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German Pages 1084 [1088] Year 2002
Festschrift für Peter Rieß zum 70. Geburtstag
Festschrift für
PETER RIESS zum 70. Geburtstag am 4. Juni 2002 herausgegeben von
Ernst-Walter Hanack Hans Hilger
Volkmar Mehle Gunter Widmaier
w DE
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2002 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Festschrift für Peter Rieß zum 70. Geburtstag am 4. Juni 2002 / hrsg. von Ernst-Walter Hanack ... - Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 ISBN 3-11-017004-3 © Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz GmbH, Lemförde Druck: H. Heenemann GmbH & Co., D-12103 Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer-GmbH, D-10963 Berlin
Peter Rieß zum 4. Juni 2002 W E R N E R BEULKE
LUTZ MEYER-GOSSNER
REINHARD BÖTTCHER
REGINA M I C H A L K E
RAINER BRÜSSOW
GABY MÜNCHHALFFEN
RÜDIGER DECKERS
ARMIN NACK
U L R I C H EISENBERG
GERD J . NETTERSHEIM
RAINER ENDRISS
RALF NEUHAUS
VOLKER ERB
HERIBERT OSTENDORF
G E R H A R D FEZER
H A N S - U L L R I C H PAEFFGEN
KURT FRANZ
M A N F R E D PARIGGER
N O R B E R T GATZWEILER
C H R I S T I A N R I C H T E R II
KARL HEINZ GÖSSEL
KLAUS ROGALL
W A L T E R GOLLWITZER
CLAUS ROXIN
KIRSTEN GRAALMANN-SCHEERER
HINRICH RÜPING
MICHAEL GRESSMANN
FRANZ SALDITT
KARLHEINZ GROSS
GERHARD SCHÄFER
RAINER H A M M
H A N S C H R I S T O P H SCHAEFER
ERNST-WALTER HANACK
H A N S - P E T E R SCHMIESZEK
MONIKA HARMS
HEINZ SCHÖCH
H A N S HILGER
BERND SCHÜNEMANN
ALEXANDER IGNOR
L O T H A R SENGE
F R A N K JOHNIGK
E B E R H A R D SIEGISMUND
EBERHARD KEMPF
W O L F G A N G SIOLEK
H E I N R I C H KINTZI
ULRICH SOMMER
STEFAN KÖNIG
J O H A N N - F R I E D R I C H STAATS
DANIEL M . KRAUSE
GERHARD STRATE
DIRK LAMMER
SVEN T H O M A S
H A N S LILIE
ANNE WEHNERT
KLAUS LÜDERSSEN
GUNTER WIDMAIER
HOLGER M A T T
KLAUS W I M M E R
VOLKMAR MEHLE
JÜRGEN WOLTER
Inhalt Geleitwort
XIII I. Strafverfahrensrecht
WERNER
BEULKE
Konfrontation und Strafprozessreform - Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und ein „partizipatorisches" Vorverfahren anstelle einer Hauptverhandlung in ihrer bisherigen kontradiktorischen Struktur REINHARD
BÖTTCHER
Die Rechtsmittelreform in Strafsachen als Thema Deutscher Juristentage RAINER
65
ERB
Zur „Legitimation" von Fehlverurteilungsrisiken GERHARD
77
FEZER
Effektiver Rechtsschutz bei Verletzung der Anordnungsvoraussetzung „Gefahr im Verzug" KARL HEINZ
93
GÖSSEL
Uber die mit der horizontalen Teilrechtskraft verbundene Bindungswirkung bei Teilanfechtung und Teilaufhebung WALTER
47
ENDRISS
Vom Fragerecht des Beschuldigten im Vorverfahren VOLKER
31
BRÜSSOW
Eine notwendige Reform der Pflichtverteidigervergütung Auswirkungen der Geldwäscheentscheidung des B G H auf das Rechtsinstitut der Pflichtverteidigung RAINER
3
113
GOLLWITZER
Die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses nach § 270 StPO
135
vm
Inhalt
KIRSTEN GRAALMANN-SCHEERER
Molekulargenetische Untersuchung und Revision
153
HANS HILGER
StVÄG 1999 und Verteidigung
171
ALEXANDERIGNOR
Plädoyer für die Widerspruchslösung
185
FRANK JOHNIGK
Der Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen (S 244 Abs. 5 Satz 2 StPO)
197
E B E R H A R D KEMPF
Die Rechtsprechung des EGMR zum Akteneinsichtsrecht und §§ 114, 115 Abs. 3, 115a Abs. 3 StPO
217
HEINRICH KINTZI
Rechtsmittelreform in Strafsachen - eine unendliche Geschichte? .
225
STEFAN K Ö N I G
Der Anwalt als Zeugenbeistand Gegner oder Gehilfe der Verteidigung?
243
DANIEL M . KRAUSE
DNA-Identitätsfeststellung gemäß § 81g StPO, § 2 DNA-IFG Geklärte und ungeklärte Fragen
261
D I R K LAMMER
Zeugenschutz versus Aufklärungspflicht
289
HANS LILIE
Blinde Kontrollinstanz? Zur Zukunft des Schöffenamtes
303
VOLKMAR M E H L E
Einschränkung der Strafverteidigung durch das Berufsrecht? . . .
317
LUTZ MEYER-GOSSNER
Verurteilung und Freispruch versus Einstellung
331
GABY MÜNCHHALFFEN
Tendenzen in der neueren Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zur Untersuchungshaft in Wirtschaftsstrafverfahren . . .
347
Inhalt
IX
ARMIN NACK
Gewährleistung der Rechtskultur durch das Revisionsrecht . . . .
361
RALF N E U H A U S
Die strafprozessuale Überwachung der Telekommunikation (§§ 100a, 100b, 101 StPO) - Zum gegenwärtigen Stand der Erosion eines Grundrechts
375
H A N S - U L L R I C H PAEFFGEN
Zeugnisverweigerungsrechte und heimliche Informationserhebung .
413
CHRISTIAN RICHTER II
Schuld und Buße? - Irrungen und Wirrungen um einen bekanntgewordenen Paragraphen
439
CLAUS ROXIN
Steht im Falle des § 252 StPO die Verwertbarkeit der früheren Aussage zur Disposition des Zeugen?
451
F R A N Z SALDITT
Rühren an den Schlaf der Welt - Die Plädoyers im Fall Rosa Luxemburg (1914)
465
G E R H A R D SCHÄFER
Die Abgrenzung der Verfahrensrüge von der Sachrüge
477
H A N S - C H R I S T O P H SCHAEFER
Das Fairneßgebot für den Staatsanwalt
491
HEINZ SCHÖCH
Opferschutz - Prüfstein für alle strafprozessualen Reformüberlegungen?
507
BERND SCHÜNEMANN
Die Absprachen im Strafverfahren - Von ihrer Gesetz- und Verfassungswidrigkeit, von der ihren Versuchungen erliegenden Praxis und vom dogmatisch gescheiterten Versuch des 4. Strafsenats des BGH, sie im geltenden Strafprozeßrecht zu verankern .
525
L O T H A R SENGE
Uneingeschränkte Verwerfung der Revision des Angeklagten durch Beschluß gemäß § 349 Abs. 2 StPO bei kombiniertem Antrag der Staatsanwaltschaft nach § 349 Abs. 2 und Abs. 4 StPO?
547
χ
Inhalt
WOLFGANG SIOLEK
Zur Fehlentwicklung strafprozessualer Absprachen ULRICH
563
SOMMER
Lebenserfahrung - Gedanken über ein Kriterium richterlicher Beweiswürdigung GERHARD
585
STRATE
Freie Beweiswürdigung und gebundene Beweiserhebung
611
GUNTER WIDMAIER
Die Verzichtsfiktion des § 342 Abs. 3 StPO ehrwürdig, aber sinnlos und verfassungswidrig?
621
JÜRGEN WOLTER
Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Maßnahmen im Strafprozessrecht und Polizeirecht
633
II. Materielles Strafrecht RÜDIGER
DECKERS
Die Provokationsvariante des § 213 StGB, insbesondere unter Betrachtung der Anwendung auf Körperverletzungsdelikte . . . .
651
N O R B E R T GATZWEILER
Entwicklungstendenzen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Verjährung in Wirtschaftsstrafsachen KARL-HEINZ
677
GROSS
Die Einwilligung des Verurteilten zu Weisungen und zur Reststrafaussetzung ERNST-WALTER
691
HANACK
Nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung?
709
MONIKA HARMS
Von Transactien, ordonnances de non-lieu und anderen europäischen Besonderheiten - der lange Weg zu einer einheitlichen europäischen Strafrechtsordnung
725
HOLGER MATT
Strafverteidigerhonorar und Geldwäsche
739
Inhalt
XI
REGINA MICHALKE
Konfusion als System - Die Genehmigung bei Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung (§ 331 Abs. 3 und § 333 Abs. 3 StGB) -
.
771
MANFRED PARIGGER
§ 46a StGB und seine Anwendbarkeit im Steuerstrafrecht
783
SVEN T H O M A S
Untreue in der Wirtschaft
795
ANNE WEHNERT
Überlegungen zur Entwicklung der strafrechtlichen Risiken im Unternehmensmanagement
811
III. Jugendstrafrecht ULRICH EISENBERG
Zur Anwendung des Doppelverwertungsverbotes auch im Jugendstrafrecht HERIBERT
OSTENDORF
Persönlichkeitsschutz im (Jugend-) Strafverfahren bei mehreren Angeklagten EBERHARD
829
845
SIEGISMUND
Zur Verbesserung des Opferschutzes im Jugendstrafverfahren Überlegungen zur Einführung von Nebenklage und Adhäsionsverfahren gegen Jugendliche
857
IV. Sonstige Rechtsgebiete KURT FRANZ
Zum Verbot der Doppelbestrafung im internationalen anwaltlichen Berufsrecht
875
MICHAEL GRESSMANN
Richter in den neuen Ländern
891
RAINER HAMM
Was wird aus der Rieß'schen Fußnotologie im juristischen Schrifttum des Informationszeitalters ?
907
χπ
Inhalt
KLAUS LÜDERSSEN
Zur Aktenherausgabepflicht der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
917
GERD J . NETTERSHEIM
Die Aufhebung von Unrechtsurteilen der NS-Strafjustiz Ein langes Kapitel der Vergangenheitsbewältigung
933
KLAUS ROGALL
Verwertungsverbote im Besteuerungsverfahren
951
HINRICH RÜPING
Justiz und Demokratie nach 1945
983
HANS-PETER SCHMIESZEK
Reform der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeit
1001
J O H A N N - F R I E D R I C H STAATS
Richterbeförderung und richterliche Unabhängigkeit in Deutschland: ein systemimmanenter, aber reduzierbarer Konflikt
1017
KLAUS WIMMER
Die Behandlung der Forderungen aus unerlaubter Handlung im Feststellungsverfahren
1037
V. Verzeichnis der Schriften von Peter Rieß
1049
VI. Autorenverzeichnis
1067
Geleitwort Peter Rieß, der verehrte Jubilar, wurde am 4. Juni 1932 in Hamburg geboren. Er studierte von 1952 bis 1956 Rechtswissenschaft an der dortigen Universität und promovierte 1959 mit einem staatsrechtlichen Thema. 1956 und 1960 bestand er die juristischen Staatsexamen, wurde 1961 Assessor im Justizdienst des Landes Hamburg und 1964 Landgerichtsrat beim Landgericht Hamburg. In dieser Zeit, in der er auch in Schwurgerichtssachen tätig war, mag seine Liebe zum Strafprozess entstanden sein. Von 1969 bis 1971 war Peter Rieß an die Justizbehörde Hamburg abgeordnet, als Referent für Strafrecht tätig, und wurde in dieser Zeit zum Landgerichtsdirektor ernannt. 1971 wurde er an das Bundesministerium der Justiz abgeordnet und 1972 an dieses als Ministerialrat versetzt. Dort leitete er ab 1971 ein für das Strafverfahrensrecht zuständiges Referat. 1986 wurde er zum Unterabteilungsleiter in der für das Rechtspflegerecht zuständigen Abteilung R und 1988 zum Leiter dieser Abteilung ernannt. Am 31. 7 1996 wurde er auf seinen Antrag pensioniert. Auch als Unterabteilungsleiter und später als Leiter der Abteilung Rechtspflege galt seine besondere Aufmerksamkeit und Sorge dem Strafverfahrensrecht, obwohl er in diesen Funktionen ausgelastet war mit zahlreichen, schwierigen Aufgaben auf anderen Rechtsgebieten, etwa mit der Insolvenzrechtsreform, im Zivilprozeßrecht, der VwGO, im Richterrecht, im Berufsrecht der Rechtsanwälte und ganz besonders ab 1990 mit der Gestaltung des rechtlichen Rahmens für den Aufbau der Rechtspflege in den neuen Ländern nach der Vereinigung Deutschlands. Gerade hier hat er sich - aus vollem Herzen engagiert - von Vielen nicht recht wahrgenommen - besonders verdient gemacht. Im Mittelpunkt seines langen beruflichen und wissenschaftlichen Wirkens aber stand und steht der Strafprozess. Peter Rieß hat ab 1971 die Entwicklung des deutschen Strafprozessrechts entscheidend geprägt. Sein besonderes Bemühen galt dabei der Verbesserung der Rechtsstellung des Beschuldigten im Verfahren und seiner Möglichkeiten, sich effektiv zu verteidigen, zugleich aber auch der ausgewogenen Neuordnung und Verbesserung der Rechtsstellung des Verletzten. Sein großes Ziel war die Gesamtreform des Strafprozesses, für die er unermüdlich nach Wegen und Konzeptionen suchte, die er immer wieder anmahnte. Ihm ist es zu verdanken, daß Entlastungs- und Beschleunigungsnovellen nach 1971, die maßgeblich seine Handschrift tragen,
XIV
Geleitwort
maßvoll ausfielen. Ein wesentlicher Teil seiner ministeriellen Arbeit bestand nämlich in der Abwehr verfehlter Entwicklungstendenzen und darin, im Ansatz brauchbar erscheinende Reforminitiativen in die richtige Richtung zu steuern, zu entwickeln und innerhalb der Grundstrukturen des Verfahrensrechts maßvoll auszutarieren und einzupassen. Dieser quantitativ und qualitativ ganz erhebliche Teil seines Wirkens kann in seiner rechtspolitischen Bedeutung kaum richtig, nämlich hoch genug eingeschätzt werden, schon weil er Außenstehenden nicht näher bekannt ist und wesentliche Details hierzu als Dienstinterna nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Obwohl er immer bescheiden und zurückhaltend auftrat, wurde seine hohe fachliche Kompetenz anerkannt, sein Rat - wo möglich - gesucht. Es gab kaum eine auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts arbeitende Kommission, der Peter Rieß nicht angehörte. So ist er seit 1972 ständiger Gast im Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer. Sein Rat als ¿er Strafprozessexperte und kompetente Kenner und Bewerter rechtspolitischer Entwicklungen war gefragt. Dies mag eine Anekdote aus den 80er Jahren verdeutlichen: Ein Staatssekretär des Bundesministeriums der Justiz, von einem Besucher mit einem harmlosen Vorschlag zur Änderung einer Vorschrift der StPO konfrontiert, erklärte spontan in seinem breiten schwäbisch: „Da muß I ärscht meinen Papscht (gemeint: Rieß) frage, ob I des darf." Neben dem beruflichen Wirken des Jubilars und mit ihm untrennbar verbunden steht seine im engeren Sinne wissenschaftliche Arbeit. Auch sie galt und gilt im Kern dem Strafverfahrensrecht. Im Laufe der Jahre hat Peter Rieß auf dieses Rechtsgebiet mit einer Fülle größerer und kleinerer Beiträge eingewirkt. Es gibt wohl kaum eine wichtige Frage, mit der er sich nicht kritisch und weiterführend auseinandergesetzt hätte. Sein in dieser Festschrift abgedrucktes Schrifttumsverzeichnis fängt das im Äußerlichen ein. Es besagt aber nichts über das Entscheidende: die Qualität der stets scharfsinnigen, abgewogenen und gedankenreichen Beiträge und den ganz außerordentlichen Einfluss, den sie auf Rechtsprechung, Wissenschaft und gesetzgeberische Entwicklung ausgeübt haben. Das hier näher darzulegen, ist unmöglich. Beispielhaft genannt sei nur sein Gutachten zum 55. Deutschen Juristentag über die Rechtsstellung des Verletzten im Strafprozess, das anerkanntermaßen den Weg zum Opferschutzgesetz von 1986 ebnete. Und genannt sei seine Tätigkeit als Herausgeber und Autor des Großkommentars zur Strafprozessordnung (Löwe-Rosenberg), dessen 24. und 25. Auflage er in kritischer Zeit - und mit einer geradezu unfasslichen Arbeitsleistung - bewahrend und weiterführend gestaltet hat. So enthält seine weit über 300 Seiten starke Neukonzeption der Einleitung zur 25. Auflage dieses Kommentars, vielleicht der Höhepunkt seiner bisherigen Arbeit, eine Durchdringung der Grundlagen, der Entwicklung und der Zukunftsperspektiven des Strafverfahrens, die man nur bewundern kann.
Geleitwort
XV
Eine besondere Anerkennung fand die wissenschaftliche Leistung des Jubilars schon im Jahre 1982 durch die Ernennung zum Honorarprofessor an der Universität Göttingen. Peter Rieß, der konzentriert und brillant zu sprechen weiß, hat dort, nur gelegentlich unterbrochen durch übergroße dienstliche Belastungen, oft und gern Vorlesungen, Übungen und Kolloquien gehalten - und auch dies wiederum mit großem Erfolg. Die besondere Anerkennung der Anwaltschaft fand der Jubilar vor allem durch seinen schon frühzeitig erkannten, mäßigenden Einfluss auf die zahllosen, nicht selten tagespolitisch motivierten Reformen der Strafprozessordnung. Ohne diesen Einfluss waren erheblich gravierendere Einschnitte in Beschuldigten- und Verteidigerrechte zu besorgen. Unabhängig davon war von überragender Bedeutung für die Praxis seine Kommentierung der 24. Auflage des „Löwe-Rosenberg" zum hinreichenden Tatverdacht als Voraussetzung für die Eröffnung des Hauptverfahrens. Sie hat in ihrem eindringlichen, inhaltlich höchst differenzierten Appell an die zur Entscheidung berufenen Gerichte, die Eröffnungsvoraussetzungen eigenständig und besonders sorgfältig zu prüfen und hierbei einen strengen Maßstab anzusetzen, zu einer Renaissance des Zwischenverfahrens geführt und in vielen Fällen bewirkt, dass den Betroffenen eine stigmatisierende Hauptverhandlung erspart blieb. In der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft durch die Arbeitsgemeinschaft Strafrecht - Strafverteidigereinigung des Deutschen Anwalt Vereins - hat das Wirken von Peter Rieß für die Rechte des Beschuldigten im Strafverfahren seine besondere Würdigung gefunden. Peter Rieß war und ist aber nicht nur als Fachmann und Wissenschaftler eine bestechende Persönlichkeit, sondern auch durch seine menschlichen, seine charakterlichen Qualitäten. Immer ruhig, „leise" und bescheiden auftretend ein Mann von integrer Persönlichkeit, hohem Verantwortungsbewußtsein, immer ein Suchender und Lernender und Freund des friedlichen Diskurses und Ausgleichs. Dies haben auch anders als er Denkende aus allen fachlichen und politischen „Lagern" immer anerkannt und hoch geschätzt. Erstaunlich, daß Peter Rieß noch Zeit blieb für persönliche Interessen und „Regenerationsnischen": seine Katzen, sein Interesse für die bildenden Künste, namentlich die Musik, als Nachfahre von Adam Riese für Geschichte und Altertumsforschung sowie für seine zahlreichen ausgedehnten Bildungsreisen. Auch in diesen privaten Bereichen sind seine Kenntnisse dies sollte man wissen, will man ihn näher kennen lernen - erstaunlich. Zur Vollendung des 70. Lebensjahres widmen ihm Freunde und Kollegen diese Festschrift in Bewunderung, mit Dank und in freundschaftlicher Verbundenheit. Im Hinblick auf die berufliche Tätigkeit des Jubilars und der Autoren enthält sie überwiegend, aber nicht nur, strafverfahrensrechtliche Beiträge. Sie möge ein kleines Zeichen dafür sein, wie sehr Wissenschaft
XVI
Geleitwort
und Rechtspolitik noch lange seinen kritischen und zugleich ermunternden wissenschaftlichen Rat und seine innovativen Ideen benötigen in einer - wie er selbst einmal - ähnlich - formuliert hat - „kodifikatorischen und wissenschaftlichen Spätzeit" des (Strafprozess-)Rechts. Wir danken insbesondere Frau Dr. Walther vom Verlag de Gruyter, die die Entstehung dieser Festschrift mit ungewöhnlichem Engagement gefördert hat, sowie ihrem Team für die zuverlässige, unentbehrliche redaktionelle Mitarbeit. April 2002
Die Herausgeber
I. Strafverfahrensrecht
Konfrontation und Strafprozessreform Art. 6 Abs. 3 lit. d E M R K und ein „partizipatorisches" Vorverfahren anstelle einer Hauptverhandlung in ihrer bisherigen kontradiktorischen Struktur* WERNER
BEULKE
Den Strafprozess verständlicher und zügiger abzuschließen, die Beweisaufnahme zeitlich gestrafft, konzentriert und effektiv und dennoch ohne Einbußen in der Sachaufklärung durchzuführen, ist als Reformziel nicht neu. Ebenso wenig die Reformansätze, die in jüngster Zeit teilweise für Aufregung und Unbehagen sorgten, teilweise in ihrer Grundidee aber auch wohlwollende Zustimmung fanden. Von einer Umstrukturierung der Justizorganisation in Angleichung an das bereits beschlossene Modell eines dreistufigen Gerichtsaufbaus der Zivilgerichtsbarkeit war die Rede, eine Reform des Rechtsmittelsystems wurde anvisiert und eine Aufgabenverlagerung auf außergerichtliche Verfahren zur Diskussion gestellt.1 Nichts von alledem hat sich, soweit ersichtlich, ernsthaft auf dem 63. Deutschen Juristentag in Leipzig im September 2000 durchsetzen können. 2 Verwirrung und Unmut stattdessen angesichts von Reformvorhaben, über deren Einzelheiten noch bis kurz vor Beginn des Juristentages Unklarheit herrschte und die auch durch die Ankündigung der Bundesjustizministerin, die Reformen der Justizorganisation sowie des Rechtsmittelsystems nicht weiterverfolgen zu wollen, nicht anschaulicher wurden. 3 Anstelle einer Reform des Justizaufbaus und des Rechtsmittelsystems sollen nunmehr Veränderungen in der Struktur des Strafverfahrens für die gewünschte Effizienz, Beschleunigung und Verfahrensökonomie sorgen. An* Meiner Mitarbeiterin Fr. Sabine Swoboda danke ich für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Manuskriptes. 1 Brandt Der 63. Deutsche Juristentag, NJ 2000, 576, 577; dazu auch das vorbereitende Gutachten von Lilie Gutachten D für den 63. Deutschen Juristentag, 2000; außerdem die Referate von Nelles, Michalke und Meyer-Goßner zum 63. Deutschen Juristentag. 2 Bittmann DRiZ 2000, 112; Brandt Der 63. Deutsche Juristentag, NJ 2000, 576, 577; vgl auch den Tagungsbericht bei KonradJZ 2001, 291 ff (vor allem 293). 3 Missbehagen auch angesichts unzulänglich und von kurzer Hand vorbereiteter ad-hocReformen des Gesetzgebers, so Robra auf dem 63. Deutschen Juristentag [bei Brandt Der 63. Deutsche Juristentag, NJ 2000, 576, 577] ; sehr kritisch auch Dabs NJW 2000, 1620 f.
4
Werner Beulke
gestrebt wird u.a. eine Verbesserung des Opferschutzes durch vermehrte Beteiligungsrechte des Opfers am Strafverfahren, Ausdehnung des Täter-OpferAusgleichs und strafgerichtlicher Wiedergutmachungsverfahren.4 Außerdem eine Stärkung der Verteidigungsrechte durch frühzeitige Einbindung bzw. Beiordnung eines Verteidigers im Ermittlungsverfahren mit entsprechenden Anwesenheits- und Beteiligungsrechten bei Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen sowie Anreize zu stärkerem Engagement im Vorverfahren, um durch frühe Mitwirkung auch in Form von Beweisanträgen die Notwendigkeit zusätzlicher Beweiserhebung in der Hauptverhandlung zu vermindern.5 Entbehrliche Ermittlungshandlungen sollen außerdem durch frühzeitige Rechts- und Kooperationsgespräche zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft unterbunden werden. Auch ein Anhörungstermin im Vorverfahren soll den Prozessstoff begrenzen helfen. Eine sog. Eingangsstellungnahme der Verteidigung und erweiterte Möglichkeiten der Verwertung von bereits im Ermittlungsverfahren erhobener Beweise sowie der Einsatz moderner Kommunikationstechnologie sollen die zunehmende Konzentration und Beschleunigung des Hauptverfahrens bewirken.6 Ebenfalls gestärkt werden soll die Rechtsstellung des Beschuldigten durch größere Transparenz von Hauptverhandlung und Ermittlungsverfahren, frühzeitige Information und Möglichkeit der „Partizipation" sowie Video- bzw. Tonbanddokumentation von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen in allen Verfahrensstadien.7 Geplant ist weiterhin, das Berufungs- und Revisionsverfahren durch verschärfte Begründungspflichten ökonomischer und effektiver auszugestalten. Entschieden werden soll, ohne Verkürzung der Amtsaufklärungspflicht, im Wesentlichen nur über streitige Punkte, ohne sich erneut in unnötige und zeitaufwendige Beweiserhebungen über den gesamten Prozessstoff zu verstricken.8 Die Reformvorschläge konzentrieren sich damit im Wesentlichen auf eine Schwerpunktverlagerung weg vom kontradiktorischen Hauptverfahren hin zu einem intensivierten und durch Mitwirkungsrechte des Beschuldigten und der Verteidigung aufgewerteten Vorverfahren. Doch ob und inwieweit diese frühe „Partizipation" die streitige Verhandlung des Hauptverfahrens ersetzen kann und ersetzen sollte, ist auch im Eckpunktepapier des Bundesjustizmi4 Punkt 1 der Eckpunkte einer Reform des Strafverfahrens, Beschluss der Bundesregierung - Stand 6. 4. 2001 - veröffentlicht in StV 2001, 314; „Mehr Schutz für O p f e r " , Der Spiegel, Heft 11/2001, S. 17; Däubler-Gmelin StV 2001, 359, 360f. 5 Punkt 2 des Eckpunktepapiers (Fn 4); Däubler-Gmelin StV 2001, 359, 361; Ignori Matt Integration und Offenheit im Strafprozess - Vorschläge zu einer Reform des Strafverfahrens, Vortrag vor dem Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, StV 2002 [Veröffentlichung demnächst] 6 Punkte 4, 5, 6, 7 und 9 des Eckpunktepapiers (Fn 4); Däubler-Gmelin StV 2001, 359, 361 ff. 7 Punkte 3, 8, 9 des Eckpunktepapiers (Fn 4); „Mehr Schutz für O p f e r " , Der Spiegel, Heft 11/2001, S. 17 8 Punkte 10 und 11 des Eckpunktepapiers (Fn 4); Däubler-Gmelin StV 2001, 359, 362f.
Konfrontation und Strafprozessreform
5
nisteriums nicht erschöpfend dargelegt. Vermuten lässt sich angesichts der recht weiten Formulierung allerdings, dass das schriftliche Beweissurrogat im Regelfall den Ersatz für die unmittelbare Einvernahme eines Zeugen in der Hauptverhandlung darstellen soll. Die damit verbundene „Lockerung des Unmittelbarkeitsprinzips" soll - innerhalb der Grenzen der Wahrheitserforschungspflicht - durch die frühere Mitwirkung, möglicherweise sogar nur durch die bloße Gelegenheit zur Beteiligung an irgendeiner Zeugenvernehmung im Vorverfahren gerechtfertigt sein.9 Spätestens an dieser Stelle aber muss sich die Frage aufdrängen, wie eine solche Regelung überhaupt mit dem Konfrontations- und Fragerecht des Angeklagten nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK in Einklang gebracht werden kann. Wie soll eine Hauptverhandlung, die sich im Transfer zuvor aufgenommener Beweise erschöpft, das rechtliche Gehör, die Waffengleichheit der Beteiligten, insgesamt die Fairness des Verfahrens gewährleisten, wenn nicht sichergestellt ist, dass jedes der vorgelegten Beweismittel bei seinem Zustandekommen in streitiger Verhandlung „unter jedem Blickwinkel ausgeschöpft, einseitige Darstellungen korrigiert und im Hinblick auf ihren Beweiswert getestet"10 wurden? Offensichtlich bewegt sich die im Grunde begrüßenswerte Reform des Strafprozesses hier auf einem sehr schmalen Grat zwischen einerseits dem berechtigten Verlangen nach Verfahrensökonomie und Opferschutz, das geradezu danach drängt, es nicht zu wiederholten, zeitaufwendigen Beweiserhebungen kommen zu lassen, und den Interessen an Konfrontation und Sachaufklärung andererseits, denen eine frühe Präklusion des unmittelbaren Beweises zuwiderläuft, weil sie ein Uberprüfen und Ausschöpfen der Beweisquelle trotz aller geplanten Beteiligungsrechte im Ermittlungsverfahren erheblich erschwert. Die weitgehend vage Formulierung des Eckpunktepapiers ermöglicht noch keine Festlegung darauf, welche Richtung der Gesetzgeber einschlagen und welchem Interesse er den Vorzug einräumen wird. Vielmehr belässt sie Raum zu Interpretation und Mutmaßung. Dieser Raum soll hier genutzt werden, um unter Rückbesinnung auf die Grundzüge der Rechtsprechung zum Konfrontationsrecht der EMRK die Möglichkeiten der Vorverlagerung wesentlicher Verfahrensabschnitte aus dem Hauptverfahren in das Stadium der Ermittlungen kritisch zu betrachten. Dabei wird angesichts der inzwischen bestehenden Fülle einzelfallorientierter Straßburger Rechtsprechung keine Patentlösung geboten werden können. Doch mag ein Uberblick über ausgewählte Urteile des Gerichtshofs bereits vermitteln, welche Problemvielfalt sich bei der Schwer9 Punkt 7 des Eckpunktepapiers (Fn 4); so auch die Interpretation des DAV in seiner Stellungnahme zu den Eckpunkten einer Reform des Strafverfahrens im Mai 2001, S. 4 f; ähnlich kritisch zu den Möglichkeiten einer Ersetzung des unmittelbaren Beweises über die Grenzen des gesetzlich nach §§ 251 ff StPO Zugelassenen hinaus äußert sich auch eine frühere Stellungnahme des DAV zur Reform der Strafjustiz, AnwBl 2001, 30, 41 f; kritisch auch Salditi StV 2001, 311, 312; von Galen/Wattenberg ZRP 2001, 445, 446f. 10 Gollwitzer GedS Meyer (1990) 147, 148.
6
Werner Beulke
punktverlagerung auf das strafprozessrechtliche Vorverfahren alleine aus dem Einzelelement der Konfrontation eröffnet, noch bevor die weiteren in Art. 6 EMRK aufgelisteten Elemente eines fairen Verfahrens, zu denen u. a. auch die Pflicht gehört, die Hauptverhandlung konzentriert und zügig zu einem Abschluss zu bringen, überhaupt Beachtung finden können.
I. Das Frage- und Konfrontationsrecht in EMRK und StPO In Art. 6 Abs. 1 EMRK11 wird das in der Bundesrepublik verfassungsrechtlich aus dem Rechtsstaatsgedanken nach Art. 20 Abs. 3 GG und aus der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 und 2 S. 1 GG abgeleitete Recht des Beschuldigten auf ein „faires" Verfahren im Rang eines einfachen Bundesgesetzes positiviert. Art. 6 Abs. 3 EMRK präzisiert die dem Fairnessgebot entstammenden verfahrensrechtlichen Mindestgarantien des Angeklagten, unter ihnen das Recht auf frühzeitige Bekanntgabe der Beschuldigung (lit. a), auf Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung und auf Verteidigung selbst (lit. b und c), auf Heranziehung und Befragung von Zeugen sowie auf unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers. In Art. 6 Abs. 3 EMRK, „Jeder Angeklagte hat mindestens [englische Fassung: ,minimum rights'] insbesondere [französische Fassung: ,notamment'] die folgenden Rechte", heißt es unter lit. d: „Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken." Angesprochen ist das aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis als Konfrontationsrecht12 bekannte Fragerecht des Angeklagten an den Belastungs11
Die Europäische Menschenrechtskonvention ist nach Ratifizierung aufgrund des Bundesgesetzes vom 7. 8. 1952 (BGBl. 1952 II, S. 685, 953) gem. der Bekanntmachung vom 15. 12. 1953 (BGBl. 1954 II, S. 14) am 3. 9. 1953 in Kraft getreten. Ihr Rang innerhalb der bundesrepublikanischen Rechtsordnung entspricht dem eines einfachen Bundesgesetzes. Gleichrangige Bundesgesetzes sind jedoch hinsichtlich der völkerrechtsfreundlichen Ausgestaltung des Grundgesetzes, Art. 25 GG, anhand ihrer Prinzipien auszulegen. Ebenfalls positiviert ist das Fairnessgebot in Art. 14 IPBPR, das Konfrontationsrecht in Art. 14 Abs 3 lit. e IPBPR. 12 Vgl das „Sixth Amendment" der Verfassung der Vereinigten Staaten: „In all criminal prosecution the accused shall enjoy the right to a speedy and public trial, by an impartial jury of the state and district wherein the crime shall have been committed, which district shall have been previously ascertained by law, and to be informed of the nature and cause of the accusation; to be confronted with the witnesses against him; to have compulsory process for obtaining witnesses in his favor, and to have the assistance of counsel for his defense." In der Wortwahl erkennt man bei Art. 6 Abs 3 lit. d EMRK eindeutig den Einfluss angelsächsischen Rechtsdenkens, Simon Die Beschuldigtenrechte nach Art. 6 Abs 3 EMRK, 1998, S. 103; Löwe-Rosenberg/ Gollwitzer 24. Aufl, 1996, Art. 6 EMRK (Art. 14 IPBPR) Rn 210.
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zeugen. Zu verstehen ist es allerdings nicht als höchstpersönliches Beschuldigtenrecht, sondern als Recht der Verteidigung insgesamt, so dass es genügt, wenn der Verteidiger zumindest einmal im Laufe des gesamten Verfahrens für den Beschuldigten die Möglichkeit erhält, Fragen an den Belastungszeugen zu stellen, 13 obgleich eine Befragung in Gegenwart des A n geklagten durch den Gerichtshof eindeutig bevorzugt würde. 14 Das Konfrontations- und Fragerecht des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ist trotz seiner elementaren Bedeutung für eine ausgewogene, faire Verhandlung nicht absolut. Wiederholt haben die Straßburger Instanzen bekräftigt, dass nicht die Verletzung des Konfrontations- und Fragerechts allein über Zulässigkeit und Unzulässigkeit der Verwertung einer im Vorverfahren in Abwesenheit des Beschuldigten bzw. seines Verteidigers aufgenommenen Aussage entscheidet. U . U . lassen sich die Beschränkungen der Verteidigungsrechte durch die weitere Ausgestaltung des Verfahrens kompensieren. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden nur EGMR) zieht sich hier gerne auf das Kriterium einer Gesamtschau zurück, beurteilt danach, „ob das in seiner Gesamtheit betrachtete Verfahren einschließlich der Beweisaufnahme in ,billiger Weise' durchgeführt worden ist" 15 . Ein faires Verfahren soll dem Angeklagten insbesondere dann verwehrt geblieben sein, wenn seine Verurteilung einzig u n d allein in einem entscheidenden Ausmaß („solely or to a decisive extent") auf der Aussage beruht, bezüglich der ihm die Wahrnehmung seiner Konfrontations- und Fragerechte unmöglich war. 16 Die Verwertung aussagekräftigen zusätzlichen Beweismaterials dient dem Gerichtshof als Indiz für eine ausreichende Kompensation der zuvor erfolgten Verletzung der Beschuldigtenrechte, hingegen ist ihm die vorsichtige Beweiswürdigung z u m Ausgleich der Verletzung zu wenig. 17 Der Gesetzgeber der StPO hat das Fragerecht ausdrücklich nur für die Hauptverhandlung in §§ 240 Abs. 2, 241a StPO normiert. Außerhalb der Hauptverhandlung finden sich in der Strafprozessordnung nur Anwesenheitsrechte nach §§ 168c Abs. 2, 168d, 223, 224 StPO. Doch wird aus diesen allgemein das Fragerecht des Beschuldigten gefolgert. 18 O h n e Befragung des 13
BVerfGE, NJW 1996, 3408. EGMR [Doorson] ÖJZ 1996, 715, 717 15 EGMR [Van Mechelen] StV 1997, 617, 619; vgl auch EGMR [Kostovski] StV 1990, 481, 482; [Windisch] StV 1991, 193, 194; [Lüdi] StV 1992, 499, 500; Simon Die Beschuldigtenrechte nach Art. 6 Abs 3 EMRK, Diss. Tübingen, 1998, S. 109. 16 EGMR [Aminer] EuGRZ 1992, 476; [Asch] EuGRZ 1992, 474; [Doorson] ÖJZ 1996, 715, 717; kritisch dazu Schleiminger Konfrontation im Strafprozess, Diss. Fribourg, 2000, S. 19. 17 So heißt es im Urteil Kostovski: „Es trifft zu, dass die Gerichte zu diesem letzten Punkt Beweis aufnahmen und sie waren zweifellos ... vorsichtig bei der Würdigung der in Rede stehenden Aussagen, aber dies kann schwerlich als ein geeigneter Ersatz für die direkte Beobachtung angesehen werden"; StV 1990, 481, 482. 18 Gollwitzer GedS Meyer (1990) 147, 163. 14
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Zeugen hätte das Anwesenheitsrecht für den Beschuldigten auch wenig Wert. In diese Argumentationslinie lassen sich ebenfalls die Neuregelungen der §§ 168e, 247 a StPO eingliedern, die eine unmittelbare Befragung des einvernommenen Zeugen auch durch Beschuldigten und Verteidiger über eine räumliche Distanz hinweg ermöglichen.19 Das Konfrontationsrecht gilt auch im Rahmen der StPO nicht absolut. Beschränkungen sind einfachgesetzlich etwa in §§ 168c Abs. 3 und 5, 224, 247; 251, 255a, 420 StPO normiert. Einschränkungen bis zu einem gewissen Maß lassen also sowohl das grundgesetzlich verbürgte Fragerecht als auch die Menschenrechtskonvention zu.20 Beispielsweise wird bei vollständiger Abschirmung oder gar Anonymisierung des Belastungszeugen21 das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren nicht mehr vollständig gewährleistet. Gleiches gilt dann, wenn ein zeugnisverweigerungsberechtigter Zeuge ermittlungsrichterlich nur in Abwesenheit von Verteidiger und Beschuldigtem vernommen wurde, bei einer Vernehmung in der Hauptverhandlung allerdings das Zeugnis unter Verweis auf seine Verweigerungsrechte versagt. Zwar verbietet § 252 StPO in diesem Fall die Urkundenverlesung, nach - allerdings verfehlter22 - Rechtsprechung nicht aber die Einvernahme des Ermittlungsrichters über den Inhalt der Aussage.23 Allein, wenn für das Unterlassen der Benachrichtigungspflicht iSd § 168c Abs. 5 S. 2 StPO kein Anlass bestand, kann der Rückgriff auf den nur mittelbaren Beweis untersagt werden. Der unantastbare Kern des rechtlichen Gehörs bzw. des Frage- und Konfrontationsrechts lässt sich aus der Rechtsprechung bislang nur vage bestim19 Einen kurzen Uberblick über die Videovernehmung in Hauptverhandlung und Ermittlungsverfahren geben Beulke Strafprozessrecht, 6. Auflage, 2002, Rn 430 ff; Eisenberg Beweisrecht der StPO, Rn 1328b ff; Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Auflage, 1998, § 44 Rn 13, § 42 Rn 50; Hellmann Strafprozessrecht, 1998, Teil IV Rn 38; Volk Strafprozessrecht, § 27 Rn 26f; Schäfer Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl, 2000, Rn 163, 1126 a; Burhoff Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 2. Aufl 1999, Rn 930b ff; den. Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 3. Aufl 1999, Rn 1129 ff; vertiefend Beulke ZStW 113 (2001) 709. 20 BGHSt. 17, 382; 33, 178; BGH, NStZ 1982, 433; 1985, 376, 377; für A n . 6 Abs 3 lit. d EMRK vgl die Fundstellen in Fn 15. 21 Unter Abkehr des großen Senatsbeschlusses BGHSt. 32, 115 wird man nach Einführung der Möglichkeiten einer Identitätsverschleierung nach § 68 Abs 2 und 3 sowie der Videovernehmung in § 247a StPO nunmehr die Vernehmung unter optischer und akustischer Abschirmung für zulässig halten müssen, zumindest soweit als Alternative nur der vollständige Beweisverlust bzw. das schlechtere Beweismittel der Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen bzw. der Verlesung einer Vernehmungsniederschrift in Betracht kommt, Beulke ZStW 113 (2001) 709, 726ff; Lesch StV 1995, 542, 545; Weider StV 2000, 48, 51 ff; Weider/Staechelin StV 1999, 51 ff; DiemerNJW 1999, 1667, 1670; WeigendGutachten C fur den 62. Deutschen Juristentag, 1998, S. 128; aA K / M - G , § 68 Rn 18; SK-Rogali § 58a Rn 6; Caesar NJW 1998, 2313, 2318. 22 Beulke Strafprozessrecht, 6. Aufl, 2002, Rn 420. « BGH in ständiger Rspr. BGHSt. 32, 25, 29; 36, 384, 385; BGH, NStZ 1985, 35; NJW 1996, 1501, 1503.
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men. In der Festlegung absoluter Eingriffsgrenzen stimmt die Rechtsprechung des B G H zudem nicht immer mit der des E G M R überein, tatsächlich kommen nicht einmal E G M R und Straßburger Kommission in allen Fällen zu demselben Ergebnis. 2 4 Ausgangspunkt der behandelten Verfahren war dabei jeweils die Verwertung anonymer Zeugenaussagen, in einigen Fällen Aussagen gesperrter V-Leute oder Verdeckter Ermittler, sowie die Verwertung von Aussagen, die in nicht parteiöffentlichen Vorverfahren gewonnen wurden und deren Urheber in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. Die Rechtsprechung des E G M R zeichnet sich dabei durch besondere Einzelfallbezogenheit aus. Obwohl der Gerichtshof einige grundlegende Aussagen in allen Urteilen beinahe wortgleich wiederholt, lässt das von ihm herangezogene Element einer möglichen Kompensation der Verletzung viel Interpretationsspielraum. Im Weiteren sollen einige Fallstudien die Komplexität dieser Rechtsprechung verdeutlichen, zugleich aber auch Leitlinien aufzeigen, die im Hinblick auf die gegenwärtig geplante Strafprozessreform von Bedeutung sind.
II. Eine Auswahl der Rechtsprechung des EGMR zum Frage- und Konfrontationsrecht 1. Unterpertinger gegen Osterreich25 Der Beschwerdeführer wurde aufgrund der Aussagen seiner Ehefrau und seiner Stieftochter - letztere als Geschädigte - in zwei Fällen der Körperverletzung verurteilt. In der Hauptverhandlung hatten sich beide Zeuginnen auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen. Das Urteil stützte sich damit im Wesentlichen auf die polizeilichen Vernehmungsprotokolle, deren Verlesung nach österreichischem Verfahrensrecht nicht nur erlaubt, sondern in solchen Fällen sogar geboten ist. Bei allen Vernehmungen waren weder der Beschwerdeführer noch ein Verteidiger anwesend. Ein parteiöffentliches Vorverfahren sah die Strafprozessordnung zu dieser Zeit noch nicht vor. Späteren Beweisanträgen des Angeklagten zur Ladung von Entlastungszeugen wurde nicht stattgegeben, da die Zeugen nach Auffassung des Gerichts nur zu unwesentlichen Nebenumständen benannt waren und die bereits angehörte Entlastungszeugin des Angeklagten nichts Relevantes bekunden konnte. Der E G M R bestätigte den gerügten Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d E M R K . Die Verlesung von Zeugenaussagen an sich sei durch die Konven24 Schleiminger Konfrontation im Strafprozess, S. 20, mit Beispielen aus der Rechtsprechung des EGMR in Sachen Unterpertinger, Asch und Isgrò. 2 5 EGMR [Unterpertinger] EuGRZ 1987, 147.
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tion nicht generell verboten. Doch hatte der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt im Verfahren die Gelegenheit, die an seiner Verurteilung maßgeblich beteiligten Zeugen direkt oder über einen Verteidiger zu befragen. Zwar lagen dem Gericht weitere Beweisindizien vor, maßgebliche bzw. hauptsächliche („mainly") Urteilsgrundlage waren aber die Zeugenaussagen, „hinsichtlich derer seine Verteidigungsrechte erheblich eingeschränkt waren" 26 . 2. Asch gegen Österreich27
Der Beschwerdeführer wurde aufgrund der polizeilichen Aussage der Geschädigten (der Lebensgefährtin des Beschwerdeführers) wegen Körperverletzung verurteilt. Im gerichtlichen Verfahren hatte sich die Geschädigte auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen. Grundlage des Urteils bildeten außerdem ärztliche Atteste über die Verletzungen der Geschädigten. Im Hauptverfahren hatte der Angeklagte zudem weder den über die Angaben der Geschädigten vor der Gendarmerie aussagenden Vernehmungsbeamten befragt, noch andere Zeugen benannt. Ein medizinisches Gutachten beantragte er erst im Berufungsverfahren, als die Verletzungsfolgen nicht mehr feststellbar waren. Der EGMR verneinte einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 iVm 6 Abs. 3 lit. d EMRK. Zwar müssten normalerweise alle Beweise in Anwesenheit des Angeklagten in einer öffentlichen Verhandlung mit dem Ziel einer kontradiktorischen Erörterung vorgebracht werden. Das bedeute jedoch nicht, dass die Aussagen eines Zeugen, wenn sie als Beweismittel zugelassen werden, stets vor Gericht und stets öffentlich zu erfolgen haben. 28 Die Verwendung von Aussagen, die im Vorverfahren gemacht worden sind, sei nicht generell mit der Konvention unvereinbar, sofern nur die Rechte der Verteidigung respektiert worden sind. Der Angeklagte müsse nur angemessene und ausreichende Gelegenheit zur Widerlegung und Befragung eines Belastungszeugen gehabt haben. Das kann zu dem Zeitpunkt geschehen, zu dem der Zeuge seine Aussage macht, aber auch in einem späteren Verfahrensstadium. Im Fall wurde die ausreichende Möglichkeit einer Stellungnahme des Angeklagten zu der belastenden Aussage bejaht. Dabei habe er sich - so der EGMR - in Widersprüche verwickelt, die seine eigene Glaubwürdigkeit in Frage gestellt hätten. Zudem hatte sich das Tatgericht nicht ausschließlich auf die Zeugenaussage der Geschädigten berufen. Ihm lagen weitere glaubwürdige belastende Beweise vor, darunter die Aussage des Vernehmungsbe26 EuGRZ 1987, 150; zu einem anderen Ergebnis kam übrigens die Kommission, nach deren Urteil das österreichische Gericht seine Entscheidung gerade „nicht ausschließlich" auf die Zeugenaussage gestützt habe. 27 EGMR [Asch] EuGRZ 1992, 474. 28 Ständig wiederkehrende Formulierung des EGMR, vgl EGMR [Kostovski\ StV 1990, 482; [Windisch} StV 1991, 194; {Artner} EuGRZ 1992, 476; [Lädt] EuGRZ 1992, 301 u.a.
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amten und zwei ärztliche Atteste über Verletzungen der Geschädigten mit gleicher Aussage. Dem Gebot eines fairen Verfahrens war damit ausreichend Rechnung getragen worden. 3. Kostovski gegen die Niederlande29 In einem niederländischen Strafverfahren wurde der Angeklagte durch einen anonymen Zeugen als Täter eines Banküberfalls bezeichnet. Die Identität des Zeugen war nur dem vernehmenden Polizeibeamten bekannt. Bei der späteren Vernehmung vor einem Untersuchungsrichter, dem die Identität des Zeugen ebenfalls unbekannt blieb, wiederholte der Zeuge seine belastende Aussage. Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Beschuldigter waren nicht anwesend. Erst einige Wochen später erhielt die Verteidigung die Möglichkeit, schriftliche Fragen an den Zeugen zu stellen. Von den 14 Fragen des Katalogs musste der Zeuge zwölf nicht beantworten, um seine Anonymität zu wahren. Auf Grundlage der so gewonnenen Aussage wurde der Angeklagte verurteilt. Der EGMR bejahte einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK. Grundsätzlich müssen alle Beweise in Gegenwart des Angeklagten in öffentlicher Verhandlung in Blickrichtung auf eine kontradiktorische Argumentation erhoben werden. Die Verwendung von im Vorverfahren erlangten Beweismitteln ist aber nicht unvereinbar mit Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK, vorausgesetzt, der Angeklagte hat eine angemessene und geeignete Gelegenheit erhalten, die Glaubwürdigkeit des Zeugen durch eigene Befragung in Frage zu stellen. In diesem Fall hat die Wahrung der Anonymität des Zeugen eine ausreichende Befragung verhindert. Die Aussagemotivation des Zeugen blieb unüberprüft. Es war die Waffengleichheit 30 von Verteidigung und Anklage nicht mehr gewahrt, das Verfahren damit unfair. 4. Windisch gegen Osterreich31 Der Angeklagte wurde aufgrund der Aussage zweier anonymer Zeuginnen verurteilt, die ihn bei einer verdeckten Gegenüberstellung durch die Polizei als Täter identifizierten. Die Zeuginnen hatten aber die eigentliche Straftat nicht wahrgenommen, ihnen war der Beschuldigte nur in der Nähe des Tatortes und zur Tatzeit aufgefallen. In der Hauptverhandlung wurde ein Antrag des Angeklagten auf eine Vernehmung und Gegenüberstellung der Zeuginnen abgelehnt. Die Gendarmerie hatte den Zeuginnen aufgrund 29
EGMR [Kostovski] StV 1990, 481. Zur Waffengleichheit Peukert in Peukert/Frowein, Art. 6 Rn 137; Krauß V-Leute im Strafprozess und die Europäische Menschenrechtskonvention, Diss. Freiburg, 1999, S. 91 m w N zur Rechtsprechung des EGMR. 5' EGMR [Windisch] StV 1991, 193. 30
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ihrer Angst vor Repressalien Anonymität zugesichert. Vernommen wurde der Vernehmungsbeamte über die Angaben, welche die Zeuginnen ihm gegenüber gemacht hatten. Eine Befragung der Zeuginnen durch die Verteidigung konnte aufgrund der Verpflichtung zur Geheimhaltung ihrer Identität zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens erfolgen. Dennoch bildeten die Aussagen der anonymen Belastungszeugen die wesentliche Grundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers. Ein Konventionsverstoß wurde bejaht. Weder der Beschwerdeführer noch seine Verteidigung hatten jemals die Gelegenheit, die Zeugen unmittelbar zu befragen und ihre Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Auch der anonyme mittelbare Belastungszeuge ist als Belastungszeuge iSd Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK anzusehen, nicht nur die vor Gericht tatsächlich vernommene Verhörsperson. 32 Die Möglichkeit, die vernehmenden Beamten im Gerichtssaal direkt zu befragen oder schriftlich Fragen an die anonymen Zeugen zu stellen, kann nicht das Recht ersetzen, die Belastungszeugen direkt vor dem erkennenden Gericht zu befragen. Um die Anonymität der Frauen zu wahren, wären Art und Umfang dieser Fragen auch erheblich eingeschränkt gewesen. Die Eindrücke der Beamten von der Glaubwürdigkeit der Zeuginnen konnten ebenfalls nicht den persönlichen Eindruck ersetzen, den sich das Gericht, dem die Identität der Zeuginnen ebenfalls unbekannt waren, in der Vernehmung der Zeugen bilden muss. 5. Doorson gegen die
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In diesem Fall beruhte die Verurteilung des Angeklagten wegen der Begehung von Rauschgiftdelikten auf den Aussagen zweier anonymer Zeugen vor einem Untersuchungsrichter. Aufgrund eines Missverständnisses war der Verteidiger bei dieser Vernehmung nicht anwesend. Erst in der zweiten Instanz wurde ihm gestattet, in Anwesenheit des Untersuchungsrichters Fragen an die anonym bleibenden Zeugen zu stellen. Die Identität der Zeugen war dem Untersuchungsrichter hier bekannt, ihre Begründung der Bitte um Anonymität (Besorgnis vor Repressalien) und ihre Glaubwürdigkeit waren von diesem überprüft worden. Nach dem Urteil des EGMR liegt ein Konventionsverstoß jedenfalls dann nicht vor, wenn die Aussage des anonymen Zeugen vorsichtig gewürdigt wird und ihr kein maßgebliches Gewicht bei der Urteilsfindung zukommt. Auch muss die Verteidigung die Gelegenheit haben, die Zeugen möglichst effektiv zu befragen. Die Einschränkung der Verteidigungsrechte durch die Anonymität des Zeugen ist im weiteren Verfahren abzugleichen. 32 Anders der BGH, dessen Spruchpraxis hier nicht mit der des EGMR übereinstimmt, Wattenberg/Violet Anm. zu EGMR (StV 1997, 617) StV 1997, 620, 621. « EGMR [Doorson] ÖJZ 1996, 715.
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6. Van Mechelen u. a. gegen die Niederlande34 In diesem Fall waren die anonymen Belastungszeugen Polizeibeamte. Beweismittel des Strafverfahrens vor dem Bezirksgericht waren u.a. ihre Aussagen, wobei die Aussageperson nur mit Nummern identifiziert wurde. Erst im Berufungsverfahren wurden den Beschuldigten und ihren Verteidigern die Möglichkeit gegeben, die anonymen Zeugen über eine akustische Verbindung in das Vernehmungszimmer, in dem sich der anonyme Zeuge mit einem Untersuchungsrichter und einem Urkundsbeamten aufhielt, zu befragen. Alle Beteiligten konnten umfassend und ohne zeitliche Beschränkung den Zeugen Fragen stellen. Allerdings waren die Antworten in Hinsicht auf die Wahrung der Anonymität der Zeugen mit einer gewissen Vorsicht verbunden. Der Untersuchungsrichter befand die Zeugen und ihre Gründe für die Bitte um Anonymität glaubwürdig. Die Angeklagten wurden auf Grundlage der so gewonnenen Aussagen verurteilt. Der EGMR bejahte einen Konventionsverstoß. Unter Bestätigung seiner Rechtsprechung in Doorson legte er die Voraussetzungen einer wirksamen Verwertung von Aussagen anonymer Zeugen fest. - Erstens müssen überwiegende legitime Interessen die Geheimhaltung des Zeugen erfordern. (Gerade das war in Van Mechelen in beiden Instanzen nicht geprüft worden. Die Entscheidung über die Geheimhaltung der Identität der aussagenden Beamten wurde nur mit dem Hinweis auf die Schwere der begangenen Straftat begründet. Weshalb die Zeugen aber konkret aus dem Umfeld der Angeklagten Repressalien ausgesetzt sein sollten, wurde nicht überprüft.) - Zweitens müsse die durch die Anonymität bedingte Behinderung der Verteidigung im weiteren Verfahren ausgeglichen werden. - Drittens dürfe sich die Verurteilung nicht ausschließlich oder maßgeblich auf die Aussage der anonymen Beweispersonen stützen. Weiterhin nahm der EGMR eine erhöhte Gefahrtragungspflicht der aussagenden Beamten an. Sie stünden unter einer generellen Gehorsamspflicht gegenüber der staatlichen Exekutive und seien üblicherweise der Staatsanwaltschaft verbunden. Nur in außergewöhnlichen Umständen sollten sie deshalb als anonyme Zeugen eingesetzt werden.35
EGMR [Van Mechelen] StV 1997, 617. Entgegengesetzt entschied zuvor der BGH, StV 1991, 100, 101, der gerade bei ermittelnden Polizeibeamten eine erhöhte Zuverlässigkeit ihrer Aussagen annahm und damit die Verwendung eines anonymen Zeugenbeweises um so eher zulassen wollte; zum Streit Löwe-Rosenberg/ Gollwitzer Art. 6 EMRK (An. 14 IPBPR) Rn 223. 34
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7. Α. M. gegen Italien36 Zum Beweis des Vorwurfes einer sexuellen Belästigung wurden die in den U.S.A. befindlichen Zeugen im Wege der Rechtshilfe vernommen und die Vernehmungsniederschriften der Staatsanwaltschaft Florenz übersandt. Der Verteidigung wurde auf Anweisung der ersuchenden Staatsanwaltschaft eine Anwesenheit bei diesen Vernehmungen untersagt. In der Hauptverhandlung erschienen die Zeugen nicht, stattdessen wurden die Vernehmungsprotokolle verlesen. Auf sie stützte sich auch maßgeblich die spätere Verurteilung des Beschwerdeführers. Eine Gelegenheit für Verteidigung und Angeklagten, die Urheber der entscheidungsrelevanten Aussagen persönlich und unmittelbar zu befragen, gab es im Verlauf des gesamten Verfahrens nicht. Zudem wurde der Beschwerdeführer über das Rechtshilfeersuchen nicht rechtzeitig in Kenntnis gesetzt. Ein ihm gem. Art. 15 des maßgeblichen Rechtshilfeübereinkommens zustehendes Recht, die Vernehmung der Zeugen in Anwesenheit seines Anwaltes zu beantragen, konnte er deswegen nicht ausüben. Eine Verletzung des Konfrontationsrechts gem. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK wurde bejaht. Der Angeklagte bzw. sein Verteidiger hatten nicht einmal die Gelegenheit, mit den Zeugen direkt konfrontiert zu werden. Dem ausdrücklichen Verbot der ersuchenden Staatsanwaltschaft, dem Verteidiger die Anwesenheit bei den Vernehmungen zu gestatten, fehlte zudem jede juristische Rechtfertigung oder Begründung. Eine Wahrnehmung der in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gewährleisteten Rechte wurde dem Angeklagten effektiv verwehrt. Weitere nennenswerte Urteile in diesem Zusammenhang sind (u.a.) Artner gegen Österreich?7, Saèdi gegen Frankreich38, Delta gegen Frankreich^, Lüdi gegen die Schweiz40 und Isgrò gegen Italien*1. In seinen Urteilen hat der EGMR u . a . eine Konventionsverletzung dann verneint, wenn der Beschuldigte die Gelegenheit hatte, Fragen zu stellen, sie aber nicht nutzte. Und dies sogar, wenn die Gelegenheit der Befragung nur in Abwesenheit des Verteidigers bestand. 42 Vorrangig stellt der Gerichtshof darauf ab, dass dem Beschuldigten oder der Verteidigung mindestens einmal während des Verfahrens die direkte Befragung des Zeugen ermöglicht wurde, auch bei durch den Belang der Wahrung der Identität eingeschränkten Fragemöglichkeiten. Zudem darf sich das Urteil nicht ausschließlich oder maßgeblich auf die anonyme bzw. unter Ausschluss der Parteiöffentlichkeit entstandene ZeuEGMR [A.M.] StraFo 2000, 374. EGMR [Artner] EuGRZ 1992, 476. 38 EGMR [Saidi\ Serie A/261-C. 39 EGMR [Delta] Serie A/191-A. 40 EGMR [Lüdi] StV 1992, 499 = EuGRZ 1992, 300. 41 EGMR [Agra] EuGRZ 1989, 465. 42 Kritisch dazu Krauß V-Leute im Strafprozess und die Europäische Menschenrechtskonvention, Diss. Freiburg, 1999, S. 108. 36
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genaussage stützen. Notfalls müssen auf Grundlage dieser Aussage weitere Sachbeweise ermittelt werden, die dann Grundlage des Urteils in Verbindung mit der belastenden Zeugenaussage sein können. 43 Wird der Grundsatz einer vorsichtigen Beweiswürdigung beachtet und stehen weitere Beweise neben einer anonymen oder nicht unter Wahrung des Konfrontationsrechts zustande gekommenen Aussage zur Verfügung, wird eine Konventionsverletzung vom Gerichtshof eher zurückhaltend bejaht. 44 Es genügt allerdings die einmalige Befragungsmöglichkeit nur durch die Verteidigung und zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens, sofern das Verfahren als Ganzes dem Gebot der Fairness gegenüber dem Beschuldigten zu entsprechen scheint. Es gibt im Prinzip kein Recht der wiederholten Befragung oder auf Anwesenheit bei kommissarischen Vernehmungen durch die Polizei 45 oder gar bei Vernehmungen im Ermittlungsverfahren 46 . In diesem Zusammenhang wird aber festgestellt, dass die Befragungsmöglichkeit effektiv sein muss. Gollwitzer47 etwa leitet aus dieser Vorgabe zu Recht die Notwendigkeit ab, notfalls doch eine wiederholte Befragung des Zeugen, u . U . auch nur über die Verteidigung, stattfinden zu lassen, sollte der Verteidiger bestimmte Fragen an den Zeugen bei der einmaligen Vernehmung nicht stellen können, weil dies nur in Rücksprache mit dem nicht anwesenden Beschuldigten zu den Aussagen des Zeugen möglich wird. Anders kann aus dem kontradiktorischen Verfahren nicht die optimale Sachaufklärung gewährleistet werden, die u.a. auch eine Korrektur einseitiger Darstellungen und das Austesten jedes Beweismittels auf seinen Beweiswert verlangt. 48 Gleichfalls muss deshalb etwa bei kommissarischen Zeugenvernehmungen im Ausland der Verteidigung zunächst Gelegenheit gegeben werden, die Aussage des Zeugen vorweg aus dem Protokoll zur Kenntnis zu nehmen, um sich auf die Befragung umfassend vorbereiten zu können. Notfalls muss eine erneute Vernehmung im Ausland im Beisein der Verteidigung, zumindest aber unter Vorlage eines schriftlichen Fragekataloges veranlasst werden. 49 Generell stellt sich der EGMR also nicht der Möglichkeit entgegen, den Schwerpunkt der Beweisführung in die Voruntersuchungen vorzuverlegen, wie das in einigen kontinentaleuropäischen Mitgliedsstaaten praktiziert 43 Kritisch zu dem vagen Element des „zusätzlichen Beweises" Schleiminger Konfrontation im Strafprozess, S. 19ff. 44 Rzepka Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, 2000, S. 76f. 45 Löwe-Rosenberg/ Gollwitzer Art. 6 EMRK (Art. 14 IPBPR) Rn 220. 46 Simon Die Beschuldigtenrechte nach Art. 6 Abs 3 EMRK, S. 106. 47 Löwe-Rosenberg/ Gollwitzer A n . 6 EMRK (Art. 14 IPBPR) Rn 221 m w N ; Peukert in Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Artikel 6 Rn 201. 48 Gollwitzer GedS Meyer, S. 147f; BGH, StV 2000, 593; Ignor/Matt s.o. (Fn 5) S. 5. 49 Peukert in Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Artikel 6 Rn 201.
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wird. 50 Zumindest dann nicht, wenn Angeklagter und Verteidigung möglichst oft und frühzeitig die Gelegenheit erhalten, Einfluss auf die Beweisaufnahme zu nehmen und ihren Standpunkt zu vertreten. Steht zudem fest, dass eine spätere Befragung des Belastungszeugen im Hauptverfahren mit großer Wahrscheinlichkeit nicht möglich sein wird, steht mindestens dem Verteidiger ein Anspruch auf Anwesenheit bei deren Vernehmung im Ermittlungsverfahren zu.51 Außerdem betont der Gerichtshof nach wie vor, dass die Zulässigkeit von Beweisen primär eine Angelegenheit ist, die das innerstaatliche Recht zu regeln hat.52 Im Grundsatz aber geht er als Idealfall zweifellos von einer Beweiserhebung in Gegenwart des Angeklagten in einem kontradiktorischen, öffentlichen Verfahren aus, wie es nach deutschem Strafverfahrensrecht an sich nur die gerichtliche Hauptverhandlung darstellen kann. Voruntersuchungen mit rein vorbereitendem Charakter scheinen nach seiner ständigen Rechtsprechung vorzugswürdig. 53 Zu den Regeln der Beweisaufnahme heißt es beispielsweise in Delta, Isgrò, und Kostovski: „In principle, the evidence must be produced in the presence of the accused at a public hearing with a view to adversarial argument. This does not mean, however, that in order to be used as evidence statements of witnesses should always be made at a public hearing in court: to use as evidence such statements obtained at a pre-trial stage is not in itself inconsistent with paragraphs 3 (d) and 1 of Article 6, provided the rights of the defence should have been respected." Noch deutlicher formuliert der EGMR in Windisch·. „All evidence must in principle be produced in the presence of the accused at a public hearing with a view to adversarial argument. However, the use as evidence of statements obtained at a pre-trial stage is not always in itself 50
Für die Niederlande vgl etwa Swart ZStW 105 (1993) 48, 52 f ; Tak ZStW 112 (2000) 170, 184, 185: „Die Untersuchung in der Hauptverhandlung ist deshalb nicht mehr als die Reproduktion und Bestätigung der in der Voruntersuchung gemachten Aussagen des Angeklagten und der Zeugen."; und auf S. 200 heißt es: „Für die Tataufklärung und die Beweiserhebung ist die vorbereitende Untersuchung damit heute die entscheidende Phase des Strafverfahrens ; die Hauptverhandlung hat demgegenüber mehr einen prüfenden und evaluierenden Charakter."; s. auch Perron ZStW 112 (2000) 202, 213; Nijboer Zeugenschutz durch weniger „klassische" Unmittelbarkeit - Erfahrungen in Holland, in: Lagodny (Hrsg.) Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen, 2000, S. 157,161 ff; für die Schweiz vgl die Bestandsaufnahme zu dem Strafprozessrecht der einzelnen Kantone bei Schleiminger Konfrontation im Strafprozess, S. 40ff. 51 Krauß V-Leute im Strafprozess und die Europäische Menschenrechtskonvention, Diss. Freiburg, 1999, S. 120. 52 Ständig wiederkehrende Formulierung. Vgl EGMR [Kostovski] StV 1990, 481, 482; [ Windisch] StV 1991, 193, 194; [Doorson] ÖJZ 1996, 715, 716; [Ludi] EuGRZ 1992, 300, 301; [Van Mechelen] StV 1997; 617, 619. 53 Tak ZStW 112 (2000) 170, 183 und 200.
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inconsistent with paragraphs 3 (d) and 1 of Article 6, provided the rights of the defence have been respected." Die Beweisaufnahme und nicht nur die Beweiswürdigung hat für den Gerichtshof grundsätzlich in kontradiktorischer Verhandlung zu erfolgen. Die Vorverlagerung der Beweisgewinnung in das eher mit Inquisitionselementen behaftete Ermittlungsverfahren ist demgegenüber die Ausnahme von der Regel.54 So formulierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil Van Mechelen: „Außerdem müssen im Hinblick auf ein kontradiktorisches Verfahren die Beweise grundsätzlich im Beisein des Angeklagten in öffentlicher Sitzung erhoben werden. Dieser Grundsatz gilt zwar nicht ausnahmslos; Ausnahmen können jedoch nur unter Wahrung der Rechte der Verteidigung zugelassen werden."55 Als Fazit hat sich also ergeben: Dem Prüfungsvorgehen des Gerichtshofs liegt in Fällen einer Beweisgewinnung in Voruntersuchungen eine Art Vermutung der Unvereinbarkeit mit den Vorgaben der Konvention zugrunde. Diese Vermutung kann allerdings in der Gesamtbetrachtung des Verfahrens durch den Ausgleich der für die Verteidigung entstandenen Nachteile im weiteren Verlauf widerlegt werden.
III. Vorgaben für eine Strafprozessreform nach Maßgabe des Eckpunktepapiers Die Verlagerung von Schwerpunkten der Beweiserhebung in das Ermittlungsverfahren läuft offensichtlich gerade den immer wieder geäußerten Wünschen zugunsten einer Regelbeweisaufnahme in kontradiktorischer, öffentlicher - d.h. nicht nur parteiöffentlicher - Vernehmung zuwider. Dies bedeutet noch nicht, dass der Mindeststandard an Wahrung von Konfrontations- und Fragerechten, wie ihn der EGMR entwickelt hat, durch eine solche Gewichtsverschiebung unterschritten würde. Allerdings erscheint an dieser Stelle auch die Frage berechtigt, ob nicht das Verfahrensrecht der StPO gut daran täte, diesen Minimalstandard auch einmal zu übertreffen und sich nicht auf ihn zu reduzieren. Anzumerken ist außerdem, dass sich die Straßburger Rechtsprechung bislang mit Rechtsordnungen zu beschäftigen hatte, die teilweise ein parteiöffentliches Vorverfahren, teilweise nicht einmal das Unmittelbarkeitsprinzip für die strafrechtliche Hauptverhandlung verwirklicht haben. Die Mindeststandards des EGMR sind auch immer daran zu messen, welche Missstände in den einzelnen Strafverfahrensordnungen es zu beheben gilt. Die so entwickelten Minimalanforderungen an 54 EGMR [Van Mechelen] StV 1997, 617, 619; Krauß V-Leute im Strafprozess und die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 65. 55 Ahnlich die Formulierung in EGMR [Α. M.) StraFo 2000, 375.
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ein faires Verfahren sind dementsprechend mehr als absolute Eingriffsgrenze zu betrachten denn als unbedingtes Vorbild oder Ideal einer Rechtsreform. Im Übrigen tut sich die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung bereits auf der Grundlage des geltenden Rechts mit der Umsetzung einiger Vorgaben aus den Urteilen des EGMR nicht gerade leicht, vor allem soweit es zeugenschützende, und darunter insbesondere identitätsverschleiernde Maßnahmen zu treffen gilt. Beides, der Charakter der in der Menschenrechtsrechtsprechung entwickelten Grundsätze als absolute Minimalia an Rechtsstaatlichkeit und Fairness und die Rezeptionsschwierigkeiten nationaler Gerichte bereits mit diesen Mindestanforderungen, gilt es zu berücksichtigen, soll die angestrebte Reform Verfahrenseffizienz und Verfahrensökonomie nicht einseitig zulasten der Fairness, insbesondere nicht zulasten des Beschuldigten realisieren.
IV. Grundvorgaben für einen Strafprozess im Einklang mit dem Konfrontationsrecht des Art. 6 Abs. 3 lit. d E M R K 1. Sachliche Voraussetzungen für eine frühe Mitwirkung des Verteidigers Die Parteiöffentlichkeit des Vorverfahrens ist eine der Hauptvoraussetzungen, um auch bei späterem Verlust des unmittelbaren Beweismittels des im Ermittlungsverfahren gewonnenen Beweisergebnisses in der Hauptverhandlung verwerten zu können. Dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger ist deswegen bereits frühzeitig ausreichend Gelegenheit zu geben, bei polizeilichen, staatsanwaltschaftlichen oder ermittlungsrichterlichen Vernehmungen Fragen an den Belastungszeugen zu stellen, dessen Angaben zu überprüfen und seine Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen („be given an adequate and proper opportunity to challenge and question a witness against him"). 56 Vermehrte Beteiligungsrechte des Verteidigers in frühen Verfahrensstadien (Eckpunkt Nr. 2) kommen dementsprechend der Rechtsprechung des EGMR gerade entgegen. Allerdings müssen diese Beteiligungsrechte auch effektiv sein. D. h. der Verteidiger muss so frühzeitig beigeordnet worden sein, dass er Zeit und Möglichkeit hatte, sich ausreichend auf die wichtige Erstvernehmung vorzubereiten.57 Das Ermessen des § 141 Abs. 3 S. 1 StPO wird auf Null reduziert.58 Außerdem ist dem Verteidiger entsprechend früh 56 EGMR [.Kostovski] StV 1990, 481, 482; [ Windisch] StV 1991, 193, 194; vgl außerdem § 168f in: Bannenberg, u.a. (Hrsg.) Alternativ- Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV), 2001, S. 132ff; krit. Bittmann ZRP 2001, 441, 443f. 5 7 Erstmals dazu BGHSt. 46, 93 = NJW 2000, 3505 = StV 2000, 593 = NStZ 2001, 212 m. Anm. Kunert = JuS 2001, 194 m. Anm. Martin = JA 2001, 100 m. Besprechung Eisele = JZ 2001, 359 m. Anm. Fezer, dazu krit. Schlotbauer StV 2001, 127 ff. 58 So bereits Schlothauer StV 2001, 127, 128.
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vollständige Akteneinsicht zu gewähren. Soll die einmalige Vernehmung des Zeugen nämlich tatsächlich die Vorwegnahme eines Teils der Hauptverhandlung darstellen, d.h. später nur in Form des mittelbaren Beweises verwertet werden, so muss der Verteidiger zu Beginn der frühen Vernehmung ebenfalls so behandelt werden, als wäre das Ermittlungsverfahren abgeschlossen, die Hauptverhandlung eröffnet. 59 In diesem Fall könnte Akteneinsicht nach §§ 147 Abs. 2,169a StPO zwingend durchgesetzt werden. D.h. Beschränkungen des Akteneinsichtsrechts - etwa aus dem Grund einer Gefährdung des Untersuchungszwecks - kommen zu diesem frühen Zeitpunkt der Untersuchungen bereits nicht mehr in Betracht, will man eine echte Mitwirkungsmöglichkeit eröffnen, also dem Verteidiger auch die Stellung weiterer Beweisanträge oder auch nur eine Stellungnahme zu dem erhobenen Beweis ermöglichen. 60 Nicht einmal der Vorschlag des DAV, nach dem die Voraussetzungen für eine Verweigerung der Akteneinsicht dahingehend verschärft werden sollen, dass eine „konkrete Gefährdung" des Untersuchungszwecks darzulegen ist und in Fällen vollzogener Untersuchungshaft die schon für sich der Sicherung des Verfahrens dient - eine Verweigerung des Einsichtsrechts gänzlich ausgeschlossen wird, 61 würde hier genügen. Ebenso wenig der Vorschlag des Alternativ-Entwurfs zur Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV), der durch Änderung des § 147 Abs. 5 StPO eine durchgehende ermittlungsrichterliche Überprüfung der Versagungsgründe der Akteneinsicht einführen möchte. 62 Weit wirkungsvoller und einfacher aber wäre es, die Anklagebehörde vor die Wahl zu stellen: entweder sie duldet die vollständige Akteneinsicht und kann dann die Zeugeneinvernahme auch im Hinblick auf die Ersetzung des unmittelbaren Beweises in der Hauptverhandlung durch das im Ermittlungsverfahren entstandene Beweissurrogat betreiben, oder sie verzichtet auf die effektive Mitwirkung des Verteidigers mit der Folge, die Zeugenvernehmung später im Ermittlungsverfahren oder auch in der Hauptverhandlung unter Gewährung sämtlicher 59 Weisend Gutachten C für den 62. Deutschen Juristentag, 1998, S. 66; noch weitgehender Schünemann StV 1998, 391, 400; Schlothauer StV 1999, 45, 49, zum Parallelproblem der Vorwegnahme eines Teils der Hauptverhandlung bei §§ 168e, 58a und 255a Abs 2 StPO, der Videoaufzeichnung der Vernehmung kindlicher Zeugen im Ermittlungsverfahren zur anschließenden vollständigen Ersetzung des unmittelbaren Zeugenbeweises in der Hauptverhandlung, dazu Beulke ZStW 113 (2001) 709, 712 ff, 737 ff. 60 DAV, AnwBl 2001, 30, 39, 40. « DAV, AnwBl 2001, 30, 40; auch Ignori Matt s.o. (Fn 5) 11. 62 AE-EV, 53 ff (Fn. 56); außerdem ist dort geplant, auch dem Beschuldigten - verteidigt oder unverteidigt - ein Recht auf Akteneinsicht zu gewähren, um dem Grundsatz der Waffengleichheit besser Genüge zu tun. Die durch das StVÄG 1999 eingefügte Befugnisnorm des § 147 Abs 7 StPO, nach der dem unverteidigten Beschuldigten Auszüge und Auskünfte aus den Akten gewährt werden können, genügt dem AE-EV aus guten Gründen nicht, da so der verteidigte Beschuldigte gegenüber dem unverteidigten bevorzugt wird; vgl außerdem EGMR, NStZ 1998, 429 m. Anm. Deumeland, dort wird dem unverteidigten Beschuldigten gleichfalls ein Recht auf vollständige Akteneinsicht gewährt.
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Beteiligungsmöglichkeiten von Beschuldigtem und Verteidigung wiederholen zu müssen.63 Dies käme wohl auch denen entgegen, die bereits um die Erfüllbarkeit der Aufgaben insbesondere des Ermittlungsverfahrens bangen und dafür plädieren, dass es möglich bleiben muss, den Zeugen zunächst einmal ohne Beteiligung der Verteidigung zu vernehmen bzw. den genauen Kenntnisstand der Ermittlungsbehörde dem Beschuldigten und seinem Verteidiger vorzuenthalten, bis sichergestellt ist, dass keine weiteren Verdunkelungsmaßnahmen getroffen werden.64 Soll das Ermittlungsverfahren also unmittelbar in die Hauptverhandlung transferierbare Beweise liefern, so ist entweder das gesamte Ermittlungsverfahren parteiöffentlich und auf der Basis eines gleichen Wissenstands von Anklage und Verteidigung zu gestalten oder die Beweisaufnahme muss später, u. U. auch in der Hauptverhandlung, in ihrem gesamten Umfang unter Mitwirkung der Verteidigung wiederholt werden. Nicht genügen wird, wenn nach beendeter Beweisaufnahme dem nunmehr informierten Verteidiger die schriftliche Zeugenbefragung gestattet ist,65 denn bereits der EGMR bezweifelt, dass die schriftliche Befragung ausreichend Ersatz für die unmittelbare, kontradiktorische Einvernahme bietet. Dies ist insbesondere dann zu verneinen, wenn der Zeuge durch zusätzliche Schutzmaßnahmen abgeschirmt, beispielsweise für das Verfahren anonymisiert wird.66 2. Partizipation des Beschuldigten Außerdem ist im Zuge der Realisierung einer effektiven Befragungsmöglichkeit grundsätzlich auch die Anwesenheit des Beschuldigten zu gestatten, sofern nicht ausreichend konkretisierte Gründe der Gefährdung des Untersuchungserfolges bzw. des Zeugenschutzes vorgetragen werden.67 Zwar genügt dem EGMR - wie dargelegt - grundsätzlich eine Beteiligung des Ver« So auch Salditi StV 2001, 311, 312. 64 Bittmann DRiZ 2001, 112, 120; den. ZRP 2001, 441, 442f; Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Eckpunkte-Papier der Bundesregierung zur Reform des Strafverfahrens, Juni 2001, S. 3: „Die Forderung nach einem partizipatorischen Strafprozess ist bereits im Ansatz verfehlt." 6 5 Vorschlag bei Bittmann DRiZ 2001, 112, 120, eine Vernehmung per Videokonferenz nach §§ 168e bzw. 247a StPO würde dagegen das Konfrontationsrecht in seinen Grundzügen aufrecht erhalten, u . U . nur den Sichtkontakt des Zeugen auf den Beschuldigten beschneiden. 6 6 EGMR [Kostovski\ StV 1990, 481, 482. 67 Beispielhaft dazu die Formulierung in § 168 f Abs 2 und 3 AE-EV, 132 ff, (Fn 56), ungenügend allerdings, wenn bereits die Haft zur Verhinderung des Beschuldigten genügen sollte (Abs 4). U m eine effektive Mitwirkung zu ermöglichen, die u . U . auch den späteren Verzicht auf das unmittelbare Beweismittel in der Hauprverhandlung erlauben soll, muss dem Beschuldigten immer dann die Beteiligung ermöglicht werden, wenn dem nicht die Gefährdung des Zeugen oder des Untersuchungszwecks entgegensteht, nicht aber die Verfahrensökonomie des Ermittlungsverfahrens.
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teidigers, grundsätzlich aber wird eine vollständig parteiöffentliche Vernehmung, d.h. eine solche in Anwesenheit des Beschuldigten bevorzugt. 68 Immerhin ermöglicht auch nur die ständige Rückfrage zwischen Verteidiger und Beschuldigtem, die kritischen Punkte der Zeugenaussage herauszuarbeiten und dann die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu erschüttern. Will die Anklage dagegen aus bestimmten Gründen, etwa weil sie bei einer Konfrontation mit dem Beschuldigten befürchtet, der Zeuge werde nicht die Wahrheit sagen, eine Begegnung mit diesem vermeiden, so bleibt auch hier nur die Möglichkeit, die gesamte Beweisaufnahme zu einem späteren Verfahrensstadium parteiöffentlich zu wiederholen. 3. Voraussetzungen für den Transfer des Beweisergebnisses in die Hauptverhandlung Geplant ist im Eckpunktepapier weiter eine Regelung, nach der Anwesenheitsmöglichkeiten bei polizeilichen, staatsanwaltschaftlichen bzw. ermittlungsrichterlichen Vernehmungen nur gewährt werden „sollen", nicht „müssen". Offensichtlich soll aber ein Beweisergebnis, das unter Verstoß gegen diese Regelung ohne Mitwirkung des Verteidigers zustande kam, dennoch in die Hauptverhandlung transferiert werden können, und dies sogar gegen Widerspruch des Verteidigers und Beschuldigten. Wie dargelegt genügt dem EGMR bereits, dass dem Verteidiger bloß eine „Gelegenheit" zur Mitwirkung gegeben wurde. 69 Genauso übrigens würde es der Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK genügen, wenn nur der Beschuldigte bei der Vernehmung anwesend gewesen wäre und Fragen hätte stellen können, dann freilich ohne rechtsanwaltliche Beratung. 70 Hier wird allerdings wiederum der Charakter der vom EGMR aufgestellten Grundsätze als absolute Minimalia eines fairen Verfahrens ersichtlich, denn ohne das durch die Mitwirkung von Beschuldigtem und Verteidigung bewirkte Austesten des Zeugenbeweises unter allen erdenklichen Gesichtspunkten, ohne diese zusätzliche Uberprüfung von Konsistenz und Glaubwürdigkeit der Aussage sind nicht nur die Verteidigungsrechte des Beschuldigten bzw. der Anspruch auf Waffengleichheit beeinträchtigt, auch das Aufklärungsinteresse, die zweite wichtige Zielkomponente einer Konfrontation, 71 leidet unter der häufig nur einseitig geführten Befragung durch die Ermittlungsbehörden. Anstatt einer bloßen „Soll"-Vorschrift ist, zumindest soweit tatsächlich eine Verwertung des nur mittelbaren Beweises in der Hauptverhandlung konkret ins Auge gefasst wird oder abzusehen ist, dass der Zeuge in späteren Vernehmungen " EGMR [Doorson] ÖJZ 1996, 715, 717. 69 Simon Die Beschuldigtenrechte nach Art. 6 Abs 3 EMRK, S. 106; Rzepka (Fn 44), S. 78. 70 Krauß V-Leute im Strafprozess und die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 108. 71 Gollwitzer GedS Meyer, S. 146f; kritisch Schleiminger Konfrontation im Strafprozess, S. 17
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nicht mehr zur Verfügung stehen wird, eine obligatorische Beteiligung des Verteidigers gesetzlich festzuhalten. Der Verteidiger hat folglich ein Mitwirkungsrecht, soweit nicht Interessen der Wahrheitserforschung oder des Zeugenschutzes konkret entgegenstehen. 72 Unter Verstoß gegen diese Vorschrift zustande gekommene Beweisergebnisse sind in der Hauptverhandlung nur mit Zustimmung von Verteidiger und Beschuldigtem verwertbar. Dies entspricht etwa auch den Vorschlägen des DAV, die ebenfalls nur solche Beweisergebnisse unter Durchbrechung der Unmittelbarkeit in die Hauptverhandlung transferiert sehen wollen, über deren Verwertbarkeit ein Konsens besteht. 73 Dem Verteidiger soll demzufolge generell ein Beurteilungsspielraum über die Verwertung des Beweissurrogates in der Hauptverhandlung und ein entsprechendes VETO-Recht belassen bleiben, unabhängig davon, ob eine frühe Partizipation stattfand oder nicht. Soweit hier eingewandt wird, diese Regelung eröffne dem Missbrauch und der absichtlichen Verfahrensverzögerung in Ermittlungs- und Hauptverfahren Tür und Tor, 74 so ist zu entgegnen, dass ein Missbrauch natürlich auch bei dieser Regelung nicht toleriert werden muss. Ihm könnte begegnet werden, indem dem Verteidiger bei Terminschwierigkeiten auferlegt wird, diese konkretisiert darzulegen und notfalls einen Ausweichtermin innerhalb weniger Tage zu benennen. Nimmt er den einverständlich festgelegten Termin nicht wahr, so kann innerhalb der Grenzen der Amtsaufklärungspflicht auf eine Wiederholung der Beweiserhebung verzichtet werden, und das erlangte Beweisergebnis ist unter Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes für die Hauptverhandlung verwertbar. 75
4. Transfer unter den Gesichtspunkten notwendiger
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Im Übrigen darf das Gericht bei der Verwertung des unter Beteiligung des Verteidigers und - im Idealfall - auch des Beschuldigten zustande gekommenen Beweisergebnisses nicht außer Acht lassen, dass die ursprüngliche Vernehmung bereits einige Zeit zurückliegt und deswegen neue Gesichtspunkte hinzugekommen sein könnten, die unter dem Gebot der Amtsaufklärung eine ergänzende, vielleicht auch eine völlig neue Vernehmung
So auch § 168 f AE-EV (Fn 56), S. 132. DAV, Stellungnahme zu den Eckpunkten einer Reform des Strafverfahrens, Mai 2001, S. 4f; Salditi StV 2001, 311, 312; von Galen/Wattenberg ZRP 2001, 445, 446f stützen dieses Ergebnis auch auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK. 74 Bittmann DRiZ 2001, 112, 121. 75 Terminkollisionen sind kein seltenes Ereignis. Eine gewisse Kooperationsbereitschaft kann im Fall der Glaubhaftmachung von Terminschwierigkeiten deswegen auch von Gericht und Anklagebehörde verlangt werden, vgl auch OLG München, StV 2000, 352. 72
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des Zeugen in der Hauptverhandlung verlangen. 76 Berechtigt erscheinen außerdem die Einwendungen von Salditi und dem DAV, die eine frühe Partizipation generell nur dazu nutzen wollen, einen frühen Konsens über einige Beweisergebnisse zu erzielen, die streitigen Beweise dagegen weiterhin in einer kontradiktorischen, öffentlichen Hauptverhandlung erhoben sehen wollen. 77 Allerdings wird dies letztlich zu einer doppelten kontradiktorischen Beweisaufnahme führen, hinsichtlich Verfahrensökonomie und Verfahrensbeschleunigung also den jetzigen Zustand des Strafverfahrens noch verschlechtern, zumal auch nach gegenwärtiger Rechtslage bereits eine konsensuale Lösung mit § 251 Abs. 1 Nr. 4 bzw. Abs. 2 S. 1 StPO eröffnet ist, wenn dem Aussageinhalt kein Widerspruch entgegengebracht wird. Bei tatsächlichen streitigen Beweisen wird hingegen auch die frühe Partizipation nicht viel mehr Konsens erbringen. Stattdessen sollte eine Durchbrechung der Unmittelbarkeit bei effektiv gewährter und tatsächlich genutzter früher Beteiligung des Verteidigers und Beschuldigten auch gegen den Willen des Verteidigers möglich sein, allerdings ist dann vom Gericht zu verlangen, dass es den letzten Stand der Untersuchungen mit dem Ermittlungswissen vergleicht, das zum Zeitpunkt der kontradiktorischen Vernehmung bestand und bei neuen Gesichtspunkten auch unter Amtsaufklärungsgesichtspunkten eine erneute Einvernahme anordnet. Außerdem kann es ratsam sein, die partizipatorische Beweisaufnahme an das Ende des Ermittlungsverfahrens zu legen. Nicht nur, weil zu diesem Zeitpunkt leichter Akteneinsicht ohne Gefährdung des Untersuchungserfolges gewährt werden kann, sondern auch, weil der Erkenntnisstand von diesem Moment bis zur Hauptverhandlung wahrscheinlich kaum noch variieren wird. 5. Abstufung der Transfermöglichkeit nach dem Beweiswert der zugrunde liegenden Vernehmung Nicht jede Vernehmung ist trotz Parteiöffentlichkeit und Mitwirkungsbefugnissen unbedingt zum Transfer ins Hauptverfahren geeignet. Zwar besteht auch bei polizeilichen und staatsanwaltlichen Vernehmungen eine Wahrheitspflicht des Zeugen, einer Eidespflicht unterliegt der Zeuge allerdings nicht und selbst die uneidliche Falschaussage wird vor diesen Behörden nicht mit Strafe bedroht. Aus diesem Grund sollte ein Transfer entgegen dem Willen von Verteidigung und Beschuldigtem nach kontradiktorischem 76
Bittmann DRiZ 2001, 112, 121; ders., ZRP 2001, 441, 443. Däubler-Gmelin StV 2001, 359, 361 ; u . U . wird sich das Gericht auch ein eigenes Bild von der Person des Opfers oder des Zeugen machen wollen, Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Eckpunkte-Papier der Bundesregierung zur Reform des Strafverfahrens, Juni 2001, S. 4. 77 Salditt StV 2001, 311, 312; DAV, AnwBl 2001, 30, 41, mit einem Hinweis auf § 255a Abs 2 StPO, der nach Ansicht des DAV auch eine absolute Ausnahmetransfermöglichkeit bleiben soll; so auch Ignor/Matt s.o. (Fn 5) S. 19.
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Vorverfahren und im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht maximal Beweisergebnisse ermittlungsrichterlicher Vernehmungen betreffen. Die übrigen Beweisergebnisse sollten nur bei Konsens oder bei tatsächlichem Verlust des unmittelbaren Beweismittels entsprechend der nach § 251 Abs. 2 StPO getroffenen Regelung Eingang in die Hauptverhandlung finden können. 6.
Vernehmungsdokumentation
Zu achten ist außerdem auf eine möglichst authentische Form der Vernehmungsaufzeichnung. Für Beweise, die nur wenig Kontroversen verursachen und deswegen nahezu im Konsens den Weg in die Hauptverhandlung finden, wird eine schriftliche Vernehmungsaufzeichnung regelmäßig genügen. Anders allerdings, soweit das Beweisergebnis auch nach dem kontradiktorischen Verfahren weiterhin umstritten ist. Für diesen Fall schlägt das Eckpunktepapier dann, wenn die Strafprozessordnung ein Inhaltsprotokoll anordnet, 7 8 eine fakultative Tonbandaufzeichnung vor. Ist ein Kapitaldelikt Gegenstand der Untersuchungen, soll außerdem die Bild-Ton-Aufzeichnung zumindest von Beschuldigtenvernehmungen möglich sein (Eckpunkt Nr. 9). Der DAV will dies durch Tonbandaufzeichnungen von Vernehmungen in der Hauptverhandlung ergänzen, die dem Gericht bei der Urteilsfindung als Gedächtnisstütze dienen sollen. 79 Die bessere Dokumentation garantiert allerdings die Videoaufzeichnung der Vernehmung, die je nach Positionierung der Kamera auch Gestik und Mimik des Zeugen festhält und damit dem unmittelbaren Beweis weit näher kommt als jedes schriftliche Vernehmungsprotokoll. Zum Einsatz sollte die Videotechnologie dann kommen, wenn der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt komplex ist, ein Kapitaldelikt untersucht wird oder bereits im Vorfeld der Vernehmung ersichtlich wird, dass Staatsanwaltschaft und Verteidigung in Bezug auf dieses Beweismittel sehr kontrovers diskutieren werden. Die Kosten für die Anschaffung der technischen Gerätschaften sollten nicht entgegenstehen, zumal hier nur Videokameras als Aufzeichnungsmedium zur Anwendung kommen sollen, nicht - wie im Fall des Zeugenschutzgesetzes - teure Ubertragungsanlagen zugekauft oder angemietet werden müssen. Je besser die Dokumentation, desto eher lässt sich vertreten, dass die effektive Mitwirkung der Verteidigung im Vorverfahren die unmittelbare Beweisauf78 Dies ist gemäß §§ 168, 168a StPO bei ermittlungsrichterlichen Vernehmungen der Fall; außerdem auch bei staatsanwaltschaftlichen Zeugen-, Sachverständigen- und Beschuldigtenvernehmungen nach §§ 168b Abs 2, 168, 168a StPO, wenn die Protokollierung ohne erhebliche Verfahrensverzögerungen geschehen kann. Für die polizeiliche Vernehmung nimmt zumindest die Rechtsprechung an, dass § 168a StPO entsprechend gilt, BGH, StV 1997, 511; BGH, NStZ 1995, 353; SKrRogall§ 58a Rn 16. 79 Dazu wurde bereits 1993 ein Gesetzesentwurf des Strafrechtsausschusses des DAV zur Tonaufzeichnung der Hauptverhandlung in Strafsachen vorgelegt, AnwBl 1993, 328 f.
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nähme in der Hauptverhandlung - in den Grenzen der Amtsaufklärungspflicht - präkludieren kann. Die Anschaffung entsprechender Geräte ist im Übrigen auch im Hinblick auf die seit Jahren geforderten Dokumentationen polizeilicher Beschuldigtenvernehmungen sinnvoll. Das Eckpunktepapier möchte Bild-Ton-Aufzeichnungen von Beschuldigtenvernehmungen zumindest bei Kapitaldelikten zur Anwendung bringen (Eckpunkt Nr. 9). Doch wäre eine anschauliche, ausführliche Videodokumentation ebenfalls für komplizierte und kontroverse Verfahren denkbar. Geht es allerdings nur darum, den verkürzten Vernehmungsniederschriften polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Vernehmungen zu begegnen, die oftmals in weiten Zügen durch die Handschrift des Vernehmenden geprägt sind, so wird eine Tonaufzeichnung genügen. 80 7. Opfer- und Zeugenschutz als beachtenswerte Gegeninteressen zum Recht auf Konfrontation Schnellere Verfahrensbeendigung soll früher Rechtsfrieden schaffen und dem (mutmaßlichen) Verletzten damit auch schneller den Weg in die (therapeutische) Verarbeitung der Tat eröffnen (Eckpunkt Nr. I)81. Außerdem erhoffen sich die Reformer durch die Möglichkeit, Vernehmungen frühzeitig unter Mitwirkung aller Beteiligten durchzuführen und damit die unmittelbare Beweiserhebung im Hauptverfahren ersetzen zu können, eine Vermeidung unangenehmer Mehrfachvernehmungen und damit eine zusätzliche Schonung des (potentiellen) Opfers. Soweit die frühe Beteiligung des Verteidigers und des Beschuldigten dazu führt, dass einverständlich auf eine erneute Einvernahme des Verletzten verzichtet werden kann oder soweit die Erstvernehmung den Beschuldigten dazu veranlasst, ein vollständiges oder teilweises Geständnis abzulegen, ist dies sicherlich gutzuheißen. Anders allerdings, soweit die bereits im Vorverfahren sehr kontrovers geführte Opfervernehmung aus Sicht der Verteidigung noch viele Fragen offen lässt und deswegen eine weitere kontradiktorische Einvernahme unerlässlich erscheint. Bedenken bleiben außerdem, soweit behauptet wird, eine einzige kontradiktorische Vernehmung zu einem frühen Verfahrenszeitpunkt könne tatsächlich regelmäßig der Sachaufklärung genügen. Gerade im Zusammenhang mit den Aussagen sehr junger Zeugen und Opfer von Gewaltund Sexualstraftaten ist oft versucht worden, das Vernehmungsverfahren auf nur eine frühe und kontradiktorische Erstaussage zu reduzieren und dieser dann Präklusionswirkung für das Hauptverfahren zuzuerkennen. 8 2 „Mehr Schutz für Opfer", Der Spiegel, Heft 11/2001 S. 17. Däubler-Gmelin StV 2001, 359, 360; sehr krit. von Galen/Wattenberg ZRP 2001, 445 ff. 82 So noch die Idee von Mildenberger Schutz kindlicher Zeugen im Strafverfahren durch audiovisuelle Medien: ein Beitrag zur Videographie von Vernehmungen, Diss. Passau, 80
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Erfahrungsberichte aus der Aussagepsychologie lassen allerdings vermuten, dass gerade sehr junge Zeugen überhaupt erst nach und nach bereit sind, Informationen aus ihrer Intimsphäre preiszugeben, auch weil sie erst Vertrauen zu der Vernehmungsperson fassen müssen. 83 Teilweise fällt es sehr jungen Zeugen auch nicht leicht, schon bei der ersten Befragung alle relevanten Geschehnisse zu reproduzieren, insbesondere wenn diese bereits längere Zeit zurückliegen und erst mit Beginn der Aufklärungsmaßnahmen überhaupt der notwendige Rekonstruktions- und Erinnerungsprozess einsetzt. 84 Es erscheint außerdem auch bei anderen Zeugen wenig realistisch, dass eine Erstvernehmung noch vor Ausschöpfung des gesamten zur Verfügung stehenden Beweisrahmens erschöpfend sein könnte. 85 Um tatsächlich das Höchstmaß an Aufklärung aus einer solchen Vernehmung im Ermittlungsverfahren zu realisieren, wird die Vernehmung also ebenfalls fast am Ende der Voruntersuchungen stattfinden müssen. Um aber die Untersuchungen selbst voranzutreiben, ist der (vermutliche) Verletzte zu Beginn des Verfahrens ohne Beteiligung der Verteidigung und des Beschuldigten über die wesentlichen Punkte des Tatvorwurfs zu vernehmen, 86 auf das Ergebnis dieser Vernehmung gegebenenfalls Zwangsmaßnahmen nach §§ 112 ff. StPO zu stützen, und erst später in einer erneuten Vernehmung unter Mitwirkung aller Beteiligten kann das von den Reformern angestrebte Beweisergebnis produziert werden, das dann u . U . für einen Transfer in die Hauptverhandlung in Betracht kommt. Damit bewahrheitet sich dann allerdings doch die Befürchtung des DAV, dass das Vorverfahren letztlich in zwei Abschnitte zerfallen wird, das Ermittlungsverfahren bisheriger Art und das partizipatorische Ermittlungsverfahren. 87 Dass dies tatsächlich immer zur schnelleren Verfahrenserledigung beiträgt, kann mit Recht bezweifelt werden. Deshalb dürfte es sich in Fällen des nicht „bestrittenen" Tatvorwurfs häufig doch als 1995, S. 319ff; ähnlich, §§ 251, 162a Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrecht (AEZVR), (Fn 56) S. 99ff, 114f; ScW«rWGre/Kriminalistik 1998, S. 530, 534; Maier Audiovisuelle Vernehmung kindlicher Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Strafverfahren, Diss. Kiel, 1997, S. 124, möchte sogar das Recht des Sachverständigen auf eine eigene Exploration des Zeugen beschneiden; kritisch zu derlei Bestrebungen Weigend Gutachten C für den 62. Deutschen Juristentag, S. 58 (Fn 177) 64f, s. auch Beulke ZStW 113 (2001) 712 f., 737 83 von Knoblauch zu Hatzbach ZRP 2000, 276, 278. 84 Zu der erinnerungsunterstützenden Funktion wiederholter Befragung zu verschiedenen Zeitpunkten vgl die Studie von Poole/White Tell Me Again and Again: Stability and Change in the Repeated Testimonies of Children and Adults, in: Zaragoza et al. (Hrsg.) Memory and Testimony in the Child Witness, 1995, S. 24, 26ff. 85 Schünemann StV 1998, 391, 400; Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zum Eckpunkte-Papier der Bundesregierung zur Reform des Strafverfahrens, Juni 2001, S. 2. 86 So auch der Wunsch von Bittmann DRiZ 2001, 112, 120, der außerdem befürchtet, dass das (vermeintliche) Opfer bereits bei der Aussicht, sofort im Ermittlungsverfahren mit dem (potentiellen) Täter konfrontiert zu werden, ohnehin jede Mitarbeit verweigert. 87 DAV, AnwBl 2001, 30, 40.
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zweckmäßig erweisen, anstatt der Konfrontation im Vorverfahren diese in bewährter Weise in der Hauptverhandlung zu suchen, der historisch auch die Aufgabe der Klärung streitiger Tatsachen in der Öffentlichkeit zuk o m m t . D a n n bedeutet die Stärkung der Opferrechte und der Ausbau der Verletztenposition zu der eines eigenständigen Verfahrenssubjekts 88 zunächst keine Bedrohung für das Konfrontations- und Fragerecht des Beschuldigten, solange dessen Recht auf Waffengleichheit nicht unterminiert wird u n d die Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK absoluter Maßstab bleibt. 89
8. Exkurs: Beweisantragsrecht im Vorverfahren Für eine effektive Ausübung des Rechts, Beweisanträge bereits frühzeitig im Ermittlungsverfahren zu stellen, gilt ähnlich wie für eine effektive Wahrnehmung des Konfrontations- und Fragerechts, dass nur der ausführlich über den Sachstand informierte Verteidiger überhaupt in der Lage sein wird, zu sachdienlichen Aufklärungsmaßnahmen anzuregen. Sollte sich die Schwerpunktverlagerung der Beweiserhebung in das Ermittlungsverfahren aber tatsächlich in der Form realisieren, dass sich ein in zwei Abschnitte aufgeteiltes Verfahren herausbildet, in dem nur im zweiten Abschnitt Partizipation und Information des Beschuldigten bzw. der Verteidigung in der Form ausgeprägt sind, dass tatsächlich eine Mitwirkung zur Sachaufklärung möglich und sinnvoll ist, so werden damit die verfahrensökonomischen Elemente der Reform weitgehend ins Leere laufen. Außerdem lässt es das Eckpunktepapier offen, wie im Ermittlungsverfahren mit abgelehnten Beweisanträgen umzugehen ist oder gar unter welchen Voraussetzungen sie abgelehnt werden können. Der nächstliegende Rechtsverweis wäre hier der auf eine entsprechende Anwendung des §§ 244 Abs. 2 bis 5 StPO. 90 D a n n aber ist wiederum offen, ob eine Ablehnung des Antrags bereits im Ermittlungsverfahren auch für die Hauptverhandlung präkludiert wäre, obwohl nicht das dortige Gericht zur Entscheidung angerufen worden ist. Statt einer vollständigen Präklusion wäre auch denkbar, das Beweisantragsrecht in der 88
Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Verletztenrechte, BT-Drucks 14/4661. Bedenken zum Ausbau des Opferschutzes auf Kosten unabdingbarer Rechte des Beschuldigten äußern der DAV in der Stellungnahme zu den Eckpunkten einer Reform des Strafverfahrens, Mai 2001, S. 8 f, und Salditi StV 2001, 311, 314; Ignori Matt s.o. (Fn 5) S. 5f. 90 Der DAV schlägt eine dem § 244 Abs 3 und 4 StPO entsprechende Regelung vor mit dem Zusatz, dass im übrigen ein Beweisantrag auch dann abgelehnt werden kann, wenn der behauptete Sachverhalt voraussichtlich weder die Einstellung des Verfahrens gemäß § 170 Abs 2 StPO noch einen erheblichen Einfluss auf die Straffrage zur Folge hätte, stellt zugleich aber auch berechtigt die Frage, wie eine rechtsfehlerhafte Ablehnung ohne ein kompliziertes Anrufungsverfahren an das Gericht kontrollieren und sanktionieren könnte, AnwBl 2001, 30, 40, 41. 89
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Hauptverhandlung nach bereits im Ermittlungsverfahren erfolgter Ablehnung desselben Antrags nicht an die Grenzen des § 244 Abs. 3 bis 5 StPO, sondern nur an die der Amtsaufklärungspflicht, § 244 Abs. 2 StPO, zu binden.91 Das würde aber die Verteidigung dazu verleiten, mit der Stellung von Beweisanträgen bis zur Hauptverhandlung zuzuwarten, weil sonst die Gefahr einer Teilpräklusion ohne Gerichtsbeschluss bestünde. Die Lösung kann also nicht sein, den Verteidiger mit aller Gewalt zu sachdienlichen Stellungnahmen und Anträgen im Ermittlungsverfahren zu drängen, sondern ihn durch rechtzeitige und ausführliche Information und Beteiligung zu solchen zu verlocken. Bei entsprechender Kooperation der Strafverfolgungsbehörden mit der Verteidigung könnte dann bereits im Ermittlungsverfahren der Weg einer konsensualen oder in Absprachen geregelten Lösung frei gemacht werden, die dann tatsächlich zu einer Verkürzung der Hauptverhandlung - allerdings nur in den Grenzen der gebotenen Wahrheitsermittlung - führt.
V. Zusammenfassung
Um tatsächlich das Konfrontationsrecht des Angeklagten auch unter teilweiser Verlagerung der Beweisaufnahme in das Ermittlungsverfahren bewahren zu können, zeichnet sich bereits jetzt eine Aufblähung des Ermittlungsverfahrens gegenüber der Hauptverhandlung ab. Dabei wird sich das Verfahren insgesamt gegenüber dem bisherigen Ablauf wahrscheinlich nur dann zügiger und konzentrierter durchführen lassen, wenn bereits früh im Vorverfahren ein Konsens über Wert und Relevanz der jeweiligen Beweisaufnahme erreicht werden kann. 92 Andernfalls empfiehlt es sich, das streitige Verfahren der Hauptverhandlung, für das sich der EGMR außerdem in ständiger Rechtsprechung ausspricht, als Schwerpunkt des Strafprozesses, vor allem auch als Hauptstadium einer Konfrontation beizubehalten. Beweisanträge könnten allerdings durch frühzeitige und vollständige Information des Verteidigers und des Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren initiiert werden, um das kontradiktorische Hauptverfahren später zügig und konzentriert durchführen zu können. Eine Beschleunigung der Hauptverhandlung wäre außerdem durch gerichtliche Absprachen zu bewirken, die sich allerdings ebenfalls dem Gebot der Amtsaufklärung beugen müssen und den Angeklagten nicht durch Druck aller Seiten auf eine schnelle Absprachelösung dazu zwingen dürfen, seine Konfrontationsrechte der Verfahrensökonomie zu opfern und sich trotz Unschuldsvermutung einem schnellen Schuldspruch zu unterwerfen. 91 Bittmann möchte Beweisanträge generell nur noch im Rahmen der Amtsermittlungspflicht bestehen lassen, um das Hauptverfahren generell zu straffen, DRiZ 2001,112, 116. 92 Mit Beispielen Ignori Matt s.o. (Fn 5) 7
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Im Übrigen ist die frühe Mitwirkungsmöglichkeit des Beschuldigten respektive seines Verteidigers im Sinne der Sachaufklärung zu begrüßen. Soweit die Beweismittel bereits früh auch durch die Beteiligung der Verteidigung auf ihren tatsächlichen Wahrheitsgehalt ausgetestet werden können, bestehen erhöhte Chancen, sich im weiteren Verlauf der Ermittlungen auf die tatsächlich relevanten Punkte zu konzentrieren und damit den Prozessstoff letztlich ebenfalls zu begrenzen. Außerdem bietet das in kontradiktorischer Verhandlung entstandene Beweismittel bei einem Transfer in die Hauptverhandlung größere Gewähr für inhaltliche Richtigkeit, was die bedachtsame richterliche Würdigung des nur mittelbaren Beweises allerdings nicht ersetzt.
Die Rechtsmittelreform in Strafsachen als Thema Deutscher Juristentage REINHARD
BÖTTCHER
I. Als Peter Rieß am 20. September 1978 in Wiesbaden auf dem 52. Deutschen Juristentag das Wort erhielt, um als Referent in der Strafrechtlichen Abteilung darüber zu sprechen, ob es sich empfiehlt, das Rechtsmittelsystem in Strafsachen, insbesondere durch Einführung eines Einheitsrechtsmittels, grundlegend zu ändern, da war es genau 50 Jahre her, daß eine Reform der Rechtsmittel in Strafsachen letztmals Thema eines Deutschen Juris tentags war.1 1928 befaßte sich der 35. Deutsche Juristentag in Salzburg mit der Frage „Mit welchen Hauptzielen wird die Reform des Strafverfahrens in Aussicht zu nehmen sein?" Im Rahmen dieser umfassenden Fragestellung war natürlich auch das Rechtsmittelsystem zu erörtern. Ausgangspunkt der Diskussion war die durch die Emminger Reform geschaffene Rechtslage. Die Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege - sog. Emminger-Verordnung - vom 4. 1. 19242 hatte die erstinstanzliche Zuständigkeit der Strafkammern (mit Ausnahme der Schwurgerichte) beseitigt und die erstinstanzliche Zuständigkeit der Schöffengerichte entsprechend ausgeweitet; auf diesem Wege war es zur Einführung der Berufung für alle erstinstanzlichen Sachen mit Ausnahme der Schwurgerichtssachen gekommen. Für geringfügige Delikte und Verurteilungen wurde die Berufung freilich ausgeschlossen und die unmittelbare Revision (Ersatzrevision) zugelassen. Auch wurde die Sprung-Revision eingeführt. 3 Beim Salzburger Juristentag sprach sich Graf zu Dohna in seinem Gutachten dezidiert und grundsätzlich gegen ein Festhalten an der Berufung aus. 4 Das Gutachten von Max Alsberg 1 Natürlich wurde in diesen fünfzig Jahren das strafrechtliche Rechtsmittelsystem in dem einen oder anderen strafrechtlichen Zusammenhang auf Deutschen Juristentagen berührt, so etwa 1974, als es um die strafrechtlichen Großverfahren ging (Vgl Beschlüsse N r 16, 17, 19 in Verhandlungen des 50. Deutschen Juristentags 1974, Bd. II Κ 272, 273). Sie war aber in dieser Zeit niemals ausdrücklich Thema eines Juristentags. 2 RGBl. I S. 15. 3 Vgl Löwe-Rosenberg/Äif/? Einl. E Rn 37, 38. 4 Verhandlungen des 35. DJT 1928, Bd. I S. 129, 131 f.
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hielt die Berufung nur für die Verfahren vor dem Strafrichter für sachgerecht. 5 Für eine Beschränkung der Berufung auf die Urteile des Strafrichters warb auch Lobe als Berichterstatter 6 und Höpler Schloß sich dem als Mitberichterstatter vor dem Hintergrund seiner österreichischen Erfahrungen an, wollte freilich die Befugnisse des Revisionsgerichts erweitern.7 Der Juristentag ist dem übereinstimmenden Votum dieser Koryphäen nicht gefolgt. Nach lebhafter Diskussion, in der sich u. a. Martin Drucker für die Beibehaltung der Berufung im damals gewährleisteten Umfang aussprach,8 kam man mit knapper Mehrheit zu dem Ergebnis, daß die Berufung in allen Verfahren mit Ausnahme der Schwurgerichtssachen und der Hoch- und Landesverratssachen statthaft sein soll. 9 Auch im übrigen hat der Juristentag keine Änderungen im Rechtsmittelsystem empfohlen; dagegen wurde eine Erleichterung der Wiederaufnahme befürwortet. 10 Schon Ende des 19. Jahrhunderts war es, vor dem Hintergrund einer anderen Gesetzeslage, in der Frage der Berufung auf Deutschen Juristentagen kontrovers zugegangen. 1884, wenige Jahre nach Inkrafttreten der StPO mit ihrer kompromißhaften Lösung, Berufung zwar gegen die amtsgerichtlichen Strafurteile vorzusehen, gegen die (damals häufigeren) Strafurteile der Strafkammern sowie der Schwurgerichte aber nur die Revision, hatte man in Würzburg auf dem 17. Deutschen Juristentag über die Einführung der Berufung gegen die erstinstanzlichen Urteile der landgerichtlichen Strafkammern gestritten. Ein zeitgenössischer Beobachter berichtete,11 daß „die aus der Literatur und aus den früheren Verhandlungen des Juristentages genügsam bekannten theoretischen und praktischen Gründe für und wider ausführlich erörtert worden" sind und dann, mit einer „nicht sehr großen Majorität", beschlossen wurde, daß die Einführung der Berufung zum Oberlandesgericht gegen die erstinstanzlichen Urteile der landgerichtlichen Strafkammern wenigstens hinsichtlich der Schuldfrage dringend zu wünschen sei.'2 Daß die Argumente pro und contra dem Beobachter bekannt vorkamen, die Sache ausdiskutiert erschien, war ein Fortschritt. Noch der 6. Deutsche Juristentag in München im Jahre 1867 hatte von einer Beschlußfassung zu dem Thema aus der Erwägung heraus abgesehen, „daß die wissenschaftlichen Forschungen über die Berufung noch nicht zum Abschluß gekommen sind".13 Aber Verhandlungen des 35. DJT 1928, Bd. I S. 440, 454 ff. Verhandlungen des 35. DJT 1928, Bd. II S. 564, 583 ff. 7 Verhandlungen des 35. DJT 1928, Bd. II S. 621 ff, 631 ff. 8 Verhandlungen des 35. DJT 1928, Bd. II S. 658. ' Verhandlungen des 35. DJT 1928, Bd. II S. 702ff.; 43: 38 war die Mehrheit. 10 Verhandlungen des 35. DJT 1928, Bd. II S. 703, 704. n Vgl Thomsen Gesamtbericht über die Thätigkeit des deutschen Juristentags in den 25 Jahren seines Bestehens 1860 - 1885. Jubiläumsschrift im Auftrag der Ständigen Deputation. Berlin 1885 S. 33, 184. 12 Die Mehrheit betrug 85 : 5 8 ; vgl Verhandlungen des 17 DJT 1894 S. 372. 13 Thomsen Fn 11 S. 182; Verhandlungen des 6. DJT 1867 Bd. III S. 365. 5 6
Die Rechtsmittelreform in Strafsachen als Thema Deutscher Juristentage
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schließlich war es bei der mehrjährigen Beratung der StPO auch einer der wesentlichen Streitpunkte, ob und inwieweit eine Berufung statthaft sein soll, wie man bei Rieß in der, so Rengieru mit Recht, glänzend geschriebenen Einleitung zum Großkommentar Löwe-Rosenberg nachlesen kann.15 Beim 22. Deutschen Juristentag 1892 in Augsburg, bei dem es darum ging, bei welchen Gerichten die Schöffengerichtsverfassung empfehlenswert ist, wurde die Frage der Berufung angesprochen, stand aber nicht mehr im Zentrum und wurde auch nicht abgestimmt.16 Wie von Rieß dokumentiert,17 ging die rechtspolitische Diskussion um die Rechtsmittel weiter. Die Entwürfe von 1908 und 1909 sahen die Berufung auch für Strafkammersachen vor,18 ebenso im Ergebnis der Entwurf von 1919.19 Die Emminger - Reform entsprach, auch wenn dies vielleicht nicht ihr Ziel war, mit der Ausweitung der Berufung dieser Reformtendenz und damit den Forderungen der zurückliegenden Juristentage. Das wurde, wie wir gesehen haben, beim 35. Deutschen Juristentag 1928 gebilligt. Eine Diskussion auf einem Deutschen Juristentag hätten auch die Rechtsänderungen verdient gehabt, die durch die Ausnahmeverordnungen von 1931 und 1932, insbesondere durch die Verordnung des Reichspräsidenten über Maßnahmen auf dem Gebiet der Rechtspflege und Verwaltung vom 14. 6. 193220 in Kraft gesetzt wurden: Wiederbegründung der erstinstanzlichen Zuständigkeit der Strafkammern mit der Folge des Wegfalls der Berufung in diesen Verfahren; Einführung des Wahlrechtsmittels für die amtsgerichtlichen Sachen.21 Aber dafür blieb dem Deutschen Juristentag keine Zeit mehr. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten stand vor der Tür. Am 29. April 1933 sagte die Ständige Deputation den für Herbst 1933 in München geplanten 37 Deutschen Juristentag22 ab und beschloß im weiteren Verlauf dieses Jahres, die Tätigkeit des Vereins Deutscher Juristentag einzustellen.23 Rengier G A 2001, 40. Löwe-Rosenberg/Rieß Fn 3 Rn 13, 18. 16 Vgl Verhandlungen des 22. DJT 1894 Bd. 1 S. 121, Bd. 2 S. 482. 17 Löwe-Rosenberg/Rieß Fn 3 Rn 18 ff; ausführlich Fezer in BMJ (Hrsg.), Reform der Rechtsmittel in Strafsachen. Bericht über die Entstehung der gegenwärtigen Rechtsmittelvorschriften und die Bemühungen um ihre Reform, Bonn 1974, S. 27 ff. 18 Löwe-Rosenberg/A¿e/? Fn 3 Rn 21 ff. 19 Löwe-Rosenberg/Rieß Fn 3 Rn 31. 20 RGBl. I S. 285. 21 Vgl Löwe-Rosenberg/Rieß Fn 3 Rn 43, 44. 2 2 Dabei sollte es in der strafrechtlichen Abteilung um die Probleme der Monsterprozesse gehen; Fraugen zum strafrechtlichen Rechtsmittelsystem hätten dabei nicht vermieden werden können. 23 Vgl dazu Freuding Beilage zu NJW 2000 Heft 35 S. 45, 46. Anstelle der seit 1860 durchgeführten Deutschen Juristentage organisierte der NS-Rechtswahrerbund in Leipzig erstmals 1933 und sodann 1936 und 1939 Massenkundgebungen für Juristen, die mit ihrer nationalsozialistischen Prägung und propagandistischen Ausrichtung deutlich machten, wie sehr das „Dritte Reich" gerade auch die Juristen vereinnahmt hat. 14 15
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Als der Deutsche Juristentag 1949 seine Arbeit wieder aufnahm, standen zunächst andere Fragen im Mittelpunkt des strafrechtspolitischen Interesses. Erst im Zusammenhang mit den Konzepten für eine Große Justizreform wurde in den sechziger Jahren die Rechtsmittelfrage wieder grundsätzlich angegangen. Der Deutsche Richterbund hatte sich 1967 für die Einführung eines Einheitsrechtsmittels mit dem Charakter einer erweiterten Revision ausgesprochen. 24 Der Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer stellte 1971 eine Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und des Rechts der Wiederaufnahme vor, die demgegenüber an der Berufung und der Revision in ihrem geltenden Anwendungsbereich grundsätzlich festhalten, die Revision freilich erweitern wollte. Der gleichfalls 1971 vorgelegte Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein Justizreformgesetz 25 wollte in Zusammenhang mit der erstrebten Dreistufigkeit in der ordentlichen Justiz ein einheitliches, als Berufung bezeichnetes Rechtsmittel für alle Strafsachen zum Oberlandesgericht einführen, gegen dessen Berufungsurteile eine Grundsatzrevision eröffnet sein sollte.
II. Unmittelbarer Anlaß dafür, daß die Ständige Deputation 1976 beschloß, die Frage einer grundsätzlich angelegten Reform des strafprozessualen Rechtsmittelsystems zum Thema des 52. Deutschen Juristentags zu machen, war der Ende 1975 im Auftrag der Justizministerkonferenz vorgelegte Diskussionsentwurf Rechtsmittelreform, den die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Strafverfahrensreform" erarbeitet hatte. Einflußreiches Mitglied dieser Arbeitsgruppe26 war Peter Rieß, der sich damit als Vertreter des Bundesministeriums der Justiz endgültig auf der Bühne der strafprozessualen Reformdiskussion etablierte. Er hat den Entwurf alsbald nach Vorlage auch literarisch präsentiert.27 Der Diskussionsentwurf stellte die Rechtsmittelreform in einen größeren Regelungszusammenhang.28 Für die Verfahren der kleineren und mittleren Kriminalität sah er neben dem Strafbefehlsverfahren ein vereinfachtes mündliches Verfahren vor dem Strafrichter vor, das durch Strafbescheid ab24
Vgl Beschluß des Gesamtvorstandes des Deutschen Richterbundes vom 24. 2. 1967 DRiZ 1967, 105 mit Anm. Neidhard. 25 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Neugliederung der ordentlichen Gerichtsbarkeit, AnwBl 1972, 3 ff; dazu kritisch Schier/Eckl NJW 1972, 177 26 „Motor und entscheidender Miturheber des DE", so wurde Rieß von Schier bezeichnet (Verhandlungen des 52. DJT 1978 Bd. II, L 71). 27 Rieß DRiZ 1976, 3; zum zugrundeliegenden Konzept vgl. Vogel in Fn 17 S. 4ff. 28 Allerdings verzichtete er, anders als die 1971 vorgestellte Denkschrift des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, auf eine Einbeziehung des Rechts der Wiederaufnahme (dazu Peters Verhandlungen des 52. DJT 1978, Bd. I C 7 ff.).
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geschlossen wird. Gegen den Strafbescheid sollte wie gegen den Strafbefehl der Rechtsbehelf des Einspruchs eröffnet sein, der in das Normalverfahren vor dem Schöffengericht führen sollte. Gegen die Urteile der Schöffengerichte wie gegen die erstinstanzlichen Urteile der Land- und Oberlandesgerichte wurde als einheitliches Rechtsmittel eine Urteilsrüge vorgesehen, über die teils die Oberlandesgerichte, teils der Bundesgerichtshof entscheiden sollten. Es handelte sich dabei um ein revisionsähnliches Rechtsmittel mit erweiterten Kompetenzen hinsichtlich der Uberprüfung des Sachverhalts bei eigener, der Sachverhaltsfeststellung dienenden Beweisaufnahme.29 Eine Uberprüfung des Sachverhalts sollte freilich nur insoweit stattfinden, als sich gegen die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz „schwerwiegende Bedenken" ergeben, Lücken oder Widersprüche vorliegen oder Verfahrensfehler zugrundeliegen. Der Diskussionsentwurf wurde im Schrifttum sehr kritisch aufgenommen.30 Dahs überschrieb seine Stellungnahme „Die Urteilsrüge - ein Irrweg".31 Auch Karl Peters hat als Gutachter des 52. Deutschen Juristentags diesem Konzept widersprochen. Der Wegfall der Berufung schien ihm ein nicht akzeptabler Preis für eine erweiterte Kontrolle der Feststellungen in der Revision, die auch er befürwortete. An der Berufung wollte er im bisherigen Umfang festhalten, auch an der Revision gegen Berufungsurteile.32 Eine verbesserte revisionsgerichtliche Kontrolle der Feststellungen erstrebte er über eine Objektivierung des § 261 StPO.33 Die richterliche Uberzeugungsbildung sollte in dieser zentralen Bestimmung ausdrücklich an die kriminalistischen Erfahrungen und Erkenntnisse gebunden werden.34 Das war die Situation, als Rieß am 20. September 1978 sein Referat hielt. Es war ein ausgezeichnetes Referat. Der Verfasser erinnert sich noch, wie sehr er, damals frisch dazugestoßen zum Kreis der Strafprozeßreferenten der Justizverwaltungen, den Kollegen Dr. Rieß für dieses Referat bewunderte. Unter Aufbereitung von rechtstatsächlichem Material kam das Referat mit nur selten zu erlebender Straffheit und Präzision zu differenzierten, den gesamten Themenbereich abdeckenden Vorschlägen, die dann in knapp 50 Thesen zusammengefaßt waren, die eindrucksvoll mit der einzigen Gegenthese des Korreferenten Sarstedt kontrastierten. Dazu kam das Engagement des Vortrags und ein spielerischer Umgang mit der eigenen Perfektion: Für den Verfasser war dies der Auftakt zu vielen Gesprächsrunden, die So Peters Verhandlungen des 52. DJT 1978 Bd. I C 15. Richterverein beim BGH, DRiZ 1976, 17; Benz ZRP 197)7 58; Dahs NJW 1978, 1551; Lisken DRiZ 1976, 157; Theyssen JR 1978, 309; weitere Nachweise bei Rieß ZRP 1979, 193 Fn 2 und 4. 31 Dahs NJW 1978, 1551. 32 Peters Verhandlungen des 52. DJT 1978, Bd. I C 53. 33 Peters Verhandlungen des 52. DJT 1978, Bd. I C 25ff, C 29, C 52. 34 Peters Verhandlungen des 52. DJT 1978, Bd. I C 52. 29
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durch die überragende Fachkompetenz von Peter Rieß und die Eleganz und Heiterkeit seines Vortrags geprägt wurden. Inhaltlich rückte Rieß in seinem Referat von wesentlichen Positionen des Diskussionsentwurfs ab, was seine Mitstreiter in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe teilweise erstaunte. 35 Das Strafbescheidsverfahren und den Querrechtsbehelf des Einspruchs hat er nicht verteidigt, hielt vielmehr an der Berufung gegen die Urteile des Strafrichters fest. Auch vertrat er nicht die Forderung nach einem Einheitsrechtsmittel, sprach sich vielmehr dafür aus, gegen Urteile des Strafrichters Berufung und anschließend Rechtsbeschwerde, gegen Urteile der Schöffengerichte und der Strafkammern die erweiterte Revision vorzusehen. Die knapp 50 Thesen des damaligen Referats 36 enthalten auch heute unverändert wichtige Aussagen: Die Absage an ein Einheitsrechtsmittel für alle Strafsachen, die Absage an ein Wahlrechtsmittel für alle Strafsachen, die Forderung nach einem ganzheitlichen Ansatz, der erstinstanzliches Verfahren und Rechtsmittelsystem zusammensieht, das fand damals Zustimmung und hat auch in der Folgezeit gegolten. 37 Die Ablehnung der Berufung als Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern und der Oberlandesgerichte, auch einer „eingeschränkten" Berufung, fand bei der Abstimmung in Wiesbaden eine große Mehrheit 38 ebenso die Aussage, daß die Berufung gegen Urteile des Strafrichters beizubehalten ist. 39 Auch das hat die Diskussion der Folgejahre bis heute geprägt. Freilich, in wichtigen Punkten, ist der Wiesbadener Juristentag den Thesen von Rieß nicht gefolgt. Die Erweiterung der Revision als einziges Rechtsmittel in Fällen der schweren Kriminalität um einen weiteren Revisionsgrund, mit dem die tatsächlichen Feststellungen beanstandet werden können („Tatsachenrüge"), wurde mit deutlicher Mehrheit abgelehnt, 40 auch wenn man akzeptierte, daß die revisionsgerichtliche Kontrolle der Feststellungen intensiviert werden sollte, und die Forderung, daß die Urteilsgründe die die Feststellungen bestimmenden Erwägungen enthalten müssen, deshalb Zustimmung fand, 41 ebenso die Forderung von Peters nach einer Objektivierung des 261 StPO,42 die Rieß abgelehnt hatte. 43 Keine Zustimmung fand Rieß auch mit seiner Forderung, gegen Urteile der Schöffengerichte Vgl Wendisch Verhandlungen des 52. DJT 1978, Bd. II L 138. Rieß Verhandlungen des 52. DJT 1978, Bd. II L 8ff., L 31 ff. 37 Zur Rennaissance des Gedankens des Einheitsrechtsmittels in der laufenden Legislaturperiode vgl unten IV. 38 Vgl Verhandlungen des 52. DJT1978, Bd. II L 222 39 Vgl Verhandlungen des 52. DJT 1978, Bd. II L 222. 40 Vgl Verhandlungen des 52. DJT1978, Bd. II L 222. 41 Verhandlungen des 52. DJT 1978, Bd. II L 222, 223. 42 Verhandlungen des 52. DJT 1978, Bd. II L 222. 43 Verhandlungen des 52. DJT 1978, Bd. II L 17 35 36
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nur noch die Revision zuzulassen. Dies verfiel ebenso der Ablehnung wie der Vorschlag von Rieß, die Revision als Zweitrechtsmittel durch eine auf Grundsatzfragen, Divergenzen und schwerwiegende Verfahrensfehler beschränkte Rechtsbeschwerde zu ersetzen. 44 Nimmt man hinzu, daß der Wiesbadener Juristentag Rießens Forderung nach einer Abschaffung der Sprungrevision ebensowenig aufgegriffen hat wie die nach einem Wegfall derjenigen Anforderungen an das amtsgerichtliche Verfahren, die nur im Hinblick auf eine revisionsgerichtliche Kontrolle gerechtfertigt erscheinen, 45 so muß man sagen, daß Rieß, insoweit er sich für strukturelle Änderungen des Rechtsmittelrechts einsetzte, gegen eine Wand fuhr. Nur kleinere Reformvorschläge, wie die nach einer behutsamen Erweiterung der Befugnis des Revisionsgerichts zur Durchentscheidung, fanden damals die Billigung des Auditoriums. 46 Es ging Rieß also wie 50 Jahre davor, beim 35. Deutschen Juristentag, Graf zuDohna, Alsbergunà Lobe, nur daß die Mehrheiten gegen seine Vorschläge eindeutiger waren. Freilich hatte Rieß mit Sarstedt auch einen wortgewaltigen Gegenspieler als Korreferenten. Aber wichtiger war, daß mehrheitlich nur geringe Unzufriedenheit mit dem bestehenden Rechtsmittelsystem bestand, Leidensdruck in Richtung eines Systemwechsels nicht vorhanden war. Rieß hat es nach dem 52. Deutschen Juristentag selbst übernommen, 47 ein Fazit aus den Beratungen und Abstimmungen zu ziehen. 48 Die Tagespresse hatte die Beschlüsse als „Begräbnis der Rechtsmittelreform" interpretiert.49 Unter der Überschrift „Was bleibt von der Reform der Rechtsmittel in Strafsachen?" gewann Rieß den Beschlüssen durchaus Positives ab. Er erblickte in den eindeutig ausgefallenen Abstimmungsmehrheiten nach dem lange geführten Streit um die Rechtsmittelreform die Herstellung eines breiten, berufsübergreifenden Konsenses, daß das bestehende Rechtsmittelsystem in seiner Struktur zu erhalten ist, weil es als das am wenigsten mängelbehaftete anzusehen ist. 50 Der Konsens für die langfristige Beibehaltung des überkommenen Systems mache es, so Rieß51, möglich und notwendig, die Rechtsmittel in ihren Details zu überprüfen und gegebenenfalls zu verbessern und, wie könnte es bei Peter Rieß anders sein, er nannte auch gleich Beispiele für solche Details, zu denen die Prüfung weitergehen sollte: Die BegründungsVerhandlungen des 52. DJT 1978, Bd. II L 224. Verhandlungen des 52. DJT 1978, Bd. II L 222, 224. 46 Verhandlungen des 52. DJT 1978, Bd. II L 223. 47 Rieß ZRP 1979, 193. 48 Was aus der Sicht des Verfassers, derzeit Vorsitzender der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentags, sehr zu begrüßen war und zur Nachahmung nur empfohlen werden kann. 49 Nachweise bei Rieß ZRP 1979, 194 Fn 9. 50 Rieß ZRP 1979, 195. 51 Rieß ZRP 1979, 196. 44 45
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pflicht für die Berufung; 52 ein vereinfachtes Verfahren in Fällen der Kleinkriminalität,53 eine verbesserte Kontrolle der tatrichterlichen Feststellungen durch die Revision. 54 Stimmt man dieser Bewertung zu, und dem Verfasser ist eine fundiertere, besser abgewogene nicht bekanntgeworden, 55 dann hätte der 52. Deutsche Juristentag mit seinen negativen Voten eine wichtige Funktion erfüllt, indem er den Justizverwaltungen deutlich machte, daß die Fachwelt eine grundlegende Umgestaltung des strafrechtlichen Rechtsmittelsystems nicht für sachgerecht hält. 56
III. Tatsächlich wurde es um strukturelle Änderungen im Rechtsmittelrecht erst einmal ruhiger. Andere Aufgaben für den Gesetzgeber drängten sich vor, die Bewältigung der terroristischen Gewalttaten und später die Verfolgung der organisierten Kriminalität sowie der Opferschutz 57 und noch später die Aufgaben, die sich aus der Wiedervereinigung ergaben. Das hinderte nicht, daß kleinere Eingriffe in das Rechtsmittelrecht vorgenommen wurden, die ersten davon (Besetzungsrügepräklusion, Ausschluß der Revisibilität unanfechtbarer Zwischenentscheidungen) schon im StVÄG 1979,58 wenige Wochen nach dem 52. Deutschen Juristentag. Beschleunigung und Vereinfachung des Strafverfahrens sowie Justizentlastung, die schon dem ersten Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts 59 das Gepräge gegeben hatten, erhielten im rechtspolitischen Raum immer höheren Stellenwert. Es kann nicht wundern, daß der Blick des Gesetzgebers dabei immer wieder auf das Rechtsmittelrecht als Ort möglicher Entlastungs- und Beschleunigungsmaßnahmen fiel. Das StVÄG 198760 beseitigte die Möglichkeit der Zurückverweisung durch das Berufungsgericht nach § 328 Abs. 2 StPO. Das 52 Rieß ZRP 1979, 194. 53 Rieß ZRP 1979, 195. 54 Rieß ZRP 1979, 195. 55 Man konnte damals nur staunen über den Weitblick und die Breite der Begabung, die es ein und demselben Juristen ermöglichte, den Diskussionsentwurf voranzutreiben, für den Deutschen Juristentag ein alternatives Konzept zu entwickeln und sodann die gegenläufigen Beschlüsse des DJT angemessen zu würdigen und weiterzuführen. 56 Zur Typologie der Wirkungsweisen von Juristentagsberatungen im rechtspolitischen Raum vgl Dächer in Deutscher Juristentag (Hrsg.) Der Deutsche Juristentag 1860 bis 1994, 1997, S. 135 ff; Böttcher FS Meyer-Goßner S. 51. 57 Den Beitrag des DJT zum Zustandekommen des Opferschutzgesetzes und den Anteil, den Peter Rieß dabei hatte, zu würdigen, wäre eine eigene Abhandlung wert (vgl Kurland in Deutscher Juristentag (Hrsg.) Der Deutsche Juristentag 1860 bis 1994, 1997 S. 223). 58 Vom 5. 10. 1978 (BGBl. I S. 1645). s' Vom 7 12. 1974 (BGBl. I S. 3393); dazu Löwe-Rosenberg//te/?Fn 3 Rn 112ff. ω Vom 27 1. 1987 (BGBl. I S. 475); dazu Löwe-Rosenberg//te/ Fn 3 Rn 127ff.
Die Rechtsmittelreform in Strafsachen als Thema Deutscher Juristentage
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Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege 61 führte die Annahmeberufung bei geringfügigen Vorwürfen (§§ 313, 322a StPO) ein; weitergehende Vorschläge des Bundesrats, die Sprungrevision abzuschaffen und die Revision als Zweitrechtsmittel in eine Zulassungsrevision umzugestalten, Vorschläge, die Anklänge an die Thesen von Rieß auf dem 52. Deutschen Juristentag 1978 enthielten und von den Justizverwaltungen Anfang der achtziger Jahre intensiv erörtert worden waren, 62 blieben erfolglos. An der durch die Ziele der Justizentlastung und Verfahrensbeschleunigung bestimmten Diskussion beteiligte sich auch der Deutsche Juristentag. Thema des 60. Deutschen Juristentags 1994 in Münster war die Frage, ob sich Änderungen des Strafverfahrensrechts mit dem Ziel empfehlen, ohne Preisgabe rechtsstaatlicher Grundsätze den Strafprozeß, insbesondere die Hauptverhandlung, zu beschleunigen. Der durchaus ungewöhnliche Hinweis auf die Selbstverständlichkeit, das rechtsstaatliche Grundsätze nicht preisgegeben werden dürfen, zeigte, daß die Ständige Deputation die Entwicklung mit einer gewissen Sorge verfolgte, einer einseitigen Akzentuierung des Beschleunigungsanliegens entgegenwirken wollte. Im Mittelpunkt des Themas stand das Recht der Hauptverhandlung. Trotzdem war klar, daß auch Fragen des Rechtsmittelrechts angesprochen werden mußten. Im Gutachten von Gössel·3 geschah dies und zwar in doppelter Weise. Für minderschwere Fälle schlug Gössel ein neues vereinfachtes Verfahren vor; Rechtsmittel gegen die Urteile des Strafrichters sollte in diesen Fällen ausschließlich eine revisionsähnliche Rechtsbeschwerde sein. 64 Für die übrigen Verfahren strebte er eine gesetzliche Beschränkung der revisonsgerichtlichen Kontrolle der Feststellungen an und schlug - insoweit also im Gegensatz zu den Intentionen des 52. Deutschen Juristentags 1978 - eine entsprechende Ergänzung des § 337 StPO vor. Auch die Referenten sahen allesamt den Zusammenhang mit dem Rechtsmittelrecht. Weigend stellte für die amtsgerichtlichen Sachen das Wahlrechtsmittel oder gar die ersatzlose Abschaffung der Berufung zur Diskussion. 65 Linden votierte für eine Ausweitung der Annahmeberufung, für eine Begründungspflicht bei der Berufung, für die Abschaffung der Sprungrevision sowie für eine Einschränkung der Revision als Zweitrechtsmittel auf schwerwiegendere Verurteilungen; den Überlegungen von Gössel zur Beschränkung des Prüfungsumfangs der Revision trat er bei. 66 Egon Müller lehnte Änderungen im Rechtsmittelrecht ab. 67 « Vom 11. 1. 1993 (BGBl. I S. 50); dazu Löwe-Rosenberg/Ä/e/?Fn 3 Rn 143 55; Böttcher/ MayertiSO. 1993, 193. 62 Wobei wiederum Rieß gemeinsam mit Jabel, Linden und dem Ve^sser federführend war. 63 Gössel Gutachten C zum 60. DJT 1994. 64 Gössel Gutachten C zum 60. DJT 1994 C 47 65 Weigend Verhandlungen des 60. DJT 1994 Bd. II 1 M 16. 66 Linden Verhandlungen des 60. DJT 1994, Bd. II 1 M 50ff, M 59ff. 67 E. Müller Verhandlungen des 60. DJT 1994, Bd. II 1 M 83.
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In der Diskussion brachte die Vielzahl der Einzelthemen und die Fokussierung auf den Beschleunigungsgedanken mit sich, daß die Fragen des Rechtsmittelrechts nur verhältnismäßig gering diskutiert wurden; viele der Diskussionsredner haben sich damit überhaupt nicht befaßt. Es war vor allem Rieß6*, der darauf hinwies, daß sich daraus für die Reichweite der zu fassenden Beschlüsse Probleme ergeben. Man könne solchermaßen fundierte Beschlüsse zum Rechtsmittelrecht kaum als endgültige Entscheidung des Deutschen Juristentags interpretieren. Die Abteilung hat sich dadurch nicht abhalten lassen, zum Rechtsmittelrecht wie zu anderen Aspekten des Themas weitreichende Beschlüsse zu fassen: Begründungspflicht für die Berufung, Ausweitung der Annahmeberufung auf Verurteilungen zu Geldstrafen bis zu 90 Tagessätzen, gesetzlicher Ausschluß der Revision als Sprungrevision oder Zweitrechtsmittel in diesem Bereich, Einführung des Wahlrechtsmittels gegen amtsgerichtliche Urteile im übrigen. 69 Mit großer Mehrheit kam keine dieser Empfehlungen zustande, einige (Ausweitung der Annahmeberufung, grundsätzlicher Ausschluß der Revision im so erweiterten Bereich, Einführung des Wahlrechtsmittels) mit durchaus knapper Mehrheit. 70 Vergleicht man mit den Beschlüssen zu anderen Facetten des Beschleunigungsthemas, positiven wie negativen Beschlüssen, so erweist sich das Meinungsbild bei den Rechtsmitteln als nicht so eindeutig, daß man die Beschlüsse, wie Rieß dies im Blick auf den 52. Deutschen Juristentag getan hatte, 71 als Ausdruck eines breiten Konsenses der rechtspolitisch interessierten Juristen aus allen Berufssparten würdigen könnte. Im Ergebnis kam es in der 13. Wahlperiode auch nicht zu entsprechenden Rechtsänderungen. Der Entwurf des Bundesrats für ein zweites Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege (BTDrucks 13/4541) griff freilich wesentliche Forderungen des 60. DJT auf: Erhebliche Ausweitung der Annahmeberufung, Beseitigung der Sprungrevision in diesem Bereich, Einführung des Wahlrechtsmittels für die amtsgerichtlichen Sachen im übrigen, Begründungspflicht für die Berufungen. Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestags hat auch noch eine Anhörung durchgeführt, zu einer Verabschiedung des Gesetzes ist es aber nicht gekommen. Die kritischen Stellungnahmen in der Literatur haben dabei sicher auch eine Rolle gespielt, insbesondere der Appell, nicht bei Einzeländerungen stehen zu bleiben, sondern eine Gesamtreform ins Auge zu fassen. 72 68 Rieß Verhandlungen des 60. DJT 1994, Bd. Π/1 M 193; ähnlich Hamm Verhandlungen des 60. DJT 1994, Bd. H/1 M 204. " Verhandlungen des 60. DJT 1994, Bd. II/l M 94, 95. 70 Annahmeberufung: 61 :52 :7; Ausschluß der Revision in diesem Bereich: 61 : 50 :5; Wahlrechtsmittel: 61 : 50 :4. 71 Vgl Rieß ZRP 1979, 194. 72 Grundlegend Rieß NStZ 1994, 409; Perron JZ 1994, 823; Frister StV 1994, 445; Kintzi DRiZ 1994, 325.
Die Rechtsmittelreform in Strafsachen als T h e m a Deutscher Juristentage
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IV. Wenn die Reform des strafrechtlichen Rechtsmittelsystems in der 14. Wahlperiode wieder zu einem heißen Thema geworden ist, so ist dies nicht nur darauf zurückzuführen, daß die parlamentarische Opposition die Vorschläge des Bundesrats aus der vorangegangenen Wahlperiode wieder aufgenommen hat,73 sondern vor allem darauf, daß die Regierungskoalition in der Koalitionsvereinbarung verabredet hat, eine „umfassende Justizreform (Dreistufigkeit, Aufwertung der einheitlichen Eingangsgerichte, Reform der Gerichte und Instanzen, Vereinfachung und Angleichung der Verfahrensordnungen)" durchzusetzen. Alsbald zeichnete sich ab, daß das BMJ im Vollzug dieser Koalitionsvereinbarung auch eine Reform des Rechtsmittelsystems in Strafsachen plante. Im Benehmen mit dem BMJ hat die Ständige Deputation dem 63. Deutschen Juristentag in Leipzig daraufhin die Frage gestellt, ob für die Strafjustiz ein dreigliedriger Justizaufbau, eine Reform des Rechtsmittelsystems und eine Aufgabenverlagerung auf außergerichtliche Verfahren zu empfehlen ist. Zum Gutachter wurde Lilie bestellt. Das BMJ hatte Anfang 1999 seinerseits zwei Gutachten in Auftrag gegeben, eines an das Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, das andere an die Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes. In dem letzteren Gutachtensauftrag durch das BMJ hieß es, daß „ein unumkehrbarer Einstieg in die Dreistufigkeit" erstrebt werde. Als „mögliches Modell" wurde in dem Gutachtensauftrag ein Reformkonzept umschrieben, bei dem in zwei Stufen vorgegangen werden soll: In der ersten Stufe soll für die amtsgerichtlichen Sachen ein neues (Elemente der Berufung und der Revision integrierendes) Rechtsmittel vorgesehen werden, über das das Oberlandesgericht entscheidet; für die bisherigen landgerichtlichen Sachen soll es bei der Revision zum Bundesgerichtshof bleiben. In einer zweiten Stufe soll sodann auch für die landgerichtlichen Sachen das neue Einheitsrechtsmittel zum Oberlandesgericht eingeführt werden. Für den BGH würde (letztlich) die Aufgabe der Rechtsfortbildung und der Sicherung der Rechtseinheit bleiben. Das Gutachten des Freiburger Max-Planck-Instituts gliedert sich in zwei Teile. Im rechtsvergleichenden Teil kommt das Gutachten zu einer recht günstigen Beurteilung des deutschen Rechtsmittelsystems. Den Amtsgerichten gelinge es in einem international überdurchschnittlichen Maß, die Verfahren rechtskräftig zum Abschluß zu bringen. Rechtsmittel würden in Deutschland vergleichsweise zügig erledigt. Die Möglichkeit einer Uberprüfung auch der Tatsachen im Rechtsmittel werde international als wünschenswert angesehen. Länder, die diese Möglichkeit zu sehr eingeengt haben, weiteten die Rechtschutzmöglichkeiten wieder aus. Bei der empirischen Be73
Entwurf eines Strafverfahrensbeschleunigungsgesetzes, BTDrucks 14/1714.
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trachtung des deutschen Rechtsmittelsystems kommt das Gutachten zu dem Ergebnis, die Zufriedenheit der verschiedenen am Strafverfahren beteiligten Berufsgruppen mit dem geltenden Recht sei grundsätzlich gegeben. Die derzeitige Ausgestaltung der Berufung als zweite Tatsacheninstanz müsse als effektiv bewertet werden. Insgesamt erblickt das Gutachten auf der Grundlage seiner Erhebungen keinen strukturellen Anderungsbedarf. 74 Die große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes hat sich in den Grenzen des Gutachtensauftrags mit der Rechtsmittelthematik befaßt. Sie hat, wie in dem Gutachten betont wird, nicht darüber befunden, welche denkbar beste Ausgestaltung aus ihrer Sicht die Rechtsmittel in Strafsachen erfahren sollen, sondern sie hat versucht, die Frage zu beantworten, wie eine Rechtsmittelreform gestaltet werden kann, die den von BMJ vorgegebenen Rahmenbedingungen entspricht, und ob die Leitlinien des BMJ ein praktikables Modell für eine Rechtsmittelreform als Einstieg in einen dreistufigen Gerichtsaufbau darstellen. Dies hat sie letztlich bejaht. 75 Auf der Grundlage des Gutachtens hat der Vorstand des Deutschen Richterbundes am 31. 3. 2000 sich dafür ausgesprochen, anstelle von Berufung und Revision gegen amtsgerichtliche Urteile ein einheitliches Rechtsmittel vorzusehen, das Elemente der Berufung und der Revision enthält. Uber dieses Rechtsmittel soll aber das Landgericht entscheiden. Das Rechtsmittel muß begründet werden und soll vom Landgericht bei fehlender Erfolgsaussicht durch einstimmigen Beschluß ohne mündliche Verhandlung verworfen werden können. Ein Zweitrechtsmittel soll es nicht geben, wohl aber, ohne Aufschub der Rechtskraft, einen Rechtsbehelf, mit dem Divergenzen geklärt werden, schwere Verfahrensverstöße gerügt und Anstöße zur Rechtsfortbildung gegeben werden können. Dem zweiten vom BMJ in Erwägung gezogenen Reformschritt, auch die Strafkammersachen in die neue Regelung einzubeziehen, erteilte der Deutsche Richterbund eine Absage. 76 War damit aus der Richterschaft immerhin ein halbes Ja zu einer Neukonzeption des Rechtsmittelsystems zu vernehmen, 77 war ein solches aus der Anwaltschaft nicht zu hören. Der Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer lehnte Änderungen im Rechtsmittelsystem, insbesondere einen Wegfall der Berufung, ab. 78 In diesem Sinne hatte sich auch Dahs geäußert. 79 In seinem Gutachten für den 63. Deutschen Juristentag sprach sich Lilie dafür aus, das geltende Rechtsmittelsystem auch im Rahmen eines dreigliedDazu Jobnigk BRAK-Mitt 2000, 162. Vgl Kintzi DRiZ 2000, 187. 7' Freund (Fn 15) S. 71. 17 Freund (Fn 15) S. 85 (Hervorhebungen im Original). 18 Freund {Fn 15) S. 71 ff, 136. 13
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Dies sei speziell bei der (in der Praxis besonders problematischen 19 ) Feststellung der inneren Tatseite regelmäßig dann der Fall, wenn es der Angeklagte selbst in der Hand hat, durch das Aufzeigen möglicher Alternativerklärungen der Verurteilung zu entgehen (wobei Freund die entsprechende Obliegenheit an bestimmte Zumutbarkeitsgesichtspunkte knüpft, um eine Unterlaufung des Schweigerechts zu vermeiden). 20 Der entscheidende Vorteil der Entwicklung solcher Kriterien dafür, wann das Risiko einer Verurteilung im einzelnen tolerierbar erscheint, liege zugleich darin, daß damit ein normativer Maßstab zur Verfügung gestellt werde, wie weit der Richter bei einer Verurteilung „hinter dem Ideal des verbürgten Erfassens der materiellen Wahrheit" zurückbleiben dürfe. 21 Damit ließen sich nicht nur ungerechtfertigte Fehlverurteilungen vermeiden, sondern auch unnötige Freisprüche, die deshalb schädlich seien, weil der durch den unterbliebenen Schuldspruch perpetuierte „Geltungsschaden" der Norm für die Rechtsordnung schwerer wiegen könne als die Eingehung eines Fehlverurteilungsrisikos, das die „normverdeutlichende Funktion der Verurteilung" unberührt lasse und deshalb tolerierbar sei. 22 2. Auch Stein23 verlangt (ungeachtet nicht unerheblicher Differenzen gegenüber Freunds Ansatz 24 ) die Aufstellung eines „Entscheidungsnormensystems", das verbindlich festlegt, ob auf der Grundlage einer bestimmten „Vorstellung des Richters hinsichtlich Art und Gewicht der für und gegen einen bestimmten Geschehensablauf sprechenden Aspekte ... der fragliche Geschehensablauf im strafprozessualen Sinne festgestellt'" und damit das verbleibende Fehlverurteilungsrisiko rechtlich legitimierbar ist. 25 Dabei gehe es letzten Endes um eine „Konkretisierung der verfassungsimmanenten Schranken des Tatschuldgedankens" (der einer Verurteilung Unschuldiger grundsätzlich entgegensteht), die mit der Festlegung des „erlaubten Risikos" in der Fahrlässigkeitsdogmatik vergleichbar sei. 26
Freund (Fn 15) S. 3 ff. Freund (Fn 15) S. 98ff, 136ff; zu weiteren denkbaren Regeln, die eine „Unterscheidung der rechtlich richtigen Feststellungen von den rechtlich falschen" ermöglichen sollen, neuerdings den. FS Meyer-Goßner (2001) 409, 425 ff. 21 Freund (Fn 15) S. 58ff. 22 Freund (Fn 15) S. 65, 103, 136. 2 3 In: Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, Wolter (Hrsg) 1995, S. 233ff. 2 4 Die in erster Linie Freunds Tatschuldverständnis und das „Alternativenausschlußmodell" betreffen, mit dessen Hilfe Freund Wahrscheinlichkeitsurteile entbehrlich machen will, vgl einerseits Freund (Fn 15) S. 67ff bzw. S. 17ff, andererseits Stein (Fn 23) S. 248f bzw. S. 252 Fn 38. 25 Stein (Fn 23) S. 243 ff, 246ff, 253 ff (wörtl. Zitat auf S. 253). 26 Stein (Fn 23) S. 258; Parallelen zur Fahrlässigkeitsdogmatik sieht auch Freund FS Meyer-Goßner (2001) 409, 419ff. 19
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3. Mit dem Versuch einer positiven Rechtfertigung der Verurteilung möglicherweise Unschuldiger schaffen die Ansätze von Freund und Stein die Grundlage dafür, das Fehlverurteilungsrisiko nicht nur als abstrakte statistische Realität, sondern auch in bezug auf den konkreten Einzelfall - quasi im Angesicht des Betroffenen - ganz bewußt einzugehen. Dies hat unmittelbare Konsequenzen für die Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung·. Gibt man dem Richter die Legitimation an die Hand, den Angeklagten aufgrund der Feststellung eines „tolerierten Fehlverurteilungsrisikos" trotz bestehender Zweifel zu verurteilen, dann entfällt insoweit das Erfordernis einer persönlichen Gewißheit des Richters von der Schuld des Angeklagten,27 die nach herkömmlicher Auffassung eine unabdingbare Voraussetzung jeder strafgerichtlichen Verurteilung darstellt.28 Eine solche Konsequenz ist kein Zufall, sondern entspricht dem erklärten Ziel beider Autoren, den „irrationalen Sprung" ins Subjektive auszuschalten, der in Wirklichkeit nur einer unangebrachten Verdrängung des Fehlverurteilungsrisikos diene.29
IV. Kritik Der Umstand, daß mit einer positiven Legitimation von Fehlverurteilungsrisiken, die das Gericht konsequenterweise gezielt eingehen darf und muß, die Notwendigkeit einer persönlichen Überzeugung des Richters von der Schuld des Angeklagten entfällt, ist zugleich der kritische Punkt der dargestellten Konzepte. 1. Freund und Stein ist zuzugeben, daß die Erlangung der „persönlichen Uberzeugung" von der Schuld des Angeklagten in gewisser Weise durchaus eine „Verdrängung" der Möglichkeit darstellt, daß der Angeklagte in Wirklichkeit doch unschuldig ist. In diesem Zusammenhang kann das Auftreten erheblicher Ungleichheiten nicht geleugnet werden - wo ein Richter noch massive persönliche Zweifel hat, mag sich der andere längst sicher sein. Auch die Gefahr eines Fehlgebrauchs der subjektiven Komponente ist nicht von der Hand zu weisen: So bezweifelt Stein wohl zu Recht, ob sich alle Richter durch das Erfordernis einer festen Überzeugungsbildung bei der Wahrheitssuche zu einem besonders sorgfältigen Vorgehen motivieren lassen; statt dessen kann ein Richter im Gegenteil auch vorschnell die psychische Entlastung suchen, die ihm das Bewußtsein vermittelt, ein alternativer So ausdrücklich Freund(Fn 15) S. 103f; Stein (Fn 23) S. 256ff. Dazu allgemein BGHSt 10, 208; Hanack JuS 1977, 727, 728; Rieß GA 1978, 257, 264; Greger (Fn 4) S. 16; eingehend (unter Verteidigung gegen die von Freund und Stein vorgebrachten Einwände) Frister FS Grünwald (1999) 169, 173 ff. 27
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Freund (Fn 15) S. 46ff; Stein (Fn 23) S. 256ff.
Zur „Legitimation" von Fehlverurteilungsrisiken
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Geschehensablauf sei wohl nur theoretische Spekulation und für ihn sei der Angeklagte sicher der Täter.30 2. Diese Probleme können mit der Ersetzung der „persönlichen Uberzeugung" von der Schuld des Angeklagten" durch die Feststellung eines „legitimen Fehlverurteilungsrisikos" indessen nicht gelöst werden. Die Schwierigkeiten resultieren nämlich nicht in erster Linie daraus, daß sich der Richter gerade von der Schuld des Angeklagten überzeugen muß, sondern beruhen im wesentlichen darauf, daß im Rahmen der Beweiswürdigung überhaupt eme. persönliche Uberzeugungsbildung des Richters erforderlich ist: Die berechtigte Absage des historischen Gesetzgebers an zwingende Beweisregeln, mit denen eine sachgerechte Erfassung realer Lebenssachverhalte in ihrer Vielgestaltigkeit unmöglich wäre,31 bedeutet nun einmal, daß die Beweiswürdigung nicht in einem „Abhaken" bestimmter Umstände nach einem starren „Wenn-dann-Schema" bestehen kann, das bei jedem korrekt arbeitenden Richter in gleicher Weise zur Anwendung käme und eine uneingeschränkte intersubjektive Reproduzierbarkeit der Ergebnisse ermöglichen würde. Statt dessen muß sich der Tatrichter aus der unmittelbaren Anschauung des Einzelfalls heraus einen höchstpersönlichen Eindruck davon verschaffen, welche Überzeugungskraft den vorliegenden Indizien in ihrem ganz konkreten Zusammenspiel im Einzelfall zukommt.32 Dabei können schon die Unsicherheiten und möglichen Alternativen bei der Bewertung jedes einzelnen Beweismittels (lügt ein bestimmter Zeuge in einem bestimmten Punkt oder sagt er die Wahrheit?) je nach Persönlichkeit des Richters unterschiedlich eingeschätzt oder auch schlicht verdrängt werden,33 und gleiches gilt für die Einschätzung der Beweislage insgesamt - unabhängig davon, ob diese am Ende nun eine Aussage über die definitive Schuld des Angeklagten oder nur über eine hinreichende Schuldwahrscheinlichkeit tragen soll. Um die Risiken des „irrationalen Sprungs" wirksam auszuschalten, würde es deshalb nicht genügen, die Schuldfrage durch die Frage eines „legitimen Fehlverurteilungsrisikos" als neuem Bezugspunkt der richterlichen Uberzeugungsbildung zu ersetzen - zu diesem Zweck müßte die höchstpersönliche Komponente aus der Beweiswürdigung viel30 Insoweit zutr. Stein (Fn 23) S. 257; instruktive Bsp. aus der Rspr. bei HoyerZStW 105 (1993) 523, 531 ; eingehend zu diesem Problem bereits Käßer Wahrheitserforschung im Strafprozeß, 1974, S. 21 ff, 84ff; noch wesentlich pessimistischer die Einschätzung von Schünemann FS Pfeiffer (1988) 461, 475 ff, der im Erfordernis eines „Fürwahrhalten ohne Zweifel" „keine realistischen, sondern ideologische Entscheidungsanforderungen" erblickt, mit denen der Richter allgemein überfordert und „zu einer Informations-Deformation" gezwungen werde, „die nur durch eine systematische Uberschätzung der relativ besten Wahrscheinlichkeit geleistet werden" könne. 31 Dazu Käßer (Fn 30) S. 33 ff; zur Historie der Einführung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung Küper FS Peters (1984) 23 ff. 32 Vgl etwa Rieß GA 1978, 257, 265; Frister FS Grünwald (1999) 169, 176ff. 33 Vgl Käßer (Fn 30) S. 93.
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mehr völlig verbannt werden. Will man einen Rückfall in den starren Schematismus zwingender Beweisregeln vermeiden, ist letzteres aber schlicht unmöglich34 - und von Freund und Stein auch gar nicht beabsichtigt.35 Die Konzepte dieser Autoren wirken sich hier im einzelnen vielmehr nur folgendermaßen aus: a) Nach Freund erfolgt die erste Weichenstellung für die Abschichtung legitimer von unzulässigen Fehlverurteilungsrisiken durch die Differenzierung zwischen „eindeutigen", d.h. lediglich durch „philosophische" oder „fortschrittsbedingte" Zweifel relativierten Beweisergebnissen und solchen Konstellationen, in denen die Beweislage aufgrund sonstiger Zweifel allenfalls „bedingt eindeutig" ist und eine Verurteilung deshalb grundsätzlich ausscheiden soll.36 Die Einordnung von Grenzfällen in diese Kategorien würde in der Praxis nun aber kaum weniger Schwierigkeiten bereiten und de facto auf eine ebenso „höchstpersönliche Wertung" des Richters hinauslaufen wie die herkömmliche Differenzierung zwischen abstrakten und konkreten Zweifeln: Müßte der Richter darlegen, warum er gewisse Zweifel nicht nur als „abstrakt", sondern darüber hinaus als „philosophisch" oder „fortschrittsbedingt" einstuft, dann wäre er zwar mit tendenziell höheren Anforderungen an eine Verurteilung konfrontiert, aber keinesfalls von der Notwendigkeit befreit, sich ggf. zu einer ganz individuellen Einschätzung des Falles durchzuringen, denn über die philosophische Natur eines bestimmten Zweifels kann man im Einzelfall ebenso trefflich streiten wie darüber, ob er nun als „konkret" oder als „abstrakt" zu bezeichnen ist. Eine detaillierte Präzisierung der Voraussetzungen eines „legitimen Fehlverurteilungsrisikos" erfolgt in Freunds Konzept dann bei der weiteren Weichenstellung, die darüber entscheidet, ob ein nur „bedingt eindeutiges" oder „zwiespältiges" Beweisergebnis einer Verurteilung ausnahmsweise nicht entgegensteht, wenn ganz spezifische Kriterien erfüllt sind.37 Auch insoweit haben wir es 34 Eingehend (mit durchschlagender Kritik gegenüber zivilprozessualen Ansätzen zur Etablierung einer „objektiven Beweismaßtheorie") Greger (Fn 4) S. 102ff; zutr. auch Käßer (Fn 30) S. 52: „Es ist nicht möglich, die Vielfalt der Wirklichkeit total in einem logischen System einfangen zu wollen." 35 Stein distanziert sich sogar ausdrücklich von einem Vorschlag von Hoyer ZStW 105 (1993) 523, 536ff, die individuell-wertende Komponente in der Beweiswürdigung durch die normative Vorgabe einer ganz bestimmten, für eine Verurteilung hinreichenden und zugleich zwingenden Schuldwahrscheinlichkeit (nämlich 96%) zu ersetzen: Abgesehen von der Willkürlichkeit der Wahl dieses Wahrscheinlichkeitsgrades (dessen Herleitung in unserem Zusammenhang nicht weiter interessiert) hält Stein diesem Ansatz zutreffend entgegen, daß die Frage, ob der entsprechende Wahrscheinlichkeitsgrad erreicht ist, ja ihrerseits wieder auf der Grundlage von Erfahrungssätzen beantwortet werden müßte, „die allenfalls vage Abschätzungen erlauben und weitgehend auch nicht maximal valide sind", aaO (Fn 26) S. 254 f; näher zur Kritik an Hoyers Konzept Erb ZStW 113 (2001) 1, 22 ff. 36 Freund (Fn 15) S. 71 ff. 37 Vgl Freund (Fn 15) S. 86ff, 98ff, 136ff.
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nicht mit einer Befreiung der Beweiswürdigung von der subjektiv-irrationalen Komponente im Rahmen der Erfassung und Bewertung von Zweifeln zu tun, 38 sondern lediglich mit der Schaffung einer Ermächtigungsgrundlage dafür, auf die letzte Stufe der persönlichen Wertung, die nunmehr auch die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten einschließen würde, zu verzichten und sich statt dessen erklärtermaßen mit Möglichkeitsfeststellungen zu begnügen. b) Stein läßt demgegenüber offen, wie ein abstrakt-generelles „Entscheidungsnormensystem", das dem Richter eine verbindliche Auskunft darüber erteilt, ob er im Einzelfall das Risiko eingehen soll, einen Unschuldigen zu verurteilen, im Detail aussehen müßte. Wie insbesondere der Vergleich mit der Ableitung von Verhaltensregeln und deren Relativierung durch das Prinzip des „erlaubten Risikos" im Fahrlässigkeitsstrafrecht zeigt, strebt er eine Lösung an, nach der aus dem Gesamtgefüge des Verfahrensrechts und dem Schuldprinzip auf der einen und den gegenläufigen Interessen an einer effektiven Strafrechtspflege auf der anderen Seite in einer wertenden Betrachtung zunächst die Grenzen des „erlaubten (Fehlverurteilungs-)Risikos" zu bestimmen sind. Diese würden dann die Grundlage für die Ableitung von Entscheidungsnormen (entsprechend derjenigen von Verhaltensnormen im Fahrlässigkeitsstrafrecht) bilden, die dem Richter vorgeben, wie er einen Fall zu entscheiden hat. aa) Als Modell für die normativen Schranken der tatrichterlichen Freiheit bei der Beweiswürdigung erscheinen diese Überlegungen durchaus instruktiv: Nimmt die Rechtsordnung grundsätzlich die Möglichkeit in Kauf, daß sich der Tatrichter irrt, ohne daß dieser Irrtum in der Revision als Ergebnis einer rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung aufgedeckt werden könnte, dann handelt es sich in der Tat um eine Art „erlaubtes Risiko" - durchaus vergleichbar mit den Gefahren, die etwa als Begleiterscheinung der sorgfaltgerechten Benutzung eines PKW hingenommen werden. Umgekehrt bescheinigt die Revisionsinstanz dem Tatrichter in gewisser Weise eine unzulässige Risikoüberschreitung, wenn dieser z . B . die Möglichkeit naheliegender Geschehensalternativen nicht in angemessenem Umfang berücksichtigt hat (ebenso, wie die Rechtsprechung im Straßenverkehr bei bestimmten Verhaltensweisen annimmt, daß sie die Grenze des Erlaubten sprengen): In einem solchen Fall muß das Urteil zwar nicht zwangsläufig materiell unrichtig sein, aber die konkrete Möglichkeit, daß dies der Fall sein könnte, stellt unter den gegebenen Umständen ein Risiko dar, das die Rechtsordnung
38 Zur Unmöglichkeit, mit Hilfe von Freunds „Alternativenausschlußmodells" eine objektiv zwingende Differenzierung zwischen beachtlichen und unbeachtlichen Zweifeln vorzunehmen, unter verschiedenen Gesichtspunkten bereits Frister FS Grünwald (1999) 169, 1 8 0 f ; Zopfs Der Grundsatz „in dubio pro reo", 1999, S. 280 Fn 85.
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im Gegensatz zu „abstrakten Zweifeln" an der Schuld des Angeklagten nicht mehr toleriert. bb) Nicht zu überzeugen vermag hingegen die Vorstellung, die Überzeugungsbildung des Tatrichters sei durch ein System von Entscheidungsnormen, die die Grenzen des „erlaubten Fehlverurteilungsrisikos" widerspiegeln, nicht nur bestimmten rechtlichen Anforderungen unterworfen, sondern darüber hinaus durchgehend normativ determiniert. Die Annahme einer Verhaltensnorm setzt nämlich voraus, daß man zumindest gedanklich eine eindeutige Anweisungen den Normadressaten formulieren kann, was er unter ganz bestimmten Voraussetzungen allgemein tun oder unterlassen soll. Diese Anweisung mag zwar in der Praxis zunächst nirgends niedergelegt sein und erst im Rahmen der juristischen Bewältigung eines Einzelfalls ex post konkretisiert werden (hier gilt für die Konkretisierung spezifischer Sorgfaltsanforderungen im Fahrlässigkeitsstrafrechts nichts anderes als für die Bestimmung der Anforderungen, denen ein tatrichterliches Urteil in bestimmter Hinsicht genügen soll). Die Handlungsaufforderung muß sich jedoch prinzipiell über den konkreten Lebenssachverhalt hinaus als verallgemeinerungsfähig erweisen, weil man andernfalls nicht davon ausgehen kann, sie sei als rechtliches Gebot „schon immer dagewesen" und deshalb in concreto verletzt worden.39 Diesem Erfordernis ist im Rahmen der Beweiswürdigungsproblematik aber offensichtlich nur hinsichtlich der Schranken freier richterlicher Uberzeugungsbildung Genüge getan, wie sie von den Revisionsgerichten durch die Einforderung bestimmter objektiver Kriterien konkretisiert werden.40 Wie hingegen Entscheidungsnormen für diejenige Entscheidungskomponente formuliert werden sollten, die der Tatrichter nur aus der unmittelbaren Anschauung des konkreten Sachverhalts heraus gewinnen kann und die weder intersubjektiv zwingend noch (angesichts der unendlichen Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte) in dieser Form auf einen anderen Fall übertragbar erscheint, ist nicht ersichtlich: Solange man insoweit weder von der Individualität des konkreten Einzelfalles noch von der Person desjenigen abstrahieren kann, der über diesen zu befinden hat, kann 39 So muß ζ. B. die Verhaltensnorm, deren Verletzung einem Angeklagten zur Last gelegt wird, der auf nasser Fahrbahn einen schweren Unfall verursacht hat, folgendermaßen formuliert werden: „Bei einem solchen Straßenbelag und bei Nässe darf man unter diesen und jenen Umständen nicht schneller als χ km/h fahren." Wäre das Gericht nicht imstande, eine solche Formulierung zu finden, sondern würde nur aus der unmittelbaren Anschauung des Sachverhalts heraus seine Uberzeugung begründen, daß der Angeklagte in concreto zu schnell gefahren ist, so könnte von der Verletzung einer Verhaltensnorm hingegen nicht die Rede sein. 40 Wenn die Revisionsgerichte demgegenüber z.T. über das Ziel hinausschießen und die individualisierenden Betrachtungen des Tatrichters durch eigene individualisierende Wertungen ersetzen, dann steht dies auf einem anderen Blatt, zu dieser Problematik LöweRosenberg/ Hanack § 333 Rn 12, § 337 Rn 130, 147ff.
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der Umstand, daß sich ein Richter aufgrund seiner wohlbegründeten Überzeugung persönlich verpflichtet sieht, den Fall in einer bestimmten Weise zu entscheiden, unmöglich als Ergebnis einer abstrakt-generellen Handlungsanweisung für die „richtige" Entscheidung der entsprechenden Konstellation begriffen werden. c) Wenn die Modelle zur Ersetzung des Erfordernisses einer „persönlichen Gewißheit" durch das Kriterium eines „erlaubten Fehlverurteilungsrisikos" nichts daran zu ändern vermögen, daß dem Tatrichter unüberprüfbare, durch subjektiv-individuelle Bewertungen auszufüllende und gerade nicht normativ determinierte Entscheidungsspielräume verbleiben, so bleibt noch folgendes zu überlegen: Stellt es nicht wenigstens eine Entschärfung der persönlichen Komponente der Beweiswürdigung dar, wenn der Richter immerhin von ihrem letzten Schritt - d.h. von der Notwendigkeit einer abschließenden und definitiven inneren Stellungnahme zur Schuld des Angeklagten - entlastet wird? Diese Entlastung ist indessen im Ergebnis nur formaler Art: Da eine objektive Gewißheit hinsichtlich der tatsächlichen Voraussetzungen eines „legitimen Fehlverurteilungsrisikos" prinzipiell ebensowenig möglich ist wie hinsichtlich der Schuldfrage selbst, muß sich der Richter in Grenzfällen auch hier zu einer Entscheidung durchringen, ob jene Voraussetzungen für ihn denn nun definitiv gegeben sind oder nicht. 41 Vor dem Hintergrund des Wissens, daß diese Entscheidung die endgültige Weichenstellung dafür bedeutet, ob der Angeklagte - möglicherweise unschuldig - verurteilt wird, dürfte die hierauf gerichtete Überzeugungsbildung einem gewissenhaften Richter kaum leichter fallen als eine innere Stellungnahme, die sich unmittelbar auf die Schuld des Angeklagten bezieht. Insofern ist weder nachzuvollziehen, warum die Unterschiede in den Richterpersönlichkeiten nach den Alternativkonzepten eine geringere Rolle spielen sollten als bisher, noch entfallen Bedürfnis und Raum für die Entfaltung inadäquater Strategien zur Entlastung des eigenen Gewissens: Wer ohne hinreichende rationale Erwägungen vorschnell die psychische Entlastung durch das Gefühl sucht, „für mich war er's", der findet die gleiche Entlastung im Zweifel ebenso
41 Dabei kann er sich insbesondere nicht mit der Überlegung aus der Affäre ziehen, die Voraussetzungen des „legitimen Fehlerurteilungsrisikos" seien zwar nicht absolut sicher, aber doch mit einem hinreichenden Grad an Sicherheit festgestellt: An eine solche Uberlegung müßte sich zwangsläufig die Frage anschließen, in welchem Rahmen sich denn die Gefahr bewegen darf, daß die Voraussetzungen in Wirklichkeit nicht vorliegen. Dabei ginge es dann aber um nichts anderes als die Legitimation des Risikos, daß der Richter objektiv zu Unrecht von einem „legitimen Fehlverurteilungsrisiko" ausgeht - und damit offensichtlich um den Einstieg in einen regressus ad infinitum. Zur Gleichwertigkeit der psychologischen Entstehung von Gewißheits- und Wahrscheinlichkeitsurteilen in diesem Zusammenhang Frister FS Grünwald (1999) 169, 185.
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spontan in der Überlegung „für mich liegt der Fall so, daß man das Fehlverurteilungsrisiko eingehen kann".42 3. Daß sich Konzepte zur gezielten Legitimation von Fehlverurteilungsrisiken entgegen ihrer Intention somit kaum als geeignet erweisen, dem Angeklagten zu einem besseren Schutz vor richterlicher Willkür zu verhelfen, mag für sich genommen noch nicht dagegen sprechen, sie immerhin als Lösung des Problems zu akzeptieren, das den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildete - d. h. als Rechtfertigung dafür, trotz der Gefahr einer Bestrafung Unschuldiger nicht nur mit einem latent schlechtem Gewissen zu richten, weil es nicht anders geht, sondern mit dem Bewußtsein, mit Eingehung eines solchen Risikos im Einzelfall unmittelbar kriminalpolitisch sinnvoll zu handeln. Gerade diese Möglichkeit erweist sich aber letzten Endes als Quelle der gravierendsten Bedenken, die gegen die dargestellten Ansätze anzuführen sind, denn sie liefe im Ergebnis auf eine gefährliche Relativierung des fundamentalen Interesses des einzelnen hinaus, nicht zum Opfer eines Justizirrtums zu werden. a) In der Anweisung an den Richter, sich in objektiv nachvollziehbarer Weise43 die persönliche Gewißheit von der Schuld des Angeklagten zu verschaffen oder diesen freizusprechen, kommt eine Wertung zum Ausdruck, nach der dem Freiheitsinteresse des möglicherweise Unschuldigen der absolute Vorrang vor allen Interessen gebührt, die im Einzelfall gegen einen Freispruch des möglicherweise Schuldigen ins Feld geführt werden könnten.44 Einzig und allein die menschliche Unvollkommenheit, die der Gewinnung einer „letzten Sicherheit" trotz maximaler Anstrengung entgegensteht,45 er42 Was denjenigen betrifft, für den die Notwendigkeit einer Strategie zur Entlastung seines Gewissens deshalb entfällt, weil das Bewußtsein, den vor ihm stehenden Angeklagten möglicherweise unschuldig zu verurteilen, sein Gewissen von vornherein unberührt läßt, wenn ihm nur eine Entscheidungsnorm signalisiert, daß eine materiell fehlerhafte Verurteilung unter den gegebenen Umständen auch nicht weiter tragisch wäre, ist nur folgendes zu bemerken: Wer eine solche Persönlichkeitsstruktur aufweist, stellt als Strafrichter wohl ohnehin (d.h. unabhängig vom jeweils geltenden Verfahrensrecht) ein unkalkulierbares Risiko für die Gerechtigkeit dar. 43 Daß die richterliche Uberzeugungsbildung nicht als intuitiver Vorgang verstanden werden darf, sondern auf einem rationalen, mit den Denkgesetzen und den allgemeinen Erfahrungssätzen in Einklang stehenden Umgang mit den vorhandenen Informationen beruhen muß, der anhand der Begründung als solcher nachvollzogen werden kann, sollte heute außer Zweifel stehen, vgl etwa Hanack JuS 1977, 727, 729; Rieß GA 1978, 257, 264; Greger (Fn 4) S. 16ff; Zopfs (Fn 38) S. 281 ff. 44 Für den strikten Ausschluß des Arguments „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" als Grundlage einer Legitimation belastender Einzelfallentscheidungen auch Stuckenberg Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, S. 524. 45 Wobei die Erlangung einer persönlichen Uberzeugung auf der Grundlage von Erwägungen, die sich für das Revisionsgericht als intersubjektiv vernünftig und insofern nicht als voreiliger „Sprung in die Irrationalität" erweisen, eben das maximal Erreichbare darstellt, vgl Greger (Fn 4) S. 113 ff.
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laubt (oder besser gesagt erzwingt) die Hinnahme des danach verbleibenden Restrisikos. Diese normative Absolutheit des Interesses, von materiell unberechtigter Strafverfolgung verschont zu bleiben, dessen Verletzung im Einzelfall trotz faktischer Unvermeidbarkeit als furchtbares Versagen des Systems erscheint, geht verloren, sobald man Spekulationen darüber zuläßt, wie groß die Gefahr der Verurteilung eines Unschuldigen denn im einzelnen sein darf, wenn der Richter seiner Sache selbst nicht sicher ist. Statt dessen wird das Freiheitsinteresse des möglicherweise Unschuldigen zu einem relativ zu bewertenden Faktor, der von vornherein unter dem Vorbehalt einer Abwägung mit gesellschaftlichen Interessen steht - und zwar nicht nur mit denjenigen, die gegen den allgemeinen Zusammenbruch der Strafrechtspflege durch völlig irreale Beweisanforderungen ins Feld zu führen sind, sondern auch und gerade mit solchen, die in der ganz konkreten Konstellation für die Verurteilung gerade dieses Angeklagten geltendgemacht werden können. b) Durch die hierauf hinauslaufende Proklamation der Vorstellung, man könne die explizite Eingehung des Risikos, in concreto einen Unschuldigen zu verurteilen, u . U . als „sinnvolles Teilstück einer überzeugend konzipierten Gesamtstrategie strafrechtlicher Sozialkontrolle" 46 verstehen, wird die Büchse der Pandora geöffnet: Wie sollte sichergestellt werden, daß diese Vorstellung im wesentlichen auf solche Fälle beschränkt bleibt, in denen die Praxis aufgrund einer berechtigten (d.h. nicht objektiv zwingenden, aber nach ihrer Begründung doch intersubjektiv vernünftig erscheinenden) richterlichen Überzeugung schon heute zu einer Verurteilung gelangt? 47 Müßten vor dem Hintergrund verbreiteter politischer Tendenzen, das Strafrecht zu einem möglichst umfassendem Instrument staatlicher Sozialkontrolle auszubauen, derartige Ansätze nicht von vielen als Aufforderung verstanden werden, das Interesse an einer effektiven Bekämpfung bestimmter Kriminalitätsformen, die als besondere Belastung der Gesellschaft empfunden werden (man denke etwa an organisierte Kriminalität, Rechtsextremismus, sexuellen Mißbrauch von Kindern), offen gegen das Interesse des Beschuldigten auszuspielen, von einer materiell unberechtigten Verurteilung verschont zu bleiben? Wäre es insofern nicht ein verlockender Gedanke, für bestimmte Fälle förmliche Beweiserleichterungen zuzulassen? Wo die öfSo die Formulierung von Freund (Fn 15) S. 85. Was bei den von Freund und Stein unmittelbar ins Auge gefaßten Konstellationen im wesentlichen der Fall sein dürfte: Stein erwartet keine „zahlenmäßig großen Verschiebungen in den Ergebnissen", a a O (Fn 23) S. 263, und in Fällen, in denen sich Angeklagte so verhalten, wie dies nach Freund zur „Legitimation des Fehlverurteilungsrisikos" erforderlich sein soll, indem sie es in völlig unverständlicher Weise unterlassen, dem hochplausiblen Vorwurf vorsätzlichen Handelns mit einem naheliegenden Entlastungsargument entgegenzutreten, hat in der Praxis wohl kaum ein Richter Probleme, die erforderliche persönliche Uberzeugung von der Schuld des Betroffenen zu gewinnen. 46
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fenìliche Empörung über die Tat massiv ist und Sympathien für den mutmaßlichen Täter völlig fehlen (weil z. B. aufgrund seiner Verstrickung in die einschlägige Szene offensichtlich ist, daß er „irgendwo ohnehin Dreck am Stecken hat"), erscheint es doch durchaus plausibel, daß ein Freispruch des vermutlich Schuldigen im Bewußtsein der Allgemeinheit einen größeren „Normgeltungsschaden" auslösen wird als eine Verurteilung, die zwar auf etwas unsicheren Füßen steht, nach allgemeinem Dafürhalten aber jedenfalls keinen „anständigen Bürger" trifft! c) Diese Bedenken lassen sich nicht durch die Erwägung entkräften, daß sie lediglich Mißbrauchsmöglichkeiten zum Gegenstand haben, gegen die letzten Endes kein System gefeit ist: aa) Auch auf der Grundlage des herkömmlichen Konzepts mag sich zwar in Einzelfällen einmal ein Richter gerade durch die Angst vor den negativen Auswirkungen eines Freispruchs von der Schuld des Angeklagten „überzeugen" lassen.48 Solange der Richter nach allgemeinem Rechtsverständnis aber nur denjenigen verurteilen darf, von dessen Schuld er aufgrund der Beweisaufnahme persönlich restlos überzeugt ist, stellt ein solcher Vorgang immer ein schweres beruflichen Versagen bzw. - wenn er in reflektierter Form vollzogen wird - schlicht Rechtsbeugung dar. Da die Erlangung der persönlichen Überzeugung ein Evidenzerlebnis ist,49 das sich einstellt oder nicht einstellt, aber im Gegensatz zur Entwicklung von Wahrscheinlichkeitsvorstellungen keine graduellen Abstufungen kennt,50 können die Beweisanforderungen für „kriminalpolitisch dringend geboten" erscheinende Verurteilungen auch nicht in schleichender Form abgesenkt werden, solange sich der Richter nicht korrumpieren läßt. Unter der Voraussetzung, daß die Gerichte im wesentlichen mit qualifizierten und gewissenhaften Persönlichkeiten besetzt sind,51 erweist sich das Kriterium der „persönlichen Gewißheit" damit (ungeachtet der mit ihm verbundenen praktischen Unsicherheiten, Zufälligkeiten und faktischen Ungleichbehandlungen) als institutionelle Barriere gegenüber einer funktionalistischen Relativierung der Garantie, im Rahmen des Menschenmöglichen von einer Fehlverurteilung verschont zu bleiben. 48 Vgl Volk Wahrheit und materielles Recht im Strafprozeß, 1980, S. 27, der entsprechende „Schleichpfade der Minimalisierung des Beweises" aber durch eine effektive revisionsgerichtliche Kontrolle für „versperrt" hält. 49 Dazu und den Möglichkeiten, das Evidenzgefühl zwecks „Uberwindung der reinen, irrationalen (möglicherweise sogar willkürlichen) Subjektivität" für andere plausibel zu machen, Käßer (Fn 30) Wahrheitserforschung im Strafprozeß, 1974, S. 19ff (wörtl. Zitat auf S. 21). 50 Greger (Fn 4) S. 20. 51 Zu diesem Erfordernis etwa Hanack JuS 1977, 727; Frister FS Grünwald (1999) 169, 189 f, betont die Notwendigkeit einer uneingeschränkten Berufungsmöglichkeit gegen amtsrichterliche Urteile, um in Fällen einer Fehlleitung der Intuition durch persönliche Eigenheiten des Richters einen Ausgleich zu ermöglichen.
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bb) Mit der Anerkennung eines „legitimen Fehlverurteilungsrisikos", das der Richter positiv feststellen und damit im Einzelfall bewußt eingehen soll, würde diese Barriere beseitigt: Akzeptiert man erst einmal die grundsätzliche Möglichkeit, das Interesse des einzelnen am Schutz vor materiell ungerechtfertigter Bestrafung durch ein gegenläufiges Interesse an der Abwendung eines „Normgeltungsschadens" zu relativieren, der mit einem fragwürdigen Freispruch verbunden wäre, dann kann man von dieser Möglichkeit zwar immer noch in einer extrem zurückhaltenden und damit im Ergebnis unschädlichen Form Gebrauch machen (wie sie auch der Intention von Freund und Stein entspricht). Was jedoch fehlt, ist eine systemimmanente Sicherung dafür, daß es auf Dauer bei einer solchen Handhabung bleibt, denn das System enthält eben keinen Fixpunkt mehr, der einer Verschiebung der Maßstäbe zum Nachteil des Angeklagten kategorisch entgegenstünde bzw. diese als Systembruch entlarven würde: Mit der prinzipiellen Zulassung einer konkreten Abwägung der widerstreitenden Interessen, die damit einer quantitativen Betrachtung zugänglich gemacht werden, ist schon vom theoretischen Ausgangspunkt her keine scharfe Grenze mehr vorhanden, was dem einzelnen als potentiellem Opfer eines Justizirrtums äußerstenfalls zugemutet werden darf - ganz im Gegensatz zur herkömmlichen Betrachtungsweise, deren Differenzierung zwischen „abstraktem" und „konkretem" Zweifel zugegebenermaßen mit großen praktischen Unsicherheiten verbunden ist, die aber eine „bedarfsgerechte" Anpassung der Maßstäbe prinzipiell verbietet. Fließende Ubergänge in der Gewichtung der maßgeblichen Gesichtspunkte können sich aber ebenso fließend - und dabei auf lange Sicht nachhaltig - verändern, parallel zu einem Wandel der Vorstellungen darüber, was im Zusammenhang mit materiell unrichtigen Strafurteilen zum Vor- oder Nachteil des Angeklagten den „Normgeltungsschaden" ausmacht und wie hoch dessen Gewicht zu veranschlagen ist. Ob entsprechend den Konzepten von Freund und SteinS2 die Bindung der Strafverfolgung an den Tatschuldgedanken auf die Dauer genügt, solchen Tendenzen mit dem gebotenen Nachdruck entgegenzutreten, erscheint fraglich: Da der Tatschuldgedanke nach diesen Ansätzen ja seinerseits als eine Größe behandelt wird, die einer Abwägung mit Gegeninteressen nicht prinzipiell entzogen ist,53 könnte er durch ein (angeblich) wachsendes Gewicht anderer Belange selbst einer zunehmenden Relativierung anheimfallen; eine kategorische Sperre des Systems gegenüber einer beliebigen Instrumentalisierung wäre in ihm jedenfalls nicht mehr zu erblicken. Freund {Fn 15) S. 67 ff; Stein (Fn 23) S. 261. Bei Freund kommt hinzu, daß das Schuldverständnis als solches eine problematische Ausweitung erfährt, indem die Verantwortung des Täters für bestimmte Unzulänglichkeiten bei der Tatsachenfeststellung unter gewissen Voraussetzungen die Verantwortlichkeit des Täters für eine „nur möglicherweise wirklich begangene Tat" begründen soll, die dann seine Verurteilung trägt, aaO (Fn 15) S. 69f; krit. dazu Neumann GA 1989, 278, 279f; Stein (Fn 23) S. 249. 52
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V. Zusammenfassung Die Entwicklung einer positiven Legitimationsgrundlage für die Inkaufnahme von Fehlverurteilungsrisiken könnte nach alledem nicht zuverlässig darauf beschränkt werden, (Rest-)Bedenken gegen ein Strafverfolgungssystem auszuräumen, das nicht in der Lage ist, das (Rest-)Risiko einer Bestrafung Unschuldiger auszuschließen. Die mit entsprechenden Ansätzen notwendigerweise verbundene positive Akzeptanz der Tatsache, daß der Angeklagte im Einzelfall u.U. für eine Tat büßen muß, die er nicht begangen hat, läßt nämlich zugleich das Erfordernis einer persönlichen Uberzeugung des Richters von der Schuld des Angeklagten obsolet erscheinen (s.o. ΠΙ. 3.). Während die Probleme, die mit diesem Erfordernis verbunden sind, hierdurch nicht zu lösen sind (s.o. IV. 1. und 2.), ist damit auf der anderen Seite eine nicht zu unterschätzende Gefahr verbunden: Die ausdrückliche Legitimation des Fehlverurteilungsrisikos mit gesellschaftlichen Interessen (wie der Vermeidung eines „Normgeltungsschadens") könnte auf den Umgang mit diesem Risiko in einer Weise zurückwirken, die seiner Ausweitung den Weg ebnet. Vor dem Hintergrund der Uberzeugung, daß die Verhängung von Strafe eigentlich nur dann mit der Menschenwürde zu vereinbaren ist, wenn der Betroffene wirklich einen Straftatbestand in rechtswidriger und schuldhafter Weise erfüllt hat, 54 sollte auf Versuche einer gezielten Legitimation von Fehlverurteilungsrisiken deshalb besser verzichtet werden. Statt dessen ist es geboten, den Umstand, daß das Strafverfolgungssystems in einem gewissen Rahmen notwendigerweise die Verurteilung Unschuldiger impliziert, stets als Problem zu betrachten - ungeachtet der pragmatischen Notwendigkeit, die Strafrechtspflege nicht durch irreale Sicherheitsansprüche zum Erliegen zu bringen: Obwohl man sie nie ganz ausschließen kann, müssen Fehlverurteilungen als furchtbares, im Einzelfall durch nichts zu rechtfertigendes Versagen der Rechtsordnung begriffen werden. Wird der Richter durch das Erfordernis „persönlicher Uberzeugung" mit seinem Gewissen dafür in die Haftung genommen, das Risiko eines solchen Versagens auf das menschenmögliche Minimum zu beschränken, dann dürfte dies (in Verbindung mit einer revisionsgerichtlichen Kontrolle, ob die Uberzeugung auf einer hinreichenden objektiven Grundlage beruht) die bestmögliche Gewähr für den Schutz des einzelnen vor materiell unberechtigter Strafverfolgung darstellen55 und zugleich auch die bestmögliche Legitimation der so getroffenen Entscheidungen.56 Daß Strafverfolgung im Hinblick auf die Unvermeidbarkeit des „Fehlverurteilungsrisikos" danach in der Tat nur mit einem latent schlechten Gewissen betrieben werden kann, 57 sollte hierfür kein zu hoher Preis sein. st Vgl BVerfGE 57, 250, 275; dazu Perron (Fn 5) S. 72. 55 Ähnlich bereits Greger (Fn 5) S. 114 f; vgl auch Hanack JuS 1977, 727, 729. 56 Ähnlich i. Erg. auch Volk Wahrheit und materielles Recht im Strafprozeß, 1980, S. 11 ff. 57 Zum „schlechten Gewissen des Strafrichters" u. a. in bezug auf die vorliegende Problematik eingehend Dreher FS Bockelmann (1979) 45, 49 ff.
Effektiver Rechtsschutz bei Verletzung der Anordnungs voraus Setzung „Gefahr im Verzug" G E R H A R D FEZER
I. Einleitung Die StPO regelt den Rechtsschutz im Bereich der strafprozessualen Zwangsmaßnahmen nur rudimentär. Mit dieser Situation ist die strafprozessuale Praxis lange Zeit nur schwer zurechtgekommen. Das Bild, das sie noch vor zwanzig Jahren abgegeben hat, hat Rieß damals in einer gründlichen Bestandsaufnahme zusammengefaßt wie folgt beschrieben: „... teilweise gravierende mit Art. 19 IV GG nur schwer zu vereinbarende Rechtsschutzlücken und ganz überwiegend eine äußerst umstrittene, uneinheitliche Rechtslage mit einer Vielzahl von Rechtswegspaltungen" 1 . Ein Eingreifen des Gesetzgebers hielt er „für dringend erforderlich". Uber einen Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz aus dem Jahre 19812 kamen die legislatorischen Aktivitäten jedoch nicht hinaus, so daß die gerichtliche Praxis weiterhin auf sich selbst gestellt blieb. Daß die Rechtsprechung heute einen anderen Eindruck als vor zwanzig Jahren vermittelt, ist das Ergebnis einer bemerkenswerten beharrlichen richterlichen Rechtsfortbildung, die von einer intensiven wissenschaftlichen Grundlagendiskussion begleitet und befruchtet wurde. 3 Es war vor allem der BGH (Strafsenate und Ermittlungsrichter), der nach und nach die Rechtswegzersplitterung (weitgehend) beseitigt hat. 4 Darüber1
Rieß/Thym GA 1981, 189.
Vgl Rieß ZRP 1981, 101 ff, der damals zuständiger Referatsleiter im BMJ war. 3 Vgl zusammenfassend jetzt Amelung in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV, 2000, S. 911 ff; Malek/Wohlers Zwangsmaßnahmen und Grundrechtseingriffe im Ermittlungsverfahren, 2. Aufl 2001, Rn 116-130. 4 Ausdehnung der Anwendung des § 98 II 2 StPO über die Beschlagnahme hinaus auf andere Zwangsmaßnahmen (BGH NJW 1978, 1013; BGH StV 1998, 579), auf die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der nichtrichterlichen Anordnung einer Zwangsmaßnahme (BGHSt 28, 57; BGHSt 28, 160; BGHSt 37, 79), auf die Überprüfung der Art und Weise des Vollzugs von nichtrichterlichen (BGHSt 44, 265; BGH NStZ 1999, 151 m. Anm. Fezer) und sogar von richterlichen Zwangsmaßnahmen (BGHSt 45, 183; BGH NJW 2000, 84). Mit dieser Konzentration des gerichtlichen Rechtsschutzes auf die Anrufung des Ermittlungsrichters wurde die Anwendung der §§ 2 3 f f E G G V G weitgehend überflüssig. Darüberhinaus hat das BVerfG jüngst die Strafgerichtsbarkeit angemahnt, nachteilige Auswirkungen von Rechtswegzersplitterungen zu vermeiden (BVerfGE 96, 44, 50). 2
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hinaus hat in jüngster Zeit das BVerfG in zwei aufsehenerregenden Entscheidungen für eine deutliche inhaltliche Verbesserung des gerichtlichen Rechtsschutzes gesorgt, so daß früher beklagte Rechtsschutzdefizite nicht mehr bestehen. Zunächst hielt es der Beschluß vom 30. 4. 1997 für verfassungsrechtlich geboten, eine erledigterichterlicheDurchsuchungsanordnung nachträglich auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.5 Sodann hat jüngst derselbe Senat in seinem Urteil vom 20. 2. 2001 die verfassungsrechtliche Notwendigkeit ausgesprochen, bei einer nichtrichterlichen Durchsuchungsanordnung das Merkmal „Gefahr im Verzug" gerichtlich voll nachzuprüfen.6 Mit den Auswirkungen dieser bedeutsamen Entscheidung auf das System der gerichtlichen Kontrolle nichtrichterlicher Zwangsmaßnahmen (Durchsuchung und Beschlagnahme) beschäftigt sich der vorliegenden Beitrag.
II. Das Urteil des BVerfG vom 20. 2. 2001 Dieser Entscheidung liegt folgendes Geschehen zugrunde: Die Staatsanwaltschaft hatte gegen den Beschuldigten unter Annahme von Gefahr im Verzug eine Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung erlassen, die auch vollzogen wurde. Der vom Beschuldigten angerufene Ermittlungsrichter bestätigte diese Anordnungen, ohne sich mit dem Vorliegen von Gefahr im Verzug zu befassen. Das Landgericht verwarf die Beschwerde des Beschuldigten: Die Anordnungsvoraussetzungen seien gegeben, insbesondere habe Gefahr im Verzug vorgelegen, was der anordnende Beamte nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden gehabt habe. Diese Beschlüsse des Ermittlungsrichters und des Landgerichts sind nach Auffassung des BVerfG verfassungswidrig. Seine Argumentation lautet der Grundstruktur nach: Eine Durchsuchung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in Art. 13 I GG dar. Dem Gewicht dieses Eingriffs entspricht es, daß Art. 13 II GG die Anordnung grundsätzlich dem Richter vorbehält. Da der Richtervorbehalt der Sicherung des Grundrechts aus Art. 13 I GG dient, müssen alle staatlichen Organe Sorge tragen, daß der Richtervorbehalt in dieser Funktion auch praktisch wirksam wird. Daraus folgt zunächst, daß richterliche Durchsuchungsanordnungen die Regel und nichtrichterliche die 5 BVerfGE 96, 27 6 BVerfG NJW 2001, 1121. - Zu diesem Urteil sind t w Abschluß des Manuskripts (Ende Juni 2001) folgende Besprechungen erschienen: Park StraFo 2001, 159; EinmahlNJW 2001, 1393; Möllers NJW 2001, 1397; Asbrock StV 2001, 322; den. NJ 2001, 293; diese Publikationen berühren die folgenden Überlegungen durchweg nicht (zu Asbrock siehe aber u. Fn 29). Die danach veröffentlichten Beiträge von Amelung N S t Z 2001, 337; Bittmann wistra 2001, 451; Gusy]Z 2001, 1033; Ostendorf/Bünmg JuS 2001, 1063 konnten nicht mehr berücksichtigt werden.
Rechtsschutz bei Verletzung der Anordnungsvoraussetzung „Gefahr im Verzug"
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Ausnahme sein müssen. Da die Annahme von Gefahr im Verzug eine beträchtliche Minderung des Grundrechtsschutzes aus Art. 13 I GG darstellt, muß dieses Merkmal eng ausgelegt werden. Die Strafverfolgungsbehörden müssen regelmäßig versuchen, eine Anordnung des zuständigen Richters zu erlangen, bevor sie eine Durchsuchung beginnen. Ist dennoch eine nichtrichterliche Durchsuchungsanordnung ergangen, so folgt aus Art. 19IV GG, daß die diese Maßnahme nachträglich kontrollierenden Gerichte eine vollständige Uberprüfung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vornehmen müssen. Das heißt vor allem: Die Anordnungsvoraussetzung Gefahr im Verzug eröffnet den Strafverfolgungsbehörden Staatsanwaltschaft und Polizei weder ein Ermessen noch einen (gerichtlich nicht überprüfbaren) Beurteilungsspielraum. Vielmehr hat das Gericht die insoweit erfolgte Rechtsanwendung der Behörden vollständig zu überprüfen (wobei der Richter allerdings das konkrete Handlungsfeld des anordnenden Beamten zur Grundlage seiner Prüfung machen muß). Diese verfassungsrechtlich gebotene volle gerichtliche Kontrolle der Annahme von Gefahr im Verzug verlangt von den Strafverfolgungsbehörden auch, daß sie ihre Entscheidung mit deren tatsächlichen Voraussetzungen dokumentieren und in einem späteren gerichtlichen Überprüfungsverfahren im einzelnen begründen. Dieses Urteil des BVerfG wirft von seinen verfassungsrechtlichen Prämissen her Fragen auf, die über das von ihm beurteilte konkrete Strafverfahren hinausgehen: Da im Hinblick auf die staatsanwaltlichen Anordnungen und deren Vollzug ein gerichtliches Verfahren zur nachträglichen Rechtsmäßigkeitsprüfung tatsächlich stattgefunden hat, ging es dort im Kern nur noch um das verfassungsrechtliche Gebot einer vollen inhaltlichen Kontrolle der Voraussetzung Gefahr im Verzug und die Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden, durch Dokumentation und Begründung diese Uberprüfung zu ermöglichen. Mit der Absage an die - bereits zum „Dogma" erstarrte 7 - Auffassung, das Merkmal Gefahr im Verzug sei weitgehend unüberprüfbar, hat das BVerfG ein immer noch bestehendes wesentliches Rechtsschutzdefizit beseitigt. U m diesen Aspekt geht es jedoch im folgenden nicht. Im Vordergrund stehen vielmehr die verfahrensrechtlichen Folgen und Auswirkungen dieser Entscheidung, in der insoweit (zwangsläufig!) vieles offenbleibt. Zunächst ist zu fragen, welche Gerichte bzw. welches gerichtliche Verfahren für die vom BVerfG von Art. 19 IV GG her geforderte „gerichtliche Uberprüfung" institutionell in Betracht kommen. 8 Was das 7 So zu Recht Bachmann Probleme des Rechtsschutzes gegen Grundrechtseingriffe im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, 1994, S. 210. 8 In BVerfG NJW 2001, 1121, 1124 ist nur sehr allgemein und pauschal die Rede von „Recht und Pflicht der Gerichte zu unbeschränkter Kontrolle des Merkmals .Gefahr im Verzug'". Oder es wird formuliert: „Der Richter hat die von den Strafverfolgungsbehörden
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wohl in erster Linie einschlägige Verfahren nach § 98 II 2 StPO (analog) betrifft, so ist zu untersuchen, wie die jetzt neuartige Aufgabe, das Merkmal Gefahr im Verzug im Sinne eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes voll zu überprüfen, mit dem bisher in Rechtsprechung und Schrifttum für dieses Verfahren entwickelten Verständnis der Aufgabe und Funktion (Struktur) dieser richterlichen Kontrolle zu vereinbaren ist. Insoweit sind die unterschiedlichen Verfahrenssituationen der noch andauernden und der vollständig erledigten Durchsuchung getrennt zu behandeln. Vor allem geht es um die Folgen einer sich aus dem Fehlen von Gefahr im Verzug ergebenden Rechtswidrigkeit einer Durchsuchungsanordnung, also um die Zulässigkeit der weiteren Verwertung von Erkenntnissen im Zusammenhang mit einer solchen Anordnung, vor allem um die Berechtigung der Beschlagnahme von Gegenständen, die bei einer auf diese Weise rechtswidrigen Durchsuchung gefunden worden sind und um die Berücksichtigung solcher Beweismittel bei der Urteilsfindung. In diesem Zusammenhang wird die Frage zu stellen sein, ob die Prüfung eines eventuellen Verwertungsverbots ebenfalls eine „gerichtliche Uberprüfung" im Sinne des BVerfG darstellt. Die Entscheidung des BVerfG hat die nichtrichterliche Anordnung einer Durchsuchung zum Gegenstand, einer strafprozessualen Zwangsmaßnahme also, die sich von anderen dadurch unterscheidet, daß die einfachgesetzliche Kompetenzregelung des § 105 I StPO in Art. 13 II GG eine verfassungsrechtliche Entsprechung hat. Es wird daher im folgenden abschließend noch zu fragen sein, welche Bedeutung diese Entscheidung für andere strafprozessuale Zwangsmaßnahmen hat, die parallele Regelungen der Anordnungsbefugnis in der StPO, nicht aber im GG enthalten. Dies soll am Beispiel der Beschlagnahme geschehen.
III. Überprüfung der nichtrichterlichen Durchsuchungsanordnung 1. Konstellation der noch andauernden
Durchsuchung
Wenn eine nichtrichterlich angeordnete Durchsuchung noch nicht abgeschlossen ist (also in ihrer Durchführung noch andauert9), kann der Betroffene gemäß § 98 II 2 StPO (analog) den Richter anrufen; sein Ziel ist dabei, daß durch gerichtliche Entscheidung die Beendigung der Durchsuchung getroffene Einschätzung der konkreten Situation nachzuvollziehen". Oder: „Wirksame gerichtliche Nachprüfung von ,Gefahr im Verzug'". Es bleibt also stets offen, welcher Richter (bzw. welche Gerichte) in welchem Verfahren diese Prüfung vornehmen müssen. ' Beispiel: Mehrtägige Durchsuchung eines großen Bürogebäudes, oder: die Durchsicht der einstweilen sichergestellten schriftlichen Unterlagen ist noch nicht abgeschlossen: § 110 StPO (vgl BGH NJW 1973, 2035); zur zunehmenden Bedeutung dieser Phase der Informationsauswertung vgl Amelung in: BGH-FG (Fn 3) S. 929f.
Rechtsschutz bei Verletzung der Anordnungsvoraussetzung „Gefahr im Verzug" 97 und die Rückgabe der einstweilen sichergestellten Gegenstände, insbesondere (im Falle des § 110 StPO) der Papiere angeordnet wird. Nach bisheriger Rechtsprechung und überwiegender Meinung im Schrifttum10 erstreckt sich die gerichtliche Prüfung nicht darauf, ob bei der nichtrichterlichen Anordnung Gefahr im Verzug vorgelegen hat. Denn nach dieser Auffassung entscheidet der Richter lediglich ex nunc: Er trifft eine eigene Sachentscheidung, d.h. er beurteilt, ob zur Zeit seiner Entscheidung sämtliche Durchsuchungsvoraussetzungen (noch) vorliegen (insbesondere also Tatverdacht, „Auffindungsvermutung", Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Fehlen von Durchsuchungsverboten etc.). Deckt sich insoweit seine Beurteilung mit derjenigen des anordnenden Staatsanwalts oder dessen Hilfsbeamten (sind also z.B. auch zwischenzeitlich keine rechtlich erheblichen Veränderungen eingetreten), dann „bestätigt" der Richter die nichtrichterliche Durchsuchungsanordnung. Andernfalls hebt er diese Anordnung auf, z.B. also auch dann, wenn zur Zeit der nichtrichterlichen Anordnung alle Durchsuchungsvoraussetzungen noch vorgelegen haben sollten. Nach dieser Auffassung war es folgerichtig, daß der Richter die Anordnungsvoraussetzung „Gefahr im Verzug" nicht überprüft hat. Dem hielt eine Mindermeinung im Schrifttum" entgegen, daß sich aus Wesen und Funktion des Richtervorbehaltes zwingend ergebe, daß der Richter die Rechtswidrigkeit der nichtrichterlichen Anordnung nicht ignorieren dürfe, sondern (auch) eine ex tunc-Prüfung vornehmen müsse. Nur diese Auffassung wird den Forderungen des BVerfG in seiner neuen Entscheidung gerecht: Denn diese verpflichtet den Richter von Verfassungs wegen, in der Sache selbst zu prüfen, ob der Staatsanwalt oder dessen Hilfsbeamter zu Recht oder Unrecht Gefahr im Verzug angenommen hat.12 Zu den möglichen Auswirkungen dieser richterlichen Prüfung hat sich das BVerfG nun allerdings nicht konkret geäußert.13 Am Ende der Entscheidung heißt es lediglich:14 „Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Gerichte bei einer dem Verfassungsrecht genügenden Uberprüfung der staatsanwaltlichen Durch10 Nachw. bei Bachmann (Fn 7) S. 189 und Lin Richtervorbehalt und Rechtsschutz gegen strafprozessuale Eingriffe, 1998, S. 163 ff. 11 Vgl Amelung Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe, 1976, S. 28ff, 50 ff; Nelles Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozeßordnung, 1980, S. 77 ff; Fezer Jura 1982, 126, 129f; SK-Rudolphi%9% Rn 36; Schlüchterns Strafverfahren, 1983, Rn 182 und im Falle der bereits abgeschlossenen Zwangsmaßnahme auch Rieß/Thym GA 1981, 189, 203 ff. 12 Vgl BVerfG NJW 2001, 1121, 1124: „Das AG hat die Frage der Gefahr im Verzug entgegen den Vorgaben aus Art. 13 I, II iVm Art. 19IV GG nicht geprüft", also durch diese Unterlassung den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt. 13 Was auch vom zu entscheidenden Sachverhalt her nicht erforderlich war: Da sich dort die Durchsuchungsanordnung erledigt hatte, ging es von vornherein nur noch um die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit. » BVerfG NJW 2001, 1121, 1125, Abschn. C III 3.
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suchungsanordnung wegen Geiahr im Verzug zu dem Ergebnis gekommen wären, die Anordnung sei rechtswidrig gewesen" 15 . Es fragt sich jedoch, wie ein solches Prüfungsergebnis in die Konzeption einer richterlichen ex tuncPrüfung einzufügen ist. Zu welchen Problemen es hier kommt, muß anhand der folgenden, eigentlich einzig brisanten Fallkonstellation näher untersucht werden: Der Ermittlungsrichter bejaht zwar in Übereinstimmung mit dem anordnenden Staatsanwalt die materiellen Durchsuchungsvoraussetzungen; im Gegensatz zum Staatsanwalt verneint er jedoch das Vorliegen von Gefahr im Verzug. Daß damit die Durchsuchungsanordnung der Staatsanwaltschaft rechtswidrig ist, darf - im Gegensatz zur bisher überwiegenden Auffassung - nicht folgenlos bleiben. Also verbietet sich auf jeden Fall eine Entscheidung, mit der die nichtrichterliche Durchsuchungsanordnung einfach „bestätigt" wird. Zu denken wäre nun daran, daß der Richter in seiner Entscheidung zunächst nur feststellt, daß die nichtrichterliche Durchsuchungsanordnung rechtswidrig war und sodann selbst eine eigene Durchsuchungsanordnung erläßt. Aber auch diese Lösung würde mit den Vorgaben des BVerfG aus folgenden Gründen nicht in Einklang stehen. Das Merkmal „Gefahr im Verzug" hat doppelte Bedeutung: Sein Vorliegen ist einerseits gesetzliche Voraussetzung für einen Eingriff in Grundrechte des Betroffenen; andererseits legitimiert es die (Ausnahme-) Zuständigkeit des Staatsanwalts oder des Hilfsbeamten unter Verdrängung der eigentlichen richterlichen Anordnungskompetenz. 16 Nimmt in einem konkreten Fall etwa die Staatsanwaltschaft zu Unrecht Gefahr im Verzug an (ob „willkürlich" oder nur unbedacht), schafft sie in doppelter Hinsicht einen verfassungswidrigen Zustand, der durch den nachträglich eingeschalteten (aber primär zuständigen!) Richter erst einmal beseitigt werden muß. Das bedeutet zunächst, daß die Durchsuchungsanordnung des Staatsanwalts aufgehoben werden muß. Es bedeutet aber auch, daß der Richter - sollte er zur Zeit seiner Entscheidung das Vorliegen der materiellen Durchsuchungsvoraussetzungen bejahen - nicht einfach eine eigene Anordnung erlassen darf.17 Dann würde er nämlich ein Verfahren (wenigstens für die Zukunft) legitimieren, das ein Staatsanwalt unter eigenmächtiger Anmaßung richterlicher Anordnungskompetenz begonnen hatte. Eine solche verfassungswidrige Kompetenzverletzung kann nicht auf diese Weise „geheilt" werden, das Verfahren muß vielmehr durch Aufhebung der Anordnung abgebrochen werden. Ein neues Durchsuchungsverfahren setzt einen neuen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlaß einer richterlichen Durchsuchungsanordnung voraus. 15 Siehe auch BVerfG NJW 2001, 1121, 1125, Abschn. C III 2c: Exekutive darf bei der Beurteilung von Gefahr im Verzug keine „letzte Entscheidungsbefugnis" haben. In NJW 2001, 1121, 1124, Abschn. C II lc (3) spricht das BVerfG von „Recht und Pflicht der Gerichte zu unbeschränkter Kontrolle des Merkmals ,Gefahr im Verzug'". 16 Dazu zusammenfassend Lin (Fn 10) S. 308 ff. 17 So aber die bisherige Mindermeinung (Fn 11) auf der Basis einer ex tunc-Prüfung.
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Aus diesen notwendigen Prämissen ergibt sich für die beiden denkbaren Situationen einer noch andauernden Durchsuchung: - Eine noch andauernde Vollziehung einer Durchsuchungsanordnung muß sofort abgebrochen werden. Ein Neubeginn ist von einer zu beantragenden richterlichen Anordnung abhängig, die nur in die Zukunft wirken kann und für die auf Erkenntnisse aus der nichtrichterlich angeordneten rechtswidrigen Durchsuchung nicht zurückgegriffen werden darf. Dies kann zur Folge haben, daß der von der Durchsuchung Betroffene unter Umständen zwischenzeitlich Gelegenheit hat, Unterlagen beiseitezuschaffen. Jedenfalls dürfen nichtrichterliche Strafverfolgungsbehörden eine solche Befürchtung nicht zum Anlaß nehmen, wiederum Gefahr im Verzug zu bejahen (oder gar Untersuchungshaft wegen Verdunklungsgefahr zu beantragen). - Kann eine faktisch vollzogene Durchsuchung deswegen noch nicht als abgeschlossen gelten, weil die einstweilen sichergestellten Papiere gem. § 110 StPO noch nicht vollständig durchgesehen sind (oder sind sonst während einer noch andauernden Durchsuchung bereits Gegenstände sichergestellt worden), dann muß die Aufhebung der nichtrichterlichen Durchsuchungsanordnung zur Folge haben, daß diese Unterlagen bzw. Gegenstände - da auf verfassungswidrige Weise sichergestellt - zurückgegeben werden müssen. Vorher darf über einen neuen Antrag der Staatsanwaltschaft auf richterliche Anordnung einer Durchsuchung (und evtl. Beschlagnahme) nicht entschieden werden. Das Risiko zwischenzeitlichen Beweismittelverlustes besteht auch hier. Die nichtrichterlichen Strafverfolgungsbehörden haben es selbst in der Hand, das jeweils bestehende Risiko weitgehend zu vermeiden. Während die bisherige Praxis dadurch gekennzeichnet ist, daß Staatsanwalt oder Polizeibeamter in erster Linie „bequemlichkeitshalber" eine eigene Anordnung getroffen hat, muß er sich nun auf der Grundlage der Rechtsprechung des BVerfG „sicherheitshalber" veranlaßt sehen, den Richter einzuschalten. Erst wenn ihm das Risiko des damit verbundenen Zeitverlustes zu groß erscheint, muß er dies sorgfältig prüfen und seine Einschätzungen und seine Bemühungen den Vorgaben des BVerfG entsprechend dokumentieren. Je sorgfältiger er dabei verfährt, desto geringer ist das Risiko, daß der später eingeschaltete Richter die nichtrichterliche Anordnung aufhebt,18 daß also die Gefahr des Beweismittelverlustes entsteht. Mit der sorgfältigen Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben gehen die anordnenden Beamten also das geringere Risiko gegenüber einer routinemäßig oberflächlichen Anmaßung eigener Zuständigkeit ein. Der dadurch entstehende „heilsame" Druck 18 Mit seiner Dokumentation beschreibt der anordnende Beamte nämlich sein „konkretes Handlungsfeld", auf dessen Grundlage der Richter später die Rechtmäßigkeit der Anordnung überprüft (BVerfG NJW 2001, 1121, 1124).
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auf die Strafverfolgungsorgane ist durchaus im Sinne des BVerfG, das eine „effektive", „tatsächlich wirksame" rechtliche Kontrolle verlangt.19 Darauf wird später im Zusammenhang mit der Frage des Verwertungsverbots20 noch einmal zurückzukommen sein. 2. Konstellation
der bereits vollzogenen
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Gehen wir zunächst einmal davon aus, daß eine nichtrichterlich angeordnete Durchsuchung sich durch Vollzug erledigt hat und daß dem Betroffenen keine weiteren Folgen entstanden sind - entweder weil ihm keine Beweisgegenstände weggenommen oder weil sie ihm wieder vollständig zurückgegeben worden sind.21 Die einzige dem Betroffenen zur Verfügung stehende gerichtliche Rechtschutzmöglichkeit besteht in diesem Fall darin, in analoger Anwendung des § 98 II 2 StPO den Richter anzurufen mit dem Ziel, daß dieser nachträglich die Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung feststellt. Nach bisher herrschender Auffassung konnte Gegenstand eines solchen Feststellungsbegehrens allerdings nicht sein, daß der die Durchsuchung anordnende Beamte unberechtigter Weise Gefahr im Verzug angenommen hatte. Diese Auffassung ist wiederum mit der Entscheidung des BVerfG vom 20. 2. 2001 nicht zu vereinbaren: Ist eine nichtrichterliche Durchsuchungsanordnung allein deswegen rechtswidrig, weil Gefahr im Verzug nicht vorlag und kann der Richter die an sich gebotene Aufhebung der Anordnung nicht mehr aussprechen, weil sich die Durchsuchung vollständig erledigt hat, so muß er jetzt (wenigstens) nachträglich die Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung feststellen. An der verfassungsrechtlichen Relevanz der Eingriffs- und Zuständigkeitsvoraussetzung „Gefahr im Verzug" hat sich durch die Tatsache der Durchsuchungserledigung nichts geändert, also auch nicht am verfassungsrechtlichen Gebot ihrer richterlichen Uberprüfung. Das für einen entsprechenden Feststellungsantrag notwendige Rechtsschutzinteresse ergibt sich ohne weiteres aus dem mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundenen „tiefgreifenden Grundrechtseingriff"22. Die Perspektiven des gerichtlichen Rechtsschutzes erweitern sich, wenn bei der - inzwischen abgeschlossenen - Durchsuchung Beweismaterial einstweilen sichergestellt bzw. durch nichtrichterliche Anordnung beschlagnahmt worden war. In solchen Fällen ist über die nachträgliche gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit hinaus zu fragen, welche weiteren Folgen die Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung hat und wie es mit dem 19 BVerfG NJW 2001, 1121, 1122; dort auch: Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung müsse „praktisch wirksam" werden; vgl ferner BVerfG NJW 1999, 273. 20 S. nachstehend 2 a). 21 Sichergestellte Papiere also ohne Zurückbehalten von Kopien. 22 BVerfGE 96, 27, 40; vgl ferner BVerfG NJW 1999, 273.
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auch insoweit gebotenen gerichtlichen Rechtsschutz bestellt ist. Hier sind zwei verschiedene Konstellationen denkbar: Ist ein während einer solchen Durchsuchung einstweilen sichergestellter Gegenstand noch nicht richterlich beschlagnahmt worden, so ist zu prüfen, ob angesichts der Rechtswidrigkeit der Durchsuchung eine richterliche Beschlagnahmeanordnung überhaupt ergehen darf, beziehungsweise, ob einem vom Betroffenen gestellten Antrag nach § 98 II 2 StPO auf Rückgabe des Gegenstandes stattgegeben werden muß. Ist dagegen der Gegenstand bereits richterlich beschlagnahmt, so ist zu untersuchen, ob dieses Beweismittel für weitere Entscheidungen im Ermittlungsverfahren (z.B. Anordnung weiterer Zwangsmaßnahmen oder Anklageerhebung) oder später für die Urteilsfindung in der Hauptverhandlung verwertet werden darf. Inhaltlich beziehen sich alle diese Fragen auf die Voraussetzungen und die Begründung eines Verwertungsverbots. 23 Auf formal verfahrensrechtlicher Ebene geht es sodann um eine „Konkurrenz"-Situation zwischen einer gerichtlichen Kontrolle gem. § 98 II 2 StPO (analog) und einer gerichtlichen Prüfung eines Verwertungsverbots. 24 a) Notwendigkeit eines Verwertungsverbots Die Rechtsprechung hat bisher die Auffassung vertreten, daß die unberechtigte Annahme von „Gefahr im Verzug" für sich allein zu keinem Verwertungsverbot führt, sondern erst dann, wenn die anordnenden Beamten „willkürlich" gehandelt, d . h . dieses Zuständigkeitserfordernis bewußt umgangen haben oder wenn die Annahme von Gefahr im Verzug im konkreten Fall völlig unvertretbar war. 25 Hinter dieser Differenzierung zwischen bewußter (willkürlicher) Ausschaltung der richterlichen Anordnungskompetenz und der bloß fahrlässigen (vermeidbaren) Annahme von Gefahr im Verzug steht offensichtlich die Auffassung, daß im zuletzt genannten Fall ein Verfahrensverstoß von geringerem Gewicht vorliege, was auch das Schutzbedürfnis des Betroffenen verringern und das Interesse der Allgemeinheit an der Wahrheitsfindung überwiegen lassen könne. 26 Überdies mag eine Rolle gespielt haben, daß bisher den nichtrichterlichen Strafverfolgungsbehörden
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Dazu nachstehend a). Dazu nachstehend b). Vgl LG Osnabrück StV 1991, 152; LG Darmstadt StV 1993, 573; vgl auch BGH NStZ 1985, 262 zu § 98 I 1 StPO: „Ihre Beschlagnahmeanordnung wäre nicht unwirksam, wenn sie Gefahr im Verzug zu Unrecht angenommen hätte; Willkür ist hier ausgeschlossen". 26 Vgl etwa Krekeler NStZ 1993, 263, 265, der der Auffassung der Rechtsprechung grundsätzlich zustimmt; vgl ferner auch LandaulSander StraFo 1998, 397, 398f, 401. In StV 1989, 290, 295 habe ich die Auffassung vertreten, „bei einem bloßen Verstoß gegen die Zuständigkeitsregelung in § 105 I StPO" entfalle ein Verwertungsverbot. Diese Auffassung gebe ich auf. 24
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bei der Prüfung der Voraussetzung von Gefahr im Verzug ein nur beschränkt überprüfbarer Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zugestanden wurde, so daß auch aus diesem Grunde das Ergebnis bis zur Grenze des Vertretbaren akzeptiert werden mußte. 2 7 Eine solche Ablehnung eines Verwertungsverbots ist (zumindest) 28 seit der Entscheidung des BVerfG vom 20. 2. 2001 nicht mehr vertretbar.29 Zunächst einmal ist eine Differenzierung zwischen bewußter Mißachtung und fahrlässiger Nichtbeachtung der Voraussetzung „Gefahr im Verzug" völlig unberechtigt. 30 In beiden Fällen handelt es sich objektiv um einen Grundrechtseingriff ohne Vorliegen der gesetzlichen Eingriffsbefugnisse und gleichzeitig um eine verfassungswidrige Ausübung richterlicher Kompetenzen durch ein nichtrichterliches Organ der Strafverfolgung, d.h. jeweils um dasselbe, speziell durch Verletzung der Art. 13 II GG, § 105 I StPO geprägte Unrecht. 31 Das Gewicht des auf diese Weise charakterisierten Verfahrensverstoßes hängt also nicht von der hier irrelevanten Unterscheidung Vorsatz/Fahrlässigkeit ab, und es kann daher auch nicht im herkömmlichen Sinne relativiert werden: fahrlässige Nichtbeachtung hat nicht etwa „geringeres Gewicht". Daraus folgt, daß jede Mißachtung des Richtervorbehalts ein Verwertungsverbot zur Folge haben muß. Durch eine Verwertung würde der Schutzzweck des verfassungsrechtlichen Richtervorbehalts vereitelt werden. Das Gewicht des Verfahrensverstoßes ist zudem so groß, daß 27
So daß dann im Grunde bei irrtumsbedingter Fehleinschätzung eines sich ansonsten pflichtgemäß verhaltenden Beamten auch nicht von der Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung gesprochen werden kann (vgl Wecker Beweisverwertungsverbote als Folge rechtswidriger Hausdurchsuchungen, 2001, S. 86). 28 Für ein Verwertungsverbot bereits bisher: Sc^rörferBeweisverwertungsverbote und die Hypothese rechtmäßiger Beweiserlangung im Strafprozeß, 1992, S. 141 ff; Lin (Fn 10) S. 295 (wenigstens grundsätzlich). 29 Vgl aber Asbrock StV 2001, 322, 324, der zur Frage des Verwertungsverbots weitere Entscheidungen des BVerfG für notwendig hält (einstweilen soll sich wohl die „hM" rechtswidrige Durchsuchung führt nur in Ausnahmefällen zur Unzulässigkeit der Beschlagnahme - weiterhin behaupten können). 30 Selbst wenn man diese Differenzierung theoretisch weiterhin beibehalten sollte, müßte sie angesichts der deutlichen Vorgaben des BVerfG praktisch weitgehend leerlaufen: Entscheidungen der Staatsanwaltschaft, die unter Mißachtung der Prüfungssorgfalt und der Dokumentationspflicht zustandegekommen sind, wären schon deswegen völlig unvertretbar und damit willkürlich. 31 Demgegenüber hat die Ableitung eines Verwertungsverbots bei bewußter Mißachtung des Richtervorbehalts eine andere verfassungsrechtliche Verankerung, nämlich den im bewußten Mißbrauch von gesetzlichen Eingriffsvoraussetzungen liegenden Verstoß gegen das faire Verfahren, wie dieser auch sonst vielfältig denkbar ist; vgl z.B. BGHSt 24, 125,131 zur bewußten Umgehung des Arzterfordernisses bei der Blutentnahme: „Von einem fairen Verfahren könnte nicht mehr die Rede sein, wenn den Polizeibeamten, die Zwang androhten, bekannt gewesen wäre, daß die Person, die das Blut entnahm, kein Arzt war. In diesem Fall wäre die Probe bewußt durch Mißbrauch staatlicher Zwangbefugnis gewonnen worden", woraus der BGH ein Verwertungsverbot ableiten würde.
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sich auch im Rahmen einer Abwägung zwischen Beschuldigtenschutz und Strafverfolgungsbelangen eine Relativierung verbietet.32 Eine weitere Überlegung unterstreicht die Notwendigkeit eines Verwertungsverbotes: Die Entscheidung des BVerfG vom 20. 2. 2001 leitet aus Art. 19 IV GG die „Pflicht des Gerichts" ab,33 die Annahme von Gefahr im Verzug voll zu kontrollieren. Mit einer solchen gerichtlichen Prüfung kann nicht nur das Verfahren gemäß § 98 II 2 StPO (analog) gemeint sein. Unabhängig davon ist darunter auch jede gerichtliche Entscheidung zu verstehen, welche sich mit der Verwertung eines unter Verstoß gegen Art. 13 II GG, § 105 I StPO gewonnenen Beweisgegenstandes befaßt, also vor allem die Entscheidung des Gerichts in der Hauptverhandlung, diesen Gegenstand für die Urteilsfindung zu verwerten. Eine derartige Prüfung ist auch ohne vorheriges Verfahren gem. § 98 II 2 StPO (analog) geboten.34 Sie würde in der Sache völlig leerlaufen, wenn man die Auffassung vertreten würde, eine Nichtbeachtung der Anordnungsvoraussetzung „Gefahr im Verzug" sei von vornherein folgenlos, könne also die Verwertung nicht beeinflussen. Denn dann wäre Grundlage der Beweisgewinnung eine nichtrichterliche Anordnung, deren Rechtmäßigkeit weder durch vorherige noch durch nachträgliche isolierte gerichtliche Kontrolle überprüft worden wäre. Damit würde aber das Gericht, das über die Verwertung zu entscheiden hat, seine verfassungsrechtliche Verpflichtung nicht erfüllen. Eine nachträgliche Uberprüfung der Voraussetzung „Gefahr im Verzug" ohne das mögliche Ergebnis eines Verwertungsverbots wäre indes wertlos und würde den Vorgaben des BVerfG, eine „effektive" Kontrolle vorzunehmen, nicht gerecht werden. Es wäre ungereimt, wenn das Gericht sich auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Durchsuchung beschränken und sodann die Verwertung zulassen müßte. Im übrigen ist es gerade die Gefahr des späteren Verwertungsverbots, die die nichtrichterlichen Strafverfolgungsbehörden zwingt, die Voraussetzung von „Gefahr im Verzug" vor ihrer Durchsuchungsanordnung aufs Sorgfältigste zu prüfen. Zwar haben Verwertungsverbote primär keine Disziplinierungsfunktion, sehr wohl aber kann die Auswirkung eines Verwertungsverbots auf die Tätigkeit der Strafverfolgungsorgane mitbe32 Ganz abgesehen davon, daß der grundsätzlich anerkannte Abwägungsfaktor „Beweisnot " von vornherein keine Berücksichtigung finden darf, wenn der drohende Beweisverlust auf Fehlverhalten der Strafverfolgungsbehörden zurückzuführen ist (unberechtigte Annahme von Gefahr im Verzug führt zur Notwendigkeit der Restitution und damit zur Gefahr des Beweismittelverlustes). 33 S. auch BVerfG NJW 2001, 1121, 1124: „verfassungsrechtlich geboten". 34 Sie ist vom Gericht der Hauptverhandlung von Amts wegen vorzunehmen. Diese Prüfungstätigkeit mag im Einzelfall durch einen Hinweis des Angeklagten (Verteidigers) ausgelöst werden, ein förmlicher Widerspruch gegen die Verwertung ist aber nicht erforderlich. Die vom BGH (seit BGHSt 38, 214, 225f) praktizierte sog. Widerspruchslösung wäre vorliegend mit dem verfassungsrechtlichen Gebot eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nicht vereinbar.
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rücksichtigt werden, wenn es um die Beurteilung der Effektivität gerichtlichen Rechtsschutzes geht. Das mit der Annahme eines Verwertungsverbots verbundene Risiko ergänzt das mit dem bereits vorstehend 35 beschriebenen Risiko des Beweismittelverlustes im Ermittlungsverfahren. Auch dieses Risiko geht nicht zu Lasten der Strafverfolgungstätigkeit, denn es kann durch sorgfältiges Arbeiten der nichtrichterlichen Strafverfolgungsorgane deutlich verringert werden. Die Folgen eines Verwertungsverbots können auch nicht mit der Erwägung eines „hypothetischen Ersatzeingriffs" (im Sinne der Berücksichtigung eines hypothetischen rechtmäßigen Kausalverlaufs) vermieden werden. Der BGH 36 hatte früher einmal als Folge einer gänzlich fehlenden Durchsuchungsanordnung ein Verwertungsverbot „jedenfalls" dann ablehnen wollen, „wenn dem Erlaß der Durchsuchungsanordnung rechtliche Hindernisse nicht entgegengestanden hätten und die tatsächlich sichergestellten Gegenstände als solche der Verwertung als Beweismittel rechtlich zugänglich waren". Das heißt mit anderen Worten: Wenn eine nachträgliche „hypothetische" Uberprüfung der durchgeführten Durchsuchung ergibt, daß die inhaltlichen Durchsuchungsvoraussetzungen vorgelegen haben, dann wirkt sich der Verfahrensfehler (gänzliches Fehlen einer vorherigen Anordnung) auf die Verwertbarkeit der sichergestellten Gegenstände nicht aus. Diese Konstruktion war schon damals nicht haltbar.37 Nach der jetzigen Entscheidung des BVerfG ist sie es erst recht nicht. Sie würde darauf hinauslaufen, daß es letztlich doch ausreicht, wenn ein Richter nachträglich prüft, ob zur Zeit des Eingriffs die Anordnungsvoraussetzungen vorgelegen haben. Das verträgt sich nicht mit dem Grundanliegen der Entscheidung des BVerfG, der verfassungsrechtlichen Bedeutung des präventiv-richterlichen Schutzes gerecht werden. Im Extremfall würden hypothetische Erwägungen (die durchaus in der Konsequenz der bisherigen Rechtsprechung liegen könnten) zu folgendem absurden Ergebnis führen: Daß etwa der Staatsanwalt genügend Zeit gehabt hätte, einen Richter anzurufen, wirke sich nicht aus, weil insoweit die im konkreten Fall materiell zulässige richterliche Anordnung ohne weiteres zu erlangen gewesen wäre. b) Folgerungen für die Möglichkeiten gerichtlicher Uberprüfung Hat sich die nichtrichterliche Durchsuchungsanordnung, die zu Unrecht auf der Grundlage von „Gefahr im Verzug" erlassen wurde, durch Vollzug vollständig erledigt, haben die Strafverfolgungsbehörden aber im Rahmen » S.o. 1. " BGH StV 1989, 289, 290 („Fall Weimar"). 37 Vgl die zusammenfassenden Darstellungen von Schröder (Fn 28) S. 141 ff und Lin (Fn 10) S. 288 ff, jeweils m w N ; Kelnhofer Hypothetische Ermittlungsverläufe im System der Beweisverbote, 1994, S. 198 ff; Beulke ZStW 103 (1991) 657, 673 ff.
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dieser Durchsuchung bereits Gegenstände gefunden und noch nicht wieder zurückgegeben, so stehen - zusammengefaßt - folgende Rechtsschutz- bzw. Überprüfungsmöglichkeiten im Sinne des BVerfG zur Verfügung: - Der Betroffene kann gem. § 98 II 2 StPO (analog) den Antrag stellen, nachträglich die Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung festzustellen. Hat dieser Antrag Erfolg, dann sind ihm die einstweilen sichergestellten Beweisgegenstände (gegebenenfalls auf Antrag gem. § 98 II 2 StPO - unmittelbare Anwendung -) zurückzugeben. Hat die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf richterliche Beschlagnahme gestellt, so hat der Richter diesen Antrag abzulehnen, wenn er die Anordnung der Durchsuchung wegen Fehlens von Gefahr im Verzug für rechtswidrig hält. Dies gilt unabhängig davon, ob der Betroffene sich bereits unmittelbar gegen die Durchsuchungsanordnung zur Wehr gesetzt hat oder nicht. Dasselbe ist anzunehmen, wenn der Betroffene einen Antrag gemäß § 98 II 2 StPO (nur) des Inhalts stellt, daß ihm - angesichts der Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung - die sichergestellte Sache zurückzugeben ist. Aus all dem ergibt sich, daß die Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung dann unmittelbarer Prüfungsgegenstand ist, wenn der Betroffene den Feststellungsantrag nach § 98 II 2 StPO (analog) stellt. Mittelbar ist sie aber auch ohne einen solchen Antrag erheblich, wenn nämlich ein Richter über die Beschlagnahme entscheiden muß; 38 von einem vorangegangenen oder gleichzeitigen Feststellungsantrag des Betroffenen ist diese Prüfung unabhängig. - Hat ein Richter den Beweisgegenstand, der aufgrund einer wegen Fehlens von Gefahr im Verzug rechtswidrigen Durchsuchungsanordnung sichergestellt wurde, trotzdem beschlagnahmt, so steht dieser Gegenstand zunächst weiterhin für das Verfahren, also insbesondere für die Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung zur Verfügung. Bevor jedoch das Gericht der Hauptverhandlung diesen Gegenstand verwerten darf, muß es das Vorliegen eines Verwertungsverbots überprüfen. Diese Verpflichtung besteht wiederum unabhängig davon, ob der Betroffene sich im Ermittlungsverfahren gegen die Durchsuchungsanordnung oder Beschlagnahmeanordnung zur Wehr gesetzt hat, ob also gerichtlicher Rechtsschutz gem. § 98 Π 2 StPO (analog) begehrt worden ist oder nicht. Der Betroffene verliert auch nicht sein Recht, in der Hauptverhandlung die Unverwertbarkeit geltend zu machen,39 wenn er im Ermittlungsverfahren von keinem Rechtsbehelf Gebrauch gemacht hat. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, daß auch die gerichtliche Prüfung eines Verwertungsverbots - sei es des Ermittlungsrichters, der über eine Beschlagnahme entscheidet, sei es des Gerichts der Hauptverhandlung, das über die Verwertung bei der Urteilsfindung entscheidet - eine Form der 38 Zu den möglichen Auswirkungen einer fehlerhaften Durchsuchungsanordnung auf die Zulässigkeit der Beschlagnahme vgl auch BVerfG NJW 1999, 273f (s. auch u. Fn 48). 35 Was nicht im Sinne der sog. Widerspruchslösung zu verstehen ist (s.o. Fn 34).
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aus Art. 19 IV GG abgeleiteten „wirksamen gerichtlichen Kontrolle" (BVerfG) der Anordnungsvoraussetzung „Gefahr im Verzug" darstellt. Dies muß schon deshalb gelten, weil diese gerichtliche Prüfung keinen Antrag nach § 98 II 2 StPO im Ermittlungsverfahren voraussetzt und - wenn eine ermittlungsrichterliche Entscheidung getroffen wurde - das Gericht später daran nicht gebunden ist. Das heißt konkret: Wendet der Angeklagte in der Hauptverhandlung zum ersten Mal (also ohne im Ermittlungsverfahren einen Antrag gem. § 98 II 2 StPO gestellt zu haben) ein, ein beschlagnahmter Beweisgegenstand dürfe nicht verwertet werden, weil die nichtrichterliche Durchsuchung mangels Gefahr im Verzug rechtswidrig gewesen sei, so muß das Gericht dies im Hinblick auf ein mögliches Verwertungs verbot nachprüfen. Dies kann nicht anders sein, wenn bereits ein Ermittlungsrichter entgegen den Einwänden des Betroffenen eine Beschlagnahmeanordnung erlassen hat. Wenn er dabei die nichtrichterliche Durchsuchungsanordnung für rechtmäßig gehalten (also zum Beispiel Gefahr im Verzug bejaht) hat, so bindet dies das Gericht der Hauptverhandlung nicht, nimmt ihm also nicht etwa die (verfassungsrechtliche) Verpflichtung, die Voraussetzungen für die Verwertbarkeit selbständig zu prüfen. Die im Rahmen des Verfahrens gem. § 98 II 2 StPO getroffene Entscheidung hat also keine präjudizielle Bedeutung. Umgekehrt versteht es sich von selbst, daß dieses Verfahren im Hinblick auf spätere gerichtliche Uberprüfungsmöglichkeiten nicht etwa überflüssig ist. Denn es gibt dem Betroffenen bereits in einem frühen Verfahrensstadium die Chance, daß ein von der Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung „infizierter" Beweisgegenstand aus dem Verfahren eliminiert wird, bevor er Beweisgrundlage für weitere Entscheidungen im Ermittlungsverfahren (Anordnung weiterer Zwangsmaßnahmen, während der Untersuchungshaft, Sachlageerhebung etc.) sein kann. Stellt der Ermittlungsrichter auf Antrag des Betroffenen die Rechtswidrigkeit einer abgeschlossenen Durchsuchung fest (etwa wegen Fehlens von Gefahr im Verzug), dann hat dies die unmittelbare Wirkung, daß er einen entsprechenden Beschlagnahmeantrag der Staatsanwaltschaft zurückweist bzw. einem Antrag des Betroffenen (gem. § 98 II 2 StPO) auf Rückgabe des sichergestellten Gegenstandes stattgibt. Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der nichtrichterlichen Durchsuchungsanordnung kann also angesichts der Bindung der Staatsanwaltschaft an die Entscheidung des Ermittlungsrichters die Gefahr der weiteren Verwertung im Ermittlungsverfahren beseitigen, weshalb man durchaus ein eigenständiges Feststellungsinteresse der „Verwertungsgefahr" anerkennen könnte. 40 Dies gilt allerdings nicht hinsichtlich der Gefahr der Verwertung bei der Urteilsfindung, da das Gericht der Hauptverhandlung die Verwertungsvoraussetzung selbständig und unabhängig von ermittlungsrichterlichen Feststellungen prüfen muß. 40
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Zusammengefaßt ergibt sich: Die vom BVerfG geforderte wirksame gerichtliche Kontrolle der Anordnungsvoraussetzung „Gefahr im Verzug" erfolgt im Falle erledigter Durchsuchungen auf zweierlei Weise: Durch (isolierte) Feststellung der Rechtswidrigkeit durch den Ermittlungsrichter und durch die Begründung eines Verwertungsverbots. Beide Prüfungsmöglichkeiten haben eine spezifisch eigenständige Funktion, so daß sie nicht gegeneinander „ausgespielt" werden dürfen.41 Die Feststellung der Rechtswidrigkeit beeinflußt die weitere Verwertung des sichergestellten Gegenstandes im Ermittlungsverfahren, wovon wiederum eine große präventive Wirkung was die Einhaltung der gesetzlichen Anordnungsvoraussetzung durch nichtrichterliche Strafverfolgungsbehörden betrifft - ausgeht.
IV. Nichtrichterliche Beschlagnahmeanordnung Das BVerfG hat seine Forderung an die Strafgerichte, die Voraussetzung für nichtrichterliche Anordnungen „Gefahr im Verzug" voll nachzuprüfen, für das strafprozessuale Zwangsmittel der Durchsuchung aufgestellt. Hier ist die Besonderheit, daß die im einfachgesetzlichen § 105 I StPO enthaltene nichtrichterliche Anordnungsbefugnis in Art. 13 II GG auf verfassungsrechtlicher Ebene ihre parallele (übergeordnete) Regelung findet. Damit ist Gefahr im Verzug „zugleich verfassungsrechtlicher Begriff"42, die Nichtbeachtung dieser Anordnungsvoraussetzung also zugleich Verfassungsverstoß. Hinzu kommt, daß es sich bei dem in Art. 13 GG geschützten Grundrecht um ein hochrangiges Grundrecht handelt, das gegen staatliche Eingriffe besonders geschützt werden muß. Dies hat das BVerfG bereits in seiner Entscheidung vom 30. 4. 199743 veranlaßt, im Rahmen des Rechtschutzinteresses an der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit einer richterlichen Durchsuchungsanordnung von einem „tiefgreifenden Grundrechtseingriff" zu sprechen. Im Urteil des BVerfG vom 20. 2. 2001 ist nun diese Erkenntnis Ausgangspunkt von weiteren verfassungsrechtlichen Überlegungen: „In diese grundrechtlich geschützte persönliche Lebens41 Vgl aber Lin (Fn 10) S. 322: Nachteile eines rechtswidrigen nichtrichterlichen Eingriffs werden durch die Aufhebung des Eingriffs und die Feststellung der Rechtswidrigkeit ausreichend kompensiert; ein späteres Verwertungsverbot könne an der Vereitelung des präventiven Rechtsschutzes auch nichts mehr ändern. Gegenteilig Bachmann (Fn 7) S. 2 7 4 f : Begrenzte Bedeutung der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit, die nicht mehr in der Lage sei, wirksamen Schutz der irreparabel verletzten subjektiven Rechte zu bewirken; wirksam könnten nur Verwertungsverbote sein. Amelung in: B G H - F G (Fn 3) S. 932 spricht lediglich andeutungsweise von einer „Zusammenführung des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe mit der verfahrensrechtlichen Behandlung von Beweisverboten". 4 2 BVerfG NJW 2001, 1121, 1125, Abschn. C III 2b. 4 3 BVerfG 96, 27, 4 0 ; ebenso BVerfG NJW 1999, 273.
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Gerhard Fezer
sphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein. Dem Gewicht dieses Eingriffs und der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Schutzes der räumlichen Privatsphäre entspricht es, daß Art. 13 II 1. Halbs. GG die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehält"44. Soweit im späteren Verlauf dieser Entscheidung aus Art. 19 IV GG die unbeschränkte gerichtliche Kontrolle insbesondere der Durchsuchungsvoraussetzung „Gefahr im Verzug" abgeleitet wird,45 läßt das BVerfG auch insoweit den Bezug zu Art. 13 GG nicht aus den Augen: „Allein Recht und Pflicht der Gerichte zu unbeschränkter Kontrolle des Merkmals ,Gefahr im Verzug' werden der Bedeutung des Grundrechts aus Art. 13 I GG für den Schutz der persönlichen Lebenssphäre des Einzelnen und der grundrechtssichernden Funktion von Art. 13 II GG gerecht"46. Die Schwierigkeiten, diese für die Durchsuchung entwickelten Argumente auf die Anordnung einer nichtrichterlichen Beschlagnahme zu übertragen, liegen auf der Hand. Zunächst einmal hat § 98 I 1 StPO keine Entsprechung im Grundgesetz.47 Vor allem aber fragt es sich, ob das Grundrecht des Eigentums (und das Recht des Besitzes), in das durch eine Beschlagnahme eingegriffen wird, immer und in jedem Fall (also unabhängig von der konkreten Sachlage) in seiner Eingriffsempfindlichkeit dem Grundrecht aus Art. 13 GG so ohne weiteres gleichgestellt werden kann.48 Dieser Aspekt spricht zunächst - isoliert betrachtet - dafür, die auf Art. 13 II GG, § 105 I StPO bezogene Entscheidung des BVerfG nicht von vornherein und ohne Differenzierung auf § 98 I 1 zu übertragen. Nun bedeutet aber - wie bereits oben erörtert - eine wegen Fehlens von Gefahr im Verzug rechtswidrige Beschlagnahmeanordnung nicht nur einen Eingriff in ein Individualgrundrecht, sondern auch eine verfassungswidrige Anmaßung nichtrichterlicher Kompetenzen. Insoweit ist also die Qualität der Verfassungswidrigkeit bei Beschlagnahme und Durchsuchung dieselbe. Daher ist zu fragen, ob der Maßstab, den das BVerfG an die gerichtliche Uberprüfung des Merkmals Gefahr im Verzug anlegt („unbeschränkte gerichtliche Kontrolle"), nur für § 105 StPO, nicht aber für § 98 I 1 StPO gilt. Aus der Perspektive des Art. 19 IV GG läßt sich eine unterschiedliche Behandlung wohl kaum rechtfertigen. § 105 und § 98 I 1 StPO weisen als Eingriffsbefugnisse 44 BVerfG NJW 2001, 1121, 1122, Abschn. C I 1. « BVerfG NJW 2001, 1121, 1123f, Abschn. C II. « BVerfG NJW 2001, 1121, 1123f, Abschn. C II l c (3). 4 7 Dasselbe gilt auch z. B. für §§ 81a II, 81c V, 98b I, II, 100b 12, lOOd I 1, 163d II 1 StPO u. a. mehr. Aus Raumgründen muß ich mich jedoch beispielhaft auf die Situation der Beschlagnahme beschränken. 4 8 Das BVerfG will in einer Kammerentscheidung v. 15. 7 1998 die Bewertung des „tiefgreifenden Grundrechtseingriffs" offenbar auf Beschlagnahmeanordnungen erstrecken, die im Rahmen von richterlich angeordneten Wohnungsdurchsuchungen erfolgt sind (BVerfG NJW 1999, 273).
Rechtsschutz bei Verletzung der Anordnungsvoraussetzung „Gefahr im Verzug" 109
denselben Regelungscharakter auf, und die Erkenntnis, daß zur Wahrung der präventiven richterlichen Anordnungskompetenz das Merkmal Gefahr im Verzug voll nachprüfbar sein muß („effektiv"), gilt für beide Normen in gleicher Weise. Daß es bei der nichtrichterlichen Beurteilung von Gefahr im Verzug keinen gerichtlich „unüberprüfbaren Spielraum" geben darf, ist eine verfassungsrechtliche Vorgabe, die nicht auf die Durchsuchung beschränkt ist, sondern auch für die Beschlagnahme gilt. Auf die möglicherweise unterschiedliche materielle Bedeutung des jeweiligen Grundrechts für den Betroffenen kann es nach alledem nicht entscheidend ankommen. Aus der Entscheidung des BVerfG zu § 105 StPO ist daher zu folgern, daß der Richter im Verfahren gemäß § 98 II 2 StPO (oder auf den Antrag gem. § 98 II 1 StPO) voll nachprüfen muß, ob das nichtrichterliche Strafverfolgungsorgan bei seiner Anordnung zu Recht Gefahr im Verzug angenommen hat. Damit kann die bisher anderslautende herrschende Meinung 49 nicht aufrechterhalten werden. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich für die unterschiedlichen prozessualen Konstellationen: Hat sich der Richter gem. § 98 II 1 oder § 98 II 2 StPO mit einer noch andauernden Beschlagnahme zu befassen und ergibt seine Prüfung, daß der anordnende Beamte zu Unrecht Gefahr im Verzug angenommen hat (die „materiellen" Beschlagnahmevoraussetzungen aber sehr wohl vorliegen), bleibt der bisher praktizierte Weg, auf der Basis der ex nuncBeurteilung die Beschlagnahme zu „bestätigen", wiederum eindeutig versperrt. Die Lösung, die Rechtswidrigkeit der nichtrichterlichen Anordnung festzustellen und sodann eine richterliche Beschlagnahmeanordnung zu erlassen, hätte indes nicht die Wirkung einer „effektiven" Kontrolle im Sinne des BVerfG. Denn der zunächst auf rechtswidrige Weise beschlagnahmte Gegenstand bliebe für die weitere Aufklärungsarbeit im Ermittlungsverfahren und für die gerichtliche Wahrheitsfindung erhalten - der Verfassungsverstoß von Polizei oder Staatsanwalt hätte sich also weiter ausgewirkt. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit hätte für sich genommen nicht die Wirkung, daß nichtrichterliche Strafverfolgungsorgane ihre Zuständigkeitsprüfung sorgfältig und ohne Mißbrauch vornehmen. So bleibt nur noch die Konsequenz, daß der Richter die nichtrichterliche Beschlagnahmeanordnung ausdrücklich aufhebt, also unter Umständen allein deswegen, weil nach seiner Beurteilung Gefahr im Verzug nicht vorgelegen hat. Die Aufhebung der Beschlagnahme muß aber an sich die Rückgabe des beschlagnahmten Gegenstandes zur Folge haben. Diese Konsequenz, die einem effektiven gerichtlichen Rechtsschutz im Sinne des BVerfG entsprechen würde, könnte nun allerdings dadurch vermieden (umgangen) werden, daß der Richter (wenn er die materiellen Beschlagnahmevoraussetzungen für 49
„Daher wird nicht geprüft, ob Gefahr im Verzug vorgelegen hat": Kleinknecht/Meyer-
Goßner § 98 Rn 17 mwN.
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Gerhard Fezer
gegeben hält) auf Antrag der Staatsanwaltschaft umgehend eine neue eigene Beschlagnahmeanordnung erläßt. Auf diese Weise wird allerdings die Wirkung des nichtrichterlichen rechtswidrigen Zugriffs auf den Gegenstand aufrechterhalten, so daß insoweit die Aufhebung der nichtrichterlichen Anordnung folgenlos bleibt. Hier stellt sich dann wieder die Frage nach der Effizienz der gerichtlichen Uberprüfung von Gefahr im Verzug, kann es sich Polizei oder Staatsanwaltschaft doch offenbar „leisten", fehlerhaft zu handeln, ohne ihr Ziel der Beweissicherung zu verfehlen. Von daher gesehen ist es - wie bei der Durchsuchung50 - nur konsequent, an die Aufhebung der nichtrichterlichen Beschlagnahmeanordnung die Beseitigung der rechtswidrigen Folge zu knüpfen: Der zu Unrecht beschlagnahmte Gegenstand ist zurückzugeben, mit der weiteren Folge, daß vor erfolgter Rückgabe kein (erneuter) Zugriff gestattet ist (schon gar nicht unter Annahme von Gefahr im Verzug). Hat sich die Beschlagnahme vor Anrufung des Richters bereits vollständig durch Rückgabe des Gegenstandes erledigt, so ist auf Antrag des Betroffenen gem. § 98 II 2 StPO (analog) die Rechtswidrigkeit der nichtrichterlichen Anordnung zu prüfen. Das Feststellungsinteresse ergibt sich aus der Grundrechtsverletzung als solcher, die Folge der fehlerhaften Annahme von Gefahr im Verzug ist; weitere einschränkende Anforderungen wären mit der Forderung des BVerfG, effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten, nicht vereinbar. Es verbietet sich also, nach dem Kriterium des „tiefgreifenden Grundrechtseingriffs" etwa zwischen Durchsuchung und Beschlagnahme zu differenzieren (bei letzterer also unter Umständen das Feststellungsinteresse deswegen zu verneinen).51 Auch das bisher von der strafgerichtlichen Rechtsprechung praktizierte „Rehabilitationsinteresse" darf nicht so eng verstanden werden, daß dies nur für besonders gelagerte Ausnahmefälle anzunehmen ist.52
V. Schlußbetrachtung Die Entscheidung des BVerfG vom 20. 2. 2001 leistet einen wesentlichen Beitrag zur Effektivierung des gerichtlichen Rechtsschutzes im Bereich nichtrichterlich angeordneter strafprozessualer Zwangsmaßnahmen. Sie bildet einen vorläufigen Abschluß einer intensiven richterlichen Rechtsfortbildung, die im Gesamtbereich des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen zu einer deutlichen Verbesserung gegenüber dem von
50
Vgl o. III. l. Vgl Bachmann NJW 1999, 2414, 2416. 52 D a z u näher Fezer ]Z 1997, 1062, 1064; Malek/Wohlers 51
(Fn 3) Rn 129 f.
Rechtsschutz bei Verletzung der Anordnungsvoraussetzung „Gefahr im Verzug" 111 Rieß vor z w a n z i g Jahren beklagten Zustand geführt hat. 5 3 D e r Ruf nach d e m Gesetzgeber ist daher, weil dessen Eingreifen weniger dringlich g e w o r den ist, inzwischen weitgehend verstummt. 5 4 Es bleibt das Verdienst v o n Rieß, auf wissenschaftlicher u n d reformpolitischer Ebene bereits frühzeitig auf dringend notwendige Veränderungen hingewirkt zu haben.
53 Was die volle Überpriifbarkeit des Merkmals Gefahr im Verzug betrifft, so gehen die im vorstehenden Beitrag dargestellten Konsequenzen - insbesondere auch die Notwendigkeit von Verwertungsverboten - wohl über die damaligen Vorstellungen des Referentenentwurfs und von Rieß hinaus; vgl näher Rieß/Thym GA 1981, 189, 200, 205; Rieß ZRP 1981, 101, 103. 54 Vgl aber Amelung in: BGH-FG (Fn 3) S. 931 f: Die Richter seien im Hinblick auf noch nicht gelöste Fragen der Verwertungsverbote im Zusammenhang mit gerichtlichem Rechtsschutz überfordert.
Über die mit der horizontalen Teilrechtskraft verbundene Bindungswirkung bei Teilanfechtung und Teilaufhebung KARL HEINZ
GÖSSEL
I. Rechtskraft 1. Grundlegung Gegenstand des Strafverfahrens ist bekanntlich „die Klärung der Frage, ob ein bestimmter Sachverhalt strafbare Handlungen bestimmter Personen aufweist" 1 . Das das Strafverfahren abschließende Urteil hat folglich ebenso wie dessen Rechtskraft die in der Anklage bezeichneten Taten und Personen nach Maßgabe des jeweiligen Eröffnungsbeschlusses (§§ 264 Abs. 1, 155 Abs. 1, 203, 207 StPO) zum Gegenstand. a) Schon der Begriff „Teilrechtskraft", aber auch z.B. die von §§ 2, 4 StPO eröffnete Möglichkeit zur Verbindung und Trennung zusammenhängender (§ 3 StPO) Strafsachen, erweisen damit die grundsätzliche Trennbarkeit des Gegenstandes eines Strafverfahrens wie aber auch des Urteils selbst und dessen Rechtskraft; Gleiches zeigt sich im Verfahren über den Erlaß eines Eröffnungsbeschlusses, in welchem nach § 207 Abs. 2 Nr. 1 StPO die Eröffnung des Verfahrens wegen einzelner angeklagter Taten abgelehnt werden kann; ferner z.B. bei der Einstellung wegen einzelner Taten eines Mehrfachtäters nach § 154 StPO. aa) So können z.B. mehrere selbständige Taten desselben Täters zu einem einheitlichen Verfahrens gegenständ verbunden, aber auch von diesem wieder abgetrennt werden - und ebenso lassen sich nicht nur die Taten verschiedener Täter miteinander verbinden oder voneinander trennen, sondern auch die Mitwirkung verschiedener Beschuldigter an derselben Tat, sei es in Form der Beteiligung i.S. des § 28 Abs. 2 StGB, sei es in der Form der Nebentäterschaft. Damit erweisen sich die Selbständigkeit einer verfahrensgegenständlichen Tat und die Verschiedenheit der jeweiligen Beschuldigten, etwa als (Mit-)Täter, als erste Kriterien der Trennbarkeit sowohl eines ein1
Eb. Schmidt Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Teil I, 2. Auf! Rn 57.
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Karl H e i n z Gössel
heitlichen Verfahrensgegenstandes als auch des Urteils und seiner Rechtskraft. Die Beschränkbarkeit der Berufung auf einzelne Beschwerdepunkte (§ 318 StPO) und ebenso die grundsätzlich beschränkbare Revision (§§ 343, 344 Abs. 1, 352 Abs. 1, 353 Abs. 1 StPO) weisen zudem auf die Möglichkeit hin, das Urteil selbst und seine einzelnen Bestandteile auch hinsichtlich derselben Tat für trennbar zu erachten und die Rechtskraft folglich auf einzelne Urteilsbestandteile zu beschränken, wie ferner z.B. auch § 154a StPO, der die Abtrennung einzelner „Teile einer Tat oder einzelne(r) von mehreren Gesetzesverletzungen" zum Zwecke der Beschränkung der Strafverfolgung durch Einstellung ermöglicht. In diesem Fall ist der Tatbegriff nur insoweit bedeutsam, ob es sich bei den abzutrennenden Gegenständen um Bestandteile einer einzelnen selbständigen Tat handelt; im übrigen aber kann der Tatbegriff nicht als Kriterium der Abtrennbarkeit einzelner Teile derselben Tat dienen. bb) Verfahrensgegenständliche Taten sind solche i.S. des § 264 StPO. Bei allem Streit um den Begriff der Tat im prozessualen Sinne2 hat doch die in der Rechtsprechung allgemein anerkannte Definition von einem nach der natürlichen Auffassung des Lebens einheitlichen geschichtlichen Vorgang auch in der Lehre weitgehende Zustimmung gefunden 3 und sich zudem in der Praxis weitgehend bewährt. Deshalb stehen nicht nur mit dem Begriff des beschuldigten Angeklagten, sondern auch mit dem der Tat ausreichend klare Kriterien für die Beurteilung der Selbständigkeit von Taten und Angeklagten im gerichtlichen Verfahren und damit deren Trennbarkeit zur Verfügung. Die Bewertung einzelner Bestandteile derselben Tat als selbständig und damit als abtrennbare Tat- und Urteilsbestandteile dagegen bietet erhebliche Schwierigkeiten; Kriterien zur Trennbarkeit werden in zumeist nicht generalisierungsfähiger Weise weitgehend der konkreten Fallgestaltung entnommen, ohne auch nur hinreichend anerkannte Billigung gefunden zu haben. 4 Die folgenden Darlegungen bemühen sich, einen Beitrag zu der bisher noch weitgehend ungeklärten Frage der Rechtskraft abtrennbarer einzelner Urteilsbestandteile hinsichtlich derselben Tat und der damit verbundenen etwaigen Bindungswirkung 5 zu leisten und gehen dabei von der gegenwärtigen Rechtsprechung zu den Abtrennungsmöglichkeiten aus; schon aus Gründen der notwendigen räumlichen Beschränkung dieses Beitrags kann dieser Rechtsprechung selbst nicht näher kritisch nachgegangen werden.
2 Vgl näher dazu Löwe-Rosenberg/Rieß Einl. J Rn 59ff, 69ff; G ó W j R 1982, 111 ff. 3 Rieß Rn 69 aaO (Fn 2). 4 Vgl dazu nur Grünwald Oie Teilrechtskraft im Strafverfahren 1964, S. 75 f. 5 Auf die Abhängigkeit der Bindungswirkung von der Trennbarkeit der Entscheidungsteile hat bereits treffend Grünwald S. 31 ff aaO (Fn 4) hingewiesen.
B i n d u n g s w i r k u n g bei horizontaler Teilrechtskraft
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b) Wie die Rechtskraft nur einer verfahrensabschließenden Entscheidung zukommen kann, so auch die Teilrechtskraft, die nach den bisherigen Darlegungen nur einen abtrennbaren Teil des Verfahrensgegenstandes erfassen kann. Dem gewählten Thema entsprechend soll hier lediglich der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit einzelne Teile einer einheitlichen Tat als Urteilsbestandteile in Teilrechtskraft erwachsen und eine innerprozessuale Bindungswirkung entfalten können. Die folgenden Überlegungen sind damit der Problematik der sog. horizontalen Teilrechtskraft gewidmet, nicht aber der sog vertikalen Teilrechtskraft, die sich auf verschiedene Taten oder Täter bezieht. 2. Rechtskraft und Teilrechtskraft a) Bei der Rechtskraft ist bekanntlich die innerprozessual wirkende Unabänderlichkeit (Unanfechtbarkeit) der Entscheidung in dem jeweils durchgeführten Verfahren als sog. formelle Rechtskraft6 von den Außenwirkungen des unanfechtbar gewordenen Urteils als materielle Rechtskraft zu unterscheiden, die im sog. Verbrauch der Strafklage, dem Verbot der nochmaligen Strafverfolgung in einem neuen Verfahren wegen derselben Tat gegen denselben Verurteilten oder Freigesprochenen und in der Herbeiführung eines entsprechenden Verfahrenshindernisses bestehen.7 aa) In Rechtskraft erwächst indessen nicht das jeweilige Urteil in allen seinen Bestandteilen, sondern allein der Urteilstenor: „Nach deutschem Verfahrensrecht" erwachsen „die Gründe eines freisprechenden Urteils nicht in Rechtskraft ...; das gilt, von" hier zu vernachlässigenden „Ausnahmen abgesehen, selbst für die Gründe eines verurteilenden Erkenntnisses"8. Das bedeutet insbesondere, daß jedenfalls aus der Rechtskraft keine irgendwie geartete Bindung der tatsächlichen Urteilsfeststellungen abgeleitet werden kann.9 Daraus folgt aber weiterhin, daß die materielle Rechtskraft eines verurteilenden oder eines freisprechenden Erkenntnisses „für Verfahren mit
Rieß Rn 78 aaO (Fn 2). Rieß Rn 8 3 f f a a O (Fn 2). 8 BGHSt 30, 378, 3 8 3 ; BVerfGE 36, 174, 184ff; BGH NJW 1982, 1239, 1240; allg. Auffassung, vgl z . B . Löwe-Rosenberg/Hanack Vor § 296 Rn 35 aaO (Fn 2); K K - P f e i f f e r Einl. Rn 167; Kleinknecht/Meyer-Goßner Einl. 170; Roxin Strafverfahrensrecht 25. Aufl § 50 Rn 10; Bruns Teilrechtskraft und innerprozessuale Bindungswirkung des Strafurteils 1961, S. 17f, 23; Dietze Die doppelrelevanten Tatsachen im Strafverfahren 1999, S. 164; Wiedemann Die Korrektur strafprozessualer Entscheidungen außerhalb des Rechtsmittelverfahrens 1981, S. 8; Wollweber Oie innerprozessuale Bindungswirkung vom Revisionsgericht aufrechterhaltener tatrichterlicher Feststellungen (§ 353 Abs 2 StPO) 1991, S. 22 f. 9 O b sich eine solche Bindung aus anderen Gründen, etwa der sog. innerprozessualen Bindungswirkung ergibt - so die Rechtsprechung, vgl z . B . BGH NStZ 1999, 259 - ist eine davon verschiedene Frage; s. dazu unten II. 6 7
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Karl Heinz Gössel
einem anderen Prozeßgegenstand grundsätzlich weder eine Feststellungsnoch eine Bindungswirkung" entfalten kann - und dies gilt gleichermaßen sowohl für „den Fall, daß es um den gleichen Lebenssachverhalt bei einem anderen Beschuldigten geht, als auch den, daß dem gleichen Beschuldigten eine andere Tat zur Last gelegt wird, bei deren Feststellung oder Bewertung es auf den von der Rechtskraft erfaßten Gegenstand ankommt" 1 0 : So kann z.B. dem gegen A rechtskräftig gewordenen Schuldspruch wegen Diebstahls ein Verfahren gegen Β wegen Teilnahme an diesem Diebstahl nachfolgen, in dem dieser mangels einer Haupttat freigesprochen wird - und ebenso kann der wegen Teilnahme am Diebstahl Verurteilte in einem nachfolgenden Verfahren gegen ihn wegen Hehlerei mangels eines Diebstahls freigesprochen werden. bb) Wird die Teilrechtskraft als Unterbegriff der Rechtskraft verstanden, so sollten die gleichen Grundsätze gelten: Auch hier müßte den teilrechtskräftigen Teilen des Urteilsspruchs (Tenor) formelle wie materielle Rechtskraft zukommen, wobei letztere, wie bei vollrechtskräftigen Urteilen, ebenfalls nur in den Verfahren bedeutsam werden kann, deren Prozeßgegenstand von dem des voraufgegangenen teilrechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens verschieden ist. b) Bei der sog. vertikalen Teilrechtskraft (s. oben 1. b)) dürften insoweit deshalb grundsätzlich kaum Probleme bestehen, weil die verbundene Aburteilung mehrerer Taten oder Täter hinsichtlich der Rechtskraft nicht anders behandelt werden kann als die ja ebenfalls mögliche einzelne Aburteilung jeder einzelnen Tat und auch jedes einzelnen Angeklagten (s. oben 1. a) aa)) in je getrennten Verfahren.11 Deshalb wird vertikal teilrechtskräftigen Entscheidungen formelle wie auch materielle (Teilrechtskraft) zuzugestehen sein12 - jedoch bleibt zu bedenken, daß die Rechtskraftwirkung hier schon deshalb geringer ist, weil z.B. Verfahrenshindernisse auch hinsichtlich der vertikal teilrechtskräftigen Urteilsteile zur Einstellung des Verfahrens führen.13 c) Ob formelle und materielle Rechtskraftwirkung auch der den Gegenstand dieser Untersuchungen bildenden sog. horizontalen Teilrechtskraft zukommt, erscheint zweifelhaft.
Rieß Rn 103 aaO (Fn 2) mwN. SK-Frisch Vor § 296 Rn 287; vgl dazu auch KK-Ruß § 318 Rn 9 aaO (Fn 8). 12 Rieß Rn 77 aaO (Fn 2); Kleinknecht/Afeyer-Go/?ner Einl. Rn 185 aaO (Fn 8); Grünwald S. 18 aaO (Fn 4); im Erg. ebenso BayObLGJZ 1960, 30, 31 mit krit. Anm. Heinitz-, Frisch aaO (Fn 11). 13 Vgl ζ. B. Löwe-Rosenberg/Hanack Vor § 296 Rn 35 aaO (Fn 2) ; Grünwald S. 19 aaO (Fn4). 10
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Bindungswirkung bei horizontaler Teilrechtskraft
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aa) Einmal wird überwiegend angenommen, anders als bei der Vollrechtskraft seien nicht nur die nicht angefochtene oder nicht aufgehobene Teilentscheidung im Urteilstenor für das weitere Verfahren bindend, sondern auch die tatsächlichen Feststellungen, die den Unterbau der nicht angefochtenen oder nicht aufgehobenen Teilentscheidung bilden, wie aber auch deren rechtliche Bewertung 14 sowie zudem „die Tatsachen, aus denen der Beweis" für die Feststellungen zum Tatgeschehen einschließlich der Tatbestandsmerkmale „abgeleitet wird" 15 : Sind etwa die „Feststellungen zur Schuldfrage ... unangefochten geblieben", so ist „dem Revisionsgericht ... damit insbesondere die Nachprüfung der Frage" verwehrt, „ob die Tatbestandsfeststellung zu Recht erfolgt und das Strafgesetz auf die einschlägigen Tatsachen richtig angewendet ist. 16 Insbesondere kommt „nicht nur" den „Feststellungen zu den Tatbestandsmerkmalen, sondern auch jene(n) Teile(n) der Sachverhaltsdarstellung, die das Tatgeschehen im Sinne eines geschichtlichen Vorgangs näher beschreiben" eine Bestandskraft für das weitere (Rechtsmittel)verfahren zu, die auch als innerprozessuale Bindungswirkung bezeichnet wird 17 - und deshalb dürfen bei horizontaler Teilrechtskraft des Schuldspruchs „die für die Strafzumessung maßgeblichen Tatsachen und die zur Schuldfrage getroffenen Feststellungen ... sich nicht widersprechen" 18 . bb) Es erscheint nun gewiß nicht unmittelbar einleuchtend, daß der horizontalen Teilrechtskraft damit gegenüber der Vollrechtskraft insoweit eine stärkere Wirkung zukommen soll, als sie nicht nur die nicht angefochtenen oder vom Revisionsgericht nicht aufgehobenen Entscheidungsbestandteile im Tenor erfaßt, sondern zudem deren Unterbau in Form der tatsächlichen Feststellungen und deren rechtlicher Bewertung. Hier wird indessen zu bedenken sein, daß sich bei der Vollrechtskraft die Frage nach einer etwaigen Bestandskraft des Unterbaus der bestehen bleibenden tenorierten Entscheidungsbestandteile kaum jemals stellen wird, vom Boden der in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung schon deshalb nicht, weil die Urteilsgründe nicht in Rechtskraft erwachsen können (s. oben a) aa)). Die formelle Rechtskraft, verstanden als Unanfechtbarkeit und Unabänderlichkeit des Urteilsspruchs, und ebenso die materielle Rechtskraft, verstanden als Verbrauch der Strafklage, erfassen schon ex definitione nur den Tenor und seine Bestandteile, niemals aber die Urteilsgründe und betreffen überdies nur den Verfahrensgegenstand, der mit der formell 14 Ständige Rechtsprechung, vgl z.B. RGSt 42, 241, 242; BGH St 28, 119, 121; Ruß aaO (Fn 11). 15 Kleinknecht/Meyer-Goßner Einl. Rn 187 aaO (Fn 8). " RGSt 42, 241, 242. 17 BGH NStZ 1999, 259, 260. 18 BGHSt 7, 283, 286 f.
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Karl Heinz Gössel
rechtskräftigen Entscheidung abgeurteilt wurde - in anderen Verfahren mit einem anderen Prozeßgegenstand, in denen Feststellungen denkbar sind, die von denen im rechtskräftig gewordenen Urteil abweichen, besteht aber keine Rechtskraftwirkung (oben a) aa)). Schon aus diesem Grunde wird in einer etwaigen Bindung an Urteilsgründe nur ein der Rechtskraft nicht zugehöriger und von ihr verschiedener Gegenstand erblickt werden können. ccj Die horizontale Teilrechtskraft geht in ihren Wirkungen aber nicht nur hinsichtlich ihres Gegenstandes über die Vollrechtskraft hinaus, sie bleibt zugleich auch dahinter zurück. Die volle Rechtskraft eines Urteils kann bekanntlich nur mit den Rechtsbehelfen der Wiederaufnahme des Verfahrens (SS 359ff StPO, S 79 Abs. 1 BVerfGG) oder der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (SS 44ff StPO) durchbrochen werden. Die horizontale Teilrechtskraft dagegen wird ebenso wie die vertikale Teilrechtskraft schon dann durchbrochen, stellt sich nach Eintritt der Teilrechtskraft heraus, daß Prozeßhindernisse vorliegen oder Prozeßvoraussetzungen fehlen und das Verfahren deswegen eingestellt wird19 (oben b)). Darüber hinaus wird ein Einbruch in die horizontale Rechtskraft im Gegensatz zur Vollrechtskraft auch dann zugelassen, wenn eine Bindung der nicht aufgehobenen oder nicht angefochtenen Urteilsteile in einen unerträglichen Widerspruch zur materiellen Gerechtigkeit geraten würde, so z.B. - aber nicht nur - in den Fällen, in denen sich bei horizontal teilrechtskräftigem Schuldspruch herausstellt, daß der Angeklagte schuldunfähig war.20 In diesen Fällen versucht die Rechtsprechung der materiellen Gerechtigkeit bekanntlich auf zwei verschiedenen Wegen zum Siege zu verhelfen.21 (1) Die erste Möglichkeit besteht darin, die horizontale Teilrechtskraft zwar formell aufrechtzuerhalten, den Angeklagten aber eben seiner Schuldlosigkeit wegen und insoweit im Gegensatz zu den aufrechterhaltenen Gründen der horizontal teilrechtskräftigen Entscheidung zur Mindeststrafe zu verurteilen22 oder ihm wenigstens verminderte Schuldfähigkeit zugute zu halten23 - eine m.E. indiskutable Möglichkeit, zu der bereits Meister 1950 das Notwendige bemerkt hat, dem nichts hinzuzufügen ist: „Jede Bestrafung - auch eine solche, die der untersten Grenze des gesetzlichen Strafrahmens entspricht - auf Grund eines bereits als unrichtig erkann19
S. dazu oben b) und die in Fn 13 Genannten. Vgl dazu Löwe-Rosenberg/Gollwitzer% 318 Rn 41 ff; Hettingerlst eine horizontale Berufungsbeschränkung auf das Strafmaß möglich und kann auch § 21 StGB ihr Gegenstand sein? JZ 1987, 386. 21 S. dazu auch Bruns 34 ff aaO (Fn 8). 22 So BGH GA 1959, 305 und die von Meister Einbruch in die teilweise Rechtskraft von Strafurteilen, MDR 1950, 712, 713, Fn 2 mitgeteilte Entscheidung OLG Königsberg HRR 1925, N r 1604. 23 So BGHSt 7, 283, 286f; zust. KK-Kuckein § 353 Rn 33 aaO (Fn 8). 20
Bindungswirkung bei horizontaler Teilrechtskraft
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ten Schuldspruches bedeutet gegenüber dem Unschuldigen bewußtes Unrecht, welches keine Prozeßordnung und kein prozessuales Grundprinzip von einem Gericht, dessen Aufgabe und Würde so etwas widersprechen würde, verlangen kann ".24 Immerhin wird auch vom Boden dieser Auffassung das Schlimmste vermieden: „ Wenn sich herausstellt, daß der Angeklagte die Tat gar nicht begangen hat, ist er ... trotz der bindenden Wirkung der Schuldfeststellungen freizusprechen, weil die Verurteilung eines nachweisbar Unschuldigen unter allen Umständen ausgeschlossen sei"25 - in diesem Fall aber wird die horizontale Rechtskraft klar durchbrochen. (2) Inzwischen aber hat sich die Rechtsprechung für einen weitaus besseren Weg entschieden: Stellt sich bei einer auf das Strafmaß beschränkten Urteilsanfechtung „im weiteren Verfahren" heraus, „daß der Angeklagte zur Tatzeit schuldunfähig war" 26 oder daß „eine neue Entscheidung über die Schuldfrage aufgrund der für die Strafzumessung festgestellten Tatsachen zu einer Verneinung der Schuld führen würde"2^ so wird der auf das Strafmaß beschränkten Teilanfechtung jegliche Wirksamkeit versagt und das Urteil schlicht für unbeschränkt angefochten erklärt, nicht aber bei Teilaußebung, bei der es grundsätzlich bei den zuvor genannten (und hier verworfenen) Möglichkeiten einer Verurteilung zur Mindeststrafe oder unter Berücksichtigung des § 21 StGB verbleiben soll28 (ausnahmsweise aber wohl nicht bei dem zuvor genannten Fall, in dem sich in der neuen Hauptverhandlung herausstellt, daß der Angeklagte die Tat gar nicht begangen hat). 29 Wird so auch wohl in den meisten Fällen die materielle Gerechtigkeit über die Bestandskraft der horizontalen Teilrechtskraft siegen, so scheint mir der von Meister vorgeschlagene Weg, in „Strafverfahren", die „noch nicht vollständig rechtskräftig abgeschlossen(en)" sind, § 359 StPO analog anzuwenden,30 der bessere zu sein, wobei allerdings auch §§ 362, 364, 364a, 373a StPO und auch § 79 Abs. 1 BVerfGG analog angewendet werden sollten, nicht aber die übrigen Vorschriften der §§ 359ff StPO: 31 Auf diese Weise 24
MeisterS. 713 aaO (Fn 22).
So Löwe-Rosenberg/Hanack § 353 Rn 30 mwN aaO (Fn 2). OLG Zweibrücken MDR 1986, 75. 27 OLG Köln NStZ 1984, 379. 28 BGHSt 7, 283, 286ff; vgl dazu ferner die Nachweise bei K K - K u c k e i n § 353 Rn 33 aaO (Fn 8); mit Recht a.A. Löwe-Rosenberg/Hanack § 353 Rn 33 aaO (Fn 2): keine Bindungswirkung. 29 So jedenfalls Hanack wie Fn 25. 25 26
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Meister aaO S. 713 ff (Fn 22).
Einer entsprechenden Anwendung des § 373 Abs 2 StPO bedarf es nicht, weil die Vorschriften der §§ 331, 358 Abs 2 StPO denselben Schutz gewähren. 31
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kann einmal die Bindungswirkung der nicht angefochtenen oder nicht aufgehobenen Urteilsteile auf die in §§ 359, 362 StPO genannten Fälle beschränkt und dadurch besser gewahrt, aber zugleich auch das schwerfällige Verfahren der Wiederaufnahme vermieden und zudem der Frage ausgewichen werden, ob die Wiederaufnahme gegen teilrechtskräftige Urteile statthaft ist.32 dd) Zudem ist zu bedenken, daß bei der teilweisen Anfechtung allein des Rechtsfolgenausspruchs - und ebenso bei dessen Aufhebung durch das Revisionsgericht - die Strafklage eben noch nicht verbraucht ist,33 weil über die den Gegenstand des angefochtenen oder aufgehobenen Urteils bildende „Tat in einem ersten Strafverfahren noch nicht abschließend sachlich entschieden ist, das Gericht also seiner Kognitionspflicht noch nicht umfassend genügt hat" 34 , sondern die Fortsetzung der Strafverfolgung im Verfahren über die noch zu treffende Rechtsfolgenentscheidung beinhaltet: Der horizontalen Teilrechtskraft kommt keine materielle Rechtskraft zu. 35 Schon deshalb erscheint es berechtigt, die sog. horizontale Teilrechtskraft als ein von der Rechtskraft verschiedenes Institut anzusehen. Der horizontal rechtskräftigen Teilentscheidung wird zwar hin und wieder formelle Rechtskraft zugestanden 36 - fehlt aber dieser Art der teilrechtskräftigen Entscheidung mit der materiellen Rechtskraft ein wesentliches Element der Rechtskraft, so wird die Teilrechtskraft auch insgesamt nicht mehr als Rechtskraft beurteilt werden können. Der teilrechtskräftigen Entscheidung kann aber auch keine formelle Rechtskraft zuerkannt werden. Wie schon bei der vertikalen Teilrechtskraft spricht gegen den Eintritt dieser Rechtskraftform zunächst schon die Möglichkeit einer Abänderung des teilrechtskräftig gewordenen Schuldspruchs durch eine Einstellungsentscheidung bei erst später bemerkten oder aufgetretenen Verfahrenshindernissen (oben cc)). Zu bedenken ist ferner, daß etwa bei einem wirksam auf das Strafmaß beschränkten Rechtsmittel der als formell teilrechtskräftig angesehene Schuldspruch im Rechtsmittelverfahren durchaus abgeändert werden kann: stellt sich im Verfahren über eine Anfechtung allein des Rechtsfolgenausspruchs wegen zu Unrecht unterbliebe32 Vgl zu dieser Frage die Übersicht (und ablehnende Stellungnahme) bei Löwe-Rosenberg/Gössel Vor § 359, Rn 70 ff aaO (Fn 2). 33 BGH NJW 1980, 1807; KK-Pfeiffer Ein\. Rn 168 aaO (Fn 8); Kleinknecht/Meyer-Go/?ner Einl. 185a aaO (Fn 8). 34 BGHSt28, 119, 121; Werner Herrmann Die strafprozessuale horizontale Teilrechtskraft als Zweckschöpfung, Jur. Diss. Würzburg 1967, S. 80. 35 Gollwitzer § 318 Rn 25 f aaO (Fn 20) ; KK-Pfeiffer in KK Einl. Rn 168 aaO (Fn 8) ; Kleinknecht/Meyer-Gofiner Einl. Rn 185a aaO (Fn 8); Ranft Strafprozeßrecht 2. Aufl Rn 1877; Bruns 39 f aaO (Fn 8); Grünwald S. 18 aaO (Fn 4); vgl auch Rieß Rn 93 aaO (Fn 2): bei teilrechtskräftigen „Rechtsmittelentscheidungen bleibt ... die materielle Rechtskraft ... in der Schwebe". 36 Vgl z.B. Rieß Rn 93 aaO (Fn 2).
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ner Berücksichtigung verminderter Schuldfähigkeit i.S. des § 21 StGB, daß der Angeklagte schuldunfähig war, so wird die Rechtsmittelbeschränkung den vorherigen Ausführungen (oben cc)) zufolge bekanntlich als unwirksam angesehen und auf diese Weise der Schuldspruch jedenfalls im Ergebnis abgeändert37 - und darin hat der Bundesgerichtshof wegen des hier vorliegenden unmittelbaren Zusammenhangs der „Erörterung zum Strafmaß ... mit der Schuldfeststellung" mit Recht einen „Einbruch in die Teilrechtskraft" erblickt, den er allerdings für die der Teilanfechtung hinsichtlich des Eintritts der horizontalen Teilrechtskraft vergleichbare Teilaufhebung nicht zugelassen hat.38 Ebenso hat die Rechtsprechung von jeher eine zu einem Einbruch in die Teilrechtskraft führende Abänderung des Schuldspruchs zugelassen, wenn die diesem zugrunde liegenden Feststellungen „so mangelhaft sind, daß sie für das" Rechtsmittelgericht „keine ausreichende Grundlage für" dessen „Entscheidung über die Rechtsfolge sein können" 39 . Deshalb ist der horizontal teilrechtskräftigen Entscheidung weder materielle noch formelle Rechtskraft zuzuerkennen.40
II. Die innerprozessuale Bindungswirkung Ist nach alledem die horizontale Teilrechtskraft gar keine Rechtskraft, so ist zu fragen, ob es denn dann eine Bestandskraft der Urteilsgründe geben kann und ob und wie sich diese begründen läßt. 1. Bestandskraft der Urteilsgründe als innerprozessuale
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In den hier zu untersuchenden Fällen der Teilanfechtung und der Teilaufhebung wird den nicht angefochtenen oder nicht aufgehobenen Urteilsgründen eine Bestandskraft nur innerhalb des jeweiligen Strafverfahrens zugesprochen, die wohl seit Bruns in allgemein anerkannter Weise treffend als 37 Vgl z.B. OLG Köln NStZ 1989, 24; aA HettingeraaO (Fn 20), der in derartigen Fällen einen Eingriff in die Rechtskraft erblickt, den er indessen für unzulässig hält. 38 BGHSt 7, 283, 285. 3 9 BayObLGSt 1994, 38; OLG Düsseldorf VRS 67 (1984) 267; OLG Köln VRS 73 (1987) 335; OLG Schleswig SchlHA 1996, 108; KK-Ruß § 318 Rn 7a aaO (Fn 8) mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 40 Rieß Rn 77 aaO (Fn 2); Kleinknecht/ Meyer-Goßner% 318 Rn 31 aaO (Fn 8); Schlechter Das Strafverfahren, 2. Aufl Rn 638; so wohl auch Ranft Rn 2058 aaO (Fn 35) und Volk Strafprozeßrecht § 34 Rn 21; Wankel Rechtsmittel- und Rechtsbehelfsbeschränkung in der StPO, JA 1998, 65, 68; aA KK-Kuckein § 344 Rn 14 aaO (Fn 8); HK-Rautenberg § 318 Rn 5, der sich indessen zum angeblichen Verbrauch der Strafklage zu Unrecht auf BGH NJW 1972, 548 und 1982, 1295 beruft; zweifelnd an der materiellen Rechtskraft der Teilrechtskraft schon Eh. Schmidt Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Teil II, § 318 Rn 44; AKDölling § 318 Rn 37 spricht von „abgeschwächte(r) Bestandskraft".
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innerprozessuale Bindungswirkung bezeichnet wird.41 Ist diese aber verschieden von der Rechtskraft,42 bedarf es einer plausiblen Begründung für eine derartige Wirkung.43 Auf der Suche nach einer derartigen Begründung ist zu bedenken, daß es dem mit den Begriffen „Teilanfechtung" und „Teilaufhebung" Bezeichneten eigentümlich ist und deshalb wesentlich zukommt, daß die nicht angefochtenen oder nicht aufgehobenen Entscheidungsbestandteile bestehen bleiben und deshalb für die Verfahrensbeteiligten bindend sind: Das Gericht darf keine Feststellungen im Widerspruch zu den bestehenbleibenden Feststellungen (wohl zu deren Ergänzung) treffen, und darauf gerichtete Beweisanträge von Verteidigung oder Staatsanwaltschaft sind unzulässig.44 Die Bindungswirkung ist damit notwendiges Element von Teilanfechtung wie -aufhebung, und deren Gründe sind zugleich diejenigen der Bindungswirkung. Nun hat allerdings Bruns die „Einheitlichkeit der Entscheidung als Rechtsgrund"45 der Bindungswirkung erkennen wollen.46 Damit aber dürfte Bruns nur eine Scheinantwort geben: Zu fragen bleibt nach dem Grund der Wahrung der Einheitlichkeit der Entscheidung und der damit verbundenen Bindungswirkung auch bei Teilanfechtung und Teilaufhebung - deshalb bleibt es dabei: Die Gründe für Teilaufhebung und -anfechtung sind zugleich diejenigen der Bindungswirkung. 2. Der Grund der innerprozessualen
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a) Auf der Suche nach möglichen Gründen gibt das Gesetz eine erste Antwort: Die Teilanfechtung ist sowohl für die Berufung (§§ 316 Abs. 1, 318 StPO) als auch für die Revision (§§ 343 Abs. 1, 344 Abs. 1, 352 Abs. 1 StPO) vorgesehen und ebenso die Teilaufhebung durch das Revisionsgericht in § 353 StPO. Zudem normiert § 358 Abs. 1 StPO im Falle der Aufhebung und Zurückverweisung durch das Revisions gericht eine Bindung des neuen Tatgerichts und ebenso des Revisionsgerichts selbst47 an die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts, die ebenso für den Fall der Teilaufhebung gilt. Schon weil das Gesetz selbst keine Bindungswirkung normiert (abgesehen von dem soeben erwähnten Fall des § 358 Abs. 1 StPO), dürfte der Hin41 Bruns S. 14 aaO (Fn 8), vgl ferner z. B. Löwe-Rosenberg/Hanack § 296, 36 aaO (Fn 2); Frisch Vor § 296 Rn 289 aaO (Fn 11); SchlächterRn 6373 aaO (Fn 40). 4 2 Anders wohl Bruns S. 28 aaO (Fn 8), welcher materielle Rechtskraft und innerprozessuale Bindungswirkung aufgrund zivilprozessualer Überlegungen als wesensgleich ansieht. « Vgl dazu Bruns S. 34, 171 aaO (Fn 8), ferner Frisch Vor § 296 Rn 288, 293 aaO (Fn 11). 4 4 Vgl nur BGHSt 30, 340, 342. 4 5 Über die verschiedenen Gründe eines Gegenstandes und diesen selbst einschließlich seiner Elemente s. Gössel Wesen und Begründung der strafrechtlichen Sanktionen, FS Pfeiffer (1988) 3 ff. 4 6 S. 156 aaO (Fn 8). 4 7 Löwe-Rosenberg/Hanack § 358 Rn 15 aaO (Fn 2).
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weis auf das Gesetz als Grund für Teilanfechtung und -aufhebung sowie für die damit verbundene Bindungswirkung nicht ausreichend sein - entscheidend erscheint die Frage, warum das Gesetz Teilanfechtung und -aufhebung ausdrücklich zuläßt. b) Sucht man nach den Gründen dafür, daß das Gesetz den Rechtsmittelberechtigten eine nur teilweise Anfechtung eines Urteils erlaubt, so dürfte neben dem Willen der Rechtsmittelberechtigten zur Fortsetzung des Verfahrens auch die Verfahrensökonomie mit ihrem Ziel von Bedeutung sein, Rechtsmittelverfahren und die dadurch bedingte Vermehrung des Verfahrensumfangs und die Verlängerung der Verfahrensdauer auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken. aa) Der Rechtsprechung zufolge erfordert „der Grundsatz der Prozeßwirtschaftlichkeit die Beschränkbarkeit des Rechtsmittels":48 kann so doch die „Wiederholung der einwandfreien und erschöpfenden Beweisaufnahme" mit allen damit auch für Zeugen und Sachverständige verbundenen Belästigungen und möglicherweise sogar Gefährdungen entweder in der Berufungs- oder, nach etwaiger Zurückverweisung durch das Revisionsgericht, in der Vorinstanz vermieden werden49 - ebenso ermöglicht die Teilanfechtung die Verminderung der den Rechtsmittelgerichten selbst obliegenden Arbeitslast, sei es bei der Durchführung der Berufungshauptverhandlung, sei es bei der Nachprüfung durch die Revisionsgerichte. Nun darf allerdings nicht unberücksichtigt bleiben, daß die bloß teilweise Anfechtung eines Urteils in das Belieben der rechtsmittelberechtigten Prozeßsubjekte gestellt ist. So will etwa Frisch mit einem Schluß de maiore (unbeschränkte Anfechtung) ad minus (beschränkte Anfechtung) „die Möglichkeit beschränkter Rechtsmitteleinlegung als Fortschreibung der Freiheit zur Rechtsmitteleinlegung überhaupt ... verstehen"50, wie auch schon Gollwitzer und Werner Herrmann auf diesen Punkt aufmerksam gemacht haben51 und zur zusätzlichen Rechtfertigung seines Schlusses weist Frisch darauf hin, daß die als Zulässigkeitsvoraussetzung zur Rechtsmitteleinlegung notwendige Beschwer es „prinzipiell" gebiete, „dem Rechtsmittelführer zu gestatten, daß er nur jene Entscheidungen anficht, ... an deren Anfechtung er selbst Interesse hat", und dies will Frisch wohl auch für die Anfechtung einzelner Entscheidungsteile gelten lassen.52 Indessen bestehen schon Beden48 BGHSt 19, 46, 48, seither ständige Rechtsprechung, zust. KK-Ruß § 318 Rn 1 aaO (Fn 8) und wohl auch Gollwitzer § 318 Rn 30 aaO (Fn 20) ; ebenso für die Prozeßökonomie als Grund für die Zulassung der Teilanfechtung Werner Herrmann S. 83 aaO (Fn 34); Wollweber S. 31 ff aaO (Fn 7). 49 BGHSt 14, 30, 37; s. dazu auch Wollweber S. 31 f aaO (Fn 8). 50 In: SK Vor § 296 Rn 276 aaO (Fn 11). 51 Gollwitzer § 318 Rn 1 f aaO (Fn 20); Herrmann S. 81 aaO (Fn 34). 52 Wie Fn 50.
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ken gegen die Berechtigung des erwähnten Schlusses a maiore ad minus. Läßt sich auch die Befugnis zur unbeschränkten Anfechtung aus der aus der Wahrung der Menschenwürde abzuleitenden Stellung jedenfalls des Angeklagten und möglicherweise auch noch seines Verteidigers herleiten, so aber nicht mehr die Berechtigung zur Beschränkung von Rechtsmitteln: Durch die bloße etwaige Versagung der Möglichkeit einer Teilanfechtung wird der Angeklagte noch nicht zum bloßen Objekt des Verfahrens degradiert, die Menschenwürde und ebenso die Stellung als Prozeßsubjekt bleiben auch dann gewahrt. Entsprechendes gilt für den Nebenkläger, aber auch für die Staatsanwaltschaft, wenngleich deren Stellung als Prozeßsubjekt aus anderen rechtsstaatlichen Gründen 53 herzuleiten ist; ebensowenig wandeln §§ 318, 343 und 344 StPO wegen der dadurch den Rechtsmittelberechtigten eröffneten Möglichkeit zur Bestimmung des Umfangs des Rechtsmittelverfahrens das Strafverfahren in diesem Stadium vom Offizial- zum Parteiverfahren um. Ein die Teilanfechtung rechtfertigender Grund muß also in einem anderen Gegenstand als dem der Stellung der Prozeßbeteiligten als Prozeßsubjekten oder gar als Parteien gesucht werden - und dieser dürfte in der bereits erwähnten Prozeßökonomie zu erblicken sein. Treffend hat dies Ruß zum Ausdruck gebracht: „Die aus Gründen der Prozeßwirtschaftlichkeit ... den Rechtsmittelberechtigten eingeräumte Verfügungsmacht" verlangt es, „den in Rechtsmittelerklärungen zum Ausdruck kommenden Gestaltungswillen im Rahmen des rechtlich Möglichen zu respektieren" 54 . bb) Die Prozeßökonomie begründet und begrenzt zugleich die Zulassung der Teilanfechtung: Jenseits der Grenzen der Prozeßwirtschaftlichkeit kann eine Teilanfechtung nicht zugelassen werden. Schon deshalb kann „ein Rechtsmittel nur auf solche Beschwerdepunkte beschränkt werden ..., die losgelöst von dem nicht angegriffenen Teil der Entscheidung nach dem inneren Zusammenhang rechtlich und tatsächlich selbständig beurteilt werden können" 55 : Bei fehlender Selbständigkeit und Trennbarkeit des angegriffenen vom aufrechterhaltenen Entscheidungsteil bestünde die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen, damit die der Verfehlung der Verfahrensziele der materiellen Gerechtigkeit wie aber auch des Rechtsfriedens. Verfahren aber, die ihre wesentlichen Verfahrensziele verfehlen, können nicht mehr als den Grundsätzen der Verfahrensökonomie genügend bewertet werden, zumal da bei einander widersprechenden Entscheidungen versucht werden würde, diese durch immer neue Rechtsbehelfe anzugreifen 53 Etwa die Verpflichtung auf die materielle Gerechtigkeit aus Art. 20 Abs 3 GG; Näheres s. bei Gössel Überlegungen über die Stellung der Staatsanwaltschaft im rechtsstaatlichen Strafverfahren und über ihr Verhältnis zur Polizei, GA 1980, 325, 331 f, 341 f. 54 In: KK § 318 Rn 1 aaO (Fn 11) mit zahlr. Nachw. 55 BGHSt 19, 46, 48; allg. Auffassung.
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und so alle Verfahrensbeteiligten stärker zu belasten, als dies bei einer Beschränkung der Teilanfechtung auf selbständige Entscheidungsteile der Fall ist. c) Die Teilaufbebung geschieht nach § 353 StPO unabhängig vom Willen der Anfechtenden und kann schon deshalb weder mit den Rechten der Prozeßsubjekte noch mit deren Stellung begründet werden - wie schon bei der Teilanfechtung, so ist auch bei der Teilaufhebung der Grund für deren Zulässigkeit im Grundsatz der Verfahrensökonomie zu erblicken 56 - und dieser Grundsatz begrenzt auch hier die Möglichkeit zur Teilaufhebung. Das demnach aus dem Grundsatz der Verfahrensökonomie folgende „Gebot der möglichst nur teilweisen Aufhebung der Feststellungen" setzt „die Selbständigkeit" der je betroffenen Feststellungen voraus, die davon abhängt, „in welchem Umfange die auf den aufgehobenen Teil der Verurteilung bezüglichen Feststellungen teilweise aufgehoben werden können, ohne daß die übrigen ... Feststellungen dadurch beeinträchtigt werden" 57 - die Möglichkeiten einer Teilaufhebung sind damit in gleicher Weise durch die Selbständigkeit und Abtrennbarkeit der nicht aufgehobenen Feststellungen von den jeweils aufgehobenen begrenzt wie auch die der Teilanfechtung (oben b) bb)), die ebenfalls, wie oben I. 2. c) aa) bereits dargelegt wurde, nur die jeweils von der Anfechtung betroffenen selbständigen und abtrennbaren Urteilsteile samt des ihnen (ebenfalls selbständigen und abtrennbaren) zugehörigen sachverhaltsmäßigen Unterbaus ergreift. 3. Der Umfang der innerprozessualen
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Stützen sich Teilanfechtung und auch -aufhebung auf den gleichen Grund wie deren damit verbundene Bindungswirkung (oben 1.), so erscheint der Schluß notwendig, daß die diesem Grund immanente Beschränkung sich bei Teilanfechtung wie -aufhebung in jeweils gleicher Weise auswirkt, insbesondere auch hinsichtlich der Bestandskraft der nicht aufgehobenen Feststellungen oder derjenigen zum Unterbau der nicht angefochtenen Urteilsbestandteile. Gleichwohl beurteilt die Rechtsprechung unter teilweiser Zustimmung des Schrifttums den Umfang der innerprozessualen Bindungswirkung bei der Teilanfechtung verschieden von derjenigen bei der Teilaufhebung. a) Zunächst sei die Beschränkung des Rechtsmittels der Berufung auf einzelne Teile des anzufechtenden Urteils betrachtet; voraussetzungsgemäß (oben I. 1. a) bb)) bleibt diese Untersuchung auf solche Urteile beschränkt, die nur eine selbständige Tat i.S. des § 264 StPO zum Gegenstand hatten. 56 57
Werner Herrmann wie S. 83 aaO (Fn 34). BGHSt 14, 30, 35 f.
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Nach dem Wortlaut des § 318 StPO ist eine derartige Teilanfechtung durch Beschränkung der Berufung auf „bestimmte Beschwerdepunkte" möglich. Nach allgemein anerkannter Auffassung sind darunter indessen nicht beliebige Urteilsteile nach Wahl des Anfechtenden zu verstehen. 58 Eine derartige Teilanfechtung setzt vielmehr - zur Vermeidung der Gefahr der Unwirksamkeit der Beschränkung - voraus, daß die angefochtenen von den nicht angefochtenen Urteilsteilen abtrennbar sind, selbständig und ohne Beeinflussung der nicht angefochtenen beurteilt werden können und ohne dazu widersprüchlich zu sein,59 wie bereits oben 2. b) bb) dargelegt wurde. Diese Voraussetzung liegt nach der Rechtsprechung jedoch im Regelfall, abgesehen von einer zulässigen Beschränkung hinsichtlich des (Nicht-) Vorliegens von Prozeßvoraussetzungen, nur bei der selbständigen Anfechtung des Rechtsfolgenausspruchs vor und auch bei der Anordnung einzelner von mehreren verhängten Rechtsfolgen.60 aa) Von diesen Grundsätzen aus läßt die Rechtsprechung zwar die Trennung der Schuld- von der Straffrage zu, nicht aber „innerhalb der Schuldfrage eine weitere Trennung der Tat- oder Beweisfrage von der Rechtsfrage oder eine Trennung der Tatbestandsmerkmale"61, und insbesondere ist eine „Rechtsmittelbeschränkung auf einzelne rechtliche Gesichtspunkte eines einheitlichen Schuldspruchs ... ausgeschlossen"62 - das Schrifttum stimmt dem überwiegend zu. 63 So ist die Beschränkung der Urteilsanfechtung z.B. dann unwirksam, stellt sich nach Teilrechtskraft des Schuldspruchs die Schuldunfähigkeit des Angeklagten heraus (s. dazu schon oben I. 2. c) cc)), ist die „Schuldform" (gemeint wohl: Vorsatz oder Fahrlässigkeit) „nicht festgestellt" oder „der Schuldumfang nicht deutlich genug abgegrenzt", wird ein festgestellter Sachverhalt unrichtig unter einen Verbrechenstatbestand „subsumiert" statt richtig nur unter den Grundtatbestand eines Vergehens und deswegen zu Unrecht der für das betreffende Verbrechen vorgesehene Strafrahmen angewendet,64 ist „zur Schuldfrage ein Sachverhalt nur 58
Anders wohl im (früheren ?) italienischen Recht, vgl dazu Frank Die Teilrechtskraft im Strafverfahren und ihre Problematik - Eine rechtsvergleichende Studie etc., Diss. Freiburg 1966, S. l l l f : so soll z.B. die Feststellung einzelner Tatbestandsmerkmale allein angefochten werden können. 59 Vgl z.B. BGHSt 19, 46, 48; 27, 70, 72; BayObLGJR 1978, 248; OLG Düsseldorf JMB1. NW 1982, 249. WankelS. 65 aaO (Fn 40). « BGHSt 19, 46, 48. 62 BGH StV 1997, 588; OLG Oldenburg NStZ-RR 1996, 77, 78; kritisch dazu mit beachtlichen Argumenten Milzer Die Beschränkbarkeit der Berufungshauptverhandlung in Strafsachen auf die Frage der rechtlichen Würdigung, NStZ 1993, 68. 63 Vgl z.B. Gollwitzer % 318 Rn 32 aaO (Fn 20); KK-Ruß § 318 Rn 5f aaO (Fn 8); Kleinknecht/Meyer-Goßner § 318 Rn 12 ff aaO (Fn 8). " OLG Saarbrücken NStZ 1997, 149; ähnlich auch OLG Düsseldorf VRS 67 (1984) 271 und OLG Köln NStZ-RR 2000, 49.
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so unzulänglich festgestellt..., daß der Unrechts- und Schuldgehalt nicht erkennbar und für das Berufungsgericht keine ausreichende Grundlage für eine Entscheidung über die Rechtsfolgen gegeben ist", insbesondere „trotz bestehender Anhaltspunkte die Prüfung unterlassen" wurde, „ob der Angeklagte schuldunfähig oder zumindest vermindert schuldfähig ist" 65 , wenn das im Schuldspruch horizontal teilrechtskräftige Urteil auf Feststellungen beruht, denen zufolge „eine Straftat gar nicht vorliegt" 66 , „die tatsächlichen Grundlagen eines angewandten Strafgesetzes nicht erkennen" läßt, den „Feststellungen nicht entnommen werden" kann, „ob der angenommene Straftatbestand überhaupt verwirklicht ist" oder „aus sonstigen Gründen unklar bleibt, von welchem Strafrahmen auszugehen ist"6? Als untrennbar zur Schuldfrage gehörig und folglich nicht selbständig anfechtbar sind ferner Entscheidungen über die Strafzumessung und insbesondere über das Vorliegen von Regelbeispielen besonders schwerer Fälle dann, wenn sie auf Feststellungen beruhen, die „nach Lage des Falles den Schuldspruch tragen (doppelrelevant sind)", es sei denn, diese Feststellungen werden „nach dem eindeutig und bestimmt erklärten Willen des ... Beschwerdeführers nicht angegriffen" 68 ; Gleiches gilt, macht die auf angebliches Mitverschulden des Opfers gestützte Strafmaßberufung eine neue Beweisaufnahme erforderlich. 69 Ebenso ist die Beschränkung der Berufung auf das Fehlen von Prozeßvoraussetzungen (Vorliegen von Prozeßhindernissen) nur dann zulässig, wenn dieser Beschwerdepunkt „losgelöst vom Schuld- und Strafausspruch" beurteilt werden kann. 70 Der angefochtene Urteilsteil ist auch als Bestandteil derselben Tat i.S. des § 264 StPO dann als „losgelöst vom übrigen Urteilsinhalt selbständig zu prüfen und rechtlich zu beurteilen", „wenn dieser Vorgang mehrere" i.S. des § 53 StGB „selbständige Taten enthält" - als untrennbar von den nicht angefochtenen Urteilsteilen und folglich nicht selbständig anfechtbar, „sofern aus Rechtsgründen, sei es nach" § 52 StGB „oder wegen Fortsetzungszusammenhangs, eine einheitliche Tat im Sinne des materiellen Rechts anzunehmen ist"71. Von diesem Grundsatz hat der Bundesgerichtshof indessen eine bemerkenswerte Ausnahme zugelassen: „Bei Dauerdelikten, die ... dadurch gekennzeichnet sind, daß sie zahlreiche unterschiedliche Verhaltensweisen ungeachtet ihrer anderweitigen Strafbarkeit umfassen, und zu einer rechtlichen Einheit verbin65
OLG H a m m VRS 74 (1988) 444, 445; im Erg. ebenso BayObLG wistra 1994, 322. BayObLG NJW 1992, 3311. 67 OLG Köln NStZ-RR 2000, 49 mit zahlr. Nachw. aus der Rechtsprechung. 68 BGHSt 29, 359, 368. 69 Kleinknecht/Meyer-Goßner % 318 Rn 14 aaO (Fn 8) m w N aus der Rechtsprechung. 70 KK-Ruß § 318 Rn 4 aaO (Fn 8) im Anschluß an Löwe-Rosenberg/Hanack § 344 Rn 17 aaO (Fn 2). 71 BGHSt 21, 256, 258; BGH NStZ 1996, 203 und NStZ-RR 1996 267; vgl dazu auch den von KK-Ruß § 318 Rn 5 aaO (Fn 11) geschilderten Fall. 66
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den", kann jedoch je nach „Fallgestaltung ... eine Rechtsmittelbeschränkung zulässig" sein,,72. Diese Rechtsprechung erscheint bemerkenswert: Stellt schon die Zulassung der beschränkten Anfechtbarkeit bei mehreren Taten im materiellrechtlichen Sinne innerhalb derselben Tat im prozessualen Sinne einen Einbruch in das Dogma von der untrennbaren Einheit des Schuldspruchs dar, so ist diese Einbruchsteile durch die zuletzt genannte Entscheidung über die Möglichkeit selbständiger Beurteilung auch materiellrechtlich tateinheitlich zusammentreffender Taten erheblich erweitert worden. cc) Nach den gleichen Grundsätzen sind auch einzelne von mehreren Rechtsfolgeanordnungen voneinander trennbar und also selbständig anfechtbar, sofern nicht ein innerer Zusammenhang zwischen angefochtenen und nicht angefochtenen Rechtsfolgeanordnungen und den dazu getroffenen Feststellungen besteht. Entsprechendes gilt für die Festsetzung einer Geldstrafe: Hier kann die Bemessung der Höhe eines Tagessatzes regelmäßig „losgelöst vom übrigen Urteilsinhalt" deshalb „selbständig geprüft" und beurteilt werden, weil diese Festsetzung „unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse" bestimmt wird und von der auf den „Unrechts- und Schuldgehalt" gegründeten Festsetzung der Anzahl der Tagessätze verschieden ist. 73 Ganz ähnlich kann auch die Versagung oder Gewährung der Aussetzung einer verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung regelmäßig selbständig angefochten werden, sofern kein innerer Zusammenhang zwischen der Verhängung der Freiheitsstrafe selbst und deren (verweigerter) Aussetzung zur Bewährung besteht. 74 b) Für die nach §§ 344 Abs. 1, 352 Abs. 1 StPO zulässige Beschränkung des Rechtsmittels der Revision gelten die gleichen Grundsätze wie bei der Berufung. 7 5 Die „Revision kann jedoch nicht auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt werden, wenn" die Vorinstanz zu Unrecht „von der Beschränkung der Berufung auf diesen ausgegangen ist" 76 - darin kann indessen nur eine „Verlängerung" der für die Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung geltenden Regeln erblickt werden, nicht aber eine Ausnahme von diesen: War schon die Berufungsbeschränkung unwirksam, so hat dies das Revisionsgericht auch dann zu beachten, wenn das Berufungsgericht die Beschränkung für wirksam hielt. 72 73 74 75
BGHSt 39, 390, 391; vgl ferner schon BGHSt 29, 288, 293. BGHSt 27,70, 72 f; 34, 90, 92. B G H N S t Z 1982, 285 f. Allg. Auffassung, vgl z.B. BayObLGJZ 1960, 30, 31; OLG Koblenz VRS 75 (1988) 35;
Löwe-Rosenberg/Hanack § 344 Rn 15 aaO (Fn 2); KMR-Paulus § 318 Rn 2 und § 344 Rn 6; Schlechter Rn 6371 aaO (Fn 39); ebenso wohl auch KK-Kuckein § 344 Rn 6ff aaO (Fn 11), der die Frage einer zulässigen Revisionsbeschränkung am Maßstab der hier (oben a)) dargelegten Grundsätze einer zulässigen Berufungsbeschränkung beurteilt. 76 Kleinknecht/Afeyer-Go/taer § 344 Rn 7 (Fn 8) zustimmend zu BayObLGSt 1994, 253.
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c) Die Zulässigkeit der Teilaufhebung durch das Revisionsgericht nach § 353 StPO zu beurteilen bereitet deshalb nicht unerhebliche Schwierigkeiten, weil nicht nur Entscheidungsbestandteile im Entscheidungssatz (Tenor) teilweise aufgehoben werden können, sondern nach Abs. 2 dieser Vorschrift „auch jene Teile der Sachverhaltsdarstellung ..., die das Tatgeschehen im Sinne eines geschichtlichen Vorgangs näher beschreiben" 77 nach § 353 Abs. 2 StPO damit also „die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen", nun aber nicht, soweit sie dem je aufgehobenen Teilen des Entscheidungssatzes zugrunde liegen, sondern, „sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden", die zur Teilaufhebung des Entscheidungssatzes geführt hat. Daß die Teilaufhebung im Tenor „entsprechend den für die Teilanfechtung geltenden Grundsätzen nur möglich" ist, „wenn der für die Aufhebung vorgesehene Urteilsteil selbständig geprüft und beurteilt werden kann, ohne daß auf die übrigen Teile der Entscheidung eingegangen zu werden braucht" 78 , ist zwar allgemein anerkannt - bei der Aufhebung der rechtsfehlerbehafteten Urteilsfeststellungen allerdings werden diese Grundsätze weitgehend nicht beachtet. aa) Das war nicht immer so. In seinem Beitrag zur Festschrift für Eduard Dreher 1977 weist Sarstedt treffend darauf hin, „daß die Revisionsgerichte seit fast hundert Jahren immer, soweit eine Revision zur Aufhebung führt, alle zugrundeliegenden Feststellungen aufheben. Das ist vom Wortlaut des § 353 Abs. 2 StPO nicht gefordert, wird aber gleichwohl von allen Revisionsgerichten so gehandhabt. Man will die Einheit der Beweisaufnahme nicht zerreißen, in der Erkenntnis, daß im Lichte einer geänderten, fortgefallenen oder hinzugekommenen Einzelheit die ganze Sache ein anderes Aussehen bekommen kann. Vor einer Teilaufhebung von Feststellungen zu einem und demselben Schuldspruch wird denn auch im Schrifttum mit Recht nachdrücklich gewarnt".79 Schon zuvor hatte Eb. Schmidt in diesem Zusammenhang gefordert: „Unteilbares darf nicht zerrissen werden. Insbesondere ist der Schuldspruch ein Ganzes, aus dem nicht einzelne Momente herausgelöst werden dürfen" 80 und noch früher hatte bereits das Reichsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 1880 die auf die Sachrüge gestützte Revision wegen Nichtvorliegens einer vom Tatgericht zu Unrecht bejahten gewinnsüchtigen Absicht bei einer im übrigen unbestrittenen Urkundenfälschung die nur teilweise AufBGHSt 30, 340, 344; BGH NStZ 1999, 259, 260. BGH NStZ 1997, 276; ständige Rechtsprechung, vgl bei KK-Pikart § 353 Rn 10 aaO (Fn 11); Kleinknecht/Afeyer-Goßner§ 353 Rn 6 (Fn 8). 79 Sarstedt Zur Reform der Revision in Strafsachen, FS Dreher (1977) 681, 691 ; in diesem Sinne zutreffend auch Grünwald S. 358f aaO (Fn 4). «o Eb. Schmidt §§ 353-355 Rn 22 aaO (Fn 40). 77 78
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hebung der tatsächlichen Feststellungen zur gewinnsüchtigen Absicht mit folgender zutreffender Begründung abgelehnt und das Urteil samt Feststellungen vollständig aufgehoben: „Das Gesuch der Revisionsanträge fordert nämlich ganz allgemein die Aufhebung des Urteils, und die Strafthat ist ein Ganzes, welches nicht in das Delikt selbst und die begleitenden Umstände zerlegt werden kann, indem dadurch dem Ermessen des erkennenden Gerichts ein unberechtigter Twang angethan würde °81. Seibert, der dieser Entscheidung zustimmt, hat freilich darauf aufmerksam gemacht, daß die Aufhebung aller Urteilsfeststellungen nur „im Normalfall einer völligen Aufhebung des Urteils" erfolge,82 jedoch hat das Reichsgericht auch im Fall einer (auch) horizontal teilrechtskräftigen Entscheidung, der Aufrechterhaltung allein des Schuldspruchs, nur die den Schuldspruch betreffenden Feststellungen für bindend erachtet, nicht aber die Feststellungen zur Strafzumessung und insoweit auch Beweisanträge dazu für zulässig erklärt.83 Damit erscheint es berechtigt, der früheren Rechtsprechung den Grundsatz zu entnehmen, daß die aufgehobenen Teile des Urteilssatzes stets zusammen mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben sind. bb) Mit dieser Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof indes mit einer Entscheidung aus dem Jahre 1959 gebrochen. Schuld- und Strafausspruch werden wegen fehlender Prüfung der Schuldfähigkeit aufgehoben, jedoch unter Aufrechterhaltung der Feststellungen zum Schuldspruch. Die „innere Unteilbarkeit der Schuldfrage" stehe „einer gesonderten Behandlung der dem einheitlichen Schuldspruch zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen nicht entgegen", und „die Vorschrift des § 353 Abs. 2 StPO" gehe von einer „unterschiedlichen Behandlung der tatsächlichen Grundlagen eines Schuldspruchs aus", indem nur die von der Gesetzesverletzung betroffenen Feststellungen aufzuheben seien und denke „also an die Teilaufhebung der Feststellungen als Regel", womit das Gesetz die Teilaufhebung „der tatsächlichen Grundlagen eines Schuldspruchs unabhängig von der davon nicht immer klar unterschiedenen Frage der" Teilanfechtung „unabhängig" mache 84 . Folglich kommt der Bundesgerichtshof zu dem der bisherigen Rechtsprechung entgegengesetzten „Gebot tunlichster Aufrechterhaltung der von der Gesetzesverletzung nicht berührten Feststellungen"85 - entgeRGSt 1, 81, 83; im Ergebnis ebenso RGSt 2, 289, 291. Seibert Zur Mitaufhebung der Feststellungen (§ 353 Abs 2 StPO), NJW 1958, 1076, 1077. 83 RGSt 20, 411, 412. 84 BGHSt 14, 30, 35. 85 S. 36 aaO (Fn 84). 81
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gen der 1977 geäußerten Feststellung und wohl auch Erwartung von Sarstedt hat diese Entscheidung gleichsam als Dammbruch gewirkt. Die Feststellungen zum Schuldspruch können der Rechtsprechung zufolge in äußerst weitgehender Weise aufrechterhalten werden: so z . B . diejenigen zum objektiven Tatbestand bei fehlerhafter Beurteilung eines Verbotsirrtums, des bedingten Vorsatzes, der niedrigen Beweggründe i.S. des § 211 StGB 8 7 und der Vorteilssicherungsabsicht nach § 257 StGB, 8 8 und auch dann, wenn ein „Teil der Feststellungen" zu den Rechtsfolgevoraussetzungen „ohne weiteres aus dem Zusammenhang aller Feststellungen herausgelöst werden kann, ohne daß dadurch die Feststellungen im übrigen in irgendeiner Weise berührt werden" 8 9 . cc) Die neuere Rechtsprechung erweckt indessen schon deshalb Bedenken, weil die Teilbarkeit oder Unteilbarkeit der Schuldfrage anders beurteilt wird als die Unteilbarkeit der zugrunde liegenden Feststellungen: Während die Teilaufhebung von Teilen des Entscheidungssatzes „entsprechend den für die Teilanfechtung geltenden Grundsätzen" zulässig ist, 90 soll dies für die der Teilaufhebung je zugehörigen Feststellungen nicht gelten - sie dürfte überdies im Gegensatz zur Rechtsprechung zur Teilanfechtung bestehen, bei der die gesamten Feststellungen zu den nicht angefochtenen Teilen innerprozessuale Bestandskraft entfalten, diejenigen zu den angefochtenen Teilen aber ebenso insgesamt nicht (s. oben I. 2. c) aa)). Ein Zusammenhang zwischen der Teilaufhebung von Urteilsfeststellungen und der Teilanfechtung wird indessen von Teilen des Schrifttums unter Berufung auf B G H S t 14, 31, 35 verneint: „Mit den Grundsätzen, nach denen sich die Teilanfechtung eines Urteils bemißt ..., hat die Frage der Teilaufhebung nichts zu tun" 9 1 . Dem kann jedoch ebensowenig zugestimmt werden wie der Begründung des Bundesgerichtshofs, auf die sich das Schrifttum stützt. Wie bereits dargelegt wurde (oben aa)), beruft sich dieses Gericht zur Berechtigung einer unterschiedlichen Behandlung der Teilbarkeit des 86 87 88
S. 691 Fn 14 aaO (Fn 79). B G H S t 41, 222. S. dazu die zutreffenden Nachweise aus der Rechtsprechung bei Kleinknecht/Meyer-
Goßner § 353 Rn 15 aaO (Fn 8). 8
' BGH MDR 1987, 955, 956. B G H NStZ 1997; 276.
90
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Vgl z.B. Löwe-Rosenberg/Hanack § 353 Rn 17, 21 aaO (Fn 2); HK-Temming § 353
Rn 8 aaO (Fn 40); Bruns S. 149 aaO (Fn 8); ähnlich KK-Kuckein § 353 Rn 24 aaO (Fn 8): kein unmittelbarer Zusammenhang; anders aber wohl BayObLG J Z 1960, 30, welches d o n die von O L G Celle in NJW 1959, 399, 4 0 0 vertretene Auffassung, bei tateinheitlichem Zusammentreffen mehrerer Straftaten, die alle auf denselben Feststellungen aufbauen, müßte der Schuldspruch samt Feststellungen auch dann aufgehoben werden, wenn dieser nur wegen einer dieser Straftaten zu Unrecht erfolgt sei, auch deshalb kritisiert, weil diese Auffassung „folgerichtig eine nur teilweise Anfechtung ... in gleicher Weise wie eine teilweise U r teilsaufhebung durch das Revisionsgericht ausschließen müßte".
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Schuldspruchs einerseits und der zugehörigen Feststellungen andererseits auf den Wortlaut des § 353 Abs. 2 StPO, der nur die Aufhebung der von der Gesetzesverletzung betroffenen Feststellungen vorsehe. Damit allerdings dürfte schon übersehen werden, daß Schuldspruch und zugehörige Feststellungen eine aufeinander bezogene innere Einheit darstellen und daß schließlich auch der Schuldspruch nur insoweit aufgehoben werden kann, als er auf der Gesetzesverletzung beruht, wie sich schon aus §§ 337, 353 Abs. 1 StPO ergibt - wenn also die von der Gesetzesverletzung betroffenen Feststellungen des Schuldspruchs von den übrigen Feststellungen dazu für abtrennbar gehalten werden, ist nicht einzusehen, wieso das nicht auch für den „Oberbau" des Schuldspruchs ebenso gelten soll.92 Das hat bereits das Reichsgericht klar zum Ausdruck gebracht, ohne daß sich der Bundesgerichtshof mit dieser Argumentation auseinandergesetzt hätte: „Daß diejenigen Feststellungen, welche bestimmt sind, die Schuldfrage ...zu beantworten, nicht ... einer bloß teilweisen Aufhebung unterliegen sollen, ergibt sich grundsätzlich aus der inneren Unteilbarkeit der Schuldfrage ... und daraus, daß die einzelnen Stadien der Beweiserhebung sich notwendig einander beeinflussen und nur in ihrer Gesamtauffassung zu einem richtigen Spruche führen können " - und diese Auffassung stützt das Reichsgericht auf ein Verständnis der nunmehr in § 353 Abs. 2 StPO enthaltenen Norm, welches dem des Bundesgerichtshofes entgegengesetzt ist: Die Aufhebung der Feststellungen soll nur dann unterbleiben, wenn die Gesetzesverletzung in einer bloßen fehlerhaften Subsumtion der Feststellungen unter das Strafgesetz besteht: „Sodann macht auch der Wortlaut des Abs. 2 des 5 393 " StPO a.F. (—§ 353 Abs. 2 der geltenden StPO) „die Annahme nicht erforderlich, daß der Gesetzgeber dabei an eine bloß teilweise Aufhebung der über die Schuldfrage ... handelnden Feststellungen gedacht habe. Der Sinn der Vorschrift, wie die gebrauchten Worte ihn erkennen lassen, geht vielmehr dahin, daß, wenn die in der Revisionsinstanz gefundene Gesetzesverletzung nur in der unrichtigen Anwendung des Strafgesetzes auf die thatsächlichen Feststellungen liegt, die letzteren von der Aufhebung des Urteils auszunehmen und aufrecht zu halten sind, und daß ihre Aufhebung bloß dann erfolgen soll, wenn bei ihrem Zustandekommen selbst eine Gesetzesverletzung unterlief.93 Kann danach die Berufung auf den Wortlaut des § 353 Abs. 2 StPO nicht ausreichen, bei Aufhebung des Schuldspruchs die zugehörigen Feststellungen nur teilweise aufzuheben, so erscheint zudem die unterschiedliche Behand92
So fragt zu Recht schon GrünwaldS. 25 f aaO (Fn 4), und beantwortet diese Frage im Erg. wie hier (S. 362f, 364ff); ähnlich Bruns S. 37 - anders aber S. 146ff - aaO (Fn 8) . 93
RGSt 2 , 2 8 9 , 291.
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lung der Bindungswirkung der Feststellungen bei der Teilanfechtung einerseits (abgesehen von dem oben a) aa)) erwähnten Sonderfall) und der Teilaufhebung andererseits nicht gerechtfertigt. Bemerkenswert erscheint zunächst, daß die Vorschriften über die Zulässigkeit der Rechtsmittelbeschränkung parallel zu denjenigen über die Zulässigkeit der Teilaufhebung durch das Revisionsgericht gefaßt sind. Weil mit der Revision Gesetzesverletzungen geltend gemacht werden müssen (§ 337 Abs. 1 StPO), können die angefochtenen Urteile auch nur wegen einer Gesetzesverletzung aufgehoben werden - und das gilt nach § 353 Abs. 1 StPO gleichermaßen für unbeschränkt wie auch für beschränkt eingelegte Revisionen, und dem entspricht auch die Vorschrift über die teilweise Aufhebung der durch die Gesetzesverletzung betroffenen Feststellungen. Ist aber die Gesetzesverletzung das entscheidende Kriterium für die Aufhebung sowohl des Schuldspruchs als auch der Feststellungen, muß die Zulässigkeit von Teilaufhebung wie Teilanfechtung in gleicher Weise beurteilt werden: Ist nur ein Teil der Feststellungen zum Schuldspruch von der Gesetzesverletzung betroffen, so ist es auch nur der auf diesen Feststellungen aufbauende Teil des Schuldspruchs. Sind die Feststellungen zum Schuldspruch unteilbar, so ist es auch der Schuldspruch selbst - und umgekehrt. Das aber muß in gleicher Weise für die Zulässigkeit von Teilanfechtung wie auch Teilaufhebung gelten: 94 werden doch beide gleichermaßen auf Gesetzesverletzungen gestützt. Wer vom Dogma der Unteilbarkeit des Schuldspruchs ausgeht, setzt sich dem Vorwurf der Widersprüchlichkeit aus, hält er die zugrundeliegenden Feststellungen für teilbar (und umgekehrt) - und ebenso, hält er nur bei der Teilanfechtung an der Unteilbarkeit von Schuldspruch und auch der je zugehörigen Feststellungen fest, nicht aber bei der Teilaufhebung. Was aber für das Verhältnis der beschränkten Revision zur Teilaufhebung gilt, gilt auch für das Verhältnis der Berufungsbeschränkung zur Teilaufhebung. Auffällig ist hier schon, daß die in § 318 StPO für zulässig erklärte Beschränkung „auf bestimmte Beschwerdepunkte" von der heutigen Rechtsprechung in gleicher Weise ausgelegt wird, wie früher das Reichsgericht die Vorschrift über die Teilaufhebung im heute geltenden § 353 Abs. 2 StPO ausgelegt hat: Die Schuldfrage wird als innerlich unteilbar angesehen, obwohl der Wortlaut des § 318 Satz 1 StPO dies angesichts der Beschränkbarkeit der Berufung auf bestimmte Beschwerdepunkte keineswegs ausdrücklich verlangt - wenn aber der Begriff „bestimmte Beschwerdepunkte" so ausgelegt wird, daß jedenfalls der Schuldspruch unteilbar sein solle, 95 so sollte für den in § 353 Abs. 2 StPO verwendeten Begriff „durch die Gesetzesverletzung betroffene Feststellungen" schon deshalb nichts anderes gelten, weil ja auch mit den Beschwerdepunkten des § 318 Satz 1 StPO eine unrichtige Gesetzesanwendung geltend gemacht wird. 94 95
Im Erg. ebenso Grünwald S. 79 ff aaO (Fn 4). So auch Werner Herrmann S. 88 aaO (Fn 34).
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d) Die vorstehenden Darlegungen führen damit zu folgendem Ergebnis: Entgegen der überwiegend vertretenen Auffassung haben die Grundsätze, nach denen sich die Teilanfechtung eines Urteils bemißt, mit der Frage der Teilaufhebung sehr wohl etwas zu tun (s. oben c) cc)); die Zulässigkeit der Teilanfechtung und die der Teilaufhebung ist in der Tat nach den gleichen Grundsätzen zu behandeln. Dies gilt deshalb unabhängig von der nur für die Teilaufhebung durch § 358 Abs. 1 StPO normierte rechtliche Bindungswirkung, weil sich diese aus dem Umfang der Aufhebung ergibt - und dieser Umfang wird durch die für Teilanfechtung und -aufhebung gleichermaßen geltenden Grundsätze bestimmt. Der sich daran anschließenden Frage, ob denn nun die in der Rechtsprechung für die Teilaufhebung entwickelten Maßstäbe auch für die Teilanfechtung gelten sollen oder aber umgekehrt, müßte eine grundlegende Klärung der Frage der Teilbarkeit von Entscheidungsbestandteilen vorausgehen, zu denen bereits Grünwald>b entscheidende Vorarbeiten geleistet hat; diesem Problemkreis kann indessen hier nicht mehr nachgegangen werden (oben I. 1. a) bb)).
III. Zusammenfassung in Thesen 1. Teilanfechtung und Teilaufhebung von Entscheidungen über dieselbe Tat sind nur zulässig, soweit sie abtrennbare Tatteile betreffen (I. 1.). 2. Nicht angefochtene und nicht aufgehobene Entscheidungsteile erwachsen weder in formelle noch in materielle Rechtskraft, entfalten aber eine innerprozessuale Bindungswirkung (I. 2.; II. 1.). 3. Die Zulässigkeit von Teilanfechtung und -aufhebung sowie die Entfaltung der innerprozessualen Bindungswirkung haben denselben Grund (II. 1.): die Prozeßwirtschaftlichkeit (I. 2.). 4. Bei den nicht angefochtenen und den nicht aufgehobenen Teilen des Entscheidungssatzes (Tenor) ist der Umfang der innerprozessuale Bindungswirkung jeweils gleich; entgegen der Rechtsprechung der Revisionsgerichte gilt das aber auch für die Teile der Urteils gründe, auf denen die nicht angefochtenen oder nicht aufgehobenen Teile des Entscheidungssatzes aufbauen (II. 3.).
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S. dazu daß in Fn 4 erwähnte Werk.
Die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses nach § 270 StPO WALTER
GOLLWITZER
I. Die Bindung des Gerichts höherer Ordnung durch den Verweisungsbeschluß 1. Die Amtsprüfung der sachlichen
Zuständigkeit
Im Strafverfahren muß grundsätzlich jedes Gericht in jeder Lage des Verfahrens seine sachliche Zuständigkeit von Amts wegen prüfen (§ 6 StPO). Hält es sich für sachlich unzuständig, hat es dafür zu sorgen, daß das Verfahren vor dem seiner Meinung nach zuständigen Gericht durchgeführt wird. Das hierbei zu beachtende Verfahren regelt die StPO für die einzelnen Verfahrensabschnitte unterschiedlich. Vor der Eröffnung des Hauptverfahrens sind die Akten dem Gericht höherer Ordnung vorzulegen, damit dieses selbst entscheiden kann, ob es die Sache übernimmt. Ist ein Gericht niedrigerer Ordnung zuständig, kann das abgebende Gericht das Hauptverfahren vor diesem selbst eröffnen (§§ 209, 209a StPO). Nach der Eröffnung des Hauptverfahrens schließt § 269 StPO aus, daß ein Gericht niedrigerer Ordnung mit dem Verfahren befaßt werden darf. Die sachliche Zuständigkeit eines Gerichts höherer Ordnung ist dagegen weiterhin zu beachten. Wird sie vor Beginn der Hauptverhandlung erkannt, muß die Sache dem Gericht höherer Ordnung zur Entscheidung über die Übernahme vorgelegt werden (§ 225a Abs. 1 StPO). Soweit nach § 6a StPO die Zuständigkeit einer besonderen Strafkammer noch zu berücksichtigen ist, wird der Grundsatz beibehalten, daß das höherrangige Gericht entscheidet. Einer nach § 74e GVG vorrangigen Strafkammer ist die Sache zur Prüfung der Übernahme vorzulegen, an eine nachrangige Strafkammer kann bindend verwiesen werden. (§ 225a Abs. 4 Satz 2 StPO). Mit Beginn der Hauptverhandlung gilt dieser Grundsatz nicht mehr. Das Gericht niedrigerer Ordnung erhält durch § 270 StPO die Befugnis, selbst durch einem Verweisungsbeschluß die Sache bei dem Gericht höherer Ordnung anhängig zu machen. Diese zum Altbestand der StPO gehörende Regelung setzt sich bewußt über die Rangordnung der Gerichte hinweg, wenn sie dem Gericht höherer Ordnung die ihm sonst eingeräumte eigene Entscheidungsbefugnis nimmt und es an eine ohne sein
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Zutun ergangene Verweisung bindet. Der Gesetzgeber wollte dadurch die Beschleunigung des Verfahrens fördern und allen fruchtlosen Zuständigkeitsstreitigkeiten und den damit verbundenen Verzögerungen vorbeugen. Um dieses prozeß wirtschaftlichen Zieles willen nahm er in Kauf, daß auch verfahrensrechtlich fehlerhafte und sachlich falsche Verweisungen wirksam die Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung begründen. Das gleiche Lösungsmodell hat der Gesetzgeber auch bei anderen Verfahrensordnungen bevorzugt, wie etwa die vergleichbare Regelung in der ZPO (jetzt § 281 ZPO, früher 276 ZPO) zeigt.1 Die weitgehende Fixierung einer einmal begründeten Zuständigkeit ist auch sonst ein gängiges Regelungsmodell, so etwa bei den §§ 6a, 16 StPO, die die nachträgliche Berücksichtigung der Zuständigkeit eines anderen Spruchkörpers nur noch sehr begrenzt zulassen. 2. Bindungswirkung der Verweisung Der Verweisungsbeschluß nach § 270 StPO steht in seiner Rechtswirkung einem Eröffnungsbeschluß gleich (§ 270 Abs. 3 Satz 1 StPO), auch wenn er diesen nicht ersetzen kann. 2 Er macht die Sache vor dem höheren Gericht anhängig. Es darf sich nicht mehr für sachlich unzuständig erklären, weil nach seiner Ansicht das Verfahren zur Zuständigkeit des abgebenden Gerichts oder eines anderen Gerichts niedrigerer Ordnung gehört. Dies schließt § 269 StPO ausdrücklich aus, der nur im Sonderfall des später eingefügten § 270 Abs. 1 Satz 2 StPO bei einem Einwand nach § 6a StPO der Verweisung an eine nachrangige Strafkammer nicht entgegensteht. 3 Entsprechend der prozeßwirtschaftlichen Zielsetzung wird das durch eine Verweisung nach § 270 StPO mit der Sache befaßte Gericht höherer Ordnung auch dann sachlich zuständig, wenn an sich ein Gericht niedrigerer Ordnung die Sachkompetenz für die Aburteilung gehabt hätte. Wie bei allen ex ante zu treffenden Einschätzungen wäre es nicht sinnvoll, die auch von Wertungen und Prognosen beeinflußte Beurteilung der sachlichen Zuständigkeit von dem erst noch zu findenden endgültigen Ergebnis des Verfahrens abhängig zu machen. Könnte die durch den Verweisungsbeschluß erlangte sachliche Aburteilungskompetenz durch später gewonnene Erkenntnisse auch im Verhältnis zu den Gerichten niedrigerer Ordnung wieder in Frage gestellt werden, würden spätere Zuständigkeitsverschiebungen die zügige Erledigung des Verfahrens vereiteln und wegen der Notwendigkeit der vollständigen Wiederholung der Hauptverhandlung nach jeder Verweisung einen unwirtschaftlichen Mehraufwand auslösen. § 269 StPO verleiht deshalb ι Ferner etwa § 83 VwGO; § 98 SGG, § 70 FGO, § 46 WEG, § 17a Abs 1 GVG. BGH NStZ 1988, 236. 3 Ob man in § 270 StPO über dessen Abs 1 Satz 1 letzter HS, Satz 2 hinaus eine Sonderregelung gegenüber § 269 StPO sehen kann, wie BGHSt 45, 58, 62 annimmt, mag dahin stehen. 2
Die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses nach § 270 StPO
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dem Gerichts höherer O r d n u n g eine Auffangzuständigkeit, die die an sich gegebene sachliche Zuständigkeit eines niedrigeren Gerichts verdrängt. Sie erfaßt nicht nur die Fälle, in denen als Ergebnis der Hauptverhandlung nur eine Verfehlung übrigbleibt, für die an sich die Aburteilungskompetenz des Gerichts niedrigerer O r d n u n g ausgereicht hätte. Sie greift sie auch ein, wenn die Befassung des Gerichts höherer O r d n u n g von Anfang an fehlerhaft war, weil der Verweisungsbeschluß auf sachlich unzutreffenden Annahmen oder einer irrigen Rechtsauffassung beruhte 4 oder formal fehlerhaft zustande gekommen ist. 5 Die Perpetuierung der einmal herbeigeführten Z u ständigkeit des Gerichts höherer O r d n u n g macht die von § 6 StPO grundsätzlich ohne Einschränkung geforderten Amtsprüfung der sachlichen Z u ständigkeit erst praktikabel. 6 Der prozeßwirtschaftliche Zweck dieses Vorrangs wird zusätzlich durch den Grundgedanken gerechtfertigt, daß der Angeklagte nicht beschwert ist, wenn ein Gericht höherer O r d n u n g mit höheren Rechtsgarantien für die Richtigkeit der Entscheidung seinen Fall aburteilt. 7 Er gilt deshalb nicht für die umgekehrten Fälle, in denen ein Gericht niedrigerer O r d n u n g im Laufe des Verfahrens die Zuständigkeit eines Gerichts höherer O r d n u n g erkennt.
II. Grenzen der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses 1. Allgemein Der nach § 270 Abs.3 Satz 2, § 210 StPO nur in sehr engen Grenzen und vom Angeklagten überhaupt nicht anfechtbare Verweisungsbeschluß ist für das Gericht höherer O r d n u n g insoweit bindend, als er zwar nicht die Weiterverweisung an ein Gericht höherer Ordnung, wohl aber selbst bei einer fehlerhaften Verweisung die Zurückverweisung an ein Gericht niedrigerer O r d n u n g ausschließt (§ 269 StPO). Diese Regelung soll eine zügige und wirtschaftliche Erledigung des Verfahrens fördern. Ihre Bindung gilt aber nicht ausnahmslos. Die heute weitgehend herrschende Meinung nimmt - ungeachtet mancher Unterschiede im Detail - übereinstimmend an, daß das Verbot des § 269 StPO entfällt, wenn vorrangiges Verfassungsrecht dies erfordert. 8 4
HM, etwa BGHSt 29, 216, 219; BGH NJW 1980,110; Rieß GA 1976, 17. BGH bei Kusch NStZ 1992, 29. 6 Rieß GA 1976, 12. 7 RGSt 44, 392; 395; 62, 265, 271; BGHSt 9, 367; 21, 334, 358; 43, 53, 55; BGH NJW 2001, 1359 (Abdruck in BGHSt vorgesehen); vgl OLG Düsseldorf MDR 1993, 459 (die größere sachliche Zuständigkeit schließt die kleinere mit ein); OLG Bremen NStZ-RR 1998, 53 (aber Beschwer, wenn er dadurch seinem gesetzlichen Richter entzogen wird). 8 So BGH NJW 2001, 1359 für Kompetenzverteilung zwischen Bundes- und Ländergerichte. 5
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Vor allem bei einer Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters 9 ist einsichtig, daß ein Befassungsakt, der selbst gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstößt, nicht gleichzeitig die Kraft haben kann, das verfassungswidrig befaßte Gericht trotzdem zum gesetzlichen Richter zu machen. Die Auffangzuständigkeit des § 269 StPO kann dem Gericht höherer O r d n u n g in einem solchen Fall nicht die Kraft verleihen, sich, wie weiland Münchhausen, am eigenen Zopf aus dem Sumpf der Verfassungswidrigkeit zu ziehen. Bei anderen Fehlern des Verweisungsbeschlusses greift dieser G r u n d für den Wegfall der Bindung nicht; vor allem ist nicht jede fehlerhafte Verweisung schon ein Entzug des gesetzlichen Richters im Sinne eines Verstoßes gegen den zumindest früher 1 0 eng interpretierten Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Ein Blick auf andere Verfahrensordnungen zeigt, daß dort Verweisungen kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung bindend sind (vgl. etwa § 281 Abs. 2 Satz 5 ZPO). Dies gilt grundsätzlich auch bei fehlerhaften Verweisungen. Auch hier wird aber die Bindung verneint, wenn der Verweisungsbeschluß jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt oder sonst grob fehlerhaft ist. Selbst Verfahrensfehler sollen den Wegfall der Bindung rechtfertigen. 11 D a f ü r wird in der Regel kein besonderer Rechtsgrund angeführt. Man geht wohl von einer richterrechtlich entwickelten Korrekturbefugnis grob fehlerhafter Verweisungen aus, die das höherrangige Gericht unabhängig von der hier strittigen Beschwerdemöglichkeit der Parteien hat. Der Verstoß gegen die Verfassungsgarantie des gesetzlichen Richters wird nur als einer der Korrekturgründe angeführt; 1 2 seine Abgrenzung von den sonstigen Rechtsverstößen oder seine unterschiedliche Rechtsqualität werden nicht problematisiert.
2. Der Recbtsgrundfür den Wegfall der Bindung Die Übereinstimmung, daß das Gericht höherer O r d n u n g auch durch einen fehlerhaften Verweisungsbeschluß sachlich zuständig und zum gesetzlichen Richter wird und daß die legitimierende Kraft des § 269 StPO und seine Bindungswirkung nur entfällt, wenn sich die Verweisung so weit von jeder Rechtsanwendung entfernt, daß sie die Verfassungsgarantie des 9 Nur wenige Entscheidungen führen diesen Grundsatz nicht ausdrücklich als verletzt an, wenn sie die Unwirksamkeit mit der groben Fehlerhaftigkeit der Verweisung begründen. 10 Vgl etwa Maunz/Dürig Art. 101 GG, 51 ; Niemöller/Schuppert AöR 107 (1982) 384, 421 (weitmaschiger Maßstab). 11 Vgl Baumbach/Lauterbach/Aibers/Hartmann ZPO § 281 Rn 38ff; Münchner Kommentar/ Prutting ZPO § 281 Rn 55, 56; Stein/Jonas/LeipoldZPO § 281 Rn 29ff; Zöller/Greger ZPO § 281 Rn 17 m w N . 12 Vgl etwa Baumbach/Lauterbach/ASoers! Hartmann ZPO § 281 Rn 38ff; Münchner Kommentar/Prutting ZPO § 281 Rn 55; enger Stein/Jonas/LezpoW ZPO § 281 Rn 29ff.
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Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, erstreckt sich nicht auf die rechtliche Konstruktion, aus der dieses Ergebnis hergeleitet wird. Zwei verschiedene Lösungswege werden vertreten. Nach der einen Ansicht entfällt die Bindung deshalb, weil ein grob unrichtiger und unter keinen rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbarer Verweisungsbeschluß bei Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nichtig ist. Die andere Ansicht verneint dies. Nach ihr ist auch eine solche Verweisung wirksam und geeignet, die Sache beim höheren Gericht anhängig zu machen (Transportwirkung); wegen seiner Verfassungswidrigkeit bindet er aber das Gericht höherer Ordnung nicht und schließt die Zurückverweisung nicht aus, so wie dies auch bei § 281 ZPO und den Verweisungsvorschriften anderer Verfahrensordnungen13 vertreten wird. Diese unterschiedliche Konstruktion hat wegen der sich daraus ergebenden Folgerungen praktische Bedeutung. Sie beeinflußt die Verfahrensgestaltung und wirkt notwendig auch auf den Maßstab zurück, der bei der Abgrenzung dieser Ausnahme von der grundsätzlichen Bindung anzulegen ist. Im Einzelnen: a) Nichtigkeit des Verweisungsbeschlusses? Bejaht man die Nichtigkeit eines gegen A n . 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßenden Verweisungsbeschlusses, dann kann er nicht die Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung herbeiführen. Das Verfahren ist dann in Wirklichkeit gar nicht nach § 270 Abs. 3 Satz 1 StPO vor dem Gericht höherer Ordnung wirksam eröffnet worden. Auch § 269 StPO greift nicht ein, denn er setzt voraus, daß das verweisende Gericht durch einen formal dazu geeigneten Verfahrensakt wirksam mit der Sache befaßt worden ist. Das Verfahren ist, ungeachtet der nichtigen Verweisung, weiterhin bei dem Gericht niedriger Ordnung anhängig geblieben. Das Gericht höherer Ordnung hat deshalb nur die Nichtigkeit des Verweisungsbeschlusses und die Unwirksamkeit seiner Befassung festzustellen und die Akten an das verweisende Gericht zurückzugeben. Hierfür wird man im Interesse der Verfahrensklarheit einen förmlichen Beschluß fordern müssen. Die Entscheidung dieser keinesfalls einfachen Frage ist, wie auch sonst Entscheidungen, die die Zuständigkeit betreffen oder die Anhängigkeit begründen oder beenden, Sache aller Berufsrichter. Allerdings könnte nach dieser Ansicht das beim niederen Gericht anhängig gebliebene Verfahren dort auch weitergeführt werden, wenn nur der Vorsitzende unter Hinweis auf die Nichtigkeit des Verweisungsbeschlusses die Akten zurückgesandt hat. Bleibt dagegen die Zuständigkeit zwischen den Gerichten weiter streitig und muß deshalb das gemeinsame obere Gericht analog §§ 14, 19 13 BGH2 1, 341; 71, 70; BGH NJW 1964, 1416, 1418; 1981, 461; 1984, 740; 1989, 461; Stein/Jonas/Leipold ZPO § 281 Rn 32; Münchner Kommentar/Prutting ZPO § 281 Rn 55 mwN. Die anderen Verfahrensordnungen orientieren sich weitgehend an der Auslegung des § 281 ZPO, so § 83 VwGO, vgl Eyermann VwGO" § 83 Rn 8; Schocb/Schmidt-Aßmann/ Pietzner VwGO § 83 Rn 16.
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StPO angerufen werden14, dürfte Voraussetzung sein, daß die Unzuständigkeit durch einen von allen Berufsrichtern erlassenen Gerichtsbeschluß festgestellt worden ist.15 Die Lösung über die Nichtigkeit16 des Verweisungsbeschlusses läßt die Probleme mit der Bindungswirkung und dem Verweisungsverbot des § 269 StPO nicht entstehen, weil das Gericht höherer Ordnung gar nicht wirksam mit der Sache befaßt worden ist.17 Sie erschien daher als zwar nicht idealer, aber doch praktikabler Weg für eine einfache Lösung.18 Verdrängt wurde dabei, daß die Annahme der Nichtigkeit bei prozeßgestaltenden Entscheidungen schon an sich äußerst problematisch ist und daß dieser Lösungsansatz praktisch nur Sinn macht, wenn man die Voraussetzungen für die Nichtigkeit über das dogmatisch allenfalls vertretbare Maß hinaus erweitert. Es bedeutet eine erhebliche Aufweichung der Stringenz der Nichtigkeitskriterien, wollte man Nichtigkeit oder Unwirksamkeit bei allen gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßenden Verweisungsbeschlüssen annehmen.19 Erst recht würde dies bei einer Ausdehnung auf sonstige Verfahrensfehler gelten. Ein Blick auf die entschiedenen Fälle zeigt, daß vielfach nicht davon gesprochen werden kann, daß die fehlerhafte Verweisung eindeutig außerhalb jeder sachorientierten Rechtsanwendung liegt und noch weniger davon, daß ihre Nichtigkeit evident ist. Selbst wenn man also die Nichtigkeit eines Verweisungsbeschlusses überhaupt für denkbar hält, ginge es nicht an, sie so auszuweiten, daß daraus eine Rechtsfigur der alltäglichen Gerichtspraxis für die Beseitigung der unerwünschten Bindungswirkung einer fehlerhaften Verweisung wird. Bei einer restriktiven Handhabung aber würde ein großer Teil der als korrekturbedürftig anzusehenden Verweisungen nicht erfaßt werden. Gegen die Annahme der Nichtigkeit gerichtlicher Entscheidungen sprechen im übrigen grundlegende dogmatische Bedenken. Im Bereich des Strafprozesses lehnt ein Teil des Schrifttums die mit der Rechtssicherheit kaum zu vereinbarende Nichtigkeit gerichtlicher Entscheidungen mit guten 14 Die vorherrschende Meinung hält in Fortführung von BGHSt 18,381 die analoge Heranziehung für zulässig, vgl BGHSt 45, 26, 58 = JZ 2000, 213 mit Anm. Bernsmann = wistra 2000, 45 mit abl. Anm. Weidemann·, ferner etwa OLG Düsseldorf NStZ 1986, 427; JMB1NW 1979, 152; 1992, 57; 1995, 287; OLG Karlsruhe JR 1991, 36; OLG Stuttgart Justiz 1999, 403: 15 Vgl OLG Düsseldorf NStZ 2000, 609. 16 Einige Entscheidungen sprechen wohl wegen der Nichtigkeitsproblematik nur von der „Unwirksamkeit" des Verweisungsbeschlusses; der Verweisungsbeschluß kann aber nur nichtig oder aber wirksam, wenn auch vielleicht nicht bindend, sein. 17 Unklar insoweit BGHSt 45, 26, wo die Bindungswirkung verneint, die Transportwirkung aber trotz Annahme der Nichtigkeit als strittig offen gelassen wird. 18 So noch Gollwitzer]K 1991, 37 19 Nichtigkeit bzw. Unwirksamkeit nahmen etwa an OLG Düsseldorf NStZ1986, 426; JMB1NW 1992, 57; OLG Frankfurt StV 1996, 533; OLG H a m m MDR 1993, 1002; OLG Karlsruhe JR 1991, 36; OLG Schleswig bei Lorenzen/Görl SchlHA 1988, 110; OLG Zweibrücken MDR 1992, 173; LG Berlin StV 1996, 16; SK-SchlüchterStPO § 270 Rn 28 je m w N .
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G r ü n d e n überhaupt ab. 2 0 Einige Entscheidungen bejahen diese Möglichkeit z w a r theoretisch, verneinen sie aber im konkreten Einzelfall. Im Interesse der Rechtssicherheit wird die Nichtigkeit gerichtlicher Entscheidungen meist auf extreme Ausnahmefälle beschränkt, bei denen schon die A n n a h m e einer zumindest vorläufigen Gültigkeit einer Entscheidung wegen des Ausmaßes und dem Gewicht ihrer Fehlerhaftigkeit für die Rechtsgemeinschaft unerträglich wäre, da sie jeder Rechtsgrundlage ermangelt, außerhalb jeder sich im Rahmen der Rechtsordnung haltenden Rechtsanwendung liegt oder wesentlichen Prinzipien der Rechtsordnung kraß widerspricht. 2 1 Vielfach wird außerdem gefordert, daß die Unvereinbarkeit mit den Rechtsprinzipien und die daraus folgende Nichtigkeit für jeden verständigen Betrachter erkennbar, also evident sein muß. 2 2 Diese Voraussetzungen erfüllen richterliche Zwischenentscheidungen, die sich äußerlich in dem von der StPO vorgegebenen formalen Rahmen halten, in der Regel selbst dann nicht, wenn sie grob fehlerhaft sind. Verfassungsverstöße machen die davon betroffenen Entscheidungen grundsätzlich nur anfechtbar und nicht etwa nichtig. Dies zeigen § 79 B V e r f G G und die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte. Bis zu ihrer Aufhebung sind die auf einer Verfassungsverletzung beruhenden Entscheidungen voll wirksam. Werden sie nicht oder nicht ordnungsgemäß angefochten, entfalten sie die gleiche Rechtswirkung wie eine fehlerfreie Entscheidung. Dies wird auch bei Strafurteilen angenommen, die ein Verfassungsgebot verletzen, so etwa bei einem Verstoß gegen das Verbot der Doppelaburteilung. 2 3 E s besteht kein Anlaß, bei den zur Herbeiführung eines Urteils notwendigen verfahrensgestaltenden Zwischenentscheidungen die Annahme der Nichtigkeit an leichtere Voraussetzungen zu knüpfen. Nichtigkeit wurde deshalb zu Recht verneint bei einem fehlerhaften Eröffnungsbeschluß, bei dem durch die Mitwirkung eines ausgeschlossenen Richters die Garantie des gesetzlichen Richters verletzt wurde. 2 4 Bei einer fehlerhaft v o m unzuständigen Gericht angeordneten Verfahrensverbindung nahmen zwar frühere Entscheidungen 2 5 Unwirksamkeit an, auch dies wird aber jetzt in Frage gestellt. 2 6 Rechtssicherheit und Verfahrenstransparenz sprechen dafür, im Interesse aller Verfahrensbeteiligten grundsätzlich von der Bestandskraft fehlerhafter verfahrensgestaltender Zwischenentschei-
20 Vgl etwa Sarstedt JR 1955, 351; Grünwald ZStW 76 (1964) 250; ferner Löwe-Rosenb e r g / R i e ß 2 5 Einl. J 123 ff m w N . 21 BGHSt 29,351 = J R 1981, 377 mit Anm. Meyer-Goßner. 22 Zu den strittigen Fragen Löwe-Rosenberg/Rieß 2 5 Einl. J 123ff; Löwe-Rosenberg/ K. Schäfer24 Einl. E 16ff, 32; Kitmknechi/ Meyer-Goßner StPO Einl. Rn 105 je m w N . 23 Vgl O L G Hamburg JR 1981, 521 mit Anm. Rieß. 24 BGHSt 29, 351 = J R 1981, 377 mit Anm. Meyer-Goßner, Löwe-Rosenberg/Äie/? 24 § 209 Rn 29. 2 5 B G H S t 22, 232, 234; B G H NStZ 1982, 294; 1986, 564. 26 Vgl B G H NStZ 1996, 47, dazu Felsch NJW 1996, 163ff.
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düngen auszugehen und ihre Korrektur dem weiteren Verfahren zu überlassen. Vor allem die Verletzung des Rechts auf Gehör führt nicht zur Nichtigkeit der davon betroffenen Entscheidung; so ging das Bundesverfassungsgericht 27 bei einem ohne rechtliches Gehör erlassenen Verweisungsbeschluß nach § 281 ZPO zutreffend von dessen Wirksamkeit aus. Die Lösung über die Nichtigkeit hat zudem praktische Nachteile. Wenn sich der Streit nicht dadurch erledigt, daß das niedrigere Gericht das Verfahren nach der Rückgabe sofort weiter betreibt, sondern auf seinem Standpunkt beharrt, bleibt die Zuständigkeit in der Schwebe, bis sie durch eine Entscheidung des gemeinsamen oberen Gerichts geklärt worden ist. Es bleibt mitunter längere Zeit offen, bei welchem der beiden sich für unzuständig haltenden Gerichte das Verfahren in Wirklichkeit anhängig ist und welches von ihnen die mitunter eilbedürftigen Nebenentscheidungen zu treffen hat. Dies kann, vor allem in Haftsachen, 28 zu unvertretbaren Verzögerungen führen. Dies alles spricht dagegen, einen Art. 101 Abs. 2 Satz 2 GG verletzenden oder sonst verfassungswidrigen Verweisungsbeschlusses als nichtig zu behandeln. Um vernünftige Ergebnisse zu erreichen und einem Verfassungsverstoß schon im laufenden Verfahren abhelfen zu können, genügt es, in solchen Fällen nur die Bindungswirkung der Verweisung zu verneinen. b) Transportwirkung der Verweisung, aber keine Bindung. Geht man davon aus, daß auch ein grob fehlerhafter und gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßender Verweisungsbeschluß wirksam ist und die Sache bei dem Gericht, an das verwiesen wurde, gemäß § 270 Abs. 3 Satz 1 StPO anhängig macht, 29 so bedeutet die Anerkennung dieser Transportwirkung nicht, daß deswegen das verfassungswidrig mit der Sache befaßte Gericht verpflichtet oder berechtigt wäre, das bei ihm anhängig gewordene Verfahren bis zur Sachentscheidung durchzuführen. Für die Anwendbarkeit des § 269 StPO genügt es zwar, daß die Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung durch einen formal der Prozeßordnung entsprechenden, wenn vielleicht auch fehlerhaften Befassungsakt herbeigeführt wurde. 30 Verstößt dieser aber selbst gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, würde das Gericht höherer Ordnung durch Ubernehme und Entscheidung der Sache den erkannten Verfassungsverstoß selbst fortsetzen. Der darin liegende eigene Verfassungsverstoß gefährdet den Bestand seiner Sachentscheidung. Er könnte mit der Revi27 28
BVerfGE 61, 37 (dazu unten III, 3, d)). Vgl etwa OLG Düsseldorf StV 1993, 2 5 4 ; JMB1NW 2001, 82; LG Bremen StV 1992,
523. 2 ' So bei § 281 ZPO ausdrücklich etwa BGH NJW 1989, 4 6 1 ; Stein/Jonas/Leipold ZPO § 281 Rn 32 m w N . 30 BGHSt 37, 150; 38, 172, 176; 44, 121, 124.
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sion 31 und nach Erschöpfung des Rechtswegs gegebenenfalls auch mit der Verfassungsbeschwerde erfolgreich gerügt werden. Anders als bei einer nur gegen einfaches Recht verstoßenden Verweisung kann deshalb § 269 StPO nicht bewirken, daß das verfassungswidrig befaßte Gericht trotzdem zum sachlich zuständigen gesetzlichen Richter wird. 32 Die Pflicht zur Beachtung der Verfassung geht hier der aus dem einfachen Recht folgenden Bindung durch den Verweisungsbeschluß und dem Verbot des § 269 StPO vor. 33 Das Gericht höherer Ordnung ist deshalb nicht gehindert, das Verfahren, das es nur unter Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG selbst entscheiden könnte, wieder an das sachlich zuständige Gericht niederer Ordnung zurückzuverweisen. O b man dies mit dem Vorrang der Pflicht zur Wahrung des Verfassungsrechts vor der einfach gesetzlichen Regelung des § 269 StPO begründet oder mit einer verfassungskonform einengenden Auslegung der §§ 269, 270 StPO, läuft im Ergebnis auf das Gleiche hinaus. Der Vorteil dieser Lösung, die insbesondere in mehreren Entscheidungen des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs 34 vertreten wird, liegt zum einen darin, daß sie die grundsätzlichen Bedenken gegen die systemwidrige Annahme der Nichtigkeit des Verweisungsbeschlusses vermeidet. Sie erlaubt die Berücksichtigung eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 1 GG auch dann, wenn dieser die sehr eng zu ziehenden Grenzen der Nichtigkeit nicht erreichen würde. Ihr praktischer Vorteil liegt ferner darin, daß im Streitfall zwischen den beteiligten Gerichten die Zuständigkeit für Nebenentscheidungen nicht in der Schwebe bleibt. Das formal zuständig gewordene höhere Gericht ist auch bei unrichtiger Befassung nicht gehindert, etwa nötig werdende Verfahrensentscheidungen zu treffen. Es ist zudem in der Lage, das Verfahren an ein anderes Gericht als das den Verweisungsbeschluß erlassende weiter zu verweisen, wenn dessen Spezialzuständigkeit berücksichtigt werden muß.
31 Strittig ist nur, ob dazu eine ordnungsgemäße Verfahrensrüge erforderlich ist (so etwa BGHSt 19, 273, 277; 42, 205; GA 1970, 25; NJW 1993, 1607; StV 1998, 1) oder ob dies wegen § 6 StPO vom Amts wegen zu berücksichtigen ist (BGHSt 38, 172, 176; 40, 120; NStZ 1992, 397). Zum Sonderfall, ob das Revisionsgericht von Amts wegen oder nur bei einer ordnungsgemäßen Verfahrensrüge beachten muß, wenn das in jedem Fall als gesetzlicher Richter entscheidende Berufungsgericht eine fehlerhafte Verweisung zwischen Strafrichter und Schöffengericht ungeprüft hingenommen hat, vgl jetzt BGHSt 42, 205. 32 Vgl etwa BGH StV 1999, 585. 33 BGH NJW 2001, 1359 (für BGHSt vorgesehen) geht ebenfalls davon aus, daß die verfassungsrechtlich gebotene Beachtung der Kompetenzverteilung zwischen Bundes- und Landesgerichtsbarkeit dem § 269 StPO vorgeht. 34 BGHSt 38, 212; 40, 120, 122; 45, 58; StV 1999, 585; ferner etwa OLG Stuttgart Justiz 1999, 403.
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III. Die Abgrenzung der nicht bindenden von den bindenden Verweisungen 1. Unabhängig davon, welcher der beiden Meinungen man folgt, ist das Problem, wie im Einzelfall die zu einer verfassungswidrigen Zuständigkeit führende und damit nicht bindende Verweisung von der trotz Fehlerhaftigkeit bindenden Verweisung abzugrenzen ist. Sieht man von den seltenen Fällen ab, in denen die durch sie herbeigeführte Zuständigkeit gegen die verfassungsrechtlich festgelegte Kompetenzordnung verstoßen würde, 35 bleibt als Hauptanwendungsfall der Verstoß gegen die Garantie des gesetzlichen Richters. Zusätzlich stellt sich die Frage, ob auch sonstige schwere Rechtsverstöße, die die Schwelle der Verfassungswidrigkeit nicht überschreiten, die Bindung entfallen lassen, wie dies bei § 281 ZPO angenommen wird. 2. Verstoß gegen Art. 101 Abs.l Satz 2 GG a) Objektive Willkür. Grundsätzlich hat jede Verweisung, durch die ein nicht zuständiges Gericht rechtsfehlerhaft mit der Sache befaßt wird, zur Folge, daß ein anderer als der nach dem vorgegebenen Regelwerk zuständige Richter entscheidet. Um die Beachtung des einfachen Rechts mit all seinen Verästelungen bis hinab zu den Geschäftsverteilungsplänen nicht schon als Teil der Verfassungsgarantie ansehen zu müssen und insbesondere nicht jeden die Zuständigkeit berührenden error in procedendo als Verfassungsverstoß aufzuwerten, ergab sich die Notwendigkeit, die spezifische Verfassungsverletzung von der Verletzung des einfachen Rechts abzuschichten. Das Bundesverfassungsgericht 36 sah in der Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters einen Sonderfall des Willkürverbots des Art. 3 GG.37 Ob Willkür vorlag sollte dabei nach objektiven Maßstäben beurteilt werden, nicht nach den subjektiven Motiven des verweisenden Gerichts. Daraus erklärt sich die Verwendung der schon wegen des Ausdrucks 38 umstrittenen Formel von der objektiven Willkür als das den Verfassungsverstoß bei Verletzung der Zuständigkeitsregeln kennzeichnende Kriterium. Als objektiv willkürlich wird, mitunter mit unterschiedlicher Wortwahl und unterschiedlichen Grenzziehungen, im Grundsatz eine objektiv schwerwiegende („krasse"), unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr verständliche und « BGH NJW 2001, 1359. Vgl BVerfGE 3, 359, 364; 9, 223, 230; 29, 45, 48; 198, 207; 54, 100, 115; 67, 90, 95; 82, 286, 299; 87, 282, 284; Dreier (Hrsg) Grundgesetz-Kommentar/Schulze-Fielitz Art. 101 Rn 59. 37 Vgl etwa Rinck NJW 1964, 1649; Proske NJW 1997, 352, 354; Dreier (Hrsg) Grundgesetzkommentar/ Schulze-Fielitz Art. 101 Rn 59. 38 Vgl Weidemann wistra 2000, 45, 47: „schwarzer Schimmel".
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offensichtlich unhaltbare Gesetzesverletzung verstanden, die so fehlerhaft ist, daß sie jenseits aller gesetzlichen Maßstäbe liegt, durch die die Zuständigkeit konkretisiert wird. 39 Obwohl Willkür an sich darauf hindeutet, daß zum objektiven Regelverstoß als subjektivem Element noch eine sich über die rechtlichen Bindungen bewußt hinwegsetzende innere Einstellung hinzukommen muß, läßt man für die Feststellung des Verfassungsverstoßes schon die völlige Unvereinbarkeit mit der objektiven Sach- und Rechtslage genügen. Subjektive Willkür wäre mitunter schwer nachzuweisen. Soweit sie nicht aus den Gründen des Verweisungsbeschlusses oder aus den U m ständen seines Zustandekommens zu ersehen ist, muß sie indiziell aus der groben objektiven Fehlerhaftigkeit erschlossen werden. Das Abstellen auf die „objektive Willkür" betont, daß entsprechend dem rechtsstaatlichen Objektivitätsgebot für die Verfassungswidrigkeit die Unvereinbarkeit mit der objektiven Rechtslage ausreicht und eine Bewertung der subjektiven Beweggründe nicht nötig ist. Mitunter wollte man wohl auch den Vorwurf der subjektiven Willkür gegen die für die Entscheidung verantwortlichen Richter vermeiden. 40 Meist ist es allerdings mehr eine Frage der dogmatischen Konstruktion als der praktischen Relevanz, ob man sich für die Feststellung des Verfassungsverstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG allein mit der schweren objektiven Fehlerhaftigkeit begnügt, wie das in Ablehnung des Willkürbegriffs im Schrifttum 41 verschiedentlich gefordert wird, oder ob man diese zugleich als Indiz dafür wertet, daß sich das verweisende Gericht von sachfremden Erwägungen leiten ließ und damit auch subjektiv willkürlich gehandelt hat. Letzteres klingt vor allen in vielen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 42 an, wenn dort ausgeführt wird, daß sich wegen der festgestellten krassen objektiven Fehlerhaftigkeit der Schluß auf sachfremde Überlegungen aufdrängt. Daß im Regelfall „objektive Willkür" ausreicht, bedeutet nicht, daß das Vorliegen subjektiver Willkür keinerlei selbständige Bedeutung hat. Wird sie als tragendes Motiv einer Mißachtung der Zuständigkeitsregeln erkennbar, qualifiziert sie diese auch dann als eine verfassungsrechtlich relevante Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters, wenn andernfalls der Ver39
Vgl etwa BVerfGE 29, 45, 49; 42, 237; BGHSt 29, 219; OLG Karlsruhe JR 1991, 16; ferner zu den Umschreibungen des Verstoßes OLG Karlsruhe StV 1998, 252 m w N . 40 So, wenn es darum geht, ob Obergerichte durch die Verletzung einer Vorlagepflicht das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt haben, vgl etwa Leisner NJW 1989, 2446, aber auch die deutliche Kritik in BVerfG NJW 2001, 1267 41 Vgl etwa Höfling]Z 1991, 955; Leisner NJW 1989, 2446; Proske NJW 1997, 354; Vedder NJW 1987, 526, 530. Bei § 281 ZPO wird der Wegfall der Bindung meist nur mit der schweren objektiven Fehlerhaftigkeit begründet, erwähnt wird aber auch der Fall, daß sich das Gericht entgegen seiner besseren Erkenntnis über Rechtsvorschriften hinwegsetzt (Fischer NJW 1993, 2417, 2419). « Vgl etwa BVerfGE 81, 132, 137; 87 273, 278; 89, 1, 13; 96, 189, 203; BVerfG NJW 2001, 1125; 1200; BGH StV 1996, 586.
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stoß als einfacher error in procedendo hätte eingestuft werden können. N u r in dem Ausnahmefall, in dem die A n n a h m e der Zuständigkeit des Gerichts höherer O r d n u n g im Ergebnis objektiv richtig war, weil es aus Gründen, die das verweisende Gericht nicht erkannte, sachlich zuständig und damit nach der objektiven Rechtslage gesetzlicher Richter war, könnten die bei der Verweisung z u m Ausdruck gekommenen sachfremden Erwägungen für sich allein die A n n a h m e eines Verfassungsverstoßes nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht rechtfertigen. 43 b) Welches Gewicht ein Fehler haben m u ß , um als objektive Verletzung der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG eingestuft zu werden, bleibt weitgehend eine Wertungsfrage des Einzelfalls. Dies zeigt sich, wenn man sich nicht mit der Wiederholung der den Grundgedanken aufzeigenden abstrakten Formeln begnügt und nach konkreteren Bemessungsmaßstäben für das Gewicht eines durch Auslegung des einfachen Rechts erkennbaren Verfahrensfehlers sucht. Sieht man von den Fällen ab, in denen offen zu Tage liegt, daß sachfremde, sich über jede Bindung an das Recht hinwegsetzende Motive die fehlerhafte Verweisung bestimmt haben 4 4 und nimmt man am anderen Ende der Bewertungsskala die Fälle heraus, in denen die Verweisung auf rechtsfehlerhaften, aber immerhin nachvollziehbaren Erwägungen beruht, verbleibt für den dazwischen liegenden Bereich eine breite Spanne für die Bewertung. Die Verwendung der vagen Formel von der objektiven Willkür wird deshalb mitunter als dogmatisches Defizit beanstandet. Die hierbei zu Tage tretenden Unterschiede lösen immer wieder den schon bei Bettermann zu findenden Vorwurf aus, das Abstellen auf Willkür sei selbst Willkür. 45 Es verwundert daher nicht, daß in diesem Zwischenbereich die von der Rechtsprechung entschiedenen Fälle k a u m verallgemeinerungsfähige einheitliche Linien erkennen lassen. Neben Urteilen, die die Annahme der objektiven Willkür auf krasse Ausnahmefälle beschränken, 4 6 finden sich solche, die meist unter Verwendung der gleichen Formeln von der völligen U n vertretbarkeit und der offensichtlichen Unvereinbarkeit mit der Rechtsordnung die Grenzen niedriger ansetzen. Hier mag das Bestreben der Gerichte höherer O r d n u n g mit hereinspielen, den Neigungen der Untergerichte entgegenzuwirken, ihrer gestiegenen Geschäftsbelastung durch Verweisungen
43 Vgl BGH St 45, 38 = JZ 2000, 213 mit Anm. Bernsmann; Löwe-Rosenberg/Hanack § 338 Rn 70 ff. 44 Vgl etwa OLG Karlsruhe JR 1991, 37 mit Anm. Gollwitzer, wo der Strafrichter in Erwartung des mit dem Verteidiger abgesprochenen Geständnisses die zum Schöffengericht angeklagte Sache vor sich als Einzelrichter eröffnete und dann bei dessen Ausbleiben die Sache an die Strafkammer verwies. 45 Etwa Leisner NJW 1980, 2246, 2248; Felsch NStZ 1996, 162 m w N . 46 Vgl etwa OLG Karlsruhe StV 1998, 252.
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abzuhelfen.47 Solche Korrekturtendenzen zeigten sich etwa, als die Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen Strafrichter und Schöffengericht48 durch Gesetzesänderungen strittig wurden. Objektive Willkür wurde bejaht, weil eine Anklage zu dem sachlich nicht zuständigen Landgericht nur den Zweck hatte, die Verbindung mit einer dort in der Berufungsinstanz anhängigen anderen Strafsache zu ermöglichen. 49 Sie wurde ferner angenommen, wenn die Bejahung der Zuständigkeit des Landgerichts sich soweit von den vorgegebenen gesetzlichen Maßstäben entfernt hatte, daß sie unter keinem Gesichtspunkt mehr vertretbar erschien. 50 Die Meßlatte für die Verletzung des gesetzlichen Richters wurde dagegen deutlich höher angesetzt, wenn keine Fehlentwicklung befürchtet wurde, weil es sich erkennbar nur um den Einzelfall einer irrtümlichen Entscheidung handelte. So wurde objektive Willkür verneint, wenn versehentlich die große statt der kleinen Strafkammer über die Berufung entschieden hatte.51 3. Wegfall der Bindung bei grob fehlerhafter Anwendung des einfachen Rechts ? a) Nach der bei § 281 ZPO herrschenden Meinung entfällt dort die im Gesetz ausdrücklich festgelegte Bindung schon bei groben Fehlern des verweisenden Gerichts. Das Richterrecht, auf das sich diese Ansicht stützt, hat sich, soweit ersichtlich, mit weitgehender Billigung des Schrifttums52 als Fallrecht präter, wenn nicht sogar contra legem entwickelt. Im Strafprozeß ist es mit den Anliegen der §§ 269, 270 StPO schlecht vereinbar, zur leichteren Eindämmung ungerechtfertigter Verweisungen den Wegfall der Bindung auch auf Verweisungen auszudehnen, bei denen nur einfaches Recht grob fehlerhaft angewendet wurde. Wegen der besonderen Struktur des Strafverfahrens ist es unter dem Blickwinkel der Verfahrensbeschleunigung und der Prozeßwirtschaftlichkeit sinnvoll, gerade den fehlerhaften Verweisungen endgültigen Bestand zu verleihen und ihre Wirksamkeit von jedem weiteren Streit auszunehmen. Erfordert doch jede Verweisung wegen § 261 StPO den völligen Neubeginn der Hauptverhandlung einschließlich der gesamten Beweisaufnahme. Dieser, alle Verfahrensbeteiligten, nicht zuletzt auch den Angeklagten psychisch und materiell be-
47 Bei § 281 ZPO wird von ähnlichen Tendenzen berichtet, vgl etwa Fischer NJW 1993, 2417, 1218; MDR 2000, 684, lender NJW 1991, 2947 (grenzenlose Phantasie der Richter bei der Verneinung ihrer Zuständigkeit). 48 Etwa OLG Düsseldorf NStZ-RR 1996, 41 ; JMBINW 1996, 47, OLG Oldenburg MDR 1994, 1139; LG Köln StV 1996, 591; andererseits OLG Karlsruhe StV 1998, 252; zur Problematik H. Schäfer DRiZ 1997, 168 49 BGHSt 38, 172; BGH NStZ 1992, 397 50 BGHSt. 38, 212; 40, 120, 122; BGH StV 1995, 620; NStZ 1999, 578. 51 OLG Düsseldorf MDR 1993, 459. 52 Vgl aber auch bei § 281 ZPO die Einwände von Scherer ZZP 110 (1997) 169, 180.
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lastende Aufwand würde bei mehrfachen Verweisungen immer neu anfallen, so etwa, wenn nach einer Zurückverweisung später erneut die Verweisung an das höhere Gericht notwendig wird. Um den reibungslosen Fortgang des Verfahrens zu sichern, hat der Gesetzgeber bewußt die Befugnis des Gerichts höherer Ordnung zur Kontrolle der Verweisung ausgeschlossen und dafür seine sachliche Auffangzuständigkeit begründet. Dies spricht dagegen, diesen Gesetzeszweck dadurch auszuhebeln, daß durch Richterrecht eine auch die Anwendung des einfachen Rechts umfassende Kontrollbefugnis durch die Hintertür wieder eingeführt wird. Die verbesserte Möglichkeit der Korrektur fehlerhafter Verweisungen würde mit erheblichen Verfahrensverzögerungen und einem Aufwand erkauft, der sich bei Einschaltung des gemeinsamen oberen Gerichts zur Klärung der Zuständigkeitsfrage noch beträchtlich erhöht. Vor allem aber belastet jede Auflockerung der Bindung des höheren Gerichts das weitere Verfahren mit erheblichen Risiken. Soweit § 269 StPO bei fehlerhaften Verweisungen die sachliche Zuständigkeit des höheren Gerichts nicht mehr bindend begründet und damit außer Streit stellt, greift dessen uneingeschränkte Pflicht ein, sie von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen. Im gleichen Maße, wie man seine Bindung durch § 269 StPO lockert, wird seine sachliche Zuständigkeit wieder angreifbar, dies eröffnet den Revisionsrügen neuen Raum.53 Es entspricht den Erfordernissen des Strafverfahrens besser, wenn man daran festhält, daß die Fixierung der Zuständigkeit durch § 269 StPO nur entfällt, wenn dies zur Wahrung des vorrangigen Verfassungsrechts unumgänglich ist. Zum groben Rechtsfehler bei der Verweisung muß also, was oft, aber nicht immer damit übereinstimmt, zugleich auch ein Verstoß gegen eine vorrangige Norm hinzukommen. In der Praxis steht hier der Verstoß gegen die Verfassungsgarantie des gesetzlichen Richters im Vordergrund jeder Prüfung. Einige der sich hier aufdrängenden Fragen sollen an Hand einiger häufiger vorkommenden Fallgestaltungen angesprochen werden. b) Häufig sind die Fälle einer verfrühten Verweisung. Mitunter wird schon die bloße Vermutung einer möglicherweise die Strafkompetenz übersteigenden Rechtsfolge zum Anlaß für eine Verweisung genommen, obwohl noch ungeklärt ist, ob deren Voraussetzungen wirklich vorliegen. Dies verstößt gegen das Verfahrensrecht, das verlangt, daß das Verfahren zunächst weitergeführt wird, bis alle für eine etwaige Verweisung maßgebenden Tatsachen aufgeklärt sind, mitunter also sogar bis zur Schuldspruchreife.54 Die durch 53 Der Rechtsfehler könnte zumindest mit der Revision gerügt werden, sofern man nicht der Ansicht folgt, daß er von Amts wegen zu beachten ist. 54 Vgl etwa OLG Düsseldorf NStZ 1986, 426; JMB1NW 1992, 57; OLG Karlsruhe JR 1991, 36; OLG Zweibrücken NStZ-RR 1998, 280; LG Berlin StV 1996, 16; enger BGH bei Kusch NStZ 1992, 29; OLG Frankfurt StV 1996, 533; OLG Karlsruhe Justiz 1988, 74; vgl Kiemknecht/Meyer-Goßner StPO § 270 Rn 10.
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eine verfrühte Verweisung betroffenen Gerichte höherer Ordnung sind hier leicht geneigt, ihre Bindung abzulehnen. Hält man daran fest, daß die Bindung nur bei einer Kollision mit vorrangigem Verfassungsrecht entfällt, muß gefragt werden, ob schon in der verfrühten Verweisung allein ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegen kann. Könnte sich doch das Gericht, an das verfrüht verwiesen wurde, im Endergebnis zutreffend als der gesetzliche Richter erweisen. Bei der Frage, welches Gericht als gesetzlicher Richter das Verfahren (zunächst) durchzuführen hat, darf aber nicht auf das offene Endergebnis abgestellt werden. Es kommt darauf an, ob die Würdigung aller erkennbaren Umstände ex ante ergibt, daß die Sache in die Aburteilungskompetenz eines Gerichts höherer Ordnung fällt. Dann ist die Verweisung geboten. Wegen der Zuständigkeitsfixierenden Wirkung des § 269 StPO ist es dann unschädlich, wenn später diese Annahme wieder entfallen sollte. Umgekehrt bleibt das durch den Eröffnungsbeschluß wirksam befaßte Gericht solange der alleinige gesetzliche Richter, bis die konkreten Ergebnisse des vor ihm weiterzuführenden Verfahrens belegen, daß die Voraussetzungen für die Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung mit der dafür erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit gegeben sind. Eine verfrühte Verweisung widerspricht in solchen Fällen nicht nur dem einfachen Recht, sondern hat auch zur Folge, daß sie den Angeklagten zunächst und - wenn der weitere Verfahrensverlauf vor dem höheren Gericht sie nicht nachträglich legitimiert - auch endgültig seinem gesetzlichen Richter entzieht. Nicht jede als verfrüht erscheinende Verweisung ist aber ein objektiv willkürlicher Verstoß gegen Art 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Bei der meist von Wertungen und Prognosen abhängigen Einschätzung ist es mitunter schwierig, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, an dem die Verweisung zulässig, dann aber auch geboten ist. 55 Dem verweisenden Gericht muß deshalb ein nicht zu enger Beurteilungsspielraum zuerkannt werden. Fehlerhafte Einschätzungen, die nicht außerhalb der vertretbaren Normanwendung liegen, sind keine Willkür. Sie verstoßen nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, die Verweisung ist auch dann bindend und zuständigkeitsbegründend. Erst jenseits dieser von der Verfahrenslage des Einzelfalls abhängigen Grenze ist ein Verfassungsverstoß durch eine verfrühte Verweisung denkbar. In solchen Ausnahmefällen kann sich der Verfassungsverstoß mitunter schon aus der subjektiven Willkür ergeben, weil die fehlerhafte Verweisung ersichtlich allein von sachfremden Erwägungen bestimmt war, so etwa, wenn eine Sache sofort nach Beginn einer Hauptverhandlung verwiesen wurde, die nicht zum Zwecke einer ernsthaften Verhandlung anberaumt worden war, sondern unter Umgehung des § 225a StPO dazu dienen sollte, nur die Voraussetzungen für eine bindende Verweisung nach § 270 StPO herbeizuführen. 56 Eine Ver55 56
Vgl Rieß GA 1976, 1, 19; Franke NStZ 1999, 524. Vgl OLG Zweibrücken MDR 1992, 178 (die Zeugen waren gar nicht geladen worden).
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letzung des gesetzlichen Richters wurde auch angenommen, wenn wegen des Verbotes der Verschlechterung eine höhere Strafe gar nicht in Frage kam 57 oder wenn die Verweisung mit der Möglichkeit einer Unterbringung begründet wurde, obwohl deren tatsächliche Voraussetzungen offensichtlich nicht vorlagen. 58 Objektive Willkür wurde verneint, wenn sich das verweisende Gericht durch eine teilweise Beweisaufnahme eine ausreichende Beurteilungsgrundlage geschaffen hatte 59 oder wenn sich der Tatrichter noch im Rahmen seines weiten Prognosespielraums hielt und von keiner offensichtlich unvertretbaren Annahme ausging.60 c) Kann mangels einer ausreichenden Begründung des Verweisungsbeschlusses nicht beurteilt werden, auf welcher gesetzlichen Grundlage er beruht und ob er frei von Willkür ist, wird bei § 281 ZPO eine Bindung verneint. 61 Bei den §§ 269, 270 StPO sollte man dies nicht übernehmen. 62 Hält man daran fest, daß hier die Bindung nur entfällt, wenn dies zur Wahrung von vorrangigem Verfassungsrecht unerläßlich ist, erreicht eine Verweisung mit unzureichender oder fehlender Begründung für sich allein diese Schwelle in der Regel nicht. O b ein Gericht gesetzlicher Richter ist, hängt primär davon ab, ob nach der objektiven Rechtslage seine Zuständigkeit gegeben ist, und nicht davon, ob die verweisende Entscheidung dies in ihrer Begründung ausreichend darlegt. Verfassungsrecht kann zwar in Ausnahmefällen die Begründung einer Entscheidung fordern, so wenn bei einer eindeutig dem Gesetz widersprechende Entscheidung ihr tragender Grund weder aus ihr noch aus den sonstigen Umständen für die Verfahrensbeteiligten ersichtlich ist und der sich deshalb aufdrängende Verdacht der Willkür auch nicht anderweitig ausgeräumt werden kann. 63 Hält sich ein Verweisungsbeschluß, der keiner über die Anforderungen des § 270 Abs. 2 StPO hinausgehenden Begründung bedarf, formal im Rahmen des Gesetzes und verstößt er auch nicht wegen der offensichtlichen Unhaltbarkeit seines Inhalts gegen die Garantie des gesetzlichen Richters, reicht der Umstand, daß er den Grund für die Verweisung nicht oder nur unzureichend dargelegt, für sich allein nicht aus, um die Bindungswirkung zu verneinen. Dies kann auch nicht mit dem Argument gerechtfertigt werden, daß mangels Begründung bei einer objektiv fehlerhaften Verweisung nicht beurteilt werden LG Bremen StV 1992, 523; LG Berlin StV 1996, 16. OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 42. 59 OLG Stuttgart Justiz 1999, 403. 60 OLG Karlsruhe StV 1998, 252 (wegen Bewertungsspielraums keine Willkür). 61 Weitgehend hM; etwa BayObLG NJW-RR 1994, 891; KG M DR 1993, 176; OLG München M DR 1980, 1029; Fischer NJW 1993, 2417, 2421; Zöller/Greger ZPO § 281 Rn 17 mwN, zweifelnd Stein/Jonas/Leipold ZPO § 281 Rn 30; aA Scherer ZZP 110 (1997) 169, 177;. 62 In diese Richtung OLG Koblenz StV 1996, 588. « Vgl BVerfG 71, 122, 133; BVerfG NJW 1996, 1336; OLG Koblenz StV 1996, 588. 57 58
Die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses nach § 270 StPO
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kann, ob sie auf einem hinzunehmenden Rechtsfehler oder aber auf Willkür beruht. 64 d) Wird vor Erlaß des Verweisungsbeschlusses das rechtliche Gehör verletzt, weil die gebotene Anhörung unterblieb, läßt dies, ebenso wie andere Verfahrensfehler, nicht notwendig die Bindungswirkung entfallen. 65 Das Gericht höherer Ordnung wird durch die Verweisung zum gesetzlichen Richter, ohne selbst gegen Art. 101 Abs.l Satz 2 GG zu verstoßen. Nur weil dann zumindest theoretisch nicht auszuschließen ist, daß die unterbliebene Anhörung die Unhaltbarkeit der Verweisung aufgezeigt hätte, muß es, um jedes Verfahrensrisiko auszuschließen, die Anhörung nachholen. Ergibt diese, daß seine Zuständigkeit zu Recht oder auf Grund einer zumindest vertretbaren Auffassung begründet wurde, steht außer Frage, daß es sachlich zuständiges Gericht geworden ist und das Verfahren weiterzuführen hat. Der Bestand der späteren Sachentscheidungen wird durch die nachträglich geheilte Verletzung des Rechts auf Gehör nicht mehr gefährdet. Es würde jeder Verfahrensökonomie widersprechen, allein wegen der Gehörsverletzung die Sache a limine zurückzuverweisen, nur damit dann das Gericht niedrigerer Ordnung nach formaler Anhörung des Angeklagten und der anderen Verfahrensbeteiligten die Sache wieder an das Gericht höherer Ordnung verweisen müßte. Lediglich wenn ausnahmsweise die nachgeholte Anhörung ergibt, daß das verweisende Gericht die Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung objektiv willkürlich verkannt hat, so daß dieses das Verfahren nicht als gesetzlicher Richter weiterführen darf, würde feststehen, daß der Verweisungsbeschluß nicht bindet und der dann gebotenen Zurückverweisung nicht entgegensteht. Wollte man annehmen, daß allein wegen der Verletzung des Rechts auf Gehör die Bindung entfällt, würde dies am Ergebnis nichts ändern, sofern man daran festhält, daß das Gericht höherer Ordnung zur Prüfung seiner Bindung die Anhörung nachholen muß und daß es erst danach entscheiden kann, ob es als zuständig gewordenes Gericht das Verfahren nach § 269 StPO fortzuführen hat oder ob es dies nicht darf, weil dem Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entgegensteht. Bei § 281 ZPO vertreten Rechtsprechung und Schrifttum die Ansicht, daß schon die Verletzung des Recht auf Gehör die Bindung durch den im übrigen als wirksam angesehenen Verweisungsbeschluß beseitigt und die Zurückverweisung erlaubt, da aus Gründen der Prozeßökonomie dem Gericht höherer Ordnung nicht zugemutet werden könne, ungeachtet eines den Bestand seines Urteils gefährdenden Verfassungsverstoßes die Sache zu Ende zu verhandeln.66 So BayObLG NJW-RR 1994, 891. Vgl BVerfGE 61, 37, 40; ferner etwa BGH NJW 1989, 125. Stein/Jonas/Leipold ZPO § 281 Rn 31 mwN. 66 BGHZ 71, 70; Stein/Jonas/Leipold ZPO § 281 Rn 31 ; weitgehend hM; kritisch Scherer ZZP 110 (1997) 176. 64
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Soweit dies unter Hinweis auf BVerfGE 61,37,40 geschieht, wird außer acht gelassen, daß das Bundesverfassungsgerichts damals die Verweisung als bindend und jeder Korrekturmöglichkeit des Gericht höherer Ordnung entzogen ansah und deshalb auf die Möglichkeit einer nachträglichen Heilung nicht einging. Allerdings liegt bei § 281 ZPO die Zurückverweisung wegen dieses Verfahrensfehlers auf der Linie der wohl herrschenden Meinung, nach der jeder grobe Rechtsfehler und nicht etwa nur ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 G G die Bindungswirkung beseitigt und die Zurückverweisung rechtfertigt. 67 e) Zusammenfassend ist zu wiederholen, daß die Ausweitung der Gründe für den Wegfall der Bindung, wie sie sich bei § 281 Z P O herausgebildet hat, für den Bereich der StPO nicht übernommen werden sollte. Die besondere Struktur des Strafverfahrens spricht dafür, die Ausnahmen von dem Grundsatz des § 269 StPO eng auf die Fälle zu begrenzen, in denen dies unerläßlich ist, um vorrangigen Forderungen des Verfassungsrechts zu genügen. Aus der Sicht eines von ungerechtfertigten Verweisungen betroffenen Gerichts höherer Ordnung mag es zwar manchmal verlockend erscheinen, den Wegfall der Bindung und die Befugnis zur Zurückverweisung losgelöst von den mit dem Abstellen auf objektive Willkür verbundenen Schwierigkeiten und Einschränkungen schon bei jeder als grob fehlerhaft angesehenen Verweisung bejahen zu können. 6 8 Dies könnte die Abwehr ungerechtfertigter Verweisungen erleichtern. Auch dann bliebe es aber eine durch allgemeine Grundsätze nur schwer einzugrenzende Bewertungsfrage im Einzelfall, welchem Fehler ein solches Gewicht beizumessen ist. Vielfach müßte als allgemeine Richtschnur doch wieder auf die Auswirkungen auf die Garantie des gesetzlichen Richters zurückgegriffen werden. Die verbesserte Möglichkeit der Korrektur fehlerhafter Verweisungen würde mit erheblichen Verfahrensverzögerungen, einem prozeßunwirtschaftlichen Mehraufwand und vor allem mit einem bis in das Revisionsverfahren hineinreichenden Verlust an Rechtssicherheit erkauft. Der vernünftige Gesetzeszweck, fruchtlose Zuständigkeitsstreitigkeiten auszuschließen und die Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung für das weitere Verfahren außer Zweifel zu stellen, würde ausgehöhlt. Soweit daher nicht höherrangiges Verfassungsrecht den Anwendungsbereich § 269 StPO einschränkt, sollte er bei allen anderen fehlerhaften Verweisungen die Zurückverweisung ausschließen.
6 7 Die Kommentaren zu § 281 ZPO oder zu § 83 VwGO reihen diesen Verstoß in die meist rein deskriptiv aufgelisteten Fehler ein, vgl etwa Baumbach/Lauterbach/Hartmann ZPO § 281 Rn 38ff; Münchner Kommentar/Prutting ZPO § 281 Rn 55ff; Zöller/Greger ZPO § 281 Rn 17; Kopp/Schenke VwGO § 83 Rn 15. 68 Vgl etwa die weitgehend deskriptive Auflistung der Fälle in einigen Kommentaren zu § 281 ZPO oder zu § 83 VwGO, etwa Münchner Kommentar//Υκ«/«£ ZPO § 281 Rn 55 ff; Kopp/Schenke VwGO § 83 Rn 15.
Molekulargenetische Untersuchung und Revision KIRSTEN
GRAALMANN-SCHEERER
I. E i n f ü h r u n g Der Gesetzgeber hat mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz - DNAAnalyse („genetischer Fingerabdruck") - (StVÄG) vom 17 3.19971 die Rechtsgrundlagen für die Anordnung und Durchführung molekulargenetischer Untersuchungen unter enger Zweckbindung, nämlich zur Feststellung der Abstammung oder der Tatsache, ob aufgefundenes Spurenmaterial von dem Beschuldigten oder Verletzten stammt, geschaffen. Mehrere spektakuläre Sexualdelikte und Tötungsdelikte mit Sexualbezug z.N. von Kindern führten Anfang 1998 zu einer breiten öffentlichen Diskussion über die Effektivität der Strafverfolgung von Sexualstraftätern. Der Gesetzgeber reagierte darauf mit dem DNA-Identitätsfeststellungsgesetz vom 7 9. 19982 und schuf ohne ausreichende Beteiligung der Landesjustiz- und Landesinnenverwaltungen Rechtsgrundlagen für die Entnahme von Körperzellen und die molekulargenetische Untersuchung zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Verfahren sowohl für laufende Verfahren nach § 81g StPO (Vorwärts-Erfassung) als auch für sogenannte Altfälle nach § 2 DNAIFG (Retrograd-Erfassung). Schon bald ergaben sich für die Strafverfolgungsbehörden mit der Umsetzung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes in der Praxis erhebliche praktische und auch rechtliche Probleme (z.B. Zuständigkeit für die Anordnung nach § 2 Abs. 1 DNA-IFG durch Ermittlungsrichter, Tatgericht, Strafvollstreckungskammer oder gar Verwaltungsgericht; Anforderungen an die sogenannte Negativprognose nach § 81g Abs. 1 StPO bzw. § 2 DNA-IFG; Einwilligungslösung oder Richtervorbehaltslösung?). Mit dem Gesetz zur Änderung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes vom 2. 6. 19993 hat der Gesetzgeber versucht, die Probleme zu lösen, was allerdings nur unvollständig gelungen ist. Mit dem Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts - Strafverfahrensänderungs-Gesetz 1999 (StVÄG 1999) - vom 2 . 8 . 20 004 ist durch Art. 10 das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz ein weiteres Mal geändert und Bedürf1 2 3 4
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nissen der Praxis angepaßt worden, indem gesetzliche Grundlagen für die (zeitlich befristete) Einholung einer Sammelauskunft durch die Staatsanwaltschaft (§ 2 a DNA-IFG), die entsprechende Datenübermittlung (§ 2b DNA-IFG), die Verwendung und Löschung der übermittelten Daten sowie den Abgleich mit der beim Bundeskriminalamt geführten Haftdatei nach § 9 Abs. 2 BKAG geschaffen worden sind. Nachdem sich die mit der molekulargenetischen Untersuchung nach § 81 e Abs. 1 Satz 1, Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, § 81g Abs. 1 StPO, § 2 Abs. 1 DNAIFG verbundenen Fragestellungen bislang weitgehend auf die Uberwindung praktischer Probleme durch Schaffung geeignet erscheinender Rechtsgrundlagen konzentriert haben, ist nunmehr damit zu rechnen, dass die Revisionsgerichte schon in absehbarer Zeit Gelegenheit bekommen werden, sich zu möglichen Verfahrensfehlern im Zusammenhang mit der molekulargenetischen Untersuchung zu äußern. Mit diesem Beitrag soll der Versuch unternommen werden, für die am Strafverfahren Beteiligten Möglichkeiten und Grenzen einer revisionsgerichtlichen Kontrolle im Zusammenhang mit der Anordnung und Durchführung der molekulargenetischen Untersuchung aufzuzeigen.
II. Verfahrensfehler bei der A n o r d n u n g und D u r c h f ü h r u n g der molekulargenetischen Untersuchung und deren Auswirkungen auf die Beweisverwertung Mängel bei der Anordnung und Durchführung der molekulargenetischen Untersuchung stellen regelmäßig Verfahrensfehler dar. Das bedeutet für den Revisionsführer, dass in dem Revisionsvortrag die den Verfahrensmangel enthaltenden Tatsachen nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO mitgeteilt werden müssen. Dies muss so genau und vollständig erfolgen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung in die Lage versetzt wird, über die Zulässigkeit und Begründetheit der Verfahrensrüge zu entscheiden, vorausgesetzt die behaupteten Tatsachen sind erwiesen.5 Verfahrensmängel im Zusammmenhang mit der molekulargenetischen Untersuchung erfordern daher je nach Stoßrichtung der Rüge ein unterschiedliches Rügevorbringen. Die nachfolgenden Erörterungen beschäftigen sich ohne Anspruch auf Vollständigkeit mit den Anforderungen an das Rügevorbringen und den Erfolgsaussichten einzelner Verfahrensrügen.
5 BGHSt 3, 213,214; 40, 3, 5; Löwe-Rosenberg/Hanack § 344 Rn 75 ff; YJL-Kuckein § 344 Rn 38ff; YAánkntcbt/Meyer-Goßner% 344 Rn 20ff.
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1. Verstoß gegen den Richtervorbehalt des § 81f Abs. 1 Satz 1 StPO a) Die bereits mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz - DNA-Analyse („genetischer Fingerabdruck") - (StVÄG) vom 17 3. 1997 eingeführte Vorschrift des § 81 f StPO hat erst nach Inkrafttreten des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes vom 7. 9. 1998 vor dem Hintergrund der Retrograd-Erfassungen nach § 2 Abs. 1 DNA-IFG in Rechtsprechung 6 und Schrifttum 7 zu einer nach wie vor anhaltenden Diskussion geführt, ob die richterliche Anordnung nach § 81 f Abs. 1 Satz 1 StPO durch eine Einwilligung des Betroffenen ersetzt werden kann. Ein Verstoss gegen den Richtervorbehalt nach § 81 f Abs. 1 Satz 1 StPO kann aber nicht nur in den Fällen vorliegen, in denen die richterliche Anordnung durch eine Einwilligung des Betroffenen für kompensationsfähig erachtet wird, sondern auch in solchen Fällen, in denen eine richterliche Anordnung fehlt, weil die Anordnung der molekulargenetischen Untersuchung durch die dazu nicht berufene Staatsanwaltschaft oder deren Hilfsbeamte getroffen worden ist. Die von weiten Teilen der Praxis vor allem aus verfahrensökönomischen und weniger aus rechtlichen Gründen favorisierte sogenannte Einwilligungslösung wirft die Frage auf, ob das Ergebnis einer ohne richterliche Anordnung durchgeführten molekulargenetischen Untersuchung von Material des Beschuldigten oder von Dritten im Verfahren verwertbar ist. In der Kommentarliteratur wird hierzu ohne nähere Begründung und Differenzierung die Auffassung vertreten, das Ergebnis einer ohne richterliche Anordnung durchgeführten molekulargenetischen Untersuchung von Material des Beschuldigten unterliege einem Beweisverwertungsverbot. 8 6
Richterliche Anordnung nach § 81 f Abs 1 Satz 1 StPO entbehrlich bei Einwilligung des Betroffenen: LG Stralsund Beschluss vom 3. 6. 1999 - III Qs 96/99; LG Hamburg Beschluss vom 31. 8. 1999 - 612 Qs 81/99; LG Göttingen Beschluss vom 15. 9. 1999 - 1 Qs 185/99; LG Hamburg StV 2000, 660 mit abl. Anm. Busch; AG Hamburg StV 2001, 11; LG Hamburg NJW 2001, 766; LG Saarbrücken StV 2001, 265; Richtervorbehalt: LG Nürnberg-Fürth Beschluss vom 22. 7. 1999 - 1 Q s 26/99; LG Ansbach Beschluss vom 23. 4. 1999 - Q s 15/99; OLG Celle NStZ 1999, 210; Thür. OLG StV 1999, 198; OLG Zweibrücken NJW 1999, 300 = NStZ 1999, 209; LG Hamburg StV 2000, 659; LG Wuppertal NJW 2000, 2687 7 Richterliche Anordnung nach § 81 f Abs 1 Satz 1 StPO entbehrlich bei Einwilligung: Sprenger/Fischer NJW 1999, 1830; Markwardt/Brodersen NJW 2000, 692; einschränkend Kopf Selbstbelastungsfreiheit und Genomanalysen im Strafverfahren (1998) S. 185 ff, 191 (Einwilligung nur dann freiwillig, wenn eine entsprechende Norm, welche unter gleichen Voraussetzungen zur zwangsweisen Durchsetzung der von der Person erbetenen Handlung berechtigt, nicht vorhanden ist); Richtervorbehalt: Senge NJW 1999, 253, 255; GraalmannScheerer]K 1999, 453, 455 und Kriminalistik 2000, 328, 330ff; Ohler StV 2000, 326, 327; Rinio JR 2001, 168; Golumhiewski NJW 2001, 1036; wohl auch Volk NStZ 1999, 165, 169. 8 So SK-Rogali § 81 f Rn 18; Pfeiffer $ 81 f Rn 3; differenzierend offenbar Kleinknecht/ Meyer-Goßner § 81 f Rn 9 (Ergebnisse einer ohne Anordnung des Richters vorgenommenen Untersuchung von Spurenmaterial des Beschuldigten sind unverwertbar) und demgegenüber aber § 81g Rn 17 (Einverständnis des Beschuldigten in die molekulargenetische Untersuchung ist ausreichend und macht richterliche Anordnung entbehrlich).
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Ohne eine richterliche Anordnung ist schon die Beweiserhebung, nämlich die Durchführung der molekulargenetischen Untersuchung von entnommenen Körperzellen, unzulässig. Zwar vermag nicht jeder Verstoss gegen ein Beweiserhebungsverbot ein Beweisverwertungsverbot zu begründen. 9 Auch greift ein Beweisverwertungsverbot nicht erst dann durch, wenn ein Verstoss gegen ein Beweiserhebungsverbot vorliegt. Die Strafprozessordnung trifft nämlich gerade keine abschließende Regelung über die Beweisverwertungsverbote. 10 O b letztlich ein Verwertungsverbot besteht, richtet sich vielmehr nach der Sachlage und der Art des Verbots. Beweisverwertungsverbote können sich dabei auch unmittelbar aus der Verfassung ergeben. 11 Ein aus der Verfassung zu begründendes Verwertungsverbot könnte sich bei einem Verstoss gegen den Richtervorbehalt des § 81 f Abs. 1 Satz 1 StPO aus der Intensität der mit der Maßnahme verbundenen Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG 1 2 oder Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 GG ergeben. Folgt man dieser Auffassung, so würde ein Beweisverwertungsverbot dann durchgreifen, wenn etwa Staatsanwaltschaft oder deren Hilfsbeamte gegen den eindeutigen Wortlaut des § 81 f Abs. 1 Satz 1 StPO die molekulargenetische Untersuchung angeordnet haben, also wenn ein Verstoss gegen die Anordnungskompetenz gegeben ist. O b die obergerichtliche Rechtsprechung allerdings in solchen Fällen stets ein Verwertungsverbot bejahen wird, erscheint eher zweifelhaft. Vielmehr wird wohl damit zu rechnen sein, dass auf den Einzelfall abgestellt werden wird.13 Offen bleibt aber die Frage, ob ein Beweisverwertungsverbot wegen Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung oder wegen Verletzung von Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 GG gegeben ist, wenn der Betroffene nach umfassender Belehrung (wirksam) in die molekulargenetische Untersuchung der ihm entnommenen Körperzellen eingewilligt hat. Die Entscheidung für oder gegen ein Beweisverwertungsverbot wird hier - da es 9 Löwe-Rosenberg/ Gössel Einl. Abschn. Κ Rn 120 ff; KK-Pfeiffer Einl. 120 ff; Eisenberg Beweisrecht der StPO, Rn 362; BGHSt 19, 325, 331. 10 BGHSt 19, 325, 329; 31, 304, 307 f. " BGHSt 31, 304, 308. 12 BVerfGE 65, 1, 41 ff; vgl auch Gössel Genetische Untersuchungen als Gegenstand der Beweisführung im Strafverfahren, in: Taschke/Breidenstein (Hrsg.) Die Genomanalyse im Strafverfahren (1995) S. 112, 127 ff; Keller Die Genomanalyse im Strafverfahren, in: Taschke/ Breidenstein (Hrsg.) S. 160,168 ff; Klumpe Rechtspolitische Empfehlungen in Form zusammenfassender Thesen, in: Taschke/Breidenstein (Hrsg.) S. 265; Klumpe Der „genetische Fingerabdruck" im Strafverfahren (1993) S. 127ff; FoldenauerGenanalyse im Strafverfahren (1995) S. 51 ff; Sternberg-Lieben GA 1990, 289, 298 („Recht auf gen-informationelle Selbstbestimmung"); Hother Die DNA-Analyse - Ihre Bedeutung für die Strafverfolgung und ihr Beweiswert im Strafverfahren (1995) S. 30ff. 13 Vgl BGHSt 31, 304, 308 (zum Beweisverwertungsverbot bei Verstoss gegen die Zuständigkeitsregelung des § 100b Abs 1 StPO).
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sich wohl nicht um einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG handeln dürfte - aufgrund einer umfassenden Abwägung zu treffen sein, bei der das Gewicht des Verfahrensverstosses sowie dessen Bedeutung für die rechtlich geschützte Sphäre des Betroffenen ebenso ins Gewicht fallen wie die Erwägung, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis erforscht werden muss. 14 Das Interesse an einer möglichst umfassenden Wahrheitsermittlung im Strafverfahren und die Aufklärung schwerer Straftaten als wesentlicher Auftrag eines Rechtsstaats15 vermögen grundsätzlich einen Eingriff in Grundrechte eines Beschuldigten einschließlich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung zu rechtfertigen, sofern das Grundgesetz eine Einschränkung des Grundrechts zuläßt, dessen Wesensgehalt nicht angetastet wird und der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt wird. Auch kann der Grundrechtsinhaber in den Grundrechtseingriff einwilligen, sofern nicht der unantastbare Kernbereich betroffen ist.16 Ein aus der Verfassung herzuleitendes Beweisverwertungsverbot liegt aber jedenfalls dann nahe, wenn die verletzte Verfahrensvorschrift (hier: § 81 f Abs. 1 Satz 1 StPO) auch darauf abzielt, die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren zu sichern. Der Richtervorbehalt in § 81 f Abs. 1 Satz 1 StPO dient nicht nur der Gewährleistung verfahrenssichernder Maßnahmen, wie etwa der Anonymisierung des Untersuchungsmaterials und der Festlegung, dass die molekulargenetische Untersuchung nur durch qualifizierte und zuverlässige, der datenschutzrechtlichen Kontrolle unterliegende Sachverständige durchgeführt wird,17 sondern vor allem auch der Gewährleistung des sich aus dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 14 Abs. Buchst, g IPBPR, Art. 6 MRK) ergebenden nemo-teneturGrundsatzes als Grundlage der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten.18 Der Gesetzgeber hat die Anordnung der molekulargenetischen Untersuchung gerade wegen der Intensität des Eingriffs in die Rechte eines Beschuldigten und der weiteren verfahrenssichernden Maßnahmen bewußt dem Richtervorbehalt unterstellt.19 Dabei hat er keine Differenzierung hinsichtlich eines absoluten Richtervorbehalts für die Fälle des § 81 e Abs. 1 Satz 1 und 2 und Abs. 2 StPO und eines relativen Richtervorbehalts für die Fälle des § 81g Abs. 1 StPO und § 2 DNA-IFG vorgenommen, 20 sondern generell die Anordnung der molekulargenetischen Untersuchung dem Richter übertragen.21 '« BGHSt 38, 215, 219 ff; 38, 372, 373 f . 15 BVerfGE 77, 65, 76. 16 Vgl MauriziDimglHerzog Art. 1 Abs 1 G G Rn 22 und A n . 2 Abs 1 G G Rn 36. 17 BTDrucks 13/10791 S. 5. 18 Graalmann-Scheerer JR 1999, 453, 455. " BTDrucks 13/10791 S. 5. 20 Vgl Rinio JR 2001, 169. 21 Anders offenbar YAeinknecht! Meyer-Goßner % 81 f Rn 9 und § 81g Rn 17, vgl insoweit auch Fn 8.
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Es bleibt nach alledem festzuhalten, dass ein Verstoss gegen den Richtervorbehalt des § 81 f Abs. 1 Satz 1 StPO in aller Regel sowohl in einem anhängigen als auch in einem künftigen Verfahren (§ 81g Abs. 1 StPO, § 2 Abs. 1 DNAIFG) zu einem Beweisverwertungsverbot von Verfassungs wegen (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 GG) hinsichtlich des ohne richterliche Anordnung erlangten DNA-Identifizierungsmusters führen wird. b) Will der Revisionsführer beanstanden, dass entgegen § 81 f Abs. 1 Satz 1 StPO nicht der Richter, sondern die Staatsanwaltschaft oder deren Hilfsbeamte die molekulargenetische Untersuchung angeordnet hat, so muss er im Hinblick auf § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO unter Mitteilung der konkreten, sich aus den Akten ergebenden Anordnung dartun, wer wann die Entnahme der Körperzellen und deren molekulargenetische Untersuchung angeordnet hat. Ist in die Körperzellenentnahme eingewilligt worden, so sind die Umstände insoweit im einzelnen mitzuteilen, aus denen sich die Wirksamkeit der Einwilligung in die Körperzellenentnahme ergibt. Weiter muss der Revisionsführer angeben, zu welchem Ergebnis die molekulargenetische Untersuchung geführt hat und dass das Untersuchungsergebnis zur Beweisführung gegen den Angeklagten verwertet worden ist. Zwar muss in der Revisionsbegründung bei der Geltendmachung eines relativen Revisionsgrundes der ursächliche Zusammenhang zwischen Rechtsfehler und Entscheidung im allgemeinen nicht ausdrücklich dargelegt werden. 22 Vielmehr prüft das Revisionsgericht die Beruhensfrage aufgrund der Umstände des Einzelfalls von Amts wegen. Allerdings erscheinen Ausführungen zur Beruhensfrage stets dann zweckmäßig, unter Umständen sogar geboten, wenn es nach der Lebenserfahrung nicht wahrscheinlich ist, dass der Verfahrensfehler das Urteil beeinflusst hat. 23 Will der Revisionsführer ein Beweisverwertungsverbot geltend machen und dieses mit einem Verstoss gegen § 81 f Abs. 1 Satz 1 StPO iVm Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 MRK begründen, so hat er die genauen Umstände der Entstehung des umstrittenen Beweismittels, und zwar von der Entnahme der Körperzellen an bis zur Einführung erzielter Untersuchungsergebnisse hinsichtlich des DNA-Identifizierungsmusters in die Hauptverhandlung, anzugeben. Der Sachverhalt muss bei einem aus der Verfassung abgeleiteten Verwertungsverbot so detailliert angegeben werden, dass das Revisionsgericht allein aufgrund des Revisionsvortrags entscheiden kann, ob der unantastbare Kernbereich privater Lebensgestaltung oder der Abwägungsbereich betroffen ist.24 Das Revisions22
Löwe-Rosenberg/Hanack § 344 Rn 87; KK-Kuckein § 344 Rn 65; Sarstedt/Hamm 507; Herdegen NStZ 1990, 513, 517; BGH StV 1998, 523, 524. 23 Löwe-Rosenberg/Hanack § 344 Rn 87; KK-Kuckein § 344 Rn 65; BGH NStZ 1998, 369. 24 Sarstedt/Hamm Rn 943; BGH StV 1991, 147 (LS).
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vorbringen muss hinsichtlich des behaupteten Verfassungsverstosses den Begründungsanforderungen an eine Urteilsverfassungsbeschwerde in Strafsachen genügen. 25 2. Verstoss gegen das Schriftlichkeitsgebot nach § 81f Abs. 1 Satz 2 StPO Ein Verstoss gegen das Gebot der Schriftlichkeit nach § 81 f Abs. 1 Satz 2 StPO begründet grundsätzlich die Revision nicht. Die Rechtsgrundsätze zum Verstoss gegen das Schriftlichkeitsgebot bei der Überwachung der Telekommunikation (§ 100 b Abs. 2 Satz 1 StPO) sind insoweit entsprechend anzuwenden. Fraglich dürfte aber sein, ob auch bei einer willkürlichen Umgehung der Vorschrift eine entsprechende Verfahrensrüge nicht durchgreift. Sofern der Revisionsführer eine willkürliche Umgehung von § 81 f Abs. 1 Satz 2 StPO rügt, hat er die Umstände konkret anzugeben, aus denen sich die von ihm behauptete Willkür ergeben soll. Allgemeine Wertungen ohne ausreichende Tatsachenmitteilung reichen nicht aus. Ferner empfiehlt es sich, bei einer derartigen Rüge regelmäßig nähere Ausführungen zur Beruhensfrage zu machen. 3. Verstoss gegen die Bestimmung des Sachverständigen nach § 81f Abs. 1 Satz 2 StPO a) § 81 f Abs. 1 Satz 2 StPO schreibt weiter vor, dass die schriftliche Anordnung, also der Beschluss, durch den die molekulargenetische Untersuchung angeordnet wird, den mit der Untersuchung zu beauftragenden Sachverständigen bestimmen muss. 26 Nach der klaren gesetzlichen Regelung bedarf es der Bezeichnung der Person des Sachverständigen. 27 Damit soll sichergestellt werden, dass der Gutachtenauftrag nicht beliebig an einen anderen Sachverständigen oder gar als Auftragsarbeit an andere Einrichtungen (z.B. im Ausland) weitergegeben werden, die den Qualitätsstandards und Datenschutzvorschriften nach § 81 f Abs. 2 StPO nicht genügen. Hat der in dem Beschluss bestimmte Sachverständige die Untersuchung nicht durchgeführt, sondern - aus welchen Gründen auch immer - ein anderer Sachverständiger, so können Angeklagter, Staatsanwaltschaft oder Nebenkläger einen Antrag auf Vernehmung eines weiteren Sachverständigen nach § 244 Abs. 4 Satz 2 2.Hs. StPO stellen, wenn die Sachkunde des früheren (nicht beauftragten) Sachverständigen zweifelhaft ist, wenn dessen Gutachten von un25 Zu den Anforderungen an eine Urteilsverfassungsbeschwerde bei einem Beweisverbot von Verfassungs wegen vgl Eschelbach/Gieg/Schulz NStZ 2000, 565, 572. 26 Bula Der Kriminalist 1997; 348; aA Huber Kriminalistik 1997, 736. 27 So auch Kleinknecht / Meyer-Goßner% 81 f Rn 3; aA Huber Kriminalistik 1997, 736; KKSenge § 81 f Rn 3 (Auswahl des Sachverständigen im Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft, an deren Auswahl der Richter in seinem Beschluss gebunden sein soll).
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zutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen des früheren Sachverständigen überlegen sind. Lehnt das Gericht einen solchen Beweisantrag ab, so kann die fehlerhafte Ablehnung des Beweisantrags nach § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO gerügt werden. b) Das Rügevorbringen muss, um den Erfordernissen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zu genügen, den Inhalt des gestellten Beweisantrags sowie des gerichtlichen Ablehnungsbeschlusses im Wortlaut oder zumindest unter vollständiger Darlegung aller wesentlichen Tatsachen sinngemäß mitteilen. Des weiteren sind die Tatsachen anzugeben, aus denen sich die Fehlerhaftigkeit des Beschlusses ergibt. 28 Bei der Rüge der fehlerhaften Ablehnung eines Antrags auf Vernehmung eines weiteren Sachverständigen muss dargelegt werden, aufgrund welcher konkreten, dem Gericht bekannten Tatsachen die Sachkunde des Erstgutachters zweifelhaft war, inwieweit er von unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen ist oder über welche konkreten überlegenen Forschungsmittel der neue Sachverständige verfügt. c) Auch die Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO) kann in einem solchen Fall erhoben werden. Diese Rüge genügt nur dann den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, wenn in der Revisionsbegründung angegeben wird, welche konkreten Tatsachen (hier: Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters) das Gericht hätte aufklären müssen, welche für das Gericht erkennbaren genauen Umstände zu der Beweiserhebung gedrängt hätten, welches bestimmt bezeichnete, geeignete und erreichbare Beweismittel das Gericht hätte heranziehen müssen (hier: neuen Sachverständigen) sowie welcher für den Revisionsführer günstigere Einfluss auf das bisherige Beweisergebnis (hier: Ergebnis der molekulargenetischen Untersuchung und des Vergleichs der DNA-Identifizierungsmuster) davon zu erwarten gewesen wäre. 29 4. Folgen unterlassener oder unwirksamer Einwilligung in die Körperzellenentnahme nach § 81a StPO a) Eine unterlassene oder nicht wirksam erteilte Einwilligung in die Körperzellenentnahme führt in aller Regel - ebenso wie ein späterer Widerruf einer erteilten Einwilligung - nicht zu einer Unverwertbarkeit des gewonnenen Materials und der Ergebnisse der molekulargenetischen Untersuchung. 30 Ein Verwertungsverbot kann jedoch eingreifen, wenn der Beschuldigte von 28
Löwe-Rosenberg/ Gollwitzer § 244 Rn 360; Sarstedt/Hamm Rn 722. Löwe-Rosenberg/Gollwitzer § 244 Rn 355. 30 Löwe-Rosenberg/Dabs 24. Aufl § 81a Rn 76; KK-Senge § 81a Rn 14; Kleinknecht/ Meyer-Goßner § 81a Rn 32; OLG Hamm NJW 1967, 1524; LG Saarbrücken StV 2001, 265; kritisch SK-Rogali § 81a Rn 88; aA KMR-Paulus § 81a Rn 62. 29
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den Strafverfolgungsbehörden bewusst in seinen Verfahrensrechten beeinträchtigt worden ist. Im deutschen Strafverfahren gilt das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung. Kein Beschuldigter ist danach verpflichtet, durch aktives Tun an seiner eigenen Strafverfolgung und Überführung mitzuwirken.31 Das würde er aber unter Umständen tun, wenn er in die Entnahme von Körperzellen einwilligt, denn das nach Körperzellenentnahme und molekulargenetischer Untersuchung erstellte DNA-Identifizierungsmuster dient im Verfahren Vergleichszwecken zur Täterermittlung und damit unter Umständen der Uberführung des Beschuldigten. Die Einwilligung des Beschuldigten in die Körperzellenentnahme kann damit aufgrund der daraus möglicherweise für den Beschuldigten erwachsenden Folgen selbstbezichtigende Wirkung haben. Bei einer unterlassenen oder unvollständigen Belehrung32 des Beschuldigten über die Freiwilligkeit der Mitwirkung bei der Körperzellenentnahme sind, auch wenn es sich hierbei nicht um eine Vernehmung handelt, diejenigen Rechtsgrundsätze entsprechend anzuwenden, die die obergerichtliche Rechtsprechung für die unterlassene oder unvollständige Belehrung (§ 136 StPO) sowie für den Einsatz verbotener Mittel (§ 136a Abs. 1 und 2 StPO) entwickelt hat. Eine unterlassene oder unvollständige Belehrung führt danach dann nicht zu einem Verwertungsverbot, wenn der Beschuldigte sein Weigerungsrecht gekannt, davon aber aus welchen Gründen auch immer keinen Gebrauch gemacht hat.33 Ein Verwertungsverbot scheidet weiter dann aus, wenn der Beschuldigte nachträglich (bis zum Schluss der Beweisaufnahme) wirksam in die Entnahme von Körperzellen einwilligt. Die vom Bundesgerichtshof zur sogenannten Widerspruchslösung34 entwickelten Rechtsgrundsätze dürften im übrigen entsprechend anzuwenden sein. b) Der Revisionsvortrag muss, um den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zu genügen, die Umstände darlegen, aus denen sich der Verstoss gegen die Belehrungspflicht ergibt. Weiter muss in der Revisionsbegründung mitgeteilt werden, ob der Verwertung des Gutachtens über das Ergebnis der molekulargenetischen Untersuchung oder der Vernehmung des bestimmten Sachverständigen zugestimmt oder ob ihr widersprochen worden ist und welchen Inhalt das Gutachten bzw. die Aussage des in der Hauptverhandlung vernommenen Sachverständigen gehabt hat. Schließlich muss der Revisionsführer, soweit die Körperzellenentnahme nach unterbliebener oder unvollständiger Belehrung im Ermittlungsverfahren erfolgt ist, was in der Praxis die Regel sein dürfte, dartun, dass dieser Verfahrensfehler " BVerfGE 38, 105; 56, 37, 43; BGHSt 38, 214, 220 und 302, 305. 32 Zu den Anforderungen an den Inhalt der Belehrung vgl Graalmann-Scheerer]K 1999, 453 f . 33 B G H S t 38, 214, 224. 34 BGHSt 38, 214, 225ff; 39, 349, 352; 42, 15.
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im Urteil fortwirkt. Das ist der Fall, wenn das Ergebnis der molekulargenetischen Untersuchung der nach unterbliebener oder unvollständiger Belehrung entnommenen Körperzellen im Urteil verwertet worden ist. Sofern die Frage der Verwertbarkeit von einem rechtzeitigen Widerspruch abhängt, hat der Revisionsführer zusätzlich die Umstände mitzuteilen, aus denen sich die Rechtzeitigkeit des Widerspruchs ergibt. 35
5. Folgen unterlassener oderfehlerhafter Belehrung über das Untersuch ungsverweigerungsrecht bei der Körperzellenentnahme nach § 81c Abs. 3 StPO a) Eine unterlassene oder fehlerhafte Belehrung über das Untersuchungsverweigerungsrecht nach § 81c Abs. 3, § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO bei der Körperzellenentnahme nach § 81 e Abs. 1 Satz 2 StPO führt regelmäßig zu einem Beweisverwertungsverbot, sofern ein Kausalzusammenhang zwischen dem Fehlen bzw. dem Mangel der Belehrung und der Gewinnung des U n tersuchungsergebnisses besteht, der Mangel nicht geheilt worden ist u n d das Urteil, was in aller Regel der Fall sein dürfte, auf der unzulässigen Verwertung beruht. 3 6 A n einem solchen Kausalzusammenhang fehlt es, wenn die zur Verweigerung des Zeugnisses nach § 52 StPO berechtigte andere Person wusste, dass sie zur D u l d u n g der Untersuchung nicht verpflichtet war, sie aber gleichwohl akzeptiert hat. Ferner fehlt es an dem Kausalzusammmenhang, wenn die andere, zeugnisverweigerungsberechtigte Person nachträglich - im Zweifel bis zum Schluss der Beweisaufnahme (§ 258 Abs. 1 StPO) wirksam auf ihr Untersuchungsverweigerungsrecht verzichtet hat. Von einem Ursachenzusammenhang kann schliesslich auch dann nicht die Rede sein, wenn die zeugnisverweigerungsberechtigte Person auch nach ordnungsgemäßer Belehrung über das Untersuchungsverweigerungsrecht die Untersuchung geduldet hätte. 3 7 Für den gesetzlichen Vertreter gilt entsprechendes. O b ein Mitangeklagter die unterlassene Belehrung eines Angehörigen des Angeklagten über das Untersuchungsverweigerungsrecht rügen kann, dürfte entscheidend von den Umständen des Einzelfalls und der Verletzung seines Rechtskreises abhängen. b) Der Revisionsführer muss in der Revisionsbegründung darlegen, dass die andere Person im Sinne von § 81c Abs. 1 u n d 2 StPO nach § 52 StPO zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt und dass die Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht unterblieben oder unvollständig gewesen ist. Sofern die Unvollständigkeit der Belehrung behauptet wird, bedarf es der Mitteilung des genauen Inhalts der Belehrung, u m dem Revisionsgericht die Prüfung des Revisionsvorbringens zu ermöglichen. Zwar muss der Revi35 36 37
BGH NStZ 1997, 614 (zu § 136 Abs 1 StPO). Β GH St 12, 235, 243; 36, 217, 220; BGH NJW 1996, 20; BGH StV 1996, 195. BGH NStZ 1996, 95 mit Anm. Wohlers StV 1996, 192.
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sionsführer grundsätzlich bei einer Verfahrensrüge keine Ausführungen zur Beruhensfrage machen.38 Bei einer Rüge der Verletzung des § 81c Abs. 3 iVm § 52 StPO empfiehlt es sich aber, zur Beruhensfrage Tatsachen vorzutragen, und zwar zu der Frage der Heilung des behaupteten Mangels oder zu der Frage eines eventuellen Verzichts. Es erscheint daher ratsam, dass sich die Revision dazu verhält, ob der Mangel geheilt worden bzw. aufgrund welcher konkret anzugebenden Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Mangel nicht geheilt worden ist. Auch hinsichtlich der Frage eines wirksamen Verzichts auf die Belehrung sollten die insoweit erheblichen Tatsachen zu den genauen Umständen des - je nach der Verfahrensrolle - nunmehr behaupteten oder bestrittenen Verzichts dargetan werden, um nicht der zunehmenden Neigung der Revisionsgerichte Vorschub zu leisten, die Beruhensfrage anhand von Umständen des Einzelfalls entweder mit einer formelhaften Wendung oder mit einer Überdehnung der Rügevoraussetzungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zu entscheiden.39 6. Verstoß gegen das Beweiserhebungsverbot nach § 81e Abs. 1 Satz 3 StPO a) Ein Verstoss gegen das Beweiserhebungsverbot aus § 81e Abs. 1 Satz 3 StPO führt entgegen der Auffassung von Senge40 nach dem Willen des Gesetzgebers41 und dem insoweit eindeutigen Wortlaut des Gesetzes zu einem Beweisverwertungsverbot.42 Wenn die molekulargenetische Untersuchung nur zur Feststellung der Abstammung und zu Vergleichszwecken zur Täterermittlung nach der klaren gesetzlichen Regelung des § 81 e Abs. 1 Satz 1 StPO zulässig ist und Feststellungen darüberhinaus gerade nicht erfolgen dürfen und hierauf gerichtete Untersuchungen unzulässig sind, verbietet es sich, auf die Umstände des Einzelfalls, die Art des Verbots und eine Abwägung der einander widerstreitenden Interessen43 abzustellen bei der Prüfung, ob ein Verstoss gegen das Beweiserhebungsverbot ein Beweisverwertungsverbot zur Folge hat. Auf diese Weise würde die Zweckbindung des § 81 e Abs. 1 Satz 1 StPO unterlaufen und die molekulargenetische Untersuchung auch zu anderen, von der obergerichtlichen Rechtsprechung dann jeweils anerkannten Zwecken eröffnet werden. Gerade aber das wollte der Gesetzgeber im Hinblick auf den mit der Maßnahme verbundenen Grundrechtseingriff nicht. 38 Löwe-Rosenberg/Hanack § 344 Rn 87; KK-Kuckein § 344 Rn 65; Sarstedt/Hamm Rn 507; Herdegen NStZ 1990, 513, 517 39 Vgl Sarstedt/Hamm Rn 507 40 KK-Senge § 81e Rn 7; Senge NJW 1997, 2411. 41 BTDrucks 13/667 S. 7. 42 So auch Kleinknecht/Meyer-Goßner § 81e Rn 4; SK-Rogali % 81e Rn 17; Pfeiffer § 81e Rn 5. 43 BGHSt 37, 30, 32 (zur Überwachung eines konsularischen Telefonanschlusses).
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7. Verstöße gegen die Datenschutz- und Organisationsregelungen des § 81f Abs. 2 StPO a) Ein Verstoss gegen die Datenschutzregelungen des § 81 f Abs. 2 Satz 2 und 3 StPO vermag - wie immer er auch ausgestaltet sein mag - die Revision nicht zu begründen, denn auf einem derartigen Mangel kann das Urteil nicht beruhen. 44 b) Dagegen kann sich aus Verstössen gegen Organisationsregelungen des § 81 f Abs. 2 Satz 1 StPO ein revisionsrechtlich relevanter Verfahrensmangel ergeben. Zwar werden Verstösse gegen § 81 f Abs. 2 StPO in der Regel kein Beweisverwertungsverbot begründen, weil die Vorschrift in erster Linie ausserprozessualen Interessen dient, zu deren Schutz das Verfahrensrecht nicht berufen ist. 45 Verfahrensrechtlich relevante Probleme können sich aber dann ergeben, wenn der beauftragte Sachverständige als Amtsträger einer Organisationseinheit der ermittlungsführenden Behörde angehört, die von der ermittlungsführenden Dienststelle organisatorisch und sachlich nicht hinreichend getrennt ist. Die Vorschrift des § 81 f Abs. 2 StPO schreibt eine funktionelle Trennung von Strafverfolgung und Durchführung einer richterlich angeordneten molekulargenetischen Untersuchung vor. Auf diese Weise soll einerseits sichergestellt werden, dass nur zuverlässige Einrichtungen beauftragt werden, die den notwendigen apparativen und personellen Standard gewährleisten.46 Andererseits soll durch die funktionelle Trennung Missbrauchsgefahren entgegengewirkt werden. Welche konkreten Vorkehrungen zu treffen sind, um unzuverlässige Untersuchungseinrichtungen zu verhindern, bestimmt § 81 f Abs. 2 StPO im einzelnen nicht. Vielmehr können die notwendigen Maßnahmen je nach Organisationsform und Ausstattung der in Betracht kommenden Untersuchungseinrichtungen unterschiedlich sein. 47 Soweit molekulargenetische Untersuchungen durch das Bundeskriminalamt oder ein Landeskriminalamt durchgeführt werden, setzt dies eine organisatorisch selbständige (Forschungs-) Einrichtung voraus. 48 Eine nicht ausreichende organisatorische und sachliche Trennung von Strafverfolgung und Durchführung einer richterlich angeordneten molekulargenetischen Untersuchung kann im Verfahren unter Umständen eine Ab44 Ebenso SK - Rogali § 81 f Rn 18; zum Verstoss gegen das Gebot der Teilanonymisierung vgl BGH NStZ 1999, 209 LS. « SK-Rogall § 81 f Rn 18. 46 BTDrucks 13/667 S. 8. 47 BTDrucks 13/667 S. 8. 48 BTDrucks 13/667 S. 11; missverständlich insoweit Kleinknecht/^/eyer-Goßner § 81 f Rn 4 („So wird eine funktionelle Trennung von Strafverfolgung und DNA-Analyse vorgeschrieben; nur für organisatorisch selbständige Forschungsabteilungen des BKA oder eines LKA wird eine Ausnahme gemacht (II S. 1).").
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lehnung des Sachverständigen rechtfertigen. Nach § 74 Abs. 1 StPO kann ein Sachverständiger aus denselben Gründen, die zur Ablehnung eines Richters berechtigen, abgelehnt werden. Das Ablehnungsrecht steht der Staatsanwaltschaft, dem Privatkläger und dem Beschuldigten (§ 74 Abs. 2 Satz 1 StPO) sowie dem Nebenkläger (§ 397 Abs. 1 Satz 3 StPO) zu. Als Ablehnungsgründe kommen § 22 Nr. 4 StPO und § 24 StPO in Betracht. Ein Sachverständiger kann also dann abgelehnt werden, wenn er im selben Verfahren - auch nach Verfahrensabtrennung - als Polizeibeamter tätig gewesen ist (§ 22 Nr. 4 StPO). Als Polizeibeamter wird tätig, wer durch sein Amt zur Verfolgung von Straftaten kraft Gesetzes (§ 163 StPO) oder kraft Auftrags der Staatsanwaltschaft (§ 161 Abs. 1 Satz 2 StPO, § 152 Abs. 1 GVG) berufen ist. 49 Die Erstellung molekulargenetischer Gutachten stellt dann keinen Ablehnungsgrund nach § 22 Nr. 4 StPO dar, wenn es sich bei dem Sachverständigen um einen Angehörigen einer mit Ermittlungsaufgaben nicht befassten und organisatorisch von der Ermittlungsbehörde getrennten Dienststelle der Polizei handelt.50 Bei Beamten organisatorisch selbständiger kriminalwissenschaftlicher oder -technischer Untersuchungsämter der Polizei wird daher eine Ablehnung nach § 74 Abs. 1, § 22 Nr. 4 StPO nicht erfolgversprechend sein.51 Die Rüge der Verletzung von § 22 Nr. 4 StPO verspricht daher keinen Erfolg. c) Ein Verstoß gegen Organisationsregelungen des § 81 f Abs. 2 Satz 1 StPO kann jedoch eine Ablehnung des Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 74 Abs. 1, § 24 StPO) rechtfertigen. Das setzt voraus, dass ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Sachverständigen zu begründen. Der Ablehnende muss bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme haben, dass der Sachverständige ihm gegenüber eine innere Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann.52 Aus der dienstlichen Tätigkeit eines im Polizeidienst tätigen Sachverständigen ergibt sich nicht von vornherein dessen Befangenheit. Eine organisatorische und sachliche Verbindung innerhalb des Sachgebiets Kriminaltechnik, in dem nicht nur molekulargenetische Untersuchungen, sondern auch Spurensicherung und -auswertung durchgeführt werden, können jedoch bei einem vernünftig denkenden Beschuldigten durchaus die Besorgnis begründen, dass der dort im Polizeidienst tätige Sachverständige dienstlich vornehmlich strafverfolgungsorientiert handeln und bei der Durchführung einer molekulargenetischen Untersuchung das 49 50
BGH MDR 1958, 785. Löwe-Rosenberg/Dahs24. Aufl § 74 Rn 8; Kleinknecht/Afeyer-Goßner§ 22 Rn 14 und
§ 74 Rn 3; Wiegmann StV 1996, 571 ff. 51 52
BGHSt 18, 214, 217 Kleinknecht/Meyer-Goßner% 24 Rn 8 mwN.
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Gutachten (z.B. hinsichtlich des Spurenvergleichs) nicht unparteiisch erstatten könnte. 53 Die Ablehnung eines gestellten Befangenheitsantrags gegen den Sachverständigen durch das Gericht kann revisionsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Dabei kommen verschiedene Rügerichtungen in Betracht, die hier lediglich skizziert werden können. So kann die Revision etwa darauf gestützt werden, das Gericht habe den Befangenheitsantrag zu Unrecht abgelehnt. Mit der Revision kann auch geltend gemacht werden, das Gericht habe die Ablehnung des Befangenheitsantrags nicht ausreichend begründet.54 Sofern ein Beweisantrag auf Vernehmung eines weiteren Sachverständigen gestellt und abgelehnt worden ist (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO), kann insoweit die Verfahrensrüge erhoben werden. Auch die Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO) kann - je nach der Verfahrenslage im Einzelfall - erhoben werden. c) Die Rügerichtungen, die sich bei einer Ablehnung des Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit ergeben können, sind vielfältig. Art und Umfang der nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO mitzuteilenden, den Mangel enthaltenden Tatsachen richten sich dabei nach der jeweiligen Rügerichtung. 8. Verstoss gegen § 81g Abs. 1 StPO bzw. § 2 Abs. 1 DNA-IFG Die Prüfung, ob ein Verfahrensmangel bei der Anordnung und Durchführung der molekulargenetischen Untersuchung nach § 81g Abs. 1 StPO bzw. § 2 Abs. 1 DNA-IFG vorliegen könnte, bedarf einer differenzierten Betrachtung. a) Im anhängigen Strafverfahren kann die Entnahme von Körperzellen und die molekulargenetische Untersuchung nach § 81g Abs. 1 StPO mit einer Verfahrensrüge revisionsrechtlich schon deshalb nicht erfolgreich beanstandet werden, weil das Urteil auf einem aus der Maßnahme erwachsenden Verfahrensmangel nicht beruhen kann (§ 337 StPO). Verfahrensfehler im Zusammenhang mit der Maßnahme können sich erst in einem künftigen Verfahren auswirken, wenn ein Abgleich des aufgrund einer Maßnahme nach § 81g Abs. 1 StPO erlangten und zum Zwecke der Identitätsfeststellung gespeicherten DNA-Identifizierungsmusters mit dem in dem neuen Verfahren erlangten Spurenmaterial vorgenommen worden ist und eine Ubereinstimmung ergeben hat. In dem künftigen Strafverfahren können sich sodann durch den Verweis in § 81g Abs. 3 StPO auf § 81 f StPO solche Verwertungsprobleme ergeben, wie sie vorstehend im Zusammenhang mit § 81 f StPO erörtert worden sind (vgl. II 1). 53 54
BGHSt 18, 214, 217 BGH MDR/H 1978, 459.
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b) Ist der Beschuldigte in einem künftigen Verfahren aufgrund eines A b gleichs von nach § 81e A b s . 1 Satz 2 bzw. § 81e A b s . 2 StPO gewonnenen Spurenmaterials mit d e m von ihm z u m Zwecke der Identitätsfeststellung nach § 81g A b s . 1 StPO bzw. § 2 A b s . 1 D N A - I F G in der D N A - A n a l y s e Datei gespeicherten DNA-Identifizierungsmuster als Spurenleger ermittelt worden, s o ist die Frage aufzuwerfen, ob er in d e m neuen gegen ihn gerichteten Verfahren rügen kann, die Voraussetzungen für eine molekulargenetische Untersuchung hätten seinerzeit nicht vorgelegen, denn bei der Anordnung der molekulargenetischen Untersuchung nach § 81g A b s . 1 StPO bzw. § 2 A b s . 1 D N A - I F G sei der unbestimmte Rechtsbegriff der „Straftat von erheblicher B e d e u t u n g " verkannt worden oder zu Unrecht sei eine Negativp r o g n o s e bejaht worden. Z w a r ist eine entsprechende Verfahrensrüge nicht von vornherein ausgeschlossen. In der revis ions gerichtlichen Praxis wird ihr indessen in aller Regel der Erfolg versagt bleiben, denn die N a c h p r ü f u n g durch das Revisionsgericht dürfte beschränkt sein. Hinsichtlich des U m fangs der revisionsrechtlichen N a c h p r ü f u n g wird auf die von der obergerichtlichen Rechtsprechung aufgestellten Rechtsgrundsätze bei der Ü b e r w a chung der Telekommunikation zurückzugreifen sein. 5 5 D a s bedeutet, dass der unbestimmte Rechtsbegriff der „Straftat von erheblicher B e d e u t u n g " sowie die Negativprognose z w a r nicht jeder revisionsgerichtlichen Kontrolle entzogen sind. Bei der N a c h p r ü f u n g wird es aber nicht darauf a n k o m m e n , wie das Tatgericht bzw. im Revisionsverfahren das Revisionsgericht die Voraussetzungen für die molekulargenetische Untersuchung z u m Z w e c k e der Identitätsfeststellung im Zeitpunkt der (früheren) A n o r d n u n g , also durch eine ex-ante-Betrachtung, beurteilt. Rechtswidrig mit der Folge eines Verwertungsverbots wird eine (frühere) A n o r d n u n g einer molekulargenetischen Untersuchung nach § 81g A b s . 1 StPO, § 2 A b s . 1 D N A - I F G nur sein, wenn sie sich als nicht mehr vertretbar erweisen sollte. D a s aber wird allenfalls bei objektiver Willkür oder einer groben Fehlbeurteilung anzunehmen sein. c) D i e R ü g e , das Tatgericht habe das aufgrund verfahrensfehlerhafter A n ordnung der molekulargenetischen Untersuchung nach § 81g A b s . 1 StPO bzw. § 2 D N A - I F G in der D N A - A n a l y s e - D a t e i gespeicherte DNA-Identifizierungsmuster bei seiner Beweiswürdigung verwertet, obwohl insoweit ein Beweisverwertungsverbot vorliege, m u s s als Verfahrensrüge den Erfordernissen von § 344 A b s . 2 Satz 2 StPO genügen. Der Revisionsführer m u s s hierzu den Inhalt des die molekulargenetische Untersuchung nach § 81g A b s . 1 StPO, § 2 A b s . 1 D N A - I F G anordnenden Beschlusses sowie diejenigen Tatsachen mitteilen, aus denen sich die mangelnde Vertretbarkeit der
55 Graalmanti-Scheerer Kriminalistik 2000, 328, 334; so auch jetzt Kleinknecht/MeyerGoßner§ 81g Rn 22; BGHSt 41, 30, 34 (zur Überwachung der Telekommunikation).
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Anordnung ergibt. Ferner muss er darlegen, dass der Beschluss vollstreckt und das DNA-Identifizierungsmuster des Beschuldigten in der DNA-Analyse-Datei gespeichert worden ist. Des weiteren ist anzugeben, ob ein Abgleich insoweit mit Spurenmaterial nach § 81e Abs. 1 Satz 2, § 81e Abs. 2 StPO stattgefunden und zu welchem Ergebnis dieser Abgleich geführt hat. Schließlich muss sich die Revision dazu verhalten, ob eine Verwertung durch Einführung in die Hauptverhandlung erfolgt ist und ob dieser Verwertung rechtzeitig widersprochen worden ist. 56 Darüberhinaus empfiehlt es sich, auch Ausführungen zur Beruhensfrage zu machen, wenngleich den Revisionsführer insoweit keine Darlegungs- oder gar Beweislast trifft. 57 Die Umstände des Einzelfalls lassen insbesondere in Kapital- und Sexualstrafverfahren Ausführungen zur Beruhensfrage ratsam erscheinen. Angesichts der hier oftmals anzutreffenden Beweissituation dürfte ein Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensmangel gerade in diesen Fällen von den Revisionsgerichten unter Heranziehung des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe wohl eher verneint werden. 9. Aufklärungsrüge
nach § 244 Abs. 2 StPO
Die denkbaren Begründungsrichtungen für eine Aufklärungsrüge nach § 244 Abs. 2 StPO im Zusammenhang mit der molekulargenetischen Untersuchung sind vielfältig. Hier können nur einige wenige Fallkonstellationen erörtert werden, denen eine praktische Relevanz im Verfahren zukommt. Die Aufklärungsrüge umfasst die Behauptung, der Tatrichter habe seine gesetzliche Pflicht zur vollständigen Erforschung der Wahrheit (§ 244 Abs. 2 StPO) rechtsirrig oder aus Mangel an Sorgfalt verkannt oder ihr sogar wissentlich zuwidergehandelt, obwohl die Umstände zum Gebrauch weiterer Beweismittel gedrängt hätten. 58 a) Der Revisionsführer kann die Aufklärungsrüge mit der Behauptung erheben, das Tatgericht habe die molekulargenetische Untersuchung nach § 81 e Abs. 1 Satz 1 StPO beim Beschuldigten nicht angeordnet, obwohl letzterer durch das Untersuchungsergebnis als Spurenverursacher und damit als Täter hätte ausgeschlossen werden können. Zum notwendigen Revisionsvortrag einer solchen Rüge gehört unter anderem die Behauptung, dass ausreichendes Körperzellenmaterial zu Vergleichzwecken vorgelegen habe. 5 9 56 Zum Widerspruch hinsichtlich der Verwertung von Zufallserkenntnissen aus einer in einem anderen Verfahren angeordneten Überwachung der Telekommunikation und zum notwendigen Rügevorbringen vgl BGH wistra 2000, 432. 57 Löwe-Rosenberg/Hanack § 344 Rn 87. 58 Löwe-Rosenberg/ Gollwitzer § 244 Rn 347 ff; K K - H e r d e g e n § 244 Rn 36 ff; Kleink n e c h t / M e y e r - G o ß n e r % 244 Rn 80ff. 59 BGHR StPO § 344 II 2 Aufklärungsrüge 5.
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b) Weiter kann mit der Aufklärungsrüge geltend gemacht werden, ein nicht zur Untersuchungsverweigerung nach § 81c Abs. 3 StPO berechtigter Zeuge habe infolge fehlerhafter Belehrung über das Untersuchungsverweigerungsrecht die Untersuchung nach § 81c StPO verweigert, so dass eine Körperzellenentnahme und molekulargenetische Untersuchung nicht durchgeführt worden sei. In eine ähnliche Richtung geht die Rüge, das Tatgericht habe irrig ein Untersuchungsverweigerungsrecht angenommen. Auch hier muss dargelegt werden, dass ausreichendes Körperzellenmaterial der zur Untersuchungsverweigerung berechtigten Person zu Vergleichszwecken vorgelegen hat. c) Angesichts der kaum kalkulierbaren Begründungsanforderungen, die die Revisionsgerichte nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO für die Aufklärungsrüge aufgestellt haben,60 muss es, insbesondere um nicht unzulänglichen Revisionsvortrag zu begünstigen, bei dem allgemeinen Hinweis verbleiben, im Zweifel zur Begründung der Aufklärungsrüge eher mehr als zu wenig vorzutragen.61
III. Ausblick Die Erfolgsaussichten von Revisionen bei Verfahrensrügen im Zusammenhang mit der molekulargenetischen Untersuchung sollten insgesamt nicht überschätzt werden. Zwar ist das denkbare Rügespektrum recht breit. In der revisionsgerichtlichen Praxis werden Verfahrensrügen jedoch bereits häufig bei der Zulässigkeit der Rüge an der Schranke des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO scheitern. Bei der Begründetheit der Verfahrensrüge wird die Beruhensfrage wohl eine Hürde darstellen. Jeder Revisionsführer mag sich verdeutlichen, dass lediglich etwa 10 % aller Verfahrensrügen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Aufhebung des Urteils führen.62 Bis zur endgültigen Klärung von Verfahrensfragen und insbesondere von Verwertungsproblemen im Zusammenhang mit der molekulargenetischen Untersuchung durch die Revisionsgerichte werden sich die Verfahrensbeteiligten daher wohl in Geduld üben müssen.
KK-Herdegen § 244 Rn 36; Sarstedt/Hamm Rn 550ff. So auch Sarstedt/Hamm Rn 552. « Nack NStZ 1997, 153, 155. 60
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StVÄG 1999 und Verteidigung HANS
HILGER
I. Einleitung Der Jubilar ist nicht ganz „unschuldig"1 am Zustandekommen des StVÄG 1999 und den mit diesem Gesetz verbundenen Auslegungs- und Anwendungsproblemen. Deshalb sei ihm dieser Beitrag gewidmet, dessen Ziel es ist, einige für die Strafverteidigung bedeutsame Probleme darzustellen, die sich im Zusammenhang mit Regelungen dieses auf den ersten Blick etwas langweilig und spröde erscheinenden Gesetzes ergeben können.
II. Problembereiche 1. Allgemeines Die Regelungen des StVÄG 1999, die im wesentlichen das Ermittlungsverfahren (§§ 131 ff, §§ 160, 161, 163, 163 f), die Akteneinsicht namentlich für verfahrensübergreifende Zwecke (§§ 474 ff) und den Einsatz von Dateien für Zwecke von Strafverfahren (§§ 483 ff) betreffen, waren grundsätzlich aus verfassungsrechtlichen und auch strafprozessual - systematischen Gründen dringend erforderlich.2 In der Ausgestaltung hatte der Gesetzgeber im Hinblick auf die Forderungen aus Rechtspolitik und Praxis3 und frühere Regelungen, die bestimmte Regelungsinhalte und Formulierungen als systembedingte „Modelle" vorgaben,4 wenig und überwiegend nur problembelasteten Handlungsspielraum. Ergebnis der Ausgangslage ist jedenfalls, daß die Regelungen nun in einigen Bereichen nicht nur schwer „verständlich" sind, sondern auch widersprüchlich oder unvollständig er-
1 Er war während der ministeriellen Vorarbeiten zur Fertigung des RegE zunächst zuständiger Unterabteilungsleiter und später Abteilungsleiter der zuständigen Abteilung des BMJ. Der Autor muß allerdings einräumen, daß ihn größere „Schuld" trifft. 2 S. dazu //¿/gerNStZ 2000, 561; Löwe-Rosenberg/Hilger Vor § 474 Rn 5 ff, 10 ff. 3 S. dazu HilgerNStZ 2000, 561 ; Löwe-Rosenberg/Hilger Vor § 474 Rn 1 ff, 14; vgl auch HK-Temming Vor § 474 Rn 7, 8; Brodersen NJW 2000, 2536. 4 Z.B. in der StPO: angehobene Verdachtsschwellen, Subsidiaritätsklauseln, Maßnahmenbefristung, Richtervorbehalt; außerdem Regelungen des BKAG und des BDSG.
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scheinen. Dies gilt namentlich, wenn man die Regelungen nun aus der Sicht eines Strafverteidigers (für seinen Mandanten) liest. Denn die besondere Berücksichtigung dieser Interessen oder gar die Verbesserung der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten und seiner Verteidigungsmöglichkeiten stand nicht gerade im Vordergrund der Betrachtungen des Gesetzgebers. Er beschränkte sich auf eine im Regelungszusammenhang naheliegende Verbesserung der Akteneinsicht gemäß § 147 und im übrigen auf die prinzipielle, wenn auch nicht immer gelungene5 Beachtung der besonderen Stellung des Beschuldigten als Subjekt des Verfahrens, für den die Unschuldsvermutung spricht. Fragen, wie sich manche Regelungen in der Praxis für die Verteidigung auswirken können oder sollen, blieben offen. 2. Fahndung a) Die neuen §§ 131 bis 131c regeln die Personenfahndung, nicht die Sachfahndung. Letztere ist also, weil sie persönlichkeitsrechtlich in der Regel nicht relevant ist, nach wie vor grundsätzlich auf die §§ 161, 163 zu stützen. 6 Ein typischer Fall der „Sachfahndung" ist zum Beispiel die Fahndung nach einem Kraftfahrzeug. 7 Und schon aus einer solchen Fahndung wird deutlich, daß nicht jede Fahndung, die eine Sachfahndung zu sein scheint, wirklich so einzuordnen ist. Handelt es sich um ein auffälliges, seltenes, leicht zu identifizierendes Kraftfahrzeug, etwa einer besonderen Nobelmarke, nach der gesucht wird, und können Kundige, z. B. Journalisten, daraus auf den möglichen Besitzer (Fahrer) schließen, so kann die Fahndung nach diesem Kraftfahrzeug unter Umständen auch als eine „Personenfahndung" zu werten sein, weil (wenn) sie an Stelle der Fahndung nach den §§ 131 ff und mit deren Ziel eingesetzt wird und die „Beschreibung" des Kraftfahrzeugs in der Fahndungmaßnahme personenbezogene Informationen enthält, nämlich sachliche Verhältnisse beschrieben werden, die sich auf eine wenigstens bestimmbare natürliche Person beziehen. 8 In solchen Fällen 9 können - je nach Art der Fahndung - die §§ 131 ff (wenigstens analog) anwendbar sein. b) Desweiteren ist zu beachten, daß die §§ 131 ff die Personenfahndung nicht abschließend regeln.10 Maßnahmen der Personenfahndung, die weniger tief in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen eingreifen, z . B . ihn weniger „bloßstellen", etwa nur einem kleinen Personenkreis be5 S. z.B. die Prognoseformel in § 484 Abs 2 Satz 1 und die Regelung des „Freispruchs 2. Klasse" in Absatz 2 Satz 2. ' S. auch Nr 39 Abs 1 RiStBV und PDV 384.1. 7 Vgl G. Schäfer Oie Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl Rn 564. 8 Vgl Gola/Schomerus § 3 BDSG Rn 2.3 ff. 9 Vgl PDV 384.1 zur Sachfahndung (3.). 10 BT-Drucks 14, 1484 S. 20, 21.
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kannt werden, können weiterhin - unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips - auf die §§ 161,163 gestützt werden (s. dazu 4a). Dies können z . B . Nachfragen bei Meldebehörden oder diskrete Erkundigungen im Lebens-Umfeld einer gesuchten Person sein. Sie sind nach dem Subsidiaritätsprinzip sogar den in den §§ 131 ff geregelten Maßnahmen vorzuziehen. Je nach Sachlage kann es aber auch „persönlichkeitsschonender" sein, von einer solchen Maßnahme, etwa informellen Nachfragen bei Nachbarn oder Arbeitskollegen des Gesuchten, abzusehen, weil eine Maßnahme nach den §§ 131 ff, etwa eine Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung (§ 131a) weniger diskriminierend wirkt. Das Problem ist: der Verteidiger hat in der Regel mangels vorheriger Information 11 kaum Möglichkeiten der frühzeitigen Einflußnahme. Chancen in Fällen, in denen es dem Verteidiger möglich erscheint, seinen Mandanten zu bewegen, seinen Aufenthalt bekannt zu geben oder sich zu stellen, so daß eine Fahndung überflüssig wird, bleiben also nicht selten ungenutzt. Aus der Sicht der Verteidigung kann es in Grenzfällen auch sachgerechter sein, eine Fahndung nicht auf die §§ 161, 163 zu stützen, sondern wegen der dort vorgesehenen Begrenzungen die §§ 131 ff heranzuziehen. Dies kann z . B . der Fall sein, wenn „informelle" Nachforschungen im Lebens-Umfeld des Betroffenen in ihrer Intensität einer Offentlichkeitsfahndung nahekommen. Das Problem, daß der Verteidiger in solchen Fällen häufig weder die Möglichkeit hat, eine Fahndung zu verhindern, noch die, darauf hinzuwirken, daß deren nachteilige Auswirkungen gemildert werden, läßt sich aber wohl nicht über gesetzliche Regelungen lösen. Denn wenn ein Staatsanwalt oder ein Richter vor Anordnung einer Personenfahndung durch Kontaktaufnahme mit dem Verteidiger klären möchte, ob sich diese vermeiden läßt, ist dies auch nach geltendem Recht schon möglich. c) Außerdem stellt sich die Frage: welche Folgen hat es, wenn „Verfahrensregelungen" 12 der §§ 131 ff, etwa eine Anordnungsschwelle oder der Richteroder Staatsanwaltsvorbehalt, verletzt werden? Muß der Beschuldigte, nach einer erfolgreichen Öffentlichkeitsfahndung (§ 131 Abs. 3) festgenommen, wieder freigelassen oder nach einer solchen Fahndung zur Aufenthaltsermittlung (§ 131a Abs. 3) seine Adresse als unbekannt behandelt werden, wenn es sich nicht um eine Straftat von erheblicher Bedeutung handelt, der Tatverdacht nicht dringend war, die Subsidiaritätsklausel oder (und) der Richter- bzw. Staatsanwaltsvorbehalt (§ 131 Abs. 3, § 131c) mißachtet13 wurden? Ist die Aussage eines so ermittelten Zeugen unverwertbar? 11 § 33 gilt nicht unmittelbar für Entscheidungen der Staatsanwaltschaft; s. außerdem § 33 Abs 4. 12 Dazu sollen hier auch die materiellen Einsatzvoraussetzungen einer Fahndung gezählt werden, weil ansonsten die Darstellung der Problemlage unvollständig wäre. 13 Z . B . weil offensichtlich keine Gefahr im Verzug bestand.
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Überzeugende Antworten auf diese Fragen können hier nicht vorgelegt werden. Das Problemfeld ist weitgehend neu und bedarf intensiverer Durchleuchtung. Eine Lösung mit Hilfe der in Rechtsprechung14 und Literatur15 entwickelten Vorschläge und Theorien zum Problemfeld der „Verwertungsverbote" im Beweisrecht ist nicht möglich. Deren Lösungsansätze passen überwiegend nicht, etwa soweit sie darauf abstellen, ob der Verfahrensverstoß der Revisionsrüge zugänglich ist, oder soweit die Unverwertbarkeit von Ermittlungsergebnissen an rechtswidrige „Beweislagen" („Informationslagen") im Zusammenhang mit Beweisthemen- und Beweismittelverboten angeknüpft wird. Es liegt allerdings nahe, eine Lösung über die Annahme eines sich unmittelbar aus dem Grundgesetz ergebenden Verwertungsverbotes zu suchen. Ein solches Verwertungsverbot könnte darauf gegründet werden, daß durch die Verfahrensfehler Vorschriften verletzt werden, die dem grundrechtlich gebotenen Schutz der betroffenen Personen dienen.16 Denn die Fahndungsbegrenzungen sowie der Richtervorbehalt dienen dem präventiven Schutz vor unverhältnismäßigen Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) und ihren nachteiligen Folgen für den Ruf und die Lebensgestaltung der betroffenen Personen. Aber auch bei einem solchen Verwertungsverbot wegen einer grundrechtsrelevanten Verfahrensverletzung könnten und müßten wohl, um eine innere vergleichsweise Stimmigkeit in der Bewertung der Bedeutung der Fehler und ihrer Folgen zu erhalten, „konturierende" Begrenzungen, etwa aus dem Schutzzweck der verletzten Verfahrensvorschrift und vielleicht auch Begrenzungen entsprechend der „Abwägungslehre"17 beachtet werden. Es ist jedoch nicht Zweck dieses Beitrages und auch nicht möglich, in kurzer Zeit und begrenztem Rahmen mit diesem oder einem anderen vielleicht brauchbaren Ansatz den Entwurf eines dogmatisch fundierten Konzeptes zur Lösung dieser Problematik zu entwickeln.18 Die Erarbeitung eines sol14
Vgl die Nachweise bei Löwe-Rosenberg/ Gössel Einl. Κ Rn 17ff; Kleinknecht/MeyerGoßner Einl. Rn 55ff. Zur Kritik an der Rspr., die sich nur selten zur Anerkennung eines „Verwertungsverbotes" durchringt, vgl (mwN dazu) z.B. Wolter FS BGH, 963ff; ders. FS Roxin (2001) 1151. 15 Vgl dazu Löwe-Rosenberg/Gösse/Einl. Κ Rn 113ff; zu neueren Entwicklungen s. z.B. (alle m w N zu Rspr. und Lit.): Rogali FS Hanack (1999) 293 ff; ders. FS Grünwald, 523 ff; Amelung FS Roxin (2001) 1259ff; Wolter FS BGH, 963 ff ; ders. FS Roxin (2001) 1141 ff. S. auch die Vorschläge des AE-EV (2001) §§ 150e, 150f; Amelung N S t Z 2001, 337ff. 16 Zu solchen Ansätzen im Beweisrecht vgl z.B. Kleinknecht/Meyer-GoßnerEinl. Rn 56 m w N ; Löwe-Rosenberg/Gössel Einl. Κ Rn 60. 17 S. auch Löwe-Rosenberg/ Gössel Einl. Κ Rn 24, 25, 140 ff; Rogali FS Hanack (1999) 293 ff; dagegen Amelung FS Roxin (2001) 1259 ff. 18 Deshalb muß auch darauf verzichtet werden, näher zu prüfen, ob eine Lösung wenn schon nicht „mit Hilfe", so doch wenigstens in „Anlehnung" an die Grundsätze der „Beweis-Verwertungslehren" möglich ist.
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chen Konzeptes erfordert nämlich als sachgerechte Grundlage zumindest zunächst eine breitere Sammlung und Analyse von möglichen Verfahrensfehlern aller Art außerhalb der Informationserhebung, eine vergleichende Analyse und Bewertung ihrer Bedeutung einschließlich einer Aufbereitung der bisher schon in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Meinungen zur Bedeutung und Behandlung solcher nicht die Informationserhebung betreffenden Verfahrensfehler. Sie sollte auch nicht isoliert erfolgen, gehört vielmehr m . E . in den größeren Zusammenhang der in der Literatur 19 angekündigten Entwicklung einer umfassenden „normativen Fehlerfolgenlehre". Wohl aber können 20 erste21 Lösungsmöglichkeiten 22 aufgezeigt werden: aa) Naheliegend ist zunächst ein rein pragmatischer am Einzelfall orientierter Lösungsansatz, wie er vermutlich z . B . von der Rechtsprechung frei von dem wissenschaftlichen Drang zu einem Gesamtkonzept entwickelt werden könnte. So ist es denkbar, bei Verstößen gegen Regelungen, die allein dem Schutz des Persönlichkeitsrechts eines betroffenen Zeugen (oder Mitbeschuldigten) dienen sollen, die Verwertbarkeit der unter Verstoß gewonnenen „Verfahrensergebnisse" zu Gunsten und zu Lasten des vom Schutzzweck nicht berührten Beschuldigten anzunehmen, eine Verwertbarkeit zu Lasten des Betroffenen, etwa in einem späteren Verfahren gegen den Zeugen, jedoch zu verneinen. 23 Dem im Ergebnis entsprechend könnte desweiteren erwogen werden, eine Festnahme trotz eines Fehlers bei der Fahndungsanordnung aufrechtzuerhalten, wenn bereits ein Haftbefehl besteht, 24 und im übrigen ein Fahndungsergebnis (Aufenthaltsermittlung, Festnahme) zu Lasten des Beschuldigten grundsätzlich auch dann zu nutzen, wenn im Einzelfall gegen eine das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten schützende Fahndungsbegrenzung oder (versehentlich) gegen einen Richter- oder Staatsanwaltsvorbehalt (ohne rechtzeitige nachträgliche Bestätigung) verstoßen wurde. 25 S. Rogali FS Hanack (1999) 293 ff; gegen diese Amelung FS Roxin (2001) 1259ff. Weitgehend in Anlehnung an die neueren Vorschläge in der Lit. s.o. Fn 15. 21 Vgl dazu auch z.B. G. Schäfer (Fn 7) Rn 1238 mwN; Landau/Sander StraFo 1998, S. 397 mwN. 22 Zu damit verbundenen Grundfragen (z.B.: Schutz des Kernbereichs von „Prozeßgrundrechten"; Parlamentsvorbehalt; Bedeutung der Regelverletzung sowie Schutzwürdigkeit und -bedürftigkeit der betroffenen Interessen; Relativität von Regelverletzungen; Zulässigkeit und Notwendigkeit von Abwägungen; Berücksichtigung hypothetischer Verläufe; Fernwirkung) s. die Nachweise unter Fn 15. 23 S. auch Dencker FS Meyer-Goßner (2001) 237; Gössel FS Hanack (1999) 277, 286. 24 Zum vergleichbaren Fall der Verletzung der Frist des § 115 Abs 2 vgl SK-Paeffgen § 115 Rn 7 2 5 Insoweit - zu recht - Bedenken äußernd G. Schäfer (Fn 7) Rn 1238 mwN; s. auch Löwe-Rosenberg/Sctó/èr (24. Aufl) § 98 Rn 82, 37: willkürliche Annahme von Gefahr im Verzug; Landau/Sander StraFo 1998, 397 Zur Bedeutung der Problematik s. auch BVerfG StV 2001, 207; AmelungNStZ 2001, 337ff. 19
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Eine Unverwertbarkeit - ggf. mit der Folge der Freilassung des Festgenommenen - könnte (müßte wohl) bei einem solchen Lösungsansatz dann angenommen werden, wenn der Verfahrensfehler schwer wiegt, „irreparabel" ist, gar ein Mißbrauch vorliegt. Die Verwertbarkeit von Erklärungen der durch eine rechtswidrige Fahndung ermittelten Personen könnte als Frage der „Fernwirkung" 26 angesehen werden. bb) Es könnte aber auch - mit einem (m.E. zu bevorzugenden) im System des Grundrechtsschutzes stringenteren (also „grundrechtsfreundlicheren") Lösungsansatz 27 - von einer grundsätzlichen Unverwertbarkeit ausgegangen und eine Verwertbarkeit nur ausnahmsweise zugelassen werden. Denn so wie es keine „Wahrheitsfindung um jeden Preis" gibt, 28 sollte es auch keine „Verfahrenssicherung" durch Nutzung von Fahndungsergebnissen „um jeden Preis" geben. Eine Verwertbarkeit eines Fahndungsergebnisses könnte demgemäß jedoch ausnahmsweise zugelassen werden, wenn die verletzte Regelung nur dem Grundrechtsschutz eines Anderen (Zeugen; Mitbeschuldigten- s.o.) dient, das Fahndungsergebnis aber zu Gunsten des Beschuldigten wirken kann. Im Ergebnis Gleiches könnte gelten, wenn der Verfahrensverstoß nicht schwer wiegt, 29 wenn er nur „formaler" Natur, 30 die Anordnung inhaltlich also richtig ist, weil alle materiellen Voraussetzungen31 erfüllt sind, wenn der Mangel nachträglich geheilt wurde 32 oder geheilt werden könnte, oder wenn das Ergebnis der Maßnahme ohnehin eingetreten wäre. 33 Es ist anzunehmen, daß Kritiker solcher Lösungsansätze geltend machen werden, eine eventuelle Unverwertbarkeit z.B. des ermittelten Aufenthalts des Beschuldigten oder gar eine Freilassung des Festgenommenen wegen eines schweren „Fahndungsfehlers" mit Grundrechtsrelevanz sei nicht vereinbar mit der Funktion der Strafrechtspflege. Insoweit kann jedoch auf Parallelen namentlich im Haftrecht 34 verwiesen werden. So wurde bisher schon vertreten, daß eine Festnahme bei UnVerhältnismäßigkeit aufzuheben S. dazu Löwe-Rosenberg/ Gössel Einl Κ Rn 92 ff. S. auch Wolter FS B G H , 963 ff (dreistufiges Modell; z.T. enger). 28 Vgl BVerfG NJW 1984, 428. 2 9 Z . B . wenn die Tat knapp unterhalb der Schwelle der „erheblichen Bedeutung" liegt; ein Verstoß gegen § 131 Abs 4 oder gegen § 131a Abs 1 (es wird übersehen, daß der Aufenthalt des Beschuldigten im wesentlichen - z . B . ein kleiner Wohnort, nicht aber die genaue Anschrift - bekannt ist). 3 0 Z . B . ein Verstoß gegen die „Unverzüglichkeit" nach § 131 Abs 2 Satz 2 oder Abs 3 Satz 3. 31 Z . B . Anordnungsschwelle, Subsidiaritätsklausel. 32 Etwa wenn spätere Ermittlungen ergeben, daß die Tat von „erheblicher Bedeutung" ist; wenn die notwendige Bestätigung der Eilanordnung verspätet erfolgt. 33 Etwa wenn der Beschuldigte ohnehin die Absicht hatte, sich zu stellen oder seinen Aufenthalt mitzuteilen. 34 S. dazu auch Scblothauer/Weider Untersuchungshaft, 3. Aufl R n 272ff, 310 ff, 336. 26
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ist. 35 Wird die Frist des § 115 Abs. 2 verletzt, so führt dies zwar nach h.M. 3 6 nicht zur Freilassung des Beschuldigten, aber immerhin wird diese Lösung von einer Mindermeinung gefordert. Eine Festgenommener ist jedenfalls bei Versäumung der Frist gemäß § 128 Abs. 1 oder § 129 freizulassen. 37 Zur Aufhebung eines Haftbefehls kann es nach h.M. 3 8 kommen, wenn der Haftrichter, der den Haftbefehl erlassen hat, örtlich unzuständig war. Bei der Hauptverhandlungshaft (§ 127b) kann die Befristung (§ 127b Abs. 2 Satz 2) zur Freilassung führen. 39 Schließlich kann auch z . B . das Erreichen der HaftHöchstfrist des § 121 Abs. 1, insbesondere bei Verfahrensverzögerung infolge Justizverschuldens, zur Freilassung des Beschuldigten ohne Rücksicht auf die negativen Folgen für die weitere Strafverfolgung führen. Im Ergebnis Gleiches ergibt sich im Falle des § 122a. Diese Parallelen aus dem Haftrecht zeigen, daß Interessen der Strafrechtspflege auch auf die Gefahr hin, daß die Weiterführung eines Strafverfahrens unmöglich oder erheblich verzögert wird, gelegentlich zurücktreten müssen, wenn es um Grundrechtsschutz geht. Welche Konsequenzen aus einer grundrechtsrelevanten Verletzung des Fahndungsrechts zu folgern sind, wird unter Berücksichtigung der oben aufgezeigten Lösungsansätze weitgehend auch davon abhängen, wie „grundrechtsfreundlich" die erstrebte Lösung sein soll. d) Schließlich sei auf ein weniger bedeutsam erscheinendes Problem hingewiesen. Die Offentlichkeitsfahndung nach Zeugen darf gemäß § 131a Abs. 3 nur bei einer Straftat von erheblicher Bedeutung angeordnet werden. Das bedeutet: die intensive Fahndung auch nach einem Entlastungszeugen unterbleibt in Fällen geringerer Kriminalität, womöglich mit der Folge der Verurteilung des Beschuldigten. Da sich die §§ 131 ff jedoch nur an die Strafverfolgungsbehörden richten, bleibt es dem Verteidiger in solchen Fällen unbenommen, selbst eine Offentlichkeitsfahndung - ζ. B. über Zeitungsaufrufe - zu starten. Damit kann vielleicht dem Beschuldigten geholfen werden. Das Bestreben des Gesetzgebers, den Persönlichkeitsschutz des Zeugen zu stärken und ihn in der Öffentlichkeit nur dann in Beziehung zu einer Straftat zu stellen, wenn dies „erforderlich" ist, wäre damit konterkariert. Letztlich birgt dieser Lösungsversuch des Gesetzgebers nur ein unnötiges Risiko für den Beschuldigten und eine ebensolche Belastung für den Verteidiger. Ähnlich problematisch ist die Anordnungsvoraussetzung des drin-
S. Löwe-Rosenberg/Hilgert 127 Rn 44. Vgl dazu Löwe-Rosenberg/Hilgert 115 Rn 9 mwN; SK-Paeffgen § 115 Rn 7. 37 Löwe-Rosenberg/Hilgert 128 Rn 1, § 129 Rn 7 mwN; HK-Lemke § 128 Rn 2. S. auch EGMR NJW 2000, 2883, NJW 2001, 51 (unverzügliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzuges). 38 KG StV 1998, 384; Kleinknecht/Afej«?r-Go/?«er§ 309 Rn 6. 39 Löwe-Rosenberg/Hilger § 127b Rn 15, 16, s. auch dort Rn 22. 35 36
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genden Tatverdachts. Sie kann dazu führen, daß mit der Öffentlichkeitsfahndung nach wichtigen Zeugen zunächst abgewartet werden m u ß und die Ermittlungen eine gewisse Zeit unnötig in die falsche Richtung laufen. e) Das wenig erfreuliche Ergebnis der bisherigen Überlegungen - aus der Sicht der Verteidigung - ist: In der systematischen Abgrenzung der Fahndungsmaßnahmen nach den §§ 131 ff von denen gemäß den §§ 161, 163 und bei ihrem Einsatz im konkreten Einzelfall kann es zu insbesondere für den Beschuldigten ungünstigen Konstellationen k o m m e n . Die Einflußmöglichkeiten der Verteidigung zur korrekten Beachtung der verfassungsrechtlich gebotenen §§ 131 ff und zur Milderung der mit einer Fahndung möglicherweise verbundenen nachteiligen Folgen für die betroffenen Personen sind gering. Es wird selten sein, daß der Verteidiger so früh (genug) von einer beabsichtigten Anordnung einer Fahndung erfährt, daß er ggf. mit Hilfe eines Rechtsbehelfs (§ 98 Abs. 2 Satz 2 - analog; § 304) 40 versuchen kann, auf die A n o r d n u n g (grundsätzliche Notwendigkeit; Rechtsgrundlage; Art der Fahndungsmaßnahme; Einhaltung der Verfahrensregelungen; ggf. nachträgliche Berichtigung) Einfluß zu nehmen, etwa zu bewirken, daß die Fahndung beendet oder modifiziert wird. O b und in welchen Fällen eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Schutzregelungen der §§ 131 ff zu einem Verwertungsverbot führt, ist weitgehend ungeklärt. Es ist nicht auszuschließen, daß diese Schutzregelungen, obwohl sie der Verbesserung des G r u n d rechtsschutzes im Strafverfahren dienen sollen, in manchen Fällen „wirkungslos" bleiben werden.
3.
Akteneinsicht
a) Anfechtbarkeit. Die Einfügung des § 147 Abs. 5 durch das StVÄG 1999, der die „Anfechtung" der Ablehnung einer Akteneinsicht für drei Fallgestaltungen erlaubt, scheint auf den ersten Blick aus der Sicht der Verteidigung ein erheblicher, wenn auch noch unzureichender Fortschritt zu sein. 41 D e n n bisher wurde eine Anfechtung einer Verweigerung der Akteneinsicht, wenn sie auf die Gefährdung des Untersuchungszwecks (§ 147 Abs. 2) gestützt war, weitgehend als unzulässig angesehen. 4 2 Betrachtet man die Fälle, in denen jetzt gemäß § 147 Abs. 5 Satz 2 die Anrufung des Gerichts gegen die Versagung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft zulässig sein soll, nämlich bei Versagung der Einsicht: (aa) nach Vermerk des Abschlusses der Ermittlungen in den Akten (vgl. § 147 Abs. 2), (bb) in Protokolle über Vernehmungen des Beschuldigten usw. (§ 147 Abs. 3), (cc) wenn der Beschul-
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S. dazu LaserNStZ 2001, 120ff; Löwe-Rosenberg/ΖΛ/ger§ 131 Rn 35. Vgl Gatzweiler StraFo 2001, 1. Dedy StraFo 2001, 149.
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digte sich nicht auf freiem Fuß befindet, genauer, so ist eine gewisse Enttäuschung über den „Wert" dieser Regelung unvermeidlich. 43 Denn die Verweigerung der Einsicht nach dem Abschlußvermerk (169a) dürfte in der Regel rechtsmißbräuchlich (s. § 147 Abs. 2, 6) sein und war unter dem Gesichtspunkt der „Willkür" bisher schon über § 23 EGGVG anfechtbar. 44 Entsprechendes gilt für die Versagung der Einsicht in die von § 147 Abs. 3 erfaßten Unterlagen. 45 Lediglich für den Fall, daß der Beschuldigte sich nicht auf freiem Fuß befindet, tritt eine Verbesserung ein. Denn bisher war die Verteidigung darauf beschränkt, auf die Rechtsprechung des BVerfG zu verweisen, daß ein Haftbefehl nicht auf Umstände gestützt werden darf, zu denen dem Beschuldigten nicht rechtliches Gehör gewährt wird und dieses erfordert - je nach Lage des Einzelfalles (Umfang, Schwierigkeit der Sache) - die Gewährung von Akteneinsicht. 46 b) Dateieinsicht. Von erheblicher Bedeutung für die Strafverteidigung ist, ob sich das Akteneinsichtsrecht gemäß § 147 Abs. 1 auch auf Dateien (§§ 483 ff) erstreckt. Denn die Dateiregelungen der StPO regeln kein spezielles Einsichtsrecht des Verteidigers (Beschuldigten) in Dateien der Justiz, 47 sondern gewähren den speichernden Stellen der Justiz nur die arbeitserleichternde Befugnis, Auskünfte aus einer Datei statt aus den Akten zu erteilen (§ 487 Abs. 2). § 147 Abs. 1 spricht von Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären. Damit konzentrieren sich die Überlegungen auf die Frage, ob Dateien Akten oder wie Akten zu behandeln sind. Schon nach dem BDSG (vgl. § 3 Abs. 2 und § 20 Abs. 1, 2) 48 , dessen Terminologie den §§ 483 ff weitgehend zugrunde liegt, ist dies zu verneinen. 49 Zum selben Ergebnis führt eine genauere Betrachtung der Konzeption der Dateiregelungen, die - wie z.B. die Zwecke der Dateien und die daran anknüpfenden Vorschriften zur Übermittlung (§ 487) und zur „Datenpflege" zeigen - wesentlich auf die Interessen der Strafjustiz, speziell der Strafverfolgungsbehörden, abgestimmt ist. Danach sind Dateien grundsätzlich interne Hilfs- und Arbeitsmittel der Strafverfolgungsbehörden, Gerichte und anderer Stellen der Justiz. 50 Sie dienen im wesentlichen der Arbeitserleichterung sowie der Erhöhung der Effektivität. Dem entspricht es, daß nicht alle Umstände, die nach dem Grundsatz der „Aktenwahrheit und -vollstän45
Dedy StraFo 2001, 149. Vgl Dedy StraFo 2001, 149 rawN. « S. z.B. OLG Karlsruhe NStZ 1997, 49. 46 BVerfG NJW 1994, 3219; Löwe-Rosenberg/Häger Vor § 112 Rn 23. 47 § 491 regelt einen hier nicht zutreffenden Sonderfall; vgl Löwe-Rosenberg/Hilgert 491 Rn 2. 48 S. auch Gola/Schomerus $ 3 BDSG Rn 4.1 und 5.1 (zu § 3 aF). 49 Löwe-Rosenberg/Hilger Vor § 483 Rn 5, 8, 15 ff. 50 S. auch Fetzer StV 1991, 142. 44
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digkeit"51 in die Akten aufgenommen werden müssen, auch in den die Akten begleitenden Dateien gespeichert werden müssen, und daß Daten unter Umständen gelöscht werden müssen (§ 489), obwohl sie in den Akten unverändert erhalten bleiben. Eine Pflicht zur Vorlage der von der Staatsanwaltschaft geführten Dateien gemäß § 199 Abs. 2 - so daß sie deshalb wie Akten (§ 147 Abs. 1) zu behandeln wären - ergibt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt, daß die nach § 199 Abs. 2 vorzulegenden Unterlagen die Entscheidungen des Gerichts ermöglichen sollen und daher vollständig sein müssen. 52 Denn die notwendigen Erkenntnisse befinden sich in den Akten. 53 Das Ergebnis ist demnach: grundsätzlich läßt sich aus den §§ 147 Abs. 1, 199 Abs. 2 kein Recht auf Einsicht in Dateien ableiten. Denkbar ist allerdings, daß gemäß § 483 errichtete Arbeitsdateien, etwa zur Arbeitserleichterung bestimmter Verfahrenbeteiligter, den Akten beigefügt und zu deren Bestandteil gemacht werden, etwa eine Spurendokumentationsdatei zur Erleichterung der Auswertung von Spurenakten, eine in einer Datei „aufbereitete" Sammlung von Zeugenaussagen in Umfangssachen oder eine Auswertungsdatei in Wirtschaftsstrafverfahren. In solchen Ausnahmefällen erstreckt sich das Akteneinsichtsrecht nach § 147 Abs. 1 infolge der ausdrücklichen Zuordnung der Datei zu den Akten durch die für die Aktenführung verantwortliche und gleichzeitig speichernde Stelle auch auf diesen Bestandteil.54 Dem Strafverteidiger verbleiben damit nur zwei Wege, über die er versuchen kann, in einem gewissen Umfang „Dateieinsicht" zu erhalten: (aa) er beantragt Akteneinsicht und verweist auf die Möglichkeit des § 487 Abs. 2, anstelle der Akteneinsicht Dateieinsicht zu gewähren;55 (bb) er wirkt darauf hin, daß gemäß § 483 errichtete Dateien zur Arbeitserleichterung der Akte als Bestandteil beigefügt werden. 4.
Ermittlungsgeneralklausel
a) Bedeutung. Die StPO folgt seit jeher dem Prinzip der „Einzeleingriffsermächtigung"; 56 grundsätzlich ist jede in den Lebensbereich einer betroffenen Person eingreifende Ermittlungsmaßnahme speziell gesetzlich geregelt. 51 S. dazu BVerfG NJW 1983, 2135. 52 S. dazu Löwe-Rosenberg/Λ'