: 1,1,21: Tam me hercule quam […]; 2,6,6: Age, quid illud institutum Athenarum, quam memorabile […]!; 2,10, ext. 2: Quantum porro honoris Athenis Xenocrati […] tributum est!; 8,15,2 und 9,2, ext. 3: Tam hercule quam […]. Schmidt: Uebergangstechnik, S. 94. Weitere Beispiele: 1,8, ext. 12: Quid? illa nonne ludibria Naturae in corporibus humanis […]?; 2,1,7: Huius modi inter coniuges verecundia: quid? inter ceteras necessitudines nonne apparet consentanea?; 2,8,3: Quid facias C. Fulvio Flacco […]?; 2,10,2a: Sed quid mirum si […]?; 3,8,6: Quid feminae cum contione?; 5,3,2e: Quis ignorat […]?; 6,2,5: Quid ergo? libertas sine Catone?; 9,1,5: Quid enim sibi voluit […] Metellus Pius […]? Schmidt: Uebergangstechnik, S. 94, führt aus den Metamorphosen nur eine einzige rhetorische Frage auf (ebenfalls mit quid). Cogitore: Début, S. 75 (vgl. oben bei Fn. 642).
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alle Ausrufe und rhetorischen Fragen notwendigerweise diese Funktion erfüllen: im ersten Beispiel würde es wohl genügen, Age zu entfernen, um die Verknüpfung aufzuheben – der bloße Ausruf L. Quinctius Cincinnatus qualem consulem gessit! wäre schließlich auch in völliger Isolation möglich. Dasselbe gilt für die tatsächlich auch einmal unter den Punkt s zugeordneten Fällen zu findende Frage Quis ignorat […]? (6,9,5). Weniger ergiebig als der Vergleich mit Ovid ist der mit Erzählungseinleitungen in mündlicher Konversation (conversational narrative).740 Immerhin ist der einschlägigen Forschung zu entnehmen, dass zumindest drei der weniger elaborierten unter den bei Valerius Maximus häufigen Verknüpfungsarten auch dort vorkommen. Alan Ryave zeigt in seinem Beitrag über ‚series of stories‘, wie Erzähler von Folgeerzählungen die Evaluationen der Vorerzählungen aufgreifen – mit Hilfe von intervening utterances, also extradiegetischen Überleitungen – und entweder die Subsumierbarkeit ihrer eigenen Erzählungen unter diese herausstellen oder sie modifizieren.741 Diese same-significance procedure ähnelt der Verknüpfung über ‚Leitgedanken‘ in Form der expliziten Gleichsetzung oder Variation – Punkte m(2), m(3a), m(4), m(5), m(6), m(7) –, scheint aber in dem Sinne darüber hinauszugehen, dass es nicht nur um eine Bestätigung, Ergänzung oder Hierarchisierung, sondern auch um eine Korrektur oder Umwertung des bisher Gesagten gehen kann – dass also die neue Erzählung mitunter die erste in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt als vom ersten Erzähler beabsichtigt (eine Folge der bei Valerius Maximus nicht vorliegenden dialogischen Situation).742 Gail Jefferson behandelt unter der Bezeichnung embedded repetition das Aufgreifen von Schlagworten aus dem vorherigen Gespräch zwecks Einleitung einer Erzählung – mit oder ohne expliziten à-propos-Hinweis wie „Speakin about […]“ oder „Saying […]“ – oder auch erst als Pointe derselben.743 Dies entspricht den
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Siehe schon oben S. 221f. On the Achievement of a Series of Stories, in: Studies in the Organization of Conversational Interaction, hg. von Jim Schenkein, New York 1978, S. 113–132, hier 124–131. Auf das Aufgreifen des ‚point of the first story‘ durch Erzähler von ‚second stories‘ weist auch schon Harvey Sacks: Lectures on Conversation. Volumes I & II, Malden, Mass. 1995, Bd. I, S. 764–772, und Bd. II, S. 3–17 [= zwei Vorträge von 1968], hin, der sich damit aber nicht intensiver auseinandersetzt (sondern mit der Interaktionsrelevanz der Zweiterzählungen; so auch Norrick: Conversational Narrative, S. 112–115). Bei Valerius Maximus wird zwar gelegentlich explizit gesagt, dass eine Anekdote im Lichte einer anderen zu sehen sei – siehe oben Punkt q(4) –, es geht dabei aber ebenso wie bei den Hierarchisierungen unter m(4) nur um Gewichtungen, nicht um grundsätzliche Umwertungen. Sequential Aspects of Storytelling in Conversation, in: Studies in the Organization of Conversational Interaction, hg. von Schenkein, S. 219–248, hier 220–224.
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Verknüpfungen durch Begriffswiederholung, die oben unter m(1a), m(1b) und o besprochen wurden. Eine von Livia Polanyi analysierte ‚story sequence‘ – drei Erzählungen aus demselben Erlebniskontext, von zwei homodiegetischen Erzählern in einer Konversation mit Beteiligung zweier weiterer Personen erzählt – demonstriert schließlich, obwohl Polanyi selbst darauf nicht eingeht, die Möglichkeit ‚mechanischer‘ Verknüpfungen in mündlicher Erzählung, denn die zwei – mit Sprecherwechseln zusammenfallenden – Verknüpfungen lauten schlicht „You know … you know …“ und (nach einer Wiederholung des letzten Satzes des vorigen Sprechers) „… and … uh …“.744 Bevor wir abschließend wieder zur Literaturgeschichte der Erzählsammlungen zurückkehren, ist noch ein Blick auf einen Autor zu werfen, dessen Schriften nicht in diese Gruppe gehören, aber dennoch auch in Hinblick auf die Verknüpfungstechnik zu einem wenigstens punktuellen Vergleich einladen. Es gibt zehn Stellen, wo Valerius Maximus dieselben zwei oder drei Geschichten unmittelbar hintereinander erzählt wie Cicero.745 Aber wiewohl Cicero diese von ihm als Doppel- oder Dreifachexempla verwendeten Geschichten zum Teil mit Mitteln aneinanderbindet, die auch bei Valerius Maximus vorkommen,746 verdient festgehalten zu werden, dass die für die konkreten Anekdoten gewählten 744
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Telling the American Story. A Structural and Cultural Analysis of Conversational Storytelling, Cambridge, Mass. 1989, S. 86–92. Bei Neil R. Norrick: Contextualizing and recontextualizing interlaced stories in conversation, in: Sociolinguistics of Narrative, hg. von jornborrow/Coates, S. 107–127, hier 111–120, geht es um eine ähnliche Erzählsituation, aber die zwei ‚interlaced stories‘ der beiden Erzählerinnen sind eher Episoden einer holistisch angelegten Geschichte, die nicht nur demselben Erlebniszusammenhang angehören, sondern in direkter zeitlicher und kausaler Kontinuität stehen (die erste dient der Vorbereitung der zweiten, in der die Pointe liegt; eine dritte Sprecherin leitet das Ganze als Einheit ein und sorgt am Ende der ersten Episode durch einen Überleitungssatz dafür, dass auch die Folgeepisode erzählt wird). Ich beziehe mich auf die Listen der Parallelen bei Bliss, S. 284–294. Siehe auch die erzähltechnisch-strukturellen Vergleiche oben S. 200–212. Neben Reden sind insbesondere auch philosophische Texte reich an Mehrfachexempla. Auf die Ähnlichkeit mancher Passagen wie z. B. Sen. dial. 5,14–23 mit den Kapiteln des Valerius Maximus hat schon Guerrini: Studi, S. 24f., Anm. 39, zu Recht hingewiesen (dort, S. 22, Anm. 32, heißt es auch, man würde aus Valerius Maximus ein allgemeingültiges System rhetorischer Verknüpfungen rekonstruieren können; zu Senecas Überleitungen nichts bei Kurt Gebien: Die Geschichte in Senecas philosophischen Schriften. Untersuchungen zum historischen Exempel in der Antike, Diss. Konstanz 1969, Mayer: Exempla in Seneca oder Matthew Roller: Between unique and typical. Senecan exempla in a list, in: Exemplarity and Singularity. Sinking through Particulars in Philosophy, Literature, and Law, hg. von Michèle Lowrie/Susanne Lüdemann, London 2015, S. 81–95). Eine Aufzählung von Exemplareihen in verschiedensten Werken der antiken Literatur findet man bei Lumpe. Aus der Neuzeit sei hier nur auf die
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Verknüpfungen mit einer einzigen Ausnahme (6,3,1b–1c = Cic. dom. 101, aber in umgekehrter Reihenfolge; bei beiden Autoren über den Grund der Strafe, bei Valerius Maximus zusätzlich auch über die Übereinstimmung der Strafe selbst verknüpft747) nie übereinstimmen. Val. Max. 1,8,1a–b entspricht Cic. nat. deor. 2,6, aber dort werden die Exempla über die zeitliche Abfolge verknüpft (et recentiore memoria). 1,5,3–4 entspricht Cic. div. 1,103–104, aber dort werden die Exempla isolierend angereiht. 1,6, ext. 2 –ext. 3 entspricht Cic. div. 1,78, wo die Exempla durch einen nicht verknüpfenden extradiegetischen Satz getrennt werden, und 2,66, wo sie zu Substantivgruppen verknappt und mit aut verbunden werden. 3,6,2–3 entspricht Cic. Rab. Post. 27, wo die Exempla in umgekehrter Reihenfolge und mit vero verknüpft stehen. 4,3, ext. 3b–ext. 4a entspricht Cic. Tusc. 5,91–92, wo sie hierarchisierend verknüpft werden (at vero Diogenes liberius […]). 6,1,1–2 entspricht Cic. fin. 2,66, wo sie über die historische Abfolge verbunden werden (causa civitati libertatis fuit und sexagesimo anno post libertatem). 8,1, damn. 2–damn. 3 entspricht Cic. Rab. perd. 24, wo sie mit et verknüpft werden. 8,5,1–3 entspricht Cic. Font. 23–24, wo sie durch Bewertungen der Personen (einmal mit ecquem und einmal isolierend) eingeleitet werden. 8,7, ext. 2–ext. 3 entspricht Cic. fin. 5,87, aber dort stehen die Exempla in umgekehrter Reihenfolge und werden durch die Frageanapher cur Plato […]? cur […]? cur […]? cur ipse Pythagoras […]? sowie durch die Synonyme peragravit und lustravit (statt Industriae und studii) verbunden. Es wurde oben bereits angedeutet, dass es mittelalterliche und frühneuzeitliche Sammelwerke gibt, die in der Übergangstechnik Ähnlichkeiten mit Valerius Maximus aufweisen.748 Auf vier derartige Fälle soll hier kurz eingegangen werden.
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Essais von Montaigne († 1592) hingewiesen, die Mehrfachexempla manchmal mit valerianisch anmutenden Formulierungen wie Et au mesme siege, fut memorable la peur qui […] oder Pareille rage pousse par fois toute une multitude (beide unmittelbar hintereinander in 1,17 = Les Essais, hg. von Jean Balsamo/Michel Magnien/Catherine Magnien-Simonin, Paris 2007, S. 78) verknüpfen (auch die Kapitelthemen erinnern an Valerius Maximus, die überwiegend philosophisch-diskursive Ausarbeitung dagegen eher an Seneca; zu Valerius Maximus als punktuell benutzter Quelle siehe Pierre Villey: Les sources & l’évolution des Essais de Montaigne. Tome premier. Les sources & la chronologie des Essais, Paris 1908, S. 233, zu Montaignes Umgang mit Exempla oder Anekdoten generell Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte, in: Geschichte – Ereignis und Erzählung, hg. von Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel, München 1973, S. 347–375, hier 366–375, Tom Conley: From Antidote to Anecdote. Montaigne on Dissemblance, in: SubStance 118 = 38.1, 2009, S. 5–15, und Godart sowie unten bei Fn. 1120). Ein 6,3,1a entsprechendes Exemplum folgt bei Cicero ebenfalls noch, aber von 1b–c durch ein zusätzliches, von Valerius Maximus nicht verwendetes Exemplum getrennt. Vgl. oben Fn. 627.
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Im sogenannten Liber exemplorum in usum praedicantium (ca. 1275–1279)749 sind trotz der vermuteten Intention als Fundgrube für Prediger750 die meisten Einzelerzählungen miteinander verknüpft, sehr oft extradiegetisch als bloße Hinzufügungen (z. B. 4: Adhuc autem hiis adiungo verbum quoddam […], 5: Hoc etiam verbum non est pretermittendum) oder – was bei Valerius Maximus nicht vorkommt – als Übernahmen aus derselben Quelle (z. B. 11: Aliud quoque exemplum ibidem scriptum est […]), aber auch etwa über eine extradiegetische Wertung (z. B. 13: Secundum autem exemplum non multo minus horridum), über inhaltliche Ähnlichkeit, die auf verschiedene Weise ausgedrückt (z. B. 18: Alius quoque subiungit exemplum super hac materia […], 24: Ad idem vero facit quod […], 26: Aliud exemplum de virtute crucis, 43: Exemplis autem memoratis consonat gloriose quod rettulit michi […]) und – etwa auf eine andere Zeit – übertragen werden kann (z. B. 16: Nostris quoque diebus […]), oder ‚mechanisch‘ mit Konnektoren wie autem oder Preterea (z. B. 33). Franco Sacchettis Trecentonovelle (ca. 1392–1400),751 eine Sammlung von Erzählungen, die heute als Kurzgeschichten oder Novellen gelten, aber der vom Autor bekundeten Intention nach dem Anekdotischen durchaus nahestehen (der Begriff novella bezeichnet damals noch keine literarische Gattung, sondern ein erzählenswertes Ereignis, und Sacchetti lehnt die Einordnung als favole, also Fiktion, ausdrücklich ab752), stellen den Einzeltexten jeweils eine kurze Zusammenfassung in einem Satz voran. Über diese hinweg wird aber häufig – wohl in mehr als der Hälfte der Fälle – am eigentlichen Novellenanfang (der oft in einem zweiten Abstract besteht) an die vorige Novelle angeknüpft, sei es rein extradiegetisch 749
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Liber exemplorum ad usum praedicantium saeculo XIII compositus a quodam fratre minore Anglico de provincia Hiberniae, hg. von A. G. Little, Aberdeen 1908. Valerius Maximus scheint nicht verwendet zu sein (vgl. die Quellenliste ebd., S. x–xi). Sicher lässt sich darüber freilich nichts sagen. Der Titel ist modern, und ein Vorwort ist ebenso wenig erhalten (vgl. ebd., S. v–vi). Franco Sacchetti: Il Trecentonovelle, hg. von Valerio Marucci, Rom 1996. Erhalten sind nur 222 Erzählungen (nicht mit zusammenhängenden Nummern; gezählt ebd., S. xviii). Vgl. Irena Prosenc Šegula: «E io scrittore». Stratégies narratives et vérité historique dans le Trecentonovelle de Franco Sacchetti, in: Cahiers d’études italiennes 6 (2007), S. 47–57: Sacchetti besteht sowohl in der (unvollständig erhaltenen) Vorrede als auch wiederholt in den einzelnen Erzählungen auf deren bezeugbarer Faktizität – nicht etwa bloß, wie Boccaccio im Vorwort des Decameron, auf einer ideellen, allgemeinmenschlichen Wahrheit –, auch wenn er zugibt, dass er sich etwa bei den Identitäten der Hauptpersonen irren könne („questo serebbe piccolo errore, ma non serebbe che la novella non fosse stata“). Tatsächlich schöpft er natürlich aus der literarischen Erzähltradition (vgl. etwa Tschögele: Beccadelli, S. 236f., zu einer Fabel im Trecentonovelle, die in etwas abweichender Variante schon von Raimundus Lullus erzählt wird). Einen inhaltlichen Bezug zur antiken historisch-anekdotischen Tradition scheint es nicht zu geben, während Sacchetti etwa in einem anderen Werk (Sermoni evangelici) zwei Anekdoten fast wörtlich aus Valerius Maximus übernimmt (dazu Letterio Di Francia: Franco Sacchetti novelliere, Pisa 1902, S. 68 und 76).
Übergangstechnik
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(z. B. 5: Ora voglio mutare un poco la materia e dire come […], 16: Ora verrò a dire di una che […]), durch Personengleichheit (z. B. 12: Da poi che ho messo mano in Alberto da Siena, seguirò ancora di dire di lui una piacevole novelletta, 14: Non voglio lasciare la quarta novella d’Alberto), auch kombiniert mit inhaltlicher Ähnlichkeit (z. B. 13: Similmente questo Alberto […]), Gleichzeitigkeit (z. B. 20: Questo Basso […] in questi due mesi di sopra contati […]) oder einer Assoziation mit einer Sache (z. B. 19: Questa pera mézza, con la quale il Basso fece cosí bene i fatti suoi, mi reduce a memoria un’altra novella di pere mézze, fatta già per lo detto Basso), durch Gleichsetzung (z. B. 7, die vorhergehende Novelle rekapitulierend: […] sí come il Basso d’un nuovo uccello contentasse il marchese, 8: Questo che seguita non fu meno notabile consiglio che fosse il iudicio di messer Ridolfo), Abwägung (z. B. 9: Non so qual fosse piú sparuto di persona, o il Genovese passato a messer Giovanni della Lana da Reggio, del quale brievemente dirò in questa novella), Variation (z. B. 18: Come questo giovene acquistò puramente e con grande simplicità le lire cinquanta, cosí con grande astuzia il piacevol uomo Basso de la Penna, raccontato a drieto, in questa novella vinse a un nuovo giuoco piú di lire cinquanta di bolognini) oder Gegensätzlichkeit (z. B. 15: Il marchese Azzo da Esti andò cercando il contrario d’una sua sorocchia). Zwei weitere Beispiele entnehme ich der Gruppe humanistischer Werke, die Paolo Cherchi als ‚Geschichtskonkordanzen‘ charakterisiert.753 Das Werk, mit dem diese Tradition beginnt, Petrarcas unvollendete Rerum memorandarum libri (verfasst 1343–45),754 verwendet Valerius Maximus nicht bloß als Quelle,755 sondern ist auch seiner Anlage nach unverkennbar von ihm inspiriert. Dies gilt für die (freilich viel systematischer durchgeführte) Kapitelgliederung nach Tugenden und die kulturräumliche Unterteilung der Kapitel (wobei zu Romana und Externa noch Moderna hinzukommen), aber eben auch für die Übergangstechnik, die sich annähernd des ganzen bei Valerius Maximus zu findenden Repertoires bedient,756 ungeachtet der in manchen Druckausgaben als Anekdotenüberschriften eingesetzten Personennamen.757
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Siehe Paolo Cherchi: Petrarca, Valerio Massimo e le ‘concordanze delle storie’, in: Rinascimento, s.s. 42 (2002), S. 31–65. Rerum memorandarum libri, hg. von Giuseppe Billanovich, Florenz 1945. Siehe das Stellenregister ebd., S. 307f. Zum Einfluss des Valerius Maximus auf das Werk vgl. generell Cherchi: ‘Concordanze’ und Se Unforgettable Books of jings to Be Remembered. Rerum memorandarum libri, in: Petrarch. A Critical Guide to the Complete Works, hg. von Victoria Kirkham/ Armando Maggi, Chicago 2009, S. 151–162, der allerdings nicht auf die Übergangstechnik eingeht, sondern innerhalb der Kapitel nur die Gegenüberstellung von Römischem und Externem als von Petrarca adaptierte Strukturbesonderheit erkennt. Vgl. etwa Francisci Petrarchæ v.c. Rerum memorandarum, lib. IIII, Bern 1604. In den Handschriften und folglich in Billanovichs Edition (siehe dort, S. cxxxvi–cxxxvii, Anm. 2) handelt es sich lediglich um Marginalien.
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Die Kapitel
In ihrer Anlehnung an Valerius Maximus von Hause aus radikaler sind die De dictis factisque memorabilibus collectanea von Battista Fregoso oder Fulgos(i)us, einem ehemaligen Dogen von Genua (verfasst zwischen 1483 und seinem Tod 1504),758 die sich explizit als modernes Gegenstück zu Valerius Maximus präsentieren. Sie übernehmen von ihm nicht nur die Grundkonzeption und die Zweiteiligkeit der Kapitel – wobei der zweite Teil anstelle von externa die recentiora (beginnend mit der Spätantike!) umfasst, während der erste römische, griechische und sonstige antike Anekdoten vereint –, sondern die konkrete Bucheinteilung, die Kapitelthemen und -überschriften und ihre Reihenfolge.759 Die Quellen der Geschichten sind verschiedenartig,760 Valerius Maximus selbst wird naheliegenderweise gemieden.761 Wie bei Petrarca gibt es über Personenüberschriften762 hin758
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Baptistæ Fulgosi de dictis factisque memorabilibus collectanea, übers. von Camillus Gilinus, Mailand 1509 (Erstausgabe). Zum Autor siehe Giampiero Brunelli: Fregoso (Campofregoso), Battista, in: DBI 50 (1998). Das Werk wurde ursprünglich in der Volkssprache verfasst und postum von Camillus Gilinus übersetzt (so der Kolophon des Erstdrucks: opus a Baptista Fulgoso uernacula lingua conscriptum: & a Camillo Gilino latinum factum; das Originalmanuskript ist vorhanden in der British Library, Ms. Harley 3878; siehe A Catalogue of the Harleian Manuscripts, in the British Museum. Vol. III, [London] 1808, S. 90, sowie Gian Giacomo Musso: La cultura genovese fra il quattro e il cinquecento, in: Miscellanea di storia ligure 1, 1958, S. 121–187, hier 132– 138 und 175–183). Die Studie von Alison Holcroft: Sixteenth-century exempla collections, Diss. (M.Phil.) London 1976 (auch zu drei weiteren Sammlungen aus dem 16. Jhd.: Marko Marulić, De bene vivendi institutione; Sabellicus, siehe unten Fn. 764; Giovanni Battista Egnazio, De exemplis illustrium virorum) geht nicht auf Verknüpfungstechniken ein. Siehe schon Holcroft, S. 58–61 (auch zu Fregosos expliziter Auseinandersetzung mit der mitunter arbiträr scheinenden Kapitelreihenfolge und der Schwierigkeit, zu manchen der Kapitelthemen moderne Beispiele zu finden), und José Aragüés Aldaz: El modelo de los Dicta et facta memorabilia en la configuración de las colecciones de exempla renacentistas, in: Humanismos y pervivencia del mundo clásico. Actas del I Simposio sobre humanismo y pervivencia del mundo clásico (Alcañiz, 8 al 11 de mayo de 1990), hg. von José Maria Maestre Maestre/Joaquín Pascual Barea, Cádiz 1993, S. 267–282. Im Buch ist (am Ende der Praefatio) eine Liste der Quellenautoren abgedruckt, die von Herodot bis in die Gegenwart reicht. Zu einer Übernahme aus den Dicta et facta des Antonio Beccadelli vgl. Tschögele: Beccadelli, S. 238 (eine Variante der auch bei Sacchetti vorkommenden Fabel). Fregoso definiert das Verhältnis zu seinem Vorbild in der (unpaginierten) Praefatio wie folgt: In iis autem rationem illam secutus sum: ut Valerium Maximum mihi quo ad rerum titulos capitaque ac numerum librorum proponerem: sed in exemplis rebusque ea tantum sumerem quæ uel ipsum præteriissent: uel post eum gesta nullo modo in eius noticia esse potuissent. Nam quæ ab eo scripta fuerunt: attingere: aut impudentis fuisset: quia ex alieno labore laudem mihi quesiuisse uisus essem: aut amentis: dum luculentissimo stilo a Valerio notata: ipse uel magis ornate [spätere Drucke wie Baptistæ Fulgosii Factorum, dictorumque memorabilium libri IX, Antwerpen 1565, ergänzen:
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weggehende Verknüpfungen, die zumindest in Hinblick auf die die Mehrheit der Fälle ausmachende Anknüpfung durch die diversen Spielarten der Ähnlichkeit in [ema und Handlung sowie auf die extradiegetischen Mittel und Einkleidungen durchaus der Technik des Valerius Maximus entsprechen.763 Ein eingehenderer Vergleich mit Valerius Maximus und dem von Fregoso nicht als Vorbild genannten Petrarca – in dieser und anderer Hinsicht – wäre zu wünschen, ebenso eine breiter angelegte strukturelle Untersuchung zur übrigen concordanze-Literatur. Dass eine Erfassung und Nachahmung der gestalterischen Eigenheiten selbst eines explizit genannten Vorbilds keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt ein Blick in Balthasar Exners Valerius Maximus Christianus (1620),764 der sich nicht nur in der Gesamtstruktur mehr Freiheiten nimmt – es gibt thematische Kapitel von ähnlicher Art wie bei Valerius Maximus, aber nicht dieselben, sondern viel zahlreichere und in alphabetischer Reihenfolge –, sondern die Anekdoten auch fast immer rein isolierend präsentiert. Die Verknüpfungstechnik des Valerius Maximus vermochte, wie auch an Beispielen wie den Gesta Romanorum und den Dicta et facta des Antonio Beccadelli765 zu erkennen, nicht zum Gattungsmerkmal europäischer Anekdotensammlungen schlechthin zu werden. Aber dass sich eine solche Technik, obwohl zeitund kulturübergreifend selten, gerade im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Europa wiederholt und in so verschiedenartigen Werken wie dem Liber exemplorum, dem Trecentonovelle und den ‚Geschichtskonkordanzen‘ wiederfindet, darf
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scribere] latinæ orationis prorsus expers confiderem: uel adempto Valerii nitore pro prætexta lutulento sago amicerem [1565: amicirem]. Es mag sich natürlich wie bei Petrarca ursprünglich um Marginalien gehandelt haben – sofern die Überschriften nicht sogar zur Gänze auf die Editoren der Druckausgaben zurückgehen (die ja zum Teil auch Valerius Maximus mit ähnlichen Einzelüberschriften versahen; siehe oben Fn. 101). Aragüés, S. 279, erwähnt Verknüpfungen (‚algún comentario que vincula las narraciones‘) nur anlässlich der als Gruppierungskriterium besprochenen Personengleichheit und -ähnlichkeit. Balthasaris Exneri de Hirschberga Valerius Maximus Christianus. Hoc est, Dictorum et factorum memorabilium, vnius atque alterius Seculi. Impp. Regum, Principum, inprimis Christianorum, libri novem, Hanau 1620. Er schöpft inhaltlich zum Teil aus Beccadelli (etwa die oben erwähnte Fabel: ebd., S. 63f.). Im Gegensatz zu Fregoso konzentriert er sich auf rezente Personen, d. h. frühneuzeitliche und in geringerem Ausmaß mittelalterliche, großteils aber solche des 15. und 16. Jhds. (darauf bezieht sich vnius atque alterius Seculi im Werktitel). Marijke Crab: Valerius Maximus Christianus, in: On Good Authority. Tradition, Compilation and the Construction of Authority in Literature from Antiquity to the Renaissance, hg. von Reinhart Ceulemans/Pieter De Leemans, Turnhout 2015, S. 263–277, befasst sich entgegen dem Titel nicht mit dem Valerius Maximus Christianus, sondern mit den De memorabilibus factis dictisque libri decem exemplorum des Marcus Antonius Coccius Sabellicus († 1506; siehe zu diesem Werk auch Holcroft und Aragüés) und einer späteren Auswahl daraus. Siehe oben Fn. 587f.
Die Kapitel
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man wohl – ohne in jedem Fall eine direkte Abhängigkeit zu behaupten – mit der damaligen Beliebtheit seines Werks766 in Verbindung bringen. 2
Anordnung der Anekdoten
Mit den Ordnungsprinzipien der Kapitel des Valerius Maximus – also der Reihenfolge und Gruppierung der Anekdoten – hat sich die bisherige Forschung zwar intensiver befasst als mit den Übergängen. Man fühlt sich allerdings angesichts der Ergebnisse wiederum an die Metamorphosen erinnert, deren Komposition sich trotz scharfsinnigen Versuchen jeder holistischen Beschreibung zu entziehen scheint.767 Unsere Auseinandersetzung mit dem [ema hat zunächst die Form einer kritischen Prüfung und Ergänzung dieser Ergebnisse, wobei besonders auf die Beziehung zwischen Anordnung und Verknüpfungstechnik und auf die Rolle der Chronologie768 eingegangen werden soll. Der ambitionierteste Versuch, in einzelnen Kapiteln ausgefeilte Strukturen nachzuweisen, stammt von Robert Honstetter.769 Er analysiert die Kapitel 2,6, 2,7, 6,2 und 6,3, eingangs bekennend, „daß es sich dabei um die gelungensten und am deutlichsten strukturierten Rubriken handelt und daß es freilich eine ganze Reihe von Kapiteln gibt, die keine Anzeichen einer Untergliederung aufweisen“.770 In 2,6 (dem letzten, nichtrömischen Kapitel De institutis antiquis) stellt er zwei verschiedene, aber konvergierende Ordnungsprinzipien fest. Das mit Anekdoten aus Sparta und Athen beginnende Kapitel schreite zu immer exotischeren oder barbarischeren Völkern fort (Massilia – Gallien – Kimbern und Keltiberer – [rakien – Lykien – Indien – Persien – Numidien). Zugleich würden die berichteten Sitten immer bewundernswerter, wobei die Anekdote 14 (Indien), in einem Evaluationsabschnitt explizit über die drei vorangehenden erhoben, den Höhepunkt bilde. Ausnahmen vom Schema seien 8 (die homodiegetische Anekdote aus Keos, die explizit als Exkurs eingeführt wird) und 15 (Punierinnen als negativer Kontrast zu den Inderinnen). Diese Analyse weist nicht unerhebliche Schwächen auf – auch abgesehen von dem eingestandenen Faktum, dass auf Höhepunkt und Kontrastbild noch zwei in 766 767
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Siehe oben S. 17f. und unten S. 334–343. Zur Buch- und Gesamtstruktur bei Valerius Maximus, für die Ähnliches gilt, siehe oben S. 30–42. Sie ist – weil dem Erzählerischen fernerstehend – nicht jema der vorliegenden Arbeit. Die Datierungen der erzählten Ereignisse werden aus den Fußnoten der Edition von Shackleton Bailey, subsidiär auch aus der von Combès sowie den Personenartikeln in RE und DNP übernommen. Honstetter, S. 53–66. Ebd., S. 54 (mit 210, Anm. 109, wo 6,1: De pudicitia als Beispiel für den letzten Punkt genannt wird; siehe aber unten Fn. 839).
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‚hierarchischer‘ Hinsicht recht beliebige Anekdoten folgen. Denn sosehr es zutrifft, dass 14 als Höhepunkt dargestellt wird: innerhalb von 1–13 ist eine Hierarchisierung aus dem Text nicht ableitbar. Und die vermeintliche Progression zu größerem Exotismus und Barbarentum ist wohl eher bloß eine Zweiteilung in ‚Griechen‘ und ‚andere‘ – schließlich lässt sich kaum sagen, dass Lykien barbarischer sei als die Kimbern oder Numidien exotischer als Indien. Tatsächlich scheint sich Valerius Maximus einer noch etwas komplexeren Struktur zu bedienen als Honstetter annimmt. Am Anfang steht wohl eine Reihung nach Wertschätzung: erst Sparta (1–2), von dem es heißt, es sei besonders ‚römisch‘ (1: Idem sensit proxima maiorum nostrorum gravitati Spartana civitas), dann Athen (3–6), die ansonsten nach allgemeiner Meinung ehrwürdigste griechische Stadt.771 Innerhalb des ersten Anekdotenpaars steht 1 voran wegen der zur Anknüpfung dienenden Ähnlichkeit mit der letzten Anekdote von 2,5; die AthenGruppe endet mit 6 wegen der Übereinstimmung mit einer der Anekdoten von Massilia (7a). In der Massilia-Gruppe beginnt mit 7c eine bis 14 reichende – weder hier noch im Folgenden explizit gemachte – Sachgruppe zum [ema ‚Tod‘. Die vorletzte Massilia-Anekdote (7e) ist Auslöser für den bekannten homodiegetischen Exkurs in 8.772 Darauf folgt mit 9 noch eine Massilia-Anekdote, die den Sachzusammenhang durchbricht; dass sie hier steht statt bei 7b, ist aber dennoch gut begründbar, denn es ist vom Verlassen der Stadt die Rede (intrare oppidum eorum nulli cum telo licet, praestoque est qui id custodiae gratia acceptum exituro reddat), das in 10 als bildlicher Ausdruck für den Übergang zu den Galliern verwendet wird (Horum moenia egresso vetus ille mos Gallorum occurrit).773 Auch für 11–14 darf man von einer geographischen Ordnung ausgehen (die Kimbern und Keltiberer in 11 gehören wie Massilia und die Gallier zum Westmittelmeerraum, 12–14 dagegen zum Osten – in ostwärts fortschreitender Abfolge: [raker – Lykier – Inder), die freilich nicht mehr explizit gemacht wird. Mit 14 endet die Sachgruppe ‚Tod‘. 15 ist, wie schon Honstetter feststellt, ein moralischer Kontrast zu 14 (es geht in beiden Fällen um Ehefrauen).774 16 und 17 bilden eine neue – und ebenso wenig explizite – Sachgruppe zum [ema ‚emotionale Distanz‘. In 2,7 (De disciplina militari) erkennt Honstetter im römischen Teil (der ‚externe‘ umfasst nur zwei Anekdoten) zwei miteinander verschränkte Ordnungen.
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Der Beginn mit Sparta und Athen (in dieser Reihenfolge) begegnet auch in anderen Kapiteln, z. B. in 6,3 (siehe unten bei Fn. 782). Siehe oben S. 240 und 246 sowie oben bei Fn. 311 und unten bei Fn. 842. Siehe oben S. 246. Die Stellung von 14 am Ende der Todesanekdoten ist also vierfach ‚passend‘: wegen der möglichen Anknüpfung von 15, wegen der geographischen Ordnung und als Endstellung eines moralischen Höhepunkts und einer Anekdote über Frauen (vgl. unten bei Fn. 825). Wahrscheinlich ist der erste Punkt der ausschlaggebende (wie bei 1 und 6), der zweite (d. h. die ganze geographische Ordnung) dadurch determiniert und die letzten zwei zufällig.
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Die Kapitel
Strukturprinzip A besteht in der Bildung von Sachgruppen, nämlich Disziplinierung durch Einzelpersonen (1–14) und durch den Senat (15a–f), innerhalb der ersten Gruppe ‚Wiederherstellung der militärischen Disziplin‘ ohne Strafcharakter (1–2), Bestrafung von Verwandten (3–6) und von Nicht-Verwandten (7–14), innerhalb der Verwandten fernere (3–5) und engere (6a–b775) und innerhalb der Nicht-Verwandten Römer (7–12) und Nichtrömer (13–14). Auf dieser letzten Ebene kommt das Strukturprinzip B, ein Klimax-Antiklimax-Schema, ins Spiel, denn die Verwandten sind nicht nur zweigeteilt, sondern ‚aufsteigend‘ geordnet (3: Schwiegersohn, 4: Blutsverwandter, 5: Bruder, 6a–b: Söhne), und die NichtVerwandten stehen in absteigender Rangfolge (7: Konsul, 8: magister equitum, 9: praefectus equitum, 10–12: einfache römische Soldaten, 13–14: nichtrömische), so dass durch das Aufeinandertreffen von engster Verwandtschaft (6a–b) und höchstem Rang (7) ein „Gipfel [an] Bewunderung und Mitleid“ entsteht. Honstetters Analyse überzeugt in diesem Fall vollauf. Er kann die Gruppenbildung stets durch Verweis auf entsprechende Überleitungen belegen (z. B. in 3: Bene etiam illi disciplinae militari adfuerunt qui necessitudinum perruptis vinculis ultionem vindictamque […] exigere non dubitaverunt776), und das Klimax-Antiklimax-Schema ist zu perfekt, um – bei einer Gesamtzahl von immerhin 13 Anekdoten (3–14, wobei 6 in zwei zerfällt) – zufällig zu sein.777 Was die Ordnung innerhalb der Gruppen angeht, ist die Analyse dahingehend zu ergänzen, dass 1–2, 6a–b und 10–11 in chronologischer Abfolge stehen, während sich die Stellung von 12 und 13 dadurch erklären lässt, dass in beiden Scipionen als Strafende auftreten. Keine Ordnung ist in 15a–f sowie in ext. 1–ext. 2 ersichtlich. In 6,2 (Libere dicta aut facta) weist Honstetter nach, dass der römische Teil nach den Adressaten der libertas gegliedert ist. Zuerst richtet sie sich gegen Institutionen (1–3), dann gegen Einzelne (4–12), und zwar gegen Pompeius (4–9) sowie ‚Carbo u. Cäsar‘ (10–12). Die Pompeius-Anekdoten zerfallen wiederum in solche mit ‚prominenten‘ (4–7) und ‚niedrigen‘ (8–9) Protagonisten.
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So Honstetter. In der Edition von Shackleton Bailey wird 6 (zwei Anekdoten mit gemeinsamer Einleitung) nicht geteilt. Die übrigen Fälle: 5, am Ende: Non digna exempla tam breviter, nisi maioribus urguerer, referrentur […]; 8: Eiusdem ordinis quod sequitur; 12, am Ende: […] cum praesertim transire ad ea liceat quae sine domestico vulnere gesta narrari possunt; 15a: Sed tempus est eorum quoque mentionem fieri quae iam non a singulis verum ab universo senatu […] administrata sunt. Honstetters Schluss, solche „admirative und sympathetische Identifikation“ bewirkende Strukturen sowie die im Werk vorkommenden entsprechenden Stilmittel und Kommentare bewiesen eine literarische Intention und „verb[ö]ten sich bei einem rhetorischen Stoffrepertorium“, ist nicht zwingend. Kann und soll nicht ein Redner denselben Effekt anstreben? Und darf ein Handbuch nicht zusätzlich zum bloßen Stoff auch die effektvolle Gestaltung (einschließlich der Anordnung mehrerer Exempla) vorwegnehmen?
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Mit expliziten Bemerkungen im Text kann Honstetter diesmal nur zwei der Gruppierungen belegen, nämlich die Pompeius-Gruppe (4: totiens, eine Mehrzahl von Fällen ankündigend) und deren Unterteilung (7, am Ende: eaque patientia inferioris etiam generis et fortunae hominibus aditum adversus se dedit: e quorum turba duos rettulisse abunde erit), wobei hinzuzufügen ist, dass das ‚niedrige‘ Fallpaar seinerseits absteigend geordnet ist (8, am Ende: sed non patitur nos hoc longiore querella prosequi personae insequentis aliquanto sors humilior). Die Verknüpfungen in 2 und 3 (2: adversus eundem ordinem; 3: Quid? populum ab incursu suo libertas tutum reliquit?) halten dagegen nicht, wie Honstetter meint, eine ‚Institutionen‘-Gruppe zusammen, sondern trennen Senat (1–2) und Volk (3). Und danach wird zu Pompeius übergeleitet, nicht zu Einzelpersonen generell (in 3 hat sich das Volk eine Zurechtweisung durch die Autoritätsperson Scipio gefallen lassen; daher, so heißt es in 4, sei es nicht verwunderlich, dass viele Leute freimütig gegenüber der Autoritätsperson Pompeius sein durften). Dies ändert natürlich nichts an der faktischen Existenz der von Honstetter erkannten Zweiteilung, aber es verdient festgehalten zu werden, dass sie vom Text eher verschleiert als kenntlich gemacht wird. Überhaupt keine Grundlage gibt es dagegen für eine Zusammenfassung der Carbo-Anekdote (10) mit denen zu Caesar (11) und den Triumvirn (12).778 Hier liegt keine echte Sachgruppe vor, sondern einfach drei ‚sonstige‘ Anekdoten nach Abschluss der Pompeius-Gruppe. Innerhalb von 1–2 und wohl auch 10–12779 ist die Abfolge chronologisch, in 4–7 und 8–9 nicht. Die Stellung von 7 ist wohl durch die Überleitung motiviert (die ungerührte Reaktion des Pompeius auf die libertas in 7 wird als Erklärung dafür verwendet, dass auch die ‚niedrigen‘ Personen in 8–9 ihm gegenüber Ähnliches wagten). Was den externen Teil angeht, weist Honstetter zu Recht darauf hin, dass er mit einem Kontrast zum ganzen übrigen Kapitel endet – die dritte und letzte Anekdote behandelt einen Fall von libertas, die bestraft wird, während sie sonst entweder ausdrücklich erfolgreich oder straflos ist oder die Reaktion des Adressaten unerwähnt bleibt. Die Abfolge von ext. 1 und ext. 2 bleibt unerklärt. In 6,3 (De severitate) zerfällt der römische Teil laut Honstetter in zwei Gruppen, bestrafte Männer (1a–5) und bestrafte Frauen (6–12), untergliedert einmal nach der Art des Vergehens (1a–2: gegen die libertas, 3a–b: gegen die dignitas, 3c–5: gegen die disciplina) und einmal nach deren Schwere (6–8: ‚schwer‘, 9–12: ‚geringfügig‘); mit Blick auf die letzte der so entstehenden fünf Untergruppen
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Von Honstetter auf die ersten Triumvirn Caesar, Pompeius und Crassus bezogen (entsprechend der Lesart temporibus ; siehe unten Fn. 1186), während Shackleton Bailey die Geschichte ins Jahr 42, also die Zeit des zweiten Triumvirats, datiert (so auch Richard A. Bauman: Lawyers in Roman Transitional Politics. A study of the Roman jurists in their political setting in the Late Republic and Triumvirate, München 1985, S. 118). Wenn man Baumans und Shackleton Baileys Datierung folgt.
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könne man, obwohl die Strafen explizit gerechtfertigt werden, von einer „abnehmenden Eindeutigkeit der Aussage“ sprechen. Die Gruppierungen kann Honstetter durch Übergänge im Text belegen (3a: Libertatis adhuc custos et vindex Severitas, sed pro dignitate etiam ac pro disciplina aeque gravis; 6: Sic se in viris puniendis Severitas exercuit, sed ne in feminis quidem supplicio adficiendis segniorem egit; 9: Magno scelere horum severitas ad exigendam vindictam concitata est, Egnatii autem Mecennii longe minore de causa), wozu allerdings anzumerken ist, dass sich im letzten Fall horum auf die strafenden Protagonisten der unmittelbar vorangehenden Anekdote bezieht, die Abgrenzung also vordergründig nur gegen diese erfolgt. Dass nicht nur eine einzelne Bestrafung minore de causa folgt, sondern eine Gruppe, erkennt man zudem erst am Anfang von 10, wo die Haltung des Strafenden als „ebenfalls rau“ bezeichnet wird (Horridum C. quoque Sulpicii Gali maritale supercilium; es folgen 11: Nec aliter sensit […] und 12: Iungendus est his […]); die Gruppierung wird also wieder einmal eher dezent kenntlich gemacht. Beachtung verdient auch, dass von den vier ‚geringfügigen Vergehen‘ gerade das eine voransteht, das wie die ‚schweren‘ mit dem Tod bestraft wird (9). Honstetters Untergliederung der Männer-Anekdoten steht ein wohl besserer Alternativvorschlag von Gabriela Schmied gegenüber,780 die nur zwei Arten von Vergehen annimmt (1a–2: libertas und 3a–5: dignitas/disciplina)781 und bemerkt, dass innerhalb dieser beiden Untergruppen jeweils Bestrafungen durch Senat und Volk (1a–d und 3a–c) vor Bestrafungen durch Einzelpersonen (2 und 4–5) stehen, wenn auch nur beim ersten Mal auf den Übergang hingewiesen wird (2: Idem sibi licere P. Mucius tribunus plebis quod senatui et populo Romano credidit). Ausgehend von der so korrigierten Einteilung verbleiben im römischen Teil fünf noch unerklärte Abfolgen. Davon erweisen sich drei als chronologisch (3a–c, 4–5 und 6–8), zwei andere dagegen nicht (1a–d und 10–12). Im externen Teil, der nur drei Anekdoten umfasst, ist wie im Kapitel 2,6 die Voranstellung von (erstens) Sparta und (zweitens) Athen zu beobachten.782 Honstetter konnte, ungeachtet der nötig gewordenen Nuancierungen, in allen vier von ihm ausgewählten ‚gelungensten‘ Kapiteln inhaltliche Gruppierungen nachweisen, die teils in engem Zusammenhang mit der Übergangstechnik stehen.783 Wie verhält es sich nun mit dem Rest des Werks? Sind etwa die übrigen Kapitel planlos – durch rein spontane, assoziative Anknüpfung – entstanden, wie es W. Martin Bloomers Bild vom ‚rambling conversationalist‘784 nahelegt? Die Be780
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Schmied, S. 45f. (ohne Kenntnis der Arbeit von Honstetter; die Untergliederung der Frauen-Anekdoten nach Schwere entgeht ihr). Siehe zu dieser Arbeit auch oben bei Fn. 644 sowie unten S. 278–282, 288f. und Fn. 847. Sie versteht also pro dignitate etiam ac pro disciplina in der gemeinsamen Einleitung zu 3a–5 als Pleonasmus statt als Differenzierung. Honstetters Abgrenzung beruht darauf, unter disciplina ausschließlich Gehorsam zu verstehen. Siehe oben bei Fn. 771.
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obachtungen mehrerer Forscher – darunter auch Bloomer selbst – weisen in eine andere Richtung. Noch am zurückhaltendsten ist der chronologisch erste, Francis Royster Bliss,785 der geneigt ist, die Verknüpfungen für künstlich aufgezwungen zu halten („Valerius can twist almost anything into a connection, and many of his transitions are far-fetched“), gerade in der unsystematischen Anordnung der Anekdoten einen bewussten Kunstgriff sieht („part of an attempt to make the book readable as a literary unit“) und darauf verweist, dass Übergänge auch dort verwendet werden, wo sie wegen inhaltlicher Gleichheit keinen ordnenden Zweck erfüllen können, etwa in 3,2,19–24. Mit dem letzten Punkt ist aber immerhin schon die Existenz von Sachgruppen indirekt anerkannt. Und auch der Gedanke kausaler Zusammenhänge zwischen Reihenfolge und Verknüpfungstechnik wird von Bliss nicht komplett zurückgewiesen, sondern nur mit (allzu) großer Vorsicht behandelt. In einem Fall – am Ende von 1,6 (De prodigiis) stehen zwei Prodigien im Schlaf, daran angeknüpft wird 1,7 (De somniis): Sed quoniam divitem Midae disertumque Platonis somnum attigi […] – erklärt er es lediglich für möglich, dass die Anordnung um der Verknüpfung willen gewählt sei, obwohl daran vernünftigerweise kaum zu zweifeln ist. In einem anderen – 1,8,8: Facta mentione urbis, e qua primordia civitas nostra traxit, divus Iulius fausta proles eius se nobis offert – lässt er die Frage offen („Whether or not the transitional sentence here really explains the order, […]“) und interpretiert die Verknüpfung nur als Überdeckung eines störenden Zeitabstands („[…] the author felt the change was excessive and wanted to explain it away“), aber auch hier – eine Caesar-Anekdote wird an eine über Aeneas und Ascanius in Lavinium und Alba Longa angeknüpft786 – wird man sich eher nicht für die Zufallshypothese entscheiden. Dass bei Valerius Maximus stellenweise auch chronologische Abfolgen vorkommen,787 erklärt sich Bliss als Nachwirkung der verwendeten Quellen.788 783
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Vgl. schon Honstetter, S. 60: „Die Andeutung der Struktur bei Valerius ist zugleich ein Mittel zur Verknüpfung der Teile; oder andersherum: die vielgeschmähten valerianischen Verknüpfungen sind gerade im Kapitel de disciplina militari alles andere als oberflächlich-erzwungen; sie haben strukturierende Funktion“. Vgl. oben bei Fn. 576. Ähnlich auch Cogitore: Début, S. 75 (ohne Berücksichtigung der hier ausgewerteten Forschungsergebnisse): „les débuts de paragraphes servent essentiellement à marquer les étapes d’une pensée qui se déroule dans l’esprit de l’auteur […]“, „[ils] sont les entrées, destinées au lecteur, pour qu’il puisse prendre au vol le développement de l’auteur“. Bliss, S. 11–18. Der politisch-ideologische Wert der Verbindung liegt auf der Hand. Dass Caesar in 1,8,8 selbst Urheber des miraculum ist, in 1,8,7 jedoch die Penaten (die von Aeneas nach Lavinium und von Ascanius nach Alba gebracht werden und eigenmächtig nach Lavinium zurückkehren), ist dabei nebensächlich. Dazu ausführlicher unten S. 286f. Er sieht darin ausdrücklich keinen Hinweis auf eine systematische Sammlung als Quelle, denn auch sonst, etwa bei Cicero, sei die chronologische Ordnung die übliche
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Die Kapitel
Gabriela Schmied789 geht – vier Jahrzehnte später – ganz grundsätzlich davon aus, Valerius Maximus habe die Anekdoten „nicht willkürlich innerhalb eines Kapitels zusammengestellt, sondern versucht, sie zu ordnen“. Diese Ordnung ziehe sich manchmal durch das ganze Kapitel, oft jedoch werde sie nur „in kleineren Blöcken durchgeführt“, mit oder ohne einleitende Kennzeichnung. Dies ist als Fazit gewiss richtig, Schmieds Beispiele sind allerdings nicht in allen Fällen gleich überzeugend. Das Bindemittel ‚Vergleich‘ wird von Schmied nur in Form von Anekdotenpaaren behandelt, bleibt also auf der Ebene der Verknüpfung und nicht der Gestaltung größerer Kapitelteile. Anders steht es um die ‚inhaltliche Steigerung‘ im Dreierblock – sie will Schmied unter anderem in den Kapiteln 8,9 und 8,10 erkennen, deren römischer Teil jeweils nur drei Anekdoten umfasst. Tatsächlich nachweisen kann sie freilich in 8,9 nur eine Endstellung des berühmtesten Protagonisten (3: Divus quoque Iulius, quam caelestis numinis tam etiam humani ingenii perfectissimum columen […] cuius facta mentione, quoniam domesticum nullum maius adiecerim exemplum, peregrinandum est), die allerdings mit der alle drei Anekdoten ordnenden Chronologie790 zusammenfällt; was die Handlung angeht, könnte man sogar von einem Abstieg vom bedeutendsten zum unbedeutendsten Geschehen sprechen (1, zur ersten secessio plebis: ac ni Valerii subvenisset eloquentia, spes tanti imperii in ipso paene ortu suo corruisset!; 2: Ermordung des M. Antonius; 3: eine Bemerkung in einer Prozessrede). Und in 8,10 ist die behauptete „Steigerung sowohl in der Reihenfolge der Personen als auch in der Art der Darstellung“ (nämlich von der ‚allgemeinen Beschreibung‘ zur ‚konkrete[n] Situation‘) eindeutig nicht das der Anordnung zugrundeliegende Kriterium. Dieses wird vielmehr in der Praefatio (Eloquentiae autem ornamenta in pronuntiatione apta et convenienti motu corporis consistunt) und am Anfang von 3 (Nam M. Cicero quantum in utraque re de qua loquimur momenti sit […]) klar ausgesprochen: die erste Anekdote behandelt den Rhythmus der Rede, die zweite die Gestik und die dritte beide Aspekte.791 Wie in 8,9 ist auch innerhalb der von Schmied ebenfalls angeführten Dreiergruppen792 1,6,11–13 und 4,5,4–6 (jeweils Anekdoten zum ersten Triumvirat am Ende des
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bei Zusammentreffen mehrerer Exempla (er verweist auf Cic. Tusc. 1,110; vgl. außerdem Schoenberger: Reden, S. 31f.). Ferner heißt es, in manchen Kapiteln gebe es Spuren mehrerer separater Chronologien, was „möglicherweise“ auf mehrere Quellen hindeute; als Beispiel wird 1,6 genannt, leider ohne nähere Angaben. Die drei Anekdoten, die dort aus der generellen chronologischen Ordnung (des römischen Teils) herausfallen (siehe unten S. 282), sind jedenfalls nicht untereinander chronologisch geordnet (laut Shackleton Bailey spielt 2 im Jahr 211, 4 im Jahr 89, 7 im Jahr 137). Schmied, S. 44–54. Siehe schon oben S. 276 zu 6,3. Vgl. unten Fn. 823 (dort auch zu 8,9, ext.). 8,10, ext. besteht nur aus einer einzigen Anekdote. Zu einer weiteren Stelle, 3,2,1–3, die Schmied für die „sicherlich beste Verbindung zu einem Dreierblock“ hält, siehe unten bei Fn. 894.
Anordnung der Anekdoten
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römischen Teils) die ‚Steigerung‘ auf eine Endstellung Caesars zu reduzieren (1,6,13 und 4,5,6 handeln von Caesar selbst, 1,6,12 und 4,5,5 von Pompeius im Kampf gegen Caesar), die überdies einer durchgehenden chronologischen Ordnung entspricht. Die Zusammenstellung der drei Personen des Triumvirats ist als solche dasselbe Phänomen wie die von Schmied separat angesprochenen Blöcke von Anekdoten zu einer Person oder Familie.793 Für sachliche Gruppierungen bietet Schmied nur zwei recht offensichtliche Beispiele – zwei der vier Kapitelteile, die von der Überlieferung mit Zwischenüberschriften versehen wurden.794 Die zitierte Ankündigung ist freilich nur in 9,13, ext. 2–ext. 4 wirklich explizit gruppierend (Referam nunc eos quibus […]), während in 8,11, ext. 5–ext. 7 die Überleitung zunächst nur zu einem Einzelfall erfolgt (Ceterum Natura […] Artem […] aliquando irritam fesso labore dimittit. quod summi artificis Euphranoris manus senserunt) und die Gruppe erst bei Lektüre der folgenden Anekdoten erkennbar wird. Von den zwei übrigen, von Schmied nicht besprochenen Fällen ähnelt 7,8,5–9 dem erstgenannten (Aeque felicis impunitatis sed nescio an taetrioris haec delicti testamenta) und 1,1,16–21 dem zweiten (16 wird isolierend angefügt, danach jeweils in der Überleitung das [ema Bestrafung angesprochen, so in 17: Hercules quoque detractae religionis suae et gravem et manifestam poenam exegisse traditur, in 18: Acer etiam sui numinis vindex Apollo usw.).795 Die (von Schmied in diesem Kontext nicht besprochene) innere Ordnung ist in 9,13, ext. 2–ext. 4 die einer Steigerung (ext. 3: Hoc rege infelicior […]; ext. 4: Age, Dionysius, Syracusanorum tyrannus, huiusce tormenti quam longa fabula! qui duodequadraginta annorum dominationem in hunc modum peregit), in den anderen drei Fällen dagegen unklar. Auch von den zwei von Schmied als ‚Exkursen‘ behandelten Fällen ist einer – der andere ist die homodiegetische Anekdote 2,6, ext. 8, die Valerius Maximus selbst als deverticulum bezeichnet796 – eigentlich eine Sachgruppe, nur eben nicht in Randstellung: die Philosophenanekdoten in De patientia, 3,3, ext. 2–ext. 6, die, wie Schmied zu Recht feststellt, explizit gruppiert werden (ext. 1, am Ende: Est et illa vehemens et constans animi militia, […] Philosophia. […]; ext. 2: Incipiam autem Zenone Eleate; ext. 7, die Gruppe verlassend: Haec e pectoribus altis et eruditis orta sunt, illud tamen […]). Sie sind kein Exkurs, sondern Teil einer
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In diesen Fällen ist die Blockbildung schon auf den ersten Blick offensichtlich. Vgl. auch oben S. 237–239 und 241–243. Siehe oben Fn. 649. Die (teilweise nur in Epitomai überlieferten) externen Anekdoten in 1,1 handeln zwar überwiegend, aber nicht ausschließlich von neglecta religio (in ext. 6 heißt es im Gegenteil, dass die Perser Delos aus religösen Gründen von Plünderung verschonten; in ext. 8 bleibt die Erfüllung oder Nichterfüllung der religiösen Pflicht offen), gehören also vielleicht nicht unter die Zwischenüberschrift. 7,8 hat keinen externen Teil. Siehe zu dieser oben bei Fn. 772 mit Verweisen.
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Die Kapitel
‚absteigenden‘ sozial-hierarchischen Ordnung (ext. 1 behandelt einen makedonischen nobilissimus puer im Gefolge Alexanders, ext. 7 als Abschluss einen servus barbarus).797 Überhaupt lassen sich die von Honstetter und Schmied vorgebrachten Beispiele für die sachliche Gruppierung als strukturgebendes Prinzip recht leicht vermehren, wie an drei Fällen – zwei klaren und einem nicht ganz so offensichtlichen – demonstriert werden soll.798 In 2,1 (erstes Kapitel De institutis antiquis) behandeln 1–6 die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern, 7–8 die zwischen sonstigen Verwandten (7: Huius modi inter coniuges verecundia: quid? inter ceteras necessitudines nonne apparet consentanea?) und 9–10 die zwischen Jungen und Alten.799 Auf den ersten Blick erstaunt die gruppeninterne Abfolge von 7 und 8, da die Ähnlichkeit von 6 und 8 (Versöhnungsrituale zwischen Mann und Frau sowie zwischen Verwandten generell) die umgekehrte nahelegen würde; da aber auch 5a–b und 7 ähnlichen Inhalts sind (Reinheitsbemühungen), scheint eine Art Parallelismus vorzuliegen.800 Die Endstellung von 10 erklärt sich durch die Eignung als Anlass für eine in den divi Caesares gipfelnde politisch-ideologische Evaluation und die Abfolge der zwei Anekdoten in 9 vielleicht dadurch, dass die zweite wie 10 beim Abendessen spielt (die erste dagegen tagsüber auf dem Forum). Unklar bleiben die Abfolgen 1–4 und 5a–b. In 7,7 (De testamentis quae rescissa sunt) wird in 1–3 durch den Vater enterbt, in 4 durch die Mutter und in 5 durch einen Sohn, während 6–7 Testamente zugunsten ‚unsittlicher‘ Personen betreffen (6: Eunuch, 7: Zuhälter).801 Die Ordnung ist offensichtlich, obwohl sie sich nicht in den Übergängen widerspiegelt. Unerklärt bleibt nur die innere Ordnung von 1–3 und 6–7. In 1,7 scheint dagegen auf den ersten Blick – abgesehen von der Anfangsstellung von Augustus (1) und Caesar (2) – die reinste Unordnung zu herrschen. Die 797
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Diese erkennt – jedenfalls was die Endstellung des servus angeht – auch Langlands: Gender, S. 38 (ohne Kenntnis der Arbeit von Schmied), die überdies noch zwei andersartige Hierarchien in 3,3 diagnostiziert. Siehe unten S. 293. Sie stammen aus dem Kreise der Beispielkapitel unseres ersten Hauptteils. Siehe zusätzlich oben S. 274f., unten S. 285f. und Fn. 839 zu 3,8, 6,2 und 9,7. Insgesamt sind also sechs der neun Kapitel so aufgebaut (dagegen oben S. 278 und unten Fn. 823 zu 4,2, 5,7 und 8,9 mit chronologischer Ordnung). Die thematische Unterteilung setzt sich auch im weiteren Verlauf der Kapitelgruppe De institutis antiquis fort: 2,2 behandelt die öffentlichen Ämter, 2,3 den Militärdienst des Volkes, 2,4 die jeater und Spektakel, 2,5 sonstige jemen, 2,6 dient als externer Teil (so auch schon Honstetter, S. 29f.). Dazu passt die Anknüpfung von 7 (Huius modi inter coniuges verecundia: quid? inter ceteras necessitudines nonne apparet consentanea?), die eher an 5a–b (vgl. schon 5a: Sed quo matronale decus verecundiae munimento tutius esset) als an 6 anschließt. 1–4 sind (nach Shackleton Bailey) undatierbar, 5 spielt wahrscheinlich im Jahr 70, 6–7 in den Jahren 77 und ca. 74, sind also chronologisch.
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Chronologie ist durchmischt,802 die Verknüpfungen sind entweder willkürlich (im römischen Teil: 3: Illud etiam somnium et magnae admirationis et clari exitus, was ja auf alle Anekdoten des Kapitels zutreffen würde, 5: Ac ne illud quidem involvendum silentio und 6: mechanisches autem) oder rein punktuell (z. B. 2: Augustum vero […] recens et domesticum exemplum admonuit803), weisen also nicht auf Sachgruppen oder Hierarchien hin, ein homo ex plebe (4) steht mitten zwischen hochrangigen Politikern, und im externen Teil stehen Griechen und Angehörige anderer Völker durcheinander. Es gibt aber bei genauerer Betrachtung dennoch – nur im römischen Teil! – eine zumindest faktisch existierende Ordnung, die darin besteht, dass die Träume in 1–4 explizite Handlungsanweisungen enthalten, während die in 5–8 reine Ankündigungen sind. Da dieser Unterschied relativ nebensächlich ist und weder im Text angesprochen noch im externen Teil für eine analoge Zweiteilung herangezogen wird, könnte man geneigt sein, die Gruppierung für zufällig zu halten. Für eine bewusste Ordnung spricht aber, dass die jeweils letzten Anekdoten, 4 und 8, den sie von den übrigen unterscheidenden unpolitischen Inhalt gemein haben (in 4 kommt zwar die publica religio ins Spiel, aber der Auslöser ist eine unpolitische Verfehlung eines Einzelnen). Damit hätte auch der homo ex plebe keine willkürliche Mittel-, sondern eine Randstellung. An der analogen Stelle 8 handelt es sich zwar um einen Ritter, aber ebenfalls um eine historisch unbedeutende Person. Zudem steht auch im externen Teil eine ‚private‘ Anekdote mit namenlosen Protagonisten am Ende (ext. 10; ext. 3 ist zwar ebenfalls unpolitisch, aber der Protagonist immerhin berühmt – der Dichter Simonides – und die Anekdote ein Gegenbild zu ext. 2). Unerklärt bleibt – mit Ausnahme der letzten Anekdote und wohl auch der Anfangsstellung der berühmtesten Feldherren Hannibal und Alexander – die Anordnung im externen Teil, während im römischen die Anordnung von 1–4 und 8 durch die Anfangs- und Endstellungen determiniert ist und in 5–7 die Abfolge von 6–7 wahlweise als chronologisch oder als steigernd (7: Vincit huiusce somnii dirum aspectum quod insequitur) erklärt werden kann und die Voranstellung von 5 sachlich bedingt scheint: 6–7 sind wie 8 leidvollen, 5 dagegen für den Protagonisten erfreulichen Inhalts. Als Alternative zur Blockbildung sieht Schmied804 die Möglichkeit der rahmenden Stellung ähnlicher Anekdoten vor, wofür sie immerhin 5,1,1a und 5,1, 802
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Im römischen Teil (nach Shackleton Bailey): 42 – 44 – 340 – 491 – 58 – vor 121 – 31/30 – undatierbar. Im externen: 218 – vor 323 – 6./Anf. 5. Jhd. – Mitte 6. Jhd. – Anf. 6. Jhd. – um 405 – um 430 – 296 – 404 – undatierbar. Vgl. zu dieser Verknüpfung oben S. 236 und 238. Weitere Fälle: 4: Sequitur aeque ad publicam religionem pertinens somnium, 7 über größere Schrecklichkeit: Vincit huiusce somnii dirum aspectum quod insequitur, dann 8 über größere Ähnlichkeit von Traum und Erfüllung: Propioribus tamen, ut ita dicam, lineis Haterii Rufi equitis Romani somnus certo eventu admonitus est. Schmied, S. 53.
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Die Kapitel
ext. 6 als überzeugendes Beispiel anführen kann (römische Milde gegenüber Karthagern als Kapitelanfang – karthagische Milde gegenüber Römern als Kapitelabschluss).805 Ihr zweites Beispiel – wo die Ähnlichkeit nicht inhaltlich, sondern formal sein soll (‚sehr kurze Exempla‘ als Anfang und Schluss des römischen Teils in 3,4) – dürfte allerdings eher auf Zufall beruhen, zumal die betroffenen Anekdoten zwar kurz, aber eben doch nicht auffällig kurz sind (3,4,1 umfasst 29 Wörter, 3,4,6 sogar 41, also kaum weniger als 3,4,3 mit 44 Wörtern). W. Martin Bloomer806 analysiert nur ein Kapitel, 1,6 (De prodigiis), detailliert mit Blick auf die Anordnung – genauer gesagt den römischen Kapitelteil. Dieser ist zweigeteilt in positive (1–4) und negative (5–13) Prodigien und innerhalb dieser beiden Gruppen überwiegend chronologisch, aber mit je einer Ausnahme, die Bloomer überzeugend mit Ähnlichkeiten erklärt (2 steht außerhalb der Chronologie wegen Ähnlichkeit mit 1; 7 wegen Ähnlichkeit mit 6 und um die Ähnlichkeitsgruppe 8–10 nicht unterbrechen zu müssen). Die Verknüpfung erfolgt im ersten Fall auch tatsächlich als Gleichsetzung, betont dabei allerdings eine hier nicht relevante Übereinstimmung, nämlich den glücklichen Ausgang, der der ganzen Gruppe 1–4 gemein ist (Aeque felicis eventus illa flamma […]; die relevante Gemeinsamkeit besteht in der flamma); die Zusammenstellung steht also kaum, wie Bloomer meint, im Dienste des ‚easy verbal link‘. Auch im zweiten Fall ist die Verknüpfung, hier durch Variation (7: Flaminii autem praecipitem audaciam C. Hostilius Mancinus vesana perseverantia subsequitur; man beachte übrigens auch das – bezogen auf die zwei Anekdoten chronologisch korrekte – subsequitur ausgerechnet in einem Fall, wo die Gesamtchronologie gestört wird!), für die Anordnung nicht relevant: 8–9 sind ähnliche Fälle von Unvernunft, und der von Bloomer konstatierte sachliche Unterschied (6–7: römische Niederlagen; 8–10: Tod des Konsuls allein) wird von keiner Überleitung angesprochen. Die Zweiteiligkeit des Kapitels wird, wie Bloomer feststellt, in der Kapitelpraefatio angedeutet (Prodigiorum quoque, quae aut secunda aut adversa acciderunt […]); hinzuzufügen ist, dass der tatsächliche Übergang fast unscheinbar ist (5: Praecipuae admirationis etiam illa prodigia, quae C. Volumnio Ser. Sulpicio consulibus in urbe nostra inter initia motusque bellorum acciderunt) – konträr zum gewöhnlichen Vorgehen des Valerius Maximus.807 An dieser Stelle kann auf die von der Überlieferung mit Doppeltiteln versehenen Kapitel eingegangen werden, von denen manche wie das von Bloomer 805 806
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So auch schon Maslakov: Historiography, S. 456, Anm. 31. Bloomer: Rhetoric, S. 29–32 (ohne Kenntnis der Arbeiten von Honstetter und Schmied). Seine zuvor, S. 28, getätigte Allgemeinaussage, die Anekdoten seien meist chronologisch geordnet, während die Übergangstechnik sie hierarchisiere, ist in dieser Pauschalität nicht korrekt. Bisher hatten wir ja explizite Bezugnahmen auf die Struktur nicht am Kapitelanfang, sondern erst (wenn überhaupt) beim ersten Übergang gesehen; vgl. auch Honstetter, S. 59f. (dieses Vorgehen gegen einen Handbuchcharakter ins Treffen führend), 64 und 212, Anm. 128f.
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behandelte Kapitel im Voraus angekündigte Zweiteilungen enthalten – nämlich 4,3 (De abstinentia et continentia; praef.: Magna cura praecipuoque studio referendum est quantopere libidinis et avaritiae furori similis impetus ab illustrium virorum pectoribus consilio ac ratione summoti sint), 6,9 (De mutatione morum aut fortunae; praef.: […] morum ac fortunae in claris viris recognita mutatio […]) und 9,1 (De luxuria et libidine) sowie das bereits besprochene Kapitel 8,10 (Quantum momentum sit in pronuntiatione et apto motu corporis).808 4,3,1–3 handeln von abstinentia (sexuell verstanden als Gegenbegriff zu libido) und 4,3,4–14 von continentia (verstanden als Gegenbegriff zu avaritia),809 mit entsprechender Überleitung (Deinceps et iis vacemus quorum animus aliquo in momento pecuniam numquam locavit). 6,9,1–6 und ext. 1–ext. 3 betreffen die mores, 7–9 die fortuna in Gestalt sozialer Aufstiege (7: Atque ut nobilitati […] altiora modo suo sperare ausos subtexamus), 10–15 und ext. 4–ext. 7 die fortuna in Gestalt permanenter oder temporärer sozialer Abstiege (10: Casuum nunc contemplemur varietatem; in ext. 4 nur das Schlagwort Fortunae im ersten Satz). 9,1,1–6 handeln von luxuria (Verschwendung), 8–9 von libido (sexueller Ausschweifung) und 7, den Übergang herstellend, von beidem (P. autem Clodii iudicium quanta luxuria et libidine abundavit!).810 Die gruppeninternen Abfolgen sind auch in diesen Kapiteln nur teilweise erklärbar.811 Häufiger sind freilich die Gegenbeispiele – wo zwar das [ema als zweiteilig angekündigt wird, aber die Kapitelstruktur anders ausfällt. Hierher gehören nicht nur die dicta-aut-facta-Kapitel (6,2: Libere dicta aut facta, 6,4: Graviter dicta aut 808 809
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Siehe oben S. 278. Combès in seiner Edition, Bd. I, S. 49, Anm. 2, erkennt 1–3 als Gruppe, ordnet ihr aber fälschlich die continentia zu. Im externen Teil behandeln ext. 1–ext. 3a die abstinentia und ext. 3b–ext. 4b die continentia (die Überleitung bezieht sich auf den Protagonisten von ext. 3a–b: Phryne pulchritudine sua nulla parte constantissimam eius abstinentiam labefecit: quid? rex Alexander divitiis quatere potuit?); ext. 1–ext. 3a sind chronologisch geordnet, während sich die Reihenfolge der übrigen Anekdoten aus den jeweils gemeinsamen Personen ergibt (ext. 3a–b: Xenokrates, ext. 3b–ext. 4a: Alexander, ext. 4a–b: Diogenes – im letzten Fall eindeutig gegen die Chronologie). Siehe auch unten bei Fn. 829 zur Anekdote 9,1,3. Im externen Teil haben ext. 2 und ext. 5 sexuellen Inhalt, libido wird also dort nicht von luxuria getrennt. Stattdessen fällt eine geographische Zweiteilung auf: ext. 1–ext. 2 spielen in Italien (Kampanien und Etrurien), ext. 3–ext. 7 an ferneren Orten (vgl. oben S. 273 zu 2,6 und unten Fn. 839 zu 3,8, ext.). 4,3,1–3 sind chronologisch, 6,9,1–6 chronologisch bis auf 6 (der Protagonist ist Sulla, also keine Person, der üblicherweise eine Endstellung zukommt!), 6,9, ext. 4–ext. 7 chronologisch bis auf ext. 4 (Athen in Anfangsstellung und die athenischen Anekdoten der vorigen Gruppe fortsetzend). 6,9,7–9 sind aufsteigend geordnet nach Größe des sozialen Aufstiegs, 9,1,8–9 nach Schwere der durch die libido ausgelösten Tat (9: Verum praecipue Catilinae libido scelesta: er ermordet seinen Sohn). Nicht erklärbar sind 4,3,4–14, 6,9,10–15 (bis auf 15: die Caesar-Piratenanekdote in Endstellung), 6,9, ext. 1 –ext. 3 (alle drei athenisch) und 9,1,1–6.
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Die Kapitel
facta; 7,2: Sapienter dicta aut facta; 7,3: Vafre dicta aut facta; 9,11: Dicta improba aut facta scelerata), die nie in dicta und facta gegliedert sind, sondern auch vier weitere Kapitel.812 In 5,1 (De humanitate et clementia813) wird im römischen Teil nach Protagonisten (in 1a–1f der Senat: Ante omnia autem humanissima et clementissima senatus acta referam, in 2–11 Einzelne: Atque ut ab universis patribus conscriptis ad singulos veniam)814 und ‚Zielgruppen‘ (innerhalb der Senatsanekdoten; siehe 1d: Hostibus haec et miseris et fato functis officia regibus erogata, illa amicis et felicibus et vivis tributa sunt) gruppiert. Von den drei so entstehenden Gruppen sind die zwei kleineren (1a–c und 1d–f) konsequent chronologisch, die größere (2–11) nur unvollkommen.815 Der externe Kapitelteil ist weder sachlich gruppiert noch chronologisch.816 Ganz gleich verhält es sich mit 9,3 (De ira aut odio817): in 1–3 geht es um ira von Individuen gegen das ganze Volk (1–2: Einzelne; 3: eine unbestimmte Zahl
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Daneben gibt es noch Fälle, wo die überlieferten Doppeltitel nicht einmal eine Grundlage im Text haben: 5,7 (De parentum amore et indulgentia in liberos; in der Praefatio nur parentium erga liberos indulgentia), 8,3 (Quae mulieres apud magistratus pro se aut pro aliis causas egerunt; praef.: […] ut in foro et iudiciis tacerent cohibere non valuit; 1–2 sind pro se, 3 pro aliis, ohne dass der Unterschied angesprochen würde) und 8,7 (De studio et industria; in der Praefatio nur Industria als jemenangabe, das Wort studia fällt nur als einer ihrer Wirkungsbereiche). In 8,12 (Suae quemque artis optimum et auctorem esse et disputatorem; praef.: Suae autem artis unumquemque et auctorem et disputatorem optimum esse […]) ist et […] et nicht als Doppelthema, sondern argumentativ im Sinne von non solum […] sed etiam gemeint. Praef.: Liberalitati quas aptiores comites quam humanitatem et clementiam dederim […] quarum prima inopiae, proxima occasioni, tertia ancipiti Fortunae praestatur; trotz dieser Differenzierung sind die beiden Begriffe im weiteren Verlauf austauschbar – vgl. schon 1b: Illud quoque non parvum humanitatis senatus indicium est und 1c: Consimilique clementia […]. Dies bemerkt schon Maslakov: Historiography, S. 455, Anm. 31. Die Durchbrechung der offenbar grundsätzlich angestrebten Chronologie (2: 259, 3: 212, 4: 211, 5: 142, 6: 146, 7: 209, 8: 168, 9: 66, 10: 48 und 46, 11: 42) lässt sich erklären. 5 und 6 sind fast gleichzeitig, außerdem bildet 6 mit 7 ein explizites Anekdotenpaar durch irrtümlich angenommene Personengleichheit (die Anekdote 7 gehört in Wirklichkeit statt Scipio Aemilianus dem älteren Africanus), die eine ebenfalls ungefähr gleichzeitige Datierung von 7 impliziert; als Anachronismus verbleibt somit nur die Nachstellung von 8, die wohl sachlich begründet ist (8–9 handeln von Milde gegenüber besiegten Königen). Dass die Milde, wie Maslakov: Historiography, S. 455, Anm. 31, feststellt, in 10–11 wie in der letzten externen Anekdote (ext. 6) Toten gilt, ist wohl zufällig – zumal es auch auf 2 und ext. 4 zutrifft. Ext. 1a–b: Alexander, ext. 2a–b: Peisistratos, ext. 3a–4: Pyrrhos, ext. 5: Kampanier, ext. 6: Hannibal (etwas künstlich an die Kampanier angeknüpft; siehe oben S. 259 und unten bei Fn. 893). Die Anfangsstellung Alexanders (vgl. etwa 7,3, ext., wo Alexander ebenfalls gegen die Chronologie vor Dareios und Bias steht, oder auch 3,8, ext., wo er
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von Individuen), in 4–6 des Volkes gegen Führer (4: Talis irae motus aut singulorum aut paucorum adversus populum universum: multitudinis erga principes ac duces eius modi; noch einmal bekräftigt in 6: Age, quam violenter se in pectore universi populi Romani gessit eo tempore quo […]) und in 7–8 von militärischen Führern, die sich selbst damit schadeten (7: Quae [scil. ira] quidem non proculcavit tantum imperia, sed etiam gessit impotenter, also ohne anzusprechen, dass es jetzt wieder um Einzelne geht). Die gruppeninternen Abfolgen sind in 1–2 und 7–8 chronologisch, in 4–6 nicht. Im externen Teil stehen Alexander, Hamilcar und Hannibal in chronologischer Reihenfolge, aber dann folgt Semiramis.818 In 9,5 (De superbia et impotentia819) sind die vier römischen Anekdoten schlicht chronologisch, die vier externen (Alexander, Xerxes, Hannibal, Vergleich inter Carthaginensem et Campanum senatum) möglicherweise auf andere Weise sachlich geordnet (Anfangsstellung des Griechen,820 dann Xerxes, weil – wenngleich als Feind – der griechischen Sphäre zugehörig, dann der Feind aus der römischen Sphäre, zum Schluss die Senatorenanekdote als die einzige kollektive und weil sie – obwohl dies nicht zur Verknüpfung genutzt wird – als partiell karthagisch zu Hannibal passt). In 9,7 (De vi et seditione; 1: Sed ut violentiae seditionis tam togatae quam etiam armatae facta referantur […]821) wird von den zwei am Kapitelanfang gebrauchten Doppelbegriffen nur der zweite schlagend, nämlich die Unterscheidung von zivilen (1–4) und militärischen Anekdoten (mil. Rom. 1–mil. Rom. 3;
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die Endstellung innehat; Gegenbeispiel: in 1,7, ext. steht er an zweiter Stelle nach Hannibal) dürfte aber ebenso wenig Zufall sein wie die Endstellung Hannibals, der gemeinsam mit 5,1,1 einen Rahmen bildet (siehe oben bei Fn. 805). Die drei Akte Hannibals stehen in chronologischer Abfolge, die zwei Alexanders ebenso; die letzte Anekdote über Pyrrhos betrifft sein Lebensende; 2a–b und 3a–b sind undatierbar. Praef.: Ira quoque aut odium in pectoribus humanis magnos fluctus excitant, procursu celerior illa, nocendi cupidine hoc pertinacius, uterque consternationis plenus affectus ac numquam sine tormento sui violentus, quia dolorem, cum inferre vult, patitur, amara sollicitudine ne non contingat ultio anxius. sed proprietatis eorum certissimae sunt imagines, quas ipsi in claris personis aut dicto aliquo aut facto vehementiore conspici voluerunt; danach sind die Begriffe austauschbar, meist wird ira oder iracundia verwendet, nur in ext. 2–ext. 4 ohne erkennbaren Unterschied odium – in ext. 4 wird sogar gerade die zuvor der ira zugeordnete Plötzlichkeit betont. In puerili pectore tantum vis odii potuit, sed in muliebri aeque multum valuit. Anekdoten über Frauen stehen bei Valerius Maximus öfters in Endstellung – siehe unten bei Fn. 825. 1: Atque ut superbia quoque et impotentia in conspicuo ponatur […], ohne Differenzierung; beide Begriffe sowie insolentia werden im Kapitel unterschiedslos verwendet. Es mag sich stattdessen auch um eine persönliche Sonderstellung Alexanders handeln (vgl. oben Fn. 816). Das Wort wird nur von Shackleton Bailey, nicht von Briscoe in Klammern gesetzt, da im Bruxellensis vorhanden. Der Bernensis schreibt laut Briscoe uolentiae (mit Korrektur uiolentiae) seditionis, ‚mindere‘ Handschriften uiolentae seditionis.
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Die Kapitel
mil. Rom. 1: Detestanda fori condicio, sed si castra respicias, aeque magna orietur indignatio), wobei jene ihrerseits in unblutige Geschehnisse (1–2) und Morde (3–4; 3: Vesana haec tantummodo, illa etiam cruenta seditio) zerfallen. 3–4 und mil. Rom. 1–mil. Rom. 3 stehen in chronologischer Reihenfolge, 1–2 nicht – die zwei Anekdoten betreffen aber dieselbe Person und stehen in keinem inhärenten Zeitverhältnis zueinander, werden von Valerius Maximus also vielleicht (mangels Heranziehung genauer datierender Quellen?) als gleichzeitig behandelt. Wir haben nun bereits an zahlreichen Beispielen gesehen, dass sich Valerius Maximus innerhalb sachlicher Gruppen sowohl strikt chronologischer als auch unvollkommen chronologischer und gänzlich achronischer Ordnungen bedient, und mit 9,5 sogar ein Kapitel kennengelernt, dessen (freilich kurzer) römischen Teil zur Gänze chronologisch ist. Dass die Chronologie als Strukturprinzip erster Ordnung nicht zu vernachlässigen ist, streicht auch Robert Combès in der Einleitung zu seiner Edition822 heraus. Er identifiziert 17 Kapitel (von 88 erhaltenen), deren römische Teile durchgehend chronologisch geordnet seien (1,6; 3,4; 3,5; 4,2; 5,7; 5,8; 5,10; 7,3; 7,4; 7,6; 8,9; 8,10; 8,11; 9,2; 9,5; 9,11; 9,12) – freilich nicht in allen Fällen zu Recht.823 Auch sonst stehen, wie er feststellt, Anekdoten über römische Könige und die Republikgründer Brutus und Publicola meist an erster Stelle – neben zehn der von 822 823
Bd. I, S. 46–51. Gänzlich zu Recht in 3,5 (fünf Anekdoten), 5,7 (drei), 5,8 (fünf), 5,10 (drei), 7,4 (fünf), 7,6 (acht, davon vier gleichzeitig), 8,9 (drei), 8,10 (drei; hier ist die Chronologie zufällige Folge einer sachlichen Ordnung – siehe oben bei Fn. 791!), 8,11 (zwei), 9,5 (vier; siehe schon oben S. 285) und 9,11 (sieben); in 5,7, 7,4 und 8,9 trifft die chronologische Ordnung nicht nur im römischen, sondern auch im externen Teil komplett zu (es handelt sich jeweils nur um 2–3 Anekdoten; 3,5 und 5,8 haben keine externen Anekdoten, 8,10 nur eine). Die Struktur von 1,6 wurde bereits besprochen. Černá, S. 109, Anm. 149, weist außerdem auf 3,4,6, 4,2,2 (genauer: 4,2,1 oder 4,2,2–3) und 7,3,7 als Verletzungen der Chronologie hin. Hinzuzufügen sind 9,2,2 und 9,12,6. Die letzte römische Anekdote von 7,3 gehört, wie Černá bemerkt, nicht zur chronologischen Ordnung, verletzt sie aber auch nicht (7,3,10: sie ist ‚zeitlos‘ – undatiert und, da anonym und dem Privatleben angehörig, undatierbar; ähnlich 9,12,8: vgl. die Namensartikel [Friedrich] Münzer: Cornelius, Nr. 163, in: RE IV.1, 1900, Sp. 1342, und Etereius, in: RE VI.1, 1907, Sp. 712). In 4,2 (179 – 208 – 187[?] – 54 – nach 54 – nach 59 – 51; kein externer Teil) darf man die Verletzung der Chronologie wohl damit erklären, dass 1 und 2 zusammengestellt sind, weil in beiden die Protagonisten gemeinsam in ein Amt gewählt werden (1: Zensur, 2: Konsulat; gereiht nach Würde des Amtes?). Im Fall von 3,4,6 mag die Stellung (am Ende des römischen Teils) statt nach dem Protagonisten Cato Censorius nach dem am Schluss zelebrierten Nachfahren Cato Uticensis gewählt sein. In 7,3 ist am Ende der chronologischen Abfolge (1–9) zu beobachten, dass die letzte Zeitstufe als Sachgruppe verbrämt wird (8: Veniam nunc ad eos quibus salus astutia quaesita est: 8–9 behandeln zwei Opfer der Proskriptionen von 43/42). Nur spekulieren kann man über den Umstand, dass mehrmals zwei (oder drei) chronologisch geordnete Kapitel hintereinander auftreten.
Anordnung der Anekdoten
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ihm als durchgehend chronologisch betrachteten Kapitel auch in 3,2, 4,1, 4,4, 5,3, 5,6, 6,1, 8,1 und 9,6824 –, nur solche über Romulus häufiger nicht; ‚proscrits de 43 av. J.C.‘ findet Combès – neben drei durchgehend chronologischen Kapiteln – auch in 6,7 und 6,8 in Endstellung. Abseits der Chronologie nennt Combès auch mehrere Fälle von Endstellung nicht-elitärer Personen (in 5,2, 5,4, 5,5, 5,6 und 5,9), von Frauen (in 6,3, 8,13 und 8,15) und von Künstlern (in 3,7, 8,7 und 8,14).825 Wenn man diese von Combès bloß aufgelisteten Fälle826 näher betrachtet, zeigt sich, dass es sich fast stets nur um eine einzelne Anekdote handelt (Ausnahmen: 6,3 – dazu oben – und 8,13,6 als verknappte Aufzählung mehrerer Fälle) und stets mehr oder weniger explizit auf deren speziellen Status hingewiesen wird (z. B. in 3,7,11: Magno spatio divisus est a senatu ad poetam Accium transitus, mit dem Zusatz, er stehe hier als Zwischenschritt auf dem Weg zum externen Teil: ceterum ut ab eo decentius ad externa transeamus, producatur in medium827). 5,4 ist zudem auch unter die Beispiele für Endstellung von Frauen einzureihen, da sowohl die nicht-elitäre Person in 7 als auch die Protagonistin der vorangehenden Anekdote eine Frau ist (6: Magna sunt haec virilis pietatis opera, sed nescio an his omnibus valentius et 824
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Unter den Anekdoten mit Anfangsstellung des Königs Servius Tullius wird auch 9,1 angeführt, dies ist aber ein Druckfehler – gemeint ist 9,11. Zu anders begründeten Endstellungen siehe unten S. 288f. Die Liste lässt sich leicht vermehren, etwa um die durchgehenden Rangfolgen (von oben nach unten) in 2,7,7–14 (dazu oben S. 274) und 3,3, ext. (oben bei Fn. 797) oder das Kapitel 3,8, wo zwei Anekdoten über Zenturionen am Ende des römischen Teils stehen (7–8) und überdies 6, die letzte Anekdote des ‚zivilen‘ Teils (dazu unten S. 290), einer Frau gewidmet ist (Quid feminae cum contione?). Weitere Fälle: 5,2,10: Sit aliquis in summo splendore etiam sordibus gratis locus; 5,4,7: Ignoscite, vetustissimi foci, veniamque aeterni date ignes, si a vestro sacratissimo templo ad necessarium magis quam speciosum urbis locum contextus operis nostri progressus fuerit; 5,5,4: Sed omnis memoriae clarissimis imperatoribus profecto non erit ingratum si militis summa erga fratrem suum pietas huic parti voluminis adhaeserit; 5,6,8: Age, ut a singulis ad universos transgrediar, quanto et quam aequali amore patriae tota civitas flagravit!; 5,9,4: Magnorum virorum clementibus actis ignoti patris novae atque inusitatae rationis consilium adiciam; 8,7,7: Ne Roscius quidem subtrahatur, scaenicae industriae notissimum exemplum; 8,13,6: Muliebris etiam vitae spatium non minus longum in compluribus apparuit, quarum aliquas strictim rettulisse me satis erit; 8,14,6, das Wort gloria aufgreifend: Illa vero etiam a claris viris interdum ex humillimis rebus petita est; 8,15,12: Merito virorum commemorationi Sulpicia Ser. Paterculi filia, Q. Fulvii Flacci uxor, adicitur. Am Ende der Anekdote 5,2,10 wird das unpassende Zusammentreffen mit den im externen Kapitelteil folgenden Königen entschuldigt und dabei ausdrücklich die Endstellung als die einzig mögliche bezeichnet: Pace cinerum suorum reges gentium exterarum secundum hunc tam contemptum gregem referri se patientur, qui aut non attingendus aut in ultima parte domesticorum exemplorum collocandus fuit. sed dum honesti etiam ab infimis editi memoria non intercidat, licet separatum locum obtineant, ut nec his adiecti nec illis praelati videantur. Dies ist ein sehr deutliches Bekenntnis zu einer bewussten Kapitelplanung.
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Die Kapitel
animosius Claudiae Vestalis virginis factum), und in 8,15 gilt nicht nur die letzte römische, sondern auch die letzte externe Anekdote (ext. 4) einer Frau.828 Als Gegenbeispiele zur von Combès hervorgehobenen Endstellung von Frauenanekdoten ließen sich 9,1,3 (ohne Verweis auf das Geschlecht angeknüpft, aber mit einer Bemerkung endend, dass nicht weiter von Frauen die Rede sein soll829) und 9,11,1 (Anfangsstellung ohne Bezugnahme auf das Geschlecht, in einem Kapitel mit unrühmlichem [ema: Dicta improba aut facta scelerata) anführen.830 Man sieht, dass die Neigung, gesellschaftliche Hierarchien in die Werkstruktur zu übernehmen, nicht auf die Trennung von Römern und Fremden (und die zumindest gelegentliche Anordnung dieser nach geistiger Nähe zu oder Bedeutung für Rom831) beschränkt bleibt, sondern auch innerhalb der römischen Kapitelteile wirksam ist. Protagonisten aus der Führungsschicht Roms bilden den Regelfall, andere Gruppen sind im Kontext der Facta et dicta gewissermaßen Außenseiter und werden (mit seltenen Ausnahmen wie 9,11,1) als solche kenntlich gemacht – meist, wenn auch nicht notwendigerweise (siehe 9,1,3), durch ihre Stellung innerhalb des Kapitels oder der Sachgruppe. Dass die Endstellung jedoch nicht immer nur ein Platz für ‚Außenseiter‘ ist, sondern ihr auch andere besondere Rollen zugewiesen werden können, zeigen 3,2,24 (ein explizit zugesprochener Ehrenplatz für den stärksten Ausdruck der Kapiteltugend832) und drei von Gabriela Schmied833 besprochene Fälle: 1,8, wo auf die selbst schon wie ein Nachtrag klingende Fallaufzählung 11 (Possunt et illa miraculorum loco […]) in 12 (Shackleton Bailey: 12a und 12b, eine 828 829
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Vgl. auch oben Fn. 818 zu einem weiteren Fall von Endstellung einer Frau (9,3, ext. 4). Sed quid ego de feminis ulterius loquor, quas et imbecillitas mentis et graviorum operum negata affectatio omne studium ad curiosiorem sui cultum hortatur conferre, cum temporum superiorum et nominis et animi excellentis viros in hoc priscae continentiae ignotum deverticulum prolapsos videam, idque iurgio ipsorum pateat?, wobei die Berufung auf einen Streit nur auf die unmittelbar folgende Anekdote 4 zutrifft und sich 4–6 sonst nicht von 1–2 unterscheiden. Siehe auch oben bei Fn. 810 (zu 1–6 als Gruppe) und unten bei Fn. 892 (zu 3). Siehe auch unten S. 293 zu 6,1, wo Frauen am Anfang und am Ende stehen. Zur nur scheinbaren Mittelstellung eines homo ex plebe in 1,7,4 siehe oben S. 281. Griechen vor anderen Fremden, Sparta und Athen (in dieser Reihenfolge) vor anderen Griechen; siehe oben bei Fn. 771 und 782 (und zu einem Gegenbeispiel S. 281). In 4,1 beobachtet Westphal: Commentary, S. 40, eine Anordnung nach geographischer Entfernung von Rom (von Tarent bis zum Seleukidenreich). Sed quod ad proeliatorum excellentem fortitudinem attinet, merito L. Siccii Dentati commemoratio omnia Romana exempla finierit, cuius opera honoresque operum ultra fidem veri excedere iudicari possent, nisi ea certi auctores […] monumentis suis testata esse voluissent. Zu 3,2,19–24 als Sachgruppe (fortitudo im Krieg) siehe bereits oben S. 277. Combès, Bd. I, S. 317, Anm. 32, bringt das starke Exemplum am Ende mit dem Beginn der Gruppe durch Caesar (3,2,19) in Verbindung, scheint also darin eine Art Rahmung sehen zu wollen. Schmied, S. 43f.
Anordnung der Anekdoten
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längere Anekdote und ein Parallelfall in einem Satz) eine neue Art von miraculum folgt, die mit der in ext. 1 übereinstimmt und daher wiederum einen ‚gleitenden Übergang‘ ermöglicht – erst in ext. 2 heißt es Et quoniam ad externa transgressi sumus […] –, und die ähnlich funktionierenden Übergänge in 5,4,7 – hier ohne nachträgliche Anerkennung des Übergangs – und in 3,7,11, wo der Grund der Endstellung sogar explizit gemacht wird.834 Ein weiteres von Combès postuliertes Ordnungsprinzip ist die Zuordnung der Anekdoten zum zivilen oder militärischen Bereich – also ein Sonderfall der sachlichen Gruppierung –, die sowohl in dichotomischer (militärisch – zivil in 3,6, 5,7 und 6,5; zivil – militärisch in 4,1, 5,5 und 6,4) wie in rahmender (militärisch – zivil – militärisch in 3,8 und 5,8; zivil – militärisch – zivil in 6,1 und 7,2) oder noch komplexerer Form (in 3,7: 1a–d militärisch – 1e–g zivil – 2 militärisch – 3 zivil – 4 militärisch – 5 zivil, danach noch, von Combès nicht berücksichtigt, 6–9 zivil – 10a–b militärisch – 11 zivil) den römischen oder auch den externen Teil (militärisch – zivil – militärisch – zivil in 6,4; militärisch – zivil in 6,5) strukturieren könne.835 Die Annahme bewusster Planung ist allerdings nicht in allen Fällen gleich plausibel: mehr, wenn auf eine größere Zahl von Anekdoten aus der einen Sphäre eine oder mehrere aus der anderen als Abschluss folgen (wie in 3,6 oder 4,1836), und weniger, wenn es sich insgesamt nur um drei Anekdoten handelt (wie in 5,7), zugleich eine chronologische Abfolge vorliegt (wie ebenfalls in 5,7837) oder es sich um eine Durchmischung handelt, die eben doch keine regelmäßige Abwechslung ist (wie in 3,7 oder 6,4, ext.838), sofern sich nicht die
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Siehe dazu oben bei Fn. 725. Ich vereinfache, indem ich die von Combès gewählten Etiketten domi, ‚province‘ (5,8,3) und ‚activité diplomatique‘ (6,4,3) als ‚zivil‘ vereinige und ‚fils arrêté quand il rejoint l’armée de Catilina‘ (5,8,5) unter ‚militärisch‘ (militiae) subsumiere. Die Beispiele 9,3,1–2 (militiae – domi; nur zwei Anekdoten aus einem längeren Kapitel) und 7,4–5 (militiae – domi; zwei ganze Kapitel mit völlig unterschiedlichen jemen, Strategemata und De repulsis), die Combès wohl allein wegen der expliziten Bezugnahmen auf die unterschiedlichen Sphären anführt, schließe ich aus. 3,6 ist statt in 1–5 (militiae) und 6–7 (domi) besser in eine militärische Gruppe 1–6 (darin 1–3: Kleidung während Militärkampagnen, 4–6: private ‚Triumphe‘ und Siegesgesten, beide Male chronologisch; vgl. praef.: in cultu ceteroque vitae ritu sowie in der Kapitelüberschrift in veste aut cetero cultu) und die rein zivile Anekdote 7 (wiederum Kleidung) einzuteilen. In 4,1 (1–14: domi, 15: militiae) dient die militärische Anekdote als Übergang zu den externen (siehe unten S. 290f.), während die Abfolge in 1–14 unerklärt bleiben muss (entgegen Westphal: Commentary, S. 39, ist sie nicht bis auf eine Ausnahme chronologisch). Siehe oben Fn. 823. Tatsächlich liegt in 3,7 die folgende Gruppierung vor: 1a–9 behandeln fiducia sui von Einzelpersonen, 10a–b die des Senats (chronologisch), 11 einen Dichter als Übergang zum externen Teil (siehe oben bei Fn. 725 und 834 sowie S. 287); innerhalb von 1a–9 gelten 1a–3 den Scipionen, davon 1a–d Scipio Africanus militiae (chronologisch),
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voneinander getrennten Anekdoten derselben Sphäre als abgegrenzte Gruppen verstehen lassen wie in 3,8, 6,1 oder 7,2.839 Überleitungen zwischen den beiden Sphären lassen sich nur in einer Minderheit der von Combès aufgezählten Fälle finden und beziehen sich auch dort nur auf einzelne Anekdoten (3,7,5: Bellica haec praesentia animi, togata illa, sed non minus laudabilis, quam P. Furius Philus consul in senatu exhibuit; 6,4, ext. 3, nach einer Sokrates-Anekdote: Quantus hic in sapientia, tantus in armis Alexander; 7,2,5), sind also nicht explizit gruppierend (außer in 3,7,1e: Verum ut ad domestica eius eximiae fiduciae acta veniamus, wo aber nur die Scipio-Gruppe 1a–g zweigeteilt wird, ohne dass damit etwas über die generelle Kapitelstruktur ausgesagt wäre). In zwei weiteren Fällen erfolgt der Übergang über Teilaspekte des militärischen Lebens, das aber als solches nicht thematisiert wird (in 4,1,15 der fremde Schauplatz als Zwischenschritt auf dem Weg zum externen Teil: Ad externa iam
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1e–g demselben domi (undatierbar), 2 seinem Enkel Scipio Aemilianus und 3 dem entfernteren Verwandten Nasica; die Abfolge von 4–9 muss unerklärt bleiben. In 6,4, ext. steht ext. 1 am Anfang wegen des familiären Bezugs zur letzten römischen Anekdote (M. Brutus als Protagonist – D. Brutus als Adressat eines fremden dictum); die Abfolge ext. 3–ext. 5 ist dadurch bedingt, dass ext. 4 (spartanische Gesandte bei „Alexanders Vater“) zu ext. 3 (Alexander) und ext. 5 (Spartanus quidam) passt; und dass Sokrates (die ‚zivile‘ Anekdote) vor und nicht nach diesen dreien steht, hat wohl weniger mit einer Abwechslung der Sphären zu tun als damit, dass Sokrates zugleich chronologisch vor Alexander passt und mit ihm ein Paar berühmter Personen bildet (Quantus hic in sapientia, tantus in armis Alexander), von dem zu namenlosen ‚abgestiegen‘ werden kann. In 3,8: 1–2 militärisch, 3–6 zivil, 7–8 militärisch mit nicht-elitären Protagonisten. Innerhalb der drei Gruppen erklärt sich die Stellung von 1 durch die explizite Einführung dieser Anekdote als besonders gutes Beispiel der Kapiteltugend (Sed dum exempla propositae rei persequor, latius mihi circumspicienti ante omnia se Fulvi Flacci constantia offert) und 6 als Endstellung einer Frauenanekdote (vgl. oben Fn. 826), 7–8 sind chronologisch, die Reihenfolge von 3–5 muss dagegen unerklärt bleiben. Der externe Teil ist geographisch geordnet (ext. 1: Italien; ext. 2–ext. 4: Athen, nicht chronologisch; ext. 5: Syrakus; ext. 6: Makedonien/Alexander in Endstellung). In 6,1 folgt auf die Gruppe von Tätern, die Soldaten sind – ein Zenturio in 10, Militärtribune in 11–12 (chronologisch mit die Chronologie voraussetzender kausaler Überleitung: Hoc movit […]; vgl. oben Fn. 694), wobei nur in den letzten zwei Fällen die Tat selbst als im militärischen Kontext begangen dargestellt wird – als 13 eine Kurzauflistung mehrerer Fälle von Selbstjustiz, also etwas von 1–9 klar Verschiedenes (siehe zu diesem Kapitel auch noch unten S. 293f.). In 7,2 betreffen 1–5 die Weisheit Einzelner, davon 1–4 im zivilen Kontext (chronologisch) und 5 im militärischen (zwar betrifft auch 2 in gewissem Sinne das Kriegswesen – nämlich Äußerungen darüber –, aber die Überleitung in 5 ist explizit: Forensibus haec, illa militaribus stipendiis prudentia exhibita), 6a–c die des Senats (Nunc ad senatus acta transgrediar), davon 6a–b gegenüber römischen Politikern (chronologisch) und 6c gegenüber einem Verbündeten (nur mit deinde angeknüpft).
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mihi exempla transire conanti M. Bibulus […] manus inicit. qui cum in Syria […]; in 3,8,7 der nicht-elitäre Status von Berufssoldaten840). In sechs Kapiteln beobachtet Combès eine zentrale Positionierung besonders langer Anekdoten (2,4,5, 2,6,8, 2,7,6, 2,9,6, 5,8,3 und 6,2,8), was rein phänotypisch zutrifft (2,4,5 ist mit 367 Wörtern sogar die längste Anekdote im Werk überhaupt841). Durch ihre Präsentationsweise aus der Menge herausgehoben werden allerdings nur zwei der genannten Anekdoten, 2,6,8 (der bekannte homodiegetische Exkurs842) und 2,7,6 (Hinrichtung von Söhnen durch Väter im Kapitel De disciplina militari, mit ungewöhnlich langer extradiegetischer Einleitung und besonders panegyrischer und emotionaler Rhetorik). Zum obersten Ordnungsprinzip der meisten Kapitel – der Trennung von römischen und externen Anekdoten – stellt Combès fest, dass die Endstellung der externen immer eingehalten wird,843 auch wenn sie zweimal in der üblichen Einteilung nicht als solche bezeichnet werden (7,1,2 sowie das ganze Kapitel 2,6 als letztes des Blocks De institutis antiquis, der 2,1–6 umfasst). Von ihm nicht erwähnt wird der Sonderfall 9,11, ext. 4, wo am Ende des externen Abschnitts noch eine sehr lange – anonyme, aber gemeinhin auf Sejan bezogene – römische Anekdote angeknüpft wird (Sed quid ego ista consector aut quis his immoror, cum unius parricidii cogitatione cuncta scelera superata cernam?), was Franz Römer zu der (rein spekulativen) Vermutung verleitet hat, diese ‚Verwünschung‘ Sejans könnte ursprünglich als Schlusspunkt des Gesamtwerks gedacht gewesen sein.844 Combès’ Feststellung, es gebe nur in elf Fällen (3,2; 3,7; 5,4; 5,7; 7,4; 7,6; 8,8; 8,10; 8,12; 9,10; 9,13) keinen expliziten Übergang zwischen römischem und externem Teil, ist allerdings durch die obige Untersuchung der Verknüpfungen widerlegt. Selbst wenn man beide Kategorien addiert, unter die ein solcher expliziter Übergang fallen kann (Übertragung des Leitgedankens auf einen anderen Personenkreis, extradiegetische Ortswechsel),845 kommt man nur auf 33 Fälle, also
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Non indignabuntur lumina nostrae urbis si inter eorum eximium fulgorem centurionum quoque virtus spectandam se obtulerit: nam ut humilitas amplitudinem venerari debet ita nobilitati fovenda magis quam spernenda bonae indolis novitas est. Die Aufteilung von Shackleton Bailey voraussetzend (vgl. oben bei Fn. 647). Zu dieser besonderen Anekdote vgl. auch Franz Römer: Ein Glanzstück römischer Memorabilienliteratur (Val. Max. 2, 6, 8), in: WHB 31 (1989), S. 52–65, und Sarah Lawrence: And Now for Something Completely Different …, in: Reading by Example, hg. von Murray/Wardle, S. 47–72, hier 54–61 und 69f. Vgl. auch Schoenberger: Reden, S. 32f., zur Nachstellung nichtrömischer Exempla als der üblichen (wenngleich nicht ausnahmslosen) Anordnung in Ciceros Reden. Römer: Aufbau, S. 106. Die Kapitel 9,12–15 wären also später angefügt. Zu einer weiteren Ausnahme von der Trennung – Griechen nicht als Protagonisten eigener Anekdoten, sondern als Vergleichspunkte innerhalb römischer Anekdoten – siehe Schmied, S. 41 (Beispiele: 3,2,22 und 4,6,1). Siehe oben S. 252f. und 261 sowie die Tabelle unten S. 458–466.
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Die Kapitel
knapp mehr als die Hälfte (es gibt insgesamt 59 Anekdoten ext. 1 oder ext. 1a),846 und bei punktuellem Abgleich stellt man fest, dass Combès auch Fälle als explizit gezählt hat, wo lediglich konkreten römischen Personen und Dingen konkrete fremde gegenübergestellt werden, ohne den ‚nationalen‘ Unterschied als solchen zu betonen (so z. B. in 1,1, ext. 1: Quae [scil. dea], quod ad Pleminii facinus pertinuit, bene e patribus conscriptis vindicata, quod ad violentas regis Pyrrhi sordes attinuerat, se ipsa potenter atque efficaciter defendit). Es sind also nicht elf, sondern mindestens 26 Fälle, in denen die Anknüpfung der ersten externen Anekdote ausschließlich auf anderem Wege erfolgt. Zum Teil muss man geradezu von einer Verschleierung des Übergangs sprechen (so in 5,7, ext. 1, wo ein anderer Unterschied vorgeschoben wird: Ceterum ut ad iucundiora cognitu veniamus […]). Auch wo eine explizite Überleitung zu Fremdem stattfindet, klingt es mitunter zunächst so, als ginge es nur um eine einzelne Anekdote (z. B. in 6,2, ext. 1: Inserit se tantis viris mulier alienigeni sanguinis). Anderswo bezieht sich die Ankündigung wiederum eindeutig auf eine Gruppe (z. B. in 6,1, ext. 1: Atque ut domesticis externa subnectam und 6,3, ext. 1: Ceterum etsi Romanae severitatis exemplis totus terrarum orbis instrui potest, tamen externa summatim cognosse fastidio non sit).847 846
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Lawrence: Inside Out, S. 116, zählt (ohne sie aufzuzählen) 29 Fälle mit expliziter Überleitung zur externen Sphäre und 30 Fälle ohne. Vgl. auch Schmied, S. 42f., zu expliziten Begründungen oder Rechtfertigungen des Übergangs mit dem Bedürfnis nach variatio (1,6, ext. praef.: Claudatur hoc exemplo talium ostentorum domestica relatio, ne si ulterius Romana apprehendero, e caelesti templo ad privatas domos non consentaneos usus transtulisse videar. attingam igitur externa, quae Latinis litteris inserta, ut auctoritatis minus habent, ita aliquid gratae varietatis adferre possunt; 2,10, ext. 1: Dandum est aliquid loci etiam alienigenis exemplis, ut domesticis aspersa ipsa varietate delectent; 3,8, ext. 1: Complura huiusce notae Romana exempla superant, sed satietas modo vitanda est. itaque stilo meo ad externa iam delabi permittam), der größeren emotionalen Distanz (3,3,2 für 3,3, ext. 1: Ac ne plura huiusce generis exempla domi scrutando saepius ad civilium bellorum detestandam memoriam progredi cogar, duobus Romanis exemplis contentus […] externa subnectam; 6,9, ext. 1: Attento studio nostra commemoravimus: remissiore nunc animo aliena narrentur; 9,2, ext. 1: Transgrediemur nunc ad illa quibus, ut par dolor, ita nullus nostrae civitatis rubor inest; 9,11, ext. 1: Illud autem facinus, quia externum est, tranquilliore affectu narrabitur; 5,7, ext. 1, von Schmied ebenfalls genannt, gehört nicht hierher) oder anderen Gründen (7,2, ext. 1a: Tempus deficiet domestica narrantem, quoniam imperium nostrum non tam robore corporum quam animorum vigore incrementum ac tutelam sui comprehendit. maiore itaque ex parte Romana prudentia in admiratione tacita reponatur, alienigenisque huius generis exemplis detur aditus; 8,7, ext. 1: Graeca quoque industria, quoniam nostrae multum profuit, quem meretur fructum Latina lingua recipiat). Černá, S. 104, schreibt, wie man auch an diesen Beispielen sieht, zu Recht, dass die Übergänge zum externen Teil oft in Form ‚performativer Aussagen‘ (‚performativní výpovědi‘) – also extradiegetisch – erfolgen. Dies trifft allerdings auch auf andere Verknüpfungen zu (vgl. oben S. 263).
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Rebecca Langlands, die Autorin der neuesten hier interessierenden Arbeit (einer primär sozial- und ideengeschichtlichen Dissertation), setzt sich strukturell mit den bereits erwähnten Kapiteln 3,3 (De patientia) und 6,1 (De pudicitia) auseinander.848 In 3,3 weist sie neben der Endstellung des servus849 auf eine Hierarchie zunehmender Entfernung von Rom hin, die allerdings nicht so kontinuierlich ist, wie Langlands nahelegt („throughout the chapter we move further and further“). Tatsächlich trifft ihre Beobachtung auf die zwei römischen Anekdoten (1: Römer/ Etrusker, 2: Römer/Illyrier) und innerhalb der externen als grobe Zweiteilung in Griechen (ext. 1–ext. 5) und Barbaren (ext. 6–ext. 7) zu, nicht aber innerhalb dieser zwei Gruppen (ext. 1: Makedonien,850 ext. 2: Agrigent, ext. 3: unbekannt,851 ext. 4: Zypern, ext. 5: Syrakus; ext. 6: Inder am Kaukasus, ext. 7: Karthago). In den griechischen Philosophenanekdoten (ext. 2–ext. 5), die allesamt Konflikte mit Tyrannen betreffen, will Langlands eine Abstufung der leidvollen Folgen für den Tyrannen erkennen (ext. 2: Tod, ext. 3: Ohr abgebissen, ext. 4: „philosopher bites own tongue off making tyrant look impotent“, ext. 5: Tod eines Freundes), die in Hinblick auf die ersten zwei Fälle mehr überzeugt als in Hinblick auf auf die letzten zwei; die Abfolge lässt sich auch chronologisch erklären.852 In 6,1 wird zugleich eine Rahmung – 1 und ext. 1–ext. 3 sind Geschichten von bemerkenswerten Frauen, dazwischen stehen männliche Protagonisten – und eine absteigende geographische und soziale Hierarchie konstatiert. Diese ist allerdings keineswegs, wie Langlands schreibt, „progressively linear“, sondern trifft nur auf die Rahmenanekdoten zu (1: Lucretia, ext. 1–ext. 3: ausländische Frauen, die, wie Langlands richtig bemerkt, sämtlich nicht namhaft und in ext. 2–ext. 3 sogar namenlos sind), während die Männer nicht hierarchisch gereiht sind.853 Wertvoller ist Langlands’ Beobachtung, dass die Reihenfolge der Anekdoten so gewählt ist, dass sich eine erhebliche Verschiedenheit in Handlung und moralisch-ideologischer Implikation hinter einer die Ähnlichkeit betonenden Verknüpfungstechnik 848 849 850
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Gender, S. 38, 115–128, 156f. Dazu oben bei Fn. 797. Mit Alexander, wenngleich nicht als Hauptperson. Seine Anfangsstellung (vgl. oben Fn. 816) ergibt sich hier sekundär aus der Gruppierung von ext. 2–ext. 5. Es geht um einen mit Zenon von Elea „gleichnamigen“ Philosophen und einen sonst unbekannten Tyrannen Nearchos. In anderen Quellen wird dieselbe Anekdote über Zenon von Elea selbst erzählt, so dass Nearchos (der Name wird auch bei Diog. Laert. 9,5,26 genannt) meist als Tyrann von Elea gilt. Siehe auch Kurt von Fritz: Zenon, Nr. 1, in: RE XA (1972), Sp. 53–83, hier 54f. Zumindest für ext. 2 – ext. 4 – ext. 5. Der von Valerius Maximus wohl irrtümlich angenommene ‚andere‘ Zenon in ext. 3, der schon für ihn selbst nicht zeitlich einordenbar gewesen sein dürfte, ist sicherlich der Namensgleichheit wegen nach ext. 2 eingereiht. Siehe vielmehr oben Fn. 839 zur Gruppierung in zivile und militärische Anekdoten, die aber die Abfolge 2–9 unerklärt lässt. Die Anekdoten ext. 2–ext. 3 stehen in chronologischer Abfolge.
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Die Kapitel
– mit lediglich geringer Variation von Anekdote zu Anekdote – verstecken lässt, und so durch ein gradualistisches (darin der Hierarchisierung ähnliches) Ordnungsprinzip die Illusion der Homogenität geschaffen wird.854 Auf den letzten zwanzig Seiten dürfte deutlich geworden sein, dass es in der Kapitelstruktur der Facta et dicta nichts Allgemeingültiges gibt, sondern ein Arsenal verschiedenster Ordnungsprinzipien (vor allem: inhaltliche Gruppierung, Personenhierarchisierung, Chronologie und – in den externen Teilen – Geographie855), die punktuell und in immer neuen Zusammenstellungen angewendet werden – und dass die Weise, wie darüber mit dem Leser kommuniziert wird, von der offenen Ansprache über das Stillschweigen bis zu (beabsichtigter oder unbeabsichtigter) Verschleierung reicht, wobei selbst im ersten Fall eine Neigung zur Zurückhaltung darin zu bemerken ist, dass Gruppierungen meist nicht von Hause aus, sondern erst beim ersten Übergang angesprochen werden.856 Zu unserem Befund gehört aber eindeutig auch, dass dieses Arsenal von Ordnungen die Abfolge der Anekdoten zwar in weiten Teilen, aber – insbesondere innerhalb von Sachgruppen857 – keineswegs lückenlos erklärt. 854
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Gender, S. 118: „Each story is very similar to the one that it follows, similar enough that the transition to a new section almost seems like repetition of the previous section. At the same time, as we move through the chapter the Roman examples gradually shift their emphasis“ (dazu auch noch Valerius Maximus. Se complexities of past as paradigm, in: dies.: Sexual Morality in Ancient Rome, Cambridge 2006, S. 123–191, hier 162–169). Laut unserer Tabelle (unten S. 462) dominieren die Verknüpfungen der Gruppe ‚Ähnlichkeiten in jema und Handlung‘ in diesem Kapitel sogar überdurchschnittlich stark (13 von 15, also rund 87% gegenüber rund 72% im Gesamtwerk). Seltener – wenngleich manchmal sehr deutlich – nachgewiesen: sachliche Hierarchisierung, meist nach Stärke (offenbar als Strukturprinzip für größere Kapitelteile oder ganze Kapitel weniger wichtig als als punktuelles Verknüpfungsmittel). Kaum nachgewiesen: Heranziehung der Anekdotenlänge als Ordnungskriterium. Eine ähnliche Mischung von Ordnungskriterien (Volks- und Personengruppen, Chronologie, ‚núcleos temáticos‘) deutet übrigens – nur auf allgemeinen Eindrücken beruhend – Aragüés, S. 279–281, für die neuzeitlichen Nachahmer Fulgosius und Sabellicus (vgl. oben S. 270f. und Fn. 764) an; anders als Valerius Maximus (oben bei Fn. 812) scheint Fulgosius zumindest einmal in einem dicta-aut-facta-Kapitel tatsächlich nach dicta und facta zu trennen (Aragüés, S. 281, Anm. 57). Siehe oben Fn. 807. Wir haben zwar oft eine chronologische Ordnung innerhalb von Sachgruppen konstatieren können, aber keineswegs immer, und mitunter wird sogar im selben Kapitel in dieser Hinsicht nicht einheitlich vorgegangen. Insgesamt verbleiben in den oben durchanalysierten Kapiteln und Kapitelteilen (1,1,16–21; 1,6 [römischer Teil]; 1,7; 2,1; 2,6; 2,7; 3,3; 3,4 [römischer Teil]; 3,5; 3,6; 3,7 [römischer Teil]; 3,8; 4,1 [römischer Teil]; 4,2; 4,3; 5,1; 5,7; 5,8; 5,10 [römischer Teil]; 6,1; 6,2; 6,3; 6,4, ext.; 6,9; 7,2 [römischer Teil], 7,3 [römischer Teil]; 7,4; 7,6 [römischer Teil]; 7,7; 7,8,5–9; 8,9; 8,10; 8,11 [römischer Teil und ext. 5–ext. 7]; 9,1; 9,2 [römischer Teil]; 9,3; 9,5; 9,7; 9,11 [römischer Teil];
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Die nun zu erörternde Frage, wie die Abfolge der Anekdoten zustande kommt, wenn sie nicht Ergebnis der bewussten Anwendung eines Ordnungsprinzips ist, ist wohl am besten von den Arbeitsschritten her anzugehen, die wir Valerius Maximus unterstellen müssen – denn bei jedem dieser Schritte ergeben sich notwendigeroder plausiblerweise ‚irrationale‘ Abfolgen, die, wo sie nicht durch bewusste Strukturgestaltung eliminiert werden, bis in den fertigen Text gelangen können. Wie bereits im 19. Jahrhundert erkannt wurde,858 ist nicht anzunehmen, dass Valerius Maximus bei der Abfassung jedes seiner Kapitel seine Quellenwerke „stets […] in der Hand gehabt habe, und dass er von einem Autor zum andern überspringend, bald zu diesem, bald zu jenem volumen greifend die geeigneten Erzählungen in ermüdender, endloser Arbeit nicht bloss gesucht, sondern auch gefunden“ habe.859 Er muss vielmehr, wie der ältere Plinius,860 auf die eine oder andere Weise Exzerpte angefertigt haben – und zwar nicht nur, wenn seine Quellen, wie man geneigt ist anzunehmen, mindestens zum Teil in umfangreichen nicht-anekdotischen Werkcorpora wie denen des Cicero oder Livius bestanden,861 sondern selbst bei Benutzung älterer Exemplasammlungen, da diese kaum eine mit der des Valerius Maximus deckungsgleiche Kapiteleinteilung gehabt haben werden, die ihm diese Arbeit erspart hätte. Die Exzerpte können linear oder nicht-linear niedergeschrieben worden sein, d. h. auf Rollen oder auf einer Art Karteikarten (dass über Karteisysteme aus der Antike nichts überliefert zu sein scheint, spricht nicht gegen die Möglichkeit862).
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9,12 [römischer Teil]; 9,13, ext. 2–ext. 4) die folgenden ‚ungeordneten‘ Anekdotenfolgen: 1,1,16–21; 1,7, ext. 1–ext. 2 und ext. 3–ext. 9; 2,1,1–4 und 5a–b; 2,6,3–5, 7c–e und 16–17; 2,7,15a–f und ext. 1–ext. 2; 3,7,4–9; 3,8,3–5 und ext. 2–ext. 4; 4,1,1–14; 4,3,4– 14; 5,1, ext. 2a–4 (genauer: die Stellung der beiden Blöcke ext. 2a–b und ext. 3a–4 im Verhältnis zueinander sowie die Abfolge innerhalb von ext. 2a–b und ext. 3a–b); 6,1,2– 9; 6,2,4–6 und ext. 1–ext. 2; 6,3,1a–d und 10–12; 6,9,6 (als Verletzung der Chronologie von 1–6), 10–14 und ext. 1–ext. 3; 7,3,7 (als Verletzung der Chronologie von 1–9); 7,7,1–3 und 6–7; 7,8,5–9; 8,11, ext. 5–ext. 7; 9,1,1–6, ext. 1–ext. 2 und ext. 3–ext. 7; 9,2,2 (als Verletzung der Chronologie von 1–4); 9,3,4–6; 9,12,6 (als Verletzung der Chronologie von 1–7). Kranz, S. 1–7, gegen Zschech, S. 5; ihm folgend Krieger, S. 3f. Kranz, S. 5. Vgl. Plin. epist. 3,5,10–17, wo die Arbeitsweise des Onkels beschrieben wird (liber legebatur, adnotabat excerpebatque. Nihil enim legit quod non excerperet, und zwar mit Hilfe von lector und notarius). Gell. praef., 2–3 und Macr. Sat. 1, praef., 3 bekennen sich selbst zur Anfertigung solcher Exzerpte – ausdrücklich in Form ungeordneter Lesefrüchte –, wobei jener die Zufälligkeit der Reihenfolge bei der Abfassung seines Werks beibehalten, dieser dagegen eine bewusste Ordnung hergestellt haben will. Zur Frage der ὑπομνήματα Plutarchs siehe Pelling: Apophthegmata. Siehe oben S. 20–24. Dass Papyrus neben Rollen auch in Form von einzelnen Zetteln verarbeitet werden konnte, ist selbstverständlich und in anderen Kontexten zur Genüge belegt. Siehe etwa Otto Mazal: Geschichte der Buchkultur. Band 1. Griechisch-römische Antike, Graz
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Die Kapitel
Im ersten Fall entsteht durch die Niederschrift der Exzerpte automatisch bereits eine Reihenfolge. Wie diese aussah, hängt von zwei Faktoren ab – ob Valerius Maximus ein Werk nach dem anderen von Anfang bis Ende durchlas und ins Exzerpt aufnahm863 oder mehrere parallel (d. h. nach Laune oder nach werkinternen Gliederungen wie z. B. Rollen gestückelt) und ob er ein einziges lineares Exzerpt anfertigte864 oder bereits beim Exzerpieren eine Kapiteleinteilung, sei es die endgültige (unwahrscheinlich wegen der großen Zahl der dafür gleichzeitig benötigten Rollen und/oder Schreibsklaven) oder eine gröbere provisorische, praktizierte.865 Die Relevanz des zweiten Faktors wird freilich dadurch gemindert, dass ein einziges Exzerpt so umfangreich gewesen wäre (in derselben Größenordnung wie das fertige Werk866), dass
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1999, S. 99f., zu schedae/plagulae/schedulae; er weist ihnen auch in der Literatur eine Rolle zu als Teil der „Entwicklungslinie von der ersten Notiz bis zum fertigen Buch, von den Vorstufen und begleitenden Materialien bis zum fertigen Text“. Eine andere Möglichkeit wären Wachs- oder Holztäfelchen. Für Plinius d. Ä. ist zwar die Rollenform belegt (Plin. epist. 3,5,17: electorumque commentarios centum sexaginta mihi reliquit, opisthographos quidem et minutissimis scriptos), aber dabei dürfte es sich um einen späteren Arbeitsschritt gehandelt haben (zu Versuchen, die primäre Exzerpiertätigkeit zu rekonstruieren, siehe Valérie Naas: Réflexions sur la méthode de travail de Pline l’Ancien, in: RPh 70, 1996, S. 305–332, die einen Zettelkasten annimmt). So die Annahme von Kranz, S. 9 („Dieser excerpirte doch wohl in der Weise, dass er unter der Namensüberschrift des Verfassers, wozu auch vielleicht der Titel der betreffenden Quellenschrift gesetzt war, die Excerpte aus derselben zusammenschrieb“). Dagegen jormeyer, S. 30f. So Kranz, S. 8 („dass er in e i n e m Buche […] electa […] oder collecta vereinigt hatte, die für seine 9 Bücher dictorum et factorum memoria dignorum zur Fundgrube wurden, als er aus ihnen die für die einzelnen Kapitel passenden Notizen heraussuchte“). Die Formulierung ab illustribus electa auctoribus digerere (1, praef.) bedeute, „E x c e r p t e […], die ohne bestimmten Gesichtspunkt gesammelt waren, unter Rubriken zu v e r t h e i l e n“. Dies scheint Bliss, S. 144, anzunehmen („we can gather that his method was something like this. He would read rapidly through an author, stopping now and again to settle on a particularly pleasing story which had caught his eye. […] je main story he would take down with some care, and extraneous material, if he could think of a suitable place to put it, he would also enter briefly in another part of his workbook. […] He must have written his book twice, first when compiling it, second to give it the over-all appearance of a rhetorical continuum“). Ähnlich schon Maire, S. 4: „Neque vero mihi credibile videtur esse in eo libro exempla ut occurrebant auctori fontes legenti deinceps adnotata et postea in opere componendo secundum certas notiones esse digesta, sed statim ea cum excerperet ratione quadam certis titulis, quos antea statuerat, Valerium subiunxisse suspicor“. Möglicherweise umfangreicher durch bei der Abfassung dann weggelassene Anekdoten, möglicherweise weniger umfangreich durch kürzere Formulierung der einzelnen Anekdoten. Die zum Teil engen textlichen Übereinstimmungen mit Parallelstellen (siehe Bliss; ob sie durch direkte Benutzung oder gemeinsame Quellen entstanden, ist
Anordnung der Anekdoten
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es kaum eher als die Quellenwerke bei der Abfassung jedes Kapitels erneut durchgearbeitet worden sein könnte, sondern in einem Zwischenschritt eben doch noch thematisch separierte Exzerpte hätten angefertigt werden müssen.867 In jedem Fall folgt aus der Hypothese des linearen Exzerpts für ‚ungeordnete‘ Anekdotenfolgen der Erklärungsansatz der Zurückführung auf die Reihenfolge der Niederschrift, die in jeder der möglichen Varianten mindestens stellenweise auch der Reihenfolge in den Quellen entspricht. Trotz der Unsicherheit der Quellenfrage und dem unstrittigen Faktum, dass uns der Großteil des Quellenmaterials nicht im Original vorliegt,868 lassen sich vereinzelt Spuren solcher Übernahmen finden. Der eindeutigste Fall ist 1,5,3–4 (im Kapitel De ominibus), denn die undatierbare Anekdote 4 gehört weder der sonst konsequent durchgeführten Chronologie869 an, noch weist sie inhaltlich einen über die Zugehörigkeit zum Kapitelthema hinausgehenden Bezug zu 3 auf – aber die Geschichte bildet gemeinsam mit der aus 3 das Beispielpaar für berühmte Omina in Cic. div. 1,103–104.870
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in diesem Kontext nicht von Bedeutung) deuten allerdings darauf hin, dass relativ ausführlich exzerpiert wurde und nicht etwa bloß in Form von Stichworten (vgl. auch Macr. Sat. 1, praef., 4: nec mihi vitio vertas, si res quas ex lectione varia mutuabor ipsis saepe verbis quibus ab ipsis auctoribus enarratae sunt explicabo). Welches Maß an Umformulierung (oder Kürzung sehr langer Quellenberichte etwa aus Livius; vgl. etwa die oben S. 206–210 behandelten Parallelstellen) beim Exzerpieren und welches erst beim Abfassen des eigenen Werks stattfand, ist natürlich nicht nachvollziehbar. Zumindest die Evaluationssätze müssen aber wegen ihrer (häufigen) Abhängigkeit von Kapitelthema und -struktur im Exzerpt noch gefehlt haben (ähnlich schon Kranz, S. 17). So auch ebd., S. 16 („Val. Max. hat offenbar […] unter einer e i n m a l i g e n Ueberschrift die sämmtlichen Excerpte, die er e i n e r Quellenschrift verdankte, vereinigt, darauf die ganze Masse seiner Excerpte unter tituli vertheilt und deshalb bei der Ausarbeitung seines Werkes […] nicht die geringste Ahnung gehabt, aus welcher Quelle das einzelne Excerpt geflossen“). Siehe oben bei und in Fn. 49–52. Im römischen Teil mit Ausnahme der letzten Anekdote (9), wohl wegen deren Ähnlichkeit mit 7–8 (wo sich ebenfalls Äußerungen der Protagonisten als unheilvolle Omina für sie selbst erweisen). In 4 fallen nur die Namen Caecilia und Metellus, und der Inhalt ist unpolitisch. Bei Cic. div. 1,104 behauptet Quintus, die Geschichte von L. Valerius Flaccus gehört zu haben, was sie immerhin vor dessen Tod (spätestens im Jahr 70: siehe Francis X. Ryan: Rank and Participation in the Republican Senate, Stuttgart 1998, S. 91–94) datiert (Val. Max. 1,5,3 spielt im mittleren 2. Jhd., 5 im Jahr 88; bedeutende Metelli gab es seit dem mittleren 3. Jhd.). Ähnliche Fälle sind 1,6, ext. 2–ext. 3 (Cic. div. 1,78 und 2,66) und 8,1, damn. 2–damn. 3 (Cic. Rab. perd. 24; die Stellung innerhalb der Sachgruppe damn. 1–damn. 4 ist zwar strukturell begründbar – damn. 1 behandelt eine zugleich frühere und prominentere Person, damn. 4 eine Frau –, nicht jedoch die Abfolge der beiden gleichzeitigen Anekdoten). Unter den oben (S. 266f.) genannten Stellen, wo bei Valerius Maximus und Cicero dieselben Anekdoten aufeinandertreffen, finden sich zwar noch vier weitere, deren Reihenfolge übereinstimmt (drei Paare und eine Dreiergruppe). In diesen Fällen hat sie bei Valerius Maximus aber eher strukturelle Gründe: 1,8,1a–b (Teil einer Dreiergruppe
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Die Kapitel
Sollte Valerius Maximus mit einer Kartei gearbeitet haben, entspräche dem thematischen Ausdifferenzieren eines linearen Exzerpts durch erneutes Abschreiben der einfachere Arbeitsschritt des Sortierens der Karten. In diesem Fall wäre mit weniger Kontinuität der Reihenfolge zu rechnen, weil die ursprüngliche Entstehungsreihenfolge bei jedem Hantieren, Ablegen oder Verräumen verloren gehen könnte – schon im Zuge der thematischen Sortierung könnten die in eine Kategorie sortierten Karten untereinander in eine neue Reihenfolge geraten, beim überblicksmäßigen Ausbreiten oder provisorischen Ordnen im Zuge der Kapitelplanung natürlich ebenso. ‚Konservative‘ Abfolgen wie 1,5,3–4 wären also weniger wahrscheinlich, die Rolle des Zufalls deutlich größer. Auf der Grundlage der nun thematisch separierten Exzerpte – in welcher Form auch immer diese vorlagen – konnte Valerius Maximus seine Kapitel verfassen. Der erste Schritt war natürlich die Entscheidung über das zu behandelnde [ema.871 Dann mussten aus dem jeweils relevanten Exzerpt die konkret zu ver-
871
über Castor und Pollux) sind chronologisch; 4,3, ext. 3b–ext. 4a wurden oben (Fn. 809) erklärt; 6,1,1–2 sind die mit Abstand ältesten Geschichten des Kapitels (509 – 449), was Zusammenstellung und Reihenfolge motiviert, obwohl das Kapitel ansonsten nicht chronologisch ist; 8,5,1–3 gehören zu einer durchgehend chronologischen Sachgruppe (1–5: missachtete Zeugen, im Gegensatz zu 6: erhörter Zeuge). Man beachte ferner Bosch, S. 7f. und 19f., der auf das Anekdotenpaar in 3,2,22–23b und Plut. Caesar 16, 1–4 sowie auf Parallelen zwischen 8,13 und Plin. nat. 7,153–159 (in gleicher Abfolge fünf Exempla in ext. 5c–7b und 154–155, dort mit zusätzlichem Material dazwischen; je zwei in 1–2 und 157, 3–4 und 156, ext. 1b–2 und 156; drei in 6a–c und 158, dort mit einem dazwischen) hinweist, die aber nur unter der Bedingung hierher gehören, dass tatsächlich – wie Bosch meint – gemeinsame Quellen zugrunde liegen und nicht die späteren Autoren direkt oder indirekt aus Valerius Maximus geschöpft haben (Plin. nat. 1 nennt ihn unter den Quellenautoren für Buch 7). Dasselbe gilt auch für Honstetter, S. 55–58, zu 2,7 und Frontin. strat. 4,1. Explizite Bezugnahmen darauf finden sich in 1,7 (anknüpfend an das Ende von 1,6; dazu unten S. 303), 5,1 (De humanitate et clementia, nach 4,8: De liberalitate; praef.: Liberalitati quas aptiores comites quam humanitatem et clementiam dederim) und 8,7 (praef.: Quid cesso vires Industriae commemorare […]?; ohne Bezug zum vorigen Kapitel Qui quae in aliis vindicarant ipsi commiserunt). Dass die Kapitel linear in der uns vorliegenden Reihenfolge entstanden, bezeugen neben Praefationes wie denen zu 1,7 und 5,1 auch die Rückverweise in 1,8, ext. 7 (cuius salus ab imminenti naufragio defensa = nicht-explizite Analepse auf 1,7, ext. 3), 9,2, ext. 5 (Iterum Ptolomaeus Physcon emergit, paulo ante libidinosae amentiae taeterrimum exemplum = in 9,1, ext. 5) und 9,15,1 (Nam ut Equitium, Firmo Piceno monstrum veniens, relatum iam in huiusce libri superiore parte, praeteream, er wird also in dem Kapitel, in das er der Hauptsache nach gehören würde – De iis qui infimo loco nati mendacio se clarissimis familiis inserere conati sunt – nur eingangs kurz erwähnt, weil er bereits anderswo vorkam; fraglich ist, ob sich in huiusce libri superiore parte nur auf 9,7,1 – De vi et seditione – bezieht oder auch auf 3,2,18 und 3,8,6, wo er wegen der fortitudo und constantia seiner Gegner vorkam – seine Herkunft aus Firmum Picenum wird an keiner der drei Stellen erwähnt).
Anordnung der Anekdoten
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wendenden Anekdoten ausgewählt,872 die Kapitelstruktur entworfen und die Anekdoten samt Verknüpfungen ausformuliert werden. Diese drei Schritte darf man sich wohl nicht allzu streng konsekutiv vorstellen, da sowohl die Gruppierungsund sonstigen Ordnungsmöglichkeiten auf die Auswahl zurückgewirkt haben können (wenngleich dies prinzipiell nicht beweisbar ist) als auch assoziativ entstehende Verknüpfungen auf die Abfolge (dazu unten). Der Regelfall scheint aber doch zu sein, dass sich Valerius Maximus um inhaltliche Ordnungsprinzipien bemühte – selbst nebensächliche wie in 1,7873 – und die Reihenfolge der Anekdoten recht weitgehend durch diese determiniert ist. In der auf Grund diverser Ordnungsprinzipien festgelegten Reihenfolge war der Text der Anekdoten einschließlich der Verknüpfungen zu verfassen. Die Herstellung einer Beziehung zwischen Ordnung und Verknüpfungen wurde dabei, wie wir gesehen haben, nicht systematisch angestrebt – selbst am Anfang von Sachgruppen konnten wir nur in einem Teil der Fälle eine solche feststellen. Eine systematische Prüfung aller in den durchanalysierten Kapiteln und Kapitelteilen874 vorkommenden Übergänge bestätigt, dass die Mehrheit der Verknüpfungen nicht durch Strukturprinzipien determiniert ist.875 Von den 402 Übergängen 872
873
874 875
Zu möglichen Kriterien der Auswahl siehe Honstetter, S. 51–53 und 57f. Dass er eine Auswahl aus einer größeren Zahl von Geschichten vornimmt, deutet Valerius Maximus selbst mehrmals an, etwa in 2,7, ext. 2 (sed aliena prospexisse tantummodo satis est, cum propriis multoque uberioribus et felicioribus exemplis gloriari liceat; dazu schon Schmied, S. 42f.), 3,8, ext. 1 (Complura huiusce notae Romana exempla superant, sed satietas modo vitanda est) und 8,13,6 (Muliebris etiam vitae spatium non minus longum in compluribus apparuit, quarum aliquas strictim rettulisse me satis erit). Weitere Fälle nennt Klotz: Studien, S. 6f. Dagegen lassen sich 1,8, praef. und 3,8,1 (dazu unten S. 303) auch bloß auf die Gesamtheit der verwendeten Anekdoten beziehen, und quoniam domesticum nullum maius adiecerim exemplum in 8,9,3 sagt nichts darüber aus, ob es überhaupt noch weitere römische gegeben hätte; 8,2, praef. (Publicis iudiciis adiciam privata, quorum magis aequitas quaestionum delectare quam immoderata turba offendere lectorem poterit) klingt sogar eher wie ein Versuch, Materialknappheit zu entschuldigen. Nicht auszuschließen ist natürlich auch, dass Valerius Maximus in der Abfassungsphase noch die eine oder andere Geschichte hinzufügte, die nicht in seinem Exzerpt stand, ihm aber aus früherer Lektüre oder vom Hörensagen bekannt war; evident ist die Hinzufügung im Fall des homodiegetischen Exkurses 2,6,8. Siehe oben S. 281. Auch im Kapitel 6,1, das bei Honstetter, S. 54 und 210, Anm. 109, noch als Musterbeispiel für Kapitel, „die keine Anzeichen einer Untergliederung aufweisen“, diente, ließ sich eine solche finden (oben Fn. 839). Und in denjenigen Kapiteln, wo die von der bisherigen Forschung vorgeschlagenen Ordnungsprinzipien nicht überzeugten, fanden sich andere. Siehe oben Fn. 857. Entgegen Bloomer: Rhetoric, S. 17, sind sie also nicht „the key to the groupings within the chapters“. Analog Walther Ludwig: Struktur und Einheit der Metamorphosen Ovids, Berlin 1965, S. 13, zu den Metamorphosen: „Ovid hat den Grund, weshalb er zwei Sagen nebeneinander stellte, in der Regel nicht in den Versen genannt, mit denen er von der einen Sage zur anderen überleitete“.
300
Die Kapitel
fallen 285 mit erklärbaren Abfolgen zusammen (einschließlich Überleitungen zur jeweils ersten Anekdote einer Sachgruppe, auch wenn deren innere Struktur unklar ist), aber nur in 93 Fällen (rund 33%) drückt die Überleitung das die Abfolge erklärende Prinzip aus (einschließlich Gruppeneinleitungen, aber ohne bloße Bekräftigungen der Gruppenzugehörigkeit in weiteren Anekdoten). Die folgende Tabelle präzisiert diesen Befund durch Aufschlüsselung nach in der jeweiligen Überleitung verwendeten Verknüpfungsarten:876
a b c d e f g h i j k l m(1a) m(1b) m(2) m(3a) m(3b)
Abfolge erklärt, Abfolge Überleitung: unerklärt relevant irrelevant — 1 — 14 25 19 2 3 2 — — — 5 3 4 1 2 3 2 11 7 3 — — 3 4 — 12 2 3 6 1 2 — — — 10 33 12 — 2 1 2 7 3 13 47 31 1 12 4
m(4) m(5) m(6) m(7) n o p q(1) q(2) q(3) q(4) q(5) q(6) q(7) r s
Abfolge erklärt, Abfolge Überleitung: unerklärt relevant irrelevant 9 18 11 24 8 7 10 3 4 8 18 4 3 2 4 — 3 1 4 1 2 1 1 1 1 2 — 1 5 4 — 2 2 6 — — 2 1 5 — 1 — — 22 11 — 6 4
Auch abgesehen von den letzten beiden Kategorien (‚mechanische‘ Verknüpfung und Isolation), die schon prinzipiell nichts Strukturelles ausdrücken können, zeigen sich in mehreren Fällen klare Tendenzen. Meist nicht strukturell relevant sind homogenisierende Verknüpfungsmittel wie Personen- oder Ortsgleichheit oder inhaltliche Gleichsetzung (explizit und/oder implizit durch Benennung des Übereinstimmenden; insgesamt die mit Abstand häufigste Verknüpfungsweise),877 aber auch – weniger selbstverständlich – die Hierarchisierung oder Variation inhaltli876
Siehe oben S. 234–262. Die Tabelle summiert sich auf 540 statt 402, weil manche Überleitungen mehrere Verknüpfungsarten enthalten, und erfasst in solchen Fällen lediglich das Vorkommen der jeweiligen Verknüpfungsarten in einer insgesamt relevanten oder nicht relevanten Überleitung und nicht, welche der Verknüpfungsarten die Relevanz konkret begründet.
Anordnung der Anekdoten
301
cher Ähnlichkeiten sowie sonstige Werturteile.878 Überwiegend in strukturell relevanten Übergängen zu finden sind dagegen die Ähnlichkeit mit Übertragung auf einen anderen Personenkreis oder Anwendungsbereich,879 der extradiegetische Ortswechsel,880 die Verwendung von Übergangsfiguren oder -erzählungen881 und die zeitliche und/oder kausale Abfolge.882 Es scheint also, dass die häufig zur Strukturierung verwendeten Prinzipien auch in verknüpfender Rolle meist der Struktur dienen – aber in noch größerer Zahl Prinzipien zur Anknüpfung herangezogen werden, die für die Struktur keine oder kaum eine Rolle spielen.883 Außerdem fällt auf, dass eines der wichtigen Strukturprinzipien, die Chronologie, nur selten überhaupt in Verknüpfungen vorkommt – auch und gerade in durchgehend chronologischen Kapiteln wird vermieden, dieses Strukturprinzip explizit zu machen.884 Wo sich die Abfolge nicht aus Ordnungsprinzipien ergibt – weder aus inhaltlichen noch subsidiär aus chronologischer Anordnung, wie dies innerhalb von Sachgruppen öfters der Fall zu sein scheint885 – verbleiben neben dem ‚Überleben‘ von Abfolgen aus den Exzerpten noch zwei Erklärungsmöglichkeiten. 877
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885
Punkte b, g, m(1a), m(1b), m(2), m(3a), m(3b). Dass solche Verknüpfungen überhaupt in strukturell relevanten Übergängen vorkommen, ist großteils ein Effekt der Kombination mit anderen Verknüpfungsarten. Im Fall der Personen- und Ortsgleichheit gibt es aber Ausnahmen. In 4,3, ext. 3a–ext. 4b (Verknüpfungen: ext. 3b, ext. 4a, ext. 4b) wirkt die Personengleichheit selbst strukturierend, weil es sich um mehrere Personen handelt, die jeweils zwei angrenzende Anekdoten verbinden (siehe oben Fn. 809). Ähnlich funktioniert die ‚Ortsgleichheit‘ (= gemeinsame Herkunft aus Sparta) in 6,4, ext. 5 (siehe oben Fn. 838). Punkte m(4), m(7), q(3). Punkte m(5) und m(6). Punkt q(5). Punkt p. Die einzige Ausnahme findet sich in einem durchgehend chronologischen Kapitel (7,6,2, wo die ‚Übergangsfigur‘ eine künstlich eingeführte Personifikation – die vom Erzähler angeredete Necessitas – ist). Punkte j und k. Vgl. schon oben Fn. 855. In 3,5, 5,7, 5,8, 7,4, 8,9 und den römischen Teilen von 5,10, 7,6, 8,10, 8,11, 9,5 und 9,11 (vgl. oben Fn. 823) werden nur zweimal punktuell solche Verknüpfungen verwendet (5,8,2: j und k; 7,4,4: j). Vgl. auch 1,6,9, wo die der chronologischen Ordnung der Sachgruppe 5–13 entsprechende Abfolge sogar durch extradiegetisches me trahit anderweitig motiviert wird (Et consulatus collegium et erroris societas et par genus mortis a Ti. Graccho ad Marcelli memoriam me trahit). Dass die chronologische Ordnung in Sachgruppen so erratisch angewendet wird (vgl. oben S. 286), mag bedeuten, dass die Ordnung innerhalb der untersten sachlichen Strukturebene (oft nur 2–3 Anekdoten) nicht Teil der im Voraus geplanten Kapitelstruktur war, sondern spontan zustande kam. Jedenfalls scheint es, dass die Chronologie hier kein angestrebtes Ordnungsprinzip ist, sondern, soweit sie nicht überhaupt zufällig ist, mit der Beibehaltung der Exzerptreihenfolge und der Reihung durch Assoziation gleichberechtigt konkurriert.
302
Die Kapitel
Die erste ist das absichtliche Herstellen von Unordnung im Dienste der variatio – dass also gewissermaßen zusätzlich zur Meta-variatio, die durch die Abwechslung der Ordnungsprinzipien zwangsläufig entsteht, auch die variatio erster Ebene als zusätzliches (Un-)Ordnungsprinzip eingebaut sei. Dagegen sprechen die geringe Wahrnehmbarkeit einer solchen variatio auf unterster Ebene in ansonsten sachlich strukturierten Kapiteln – die durchmischten Anekdoten können wegen der übergeordneten Sachgruppen nur noch minimal variieren – und die Sinnlosigkeit einer bewussten Abwechslung von Chronologie und variatio. Am ehesten wäre variatio als Strukturprinzip in ganzen Kapiteln oder großen Kapitelteilen ohne sachliche Struktur denkbar – im scheinbar ungeordneten Kapitelteil 6,1,2–9 konnte Rebecca Langlands allerdings gerade das Gegenteil, ein Streben nach Homogenität, aufzeigen.886 Die andere Möglichkeit ist die punktuelle assoziative Verknüpfung, also die Anordnung auf Grund von Gemeinsamkeiten oder Gegensätzen einzelner Anekdoten, die keine übergreifende Struktur ergeben. Dies könnte spontan geschehen und entspräche damit dem bisher so wenig bestätigten Bild des ‚rambling conversationalist‘ und der ‚pensée qui se déroule dans l’esprit de l’auteur‘.887 Es gibt sogar einige wenige Textstellen, wo sich eine solche lineare und planlose Arbeitsweise zu verraten scheint. In 3,2, praef. kündigt Valerius Maximus an, vor Romulus ein (!) anderes exemplum zu erzählen (Nec me praeterit, conditor urbis nostrae Romule, principatum hoc tibi in genere laudis adsignari oportere. sed patere, obsecro, uno te praecurri exemplo, cui et ipse aliquantum honoris debes, quia beneficio illius effectum est ne tam praeclarum opus tuum Roma dilaberetur), schaltet dann aber entgegen der Ankündigung anscheinend spontan ein zweites ein (2: Immemorem me propositi mei Cloelia facit paene eadem tempestate, certe adversus eundem hostem et in eodem Tiberi inclitum ausa facinus) und kommt erst dann zu Romulus (3: Redeo nunc ad Romulum).888 886
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Valerius Maximus führt die variatio mehrmals als Argument für die Einbeziehung nichtrömischer Inhalte an (siehe oben Fn. 847), die er freilich systematisch abtrennt. Als Strukturprinzip kennt man die variatio aus hellenistischen und römischen Gedichtbänden und gewissen anderen Sammlungen wie z. B. den Plinius-Briefen (siehe etwa Pausch: Biographie, S. 70 und 154f., mit Verweisen zu Plinius, Statius, Martial und Gellius, außerdem jetzt Beer, bes. S. 69–71, zu Gellius; Schmidt: Uebergangstechnik, S. 96, will das ‚Prinzip der variatio‘ in Ovids Metamorphosen beobachten, dies dürfte allerdings durch spätere Forschung wie Ludwig: Struktur überholt sein). Zur Vergleichbarkeit von Valerius Maximus mit Gedichtbänden siehe auch S. 305f. Siehe oben bei Fn. 576 sowie Fn. 784. Ein für die Arbeitsweise weniger relevanter Widerspruch ist der schon von Shackleton Bailey (in seiner Edition) bemerkte in 9,12, ext., wo Valerius Maximus „unwürdige“ Tode von Dichtern ankündigt (ext. 5: Sicut illi excessus illustrium poetarum et moribus et operibus indignissimi), dann aber inmitten der Sachgruppe (ext. 5–ext. 10) eine Anekdote mit gegenteiliger, positiver Evaluation erzählt (ext. 7: cui quidem crediderim eadem benignitate deorum et tantum poeticae facundiae et tam placidum vitae finem
Anordnung der Anekdoten
303
In 8,1, absol. 4–6 und 9,1 bleiben ohne ersichtlichen Grund889 naheliegende Ordnungsmöglichkeiten ungenutzt: in 8,1, absol. 4–6 dadurch, dass zwei Anekdoten über zum rechten Moment eintretenden Regen durch eine zwar mit Eodem auxilii genere angeknüpfte, aber weniger ähnliche Anekdote getrennt werden,890 und in 9,1 dadurch, dass die Anekdote 3, die durch die Chronologie891 und durch ihre Einleitung (Urbi autem nostrae secundi Punici belli finis et Philippus, Macedoniae rex, devictus licentioris vitae fiduciam dedit) für die Anfangs- und auch durch den Umstand, dass sie als einzige von Frauen handelt, für eine Anfangs- oder Endstellung prädestiniert wäre, inmitten einer Gruppe steht.892 Und in 1,7, praef., 1,8, praef., 1,8,8, 3,8,1, 5,1, ext. 6 und 6,4, ext. 1 wird sogar explizit die Vorstellung einer spontanen Arbeitsweise evoziert: zweimal im Sinne eines sich beim bloßen Überblicken des Materials aufdrängenden Kapitelanfangs (1,8, praef.: quorum e magno acervo in primis illud occurrit; 3,8,1: Sed dum exempla propositae rei persequor, latius mihi circumspicienti ante omnia se Fulvi Flacci constantia offert) und viermal indem die Anknüpfung einer Anekdote an eine inhaltlich affine als Produkt einer nach Niederschrift der ersten eintretenden Assoziation erscheint (1,7, praef.: Sed quoniam divitem Midae disertumque Platonis somnum attigi, referam quam certis imaginibus multorum quies adumbrata sit; 1,8,8: Facta mentione urbis […] divus Iulius fausta proles eius se nobis offert; 5,1, ext. 6: Facta mentione acerrimi hostis […]; 6,4, ext. 1: Cuius mentio mihi subicit […]).893 Angesichts der in so weiten Teilen des Werks beobachteten sorgfältigen Planung liegt es allerdings nahe, diese Stellen eher als Pose (im Fall von 3,2, praef.–3, 1,7, praef., 1,8, praef., 1,8,8, 3,8,1, 5,1, ext. 6 und 6,4, ext. 1)894 oder als
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attributum). Hier ist wohl die plausibelste Erklärung, dass er zuerst eine wertfreie Sachgruppe ‚Tode von Dichtern‘ eingeplant und sich dann bei der Abfassung des Einleitungssatzes geirrt hat. Anders als etwa im Fall der Trennung der beiden Sp. Cassius betreffenden Anekdoten 6,3,1b und 2, die durch eine andere, vorrangige Struktur bedingt ist (siehe oben S. 276). Die so entstehende Reihenfolge ist chronologisch, aber der Kapitelteil sonst nicht – die Chronologie kann also kaum der Grund sein. Die beiden getrennten Anekdoten stimmen auch darin gegen ext. 5 überein, dass ihre Protagonisten von Valerius Maximus als schuldig behandelt werden, die von ext. 5 dagegen als unschuldig. Und ein ‚Parallelismus‘ wie in 2,1,5a–8 (oben bei Fn. 800) liegt ebenfalls nicht vor. Von der chronologisch nächsten römischen Anekdote trennen sie hundert Jahre (9,1,3: 195; 9,1,1: ca. 95). Siehe oben bei Fn. 825 und 830. Es ist auch keine Besonderheit ersichtlich, durch die 1–2 die Voranstellung verdienten. Siehe zu diesen vier Stellen bereits oben S. 277 (1,7, praef. und 1,8,8), bei Fn. 805 (5,1, ext. 6) und Fn. 838 (6,4, ext. 1). Die Künstlichkeit von 3,2, praef.–3 wurde auch – ohne auf die vorgetäuschte Spontaneität überhaupt einzugehen – von Schmied, S. 51f., erkannt, die diese Stelle nicht ganz verständlich als „sicherlich beste Verbindung zu einem Dreierblock in Form der Steigerung“ wertet.
304
Die Kapitel
Nachlässigkeit oder noch nicht verstandene Ordnung (im Fall von 8,1, absol. 4–6 und 9,1,3) denn als Beleg tatsächlicher Spontaneität zu deuten. Teils kommen individuelle Argumente hinzu – in 3,8 ist eine durchgeplante Kapitelstruktur nachgewiesen,895 5,1, ext. 6 bildet einen Rahmen mit 5,1,1a –, und dass Einzelassoziationen auf die Abfolge einwirken (sei es als unterstes Ordnungsprinzip innerhalb von Sachgruppen, als Ausnahme von der umgebenden Ordnung oder in einem sonst ungeordneten Kapitel), ist auch schlicht zu häufig, um nicht als fester Teil des Methodenwerkzeugs des Valerius Maximus zu gelten.896 Da als Auslöser spontaner Assoziationen wohl nur Detailübereinstimmungen, -gegensätze und -bezüge in Frage kommen – im Gegensatz zur bloßen Zugehörigkeit zum selben [ema, die alle in das Kapitel einzubauenden Anekdoten eint und daher selbstverständlich ist –, wäre ein Überwiegen der auf Details beruhenden Verknüpfungsarten in den unerklärten Abfolgen ein gewichtiges Argument für die Spontaneitätsthese – aus der obigen Tabelle lässt sich aber gerade dies nicht ableiten. Die Häufigkeit dieser Verknüpfungen897 ist vielmehr in erklärten und unerklärten Abfolgen fast gleich (in den erklärten: 129 Fälle gegenüber 259 Fällen sonstiger Verknüpfungen,898 also rund 0,50 : 1; in den unerklärten: 54 Fälle gegenüber 97, also rund 0,56 : 1). Wir dürfen also getrost von einem bewussten Einsatz der punktuellen Verknüpfbarkeit als Mittel der Kapitelplanung ausgehen, das als solches mit der sachlichen Gruppierung und der chronologischen Anordnung konkurriert – wahrscheinlich primär mit dieser als subsidiäres Strukturprinzip, wenn sich keine sachliche Einteilung anbietet. Dies ist innerhalb der untersten Ebene von Sachgruppen der Fall, aber anscheinend auch manchmal im Ausmaß ganzer Kapitel. Offen muss bleiben, warum in manchen Fällen die chronologische Anordnung gewählt wird, in anderen – wie 1,8 (De miraculis) oder auch 3,2 (De fortitudine) – dagegen nicht. Es ist auch keineswegs so, dass an die Stelle der Chronologie stets eine von Anfang bis Ende durchkomponierte Assoziationskette träte. Eher werden mehrere Ketten gebildet, die jeweils nach wenigen Anekdoten abreißen (z. B. 1,8,1a–4, 5–6, 7–8, 9–10, 12a–ext. 1; 3,2,3–6b, 7–8, 10–11, 14–16, 17– 18, 22–23b) und untereinander nur über das generelle [ema verbunden sind.899 Auch Verlegenheitslösungen wie nichtssagende extradiegetische Überleitungen, 895 896
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Siehe oben Fn. 839. Aus den obigen Kapitelanalysen sind noch zu nennen: 1,6,2 und 7 (S. 282), 1,8,12a– ext. 1 (S. 288f.), 2,1,9 (S. 280), 2,6,9 (bei Fn. 773), 5,1,8 (Fn. 815), 6,2,7 (S. 275) und 6,4, ext. 3–ext. 5 (Fn. 838), jeweils ohne extradiegetische Inszenierung. Die Absichtlichkeit ist am deutlichsten in 2,6,9, wo des ideellen Zusammenhangs zweier Anekdoten wegen eine sachliche Gruppierung durchbrochen wird. Punkte a, b, c, d, e, f, g, h, i, j, k, l, m(1b), m(3b), n, o, p, q(4). Dazu gehören die rein thematischen Verknüpfungen m(1a), m(2), m(3a), m(4), m(5), m(6), m(7), die extradiegetischen mit Ausnahme von q(4) (spezieller Wertungszusammenhang zwischen zwei Anekdoten – das Urteil über die eine folgt aus der anderen), also q(1), q(2), q(3), q(5), q(6), q(7), sowie die ‚mechanische‘ (r) und die Isolation (s).
Anordnung der Anekdoten
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‚mechanische‘ Verknüpfungen oder isolierende Abfolgen fehlen in den unstrukturierten Kapiteln und Kapitelteilen nicht. Die Spontaneitätspose, die Valerius Maximus gelegentlich einnimmt (und zwar, wie wir gesehen haben, auch in Fällen, die tatsächlich durch die Gesamtstruktur des Kapitels bedingt sind), passt zur insgesamt überwiegenden NichtÜbereinstimmung von Verknüpfungen und faktischen Reihungsgründen. Mit beidem setzt sich das Werk von dem nüchternen Handbuch ab, das es hätte sein können, und die Spontaneitätspose durchbricht sogar die Anbindung an die Rhetorik, in der ein solcher Effekt ja nicht erwünscht ist900 (während eine mögliche Vorbildwirkung der sonstigen Verknüpfungen901 davon unabhängig wäre, wie oft sie sich mit der Kapitelstruktur bei Valerius Maximus decken). Den Gesamteindruck des Lesers prägt sie nicht, denn an zahlreichen anderen Stellen wird die bewusste Kapitelplanung eben doch durch die Verknüpfungen explizit gemacht.902 Valerius Maximus bleibt, wie in der Verknüpfungs- und Kapiteltechnik generell, proteiform. Wandelbarkeit ist aber nicht zwangsläufig rambling,903 und als Fazit der Auseinandersetzung mit der Anordnung der Anekdoten kann wohl festgehalten werden, dass sich das Bild des wahl- und ziellos dahinplaudernden Geschichtenerzählers kaum bestätigt hat. Vielmehr ähnelt Valerius Maximus jenen Dichtern, die auch die Anordnung ihrer Gedichte als wichtigen Aspekt ihres Kunstschaffens verstehen. Die Übereinstimmung liegt jedoch eher in der generellen Bereitschaft, für die Anordnung der Einzeltexte Zeit und Mühe aufzuwenden, als in den konkret gewählten Strukturprinzipien. Dies zeigt ein vergleichender Blick auf die einschlägige Forschung zu verschiedenen römischen Gedichtbüchern,904 und zwar selbst
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Einschließlich expliziter Übertragungen auf andere Sphären, die aber nicht kapitelstrukturierend sind. So in 3,2,17: Togae quoque fortitudo militaribus operibus inserenda est. In 19 geht es schon wieder militärisch weiter. Vgl. Quint. inst. 10,7 darüber, wie man, wenn man tatsächlich spontan sprechen muss, dafür sorgt, dass es nicht so klingt. Über ungeschminkte Spontaneität äußert sich Quintilian klar abwertend (10,7,12–13: Nam mihi ne dicere quidem uidetur, nisi qui disposite, ornate, copiose dicit, sed tumultuari. Nec fortuiti sermonis contextum mirabor umquam, quem iurgantibus etiam mulierculis uideamus superfluere). Erstrebenswert ist, ut scriptorum colorem etiam quae subito effusa sint reddant (10,7,7). Siehe oben Fn. 732. Vielleicht am deutlichsten in 5,2,10 (oben Fn. 827). Oxford English Dictionary, 32000ff. , s. v. ramble (letzte Änderung 2008), 2: ‚To wander freely in speech or writing; (now more usually) to write or talk in an aimless, incoherent, or inconsequential fashion, without an ordered sequence of ideas‘. Herangezogen wurden Wilhelm Port: Die Anordnung in Gedichtbüchern augusteischer Zeit, in: Philologus 81 (1926), S. 280–308 und 427–468 (Horaz, Tibull, Vergils Eklogen
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Die Kapitel
unter Absehung von den selbstverständlichen Gattungsunterschieden, dass sich bei historischem Stoff chronologische Anordnung eher anbietet als in lyrischer und/oder fiktionaler Dichtung und dass umgekehrt in Gedichtbüchern die verschiedenen Versmaße als mögliche Kriterien hinzukommen. Die bei Valerius Maximus so viele Kapitel prägende Gruppierung inhaltlich zusammengehöriger Einzeltexte wird nämlich in Gedichtbänden eher nur in kleinem Maßstab – etwa in Form von Paaren – oder in Form von losen, durch andere Gedichte unterbrochenen Häufungen905 praktiziert, während die bei Valerius Maximus relativ unbedeutende906 symmetrische Anordnung, die mit dem Ideal der variatio besser vereinbar ist, eine äußerst prominente Rolle spielt (exemplarisch kann auf das von Walther Ludwig untersuchte vierte horazische Odenbuch verwiesen werden, das die folgende thematisch-symmetrische Struktur aufweist: a b c | b b c d c c a a d a b b907). In dieser Hinsicht bleibt Valerius Maximus doch – trotz aller kunstvollen Ausgestaltung – um einiges handbuchartiger. 3
Das Kapitel als typologisch-episodische Erzählung
Nicht die Anordnung der Anekdoten, sondern ihre äußerliche Verknüpftheit ist es, die dazu einlädt, in den Facta et dicta mehr zu sehen als eine thematisch geordnete Sammlung. Die Übergangstechnik, vor allem insoweit sie über das MechanischAufzählende hinausgeht, macht aus jedem Kapitel einen ‚discorso continuo‘908 und lädt dazu ein, es auch als solchen zu rezipieren und zu interpretieren. Soweit dies von der bisherigen Forschung überhaupt berücksichtigt wurde – es überwiegt die rein analytische Auseinandersetzung –, hat man in den Kapiteln
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und Ovids Amores), Walther Ludwig: Die Anordnung des vierten Horazischen Odenbuches, in: MH 18 (1961), S. 1–10, O. Skutsch: Se Structure of the Propertian Monobiblos, in: CPh 58 (1963), S. 238f., Josef Michelfeit: Das augusteische Gedichtbuch, in: RhM 112 (1969), S. 347–370 (Vergils Eklogen, Tibull, Properz, Ovid), Ernst A. Schmidt: Catulls Anordnung seiner Gedichte, in: Philologus 117 (1973), S. 215–242, Jan-Wilhelm Beck: ‘Lesbia’ und ‘Juventius’: Zwei libelli im Corpus Catullianum. Untersuchungen zur Publikationsform und Authentizität der überlieferten Gedichtfolge, Göttingen 1996, und Hartmut Wulfram: Das römische Versepistelbuch. Eine Gattungsanalyse, Berlin 2008, bes. S. 137–152 (Hor. epist. 1). Als solche kann man etwa die catullischen Zyklen bezeichnen (bzw. im Fall des ‚Lesbia-Rufus-Gellius-Zyklus‘, wie Schmidt: Anordnung die Gedichte 69–92 nennt, die so miteinander verschränkten Einzelzyklen; auch die von Beck: ‘Lesbia’ als ursprünglich separate libelli angesehenen Gruppen 1–14 und 14a–26 hätten diese Form). Die größte geschlossene Abfolge im Catullcorpus ist ein Viererblock (Schmidt: Anordnung, S. 228). Zu finden immerhin in Gestalt gewisser Anfangs- und Endstellungen (oben S. 281f. und 293) sowie an einer untersuchten Stelle eines Parallelismus (oben bei Fn. 800; vgl. Port: Anordnung, S. 290, zu Parallelismen und Chiasmen in den horazischen Satiren). Ludwig: Anordnung, S. 8.
Das Kapitel als typologisch-episodische Erzählung
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ausschließlich thematische Abhandlungen gesehen.909 Davon abweichend soll auf den folgenden Seiten die [ese vertreten werden, dass die Kapitel des Valerius Maximus auch und in erster Linie Erzählungen sind – eine besondere Art von Erzählung, die man typologisch-episodisch nennen kann. 3.a
Typologie
Worin das Typologische der Kapitel liegt, ist leicht zu erkennen und soll darum nur kurz – anhand der neun Beispielkapitel des ersten Hauptteils910 – demonstriert werden. Methodisches Vorbild ist Vladimir Propps Morphologie des Märchens,911 die ausgehend von hundert Märchen aus einer russischen Sammlung die typischen Handlungselemente beschreibt, aus denen sich die Geschichten zusammensetzen912 – einschließlich der dazugehörigen Personen (‚der Held‘, ‚der Aggressor‘ usw.).913 In unserem Fall kann die Typisierung allerdings etwas weniger abstrakt 908
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Ich übernehme den Begriff von Guerrini: Studi, S. 37. Vgl. aber auch Bloomer: Rhetoric, S. 14 und 26 („unit of structure and composition“, „the unit that Valerius has in particular organized to be understood together“). Vgl. Guerrini: Studi, S. 25f. (im Kontext eines Vergleichs mit Senecas De ira): „un capitolo della sua raccolta (de amicitia, de constantia, de senectute ecc.) si presenta come una trattazione completa sull’argomento“. Siehe oben S. 57f. Морфология сказки, 21969, benutzt in der Ausgabe Vladimir Propp: Morphologie du conte, suivi de: Les transformations des contes merveilleux et de E. Mélétinski: L’étude structurale et typologique du conte, übers. von Marguerite Derrida/Tzvetan Todorov/ Claude Kahn, Paris 1970. Im Gegensatz zu Labov und Waletzky (oben S. 145–178) geht es ihm also nicht um eine Analyse der Erzählung, sondern der Geschichte. Als morphologisches Element α wird eine statische ‚Ausgangssituation‘ vorgesehen, die in etwa dem Inhalt eines Orientierungsabschnittes im Sinne Labovs und Waletzkys entspricht; die weiteren 31 Punkte – mit verschiedenartigen Siglen und zahlreichen Unterkategorien – machen die eigentliche Handlung aus (also alles, was Labov und Waletzky mit Blick auf die Bedeutung für die Erzählung als ‚Komplikation‘ und ‚Ergebnis‘ subsumieren). Diese rollenbezogene Typisierung unterscheidet sich von der allgemeinen Charaktertypisierung, die bereits im 4. Jhd. v. Chr. im Peripatos entstand (siehe unten bei Fn. 982 zu jeophrast). Sie hat ihre Vorläufer nicht in der Antike, sondern (neben den von Propp selbst besprochenen direkten Vorarbeiten zur Märchenforschung) in modernen Beschreibungen typischer ‚dramatischer Situationen‘; den Anfang machte angeblich Carlo Gozzi, ein Dichter der Commedia dell’arte († 1806; eine Äußerung Goethes darüber wird bezeugt von Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 1823–1832. Zweyter Seil, Leipzig 1836, S. 186, und Dritter Seil, Magdeburg 1848, S. 293, und Frédéric Soret in Goethes Gespräche. Gesamtausgabe. Vierter Band. Vom Tode Karl Augusts bis zum Ende. 1828 Juni [sic] bis 22. März 1832, hg.
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Die Kapitel
ausfallen,914 da die Kapitel thematisch-inhaltlich homogener sind als das von Propp untersuchte Märchencorpus. Erfasst werden sollen zudem nicht alle einer Typisierung zugänglichen Handlungsmuster, sondern nur die, die für die typischen Personen konstitutiv sind. In 1,7 (De somniis) sind diese Personen der Schläfer,915 die prophetische Figur,916 der Betroffene,917 der Feind des Betroffenen,918 der laut Prophezeiung oder durch deren Be- oder Missachtung besiegt wird oder siegt, und – nur in einer Minderheit der Geschichten vorkommend – der Erfüllungsgehilfe der Prophezeiung.919 2,1 (De institutis antiquis) ist ein Sonderfall, weil hier die handelnden Personen bereits auf der Ebene der einzelnen Geschichten Verallgemeinerungen sind. Durch das ganze Kapitel ziehen sich als Protagonisten ‚der Römer‘ und ‚die Rö-
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von Flodoard Freiherrn von Biedermann, Leipzig 1910, S. 210: Gozzi soll 36 Grundsituationen behauptet, aber nicht nachgewiesen haben, Schiller beim Versuch, sie zu finden, auf weniger gekommen sein), ernsthaftere Versuche unternahmen Georges Polti: Les Trente-six Situations dramatiques [urspr. 1895], Paris 1924, und Étienne Souriau: Les Deux Cent Mille Situations dramatiques, Paris 1950. Noch abstrakter wird Claude Bremond: Logique du récit, Paris 1973, S. 131–344 (Les rôles narratifs principaux), der den Ansatz Propps auf andere Erzählgattungen ausweitet. Dass sich auf höchster Abstraktionsebene nicht wenige Kapitelinhalte bei Valerius Maximus auf ein Provokation-Reaktion-Schema zurückführen lassen, wurde bereits anlässlich des Vergleichs mit dem ebenfalls so aufgebauten Apophthegma (oben S. 195– 198) gesagt. 1: Artorius, 2: Calpurnia, 3: Decius und Manlius, 4: Latinius, 5: Cicero, 6: C. Gracchus, 7: Cassius Parmensis, 8: Haterius Rufus, ext. 1: Hannibal, ext. 2: Alexander, ext. 3: Simonides, ext. 4: Kroisos, ext. 5: Astyages, ext. 6: Himerae femina, ext. 7: die Mutter des Dionysios, ext. 8: Hamilcar, ext. 9: Alkibiades, ext. 1: is, qui in hospitio erat. 1: Minerva, 3: quaedam species, 4: Iuppiter, 5: Marius, 6: Ti. Gracchus, 7: κακὸς δαίμων, ext. 1: iuuenis, ext. 3: inhumatum corpus, ext. 5: Mandane, ext. 6: iuuenis, ext. 8: uox, ext. 10: comes (= der Betroffene, der ausnahmsweise nicht bloß Teil einer Vision ist, sondern den Schläfer direkt anredet); in ext. 7 ersetzt durch einen Traumdeuter, der den Traum verständlich macht; fehlt in 2, 8, ext. 2, ext. 4 und ext. 9. 1: Augustus, 2: Caesar, 4: die urbs als ganze, personifiziert durch Konsuln und Senat, sowie der Schläfer selbst auf besondere Weise, ext. 3: der Schläfer und die Schiffspassagiere (qui inde soluerant), ext. 4: Atys, ext. 5: die Familie des Astyages, ext. 6: Sicilia atque Italia, ext. 7: Dionysios, ext. 10: comes (zugleich die prophetische Figur); sonst mit dem Schläfer identisch. 1: Brutus, 2: parricidae, 3: das gegnerische Heer, 5: die inimicorum conspiratio (die die Verbannung veranlasst hat), 6: die Mörder des C. Gracchus, 7: Caesar, 8: retiarius, ext. 1: Italia, ext. 2: Kassander, ext. 4: ferrum, ext. 5: Kyros, ext. 6: Dionysios, ext. 8: Syracusani, ext. 9: die Mörder des Alkibiades, ext. 10: caupo; fehlt in 4, ext. 3 und ext. 7. 4: Freunde, die zur Befolgung des Traumbefehls raten, 5: der Senat, der Ciceros Verbannung aufhebt, 8: consessores, die zur Missachtung der Prophezeiung raten, ext. 4:
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merin‘, die in verschiedenen Situationen ihres persönlichen Lebens gezeigt werden.920 In 3,8 (De constantia) bewährt sich ein von constantia beseelter Held921 gegen einen Versucher, der ihn zu etwas Falschem zwingen oder provozieren will – sei es als Bösewicht922 oder als Vertreter der Nachgiebigkeit923 – oder ihn für das Richtige, das er tut, zu bestrafen trachtet.924 Nebenrollen sind der passive Bösewicht, der nur Objekt der constantia ist,925 der potentielle Erfüllungsgehilfe des Bösewichts926 und die Person, zu der sich der Held durch seine constantia loyal oder solidarisch verhält.927 In 4,2 (Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine) sind die typischen Rollen der Held (d. h. die Hälfte des Feindespaars, die aktiv die Versöhnung betreibt)928 und sein Feind (d. h. die ‚passive‘ Hälfte)929 sowie – in einer knappen Mehrheit der Anekdoten – der Vermittler, der den Anlass zur Versöhnung gibt.930
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der Eber sowie cui tutela filii a patra mandata erat. Natürlich treten in manchen Anekdoten noch weitere Figuren auf, die aber nur peripher zur Geschichte beitragen (wie der pater familias in 4, der den Anlass für den Traum gibt, oder die Sklaven des Schläfers in 7). 1–6: als Ehemann und Ehefrau, 7: als Vater und Sohn, Schwiegervater und Schwiegersohn, 8: als Mitglied einer Familie generell, 9–10: als junger und als alter Mann. 1: Fulvius Flaccus, 2: Fabius Maximus, 3: Piso, 4: Metellus Numidicus, 5: Scaevola, 6: Sempronia, 7: Titius, 8: Maevius, ext. 1: Blassius, ext. 2: Phokion, ext. 3: Sokrates, ext. 4: Ephialtes, ext. 5: Dion, ext. 6: Alexander. 2a–c: die Urheber der iniuriae, 2d: Hannibal, 3: die Tribune, 4: Saturninus und seine Anhänger, 5: Sulla, 6: totum forum, 7: Scipio, 8: Antonius, ext. 3: Vniuersa ciuitas Atheniensium, ext. 5: quidam monentes, ext. 6: Parmenion. 1: der römische Senat (dessen Beschluss der Hinrichtung der kampanischen Senatoren entgegensteht), ext. 4: Demochares (der Geliebte des Helden, dessen Vater dieser anklagen soll). In ext. 2 tritt an die Stelle eines Versuchers aus Fleisch und Blut der Erfolg der vom Helden abgelehnten Maßnahmen, der dazu verleiten könnte, diese im Nachhinein gutzuheißen. Ext.1: Dasius. 1: die kampanischen Senatoren, 3: Palicanus, 6: Equitius, 7: Pompeius, ext. 4: Demostratos. In allen diesen Anekdoten gibt es zusätzlich auch einen Versucher. Ext.1: Hannibal. 5: Marius, 7 und 8: Caesar, ext. 1: die Römer, ext. 3: die angeklagten Strategen, ext. 5: Herakleides und Kallippos, ext. 6: der Arzt Philippos. 1: Aemilius Lepidus, 2: Livius Salinator, 3: Scipio Africanus, 4: Cicero, 5: P. Pulcher, 6: Caninius Gallus, 7: Caelius Rufus. 1: Fulvius Flaccus, 2: Nero, 3: Ti. Gracchus, 4: A. Gabinius und P. Vatinius, 5: Lentulus, 6: C. Antonius und M. Colonius, 7: Q. Pompeius. 1 und 2: die Wähler (die das Feindespaar gemeinsam in ein Amt gewählt haben), 3: der Senat (der direkt die Versöhnung initiiert: auctore senatu), 7: Cornelia (gegen die der Held seinem Feinde beisteht).
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Die Kapitel
In 5,7 (De parentum amore et indulgentia in liberos) sind die typischen Rollen der Vater,931 der Sohn932 und der Versucher, der – vorsätzlich oder nicht – das Verhältnis der beiden auf die Probe stellt.933 6,2 (Libere dicta aut facta) ähnelt 3,8. An der Stelle des constantia-Helden steht ein libertas-Held,934 und der ‚Versucher‘ ist jemand, der entweder generell mächtig ist oder den Helden persönlich bedroht, so dass libertas ihm gegenüber ein Wagnis ist.935 In 7,7 (De testamentis quae rescissa sunt) sind die typischen Rollen der Enterbte,936 der ungerechte Erblasser,937 der von diesem eingesetzte Erbe,938 der zugunsten des Enterbten entscheidende Richter939 und gegebenenfalls ein Fürsprecher der Erben.940 In 8,9 (Quanta uis sit eloquentiae) der mächtige Redner,941 der von ihm Beeinflusste942 und der Dritte, der die Macht der Rede erkennt (und entweder benennt oder bekämpft)943 oder sie als Negativbeispiel bezeugt.944 931
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1: Fabius Rullianus, 2: Caesetius, 3: Octavius Balbus, ext. 1: Seleukos, ext. 2: Ariobarzanes. 1: Fabius Gurges, 2 und 3: namenlos, ext. 1: Antiochos, ext. 2: namenlos. 2: Caesar, 3: die Schergen der Triumvirn, ext. 1: Stratonike, ext. 2: Pompeius; fehlt in 1. 1: der Gesandte von Privernum, 2: L. Philippus und L. Crassus, 3: Scipio Africanus, 4: Cn. Piso, 5: Cato, 6: Lentulus Marcellinus, 7: Favonius, 8: Helvius Mancia, 9: Diphilus, 10: M. Castricius, 11: Ser. Galba, 12: Cascellius, ext. 1: mulier, ext. 2: senectutis ultimae quaedam, ext. 3: jeodoros. Mit dem Begriff ‚Held‘ soll in diesem Fall keine positive moralische Wertung durch Valerius Maximus impliziert werden; seine Meinung über libertas ist zwiespältig (praef.: inter virtutem vitiumque posita; die Einzelevaluationen fallen verschieden aus). 1: der römische Senat, 2: der Senat (für L. Philippus) und L. Philippus (für L. Crassus), 3: der Tribun Cn. Carbo und das versammelte Volk, 4–9: Pompeius, 10: Cn. Carbo, 11: Caesar, 12: die Triumvirn, ext. 1: Philipp, ext. 2: Dionysios, ext. 3: Lysimachos. In 12 kommen als zusätzliche Versucher Freunde des Helden hinzu, die von der libertas abraten (amicique ne id faceret monerent). 1–2: der Sohn, 3: C. Tettius, 4: Trachali Ariminenses, 5: Terentius (und die sieben anderen Söhne), 6: Surdinus; nicht erwähnt in 7. Diese ist die prominenteste positive Rolle in 1–2. 1: der Vater, 2: Anneius Carseolanus, 3: der Vater, 4: Septicia, 5: ein Sohn, 6: Naevius Anus, 7: Vibienus. 1: alii heredes, 2: Tullianus, L. Sextilius und P. Popilius, 4: Publicius, 5: heredes, 6: Genucius, 7: Vecillus (laut Kempfs Edition von 1888) oder Vecilius (laut Briscoe und Shackleton Bailey); nicht erwähnt in 3. 1–2: Zentumvirn, 3–4: Augustus, 5: Calpurnius Piso, 6: Mam. Aemilius Lepidus, 7: Q. Metellus. Die prominenteste positive Rolle in 3–7. 2: Pompeius, 6: Cn. Orestes als Richter in erster Instanz. 1: Valerius, 2: M. Antonius, 3: L. Cotta, ext. 1: Peisistratos, ext. 2: Perikles, ext. 3: Hegesias. 1: plebs, 2: milites, 3: das Gericht, ext. 1–ext. 2: die Athener, ext. 3: die Hörer der Vorträge.
Das Kapitel als typologisch-episodische Erzählung
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In 9,7 (De ui et seditione) der Vertreter des Rechts,945 der illegitime Gewalttäter946 und – teils mit diesem identisch – der Begünstigte der illegitimen Gewalt,947 außerdem – nur in einer Minderheit der Geschichten vorkommend – der vom Vertreter des Rechts zu Beschützende.948 Man sieht an diesen Beispielen sehr deutlich, dass Kohärenz auf der Ebene der Kapitel nicht bloß durch eine rein abstrakte [ematik, sondern auch durch die Protagonisten hergestellt wird, die über die Individualität der konkreten Personen hinweg konstante Typen sind – Rollen, die von Anekdote zu Anekdote von wechselnden historischen Personen verkörpert werden. Dieses in der erhaltenen antiken Literatur in dieser Form einmalige949 typologische Schauspiel bestätigt nicht nur die Intuition, dass es in den Facta et dicta vorrangig um das Allgemeinmenschliche gehe, das aus der Masse der historischen Ereignisse herausdestilliert werde,950 sondern sorgt in Verbindung mit der starken Kohäsion durch die Verknüpfungstechnik auch dafür, dass überhalb der anekdotischen Einzelerzählungen eine zweite Schicht von Erzählungen lesbar wird, die sich formal wie herkömmliche episodisch aufgebaute Erzählwerke verhalten.
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3: Caesar (zugleich, wie ausdrücklich gesagt wird, selbst ein begnadeter Redner), ext. 2: ueteris comoediae maledica lingua und quidam, ext. 3: Ptolemaios (der die Vorträge verbietet). 2: P. Annius (der die Rede nicht hört und daher nicht beeinflusst wird), ext. 1: Solon (der als der schwächere Redner unterliegt, obwohl er im Recht ist). 1: Marius (der Equitius verhaften lässt), 2: Q. Metellus (der Equitius nicht anerkennt), 3: Nunnius, 4: Sempronius Asellio, mil. Rom. 1: Marius und sein Legat Gratidius, mil. Rom. 2: Q. Pompeius, mil. Rom. 3: C. Carbo. 1–3: das Volk, 4: L. Cassius und die von ihm angestiftete Meute, mil. Rom. 1: die Soldaten, mil. Rom. 2: Cn. Pompeius und seine Soldaten, mil. Rom. 3: das Heer. 1–2: Equitius, 3: Saturninus, 4: die Gläubiger (teilidentisch mit der Meute?), mil. Rom. 1: Sulla (weil er das Kommando behalten soll) und die Gewalttäter selbst (die weiter unter ihm dienen wollen), mil. Rom. 2: Cn. Pompeius, mil. Rom. 3: ausschließlich die Gewalttäter selbst. 2: die Familie der Gracchen (neque oportere clarissimae familiae ignotas sordes inseri), 4: die Schuldner. Zu Vergleichs- und Zweifelsfällen siehe unten S. 323–327. Albrecht: Geschichte, S. 914: „Valerius Maximus […] versucht, die Geschichte in Augenblicksbilder aufzulösen, die gestatten, die menschliche Natur in ihren Vorzügen und Fehlern zu studieren“ (vgl. auch 9,11, praef.: vitae humanae cum bona tum etiam mala substitutis exemplorum imaginibus persequimur). Es soll freilich nicht behauptet werden, dass sich die individuellen Personen gänzlich im Allgemeinen auflösten – wir sahen ja, dass die Identifikation der Personen zumindest ernster genommen wird als die räumlich-zeitliche Verankerung (siehe oben S. 157–160) und dass es einzelne Evaluationen gibt, die statt der Tat die Person erhöhen (oben S. 170).
Die Kapitel
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Episodizität
Eine Episode ist laut Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft eine ‚[r]elativ selbständige, in einen größeren narrativen Zusammenhang gehörende Teiloder Nebenhandlung‘, und ‚[d]ie narrative Makrostruktur eines Werkes wird episodisch genannt, wenn seine einzelnen Abschnitte nur locker (etwa durch eine konstante Hauptfigur, aber ohne übergreifenden Handlungsstrang) miteinander verbunden sind‘.951 In den Kapiteln des Valerius Maximus wird eine solche lockere Verbindung (auf der Ebene der Geschichte952) durch die Konstanz der von den individuellen Hauptfiguren abgebildeten Typen hergestellt. Die so entstehenden Einheiten ähneln jedoch, wie Vergleiche zeigen werden, auch manchen episodischen Werken mit individuell konstanter Hauptfigur – ideell, weil auch diese mitunter einen Typus repräsentiert oder typisches Geschehen durchmacht, und der Gestalt nach in Hinblick auf die Unterstützung der inhaltlichen Kohärenz durch äußerliche Kohäsionsmittel.953 951
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Martínez: Episode, S. 471, der auch Aristot. poet. 9 = 1451b zitiert, wo das Wort bereits annähernd im heutigen Sinne verwendet wird (es geht darum, dass Episodizität in Tragödien ein Mangel ist: τῶν δὲ ἁπλῶν μύθων καὶ πράξεων αἱ ἐπεισοδιώδεις εἰσὶν χείρισται· λέγω δ’ ἐπεισοδιώδη μῦθον ἐν ᾧ τὰ ἐπεισόδια μετ’ ἄλληλα οὔτ’ εἰκὸς οὔτ’ ἀνάγκη εἶναι, vgl. dazu auch 10 = 1452a). Denn nur diese Ebene – und nicht die formale oder abstrakt-thematische – kann für die Frage der Episodizität entscheidend sein. Dies scheint auch Martínez mit dem Begriff ‚Teil- oder Nebenhandlung‘ sowie der auf die Definition folgenden Paraphrase ‚ein in sich relativ geschlossener Abschnitt des dargestellten Geschehens (der histoire, im Unterschied zum discours)‘ nahezulegen. Seine damit unvereinbare Definition des ‚Episodenstücks‘ als ‚Film-, Fernseh- oder Hörfunkwerk aus unabhängigen […] Teilen […], die nur das jema gemeinsam haben‘ reflektiert einen Sprachgebrauch, der auf audiovisuelle Werke begrenzt ist – eine rein thematische Kurzgeschichtensammlung würde niemand episodisch nennen – und eher aufgegeben als generalisiert werden sollte (zumal er ohnehin nicht in allen Sprachen existiert; vgl. englisch anthology film, französisch film à sketches, während film à épisodes eine Filmserie bezeichnet). Übrigens trifft sie in dieser radikalen Formulierung selbst auf die deutsch so genannten Episodenfilme nur teilweise zu, während andere durchaus auch über Elemente der histoire verbunden sind (z. B. den Millionär, der in If I Had a Million, 1932, allen Hauptfiguren einen Scheck ausstellt, oder den Frack, der in Tales of Manhattan, 1942, den Besitzer wechselt). Textkohäsion ist nicht grundsätzlich Voraussetzung für Episodizität. In der Praxis wird zwar selten darauf verzichtet, auf die Zusammengehörigkeit der Einzelepisoden durch irgendein äußerliches Mittel aufmerksam zu machen. Dies kann aber auch rein durch den Paratext geschehen (v. a. bei episodischen Werken in Serienform durch einen gleichbleibenden Serientitel und ggf. Vorspann oder einen den Serienhelden erwähnenden Untertitel und/oder Klappentext; aber auch bei Veröffentlichung als Block kann Derartiges genügen, z. B. in Giovannino Guareschi: Mondo piccolo. “Don Camillo”,
Das Kapitel als typologisch-episodische Erzählung
3.c
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Literarhistorische Vergleiche
Wie Monika Fludernik in zwei Kapiteln ihres narratologischen [eoriewerks darlegt, hat sich die europäische Erzählliteratur im Laufe des Mittelalters und der frühen Neuzeit tendenziell von einer an mündliche Erzählformen erinnernden Episodizität (‚experiential episodes‘, d. h. aneinandergereihten Einzelerlebnissen) entfernt und der im modernen Roman vorherrschenden, dem Drama ähnlichen holistisch-teleologischen Anlage angenähert.954 Von ihren Beispielen für die ältere Form ist gerade das am ausführlichsten behandelte – mittelenglische versifizierte Heiligenlegenden des 14. bis 15. Jahrhunderts – auf Grund der typisierten Inhalte für uns von besonderem Interesse.955 Diese Legenden kennzeichnet eine ‚episodic succession of scenes of verbal combat or physical oppression‘, wobei ‚the experiential centre of the legend‘ in den wiederholten Versuchen eines tyrannischen Gegenspielers liegt, den Heiligen zu unterwerfen. Sie stellen also ganz wie ein Kapitel des Valerius Maximus ein typisches, variiert wiederholtes Geschehen dar, auch wenn in diesem Fall die Personen nicht bloß typologisch, sondern individuell konstant sind – der Heilige, besonders der Märtyrer, ist freilich auf einer übertextlichen Ebene an sich schon ein Typus. Die Episodenverknüpfung erfolgt zum Teil durch rekurrente Satzanfänge (z. B. mit þan oder þo), Fludernik konstatiert aber auch ein hohes Maß an extradiegetischer Präsenz, die nicht bloß Beiwerk, sondern – als Erbe der ‚familiar reallife experience of the bard‘ – strukturbildend ist, also Episoden einleitet und evaluierend abschließt. Recht ähnlich funktioniert ein weiteres, von Fludernik nicht besprochenes mittelalterliches Genre: das lateinische oder volkssprachliche Tierepos, das ab dem 12. Jahrhundert die schon in der Antike vorhandene Fabel zur Großform
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Mailand 1948, Ndr. Don Camillo, I romanzi di Don Camillo, Mailand 2017, wo äußerlich unverbundene Erzählungen durch den die gemeinsame Hauptperson aufgreifenden Buchtitel und eine vorangestellte Einleitung, die explizit in die ‚Welt‘ der Geschichten einführt, als diegetisch kohärentes Werk kenntlich gemacht werden – der aktuelle Nachdruck fügt verlagsseitig sogar noch die Etikettierung als ‚Roman‘ hinzu). ‘Natural’ Narratology, S. 92–177. Ebd., S. 107–114. Weniger relevant ist die ebd., S. 99–101, aus einer Predigt des 14. Jhds. zitierte ‚typical recursive structure‘ – „a similar situation is reapplied to three or four different characters. jis well-known folkloristic motif (cp. the three caskets in Se Merchant of Venice and Freud’s analysis of the scene) occurs prominently in jokes and is here exploited for allegorical exegesis“, so Fludernik mit Verweis auf Sigm. Freud: Das Motiv der Kästchenwahl, in: Imago 2 (1913), S. 257–266, und die Witze in Bettina Euler: Strukturen mündlichen Erzählens. Parasyntaktische und sententielle Analysen am Beispiel des englischen Witzes, Tübingen 1991 (siehe bes. S. 52f.) –, weil sie teleologisch auf die im letzten Glied enthaltene Klimax ausgerichtet und daher nicht im vollen Sinn episodisch ist.
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Die Kapitel
weiterentwickelt.956 Die Tiere erhalten darin Eigennamen, stehen aber wie in der Fabel für allgemeine Eigenschaften, und die einzelnen Tierarten sind über die einzelnen Werke hinweg konstante Typen. Der Grad der Episodizität variiert allerdings – es gibt rein ‚zyklische‘ Werke (Roman de Renart, Reynke de vos), für die schon die Bezeichnung ‚Epos‘ als fragwürdig gilt,957 und stärker ‚final‘ aufgebaute (Ysengrimus, Reinhart Fuchs),958 wenngleich sich auch in diesen noch Einzelfabeln abgrenzen lassen959 –, und die Übergänge zwischen den Episoden sind entweder isolierend (so im Roman de Renart960) oder vorwiegend diegetisch (so im Reynke de vos, im Ysengrimus und im Reinhart Fuchs961). 956
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Siehe generell Hans Robert Jauß: Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung, Tübingen 1959, Fritz Peter Knapp: Das lateinische Tierepos, Darmstadt 1979, und Klaus Düwel: Tierepik, in: RDL III (2003), S. 639–641. Der konkrete Ursprung des Tierepos – aus antik-‚äsopischer‘ oder ‚volkstümlicher‘ Fabel – ist seit jeher umstritten. Dabei wird gerade die Typizität der Hauptfigur als einer teleologischen Durchkomposition entgegenstehend beurteilt. Siehe Leo Spitzer: Die Branche VIII des Roman de Renart, in: Archivum Romanicum 24 (1940), S. 206–237, hier 234f. (es gibt keine „Durchorganisierung […] wie in einem Epos der Karlsgeste oder einem Roman des Artuszyklus“, sondern „die Lieder werden zum Epos gereiht wie die Perlen zum Halsband“; der Fuchs mit seinem „generelle[n] Charakter“ hat „keine sich entwickelnde Geschichte, sondern nur ein stetes Sein […], das man in einzelnen und losen Aventiuren umspielen kann“), und Jauß: Tierdichtung, S. 59 (der Ysengrimus hat „mit der strengeren Form seines Kunstepos keine Schule gemacht“, der Roman de Renart ist ein „epischer Zyklus“, aber kein „Groß-Epos“) und 198 („Während es, um einen epischen Helden zu charakterisieren, immer einer Reihe von Begebenheiten, d. h. seiner Geschichte bedarf, wird die Natur einer Tierfigur bereits in der ersten aventure hervorgekehrt“, und „der reine Typ verträgt nur die Form der stets fortsetzbaren Episodenreihung, nicht die der auf ihr Ende gerichteten Geschichte“). So Düwel, S. 640. Auch Jauß: Tierdichtung, S. 105, unterscheidet zyklisierte Episoden, die bloß über die Personen zusammengehalten werden (hier: Fuchs und Wolf in einer vermuteten Vorstufe zum Ysengrimus), von der im Ysengrimus verwirklichten „episch aufgefaßte[n], d. h. aus einem epischen Anlaß entwickelte[n] und in sich vollendete[n] Geschichte“. J. Van Mierlo: Het vroegste dierenepos in de letterkunde der Nederlanden. Isengrimus van Magister Nivardus, in: Verslagen en mededelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie voor Taal- en Letterkunde 1943, S. 281–335 und 489–548, hier 492 („Zoo heeft onze dichter het klaar gekregen, om die twaalf avonturen tot een groot episch geheel samen te voegen. Organisch groeien deze verhalen wel niet uit elkander: het zijn niet de verschillende episoden van een groote gebeurtenis. Het zijn als zoovele avonturen uit het leven van Isengrim: die toch zeer behendig uit elkander worden afgeleid en uit Isengrim’s vraatzucht en hebzucht verklaard“), und Knapp, S. 48–58 (auch zur Verklammerung durch Rück- und Vorgriffe), beide mit Bezug auf den Ysengrimus. Le Roman de Renart, hg. und übers. von Armand Strubel et al., Paris 1998. Reinke de vos, hg. von Albert Leitzmann, Halle 31960, Reineke Fuchs. Das niederdeutsche Epos „Reynke de Vos“ von 1498, übers. von Karl Langosch, Stuttgart 1967; Ysengrimus, hg. und übers. von Michael Schilling, Berlin 2020; Heinrich der Glîchezâre:
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Das klassische griechisch-römische Epos ist der [eorie nach keineswegs episodisch, sondern der Tragödie ähnlich. Aristoteles, der dieses Ideal formuliert,962 macht aber deutlich, dass es in der Praxis oft verletzt wurde. Viele nachhomerische Epiker, womöglich die meisten, dichteten episodisch (σχεδὸν δὲ οἱ πολλοὶ τῶν ποιητῶν τοῦτο δρῶσι), beispielsweise die Verfasser von Epen mit Titeln wie Ἡρακληίς oder Θησηίς, aber auch die der Κύπρια und der μικρὰ Ἰλιάς, zweier Epen des Epischen Kyklos.963 Diese von Aristoteles abgewerteten Epen sind uns nicht erhalten, und auch aus späterer Zeit überwiegen die, die dem Ideal entsprechen.964 Das einzige echte Gegenbeispiel sind die spätantiken Διονυσιακά des Nonnos von Panopolis (5. Jhd.),965 eine Art Biographie des Gottes Dionysos, die durch zahlreiche
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Reinhart Fuchs, hg. und übers. von Karl-Heinz Göttert, Stuttgart 2005. Als Kohäsionsmittel begegnen rekapitulierende Satzteile, die das Ergebnis der vorigen Episode zur Ausgangssituation der nächsten machen (z. B. Ysengrimus 5,325–326: Postquam depulsa potuit formidine liber / Circumspectandi sedulitate frui, 5,705: Interea duro Reinardus liber ab hoste, 6,1: Talibus expletis), aber auch direkte kausale Bezüge (z. B. 1,529: Venerat ergo dies vindictae) sowie die Einschaltung als Sekundärerzählung. Er schreibt, dass die Kriterien für gute Tragödien (dazu schon oben Fn. 951) generell auch für Epen gälten (poet. 5 = 1449b: ὅστις περὶ τραγῳδίας οἶδε σπουδαίας καὶ φαύλης, οἶδε καὶ περὶ ἐπῶν), und verwendet im Abschnitt zur Tragödie wiederholt epische Beispiele – so Homer für die richtige Gestaltung der Handlung, weil er richtig erkannt habe, dass eine konstante Hauptperson nicht ausreicht, sondern eine holistische Handlungslinie (μία πρᾶξις) nötig ist, die durch ἀναγκαῖον und εἰκός zusammengehalten wird (8 = 1451a). So auch im eigentlichen Abschnitt zum Epos: δεῖ τοὺς μύθους καθάπερ ἐν ταῖς τραγῳδίαις συνιστάναι δραματικοὺς καὶ περὶ μίαν πρᾶξιν ὅλην καὶ τελείαν ἔχουσαν ἀρχὴν καὶ μέσα καὶ τέλος (23 = 1459a). Die zitierte Formulierung und die letzten zwei Beispiele stehen im Abschnitt zum Epos (23 = 1459a–b), die ersten zwei Beispiele anlässlich der Tragödie (8 = 1451a). Als positives Gegenbeispiel wird an beiden Stellen Homer angeführt. Ich beziehe mich auf Helden- und Geschichtsepen, nicht auf das sogenannte Sach-Epos (Lehrgedichte u. Ä.; auch Ovids Metamorphosen). Eine Übersicht über den Epenbestand (im weitesten Sinne) gibt Joachim Latacz: Epos. II. Klassische Antike. B. Bestand. 1. Vorliterarische Phase, 2. Griechische Literatur (von Homer bis Nonnos) mit Tabelle Das antike Epos. Bestand, in: DNP 4 (1998), Sp. 13–22, hier 15–18, der allerdings auch das Geschichtsepos „nicht dem narrativen, sondern dem Sach-Epos“ zuordnet – so dass das ‚narrative‘ mit dem Heldenepos zusammenfällt –, weil es keine „einheitliche, auf ein Ziel zulaufende Handlung“ habe. Dies trifft aber nicht in jedem Fall zu (z. B. auf Ennius, aber eher nicht auf Lukan oder Silius Italicus), dafür sehr wohl auch auf manche Heldenepen; überhaupt sind jemenstellung (personenbezogen, historisch, sachlichideell) und Narrativität (nicht-narratives Werk, teleologische oder episodische Großerzählung, Erzählsammlung) zwei verschiedene Kategorien, die man nicht vermischen sollte. Vgl. Barbara Abel-Wilmanns: Der Erzählaufbau der Dionysiaka des Nonnos von Panopolis, Frankfurt a. M. 1977, S. 211: „Die Dionysiaka bestehen aus einer Menge einzel-
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Einschaltungen zu einer an Ovids Metamorphosen erinnernden mythologischen Summe wird. Auch die Verknüpfungstechnik weist Ähnlichkeiten auf. Schon anhand einer groben Episodeneinteilung966 lassen sich die folgenden Kohäsionsmittel nachweisen: Reisebewegungen (z. B. 44,1: Ἤδη δ’ Ἰλλυρίης Ταυλάντιον ἔθνος ἀρούρης / […] nach 43,449: Εὐρώπης πτολίεθρα μετ’ Ἀσίδος ἄστεα βαίνων967), auch in
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ner, abgeschlossener, untereinander mäßig verbundener Erzählungen; weder Handlungen noch Figuren noch Handlungszeiten und ‑orte formen miteinander echte Systeme. So stellen die Dionysiaka im Gesamt kein geschlossenes System dar, die Gesamterzählung bildet keine einheitliche finale Handlung, deshalb auch keine semantische Einheit im Sinne einer kohärenten Erzählung“, und Herwig Görgemanns: Die griechische Literatur in Text und Darstellung. Band 5. Kaiserzeit, Stuttgart 1988, S. 81: „Die Ereignisse entbehren der Notwendigkeit, sie erscheinen als buntgereihte, revueartige Bilder. […] Die Dionysiaka sind gewissermaßen gar kein echtes Großepos, sondern eine Verkettung von Epyllien“; zur Anordnung der Episoden und zur Mischung verschiedener Strukturen und Gattungen siehe Robert Shorrock: Se Challenge of Epic. Allusive Engagement in the Dionysiaca of Nonnus, Leiden 2001, S. 7–23. Dagegen hat das Werk des Quintus von Smyrna (3. Jhd. n. Chr.), Τὰ μεθ’ Ὅμηρον, trotz der „inhaltliche[n] Geschlossenheit“ der einzelnen Bücher (Peter Schenk: Handlungsstruktur und Komposition in den Posthomerica des Quintus Smyrnaeus, in: RhM 140, 1997, S. 363–385, hier 364; vgl. auch Włodzimierz Appel: Grundsätzliche Bemerkungen zu den Posthomerica und Quintus Smyrnaeus, in: Prometheus 20, 1994, S. 1–13), die – verstärkt durch das Fehlen eines alles dominierenden Helden (siehe aber Alan James: Quintus of Smyrna, in: A Companion to Ancient Epic, hg. von John Miles Foley, Malden, Mass. 2005, S. 364– 373, hier 367) – dazu geführt hat, es als episodisch zu betrachten, ein durchaus teleologisches Gesamtkonzept: es ‚ergänzt‘ die Ilias zu einer in der Zerstörung Trojas gipfelnden Kriegsgeschichte (ähnlich schon Schenk, S. 366); die Buchanfänge knüpfen rein mechanisch mit Αὐτάρ oder δέ an, rekapitulieren in einem Vers das zuletzt erzählte Geschehen oder schildern den Anbruch eines neuen Tages. Ich folge Paul Collart: Nonnos de Panopolis. Études sur la composition et le texte des Dionysiaques, Kairo 1930, S. 59 (Liste von 17 Hauptepisoden; nachgedruckt bei Shorrock, S. 11), und lege die dort nicht genau bezeichneten Anfangsverse selbst fest (zum Teil mit Hilfe von Collart, S. 63–270; drei der Episoden sind zweiteilig, da mit anderen verschränkt; die Länge der Episoden reicht von 89 Versen bis 13 Bücher!). Zu kleineren Exkursen siehe Camille Geisz: Narrative and Digression in the Dionysiaca, in: Brill’s Companion to Nonnus of Panopolis, hg. von Domenico Accorinti, Leiden 2016, S. 173–192, hier 176–192; sie werden oft mit verschiedenen Begründungen extradiegetisch eingeleitet – z. B. als Alternativüberlieferung zum zuvor Erzählten oder auch bloß wegen eines Ortsbezugs (4,320–321: Kadmos kommt nach Daulis, woher die Geschichte der Philomela stammt, die darum kurz referiert wird; 41,10–11: Dionysos kommt in den Libanon, daher wird eine Geschichte aus Beroe erzählt), teils auch mit Anrede an den Leser oder Musenanruf – oder Sekundärerzählern in den Mund gelegt (meist mit persuasivem Zweck). Weitere Fälle: 41,1: Ἄρτι μὲν ὀφρυόεντος ὑπὲρ Λιβάνοιο καρήνων / […] nach 40,579– 580: Καὶ θεὸν ἀστροχίτωνα Τύρου πολιοῦχον ἐάσσας / Ἀσσυρίης ἑτέρης ἐπεβήσατο Βάκχος ἀρούρης, 47,1–3: Ἤδη δ’ ἔνθα καὶ ἔνθα δι’ ἄστεος ἵπτατο Φήμη / ἄγγελος
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Verbindung mit Anachronie (1,138–145: Kadmos kommt zu einer Höhle, während der Kampf bereits tobt, der dort seinen Ursprung hatte), mechanische Anknüpfung (1,362: Οὐδὲ Τυφωεὺς […],968 10,175: Καί ποτε), Gleichzeitigkeit (1,321: Ὄφρα μὲν εἰν Ἀρίμοις ἐπεφοίτεε Κάδμος ἀλήτης), Übergangserzählungen (3,1–16: Frühlingsbeginn, 20,35–98: in der Nacht nach dem Ende der Leichenspiele für Staphylos hat Dionysos einen Traum, der ihn zum Krieg in Indien auffordert), auch als Vorbereitung einer Sekundärerzählung (38,1–105), Genealogie (5,190–192: von der Mutter zu den Kindern), auch in Verbindung mit Anachronie (5,562–565: von Semele zu Persephone, ihrer Vorgängerin als Mutter des Dionysos969), zeitliche Abfolge (in Gestalt rekapitulierender Sätze und Satzteile, z. B. 19,59: Ὣς εἰπὼν […]970), Gegensätzlichkeit (30,1–3: Ὣς ὁ μὲν ἑπτάζωνον ἐς οὐρανὸν ἔδραμεν Ἄρης […] / […] ἐς ὑσμίνην δὲ χορεύων / θαρσήεις Διόνυσος […]), Ortsgleichheit und motivische Ähnlichkeit (48,90–92: Καί νύ κεν εἰς Φρυγίην ταχὺς ἔδραμεν ὠκέι ταρσῷ, / ἀλλά μιν ἄλλος ἄεθλος ἐρήτυεν, ὄφρα θανόντων / τοσσατίων ἕνα φῶτα κατακτείνειε φονῆα). Den von Fludernik behandelten mittelalterlichen Hagiographien sind manche antiken zur Seite zu stellen – sogar noch vor den ältesten christlichen Hagiographien findet man im vierten Makkabäerbuch (1. Jhd. n. Chr.)971 eine Kette tyrannischer Unterwerfungsversuche ähnlich denen, die Fludernik beschreibt972 –, es
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αὐτοβόητος ἐρισταφύλου Διονύσου / Ἀτθίδι φοιτήσαντος […] nach 46,369: ἁβρὸς ἀσιγήτοισιν ἐκώμασε Βάκχος Ἀθήναις, 48,1–3: Αὐτὰρ ὁ πορδαλίων ἐποχήμενος ἄντυγι δίφρου / Θρηικίῃ περίφοιτος ἐκώμασε Βάκχος ἀρούρῃ, / ἵππιον ἀρχεγόνοιο Φορωνέος οὖδας ἐάσσας. Inhaltlich handelt es sich um die Fortsetzung einer durch Verschränkung mit einer anderen unterbrochenen Episode (erster Teil: 1,138–320). Der Gott wurde laut Nonnos zweimal geboren: als Zagreus, Sohn des Zeus und der Persephone, und nach dessen Tod als Sohn des Zeus und der Semele. Weitere Fälle: 9,1–3: Ζεὺς δὲ πατὴρ Σεμέλης φλογερῶν νωμήτορα κόλπων / ἡμιτελῆ λοχίοιο διαθρῴσκοντα κεραυνοῦ / δεξάμενος Διόνυσον, 37,1–7: Ὣς οἱ μὲν φιλότητι μεμηλότες ἔμφρονες Ἴνδοι, / Βακχείην ἀνέμοισιν ἐπιτρέψαντες ἐνυώ, / […] / Καὶ φιλίην Διόνυσος ἰδὼν πτολέμοιο γαλήνην […], 39,1–5: Ὣς εἰπὼν ἀκίχητος ἐς οὐρανὸν ἤλυθεν Ἑρμῆς, / […] / Ὄφρα μὲν εἰσέτι Βάκχος ἀκοσμήτων χύσιν ἄστρων / θάμβεε […] (d. h. als er noch staunte über die Inhalte der gerade abgeschlossenen Erzählung des Hermes). Als Einfluss auf die christliche Hagiographie genannt von jeofried Baumeister: Hagiographie, in: Lexikon für Seologie und Kirche. Vierter Band, hg. von Walter Kasper et al., Freiburg i. Br. 31995, Sp. 1143–1147, hier 1144. Das Buch gilt in keiner Kirche als kanonisch, wird aber dennoch in manchen griechischen Bibelausgaben abgedruckt (so in Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes, hg. von Alfred Rahlfs/Robert Hanhart, Stuttgart 22006, ‚Bd.‘ I, S. 1157–1184). Ein Greis und sieben Brüder erleiden nacheinander das Martyrium, als der Tyrann versucht, sie zum Essen von Schweine- und Opferfleisch zu zwingen. Im Gegensatz zu Fluderniks Beispielen hat das wiederholte Geschehen also wechselnde Helden, die aber nicht rein typologisch, sondern durch die konkrete Situation verbunden sind. Die
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gibt allerdings auch singulär aufgebaute, quasi-dramatische Passionsberichte und andererseits Heiligenviten, die eher der weltlichen Biographie ähneln.973 Diese ist notwendigerweise episodisch, wenn man von ihrer üblichen Definition als ‚account of the life of a man from birth to death‘974 ausgeht, denn das Leben eines Menschen bildet, wie schon Aristoteles bemerkt, als solches keine kohärente Handlung.975 Darüber hinaus neigen Biographen zur Vermischung chronologischer und achronischer Ordnungsprinzipien – nicht nur Sueton, der die Regierungszeit der Kaiser großteils thematisch gruppiert behandelt,976 sondern trotz allen Unterschieden auch Plutarch, bei dem Françoise Frazier eine durch das moralische Hauptinteresse bedingte „structure quasi argumentative“ mit weitreichender chronologischer Ungenauigkeit und Autonomie des Einzelereignisses konstatiert.977 Stichprobenartige Prüfung seiner Verknüpfungstechnik anhand der charakterisierenden Anekdoten am Anfang der Alkibiades-Vita978 ergibt ein Überwiegen
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Überleitung vom Greis zu den Brüdern erfolgt hierarchisierend (8,1: Διὰ τοῦτό γέ τοι καὶ μειρακίσκοι τῷ τῆς εὐσεβείας λογισμῷ φιλοσοφοῦντες χαλεπωτέρων βασανιστηρίων ἐπεκράτησαν), die zwischen den Brüdern durch zeitliche Abfolge (Schluss und Anfang zu einem Satz zusammenziehend, z. B. 11,13: Τελευτήσαντος δὲ καὶ τούτου ὁ ἕκτος ἤγετο μειρακίσκος – ähnlich auch 9,26, 10,1, 10,12, 11,1 und 12,1). Märtyrerakten und Passionsberichte entstanden zuerst, Heiligenbiographien (auch von Nicht-Märtyrern) später – siehe den historischen Überblick bei Baumeister. Arnaldo Momigliano: Se Development of Greek Biography, Cambridge, Mass. 1993, S. 11. Ähnlich Stefan Schorn: Biographie und Autobiographie, in: Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Zweiter Band. Die Literatur der klassischen und hellenistischen Zeit, hg. von Bernhard Zimmermann/Antonios Rengakos, München 2014, S. 678–733, hier 678. Aristot. poet. 8 = 1451a: Μῦθος δ’ ἐστὶν εἷς οὐχ ὥσπερ τινὲς οἴονται ἐὰν περὶ ἕνα ᾖ· πολλὰ γὰρ καὶ ἄπειρα τῷ ἑνὶ συμβαίνει, ἐξ ὧν ἐνίων οὐδέν ἐστιν ἕν· οὕτως δὲ καὶ πράξεις ἑνὸς πολλαί εἰσιν, ἐξ ὧν μία οὐδεμία γίνεται πρᾶξις. Siehe schon Friedrich Leo: Die griechisch-römische Biographie nach ihrer litterarischen Form, Leipzig 1901, S. 1–10, außerdem G. B. Townend: Suetonius and his Influence, in: Latin Biography, hg. von T. A. Dorey, London 1967, S. 79–111, hier 84–86, zu den jemenankündigungen. Histoire et morale, S. 42–47 („L’événement n’est plus vraiment intégré dans un flux historique continu; isolé, possédant sa valeur et son sens propres, il est comme une pièce de construction que l’auteur exploite à sa guise“). Leo, S. 178–192, meint, für Sueton seien die „πράξεις nur das Gerüst, an das er seine Charakterschilderung anlehnt“, während für Plutarch beides enger zusammengehöre, aber auch er hält die plutarchische Biographie nicht für „a straightforward chronological account“ (wie es ihm Momigliano: Development, S. 19, zuschreibt), sondern geht auf die achronischen Elemente ausdrücklich ein. Alkibiades 2–16 (darin aber 14–15 eine zusammenhängende Erzählung). Zu diesen Anekdoten und vergleichbaren Passagen in anderen Viten siehe D. A. Russell: Plutarch, ‘Alcibiades’ 1–16, in: PCPhS, n.s. 12 = 192 (1966), S. 37–47, A. J. Gossage: Plutarch, in: Latin Biography, hg. von Dorey, S. 45–77, hier 57–60, Timothy E. Duff: Plutarch
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mechanischer Verknüpfungen mit δέ (erweitert zu Ἤδη δέ in 4,1, Ἔτι δέ in 7,3) und eine Vielfalt sonstiger Mittel: vage Andeutungen zeitlicher Abfolge (2,5: Ἐπεὶ δ’ εἰς τὸ μανθάνειν ἧκε, 13,1: Ἐπεὶ δ’ ἀφῆκεν αὑτὸν εἰς τὴν πολιτείαν), gemeinsame Zuschreibung an dieselbe Quelle (3,1: καὶ ὅτι im Anschluss an Ἐν δὲ ταῖς Ἀντιφῶντος Λοιδορίαις γέγραπται ὅτι […]), Gegensätzlichkeit (5,1: Οὕτω δὲ καὶ τοῖς ἄλλοις ἐρασταῖς ἐχρῆτο, πλὴν ἕνα […]), Hierarchisierung (6,1: Ὁ δὲ Σωκράτους ἔρως πολλοὺς ἔχων καὶ μεγάλους ἀνταγωνιστὰς πῇ μὲν ἐκράτει τοῦ Ἀλκιβιάδου, 12,2 für 12,3: Οὐ μὴν ἀλλὰ καὶ διαβολή τις ἢ κακοήθεια γενομένη περὶ τὴν φιλοτιμίαν ἐκείνην πλείονα λόγον παρέσχε),979 Bewertung einer Anekdote im Lichte einer anderen (12,1: Τοῦτο μέντοι τὸ λαμπρὸν ἐπιφανέστερον ἐποίησεν ἡ τῶν πόλεων φιλοτιμία) und Personengleichheit (14,1: Τὸν δ’ Ἀλκιβιάδην ὁ Νικίας […]). In chronologischen Passagen hat bereits die bisherige Forschung980 vielfältige Verknüpfungsmittel festgestellt: zeitliche Abfolge (mit vagen Adverbien wie τότε und μετὰ ταῦτα oder rekapitulierenden Partizipien, z. B. Alexander 31,1: Ἀλέξανδρος δὲ τὴν ἐντὸς τοῦ Εὐφράτου πᾶσαν ὑφ’ ἑαυτῷ ποιησάμενος), psychologische Kausalität (z. B. Nikias 19,9: Ἐκ τούτου δὲ θαρρήσαντες), das Bewegungsmotiv (z. B. Caesar 31,2: die Abreise der Tribune schafft den Übergang von einer Szene in Rom zu einer in Gallien), thematische Ähnlichkeit (teils mit Hierarchisierung, z. B. [emistokles 20,1: Θεμιστοκλῆς δὲ καὶ μεῖζόν τι περὶ τῆς ναυτικῆς διενοήθη δυνάμεως) und Anknüpfung an eine einzelne Sache (Alexander 26,3: Εἰ δ’, ὅπερ Ἀλεξανδρεῖς λέγουσιν Ἡρακλείδῃ πιστεύοντες, ἀληθές ἐστιν, οὔκουν ἀργὸς οὐδ’ ἀσύμβολος αὐτῷ συστρατεύειν ἔοικεν Ὅμηρος, d. h. die Gründung Alexandrias wird an eine Anekdote, in der Homer vorkam, angeschlossen, weil dieser – nämlich Od. 4,354–355 – ihm auch den Ort der Stadtgründung eingab). Selbst Typizität ist der Biographie, so paradox dies auf den ersten Blick scheinen mag, nicht fremd. Ihr Gegenstand ist zwar ein Individuum, der Grund der Beschäftigung mit diesem muss aber darum noch nicht ausschließlich seine Individualität sein, sondern kann ebenso gut in seiner ‚Verwirklichung allgemeiner Eigenschaften‘ liegen.981 Schon das Interesse des Peripatos am Biographischen
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on the Childhood of Alkibiades (Alk. 2–3), in: PCPhS 49 (2003), S. 89–117 (S. 110: die asyndetische, stakkatohafte Anreihung der Alkibiades-Anekdoten symbolisiere seine Unberechenbarkeit, zu der ‚smooth links‘ nicht passen würden), M. Beck: Plutarch, in: Time in Ancient Greek Literature, hg. von de Jong/Nünlist, S. 397–411, hier 407, und Grethlein, S. 116–119. Vgl. auch die von Frazier: Histoire et morale, S. 47–49, in mehreren Viten beobachtete „introduction superlative“ (knappe Andeutung mehrerer ähnlicher Geschehnisse, dann Einleitung des ausführlicher zu erzählenden als besonders bemerkenswert). Aurelio Pérez Jiménez: La asociación de ideas como criterio formal en las Vidas Paralelas, in: Estudios sobre Plutarco, hg. von Fernández/Pordomingo, S. 257–265, Grethlein, S. 117f., und Frazier: Histoire et morale, S. 74–78. Siehe Pausch: Biographie, S. 43, Anm. 229 (mit Verweisen), in Abgrenzung von einer älteren Auffassung, die die Entstehung der Biographie bei den Griechen von einem um
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speiste sich aus dieser Quelle.982 In dieselbe Richtung weisen auch das programmatische Bekenntnis Plutarchs dazu, aus dem Leben der behandelten Personen die Ausdrücke von Tugend und Laster (δήλωσις ἀρετῆς ἢ κακίας) auszuwählen,983 und die starke Betonung einzelner Eigenschaften in manchen seiner Viten – deren Helden andererseits doch genug Individualität bewahren, um nicht als rein typologisch aufgefasst zu werden.984
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400 v. Chr. erwachenden Interesse an der Individualität abhängig machen wollte (wie z. B. Albrecht Dihle: Studien zur griechischen Biographie, Göttingen 21970, S. 35–56, der später, S. 69–73, allerdings trotzdem Typisierungstendenzen zugesteht; in Arbeiten zur Autobiographie gilt mitunter erst die Renaissance als ‚Geburtsstunde‘ des Individuums – siehe dazu Melanie Möller: Nähe auf Distanz. Zur Transformation römischer Selbstbilder in der frühneuzeitlichen Autobiographie, in: Comparatio 10, 2018, S. 301–311, hier 301–303; Burckhardt: Kulturgeschichte, Bd. IV, S. 59–159, und Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch [urspr. 1860], Frankfurt a. M. 2009, S. 134–168, diagnostiziert die Entdeckung der Individualität in beiden Zeitaltern, setzt sie für die Antike aber schon vor 500 an). Ähnlich ambivalent wie die Biographie ist, wie oben (Fn. 134) bereits angedeutet, die Anekdote. Sie kann Individuelles ausdrücken, aber auch bloß Typen exemplifizieren (siehe Moos: Topik, S. 119, Anm. 286, über ‚eine bestimmte Art des Exemplums‘ wie z. B. ‚de[n] typisierte[n] Croesus oder Cato‘, wozu freilich zu ergänzen ist, dass die exemplarische Verwendbarkeit gerade von der dennoch fortbestehenden Individualität abhängt – ein reiner Typus wäre kein Exemplum) oder umgekehrt – gerade in biographischen Kontexten – eine konkrete Person einem Typus angleichen (Hentschel, S. 156f., mit neuzeitlichen Beispielen; vgl. jetzt auch Beer, S. 184–197, zur typisierten Personendarstellung bei Gellius). Zur Rolle des Peripatos in der Geschichte der Biographie siehe Momigliano: Development, S. 65–89 und 105–121, William W. Fortenbaugh: Biography and the Aristotelian Peripatos, in: Die griechische Biographie, hg. von Erler/Schorn, S. 45–78, und Schorn, S. 701–708. Aristoteles selbst, der das Allgemeine für φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον hielt als das Individuelle (vgl. unten Fn. 987), schrieb noch keine Biographien, ebenso wenig sein Nachfolger jeophrast, der aber die von Aristoteles betriebene Systematisierung der Ethik fortführte und vermutlich in einem Werk Περὶ βίων biographisch-anekdotisches Material zu einer Darstellung verschiedener Lebensweisen verarbeitete (siehe unten S. 324 zu diesem Werk und seinen Ἠθικοὶ χαρακτῆρες, die reine Typenpersonifikationen sind; zu einem weiteren typologischen Werk eines Peripatetikers unten Fn. 1002). Der erste Peripatetiker, von dem individuelle Biographien bezeugt sind, ist Aristoxenos von Tarent, ebenfalls noch ein Aristotelesschüler der ersten Generation. Alexander 1,2–3: Οὔτε γὰρ ἱστορίας γράφομεν, ἀλλὰ βίους, οὔτε ταῖς ἐπιφανεστάταις πράξεσι πάντως ἔνεστι δήλωσις ἀρετῆς ἢ κακίας, ἀλλὰ πρᾶγμα βραχὺ πολλάκις καὶ ῥῆμα καὶ παιδιά τις ἔμφασιν ἤθους ἐποίησε μᾶλλον ἢ μάχαι μυριόνεκροι καὶ παρατάξεις αἱ μέγισται καὶ πολιορκίαι πόλεων. Ὥσπερ οὖν οἱ ζῳγράφοι τὰς ὁμοιότητας ἀπὸ τοῦ προσώπου καὶ τῶν περὶ τὴν ὄψιν εἰδῶν, οἷς ἐμφαίνεται τὸ ἦθος, ἀναλαμβάνουσιν, ἐλάχιστα τῶν λοιπῶν μερῶν φροντίζοντες, οὕτως ἡμῖν δοτέον εἰς τὰ τῆς ψυχῆς σημεῖα μᾶλλον ἐνδύεσθαι καὶ διὰ τούτων εἰδοποιεῖν τὸν ἑκάστου βίον, ἐάσαντας ἑτέροις τὰ μεγέθη καὶ τοὺς ἀγῶνας.
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Die Geschichtsschreibung ist nur teilweise episodisch – Aristoteles führt sie als Gegenbild zum Epos an, weil sie nicht über eine kohärente Handlung, sondern nur über den behandelten Zeitraum definiert sei,985 was auf chronistisch-annalistisch aufgebaute Werke (z. B. Atthiden, Universalgeschichten, Livius, Tacitus) zutrifft, aber kaum auf monographische (z. B. Herodot, [ukydides, Sallust)986 – und grundsätzlich nicht typologisch,987 dennoch lohnt sich auch hier ein Blick auf die Verkettung der Erzählabschnitte.
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Vgl. Gossage, S. 65f.: „He began, as can be seen from the introductory chapters of many of his Lives, with a moral concept and then described his heroes in accordance with the concept as far as possible. Aristides, for example, was the just man par excellence, whereas jemistocles was ambitious and a lover of glory“, „On the other hand, it would not be fair to say that Plutarch’s characters are nothing more than character types. Although they do illustrate moral concepts, there is usually sufficient complexity within a single Life to prevent this“. Noch etwas stärker zugunsten der ‚Vielschichtigkeit‘ fällt die Abwägung bei Dihle, S. 73, aus (als Beispiel für Typisierung nennt er die δεισιδαιμονία des Nikias), während Barbara Bucher-Isler: Norm und Individualität in den Biographien Plutarchs, Bern 1972, S. 61, 79, 89–92, urteilt, dass die plutarchischen Helden eher Kombinationen verschiedener allgemeiner Tugenden und Laster als wirklich Individuen seien. Aristot. poet. 23 = 1459a: καὶ μὴ ὁμοίας ἱστορίαις τὰς συνθέσεις εἶναι, ἐν αἷς ἀνάγκη οὐχὶ μιᾶς πράξεως ποιεῖσθαι δήλωσιν ἀλλ’ ἑνὸς χρόνου, ὅσα ἐν τούτῳ συνέβη περὶ ἕνα ἢ πλείους, ὧν ἕκαστον ὡς ἔτυχεν ἔχει πρὸς ἄλληλα. ὥσπερ γὰρ κατὰ τοὺς αὐτοὺς χρόνους ἥ τ’ ἐν Σαλαμῖνι ἐγένετο ναυμαχία καὶ ἡ ἐν Σικελίᾳ Καρχηδονίων μάχη οὐδὲν πρὸς τὸ αὐτὸ συντείνουσαι τέλος, οὕτω καὶ ἐν τοῖς ἐφεξῆς χρόνοις ἐνίοτε γίνεται θάτερον μετὰ θάτερον, ἐξ ὧν ἓν οὐδὲν γίνεται τέλος. Gerald F. Else: Aristotle’s Poetics. Se Argument, Cambridge, Mass. 1957, S. 575–579, meint, dass Aristoteles dabei den zeitgenössischen Universalhistoriker Ephoros vor Augen habe. Der von Aristoteles an anderer Stelle (9 = 1451b, als generisches Beispiel für faktische Geschichtsschreibung im Gegensatz zu fiktionaler Dichtung) zitierte Herodot ist seinem Hauptgegenstand nach genauso monographisch wie jukydides – es mag allerdings sein, dass die Vorgeschichte des Kriegs (Hdt. 1,1–5,27; von den ethnographischen Exkursen ist hier abzusehen) auf Grund ihrer extremen Ausdehnung von manchen Lesern nicht als teleologisch (vgl. 1, praef.: δι’ ἣν αἰτίην ἐπολέμησαν ἀλλήλοισι), sondern als episodische Persergeschichte empfunden wurde. Zur Unterscheidung von breiter und monographischer Geschichte bei Polybios (3,32 und 7,7,6) und Cicero (fam. 5,12) siehe B. L. Ullman: History and Tragedy, in: TAPhA 73 (1942), S. 25–53, hier 42–46; zur Debatte um die sogenannte ‚tragische‘ Geschichtsschreibung des Hellenismus, bei der es allerdings meist um einen anderen Aspekt des Tragischen – die emotionale Wirkung – geht, Carlo Scardino: Historiographie, in: Handbuch der griechischen Literatur, hg. von Zimmermann/Rengakos, S. 617–677, hier 646f., mit Verweisen. Vgl. Aristot. poet. 9 = 1451b, der die dem Konkreten verhaftete Geschichtsschreibung dem (trotz Verwendung von Eigennamen) tendenziell typisierenden Drama gegenüberstellt: φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν· ἡ μὲν γὰρ ποίησις μᾶλλον τὰ καθόλου, ἡ δ’ ἱστορία τὰ καθ’ ἕκαστον λέγει. ἔστιν δὲ καθόλου μέν, τῷ ποίῳ
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Die Einleitungen und -abschlüsse bei römischen Historikern (vor allem Caesar und Livius), die von Jean-Pierre Chausserie-Laprée detailliert untersucht wurden,988 fallen etwas gleichförmiger aus als bei Nonnos oder Plutarch – die Übergangssignale sind Zeit- und Ortsangaben (z. B. eodem fere tempore oder haec eo anno Romae gesta), Rekapitulationen (als deiktische Schlusssätze, z. B. Hunc finem exitumque seditio militum […] habuit, allgemeine Formeln in Anfangssätzen, z. B. quibus rebus confectis, oder konkrete Wiederholungen, z. B. […] milites exposuit. […] Expositis militibus) und Formeln, die Kausalzusammenhänge herstellen (z. B. quibus rebus permotus). Bei dem von Rosaria Munson (anhand des ersten Buches, unter Einbeziehung der Exkurse) untersuchten Herodot989 scheint die Verknüpfungstechnik jedoch wiederum vielfältiger zu sein. Neben Mitteln, die den von Chausserie-Laprée beobachteten entsprechen, weist Munson explizite extradiegetische Ankündigungen und Bewertungen nach – einschließlich mancher, die an die Verknüpfungsmittel der Ähnlichkeit und der Hierarchisierung bei Valerius Maximus erinnern.990 Diese wenigen literaturgeschichtlichen Streiflichter zeigen trotz Unterschieden im Detail bereits in aller Deutlichkeit, dass die äußere Gestalt der Kapitel des Valerius Maximus, die bei Einordnung unter die Sammelwerke fast ohne Parallelen ist, einen gängigen Phänotypus längerer narrativer Einzeltexte – in Prosa oder Vers, mit mythischem oder historischem Inhalt – repräsentiert. Die Beispiele wurden vorrangig aus episodischen Werken gewählt, weil dies die Gruppe ist, der die Kapitel, als Erzählungen betrachtet, zugehören. Inwieweit ähnliche Verknüpfungstechniken auch in nicht-episodischen Erzählungen verbreitet sind, muss an dieser Stelle offen bleiben.991 Weiterführende Vergleiche in diese
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τὰ ποῖα ἄττα συμβαίνει λέγειν ἢ πράττειν κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον, οὖ στοχάζεται ἡ ποίησις ὀνόματα ἐπιτιθεμένη· τὸ δὲ καθ’ ἕκαστον, τί Ἀλκιβιάδης ἔπραξεν ἢ τί ἔπαθεν. L’expression narrative chez les historiens latins. Histoire d’un style, Paris 1969, S. 43– 124. Transitions, S. 25–120 (ohne Kenntnis der Arbeit von Chausserie-Laprée). Ebd., S. 80f. (‚inclusive ἄλλος‘) und 86–94 (‚celebratory terms‘; die Leitgedanken, die die Kontextrelevanz der so angeknüpften Episoden begründen, werden freilich von Herodot nicht explizit gemacht, allgemein wertende Ausdrücke wie z. B. θῶμα μέγιστον genügen ihm: „Herodotus does not […] explicitly use themes (i. e., the general ideas which the particulars of the narrative symbolize […]) as connective elements“). Auch die phänotypische Vielfalt der episodischen Erzählungen kann hier nicht ausgeschöpft werden. Vgl. aus der Antike etwa die unter dem Namen Apollodor überlieferte mythologische Βιβλιοθήκη (1./2. Jhd. n. Chr.), deren Zusammenhalt sowohl auf der diegetischen Ebene wie auf der der äußeren Verknüpfungen konsequent genealogisch ist (mit ihrer durchgehenden diegetischen Kohärenz unterscheidet sie sich wesentlich von anderen mythographischen Werken, die reine Sammlungen sind – siehe oben bei Fn. 600–602 und 630; bei Hyginus gibt es immerhin Gruppen von mehreren aufeinanderfolgenden Erzählungen mit genealogischer Kohärenz), oder auch – soweit sie narrativ sind – Gedichtzyklen über bestimmte Personen, die mit ihrer isolierenden Form
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Richtung, etwa mit ‚klassischen‘ Epen oder Romanen, wären als Beitrag zur allgemeinen Morphologie der Erzählliteratur wünschenswert,992 würden aber für die hier angestrebte Einordnung des Valerius Maximus keinen zusätzlichen Wert haben. Mit seinen typologischen Kapiteln bleibt Valerius Maximus freilich auch unter den episodischen ‚Großerzählern‘ ungewöhnlich. In Bio- und Hagiographien fanden wir Beispiele für typisierende Hauptfiguren und sogar für variiert wiederholtes typisches Geschehen. Episodische Erzählwerke, in denen es rein die Typizität ist, die den diegetischen Zusammenhalt herstellt, scheinen jedoch seltener zu sein. In Ovids Metamorphosen gibt es zwar ein durch das ganze Werk konstantes Handlungselement – die Metamorphose als solche –, die näheren Umstände sind aber zu verschieden, um zu einer durchgehenden Typisierung der Hauptpersonen zu führen, die diegetische Kohärenz und damit Episodizität im oben definierten Sinn begründen könnte.993
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an moderne Serienpublikationen erinnern (Niklas Holzberg: Ovid. Dichter und Werk, München 32005, bes. S. 24–30, und Die römische Liebeselegie. Eine Einführung, Darmstadt 62015, spricht wiederholt von ‚Romanen‘ und verweist auf den neuzeitlichen Briefroman; auf eine tatsächliche Romanverarbeitung der Tibullgedichte verweist in diesem Zusammenhang Constanze Wünscher: Das Corpus Tibullianum in Russland. Zur produktiven Rezeption der römischen Liebeselegie in der russischen Lyrik zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Berlin 2017, S. 82, Anm. 320; vgl. außerdem Matthias Grandl: Stil und Erzähltechniken, in: Ovid-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Melanie Möller, Berlin 2021, S. 154–161, hier 158, zu Ovids Amores als ‚anekdotischen Episoden‘). Mit der Kapitelverknüpfung im (frühneuzeitlichen französischen) Roman befasst sich Dionne, S. 437–523, der aber hauptsächlich explizite ordnende Eingriffe des Erzählers sowie als Kapitelabschluss- und -anfangstopoi dienende Handlungselemente konstatiert. Zum antiken Roman scheint eine solche umfassende Studie noch nicht vorzuliegen. Vgl. aber Hägg, S. 138–188 und 311–316, zur ‚alternation technique‘ zwischen den Handlungslinien griechischer Liebesromane; zum homerischen Epos u. a. Uvo Hölscher: Untersuchungen zur Form der Odyssee. Szenenwechsel und gleichzeitige Handlungen, Berlin 1939, S. 30–41 (‚Übergänge und Verknüpfungen‘ sind in der Odyssee nicht zu finden, in der Ilias aber die Regel), und Groningen, S. 42–45 (‚chevilles‘ in beiden Epen). Wenn man die Metamorphosen dennoch als im Ganzen episodisches Werk verstehen kann, dann ausgehend von einer Interpretation als ‚eine Art Universalgeschichte‘ (so Hans-Bodo Guthmüller: Beobachtungen zum Aufbau der Metamorphosen Ovids, Diss. Marburg 1964, S. 4; vgl. u. a. auch Ludwig: Struktur und Stephen M. Wheeler: Ovid’s Metamorphoses and Universal History, in: Clio and the Poets. Augustan Poetry and the Traditions of Ancient Historiography, hg. von D. S. Levene/D. P. Nelis, Leiden 2002, S. 163–189, sowie zuletzt Vittorio Hösle: Ovids Enzyklopädie der Liebe. Formen des Eros, Reihenfolge der Liebesgeschichten, Geschichtsphilosophie und metapoetische Dichtung in den Metamorphosen, Heidelberg 2020, der sogar über das Episodische hinausgeht, indem er eine kontinuierlich entwickelte Geschichte des Eros konstatiert). Zusätzliche diegetische Kohärenz schafft – wenngleich als punktuelles Phänomen – der
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In Hinblick auf die Typizität schon eher vergleichbar sind die Kapitel von [eophrasts Ἠθικοὶ χαρακτῆρες,994 deren Protagonisten allerdings reine Typenpersonifikationen ohne Verkörperung durch Individuen sind – die Personenkontinuität entsteht also nicht wie bei Valerius Maximus auf einer zweiten Ebene überhalb der unmittelbaren Hauptpersonen.995
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von Chrysanthe Tsitsiou-Chelidoni: Erzählerische Querverbindungen in Ovids ‘Metamorphosen’, in: Ovid. Werk und Wirkung. Festgabe für Michael von Albrecht zum 65. Geburtstag. Teil I, hg. von Werner Schubert, Frankfurt a. M. 1999, S. 269–303, hier 274–277, aufgezeigte Umstand, dass manche Personen, die in später erzählten Geschichten Hauptrollen innehaben, bereits in früheren als Nebenrollen auftauchen. Auch ‚character types‘ und ‚stock characters‘ sind beobachtet worden (Donald Lateiner: Nonverbal Behaviors in Ovid’s Poetry, Primarily Metamorphoses 14, in: CJ 91, 1996, S. 225–253, hier 229f., und Stephen M. Wheeler: Narrative Dynamics in Ovid’s Metamorphoses, Tübingen 2000, S. 52), es scheint sich allerdings um unbedeutende Nebenrollen zu handeln; vgl. Lateiner, S. 229: ‚minor individuals borrowed from earlier epic, New Comedy, generic stereotypes like the passerby or blocking figures (fathers, competitor lovers)‘. Wheeler: Dynamics, S. 52, verweist überdies auf die Rekurrenz der Götter, die als „main source of narrative continuity“ der Aufforderung in 1,2–4 (di […] / […] / deducite […] carmen) nachkommen. Nicht zur diegetischen Ebene gehört dagegen die Kohärenz, die durch (sekundär)erzählerische Vor- und Rückverweise auf an anderer Stelle erzählte Handlung (dazu ebenfalls Tsitsiou-Chelidoni: Querverbindungen) entsteht. Dasselbe gilt grundsätzlich auch für Kohärenz durch thematische Gruppierung oder Motivrekurrenz (eines der Hauptthemen der Metamorphosen-Forschung); es ist aber nicht auszuschließen, dass sie in manchen Fällen auch mit einer Rollentypisierung einhergeht, so dass man von typologisch-episodischen Erzählungen innerhalb der Metamorphosen sprechen könnte – die aber im Gegensatz zu den Kapiteln des Valerius Maximus keine sichtbar abgegrenzten Struktureinheiten wären. Zur (minimalistischen) Verknüpfungstechnik siehe bereits oben Fn. 632. Mit seinem ahistorischen Ansatz erinnert das Werk an naturwissenschaftliche Schriften, wie sie jeophrast u. a. über Pflanzen und Steine vorgelegt hat (die er zum Teil ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Abnormität beschreibt: siehe Sonia Pertsinidis: Seophrastus’ Characters. A New Introduction, London 2018, S. 18–20). Dagegen dürfte er in seinem verlorenen Werk Περὶ βίων (Titel bezeugt von Diog. Laert. 5,2,42) eine der des Valerius Maximus ähnlichere Vorgehensweise gewählt haben, indem er verschiedene Lebensweisen (politisch, philosophisch, hedonistisch) mit Hilfe biographischanekdotischen Materials darstellte (so Fortenbaugh, S. 46 und 72, sowie Schorn, S. 691 und 702, auch auf Grund von Fragmenten gleichnamiger Werke der Peripatetiker Dikaiarchos von Messene und Klearchos von Soloi; eine definitive Aussage über die Werkgestalt erlauben diese Fragmente – abgedruckt bei David C. Mirhady: Dicaearchus of Messana. Se Sources, Text and Translation, in: Dicaearchus of Messana. Text, Translation, and Discussion, hg. von William W. Fortenbaugh/Eckart Schütrumpf, New Brunswick, N.J. 2001, S. 1–142, hier 31–56, und Stavros Tsitsiridis: Beiträge zu den Fragmenten des Klearchos von Soloi, Berlin 2013, S. 34–43 – allerdings nicht). Vgl. auch oben Fn. 982 zu peripatetischen Biographien.
Das Kapitel als typologisch-episodische Erzählung
325
Auch sonst darf man typologisch-episodische Erzählungen wohl primär unter sogenannten Sammlungen – vor allem thematischen996 – vermuten. Mehrere der oben anlässlich der Verknüpfungstechnik aufgezählten Werke sind entweder im Ganzen monothematisch (z. B. Περὶ ἐρωτικῶν παθημάτων von Parthenios997) oder weisen [emenkapitel ähnlicher Art wie bei Valerius Maximus auf (z. B. die Strategemata des Frontinus oder das Shìshuō xīnyǔ998). Natürlich muss thematische Zusammengehörigkeit nicht immer in gleichem Ausmaß mit konstanten Rollen und typisierten Handlungen einhergehen, aber mindestens die Strategemata verraten schon durch ihre – meist sehr spezifischen – Kapitelüberschriften (De occultandis consiliis, De explorandis consiliis hostium, De constituendo statu belli, De transducendo exercitu per loca hosti infesta usw.; erst im letzten Buch auch ethische [emen wie De continentia, De iustitia, De constantia), wie sehr dies der Fall ist.999 Gegenüber Werken wie diesen heben sich die Kapitel des Valerius Maximus jedoch immer noch durch die erheblich stärkere Unterstützung der typologischen Kohärenz durch äußerliche Kohäsionsmittel ab. Die engste Verwandtschaft innerhalb der erhaltenen antiken Literatur besteht darum wohl eher mit der Schrift des Laktanz De mortibus persecutorum – die von Adolf Lumpe als „echte Exempla-Sammlung“ bezeichnet und mit Val. Max. 9,10 (De ultione) verglichen wurde1000 –, und zwar am deutlichsten mit den Abschnitten
996
Statt einer Zusammenstellung der Episoden zu jemenkapiteln käme aber theoretisch auch eine serienartige Rekurrenz (ähnlich den oben in Fn. 991 angesprochenen – nichttypologischen – Gedichtserien) in Frage, sofern sie auffällig genug ist, um vom Leser bemerkt zu werden; am ehesten wären solche Serien wohl in Fabelsammlungen denkbar. 997 Siehe oben bei Fn. 630 (minimal verknüpfend). Ein nicht erhaltenes monothematisches Werk mit anscheinend typologischem Inhalt bezeugt Clem. Al. Strom. 4,56,2: Περὶ τῆς τῶν φιλοσόφων ἀνδρείας von Timotheos von Pergamon. 998 Siehe oben Fn. 584 und 591 (isolierend). 999 Die Kapitelthemen des Shìshuō xīnyǔ, das nicht auf einen einzelnen Lebensbereich beschränkt ist, fallen etwas abstrakter aus (siehe die Liste in Fn. 591; zur oft bestrittenen Echtheit des letzten Frontinbuchs Gerhard Bendz: Die Echtheitsfrage des vierten Buches der frontinschen Strategemata, Diss. Lund 1938). Analog zur hier vorgeschlagenen Neubewertung zumindest mancher thematischer Sammelwerke sind natürlich auch nach Personen gegliederte oder einer einzelnen Person gewidmete Anekdoten- und Apophthegmensammlungen (im Unterschied zu bloßen Zitatsammlungen; vgl. oben Fn. 150) wie z. B. Beccadellis Dicta et facta Alphonsi Regis Aragonum (oben Fn. 588) einer episodischen Lektüre zugänglich und rücken damit in die Nähe der Biographie. 1000 Lumpe, Sp. 1254. Sein anderer Vergleich – mit Plutarchs Περὶ τῶν ὑπὸ τοῦ θείου βραδέως τιμωρουμένων – ist (über das bloß jematische hinaus) weniger treffend, weil es sich dort um eine vorwiegend theoretische Auseinandersetzung in Dialogform handelt; Beispielfälle finden sich in knapper Form in die argumentative Rede (und in einen langen Kunstmythos am Ende des Dialogs, 22–33 = 563b–568a) eingebettet.
326
Die Kapitel
über die Zeit vor den Tetrarchen (2–6), da in der Tetrarchenzeit (7–51) die eigentliche [ematik mit einer breiter angelegten Darstellung der politischen Geschichte verschmilzt. Nicht nur beruht der diegetische Zusammenhalt des Werks auf der Typizität der Taten und Schicksale der behandelten Kaiser,1001 sondern es bedient sich zudem beim Übergang von einem Kaiser zum anderen durchaus an Valerius Maximus erinnernder Verknüpfungsmittel: der expliziten Gleichsetzung (3,1:
ost hunteriectis aliquot annis alter non minor tyrannus ortus est; 5,1: Non multo post Valerianus quoque non dissimili furore correptus) und der übereinstimmenden Bewertung (3,5–4,1: Sed enim postea longa pax rupta est. Extitit enim post annos plurimos execrabile animal Decius), beide kombiniert mit Ausdrücken zeitlicher Abfolge; des Ausbleibens einer zu erwartenden Reaktion (6,1: Aurelianus […] oblitus sceleris eius [= des Valerian] et poenae), auch kombiniert mit zeitlicher Abfolge und Hierarchisierung (6,3 für 7–51: Talibus et tot exemplis coerceri posteriores tyrannos oportebat; at hi non modo territi non sunt, sed audacius etiam contra deum confidentiusque fecerunt); und, wiederum in Kombination mit Vergleichen, persönlicher Bezüge wie – in diesem Fall nicht leiblicher – Verwandtschaft (8,1: Quid frater eius Maximianus […]? Non dissimilis ab eo […] Hoc solum differebant, quod […]) oder Namensgleichheit (9,1: Alter vero Maximianus […] non his duobus tantum […] sed omnibus, qui fuerunt, malis peior).1002 1001
Im Gegensatz zu einer allgemeinen Kaisergeschichte, wo die diegetische Kohärenz schon durch die historisch-chronologische Kontinuität als solche gegeben wäre. Laktanz behandelt neun Verfolgerkaiser (Nero, Domitian, Decius, Valerian, Aurelian, Diokletian, Maximian, Galerius, Maximinus Daia), drei weitere Kaiser kommen als deren Verbündete (Maxentius) oder Gegner (Konstantin und Licinius) vor. 1002 Andere typisierende Werke über Todesfälle sind nur durch einzelne Fragmente oder Testimonien bekannt. Plin. epist. 5,5,3 bezeugt eines von seinem Zeitgenossen C. Fannius (scribebat […] exitus occisorum aut relegatorum a Nerone et iam tres libros absoluerat, subtiles et diligentes et Latinos atque inter sermonem historiamque medios, ac tanto magis reliquos perficere cupiebat quanto frequentius hi lectitabantur), Athen. 3,40 = 90e und 10,51 = 438c ein Werk Τυράννων Ἀναιρέσεις (oder Ἀναίρεσις) ἐκ Τιμωρίας des Peripatetikers Phainias von Eresos (4. Jhd. v. Chr.; zum Werk Eckart Schütrumpf: Phainias’ je Tyrants in Sicily, On Killing of Tyrants out of Revenge, and Aristotle’s Explanation of the Violent End of Tyrants, in: Phaenias of Eresus. Text, Translation, and Discussion, hg. von Oliver Hellmann/David Mirhady, New Brunswick, N.J. 2015, S. 323–350). Fannius ist ein ungewöhnlicher Vertreter der sogenannten exitus-illustrium-virorum-Literatur (siehe generell – auch zu anderweitigem Vorkommen des zugrundeliegenden Topos – Alessandro Ronconi: Exitus illustrium virorum, in: RAC VI, 1966, Sp. 1258–1268, Pausch: Biographie, S. 88–97, und Sergi Grau: How to Kill a Philosopher. Se Narrating of Ancient Greek Philosophers’ Deaths in Relation to their Way of Living, in: AncPhil 30, 2010, S. 347–381), die in der Regel Einzelhelden behandelte. Plin. epist. 8,12,4–5 erwähnt noch ein zweites Sammelwerk (von Titinius Capito: Scribit exitus inlustrium uirorum, in his quorundam mihi carissimorum. Videor ergo fungi pio munere, quorumque exsequias celebrare non licuit, horum quasi funebribus laudationibus seris quidem, sed tanto magis ueris interesse), aber da über die
Das Kapitel als typologisch-episodische Erzählung
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Dass die Anordnung der Episoden in seinem Werk chronologisch ist, hindert Laktanz also nicht daran, eine Verknüpfungstechnik zu gebrauchen, die der des Valerius Maximus ähnlicher ist als der von Historikern wie Caesar und Livius. Parallelen außerhalb der Antike können hier zwar nicht systematisch erkundet werden. Neben den bereits anlässlich der Verknüpfungstechnik besprochenen, in ihrer ganzen Konzeption an Valerius Maximus angelehnten Memorabilienwerken von Petrarca und Battista Fregoso1003 soll aber doch noch auf einen weiteren Fall hingewiesen werden, der wegen seiner Position in der Weltliteratur besondere Beachtung verdient. Boccaccio (der Valerius Maximus in verschiedensten Werken – vom volkssprachlichen Roman Filocolo bis zur Vitensammlung De mulieribus claris – ausgiebig benutzt1004) unterwirft acht der zehn Tage seines Decameron explizit typisierenden [emenstellungen, die jeweils im Abschlussgespräch des vorhergehenden Tags formuliert und dann in der extradiegetischen Tagesüberschrift wiederholt werden.1005 Die Aufteilung auf wechselnde intradiegetische Erzähler wirkt Verstorbenen nichts Näheres gesagt wird, lässt sich seine Typizität nicht einschätzen, und statt um konkret den Tod betreffende Erzählungen mag es sich auch bloß um einfache Nachrufe gehandelt haben. 1003 Siehe oben S. 269–271. 1004 So Crab: Exemplary Reading, S. 17f.; vgl. außerdem Antonio Enzo Quaglio: Valerio Massimo e il «Filocolo» di Giovanni Boccaccio, in: Cultura neolatina 20 (1960), S. 45– 77, sowie zum Decameron Giorgio Padoan: Sulla genesi e la pubblicazione del «Decameròn», in: ders.: Il Boccaccio, le Muse, il Parnaso e l’Arno, Florenz 1978, S. 93–121, hier 106–108 und 113, der Valerius Maximus als Quelle für die Novellen 10,3 und 10,8 (sowie ein Detail in 2,8) identifiziert und andeutet, dass der ganze Tag 10, der an exemplarische facta et dicta erinnere, von ihm inspiriert sei. Boccaccio wurde überdies eine Valerius-Maximus-Übersetzung zugeschrieben, dies scheint jedoch widerlegt (siehe dazu in der Einleitung der Edition Un volgarizzamento inedito di Valerio Massimo, hg. von Vanna Lippi Bigazzi, Florenz 1996, S. xii–xvii; auch Padoan setzt diese Zuschreibung voraus). 1005 2: chi, da diverse cose infestato, sia oltre alla sua speranza riuscito a lieto fine, 3: chi alcuna cosa molto da lui disiderata con industria acquistasse o la perduta ricoverasse, 4: coloro li cui amori ebbero infelice fine, 5: ciò che a alcuno amante, dopo alcuni fieri o sventurati accidenti, felicemente avvenisse, 6: chi con alcun leggiadro motto, tentato, si riscotesse, o con pronta risposta o avvedimento fuggí perdita o pericolo o scorno, 7: beffe, le quali o per amore o per salvamento di loro le donne hanno già fatte a’ suoi mariti, senza essersene avveduti o sí, 8: quelle beffe che tutto il giorno o donna a uomo o uomo a donna o l’uno uomo all’altro si fanno, 10: chi liberalmente o vero magnificamente alcuna cosa operasse intorno a’ fatti d’amore o d’altra cosa (zitiert nach der Ausgabe Giovanni Boccaccio: Decameron, hg. von Vittore Branca, 2 Bde., Turin 2014). Vgl. auch Stierle, S. 361–366, der diese jemen als Zeichen einer nur halb durchgeführten Abkehr vom mittelalterlichen Exemplum wertet (er nennt auch ein Beispiel eines tatsächlichen Moralexemplums – aus der Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi, einem Werk des frühen 12. Jhds. –, das von Boccaccio zur Novelle umgearbeitet wird).
Die Kapitel
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zwar dem Eindruck zusammenhängender, als typologisch-episodisch beschreibbarer Erzähleinheiten entgegen. Die Erzähler sind aber sehr wohl darum bemüht, an die Erzählungen ihrer Vorredner anzuknüpfen, und bedienen sich dabei mancher derselben Mittel – Betonung des gemeinsamen Leitgedankens, Hierarchisierung und Variation –, die uns aus den Kapiteln des Valerius Maximus bekannt sind.1006 3.d
Erzählstruktur des Kapitels
Die Einordnung des Kapitels als Erzählung spricht natürlich nicht gegen die erzähltechnische Analyse der Einzelepisoden, lädt aber dazu ein, ihre Fragestellungen auch auf das Ganze anzuwenden. Zum Teil genügt es, aus den Ergebnissen der mikrostrukturellen Untersuchung in konziser Form die Punkte herauszuheben – und die Schlüsse zu ziehen –, die für die Makrostruktur des Kapitels1007 von Bedeutung sind. In anderen Bereichen ist der Zusammenhang zwischen den beiden Strukturebenen geringer. Dies gilt etwa für die Kategorie ordre, zu der statt auf den ersten Hauptteil dieser Arbeit auf die Ausführungen zur Anordnung und Gruppierung der Anekdoten/Episoden zu verweisen ist.1008 Aus ihnen geht hervor, dass es zwar Kapitel gibt, deren Aufbau ganz oder überwiegend der Chronologie entspricht, diese aber insgesamt nur eines von mehreren frei miteinander konkurrierenden Ordnungsprinzipien ist. Die Begriffe Pro- und Analepse, die die Chronologie als Norm voraussetzen, sind also auf der Ebene des Kapitels nur in Ausnahmefällen anwendbar. Die Mehrheit der Kapitel folgt vielmehr dem achronischen Prinzip, das Genette als Syllepse bezeichnet.1009 In der Kategorie durée ließen sich die Episoden zusammenfassend als scènes oder sommaires in einer Gesamterzählung werten.1010 Die Ansetzung von Zeit1006
Z. B. in 2,5: Le pietre da Landolfo trovate […] m’hanno alla memoria tornata una novella non guari meno di pericoli in sé contenente che la narrata dalla Lauretta, ma in tanto differente da essa, in quanto quegli forse in piú anni e questi nello spazio d’una sola notte addivennero, come udirete. 1007 Im Gegensatz zu bloßen Häufigkeitswerten mikrostruktureller Phänomene innerhalb der Kapitel, wie sie oben bei mehreren Gelegenheiten vergleichend behandelt wurden. 1008 Oben S. 272–306. 1009 Genette: Discours, S. 121, Anm. 1: „groupements anachroniques commandés par telle ou telle parenté, spatiale, thématique ou autre. La syllepse géographique est par exemple le principe de groupement narratif des récits de voyage enrichis d’anecdotes tels que les Mémoires d’un touriste ou le Rhin. La syllepse thématique commande dans le roman classique à tiroirs de nombreuses insertions d’«histoires», justifiées par des relations d’analogie ou de contraste“. Beide Varianten, die in diesen Beispielen nur Einschaltungen betreffen, finden sich bei Valerius Maximus als primäre Ordnungsprinzipien wieder.
Das Kapitel als typologisch-episodische Erzählung
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ellipsen zwischen ihnen wäre aber wiederum nur in chronologischen Kapiteln möglich und im Ergebnis eine Aussage über die Stoffwahl (Bevorzugung mancher Geschichtsepochen gegenüber anderen), die durch direkte Untersuchung vollständiger erfassbar ist. Das [ema fréquence lässt ein klares Gesamturteil zu: Die Typologie macht das Kapitel zu einer Form der repetitiven Erzählung. Wiederholungen individueller Ereignisse aus anderen Episoden scheinen nur in Form knapper Verweise in Überleitungen vorzukommen (z. B. Artorii somnio in 1,7,2). Im Bereich mode führt die Annahme eines konstanten, typischen Protagonisten fast stets zur Verneinung der auf der Ebene der Anekdoten/Episoden (und ihrer individuellen Protagonisten) zum Teil bejahten Fokalisierung,1011 während die Frage der Mimetizität vom Betrachtungsmaßstab unabhängig ist – ebenso wie die ganze Kategorie voix, sofern nicht Episoden diegetisch verschachtelt werden, was im Werk des Valerius Maximus bekanntlich nur einmal vorkommt.1012 Von den sechs funktionalen Elementen nach Labov und Waletzky gehören Orientierung, Komplikation und Ergebnis notwendigerweise den einzelnen Episoden (Orientierungen selten auch Episodengruppen) zu. Komplikations- und Ergebnisabschnitte enthalten die konkreten Manifestationen des typischen Geschehens; diese erfordern separate Orientierungen, weil sie unterschiedlichen historischen Kontexten entstammen.1013 Unter den Abstracts sind uns bereits zwei begegnet, die sich auf das Kapitel im Ganzen beziehen; es wurde auch bereits festgestellt, dass in solchen Fällen die editorische Zuordnung zur ersten Anekdote/Episode – statt einer Abtrennung als
1010
Dies müsste wohl so erfolgen, dass jede Episode, die eine scène enthält, als scène gilt. Die Aussagen über die Prävalenz von scènes und sommaires in den Kapiteln blieben dieselben wie oben. jeoretisch wäre eine planmäßige Anordnung (Abwechslung, Gruppierung, graduelle Zu- oder Abnahme der Erzählgeschwindigkeit) denkbar; eine solche ist aber in den oben herangezogenen Beispielkapiteln nicht nachweisbar und auf Grund der anderweitigen Erklärbarkeit der Anekdoten-/Episodenabfolge bei Valerius Maximus auch von vorneherein unwahrscheinlich. 1011 Die Ausnahme unter den neun Beispielkapiteln ist 4,2 (Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitate), wo alle Anekdoten/Episoden als fokalisiert gewertet wurden (ausgehend von einem reinen Negativkriterium; siehe oben S. 130); die Mischung von interner und externer Fokalisierung ergibt im Ganzen eine interne. 1012 Siehe oben S. 236. 1013 Anders als etwa die Episoden der oben angesprochenen Märtyrererzählungen. Einen Ausnahmefall bilden die Kapitel der Gruppe De institutis antiquis (2,1–6), die gerade durch den historischen Kontext zusammengehalten werden. Hier decken also Überschrift und Praefatio (Abstract) einen Aspekt der Orientierung (die Zeit) bereits in konkreter Form ab. Trotzdem wird auf separate – teils genauere oder noch vagere – Zeitangaben in manchen der Episoden nicht verzichtet (z. B. 2,1,1: Apud antiquos, 2,1,4: a condita urbe usque ad centesimum et quinquagesimum annum, 2,1,5: olim, 2,1,7: aliquamdiu, 2,1,8: maiores).
330
Die Kapitel
Praefatio – arbiträr ist.1014 Überhaupt haben die Praefationes, über die mit wenigen Ausnahmen jedes Kapitel verfügt, wesentlich den Charakter von Inhaltsangaben (manchmal gleich für eine Kapitelgruppe, z. B. 7,7, praef. für 7,7–8 über verschiedene Arten von Vorgängen im Zusammenhang mit Testamenten), die mindestens die most reportable events, teils auch die Ausgangssituationen (etwa bei Kapitelthemen wie Qui ex inimicitiis iuncti sunt amicitia aut necessitudine) typologisch zusammenfassen. Die Praefationes sind jedoch nicht auf diese Rolle beschränkt – die folgenden Beispiele vermitteln ein Bild ihrer möglichen Erscheinungsformen: 1,7, praef.:1015 Sed quoniam divitem Midae disertumque Platonis somnum attigi, referam quam certis imaginibus multorum quies adumbrata sit. 2,1, praef.: Dives et praepotens Naturae regnum scrutatus, iniciam stilum qua nostrae urbis qua ceterarum gentium priscis ac memorabilibus institutis: opus est enim cognosci huiusce vitae, quam sub optimo principe felicem agimus, quaenam fuerint elementa, ut eorum quoque respectus aliquid praesentibus moribus prosit. 3,8, praef.: Aptum et animosum bonae fiduciae pectus emenso quasi debitum opus superest constantiae repraesentatio: Natura enim sic comparatum est ut quisquis se aliquid ordine ac recte mente complexum confidit, vel iam gestum, si obtrectetur, acriter tueatur, vel nondum editum, si interpelletur, sine ulla cunctatione ad effectum perducat. 4,2, praef.: Quae quoniam multis et claris auctoribus illustrata est, transgrediamur ad egregium humani animi ab odio ad gratiam deflexum et quidem eum laeto stilo persequamur: nam si placidum mare ex aspero caelumque ex nubilo serenum hilari aspectu sentitur, si bellum pace mutatum plurimum gaudii adfert, offensarum etiam acerbitas deposita candida relatione celebranda est. 5,7, praef.: Det nunc vela pii et placidi adfectus parentium erga liberos indulgentia, salubrique aura provecta gratam suavitatis dotem secum adferat. 6,2, praef.: Libertatem autem vehementis spiritus dictis pariter et factis testatam ut non invitaverim, ita ultro venientem non excluserim. quae inter virtutem vitiumque posita, si salubri modo se temperavit, laudem, si quo non debuit profudit, reprehensionem meretur. ac vulgi sic auribus gratior quam sapientissimi cuiusque animo probabilior est, utpote frequentius aliena venia quam sua providentia tuta. sed quia humanae vitae partes persequi propositum est, nostra fide, propria aestimatione referatur.
1014 1015
Oben Fn. 363 und 650. So die Edition von Shackleton Bailey; oben nach Kempf und Briscoe als Teil von 1,7,1 behandelt.
Das Kapitel als typologisch-episodische Erzählung
331
7,7, praef.: Vacemus nunc negotio quod actorum hominis et praecipuae curae et ultimi est temporis, consideremusque quae testamenta aut rescissa sunt legitime facta, aut cum merito rescindi possent, rata manserunt, quaeve ad alios quam qui exspectabant honorem hereditatis transtulerunt: atque ita ut ea ordine quo proposui exsequar. 8,9, praef.: Potentiam vero eloquentiae, etsi plurimum valere animadvertimus,1016 tamen sub propriis exemplis, quo scilicet vires eius testatiores fiant, recognosci convenit. 9,7,1: Sed ut violentiae seditionis tam togatae quam etiam armatae facta referantur […]
Manche sind reine Abstracts für das beginnende Kapitel (so von unseren Beispielen: 1,7, praef., 7,7, praef. und 9,7,1), doch die meisten enthalten darüber hinaus eine allgemeine Lehre, die in den Erzählungen zum Ausdruck kommen – oder aus ihnen gezogen werden – soll, d. h. eine vorweggenommene Gesamtevaluation. Bezugnahmen auf vorangehende Kapitel1017 können zwar in knapper Form evaluierend sein (z. B. durch wertende Adjektive wie in 3,8: Aptum et animosum bonae fiduciae pectus), greifen aber primär deren Inhaltsangaben auf, teils um den neuen Inhalt mit dem vorangehenden in Beziehung zu setzen,1018 teils aber auch nur, um diesen für erledigt zu erklären (so in 2,1, 3,8 und 4,2), so dass die Praefatio auch die Funktion einer deiktischen Coda übernimmt (vergleichbar mit Labovs und Waletzkys Beispielen rat was it und And that was that). Nur ganz ausnahmsweise wird statt an den typologischen Inhalt des letzten Kapitels an dessen letzte Episode angeknüpft (so in 1,7, praef.). Ebenso selten sind separate Gesamtevaluationen am Kapitelende.1019 Schematisiert sieht also der Regelfall des Kapitels wie folgt aus: ABST/EV (= Praefatio) – Episoden – ggf. CODA oder EV/CODA (= Praefatio des Folgekapitels), wobei die zweite Evaluation von klar untergeordneter Bedeutung ist.1020
1016
Dies bezieht sich nicht auf das vorangehende Kapitel. Nach Wardle: Book 1, S. 9, gibt es sie nur in 36 von 91 Kapitelanfängen; ‚very brief connective particles‘ zählt er aber ausdrücklich nicht mit. 1018 Siehe dazu Cogitore: Début, S. 75–81. Auch die uns bekannten Verknüpfungsmittel kommen vor (z. B. folgt auf 5,7 in 5,8, praef.: Comicae lenitatis hi patres, tragicae asperitatis illi). 1019 Von den sechs Fällen bei Guerrini: Studi, S. 23, Anm. 37, sind nur zwei zu Recht genannt: 4,4,11 und 5,2, ext. 4. Die übrigen beziehen sich klar nur auf die letzte Episode (im Fall von ‚5,3, ext. 4‘ – gemeint 5,3, ext. 3 – auf die Episodengruppe ext. 3a–f). 1020 Von der ‚basic story structure‘ bei Fludernik: Present tense und ‘Natural’ Narratology, S. 65–69 (siehe oben Fn. 500), die sich nicht auf episodische Erzählungen im hier gemeinten Sinn, sondern auf in mehrere Szenen unterteilte holistische (und zwar in conversational narrative) bezieht, unterscheidet sich dieses Schema durch die Position der 1017
332
Die Kapitel
Die explizite Verkettung vieler Kapitel durch die Praefationes und die in diesen ziemlich konsequent durchgeführte starke Erzählerpräsenz – auch unsere neun Beispiele enthalten allesamt Bezugnahmen auf den Erzählprozess1021 – wirken darin zusammen, dem Werk des Valerius Maximus den Anschein einer einzigen großen Erzählsitzung (mit klaren Zäsuren) zu verleihen.1022 4
Das Kapitel als historisch-moralische Diskurseinheit
Die eben skizzierte gattungstheoretische Neubewertung beruht auf objektiven Eigenschaften und Ähnlichkeiten. Ergänzend – und abschließend – soll nun gezeigt werden, dass auch aus der Rezeptionsgeschichte ein Argument für die ‚unitarische‘ Auffassung der Kapitel ableitbar ist. Kurz gefasst geht es darum, dass positive Rezeption des Valerius Maximus über die Jahrhunderte hinweg stets mit einer moralistischen Interpretation des Werks einherging, in der die ethisch-lebenspraktisch definierten Kapitel als Diskurseinheiten Sinn haben,1023 wohingegen diejenigen Herangehensweisen, die nur das Herausgreifen von Einzelgeschichten vorsehen – also die Deutung als Promptuarium für Redner und die Benutzung als Geschichtsquelle in einem positivistischen Sinn – in Zeiten, die Valerius Maximus schätzten, nicht im Vordergrund standen. Diese Tatsache erhält argumentativen Wert, wenn man davon ausgeht, dass Literatur eine Form der Kommunikation ist – also den Anspruch hat, Sinn zu ver-
(Haupt-)Evaluation, das Fehlen der Gesamtorientierung – und natürlich die ‚vollständigere‘ Ausbildung der Einzelepisoden. Die übrigen in Fn. 162 und 500 zitierten Versuche, die Methode von Labov und Waletzky für komplexere Texte nutzbar zu machen, gehen ebenfalls von holistischen Erzählungen aus (Einzelepisoden literarischer Werke, mündliche Erzählung mit Exkursen). 1021 Es gibt natürlich dennoch Gegenbeispiele, etwa die bereits zitierte Praefatio zu 5,8. 1022 Die Einteilung in neun Bücher ändert daran nichts. Die meisten Buchanfänge sind gewöhnliche Kapitelpraefationes (dies gilt inhaltlich auch für 6,1, praef., obwohl die invocatio – gerichtet an Pudicitia, Personifikation des Kapitelthemas – und die Anspielung auf das Kaiserhaus an die Werkpraefatio erinnern), mehrere knüpfen explizit an das vorige Kapitelthema an. Nur zweimal wird zusätzlich ein alle Kapitel des Buchs umfassendes Großthema angekündigt (2, praef.: prisca ac memorabilia instituta, was zugleich jema des editorisch aufgelösten Kapitels 2,1–6 ist und als Überbegriff auf die separat eingeleiteten Kapitel 2,7–10 zutrifft; 3,1, praef.: virtus, zusätzlich zum speziellen jema indoles). Siehe auch Cogitore: Début, S. 72–74, und zur sehr unterschiedlichen thematischen Kohärenz der Bücher oben S. 30–42. 1023 Da man eine direkte theoretische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Anekdote und Kapitel in der hier interessierenden Vergangenheit vergeblich suchen würde, müssen die Strukturauffassungen auf dem Wege über die sie bedingenden inhaltlichen Interpretationen historisiert werden.
Das Kapitel als historisch-moralische Diskurseinheit
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mitteln1024 und Rezipienten zu finden, die diesen als relevant anerkennen1025 – und dass nicht allein der Autor, sondern auch das von ihm emanzipierte Werk selbst mit dem Leser kommuniziert.1026 Die in der Rezeptionsgeschichte vorkommenden
1024
Vgl. schon Roman Jakobson: Closing Statement. Linguistics and Poetics, in: Style in Language, hg. von jomas A. Sebeok, Cambridge, Mass. 1960, S. 350–377, der die Literatur als verbale Kommunikation einordnet und dieser sechs mögliche Funktionen zuschreibt, bei denen es (auch wenn der Begriff nicht verwendet wird) um unterschiedliche Arten von Sinn geht: bei der ‚referentiellen‘ um Faktendarstellung, bei der ‚emotiven‘ um Selbstoffenbarung des Sprechers/Autors, bei der ‚konativen‘ um Beeinflussung des Rezipienten, bei der ‚phatischen‘ um die bloße Kontaktherstellung, bei der ‚metalingualen‘ um die Evaluation der Kommunikation selbst und bei der ‚poetischen‘ um ästhetische Eindrücke. Diese Kategorien sind grundsätzlich auf alle Strukturebenen literarischer Werke – vom einzelnen Wort bis zum Werkganzen – anwendbar. 1025 Dazu ausführlich Dan Sperber/Deirdre Wilson: Relevance. Communication and Cognition, Oxford 21995. Vgl. aber auch schon Labov: Transformation, S. 366, zur von jedem Erzähler abzuwehrenden Frage ‚So what?‘. 1026 Dass „der Sinn eines Textes seinen Autor [übertrifft]“, konstatiert schon Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [urspr. 1960], Tübingen 72010, S. 301, 378, 398f.; ähnlich Paul Ricœur: Qu’est-ce qu’un texte?, in: ders.: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II, Paris 1998, S. 153–178, hier 174: „l’intention ou la visée du texte n’est pas, à titre primordial, l’intention présumée de l’auteur […], mais ce que veut le texte, ce qu’il veut dire, pour qui obéit à son injonction“, sowie radikaler W. K. Wimsatt/M. C. Beardsley: Se Intentional Fallacy, in: Sewanee Review 54 (1946), S. 468–488, und Roland Barthes: La mort de l’auteur, in: Manteia 5 (1968), S. 12–17 (dazu kritisch Die Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, hg. von Fotis Jannidis et al., Tübingen 1999). Die Rolle der Rezipienten, die im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit dem Werk dessen Sinnpotential aufdecken, beschreibt Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: ders.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970, S. 144–207, hier 186: „Das ‚Urteil der Jahrhunderte‘ über ein literarisches Werk ist mehr als nur ‚das angesammelte Urteil anderer Leser, Kritiker, Zuschauer und sogar Professoren‘ [René Wellek: Literaturtheorie, Kritik und Literaturgeschichte, in: ders.: Grundbegriffe der Literaturkritik, übers. von E. und M. Lohner et al., Stuttgart 1965, S. 9–23, hier 20 = Literary Seory, Criticism, and History, in: ders.: Concepts of Criticism, New Haven 1963, S. 1–20, hier 17], nämlich die sukzessive Entfaltung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials“, S. 189: „Die rezeptionsästhetische jeorie erlaubt […], Sinn und Form des literarischen Werks in der geschichtlichen Entfaltung seines Verständnisses zu begreifen“, und ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1982, S. 89: „das vollendete Werk entfaltet in der fortschreitenden Aisthesis und Auslegung eine Bedeutungsfülle, die den Horizont seiner Entstehung bei weitem übersteigt“, 671–673, 738–740, 749–752. Anders als Eckhard Lobsien: Die rezeptionsgeschichtliche Sese von der Entfaltung des Sinnpotentials (Am Beispiel der Interpretationsgeschichte von James Joyces ‚Ulysses‘), in: Rezeptionsgeschichte oder Wirkungsästhetik. Konstanzer Diskussionsbeiträge zur Praxis der Literaturgeschichts-
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Interpretationen lassen sich dann nämlich unabhängig von der Frage der Autorintention daran messen, ob sie zum Gelingen dieser Kommunikation beigetragen haben – was bei einer Interpretation, die die Rezeption des Werks zumindest während einer gewissen Phase begünstigt hat,1027 offenkundig eher der Fall ist als bei einer, die durchwegs dazu geführt hat, ihm mit Gleichgültigkeit oder Befremden gegenüberzustehen. Der Höhepunkt der Valerius-Maximus-Rezeption ist die Renaissance.1028 Daher sollen nun einige – bereits von anderen Forschern gesammelte1029 – Äußerungen aus dieser Zeit, die der umfangreichen Kommentarliteratur, aber auch allgemeinen bildungstheoretischen und literarhistorischen Texten entstammen, in Hinblick auf unsere Fragestellung analysiert werden. schreibung, hg. von Heinz-Dieter Weber, Stuttgart 1978, S. 11–28 (der das Konzept kritisiert) voraussetzt, muss die Entfaltung von Sinnpotential nicht notwendigerweise in der graduellen Verdeutlichung eines einheitlichen, kohärenten Sinns bestehen. Aus dem Konzept folgt aber auch nicht, dass alle Interpretationen historischer Rezipienten gleichwertig seien – es eröffnet im Gegenteil die Möglichkeit, einem solchen Relativismus zu entgehen, ohne in das andere Extrem der Fixierung auf die Autorintention zu verfallen (deren Rekonstruktion freilich, auch wenn man sie nicht zum alleingültigen Maßstab erhebt, als Forschungsfrage trotz allen Schwierigkeiten legitim bleibt; so übrigens auch Jauß: Ästhetische Erfahrung, S. 703: „der vom Autor intendierte Sinn [muß] als historische Gegeninstanz rekonstruiert […] werden“), sofern man geeignete Kriterien zur Abgrenzung des Sinnpotentials findet (neben dem hier vorgeschlagenen kommunikationsbezogenen kommt vor allem die – im Fall des Valerius Maximus bei allen historisch belegten Interpretationen unproblematische – Begründbarkeit aus dem Text in Betracht: dazu Umberto Eco: Interpretation and overinterpretation, Cambridge 1992, und I limiti dell’interpretazione, Mailand 2016). 1027 Eine positive Wirkung in einer Phase der Rezeptionsgeschichte wird also durch eine gegenteilige in einer anderen Phase (etwa infolge gewandelter Weltanschauung, die dasselbe Interpretationsergebnis anders bewertet) nicht aufgehoben. 1028 Siehe schon oben S. 17f. 1029 Die Kommentarliteratur wurde von Crab: Exemplary Reading (und zuvor in teils darin aufgegangenen Aufsatzpublikationen derselben Autorin) aufgearbeitet. Weitere Hinweise entnehme ich Schullian: Catalogus (editionsgeschichtliche Bibliographie mit ausgiebigen Zitaten aus Vorworten usw.; ergänzt durch Marijke Crab: Valerius Maximus. Addenda et Corrigenda, in: Catalogus Translationum et Commentariorum. Mediaeval and Renaissance Latin Translations and Commentaries. Annotated Lists and Guides. Volume XI, hg. von Greti Dinkova-Bruun, Toronto 2016, S. 307–336) und Holcroft (Monographie über von Valerius Maximus inspirierte Sammelwerke des 16. Jhds.). Siehe jetzt außerdem noch Kyle Conrau-Lewis: Preaching Ancient History. Valerius Maximus and His Manuscript Reception, in: Reading by Example, hg. von Murray/Wardle, S. 316–342, der drei weitere moralistisch interessierte Äußerungen aus dem 14. Jhd. zitiert (S. 321f. und 326f.) und das Fortleben der schon früher begegnenden Nutzung des Werks als Quelle von Predigtexempla – vgl. Welter (über das Register zu erschließen) – dokumentiert.
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Dionigi da Borgo San Sepolcro, der Verfasser des ersten humanistischen ValeriusMaximus-Kommentars (entstanden zwischen 1327 und 1342, einflussreich bis Ende des 15. Jahrhunderts),1030 liest das Werk moralphilosophisch – als tractatus über Tugenden und Laster. Anlässlich der Stelle 1,1,1a (die treffender als 1,1, praef. bezeichnet wäre) äußert er sich zur Struktur des Werks und gelangt dabei – nach einer Gesamtcharakteristik der neun Bücher (acht über Tugenden, eines über Laster1031) und einer Einteilung des ersten Buches (in zwei Teile und sechs Kapitel1032) – zu einer bemerkenswerten Aussage über den Aufbau des einzelnen Kapitels:1033 Maiores statas etc. Finito prooemio prosequitur tractatum qui habet novem libros partiales in quorum octo tractat de virtutibus, in nono de vitiis ut patebit. Primus vero liber, qui habet sex capitula, dividitur in duas partes. In prima parte tractat de cultu divino quem religionem vocat. Secundo de ominibus quae videntur ad religionem pertinere, ibi in capitulo tertio. Cultus divinus dupliciter potest considerari: primo ut cadit sub observatione, secundo ut cadit sub omissione. Primo ergo tractat de eius observatione, secundo de eius omissione in secundo capitulo, Creditum est etc. Prima dividitur in duas partes quia primo proponit quod intendit. Secundo per diversa probat exempla, ibi Tantum autem etc. […]
Seine Interpretation gibt also der Kapitelpraefatio mehr Gewicht als sonst üblich (und als es das quantitative Verhältnis nahelegt1034): sie ist die ‚Aussage‘, der die Einzelerzählungen lediglich als ‚Belege‘ dienen.1035 Dagegen ist Valerius Maximus für Petrarca1036 ein Historiker, der im gleichen Atemzug mit Livius genannt werden kann; in seiner als libri peculiares bekannten 1030
Siehe Crab: Exemplary Reading, S. 11–45 und 268, und die moderne Teiledition von John William Larkin: A Critical Edition of the First Book of the Commentary of Dionigi da Borgo San Sepolcro on the Facta et dicta memorabilia urbis Romae of Valerius Maximus, Diss. Fordham Univ., New York 1967. 1031 Vgl. oben S. 30–42. 1032 Dionigi berücksichtigt nur die im Volltext erhaltenen Kapitel und zählt 1,16–ext. 4 (De neglecta religione) separat (gruppiert es aber mit 1,1–15 zu einem ‚ersten Teil‘ de cultu divino). Mit dem ‚zweiten Teil‘ de ominibus ist nicht bloß 5, sondern die ganze Kapitelgruppe 5–8 (De ominibus, De prodigiis, De somniis, De miraculis) gemeint. 1033 Larkin, S. 20f. Ich übernehme die Bezeichnung 1,1,1a aus den Editionen von Combès und Shackleton Bailey; Kempf und Briscoe lassen 1,1,1 ungeteilt. 1034 Vgl. oben bei Fn. 155. Man denke auch an die extrem reduzierten Praefationes mancher anderer Kapitel (wie 9,7,1: Sed ut violentiae seditionis tam togatae quam etiam armatae facta referantur […]). 1035 Oder, wie Dionigi zu 1,1,1b formuliert, der ‚allgemeine‘ Teil, auf den ein ‚spezieller‘ Teil folgt (Larkin, S. 26: Proponit auctor de cultu divino in speciali quod supra tactum est in generali). 1036 Siehe schon oben S. 269 zu seinem Memorabilienbuch. Wie Crab: Exemplary Reading, S. 15f., bemerkt, klingt überdies das jüngere Vorwort zu seinem Werk De viris
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Liste von Lieblingsbüchern, die er zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt auf das hintere Vorsatzblatt einer Handschrift schrieb,1037 wird er noch vor diesem in der Kategorie Ystor.1038 aufgeführt (Valerius, Livius, Iustinus, Florus, Salustius, Suetonius, Festus, Eutropius) und nicht etwa unter den ebenfalls vorhandenen Recth. (ausschließlich Cicero, sowohl Reden als auch rhetoriktheoretische Schriften), Moral. (Cicero, Aristoteles, Seneca, Boethius) oder Ex., d. h. excerpta oder exempla1039 (Gellius und Macrobius).1040 Ein ungenannter famosus vir, mit dem Petrarca korrespondierte, hat sich dazu bekannt, Valerius Maximus allen anderen Moralphilosophen vorzuziehen, wofür er von Petrarca kritisiert wird. Es könne nämlich nur ein Witz sein, Valerius Maximus in dieser Hinsicht über Platon, Aristoteles, Cicero und Seneca zu stellen (ob er überhaupt einen moralischen Wert hat, bleibt unerörtert):1041 At quod sequitur, te inter morales Valerium preferre, quis non stupeat, si tamen serio perseveranterque dictum est et non iocandi tentandique animo? Si enim Vale-
illustribus an einer Stelle an die Praefatio des Valerius Maximus an (siehe zum Werk Tschögele: Historiam narrare; das erklärte Ziel des – historischen, nicht biographischen – Werks ist moralische Belehrung, die auch als Zweck der Geschichtsschreibung überhaupt bezeichnet wird). 1037 Erstmals ediert von Léopold Delisle: Notice sur un livre annoté par Pétrarque (ms. latin 2201 de la Bibliothèque nationale), in: Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothèque nationale et autres bibliothèques 35 (1896), S. 393–408 (mit gutem Faksimile), später auch von B. L. Ullman: Petrarch’s Favorite Books, in: ders.: Studies in the Italian Renaissance, Rom 21973, S. 113–133, und Vincenzo Fera: I libri peculiares, in: Petrarca, l’umanesimo e la civiltà europea. Atti del Convegno Internazionale Firenze, 5– 10 dicembre 2004, hg. von Donatella Coppini/Michele Feo, Bd. II = Quaderni petrarcheschi 17/18 (2007/08), S. 1077–1100 (mit Faksimile in niedriger Auflösung), deren Text ich folge. Zur Datierungsfrage siehe Fera, S. 1089f., der die Zeit um 1330 vorschlägt; Einigkeit scheint jedenfalls darüber zu bestehen, dass die Liste in eine eher frühe Lebensphase fällt. 1038 Die Abkürzung wird von Ullman als ystorica und von Fera als ystorici (scil. libri) aufgelöst. 1039 Fera (wie schon Delisle): excerpta; Ullman: exempla. 1040 Es gibt noch mehrere weitere Kategorien. Weiter unten auf demselben Blatt folgt eine zweite Liste, die Valerius Maximus ebenfalls inkludiert, aber nicht mehr nach Gattungen untergliedert ist. 1041 Rerum familiarium libri 4,15,6 = Francesco Petrarca: Le familiari. Volume primo. Introduzione e libri I–IV, hg. von Vittorio Rossi, Florenz 1933, S. 189. Der Adressat, dessen eigener Brief nicht vorliegt, wird meist mit dem Juristen Giovanni d’Andrea († 1348) identifiziert; dagegen Mario Conetti: Petrarca, Giovanni d’Andrea e il destinatario di Rerum familiarum libri IV 15–16, in: Petrarchescha 2 (2014), S. 39–47, der einen anderen Juristen, Alberico da Rosciate, vorschlägt. Terminus post quem ist der Tod des Giacomo Colonna (laut Agostino Paravicini Bagliani: Colonna, Giacomo, in: DBI 27, 1982, im September 1341), der bereits clare memorie ist.
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rius primus est, quotus, queso, Plato est, quotus Aristotiles, quotus Cicero, quotus Anneus Seneca, quem in hac re magni quidam extimatores omnibus pretulerunt?
Als den Genannten zumindest ebenbürtig behandelt ihn aber auch Luca Mannelli, der ein Widmungsexemplar seines Compendium moralis philosophiae (ca. 1344) mit je einer Dreiergruppe heidnischer und christlicher Philosophen illustrieren ließ: Valerius Maximus steht in der heidnischen Gruppe neben Seneca und Aristoteles.1042 Ähnlich dachte Coluccio Salutati, der ihn sogar (in einem Brief von 1365) als vollwertigen Ersatz für Seneca empfiehlt – und es ausdrücklich ablehnt, in ihm einen Geschichtsepitomator zu sehen:1043 […] scito me hunc Valerium semper non tam excerptorem hystorie, quam moralium preceptorem uberem, acutum et lepidum iudicasse, cuius siquidem oratio tota clarissimorum virorum exemplis, aut virtutis precepta latenter insinuans, ad honestatem lectorem hortetur et formet, aut a vitiis omnino deterreat; ut si eius dicta altiori mente librentur, non iam Annei Senece quis documenta pretulerit: satis enim abundeque ad omnem vite partem solus ipse suffecerit.
Luca de Penna, der 1374 einen Kommentar zu Valerius Maximus verfasste, urteilt bloß schlicht, das Werk sei zu verknappt und ungeordnet für ein Geschichtswerk, aber der moralischen Belehrung wegen lesenswert:1044 […] non servat ordinem temporum Valerius […]; ut sepius dictum est, errat si quis ex lectione Valerii noticiam hystoriarum habere se putet […] Exempla […] Valerii non sunt pro hystoriarum noticia recensenda; nam ob nimiam brevitatem obscura sunt omnia, ita quod vix alicuius geste rei series potest agnosci. Expedit autem illa relegi, ut per ea in virtutes opera dirigamur.
Der ältere Guarino Guarini von Verona1045 spricht in seinem Prohemium in principio lecturae Valerii,1046 einer Rede vor Schülern (zwischen 1420 und 1429), 1042
Opus breue moralis phylosophie compilatum per […] Fratrem Lucam de Manellis ordinis predicatorum, Ms. Bibliothèque nationale de France, lat. 6467, S. 1r; dazu Schullian: Catalogus, S. 332, und Charles F. Briggs: Aristotle’s Rhetoric in the Later Medieval Universities. A Reassessment, in: Rhetorica 25 (2007), S. 243–268, hier 243f. Die christlichen Philosophen sind jomas von Aquin, Ambrosius und Augustinus. Als Illustrator gilt Andrea da Bologna. 1043 Epistolario, hg. von Novati, S. 9–12 (= 1,4: an Luigi de’ Gianfigliazzi, 26.12.1365), hier 10. 1044 Ms. 8 Auch (Bibliothèque municipale), S. 208r–v und 214r, zitiert nach Giuseppe Di Stefano: Richerche sulla cultura avignonese del secolo XIV, in: Studi francesi 19 = 7.1 (1963), S. 1–16, hier 13. Siehe auch ebd., S. 3f., zur Datierung; außerdem Schullian: Catalogus, S. 342–344. 1045 Siehe zu ihm Gino Pistilli: Guarini, Guarino, in: DBI 60 (2003).
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großteils vom generellen Nutzen des Studiums von Geschichtswerken. Schon eingangs heißt es, die hystoria rage aus allen scriptorum genera heraus, cum ex ea ad hominum vitam recte degendam et singularis fructus et egregia quaedam iucunditas comparari queat. Er schließt mit dem folgenden Satz über den konkret zu lesenden Autor, der also von ihm unter die – durchaus auch als Gattung (scriptorum genus) verstandene – Geschichtsliteratur subsumiert wird: quam quidem ad rem vel hic imprimis Valerius, quem legendum desumpsimus, conducere potest, qui ex rebus gestis ita singula virtutum genera excerpsit, ut non tam erudire mortales quam eos bonos reddere velle visus sit.
Derselbe Guarino verfasste allerdings auch einen (schulmäßigen, großteils aus Worterklärungen bestehenden) Kommentar zu Valerius Maximus1047 und schreibt dort einleitend, dieser sei eher Philosoph als Historiker, weil es ihm mehr um Belege für Tugenden gehe als um Erzählung der Ereignisse:1048 Solet saepenumero inter legentes quaedam suboriri dubitatio, annalesne scribat vel historiam; non magis autem historiam scribere videtur quam annales. Multa namque ex annalibus cepit et historiis, ut potius virtutis documenta traderet quam res gestas narrare vellet. Ideo potius inter philosophos quam historicos annumerandus videtur.
Sein Sohn Battista Guarino oder Guarini1049 (De ordine docendi et studendi, 1459), der Valerius Maximus als Schullektüre empfiehlt, ordnet ihn dagegen wiederum ohne Einschränkung der Geschichte zu – als universalhistorisches Kompendium von gleicher Art wie die Epitoma des Iustinus:1050 Quare ut ad alteram grammaticae partem, quam historicen diximus nominari, traducantur iam tempus erit. Et sicut reliquas sub compendio prius regulas didicerint, ita eos qui res gestas carptim collegerunt prius perlegent; quo in genere Vale1046
K. Müllner: Acht Inauguralreden des Veronesers Guarino und seines Sohnes Battista. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik des Humanismus, in: WS 18 (1896), S. 283– 306, und 19 (1897), S. 126–143, hier 292–294. Textteile daraus wurden wörtlich übernommen in die praefatio habita in principio lecturae Lucani et Valerii des GuarinoSchülers Lodovico Carbone (Reden und Briefe italienischer Humanisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik des Humanismus, hg. von Karl Müllner, Wien 1899, S. 85–89; dort datiert „kurz nach 1456“), so auch der Relativsatz am Schluss (einzige Abweichung: singularum virtutum genera statt singula virtutum genera). 1047 Siehe Crab: Exemplary Reading, S. 70–76, und dies./Jeroen De Keyser: Il commento di Guarino a Valerio Massimo, in: Aevum 87 (2013), S. 667–684, mit Teiledition (praef. und 1,1). 1048 Ebd., S. 677. 1049 Zu ihm Gino Pistilli: Guarini, Battista, in: DBI 60 (2003). 1050 Humanist Educational Treatises, hg. und übers. von Kallendorf, S. 260–309, hier 284 = § 22.
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rius et Iustinus eis offerentur, quibus et externam et romanam historiam uno ferme aspectu contemplabuntur.
Nebenbei rühmt er auch den Nutzwert des Valerius Maximus als Quelle von Exempla zur eigenen Verwendung – in der neuzeitlichen Rezeptionsgeschichte eher eine Seltenheit:1051 A Valerio ea quoque praestabitur utilitas, ut ad omnes virtutum partes, ad egregia tum dicta tum facta exemplis orationem exornent.
Der Literaturhistoriker Sicco Polenton (Scriptorum illustrium Latinae linguae libri XVIII, Letztfassung 1437) behandelt Valerius Maximus unter den Autoren, die Geschichte nicht um ihrer selbst willen darstellen, sondern für ihre jeweils eigenen Zwecke verarbeiten:1052 Qui autem erunt a nobis deinceps nominati, hi sunt qui, etsi alioquin elegantes sint ac suo in genere splendeant, eorum tamen quos memoravi quasi ex fontibus hauriunt et suos ad usus rivulos trahunt. Non quidem narrant historias isti sed veterum ex historiis eos deligunt flores qui suum ad institutum esse posse idoneum exemplum ac testimonium videantur.
Diese Gruppe inkludiert unter anderem auch Frontinus (mit den Strategemata1053), Gellius und Orosius. Zu Valerius Maximus paraphrasiert Sicco den ersten Satz der Praefatio (Urbis Romae exterarumque gentium usw.) und ergänzt den darin beworbenen Nutzen (leichtere Auffindbarkeit wichtiger Aussprüche und Fakten) um den der Belehrung über Tugenden und Laster:1054 Noster autem Valerius litteris datus historiae plurimum studuit exemplaque collegit multa. […] Urbis nanque Romae exterarumque gentium dicta simul et facta quae digna esse memoria viderentur perstrinxit paucis eademque tanto cum ordine ac maturitate digessit ut quae diffusa apud scriptores veteres haberentur, ea sint non
1051
Im selben Paragraphen direkt anschließend (ebd., S. 284–286). Man kennt anscheinend aus der Renaissance nur dieses eine Beispiel einer solchen Empfehlung (vgl. unten Fn. 1065). 1052 Sicco, hg. von Ullman, S. 215 = Einleitung zu Buch 8, im Anschluss an die Bücher 5–7 über Geschichtserzähler (unter die auch Sueton und die Scriptores Historiae Augustae gerechnet sind). 1053 Vgl. oben S. 325. 1054 Sicco, hg. von Ullman, S. 217, nach Ausführungen über seine vermeintlichen Ahnen (S. 216f.). In der Praefatio des Valerius Maximus selbst wird der moralische Gehalt des Werks nur (scheinbar?) beiläufig in der anschließenden Kaiseranrufung ausgesprochen: Te igitur huic coepto, penes quem hominum deorumque consensus maris ac terrae regimen esse voluit, certissima salus patriae, Caesar, invoco, cuius caelesti providentia virtutes, de quibus dicturus sum, benignissime foventur, vitia severissime vindicantur […].
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Die Kapitel minus ornate quam breviter dicta. Qui autem velit exempla possit ea preclara et ad virtutes et ad vitia invenire.
Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., erwähnt Valerius Maximus (in De liberorum educatione, 1450) gewissermaßen als Nachtrag zu einer Aufzählung von Historikern und nennt ihn einen ‚Historiker und Philosophen‘. Wiederum wird der moralische Nutzen der Geschichtslektüre betont:1055 Sunt et historici legendi pueris, ut Livius atque Sallustius […]; Iustinus et Quintus Curtius et […] Arrianus, in quibus vera, non fabulosa sunt. Alexandri gesta percurri debebunt. Quibus adiungi Valerius, historicus et philosophus, simul non indignus est. […] Ex Genesi quoque, ex Regum libris, ex Maccabeis, ex Iudith, Esdra, Esther, ex evangeliis, ex Actibus Apostolorum historiae non sine magno fructu recipiuntur. ‘Historia namque,’ ut Cicero dicit, ‘est testis temporum, lux veritatis, magistra vitae, nuntia vetustatis.’ Utilissimum ergo est historias quamplures nosse atque in his se exercere, ut aliorum exemplo vel utilia sequi vel noxia vitare scias.
Raphael Regius, der 1482 einen Widmungsbrief für eine kommentierte Edition der Facta et dicta verfasste,1056 sieht in ihnen eine Geschichtsanthologie, die ‚nicht nur‘ den Rednern,1057 sondern durch Belehrung über Tugenden und Laster der Lebensgestaltung aller Menschen (und damit, wenngleich in anderem Stil, demselben Zweck wie die Schriften der Philosophen) dienen solle: Ea namque Valerius ex priscis historicis collegit, quibus non solum orator instrui verum tota hominum vita facile institui possit. Quae enim praestantes philosophi de moribus argute subtiliterque disseruerunt, ea Valerius illustrium virorum exemplis sequenda vitandave ornate copioseque indicavit. Quae enim est praeclara virtus, cuius vim atque naturam exemplis a Valerio selectis facile non valeas comprobare? Quod extat insigne vitium, cuius malignitatem iisdem exemplis non possis detestari?
Erasmus von Rotterdam zählt Valerius Maximus einmal einfach unter die Geschichtsschreiber (in De ratione studii, 1511: Sed non magni negocii fuerit huiusmodi vim ex historiographis, praecipue Valerio Maximo, colligere1058) und einmal gemeinsam mit Frontinus zu den Autoren, die die Geschichte auf strategemata et 1055
Humanist Educational Treatises, hg. und übers. von Kallendorf, S. 126–259, hier 224 = § 73. 1056 Siehe Schullian: Catalogus, S. 360–364, der den – je nach Exemplar an zwei verschiedene Adressaten gerichteten und an verschiedener Stelle eingebundenen – Brief fast vollständig wiedergibt (S. 362; ausgelassen wird ein Abschnitt mit ‚biographischen‘ Angaben zu Valerius Maximus). 1057 Der spezielle Nutzen für Redner wird also erwähnt, aber nicht im Sinne einer Empfehlung, sondern als vergleichsweise unwichtiger Aspekt. 1058 De ratione studii, hg. von Jean-Claude Margolin, in: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami I.2, Amsterdam 1971, S. 79–151, hier 127 = LB 524 im Kap. De ratione
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apophthegmata reduziert und damit für die Belehrung der Fürsten nutzbar gemacht haben (in der Epistola nuncupatoria zu seinen eigenen Apophthegmata, 1531):1059 Restat historia, quae quoniam res praeclare secusue gestas velut in tabula spectandas repraesentat nec id absque voluptate, magnatibus viris aptior esse videtur; sed hic vt infinitam voluminum vim principi vacet euoluere, quis possit meminisse? Atqui quemadmodum ii qui certant in palaestra certos quosdam prehendendi elabendique modos ad manum habent, ita qui in pacis bellisque negociis versantur certas rationes in promptu habere conuenit, quibus admoneantur quid pro re nata sit facto opus, quid non. Hac in parte videmus eruditissimos viros principum curas sua diligentia subleuare conatos, quorum alii scripsere sententias, veluti Seognis et Isocrates, alii celebrium virorum strategemata et apophthegmata, veluti Valerius Maximus et Sextus Iulius Frontinus […]
Für Nicolaus Beraldus (1517, in der Widmung seiner Edition) ist Valerius Maximus eine Art Geschichtsepitomator, aber kein echter Historiker, von dem nämlich geordnete chronologische Darstellung zu fordern wäre. Positiv vermerkt er die formal-stilistische Eleganz (einschließlich der Übergangstechnik), die ihn nun seine frühere Geringschätzung des Werks revidieren lässt:1060 De Valerio quoque Maximo ita nonnunquam iudicabam, vt eum Historici nomen vix sustinere posse putarem, quod ab alijs latius scripta breuibus quibusdam instituendi discipulos. Es geht um Übungsthemen für Schüler (S. 126: Habeat igitur thema quod pueris proponas aut historiam memorabilem). 1059 Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami IV.4. Apophthegmatum libri I–IV, hg. von Tineke L. ter Meer, Leiden 2010, S. 38 = LB 87–88. Dagegen steht der bisweilen als Urteil des Erasmus (sekundär)zitierte Vergleich des Valerius Maximus mit einem Maulesel oder Maultier bloß in seinem satirischen Dialog Ciceronianus als Aussage des Cicero-Fanatikers Nosoponus, der nach seiner Meinung über andere Autoren befragt wird (Dialogus Ciceronianus, hg. von Pierre Mesnard, in: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami I.2, Amsterdam 1971, S. 581–710, hier 657 = LB 1006: BVL. Num Valerius Maximus. NOSOP. Tam similis est Ciceroni, quam mulus homini, adeo vt vix credas vel Italum fuisse usw.; vgl. auch sein Negativurteil über Erasmus selbst, S. 680f. = LB 1013). 1060 Valerij Maximi dictorum ac factorum memorabilium tam Romanorum, quam externorum Collectanea, [hg. von Nicolaus Beraldus], Paris 1517, ohne Paginierung (Überschrift: Nicolaus Beraldus Remigio Cailliuo, Salutem P. D.). Das Kriterium der Chronologie – anscheinend Ergebnis persönlicher Vorliebe (Delectauit me quondam supra quam dici potest eximia quędam vbertas historiæ Liuianæ […] sic vt nullam propemodum historiam probarem, quæ perpetua quadam ac continenti rerum gestarum serie, ac ceu pleno vbique alueo non decurreret) – wird zwar als frühere Meinung referiert, aber durch keinen anderen gattungstheoretischen Standpunkt ersetzt. Tatsächlich als überholt zu betrachten ist wohl nur das einseitig auf diesem Aspekt beruhende Gesamturteil.
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Die Kapitel tantummodo velut Aphorismis, magno quidem delectu, sed rerum tamen ac temporum ordine nullo comprehendisset. Sucurrebat mihi præterea docti hominis acris ac pertinax cum quodam disputatio, cui ipse adfuissem, quem contendere memineram nostrum hunc Romanæ, peregrinæque historiæ consarcinatorem (ita enim dicebat) potius quendam, quam Historicum esse vocandum. At quum nuper hæc collectanea, immo vero eclogas hasce eleganteis ac doctas studiose relegerem, adnotaremque in eis varias verborum ac sententiarum figuras, sensus acutissimos, aptissimos Transitus, crebra epiphonemata, aliaque permulta orationis ornamenta, visum est te hominem olim iam in varia historię lectione versatum, ad Authoris huius pressius ac diligentius studium reuocare […]
Der moralische Gehalt scheint Beraldus nicht zu interessieren, womit er sich deutlich vom bisher beobachteten Konsens entfernt. Selbst als Ordnungsprinzip lässt er ethische Kategorien so wenig gelten, dass er dem Werk ungeachtet seiner Kapitelgliederung jedwede sachliche Ordnung absprechen kann (rerum […] ordine nullo). Teilweise wie eine Antwort auf Beraldus liest sich die Einleitung des erstmals 1553 erschienen Kommentars von Henricus Loritus Glareanus (Heinrich Loriti). Auch wenn man nicht sagen könne, dass Valerius Maximus eine ‚bestimmte Geschichte‘ (certam historiam) erzähle, sei er doch ein vollwertiger Historiker, denn schließlich liege der Zweck der Geschichtsschreibung in der moralischen Belehrung – und diesen Zweck erfülle sein Kompendium sogar besser als die voluminösen Geschichtswerke anderer Autoren:1061 Dubitatum apud plerosque uideo, sit’ne Valerij hoc opus meritò historiæ nomine appellandum, cùm uideatur exemplorum potius quædam collectio, ac uelut consarcinatio, ut Critici eius dicunt: uidelicet ubi nulla temporum ratio, quæ historiæ lux est, nec ullus rerum gestarum ordo, sine quo omnis historia manca est, apparet. Cui dubitationi responderi potest, uerum quidem esse, Valerium nullam certam historiam scribere, at historici tamen officium abundè his uoluminibus præstitisse. Finis enim historiæ est, ut inde tibi (inquit in præfatione Liuius) tuæque Reip. quod imitêre, capias, unde fœdum inceptu, fœdumque exitu, quod uites. Quod in hisce libris non paulò facilius reperias, quàm in ingenti aliorum historicorum sylva. […] Sunt enim quidam ex his, qui propè hominis ætatem desyderent. Nam præter Trogum, Quadrigarium, Sallustium, et alios quosdam, qui olim extabant, quot annis lectoris animum occupabunt CXL. Liuij uolumina? […] Consultum igitur, quisquis fuit
1061
Valerii Maximi de factorum dictorumque memorabilium exemplis libri nouem […] unà cum Henrichi Loriti Glareani […] Annotationibus, [hg. von Heinrich Petri], Basel 1553, separat paginierter Kommentarteil, S. 7f. Zu den Editionen von Petri siehe auch Crab: Exemplary Reading, S. 176–180 (über Glareanus schreibt sie an anderer Stelle, S. 273, er sei „oblivious to the examples’ moral and instructive value“ und sehe stattdessen in Valerius Maximus einen „true historian“; dies ist, wie wir sehen, ein Missverständnis: Glareanus weist der Geschichte einen moralisch-exemplarischen Zweck zu und wertet Valerius Maximus gerade deswegen als wahren Historiker).
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huius operis author, uoluit haud dubiè, uel pauperibus, qui grandia uolumina habere non poterant, aut tardis, occupatisque alijs negocij ingenijs, quorum numerus & semper fuit maior, & hodie est, & erit quoad hic constiterit mundus.
Noch emphatischer ist Stephanus Pighius (in der Widmung seiner einflussreichen Edition von 1567), der Valerius Maximus allen anderen antiken Historikern vorzieht, weil er aus der Masse der historischen Überlieferung die nützlichen Stücke – nämlich Beispiele für Tugenden und Laster – herauslöse und mit seiner Buchund Kapiteleinteilung in eine systematische Ordnung (in concinnum ordinem) bringe:1062 Ex veteribus autem, qui vel Græcè vel Latinè historiam scripserunt […] sanè non video, quisnam Valerio Maximo præferri poterit, cùm nemo melius nucleum historicæ vtilitatis nobis excludat, dum ex omnium penè historiarum vberrima sylua virtutum vitiorumque celeberrima quæque exempla quasi flosculos selecta breuiter in concinnum ordinem redigit, communi vitæ, publicis priuatisque moribus accommodat, in genera ac capita tam aptè digerit, vt quod in aliis non sine labore quærendum esset, ex hisce nouem eius libris nullo negocio peti possit.
Fast gleichzeitig wiederholt Giovanni Antonio Viperano (in seiner Abhandlung De scribenda historia von 1569) nochmals den bereits bekannten Standpunkt, Valerius Maximus sei kein Historiker, weil er keine durchgehende Erzählung aufweise, aber doch ein Autor, der die Geschichte für die Leser nutzbar mache:1063 Nec repugnauero Valerium Maximum inter Historicos annumerandum non esse quippe qui nullam perpetuam narrationem teneat. Docet tamen grauiter, & acutè, quis fructus ex historiarum lectione capi possit.
Aus diesen Zeugnissen ist nicht nur zu erkennen, dass die Einordnung des Valerius Maximus durch die gesamte Renaissance zwischen der als Moralphilosoph und
1062
Edition von Pighius, S. 3–16, hier 7f. Ferner wird das Werk mit einer tragikomischen Szenenfolge verglichen und deren mimetische Glaubwürdigkeit gelobt (8f.: Videmus itaque vt in hisce libris, velut in amplissimo theatro, communis vitę nostræ quasi quandam Tragicomœdiam Valerius nobis agat, in quo ipse tanquam pantomimus aliquis insignis in nouas sæpe formas se mutat, mortalis vitæ mille pericula, casus infinitos diuersis gestibus dexterrimè imitatus […] Sed quanto sępè decore, quali pompa, quo ordine, velut instructissimus choragus nunc virtutum, nunc vitiorum mimos elegantissime verborum apparatu comptos inducit, & tanquam præsentes oculis subijcit?). Auch die Verknüpfung der Exempla wird gewürdigt (quàm exempla exemplis connectendo, velut nouas subinde personas aptissimè suggerit?). 1063 Io. Antonii Viperani De scribenda historia liber, Antwerpen 1569, S. 36 (eine beiläufige Bemerkung im Abschnitt über den Umgang mit parallelen Handlungssträngen in historischer Großerzählung).
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Die Kapitel
der als Geschichtsautor changierte,1064 während ein rhetorischer Bezug, etwa in Form der möglichen Verwendung der Geschichten als Exempla in eigenen Texten, nur ausnahmsweise hergestellt wurde und auch dann ein Randaspekt blieb.1065 Darüber hinaus berechtigen uns die sechzehn Zeugen auch fast einhellig (bis auf Beraldus), bei Abstraktion von der Gattungsfrage eine einheitliche zeittypische Rezeptionsweise zu rekonstruieren: Valerius Maximus wurde ‚historisch‘ gelesen, aber nicht als Ansammlung einzelner historischer Momente, die man isoliert betrachtet hätte,1066 sondern als kohärente Geschichtsschreibung in ethischen Kategorien – oder, was nur eine Frage der Gewichtung ist, als moralphilosophische Enzyklopädie mit historischen Exempla.1067 Dass diese Interpretation des Werks auch in den verbleibenden zwei Jahrhunderten der frühen Neuzeit1068 noch lebendig blieb, zeigen Quellen wie die kommentierte Übersetzung von Diego López (1631/32), der in seinem Vorwort die 1064
Die Formel von Holcroft, S. 39f. und 81f., und Crab: Exemplary Reading, S. 273, Valerius Maximus sei im 14. Jhd. als Moralist, im 15. als Moralist und Historiker und im 16. als Historiker gesehen worden (habe diese Identität in der zweiten Hälfte des Jhds. aber wieder verloren, weil man Exemplasammlungen nicht mehr als Form der Geschichtsschreibung akzeptiert habe), erweist sich dagegen als etwas zu schematisch. 1065 Dies konstatiert schon Crab: Exemplary Reading, S. 272, mit dem jüngeren Guarino als einzigem Gegenbeispiel (dazu oben bei Fn. 1051; außerdem bei Fn. 1057 zu Raphael Regius). Vgl. auch Holcroft, S. 19f., zur explizit historisch-moralischen Intention der zeitgenössischen Exemplasammlungen des 16. Jhds. (das einzige Gegenbeispiel ist ein 1538 erschienener Nachdruck der Libri decem des Sabellicus – siehe oben Fn. 764 –, dessen Titelblatt sie als de quavis re dicturo non mediocre […] adiumentum anpreist). 1066 Kein Argument für eine isolierende Auffassung der Anekdoten ist das von Crab: Exemplary Reading, S. 274, konstatierte Bemühen der Herausgeber und Verleger, durch Zwischentitel, Inhaltsverzeichnisse, Indizes usw. ihre Auffindung zu erleichtern. So verfuhr man schon im Mittelalter mit Geschichtswerken aller Art (siehe Guenée, S. 227–237). 1067 So am deutlichsten Dionigi da Borgo San Sepolcro (oben bei Fn. 1033). Später herrschte, wie wir gesehen haben, Dissens darüber, ob Valerius Maximus ein ‚echter‘ Historiker oder ein sekundärer Geschichtsaufbereiter sei, aber auch dies ist lediglich eine nachgelagerte gattungstheoretische Frage, der keine unterschiedlichen Interpretationen des Werks selbst zugrunde liegen. 1068 Für das Mittelalter, das grundsätzlich ebenso wie unsere Zeugen aus der Renaissance zum moralischen Geschichtsinteresse neigte (siehe Guenée, S. 27–29 sowie 277: „l’Occident voit dans les histoires romaines des livres de sagesse“), sind die Quellen etwas spärlicher. Wir haben Exzerpte (am wichtigsten: Heiric von Auxerre, 9. Jhd. = Dorothy M. Schullian: Se Excerpts of Heiric “Ex libris Valerii Maximi memorabilium dictorum vel factorum”, in: MAAR 12, 1935, S. 155–184; zur Präsenz in sonstigen Florilegien siehe Birger Munk Olsen: Les classiques latins dans les florilèges médiévaux antérieurs au XIIIe siècle, in: RHT 9, 1979, S. 47–121, und 10, 1980, S. 115–164), eine Versifikation (De memorabilibus libri IX, in: Rodulfi Tortarii Carmina, hg. von Marbury B. Ogle/Dorothy M. Schullian, Rom 1933, S. 1–245; 11. Jhd., isolierend; zur Methode der Umarbeitung siehe Gerlinde Bretzigheimer: Die De memorabilibus libri IX des Rodulfus Tortarius. Eine hochmittelalterliche Versifikation der Facta et dicta memorabilia des
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Ausführungen des Pighius paraphrasiert,1069 oder die Historisch-critische Einleitung zu nöthiger Kenntniß und nützlichem Gebrauche der alten lateinischen Schriftsteller von Gottfried Ephraim Müller (1751), der allerdings bereits die Notwendigkeit sieht, das Werk – für ihn „ein so angenehmes, als nützliches, historisches, als moralisches Lehrbuch“, dessen Autor aus der Geschichtsschreibung „als eine arbeitsame Biene […] einen so süssen, als gesunden historischmoralischen Honig“ ziehe und „in einen schönen Bau“ bringe1070 – gegen eine sich aus streng tatsachenorientiertem Geschichtsinteresse ergebende Abwertung zu verteidigen (konkret gegen Pierre Bayle):1071
Valerius Maximus, in: Dichten als Stoff-Vermittlung. Formen, Ziele, Wirkungen. Beiträge zur Praxis der Versifikation lateinischer Texte im Mittelalter, hg. von Peter Stotz, Zürich 2008, S. 231–245) und punktuelle Übernahmen oder Erwähnungen (im 12. Jhd. empfiehlt William of Malmesbury: Polyhistor, hg. von Helen Testroet Ouellette, Binghamton, N.Y. 1982, S. 37, Valerius Maximus als Ergänzung zu seiner eigenen Exzerptsammlung; siehe außerdem Moos: Topik zu Johannes von Salisbury, ebenfalls 12. Jhd., der Valerius Maximus im Policraticus ausgiebig benutzt, und Welter – über das Register zu erschließen – zu Predigten und moraldidaktischen Texten; einige weitere Autoren nennt Max Manitius: Beiträge zur Geschichte des Ovidius und anderer römischer Schriftsteller im Mittelalter, in: Philologus, Suppl. 7, 1899, S. 721–767, hier 764–767, und Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. Dritter Band. Vom Ausbruch des Kirchenstreites bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts, München 1931, und eine Suche in der Library of Latin Texts. Series A und Series B ergibt zusätzlich noch Erwähnungen bei Alexander von Hales, Wilhelm Peraldus, Roger Bacon und jomas von Aquin im 13. Jhd.), aber anscheinend vor dem 14. Jhd. keine expliziten Auseinandersetzungen wie die zitierten aus der Renaissance – bis auf die Charakterisierung Valerius Maximus, qui accidentia tantum notabilia diversorum temporum conscripsit als Teil einer Auflistung von Historikern in der fälschlich Robert Grosseteste zugeschriebenen Summa philosophiae aus der zweiten Hälfte des 13. Jhds. (Die philosophischen Werke des Robert Grosseteste, Bischofs von Lincoln, hg. von Ludwig Baur, Münster 1912, S. 275–643, hier 289; zum Werk und seiner Datierung siehe ebd., S. 126*–141*; auf die Stelle weist bereits Peter von Moos: Das argumentative Exemplum und die ‘wächserne Nase’ der Autorität im Mittelalter, in: Exemplum et Similitudo. Alexander the Great and other heroes as points of reference in medieval literature, hg. von W. J. Aerts/ M. Gosman, Groningen 1988, S. 55–84, hier 59 mit 70, Anm. 17, und Topik, S. 126, Anm. 299, hin). 1069 Siehe das Zitat bei Schullian: Catalogus, S. 300. 1070 Müller: Einleitung, S. 365. 1071 Ebd., S. 378f. (siehe auch noch S. 392–407 mit weiteren Ausführungen über die Nützlichkeit als Sittenlehrer, u. a. für Staatsmänner und Schüler; darin wiederum eine Pighius-Paraphrase). Pierre Bayle († 1706) äußert sich über Valerius Maximus mehrmals anlässlich antiker jemen (Müller zitiert die Artikel über Diagoras, Iuno, Xenokrates und Perikles). Einen eigenen Eintrag erhält er in Bayles wegweisendem Dictionnaire historique et critique (elfte und letzte vollständige Ausgabe: 16 Bde., Paris 1820; die
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Die Kapitel Ich glaube, man könnte, zum Behuffe des Valers, dem scharfsinnigen Franzosen diese gegründete Vorstellung thun, Valer sey kein Geschichtschreiber im genausten Verstande, das ist kein gewissenhafter Erzähler der Begebenheiten nach historischer Strenge, welche keine Ausschmückungen der Geschichte duldet, sondern alles, wahr und ungekünstelt, wie es geschehen, will erzählet haben. Vielmehr, da er nur einige Blumen aus den Geschichten abpflocket, um gleichsam einen anmuthigen Blumenstraus daraus zusammen zu flechten: da seine Absicht ist, den Sittenlehrer mehr zu beschäftigen, als den Geschichtkundiger: so muß man es ihm wohl zu gute halten, wenn er, um seinen Vortrag rednerisch aufzuputzen, den historischen Stoff bisweilen, nach seinem dienlichen Gebrauche, etwas ändert, beschneidet, verbessert, vermehret.
Gerade der faktisch-objektivistische Zugang zur historischen Überlieferung wurde jedoch bestimmend für das 19. Jahrhundert und die damals aufblühende Geschichtswissenschaft, als deren Leitspruch über weite Strecken der Satz von Ranke (aus dem Vorwort eines Frühwerks) diente: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beygemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen“.1072 So verwundert es nicht, dass der Übersetzer Friedrich Hoffmann (1828), der am Erfolg des Werks interessiert sein musste, zwar den moralischen Aspekt nicht
Erstauflage erschien 1697) ebenso wenig wie später in der Encyclopédie (ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, 17 + 11 Bde., hg. von Diderot/ d’Alembert, Paris 1751–72; dort anders als bei Bayle überhaupt keine Artikel zu antiken Autoren). Bosch, S. 1, und Bliss, S. 19, verweisen auf einen anderen frühen Kritiker, Jacobus Perisonius [alias Perizonius]: Animadversiones historicæ, Amsterdam 1685, der Valerius Maximus aber weniger verurteilt als seine Fehler mit denen anderer Autoren relativiert. 1072 Leopold Ranke: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535. Erster Band, Leipzig 1824, S. v–vi. Zum generellen Objektivismus der Geschichtswissenschaft im 19. Jhd. siehe Otto Gerhard Oexle: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996, zum gewandelten ‚Zweck der Geschichte‘ Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991, S. 419f. In der historiographischen Praxis vermischte sich der wissenschaftliche Objektivitätsanspruch natürlich sehr wohl mit anderen, v. a. politisch-ideologischen Zielen (siehe die entsprechenden Kapitel in der für das 14.–19. Jhd. wohl unübertroffenen Historiographiegeschichte von Eduard Fueter: Geschichte der neueren Historiographie [urspr. 1911], München 31936, oder neueren Darstellungen wie Ernst Breisach: Historiography. Ancient, Medieval, & Modern, Chicago 32007, oder Se Oxford History of Historical Writing, 5 Bde., hg. von Daniel Woolf, Oxford 2011/12); für uns kommt es aber nicht auf die Gründe der Abfassung neuer, sondern auf die der Lektüre antiker Geschichtswerke an.
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ganz beiseitelässt, aber doch schwerpunktmäßig für seinen Wert als Quelle historischer Information argumentiert:1073 Das Werk des Valerius Maximus ist nicht ohne innern Werth. Abgesehen von dem Fleiße, welchen ein solcher Zusammentrag beurkundet, dient diese Sammlung von Anekdoten und mancherlei Tugendbeispielen, so wie den entgegengesetzten Fehlern, zu einem vergleichenden Commentar anderer Schriftsteller des Alterthums, und gewährt in dieser Beziehung manche belehrende Resultate. Außerdem gibt Valerius eine Menge Erzählungen, die man bei andern Schriftstellern des Alterthums vergebens sucht, während er nichts destoweniger frühere Autoren, insbesondere Cicero und Livius, häufig benützt. Auch erhält seine Schrift keine geringe Bedeutung durch die vielfachen Aufschlüsse, welche sie über gesellschaftlichen Verkehr, moralische Ansichten, Gebräuche, Gottesdienst u. s. w. des Alterthums mittheilt. Durch die Berührung der Lebensepochen so vieler berühmten Männer, die mittelst gegenwärtiger Zusammenstellung das Auffinden erleichtert, wird ernstern historischen Studien vorgearbeitet. Valerius wirft manchen tiefen Blick in das menschliche Gemüth und die moralische Weltordnung, und drückt würdige Gesinnungen in der Form von Sprüchen aus.
Der Versuch, Valerius Maximus für das ‚historische Jahrhundert‘1074 zu retten, war jedoch vergeblich. Viel eher führte das Streben nach ‚ernstern historischen Studien‘ (in einem ereignisgeschichtlichen Sinn1075) dazu, dass die Begegnung mit seinem Werk enttäuschend ausfiel.1076
1073
Valerius Maximus: Sammlung merkwürdiger Reden und Saten, übers. von Friedrich Hoffmann, 5 Bde., Stuttgart 1828/29, S. 7f. Es gab seither keine deutsche Komplettübersetzung mehr (vgl. oben Fn. 37). Der gleichzeitige französische Übersetzer C. A. F. Frémion (Valère Maxime: Faits et paroles mémorables, 3 Bde., Paris 1827/28) äußert sich in seinem Vorwort nicht grundsätzlich zum Nutzen des Werks oder den Gründen, es zu lesen, sondern ist hauptsächlich um eine Beurteilung seines Stils bemüht. 1074 So wurde das 19. Jhd. bereits von Zeitgenossen genannt (z. B. Friedrich August Holzhausen: Die Richtung zum Positiven in den kirchlichen Angelegenheiten Teutschlands, in: Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst 8.2, 1835, S. 38–61, hier 40, oder rückblickend Friedrich Paulsen: Überblick über die geschichtliche Entwicklung der deutschen Universitäten mit besonderer Rücksicht auf ihr Verhältnis zur Wissenschaft, in: Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. I. Band. Die Universitäten im Deutschen Reich, hg. von W. Lexis, Berlin 1904, S. 3–38, hier 23). 1075 Die Sozial- und Mentalitätsgeschichte, für die Hoffmann ‚Aufschlüsse‘ verspricht, ist bekanntlich erst im Laufe des 20. Jhds. in den Mittelpunkt des Geschichtsinteresses gerückt (zu den ersten, sehr heftig geführten Kontroversen um 1900 siehe Lutz Raphael: Historikerkontroversen im Spannungsfeld zwischen Berufshabitus, Fächerkonkurrenz und sozialen Deutungsmustern. Lamprecht-Streit und französischer Methodenstreit der Jahrhundertwende in vergleichender Perspektive, in: HZ 251, 1990, S. 325–363). 1076 Siehe zum 19. und 20. Jhd. auch den Forschungsüberblick bei Weileder, S. 10–19, mit zusätzlichen Belegen für die nun zu besprechenden Kritikpunkte.
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Es war schlichtweg, wie Pierers Universal-Lexikon in der Mitte des Jahrhunderts formulierte, eine „Sammlung historischer Anekdoten von Römern u. Ausländern, ohne Kritik u. Methode, aus Cicero, Livius u. a. Schriftstellern zusammengetragen, in schwülstiger u. incorrecter Sprache“.1077 Literaturgeschichtliche Handbücher urteilten ebenso und zum Teil noch deutlicher: „eine Anekdotensammlung aus der alten Geschichte […] mit unglaublicher Urtheillosigkeit“,1078 eine „historische Blütenlese“, die „um geschichtliche Wahrheit […] selten bekümmert“ ist, sondern durch „einen kaum glaublichen Mangel an Urtheil auffällt und verletzt“1079 und uns „für den Mangel an Kritik, der durchweg hervortritt, für den Mangel an Sorgfalt und Genauigkeit in Benützung der Quellen nicht entschädigt durch die rhetorische Zuthat, die aller Orten beigegeben ist“.1080 Im späten 19. und durch den Großteil des 20. Jahrhunderts wurde dem Werk schließlich sogar jegliche auch nur im weitesten Sinn historiographische Intention abgesprochen zugunsten einer Reduktion auf die – zuvor fast gar nicht wahrgenommene, jetzt angeblich einzige – Rolle als Materialfundgrube für Redner oder Redeschüler.1081 1077
Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Achtzehnter Band, Altenburg 41864, S. 343f. s.v. Valerĭus, Nr. 10. 1078 G. Bernhardy: Grundriss der Römischen Litteratur, Halle 1830, S. 270. 1079 Ders., 1872, S. 727. 1080 Johann Christian Felix Bähr: Geschichte der Römischen Literatur. Zweiter Band, enthaltend die erste Abtheilung der Prosa, Karlsruhe 41869, S. 208 (noch nicht bei dems.: Geschichte der Römischen Literatur, Karlsruhe 1828, S. 308). Siehe auch noch Teuffel, S. 543 („ohne Kritik, Sinn für geschichtliche Wahrheit und Geschmack“), Teuffel/Kroll/ Skutsch, S. 193 („ohne Kritik, ohne Sinn für geschichtliche Wahrheit und ohne Geschmack“), Schanz, S. 351, und Schanz/Hosius, S. 590 („es steht ihm […] historische Akribie erst in zweiter Linie, und an Verstössen [so Schanz; Schanz/Hosius: groben Verstößen] gegen die Geschichte fehlt es nicht“), die alle auf den entsprechenden Abschnitt in Kempfs Prolegomena zu seiner Edition von 1854, S. 26–34 (De Valerii Maximi auctoritate et fide historica), verweisen, der v. a. auf Vergleichen mit dem als – missverstandene – Quelle vorausgesetzten Livius beruht. 1081 Siehe etwa Teuffel, S. 543 („Anekdotensammlung für rhetorische Zwecke“), Teuffel/ Kroll/Skutsch, S. 193 („Beispielsammlung für rhetorische Zwecke“, „lediglich mit rhetorisch-stilistischen Absichten“), Schanz, S. 350f., Schanz/Hosius, S. 589f., Helm: RE, Sp. 93f., Leeman: Orationis ratio, S. 253, dens.: Die römische Geschichtsschreibung, übers. von Manfred Fuhrmann, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Band 3. Römische Literatur, hg. von Manfred Fuhrmann, Frankfurt a. M. 1974, S. 115–146, hier 131, Fleck, S. 7f., Carter: Valerius Maximus, S. 27, Sinclair: Evolution, S. 7–16, und Sententiae, S. 141, sowie zuletzt noch Moos: Topik, S. 137 und 359, Anm. 710. Nur vereinzelt wurde der rhetorischen Sammlung ein unterhaltender oder belehrender Nebenzweck zuerkannt (so Bliss, S. 7–9, und Lumpe, Sp. 1239; vgl. auch Peter von Moos, Die Kunst der Antwort. Exempla und dicta im lateinischen Mittelalter, in: Exempel und Exempelsammlungen, hg. von Walter Haug/Burghart Wachinger, Tübingen 1991, S. 23–57, hier 51f.: „für die fortlaufende Lektüre ästhetisch zurecht[ge]mach[t]“).
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Diese Umdeutung änderte nichts an den schlechten Zensuren, die man Valerius Maximus erteilte – oft mit Formulierungen an (oder jenseits) der Grenze zur Beschimpfung,1082 bis hin zu der Aussage, das Werk hätte gar nicht überleben sollen.1083 Aus ihnen spricht eine viszerale Abneigung, die sich bei weitem nicht nur auf den historischen Inhalt1084 bezog. Auch als rein literarische Leistung konnte man das Werk nicht anerkennen. Soweit die entsprechenden Äußerungen nicht überhaupt ganz allgemein blieben, wurde besonders der Stil kritisiert – der doch in der Renaissance noch gelobt worden war.1085 Eine Rehabilitation des Valerius Maximus setzte erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein, als in relativ dichter Folge Monographien, Kommentare und Sammelbände über sein Werk erschienen und sich auch die Werturteile wieder ins (maßvoll) Positive wendeten. Wie zu erwarten, ging diese Entwicklung mit einer Wiederentdeckung des ideellen Gehalts einher – durch Interpretation als 1082
Bernhardy, 1830, S. 270: „die widerwärtigste Erscheinung dieser Zeit ist Valerius Maximus“, und 1872, S. 727: „Unter die widerwärtigen Erscheinungen dieser Periode gehört Valerius Maximus“; B. G. Niebuhr: Quellen der römischen Geschichte, in: ders.: Historische und philologische Vorträge, S. 2–78, hier 66: „einer der elendesten Schriftsteller“; Norden, S. 303f.: „Valerius Maximus eröffnet die lange Reihe der durch ihre Unnatur bis zur Verzweiflung unerträglichen Schriftsteller“, „Auf das Widerliche seines Stils […] habe ich keine Lust einzugehen“; Bosch, S. 57: „dieser litterarisch so wertlose Autor“; Carter: Valerius Maximus, S. 26: „an author whom modern taste rightly finds one of the most tedious and affected products of the ancient world“. Weitere ähnliche (auch rezentere) Zitate bei Langlands: Gender, S. 8–11. 1083 Carter: Valerius Maximus, S. 26: „In many ways Valerius never deserved to survive“. 1084 Ein zweiter inhaltsbezogener Kritikpunkt neben dem faktisch-historischen betrifft die „Liebedienerei“ (Schanz/Hosius, S. 590, mit Bezug auf die Werkpraefatio und drei weitere Stellen) oder „aufdringlich[e] Schmeichelei“ (Teuffel/Kroll/Skutsch, S. 193) gegenüber Tiberius. Hinzu kommen vage Negativurteile über den geistig-ideellen Gehalt wie z. B. „Gemeinheit der Gesinnung“ und „Mittelmäßigkeit des Geistes“ (Bernhardy, 1830, S. 270) oder „banale Betrachtungen“ (Teuffel/Kroll/Skutsch, S. 193). 1085 Siehe oben S. 25–27. Darin mag man einerseits ein ‚Abfärben‘ des inhaltlichen taedium auf das Stilurteil vermuten, andererseits aber auch das Produkt einer damals tatsächlich stärker empfundenen Abneigung gegen allzu wahrnehmbare Artifizialität (vgl. etwa die Liste negativ besetzter Begriffe bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Die griechische Literatur des Altertums, in: ders. et al.: Die griechische und lateinische Literatur und Sprache, Berlin 31912, S. 3–318, die Ernst-Richard Schwinge in seiner Einleitung zum Separatdruck Stuttgart 1995 zusammenträgt: ‚Künstelei und öde Manier, Rhetorik und Manier, künstliche Stilisierung der Rhetorik, Unnatur‘ usw.; oder den von jeodor Mommsen: Römische Geschichte. Erster Band. Bis zur Schlacht von Pydna, Berlin 2 1856, S. 202f., erhobenen Vorwurf an Literatur und Musik der Italiener, durch alle Zeiten bloß ‚rhetorisch‘ und ‚Virtuosität‘ gewesen zu sein). Diese wurde aber jedenfalls nur selektiv auf die lateinische Stilistik angewendet; sonst hätte sie ja auch zur Abwertung Ciceros führen müssen, wovon aber kaum die Rede sein kann (Norden, S. 231– 233, sieht immerhin eine problematische Neigung zu „Pathos“, „Überfülle“ und „affektierte[r] Spielerei“, die Cicero aber erfolgreich „gebändigt“ habe).
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Die Kapitel
moralistisches Werk im klassischen Sinn1086 oder auch als Beitrag zu Aufbau und Perpetuierung einer gesellschaftlichen Werteordnung, Geschichtsauffassung oder politischen Ideologie.1087 1086
Honstetter; Skidmore: Practical Ethics und ders.: Teaching by Examples. Valerius Maximus and the Exempla Tradition, Diss. Exeter 1988; Mueller: Exempla und Religion; Wardle: Book 1; jemann-Steinke; Langlands: Complexities sowie dies.: ‘Reading for the Moral’ in Valerius Maximus. Se Case of severitas, in: CCJ 54 (2008), S. 160–187, und Roman Exempla and Situation Ethics. Valerius Maximus and Cicero de Officiis, in: JRS 101 (2011), S. 100–122; Albrecht: Geschichte, S. 911; S. J. Lawrence: Dead on Time. Valerius Maximus 9.13 and Stoicism, in: Antichthon 49 (2015), S. 135–155; Reading by Example, hg. von Murray/Wardle; teilweise Valeurs et mémoire, hg. von David (bes. Yves Lehmann: Les revendications morales et politiques de Valère Maxime, S. 19– 26, und Claude Loutsch: Procédés rhétoriques de la légitimation des exemples chez Valère Maxime, S. 27–41). Isolierte Vorläufer sind Comes, Maria Luisa Paladini: Rapporti tra Velleio Patercolo e Valerio Massimo, in: Latomus 16 (1957), S. 232–251, hier 232, und Ezio Bolaffi: Tre storiografi latini del I secolo d. C., in: GIF 13 (1960), S. 336– 345, hier 341. 1087 Carlo Santini: Echi di politica religiosa tiberiana in Valerio Massimo, in: GIF 39 (1987), S. 183–195; Valeurs et mémoire, hg. von David; Weileder; Langlands: Gender; Isabelle Cogitore: Valère Maxime. Crise ou continuité, de César à Tibère?, in: Fondements et crises du pouvoir, hg. von Sylvie Franchet d’Espèrey et al., Pessac 2003, S. 353–364; Lucarelli; Helmut Krasser: Sine ullis imaginibus nobilem animum! Valerius Maximus und das Rom der neuen Werte, in: Römische Werte und Römische Literatur im frühen Prinzipat, hg. von Andreas Haltenhoff/Andreas Heil/Fritz-Heiner Mutschler, Berlin 2011, S. 233–251; Gunderson; Alicia Schniebs: Valerio Máximo y una memoria a la medida de Tiberio, in: Romanitas 3 (2014), S. 170–184; Heiko Westphal: Imperium suum paulatim destruxit. Se Concept of moderatio in Valerius Maximus’ Facta et dicta memorabilia 4.1, in: AClass 58 (2015), S. 191–208; Jörg Rüpke: Knowledge of Religion in Valerius Maximus’ Exempla. Roman Historiography and Tiberian Memory Culture, in: Memory in Ancient Rome and Early Christianity, hg. von Karl Galinsky, Oxford 2016, S. 89–111; auch Bloomer: Rhetoric und ders.: Valerius Maximus and the Idealized Republic. A Study in his Representation of Roman History, Diss. Yale Univ. 1987 (der zugleich am praktisch-rhetorischen Hauptzweck festhält; ähnlich Wiegand, S. 147–182), und früher bereits Jean-Marie André: L’otium chez Valère-Maxime et Velleius Paterculus ou La réaction morale au début du principat, in: REL 43 (1965), S. 294–315. Auch die Bewertung bestimmter historischer Akteure und sonstiger Einzelheiten wurde intensiv erforscht (D. Wardle: “Se Sainted Julius”. Valerius Maximus and the Dictator, in: CPh 92, 1997, S. 323–345, Valerius Maximus on the domus Augusta, Augustus and Tiberius, in: CQ 50, 2000, S. 479–493, Se Heroism and Heroisation of Tiberius. Valerius Maximus and his Emperor, in: Hommages à Carl Deroux. II. Prose et linguistique, Médecine, hg. von Pol Defosse, Brüssel 2002, S. 433– 440, Valerius Maximus and the End of the First Punic War, in: Latomus 64, 2005, S. 377–384, und Valerius Maximus on Alexander the Great, in: AClass 48, 2005, S. 141–161; Marcel Meulder: Une trifonctionnalité indo-européenne dans Valère Maxime, in: RIDA 46, 1999, S. 315–368; D. B. Saddington: ‘Honouring’ Tiberius on Inscriptions, and in Valerius Maximus. A Note, in: AClass 43, 2000, S. 166–172; Johannes
Das Kapitel als historisch-moralische Diskurseinheit
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Für uns entscheidend ist, dass die besprochenen Rezeptionsweisen notwendigerweise zu unterschiedlichen Wahrnehmungen der Werkstruktur führen. Während bei moralistischer Lektüre jedes Kapitel als eine Art Diatribe kohärent mit dem Engels: Die Exempla-Reihe De iure triumphandi. Römisch-republikanische Werte und Institutionen im frühkaiserzeitlichen Spiegel der Facta et dicta memorabilia des Valerius Maximus, in: Identità e valori. Fattori di aggregazione e fattori di crisi nell’esperienza politica antica. Bergamo, 16–18 dicembre 1998, hg. von Alberto Barzanò et al., Rom 2001, S. 139–169; Karen Haegemans/Karen Stoppie: Maximi animi rex. Alexander the Great through Valerius Maximus’ Eyes, in: Virtutis imago. Studies on the Conceptualisation and Transformation of an Ancient Ideal, hg. von Gert Partoens/Geert Roskam/Toon Van Houdt, Löwen/Namur 2004, S. 145–172; Santiago Montero: Mujeres extranjeras en la obra de Valerio Máximo, in: Gerión Anejos 8, 2004, S. 45–56; Sergio Audano: L’exemplum di Policrate in Valerio Massimo. Una lettura romana tra retorica e ideologia, in: Samo. Storia, letteratura, scienza. Atti delle giornate di studio. Ravenna, 14–16 novembre 2002, hg. von Eleonora Cavallini, Pisa 2004, S. 305–317, und Euripide e il suo pubblico. Percorsi di un exemplum tra Cicerone (Tusc. IV 29, 63) e Valerio Massimo (III 7, ext. 1), in: Studi offerti ad Alessandro Perutelli. Tomo I, hg. von P. Arduini et al., Rom 2008, S. 71–81; Andrea Perruccio: Note sulla moderatio di Scipione Emiliano in Valerio Massimo, in: A&R, n.s. 50, 2005, S. 49–66; Elena Torregaray Pagola: Realidad histórica y elaboración retórica en los exempla hispanos de Valerio Máximo, in: La cultura storica nei primi due secoli dell’impero romano. Milano, 3– 5 giugno 2004, hg. von Lucio Troiani/Giuseppe Zecchini, Rom 2005, S. 77–98; Fabian Goldbeck/Peter Franz Mittag: Der geregelte Triumph. Der republikanische Triumph bei Valerius Maximus und Aulus Gellius, in: Triplici invectus triumpho. Der römische Triumph in augusteischer Zeit, hg. von Helmut Krasser/Dennis Pausch/Ivana Petrovic, Stuttgart 2008, S. 55–74; Eva Valvo: La rappresentazione di Annibale in Valerio Massimo, in: Millennium 5, 2008, S. 37–55; Gowers; Diana Spencer: “You Should Never Meet Your Heroes…”. Growing Up with Alexander, the Valerius Maximus Way, in: Philip II and Alexander the Great. Father and Son, Lives and Afterlives, hg. von Elizabeth Carney/Daniel Ogden, Oxford 2010, S. 175–191; Nasta: Seyano und Presencia y función de Cartago en Facta et dicta memorabilia de Valerio Máximo, in: Stylos 25, 2016, S. 202–213; Jack Lennon: Dining and Obligation in Valerius Maximus. Se Case of the sacrae mensae, in: CQ 65, 2015, S. 719–731; S. J. Lawrence: Putting Torture (and Valerius Maximus) to the Test, in: CQ 66, 2016, S. 245–260, Valerius Maximus and the language of stars, in: Prophets and Profits. Ancient Divination and Its Reception, hg. von Richard Evans, London 2017, S. 106–113, und Vis and Seruitus. Se Dark Side of Republican Oratory in Valerius Maximus, in: Reading Republican Oratory. Reconstructions, Contexts, Receptions, hg. von Christa Gray et al., Oxford 2018, S. 95– 110; Atkinson; Martínez: Tal como eran; Jeffrey Murray: Catalina [sic; recte Catilina] redivivus. Valerius Maximus on Sejanus (9.11.ext.4), in: RhM 164, 2021, S. 78–86; mehrere Beiträge in Reading by Example, hg. von Murray/Wardle; und schon früher T. F. Carney: Se Picture of Marius in Valerius Maximus, in: RhM 105, 1962, S. 289– 337). Manche Forscher sind sogar wieder bereit, das Werk als eine Art Geschichtsschreibung zu betrachten (Eugen Cizek: Histoire et historiens à Rome dans l’Antiquité, Lyon 1995, S. 207; Paolo Desideri: Fatti e detti memorabili. Un progetto storiografico?, in: La cultura storica, hg. von Troiani/Zecchini, S. 61–75; Rüpke).
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Die Kapitel
Leser kommuniziert,1088 macht es der positivistische Zugang ebenso wie die Interpretation als Materialsammlung für Redner zu einem bloßen Behältnis, worin Einzelerzählungen zur punktuellen Verwendung aufbewahrt werden. Das nach dem eingangs aufgestellten Kriterium zu fällende Urteil zugunsten der moralistischen Lektüre wirkt sich also auch zugunsten der Auffassung der Kapitel als Diskurseinheiten aus – unabhängig davon, ob man den Bedeutungs- und Ansehensverlust des Valerius Maximus rein ideell (und gegebenenfalls stilistisch) erklärt oder annimmt, dass der sich aus der veränderten Strukturauffassung ergebende Verlust an Lesbarkeit auch selbst nicht unwesentlich zum Widerwillen gegen das Werk beigetragen habe.1089
1088
Dies gilt auch für die rezente ‚propagandistische‘ Interpretation, soweit deren Inhalte mit Kapitelthemen konvergieren – was auf Familien- und Geschlechterbeziehungen (wie z. B. bei Langlands: Gender und Lucarelli) eher zutrifft als auf das politische Geschichtsbild (wie bei Bloomer und Weileder oder in Valeurs et mémoire, hg. von David; Bloomer: Rhetoric, S. 255, urteilt sogar noch ausdrücklich, Valerius Maximus sei „not suited for continuous reading“). 1089 Dies ist eine naheliegende Vermutung, wenn auch mangels direkter Äußerungen der Rezipienten nicht beweisbar. Man findet immerhin Andeutungen wie die von Bernhardy, 1872, S. 727, der die thematische Kapitelgliederung eine Zerlegung des Stoffes nennt („Der gesamte Stoff ist unter Gemeinplätze der Moral und der historischen Erudition zerlegt“), also der Meinung ist, Valerius Maximus habe Kohärenz nicht geschaffen, sondern zerstört (unter dem unzerlegten Stoff soll man sich wohl die Geschichte als solche in ihrem chronologischen Ablauf vorstellen). Vgl. auch Arnaldo Momigliano: L’opera dell’imperatore Claudio [urspr. 1932], Sesto San Giovanni 2017, S. 20: „Valerio Massimo, il quale spezzettava la storia in tanti detti e fatti memorabili“.
Schlussbetrachtung. Valerius Maximus und das Potential der Anekdote Die vorliegende Untersuchung, die als beispielhafte narratologische Beschreibung – und vergleichende Einordnung – einer bestimmten Form von nicht-fiktionaler Kleinerzählung begann, hat sich in ihrem zweiten Teil einerseits zu einem Lehrstück über die Autonomie der Struktur – die gewissermaßen ihre eigene, vom Autor unabhängige ‚Intention‘ hat – und andererseits zu einer systematischen Widerlegung gegen Valerius Maximus gerichteter Vorurteile entwickelt. Weder wird man nach dem zur quasi-ovidischen Verknüpfungstechnik und der minutiösen Kapitelplanung Gesagten und Gezeigten die Facta et dicta noch für kunstlos halten können. Noch wird man nach den beiden Abschnitten über Kohärenz und diskursives Potential der Kapitel behaupten können, das Werk sei „not suited for continuous reading“,1090 oder aus der (zutreffenden) Beobachtung, dass es primär am Allgemeinmenschlichen interessiert ist, ableiten, dass es anti-narrativ sei.1091 Die beiden letzten Abschnitte widerlegen aber nicht nur das Urteil, Valerius Maximus sei unlesbar oder kein Erzähler, sondern ermöglichen auch neue, teils unerwartete Aussagen über die Textgattung Anekdote und deren metamorphotisches Potential (entgegen einem weiteren Vorurteil, das lautet, das Werk des Valerius Maximus sei wertlos für das Studium der Anekdote als Kunstform1092). Die bisherige Anekdotenforschung nimmt – mit wenigen Ausnahmen – als selbstverständlich an, was Paul Fleming in seinem Aufsatz über Linné und Blumenberg1093 explizit zum Ausdruck bringt: „anecdotes can only be collected, not
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So noch Bloomer: Rhetoric, S. 255. Bloomer: Idealized Republic, S. 3: „he works against narrative—stripping anecdotes from the historical surrounding, from all the patterns and details which give a particular event its individuality“ (der letzte Teil dieser Aussage trifft zwar so radikal ebenfalls nicht zu, spiegelt aber doch eine wichtige Erkenntnis wider: vgl. oben bei und in Fn. 950). 1092 So Haight, S. 178, in der lange Zeit einzigen altphilologischen Anekdotenmonographie („It may seem strange that I have not included Valerius Maximus’ collection of anecdotes in these essays. But his “repertory for speakers” is a mere assemblage of useful anecdotes related in the plainest style and arranged under various classifications. It is not valuable for one who is interested in analyzing the use of anecdotes as a form of art“). 1093 Vgl. oben Fn. 149. 1091
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Schlussbetrachtung
‘sewn’ together into a single story“.1094 Das Beispiel des Valerius Maximus zeigt jedoch, dass Anekdoten – und zwar auch solche aus ganz verschiedenen historischen Kontexten – durch typologisch passende Zusammenstellung zu größeren (episodischen) Erzählungen verbunden werden können. Die Anekdote erweist sich damit als unerwartet eigenständig; kohärente Kontextualisierung setzt nicht zwingend ihre Unterordnung unter nichtanekdotisches Material voraus, sondern Anekdoten sind geeignet, Kohärenz aus sich selbst heraus zu schaffen. Welche Auswirkungen diese Art des Anekdotengebrauchs auf die in der Forschungsliteratur dargestellten typischen ideellen Eigenschaften der Anekdote hat – wie sich also die Erzählungen des Valerius Maximus unter diesen Gesichtspunkten1095 zur Anekdote in anderen Anwendungskontexten (wie Biographie, Philosophie und Essayistik, Kunsttheorie etc.) verhalten –, soll im Folgenden skizziert werden.1096 (1) Eine der Kernaussagen der Anekdotenforschung ist, dass die Anekdote der Mündlichkeit nahesteht und performance-Charakter hat (sei es im Rahmen eines Texts oder eines tatsächlichen mündlichen Sprechanlasses).1097 Dies bestätigt sich bei Valerius Maximus nicht nur in der strukturellen Ähnlichkeit mit den von Labov 1094
Fleming, S. 74. In die Gegenrichtung gehen am ehesten Novalis, S. 356, der „Geschichte in gewöhnlicher Form“ für „eine zusammengeschweißte – oder in einander zu einem Continuo geflossne Reihe von Anecdoten“ hält, und Pausch (Biographie, S. 191– 206, und Demosthenes), der verstreute Demosthenes-Anekdoten bei Gellius als ‚serielle Biographie‘ liest. Bei Murphy, S. 3781, der die Viten Suetons einen ‚cento of anecdotes‘ nennt, und Emanuele Coccia: L’anecdote sacrée. Les anecdotes dans les Évangiles, in: Anecdotes philosophiques, hg. von Lecercle/Navaud, S. 71–86, der sich ähnlich über die Evangelien äußert, bleibt offen, ob sie das Ergebnis der Anekdotenverbindung für eine kohärente Erzählung halten. Sonst ist auch in Arbeiten zur Biographie üblicherweise nur davon die Rede, dass sie Anekdoten ‚verwendet‘ oder ‚enthält‘. Grandl: ‚Affordanz‘, S. 203, bezeichnet Hans Blumenbergs kommentierte Anekdotenzusammenstellungen Glossen zu Anekdoten, in: Akzente 30 (1983), S. 28–41, Verfehlungen. Glossen zu Anekdoten, in: Akzente 31 (1984), S. 390–396, und Nächtlicher Anstand. Glossen zu Anekdoten, in: Akzente 35 (1988), S. 42–55, in einem übertragenen Sinn als „größere, eigenständige Narrative“, ihre Kohärenz ist aber eindeutig eine diskursive und nicht diegetische (auch wenn zwei Anekdoten in Verfehlungen, S. 391–393, durch die Überschriften In Rom und In Rom, etwas später spielerisch als Fortsetzungsgeschichte ausgegeben werden; siehe zu Blumenbergs Anekdotik auch unten Fn. 1104 und bei Fn. 1145). 1095 Zu den formalen Aspekten siehe oben S. 195–219 (Vergleich mit Apophthegmata und Exempla sowie Anekdoten bei Livius und in Sammlungen). 1096 Ich stütze mich dabei vor allem auf den Tagungsband Wissen en miniature, hg. von Grandl/Möller, der breit gefächerte Beiträge von Autoren unterschiedlicher Fachrichtungen enthält und als repräsentativ für den aktuellen Stand der Anekdotendebatte gelten kann. Ergänzend werden mehrere andere Tagungsbände und Einzelaufsätze – großteils aus den letzten zehn Jahren – herangezogen. Hingewiesen sei auch auf Grandl: Ciceroniana, der einige der hier angesprochenen Aspekte vertiefend behandelt. 1097 Rohmer, Sp. 567; Schlaffer, S. 87; Goldhill; Möller/Grandl, S. 3 und 16.
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und Waletzky untersuchten mündlichen Kurzerzählungen (die deutlich stärker ausgeprägt ist als in den Anekdotensammlungen Plutarchs und Aelians1098), sondern auch in der Kombination von konsequenter Verkettung und starker Erzählerpräsenz, die dem Werk die Gestalt einer großen Erzählsitzung – vergleichbar mit dem Auftritt eines mündlichen Geschichtenerzählers (sowie mit Ovids Metamorphosen1099) – verleiht.1100 Die Beziehung zur Mündlichkeit wird also von der Verwandlung der Anekdoten in Episoden nicht beeinträchtigt, sondern dank der von Valerius Maximus gewählten Formgebung des Werkganzen sogar inniger. (2) Als mindestens ambivalent gilt das Verhältnis der Anekdote zu Wahrheit und Wissenschaft.1101 Jenseits bloßer Ungenauigkeit oder Sorglosigkeit bei der Verarbeitung der historischen Fakten – die bekanntlich gerade Valerius Maximus emphatisch vorgeworfen wurde1102 – geht es dabei auch um die Grundsatzfrage nach dem eigentlichen [ema oder Bezugsobjekt der Anekdote. Zwar können Anekdoten sehr wohl der Vermittlung konkreten Wissens dienen,1103 doch drängt sich der Verdacht auf, dass – selbst abgesehen von der Möglichkeit der ideologisch-propagandistischen Nutzung – in vielen Fällen etwas anderes im Mittelpunkt des Interesses steht. Einerseits kann es nach Art eines effet de réel mehr um die ‚Ereignishaftigkeit‘ als solche denn um die konkreten Inhalte gehen.1104 Die Anekdote bedient dann 1098
Siehe oben S. 213–219; auch die auf S. 200–212 verglichenen Cicero- und Liviusstellen weichen stärker ab, v. a. durch das Fehlen des Abstracts (das wiederum als Episodenanfang bei Historikern vorkommt: oben S. 193 und bei Fn. 440f.). 1099 Vgl. Wheeler: Wonders. 1100 Siehe oben S. 328–332. Mit einem ähnlichen Vergleich (‚Tischgespräch‘) argumentiert Beer, bes. S. 62–79, für Kohärenz und lineare Lesbarkeit von Gellius’ Noctes Atticae. 1101 Lecercle/Navaud, S. 14; Florian Sedlmeier/MaryAnn Snyder-Körber: Introduction, in: Anecdotal Modernity. Making and Unmaking History, hg. von James Dorson et al., Berlin 2020, S. 1–30, hier 25; Möller/Grandl, S. 3 und 5. 1102 Siehe oben bei und in Fn. 1080. 1103 Dies lässt sich u. a. (trotz oder neben Typisierungstendenzen) an fachbezogenen Anekdoten über Künstler und Gelehrte demonstrieren; vgl. Becker-Sawatzky zu kunsttheoretischen und Möller: Am Anfang war … die Kloake zu philologiegeschichtlichen. Im 17. und 18. Jhd. neigte man sogar dazu, Anekdoten zu Gliedern historischer Kausalketten zu machen, ungefähr im Sinne des sogenannten Schmetterlingseffekts oder von Pascals ‚Nase der Kleopatra‘ (Pensées, Nr. 392 = Œuvres complètes II, hg. von Michel Le Guern, Paris 2000, S. 675); dazu Malina Stefanovska: Exemplary or Singular? Se Anecdote in Historical Narrative, in: SubStance 118 = 38.1 (2009), S. 16–30, hier 19–21. 1104 Möller/Grandl, S. 8f. und 14, hier besonders bezogen auf Ernst Bloch und Hans Blumenberg. Beide Philosophen sammeln, kommentieren und transformieren Anekdoten, in einem Fall auch Fabeln (Ernst Bloch: Spuren, Frankfurt a. M. 1969; Blumenberg wie oben Fn. 1094 sowie Wolf und Lamm. Vier Glossen zur Fabel, in: Akzente 30, 1983, S. 389–392, und Die Sorge geht über den Fluß; einen Beitrag zu jeorie und Geschichte der Anekdote leistet ders.: Das Lachen der Srakerin. Eine Urgeschichte der Seorie, Frankfurt a. M. 1987). Siehe zu Blumenbergs Anekdotik ausführlicher Weber,
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ein inneres Bedürfnis der Leser, Zeugen von Ereignissen zu sein, und ihre ‚Wahrheit‘ liegt in ihrer plastisch-szenischen Effektivität.1105 Auch dem Mythos nähert sie sich auf diese Weise an.1106 Die von ihr vermittelte ‚Erkenntnis‘ ist eine literarisch-poetische und weder verallgemeinerbar noch für moralische Belehrung zu gebrauchen.1107 Andererseits kann die Anekdote gerade auf das Allgemeine zielen. Die konkreten Personen und Ereignisse (selbst berühmte) können Typen repräsentieren.1108 Der Verzicht auf einen strengen Faktizitätsanspruch kann sogar von Vorteil sein für die angestrebte Darstellung des allgemeinmenschlich Möglichen.1109 Durch den Beitrag der Anekdote kann sich der sie umgebende Text – etwa eine S. 196–214, Fleming (vgl. oben Fn. 149; im selben Sinne Rüdiger Zill: Minima historia. Die Anekdote als philosophische Form, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 8.3, Herbst 2014, S. 33–46, hier 43–46), Grandl: ‚Affordanz‘ (dort auch noch, S. 211–214, zu ähnlichen Strukturen in der Sprichwortanthologie von Leonardo Sciascia: Occhio di capra, Mailand 1990; vgl. unten bei Fn. 1145f.) und Hertfelder sowie Rüdiger Zill: Anekdote, in: Blumenberg lesen. Ein Glossar, hg. von Robert Buch/Daniel Weidner, Berlin 2014, S. 26–42. Zu Anekdoten als effets de réel vgl. auch Fineman, S. 61, und Grandl: „(Nicht) auf den Mund gefallen“, S. 4–7 (präzis-authentische Apophthegmata bei Sueton), zum von Roland Barthes geprägten Begriff oben bei Fn. 268. 1105 Jürgen Paul Schwindt: Was weiß die Anekdote – und wie? Grundlinien einer Seorie der Lücke (nach Sueton), in: Wissen en miniature, hg. von Grandl/Möller, S. 31–37, hier 34f. Vgl. auch Stefanovska, S. 19, für das 17. Jhd. („voyeuristic pleasures“) und A. von Gleichen-Rußwurm: Weltgeschichte in Anekdoten und Querschnitten. Ein Versuch, Berlin 1929, S. 574 („zu allen großen Erlebnissen gehören kleine persönliche Erlebnisse, gehört ein ‚Ich‘, und die Welt der Historie wird nahegerückt durch dieses Miterleben“). 1106 Möller/Grandl, S. 14. Vgl. umgekehrt unten Fn. 1163 zur Anekdotisierung des Mythos. 1107 Schwindt, S. 35. 1108 Hentschel, S. 156–158; Möller/Grandl, S. 4, 8, 14f.; für Künstleranekdoten schon Ernst Kris/Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch [urspr. 1934], Frankfurt a. M. 1979 (vgl. auch Jean-Yves Vialleton: Les anecdotes sur le comédien classique. Pour une approche comparative, in: Anecdotes dramatiques, hg. von Lecercle/Marchand/Schweitzer, S. 53–64, zu Schauspieleranekdoten und Martínez: Tal como eran, S. 101, zu Anekdoten über Schriftsteller, u. a. bei Valerius Maximus; zur Rolle der Anekdote in Kunstdiskursen siehe neben Anecdotes dramatiques auch La théorie subreptice, hg. von Hénin/Lecercle/Wajeman, Anekdote – Biographie – Kanon, hg. von Unseld/Zimmermann, und Becker-Sawatzky; ähnlich Histoires et Savoirs. Anecdotes scientifiques et sérendipité aux XVIe et XVIIe siècles, hg. von Frédérique AïtTouati/Anne Duprat, Bern 2012, für die Naturwissenschaft). 1109 Godart, S. 126f. (bezogen auf Montaigne), und Schwindt, S. 33f., der sogar eine – an Carl Gustav Jungs Archetypenlehre (vgl. Die Archetypen und das kollektive Unbewußte [urspr. Aufsätze und Buchbeiträge, 1934–55], Ostfildern 2011) erinnernde – Verbindung zum ‚kollektiven Vorbewusstsein‘ herstellt, dessen unwiderlegliches ‚Lebenswissen‘ sich in der Anekdote äußere. Dass die Anekdotik ‚la vita in generale, il generico dramma umano‘ darstelle, sagte schon Croce, S. 118.
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Biographie – zu einer alternativen Geschichtsschreibung entwickeln, die statt von kontingenten Fakten von ‚inneren Wahrheiten‘ handelt.1110 Die Erzählungen des Valerius Maximus entsprechen eindeutig dieser zweiten Kategorie. Sie sind weder um die Vermittlung von Faktenwissen um seiner selbst willen noch in besonderem Maße um den effet de réel (d. h. um Mimetizität) bemüht.1111 Ihre Ausrichtung auf das Allgemeinmenschliche ist bereits früher beobachtet1112 und ihre – hier gerade durch die Zusammenstellung der Anekdoten entstehende – Typologizität oben ebenso eingehend demonstriert worden wie die Neigung der Rezipienten, in ihnen ‚innere Wahrheiten‘ moralischer Art zu finden. Aus Anekdoten wird also auch bei Valerius Maximus eine alternative Geschichtsschreibung – die nicht Geschichtswissenschaft ist, in vergangenen Jahrhunderten aber teils sehr wohl als legitime Form der Geschichtsschreibung anerkannt wurde.1113 Anders als in der Biographik, wo die abstrahierende Gegengeschichtsschreibung ein Aspekt neben anderen bleibt,1114 wird sie bei Valerius Maximus zum tragenden Prinzip eines ganzen Werks, das zugleich (wenigstens für die Antike) als das Hauptwerk dieser Gattung gelten kann.1115 (3) Immer wieder wird konstatiert, dass die Anekdote subversiv sei, zweifelnde Nachdenklichkeit fördere oder der Skepsis nahestehe.1116 Dies lässt sich in der Tat 1110
Möller/Grandl, S. 5 und 18, nach Unseld/Zimmermann, S. x–xii (‚innere Wahrheit der Charaktere‘ in Anekdote und Biographie), sowie schon Burckhardt: Kulturgeschichte, Bd. III, S. 396f. (vgl. Weber, S. 130–143, zu Burckhardts eigener anekdotischer Geschichtsschreibung). Davon zu unterscheiden ist ‚Gegengeschichtsschreibung‘ im politisch-gesellschaftlich subversiven Sinne – für die die Anekdote ebenfalls verwendet werden kann (siehe etwa Gossman, S. 152). 1111 Siehe oben S. 123–130. 1112 Siehe oben Fn. 950; außerdem bei Bolaffi, S. 341, in einem Zitat ohne Zuschreibung. 1113 Siehe mehrere der oben S. 334–343 zitierten Autoren des 14.–16. Jhds., am deutlichsten Glareanus und Pighius (oben bei Fn. 1061f.). 1114 Wie wir sahen, konkurriert sie mit einer anderen Gegengeschichtsschreibung – der singulär-plastischen, die Schwindt ausgehend von Sueton beschreibt –, und natürlich bleibt auch das Leserinteresse an der ereignisgeschichtlichen Information über den Protagonisten stets präsent (meist wohl sogar der Hauptgrund der Lektüre). 1115 Vgl. oben S. 323–328 zu ähnlichen Werken (sowie unten S. 365f. zu möglichen verlorenen Vorgängern). Als abstrahierendes Geschichtswerk sind Frontins Strategemata vergleichbar, als ethisch-abstrahierendes Erzählwerk auch jeophrasts Ἠθικοὶ χαρακτῆρες, die aber nichts Historisches an sich haben. Bei Laktanz verbinden sich ähnlich wie in der Biographik Gegen- und herkömmliche Geschichtsschreibung. 1116 Lecercle/Navaud, S. 12 und 17; Sophie Marchand: Le sens de l’anecdote, in: Anecdotes dramatiques, hg. von Lecercle/Marchand/Schweitzer, S. 27–40, hier 32–37; Möller/ Grandl, S. 4f. und 8–10; Grandl: ‚Affordanz‘, S. 206–208; Verena Olejniczak Lobsien: Andrew Marvell, oder die Kunst des Schwebens, in: Wissen en miniature, hg. von Grandl/Möller, S. 131–144, hier 131–133. Godart, S. 127, spricht von ‚Geschichtsverflüssigung‘ (nach Andreas Urs Sommer: Triumph der Episode über die Universalhistorie? Pierre Bayles Geschichtsverflüssigungen, in: Saeculum 52, 2001, S. 1–39, der den
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Schlussbetrachtung
bei verschiedensten Autoren nachweisen, z. B. bei Cicero, der eine Anekdote über Zenons Veranschaulichung stoischer Lehre gegen seinen stoischen Gesprächspartner wendet1117 und in De divinatione auf die Anekdoten des ersten Buchs ein zweites mit Gegenanekdoten (oder umgewerteten Versionen derselben Anekdoten) folgen lässt,1118 aber auch bei Johannes von Salisbury,1119 Montaigne1120 und dem politischen Dichter Andrew Marvell (17. Jhd.).1121 Bei Valerius Maximus scheint demgegenüber eher eine Politik der Eindeutigkeit zu herrschen. Jede Anekdote ist Teil eines thematischen Kapitels, das – ganz wie beim Exemplum1122 – den Gesichtspunkt, unter dem man sie betrachten soll, vorgibt. Die typologische Episodisierung verhindert zudem jeden Zweifel an der Wiederhol- und Verallgemeinerbarkeit der erzählten Ereignisse.1123 In den meisten Fällen wird auch bereits auf Kapitelebene eine moralische Wertung vorgegeben. Es gibt aber Ausnahmen, z. B. Libere dicta aut facta (6,2) und De necessitate (7,6), wo nur einzeln gewertet wird, weil die Kapitel moralisch heterogen sind.1124 Auch die Andeutung von moralischer Ambivalenz konkreter Begriff auf Pierre Bayle anwendet, darin aber zugleich – die Anekdote mit dem Exemplum gleichsetzend – eine Abkehr vom Anekdotischen zu erkennen meint; vgl. auch oben bei Fn. 1071 zu Bayle als Kritiker des Valerius Maximus). 1117 Tobias Reinhardt: Zenons Hand (Cicero, Lucullus §§ 144–6), in: Wissen en miniature, hg. von Grandl/Möller, S. 41–50. 1118 Grandl: ‚Affordanz‘, mit der Feststellung, dass Anekdoten die einzig wirksame Antwort auf Anekdoten sind – rationale Argumentation würde ins Leere laufen (S. 220). 1119 Christophe Grellard: Doxographie et anecdotes. L’écriture sceptique de Jean de Salisbury, in: Anecdotes philosophiques, hg. von Lecercle/Navaud, S. 87–104. 1120 Conley und Godart. 1121 Olejniczak Lobsien. 1122 Gemeint ist das Exemplum in seiner konkreten Anwendung. Natürlich kann dasselbe Material (z. B. eine Anekdote) oft zu Exempla für verschiedene oder gar gegensätzliche Dinge verarbeitet werden; siehe dazu u. a. Chaplin sowie Langlands: Exemplary Ethics, S. 141–165. 1123 Vgl. Olejniczak Lobsien, S. 131, die urteilt, dass vor allem die Kontingenz und Unwiederholbarkeit der in Anekdoten erzählten ‚singulären Ereignisse‘ der Skepsis die Tür öffne. 1124 Auf die Ambivalenz der libertas wird explizit hingewiesen; siehe oben Fn. 934. In 7,6 bildet ungewöhnlicherweise die Ausgangssituation das Kapitelthema; die verschiedenen aus Not begangenen Handlungen werden teils gerechtfertigt, teils verurteilt, teils gar nicht bewertet. Vgl. auch Langlands: Severitas und Situation Ethics, die u. a. an diesem Kapitel die Situationsbedingtheit römischer Ethik demonstriert, sowie Tanja Itgenshorst: Au-delà d’une fabrique de la norme. L’œuvre de Valère Maxime, in: La norme sous la République et le Haut-Empire romains. Élaboration, diffusion et contournements, hg. von ders./Philippe Le Doze, Bordeaux 2017, S. 517–531, hier 525f., zum mit 6,2 vergleichbaren Kapitel Vafre dicta aut facta (7,3); weniger überzeugend ist die von George Baroud: Amicitia and the Politics of Friendship in Valerius Maximus, in: Reading by Example, hg. von Murray/Wardle, S. 197–232, vorgeschlagene problematisierende Lektüre von 4,7.
Valerius Maximus und das Potential der Anekdote
359
Anekdoten kommt vor, so z. B. in 6,3,5: hoc aliquis in fine seueritatis et saeuitiae ponendum dixerit – disputatione enim utroque flecti potest.1125 Derartige Subversion kann man als Leser natürlich noch in viel größerem Ausmaß betreiben, dazu eingeladen wird man aber im Großen und Ganzen nicht. Die Werkstruktur – in Verbindung mit der Präsenz von Evaluationen, die die Kapitelzugehörigkeit der Anekdoten bekräftigen sollen1126 – ist vielmehr darauf angelegt, diese Seite des anekdotischen Potentials ungenutzt zu lassen. (4) Die Anekdote ist ein Medium der Selektion und Neukontextualisierung von Wissen.1127 Der Grad der Integration des ausgewählten, von seinem Ursprungskontext abgelösten Wissens in seine neue Umgebung variiert allerdings – die Anekdote kann gerade ihres Ausnahmecharakters wegen inkludiert werden und darum einer Verbindung mit anderem Wissen widerstreben,1128 sie kann aber auch die Funktion haben, neues Wissen in bekannte Deutungsmuster einzuordnen (so z. B. in Marco Polos Divisament dou monde).1129 Auch bei Valerius Maximus finden selbstverständlich Selektion und Neukontextualisierung statt1130 – insoweit (‚stripping anecdotes from the historical surrounding‘) trifft auch die oben kritisierte Aussage von W. Martin Bloomer zu.1131 1125
Im nächsten Satz wird die Zuordnung zur positiv gewerteten seueritas gleich wieder bekräftigt: ceterum ratio publici imperii praetorem nimis asperum existimari non patitur. Mit anderen Fällen (auch subtileren wie der Gegenüberstellung von Strenge und Milde gegenüber Kindern in 5,8–9) befasst sich Langlands: Severitas, die das Phänomen aber wohl etwas zu stark verallgemeinert. Nicht relevant sind dagegen die wenigen Stellen im Werk, wo Ironie erkennbar ist, denn diese wirkt emphatisch statt subversiv; siehe oben Fn. 406 sowie Wardle: Triumphs, S. 237 (insgesamt vier Stellen, drei davon klare Abwertungen: in 7,6,4 des – auch explizit verurteilten – Bürgerkriegs, zu dem die ironisch gelobte Maßnahme gehört, in 2,1,2 und 2,8,5 der angedeuteten Gegenbeispiele zum positiven Hauptinhalt; in 4,4,4 erkenne ich – sogleich aufgeklärte – Ironie nur in der Vokabel praediuites, nicht in der – ebenfalls gleich beantworteten – rhetorischen Frage als solcher). 1126 Vgl. oben S. 170. 1127 Lecercle, S. 11; Lecercle/Navaud, S. 11; Zill: Minima historia, S. 42f.; Möller/Grandl, S. 3 und 17f.; zur Selektivität auch Grandl: „(Nicht) auf den Mund gefallen“. 1128 Schwindt, S. 33. 1129 Quenstedt, S. 102f. Ein verwandtes Phänomen ist auch die Wanderanekdote, die auf verschiedene Künstler oder Philosophen übertragen wird und diese damit in eine Traditionslinie einordnet (vgl. Emmanuelle Hénin: Reflexions liminaires. L’invention des anecdotes dans la théorie de l’art. De la variation au détournement, in: La théorie subreptice, hg. von Hénin/Lecercle/Wajeman, S. 19–36, hier 27f., und Lecercle/Navaud, S. 11; auch Blumenberg: Srakerin und Olivier Renaut: Salès dans un puits. Quel lieu pour la philosophie?, in: Anecdotes philosophiques, hg. von Lecercle/Navaud, S. 19–31, zur Übertragung aus der Anonymität auf einen konkreten Philosophen; generell oben Fn. 1108 zu typischen Anekdoten). 1130 Zum konkreten Ablauf dieses Prozesses siehe oben S. 295–306. 1131 Bloomer: Idealized Republic, S. 3; vgl. oben bei Fn. 1091.
360
Schlussbetrachtung
Die Integration der Anekdoten in ihren neuen Kontext ist durch den typologischen Charakter der dabei entstehenden Erzählungen ungewöhnlich stark. Sie sind dort – was ihre Handlung angeht – weniger kontingent als sie im Kontext einer Biographie oder gar einer chronologischen Geschichtserzählung wären (was der Gewohnheit zuwiderläuft, die Chronologie für die einzig angemessene Darstellungsform historischer Inhalte und das Vorgehen des Valerius Maximus für eine ‚Zerlegung‘ zu halten1132). Kulturelle Integration von der bei Marco Polo beobachteten Art hat – natürlich in geringerem Ausmaß – ebenfalls ihren Platz im Werk des Valerius Maximus. Die Anekdoten der ‚externen‘ Teile entstammen zwar mehrheitlich der den Römern ohnehin verwandten und vertrauten griechischen Kultur, daneben aber auch von exotischeren Völkern.1133 Eine ähnliche Integrationsleistung wird zudem im Fall von Anekdoten aus weniger bekannten – oder über prima facie ungewöhnliche Bräuche verfügenden1134 – Orten innerhalb des griechisch-römischen Kulturraums und solchen über andere Personengruppen als die das Werk dominierende römische Elite1135 erbracht. (5) Damit ist bereits ausgesprochen, dass sich die Anekdote auch unter soziologischen Gesichtspunkten betrachten lässt. Sie wendet sich an die Gemeinschaft derer, die die zu ihrem Verständnis nötigen Voraussetzungen teilen, und kann zugleich selbst zur Konsolidierung von Gemeinschaften beitragen,1136 sei es durch Vermittlung philosophischen Sonderwissens oder durch Markierung gewisser Protagonisten als Außenseiter.1137 Als Folge interpretatorischer Unabgeschlossenheit kann sie ihrerseits der Formung durch die sie rezipierende Gemeinschaft unterliegen.1138 Im Fall des Valerius Maximus lässt sich die ursprüngliche Adressatengemeinschaft kaum näher eingrenzen als auf die einigermaßen gebildeten lateinischsprachigen Zeitgenossen.1139 Die Unterscheidung von in-group und out-group wird recht konsequent im Sinne der römischen Elite durchgeführt.1140 In philosophischer und ideologischer Hinsicht ist das Werk hingegen alles andere als esoterisch
1132
Vgl. oben Fn. 1089 und auch schon manche Urteile aus der Renaissance (am deutlichsten Beraldus und Viperano oben bei Fn. 1060–1063). 1133 Vgl. oben S. 272f. und Fn. 831. 1134 Vgl. oben S. 240 und bei Fn. 772 zu Massilia und Keos in 2,6,7e–8. 1135 Vgl. oben S. 287f.; auch Sedlmeier/Snyder-Körber, S. 20, zur Überwindung sozialer Unterschiede durch die Anekdote im 18. Jhd. 1136 Möller/Grandl, S. 10–12. 1137 Ebd., S. 11f. und 15. 1138 Ebd., S. 12. 1139 Siehe oben bei und in Fn. 304. 1140 Siehe oben S. 287f. (und wiederum Fn. 304 zur Unabhängigkeit dieser Frage von der der – intendierten oder gar faktischen – Leserschaft).
Valerius Maximus und das Potential der Anekdote
361
– von der einschlägigen Forschung wird es gemeinhin als mehr oder weniger repräsentativ für den Zeitgeist aufgefasst.1141 In allen diesen Punkten fallen die einzelne Anekdote und das einzelne Kapitel mit dem Werkganzen zusammen. Zu einem interessanteren Ergebnis führt die Frage der Bedingtheit durch die rezipierende Gemeinschaft, die nämlich auf die Einheiten, zu denen die Anekdoten verbunden werden, in direkterer Weise zutrifft als auf die Anekdoten selbst. Während die intendierte ethische Tendenz der einzelnen Anekdote nur selten zweifelhaft ist,1142 haben unterschiedliche – freilich hauptsächlich chronologisch statt soziologisch definierte – Rezipientenkreise den Sinn der Kapitel und des Gesamtwerks höchst unterschiedlich aufgefasst, was sekundär dann auch auf den Sinn (oder eigentlich den Sinn des Sinns) der Anekdoten zurückwirkt. Man ist uneins nicht über die moralische Positivität oder Negativität der Anekdote, sondern darüber, ob man diese au premier degré zu nehmen hat (moralistische Werklektüre) oder als opportunistisch einsetzbares Werkzeug (Exemplasammlung für Redner) oder einfach als nutzlose Zugabe. (6) Das letzte hier zu besprechende – und, wie bereits eingangs angedeutet, im Zusammenhang mit Valerius Maximus wichtigste – Potential der Anekdote ist das der Metamorphose in andere Textsorten.1143 Dieses ist insbesondere von Matthias Grandl bereits konstatiert und als Teil der affordance der Anekdote, d. h. als in ihr (unabhängig von der Intention des Quellenautors) angelegtes Angebot, beschrieben worden.1144 So kann die Anekdote, 1141
Siehe die oben in Fn. 1087 zitierte Literatur. Lawrence: Dead on Time und David Wardle: Valerius Maximus (9.2.ext.11) – Questioning Nature?, in: RhM 161 (2018), S. 22–28, ordnen das Werk auf Grund gewisser ethischer und naturphilosophischer Ideen der Stoa zu, also der populärsten philosophischen Strömung der Zeit; siehe auch noch oben S. 38–40 sowie Fn. 107 und 109f. zu möglichen stoischen, stoisch-platonischen und aristotelischen Zügen, Fn. 982, 995 und 1002 zu verlorenen peripatetischen Werken mit möglicherweise ähnlicher Grundidee. 1142 Siehe oben bei Fn. 1125. 1143 Zu einem gegenläufigen Phänomen – der Verwandlung einer Fabel in eine Anekdote – vgl. Blumenberg: Srakerin, Lecercle/Navaud, S. 12, und Renaut. Auch manche Mythen erweisen sich, durch Übertragung (vgl. Camilla Bork: Zwischen Literarisierung und Reklame. Paganini im Spiegel der Anekdote, in: Anekdote – Biographie – Kanon, hg. von Unseld/Zimmermann, S. 105–123, hier 112–120, zu Pan und Paganini) oder rationalisierende Uminterpretation (vgl. Paul Veyne: Les Grecs ont-ils cru à leurs mythes? Essai sur l’imagination constituante, Paris 1983, S. 78, zu Palaiphatos) des spezifisch Mythischen entkleidet, als Anekdoten. 1144 Grandl: ‚Affordanz‘, bes. S. 209–211 und 223, der den Begriff der affordance aus den wahrnehmungspsychologischen Studien von James J. Gibson: Se Seory of Affordances, in: Perceiving, Acting, and Knowing. Toward an Ecological Psychology, hg. von Robert Shaw/John Bransford, Hillsdale, N.J. 1977, S. 67–82, und Se Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979, entlehnt (er bezeichnet das, was eine Umgebung bietet – ‚what the environment affords the animal‘ –, z. B. Halt, Begehbarkeit usw.). Die Anekdote selbst ist für ihn ein ‚Akteur‘, der seine Rezeption mitbestimmt;
362
Schlussbetrachtung
von Hans Blumenberg gesammelt, mit dem ihr gewidmeten Kommentar verschmelzen, indem sie diesem ihre Eigenschaften (ihren Stil und ihre Tendenz zur Nachdenklichkeit) überträgt.1145 Bei Leonardo Sciascia werden – in doppelter Metamorphose – zunächst Anekdoten zu Sprichwörtern, deren Kommentierung sich schließlich wiederum der Anekdote angleicht (bis hin zu quasi-apophthegmatischen Schlusspointen).1146 Die Texte, in die sich die Anekdoten bei Valerius Maximus verwandeln, sind oben zum einen als typologisch-episodische Erzählungen und zum anderen als historisch-moralische Diskurseinheiten charakterisiert worden. Von diesen beiden Begriffen ist es der erste, der die eigentliche gattungstechnische Metamorphose ausdrückt – die episodische Erzählung wahrt zwar manche anekdotentypischen Eigenschaften, ist aber selbst natürlich keine Anekdote mehr, da sie statt eines einzelnen Vorfalls eine Reihe aus mehreren (zwar typologisch übereinstimmenden, aber doch individualisierten1147) zum Inhalt hat. Der zweite scheint eine Verwandtschaft mit einer weiteren Textgruppe, dem Exemplum, nahezulegen. Dass der Exemplumsbegriff, wie ihn die antike Rhetoriktheorie definiert, auf die Anekdoten des Valerius Maximus – im Werkkontext betrachtet – kaum anwendbar ist, wurde bereits gesagt.1148 Ihre ethische Wirkung stimmt aber dennoch mit der Zielsetzung vieler Exempla überein, und zwar unabhängig davon, ob man diese Wirkung individuell oder gesellschaftlich akzentuiert – was ja beides für Valerius Maximus vorgeschlagen wurde.1149 Auch das historische Material entspricht mindestens in weiten Teilen unstrittig dem klassischen römischen Exemplaschatz. Darüber, wie verbreitet diese Art von Geschichtsinteresse in der frühen Prinzipatszeit war, gibt es verschiedene Ansichten.1150 Die Frage, inwieweit Valerius so Grandl: ‚Affordanz‘, S. 208, in Anlehnung an Blumenberg: Srakerin und – für den Begriff des (nichtmenschlichen) Akteurs – Bruno Latour: On actor-network theory. A few clarifications, in: Soziale Welt 47 (1996), S. 369–381. 1145 Grandl: ‚Affordanz‘, S. 205f. und 209, zu Glossen, Verfehlungen und Nächtlicher Anstand (siehe auch oben Fn. 1104). 1146 Ebd., S. 213, zu Occhio di capra. 1147 Im Gegensatz zum iterativen Inhalt der in dieser Arbeit unter die Anekdoten gerechneten ‚habituellen Erzählungen‘ (oben S. 116–119). 1148 Siehe oben S. 50f. Eine exemplarische Weiterverarbeitung durch den Leser (etwa einen Redner) bleibt selbstverständlich möglich – auch wenn man darin nicht den Hauptzweck des Werks sieht –, da Exemplarität nichts Inhärentes ist (oben Fn. 149). Vor allem im Mittelalter war die Gewinnung von Exempla für Predigten ein Hauptzweck der Valerius-Maximus-Rezeption (oben Fn. 1029). 1149 Siehe die oben Fn. 1086f. zitierte Literatur. Neben den hier angesprochenen moralphilosophischen und ideologischen Exempla gibt es natürlich auch noch andere, da grundsätzlich jede beliebige Aussage exemplifiziert werden kann (vgl. die Definitionen oben S. 42f.). 1150 Vgl. einerseits Karl Alewell: Über das rhetorische παράδειγμα. Seorie, Beispielsammlungen, Verwendung in der römischen Literatur der Kaiserzeit, Diss. Kiel 1913, der
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363
Maximus selbst sein Werk als lehrhaft intendierte und/oder das zeitgenössische Publikum es so wahrnahm, kann hier zwar nicht mit Sicherheit beantwortet werden.1151 Zumindest prima facie scheint es aber doch gegen die [ese zu sprechen, die Geschichte sei im Prinzipat nicht mehr praktisch verwertbar gewesen.1152 Wenn man nun – als letzten Baustein dieser Betrachtungen – die bisher im Vordergrund stehende ‚zeitlose‘ Morphologie zu einer Formen- oder Gattungsgeschichte weiterentwickeln möchte, so stößt man einerseits auf das Hindernis der unzureichenden Überlieferung mit Valerius Maximus vergleichbarer Vorgängerwerke. Andererseits lässt sich unter Abstrahierung von der Frage der individuellen Originalität doch sagen, dass die Facta et dicta einen wichtigen Moment in der Geschichte der historischen Anekdotik repräsentieren, der in anderen Bereichen der antiken Literaturgeschichte seine – berühmteren – Parallelen hat. Über Herodot, den ‚Vater der Geschichtsschreibung‘, heißt es, seine ‚presentation of events and actions as a meaningful whole‘ sei eine – von Homer inspirierte – Neuerung gegenüber dem ‚succinct reporting of information‘ bei Historikern der älteren Schule wie Hekataios und noch Hellanikos.1153 einen umfangreichen Exemplagebrauch bei diversen Autoren bis ins frühe 2. Jhd. diagnostiziert, Chaplin zur Exemplarität bei Livius (dort, S. 169–196, auch zur augusteischen Zeit generell; u. a. Suet. Aug. 89,2: In euoluendis utriusque linguae auctoribus nihil aeque sectabatur quam praecepta et exempla publice uel priuatim salubria, eaque ad uerbum excerpta aut ad domesticos aut ad exercituum prouinciarumque rectores aut ad urbis magistratus plerumque mittebat prout quique monitione indigerent), Langlands: Exemplary Ethics, S. 226–257, und die oben Fn. 1086f. zitierte Valerius-Maximus-Literatur. Auf der anderen Seite zuletzt Wittchow: Vom exemplum zur Anekdote?, der meint, die exempla maiorum seien durch den Prinzipat weitgehend zu nicht-exemplarischen Anekdoten geworden, weil Geschichtswissen nur noch einen soziologischen (als Identitätsmerkmal der römischen Elite), aber keinen praktischen Wert mehr gehabt habe. Schon für Livius liege der Wert der Geschichte mehr im ‚Eskapismus‘ als in ihrer Exemplarität (in seiner Praefatio bekennt sich Livius zu beidem). Bei Tacitus würden Anekdoten aus republikanischer Zeit eher ironisch als exemplarisch aufgegriffen (dies weist Wittchow an mehreren Beispielen überzeugend nach; u. a. äußert es sich auch in glossenhafter Herauslösung aus der Geschichtserzählung). Zugleich gesteht Wittchow für Seneca d. J. sowie die spätere christliche Literatur eine Erneuerung des Exemplagebrauchs zu (und für Tacitus’ Agricola eine exemplarische Funktion im Ganzen, wenngleich nicht in Form exemplarischer Anekdoten). 1151 Zu den programmatischen Äußerungen im Werk selbst siehe oben S. 24f. 1152 Wittchow: Vom exemplum zur Anekdote?, S. 58f., führt die ‚Katalogisierung‘ des republikanischen Exemplaschatzes durch Valerius Maximus als Argument für seinen Verlust an praktischer Relevanz an – obwohl derartige Werke doch gerade auch die praktischdidaktische Rezeption erleichtern können (vgl. die oben bei Fn. 1059 und 1061f. zitierten Äußerungen von Erasmus, Glareanus und Pighius, die die von Valerius Maximus gewählte Werkgestalt gerade deswegen loben). 1153 Rengakos, S. 280f., der die älteren Historiker mit Hesiod vergleicht. Das homerischherodoteische Modell wurde, wie Rengakos feststellt, auch von jukydides übernom-
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Schlussbetrachtung
Auch Ovids Metamorphosen sind das Zeugnis eines ähnlichen Fortschritts – von der alexandrinischen Kleinform und den ersten, bloß additiven Vertretern des ‚Kollektivgedichts‘1154 zur echten Synthese von carmen deductum und carmen perpetuum1155 –, wobei ähnlich wie im Fall des Valerius Maximus das genaue Maß ihrer individuellen Originalität unbestimmt bleiben muss. Was die verlorenen griechischen Vorgängerwerke der Metamorphosen angeht, konnte Edgar Martini immerhin anhand von Fragmenten nachweisen, dass die Αἴτια des Kallimachos, die Ἑτεροιούμενα des Nikandros und die Λεόντιον des Hermesianax zumindest stellenweise über eine mit Ovid vergleichbare Verknüpfungstechnik verfügten.1156 Über die diegetische Kohärenz dieser Werke ist damit freilich noch nichts gesagt.1157 men und prägt seither die Geschichtsschreibung (womit nicht gesagt ist, dass nicht auch das Gegenmodell überlebt hätte; vgl. die römische Annalistik und die hellenistischen Chroniken). 1154 Der – oft kritisierte und dennoch verwendete – Begriff wurde von Edgar Martini: Ovid und seine Bedeutung für die römische Poesie, in: Ἐπιτύμβιον Heinrich Swoboda dargebracht, Reichenberg 1927, S. 165–194, hier 168, eingeführt als Überbegriff für formelhafte ‚Kataloggedichte‘ (wie die hesiodischen ‚Ehoien‘) und ähnlich angelegte, aber ‚kunstvollere‘ Werke. 1155 Vgl. zu den beiden Arten von Dichtung und ihrer im Prooemium (Ov. met. 1,4) angekündigten Verbindung u. a. Ulrich Fleischer: Zur Zweitausendjahrfeier des Ovid, in: A&A 6 (1957), S. 27–60, hier 51–59, Michael von Albrecht: Zum Metamorphosenprooem Ovids, in: RhM 104 (1961), S. 269–278, E. J. Kenney: Ovidius prooemians, in: CCJ 22 (1976), S. 46–53, Joachim Latacz: Ovids ‘Metamorphosen’ als Spiel mit der Tradition, in: WJA, N. F. 5 (1979), S. 133–155, und Farouk Grewing: Einige Bemerkungen zum Proömium der ‘Metamorphosen’ Ovids, in: Hermes 121 (1993), S. 246–252, mit jeweils unterschiedlich akzentuierten, aber im Kern übereinstimmenden Charakterisierungen Ovids als „‘Kallimachos’ des Epos“ (Fleischer, Grewing), als „Überkallimachos“ (Kenney, Latacz) und als „Antikallimachos“, der dennoch „eifriger Schüler kallimacheischer ars“ ist (Albrecht); ähnlich zuletzt auch noch Gyburg Uhlmann: Nachfolge griechischer Dichtung, in: Ovid-Handbuch, hg. von Möller, S. 35–45, hier 42f. (weitere Verweise bei Jost Eickmeyer: Metamorphosen, ebd., S. 97–105, hier 97). Zur Deutung der Metamorphosen als universalhistorisches Epos siehe schon oben Fn. 993 (wobei der Grad der dem Werk zugeschriebenen Kohärenz variiert – vom Vergleich mit Autoren wie Hellanikos bis zu einer stärker holistisch-teleologischen Auffassung); es sei nicht verschwiegen, dass es auch Gegenstimmen gibt (etwa Ernst A. Schmidt: Ovids poetische Menschenwelt. Die Metamorphosen als Metapher und Symphonie, Heidelberg 1991, S. 39–46, der Ovids Ansatz für gänzlich ahistorisch hält). 1156 Martini, S. 168–175. Lateinische ‚Kollektivgedichte‘ sind dagegen vor Ovid nicht bekannt, nur Properz hatte möglicherweise eines geplant – und abgebrochen (Martini, S. 176–179, auch 183 zur Übersetzung der Ὀρνιθογονία des Boios durch Aemilius Macer; die jese, Prop. 4 enthalte Teile eines aufgegebenen Werks, stammt von Max Rothstein: Die Elegien des Sextus Propertius, 2 Bde., Berlin 21920/24, Bd. I, S. 13, und Bd. II, S. 187–218, und wird in den neuesten Kommentaren, Gregory Hutchinson: Propertius. Elegies. Book IV, Cambridge 2006, und Paolo Fedeli/Rosalba Dimundo/Irma
Valerius Maximus und das Potential der Anekdote
365
Zu Valerius Maximus bieten ältere Anekdotensammlungen (und Sammlungen vergleichbarer Kurzerzählungen) Parallelen in einzelnen Aspekten, ohne dass eine von ihnen die Werkgestalt der Facta et dicta im Ganzen vorwegnähme.1158 Über seine unmittelbaren Vorgänger, also römische Sammlungen der republikanischen und augusteischen Zeit wie die von Valerius Maximus selbst erwähnten Collecta von Pomponius Rufus (4,4, praef.) oder die Exempla von Cornelius Nepos und Hyginus (beide von Gellius bezeugt), ist mangels für die Werkgestalt verwertbarer Fragmente allerdings keine Aussage möglich.1159 Nur der Vergleich mit der Überlieferungslage anderer Literaturgattungen1160 legt die Vermutung nahe, dass nicht etwa „eine Laune des Zufalls“1161 uns Valerius Maximus in die Hand gab, sondern
Ciccarelli: Properzio. Elegie. Libro IV, 2 Bde., Nordhausen 2015, nicht mehr erwähnt; siehe aber noch Johanna Loehr: Ovids Mehrfacherklärungen in der Tradition aitiologischen Dichtens, Stuttgart 1996, S. 68–87, die zudem auch auf ein Werk des griechischsprachigen Dichters Butas über römische Aitia eingeht). 1157 Markus Asper urteilt in der Einleitung seiner Kallimachosedition (Kallimachos: Werke, Darmstadt 2004, S. 25), dass „jede aitiologische Erzählung ein literarischer Kosmos für sich“ gewesen sei, während Annette Harder in der ihren (Callimachus: Aetia, Oxford 2012, S. 5–8, 18–21, 30, 40) eine universalhistorische Interpretation andeutet. 1158 Siehe oben bei Fn. 633f. zu Xenophons Ἀπομνημονεύματα (teilweise vergleichbare Verknüpfungen, aber insgesamt stärker argumentativer Werkcharakter; einer Einzelperson gewidmet), bei Fn. 632 sowie S. 324 zu jeophrasts Ἠθικοὶ χαρακτῆρες (typologisch, aber ohne historische Verkörperung; nur minimal verknüpfend) und bei Fn. 997 zu Parthenios (als monothematische Sammlung potentiell typologisch-episodisch lesbar; nur minimal verknüpfend). Außerdem Fn. 982, 995 und 1002 zu verlorenen, mutmaßlich typologischen Werken von jeophrast, Phainias von Eresos, Dikaiarchos von Messene, Klearchos von Soloi und C. Fannius. 1159 Siehe zu diesen Werken (und den spärlichen Fragmenten) Alewell, S. 42–53, Skidmore: Practical Ethics, S. 44–48, und David: Enjeux; dagegen bei Henry Bardon: La littérature latine inconnue, 2 Bde., Paris 1952/56, nichts Näheres. 1160 Es scheint keine Gattung zu geben, von der die in der Antike selbst geschätzten Hauptund Meisterwerke allesamt verloren, zugleich aber zweitrangige Werke erhalten wären (abzusehen ist hier von Gattungen, für die sich die Frage nicht entscheiden lässt, weil wir die antiken ‚Klassiker‘ mangels entsprechender Zeugnisse nicht identifizieren können; dies gilt z. B. für den griechischen Roman – während unsere lateinischen Klassiker, Petronius und Apuleius, schon bei Macr. somn. 1,2,8 den Roman repräsentieren). Dass der Zufall über die konkret erhaltenen Werke mitentschied, bleibt unbestritten (vgl. auch das abwägende Urteil von Hartmut Erbse: Überlieferungsgeschichte der griechischen klassischen und hellenistischen Literatur, in: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur. Band I. Antikes und mittelalterliches Buch- und Schriftwesen, Überlieferungsgeschichte der antiken Literatur, hg. von Herbert Hunger et al., Zürich 1961, S. 207–283, hier 214, der – für die griechische Literatur – die Rolle des Zufalls bei Erhaltung oder Verlust zweitrangiger Werke größer einschätzt als bei der Selektion der Klassiker). 1161 So Leeman: Geschichtsschreibung, S. 131.
366
Schlussbetrachtung
sein Werk sich entweder durch Originalität oder durch Perfektionierung bereits vorgebildeter Qualitäten von den verlorenen Sammlungen abhob. Über einen möglichen Einfluss Ovids auf das Werk seines jüngeren Zeitgenossen kann unter diesen Voraussetzungen nur spekuliert werden. Die formengeschichtliche Analogie reicht aber jedenfalls noch weiter als die mit Herodot, da sie auch das Verhältnis zum Anekdotischen umfasst. In den rund 150 Einzelerzählungen der Metamorphosen1162 erreicht die Anekdotisierung des Mythos – zu der dieser (wohl noch mehr als die Geschichte) seit jeher neigte1163 – ihren Höhepunkt, um zugleich durch eine neugeschaffene Kohärenz überwunden zu werden. Valerius Maximus vollbringt dasselbe Kunststück mit der historischen Überlieferung.
1162
Siehe die Episodeneinteilung bei Tronchet, S. 565–568 (sowie die Liste der erwähnten Verwandlungen, S. 568–575; es sind ungefähr 300). 1163 Vgl. Möller/Grandl, S. 7 (Anekdotizität als Folge der Anthropomorphie), und oben Fn. 1143. In der Regel handelt es sich wohl um Anekdotizität der oben S. 355f. beschriebenen singulär-plastischen Art (vgl. auch Veyne, S. 113f., zur Nähe von Mythos und ‚histoire-fiction‘). Die Geschichte der mythologischen Erzählung in Form bemerkenswerter ‚detached incidents‘ und ‚single events‘ (so die Anekdotendefinition oben bei Fn. 143; ergänzend Fn. 147 zur Frage des ‚lien au réel‘) beginnt bereits in den homerischen Epen mit Einlagen wie der über Ares und Aphrodite in Od. 8,266–366 (und noch manchen anderen der von Julia Haig Gaisser: A Structural Analysis of the Digressions in the Iliad and the Odyssey, Diss. Edinburgh 1965, besprochenen ‚Exkurse‘). Sogar die Tragödie kann – als Folge der geringen zeitlichen Ausdehnung ihrer Handlung – anekdotische Züge annehmen (nach Aristot. poet. 5 = 1449b umfasst sie idealerweise nur einen Tag; vgl. auch 26 = 1462b zur stärkeren ‚Einheit‘ der Tragödie im Vergleich zum Epos, selbst wenn dieses ebenfalls eine holistische Handlungslinie – dazu oben Fn. 962 – aufweist).
Anhang 1
Auswahlcorpus
1.a
Aufbereitung nach Genette (für die Kapitel Ordre und Durée)1164
1,7,1 (_) Sed quoniam diuitem Midae disertumque Platonis somnum attigi, referam quam certis imaginibus multorum quies adumbrata sit. quem locum unde potius ordiar quam a diui Augusti sacratissima memoria? (A) eius medico Artorio somnum capienti nocte, (B) quam dies insecutus est, quo in campis Philippiis Romani inter se exercitus concurrerunt, (C) Mineruae species oborta praecepit (D) ut illum graui morbo implicitum moneret (E) ne propter aduersam ualitudinem proximo proelio non interesset. (F) quod cum Caesar audisset, (G) lectica se in aciem deferri iussit. (H) ubi dum supra uires corporis pro adipiscenda uictoria excubat, castra eius a Bruto capta sunt. (_) quid ergo aliud putamus quam (I) diuino numine effectum (J) ne destinatum iam (K) immortalitati (J) caput indignam caelesti spiritu fortunae uiolentiam sentiret? _ A1[B4] C1 D2[E4'] F2 G3 H4'' _[I1] J4'''[K5]J4''' B
Prolepse
v. Primärerzählung intern
E
Prolepse
v. Primärerzählung intern
I K
Analepse v. extradieg. Text intern Prolepse v. Primärerzählung extern
A–E scène implizite Ellipse F–H scène I–K sommaire
homodieg. komplett → annonce annonce homodieg. komplett → (kontrafakt.) homodieg. — rappel homodieg. komplett → kompletiv
Traum bis zum nächsten Tag Verwirklichung des Traums Rekapitulation
1,7,2 (A) Augustum uero praeter naturalem animi in omnibus rebus subtiliter perspiciendis uigorem etiam (B) recens et domesticum exemplum (C) ut Artorii somnio obtemperaret (A) admonuit: (D) audiuerat enim (E) diui Iulii patris sui uxorem Calpurniam nocte, quam is 1164
Siehe oben bei Fn. 176 und 248.
Anhang
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ultimam in terris egit, in quiete uidisse multis eum confectum uulneribus in suo sinu iacentem, somniique atrocitate (F) uehementer exterritam rogare non destitisse (G) ut proximo die curia se abstineret. (H) at illum, ne muliebri somnio motus id fecisse (I) existimaretur, (H) senatum, in quo ei parricidarum manus allatae sunt, habere contendisse. (_) † non est inter patrem et filium ullius rei comparationem fieri praesertim diuinitatis fastigio iunctos, sed (J) iam alter operibus suis (K) aditum sibi ad caelum (J) struxerat, (L) alteri longus adhuc terrestrium uirtutum orbis restabat. quapropter (M) ab hoc tantummodo (N) pendentem mutationem status (M) cognosci, (O) ab illo etiam differri (P) di immortales uoluerunt, (Q) ut aliud caelo decus daretur, (R) aliud promitteretur. A7[B2–5][C8]A7[D6(E2 F3 G4 H4'