Festschrift für Michael Streck: Zum 70. Geburtstag 9783504380694

Nahezu 60 Kollegen und Freunde des Jubilars haben sich zusammengefunden, um die Person und das Lebenswerk eines der reno

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German Pages 976 [964] Year 2011

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Festschrift für Michael Streck: Zum 70. Geburtstag
 9783504380694

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Festschrift für Michael Streck

FESTSCHRIFT FÜR

MICHAEL STRECK ZUM 70. GEBURTSTAG herausgegeben von

Burkhard Binnewies Rainer Spatscheck

2011

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln TeL 02 21/9 37 38-{}1, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06044-2 ©2011 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist w:heberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen. Bearbeitungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Satz: H. Rohde, Much Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Als Herausgeber einer Festschrift hat man im Vorfeld das Problem, mit dem Verlag abstimmen zu müssen, welchen Umfang die Festschrift einnehmen wird. Wie bei einer Geburtstagseinladung geht man davon aus, dass mindestens ein Drittel der Eingeladenen – aus welchen Gründen auch immer – ablehnen wird. Unsere Überraschung war groß, dass nahezu alle Eingeladenen, bis auf wohl entschuldigte Ausnahmen, der Einladung gefolgt sind und zu Ehren von Michael Streck einen Beitrag für die Festschrift übersandt haben. So ist aus der Festschrift ein rundes abgewogenes Werk geworden, das alle Bereiche des beruflichen Wirkens von Michael Streck beleuchtet. Hierfür einen herzlichen Dank an alle Autorinnen und Autoren sowie dem Team des Verlags Dr. Otto Schmidt, das uns durch die verschiedenen Stationen einer Festschrift-Entstehung bravourös geleitet hat! Köln/München, im Januar 1011

Burkhard Binnewies und Rainer Spatscheck

V

Inhalt Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIII

I. Laudatio Burkhard Binnewies und Rainer Spatscheck Michael Streck zum Siebzigsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

II. Steuerrecht Jörg Alvermann Der Berufsverband in der steuerlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Burkhard Binnewies Der Spaßfaktor im Steuerrecht – Das Prinzip der Freude als steuerrelevantes Moment? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Georg Crezelius Die Betriebsaufspaltung – ein methodologischer Irrgarten . . . . . . . . .

45

Wolfgang Ewer Rechtsprobleme der Abgabenpflicht für Grundstücke in Business Improvement Districts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Klaus Korn Steuerbrennpunkte bei Freiberufler-Kooperationen . . . . . . . . . . . . . .

71

Ralf Neumann Die Kapitalgesellschaft im Würgegriff des § 8c KStG? . . . . . . . . . . . .

103

Klaus Olbing Die Berücksichtigung von Einkommen der Organgesellschaft bei dem Höchstbetrag für den Spendenabzug beim Organträger – Von der Kritikfähigkeit und dem gesunden Menschenverstand des Anwalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

Herbert Olgemöller Tarifrechtliche Trouvaillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

Reinhard Pöllath Offenlegungspflichten und Kronzeugenboni – gewährleisten oder gefährden sie die ordnungsgemäße Unternehmensführung? . . . . . . . .

143

Jens Reddig Lebzeitige Vermögensübertragungen gegen private Versorgungsrente – oder was der Gesetzgeber hiervon übrig ließ . . . . . . . . . . . . .

157

VII

Inhalt Seite

Bernd Rödl und Christian Rödl Ausgewählte Aspekte der Internationalen Unternehmens- und Vermögensnachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

Andreas Söffing Ausgewählte Beratungsaspekte beim Formwechsel einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . .

195

Matthias Söffing Weiterübertragungsverpflichtung und personengesellschaftsrechtliche Nachfolgeklauseln im Lichte des § 13a Abs. 3 ErbStG 2009 . . .

217

Rudolf Stahl Die steuerliche Behandlung von Bodenschätzen . . . . . . . . . . . . . . . .

233

Eckhard Wälzholz Ausschlagung gegen Abfindung in der ertragsteuerlichen Gestaltungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

Franz Wassermeyer Die Besteuerung des Gewinnanteils des persönlich haftenden Gesellschafters einer Kommanditgesellschaft auf Aktien . . . . . . . . .

259

Markus Wollweber Der Steuerirrtum – Zu den Rechtsfolgen steuerlicher Fehlvorstellungen bei Vertragsschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

III. Steuerverfahrensrecht Stephan Eilers Der Fiskus als Krisengewinnler – zur Unzulässigkeit von Auskunftsgebühren in Sanierungsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305

Heinz-Willi Kamps Berücksichtigung festsetzungsverjährter Steuern – Fehlerberichtigung gemäß § 177 AO im Grundlagen-Folgebescheid-Verhältnis und verjährte Vorschenkungen im Rahmen des § 14 ErbStG . . . . . . .

319

Alexandra Mack Der Steueranwalt im Finanzgerichtsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

337

Jörg Manfred Mössner Der Antrag im Finanzprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

Heide und Harald Schaumburg Grenzüberschreitende Sachaufklärung – Mitwirkungs- und Dokumentationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

369

Jürgen Schmidt-Troje Das Amtsermittlungsprinzip im finanzgerichtlichen Verfahren . . . . .

385

Roman Seer Tax Compliance und Außenprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

403

VIII

Inhalt Seite

Wolfgang Spindler Der Anwalt als „Organ der Steuerrechtspflege“ und Interessenvertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

417

Karin Stahl-Sura Zur Dauer der Verfahren vor den Finanzgerichten . . . . . . . . . . . . . . .

435

Siegbert Woring Der Zeugenbeweis im finanzgerichtlichen Verfahren . . . . . . . . . . . .

461

IV. Steuerstrafrecht Ute Döpfer „Schweigen ist das am schwersten zu widerlegende Argument“ – Anmerkungen zur Bedeutung des Anspruchs auf rechtliches Gehör für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren . . . . . . . . . . . . .

485

Rudolf Gocke und Xaver Ditz Internationale Verrechnungspreise und das Steuerstrafrecht . . . . . . .

495

Markus Gotzens Grenzüberschreitung im Steuerfahndungsverfahren – Effizienz vor Rechtsstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

519

Max Rau Ausgewählte Grundsatzprobleme und Grenzbereiche der Selbstanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

533

Rolf Schwedhelm Zum Unwerte der Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

561

Rainer Spatscheck Die Selbstanzeige – Von der Wiege bis zum Grab? . . . . . . . . . . . . . . .

581

Klaus Volk Prozessprinzipien im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht . . . . . . . . . . .

597

Jörg Weigell Überlegungen zum Steuer(straf)recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

609

Martin Wulf Reichweite steuerlicher Erklärungspflichten bei unklarer Rechtslage – wo beginnt der Bereich strafbaren Verhaltens? . . . . . . .

627

V. Berufsrecht Hubert W. van Bühren Entwicklung und Zukunft der Fachanwaltschaften in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

647

Bernhard Dombek Das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt . . . .

655

IX

Inhalt Seite

Mechtild Düsing Frauen in der Anwaltschaft – eine Machtfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . .

673

Martin Henssler Die berufsrechtliche Zulässigkeit der anwaltlichen Vertretung mehrerer Gesamtschuldner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

677

Benno Heussen Anwaltsmanagement im DAV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

695

Hartmut Kilger Dr. Michael Streck als Präsident des Deutschen Anwaltvereins 1998–2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

709

Wilhelm Krekeler Strafrechtliche Risiken des anwaltlichen Berufs . . . . . . . . . . . . . . . .

717

Dierk Mattik Festakt „60 Jahre Bundesrechtsanwaltskammer“ – Ein Bericht . . . . .

749

Axel Pestke Der europäische Steuerberater – Illusion oder Wirklichkeit? . . . . . . .

761

Franz Salditt Fünfzehn Jahre später! – Neujahrsinterview des Anwaltsblatts mit Dr. Anne Adams, Präsidentin des DAV, am 31. Dezember 2025 . . . .

785

Kaspar Schiller Anwaltliche Unabhängigkeit – Wozu? Wie weit? Wovon? . . . . . . . . .

797

Sven Thomas Der „Brand“ von Anwaltssozietäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

813

VI. Wirtschafts- und Zivilrecht Klaus Hubert Görg Zum Spannungsverhältnis zwischen § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG und § 64 Satz 3 GmbHG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

823

Friedrich Graf von Westphalen Vertragsfreiheit aufgrund zwingenden Rechts und der Schutz des Schwächeren als Grundlage des europäischen Verbraucherleitbilds . .

833

Ferdinand Kirchhof Finanzwetten zerstören Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

849

Tobias Lenz Die versicherungsrechtlichen Auswirkungen auf die Pauschalierungsund Quotierungsnovationen (Konzeptverantwortungsvereinbarung und Referenzmarkt) in der Zuliefererindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . .

859

Randolf Mohr Zur Schiedsklausel in der GmbH-Satzung – Zulässigkeitsvoraussetzungen und Gestaltungsempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . .

875

X

Inhalt Seite

Hans-Joachim Priester Kernbereich der Mitgliedschaft als Schranke der Testamentsvollstreckung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

891

Ingeborg Rakete-Dombek „Grau teurer Freund, ist alle Theorie. Und grün des Lebens goldner Baum“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

903

Thomas Wachter Nachweis der Erbfolge in deutsch-schweizerischen Erbfällen . . . . . .

921

Verzeichnis der Schriften von Michael Streck . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

941

XI

Autorenverzeichnis ALVERMANN, JÖRG Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner der Sozietät Streck Mack Schwedhelm, Köln BINNEWIES, BURKHARD Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner der Sozietät Streck Mack Schwedhelm, Köln, Lehrbeauftragter an der Eberhard Karls Universität Tübingen VAN BÜHREN,

HUBERT W. Dr., Rechtsanwalt, Gründer der Kanzlei van Bühren und Partner, Köln

CREZELIUS, GEORG Prof. Dr., Lehrstuhl für Steuerrecht, Universität Erlangen/Bamberg DITZ, XAVER Dipl.-Kaufm., Dr., Steuerberater, Partner der Sozietät Flick, Gocke, Schaumburg, Bonn DOMBEK, BERNHARD Dr., Rechtsanwalt und Notar a.D., Berlin, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer a.D. DÖPFER, UTE Dr., Rechtsanwältin, Oberursel DÜSING, MECHTILD Rechtsanwältin und Notarin, Fachanwältin für Verwaltungs-, Erbund Agrarrecht, Partnerin der Sozietät Meisterernst Düsing Manstetten, Münster EILERS, STEPHAN Prof. Dr., LL.M., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner der Sozietät Freshfields Bruckhaus Deringer LLP, Honorarprofessor an der Universität zu Köln EWER, WOLFGANG Prof. Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Honorarprofessor an der Christian-Albrecht-Universität zu Kiel, Präsident des Deutschen Anwaltvereins GOCKE, RUDOLF Dipl.-Kaufm., Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Gründer der Sozietät Flick, Gocke, Schaumburg, Bonn GÖRG, KLAUS HUBERT Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht, Partner der Sozietät GÖRG Partnerschaft von Rechtsanwälten, Köln

XIII

Autorenverzeichnis

GOTZENS, MARKUS Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Fachanwalt für Strafrecht, Partner der Kanzlei Wannemacher & Partner Rechtsanwälte, München HENSSLER, MARTIN Prof. Dr., Geschäftsführender Direktor des Instituts für Arbeitsund Wirtschaftsrecht sowie des Instituts für Anwaltsrecht, Universität zu Köln HEUSSEN, BENNO Prof. Dr., Rechtsanwalt, Berlin, Honorarprofessor für Computerrecht an der Leibniz-Universität Hannover, Of-Counsel der Heussen Rechtsanwaltsgesellschaft mbH. KAMPS, HEINZ-WILLI Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner der Sozietät Streck Mack Schwedhelm, Köln KILGER, HARTMUT Rechtsanwalt, Fachanwalt für Sozialrecht, Tübingen, ehemaliger Präsident des Deutschen Anwaltvereins KIRCHHOF, FERDINAND Prof. Dr., Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht, Universität Tübingen KORN, KLAUS Steuerberater, Partner der Sozietät Carlé, Korn, Stahl, Strahl, Partnerschaft Rechtsanwälte Steuerberater, Köln KREKELER, WILHELM Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Dortmund LENZ, TOBIAS Prof. Dr., Rechtsanwalt, Partner der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen und Partner, Köln, Professor für nationales und internationales Wirtschaftsrecht, Direktor des Instituts für Haftungsund Versicherungsrecht an der Rheinischen Fachhochschule Köln MACK, ALEXANDRA Rechtsanwältin, Fachanwältin für Steuerrecht, Partnerin der Sozietät Streck Mack Schwedhelm, Köln MATTIK, DIERK Dr., Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg a.D., ehemaliger Hauptgeschäftsführer des Deutschen Anwaltvereins, Rechtsanwalt, Hamburg MOHR, RANDOLF Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner der Sozietät Wirtz & Kraneis, Rechtsanwälte Partnerschaft, Köln

XIV

Autorenverzeichnis

MÖSSNER, JÖRG MANFRED Prof. (em.) Dr., Universitäten Osnabrück und Paris Panthéon, Richter am Finanzgericht a.D., Steuerberater PwC NEUMANN, RALF Dipl.-Finw., Regierungsdirektor, Körperschaftsteuerreferent der Oberfinanzdirektion Rheinland OLBING, KLAUS Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner der Sozietät Streck Mack Schwedhelm, Berlin OLGEMÖLLER, HERBERT Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner der Sozietät Streck Mack Schwedhelm, Köln PESTKE, AXEL Prof. Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Steuerberaterverbandes, Berlin PÖLLATH, REINHARD Prof. Dr., LL.M., Rechtsanwalt, Gründungspartner der Sozietät P + P Pöllath + Partners, Honorarprofessor an der Universität Münster PRIESTER, HANS-JOACHIM Prof. Dr., Notar a.D., Hamburg, Honorarprofessor an der Universität Hamburg RAKETE-DOMBEK, INGEBORG Rechtsanwältin und Notarin, Fachanwältin für Familienrecht, Berlin, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Familienrecht im Deutschen Anwaltverein RAU, MAX Leitender Regierungsdirektor Z, Vorsteher des Finanzamts für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung, Köln REDDIG, JENS Dr., LL.M., Richter am Finanzgericht Münster, Lehrbeauftragter an der Universität Osnabrück RÖDL, BERND Dr., Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Rechtsanwalt, Gründer der Kanzlei Rödl & Partner, Nürnberg RÖDL, CHRISTIAN Dr., LL.M., Rechtsanwalt, Steuerberater, Fachberater für Internationales Steuerrecht, Geschäftsführender Partner der Kanzlei Rödl & Partner, Nürnberg SALDITT, FRANZ Prof. Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht und für Steuerrecht, Neuwied, Honorarprofessor an der FernUniversität Hagen

XV

Autorenverzeichnis

SCHAUMBURG, HARALD Prof. Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner der Sozietät Flick, Gocke, Schaumburg, Bonn, Honorarprofessor an der Universität zu Köln SCHAUMBURG, HEIDE Dr., Vizepräsidentin des Finanzgerichts, Köln, Lehrbeauftragte an der Universität Siegen SCHILLER, KASPAR Dr., Rechtsanwalt, Partner der Kanzlei Schiller Rechtsanwälte, Winterthur, ehemaliger Präsident des Schweizerischen Anwaltsverbandes SCHMIDT-TROJE, JÜRGEN Dr., Präsident des Finanzgerichts a.D., Rechtsanwalt und Steuerberater SCHWEDHELM, ROLF Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner der Sozietät Streck Mack Schwedhelm, Köln SEER, ROMAN Prof. Dr., Lehrstuhl für Steuerrecht an der Ruhr-Universität Bochum SÖFFING, ANDREAS Prof. Dr., Steuerberater, Partner der Sozietät SJ Berwin LLP, Frankfurt a.M., Honorarprofessor an der Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg SÖFFING, MATTHIAS Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, S&P SÖFFING Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Lehrbeauftragter an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf SPATSCHECK, RAINER Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Fachanwalt für Strafrecht, Partner der Sozietät Streck Mack Schwedhelm, München SPINDLER, WOLFGANG Dr. h.c., Präsident des Bundesfinanzhofs, München STAHL, RUDOLF Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner der Sozietät Carlé, Korn, Stahl, Strahl, Partnerschaft Rechtsanwälte Steuerberater, Köln STAHL-SURA, KARIN Richterin am Finanzgericht, Münster THOMAS, SVEN Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Partner der Sozietät |tdwe|, Thomas Deckers Wehnert Elsner, Düsseldorf XVI

Autorenverzeichnis

VOLK, KLAUS Prof. Dr. Dr. h.c., Lehrstuhl für Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Strafprozessrecht, LMU München, Strafverteidiger WACHTER, THOMAS Notar, München WÄLZHOLZ, ECKHARD Dr., Notar, Partner der Kanzlei Dr. Malzer & Dr. Wälzholz, Füssen WASSERMEYER, FRANZ Prof. Dr. Dr. h.c., Vorsitzender Richter am BFH a.D., Rechtsanwalt, Steuerberater, Honorarprofessor der Universität Bonn, Sankt Augustin WEIGELL, JÖRG Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, W&R Weigell Rechtsanwälte, München GRAF VON WESTPHALEN, FRIEDRICH Prof. Dr., Rechtsanwalt, Gründer der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen und Partner, Köln, Honorarprofessor an der Universität Bielefeld WOLLWEBER, MARKUS Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner der Sozietät Streck Mack Schwedhelm, Köln WORING, SIEGBERT Dr., Vorsitzender Richter am FG a.D., Köln WULF, MARTIN Dr., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Partner der Sozietät Streck Mack Schwedhelm, Berlin, Lehrbeauftragter an der Bucerius Law School in Hamburg

XVII

Burkhard Binnewies und Rainer Spatscheck

Michael Streck zum Siebzigsten I. Am 8. März 2011 vollendet Michael Streck sein 70. Lebensjahr. Dies ist Anlass, ihn als einen der renommiertesten Steuerjuristen der letzten 40 Jahre mit einer Festschrift zu ehren. Michael Streck ist in der Juristerei vielfältig in Erscheinung getreten. Dort, wo er in Erscheinung tritt, hinterlässt er einen bleibenden Eindruck. Michael Streck ist Rechtsanwalt, Steueranwalt, Steuerstrafverteidiger und dies mit Leib und Seele. Er akzeptiert den Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege, lässt sich von dieser Rolle aber nicht vereinnahmen und versteht sich als Interessenvertreter, als Vertreter der Interessen seines Mandanten. Daneben hat sich Michael Streck umfangreiche Verdienste um die deutsche Anwaltschaft erworben. Unter anderem als Präsident des Deutschen AnwaltVereins hat er sich in besonderer Weise den Fragestellungen des anwaltlichen Berufsrechts angenommen. Wichtig war ihm in dieser Funktion auch die wiederholte Teilnahme am Rechtsstaatdialog mit China als Mitglied der Delegation der Bundesregierung. Als Präsident des Deutschen AnwaltVereins lag ihm ferner die Förderung der Rechtsanwältinnen besonders am Herzen. Nicht zuletzt hat Michael Streck neben seiner herausragenden beruflichen Tätigkeit als Steueranwalt und als Vertreter der Rechtsanwälte außergewöhnliche Schaffenskraft als juristischer Fachautor bewiesen. Seine Veröffentlichungen vereinigen umfassende Praxiserfahrung mit tiefer fachlicher Durchdringung der Thematik1. Theorie und Praxis sind für Michael Streck kein Gegensatz. Im Gegenteil: Exzellentes theoretisches Wissen ist stets Grundlage seiner fundierten Beratung, seine Beratungserfahrung fließt in die zahlreichen Fachveröffentlichungen ein, zur Fortentwicklung der Theorie. Seine Publikationen gehen über reine Fachveröffentlichungen hinaus, was seine Schriften über den Heiligen Sankt Ivo, den Schutzpatron der Rechtsanwälte, und über die Beschreibung des Berufsbildes „Anwalt/Anwältin“ belegen. Ebenso profiliert ist Michael Streck als Referent bei Vortragsveranstaltungen von Verbänden und Berufskammern der Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte sowie von Verlagen. Mit Michael Streck wird ein charismatischer Berater geehrt, ein Autor, ein Kommentator, ein Herausgeber zahlreicher Handbücher und Monografien, ein Mitherausgeber der NJW, ein viel geachteter Referent sowie ein Inhaber zahlreicher Ehrenämter. Anders gewendet: ein besonderer Mensch, eine besondere Persönlichkeit, ein besonderer Jurist.

___________ 1 S. Schrifttumsverzeichnis in dieser Festschrift, S. 941.

3

Laudatio

II. Michael Streck ist am 8. März 1941 in Bad Godesberg geboren. Er wuchs in einer großbürgerlichen Familie mit drei Schwestern und einem Bruder auf. Die Geschwister bedeuten ihm viel, bei zahlreichen privaten und beruflichen Anlässen sind Bruder und Schwestern gern eingeladene Gäste. Nach dem Abitur studierte Michael Streck Rechtswissenschaften in Bonn und Lausanne. Promoviert wurde Michael Streck nicht im Steuerrecht, sondern im Familienrecht mit dem Thema „Generalklausel und unbestimmter Begriff im Recht der allgemeinen Ehewirkungen“. Nach dem zweiten Staatsexamen absolvierte Michael Streck ab 1969 die Ausbildung im höheren Dienst der Finanzverwaltung beim Finanzamt Siegburg. Später wechselte er zum Finanzamt Bonn-Innenstadt. Als Finanzbeamter verstand er sich als kreativer und aktiver Anwalt des Fiskus. Rufen ins Ministerium folgte er nicht. Bereits 1975 schied Michael Streck aus der Finanzverwaltung aus und wurde Partner in der renommierten Kölner Steuerrechtspraxis Felix. Günther Felix hatte ihn im Anschluss an einen „gemeinsamen Fall“ bewegt, die Seiten zu wechseln. Über seinen Wechsel von der Finanzverwaltung zur Anwaltschaft hat Michael Streck stets gesagt: „Ich habe nur den Mandanten gewechselt“. 1984 gründete Michael Streck zusammen mit dem früh verstorbenen Sozius Thomas Rainer die Sozietät Streck Rainer, heute firmierend unter dem Namen Streck Mack Schwedhelm mit Büros in Köln, Berlin und München. Hier hat Michael Streck den Dreiklang aus Steuergestaltung, Steuerstreitführung und Steuerstrafrecht zur Beratungsphilosophie gemacht und damit eine hoch spezialisierte Steueranwaltsboutique mit klarem Profil ins Leben gerufen. Schnelles Wachstum haben Michael Streck und seine Sozien nicht angestrebt, sondern die Suche nach gleichsam qualifizierten Partnerpersönlichkeiten, die sich zu Beraterpersönlichkeiten entwickeln, in den Vordergrund gestellt. Das persönliche Umfeld und Verständnis wird höher gewertet, als der LeverageEffekt. Die eigene Mandatsbetreuung liegt Michael Streck – und seinen Sozien – mehr als der Auftritt mit einer Entourage von Associates. Dessen ungeachtet ist die interne Zusammenarbeit mit Michael Streck auch aus Sicht eines angestellten Anwalts ein Genuss. Die „Erziehung“ zu klarer Sprache und schriftsätzlicher Konzentration auf das Wesentliche war für jeden seiner heutigen Sozien prägend. Den entscheidenden Satz in einem Schriftsatz pflegt er mit einem guten Billardstoß zu vergleichen. Sowohl als Finanzbeamter als auch als Steueranwalt hat Michael Streck Finanzamt und Steuerpflichtige oftmals mit unkonventionellen, aber konstruktiven Lösungen überrascht. Die Auseinandersetzung in der mündlichen Verhandlung vor Finanzgerichten oder dem Bundesfinanzhof hat er zur verfahrensrechtlichen Kunst erhoben. Wird er zu einem Mandat neben anderen Beratern hinzugezogen, strebt er in der Regel die Führung dieses Mandats an, keinesfalls mit dem Ziel, andere zu verdrängen, aber in dem Bestreben eindeutiger Verantwortlichkeit. Ist dies nicht gewünscht, hat er ohne Groll reizvolle Mandate abgelehnt. Zum Anwaltsmarketing von Michael Streck hat das Nennen renommierter Mandate oder prominenter Mandanten nie gehört. Die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht wird in der Sozietät Streck Mack Schwedhelm als anwaltliches Privi4

Laudatio

leg gepflegt. Die Nennung von Mandaten und Mandanten durch die Sozietät in den einschlägigen Medien erfolgt nicht. Gelangen Mandate in die Öffentlichkeit, sind sie durch die Medien eigenständig ermittelt. Michael Streck hat sich stets auch als „Berater für Berater“ verstanden und unter anderem über die von ihm gegründete Beratungsakzente GmbH zahlreiche Fortbildungsveranstaltungen für Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte angeboten. Als Referent, rhetorisch brillant, ist er ebenso geschätzt wie als Anwalt. Michael Streck ist Sammler und Ästhet. Er hat Freude an der Sammlung von Plastikschlümpfen, ebenso wie an der Sammlung von künstlerischen Porzellanfiguren und nicht zuletzt an der Sammlung von historischen Steuerurkunden. All dies ist in seinem Büro für den Mandanten erkennbar. Das ist Teil der Beratungsphilosophie von Michael Streck. In seinen Augen soll die Persönlichkeit des Rechtsanwalts als Vertrauensperson des Mandanten für diesen auch hieran erkennbar sein und das Beratungsgespräch nicht in austauschbaren Besprechungszimmern stattfinden. Er hat stets Freude daran, die Büroräume mit Details auszustatten.

III. Bei aller beruflichen Belastung hat Michael Streck – mit steigendem Alter intensiver – auch das Privatleben gepflegt. Seine Familie lag ihm stets sehr am Herzen. Auf seine drei über die Welt verteilten Töchter und seine Enkelkinder ist er stolz. Für sie ist er als Vater und geschätzter Ratgeber immer erreichbar. Der plötzliche Tod seiner ersten Ehefrau Maria im Jahr 1996 hat ihn und seine Töchter schwer getroffen. Mit seiner zweiten Ehefrau Christiane hat er u.a. das gute Essen entdeckt, auch zur Freude seiner Kollegen; fiel es Michael Streck auf beruflichen Reisen früher nicht auf, wenn Mitreisende sich im Laufe eines Tages mangels Nahrungsaufnahme dem Kollaps näherten. Christiane und Michael Streck teilen die Liebe zur Literatur, das Interesse für Kunst und die Liebe zum Reitsport. In den frühen Morgenstunden (so geht das Gerücht, die Herausgeber haben dies bis heute nicht überprüft) widmet sich Michael Streck seinem Reitpferd. Der Reitsport – von ihm spät entdeckt – scheint Michael Streck zu reizen, da das Dressurreiten viel mit Ästhetik und Präzision zu tun hat. Sprache in Wort und Schrift ist seine Passion, beruflich wie privat. Die Liebe zur Literatur hat Michael Streck eine Praxisbroschüre der besonderen Art veröffentlichen lassen, Die Goldwaage, eine von ihm zusammengestellte Sammlung von Gedichten. Die über Jahrzehnte aufgebaute, wohlgeordnete private Bibliothek von Michael Streck ist beeindruckend. Besonders beeindruckend ist, dass die Bücher in ihren Regalen – jedes an seinem Platz – nicht nur gesammelt und geordnet, sondern auch gelesen sind. Über viele der Bücher gibt es eine Rezension von Michael Streck. Ihr Inhalt wird mit Ehefrau Christiane am Kamin entweder in der Bretagne – mit wundervollem Blick in den Blumengarten – oder in Köln – mit wundervollem Blick auf die romanische

5

Laudatio

Kirche St. Gereon – kritisch diskutiert. Beide veranstalten von Vielen geschätzte, von Wenigen gefürchtete Lesungen. Hat man einen Wunsch frei bei Michael Streck, sollte man sich ein Buch wünschen. Es wird mit Bedacht ausgewählt. Nun schenken wir – die Sozien der Sozietät Streck Mack Schwedhelm sowie die übrigen zahlreichen Autoren dieser Festschrift – Ihnen, lieber Herr Streck, ein Buch. Herzlichen Glückwunsch zum 70. Geburtstag!

6

Jörg Alvermann

Der Berufsverband in der steuerlichen Praxis Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Erscheinungsformen 1. Der „Verband“ 2. Vereinsverband 3. Großverband III. Steuersubjekt und Abgrenzungen 1. Rechtsform und Steuersubjekt 2. Abgrenzung zur GbR und Mitunternehmerschaft 3. Untergliederungen 4. Kooperationen, Gemeinschaften, Joint-Ventures IV. Ertragsteuerbefreiungen – Kriterien und Abgrenzungen 1. Der Berufsverband 2. Berufsverband und Gemeinnützigkeit – Abgrenzungen 3. Die Einnahmesphären 4. „Prägende“ wirtschaftliche Geschäftsbetriebe? V. Abgrenzungsfragen zum wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb 1. Kriterien 2. Betriebsaufspaltung

3. Beteiligungen 4. Sponsoring a) Steuerliche Ausgangslage b) Der typische Praxisfall c) Unterscheidungsmerkmale 5. Betriebsausgaben VI. Mitgliedsbeiträge und Umsatzsteuer 1. Bisherige Unterscheidung nach nationalem Recht: Echte und unechte Mitgliedsbeiträge 2. EuGH-Urteil vom 21.3.2002 3. Ausgangslage nach der EuGHEntscheidung – mehr Chancen als Risiken 4. Nachfolgende Rechtsprechung 5. Unterbliebene Reaktion von Verwaltung und Gesetzgebung 6. Steuerbefreiungen nach der MwStSystRL 7. Anwendungsvorrang der Befreiung nach EU-Recht 8. Die gegenwärtige Rechtslage 9. Zusammenfassend VII. Fazit

I. Einleitung Bereits der Blick in das Inhaltsverzeichnis dieser Festgabe zeigt, dass Michael Streck weit über den steuerjuristischen und steueranwaltlichen Horizont hinaus gedacht, geschrieben und gewirkt hat. Für seine Sozien war es ein Faszinosum, für den Deutschen Anwaltverein ein Glücksfall, einen Steuerrechtler an der Spitze eines großen deutschen Berufsverbands zu wissen. Der nachfolgende Beitrag versucht zu erreichen, was dem Jubilar bereits in einmaliger Weise gelungen ist: Steuerrecht und Verbandstätigkeit zu verbinden.

II. Erscheinungsformen 1. Der „Verband“ Der Verband ist als solcher keine Rechtsform. Eine einheitliche rechtliche Definition für den Verbandsbegriff existiert nicht. Im juristischen Sprach9

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gebrauch werden als Verband vor allem solche Vereinigungen auf Landesoder Bundesebene bezeichnet, die nach ihrer Organisation und Bedeutung über die Einzelvereine hinausgehen1. Im gesellschaftspolitischen Sinn ist der Verband eine auf Dauer angelegte Vereinigung von natürlichen oder juristischen Personen mit dem Ziel der gemeinsamen Zweckverfolgung und organisierten Interessenvertretung. Im wirtschaftlichen und sozialen Leben kennen wir den Verband vor allem als Berufsverband. Der Berufsverband ist in der Regel ein rechtsfähiger Verein, er kann jedoch auch ein nicht rechtsfähiger Verein sein. Er ist auch als GmbH und Aktiengesellschaft denkbar. In jedem Fall hat der Verband Mitglieder oder Gesellschafter. Der Berufsverband ist nicht altruistisch, sondern bedient die Egoismen der Mitglieder. Oder – feiner ausgedrückt – er sorgt und kümmert sich um die wirtschaftlichen und ideellen Interessen seiner Mitglieder. In der Praxis sind vor allem folgende Organisationsformen gebräuchlich: 2. Vereinsverband Der Vereinsverband ist ein Verein, dessen Mitglieder ausschließlich oder überwiegend Körperschaften sind2. Der Zusammenschluss erfolgt horizontal. Der Vereinsverband kann als rechtsfähiger oder nicht rechtsfähiger Verein bestehen, wobei seine Rechtsform nicht mit der seiner Mitglieder identisch sein muss. So können Vereine, Kapitalgesellschaften oder Körperschaften des öffentlichen Rechts Mitglieder eines eingetragenen oder nicht eingetragenen Vereins sein. Die Willensbildung in der Mitgliederversammlung erfolgt durch die Vertreter der Mitgliedsvereinigungen. 3. Großverband Demgegenüber gliedert der Großverband bzw. Großverein seine Organisation vertikal und hierarchisch. Üblich ist eine lokale Untergliederung, z.B. in Landes-, Bezirks-, Kreis- und Ortsbezirke. Möglich ist aber auch eine Unterteilung nach sachlichen Aufgaben. Oft bestehen die Unterebenen ihrerseits in Vereinsform. Im Unterschied zu den Vereinsverbänden sind die Mitglieder der Unterebenen zumeist auch Mitglieder des Großvereins. Es kommt zu gestuften- oder Doppelmitgliedschaften. Großverbände führen häufig aufgrund ihrer Größe keine Mitglieder-, sondern Delegiertenversammlungen durch. Insbesondere auf den unteren Stufen von Großverbänden kommt es zu – auch steuerlich relevanten – Abgrenzungsschwierigkeiten, ob es sich hierbei lediglich um oder eigenständige, nicht rechtsfähige Zweigvereine handelt (hierzu unten III.3.)3. Die Organisationsform der Untergliederungen kann wechseln: Der dem Hauptverein angehörende selbständige Zweigverein kann per Mitgliederbeschluss in eine unselbständige Untergliederung umgewandelt wer-

___________ 1 S. zur Historie in der Steuergesetzgebung auch Streck in Streck, KStG, 7. Aufl. 2008, § 5 Rz. 75. 2 Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, 12. Aufl., 2010, Rz. 2663. 3 Vgl. Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 2665 ff.

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den. Bislang unselbständig tätige Mitglieder können durch Vereinsgründung (nicht durch bloßen Mitgliederbeschluss4), mit anschließendem Vereinsbeitritt in den Hauptverein einen Zweigverein installieren.

III. Steuersubjekt und Abgrenzungen 1. Rechtsform und Steuersubjekt Berufsverbände sind zumeist rechtsfähige oder nicht rechtsfähige Vereine. Für die Besteuerung der Verbände gelten dann in ihrem Ausgangspunkt die gleichen Grundsätze wie für die Vereinsbesteuerung: Sie sind – rechtsfähig oder nicht rechtsfähig – grundsätzlich körperschaftsteuerpflichtig nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 bzw. Nr. 5 KStG. Die Körperschaftsteuerpflicht betrifft die positiven Einkünfte des Vereins, sofern sie einer Einkunftsart des Einkommensteuergesetzes zugeordnet werden können, § 8 Abs. 1 KStG. Wird der Verband – was ohne Weiteres möglich ist – in einer anderen Rechtsform betrieben, gelten die Besteuerungsregeln für diese Rechtsform. 2. Abgrenzung zur GbR und Mitunternehmerschaft Ertragsteuersubjekt ist also der Verband, sei er rechtsfähig oder nicht. Bei Verbänden in der Rechtsform des nicht rechtsfähigen Vereins kann allerdings die Abgrenzung zur GbR Probleme bereiten. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Mitglieder von vornherein auf einen bestimmten Kreis begrenzt, freie Ein- und Austritte nicht ohne Weiteres möglich sind. Der „Verband“ ist tatsächlich GbR, seine Einkünfte werden auf die „Mitglieder“ verteilt und unmittelbar dort besteuert. Die Körperschaftsteuerpflicht entfällt (s. auch § 3 Abs. 1 KStG), die Steuerbefreiung des Berufsverbandes kann nicht genutzt werden. Erheblich ist, wer wirtschaftlich als Vermögensträger anzusehen ist. Bei Vereinen überwiegt die Eigenständigkeit des Vermögens gegenüber den Individualrechten des Einzelnen5. Ist die Besteuerung als Körperschaft gewollt, muss eine entsprechende körperschaftliche Organisation dargelegt werden. Kriterien sind vereinstypische Satzung und Organe (Vorstand, Mitgliederversammlung), Vereinsname, fehlende Abfindungsansprüche im Falle des Ausscheidens, freier Ein- und Austritt und vor allem die Unabhängigkeit des Vereinsbestehens vom Mitgliederwechsel6. Im umgekehrten Fall sind Rechtsprechung und Finanzverwaltung nur selten bereit, eine zunächst als Personengesellschaft geführte Vereinigung später als nicht rechtsfähigen Verein anzuerkennen. Insbesondere bei langjähriger Behandlung als Mitunternehmerschaft soll nicht dann, wenn es für den Steuerpflichtigen günstiger ist, Körperschaftsteuerpflicht behauptet werden kön-

___________ 4 Vgl. Stöber, Handbuch zum Vereinsrecht, 9. Aufl., 2004, Rz. 885. 5 Streck in Streck, KStG, 7. Aufl. 2008, § 1 Rz. 40. 6 Streck, KStG, § 3 Rz. 3.

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nen7. Kann eine vereinstypische Struktur begründet werden, sollte dennoch gestritten werden. 3. Untergliederungen In anderen Fällen ist die Annahme eines nicht rechtsfähigen Vereins für die Finanzverwaltung der Anlass, Tätigkeiten aus dem steuerbefreiten Bereich herauszulösen und der Besteuerung zu unterwerfen. Veranstaltet z.B. ein rechtlich unselbständiger Ortsverband ein Sommerfest, das finanziell nicht aus der Verbands-, sondern über eine gesondert geführte Kasse abgewickelt wird, können die hieraus erzielten Einnahmen für den Ortsverband als nicht rechtsfähiger Verein steuerpflichtig werden8. Untergliederungen von Großvereinen sind grundsätzlich keine selbständigen Steuersubjekte, vgl. § 51 Satz 3 AO. Ab einer gewissen Verselbständigung können sie jedoch ihrerseits nicht rechtsfähige Vereine bilden, deren Einkünfte dann der Besteuerung unterworfen werden. Entscheidendes Kriterium für die Finanzverwaltung ist auch hier, ob die Untergliederung organisatorisch verselbständigt ist und eigenes Vermögen hält, das dem Zugriff des (Haupt-) Vereins entzogen ist. 4. Kooperationen, Gemeinschaften, Joint-Ventures Fehler und Unklarheiten in der steuerlichen Behandlung können bei gemeinsamen Veranstaltungen oder Projekten von mehreren Rechtsträgern auftreten: Träger von steuerlichen Pflichten können auch Zusammenschlüsse, Kooperationen oder sonstige Gemeinschaften sein. Schließen sich zwei oder mehrere Verbände für ein gemeinsames Projekt, eine Veranstaltung, zum Betrieb einer Einrichtung zusammen, können aus diesen Gemeinschaften gesonderte steuerliche Pflichten, im Einzelfall auch neue Steuersubjekte entstehen. Entscheidend für die steuerliche Beurteilung ist, ob sich der Zusammenschluss auf eine bloße Innengesellschaft beschränkt oder die Veranstaltungsgemeinschaft auch nach Außen eigenständig in Erscheinung tritt. Beispiel: Die Verbände A und B richten gemeinsam ein Symposium zu aktuellen politischen Fragen aus. Treten die beiden Verbände wie eine „Veranstaltungs-GbR“ auf, sind die bei der Veranstaltung erzielten Einnahmen einheitlich und gesondert festzustellen (§ 180 AO). Vor allem aber wird die Gemeinschaft zum eigenständigen Umsatzsteuersubjekt. Werden die Eingangsrechnungen für die Veranstaltungskosten nicht ebenfalls auf die Gemeinschaft ausgestellt, kann schon aufgrund der fehlenden ordnungsgemäßen Bezeichnung des Leistungsempfängers der Vorsteuerabzug versagt werden (§ 15 UStG). Das Entstehen unerwünschter Steuersubjekte kann vermieden werden, in dem sich die Gemeinschaft auf eine bloße Innengesellschaft beschränkt und

___________ 7 S. BFH v. 15.6.1965 – IV 188/62 U, BStBl. III 1965, 554. 8 Vgl. BFH v. 18.12.1996 – I R 16/96, BStBl. II 1997, 361 f.

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beim Außenauftritt darauf geachtet wird, dass die Eigenständigkeit der Rechtsträger erhalten bleibt.

IV. Ertragsteuerbefreiungen – Kriterien und Abgrenzungen 1. Der Berufsverband Berufsverbände ohne öffentlich-rechtlichen Charakter sowie die kommunalen Spitzenverbände sind nach § 5 Abs. 1 Nr. 5 Satz 1 KStG von der Körperschaftsteuer befreit. Die Befreiung gilt in allen Rechtsformen des § 1 Abs. 1 Nr. 1–5 KStG. Auch Körperschaften und Personenvereinigungen, deren Hauptzweck die Vermögensverwaltung für einen nicht rechtsfähigen Berufsverband ist, sind nach § 5 Abs. 1 Nr. 6 KStG, § 3 Nr. 10 GewStG befreit, soweit ihre Erträge im Wesentlichen aus dieser Vermögensverwaltung herrühren und ausschließlich dem Berufsverband zufließen9. Berufsverbände im Sinne des § 5 Nr. 5 KStG sind nach R 16 Abs. 1 KStR Vereinigungen von natürlichen Personen oder Unternehmen, die allgemeine, aus der beruflichen oder unternehmerischen Tätigkeit erwachsende ideelle und wirtschaftliche Interessen des Berufsstands oder Wirtschaftszweigs wahrnehmen. Gleichgültig ist, ob die Interessenwahrnehmung nur den Mitgliedern oder dem Berufsstand/Wirtschaftszweig insgesamt zugute kommt10. Auch Zusammenschlüsse von Berufsverbänden (z.B. Bundes-, Landes- oder internationale Verbände), sind Berufsverbände im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 5 KStG11. Der häufig anzutreffenden Vorstellung, die Bezeichnung wie auch immer strukturierter Vereinigungen als „Verband“ sei ein Freibrief im Hinblick auf die Ertragsteuerpflicht, sollte der Berater entgegenwirken. Die Befreiungsvorschrift wird von der Finanzverwaltung restriktiv gehandhabt. Die Voraussetzungen des Berufsverbands müssen schlüssig dargelegt werden. Die Bedingungen des Berufsverbands müssen in jedem Veranlagungszeitraum erfüllt sein12. Der Charakter des Berufsverbands muss sich nicht notwendig in der Satzung ausdrücken, sofern sich der Verband nachweisbar als Berufsverband betätigt13. Ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb kann in der Satzung erwähnt werden. So ist es z.B. unschädlich, wenn in der Satzung Rechtsberatung und Rechtsschutz für die Mitglieder als Satzungszweck genannt ist14. Schädlich für die Steuerbefreiung als Berufsverband ist die Vertretung von Individualinteressen. Ein Verband, der nicht den Interessen des gesamten Berufsstands, sondern nur einer geringen Anzahl von Berufsangehörigen dient,

___________ 9 Zu Einzelfragen s. Alvermann in Streck, KStG, 7. Aufl., 2008, § 5 Rz. 85. 10 Alvermann in Streck, KStG, § 5 Rz. 77; s. auch – zu § 4 Nr. 22 UStG – BFH v. 27.4.1990 – VI R 35/86, BFH/NV 1990, 701; v. 7.6.1988 – VIII R 76/85, BStBl. II 1989, 97. 11 R 16 Abs. 1 KStR. 12 BFH v. 22.7.1952 – I 44/52 U, BStBl. III 1952, 221. 13 BFH v. 22.7.1952 – I 44/52 U, BStBl. III 1952, 221. 14 OFD Hannover v. 6.6.2002 – S 2725 - 32 - StH 233 / S 2725 - 20 - StO 214, DStR 2002, 1305: Auch insoweit keine Einnahmen aus wirtschaftlichem Geschäftsbetrieb.

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erlangt keine Steuerfreiheit15. Die Verfolgung ganz untergeordneter Einzelinteressen ist allerdings unschädlich16. Für die Erlangung der Steuerbefreiung ist auch nicht erforderlich, dass der Verband sämtliche oder eine Vielzahl aller wirtschaftlichen Interessen des Berufsverbandes wahrnimmt17. Auch ein Verband, der nur in einem bestimmten Bereich die berufsständischen Interessen wahrnimmt, erfüllt die Befreiungsvoraussetzungen. 2. Berufsverband und Gemeinnützigkeit – Abgrenzungen Die Besteuerung von Berufsverbänden und gemeinnützigen Körperschaften läuft in wesentlichen Bereichen parallel. Auch das Gemeinnützigkeitsrecht folgt der partiellen Steuerpflicht im Rahmen des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebes und kennt die Abgrenzungsprobleme zur Vermögensverwaltung. § 14 AO gilt für beide Bereiche. Die Parallelität gilt allerdings nicht uneingeschränkt: §§ 51 ff. AO beziehen sich nur auf gemeinnützige Organisationen und gelten für den (nicht gemeinnützigen) Berufsverband nicht. Demzufolge sind die Mittelverwendungsprobleme der gemeinnützigen Körperschaften dem Berufsverband weitgehend fremd. Allerdings können Berufsverbände innerhalb ihres wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs keinen Zweckbetrieb bilden. Die Freigrenze des § 64 Abs. 3 AO (35.000,– Euro) findet ebenfalls keine Anwendung. Die Unterscheidung zwischen Berufsverband und Gemeinnützigkeit ist also auch für die Besteuerung wesentlich. Umso verblüffender ist es, dass sich immer wieder Satzungen finden, die die Begriffe gemeinsam und synonym verwenden – obwohl sich beide vom Zweck her weitgehend ausschließen: Der Berufsverband vertritt die Interessen einer begrenzten Berufsgruppe und ist damit schon nach seinem Selbstzweck nicht auf die Förderung der Allgemeinheit (vgl. § 52 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO) ausgerichtet. Ausnahmen sind denkbar, aber in jedem Fall angreifbar und problembehaftet. Gemeinnützige Körperschaften, die von Berufsverbänden getragen und/oder finanziert werden, können allerdings verdeckte Berufsverbände sein18. 3. Die Einnahmesphären Die Steuerbefreiung des Berufsverbandes ist ausgeschlossen, soweit er einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb unterhält (§ 5 Abs. 1 Nr. 5 Satz 2 a) KStG) oder mehr als 10% seiner Mittel für die unmittelbare oder mittelbare Unterstützung oder Förderung von politischen Parteien verwendet (§ 5 Abs. 1 Nr. 5 Satz 2 b) KStG). Ausgehend von der gesetzlichen Systematik ist für die Ertragsbesteuerung zwischen drei Einnahmesphären des Berufsverbands zu unterscheiden:

___________ 15 BFH v. 29.8.1973 – I R 234/71, BStBl. II 1974, 60; v. 26.6.2002 – I B 148/00, BFH/NV 2002, 1617 (1618), m.w.N.; zur Umsatzsteuer BFH v. 20.8.1992 – V R 2/88, BFH/NV 1993, 204. 16 Alvermann, in Streck, KStG. 17 BFH v. 26.6.2002 – I B 148/00, BFH/NV 2002, 1618 f. 18 Felix, BB 1982, 2175.

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– Die Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen und öffentlichen Zuschüssen fallen in den nicht steuerbaren Bereich. – Die Vermögensverwaltung des Berufsverbandes ist ertragsteuerfrei. Sie liegt nach § 14 Abs. 1 Satz 3 AO in der Regel dann vor, wenn Vermögen genutzt, z.B. Kapitalvermögen verzinst oder unbewegliches Vermögen vermietet oder verpachtet wird. – Steuerbefreite Berufsverbände sind mit ihrem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb ertragsteuerpflichtig, § 5 Abs. 1 Nr. 5 a) KStG, § 14 AO. Der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb ist kein eigenständiges Steuersubjekt, sondern Bestandteil der steuerbefreiten Körperschaft. Steuersubjekt bleibt allein der Verband, der innerhalb des Geschäftsbetriebs der (partiellen) Steuerpflicht unterliegt. Die Steuerfreiheit des übrigen Verbandsbereichs bleibt unberührt. Die Verknüpfung von Berufsverband und wirtschaftlichem Geschäftsbetrieb im Tatbestand der Vorschrift ist verwirrend. Die Begriffe sind zu trennen. Zuerst ist zu prüfen, ob ein Berufsverband vorliegt. Wird dies bejaht, führt der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb nur zur partiellen Steuerpflicht, gefährdet aber – auch bei großem Umfang der wirtschaftlichen Tätigkeit (s. unten 4.) – nicht die Steuerfreiheit des übrigen Verbands. 4. „Prägende“ wirtschaftliche Geschäftsbetriebe? Für wirtschaftliche Geschäftsbetriebe gemeinnütziger Körperschaften hatte der BFH in der Vergangenheit die sog. „Geprägetheorie“ entwickelt19. Demnach wird die Gemeinnützigkeit einer Körperschaft grundsätzlich noch nicht dadurch berührt, dass der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb die gemeinnützigen Aktivitäten übersteigt20. Entscheidend ist allein, dass die Tätigkeit der gemeinnützigen Vereinigung darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit selbstlos zu fördern21. Auch Körperschaften, die ihre Einnahmen nahezu ausschließlich durch die Unterhaltung von wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben erzielen, können als gemeinnützig anerkannt werden22. Erst wenn der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb für die Körperschaft derart „prägend“23 ist, dass die ideelle Tätigkeit dahinter erkennbar zurücktritt, soll nach der Rechtsprechung die Gemeinnützigkeit tangiert sein. Diese Gepräge-Rechtsprechung wurde von Rechtsprechung und Finanzverwaltung auch auf den Berufsverband übertragen: Entscheidend sei, dass die Tätigkeit des Verbandes primär auf berufsständische Interessenvertretung ausgerichtet ist. Auch Verbände, die ihre Einnahmen nahezu ausschließlich durch die Unterhaltung von wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben erzielen, können demnach steuerbefreit werden24. Nach dem bis 31.12.2003 geltenden

___________ 19 S. die eingehende Darstellung bei Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 2008, § 4 Rz. 90 ff. 20 BFH v. 15.7.1998 – I R 156/94, BStBl. II 2002, 162. 21 BFH v. 15.7.1998 – I R 156/94, BStBl. II 2002, 162. 22 OFD Frankfurt v. 6.8.2003, DB 2003, 1932. 23 S. zu diesem Begriff auch AEAO zu § 55 Abs. 1 Nr. 1 Tz. 2. 24 OFD Frankfurt v. 6.8.2003 – S 0174 A - 20 - St II 1.03, DB 2003, 1932.

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Abschn. 8 Abs. 1 KStR 1995 entfiel die Steuerbefreiung allerdings nach § 5 Abs. 1 Nr. 5 KStG, „wenn die Verbandstätigkeit so weit hinter die wirtschaftliche Tätigkeit zurücktritt, dass der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb dem Verband das Gepräge gibt.“ Seit 2004 formulieren die Richtlinien: „Die Steuerbefreiung entfällt, wenn nach dem Gesamtbild der wirtschaftlichen Geschäftsführung die nicht dem Verbandszweck dienende wirtschaftliche Tätigkeit dem Verband das Gepräge gibt.“25

Die Geprägetheorie ist zu Recht vielfältiger Kritik ausgesetzt26. Der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb ist eine – gesetzgeberisch gewollte, vgl. §§ 14, 64 AO – Finanzierungsform steuerbefreiter Körperschaften. Werden die aus den Geschäftsbetrieben gewonnenen Mittel für die steuerbefreiten Zwecke eingesetzt, kann die Steuerbefreiung nicht von der Größe eines solchen Mittelbeschaffungsbetriebes abhängen. Richtigerweise ist für die Beurteilung einer steuerbefreiten Tätigkeit daher nicht auf das Größenverhältnis zur wirtschaftlichen Tätigkeit, sondern auf die Mittelverwendung für die steuerbegünstigten Zwecke abzustellen. Immerhin hat auch der BFH in seiner jüngeren Rechtsprechung27 zu gemeinnützigen Körperschaften noch einmal Folgendes klargestellt: Auch wenn eine Körperschaft den überwiegenden Teil ihrer Einnahmen aus einem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb erzielt, wird diese noch nicht automatisch durch den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb „geprägt“. Betont wird, dass ein Verstoß gegen das Gebot der Selbstlosigkeit nicht allein deshalb vorliegt, weil die Körperschaft einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb unterhält und die nichtbegünstigten die begünstigten Aktivitäten übersteigen. Maßgebend ist nach dem BFH vielmehr, „ob das Vermögen der … Körperschaft zweckgerichtet für die ideellen Zwecke eingesetzt wird und die Einnahmen aus der nicht begünstigten Tätigkeit für die begünstigte Tätigkeit verwendet werden.“28

Wirtschaftliche Tätigkeiten zur Erhöhung der Einkünfte mit dem Ziel, den steuerbegünstigten Satzungszweck durch Zuwendungen von Mitteln zu fördern, sind nicht schädlich29. Allerdings – so der BFH weiter – darf die wirtschaftliche Aktivität einer gemeinnützigen Körperschaft „nicht zum Selbstzweck“ werden. Die Unterhaltung des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs müsse stets „um des gemeinnützigen Zwecks willen“ erfolgen, in dem sie also z.B. der Beschaffung von Mitteln zur Erfüllung der gemeinnützigen Aufgabe dient30. Ist der wirtschaftliche Geschäftsbetrieb dagegen nicht dem gemeinnützigen Zweck untergeordnet, sondern ein davon losgelöster Zweck, scheitert die Gemeinnützigkeit an § 56 AO. In einem solchen Fall könne die Betätigung der Körperschaft nach dem BFH auch nicht in einen steuerfreien

___________ 25 26 27 28 29

R 16 Abs. 1 Satz 6 KStR. S. nur Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 2008, § 4 Rz. 95 ff. BFH v. 4.4.2007 – I R 76/05, BStBl. II 2007, 631. BFH v. 4.4.2007 – I R 76/05, BStBl. II 2007, 631. BFH v. 4.4.2007 – I R 76/05, BStBl. II 2007, 631; s. auch Strahl, DStR 2000, 2163 (2167), m.w.N. 30 BFH v. 4.4.2007 – I R 76/05, BStBl. II 2007, 631.

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und einen steuerpflichtigen Teil aufgeteilt werden – vielmehr ist die Körperschaft dann insgesamt steuerpflichtig31. Dieses „Selbstzweckverbot“ ist m.E. in dieser Form nicht auf Berufsverbände übertragbar. Das Ausschließlichkeitsgebot des § 56 AO ist ein gemeinnütziges Gebot, das der gesetzgeberischen Definition des § 51 AO („ausschließlich und unmittelbar gemeinnützig“) entstammt. Zwar formuliert auch § 5 Abs. 1 Nr. 5 KStG, der Zweck eines Berufsverbands dürfe „nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet“ sein. Bei historischer und teleologischer Auslegung ist dieses Tatbestandsmerkmal aber – wie zuletzt Kühner überzeugend dargelegt hat32 – als Verweis auf § 14 AO zu verstehen. Im Ergebnis ist daher dem steuerbefreiten Berufsverband die Unterhaltung wirtschaftlicher Geschäftsbetriebe in unbegrenztem Maß gestattet, sofern er die hieraus erzielten Mittel in erster Linie für seine satzungsmäßigen Zwecke verwendet33.

V. Abgrenzungsfragen zum wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb 1. Kriterien Von wesentlicher Bedeutung für die Bestimmung der ertragsteuerfreien Vermögensverwaltung ist die Abgrenzung zum steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb. Ausgangspunkt ist § 14 AO. Die Vorschrift definiert den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb als selbständige, nachhaltige Tätigkeit, durch die Einnahmen oder andere wirtschaftliche Vorteile erzielt werden und die über den Rahmen einer Vermögensverwaltung hinausgeht. Der Begriff der Vermögensverwaltung selbst ist gesetzlich nicht abschließend definiert, sondern zunächst nur negativ vom wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb abgegrenzt. Ergänzend normiert § 14 Abs. 1 Satz 3 AO die beiden Regelbeispiele der Vermögensverwaltung, nämlich die Nutzung von Vermögen (z.B. Kapitalverzinsung) und Vermietung und Verpachtung von unbeweglichem Vermögen. Für die Abgrenzung der beiden Vermögenssphären schließt die ganz herrschende Auffassung34 an die Kriterien zur einkommensteuerlichen Unterscheidung zwischen den Einkünften aus Gewerbebetrieb einerseits und den Einkünften aus Kapitalvermögen und Vermietung und Verpachtung andererseits an. Dies führt zu der gängigen Ausgangsformel, wonach bei der Vermögensverwaltung bereits vorhandenes Vermögen zur Fruchtziehung eingesetzt wird. Die Substanz des Vermögens bleibt erhalten. Die Ausnutzung

___________ 31 BFH v. 20.12.1978 – I R 21/76, BStBl. II 1979, 496; v. 28.11.1990 – I R 38/86, BFH/NV 1992, 90. 32 Kühner, Die Steuerbefreiung der Berufsverbände, Diss. Bonn, 2008, S. 87 ff.; Kühner, DStR 2009, 1786 (1787 ff.). 33 So auch Kühner, DStR 2009, 1786 (1790). 34 S. Tipke in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 14 AO Rz. 11; abweichend und eingehend Hüttemann, Wirtschaftliche Betätigung und steuerliche Gemeinnützigkeit, Diss. Bonn, 1990, S. 147 ff.

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substanzieller Vermögenswerte tritt nicht entscheidend in den Vordergrund35. Geht die zu beurteilende Tätigkeit des Berufsverbandes über diesen Rahmen nicht hinaus, ist die Größe des verwalteten Vermögens und der Umfang der Verwaltungstätigkeit unerheblich36. Demgegenüber sollen beim wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb erst neue Vermögenswerte geschaffen werden37. Die Vermögensverwaltung wird überschritten, wenn die Tätigkeiten über das normale Maß der Vermögensnutzung hinausgehen. Der Berufsverband ist hier wirtschaftlich selbständig, nachhaltig und auf Einnahmeerzielung ausgerichtet tätig. Maßgebend zu berücksichtigen ist hierbei immer auch das Motiv des Gesetzgebers für die Steuerpflicht des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs, der Gesichtspunkt der Wettbewerbsneutralität38. Der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verlangt, dass das Steuerrecht alle Wettbewerber gleich behandelt und belastet. Dies schließt Steuervergünstigungen – wie für Berufsverbände – nicht aus. Die Begünstigung erreicht jedoch ihre Grenze, wo steuerbefreite Körperschaften ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile erhielten. Im Falle einer nachhaltigen wirtschaftlichen Tätigkeit, die nicht nur auf die Nutzung der vorhandenen Substanz beschränkt ist, verlässt der Berufsverband seine begünstigungsfähige Sphäre. Er muss in dieser Hinsicht den anderen wirtschaftlich Tätigen gleichgestellt werden. Die Grenze von der Vermögensverwaltung zum wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb ist damit regelmäßig dann überschritten, wenn die Tätigkeit des Berufsverbands auf einen wirtschaftlichen Leistungs- oder Güteraustausch gerichtet ist. 2. Betriebsaufspaltung Ein in § 14 Satz 3 AO gesetzlich festgelegter Regelfall der Vermögensverwaltung ist die Vermietung und Verpachtung. Die Vermögensverwaltung ist in diesem Bereich nicht auf die Nutzung des Immobilienvermögens beschränkt. Auch z.B. die Verpachtung von Werberechten oder Werbeflächen ist grundsätzlich noch dem Bereich der Vermögensverwaltung zuzuordnen39. Die Größe des vermieteten oder verpachteten Vermögens ist für die Einstufung als Vermögensverwaltung unerheblich. Auch die Verpachtung eines Gewerbebetriebs ist der Vermögensverwaltung zuzuordnen. Zu beachten sind in diesem Zusammenhang allerdings die Regeln der Betriebsaufspaltung:

___________ 35 BFH v. 26.2.1992 – I R 149/90, BStBl. II 1992, 693; v. 10.6.1992 – I R 76/90, BFH/NV 1992, 839. 36 S. BFH v. 12.3.1964 – IV 136/61, BStBl. 1964 III, 364, 365 f., und v. 18.3.1964 – IV 141/60 U, BStBl. III 1964, 367 (368), beide zur Gewerblichkeit; Tipke in Tipke/ Kruse, AO/FGO, § 14 Rz. 13. 37 Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 64 AO Rz. 18. 38 Ausführlich Hüttemann, (Fn. 34), S. 148 ff. 39 ZB BFH v. 8.3.1967 – I 145/64, BStBl. II 1967, 373.

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Der Berufsverband in der steuerlichen Praxis

Nach gefestigter Rechtsprechung40 kann auch eine im Übrigen steuerbefreite Körperschaft einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb unterhalten, wenn sie an einer Kapitalgesellschaft mehrheitlich beteiligt ist und dieser wesentliche Betriebsgrundlagen überlässt. Insbesondere können auch Vereine und Verbände taugliche Besitzunternehmen im Rahmen einer Betriebsaufspaltung sein. Überlässt der Berufsverband ein Wirtschaftsgut an eine Gesellschaft, mit der er personell verflochten ist (z.B. Tochter-GmbH), und stellt das überlassene Wirtschaftsgut bei diesem Unternehmen eine wesentliche Betriebsgrundlage dar, fallen sowohl die Beteiligung an dem Unternehmen selbst als auch der Pachtzins in den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb41. Zur Betriebsaufspaltung mit steuerbefreiten Tochtergesellschaften sogleich unter V.3. 3. Beteiligungen Nach gefestigter Rechtsprechung42 und einhelliger Literaturansicht43 ist die bloße Beteiligung an einer anderen (befreiten oder nicht befreiten) Körperschaft grundsätzlich der steuerbefreiten Vermögensverwaltung zuzuordnen. Rechtsprechung und Finanzverwaltung machen von diesem Grundsatz allerdings zwei praxisrelevante Ausnahmen: Zum einen gelten auch hier die Regeln der Betriebsaufspaltung (oben V.2.). Zum andern – und dies ist für die Beratungspraxis schlicht ärgerlich – soll nach Rechtsprechung44, Finanzverwaltung45 und Teilen des Schrifttums46 eine Beteilung auch dann dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zuzuordnen sein, wenn die beteiligte steuerbegünstigte Körperschaft unmittelbar in die laufende Geschäftsführung eingreift oder sie übernimmt. Rechtsprechung und Finanzverwaltung wollen insbesondere bei „entscheidendem Einfluss“ auf die Geschäftsführung einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb annehmen47. Die bloße Möglichkeit der Einflussnahme ist jedoch keinesfalls ausreichend48. Dass das Kriterium des „entscheidenden Einflusses“ weder rechtlich noch praktisch konsistent ist, wird schon an Folgendem deutlich: Auch die h.M. konzediert, dass eine bloße Mehrheitsbeteiligung für sich genommen nicht

___________ 40 S. nur BFH v. 5.6.1985 – I S 2/85, BFH/NV 1986, 433; v. 21.5.1997 – I R 164/94, BFH/NV 1997, 825; zuletzt FG Köln v. 15.7.2009 – 13 K 4468/05, EFG 2010, 350, Rev. eingelegt, Az. BFH I R 97/09. 41 BFH v. 21.5.1997 – I R 164/94, BFH/NV 1997, 825; v. 5.6.1985 – I S 2/85, 3/85, BFH/NV 1986, 433. 42 S. bereits BFH v. 30.6.1971 – I R 57/70, BStBl. II 1971, 753; v. 27.3.2001 – I R 78/99, BStBl. II 2001, 449. 43 S. z.B. Schauhoff in Schauhoff, Handbuch der Gemeinnützigkeit, 2. Aufl., 2005, § 6 Rz. 68; Buchna, Gemeinnützigkeit im Steuerrecht, 9. Aufl., 2008, S. 255, beide m.w.N. 44 BFH v. 30.6.1971 – I R 57/70, BStBl. II 1971, 753. 45 R 16 Abs. 5 KStR. 46 Vgl. Schauhoff in Schauhoff, Handbuch der Gemeinnützigkeit § 6 Rz. 68; Wallenhorst in Wallenhorst/Halaczinsky, Die Besteuerung gemeinnütziger Vereine und Stiftungen, 6. Aufl., 2009, Rz. F 47; Buchna, Gemeinnützigkeit im Steuerrecht, S. 257 f. 47 R 16 Abs. 5 Satz 4 KStR; BFH I R 57/70, a.a.O.; s. zum Ganzen auch Alvermann in Streck, KStG, 7. Aufl., 2008, § 5 Rz. 35 „Beteiligung an einer Körperschaft“. 48 S. auch Engelsing/Muth, DStR 2003, 917, m.w.N.

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ausreichend ist, einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zu begründen49. Mehr noch: Auch eine 100%-Beteiligung wird einhellig noch nicht für ausreichend erachtet. Entscheidend soll vielmehr sein, ob durch entsprechende organisatorische Maßnahmen (z.B. Personalunion in der Geschäftsführung50) ein „entscheidender Einfluss“ sichergestellt ist. Argumentativ überzeugend ist dies nicht: Man zeige dem Praktiker einen Alleingesellschafter (!) einer GmbH, der keinen entscheidenden Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Darüber hinaus verkennt die „Einflusstheorie“, dass die Steuerpflicht als wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb in erster Linie nach Wettbewerbserwägungen (s. oben V.1.) und nicht nach Einflusskriterien zu beurteilen ist51. Rechtsprechung, Finanzverwaltung und Praxis haben mit dem Institut der Betriebsaufspaltung ein taugliches, gestaltbares und praxiserprobtes Abgrenzungskriterium geschaffen. Hierbei sollte man es belassen. Betreibt die Tochter bloße Vermögensverwaltung oder ist sie ihrerseits Berufsverband, fällt eine Beteiligung des haltenden Mutterverbandes auch dann nicht in den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, wenn wesentlicher Einfluss auf die Geschäftsführung genommen wird52. Allerdings sind auch hier Ausnahmen denkbar, die in der Gestaltungspraxis gerne übersehen werden: Führt die steuerbefreite Tochter ihrerseits einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb und stellt der Mutterverband die wesentliche Betriebsgrundlage dieses Geschäftsbetriebs, kann auch insoweit die Betriebsaufspaltung zur (anteiligen) Steuerpflicht führen. 4. Sponsoring a) Steuerliche Ausgangslage Die richtige Gestaltung des Sponsorings ist ein Dauerbrenner in der Beratung steuerbegünstigter Organisationen. Von wesentlicher Bedeutung ist es, einen Gleichklang der Interessen zwischen Sponsor und empfangender Körperschaft herzustellen. Sponsoring ist steuerlich gestaltbar. In vielen Fällen kann den steuerlichen Interessen der Sponsoren und der empfangenden Körperschaft gleichermaßen Rechnung getragen werden. Dem Sponsor wird der Betriebsausgabenabzug, dem Empfänger die Ertragsteuerfreiheit ermöglicht. Regelmäßig setzt dies aber im Vorfeld eine genaue Abstimmung der zu erbringenden Werbeleistung und eine zutreffende Umsetzung im Sponsoringvertrag voraus. Langfristig erfolgreiches Sponsoring beinhaltet auch, die steuerlichen Interessen des Vertragspartners angemessen zu berücksichtigen. Die Finanzverwaltung hat sich mit diesen Fragen in ihrem sog. SponsoringErlass beschäftigt53. Sie geht sehr weit, beim Sponsor die Betriebsbedingtheit

___________ 49 Mueller-Thuns/Jehke, DStR 2010, 905, m.w.N.; a.A. wohl nur Arnold, DStR 2005, 581. 50 Vgl. Engelsing/Muth, DStR 2003, 917; Kümpel, DStR 1999, 1505 (1508). 51 Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 2008, § 6 Rz. 133. 52 S. auch zur Gemeinnützigkeit Tz. 3 AEAO zu § 64 Abs. 1; Kümpel, DStR 1999, 1505 (1508). 53 BMF v. 18.2.1998, BStBl. I 1998, 212 ff.

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einer solchen Zahlung und beim Empfänger eine steuerfreie Vermögensverwaltung anzunehmen. Der Berater muss wissen, dass die Handhabung der Finanzverwaltung zwar in vielen Einzelpunkten unterschiedlich und oft widersprüchlich, allerdings in ihrer Gesamtrichtung großzügig ist. Rechtsbehelfs- und finanzgerichtliche Verfahren, die über den Sponsoring-Erlass hinausgehende steuerliche Vergünstigungen anstreben, sind nur selten erfolgreich. b) Der typische Praxisfall Ein Berufsverband veranstaltet eine Fachausstellung, die bundesweit in Presse, Funk und Fernsehen Beachtung findet. Die Ausstellung wird von einer Vielzahl von Sponsoren unterstützt, mit denen teils mündliche, teils auch sehr detaillierte schriftliche Sponsoringvereinbarungen geschlossen werden. Der Verband hebt im Rahmen einer Danksagung in der Eröffnungsveranstaltung, auf seiner Homepage und den Ausstellungsplakaten seine Sponsoren hervor. Dem Hauptsponsor gegenüber verpflichtet sich der Verband, einen Ausstellungsraum nach dem Sponsor zu benennen und ihn auf Veranstaltungsplakaten deutlich hervorzuheben. Darüber hinaus erzielt der Verband Einnahmen aus Werbeanzeigen im Programmheft und „Standgeldern“ von dritten Unternehmen, denen der Verband die Werbung mit eigenen Produkten im Foyer gestattet. c) Unterscheidungsmerkmale Die Finanzverwaltung hat für die Abgrenzung zwischen Vermögensverwaltung und wirtschaftlichem Geschäftsbetrieb im Sponsoring-Erlass folgende Kriterien aufgestellt: – Duldet die Körperschaft lediglich die Werbemaßnahme des Sponsors mit ihrem Namen, ohne sich selbst an der Werbemaßnahme zu beteiligen, ist dies steuerfreie Vermögensverwaltung54. M.E. gilt dies auch, wenn dem Sponsor gegen Entgelt/Kostenbeteiligung gestattet wird, auf Veranstaltungen der Körperschaft mit eigenen Produkten/Ausstellungen zu werben55. – Besteht die Gegenleistung des Empfängers in einem bloßen Hinweis auf die Unterstützung des Sponsors oder einer Danksagung, bleibt dies nach dem Sponsoring-Erlass ebenfalls noch ertragsteuerfrei. Gefordert wird allerdings, dass der Hinweis oder die Danksagung nicht übermäßig herausgehoben wird56. Dies gilt auch dann, wenn sich der Empfänger hierzu vertraglich verpflichtet57. Ob die Finanzverwaltung die Hinweise und Danksagungen dem Bereich der Vermögensverwaltung zuordnet oder es sich hierbei nach

___________ 54 Zu wettbewerbsrechtlichen Bedenken gegenüber dieser Werbeform Schauhoff in Schauhoff, Handbuch der Gemeinnützigkeit, 2. Aufl. 2005, § 6 Rz. 52. 55 Str.; a.A. FG München v. 20.11.2000 – 7 V 4362/00, EFG 2001, 539; aufgehoben – allerdings aus anderen Erwägungen – durch BFH v. 25.7.2001 – I B 41, 42/01, BFH/NV 2001, 1445. 56 BMF v. 18.2.1998 – IV B 2 - S 3144 - 40/98/IV B 7 - S 0183 - 62/98, BStBl. I 1998, 212 ff.; Kümpel, DStR 1999, 1605 (1606). 57 Schleder, Steuerrecht der Vereine, 9. Aufl. 2009, Rz. 880.

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dem Verständnis des BMF um eine Billigkeitsmaßnahme handelt, lässt der Erlass offen58. – Die Grenze zum wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb sieht die Finanzverwaltung dann als überschritten an, wenn eine „Mitwirkung der Körperschaft an den Werbemaßnahmen“ erfolgt, die über Hinweis und Danksagung hinausgeht59. Die Grenze zwischen steuerunschädlicher Duldung und Hinweisen sowie schädlicher aktiver Mitwirkung ist im Erlass – wohl bewusst – unscharf gehalten. In der Finanzverwaltung besteht eine hohe Bereitschaft, Sponsoringeinnahmen dem steuerfreien Bereich zuzuordnen. Die Praxis tut daher gut daran, diese Bereitschaft nicht durch Rechtsbehelfsverfahren – mit bescheidener Erfolgsaussicht – zu gefährden. 5. Betriebsausgaben Für die Einkünfteermittlung des wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs gelten die allgemeinen Vorschriften (§§ 7 ff. KStG). Die Ergebnisse mehrerer Geschäftsbetriebe werden zusammengefasst60. Die Betriebsausgaben müssen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Einkünften aus dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb stehen61. Ist die Ausgabe durch die steuerfreie Tätigkeit mitverursacht, ist eine Gewichtung erforderlich62. Nach der – umstrittenen63 – Rechtsprechung zu gemeinnützigen Körperschaften besteht hierbei eine Ausgangsvermutung, dass primärer Anlass für die Ausgabe die steuerfreie Tätigkeit ist64. Wäre die Ausgabe auch ohne den wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb angefallen, soll sie nicht abzugsfähig sein65; wäre sie geringer ausgefallen, soll eine „objektive und sachgerechte“ Aufteilung erfolgen66. Die Finanzverwaltung handhabt die Aufteilung oft großzügiger. Wird ein objektiver Aufteilungsmaßstab dargelegt, wird der anteilige Betriebsausgabenabzug auch unabhängig von der Frage der „primären Veranlassung“ zugelassen67. Die Personal- und Sachkosten von Büro, Verwaltung, Sekretariat oder

___________ 58 Vgl. Schleder, Steuerrecht der Vereine, Rz. 881: Vermögensverwaltung; a.A. Schauhoff in Schauhoff, Handbuch der Gemeinnützigkeit, 2. Aufl., 2005, § 6 Rz. 52: Billigkeitsmaßnahme. 59 BMF v. 18.2.1998 – IV B 2 - S 3144 - 40/98/IV B 7 - S 0183 - 62/98, BStBl. I 1998, 212 ff., in Tz. 9. 60 R 16 Abs. 7 KStR. 61 BFH v. 27.3.1991 – I R 31/89, BStBl. II 1992, 103. 62 Hierzu Alvermann in Streck, KStG, 7. Aufl. 2008, § 5 Anm. 10; Schröder, DStR 2001, 1415 (1421). 63 Alvermann in Streck, KStG, § 5 Anm. 10. 64 BFH v. 27.3.1991 – I R 31/89, BStBl. II 1992, 103; s. auch v. 21.9.1995 – I B 85/94, BFH/NV 1996, 268. 65 BFH v. 5.6.2003 – I R 76/01, BStBl. II 2005, 305. 66 BFH v. 27.3.1991 – I R 31/89, BStBl. II 1992, 103. 67 S. auch zur Gemeinnützigkeit Tz. 6 AEAO zu § 64 Abs. 1.

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Geschäftsstelle sind anteilig im wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb abzugsfähig68. Die Finanzverwaltung akzeptiert regelmäßig plausible Schätzungen.

VI. Mitgliedsbeiträge und Umsatzsteuer Der Bundesfinanzhof hat in mehreren jüngeren Entscheidungen klargestellt, dass Mitgliedsbeiträge – insbesondere zu Sportvereinen – umsatzsteuerbar sein können69: Dies gibt Anlass, noch einmal die Rechtslage und Rechtsprechungsentwicklung nachzuvollziehen: 1. Bisherige Unterscheidung nach nationalem Recht: Echte und unechte Mitgliedsbeiträge Nach § 8 Abs. 5 KStG bleiben Beiträge, die aufgrund der Satzung von den Mitgliedern lediglich in ihrer Eigenschaft als Mitglieder erhoben werden, bei der Ermittlung des Einkommens ertragsteuerlich außer Ansatz. Eine entsprechende umsatzsteuerliche Befreiungsvorschrift existiert auf nationaler Ebene nicht. Dennoch lief die ertragsteuerliche und umsatzsteuerliche Befreiung der Mitgliedsbeiträge bislang weitgehend parallel: Allgemein wurde zwischen „echten“ und „unechten“ Mitgliedsbeiträgen unterschieden70: „Echte“ Mitgliedsbeiträge sind nicht umsatzsteuerbar, da sie nicht für die Erfüllung von Sonderbelangen einzelner Mitglieder entrichtet werden71. „Unechte“ Beiträge, die in Abhängigkeit von einer konkret bemessenen Gegenleistung des Vereins gezahlt werden, sind umsatzsteuerbar. Mitgliedsbeiträge sind also nach bisheriger Rechtsprechung und Verwaltungspraxis umsatzsteuerbar, wenn sie vom Verein lediglich zur Erfüllung seines satzungsmäßigen Gemeinschaftszwecks und der allgemeinen Belange der Mitglieder vereinnahmt werden72. Sie unterliegen aber der Umsatzsteuer, wenn sie als offenes oder verdecktes Entgelt für eine bestimmte Leistung des Vereins gegenüber dem Mitglied gezahlt werden73. Abzustellen ist darauf, ob den Beiträgen eine konkrete Gegenleistung zuzuordnen ist, die im Hinblick auf die Zahlung der Mitgliedsbeiträge erfolgte. Die Rechtsprechung unterscheidet hierbei zwischen steuerunschädlichen Vereinsleistungen, die im Allgemeininteresse der Mitglieder stehen und anderen, entgeltlichen Leistungen, die im Sonderinteresse einzelner Mitglieder erbracht werden74. Letzteres

___________ 68 S. auch zur Gemeinnützigkeit Tz. 6 Satz 6 AEAO zu § 64 Abs. 1. 69 BFH v. 9.8.2007 – V R 27/04, BFH/NV 2007, 2213; v. 11.10.2007 – V R 69/06, BFH/NV 2008, 322; s. auch v. 3.4.2008 – V R 74/07, BFH/NV 2008, 1631. 70 S. auch Nieskens, UR 2002, 345. 71 Abschn. 4 Abs. 1 Satz 2 UStR. 72 BFH v. 27.7.1995 – V R 40/93, BStBl. II 1995, 753 (754); v. 20.12.1984 – V R 25/76, BStBl. II 1985, 176 (179). 73 BFH v. 8.9.1994 – V R 46/92, BStBl. II 1994, 957 (958); v. 4.7.1985 – V R 107/76, BStBl. II 1985, 153 (154 f.); s. auch v. 23.1.2001 – BFH V B 129/00, BFH/NV 2001, 940 (941). 74 So BFH v. 29.8.1973 – I R 234/71, BStBl. II 1974, 60 (62); v. 20.12.1984 – V R 25/76, BStBl. II 1984, 176; vgl. auch Abschn. 4 Abs. 1 UStR.

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wird insbesondere dann angenommen, wenn der Beitrag nach dem individuellen Vorteil des Mitglieds bemessen wird75. Als wesentliches Indiz für die Annahme echter Mitgliedsbeiträge wird von der Finanzverwaltung ihre gleichmäßige Erhebung nach einem für alle Mitglieder verbindlichen Bemessungsmaßstab angesehen76. Die Differenzierung nach persönlichen Kriterien (z.B. Alter, Einkommen, Familienstatus, Betriebsgröße) ist unschädlich. In Einzelfällen können die Vereinsleistungen jedoch auch bei gleicher Beitragszahlung umsatzsteuerbar sein: Erschöpft sich die Vereinstätigkeit im Wesentlichen in Leistungen, die den Sonderinteressen der Mitglieder dienen, ist im Hinblick auf die Mitgliedsbeiträge umsatzsteuerlicher Leistungsaustausch gegeben77. Die Gefahr der Entgeltlichkeit besteht vor allem dann, wenn bestimmte Vereinsleistungen bei der Bemessung der Mitgliedsbeiträge berücksichtigt werden78. Staffelbeiträge, bei denen die Beitragshöhe vom individuellen Leistungsbezug des Mitglieds abhängig ist, indizieren (Teil)Entgeltlichkeit und damit (teilweise) Steuerpflicht des Beitrags79. Liegt Entgeltlichkeit vor, führt dies nicht automatisch zur vollen Steuerpflicht des Mitgliedsbeitrags. In der Regel verbleiben nicht steuerbare Allgemeinleistungen. Ist der Beitrag also nur teilweise Gegenleistung, ist eine Aufteilung – meist im Schätzungswege – erforderlich80. 2. EuGH-Urteil vom 21.3.2002 Die schon zuvor kritisch betrachtete81 Rechtsprechung und Verwaltungspraxis ist durch das EuGH-Urteil vom 21.3.200282 nachhaltig erschüttert worden83. Im Streitfall ging es um die umsatzsteuerliche Behandlung der Leistungen eines Golfclubs, der von seinen Mitgliedern Jahresbeiträge und Eintrittsgebühren erhob. Darüber hinaus konnte der Golfplatz auch von Nichtmitgliedern gegen Zahlung einer Tagesgebühr genutzt werden. Nach der EuGH-Entscheidung ist Art. 2 Nr. 1 der seinerzeit gültigen 6. EGRichtlinie dahingehend auszulegen, dass „die Jahresbeiträge der Mitglieder eines Sportvereins … die Gegenleistung für die von diesem Verein erbrachten Dienstleistungen darstellen können, auch wenn diejenigen Mitglieder, die die Einrichtungen des Vereins nicht oder nicht regelmäßig nutzen, verpflichtet sind, ihren Jahresbeitrag zu zahlen.“

___________ 75 BFH v. 21.4.1993 – XI R 84/90, BFH/NV 1994, 60. 76 Abschn. 4 Abs. 2 Satz 1 UStR. 77 BFH v. 7.11.1996 – V R 34/96, BStBl. II 1997, 366 (367); v. 9.5.1974 – V R 128/71, BStBl. II 1974, 530 (531). 78 Vgl. BFH v. 18.12.2002 – I R 60/01, BFH/NV 2003, 1025 (1027). 79 S. auch Abschn. 4 Abs. 2 Satz 1 UStR. 80 BFH v. 5.6.1953 – I 104/52 U, BStBl. II 1953, 212; v. 9.2.1965 – I 25/63 U, BStBl. III 1965, 294. 81 S. nur Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 2 Rz. 186 ff. 82 EuGH v. 21.3.2002 – Rs. C-174/00, UR 2002, 320 ff. mit Anm. Widmann. 83 Eingehend Nieskens, UR 2002, 345 ff.

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Nach Auffassung des EuGH steht der Umstand, dass der Jahresbeitrag als Pauschalbetrag unabhängig von der Inanspruchnahme der Leistung durch das einzelne Mitglied fällig wird, der Annahme einer entgeltlichen Leistung nicht entgegen. Die Leistung des Vereins bestehe nämlich darin, dass er seinen Mitgliedern dauerhaft Sportanlagen zur Verfügung stelle. Aus diesem Grund bestehe ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Mitgliedsbeiträgen und den vom Verein erbrachten Leistungen. 3. Ausgangslage nach der EuGH-Entscheidung – mehr Chancen als Risiken Wagner hat die Entscheidung zu Recht als „Knaller“ bezeichnet84. Die Folgen sind gravierend: Nach den eindeutigen Vorgaben des EuGH ist die Zurverfügungstellung von Anlagen und Einrichtungen an die Mitglieder eine Leistung, die – unabhängig von der tatsächlichen Nutzung – pauschal von den Mitgliedern mit ihrem Jahresbeitrag abgegolten wird. Dieser Leistungsaustausch ist umsatzsteuerbar und – wenn keine Befreiungsvorschrift eingreift – auch umsatzsteuerpflichtig. Erhalten die Mitglieder für ihren Beitrag eine wie auch immer geartete Gegenleistung, ist der umsatzsteuerliche Tatbestand erfüllt85. Sind die Mitgliedsbeiträge umsatzsteuerbar, sind sie nach nationalem Recht regelmäßig auch umsatzsteuerpflichtig: § 4 Nr. 22b UStG befreit lediglich Teilnehmergebühren von sportlichen Veranstaltungen gemeinnütziger Einrichtungen. Eine weitergehende Befreiungsvorschrift war aufgrund der früheren Rechtsprechung nicht für erforderlich erachtet worden86. Die Umsatzsteuerpflicht muss für Vereine nicht zwingend nachteilig sein: Werden die Beiträge der Umsatzsteuer unterworfen, kann der Verein auch den gegenläufigen Vorsteuerabzug aus Eingangsrechnungen für zur Bewirkung der Leistungen an die Mitglieder bezogene Umsätze geltend machen. Insbesondere Unternehmensverbände wissen dies bereits zu nutzen87. Fällt die Mitgliedschaft beim Mitglied in den unternehmerischen Bereich, kann wiederum der Vorsteuerabzug aus den Beitragsrechnungen gezogen werden. Aber auch sonst kann die mit einer neugewonnenen Vorsteuerabzugsberechtigung verbundene Kostenreduzierung u.U. zu einer Beitragssenkung genutzt werden, sodass auch nicht unternehmerische Mitglieder durch die Umsatzsteuerpflicht nicht zusätzlich belastet werden müssen. Sind die Mitglieder nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt und kann die Umsatzsteuerpflicht beim betroffenen Verein aufgrund fehlender Investitionskosten auch sonst nicht vorteilhaft genutzt werden, führte die EuGH-Entscheidung noch nicht zu Sorge oder Handlungsbedarf: Abschn. 4 UStR gewährt dem Steuerpflichtigen Vertrauensschutz, der entweder durch zumindest analoge Anwendung des § 176 AO88 oder im Billigkeitswege (§§ 163, 227 AO) zu berücksichtigen ist.

___________ 84 85 86 87 88

Wagner, UVR 2002, 158. Wagner, UVR 2002, 158. S. Widmann, UR 2002, 327. S. auch Widmann, UR 2002, 326. S. auch Strahl, BeSt 2002, 35.

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4. Nachfolgende Rechtsprechung Nach der EuGH-Entscheidung sind erst zu einem deutlich späteren Zeitpunkt nationale Urteile ergangen, die sich mit der Problematik eingehender befassen mussten. In seiner Entscheidung vom 9.8.2007 stellte der Bundesfinanzhof dann erstmalig klar, dass die Grundsätze der EuGH-Entscheidung vom 21.3.2002 selbstverständlich auf die nationale Beurteilung der Mitgliedsbeiträge zu Sportvereinen anwendbar sind89. Auf der Grundlage der EuGH-Entscheidung stellte der BFH im Falle eines Luftsportvereins fest, dass bei Sportvereinen regelmäßig „ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Leistung des Vereins, den Mitgliedern Vorteile, wie Sportanlagen, zur Verfügung zu stellen, und den Mitgliedsbeiträgen“ besteht. Die frühere anderweitige Rechtsprechung90 wurde durch den Bundesfinanzhof ausdrücklich aufgegeben. Mit seiner Entscheidung vom 11.10.2007 bekräftigte der Bundesfinanzhof diese Aussagen noch einmal. Für den Fall eines Golfvereins wurde bestätigt, dass Mitgliedsbeiträge und Aufnahmegebühren Entgelt für die Leistungen eines Sportvereins an seine Mitglieder sein können91. Es komme insbesondere – so der BFH im Anschluss an die EuGH-Vorgaben – nicht darauf an, ob die Mitglieder die Vorteile tatsächlich in Anspruch nehmen92. Mit Entscheidung vom 12.6.200893 urteilte der Bundesfinanzhof, dass die Überlassung von Kraftfahrzeugen durch einen „Carsharing“-Verein an seine Mitglieder ein umsatzsteuerbarer Vorgang ist, der dem Regelsteuersatz nach § 12 Abs. 1 UStG unterliegt. Hier brauchte der Bundesfinanzhof allerdings nicht auf die Kriterien der EuGH-Rechtsprechung zurückzugreifen, da sich die Umsatzsteuerbarkeit und der Regelsteuersatz bereits nach allgemeinen umsatzsteuerlichen Grundsätzen ergab. Eine Berufungsmöglichkeit auf die EURichtlinie verneinte der Bundesfinanzhof ausdrücklich, da die Überlassung der Pkw nicht im Rahmen wohltätiger Zwecke erfolgte. Den vorläufigen Schlusspunkt einer ganzen Entscheidungskette setzte der Bundesfinanzhof mit seiner Entscheidung vom 29.10.200894: Für den Fall eines Vereins, dessen Satzungszweck in der Verkaufsförderung von Handelsware lag, bejahte der BFH auch hier den Leistungsaustausch. Auch die Werbung für ein von den Mitgliedern verkauftes Produkt diene dem konkreten Individualinteresse der Vereinsmitglieder. Das für einen Leistungsaustausch erforderliche Rechtsverhältnis könne sich auch aus der Satzung eines Vereins ergeben95.

___________ 89 90 91 92 93 94 95

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BFH v. 9.8.2007 – V R 27/04, BFH/NV 2007, 2213. S. BFH v. 20.12.1984 – V R 25/76, BStBl. II 1985, 176. BFH v. 11.10.2007 – V R 69/06, BFH/NV 2008, 322. BFH v. 11.10.2007 – V R 69/06, BFH/NV 2008, 322. BFH v. 12.6.2008 – V R 33/05, BFH/NV 2008, 1783. BFH v. 29.10.2008 – XI R 59/07, BFH/NV 2009, 324. BFH v. 29.10.2008 – XI R 59/07, BFH/NV 2009, 324.

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5. Unterbliebene Reaktion von Verwaltung und Gesetzgebung Die Finanzverwaltung hat auf die EuGH- und BFH-Rechtsprechung bislang nicht reagiert. Vielmehr wurde die bisherige Differenzierung zwischen echten und unechten Mitgliedsbeiträgen in Abschn. 4 Abs. 1 UStR bis heute fortgeführt. Auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion hat die Bundesregierung zur möglichen Umsatzbesteuerung von Mitgliedsbeiträgen Stellung genommen96. Demnach wurde bereits im März 2003 eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt. Veröffentlichte Ergebnisse hieraus liegen bislang nicht vor. Die Bundesregierung äußerte lediglich „Einschätzungen“, wonach Fördervereine grundsätzlich nicht betroffen und Sportvereine von der Umsatzsteuerpflicht grundsätzlich befreit seien. Bemerkenswert ist hierbei die Auffassung der Bundesregierung, wonach die EuGH-Entscheidung für Sportvereine zu dem „gleichen fiskalischen Ergebnis“ wie die gegenwärtige Regelung in Deutschland führe, da es sich nach dem EuGH um steuerbare, aber steuerbefreite Leistungen handele97. Diese Einschätzung ist – vorsichtig formuliert – gewagt. 6. Steuerbefreiungen nach der MwStSystRL Bei der Beurteilung der Frage, ob Mitgliedsbeiträge der Umsatzsteuerpflicht unterworfen werden können, um den Vorsteuerabzug zu eröffnen, sind auch die – bislang nur rudimentär umgesetzten – Befreiungsvorschriften der MwStSystRL zu berücksichtigen: Art. 132 MwStSystRL normiert für bestimmte „dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten“ die nachfolgenden Befreiungsvorschriften. Hervorzuheben ist hierbei, dass der Begriff der „dem Gemeinwohl dienenden Tätigkeiten“ nicht mit dem deutschen Begriff der Gemeinnützigkeit identisch ist. Beachtenswert ist, dass der EuGH in seiner Entscheidung vom 21.3.2002, das Merkmal „ohne Gewinnstreben“ sehr weitgefasst hat: Entscheidend sei im Wesentlichen ein etwaiger Profit für die Mitglieder, nicht für den Verein. So könne selbst ein systematisch nach Überschusserzielung strebender Verein noch als Einrichtung „ohne Gewinnstreben“ qualifiziert werden, wenn er die Überschüsse nicht an die Mitglieder auskehrt, sondern für die Durchführung seiner Leistungen verwendet98. Die nationale Rechtsprechung hat die Berufungsmöglichkeit auf die EURichtlinie ausdrücklich bestätigt: In seiner Entscheidung vom 3.4.2008 (s. oben) hat der Bundesfinanzhof die Umsatzsteuerfreiheit der Leistungen eines gemeinnützigen Golfvereins nach Gemeinschaftsrecht klargestellt.

___________ 96 BT-Drucks. 15/5478 v. 10.5.2005; s. auch vorangegangene Presseveröffentlichungen: Kölner Stadt-Anzeiger v. 30.3.2005, Bild-Zeitung v. 12.3.2005. 97 BT-Drucks. 15/5478, S. 3. 98 S. 2. Leitsatz und Tz. 35 der Entscheidung; Nieskens, UR 2002, 345 (348 f.).

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7. Anwendungsvorrang der Befreiung nach EU-Recht Nach dem sog. Anwendungsvorrang des EU-Rechts kann sich der Steuerpflichtige auf gegenüber der nationalen Regelung günstigeres EU-Recht berufen. Auf dieser Grundlage bejaht die herrschende Ansicht zu Recht eine unmittelbare Berufungsmöglichkeit auf die Befreiungsvorschriften nach der MwStSystRL99. Gegen diese Berufungsmöglichkeit wird eingewandt, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 133 MwStSystRL zusätzliche Voraussetzungen für die Gewährung der Steuerbefreiung aufstellen können. Folglich sei die Befreiung nicht inhaltlich unbedingt, sodass auch kein Berufungsrecht hierauf bestehen könne100. Dieses Recht der Mitgliedstaaten bezieht sich jedoch nur auf solche Bedingungen, die die Mitgliedstaaten „zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen“. Ein derart eingeschränktes Bedingungsrecht steht m.E. der Berufungsmöglichkeit nicht entgegen. Einigkeit besteht insoweit, dass die nicht in nationales Recht umgesetzte Befreiungsvorschrift nicht zulasten der Steuerpflichtigen angewendet werden darf101. Hieraus folgt: Sind Mitgliedsbeiträge nach Maßgabe der EuGH-Rechtsprechung umsatzsteuerbar, sind sie mangels Befreiungsvorschrift auch umsatzsteuerpflichtig. Hiergegen wurde eingewandt, dass auch der EuGH im Streitfall nicht zu einer Steuerpflicht gelangt sei, da er die Mitgliedsbeiträge zwar als umsatzsteuerbar, jedoch nach Art. 13 Teil A Abs. 1 m der seinerzeit gültigen 6. EG-Richtlinie umsatzsteuerfrei behandelt habe102. Hierbei wird allerdings übersehen, dass die Umsatzsteuerbarkeit der Mitgliedsbeiträge nicht durch die EuGH-Rechtsprechung, sondern die umsatzsteuerliche Gesetzeslage begründet wird. Der EuGH hat festgestellt, dass die Umsatzsteuerbarkeit dem geltenden Recht entspricht. Demgegenüber ist die Befreiungsvorschrift der MwStSystRL bislang nicht in nationales Recht umgesetzt. Dieses Versäumnis geht zulasten des Mitgliedstaats, sodass im Falle eines Leistungsaustauschs bei Mitgliedsbeiträgen nach der derzeitigen Gesetzeslage an Steuerpflicht und Vorsteuerabzug kein Weg vorbeiführt103. 8. Die gegenwärtige Rechtslage Die gegenwärtige Rechtslage lässt sich nunmehr wie folgt festhalten: 1. Die bisherige umsatzsteuerliche Differenzierung zwischen echten und unechten Mitgliedsbeiträgen ist nicht mehr haltbar. Vielmehr sind Mit-

___________ 99 Nieskens, UR 2002, 345; Prugger, DStR 2003, 238; Reiß, RIW 2003, 199 (202); Möhlenkamp, UR 2003, 173 (180), alle m.w.N. 100 Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 2 Rz. 190. 101 S. nur Tehler in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 1 Rz. 457; Möhlenkamp, UR 2003, 173 (180); Strahl, KÖSDI 2005, 14646 (14649); Rasche in Schauhoff, Handbuch der Gemeinnützigkeit, 2. Aufl., 2005, § 11 Rz. 27; Prugger, DStR 2003, 238; Nieskens, UR 2002, 345 (348). 102 S. Hundt-Eßwein, UStB 2003, 341 (343); ähnlich Reiß, RIW 2003, 199 (202). 103 S. auch Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 2 Rz. 190.

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Der Berufsverband in der steuerlichen Praxis

gliedsbeiträge umsatzsteuerbar, wenn der Verein seinen Mitgliedern dauerhaft Einrichtungen oder andere Vorteile zur Verfügung stellt, die durch die Mitgliedsbeiträge entgolten werden. Maßgebend ist die Bereitstellung der Nutzungsmöglichkeit, die tatsächliche individuelle Gebrauchmachung durch das einzelne Mitglied ist ohne Belang. 2. Entscheidend für die Differenzierung zwischen steuerbaren und nicht steuerbaren Mitgliedsbeiträgen ist hierbei mE, ob die Mitgliedsbeiträge dem Vereinsmitglied über seine allgemeinen Mitgliederrechte hinaus konkrete Leistungs- oder Nutzungsrechte vermittelt, die Nichtmitgliedern verschlossen bleiben. Dementsprechend sind Mitgliedsbeiträge umsatzsteuerbar, wenn – der Verein Einrichtungen oder Leistungen zur Nutzung bereitstellt und die Mitglieder erst durch die Entrichtung des Jahresbeitrags das Recht erwerben, diese Nutzungen oder Leistungen in Anspruch zu nehmen, oder – die Vereinstätigkeit im individuellen wirtschaftlichen Interesse der Mitglieder liegt104 und die Interessenwahrnehmung des Vereins Nichtmitgliedern nicht in gleichem Maße zugute kommt. 3. Maßgebend sind stets die Umstände des Einzelfalls. Bei Berufsverbänden wird häufig Umsatzsteuerbarkeit gegeben sein. Beschränkt sich die Verbandstätigkeit jedoch auf die allgemeine Interessenwahrnehmung des Berufsstands, ohne den Mitgliedern konkrete Leistungen zur Verfügung zu stellen, bleiben die Leistungen nicht umsatzsteuerbar105. Die Leistungen von Fördervereinen sind auch weiterhin regelmäßig nicht umsatzsteuerbar. 4. Besteht nach den vorstehenden Grundsätzen Umsatzsteuerbarkeit, sind die Mitgliedsbeiträge regelmäßig auch umsatzsteuerpflichtig. Die nationale Befreiungsregelungen der MwStSystRL sind bislang nicht in das deutsche Umsatzsteuerrecht übernommen worden. Nach gegenwärtiger nationaler Rechtslage besteht insoweit die Möglichkeit, die Mitgliedsbeiträge im Falle eines Leistungsaustauschs umsatzsteuerpflichtig zu stellen und den Vorsteuerabzug geltend zu machen. 5. Da die Finanzverwaltung die bisherige Unterscheidung zwischen echten und unechten Mitgliedsbeiträgen in den UStR fortführt, besteht insoweit bis zu einer Verwaltungs- oder Gesetzesänderung Vertrauensschutz für alle Verbände, die die bisherige Praxis fortführen wollen. 6. Bei der Entscheidung, ob Mitgliedsbeiträge nach gegenwärtiger Rechtslage umsatzsteuerpflichtig gestellt werden sollen, ist auch die Vorsteuerberichtigung nach § 15a UStG zu berücksichtigen: Die Berichtigung kann sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Steuerpflichtigen angewendet werden. Setzt der Gesetzgeber die Umsatzsteuerbefreiung der MwStSystRL in nationales Recht um, wird auch dies die Anwendung des § 15a UStG begründen106. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG auch eine andere recht-

___________ 104 S. insoweit auch Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 2 Rz. 189. 105 Eingehend zu Berufsverbänden Möhlenkamp, UR 2003, 173 ff. 106 S. auch Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 2 Rz. 190.

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liche Beurteilung der Ausgangsumsätze umfasst: Wie das FG Köln in seiner Entscheidung vom 20.2.2008107 hervorgehoben hat, tritt eine Änderung der maßgebenden Verhältnisse auch dadurch ein, dass sich eine ursprüngliche rechtliche Beurteilung in einem der Folgejahre als unzutreffend erweist108. Eine Änderung der Verhältnisse liegt damit auch dann vor, wenn sich bei tatsächlich gleichbleibenden Verwendungsumsätzen die rechtliche Beurteilung deswegen ändert, weil sich der Steuerpflichtige, anders als im vorangegangenen Besteuerungszeitraum, auf eine Steuerbefreiung nach der EURichtlinie beruft109. 9. Zusammenfassend Die durch die deutsche Finanzverwaltung noch immer fortgeführte Unterscheidung zwischen echten und unechten Mitgliedsbeiträgen ist unhaltbar. Nach nunmehr gefestigter Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sind Mitgliedsbeiträge zu Vereinen und Verbänden bereits dann umsatzsteuerbar, wenn der Verein seinen Mitgliedern dauerhaft Einrichtungen oder andere Vorteile zur Nutzung zur Verfügung stellt und die Mitglieder durch die Zahlung des Beitrags das Recht erwerben, diese Vorteile zu nutzen. Entscheidendes Kriterium wird zukünftig aus meiner Sicht sein, ob die Zahlung der Mitgliedsbeiträge dem Mitglied konkrete Leistungs- oder Nutzungsrechte vermittelt, die über seine allgemeinen Mitgliederrechte hinausgehen und Nichtmitgliedern verschlossen bleiben. Klar ist, dass hierdurch ein umsatzsteuerbarer Leistungsaustausch in weitaus häufigerem Umfang vorliegen wird, als die Finanzbehörde dies bislang annimmt. Dies muss jedoch für Mitglieder und Vereine nicht zwingend nachteilig sein: Zum einen eröffnen die – in das deutsche Recht bislang nur unzureichend umgesetzten – Befreiungsmöglichkeiten der MwStSystRL wesentliche Befreiungsmöglichkeiten. Zum anderen eröffnet die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs Gestaltungschancen. Finanzverwaltung und Gesetzgeber sind dringend aufgerufen, nun die erforderliche Rechtsklarheit zu schaffen – anderenfalls werden die Rosinen weiter gepickt werden: Die gegenwärtige Rechtslage eröffnet Steuerpflichtigen ein faktisches umsatzsteuerliches Wahlrecht, das gesetzessystematisch unbefriedigend, aber durch Verwaltung und Gesetzgeber selbst verschuldet ist.

VII. Fazit Michael Streck wird in seiner Doppelrolle als Steueranwalt und berufsständischer Interessenvertreter unverzichtbar bleiben: Die Besteuerung der Berufsverbände bleibt spannend und beratungsintensiv – wie geschaffen also für den Jubilar. Wohlan!

___________ 107 FG Köln v. 20.2.2008 – 7 K 4943/05, DStRE 2008, 1079, Rev. eingelegt, Az. BFH: V R 15/08. 108 S. nur BFH v. 19.2.1997 – XI R 51/93, BStBl. II 1997, 370; v. 5.2.1998 – V R 66/94, BStBl. II 1998, 361. 109 FG Köln v. 20.2.2008 – 7 K 4943/05, DStRE 2008, 1079, Rev. eingelegt; Martin, UR 2008, 34, m.w.N.

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Burkhard Binnewies

Der Spaßfaktor im Steuerrecht Das Prinzip der Freude als steuerrelevantes Moment?

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Der Spaßfaktor als Tatbestandsmerkmal des Steuertatbestands 1. Unbestimmte Tatbestandsmerkmale im Steuertatbestand 2. Auslegung unbestimmter Tatbestandsmerkmale mithilfe des Spaßfaktors III. Der Spaßfaktor als Indiz für mangelnde Einkünfteerzielungsabsicht 1. Einkünfteerzielungsabsicht 2. Liebhaberei 3. Ergebnis IV. Der Spaßfaktor als Indiz für eine gesellschaftsrechtliche Veranlassung (vGA) 1. Keine außerbetriebliche Sphäre 2. Korrektur nach vGA-Grundsätzen

V. Der Spaßfaktor als Indiz des Lohnzuflusses (§ 19 EStG) VI. Der Spaßfaktor als Indiz für Spiel und Wette im Rahmen von § 22 Nr. 3 EStG 1. Spiel und Wette 2. Sonstige Einkünfte im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG 3. Einkünfte aus der Teilnahme an Fernsehshows a) Schauspielerische Leistung b) Vergütung für Zeitaufwand c) Zeitfaktor d) Wissensleistung e) Höhe der Gewinnchance f) Kausalität zwischen Teilnahme und Entgelt g) Ergebnis VII. Gesamtergebnis

I. Einführung Spaß ist ein anderes Wort für Freude, Frohsinn, Lust, Motivation und Sinnhaftigkeit, ohne Spaß kein Erfolgserlebnis, ohne Erfolgserlebnis kein Spaß. Kaum jemand, der diese Begrifflichkeiten mit dem Steuerrecht in Verbindung brächte. Aus Sicht eines – nicht nur eines im Rheinland ansässigen – Steuerrechtlers weit gefehlt. Der Beitrag wird zeigen, dass der Spaßfaktor im Steuerrecht insbesondere materiell-rechtlich bei der Auslegung des Steuertatbestands eine entscheidende Rolle spielt, in der Regel als steuerschädliches Moment. Formell-rechtlich, eher formell-tatsächlich entpuppt sich der Spaßfaktor im Steuerverfahren als verfahrensfördernder Aspekt. Tritt der Spaßfaktor materiell-rechtlich insbesondere als Indiz privater Veranlassung und damit steuerbegründend hervor, hat er im Steuerverfahren sowohl auf der Ebene der Finanzverwaltung als auch auf der Ebene der Finanzgerichtsbarkeit verfahrensbeschleunigende Wirkung. Finanzbeamte, Steueranwälte und Finanzrichter widmen sich Sachverhalten mit Spaßfaktor früher als Sachverhalten ohne Spaßfaktor. Zeugen mit Spaßfaktor, z.B. prominente Persönlichkeiten, werden

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eher geladen als Zeugen ohne Spaßfaktor1. Dominiert der Spaßfaktor den zu beurteilenden Sachverhalt, kann Liebhaberei gegeben sein, was zur steuerrechtlichen Negierung etwaiger Gewinne oder Verluste führt. In dieser Festschrift scheint ein Beitrag über den Spaßfaktor im Steuerrecht seinen rechten Platz zu finden, da die Symbiose aus Steuerrecht einerseits und Freude, Frohsinn, Lust, Motivation und Sinnhaftigkeit andererseits in der anwaltlichen Zusammenarbeit mit dem Jubilar, Michael Streck, ihren festen Platz hat. Dieser Umstand ist aller Ehren, auch in Form eines Festschriftbeitrags, wert.

II. Der Spaßfaktor als Tatbestandsmerkmal des Steuertatbestands 1. Unbestimmte Tatbestandsmerkmale im Steuertatbestand Steuerrecht ist öffentliches Recht. Steuerrecht ist Eingriffsrecht im Verhältnis der Überordnung des Staates über den Bürger. Der Steuerbescheid ist – abgesehen vom Verkehrsschild – einer der regelmäßigsten Eingriffe in die Freiheitsrechte des Bürgers (Art. 2 Abs. 1, Art. 3, Art. 20 Abs. 3, Art. 14 GG). Damit unterliegt das Steuerrecht dem Gesetzesvorbehalt und daraus abgeleitet dem Bestimmtheitsgrundsatz. Als Konsequenz dessen müssen Tatbestand und Rechtsfolge mit hinreichender Klarheit dem demokratisch legitimierten Gesetz entnommen werden können2. Soweit zur Rechtstheorie. In der Steuerrechtspraxis gehen Finanzverwaltung und Finanzrechtsprechung hierüber großzügiger hinweg, als dies in anderen Bereichen des öffentlichen Rechts üblich ist. Z.B. hat eine der seit Beginn des letzten Jahrhunderts im unternehmerischen Mittelstand herausragenden steuerrechtlichen Fragestellungen, das Institut der Betriebsaufspaltung, bis heute keine ausdrückliche Grundlage im Gesetz gefunden3. Ein bemerkenswerter Umstand für ein derart wichtiges steuerbegründendes Rechtsinstitut, welches vom Steuerpflichtigen bereits vom Ansatz her nur schwer zu durchdringen ist. Darüber hinaus kommt es trotz allgemeiner Unverständlichkeit steuerrechtlicher Normen nur ausnahmsweise aufgrund der Unbestimmtheit eines Steuertatbestands zur Qualifizierung des Gesetzes als nichtig4. Ungeachtet des Bestimmtheitsgrundsatzes besteht im Steuerrecht demnach ein durch die Rechtsprechung abgedeckter, großzügiger Formulierungsspielraum für steuerbegründende Gesetzestatbestände. Zur Erfassung der vielfältigen – steuerrelevanten – Lebenssachverhalte ist ein solcher Formulierungsspielraum grundsätzlich notwendiges Übel. Allerdings scheinen die Grenzen zur nicht verfassungskonformen Unbe-

___________ 1 So wurde Bundeskanzler a.D., Dr. Helmut Kohl, im Rahmen eines finanzgerichtlichen Verfahrens vom Berichterstatter des zuständigen Senats des FG Köln innerhalb von wenigen Monaten nach Einreichen der Klagebegründungsschrift als Zeuge geladen und vernommen, ein für deutsche Finanzgerichte rekordverdächtiger Zeitrahmen. 2 Vgl. nur Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I, 2. Aufl. 2000, S. 136 ff.; Kirchhof, DStR 2009, 135. 3 Vgl. den Beitrag von Crezelius in dieser Festschrift zu: Die Betriebsaufspaltung – ein methodologischer Irrgarten; vgl. auch Binnewies in FS für Spiegelberger, 2009, S. 15. 4 Z.B. BFH v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167; BVerfG v. 31.10.2006 – 2 BvL 59/06, n.v.

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Der Spaßfaktor im Steuerrecht

stimmtheit häufiger als aufgegriffen und anerkannt überschritten. Als Beispiele im vorliegenden Zusammenhang zu diskutierender unbestimmter Rechtsbegriffe in steuerrechtlichen Tatbeständen seien die Begriffe „Angemessenheit“, „Gewinnerzielungsabsicht“ und „private Lebensführung“ angeführt. Diese unbestimmten, wertenden Begrifflichkeiten bilden die Einflugschneise für den Spaßfaktor im materiellen Steuerrecht, für die Berücksichtigung des Spaßfaktors bei der Auslegung und Anwendung unbestimmter, wertender Rechtsbegriffe im Steuerrecht5. 2. Auslegung unbestimmter Tatbestandsmerkmale mithilfe des Spaßfaktors Ist ein unbestimmter Rechtsbegriff durch Literatur und Rechtsprechung unter allgemeiner Anerkennung hinreichend konkret interpretiert, ist diese Auslegung des Begriffs der Rechtsanwendung zugrunde zu legen. Ist das nicht der Fall, ist unter Anwendung der für einen Rechtsbegriff anerkannten vier Auslegungskriterien (Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Norm) eine hinreichend konkrete Interpretation zu ermitteln. Im Zusammenhang mit der entsprechenden Auslegung der oben genannten Begriffe kommt es in den unterschiedlichen Sachzusammenhängen immer wieder auf die Frage der Veranlassung von Einnahmen oder Ausgaben im steuerrelevanten Bereich oder im nicht steuerrelevanten Bereich an. Je nach Ausgangsituation (Gewinn-/Überschuss- oder Verlustfall) streiten Finanzverwaltung und Steuerpflichtiger für oder gegen eine private Veranlassung von Einnahmen bzw. Ausgaben. Häufig spielt dabei das ungeschriebene Auslegungskriterium des Spaßfaktors die ausschlaggebende Rolle. Je höher der Spaßfaktor beim streitgegenständlichen Sachverhalt, desto größer die Nähe zur privaten Lebensführung, desto gewichtiger das Indiz für eine private Veranlassung von Einnahmen oder Ausgaben. In der Steuerrechtspraxis wirkt der Spaßfaktor bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe wie ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal. Wäre das „Spaßempfinden“ der Beteiligten nicht höchst unterschiedlich ausgeprägt und der Spaßfaktor damit seinerseits nicht unbestimmt, würde er im Dienste des Bestimmtheitsgrundsatzes große Erfolge feiern können.

III. Der Spaßfaktor als Indiz für mangelnde Einkünfteerzielungsabsicht 1. Einkünfteerzielungsabsicht Steuerbare Einkünfte kann nur erzielen, wer in der Absicht – wenigstens in der Nebenabsicht – tätig wird, „Gewinn zu erzielen“. Ausdrücklich gilt dies für Einkünfte aus Gewerbebetrieb. § 15 EStG nimmt das Tatbestandsmerkmal – die Absicht, Gewinn zu erzielen – ausdrücklich in den Steuertatbestand auf (§ 15 Abs. 2 Satz 1 und Satz 3 EStG). Nach allgemeiner Ansicht handelt es sich bei dem Erfordernis der Einkünfteerzielungsabsicht (Gewinnerzielungs-

___________ 5 Zur Auslegung von Gesetzestatbeständen vgl. Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 4. Aufl. 2008.

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bzw. Überschusserzielungsabsicht) um ein allgemeines, alle erwirtschafteten Einkünfte beherrschendes Prinzip6. Eine einkommensteuerlich relevante Betätigung ist daher nur gegeben, wenn die Absicht besteht, auf Dauer gesehen, nachhaltig Gewinn bzw. Überschuss zu erzielen7. Das ist dann der Fall, wenn ein betrieblicher Totalgewinn bzw. ein Totalüberschuss erstrebt wird8. Die Einkünfteerzielungsabsicht ist eine innere Tatsache, auf die nur aus äußeren Umständen geschlossen werden kann9. 2. Liebhaberei Zur Abgrenzung der Frage, ob ein verlustbringendes Verhalten des Steuerpflichtigen auf Einkünfteerzielung angelegt war, haben Literatur und Rechtsprechung das Rechtsinstitut der „Liebhaberei“ entwickelt. Liebhaberei ist eine Tätigkeit aus privater Hingabe oder Neigung ohne Einkünfteerzielungsabsicht. Die Annahme von Liebhaberei kommt in erster Linie bei solchen Tätigkeiten in Betracht, die typischerweise dazu bestimmt und geeignet sind, der Befriedigung persönlicher Neigungen des Steuerpflichtigen zu dienen10. Finanzverwaltung und Finanzrechtsprechung haben im Rahmen der Entwicklung des Instituts der Liebhaberei zur Abgrenzung steuerbarer und nicht steuerbarer Einkünfte insbesondere auf die Nähe zur privaten Lebensführung abgestellt. Im Sinne des Beitrags kann die Nähe zur privaten Lebensführung durchaus durch den Begriff „Spaßfaktor“ ersetzt werden. Je größer der Spaßfaktor, je größer die Nähe zur privaten Lebensführung und je wahrscheinlicher die Annahme von Liebhaberei – jedenfalls im Verlustfall. Macht die verlustbringende Tätigkeit aus Sicht der Finanzverwaltung „Spaß“, neigt sich die Waagschale in Richtung des Rechtsinstituts der „Liebhaberei“. Steuerrelevant kann im Verlustfall nur sein, was keinen Spaß macht. Hierbei unterliegt die Auffassung von Finanzverwaltung und Finanzrechtsprechung einem steten Wandel, den gesellschaftlichen Vorstellungen entsprechend. Zeitlos als spaßbringend und daher im Verlustfall nicht steuerrelevant wurden z.B. eingestuft: – Pferdezucht11, – Reitschule12, – Vercharterung von Motorbooten13, – Vercharterung von Segelyachten14,

___________ 6 Gehlen, Die Abgrenzung von Liebhaberei und einkommensteuerlich relevanter Betätigung aus betriebswirtschaftlicher Sicht, 1989, S. 40 ff.; Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 125 ff.; Koch in FS für Hugo von Wallis, Liebhaberei im Steuerrecht, S. 405 (410 ff.); Kruse in FS für Arndt Raupach, 2006, S. 143 (148); Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 15 Rz. 25. 7 BFH v. 31.5.2001 – IV R 81/99, BStBl. II 2002, 276. 8 BFH v. 25.6.1984 – GrS 4/82, BStBl. II 1984, 751. 9 BFH v. 14.11.2004 – XI R 6/02, BStBl. II 2005, 392. 10 Vgl. nur BFH v. 12.9.2002 – IV R 60/01, BStBl. II 2003, 85. 11 BFH v. 27.11.2008 – IV R 17/06, HFR 2009, 771. 12 BFH v. 15.11.19 – IV R 139/81 84, BStBl. II 1985, 205. 13 BFH v. 24.9.2009 – IV S 13/09, BFH/NV 2010, 233; v. 28.8.1987 – III R 273/83, BStBl. II 1988, 10. 14 BFH v. 14.4.2000 – X B 118/99, BFH/NV 2000, 1333; FG Mecklenburg-Vorpommern v. 24.8.2006 – 2 K 268/03, EFG 2007, 10.

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Der Spaßfaktor im Steuerrecht

– Galeriebetrieb15, – Golfclubbetrieb16, – Papageienzucht17. Der Katalog von Entscheidungen über verlustbringende Tätigkeiten, die der Liebhaberei zugeordnet wurden, ließe sich unbegrenzt fortsetzen18. Bei Tätigkeiten mit Nähe zur privaten Lebensführung und daher der vereinfachten Anwendung der Liebhabereigrundsätze kann kaum unterstellt werden, dass aus Sicht von Finanzverwaltung und Finanzrechtsprechung ein erhöhter Spaßfaktor angenommen wird. Die Veränderung in der Annahme einer Nähe zur privaten Lebensführung seitens Finanzverwaltung und Finanzrechtsprechung kommt beeindruckend in der Rechtsprechung zur Beurteilung von steuerberatender und rechtsberatender Tätigkeit als Liebhaberei zum Ausdruck. Noch 1998 urteilte der BFH: Der Beweis des ersten Anscheins spreche dafür, dass der Rechtsanwalt seine Anwaltskanzlei in der Absicht betrieben habe, Gewinne zu erzielen; denn ein Unternehmen dieser Art sei (nach den Feststellungen des Instanzgerichts übte der Anwalt die Rechtsanwaltstätigkeit hauptberuflich mit vollem Einsatz aus) regelmäßig nicht dazu geeignet, der Befriedigung persönlicher Neigungen oder dem Erlangen wirtschaftlicher Vorteile außerhalb der Einkunftssphäre zu dienen19. Bis zum Jahr 2004 wandelte sich die Vorstellung der Bundesfinanzrichter diesbezüglich. Ab dem Jahr 2004 ist es auch aus Sicht der Bundesfinanzrichter durchaus möglich, dass die Rechtsanwaltstätigkeit aus privaten Motiven ausgeübt wird. In der Kategorie des Spaßfaktors gesprochen: Ab dem Jahr 2004 können sich auch Bundesfinanzrichter vorstellen, dass die anwaltliche Tätigkeit Spaß machen kann20. Zwar werden die Voraussetzungen der Liebhaberei bei Katalogberufen im Sinne von § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG streng geprüft21. Inzwischen hat der BFH jedoch wiederholt bestätigt, dass die Tätigkeit eines Steuerberaters, Rechtsanwalts oder Architekten als Liebhaberei zu qualifizieren ist, wenn über Jahre hinweg lediglich Erlöse auf geringem Niveau erzielt werden, auf der andere Seite aber steuerliche Verluste aus der Tätigkeit erklärt und diese mit anderen Einkünfte aus anderen Quellen verrechnet werden22. 3. Ergebnis Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass das Tatbestandsmerkmal der Gewinnerzielungsabsicht aus § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG unbeschriebenes Tatbe-

___________ 15 16 17 18 19 20 21 22

FG Köln v. 17.12.1998 – 7 K 653/94, DStRE 1999, 723. FG Saarland v. 13.3.1997 – 1 V 201/96, EFG 1997, 664. FG München v. 9.11.2009 – 7 K 2846/08, n.v. (juris). Aus der eigenen Beratungserfahrung: Motorradrennstall, Autorennstall, Silberhandel, Videoherstellung von Bodybuildingveranstaltungen, Hundeheilpraktiker, Pferdepension, Antiquitätenhandel, Kunstmalerei. BFH v. 22.4.1998 – XI R 10/97, BStBl. II 1998, 663. Vgl. BFH v. 5.8.2004 – IV B 224/02, BFH/NV 2004, 44. Vgl. BFH v. 14.11.2004 – XI R 6/02, BStBl. II 2005, 392. BFH v. 31.5.2001 – IV R 81/99, BStBl. II 2002, 276 (Steuerberater); v. 14.11.2004 – XI R 6/02, BStBl. II 2005, 392 (Rechtsanwalt); v. 22.4.1998 – XI R 10/97, BStBl. II 1998, 663 (Rechtsanwalt); v. 12.9.2002 – IV R 60/01, BStBl. II 2003, 85 (Architekt).

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standsmerkmal für sämtliche Einkunftsarten ist. Gewinnerzielungsabsicht ist aus Sicht der Finanzverwaltung und Finanzrechtsprechung insbesondere dann nicht gegeben, wenn eine Tätigkeit mit Nähe zur privaten Lebensführung entfaltet wird und dabei Verluste erwirtschaftet werden. In der Kategorie des vorliegenden Beitrags gesprochen, ist der Spaßfaktor bei Ausübung einer verlustträchtigen Tätigkeit entscheidungserheblich dafür, ob diese Verluste dem steuerbaren Bereich zugeordnet werden oder nicht. Je größer der Spaßfaktor, je größer die Nähe zur privaten Lebensführung, je größer das Risiko der Zuordnung dieser Verluste zum nicht steuerbaren Bereich.

IV. Der Spaßfaktor als Indiz für eine gesellschaftsrechtliche Veranlassung (vGA) 1. Keine außerbetriebliche Sphäre Für die Körperschaften sieht der BFH den Spaßfaktor als steuerrechtlich nicht relevant an. In der Segelyacht-Entscheidung23 hat der BFH erkannt, dass eine unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtige Kapitalgesellschaft steuerrechtlich gesehen keine außerbetriebliche Sphäre haben könne24. Konsequenz dieser Auffassung ist, dass bei Kapitalgesellschaften sämtliche Erträge und Aufwendungen betrieblich veranlasst und damit körperschaftsteuerrechtlich beachtlich sind. Grund für diese Rechtsprechung ist letztlich, dass der BFH davon ausgeht, dass eine juristische Person offensichtlich „kein Spaßempfinden entwickeln kann“. 2. Korrektur nach vGA-Grundsätzen Dies führt allerdings nicht zu dem Ergebnis, dass spaßrelevante Tätigkeiten in der Rechtsform der Kapitalgesellschaft ausgeübt und damit im Ergebnis dem steuerbaren Bereich zugeführt werden könnten. Die Korrektur erfolgt nach den Grundsätzen der verdeckten Gewinnausschüttungen. Gemäß § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG werden entsprechende Aufwendungen bei der Gesellschaft außerbilanziell hinzugerechnet und bei den Gesellschaftern als Einkünfte aus Kapitalvermögen qualifiziert. Bei spaßrelevanten Tätigkeiten kommt es also im Ergebnis nicht auf die Ebene der neutralen Körperschaft, sondern auf die Ebene der Gesellschafter als natürliche Personen an. Der Spaßfaktor als steuerrelevantes Moment ist also auf der Ebene der Gesellschafter, nicht auf der Ebene der Gesellschaft angesiedelt. Einflugschneise für den Spaßfaktor bei der Prüfung einer vGA ist die „gesellschaftsrechtliche Veranlassung“. Eine vGA im Sinne von § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG ist bei einer Kapitalgesellschaft eine Vermögensminderung oder verhinderte Vermögensmehrung, die durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist, sich auf die Höhe des Unterschiedsbetrags gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG iVm. § 8 Abs. 1 KStG auswirkt und in

___________ 23 BFH v. 4.12.1996 – I R 54/95, GmbHR 1997, 317. 24 Vgl. BFH v. 8.7.1998 – I R 123/97, GmbHR 1998, 1134; v. 6.7.2000 – I B 34/00, BStBl. II 2002, 490; v. 8.8.2001 – I R 106/99, FR 2002, 79; v. 15.5.2002 – I R 92/00, FR 2002, 1175. Ausführlich dazu: Hüttemann in FS Raupach, Liebhaberei bei Kapitalgesellschaften, 2006, S. 495 ff.

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keinem Zusammenhang mit einer offenen Ausschüttung steht25. Im Ergebnis ist der Spaßfaktor entscheidungsrelevant für die Qualifizierung von Aufwendungen auf der Ebene einer Kapitalgesellschaft als betrieblich oder gesellschaftsrechtlich veranlasst. Sind die auf der Ebene der Körperschaft entstandenen Aufwendungen aus Sicht von Finanzverwaltung und Finanzrechtsprechung mit Spaß für die hinter der Körperschaft stehenden Gesellschafter verbunden, ist dies Indiz für eine gesellschaftsrechtliche Veranlassung. Als Beispiel aus der Rechtsprechung hierzu: – Unterhaltung einer Segelyacht26, – Unterhaltung eines Einfamilienhauses27, – Unterhaltung eines Ferienhauses im Ausland durch eine Kapitalgesellschaft ausländischen Rechts28, – Auslandsreisen im privaten Interesse29, – Aufwendungen für Feiern und Bewirtung von Gästen30, – Golfclubbeiträge31. Dahingestellt bleiben soll hier, ob das erkennende Gericht den Spaßfaktor auch bei der Entscheidung zugrunde gelegt hat, dass eine Witwenpension zugunsten einer 30 Jahre jüngeren Ehefrau gesellschaftsrechtlich veranlasst ist32.

V. Der Spaßfaktor als Indiz des Lohnzuflusses (§ 19 EStG) Arbeitslohn im Sinne von § 19 Abs. 1 Nr. 1 EStG sind u.a. Vorteile, die „für“ eine Beschäftigung gewährt werden. Dies bedeutet, dass der Vorteil Entlohnungscharakter haben muss33. Kein Arbeitslohn sind demgegenüber solche Vorteile, die sich bei objektiver Würdigung aller Umstände des Einzelfalls nicht als Entlohnung, sondern lediglich als notwendige Begleiterscheinung

___________ 25 Ständige Rechtsprechung seit BFH v. 22.2.1989 – I R 9/85, BStBl. II 1989, 631. 26 BFH v. 4.12.1996 – I R 54/95, GmbHR 1997, 317; v. 8.7.1998 – I R 123/97, GmbHR 1998, 1134. 27 BFH v. 17.11.2004 – I R 56/03, GmbHR 2005, 637. 28 FG Niedersachsen v. 21.8.2003 – 11 K 499/98, EFG 2004, 124, bestätigt durch BFH v. 2.3.2005 – VIII B 298/03, BFH/NV 2005, 1528. Steuerrelevant waren diesbezüglich die inländischen Einkünfte aus Kapitalvermögen bei dem im Inland ansässigen Gesellschafter der im Ausland ansässigen Kapitalgesellschaft, die das Feriendomizil unterhielt. 29 BFH v. 6.4.2005 – I R 86/04, BStBl. II 2005, 666. 30 BFH v. 14.7.2004 – I R 57/03, DStR 2004, 1691. 31 FG Hamburg v. 6.12.2001 – VI 155/99, EFG 2002, 708. Aus der eigenen Beratungserfahrung sei insbesondere der „Feuerlöschteich-Fall“ erwähnt. Aus feuerpolizeilichen Gründen wird einer GmbH aufgegeben, einen Feuerlöschteich anzulegen. Dieser Feuerlöschteich wird in Form einer Schwimmhalle, in der die Gesellschafter der GmbH zu schwimmen pflegten, angelegt. Vor dem Hintergrund des Spaßfaktors wurden die Aufwendungen seitens der Finanzverwaltung insgesamt als gesellschaftsrechtlich veranlasst qualifiziert. 32 Vgl. FG Nürnberg v. 14.3.2000 – I 269/97, EFG 2000, 701. 33 BFH v. 30.5.2001 – VI R 177/99, DStRE 2001, 1076.

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betriebsfunktionaler Zielsetzung erweisen34. Hierbei kann das Interesse des Arbeitnehmers auf Erlangung des Vorteils vernachlässigt werden, falls der Vorteil ganz überwiegend im eigenbetrieblichen Interesse gewährt wird. Allerdings muss sich aus den Begleitumständen wie Anlass, Art und Höhe des Vorteils, Auswahl der Begünstigten, freie oder nur gebundene Verfügbarkeit, Freiwilligkeit oder Zwang zur Annahme des Vorteils und aus seiner besonderen Geeignetheit für den jeweils verfolgten betrieblichen Zweck ergeben, dass diese Zielsetzung ganz im Vordergrund steht und ein damit einhergehendes eigenes Interesse des Arbeitnehmers, den betreffenden Vorteil zu erlangen, deshalb vernachlässigt werden kann. Das Erfordernis des eindeutigen Vorrangs anderer Entlohnungszwecke kommt bei der Verwendung des Begriffs „eigenbetriebliches Interesse“ durch die hinzugefügten Worte „ganz überwiegend“ zum Ausdruck35. Auch die bei diesen Kriterien verwendeten unbestimmten Begriffe „ganz überwiegend eigenbetriebliches Interesse“ bilden die Einflugschneise für den Spaßfaktor als entscheidungserhebliches Moment. Ist der vom Arbeitgeber gewährte Vorteil aus Sicht der Finanzverwaltung und Finanzrechtsprechung mit „Spaß“ des Arbeitnehmers verbunden, wird regelmäßig nicht von einem „überwiegend eigenbetrieblichen Interesse“ ausgegangen. Unabhängig von betrieblichen Aspekten werden daher der Ersatz für Golfclubbeiträge und die Zurverfügungstellung von Tennis- bzw. Fußballplätzen als Lohn qualifiziert36. Im Ergebnis handelt es sich um Einzelfallentscheidungen, bei denen das „Maß an Spaß“ die Waage in Richtung überwiegend eigenbetriebliches Interesse oder Vorteil des Arbeitnehmers ausschlagen lässt37. Erwähnenswert ist die Entscheidung des BFH vom 5.4.200638. Bei einer lediglich abstrakten berufsbedingten Gefährdung von Leib, Gesundheit und Vermögen des Arbeitnehmers (Vorstandsmitglied) geht der BFH von einem nicht unerheblichen Eigeninteresse des Vorstandsmitglieds aus, wenn der Arbeitgeber Sicherungsmaßnahmen zugunsten des Arbeitnehmers ergreift. Im Ergebnis wird die Entscheidung davon getragen, dass der BFH davon ausgeht, dass Vorstandsmitglieder unter Gesichtspunkten der Eitelkeit Spaß an Sicherheitsmaßnahmen an ihrem Wohnhaus (Zaun, schusssicheres Glas, Kameras) empfinden können.

VI. Der Spaßfaktor als Indiz für Spiel und Wette im Rahmen von § 22 Nr. 3 EStG Gemäß § 22 Nr. 3 EStG gehören zu den sonstigen Einkünften Einkünfte aus Leistungen, soweit sie weder zu anderen Einkunftsarten (§ 2 Abs. 1 Satz 1

___________ 34 BFH v. 25.5.2000 – VI R 195/98, DStR 2000, 1641. 35 BFH v. 30.5.2001 – VI R 177/99, DStRE 2001, 1076. 36 Vgl. Drenseck in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 19 Rz. 50; Gersch, Das ganz überwiegend eigenbetriebliche Interesse des Arbeitgebers an Zuwendungen – Lohnsteuerrecht im Wandel, in FS für Klein, Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik, 1994, S. 889. 37 Vgl. Gersch, Das ganz überwiegend eigenbetriebliche Interesse des Arbeitgebers an Zuwendungen – Lohnsteuerrecht im Wandel, in FS für Klein, Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik, 1994, S. 897. 38 BFH v. 5.4.2006 – IX R 109/00, BStBl. II 2006, 541.

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Nr. 1 bis 6 EStG) noch zu den Einkünften im Sinne von § 22 Nr. 1, Nr. 1a, Nr. 2 oder Nr. 4 EStG gehören (§ 22 Nr. 3 Satz 1 EStG). Auch im Rahmen dieses „Auffangtatbestands“ wird mit unbestimmten Rechtsbegriffen wie z.B. „Leistungen“ gearbeitet. Im Rahmen der Auslegung des letztlich aus unbestimmten Rechtsbegriffen bestehenden Tatbestands „Einkünfte aus Leistungen“ wirkt sich der Spaßfaktor ambivalent aus. Einerseits wirkt der Spaßfaktor auch hier steuerbegründend, in dem aus Sicht der Finanzverwaltung spaßbringende Lebenssachverhalte, die mit Einkünften im Zusammenhang stehen, eher aufgegriffen werden als Lebenssachverhalte ohne Spaßfaktor, z.B. Entschädigungszahlungen. Ist der Spaßfaktor allerdings „bestimmend“ für den zu prüfenden Lebenssachverhalt, kann sich der Sachverhalt von einer „Leistung“ hin zu Spiel und Wette bewegen. Spiel und Wette hingegen werden traditionell als nicht steuerbare Vorgänge behandelt39. Einkünfte aus Spiel, Lotterien und Wetten stellen nicht steuerbare Einkünfte dar, obwohl sie in der Regel mit Einkünfteerzielungsabsicht bezogen werden. 1. Spiel und Wette Bei spielerischen Tätigkeiten, in deren Zusammenhang Spielgewinne entstehen, ist mit Blick auf das Merkmal einer erwerbswirtschaftlichen Betätigung, die zu steuerbaren Einkünften im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG führen kann, zwischen Spielen, deren Ausgang vom Geschick und der Erfahrung des Spielers abhängt, und Glücksspielen, die nicht oder nur in geringem Maße durch das besondere Geschick des jeweiligen Spielers beeinflusst werden können, zu unterscheiden40. Hat der Steuerpflichtige während des Spiels keine Möglichkeit, durch eigene Leistung gezielt den Realisierungsgrad der Gewinnchance zu erhöhen, sind die erzielten Gewinne nicht einkommensteuerbar, gleichviel mit welchem Engagement und Erfolg deren Verwirklichung angestrebt wird41. Spiel-, Sport-, Wett- und Lotteriegewinne werden nach allgemeiner Ansicht mangels Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG nicht besteuert42. Denn weder die Spieltätigkeit noch der Spieleinsatz stellen Leistungen dar, die durch den Spielgewinn vergütet werden43. Wer z.B. eine Spielbank besucht und sich am Roulettetisch beteiligt, ist stets „Konsument“ der Gewinnchance, die ihm der Spielbankbetreiber als Veranstalter des Spiels anbietet, ohne dass eigene Leistungen des Spielers entscheidenden Einfluss auf die Gewinnchance hät-

___________ 39 Vgl. RFH v. 30.6.1927 – VI A 261/27, RFHE 21, 244 (Rennwetten); v. 14.3.1928 – VI A 783/27, RStBl. 1928, 181; BFH v. 16.9.1970 – I R 133/68, BStBl. II 1970, 411; v. 16.9.1970 – I R 133/68, BStBl. II 1970, 865; v. 11.11.1993 – I R 48/91, BFH/NV 1994, 622; Schmidt-Liebig, StuW 1995, 162. 40 BFH v. 11.11.1993 – XI R 48/91, BFH/NV 1994, 622; Schmidt-Liebig, StuW 1995, 162 (163). 41 Schmidt-Liebig, StuW 1995, 162 (172). 42 BFH v. 24.10.1969 – IV R 139/68, BStBl. II 1970, 411; v. 19.7.1990 – IV R 82/89, BStBl. II 1991, 333; Weber-Grellet in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 22 Rz. 150, Stichworte „Spiel-, Sport-, Wett- und Lotteriegewinne“ und „Preise“; Gérard in Lademann, EStG, § 22 Rz. 76 a (Juli 2000). 43 BFH v. 19.7.1990 – IV R 82/89, BStBl. II 1991, 333; v. 14.3.1928 – RFH VI A 783/27, RStBl. 1928, 181; FG Nürnberg v. 17.1.1979 – V 121/78, EFG 1979, 339.

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ten44. Anders kann die Beurteilung sein, also das im Rahmen von Spielen bezogene Entgelt zu Einkünften im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG führen, wenn nicht die spielerische Zielsetzung, namentlich die Freude, sondern die Gewinnerzielung im Vordergrund steht. Wird z.B. Schach mit Geldeinsatz gespielt, handelt es sich objektiv um eine erwerbswirtschaftliche Betätigung. Die Realisierung der Gewinnchance hängt wesentlich von der spielerischen Fähigkeit des Spielers ab. Die bessere sportliche Leistung wird belohnt. Diese Leistungsabhängigkeit kann zur Steuerpflicht gemäß § 22 Nr. 3 Satz 1 EStG führen, wenn ausnahmsweise nicht die privat veranlasste Freude am Spiel, sondern die Gewinnerzielungsabsicht ein überwiegendes Motiv für den Spieler ist. Der Steuerpflichtige hat sein Hobby zum steuerrelevanten Beruf gemacht. 2. Sonstige Einkünfte im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG Die Finanzrechtsprechung legt den Tatbestand der Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG weit aus. Unter Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG soll jedes Tun, Dulden oder Unterlassen zu verstehen sein, das weder eine Veräußerung noch einen veräußerungsähnlichen Vorgang im privaten Bereich betrifft45. Das Tun, Dulden oder Unterlassen muss Gegenstand eines entgeltlichen Vertrags sein können und eine Gegenleistung auslösen46. An dem zuvor bei der Definition des Leistungsbegriffs verwandten Merkmal „um des Entgelts willen erbracht“ hält der IX. Senat des BFH nicht mehr fest. Ein „do ut des“ im Sinne einer synallagmatischen Verknüpfung zwischen Leistung und Gegenleistung hält der IX. Senat des BFH nicht für erforderlich. Dem ist entgegenzuhalten, dass nicht jede Einnahme, die durch eine Tätigkeit ausgelöst wird, auch zu Einkünften gemäß § 22 Nr. 3 EStG führen muss. Die Formulierung erfasst ergänzend zu den übrigen Einkunftsarten das Ergebnis einer Erwerbstätigkeit und setzt wie diese die allgemeinen Merkmale des Erzielens von Einkünften gemäß § 2 EStG voraus47. Voraussetzung für die Einkunftseignung im Sinne von § 2 Abs. 1 EStG ist das Angebot einer Leistung im allgemeinen Wirtschaftsleben, durch das die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen zum Ausdruck kommt. Steuerlich erfasst werden soll allein das Ergebnis einer erwerbswirtschaftlichen Betätigung48. Wegen der Konturenlosigkeit des § 22 Nr. 3 Satz 1 EStG hat diese allgemeine Voraussetzung der erwerbswirtschaftlichen Betätigung besondere Bedeutung für die Einkunftsart der sonstigen Einkünfte; denn § 22 Nr. 3 EStG ist kein universeller Auffangtatbestand für jede Art eintretender Bereicherung49. Vielmehr dient die Einkunftsart der Ergänzung der anderen Einkunftsarten. Sie spricht Tatbestände an, die von den anderen Einkunftsarten nicht erfasst werden, ihnen aber wirtschaftlich entsprechen. Eine Vergleichbarkeit erfordert aber auch ein erwerbswirtschaft-

___________ 44 45 46 47 48 49

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Schmidt-Liebig, StuW 1995, 162 (169). BFH v. 26.10.2004 – IX R 53/02, BStBl. II 2005, 167 m.w.N. BFH v. 21.9.2004 – IX R 13/02, BStBl. II 2005, 44. So noch BFH v. 14.9.1999 – IX R 88/95, BStBl. II 1999, 776 m.w.N. FG Schleswig-Holstein v. 28.3.2006 – 5 K 159/05, EFG 2006, 1328. Vgl. nur Lemaire in Bordewin/Brandt, EStG, § 22 Nr. 3 Rz. 1 (Okt. 2005); Gérard in Lademann, EStG, § 22 Rz. 74 (Juli 2000); Becker, StuW 1935, 792 (796).

Der Spaßfaktor im Steuerrecht

liches Streben. Dabei muss die erwerbswirtschaftliche Betätigung aus der „Leistung“ erkennbar sein und darf nicht aus einem im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit erzielten Entgelt geschlossen werden50. 3. Einkünfte aus der Teilnahme an Fernsehshows Von praktischer Relevanz ist die Abgrenzung zwischen Spiel und Wette einerseits und sonstiger Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG andererseits im Zusammenhang mit der steuerlichen Erfassung von Einkünften aus der Teilnahme an Fernsehshows geworden. Im Urteil vom 29.11.200751 legt der BFH der sonstigen Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG wiederum eine weite Auslegung zugrunde. Danach genügt jedes Tun, Dulden oder Unterlassen, das Gegenstand eines entgeltlichen Vertrags sein kann und eine Gegenleistung auslöst. Die Gegenleistung muss durch das Verhalten des Steuerpflichtigen veranlasst sein, dafür genügt schon die Annahme einer für das Verhalten gewährten Gegenleistung. Die Finanzverwaltung hat versucht, diese pauschale Aussage im BMF-Schreiben vom 30.5.200852 zu konkretisieren. Nach Auffassung der Finanzverwaltung sollen für die Qualifikation von Einkünften aus der Teilnahme an Fernsehshows als Einkünfte aus Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG folgende Anhaltspunkte maßgeblich sein: Vorgegebenes Verhaltensmuster seitens des Fernsehsenders, Zahlung eines Preisgeldes und eines erfolgsunabhängigen Antritts- oder Tagesgeldes, kein einmaliger Auftritt, sondern Teilnahme an mehreren Folgen, Preisgeld mit Funktion einer Entlohnung für die Leistung. M.E. führt weder die Definition des BFH noch führen die Anhaltspunkte der Finanzverwaltung zu einer ausreichend bestimmten Auslegung von § 22 Nr. 3 EStG im Hinblick auf die Einkünfte aus der Teilnahme an Fernsehshows. Es sollte wie folgt differenziert werden: a) Schauspielerische Leistung Sofern Einkünfte aus der Teilnahme an einer Fernsehshow dadurch begründet sind, dass ihnen – wenn auch eine amateurhafte – schauspielerische Leistung zugrunde liegt, kann diese als Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG qualifiziert werden. Unter diese Fallgruppe lässt sich auch das Verfahren IX R 39/06 des BFH53 subsumieren. In diesem Fall hatte die dortige Klägerin die Aufgabe, ihre Familie dazu zu bringen, zur Hochzeitsfeier mit ihrem angeblichen Verlobten zu erscheinen. Um dieses Ziel zu erreichen, musste sie den Regieanweisungen, denen zufolge der „Verlobte“ sich gerade so verhielt, dass die Familie nicht zur Hochzeit kommen würde, eigene Ideen entgegensetzen und diese mittels schauspielerischer Qualitäten ihrer Familie gegenüber umsetzen. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, von einer Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG unter dem Gesichtspunkt einer „schauspielähnli-

___________ 50 Vgl. Schmidt-Liebig, StuW 1995, 162 (165). 51 BFH v. 28.11.2007 – IX R 39/06, BStBl. II 2008, 469. 52 BMF-Schreiben v. 30.5.2008 – IV C 3-S 2257/08/1001, 2008/0217070, BStBl. I 2008, 645. 53 BFH v. 29.11.2007 – IX R 39/06, BStBl. II 2008, 469.

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chen Leistung“ auszugehen54. Die Realisierung der eingeräumten Gewinnchance kann als leistungsabhängig gesehen werden. In der Überzeugung ihrer Familie, zur vorgespiegelt anstehenden Verlobung bzw. Hochzeit zu erscheinen, lag eine leistungsbezogene Herausforderung der Kandidatin. Damit kann bei dem von ihr bezogenen Entgelt von einer Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG ausgegangen werden. b) Vergütung für Zeitaufwand Werden seitens des Fernsehsenders Vergütungen dafür gezahlt, dass sich der Teilnehmer die Zeit nimmt, an der Fernsehshow teilzunehmen, kann auch diese Vergütung als Entgelt im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG qualifiziert werden. Es handelt sich um ein mit einem Tun, Dulden oder Unterlassen synallagmatisch verknüpftes Entgelt. Die Zahlung erfolgt im Gegenseitigkeitsverhältnis zum „Sich-zur-Verfügung-stellen“. Auch sog. Aufwandsentschädigungen, die der Kandidat dafür erhält, dass er parallel zur Teilnahme an der Fernsehshow Aufwendungen zu tragen hat, deren Gegenleistung er aufgrund der Teilnahme an der Fernsehshow gar nicht in Anspruch nehmen kann (Mietersatzzahlungen etc.), sind als steuerbares Entgelt im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG zu qualifizieren. c) Zeitfaktor Für die Qualifikation einer Tätigkeit als Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG kann es m.E. nicht auf die Dauer der Tätigkeit ankommen55. Nach allgemeiner Ansicht können bereits kurzfristige oder nur einmalige erwerbswirtschaftliche Tätigkeiten eine Steuerpflicht nach § 22 Nr. 3 Satz 1 EStG nach sich ziehen. Die zeitliche Dauer einer Tätigkeit ist damit kein konstitutives Merkmal der Steuerpflicht gemäß § 22 Nr. 3 Satz 1 EStG. So würde kaum ein Steuerpflichtiger besteuert, der als Amateurrennfahrer erstmals, aber über mehrere Wochen und im Ergebnis erfolgreich an der Rallye ParisDakar teilnimmt. Allein die zeitliche Dauer einer Tätigkeit macht sie nicht zur Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG. Anders kann dies zu beurteilen sein, wenn aus der zeitlichen Dauer auf eine Nachhaltigkeit der Tätigkeit im Sinne einer erwerbswirtschaftlichen Betätigung geschlossen werden kann. Dann muss aber hinsichtlich der Tätigkeit als solcher Wiederholungsabsicht bestehen. Dies ist in der Regel bei der Teilnahme an einer Fernsehshow nicht der Fall. d) Wissensleistung Erstaunlicherweise greift die Finanzverwaltung Entgelte aus der Teilnahme an Fernsehshows, denen ein Ratespiel zugrunde liegt, bislang nicht auf. Im Rahmen zahlreichen Fernsehshows werden die Kandidaten dafür entlohnt, dass sie auf konkrete Fragen konkrete Antworten geben. Die Preisgabe des zur

___________ 54 Vgl. Weber-Grellet in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 22 Rz. 150, Stichwort „Preise“; Ismer, FR 2007, 238; Awea, EStB 2008, 131; FG Köln v. 29.10.2009 – 15 K 2917/06, EFG 2010, 570. 55 Vgl. Weber-Grellet in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 22 Rz. 138.

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Antwort erforderlichen Wissens des Kandidaten stellt m.E. eine Leistung im Wortsinn des Begriffs „Leistung“ dar. Eine konkretere synallagmatische Verknüpfung zwischen Erbringung dieser Wissensleistung und dem erhaltenen Entgelt kann es kaum geben, da sich regelmäßig mit jeder erbrachten Antwort das zu erzielende Preisgeld erhöht. Der Kandidat hat es allein in der Hand, durch sein Eigenwissen und taktisches Vorgehen eine möglichst hohe Gewinnsumme zu realisieren. Gleichwohl geht die Finanzverwaltung offensichtlich davon aus, dass die Beantwortung von Wissensfragen keine wertadäquate Leistung für die Zahlung eines Gewinns von bis zu 1 Mio. Euro ist56. e) Höhe der Gewinnchance Bei Spielen mit Gewinnchancen von unter 2% ist der Zusammenhang zwischen einer erwerbswirtschaftlichen, d.h. grundsätzlich steuerbaren Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG einerseits und dem Gewinnzufluss andererseits durchbrochen. Die im Spiel angelegte Entscheidung als unmittelbare und letzte kausale Ursache für den Gewinn hat bei derart geringen Gewinnchancen naturgemäß ein so starkes Zufallsmoment, dass sie den Veranlassungszusammenhang als überholende Kausalität durchbricht57. M.E. spielen die objektive Höhe einer Gewinnchance sowie die subjektive Beeinflussbarkeit dieser Gewinnchance durch den Kandidaten eine maßgebliche Rolle bei der Qualifizierung der Teilnahme an einer Spielshow im Fernsehen als Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG. In der subjektiven Beeinflussbarkeit der Gewinnchance, die objektiv gering ist, kann der steuerbare Vorgang in Form einer „sonstigen Leistung“ im Sinne von § 22 Nr. 2 EStG geregelt werden. f) Kausalität zwischen Teilnahme und Entgelt Entgegen der Auffassung des BFH kann m.E. ein bloßer Veranlassungszusammenhang zwischen der Teilnahme an einer Spielshow im Fernsehen und etwaigen Zahlungen nicht ausreichen zur Qualifizierung dieser Zahlungen als Einkünfte aus Leistungen im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG. Dies gilt insbesondere dann, wenn unabhängig von der Höhe der Gewinnchance ein weiteres Zufallsmoment zur Zahlung eines Entgelts führt. Dies kann z.B. die Losentscheidung bei Gleichstand erbrachter Leistungen im Rahmen einer Spielshow sein. Dies kann aber auch die Maßgeblichkeit der Zuschauerentscheidung durch TED-Umfrage für den Gewinn des Spiels sein. Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn die Zuschauerentscheidung keine konkrete, objektivierbarere Leistung bewertet, sondern diese lediglich auf Sympathiewerten beruht. Beruht die Entscheidung auf Sympathiewerten, ist sie nicht leistungs-, sondern persönlichkeitsbezogen. Preise, die aus Anlass der persönlichen Wertschätzung einer Person vergeben werden, unterliegen nach allgemeiner An-

___________ 56 Vgl. FinMin NRW v. 26.1.1972 – S 2257-5-VB 2, FR 1972, 93. 57 Vgl. BFH v. 19.7.1974 – VI R 114/71, BStBl. II 1975, 181 (182); FG Baden-Württemberg v. 21.10.1992 – 12 K 113/88, EFG 1993, 253; v. 7.4.1993 – 3 K 438/88, EFG 1993, 724, bestätigt durch v. 25.11.1993 – BFH VI R 45/93, BStBl. II 1994, 255; FG Münster v. 11.11.1993 – 3 K 2777/91 L, EFG 1994, 357, aufgehoben durch BFH v. 20.5.1994 – VI R 5/94, BFH/NV 1994, 857.

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sicht aber nicht der Einkommensbesteuerung58. Bei einer persönlichkeitsbezogenen Prämierung fehlt es im Ergebnis an einer erwerbswirtschaftlichen Leistung, durch die die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zum Ausdruck kommt. g) Ergebnis Erlangt der Teilnehmer einer Fernsehshow einen Preis aufgrund der Entscheidung der Zuschauer, die letztlich auf der gewonnenen Sympathie des Publikums beruht, und wurde kein konkret bewertbares Verhalten abgefordert, kann von einer sonstigen Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG nicht ausgegangen werden. Gleiches gilt für den Fall, dass die objektive Gewinnchance gering (unter 5%) und auch die subjektive Beeinflussbarkeit dieser Gewinnchance durch den Kandidaten begrenzt sind. Ist die Gewinnchance objektiv gering und subjektiv begrenzt beeinflussbar, muss der Spaßfaktor hoch sein, um die Fernsehshow für den Teilnehmer attraktiv zu machen. Auch hier kann daher festgehalten werden, dass je höher der Spaßfaktor, je geringer die Wahrscheinlichkeit der Steuerbarkeit.

VII. Gesamtergebnis Der Spaßfaktor bezüglich des zu beurteilenden Lebenssachverhalts spielt für die steuerrechtliche Subsumtion desselben oftmals eine entscheidende Rolle. Anlass für die Berücksichtigung des Spaßfaktors als Tatbestandsmerkmal des Steuertatbestands sind die im Gesetz vorhandenen unbestimmten Rechtsbegriffe wie z.B. „Gewinnerzielungsabsicht“, „private Veranlassung“, „eigenbetriebliche Veranlassung“, „sonstige Leistung“. Geht es um die Anerkennung von Kosten als steuerrechtlich relevanten Aufwand, hat der Spaßfaktor regelmäßig steuerbegründende Wirkung. Je größer der Spaßfaktor bei der Verursachung der Kosten, je größer die Nähe zur privaten Lebensführung, je größer die Gefahr der Nichtanerkennung von Aufwand als betrieblich veranlasst bzw. die Annahme von Liebhaberei. Insbesondere bei der Abgrenzung einer sonstigen Leistung im Sinne von § 22 Nr. 3 EStG von Spiel und Wette entwickelt der Spaßfaktor steuerentlastende Wirkung: Je größer der Spaß z.B. bei der Teilnahme an einer Fernsehshow, je größer die Chance von Spiel und Wette. Äußeres Indiz für das Maß des Spaßes ist das Maß der objektiven Gewinnchance und das Maß der subjektiven Beeinflussbarkeit dieser Gewinnchance. Je kleiner die Gewinnchance und ihre Beeinflussbarkeit, umso größer der zu unterstellenden Spaßfaktor, da eine Teilnahme ansonsten nicht attraktiv wäre.

___________ 58 BFH v. 1.10.1964 – IV 183/62 U, BStBl. III 1964, 629; Gérard in Lademann, EStG, § 22 Rz. 76 a (Juli 2000); Weber-Grellet in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 22 Rz. 150, Stichwort „Preise“.

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Die Betriebsaufspaltung – ein methodologischer Irrgarten Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gesetzeswortlaut III. Gegenwärtige (dogmatische) Praxis IV. Rechtfertigung der Betriebsaufspaltung V. Entwicklung VI. Methodologisches

VII. Weiterungen 1. Doppelunternehmen 2. Beendigung der Betriebsaufspaltung 3. Betriebsaufspaltung mit AG 4. Abfärbung 5. Erbschaft- und Schenkungsteuer VIII. Ausblick

I. Einleitung Man mag darüber streiten, ob es den viel beschworenen Gegensatz zwischen Theorie und Praxis in der Juristerei tatsächlich gibt. Jedenfalls in der Person von Michael Streck sind beide Elemente in vorbildlicher Art und Weise vereinigt. Wer jemals mit dem Jubilar ein steuerrechtliches Problem erörtert hat bzw. seine Veröffentlichungen liest, der erkennt, dass es Michael Streck stets um die sach- und interessengerechte Anwendung der Steuergesetze geht. Von daher gesehen soll in den nachfolgenden Ausführungen einer Standardfallgruppe des besonderen Steuerrechts (noch einmal) in grundsätzlicher Art und Weise nachgegangen werden. Die „Fallfrage“ soll lauten: Ist die Betriebsaufspaltung methoden- und steuergesetzeskonform?

II. Gesetzeswortlaut Typologisch ist für den Sachverhalt einer Betriebsaufspaltung die gleichzeitige Beteiligung an zwei Gesellschaften/Unternehmen charakteristisch. Die Betriebsaufspaltung tritt in der Praxis in zwei Hauptspielarten auf1. Bei der echten Betriebsaufspaltung gründen die Träger des bisherigen einheitlichen Personenunternehmens eine Kapitalgesellschaft, zumeist eine GmbH, deren Anteile von den Gesellschaftern der Personengesellschaft gehalten werden. Die Beteiligungsverhältnisse in beiden Gesellschaften sind gleich oder ähnlich. Der Betrieb des Unternehmens wird in Zukunft von der neu gegründeten Kapitalgesellschaft (GmbH) geführt. Die Personengesellschaft bleibt Eigentümerin des Anlagevermögens und vermietet oder verpachtet es an die Betriebskapitalgesellschaft. Von unechter Betriebsaufspaltung ist die Rede, wenn die vorstehend beschriebene Gestaltung nicht durch Ausgründung aus einer be-

___________ 1 Vgl. z.B. Reiß in Kirchhof, EStG, 9. Aufl. 2010, § 15 Rz. 76 ff.; Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 15 Rz. 800 ff.

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stehenden Personengesellschaft entsteht, sondern durch Neugründung zweier, von Anfang an rechtlich selbständiger Gesellschaften/Unternehmen2. Nach Wortlaut und Systematik des Gesetzes – zum einen § 15 EStG, zum anderen § 21 EStG – führt die Begründung einer echten Betriebsaufspaltung zur Gewinnrealisierung bei der zukünftigen Besitzgesellschaft/dem künftigen Besitzunternehmen nach § 16 Abs. 3 Satz 1 EStG. Das Personenunternehmen ist fortan nur noch vermögensverwaltend tätig, sodass Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) bezogen werden und im Fall der Veräußerung der Beteiligung/des Einzelunternehmens keine Situation des § 16 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1, 2 EStG gegeben ist. Bei einer unechten Betriebsaufspaltung liegen von vornherein nur Einkünfte nach § 21 EStG vor. Die von den Gesellschaftern aus der kapitalgesellschaftsrechtlichen Beteiligung bezogenen Dividenden führen zu Einkünften aus Kapitalvermögen (§§ 20 Abs. 1 Nr. 1, 32d Abs. 1 EStG), und ein etwaiger Veräußerungsgewinn beim Verkauf der kapitalgesellschaftsrechtlichen Beteiligung führt unter den Voraussetzungen der §§ 17 Abs. 1 Satz 1, 6 Nr. 1, 20 Abs. 2 Nr. 1 EStG in den Bereich der Steuerbarkeit.

III. Gegenwärtige (dogmatische) Praxis Die Finanzverwaltung und die Rechtsprechung des BFH sehen die steuerrechtliche Situation vollkommen anders3. Machen die der Betriebsgesellschaft zur Nutzung überlassenen Wirtschaftsgüter die wesentlichen oder eine wesentliche Grundlage des Betriebs dieses Unternehmens aus (sachliche Verflechtung) und kann bei den hinter dem Besitz- und dem Betriebsunternehmen stehenden Personen ein einheitlicher geschäftlicher Betätigungswille festgestellt werden (personelle Verflechtung), dann soll Folgendes gelten: Die Tätigkeit der Besitzgesellschaft/des Besitzunternehmens wird als solche gewerblicher Art qualifiziert, sodass Einkünfte aus § 15 EStG aufgrund der Subsidiaritätsklausel des § 21 Abs. 3 EStG Vorrang genießen. Der Zweck dieser Konstruktion ist nicht nur darin zu sehen, dass Besitzunternehmen bzw. seine Träger in den Bereich der Gewerbesteuer zu bringen, sie führt vielmehr auch zu einem erweiterten Gewinnbegriff, da zwar einerseits bei der Begründung einer echten Betriebsaufspaltung auf die Gewinnrealisierung nach § 16 Abs. 3 Satz 1 EStG verzichtet wird, jedoch andererseits das an die Betriebskapitalgesellschaft überlassene Vermögen in vollem Umfang als Betriebsvermögen steuerverstrickt ist. Da die Anteile an der Betriebskapitalgesellschaft der gewerblichen Betätigung des Besitzunternehmens im Rahmen der Betriebsaufspaltung dienen, sollen sie bei den Gesellschaftern des Besitzunternehmens zum Sonderbetriebsvermögen II gehören.

___________ 2 BFH v. 17.4.2002 – X R 8/00, BStBl. II 2002, 527. 3 R 15.7 EStR; BFH v. 12.11.1985 – VIII R 240/81, BStBl. II 1986, 296 = FR 1986, 173; BFH v. 19.3.2002 – VIII R 57/99, BStBl. II 2002, 662; BFH v. 24.8.2006 – IX R 52/04, BStBl. II 2007, 165; BFH v. 19.3.2009 – IV R 78/06, BStBl. II 2009, 803.

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IV. Rechtfertigung der Betriebsaufspaltung Mustert man die einschlägige Rechtsprechung des BFH durch, so fällt auf, dass die jedenfalls nicht im Gesetzeswortlaut des EStG angelegte Figur der Betriebsaufspaltung im Ergebnis wie ein subsumtionsfähiges Tatbestandsmerkmal behandelt wird. Im Einzelnen finden sich dann aber durchaus unterschiedliche Argumentationsstränge. Zum Teil wird ausgeführt, die Möglichkeit, über die personelle und sachliche Verflechtung in einem für die Betriebsführung des Betriebsunternehmens wesentlichen Bereich beherrschenden Einfluss auf beide Unternehmen auszuüben, führe auf der Grundlage einer wertenden Betrachtungsweise zu einer als gewerblich zu qualifizierende Tätigkeit des Besitzunternehmens, daher zu den Rechtsfolgen der Betriebsaufspaltung4. Eine „ihrer Art nach vermögensverwaltende Tätigkeit des Vermietens oder Verpachtens“ werde zum Gewerbebetrieb. Andere Entscheidungen führen ausdrücklich aus, dass es sich bei der Betriebsaufspaltung „um ein Rechtsinstitut“ handle, erkennen dann aber die methodologische Problematik, nehmen es im Ergebnis jedoch hin, dass es sich „um ein Rechtsinstitut“ handle, welches von der Rechtsprechung „geschaffen“ sei5. Im steuerrechtlichen Schrifttum wird der Ansatz der Rechtsprechung von Vielen geteilt. Reiß6 meint, dass sich schon aus den Subsidiaritätsklauseln der §§ 20 Abs. 8, 21 Abs. 3 EStG ein Vorrang gewerblicher Einkünfte ergebe. Im Übrigen folge aus der sachlichen und personellen Verflechtung, dass es sich nicht mehr um eine bloße Fruchtziehung, also um private Vermögensverwaltung handle7. Dies ist deshalb nicht unproblematisch, weil mit der sachlichen und personellen Verflechtung als Voraussetzung für eine Betriebsaufspaltung argumentiert wird, deren methodologische Rechtfertigung gerade hergeleitet werden soll. Nach Weber-Grellet8 handelt es sich bei der Betriebsaufspaltung um einen zutreffenden Ausfluss der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht; dogmatisch könnte sogar noch weitergegangen werden, indem die beiden an der Betriebsaufspaltung beteiligten Unternehmen als Einheitsgesellschaft erfasst würden. Etwas vorsichtiger und abwägender sind die Ausführungen von Wacker9 zu den steuergesetzlichen Grundlagen der Betriebsaufspaltung. Der Autor meint, Rechtsgrundlage „könnte“ ein richtig verstandener Begriff des Gewerbebetriebs des § 15 Abs. 2 EStG sein, weist aber darauf hin, dass diese steuerrechtliche Wertung möglicherweise durch den Umstand beeinträchtigt werde, dass die an der Betriebsaufspaltung beteiligten Unternehmen im rechtlichen Sinne selbständig seien.

___________ 4 BFH v. 17.7.1991 – I R 98/88, BStBl. II 1992, 246; BFH v. 19.3.2002 – VIII R 57/99, BStBl. II 2002, 662. 5 BFH v. 24.11.1998 – VIII R 61/97, BStBl. II 1999, 483 (485); BFH v. 12.5.2004 – X R 59/00, BStBl. II 2004, 607 (609). 6 Reiß in Kirchhof, EStG, § 15 Rz. 77. 7 Ähnlich BVerfG v. 25.3.2004 – 2 BvR 944/00, HFR 2004, 691. 8 Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, S. 334 f. 9 Wacker in Schmidt, EStG, § 15 Rz. 807.

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Eine Vielzahl von Stimmen im steuerrechtlichen Schrifttum vermisst eine gesetzliche Grundlage für die Figur der Betriebsaufspaltung10. Die vehementeste Kritikerin ist Knobbe-Keuk11. Die Behandlung der Betriebsaufspaltung als „Rechtsinstitut“ überdecke nur, dass es sich um eine wirtschaftliche Betrachtungsweise ohne gesetzliche Grundlage handle. Die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen, nämlich die Überlassung einer wesentlichen Betriebsgrundlage und der einheitliche geschäftliche Betätigungswille, seien schillernd und unklar. Die Konsequenzen einer Betriebsaufspaltung seien nicht das Ergebnis einer lege artis durchgeführten Subsumtion eines Sachverhalts unter einen Tatbestand, vielmehr eine Maßnahme der Rechtsprechung ohne steuergesetzliche Grundlage.

V. Entwicklung Auf die zumindest argumentativ unselige Entstehungsgeschichte der Betriebsaufspaltung soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Für die derzeitige Rechtssituation und insbesondere für die nach dem Zweiten Weltkrieg agierenden Rechtsanwender kann daraus kein Argument gegen die Betriebsaufspaltung hergeleitet werden. Entscheidend muss allein die gegenwärtige Gesetzeslage sein. Für sie ist allerdings zu berücksichtigen, dass bis einschließlich 1998 die Möglichkeit bestand, bei der Begründung einer echten Betriebsaufspaltung Wirtschaftsgüter des zukünftigen Besitzpersonenunternehmens ohne Aufdeckung von stillen Reserven auf die Betriebskapitalgesellschaft zu übertragen. Dies ist früher vielfach als Begründung dafür eingesetzt worden, dass die von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsgrundsätze der Betriebsaufspaltung hinzunehmen seien. Mittlerweile liegt es aber nach § 6 Abs. 6 Satz 2 EStG so, dass bei Begründung einer echten Betriebsaufspaltung die Buchwertübertragung einzelner Wirtschaftsgüter auf die Betriebskapitalgesellschaft nicht mehr möglich ist12. Damit ist ein ganz wesentliches Plausibilitätsargument für die Behandlung der echten Betriebsaufspaltung entfallen; für die Fallgruppe der unechten Betriebsaufspaltung ist die früher mögliche Buchwertübertragung einzelner Wirtschaftsgüter in die Betriebskapitalgesellschaft nie ein Argument gewesen. § 6 Abs. 6 EStG macht deutlich, dass die Skepsis von Wacker13 gegenüber der Figur der Betriebsaufspaltung durchaus ihre Berechtigung hat. Es ist schwer nachzuvollziehen, dass der Steuergesetzgeber einerseits § 6 Abs. 6 EStG eingeführt hat, aber in Kenntnis der Rechtsprechung zur Betriebsaufspaltung zwar die Buchwertübertragung in die Betriebskapitalgesellschaft unmöglich gemacht, dann aber nicht im Gegenzug eine Parallelregelung zur Legitimation der Betriebsaufspaltung formuliert hat.

___________ 10 Übersicht bei Gluth in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, Stand: Februar 2010, § 15 Rz. 795. 11 Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Aufl. 1993, § 22 X 2; auch Flume, DB 1985, 1151; Groh, DB 1989, 748. 12 Vgl. Eckstein in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 6 Rz. 1488c; Wacker in Schmidt, EStG, § 15 Rz. 807, 877. 13 Wacker in Schmidt, EStG, § 15 Rz. 807.

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VI. Methodologisches Die Analogie ist die Verlängerung einer Normidee über den Wortlaut des Gesetzes hinaus. Ist der im Einzelfall in Betracht kommende Gesetzeswortlaut mehrdeutig oder handelt es sich sogar um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dann wird deutlich, dass die Grenzen zwischen extensiver Auslegung und rechtsfortbildender Tätigkeit fließend sein können14. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rechtsprechung zu einem Problemkreis – wie bei der Betriebsaufspaltung – im Laufe der Zeit Rechtsgrundsätze entwickelt, unter die der einzelne Sachverhalt wie unter eine Norm subsumiert wird. Gleichwohl geht die steuergerichtliche Rechtsprechung in Anlehnung an das BVerfG15 von einer auch praktisch möglichen Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung aus16. Deutlich wird dies bei der Frage der Gewerbesteuerpflicht der aus einer Betriebsaufspaltung hervorgegangenen Besitzgesellschaft17. Hier wird die Grenze zwischen Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung als „im Einzelnen nur schwer zu ziehen“ und die Qualifikation der Besitzgesellschaft als gewerbesteuerpflichtiger Gewerbebetrieb als „mögliche Auslegung des Gesetzes“ bezeichnet. Der Wortlaut des EStG, der bei den Einkünften der Besitzgesellschaft für die Einkunftsart „Vermietung und Verpachtung“ (§ 21 EStG) spricht, wird außer Acht gelassen. Die von der Rechtsprechung entwickelte Figur der Betriebsaufspaltung ist ein Paradebeispiel dafür, dass die abstrakt formulierte Trennung von Auslegung und Rechtsfortbildung in concreto nicht durchgehalten wird. Wenn in der Rechtsprechung des BFH zur Rechtfertigung der Betriebsauspaltung immer wieder auf den wertend zu verstehenden Begriff des Gewerbebetriebs des § 15 Abs. 2 EStG rekurriert wird, dann bestätigen sich die theoretischen Aussagen des methodologischen Schrifttums, dass die Übergänge zwischen den methodischen Instrumenten Auslegung und Rechtsfortbildung fließend und in der praktischen Rechtsanwendung vielfach nicht zu fixieren sind18. Gleichwohl gebietet es die Methodenehrlichkeit, über den Wortlaut des Gesetzes hinausgehende Rechtsfortbildung nicht als Auslegung zu qualifizieren19. Zwar ist sich die Rechsprechung des BFH mittlerweile des Umstands durchaus bewusst, dass es sich bei der Betriebsaufspaltung um Richterrecht handelt20, doch vermag dies nicht darüber hinwegzuhelfen, dass die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen der Betriebsaufspaltung, die sachliche und die personelle Verflechtung, gleichsam wie Tatbestandsmerkmale einer formellen Norm verwendet werden. Darüber hinaus zeigt sich bei

___________ 14 Z.B. Drüen in Tipke/Kruse, AO, Stand: März. 2010, § 4 Rz. 344 m. umf. N. 15 Z.B. BVerfG v. 24.1.1962 – 1 BvR 232/60, BVerfGE 13, 318 (328). 16 Näher und m.w.N. bei Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983, S. 156 f. 17 BFH v. 28.1.1965 – IV 179/64 U, BStBl. III 1965, 261. 18 Drüen in Tipke/Kruse, a.a.O.; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1993, S. 173 ff.; Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 5 Rz. 53 ff. 19 Deutlich Drüen in Tipke/Kruse, AO, § 4 Rz. 344 a.E. 20 BFH v. 24.11.1998 – VIII R 61/97, BStBl. II 1999, 483; BFH v. 19.3.2002 – VIII R 57/99, BStBl. II 2002, 662; BFH v. 12.5.2004 – X R 59/00, BStBl. II 2004, 607 (609); ausführlich Drüen, GmbHR 2005, 69.

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der Betriebsaufspaltung beispielhaft die – wahrscheinlich unbewusste – Neigung der Rechtsprechung, die hinter einer Entscheidung stehenden Beweggründe durch gesetzesfremde Formulierungen zu verdecken. Der in der allgemeinen Methodenlehre anerkannte Grundsatz, dass der Sinn einer Norm oder eines Gesetzes nicht wie ein naturwissenschaftliches Faktum, sondern durch die Person des Rechtsanwenders wertend herausgefunden wird, bestätigt sich auch im Steuerrecht und ist für sich betrachtet noch nicht anstößig. Bedenklich ist es allein, dass sich die Figur der Betriebsaufspaltung zwischenzeitlich in einem steuersystematischen Eigenleben wiederfindet, welches nur schwer mit dem gesetzten Recht rückgeschlossen werden kann. Letztlich hat die Figur der Betriebsaufspaltung ihre Ursache in einer angeblich steuerrechtsimmanenten ratio, ohne dass diese axiomatisch verwendete ratio mit den Grundproblemen des Steuerrechts in Beziehung gesetzt wird. Dieses Grundproblem besteht hier darin, dass der steuerrechtliche Eingriff vor dem Hintergrund des Art. 20 Abs. 3 GG einer rechtssicheren Grundlage bedarf, die für die Betriebsaufspaltung (wohl) nicht zu finden ist. All dies kann auch nicht mit dem Gesichtspunkt einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise überspielt werden, angereichert mit dem Argument, es bedeute einen erheblichen Unterschied, ob Anlagevermögen an ein fremdes Unternehmen oder ein mit dem Vermieter „praktisch identisches Unternehmen“ vermietet werde21. Die Erwähnung der „praktischen Identität“ zeigt den kritischen Punkt, da es gerade die zu beantwortende Frage ist, ob die gesellschaftsrechtliche Zweiteilung bei der Betriebsaufspaltung nicht nur wirtschaftlich, sondern auch steuerrechtlich überwunden werden kann.

VII. Weiterungen Die nachfolgenden Beispielsfälle wollen zeigen, zu welchen „Irrläufern“ der Umstand geführt hat, dass die gegenwärtige dogmatische Praxis die Fallgruppe der Betriebsaufspaltung als „gesetzesgleiches Institut“ verwendet. 1. Doppelunternehmen Kennzeichnend für die Betriebsaufspaltung ist das Vorhandensein eines Betriebsunternehmens (Einzelunternehmen, Personengesellschaft) und einer Betriebskapitalgesellschaft. Dabei handelt es sich um zwei Rechtsträger im zivilrechtlichen/gesellschaftsrechtlichen Sinn, welche steuerrechtlich aufgrund der sachlichen und personellen Verflechtung mit den dargestellten Konsequenzen belegt werden22. Dies ändert aber nach der Rechtsprechung des BFH nichts daran, dass es sich um zwei Unternehmen auch im steuerrechtlichen Sinn, also auch für die Steuerrechtsanwendung handelt. Die personelle und sachliche Verflechtung als Voraussetzungen für eine Betriebsaufspaltung haben weder eine rechtliche noch eine wirtschaftliche Einheit der beiden Unternehmen zur Folge noch sollen sie dazu führen, dass die Tätigkeit des Betriebsunternehmens dem Besitzunternehmen zuzurechnen ist; beide Un-

___________ 21 BVerfG v. 14.1.1969 – 1 BvR 136/62, BVerfGE 25, 28. 22 S. oben III.

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ternehmen bleiben zivilrechtlich und steuerrechtlich selbständige Unternehmen und unterliegen einer eigenen steuerrechtlichen Beurteilung23. Im Prinzip wird also davon ausgegangen, dass die Umqualifizierung der Einkunftsart des Betriebsunternehmens und die Einstufung der Anteile an der Betriebskapitalgesellschaft als Betriebsvermögen nichts daran ändern, dass sowohl zivilrechtlich als auch steuerrechtlich keine Einheitsbetrachtung dergestalt vorgenommen werden soll, dass es sich bei der Betriebsaufspaltung um ein Einheitsunternehmen für steuerrechtliche Zwecke handelt. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang allerdings auf zwei Entscheidungen des BFH zur Frage, wie sich der Teilwert der Beteiligung an der Betriebskapitalgesellschaft bei einer Betriebsaufspaltung ermittelt24. Danach kann der Teilwert einer Forderung des Besitzunternehmens gegen die Betriebskapitalgesellschaft nur nach den Maßstäben abgeschrieben werden, die für die Teilwertberichtigung der Beteiligung am Betriebsunternehmen durch das Besitzunternehmen bestehen. Dazu sei eine Gesamtbetrachtung der Ertragsaussichten von Besitz- und Betriebsunternehmen erforderlich. Dies ergebe sich aus den Besonderheiten (?) der Betriebsaufspaltung. Hier sei zu berücksichtigen, dass das Besitzunternehmen und die Betriebskapitalgesellschaft wirtschaftlich verbunden seien. Wörtlich heißt es25: „Hintergrund dieser Beurteilung ist der Umstand, dass Besitzunternehmen und Betriebsgesellschaft zwar formal getrennt sind, dass sie aber in funktionaler Hinsicht eine Einheit bilden“. Die beiden referierten Entscheidungen zeigen deutlich, wozu eine wirtschaftliche Betrachtungsweise bei der Betriebsaufspaltung führt. Zwar wird die Selbständigkeit der beiden an der Betriebsaufspaltung beteiligten Rechtsträger behauptet, im Ergebnis aber mit einer „funktionalen Sicht“ (?) überspielt. Steuerrechtsdogmatisch bedeutet dies, dass es aufgrund der Annahme einer Betriebsaufspaltung nicht nur zu einer Umqualifizierung der Einkünfte kommt, dass vielmehr auch für Zwecke der Gewinnermittlung, also für das Bilanzsteuerrecht, von einer Einheitsbetrachtung ausgegangen wird, die aus dem Wortlaut des EStG kaum ableitbar ist. Zwar bleibt der BFH einerseits dabei, dass im Rahmen einer Betriebsaufspaltung die Beteiligung an der Betriebskapitalgesellschaft und hingegebene Darlehen selbständige Wirtschaftsgüter sind, andererseits wird dann aber für die Beurteilung der Werthaltigkeit nicht allein an die wirtschaftliche Situation des Schuldnerunternehmens angeknüpft, sondern eine Gesamtbetrachtung beider Unternehmen vorgenommen. Damit wird der Grundstandpunkt der Betriebsaufspaltung, die Existenz zweier Unternehmen, konterkariert.

___________ 23 BFH (GrS) v. 8.11.1971 – GrS 2/71, BStBl. II 1972, 63; BFH v. 19.3.2002 – VIII R 57/99, BStBl. II 2002, 662 (663 f.); auch Wacker in Schmidt, EStG, § 15 Rz. 800 m.w.N.; unscharf BFH v. 12.5.2004 – X R 59/00, BStBl. II 2004, 607 (609 f.). 24 BFH v. 6.11.2003 – IV R 10/01, BStBl. II 2004, 416; BFH v. 14.10.2009 – X R 45/06, BStBl. II 2010, 274 m. Anm. Wendt; BFH v. 22.9.2009 – IX R 93/07, FR 2010, 336; vgl. auch BFH v. 12.5.2004 – X R 59/00, BStBl. II 2004, 607 (609 f.). 25 BFH v. 14.10.2009 – X R 45/06, BStBl. II 2010, 274 (278).

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2. Beendigung der Betriebsaufspaltung Liegen die personellen und/oder sachlichen Voraussetzungen einer Betriebsaufspaltung nicht mehr vor, dann gilt die Betriebsaufspaltung als beendet, und es kommt nach herrschender Auffassung zur Gewinnrealisierung nach § 16 Abs. 3 Satz 1 EStG26. Erstaunlich ist es, dass der möglicherweise zufällige (Erbfall) Wegfall der Voraussetzungen einer Betriebsaufspaltung mit gleichzeitiger Subsumtion unter § 16 Abs. 3 Satz 1 EStG derzeit kaum noch diskutiert wird. Geht man allerdings auf die Grundsatzentscheidungen des BFH zu dieser Frage zurück, so ergibt sich durchaus Problematisierungsbedarf. In der Entscheidung vom 13.12.1983 hat der VIII. Senat des BFH den Wegfall der Voraussetzungen einer Betriebsaufspaltung grundsätzlich als Betriebsaufgabe qualifiziert27. Eine Betriebsaufgabe sei auch dann zu bejahen, wenn der Betrieb durch einen Vorgang in seiner ertragsteuerrechtlichen Einordnung so verändert werde, dass die Erfassung der stillen Reserven nicht mehr gewährleistet sei. Dies ist dann in der Folgezeit vom IV. Senat des BFH bestätigt worden28, wobei der IV. Senat des BFH aber Zweifel erkennen lässt, weil es bedenklich sei, eine Betriebsaufgabe anzunehmen, wenn sie durch Umstände beendet werde, die vom Steuerpflichtigen nicht beeinflusst werden könnten. In der Tat ist die Annahme einer Betriebsaufgabe des § 16 Abs. 3 Satz 1 EStG bei Wegfall eines der Elemente der Betriebsaufspaltung letztlich nur eine Konsequenz davon, dass durch die personelle und sachliche Verflechtung eine im Gesetz nicht auffindbare Betriebsaufspaltung begründet wird. Anders formuliert: Die zumindest praeter legem entwickelte Figur der Betriebsaufspaltung hat dann die weitere methodologisch fragwürdige Konsequenz, dass bei Beendigung der Betriebsaufspaltung eine Gewinnrealisierung stattfinden soll. Schon Knobbe-Keuk29 hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Wegfall der Elemente einer Betriebsaufspaltung mit dem gesetzlichen (!) Ersatzrealisierungstatbestand der Betriebsaufgabe nichts zu tun hat. Selbst wenn man unterstellt, dass es sich während der Dauer der Betriebsaufspaltung um einen Gewerbebetrieb handelt, dann kann von einer Aufgabe im klassischen Sinne bei Beendigung der Betriebsaufspaltung nicht die Rede sein. Das Besitzunternehmen nutzt nämlich sein Vermögen nicht anders als vorher. Die innere Ursache für das dogmatische Störgefühl bei Annahme einer Betriebsaufspaltung ist der Umstand, dass das personelle Element des einheitlichen geschäftlichen Betätigungswillens in sachlicher Hinsicht zur Annahme eines Gewerbebetriebs führen soll, sodass es infolge davon bei Wegfall des einheitlichen geschäftlichen Betätigungswillens auch zur Betriebsaufgabe des Gewerbebetriebs zu kommen hat. In rechtsmethodologischer Hinsicht ist das alles ein „konsequenter Sündenfall“. Spricht man sich nämlich dafür aus, eine Betriebsaufspaltung bei Vorhandensein der personellen und sachlichen Verflech-

___________ 26 Z.B. BFH v. 25.8.1993 – XI R 6/93, BStBl. II 1994, 23; BFH v. 24.8.2006 – IX R 52/04, BStBl. II 2007, 165; R 16.2 H 16 EStR; Reiß in Kirchhof, EStG, § 15 Rz. 114 f.; Carlé in Korn, EStG, Stand: März 2010, § 15 Rz. 468 ff.; Wacker in Schmidt, EStG, § 15 Rz. 865. 27 BFH v. 13.12.1983 – VIII R 90/81, BStBl. II 1984, 474. 28 BFH v. 15.12.1988 – IV R 36/84, BStBl. II 1989, 363. 29 Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, § 22 X 4 c.

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tung anzunehmen, dann ist es die Konsequenz dieses „Sündenfalls“, dass es zur Gewinnrealisierung bei Beendigung der Betriebsaufspaltung zu kommen hat. Zwar ist zuzugeben, dass die neuere Rechtsprechung des BFH bemüht ist, die dargestellten Konsequenzen durch Annahme einer Betriebsverpachtung nach Beendigung der Betriebsaufspaltung abzufangen30, doch ist dies erstens nur eine Hilfslösung und zweitens methodologisch deshalb (wiederum) nicht unbedenklich, weil auch die Betriebsverpachtung unmittelbar nicht aus dem Gesetz ableitbar ist. 3. Betriebsaufspaltung mit AG Eine Durchsicht des einschlägigen Rechtsprechungsmaterials und des steuerrechtlichen Schrifttums zeigt, dass regelmäßig eine Kapitalgesellschaft in der Rechtsform der GmbH als Betriebskapitalgesellschaft bei der Betriebsaufspaltung eingesetzt wird. Die Gründe dafür sind einsichtig: Bei der GmbH ist ein geringeres Mindestkapital erforderlich als bei der AG; im Gegensatz zum Aktienrecht ist das GmbH-Recht prinzipiell nicht zwingend, sondern dispositiv (arg. § 23 Abs. 5 AktG); anders als die Hauptversammlung der AG kann die Gesellschafterversammlung einer GmbH nach § 37 Abs. 1 GmbHG einem Geschäftsführer ohne Weiteres Einzelanweisungen für die unternehmerische Tätigkeit erteilen31. Gleichwohl sind auch Sachverhalte denkbar, in denen eine AG als Betriebskapitalgesellschaft eingesetzt wird. Damit hat sich auch die Rechtsprechung des BFH befasst. Leitentscheidung ist hier das Urteil des IV. Senat des BFH vom 28.1.198232. In der ratio der Entscheidung wird zwar darauf eingegangen, dass Strukturunterschiede zwischen der GmbH und der AG bestehen, doch könnten diese es nicht rechtfertigen, das Vorhandensein eines einheitlichen geschäftlichen Betätigungswillens im Sinne der personellen Voraussetzung einer Betriebsaufspaltung unterschiedlich zu beurteilen. All dies gelte jedenfalls dann, wenn die betreffende AG nicht dem MitBestG 1976 unterfalle. Die Entscheidung ist in methodologischer Hinsicht aus zwei Gründen interessant. Der BFH leitet die Gleichbehandlung eines GmbH-Gesellschafters mit einem Aktionär daraus ab, dass die steuerrechtlichen Folgen einer Nutzungsüberlassung, einer wesentlichen Betriebsgrundlage für die Betriebsaufspaltung, nicht davon abhängig sein könnten, in welcher Rechtsform die Betriebskapitalgesellschaft strukturiert sei. Das ist deshalb – und zwar schon logisch – zweifelhaft, weil damit das sachliche Element einer Betriebsaufspaltung, nämlich die Überlassung einer wesentlichen Betriebsgrundlage, zugleich dafür eingesetzt wird, um die personelle Voraussetzung des einheitlichen geschäftlichen Betätigungswillens zu bejahen. Weiterhin tendiert der BFH dahin, dass eine AG, die unter die paritätische Mitbestimmung fällt, nicht Objekt einer Betriebsaufspaltung sein kann. Wenn man diesen Gedanken weiterführt, dann müsste

___________ 30 BFH v. 17.4.2002 – X R 8/00, BStBl. II 2002, 527; BFH v. 11.10.2007 – X R 39/04, BStBl. II 2008, 220; Reiß in Kirchhof, EStG, § 15 Rz. 115; Wacker in Schmidt, EStG, § 15 Rz. 865. 31 Vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, § 37 Rz. 1; Schneider in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 37 Rz. 30 f. 32 BFH v. 28.1.1982 – IV R 100/78, BStBl. II 1982, 479.

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in dem Augenblick, in dem die Voraussetzungen des MitBestG einschlägig sind, eine bisher bestehende Betriebsaufspaltung mit Gewinnrealisierungskonsequenzen beendet sein bzw. im umgekehrten Fall eine Betriebsaufspaltung entstehen, weil die Voraussetzungen der paritätischen Mitbestimmung nicht mehr gegeben sind. All dies zeigt mehr als deutlich, zu welchen Auswüchsen die gesetzlich nicht festzumachende Betriebsaufspaltung führt. Soll es tatsächlich so liegen, dass es beim Eingreifen der Voraussetzungen des MitBestG zu einer Betriebsaufgabe nach § 16 Abs. 3 Satz 1 EStG kommt und umgekehrt eine Umqualifizierung der Einkünfte und eine Einlage in ein Betriebsvermögen stattfinden, wenn die mitbestimmungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind? Noch problematischer wird es, wenn es – anders als im vom BFH entschiedenen Fall – um eine AG geht, die börsennotiert ist. Hier meint das FG Hamburg33, auch eine börsennotierte AG könne Betriebskapitalgesellschaft in einer Betriebsaufspaltung sein, insbesondere könne ein Mehrheitsaktionär einen einheitlichen geschäftlichen Betätigungswillen entfalten. Gerade in dieser Konstellation zeigt sich ein weiteres Problem: Anders als bei der GmbH existiert nämlich bei der börsennotierten AG ein vollkommen anderes gesellschaftsrechtliches und kapitalmarktrechtliches Organisationsgefüge, was sich insbesondere darin zeigt, dass der Aktionär nicht unmittelbar auf die Tätigkeit des Vorstands Einfluss nehmen kann (§ 76 Abs. 1 AktG). Führt man sich vor Augen, dass die nicht dispositiven aktienrechtlichen Normen die tatsächliche Handhabung des Lebens der Gesellschaft, der AG, prägen, dann kann der einheitliche geschäftliche Betätigungswille im Sinne des Konstrukts der Betriebsaufspaltung letztlich nur aus einer möglicherweise faktischen Machtstellung des Aktionärs hergeleitet werden. Wenn man hier das Element des einheitlichen geschäftlichen Betätigungswillens in der Weise bejaht, dass auch der Mehrheitsaktionär einer AG in der Lage sei, über seine einfache Hauptversammlungsmehrheit Aufsichtsrat und Vorstand zu beeinflussen34, dann ist dies letztlich eine gesetzesungebundene wirtschaftliche Betrachtungsweise, die sich über die vorgegebenen zivilrechtlichen/gesellschaftsrechtlichen Strukturen hinwegsetzt und die Besonderheiten der juristischen Person AG negiert. Und weiterhin: Wer eine Betriebsaufspaltung auch mit einer (börsennotierten) AG annehmen möchte, der setzt sich in einen Widerspruch zur Rechtsprechung des BFH zur KGaA. Dort hat der BFH entschieden, dass die Kommanditaktien eines persönlich haftenden Gesellschafters nicht deshalb Sonderbetriebsvermögen sind, weil sie eventuell die Möglichkeit eröffnen, in der Hauptversammlung der AG Einfluss zu nehmen und damit die Stellung des Komplementärs zu verstärken35. Wenn man der herrschenden Dogmatik folgt und davon ausgeht, dass die Beteiligung an der Betriebskapitalgesellschaft bei der Betriebsaufspaltung zum Sonderbetriebsvermögen II gehört36, dann ist es mehr als überraschend, dass die Kommanditaktien eines persönlich haftenden

___________ 33 34 35 36

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FG Hamburg v. 11.9.2009 – 3 K 124/08, EFG 2010, 144; Az. BFH: X R 45/09. BFH v. 28.1.1982 – IV R 100/78, BStBl. II 1982, 479 (480). BFH v. 21.6.1989 – X R 14/88, BStBl. II 1989, 881 „Herstatt“. S. oben III.

Die Betriebsaufspaltung – ein methodologischer Irrgarten

Gesellschafters einer KGaA, der über eine starke Rechtsposition in der KGaA verfügt, zum Privatvermögen gehören, demgegenüber die Aktien eines Mehrheitsaktionärs als Sonderbetriebsvermögen qualifiziert werden sollen, wenn denn die Voraussetzungen einer Betriebsaufspaltung anzunehmen sind. Ursache dafür ist letztlich der Umstand, dass die Betriebsaufspaltung noch nicht einmal ansatzweise im Gesetz angelegt ist. Wenn hier richterrechtlich Regeln entwickelt und im Ergebnis als subsumtionsfähige Elemente verstanden werden, dann führt dies zu Ergebnissen, die im steuerrechtlichen Binnensystem Brüche aufwerfen. 4. Abfärbung Ist eine Personengesellschaft teilweise freiberuflich, land- und forstwirtschaftlich oder vermögensverwaltend tätig, teilweise aber auch gewerblich, dann gilt die Tätigkeit über § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG vollumfänglich als Gewerbebetrieb37. Ist schon die „Abfärbetheorie“ für sich gesehen steuersystematisch und verfassungsrechtlich problematisch38, so wird dies noch dadurch verkompliziert, dass auch eine Betriebsaufspaltung zur Abfärbung führen kann. In der Entscheidung des BFH vom 13.11.199739 hatten sich zwei Ärzte bezüglich der ärztlichen Tätigkeit in einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§ 705 BGB) zusammengeschlossen. Sie erbrachten auch Laborleistungen für eigene und fremde Patienten. Dazu gründeten sie eine GmbH. Die Räume der Arztpraxis wurden zu Laborräumen umgebaut, an die GmbH vermietet, aber auch von den Ärzten für eigene Laborarbeiten genutzt. Der BFH wendet im Ergebnis die Abfärberegelung auch über die Betriebsaufspaltung an, weil die von den Ärzten gebildete Gesellschaft bürgerlichen Rechts und die GmbH über eine personelle und sachliche Verflechtung verbunden seien. Im Ergebnis wird dadurch die Vermietung der Laborräume zu einer gewerblichen Tätigkeit und führt zur Anwendung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG. Die Kombination des Rechtsgedankens des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG mit dem Konstrukt der Betriebsaufspaltung führt also dazu, dass nicht nur genuin gewerbliche Tätigkeiten zur Einkünfteumqualifizierung führen. 5. Erbschaft- und Schenkungsteuer Die erbschaft- und schenkungsteuerrechtlichen Begünstigungen für unternehmerisches Vermögen nach §§ 13a, 13b ErbStG setzen u.a. voraus, dass das begünstigte Vermögen nicht zu mehr als 50 v.H. bzw. zu mehr als 10 v.H. aus sog. Verwaltungsvermögen besteht (§§ 13a Abs. 8 Nr. 3, 13b Abs. 2 Satz 1 ErbStG). Dabei ist das Verwaltungsvermögen in § 13b Abs. 2 Satz 2 EStG umschrieben. Zum Verwaltungsvermögen gehören insbesondere an Dritte zur Nutzung überlassene Grundstücke. Eine Nutzungsüberlassung an Dritte ist (im Wege einer Rückausnahme) dann wieder nicht anzunehmen, wenn der

___________ 37 Groh, DB 2005, 2430; Wacker in Schmidt, EStG, § 15 Rz. 185 ff. m.w.N. 38 Vgl. BVerfG v. 26.10.2004 – 2 BvR 246/98, FR 2005, 139 = HFR 2005, 56; BFH v. 11.8.1999 – XI R 12/98, BStBl. II 2000, 229; Carlé in Korn, EStG, § 15 Rz. 12.4; Mössner in GS Schindhelm, 2009, S. 437. 39 BFH v. 13.11.1997 – IV R 67/96, BStBl. II 1998, 254.

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Georg Crezelius

Erblasser oder Schenker sowohl im überlassenden Betrieb als auch im nutzenden Betrieb allein oder zusammen mit anderen Gesellschaftern einen einheitlichen geschäftlichen Betätigungswillen durchsetzen konnte (§ 13b Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Buchst. a ErbStG). Die Rückausnahme ist ersichtlich auf die Konstellation der ertragsteuerrechtlichen Betriebsaufspaltung zugeschnitten, erwähnt aber nur das personelle Element der Betriebsaufspaltung, den einheitlichen geschäftlichen Betätigungswillen40. Methodologisch ist interessant, dass die einschlägigen Kommentierungen ohne Weiteres davon ausgehen, dass die Rückausnahme die Fallgruppe der ertragsteuerrechtlichen Betriebsaufspaltung erfasst, der Begriff der Betriebsaufspaltung allerdings im Wortlaut des § 13b ErbStG nicht erwähnt wird. Auch der Gleichlautende Ländererlass zu §§ 13a, 13b ErbStG sagt ausdrücklich, dass Grundstücke, die im Rahmen einer sog. Betriebsaufspaltung überlassen werden, nicht zum Verwaltungsvermögen gehören41. Hintergrund dieser Diskrepanz zwischen Gesetzeswortlaut einerseits und Stellungnahmen des Schrifttums und der Finanzverwaltung andererseits kann nur der Umstand sein, dass der Steuergesetzgeber sich gescheut hat, den Begriff der Betriebsaufspaltung erstmals zu kodifizieren. Daraus kann nur geschlossen werden, dass sich der Steuergesetzgeber der methodologischen Zweifel bezüglich der Betriebsaufspaltung bewusst ist. Liegt es aber so, dann gibt der Steuergesetzgeber selbst zu erkennen, dass das von der Rechtsprechung des BFH entwickelte Konstrukt der Betriebsaufspaltung mit dem steuerrechtlichen Tatbestandsmäßigkeitsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) kollidiert. Zwar ist es gesetzgebungsmethodologisch nicht unüblich, dass der Gesetzgeber zu unbestimmten Rechtsbegriffen greift, um deren Ausfüllung der Rechtsprechung zu überlassen, doch kann es umgekehrt nicht so liegen, dass ein für das Eingriffsrecht Steuerrecht existierendes und durchaus problematisches Konstrukt, welches letztlich konturenlos ist, vom Steuergesetzgeber bewusst nicht kodifiziert wird, um den steuerrechtlichen Eingriff allein unter den Voraussetzungen der von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien zuzulassen.

VIII. Ausblick Unter Irrgarten wird umgangssprachlich „ein Garten oder eine große Höhle mit vielfach ineinander verschlungenen und unübersichtlichen Wegen“ verstanden. Mit den vorstehenden Ausführungen sollte gezeigt werden, dass die jahrzehntelange Praxis der Betriebsaufspaltung in einen methodologischen und steuerrechtsdogmatischen Irrgarten geführt hat, zu einer Figur, die zu einer kaum mehr überschaubaren und/oder handhabbaren Steuerrechtsanwendung führt. Mit tatbestandlich formulierter Rechtssicherheit hat all dies nichts mehr zu tun. Es bleibt nur folgende Alternative: Der Steuergesetzgeber

___________ 40 Näher z.B. Geck in Kapp/Ebeling, ErbStG, Stand: Dezember 2009, § 13b Rz. 93 ff.; Tiedtke/Wälzholz, ErbStG, 2009, § 13b Rz. 90 ff.; St. Viskorf in Viskorf/Knobel/ Schuck, ErbStG, 3. Aufl. 2009, § 13b Rz. 201 ff. 41 Ländererlass, BStBl. I 2009, 713 A. 25 Abs. 1.

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Die Betriebsaufspaltung – ein methodologischer Irrgarten

könnte die Figur der Betriebsaufspaltung kodifizieren, also Voraussetzungen und Rechtsfolgen tatbestandsmäßig umschreiben. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass sich die Rechtsprechung des BFH dazu durchringt, die Figur der Betriebsaufspaltung „zu verabschieden“, und zwar mangels gesetzlicher Grundlage42. Es mag sein, dass dies fiskalisch unerwünscht ist (Gewerbesteuerpflicht des Besitzunternehmens), doch könnte damit zugleich ein Beitrag zur Abschaffung der Gewerbesteuer geleistet werden. Aber das ist ein anderes Thema.

___________ 42 Vgl. schon Groh, DB 1989, 748; Woerner, DB 1984, 1213.

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Wolfgang Ewer

Rechtsprobleme der Abgabenpflicht für Grundstücke in Business Improvement Districts Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtsnatur der Abgabe 1. PACT-Abgabe als kommunale Steuer? 2. PACT-Abgabe als Gebühr? a) Verwaltungsgebühr b) Benutzungsgebühr 3. PACT-Abgabe als Beitrag? 4. PACT-Abgabe als Sonderabgabe?

III. Vorliegen der Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Erhebung einer derartigen Sonderabgabe? 1. Zur kompetenzrechtlichen Verfassungsmäßigkeit 2. Zur materiell-rechtlichen Verfassungsmäßigkeit IV. Ergebnis

Da Schwerpunkt des beruflichen Interesses von Michael Streck das Steuerrecht ist, das seinerseits rechtssystematisch einen Teil des Abgabenrechts darstellt, liegt es nahe, in einer Festschrift für ihn abgabenrechtliche Probleme zu behandeln. Die hier erörterten Rechtsfragen stellen sich zwar in einem sehr speziellen, nämlich städtebaulichen Kontext. Indessen könnten die hierbei angestellten Erwägungen auch für abgabenrechtliche Fragestellungen aus anderen Regelungsbereichen relevant sein und damit grundsätzliche Bedeutung erlangen.

I. Einleitung Insbesondere durch an der Peripherie errichtete Einkaufszentren und sonstige großflächige Einzelhandelsbetriebe ist es in den letzten Jahren zu einer zunehmenden Verschärfung des Wettbewerbs mit Standorten in den Innenstädten gekommen. Dies nicht nur, weil die Mietkosten am Stadtrand oft deutlich unter denjenigen im Zentrum der betreffenden Stadt liegen, sondern auch deshalb, weil Einkaufzentren über ein zentrales Management verfügen, das für eine nachfrageorientierte Zusammensetzung der Sortimente, eine Koordinierung der Werbemaßnahmen der Geschäfte, ein sauberes und einheitliches Erscheinungsbild und die Gewährleistung von Sicherheit sorgt. Da auf der anderen Seite ein städtebauliches Interesse daran besteht, einem zunehmenden trading-down-Effekt in den Zentren entgegenzuwirken, ist die Vorschrift des § 171f in das Baugesetzbuch eingefügt worden1. Nach dieser können nach Maßgabe des Landesrechts Gebiete festgelegt werden, in denen in privater Verantwortung standortbezogene Maßnahmen durchgeführt werden, die auf

___________ 1 Hierzu Kersten, Business Improvement Districts in der Bundesrepublik Deutschland, UPR 2007, S. 121 f.

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Wolfgang Ewer

der Grundlage eines mit den städtebaulichen Zielen der Gemeinde abgestimmten Konzepts der Stärkung oder Entwicklung von Bereichen der Innenstädte, Stadtteilzentren, Wohnquartiere und Gewerbezentren sowie von sonstigen für die städtebauliche Entwicklung bedeutsamen Bereichen dienen2. Die Bestimmung ermächtigt die Länder weiter dazu, ihrerseits Regelungen zur Finanzierung der Maßnahmen und gerechten Verteilung des damit verbundenen Aufwands zu treffen. Die Freie und Hansestadt Hamburg erließ bereits 2004 ein „Gesetz zur Stärkung der Einzelhandels- und Dienstleistungszentren“3. Es folgten dann ähnliche Gesetze in Hessen4, Bremen5, Schleswig-Holstein6, dem Saarland7 und Nordrhein-Westfalen8. Auf Grundlage dieser Gesetze soll es ermöglicht werden, Business Improvement Districts – also „Geschäftsverbesserungsbezirke“ – zu schaffen. Diese BIDs werden in den entsprechenden Landesgesetzen unterschiedlich bezeichnet; so wird etwa von „Innovationsbereichen“9, Gebieten einer „Immobilien- und Standortgemeinschaft“10 oder „City- Dienstleistungs- und Tourismusbereichen“11 gesprochen. Im Folgenden wird der Einheitlichkeit halber der Ausdruck Business Improvement Districts (BIDs) verwandt. Unter derartigen Gebieten versteht man räumlich abgegrenzte, meist innerstädtische Bereiche, in denen Grundeigentümer, Erbbauberechtigte oder auch Gewerbetreibende12 zeitlich begrenzte Maßnahmen zur Verbesserung des Umfeldes und der Attraktivität des Bereichs finanzieren und durchführen13. Diese Maßnahmen werden teilweise nur sehr allgemein beschrieben. So heißt es etwa in Schleswig-Holstein ledig-

___________ 2 Allgemein zu Business Improvement Districts Kuntze-Kaufhold/Schläwe, Business Improvement Districts im Spannungsfeld der Interessen von Grundbesitzern, Gewerbetreibenden und Gemeinden, BB 2007, S. 949 (950 f.). 3 Hamburgisches Gesetz zur Stärkung der Einzelhandels- und Dienstleistungszentren (GSED) v. 28.12.2004, HmbGVbl. 2004, 525, geändert durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Stärkung der Einzelhandels- und Dienstleistungszentren v. 27.11.2007, HmbGVBl. 2007, 405; hierzu eingehend Huber, Business Improvement Districts – Neue Instrumente auf der Schnittstelle zwischen Wohnungsbau und Wirtschaftsförderung, DVBl. 2007, 466 ff. 4 Hessisches Gesetz zur Stärkung von innerstädtischen Geschäftsquartieren (INGE) v. 21.12.2005, GVBl. I, 867; hierzu Bartholomäi, Business Improvement Districts, HessischINGE, BauR 2006, 1838. 5 Bremisches Gesetz zur Stärkung der Einzelhandels- und Dienstleistungszentren v. 27.7.2006, GBl. Bremen Nr. 41, 350. 6 Gesetz über die Einrichtung von Partnerschaften zur Attraktivierung von City-, Dienstleistungs- und Tourismusbereichen (PACT-Gesetz) v. 13.7.2006, GVOBl. 2006, 158. 7 Gesetz zur Schaffung von Bündnissen für Investition und Dienstleistung v. 26.9.2007, Amtsblatt 174. 8 Gesetz über Immobilien- und Standortgemeinschaften (ISGG NRW) v. 10.6.2008, GV NRW 2008, 467; hierzu Wahlhäuser, Festlegung von Business Improvement Districts (BIDs) nach dem Gesetz über Immobilien- und Standortgemeinschaften (ISSG-NRW), BauR 2008, 1238 ff. 9 § 1 Satz 2 GSED HH und § 1 Satz 2 INGE HE. 10 § 1 ISGG NRW. 11 § 1 Satz 1 PACT-Gesetz SH. 12 Vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 PACT-Gesetz SH. 13 Zu vergaberechtlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit Business Improvement Districts vgl. Rubach-Larsen/Rechten, Ausschreibungspflicht für BID, PACT, INGE?, KommJur 2007, 321 ff.

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Abgabenpflicht für Grundstücke in Business Improvement Districts

lich, dass es sich um „Maßnahmen zur Stärkung des Bereichs oder Teilbereichs“ handelt14. Hingegen wird in Hamburg konkretisiert, dass es sich hierbei insbesondere um – die Ausarbeitung von Konzepten für die Entwicklung des Zentrums, – die Erbringung von Dienstleistungen, – die Finanzierung und Durchführung von Baumaßnahmen in Abstimmung mit den jeweiligen Berechtigten, – die Bewirtschaftung von Grundstücken, – die Durchführung von gemeinschaftlichen Werbemaßnahmen, – die Organisierung von Veranstaltungen, – den Abschluss von Vereinbarungen mit öffentlichen Stellen oder ortsansässigen Betrieben über die Durchführung von Maßnahmen, oder – die Abgabe von Stellungnahmen in förmlichen oder nicht förmlichen Anhörungsverfahren handeln kann15. Die entsprechenden Maßnahmen sind von einem Aufgabenträger durchzuführen. Dieser muss bestimmte persönliche Voraussetzungen – wie etwa Zuverlässigkeit und finanziell ausreichende Leistungsfähigkeit – erfüllen und sich in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag mit der Gemeinde zur Umsetzung der entsprechenden Ziele und Leistungen verpflichten16. Sofern ein gesetzlich bestimmtes Quorum der Eigentümer der im jeweiligen BID belegenen Grundstücke zustimmt17 oder nach erfolgter Unterrichtung durch die Gemeinde nicht widerspricht18, erhebt die Gemeinde, nachdem sie durch Beschluss einen entsprechenden BID festgelegt hat, aufgrund einer von ihr zu erlassenden Satzung zum Ausgleich des Vorteils, der durch die in dem BID durchzuführenden Maßnahmen entsteht, von den Eigentümern der in diesem liegenden Grundstücke eine Abgabe, durch die der für die Durchführung der Maßnahmen entstehende Aufwand einschließlich eines angemessenen Gewinns für den Aufgabenträger gedeckt wird19.

II. Rechtsnatur der Abgabe Zunächst stellt sich die Frage, welche Rechtsnatur diese Aufgabe hat. Dieser Frage soll am Beispiel der in § 3 des schleswig-holsteinischen Gesetzes über die Einrichtung von Partnerschaften zur Attraktivierung von City-, Dienstleistungs- und Tourismusbereichen (PACT-Gesetz)20 vorgesehenen Abgabe

___________ 14 15 16 17 18 19 20

§ 1 Abs. 1 Satz 2 PACT-Gesetz SH. § 2 Abs. 2 GSED HH. § 2 Abs. 2 PACT-Gesetz SH; § 4 Abs. 2 GSED HH; vgl. auch § 4 Abs. 2 INGE HE. § 5 Abs. 3 GSED HH; § 5 Abs. 1 INGE HE. § 2 Abs. 4 PACT-Gesetz SH; § 3 Abs. 3 ISGG NRW. Vgl. § 7 Abs. 1 GSED HH; § 3 PACT-Gesetz SH; § 4 Abs. 1 ISGG NRW. Nähere Angaben in Fn. 4.

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Wolfgang Ewer

(im Folgenden „PACT-Abgabe“ genannt) nachgegangen werden21. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 dieses Gesetzes erhebt die Gemeinde zur Finanzierung der entsprechenden Attraktivierungsmaßnahmen aufgrund einer Satzung eine Abgabe. Abs. 2 Satz 1 ordnet an, dass abgabepflichtig alle Grundeigentümer und Erbbauberechtigten im maßgeblichen Bereich sind. Soweit die Rechte zur Beantragung und Durchführung entsprechender Attraktivierungsmaßnahmen von diesen und den Gewerbetreibenden gemeinsam ausgeübt werden, sind nach Satz 2 auch die Gewerbetreibenden abgabepflichtig. 1. PACT-Abgabe als kommunale Steuer? Bei öffentlichen Abgaben unterscheidet man grundlegend zwischen Steuern, die zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs des betreffenden öffentlichen Gemeinwesens erhoben werden22 und nichtsteuerlichen Abgaben. Da die BIDAbgabe nicht dem allgemeinen Haushalt der Gemeinde zufließt23, sondern der Befriedigung eines Finanzbedarfs für besondere Zwecke dient, scheidet eine Qualifizierung als kommunale Steuer schon aus diesem Grunde aus24. 2. PACT-Abgabe als Gebühr? Die nichtsteuerlichen Abgaben werden wiederum unterschieden nach Gebühren, Beiträgen und sonstigen Abgaben. Im Gegensatz zu Steuern werden Gebühren nicht zur Finanzierung des allgemeinen Haushalts des betreffenden Gemeinwesens, sondern zur Deckung individuell zurechenbarer öffentlicher Leistungen erhoben. Dabei ist das Wesen der Gebühr bundesrechtlich nicht vorgegeben25 und steht daher zur Disposition des Landesgesetzgebers. § 4 Abs. 1 des schleswig-holsteinischen Kommunalabgabengesetzes26 schreibt vor, dass Gebühren Geldleistungen sind, die als Gegenleistung für die Inanspruchnahme einer besonderen Leistung – Amtshandlung oder sonstige Tätigkeit – der Behörden (Verwaltungsgebühren) oder für die Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen (Benutzungsgebühren) erhoben werden27.

___________ 21 Umfassend zu diesem Gesetz Arndt/Ziertmann, Das PACT-Gesetz – Leitfaden für die Gründung, Einrichtung und Umsetzung einer Partnerschaft zur Attraktivierung von City, Dienstleistungs- und Tourismusbereichen, erschienen in der Schriftenreihe des Städteverbandes Schleswig-Holstein, 2006. 22 Beschluss des BVerfG v. 24.11.2009 – 2 BvR 1387/04, BVerfGE 124, 348, Rz. 47. 23 Vgl. hierzu § 3 Abs. 7 PACT-Gesetz. 24 Vgl. Beschluss des BVerfG v. 16.9.2009 – 2 BvR 852/07, BVerfGE 124, 235, Rz. 17. 25 Kaufmann in Henneke/Pünder/Waldhoff, Recht der Kommunalfinanzen, 2006, § 15 Rz. 1 m.w.N. 26 Kommunalabgabengesetz des Landes Schleswig-Holstein (KAG S-H) i.d.F. des Beschlusses v. 10.1.2005, GVOBl. 2005, 27. 27 Im gleichen Sinne § 4 Abs. 2 KAG NRW; § 10 ThürKAG; § 4 Abs. 1 KAG M-V; §§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 KAG-LSA; §§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 NKAG.

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Abgabenpflicht für Grundstücke in Business Improvement Districts

a) Verwaltungsgebühr Geht man davon aus, – dass Verwaltungsgebühren als Gegenleistung für bestimmte Amtshandlungen und sonstige verwaltungsmäßige Dienstleistungen der Gemeinde und Gemeindeverbände erhoben werden, und – dass es in § 3 Abs. 6 PACT-Gesetz heißt, dass das Aufkommen aus der Abgabe der Aufgabenträgerin oder dem Aufgabenträger abzüglich einer Kostenpauschale zur Abgeltung des gemeindlichen Aufwandes zusteht, so ergibt sich hieraus, dass die primäre Funktion der PACT-Abgabe gerade nicht in der Erbringung einer Gegenleistung für bestimmte Amtshandlungen oder sonstige verwaltungsmäßige Dienstleistungen der Gemeinde besteht, – da die Abgabe in erster Linie der Finanzierung von städtebaulichen Attraktivierungsmaßnahmen im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 3 PACT-Gesetz dient, und – da diese Maßnahmen eben nicht durch die Gemeinde, sondern – wie eingangs dargelegt – den von den Grundeigentümern ggf. zusammen mit den Gewerbetreibenden des betreffenden Bereichs benannten Aufgabenträger durchgeführt werden. Eine Qualifizierung der PACT-Abgabe als Verwaltungsgebühr scheidet daher aus. b) Benutzungsgebühr Als Nächstes ist zu prüfen, ob es sich um eine Benutzungsgebühr handeln könnte. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 KAG S-H sind Benutzungsgebühren zu erheben, wenn die Benutzung einer öffentlichen Einrichtung dem Vorteil Einzelner oder Gruppen von Personen dient, soweit nicht ein privatrechtliches Entgelt gefordert wird. Hier fehlt es schon am Vorliegen einer „öffentlichen Einrichtung“. Unter einer solchen zu verstehen ist die Zusammenfassung von persönlichen und sachlichen Mitteln zu bestimmten Zwecken, die eine kommunale Körperschaft im Rahmen ihrer Selbstverwaltungsaufgaben zur Daseinsvorsorge, d.h. vornehmlich zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Betreuung ihrer Einwohner oder bestimmter Personengruppen bereitstellt28. Da die entsprechenden Maßnahmen, wie etwa Werbeaktivitäten für die betreffende Fußgängerzone, im Rahmen des PACT-Gesetzes indessen gerade nicht durch die Gemeinde, sondern einen auf Initiative der Grundeigentümer und Erbbauberechtigten sowie ggf. unter Einbeziehung von Freiberuflern und Gewerbetreibenden bestellten privaten Aufgabenträger durchgeführt werden, fehlt es an dem für eine öffentliche Einrichtung unverzichtbaren Merkmal der Trägerschaft der Gemeinde29. Zudem fehlt es auch an der

___________ 28 Grundlegend hierzu Urteil des OVG Münster v. 21.8.69 – III A 920/69-, Die Gemeinde 1970, 208; Thiem/Böttcher, KAG Schleswig-Holstein, § 6 Rz. 29. 29 Hierzu grundlegend Urteil des VGH München v. 26.2.1980 – 167 XXIII 75, ZKF 1982, 54 f.

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Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Benutzung, da als Benutzer etwa eines im Rahmen der Attraktivierungsmaßnahmen durchgeführten Konzerts in einer Fußgängerzone lediglich die diesem lauschenden Passanten, nicht aber die Eigentümer oder Erbbauberechtigten der dort belegenen Grundstücke bzw. die auf diesen tätigen Freiberufler oder Gewerbetreibenden angesehen werden könnten. Mithin kann die PACT-Abgabe auch nicht als Benutzungsgebühr qualifiziert werden. 3. PACT-Abgabe als Beitrag? Naheliegender könnte insoweit schon eine Einordnung der Abgabe als Beitrag erscheinen. Der Begriff des Beitrags ist bundesrechtlich nicht determiniert, sodass auch seine Normierung ausschließlich dem Landesgesetzgeber zukommt30. Zwar enthält auch das schleswig-holsteinische Kommunalabgabengesetz keine Legaldefinition des Beitrags. Die in § 8 Abs. 1 Satz 2 KAG S-H enthaltene Regelung, – dass Beiträge zur Deckung des Aufwandes für die Herstellung, den Ausbau und Umbau sowie die Erneuerung der notwendigen öffentlichen Einrichtungen nach festen Verteilungsmaßstäben von denjenigen Grundeigentümern, zur Nutzung von Grundstücken dinglich Berechtigten und Gewerbetreibenden zu erheben sind, denen hierdurch Vorteile erwachsen, und – dass die Beiträge nach den Vorteilen zu bemessen sind, macht aber deutlich, dass auch eine Beitragsfinanzierung das Vorliegen einer öffentlichen Einrichtung voraussetzt. Hiervon ist auch das Bundesverfassungsgericht ausgegangen, das festgestellt hat, dass nach der üblichen Begriffsbestimmung als Beitrag „die Beteiligung der Interessenten an den Kosten einer öffentlichen Einrichtung“ verstanden wird31. Da es indessen – wie zuvor erörtert – vorliegend am Vorhandensein einer durch die Abgabeschuldner benutzbaren öffentlichen Einrichtung fehlt, muss auch eine Einordnung der PACT-Abgabe als Beitrag ausscheiden. Dem kann man auch nicht entgegenhalten, dass die Gemeinde durch Erlass der in § 3 PACT-Gesetz vorgeschriebenen Satzung und durch weitere Maßnahmen, wie etwa den in § 2 Abs. 3 vorausgesetzten Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags mit dem Aufgabenträger daran mitwirkt, einen Rahmen für die Durchführung entsprechender Attraktivierungsmaßnahmen zu schaffen. Denn nach der Rechtsprechung ist streng zu unterscheiden, ob Belastungsgrund eine entsprechende „Staatsleistung“ oder die Förderung „im Wege staatlich organisierter Selbsthilfe“ ist32, wovon vorliegend auszugehen ist.

___________ 30 Beschluss des BVerwG v. 14.2.1977 – VII B 161.75, Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 9. 31 Beschluss des Ersten Senats des BVerfG v. 20.5.1959 – 1 BvL 1, 7/58, BVerfGE 9, 291 (297). 32 Beschluss des Zweiten Senats des BVerwG v. 31.5.1990 – 2 BvL 12, 13/88, 2 BvR 1436/87, BVerfGE 82, 159, (178).

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Abgabenpflicht für Grundstücke in Business Improvement Districts

4. PACT-Abgabe als Sonderabgabe? Es bleibt daher zu prüfen, ob es sich bei der PACT-Abgabe um eine Sonderabgabe handelt. Der Begriff der Sonderabgabe ist weder bundes- noch landesrechtlich legaldefiniert. Vom Bundesverfassungsgericht ist als besonderes Merkmal von Sonderabgaben festgestellt worden, – dass mit einer Sonderabgabe Angehörige bestimmter Gruppen in Anspruch genommen werden, und – dass eine derartige Abgabe ausschließlich der Finanzierung besonderer Aufgaben dient, zu denen die betreffende Gruppe eine deutlich größere, durch eine objektive Interessenlage geprägte Sachnähe aufweist als die Allgemeinheit33. Auf die weiteren vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Kriterien für die Rechtmäßigkeit zur Heranziehung zu einer Sonderabgabe wird noch im Folgenden eingegangen werden. Da nach § 3 Abs. 2 Satz 1 PACT-Gesetz abgabepflichtig alle Grundeigentümer und Erbbauberechtigten sowie nach Satz 2 bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen zudem die Gewerbetreibenden des maßgeblichen Bereichs sind, ist das erste Kriterium einer Sonderabgabe – die Inanspruchnahme lediglich bestimmter Gruppen – erfüllt. Da die Mittel aus der PACT-Abgabe – abzüglich der an die Gemeinde zur Abgeltung des gemeindlichen Verwaltungsaufwandes abzuführenden Kostenpauschale – nach § 3 Abs. 6 PACT-Gesetz ausschließlich für die entsprechenden Attraktivierungsmaßnahmen zu verwenden sind und da die Gruppen der Grundeigentümer und Gewerbetreibenden des betreffenden Bereichs zumindest zu erheblichen Teilen zu diesen eine deutlich größere Sachnähe haben, als die Allgemeinheit, ist auch die zweite vom Bundesverfassungsgericht statuierte Voraussetzung als erfüllt anzusehen, sodass davon auszugehen ist, dass die PACT-Abgabe typologisch als Sonderabgabe einzuordnen ist34. Dies entspricht auch dem Verständnis des Gesetzgebers35.

III. Vorliegen der Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Erhebung einer derartigen Sonderabgabe? Hiervon zu unterscheiden ist indessen die Frage, ob die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Erhebung einer derartigen Sonderabgabe vorliegen.

___________ 33 Grundlegend hierzu Urteil des BVerfG v. 10.12.1980 – 2 BvF 3/77, BVerfGE 55, 274 (298). 34 So auch Kersten, Business Improvement Districts in der Bundesrepublik Deutschland, UPR 2007, 121 (127). 35 Amtliche Begründung zum Entwurf für das PACT-Gesetz, LT-Drs. 16/711, 12.

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1. Zur kompetenzrechtlichen Verfassungsmäßigkeit Zunächst stellt sich die Frage der kompetenziellen Befugnis des Landesgesetzgebers zu Schaffung einer Ermächtigungsgrundlage für die Erhebung einer derartigen Sonderabgabe. Angesichts dessen, – dass Sonderabgaben nicht aufgrund einer eigenen Abgabenkompetenz, sondern unter Inanspruchnahme von Kompetenzen zur Regelung bestimmter Sachmaterien, die ihrer Art nach nicht auf die Abgabenerhebung bezogen sind, erhoben werden36, und – dass durch die eingangs erwähnte, neu geschaffene Vorschrift des § 171f BauGB die Landesgesetzgeber ausdrücklich dazu ermächtigt werden, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Gebiete festgelegt werden, in denen in privater Verantwortung standortbezogene Maßnahmen zur städtebaulichen Attraktivierung bestimmter Bereiche durchgeführt werden, stehen der Gültigkeit von § 3 PACT-Gesetz keine kompetenzrechtlichen Bedenken entgegen37. 2. Zur materiell-rechtlichen Verfassungsmäßigkeit Die für alle nichtsteuerlichen Abgaben geltenden Begrenzungen hat das Bundesverfassungsgericht für Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion in besonders strenger Form präzisiert. Hierbei hat es u.a. festgestellt, dass innerhalb des Ensembles der speziellen Anforderungen an die Zulässigkeit einer Sonderabgabe mit Finanzierungszweck eine besonders enge Verbindung besteht – zwischen der spezifischen Beziehung oder auch Sachnähe der Abgabepflichtigen zum Zweck der Abgabenerhebung, – einer daraus ableitbaren Finanzierungsverantwortung und – der gruppennützigen Verwendung des Abgabenaufkommens. Sind Sachnähe zum Zweck der Abgabe und Finanzierungsverantwortung der belasteten Gruppe der Abgabepflichtigen gegeben, so wirkt die zweckentsprechende Verwendung des Abgabenaufkommens zugleich gruppennützig, entlastet die Gesamtgruppe der Abgabenschuldner nämlich von einer ihrem Verantwortungsbereich zuzurechnenden Aufgabe38. Die Erfüllung dieser Merkmalsgruppe in ihrem Zusammenspiel bildet zugleich den entscheidenden Rechtfertigungsgrund für eine zu der Gemeinlast der Steuern hinzutretende

___________ 36 Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG v. 8.4.1987 – 2 BvR 909/82 – u.a., BVerfGE 75, 108 (147). 37 Zur Bedeutung des § 171f BauGB zur Eröffnung einer entsprechenden Länderkompetenz Stemmler/Hohrmann, Neues im Besonderen Städtebaurecht, ZfBR 2007, 224 (226) und Schmidt-Eichstaedt, Was gibt es Neues im Besonderen Städtebaurecht, LKV 2007, 439 (443 f.). 38 Beschluss des BVerfG v. 3.2.2009 – 2 BvL 54/06, BVerfGE 122, 316 (334).

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Abgabenpflicht für Grundstücke in Business Improvement Districts

Sonderlast und sichert so die Wahrung verhältnismäßiger Belastungsgleichheit39. Ausgehend von diesen Maßstäben hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass etwa die Abgabe zum Absatzfonds eine verfassungsrechtlich unzulässige Sonderabgabe darstelle, da es jedenfalls an einer Finanzierungsverantwortung der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft fehle. Der Absatzfond hat die gesetzlich bestimmte Aufgabe, „den Absatz und die Verwertung von Erzeugnissen der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft durch Erschließung und Pflege von Märkten im In- und Ausland mit modernen Mitteln und Methoden unter Berücksichtigung der Belange des Verbraucher-, Tier- und Umweltschutzes zentral zu fördern.“40 Im Einzelnen hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass zwar die deutsche Land- und Ernährungswirtschaft eine in der europäischen Rechtsordnung vorstrukturierte Gruppe bilde. Auch würden die Unternehmen der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft zu der mit der Abgabe finanzierten Aufgabe eine besondere Sachnähe aufweisen. Sie stünden der zu finanzierenden Aufgabe, nämlich der Förderung des Absatzes und der Verwertung land- und ernährungswirtschaftlicher Produkte, jedenfalls insoweit evident näher als jede andere Gruppe und die Gesamtheit aller Steuerzahler, als es um den Absatz ihrer je eigenen Produkte geht. Die rechtlich vorstrukturierte Abgrenzbarkeit einer Gruppe und deren besondere Sachnähe seien für sich genommen jedoch nicht ohne Weiteres geeignet, eine spezielle Finanzierungsverantwortung im Hinblick auf eine staatlich organisierte Absatzförderung von land- und ernährungswirtschaftlichen Produkten in ihrer Gesamtheit zu begründen. Gruppenhomogenität und Sachnähe müssten inhaltlich derart qualifiziert sein, dass sie geeignet seien, einen rechtfertigenden Zusammenhang mit einer spezifischen Finanzierungsverantwortung der Abgabepflichtigen für die Wahrnehmung der Aufgabe herzustellen. Dies sei bei der Abgabe nach dem Absatzfondsgesetz nicht der Fall. Es handele sich bei dieser Abgabe nicht um eine Sonderabgabe, die bei der Zurechnung von Sonderlasten der Abgabepflichtigen an den Verursachungsgedanken anknüpfe und ihre Rechtfertigung in einer Verantwortlichkeit für die Folgen gruppenspezifischer Zustände oder Verhaltensweisen finden könne. Vielmehr gehe es um eine zwangsweise durchgeführte Fördermaßnahme, zu deren Finanzierung die Gruppe der Abgabepflichtigen nur aus Gründen eines Nutzens herangezogen wird, den der Gesetzgeber dieser Gruppe zugedacht hat. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht wörtlich festgestellt: „Die Unternehmen der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft verursachen keinen Bedarf, für dessen Befriedigung sie ohne Weiteres verantwortlich gemacht werden könnten. Der Staat greift vielmehr auf der Grundlage des Absatzfondsgesetzes mit wirtschaftspolitisch begründeten Förderungsmaßnahmen gestaltend in die Wirtschaftsordnung ein und weist den erst dadurch entstehenden Finanzierungsbedarf den mit der Ab-

___________ 39 So schon Urteil des BVerfG v. 17.3.2005 – 2 BvR 2335, 2391/95, BVerfGE 113, 128 (150 f.). 40 § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die Errichtung eines zentralen Fonds zur Absatzförderung der deutschen Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft (Absatzfondsgesetz) – AbsFondsG – v. 26.6.1969, BGBl. I, 635 i.d.F. v. 4.10.2007, BGBl. I, 2342.

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Wolfgang Ewer gabepflicht belasteten Unternehmen zu. Diese finanzielle Inanspruchnahme für die staatliche Aufgabenwahrnehmung, die durch hoheitliche Entscheidung an die Stelle des individuellen unternehmerischen Handelns tritt, stellt sich aus der Sicht des Abgabepflichtigen nicht nur als eine rechtfertigungsbedürftige, zur Steuer hinzutretende Sonderbelastung, sondern auch als Verkürzung seiner durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten unternehmerischen Freiheit dar (vgl. BVerfGE 111, 191 (213 f.); 113, 128 (145)) und bedarf auch insoweit besonderer Rechtfertigung. Für die nach dem Absatzfondsgesetz im Schwerpunkt entfalteten Werbemaßnahmen für Produkte der Land- und Ernährungswirtschaft tritt diese freiheitsbeschränkende Qualität der Abgabe besonders augenfällig in Erscheinung, denn die finanzielle Inanspruchnahme für solche Werbemaßnahmen kann auch als Schmälerung des eigenen unternehmerischen Werbeetats angesehen werden.“41

Zwar unterscheidet sich die vom Bundesverfassungsgericht zu prüfende Regelung von der im PACT-Gesetz dadurch, – dass es beim Absatzfonds um die Heranziehung der Gruppenmitglieder zu staatlicherseits durchgeführten Werbemaßnahmen ging, während – die Attraktivierungsmaßnahmen nach dem PACT-Gesetz nicht durch die Gemeinde, sondern einen von den Grundeigentümern, Erbbauberechtigten sowie ggf. Gewerbetreibenden benannten Aufgabenträger durchgeführt werden. Indessen erscheint es fraglich, ob dies eine abweichende Bewertung gebietet. Dies folgt zunächst schon daraus, dass die Eingriffswirkung in die grundrechtlichen Freiheiten der Betreffenden hier nicht weniger intensiv ist, als in dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrundeliegenden Sachverhalt. Hier wie dort erfolgt eine Heranziehung zu Kosten für entsprechende Fördermaßnahmen, mit der Folge, dass die entsprechenden Mittel dann nicht mehr für individuelle Aktivitäten zur Förderung des betreffenden Ziels zur Verfügung stehen. Dass nach § 2 Abs. 4 Satz 3 PACT-Gesetz eine entsprechende Satzung nicht erlassen werden darf, wenn mehr als ein Drittel der betreffenden Grundstückseigentümer, Erbbauberechtigten und Gewerbetreibenden widersprochen haben, vermag keine andere rechtliche Beurteilung zu rechtfertigen. Dies folgt zunächst schon daraus, dass die Eigentümer der in einem – um es in der Diktion des § 1 Abs. 1 PACT-Gesetz auszudrücken – City-, Dienstleistungs- oder Tourismusbereich belegenen Grundstücke und die in einem solchen Bereich tätigen Gewerbetreibenden kein „Teilvolk“ darstellen, dessen mehrheitliche Willensbekundung demokratische Legitimation vermitteln kann. Denn die Annahme eines „Teilvolkes“, das demokratische Legitimation vermitteln kann, würde jedenfalls voraussetzen, dass dieses homogen ist und nach den Grundsätzen des Art. 38 GG (allgemeine und gleiche Wahl) verfahren kann, die den verfassungsrechtlich vorgesehenen „Teilvölkern“ in Ländern, Kreisen und Gemeinden durch Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG ausdrück-

___________ 41 Beschluss des BVerfG v. 3.2.2009 – 2 BvL 54/06, BVerfGE 122, 316 (336 f.).

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lich auferlegt sind42. Diese Voraussetzung liegt aber bei einer Beschränkung auf Grundeigentümer, Erbbauberechtigte und Gewerbetreibende ersichtlich nicht vor. Ein weiteres legitimatorisches Defizit ergibt sich daraus, dass nach § 2 Abs. 4 Satz 4 PACT-Gesetz Grundeigentümer, Erbbauberechtigte und Gewerbetreibende je Grundstück bzw. Betrieb nur eine Stimme abgeben können. Dies gilt umso mehr im Hinblick auf die durch § 3 Abs. 5 Satz 2 PACT-Gesetz eröffnete Möglichkeit, für die Verteilung des umlagefähigen Aufwands unter den Grundeigentümern oder Erbbauberechtigten den Einheitswert zugrundezulegen. Als Beispiel sei insoweit genannt ein historisch gewachsener Innenstadtbereich, der durch zahlreiche kleine Grundstücke geprägt wird, auf denen sich Einzelhandelsbetriebe, Gaststätten und kleine Hotels befinden und in dem eine Handvoll größerer Grundstücke vorhanden ist, die anderen Zwecken – etwa Produktion oder Verwaltung – dienen. Hier könnte es ohne Weiteres dazu kommen, – dass eine Mehrheit von mehr als zwei Dritteln der Eigentümer und Erbbauberechtigten der kleinen Grundstücke sowie ggf. der auf diesen erwerbswirtschaftlich tätigen Gewerbetreibenden sich für Attraktivierungsmaßnahmen entscheiden, die – wie etwa die regelmäßige Durchführung von Open-Air-Veranstaltungen, Weihnachtsbeleuchtung und Werbemaßnahmen für das Quartier – fast ausschließlich dem Einzelhandel und der Gastronomie zugutekommen, und – dass ein erheblicher, unter Umständen der überwiegende Teil der für diese Maßnahmen anfallenden Kosten von den Eigentümern der wenigen größeren Grundstücke, auf denen sich Produktionsbetriebe und Verwaltungen befinden, und denen diese Maßnahmen keinerlei Vorteile bringen, aufzubringen ist. Dass eine derartige, nicht ansatzweise vorteilsadäquate Belastung mit den aus Art. 3 Abs. 1 GG folgenden Grundsätzen der Abgabengerechtigkeit und Abgabengleichheit aus unvereinbar ist, liegt auf der Hand. Etwas anderes gilt auch nicht im Hinblick auf den Befreiungstatbestand des § 3 Abs. 4 PACT-Gesetz. Dies folgt schon daraus, dass eine Befreiungsvorschrift bereits tatbestandlich nur in atypischen Fallgestaltungen zur Anwendung gelangen kann43, die vorliegende gesetzliche Regelung aber von vornherein absehbar in einer Vielzahl von Fällen Eigentümer von Grundstücken und Gewerbetreibende im entsprechenden Bereich erfassen wird, die durch die betreffenden Attraktivierungsmaßnahmen in keiner Weise bevorteilt werden. Ob diese Problematik durch § 3 Abs. 3 Nr. 1 PACT-Gesetz gelöst werden kann, erscheint zumindest

___________ 42 Urteil des OVG Münster v. 9.6.1995 – 25 A 3868/92, juris, Rz. 51; ausdrücklich diese Feststellung bestätigend der Beschluss des BVerwG v. 17.12.1997 – 6 C 2/97, Buchholz 11 Art 20 GG Nr. 161; dieser Ansatz ist auch nicht in Zweifel gezogen worden im Beschluss des Zweiten Senats des BVerfG v. 5.12.2002 – 2 BvL 5/98, 2 BvL 6/98, BVerfGE 107, 59 ff. 43 Vgl. am Beispiel des § 31 Abs. 2 BauGB des Beschlusses des BVerwG v. 20.11.1989 – 4 B 163/89, UPR 1990, 152 f.

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fraglich. Nach dieser Bestimmung kann die Gemeinde in der Satzung Grundeigentümer und Erbbauberechtigte, wenn das Grundstück baulich nicht genutzt werden kann oder die Nutzung ausschließlich zu Zwecken des Gemeinbedarfs ausgeübt wird, von der Abgabenpflicht ausnehmen. Das gebildete Fallbeispiel zeigt aber, dass auch in Fallkonstellationen, in denen das betreffende Grundstück weder unbebaut ist noch ausschließlich zu Gemeinbedarfszwecken genutzt wird, die Attraktivierungsmaßnahmen ohne jeden Nutzen für den Eigentümer sein können. Zudem und vor allem aber machen sowohl das Fallbeispiel als auch die vorgenannte Gesetzesbestimmung selbst deutlich, dass in Bezug auf entsprechende Attraktivierungsmaßnahmen eine starke Heterogenität der Interessen der verschiedenen Grundeigentümer, Erbbauberechtigten und Gewerbetreibenden in dem betreffenden innerstädtischen Bereich bestehen kann und häufig auch bestehen wird44. Dies aber hat zur Folge, dass es an der erforderlichen Gruppenhomogenität und damit auch dem eine solche voraussetzenden Gruppennutzen fehlt, mit der Folge, dass schon aus diesem Grunde keinerlei gemeinschaftliche Finanzierungsverantwortung besteht45.

IV. Ergebnis Die Abgabe nach dem PACT-Gesetz stellt sich typologisch als Sonderabgabe dar. Die Landesgesetzgeber sind zwar kompetenziell berechtigt, derartige Sonderabgaben im Zusammenhang mit in privater Verantwortung durchzuführenden standortbezogenen Maßnahmen zur städtebaulichen Aufwertung von Business Improvement Districts einzuführen. Indessen fehlt es an den sich aus der Verfassung ergebenden materiell-rechtlichen Voraussetzungen, da weder die erforderliche Homogenität der Gruppe der Eigentümer und Erbbauberechtigten der im entsprechenden Bereich belegenen Grundstücke sowie der diese nutzenden Gewerbetreibenden gegeben ist, noch eine gemeinsame Finanzierungsverantwortung besteht.

___________ 44 Dies verkennt Martini, Der öffentliche Raum zwischen staatlicher Aufgabenverantwortung und privater Initiative, DÖV 2008, 10 (14), mit der pauschalen Feststellung Grundstückseigentümer und Gewerbetreibende seien „durch ihr gleichlaufendes Interesse an der Standortentwicklung zu einer homogenen Gruppe verbunden“. 45 So auch Schutz/Köhler, Business Improvement Districts (BIDs) – (K)ein Modell für Bayern?, ZfBR 2007, 649 (652 f.); Portz, Neue Wege privater Initiativen für die Stadtentwicklung, KommJur 2007, 201 (203) weist insoweit zutreffend darauf hin, dass jedenfalls zwischen Grundeigentümern und Erbbauberechtigten auf der einen und Gewerbetreibenden auf der anderen Seite nicht die erforderliche Homogenität besteht.

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Steuerbrennpunkte bei Freiberufler-Kooperationen Inhaltsübersicht I. Zu dem Thema II. Die ertragsteuerrechtliche Einkünftequalifikation von Freiberufler-Personengesellschaften 1. Grundsätzliches 2. Die Abfärberegelung a) Gewerbliche Leistungen einer freiberuflichen Personengesellschaft b) Infektionswirkung der Beteiligung an einer gewerblichen Mitunternehmerschaft c) Freiberufler-Unternehmensgruppen d) Interprofessionelle Sozietäten 3. Eigenverantwortliche Tätigkeiten von Nicht-Mitunternehmern III. Einkommensteuerliche Brennpunkte der Einbringung von Praxen und Partneraufnahme in freiberufliche Personengesellschaften 1. Zur Anwendbarkeit der Bewertungswahlrechte nach § 24 UmwStG 2. Erwägungen zu den typischen Konstellationen

a) Zusammenschluss für Freiberufler durch Einbringung von Praxen b) „Aufnahme“ in eine Einzelpraxis c) Aufnahme in eine bestehende Freiberufler-Personengesellschaft 3. Problemzonen und Einzelfragen a) Erfordernis der Gewährung von Gesellschaftsrechten für die Anwendung des § 24 UmwStG b) Ausgleich für stille Reserven ohne Gewinnrealisierung c) Übergangsbesteuerung bei Einnahmenüberschussrechnern IV. Problemzonen bei Realteilungen von freiberuflichen Personengesellschaften 1. Ertragsteuerrecht 2. Umsatzsteuerrecht V. Neue Erbschaftsteuerprobleme durch Abfindungsklauseln in Gesellschaftsverträgen

I. Zu dem Thema Die Kooperation von Freiberuflern hat in den vergangenen Jahrzehnten im Hinblick auf die signifikant gestiegenen Anforderungen, die Technik, Wirtschaft und Recht an freiberufliche Betätigungen stellen, erhebliche Bedeutung erlangt. Dabei handelt es sich zum einen um enge gemeinschaftliche Berufsausübung in Form von Gesellschaften, zunächst hauptsächlich in Rechtsform der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, inzwischen verstärkt in der eigens für Freiberufler geschaffenen Partnerschaftsgesellschaft, vereinzelt auch als Personenhandelsgesellschaften und zunehmend als Kapitalgesellschaft, deren berufsrechtliche Zulassung in den letzten Jahren erweitert wurde. Zum anderen haben sich lose Kooperationen entwickelt, in deren Rahmen sich eigenständige Freiberufler gegenseitig in speziellen Fachberufen oder organisatorisch unterstützen oder sich zu Hilfsgesellschaften wie Büro-, Geräte- und 71

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Laborgesellschaften zusammenschließen, Kooperationen finden häufig auch im internationalen Bereich statt und interprofessionell. Der Jubilar ist in mehrfacher Hinsicht Impulsgeber freiberuflicher Kooperationen. Er selbst übt seine Berufstätigkeit als Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht von je her im Rahmen von Sozietäten aus. Auch in seiner beeindruckenden fachschriftstellerischen Arbeit und seiner berufsständischen Tätigkeit an der Spitze des Anwaltsberufs hat sich Michael Streck mit freiberuflichen Kooperationsformen beschäftigt1. Beispielhaft für seine fachwissenschaftliche Tätigkeit sei auf seine vor nahezu 20 Jahren veröffentlichte Erörterung der „Steuerprobleme örtlicher, überörtlicher und internationaler Anwaltssozietäten“2 hingewiesen. In deren Vorbemerkung hat er angemerkt, die Diskussion werde von berufs- und wettbewerbsrechtlichen Fragen beherrscht. „Steuerfragen treten in den Hintergrund, werden oft sogar übersehen.“ Es ist reizvoll zu sehen, wie sich das Steuerrecht der freiberuflichen Sozietäten zwischenzeitlich entwickelt hat.

II. Die ertragsteuerrechtliche Einkünftequalifikation von FreiberuflerPersonengesellschaften 1. Grundsätzliches § 18 EStG grenzt freiberufliche Tätigkeiten (und gewisse sonstige selbständige Tätigkeiten), die im Einzelnen in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG aufgeführt werden, aus den gewerblichen Einkünften im Sinne des § 15 EStG aus, obwohl sie sämtliche steuerliche Gewerbemerkmale erfüllen. Diese Sonderbehandlung der freiberuflichen Tätigkeiten ist unter verfassungsrechtlichen Aspekten kritisiert worden. Das BVerfG hat jedoch nach wie vor keine verfassungsrechtlichen Bedenken3. Gleichwohl sind die Diskussionen insbesondere auf der Suche nach neuen Steuerquellen durch Gewerbesteuerheranziehung der freien Berufe nicht verstummt. Die steuerlichen Folgen der Abgrenzung zwischen gewerblicher und freiberuflicher Tätigkeit haben sich durch Einführung der Gewerbesteueranrechnung gemäß § 35 EStG, die auch Mitunternehmer von Personengesellschaften genießen, relativiert. Die Anerkennung freiberuflicher Einkünfte bleibt dennoch vorteilhaft für die Betroffenen: – Je nach Höhe des maßgeblichen Gewerbesteuerhebesatzes verbleibt ein Belastungsüberhang. Die kritische Grenze liegt bei einem Hebesatz von 400%4, der in vielen Fällen überschritten wird. – Infolge des Ermäßigungshöchstbetrags gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 EStG kann es zu unglücklichen Einkünftekonstellationen der betroffenen natürlichen Personen kommen, durch die die Einkommensteuerermäßigung ganz oder

___________ 1 2 3 4

Vgl. z.B. Henssler/Streck (Hrsg.), Handbuch des Sozietätsrechts, 2001. Streck, NJW 1991, 2252. BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1. Vgl. z.B. Schiffers in Korn, EStG, § 35 Rz. 47.1 (April 2009).

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teilweise leerlaufen kann5. Diese Verzerrung betrachtet die Rechtsprechung als dem typisierenden Charakter der Gewerbesteueranrechnung geschuldet und verfassungsrechtlich vertretbar6. – Nur die Bezieher von Einkünften im Sinne des § 18 EStG haben ein von der Höhe ihrer Umsätze und Einkünfte unabhängiges Wahlrecht zwischen der Gewinnermittlung gemäß § 4 Abs. 1 EStG und der Einnahmenüberschussrechnung gemäß § 4 Abs. 3 EStG. Auch die Option für die Umsatzbesteuerung nach vereinnahmten Entgelten gemäß § 20 UStG ist nur bei Freiberuflern umsatzunabhängig. Seit langem ist grundsätzlich geklärt, dass Personengesellschaften, die freiberufliche Tätigkeiten im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG erbringen, Mitunternehmerschaften sind, die grundsätzlich freiberufliche Einkünfte hervorbringen7. Das ist nicht selbstverständlich, weil freiberufliche Einkünfte nur erzielen kann, wer über die für die Ausübung der in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG genannten Berufstätigkeiten erforderlichen Qualifikationen verfügt und die Tätigkeit persönlich ausübt. Personengesellschaften sind, was die Einkünftequalifikation und -ermittlung anbetrifft, Steuersubjekte. Als solche können sie weder über die erforderliche persönliche Qualifikation verfügen noch ihre Tätigkeit persönlich ausüben. Mit Recht greift die h.A. jedoch bei der Einkünftequalifikation auf die hinter den Personengesellschaften stehenden Mitunternehmer zurück, weil diesen die Einkünfte steuerlich zuzurechnen, sie also die wahren Steuersubjekte aus der wirtschaftlichen Betätigung der Personengesellschaften sind. Vor dem Hintergrund dieses „Durchgriffs“ auf die Mitunternehmer erscheinen die Restriktionen für die Anerkennung freiberuflicher Einkünfte bei Personengesellschaften verständlich8: – Sämtliche Mitunternehmer müssen persönlich Freiberufler im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG sein, deren Tätigkeit für die Gesellschaft, wenn sie diese jeweils allein ausüben würden, zu freiberuflichen Einkünften im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG führen würden. – Sämtliche Leistungen, die für Rechnung der Personengesellschaften ausgeübt werden, müssen leitend und eigenverantwortlich von den Mitunternehmern erbracht werden. Welcher Rechtsform der Personengesellschaft sich Freiberufler bedienen, ist für die Einkünftequalifikation irrelevant, wenn die genannten Grundbedingungen eingehalten werden. Es kann sich um Gesellschaften bürgerlichen Rechts, Partnerschaftsgesellschaften (obwohl diese Rechtsform durch das Partnerschaftsgesetz9 speziell für freiberufliche Gesellschaften geschaffen

___________ 5 Vgl. BMF-Schreiben v. 24.2.2009, BStBl. I 2009, 440. 6 BFH v. 23.4.2008 – X R 32/06, BStBl. II 2009, 7 (Verfassungsbeschwerde durch Beschluss des BVerfG v. 29.6.2009 – 2 BvR 1540/08 nicht zur Entscheidung angenommen). 7 Vgl. z.B. BFH v. 28.10.2008 – VIII R 69/06, BStBl. II 2009, 642; v. 4.5.2009 – VIII B 220/08, BFH/NV 2009, 1429. 8 Vgl. auch BFH v. 16.4.2009 – VIII B 216/08, BFH/NV 2009, 1264 m.w.N. 9 Gesetz v. 25.7.1994, BGBl. I 1994, 1744.

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wurde und einen Katalog sowie eine Definition für freie Berufstätigkeiten enthält, sind deren Einkünfte nicht per se Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG10), Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigungen oder auch Personengesellschaften ausländischen Rechts handeln. Auch in der Rechtsform einer Personenhandelsgesellschaft können freiberufliche Einkünfte erzielt werden11. Inwieweit dies auch für freiberufliche Tätigkeiten einer GmbH & Co KG gilt (die Rechtsform steht inzwischen berufsrechtlich z.B. gemäß § 28 WPO und § 50 Abs. 1 StBerG auch Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern offen), wird kontrovers diskutiert. Die GmbH & Co KG in ihrer typischen Erscheinungsform bringt wegen der Geprägeregelung in § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG zweifellos stets ausschließlich gewerbliche Einkünfte hervor. Die Geprägeregelung kann allerdings dadurch überwunden werden, dass Mitunternehmer (Kommanditisten) neben der Komplementär-GmbH geschäftsführend tätig sind und ihr sogar die Geschäftsführungsbefugnis entzogen wird. Es wird für diesen Fall die Meinung vertreten, dass die GmbH & Co KG freiberufliche Einkünfte erzielen kann12. Die Finanzverwaltung sieht dies jedoch anders, weil die KomplementärGmbH nach h.A. stets Mitunternehmerin ist und als Kapitalgesellschaft und Gewerbebetrieb kraft Rechtsform „berufsfremd“ ist und ihr die Vertretungsbefugnis nicht entzogen werden kann13. Der Rechtsprechung zufolge sind Kapitalgesellschaften selbst dann berufsfremd in diesem Sinne, wenn sie ausschließlich freiberufliche Tätigkeiten ausüben und an ihnen nur Freiberufler beteiligt sind, die auch die Geschäfte führen14. Dem Gewerbeproblem könnte die Freiberufler-GmbH & Co KG nur entrinnen, wenn die Geprägeregelung gestalterisch außer Kraft gesetzt wird und überdies der Mitunternehmerstatus der Komplementär-GmbH vermieden wird. Für die steuerliche Disposition ist davon auszugehen, dass Letzteres schwer erreichbar ist15, man bei den Steuerdispositionen folglich von gewerblichen Einkünften der Freiberufler-GmbH & Co KG ausgehen muss16. 2. Die Abfärberegelung a) Gewerbliche Leistungen einer freiberuflichen Personengesellschaft Freiberufler erbringen nicht selten als Teil ihrer Berufsausübung an deren Rand mehr oder weniger umfangreiche Tätigkeiten, die ertragsteuerlich als

___________ 10 BFH v. 3.3.1998 – IV B 18/97, BFH/NV 1998, 1206. 11 BFH v. 26.1.1970 – IV 60/65, BStBl. II 1971, 249; v. 7.11.1991 – IV R 17/90, BStBl. II 1993, 324. 12 So z.B. Fuhrmann, NWB F 18, 4651 (4663), (18/2008). 13 Vgl. z.B. Erlass des Finanzministeriums Baden-Württemberg v. 28.1.2008 – IV 301 S 2506 - 1/08, LEXinform Dok. 52315335. 14 BFH v. 8.4.2008 – VIII R 73/05, BSBtBl. II 2008, 681; vgl. schon Streck, NJW 1991, 2242 (2254). 15 Vgl. auch das BFH-Urteil zum sog. Treuhandmodell v. 3.2.2010 – IV R 26/07, DStR 2010, 743, das die diesbezügliche Sonderstellung der Komplementär-GmbH betont. 16 Vgl. auch Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 18 Rz. 43.

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gewerblich eingestuft werden17. Oftmals ist zweifelhaft und strittig, ob die Leistungen noch zu der freiberuflichen Berufstätigkeit gehören. Es ist z.B. noch nicht abschließend geklärt, inwieweit bei Freiberuflern mit gesetzlich geregelten Vorbehaltsaufgaben (wie Rechtsanwälte, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer) Leistungen, die diese Berufsträger aufgrund ihrer beruflichen Kenntnisse üblicher- und zulässigerweise erbringen, die aber keine gesetzlichen Vorbehaltsaufgaben sind, zu den freiberuflichen Leistungen gehören18. M.E. ist es sachgerecht und mit dem Gesetzeswortlaut zu vereinbaren, auf der beruflichen Fachkompetenz beruhende berufsübliche Tätigkeiten in die „Berufstätigkeit“ der gesetzlichen Katalogberufe einzubeziehen. Der BFH hat dies unter Hinweis auf den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG jedenfalls für den Fall abgelehnt, dass die von jedermann ausübbare Tätigkeit sich zu einer spezifischen Berufstätigkeit entwickelt hat, wovon er bei Berufsbetreuern ausgeht19. Zu den in jüngerer Zeit lebhaft diskutierten Fragen gehört etwa, ob die Ausübung von Insolvenzverwaltertätigkeiten bei den rechts-, steuerberatenden und wirtschaftsprüfenden Berufen zur freiberuflichen Tätigkeit zählt. Die Rechtsprechung20 grenzt Insolvenzverwaltungen von der freiberuflichen Tätigkeit der Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer oder Steuerberater ab, stuft sie aber in die sonstigen selbständigen Tätigkeiten im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG ein, deren Einkünfte aus Vereinfachungsgründen in die Ermittlung der freiberuflichen Einkünfte einzubeziehen sind, dies jedoch nur dann, wenn der Steuerpflichtige die Tätigkeit höchstpersönlich ausübt. Ebenso hat der BFH die umfangreiche Tätigkeit von Rechtsanwälten als Berufsbetreuer (im Streitfall Spezialisierung einer Rechtsanwaltssozietät, die 80% ihrer Einnahmen aus Berufsbetreuung erzielt) unter § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG subsumiert, seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben, es handele sich um eine gewerbliche Tätigkeit21. Die Beschäftigung von mehr als einem qualifizierten unselbständigen oder freien Mitarbeiter ist bei Tätigkeiten im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG auch dann steuerschädlich, wenn der Berufsträger vollumfänglich leitend und eigenverantwortlich tätig bleibt22. Kommt es bei einzelberuflich tätigen Freiberuflern zu gewerblichen Leistungen, sind die freiberuflichen gewerblichen Einkünfte aufzuteilen, wenn die Leistungen nicht ausnahmsweise untrennbar miteinander verwoben sind. Dagegen leitet die gefestigte Rechtsprechung und Verwaltungsauffassung für

___________ 17 Streck, NJW 1991, 2252 (2253), hat Problemfälle bei Beratersozietäten aufgezeigt: Vermittlungsleistungen, Treuhandtätigkeiten, Baubetreuungen, kaufmännische Leistungen. In den letzten beiden Jahrzehnten sind weitere hinzugetreten, z.B. Insolvenzverwaltungen, EDV-Dienstleistungen, Betreuertätigkeiten. 18 Vgl. dazu z.B. BFH v. 12.12.2001 – XI R 56/00, BStBl. II 2002, 202; kritisch Korn in Korn, EStG, § 18 Rz. 54.2 (Februar 2004). 19 BFH v. 15.6.2010 – VIII R 10/09, BFH/NV 2010, 1903. 20 BFH v. 12.12.2001 – XI R 56/00, BStBl. II 2002, 202; v. 14.7.2008 – VIII B 179/07, BFH/NV 2008, 1874; Nichtannahmebeschluss des BVerfG v. 25.3.2010 – 1 BvR 448/09, LEXinform Dok. 1562050. 21 BFH v. 15.6.2010 – VIII R 10/09, BFH/NV 2010, 1903. 22 In der Begründung zum Urteil v. 15.6.2010 – VIII R 10/09 wirft der BFH jedoch nicht die entscheidungserhebliche Frage auf, ob die sog. Vervielfältigungstheorie „eine hinreichende Rechtsgrundlage in dem Umkehrschluss aus § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG findet“.

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Mitunternehmerschaften aus § 15 Abs. 3 Satz 1 EStG ab, dass gewerbliche Leistungen einer im Übrigen freiberuflich tätigen Mitunternehmerschaft die gesamten Einkünfte der Mitunternehmerschaft gewerblich infizieren23 (sog. Abfärberegelung)24. Die gegen diese wenig einleuchtende Ungleichbehandlung erhobenen Bedenken haben sich nicht durchgesetzt. Einwendbar ist, dass allgemein gewerbliche Einkünfte gegenüber freiberuflichen subsidiär sind, d.h. wenn Leistungen alle Merkmale einer gewerblichen Tätigkeit im Sinne des § 15 EStG erfüllen, sie unter § 18 EStG subsumiert werden, wenn es sich um persönlich ausgeübte, im Katalog des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG aufgeführte Tätigkeiten handelt25. Außerdem sind gegen die Ungleichbehandlung verfassungsrechtliche Bedenken erhoben worden, die das Niedersächsische FG26 dem BVerfG vorgelegt hat. Das BVerfG teilt diese indes nicht27. Das Gericht hat die Abfärbewirkung und die nicht zu verkennende Ungleichbehandlung der Personengesellschaften gegenüber den Einzelunternehmen damit gerechtfertigt, dass nach seiner Einschätzung die Komplikationen einer Trennung in unterschiedliche Einkunftsarten bei Personengesellschaften ungleich größer sein sollen als bei Einzelpraxen. Außerdem verweist das BVerfG, wie schon früher der BFH, auf die Gestaltungsmöglichkeiten zur Vermeidung des Eintritts der Abfärbewirkung. Die Beurteilung durch das BVerfG überzeugt nicht. Ob allein Praktikabilitätsgesichtspunkte eine differenzierende Betrachtung von Einzelunternehmen und Personengesellschaften zu tragen vermögen, ist zweifelhaft, denn die Trennung ist bei beiden Beteiligungsformen nicht signifikant einfacher oder schwieriger. Fragwürdig erscheint, die Verfassungsmäßigkeit einer Regelung mit der Möglichkeit von Ausweichgestaltungen zu begründen28. Die Abfärbewirkung entsteht nicht, wenn die Gewerbeelemente von Tätigkeiten ausnahmsweise untrennbar mit freiberuflichen verworben sind und die freiberuflichen Elemente die einheitlich zu beurteilende Leistung dominieren29. Deshalb geht auch von ohne eigene Gewinnerzielungsabsicht betriebenen Hilfstätigkeiten keine infizierende Wirkung aus30. Allerdings hat die Rechtsprechung in auf Selbstkostenbasis erbrachten Managementleistungen einer Holding-Personengesellschaft für ihre auf dem Ingenieursektor tätige

___________ 23 Vgl. BFH v. 10.8.1994 – I R 133/93, BStBl. II 1995, 171; v. 11.8.1999 – XI R 12/98, BStBl. II 2000, 229; Demuth, KÖSDI 2005, 14491 m.w.N. 24 Streck, NJW 1991, 2252 (2253), hat einen eingängigen Vergleich für die Wirkungen der Abfärbetheorie auf die Einkünftequalifizierung bei Sozietäten gefunden: „Ihre Einkünfte gleichen glasklarem Wasser, in das ein Tintentropfen fällt; selbst der kleinste Tropfen färbt das Wasser blau (und die freiberuflichen Einkünfte gewerblich).“ 25 Vgl. Korn in Korn, EStG, § 18 Rz. 153 m.w.N. (Februar 2004). 26 Beschluss des Nds. FG v. 21.4.2004 – 4 K 317/91, EFG 2004, 1065. 27 Beschluss des BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 = DB 2008, 1243. 28 Dieses Argument hat das BVerfG z.B. bei der mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbaren Übergangsregelung zum Übergang von dem Körperschaftsteueranrechnungsverfahren zum Halbeinkünfteverfahren nicht gelten lassen, vgl. BVerfG v. 17.11.2009 – 1 BvR 2192/05, DStR 2010, 434. 29 Das hat der BFH z.B. für tontechnische Leistungen bei journalistischen Berichterstattungen angenommen, vgl. Urteil v. 20.12.2000 – XI R 8/00, BStBl. II 2002, 978. 30 Vgl. Demuth, KÖSDI 2005, 14491 (14492) m.w.N.

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Tochter-Mitunternehmerschaft eine gewerbliche Tätigkeit gesehen (s. Abschnitt II. 2. c). Dabei handelte es sich indes nicht um Hilfstätigkeiten, die in freiberufliche Leistungen eingebettet waren, sondern um die Kerntätigkeit der Holdinggesellschaft. Besonders für die Steuerabwehr ist im Übrigen beachtlich, dass die Rechtsprechung es als Gebot des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erachtet, „äußerst geringen“ gewerblichen Tätigkeiten – im Streitfall Verkauf von Nackenkissen und Cremes durch eine Krankengymnastenpraxis im Umfang von 1,25% des Gesamtumsatzes – die Infektionswirkung abzusprechen. Seither wird diskutiert, wo diese Geringfügigkeitsgrenze verläuft und ob sie relativ, absolut oder kombiniert zu definieren ist. In einem Aussetzungsverfahren31 verneinte der BFH die Anwendung der Abfärberegelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG auf eine Personengesellschaft mit Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft, die im Umfang von 2,81% des Gesamtumsatzes gewerbliche Einkünfte aus der Überlassung von Maschinen und Arbeitskräften erzielt hatte. In der Fachliteratur wird überwiegend eine Kombination aus einer relativen und absoluten Grenze favorisiert: Bei einem Umsatzanteil von 5 bis 10% (zum Teil wird – immerhin aus der Mitte des BFH – die Grenze aber bei nur 2% bis 3% gesehen)32, soll die Infektionswirkung jedenfalls nicht greifen, falls der daraus erzielte Gewinn den Gewerbesteuerfreibetrag von 24.500 Euro nach § 11 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 GewStG nicht übersteigt33. Gegen die Einschlägigkeit einer absoluten Grenze, die sich am Gewerbesteuerfreibetrag orientiert, spricht, dass der BFH in Abgrenzungsfragen einer strikt relationalen Betrachtungsweise folgt34. Bei der Steuerabwehr kann auf eine 10%Umsatzgrenze rekurriert werden, weil diese von der Rechtsprechung zunehmend als zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots im Steuerrecht allgemein zu beachtende Geringfügigkeitsgrenze verstanden wird35.

___________ 31 BFH v. 8.3.2004 – IV B 212/03, BFH/NV 2004, 954. 32 Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 15 Rz. 188; Kempermann, StbJb. 2003/2004, 379 (383). 33 Vgl. z.B. Wehrheim/Brodthage, DStR 2003, 485; Rose, DB 2000, 993 (994); Strahl, KÖSDI 2003, 13833 (13842); Demuth, KÖSDI 2005, 14491 (14495); Wendt, FR 1999, 1183 (1184); a.A. Kempermann, StbJb. 2003/2004, 2004, 379 (384); Priebe, StBp. 2001, 19 (20). 34 So hat der BFH v. 16.12.2004 – IV R 3/03, BFH/NV 2005, 879, entschieden, mit Bezug auf die Einordnung einer Tätigkeit als wesentlich für die Berufsausübung sei auf das Verhältnis der Umsätze aus dieser Tätigkeit zu den Gesamtumsätzen abzustellen. Eine ertragsorientierte Sichtweise hält der BFH wegen der Schwierigkeit der Zuordnung von übergreifenden (Gemein-)Aufwendungen zur Abgrenzung nicht für geeignet. 35 Vgl. BFH v. 19.2.2004 – VI R 135/01, BStBl. II 2004, 958 (unschädliche private Mitbenutzung von PC); v. 2.10.2003 – IV R 13/03, BStBl. II 2004, 985 (gewillkürtes Betriebsvermögen); v. 16.6.2004 – X R 50/01, BStBl. II 2005, 130 (unschädliches Zurückbleiben der Mieterträge gegenüber den Versorgungsleistungen um bis zu 10% für Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen); v. 24.2.2005 – IV R 28/00, BFH/NV 2005, 1062 (1064) (Zurückbehalten von Flächen bei der unentgeltlichen Übertragung eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs unschädlich bis zur „Flächengrenze von 10%, die im Allgemeinen als Anhaltspunkt für das Vorliegen wesentlicher Betriebsgrundlagen angesehen wird“); v. 19.12.2002 – IV R 46/00,

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Auf eine Einschränkung der Abfärberegelung im gewerbesteuerlichen Bereich läuft das „Augenklinik“-Urteil des BFH36 hinaus, in dem ihr eine zusätzliche Wirkkraft beigemessen wird: Handelt es sich bei der gewerblichen Tätigkeit der Personengesellschaft um eine gewerbesteuerbefreite – hier: Betrieb einer nach § 3 Nr. 20 GewStG steuerfreien Augenklinik –, erzielt die FreiberuflerPersonengesellschaft zwar insgesamt gewerbliche Einkünfte, die jedoch (wie der „Infektionsherd“) als nach § 3 Nr. 20 GewStG gewerbesteuerfrei gelten. Es wäre wegen des Gewerbesteuersicherungszwecks der Abfärberegelung durchaus vertretbar, statt dieser Merkmalsübertragung § 15 Abs. 3 Satz 1 EStG restriktiv dahingehend auszulegen, dass die Abfärberegelung nicht greift, wenn es der Gewerbesteuersicherung nicht bedarf37. Als sichere Gestaltungsmöglichkeit38 zur Vermeidung der Abfärberegelung bleibt die Ausgliederung der gewerblichen Aktivitäten in eine getrennte „Schwester“-Personengesellschaft, an die Rechtsprechung und Finanzverwaltung keine hohen Anforderungen stellen39. Anerkannt worden ist z.B. die Ausgliederung der gewerblichen Tätigkeit auf eine nach außen auftretende beteiligungskongruente GbR, die in den Räumen der freiberuflichen Personengesellschaft in Personalunion tätig war. Für die gewerblichen Aktivitäten kann auch die Rechtsform einer Kapitalgesellschaft gewählt werden, deren Unterhaltung indes administrativ deutlich aufwendiger ist. Bei diesen Gestaltungen muss jedoch vermieden werden, dass die freiberufliche Personengesellschaft der gewerblichen „Zweitgesellschaft“ Wirtschaftsgüter zur Nutzung überlässt, die funktional wesentliche Betriebsgrundlagen darstellen, weil dadurch eine steuerliche sog. unechte Betriebsaufspaltung entstehen könnte, welche dazu führt, dass die freiberufliche Personengesellschaft zu einem gewerblichen Besitzunternehmen mutiert und wiederum vollumfänglich zum Gewerbebetrieb wird. Widerfahren ist dies einer Kieferorthopäden-GbR, die Teile des zu ihrem Gesamthandsvermögen gehörenden bebauten Grundstücks an eine von den Gesellschaftern der GbR beherrschten Labor-GmbH vermietete40. Gibt es Wirtschaftsgüter, die für die gewerbliche Gesellschaft wesentlich sein könnten, sollte die gewerbliche Parallelgesellschaft die Wirtschaftsgüter anschaffen und sie der freiberuflichen Personengesellschaft zur Nutzung überlassen, oder es wird eine dritte Gesellschaft gegründet, die Eigentümer der betroffenen Wirtschaftsgüter wird und sie alsdann beiden Gesellschaften

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BFH/NV 2003, 978 (981) (10%-Grenze als „Ausfluss eines allgemeinen Rechtsgedankens, wonach bei ihrem Erreichen oder Überschreiten in der Regel ein Merkmal oder auch ein Gegenstand sein Wesen verändert oder eine andere Rechtsfolge eintritt); vgl. zum Verhältnismäßigkeitsgebot auch Strahl, KÖSDI 2003, 13833, 13837 (13842); Korn/Strahl, KÖSDI 2005, 14557 (14573). BFH v. 30.8.2001 – I R 43/00, BStBl. II 2002, 152. Wie es der BFH auch mit Urteil v. 6.10.2004 – IX R 53/01, BStBl. II 2005, 383, im Fall der Beteiligung einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft an einer Mitunternehmerschaft befürwortet hatte, bevor die Wirkung dieser Entscheidung durch Änderung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG beseitigt worden ist. Die auch Streck, NJW 1991, 2252 (2253) empfohlen hat. Vgl. z.B. BFH v. 12.6.2002 – XI R 21/99, BFH/NV 2002, 1554; v. 19.2.1998 – IV R 11/97, BStBl. II 1998, 603; BMF-Schreiben v. 14.5.1997, BStBl. I 1997, 556; Seer/ Drüen, BB 2000, 2176; Korn in Korn, EStG, § 18 Rz. 153 (Februar 2004). BFH v. 13.11.1997 – IV R 67/96, BStBl. II 1998, 284.

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anteilig zur Nutzung überlässt. Auch das Anmieten von Räumen und anderen wesentlichen Wirtschaftsgütern durch die Freiberuflergesellschaft und die Untervermietung an die gewerbliche Parallelgesellschaft kann eine Betriebsaufspaltung auslösen, sodass der Abschluss zweier Hauptmietverträge oder der gemeinschaftliche Mietvertragsabschluss steuerlich vorzugswürdig ist. Allerdings hat der BFH keine Überlassung wesentlicher Betriebsgrundlagen darin gesehen, dass die Gesellschafter einer Augenarzt-Sozietät (in Rechtsform der GbR) den Handel mit Kontaktlinsen in eine selbständige (gewerbliche) GbR ausgegliedert haben, der die Freiberufler-GbR einen der angemieteten Praxisräume für ihren Betrieb zur Verfügung stellt41. Die Abfärbewirkung ist ferner vermeidbar, wenn die gewerblichen Einkünfte in den Sonderbetriebsbereich einzelner Gesellschafter verortet werden42. Vorstellbar ist dabei, dass die Mitunternehmer, die gewerbliche Leistungen auf eigene Rechnung erbringen, wegen ihrer daraus erzielten Einkünfte bei der Ergebnisverteilung der freiberuflichen Gesellschaft mit einem Malus belastet werden. b) Infektionswirkung der Beteiligung an einer gewerblichen Mitunternehmerschaft Die Abfärbewirkung entsteht auch, wenn sich eine freiberufliche Personengesellschaft als Mitunternehmerin an einer gewerblichen Personengesellschaft beteiligt. Nachdem der BFH dies für Beteiligungen vermögensverwaltender Personengesellschaften an Mitunternehmerschaften in Abrede gestellt hatte43, reagierte die Finanzverwaltung zunächst mit einem Nichtanwendungserlass44 und sodann der „Gesetzgeber“ mit einer rückwirkenden (§ 52 Abs. 32a EStG) Änderung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG durch das Jahressteuergesetz 2007 (die Abfärbewirkung tritt danach stets ein, wenn die Personengesellschaft „gewerbliche Einkünfte im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 2 bezieht“). Deshalb stellt sich in der Praxis nicht mehr die Frage, ob die ausgehebelte Rechtsprechung freiberufliche Mitunternehmerschaften umfasste, was naheliegt45. Überzeugend ist die Abfärbewirkung mitunternehmerischer Beteiligungen nicht, wenn als Zweck der Abfärberegelung das Vereinfachungsanliegen und die Gewerbesteuersicherung gilt, weil die Einkünfte ertragsteuerrechtlich in der Beteiligungsgesellschaft erzielt werden46. Erst recht leuchtet zumindest nicht ein, weshalb insoweit der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gelten soll. Vermeidbar ist die gewerbliche Infektion dadurch, dass die Beteiligung an der gewerblichen Mitunternehmerschaft nicht von der freiberuflichen Personengesellschaft in ihrem Gesamthandsvermögen gehalten wird, sondern

___________ 41 BFH v. 19.2.1998 – IV R 11/97, BStBl. II 1998, 603. 42 BFH v. 28.6.2006 – XI R 31/05, BStBl. II 2007, 378; H 15.8 (5) „Gewerbliche Einkünfte im Sonderbereich des Gesellschafters“ EStH 2009. 43 BFH v. 6.10.2004 – IX R 53/01, BStBl. II 2005, 383. 44 BMF-Schreiben v. 6.10.2004, BStBl. I 2005, 698. 45 A.A. z.B. Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 15 Rz. 189, der indes ohnehin die die Abfärbewirkung einschränkende Rechtsprechung für verfehlt hält und deren „klarstellende“ rückwirkende Aushebelung befürwortet. 46 Vgl. auch Korn in Korn, EStG, § 18 Rz. 154 (Februar 2004).

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Mitunternehmer die Gesellschafter der freiberuflichen Personengesellschaft persönlich sind47. c) Freiberufler-Unternehmensgruppen Dass es ausgesprochen schwierig ist, beim Aufbau von Holding-Strukturen die steuerliche Freiberuflichkeit der Tätigkeit von Personengesellschaften zu erhalten, zeigen zwei dieselbe Unternehmensgruppe betreffende Entscheidungen des BFH zu Ingenieurgesellschaften48: – Im Urteilsfall VIII R 73/06 war die Freiberuflichkeit einer Obergesellschaft zu beurteilen. Es handelte sich um eine eingetragene Partnerschaftsgesellschaft, deren Gegenstand die gemeinschaftliche Berufsausübung der Partner als Ingenieure und Unternehmensberater war. Beteiligt waren mehrere Ingenieure und mit 5 ‚% ein studierter Betriebswirt. Die Klägerin war mehrheitlich an acht sog. Standort-Ingenieurgesellschaften beteiligt, zum Teil in Rechtsform der GbR, zum Teil der GmbH. Sie fungiert als Holdinggesellschaft für die Standort-Ingenieurgesellschaften, die das operative Ingenieurgeschäft erledigen. Die Klägerin unterstützt sie dabei durch Dienstleistungen betreffend Management, Unternehmensstrategien, Personalwesen, Rechnungswesen und Controlling, Rechtswesen, Akquisition, EDV und bei den Auftragsabwicklungen. Dafür erfolgen Kostenerstattungen auf Selbstkostenbasis im Wege von Umlagen. Der BFH folgte der Beurteilung durch das Finanzamt. Die Holding-Partnerschaftsgesellschaft übe deshalb eine gewerbliche Tätigkeit aus, weil die geschäftsleitenden Aufgaben, die sie erfüllte, nicht freiberuflicher Natur seien. Der an ihr mit 5% mitunternehmerisch beteiligte Diplom-Kaufmann S, der insoweit offenbar federführend war, hat damit keine freiberufliche Tätigkeit eines beratenden Betriebswirts ausgeübt; er war deshalb zugleich auch „berufsfremd“. Im Hinblick auf die Gesamttätigkeit hielt es der BFH für unerheblich, dass die Holdinggesellschaft ihre Leistungen auf Selbstkostenbasis abrechnete, weil es insgesamt nicht an einer Gewinnerzielungsabsicht fehlte. Auch die Beteiligung am allgemeinen Wirtschaftsverkehr bestand, obwohl die HoldingPartnerschaftsgesellschaft nur für ihre Tochtergesellschaften tätig war. – Das Urteil VIII R 69/06 betraf eine der regional Ingenieurleistungen im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG erbringenden Untergesellschaften, nämlich eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, an der die Holding-Partnerschaftsgesellschaft mit 67%, sechs Ingenieure mit 31% und ein DiplomVolkswirt mit 2% mitunternehmerisch beteiligt waren. Der BFH hat die Einkünfte der GbR schon deshalb als gewerblich eingestuft, weil zu ihren Mitunternehmern die steuerlich gewerbliche Holding-Partnerschaftsgesellschaft gehörte, die im Sinne des § 18 EStG wie ein Berufsfremder die GbR gewerblich infiziert hat. Offen blieb, ob zudem eine schädliche Wirkung

___________ 47 Vgl. allgemein zu gewerblichen Sonderbetriebseinnahmen von Sozietätsmitunternehmern BFH v. 28.6.2006 – XI R 31/05, BStBl. II 2007, 378. 48 BFH v. 28.10.2008 – VIII R 73/06, BStBl. II 2009, 647; v. 28.10.2008 – VIII R 69/06, BStBl. II 2009, 642.

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auch von der 2%igen mitunternehmerischen Beteiligung des DiplomVolkswirts ausging. Für freiberufliche Unternehmensgruppen kann nach dieser Rechtsprechung im Fall von Doppelstock-Konstruktionen die Erzielung freiberuflicher Einkünfte nur erreicht werden, wenn die gesellschaftsrechtlich verworbenen Personengesellschaften durchgängig ausschließlich freiberufliche Tätigkeiten ausüben und an ihnen ausschließlich eigenverantwortlich tätige Freiberufler im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG beteiligt sind. Werden neben freiberuflichen auch gewerbliche Einkünfte erzielt, ist erwägenswert, diese in „Schwester“-Mitunternehmerschaften auszugliedern, die weder Mutter- noch Tochtergesellschaften der freiberuflichen Personengesellschaften sind. Denkbar ist auch, dafür Kapitalgesellschaften zu gründen, die auch Tochtergesellschaften freiberuflicher Gesellschaften sein können, aber – weil sie berufsfremd sind – nicht Mitunternehmer freiberuflicher Personengesellschaften sein dürfen. Außerdem muss vermieden werden, dass wider Willen gewerbliche steuerliche Betriebsaufspaltungen entstehen. d) Interprofessionelle Sozietäten Klar ist, dass sog. interprofessionell tätige Personengesellschaften freiberufliche Einkünfte erzielen, wenn sämtliche als Mitunternehmer beteiligte natürliche Personen freiberuflich im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG tätig sind und ein jeder seinen Fachbereich leitend und eigenverantwortlich führt49. Die Finanzverwaltung ist zwischenzeitlich auch von einem Irrweg zurückgekehrt, der interprofessionellen Freiberufler-Personengesellschaften vorübergehend Sorgen bereitete. Die Finanzverwaltung wollte nämlich aus dem Grundsatz der „Höchstpersönlichkeit der Einkünfteerzielung“ durch einen Freiberufler ableiten, dass die Zuordnung der Einkünfte der Mitunternehmer zu § 18 EStG nicht mehr gewahrt sein könne, wenn ein Mitunternehmer an den Ergebnissen der Tätigkeit eines anderen – berufsfremden – partizipiere. Vielmehr sollte die Freiberuflichkeit davon abhängig sein, dass die Erträge aus den Berufsfeldern den berufsrechtlich qualifizierten einzelnen Mitunternehmern vorbehalten bleiben, gesondert ermittelt und im Wege der individuellen Ergebnisverteilung nur diesen zugewiesen werden50. Davon ist die Verwaltung inzwischen abgerückt51. Gewerbliche Einkünfte sollen danach nur dann angenommen werden, wenn die Gewinnverteilungsabrede extrem von den tatsächlichen Tätigkeitsbeiträgen abweicht. „Unschädlich ist eine pauschale Zuordnung sowohl der Einnahmen als auch von Gemeinkosten, wenn eine Aufteilung auf die einzelnen Gesellschafter anderenfalls nur durch eine nicht praktikable Einzelerfassung möglich wäre.“ Auch das FG Düsseldorf52 hat

___________ 49 BFH v. 23.11.2000 – IV R 48/99, BStBl. II 2001, 241. 50 Vgl. Vfg. OFD Frankfurt v. 22.10.2002, StEK EStG § 18 Nr. 239; Vfg. OFD Hannover v. 2.12.2002, WPg 2003, 239. 51 Vfg. der OFD Hannover v. 2.11.2005, DStR 2006, 137 und 653 (bundeseinheitlich abgestimmter Beschluss der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder); zuvor schon BMF-Schreiben v. 20.9.2003, StEK EStG § 18 Nr. 249; v. 8.8.2003, FNIDW 9/2003, 489. 52 FG Düsseldorf v. 13.1.2005 – 16 K 4282/02, EFG 2005, 1350 (rkr.).

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entschieden, dass die Gewinnverteilung zur Erhaltung der Freiberuflichkeit nicht berufsgruppenbezogen sein muss. Selbst vom Tätigkeitsumfang abweichende Ergebnisverteilungen sind nicht per se problematisch, weil die Berufsträger unterschiedlicher Fachrichtungen Praxiswerte schaffen, deren Nutzung in das Ergebnis und dessen Verteilung einfließt und insoweit eine individuelle Zuordnung der Einnahmen gar nicht möglich ist bzw. zu unangemessenen Ergebnissen führen würde. 3. Eigenverantwortliche Tätigkeiten von Nicht-Mitunternehmern Eine freiberufliche Tätigkeit kann ertragsteuerrechtlich in eine gewerbliche umschlagen, wenn ein Einzelberufler oder eine freiberufliche Personengesellschaft beruflich qualifizierte Personen einsetzt, die eigenverantwortlich tätig werden, aber nicht Mitunternehmer sind. Es fehlt in diesen Fällen an dem Erfordernis, dass die Freiberufler ihre Tätigkeit persönlich ausüben müssen und bei Beschäftigung von (unselbständigen oder selbständigen) Mitarbeitern leitend und eigenverantwortlich agieren müssen. Gefährlich ist z.B. die Tätigkeit von Scheinsozien, die „auf dem Briefkopf“ erscheinen, wie Partner auftreten, aber keine Mitunternehmer im ertragsteuerrechtlichen Sinne sind53. Das Problem macht eine neuere Entscheidung des BFH54 deutlich. Der Kläger (Dipl.-Ing.) betrieb ein Ingenieurbüro, dessen Gegenstand die Betreuung von Immobilien-Großprojekten war, insbesondere für die Versicherungswirtschaft, für Banken und die öffentliche Verwaltung. Der Kläger arbeitete eng mit dem Dipl.-Ing. B zusammen, mit dem er zwar eine GbR gegründet hatte, die in den Streitjahren jedoch weder im Innen- noch Außenverhältnis tätig wurde. Der Kläger erzielte (abgesehen von einem Verlustjahr) einen Jahresgewinn zwischen 5 und 10 Mio. DM. B erhielt in der fraglichen Zeit Bezüge zwischen 240 TDM und 300 TDM jährlich. Für jedes der bearbeiteten Projekte wurde ein Projektteam gebildet, das entweder durch den Kläger oder durch B eigenverantwortlich geleitet wurde. B war in den Streitjahren nicht Mitunternehmer des Ingenieurbüros. Das FA und das FG gelangten zu dem Ergebnis, der Kläger habe, weil er nicht die Gesamtpraxis eigenverantwortlich ausgeübt habe, insgesamt gewerbliche Einkünfte erzielt. Der BFH hielt es für denkbar, dass die Einkünfte des Klägers in freiberufliche und gewerbliche nach Maßgabe der vom Kläger und B eigenverantwortlich betreuten Projekte aufzuteilen sind und hat deshalb die Sache zur diesbezüglichen Prüfung und Ermittlung zurückverwiesen. Diese Aufteilungsmöglichkeit bestünde wegen der Abfärbetheorie von vornherein nicht, wenn das Ingenieurbüro nicht von einer Einzelperson, sondern einer Personengesellschaft betrieben worden wäre. Gewerbliche Einkünfte wären im Streitfall allerdings nicht entstanden, wenn B Mitunternehmer gewesen wäre, weil dann die gesamte Tätigkeit von freiberuflich tätigen Mitunternehmern ausgeübt worden wäre. In der Gestaltungspraxis ist es zur Erreichung freiberuflicher Einkünfte erwägenswert, maßgeblich mitarbeitenden Berufsträgern eine Gesellschafterstellung zu ver-

___________ 53 Streck, NJW 1991, 2252 (2258). 54 BFH v. 8.10.2008 – VIII R 53/07, BStBl. II 2009, 143.

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leihen, die zur Qualifikation als steuerlicher Mitunternehmer ausreicht. Eine Abstufung der Gesellschaftsrechte ist dabei steuerlich unschädlich (Stichwort Juniorpartner).

III. Einkommensteuerliche Brennpunkte der Einbringung von Praxen und Partneraufnahme in freiberufliche Personengesellschaften 1. Zur Anwendbarkeit der Bewertungswahlrechte nach § 24 UmwStG Typische Konstellationen sind in der Praxis, dass mehrere Praxisbetreiber ihre Praxen in freiberufliche Personengesellschaften einbringen, um ihre Tätigkeiten gemeinsam fortzuführen, Berufsträger in bestehende Freiberufler-Personengesellschaften eintreten oder unter Gründung einer Personengesellschaft in eine Einzelpraxis aufgenommen werden. Für sämtliche Fallgruppen ist grundsätzlich das Bewertungswahlrecht zwischen Buchwertfortführung und Ansatz des gemeinen Werts des § 24 UmwStG eröffnet, wenn die Bedingungen der Vorschrift eingehalten werden. Unbestritten ist § 24 UmwStG auf freiberufliche Praxen ebenso anzuwenden wie auf Gewerbebetriebe55. Das UmwStG ist durch das Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (SEStEG)56 geändert worden. Abgesehen davon, dass Regelwertansatz der gemeine Wert ist und geringere Wertansätze nur auf Antrag in Betracht kommen, während bisher der Buchwert und auf Antrag ein höherer Wert bis zum Teilwert angesetzt wurde, hat sich § 24 UmwStG nach h.A. durch das SEStEG nicht wesentlich geändert. Eine Mindermeinung im Fachschrifttum geht allerdings davon aus, § 24 UmwSEtG sei57 nach neuem Recht nicht mehr anwendbar, wenn wesentliche Betriebsgrundlagen nur zur Nutzung an die Personengesellschaft überlassen, also lediglich in das steuerliche Sonderbetriebsvermögen überführt werden, in die im Übrigen der Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil eingebracht wird58. Diese Beurteilung stützt sich auf die Neuregelung in § 1 Abs. 3 Nr. 4 UmwStG, wonach der Sechste bis Achte Teil des UmwStG (dazu gehört § 24 UmwStG) u.a. „nur für … die Einbringung von Betriebsvermögen durch Einzelrechtsnachfolge in eine Kapitalgesellschaft, eine Genossenschaft oder Personengesellschaft …“ dient. M.E. dient diese Regelung lediglich der Abgrenzung von den Fällen, die von § 1 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 UmwStG erfasst sind (Gesamtrechtsnachfolge, partielle Gesamtrechtsnachfolge, Formwechsel); es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass entgegen dem herrschenden Verständnis eine Einbringung aller wesentli-

___________ 55 Vgl. z.B. BFH v. 13.12.1979 – IV R 69/04, BStBl. II 1980, 239; v. 26.2.1981 – IV R 98/79, BStBl. II 1981, 568; Schmitt in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, 5. Aufl. 2009, § 24 UmwStG, Rz. 58. 56 Gesetz v. 7.12.2006, BGBl. I 2006, 2782. 57 Abweichend von Tz. 24.06 des Umwandlungssteuererlasses v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268. 58 Patt in Dötsch/Eversberg/Jost/Witt, Die Körperschaftsteuer, § 24 UmwStG (SEStEG), Tz. 16 (Februar 2008).

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chen Betriebsgrundlagen in das Gesamthandsvermögen erforderlich sein soll59. 2. Erwägungen zu den typischen Konstellationen a) Zusammenschluss für Freiberufler durch Einbringung von Praxen Schließen sich mehrere Einzelpraxisbetreiber zu einer Freiberufler-Personengesellschaft (gleich welcher Rechtsform) zusammen, auf die sie ihre Einzelpraxen übertragen, handelt es sich zivilrechtlich um die Übereignung der zur Praxis gehörenden Vermögensübertragung durch Einzelrechtsnachfolge, die ganz oder teilweise gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten erfolgt. Die Vorschriften des handelsrechtlichen UmwG sind unanwendbar, weil diese nur für Handelsgewerbe gelten, zu denen freiberufliche Praxen nicht gehören. Die Einbringung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten ist – auch ertragsteuerrechtlich – nach h.A. ein entgeltliches Tauschgeschäft60. Dasselbe gilt, wenn eine freiberufliche Praxis gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten in eine bestehende freiberufliche Personengesellschaft eingebracht wird. Ungeachtet dieser Rechtsnatur der Praxiseinbringung ist darauf gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 4 UmwStG i.V.m. § 1 Abs. 4 Satz 2 UmwStG § 24 UmwStG anwendbar. Danach ist, wenn ein Betrieb, Teilbetrieb oder ein Mitunternehmeranteil in eine Personengesellschaft eingebracht und der Einbringende Mitunternehmer wird, das eingebrachte Betriebsvermögen in der Bilanz der Personengesellschaft einschließlich ihrer Ergänzungsbilanzen grundsätzlich mit dem gemeinen Wert anzusetzen, jedoch kann auf Antrag der Gesellschaft auch ein geringerer Wert angesetzt werden, mindestens der Buchwert (§ 24 Abs. 2 UmwStG). Der von der Personengesellschaft gewählte Wertansatz gilt gemäß § 24 Abs. 3 UmwStG für den Einbringenden als Veräußerungspreis. Das Bewertungswahlrecht wird also durch die aufnehmende Personengesellschaft – und zwar abschließend und unwiderruflich mit Abgabe der Erklärung zur Gewinnfeststellung nebst Einreichung der Steuerbilanz – ausgeübt61. Durch zusätzliche Entgeltzahlungen im Zuge der Einbringung kann es allerdings zu einem Gewinnrealisationszwang kommen.

___________ 59 Vgl. auch Rasche in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, UmwStG, 2008, § 24 Rz. 59; Schmitt in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, 5. Aufl. 2009, § 24 UmwStG, Rz. 34 m.w.N. In diesem Sinne hat sich auch das FinMin. Schleswig-Holstein mit Erlass v. 17.3.2008 – VI 30 - S 1978d - 005, LEXinform Dok. Nr. 5231318, geäußert. 60 Vgl. z.B. BFH v. 25.4.2006 – VIII R 52/04, BStBl. II 2006, 847 m.w.N.; v. 21.6.1994 – VIII R 5/92, BStBl. II 1994, 856; v. 29.10.1987 – IV R 93/85, BStBl. II 1988, 374; Schmitt in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, 5. Aufl. 2009, § 24 UmwStG, Rz. 1. 61 BFH v. 25.4.2006 – VIII R 52/04, BStBl. II 2006, 847; v. 19.12.2007 – I R 52/04, DB 2008, 672; BMF-Umwandlungssteuererlass v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268, Tz. 24.04, 20.35; weicht die Personengesellschaft von den Wertansätzen ab, die der Einbringende seiner Einkünfteermittlung aus der eingebrachten Praxis zugrunde gelegt hat, ist seine Steuerfestsetzung gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu ändern, FG Düsseldorf v. 14.3.2008 – 2 K 2106/06 E, EFG 2008, 910 (Rev. unter Az. VIII R 12/88 anhängig).

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Für die Gestaltung der Einbringung von Einzelpraxen in Personengesellschaften ist von grundlegender Bedeutung, dass die Bewertungswahlrechte des § 24 UmwStG unabhängig von der Handelsbilanz unter Einbeziehung steuerlicher Ergänzungsbilanzen ausgeübt werden können. Bei freiberuflichen Personengesellschaften kommt es zwar in der Regel nicht zur Aufstellung von Handelsbilanzen im engen Sinne, weil es sich nicht um Kaufleute handelt. An ihre Stelle können jedoch von der steuerlichen Gewinnermittlung abweichende „Gesellschaftsbilanzen“ treten, die für gesellschaftsrechtliche Ergebnisse, ihre Verteilung, Entnahme und die Kapitalkontenentwicklung maßgeblich sind und im Folgenden als Handelsbilanzen bezeichnet werden. Meistens streben die Betroffenen die steuerliche Buchwertfortführung an. Der gewinnrealisierende höhere Wertansatz macht in der Regel nur Sinn, wenn der ermäßigte Steuersatz nach §§ 16, 18 Abs. 3, 34 EStG erreicht werden kann und der steuerauslösenden Buchwertaufstockung kurzfristig realisierbares Abschreibungsvolumen gegenübersteht. Weil § 24 Abs. 3 Satz 2 und 3 UmwStG i.V.m. § 16 Abs. 2 Satz 3 EStG die Veräußerungsprivilegien versagt, soweit der jeweilige Einbringende an der Personengesellschaft beteiligt ist, rechnet sich das Steuersatzgefälle allenfalls für Einbringende, die nur sehr geringfügig an der zu gründenden Personengesellschaft beteiligt sind. Hinzu kommt, dass die Einkommensteuerermäßigung nach § 34 Abs. 3 EStG nur noch 44% (gegenüber dem früheren halben Steuersatz) beträgt und bei Sozietäten die AfA auf den aufgestockten Praxiswert auf sechs bis zehn Jahre erfolgt und nicht – wie beim Erwerb von Einzelpraxen – auf drei bis fünf Jahre62. b) „Aufnahme“ in eine Einzelpraxis Wenn ein Einzelpraxisinhaber mit einem oder mehreren Berufsträgern seine Praxis als Personengesellschaft fortführen will, wird – rechtlich unscharf – von der „Aufnahme“ in die Einzelpraxis gesprochen. Im Kern handelt es sich in der Regel um die Einbringung der Einzelpraxis in eine Personengesellschaft unter anschließender – entgeltlicher oder unentgeltlicher – Übertragung von Mitunternehmerteilanteilen an die aufzunehmenden Partner63. Dem bisher – auch in der Verwaltungspraxis anzutreffenden – anderweitigen Verständnis, dem zufolge der Einzelpraxisinhaber zunächst Miteigentumsanteile an seiner Praxis veräußert und sodann alle Beteiligten ihre Miteigentumsanteile gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten auf die neue Personengesellschaft übertragen, ist realitätsfern und deshalb abzulehnen. Es ist in der Regel empfehlenswert, die „Aufnahme“ bewusst so zu gestalten, dass der Einzelpraxisinhaber mit den Aufzunehmenden die Personengesellschaft gründet, an der diese symbolisch (z.B. mit 1 Euro) beteiligt werden, während der bisherige Praxisinhaber seine Praxis einbringt und dafür die übrigen Anteile (praktisch 100%) erhält, von denen er sodann den Aufzunehmenden Teilanteile überträgt. Auf den ersten Gestaltungsschritt ist grundsätzlich § 24 UmwStG anwendbar, sodass der bisherige Praxisinhaber zwischen Buchwertfortführung, Zwi-

___________ 62 Vgl. BMF-Schreiben v. 15.1.1995, BStBl. I 1995, 14. 63 Vgl. BFH v. 24.6.2009 – VIII R 13/07, DStR 2009, 1948; v. 12.10.2005 – X R 35/04, BFH/NV 2006, 521; Ley, KÖSDI 2001, 12982 (12983).

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schenwertansatz und Bewertung des eingebrachten Praxisvermögens mit dem gemeinen Wert wählen kann64. Das Wahlrecht ist unabhängig davon, ob die anschließende Aufnahme des oder der Partner entgeltlich oder unentgeltlich erfolgt. Für die unentgeltliche Aufnahme durch Übertragung eines Mitunternehmeranteils gilt das Buchwertfortführungsgebot gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 EStG. Die entgeltliche Übertragung eines Mitunternehmeranteils führt zu einer Gewinnrealisierung in Höhe der Differenz zwischen dem steuerlichen Buchwert und dem Veräußerungserlös. Die Vergünstigungen der §§ 16, 18 Abs. 4, 34 Abs. 3 EStG sind nicht anwendbar (begünstigt ist nach § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nur die Veräußerung des gesamten Mitunternehmeranteils). Allerdings können für den ersten Gestaltungsschritt – die Einbringung der Praxis – grundsätzlich die Veräußerungsprivilegien beansprucht werden, wenn die eingebrachte Praxis insgesamt mit dem gemeinen Wert eingebracht wird, was die Aufdeckung des Praxiswerts einschließt65. Auf diese Weise kann die für die Teilanteilsveräußerung eintretende Gewinnrealisierung vorweggenommen werden, was aber in der Regel (zu) teuer damit erkauft wird, dass auch die stillen Reserven, die dem Aufnehmenden in Höhe seiner Beteiligungsquote verbleiben, besteuert werden müssen und ihm dafür gemäß §§ 16 Abs. 2 Satz 3 EStG, 24 Abs. 3 Satz 2 UmwStG die Veräußerungsvergünstigungen nicht zustehen. Interessant ist die Buchwertaufstockung in der Regel deshalb nur, wenn der Einbringende nur geringfügig an der gegründeten Gesellschaft beteiligt ist, es sich z.B. um eine „Überleitungssozietät“ handelt und der Altpraxisinhaber sich bereits weitgehend zurückziehen will. c) Aufnahme in eine bestehende Freiberufler-Personengesellschaft Einkommensteuerrechtlich löst jede Aufnahme eines Gesellschafters als Mitunternehmer gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten die gesamten Wahlrechte und Möglichkeiten des § 24 UmwStG für sämtliche Gesellschafter aus, genau wie bei Einzelpraxiseinbringung66. § 24 UmwStG erfasst nicht nur die Übertragung eines Einzelunternehmens oder Teilbetriebs oder Mitunternehmeranteils auf eine neu gegründete oder bestehende Personengesellschaft, sondern auch die Aufnahme weiterer Gesellschafter in eine bereits bestehende Personengesellschaft67. Es können wahlweise also selbst die stillen Reserven aufgedeckt und besteuert werden (mit der Folge künftig höherer Abschreibungen), die den Altgesellschaftern verbleiben und nicht auf den neuen Gesellschafter übergehen; s. zur Sinnhaftigkeit der Wertaufstockung Abschnitt II.2.a). Verdrängt werden kann das Bewertungswahlrecht durch Abfindungszahlungen, s. dazu Abschnitt II.3.b). § 24 UmwStG ist jedoch nicht einschlägig, wenn Gesellschafter untereinander oder einem bisher nicht Beteiligten Anteile übertragen (Gesellschafter-

___________ 64 So auch Streck, NJW 1991, 2252, der in dem Vorgang jedoch ausschließlich eine Einbringung und – unter Hinweis auf das Urteil des BFH v. 5.4.1984 – IV R 88/80, BStBl. II 1984, 518 – keine getrennte Anteilsübertragung gesehen hat. 65 Vgl. Tz. 24.15 des BMF-Umwandlungssteuererlasses v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268. 66 Umwandlungssteuererlass des BMF v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268. 67 BFH v. 23.5.1985 – IV R 210/83, BStBl. II 1985, 695.

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wechsel)68. Wenn in diesen Fällen auf die Inanspruchnahme der Wahlrechte nach dem UmwStG Wert gelegt wird, sollte der neue Gesellschafter gegen Gewährung von (neuen) Gesellschaftsrechten in die Gesellschaft aufgenommen werden, was durch Abwachsung der ihm eingeräumten Gesellschaftsrechte bei den Alt-Gesellschaftern letztlich zu denselben wirtschaftlichen Ergebnissen führt. Tritt ein Gesellschafter entgeltlich in eine Sozietät mit Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG ein, löst dies nach h.A. anteilig die Übergangsbesteuerung nach R 4.6 EStR 2008 für die Altsozien aus. Die Tragweite hängt insbesondere davon ab, ob die Honorarforderungen mitveräußert werden (dann müssen die Altsozien sie im normalen Einkommensteuertarif – partiell in Höhe der veräußerten Beteiligungsquote – vorversteuern, und der Neue kann sie bei Bezahlung sogleich als Betriebsausgaben absetzen), s. zur Zurückbehaltung der Honorarforderungen Abschnitt II.3.c). Die Finanzverwaltung verlangt die Übergangsbesteuerung aber selbst für den Fall, dass kein Entgelt gezahlt wird, Buchwertfortführung erfolgt und die Gesellschaft unverändert den Gewinn nach § 4 Abs. 3 EStG ermittelt. Dieser Beurteilung kann nicht gefolgt werden, s. Abschnitt III.3.c). 3. Problemzonen und Einzelfragen a) Erfordernis der Gewährung von Gesellschaftsrechten für die Anwendung des § 24 UmwStG § 24 UmwStG ist nur anwendbar, „wenn der Einbringende Mitunternehmer der Gesellschaft“ wird (§ 24 Abs. 1 UmwStG). Die Finanzverwaltung hat daraus geschlossen, § 24 UmwStG sei nur anwendbar, „soweit“ der Einbringende als Gegenleistung für die Einbringung „Gesellschaftsrechte“ erwirbt; die Erfassung des Gegenwerts des eingebrachten Betriebsvermögens auf einem Darlehenskonto reiche nicht aus69. Diese Gleichstellung der im Gesetz geforderten Einräumung der Mitunternehmerstellung mit der Gewährung von Gesellschaftsrechten entspricht der h.A. und ist gerechtfertigt, wenn der Begriff der Gesellschaftsrechte in diesem Sinne weit dahingehend ausgelegt wird, dass – mit der h.A. – bereits die Einräumung einzelner (Teil-)Gesellschaftsrechte ausreicht. Unstrittig ist, dass – abweichend vom Gesetzeswortlaut – § 24 UmwStG auch anwendbar ist, wenn der Einbringende bereits zuvor Mitunternehmer ist, ihm aber zusätzliche Gesellschaftsrechte (Aufstockung seiner Mitunternehmerrechte) gewährt werden70. Als Gewährung von Gesellschaftsrechten wird es bereits anerkannt, wenn der Einbringende Mitunternehmer wird (oder bereits ist), soweit der Gegenwert für die Übertragung einer betrieblichen Sachgesamtheit nicht auf dem Festkapitalkonto, sondern einem anderen Gesellschafterkonto gutgeschrieben wird, das gesellschaftsrechtlich Kapitalcharakter und nicht Verbindlichkeitencharakter hat. Kapitalcharakter haben z.B. feste sowie variable Gesellschafter-

___________ 68 Tz. 24.01 des BMF-Umwandlungssteuererlasses v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268. 69 Vgl. BMF-Umwandlungssteuererlass v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268, Tz. 24.08. 70 Tz. 24.02 des BMF-Umwandlungssteuererlasses v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268.

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konten, die nicht frei entnehmbar sind und auf denen Verlustanteile des Gesellschafters verbucht werden71. Ein Streitpunkt ist, ob das Bewertungswahlrecht uneingeschränkt besteht, wenn dem Einbringenden als Gegenleistung neben Gesellschaftsrechten (Gutschrift auf Kapitalkonten) Teilbeträge auf einem Gesellschafterkonto (z.B. Darlehens-, Verrechnungs- oder Privatkonto) gutgeschrieben werden, das gesellschaftsrechtlich keinen Kapitalcharakter hat. Für die Einbringung in Kapitalgesellschaften regelt § 20 Abs. 3 Satz 3 UmwStG, dass die Gewährung „anderer Wirtschaftsgüter“ die Anschaffungskosten der Gesellschaftsanteile vermindert. Eine vergleichbare Regelung oder eine Verweisung enthält § 24 UmwStG nicht. Deshalb geht eine verbreitete – m.E. nicht überzeugende – Meinung dahin, dass darin ein Teilentgelt zu sehen ist72. So wird auch der Umwandlungssteuererlass unter Tz. 24.08 verstanden („§ 24 UmwStG ist nur anwendbar, soweit der Einbringende als Gegenleistung für die Einbringung Gesellschaftsrechte erwirbt“). Der BFH hat unterdessen aber betont, dass es für die „Anwendung des § 24 UmwStG“ ausreichend ist, wenn „überhaupt ein Mitunternehmeranteil“ eingeräumt wird73. Nicht erforderlich ist danach, dass nur ein Mitunternehmeranteil eingeräumt wird. Vielmehr ist die Gewährung einer anderen Gegenleistung unschädlich, soweit sie nicht zur Überschreitung des Buchkapitals führt. b) Ausgleich für stille Reserven ohne Gewinnrealisierung Werden Praxen eingebracht oder Partner in bestehende Praxen aufgenommen, wird es in der Regel erforderlich sein, einen finanziellen Ausgleich für vorhandene bzw. unterschiedlich hohe stille Reserven zu finden. In der Praxis sind dabei drei Methoden gebräuchlich, nämlich die „Gewinnvorab“-Lösung, Ausgleichszahlungen in die Gesellschaft oder zwischen den Gesellschaftern und die Kapitalkontenanpassungsmethode. Die (besonders häufig bei der Aufnahme von Partnern in freiberufliche Sozietäten verwendete) Gewinnvorab-Lösung besteht darin, dass derjenige Gesellschafter, der mehr stille Reserven einbringt, den Ausgleich in Gestalt vorübergehend höherer Ergebnisanteile erhält. Nach h.A. – höchstrichterliche Rechtsprechung und Verwaltungsanweisungen dazu liegen nicht vor – führt die Gewinnvorab-Lösung dazu, dass weder Veräußerungsgewinne noch Anschaffungskosten entstehen. Vielmehr besteuert der Gesellschafter, welcher den höheren Ergebnisanteil erhält, diesen jährlich als laufenden Gewinn,

___________ 71 Vgl. BFH v. 12.10.2005 – X R 35/04, BFH/NV 2006, 521 m.w.N.; BMF-Umwandlungssteuererlass v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268, Tz. 24.08 i.V.m. BMF-Schreiben v. 30.5.1997, BStBl. I 1997, 627, Ziff. 4. Werden Verluste zunächst auf einem Verlustsonderkonto erfasst, jedoch endgültig bei Auflösung der Gesellschaft oder Ausscheiden des Gesellschafters dem in Betracht kommenden Gesellschafterkonto belastet, ist darin eine Verlustbuchung auf dem Konto im Sinne des Kapitalcharakters zu sehen, vgl. BFH v. 15.5.2008 – IV R 46/05, BStBl. II 2008, 812. 72 So z.B. Schmitt in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, 5. Aufl. 2009, § 24 UmwStG, Rz. 135; a.A. aber Widmann in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, § 24 UmwStG, Rz. 101.3 (August 2001); Schlößer in Haritz/Benkert, Umwandlungssteuergesetz, 3. Aufl. 2009, § 24 UmwStG, Anm. 78; Vfg. der OFD Karlsruhe v. 8.10.2007, DStR 2007, 2326. 73 BFH v. 24.6.2009 – VIII R 13/07, DStR 2009, 1948.

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während der ausgleichspflichtige Gesellschafter nur seinen entsprechend geringeren Ergebnisanteil besteuert. Die Beurteilung ist zutreffend, weil die Vorabgewinne erst fortlaufend realisiert und unrealisierte Gewinne allgemeinen Bilanzierungsgrundsätzen zufolge nicht besteuert werden. Das in § 5 Abs. 2a EStG kodifizierte Verbot der Passivierung sog. haftungsloser Schulden74, zu denen auch Verbindlichkeiten gehören, die nur aus künftigen Gewinnen zu begleichen sind, bestätigt dies. Was für Schulden gilt, muss erst recht für die reziproken Ansprüche gelten. Leisten die ausgleichspflichtigen Gesellschafter den ausgleichsberechtigten Gesellschaftern Ausgleichszahlungen in das eigene verfügbare Vermögen über das Buchkapital hinaus, wird dadurch bei den Ausgleichsberechtigten ein nicht vermeidbarer Gewinn realisiert. Dieser kann nicht durch Aufstellung einer negativen Ergänzungsbilanz neutralisiert werden75. Dasselbe gilt, wenn eine nicht zum steuerlichen Betriebsvermögen gehörende Verbindlichkeit des ausgleichsberechtigten Gesellschafters getilgt wird76. Der Gewinn ist nicht nach §§ 16, 34 EStG begünstigt, wenn nicht sämtliche – auch die dem ausgleichsberechtigten Gesellschafter in Höhe seiner Beteiligungsquote verbleibenden – stillen Reserven aufgedeckt werden77. Durch entsprechende Gestaltung (vorherige Einbringung zum gemeinen Wert) ist die Aufdeckung aller stillen Reserven und damit auch die Vergünstigung nach §§ 16, 34 EStG auf die veräußerten Quoten erreichbar78. Jedoch ist die Aufdeckung der stillen Reserven hinsichtlich der fortbestehenden Beteiligungsquote des Ausgleichsberechtigten nach § 24 Abs. 3 Satz 3 UmwStG i.V.m. § 16 Abs. 2 Satz 3 EStG nicht begünstigt, sodass dies in der Regel keine attraktive Lösung ist, s. auch Abschnitt III.2.b)79. Wird der Ausgleich dadurch herbeigeführt, dass die Spitzenbeträge in das Gesamthandsvermögen der Gesellschaft geleistet werden (z.B. in die gesamthänderisch gebundene Rücklage), nicht an die Gesellschafter, stehen den Betroffenen die Bewertungswahlrechte des § 24 Abs. 2 UmwStG offen, auch die Buchwertfortführung, dh. die sofortige Besteuerung des Ausgleichs für die stillen Reserven lässt sich vermeiden80. Für die Gesellschafter, denen durch

___________ 74 Vgl. schon für die Zeit vor Einführung der gesetzlichen Regelung BFH v. 18.6.1980 – I R 72/76, BStBl. II 1980, 741; BFH v. 10.10.1985 – IV B 30/84, BStBl. II 1986, 68; Streck, NJW 1991, 2252 (2256). 75 BFH v. 8.12.1994 – IV R 82/92, BStBl. II 1995, 59; v. 16.12.2004 – III R 38/00, BFH/NV 2005, 767 (unter II.2.a); BMF-Umwandlungssteuererlass v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268, Tz. 24.10. 76 BFH v. 8.12.1994 – IV R 82/92, BStBl. II 1995, 599; BMF-Umwandlungssteuererlass v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268, Tz. 24.10. 77 Vgl. Tz. 24.11 des BMF-Umwandlungssteuererlasses v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268. 78 Vgl. auch BFH v. 5.4.1984 – IV R 88/80, BStBl. II 1984, 518. 79 Den von Streck, NJW 1991, 2252 (2256) erörterten Gestaltungen zur Erreichung der Veräußerungsprivilegien durch das Stufenmodell ist die Grundlage entzogen worden, nachdem Teilanteilsübertragungen gesetzlich von den Vergünstigungen der §§ 16, 34 EStG ausgenommen worden sind. 80 Einhellige Meinung, z.B. BFH v. 23.6.1981 – VIII R 138/80, BStBl. II 1982, 622; BMFUmwandlungssteuererlass v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268, Beispiel in Tz. 24.14; Widmann in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, § 24 UmwStG Rz. 196 (August 2001).

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die Ausgleichszahlung Vermögen zuwächst, ist zu diesem Zwecke eine negative Ergänzungsbilanz aufzustellen, die in den Folgejahren spiegelbildlich zur Behandlung beim Ausgleichsverpflichteten fortentwickelt werden muss, was in den Folgejahren zu vorabgewinnähnlichen Gewinnerhöhungen führt. Denn der Ausgleichsverpflichtete kann die über das übernommene Buchkapital geleisteten Aufwendungen abschreiben. Die Lösung führt infolgedessen im Ergebnis zu ähnlichen Wirkungen wie die Vorabgewinn-Lösung. Bei Zuzahlungen in das Gesellschaftsvermögen ist der Zuzahlende über seine Beteiligungsquote an seinen Zuzahlungen beteiligt, die dadurch höher ausfallen müssen als bei Ausgleichszahlungen außerhalb der Gesellschaft. Weil die Zuzahlung im Gesamthandsvermögen der Personengesellschaft verharren muss und nicht lediglich „durchfließen“ darf, ergibt sich in der Praxis zum Teil dadurch eine Überliquidität. Wird diese durch alsbaldige Entnahmen verringert, will die Finanzverwaltung diese wie „schädliche“ Abfindungszahlungen unter den Gesellschaftern behandeln (m.E. kann dies indes kein zeitlich uneingeschränktes „Entnahmeverbot“ sein)81. Erwägenswert ist deshalb, das Vermögen der einzubringenden betrieblichen Sachgesamtheit (etwa ein Einzelunternehmen) durch rechtzeitigen Mittelabzug vor der Einbringung zu verringern. Es kann dabei z.B. gezielt das „Zwei-Konten-Modell“ angewendet werden82. Es liegt m.E. kein Anwendungsfall der sog. Gesamtplanbetrachtung vor. Vermieden werden muss, dass die entnahmebedingten Refinanzierungsschulden steuerliches Privatvermögen werden, weil dessen Übernahme durch die Gesellschaft wiederum die Wirkung einer gewinnrealisierenden Zuzahlung hat. Die h.A. im Fachschrifttum geht – m.E. mit Recht – davon aus, dass das Bewertungswahlrecht des § 24 Abs. 2 UmwStG greift, wenn unterschiedlich hohe stille Reserven (wie bei der Realteilung) durch Anpassung der Kapitalkonten ausgeglichen werden, sei es mit oder ohne Überspringen stiller Reserven zwischen Mitunternehmern. Offizielle Verlautbarungen der Finanzverwaltung dazu liegen nicht vor. c) Übergangsbesteuerung bei Einnahmenüberschussrechnern Es steht der Anwendung des § 24 UmwStG nicht entgegen, wenn Einbringende und/oder die übernehmende Personengesellschaft den Gewinn durch Einnahmenüberschussrechnung gemäß § 4 Abs. 3 EStG ermitteln83. Strittig ist jedoch, inwieweit eine Einbringungs- und Übernahmebilanz aufzustellen ist und eine Übergangsbesteuerung gemäß R 4.5 Abs. 6, 4.6 EStR 2008 vorzunehmen ist. Die Finanzverwaltung verlangt die Aufstellung von Einbringungs- und Übergangsbilanzen und die Vornahme der Übergangsbesteuerung sowohl für die Einbringung von betrieblichen Sachgesamtheiten in Mitunternehmerschaften als auch für die Aufnahme von Mitunternehmern in beste-

___________ 81 BMF-Umwandlungssteuererlass v. 25.3.1998, BStBl. I 1998, 268, Tz. 24.12, unter Hinweis auf BFH v. 8.12.1994 – IV R 82/92, BSBl. II 1995, 599. 82 BFH zum Zwei-Konten-Modell v. 8.12.1997 – GrS 1-2/95, BStBl. II 1998, 193; BMFSchreiben v. 17.11.2005, BStBl. I 2005, 1019, Rz. 4; v. 10.11.1993, BStBl. I 1993, 930. 83 BFH v. 5.4.1984 – IV R 88/80, BStBl. II 1984, 518; v. 13.9.2001 – IV R 13/01, BStBl. II 2002, 287; H 18.3 „Einbringungsgewinn“ EStH 2007.

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hende Mitunternehmerschaften ohne Entgelt stets selbst dann, wenn die Buchwertfortführung gewählt wird und sowohl für die eingebrachte betriebliche Sachgesamtheit als auch für die Personengesellschaft der Gewinn nach § 4 Abs. 3 EStG ermittelt wird84. Begründet wird dies damit, die Bilanzaufstellung anlässlich der Einbringung sei für eine zutreffende Gewinnermittlung, die verbindliche Ausübung des Bewertungswahlrechts, die Feststellung des Umfangs des eingebrachten Betriebsvermögens, die Herstellung des Bilanzenzusammenhangs und die zutreffende Ergebnisverteilung erforderlich. Die Finanzverwaltung erkennt bei Fortsetzung der Gewinnermittlung gemäß § 4 Abs. 3 EStG für die Personengesellschaft allerdings an, dass eine zweite gegenläufige Übergangsbesteuerung erfolgt, allerdings davon ausgehend, dass sich die beiden gegenläufigen gleich hohen Übergangsergebnisse unterschiedlich auf die Gesellschafter verteilen. Die Forderung nach einer Übergangsbesteuerung ist nur gerechtfertigt, soweit entweder ein über dem Buchwert liegender Wertansatz erfolgt oder die Mitunternehmerschaft nach der Einbringung den Gewinn durch Bestandsvergleich gemäß §§ 4 Abs. 1, 5 EStG ermittelt. Wenn die Buchwertfortführung erfolgt und die Gewinnermittlung gemäß § 4 Abs. 3 EStG fortgesetzt wird, entfallen m.E. sowohl das Erfordernis der Aufstellung einer Einbringungs- und Übergangsbilanz als auch das Erfordernis einer Übergangsbesteuerung. Davon ist auch der BFH ausgegangen (die Finanzverwaltung sieht darin indes nur ein für sie nicht bindendes obiter dictum), als er entschied, dass ein Steuerpflichtiger, der im Fall der Buchwerteinbringung dennoch nach § 24 Abs. 2 UmwStG unmittelbar vor der Einbringung seines Betriebs von der Überschussrechnung zum Bestandsvergleich übergeht, die Verteilung des dadurch entstandenen Übergangsgewinns auf drei Veranlagungszeiträume nicht beanspruchen kann85. Dafür spricht: – Das Erfordernis einer Übergangsbesteuerung lässt sich im Fall der nahtlosen Fortsetzung der Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG nicht damit begründen, dass eine Einbringungsbilanz aufgestellt wird, denn diese ist bei Buchwertfortführung, wie auch der BFH klargestellt hat, nicht erforderlich. Überdies wäre eine Einbringungsbilanz im Sinne des § 24 UmwStG kein Wechsel der Gewinnermittlungsart, da es sich um eine außerhalb der Gewinnermittlung stehende Vermögensbilanz handeln würde. – Zwar zwingen Betriebsveräußerungen nach h.A. grundsätzlich zur Übergangsbesteuerung und sind Einbringungen gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten Veräußerungen (vgl. Abschnitt III.1.), jedoch entfaltet die

___________ 84 Vfg. der OFD Karlsruhe v. 8.10.2007, DStR 2007, 2326; Vfg. OFD Koblenz v. 11.8.2003, BB 2003, 2060; Vfg. der OFD Frankfurt v. 19.9.2003, DStR 2003, 2074 mit Bestätigung (bundeseinheitlich abgestimmte Auffassung) durch Vfg. v. 16.1.2006, DStZ 2006, 242; FinMin. Bremen v. 20.8.2003, DB 2003, 2358. Unter Hinweis auf das zu einem Fall der Realisierung stiller Reserven durch Teilwertansatz ergangene Urteil des BFH v. 5.4.1984 – IV R 88/80, BStBl. II 1984, 518, ist auch Streck, NJW 1991, 2252 (2256), von dem Erfordernis eines temporären Übergangs zur Bilanzierung ausgegangen. 85 Vgl. BFH v. 13.9.2001 – IV R 13/01, BStBl. II 2002, 287, bestätigt mit Urteil v. 14.11.2007 – XI R 32/06, BFH/NV 2008, 385; gleiche Ansicht FG Rheinland-Pfalz v. 20.10.2000 – 3 K 2947/95, LEXinform Dok. 0571789 (rkr.); Kühnen, EFG 2010, 1917.

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Buchwertübertragung wirtschaftlich keine Veräußerungswirkung (was auch in §§ 24 Abs. 4, 23 Abs. 3 UmwStG zum Ausdruck kommt)86. Außerdem ist die gesetzlich nirgends geregelte Übergangsbesteuerung kein Selbstzweck, sondern ein Hilfsmittel zur Sicherstellung der sog. Gesamtgewinngleichheit87. Die Gesamtgewinngleichheit ist indes in Fällen nahtloser Fortführung der Gewinnermittlungsart und der Buchwerte sichergestellt, denn es ist weder eine Abgrenzung zwischen laufendem und begünstigtem Gewinn erforderlich noch besteht die Gefahr einer Nicht- oder Doppelerfassung von Geschäftsvorfällen. Die Übergangsbesteuerung ist deshalb nicht gerechtfertigt. – Den von der Finanzverwaltung angesprochenen administrativen Erfordernissen kann durch eine Überleitungsrechnung und die schlüssige Handhabung (die auch für die Wahl der Gewinnermittlungsmethode maßgeblich und ausreichend ist88) Rechnung getragen werden. So ist der BFH auch derartigen Einwendungen als Argument gegen die Bildung gewillkürten Betriebsvermögens entgegengetreten89. Die Funktion von Ergänzungsbilanzen ersetzen bei der Gewinnermittlung gemäß § 4 Abs. 3 EStG Ergänzungsüberschussrechnungen90. Die Entscheidungen des BFH91, auf die sich die Finanzverwaltung stützt, sind nicht einschlägig, weil sie sich zu Fällen äußern, in denen der Teilwertansatz und die Entstehung eines begünstigten Veräußerungsgewinns angestrebt wurden. – Schließlich kompensieren sich die Ergebnisse der auch von der Finanzverwaltung anerkannten zweimaligen gegenläufigen Übergangsbesteuerungen. Das dagegen vorgebrachte Argument, die gegenläufigen, sich eliminierenden Übergangsbesteuerungen seien wegen der nach Einbringung oder Aufnahme eines Mitunternehmers veränderten Ergebnisverteilungsquote den Gesellschaftern in unterschiedlicher Höhe zuzurechnen, greift nicht, weil das Potential aus der ersten Übergangsbesteuerung (etwa Forderungen und Schulden aus steuerrelevanten Betriebsvorgängen) zusätzliches Buchkapital des Einbringenden generiert, welches er im Fall der Miteinbringung der entsprechenden Forderungen und Verbindlichkeiten aus betrieblicher Veranlassung aufgibt (was im Ergebnis dazu führt, dass dieser Buchwertabgang bei den Altgesellschaftern gewinnmindernder Aufwand und der Buchwertzugang bei dem Aufgenommenen entsprechender gewinnerhöhender Ertrag ist und somit beide Übergangsbesteuerungen auch gesellschafterbezogen kongruent erfolgen)92. Keinesfalls darf dem Einbringenden steuerlich ein

___________ 86 Vgl. auch FG Münster v. 287.11.2007 – 12 K 1084/07, EFG 2008, 763 (rkr.). 87 Vgl. z.B. BFH v. 13.9.2001 – IV R 13/01, BStBl. II 2002, 287 m.w.N.; zum Grundsatz der Gesamtgewinngleichheit z.B. BFH v. 15.4.1999 – IV R 689/98, BStBl. II 1999, 481. 88 Vgl. Korn in Korn, § 4 EStG Rz. 493 ff. m.w.N. (Juni 2007). 89 Vgl. BFH v. 2.10.2003 – IV R 13/03, BStBl. II 2004, 985; dazu BMF-Schreiben v. 17.11.2004, BStBl. I 2004, 1064. 90 Vgl. BFH v. 24.6.2009 – VIII R 13/07, BStBl. II 2009, 993; Nds. FG v. 14.3.2007 – 2 K 574/03, EFG 2007, 1298 (durch BFH VIII R 13/07 bestätigt); Ley, KÖSDI 2001, 12982. 91 BFH v. 21.9.2000 – IV R 54/99, BStBl. II 2000, 123; v. 26.5.1994 – IV R 34/92, BStBl. II 1994, 891; v. 5.4.1984 – IV R 88/80, BStBl. II 1984, 518. 92 Beispiel dazu bei Korn, FR 2005, 1236 (1240).

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Gewinn (Übergangsgewinn) zugerechnet werden, den er tatsächlich nicht erzielt. Die Nachteile der Übergangsbesteuerung bestehen neben dem dafür entstehenden Administrationsaufwand bei Freiberuflern hauptsächlich darin, dass hohe Leistungsforderungen und unabgerechnete Leistungen bestehen, deren Besteuerung zeitlich vorgezogen wird. Diesem Gewinnverlagerungseffekt kann dadurch begegnet werden, dass als Stichtag für die Praxisübertragung der 1. oder 2.1. gewählt wird, weil die Forderungen ohnehin weitgehend im laufenden Jahr eingehen. Außerdem können die Honorarforderungen und unabgerechneten Arbeiten völlig von der Einbringung ausgenommen werden. Dies beeinträchtigt das Gewinnermittlungswahlrecht gemäß § 24 UmwStG nicht; die Forderungen sind erst im Zeitpunkt ihrer Vereinnahmung als nachträgliche Einkünfte aus der eingebrachten Einzelpraxis zu erfassen93.

IV. Problemzonen bei Realteilungen von freiberuflichen Personengesellschaften 1. Ertragsteuerrecht Die Realteilung ist eine in der Praxis oft anzutreffende Form der Trennung der Partner freiberuflicher Sozietäten. Grundsätzlich gilt – soweit kein Spitzenausgleich gezahlt wird – für Realteilungen gemäß § 16 Abs. 3 Sätze 2 ff. EStG ein gesetzliches Buchwertfortführungsgebot, wenn die Mitunternehmer unter Aufteilung des Praxisvemögens ihre Tätigkeit als Einzelberufler fortsetzen. Die steuerliche Buchwertfortführung ist in der Regel im Sinne der Gesellschafter, weil sie Einkommensteuerbelastungen vermeidet. Einkommensteuerbelastungen können in der Praxis indes dadurch auftreten, dass die vorhandene Personengesellschaft nicht völlig aufgelöst wird, sondern nur Mitunternehmer ausscheiden, um ihre Tätigkeit einzelberuflich fortzusetzen. Die h.A. – insbesondere auch die Finanzverwaltung – lehnt die Anerkennung von Realteilungen im Sinne des § 16 Abs. 3 Satz 2 EStG ab, wenn es nicht zu einer Totalauflösung der Personengesellschaft kommt94. Das soll selbst dann gelten, wenn der vorletzte Gesellschafter ausscheidet und die Gesellschaft dadurch erlischt. Scheiden lediglich Mitunternehmer aus und führen diese Teile der Geschäftstätigkeit des Gesellschafters – meist unter Übernahme von Wirtschaftsgütern aus dem Gesellschaftsvermögen – fort, wird eine Sachwertabfindung angenommen, auf die § 16 Abs. 3 Sätze 2 ff.

___________ 93 Vgl. BFH v. 14.11.2007 – XI R 32/06, BFH/NV 2008, 385; v. 13.9.2001 – IV R 13/01, BStBl. II 2002, 287; FG Münster v. 23.6.2009 – 1 K 4263 F., EFG 2009, 1915 (Rev. unter Az. VIII R 41/09 anhängig); Vfg. der OFD Karlsruhe v. 8.10.2007, DStR 2007, 2326. 94 Schreiben des BMF v. 28.2.2006, BStBl. I 2006, 228, Abschnitt II.; Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 536 m.w.N.; Märkle/Franz in Gestaltung und Abwehr im Steuerrecht, FS Korn, 2005, 365 (367) m.w.N.; Crezelius in Gestaltung und Abwehr im Steuerrecht, FS Korn, 2005, 273 (278 ff.), mit abweichender Beurteilung von Teilbetriebsübertragungen.

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EStG nicht anwendbar sein soll95. Höchstrichterlich geklärt und völlig überzeugend ist das enge Verständnis des nicht legaldefinierten Realteilungsbegriffs nicht, sodass es erwägenswert ist, ihn in Steuerabwehrfällen anzugreifen96. Allerdings kann auch bei Sachwertabfindungen die Buchwertfortführung erreicht werden, wenn die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG erfüllt sind. Dazu ist es aber erforderlich, dass die gesamte Gegenleistung der ausscheidenden Mitunternehmer in der Minderung von Gesellschaftsrechten besteht; die Übernahme von Gesellschaftsschulden ist eine schädliche Gegenleistung. Die dadurch entstehende Teilentgeltlichkeit führt nach der sog. Trennungstheorie zu einer Gewinnrealisierung, wenn die Ausscheidenden – wie üblich – keine selbständig abgrenzbaren Teilpraxen übernehmen97; die Buchwerte des übernommenen Vermögens werden den übernommenen Verbindlichkeiten als Entgelt bei der Ermittlung des Gewinns nur in dem Verhältnis des gemeinen Werts zum Buchwert des aufgegebenen Gesellschaftsanteils gegenübergestellt. Übernehmen die Ausscheidenden Teilpraxen, kommt es wegen Anwendung der sog. Einheitstheorie nur zu einer Gewinnrealisierung, soweit die übernommenen Praxisverbindlichkeiten als Entgelt das letzte buchmäßige steuerliche Kapitalkonto übersteigen. Weil die stillen Reserven bei freiberuflichen Praxen allerdings hauptsächlich im Bereich des originär entstandenen Praxiswerts angesiedelt sind, dürfte es – selbst nach Verwaltungsauffassung – in der Regel auch bei Sachwertabfindungen nicht zur Realisierung beachtlicher stiller Reserven kommen. Denn der selbst geschaffene Praxiswert bzw. Mandantenstamm ist nach § 5 Abs. 2 EStG nicht aktivierungsfähig, während § 6 Abs. 5 EStG nur Wirtschaftsgüter umfasst, die im abgebenden und aufnehmenden Betriebsvermögen ansetzbar sind, denn nach § 6 Abs. 5 Satz 1 EStG sind die Wirtschaftsgüter mit dem Wert anzusetzen, „der sich nach den Vorschriften über die Gewinnermittlung ergibt“98. Eine weitere Gewinnrealisierungsgefahr entsteht, wenn bei einer Realteilung oder einer Sachwertabfindung die ausscheidenden Mitunternehmer ihre Berufstätigkeit nicht einzelberuflich fortsetzen, sondern sich zu oder mit anderen Personengesellschaften zusammenschließen. Für Realteilungen entnimmt die Finanzverwaltung dem Gesetzeswortlaut („… in das jeweilige Betriebsvermögen der einzelnen Mitunternehmer übertragen …“), dass in diesen Fällen die Buchwertfortführung nicht greift99. Diese Beurteilung ist wenig sinn-

___________ 95 Vgl. Schreiben des BMF an die Bundesrechtsanwaltskammer und Steuerberaterkammer v. 14.9.2009 – IV C 6 - S 2242/07/10002; Erlass des Finanzministeriums Schleswig-Holstein v. 28.9.2009 – VI 306 - S 2242 - 089, LEXinform Dok. 5232254. 96 Vgl. auch Stahl in Korn, EStG, § 16 Rz. 296 (Januar 2007); Ley in Gestaltung und Abwehr im Steuerrecht, FS Korn, 2005, 335 (350). 97 Vgl. zur Trennungstheorie und Bedenken gegen diese Korn/Strahl in Korn, EStG, § 6 Rz. 107 ff. (Juli 2003/Dezember 2005). Der BFH hat an ihr im Urteil v. 6.5.2010 – IV R 52/08, DStR 2010, 1374 festgehalten. 98 BMF-Schreiben v. 14.9.2009 – IV C 6 - S 2242/07/10002; Erlass Schleswig-Holstein v. 28.9.2009 – VI 306 - S 2242 - 089, LEXinform Dok. 5232254. Die Finanzverwaltung verlangt für den übertragenen Mandantenstamm bei Beratungspraxen eine Dokumentation (offenbar Liste der übergegangenen Mandate), die nachvollziehbar macht, ob die spätere Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist, was § 6 Abs. 5 EStG generell voraussetzt. 99 BMF-Schreiben v. 28.2.2006, BStBl. I 2006, 228, Abschnitt IV/1.

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voll, sodass in Steuerabwehrfällen ihre steuergerichtliche Überprüfung erwägenswert ist100. Bei Sachwertabfindungen im Anwendungsbereich des § 6 Abs. 5 EStG ergibt sich eine vergleichbare Gewinnrealisierungsgefahr dadurch, dass nach verbreiteter Rechtsauffassung eine Buchwertübertragung von Wirtschaftsgütern zwischen nicht aneinander beteiligten Mitunternehmerschaften (z.B. „Schwester“-Mitunternehmerschaften) unzulässig sein soll, weil dieser Sachverhalt im Katalog der Buchwertübertragungssachverhalte nicht aufgeführt ist101. Allerdings hat der IV. Senat des BFH in einem Aussetzungsbeschluss jedenfalls für die Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen beteiligungskongruenten „Schwester“-Mitunternehmerschaften ernstliche Zweifel angemeldet102, sodass das letzte Wort dazu noch nicht gesprochen ist. Der derzeitige Diskussionsstand lässt es ratsam erscheinen, sowohl nach Realteilungen als auch nach Sachwertabfindungen dann, wenn die ausgeschiedenen Mitunternehmer ihre Tätigkeit anderweitig in Mitunternehmerschaften fortsetzen, das übernommene Sachvermögen nicht in das Gesamthandsvermögen der neuen Sozietät zu übertragen, sondern es – als steuerliches Sonderbetriebsvermögen – dieser nur zur Nutzung zu überlassen. Das toleriert auch die Finanzverwaltung103. Vermieden werden sollte dabei eine feste Zeitdauer der Nutzungsüberlassung, die über die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer des Praxiswerts hinausgeht, weil der Einwand zu besorgen ist, dass bereits mit Beginn der Nutzungsüberlassung das wirtschaftliche Eigentum übertragen worden ist und deshalb eine gewinnrealisierende Veräußerung vorliegt. Soll die Tragweite einer etwaigen Gefährdung der Buchwertfortführung abgeschätzt werden, ist zu beachten, dass die etwaige Gewinnrealisierung in der Regel zweifach eintritt: Die Personengesellschaft muss die hingegebenen Sachwerte mit dem gemeinen Wert als Abgangserlös erfassen und der ausscheidende Gesellschafter die Differenz zwischen dem steuerlichen Buchwert seines Anteils und dem gemeinen Wert des erhaltenen Vermögens (Veräußerungserlös für den Anteil)104. Wie in Einbringungsfällen stellt sich, falls die freiberufliche Mitunternehmerschaft den Gewinn nach § 4 Abs. 3 EStG ermittelt, die unter Abschnitt III.3.c) erörterte Frage, ob bei Fortführung der Gewinnermittlungsart und der Buchwerte die sog. Übergangsbesteuerung verzichtbar ist. M.E. ist dies der Fall.

___________ 100 Vgl. dazu z.B. Stahl in Korn, EStG, § 16 Rz. 296 (Januar 2007). 101 BFH v. 25.11.2009 – I R 72/08, DStR 2010, 269; Schreiben des BMF v. 14.9.2009 – IV C 6 - S 2242/07/10002; Erlass des Finanzministeriums Schleswig-Holstein v. 28.9.2009 – VI 306 - S 2242 - 089, LEXinform Dok. 5232254. 102 BFH v. 15.4.2010 – IV B 105/09, DStR 2010, 1070. 103 BMF-Schreiben v. 28.2.2006, BStBl. I 2006, 228, Abschnitt IV.1.; Erlass des Finanzministeriums Schleswig-Holstein v. 28.9.2006 – VI 306 - S 2242, LEXinform Dok. 5232254. 104 Vgl. z.B. BMF-Schreiben v. 14.3.2006, BStBl. I 2006, 253, Rz. 51; Stahl in Korn, EStG, § 16 Rz. 168 (Januar 2007); Seitz, StbJb. 2004/2005, 201 (209 ff.).

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2. Umsatzsteuerrecht Nach herrschendem Verständnis ist das Ausscheiden eines Gesellschafters gegen Übertragung von Vermögensgegenständen der Gesellschaft ein entgeltliches Tauschgeschäft. Der ausscheidende Gesellschafter verzichtet auf seine Gesellschaftsrechte und unterliegt mit dieser entgeltlichen Leistung in der Regel nicht der Umsatzsteuer, weil die Beteiligung an einer Gesellschaft keine unternehmerische Tätigkeit im Sinne des § 2 UStG ist. Die Personengesellschaft liefert dagegen die Vermögensgegenstände, die sie an die Gesellschafter im Zuge der Realteilung auskehrt, entgeltlich im Rahmen ihrer unternehmerischen Tätigkeit. Das Entgelt besteht in der gesellschafterseitigen Aufgabe der Gesellschaftsrechte und damit auf die Auseinandersetzungsansprüche (insoweit liegt ein Tausch vor) sowie etwaig in der Übernahme von Gesellschaftsschulden105. Realteilungen wären nicht umsatzsteuerbar, soweit es sich um Geschäftsveräußerungen im Sinne des § 1 Abs. 1a UStG handeln würde. Zweifellos liegt typischerweise keine Veräußerung des gesamten Geschäfts vor, jedoch ist zu prüfen, ob das, was die Gesellschafter erhalten, ein „in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführter Betrieb“ ist. Die Finanzverwaltung nimmt dies an, wenn Realteiler Teilbetriebe im Sinne des § 16 EStG erhalten106. Den Verwaltungsanweisungen kann im Umkehrschluss entnommen werden, dass in anderen Fällen § 1 Abs. 1a UStG nicht anwendbar sein soll107. Dies ist jedoch nicht zwingend. Zwar wird man, wenn Teilbetriebe im ertragsteuerrechtlichen Sinne übertragen werden, in der Regel unterstellen können, dass es sich um gesondert geführte Unternehmensteile im Sinne des § 1 Abs. 1a UStG handelt. Weil der Teilbetriebsbegriff dem Umsatzsteuerrecht fremd ist, kann jedoch nicht generell an diesen angeknüpft werden; die Anforderungen sind geringer108. Einschlägig ist Art. 19 der MwStSystRL. Diese Kannvorschrift kennt nicht den Begriff des „in der Gliederung des Unternehmens gesondert geführten Betriebs“, sondern stellt den Mitgliedstaaten frei, „die Übertragung eines Gesamt- oder Teilvermögens“ von der Umsatzbesteuerung auszunehmen. Es handelt sich um von allen Mitgliedstaaten, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, einheitlich zu verwendende autonome gemeinschaftsrechtliche Begriffe109. Man kann in den Praxisteilen, welche eine

___________ 105 Vgl. z.B. Probst in Hartmann/Metzenmacher, UStG, § 1 Abs. 1 Nr. 1 Tz. 421 (XII/05); Husmann in Rau/Dürrwächter, UStG, § 1 Anm. 267 (August 2003); Tehler in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 1 Rz. 364 ff. (August 2007); Hidien/Kirchner, StuB 2009, 96; Knoll in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, Anhang 11 Umsatzsteuer, Rz. 229 ff. (Juni 2007). 106 Abschn. 5 Abs. 3 Satz 4 UStR 2008; ebenso Hidien/Kirchner, StuB 2009, 96; kritisch zur Anknüpfung an die ertragsteuerlichen Kriterien Knoll in Widmann/ Mayer, Umwandlungsrecht, Anhang 11 Umsatzsteuer, Rz. 243 (Juni 2007). 107 Davon geht auch das FG München in dem zur Ertragsteuer ergangenen Urteil v. 27.5.2008 – 13 K 460/05, DStRE 2009, 467 (rkr.), aus (indes ohne vertiefte Auseinandersetzung); wohl ebenso Tehler in Reis/Kraeusel/Langer, UStG, § 1 Rz. 521 (August 2007). 108 So auch Knoll in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, Anhang 11 Umsatzsteuer, Rz. 243 (Juni 2007). 109 Vgl. EuGH v. 27.11.2003 (Cita Modes Sárl) – C-497/01, HFR 2004, 402 = EUGHE 2003, 14410; BFH v. 18.1.2005 – V R 53/02, BStBl. II 2007, 750.

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Personengesellschaft den Gesellschaftern überträgt und die diese fortführen, mit guten Gründen „Teilvermögen“ in diesem Sinne sehen. Der Wortlaut ermöglicht dieses Verständnis. Auch der Sinn der Regelung, die nahtlose Fortsetzung unternehmerischer Tätigkeit nicht mit Umsatzsteuer zu belasten, spricht für die weitere Auslegung. Der EuGH hat in der zitierten Rechtssache Cita Modes die gemeinschaftsrechtlichen Begriffe ausgelegt: Es handele sich um „die Übertragung eines Geschäftsbetriebs oder eines selbständigen Unternehmensteils“, „die jeweils materielle und gegebenenfalls immaterielle Bestandteile umfassen, die zusammengenommen ein Unternehmen oder einen Unternehmensteil bilden, mit dem eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit fortgeführt werden kann“. M.E. wird zum Zwecke der Realteilung die freiberufliche Praxis zuvor in selbständige Unternehmensteile zerlegt, die von den ehemaligen Partnern fortgeführt werden. Umsatzsteuerliche Komplikationen entstehen, wenn nicht jeder Realteiler eine eigene Praxis weiterführt, sondern Realteiler ihre Tätigkeit in Gestalt von Sozietäten (Personengesellschaften) fortsetzen. Die Übertragung der Wirtschaftsgüter unmittelbar von der zu teilenden Gesellschaft auf die neue würde umsatzsteuerlich (im Fall der Steuerbarkeit mit entsprechender Fakturierung) keine zusätzliche Problematik auslösen. Erfolgt wegen der ertragsteuerlichen Gewinnrealisierungsgefahr jedoch eine Übertragung auf die bisherigen Gesellschafter persönlich und stellen diese die erhaltenen Wirtschaftsgüter und Geschäftsbeziehungen der neuen Gesellschaft als ertragsteuerliches Sonderbetriebsvermögen ohne Nutzungsentgelt zur Verfügung, ist die Anwendung von § 1 Abs. 1a UStG zusätzlich gefährdet, weil die Übernehmer die unternehmerische Tätigkeit nicht fortführen, dies aber für die Anerkennung einer Geschäftsveräußerung erforderlich ist (Gesetzeswortlaut: „… an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen …“). Entsteht Umsatzsteuer, ist der Vorsteuerabzug mangels Unternehmereigenschaft des Leistungsempfängers ausgeschlossen. Überwindbar ist das Problem dadurch, dass die Realteiler, die ihre Tätigkeit in einer anderen Gesellschaft fortsetzen, für die Überlassung des Sonderbetriebsvermögens ein regelbesteuertes Nutzungsentgelt erheben. Dessen Höhe ist zweitrangig, weil umsatzsteuerrechtlich keine Angemessenheitsprüfung stattfindet110. Die sofortige Übertragung des im Wege der Realteilung erhaltenen Praxisteilvermögens in die neue Sozietät ist (abgesehen von der ertragsteuerlichen Problematik) umsatzsteuerrechtlich ebenfalls brisant, wenn der betreffende Realteiler mangels nachhaltiger Betätigung nicht Unternehmer wird (unternehmerisch ist gemäß § 2 Abs. 1 Satz 3 UStG nur eine nachhaltige Tätigkeit), also keine Geschäftsveräußerung vorliegen kann und kein Vorsteuerabzug möglich ist111. In der Abwehrberatung könnte allerdings das Urteil des BFH v. 15.7.2004112 sowie das dazu ergangene Urteil des EuGH113 angeführt werden, das einer Vorgründungsgesellschaft bürgerlichen Rechts, die lediglich die Gründung einer GmbH vorbereiten und keine Umsätze erzielen sollte, den

___________ 110 111 112 113

Vgl. z.B. Abschnitt 1 Abs. 1 UStR 2008 m.w.N. Vgl. auch FG Düsseldorf v. 17.12.2003 – 5 K 864/01 U, DStRE 2004, 775 (rkr.). BFH v. 15.7.2004 – V R 84/99, BStBl. II 2005, 155. EuGH v. 29.4.2004 (Faxworld) – C-137/02, UR 2004, 362.

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Vorsteuerabzug aus ihren Aufwendungen gestattet hat, die sie der GmbH nach Gründung weiterberechnet hat (der GbR sind die beabsichtigten Umsätze der GmbH zugerechnet worden). Umsatzsteuerrechtlich stellen sich für Sachwertabfindungen ähnliche Fragen wie für Realteilungen. Werden Teilpraxen übertragen, liegt nach § 1 Abs. 1a UStG eine nichtsteuerbare Geschäftsveräußerung vor. Werden Praxisteile, die diesen (ertragsteuerlichen) Status nicht aufweisen, ausgekehrt, gilt das zur Realteilung Erörterte. Handelt es sich bei der Sachwertabfindung nur um einzelne Wirtschaftsgüter, liegt eine Geschäftsveräußerung im Sinne des § 1 Abs. 1a UStG nicht vor. Eine Umsatzsteuerbelastung dürfte in der Regel aber durch offenen Steuerausweis vermeidbar sein, wenn derjenige, der sie empfangen hat, die Wirtschaftsgüter zur Erzielung von steuerpflichtigen Umsätzen einsetzt, sei es in einer eigenen Praxis, sei es durch entgeltliche Nutzungsüberlassung.

V. Neue Erbschaftsteuerprobleme durch Abfindungsklauseln in Gesellschaftsverträgen Durch das Erbschaftsteuerreformgesetz ist es für Schenkungen und Erbfolgen seit dem Jahr 2009 zu einer signifikanten Steuerverschärfung durch die neuen Bewertungsvorschriften gekommen, denn freiberufliche Praxen, Anteile an Sozietäten (Freiberufler-Personengesellschaften) und Freiberufler-Kapitalgesellschaften werden seither nach §§ 96, 109, 11 Abs. 2 BewG mit dem gemeinen Wert angesetzt, während bisher Einzelpraxen und Anteile an freiberuflichen Personengesellschaften nur mit den oft marginalen ertragsteuerrechtlichen Buchwerten zu bewerten waren (lediglich bei Anteilen an FreiberuflerKapitalgesellschaften kam es zu einer moderaten Ertragsbewertung nach dem sog. Stuttgarter Verfahren). Lässt sich der gemeine Wert nicht aus Verkäufen unter fremden Dritten ableiten, die weniger als ein Jahr zurückliegen (das Vorliegen derartiger Vergleichswerte ist bei freiberuflichen Praxen die Ausnahme), „so ist er unter Berücksichtigung der Ertragsaussichten … oder einer anderen anerkannten, auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehr für nichtsteuerliche Zwecke üblichen Methode zu ermitteln; dabei ist die Methode anzuwenden, die ein Erwerber der Bemessung des Kaufpreises zugrunde legen würde“ (§ 11 Abs. 2 BewG). Dabei können die Stpfl. grundsätzlich das vereinfachte Ertragswertverfahren gemäß §§ 199 bis 203 BewG wählen. Für freiberufliche Praxen führt das vereinfachte Ertragswertverfahren nach ersten Erkenntnissen zu überhöhten Wertansätzen114. Die Bewertung steht und fällt m.E. mit der Dotierung des angemessenen Unternehmerlohns115. M.E. wird man in der Regel das Zwei- bis Dreifache dessen ansetzen müssen, was fremde Berufsträger üblicherweise als Angestellte erhalten.

___________ 114 Vgl. Knief, DStR 2009, 604 (zu Steuerberater-Praxen); ders., DB 2009, 866 (zu Arztpraxen). 115 Vgl. dazu Knief, DStR 2008, 1895 (zu Steuerberater-Praxen); ders., AnwBl 2010, 92 (zu Rechtsanwaltspraxen); ders., DB 2009, 866 (zu Arztpraxen).

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Die Finanzverwaltung kann das vereinfachte Ertragswertverfahren zurückweisen, soweit andere Bewertungsverfahren branchentypisch sind und zu höheren Werten führen als das Ertragswertverfahren116. Dazu ist es von Bedeutung, dass in Veräußerungsfällen freiberufliche Praxen nicht selten nach dem sog Umsatzverfahren bewertet werden117. Bei diesem Verfahren wird der Praxiswert aus dem (letzten oder künftig erzielbaren) Jahresumsatz abgeleitet, der nach Größe, Art und Lage der Praxis und nach anderen Erfolgsfaktoren modifiziert wird118. In der Fachliteratur wird die Umsatzmethode überwiegend als nicht sachgerecht abgelehnt, weil sie den individuellen Gegebenheiten nicht hinreichend Rechnung trägt119. Die Bundessteuerberaterkammer hat sich in am 30.6.2010 durch ihr Präsidium beschlossenen Hinweisen („Hinweis der Bundessteuerberaterkammer für die Ermittlung des Wertes einer Steuerpraxis – unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Berufsstandes und der verschiedenen Bewertungsanlässe“) dahingehend geäußert, Ziel des Umsatzverfahrens sei nicht die Ermittlung des „konkreten richtigen Wertes, sondern die Ermittlung einer Verhandlungsbasis …“119a. Für Rechtsanwaltspraxen hat der BRAK-Ausschuss Bewertung von Anwaltskanzleien120 das Umsatzverfahren empfohlen, davon ausgehend, dass der Praxiswert zwischen 0,3 und 1,0 des bereinigten Jahresumsatzes liegt. Die Bundesärztekammer121 hat die früher befürwortete Umsatzmethode zugunsten einer Kombination aus Substanz- und Ertragswert aufgegeben. Nach dem geschilderten derzeitigen Diskussionsstand kann die Finanzverwaltung die Beteiligten in der Regel nicht ohne weiteres unter Ablehnung des vereinfachten Ertragswertverfahrens zwingen, das Umsatzverfahren anzuwenden. Verlangen die Stpfl. die individuelle Bewertung anstelle des vereinfachten Ertragswertverfahrens, können sie sich auf ertragswertbasierte Gutachten – etwa nach IDW S 1 – berufen und dürfen m.E. nicht auf das Umsatzverfahren verwiesen werden. Ob die Steuerpflichtigen, die das erweiterte Ertragswertverfahren ablehnen und eine individuelle Bewertung beantragen, die Anwendung des Umsatzverfahrens verlangen können, ist nicht gesichert. Nach dem derzeitigen Stand erscheint dies bei Rechtsanwaltskanzleien und wohl auch Steuerberaterpraxen denkbar. Die neuen Bewertungsvorschriften können seit 1.1.2009 dazu führen, dass Abfindungsregelungen in Gesellschaftsverträgen zu fiktiven Erbschaften bzw. Schenkungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG bzw. § 7 Abs. 7 ErbStG führen, soweit die Abfindungen geringer sind als die (neuen) Steuerwerte. Die Vorschriften sind nicht neu, werden aber durch die signifikant höheren Steuerwerte ab 1.1.2009 zum Leben erweckt.

___________ 116 Vgl. Abschn. 19 Abs. 1 Satz 2 des Ländererlasses v. 25.6.2009, BStBl. I 2009, 698. 117 Vgl. Wehmeier, Praxisübertragungen in wirtschafts- und steuerberatenden Berufen, 5. Aufl. 2009, 130. 118 Vgl. Wehmeier, a.a.O., 129 ff. 119 Vgl. Knief, DB 2009, 866; ders., DStR 2008, 1895; Ballwieser, DB 1997, 185; Behringer, StuB 2008, 145. 119a www.bstbk.de / Berufsrechtliches Handbuch. 120 BRAK-Mitteilungen 3/2007, 112. 121 Deutsches Ärzteblatt, Heft 51–52/2008, S. A 4.

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– § 3 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG fingiert als Schenkung auf den Todesfall den „auf dem Ausscheiden eines Gesellschafters beruhenden Übergang des Anteils oder des Teils eines Anteils eines Gesellschafters einer Personengesellschaft oder Kapitalgesellschaft bei dessen Tod auf die anderen Gesellschafter oder die Gesellschaft, soweit der Wert, der sich für seinen Anteil zur Zeit seines Todes nach § 12 ergibt, Abfindungsansprüche Dritter übersteigt“. Zudem trifft § 3 Abs. 1 Nr. 2 Satz 3 ErbStG eine Sonderregelung für den Fall, dass nach einer Regelung im Gesellschaftsvertrag einer GmbH der Geschäftsanteil eines Gesellschafters bei dessen Tod eingezogen wird und der auf den Todeszeitpunkt nach § 12 BewG ermittelte Anteilswert die Abfindungsansprüche Dritter überschreitet: Die dadurch bewirkte Werterhöhung der Geschäftsanteile der verbleibenden Gesellschafter gilt als Schenkung auf den Todesfall. – Nach § 7 Abs. 7 ErbStG gilt als Schenkung „der auf dem Ausscheiden eines Gesellschafters beruhende Übergang des Anteils oder eines Teils eines Anteils eines Gesellschafters an einer Personengesellschaft oder Kapitalgesellschaft auf die anderen Gesellschafter oder die Gesellschaft, soweit der Wert, der sich für den Zeitpunkt seines Ausscheidens nach § 12 ergibt, den Abfindungsanspruch übersteigt“. Wie in § 3 Abs. 1 Nr. 2 Satz 3 ErbStG trifft § 7 Abs. 7 Satz 2 ErbStG für die satzungsmäßig bei einer GmbH für den Fall des Ausscheidens geregelte Einziehung des Geschäftsanteils eine Sonderregelung: Übersteigt der sich nach § 12 BewG ergebende Wert des Geschäftsanteils den Abfindungsanspruch, „gilt die insoweit bewirkte Werterhöhung der Anteile der verbleibenden Gesellschafter als Schenkung des ausgeschiedenen Gesellschafters“. Praktisch wird die Steuerverschärfung indes nur, soweit nicht die Verschonungsregelung nach §§ 13a, 13b ErbStG beansprucht wird (gemäß § 13b Abs. 4 ErbStG grundsätzlich 85% des begünstigten Vermögens, im Fall der Option nach § 13a Abs. 8 ErbStG 100%). Freiberufliche Einzelpraxen, Teilpraxen und Anteile an freiberuflichen Mitunternehmerschaften gehören zu dem nach § 13b Abs. 1 Nr. 2 ErbStG begünstigten Vermögen. Anteile an Freiberufler-Kapitalgesellschaften sind nach § 13b Abs. 1 Nr. 3 ErbStG begünstigt, wenn der Erblasser oder Schenker zu mehr als 25% unmittelbar beteiligt war bzw. ist oder nach der sog. Poolregelung gemäß § 13b Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 ErbStG gemeinsam mit anderen Anteilseignern mehr als 25% hält122. Steuerschädliches Verwaltungsvermögen im Sinne des § 13b Abs. 2 ErbStG dürfte bei freiberuflichen Praxen und Gesellschaften keine größere Rolle spielen, weil für Einzelpraxen und Sozietäten die Bildung gewillkürten Betriebsvermögens eingeschränkt ist und in der Realität größere Vermögensansammlungen bei Freiberufler-Gesellschaften nicht üblich sind. Von Bedeutung wird für freiberufliches Betriebsvermögen häufig auch der Abzugsbetrag von 150 000 Euro gemäß § 13a Abs. 2 ErbStG sein, der nur zum Zuge kommen kann, wenn die 85%-Regelverschonung (nicht die 100%ige Optionsverschonung) zum Zuge kommt123. Der Abzugsbetrag erfolgt auf den nach dem Ver-

___________ 122 Vgl. zur Poolregelung mit Formulierungsvorschlägen Stahl, KÖSDI 2010, 16820. 123 Vgl. auch Abschn. 6 Abs. 1 Satz 3 des Ländererlasses v. 25.6.2009, BStBl. I 2009, 713.

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Steuerbrennpunkte bei Freiberufler-Kooperationen

schonungsabschlag von 85% verbleibenden Wert des Betriebsvermögens, sodass sich bei einem Wert bis zu 1 000 000 Euro infolge des Abschlags kein steuerpflichtiger Erwerb ergibt. Übersteigt der Erwerb 1 000 000 Euro, verringern 50% von 85% des Mehrbetrags den Abschlag, der infolgedessen bei einem Wert des Betriebsvermögens von 3 000 000 Euro völlig ausläuft. Kommt es zu einer fiktiven Schenkung nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 Sätze 2 und 3 oder § 7 Abs. 7 ErbStG, ist zu prüfen, ob die Besteuerung durch die Verschonungsregelungen gemäß §§ 13a, 13b ErbStG bzw. § 19a ErbStG abgemildert oder (durch Option nach § 13a Abs. 8 ErbStG) vermieden werden kann. – Für mitunternehmerische Personengesellschaften gilt dies: Besteht eine sog. Fortsetzungsklausel, der zufolge ein verstorbener Gesellschafter ausscheidet, sind die Betriebsvermögensvergünstigungen nach h.A. uneingeschränkt anwendbar124. Das gilt auch für den Fall, dass der vorletzte Gesellschafter ausscheidet und der verbleibende die Praxis fortführt125. §§ 13a, 13b, 19a ErbStG sind auch anwendbar, wenn ein Gesellschafter ausgeschlossen wird und der Anwachsungserwerb bei den Verbleibenden dadurch ausgelöst wird126. Dasselbe muss gelten, wenn ein Gesellschafter kündigt und dadurch ausscheidet, sei es, dass er von der Gesellschaft abgefunden wird oder eine verpflichtende Übertragung des Anteils an Mitgesellschafter vorgesehen ist127. – Für Anteile an einer GmbH ist dies zu beachten: Sind die Anteile zu den Abfindungsregeln an Mitgesellschafter zu übertragen (Zwangsabtretung), sind §§ 13a, 13b, 19a ErbStG anzuwenden, wenn die übrigen Bedingungen erfüllt sind128. Werden die Anteile eingezogen, will die Finanzverwaltung die Verschonungsregelungen nicht anwenden, weil die verbleibenden Gesellschafter selbst keine Anteile erwerben129. Es wird deshalb empfohlen, in Gesellschaftsverträgen statt der Einziehung die Zwangsabtretung vorzusehen bzw. diese etwaig abweichend vom Gesellschaftsvertrag in einschlägigen Fällen zu praktizieren130. Die gesellschaftsvertragliche Festlegung von Abfindungen für das Ausscheiden von Gesellschaftern, die unter dem Verkehrswert liegen, erfolgt in der Praxis in der Regel bewusst und aus Gründen der Bestandssicherung für die Praxen. Es ist deshalb meistens nicht sinnvoll, zur Vermeidung der Erb-

___________ 124 Abschn. 2 Abs. 3 Satz 4 des Ländererlasses v. 25.6.2009, BStBl. I 2009, 713; Wälzholz, DStZ 2009, 591 (597); Geck in Kapp/Ebeling, ErbStG und SchenkStG, § 13a Rz. 5 (November 2009). 125 Vgl. Wälzholz, DStZ 2009, 591 (597). 126 So auch Wälzholz, DStZ 2009, 591 (597). 127 Vgl. auch Fuhrmann, KÖSDI 2010, 16884 (16886); Milatz/Kämper, GmbHR 2009, 470 (475); Jorde/Stroot, Ubg 2010, 45 (50). 128 Abschn. 2 Abs. 3 des Ländererlasses v. 25.6.2009, BStBl. I 2009, 713. 129 Abschn. 2 Abs. 3 des Ländererlasses v. 25.6.2009, BStBl. I 2009, 713, unter Hinweis auf R 7 Abs. 3 Satz 9 ErbStR 2003; Wälzholz, DStZ 2009, 591 (597); a.A. Geck in Kapp/Ebeling, ErbStG und SchenkStG, § 13b Rz. 42 (November 2009); Klose, GmbHR 2010, 300 (303). 130 Vgl. Wälzholz, DStZ 2009, 591 (597) m.w.N.

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schaftsteuerbelastungen durch Vertragsänderung die Abfindungsguthaben zu erhöhen131. Empfehlenswert kann dagegen die Einfügung einer Klausel sein, der zufolge die unmittelbar oder mittelbar begünstigten Gesellschafter die Erbschaftsteuer tragen, die durch das Ausscheiden von Mitgesellschaftern entsteht132.

___________ 131 So auch Wälzholz, DStZ 2009, 591 (594). 132 Vgl. Wälzholz, DStZ 2009, 591 (595); Fuhrmann, KÖSDI 2010, 16884 (16886).

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Die Kapitalgesellschaft im Würgegriff des § 8c KStG? Inhaltsübersicht I. Vorwort II. Einleitung III. Grundlagen des § 8c KStG 1. Welche Anteilserwerbe sind schädlich? 2. Rechtsfolgen bei unterjährigem Anteilserwerb IV. Konzerninterne Übertragungsvorgänge 1. Grundlagen 2. Konzernklausel

V. Verschonungsregelung in Höhe der stillen Reserven 1. Allgemeines 2. Funktionsweise der Verschonungsregelung im Konzern 3. Umwandlungssteuerrechtliche Rückwirkung VI. Beteiligungserwerb zum Zwecke der Sanierung VII. Resümee

I. Vorwort Dem Autor sind die viele Jahre zurückliegenden ersten Zusammentreffen mit dem Jubilar noch in bleibender Erinnerung. Es war eine der zahlreichen Seminarveranstaltungen bei der auch Dr. Michael Streck – zu diesem Zeitpunkt bereits ein bundesweit anerkannter Steuerrechtler – auftrat und ein steuerfachliches Thema zum Besten gab. Der Jubilar fiel als Redner bei solchen Veranstaltungen völlig aus dem Rahmen, und zwar durch die Art, mit der es ihm in unnachahmlicher Weise gelang, sein Publikum zu fesseln. Hierzu benötigte er – auch bei außerordentlich komplexen Themen – weder ein Redemanuskript noch eine der seinerzeit noch marktüblichen „Overhead-Folien“. Er erzählte vielmehr stets eine interessante „Geschichte“ zum Fall, was sich dem aufhorchenden Zuhörer derart einprägte, dass er auch die damit geradezu beiläufig „transportierten“ komplexen Steuerfragen nicht mehr vergaß. Der Jubilar als früherer Alleinverfasser und nunmehr in 8. Auflage als Autor und Herausgeber des KStG-Kommentars „Streck“ hat sich über viele Jahre sehr intensiv dem Körperschaftsteuerrecht gewidmet. Diesem Interessengebiet soll der nachfolgende Beitrag gewidmet sein.

II. Einleitung Das Thema Verlustnutzung ist bei der Besteuerung von Kapitalgesellschaften ein Dauerbrenner. Die Diskussion über den Fortbestand der Verlustvorträge beim Gesellschafterwechsel reicht bis in die 50er Jahre zurück1. Während man seinerzeit noch versuchte Missbrauchsfällen beizukommen, wurde

___________ 1 BFH v. 8.1.1958 – I 131/57 U, BStBl. III 1958, 97.

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durch das StRefG 1990 erstmals eine gesetzliche Vorschrift in Gestalt des § 8 Abs. 4 KStG eingeführt, damals noch, um den echten Mantelkauf zu sanktionieren. Diese Vorschrift „überlebte“ nach einigen gesetzgeberischen Eingriffen bis 2007 (für Sonderfälle sogar bis 2013) und wurde für Anteilserwerbe ab 2008 durch § 8c KStG ersetzt, eine Vorschrift, aus deren „Würgegriff“ es zunächst kein Entrinnen zu geben schien. Der Finanzmarktkrise ist es zu verdanken, dass der Gesetzgeber nun – dem Drängen der Wirtschaft nachgebend – die Regelung zwar (rückwirkend ab 2008) massiv entschärft, aber auch erheblich verkompliziert hat. Die nachstehenden Ausführungen sollen ein wenig dazu beitragen, die Vorschrift etwas besser verdaulich zu machen.

III. Grundlagen des § 8c KStG Durch die Einführung des § 8c KStG, der für Anteilsübertragungen nach dem 31.12.20072 gilt, wurde die Erhaltung bzw. der Untergang der Verluste (körperschaftsteuerliche und gewerbesteuerliche laufende Verluste und Verlustvorträge, Zinsvorträge3, Verluste im Sinne des §§ 2a, 10d, 15a, 15 Abs. 4 EStG und laut Tz. 2 und 30 des BMF-Schreibens v. 4.7.20084 auch die Verlustrückträge5) einer Kapitalgesellschaft ausschließlich an den Erwerb der Anteile geknüpft. Gemäß § 8c KStG führt der Erwerb von mehr als 25%, aber nicht mehr als 50% der Anteile6 innerhalb von 5 Jahren zu einem anteiligen Verlustuntergang im prozentualen Umfang der übertragenen Anteile (§ 8c Satz 1 KStG). Bei Erwerb von mehr als 50% der Anteile gehen die betroffenen Verluste vollständig unter (§ 8c Satz 2 KStG). Die Vorschrift wirkt wie eine „Verlustguillotine“, die im Zeitpunkt des Anteilserwerbs alle steuerrelevanten Verluste erbarmungslos kappt. Anders als noch unter der Regie des § 8 Abs. 4 KStG7 sind auch mittelbare Anteilsübertragungen gefährdet8. Auf der anderen Seite ist ein unmittelbarer Erwerb auch dann schädlich, wenn er mittelbar zu keiner Quotenverschiebung führt. Konzerne befinden sich dadurch quasi im Würgegriff des § 8c KStG, weil die Vorschrift Umstrukturierungen in erheblicher Weise erschwert. 1. Welche Anteilserwerbe sind schädlich? Auf den ersten Blick erschien die Regelung des neuen § 8c KStG etwas milder zu sein als zuvor noch § 8 Abs. 4 KStG, in dessen Anwendungsbereich alle Anteilsübertragungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums zusammenzurechnen waren, gleichgültig, wer die Anteile erwarb. Dadurch waren auch Anteilsübertragungen über die Börse an unzählige neue Aktionäre als schädliche Übertragungen zu werten. Dies hatte natürlich mit einer veränderten

___________ 2 3 4 5 6 7

§ 34 Abs. 7a KStG. § 8a Abs. 1 Satz 3 KStG; s. Lenz/Ribbrock, BB 2007, 587. BStBl. I. 2008, 736. Kritisch ebenso Dötsch/Pung, DB 2008, 1703 (1709) und B. Lang, DStZ 2007, 659. Gezeichnetes Kapital, Beteiligungsrechte, Mitgliedschaftsrechte oder Stimmrechte. S. dazu BFH v. 20.8.2003 – I R 61/01, FR 2004, 27, BFH v. 22.8.2006 – I R 25/06, DStR 2006, 2076. 8 BT-Drucks. 220/1/07, S. 32.

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Die Kapitalgesellschaft im Würgegriff des § 8c KStG?

wirtschaftlichen Identität wenig zu tun, weshalb sich der Gesetzgeber ausdrücklich dafür entschied, die Verlustabzugsbeschränkung künftig nur dann zur Anwendung kommen zu lassen, wenn ein neuer Gesellschafter in entscheidungserheblichem Umfang Anteile erwirbt. Die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung9 formuliert wie folgt: „Der Neuregelung des § 8c KStG liegt der Gedanke zugrunde, dass sich die wirtschaftliche Identität einer Gesellschaft durch das wirtschaftliche Engagement eines anderen Anteilseigners (oder Anteilseignerkreises) ändert. Die in früherer Zeit erwirtschafteten Verluste bleiben unberücksichtigt, soweit sie auf dieses neue wirtschaftliche Engagement entfallen.“

Die maßgeblichen Grenzen (25% bzw. 50%) werden also nur dann überschritten, wenn ein Erwerber oder eine Erwerbergruppe Anteile in diesem Umfang erwirbt. Eine Erwerbergruppe bilden Gesellschafter, die einander nahe stehen und Gesellschafter, die über gleichgerichtete Interessen verfügen. Wenn die Erwerber einander ersichtlich nahestehen, setzt eine Anwendung des § 8c KStG nicht voraus, dass die Erwerber untereinander in Ausübung gleichgerichteter Interessen handeln. Nahestehende Personen werden immer (unabhängig vom Vorliegen gleichgerichteter Interessen) als Erwerbergruppe behandelt. Eine Zusammenrechnung erfolgt allerdings nur, wenn eine auf den einzelnen Erwerber bezogene Betrachtung nicht bereits zur Anwendung des § 8c Satz 1 bzw. 2 KStG führt (Subsidiaritätsprinzip). Zur Bestimmung des Begriffs der nahe stehende Person soll nach Ansicht der Finanzverwaltung in Ermangelung einer gesetzlichen Regelung auf die zu verdeckten Gewinnausschüttungen ergangene Rechtsprechung10 zurückgegriffen werden11. Betroffen wären danach insbesondere Familienangehörige (z.B. Geschwister), die ja bekanntlich nicht selten gegenläufige wirtschaftliche Interessen haben und deshalb keine nahestehenden Personen im Sinne des § 1 Abs. 2 AStG sein müssen. Hier sind Streitigkeiten natürlich vorprogrammiert. Für die sog. vorweggenommene Erbfolge12 und den Erbfall hat die Finanzverwaltung allerdings im Billigkeitswege eine Ausnahme zugelassen13. Diese Erwerbe sollen nicht von § 8c KStG erfasst werden, wenn sie vollständig un-

___________ 9 BT-Drucks. 16/4841, S. 76. 10 Nahestehende Personen können sein: Ehegatten (kein Widerspruch zum Beschluss des BVerfG v. 12.3.1985 – 1 BvR 571/81, BStBl. II 1985, 475; vgl. hierzu BFH v. 2.3.1988 – I R 103/86, BStBl. II 1988, 786 = GmbHR 1988, 363), andere Angehörige, auch wenn sie nicht unter § 15 AO fallen (BFH v. 18.12.1996 – I R 139/94, BStBl. II 1997, 301), enge persönliche Freunde (BFH v. 25.10.1963 – I 325/61 S, BStBl. III 1964, 17 = FR 1964, 199, BFH v. 18.12.1996 – I R 139/94, BStBl. II 1997, 301), ein Partner einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft (BFH v. 29.11.2000 – I R 90/99, BStBl. II 2001, 204), eine Personenhandelsgesellschaft (BFH v. 1.10.1986 – I R 54/83, BStBl. II 1987, 459), ein Verein (BFH v. 6.12.1967 – I 98/65, BStBl. II 1968, 322) oder eine Schwesterkapitalgesellschaft (BFH v. 21.12.1972 – I R 70/70, BStBl. II 1973, 449 = FR 1973, 514). 11 BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2745 - a/08/10001, BStBl. I 2008, 736. 12 Unter vorweggenommener Erbfolge versteht man eine Vermögensübertragung unter Lebenden mit Rücksicht auf die künftige Erbfolge, s. BMF v. 13.1.1993 – IV B 3 - S 2190 - 37/92, BStBl. I 1993, 80. 13 BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S2745 - a/08/10001, DStR 2008, 1436, Tz. 4.

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entgeltlich sind14. Die Abgrenzung zur Entgeltlichkeit bestimmt sich nach den allgemeinen einkommensteuerlichen Grundsätzen15. Nach dem Gesetzeswortlaut gilt auch „eine Gruppe von Erwerbern mit gleichgerichteten Interessen“ als Erwerbergruppe. Die Regelung zielt offenbar auf ein gesamtplanerisch handelndes Erwerberquartett ab, dem es gezielt darum geht, die Verluste der Gesellschaft zu verwerten16. Nach dem Bericht des Finanzausschusses soll ein Indiz für gleichgerichtete Interessen aber bereits vorliegen, wenn die Kapitalgesellschaft von den Erwerbern gemeinsam beherrscht wird17. Eine Erwerbergruppe mit gleichgerichteten Interessen soll nach Ansicht der Finanzverwaltung18 bereits dann anzunehmen sein, wenn eine Abstimmung zwischen den Erwerbern stattgefunden hat, wobei sich die Interessen nach dem BMF-Schreiben nicht auf den Erhalt der Verlustvorträge richten müssen19. Gemeinsame Interessen liegen nach dem oben angegebenen BMF-Schreiben ebenso dann vor, wenn mehrere Erwerber zum Zwecke einer einheitlichen Willensbildung zusammenwirken20. Indiziell spreche bereits eine gemeinsame Beherrschung der Körperschaft durch die Erwerber für das Vorliegen gleichgerichteter Interessen. Letzteres dürfte m.E. aber nur ausnahmsweise ein K.o.-Kriterium sein, denn ansonsten wäre ein Verlustabzug bei Erwerb von > 50% der Anteile stets ausgeschlossen. Dies ließe sich aber mit der oben genannten Zielrichtung des § 8c KStG nicht vereinbaren. Finden die Erwerbe z.B. nacheinander in zeitlichem Abstand statt und haben die Erwerber ersichtlich in keiner Weise zusammengewirkt, so scheidet m.E. eine Zusammenrechnung aus. Würde man hier eine strengere Sichtweise präferieren, so könnten selbst Anteilserwerbe über die Börse zur Anwendung des § 8c KStG führen. Beispiel: Die an der Börse notierte X-AG wird auf die ebenfalls börsennotierte Z-AG verschmolzen. Die ausscheidenden X-Aktionäre erhalten im Gegenzug für ihre X-Aktien neue infolge einer Kapitalerhöhung ausgegebene Z-Aktien. Nach der Verschmelzung haben die neuen Aktien einen wertkongruenten Anteil von 51%. Die früheren X-Aktionäre erwerben also 51% der Z-Anteile. Eine 100% mittelbare Tochtergesellschaft der X-AG, die E1-GmbH, verfügt über einen Verlustvortrag. Der Verschmelzungsvertrag wird nur wirksam, wenn die Anteilsinhaber der beteiligten Rechtsträger ihm in der Hauptversammlung durch Beschluss zustimmen (§ 13 Abs. 1 UmwG). Würde man darin ein Zusammenwirken sehen, so läge im Beispielsfall ein schädlicher Anteilserwerb in Bezug auf die E1-GmbH-Anteile vor. Hierbei muss aber berücksichtigt werden, dass die Aktionäre den Erwerb nicht „aktiv“ begleiten können,

___________ 14 Die Billigkeitsregelung lässt keine Aufteilung in einen entgeltlichen und einen unentgeltlichen Teil zu. Ein Entgelt kann z.B. auch dann anzunehmen sein, wenn der Beschenkte für den Schenker Aufwendungen übernimmt. 15 S. hierzu die Schreiben des BMF v. 16.9.2004 – IV C 3-S 2255-354/04, BStBl. I 2004, 922 und vom 26.2.2007 – IV C 2 - S 2230 - 46/06, IV C 3 - S 2190 - 18/06, BStBl. I 2007, 269. 16 Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 16/5491, S. 22. 17 Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 16/5491, S. 22. 18 BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S2745 - a/08/10001, DStR 2008, 1436, Rz. 27. 19 Kritisch dazu Lang, DStZ 2008, 549 (558), Sistermann/Brinkmann, DStR 2008, 897 (900). 20 BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S2745 - a/08/10001, DStR 2008, 1436, Rz. 27 letzter Satz.

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Die Kapitalgesellschaft im Würgegriff des § 8c KStG? da sie keine inhaltlichen Änderungen des Vertrages beschließen dürfen. Ihnen obliegt nur die vorherige Einwilligung bzw. die nachträgliche Genehmigung21. Es dürfte zweifelhaft sein, ob man bereits daraus eine Zweckgemeinschaft ableiten kann.

2. Rechtsfolgen bei unterjährigem Anteilserwerb Ein (schädlicher) Anteilserwerb wird in der Praxis in aller Regel nicht zum Ende eines Wirtschaftsjahrs, sondern unterjährig erfolgen. Da das Gesetz bestimmt, dass „die bis zum schädlichen Beteiligungserwerb nicht ausgeglichenen oder abgezogenen negativen Einkünfte (nicht genutzte Verluste) nicht mehr abziehbar“ sind, geht die Finanzverwaltung davon aus, dass auch die noch nicht entstandenen (unterjährigen) Verlustanteile betroffen sind22. Dieser noch gar nicht entstandene anteilige Verlust soll geschätzt werden und zwar durch eine zeitanteilige Aufteilung des Jahresverlusts23. Die Körperschaft kann allerdings auch einen anderen Aufteilungsmaßstab wählen, wenn er nachweislich zu einem sachgerechteren Ergebnis führt. Der Grundsatz der zeitanteiligen Aufteilung gilt grundsätzlich selbst dann, wenn der Verlust ersichtlich entweder vor oder nach der Anteilsübertragung entstanden ist. Die Gesellschaft hat dadurch also faktisch eine Art Wahlrecht, ob sie den Verlust noch im Rahmen des § 8c KStG berücksichtigen will oder nicht24. Beispiel: Die V-GmbH erzielt in 2009 einen Jahresüberschuss von ./. 10.000 Euro. Im ersten Halbjahr 2009 hat sie erkennbar einen Verlust von 100.000 Euro, im zweiten Halbjahr dagegen einen Gewinn von 90.000 Euro erwirtschaftet. Am 1.7.2009 werden > 50% der Anteile an einen Erwerber veräußert. Da die Gesellschaft im Jahr 2009 einen Verlust von 10.000 Euro erlitten hat, ergibt sich bei zeitanteiliger Aufteilung ein nach § 8c KStG untergehender Verlust von 5.000 Euro.

Ein bis zum Beteiligungserwerb erzielter Gewinn kann dagegen nach Ansicht der Finanzverwaltung nicht mit noch nicht genutzten Verlustvorträgen aus den Vorjahren verrechnet werden25. In Gewinnjahren erfolgt also keine zeitanteilige Aufteilung des Jahresüberschusses. Der Grund für diese restriktive Sichtweise wird im Wortlaut des § 8c KStG gesehen, der nur für die bis zum Zeitpunkt des Erwerbs nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte eine Sonderbestimmung enthält. Der Gewinn bzw. das Einkommen entsteht aber grundsätzlich erst mit Ablauf des Wirtschaftsjahres bzw. des VZ und das Gesetz enthält für eine zeitanteilige Aufteilung im Gewinnfall – anders als im Verlustfall – keine Regelung. Das Problem der unterjährigen Verlustkappung zeigt sich in besonderer Weise in Organschaftsfällen, und zwar dann, wenn unterjährig Anteile an einer Organträger-Körperschaft erworben werden und eine Organgesellschaft ein negatives Jahresergebnis erzielt hat. Durch unterjährige Veräußerung der Anteile

___________ 21 Stratz in Schmitt/Hörtnagel/Stratz, UmwG, § 13, Tz. 13 ff. 22 BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2745 - a/08/10001, BStBl. I 2008, 736, kritisch dazu Neumann, GmbH-StB 2007, 249 (251). 23 BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2745 - a/08/10001, BStBl. I 2008, 736 Rz. 32. 24 Zutr. Kutt/Möllmann, DB 2009, 2564. 25 BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2745 - a/08/10001, BStBl. I 2008, 736 Rz. 31.

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des Organträgers werden auch die Anteile an der Organgesellschaft unterjährig mittelbar veräußert. Nach Ansicht der Finanzverwaltung unterliegt auch das anteilige (noch dem Organträger zugerechnete) negative Organeinkommen der Kürzung gemäß § 8c KStG26. Hierbei wird das negative Jahreseinkommen der Organgesellschaft (vor Zurechnung) im Regelfall gezwölftelt und nur der nach Anwendung des § 8c KStG verbleibende Restverlust wird mit dem Einkommen des Organträgers verrechnet. Es findet also im Jahr des Anteilserwerbs keine vollständige Ergebniskonsolidierung im Organkreis statt. Die Verwaltungsauffassung wird im Schrifttum aus systematischer Sicht mit guten Gründen kritisiert27, weil die Zurechung des negativen Einkommens in Organschaftsfällen erst zum Ende des VZ durchgeführt wird. Die Regelung birgt im Übrigen eine nicht zu unterschätzende Steuerfalle, denn § 8c KStG greift selbst dann, wenn weder die Organgesellschaften noch der Organträger über Verlustvorträge verfügen. Abhilfe schafft hier allenfalls eine Veräußerung der Organträger-Anteile mit steuerlicher Wirkung zum Beginn des Folgejahres, weil dann die laufenden Organgesellschafts-Verluste bereits mit dem OT-Einkommen verrechnet worden sind. Dies setzt allerdings voraus, dass auch das wirtschaftliche Eigentum an den Anteilen erst zu Beginn des Folgejahres übergeht.

IV. Konzerninterne Übertragungsvorgänge 1. Grundlagen Gemäß § 8c KStG sind auch mittelbare Anteilsübertragungen (z.B. durch Veräußerung von Anteilen auf einer weit höheren Konzernstufe) schädlich28. Maßgeblich für den Verlustuntergang ist die sog. durchgerechnete Beteiligungsquote. Ein mittelbarer schädlicher Anteilserwerb kann auch durch eine Verschmelzung ausgelöst werden, und zwar selbst dann, wenn es hierbei zu einer Buchwertfortführung kommt. Insoweit ist die Verwaltungsauffassung zu § 8c KStG restriktiver als noch zu § 8 Abs. 4 KStG29. Nach dem BMF-Schreiben vom 4.7.2008 soll selbst eine reine Verkürzung der Beteiligungskette die Rechtsfolgen des § 8c KStG auslösen30. Unschädlich ist nach Auffassung der Finanzverwaltung nur ein Formwechsel des Anteilseigners31. 2. Konzernklausel Wegen der nachhaltigen Kritik an der überschießenden Wirkung des § 8c KStG bei konzerninternen Übertragungsvorgängen („Umstrukturierungshindernis“) hat der Gesetzgeber im WaBeschG32 mit § 8c Abs. 1 Satz 5 KStG eine Konzernklausel mit folgendem Wortlaut aufgenommen: „Ein schädlicher

___________ 26 27 28 29 30 31 32

BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2745 - a/08/10001, BStBl. I 2008, 736, Rz. 33. Roser, DStR 2008, 1561. BT-Drucks. 220/1/07, S. 32. BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2745 - a/08/10001, DStR 2008, 1436. BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2745 - a/08/10001, BStBl. I 2008, 736, Rz. 11. BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2745 - a/08/10001, DStR 2008, 1436, Tz. 11. Gesetz v. 22.12.2009, BGBl. 2009, 3950.

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Die Kapitalgesellschaft im Würgegriff des § 8c KStG?

Beteiligungserwerb liegt nicht vor, wenn an dem übertragenden und dem übernehmenden Rechtsträger dieselbe Person zu jeweils 100% unmittelbar oder mittelbar beteiligt ist.“ Diese Bestimmung gilt gemäß § 34 Abs. 7b Satz 2 KStG erstmals für schädliche Anteilserwerbe nach dem 31.12.2009. Es kommt darauf an, ob nach dem 31.12.2009 entweder die 25%-Grenze oder die 50%-Grenze überschritten wird. § 8c Abs. 1 Nr. 7 KStG bestimmt: „Ein schädlicher Beteiligungserwerb liegt nicht vor, wenn …“. Diese Formulierung unterscheidet sich von der Sanierungsklausel in § 8c Abs. 1a KStG, wonach der Beteiligungserwerb „unberücksichtigt bleibt“ also auch als Zählgröße für spätere weitere Beteiligungserwerbe keine Berücksichtigung findet. Hieraus ergibt sich, dass nur der konkrete Beteiligungserwerb die Rechtsfolgen des § 8c KStG nicht auslösen soll. Im Schrifttum wird die Ansicht vertreten, dass die Regelung in diesem Punkt überschießend sei, weil der Erwerb für die Addition mit späteren Erwerben durchaus zusammengerechnet werden kann33. Nach dem Wortlaut der Gesetzesbegründung34 soll die Begünstigung konzerninterner Erwerbe auf solche Fälle beschränkt bleiben, in denen die Verschiebung von Verlusten auf Dritte ausgeschlossen ist. Demzufolge greift die Begünstigung nicht beim Anteilserwerb durch neue Gesellschafter, sondern beschränkt sich (so die Gesetzesbegründung) ausschließlich auf rein „konzerinterne Umgliederungen“. Dieser Begriff ist unbestimmt. Er umfasst m.E. nicht nur Umwandlungsmaßnahmen nach dem UmwStG, sondern alle konzerninternen Übertragungs- und Anwachsungsvorgänge. Dazu gehören selbstverständlich auch „normale“ Veräußerungen. Der Gesetzeswortlaut wirft allerdings Probleme auf, weil § 8c Abs. 1 Satz 5 KStG die 100%ige Beteiligung einer Person (natürliche Person, Personengesellschaft oder Körperschaft) an dem übertragenden und dem übernehmenden Rechtsträger voraussetzt. Hierbei kommt es m.E. nicht auf die Stimmrechte, sondern nur auf die Beteiligungsrechte an, die sich wiederum nach § 39 AO bestimmen35. Der idealtypische Grundfall ist die Übertragung zwischen Schwestergesellschaften mit einer einzelnen gemeinsamen Muttergesellschaft bzw. einem gemeinsamen Gesellschafter. Eine wortgetreue Anwendung der gesetzlichen Regelung, die darauf abstellt, ob an allen beteiligten Rechtsträgern nur eine Person zu 100% beteiligt ist36, wirft allerdings in der Praxis erhebliche Probleme auf. Die nachfolgenden acht Fallbeispiele zeigen die unterschiedlichen Facetten der Problematik:

___________ 33 34 35 36

Frey/Mückl, GmbHR 2010, 71 (73). BT-Drucks. 17/15 v. 9.11.2009, S. 19. Frey/Mückl, GmbHR 2010, 71 (72). Eine 100%ige Beteiligung eines Gesellschafters dürfte auch dann gegeben sein, wenn an dem übertragenden oder übernehmenden Rechtsträger eine typisch stille Beteiligung besteht bzw. Genussrechte ausgegeben wurden, die nicht unter § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG fallen.

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Ralf Neumann Beispiel 1: Die M-GmbH ist zu je 100% an der T1-GmbH und der T2-GmbH beteiligt. Die T1GmbH ist zu 80% an der V-GmbH beteiligt, die über einen Verlustvortrag von 1 Mio. Euro verfügt. Die T1-GmbH veräußert nun die Beteiligung an der V-GmbH am 1.7.2010 zu einem fremdüblichen Preis an die T2-GmbH. Lösung: Obwohl es sich um einen „normalen“ Veräußerungsvorgang handelt, bleibt der Verlustvortrag der V-GmbH von 100.000 vollständig erhalten37. Es kommt also nicht darauf an, ob die Übertragung der Anteile unter Aufdeckung stiller Reserven erfolgt oder nicht. Beispiel 2: A und B sind Gesellschafter der M-GmbH, die wiederum Alleingesellschafterin der T1 und der T2. Die M-GmbH (als Konzernspitze) überträgt nun ihre T1-Anteile auf die T2. Lösung: Dieser Fall ist nach dem m.E. überschießenden Wortlaut der Neuregelung nicht begünstigt, weil an dem übertragenden Rechtsträger 2 Gesellschafter (nämlich A und B) und an dem übernehmenden Rechtsträger nur die M-GmbH beteiligt ist. Es bedarf also eines mindestens dreistufigen Konzernaufbaus, um von § 8c Abs. 1 Satz 5 KStG n.F. zu profitieren38. Dieses Ergebnis entspricht allerdings nicht der ausdrücklichen gesetzgeberischen Zielrichtung der Regelung. Die Gesetzesbegründung ist wie folgt formuliert: „Von der Verlustverrechnungsbeschränkung ausgenommen werden danach alle Umstrukturierungen, die ausschließlich innerhalb eines Konzerns vorgenommen werden, an dessen Spitze zu 100 Prozent eine einzelne Person oder Gesellschaft steht.“ Es stellt sich die Frage, ob angesichts dieser eindeutigen gesetzgeberischen Absicht auch Übertragungen unter direkter Beteiligung der Konzernspitze (Konzernspitze als Veräußerer oder als Erwerber) aus dem Anwendungsbereich des § 8c KStG auszunehmen sind. Die Gesetzesänderung zielt nämlich offenbar in erster Linie auf Fallkonstellationen, in denen durch eine konzerninterne Übertragung ausschließlich die Beteiligungskette verkürzt oder verlängert wird. Dem entsprach auch der Wortlaut des ursprünglichen Referentenentwurfs. Eine wortgetreue Anwendung der gesetzlichen Regelung, die darauf abstellt, ob an allen beteiligten Rechtsträgern nur eine Person zu 100% beteiligt ist, wirft in der Praxis erhebliche Probleme auf. Beispiel 3: Die M-GmbH hält eine 100%ige Beteiligung an der T-GmbH. Diese wiederum ist zu 100% an der V-GmbH (verfügt über Verlustvorträge) beteiligt. Alleingesellschafter der M-GmbH ist A. Die T1-GmbH überträgt die V-Beteiligung auf die M-GmbH (Verkürzung der Beteiligungskette). Lösung: An dem übertragenden und dem übernehmenden Rechtsträger ist dieselbe Person, nämlich A, zu jeweils 100% unmittelbar oder mittelbar beteiligt. Es handelt sich nicht um einen schädlichen Beteiligungserwerb. Es kommt m.E. nicht darauf an, ob A die Konzernspitze ist. Beispiel 4: Wie Beispiel 3, aber Gesellschafter der M-GmbH sind A (zu 99%) und B (zu 1%).

___________ 37 Zutreffend Scheunemann/Dennisen/Behrens, BB 2010, 23 (25). 38 Ebenso Bien/Wagner, BB 2009, 2627 (2628) und Scheunemann/Dennisen/Behrens, BB 2010, 23 (26).

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Die Kapitalgesellschaft im Würgegriff des § 8c KStG? Lösung: An dem übertragenden und dem übernehmenden Rechtsträger ist nicht dieselbe (Einzel-)Person, zu jeweils 100% unmittelbar oder mittelbar beteiligt. Vielmehr sind an dem übernehmenden Rechtsträger mittelbar 2 Personen (A und B) beteiligt. Es handelt sich deshalb nach dem Wortlaut des Gesetzes um einen schädlichen Beteiligungserwerb, der nicht in den Genuss der Konzernregelung kommt. Dies, obwohl die Verkürzung der Beteiligungskette ursprünglich erklärtes Regelungsziel der neuen Vorschrift war. Beispiel 5: Wie Beispiel 3, aber M ist keine GmbH, sondern eine GmbH & Co. KG, an der A zu 100% beteiligt ist (die Kpl.-GmbH ist vermögensmäßig nicht an der KG beteiligt). Lösung: An dem übertragenden und dem übernehmenden Rechtsträger ist dieselbe Person, nämlich A, zu jeweils 100% unmittelbar oder mittelbar beteiligt. Konzernspitze ist in diesem Fall nicht A, sondern die GmbH & Co. KG, die insoweit nicht transparent ist, sondern eine Abschirmwirkung entfaltet39. Die Komplementärstellung der Kpl.-GmbH ist hierfür unschädlich, wenn keine vermögensmäßige Beteiligung besteht. Es handelt sich im Beispielsfall 3 also nicht um einen schädlichen Beteiligungserwerb40. Beispiel 6: Beteiligungskonstellation wie Beispiel 3, aber die V-GmbH-Anteile werden entgeltlich auf A übertragen. Lösung: Die Übertragung der V-Anteile auf den Gesellschafter A ist zwar letztlich nur eine Verkürzung der Beteiligungskette. § 8c Abs. 1 Satz 5 KStG erfasst diesen Fall allerdings nicht, denn A scheidet als natürliche Person als begünstigter Erwerber aus, weil an ihm keine Person „beteiligt“ sein kann. Dies wird auch im Schrifttum überwiegend so vertreten41. Allerdings bestimmt die Gesetzesbegründung: „Von der Verlustverrechnungsbeschränkung ausgenommen werden danach alle Umstrukturierungen, die ausschließlich innerhalb eines Konzerns vorgenommen werden, an dessen Spitze zu 100 Prozent eine einzelne Person oder Gesellschaft steht.“ Diese Formulierung spricht im Fall 4 eher dafür, auch eine Übertragung auf die Konzernspitze – als natürliche oder juristische Person oder Personengesellschaften42 – in den Anwendungsbereich der Begünstigung einzuschließen. Es ist aber zweifelhaft, ob sich die Finanzverwaltung einer solchen eher weiten Auslegung anschließt. Beispiel 7: Beteiligungskonstellation wie Beispiel 4, aber die T-GmbH wird auf die V-GmbH verschmolzen (down-stream-merger). Wenn man davon ausgeht, dass die M-GmbH der

___________ 39 BFH v. 20.8.2003 – I R 81/02, BStBl. II 2004, 614 (Urteil zu § 8 Abs. 4 KStG) sowie BMF v. 4.7.2008 – IV C 7 - S 2742 - a/07/10001, BStBl. I 2008, 718, Rz. 13; Das Transparenzprinzip käme nur dann zum Zuge, wenn es sich um eine vermögensverwaltende Personengesellschaft handeln würde, bei der die Anteile an der Verlustkörperschaft gemäß § 39 Abs. 2 Nr. 2 AO direkt den Gesellschaftern zuzurechnen wären (a.A. Frey/Mückl, GmbHR 2010, 71 [72]). 40 Zutreffend Scheunemann/Dennisen/Behrens, BB 2010, 23 (26). 41 Wittkowski/Hielscher, DB 2010, 11 (13); Bien/Wagner, BB 2009, 2627 (2628); a.A. Scheunemann/Dennisen/Behrens, BB 2010, 23 (25). 42 Zutreffend Wittkowski/Hielscher, DB 2010, 11 (13).

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Ralf Neumann übernehmende Rechtsträger ist (sie erwirbt die Anteile an der V-GmbH unmittelbar)43, so läge kein durch die neue Konzernklausel begünstigter Erwerb vor, denn an ebendieser M-GmbH sind mehrere Gesellschafter beteiligt. Beispiel 8: Beteiligungskonstellation wie Beispiel 3, aber die V-GmbH wird auf die T-GmbH verschmolzen (up-stream-merger). Lösung: Im Zuge der Verschmelzung der V-GmbH auf ihre Muttergesellschaft T-GmbH gehen die Verluste der V-GmbH nach § 12 Abs. 3 UmwStG unter. Die Konzernklausel des § 8c Abs. 1 Satz 5 KStG verhindert diesen Verlustuntergang nicht. Das UmwStG kennt eine vergleichbare Konzernklausel nicht44.

§ 8c KStG findet gemäß § 10a Satz 10 GewStG auch auf die gewerbesteuerlichen Fehlbeträge einer Personengesellschaft Anwendung. M.E. ist die Konzernklausel bei der nachgeschalteten Personengesellschaft nur dann anwendbar, wenn sie auch auf Ebene der an ihr beteiligten Verlustkapitalgesellschaft dem Grunde nach Anwendung finden würde, weil in Bezug auf diese Kapitalgesellschaftsanteile ein schädlicher Erwerb stattfindet. Auf die Beteiligungsquote der Verlustkapitalgesellschaft an der Verlustpersonengesellschaft kommt es m.E. nicht an45. Für die Anwendung der Konzernklausel – insbesondere für die Prüfung der maßgeblichen Beteiligungsverhältnisse – ist m.E. auf den Zeitpunkt abzustellen, an dem die Verluste durch Anwendung des § 8c KStG untergehen würden. Nach (umstrittener) Auffassung der Finanzverwaltung findet dabei eine umwandlungsteuerrechtliche Rückwirkung keine Anwendung46. Es wird also erst mit Eintritt der zivilrechtlichen Wirksamkeit des Erwerbsvorgangs geprüft, ob die Beteiligungsvoraussetzungen zur Anwendung der Konzernklausel (100%-Beteiligung) erfüllt sind. Es wird sich zeigen müssen, ob die Konzernklausel mit der Beschränkung auf 100%ige Gesellschafterstrukturen nicht deutlich an der ausdrücklichen gesetzgeberischen Zielrichtung Verlustvorträge bei konzerninternen Umgliederungen zu erhalten, vorbeigeht. Die Gesetzesbegründung47 beschreibt diese Zielsetzung wie folgt: „Von der Verlustverrechnungsbeschränkung ausgenommen werden danach alle Umstrukturierungen, die ausschließlich innerhalb eines Konzerns vorgenommen werden, an dessen Spitze zu 100 Prozent eine einzelne Person oder Gesellschaft steht. Die Regelung greift dagegen nicht, wenn neue Gesellschafter hinzutreten oder konzernfremde Gesellschafter beteiligt sind; die Konzernklausel ist damit auf Fälle beschränkt, in denen die Verschiebung von Verlusten auf Dritte ausgeschlossen ist.“

___________ 43 So Bien/Wagner, BB 2009, 2627 (2629) und Scheunemann/Dennisen/Behrens, BB 2010, 23 (26); Frey/Mückl, GmbHR 2010, 71 (72); Sistermann/Brinkmann, DStR 2009, 2633 (2634). 44 Scheunemann/Dennisen/Behrens, BB 2010, 23 (26). 45 A.A. Frey/Mückl, GmbHR 2010, 71 (72), die offenbar auf die Beteiligungsverhältnisse an der Personengesellschaft abstellen wollen. 46 BMF-Schreiben vom 4.7.2008 – IV C 7 - S 2745 - a/08/10001, BStBl. I 2008, 736, Rz. 13; kritisch dazu Frey/Mückl, GmbHR 2010, 71 (73). 47 BT-Drucks. 17/15 v. 9.11.2009, S. 19.

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Ein möglicher Ansatz die Regelung auszulegen wäre also, die Konzernbegünstigung immer dann greifen zu lassen, wenn ausgeschlossen ist, dass die betroffenen steuerlichen Verluste wirtschaftlich einem Dritten (also einem unmittelbaren oder mittelbaren Neugesellschafter) zugute kommen. Dies sind Fallkonstellationen in denen die Beteiligungsverhältnisse an der Konzernspitze unverändert bleiben. Eine sich im Zuge des Beteiligungserwerbs nicht verändernde Personengruppe wäre bei dieser sehr weiten Sichtweise eine Person im Sinne der Regelung48.

V. Verschonungsregelung in Höhe der stillen Reserven 1. Allgemeines Durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz wurde § 8c Abs. 1 Satz 6 ff. KStG ab 201049 durch eine sog. Verschonungsregelung deutlich entschärft. Dadurch soll der Anwendungsbereich des § 8c KStG wieder mehr auf „Mantelkäufe“ zugeschnitten werden. Verluste bleiben erhalten, soweit in dem erworbenen Anteil stille Reserven enthalten sind. Dadurch ist es künftig entbehrlich, nur zum Zwecke der Erhaltung der Verlustvorträge stille Reserven durch Veräußerung des Vermögens oder durch eine Umwandlung zu „heben“. § 8c Abs. 1 Satz 6 ff. KStG führt also nicht zu einem „step-up“, sondern lässt die Verluste/Verlustvorträge von § 8c KStG unberührt. Dies ist aber nicht nur eine praktische Erleichterung, sondern insbesondere in solchen Konstellationen, in denen der Verlustvortrag und die stillen Reserven die Grenze von 1 Mio. Euro übersteigen, eine deutliche steuerliche Verbesserung. Infolge der Neuregelung spielt nämlich die Mindestbesteuerungsgrenze für die fortdauernde Nutzung der Verluste keine Rolle mehr. Zunächst werden die stillen Reserven der Verlustkörperschaft nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 8c Abs. 1 Satz 7 KStG durch Gegenüberstellung des steuerbilanziellen Eigenkapitals50 der Körperschaft und dem gemeinen Wert der Anteile an der Verlustkörperschaft ermittelt. Der gemeine Wert der Anteile wird in den Fällen des entgeltlichen Erwerbs im Regelfall dem gezahlten Entgelt entsprechen. Diese Rechnung geht immer dann nicht auf, wenn für den Anteil ein Wert unterhalb des gemeinen Werts (in Fällen unentgeltlicher oder teilentgeltlicher Übertragung) oder oberhalb des gemeinen Werts (wenn beim Anteilserwerb ein funktionaler Wert der Beteiligung kaufpreiserhöhend mitberücksichtigt wurde). Auch bei konzerninternen Umstrukturierungen, bei denen nach dem UmwStG ein Wert unterhalb des gemeinen Werts angesetzt wurde, lässt sich der gemeine Wert der Anteile nicht aus einem objektiven Wert ableiten. In diesen Fällen ist also zur

___________ 48 Eisgruber/Schaden, Ubg 2010, 73 (78). 49 Die Regelung gilt gemäß § 34 Abs. 7b Satz 2 KStG erstmals für schädliche Beteiligungserwerbe, die nach dem 31.12.2009 erfolgen. 50 Wenn die Anteile unterjährig übertragen werden, sollte aus Praktikabilitätsgründen das Eigenkapital auf den Zeitpunkt der Anteilsübertragung umgerechnet werden, indem man z.B. den Gewinn des Veräußerungsjahrs zeitanteilig aufteilt und dem Vorjahreskapital zuschlägt; Sistermann/Brinkmann, DStR 2009, 2633 (2636); Bien/ Wagner, BB 2009, 2627 (2631).

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Ermittlung des gemeinen Werts und damit des zulässigen Verlustvortragsvolumens eine Unternehmensbewertung erforderlich51. Sodann bleiben in einem zweiten Schritt die steuerlichen Verluste der Körperschaft bis zur Höhe der so ermittelten stillen Reserven erhalten. Bei einem Anteilserwerb im Sinne des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG, also zwischen 25,01% und 50%, werden nur die anteiligen stillen Reserven gegengerechnet. Bei einem Anteilserwerb im Sinne des § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG, also > 50%, die vollen stillen Reserven. Die Verschonungsregelung hat gemäß § 8a Abs. 1 Satz 3 KStG auch Auswirkungen auf den Zinsvortrag. Die stillen Reserven (der Verschonungsbetrag) werden allerdings erst nachrangig einem Zinsvortrag zugeordnet. Die stillen Reserven werden also in einem ersten Schritt mit einem Verlustvortrag verrechnet. Bleibt dabei noch ein Restbetrag übrig, so ist bis zur Höhe dieses Restbetrages ein eventueller Zinsvortrag weiter abziehbar. Beispiel: A ist 100%iger Gesellschafter der V-GmbH, die zum 31.12.09 über einen Verlustvortrag von 500.000 und einen Zinsvortrag im Sinne des § 4h EStG in Höhe von 200.000 Euro verfügt. Die V-GmbH hat in der Steuerbilanz zum 31.12.09 ein Eigenkapital von 200.000 Euro. Am 1.1.10 veräußert A 51% der Anteile an der V-GmbH an B (fremder Dritter) für 408.000 Euro. Lösung: Der Erwerb von 51% der Anteile an der V-GmbH löst gemäß § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG grundsätzlich einen Untergang von 100% der Verluste aus. Die Verschonungsregelung lässt allerdings in Höhe der gesamten stillen Reserven der Verlustgesellschaft eine weitere Nutzung der Verluste zu. Der aus dem Kaufpreis der Anteile abgeleitete gemeine Wert beträgt 408.000 Euro x 100/51 = 800.000 Euro. Nach Abzug des gesamten steuerbilanziellen Eigenkapitals von 200.000 Euro verbleiben stille Reserven in Höhe von 600.000 Euro. Der Verlustvortrag der V-GmbH in Höhe von 500.000 Euro erreicht die Höhe der stillen Reserven nicht und kann also in vollem Umfang weiter genutzt werden. In einem zweiten Schritt ist zu untersuchen, ob auch der Zinsvortrag im Sinne des § 4h EStG erhalten bleibt. Hier bestimmt nun § 8a Abs. 1 Satz 3 KStG, dass stille Reserven im Sinne des § 8c Abs. 1 Satz 7 KStG nur zu berücksichtigen sind, soweit sie die nach § 8c Abs. 1 Satz 6 KStG nicht genutzten Verluste übersteigen. Ausweislich der Gesetzesbegründung ist damit gemeint, dass stille Reserven vorrangig nicht genutzten Verlusten und erst nachrangig einem Zinsvortrag zuzuordnen sind. Im Beispielsfall kann der Zinsvortrag in Höhe von 100.000 Euro weiter genutzt werden, während der übersteigende Betrag von ebenfalls 100.000 Euro untergeht.

Bei einem Anteilserwerb im Sinne des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG, also zwischen 25,01% und 50%, werden nur die anteiligen stillen Reserven gegen gerechnet. Bei einem Anteilserwerb im Sinne des § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG, also > 50%, die vollen stillen Reserven. Die Verschonungsregelung findet allerdings erst dann Anwendung, wenn die Verluste grundsätzlich infolge einer Anwendung des § 8c KStG nicht abziehbar wären. Die übrigen Regelungen des § 8c KStG, also auch die Konzernklausel des § 8c Abs. 1 Satz 5 KStG, sind daher vorrangig zu prüfen. Gegenüber der

___________ 51 Sistermann/Brinkmann, DStR 2009, 2633.

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Die Kapitalgesellschaft im Würgegriff des § 8c KStG?

Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG ist die Verschonungsregelung allerdings vorrangig. Die Sanierungsklausel kommt also nur zur Anwendung, soweit der nicht mehr nutzbare Verlust die gemäß § 8c Abs. 1 Satz 6 ff. KStG gegenzurechnenden stillen Reserven übersteigt, die Verluste also ohne Anwendung der Sanierungsklausel entfielen52. Unklar ist, wie sich die Stille-Reserven-Regelung auswirkt, wenn die körperschaftsteuerlichen von den gewerbesteuerlichen Fehlbeträgen abweichen. Beispiel: Wie vorstehender Fall, aber der vortragsfähige gewerbesteuerliche Fehlbetrag beläuft sich auf 600.000 Euro. Hier stellt sich die Frage, ob die vollen Fehlbeträge in Höhe von 600.000 Euro erhalten bleiben. Wenn ja, dann ergibt sich allerdings das weitergehende Problem, dass der Zinsvortrag für Gewerbesteuerzwecke nicht eigenständig ermittelt werden kann. § 4h Abs. 1 Satz 5 i.V.m. Abs. 4 EStG ist eine Gewinnermittlungsvorschrift, die über § 7 Satz 1 GewStG auch auf die GewSt durchschlägt. Über den zu berücksichtigenden Zinsvortrag wird deshalb ausschließlich bei der Körperschaftsteuer entschieden. Aus diesem Grund blieben dann im vorstehenden Beispielsfall für Zwecke der Gewerbesteuer neben den Fehlbeträgen von 600.000 Euro auch die Zinsvorträge von 100.000 Euro erhalten. Ein durchaus verblüffendes Ergebnis.

2. Funktionsweise der Verschonungsregelung im Konzern Für mehrstufige Beteiligungskonstellationen bestimmt die Gesetzesbegründung53 Folgendes: „Sind die stillen Reserven mehrstufig zu ermitteln, darf die Summe der in den untergeordneten Unternehmen ermittelten stillen Reserven die im Kaufpreis bzw. im Unternehmenswert der erworbenen Gesellschaft enthaltenen stillen Reserven nicht übersteigen. Aufgrund der Beschränkung auf die im Falle einer Realisierung im Inland steuerpflichtigen stillen Reserven sind die stillen Reserven aus Beteiligungsbesitz grundsätzlich nicht zu berücksichtigen, da Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen nach § 8b Absatz 2 KStG das Einkommen nicht erhöhen.“

Hiermit ist m.E. gemeint, das die Summe aller stillen Reserven dann einer Deckelung unterliegen soll, wenn sie im Anteilskaufpreis für die Anteile an der Konzernobergesellschaft nicht mitbezahlt wurden, der Kaufpreis dieser Anteile also niedriger ist als die Summe der Werte aller Beteiligungen. In diesem Fall müssen die stillen Reserven auf die einzelnen (mit erworbenen) Beteiligungen an den Untergesellschaften aufgeteilt werden, da infolge einer mittelbaren Veräußerung bei Übertragung der Anteile an der Obergesellschaft auch Verlustvorträge der Untergesellschaft von der Verschonungsregelung begünstigt sein könnten. Beispiel: Die M-Holding GmbH verfügt über ein steuerbilanzielles Eigenkapital von 400.000 Euro und einen Verlustvortrag von 100.000 Euro. Es handelt sich um eine reine Holding, die ausschließlich zwei Beteiligungen an den Untergesellschaften T1 und T2 hält.

___________ 52 Sistermann/Brinkmann, DStR 2009, 2633 (2635). 53 BT-Drucks. 17/25, S. 31.

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Ralf Neumann Diese beiden Untergesellschaften weisen jeweils ein steuerbilanzielles Eigenkapital von 200.000 Euro und steuerliche Verlustvorträge von 500.000 Euro aus. Der gemeine Wert von T1 und T2 betragen jeweils 300.000 Euro. M.E. sind im Kaufpreis nicht 600.000 Euro, sondern nur 500.000 Euro für die Anteile der T1 und T2 bezahlt worden. Daher betragen die zu berücksichtigenden stillen Reserven bei T1 und T2 jeweils nur 50.000 Euro. Bei der Muttergesellschaft sind keine stillen Reserven zu berücksichtigen, wenn die Beteiligungsveräußerungen (T- und T2-Anteile) bei ihr unter § 8b Abs. 2 KStG fallen würden und dadurch steuerfrei wären.

Wenn die Obergesellschaft, deren Anteile veräußert werden, z.B. über Beteiligungen verfügt, deren gemeiner Wert unter dem steuerlichen Buchwert liegt, darf maximal der bei Übertragung der Obergesellschaft vergütete gemeine Wert in die Berechnung der stillen Reserven aller nachgeschalteten Gesellschaften einfließen54. Dadurch soll wohl sichergestellt werden, dass der Umfang der Verschonung bei allen Gesellschaften des Konzerns insgesamt nicht höher ist als die mitbezahlten stillen Reserven auf der Ebene der erworbenen Gesellschaft. Im Falle einer mehrstufigen Holdingkonstruktion (z.B. M-Holding als Obergesellschaft, T-Holding als nachgeschaltete Holding und E als aktive Kapitalgesellschaft) können Kaskadeneffekte entstehen, wenn der Kaufpreis für M nur dem Preis der aktiven Untergesellschaft E entspricht. In diesem Fall tritt aber m.E. immer dann keine Deckelung ein, wenn für die M ein drittüblicher Kaufpreis gezahlt wird, in dessen Berechnung alle stillen Reserven eingeflossen sind. Fraglich ist aber, wie die stillen Reserven zu ermitteln sind, wenn die Anteile an einem Organträger, der über Verlustvorträge verfügt, veräußert werden. Wenn – wie so häufig – die stillen Reserven in den Wirtschaftsgütern der Organgesellschaft liegen, ist fraglich, ob bei der Berechnung der stillen Reserven des Organträgers gemäß § 8c Abs. 1 Satz 7 KStG auf die stillen Reserven in den Wirtschaftsgütern der Organgesellschaft abgestellt werden darf55, oder, ob auf die – gemäß § 8c Abs. 1 Satz 7 KStG nicht zu berücksichtigenden – stillen Reserven in der Beteiligung an der Organgesellschaft abgestellt werden muss56. M.E. sprechen folgende Umstände dafür, die stillen Reserven der Organgesellschaften beim Organträger mit zu berücksichtigen: Die Aufdeckung der stillen Reserven auf Ebene der Organgesellschaft löst beim Organträger steuerpflichtige Einkünfte aus und die während der Organschaft anfallenden Verluste der Organgesellschaft werden dem Organträger zugerechnet und haben dort ggf. zum Entstehen des Verlustvortrages geführt57. 3. Umwandlungssteuerrechtliche Rückwirkung Gemäß § 8c Abs. 1 Satz 8 KStG ist „bei der Ermittlung der stillen Reserven nur das Betriebsvermögen zu berücksichtigen, das der Verlustgesellschaft

___________ 54 55 56 57

Sistermann/Brinkmann, DStR 2009, 2633 (2636). So Sistermann/Brinkmann, DStR 2009, 2633 (2636). Zweifelnd Wittkowski/Hielscher, DB 2010, 11 (18). Ebenso Frey/Mückl, GmbHR 2010, 71 (76).

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Die Kapitalgesellschaft im Würgegriff des § 8c KStG?

ohne steuerliche Rückwirkung insbesondere ohne Anwendung des § 2 Umwandlungssteuergesetz, zuzurechnen ist.“ Dadurch soll eine rückwirkende Erhöhung des Verschonungspotenzials nach dem schädlichen Anteilserwerb durch eine umwandlungssteuerrechtliche Transaktion (Verschmelzung auf bzw. Einbringung in die Verlustgesellschaft) verhindert werden. Auf Umwandlungsvorgänge (Verschmelzungen/Einbringungen), die bereits im Vorfeld des schädlichen Beteiligungserwerbs durch Eintragung im Handelsregister wirksam geworden sind, findet die Regelung keine Anwendung. Es ist also durchaus möglich, die Verschonungssumme durch eine – nicht mit steuerlicher Rückwirkung versehene – Einbringung oder Verschmelzung zu erhöhen. Fraglich ist das Verhältnis zu § 2 Abs. 4 UmwStG. § 8c Abs. 1 Satz 8 KStG hat eine andere Zielrichtung als § 2 Abs. 4 UmwStG. Bei letzterer Vorschrift handelt sich um eine Regelung, die nur den an einer Umwandlung beteiligten übertragenden Rechtsträger betrifft. Inwieweit § 2 Abs. 4 UmwStG nach Einführung der oben angegebenen Verschonungsregelung noch eine Daseinsberechtigung hat, ist allerdings fraglich. Beispiel: § 2 Abs. 4 UmwStG betrifft folgenden Beispielsfall: Die A-GmbH hat Verlustvorträge in Höhe von 100.000 Euro. Die A-GmbH-Anteile werden am 1.8.2010 zu 100% veräußert. Die A-GmbH verfügt über 2 Teilbetriebe mit stillen Reserven von je 200.000 Euro. Unmittelbar nach dem schädlichen Erwerbsvorgang gliedert die A-GmbH einen der beiden Teilbetriebe in eine eigens zu diesem Zweck neu gegründete Tochtergesellschaft aus. Diese Ausgliederung wird steuerlich auf den 31.12.2009 zurückbezogen. Bei der Ausgliederung werden – auf der Ebene der A-GmbH – durch einen Zwischenwertansatz stille Reserven in Höhe von 100.000 Euro aufgedeckt. § 2 Abs. 4 UmwStG verbietet nun die Verrechnung der aufgedeckten stillen Reserven von 100.000 Euro mit den Verlustvorträgen, wenn die Verlustnutzung ohne die steuerliche Rückwirkung nicht möglich gewesen wäre.

Da aber gemäß § 8c Abs. 1 Satz 6 ff. KStG (Verschonungsregelung) im vorliegenden Beispielsfall die Verlustvorträge erhalten blieben, hätten die zum 31.12.2009 bestehenden Verlustvorträge auch dann mit den aufgedeckten stillen Reserven verrechnet werden können, wenn die Ausgliederung ohne Rückwirkung – also am 15.8.2010 – erfolgt wäre. Zwar hätte diese Verrechnung nicht zum 31.12.2009 erfolgen können. Dies dürfte allerdings für die Frage, ob eine Verlustnutzung auch ohne Rückwirkung möglich gewesen wäre, unerheblich sein. Im Beispielsfall läuft § 2 Abs. 4 UmwStG daher m.E. ins Leere. Es stellt sich deshalb die Frage, welchen Anwendungsbereich diese Regelung nach Einführung der oben angegebenen Verschonungsregelung überhaupt noch hat. Ein sachlicher Zusammenhang zwischen § 8c Abs. 1 Satz 8 KStG und § 2 Abs. 4 UmwStG, besteht m.E. nicht.

VI. Beteiligungserwerb zum Zwecke der Sanierung Durch das am 10.7.2009 vom Bundesrat verabschiedete „Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung“ wurde die Verlustabzugsbeschränkung nach § 8c KStG rückwirkend – bezogen auf alle nach dem 31.12.2007 erfolgten Anteils117

Ralf Neumann

übertragungen – um eine Sanierungsklausel (§ 8c Abs. 1a KStG) ergänzt58. Die zunächst im Gesetz noch enthaltene zeitliche Befristung dieser Regelung wurde durch das WaBeschG gestrichen. Die Rechtsfolgen des § 8c Abs. 1 KStG treten nach dem Konzept des § 8c Abs. 1a KStG bei einem der Sanierung dienenden Beteiligungserwerb vollumfänglich nicht ein. Die Finanzverwaltung NRW hatte noch am 30.3.2010 eine umfangreiche Verfügung zu Zweifelsfragen im Zusammenhang mit der Sanierungsklausel veröffentlicht59. Mit BMF-Schreiben vom 30.4.201060 hat die Bundesregierung allerdings entschieden, wegen Einleitung eines förmlichen Prüfverfahrens nach Art. 108 Abs. 2 AEUV durch die Europäische Kommission, die Anwendung des § 8c Abs. 1a KStG auszusetzen. Die Finanzverwaltung wendet § 8c Abs. 1a KStG ab dem Tag der Veröffentlichung des oben angegebenen BMF-Schreibens nicht mehr an. Das gilt selbst dann, wenn in Bezug auf die Anwendung der Sanierungsklausel bereits eine verbindliche Auskunft erteilt worden sein sollte. In vielen Fällen wird im Vertrauen auf eine solche verbindliche Auskunft ein Beteiligungserwerb stattgefunden haben, der sich nun für den Erwerber als Fehlkauf herausstellen könnte. Es stellt sich die Frage, welche rechtliche Wirkung die verbindliche Auskunft in einem solchen Fall erzeugen kann. Die betroffenen Steuer- oder Verlustfeststellungsbescheide werden zwar unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) zu erlassen, um die endgültige Entscheidung der EU-Kommission abwarten zu können. Art. 13 Abs. 2 der EU-Verordnung Nr. 659/1999 – betreffend das förmliche Prüfverfahren – bestimmt, dass die Kommission bei etwaigen rechtswidrigen Beihilfen entscheiden muss, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern. Die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Bescheide werden also wieder berichtigt werden müssen. Fraglich ist aber, ob es überhaupt eines Vorbehalts der Nachprüfung bedarf, denn gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 AO gilt die Abgabenordnung nur vorbehaltlich des Rechts der Europäischen Gemeinschaften. Die EU-Kommission begründet ihre beihilferechtliche Würdigung mit Schreiben vom 24.2.201061. Danach sei die „Maßnahme“ in Gestalt des § 8c Abs. 1a KStG selektiv, weil sie nicht allen Unternehmen gleichermaßen zugute komme, sondern nur solchen, die sowohl insolvenzgefährdet seien als auch Verluste verzeichneten, wohingegen diejenigen Verlustgesellschaften, die nur über Verluste verfügten, aber nicht insolvenzbedroht seien, keine Begünstigung erführen. Zum anderen handele es sich bei der Sanierungsbegünstigung um eine Ausnahme vom sog. Referenzsystem, denn im Regelfall gingen die Verluste einer Kapitalgesellschaft infolge einer Anteilsveräußerung nach § 8c Abs. 1 KStG stets unter.

___________ 58 BR-Drucks. 567/09. 59 Gemeinsame Verfügung der OFDen Rheinland und Münster v. 30.3.2010 – S 2745 1007 - St 131 (Rhld), S 2745a - 253 - St 13 - 33 (Ms). 60 BMF v. 30.4.2010 – IV C 2 - S 2745 - a/08/10005:002, BStBl. I 2010, 482. 61 ABl. 2010/C 90/8 v. 8.4.2010.

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Die Kapitalgesellschaft im Würgegriff des § 8c KStG?

Durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz wurde nun aber die Grundregel des § 8c KStG durch § 8c Abs. 1 Satz 6 ff. KStG (Verschonungsregelung) und § 8c Abs. 1 Satz 5 KStG (Konzernklausel) des in der Fassung des WaBeschG62 deutlich entschärft. Diese grundsätzlichen Verbesserungen gelten allerdings gemäß § 34 Abs. 7b Satz 2 KStG erstmals für Beteiligungserwerbe, die nach dem 31.12.2009, also ab 2010, erfolgen. Es stellt sich ab 2010 deshalb m.E. erneut die Frage nach dem Regel-Ausnahme-Verhältnis, denn zumindest bei Körperschaften, die über stille Reserven in ihrem inländischen Betriebsvermögen verfügen und Körperschaften, deren Anteile konzernintern umgehängt werden, bleiben die Verluste ab 2010 auch ohne eine Sanierungsbegünstigung erhalten. Folglich dürften danach nur noch wenige Fälle tatsächlich in den Anwendungsbereich der Vorschrift fallen. Ließe man § 8c Abs. 1a KStG in der verabschiedeten Fassung bestehen, so wären letztlich nur noch solche Körperschaften von den Restriktionen des § 8c KStG bedroht, die zwar über Verlustvorträge, nicht aber über stille Reserven verfügen und außerdem nicht insolvenzbedroht sind. Das sind in der Regel die früher durch § 8 Abs. 4 KStG a.F. sanktionierten typischen GmbH-Mäntel. Damit zielt die Vorschrift ab 2010 wieder deutlich stärker auf reine Missbrauchsfälle als früher. Es bleibt abzuwarten, ob die Kommission dies Aspekte bei ihrer Entscheidung berücksichtigen wird und die Rechtslage ab 2010 deshalb anders beurteilt, als die Rechtslage in den VZ 2008 und 2009.

VII. Resümee Während § 8c KStG in seiner in den VZ 2008 und 2009 geltenden Ursprungsversion erbarmungslos mit veräußerten Verlustkapitalgesellschaften umging, wurde der Würgegriff des Gesetzgebers durch das Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung (Sanierungsklausel)63 und das WaBeschG (Konzernklausel und Verschonungsregelung) beträchtlich gelockert. Verfügt die Gesellschaft über ausreichende stille Reserven, so sind die Verluste künftig nicht mehr gefährdet. Weniger solvente Gesellschaften dürften – wenn sie veräußert werden – häufig sanierungsbedürftig und sanierungsfähig sein und hatten deshalb regelmäßig begründete Hoffnung, in den Genuss der neuen Sanierungsbegünstigung kommen. Leider scheint diese wichtige Säule der Verlustabzugsregelung – im Falle einer negativen Entscheidung der EU-Kommission in der oben angegebenen Beihilfesache – nun wegzubrechen. Auch konzerninterne Umstrukturierungen werden noch nicht in allen Fallkonstellationen aus dem Anwendungsbereich des § 8c KStG ausgenommen. Gerade im Konzern wird es aber in vielen Fällen gelingen, mit Hilfe der Verschonungsregelung den Restriktionen des § 8c KStG zu entgehen. Die Ausgangsfrage lässt sich also nach den jüngsten gesetzgeberischen Maßnahmen eher mit „nein“ beantworten. Wenn die Kommission die Sanierungsklausel allerdings als Verstoß gegen Art. 107 AEUV wertet, so wird es für notleidende Gesellschaften auch in Zukunft keine Rettung für die erwirtschafteten steuerlichen Verluste geben.

___________ 62 Gesetz v. 22.12.2009, BGBl. 2009, 3950. 63 BR-Drucks. 567/09.

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Klaus Olbing

Die Berücksichtigung von Einkommen der Organgesellschaft bei dem Höchstbetrag für den Spendenabzug beim Organträger Von der Kritikfähigkeit und dem gesunden Menschenverstand des Anwalts

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die herrschende Meinung III. Kritische Überprüfung anhand des gesunden Menschenverstands

IV. Dogmatische Begründung des gesunden Menschenverstands 1. Körperschaft als Organträgerin 2. Natürliche Person als Organträger V. Zusammenfassung

I. Einleitung Als junger Anwalt habe ich von Herrn Dr. Michael Streck frühzeitig in bewundernswerter Weise vorgelebt bekommen, was einen guten Anwalt ausmacht. Das sind unter anderem: 1. Die Kritikfähigkeit nicht nur gegenüber dem Mandanten und dem Finanzamt, sondern auch gegenüber der „herrschenden Meinung“ und der „ständigen Rechtsprechung“. Die anwaltliche Tätigkeit und Kreativität fängt gerade dort an, wo man keine Fundstelle findet und/oder die herrschende Meinung eine andere Ansicht vertritt. 2. Der gesunde Menschenverstand, um das Schritt für Schritt durch Subsumtion entwickelte Ergebnis zu kontrollieren. Das formal-juristische Denken kann zu einer sachlogischen aber unsinnigen Lösung führen. Der Anwalt soll aber eine sinnvolle Lösung mit formal-juristisch zulässigen Mitteln erreichen. Anhand des Spendenabzugs im Rahmen der Organschaft soll dies verdeutlicht werden.

II. Die herrschende Meinung Es scheint der fast allgemeinen Ansicht zu entsprechen, dass im Rahmen der körperschaftsteuerlichen Organschaft gemäß den §§ 14 ff. KStG (und damit auch der gewerbesteuerlichen Organschaft nach § 2 Abs. 2 Satz 2 GewStG) der Spendenabzug nach § 10b EStG, § 9 Abs. 1 Nr. 2 KStG und § 9 Nr. 5 GewStG bei dem Organträger und der Organgesellschaft getrennt vorzunehmen ist. Bei der Ermittlung der entsprechenden Höchstbeträge (20% des Einkommens oder 4 ‰ der Summe der gesamten Umsätze und der im Kalender 121

Klaus Olbing

aufgewendeten Löhne und Gehälter) sollen die Werte der Organgesellschaft bei dem Organträger nicht berücksichtigt werden1. Nur vereinzelt wird diese Ansicht heute noch in Frage gestellt2. Das war nicht immer so. Die Finanzverwaltung hat schon seit jeher diesen Standpunkt vertreten (z.B. Abschn. 42 Abs. 5 KStR 1985). Die Literatur folgte dieser Ansicht3. Diese Sichtweise wurde erstmals von Gerlach 1986 in dem grundlegenden Aufsatz „Der Höchstbetrag für den Spendenabzug beim Organträger“4 mit gewichtigen Argumenten in Frage gestellt. Seiner Ansicht nach trage der Organträger kraft des Gewinnabführungsvertrags das Unternehmerrisiko und übe aufgrund der organschaftlichen Eingliederung auch die Unternehmerinitiative in Bezug auf das Unternehmen der Organgesellschaft aus. Der Organträger erfülle damit insoweit den Tatbestand der Einkunftserzielung. Das Organergebnis gehöre daher zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb bei dem Organträger. Beim einkommensteuerpflichtigen Organträger sei das Organergebnis in dessen Gesamtbetrag der Einkünfte im Sinne von § 10b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG und beim körperschaftsteuerpflichtigen Organträger in dessen Einkommen im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 2 Ziffer 1 KStG enthalten. Folglich sei das Organergebnis bei der Berechnung des Spendenhöchstbetrags beim Organträger zu berücksichtigen. Das FG Düsseldorf hat sich in seiner Entscheidung vom 18.3.19915 erstmals mit dieser von Gerlach aufgeworfenen Problematik auseinandergesetzt. Es ging in diesem Fall um eine Familienstiftung, die Anteile an einer KGaA hielt, die wiederum als Organträger gegenüber mehreren Organgesellschaften fungierte. Die Familienstiftung errichtete eine weitere Stiftung und stellte das Stiftungskapital zur Verfügung. Die Familienstiftung machte für diese Erstausstattung den Spendenabzug nach § 9 Nr. 3a KStG in der damaligen Fas-

___________ 1 Zur Zurechnung des Einkommens BFH v. 23.1.2002 – XI R 95/97, BStBl. II 2003, 9; zur Zurechnung des Umsatzes FG Düsseldorf v. 18.3.1991 – 6 K 117/86, EFG 1991, 750; allgemein H 46 Abs. 5 KStR; H 10b.3 EStR „Höchstbetrag in Organschaftsfällen“; Brandt in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 10b EStG Rz. 96; Danelsing in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 14 KStG Rz. 238; Frotscher in Frotscher/Maas, KStG, § 14 Rz. 286, 303; von Groll, DStR 2004, 1193 (1194); Heger in Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 9 Rz. 40; Heinicke in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 10b Rz. 60; Herlinghaus in Herzig, Organschaft, 2003, S. 133 (137); Hofmeister in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 9 KStG Rz. 107; Hutter, HFR 2002, 797; Kolbe in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 14 KStG Rz. 82, 85 ff., 93 f.; Krämer in Dötsch/Jost/Pung/Witt, Die Körperschaftsteuer, § 9 KStG Rz. 326 ff.; Limberg in Frotscher/Maas, KStG, § 10b EStG Rz. 57; Müller/Stöcker, Die Organschaft, 7. Aufl. 2008, Rz. 533 und 610; Neumann in Gosch, KStG, § 14 Rz. 406 und 442; Olgemöller in Streck, KStG, 7. Aufl. 2008, § 9 Rz. 23; Schuhmann, Die Organschaft, 3. Aufl. 2001, 74; Stahl/Demuth in Korn, EStG, § 10b Rz. 40; Wischmann, EStB 2002, 309. 2 Olbing in Streck, Stand 1986, § 14 Rz. 163: „zweifelhaft“; Walter in Ernst & Young, KStG, § 14 Rz. 856: „Störgefühl“; Wendt, FR 2002, 787: „kaum überzeugend“. 3 Z.B. Krebs in Hermann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, Stand 1986, § 9 KStG Rz. 74; Jost in Dötsch/Eversberg/Jost/Witt, Die Körperschaftsteuer, Stand 1986, § 9 KStG Rz. 74. 4 Gerlach, DB 1986, 2357. 5 FG Düsseldorf v. 18.3.1991 – 6 K 117/86, EFG 1991, 750.

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Spendenhöchstbetrag in der Organschaft

sung geltend. Dabei begehrte sie, bei der Ermittlung des Höchstbetrags die Umsätze sowie Löhne und Gehälter des gesamten Organkreises zu berücksichtigen. Das FG Düsseldorf wies die Klage insoweit ab und ließ die Revision zu. Unter Hinweis auf Abschn. 42 Abs. 4 KStR in der damaligen Fassung vertrat es die Ansicht, dass nur die eigenen Umsätze des Organträgers zu berücksichtigen seien. Die Umsätze der Organgesellschaften seien wie das Einkommen getrennt zu ermitteln und dem Organträger lediglich zuzurechnen. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass die Umsätze doppelt berücksichtigt würden. Der BFH hob diese Entscheidung aus anderen Gründen auf, ohne sich mit der Problematik des Höchstbetrags und der Berücksichtigung von Umsätzen der Organgesellschaften auseinandersetzen zu müssen6. Hingegen schloss sich das FG Münster7 der Auffassung von Gerlach an. In dem zu entscheidenden Fall war die Klägerin an mehreren Personengesellschaften beteiligt. Diese Personengesellschaften waren Organträgerinnen von Kapitalgesellschaften. Im Rahmen des § 10b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG wurde bei der Ermittlung des Höchstbetrags die Berücksichtigung des Einkommens der Organgesellschaften beantragt. Das FG gab der Klage statt und ließ die Revision zu. Es fehle eine ausdrückliche Regelung dazu, dass bei Organträgern das von den Organgesellschaften erlangte Einkommen nicht bei der Bemessung des Höchstbetrags zum Spendenabzug zu berücksichtigen sei. Die damit verbundene Gefahr einer doppelten Berücksichtigung des Einkommens der Organgesellschaft bei dem Spendenabzug auf der Ebene der Organgesellschaft und des Organträgers sei hinzunehmen. Der BFH hob diese Entscheidung auf und setzte sich erstmals mit der Ansicht von Gerlach auseinander8. Der Höchstbetrag nach § 10d Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG knüpfe an den Begriff des „Gesamtbetrags der Einkünfte“ gemäß § 2 Abs. 3 EStG an. Hierzu zählten nur die Einkünfte, die ein Steuerpflichtiger im Rahmen der sieben Einkunftsarten selbst erziele. Die Organgesellschaften ermitteln jedoch ihr jeweiliges Einkommen selbständig. Die Zurechnung beim Organträger erfolge nicht im Rahmen der Gewinnermittlung, sondern als Zurechnung fremden Einkommens. Das Einkommen des Organträgers und das „zuzurechnende“ Einkommen der Organgesellschaften bildeten das vom Organträger zu versteuernde „Gesamteinkommen“. Ansonsten bestünde die Gefahr einer doppelten Berücksichtigung des Einkommens der Organgesellschaft. Rechtsprechung zur (Nicht-)Berücksichtigung des Einkommens bei einem Organträger in der Rechtsform einer Körperschaft im Rahmen des § 9 Nr. 2 Ziffer 1 KStG liegt bisher nicht vor. Dennoch geht die überwiegende Meinung davon aus, dass auch hier das Einkommen der Organgesellschaft nicht zu

___________ 6 BFH v. 5.2.1992 – I R 63/91, BStBl. II 1992, 748. 7 FG Münster v. 29.1.1997 – 4 K 1884/94 E, EFG 1997, 704. 8 BFH v. 23.1.2002 – XI R 95/97, BStBl. II 2003, 9.

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berücksichtigen sei9. Bei § 9 KStG handele es sich um eine Einkommensermittlungsvorschrift. Die Zurechnung des Organeinkommens erfolge auf einer späteren Stufe als fremdes Einkommen. Wie diese Zurechnung rechtsdogmatisch genau zu verstehen ist, ist streitig10. Diese Rechtsauffassung ist seit dem Urteil des BFH von 200211 nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt worden.

III. Kritische Überprüfung anhand des gesunden Menschenverstands Die oben beschriebene Ansicht scheint in sich schlüssig. Sie kann für den Organträger vorteilhaft sein. Hat z.B. der Organträger positives und die Organgesellschaft negatives Einkommen, reduziert sich der Höchstbetrag nach § 9 Nr. 2 Ziffer 1 KStG auf der Ebene des Organträgers nicht entsprechend um das zuzurechnende negative Einkommen der Organgesellschaft. Sie ist hingegen nachteilig, wenn die Organgesellschaft positives Einkommen hat. Jede einzelne Organgesellschaft kann entsprechend der eigenen Einkünfte nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 KStG Spenden tätigen. Spendet sie zu viel, ist seit 2007 bei ihr nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 Satz 3 KStG der Zuwendungsvortrag gesondert zu ermitteln und festzustellen12. Dennoch bleibt ein Störgefühl. Warum soll aufgrund der Zurechnungsart das Einkommen der Organgesellschaft beim Organträger nicht berücksichtigt werden? Für die Differenzierung zwischen „eigenem“ und „fremdem“ Einkommen findet sich keine gesetzliche Grundlage. Ebenso fehlt den vom BFH in der Entscheidung aus 200213 bei der Zurechnung bei einer Personengesellschaft als Organträger gewählten Begriffen (z.B. „zu versteuerndes Gesamteinkommen“) die gesetzliche Grundlage. Hinzu kommt eine banale Herleitung. Erzielt eine natürliche – unbeschränkt steuerpflichtige – Person Einkünfte im Sinne von § 2 Abs. 1 EStG, sind diese Einkünfte im Rahmen des § 10b EStG als Teil des Gesamtbetrags der Einkünfte zu berücksichtigen. Verlagert der Steuerpflichtige einzelne Teile seiner Tätigkeit auf eine Personengesellschaft, ändert sich nichts. Im Rahmen der gesonderten und einheitlichen Feststellung werden dem Gesellschafter anteilig die entsprechenden Einkünfte sowie anteilig die von der Personengesellschaft geleisteten Spenden zugerechnet14. Ist der Steuerpflichtige an einer Kapitalgesellschaft beteiligt, sind die Gewinnausschüttungen als Einkünfte aus Kapitalvermögen Bestandteil des Gesamtbetrags der Einkünfte und damit bei § 10b EStG zu berücksichtigen. Ob

___________ 9 Vgl. Nachweise bei Fn. 1. 10 Vgl. dazu nur R 29. Abs. 2 KStR; Wassermeyer, GmbHR 2003, 313 und Frotscher in Frotscher/Maas, § 14 KStG Rz. 7 ff. sowie 301 ff. 11 BFH v. 23.1.2002 – XI R 95/97, BStBl. II 2003, 9. 12 Vgl. dazu Krämer in Dötsch/Jost/Pung/Witt, § 9 KStG Rz. 332. 13 BFH v. 5.2.1992 – I R 63/91, BStBl. II 1992, 748. 14 Vgl. dazu BFH v. 8.8.1990 – X R 149/88, BB 1991, 127 sowie Krämer in Dötsch/Jost/ Pung/Witt, § 9 KStG Rz. 333.

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Spendenhöchstbetrag in der Organschaft

und in welcher Höhe die Kapitalgesellschaft selbst Spenden erbracht hat, ist irrelevant. Eine anteilige Hinzurechnung der Spenden wie bei der Personengesellschaft findet nicht statt. Es besteht damit die „Gefahr“ einer doppelten Berücksichtigung des Einkommens der Kapitalgesellschaft beim Spendenabzug, nämlich auf der Ebene der Kapitalgesellschaft sowie auf der Ebene des Gesellschafters in Form der Gewinnausschüttung, die durch die Spende und die von der Kapitalgesellschaft zu entrichtenden Steuern reduziert wird. Der Gesetzgeber toleriert damit zumindest insoweit eine doppelte Berücksichtigung von Einkünften beim Spendenabzug. Und nun kommt der Schritt, den der gesunde Menschenverstand nicht mehr nachvollziehen kann: Besteht zwischen Steuerpflichtigem und Kapitalgesellschaft ein Organschaftsverhältnis, dann werden die Gewinne nicht mehr ausgeschüttet, sondern abgeführt. Soll in diesem Fall auf einmal Anderes gelten? An der doppelten Berücksichtigung kann es nicht liegen. Bliebe als Argument nur noch die Zurechnungsart des Einkommens der Organgesellschaft beim Organträger. Kann es aber sein, dass das durch die Begründung einer Organschaft auf einmal nicht mehr ausgeschüttete, sondern abgeführte Ergebnis der Tochtergesellschaft bei dem Gesellschafter nicht mehr im Rahmen des § 10b EStG zu berücksichtigen ist? Das Näherrücken der Kapitalgesellschaft durch den Gewinnabführungsvertrag soll wirklich zu einem Wegrücken des Beteilungsertrags in der Besteuerung des Organträgers führen? Die Frage stellen, heißt sie zu verneinen.

IV. Dogmatische Begründung des gesunden Menschenverstands 1. Körperschaft als Organträgerin Am leichtesten scheint die dogmatische Begründung, wenn der Organträger eine Körperschaft im Sinne des KStG ist. Nach § 14 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbs. KStG ist das Einkommen der Organgesellschaft dem Organträger zuzurechnen. Nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 Ziffer 1 KStG ist Bezugsgröße für den Höchstbetrag das Einkommen. Eine Differenzierung zwischen fremdem und eigenem Einkommen ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Auch § 9 Abs. 2 KStG unterscheidet nicht zwischen eigenem und fremdem Einkommen. Ohne Berücksichtigung der Zurechnungstheorie der herrschenden Meinung wäre das Einkommen der Organgesellschaft dem Organträger zuzurechnen. Noch deutlicher ist die Begrifflichkeit im GewStG. Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 GewStG gilt die Organgesellschaft als Betriebstätte des Organträgers. Nach § 9 Nr. 5 GewStG bemisst sich der Höchstbetrag nach dem um die Hinzurechnung nach § 8 Nr. 9 GewStG erhöhten Gewinn aus Gewerbebetrieb gemäß § 7 GewStG. Eine Differenzierung nach eigenem und fremdem Gewinn findet sich auch hier nicht15.

___________ 15 Der BFH vertritt in diesem Zusammenhang eine eingeschränkte Einheits- oder Finaltheorie (st. Rechtsprechung seit BFH v. 6.10.1953 – I 29/53, BStBl. III 1953, 329; R 2.3 (1) „Allgemeines“ sowie R 7.1. (5) GewStR; dazu Obermeier in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 2 Rz. 675 und 681, m.w.N. Danach behalten der Organträger

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Sowohl für die Körperschaft als auch für die Gewerbesteuer vertreten der BFH und die herrschende Meinung die Ansicht, dass das Einkommen bzw. der Gewerbeertrag für den Organträger und die Organgesellschaft gesondert zu ermitteln sei. § 9 KStG und § 9 GewStG sind Einkommens-/Ertragsermittlungsvorschriften. Spenden sind handelsrechtlich sonstige betriebliche Aufwendungen im Sinne von § 275 Abs. 2 Nr. 8 HGB16. Da es nach der zutreffenden Ansicht des BFH bei der Körperschaft keine außerbetriebliche Sphäre gibt17, sind zunächst alle Spenden Betriebsausgaben. § 9 Nr. 2 KStG begründet damit nicht die Abzugsfähigkeit der Spenden, sondern begrenzt deren Abzugsfähigkeit18. Vor diesem Hintergrund muss die Vorschrift unter Berücksichtigung von deren Sinn und Zweck ausgelegt werden, wobei im Zweifel die für den Steuerpflichtigen günstigere Auslegung zu wählen ist. Sinn und Zweck des § 9 Abs. 1 Nr. 2 KStG ist die Förderung bürgerschaftlichen Engagements19. Durch das Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements20 sollte insbesondere durch die Anhebung und Angleichung der Höchstbeträge die Spendenbereitschaft gestärkt werden. Die Höchstbeträge haben den Sinn, das Ausmaß der steuerlichen Abzugsfähigkeit auf ein aus Sicht des Gesetzgebers vernünftiges Maß zu beschränken. Die herrschende Meinung sieht die Rechtfertigung der getrennten Berechnung des Höchstbetrags unter anderem darin, dass ansonsten die Gefahr besteht, durch eine doppelte Berücksichtigung des Einkommens der Organgesellschaft die Höchstbetragsbegrenzung zu unterlaufen. Dass es bei einem normalen Tochter-Mutter-Verhältnis zu einer doppelten Berücksichtigung kommt, wurde bereits dargelegt. Durch die vollständige Nicht-Berücksichtigung erleidet der Organträger einen Nachteil gegenüber der Mutter-Körperschaft, die keinen Ergebnisabführungsvertrag abgeschlossen hat. Zur Verdeutlichung ein vereinfachtes Beispiel: Die A-GmbH ist alleinige Gesellschafterin der B-GmbH. Beide haben ein Einkommen von 100. Die Steuerbelastung der GmbHs beträgt 30%. (1) Wird nicht ausgeschüttet und besteht keine Organschaft, hat jede GmbH einen eigenen Höchstbetrag in Höhe von 20. (2) Nutzt die B-GmbH den Höchstbetrag in Höhe von 20 aus, kann sie nach Abzug der Steuern in Höhe von 24 insgesamt 56 an die A-GmbH ausschütten. Unter Berücksichtigung des § 8b Abs. 3 KStG würde sich das Einkommen der B-GmbH um 55,16 erhöhen. Ihr stünde zumindest teilweise das Einkommen der B-GmbH als eigenes Einkommen zu. Der Höchstbetrag der A-GmbH würde sich entsprechend erhöhen.

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und die Organgesellschaft ihre Selbstständigkeit. Jeder habe seinen Gewerbeertrag getrennt zu ermitteln. Auf der Ebene des Organträgers werde der Gewerbeertrag dann zusammengefasst. Vgl. nur Förschle in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 7. Aufl. 2010, § 275 HGB Rz. 171. BFH v. 4.12.1996 – I R 54/95, BFH/NV 1997, 190. So auch Krämer in Dötsch/Jost/Pung/Witt, § 9 KStG Rz. 91. Vgl. nur BT-Drucks. 16/5200, 12. BGBl. I 2007, 2332.

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Spendenhöchstbetrag in der Organschaft

(3) Besteht ein Organschaftsverhältnis und nutzt die B-GmbH den vollen Höchstbetrag, führt sie an die A-GmbH 80 ab. Es ergibt sich damit bei ihr ein Steuervorteil von 1,49 (80 – 55,16 = 24,84 × 20% Höchstbetrag × 30% Steuersatz = 1,49) gegenüber dem ausgeschütteten Gewinn. Da sie sich nach der h.M. überhaupt keinen Betrag der Tochter-GmbH zurechnen können lassen soll, entgeht ihr vollständig der Vorteil im Ausschüttungsfall in Höhe von 3,31 (= 55,16 × 20% Höchstbetrag × 30% Steuersatz). Nun stellt sich die Frage, was dem Sinn des Gesetzgebers eher entspricht: die komplette Versagung eines steuerlichen Vorteils, „nur“ weil man einen Ergebnisabführungsvertrag abgeschlossen hat, oder die Billigung eines geringen Vorteils? Der Gesetzgeber hätte die Möglichkeit, diesen Vorteil zu beseitigen, indem er z.B. anordnete, dass auch die Spenden der Organgesellschaft dem Organträger zuzurechnen sind. Da es sich bei § 9 Abs. 1 Nr. 2 KStG und § 9 Nr. 5 GewStG um begrenzende Vorschriften handelt, gibt es aus meiner Sicht nur eine Antwort: der Vorteil ist zu gewähren. In diesem Zusammenhang muss schließlich berücksichtigt werden, dass der Höchstbetrag vorrangig darauf abstellt, anhand der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen eine Begrenzung vorzunehmen. Wie sich diese Leistungsfähigkeit ergibt, ist irrelevant, solange es sich beim Spender um steuerpflichtiges Einkommen handelt. Wie sich dieses steuerpflichtige Einkommen zusammensetzt, ist für den Höchstbetrag ohne Bedeutung: ob durch eigenes Einkommen, ob durch ausgeschüttete Gewinne oder durch abgeführte Gewinne. Aufgrund des Ergebnisabführungsvertrags wird die Leistungsfähigkeit des Organträgers erhöht, unabhängig davon, wie die Zurechnung erfolgt: ob als Gewerbeertrag, wie Gerlach annimmt21, oder auf der 2. (oder 3.) Stufe der Gewinnermittlung, ob innerhalb der Steuerbilanz oder außerhalb22. Der Organträger versteuert dieses Einkommen. Er muss deshalb auch die Möglichkeit haben, in entsprechender Höhe Spenden geltend zu machen. Ob und in welchem Ausmaß der Rechtsträger, von dem dieses Einkommen stammt, selbst bereits Spenden geltend gemacht hat, spielt keine Rolle. Im Ergebnis ist damit beim Organträger im Rahmen des § 9 Abs. 1 Nr. 2 KStG und § 9 Nr. 5 GewStG das Einkommen der Organgesellschaft bei der Bemessung des Höchstbetrags zu berücksichtigen. 2. Natürliche Person als Organträger Bei einer natürlichen Person als Organträger scheint es anders zu sein. Hier ist die Begrifflichkeit bereits eine andere. Nach § 14 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbs. KStG ist das Einkommen der Organgesellschaft dem Organträger zuzurechnen. Dies deutet auf die Zurechnung auf der Ebene von § 2 Abs. 4 EStG hin. Nach § 10b Abs. 1 Nr. 1 EStG ist Bemessungsgrundlage für den Höchstbetrag jedoch der Gesamtbetrag der Einkünfte im Sinne von § 2 Abs. 3 EStG. So geht der BFH dann auch davon aus, dass das Einkommen der Organgesellschaft in

___________ 21 Gerlach, DB 1986, 2357. 22 Vgl. dazu Kolbe in Herrmann/Heuer/Raupach, § 14 KStG Rz. 86, m.w.N.

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Klaus Olbing

das zu versteuernde Einkommen (§ 2 Abs. 5 EStG) des Organträgers einfließt23. Hinzu tritt das Problem, dass § 10b EStG im Gegensatz zu § 9 KStG keine begrenzende, sondern eine begünstigende Norm ist. Spenden sind, von Ausnahmefällen abgesehen, keine Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten24. Ohne betriebliche bzw. berufliche Veranlassung können Spenden erst und nur aufgrund des § 10b EStG steuerlich zum Ansatz gebracht werden. Nun kommt es häufiger vor, dass die Terminologie der Steuergesetze nicht immer einwandfrei aufeinander abgestimmt ist. Dies gilt insbesondere im Organschaftsrecht25. Aber kann man sich gegen den eindeutigen Wortlaut des Gesetzes wenden? Kolbe26 vertritt den Standpunkt, § 14 KStG bestimme lediglich die Rechengröße des zuzurechnenden Betrags. Wie die Zurechnung zu erfolgen habe, ergebe sich nicht aus dem Gesetz. So wird es im Rahmen des § 10d EStG auf der Ebene des Organträgers als unproblematisch angesehen, negatives Einkommen der Organgesellschaft zu berücksichtigen, obwohl dort von „negativen Einkünften, die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichen werden“, gesprochen wird27. Zurechnungsfragen werden hier nicht problematisiert. Wirtschaftlich ist die Problematik die gleiche wie bei der Körperschaft als Organträger. Ohne Gewinnabführungsvertrag könnten die ausgeschütteten Gewinne als Einkünfte aus Kapitalvermögen geltend gemacht werden und damit im Rahmen des § 10b EStG Berücksichtigung finden, und das, obwohl damit zumindest teilweise eine doppelte Berücksichtigung des Einkommens der ausschüttenden Gesellschaft beim Spendenabzug auf der Ebene der Gesellschaft und des Gesellschafters verbunden ist. Auch § 10b EStG orientiert sich bei dem Höchstbetrag an der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen, soweit ihr steuerpflichtige Einnahmen zugrunde liegen. Wie sich diese Einnahmen zusammensetzen, muss auch hier irrelevant sein. Ob und in welchem Ausmaß auf einer vorangegangenen Stufe ein Spendenabzug vorgenommen wurde, ist ebenso ohne Bedeutung. Es ist damit aus meiner Sicht durchaus vertretbar, dass im Rahmen des § 10b EStG der abgeführte Gewinn bereits dem Gesamtbetrag der Einkünfte zugerechnet wird.

V. Zusammenfassung Die herrschende Meinung, wonach im Rahmen von § 10b EStG, § 9 Abs. 1 Nr. 2 KStG sowie § 9 Nr. 5 GewStG das Einkommen der Organgesellschaft beim Organträger nicht zu berücksichtigen ist, mag logisch hergeleitet sein.

___________ 23 BFH v. 23.1.2002 – XI R 95/97, BStBl. II 2003, 9 (10). 24 Vgl. dazu BFH v. 25.11.1987 – I R 126/85, BStBl. 1988 II, 220; Brandt in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 10b Rz. 10 sowie Heinicke in Schmidt, § 4 Rz. 520 „Spende“. 25 Vgl. nur Kolbe in Herrmann/Heuer/Raupach, § 14 KStG Rz. 86, m.w.N. 26 Kolbe in Herrmann/Heuer/Raupach, § 14 KStG Rz. 86. 27 Vgl. nur Herlinghaus in Herrmann/Heuer/Raupach, § 15 KStG Rz. 38.

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Spendenhöchstbetrag in der Organschaft

Sie kommt jedoch zu einem unsachgemäßen Ergebnis. Das wirtschaftlich sachgerechte Ergebnis, nämlich die Berücksichtigung des Einkommens, ist ebenfalls begründbar. Sie verdient den Vorzug. So bleibt es, diese Ansicht durchzusetzen. Dazu führen wir ein Musterverfahren, um die Rechtsfrage möglichst rasch dem BFH vorlegen zu können. In diesem Zusammenhang wird sich eine weitere Grundtugend anwaltlichen Handelns beweisen dürfen, die Herr Dr. Michael Streck uns mit Hingabe vorlebt: Die Freude an einem sachlichen Streit.

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Herbert Olgemöller

Tarifrechtliche Trouvaillen Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Der Tarifstreit im Steuerrecht III. Der Zolltarifstreit IV. Kleine Preziosenschau 1. Nachthemden

2. Tamagotchi 3. Kinder-Überraschung 4. Was ist Bier? 5. Vitamin C V. Schlussbemerkung

I. Einleitung Die Überschrift setzt gattungstypische Stilmittel – Alliteration und fremdsprachlichen Verschlüsselungsreiz – ein, um Aufmerksamkeit, vornehmlich die eines – nicht nur – berufsbedingten Viellesers auf ein abgabenrechtliches Randgebiet zu lenken (welches, um es vorwegzunehmen, für den Primäradressaten dieses Beitrags indessen keines ist1, aus den zum Schluss hin näher erläuterten Gründen natürlich keines sein kann). Das französische Wort trouvaille2 hat eine doppelte Bedeutung. Dem natürlichen Wortsinne nach bezeichnet es (abstrakt) den Fund bzw. (konkret) ein einzelnes Fundstück in der Konnotation als Glücksfund, Glückstreffer, Schnäppchen. Im übertragenen Sinne steht es für den glücklichen Einfall, den Geistesblitz3. Soweit als Lehnwort in der deutschen Sprache verwandt, soll der Ausdruck am treffendsten mit erfreulicher Zufallsfund4 übersetzt werden können. Das erste Mal überhaupt vernahm der Verfasser, damals noch Referendar, diesen frankophile Leidenschaft bezeugenden Ausdruck aus dem Munde von Herrn Streck und musste die Vokabel, nur phonetisch wahrgenommen, mühsam in deutsch-französischen Nachschlagewerken aus der Schulzeit recherchieren. Das war Anfang 1991, ist also gut zwanzig Jahre her. Der Generation von damals waren die Wohltaten auf Knopfdruck abrufbarer digitaler wissensbasierter S(uchs)ysteme – Google, Wikipedia, juris & Co – noch fern. Die etymologische Wurzel des dem erläuterten Nomen vorangestellten Eigenschaftsworts entstammt noch ferneren geografischen Ursprungs. „Das Wort Tarif stammt aus dem Arabischen, es bedeutet Bekanntmachung, Preisliste (zu arabisch ’arrafa, bekannt machen). Es wurde im Arabischen besonders bei Zolltarifen verwendet, auch die Stadt Tarifa hat daher ihren Namen, weil

___________ 1 S. Streck/Olgemöller, DB 2006, 974. 2 Verbform trouver = finden. 3 So das Rechercheergebnis in der Internet-Ausgabe von Larousse, Dictionnaire Francais-Allemand. 4 Nach Wiktionary, dem freien (Internet-)Wörterbuch.

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sie genau an der Meerenge von Gibraltar liegt und die die Meerenge kreuzenden Schiffsführer dort für das Passieren eine Gebühr entrichten mussten. Auf dem Weg über das italienische tariffa und das fränzösische tarif gelangte es als Lehnwort in die deutsche Sprache.“ – so die instruktiven Erläuterungen in Wikipedia zu diesem Stichwort. Auf dem Sektor des Öffentlichen Rechts markieren Tarife den Umfang der Belastung mit durch das Gemeinwesen auferlegten Abgaben5, insbesondere durch – gegenleistungslose – Steuern als Hauptfinanzierungsinstrument des Steuerstaats6. Der Tarif gibt die Höhe und Berechnung einer Steuer bzw. allgemeiner gefasst: einer Abgabe vor. Damit ist der Bogen, jedenfalls ein erster Teil des Bogens geschlagen. Die Überschrift bezweckt, den Blick auf einen Winkel des Abgabenrechts – das Zoll(tarif)recht – zu fokussieren, der für die meisten Steuerrechtler ein Buch mit sieben Siegeln7 ist.

II. Der Tarifstreit im Steuerrecht Das nationale Steuerrecht bestimmt das Maß staatlich oktroyierter Teilhabe ganz überwiegend durch Festlegung von Prozentsätzen auf eine gesondert definierte Bemessungsgrundlage. Ein solcher Tarif wird in Differenzierung zum Steuerbetragstarif8 als Steuersatztarif bezeichnet9. Diese subtilen Abgrenzungen hindern Gesetzgebung10 und Praxis nicht, die Begriffe Steuersatz und Tarif in der Diskussion über steuerliche Sachverhalte als gegeneinander substituierbare Synonyme zu verwenden. Ungeachtet der Terminologie nehmen Fragestellungen den Steuersatz = Tarif betreffend im Tagesgeschäft des steuerlichen Beraters einen überschaubaren Raum ein. Sie sind, wenn überhaupt, zumeist nur von mittelbarer Bedeutung. Wird auf dem Gebiet des Steuerrechts um den Tarif gestritten, geht es im Allgemeinen nicht um die Rechtmäßigkeit des Steuersatzes = Tarifs als solchen, sondern um seine Anwendungsvoraussetzungen in personeller, sachlicher oder zeitlicher Hinsicht. Der Tarif als solcher ist nur in Ausnahmefällen Gegenstand der Gestaltungsberatung und noch seltener Gegenstand steueranwaltlicher Abwehrberatung. Ein solcher Ausnahmefall kann vorliegen, wenn einem Steuertarif prohibitive Wirkung bzw. konfiskatorischer Charakter zukommt11. Dies ist bei den Tarifen der großen Bundessteuern, sieht man von der fruchtlosen Diskussion um

___________ 5 Zur Systematisierung des Systems der Öffentlichen Lasten allg. sowie speziell zum Abgabenbegriff eingehend und lehrreich Stober in Wolff/Bachof/Stober/Kluth, VerwR I, 2007, § 42. 6 Zum Steuerstaatsprinzip s. BVerfG v. 7.11.1995 – 2 BvR 413/88 und 1300/93, BVerfGE 93, 319 (342) – Wasserpfennig. 7 Pars pro toto Zimmermann in Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl. 2007, Einl. 20. Kapitel. Zoll, Tz. 1 (S. 1210). 8 Z.B. bei der Kfz-Steuer (Mengentarif). 9 Wikipedia, Stichwort: Steuertarif. 10 Beispiele: Splittingtarif (§ 32a Abs. 5 EStG), Tarifbegünstigung gewerblicher Einkünfte (§ 32c EStG). 11 Vgl. Mußgnug, JZ 1991, 993; BVerfG v. 1.4.1971 – 1 Bvl 22/67, BVerfGE 31, 8 (29).

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Tarifrechtliche Trouvaillen

den sog. Halbteilungsgrundsatz12 ab, bislang nicht ernsthaft geltend gemacht worden13. Als Ausnahmebeispiel sticht der sog. Betriebstättensteuersatz des alten Körperschaftsteuerrechts noch unter der Ägide des Anrechnungsverfahrens hervor. Dem Betriebstättensteuersatz für ausländische Betriebstätten wurde breite Publizität zuteil und führte, da europarechtswidrig-diskriminierend, zu der bemerkenswerten Rechtsfolge normerhaltender teleologischer Reduktion14. Als aktueller Bezug dürfte Herrn Streck das von ihm durchgefochtene Verfahren zu § 8a GewStG 200315 in den Sinn kommen. Dass Tariffragen im Steueralltag eine im Übrigen eher bescheidene Rolle spielen, liegt zudem daran, dass im allgemeinen Steuerrecht die Steuersätze einigermaßen konstant und – anders als die Sachverhaltsverwirklichung – im Normalfall nicht beeinflussbar sind, mithin es sich beim Steuersatz in weiten Teilen eben um eine hinzunehmende Grundgegebenheit handelt. Gestaltungsmöglichkeiten indessen tun sich auf, wo ein Tarifgefälle besteht oder wenn Tarife sich ändern. Tariffragen spielen folglich auch im allgemeinen Steuerrecht eine Rolle dort, wo das Steuergesetz mit unterschiedlichen Steuersätzen = Tarifen arbeitet. Zur Illustration eines Tarifgefälles reicht es an dieser Stelle aus, die zwei wohl prominentesten Beispiele anzuführen: – Das Umsatzsteuergesetz ist geprägt von der Dichotomie zwischen Regelsteuersatz16 und begünstigtem17 Steuersatz. Je weiter die Schere auseinandergeht, umso attraktiver macht dies den Streit in den Grenzbereichen. Auch sorgt die Rechtsprechung dafür, dass es zu Verschiebungen nach oben kommt, sei es, weil in bestimmten Wirtschaftsbereichen die Grenzen präziser gesteckt18, sei es, weil Grauzonen fiskalisch mehr und mehr durchdrungen werden19. – Das Ertragsteuerrecht kennt die Differenzierung zwischen dem progressiven Einkommensteuersatz und dem begünstigten Steuersatz des § 34 EStG, wenngleich der Gesetzgeber den Anwendungsbereich der Begünstigung zwischenzeitlich stark eingedampft hat20. Als der Verfasser vor zwanzig Jahren seine anwaltliche Laufbahn begann, war der Streit um die Begünsti-

___________ 12 BFH v. 11.8.1999 – XI R 77/97, BStBl. II 1999, 771; BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97. 13 Anders, wenn auch bislang im Ergebnis ebenso erfolglos, bei den kleinen Gemeindesteuern, z.B. Zweitwohnungssteuer (VGH BW v. 28.12.1992 – 2 S 1557/90, juris); Spielautomatensteuer (OVG NRW v. 22.2.1989 – 16 B 3000/88, NVwZ 1989, 588); Kampfhundesteuer (OVG RhPf v.19.9.2000 – 6 A 10789/00, NVwZ 2001, 228 mit Kritik bei Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 3, S. 50). 14 BFH v. 9.8.2006 – I R 31/01, BStBl. II. 2007, 838. 15 BFH v. 7.4.2010 – I R 42/09, BFH/NV 2010, 1656. 16 Gegenwärtig 19 % – mit steigender Tendenz. 17 Seit 1.7.1983 bei 7 % verharrend. 18 S. die unendliche Geschichte der Restaurationsumsätze, aktuell den Vorlagebeschluss BFH v. 27.10.2009 – V R 3/07, BStBl. II 2010, 372, mit Anm. Grune, AkStR 2010, 87. 19 Z.B. Regel- statt begünstigter Steuersatz bei Leistungsbündeln (Mailingaktionen), vgl. BFH v. 15.10.2009 – XI R 52/06, BFH/NV 2010, 170. 20 Zur Rechtsentwicklung Drenseck in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 34 EStG Rz. 2.

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gung der §§ 16, 34 EStG ein steuerlicher Dauerbrenner und somit bestens dazu geeignet, als junger Anwalt daran den im Büro Streck & Rainer gepflegten anwaltlichen Stil zu erlernen und einzuüben. Tarifänderungen auf dem Gebiet des Steuerrechts weisen hingegen ein wiederkehrendes, allerdings zeitlich begrenztes Gestaltungs- und damit einhergehendes Streitpotenzial auf. Ertragsteuerlich ist in diesem Zusammenhang das Vorziehen oder Hinausschieben von Einnahmen bei der Einnahmeüberschussrechnung nach § 4 Abs. 3 EStG zu erwähnen, durch das das steuerliche Prinzip der Abschnittsbesteuerung auch zur Mitnahme von Tarifeffekten eingesetzt werden kann. Umsatzsteuerlich korrespondiert dem der Kanon der Gestaltungsmöglichkeiten, allen voran das Instrument der Teillieferung, bei den in letzter Zeit in immer kürzeren Takten erfolgenden Anhebungen des Umsatzsteuerregelsatzes21.

III. Der Zolltarifstreit Die Grundaussage, dass weniger der Tarif im engeren Sinne als dessen Anwendungsvoraussetzungen sich als problem- und konfliktbeladen erweisen, kann – cum grano salis22 – für den Zolltarifstreit übernommen werden: Auch Zolltarifstreitigkeiten haben ihre Ursache durchweg in der Einordnung in das zugrunde liegende Zolltarifschema, nicht im Zollsatz als solchem. Für die Zollsätze des Zollrechts ist nicht die Zweiteilung des allgemeinen Steuerrechts, sondern eine Dreiteilung typisch. Sozusagen in der Mitte stehen die Regelzollsätze, eingerahmt von Sonderzollsätzen in Form von Abweichungen davon nach unten23, aber auch nach oben24. Am Tarif zeigt sich der besondere Charakter des Zolls als eines primär handelspolitischen Zielsetzungen und folglich erst in zweiter Linie der Einkünfteerzielung verpflichteten Abgabenrechts25. Zollsätze sind der Spielball handelspolitischer Intervention26. Die hohe Anzahl zolltariflicher Entscheidungen spiegelt die Komplexität der Rechtsmaterie wider. Im Zollrecht herrscht Zugzwang. Im modernen Allzollsystem erfasst der Zolltarif nach seinem Anspruch jede denkbare gegenwärtige und zukünftige Ware27. Die Komplexität der Einreihung rührt vielfach daher, dass Tarifentscheidungen einerseits Mixtur aus Sachverhaltsermittlung, profunder Stoffkunde und Kenntnis der Handelsgepflogenheiten, andererseits Produkt eines in der Diversität der Auslegung durch den EuGH geformten und zusammengehaltenen Rechts sind28.

___________ 21 Winter/Höing, DB 2006, 968, m.w.N. 22 Die Einschränkung ist bedingt durch die überlagernde handelspolitische Zweckrichtung des Zollrechts, die prohibitive Zollsätze nicht per se als kontraproduktiv, sondern grundsätzlich durchaus als sinnvolle und effektive Maßnahme zur Zielerreichung erscheinen lässt. 23 Präferenzzollsätze, in der Wirkung vergleichbar auch Zollaussetzungen und Zollkontingente. 24 Antidumpingzölle, Strafzölle. 25 Friedrich, StuW 1987, 133. 26 Exemplarisch Lux, DStJG 11 (1988), 153 (157 ff.). 27 Dänzer-Vanotti, DStJG 11 (1988), 75. 28 Glasshoff, StBerKongrRep 1994, 371 (382).

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Tarifrechtliche Trouvaillen

Der Streitnotwendigkeit in Zolltariffragen liegt das übliche Motivbündel zugrunde. Es wird gestritten, weil die Zollverwaltung festgestellte Falschtarifierungen regelmäßig mit der Einleitung von Straf- oder Bußgeldverfahren verknüpft. Der Zolltarifstreit ist dann mittelbare Strafverteidigung. Oder es wird – natürlich – gestritten, um Abgabennachforderungen abzuwehren, aber auch um Klärung und damit Abgabensicherheit für die Zukunft zu erlangen. Die Einreihung neuer oder komplexer Waren durch die Zollverwaltung hat nichts Zwingendes an sich. Im Zoll(tarif)recht geht es oftmals um viel Geld, in den typischen Nachforderungsfällen nicht selten um die wirtschaftliche Existenz29. Hinter individuellen Streitanlässen stehen bisweilen kollektiv divergierende Interessen. Sie können Teil eines Handelskriegs sein, wenn miteinander konkurrierende Wirtschaftszonen in Konflikt geraten. So ist die Banane zum Sinnbild für ein Zoll-Politikum geworden30. Jede zolltarifliche Entscheidung, die etwas auf sich hält, beginnt im Vorspann mit dem gebetsmühlenhaften Bekenntnis zu den vom EuGH aufgestellten Auslegungs-Eckpunkten. Danach ist im Interesse der Rechtssicherheit, der leichten Nachprüfbarkeit und der einheitlichen Anwendung das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren grundsätzlich in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Positionen und Unterpositionen und in den Anmerkungen zu den Kapiteln und Abschnitten und den allgemeinen Tarifvorschriften des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) festgelegt sind. Bei der Anwendung des GZT sind ferner Erläuterungen zur Nomenklatur sowie die Sammlung von Einreihungsentscheidungen oder -avisen übergeordneter Gremien wertvolle, wenn auch nicht verbindliche Erkenntnismittel für die Auslegung der einzelnen Tarifpositionen31.

IV. Kleine Preziosenschau Tarifierungsentscheidungen des EuGH, des BFH und der Finanzgerichte sind Legion. Zugegeben: Viele Tarifentscheide richten sich an eine sehr spezielle Community und sind von eingeschränktem Unterhaltungswert. Wen interessiert schon – um einige Beispiele herauszugreifen – die zolltarifliche Einreihung von Graustufenmonitoren32, Schaumstoffmatten33, Separatorenfleisch34, genießbaren getrockneten Schweineohren35 oder Vitaminmischungen36?

___________ 29 Vgl. die Pressemitteilung des BFH zu der nachfolgend unter IV. 4. besprochenen Entscheidung BFH v. 28.3.2006 – VII R 50/04, BFH/NV 2006, 173. 30 Generalanwalt Maduro spricht in seinem Schlussantrag in der Rs. v. 9.9.2008 C-120/06 P, Slg. 2008 I, 6513 – Fiamm von „Bananenkrieg“; eingehend Verlage, EuZW 2009, 9; aktuell BFH v. 26.7.2010 – VII R 8/08, ZfZ 2010, 163. 31 Statt vieler EuGH v. 7.10.2004 – C-379/02, ZfZ 2004, 409. 32 BFH v. 23.9.2009 – VII R 42/07, ZfZ 2010, 51. 33 BFH v. 31.5.2005 – VII R 49/04, BFH/NV 2005, 2067. 34 EuGH v. 29.10.2009 – C-140/08, ZfZ 2010, 76. 35 BMF v. 16.10.2006 – IV A 5 - S 7221 - 1/06, BStBl. I 2006, 620. 36 FG München v. 18.11.2004 – 14 K 519/04, ZfZ 2005, 310.

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Daneben finden sich allerdings Judikate von einzigartiger Strahlkraft, die wegen ihres innewohnenden juristischen Scharfsinns, ihrer unerhörten Ästhetik in der Entscheidungsfindung – auch unter literarischen Gesichtspunkten – oder wegen ihres Sujets, das weit über das behandelte juristische Thema Grundfragen menschlicher Existenz beleuchtet, hier zu Ehren des Jubilars näher vorgestellt werden. 1. Nachthemden Ich beginne mit einer Zolltarifentscheidung, die – wenn auch bereits im zurückliegenden Jahrtausend – für die Zollmaterie durchaus ungewöhnlich, durch die Medien ging. Wer bis dahin noch nicht wusste, was eigentlich ein Nachthemd ist, kann jetzt und für alle Zeiten auf höchstrichterliche Unterstützung rekurrieren. Auf Vorlage des BFH stellte der EuGH37 fest, dass der GZT keine Definition für Nachthemden für Frauen und Mädchen und auch keine Definition der Schlafanzüge enthält. Der EuGH hatte aber bereits zuvor im sog. Neckermann-Urteil38 entschieden, dass auf die objektiven Merkmale eines Schlafanzugs abzustellen sei, die ihn von anderen Zusammenstellungen unterschieden und die in dessen Zweckbestimmung zu suchen seien, nämlich im Bett als Nachtkleidung getragen zu werden. Schlafanzüge seien somit nicht nur solche Zusammenstellungen von zwei Kleidungsstücken aus Gewirken oder Gestricken, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild ausschließlich zum Tragen im Bett bestimmt seien, sondern auch solche, die im Wesentlichen hierfür verwendet würden. Diese Erwägungen ließen sich auf Nachthemden übertragen, die auch dann Nachthemden blieben, wenn sie auch zu anderen Zwecken verwendet werden könnten. Nach weiteren tiefschürfenden Erwägungen, die hier aus Platzgründen nicht wiedergegeben werden können, kam der EuGH schließlich zu dem Ergebnis, es sei Sache des nationalen Gerichts, im Rahmen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu prüfen, ob die zur Diskussion stehenden Kleidungsstücke mit Rücksicht auf ihren Schnitt, ihre Zusammensetzung, ihre Aufmachung und die Entwicklung der Mode im betreffenden Mitgliedstaat die angesprochenen objektiven Merkmale aufwiesen oder ob sie unterschiedslos im Bett oder an bestimmten anderen Orten getragen werden könnten. Diese ehrenvollen Umsetzungsfeststellungen nahm nachfolgend der BFH39 zugunsten der Klägerin vor. Nach einem langen Marsch durch die Instanzen war es damit der Klägerin und ihren Beratern gelungen, nachträgliche Zollnachforderungen abzuwenden. Man merkt, woher im Zollrecht der Wind weht – aus Luxemburg.

___________ 37 EuGH v. 20.11.1997 – C-338/95, Slg. 1997 I, 6495. 38 EuGH v. 9.8.1994 – C-395/93, Slg. 1994 I, 4027 – Neckermann. 39 BFH v. 31.3.1998 – VII R 11/95, BFH/NV 1998, 1143.

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2. Tamagotchi Vorab die Erklärung für die Semester, an denen die Modewelle asiatischer InSpiele40, – weil a) zu alt oder b) zu jung – spurlos vorbeigegangen ist: „Tamagotchi, … Wortschöpfung aus tamago (dt. „Ei“) und wotchi (von engl. watch, dt. „Uhr“) ist ein aus Japan stammendes Elektronikspielzeug, das in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre weltweit populär war und in 2004 wieder neu aufgelegt wurde. Das Tamagotchi stellt ein virtuelles Küken dar, um das man sich vom Zeitpunkt des Schlüpfens an wie um ein echtes Haustier kümmern muss. Es hat Bedürfnisse wie Schlafen, Essen, Trinken, Zuneigung und entwickelt auch eine eigene Persönlichkeit. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten meldet sich das Tamagotchi und verlangt nach der Zuwendung des Herrchens. Sollte man es vernachlässigen, stirbt es, kann jedoch durch Drücken eines Reset-Schalters wiederbelebt werden, und das Spiel geht von vorne los. Dies ist in allen Versionen möglich, auch wenn es Gerüchte gab, dass die japanische Version des Tamagotchi nur einen einzigen Lebenszyklus zulassen würde.“ – so belehrt uns Wikipedia41. Die Klägerin hatte – anfangs unbeanstandet – die Einfuhren als Gesellschaftsspiele der Unterposition 9504 90 90 der Kombinierten Nomenklatur (KN) – Drittlandszollsatz 3,9%, Präferenzzollsatz 1,9% – zur Überführung in den freien Verkehr angemeldet, während das Hauptzollamt (HZA) nach Begutachtung durch die Zolltechnische Prüfungs- und Lehranstalt (ZPLA) die Warenlieferungen als anderes Spielzeug der Unterposition 9503 90 32 KN – Drittlandszollsatz 6% – zuwies. Nach erfolgloser Klage wollte die Revision die grundsätzliche Frage geklärt wissen, ob nur solche Spiele das Prädikat Gesellschaftsspiele verdienen, die von vornherein auf ein paralleles Spiel von mehreren Personen angelegt sind oder auch solche, bei denen die Spieler ihre Fähigkeiten individuell messen und ihre Ergebnisse später mit denen anderer Spieler vergleichen. Der BFH spielte den – nicht nur bei Kindern unbeliebten, auch von so manchem erwachsenen Berater in Revisionsverfahren leidvoll erlebten – Spielverderber. Er verschloss sich den ohne Zweifel eines obersten Gerichtshofs würdigen und wünschenswerten Ausführungen zur Essenz von Gesellschaftsspielen ebenso wie grundsätzlichen Überlegungen zum kulturhistorischen Beitrag des Spielens zur Entwicklung der menschlichen Rasse mit dem banalen Hinweis auf die Bindungswirkung der von der Vorinstanz getroffenen Tatsachenfeststellungen, § 118 Abs. 2 FGO. 3. Kinder-Überraschung Die Tamagotchi-Entscheidung ist indessen nur als Ouvertüre zu einem Highlight ganz anderen Kalibers platziert: Angesprochen ist die Entscheidung des

___________ 40 Als alternatives Parallelbeispiel ist vielen leidgeplagten Müttern, Vätern, Tanten und Onkeln auch noch die etwa um dieselbe Zeit aufkommende Pokemon-Monsterkarten-Manie im Gedächtnis. 41 Daneben gibt es eine Zweitbedeutung für Tamagotchi im Sinne von Zusatzgerät/ Zufallsgenerator, um die das ArbG Frankfurt v. 1.7.2002 – 15 Ca 2158/02, RDV 2003, 190, den eifrigen Rechercheur bereichert.

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BFH zu den Überraschungseier-Figuren42. Wer kennt sie nicht, die lustigalliterierenden Happy Hippos, Fancy Fuxies oder die Top Ten Teddies im Traumurlaub? Die Fragestellung kommt simpel daher: Handelt es sich bei den possierlichen Tierchen um Spielzeug – so das HZA – oder um Ziergegenstände – so die Klägerin des Ausgangsverfahrens? Die Entscheidung, so trivial und unspektakulär sie auf den ersten Blick scheint, hat einen lebhaften Nachhall in der Fachliteratur hervorgerufen, alldieweil hier Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit berührt werden, sodass die Verengung auf einen nüchtern-juristischen Blickwinkel von Juristen, die mit Herz und Verstand mitten im Leben stehen, nicht unkommentiert bleiben konnte. Für das FG43 war die Sache klar: „Der Senat kann auch der Klägerin nicht darin folgen, dass die in Schokolade verpackten Figuren nur in einer ganz untergeordneten Zahl von Kindern erworben würden. Die Werbung für das entsprechende Produkt (in erster Linie die sog. Kinderschokolade in Form eines Eies mit einem Inhalt, der nach der Werbung zum Spielen dienen soll „das sind ja gleich drei Dinge auf einmal“) ist gerichtsbekannt und zielt eindeutig auf Kinder als Kaufgruppe ab. Auch wird das Endprodukt eindeutig als Kinder-Überraschungsei bezeichnet. Die Werbung war auch in der mündlichen Verhandlung nicht streitig. In dem bekannten Fernsehspot wird eine Mutter von ihrem Kind unter anderem aufgefordert, Schokolade und etwas zum Spielen mitzubringen.“

Der BFH als Revisionsinstanz pflichtete dem FG bei. Dem Einwand, dass mehr erwachsene Sammler als Kinder die Kinder-Überraschung kaufen würden, wiesen auch die BFH-Richter wie zuvor schon die Richter des FG nicht zuletzt mit dem Hinweis auf die unstreitige Zuweisung44 von Zinnsoldaten zur Tarifposition 9503 KN45 zurück. Ein neben dem Spielzweck vorliegender dekorativer Charakter schließe die Einreihung als Spielzeug nicht aus. Zugleich sprach sich der BFH mit der üblichen salvatorischen Formel strikt dagegen aus, auch den EuGH-Richtern Gelegenheit zu geben, ihre eigenen Spielerfahrungen und damit die Erfahrung eines Europas in der Einheit der Vielfalt46 in den Erkenntnisprozess einzubringen. Wer die Schlumpfecke im Büro von Herrn Streck kennt, weiß, dass die Schlussfolgerung des BFH in der Tat alles andere als zwingend ist. Kein Sozius, keine Sekretärin, kein Student hat Herrn Streck jemals während der Bürozeiten mit seinen Schlümpfen aktiv spielen gesehen47. Die Schlumpfecke ist ein Manifest der Sammelleidenschaft und das heimlich prägende Dekorationselement des Raums. Damit dürfte anhand dieser Referenzmaterie der Analogie-Schluss aus der parallelen frühkindlichen Erlebniswelt mit Zinnsoldaten spielender BFH- bzw. FG-Richter zumindest schwer erschüttert sein.

___________ 42 BFH v. 18.12.2001 – VII R 78/00, ZfZ 2002, 203. 43 (Damals noch) FG Brandenburg v. 9.8.2000 – 4 K 2416/99, ZfZ 2001, 98. 44 Durch die Erläuterungen zum Harmonisierten System (ErlHS) 9503/1 Rz. 09.0. bzw. Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur (ErlKN) 9503/3 Rz. 07.0 bis 10.0. 45 Unter Pos. 9503 KN fallen: Anderes Spielzeug; maßstabsgetreu verkleinerte Modelle und ähnliche Modelle zur Unterhaltung, auch mit Antrieb, Puzzles aller Art. 46 So das bekannte Europamotto. 47 Wohl war der halbjährlich wiederkehrende, liebevoll von unserer geschätzten Frau F. zelebrierte Schlumpf-Wasch- und Badetag stets ein vom ganzen Büro freudig begleitetes Ereignis.

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Dem Liebhaber der Trias aus Spannung, Spaß und Schokolade, den dieses argumentum ex ventro zur Widerlegung der Ausgangsthese nicht überzeugt, seien wärmstens die tractatus logo-philosophici von Hülsmeier48 und Buerstedde/Gelse49 ans Herz gelegt, denn hier wird er neue Einsichten zur modernen Linguistik, zur Erkenntnistheorie wie auch zur Sprache als Konstruktion von Wirklichkeit mitnehmen. Für Herrn Streck, dem Herausgeber der „Goldwaage“, sind diese Verknüpfungen nicht neu: ein gerahmter Ausspruch des Inhalts, dass jeder Mensch sich seine eigene Wirklichkeit konstruiere, zierte bereits vor langer Zeit sein Büro. Eingedenk des inflationär zitierten Bismarck‘schen Bonmots, dass derjenige, der Gesetze und Würste liebt, bei deren Herstellung lieber nicht zuschauen sollte50, bleibt es letztlich Sache individueller Leidenschaft, zu entscheiden, bis zu welcher Tiefe der hinter die Kulissen schauende Rechtsanwender in das Wesen und die Bedingtheiten juristischer Entscheidungsprozesse eindringen möchte. Es sage aber niemand mehr, Juristen argumentierten immer streng hermeneutisch. Man muss schon lange suchen, um außerhalb des Abgabenrechts vergleichbar subtile, aus so schillernden Sachverhalten gezogene scharfsinnige Argumente fruchtbar in den juristischen Dialog einbringen zu können. Oder sollte es sich bei den Kritikern des BFH in dieser Sache letztlich nur um schlechte Verlierer handeln, die sich nicht in von anderen festgelegte Spielregeln fügen können? 4. Was ist Bier? In einer anderen richtungsweisenden Entscheidung51 geht es um das Lieblingsgetränk der Deutschen52. Der BFH urteilt zu einer Frage von wahrhaft grundlegender Bedeutung, deren Stellenwert gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann im Mutterland des zäh, aber gegen europäische Übermacht letztlich erfolglos verteidigten Reinheitsgebots53. Im Leitsatz stellt der BFH fest: „Ein im Brauverfahren hergestelltes Erzeugnis, das sich nach einer Ultrafiltration als klare, farblos, nach Ethylalkohol riechende, schwach bitter schmeckende Flüssigkeit darstellt und das unter der Bezeichnung „malt beer base“ als Zwischenprodukt zur Herstellung eines alkoholhaltigen Mischgetränkes vertrieben wird, kann zolltariflich nicht als Bier der Pos. 2203 KN angesehen werden.“54

Der Nichtkölner meint zu wissen, dass Kölsch kein Bier ist. Der Kölner indessen weiß, dass sich (s)ein Lieblingsgetränk nicht auf eine Definition seiner Bestandteile oder eines Herstellungsprozesses reduzieren lässt, vielmehr eine

___________ 48 49 50 51 52

Hülsmeier, ZfZ 2002, 326. Buerstedde/Gelse, ZfZ 2003, 298. Vgl. Fischer, FR 2007, 857. BFH v. 28.3.2006 – VII R 50/04, BFH/NV 2006, 1732. Wenngleich Deutschland, aktueller Statistik der Brauwirtschaft zufolge – Quelle: Wikipedia –, im Bierkonsum nur noch den undankbaren zweiten Platz nach Tschechien einnimmt. 53 EuGH v. 12.3.1987 – C-178/84, Slg. 1987, 1227. 54 BFH v. 28.3.2006 – VII R 50/04, BFH/NV 2006, 1732.

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auch (meta)physische und -psychische Dimension aufweist. Es handelt sich – wie die geliebte Stadt – natürlich um mehr, nämlich um „e Jeföhl“55. Dementsprechend konnte der BFH, von dem schon des Standorts wegen vermutet werden muss, dass sich auch in seinen Reihen etliche leidenschaftliche, nicht notwendig bajuwarische Biertrinker befinden, gar wohl nicht anders, als dem HZA beizuspringen und den dreisten Infiltrationsversuch zurückzuweisen, dadurch wenigstens im Kleinen erlittenes großes Unrecht rächend. Der Vorinstanz – bezeichnenderweise das FG Düsseldorf56 – fehlte dagegen für diese weiterweisenden Zusammenhänge offensichtlich jedes Verständnis. Die vorgestellte Entscheidung ist aus einem weiteren Grund lehrreich, da symptomatisch für Verfahrensabläufe im Abgabenrecht: Zunächst korrigierte das FG Düsseldorf das beklagte HZA und wurde seinerseits korrigiert. Das gegen die BFH-Entscheidung angerufene BVerfG57 versperrte sich dem Ansinnen, als Superrevisionsinstanz missbraucht zu werden. Nach Ergehen eines neuen Urteils des EuGH belohnt das FG Düsseldorf58 die Hartnäckigkeit der Klägerin und legt die Rechtssache, diesmal unter Umgehung des BFH direkt dem EuGH vor, der mehr als einmal bewiesen hat, dass seine Sichtweise nicht die der nationalen Autoritäten sein muss. Brauers zweite Chance mit freundlicher Unterstützung trotziger Altbier-trinkender Instanzrichter … 5. Vitamin C Die Bedeutung von Vitaminen kennt jedes Kind. Dem Volksmund59 gar erscheint das Vitamin B ungleich wichtiger als das Vitamin C. Einerlei, welcher Buchstabe aus welchem Grunde dem Leser in diesem Kontext zuerst in den Sinn kommt, es dürfte sich jedenfalls um eine mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit absolut zollfreie Assoziation handeln. Der Vorspann – freimütig eingestanden – dient allein dem Zweck, auf die Entscheidung des Zollsenats des BFH vom 10.6.200860 einzustimmen. Streitig war die zolltarifliche Einreihung einer chemischen Verbindung mit dem Namen L-Ascorbinsäure-2-glucosid (AA-2G). In ihrem Antrag auf Erteilung einer verbindlichen Zolltarifauskunft (vZTA) beschrieb die Klägerin die Ware als ein stabilisiertes Vitamin C und begehrte die Einreihung in die Unterpos. 2.936 27 00 KN. Die Bundesfinanzdirektion (BFD) war dagegen der Ansicht, dass es sich um ein synthetisch hergestelltes Zuckeracetal von Ascorbinsäure (Vitamin C) handele, bei dem die Ascorbinsäure durch Maskie-

___________ 55 So – für Nichtkölner und Düsseldorfer – die Titelzeile einer Kulthymne der Kölner Mundartgruppe Höhner. 56 Im Kölner Standort arbeitend, vermag der Verfasser schon aus sozialer Rücksichtnahme konditionierte Seitenhiebe auf den Lokalrivalen nicht zu unterdrücken. 57 BVerfG v. 11.1.2008 – 2 BvR 1812/06, HFR 2008, 629. 58 FG Düsseldorf v. 7.4.2010 – 4 K 2615/09 VBr, ZfZ Beilage 2010, Nr. 3, 46 (Aktenzeichen des EuGH: C 196/10). 59 Nach Röhrich, Das Große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 1992, Stichwort: Vitamine bedeutet „Vitamin B haben“: gute Beziehungen zu einflussreichen Leuten besitzen. 60 VII R 22/07, ZfZ 2008, 268.

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Tarifrechtliche Trouvaillen

rung der Hydroxylgruppen mit Glucose gegen Oxidation geschützt sei, und reihte die Ware in die Unterpos. 2.940 00 90 KN in der aktuellen Fassung der seinerzeit maßgeblichen Änderungs-VO61 ein. Dagegen wandte sich die Klägerin mit Einspruch und Klage. Das FG – wiederum das FG Düsseldorf62 –, im Tatbestand fachmännisch die chemische Struktur in der dem Verfasser als rotes Tuch aus Schultagen in Erinnerung gebliebenen Lewis-Formel63 wiedergebend, stellte dazu lapidar fest, dass AA-2G nach seiner chemischen Struktur sowohl ein Vitamin CDerivat als auch ein Zuckeracetal sei, somit grundsätzlich sowohl in die Pos. 2936 KN als auch in die Pos. 2940 eingereiht werden könne, und gab ersterer Einordnung, die andere Alternative mit knapper Begründung ausschließend, den Vorzug. Das FG hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Mit eingehender, eines Klassenprimus würdiger Begründung legt der BFH im Revisionsentscheid dar, dass nach der chemischen Funktion von AA-2G der Ansicht des FG, dass die Einreihung in die Pos. 2940 KN ausscheide, nicht zu folgen sei. Für die tarifliche Einreihung des Produkts AA-2G sei die vom FG bevorzugte funktionelle Betrachtungsweise nicht maßgebend. Den unstreitigen Feststellungen zufolge handle es sich bei AA-2G nach seiner chemischen Struktur um ein Vitamin C-Derivat. Insoweit bedürfe es nicht des Abstellens auf den Verwendungszweck der Ware, um sie in die Pos. 2936 KN einzureihen. Außerdem handle es sich aber, was – so der BFH – ebenfalls feststehe, nach der chemischen Struktur der Ware um ein Zuckeracetal, welches in die Pos. 2940 KN einzureihen sei. Auch insoweit sei der Verwendungszweck des Produkts AA-2G, wenngleich seine Funktion als Vitamin im Vordergrund stehen möge, nicht geeignet, diese Einreihung auszuschließen, weil, worauf die Revision zu Recht hinweise, der Wortlaut der Pos. 2940 KN keine Zuckeracetale von der Einreihung in diese Position ausschließe, die hauptsächlich oder ausschließlich wegen ihrer Eigenschaft als Vitamin verwendet werden. Die tatsächlichen Feststellungen des FG erlaubten mithin seine Schlussfolgerung, AA-2G könne „mangels entsprechender chemischer Eigenschaften“ nicht unter die Pos. 2940 KN fallen, nicht, denn dass AA-2G nur die Eigenschaften eines Vitamins C-Derivats habe, lasse sich nicht vertreten. Die Glucoseverbindung sei hergestellt worden, um die Ascorbinsäure zu „verpacken“ und sie dadurch vor Oxidation zu schützen, und diese chemische Eigenschaft der Glucoseverbindung sei nicht etwa verschwunden, sondern immer noch vorhanden, ansonsten sei die Verbindung der Ascorbinsäure mit dem Zuckermolekül zwecklos gewesen. Daher weise AA-2G entgegen der Ansicht des FG die chemischen Eigenschaften sowohl eines Vitamin C-Derivats als auch eines Zuckeracetals (Schutz vor Oxidation) auf. Dass, wie das FG angenommen habe, bei dem Einsatz von AA-2G und dementsprechend bei seiner Beschreibung in wissenschaftlichen Veröffentlichungen nur seine Eigenschaft als Vitamin C eine Rolle spiele, betreffe allein die Frage seines Verwendungs-

___________ 61 Änderungs-VO (EG) Nr. 1832/2002 der Kommission v. 1.8.2002, ABl. EG L 290, 1. 62 FG Düsseldorf v. 29.11.2005 – 4 K 165/04 Z, juris. 63 Einzelheiten können bei Wikipedia unter den Stichworten: Elektronenformel, Lewis-Struktur oder Valenzstrichformel abgerufen werden.

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zwecks, der, wie bereits ausgeführt, bei der zolltariflichen Einreihung grundsätzlich nicht maßgebend sei – Punkt und Ende der Urteilsparaphrase. Der geneigte Leser und Connaisseur der BFH-Rechtsprechung wird die sachkundige Ergebnisherleitung möglicherweise mit halb staunendem, halb irritiertem „Aha“ zur Kenntnis nehmen. Was nun, könnte er sich fragen, verleiht der Entscheidung ihre Vorstellungswürdigkeit in diesem Kontext? Gehört sie nicht weniger zu den Juwelen als vielmehr zu den Kieselsteinen zolltarifrechtlicher Entscheidungssammlungen? Die Auflösung ist simpel: Das Bindeglied ist – natürlich – Herr Streck. Das Tarifierungsbeispiel aus dem Chemiebereich soll daran erinnern, dass Herr Streck nach dem Abitur weiland zu Bonn ein Semester Chemie studierte, bevor er zu unser aller Glück in die Juristerei wechselte. Wenn jemandem, dann wäre allein ihm zuzutrauen gewesen, das positive Urteil der Vorinstanz gegenüber dem BFH erfolgreich zu verteidigen. Wer würde darauf zu wetten wagen, dass die Entscheidung des BFH nicht anders ausgefallen wäre, wenn Herr Streck vor dem Zollsenat die Probe aufs Exempel gemacht hätte, ob die Chemie stimmt?

V. Schlussbemerkung Der den wahrlich nicht tristen Steueralltag durchbrechende Ausflug in unbekanntes Terrain hat sich bemüht, aufzuzeigen, dass die Beschäftigung mit dem Zollrecht, allen voran die Arbeit im Zolltarifrecht, nicht nur juristisch äußerst niveauvoll sein kann, sondern zugleich das Allgemeinwissen zu bereichern in der Lage ist. Kurzum: Zoll(tarif)recht ist ein ungehobener Hort kurioser Geschichten, Kaleidoskop prallen Lebens, Quelle juristischer Inspiration ebenso wie feuilletonistischer Erbauung. Für den Steuerrechtler, der Trouvaillen in der ganzen Breite der Wortbedeutung wertschätzt, lohnt sich der Blick ins Zollrecht allemal. Wer im Vertrauen auf das erworbene steuersystematische Know-how sich dem Zollrecht nicht mit Angst und Abneigung, sondern mit Interesse nähert, erhält hier Gelegenheit, den Horizont enzyklopädisch zu erweitern, Entdeckerlust auszukosten, Finderfreuden zu genießen, sich dem latenten Hang zur Ab- und Ausschweifung hinzugeben. Mut zur Einarbeitung in fremde Materien, verbunden mit einer unabhängig vom Lebensalter jung erhaltenden Neugier64 hat Herr Streck vorgelebt und von seinem Umfeld – es dadurch fördernd – stets eingefordert. Der für mich untrennbar mit seiner Person verknüpfte Begriff der Trouvaille im Spannungsfeld von Emotion und Esprit scheint mir daher gut geeignet, einen Aspekt der Ausstrahlung zu beleuchten, vermöge dessen es Herrn Streck gelungen ist, ein Stück seiner Leidenschaft für den Anwaltsberuf und seiner Begeisterung für das Steuerrecht auf alle nachrückenden Partner der Sozietät – den Verfasser eingeschlossen – zu übertragen, damit zugleich das Fundament für eine nachhaltig fruchtbringende, synergetische gemeinsame Berufsausübung in persönlicher Verbundenheit geschaffen habend.

___________ 64 Im Sinne des Flume‘schen an die cupida legum iuventus gerichteten Vorworts zu seinem 1992 in 4. Auflage erschienen „Rechtsgeschäft“.

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Offenlegungspflichten und Kronzeugenboni – gewährleisten oder gefährden sie die ordnungsgemäße Unternehmensführung? Inhaltsübersicht I. Ordnungsgemäße Unternehmensführung II. Vorüberlegungen 1. Erklärbarkeit und Peinlichkeit 2. Transparenz und Dokumentation 3. Konflikt III. Einhaltung von Steuer- und Kartellrecht und deren Dokumentation in der ordnungsgemäßen Unternehmensführung 1. Rechte und Pflichten im Allgemeinen a) Recht durchsetzen b) Risiken und Chancen nehmen 2. Dokumentation 3. Bekanntwerden 4. Unternehmensschutz durch Bundesverfassungsgericht

IV. Steuerliche Offenlegung 1. Praxis 2. Ermittlung 3. Ermessen 4. Zwischenergebnis V. Kartellrechtliche Offenlegung 1. Mittelbeschaffung durch Kartellrecht: Parallelen zum Steuerrecht? 2. Gute Unternehmensführung und Transparenz 3. Freistellung von Verletzungsfolgen a) Code of Conduct/Compliance b) Mitwirkung bei Offenlegung im Kartellverfahren c) Corporate Governance/Code of Conduct ad absurdum?

I. Ordnungsgemäße Unternehmensführung Der Jubilar half sein Berufsleben lang Unternehmern und ihren Angestellten bei der Einhaltung steuer- und anderer wirtschaftsrechtlicher Pflichten. Die Einhaltung von Recht und Gesetz (Compliance) ist Teil ordnungsgemäßer Unternehmensführung (Corporate Governance), ebenso die Dokumentation dieser Einhaltung. Steuer-, Kartell- und andere Behörden überwachen diese Einhaltung von ihrer Seite. Sie haben dazu Zugang zur Dokumentation der Unternehmen und zu Auskünften über die Unternehmensführung. Daraus entsteht ein Konflikt: – Der gute Unternehmensführer muss auf Risiken achten und deren Prüfung dokumentieren. Behörden haben Interesse an solchen Dokumenten als einfacher Ansatz für ihre Durchsetzungsarbeit. – Unternehmen und Manager wollen Unterlagen vermeiden, deren bloße Existenz schon Untersuchungen gegen das Unternehmen auslösen und belasten kann. Deren Fehlen aber indiziert eine nicht ordnungsgemäße Unternehmensführung durch mangelhafte Risikoprüfung. Was tun zwischen Skylla und Charybdis? 143

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Dieser Beitrag beschreibt den Konflikt und skizziert Ansätze zu seiner Lösung aus der Sicht ordnungsgemäßer Unternehmensführung. Der Beitrag ist also keine Untersuchung zur Abgabenordnung (AO) oder zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und zu deren Auslegung. Er behandelt drei wirtschaftsrechtliche Fragenkreise am Beispiel von Steuer- und Kartellrecht: – Was beinhaltet die Einhaltung von Steuer- oder Kartellrecht in der ordnungsgemäßen Unternehmensführung und deren Dokumentation im Allgemeinen? – Wie verhalten sich ordnungsgemäße Unternehmensführung und deren Dokumentation zu den Offenlegungs- und Vorlagepflichten im Steuer- und Betriebsprüfungsverfahren? Wie verhalten sie sich zu den Kronzeugen- und Boni-Regeln in Kartellrechtsverfahren?

II. Vorüberlegungen 1. Erklärbarkeit und Peinlichkeit Der Beitrag beschränkt sich auf rechtlich beachtliche Gesichtspunkte. Ebenso wichtig, aber hier nicht behandelt sind die ethisch und psychologisch beachtlichen, z.B. der einfache Test der Erklärbarkeit oder Peinlichkeit: Wie würde ich mich als Verfasser einer Notiz, einer E-Mail o.a. oder als deren Empfänger oder Verwahrer fühlen, wenn sie einem anderen bekannt würde und ich sie zu erklären hätte?1 2. Transparenz und Dokumentation Zur inhaltlichen Definition von „Gerechtigkeit“ ist – nicht nur – den Juristen seit Hammurabi nicht sehr viel allgemein Präzisierendes eingefallen außer „Gleichheit“, in vielen Varianten (absolut; relativ; Gleiches gleich/Ungleiches ungleich; Angemessenheit; Selbstbetroffenheit; wie du mir, so ich dir; kategorischer Imperativ; tit-for-tat/Spieltheorie; was du nicht willst, das man dir tu‘ …, usw.)2. Angesicht der inhaltlichen Probleme mit der Gerechtigkeit konzipieren Juristen zur Herstellung von Gerechtigkeit vor allem immer neue, verbesserte Verfahren und zu deren Absicherung die Gebote der „Transparenz“ (Offenheit) zwecks Erklärbarkeit/Überprüfbarkeit einschließlich Dokumentation. Die elektronische Textverarbeitung und -aufbewahrung ermöglichen eine früher unbekannte Menge und Zugänglichkeit, und die

___________ 1 Pöllath, Unternehmensführung (Corporate Governance) und Besteuerung in: Transaktionen, Vermögen, Pro Bono, Festschrift 10 Jahre P+P, 2008, S. 3 (21) („Testüberlegung: Erklärbarkeit“); Pöllath, SuperReturn 2010/Rede bei P+P Empfang, dort Nr. 5 („Transparency and Documentation“) http://www.pplaw.com/de/conferences/ superreturn.php. 2 Vgl. die Liste von „frühen Juristen“ (Moses, Mahavir, Buddha, Konfucius, Sokrates, Jesus und Mohammed) bei Wood, Lawyers and Economists: Who Rules the World?, Business Law International (IBA), vol. 11 no. 2, S. 145 (155) (Mai 2010). Jurisprudenz versuche die Präzisierung von „Angemessenheit“ (appropriateness) durch „institutions“ (dort S. 151).

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(globale) Komplexität des Wirtschaftens erfordert diese Menge und Zugänglichkeit von Dokumentation. 3. Konflikt Offenheit (Transparenz) ist nötig, aber auch aufwändig und gefährlich, ja unbegrenzte Offenheit ist unmöglich und unerwünscht. Offenheit wird ermöglicht und gefördert durch Grenzen, insbesondere Grenzen, die ihr eigener jeweiliger Zweck setzt. – Transparenz zur Durchsetzung des staatlichen Steueranspruchs setzt voraus, dass das Offengelegte nur dafür genutzt wird und im Übrigen eben geheim bleibt. Die Abgabenordnung (AO) trägt dem u.a. durch die Striktheit des Steuergeheimnisses3 Rechnung (übrigens auch durch die einzigartige Straffreiheit kraft Offenlegung in einer späteren „Selbstanzeige“4). – Transparenz zur guten Unternehmensführung setzt gleichfalls voraus, dass das Offengelegte nur dafür genutzt wird. Selbst wenn es zur Steuererhebung genutzt werden darf (z.B. die Buchhaltung)5, dann eben nur zur Erhebung (Fest- und Durchsetzung) einer Steuer – im Unterschied zu enorm aufwändigen und komplexen und deswegen riskanten und lähmenden Untersuchungen. Sonst werden Unternehmen mit besserer Unternehmensführung systematisch höher besteuert als solche mit schlechterer (was man als unvermeidlich hinnehmen mag)6. Vor allem aber würde die gute Unternehmensführung selbst beeinträchtigt, die der Gesetzgeber, auch und gerade mittels Transparenz und Dokumentation fördern, ja erzwingen will. Daher der Konflikt zulasten beider. Wie ist er zu lösen oder wenigstens zu entschärfen, sodass jedes der beiden Ziele – Durchsetzung von Steuer- und Kartellrecht ebenso wie gute Unternehmensführung – die ihr je eigene, erforderliche Transparenz und Dokumentation erlangen?

III. Einhaltung von Steuer- und Kartellrecht und deren Dokumentation in der ordnungsgemäßen Unternehmensführung 1. Rechte und Pflichten im Allgemeinen a) Recht durchsetzen Der Staat und seine Behörden haben Steuer- und Kartellrecht durchzusetzen. Ihre Nicht-Durchsetzung ist Versagen und Fehlverhalten und verletzt auch die Unternehmen selbst. Es ist eben nicht im Interesse der Wirtschaft und der Unternehmen (wenn auch vielleicht im Interesse des einzelnen verletzenden Unternehmens), wenn der Steuerstaat hohe Steuern anordnet, aber z.B. durch unzureichende Zahl, Qualität oder Befugnisse von Betriebsprüfern nicht

___________ 3 4 5 6

§§ 30–31b AO. § 371 AO und unten zu Fn. 23. §§ 140–154 AO. Schon heute zahlen m.E. viele sonst gut geführte Unternehmen zu viel Steuern, also nicht geschuldete Steuern, nur deshalb weil keiner der Zuständigen das Risiko von Kontroversen mit der Behörde tragen will.

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durchsetzt7. Im modernen Staat sind auch Steuer- und Kartellrecht Teil der Kernaufgabe und der Existenzgrundlage (raison d’être) des Staates, Recht und Frieden im Inneren durchzusetzen, ohne die – so schon Walther von der Vogelweide8 – weder Ehre noch Besitz gedeihen können. Steuern anzuordnen, aber nicht durchzusetzen, verfehlt den Steuerzweck, Mittel für die staatlichen Aufgaben zu gewinnen, verfälscht den Wettbewerb unter den Steuerpflichtigen („Braven-Steuer“ statt „Dummen-Steuer“) und untergräbt Steuer- und Staatsmoral, auf allen Seiten. Steuern durchsetzen verlangt vollen Zugang des Fiskus zu den Besteuerungsgrundlagen, Transparenz und Dokumentation – so wie gute Unternehmensführung (schon vor Corporate Governance) Transparenz und Dokumentation verlangte (s. unten). Der Sicherung dieser Transparenz dienen Buchhaltungspflicht, Aufbewahrungspflicht, Vorlage- und Mitwirkungspflicht, Außenprüfung, Steuergeheimnis u.v.a. Die Besteuerungsgrundlagen der frühneuzeitlichen Fenster-Steuer waren einfach transparent, die von komplexen Steuern sind komplex9, – je fairer Steuern sind, desto komplexer (so die Einkommensteuer), – zusätzlich umso komplexer, je komplexer und globaler die Welt ist, in der diese Besteuerungsgrundlagen im Wirtschaften entstehen, und – nur faire (= fair konzipierte und fair, d.h. auch allgemein, durchgesetzte) Steuern stoßen auf die Akzeptanz, die für hohe Steuern ohne Störung des Wirtschaftens nötig ist, und – die Steuern werden unter den Umständen heute und morgen nicht so niedrig werden, dass es ohne diese Akzeptanz ginge, also auch nicht ohne Steuermoral. b) Risiken und Chancen nehmen Demgegenüber ist Gewinnerzielung Aufgabe des Unternehmens: Erlössteigerung durch Kontrolle der Geschäftsprozesse (in den Grenzen des Rechts, auch des Kartell- und Wettbewerbsrechts) und Vermeidung „schlechter“ Kosten wie Steuern, die mangels Gegenleistung betriebswirtschaftlich nur schlecht sein können. Nur die gesetzlich niedrigstmögliche Steuer ist die gesetzlich geschuldete, also der geringstmögliche fiskalische Eingriff. Mehr Steuern als geschuldet zu entrichten10 widerspricht Steuer-, Dienst- und Organ-Pflichten. Es ist auch nicht zulässig, Steuer- oder andere Risiken einfach grundsätzlich zu vermeiden. Geboten ist, im Unternehmensinteresse sie zu erkennen und zu prüfen und kontrolliert zu nutzen. Betriebswirtschaft und Recht stellen gleiche Anforderungen, im Rahmen von Beurteilungsspielräumen wie für alles unternehmerische oder wirtschaftliche Handeln.

___________ 7 Vgl. Pöllath, Einkommensteuer – einfach am Ende, am Ende einfach, FS Raupach, 2006, S. 153 ff. 8 In einem Gedicht, das wir alle einmal lesen mussten: Ich saz ûf eime steine. Ehre, Besitz und göttliche Huld seien nur erlangbar, wenn Friede und Recht gesunden. 9 Pöllath in FS Raupach, S. 153 ff. 10 Pöllath, in FS 10 Jahre P+P, S. 13 zur Pflicht zum Steuersparen, und s. den Eingangssatz zu diesem Beitrag: Steuerliche Berater helfen, die gesetzlich geschuldete, d.i. die geringste Steuer zu entrichten, nicht weniger, nicht mehr.

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2. Dokumentation Hier beginnt das Problem: Die Unternehmensführung muss Risiken und Chancen sehen, wahrnehmen, kontrollieren, sich bewusst ihrer annehmen und das alles dokumentieren, im Unternehmen drin, auf allen Ebenen, bis hinauf zu Vorstand und Aufsichtsrat. Fehlt die bewusste Prüfung, so ist eine Pflicht verletzt. Ist die Prüfung nicht dokumentiert, ist eine der Regeln guter Unternehmensführung verletzt. Das Fehlen einer Dokumentation ist wohl an sich schon fehlerhaft, und zumindest kann sich das Management beim Fehlschlag nicht entlasten: Die Behörde weiß also, dass es im Unternehmen Unterlagen über alle Risiken – auch z.B. Steuer- oder Kartell-Risiken – und ihren Sachverhalt und ihre Beurteilung geben muss. Selbst ohne Unterlagen, jemand im Unternehmen muss das Risiko erfasst und beurteilt haben. Was liegt für eine Steuer- oder Kartellbehörde näher, als sich diese Unterlagen zu beschaffen oder sich Aussagen darüber zu holen? Sie muss das tun, oder etwa nicht? 3. Bekanntwerden Auch wo nicht gezielt nach der spezifischen Unterlage oder Auskunft gesucht wird, kann sie bekanntwerden. So werden z.B. in fast jedem Schiedsgerichtsverfahren heute – auch ohne US-amerikanische Discovery – Mengen, ja Unmengen11 an Unterlagen vorgelegt, auf Anordnung des Schiedsgerichts (document production). Jede E-Mail hat eine Spur, jedes Schriftstück ist irgendwo, oft an mehreren Stellen gespeichert und mit Suchbegriffen auffindbar. Nichts geht verloren, alles kann bekannt werden, auch als Zufallsfund in anderem Zusammenhang, mit rechtlichen, wirtschaftlichen, persönlichen Folgen, von Ehr- und Geld-Verlust bis zu Peinlichkeit und Beziehungsstörung12. Und weil alles dokumentiert bekannt werden kann, wird es ggf. auch auf die einfachste aller Weisen bekannt, wie seit jeher möglich, aber nun mit Nachdruck: durch schlichtes Fragen, denn wer wird wagen, auf Frage sein Wissen zurückzuhalten? 4. Unternehmensschutz durch Bundesverfassungsgericht Volle Offenlegung: ein Bonanza für Steuer- und Kartellbehörden, der ultimative Sieg der Rechtsdurchsetzung (Compliance)? Oder ein Fiasko für gute Unternehmensführung, die ihr Risikobewusstsein dokumentieren muss und durch eben diese Dokumentation das Unternehmen und seine Mitarbeiter der (auch unbegründeten) Verfolgung ausliefert und deshalb schon im Vorfeld durch deren Angst vor Dokumentation lähmt? Dieses Risiko, gute Unternehmensführung und damit die Unternehmen, die organisierten Geschäftsprozesse zu gefährden, auf denen Wirtschaft und Wohlstand beruhen, ist auch rechtlich relevant. Verfassungsrechtlich13 genießt das Unternehmen Schutz,

___________ 11 Tausende, ja Millionen von Dokumenten, vor allem EDV-gespeicherte. 12 S. oben zu II. 1. 13 BVerfG v. 22.6.1994 – 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165; dazu Pöllath., Unternehmensfortführung durch Nachfolge oder Verkauf, 2007, S. 106 ff., Rz. 280 ff. m.w.N.

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auch gegen übermäßige materielle Steuerbelastung, also zumindest ebenso gegen formale Steuerverfahrensbelastung und entsprechend Kartell- und andere Verfahrensbelastungen.

IV. Steuerliche Offenlegung14 Ob Finanzbehörden (z.B. das Veranlagungsfinanzamt oder die Außenprüfung, früher: Betriebsprüfung), sich alle Unterlagen vorlegen lassen dürfen, war schon immer strittig und ist gesetzlich15 geregelt und durch Rechtsprechung16 weitgehend, aber nicht völlig geklärt. Aus den vielen Aspekten von Recht und Praxis sollen hier nur zwei festgehalten werden: – Zugang des Fiskus zu Unterlagen des Unternehmens (ob via Vorlage oder „zufällig“) dient nur der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen, also der Tatsachen, die in die gesetzlich definierte Bemessungsgrundlage der Steuer eingehen. Davon zu unterscheiden ist die Würdigung (Beurteilung) dieser Tatsachen. – Der so begründete und begrenzte Zugang des Fiskus steht im pflichtgemäßen Ermessen der Steuerbehörde („kann“). 1. Praxis Vorweg ein Blick auf die Praxis: Offenlegung ist Praxis. Die Praxis der Unternehmen legt dem Fiskus grundsätzlich alles offen, weil schon ein Zögern oder Zurückhalten das Vertrauensverhältnis stört, ja ein für allemal zerstört. Umgekehrt verlangt der Fiskus Offenlegung nur mit Augenmaß, weil maßloses Verlangen das Vertrauensverhältnis ebenso stört oder zerstört. Das ist ein bisschen wie in einer Ehe oder anderen Dauerbeziehung, nur noch mehr so, wegen dem Mehr an Dauerhaftigkeit: Ehen werden geschieden (durch einfache „Kündigung“), Kinder werden volljährig und gehen außer Haus (durch einfachen Zeitablauf), Geschäftsbeziehungen beginnen und enden (im einfachen Handel und Wandel aller Unternehmungen). Nur eines bleibt bis zum Tod und wird mit „vererbt“, die Dauerbeziehung und das Vertrauensverhältnis mit meinem Finanzamt. Darin investieren Unternehmen und Finanzbehörden mit gutem Grund, durch Offenlegung und durch Vertraulichkeit und Angemessenheit. Das bleibt so, aber es stellt sich immer wieder neu dar, auch im neuen Licht der Corporate Governance.

___________ 14 Dieser Teil B beruht auf einem Vortrag des Verfassers über „Steuern und Corporate Governance“ anlässlich der Verleihung der Ottmar-Bühler-Förderpreise 2008 am 26.5.2008 in der Ludwig-Maximilians-Universität München. Vgl. allgemein Pöllath in FS 10 Jahre P+P, S. 3–27, insbesondere in II. 5. d. 15 Vgl. §§ 90 ff., 97, 200 AO sowie die Verwaltungsrichtlinien und die Kommentare dazu. 16 Vgl. BFH v. 27.6.1968 – VII 243/63, BStBl. II 1968, 592; v. 13.2.1968 – GrS 5/67, BStBl. II 1968, 365 (zur pauschalen Vorlage von AR- und Vorstandsprotokollen: Ermessen); FG Münster v. 22.8.2000 – 6 K 2712/00, 6 K 3116/00 AO, EFG 2001, 4 (zur Vorlage von Kostenstellenplänen).

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In der guten Unternehmensführung werden auch Steuerfragen (Risiken und Chancen) geprüft, z.B. durch Steuerabteilung, Konzernrevision, Vorstand und Aufsichtsrat einschließlich seines Prüfungs- und Finanzausschusses. Das Ergebnis solcher Prüfung wird dokumentiert, z.B. in Prüfvermerken und -berichten, Vorstands-, Aufsichtsrats- und Ausschuss-Protokollen. Diese Dokumentation enthält notwendig zweierlei; 1. Sachverhaltsfeststellungen und 2. Beurteilungen. Darüber hinaus mag sie Empfehlungen oder Anordnungen von Maßnahmen und allgemein Entscheidungen enthalten, nämlich 3. auf die geprüfte Steuerfolge bezogene Entscheidungen, z.B. zur Bildung oder Nichtbildung oder Bemessung einer Steuerrückstellung, und 4. Entscheidungen allgemein geschäftlicher Art, z.B. zur Durchführung einer Investition oder anderen geschäftlichen Maßnahme. Die Dokumente zu 1 und 2 beinhalten Sekundär-Themen (hier: Steuerfolgen) der Beurteilung, nicht primäre Geschäfts-Themen. Die zu 3 sind der Ausfluss der Beurteilung gemäß 1 und 2 und ohne 1 und 2 nicht verständlich, und sie ermöglichen daher den Rückschluss auf 1 und 2. Primäre Geschäfts-Themen behandeln nur die Dokumente zu 4. Praktisch wichtig ist: Ein Dokument kann Inhalte zu mehreren oder allen der Gegenstände 1 bis 4 enthalten. Und wie oben gesagt, diese Inhalte sind auch durch Befragung und Aussage ermittelbar, also auch ohne Dokumentation, also sozusagen auch bei „weniger guter“ Unternehmensführung. Was ergibt sich nun aus den beiden Grundsätzen „Zweck = Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen“ und „Ermessen“, angewandt auf die vier Inhalte oder Arten von Dokumenten? Das Folgende versucht Antworten vorrangig zwar am Beispiel der Steuern von Ertrag und Einkommen, aber – soweit entsprechend – übertragbar auch auf andere Steuern. 2. Ermittlung Beurteilungen von Steuerfolgen auf Seiten des Steuerpflichtigen sind kein Teil der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen. Die Beurteilung durch den Steuerpflichtigen kann nur im Subjektiven eines Fehlers eine Rolle spielen, also ob er vorsätzlich oder leichtfertig handelte. Dazu müssen aber erst einmal der Fehler und die objektive Steuerpflicht feststehen, sonst wäre sogar eine Fehlbeurteilung unbeachtlich. Ist eine objektiv gegebene Steuerpflicht nicht erfüllt, ist die nächste Frage, ob der Steuerpflichtige die zugrundeliegenden Tatsachen kannte und ob er sich trotz Tatsachen-Kenntnis durch deren abweichende fachkundige Beurteilung entlasten kann. Das kann im Strafverfahren nach dessen Regeln anhand aller Aussagen und Unterlagen überprüft werden, beschränkt nur durch Rechte einzelner, insbesondere externer Anwälte, Aussage oder Vorlage zu verweigern. Das gilt auch für Sachverhaltsermittlungen (z.B. Überprüfungen) im Vorfeld solcher Beurteilungen. Der Steuerpflichtige hat den Sachverhalt, die Tatsache 149

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als solche offenzulegen, nicht seine Ermittlung oder Aufbereitung solcher Tatsachen. Anderes muss gesetzlich angeordnet sein, weil es rechtlich ein Eingriff ist, der über die Besteuerung als solche hinausgeht, und weil sonst der auch verfassungsrechtlich gebotene und von Corporate Governance-Kodex/-Regeln verstärkte Schutz des Unternehmens und seiner guten Führung verletzt würde. Die Bildung einer Steuerrückstellung ist aus einem zusätzlichen Grund unbeachtlich, wenn und weil nämlich die rückgestellte Steuer nicht abzugsfähig ist (weder bei ihrer Bemessungsgrundlage17 noch bei der einer anderen Steuer, deren Besteuerungsgrundlage konkret untersucht wird). Allenfalls residual ist die Höhe einer solchen Rückstellung erschließbar, nämlich als der Teil aller Rückstellungen, der eben nicht abgezogen wird und nicht abgezogen werden kann. Aber auch das erlaubt nicht die Ermittlung der Aufgliederung und Herleitung dieses residualen Teils. Nicht gedeckt wäre auch der Zugang zu Unterlagen zur Rechtfertigung einer solchen steuerlich nicht begründungsbedürftigen Rückstellung, also insbesondere gesellschaftsrechtlich, nach GoB/IFRS, für Bonus-Zwecke oder sonst unternehmerisch als Minderung des (nicht steuerlichen) Gewinns. Geboten und erlaubt ist der fiskalische Zugang nur zu den oben als „primär geschäftlich“ bezeichneten Entscheidungen und Maßnahmen, z.B. Entscheidungen über eine Investition oder andere geschäftliche Maßnahme. Aber auch das nur, wenn dazu steuerlich noch Weiteres zu ermitteln ist: Wenn die Maßnahme getätigt und ihre Tätigkeit verbucht und belegt ist, bedarf es keiner Untersuchung der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung, und eine Prüfung, derer es nicht bedarf, ist verboten. Auch soweit es ihrer bedarf, hat sie sich auf das zu beschränken, wessen es bedarf. Das, was nötig ist, zu prüfen, muss der Prüfer bezeichnen und die Notwendigkeit herleiten. Auch daraus ergibt sich die Unzulässigkeit pauschaler Forderungen, z.B. „alle“ Aufsichtsrats- oder andere Protokolle vorzulegen18. Es bedarf auch nicht der Ermittlung, ob der Steuerpflichtige subjektiv aus steuerlichen Motiven handelte. Ein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten19 ergibt sich aus objektiver Unangemessenheit, nicht aus dem „Motiv des Steuersparens“, das nur die andere Seite der Rechtspflicht ist, die geschuldete Steuer – nicht weniger, aber auch nicht mehr – zu entrichten20. Nun ordnet die AO die Vorlage von Unterlagen des Unternehmens ausdrücklich an, insbesondere von Buchhaltungsunterlagen und Belegen, also Rechnungen, Verträgen, rechtsgeschäftlichen Erklärungen und – soweit erforderlich – den dazugehörigen Berechnungen (Arbeitspapieren) des Unternehmens. Das sind stets oder meist Unterlagen, die auch die gute Unternehmensführung erfordert; dieses Erfordernis als solches schränkt die gesetzliche Vorlagepflicht nicht ein. Einschränkungen ergeben sich aber aus den gesetzlichen Anordnungen und aus den obigen Überlegungen:

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Vgl. § 12 EStG. S. oben zur Rechtsprechung des BFH. § 42 AO. S. oben.

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– Vorzulegen sind nur bestimmte Unterlagen des Unternehmens. Unterlagen Dritter (auch der Wirtschaftsprüfer, Anwälte, u.a.) sind nicht per se Unterlagen des Unternehmens21. Auch wo kein Zeugnis- o.a. Verweigerungsrecht besteht, besteht eine Vorlagepflicht allenfalls hilfsweise, also nicht, wenn das Unternehmen die Tatsachen offengelegt hat. Ob trotzdem bekannt Gewordenes (z.B. ein Zufallsfund) verwertet werden darf, wäre gesondert zu prüfen. – Beurteilungen sind nie vorzulegen, weil sie nicht der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen dienen, sondern eben der Beurteilung von Schlussfolgerungen daraus. – Bei Vermischung in einem Dokument ist das Dokument zu redigieren, also nur die offenzulegenden Textteile sind offenzulegen. Im Zweifel ist die Schwärzung oder andere Unkenntlichmachung auf ihre Berechtigung zu prüfen, und zwar durch einen anderen als den Steuerprüfer. Bei Schiedsgerichten sind solches Redigieren und dessen Überprüfung gang und gäbe, z.B. durch einen vom Schiedsgericht dazu bestellten Dritten mit Vertraulichkeitspflicht auch gegen das Schiedsgericht („Special Master“ im Angelsächsischen)22. 3. Ermessen Wo Vorlagepflicht grundsätzlich gegeben ist, bedarf es zusätzlich der pflichtgemäßen Ausübung des Ermessens der Behörde, ob, wann, inwieweit und wie was vorzulegen ist. Eine Abwägung ist ermessensfehlerhaft (Ermessensunterschreitung), wenn sie z.B. den Schutz des Unternehmens und seiner guten Führung im allgemeinen außer Acht lässt oder die vom Gesetzgeber gewollten Grundsätze und Regeln des Corporate Governance Kodex. Die Ermessensausübung ist wie üblich auch gerichtlich überprüfbar. 4. Zwischenergebnis Damit dürften im Rahmen der guten Unternehmensführung entstandene Unterlagen in aller Regel nicht vorzulegen sein, also z.B. speziell erstellte Vermerke, Prüfungsberichte und Protokolle zur Früherkennung oder zur nachträglichen Prüfung von Steuer-Risiken oder von Risiken mit steuerlichem Einschlag. Wo keine Vorlagepflicht besteht, besteht auch keine Aussagepflicht. Und wo keine steuerverfahrensrechtliche Vorlage- und Aussagepflicht besteht, sind Vorlage und Aussage dienst-, gesellschafts- und unternehmensrechtlich verboten und wären zugleich ein Verstoß gegen gute Unternehmensführung und ggf. gegen den Corporate Governance Kodex. Dieses Zwischenergebnis schließt an das eingangs Gesagte zur Dauerbeziehung und zum Vertrauensverhältnis Unternehmen-Fiskus und skizzierte Ansätze für

___________ 21 Zum Ermessen allgemein vgl. z.B. Pahlke/König, AO, § 92 Rz. 5 ff. Zur Subsidiarität vgl. a.a.O. § 93 Rz. 8. 22 Die Praxis von Verwaltung und Gerichten erwägt die Möglichkeit der (Vor-)Prüfung durch andere als den unmittelbar befassten Steuerprüfer, vgl. BFH v. 27.6.1968 – VII 243/63, BStBl. II 1968, 592; v. 13.2.1968 – GrS 5/67, BStBl. II 1968, 365.

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eine Verfeinerung der Praxis des Widerspruchs zwischen (fast) unbegrenzter Offenlegungsbereitschaft des Unternehmens und begrenztem Offenlegungsanspruch des Fiskus an.

V. Kartellrechtliche Offenlegung Viele vorstehende Überlegungen zu Unternehmen und Steuerbehörde gelten entsprechend für das viel jüngere, weniger genau etablierte und eben nicht allumfassende Verhältnis von Unternehmen und Kartellbehörde. Mehr noch als in Teil C soll das Folgende nicht das Kartell(verfahrens)recht und seine Auslegung erörtern, sondern nur den möglichen Konflikt zwischen Kartellrecht-Durchsetzung und Corporate Governance herausarbeiten. Ausgangspunkt ist kein Konflikt, sondern gerade eine Deckungsgleichheit: Gute Unternehmensführung soll auch Rechtseinhaltung (Compliance) sichern, auch und besonders Kartellrechtmäßigkeit und wettbewerbsgerechtes Verhalten, – erstens weil nur ein rechtmäßig handelndes Unternehmen gut geführt ist und – zweitens weil nur ein Unternehmen, das sich dem Wettbewerb stellt, zur Höchstleistung gefordert wird, die Höchstleistung im Wettbewerb, die allein es dauerhaft profitabel überleben lässt und sein profitables Weiterleben wirtschaftlich und gesellschaftlich rechtfertigt. 1. Mittelbeschaffung durch Kartellrecht: Parallelen zum Steuerrecht? Traditionell dient das Kartellrecht den Unternehmen (allen, wenn auch nicht spezifisch dem kartellrechtswidrig handelnden), der Wirtschaft und der Gemeinschaft durch Sicherung angemessenen Wettbewerbs. Das ist sein Zweck. In allerneuester Zeit, ausgehend von einer GWB-Änderung Mitte 2005, kam auch in Deutschland der reale Aspekt (nicht der Zweck) der Beschaffung von Finanzmitteln für den Fiskus hinzu, einerseits durch Bußgelder in früher unvorstellbarer Höhe und andererseits durch eine Intensivierung des Aufgreifens und der Verfolgung möglicher Verstöße. Das Zusammentreffen beider Phänomene – Mittelbeschaffung als Wirkung des Behördenhandelns und neue Mittel des Behördenhandelns – ist vielleicht nicht zufällig. Dazu ein Vergleich mit dem Steuerrecht: Das Steuerrecht und das Handeln der Steuerbehörden dienen seit jeher zumindest vorrangig der Mittel-Beschaffung für den Fiskus (mit Wettbewerbs- und anderen Zwecken nachrangig). Diesem Zweck werden andere, sonst wichtigste Grundsätze untergeordnet, augenfällig in der steuerlichen Selbstanzeige23: nicht nur wie sonst im Strafrecht der Versuch, sondern die vollendete Tat der Steuerhinterziehung wird straffrei, die schon verwirklichte Strafbarkeit entfällt nachträglich, „nur“ deshalb, weil die Selbstanzeige dem Fiskus und der Mittelbeschaf-

___________ 23 § 371 AO und oben zu Fn. 4.

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fung dient. Ist das ein hinreichender und gewollter Grund auch für die neuen Kronzeugen- und Bonus-Regeln und -Praktiken der Kartellbehörden24? 2. Gute Unternehmensführung und Transparenz Die Ausgangslage – Offenlegung im Unternehmen zu dessen guter Führung versus Offenlegung durch das Unternehmen an Kartell-Behörden – ist zunächst die gleiche wie im Steuerverfahren, und auch der Aspekt der Selbstanzeige hat dort die soeben genannte Parallele. Darüber hinaus kommt im Kartellverfahren aber etwas hinzu: die Enormität der Sanktion in Verbindung mit der Möglichkeit der Minderung der Sanktion durch Offenlegung (Mitwirkung). Beides gibt es im Steuerrecht nicht, und beides zusammen gibt dem Konflikt „Offenlegung im Unternehmen versus Offenlegung durch das Unternehmen“ eine andere (rechtswidrige?25) Qualität, sodass sich der Vergleich mit der jahrhundertealten Steuerpraxis doppelt lohnt. – Im Steuerrecht orientiert sich die Quantität der Sanktion (Strafe, Buße) an der Quantität der hinterzogenen Steuer. Die Kartell-Sanktion orientiert sich dagegen gerade nicht (mehr) an dem durch das Fehlverhalten generierten Mehrerlös, sondern an erfolgsunabhängigen (im wesentlichen umsatzabhängigen) Pauschalen, die um Größenordnungen über eine Vorteilsabschöpfung hinausgehen (oder auch einmal hinter ihr zurückbleiben) können, je nach Umsatzrentabilität des Unternehmens oder seiner Branche. Wirkung des Fehlverhaltens und Sanktion haben systematisch fast nichts miteinander zu tun, anders als im Steuerrecht. (Am Beispiel eines beliebigen Handelsunternehmens: Bei der branchentypisch niedrigen Umsatzrendite, d.h. bei dem „großen Rad“, das der Handel drehen muss, sind schon niedrige 10% vom Umsatz existenzbedrohend.) – Der andere Unterschied liegt in der ungleich größeren Möglichkeit, Anfall und Ausmaß dieser enormen Sanktion durch spätere Mitwirkung zu beeinflussen: Wenn der Steuerrechtsverletzer die Grenze der Selbstanzeige vor Verfahrensbeginn überschritten hat, wird von ihm auch weiterhin Offenlegung verlangt (wie stets), aber ohne relevanten Einfluss auf die Höhe der wirtschaftlichen Sanktion (Steuererhebung + 6% steuerlich nicht abzugsfähige Jahreszinsen + „erfolgsabhängige“ Buße/Sanktion). Das Unternehmen bleibt also in der Verteidigung gegen die Steuerbehörde rechtstaatsgemäß frei. Weiter kommen hinzu wesentliche Aspekte wie das „Windhund-Prinzip“, das den „Bonus“ abhängig macht von der Minute, in der der sog. „Marker“ der Offenlegung gesetzt wurde, relativ zu den dann unbekannten Zeitpunkten der Offenlegung der Wettbewerber. Oder der Aspekt, dass ein Großunternehmen das Kartell geführt haben kann und als Kronzeuge frei ausgeht, während die Sanktion große und kleine andere trifft und ihre Wirtschaftskraft (Wettbewerbsfähigkeit) oder gar Existenz zerstört. Diese Elemente sollen die eini-

___________ 24 Zur Verfassungswidrigkeit dieser Regelungen vgl. Hassemer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellbußen und das Grundgesetz, 2010. 25 S. Hassemer, a.a.O.

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germaßen ruhige Überlegung, Beratung und Abwägung des Unternehmens gerade ausschließen. Über die Offenlegung entschieden werden muss binnen Minuten, ggf. auch ohne Einhaltung interner Zuständigkeiten und Verfahren zur Sicherung von Entscheidungsqualität. Die Konflikte, die sich aus dem Anreiz oder Zwang zur Offenlegung im Kartellverfahren ergeben, sind also um Dimensionen schärfer als die im Steuerverfahren. Diese Schärfe muss in die Beurteilung des Konflikts und seine Lösung eingehen (z.B. im Gebot pflichtgemäßer Ermessensausübung und in deren gerichtlicher Überprüfung). 3. Freistellung von Verletzungsfolgen Daneben oder „darüber“ steht ein weiterer, struktureller Konflikt zwischen dieser Kartellverfahrenspraxis und den Geboten guter Unternehmensführung. a) Code of Conduct/Compliance Corporate Governance Kodex und viele rechtliche und wirtschaftliche Initiativen zur Sicherung von Rechtmäßigkeit und Qualität des Handelns und der Führung von Unternehmen führten zu Maßnahmen wie – unternehmensweites Erarbeiten von Verhaltensregeln (Code of Conduct), – Selbstanzeige-Systemen (whistleblower, Ombudsmann, Vertrauensanwalt), – Schulung aller Mitarbeiter, – laufende Kontrollen (z.B. Selbstkontrolle oder vierteljährliche Bestätigung der Einhaltung der Regeln, Konzern- und interne und externe Sonderrevisionen), – Sanktionsdrohungen (Vereinbarung/Bestätigung von Verletzungen als wichtiger Grund für Kündigung, Pensionskürzung u.a.) und Sanktionsausübung, – mehrjährige Vergütungsmodelle mit Sanktionsmöglichkeiten in Folgejahren (z.B. bei Nichtentlastung bis zum vierten Folgejahr oder später). b) Mitwirkung bei Offenlegung im Kartellverfahren Das Kartellamt legt die für einen ‚Bonus’ gebotene Mitwirkung des Unternehmens so aus, dass das Unternehmen dazu die Mitwirkung seiner Manager bewirken muss. Ein Unternehmen kann u.U., zumal in der Eile des MinutenWettlaufs zum „Marker“, überhaupt nur mitwirken, wenn es ihm gelingt, den Manager zur Offenlegung an das Unternehmen zu bewegen. Der Manager seinerseits kann die Situation nicht überblicken, ist evtl. nicht einmal vor Ort oder gar nicht mehr im Unternehmen, und muss daher dazu neigen, seine Mitwirkung von einer allumfassenden Freistellung von allen Haftungen, Sanktionen und Kosten abhängig zu machen. Das Kartellamt scheint zu meinen, eine solche Freistellung durch das Unternehmen sei geboten, um die Vorteile der Bonus-Regeln zu erlangen. Probleme bleiben dabei außer Betracht, wie z.B. die Rechtslage, dass Geschäftsführer eine solche Freistellung von Haftungen nur durch die Gesellschafter (und in der AG grundsätzlich gar 154

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nicht) erhalten können, oder Folgen für die D&O-Versicherung des Unternehmens. c) Corporate Governance/Code of Conduct ad absurdum? Ergebnis dieses Konflikts ist, dass – abstrakt ein Unternehmen Compliance stark und aufwändig in den Vordergrund stellt und seine Mitarbeiter mit vielen, ja fast mit allen Mitteln dafür zu gewinnen versucht, auch mit der Vereinbarung und Androhung von Sanktionen, – aber beim ersten realen Verstoß ausgerechnet die Hauptverantwortlichen nicht nur von diesen Sanktionen ohne Überlegungsmöglichkeit sofort freistellen muss, sondern auch noch von allen „normalen“ Sanktionen (z.B. Haftungen), die schon nach allgemeinen Dienst-, Gesellschafts- oder anderem Recht seit jeher galten und gelten. Anders gesagt: – Zur vermeintlichen Durchsetzung von Compliance im Kartellverfahren werden als erstes die Sanktionen zur Einhaltung von Compliance beseitigt, – diese Entscheidung wird binnen Minuten getroffen, und zwar – gegenüber den Hauptverantwortlichen im Unternehmen (nicht gegenüber „kleinen“ Angestellten) und aus Rechtsgründen, die die Kartellbehörde zur Verfolgung selbst setzt und durch enorme Sanktionsandrohungen gegen das Unternehmen, die der Mitwirkungsbonus mindern soll, auch durchsetzt. Das konterkariert nicht nur Code of Conduct und Compliance, es untergräbt die Unternehmensmoral und beseitigt den Glauben an die Autorität der Unternehmensführung. Eine großartige Zuspitzung und Illustration des Konfliktpotenzials innerhalb des unserer Rechts-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zugrundeliegenden Grundsatzes der Transparenz, der zur Wiederherstellung guter Unternehmensführung einer Lösung im Steuer- und Kartellrecht und beider Anwendung durch Unternehmen und Behörden bedarf.

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Lebzeitige Vermögensübertragungen gegen private Versorgungsrente – oder was der Gesetzgeber hiervon übrig ließ1 Inhaltsübersicht I. Einführung II. Private Versorgungsleistungen – ein traditionelles Rechtsinstitut ohne gesetzliche Konturen 1. Steuerliches Sonderrecht 2. Unentgeltlicher Vorgang mit Gegenleistung – der erste Erklärungsansatz III. Die heutige Rechtfertigung der steuerlichen (Sonder-)Behandlung 1. Versorgungsleistungen als vorbehaltene Vermögenserträge 2. Finanzierbarkeit der Leistungen aus den Erträgen

3. Ausufernde Begünstigung durch die Rechtsprechung IV. (De-)Regulierung privater Versorgungsleistungen durch das Jahressteuergesetz 2008 1. Ausschluss der Begünstigung von Privatvermögen a) Entgeltlichkeit versus Unentgeltlichkeit b) Gesetzgeberische Überreaktion? 2. Übertragung von Anteilen an Kapitalgesellschaften – Hohe Hürden 3. Übertragung von Anteilen an Personengesellschaften V. Zusammenfassung

1

I. Einführung „Die Finanzämter bearbeiten rund 90% der […] untersuchten Fälle der Übertragung von Privatvermögen gegen Versorgungsleistungen fehlerhaft. Die Rechtslage ist selbst für Steuerrechtskundige kaum zu verstehen.“ Dies war die ernüchternde Erkenntnis der Feststellungen des Bundesrechnungshofs im Jahr 2005 zum Vollzug des – bis dahin – gesetzlich nicht geregelten Rechtsinstituts der Vermögensübertragung gegen Versorgungsleistungen. Sein Plädoyer fiel dementsprechend deutlich aus: „Abschaffung der Regelungen zum Sonderausgabenabzug für dauernde Lasten.“2 Die Vertragsbeteiligten könnten – so der Bundesrechnungshof weiter – das gleiche wirtschaftliche Ergebnis mit einer Vermögensübergabe unter Nießbrauchsvorbehalt erreichen. Dabei war (und ist)3 die lebzeitige Übertragung von Vermögen Zug um Zug gegen eine Versorgungsrente ein steuerlich beliebtes Gestaltungsmodell zur Vorwegnahme der Erbfolge. In Deutschland bestanden bis Ende des Jahres

___________ 1 Der Verfasser war in der Zeit von Februar 2006 bis Ende September 2007 als Rechtsanwalt in der Sozietät Streck/Mack/Schwedhelm in Köln beschäftigt. 2 BT-Drucks. 16/160, S. 30 (172). 3 Vgl. zuletzt BFH v. 19.1.2010 – X R 17/09, BFH/NV 2010, 996.

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2005 ca. 250 000 Vermögensübergabeverträge gegen Versorgungsleistungen4. Die Zielsetzung ist jeweils klar definiert: Steuerliche Entlastung im fiktiven Familienverbund5. Der steuerlichen Belastung des Übergebers durch die Pflicht zur Versteuerung der wiederkehrenden Leistungen als sonstige Einkünfte (§ 22 EStG) stand bzw. steht die Entlastung beim Übernehmer durch den Sonderausgabenabzug für die Zahlungen gegenüber (§ 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG). Vergegenwärtigt man sich den (noch) progressiv verlaufenden Einkommensteuertarif, kann bei unterstellter höherer steuerlicher Last der aktiven Generation ein steuerlicher Vorteil im – gedanklich übergreifenden – Familienverbund erreicht werden6. Vermögensübergaben zur Vorwegnahme der Erbfolge müssen nicht zwingend gegen Versorgungsleistungen erfolgen, selbst wenn die Leistungen zumindest auch der Versorgung der weichenden Generation dienen sollen. Auch „entgeltliche Lösungen“ sind denkbar, sofern die beiderseitigen Leistungen – d.h. Übertragung und Zusage der wiederkehrenden Leistungen – nach kaufmännischen Gesichtspunkten gegeneinander abgewogen werden7. In diesem Fall wird für den Vermögensübernehmer in Höhe des kapitalisierten Werts der Leistungsverpflichtung neues Abschreibungsvolumen geschaffen (sofern das Vermögen zur Erzielung von Einkünften eingesetzt wird). Dennoch schreckt die „entgeltliche Lösung“ oftmals ab: Wird Betriebsvermögen übertragen oder eine steuerrelevante Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft im Sinne des § 17 EStG, fällt ggf. ein steuerpflichtiger Veräußerungsgewinn an, der die lebzeitige Unternehmensnachfolge hemmt. Die Vermögensübertragung gegen Versorgungsleistungen wird dagegen seit jeher als rein unentgeltlicher, familiär geprägter Vorgang gewertet8. Die Übertragung von betrieblichen Einheiten löst wegen der (unterstellten) Unentgeltlichkeit gemäß § 6 Abs. 3 EStG keine Ertragsteuerbelastung aus; im privaten Bereich fehlt es sogar bereits an einem steuerbaren Tatbestand. Der eingangs erwähnte Zuruf des Bundesrechnungshofs, die steuerliche Förderung von Versorgungsleistungen kurzherum abzuschaffen, wurde nicht angenommen. Vermögensübertragungen gegen Versorgungsleistungen sind steuerlich weiterhin möglich. Die Rahmenbedingungen sind allerdings erheblich schlechter geworden, seit der Gesetzgeber – in Reaktion auf die Beanstandungen des Bundesrechnungshofs – für Vertragsabschlüsse ab dem 1.1.2008 den Anwendungsbereich der Vorschrift beschnitten hat. Privilegiert ist nur noch die Übertragung von bestimmtem unternehmerisch genutztem Vermögen (§ 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 EStG). Hierin wird von Teilen der Literatur bereits das „Ende der privaten Versorgungsrente“ gesehen9.

___________ 4 BT-Drucks. 16/160, S. 171. 5 Vgl. Krauß, NotBZ 2003, 439, der pointiert von einem „Familiensplitting“ spricht. 6 Vgl. hierzu Reddig, Die Bedeutung der Ertragsprognose für Tatbestand und Rechtsfolge privater Versorgungsleistungen, 2006, S. 3. 7 Vgl. aber zur Vermutung der Unentgeltlichkeit bei Vermögensübertragungen unter nahen Angehörigen BFH v. 30.7.2003 – X R 12/01, BStBl. II 2004, 211. 8 BFH v. 7.3.2006 – X R 12/05, BFH/NV 2006, 1395. 9 So die Überschrift des Aufsatzes von Spiegelberger in DStR 2007, 1277 (allerdings von ihm selbst mit einem Fragezeichen versehen).

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II. Private Versorgungsleistungen – ein traditionelles Rechtsinstitut ohne gesetzliche Konturen 1. Steuerliches Sonderrecht Vermögensübergaben gegen Versorgungsleistungen sind steuerliches Sonderrecht. Sonderrecht zum einen deshalb, da für die steuerliche Behandlung von privaten Versorgungsleistungen – sei es auf Geber- noch auf Nehmerseite – jedenfalls bis Ende des Jahres 2007 auf keine explizite gesetzliche Regelung zurückgegriffen werden konnte. Definiert und geprägt wurde das Rechtsinstitut der Vermögensübertragung gegen Versorgungsrente durch zahlreiche Rechtsprechung und mittlerweile vier umfangreiche Verwaltungserlasse, die sog. Rentenerlasse10. Die mit der fehlenden gesetzlichen Regelung einhergehende Streitanfälligkeit führte dazu, dass der Große Senat des BFH insgesamt vier Mal angerufen wurde. Sonderrecht liegt zum anderen deshalb vor, da die Übertragung von Vermögen Zug um Zug gegen Versorgungsleistungen selbst unter Berücksichtigung eines Versorgungsmotivs alle Merkmale des auch im Steuerrecht geltenden handelsrechtlichen Anschaffungskostenbegriffs aus § 255 Abs. 1 Satz 1 HGB erfüllt11. Dennoch beurteilt die Rechtsprechung die Vermögensübertragung gegen Versorgungsleistungen traditionell – auch heute noch – als eine familien- und erbrechtliche Angelegenheit, die allein das Privatleben der Vertragsbeteiligten berühre12. Und schließlich – zum Dritten – handelt es sich bei privaten Versorgungsleistungen auch deshalb um Sonderrecht, da wegen der Unentgeltlichkeit der Übertragung die Leistungen steuersystematisch als Unterhaltsleistungen im Sinne des § 12 Nr. 1 bzw. Nr. 2 EStG gelten müssten13. 2. Unentgeltlicher Vorgang mit Gegenleistung – der erste Erklärungsansatz Der systematische Widerspruch zwischen Unentgeltlichkeit einerseits und steuerlicher Abzugsfähigkeit der „Gegenleistung“ (Versorgungsleistungen) störte die Rechtsprechung nicht; sie suchte nach überzeugenden Erklärungsansätzen. Nachdem Altenteilleistungen anlässlich von Hof- und Betriebsübertragungen unter Geltung der Preußischen Einkommensteuergesetze nahezu selbstredend als vom Gesamteinkommen abzugsfähige Lasten anerkannt wurden14, problematisierte erstmals der RFH im Jahr 1933 die Dilemmasituation zwischen versorgungstypischer Unentgeltlichkeit und steuerlicher Abzugsfähigkeit der Versorgungsleistungen als Sonderausgaben. Zur Rechtfertigung des Sonderausgabenabzugs kehrte die Rechtsprechung die Vorzeichen einfach um: Zwar erfolge die Übertragung des Vermögens unentgeltlich; umgekehrt betrachtet liege in der Vermögensübertragung allerdings die „Gegen-

___________ 10 Der aktuelle 4. Rentenerlass datiert vom 11.3.2010, BStBl. I 2010, 227. 11 Anders dagegen Spiegelberger, DB 2007, 1063 (1067), der betont, dass die wiederkehrenden Leistungen nicht final zum Erwerb des Vermögensgegenstands, sondern zur Versorgung des Übergebers aufgewandt würden. 12 Vgl. bereits RFH v. 8.10.1931 – VI A 770/31, RStBl 1931, 946; zu geschichtlichen Entwicklung auch BFH v. 12.5.2003 – GrS 1/00, BStBl. II 2004, 95 m.w.N. 13 Vgl. Reddig, a.a.O., S. 2. 14 Vgl. z.B. Preußisches OVG v. 14.5.1895 – Rep. V. A. 351/94, OVGSt 4, 58.

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leistung“ der weichenden Generation zum Erhalt der Versorgungsleistungen15. Dieses Erklärungsmodell war erkennbar konstruiert. Es war geprägt von dem Ziel, eine Sonderbehandlung von Versorgungs- gegenüber steuerlich irrelevanten Unterhaltsleistungen in den Fällen lebzeitiger Vermögensübertragungen zu schaffen16.

III. Die heutige Rechtfertigung der steuerlichen (Sonder-)Behandlung 1. Versorgungsleistungen als vorbehaltene Vermögenserträge Das heutige – weitestgehend auch unstreitige – Verständnis für eine Rechtfertigung der steuerlichen Sonderbehandlung der privaten Versorgungsrente hat sich seit der ersten grundlegenden Entscheidung des Großen Senats des BFH hierzu im Juli 1990 von der vorgenannten „Gegenleistungsthese“ gelöst. Stattdessen suchte der Große Senat den Vergleich zur Vermögensübertragung gegen Vorbehaltsnießbrauch. Die Zuordnung der Versorgungsleistungen zu den Sonderausgaben beruhe – so der Große Senat – darauf, dass sich der Vermögensübergeber typischerweise Erträge seines Vermögens vorbehalte, die nunmehr allerdings vom Übernehmer erwirtschaftet werden müssten. Der Abzug und die korrespondierende Versteuerung der Versorgungsleistungen auf der Empfängerseite führten zu einem ähnlichen Ergebnis wie eine Vermögensübertragung unter Nießbrauchsvorbehalt17. Versorgungsleistungen sind demnach kein aus Dank der lebzeitigen Übertragung gezahlter Unterhalt, sondern dem Vermögensübergeber nach wie vor zustehender Ertrag. Wirtschaftlich betrachtet steht der Übernehmer hiernach „nackt“ da. Er hat bloß Eigentum erworben, ohne das hieraus resultierende Fruchtziehungsrecht. Dies verbleibt beim Vermögensübergeber. Durch die Zahlungen der Versorgungsleistungen transferiert der Übernehmer wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auf den Übergeber zurück18. Idealerweise sind dann die Aufwendungen beim Übernehmer abziehbar, während die entsprechenden Zuflüsse beim Vermögensübergeber steuerbar sind. 2. Finanzierbarkeit der Leistungen aus den Erträgen Das Denkmodell des steuerlichen Ertragsvorbehalts sowie der Vergleich zum Vorbehaltsnießbrauch sind allerdings nur dann stimmig, wenn die vereinbarten Versorgungsleistungen aus den Erträgen des übernommenen Vermögens erbracht werden können. Der Übergeber kann maximal nur das für sich abschöpfen, was das Vermögen an Ertrag hergibt. Beansprucht er – z.B. aufgrund eines höheren Versorgungsbedürfnisses – mehr, greift er in die Vermögenssubstanz ein. Es handelt sich dann um eine Veräußerung des Vermögens auf Raten, um ein zumindest teilentgeltliches Rechtsgeschäft, für das die allgemei-

___________ 15 RFH v. 1.2.1933 – VI A 2056/32, RStBl. 1933, 583. 16 Fischer in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 22 Rz. B 42 kritisierte die Rechtsprechung als „Paradoxon eines unentgeltlichen Vorgangs mit Gegenleistung“. 17 BFH v. 5.7.1990 – GrS 4-6/89, BStBl. II 1990, 847; ebenso BFH v. 12.5.2003 – GrS 1/00, BStBl. II 2004, 95. 18 BFH v. 19.1.2010 – X R 17/09, BFH/NV 2010, 996.

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nen einkommensteuerlichen Veräußerungsregeln gelten. Die wiederkehrenden Leistungen sind in diesem Fall nicht – und auch nicht teilweise in Höhe der Ertragskraft – als Versorgungsleistungen steuerlich abzugsfähig. Es gilt das „Alles-oder-nichts“-Prinzip19. Die Ertragskraft des Vermögens ist auf den Zeitpunkt der Übertragung zu prognostizieren20. Maßgebend ist das Prognoseergebnis. Die spätere – ggf. von der Prognose abweichende – Entwicklung der Erträge ist grundsätzlich unbeachtlich. Um die zukunftsorientierte Prognose zu vereinfachen, gestatten Rechtsprechung und Finanzverwaltung den Blick in die Vergangenheit. Regelmäßig zählt der durchschnittliche Ertrag des Jahres der Vermögensübertragung sowie der beiden vorangegangenen Jahre. Bei der Übertragung von betrieblichem Vermögen – mit Ausnahme vermögensverwaltender Unternehmen – wird den Beteiligten der Nachweis der Ertragsstärke regelmäßig erspart. Es gilt die (nur selten widerlegbare) Vermutung ausreichender Ertragskraft21. An vorgenannten Grundsätzen dürfte auch für Neufälle ab dem Jahr 2008 festzuhalten sein. Denn die gesetzliche Beschränkung privilegierter Vermögensübertragungen auf bestimmte Vermögensarten hat nicht zur Folge, dass von der Notwendigkeit der Finanzierbarkeit der Leistungen aus den Erträgen Abstand genommen wird. 3. Ausufernde Begünstigung durch die Rechtsprechung Wesentlicher Aspekt des Gesetzgebers, den Anwendungsbereich privater Versorgungsleistungen zu beschränken, war offensichtlich die (zu) liberale Rechtsprechung des BFH zum Umfang der begünstigten Wirtschaftsgüter. Nach der bis zum 31.12.2007 geltenden Rechtslage konnten nahezu sämtliche Vermögensgegenstände gegen Versorgungsleistungen übertragen werden, sofern sie grundsätzlich für eine generationenübergreifende Anlage geeignet und bestimmt waren und die versprochenen Leistungen aus den Erträgen finanziert werden konnten. Neben dem „klassischen“ betrieblichem Vermögen wie Einzelunternehmen, Mitunternehmeranteilen und Anteilen an Kapitalgesellschaften konnten auch Wertpapiere, Kapitalforderungen, stille Beteiligungen sowie Immobilien (bebaut oder unbebaut) Gegenstand einer Übergabe gegen private Versorgungsleistungen sein22. Die aus Sicht des Gesetzgebers zu weitgehende (und missbrauchsanfällige23) Begünstigung dürfte im Beschluss des Großen Senats vom 12.5.2003 seinen Höhepunkt gefunden haben, nach dem nicht nur aktives – zur Einkünfteerzielung genutztes – Vermögen gegen Versorgungsleistungen übereignet werden konnte. Privilegiert war zudem die Übertragung von Vermögen, aus dessen Nutzung der Über-

___________ 19 BFH v. 12.5.2003 – GrS 1/00, BStBl. II 2004, 95. 20 Vgl. hierzu ausführlich Reddig, a.a.O., S. 47 ff. 21 BFH v. 12.5.2003 – GrS 1/00, BStBl. II 2004, 95; BMF-Schreiben v. 11.3.2010, BStBl. I 2010, 227 Rz. 29. 22 Vgl. die Aufzählung im 3. (inzwischen überholten) Rentenerlass v. 16.9.2004, BStBl. I 2004, 922 Rz. 11, 12. 23 BT-Drucks. 16/6290, S. 53.

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nehmer Vorteile in Form von ersparten Aufwendungen erzielen konnte, die sodann als Versorgungsleistungen an den Übergeber zurückfließen24. Begründet hat der BFH dies damit, dass die Versorgungsleistungen nicht zwingend aus den steuerlich relevanten Einkünften des Vermögens erbracht werden müssten. Vor diesem Hintergrund erschien es konsequent, dass auch der Vorteil aus der eigenen Nutzung eines übertragenen Einfamilienhauses und die hiermit verbundene Ersparnis an Miete Mittel für die Zahlung von Versorgungsleistungen freimachen konnte25.

IV. (De-)Regulierung privater Versorgungsleistungen durch das Jahressteuergesetz 2008 Durch das Jahressteuergesetz 2008 vom 20.12.200726 hat der Gesetzgeber den seiner Ansicht nach zu weitgehenden Anwendungsbereich privater Versorgungsleistungen reguliert. Erstmals fand zudem der Begriff „Versorgungsleistungen“ Eingang ins Einkommensteuergesetz. In § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 EStG wird nunmehr abschließend aufgeführt, in welchen Fällen Versorgungsleistungen (noch) als Sonderausgabe abzugsfähig sind. Korrespondierend hierzu regelt § 22 Nr. 1b EStG die Steuerpflicht auf der Empfängerseite. Steuerlich abzugsfähig sind nur noch diejenigen Versorgungsleistungen, die erbracht werden im Zusammenhang mit der Übertragung von – Mitunternehmeranteilen an originär unternehmerisch tätigen Personengesellschaften (§ 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. a EStG); – Betrieben bzw. Teilbetrieben (§ 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. b EStG); – Anteilen an einer GmbH, sofern dieser Anteil mindestens 50% beträgt, der Übergeber dort als Geschäftsführer tätig war und der Übernehmer diese Tätigkeit übernimmt (§ 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG). Der Gesetzgeber war bestrebt, das Rechtsinstitut der Vermögensübertragung gegen Versorgungsleistungen wieder auf seinen (vermeintlichen) Kernbereich zurückzuführen. Hierzu zähle das unternehmerisch relevante Vermögen – und zwar als Garant für den Erhalt von Arbeitsplätzen27. Die ausufernde Rechtsprechung des BFH ermögliche – so die Befürchtung des Gesetzgebers – Steuergestaltungen, die zum einen missbrauchsanfällig seien, da (durch Versorgungsleistungen verdeckt) der längst gesetzlich ausgeschlossene Abzug privater Schuldzinsen wieder zugelassen würde. Zum anderen bestehe die

___________ 24 BFH v. 12.5.2003 – GrS 1/00, BStBl. II 2004, 95. 25 BFH v. 12.5.2003 – GrS 1/00, BStBl. II 2004, 95. Gleiches sollte nach Ansicht des Großen Senats bei der Übergabe von Geldvermögen zur Tilgung von Verbindlichkeiten gelten mit der Folge, dass aus dem ersparten Zinsaufwand die Versorgungsleistungen erbracht werden konnten. Offenbar zwecks Vermeidung von missbräuchlichen Gestaltungen hat die Finanzverwaltung die „Darlehens“-Variante von vornherein mit einem Nichtanwendungserlass belegt (BMF-Schreiben v. 16.9.2004, BStBl. I 2004, 922 Rz. 21). 26 BGBl. I 2007, S. 3150. 27 Vgl BT-Drucks. 16/6290, S. 53; zu den Motiven auch ausführlich Brune, Die Irrfahrt des Rechtsinstituts der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen in Gedächtnisschrift für Schindhelm, 2009, S. 157 (164).

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Gefahr, dass typische Unterhaltszahlungen der Kinder an die Eltern entgegen der Vorschrift des § 12 EStG nur deshalb steuerliche Relevanz hätten, weil Letztere in der Lage seien, ihren Kindern lebzeitig Vermögen zu übertragen28. 1. Ausschluss der Begünstigung von Privatvermögen Klarer Verlierer des gesetzlichen „Kahlschlags“29 ist das private, zu den Überschusseinkunftsarten gehörende Vermögen (mit Ausnahme beherrschender GmbH-Beteiligungen). Insbesondere fremd vermietete Immobilien – der klassische Gegenstand für lebzeitige Vermögensübertragungen – können bei Vertragsabschlüssen seit dem 1.1.2008 nicht mehr steuerprivilegiert gegen Versorgungsleistungen übertragen werden30. a) Entgeltlichkeit versus Unentgeltlichkeit Entschließen sich die Beteiligten aus Gründen der Privatautonomie dennoch dazu, das vermietete Mehrfamilienhaus, die Mehrheitsbeteiligung an einer AG oder umfangreiches Wertpapiervermögen gegen private Versorgungsrente zu übertragen, so stellt sich die Frage, ob dann in der kapitalisierten Leistungsverpflichtung des Übernehmers ein entgeltlicher Rechtsvorgang zu sehen ist, der auf der Veräußererseite zur Aufdeckung stiller Reserven führt (§§ 17, 20 Abs. 2, 23 EStG). Spiegelberger verneint dies und meint, es lägen tatbestandlich keine Anschaffungskosten und damit auch kein entgeltliches Rechtsgeschäft vor, da der Erwerber nichts aus seinem Vermögen aufwende, sofern er die vereinbarten Versorgungsleistungen aus dem übernommenen Vermögen aufbringe31. Für den Ansatz von Spiegelberger lässt sich zwar anführen, dass die Übertragung des Vermögens gegen Zusage von Versorgung grundsätzlich nicht deshalb von der Unentgeltlichkeit in die Entgeltlichkeit schwenken kann, weil die gesetzlichen Anforderungen für die Anerkennung von privaten Versorgungsleistungen nachteilig verändert wurden. Nicht das Gesetz – so ließe sich argumentieren – sondern die (unveränderten) Motive sind der entscheidende Maßstab für die Einordnung der Vermögensübertragung als unentgeltlich oder entgeltlich. Diese Betrachtung greift allerdings zu kurz. Vermögensaufwendungen des Übernehmers liegen deshalb vor, da der auf sein Fruchtziehungsrecht als Eigentümer in Höhe der zugesagten Versorgungsleistungen verzichtet. Insofern gilt es zu berücksichtigen, dass die Übernahme der Zahlungsverpflichtung – selbst bei zu beachtenden Versorgungsmotiven – auch deshalb erfolgt, da im Gegenzug Vermögen übertragen wird, das zur Erzielung von Einkünften eingesetzt werden kann. Schließt der Gesetzgeber für bestimmte Vermögensgegenstände den Anwendungsbereich privater Versorgungsleistungen tatbestandlich aus, besteht zudem keine Notwendigkeit, insofern eine Rechtfertigung für die steuerliche Sonderbehandlung zu suchen. Es gibt sie ja nicht. Vor diesem Hintergrund können die

___________ 28 BT-Drucks. 16/6290, S. 53. 29 So die Bezeichnung von Everts, ZEV 2007, 571 (574). 30 Vgl. zum zeitlichen Anwendungsbereich der gesetzlichen Neuregelung § 52 Abs. 23f EStG. 31 Spiegelberger, DB 2008, 1063 (1066).

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allgemeinen einkommensteuerrechtlichen Prinzipien Anwendung finden. Vermögensübertragung und Zusage von Versorgungsleistungen stehen in einem Gegenseitigkeitsverhältnis („do ut des“). Die Zuordnung der Versorgungsleistungen zu den ertragsteuerlich unbeachtlichen Unterhaltsleistungen im Sinne des § 12 Nr. 1 bzw. Nr. 2 EStG wäre mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip kaum vereinbar. Denn mangels sodann entgeltlicher Anschaffung würde der Erwerber über kein Abschreibungsvolumen verfügen, obwohl er das übernommene Vermögen dazu einsetzt, um die versprochenen wiederkehrenden Leistungen gegenüber dem Übergeber zu erbringen32. b) Gesetzgeberische Überreaktion? Der gesetzliche Ausschluss von Privatvermögen für eine steuerliche Anerkennung von Versorgungsleistungen wiegt für die Gestaltung einer vorweggenommenen Erbfolge schwer. Der Weg über die „entgeltliche Lösung“ ist für die Beteiligten in Anbetracht der drohenden Steuerpflicht der Veräußerung oftmals nicht akzeptabel. Zudem ist für den Versorgungsverpflichteten nur der Zinsanteil und eben nicht die gesamte dauernde Last steuerlich abzugsfähig. Die regelmäßig höheren Abschreibungsbeträge auf die Anschaffungskosten dürften diesen Nachteil nicht auffangen. Dabei greift der Gedanke des Ertragsvorbehalts bei privaten Wirtschaftsgütern ebenso wie bei betrieblichen. Natürlich kann die Übertragung einer Immobilie, die eines Aktienpakets oder die von festverzinslichen Wertpapieren mit der Maßgabe erfolgen, dass aus den Mieterträgen, den Dividenden, den Erträgen die Versorgungsleistungen bedient werden. Und natürlich ist auch insoweit der Vergleich zum Vorbehaltsnießbrauch stimmig. Die Elterngeneration kann das „nackte“ Eigentum bzw. die „nackte“ Inhaberschaft an den genannten Vermögensgegenständen übertragen, sich das Fruchtziehungsrecht in Form des Nießbrauchs aber vorbehalten und die Erträge sodann unmittelbar selbst beanspruchen. Allerdings kann dem Gesetzgeber nicht von vornherein vorgehalten werden, dass er für Vermögensübertragungen gegen Versorgungsleistungen eine abweichende Rechtsfolge vorsieht als es die bisherige Rechtsprechung angenommen hat. Ihm steht das Recht zu, in der Verpflichtung zur Zahlung von Versorgungsleistungen ein entgeltliches Rechtsgeschäft zu sehen, das zur Aufdeckung der stillen Reserven auf der Übergeberseite und zu Anschaffungskosten auf der Übernehmerseite führt. Aber dennoch: Mit der Einführung einer Zweiteilung der Rechtsfolgen für die Übertragung unternehmerischen Vermögens gegen Versorgungsleistungen einerseits und derjenigen privaten Vermögens andererseits hat der Gesetzgeber einen Zustand geschaffen, der den Vorwurf rechtfertigt, dass mit „zweierlei Maß“ gemessen wird33. Man wird dem Gesetzgeber entgegenhalten könn-

___________ 32 Der weit überwiegende Teil des Schrifttums spricht sich ebenfalls für eine entgeltliche Übertragung des nicht mehr nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG begünstigten Privatvermögens aus; vgl. u.a. Brune, a.a.O., S. 157 (168); Risthaus, DB 2007, 240 (243); Röder, DB 2008, 146 (151); Wälzholz, DStR 2008, 273 (277). Auch die Finanzverwaltung hat sich im aktuellen 4. Rentenerlass dieser Sichtweise angeschlossen (BMFSchreiben v. 11.3.2010, BStBl. I 2010, 227 Rz. 21, 57). 33 Kritisch hierzu Brune, a.a.O., S. 157 (169 ff.).

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ten, mit dem Komplettausschluss der Begünstigung privaten Vermögens einen erheblichen Schritt zu weit gegangen zu sein. Es bestand – wie sich im Folgenden zeigen wird – keine Notwendigkeit, das Rechtsinstitut der Versorgungsleistungen auf seinen „Kernbereich“34 zurückzuführen. Dabei ist bereits erheblich zweifelhaft, ob die nunmehr in § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 EStG aufgeführten – privilegierten – Vermögensarten überhaupt den abschließenden „Kernbereich“ von Vermögensübertragungen gegen Versorgungsleistungen bilden. Insofern ist zu berücksichtigen, dass bereits der Entscheidung des Großen Senats aus dem Jahre 1990 – fast 20 Jahre vor dem „Einschreiten“ des Gesetzgebers – Sachverhalte zugrunde lagen, die die Übertragung von Privatvermögen zum Gegenstand hatten. Der „Kernbereich“ lässt sich somit erheblich weiter definieren als es der Gesetzgeber meint. Klar sollte zudem Folgendes sein: Nicht die jahrzehntelang bestehende Möglichkeit, Privatvermögen gegen steuerlich anzuerkennende private Versorgungsrente zu übertragen, war der plötzliche Anlass des Gesetzgebers, Schranken für den Anwendungsbereich zu setzen. Vielmehr war es die Sorge vor missbräuchlichen Steuergestaltungen, die nach Ansicht des Gesetzgebers durch die zuletzt ausufernde – begünstigende – Rechtsprechung motiviert sein konnten. Der Gesetzgeber hat zum einen nicht akzeptiert, dass die Rechtsprechung die Übertragung von zu eigenen Wohnzwecken genutzten Immobilien von der Eltern- auf die Kindergeneration mit der Maßgabe duldete, dass sich die Eltern Versorgungsleistungen in Höhe der ersparten Miete versprechen ließen35. Insofern ist zuzugeben, dass hiermit der Einwand provoziert wurde, die Kinder könnten Kosten der privaten Lebensführung, nämlich (ersparten) Mietaufwand, entgegen § 12 EStG als Sonderausgaben steuerlich geltend machen36. Als noch missbrauchsanfälliger sah der Gesetzgeber ganz offensichtlich die von der Rechtsprechung anerkannte Gestaltung, Geldvermögen zur Ablösung von Verbindlichkeiten zu übertragen, um aus dem ersparten Zinsaufwand die Versorgungsleistungen zu erbringen. Die hiermit einhergehende Gefahr der verdeckten Wiedereinführung des im Jahr 1974 gestrichenen Abzugs von privaten Schuldzinsen37 hat den Gesetzgeber veranlasst, insoweit gar rückwirkend für entsprechende vor dem 1.1.2008 begründete Vermögensübertragungen eine steuerliche Nichtanerkennung auszusprechen38. Die Sorge des Gesetzgebers vor missbräuchlichen Gestaltungen ist zwar verständlich. Ihr hätte aber eleganter und schonender begegnet werden können. Der „Königsweg“ wäre gewesen, den Anwendungsbereichs privater Versor-

___________ 34 35 36 37

BT-Drucks. 16/6290, S. 53. BFH v. 12.5.2003 – GrS 1/00, BStBl. II 2004, 95. Kesseler, ZNotP 2004, 469 (470 ff.). Geck, DStR 2005, 85 (87), verwies – zugespitzt – auf die steuerlich geförderte Möglichkeit der Ablösung eines „Altkredits für den privaten Ferrari“. Die Rechtsprechung schränkte diesen Gestaltunganreiz allerdings dahingehend ein, dass nur die Übertragung von Geldvermögen steuerlich begünstigt sei, das der Entschuldung von Wirtschaftsgütern diene, die ihrerseits tauglicher Gegenstand einer Vermögensübertragung gegen Versorgungsleistungen sein könnten (BFH v. 1.3.2005 – X R 45/03, BStBl. II 2007, 103). 38 Vgl. § 52 Abs. 23f Satz 2 EStG; kritisch hierzu Wälzholz, DStR 2008, 273 (278).

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gungsleistungen auf die Übertragung von Vermögen, das zur Erzielung steuerpflichtiger Erträge genutzt wird, zu beschränken, um so der Befürchtung ausufernder Steuergestaltungen im vorgenannten Sinne entgegenzutreten. Denn die steuerbegünstigte Übertragung von Vermögen, das der nicht einkünfterelevanten Privatsphäre dient, durch dessen Nutzung aber Vorteile in Form der Ersparnis von Aufwand entsteht, verträgt sich bei genauerer Betrachtung nicht mit dem Vergleich zum Vorbehaltsnießbrauch – dem tragenden Gedanken für eine Rechtfertigung der steuerlichen Sonderbehandlung von Vermögensübertragungen gegen Versorgungsleistungen. Der Große Senat des BFH hatte in seiner Entscheidung vom 5.7.1990 gerade nicht den Vergleich zum Vorbehaltsnießbrauch in seiner klassischen Ausgestaltung, bei der sich der Übertragende das Recht zur weiteren eigenen Bewirtschaftung der Quelle vorbehält, vor Augen. Die Vergleichskonstellation geht vielmehr weiter39. Wörtlich führte der BFH in seinem 1990iger-Beschluss aus: „Abzug und Versteuerung der Versorgungsleistungen führen […] zu einem ähnlichen Ergebnis wie der Vorbehalt eines gegenständlich beschränkten Nießbrauchs durch den Übergeber, der mit einer entgeltlichen Nutzungsüberlassung an den Vermögensübernehmer verbunden ist.“40 Dieser Vergleich zu der mit einer Rückvermietung an den Übernehmer erweiterten Nießbrauchs-Konstellation überzeugt aus zweierlei Gründen: Zum einen geht sowohl bei der Vermögensübertragung gegen Versorgungsleistungen als auch bei dieser Form des Vorbehaltsnießbrauchs die originäre Bewirtschaftungspflicht auf den Vermögensübernehmer über. Der Ertragsvorbehalt erfolgt durch Versorgungsleistungen einerseits, durch die Mieterträge andererseits. Darüber hinaus erklärt nur der Vergleich zum Rückvermietungs-Nießbrauch das für Versorgungsleistungen als typisch charakterisierte Korrespondenzprinzip von „Abzug und Versteuerung“ der Leistungen auf Geber- und Nehmerseite. Der Vergleich zur klassischen Nießbrauchsvariante kann streng genommen nur aufzeigen, weshalb der Vermögensübergeber weiterhin Einkünfte zu versteuern hat. Weshalb aber der Vermögensübernehmer wiederkehrenden Leistungen steuerlich in Abzug bringen darf, ergibt sich aus dem Vergleich zur klassischen Variante des Vorbehaltsnießbrauchs gerade nicht. Denn der nießbrauchsverpflichtete Neu-Eigentümer hat – anders als der Verpflichtete zu Versorgungsleistungen – mit der übertragenen Vermögensquelle wirtschaftlich gar nichts zu tun. Beim Vergleich zur erweiterten NießbrauchsKonstellation begründet der Übernehmer dagegen – eben wie der Versorgungsverpflichtete – durch die Bewirtschaftung eine eigene steuerliche Einkunftsquelle. Dem Sonderausgabenabzug von Versorgungsleistungen entspricht dann der Betriebsausgaben -bzw. Werbungskostenabzug für die Pflicht, statt Versorgungsleistungen Miete an den Nießbrauchsberechtigten zu zahlen41. Der Betriebsausgaben- bzw. Werbungskostenabzug kann allerdings nur beansprucht werden, wenn das übernommene Vermögen auch zur Erzielung steuerpflichtiger Einkünfte eingesetzt wird. Andernfalls – z.B. bei der Nutzung einer Immobilie zu eigenen Wohnzwecken oder bei der Entschuldung

___________ 39 Vgl. hierzu ausführlich Reddig, a.a.O., S. 23 ff. 40 BFH v. 5.7.1990 – GrS 4-6/89, BStBl. II 1990, 847. 41 Vgl. hierzu BFH v. 18.10.1990 – IV R 36/90, BStBl. II 1991, 205.

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privater Kredite – fehlt der erforderliche Veranlassungszusammenhang der Ausgaben zu den Einnahmen. Nichts anderes kann dann – nimmt man den Vergleich zum Vorbehaltsnießbrauch tatsächlich ernst – bei einer Vermögensübertragung gegen Versorgungsleistungen gelten. Es wäre somit völlig ausreichend gewesen, hätte der Gesetzgeber klargestellt, dass auch die Abzugsfähigkeit von privaten Versorgungsleistungen als Sonderausgaben von einer ertragsteuerlich relevanten Nutzung des Vermögens abhängt. Der befürchtete Missbrauch steuerlicher Gestaltung zwischen der Eltern- und Kindergeneration wäre hierdurch effektiv unterbunden worden. Zudem hat der Gesetzgeber in der Vorschrift des § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 1 EStG eine schlichte und schonende Lösung – wenn womöglich auch nicht bewusst – selbst angedeutet. Hiernach sind als Sonderausgaben nur diejenigen Versorgungsleistungen abzugsfähig, die nicht mit Einkünften in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen, die bei der Veranlagung außer Betracht bleiben. Zwar dürfte diese Einschränkung zur Sicherung der inländischen Besteuerung grundsätzlich nur für die Übertragung von Vermögen gelten, dessen Einkünfte nach den Vorschriften eines DBA im Inland steuerfrei gestellt sind42. Allerdings hat der Gesetzgeber hierdurch zumindest abstrakt zum Ausdruck gebracht, dass Versorgungsleistungen nur dann in Abzug gebracht werden sollen, wenn auch ein Steuerzugriff auf die übertragene Vermögensquelle möglich ist. Dient das Vermögen bereits nicht der Einkünfteerzielung, sondern nur der privaten Sphäre, ist ein Steuerzugriff von vornherein ausgeschlossen. Der nunmehr bestehende Zustand einer Zweiteilung der Rechtsfolgen bei dem Rechtsinstitut der Vermögensübertragung gegen Versorgungsleistungen ist als Überreaktion des Gesetzgebers zu werten. Zudem hat er hierdurch – wie noch im Folgenden kurz beleuchtet werden soll – für weitere Rechtsunsicherheit gesorgt. 2. Übertragung von Anteilen an Kapitalgesellschaften – Hohe Hürden Wie schwer sich der Gesetzgeber getan hat, zu entscheiden, welche Wirtschaftsgüter noch steuerbegünstigt gegen Versorgungsleistungen übertragen werden könnten, zeigt sich an der schließlich Gesetz gewordenen Kompromisslösung, zumindest bestimmte Anteile an Kapitalgesellschaften gegen private Versorgungsrenten übertragen zu können. § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG setzt voraus, dass GmbH-Anteile übertragen werden, der Vermögensübergeber mindestens zu 50% an der Gesellschaft beteiligt ist und auch mindestens 50% der Anteile an der Gesellschaft überträgt, er als Geschäftsführer für die GmbH tätig war und – schließlich – der Übernehmer diese Tätigkeit nach der Übertragung fortführt. Ursprünglich war angedacht, die Übertragung von Anteilen an Kapitalgesellschaften vollständig dem Anwendungsbereich privater Versorgungsleistungen

___________ 42 BMF-Schreiben v. 11.3.2010, BStBl. I 2010, 227 Rz. 49; vgl. bereits Röder, DB 2008, 146 (149).

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zu entziehen43. Vor dem Hintergrund der beabsichtigten „Entprivatisierung“ war dies sogar konsequent, sofern die Anteile an der Kapitalgesellschaft dem steuerlichen Privatvermögen des Anteileigners zuzuordnen waren. Betrieblich tätig – so der Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 4.9.2007 – sei nämlich nur die Kapitalgesellschaft, nicht aber der einzelne Gesellschafter44. Erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wurde Einvernehmen erzielt, zumindest auch (noch) die Übertragung von klein- und mittelständischen FamilienGmbH steuerlich zu begünstigen45. Für eine entsprechende Gestaltung sind insofern allerdings hohe Hürden aufgestellt. Nicht nur die ausdrückliche Beschränkung auf GmbH-Beteiligungen46, sondern auch die qualifizierte Beteiligung und auch Übertragung von zumindest 50% der Anteile sowie nicht zuletzt das beiderseitige Geschäftsführererfordernis von Übergeber und Übernehmer belasten entsprechende Gestaltungsüberlegungen zur Regelung vorweggenommener Erbfolgen. Eine plausible Begründung für die Beschränkung der Privilegierung auf GmbHBeteiligungen fehlt. Der Hinweis des Gesetzgebers, kleine und mittelständische Familienunternehmen würden überwiegend in der Rechtsform einer GmbH betrieben47, überzeugt als Rechtfertigungsgrund bereits deshalb nicht, da Familienunternehmen oftmals auch in anderer Rechtsform (z.B. als AG) ausgestaltet sind und nach den eigenen Vorgaben des Gesetzgebers ein Korrektiv zum Ausschluss der Begünstigung von Splitterbeteiligungen zur Verfügung steht, nämlich die 50%-Grenze48. Auch lässt sich hierfür nicht anführen, bei anderen Kapitalgesellschaften fehle es an einer erforderlichen Verbindung zwischen Geschäftsführertätigkeit und Beteiligung, die es erlaube, die Übertragung von Anteilen an Kapitalgesellschaften derjenigen von Anteilen an Personenunternehmen gleichzustellen49. Zum einen würde eine derartige Verbindung zwischen Geschäftsleitung und Beteiligung bei einer AG zumindest für einen gesellschaftsbeteiligten Vorstand entsprechend gelten. Zum anderen stellt der Gesetzgeber bei der wirtschaftlich vergleichbaren Übertragung von Anteilen an einer Familien-Personengesellschaft gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. a EStG ein entsprechendes Verbindungserfordernis nicht auf. Auch die Anteile des nicht-geschäftsführenden bzw. nicht geschäftsführungsbefugten Gesellschafters einer Personengesellschaft können begünstigt gegen private Versorgungsleistungen übertragen werden. Auch die gesetzliche 50%-Mindestbeteiligung muss sich am Vergleich zur unbeschränkten Übertragbarkeit von Anteilen an Personengesellschaften kritisch messen lassen. Die Begünstigungstatbestände von § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. a und Buchst. c EStG sind diesbezüglich nicht aufeinander

___________ 43 44 45 46

BT-Drucks. 16/6290, S. 53. BT-Drucks. 16/6290, S. 53. BT-Drucks. 16/7036, S. 11. Allerdings können auch Anteile an einer Unternehmergesellschaft im Sinne des § 5a GmbHG und zwecks Herstellung europarechtskonformer Zustände auch Anteile an einer der GmbH vergleichbaren Gesellschaft eines anderen EU- bzw. EWR-Mitgliedstaaten nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG übertragen werden. 47 BT-Drucks. 16/7036, S. 11. 48 Kritisch zur Beschränkung auf GmbH-Anteile auch Risthaus, DB 2010, 803 (811). 49 So aber Grün, NWB 2010, 1042 (1045).

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abgestimmt und werden die Finanzgerichte im Hinblick auf einen möglichen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) sicherlich alsbald beschäftigen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass nach Auffassung der Finanzverwaltung im 4. Rentenerlass sogar – minimale – Teilanteile an Mitunternehmeranteilen begünstigt nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. a EStG übertragen werden können50, steuerlich abzugsfähige Versorgungsleistungen bei einer Teil-Übertragung von GmbH-Beteiligungen aber nur dann begründet werden, wenn der (Teil-)Anteil zumindest 50% beträgt51. Ferner überzeugt die eigene Gesetzesbegründung für das aufgestellte Erfordernis einer 50%-Beteiligung nicht; sie schlägt sich auch nicht im Gesetzeswortlaut nieder. Nur der beherrschende Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft soll dem Einzel- oder Mitunternehmer gleichgestellt werden52. Beherrschende Gesellschafter müssen über eine Beschlussmehrheit in der Gesellschafterversammlung verfügen. Hierfür genügt keine zumindest 50%ige Beteiligung, sondern erforderlich ist eine mehr als 50%ige Beteiligung53. § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG lässt allerdings – entgegen des eigenen Begründungsansatzes in den Gesetzgebungsmotiven – eine lediglich „mindestens 50%“ betragende Beteiligung genügen54. 3. Übertragung von Anteilen an Personengesellschaften Nicht jede Übertragung von Anteilen an Personengesellschaften kann steuerlich privilegiert gegen Versorgungsleistungen erfolgen. Der Gesetzgeber knüpft die Begünstigung daran, dass die Personengesellschaft land- und forstwirtschaftlich gemäß § 13 EStG oder gewerblich im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG tätig ist bzw. Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit nach § 18 Abs. 1 EStG erzielt. Vermögensverwaltende Personengesellschaften sind demnach vom Begünstigungskreis ausgeschlossen. Dies gilt selbst dann, wenn die Personengesellschaft eine gewerbliche Prägung nach § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG erfahren hat. Andernfalls hätte es der ausdrücklichen Bezugnahme in § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. a EStG auf § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG nicht bedurft55. Gewerbliche Infizierung nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG ist dagegen unschädlich56 Diese Differenzierung kann nicht überzeugen. Wirtschaftlich betrachtet macht es keinen Unterschied, Anteile an einer ausschließlich vermögensverwaltenden – ggf. gewerblich geprägten – Personengesellschaft oder aber solche an einer fast ausschließlich vermögensverwaltenden Personengesellschaft, die durch eine zusätzliche – allerdings nur geringfügige57 – gewerbliche Tätigkeit in die originäre Gewerblichkeit „hineinrutscht“, zu übertragen. Zwar wollte der Gesetzgeber mit der Forderung nach einer origi-

___________ 50 51 52 53 54 55 56 57

BMF-Schreiben v. 11.3.2010, BStBl. I 2010, 227, Rz. 8. BMF-Schreiben v. 11.3.2010, BStBl. I 2010, 227, Rz. 16. BT-Drucks. 16/7036, S. 11. Es muss mindestens eine Ja-Stimme mehr abgegeben werden als Nein-Stimmen; vgl. Zöllner in Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl., § 47 Rz. 23. Kritisch auch Brune, a.a.O., S. 157 (171). Vgl. auch BMF-Schreiben v. 11.3.2010, BStBl. I 2010, 227 Rz. 10. BMF-Schreiben v. 11.3.2010, BStBl. I 2010, 227 Rz. 9. Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl., § 15 Rz. 188 m.w.N.

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när gewerblichen Betätigung offenbar missbräuchlichen Gestaltungen zuvorkommen, insbesondere durch Einbringung von nicht mehr begünstigtem Privatvermögen in einer gewerbliche Personengesellschaft. Dieses Motiv erweist sich allerdings als „zahnloser Tiger“. Denn steuerlich nicht mehr privilegiertes Privatvermögen kann alternativ in eine vermögensverwaltende GmbH oder gar Unternehmergesellschaft eingebracht werden, deren Anteile sodann nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG begünstigt übertragen werden können58. Überraschenderweise hat sich die Finanzverwaltung im 4. Rentenerlass gegen entsprechende Gestaltungsüberlegungen nicht positioniert. Missbräuchlich soll nach dem Verständnis des BMF (bislang) lediglich die Einbringung einer GmbH-Beteiligung in das Betriebsvermögen eines Einzelunternehmens oder einer Mitunternehmerschaft sein, um so für die beabsichtigte kurzfristige Übertragung der Anteile die tatbestandlich hohen Hürden des § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG umgehen zu können59. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass Finanzverwaltung und Rechtsprechung auch die „kurzfristige“ Einbringung von Privatvermögen in eine vermögensverwaltende GmbH als missbräuchlich einstufen, sofern bereits zum Zeitpunkt der Einbringung feststeht, dass die GmbH-Beteiligung alsbald gegen nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. c EStG begünstigte private Versorgungsleistungen übertragen werden sollen. Insofern erweist sich die Gestaltungsberatung als schwierig.

V. Zusammenfassung All dies zeigt deutlich auf: Mit seinem Bestreben, das Rechtsinstitut der Vermögensübertragung gegen Versorgungsleistungen durch einen tatbestandlichen Ausschluss der Begünstigung für Wirtschaftsgüter des Privatvermögens auf seinen – vermeintlichen – Kernbereich zurückzuführen, ist der Gesetzgeber nicht nur über das notwendige Ziel hinausgeschossen, sondern hat auch einen Beitrag zur weiteren Verkomplizierung der Rechtsanwendung geleistet. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Begünstigung nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 2 Buchst. a bis c EStG sind untereinander nicht abgestimmt. Gestaltungsanreize für eine Umgehung der Restriktionen des Gesetzgebers sind bereits offen zutage getreten; weitere werden zukünftig hinzukommen. Der eingangs dargelegte – vom Bundesrechnungshof monierte – Missstand in der finanzbehördlichen Überprüfung der Fälle privater Versorgungsleistungen dürfte auf absehbare Zeit kaum besser werden. Dies wäre vermeidbar gewesen, hätte sich der Gesetzgeber darauf beschränkt, die Abzugsfähigkeit privater Versorgungsleistungen an eine einkünfterelevante Nutzung des übergebenen Vermögens zu knüpfen. Der hiervon abweichende Weg, den der Gesetzgeber gegangen ist, hat zwar nicht zum Ende der privaten Versorgungsrente geführt; allzu viel hiervon ist dennoch nicht übrig geblieben.

___________ 58 Kritisch hierzu Risthaus, DB 2010, 803 (811). 59 BMF-Schreiben v. 11.3.2010, BStBl. I 2010, 227, Rz. 23. Als „kurzfristig“ soll ein Zeitraum von einem Jahr zwischen Einbringung und Übertragung gelten.

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Ausgewählte Aspekte der Internationalen Unternehmens- und Vermögensnachfolge Inhaltsübersicht I. Einführung II. Ausgangspunkte internationaler Nachfolgeplanung III. Zivilrechtliche Aspekte grenzüberschreitender Nachfolgeplanung 1. Die Formwirksamkeit letztwilliger Verfügungen 2. Die Anwendbarkeit des materiellen Erbrechts a) Allgemeines b) Pflichtteilsrecht c) Bedeutung des Güterrechtsstatuts und des Gesellschaftsstatuts 3. Die Europäische Erbrechtsverordnung 4. Hinweise zur Nachlassabwicklung a) Erbschein b) Vollmacht IV. Steuerliche Aspekte der internationalen Nachfolgeplanung

1. Zugriff der deutschen Erbschaftund Schenkungsteuer auf weltweite Vermögen a) Allgemeines b) Relevanz ausländischer Unternehmensteile für die Vergünstigungen nach der Erbschaftsteuerreform 2009 2. Vermeidung der Doppelbesteuerung und Hindernisse a) Anrechnungsüberhänge b) Entsprechungsklausel c) Auslandsvermögen d) Zeitliche Verwerfungen 3. Vorteile bei und Gestaltungsmöglichkeiten aufgrund Erbschaftsteuer-DBA a) Vorteile der DBA-Anwendung gegenüber § 21 ErbStG b) Gestaltungschancen am Beispiel des Art. 9 E-DBA USA 4. Der Wegzug als Gestaltungsmittel V. Schlussbemerkung

I. Einführung Der Jubilar hat neben seiner herausragenden beruflichen Tätigkeit als Rechtsanwalt ganz außergewöhnliche Schaffenskraft als juristischer Fachautor bewiesen. Seine zahlreichen Beiträge verbinden stets die für den Leser gleichsam spürbare Praxiserfahrung mit der tiefen wissenschaftlichen Durchdringung der Thematik. Dr. Michael Streck beschäftigte sich schon mehrfach mit Fragestellungen der Unternehmens- und Vermögensnachfolge1. Das soll Anlass sein, einige grenzüberschreitende Aspekte dieser Thematik zu skizzieren.

___________ 1 Beispielsweise Streck, Das Ausscheiden von Gesellschaftern aus Personen- und Kapitalgesellschaften sowie die Einziehung von GmbH-Anteilen als leicht zu übersehende Schenkungsteuertatbestände, AG 2009, 162; Streck, Der BFH und die Steuerneutralität des Erbschaftsteuerrechts, NJW 2005, 805; Streck, Die drohende Erbschaftsteuererhöhung, BFH – BVerfG – Gesetzgeber, Beratungsakzente 37, Testaments- und Nachfolgeberatung, 2003, S. 131; Streck, Beratungs- und Gestaltungsüberlegungen zu Testaments- und Nachfolgeberatung – Bausteine und Modelle zu letztwilligen Verfügun-

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Bernd Rödl und Christian Rödl

Die praktische Relevanz grenzüberschreitender Nachfolgeplanung ist immens. Nicht nur haben ungezählte deutsche Steuerpflichtige Kapitalvermögen und Immobilienvermögen im Ausland, von der privaten Ferienimmobilie über Direktinvestitionen in Kapitalanlageobjekte bis zur Beteiligung an geschlossenen Auslandsimmobilienfonds. Sondern Unternehmer und Unternehmerfamilien aus dem ganzen Land haben die Chancen der Globalisierung in den letzten Jahren und Jahrzehnten genutzt. Sie haben ihre Unternehmen internationalisiert, Betriebsstätten und Tochtergesellschaften in aller Welt begründet. Die Familienunternehmen sind ihrer in Sonntagsreden gerne zitierten Rolle als Rückgrat der deutschen Wirtschaft gerecht geworden. Kurze Entscheidungswege, der Mut zu Entscheidungen, die sich erst mittel- oder langfristig auszahlen, verbunden mit dem erforderlichen Pioniergeist, haben viele Familienunternehmer zu Treibern und Gewinnern der Globalisierung gemacht und dadurch auch viele Arbeitsplätze in Deutschland gesichert und neu geschaffen. Auch die Zahl der Gesellschafter deutscher Familienunternehmen, die außerhalb Deutschlands leben, nimmt deutlich zu. Es handelt sich weniger um den Unternehmer oder Gründer, der aus Verärgerung über sein Heimatland und dessen Steuersystem die (Steuer-)Flucht antritt. Vielmehr sind die jüngeren Generationen häufig international aufgewachsen, im Ausland ausgebildet und als Mitarbeiter oder Manager deutscher oder ausländischer Multinationals im Ausland berufstätig, oder sie folgen solchen Personen als (Ehe-)Partner. Die Globalisierung erfasst auch die Familien. Nicht nur unternehmerisches Vermögen, sondern auch das Privatvermögen wird weltweit investiert. Jeder Anleger weiß, dass Diversifizierung nicht nur nach Anlageklassen, sondern auch nach Ländern und den großen Wirtschaftsregionen dieser Welt zu erfolgen hat. Zu den teils jahrhundertealten großen Privatvermögen und den Vermögen der erfolgreichen Unternehmer, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, ist in den letzten zwei Jahrzehnten eine Riege erfolgreicher Investoren und Unternehmer aus dem IT- und Internetbereich hinzugekommen. Viele Privatvermögen sind erheblich angewachsen. Sie investieren selbstverständlich global. Die unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft prägende Internationalisierung erfordert auch eine grenzüberschreitende Planung der Unternehmens- und Vermögensnachfolge. Für den rechtlichen und steuerlichen Berater von Familienunternehmen ist die Nachfolgeberatung die Königsdisziplin. Es handelt sich in vielen Fällen um eine diffizile Entscheidungsfindung des Unterneh-

___________ gen, Beratungsakzente 37, Testaments- und Nachfolgeberatung, 2003, S. 1287; Streck, Unzeitgemäße Gedanken zur Reform der Erbschaftsteuer, NJW 2001, 2059; Streck/ Binnewies, Besteuerung von Gewinnen aus Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung sowie Übertragungen zwischen nahen Angehörigen, GmbHR 1999, 935; Streck, Rechtswidrige Steuererklärungen „zur vorläufigen Ermittlung des Grundstückswerts“ im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, DStR 1997, 1800; Streck/Schwedhelm/Olbing, Problemfelder des Erbschaftsteuerrechts, DStR 1994, 1441 (1481); Streck, Der Steuerberater als Testamentsvollstrecker und Vermögensverwalter, DStR 1991, 592; Streck, Unerwünschte und geplante Steuerfolgen der Erbauseinandersetzung, NJW 1985, 2454.

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Ausgewählte Aspekte der Internationalen Unternehmens- und Vermögensnachfolge

mers. Er muss sich mit seinem eigenen Abtreten als Unternehmer und mit seinem eigenen Ableben befassen. Er muss seine Rollen als Vater und als Unternehmer synchronisieren, etwa wenn er sich im Interesse des Unternehmens für eines seiner Kinder entscheiden muss, das seine Nachfolge in der Geschäftsführung antritt. In vielen Fällen wird es im Interesse des Unternehmens sinnvoll sein, die Geschäftsführung in der Folgegeneration nicht zu teilen und auch die Gesellschaftsanteile nicht gleichmäßig auf alle Kinder zu übertragen. Das mag dem familiären Gerechtigkeitsempfinden widersprechen. In keinem anderen Beratungsgebiet sind die familiäre und die unternehmerische Sphäre so eng verwoben, ist der Berater in ähnlich intime und sensible Entscheidungsprozesse eingebunden. Auch rechtlich sind Nachfolgeplanungen äußerst anspruchsvoll. Es handelt sich um interdisziplinäre Projekte. Neben steuerrechtlichen Überlegungen zum deutschen, jeweiligen ausländischen und internationalen Steuerrecht sind zivilrechtliche Aspekte zu berücksichtigen, insbesondere das Internationale Privatrecht bei der Testamentserrichtung oder der vorweggenommenen Erbfolge qua Schenkung. Dieser Beitrag speist sich aus der praktischen Erfahrung aus der Beratung international tätiger deutscher Familienunternehmen und der Inhaber umfangreicher Privatvermögen. Es sollen einige Aspekte der Unternehmens- und Vermögensnachfolgeplanung beleuchtet werden, die international strukturiertes Privat- und unternehmerisches Vermögen mit sich bringen. Am Beginn des Beitrags stehen die zivilrechtlichen Themenstellungen, gefolgt von den steuerrechtlichen Erwägungen. Nicht Gegenstand dieser Darstellung ist die Nachfolgeplanung ausländischer Unternehmer mit deutschen Tochtergesellschaften oder Betriebsstätten sowie die praktisch äußerst relevante Fallgruppe ausländischer Staatsbürger, die dauerhaft in Deutschland leben. Die Situation im Ausland lebender Inhaber deutscher Unternehmen oder Vermögen wird gelegentlich gestreift.

II. Ausgangspunkte internationaler Nachfolgeplanung Die erste wichtige Aufgabenstellung eines internationalen Nachfolgeprojekts besteht darin, es als solches überhaupt zu erkennen. Der Mandant ist sich häufig nicht bewusst, dass seine unternehmerischen und privaten Auslandsengagements die Komplexität des Nachfolgeprojekts vervielfachen und international abgestimmte Lösungen erfordern. Jeglicher Fall der Nachfolgeplanung sollte daher bei der Bestandsaufnahme erfassen, ob der Erblasser bzw. Schenker und die potenziellen Erben sowie mögliche Pflichtteilsberechtigte deutsche und/oder ausländische Staatsangehörige sind, wo Wohnsitze und regelmäßige Aufenthaltsorte sind, wo sich der Geburtsort befindet, in welchem Land die Ehe und ein eventueller Ehevertrag geschlossen wurde, welcher Güterstand besteht. Daneben ist die gesamte Vermögensstruktur auf Auslandsbeziehungen zu durchleuchten. Der Berater erweist dem Mandanten und seiner Familie einen Bärendienst, wenn er die Nachfolgeplanung auf das „deutsche Vermögen“ zu beschränken versucht, vielleicht ver173

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bunden mit der Empfehlung, die Planung für das Auslandsvermögen im jeweiligen Land zu lösen. Wenig hilfreich ist der am Ende einer Testamentsurkunde eingeflochtene Hinweis, Beratung zu ausländischen Rechtsordnungen und Vermögensbestandteilen fand nicht statt und unterliegt auch nicht der Haftung. Man darf das komplizierte Zusammenspiel unterschiedlicher Anknüpfungspunkte im In- und Ausland und der zivil- und steuerrechtlichen Folgen nicht dem Zufall überlassen. Nur die gesamthafte Nachfolgeplanung kann gewährleisten, dass der Wille des Mandanten auch rechtlich umgesetzt und steuerlich optimiert wird. Wichtig ist das Vertrauen in den Berater, ihm auch Vermögensbestandteile offenzulegen, die der Mandant gegenüber Fiskus und häufig auch Verwandten verschweigt und deren Existenz er selbst vielleicht verdrängt. Aber auch Schwarzgeld wird vererbt. Gerade die jüngere Erfahrung zeigt, dass das Auftauchen nicht deklarierten Vermögens im Erbfall zu erheblichen Konflikten und Zerreißproben innerhalb der Familie führen kann. Eine Lösung zu Lebzeiten ist also unbedingt anzustreben. Welche Maßnahmen dem Mandanten in diesem Zusammenhang zu erläutern und nahezulegen sind, soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Die Nachfolgeplanung im Zusammenhang mit internationalen Familienunternehmen verfolgt das Ziel, wirksame Verfügungen oder Verträge zu errichten, die in den betroffenen Jurisdiktionen eine möglichst kostengünstige und zügige Abwicklung der Schenkung und gerade des Nachlasses ermöglichen. Die Gesamtsteuerbelastung muss so niedrig wie möglich gehalten werden, mehrfache Substanzbesteuerungen des gleichen Vorgangs und die ertragsteuerliche Aufdeckung stiller Reserven sind zu vermeiden. Erbschaftsteuerliche und ertragsteuerliche Erfordernisse können gegenläufig sein, sind jedoch soweit wie möglich zu harmonisieren.

III. Zivilrechtliche Aspekte grenzüberschreitender Nachfolgeplanung Ausgangspunkt sollen Überlegungen zur Wirksamkeit und zur praktischen Abwicklung letztwilliger Verfügungen sein. Auch die vorweggenommene Erbfolge umfasst in aller Regel eine Testamentsgestaltung. Denn der Schenker hält sich stets zur eigenen Versorgung dauerhaft, d.h. bis zum Erbfall, Vermögensgegenstände zur eigenen Versorgung zurück und ist damit auch meist gut beraten. Bei der Vorbereitung und dem Entwurf des Testaments sind die Vorschriften des Internationalen Privatrechts zu beachten. Sie enthalten selbst keine materiell-rechtlichen Regelungen, sondern ermitteln den Staat, an dessen Rechtsordnung „angeknüpft“ wird, also dessen Rechtsordnung für einen bestimmten Themenkreis Anwendung findet. Es handelt sich um reines „Rechtsanwendungsrecht“. Die Fragestellungen, welches Recht auf die Form letztwilliger Verfügungen (Formstatut) und welches Recht auf die materiell-rechtliche Wirksamkeit und den Inhalt letztwilliger Verfügungen (Erbstatut) anzuwenden ist, sind streng voneinander zu trennen und gesondert zu untersuchen. Bei verheirateten Erblassern hat das eheliche Güterrecht großen Einfluss auf Erbfolge und Pflichtteilsrecht. Welches Güterrecht anwendbar ist (Güter174

Ausgewählte Aspekte der Internationalen Unternehmens- und Vermögensnachfolge

rechtsstatut), ist somit zu ermitteln und folgt eigenen Regeln. Gleiches gilt für das Gesellschaftsrechtsstatut, das bei der Nachfolge in Gesellschaften stets zu ergründen ist. Denn jedenfalls nach deutschem Recht determiniert das Gesellschaftsrecht die Grenzen letztwilliger Verfügungsmöglichkeiten über Gesellschaftsanteile. Das deutsche Internationale Privatrecht findet sich im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB)2. Jeder Staat hat sein eigenes Internationales Privatrecht, sodass auch zu prüfen ist, welches Rechtsanwendungsrecht einschlägig ist. Sofern ausnahmsweise internationale Verträge zu den relevanten Rechtsgebieten abgeschlossen sind, sind diese vorrangig. 1. Die Formwirksamkeit letztwilliger Verfügungen Gemäß der Grundregel in Art. 11 Abs. 1 EGBGB ist ein Rechtsgeschäft formgültig, wenn es die Formerfordernisse des Rechts, das auf seinen Geschäftsgegenstand anzuwenden ist (sog. Geschäftsrecht) oder das Recht des Staates erfüllt, in dem es vorgenommen wird (sog. Ortsrecht). Letztwillige Verfügungen unterliegen allerdings Sondervorschriften, die Art. 11 Abs. 1 EGBGB verdrängen. Für Testamente, einschließlich gemeinschaftlicher Testamente, ist das Haager Übereinkommen über das auf die Form letztwilliger Verfügungen anzuwendende Recht vom 5.10.19613, ein multilateraler Staatsvertrag, maßgeblich (vgl. Art. 3 Nr. 2 EGBGB) („Haager Testamentsform-Abkommen“). Entscheidende Vorschrift für das Formstatut im deutschen Recht ist Art. 26 EGBGB. Er ist dem Haager Testamentsform-Abkommen weitgehend nachgebildet und erstreckt durch seinen Abs. 4 die Regelungen zur Formwirksamkeit von Testamenten auch auf andere letztwillige Verfügungen. Das Haager Testamentsform-Abkommen und Art. 26 EGBGB bezwecken, letztwillige Verfügungen möglichst nicht an Formvorschriften scheitern zu lassen. In der Praxis sollten daher letztwillige Verfügungen im internationalen Kontext nicht vorschnell wegen Verstoßes gegen §§ 2231 i.V.m. 2232, 2247 BGB als unwirksam verworfen werden, etwa wenn das Testament nicht notariell beurkundet oder eigenhändig geschrieben und unterschrieben ist. Art. 26 Abs. 1 Satz 1 EGBGB lässt beispielsweise in seiner Nr. 1 die Formvorschriften des Staates genügen, dem der Erblasser im Verfügungs- oder in seinem Todeszeitpunkt angehörte, in seiner Nr. 2 sogar das Recht des Ortes, an dem die letztwillige Verfügung verfasst wurde, Nr. 3 das Recht am Ort seines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts sowohl bei der Errichtung der Verfügung als auch im Todeszeitpunkt. So ist es durchaus denkbar, dass auch Testamente

___________ 2 Ab 17.12.2009 bzw. 11.1.2009 ist das ehemals in dem Art. 27 ff. EGBGB normierte Internationale Privatrecht zum Schuldrecht in der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht („Rom I“) und der Verordnung (EG) Nr. 864/ 2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“) geregelt. 3 Vgl. Gesetz zu dem Übereinkommen vom 5.10.1961 über das auf die Form letztwilliger Verfügungen anzuwendende Recht vom 27.8.1965 (BGBl. II 1965, 1144).

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deutscher Staatsangehöriger, die auf einem Computer verfasst, ausgedruckt und unterschrieben wurden, formgültig sein können4. Es ist zu beachten, dass zwar zahlreiche, aber bei Weitem nicht alle besonders praxisrelevanten Staaten sich dem Haager Testamentsform-Abkommen anschlossen und es in nationales Recht überführt haben5. Beispielsweise sind die USA kein Vertragsstaat des Haager Testamentsform-Abkommens. Weist eine Nachfolgesituation Bezug zu den USA auf, ist außerdem stets daran zu denken, dass jeder Bundesstaat sein eigenes Erbrecht einschließlich der Vorschriften für die Formgültigkeit letztwilliger Verfügungen hat. Auch bei anderen föderal organisierten Staaten ist das Verhältnis von Bundes- zu Bundesstaatenrecht zu prüfen. Welche Teilrechtsordnung in einem derartigen Staat anzuwenden ist, bestimmt sich nach dem dortigen innerstaatlichen Kollisionsrecht (Art. 4 Abs. 3 EGBGB). Die Bestimmungen des Haager Testamentsform-Abkommens zur Umsetzung des Erblasserwillens mögen hilfreich sein. Man sollte sich in der Gestaltungspraxis gleichwohl nicht auf deren Wirkung verlassen. Erstens sind wie gesagt viele Staaten dem Abkommen nicht beigetreten. Zweitens gestaltet sich erfahrungsgemäß die Abwicklung eines Nachlasses deutlich schwieriger, wenn eine Berufung auf das Haager Testamentsform-Abkommen erforderlich ist. Die lokal zuständige Stelle, beispielsweise das Nachlassgericht, in dessen örtlicher Zuständigkeit eine Immobilie gelegen ist, hat zunächst zu prüfen, ob sie an das Haager Testamentsform-Abkommen gebunden ist, ob die letztwillige Verfügung, die den inländischen Formvorschriften nicht genügt, etwa abweichende Normen eines anderen Staates erfüllt, beispielsweise des Staates, dessen Staatsangehörigkeit der Erblasser innehatte. Auch den Nachweis eines gewöhnlichen Aufenthalts oder gar, dass ein Testament an einem bestimmten Ort auf der Durchreise errichtet wurde, kann zeitraubend und mühselig sein. Empfehlenswert ist es daher, alle betroffenen Ortsformen einzuhalten. Beispielsweise kann vor einem deutschen Notar unter Hinzuziehung von Zeugen ein Testament errichtet werden, möglicherweise gleich mit amtlicher Übersetzung oder zweispaltig in einer Urkunde. Auch sonstige lokale Besonderheiten, etwa der Fingerabdruck auf der Testamentsurkunde nach mexikanischem Recht, können berücksichtigt werden. Mit dieser Vorgehensweise wird außerdem das Ziel erreicht, im Interesse der Praktikabilität und der Rechtssicherheit nach Möglichkeit nur ein einziges Dokument mit Geltungsanspruch zu haben. Allerdings kann es in Fällen der Nachlassspaltung (vgl. unten III. 2.) umgekehrt gerade sinnvoll sein, getrennte Verfügungen für die entsprechenden Teile des Nachlasses abzufassen. So lässt sich die letztwillige Verfügung vom Aufbau, sprachlich und terminologisch den Gepflogenheiten des lokalen Rechts besser anpassen. Der Testator und sein Berater haben bei der Entscheidung für mehrere parallele Testamente bei künftigen Überarbeitungen penibel die entsprechenden Folgeanpassungen zu beachten und jeweils sofort mitzuerledigen, um Zeiträume der Widersprüchlichkeit zu vermeiden. In zahlreichen Staaten ist es möglich und üblich, letztwillige

___________ 4 Das kann beispielsweise gelten, wenn ein Geschäftsreisender in Indien auf diese Weise sein Testament vor zwei Zeugen errichtet hat. 5 Der aktuelle Stand der Vertragsstaaten findet sich unter www.hcch.net.

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Verfügungen bei amtlichen Registern zu hinterlegen, oft auch dann, wenn es sich um ausländische Testamente handelt. Wie erwähnt gehorchen Form und Inhalt letztwilliger Verfügungen im Internationalen Privatrecht unterschiedlichen Anknüpfungskriterien. Es sei an dieser Stelle nur erwähnt, dass durchaus zweifelhaft sein kann, ob ein Aspekt die Form oder den Inhalt betrifft. Das Haager Testamentsform-Abkommen definiert selbst nicht, was zur Form einer letztwilligen Verfügung zählt. Nach umstrittener Ansicht wird der Begriff nicht einheitlich, sondern nach dem Recht des Anwenderstaates (lex fori) ausgelegt6. Erwähnt sei noch die Existenz des deutsch-türkischen Nachlassabkommens. Die Türkei ist zwar dem Haager Testamentsform-Abkommen beigetreten, das somit vorrangig ist. Allerdings ist das deutsch-türkische Nachlassabkommen beispielsweise für Erbverträge eines türkischen Erblassers anwendbar, da Erbverträge nicht in den Anwendungsbereich des Haager Testamentsform-Abkommens fallen und das deutsch-türkische Nachlassabkommen gemäß Art. 3 Nr. 2 EGBGB den Bestimmungen des Art. 26 EGBGB vorgeht. Bei umfassender Nachfolgeplanung ist stets zu prüfen, welche Verträge und Willenserklärungen ihrer Rechtsnatur nach überhaupt zu den letztwilligen Verfügungen zählen. Nur auf diese sind das Haager Testamentsform-Abkommen und Art. 26 EGBGB anwendbar. Dies gilt beispielsweise nicht für einen Erbverzicht oder einen Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall. Deren Formwirksamkeit richtet sich jeweils nach der Grundregel des Art. 11 EGBGB. 2. Die Anwendbarkeit des materiellen Erbrechts a) Allgemeines Neben der Sicherstellung der Formwirksamkeit einer letztwilligen Verfügung ist für die Gestaltungsplanung entscheidend zu wissen, nach welcher Rechtsordnung sich das materielle Erbrecht, also der Inhalt der Verfügung, richtet. Vorrangig sind gemäß Art. 3 Nr. 2 EGBGB völkerrechtliche Verträge. Solche bestehen allerdings zum Erbstatut aus deutscher Sicht nur mit den Ländern Iran, Türkei und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Im Übrigen gilt auch hier das jeweilige Internationale Privatrecht. Das deutsche Internationale Privatrecht regelt das Erbstatut in Art. 25 EGBGB. Nach deutschem Recht gilt somit das Staatsangehörigkeitsprinzip. Anwendbar ist grundsätzlich das Recht des Staates, dem der Erblasser im Todeszeitpunkt angehörte. Hat ein Erblasser mehrere Staatsangehörigkeiten, so geht nach deutschem Recht die deutsche Staatsangehörigkeit stets vor (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EGBGB). Ist ein Erblasser Mehrstaater, der nicht (auch) deutscher Staatsangehöriger ist, ist entscheidend, zu welchem Staat dieser die

___________ 6 Vgl. Dörner in Staudinger, 2007, Vorb. zu Art. 25 f EGBGB Rz. 84; S. Lorenz in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2008, Art. 26 EBGB, Rz. 5 – a.A. allerdings Birk in Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2010, Art. 26 EGBGB Rz. 46; Heldrich in Palandt, 69. Aufl. 2010, Art. 26 EGBGB Rz. 6.

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engste Verbindung hatte (vgl. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EGBGB). Vor allem Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EGBGB kann offenkundig zu Kollisionen führen, sofern ein anderer Staat in entsprechender Regelung seiner eigenen Staatsangehörigkeit den Vorrang einräumt, beispielsweise Italien. Es ist stets zu prüfen, ob solche Kollisionsfälle auf dem Gestaltungswege lösbar sind. Beispielsweise könnte ein Deutsch-Italiener mit Wohnsitz in Deutschland deutsches Erbrecht wählen, was nach dem italienischen Internationalen Privatrecht auch von einem italienischen Gericht anerkannt werden müsste. Lassen sich MehrstaaterKonstellationen nicht durch Rechtswahl lösen, ist in der Praxis in der Tat entscheidend, in welchem Staat zuerst ein Gericht angerufen wird. Häufig schließt diese Rechtshängigkeit die Klageerhebung in einem anderen Staat aus. Das Erbstatut gilt als Gesamtstatut grundsätzlich für das gesamte weltweite Vermögen. Für einzelne Nachlassgegenstände im Ausland können jedoch Sonderregelungen bestehen sog. Einzelstatute. Das gilt insbesondere für Grundstücke. Besteht solch ein Einzelstatut, geht es dem Gesamtstatut vor, Art. 3a Abs. 2 EGBGB. Anwendbarkeit und Reichweite dieser Einzelstatute sind stets zu prüfen. So ist beispielsweise auf Immobiliarvermögen eines deutschen Staatsangehörigen in Frankreich nach Einzelstatut französisches Erbrecht, auf sein spanisches Grundvermögen kraft Gesamtstatut deutsches Erbrecht anwendbar. Eine Nachlassspaltung tritt ein, wenn unterschiedliche Erbrechtsordnungen auf verschiedene Vermögensgegenstände des Nachlasses anwendbar sind. Nachlassspaltungen werfen zahlreiche Einzelfragen auf, die häufig rechtlich schwer zu lösen sind. Aus Gestaltungssicht sollte daher versucht werden, Nachlassspaltungen zu vermeiden, wenn sie nicht ausnahmsweise zur bewussten Rechtswahl eingesetzt werden sollen (s. unten). Ein probater Weg zur Vermeidung der Nachlassspaltung kann die Einbringung von Immobiliarvermögen in eine Gesellschaft sein, die nach der ausländischen Rechtsordnung als bewegliches Vermögen dem Gesamtstatut unterliegt, sodass eine Nachlassspaltung unterbleibt. An dieser Stelle zeigt sich die Interdisziplinarität umfassender Nachfolgeplanung. Erbschaftsteuerliche und ertragsteuerliche Aspekte sind unbedingt einzubeziehen, wenn über Sinnhaftigkeit und Rechtsform beispielsweise einer Grundstücksgesellschaft zur Vermeidung einer Nachlassspaltung entschieden wird. Ein weites Spektrum interessanter und in der Praxis schwieriger Rechtsfragen öffnet sich aus deutscher Sicht bei der Vererbung durch ausländische Staatsangehörige, wenn der Nachlass einen Bezug zu Deutschland aufweist. Art. 25 Abs. 1 EGBGB verweist auf das ausländische Recht, und zwar nicht nur auf das materielle Erbrecht, sondern auf die gesamte Rechtsordnung, also auch auf das Internationale Privatrecht des ausländischen Staats. Das ausländische Internationale Privatrecht kann die deutsche Verweisung entweder annehmen, nach Deutschland zurückverweisen oder an eine dritte Rechtsordnung weiterverweisen, beispielsweise für Immobiliarvermögen.

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b) Pflichtteilsrecht Gerade für unternehmerisches Vermögen und Immobilienvermögen stellen Pflichtteilsansprüche eine große Gefährdung dar. Sie sind auf Zahlung von Geld gerichtet und mit dem Erbfall sofort fällig. Der Erbe kann nur in den Ausnahmefällen des § 2331a BGB eine Stundung verlangen. Immobilienvermögen und unternehmerisches Vermögen sind regelmäßig nicht liquide. Die Mittel zur Erfüllung der Pflichtteilsansprüche müssten entnommen oder fremdfinanziert werden. Die Idee liegt nahe, durch Anwendung einer ausländischen Rechtsordnung, die kein Pflichtteilsrecht kennt, das deutsche Pflichtteilsrecht zu umgehen. Voraussetzung wäre überhaupt die Möglichkeit, eine fremde Rechtsordnung zu wählen. Art. 25 Abs. 1 EGBGB schreibt für deutsche Staatsangehörige das deutsche Erbrecht als Gesamtstatut vor. Art. 25 Abs. 2 EGBGB ermöglicht zwar für unbewegliches Vermögen eine Rechtswahl kraft letztwilliger Verfügung. Allerdings darf erstens gerade nur das deutsche Erbrecht gewählt werden. Zweitens ist die Rechtsformwahl nur für Immobilienvermögen zulässig, das in Deutschland belegen ist. Als „Gestaltungsmittel“ käme der Wechsel der Staatsbürgerschaft in Betracht. Ob der Testator diesen Schritt gehen möchte und die je nach Zielland sehr unterschiedlichen rechtlichen Hürden überwinden kann, ist im Einzelfall zu klären. Ansonsten ließe sich die Anwendung ausländischen Erbrechts bei deutschem Erblasser nur kraft Nachlassspaltung für einen Teil des Vermögens erreichen. Die an sich aus Gründen der Komplexitätsreduzierung zu vermeidende Nachlassspaltung (s. oben), kann somit ausnahmsweise bewusst herbeigeführt werden, um Pflichtteilsrechte zu reduzieren. c) Bedeutung des Güterrechtsstatuts und des Gesellschaftsstatuts Das Pflichtteilsrecht als ein zentrales Thema der zivilrechtlichen Nachfolgeplanung wird stark durch das eheliche Güterrecht des Erblassers beeinflusst, vgl. § 1931 Abs. 4 BGB und insbesondere § 1371 BGB. § 1371 BGB kann außerdem nach dem Erbfall interessante Gestaltungsmöglichkeiten mit erheblichen zivilrechtlichen, ertragsteuerlichen und erbschaftsteuerlichen Chancen eröffnen. So führt beispielsweise die Erfüllung eines Zugewinnausgleichsanspruchs nicht zu einem unentgeltlichen Erwerb, sondern kann ein entgeltlicher Veräußerungs- und Anschaffungsvorgang sein. Das kann erbschaft- und einkommensteuerrechtlich attraktiv werden, wenn sich Erbe und Berechtigter darauf einigen, den Zugewinnausgleichsanspruch nicht in Geld, sondern durch Hingabe anderer Vermögensgegenstände zu erfüllen. Wichtig ist es, dass kein steuerpflichtiger Veräußerungsgewinn entsteht, beispielsweise durch Übertragung von Immobilien, für die die Zehnjahresfrist nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG bereits abgelaufen ist. Seitens des Erwerbers kann auf die abschreibungsfähigen Wirtschaftsgüter dennoch auf Basis der Anschaffungskosten gemäß § 7 EStG abgeschrieben werden. Die Bedeutung des § 5 Abs. 2 ErbStG dagegen hat sich durch die Unternehmensteuerreform 2009 verringert. Die Frage, ob die zentrale Vorschrift § 1371 BGB für die Anknüpfung des Internationalen Privatrechts unter das Erbrechts- oder Güterrechtsstatut (vgl. Art. 15 EGBGB) oder unter beide fällt, ist umstritten und höchstrichterlich 179

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nicht geklärt. Aus den verschiedenen Anknüpfungsmöglichkeiten können sich unterschiedliche Rechtsordnungen ergeben, die jeweils anwendbar wären. Die zwangläufigen Rechtsunsicherheiten lassen sich am besten vermeiden, wenn es gelingt, für das Güterrechts- und das Erbrechtsstatut zur Anwendung der gleichen Rechtsordnung zu gelangen. Ansatzpunkt ist Art. 15 Abs. 2 EGBGB. Dort erlaubt das deutsche Internationale Privatrecht deutlich größere Freiheiten der Rechtswahl als im Erbrecht (Art. 25 Abs. 2 EGBG). Die Ehegatten können insbesondere alle Staaten wählen, denen zumindest einer der beiden Ehegatten angehört oder in dem ein Ehegatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Bei der Nachfolgeplanung in internationales unternehmerisches Vermögen spielt das Zusammenwirken von Erbstatut und Gesellschaftsstatut eine entscheidende Rolle. Das gilt auch für viele umfangreichere Privatvermögen, die häufig über in- und ausländische Gesellschaften gehalten und verwaltet werden. Im deutschen Recht gibt das Gesellschaftsrecht den Rahmen vor, innerhalb dessen der Gesellschafter über seine Anteile wirksam letztwillig verfügen kann. Eine letztwillige Verfügung über Gesellschaftsanteile, die Gesellschaftsrecht oder Gesellschaftsvertrag widerspricht, führt nicht zum gewünschten Erfolg. Bei der Vererbung von Gesellschaftsanteilen ist daher stets das Gesellschaftsstatut zu ermitteln. Die Auswirkungen auf die Vornahme letztwilliger Verfügungen sind festzustellen. Ratsam ist auch hier der Gleichlauf von Erbstatut und Gesellschaftsstatut. Die Lösung besteht regelmäßig in der Einbringung ausländischer Gesellschaftsanteile in eine deutsche Gesellschaft. Der Anteil an einer deutschen Gesellschaft unterliegt deutschem Erbrecht. Die gebotene umfassende Nachfolgeplanung erfordert, diese Lösung und gegebenenfalls die richtige Rechtsform unter gesellschaftsrechtlichen und vor allem ertrag- und erbschaftsteuerlichen Gesichtspunkten zu hinterfragen und gegebenenfalls zu optimieren. 3. Die Europäische Erbrechtsverordnung In der Europäischen Union finden jährlich eine knappe halbe Million Erbfälle mit grenzüberschreitendem Bezug statt. Die Europäische Union sieht den Bedarf nach einer EU-weiten einheitlichen Regelung zum Erbrecht. Die Europäische Kommission hat am 14.10.2009 den Entwurf einer Europäischen Erbrechtsverordnung („EU-ErbVO-E“) vorgelegt7. Sie ist noch nicht verabschiedet. Als Inkrafttreten wird das Jahr 2011 angepeilt. Der Inhalt des Entwurfs wird in Fachkreisen bereits intensiv diskutiert8.

___________ 7 Vgl. KOM (2009) C7-0236/09; im Internet abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/2009_2014/documents/com/ com_com(2009)0154_/com_com(2009)0154_de.pdf. 8 Vgl. beispielsweise Steinmetz/Löber/Garcia/Alcazar, Voraussichtliche Rechtsänderungen für den Erbfall von in Spanien ansässigen, deutschen Staatsangehörigen, ZEV 2010, 234; Dörner, Der Entwurf einer Europäischen Verordnung zum Internationalen Erb- und Erbverfahrensrecht – Überblick und ausgewählte Probleme, ZEV 2010, 221; Döbereiner, Brücken im Europäischen Rechtsraum, Europäische öffentliche Urkunde und Europäischer Erbschein, MittBayNot, 2010, 28.

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Die EU-Erbrechtsverordnung wird zwar keine rechtliche, jedoch faktische Rückwirkung entfalten. Denn sie soll auf alle Erbfälle anwendbar sein, die nach ihrem Inkrafttreten eintreten (vgl. Art. 50 Abs. 1 EU-ErbVO-E). Unerheblich ist also, wann eine Verfügung von Todes wegen errichtet wurde. Daher sind aus planerischer Sicht bereits heute die Bestimmungen der EU-Erbrechtsverordnung in die Überlegungen einzubeziehen. Wenn der Testator nach Errichtung des Testaments die Testierfähigkeit verliert, kann ansonsten nicht mehr reagiert werden. Außerdem zeigt die Erfahrung, dass Testamente entgegen des ursprünglich gefassten Vorsatzes häufig nicht regelmäßig überprüft werden, falls der Berater dies nicht immer wieder anregt. Die EU-Erbrechtsverordnung regelt die Rechtsnachfolge von Todes wegen (vgl. Art. 1 Abs. 1 Satz 1; 16 EU-ErbVO-E), sowohl die gewillkürte als auch die gesetzliche Erbfolge. Sie hat insbesondere keinen Einfluss auf die vorweggenommene Erbfolge, also Schenkungen zu Lebzeiten, und auch nicht auf die Form der Verfügung von Todes wegen. Aus dem Anwendungsbereich ausgeklammert sind weiterhin das eheliche Güterrecht, das Gesellschaftsrecht sowie steuerliche Fragestellungen (vgl. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 EU-ErbVO-E). Das von der EU-Erbrechtsverordnung geregelte Erbstatut umfasst insbesondere auch das Pflichtteilsrecht, die rechtliche Möglichkeit von Pflichtteilsverzichten und die Bestimmungen zur Testamentsvollstreckung. Gerade in den letztgenannten Bereichen bestehen innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten bislang zahlreiche, den deutschen Erbrechtler überraschende Vorschriften. In allen Fällen wird es sich bei der EU-Erbrechtsverordnung um eine reine Sachnormverweisung handeln mit der Folge, dass Rück- und Weiterverweisungen durch das Internationale Privatrecht des ausländischen Staates nicht berücksichtigt werden (vgl. Art. 26 EU-ErbVO-E). Die EU-Erbrechtsverordnung kann auch zur Anwendung des Erbrechts von Nicht-EU-Staaten führen, nämlich wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers im Todeszeitpunkt außerhalb der EU liegt. Art. 16 EU-ErbVO-E bestimmt das Erbstatut. Anwendbar ist das Erbrecht des Staates, in dem der Erblasser im Moment des Erbfalls seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Entscheidend hierfür ist der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen. Der gewöhnliche Aufenthalt bzw. der Mittelpunkt der Lebensinteressen ermittelt sich nicht nach eindeutig bestimmbaren Kriterien, etwa der Anzahl der Aufenthaltstage pro Jahr. Letzteres ist lediglich eines von mehreren Indizien. In Betracht zu ziehen sind auch soziale und familiäre Bindungen und generelle Gründe für den Aufenthalt in einem Staat. Die Praktiker des internationalen Steuerrechts wissen aus den Erfahrungen mit Art. 4 Abs. 2 OECD-MA, wie unscharf in Grenzfällen derartige Kriterien sein können. Daher sollte unbedingt eine Rechtswahl in Betracht gezogen werden, die Art. 17 EU-ErbVO-E auch zulässt. Allerdings kann nur das Recht des Staates gewählt werden, dessen Staatsangehörigkeit der Erblasser besitzt (Art. 17 Abs. 1 EU-ErbVO-E). Die Rechtswahl muss ausdrücklich in einer formwirksamen Verfügung von Todes wegen getroffen werden (Art. 17 Abs. 2 EUErbVO-E). Sie erfasst anders als Art. 25 Abs. 2 EGBGB den gesamten Nachlass (Art. 17 Abs. 1 EU-ErbVO-E). Wie eine bereits erfolgte Rechtswahl gemäß Art. 25 Abs. 2 EGBGB im Lichte des Art. 17 EU-ErbVO-E ausgelegt wird, lässt 181

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sich jedenfalls pauschal nicht sagen. Sie sollte unbedingt überdacht und korrigiert werden. Art. 18 des EU-ErbVO-E beschäftigt sich mit Erbverträgen. Erstreckt sich ein Erbvertrag auf den Nachlass nur einer Person, findet das Erbrecht Anwendung, welches für ein Testament im Moment der Vertragserrichtung – hilfsweise das im Todeszeitpunkt anwendbare Recht – maßgeblich gewesen wäre (Art. 18 Abs. 1 EU-ErbVO-E). Ist Gegenstand des Erbvertrags der Nachlass mehrerer Personen, reicht es für seine Wirksamkeit aus, wenn nach dem bei Vertragserrichtung hypothetisch anwendbaren Erbrecht einer der beteiligten Personen der Erbvertrag wirksam wäre. Der Erbvertrag unterfällt auch materiell dieser Erbrechtsordnung. Wäre er nach mehreren hypothetisch anwendbaren Rechtsordnungen wirksam, ist die mit der engsten Verbindung zum konkreten Erbvertrag anzuwenden (Art. 18 Abs. 2 Satz 2 EU-ErbVO-E). Auch Art. 18 EU-ErbVO-E begründet somit zahlreiche Unwägbarkeiten bei der Bestimmung des Erbstatuts. Daher ist für Erbverträge dringend eine Rechtswahl anzuraten, die Art. 18 Abs. 3 EU-ErbVO-E ebenfalls zulässt. Es kann die Rechtsordnung gewählt werden, die einer der Beteiligten, dessen Nachlass Gegenstand des Erbvertrags ist, bei der Errichtung eines Testaments wählen könnte. Für die Form von Erbverträgen ist weiterhin das Internationale Privatrecht der betreffenden Staaten anwendbar. Die EU-Erbrechtsverordnung soll dazu keine Regelungen treffen. Es sei daran erinnert, dass auch das Haager Testamentsform-Abkommen keine Anwendung auf Erbverträge findet. 4. Hinweise zur Nachlassabwicklung a) Erbschein Das internationale Verfahrensrecht in grenzüberschreitenden Erbsachen darf in seiner Komplexität nicht unterschätzt werden. Inhalt, Reichweite, insbesondere Umfang des Gutglaubensschutzes, Zuständigkeiten und Verfahrensregelungen über öffentliche Urkunden zum Nachweis des Erbrechts weichen von Staat zu Staat erheblich ab. Gemeint ist in erster Linie das Erbscheinsverfahren. In Deutschland haben sich mit Wirkung zum 1.9.2009 durch das FGG-Reformgesetz9 wichtige Änderungen ergeben. § 2369 BGB wurde neu gefasst, das FamFG10 trat in Kraft. Ein deutsches Nachlassgericht kann nun einen Erbschein mit Wirkung für den gesamten weltweiten Nachlass erteilen sowohl wenn sich die Erbfolge nach deutschem materiellen Erbrecht („Eigenrechtserbschein“) als auch dann, wenn sie sich nach ausländischem materiellen Erbrecht („Fremdrechtserbschein“) richtet (vgl. §§ 2353, 2369 BGB). Ein auf das inländische Vermögen beschränkter deutscher Eigenrechtserbschein ist zulässig, nicht jedoch ein auf das ausländische Vermögen beschränkter Erbschein (vgl. § 2369 Abs. 1 BGB). Die bisherige Gleichlauftheorie, nach der

___________ 9 Gesetz zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 17.12.2008 (BGBl. I 2008, 2586). 10 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit.

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deutsche Nachlassgerichte nur international zuständig sind, soweit deutsches Erbrecht anwendbar ist, ist überholt. Ausländische Erbscheine oder vergleichbare Erbrechtszeugnisse werden in Deutschland in den zahlreichen Fällen, die § 109 FamFG nennt, nicht anerkannt. Im Ergebnis zeigt die Praxis, dass deutsche Erbscheine im Ausland in der Regel nicht anerkannt werden. Eine Ausnahme ist beispielsweise die Schweiz, die deutschen Erbscheinen Wirkung zubilligt (vgl. Art. 96 IPRG-Schweiz). Erleichterung im Rahmen der Europäischen Union wird die EU-Erbrechtsverordnung bringen. Art. 36 ff. EU-ErbVOE sehen ein Europäisches Nachlasszeugnis vor. b) Vollmacht Die oberflächlichen Hinweise11 im vorangegangenen Absatz verdeutlichen bereits, dass der Praktiker die Abwicklung eines internationalen Nachlasses im Wege eines Erbscheinsverfahrens nicht anstreben sollte. Vorzuziehen ist der Einsatz von Nachlassvollmachten. Der Testator sollte zugleich mit der Testamentserrichtung eine transmortale Vollmacht ausstellen, die also über seinen Tod hinaus fortgilt. Voraussetzung ist ein tiefes Vertrauensverhältnis zum Bevollmächtigten. Denn die Vollmacht gilt, ähnlich wie regelmäßig die Vorsorgevollmacht, bereits zu Lebzeiten des Testators. Die Verbindung mit einer Vorsorgevollmacht bietet sich daher an. Beim Einsatz postmortaler Vollmachten, die erst mit dem Erbfall wirksam werden, ist stets zu prüfen, ob sie in allen Ländern, die für den Einsatz relevant werden könnten, rechtlich anerkannt werden. Dies ist bei der transmortalen Vollmacht seltener problematisch. Manche Rechtsordnungen versagen Generalvollmachten die Wirksamkeit, weil die Verfügungsmöglichkeit über sämtliche Vermögensgegenstände einer Person dem ordre public des betreffenden Landes widerspricht. Daher ist eine Einschränkung der Vollmacht ratsam. Meist ist die Benennung von Vermögensgattungen, beispielsweise Immobilien inklusive Inventar, Bankkonten und -depots, Beteiligungen an Gesellschaften, ausreichend. Die Vollmacht sollte sicherheitshalber in einer notariellen Urkunde, und zwar getrennt vom Testament, erteilt werden. Die Abwicklung wird erleichtert, wenn die Vollmachtsurkunde bereits mehrsprachig ausgefertigt wird, ausdrücklich die Anwendung deutschen Rechts vorschreibt und die Annahme der Vollmacht durch den Bevollmächtigten enthält, was in manchen Rechtsordnungen erforderlich sein kann. Gegenüber dem Erbschein hat die Vollmacht zunächst den Vorteil, dass der Bevollmächtigte sofort nach dem Erbfall rechtlich handlungsfähig ist und nicht den Abschluss eines Erbscheinsverfahrens mit der Bedrohung durch eventuelle Rechtsbehelfe abwarten muss. Der Erbschein stellt das Erbrecht aus der Sicht des jeweiligen Staates dar. Die erbrechtlichen Institute können sich je nach Land erheblich voneinander unterscheiden, wodurch die Handhabbarkeit von Erbscheinen anderer Staaten erschwert werden kann. Dagegen ist die rechtliche Anerkennung von Vollmachten und deren Wirkungsweise weltweit viel homogener. Sie wird als Rechtsinstitut weitgehend problemlos

___________ 11 Eine sehr gute, etwas detailliertere Übersicht findet sich in Flick/Piltz-Wachter, Der Internationale Erbfall, 2. Aufl. 2008, Rz. 317 ff.

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anerkannt. Insbesondere erfordert sie keinen Erbnachweis, da sich die Rechtsmacht aus einer Willenserklärung des Erblassers (die gegebenenfalls durch den Bevollmächtigten angenommen werden muss) zu dessen Lebzeiten legitimiert. Schließlich ist in der Praxis die Vollmacht auch unter Kostengesichtspunkten vorzugswürdig.

IV. Steuerliche Aspekte der internationalen Nachfolgeplanung 1. Zugriff der deutschen Erbschaft- und Schenkungsteuer auf weltweite Vermögen a) Allgemeines Der deutschen Erbschaftsteuer bzw. Schenkungsteuer unterliegt das weltweite Vermögen, wenn der Erblasser/Schenker oder der Erwerber im Zeitpunkt der Steuerentstehung Inländer ist. Auch der Wegzug – auf den später noch gesondert eingegangen werden soll (vgl. unten IV. 4.) – kurz vor Schenkung oder Erbfall entzieht das Vermögen regelmäßig nicht dem deutschen Steuerzugriff, selbst wenn der Erblasser/Schenker keinerlei Wohnsitz mehr in Deutschland haben sollte. Erstens besteht weiterhin unbeschränkte Steuerpflicht, wenn der Erwerber – also der Beschenkte oder der Erbe – einen Wohnsitz in Deutschland behalten sollte. Selbst wenn Erblasser/Schenker und Erwerber ihren Wohnsitz in Deutschland aufgegeben haben, wirkt die unbeschränkte Steuerpflicht bezogen auf das Weltvermögen noch für fünf12 Jahre nach, wenn die betreffende Person die deutsche Staatsangehörigkeit hat (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 lit. b ErbStG). Wie bereits bei der Bestimmung des Erbstatuts gemäß Art. 25 Abs. 1 EGBGB (vgl. oben III. 2. b)) bietet auch hier der Wechsel der Staatsangehörigkeit einen sehr aggressiven Gestaltungsansatz. Auch das Ertragsteuerrecht beansprucht bekanntlich globale Wirkung durch die Erstreckung auf alle weltweit erzielten Einkünfte. Das Welteinkommensprinzip wird in einer zweiten Stufe allerdings durch Doppelbesteuerungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit rund 80 Staaten deutlich abgeschwächt. Eine vergleichbare praktische Relativierung findet sich im Erbschaftsteuerrecht nicht. Denn die Bundesrepublik Deutschland kennt Erbschaftsteuer-DBA nur mit den Ländern Dänemark, Frankreich, Schweden, Schweiz, USA und Griechenland. Das Abkommen mit Griechenland erfasst lediglich bewegliches Nachlassvermögen. Das DBA mit Israel hat durch die Abschaffung der Erbschaftsteuer in Israel seine Bedeutung verloren. Das seit Mitte der fünfziger Jahre mit Österreich bestehende Erbschaftsteuer-DBA hat die Bundesrepublik Deutschland zum 31.12.2007 nach Abschaffung der Erbschaftsteuer in Österreich gekündigt. Die bestehenden Abkommen ordnen auch weitgehend nicht die Freistellung von der deutschen Erbschaftsteuer,

___________ 12 Bei Wegzug in ein Niedrigsteuerland im Sinne von § 2 Abs. 2 AStG kann sich für einen deutschen Staatsbürger gemäß §§ 4 i.V.m. 2 Abs. 1 Satz 1 AStG eine erweitert beschränkte Steuerpflicht von zehn bis elf Jahren nach dem Wegzug ergeben.

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sondern lediglich die Anrechnungsmethode an13. Somit ist für die Praxis die Einbeziehung des weltweiten Vermögens in die deutsche Erbschaftsteuer Ausgangspunkt der Überlegungen. b) Relevanz ausländischer Unternehmensteile für die Vergünstigungen nach der Erbschaftsteuerreform 2009 Dementsprechend bezieht das Erbschaftsteuergesetz in seinen §§ 13a und 13b, die die Begünstigung für unternehmerisches Vermögen regeln, in mehrfacher Hinsicht auch die außerhalb Deutschlands befindlichen Unternehmensteile mit ein. Eine Voraussetzung für die weitgehende oder gänzliche Erbschaftsteuerfreiheit unternehmerischen Vermögens gemäß §§ 13a Abs. 1 Satz 1, Abs. 8, 13b Abs. 4 ErbStG ist die Beibehaltung der Lohnsumme gemäß § 13a Abs. 1 Satz 2 bzw. Abs. 8 Nr. 1 ErbStG. Gemäß § 13a Abs. 4 Satz 5 ErbStG erstreckt sich diese sog. Lohnsummenklausel auch auf Tochtergesellschaften im EU-/EWR-Raum. Einerseits erhöhen die Vergütungen, die die Unternehmensgruppe ihren Mitarbeitern in diesen Ländern bezahlt, die einzuhaltende Ausgangslohnsumme. Wachstum, verbunden mit Personalaufbau und Lohnsteigerungen, im EU-/EWR-Ausland hilft andererseits dabei, das Erfordernis der Lohnsummenklausel einzuhalten und die negativen Folgen auf die Erbschaftsteuervergünstigung durch einen Beschäftigungsabbau in Deutschland zu verringern oder gar zu kompensieren. Arbeitsplatzverlagerungen innerhalb der EU-/EWR-Länder, beispielsweise von Deutschland in einen EU-Staat Osteuropas, führen dadurch nicht zum kompletten Entfall der in Deutschland abgebauten Lohnsumme. Verlagerungen aus dem Nicht-EU-/ EWR-Ausland in diese Länder, beispielsweise aus Asien (zurück) nach Osteuropa, wirken sogar lohnsummenerhöhend. Der erste Blick auf § 13b Abs. 1 Nr. 2 und 3 ErbStG erweckt den Eindruck, lediglich Tochtergesellschaften in EU- und EWR-Ländern werden von den erbschaftsteuerlichen Vergünstigungen umfasst. Allerdings ist erkennbar, dass nach § 13b Abs. 1 Nr. 2 ErbStG sämtliches Vermögen, das einer Betriebsstätte in einem EU-/EWR-Staat „dient“, begünstigt ist. Auch Beteiligungen an Kapitalgesellschaften in Drittländern (d.h. nicht EU oder EWR) können einer EU-/EWR-Betriebsstätte dienen. § 13b Abs. 1 Nr. 3 ErbStG privilegiert weiterhin Betriebsstätten, die EU-/EWR-Kapitalgesellschaften in Drittstaaten unterhalten. Dieser Auslegung hat sich auch die Finanzverwaltung angeschlossen14. Für Tochtergesellschaften einer EU-/EWR-Kapitalgesellschaft in Drittstaaten müsste Gleiches gelten. Nicht privilegiert sind grundsätzlich Betriebsstätten deutscher Personengesellschaften in Drittstaaten sowie sämtliche Wirtschaftsgüter – einschließlich Gesellschaftsbeteiligungen – die sol-

___________ 13 Zu einer beispielhaften Ausnahme und damit verbundenem Gestaltungsansatz vgl. unten IV. 3. b. 14 Vgl. Erlass des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen v. 12.7.2010 – 34 S 3812a - 018-28364/10, DStR 2010, 1626; vgl. auch gleichlautende Erlasse der Oberfinanzbehörden der Länder zur Umsetzung des Gesetzes zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts vom 25.6.2009, BStBl. I, 2009, 713, Abschn. 20 Abs. 4 S. 4; Erlass des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen v. 9.7.2010 – 34 S 3812a - 018-28363/10.

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chen Betriebsstätten dienen. Anscheinend sollen ertragsteuerlich transparente Strukturen für die Erbschaftsteuer ebenso behandelt werden, um die Begünstigungsfähigkeit einer unternehmerischen Auslandsaktivität zu beurteilen. Kapitalgesellschaften dagegen sollen Abschirmwirkung entfalten, d.h. die von Kapitalgesellschaften – auch in Drittstaaten – gehaltenen Beteiligungen und Betriebsstätten teilen deren Schicksal. 2. Vermeidung der Doppelbesteuerung und Hindernisse Staaten, die eine Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer kennen, werden in ihrem Gebiet belegenes Vermögen besteuern. Da Deutschland das weltweite Vermögen einer Erbschaftsteuer unterwirft, sieht § 21 ErbStG die Anrechnung ausländischer Erbschaftsteuer vor, sofern keine Sonderregelung aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens besteht. Die Norm ist jedoch nicht ohne Tücken. a) Anrechnungsüberhänge Zunächst können sich „Anrechnungsüberhänge“ ergeben, also ein Teilbetrag der ausländischen Steuer, der auf die deutsche Steuer nicht anrechenbar ist. Die ausländische Steuer ist nur auf den Teil der deutschen Erbschaftsteuer anzurechnen, der auf das betreffende Auslandsvermögen entfällt (§ 21 Abs. 1 Satz 2 ErbStG). Dieser Anteil ist für jedes Land separat im Wege einer Verhältnisrechnung zu ermitteln (per country limitation, § 21 Abs. 1 Satz 3 ErbStG). Geht das ausländische Erbschaftsteuerrecht von einer höheren Bewertung, folglich einer höheren Bemessungsgrundlage als das deutsche aus, stellt es – gerade bei beschränkter Steuerpflicht – geringere Freibeträge zur Verfügung oder sind die Steuersätze höher als in Deutschland, besteht die Gefahr, dass die ausländische Steuer höher ist als der Anteil der deutschen Steuer bezogen auf das betreffende Auslandsvermögen. In solchen Fällen kann versucht werden, die ausländische Bemessungsgrundlage zu drücken, etwa durch die Zuordnung von Fremdkapital zu den ausländischen Aktiva. Im Einzelfall ist zu prüfen, welche Voraussetzungen das ausländische Erbschaftsteuerrecht für die Allokation der Verbindlichkeiten vorsieht, insbesondere einen engen wirtschaftlichen Zusammenhang, und welche Anforderungen an die Form des Nachweises zu stellen sind, beispielsweise öffentliche Urkunden. b) Entsprechungsklausel Nach § 21 Abs. 1 ErbStG auf die deutsche Erbschaftsteuer anrechenbar ist nur eine ausländische Steuer, die der deutschen Erbschaftsteuer entspricht (vgl. § 21 Abs. 1 Satz 1 ErbStG). Gemäß Bundesfinanzhof15 ist dieses Tatbestandsmerkmal zwar nicht zu eng auszulegen, sodass eine ausländische Steuer der deutschen Erbschaftsteuer grundsätzlich entspricht, wenn sie auf den Übergang des Nachlasses anknüpft. Allerdings hat der BFH die kanadische capital gains tax nicht zur Anrechnung nach § 21 ErbStG zugelassen, die aufgrund

___________ 15 BFH v. 6.3.1990 – II R 32/86, BStBl. II 1990, 786.

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der fingierten Veräußerung durch den Erblasser im Moment des Erbfalls entsteht16. Denn es handelt sich um eine kanadische Einkommensteuer, keine Erbschaftsteuer. Sie kann nur im Rahmen des § 10 ErbStG als Nachlassverbindlichkeit bei der Ermittlung des steuerpflichtigen Erwerbs abgezogen werden. Ähnlich wird es sich mit der südafrikanischen Wertzuwachsbesteuerung im Zeitpunkt des Erbfalls verhalten. Einige Länder, beispielsweise Italien und Portugal, sehen hohe Registergebühren für den Vermögensübergang vor, die einen zweistelligen Prozentbereich des Nachlasswerts erreichen können. Gerade bei größeren Vermögen liegt die Vermutung auf der Hand, dass die Gebühren nicht allein zur Abgeltung des Verwaltungsaufwands dienen, sondern eine verdeckte Besteuerung des Vermögensübergangs darstellen. Die Anrechnung wäre daher wünschenswert17. c) Auslandsvermögen § 21 ErbStG erlaubt nur die Anrechnung der ausländischen Erbschaft-/Schenkungsteuer auf „Auslandsvermögen“, wie es in § 21 Abs. 2 ErbStG definiert ist. War der Erblasser Inländer, ergibt sich aus dem Zusammenspiel von § 21 Abs. 2 Nr. 1 ErbStG und § 121 BewG, dass die ausländische Erbschaftsteuer auf dort belegene Bankguthaben und Beteiligung an Kapitalgesellschaften von unter 10% – also insbesondere solche in Wertpapierdepots – überraschenderweise nicht auf die deutsche Erbschaftsteuer anrechenbar ist. Bankguthaben und Beteiligungen an Kapitalgesellschaften von unter 10% (vgl. § 121 Nr. 4 BewG) sind nicht in § 121 BewG genannt. Hierin liegt kein Verstoß gegen vorrangiges Europarecht18. Die Unzulänglichkeiten der deutschen Anrechnungsvorschrift legen die Gestaltung nahe, das Auslandsvermögen nicht direkt durch eine natürliche Person halten zu lassen, sondern in eine steuerlich intransparente deutsche Gesellschaft einzubringen. Allerdings ist hier auch im Einzelfall zu prüfen, ob der ausländische Staat die steuerliche Abschottungswirkung dieser Rechtsform anerkennt oder die Transparenz der Gesellschaft fingiert. Dies ist insbesondere bei Grundbesitz haltenden Gesellschaften anzutreffen. Die Beurteilung ertragsteuerlich transparenter Personengesellschaften aus erbschaftsteuerlicher Sicht ist gerade bei internationalen Familiengesellschaften häufig erforderlich. Denn ertragsteuerlich ergeben sich erhebliche Vorteile, wenn die ausländischen Aktivitäten in der Form einer Personengesellschaft im Ausland gehalten werden. Die ausländischen Einkünfte unterliegen im Tätigkeitsstaat der laufenden Besteuerung, nicht selten auf einem deutlich unter dem deutschen liegenden Steuerniveau. Von der deutschen Besteuerung werden die Einkünfte nach dem Methodenartikel des anwendbaren DBA bei Erfüllung eventuell vorhandener weiterer Voraussetzungen freigestellt. Die im Ausland besteuerten Gewinne können jederzeit steuerfrei nach Deutschland bis auf

___________ 16 BFH v. 26.4.1995 – II R 13/92, BStBl. II 1995, 540. 17 Anderer Ansicht ist beispielsweise die Bayerische Finanzverwaltung, vgl. IStR 2004, 174. 18 EuGH v. 12.2.2009 – C-67/08 (Margarete Block), DStR 2009, 373.

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die Ebene der natürlichen Personen entnommen werden19. Solche Strukturen werden regelmäßig durch Zwischenschaltung von Kapitalgesellschaften, die mit einer deutschen Mutter-Personengesellschaft organschaftlich verbunden sind, verfeinert. Diese Konstruktionen sind daraufhin zu überprüfen, ob der betreffende ausländische Staat die Idee der steuerlichen Transparenz auch auf das Erbschaftsteuerrecht überträgt und im Falle des Versterbens eines Gesellschafters der Muttergesellschaft eine Erbschaftsteuer erhebt. Sollte das deutsche Steuerrecht dann in der ausländischen nachgeordneten Personengesellschaft kein Auslandsvermögen sehen, ist die Anrechnung der ausländischen auf die deutsche Erbschaftsteuer gemäß § 21 ErbStG gefährdet. d) Zeitliche Verwerfungen Ein weiteres Hindernis der vollständigen Anrechnung ausländischer Erbschaftsteuer taucht in der Praxis nicht selten auf, wenn eine schenkweise Übertragung unter dem Vorbehalt von Widerrufs- oder Nutzungsrechten, insbesondere unter Vorbehaltsnießbrauch, erfolgt. Das deutsche Schenkungsteuerrecht lässt gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG auch in derartigen Fällen die Schenkungsteuer mit der Ausführung der Zuwendung entstehen, selbst wenn diese Schenkung Beschränkungen unterliegt oder widerruflich ist. Lediglich die Bewertungsebene betrifft die Frage, inwieweit beispielsweise der Vorbehalt eines Nießbrauchsrechts den Wert der Schenkung und somit die Bemessungsgrundlage für die Schenkungsteuer mindert (vgl. §§ 12 Abs. 1 ErbStG, 13 bis 16 BewG). Löst eine derartige Zuwendung auch Steuern in einem ausländischen Staat aus, etwa weil der Zuwendungsgegenstand dort belegen ist, sind stets die Auswirkungen solcher Beschränkungen auf die ausländische Schenkungsteuer zu prüfen, nicht nur auf die Bewertung der Zuwendung, sondern insbesondere auf den Entstehungszeitpunkt der Steuer. Dort herrscht häufig ein anderes Verständnis über den Zeitpunkt des Vollzugs der Schenkung und somit der Entstehung der Schenkungsteuer. So muss in den anglo-amerikanischen Rechtsordnungen – beispielsweise in den USA20 oder im Vereinigten Königreich – die Schenkung auch wirtschaftlich vollzogen sein. Behält sich der Schenker Fruchtziehungs- oder sonstige Nutzungsrechte vor, wie bei einem Nießbrauchs- oder Wohnrecht, entsteht die Steuer auf den gesamten Schenkungsvorgang möglicherweise erst mit dem Erlöschen dieses Rechts. Auch bei der Ausgestaltung von Widerrufsrechten bei der Schenkung von Auslandsvermögen ist detailliert zu prüfen, ob im Belegenheitsstaat die Schenkungsteuer bereits bei der Zuwendung entsteht. Nicht selten können bedingte Weiterübertragungsverpflichtungen andere Steuerfolgen auslösen, womit sich Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. Auch das sehr praxisrelevante spanische Schenkungsteuerrecht enthält Bestimmungen über den Vollzug der Schenkung und die Entstehung der Schenkungsteuer, die vom deutschen Recht abweichen können. In Spanien wird eine Schenkung unter Nießbrauchsvorbehalt insgesamt erst bei Erlöschen des Nießbrauchsrechts besteuert, falls sie innerhalb von fünf Jahren vor dem Tod

___________ 19 C. Rödl in FS Hennerkes, 2009, S. 195 ff. 20 Wasssermeyer, Das US-amerikanische Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, 1996, S. 24 (100 ff.).

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des Schenkers erfolgt. Im Übrigen ist das Erlöschen des Nießbrauchs anders als in Deutschland auch dann steuerpflichtig, wenn es auf dem Tod des Berechtigten beruht. Der Kapitalwert des Nießbrauchs als Bemessungsgrundlage muss – für den deutschen Rechtsberater befremdlich – fiktiv anhand der theoretischen Lebenserwartung im Erlöschenszeitpunkt bestimmt werden21. Auch nach einer erfolgten Zuwendung, die mit Beschränkungen oder Widerrufsmöglichkeiten versehen ist, sollte die Rechtsentwicklung im betroffenen Staat im Auge behalten werden. Künftige Rechtsänderungen, wie jüngst die „Sarkozy-Reform“22 in Frankreich, sind auf ihre zumindest faktische Rückwirkung auf bereits erfolgte Schenkungen zu überprüfen. Die schenkungsteuerliche Relevanz dieser zeitlichen Verwerfungen ergibt sich aus der Fünfjahresfrist in § 21 Abs. 1 Satz 4 ErbStG und den verfahrensrechtlichen Fristen für die Änderbarkeit von Steuerbescheiden. Zeitliche Verwerfungen sind nicht nur bei der Schenkung von Auslandsvermögen denkbar. Die Schenkung in Deutschland belegener Immobilien oder Gesellschaftsanteile unter Widerrufs- oder Nießbrauchsvorbehalt kann zur Steuerpflicht in mehreren Staaten führen. Man denke beispielsweise an den Wohnsitzwechsel des Schenkers zwischen dem Tag der Zuwendung, also der Steuerentstehung in Deutschland, und dem Wegfall der Beschränkungen, wodurch im Zuzugsstaat die Schenkung als vollzogen gilt und die Steuer entsteht. Zwischen diesen Zeitpunkten können viele Jahre oder gar Jahrzehnte liegen, beispielsweise wenn die Vorbehalte erst mit dem Tod des Schenkers erlöschen. 3. Vorteile bei und Gestaltungsmöglichkeiten aufgrund Erbschaftsteuer-DBA Deutschland hat wenige Erbschaftsteuer-DBA abgeschlossen (s. oben IV. 1. a). Die Gestaltungsmöglichkeiten sind im Vergleich zu den Ertragsteuer-DBA gering. Lediglich die Erbschaftsteuer-DBA mit Dänemark, Schweden, USA und nun auch Frankreich erstrecken sich auch auf die Schenkungsteuer. Insbesondere das äußerst praxisrelevante Abkommen mit der Schweiz gilt nur für Erbschaften. Das in einigen Aspekten für den Steuerpflichtigen sehr vorteilhafte Erbschaftsteuer-Abkommen mit Österreich wurde durch die Bundesrepublik Deutschland bedauerlicherweise zum 31.12.2007 gekündigt, da Österreich die Erbschaft- und Schenkungsteuer auslaufen ließ. Ebenso wie in Deutschland wurde sie vom Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt. a) Vorteile der DBA-Anwendung gegenüber § 21 ErbStG In Erbschaftsteuer-DBA (E-DBA) wird regelmäßig lediglich die Anrechnungsmethode explizit angeordnet, nicht die Freistellungsmethode. Dennoch ergeben sich im Vergleich zur unilateralen Anrechnungsvorschrift des deutschen Erbschaftsteuerrechts in § 21 ErbStG Vorteile für den Steuerpflichtigen. Ei-

___________ 21 Instruktiv zu unentgeltlichen Erwerben im Verhältnis zu Spanien: Gebel, Erbschaftsteuer bei deutsch-spanischen Nachlässen, 1999, S. 89 (413 f.). 22 Vgl. auch Gottschalk, Länderbericht Frankreich, ZEV 2008, 77.

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nige der genannten Stolpersteine (vgl. oben IV. 2.) der Vorschrift können entschärft werden. So ist klar geregelt, welcher Staat für welche Vermögensteile das Besteuerungsrecht hat und dass der Wohnsitzstaat die Erbschaftsteuer des Belegenheitsstaates anzurechnen hat. Die Nachteile der zu engen, ja lückenhaften Begriffsbestimmung des Auslandsvermögens in § 21 Abs. 2 ErbStG und die wirtschaftliche Doppelbesteuerung werden dadurch beseitigt. Dies gilt beispielsweise für die doppelte Besteuerung von Kontoguthaben (vgl. oben IV. 2. c, vgl. beispielsweise Art. 9 E-DBA Frankreich i.V.m. Nr. 4 des Protokolls). Doppelbesteuerungen aufgrund unterschiedlicher Zeitpunkte der Steuerentstehung können durch Erbschaftsteuer-DBA abgeschwächt werden, vgl. etwa Art. 11 Abs. 5 und 7 E-DBA USA. Es ist jedoch zu beachten, dass auch die Erbschaftsteuer-Abkommen Anrechnungsbeschränkungen ähnlich § 21 Abs. 1 Satz 2 und 3 ErbStG kennen bzw. auf diese Vorschriften verweisen, vgl. etwa Art. 11 Abs. 2 lit. b E-DBA Frankreich, Art. 10 Abs. 1 lit. b E-DBA Schweiz, Art. 11 Abs. 6 E-DBA USA. Die Abkommen sind weiterhin hilfreich bei doppelter unbeschränkter Steuerpflicht, beispielsweise wenn Wohnsitze in mehreren Ländern bestehen, da über die Bestimmung eines Ansässigkeitsstaates für DBA-Zwecke die Besteuerungsrechte und Anrechnungspflichten klar bestimmt werden. b) Gestaltungschancen am Beispiel des Art. 9 E-DBA USA Gestaltungsmöglichkeiten, ähnlich einer Freistellungsmethode, bieten implizit die DBA-(Verteilungs-)Artikel, die ausschließliche Besteuerungsrecht eines Staates vorsehen. So bestimmt etwa Art. 9 E-DBA USA, dass die Vermögensgegenstände, deren Besteuerungsrecht nach den Art. 5 bis 8 E-DBA USA nicht ausdrücklich zugewiesen wurde, allein durch den Wohnsitzstaat des Erblassers oder Schenkers besteuert werden dürfen (ebenso Art. 9 E-DBA Frankreich). Diese Auffangvorschrift ist auch auf Anteile an Kapitalgesellschaften anwendbar, da diese in den anderen Verteilungsartikeln nicht behandelt werden. Daraus ergibt sich ein sehr praxisrelevanter gestalterischer Ansatz. Denn auch nach der deutschen Erbschaftsteuerreform 2009 kann der Übergang von in den USA belegenen unternehmerischen Vermögen zu einer spürbar höheren Erbschaftsteuerlast in den USA als in Deutschland führen. Die Bemessungsgrundlage in den USA entspricht wie neuerdings in Deutschland den Verkehrswerten. Die Steuersätze beim Übergang auf Folgegenerationen sind regelmäßig höher als in Deutschland, die Freibeträge geringer. Die USA kennen beim Generationenübergang keine den §§ 13a, 13b ErbStG ähnlichen Steuervergünstigungen, die die Erbschaftsteuer nahezu beseitigen, wenn das Unternehmen in vergleichbarem Umfang fortgeführt wird. Im Ergebnis verbleibt häufig ein Überhang nicht anrechenbarer US-Steuern, falls unternehmerisches Vermögen in den USA und in Deutschland steuerpflichtig und eine Anrechnung der US-Steuern angeordnet ist. Daher besteht das gestalterische Ziel regelmäßig darin, die Erbschaftsteuerpflicht in den USA gänzlich zu vermeiden und die deutsche in Kauf zu nehmen.

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Dies kann mithilfe des Art. 9 E-DBA USA gelingen, indem das unternehmerische US-Vermögen über eine Kapitalgesellschaft gehalten wird. Zunächst entsteht ein Widerstreit mit den ertragsteuerlichen Zielen. Denn international tätige Familiengesellschaften werden häufig bestrebt sein, ihre Auslandstöchter in steuerlich transparenten Strukturen zu halten. Die US-Unternehmung wird in der Rechtsform einer Personengesellschaft geführt, nämlich einer LP oder einer auch aus deutscher Sicht als Personengesellschaft zu qualifizierenden LLC23. Die US-Personengesellschaft vermittelt ihre Betriebsstätte ihren Gesellschaftern, gegebenenfalls über mehrere Stufen von Personengesellschaften bis zu den Anteilseignern der Mutter-Personengesellschaft als abkommensberechtigte (natürliche) Personen. Die Gewinne (oder Verluste) der US-Personengesellschaft werden nur in den USA besteuert, in Deutschland von der Besteuerung gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 1 lit. a DBA USA unter den dort bestimmten Voraussetzungen freigestellt. Dennoch können die Anteilseigner die Gewinne der US-Gesellschaft grundsätzlich ohne weitere Steuerlast und gegebenenfalls über mehrere Stufen bis in das Privatvermögen entnehmen24. Die Zwischenschaltung einer Kapitalgesellschaft zur oben erwähnten Erbschaftsteuer-Optimierung (Art. 9 E-DBA USA) würde die ertragsteuerlich gebotene Transparenz unterbrechen und die angestrebte Einebenenbesteuerung zunichte machen. Denn die Ausschüttung aus der Kapitalgesellschaft, auf welcher Ebene sie auch angesiedelt sein mag, führt zu einer weiteren Besteuerungsebene. Wenn eine Ausschüttung in ein deutsches Betriebsvermögen erfolgt, etwa in die Spitzen-Personengesellschaft der mittelständischen Unternehmensgruppe, sind die Dividenden nach dem „Teileinkünfteverfahren“ in Höhe von 60% zu versteuern (§§ 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1; 3 Nr. 40 Satz. 1 lit. d Satz. 1 EStG). Die Lösung dieses scheinbaren Dilemmas liegt darin, gezielt die Möglichkeiten „hybrider“ Strukturen zu nutzen. Das amerikanische Steuerrecht erlaubt dem Steuerpflichtigen selbst zu wählen, ob eine Gesellschaft für US-Steuerzwecke als Personen- oder Kapitalgesellschaft behandelt werden soll. Dieses sog. Check-the-Box-Verfahren ist auch auf ausländische Gesellschaften anwendbar, sofern es sich um keine per se-corporation handelt25. Der Steuerpflichtige wählt für die deutsche Personengesellschaft, die Gesellschafterin der US-Personengesellschaft ist, die Qualifikation als Körperschaft aus der US-Steuerperspektive. Diese Option berücksichtigen die USA auch bei der Anwendung des Erbschaftsteuer-DBA. Gemäß Art. 9 E-DBA USA haben die Vereinigten Staaten kein Besteuerungsrecht für die Erbschaft- und Schenkungsteuer bei Übergang der deutschen Personengesellschaft und somit mittelbar der US-Gesellschaft. Da es sich bei der Personengesellschaft, die zur Körperschaft optiert, um eine deutsche handelt, hat der US-Fiskus auch keinen Ansatzpunkt, eine Dividendenausschüttung zu besteuern. Für die Anwendung des deutschen Steuerrechts spielt die Check-the-Box-Option des US-

___________ 23 Zur Einstufung der LLC im Wege des Typenvergleichs nach deutschem Steuerrecht vgl. BMF v. 19.3.2004, BStBl. I 2004, 411. 24 Zu berücksichtigen ist eventuell die Branch Profit Tax, die auch DBA-rechtlich abgesichert ist, vgl. Art. 10 VIII, IX DBA USA; näher zur Einebenenbesteuerung vgl. Rödl in FS Hennerkes, 2009, S. 195 ff. 25 Das Check-the-Box-Verfahren ist in Reg. § 301.7701-3 zu IRC Sec. 7701 geregelt.

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Steuerrechts keinerlei Rolle. Die steuerliche Transparenz aufgrund der Personengesellschafts-Kette bleibt aus der deutschen Steuerperspektive unangetastet. Das Gestaltungsbeispiel zeigt erneut, wie wichtig die vernetzte Betrachtung verschiedener Rechtsdisziplinen und Rechtsordnungen ist, hier das jeweils nationale deutsche und amerikanische Erbschaft- sowie Ertragsteuerrecht und die Doppelbesteuerungsabkommen sowohl zum Erbschaftsteuer- als auch zum Ertragsteuerrecht. 4. Der Wegzug als Gestaltungsmittel Die Beratungspraxis zeigt, dass der rein steuerlich motivierte Wegzug von Unternehmern oder Inhabern großer Vermögen aus Deutschland Ausnahmefälle sind. Das mediale Aufbauschen prominenter Einzelfälle täuscht. Die meisten Unternehmer sind trotz globaler wirtschaftlicher Aktivitäten und persönlicher Weltläufigkeit in ihrer Heimatregion tief verwurzelt und ihr auch emotional stark verbunden. Regierungswechsel, Reformüberlegungen und vermutete gesellschaftliche Tendenzen lassen dennoch gelegentlich die Nachfrage nach Beratung zum Wegzug aus Deutschland anschwellen. Die gemeinsame Erörterung der Voraussetzungen für die Erzielung besonderer Steuereffekte durch einen Wegzug führt in den meisten Fällen zur schnellen Beendigung dieser Überlegungen. Jedenfalls beim Wegzug in Länder, mit denen Deutschland kein Erbschaftsteuer-DBA geschlossen hat, ist die fünfjährige Nachlauffrist gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 lit. b ErbStG zu beachten, während derer weiterhin unbeschränkte Erbschaftsteuerpflicht in Deutschland besteht, sowie die erweiterte beschränkte Steuerpflicht gemäß §§ 4 i.V.m. 2 AStG, die bis zu knapp elf Jahren nach dem Wegzug erhalten bleiben kann. Der Wegzug bedeutet außerdem einen Eingriff in die Lebensplanung der designierten Erben. Denn für die unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland reicht es gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG aus, wenn der Beschenkte oder Erbe in Deutschland einen Wohnsitz hat oder innerhalb der letzten fünf Jahre vor dem maßgeblichen Zeitpunkt hatte. Die Anknüpfung an den Wohnsitz für die unbeschränkte Steuerpflicht bedeutet, dass in Deutschland sicherheitshalber gar keine Zweitwohnung beibehalten werden sollte. Dies wäre zwar in engen Grenzen unschädlich, die Einzelheiten der tatsächlichen Nutzung aber höchstrichterlich nicht vollständig trennscharf geklärt und in der Praxis äußerst konfliktanfällig. Nach Kündigung des Erbschaftsteuer-DBA mit Österreich sind auch bei diesem sehr beliebten Wegzugsziel die genannten strengen Voraussetzungen des deutschen Erbschaftsteuerrechts zu beachten. Der Wegzug nach Österreich hat nach Kündigung des Erbschaftsteuer-Abkommens die steuerliche Attraktivität komplett eingebüßt. Man bedenke den Einkommensteuerhöchstsatz in Österreich von 50% und die im Vergleich zu Deutschland nachteiligere DBA-Situation, da Österreich mit einigen wichtigen Ländern nur die Anrechnungsmethode, Deutschland aber die Freistellungsmethode für Ertragsteuern vereinbart hat.

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Ausgewählte Aspekte der Internationalen Unternehmens- und Vermögensnachfolge

Die wenigen bestehenden Doppelbesteuerungsabkommen bringen teilweise gewisse Erleichterungen im Vergleich zur inländischen Regelung, insbesondere zur fünfjährigen Nachlauffrist und zur Erstreckung des Wegzugs auf Erben und Beschenkte. Dies gilt aber nicht gleichermaßen für alle deutschen Erbschaftsteuer-DBA. Beispielsweise Nr. 2 des Protokolls zum E-DBA Frankreich und Art. 4 Abs. 1 lit. a, Abs. 4 E-DBA Schweiz lassen die Fünfjahresfrist des deutschen Steuerrechts für den Erblasser unangetastet. Art. 8 Abs. 2 Satz 1 E-DBA-Schweiz gewährt Deutschland auch das Besteuerungsrecht, das auf einem deutschen Wohnsitz des Erben beruht, selbst wenn die Fristen für den Erblasser abgelaufen sind. Selbst wenn dem Erblasser und seinem designierten Erben die Überwindung sämtlicher Fristen geglückt ist, sind sie dadurch dem deutschen Erbschaftund Schenkungsteuerzugriff noch nicht entgangen. Denn im Wege der beschränkten Steuerpflicht bleibt gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG das Inlandsvermögen, definiert in § 121 BewG, in Deutschland steuerlich verhaftet. Besonders praxisrelevant ist die beschränkte Steuerpflicht für deutsche Immobilien (§ 121 Nr. 2 BewG), inländisches Betriebsvermögen, wozu auch die inländische Betriebsstätte eines ausländischen Rechtsträgers gehört (§ 121 Nr. 3 BewG) sowie Beteiligungen an Kapitalgesellschaften in Höhe von mindestens 10%. In die Berechnung werden mittelbare Beteiligungen und Anteile nahestehender Personen einbezogen (§§ 121 Nr. 4 BewG). Zu erwähnen ist noch § 121 Nr. 9 BewG. Nutzungsrechte an Inlandsvermögen unterliegen ebenfalls der beschränkten Erbschaftsteuerpflicht in Deutschland. Die Schenkung unter Nießbrauchsvorbehalt in Deutschland und die viele Jahre später erfolgende Zuwendung des Nießbrauchs bzw. der Verzicht darauf sind der beschränkten Steuerpflicht nicht entzogen. Der Wegzug aus Deutschland begründet somit gerade bei der Unternehmensnachfolge kein Entkommen aus der deutschen Erbschaft- und Schenkungsteuerpflicht. Zudem handeln sich die Wegzügler den Nachteil ein, ihre erbschaftsteuerlichen Freibeträge nahezu vollständig zu verlieren. Für die beschränkte Erbschaftsteuerpflicht belässt es § 16 Abs. 2 ErbStG bei einem Freibetrag von nur 2.000 Euro, während das Erbschaftsteuerreformgesetz 2009 die Freibeträge bei unbeschränkter Steuerpflicht spürbar angehoben hat. Gerade bei kleineren und mittleren Unternehmenswerten wird das Abstreifen der unbeschränkten Erbschaftsteuerpflicht zum Bumerang.

V. Schlussbemerkung Internationale Nachfolgeplanung kann getrost als Herausforderung für den rechtlichen und steuerlichen Berater bezeichnet werden. Spezialkenntnisse, langjährige Erfahrung und enges Zusammenwirken zwischen deutschen und ausländischen Experten ist erforderlich. Expertise ist in den Erbrechtsordnungen, dem Internationalen Privatrecht – genauer: bezogen auf das Erbrecht, das Güterrecht und das Gesellschaftsrecht – erforderlich, weiterhin im Ertragsteuerrecht und Erbschaftsteuerrecht der berührten Länder sowie den jeweiligen Doppelbesteuerungsabkommen für Erbschaft- und Schenkungsteu-

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errecht und für Ertragsteuerrecht26. Die gebotene umfassende Beratung ist nur in einem Projektteam erfolgreich zu bewältigen. Die Vieldimensionalität bietet nicht nur zahlreiche Stolpersteine, sondern auch Gestaltungschancen. Der gute Berater wird immer wieder seinen Kopf über die ineinandergreifenden Regelungsmaterien und erforderlichen Vertragswerke heben und sich bewusst machen, dass die Gestaltungen nicht Selbstzweck sind, sondern Mittel zum Zweck, nämlich zur Umsetzung des Erblasser- bzw. Schenkerwillens. Die Nachfolge darf nie durch rechtliche und steuerliche Rahmenbedingungen geleitet werden. Der Unternehmens- bzw. Vermögensinhaber muss wissen, was er will. Dieser Wille wird selbstverständlich häufig im Dialog mit den Personen seines Vertrauens gebildet und konkretisiert. Rechts- und Steuerberatung ist Umsetzung und hat im Nachfolgeprozess dienende, nicht leitende Funktion.

___________ 26 Es bleibt zu hoffen, dass die im Entstehen befindliche EU-Erbrechtsverordnung für den europäischen Rechtsraum eine gewisse Vereinheitlichung und Vereinfachung bedeuten wird, vgl. oben III. 3.

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Andreas Söffing

Ausgewählte Beratungsaspekte beim Formwechsel einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft1 Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Sonderbetriebsvermögen 1. Miteinbringung von Sonderbetriebsvermögen 2. Vorabseparierung funktional wesentlicher Betriebsgrundlagen 3. Anteile an der neuen Kapitalgesellschaft als Sonderbetriebsvermögen einer Schwester-Personengesellschaft III. Einbringung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten und sonstigen Gegenleistungen IV. Auswirkungen des Formwechsels auf bestehende Behaltefristen 1. Übertragungen nach § 6 Abs. 3 EStG 2. Übertragungen nach § 6 Abs. 5 EStG a) Vorbemerkung b) § 6 Abs. 5 Satz 4 EStG c) § 6 Abs. 5 Satz 5 und 6 EStG 3. Realteilung gemäß § 16 Abs. 3 Satz 3 EStG

4. Nachversteuerung gemäß § 34a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 EStG 5. Weitere Behaltefristen sowie abschließende Hinweise zu den Behaltefristen V. Durch den Formwechsel neu entstehende Behaltefristen 1. § 22 Abs. 1 UmwStG (Einbringungsgewinn I) 2. § 22 Abs. 2 UmwStG (Einbringungsgewinn II) 3. § 22 Abs. 3 UmwStG (Nachweispflicht) VI. Auswirkungen auf bestehende Verlustvorträge 1. Ebene der Gesellschafter 2. Ebene der formwechselnden Gesellschaft 3. Ebene von Tochtergesellschaften VII. Grunderwerbsteuerliche Aspekte VIII. Erbschaft- und schenkungsteuerliche Aspekte

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I. Vorbemerkung Durch eine Vielzahl von steuerrechtlichen Gesetzesänderungen hat sich tendenziell die Rechtsform der Personengesellschaft gegenüber der Kapitalgesellschaft bei einem steuerlichen Rechtsformvergleich verschlechtert. Dies gilt zunächst für die Gewinnbesteuerung, da die Kapitalgesellschaft nicht nur von der niedrigeren Thesaurierungsbelastung profitiert, sondern auch die Gesamtbelastung ausgeschütteter Gewinne bei Kapitalgesellschaften niedriger liegen kann als die Gesamtbelastung entnommener Gewinne bei Personengesellschaften2. Auch unter Berücksichtigung der Thesaurierungsbegünstigung im

___________ 1 Für die fachliche Unterstützung gilt mein Dank StB Dr. Jan Bron. Das Manuskript wurde am 31.5.2010 abgeschlossen. 2 Vgl. zur Rechtsformwahl und Rechtsformoptimierung nach der Unternehmenssteuerreform Förster, Ubg 2008, 185 m.w.N.

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Sinne des § 34a EStG kann die Kapitalgesellschaft vorteilhafter sein als die Personengesellschaft, da die Nachversteuerung der begünstigt besteuerten Gewinne im Fall der Entnahme zu einer höheren Gesamtbelastung verglichen mit dem Fall der Nichtinanspruchnahme des § 34a EStG ist. Der durch die Antragstellung im Sinne des § 34a EStG erzielten Thesaurierungsersparnis steht somit eine Mehrbelastung im Entnahmefall gegenüber. Damit ist die Vorteilhaftigkeit des § 34a EStG wesentlich von der Thesaurierungsdauer abhängig. Auch darf bei einem Rechtsformvergleich nicht übersehen werden, dass die Nachversteuerung im Sinne des § 34a EStG nicht nur bei einer Entnahme, sondern gemäß § 34a Abs. 6 EStG auch bei weiteren Veräußerungs-, Aufgabe- und Umstrukturierungsmaßnahmen ausgelöst werden kann. Neben diesen Tendenzen zur ertragsteuerlichen Vorteilhaftigkeit der Kapitalgesellschaft gegenüber der Personengesellschaft bei der Gewinnbesteuerung ist insbesondere zu berücksichtigen, dass mit Wirkung zum 1.1.2009 die erbschaft- und schenkungsteuerliche Bemessungsgrundlage der Personengesellschaften der Bemessungsgrundlage bei Kapitalgesellschaften angeglichen wurde, sodass zumindest hinsichtlich der erbschaft- und schenkungsteuerlichen Bemessungsgrundlage von einer Rechtsformneutralität auszugehen ist. Damit ist ein ganz entscheidender erbschaft- und schenkungsteuerlicher Vorteil der Personengesellschaft gegenüber der Kapitalgesellschaft entfallen. In der Beratungspraxis ist es somit bei Familienunternehmen in der Rechtsform einer Personengesellschaft angezeigt, zu überprüfen, ob ein Rechtsformwechsel in die Kapitalgesellschaft vorteilhaft sein könnte. Neben einer Vielzahl von Kriterien3 zum Vergleich der beiden Rechtsformen sollte bei dieser Überprüfung auch beachtet werden, dass bei dem Umwandlungsvorgang selbst (in der Regel ein Formwechsel im Sinne des § 190 UmwG) in erheblichem Umfang Detailaspekte berücksichtigt werden müssen. Einige dieser für die Beratungspraxis besonders wichtigen Detailaspekte sollen nachfolgend aufgezeigt werden.

II. Sonderbetriebsvermögen 1. Miteinbringung von Sonderbetriebsvermögen Gemäß § 25 UmwStG gelten in den Fällen eines Formwechsels einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft im Sinne des § 190 UmwG die §§ 20 bis 23 UmwStG entsprechend. Damit ist der sechste Teil des Umwandlungssteuergesetzes, also der Teil, der u.a. die Einbringung von Mitunternehmeranteilen in eine Kapitalgesellschaft behandelt, auf den Formwechsel einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft entsprechend anzuwenden. Diese in § 25 Satz 1 UmwStG angeordnete entsprechende Anwendung der

___________ 3 Neben der vorstehend kurz erwähnten Gewinnbesteuerung und der Erbschaft- und Schenkungsteuer sind aus steuerlicher Sicht die Verlustberücksichtigung, Finanzierungsfragen, die steuerliche Behandlung von Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschafter und Gesellschaft, Umstrukturierungsflexibilitäten und steuerliche Risikobereiche zu beachten. Als außersteuerliche Rechtswahlkriterien ist insbesondere die unternehmerische Mitbestimmung und die Publizität zu nennen.

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§§ 20 ff. UmwStG hat jedoch nicht zur Folge, dass auf die Fälle eines Formwechsels im Sinne des § 190 UmwG in jedem Fall die Vorschriften des sechsten Teils anzuwenden sind. Vielmehr müssen auch die in § 20 UmwStG enthaltenen Tatbestandsmerkmale erfüllt werden4. Damit finden die §§ 20 ff. UmwStG gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1 UmwStG nur Anwendung, wenn Gegenstand der Sacheinlage bzw. des Formwechsels auch ein Mitunternehmeranteil ist und alle zu diesem Mitunternehmeranteil gehörenden funktional wesentlichen Betriebsgrundlagen eingebracht werden. Der Mitunternehmeranteil umfasst neben dem Anteil am Gesamthandsvermögen auch Wirtschaftsgüter, die zivilrechtlich und/oder wirtschaftlich im Eigentum eines Mitunternehmers stehen und dazu geeignet und bestimmt sind, dem Betrieb der Personengesellschaft zu dienen (Sonderbetriebsvermögen I) oder der Beteiligung des Gesellschafters an der Personengesellschaft zumindest förderlich sind (Sonderbetriebsvermögen II)5. Hinsichtlich der Bedeutung bzw. Behandlung dieser Wirtschaftsgüter des Sonderbetriebsvermögens im Rahmen des Formwechsels muss danach unterschieden werden, ob es sich um funktional wesentliche Betriebsgrundlagen handelt oder nicht. Gehören zum Sonderbetriebsvermögen Wirtschaftsgüter, die keine wesentlichen Betriebsgrundlagen darstellen, so brauchen diese zur Erfolgsneutralität des Formwechsels gemäß § 20 UmwStG nicht mit in die Kapitalgesellschaft eingebracht werden. Allerdings führt die Einbringung des Mitunternehmeranteils zur Beendigung der Mitunternehmerschaft und damit zum Wegfall dieses Sonderbetriebsvermögens. Diese Wirtschaftsgüter werden somit unter Aufdeckung von stillen Reserven in das Privatvermögen des Gesellschafters entnommen oder fallen ohne Aufdeckung von stillen Reserven in das Eigenbetriebsvermögen des Mitunternehmers zurück. Gehören zum Sonderbetriebsvermögen Wirtschaftsgüter, die wesentliche Betriebsgrundlagen darstellen, so müssen diese zur Nutzung der Erfolgsneutralität des Formwechsels gemäß § 20 UmwStG zwingend mit in die Kapitalgesellschaft eingebracht werden. Werden diese Wirtschaftsgüter nicht mit eingebracht, so kommt es ggf. bei diesen Wirtschaftsgütern und auf jeden Fall bei dem eingebrachten Mitunternehmeranteil zur Aufdeckung und Versteuerung der vorhandenen stillen Reserven, da das Tatbestandsmerkmal „Einbringung eines Mitunternehmeranteils“ (§ 20 Abs. 1 Satz 1 UmwStG) nicht erfüllt ist6. Die vorstehende Behandlung der Wirtschaftsgüter des Sonderbetriebsvermögens kommt unabhängig davon zur Anwendung, ob die Wirtschaftsgüter bisher im Sonderbetriebsvermögen des einzubringenden Mitunternehmeranteils

___________ 4 Vgl. z.B. Rabback in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, Umwandlungssteuergesetz, § 25 Anm. 22. 5 Vgl. zum Sonderbetriebsvermögen I und II auch BFH v. 19.10.2000 – IV R 73/99, BStBl. II 2001, 335 (336 linke Spalte). 6 Vgl. BFH v. 16.2.1996 – I R 183/94, BStBl. II 1996, 342, BFH v. 13.4.2007 – IV B 81/06, BFH/NV 2007, 1939, BMF-Schreiben v. 25.3.1998 – IV B 7-S 1978-21/98, BStBl. I 1998, 268, Tz. 20.08, vgl. auch Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, § 25 UmwStG, Anm. 21, Herlinghaus in Rödder/Herlinghaus/von Lishaut, Umwandlungssteuergesetz, § 20 Anm. 51.

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bilanziert waren oder nicht. Im Rahmen der Sachverhaltsermittlung muss somit im Vorfeld eines Formwechsels sorgfältig geprüft werden, ob Wirtschaftsgüter existieren, die die Voraussetzungen des Sonderbetriebsvermögens erfüllen, aber bisher nicht als solches behandelt bzw. bilanziert wurden. Dies betrifft nicht nur die Zuordnungsfrage zwischen Privatvermögen und Sonderbetriebsvermögen, sondern auch die Zuordnungskonkurrenz zwischen verschiedenen Betriebs- bzw. Sonderbetriebsvermögen7. Auch bereits erfolgte Außenprüfungen bieten hier häufig keine Sicherheit, da die bisher vorgenommene Zuordnung der Wirtschaftsgüter möglicherweise in der Vergangenheit keine oder nur eine geringe steuerliche Auswirkungen hatte8. Bei den Wirtschaftsgütern, die die Voraussetzungen des Sonderbetriebsvermögens erfüllen, bisher aber nicht im Sonderbetriebsvermögen bilanziert wurden, kann es sich auch um selbsterstellte immaterielle Wirtschaftsgüter handeln. Auch immaterielle Wirtschaftsgüter können funktional wesentliche Betriebsgrundlagen darstellen, die auch bei fehlender Bilanzierung zur Anwendung des § 20 UmwStG gemeinsam mit dem Mitunternehmeranteil in die Kapitalgesellschaft eingebracht werden müssen9. Um das vorstehend beschriebene Risiko der Nichtberücksichtigung der wesentlichen Betriebsgrundlagen des Sonderbetriebsvermögens im Rahmen des Formwechsels zu reduzieren, könnte eine Auffangklausel in das Vertragswerk aufgenommen werden. Sofern nach dem Formwechsel noch wesentliche Betriebsgrundlagen des Sonderbetriebsvermögens identifiziert würden, die zur Anwendung des § 20 UmwStG mit auf die neue Kapitalgesellschaft überführt hätten werden müssen, sollten diese nach der Auffangklausel nachträglich in die neue Kapitalgesellschaft eingebracht werden müssen. Mit Hilfe der Gesamtplanrechtsprechung könnte dann gegebenenfalls nachträglich die Erfolgsneutralität des Formwechsels gerettet werden. Zur Anwendung der Erfolgsneutralität gemäß der §§ 20 ff. UmwStG müssen somit funktional wesentliche Betriebsgrundlagen des Sonderbetriebsvermögens mit in die Kapitalgesellschaft eingebracht werden. Da der Formwechsel im Sinne des § 190 UmwG nur das Gesamthandsvermögen der übertragenden Personengesellschaft umfasst, muss das Sonderbetriebsvermögen durch gesonderte Übertragungsakte eingebracht werden. Hierbei muss sichergestellt werden, dass die Übertragung des Sonderbetriebsvermögens sowie die formwechselnde Umwandlung (Umwandlungsbeschluss) in einem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang erfolgen. Ist dieser zeitliche und sachliche Zusammenhang gegeben, ist es u.E. nicht erforderlich, dass die Übertragung des Sonderbetriebsvermögens gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten erfolgt, da diese ja bereits im Rahmen des Formwechsels gewährt werden10. Auch dürfte es in diesen Fällen unbeachtlich sein, ob die Übertragung des Sonderbe-

___________ 7 Vgl. hierzu Patt, EStB 2009, 356. 8 Vgl. hierzu Patt, EStB 2009, 356. 9 Vgl. BFH v. 4.2.1982 – IV R 150/78, BStBl. II 1982, 348, BFH/NV 2005, 879, BFH v. 16.12.2009 – I R 97/08, BFH/NV 2010, 1208. 10 Vgl. Rabback in Rödder/Herlingshaus/van Lishaut, Umwandlungssteuergesetz, § 25 UmwStG, Anm. 51; s. aber Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, Umwandlungssteuerrecht, 6. Aufl., § 25 Anm. 22.

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triebsvermögens vor oder nach dem steuerlichen Übertragungsstichtag erfolgt. Die Einbringung der Wirtschaftsgüter des Sonderbetriebsvermögens sollte jedoch vor Eintragung des Formwechsels in das Handelsregister erfolgen, da mit der Handelsregistereintragung die Personengesellschaft und damit das Sonderbetriebsvermögen nicht mehr existiert11. Die Einbringung des Sonderbetriebsvermögens in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit dem Formwechsel hat weiterhin zur Folge, dass der Buchwert der im Rahmen des Formwechsels eingebrachten Mitunternehmeranteile auch den Buchwert des eingebrachten Sonderbetriebsvermögens mit umfasst12. Dementsprechend erhöhen sich auch die Anschaffungskosten der im Rahmen des Formwechsels dem Einbringenden gewährten Gesellschaftsanteile13. Erfolgt der Formwechsel unter Nutzung der steuerlichen Rückwirkung14, wird in der Regel die Einbringung des Sonderbetriebsvermögens nach dem steuerlichen Übertragungsstichtag erfolgen. Gemäß § 20 Abs. 5 Satz 2 UmwStG gilt die steuerliche Rückwirkung für Einlagen nicht, sodass sich im Rückwirkungszeitraum keine verdeckte Einlage in die neue Kapitalgesellschaft, sondern noch eine Einlage in die Personengesellschaft ergibt. Die Anschaffungskosten der Anteile an der neuen Kapitalgesellschaft erhöhen sich um die aus dem Sonderbetriebsvermögen fortgeführten Buchwerte. In der Eröffnungsbilanz der neuen Kapitalgesellschaft zum steuerlichen Übertragungsstichtag ist zunächst ein steuerlicher Korrekturposten zu bilden, der im tatsächlichen Einlagezeitpunkt des Sonderbetriebsvermögens entsprechend mit den eingelegten Wirtschaftsgütern verrechnet wird15. Werden zur Sicherung der Erfolgsneutralität des Formwechsels vor dem Formwechsel Grundstücke aus dem Sonderbetriebsvermögen eines Gesellschafters auf die Personengesellschaft übertragen, kann dies zum Wegfall der Grunderwerbsteuerbefreiung führen16. 2. Vorabseparierung funktional wesentlicher Betriebsgrundlagen Werden funktional wesentliche Betriebsgrundlagen des Sonderbetriebsvermögens nicht im zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem Formwechsel auf die neue Kapitalgesellschaft übertragen, findet § 20 UmwStG keine Anwendung. Fraglich ist, ob die Vorschrift des § 20 UmwStG dann Anwendung finden kann, wenn funktional wesentliche Betriebsgrundlagen des Mitunternehmeranteils vor dem Formwechsel durch Entnahme oder Überführung in ein anderes Betriebsvermögen von dem Mitunternehmeranteil separiert werden.

___________ 11 Vgl. hierzu auch Patt, EStB 2009, 358; Rabback in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, Umwandlungssteuergesetz, § 25 Anm. 51. 12 Sofern Ergänzungsbilanzen vorhanden sind, gehören auch die in den Ergänzungsbilanzen ausgewiesenen Werte zum Buchwert des Mitunternehmeranteils. 13 Vgl. § 20 Abs. 3 Satz 1 UmwStG. 14 Vgl. § 25 Satz 2 und 3, § 20 Abs. 6 und § 9 Satz 2 und 3 UmwStG 15 Vgl. Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, § 20 UmwStG Rz. 319. 16 Vgl. Abschn. VII.

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Nach Auffassung der Finanzverwaltung17 sind in derartigen Fällen im Anwendungsbereich des § 20 UmwStG die Anwendung des BFH-Urteils vom 19.3.1991, BStBl. II, 635 sowie auch die Grundsätze des § 42 AO zu prüfen. In dem BMF-Schreiben zu Zweifelsfragen zu § 6 Abs. 3 EStG18 wird in Tz. 7 ausgeführt: „Wird im zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der Übertragung des Mitunternehmeranteils (sog. Gesamtplanrechtsprechung, BFH-Urteil vom 6.9.2000 – BStBl. II 2001, 229) funktional wesentliches Sonderbetriebsvermögen entnommen oder (z.B. nach § 6 Abs. 5 EStG) zum Buchwert in ein anderes Betriebsvermögen überführt oder übertragen, kann der Anteil am Gesamthandsvermögen nicht nach § 6 Abs. 3 EStG zum Buchwert übertragen werden.“

In seiner Entscheidung vom 25.11.200919 führt der I. Senat des BFH zu einer etwaigen Schädlichkeit der Vorabseparierung von wesentlichen Betriebsgrundlagen auf die Anwendung des § 20 UmwStG aus: „Denn die ‚Auslagerung‘ einer wesentlichen Betriebsgrundlage aus dem einzubringenden Mitunternehmeranteil ist steuerlich anzuerkennen, sofern sie auf Dauer erfolgt und deshalb andere wirtschaftliche Folgen auslöst als die Einbeziehung des betreffenden Wirtschaftsguts in den Einbringungsvorgang. … Anders kann es sein, wenn sie alsbald rückgängig gemacht wird und sich deshalb als nur vorgeschoben erweist“20.

Der I. Senat des BFH wendet somit die Gesamtplanrechtsprechung auf eine Vorabseparierung i.V.m. § 20 UmwStG – wohl entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung und Stimmen in der Literatur – nicht an, da die Separierung auf Dauer angelegt war und damit wirtschaftlich und nicht ausschließlich steuerrechtlich begründet war. Hieraus könnten u.E. zwei Aspekte abgeleitet werden: (1.) Der I. Senat des BFH sieht möglicherweise als einzige Rechtsgrundlage für die Gesamtplanrechtsprechung die Vorschrift des § 42 AO, deren Anwendung er aber aufgrund der vorliegenden wirtschaftlichen Gründe verneint21. (2.) Der I. Senat des BFH sieht i.V.m. § 20 UmwStG keinen Raum für die Anwendung der Gesamtplanrechtsprechung. Die Anwendung des § 20 UmwStG verlangt eben nicht die zusammengeballte Fortführung der im Einbringungsgegenstand im Einbringungszeitpunkt vorhandenen stillen Reserven, sondern lediglich die Einbringung sämtlicher zum Mitunternehmeranteil im Einbringungszeitpunkt gehörenden funktional wesentlichen Betriebsgrundlagen. Wurden wesentliche Betriebsgrundlagen im Vorfeld der Einbringung separiert, ist die Voraussetzung des § 20 UmwStG, Einbringung der im Einbringungszeitpunkt vorhandenen wesentlichen Betriebsgrundlagen, dennoch erfüllt. Im Anwendungsbereich des § 20 UmwStG fehlt es damit – anders als im Anwendungsbereich der §§ 16, 34 EStG – an einer gemeinsamen Klammer, mit deren Hilfe die Vorabseparierung einer wesentlichen Betriebsgrundlage einerseits und die Einbringung in die Kapitalgesellschaft andererseits verbunden werden können.

___________ 17 18 19 20

BMF-Schreiben v. 25.3.1998 – IV B 7 - S 1978 - 21/98, BStBl. I, 268, Tz. 20.09. BMF-Schreiben v. 3.3.2005 – IV B 2 - S 2241 - 14/05, BStBl. I 2005, 458. BFH v. 25.11.2009 – I R 72/08, BStBl. II, 471. Vgl. hierzu jedoch Wendt, Anmerkung zum Urteil des BFH v. 25.11.2009 – I R 72/08, FR 2010, 386 sowie BFH v. 25.2.2010 – IV R 49/08, BFH/NV 2010, 1356. 21 Vgl. hierzu auch Gosch, DStR 2010, 1173 (1174 rechte Sp.).

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Unabhängig von den vorstehenden Überlegungen sollte nicht zuletzt auch wegen der Auffassung der Finanzverwaltung in der Beratungspraxis aus Vorsichtsgründen im Anwendungsbereich des § 20 UmwStG auf die Vorabseparierung von wesentlichen Betriebsgrundlagen verzichtet werden. 3. Anteile an der neuen Kapitalgesellschaft als Sonderbetriebsvermögen einer Schwester-Personengesellschaft Werden die Anteile an der neuen Kapitalgesellschaft von natürlichen Personen im steuerlichen Privatvermögen gehalten, so erzielen diese Gesellschafter Einkünfte aus Kapitalvermögen, die der Abgeltungssteuer unterliegen. Im Veräußerungsfall erzielen sie ggf. gewerbliche Einkünfte gemäß § 17 EStG. Ist einer oder mehrere Gesellschafter der neuen Kapitalgesellschaft noch an weiteren Gesellschaften in der Rechtsform einer Personengesellschaft beteiligt (Schwester-Personengesellschaft), so muss überprüft werden, ob die Anteile an der neuen Kapitalgesellschaft zum Sonderbetriebsvermögen der Schwester-Personengesellschaft gehören. Nach H 4.2. Abs. 2 EStH können Anteile an einer Kapitalgesellschaft eines Mitunternehmers u.a. dann zum Sonderbetriebsvermögen gehören, wenn (1) zwischen dem Unternehmen der Personengesellschaft und dem der Kapitalgesellschaft eine enge wirtschaftliche Verflechtung besteht und der Mitunternehmer die Kapitalgesellschaft beherrscht und die Kapitalgesellschaft nicht in erheblichen Umfang anderweitig tätig ist oder (2) sich die Stärkung der Beteiligung des Mitunternehmers an der Personengesellschaft durch die Beteiligung an der Kapitalgesellschaft aus anderen Gründen ergibt. Die Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft kann damit z.B. auch dann notwendiges Sonderbetriebsvermögen der Gesellschafter einer Personengesellschaft sein, wenn die Personengesellschaft von der in der gleichen Branche tätigen Kapitalgesellschaft organisatorisch und wirtschaftlich abhängig ist. Sofern die Anteile an der Kapitalgesellschaft zum Sonderbetriebsvermögen einer Schwester-Personengesellschaft gehören, wären auf die Dividenden nicht mehr die Abgeltungssteuer, sondern das Teileinkünfteverfahren anzuwenden22. Bei einer Beteiligung von kleiner 15% unterliegen die Dividenden der Gewerbesteuer, welche gemäß § 35 EStG angerechnet werden kann. Im Veräußerungsfall kommt auch das Teileinkünfteverfahren zur Anwendung. Gewerbesteuer kann wiederum nach § 35 EStG angerechnet werden. Die Frage nach der Zugehörigkeit der Anteile an der neuen Kapitalgesellschaft zum Sonderbetriebsvermögen einer Schwester-Personengesellschaft kann von großer Bedeutung sein, wenn nach dem Formwechsel sowohl bei der neuen Kapitalgesellschaft als auch bei der Schwester-Personengesellschaft weitere Strukturänderungen vorgenommen werden. Sollten z.B. die Anteile der neuen Kapitalgesellschaft im Wege der vorweggenommenen Erbfolge unentgeltlich übertragen werden, kann es bei einer Zugehörigkeit zum Sonderbetriebsvermögen durch die Übertragung im Wege der vorweggenommenen Erbfolge zur

___________ 22 Vgl. § 32d Abs. 1, § 20 Abs. 1 und 8, § 3 Nr. 40 EStG.

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Aufdeckung und Versteuerung der in den Anteilen steckenden stillen Reserven kommen, da die unentgeltliche Übertragung zu einer Entnahme aus dem Sonderbetriebsvermögen führen würde. Sollte z.B. die Schwester-Personengesellschaft formwechselnd in eine Kapitalgesellschaft umgewandelt werden, müssen die Ausführungen im vorstehenden Abschnitt zur Miteinbringung von Sonderbetriebsvermögen beachtet werden.

III. Einbringung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten und sonstigen Gegenleistungen Voraussetzung für die Anwendung der §§ 20 ff. UmwStG ist gemäß § 20 Abs. 1 UmwStG, dass der Einbringende als Gegenleistung für die Einbringung neue Gesellschaftsanteile erhält23. Wird dem Einbringenden neben den Gesellschaftsrechten im Zuge der Einbringung zusätzlich eine Gegenleistung gewährt, so steht dies der Erfolgsneutralität der Einbringung nicht entgegen, soweit die zusätzliche Gegenleistung den steuerlichen Buchwert des eingebrachten Betriebsvermögens nicht übersteigt24. In der Praxis wird aus diesem Grunde der das Stammkapital der Übernehmerin überschießende Buchwertanteil in Einbringungsfällen entweder als Kapitalrücklage25 oder aber als Gesellschafterdarlehen ausgewiesen. In der gesellschaftsrechtlichen Literatur ist nicht abschließend geklärt, ob im Zuge eines Formwechsels im Sinne des § 190 UmwG überhaupt eine Darlehensgewährung möglich ist, da der den Nominalbetrag des Stamm- oder Grundkapitals des neuen Rechtsträgers übersteigende Buchwert des übergehenden Vermögens zwingend in die Kapitalrücklage eingestellt werden muss. Die Einbuchung eines Darlehens wäre nach dieser Auffassung nur in der Weise möglich, dass nach dem Formwechsel die Kapitalrücklage aufgelöst und der Ausschüttungsbetrag als Darlehen der Gesellschafter an die Gesellschaft gewährt wird26. Andererseits können nach der herrschenden Auffassung die Gesellschafter nach ihrem Ermessen auch bei einem Formwechsel frei bestimmen, ob die das Stammkapital übersteigenden Beträge in die Rücklagen eingestellt, als Darlehen behandelt oder an die Gesellschafter ausgekehrt werden27.

___________ 23 Nach Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, § 25 Anm. 27 wird die Voraussetzung „neue Anteile an der Gesellschaft“ durch den Formwechsel ersetzt. Nach Rabback in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, Umwandlungssteuergesetz, § 25 UmwStG, Anm. 60 ist diese Voraussetzung bei einem Formwechsel im Sinne des § 190 UmwG erfüllt, da anlässlich des Formwechsels wegen des Neuentstehens der aufnehmenden Kapitalgesellschaft neue Anteile begründet und ausgegeben werden. 24 Eine entsprechende Auswirkung ist in diesen Fällen gemäß § 20 Abs. 2 Satz 4 und Abs. 3 Satz 3 UmwStG bei der Ermittlung der Anschaffungskosten der erhaltenen Anteile zu berücksichtigen. 25 Soweit der Betrag in die Kapitalrücklage eingestellt wird, erhöht sich das steuerliche Einlagekonto im Sinne des § 27 KStG. 26 Vgl. hierzu Vossius in Widmann/Mayer, § 220 UmwG, Anm. 55 mit Hinweis auf den Entwurf eine Verlautbarung des HFA v. 12.12.195, WPg 1996, 71 (72). S. auch Patt, EStB 2009, 350. 27 Vgl. Joost in Lutter, UmwG, § 218 Anm. 9 m.w.N.; Jaensch in Kessler/Kühnberger (Hrsg.), Umwandlungsrecht, § 220 Anm. 6.

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Sollte sich die erste Meinung durchsetzen, so wäre die dem Formwechsel nachfolgende Umbuchung der Kapitalrücklage in ein Darlehen ggf. als Ausschüttung oder Rückzahlung aus dem steuerlichen Einlagekonto zu sehen. Dies ist wiederum gemäß § 22 Abs. 1 Satz 6 Nr. 3 UmwStG innerhalb von sieben Jahren nach dem Formwechsel ein Ersatztatbestand, der zur nachträglichen Versteuerung eines Einbringungsgewinns führen würde28. Aufgrund der unklaren Rechtslage sollte bei einem Formwechsel aus Vorsichtsgründen die Darlehensgewährung nicht im Zuge des Formwechsels erfolgen, da diese ggf. zur Bildung und Ausschüttung eines steuerlichen Einlagekontos führen könnte. Die Bildung des steuerlichen Einlagekontos kann z.B. durch die Entnahme von liquiden Mitteln aus der Personengesellschaft vor dem steuerlichen Übertragungsstichtag verhindert werden, ohne die steuerliche Buchwerteinbringung zu gefährden. Die Barmittel können anschließend der Kapitalgesellschaft als Darlehen zur Verfügung gestellt werden29. Die Bildung eines steuerlichen Einlagekontos kann auch dadurch verhindert werden, dass vor dem steuerlichen Übertragungsstichtag Beträge vom Kapitalkonto oder Rücklagenkonto bei der Personengesellschaft auf ein Darlehenskonto des bzw. der Gesellschafter umgebucht wird. Hierbei sollten aus Dokumentationsgründen ggf. erforderliche Gesellschafterbeschlüsse gefasst und das neue Darlehensverhältnis durch den Abschluss von Darlehensverträgen zwischen der Gesellschaft und dem Gesellschafter festgehalten werden. Auch ist die in der Regel im Gesellschaftsvertrag der Personengesellschaft geregelte Definition der Kapital- und Darlehenskonten zu beachten.

IV. Auswirkungen des Formwechsels auf bestehende Behaltefristen 1. Übertragungen nach § 6 Abs. 3 EStG Wird ein Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil unentgeltlich übertragen, so sind gemäß § 6 Abs. 3 EStG die Buchwerte fortgeführt werden. Die Buchwertfortführung ist gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 EStG auch dann möglich, wenn der bisherige Betriebsinhaber (Mitunternehmer) Wirtschaftsgüter, die weiterhin zum Betriebsvermögen derselben Mitunternehmerschaft gehören, nicht überträgt, sofern der Rechtsnachfolger den übernommenen Mitunternehmeranteil fünf Jahre nicht veräußert oder aufgibt. Kommt es durch den Rechtsnachfolger zu einer solchen Veräußerung oder Aufgabe innerhalb des Zeitraumes von fünf Jahren, so kommt es beim Übertragenden nachträglich zur Aufdeckung und Versteuerung der im Übertragungszeitpunkt vorhandenen stillen Reserven. Nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob und inwieweit die Buchwerteinbringung nach § 20 bzw. der Formwechsel nach § 25 UmwStG in eine Kapitalgesellschaft eine schädliche Veräußerung im Sinne des § 6 Abs. 3 Satz 2 EStG darstellen kann30. Die Finanzverwaltung geht beim Formwechsel von einer Veräußerung aus, sieht sie aber als unschädlich an, wenn die im Gegen-

___________ 28 Patt, EStB 2009, 350. Vgl. zur Kritik Willibald/Ege, DStZ 2009, 83. 29 Vgl. Patt, EStB 2009, 359. 30 Vgl. Schmidt/Glanegger, EStG 2010, § 6 Anm. 485.

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zug erworbenen Anteile an der neuen Kapitalgesellschaft über die 5-Jahresfrist gehalten werden31. In derartigen Fällen ist es somit erforderlich, dass auch nach dem Formwechsel die Einhaltung der Fristen überwacht wird. 2. Übertragungen nach § 6 Abs. 5 EStG a) Vorbemerkung Gemäß. § 6 Abs. 5 EStG können einzelne Wirtschaftsgüter zwischen den verschiedenen Betriebsvermögensbereichen bei Personengesellschaften zu Buchwerten übertragen werden. § 6 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 EStG betreffen die Überführung zwischen Betriebsvermögensbereichen desselben Steuerpflichtigen. Bei diesen Übertragungen sind nach der Übertragung keine besonderen Sperrfristen zu beachten. § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG betrifft dagegen die Buchwertfortführung bei der Übertragung einzelner Wirtschaftsgüter zwischen Betriebsvermögensbereichen, die nicht demselben Steuerpflichtigen gehören. Da es in den in § 6 Abs. 5 Satz 3 Nrn. 1 bis 3 EStG genannten Fällen zur Übertragung von stillen Reserven zwischen verschiedenen Steuerpflichtigen kommt, sieht § 6 Abs. 5 Sätze 4 bis 6 EStG die folgenden Sperrfristen vor: b) § 6 Abs. 5 Satz 4 EStG Wird das übertragene Wirtschaftsgut innerhalb einer Sperrfrist veräußert oder entnommen, ist gemäß § 6 Abs. 5 Satz 4 EStG rückwirkend auf den Zeitpunkt der Übertragung der Teilwert anzusetzen, es sei denn, die bis zur Übertragung entstandenen stillen Reserven sind durch die Erstellung einer Ergänzungsbilanz dem übertragenden Gesellschafter zugeordnet worden; diese Sperrfrist endet drei Jahre nach Abgabe der Steuererklärung für das Übertragungsjahr. Wird das Wirtschaftsgut innerhalb dieser Frist entnommen oder veräußert, geht das Gesetz unwiderlegbar davon aus, dass die Übertragung nicht der Umstrukturierung, sondern der Vorbereitung der Veräußerung oder Entnahme diente. Dann ist rückwirkend (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO) der Teilwert anzusetzen32. Es stellt sich damit die Frage, ob der Formwechsel der Personengesellschaft, in deren Gesamthandsvermögen das einzelne Wirtschaftsgut überführt wurde, innerhalb der oben genannten Sperrfrist eine schädliche Veräußerung oder Entnahme darstellt. Aufgrund der Rechtsträgeridentität des Formwechsels im Sinne des § 190 UmwG stellt u.E. der Formwechsel keine Veräußerung im Sinne des § 6 Abs. 5 Satz 4 EStG dar. Die in § 25 UmwStG enthaltene Vermögensübertragungsfiktion ist lediglich erforderlich, um die beim heterogenen Formwechsel eintretenden Änderungen im Besteuerungssystem von Personengesellschaften einerseits und Kapitalgesellschaften andererseits zu berücksichtigen. Die Vermögensübertragungsfiktion geht dagegen nicht soweit, dass durch den Verweis in § 25 UmwStG auf die entsprechende Anwendung der

___________ 31 Vgl. BMF-Schreiben v. 3.3.2005 – IV B 2 - S 2241 - 14/05, BStBl. I 2005, 458, Rz. 13. 32 Vgl. Kulosa in Schmidt, EStG 2010, § 6 Anm. 711; BR-Drucks. 638/01, S. 50.

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§§ 20 bis 23 UmwStG ein allgemeiner Veräußerungstatbestand beim Formwechsel begründet wird. Selbst wenn man entgegen der vorstehenden Auffassung den Formwechsel als Veräußerung ansehen würde, wäre es nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 6 Abs. 5 Satz 4 EStG, Vermeidung einer erfolgsneutralen Verlagerung von stillen Reserven auf einen anderen Rechtsträger als Veräußerungsvorbereitung, durchaus vertretbar, die Sperrfrist nicht auf solche Transaktionen anzuwenden, für die selbst wiederum eine Buchwertfortführung zugelassen ist33. Die Buchwertfortführung wird nämlich für die verschiedenen Umstrukturierungsmaßnahmen in der Regel gerade zugelassen, da auch nach der Umstrukturierung bzw. Transaktion von einer Unternehmensfortführung ausgegangen wird. Auch sind diese erfolgsneutralen Umstrukturierungen in vielen Fällen selber wieder mit Sperrfristen bzw. Nachversteuerungstatbeständen verbunden. Auch wenn eine ausdrückliche Stellungnahme der Finanzverwaltung zu dieser Frage nicht vorliegt, wird man wohl davon ausgehen müssen, dass die Finanzverwaltung den Formwechsel als schädliche Veräußerung im Sinne des § 6 Abs. 5 Satz 4 EStG ansieht34. c) § 6 Abs. 5 Satz 5 und 6 EStG Gemäß § 6 Abs. 5 Satz 5 EStG ist bei einer Übertragung von einzelnen Wirtschaftsgütern zwischen den in § 6 Abs. 5 Satz 3 Nrn. 1 bis 3 EStG genannten Betriebsvermögensbereichen bei Personengesellschaften nicht der Buchwert, sondern der Teilwert anzusetzen, soweit durch die Übertragung des Wirtschaftsguts der Anteil einer Körperschaft an dem Wirtschaftsgut unmittelbar oder mittelbar begründet wird oder dieser sich erhöht. Gemäß § 6 Abs. 5 Satz 6 EStG ist rückwirkend auf den Zeitpunkt der Übertragung der Teilwert auch dann anzusetzen, soweit innerhalb von sieben Jahren nach der Übertragung des Wirtschaftsguts der Anteil einer Körperschaft an dem übertragenen Wirtschaftsgut aus einem anderen Grund (als die Übertragung des Wirtschaftsguts) nachträglich unmittelbar oder mittelbar begründet wird oder sich erhöht35. Ein anderer Grund im vorstehenden Sinne ist u.a. auch der Formwechsel einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft, sodass ein solcher Formwechsel innerhalb der siebenjährigen Behaltefrist zur nachträglichen Versteuerung der in dem übertragenen Wirtschaftsgut steckenden stillen Reserven führt. Dies betrifft zunächst den Formwechsel der Personengesellschaft, die

___________ 33 Vgl. Strahl in Korn, § 6 EStG, Anm. 502.2. Vgl. auch Niehus/Wilke in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 6 EStG, Anm. 1469a. 34 Vgl. zur Realteilung BMF-Schreiben v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228; Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, Umwandlungssteuerrecht, § 25 Anm. 48. 35 Es kommt in diesen Fällen nachträglich zu einer vollen Besteuerung der im Übertragungszeitpunkt vorhandenen stillen Reserven. Anders als in § 22 Abs. 1 Satz 2 ff. UmwStG kommt es somit nicht zu einer Abschmelzung der nachträglich zu versteuernden stillen Reserven um jeweils 1/7 pro abgelaufenem Jahr.

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das einzelne Wirtschaftsgut aufgenommen hat. In diesen Fällen kommt es zu einer 100%igen Nachversteuerung der stillen Reserven. Ein Verstoß gegen die Behaltefrist des § 6 Abs. 5 Satz 6 EStG liegt auch dann vor, wenn nicht die aufnehmende Personengesellschaft selbst, sondern ein unmittelbarer oder mittelbarer Gesellschafter dieser Personengesellschaft durch Formwechsel von einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft umgewandelt wird. In diesen Fällen erfolgt die Nachversteuerung entsprechend der Beteiligungsquote. Bei dem Formwechsel einer Konzern-MutterPersonengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft muss somit auf allen nachgelagerten Konzernstufen geprüft werden, ob es Übertragungen von einzelnen Wirtschaftsgütern im Sinne des § 6 Abs. 5 Satz 3 Nrn. 1 bis 3 EStG gegeben hat, bei denen die Sperrfrist noch nicht abgelaufen ist. 3. Realteilung gemäß § 16 Abs. 3 Satz 3 EStG Soweit bei einer Realteilung, bei der einzelne Wirtschaftsgüter übertragen worden sind, zum Buchwert übertragener Grund und Boden, übertragene Gebäude oder andere wesentliche Betriebsgrundlagen innerhalb einer Sperrfrist nach der Übertragung veräußert oder entnommen werden, ist für den jeweiligen Übertragungsvorgang gemäß § 16 Abs. 3 Satz 3 EStG rückwirkend der gemeine Wert anzusetzen36. Diese Sperrfrist endet drei Jahre nach der Abgabe der Steuererklärung der Mitunternehmerschaft für den Veranlagungszeitraum der Realteilung. Nach Auffassung der Finanzverwaltung37 ist eine Veräußerung grundsätzlich auch eine Einbringung der im Rahmen der Realteilung erhaltenen einzelnen Wirtschaftsgüter, wenn sie zusammen mit einem Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil nach §§ 20, 24 UmwStG eingebracht werden, unabhängig davon, ob die Buchwerte, Teilwerte oder Zwischenwerte angesetzt werden. Als Veräußerung gilt nach Auffassung der Finanzverwaltung auch ein Formwechsel nach § 25 UmwStG. U.E. ist der Formwechsel aufgrund seiner Rechtsträgeridentität keine Veräußerung im Sinne des § 16 Abs. 3 Satz 3 EStG38. Die in § 25 UmwStG enthaltene Vermögensübertragungsfiktion ist lediglich erforderlich, um die beim heterogenen Formwechsel eintretenden Änderungen im Besteuerungssystem von Personengesellschaften einerseits und Kapitalgesellschaften andererseits zu berücksichtigen. Die Vermögensübertragungsfiktion geht dagegen nicht soweit, dass durch den Verweis in § 25 UmwStG auf die entsprechende Anwendung der §§ 20 bis 23 UmwStG ein allgemeiner Veräußerungstatbestand beim Formwechsel begründet wird. Auch handelt es sich bei einem Formwechsel um eine Fortführung des bisherigen unternehmerischen Engagements

___________ 36 Bei einer Realteilung durch Übertragung von Betrieben, Teilbetrieben oder Mitunternehmeranteilen ist die Sperrfrist dagegen unbeachtlich, vgl. BMF-Schreiben v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228. 37 Vgl. BMF-Schreiben v. 28.2.2006 – IV B 2 - S 2242 - 6/06, BStBl. I 2006, 228. 38 Vgl. hierzu z.B. Schell, BB 2006, 1026 (1029); Rogall/Stangl, FR 2006, 345 (356); Hörger/Rap in Littmann/Bitz/Pust, § 16 EStG, Anm. 194; Kulosa in Herrmann/ Heuer/Raupach, § 16 EStG, Anm. 461.

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lediglich in einem anderen Rechtskleid. Durch die Sperrfrist des § 16 Abs. 3 Satz 2 ff. EStG sollen nach der Gesetzesbegründung dagegen aber Veräußerungen und Entnahmen erfasst werden, die mit einer Beendigung des unternehmerischen Engagements verbunden sind39. Ferner ist nicht ersichtlich, warum Vorschriften wie § 16 Abs. 3 Satz 2 EStG und § 25 UmwStG, mit deren Hilfe erfolgsneutrale Umstrukturierungen erleichtert werden sollen, sich bei der Erreichung ihres gleichlautenden Gesetzeszweckes gegenseitig behindern sollen. So sollte auf jeden Fall bei einem ertragsteuerneutralen Formwechsel (Buchwertansatz gemäß § 25 i.V.m. § 20 UmwStG) keine Veräußerung im Sinne des § 16 Abs. 3 Satz 3 EStG vorliegen. Es wäre ausreichend, wenn die Sperrfrist nach dem Formwechsel bei der Kapitalgesellschaft einfach weiterlaufen würde40. Weiterhin ist zu sehen, dass die Behaltefrist des § 16 Abs. 3 Satz 3 und 4 EStG anders als § 6 Abs. 5 Satz 6 EStG keine nachlaufende Körperschaftsklausel enthält. Auch hierdurch wird ersichtlich, dass der Gesetzgeber einen der Realteilung nachfolgenden Formwechsel der übernehmenden Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft nicht als schädlichen Vorgang der Sperrfrist gesehen hat. 4. Nachversteuerung gemäß § 34a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 EStG Gemäß § 34a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 EStG ist eine Nachversteuerung des nachversteuerungspflichtigen Betrags nach Abs. 4 in den Fällen der Einbringung eines Betriebs oder Mitunternehmeranteils in eine Kapitalgesellschaft oder eine Genossenschaft sowie in den Fällen des Formwechsels einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft durchzuführen. Dies gilt ungeachtet dessen, ob die Umwandlung zum Buchwert, Zwischenwert oder gemeinem Wert vollzogen wird. Diese Nachversteuerung wird nach ganz herrschender Meinung als „Umwandlungsbremse“ oder Umwandlungshemmnis gesehen41, da nach einer umfassenden Nutzung der Thesaurierungsbegünstigung aufgrund der Nachversteuerungspflicht und der damit verbundenen Liquiditätsbelastung in vielen Fällen ein Formwechsel nicht möglich sein wird42. Vor der erstmaligen Inanspruchnahme der Thesaurierungsbegünstigung sollte somit vorsorglich überprüft werden, ob in absehbarer Zeit ein Formwechsel in eine Kapitalgesellschaft geplant ist.

___________ 39 Vgl. BT-Drucks. 14/688 v. 10.9.2001, S. 34; BR-Drucks. 638/01 v. 17.8.2001, S. 50; vgl. auch den Hinweis bei Rogall/Stangl, FR 2005, 356. 40 Vgl. auch Schiffers in FS Herzig, Unternernehmens-Besteuerung, München 2010, S. 835. 41 Vgl. Wacker in Schmidt, EStG 2010, § 34a Anm. 77 m.w.N.; Cordes, WPg 2007, 526. Zu den verschiedenen gesetzgeberischen Lösungsansätzen vgl. Schiffers in FS Herzig, S. 828 f. Als vergleichsweise einfache Hilfslösung wird eine Erweiterung der Stundung über § 34a Abs. 6 Satz 2 EStG hinaus vorgeschlagen. 42 Die Stundungsmöglichkeit des § 34a Abs. 6 Satz. 2 EStG dürfte wegen der Voraussetzung „erhebliche Härte“ für den Steuerpflichtigen nur selten genutzt werden können.

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Existiert bei der Personengesellschaft ein nachversteuerungspflichtiger Betrag, könnte ggf. durch dem Formwechsel vorgeschaltete Umstrukturierungsmaßnahmen der nachversteuerungspflichtige Betrag in ein anderes Betriebsvermögen verlagert werden. Zunächst wäre an den – nicht unumstrittenen – Weg der Einbringung des Betriebs oder Mitunternehmeranteils zu Buchwerten gemäß § 24 UmwStG in eine Tochter-Personengesellschaft zu denken. Gemäß § 34a Abs. 7 Satz 2 EStG geht der für den eingebrachten Betrieb oder Mitunternehmeranteil festgestellte nachversteuerungspflichtige Betrag auf den neuen Mitunternehmeranteil über43. Eine dem Formwechsel vorgeschaltete Verlagerung des nachversteuerungspflichtigen Betrags mag in Einzelfällen auch durch die Antragstellung nach § 34a Abs. 5 Satz 2 EStG möglich sein. 5. Weitere Behaltefristen sowie abschließende Hinweise zu den Behaltefristen Neben den vorstehend kurz aufgezeigten Behaltefristen sind noch eine Vielzahl weiterer Fristen zu beachten, bei deren Missachtung es durch den Formwechsel zu einem rückwirkenden Verlust von Steuervergünstigungen kommen kann. Zu nennen ist z.B. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG (mitunternehmerische Unterbeteiligung an dem Personengesellschaftsanteil), § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG (Versorgungsleistung i.V.m. der Übertragung eines Mitunternehmeranteils), § 18 Abs. 3 UmwStG (Veräußerung eines umwandlungsgeborenen Mitunternehmeranteils), § 24 Abs. 5 UmwStG (rückwirkende Besteuerung eines Einbringungsgewinns, soweit Anteile an Körperschaften betroffen sind)44. Vor der Durchführung eines Formwechsels muss somit sorgfältig überprüft werden, ob der Formwechsel zu einem rückwirkenden Verlust von Steuervergünstigungen führt. Hierbei muss ferner beachtet werden, dass der Verstoß gegen die Behaltefrist zu einer interpersonellen Verlagerung der Steuerbelastung führen kann; so z.B. in den Fällen des § 6 Abs. 5 Satz 6 EStG (rückwirkender Teilwertansatz trifft den Steuerpflichtigen, der das einzelne Wirtschaftsgut übertragen hat) oder auch des § 16 Abs. 3 Satz 3 EStG (rückwirkender Ansatz des gemeinen Wertes trifft die realgeteilte Personengesellschaft bzw. deren Gesellschafter). Neben der Prüfung eines etwaigen Verstoßes gegen eine Behaltefrist muss somit auch geprüft werden, welche Steuerpflichtigen letztlich von der nachträglich entstehenden Steuerbelastung betroffen sind. Hierbei sind auch etwaige Vereinbarungen zwischen den Beteiligten zum Ausgleich fremdbestimmter Steuerwirkungen zu berücksichtigen. Im Einzelfall kann diese interpersonelle Verlagerung auch für Gestaltungszwecke genutzt werden. Zu denken ist z.B. an die nachträgliche Realisierung einer Ertragsteuerbelastung nach Eintritt eines Erbfalls, aber noch in der steuerlichen Sphäre des Erblassers zur Nutzung eines ansonsten durch den Erbfall untergehenden steuerlichen Verlustvortrags45.

___________ 43 Vgl. Ley, Ubg 2008, 218; Schiffers in FS Herzig, S. 828. 44 Vgl. zu einer Zusammenstellung Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, Umwandlungssteuerrecht, § 25 UmwStG, Anm. 48. 45 Vgl. hierzu Söffing, A., StbJb. 2008/2009, S. 138 ff. m.w.N.

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V. Durch den Formwechsel neu entstehende Behaltefristen 1. § 22 Abs. 1 UmwStG (Einbringungsgewinn I) Nach dem Formwechsel unterliegt die Veräußerung der Anteile an der neuen Kapitalgesellschaft durch eine natürliche Person grundsätzlich dem sog. Teileinkünfteverfahren, d.h. ein Veräußerungsgewinn bzw. -verlust ist steuerlich gemäß § 3 Nr. 40 EStG nur zu 60% zu berücksichtigen. Bei einer Veräußerung innerhalb der sieben Jahre nach dem steuerlichen Übertragungsstichtag des Formwechsels kommt es jedoch gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1 ff. UmwStG zu einer rückwirkenden Besteuerung des Formwechsels. Besteuert wird in diesem Fall ein Einbringungsgewinn (sog. Einbringungsgewinn I) in Höhe der zum Stichtag des Formwechsels bestehenden stillen Reserven abzüglich jeweils 1/7 der stillen Reserven für jedes bereits abgelaufene Jahr (Abschmelzung des Einbringungsgewinns im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 3 UmwStG) soweit der Einbringungsgewinn nicht auf mit eingebrachte Anteile an Kapitalgesellschaften entfällt46. Der Einbringungsgewinn ist als laufender Gewinn zu versteuern47. Die im Veräußerungszeitpunkt bereits abgeschmolzenen stillen Reserven sowie nach dem steuerlichen Übertragungsstichtag entstandene stille Reserven unterliegen als Veräußerungsgewinn wiederum dem Teileinkünfteverfahren. Die rückwirkende Besteuerung führt zu keiner Zinsbelastung, da der Zinslauf erst 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres beginnt, in dem das rückwirkende Ereignis (Verkauf der Anteile) eingetreten ist48. Ferner erhöht der Einbringungsgewinn I gemäß § 22 Abs. 1 Satz 4 UmwStG die steuerlichen Anschaffungskosten der Anteile an der neuen Kapitalgesellschaft, sodass es insoweit nicht zu einer doppelten steuerlichen Erfassung der stillen Reserven kommt. Besonders nachteilig wirkt sich dagegen eine Veräußerung der Anteile an der neuen Kapitalgesellschaft innerhalb der sieben Jahresfrist aus, wenn in der Zeit zwischen dem steuerlichen Übertragungsstichtag und dem Veräußerungszeitpunkt Wertverluste eingetreten sind. Zu der eine rückwirkende Besteuerung des Formwechsels auslösenden Veräußerung der Anteile an der neuen Kapitalgesellschaft gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 UmwStG enthalten § 22 Abs. 1 Satz 6 Nrn. 1 bis 6 UmwStG eine Vielzahl von Ersatztatbeständen. Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 6 Nr. 1 UmwStG kommt es zu einer rückwirkenden Besteuerung des Formwechsels, wenn der Einbringende die erhaltenen Anteile unmittelbar oder mittelbar unentgeltlich auf eine Kapitalgesellschaft überträgt. Hiervon erfasst werden z.B. verdeckte Einlagen, verdeckte Gewinnausschüttungen, Realteilungen oder auch unentgeltliche Übertragungen gemäß § 6 Abs. 3 und Abs. 5 EStG49. Die verdeckte Einlage in das Betriebsvermögen einer Personengesellschaft wird von § 22 Abs. 1 Satz 6 Nr. 1 UmwStG nicht

___________ 46 Vgl. § 22 Abs. 1 Satz 5 UmwStG. 47 D.h., die Vergünstigungen des § 16 Abs. 4 sowie § 34 EStG können nicht genutzt werden, vgl. § 22 Abs. 1 Satz 1 letzter Hs. UmwStG. 48 Vgl. § 233a Abs. 2a AO. 49 Vgl. zu weiteren Fällen Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, Umwandlungssteuerrecht, § 22 Anm. 40.

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erfasst. Es muss jedoch bei der aufnehmenden Personengesellschaft anhand der im Gesellschaftsvertrag vorhandenen Kapitalkontendefinition sorgfältig geprüft werden, ob es sich tatsächlich um einen unentgeltlichen Vorgang handelt. Auch dürfen an der aufnehmenden Personengesellschaft keine Kapitalgesellschaften beteiligt sein. Werden die sperrfristbehafteten Anteile entgeltlich übertragen, so löst dies grundsätzlich die rückwirkende Besteuerung des Formwechsels aus. Hierbei geht die Finanzverwaltung wohl von einer weiten Auslegung des Veräußerungsbegriffs im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 UmwStG aus, sodass auch sämtliche Einbringungs- und Umwandlungsvorgänge eine rückwirkende Besteuerung auslösen50. Zu einer nachträglichen Besteuerung des Formwechsels kommt es jedoch gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UmwStG nicht, wenn der Einbringende nachweist, dass die durch den Formwechsel erhaltenen Anteile an der Kapitalgesellschaft im Wege der Sacheinlage (§ 20 Abs. 1 UmwStG), des Anteilstausches (§ 21 Abs. 1 UmwStG) oder durch einen vergleichbaren ausländischen Vorgang zum Buchwert übertragen wurden. Dem Vernehmen nach will die Finanzverwaltung aus Billigkeitsgründen auch bei anderen Umwandlungsvorgängen zu Buchwerten auf übereinstimmenden Antrag aller Personen51, bei denen ansonsten ein Einbringungsgewinn rückwirkend zu versteuern wäre, von einer rückwirkenden Einbringungsgewinnbesteuerung absehen, wenn (1.) hinsichtlich der sperrfristbehafteten Anteile eine Statusverbesserung nicht eintritt (d.h. die Besteuerung des Einbringungsgewinns nicht verhindert wird) und (2.) sich keine stillen Reserven von den sperrfristbehafteten Anteilen auf Anteile eines Dritten verlagern und (3.) deutsche Besteuerungsrechte nicht ausgeschlossen oder eingeschränkt werden und (4.) die Antragsteller sich damit einverstanden erklären, dass auf alle unmittelbaren oder mittelbaren Anteile an einer an der Umwandlung beteiligten Gesellschaft § 22 Abs. 1 Satz 6 und Abs. 2 Satz 6 UmwStG entsprechend anzuwenden ist52. Werden die Anteile an der neuen Kapitalgesellschaft im Wege der vorweggenommenen Erbfolge übertragen, so stellt dies keine schädliche Veräußerung innerhalb der Sperrfrist dar. Allerdings hat der Rechtsnachfolger gemäß § 22 Abs. 6 UmwStG die Frist weiterhin zu beachten. Der Rechtsnachfolger gilt als Einbringender. Im Schenkungs- oder Übertragungsvertrag sollten daher auch entsprechende Regelungen für einen etwaigen Verstoß gegen die Frist durch den Rechtsnachfolger aufgenommen werden, weil ein Verstoß zu einer Nachversteuerung beim Rechtsvorgänger führen kann.

___________ 50 Vgl. Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, Umwandlungssteuerrecht, § 22 Anm. 41; s. zur Diskussion der verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten Stangl in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, Umwandlungssteuergesetz, § 22 Anm. 51 ff. 51 Fraglich ist, ob wirklich ein abgestimmtes Verhalten aller Betroffenen erforderlich sein sollte. 52 Vgl. zur Diskussion der einzelnen Voraussetzungen auch Körner, DStR 2010, 898 ff.

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2. § 22 Abs. 2 UmwStG (Einbringungsgewinn II) Neben der sieben Jahresfrist für den Einbringungsgewinn I wird eine weitere sieben Jahresfrist im Hinblick auf Anteile an Kapitalgesellschaften ausgelöst, welche im Zuge des Formwechsels unmittelbar oder mittelbar auf die neue Kapitalgesellschaft übergehen. Es handelt sich somit um Anteile an Kapitalgesellschaften, die bereits vor dem Formwechsel von der Personengesellschaft oder nachgelagerten Tochter-Personengesellschaften gehalten werden. Werden diese Anteile innerhalb der Sperrfrist veräußert oder wird einer der Ersatztatbestände erfüllt, kommt es insoweit ebenfalls zu einer rückwirkenden Besteuerung des Formwechsels (sog. Einbringungsgewinn II). Grundsätzlich greift hier der gleiche Besteuerungsmechanismus wie bei einem Einbringungsgewinn I. Sollen somit innerhalb der Sperrfrist auf der Ebene der neuen Kapitalgesellschaft oder auf nachgelagerten Konzernstufen Veräußerungen oder Umstrukturierungen vorgenommen werden, muss sorgfältig auf allen Konzernstufen geprüft werden, ob hierdurch ein Einbringungsgewinn II nachträglich versteuert werden muss. 3. § 22 Abs. 3 UmwStG (Nachweispflicht) Nach Durchführung des Formwechsels ist weiterhin die Nachweispflicht des § 22 Abs. 3 UmwStG zu beachten. Nach dieser Vorschrift ist der Einbringende verpflichtet, jährlich bis zum 31. Mai nachzuweisen, wem die sperrfristbehafteten Anteile an dem Tag, der dem maßgebenden Einbringungszeitpunkt entspricht, zuzurechnen sind. Erfolgt kein Nachweis, gelten die betroffenen Anteile als veräußert, sodass es auch in diesen Fällen zu einer nachträglichen Besteuerung des Formwechsels kommt. Diese massiven Konsequenzen bei einem Verstoß gegen die Nachweispflicht werden in der Praxis dadurch relativiert, dass nach Auffassung der Finanzverwaltung eine nachträgliche Erfüllung der Nachweispflicht noch möglich ist. Erbringt der Einbringende den Nachweis erst nach Ablauf der Frist, können die Angaben nämlich noch berücksichtigt werden, wenn eine Änderung der betroffenen Bescheide verfahrensrechtlich noch möglich ist. Dies bedeutet, dass im Falle eines Rechtsbehelfsverfahrens der Nachweis längstens noch bis zum Abschluss des Klageverfahrens erbracht werden kann53.

VI. Auswirkungen auf bestehende Verlustvorträge 1. Ebene der Gesellschafter Verfügen die Gesellschafter der formwechselnden Personengesellschaft über einkommensteuerliche Verlustvorträge, so stehen diese nicht der Personengesellschaft, sondern den hinter der Personengesellschaft stehenden Mitunternehmern zu. Demzufolge gehen diese Verlustvorträge nicht mit auf die Kapi-

___________ 53 Vgl. hierzu BMF-Schreiben v. 4.9.2007 – IV B 2 - S 1909/07/0001, 2007/0393329, BStBl. I 2007, 698. Vgl. zu dieser Nachweispflicht auch Söffing/Lange, DStR 2007, 1607.

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talgesellschaft über54. Bei den Mitunternehmern bzw. zukünftigen Kapitalgesellschaftern können diese Verlustvorträge mit anderen positiven Einkünften verrechnet werden. Eine Verrechnung mit Dividenden aus der übernehmenden Kapitalgesellschaft ist dagegen im Anwendungsbereich der Abgeltungssteuer gemäß § 20 Abs. 6 Satz 2 EStG nicht möglich. Allenfalls könnte in diesen Fällen zur Anwendung des Teileinkünfteverfahrens optiert werden55. Verfügt der Kommanditist der formzuwechselnden Personengesellschaft über einen verrechenbaren Verlust im Sinne des § 15a EStG, so geht dieser durch den Formwechsel nicht mit auf die Kapitalgesellschaft über. Eine zukünftige Nutzung des verrechenbaren Verlustes im Sinne des § 15a EStG geht somit durch den Formwechsel verloren. Kommt es im Rahmen des Formwechsels zur Realisierung eines Einbringungsgewinns beim Kommanditisten, kann ein Verlust im Sinne des § 15a EStG mit diesem Einbringungsgewinn verrechnet werden56. Vor dem Formwechsel könnten die bekannten Maßnahmen zur Mobilisierung des verrechenbaren Verlustes im Sinne des § 15a EStG genutzt werden, um diesen dann auf der Ebene des Gesellschafters als Verlustvortrag zukünftig nutzen zu können. 2. Ebene der formwechselnden Gesellschaft Existiert bei der formwechselnden Personengesellschaft ein Fehlbetrag im Sinne des § 10a GewStG, so geht dieser gemäß § 25 Satz 1 i.V.m. § 23 Abs. 5 UmwStG nicht auf die übernehmende Kapitalgesellschaft über. Eine Fortführung eines Verlustvortrags nach § 10a GewStG bei der durch den Formwechsel entstandenen Kapitalgesellschaft ist nicht möglich. Da beim Formwechsel anders als bei Einbringungsfällen, die übertragende Personengesellschaft nicht mehr existiert, kann auch dort der Verlustvortrag nicht mehr genutzt werden, sodass dieser durch den Formwechsel vollständig verloren geht. Beachtlich ist jedoch, dass ohne die Existenz von Verlustvorträgen im konkreten Einzelfall beim Gesellschafter der Personengesellschaft die Anrechnung des § 35 EStG genutzt werden könnte, sodass sich die Ertragsteuerbelastung des Gesellschafters durch die Existenz von gewerbesteuerlichen Verlusten nicht unbedingt verbessern muss (im Einzelfall sogar verschlechtern kann). Der Untergang der Verlustvorträge durch den Formwechsel muss somit nicht in allen Fällen ein Argument gegen den Formwechsel in die Kapitalgesellschaft sein. 3. Ebene von Tochtergesellschaften Ist die formzuwechselnde Personengesellschaft an Tochter-Personengesellschaften beteiligt (doppelstöckige Personengesellschaft), welche über einen

___________ 54 Vgl. Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, Umwandlungssteuerrecht, § 25 Anm. 51. 55 Vgl. Schiffers in FS Herzig, S. 831. 56 Vgl. Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, Umwandlungssteuerrecht, § 25 Anm. 51.

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Fehlbetrag im Sinne des § 10a GewStG verfügen, so gehen diese durch den Formwechsel der Obergesellschaft nicht verloren. Als Begründung kann angeführt werden, dass bei einer mehrstöckigen Personengesellschaftsstruktur als Gesellschafter der Untergesellschaft die Obergesellschaft angesehen wird, und nicht die Gesellschafter der Obergesellschaft, sodass durch den Formwechsel die Identität des Gesellschafters an der Untergesellschaft gewahrt bleibt57. Ist die formzuwechselnde Personengesellschaft an Tochter-Kapitalgesellschaften beteiligt, welche über gewerbesteuerliche und/oder körperschaftsteuerliche Verlustvorträge verfügen, so gehen u.E. auch diese durch den Formwechsel der Obergesellschaft nicht verloren. Zwar ordnet § 8c KStG für bestimmte Fälle der Übertragung von gezeichnetem Kapital, Mitgliedschafts- oder Beteiligungsrechten oder Stimmrechten an einer Kapitalgesellschaft sowie beim Vorliegen vergleichbarer Sachverhalte einen Verlustuntergang an. Aufgrund der Rechtsträgeridentität des Formwechsel kann jedoch u.E. die zumindest ursprünglich als Missbrauchsvorschrift ausgestaltete Vorschrift des § 8c KStG keine Anwendung finden. So führt auch das BMF-Schreiben vom 4.6.2008 zu § 8c KStG aus: „Ein Formwechsel des Anteilseigners im Sinne des § 190 Abs. 1 UmwStG … bewirkt keine mittelbare Übertragung der Anteile an der nachgeordneten Körperschaft“. U.E. lassen sich keine Gründe anführen, nach denen dies nicht auch für einen unmittelbaren Anteilseignerwechsel gelten sollte58.

VII. Grunderwerbsteuerliche Aspekte Der Formwechsel einer grundbesitzhaltenden Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft ist sowohl nach Auffassung der Finanzverwaltung59 als auch nach Auffassung der Rechtsprechung60 nicht grunderwerbsteuerbar61. Gehört zum Vermögen einer Personengesellschaft ein inländisches Grundstück und ändert sich innerhalb von fünf Jahren der Gesellschafterbestand unmittelbar oder mittelbar dergestalt, dass mindestens 95% der Anteile am Gesellschaftsvermögen auf neue Gesellschafter übergehen, gilt gemäß § 1 Abs. 2a GrEStG dies als ein auf die Übereignung eines Grundstücks auf eine neue Personengesellschaft gerichtetes Rechtsgeschäft. Ist an der grundbesitzhaltenden Personengesellschaft als Gesellschafter eine Mutter-Personenge-

___________ 57 Vgl. OFD Düsseldorf v. 12.10.2000 – G 1422 A – St 131, GmbHR 2000, 1218; R 68 Abs. 3 Nr. 8 GewStR; Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, § 25 UmwStG, Rz. 54; Oenings, DStR 2008, 83; Kleinheisterkamp in Lenski/Steinberg, § 10a GewStG Rz. 75; Schiffers in FS Herzig, S. 831. 58 Vgl. auch Dötsch in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, § 8c KStG Rz. 38 f.; Roser in Gosch, § 8c KStG, Rn 37 und 56; Mössner/Seeger, § 8c KStG Rz. 70; Frotscher in Frotscher/Maas, § 8c KStG Rz. 27; Rödder/Möhlenbrock, Ubg 2008, 599. 59 Vgl. FinMin Baden-Württemberg v. 18.9.1997, DStR 1997, 156 und FinMin Baden Württemberg v. 19.12.1997, DB 1998, 167 IV 2. „Formwechselnde Umwandlungen unterliegen mangels Rechtsträgerwechsel nicht der Grunderwerbsteuer“ unter Hinweis auf die BFH-Rechtsprechung zum heterogenen Formwechsel. 60 Vgl. BFH v. 4.12.1996 – II B 116/96, BStBl. II 1997, 661. 61 Vgl. A. Söffing in Goutier/Knopf/Tulloch, Kommentar zum Umwandlungsrecht, § 14 UmwStG, Anm. 10 ff.

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sellschaft beteiligt, stellt sich somit die Frage, ob der Formwechsel der Mutter-Personengesellschaft eine Veränderung im Gesellschafterbestand im Sinne des § 1 Abs. 2a GrEStG darstellt. Da die Vorschrift des § 1 Abs. 2a GrEStG keine Änderungen der Beteiligungen am Gesellschaftsvermögen der Altgesellschafter untereinander erfasst, ist der Formwechsel eines Gesellschafters der grundbesitzhaltenden Personengesellschaft kein grunderwerbsteuerbarer Tatbestand im Sinne des § 1 Abs. 2a GrEStG62: Dies gilt sowohl für den homogenen als auch für den heterogenen Formwechsel63. Auch bei einer geringeren Beteiligung als 95% an einer grundbesitzhaltenden Personengesellschaft zählt der Formwechsel bei der Bestimmung der Änderungen im Gesellschafterbestand innerhalb der Fünf-Jahres-Frist des § 1 Abs. 2a Satz 1 GrEStG nicht mit64. Hat die formgewechselte Personengesellschaft fünf Jahre vor der Umwandlung Grundstücke auf ihre Tochter-Personengesellschaft grunderwerbsteuerfrei (§ 5 Abs. 3 GrEStG) übertragen, bleibt die Grunderwerbsteuerbefreiung trotz des Formwechsels erhalten, da durch den Formwechsel die gesamthänderische Mitberechtigung am übertragenen Grundstück in der Tochter-Personengesellschaft nicht verändert wird65. Ist die formzuwechselnde Personengesellschaft an einer grundbesitzhaltenden Kapitalgesellschaft beteiligt, stellt sich die Frage, ob der Formwechsel eine Anteilsvereinigung oder eine Übertragung bereits vereinigte Anteile im Sinne des § 1 Abs. 3 GrEStG darstellt. Aufgrund des identitätswahrenden Charakters des Formwechsels ist auch für diesen Fall ein grunderwerbsteuerbarer Tatbestand zu verneinen66. Werden Grundstücke von einem Gesellschafter auf die Personengesellschaft übertragen, kommt in der Regel die Befreiung gemäß § 5 Abs. 1 oder Abs. 2 GrEStG zur Anwendung. Erfolgt jedoch innerhalb von fünf Jahren nach der Grundstücksübertragung ein Formwechsel, so kommt die Befreiung gemäß § 5 Abs. 3 GrEStG nach h.M. nicht zur Anwendung67. Dies betrifft insbesondere auch die Fälle, in denen zur Sicherung der Erfolgsneutralität des Formwechsels Grundstücke als wesentliche Betriebsgrundlagen vor dem Form-

___________ 62 Vgl. hierzu auch gleichlautenden Erlass der obersten Finanzbehören der Länder v. 25.2.2010, BStBl. I 2010, 245 Abschn. 2.1: „Die Altgesellschaftereigenschaft bleibt erhalten bei der formwechselnden Umwandlung eines (Alt) Gesellschafters.“ Vgl. auch Abschn. 2.2, der die formwechselnde Umwandlung bei der Definition von Neugesellschaftern ausdrücklich ausklammert. 63 Vgl. Fischer in Boruttau, GrEStG, § 1 Anm. 822; Behrens, DStR 2010, 777 (779) mit weiteren Hinweisen in Fn. 7. 64 Vgl. Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, Umwandlungssteuerrecht, § 25 Anm. 57. 65 Vgl. hierzu auch Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, Umwandlungssteuerrecht, § 25 Anm. 57 m.w.N. 66 Vgl. Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, Umwandlungssteuerrecht, § 25 Anm. 58. 67 Vgl. FinMin. Baden-Württemberg v. 14.2.2002, BB 2002, 455. Vgl. auch Hofmann, Grunderwerbsteuergesetz-Kommentar, § 5 Anm. 32.

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Beratungsaspekte beim Formwechsel einer Personen- in eine Kapitalgesellschaft

wechsel aus dem Sonderbetriebsvermögen des Gesellschafters in das Gesamthandsvermögen der Personengesellschaft überführt wurden68.

VIII. Erbschaft- und schenkungsteuerliche Aspekte Der Formwechsel einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft ist nicht unmittelbar mit erbschaft- oder schenkungsteuerlichen Konsequenzen verbunden. Sollten im Vorfeld des Formwechsel Anteile an der Personengesellschaft unter Nutzung der Betriebsvermögensvergünstigung des § 13a ErbStG unentgeltlich übertragen worden sein, so ist der Formwechsel auch nicht als eine schädliche Verwendung im Sinne des § 13a Abs. 5 ErbStG zu sehen, sodass es durch den Formwechsel nicht nachträglich zu einer Erbschaft- oder Schenkungsteuerbelastung kommen kann. Beachtlich ist jedoch, dass es auch im neuen ErbStG trotz der angestrebten erbschaft- und schenkungsteuerlichen Rechtsformneutralität bei einem gravierenden Rechtsformunterschied zwischen Personengesellschaften einerseits und Kapitalgesellschaften andererseits geblieben ist. Anteile an Kapitalgesellschaften gehören nämlich gemäß § 13b Abs. 1 Nr. 3 ErbStG nur dann zum begünstigten Vermögen, wenn der Erblasser oder Schenker am Nennkapital der Gesellschaft zu mehr als 25% unmittelbar beteiligt war. Anteile an einer gewerblichen Personengesellschaft gehören dagegen unabhängig von der Beteiligungshöhe gemäß § 13b Abs. 1 Nr. 2 ErbStG immer zum begünstigten Betriebsvermögen. Im Anschluss an einen Formwechsel muss somit geprüft werden, ob an der neuen Kapitalgesellschaft Gesellschafter beteiligt sind, die die Mindestbeteiligungsgrenze des § 13b Abs. 1 Nr. 3 ErbStG nicht erfüllen. In diesen Fällen sollte durch entsprechende Gestaltungen sichergestellt werden, dass diese Beteiligungen nicht ohne Nutzung der Betriebsvermögensvergünstigung übertragen werden. Zu denken ist an das Anteilspooling im Sinne des § 13b Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 ErbStG, an eine Aufstockung der Anteile, an die Einlage der Beteiligung an der Kapitalgesellschaft in eine gewerbliche Personengesellschaft oder Kapitalgesellschaft mit geringem Verwaltungsvermögen oder auch an die Bündelung mehrerer Beteiligungen in einer gewerblichen Personengesellschaft zur Erreichung der Mindestbeteiligungsquote69.

___________ 68 Vgl. hierzu Abschnitt II 1. 69 Vgl. zur näheren Darstellung der verschiedenen Möglichkeiten z.B. A. Söffing, StbJb. 2008/2009, 114 ff.

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Weiterübertragungsverpflichtung und personengesellschaftsrechtliche Nachfolgeklauseln im Lichte des § 13a Abs. 3 ErbStG 2009 Inhaltsübersicht I. Einleitung

2. Fortsetzungsklausel 3. Erbrechtliche Nachfolgeklausel a) Einfache erbrechtliche Nachfolgeklausel b) Qualifizierte erbrechtliche Nachfolgeklausel c) Rechtstechnische Umsetzung der erbrechtlichen Nachfolgeklausel 4. Rechtsgeschäftliche Nachfolgeklausel 5. Teilnachfolgeklausel 6. Eintrittsklausel 7. Abtretungsklausel 8. Übernahmeklausel 9. Exkurs: Weitergabeverpflichtung aufgrund einer Nachlassteilung

II. Regelungsinhalt des § 13a Abs. 3 ErbStG 2009 1. Allgemeines zur Weiterübertragungsverpflichtung 2. Entwicklung der Vorschrift 3. Einzelne Weiterübertragungspflichten III. Personengesellschaftsrechtliche Nachfolgeklauseln und § 13a Abs. 3 ErbStG 1. Rechtsgrundsätzliches zur Nachfolge in Gesellschaftsanteile einer Personengesellschaft a) OHG-Gesellschafter/Komplementär b) Kommanditist c) BGB-Gesellschafter

IV. Schlussbemerkung

I. Einleitung Es ist eine alte Weisheit, dass man nur das vererben kann, was man auch besitzt. Bevor man sich mit der Abfassung einer letztwilligen Verfügung beschäftigt, ist es notwendig, sich mit dem zu vererbenden Vermögen auseinanderzusetzen. Geht es um die Vererbung gesellschaftsrechtlicher Stellungen, so kann ein Erbe nur insoweit in die Gesellschafterstellung des Erblassers eintreten, wie dies gesetzlich und gesellschaftsvertraglich möglich ist. Bei einer Personengesellschaft werden diese gesellschaftsvertraglichen Möglichkeiten mittels der sog. Nachfolgeklauseln, derer es eine Vielzahl gibt, abgebildet. Handelt es sich um eine gewerblich tätige oder eine gewerblich geprägte Personengesellschaft stellt sich die Frage, ob es zur Anwendung der Steuerbefreiung für Betriebsvermögen gemäß § 13a ErbStG kommt. Das Wechselspiel von gesellschaftsrechtlichen Nachfolgeklauseln und der Steuerbefreiung nach § 13a ErbStG soll im Nachfolgenden näher beleuchtet werden1.

___________ 1 S. hierzu bereits M. Söffing, ErbStB 2009, 271.

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II. Regelungsinhalt des § 13a Abs. 3 ErbStG 2009 1. Allgemeines zur Weiterübertragungsverpflichtung Nach der Intention des Gesetzgebers soll derjenige in den Genuss des Verschonungsabschlages und des Abzugsbetrages im Sinne des § 13a ErbStG kommen, der das begünstigte Vermögen tatsächlich und letztendlich vom Schenker bzw. vom Erblasser erhält. Nicht begünstigt werden soll derjenige, der aufgrund der Universalsukzession nur interimsweise als Eigentümer bzw. Miteigentümer auftritt, aber aufgrund von Weiterübertragungsverpflichtungen sich bereits nach kurzer Zeit seiner Berechtigung wieder entäußern muss. Vor diesem Hintergrund bestimmt § 13a Abs. 3 Satz 1 ErbStG, dass ein Erwerber den Verschonungsabschlag und den Abzugsbetrag nicht in Anspruch nehmen kann, soweit er Vermögen im Sinne des § 13b Abs. 1 ErbStG aufgrund einer letztwilligen Verfügung des Erblassers oder einer rechtsgeschäftlichen Verfügung des Erblassers oder Schenkers auf einen Dritten übertragen muss2. In seiner Struktur geht § 13a Abs. 3 Satz 1 ErbStG von einem Dreiecksverhältnis aus. Der Erblasser oder Schenker überträgt Vermögen auf den Erben oder Beschenkten und der Erbe bzw. der Beschenkte ist verpflichtet das erhaltene Vermögen an einen Dritten weiter zu übertragen. § 13a Abs. 3 ErbStG ordnet unter bestimmten Voraussetzungen die Steuervergünstigungen des § 13a ErbStG dem Dritten zu. Erforderlich für die Zuordnung der Steuervergünstigungen des § 13a ErbStG beim Letzterwerber (Zweiterwerber) und nicht beim Zwischenerwerber (Ersterwerber) ist, dass die Weiterübertragungsverpflichtung auf einer letztwilligen Verfügung des Erblassers oder einer rechtsgeschäftlichen Verfügung des Erblassers oder Schenkers beruht. Dem durch die Weiterübertragungsverpflichtung belasteten Ersterwerber entsteht durch die in § 13a Abs. 3 ErbStG geregelte Zuordnung der Steuervergünstigungen kein Nachteil. Er kann die aus der Weiterübertragungsverpflichtung resultierende Last bereicherungsmindernd als Nachlassverbindlichkeit nach § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG berücksichtigen3. 2. Entwicklung der Vorschrift Der Gesetzgeber ging davon aus, dass derjenige die Steuervergünstigungen des § 13a ErbStG erhalten soll, der letztlich das begünstigte Vermögen als vom Erblasser übertragen erhalten hat. War also der Erbe mit einer sog. Weiterübertragungsverpflichtung belastet, so sollte nicht der Erbe, sondern der Dritte die Steuervergünstigungen in Anspruch nehmen können. Typische Fallgestaltungen, die der Gesetzgeber vor Augen hatte, waren die Unternehmensvermächtnisse. Der Vermächtnisnehmer erhält danach aufgrund letztwilliger Verfügung des Erblassers das Unternehmen bzw. das unternehmerische Vermögen und soll daher auch in den Genuss der Steuervergünstigungen kommen. Bereits § 13a ErbStG i.d.F. vor dem Erbschaftsteuerreformgesetz

___________ 2 S. hierzu auch Scholten/Korezkij, DStR 2009, 73 (74 unter 2.1.2). 3 Meincke, ErbStG 15. Aufl. 2009, § 13a ErbStG Rz. 15.

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Weiterübertragungsverpflichtung und Nachfolgeklauseln

(ErbStRG) vom 24.12.20084 kannte eine Regelung in Absatz 3, wonach ein Erwerber die Steuervergünstigungen nicht in Anspruch nehmen konnte, wenn er aufgrund letztwilliger Verfügung des Erblassers oder Schenkers auf einen Dritten überträgt. Der auf ihn entfallende Freibetrag oder Freibetragsanteil ging nach § 13a Abs. 3 Satz 2 ErbStG auf den Dritten über. Waren mehrere Dritte vorhanden, so ging die Vergünstigung zu gleichen Teilen über. Diese Vorschrift stieß auf Kritik. Meincke5 beispielsweise beschreibt die Norm als „in ihrer sprachlichen Fassung und in ihrer gedanklichen Konzeption nicht voll durchdacht“. Insbesondere im Rahmen der Erbauseinandersetzung führte diese Regelung zu erheblichen Friktionen. Nach dem Telos des § 13a Abs. 3 ErbStG sollte eine Konzentration der Begünstigungen beim Unternehmensnachfolger6 erfolgen. Nach der Intention des Gesetzgebers soll derjenige in den Genuss der Steuervergünstigung kommen, der das begünstigte Vermögen tatsächlich und letztlich erhält7, also der Zweiterwerber. Diese gesetzgeberische Zielsetzung konnte jedoch dort nicht greifen, wo es nicht mehr um einen erbschaftsteuerlich relevanten Vorfall ging. Da nach der Rechtsprechung des BFH8 die Erbauseinandersetzung nicht auf dem Erbanfall beruht, sondern ein dem Erbfall nachgelagerter eigener Rechtsvorgang ist, kann die Erbauseinandersetzung keinen Einfluss auf die Erbschaftsbesteuerung haben. Auch gilt es zu bedenken, dass die Vereinbarung im Rahmen der Erbauseinandersetzung keine Verfügung des Erblassers, sondern vielmehr eine schuldrechtliche Vereinbarung zwischen den Miterben darstellt. Damit konnte nach dieser Rechtsprechung § 13a Abs. 3 ErbStG keine Anwendung auf die Erbauseinandersetzung finden, dies auch dann nicht, wenn z.B. aufgrund einer Teilungsanordnung nicht der Erbe, sondern ein Dritter das Betriebsvermögen nach dem Willen des Erblassers fortführte9. Diese unbefriedigende Rechtslage ist durch die Neufassung des § 13a Abs. 3 ErbStG in der Fassung des ErbStRG vom 24.12.200810 abgeschafft worden, indem durch Satz 2 dieser Rechtsnorm ausdrücklich auch die Nachlassteilung von der Regelung der Weiterübertragungsverpflichtung erfasst wird. 3. Einzelne Weiterübertragungspflichten Als erste Alternative einer Weiterübertragungsverpflichtung nennt das Gesetz, dass sich diese Verpflichtung aus einer letztwilligen Verfügung des Erblassers ergibt. Typischer Anwendungsfall einer solchen Weiterübertragungsverpflichtung ist das Vermächtnis. Aber das Vermächtnis ist nicht der einzige Fall aus dem sich aus einer letztwilligen Verfügung des Erblassers eine Wei-

___________ 4 5 6 7 8 9 10

ErbStRG v. 24.12.2008, BGBl. I 2008, 3018. Meincke, ErbStG 13. Aufl. 2002, § 13a ErbStG Rz. 15. Jülicher in Troll/Gebel/Jülicher, § 13a ErbStG Rz. 46. M. Söffing in Wilms/Jochum, § 13a ErbStG Rz. 67. BFH v. 30.6.1960 – II 254/57 U, BStBl. III, 348 (349 l.Sp). S. hierzu BFH v. 1.4.1992 – II R 21/98, BStBl. II 1992, 669. BGBl. I 2008, 3018.

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terübertragungsverpflichtung ergibt11. Neben dem Vermächtnis sind auch Vorausvermächtnisse und Auflagen des Erblassers, als Weiterübertragungsverpflichtungen aufgrund letztwilliger Verfügung von Todes wegen zu nennen. Die zweite Alternative einer Weiterübertragungsverpflichtung ist der Fall, dass sich diese Verpflichtung aus einer rechtsgeschäftlichen Verfügung des Erblassers ergibt. Genannt wird in diesem Zusammenhang der Erbvertrag des Erblassers12. An der Sinnhaftigkeit dieser Alternativen werden Zweifel angemeldet, denn es gäbe zivilrechtlich keine strikte Trennung zwischen einer letztwilligen und einer rechtsgeschäftlichen Verfügung des Erblassers13. Gerade der Erbvertrag verdeutlicht dies. Von der Rechtsnatur her ist der Erbvertrag ein einheitliches Rechtsgeschäft, das eine Doppelnatur als Vertrag und als letztwillige Verfügung von Todes wegen aufweist14. Daher kann der Erbvertrag bereits unter die 1. Alternative des § 13a Abs. 3 Satz 1 ErbStG subsumiert werden. Der Ansicht, dass auf die Alternative der rechtsgeschäftlichen Verfügung des Erblasser verzichtet werden könnte, ist entgegenzuhalten, dass es gleichwohl rechtsgeschäftliche Vereinbarungen gibt, die eine Person zu Lebzeiten getroffen hat, die aber erst nach seinem Ableben Rechtswirkungen in Form von schuldrechtlichen Ansprüchen entfalten. Da derartige Vereinbarungen die vorstehend beschriebenen Rechtswirkungen erst in einem Zeitpunkt entfalten, in dem die Person nicht mehr lebt, also Erblasser ist, ist es gerechtfertigt von einer rechtsgeschäftlichen Verfügung des Erblassers zu sprechen. Zu denken ist z.B. an die Eintrittsklausel im Rahmen der Nachfolge in Gesellschaftsanteile einer Personengesellschaft15. Zu erwähnen ist noch die dritte von § 13a Abs. 3 Satz 1 ErbStG genannte Alternative einer Weiterübertragungsverpflichtung. Voraussetzung dieses Tatbestandes ist, dass sich die Weiterübertragungsverpflichtung aus einer rechtsgeschäftlichen Verfügung des Schenkers ergibt. Zu denken ist hier an eine Schenkung unter Auflage (§ 525 BGB). Ohne eine Differenzierung vorzunehmen wird regelmäßig16 das Schenkungsversprechen auf den Todesfall allgemeinhin als typischer Fall einer Weiterübertragungsverpflichtung genannt. Ob tatsächlich jedes Schenkungsversprechen auf den Todesfall eine Weiterübertragungsverpflichtung enthält, erscheint zweifelhaft und bedarf einer näheren Untersuchung. Ausgangspunkt ist die zivilrechtliche Betrachtung. Unter einem Schenkungsversprechen auf den Todesfall versteht man das Versprechen einer Schenkung, die unter der Bedingung steht, dass der Beschenkte den Schenker überlebt (§ 2301 BGB). Ist das Schenkungsversprechen zu Lebzeiten des Schenkers noch nicht vollzogen, gelten die Regeln über die Verfügungen von Todes wegen (§ 2301 Abs. 1 BGB).

___________ 11 Meincke, 15. Aufl. 2009, § 13a ErbStG Rz. 17. 12 Jülicher in Troll/Gebel/Jülicher, § 13a ErbStG Rz. 117; Weinmann in Moench, § 13a ErbStG Rz. 91. 13 Meincke, 14. Aufl. 2004, § 13a ErbStG Rz. 15. 14 Edenhofer in Palandt, 67. Aufl. 2008, § 1941 BGB Rz. 4. 15 S. unten III.6. 16 R 61 Abs. 1 Satz 5 Nr. 3 ErbStR 2003; Jülicher in Troll/Gebel/Jülicher, § 13a ErbStG Rz. 117; Meincke, 15. Aufl. 2009, § 13a ErbStG Rz. 17.

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Weiterübertragungsverpflichtung und Nachfolgeklauseln

Ein solches Schenkungsversprechen wird als Vermächtnis oder, wenn es sich auf das gesamte Vermögen oder einen Bruchteil davon bezieht, als Erbeinsetzung behandelt17. Ist das Schenkungsversprechen auf den Todesfall als Erbeinsetzung zu sehen, so erwirbt der Versprechensempfänger unmittelbar vom Erblasser, mit der Folge, dass überhaupt kein Durchgangserwerb gegeben ist. Ist hingegen das Schenkungsversprechen auf den Todesfall als Vermächtnis zu würdigen, so steht dem Versprechensempfänger gegen den Alleinerben oder gegen die Erbengemeinschaft lediglich ein Erfüllungsanspruch zu. Insofern liegt die erste Alternative einer Weiterübertragungsverpflichtung (letztwillige Verfügung des Erblassers) vor, da sich die Verpflichtung des Alleinerbens oder der Erbengemeinschaft nicht aus Schuldrecht, sondern aus dem Vermächtnis und damit aus Erbrecht ergibt. Wird hingegen das Schenkungsversprechen bereits zu Lebzeiten des Schenkers vollzogen, so wird es nach den Regeln über die Schenkung behandelt (§ 2301 Abs. 2 BGB). In dieser Konstellation handelt es sich zwar um eine rechtsgeschäftliche Verfügung des Erblassers. Da der Versprechensempfänger jedoch den Leistungsgegenstand bereits erhalten hat, ist kein Raum mehr für einen Durchgangserwerb. § 13a Abs. 3 ErbStG findet keine Anwendung. Dem Versprechensempfänger stehen die Steuervergünstigungen mit der Schenkung unmittelbar zu. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass es sich trotz des Vollzugs weiterhin um ein Schenkungsversprechen auf den Todesfall handelt und damit unter der Überlebensbedingung steht18. Die Wirksamkeit der Schenkung tritt erst in dem Moment ein, in dem der Schenker verstorben ist und der Begünstigte diesen Zeitpunkt noch erlebt hat. Die Steuer entsteht daher gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG erst mit dem Zeitpunkt des Eintritts der Bedingung.

III. Personengesellschaftsrechtliche Nachfolgeklauseln und § 13a Abs. 3 ErbStG 1. Rechtsgrundsätzliches zur Nachfolge in Gesellschaftsanteile einer Personengesellschaft Bei Personengesellschaften ist die Nachfolge vom Grundsatz her gesetzlich geregelt. Dabei differenziert das Gesetz insbesondere danach, ob der Gesellschafter persönlich haftet oder ob er in der Haftung beschränkt ist. Es ist jedoch anzumerken, dass es sich bei den gesetzlichen Regelungen stets um dispositives Recht handelt und damit von der gesetzlichen Grundaussage abgewichen werden kann. Es eröffnet sich mithin für die Betroffenen ein weites Gestaltungsfeld. Vor diesem Hintergrund ist bei der Wahl von Nachfolgeklauseln auch immer zu prüfen, wie sich die Nachfolgeklausel auf die Erbschaftsteuer auswirkt. Damit ist gleichzeitig auch die Frage aufgeworfen, ob die jeweils vereinbarte Nachfolgeklausel eine Weiterübertragungsverpflichtung darstellt und somit zur Anwendung des § 13a Abs. 3 ErbStG führt.

___________ 17 Musielak in Münchener Kommentar, 4. Aufl. 2004, § 2301 BGB Rz. 14. 18 Meincke, 15. Aufl. 2009, § 3 ErbStG Rz. 56.

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Matthias Söffing

a) OHG-Gesellschafter/Komplementär Sofern ein persönlich haftender Gesellschafter, also ein OHG-Gesellschafter oder ein Komplementär verstirbt, gilt, dass die Gesellschaftsanteile an einer Personengesellschaft grundsätzlich unvererblich sind. Der Tod eines OHGGesellschafters oder eines Komplementärs führt nach der gesetzlichen Bestimmung gemäß § 131 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 HGB zum Ausscheiden dieses Gesellschafters. Dies besagt, dass die Gesellschaft mit den verbleibenden Gesellschaftern fortgesetzt wird. Die Fortsetzungsklausel19 ist damit insoweit der gesetzliche Regelfall. Beim Tode eines OHG-Gesellschafters oder Komplementärs werden dessen Erben somit nicht Gesellschafter. Der Anteil des verstorbenen Gesellschafters am Gesellschaftsvermögen wächst den überlebenden Gesellschaftern an. Die Erben haben nur Anspruch auf das Abfindungsguthaben nach § 738 Abs. 1 BGB i.V.m. § 105 Abs. 3 HGB (für die OHG) und nach § 738 Abs. 1 BGB i.V.m. § 161 Abs. 2 HGB (für die KG). b) Kommanditist Anders als bei dem Versterben eines persönlich haftenden Gesellschafters ist die Beteiligung eines Kommanditisten kraft gesetzlicher Anordnung nach § 177 HGB vererblich. Die Rechtsfolgen dieser Regelung entsprechen damit einer einfachen erbrechtlichen Nachfolgeklausel20. Sind mehrere Erben gegeben, wird der Anteil an der Kommanditbeteiligung entsprechend den Erbquoten von jedem Erben direkt erworben. Es findet somit nach der h.M. unmittelbar eine Sonderrechtsnachfolge eines jeden Erben in die Gesellschaftsbeteiligung statt21. c) BGB-Gesellschafter Im Gegensatz zu den vorstehend aufgeführten Fällen führt der Tod eines BGBGesellschafters nach § 727 BGB zur Auflösung der Gesellschaft, sodass die Gesellschaft nach den §§ 730 ff. BGB auseinandergesetzt wird. Der Erbe oder die Erben als Gesamthandsgemeinschaft treten in die Abwicklungsgesellschaft ein; ihm oder ihnen gebührt das Auseinandersetzungsguthaben. Die Mitglieder einer solchen Abwicklungsgesellschaft haben jedoch auch die Möglichkeit, diese als werbende Gesellschaft wieder aufleben zu lassen. Dazu bedarf es eines Fortsetzungsbeschlusses, der die Zustimmung aller Miterben benötigt. Mitglieder der „neuen“ Gesellschaft werden dann die Erben und nicht die Erbengemeinschaft. Der Fortsetzungsbeschluss führt mithin zu einem Anteilssplitting und damit zu einer partiellen Nachlassteilung22.

___________ 19 20 21 22

S. dazu im Einzelnen unten III.2. S. dazu im Einzelnen unten III.3.a). BGH v. 4.5.1983 – IVa ZR 229/81, NJW 1983, 2376. BFH v. 1.3.1994 – VIII R 35/92, BStBl. II 1995, 241; Gebel in Betriebsvermögensnachfolge, 2. Aufl. 2002, Rz. 787.

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Weiterübertragungsverpflichtung und Nachfolgeklauseln

2. Fortsetzungsklausel Unter einer Fortsetzungsklausel versteht man eine gesellschaftsrechtliche Regelung, wonach im Todesfall eines Gesellschafters die Gesellschaft mit den verbleibenden Gesellschaftern fortgeführt wird. In einer juristischen Sekunde vor dem Ableben des verstorbenen Gesellschafters wächst den Altgesellschaftern der Gesellschaftsanteil des verstorbenen Gesellschafters gemäß § 738 Abs. 1 Satz 1 BGB von Gesetzes wegen an. In den Nachlass des verstorbenen Gesellschafters fällt nicht sein ehemaliger Gesellschaftsanteil. Die Erben treten zu keinem Zeitpunkt in die gesellschaftsrechtliche Stellung des verstorbenen Gesellschafters ein. In den Nachlass gelangt lediglich der gesellschaftsvertraglich vereinbarte Abfindungsanspruch. Die Altgesellschafter sind verpflichtet, den Abfindungsanspruch zu erfüllen23. Sie werden hingegen aufgrund der Fortsetzungsklausel nicht verpflichtet, an die Erben den angewachsenen Gesellschaftsanteil zu übertragen. Die Mitgesellschafter des Erblassers haben folglich Anspruch auf die Steuerbefreiungen nach § 13a ErbStG24. Damit ist bei einer Fortsetzungsklausel kein Fall einer Weiterübertragungsverpflichtung gegeben. Soweit die Altgesellschafter den Gesellschaftsanteil gegen Zahlung einer Abfindung erwerben, liegt grundsätzlich kein unentgeltlicher, sondern ein entgeltlicher Erwerb vor, sodass kein erbschaft- oder schenkungsteuerpflichtiger Vorgang gegeben ist. Ist jedoch der Wert des Gesellschaftsanteils höher als die Abfindung, diese Konstellation liegt regelmäßig bei einer Abfindung zum Buchwert vor, dann erhalten die Altgesellschafter den Wertunterschied unentgeltlich. Die rechtliche Einordnung in die Kategorien „Erwerb von Todes wegen“ oder „unentgeltliche Zuwendung unter Lebenden“ ist problematisch. Insbesondere die Auslegung der gesellschaftsvertraglich vereinbarten Fortsetzungsklausel als eine Schenkung auf den Todesfall scheitert daran, dass im Zeitpunkt der Begründung der Fortsetzungsklausel der bzw. die zu begünstigenden Altgesellschafter nicht mit Sicherheit bestimmt sind. Dies aber ist notwendig, da die Schenkung auf den Todesfall darauf abstellt, dass der Begünstigte den Tod des Schenkers überlebt. Aus diesem Grunde fingiert das ErbStG den vorliegenden Anwachsungserwerb in § 3 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG als Schenkung auf den Todesfall und unterwirft den Anteilserwerb insoweit der Erbschaftsteuer als der Wert des Gesellschaftsanteils die Höhe der Abfindung überschreitet. Fraglich ist, ob dieser Anwachsungserwerb in den Vorteil der Steuerbegünstigungen des § 13a ErbStG kommt. Da nicht der gesamte Anwachsungserwerb der Erbschaftsteuer unterworfen wird, sondern nur der Wertbetrag, der in der Differenz zwischen dem Wert des Gesellschaftsanteils und der Höhe der Abfindung besteht, könnte man sich auf den Standpunkt stellen, die Voraussetzungen des § 13a ErbStG sind nicht gegeben. Denn erforderlich ist die Übertragung von Betriebsvermögen. Betriebsvermögen ist nach § 13b Abs. 1 Nr. 2 ErbStG aber nur ein Gewerbebetrieb, ein Teilbetrieb, ein Mitunterneh-

___________ 23 S. hierzu im Einzelnen, T. Carlé, ErbStB 2009, 228 (230 ff.) und Riedel, ZErb 2009, 2 (4). 24 Riedel, ZErb 2009, 2 (5).

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meranteil oder ein Teil eines Mitunternehmeranteils. Nicht erfasst wird die vorstehend beschriebene Wertdifferenz. Zu bedenken gilt jedoch, dass § 3 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG dem Grunde nach ausdrücklich den Übergang eines Anteils oder eines Teil eines Anteils an einer Personengesellschaft der Erbschaftsbesteuerung unterwirft. Lediglich der Höhe nach wird dieser Erwerb eines Mitunternehmeranteils oder Teil eines Mitunternehmeranteils auf den Wertbetrag, der in der Differenz zwischen Wert des Gesellschaftsanteils und der Höhe der Abfindung besteht, begrenzt. Gegenstand des erbschaftsteuerpflichtigen Vorgangs ist damit letztlich der Erwerb eines Mitunternehmeranteils und damit der Erwerb begünstigten Vermögens im Sinne der §§ 13a, 13b ErbStG. Folglich stehen den Altgesellschaftern der Verschonungsabschlag und der Abzugsbetrag unmittelbar und nicht aufgrund einer Weiterübertragungsverpflichtung zu25. 3. Erbrechtliche Nachfolgeklausel a) Einfache erbrechtliche Nachfolgeklausel Will der Erblasser sicherstellen, dass sein Gesellschaftsanteil in das Vermögen seiner Erben gelangt, so ist die sog. erbrechtliche Nachfolgeklausel im Gesellschaftsvertrag aufzunehmen. Sollen alle Erben in den Gesellschaftsanteil nachfolgen, so spricht man von einer einfachen erbrechtlichen Nachfolgeklausel. Die Gesellschaft wird also mit allen Erben fortgeführt. Die erbrechtliche Nachfolgeklausel bedarf mithin eines Zweifachen, nämlich zum einen der Vererblichstellung der Gesellschaftsanteile im Gesellschaftsvertrag und der Einräumung einer Erbenstellung in der letztwilligen Verfügung des verstorbenen Gesellschafters. Da eine Nachfolge folglich nur dann möglich ist, wenn diese auch erbrechtlich abgesichert ist, spricht man zu Recht von erbrechtlicher Nachfolgeklausel. b) Qualifizierte erbrechtliche Nachfolgeklausel Die qualifizierte erbrechtliche Nachfolgeklausel unterscheidet sich von der einfachen erbrechtlichen Nachfolgeklausel lediglich dadurch, dass die zur Nachfolge in den Gesellschaftanteil bestimmten Erben sich besonders qualifizieren müssen26. Das bedeutet, dass in der gesellschaftsvertraglichen Nachfolgeregelung aufgeführt wird, welche Voraussetzung der Erbe erfüllen muss, damit er den Gesellschaftsanteil des verstorbenen Gesellschafters aufgrund des Erbfalles erhält. Typische Qualifizierungsmerkmale sind Alter und Berufsausbildung. c) Rechtstechnische Umsetzung der erbrechtlichen Nachfolgeklausel Die rechtstechnische Umsetzung einer erbrechtlichen Nachfolgeklausel stellt sich in ihrer Struktur recht kompliziert dar, da die steuerrechtliche von der zivilrechtlichen Betrachtung abweicht. Der Erbe erwirbt den geerbten Gesellschaftsanteil, unabhängig davon, ob er einfacher oder qualifizierter Nachfol-

___________ 25 So auch Wälzholz, DStZ 2009, 591 (597 unter 2); Riedel, ZErb 2009, 2 (4). 26 T. Carlé, ErbStB 2009, 287.

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Weiterübertragungsverpflichtung und Nachfolgeklauseln

geberechtigter ist, unmittelbar kraft Sonderrechtsnachfolge27. Die zivilrechtliche Sichtweise geht davon aus, dass der Gesellschaftsanteil zum Nachlass gehört, sodass ein Erwerb durch Erbanfall zu bejahen ist. Der Nachfolgeberechtigte erwirbt den Gesellschaftsanteil jedoch nicht als Miterbe, also als Angehöriger der Miterbengemeinschaft, sondern kraft Sonderrechtsnachfolge unmittelbar vom Erblasser28. Der Gesellschaftsanteil wird, wenn man so will, an der Erbengemeinschaft vorbei erworben. Damit findet kein Durchgangserwerb statt, sodass zivilrechtlich betrachtet keine Weiterübertragungsverpflichtung besteht. Die steuerrechtliche Handhabung einer erbrechtlichen Nachfolgeklausel weicht von der vorstehend beschriebenen zivilrechtlichen Betrachtung erheblich ab. Die Finanzverwaltung29 und auch die Rechtsprechung des BFH30 würdigen die Nachfolgeklauseln dahingehend, dass es sich um einen Erwerb durch die Erbengemeinschaft mit sich automatisch vollziehender Teilungsanordnung handelt31. In einem ersten gedanklichen Schritt fällt der Gesellschaftsanteil in den Nachlass der Erbengemeinschaft und wird sodann in einem zweiten Schritt im Rahmen der Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft als Teilungsanordnung berücksichtigt. Folgt man diesem gedanklichen Konstrukt, so erfolgt die Zuordnung der Gesellschaftsanteile an die Nachfolgeberechtigten aufgrund der schuldrechtlichen Auseinandersetzungsvereinbarung und nicht aufgrund einer durch letztwillige Verfügung des Erblassers oder gar aufgrund einer durch rechtsgeschäftliche Verfügung des Erblassers oder des Schenkers angeordneten Weiterübertragungsverpflichtung. Nach der Rechtslage vor dem Erbschaftsteuerreformgesetz vom 24.12.200832 führte diese Rechtsansicht bei der qualifizierten erbrechtlichen Nachfolgeklausel zu starken Friktionen im Rahmen der Zuweisung der Steuervergünstigungen. Obwohl der begünstigte Gesellschaftsanteil allein auf den qualifiziert Nachfolgeberechtigten übergeht, standen die Begünstigungen des § 13a i.d.F. vor dem ErbStRG vom 24.12.2008 allen Miterben zu gleichen Teilen zu. Denn die Erbauseinandersetzung und damit auch die Teilungsanordnung sind nach der Rechtsprechung ohne Bedeutung für die Erbschaftsbesteuerung, sodass der Gesellschaftsanteil steuerlich dem Nachlass und damit dem gesamthänderisch gebunden Vermögen der Erbengemeinschaft, wenn auch nur für eine juristische Sekunde, zuzuordnen war. In diesem Zusammenhang führt Meincke33 aus, dass zumindest die Rechtsprechung des BFH zum Ertragsteuerrecht keinen Zwischenerwerb bei der Erbengemeinschaft, auch nicht für eine gedankliche Sekunde, sieht. Zwar seien die vormals dem Erblasser zustehenden Personengesellschaftsanteile in die Erbauseinandersetzung einzubeziehen.

___________ 27 S. Meincke, ErbStG, 15. Aufl. 2009, § 3 ErbStG Rz. 19. 28 BGH v. 10.2.1977 – II ZR 120/75, BGHZ 68, 225; T. Carlé, ErbStB 2009, 228 (229 f.); Riedel, ZErb 2009, 2 (7). 29 R 55 Abs. 2 Satz 1 ErbStR. 30 BFH v. 10.11.1982 – II R 85-86/78, BStBl. II 1983, 329; BFH v. 1.4.1992 – II R 21/89, BStBl. II 1992, 669. 31 Meincke, 15. Aufl. 2009, § 3 ErbStG Rz. 19; s. allgemein zur steuerlichen Behandlung einer qualifizierten Nachfolgeklausel Wälzholz, DStZ 2009, 591 (598). 32 BGBl. I 2008, 3018. 33 Meincke, 15. Aufl. 2009, § 3 ErbStG Rz. 19 a.E.

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Dies sei jedoch keine dingliche, sondern nur eine wertmäßige Einbeziehung der Mitunternehmeranteile in die Erbauseinandersetzung. Diese Ansicht vermag nicht zu erklären, wie der qualifiziert Nachfolgeberechtigte zu dem Gesellschaftsanteil kommt. Die Formulierung, die qualifizierte Nachfolgeklausel sei „eine mit dem Erbfall vollzogene Teilungsanordnung mit unmittelbarer dinglicher Wirkung“ ist gekünstelt und entbehrt einer Rechtsgrundlage. Vorstehend angedeutetes Problem kann jedoch dahingestellt bleiben. Mit dem ErbStRG vom 24.12.200834 hat sich insoweit die Rechtslage geändert. In § 13a Abs. 3 Satz 2 ErbStG wird nunmehr ausdrücklich eine gesonderte Regelung für die Nachlassteilung, also für die Erbauseinandersetzung getroffen35. Danach gelten die Regelungen über die Weiterübertragungsverpflichtung nach § 13a Abs. 3 Satz 1 ErbStG auch für die Nachlassteilung. Es kann also festgehalten werden, dass bei erbrechtlichen Nachfolgeklauseln, insbesondere bei der qualifizierten erbrechtlichen Nachfolgeklausel stets die Regelungen der Weiterübertragungspflicht nach § 13a Abs. 1 Satz 1 ErbStG über die Verweisungsnorm des § 13a Abs. 3 Satz 2 ErbStG zur Anwendung gelangen. 4. Rechtsgeschäftliche Nachfolgeklausel Von den erbrechtlichen Nachfolgeklauseln sind die rechtsgeschäftlichen Nachfolgeklauseln zu unterscheiden. Abweichend von den erbrechtlichen Nachfolgeklauseln, die den Gesellschaftsanteil im Gesellschaftsvertrag vererblich stellen, deren Vollzug aber allein dem Erbrecht überlassen ist, sind die rechtsgeschäftlichen Nachfolgeklauseln darauf gerichtet, auf rechtsgeschäftlichem Wege durch Verfügungsvertrag und ohne Rücksicht auf die erbrechtlichen Rechtsfolgen den Übergang des Gesellschaftsanteils im Todeszeitpunkt auf die begünstigte Person zu bewirken. Diese im Gesellschaftsvertrag enthaltene rechtsgeschäftliche Nachfolgeklausel verpflichtet den oder die jeweiligen Gesellschafter, mit dem begünstigten Dritten einen Vertrag darüber abzuschließen, dass der Gesellschaftsanteil im Zeitpunkt des Todesfalls auf den Begünstigten übertragen wird. Soll diese Übertragung unentgeltlich erfolgen, so handelt es sich um ein Schenkungsversprechen auf den Todesfall im Sinne des § 2301 Abs. 1 BGB. Dieses dürfte in aller Regel als Vermächtnis zu verstehen sein, sodass es sich dann um eine Weiterübertragungsverpflichtung aufgrund einer letztwilligen Verfügung des Erblassers handelt36. 5. Teilnachfolgeklausel Manchmal wird auch die sog. Teilnachfolgeklausel erwähnt, die zugegebenermaßen in der Praxis nur selten vorkommt. Wie der Name dieser Klausel schon vermuten lässt, wird lediglich ein Teil des zu übertragenden Gesellschaftsanteils einer qualifizierten erbrechtlichen Nachfolgeklausel unterworfen. Der andere Teil des Gesellschaftsanteils soll der Regelung einer Fortset-

___________ 34 BGBl. I 2008, 3018. 35 So auch Landsittel, ZErb 2009, 11 (15 1. Spalte). 36 S. oben II.3.

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Weiterübertragungsverpflichtung und Nachfolgeklauseln

zungsklausel folgen, also den Altgesellschaftern anwachsen37. Soweit der Gesellschaftsanteil des verstorbenen Gesellschafters auf qualifizierte Erben übergeht, stehen diesen nach der Neuregelung des § 13a Abs. 3 Satz 2 ErbStG die Vergünstigungen des § 13a ErbStG zu. Soweit der Gesellschaftsanteil des verstorbenen Gesellschafters nicht auf die nachfolgeberechtigten Erben übergeht, wächst er den verbleibenden Gesellschaftern an. Insoweit erwerben die Altgesellschafter diesen Teil des Gesellschaftsanteils unmittelbar, mit der Folge, dass kein Fall der Weiterübertragungsverpflichtung gegeben ist. Für den Anwachsungserwerb muss eine Abfindung geleistet werden. Dieser Abfindungsanspruch fällt in den Nachlass38. 6. Eintrittsklausel Ferner kann jemand in die Gesellschafterstellung aufgrund einer sog. Eintrittsklausel einrücken39. Die Eintrittsklausel räumt den Erben durch eine Regelung im Gesellschaftsvertrag das Recht ein, in die Gesellschafterstellung des verstorbenen Gesellschafters einzutreten, ohne einen automatischen Beteiligungsübergang vorzusehen. Ebenso ist es möglich, statt dem Erben oder Vermächtnisnehmer des verstorbenen Gesellschafters, einem Dritten das Eintrittsrecht einzuräumen. Sofern der Begünstigte von seinem Eintrittsrecht Gebrauch macht, wird die Gesellschaft mit dem Eingetretenen fortgeführt. Anderenfalls wird die Gesellschaft mit Ausscheiden des verstorbenen Gesellschafters unter den übrigen Gesellschaftern fortgesetzt. Bei der Eintrittsklausel handelt es sich ebenso wie bei der rechtsgeschäftlichen Nachfolgeklausel um eine rein rechtsgeschäftliche Klausel. Die Eintrittsklausel begründet als Vertrag zugunsten Dritter nach §§ 328 Abs. 1, 331 Abs. 1 BGB mit dem Todesfall ein eigenes Recht der dadurch begünstigten Person auf Beitritt in die Gesellschaft. Zwar erwirbt der Begünstigte das Eintrittsrecht kraft echten Vertrags zugunsten Dritter unmittelbar vom Erblasser40. Den eigentlichen Gesellschaftsanteil erwirbt der Begünstigte jedoch erst durch Geltendmachung seines Anspruchs aus dem echten Vertrag zugunsten Dritter. Dieser Erwerbstatbestand bezieht sich aber allein auf die Einräumung der Mitgliedschaftsrechte. Hiervon zu differenzieren ist die Nachfolge in die vermögensrechtliche Beteiligung an der Gesellschaft. Die Eintrittsklausel als solche ist ein berechtigender Vertrag zugunsten Dritter, kraft dessen der Eintrittsberechtigte von den verbleibenden Gesellschaftern die Aufnahme in die Gesellschaft und die Einräumung von Mitgliedschaftsrechten in dem aus der Eintrittsklausel sich ergebenden Umfang fordern kann. Übt der Begünstigte sein Eintrittsrecht aus, so bedarf es zur Umsetzung eines Aufnahmevertrages. Aufgrund dieses Aufnahmevertrags erwirbt der eintretende Neugesellschafter einen in seiner Person neu entstandenen Gesellschaftsanteil. Er erwirbt nicht den alten Gesellschaftsanteil des verstorbenen Gesellschafters. Dieser ist in einer juristischen Sekunde vor seinem Ableben den Altgesellschaftern gemäß § 738 Abs. 1 Satz 1 BGB angewachsen. Damit scheidet ein Durchgangserwerb

___________ 37 38 39 40

T. Carlé, KÖSDI 2009, 16416 (16418). S. Levedag in MünchHdb Gesellschaftsrecht, Bd. II 2. Aufl. 2004, § 59 Rz. 135. Riedel, ZErb 2009, 2 (5 unter III.2.b.). Hübner in Viskorf/Glier/Hübner/Knobel/Schuck, 2. Aufl. 2004, § 13a ErbStG Rz. 97.

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insoweit aus. Dies ist im Hinblick auf die Steuervergünstigungen unproblematisch, da aufgrund der Ausübung des Eintrittsrechts lediglich die gesellschaftsrechtlichen Mitgliedschaftsrechte, die eben keine Vermögensrechte umfassen, übertragen werden. Von dem eigentlichen Eintrittsrecht wird nicht die Nachfolge in die Vermögensrechte des Erblassers erfasst. Die Nachfolge in die Vermögensrechte ist eine die Eintrittsklausel flankierende Maßnahme, die in zwei unterschiedlichen Varianten geregelt werden kann. Denkbar ist zunächst die sog. Treuhandvariante. Danach bekommen die Erben keinen Abfindungsanspruch gegenüber den Altgesellschaftern. Die Altgesellschafter halten vielmehr den ihnen im Rahmen der Anwachsung zugefallenen Vermögensanteil des verstorbenen Gesellschafters treuhänderisch für den Eintrittsberechtigten und sind verpflichtet diesen Vermögensanteil bei Ausübung des Eintrittsrechts auf ihn zu übertragen. Die Altgesellschafter sind insoweit also aufgrund der mit dem verstorbenen Gesellschafter getroffenen Treuhandvereinbarung verpflichtet, den Vermögensanteil auf den Eintrittsberechtigten weiter zu übertragen. Es handelt sich mithin um einen Fall des § 13a Abs. 3 Satz 1 2. Alt. ErbStG, also um eine rechtsgeschäftliche Verfügung des Erblassers. Die Übertragung des Vermögensanteils des verstorbenen Gesellschafters kann aber auch mittels der sog. Abfindungsvariante erfolgen. Auch hier scheidet der verstorbene Gesellschafter aus der Gesellschaft aus und sein Vermögensanteil wächst den Altgesellschaftern an. Wie der gegenüber den Altgesellschaftern bestehende Abfindungsanspruch rechtlich zu würdigen ist, ist von der Ausgestaltung des Eintrittsrechts abhängig. Der Abfindungsanspruch kann dem Eintrittsberechtigten im Rahmen eines Vertrags zugunsten Dritter zustehen, wobei die Leistung, also die Auszahlung des Abfindungsanspruchs, nach dem Tode des ausgeschiedenen Gesellschafters direkt vom Eintrittsberechtigten gefordert werden kann (§§ 328 Abs. 1, 331 Abs. 1 BGB). Die Altgesellschafter wären mithin zur Weiterübertragung des Vermögensanteils durch die mit dem verstorbenen Gesellschafter getroffene Eintrittsvereinbarung verpflichtet. Es handelt sich daher auch hier um einen Fall des § 13a Abs. 3 Satz 1 2. Alt. ErbStG, also um eine rechtsgeschäftliche Verfügung des Erblassers. Die Eintrittsvereinbarung kann aber auch so gestaltet sein, dass der Abfindungsanspruch dem Eintrittsberechtigten als Schenkungsversprechen von Todes wegen (§ 2301 Abs. 1 BGB) zugewandt wird. In diesem Fall handelt es sich um ein Vermächtnis, das der verstorbene Gesellschafter dem Eintrittsberechtigten eingeräumt hat. Es handelt sich daher dann um den Fall der Weiterübertragungsverpflichtung gemäß § 13a Abs. 3 Satz 1 1. Alt. ErbStG. 7. Abtretungsklausel Eine Weiterübertragungsverpflichtung resultiert ebenfalls aus einer sog. Abtretungsklausel, die auch häufig als Übernahmeklausel bezeichnet wird41.

___________ 41 So noch M. Söffing, ErbStB 2009, 271 (275). Da es sich aber rechtstechnisch um die Abtretung eines Gesellschaftsanteils handelt, ist der Begriff der Abtretungsklausel zutreffend. Von einer Übernahmeklausel kann man besser im Zusammenhang mit einer zweigliedrigen Personengesellschaft sprechen, da hier nicht mehr ein Gesell-

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Weiterübertragungsverpflichtung und Nachfolgeklauseln

Mittels dieser Klausel wird der folgende Sachverhalt erfasst: Im Gesellschaftsvertrag wird bestimmt, dass der Gesellschaftsanteil eines verstorbenen Gesellschafters auf seine Erben übergeht. Sofern die Erben nicht besondere Qualifikationsmerkmale erfüllen, sind die Altgesellschafter berechtigt, von den nicht qualifizierten Erben die Abtretung des Gesellschaftsanteils zu verlangen. Die nicht qualifizierten Erben sind verpflichtet, den geerbten Gesellschaftsanteil an die Altgesellschafter gegen Abfindungszahlung zu übertragen42. Vom Grundgedanken her kommt die Abtretungsklausel der qualifizierten erbrechtlichen Nachfolgeklausel nahe. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass bei der qualifizierten erbrechtlichen Nachfolgeklausel nur die qualifizierten Erben im Wege der Sonderrechtsnachfolge in die Gesellschafterstellung des verstorbenen Gesellschafters vollumfänglich und unmittelbar eintreten. Bei der Abtretungsklausel erwerben die Erben in einem ersten Schritt – wie bei einer einfachen Nachfolgeklausel – entsprechend ihrer Erbquoten einen Teil des Gesellschaftsanteils des verstorbenen Gesellschafters. Wer sodann nicht qualifiziert ist, muss in einem zweiten Schritt seinen Teilgesellschaftsanteil an die Altgesellschafter abtreten. Die qualifizierten Erben erhalten also nur entsprechend ihrer Erbquoten einen Teil des Gesellschaftsanteils. Demgegenüber erhalten die qualifizierten Erben im Rahmen einer qualifizierten erbrechtlichen Nachfolgeklausel, sofern nicht alle Erben qualifiziert sind, einen Gesellschaftsanteil, der im Verhältnis höher als ihre Erbquoten ist. Beispiel: Der verstorbene Gesellschafter war zu 10% Kommanditist. Er hinterlässt vier Erben, die ihn zu gleichen Teilen beerben. Zwei der vier Erben erfüllen die Kriterien der Qualifizierung. Im Fall einer qualifizierten Nachfolgeklausel erhalten die beiden qualifizierten Erben jeweils 5% Kommanditanteil. Den Altgesellschaftern wächst kein Gesellschaftsanteil an. Im Fall der Abtretungsklausel würden die beiden qualifizierten Erben nur jeweils 2,5% Kommanditanteil erhalten. Die restlichen 5% Kommanditanteil würden den Altgesellschaftern anwachsen. Müssen nicht qualifizierte Erben ihren Gesellschaftsanteil an die Altgesellschafter aufgrund einer Abtretungsklausel zurückübertragen, so unterliegen sie einer Weiterübertragungsverpflichtung. Diese resultiert aus der gesellschaftsvertraglichen Vereinbarung. Es stellt sich mithin die Frage, ob es sich bei einer solchen Weiterübertragungsverpflichtung um eine Weiterübertragungsverpflichtung im Sinne des § 13a Abs. 3 ErbStG handelt43. Denkbar wäre eine rechtsgeschäftliche Verfügung des Erblassers. Da der verstorbene Gesellschafter bei Abschluss des Gesellschaftsvertrages oder aber im Rahmen des Beitritts zur Gesellschaft die entsprechende Abtretungsklausel vereinbart hat, ist ihm diese Regelung als eigene Verfügung zuzurechnen. Da es sich bei der gesellschaftsvertraglichen Regelung um eine rechtsgeschäftliche Regelung handelt, muss die Abtretungsklausel als rechtsgeschäftliche Verfügung des Erblassers angesehen werden.

___________ schaftsanteil im eigentlichen Sinn abgetreten werden kann, sondern lediglich Vermögen übernommen wird. 42 Weinmann in Moench/Weinmann, § 10 ErbStG Rz. 113; Meincke, 15. Aufl. 2009, § 10 ErbStG Rz. 61. 43 Bejahend Meincke, ErbStG, 15. Aufl. 2009, § 10 ErbStG Rz. 61.

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Matthias Söffing

Kommt also die Abtretungsklausel zur Anwendung, so ist auch § 13a Abs. 3 ErbStG zu berücksichtigen. Dies bedeutet, dass die Altgesellschafter, auf die der vererbte Gesellschaftsanteil übertragen wird, sowohl den Verschonungsabschlag als auch den Abzugsbetrag in Anspruch nehmen können. Die nicht qualifizierten Gesellschafter erhalten einen Abfindungsanspruch. Damit ist, soweit die Abtretungsklausel greift, die Situation ähnlich wie bei einer Fortsetzungsklausel gegeben. D.h., die Altgesellschafter erhalten einen Zuwachs auf ihren Gesellschaftsanteil und haben dafür eine Abfindung zu leisten. Die erbschaftsteuerliche Behandlung auf Seiten der Altgesellschafter behandelt § 3 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG44. Übersteigt der Wert des hinzuerworbenen Gesellschaftsanteils den an den nicht qualifizierten Erben zu zahlenden Abfindungsanspruch, so gilt dies als Schenkung auf den Todesfall und ist erbschaftsteuerpflichtig. Zweifel an der Anwendung des § 3 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG könnte deshalb bestehen, weil es sich vorliegend nicht um einen Anwachsungserwerb handelt, sondern um eine Übertragung von Gesellschaftsanteilen, die die Altgesellschafter aufgrund der Abtretungsklausel geltend machen. Nach dem Wortlaut der Vorschrift des § 3 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG wird der Übergang des Anteils oder des Teils eines Anteils eines Gesellschafters bei dessen Tod auf die anderen Gesellschafter erfasst. Aus dem Wortlaut „bei dessen Tod“ kann gefolgert werden, dass die Norm nur einen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zwischen der Anteilsübertragung und dem Tod verlangt45. Betrachtet man hingegen den nicht qualifizierten Erben, so ist festzustellen, dass dieser originär den Gesellschaftsanteil vom verstorbenen Gesellschafter im Wege der Sonderrechtsnachfolge geerbt hat. Daher müsste er folglich den Gesellschaftsanteil in seiner Erbschaftsteuererklärung als Erwerb von Todes wegen angeben. Hier greift der § 10 Abs. 10 ErbStG ein, der den nicht qualifizierten Erben in bestimmten Fällen davor schützt, dass ihm der gemeine Wert des Gesellschaftsanteils erbschaftsteuerlich zugerechnet wird, obwohl er wirtschaftlich nur die niedrigere Abfindung erhält46. Nach dieser Sonderregelung ist von Anfang an die Abfindungszahlung und nicht der Gesellschaftsanteil Gegenstand des Erbanfalls des nicht qualifizierten Erbens47. 8. Übernahmeklausel Mancherorts wird auch die sog. Übernahmeklausel erwähnt. Hiermit sind die Konstellationen einer zweigliedrigen Personengesellschaft gemeint48. Verstirbt der zweite Gesellschafter und soll nach der gesellschaftsvertraglichen Vereinbarung der überlebende Gesellschafter das gesamte Gesellschaftsvermögen zum Alleineigentum erhalten, dann liegt ein Anwachsungserwerb vor. Der Gleichklang zur Fortsetzungsklausel ist ersichtlich. Fraglich ist, ob die

___________ 44 S. hierzu oben III.2. 45 Ebenso Meincke, 15. Aufl. 2009, § 7 ErbStG Rz. 145; a.A. Gebel in Troll/Gebel/Jülicher, § 3 ErbStG Rz. 266, der einen Fall des § 7 Abs. 7 ErbStG annimmt. 46 Schuck in Viskorf/Knobel/Schuck, 3. Aufl. 2009, § 10 ErbStG Rz. 162. 47 Gebel in Troll/Gebel/Jülicher, § 10 ErbStG Rz. 276. 48 So Wilms in Wilms/Jochum, § 3 ErbStG Rz. 179.1; Meincke, 15. Aufl. 2009, § 3 ErbStG Rz. 63.

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Weiterübertragungsverpflichtung und Nachfolgeklauseln

Übernahmeklausel einen Fall des § 3 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG darstellt. Zweifel könnten sich schon aus dem Wortlaut der Vorschrift ergeben, der einen Übergang des Gesellschaftsanteils auf „die anderen Gesellschafter“ verlangt49. Der BFH50 und die Finanzverwaltung51 wenden gleichwohl § 3 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 ErbStG analog auf die zweigliedrige Personengesellschaft an. Da der überlebende Gesellschafter und spätere Einzelunternehmer den Gesellschaftsanteil des verstorbenen Gesellschafters unmittelbar erwirbt, liegt kein Fall einer Weiterübertragungsverpflichtung vor. 9. Exkurs: Weitergabeverpflichtung aufgrund einer Nachlassteilung Erfolgt die Übertragung von Betriebsvermögen im Rahmen einer Nachlassteilung, so ist hierfür der Erbauseinandersetzungsvertrag die Rechtsgrundlage und nicht eine letztwillige Verfügung des Erblassers oder eine rechtsgeschäftliche Verfügung des Erblassers oder Schenkers. Rechtsgrundlage ist wie gesagt die schuldrechtliche Vereinbarung zwischen den Miterben. Gleichwohl stellt nunmehr der § 13a Abs. 3 Satz 2 ErbStG eine auf einem Erbauseinandersetzungsvertrag beruhende Weitergabeverpflichtung an einen Miterben der normalen Weitergabeverpflichtung nach § 13a Abs. 3 Satz 1 ErbStG gleich. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Befolgung einer Teilungsanordnung des Erblassers. Obgleich es sich bei einer Teilungsanordnung um eine Verfügung des Erblassers handelt (§ 2048 BGB), wird eine solche und die Erbauseinandersetzung erbschaftsteuerlich stets als unbeachtlich erachtet; denn Steuertatbestand ist der Erwerb „durch Erbanfall“ (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG) und nicht der Erwerb „aufgrund“ eines Erbfalles, d.h. das Ergebnis der Abwicklung des Erbfalles52. Aufgrund dieser Betrachtungsweise war es nach der früheren Rechtslage möglich, dass Personen in den Genuss der Steuervergünstigungen des § 13a ErbStG gelangten, auch wenn Sie nach Erbauseinandersetzung nicht Eigentümer des begünstigten Vermögens waren. Dies war insbesondere bei den sog. qualifizierten erbrechtlichen Nachfolgeklauseln der Fall53. Aufgrund dessen ist nunmehr in § 13a Abs. 3 Satz 2 ErbStG die Regelung aufgenommen worden, dass die Zuordnung des Verschonungsabschlags und des Abzugsbetrags bei Weiterübertragungsverpflichtungen auch dann gilt, wenn ein Erbe im Rahmen der Teilung des Nachlasses Vermögen im Sinne des § 13b Abs. 1 ErbStG auf einen Miterben überträgt54.

IV. Schlussbemerkung Im Rahmen der Gestaltung von Nachfolgeklausel in Gesellschaftsverträgen von Personengesellschaften ist stets genau zu überlegen, welche Art der

___________ 49 So Meincke, 15. Aufl. 2009, § 3 ErbStG Rz. 63; zweifelnd wohl auch Wälzholz in Viskorf/Knobel/Schuck, 3. Aufl. 2009, § 3 ErbStG Rz. 157. 50 BFH v. 1.7.1992 – II R 12/90, BStBl. II 1992, 925. 51 R 7 Abs. 2 ErbStR 2003. 52 BFH v. 1.4.1992 – II R 21/89, BStBl. II 1992, 669; R 61 Abs. 2 Satz 1 ErbStR 2003. 53 Hübner in Viskorf/Glier/Hübner/Knobel/Schuck, 2. Aufl. 2004, § 13a ErbStG Rz. 97; s. auch oben unter III.3.c). 54 S. auch Landsittel, ZErb 2009, 11 (15 unter aa.).

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Nachfolgeklausel auch erbschaftsteuerlich optimierend ist. Nicht jede Nachfolgeklausel stellt auch die Inanspruchnahme der Steuerbefreiungen nach § 13a ErbStG sicher, wie dies das Beispiel der Abtretungsklausel zeigt. Vereinbaren die Gesellschafter im Gesellschaftsvertrag, dass sich die Höhe der Abfindung nach dem gemeinen Wert des zu übertragenden Gesellschaftsanteil bestimmt, so liegt bei den Altgesellschaftern kein erbschaftsteuerpflichtiger Vorgang vor und bei dem nicht qualifizierten Erben fällt der nicht begünstigte Abfindungsanspruch in den Nachlass.

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Die steuerliche Behandlung von Bodenschätzen Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung 1. Einleitung 2. BFH-Urteil vom 21.7.2009 – X R 10/07 3. Steuerpflicht von Substanzausbeuteverträgen II. Bergrechtliche Einteilung von Bodenschätzen III. Bodenschatz als selbständiges Wirtschaftsgut IV. Einkünftequalifikation 1. Kein eigenständiges Wirtschaftsgut 2. Eigenständiges Wirtschaftsgut a) Land- und forstwirtschaftliches Betriebsvermögen b) Gewerbliches Betriebsvermögen

c) Substanzausbeutevertrag versus privates Veräußerungsgeschäft? V. Bewertung 1. Einlage 2. Absetzungen für Substanzverringerungen 3. Absetzungen für außerordentliche Abnutzung 4. Teilwertabschreibung VI. Verkehrsteuern 1. Substanzausbeuteverträge in der Grunderwerbsteuer 2. Substanzausbeuteverträge in der Umsatzsteuer VII. Resümee

I. Vorbemerkung 1. Einleitung Der Verfasser begann im November 1975 seine berufliche Laufbahn als Rechtsanwalt in der damaligen Kanzlei Dr. Felix in Köln. Michael Streck war dort bereits Junior-Partner. Seine praktische Arbeit gab ihm Anregungen für fachschriftstellerische Zeitschriftenbeiträge. Er verstand es, junge Kollegen zu motivieren. Dazu gehörte auch das gemeinsame Verfassen praxisorientierter Fachaufsätze. Dieses Glück wurde auch dem Verfasser zuteil. Sein erster Fachaufsatz erschien gemeinsam mit Michael Streck unter dem Titel „Steuerfreie Kiesverkäufe“ in der INF 1976, 1583. Nach der Rechtsprechung des BFH waren bereits damals Substanzausbeuteverträge regelmäßig Pachtverträge, sodass die erzielten Erlöse zu Einkünften aus VuV nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 EStG führten. Ausnahmsweise konnte jedoch ein Kaufvertrag über eine bestimmte Menge Bodensubstanz gegeben sein, mit der Folge, dass eine – steuerfreie – Veräußerung von Privatvermögen vorlag. Der Beitrag in der INF 1976, 1583 analysiert die damalige Rechtsprechung und entwickelt auf dieser Grundlage acht Gestaltungsempfehlungen für einen Kaufvertrag, die dessen steuerliche Einordnung als Verkauf von Privatvermögen sicherstellen sollten. Michael Streck war damals halb so jung wie heute. Der nachfolgende Beitrag geht der Frage nach, wie sich 35 Jahre später die Rechtslage in Bezug auf die 233

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steuerrechtliche Behandlung von Bodenschätzen darstellt, welche Entwicklungen stattgefunden haben und welche Gestaltungsempfehlungen heute aktuell sind. 2. BFH-Urteil vom 21.7.2009 – X R 10/07 Eine sehr anschauliche Illustration der Problematik und des Standes lege artis bietet die aktuelle Entscheidung des BFH vom 21.7.2009 – X R 10/071. Dort hatte ein Landwirt in den Jahren 1986 bis 2000 mehrere Grundstücke mit Kiesvorkommen aus seinem landwirtschaftlichen Vermögensbestand abverkauft. Für die Kiesvorkommen, für die Abbaugenehmigungen vorlagen, wurde jeweils ein gesonderter Kaufpreis ausgewiesen. Der Landwirt erfasste die anteiligen Verkaufserlöse, soweit sie auf dem Grund und Boden entfielen, als Einkünfte aus LuF. Im Übrigen ging er von nichtsteuerbaren Vermögensumschichtungen der Privatsphäre aus. Der BFH folgte ihm darin, die Verkaufserlöse blieben also steuerfrei! 3. Steuerpflicht von Substanzausbeuteverträgen Für die Beurteilung der Steuerpflicht von Substanzausbeuteverträgen stellen sich vorrangig drei Fragen: a) Unter welchen Voraussetzungen stellen Bodenschätze eigenständige Wirtschaftsgüter dar bzw. sind sie unselbständige Bestandteile des Grund und Bodens? b) Ist ein selbständiges Wirtschaftgut „Bodenschatz“ zu bejahen, stellt sich die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen ein selbständiges Wirtschaftsgut „Bodenschatz“ dem (notwendigen oder gewillkürten) land- und forstwirtschaftlichen Betriebsvermögen bzw. dem Betriebsvermögen eines gewerblichen (Abbau-)Unternehmens oder dem Privatvermögen andererseits zuzuordnen ist. c) Erst nach einer Zuordnung des Bodenschatzes zum Privatvermögen stellt sich die Frage der Qualifizierung eines Substanzausbeutevertrages als steuerliche Vermietung und Verpachtung und privatem Veräußerungsgeschäft. Abschließend stellt sich ggf. noch die Frage nach ausbeutungsbedingten Abschreibungen.

II. Bergrechtliche Einteilung von Bodenschätzen Eine Definition des Begriffs Bodenschätze findet sich in § 3 Abs. 1 Bundesberggesetz (BBergG). Danach sind Bodenschätze mit Ausnahme von Wasser alle mineralischen Rohstoffe in festem oder flüssigem Zustand und Gase, die in natürlichen Ablagerungen oder Ansammlungen (Lagerstätten) in oder auf der Erde, auf dem Meeresgrund, im Meeresuntergrund oder im Meerwasser vorkommen.

___________ 1 BFH v. 21.7.2009 – X R 10/07, BFH/NV 2010, 184.

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Die steuerliche Behandlung von Bodenschätzen

Das Bergrecht unterscheidet zwischen grundeigenen und bergfreien Bodenschätzen. Die bergfreien Bodenschätze werden abschließend in § 3 Abs. 3 BBergG aufgezählt, z.B. Kohle, Erdöl. Sie sind grundsätzlich herrenlos2. Ein Eigentumsrecht wird erst durch Aneignung begründet. Das Aneignungsrecht wird nach §§ 6 ff. BBergG staatlich verliehen durch Bergbauberechtigung3. Grundeigene Bodenschätze stehen als Bestandteile des Bodens im Eigentum des Grundeigentümers4. Das Recht zu ihrer Gewinnung steht dem Grundstückseigentümer zu und folgt allein aus dem Eigentum am Grundstück. Bei im Tagebau gewonnenen Bodenschätzen, wie z.B. bei Sand- und Kiesvorkommen, gilt das BBergG nicht. Allerdings besteht nach Landesrecht ein formelles Abbauverbot. Es wird zum Abbau eine öffentlich rechtliche Abbaugenehmigung benötigt. Durch die Abbaugenehmigung wird festgestellt, dass dem Bodenabbau öffentlich-rechtliche Hindernisse nicht entgegenstehen und das formelle Abbauverbot aufgehoben wird5. Ausnahmsweise gilt das BBergG auch für grundeigene Bodenschätze, soweit diese in § 3 Abs. 4 Nr. 1 BBergG aufgezählt sind (z.B. Basaltlava, Bauxit, Dachschiefer, Feldspat) oder untertägig aufgesucht oder gewonnen werden. Für ihren Abbau gelten über den Inhalt des Grundeigentums hinaus gemäß § 34 BBergG die §§ 7 Abs. 1, 8, 9 BBergG mit entsprechenden Erlaubnis- und Bewilligungserfordernissen entsprechend. Rechtstechnisch ist damit zwischen dem Eigentum am Bodenschatz als solchem und dem öffentlich-rechtlichen Gewinnungsrecht, also dem Recht, den Bodenschatz zu lösen und freizusetzen, zu unterscheiden6.

III. Bodenschatz als selbständiges Wirtschaftsgut In der Praxis stehen Sand- und Kiesvorkommen im Vordergrund. Dabei handelt es sich um Grundeigentümerbodenschätze, für die lediglich eine abgrabungsrechtliche (öffentlich-rechtliche) Genehmigung erforderlich ist. Steuerlich ist das Vorkommen ein selbständiges materielles Wirtschaftsgut neben dem Grund und Boden, das sogar einer anderen Vermögenssphäre angehören kann7. Im Ausgangspunkt folgt das Steuerrecht allerdings der zivilrechtlichen Beurteilung. Solange die Bodenschätze im Boden lagern und nicht abgebaut werden, bilden sie steuerlich grundsätzlich eine Einheit mit dem Grund und Boden. Die Entdeckung oder allein die Tatsache des Bekanntseins bodenschatzhaltiger Schichten im Erdboden reicht für die Annahme eines selbständigen Wirtschaftsguts nicht aus. Erforderlich ist vielmehr, dass der entsprechende Teil des Erdbodens einem anderen Nutzungs- und Funktionszusammenhang

___________ 2 3 4 5 6 7

§ 3 Abs. 2 Satz 2 BBergG. Vgl. Schulte, NJW 1981, 88 (90). § 3 Abs. 2 Satz 1 BBergG, § 905 BGB. Vgl. BGH v. 26.1.1984 – III ZR 216/82, NJW 1984, 1169. Vgl. BFH v. 4.12.2006 – GrS 1/05, BStBl. II 2007, 508. Vgl. BFH v. 4.12.2006 – GrS 1/05, BStBl. II 2007, 508.

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zugeführt wird als der Grund und Boden im Übrigen8. Zum eigenständigen Wirtschaftsgut wird der Bodenschatz deshalb erst dann, wenn der Eigentümer oder Nutzungsberechtigte in dem Sinne über ihn verfügt, dass er den Bodenschatz zur nachhaltigen Nutzung in den Verkehr bringt. Das kann in der Weise geschehen, dass mit seiner Aufschließung oder Verwertung begonnen wird oder zumindest aber damit alsbald zu rechnen ist9. Diese Voraussetzung ist spätestens zu dem Zeitpunkt erfüllt, in dem die erforderliche öffentlichrechtliche Abbaugenehmigung erteilt wird10. Die Veräußerung des Grundstücks macht den Bodenschatz allerdings noch nicht zu einem gegenüber dem Grund und Boden selbständigen Wirtschaftsgut, wenn eine Abbaugenehmigung noch nicht vorliegt und der Erwerber kein eigenes wirtschaftliches Interesse an der Ausbeutung hat, das dem eines Abbauunternehmers gleichkommt11. Dabei ist es unerheblich, wenn der Erwerber des Grundstücks mit Rücksicht auf den vorhandenen Bodenschatz einen höheren Quadratmeter-Preis oder ein zusätzliches Entgelt bezahlt. Dieser Mehrpreis wird nicht für ein bereits vorhandenes Wirtschaftsgut Bodenschatz, sondern für eine dem Veräußerer entgehende Nutzungsmöglichkeit entrichtet, die sich noch nicht zu einem selbständigen Wirtschaftsgut entwickelt hat12. Andererseits wird der Bodenschatz auch ohne Vorliegen einer Abbaugenehmigung im Regelfall zur nachhaltigen Nutzung in den Verkehr gebracht und damit als eigenständiges Wirtschaftsgut greifbar, wenn der Steuerpflichtige das Grundstück an einen Abbauunternehmer veräußert und dieser einen im Kaufvertrag separat ausgewiesenen zusätzlichen Kaufpreis für den Bodenschatz aufwendet13. Allerdings gilt diese Vermutung nicht, wenn nach den Umständen des Einzelfalls aus der Sicht des Streitjahres ausnahmsweise nicht in absehbarer Zeit mit einem Beginn der Aufschließung gerechnet werden kann, etwa weil die Erteilung der Abbaugenehmigung bereits abgelehnt worden oder nicht zu erwarten ist oder der Bodenschatz unkonkret in den nächsten 20 bis 50 Jahren als Rohstoffsicherung dienen soll14. Nicht entkräftet wird diese Vermutung allerdings durch die später bekannt werdende Wertlosigkeit

___________ 8 Vgl. BFH v. 21.7.2009 – X R 10/07, BFH/NV 2010, 184; v. 13.7.2006 – IV R 51/05, BFH/NV 2006, 2064. 9 BFH v. 21.7.2009 – X R 10/07, BFH/NV 2010, 184; v. 24.1.2008 – IV R 45/04, BStBl. II 2009, 449; v. 4.12.2006 – GrS 1/05, BStBl. II 2007, 508; v. 13.7.2006 – IV R 51/05, BFH/NV 2006, 2064, jeweils m.w.N. 10 BFH v. 24.1.2008 – IV R 45/04, BStBl. II 2009, 449; v. 26.11.1993 – III R 58/89, BStBl. II 1994, 293. 11 BFH v. 13.7.2006 – IV R 51/05, BFH/NV 2006, 2064 (Abbau für ökologische Zwecke); v. 6.12.1990 – IV R 3/89, BStBl. II 1991, 346 (Nutzung eines Salzstocks zur Lagerung und Wiederaufbereitung von atomaren Material). 12 BFH v. 13.7.2006 – IV R 51/05, BFH/NV 2006, 2064; v. 7.12.1989 – IV R 1/88, BStBl. II 1990, 317 (Verkauf eines kieshaltigen Grundstücks an ein Elektrizitätsunternehmen). 13 BFH v. 4.9.1997 – IV R 88/96, BStBl. II 1998, 657; v. 24.1.2008 – IV R 45/04, BStBl. II 2009, 449; v. 21.7.2009 – X R 10/07, BFH/NV 2010, 184; a.A. noch BMF v. 7.10.1998 – IV B 2 - S 2134 - 67/98, BStBl. I 1998, 1221 Tz. 2b. 14 BFH v. 17.12.2008 – IV R 36/06.

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des Bodenschatzes, die den Kauf als Fehlmaßnahme erscheinen lässt15. Jedenfalls hat es der Steuerpflichtige zumindest teilweise in der Hand, das Entstehen eines eigenständigen Wirtschaftsguts „Bodenschatz“ zu erreichen16.

IV. Einkünftequalifikation 1. Kein eigenständiges Wirtschaftsgut Wird das bodenschatzhaltige Grundstück verkauft, ohne dass der Bodenschatz nach den vorgenannten Grundsätzen bereits als eigenständiges Wirtschaftsgut greifbar geworden ist, teilt der gesamte Erlös – auch soweit er fiktiv auf den Bodenschatz entfällt – das steuerliche Schicksal des veräußerten Grundstücks. Gehört dieses zum Betriebsvermögen, gehört der Veräußerungserlös zu den Betriebseinnahmen. In der Regel werden Einkünfte aus LuF vorliegen. 2. Eigenständiges Wirtschaftsgut Es stellt sich die Frage, welcher Vermögenssphäre das selbständige Wirtschaftsgut „Bodenschatz“ zuzuordnen ist. Bevor der Bodenschatz als selbständiges Wirtschaftsgut greifbar war, war er unselbständiger Teil des Grund und Bodens, in dem er enthalten war. Erstarkt er zum selbständigen Wirtschaftsgut, könnte ihn dieselbe Vermögenszuordnung treffen wie sie für den bodenschatzführenden Grund und Boden gilt. Denkbar ist aber auch, dass das Wirtschaftsgut einem gewerblichen Betriebsvermögen zuzuordnen ist (Abbauunternehmer). Ferner könnte der Steuerpflichtige ein gewerblicher Bodenschatzhändler sein. Ist auch dies nicht der Fall, fällt das Wirtschaftsgut zwingend in das Privatvermögen und der Steuerpflichtige erzielt bei Überlassung des Bodenschatzes an Dritte zur Ausbeute Einkünfte aus VuV oder es handelt sich um private Veräußerungsgeschäften außerhalb des § 23 EStG. a) Land- und forstwirtschaftliches Betriebsvermögen Zum land- und forstwirtschaftlichen Betriebsvermögen gehört der Grund und Boden nur bis zu der Tiefe, zu der die Bodenbearbeitung und die Wurzelverflechtungen reichen. Tiefere Schichten einschließlich Bodenschätzen gehören grundsätzlich zum Privatvermögen17. Diese Sichtweise erklärt, dass der Bodenschatz auch vor seiner Manifestierung als selbständiges Wirtschaftgut kein Annex des bodenschatzführenden Grund und Bodens ist und somit originär im Privatvermögen entsteht18. Der im landwirtschaftlichen Grund und Boden entdeckte Bodenschatz ist ausnahmsweise notwendiges Betriebsvermögen der Land- und Forstwirtschaft, wenn er von Anfang an für Zwecke der Landwirtschaft gewonnen und

___________ 15 16 17 18

BFH v. 24.1.2008 – IV R 45/04, BStBl. II 2009, 449. Lambrecht in Kirchhof, EStG, 9. Aufl. 2010, § 7 Rz. 113. BFH v. 21.7.2009 – X R 10/07, BFH/NV 2010, 184. Crezelius in Kirchhof, EStG, 9. Aufl. 2010, § 5 Rz. 158 – Bodenschätze.

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verwertet wird, z.B. für den Bau oder die Befestigung von Forst- und Wirtschaftswegen19. Eine Willkürung des Bodenschatzes zum land- und forstwirtschaftlichen Betriebsvermögen kommt in der Regel nicht in Betracht. Die Rechtsprechung entnimmt dem durch § 13 EStG umrissenen Tätigkeitsbereich der LuF eine Einschränkung der Befugnis zur Bildung von gewillkürtem Betriebsvermögen. Wirtschaftsgüter, die dem Betrieb der Land- und Forstwirtschaft wesensfremd sind und bei denen eine eindeutige sachliche Beziehung zum Betrieb fehlt, können kein gewillkürtes Betriebsvermögen sein20. Plant der Steuerpflichtige, den Bodenschatz bis zur Erschöpfung selbst oder durch einen anderen ausbeuten zu lassen, kommt eine objektive Eignung des Wirtschaftsguts, dem Betrieb der Land- und Forstwirtschaft zu dienen, nicht in Betracht21. Die bloße Verwendung der Einnahmen für betriebliche Zwecke kann die objektive Eignung nicht ersetzen, sie ist als Einlage zu beurteilen22. Eine solche Tätigkeit ist grundsätzlich der privaten Vermögensverwaltung zuzuordnen23. Demgemäß kann auch ein Bodenschatz nicht gewillkürtes Betriebsvermögen eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebes sein, wenn ihn der Steuerpflichtige nicht von Anfang an für die land- und forstwirtschaftlichen Zwecke bestimmt hat24. b) Gewerbliches Betriebsvermögen Bodenschätze können dem gewerblichen Betriebsvermögen zuzuordnen sein. Werden auf einem Grundstück Bodenschätze entdeckt und anschließend gewerbsmäßig abgebaut und verwertet, liegt notwendiges Betriebsvermögen vor25. Hinsichtlich des gewerblichen Betriebsvermögens gilt keine Einschränkung der Widmungsmöglichkeit zum gewillkürten Betriebsvermögen. Sind die Bodenschätze an sich dem Privatvermögen zuzuordnen, kann sich die Frage stellen, ob im Falle der Veräußerung der Grundstücke die Verwertungserlöse auch betreffend den Bodenschatz dennoch auch ohne Willen des Steuerpflichtigen als gewerbliche Einkünfte zu qualifizieren sind, weil die Verwertungstätigkeit die Grenze der privaten Vermögensverwaltung überschreitet („gewerblicher Bodenschatzhändler“). Dazu enthält das bereits erwähnte BFHUrteil vom 21.7.2009 – X R 10/0726 wichtige Ausführungen: Allein durch die Tatsache der Beantragung der Abbaugenehmigung wird keine gewerbliche Betätigung begründet. Durch die Genehmigung wird zwar die

___________ 19 BFH v. 24.1.2008 – IV R 45/04, BStBl. II 2009, 449; v. 28.10.1982 – IV R 73/81, BStBl. II 1983, 106. 20 BFH v. 24.1.2008 – IV R 45/04, BStBl. II 2009, 449; v. 28.7.1994 – IV R 80/92, BFH/ NV 1995, 288; v. 28.10.1982 – IV R 73/81, BStBl. II 1983, 106. 21 Vgl. H 4.2 (1) EStR – Bodenschatz. 22 BFH v. 28.10.1982 – IV R 73/81, BStBl. II 1983, 106. 23 BFH v. 24.1.2008 – IV R 45/04, BStBl. II 2009, 449. 24 FG München v. 20.3.2009 – 10 K 2702/08. 25 BFH v. 28.10.1982 – IV R 73/81, BStBl. II 1983, 106; BMF v. 7.10.1998 – IV B 2 - S 2134 - 67/98, BStBl. I 1998, 1221 Rz. 3a. 26 BFH v. 21.7.2009 – X R 10/07, BFH/NV 2010, 184.

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Verkehrsfähigkeit des Bodenschatzes erhöht, ein solches Verhalten bewegt sich jedoch noch innerhalb der privaten Vermögensverwaltung. Maßgebend ist, ob durch die vom Steuerpflichtigen entfalteten Tätigkeiten in der Gesamtschau nach der Verkehrsanschauung der privaten Vermögensverwaltung fremd ist und dem „Bild des Handels“ entspricht, mithin durch wiederholte Anschaffung und Veräußerung von Wirtschaftsgütern im Sinne eines marktmäßigen Umschlags von Sachwerten gekennzeichnet sind. Im konkreten Fall veräußerte der Steuerpflichtige über einen Zeitraum von 13½ Jahren durch insgesamt sechs Verkaufsakte an insgesamt vier Abbauunternehmer landwirtschaftliche Grundstücke einschließlich Kiesvorkommen. Für zwei dieser Grundstücke lagen Abbaugenehmigungen vor. Der BFH sah darin noch kein händlertypisches Verhalten. Auch nach den zum gewerblichen Grundstückshandel entwickelten Grundsätzen ergebe sich nichts anderes. Für den Beginn der Haltefrist könne nicht auf die Erteilung der Abbaugenehmigung abgestellt werden, weil sich das Eigentum an dem Grundstück von Anfang an auf das Kiesvorkommen erstreckt habe. Außerdem sei der zeitliche Zusammenhang von 13 ½ Jahren zu groß. c) Substanzausbeutevertrag versus privates Veräußerungsgeschäft? Verkauft der Steuerpflichtige das bodenschatzführende Grundstück ohne Einschränkung, insbesondere ohne sich die Möglichkeit vorzubehalten, das Grundstück nach der Ausbeutung wiederzuerlangen, liegt bezüglich des Bodenschatzes ein privates Veräußerungsgeschäft vor, das außerhalb der Haltefrist von § 23 EStG nicht steuerbar ist, wenn für den Bodenschatz ein besonderer Kaufpreis ausgewiesen wird27. Von der kompletten Veräußerung des Grundstücks mitsamt dem Bodenschatz ist die Gestaltung zu unterscheiden, dass lediglich der Bodenschatz veräußert wird. Dies geschieht regelmäßig dadurch, dass einem Dritten die Ausbeutung des Bodenschatzes in einem bestimmten Umfang gestattet wird. In diesem Fall spricht man von sog. Substanzausbeuteverträgen. Zivilrechtlich liegt regelmäßig ein Pachtvertrag und kein Verkauf von Bodenschätzen vor, weil der weite Fruchtbegriff des § 99 Abs. 1 BGB nicht nur die Erzeugnisse der Sache, sondern auch deren „Ausbeute“ umfasst28. Daraus wird gefolgert, dass auch steuerlich regelmäßig Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung29 vorliegen30. Im Einzelfall kann jedoch eine nur in den Grenzen des § 23 EStG steuerbare Vermögensumschichtung vorliegen, nämlich der Verkauf einer fest begrenzten Menge des Bodenschatzes durch einheitlichen Liefervorgang31. Es genügt nicht, dass sich das Entgelt nach der Menge des gewonnenen Materials

___________ 27 BFH v. 21.7.2009 – X R 10/07, BFH/NV 2010, 184. 28 BGH v. 27.9.1951 – I ZR 85/50, BB 1951, 974; v. 7.2.1973 – VIII ZR 205/71, WM 1973, 386; v. 7.3.1983 – VIII ZR 333/81, WM 1983, 309. 29 § 21 Abs. 1 Nr. 1 EStG. 30 Korn/Strahl in Korn, EStG, § 6 Rz. 250 (Juli 2003). 31 BFH v. 6.5.2003 – IX R 64/98, BFH/NV 2003, 1175; FG München v. 18.11.2009 – 1 K 2836/06, EFG 2010, 585.

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bemisst. Die Grundsätze der Abgrenzung hat der BFH bereits im Urteil vom 5.10.1973 – VIII R 78/7032 niedergelegt. Dort heißt es: „Die Begriffe Vermietung und Verpachtung in § 21 EStG sind nicht in dem Maße an die Begriffe Miete und Pacht des bürgerlichen Rechts gebunden, dass sie nur auf Rechtsverhältnisse zuträfen, die diesen bürgerlich-rechtlichen Begriffen entsprechen. Dies ergibt sich bereits aus Abs. 1 Nr. 4 und aus Abs. 2 des § 21 EStG. Die dort unter die Begriffe Vermietung und Verpachtung eingereihten Lebenssachverhalte können den bürgerlichrechtlichen Begriffen Miete oder Pacht nicht zugeordnet werden. Die Begriffe Vermietung und Verpachtung im einkommensteuerlichen Sinne sind daher umfassender als die vergleichbaren bürgerlich-rechtlichen Begriffe. Dies führt dazu, dass es bei der steuerlichen Zuordnung von Einnahmen zu der Einkunftsart Vermietung und Verpachtung nicht auf die bürgerlich-rechtliche Form und Bezeichnung der von den Beteiligten geschlossenen Verträge ankommt, sondern auf ihren wirtschaftlichen Inhalt.“

Im konkreten Fall hatte der BFH eine als „Kaufvertrag“ bezeichnete Vereinbarung steuerlich als Pachtvertrag eingeordnet, weil im wirtschaftlichen Ergebnis die dingliche Eigentumsübertragung auf den „Käufer“ nur bis zum Ende der Ausbeute Bestand haben sollte und seine Rechtsstellung während dieser Zeit der eines Pächters angenähert war. Diese Grundsätze hat der BFH in etlichen anderen Entscheidungen bestätigt33. Inzwischen betrachtet der BFH die Abgrenzung als eine geklärte Rechtsfrage, der eine grundsätzliche Bedeutung nicht mehr zukommt und die vom FG als Tatsacheninstanz zu beurteilen ist34. Das Bundesverfassungsgericht hat eine gegen diese Rechtsprechung gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen35. Die im Beitrag Streck/Stahl, INF 1976, 1583 herausgearbeiteten Gestaltungsempfehlungen sind nach wie vor aktuell36. In der Literatur wurde und wird die Rechtsprechung des BFH dagegen scharf kritisiert. Hervorzuheben ist insbesondere die Kritik von Knobbe-Keuk, die Substanzausbeuteverträge als nichtsteuerbare Vermögensumschichtungen angesehen hat, weil die Bodenbestandteile durch die Ausbeutung aufgezehrt würden und nicht reproduzierbar seien. Von einer Fruchtziehung im quellentheoretischen Sinne könne daher keine Rede sein. Der weite Fruchtbegriff des § 99 Abs. 1 BGB verstehe sich nicht von selbst, sondern beruhe auf zivilrechtlichen Zweckmäßigkeitserwägungen, die steuerlich nicht maßgebend seien. Zudem sei den Motiven zum BGB zu entnehmen, dass mit der Einbeziehung der Ausbeute in den Fruchtbegriff die Grenze vom Ertrag zur Substanz überschritten sei. Das ausgebeutete Grundstück stelle ein „großes, weites, tiefes Loch“ dar. Das Entgelt, das der Eigentümer für die Überlassung von Bestand-

___________ 32 BFH v. 5.10.1973 – VIII R 78/70, BStBl. II 1974, 130. 33 Vgl. nur BFH v. 12.12.1969 – VI R 197/67, BStBl. II 1970, 210; v. 14.10.1982 – IV R 19/79, BStBl. II 1983, 203; v. 24.11.1992 – IX R 30/88, BStBl. II 1993, 296; v. 21.7.1993 – IX R 9/89, BStBl. II 1994, 231; v. 6.5.2003 – IX R 64/98, BFH/NV 2003, 1175. 34 Vgl. BFH v. 3.1.2006 – IX B 162/04, BFH/NV 2006, 738. 35 BVerfG v. 3.6.1992 – 1 BvR 583/86, DStR 1993, 274. 36 So Kulosa in Hermann/Heuer/Raupach, § 21 Rz. 65 (Juli 2005).

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teilen der Bodensubstanz erhalte, solle dieses Loch in vermögensmäßiger Hinsicht ausgleichen37.

V. Bewertung 1. Einlage Ein im Privatvermögen entdeckter Bodenschatz kann in ein Betriebsvermögen eingelegt werden, sobald dieser als selbständiges materielles Wirtschaftsgut greifbar geworden ist. Die Einlage ist nach § 6 Abs. 1 Nr. 5 Satz 1 EStG mit dem Teilwert zu bewerten. Dies ist durch den Beschluss des Großen Senats geklärt38. 2. Absetzungen für Substanzverringerungen Bodenschätze sind keine abnutzbaren Wirtschaftsgüter. Sie unterliegen daher nicht der AfA nach § 7 Abs. 1 EStG. Jedoch kommen Absetzungen für Substanzverringerungen (AfS) nach § 7 Abs. 6 EStG in Betracht, soweit der Steuerpflichtige hierfür Aufwendungen getätigt hat. Hatte der Steuerpflichtige zwar Aufwendungen für den Grund und Boden, hatte er aber keine Kenntnis von dem darin enthaltenen Bodenschatz (oder wurde er für wertlos gehalten) oder war dieser aus anderen Gründen noch nicht greifbar, können die Aufwendungen für den Grund und Boden später nicht teilweise auf den Bodenschatz verlagert werden, nachdem er zum eigenständigen Wirtschaftsgut wurde39. Zudem entstehen Bodenschätze grundsätzlich im Privatvermögen, auch wenn das bodenschatzführende Grundstück zum Betriebsvermögen gehört. Zusätzlich verbietet § 11d Abs. 2 EStDV die Vornahme von AfS, wenn der Steuerpflichtige den Bodenschatz auf einem ihm gehörenden Grundstück entdeckt hat, selbst wenn er Aufwendungen für den Bodenschatz gehabt hätte. Der Steuerpflichtige kann den Bodenschatz in ein (Sonder-)Betriebsvermögen einlegen. Die Einlage ist mit dem Teilwert zu bewerten (s.o.). Ausgehend vom Teilwert könnte der Steuerpflichtige AfS nach § 7 Abs. 6 EStG beanspruchen. Ob dies möglich ist, war zwischen den BFH-Senaten umstritten40. Der Beschluss des Großen Senats lehnt die aufwandwirksame Vornahme von AfS nach einer Einlage des im Privatvermögen entdeckten Bodenschatzes mit dem

___________ 37 Knobbe-Keuk, DB 1985, 144 (147), unter Hinweis auf Enno Becker, Die Grundlagen der Einkommensteuer, 1940, S. 455 (457); dem folgend Nds. FG v. 22.4.1998 – XIII 255/95, EFG 1999, 775; kritisch weiterhin Drenseck in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 21 Rz. 51; v. Reden in Littmann/Bitz/Pust, Einkommensteuerrecht, § 21 Rz. 61 (Nov. 2005); jeweils m.w.N.; zustimmend allerdings Kulosa in Hermann/ Heuer/Raupach, EStG, § 21 Rz. 64 (Juli 2005). 38 BFH v. 4.12.2006 – GrS 1/05, BStBl. II 2007, 508; ebenso H 6.12 EStR 2008 – Bodenschatz; anders noch BFH v. 19.7.1994 – VIII R 75/91, BStBl. II 1994, 846, der von einem nichteinlagefähigen Nutzungsrecht ausging. 39 Kulosa in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 7 Rz. 194. 40 Dafür BFH v. 26.11.1993 – III R 58/89, BStBl. II 1994, 293; dagegen BFH v. 19.7.1994 – VIII R 75/91, BStBl. II 1994, 846.

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Teilwert ab41. Die Situation ähnele der Einlage eines Nutzungsrechts. Im Privatvermögen könnten entsprechende Absetzungen nicht vorgenommen werden, vielmehr müssten die Nutzungs- und Verwertungserlöse brutto versteuert werden42. Allein durch die Überführung in den betrieblichen Bereich dürften keine zusätzlichen Absetzungsmöglichkeiten geschaffen werden. Der Teilwert des Bodenschatzes verkörpere den Abbauertrag, der nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung stets der Besteuerung unterliegen soll. Die Einnahmen aus dem Fruchtgenuss dürften durch Abschreibungen auf den Teilwert nicht „entsteuert“ werden. Möglich bleibe jedoch, den „verbleibenden Buchwert“ im Falle der Veräußerung des Kiesvorkommens gegen den Veräußerungspreis gegenzurechnen43. Bereits Knobbe-Keuk hatte hierzu eine überzeugende andere Auffassung vertreten. Die AfS diene nicht lediglich der Verteilung von Anschaffungs- und Herstellungskosten, sondern sei Ausgleich für tatsächlichen Wertverlust. Durch sie werde der Grundsatz verwirklicht, dass Vermögensumschichtungen nicht zu steuerpflichtigem Einkommen führen, weil das Gesamtvermögen nicht gemehrt werde, wenn die Einnahme lediglich den anderweitigen Vermögensverlust ausgleiche44. Eine Gestaltungsempfehlung zur Generierung von Abschreibungsvolumen besteht darin, den Bodenschatz zum fremdüblichen Preis an eine vom Steuerpflichtigen selbst beherrschte GmbH oder GmbH & Co. KG zu veräußern45. 3. Absetzungen für außerordentliche Abnutzung Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7 EStG sind Absetzungen für außerordentliche Abnutzung (AfaA) nach § 7 Abs. 1 Satz 7 EStG auch dann möglich, wenn der Bodenschatz zur Erzielung von Einkünften nach § 21 EStG genutzt wird. Sie kommen auch bei nicht abnutzbaren Wirtschaftgütern in Betracht46, wenn das Wirtschaftsgut entweder eine Substanzeinbuße (technische Abnutzung) oder eine Einschränkung der Nutzungsmöglichkeit (wirtschaftliche Abnutzung) erleidet. Allein der Umstand, dass sich der Bodenschatz wegen seiner vorliegenden Konsistenz nicht so verwerten lässt, wie ursprünglich gedacht, rechtfertigt jedoch keine AfaA. Erforderlich ist vielmehr, dass ein von außen kommendes Ereignis unmittelbar körperlich auf das Wirtschaftsgut einwirkt, wie z.B. Hochwasser. Dies ist nicht der Fall, wenn sich lediglich die vorhandene Kon-

___________ 41 BFH v. 4.12.2006 – GrS 1/05, BStBl. II 2007, 508; ebenso H 6.12, H 7.5 EStR 2008. 42 §§ 21 Abs. 1 Nr. 1 EStG, 11d Abs. 2 EStDV. 43 Kritisch zum Beschluss des Großen Senats Hoffmann in Littmann/Bitz/Pust, Einkommensteuerrecht, §§ 4, 5 Rz. 1414 f. (Nov. 2007); Hoffmann, DStR 2007, 851. 44 Knobbe-Keuk, DB 1985, 144 (148 f.). 45 Hoffmann, DStR 2007, 851. Denkbar ist auch eine Einbringung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten Strahl, EFG-BeSt 2007, 19, oder Einräumung einer Gesellschafterforderung; Kanzler, DStR 2007, 1101 (1106). 46 Kulosa in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 7 Rz. 120.

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sistenz des Bodenschatzes als ungeeignet herausstellt. Dies stellt eine bloße Wertminderung dar47. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, wie und zu welchem Zeitpunkt eine Wertbeeinträchtigung des bodenschatzführenden Grund und Bodens durch den Abbau des Bodenschatzes steuerrechtlich zu berücksichtigen ist. Solche Beeinträchtigungen sind z.B. die Abtragung der Erdschicht und des Deckgebirges; bei Erdölförderung auch die Verseuchung durch auslaufendes Öl. Die h.M. befürwortet eine Teilwertabschreibung, die bereits während des Abbaus zulässig ist, wenn absehbar ist, dass nach dem Abbau Nutzungsbeschränkungen aus Naturschutzgründen angeordnet werden48. 4. Teilwertabschreibung Da zumindest der im eigenen Grund und Boden entdeckte Bodenschatz nach dem zuvor Gesagten regelmäßig dem steuerlichen Privatvermögen zuzuordnen ist, kommt eine Teilwertabschreibung nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG nicht in Betracht49. Ob eine Teilwertabschreibung möglich ist, wenn der Bodenschatz im (Sonder-)Betriebsvermögen gehalten wird, ist noch nicht geklärt. Nach der Entscheidung des Großen Senats zur AfS dürfte dies jedenfalls dann nicht der Fall sein, wenn der Bodenschatz im Privatvermögen entdeckt und in ein Betriebsvermögen eingelegt worden ist. Der Große Senat hat die Teilwertabschreibung in seinem Beschluss nicht angesprochen und nur verklausuliert vom „verbleibenden Buchwert“ beim späteren Abgang gesprochen50.

VI. Verkehrsteuern 1. Substanzausbeuteverträge in der Grunderwerbsteuer Im Grunderwerbsteuerrecht wird der zivilrechtlichen Betrachtung gefolgt. Begründet der Substanzausbeutevertrag einen Anspruch auf Übereignung des Grundstücks, so liegt ein nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG steuerbarer und steuerpflichtiger Erwerbsvorgang vor. Dass nach den schuldrechtlichen Vereinbarungen nicht die volle wirtschaftliche Verwertungsbefugnis übertragen und eine Verpflichtung zur Rückübertragung nach Abschluss der Substanzausbeute begründet worden ist, beseitigt den Steuertatbestand nicht51. Soweit der Rückerwerb innerhalb von zwei Jahren stattfindet, kommt jedoch eine Aufhebung der Steuerfestsetzung nach § 16 Abs. 2 Nr. 1 GrEStG in Betracht.

___________ 47 BFH v. 24.1.2008 – IV R 45/05, BStBl. II 2009, 449. 48 S. dazu Kulosa in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 7 Rz. 192, der im Übrigen eine AfaA befürwortet. 49 BFH v. 24.1.2008 – IV R 45/05, BStBl. II 2009, 449. 50 Für Teilwertabschreibung Hoffmann in Littmann/Bitz/Pust, EStG, §§ 4, 5 Rz. 1415 (Nov. 2007); ablehnend Mitterpleininger in Littmann/Bitz/Pust, EStG, § 13 Rz. 55d (Nov. 2008); Brandis in Blümich, EStG, § 7 Rz. 606a (Dez. 2007); Schulze-Osterloh, BB 2007, 1325; Weber-Grellet, FR 2007, 524. 51 BFH v. 24.10.1990 – II R 68/88, BFH/NV 1991, 624.

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2. Substanzausbeuteverträge in der Umsatzsteuer Die Qualifikation des Substanzausbeutevertrags ist maßgebend für die Frage der Steuerbefreiung. Begründet der Vertrag einen Übereignungsanspruch und liegt deshalb ein grunderwerbsteuerbarer Vorgang nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG vor, ist der Umsatz steuerbefreit nach § 4 Nr. 9 Buchst. a UStG mit der Optionsmöglichkeit nach § 9 UStG. Wird das Grundstück im Rahmen eines Pachtvertrags einem anderen zur Ausbeutung überlassen, greift die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 12 Buchst. a UStG. Im Einzelfall kann aber auch ein nicht steuerbefreiter Kaufvertrag über eine bestimmte Ausbeutemenge vorliegen. Es gelten die einkommensteuerrechtlichen Kriterien52.

VII. Resümee Das Steuerrecht hat eine kurze Halbwertzeit und weist selten Konstanten auf. Eine solche Konstante scheint offenbar die steuerrechtliche Beurteilung von Bodenschatzverkäufen zu sein. In den letzten 35 Jahren haben sich in diesem Bereich kaum neue Erkenntnisse ergeben. Der Beitrag in INF 1976, 1583, ist also zur Freude des Verfassers nach wie vor aktuell. Der 70. Geburtstag von Michael Streck gibt dem Verfasser dieser Zeilen nicht nur Anlass, ihm zu gratulieren, sondern ihm auch für die Anregung zu danken, sich mit diesem Klassiker des Steuerrechts zu befassen.

___________ 52 BFH v. 26.3.1956 – V 286/56, HFR 1963, 273; v. 28.6.1973 – V R 7/72, BStBl. II 1973, 717.

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Eckhard Wälzholz

Ausschlagung gegen Abfindung in der ertragsteuerlichen Gestaltungspraxis Inhaltsübersicht I. Einführung 1. Ausschlagungsgründe 2. Zivilrechtliche Grundlagen 3. Zivilrechtliche Wirkungen der Ausschlagung 4. Abfindungsvereinbarung II. Kritik III. Abgrenzung der Veräußerungsfälle 1. Die Ausschlagung einer Alleinerbschaft a) Nießbrauchsvorbehalt b) Versorgungsleistungen c) Ausschlagung gegen Barabfindung

d) Abfindungslose Ausschlagung und Erfüllung von Zugewinnausgleichs- und Pflichtteilsansprüchen e) Vorbehalt von Betrieben, Mitunternehmeranteilen, Kapitalgesellschaftsanteilen 2. Ausschlagung eines Miterben 3. Die Zurechnung zwischenzeitlich erzielter Einkünfte 4. Gleichbehandlung der Anfechtung der Erbschaftsannahme 5. Probleme des Schuldzinsenabzugs IV. Erbschaftsteuerliche Folgen V. Zusammenfassung

Der Jubilar ist einer der profiliertesten und renommiertesten Prozess- und Gestaltungsberater der steuerorientierten Gestaltungsszene, der gleichzeitig stets den Blick auf die zivilrechtlichen Grundlagen hat und diese kennt. Entsprechend der praktischen Ausrichtung des Jubilars wird im Folgenden den aktuellen praktischen Problemen von Ausschlagungsgestaltungen nachgegangen. Dabei zeigt sich, dass die Diskrepanzen zwischen Zivil- und Steuerrecht im derzeitigen Rechtszustand zu erheblichen Rechtsunsicherheiten führen. Der Verfasser zeigt praxistaugliche Gestaltungen auf und versucht damit ein in der Praxis immer wieder nützliches Rechtsinstrumentarium einer größeren Rechtssicherheit zuzuführen. Im Zentrum stehen die ertragsteuerlichen Konsequenzen einer Ausschlagung gegen Abfindung; die erbschaftsteuerlichen Folgen werden nur am Rande gestreift.

I. Einführung 1. Ausschlagungsgründe Die Gründe für die Durchführung einer Ausschlagung können vielfältig sein. Einerseits können zivilrechtliche Aspekte im Vordergrund stehen, wenn beispielsweise ein überschuldeter Erbe nach § 83 InsO den Vermögenszugriff des

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Insolvenzverwalters verhindern möchte1. Ferner können missglückte qualifizierte Nachfolgeklauseln, Nachteile bei der Betriebsaufspaltung oder die sonst eintretende unfreiwillige Entnahme von Wirtschaftsgütern aus dem Betriebsvermögen und dergleichen durch eine rechtzeitige Ausschlagung ersetzt werden2. Häufigster Grund der Erwägung einer Ausschlagung ist hingegen das Berliner Testament, das in jungen Jahren der Ehegatten gefertigt wurde und den später entstandenen Vermögensverhältnissen in keiner Weise mehr gerecht wird. Denn das Berliner Testament ist erbschaftsteuerlich regelmäßig nachteilig3. Diese Nachteile lassen sich nachträglich durch eine geschickte Ausschlagungsgestaltung vermeiden4. 2. Zivilrechtliche Grundlagen Der Erbanfall des Erben tritt im Wege der Universalsukzession nach §§ 1922, 1942 Abs. 1 BGB automatisch mit dem Eintritt des Todesfalles ein. Auch wenn der Anfall zwar von selbst erfolgt, hat der Erbe nach § 1943 BGB die Wahl, ob er das Erbe annehmen oder ausschlagen möchte. Die Ausschlagung ist jedoch ausgeschlossen, sowie die Annahme erfolgt ist, § 1943 BGB5. Die Ausschlagung kann nach § 1944 Abs. 1 BGB grundsätzlich nur innerhalb von 6 Wochen ab dem Zeitpunkt erfolgen, in dem der Erbe von dem Anfall und dem Grund der Berufung Kenntnis erlangt hat. Fahrlässige Unkenntnis genügt insoweit nicht. Ferner beginnt die Frist nicht vor Bekanntgabe der Verfügung von Todes wegen durch das Nachlassgericht an den Erben. Hat der Erblasser im Todeszeitpunkt oder der Erbe bei Fristbeginn seinen letzten Wohnsitz im Ausland gehabt, so tritt an die Stelle der Sechswochenfrist eine Sechsmonatsfrist. Für die Gestaltungspraxis ist daher zu beachten, dass sämtliche Ausschlagungsgestaltungen zeitnah zum Eintritt des Todes des Erblassers vorgenommen werden sollten. Ferner hat der Erbe sicherzustellen, dass er nicht durch unüberlegte Handlungen konkludent die Annahme der Erbschaft erklärt und danach nicht mehr ausschlagen kann. Die Annahme der Erbschaft durch Fristversäumnis kann angefochten werden, § 1956 BGB. Die Annahme und die Ausschlagung können nach § 1947 BGB nicht unter einer Bedingung

___________ 1 S. Uhlenbruck, InsO, 13. Aufl. 2010, § 83 Rz. 1 ff.; zu Gestaltungsproblemen bei überschuldeten Erben Everts, ZErb 2005, 353; Gutbell, ZEV 2001, 260; Hartmann, ZNotP 2005, 82; Limmer, ZEV 2004, 133 ff. 2 S. dazu Flick, DStR 2000, 1816 f. Die Ausschlagung ermöglicht eine nachträgliche Korrektur der unerwünschten steuerlichen Rechtsfolgen, bei der die eingetretenen Steuerschäden wegen der zivilrechtlichen Rückwirkungsfiktion wieder beseitigt werden. 3 Bühler, BB 1997, 551; Dressler, NJW 1997, 2848; Ebeling, ZEV 2000, 87; Kesseler/ Thouet, NJW 2008, 125; Everts, NJW 2008, 557; J. Mayer, ZEV 1998, 50; N. Mayer, ZEV 1997, 325; Moench, DStR 1987, 139; Moench, ZEV 1999, 308 und 345; Muscheler, ZEV 2001, 377; Schuhmann, UVR 2000, 137; Wien, DStZ 2001, 29. 4 S. dazu auch Berresheim, RNotZ 2007, 501 ff.; Groh, DB 1992, 1312 ff.; Hannes, ZEV 1996, 10 ff.; Wachter, ZNotP 2004, 176; Zimmermann, ZEV 2001, 5 ff.; zu einem Gestaltungs- und Formulierungsvorschlag s. Wälzholz, NWB 2010, 1360 ff. 5 Von Sothen in Sudhoff, Unternehmensnachfolge, 5. Aufl. 2005, § 54 Rz. 164.

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oder einer Zeitbestimmung erfolgen6. Erfolgt der erbrechtliche Erwerb aufgrund unterschiedlicher Berufungsgründe, so kann der Erbe aus einem Berufungsgrund ausschlagen und aus dem anderen annehmen. Gleiches gilt, wenn ein Erbe aus verschiedenen Gründen zu mehreren Erbteilen zum Erben berufen ist. Zivilrechtlich ist auch die Ausschlagung eines Vermächtnisses möglich, hierfür gilt grundsätzlich keine Ausschlagungsfrist7. Die Ausschlagung des Vermächtnisses erfolgt durch Erklärung gegenüber dem Beschwerten, § 2180 Abs. 2 Satz 1 BGB. Nach der Annahme des Vermächtnisses kann die Ausschlagung nicht mehr erfolgen. 3. Zivilrechtliche Wirkungen der Ausschlagung Steuerrechtlich ist die Norm des § 1953 BGB über die Wirkung der Ausschlagung von besonderer Bedeutung. Diese Norm gilt über den Verweis in § 2180 BGB auch für die Ausschlagung des Vermächtnisses. Danach begründet die Ausschlagung der Erbschaft im Wege der Fiktion, dass der Anfall des Vermögens an den Ausschlagenden als nicht erfolgt gilt. Die Erbschaft fällt stattdessen mit gesetzlich fingierter Rückwirkung8 demjenigen an, welcher berufen sein würde, wenn der Ausschlagende zur Zeit des Erbfalls nicht gelebt hätte. Der Anfall gilt wiederum als mit dem Erbfall erfolgt. Die zwischenzeitliche Vermögensposition des vorläufigen Erben vor Ausschlagung wird zivilrechtlich also wieder beseitigt9. Diese zivilrechtliche Fiktion führt zu der typischen Fragestellung, inwieweit diese zivilrechtlichen Vorgaben im Steuerrecht nachzuvollziehen und abzubilden sind. Dies kann insbesondere für Fragen der Einkünftezurechnung und der Realisierung von Veräußerungsgewinnen von Bedeutung sein (s. dazu unten). 4. Abfindungsvereinbarung Typischerweise erfolgt die Ausschlagung einer Erbschaft oder eines Vermächtnisses gegen Abfindung10. Die Wirksamkeit der Ausschlagung kann wegen deren Bedingungsfeindlichkeit nicht von der Erfüllung der Abfindungsverpflichtung abhängig gemacht werden. Werden Abfindungen gewährt, so stellt sich ertragsteuerlich die Frage, wie diese Gegenleistung ertragsteuerlich zu charakterisieren ist. Nach Auffassung des BMF11 in Tz. 37 des Erlasses zur Erbauseinandersetzung vertritt die Finanzverwaltung die Ansicht, dass die Ausschlagung der Erbschaft gegen eine Abfindung der entgeltlichen Veräuße-

___________ 6 Zu Abgrenzungsproblemen Specks, ZEV 2007, 356 ff. – insbes. auch zur Ausschlagung zugunsten Dritter; Berresheim, RNotZ 2007, 501 (512); Palandt/Edenhofer, BGB, 69. Aufl. 2010, § 1947 Rz. 2. 7 Palandt/Edenhofer, BGB, 69. Aufl. 2010, § 2180 Rz. 1; von Sothen in Sudhoff, Unternehmensnachfolge, 5. Aufl. 2005, § 54 Rz. 164. 8 S. von Sothen in Sudhoff, Unternehmensnachfolge, 5. Aufl. 2005, § 54 Rz. 163. 9 Zu weiteren Rechtsfolgen der rückwirkenden Beseitigung der Erbenstellung s. Palandt/Edenhofer, BGB, 69. Aufl. 2010, § 1953 Rz. 3 f. 10 S. Berresheim, RNotZ 2007, 501 (508). 11 BMF v. 14.3.2006 – IV B 2 - S 2242 - 7/06, BStBl. I 2006, 253 = FR 2006, 438.

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rung des Erbteils gleichstehe. Der BMF verweist dabei auf ein BFH-Urteil vom 20.4.200412. Soweit die Finanzverwaltung sich auf den BFH beruft13 so geht die Finanzverwaltung insoweit fehl. In der Entscheidung des BFH taucht das Wort „Ausschlagung“ gar nicht auf. In der BFH-Entscheidung geht es zwar um einen entgeltlichen Erwerb eines Erbteils. Dass jedoch die Ausschlagung der Erbschaft eines Miterben gegen Abfindung ein entgeltliches Veräußerungsgeschäft oder aber ein Anschaffungsvorgang für den Erben sei, wird hier in keiner Weise konstatiert. Wohl aber hat der BFH sich in einer Entscheidung vom 4.6.199614 für eine vergleichbare wirtschaftliche Betrachtungsweise ausgesprochen. Gegen die Annahme einer Ausschlagung gegen Abfindung als entgeltliches Veräußerungsgeschäft hat der BFH sich in seiner Entscheidung vom 15.3.2000 geäußert15. In der Entscheidung zum gewerblichen Grundstückshandel16 fehlt es jedoch an einer gründlichen Auseinandersetzung mit der Problematik, sodass nicht sicher festgestellt werden kann, wie überlegt diese Aussagen sind. Die Rechtfertigung und Grenzen dieser Ansicht sind jedoch unklar und sollen im Folgenden – nach einer Kritik – näher untersucht werden.

II. Kritik Die Ansicht der Finanzverwaltung, wonach die Ausschlagung einer Erbschaft gegen Abfindung ein entgeltliches, gewinnrealisierendes Veräußerungsgeschäft für den vorläufigen Erben sei, ist keineswegs zweifelsfrei17. Sie führt zu einer Doppelbelastung des gleichen Erwerbs mit Einkommensteuer und Erbschaftsteuer. Ausgehend von den zivilrechtlichen Grundlagen ist der später ausschlagende vorläufige Erbe rechtlich nie Erbe geworden. Es hat lediglich ein vorläufiger Vermögensanfall stattgefunden. Da er jedoch nie endgültiger Erbe geworden ist, ist es durchaus zweifelhaft, dem Ausschlagenden die Möglichkeit einer Gewinnrealisierung durch Ausschlagung gegen Abfindung zuzuerkennen. Gleichwohl ist bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise festzustellen, dass der Gesetzgeber dem vorläufigen Erben die Rechtsmacht in die Hand gibt, den Wert des Nachlasses durch Ausschlagung ganz oder teilweise zu realisieren18. Diesen Gedanken äußert auch der BFH19. Insoweit lässt sich die Berechtigung der Ausschlagung als entgeltliches Veräußerungsgeschäft nicht von der Hand weisen.

___________ 12 13 14 15 16

BFH v. 20.4.2004 – IX R 5/02, BStBl. II 2004, 987. BFH v. 20.4.2004 – IX R 5/02, BStBl. II 2004, 987. BFH v. 4.6.1996 – IX R 59/94, BStBl. II 1998, 431. BFH v. 15.3.2000 – X R 130/97, BStBl. II 2001, 530 unter II.5. der Gründe. S. die Ausführungen des Jubilars zu den damals aktuellen Entwicklungen des Gewerblichen Grundstückshandels Streck/Schwedhelm, Gewerblicher Grundstückshandel – Die Entwicklung der jüngeren Rechtsprechung. DStR 1988, 527 ff. 17 Ablehnend von Sothen in Sudhoff, Unternehmensnachfolge, 5. Aufl. 2005, § 54 Rz. 169; Felix, DStZ 1991, 50; Zimmermann, ZEV 2001, 5 (7); Hannes, ZEV 1996, 10 (14); Spiegelberger, Vermögensnachfolge, 1994, Rz. 674. 18 S. Groh, DB 1992, 1312 ff.; Berresheim, RNotZ 2007, 501 (516); ebenso bereits Tiedtke/Wälzholz, BB 2001, 234 ff.; Tiedtke/Wälzholz, ZEV 2002, 183 f. 19 BFH v. 4.6.1996 – IX R 59/94, BStBl. II 1998, 431.

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Für die Gestaltungspraxis ist jedenfalls die Auffassung der Finanzverwaltung zugrundezulegen und auf dieser Grundlage nach Gestaltungsmöglichkeiten zu suchen. Im Folgenden wird daher angenommen, dass der Grundsatz der Realisierung eines Veräußerungsgeschäftes bei Ausschlagung gegen Abfindung zutreffend ist.

III. Abgrenzung der Veräußerungsfälle Unterstellt man die Ausschlagung gegen Abfindung als entgeltliches, gewinnrealisierendes Veräußerungsgeschäft und damit spiegelbildlich als entgeltliches Anschaffungsgeschäft des Erben20, so ist gleichwohl zwischen den unterschiedlichen Arten von Gegenleistungen und Vereinbarungen zu differenzieren. Insoweit ist genau zu untersuchen, welche Form von Abfindungsleistungen zu welchen Rechtsfolgen führt. Dabei ist zwischen der Ausschlagung einer Alleinerbschaft und der Ausschlagung eines Erbteils zu differenzieren. Zunächst werden die Fälle der Ausschlagung der Alleinerbschaft erörtert, anschließend werden die Probleme der Erbteilsausschlagung dargestellt. 1. Die Ausschlagung einer Alleinerbschaft Die folgenden Untersuchungen orientieren sich an folgendem Praxisfall: Erblasser E hat in jungen Jahren mit seiner Ehefrau F ein Berliner Testament verfasst, wonach sie sich gegenseitig zu Alleinerben eingesetzt und die beiden gemeinschaftlichen Kinder zu Erben je zur Hälfte eingesetzt haben. Die Ehegatten sind im gesetzlichen Güterstand verheiratet. Als E verstirbt, verfügt F über ein Vermögen von 1 Mio. Euro und E über ein Vermögen von 12 Mio. Euro. Die länger lebende F überlegt, das Erbe zugunsten ihrer beiden Kinder auszuschlagen gegen a) Vorbehalt eines Nießbrauches an einem GmbH-Geschäftsanteil, dem Familienheim gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 4b ErbStG und einer Mietwohnimmobilie mit einem Jahresmietertrag von 100 000 Euro. b) Vorbehalt von monatlich wiederkehrenden Zahlungen (Versorgungsleistungen) gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG im Hinblick auf das im Nachlass befindliche Einzelunternehmen / die GmbH-Beteiligung von mindestens 50%. c) Vorbehalt einer Barzahlung der Kinder von 1 Mio. Euro. Im Nachlass befindet sich nur ein Barvermögen von 10 000 Euro. d) Überhaupt keine Abfindung; sie beabsichtigt jedoch nach der Ausschlagung sowohl den Zugewinnausgleichsanspruch von 5 Mio. Euro als auch den kleinen Pflichtteilsanspruch in Höhe von 0,75 Mio. Euro geltend zu machen nach §§ 1371, 2303 ff. BGB. e) Vorbehalt einer im Nachlass des E befindlichen Mietwohnimmobilie und gegen Vorbehalt der im Nachlass befindlichen GmbH-Beteiligung des Privatvermögens im Wert von 3 Mio. Euro.

In den vorstehend bezeichneten Fällen ist jeweils hinsichtlich der ertragsteuerrechtlichen Wirkungen zu differenzieren.

___________ 20 So ausdrücklich Berresheim, RNotZ 2007, 501 (516).

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a) Nießbrauchsvorbehalt Der dogmatische Ausgangspunkt der herrschenden Meinung besteht darin, dass dem vorläufigen Erben die tatsächliche Verfügungsbefugnis über die vorläufig angefallene Erbschaft zusteht. Auch wenn diese Rechtsposition rückwirkend wieder entfällt, steht dem Erben gleichwohl die faktische Möglichkeit zu, über die Ausschlagung zu entscheiden und Gegenleistungen hierfür auszuhandeln bzw. sich einzelne Gegenstände des Nachlasses vorzubehalten21. Vor diesem Hintergrund hat der BFH22 festgestellt, dass der dem Ausschlagenden eingeräumte Nießbrauch als Vorbehaltsnießbrauch einzustufen sei. Dem folgt auch die Finanzverwaltung in ihrem Nießbrauchserlass23. Diese Auffassung ist konsequent und überzeugend. Selbstverständlich ist diese Auffassung jedoch nicht. Denn der zivilrechtliche Erwerb des Vorbehaltsnießbrauchs erfolgt in folgenden Schritten: – 1. Schritt: Ausschlagung der Erbschaft und Übergang des gesamten Vermögens auf den endgültigen Erben. – 2. Schritt: Der endgültige Erbe räumt an dem ihm gehörenden Vermögen dem vorläufigen Erben einen Nießbrauch ein. Zivilrechtlich betrachtet handelt es sich eigentlich um einen Zuwendungsnießbrauch, den der endgültige Erbe dem vorläufigen Erben einräumt, der im Zeitpunkt der Einräumung des Nießbrauchs jegliche erbrechtliche Position rückwirkend verloren hat. Da jedoch die gesamte Beurteilung des Vorgangs als grundsätzlich entgeltliches Veräußerungsgeschäft auf der Erwägung beruht, dass die zumindest faktische Verfügungsmacht beim vorläufigen Erben liegt, ist die Annahme eines Vorbehaltsnießbrauchs die allein konsequente Folge. Dementsprechend kann der Vorbehaltsnießbraucher, also der vorläufige Erbe, dem zivilrechtlich nach § 1953 Abs. 1 BGB niemals die Erbschaft tatsächlich zugestanden hat, gleichwohl die Abschreibungen geltend machen24. Diese Auffassung entspricht der ganz herrschenden Meinung25. Gleichzeitig ist der Vorbehalt eines Nießbrauchs niemals entgeltliche Gegenleistung und kann damit nicht zu einem Veräußerungsgeschäft führen26. Dies gilt nicht nur für den Nießbrauch an einer im Privatvermögen befindlichen Immobilie, sondern ebenso für den Nießbrauch an Kapitalgesellschafts- oder Personengesellschaftsanteilen. Der Vorbehalt des Nießbrauchs an einem Personengesellschaftsanteil führt tatsächlich jedoch dazu, dass bei entsprechender Ausgestaltung sowohl der

___________ 21 S. auch Tiedtke/Wälzholz, BB 2001, 234 ff.; Tiedtke/Wälzholz, ZEV 2002, 183 f. 22 BFH v. 4.6.1996 – IX R 59/94, BStBl. II 1998, 431. 23 BMF v. 24.7.1998 – IV B 3 - S 2253 - 59/98, BStBl. I 1998, 914 = FR 1998, 749 = DStR 1998, 1175 Tz. 39. 24 BFH v. 4.6.1996 – IX R 59/94, BStBl. II 1998, 431. 25 S. nur Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 591. 26 BMF v. 24.7.1998 – IV B 3 - S 2253 - 59/98, BStBl. I 1998, 914 = FR 1998, 749 = DStR 1998, 1175 Tz. 40; BFH v. 28.7.1981 – VIII R 124/76, BStBl. II 1982, 378; BFH v. 10.4.1991 – XI R 7, 8/84, BStBl. II 1991, 791; BFH v. 24.4.1991 – XI R 5/83, BStBl. II 1991, 793; a.A. Jansen/Jansen, Der Nießbrauch im Zivil- und Steuerrecht, 8. Aufl. 2009, Rz. 382.

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endgültige Erbe Mitunternehmer wird als auch der Ausschlagende27. Der vorläufige Erbe, also der Ausschlagende, hätte sich damit einen Mitunternehmeranteil des Nachlasses vorbehalten. Dieser Fall ist vom Bundesfinanzhof nicht entschieden; auch die Finanzverwaltung nimmt zu diesem Aspekt keine Stellung. Auch dieser Fall ist m.E. jedoch als unentgeltlicher Vorbehaltsnießbrauch an einem Mitunternehmeranteil zu beurteilen. b) Versorgungsleistungen Für die Vergangenheit hat der BFH28 die Auffassung vertreten, dass die Ausschlagung einer Erbschaft gegen lebenslängliche Versorgungsleistungen als dauernde Last anzuerkennen sei und damit bei ertragsteuerlicher Betrachtungsweise zu einem unentgeltlichen Rechtsübergang des begünstigten Nachlassvermögens auf den endgültigen Erben gegen dauernde Last zugunsten des Ausschlagenden führt. Die Finanzverwaltung hat zu dieser Konstellation weder in dem dritten noch in dem neuen, vierten Rentenerlass vom 11.3.201029 Stellung bezogen. Das Recht der Versorgungsleistungen ist durch das JStG 2008 in § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG neu gefasst worden. Seitdem stellt der Gesetzgeber in der genannten Norm auf eine „Vermögensübertragung“ ab. Genau genommen liegt bei der Ausschlagung gegen Abfindung jedoch zunächst keine Vermögensübertragung des vorläufigen Erben auf den endgültigen Erben vor. Der endgültige Erbe erwirbt das Nachlassvermögen nämlich zivilrechtlich unmittelbar vom Erblasser. Gleichwohl kann nicht geleugnet werden, dass die tatsächliche Verfügungsbefugnis über die Ausschlagungsentscheidung in der Zwischenzeit bis zum Ablauf der Ausschlagungsfrist beim vorläufigen Erben lag. Insoweit handelt es sich bei einer Ausschlagung gegen Vereinbarung von lebenslänglichen wiederkehrenden Leistungen, die aus den Erträgen des übergehenden Vermögens geleistet werden können um eine vergleichbare Vermögensübertragung. Dementsprechend ist m.E. auch nach neuem Recht von Versorgungsleistungen im Sinne des § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG auszugehen30. Dementsprechend handelt es sich einerseits um einen unentgeltlichen Vermögensübertragungsvorgang, der also zu keiner Gewinnrealisierung beim Ausschlagenden führt. Ferner können die Versorgungsleistungen beim endgültigen Erben nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG als Sonderausgaben abgezogen werden und sind beim vorläufigen Erben nach § 22 Nr. 1b EStG als sonstige Einkünfte steuerpflichtig. Das Gesamtvermögen eines Nachlasses, den der vorläufige Erbe ausschlägt, besteht typischerweise aus Mischvermögen. Da Versorgungsleistungen § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG jedoch nur noch bei Übergang von bestimmtem Betriebs-

___________ 27 BFH v. 16.12.2009 – II R 44/08; BFH v. 10.12.2008 – II R 34/07, ZEV 2009, 149 mit Anm. Götz; Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 15 Rz. 305. 28 BFH v. 17.4.1996 – X R 160/94, BStBl. II 1997, 32. Zustimmend von Sothen in Sudhoff, Unternehmensnachfolge, 5. Aufl. 2005, § 54 Rz. 166; auch Wachter, ZNotP 2004, 176 (188). 29 BMF v. 11.3.2010 – IV C 3 – S 2221/09/10004, DStR 2010, 545 = BStBl. I 2010, 227. S. dazu Geck, ZEV 2010, 161; Grün, NWB 2010, 1042; Korn, KÖSDI 2010, 16920; Risthaus, DB 2010, 744 und 803; Seitz, DStR 2010, 629; Wälzholz, DStR 2010, 850. 30 Ebenso wohl Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 591; so bereits Wälzholz, FR 2008, 641; Wälzholz, NWB 2010, 1360 (1369).

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vermögen begünstigt ist, sollte in der Ausschlagungsvereinbarung die Zuordnung der Versorgungsleistungen zu einem begünstigten Betrieb, einem begünstigten Mitunternehmeranteil oder einer begünstigten GmbH-Beteiligung vereinbart werden31. Anderenfalls müsste nach überzeugender Auffassung der Finanzverwaltung32 die Versorgungsleistung auf den Gesamtnachlass aufgeteilt werden. Demnach wäre nur eine Teilanerkennung der Versorgungsleistungen gewährleistet und im Übrigen ein entgeltlicher Verkauf verwirklicht. c) Ausschlagung gegen Barabfindung Der klassische Fall eines entgeltlichen Veräußerungsgeschäftes, das beim ausschlagenden, vorläufigen Erben zu Einkünften nach §§ 16, 18 Abs. 3, 14, 17, 20 Abs. 2, § 23 EStG führen kann, liegt vor, wenn der Erbanteil ausgeschlagen wird und gleichzeitig der endgültige Erbe sich im Rahmen der Ausschlagungsvereinbarung als Abfindung verpflichtet, Barzahlungen zu leisten33. Dies ist zweifelsfrei der Fall, soweit es sich um Bargeldbeträge handelt, die nicht aus dem Nachlass selbst stammen. In dem oben getroffenen Praxisfall, Variante c) handelt es sich daher bei der getroffenen Vereinbarung in voller Höhe um ein entgeltliches Veräußerungsgeschäft34. In Höhe der Aufwendungen des endgültigen Erwerbers hat dieser Anschaffungskosten. Regelmäßig wird die Vereinbarung der Abfindung nicht dem vollen Wert des Reinnachlasses entsprechen, sondern der ausschlagende vorläufige Erbe wird sich regelmäßig nur einen Teil des Wertes des Nachlasses vorbehalten. Aus Sicht der Gestaltungspraxis ist es hierfür entscheidend, dass die Beteiligten im Rahmen der Abfindungsvereinbarung festlegen, auf welche Wirtschaftsgüter des übertragenden Vermögens welche Gegenleistungen entfallen. Denn bei der Gesamterbschaft handelt es sich um eine Sachgesamtheit. Werden keine weiteren Vereinbarungen hierzu getroffen, so wird die Gegenleistung insgesamt entsprechend der Wertverhältnisse auf sämtliche Wirtschaftsgüter des Nachlasses verteilt. Dies kann zu steuerlich unerwünschten Wirkungen führen. Gleichzeitig ist es von Rechtsprechung35 und Finanzverwaltung36 anerkannt, dass die Beteiligten den Gegenwert einer Gegenleistung im Rahmen von Vereinbarung der vorweggenommenen Erbfolge einzelnen Wirtschaftsgütern oder Sachgesamtheiten zuordnen können. Hat ein im Nachlass befindlicher Betrieb daher beispielsweise einen Buchwert von 1 Mio. Euro und einen gemeinen Wert von 10 Mio. Euro und befindet sich im Nachlassvermögen privates, nicht steuerverstricktes Immobilienvermögen von 8 Mio. Euro, so

___________ 31 BMF v. 11.3.2010 – IV C 3 - S 2221/09/10004, DStR 2010, 545 = BStBl. I 2010, 227 Tz. 47; Risthaus, DB 2010, 803 (807); Wälzholz, NWB 2010, 1360 (1369). 32 BMF v. 11.3.2010 – IV C 3 - S 2221/09/10004, DStR 2010, 545 = BStBl. I 2010, 227 Tz. 47. 33 Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 591. 34 Gleichzeitig bestünde in Variante c) nach den folgenden Ausführungen die Möglichkeit, die im Nachlass vorhandenen 10 000 Euro vorzubehalten und nur bzgl. der 990 000 Euro eine Gegenleistung zu vereinbaren. Insoweit kommt es m.E. auf die genaue Formulierung der Vereinbarung an. 35 BFH v. 27.7.2004 – IX R 54/02, BStBl. II 2006, 9. 36 BMF v. 26.2.2007 – IV C 2 - S 2230 - 46/06, IV C 3 - S 2190 - 18/06, BStBl. I 2007, 269.

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kann bei Ausschlagung gegen eine Abfindungszahlung von 4 Mio. Euro diese vollständig als Gegenleistung für bestimmte oder alle privaten Immobilien vereinbart werden37. Bei Vereinbarung einer Abfindungsleistung von beispielsweise 9 Mio. Euro kann diese zu 8 Mio. Euro den Immobilien als Gegenleistung zugeordnet werden und zu 1 Mio. Euro dem Betrieb. Auf diese Art und Weise lassen sich wegen der Einheitstheorie38 entgeltliche Veräußerungsgeschäfte vermeiden, da erst bei Überschreiten des Buchwertes ein Veräußerungsgewinn eintritt. In entsprechenden Veräußerungsfällen kommen §§ 16 Abs. 4, 34 Abs. 3 EStG zur Anwendung39, sofern die dort geregelten sachlichen Voraussetzungen im Einzelfall gegeben sind. Problematisch ist das Vorliegen eines entgeltlichen Veräußerungsgeschäftes, wenn zwar im Nachlass steuerverstricktes Vermögen vorhanden ist, die in bar zu leistende Abfindung jedoch den Betrag des im Nachlass vorhandenen Barvermögens nicht überschreitet und der Ausschlagende sich keinen über den Nachlass hinausgehenden Barbetrag auszahlen lässt, sondern die bestimmten im Nachlass vorhandenen Konten, Wertpapierdepots oder beispielsweise Goldbestände körperlich und gegenständlich vorbehält. Zivilrechtlich handelt es sich bei dieser Abwandlung der Gestaltung zwar um einen Vorgang, bei dem die entsprechenden Wirtschaftsgüter zunächst im Rahmen der Ausschlagung auf den endgültigen Erben übergehen und erst im Wege der Erfüllung einer Verpflichtung auf den Ausschlagenden zu übertragen sind. Grundlage der Besteuerung durch die herrschende Meinung ist jedoch, dass dem Ausschlagenden die zumindest faktische und wirtschaftliche Verfügungsgewalt über den Nachlass zusteht. Der Sachverhalt wird ertragsteuerlich so behandelt, als habe der Ausschlagende die Erbschaft angenommen und anschließend den Nachlass auf den endgültigen Erben übertragen. Behält er sich hierfür ein Entgelt vor, so ist dies besteuerungswürdig. Konsequenterweise ist dann jedoch der Vorbehalt einzelner Wirtschaftsgüter des Nachlassvermögens kein entgeltliches Veräußerungsgeschäft. Hätte der Erbe nämlich die Erbschaft angenommen und anschließend lediglich Teileinheiten des Nachlasses übertragen unter Vorbehalt einzelner Wirtschaftsgüter des Nachlassvermögens, so wäre auch darin kein entgeltliches Veräußerungsgeschäft zu sehen. Dies gilt auch für entsprechendes Barvermögen. Hinsichtlich der Formulierung entsprechender Gestaltungen ist darauf zu achten, dass konkrete einzelne Wirtschaftsgüter wie Konten und Wertpapierdepots des Nachlasses vorbehalten werden.

___________ 37 Dieser Gedanke liegt auch BMF v. 11.3.2010 – IV C 3 - S 2221/09/10004, DStR 2010, 545 = BStBl. I 2010, 227 Tz. 47 zugrunde. 38 S. BMF v. 13.1.1993 – IV B 3 - S 2190 - 37/92, BStBl. I 1993, 80 Rz. 35 ff.; Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 58 m.w.N. 39 BFH v. 10.7.1986 – IV R 12/81, BStBl. II 1986, 811; BMF v. 13.1.1993 – IV B 3 S 2190 - 37/92, BStBl. I 1993, 80 Rz. 36.

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d) Abfindungslose Ausschlagung und Erfüllung von Zugewinnausgleichs- und Pflichtteilsansprüchen Von einem entgeltlichen Veräußerungsgeschäft durch Ausschlagung gegen Abfindung sind die Fälle zu unterscheiden, in denen der vorläufige Erbe ohne Vereinbarung jeglicher Abfindung ausschlägt. In bestimmten Fällen, nämlich denjenigen des § 2306 BGB und des § 1371 BGB steht einerseits dem Ehegatten als Erben und andererseits einem durch Vermächtnisse, Auflagen, Testamentsvollstreckung oder Vor- und Nacherbschaft beschwerten Erben das Recht zu, das vorläufig angefallene Erbe auszuschlagen und stattdessen den Pflichtteil nach § 2303 BGB zu verlangen. Der ausschlagende Ehegatte hat darüber hinaus neben dem Anspruch auf den sog. kleinen Pflichtteil ferner die Möglichkeit, den Zugewinnausgleichsanspruch nach § 1371 BGB, konkret berechnet, geltend zu machen40. Diese Zahlungsansprüche des Ausschlagenden entstehen von Gesetzes wegen und sind nicht als Gegenleistung des endgültigen Erben gegenüber dem Ausschlagenden einzustufen41 und führen daher nicht zu Anschaffungskosten beim Zahlungsverpflichteten. Entsprechend den Fällen des erbrechtlichen Erwerbs und Erfüllung der Pflichtteilsansprüche handelt es sich hierbei um vollständig unentgeltliche Vorgänge, die Erfüllung des Zugewinnausgleichs- und Pflichtteilsanspruchs führt daher beim endgültigen Erben weder zu Anschaffungskosten, beim Ausschlagenden nicht zu einem entgeltlichen Veräußerungsgewinn. Ferner können eventuelle Schuldzinsen des endgültigen Erben nicht einkommensteuerrechtlich geltend gemacht werden42. In der Praxis sollte jedoch davor gewarnt werden, vorschnell das Erbe auszuschlagen und auf Pflichtteilsansprüche zu hoffen. Denn Pflichtteilsansprüche entstehen grundsätzlich nur, wenn der nahe Angehörige durch Verfügung von Todes wegen enterbt wurde. Die Ausschlagung berechtigt regelmäßig nicht zur Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen. Dies ist nur in den Fällen des § 2306 BGB und des § 1371 BGB möglich. Ein entgeltliches Veräußerungsgeschäft kann in dieser Gestaltungsvariante wiederum eingreifen, wenn der endgültige Erbe nicht in der Lage ist, die gesetzlich entstehenden Barzahlungsansprüche zu erfüllen und stattdessen steuerverstricktes eigenes Vermögen oder steuerverstricktes Nachlassvermögen an den Ausschlagenden überträgt43.

___________ 40 S. Berresheim, RNotZ 2007, 501 (506); Wälzholz, DStR 2009, 2104 (2105); Palandt/Edenhofer, BGB, 69. Aufl. 2010, § 2306 Rz. 5; Palandt/Brudermüller, BGB, 69. Aufl. 2010, § 1371 Rz. 18; Flick, DStR 2000, 1816. 41 So auch sonst für die Erfüllung von Pflichtteils- und Zugewinnausgleichsansprüchen BMF v. 14.3.2006 – IV B 2 - S 2242 - 7/06, BStBl. I 2006, 253 = DB 2006 Beilage 4/2006 = FR 2006, 438, Rz. 35; Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 592. 42 BMF v. 14.3.2006 – IV B 2 - S 2242 - 7/06, BStBl. I 2006, 253 = DB 2006 Beilage 4/2006 = FR 2006, 438, Rz. 35; Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 592; BFH v. 2.3.1993 – VIII R 47/90, BStBl. II 1994, 619; BFH v. 25.11.1993 – IV R 66/93, BStBl. II 1994, 623. 43 S. BFH v. 16.12.2004 – III R 38/00, BStBl. II 2005, 554; Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 599.

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Ausschlagung gegen Abfindung in der ertragsteuerlichen Gestaltungspraxis

e) Vorbehalt von Betrieben, Mitunternehmeranteilen, Kapitalgesellschaftsanteilen Wie in der vorstehend geschilderten letzten Abhandlung ist ein entgeltliches Veräußerungsgeschäft m.E. in der Abwandlung e) zu verneinen. Wiederum ist der Sachverhalt vergleichbar mit einem Fall der vorweggenommenen Erbfolge, bei dem der vorläufige Erbe die Erbschaft annimmt und anschließend Teile des Gesamtnachlasses auf den endgültigen Erben überträgt. Der rein rechtstechnische Umstand, dass der Gesamtnachlass zunächst auf den endgültigen Erben übergeht und dieser die vorbehaltenen Wirtschaftseinheiten auf den Ausschlagenden zurückübertragen muss, kann keine Rolle spielen, da die Ausschlagung zwar zivilrechtlich nicht auf einen Teil des Nachlasses beschränkt werden kann, § 1950 BGB, gleichwohl aber der Ausschlagende sich gleich einen Teil des Nachlassvermögens vorbehält. Dies liegt auch vollständig auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung des BFH, der den Nießbrauch des Ausschlagenden dementsprechend als Vorbehaltsnießbrauch und der die dauernde Last zugunsten des Ausschlagenden als Versorgungsleistungen wie im Fall der vorweggenommenen Erbfolge beurteilt (s. bereits oben). Auch auf diese Art und Weise lassen sich daher Gewinnrealisierungstatbestände vermeiden und lassen sich wirtschaftlich und ertragsteuerrechtlich die Wirkungen einer Teilausschlagung erreichen, die zivilrechtlich nicht möglich ist. 2. Ausschlagung eines Miterben Grundsätzlich gelten die vorstehenden Ausführungen für die Ausschlagung durch einen Alleinerben entsprechend für die Fälle der Ausschlagung durch einen Miterben. In einer Hinsicht ist der Fall jedoch nach wohl herrschender Meinung abweichend zu beurteilen. Handelt es sich nämlich um die Ausschlagung durch einen Miterben, so ist der Sachverhalt bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise auf der Grundlage der Auffassung der Finanzverwaltung so zu beurteilen, als habe der Miterbe seinen Miterbanteil auf den endgültigen Erben veräußert. Die wichtigsten Gestaltungsmöglichkeiten zur Vermeidung der Entgeltlichkeit bei einem Alleinerben müssten beim Miterben daher wohl scheitern: Der Miterbe ist zivilrechtlich nicht in der Lage, sich einzelne Wirtschaftsgüter oder Vermögenseinheiten der Erbengemeinschaft vorzubehalten. Sie stehen ihm nicht allein zu. Er ist im Rahmen der Erbengemeinschaft lediglich gesamthänderisch an Betrieben, Kapitalgesellschaftsanteilen oder Konten des Nachlasses beteiligt, nicht aber an diesen Wirtschaftsgütern unmittelbar. Die Ausschlagung des Miterben gegen Vorbehalt einer GmbH-Beteiligung des Nachlasses setzt daher die Mitwirkung sämtlicher verbleibender Miterben voraus. Selbst wenn diese Mitwirkung zu erreichen ist, entspricht dieser wirtschaftliche Sachverhalt einer Erbauseinandersetzung in der Form des Ausscheidens eines Miterben aus der Erbengemeinschaft. Erfolgt das Ausscheiden eines Miterben aus der Erbengemeinschaft gegen Barabfindung oder gegen Sachwertabfindung, so handelt es sich nach wohl herrschender Meinung auch insoweit um ein entgeltliches Rechtsgeschäft44. Lediglich im Anwendungsbereich des § 6 Abs. 5 EStG, also bei Überführung eines Wirt-

___________ 44 BMF v. 14.3.2006 – IV B 2 - S 2242 - 7/06, BStBl. I 2006, 253 = FR 2006, 438, Rz. 50, 51.

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schaftsguts einer gewerblichen Gesamthand in ein anderes Betriebsvermögen eines Mitunternehmers, geht die Finanzverwaltung von einer zwingenden Buchwertfortführung aus45. Diese Gestaltung wird auch anzuerkennen sein, wenn es sich um einen vollständigen Betrieb oder Teilbetrieb handelt, der vom Ausschlagenden fortgeführt wird. Bei einer bloßen GmbH-Beteiligung, die nach § 20 Abs. 2 EStG oder § 17 EStG steuerverstrickt ist und ins Privatvermögen überführt wird, wird diese Möglichkeit hingegen nicht bestehen. Die Gestaltungsvariante nach oben 1.d), zur Vermeidung eines Veräußerungsgeschäftes durch Ausschlagung und Geltendmachung des Pflichtteils nach § 2303, 2306 BGB oder des Zugewinnausgleichsanspruchs nach § 1371 BGB, besteht auch bei Ausschlagung eines Miterbenanteils. 3. Die Zurechnung zwischenzeitlich erzielter Einkünfte Zivilrechtlich hat die Ausschlagung Rückwirkung auf den Todeszeitpunkt. Sie muss ferner zeitnah nach dem Todesfall erfolgen, innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Sechswochen- oder Sechsmonatsfrist des § 1944 BGB. Aus diesem Grunde verbleiben dem vorläufigen Erben auch nicht die in der Zwischenzeit aufgelaufenen Einkünfte. Auch diese gehen automatisch auf den endgültigen Erben über, s. § 1959 BGB. Gegebenenfalls sind erlangte Gegenstände des vorläufigen Erben an den endgültigen Erben nach den Regeln der Geschäftsführung ohne Auftrag herauszugeben46. Ferner kann die Ausschlagung nur bis zur Annahme der Erbschaft erfolgen, sodass insoweit auch nicht davon ausgegangen werden kann, dass der vorläufige Erbe mit Einkünfteerzielungsabsicht ein Unternehmen fortführen wollte47. Soweit gleichwohl zwischenzeitlich Steuerbescheide ergangen sein sollten, so handelt es sich insoweit bei der Ausschlagung um ein rückwirkendes Ereignis gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO48. 4. Gleichbehandlung der Anfechtung der Erbschaftsannahme Die Annahme einer Erbschaft kann unter bestimmten Umständen angefochten werden, s. §§ 1954, 119, 1956 BGB. Die Anfechtung der Erbschaftsannahme kann auch aufgrund der Fristversäumung für die Ausschlagung erfolgen. Die Wirkung einer solchen Anfechtung besteht nach § 1957 BGB darin, dass die Anfechtung der Annahme als Ausschlagung gilt; damit fällt der zwischenzeitliche Erbanfall endgültig wieder weg. Der endgültige Erbe gilt als Erbe von Anfang an, § 1953 BGB. Die Fälle der Anfechtung der Erbschaftsannahme mit der Wirkung einer Ausschlagung sind ebenso zu behandeln wie die vorstehend geschilderten Sachverhalte der originären Ausschlagung der Erbschaft.

___________ 45 BMF v. 14.3.2006 – IV B 2 - S 2242 - 7/06, BStBl. I 2006, 253 = FR 2006, 438, Rz. 52. 46 S. dazu Palandt/Edenhofer, BGB, 69. Aufl. 2010, § 1953 Rz. 2. 47 Wie hier Markl in Lademann, EStG, § 15 Rz. 171; Groh, DB 1992, 1312. Zur Einkünftezurechnung zwischen Erbfall und Vermächtniserfüllung s. auch Tiedtke/ Peterek, ZEV 2007, 349 ff. 48 Wacker in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 16 Rz. 591; von Sothen in Sudhoff, Unternehmensnachfolge, 5. Aufl. 2005, § 54 Rz. 165.

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Ausschlagung gegen Abfindung in der ertragsteuerlichen Gestaltungspraxis

5. Probleme des Schuldzinsenabzugs Soweit es sich nach den vorstehenden Ausführungen bei dem Entgelt an den Ausschlagenden um ein entgeltliches Anschaffungsgeschäft des endgültigen Erben handelt und dieser die Abfindung mit Kredit finanzieren muss, so kann der Erbe diese Zinsaufwendungen ertragsteuerlich als Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben geltend machen, je nachdem, welchen Nachlassgegenständen die Gegenleistung zugeordnet wird. Soweit die „Abfindung“ darin besteht, dass der Ausschlagende sich Wirtschaftsgüter des Nachlasses vorbehält, ist die Frage eines Schuldzinsenabzuges unproblematisch – der Finanzierungszusammenhang von betrieblichen Krediten bleibt unverändert. Soweit von der Gestaltungsmöglichkeit Gebrauch gemacht wird, dass ohne Abfindung ausgeschlagen wird, jedoch anschließend gesetzlich entstandene Zugewinnausgleichsansprüche oder Pflichtteilsansprüche geltend gemacht werden, so kann der Erbe die darauf entfallenden Schuldzinsen nach herrschender Meinung nicht bei seinen Einkünften als Werbungskosten oder Betriebsausgaben abziehen49.

IV. Erbschaftsteuerliche Folgen Die erbschaftsteuerlichen Folgen50 der Ausschlagung gegen Abfindung sind grundsätzlich in § 3 Abs. 2 Nr. 4 ErbStG geregelt51. Die Abfindung, die der endgültige Erbe an den vorläufigen, ausschlagenden Erben zu leisten hat, gilt als vom Erblasser zugewandt. Aus diesem Grunde hat m.E. bei Zuwendung des Familienheims oder eines begünstigten Betriebsvermögens an den ausschlagenden Erben dieser die Möglichkeit, die jeweiligen Begünstigungen nach §§ 13a, b, 19a ErbStG bzw. des § 13 Abs. 1 Nr. 4b ErbStG in Anspruch zu nehmen. Gleiches gilt für den Fall des § 13c ErbStG. Gleichzeitig ist der Finanzverwaltung zuzustimmen, dass der endgültige Erbe, der über entsprechend begünstigtes Vermögen als Abfindung an den Ausschlagenden verfügt, selbstverständlich nicht in den Genuss dieser Privilegierungen gelangen kann. Zweifelsfrei muss es erbschaftsteuerlich sein, dass der endgültige Erbe für diejenigen Wirtschaftsgüter begünstigter Vermögenseinheiten, die er endgültig unmittelbar erwirbt, auch sämtliche Betriebsvermögensbegünstigungen und sonstigen Begünstigungen in Anspruch nehmen kann. Dies ist durch unklare Aussagen der Finanzverwaltung52 in dem Erbschaftsteuererlass vom 25.6.2009 zwischenzeitlich zweifelhaft geworden53.

___________ 49 S. BFH v. 11.8.1994 – IV B 2 - S 2242/33/94, BStBl. I 1994, 603; BMF v. 14.3.2006 – IV B 2 - S 2242 - 7/06, BStBl. I 2006, 253 = FR 2006, 438, Rz. 35; BFH v. 2.3.1993 – VIII R 47/90, BStBl. II 1994, 619; BFH v. 27.7.1993 – VIII R 72/90, BStBl. II 1994, 625. 50 Auch mit der ErbStG hat Streck sich immer wieder befasst, s. z.B. Streck, NJW 2005, 805; Streck, DStR 1997, 1800 ff.; Streck/Schwedhelm/Olbing, DStR 1994, 1441 ff. und 1481 ff. (zum internationalen ErbStG); Streck, NJW 2001, 2059 ff. 51 S. Berresheim, RNotZ 2007, 501 (508); von Sothen in Sudhoff, Unternehmensnachfolge, 5. Aufl. 2005, § 54 Rz. 168. 52 Koordinierter Ländererlass v. 25.6.2009, BStBl. I 2009, 713, Abschn. 9 Abs. 3 Nr. 1. 53 S. zu diesen Problemen Hübner, Erbschaftsteuerreform 2009, S. 444; Pach-Hanssenheimb, DStR 2008, 957 (959); Wälzholz, NWB 2009, 2803 (2811), Wälzholz, ZEV 2009, 113 (115).

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Eckhard Wälzholz

V. Zusammenfassung Die Ausschlagung eines Erbes gegen Abfindung wirft zahlreiche komplexe ertragsteuerliche und teilweise auch erbschaftsteuerliche Rechtsfragen auf. Der vorstehende Beitrag widmet sich schwerpunktmäßig den ertragsteuerlichen Folgen. Hierbei ist zwischen den jeweiligen Gestaltungen genau zu differenzieren. In manchen Fällen tritt ein entgeltliches gewinnrealisierendes Veräußerungsgeschäft ein, während dies teilweise durch geschickte Gestaltung zu vermeiden ist, z.B. durch Vereinbarung von Versorgungsleistungen oder einem Vorbehaltsnießbrauch. Dabei können ferner von Gesetzes wegen entstehende Zugewinnausgleichs- oder Pflichtteilsansprüche genutzt werden. Darüber hinaus lassen sich Veräußerungsvorgänge durch Zuordnung von Gegenleistungen zu einzelnen Wirtschaftsgütern des Nachlasses steuern. Der Vorbehalt von Wirtschaftsgütern des Nachlasses verhindert den Eintritt eines entgeltlichen Veräußerungsgeschäfts – auch dann, wenn Barvermögen des Nachlasses körperlich vorbehalten wird. Bei Ausschlagung eines Miterbanteils sind die Möglichkeiten der Vermeidung von steuerpflichtigen Veräußerungsgeschäften enger gezogen.

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Franz Wassermeyer

Die Besteuerung des Gewinnanteils des persönlich haftenden Gesellschafters einer Kommanditgesellschaft auf Aktien Inhaltsübersicht I. Vorwort II. Einführung III. Der bisherige Meinungsstand 1. Monistisch ermittelter Teil des Gewinns versus mitunternehmerischer Gewinnanteil 2. Zur Diskussion stehende Problembereiche 3. Wurzeltheorie IV. Steuerliche Überlegungen 1. In Betracht kommende Lösungsansätze a) Lösung 1 (handelsrechtliche Ermittlung des Gewinnanteils) b) Lösung 2 (monistische Gewinnermittlung) c) Lösung 3 (Mitunternehmerkonzept) d) Lösung 4 (Teil des an sich bei der KGaA sachlich steuerpflichtigen Gewinns)

2. Teil des Gewinns einer KGaA vor dem Hintergrund der Begriffe „Gewerbebetrieb“, „gewerbliches Unternehmen“, „Mitunternehmer“ und „Unternehmer“ 3. Konsequenzen aus der Annahme einer Ausgliederungs- und Zurechnungsfunktion 4. „Gewinn“ der KGaA als Ausgangsgröße für die Ermittlung des „Teils des Gewinns“ a) „Teil des Gewinns“ im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG = Gewinnanteil im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG b) Steuerbefreiungstatbestände c) Kriterien der persönlichen Steuerpflicht d) Steuerermäßigungstatbestände e) Sonstige Besteuerungstatbestände V. Schlusswort

I. Vorwort Wer um einen Beitrag zu einer Festschrift gebeten wird, muss sich zwangsläufig Gedanken über das von ihm zu behandelnde Thema machen. Dabei liegt es auf der Hand, dass man sich einerseits an den Interessen des zu Ehrenden und andererseits an eigenen Interessen orientiert. So kann es eigentlich nicht verwundern, dass ein ehemaliges Mitglied des Körperschaftsteuersenats des BFH in der Festschrift für Michael Streck über ein körperschaftsteuerrechtliches Thema schreibt. Die Besonderheit besteht dennoch darin, dass das ausgewählte Thema auf die Kommanditgesellschaften auf Aktien (KGaA) als einen einerseits vor allem in Deutschland, andererseits aber auch hier wenig verbreiteten Rechtsträger zielt. Es geht darum, ein Grundproblem der KGaA auf der Grundlage allgemeiner Rechtsüberlegungen zu lösen. Der Verfasser hofft, damit dem Adressaten dieser Festschrift eine Freude zu bereiten. Wir kennen uns von Kindesbeinen an. Schon unsere Eltern waren eng befreundet. Wir haben deshalb das „Du“ über Zeiten beibehalten, in denen jeder seinen 259

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eigenen beruflichen Weg ging. Zu seinem 70. Geburtstag kann man Michael Streck nur wünschen: viel Gesundheit und ad multos annos!

II. Einführung Das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 3.6.20091 und die dazu von Kramer2 und Hageböke3 verfassten Anmerkungen machen schlagartig die Fülle der Probleme deutlich, die bezüglich der Besteuerung des persönlich haftenden Gesellschafters (phG) einer KGaA im deutschen Steuerrecht bestehen. Ursache der Probleme ist eine objektiv unklare Rechtslage. Im Kern geht es um die Streitfrage, ob der phG einer KGaA gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG immer, nie oder nur in Teilbereichen – wenn ja, in welchen? – wie ein Mitunternehmer im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu besteuern ist. Dies berührt einerseits den Begriff „Gewinnanteil“ im Sinne der beiden Vorschriften und andererseits den bei der KGaA gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG vorzunehmenden Betriebsausgabenabzug. Für die Besteuerung eines Mitunternehmers gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG gilt das Prinzip der transparenten Besteuerung. Dieses Prinzip baut auf einem Widerstreit zwischen der Einheit der Personengesellschaft und der Vielheit der Gesellschafter auf4. Die Einheit der Personengesellschaft wird ertragsteuerrechtlich im Hinblick sowohl auf die Art der erzielten Einkünfte als auch auf das Erfordernis einer einheitlichen Gewinnermittlung anerkannt5. Die Behandlung der Personengesellschaft als einheitliches Gewinnerzielungssubjekt lässt jedoch den Grundsatz unberührt, dass der Gewinn als das Ergebnis einer gemeinschaftlich ausgeübten Tätigkeit anteilig den Mitunternehmern als deren originäre Einkünfte zugerechnet wird6. Es bedarf deshalb zusätzlich bezogen auf jeden einzelnen Mitunternehmer der Prüfung, ob der Grundsatz der einheitlichen Gewinnermittlung zu durchbrechen und der Tatbestand sowie die Rechtsfolge der jeweils in Frage stehenden Norm nach ihrem systematischen Zusammenhang und Zweck entsprechend den persönlichen Verhältnissen jedes einzelnen Mitunternehmers zu beurteilen sind. Diese Prüfung schlägt auf den Gewinn der Mitunternehmerschaft zurück. Das Beispiel einer inländischen Personengesellschaft, an der sowohl nur im Inland als auch nur im Ausland ansässige natürliche Personen beteiligt sind, macht den Einfluss der persönlichen Steuerpflicht auf den Umfang der zu versteuernden Einkünfte deutlich. Verfügt die inländische Personengesellschaft über eine ausländische Betriebsstätte, so stellen die ausländischen Betriebsstätteneinkünfte für die nur im Ausland ansässigen Mitunternehmer keine inländischen Einkünfte mit der Folge dar, dass insoweit keine persönliche Steuerpflicht im Inland der nur im

___________ 1 2 3 4

Hessisches FG v. 23.6.2009 – 12 K 3439/01, IStR 2009, 658. Kramer, IStR 2010, 57 (63). Hageböke, IStR 2010, 59. Vgl. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 18 Rz. 9 ff.; Kempermann, GmbHR 2002, 200; Weber-Grellet, DStR 1995, 1341; Neumann, GmbHR 1997, 621; Groh, ZIP 1998, 89 (94). 5 Vgl. Großer Senat des BFH v. 11.4.2005 – GrS 2/02, BStBl. II 2005, 679; BFH v. 29.3.2007 – IV R 72/02, BStBl. II 2008, 420 unter II.2.d.bb. (1). 6 Vgl. Großer Senat des BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. II 1995, 617 = FR 1995, 649 unter C.IV.2.a. und b.

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Besteuerung des Gewinnanteils des Gesellschafters einer KGaA

Ausland lebenden Mitunternehmer besteht. Es fehlt bereits an der Steuerbarkeit der anteiligen Einkünfte, was sich auf die Höhe des Gewinns der Personengesellschaft auswirkt. Erzielt dagegen die inländische Personengesellschaft aus dem Ausland eine Dividende, so entscheidet sich erst auf der Mitunternehmerebene der Personengesellschaft, ob in der Person eines bestimmten Mitunternehmers § 8b Abs. 1 KStG oder aber § 3 Nr. 40 Buchst. d EStG oder aber ein DBA-Schachtelprivileg auf die Dividende anzuwenden ist. Die Vorschriften sind insoweit als personenbezogene Steuerbefreiungsnormen zu verstehen, die auch die Höhe des Gewinns der Mitunternehmerschaft beeinflussen. Es geht um die Frage, ob diese Grundsätze auch für den phG einer KGaA gelten. Dabei darf auf die Auslandsaspekte der Fragestellung besonders hingewiesen werden, die in der bisherigen Diskussion eher zu kurz gekommen sind.

III. Der bisherige Meinungsstand 1. Monistisch ermittelter Teil des Gewinns versus mitunternehmerischer Gewinnanteil Zu der Problematik als solcher gibt es hochkarätige Stellungnahmen7. Die Stellungnahmen gehen übereinstimmend von einer handelsrechtlichen Sonderstellung der KGaA aus. Die KGaA ist zwar nach § 278 Abs. 1 AktG als juristische Person konzipiert. Sie ist deshalb im Innen- wie im Außenverhältnis gegenüber ihren Gesellschaftern verselbständigt. Sie ist auch Träger sämtlicher Rechte und Pflichten und alleiniger wirtschaftlicher Eigentümer des von ihr gehaltenen Vermögens. Der oder die phG stehen in einem mitgliedschaftlichen Verhältnis einerseits zur KGaA, andererseits finden auch die Vorschriften über die KG Anwendung. Aus § 278 Abs. 2 AktG folgt allerdings für Zwecke der Gewinnverteilung eine Struktur der KGaA im Innenverhältnis, die der von Personengesellschaften angenähert ist. Der phG einer KGaA betreibt dennoch kein eigenständiges Unternehmen. Er ist deshalb auch nicht gewerbesteuerpflichtig. Ihm wird lediglich ein Teil des von der KGaA erzielten und auf der Ebene der KGaA bereits ermittelten Gewinns zugerechnet. § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG und § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG sind als Ausgliederungs- und Zurechnungsnormen zu verstehen8. Die Zurechnung kann mit einer solchen nach § 14 Abs. 1 KStG, nach § 10 Abs. 2 AStG und/oder nach § 15 AStG verglichen werden. Es liegt in der Logik dieser Betrachtungsweise, dass zumindest die herrschende Meinung eine gemeinschaftliche Einkünfteerzielung zwischen dem phG einerseits und den Kommanditaktionären bzw. der KGaA andererseits verneint9. An dieser Auffassung wird allerdings

___________ 7 Vgl. Ebling in FS Jakob, 2001, S. 67 ff.; Kessler in FS Korn, 2005, S. 307 ff.; Rohrer/ Orth, BB 2007, 159; Hageböke, Das „KGaA-Modell“, Düsseldorf 2008; Frotscher in Frotscher/Maas, 2008, § 9 KStG Rz. 9 ff.; Krämer in Dötsch/Jost/Pung/Witt, 2008, § 9 KStG Rz. 6 ff.; Dötsch/Pung in Dötsch/Jost/Pung/Witt, 2009, § 8b KStG Rz. 240 ff.; Kusterer, DStR 2008, 484. 8 So Hageböke, Das „KGaA-Modell“, S. 71. 9 Vgl. RFH v. 14.12.1929 – VI 1843/29, RStBl. 1930, 345; FG Hamburg v. 14.11.2002 – V 231/99, EFG 2003, 711; FG München v. 16.1.2003 – 7 K 5340/01, EFG 2003, 670; Krebs in Herrmann/Heuer/Raupach, 1983, § 9 KStG Rz. 56.

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auch Kritik geübt10. Im Ergebnis tritt der überwiegende Teil der Autoren für eine Gleichbehandlung des Gewinnanteils des phG mit einer mitunternehmerischen Beteiligung (zumindest teiltransparente Besteuerung) ein; andere Autoren befürworten eine eher körperschaftsteuerliche Lösung. 2. Zur Diskussion stehende Problembereiche Im Mittelpunkt der Diskussion steht die steuerliche Behandlung des Gewinnanteils des phG, wenn und soweit in ihm nach § 8b Abs. 1 KStG steuerfreie Dividenden enthalten sind. Dies sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Problem sehr viel breiter angelegt ist. Das deutsche Steuerrecht unterscheidet zwischen unbeschränkten und beschränkten Steuerpflichten. Es kann sowohl die KGaA als auch der phG unbeschränkt oder beschränkt steuerpflichtig sein. Gegebenenfalls ist darüber zu entscheiden, in wessen Person die inländischen Anknüpfungspunkte im Sinne des § 49 EStG gegeben sein müssen. Die Steuerbefreiungstatbestände können sich alternativ auf Brutto- oder Nettobeträge beziehen. Gegebenenfalls muss eine Begründung dafür gefunden werden, ob und weshalb § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG und § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG entgegen ihren Wortlauten auch Bruttobeträge ausgliedern und zurechnen. Schließlich muss der gesamte Bereich der Anrechnung von Quellensteuern bedacht werden. Dies führt auch zu der Überlegung, ob die Ausgliederungs- und Zurechnungsfunktionen der § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG und § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG nicht wörtlich genommen und alle steuerfreien Einkünfte einer KGaA aus dem Ausgliederungs- und Zurechnungsmechanismus der § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG und § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG ausgenommen werden müssen. Ansätze zu dieser Auffassung finden sich bei Ebling11, Theisen12, Kessler13 und Kusterer14. Diese Ansätze sollen in den folgenden Überlegungen vertieft werden. 3. Wurzeltheorie Der BFH spricht im Urteil vom 21.6.198915 unter Hinweis auf Becker16 von einer Abspaltung der Einkommensbesteuerung des phG „an der Wurzel“ von der Körperschaftsbesteuerung der KGaA. Die daraus abgeleitete Wurzeltheorie lädt allerdings auch zu Spekulationen über den Gegenstand der Abspaltung ein17. Jedenfalls besagt die Wurzeltheorie als solche nichts darüber, ob § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG und § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG auch die Ausgliederung und Zurechnung von Bruttobeträgen erlauben. Im Urteil vom

___________ 10 Vgl. Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, 2004, § 180 AO, Rz. 107; Brandis in Tipke/Kruse, 2006, § 180 AO Rz. 17. 11 Ebling in FS Jakob, S. 67 ff. 12 Theissen, DB 1989, 2191. 13 Kessler in FS Korn, S. 311. 14 Kusterer, DStR 2008, 484. 15 BFH v. 21.6.1989 – X R 14/88, BStBl. II 1989, 881 = AG 1990, 32 = FR 1989, 656. 16 Becker, StuW 1936 Teil I Sp. 97. 17 Ebling in FS Jakob, S. 71, bezeichnet die Wurzeltheorie als rechtssystematischen Maßstab für eine genaue und zutreffende Abgrenzung von Besteuerungstatbeständen als völlig ungeeignet.

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Besteuerung des Gewinnanteils des Gesellschafters einer KGaA

28.11.200718 kennzeichnet der BFH § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG als „reine Zuordnungsnorm“, dagegen § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG gleichermaßen als Zuordnungs- und Qualifikationsnorm. Als Qualifikationsnorm ist § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG offenbar mit § 17 EStG vergleichbar. Der phG erzielt Einkünfte aus Gewerbebetrieb, obwohl er keinen Gewerbebetrieb unterhält. Hat der phG seinen Wohnsitz nur im Ausland, so erfordert die Besteuerung des Gewinnanteils als inländische Einkünfte gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG eine inländische Betriebsstätte. Daran muss es fehlen, wenn der phG nicht einmal einen Gewerbebetrieb unterhält. Er versteuert Einkünfte, die in tatsächlicher Hinsicht die KGaA erzielt hat. § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. f EStG belegt im Umkehrschluss, dass in Bezug auf § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG eine Gesetzeslücke besteht.

IV. Steuerliche Überlegungen 1. In Betracht kommende Lösungsansätze Es erscheint sinnvoll, die Problematik zunächst aus der Sicht der KGaA und der Anwendung von § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG auf deren Gewinnermittlung zu beleuchten. Dazu wird in tatsächlicher Hinsicht unterstellt, dass die KGaA Sitz und Geschäftsleitung nur im Inland hat. Sie soll in Deutschland unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig sein und hier der Besteuerung mit ihrem Welteinkommen unterliegen. Die KGaA soll einen handelsrechtlichen Jahresüberschuss von 50.000 Euro und einen Unterschiedsbetrag im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG – vor Abzug des Gewinnanteils des phG gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG – in Höhe von 100.000 Euro erzielen19, der unter Nichtberücksichtigung einer Rückstellung für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften in Höhe von 50.000 Euro gemäß § 5 Abs. 4a EStG ermittelt wurde. In dem Unterschiedsbetrag und in dem Jahresüberschuss sollen Gewinnausschüttungen von 100.000 Euro einer ausländischen Tochter-Kapitalgesellschaft enthalten sein. Der Gewinnanteil des phG, der ebenfalls unbeschränkt steuerpflichtig sein soll, beträgt 60 v.H. Für diesen Fall kommen vier alternative Lösungen in Betracht. Die Lösung 1 baut auf der handelsrechtlichen Bilanz der KGaA auf und setzt als den Gewinnanteil des phG den sich danach ergebenden Teilbetrag an. Die Lösungen 2–4 bauen dagegen auf dem nach steuerrechtlichen Grundsätzen ermittelten Gewinn der KGaA auf und rechnen davon einen Teilbetrag dem phG zu. Die Lösung 2 geht von einer intransparenten und die Lösung 3 von einer transparenten Betrachtungsweise aus. Die Lösung 4 versteht dagegen den „Teil des Gewinns“ im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG als einen Teil des sachlichen steuerpflichtigen Gewinns der KGaA, wie er sich ohne Anwendung der Vorschrift ergeben würde. Es ist das Ziel der Lösung 4, aufbauend auf einer monistischen Gewinnermittlung § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG als eine Vorschrift zu verstehen, die eine von der KGaA realisierte Besteuerungsgrundlage anteilig dem phG zuordnet und bei ihm als Einkünfte aus Gewerbebetrieb qualifiziert.

___________ 18 BFH v. 28.11.2007 – X R 6/05, BStBl. II 2008, 363 = GmbHR 2008, 275. 19 Das Beispiel ist dem von Krämer in Dötsch/Jost/Pung/Witt, 2008, § 9 KStG Rz. 19b nachgebildet.

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a) Lösung 1 (handelsrechtliche Ermittlung des Gewinnanteils) Jahresüberschuss der KGaA Gewinnanteil des phG (60 vH von 50.000 Euro =)

50.000,– € 30.000,– €

Die Lösung 1 geht von einer handelsrechtlichen Konzeption des Begriffes „Gewinnanteil“ aus. Für sie mag der Wortlaut von § 286 Abs. 3 AktG sprechen, der jedoch den Begriff „Gewinnanteil“ nicht verwendet. Gegen sie spricht, dass dem phG ein „Gewinn“-anteil nach § 15 Abs. 1 Nr. 3 EStG zuzurechnen ist. § 15 Abs. 1 Nr. 3 EStG ist eine steuerrechtliche Vorschrift, weshalb die steuerrechtliche Gewinndefinition maßgebend ist. Der Gewinnbegriff erfährt in § 4 Abs. 1 EStG eine gesetzliche Definition. Danach handelt es sich bei dem Gewinn um den nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 EStG sachlich steuerpflichtigen. § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG und § 15 Abs. 1 Nr. 3 EStG bewirken insoweit nur, dass die sachliche Steuerpflicht des Gewinns für einen Teilbetrag nicht bei der KGaA, sondern bei dem phG ansetzt. So gesehen kann sich der Gewinnanteil des phG nur nach Steuerrecht und nicht nach Handelsrecht bestimmen. Die nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG abziehbaren Betriebsausgaben und die Hinzurechnung nach § 8 Nr. 4 GewStG betreffen nur den steuerrechtlichen Gewinnanteil des phG. b) Lösung 2 (monistische Gewinnermittlung) Unterschiedsbetrag der KGaA Abzüglich steuerfreie Bezüge Anwendung von § 8b Abs. 5 KStG (5 v.H. von 100.000 Euro) ./. Gewinnanteil des phG (60 v.H. von 100.000 Euro) Verlust der KGaA Gewinnanteil des phG

100.000,– € ./. 100.000,– € + 5.000,– € ./. 60.000,– € ./. 55.000,– € + 60.000,– €

Die Lösung 2 geht von einer steuerrechtlichen Konzeption des Gewinnanteils aus. Ihr Ergebnis ist nur dann in sich schlüssig, wenn man den gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG bei der KGaA als Betriebsausgabe abzuziehenden „Teil des Gewinns“ des phG auf der Grundlage einer intransparenten Betrachtungsweise als einen Aufwand eigener Art versteht, der sich nicht als Anteil an dem von der KGaA konkret erzielten Gewinn (Unterschiedsbetrag) darstellt. Versteht man dagegen den „Teil des Gewinns“ als einen transparenten Anteil des phG am Gewinn der KGaA, so ist es ein Widerspruch in sich, wenn die KGaA einerseits die von ihr erzielten Dividenden als steuerfrei behandeln kann und andererseits den auf die steuerfreien Dividenden entfallenden „Anteil“ des phG noch einmal als Betriebsausgabe absetzen darf. Steuerbefreiung und Betriebsausgabenabzug schließen sich dann wechselseitig aus. Der phG hat einen Anteil vom Gewinn der KGaA als Einkünfte aus Gewerbebetrieb eigener Art zu versteuern. Insoweit besteht der Widerspruch, dass der Gewinn der KGaA vor Anwendung von § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG 5.000 Euro, jedoch der Anteil des phG an dem Gewinn 60.000 Euro betragen soll. Daher steht die Frage im Raum, ob der Gewinnanteil nicht nur 60 v.H. von 5.000 Euro betragen kann. Bei der Besteuerung des phG ist im Übrigen zwischen Kriterien, die sich auf die zuzurechnende Besteuerungsgrundlage beziehen, und solchen zu differenzieren, die die persönliche Steuerpflicht betreffen. 264

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Erstere sind angesprochen, wenn der Gewinnanteil ganz oder teilweise aus steuerfreien Einkünften der KGaA bestehen sollte. Dann stellt sich für den phG die Frage, ob er die Steuerbefreiung bei der KGaA anteilig auch für seinen Gewinnanteil beanspruchen kann. Dabei kann die Steuerbefreiung bei einem Nettobetrag (Beispiel: ausländische Betriebsstätteneinkünfte), bei einem Bruttobetrag (Beispiel: Dividenden) oder bei einem bestimmten Verhalten (Beispiel: Investition nach dem InvZulG) ansetzen. Die maßgebenden Kriterien können dagegen anders zu beurteilen sein, wenn der phG z.B. im Ausland ansässig sein sollte. Dann setzt die Besteuerung des phG im Inland inländische Einkünfte voraus, was die Frage aufwirft, ob die Betriebsstätten der KGaA automatisch dem phG zuzurechnen sind oder, ob es auf eine Betriebsstätte des phG ankommt. Im Zweifel weichen die Ergebnisse je nach der Beantwortung dieser Frage erheblich voneinander ab. c) Lösung 3 (Mitunternehmerkonzept) Unterschiedsbetrag der KGaA Abzüglich anteilig steuerfreie Bezüge (40 vH von 100.000 Euro) Anwendung von § 8b Abs. 5 KStG (5 vH von 40.000 Euro) ./. Gewinnanteil des phG (60 vH von 100.000 Euro) Gewinn der KGaA Gewinnanteil des phG

100.000,– € ./. 40.000,– € + 2.000,– € ./. 60.000,– € + 2.000,– € + 60.000,– €

Auch die Lösung 3 geht von einer steuerrechtlichen Konzeption des Gewinnanteils aus. Sie entscheidet aus der Sicht des phG auf der Grundlage einer teiltransparenten Betrachtungsweise, ob und in welchem Umfang auf seinen Gewinnanteil § 3 Nr. 40 Buchst. d EStG oder § 8b Abs. 1 KStG anzuwenden ist. Allerdings ist bei der Anwendung von DBA zu differenzieren. Für die Existenz von Betriebsstätteneinkünften ist darauf abzustellen, ob die KGaA eine Betriebsstätte in einem Vertragsstaat unterhält. Zusätzlich stellt sich die Frage, ob der einzelne phG abkommensberechtigt ist bzw. ob er – wie vom Hessischen FG angenommen – die Anwendung eines DBA für sich als Nichtabkommensberechtigten beanspruchen kann. Die Problematik der Lösung 3 besteht in der fiktiven Zurechnung eines von der KGaA realisierten Sachverhaltes gegenüber dem phG. Rechtsgrundlage der Fiktion könnte nur § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG i.V.m. § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG sein. Beide Vorschriften beziehen sich jedoch auf einen Teil des Gewinns der KGaA (= Nettobetrag) und weder auf Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben noch auf Dividenden, Zinsen oder Betriebsstätteneinkünfte. Auch verfahrensrechtlich ist es äußerst kompliziert, in einem Verfahren betreffend die Besteuerung des phG über Sachverhalte abschließend zu entscheiden, die nur von der KGaA realisiert wurden. Die Problematik der Lösung 3 besteht auch in dem Faktum, dass der bei der KGaA gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG als Betriebsausgabe abzugsfähige „Teil des Gewinns“ betragsmäßig nicht mehr dem „Gewinnanteil“ im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG entsprechen würde. Der Gewinnanteil hätte die Eignung, auf der Ebene des phG weitere betragsmäßige Veränderungen zu erfahren. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG bekäme damit eine über die Zurech265

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nung und die Qualifikation hinausgehende zusätzliche Funktion, die ihrerseits einer Rechtsgrundlage bedarf. d) Lösung 4 (Teil des an sich bei der KGaA sachlich steuerpflichtigen Gewinns) Unterschiedsbetrag der KGaA Abzüglich steuerfreie Bezüge Anwendung von § 8b Abs. 5 KStG (5 vH von 100.000 Euro) ./. Gewinnanteil des phG (60 vH von 5.000 Euro) Gewinn der KGaA Gewinnanteil des phG

100.000,– € ./. 100.000,– € + 5.000,– € ./. 3.000,– € + 2.000,– € + 3.000,– €

Auch die Lösung 4 geht von einer steuerrechtlichen Konzeption des Gewinnanteils aus. Sie lässt alle Steuerbefreiungen bei der KGaA auf den phG durchschlagen. Man kann sie deshalb jedoch nicht als eine Form der transparenten Besteuerung bezeichnen, weil die Steuerbefreiung gerade nicht aus der Sicht des einzelnen Mitunternehmers, sondern immer nur aus der Sicht der KGaA beurteilt wird20. Die Lösung baut insoweit auf dem Wortlaut des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG auf, als sie den dort genannten „Gewinnanteil“ und den „Teil des Gewinns“ im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG betragsgleich in einem steuerlichen Sinn interpretiert21. Der „Gewinnanteil“ und der „Teil des Gewinns“ werden jeweils nur aus dem bei der KGaA vor der Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG sachlich steuerpflichtigen Gewinn abgeleitet. Es handelt sich nicht um den gesellschaftsrechtlichen Anspruch des phG auf Auszahlung des ihm zustehenden Gewinnanteils, sondern um den auf ihn entfallenden Teil des Gewinns der KGaA im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG vor Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG22. Der phG soll den Teil des Gewinns der KGaA versteuern, der bei der KGaA (nur) wegen des Betriebsausgabenabzuges gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG nicht besteuert wird. Fragen der persönlichen Steuerpflicht sind dagegen aus der Sicht des phG und nach dem von ihm realisierten Sachverhalt zu beurteilen. Die Problematik der Lösung 4 wird deutlich, wenn man an die Möglichkeit denkt, dass die KGaA nur im Ausland ansässig ist und der phG nur in Deutschland wohnt. In diesem Fall findet § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG auf der Ebene der KGaA allenfalls hypothetische Anwendung. Es droht jedoch eine echte Doppelbesteuerung, wenn Deutschland dem phG einen Gewinnanteil zurechnet, den die KGaA in ihrem Ansässigkeitsstaat oder in einem Drittstaat noch einmal selbst versteuern muss. Auch für einen solchen Gewinnanteil stellt sich die Frage, welcher Betriebsstätte des phG er zuzurechnen ist. Dabei muss man auch an den Fall denken, dass die KGaA Betriebsstättenein-

___________ 20 Insoweit besteht ein wesentlicher Unterschied zu der Auffassung von Rohrer/Orth, BB 2007, 1594. 21 A.A. Olgemöller in Streck, 7. Aufl., 2008, § 9 Rz. 9, der den Gewinnanteil nach Handelsrecht bestimmen möchte. 22 Vgl. BFH v 23.5.1979 – I R 163/77, BStBl. II 1979, 757; Großer Senat des BFH v. 19.12.1979 – II R 104/76, BStBl. II 1980, 164; BFH v. 24.2.1988 – X R 95/84, BStBl. II 1988, 63; ähnlich Hageböke, Das „KGaA-Modell“, S. 80, der allerdings auf den Unterschiedsbetrag im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG abstellen will.

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künfte aus einem Drittstaat erzielt, was die Frage aufwirft, ob die Betriebsstätte der KGaA in dem Drittstaat zugleich Betriebsstätte des phG sein kann. Hinzuweisen ist ferner auf die Frage, welchen Einfluss eine gedachte beschränkte Körperschaftsteuerpflicht der KGaA im Inland auf den Gewinnanteil des hier unbeschränkt steuerpflichtigen phG hat. Möglicherweise besteuert das Ausland die Auskehrung des Gewinnanteils an den phG als Ausschüttung, was die Frage nach der Anrechnung ausländischer Quellensteuern aufwirft. 2. Teil des Gewinns einer KGaA vor dem Hintergrund der Begriffe „Gewerbebetrieb“, „gewerbliches Unternehmen“, „Mitunternehmer“ und „Unternehmer“ Letztlich geht es um die Frage, was unter dem „Gewinnanteil“ des phG im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG zu verstehen und wie er rechtssystematisch einzuordnen ist. Dabei sollen die in der Vorschrift ebenfalls erwähnten „Vergütungen“ aus Vereinfachungsgründen außer Betracht bleiben. Der Begriff muss allerdings in seinem Sinnzusammenhang zu dem entsprechenden Begriff des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG gesehen werden, weshalb der Blick zunächst auf den Grundtatbestand des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG gerichtet werden soll. Danach sind Einkünfte aus Gewerbebetrieb solche aus gewerblichen Unternehmen. § 15 Abs. 2 EStG definiert das gewerbliche Unternehmen als eine Tätigkeit. Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 GewStG gilt als Unternehmer, für wessen Rechnung die Tätigkeit im Sinne des § 15 Abs. 2 EStG ausgeübt wird. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sind Gesellschaften dann Mitunternehmerschaften, wenn ihre Gesellschafter als Unternehmer (Mitunternehmer) anzusehen sind. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass die Mitunternehmerschaft als solche kein Unternehmer im ertragsteuerlichen Sinne ist. Dies bestätigt § 5 Abs. 1 Satz 3 GewStG, der die Personengesellschaft konstitutiv zum Schuldner der Gewerbesteuer erklärt. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 GewStG ist an sich nur der Unternehmer Steuerschuldner. § 5 Abs. 1 Satz 3 GewStG geht allerdings ausdrücklich davon aus, dass die gewerbliche Tätigkeit von der Personengesellschaft unbeschadet ihrer fehlenden Unternehmereigenschaft ausgeübt wird. Für die KGaA ist jedoch § 2 Abs. 2 GewStG maßgebend. Danach gilt die Tätigkeit der KGaA fiktiv als Gewerbebetrieb. Da die KGaA ihren Gewerbebetrieb im Sinne des § 2 Abs. 5 GewStG auf einen „anderen“ Unternehmer übertragen kann, gilt sie auch selbst als Unternehmer. Sie ist entsprechend schon nach § 5 Abs. 1 Satz 1 GewStG Schuldner der Gewerbesteuer. Bezogen auf das Unternehmen einer KGaA ist der phG derselben weder Unternehmer noch Mitunternehmer. Er übt auch nicht die Tätigkeit der KGaA aus. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG bewirkt allerdings fiktiv, dass der phG in mancher Beziehung „wie“ ein Mitunternehmer der KGaA behandelt wird23. Dies gilt gleichermaßen im Verhältnis zu anderen phG wie zu den Kommanditaktionä-

___________ 23 Vgl. BFH v. 8.2.1984 – I R 11/80, BStBl. II 1984, 38 = FR 1984, 4041; BFH v. 23.10.1985 – I R 235/81, BStBl. II 1986, 7 = FR 1986, 157 = GmbHR 1986, 2112; BFH v. 21.6.1989 – X R 14/88, BStBl. II 1989, 881 = AG 1990, 32 = FR 1989, 656.

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ren und der KGaA als solcher. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG wäre überflüssig, wenn der phG einer KGaA Mitunternehmer im Sinne des § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG wäre. Anders ausgedrückt fehlt es an einer gemeinschaftlichen Einkünfteerzielung zwischen dem phG einerseits und den Kommanditaktionären bzw. der KGaA andererseits. Auch bei der Existenz mehrerer phG erzielen diese ihre Gewinnanteile nicht gemeinschaftlich24. Ist allerdings eine Personengesellschaft phG, so erzielen die Mitunternehmer der Personengesellschaft den Gewinnanteil im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG gemeinschaftlich. Der Gesetzgeber hat die ursprünglich fehlerhafte Formulierung in § 35 Abs. 1 Nr. 2 EStG aF25 im UntStRefG 200826 richtiggestellt. Da nur die KGaA das gewerbliche Unternehmen betreibt, d.h. die gewerbliche Tätigkeit ausübt, können Betriebsstätten der KGaA nur dieser und nicht dem phG zugerechnet werden. Dies folgt aus dem Wortlaut des § 12 Satz 1 AO. Danach muss die Betriebsstätte der Tätigkeit eines Unternehmens dienen. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass der in § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG verwendete Begriff „Teil des Gewinns“ sich nur auf den Gewinn der KGaA beziehen kann. Unter dem Gewinn der KGaA kann als Ausgangspunkt für die Ermittlung des abzuziehenden „Teils des Gewinns“ nur ein Nettobetrag verstanden werden. Da jedoch die Rechtsfolge des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG in einem Betriebsausgabenabzug besteht, kann unter dem Gewinn nur der Nettobetrag vor dem entsprechenden Betriebsausgabenabzug verstanden werden. Insoweit besteht der begriffliche Widerspruch, dass § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG unter dem „Gewinn“ eigentlich einen Betrag nach Abzug sämtlicher Betriebsausgaben versteht. Gewinn im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG ist also nur der sachlich steuerpflichtige Betrag nach Abzug aller Betriebsausgaben und aller steuerfreien Beträge. Deshalb erfasst der Gewinnbegriff auch alle Korrekturen und Hinzurechnungen z.B. nach § 8 Abs. 3 Satz 2 oder nach § 14 Abs. 1 KStG. Der in § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG angesprochene „Teil des Gewinns“ wird aber gerade durch den Betriebsausgabenabzug von der Besteuerung bei der KGaA ausgenommen. Insoweit beachtet die Formulierung des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG allgemeine Gewinnermittlungsgrundsätze nicht. Es handelt sich um eine allein steuerrechtlich wirkende Ausgliederungsnorm, deren Rechtsfolge erst auf der 2. Stufe der Gewinnermittlung ansetzt27. 3. Konsequenzen aus der Annahme einer Ausgliederungs- und Zurechnungsfunktion Auch Ebling28 befürwortet den aus § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG abgeleiteten Grundsatz der zivilrechtlichen Einheit der KGaA und der sich daraus ergebenden

___________ 24 A.A. Brandis in Tipke/Kruse, 2006, § 180 AO Rz. 17; Koenig in Pahlke/Koenig, § 180 AO Rz. 16. 25 In der Fassung des Steuersenkungsgesetz v. 23.10.2000, BGBl. I 2000, 1433, BStBl. I. 2000, 1428. 26 Unternehmensteuerreformgesetz v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912, BStBl. I 2007, 630. 27 Vgl. Hageböke, Das „KGaA-Modell“, S. 70. 28 Ebling in FS Jakob, S. 67 ff., 73.

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Ablehnung eines Transparenzprinzips sowohl auf der Ebene der KGaA als auch auf der Ebene der phG. Dennoch zieht er daraus die andere Schlussfolgerung, dass § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG als eine Qualifikationsvorschrift zu verstehen sei, die an sich gegebene Einkünfte aus Kapitalvermögen in solche aus Gewerbebetrieb umqualifiziere. Anders ausgedrückt geht Ebling in tatsächlicher Hinsicht von einer Ausschüttung der KGaA an den phG aus, die durch § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG zur Betriebsausgabe der KGaA und durch § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG zu Einkünften aus Gewerbebetrieb umqualifiziert werde. Diese Schlussfolgerung ist jedoch nicht zwingend. § 15 AStG belegt, dass das deutsche Steuerrecht auch die Möglichkeit kennt, Einkommen, das eine ausländische Familienstiftung erzielt hat, dem unbeschränkt steuerpflichtigen Stifter zuzurechnen und bei ihm zu versteuern. Die Zurechnung muss deshalb die Qualifikation eines bestimmten Betrags sowohl seiner Art als auch seiner Höhe nach nicht verändern. Der BFH hat im Gegenteil in seinem Beschluss vom 8.4.200929 entschieden, dass das zuzurechnende Einkommen der Familienstiftung nach den für sie geltenden Vorschriften zu ermitteln sei. In ähnlicher Weise hat er durch Urteil vom 14.1.200930 zu § 15 Nr. 2 KStG a.F. entschieden, dass sich die Ermittlung des Einkommens einer Organgesellschaft, das dem Organträger zuzurechnen ist, in Ermangelung anderer Vorschriften grundsätzlich nach den für die Organgesellschaft geltenden Einkommensermittlungsvorschriften richtet. Man muss auch die praktischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Auffassungen sehen. Die Annahme einer Umqualifizierung würde für eine zweigleisige Gewinnermittlung sprechen, die sich auch auf den Zeitpunkt der Besteuerung auswirken könnte. Außerdem wäre möglicherweise auf den Zufluss des Gewinnanteils beim phG abzustellen. Die hier vertretene Auffassung über die Zurechnungsfunktion des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG spricht dagegen dafür, dass nur der Gewinn der KGaA einheitlich nach steuerrechtlichen Grundsätzen zu ermitteln und aufzuteilen ist. Der „Gewinnanteil“ im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG wird dem phG genau in Höhe des Betrages zugerechnet, der als Teil des Gewinns bei der KGaA als Betriebsausgabe steuerrechtlich abgesetzt wurde. Die Zurechnung vollzieht sich mit der Entstehung des Gewinns der KGaA, d.h. in der letzten logischen Sekunde des jeweiligen Wirtschaftsjahres der KGaA. Für die hier vertretene Auffassung spricht nicht zuletzt auch die Hinzurechnung nach § 8 Nr. 4 GewStG. Grundsätzlich schlagen nämlich alle Steuerbefreiungen des EStG und des KStG auf die Gewerbesteuer durch. Deshalb kann es nicht sein, dass bei einer KGaA die Befreiung von „Gewinnanteilen“ von der Gewerbesteuer von Merkmalen abhängig ist, die nur der einzelne phG erfüllt.

___________ 29 Vgl. BFH v. 8.4.2009 – I B 223/08, IStR 2009, 503. 30 Vgl. BFH v. 14.1.2009 – I R 47/08, BFH/NV 2009, 854.

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4. „Gewinn“ der KGaA als Ausgangsgröße für die Ermittlung des „Teils des Gewinns“ a) „Teil des Gewinns“ im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG = Gewinnanteil im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG Ungeachtet dessen stellt sich die Frage, ob unter dem „Gewinn“ der KGaA als Ausgangsgröße für die Ermittlung des „Teils des Gewinns“ der Betrag zu verstehen ist, der von der KGaA ohne die Anwendung von § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG zu versteuern wäre, oder ob es sich um einen anders zu definierenden Nettobetrag handelt. Dies ist zum einen ein Problem des Verhältnisses zwischen § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG und § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG. Insoweit spricht die Formulierung in § 8 Nr. 4 und in § 9 Nr. 2b GewStG dafür, die Begriffe „Teil des Gewinns“ und „Gewinnanteil“ einheitlich auszulegen. Dem steht nicht entgegen, dass § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG auch noch bestimmte Vergütungen als Einkünfte aus Gewerbebetrieb des phG erfasst. Die Vergütungen stehen in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG begrifflich neben den Gewinnanteilen und berühren deshalb die Auslegung dieses Begriffs nicht. Folge der hier vertretenen Auffassung ist, dass § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG als eine Vorschrift zu verstehen ist, die genau den Betrag bei der KGaA als Betriebsausgabe behandelt, den der phG seinerseits als Gewinnanteil zu versteuern hat. Damit werden z.B. die bei der KGaA nicht abziehbaren Betriebsausgaben innerhalb des Gewinnanteils anteilig dem phG zugerechnet. b) Steuerbefreiungstatbestände Man muss ferner beachten, dass sich die hier erörterte Frage vor allem bei sog. Steuerbefreiungstatbeständen auswirkt. Die Steuerbefreiungstatbestände knüpfen teilweise an Nettobeträge (z.B. Betriebsstätteneinkünfte) und teilweise an Bruttobeträge (z.B. Dividenden) an. Bezieht eine KGaA Betriebsstätteneinkünfte aus einem DBA-Staat, so ist die Betriebsstätte zunächst einmal nur der KGaA zuzuordnen. Es bedürfte einer Fiktion, wenn man die Betriebsstätte der KGaA zugleich als eine solche des phG behandeln wollte. Für eine solche Fiktion findet sich jedoch keine Rechtsgrundlage. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG rechnet nur einen Gewinnanteil, aber keine Betriebsstätten oder andere Tätigkeiten der KGaA zu. Auch die Tatsache, dass der phG mit seinem Gewinnanteil nicht der Gewerbesteuer unterliegt, spricht dafür, dass er persönlich zumindest keinen Gewerbebetrieb im Sinne des § 2 Abs. 1 GewStG im Inland betreibt. Entsprechend kann er auch keine Betriebsstätte haben. So gesehen hat die Steuerbefreiung bei der KGaA zur Folge, dass jeder steuerfrei gestellte Betrag nicht in den Gewinn der KGaA eingeht und damit auch aus der Ermittlung des „Teils des Gewinns“ ausscheidet. In § 8b Abs. 1 KStG knüpft die Steuerbefreiung an einen Bruttobetrag an. Auch insoweit scheiden die auf der Ebene der KGaA steuerfreien Bruttobeträge aus dem Gewinnbegriff aus und können damit nicht mehr „Teil des Gewinns“ und „Gewinnanteil“ im Sinne der oben genannten Vorschriften sein. Wollte man dies anders sehen, so stellt sich die Frage, wie die anteilige Zurechnung von Bruttobeträgen mit dem in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG verwendeten Begriff „Gewinnanteil“ in Einklang gebracht werden kann.

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Ähnliches gilt für die Steuerbefreiung von Investitionszulagen. Nach § 12 InvZulG gehört die Investitionszulage nicht zu den Einkünften im Sinne des EStG. Die Investitionszulage wird jedoch nur der KGaA gewährt. Sie tätigt die begünstigte Investition. Die Regelung in § 12 InvZulG zwingt dazu, die Investitionszulage aus dem Gewinn der KGaA auszuklammern und sie auch bei der Ermittlung des „Teils des Gewinns“ (= Gewinnanteil) nicht zu berücksichtigen. Wer insoweit eine teilstransparente Konzeption vertritt, hat das Problem, § 12 InvZulG gegen seinen Wortlaut auch auf den phG anzuwenden. c) Kriterien der persönlichen Steuerpflicht Ist der phG dagegen nur beschränkt steuerpflichtig, so sind die in § 49 Abs. 1 Nr. 2 EStG geregelten Anknüpfungspunkte für die Annahme inländischer Einkünfte zu beachten. Wollte man insoweit auf die Mitunternehmerkonzeption abstellen, so wäre anteilig für sämtliche Einkünfte der KGaA zu entscheiden, ob sie inländische oder nicht-inländische sind. Dabei ergäbe sich ein Widerspruch, wenn man im Bereich von Betriebsstätteneinkünften die Betriebsstätte der KGaA dem phG zurechnet, jedoch im Bereich von Beteiligungserträgen die Steuerbefreiung nach § 8b Abs. 1 KStG von der Person des Steuerpflichtigen abhängig machen möchte. Lehnt man dagegen die Anwendung der Mitunternehmerkonzeption ab, dann stellt sich nur bezogen auf den Gewinnanteil im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG die Frage, ob der phG im Inland seinen Gewinnanteil mithilfe einer eigenen Betriebsstätte erzielt oder nicht. Die jeweiligen Fragestellungen sind völlig andere. Es bleibt allerdings die Ungereimtheit, dass der phG keinen Gewerbebetrieb betreibt und dennoch eine Betriebsstätte haben soll. Insoweit besteht eine Gesetzeslücke, die eigentlich nur der Gesetzgeber schließen kann. d) Steuerermäßigungstatbestände Schließlich muss man die typischen Steueranrechnungstatbestände mit in das Blickfeld rücken. Dies betrifft gleichermaßen die Anrechnung inländischer wie ausländischer Quellensteuern. Die Quellensteuern werden nämlich im Zweifel zulasten der KGaA erhoben. Dies gilt als Grundsatz schon deshalb, weil die KGaA der alleinige Gläubiger der quellensteuerpflichtigen Dividenden, Lizenzgebühren und/oder Zinsen ist. Aus § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG folgt im Umkehrschluss, dass der phG eben „nur“ einen Gewinnanteil und keine Dividenden, Lizenzgebühren und/oder Zinsen erzielt. Im Übrigen kennen die meisten Staaten kein Besteuerungssystem nach der Art des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG und des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG. Sie besteuern die KGaA als Kapitalgesellschaft. Damit hat der phG keine Möglichkeit, Quellensteuern der KGaA anteilig auf die eigene Einkommen- oder Körperschaftsteuer anzurechnen. Hierzu bedürfte es einer Rechtsgrundlage, wie sie für den Bereich des § 35 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG vorhanden ist. Der Mitunternehmerkonzeption des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG kann eine vergleichbare Rechtsgrundlage nicht entnommen werden. Dies würde die Aufteilung des Gewinnanteils des phG in nach Staaten aufgeteilte ausländische Einkünfte bzw. Einnahmen verschiedener Art und die Zuordnung der Quellensteuern zu dem entsprechenden Teil des Gewinnanteils erfordern. Die Auswirkungen der 271

Franz Wassermeyer

hier angesprochenen Rechtsfrage sind bei der Anrechnung inländischer Quellensteuern letztlich nicht so dramatisch, weil zuviel bezahlte inländische Quellensteuern ggf. erstattet werden. Bei ausländischen Quellensteuern entfällt jedoch jede Erstattung. Der Betriebsausgabenabzug gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG bewirkt bei der KGaA nicht nur eine Minderung des zu versteuernden Einkommens als Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer, sondern zugleich eine solche des Höchstbetrages für die Anrechnung ausländischer Quellensteuern. Für die KGaA wird sich häufig gerade wegen des Betriebsausgabenabzugs nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG ein Überhang an anrechenbaren ausländischen Steuern ergeben. Dies wirft auch die Frage nach der Anwendung von § 34c Abs. 2 und 3 EStG auf. Nach der hier vertretenen Auffassung kann nur die KGaA die Rechte aus § 34c Abs. 2 und 3 EStG in Anspruch nehmen. e) Sonstige Besteuerungstatbestände Unter den sonstigen Besteuerungstatbeständen ist zunächst die Anwendung von § 8 Abs. 3 Satz 2 und von § 14 KStG zu erwähnen. Verdeckte Gewinnausschüttungen erhöhen den Gewinn der KGaA und damit auch den Gewinnanteil des phG. Ist der phG selbst Empfänger der verdeckten Gewinnausschüttung, so darf der Teil der verdeckten Gewinnausschüttung, der in den Gewinnanteil des phG eingeht, nicht noch einmal nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG besteuert werden. Ist die KGaA Organträger, so erhöht das zuzurechnende positive Einkommen der Organgesellschaft den Gewinn der KGaA31 und damit auch den Gewinnanteil des phG. Ist das zuzurechnende Einkommen negativ, so tritt ein entsprechender Minderungseffekt ein. Die Anwendung von § 10 Nr. 4 KStG führt auch zu einer anteiligen Erhöhung des Gewinnanteils des phG. Zu erwähnen ist ferner die Anwendung von § 20 und § 24 UmwStG auf die Einbringung des Anteils des phG an einer KGaA in eine Kapital- bzw. Personengesellschaft. Insoweit ist auf den Gegenstand abzustellen, den die KGaA oder der phG einbringt. Ist die KGaA an einer Personengesellschaft beteiligt und veräußert sie diese Beteiligung, so findet § 34 EStG nicht zugunsten des phG auf den anteiligen Veräußerungsgewinn Anwendung, sofern der phG eine natürliche Person ist. Die bei der KGaA steuerfreien Einkünfte können dem phG auch nicht gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG anteilig zugerechnet werden.

V. Schlusswort Der BFH hat durch Urteil vom 19.5.201032 die Revision gegen das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 3.6.200933 als unbegründet zurückgewiesen. Er hat allerdings eine rein abkommensrechtliche Begründung gewählt und damit keines der hier angesprochenen Probleme gelöst. Betrachtet man deshalb das Urteil des Hessischen FG vor dem Hintergrund der vorstehenden Überlegungen, so ist dasselbe jedenfalls im Ergebnis zutreffend. Es unterliegt

___________ 31 Vgl. Wassermeyer, GmbHR 2003, 313 (314). 32 BFH v. 19.5.2010 – I R 62/09, FR 2010, 809. 33 Vgl. Hessisches FG v. 23.6.2009 – 12 K 3439/01, IStR 2009, 658.

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keinem ernsthaften Zweifel, dass die in dem Urteil angesprochene KGaA nach dem DBA-Frankreich abkommensberechtigt war und alle Voraussetzungen des Schachtelprivilegs nach dem DBA-Frankreich erfüllte. Die Dividenden wurden nur von der KGaA erzielt und waren bei dieser steuerfrei. Dennoch muss das Urteil insoweit kritisiert werden, als es keine Begründung für die These enthält, dass steuerfreie Dividendeneinkünfte der KGaA nicht in den Gewinnanteil des phG im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG eingehen. Die Begründung für die Richtigkeit dieser These liegt jedoch auf der Hand. Unter dem Gewinnanteil im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG kann nur ein Teilbetrag des ohne die Anwendung von § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG bei der KGaA sachlich steuerpflichtigen Gewinns verstanden werden. Dies bedeutet auch eine Absage an alle mitunternehmerischen Konzeptionen, wie sie heute noch von der sog. herrschenden Meinung zu § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG vertreten werden. Die Besteuerung des phG einer KGaA unterscheidet sich wesentlich von der des phG einer KG. Die mitunternehmerischen Konzeptionen lösen eine Fülle von Problemen aus, die mit dem gesetzten Steuerrecht nicht zu lösen sind. Zwar ist der Gesetzgeber frei, über eine gesetzliche Regelung im Sinne einer mitunternehmerischen Konzeption nachzudenken. Er sollte aber vor allem über die Anwendung von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG innerhalb des § 49 Abs. 1 EStG nachdenken.

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Markus Wollweber

Der Steuerirrtum Zu den Rechtsfolgen steuerlicher Fehlvorstellungen bei Vertragsschluss1

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Von der zivilrechtlichen Rückabwicklung zur Korrektur der Steuerbescheide – Eine systematische Herleitung III. Die zivilrechtliche Anpassung und Rückabwicklung beim Steuerirrtum 1. Die vertragliche Regelung der Fehlerfolgen in Steuerklauseln 2. Fehlen einer vertraglichen Regelung a) Vorrang der ergänzenden Vertragsauslegung b) Treuepflicht c) Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB IV. Der Vollzug: Tatsächliche Anpassung oder Rückgängigmachung V. Die materiell-steuerliche Rückwirkung des Steuerirrtums 1. Ertragsteuern

a) Grundsätzlich keine Rückwirkung im Anwendungsbereich des § 11 EStG b) Gewinneinkünfte: Realisation – Stichtagsprinzip c) Stichtagsprinzip: Anknüpfung des Steuertatbestands an punktuelle Ereignisse d) Gewinnverteilungsabreden e) Anfechtung der Ausübung eines steuerlichen Wahlrechts 2. Schenkungsteuerrecht 3. Umsatzsteuerpflicht 4. Grunderwerbsteuer 5. Steuerirrtum bei Tatsächlicher Verständigung VI. Die verfahrensrechtliche Korrektur bei steuerlich beachtlicher Rückwirkung 1. Korrektur nach § 175 AO 2. Risikooptimierung: Einholung einer verbindlichen Auskunft VII. Fazit

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I. Einleitung Die Überschrift „Der Steuerirrtum“ könnte Arbeitstitel einer allgemeinen Abrechnung mit der Steuergesetzgebung sein. Vorliegender Beitrag wendet sich bescheideneren Themen zu. Die zivil- und steuerrechtlichen Folgen des beiderseitigen Steuerirrtums bei Abschluss eines Rechtsgeschäfts haben den Jubilar frühzeitig interessiert: Im jugendlichen Alter von 34 Jahren nahm er – gemeinsam mit Herrn Günther Felix – mögliche Abweichungen zwischen handels- und steuerrechtlicher Gewinnverteilung der Personengesellschaft zum Anlass, die Möglichkeit der zivil- und steuerrechtlichen Korrektur der Gewinn- und Entnahmezuweisun-

___________ 1 Für die Mitwirkung bei der Erstellung des Beitrags danke ich Herrn Ralf Heise, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sozietät Streck Mack Schwedhelm.

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gen bei beiderseitigem Steuerirrtums zu untersuchen2. Zu Recht hat er herausgearbeitet: Im Fall des beiderseitigen Steuerirrtums tritt Gesetz- und Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung des verwirklichten Lebenssachverhalts in Konkurrenz zu den Rückabwicklungsmöglichkeiten nach Vertragsrecht aufgrund subjektiver Fehlvorstellungen der Parteien. Wirtschaftlichen Lebenssachverhalten liegen für den Regelfall zivilrechtliche Vereinbarungen zugrunde. Hier verzahnen Zivil- und Steuerrecht wechselseitig, ohne im zwingenden Über- oder Unterordnungsverhältnis zu stehen: Was zivilrechtlich wirksam ist, muss steuerrechtlich nicht bindend sein (vgl. nur §§ 39 Abs. 2, 42 AO). Umgekehrt können unwirksame Geschäfte ohne Weiteres der Besteuerung zugrunde gelegt werden (vgl. § 41 AO)3. Besonders dicht ist der wechselseitige Bezug von Zivil- und Steuerrecht beim beiderseitigen Steuerirrtum. Ist der Irrtum wesentlich, kann er zivilrechtlich nach den Grundsätzen der ergänzenden Vertragsanpassung, der Störung der Geschäftsgrundlage oder allgemeinen Treuepflichten zur Anpassung oder Rückabwicklung der Vereinbarung berechtigen. Aus der zivilrechtlichen Anpassungs- oder Rückabwicklungsberechtigung ist für die Frage der steuerlichen Rückwirkung noch nichts gewonnen. Die irrtumsbedingte Möglichkeit der zivilrechtlichen Anpassung oder Rückabwicklung ist notwendige, nicht hinreichende Voraussetzung der steuerlichen Kassation. Wird das irrtumsbehaftete Rechtsgeschäft nachträglich angepasst oder rückabgewickelt, richtet sich die Frage der steuerlichen Rückwirkung nach materiellem Steuerrecht. Erlaubt das Steuerrecht eine Rückwirkung, lässt es den Steueranspruch, der aufgrund des vollzogenen, aber irrtumsbehafteten Rechtsgeschäfts zunächst rechtmäßig entstanden ist, rückwirkend anders entstehen. Eine Änderung des Steuerbescheids aufgrund des geänderten Steueranspruchs kommt in Betracht, wenn verfahrensrechtliche Korrekturvorschriften zur Verfügung stehen. Für Berater ist die Frage der steuerlichen Rückabwicklung irrtumsbehafteter Rechtsgeschäfte von besonderer Relevanz: Verfehlen die beratenen Parteien wesentliche, mit dem Rechtsgeschäft erwartete Steuerfolgen, folgt unweigerlich die Frage nach der Einstandspflicht des Beraters. Die Pflichtwidrigkeit der erbrachten Beratungsleistung wird regelmäßig unwiderlegbar sein, zumal der Berater bei unklarer Rechtslage die Einholung einer verbindlichen Auskunft oder – soweit dies steuerlich möglich ist – die Aufnahme eines Widerrufsoder Rückabwicklungsrechts4 im ursprünglichen Rechtsgeschäft empfehlen muss. Nachstehender Beitrag untersucht die zivilrechtlichen Voraussetzungen sowie die steuerlichen Folgen der Anpassung oder Rückabwicklung eines Rechtsgeschäfts aufgrund beiderseitigen Steuerirrtums.

___________ 2 Felix/Streck, Nichtanerkennung gesellschaftsvertraglicher Vereinbarungen durch die Finanzverwaltung bei Personengesellschaften, DB 1975, 2213–2218. 3 Vgl. zur Divergenz zwischen zivilrechtlicher Wirksamkeit und steuerrechtlicher Anerkennung von Gesellschaftsverträgen und Gewinnverteilungsabreden: Felix/Streck, DB 1975, 2213. 4 Vgl. hierzu Kamps, ErbStB 2003, 69 ff.; Kamps, FR 2001, 717 (718 f.).

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Steuerirrtum – Fehlvorstellungen bei Vertragsschluss

II. Von der zivilrechtlichen Rückabwicklung zur Korrektur der Steuerbescheide – Eine systematische Herleitung Ob ein Ereignis steuerliche Wirkung für die Vergangenheit im Sinne von § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO hat, beurteilt sich nach der Systematik und Konzeption des jeweils anzuwendenden Steuergesetzes5. Dabei ist die Rückwirkung in der Systematik des Steuerrechts die Ausnahme: Das Steuerrecht knüpft die Besteuerung an den tatsächlich verwirklichten Lebenssachverhalt, unabhängig davon, ob dieser gewollt oder durch einen Irrtum eingetreten ist, vgl. §§ 38, 41, 42 AO6. Wird das – fehlerbehaftete – Rechtsgeschäft tatsächlich vollzogen, ist der Steuertatbestand verwirklicht. Soweit der Rückabwicklung oder nachträglichen Aufhebung eines irrtumsbehafteten Rechtsgeschäfts im Ausnahmefall gleichwohl steuerliche Rückwirkung beigemessen wird, handelt es sich letztlich um eine Fiktion, die – erstaunlich – der Regelungstechnik des Gestaltungsmissbrauchs entspricht: § 42 Abs. 1 Satz 1 AO fingiert im Fall des Gestaltungsmissbrauchs den Steueranspruch so, „(…) wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht“7. Die Grundsätze der steuerlichen Rückwirkung eines irrtumsbehafteten Rechtsgeschäfts fingieren den eigentlich bereits verwirklichten Steueranspruch so, wie er bei einer dem objektivierten Parteiwillen entsprechenden rechtlichen Gestaltung entstanden wäre. Die steuerliche Rückwirkung der Änderung eines Rechtsgeschäfts erlaubt – so der BFH –, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist8. Zum Teil erlauben ausdrückliche Regelungen die steuerliche Rückwirkung, so z.B. § 29 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG, § 16 GrEStG9. Jenseits der einzelgesetzlichen Regelung bildet § 41 Abs. 1 AO den Ausgangspunkt der materiell-rechtlichen Rückwirkung10. Ist ein Rechtsgeschäft unwirksam oder wird es unwirksam, so ist es nach § 41 Abs. 1 AO für die Besteuerung unerheblich, soweit und solange die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis dieses Rechtsgeschäfts gleichwohl eintreten und bestehen lassen. Im Umkehrschluss können unwirksam werdende Rechtsgeschäfte für die Besteuerung erheblich sein, vorausgesetzt, die Beteiligten passen das Rechtsgeschäft tatsächlich an bzw. wickeln es vollständig ab. Für die Frage der steuerlichen Rückwirkung reicht das bloße Bestehen eines irrtumsbegründeten Anpassungs- oder Aufhebungsanspruchs daher nicht aus: Die geschuldete Anpassung oder Rückabwicklung muss tatsächlich auch durchgeführt werden. Keine Aussage trifft § 41 Abs. AO zu der Frage, ob die tatsächliche Anpassung oder Rückabwicklung eines Rechtsgeschäfts aufgrund von Anpassungs- oder Rückabwicklungsansprüchen steuerlich ex tunc – nur für die Zukunft – oder

___________ 5 BFH v. 26.7.1984 – IV R 10/83, BStBl. II 1984, 786; v. 23.6.1988 – IV R 84/86, BStBl. II 1989, 41. 6 S. Lange/Janssen, Verdeckte Gewinnausschüttungen, 9. Aufl. 2007, Rz. 426. 7 Vgl. hierzu auch Mack/Wollweber, DStR 2008, 182 ff. 8 BFH v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897. 9 Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 7 Rz. 15. 10 Vgl. Enders, MDR 1985, 904.

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ex nunc – auch für die Vergangenheit – wirkt. In den nicht ausdrücklich geregelten Fällen muss die Frage der steuerlichen Rückwirkung kraft Auslegung des konkret eröffneten Steuertatbestands hergeleitet werden: Ergibt die Auslegung, dass der beiderseitige Steuerirrtum dem bisher verwirklichten Steuertatbestand den Boden entzieht, wird die bislang rechtmäßige Steuerfestsetzung durch die nachträglich vollzogene Änderung oder Rückabwicklung des Rechtsgeschäfts rechtswidrig. Es zeigt sich, dass die Frage der steuerlichen Rückwirkung keine originär verfahrensrechtliche, sondern eine Frage des materiellen Steuerrechts ist. Insbesondere § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO bestimmt nicht, welche Umstände als rückwirkendes Ereignis zu qualifizieren sind; die Korrekturvorschrift setzt das rückwirkende Ereignis voraus; geregelt wird durch § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO allein die verfahrensrechtliche Frage, ob mit Blick auf das rückwirkende Ereignis die Möglichkeit der Bestandskraftdurchbrechung besteht. Für die Frage der Korrektur einer Steuerfestsetzung im Fall der Fehlvorstellung über die Steuerfolgen eines Rechtsgeschäfts ergibt sich ein vierstufiges Prüfungsschema: – Berechtigt der Steuerirrtum zivilrechtlich zur Anpassung oder Rückabwicklung? – Wird das Rechtsgeschäft auf Grundlage der bestehenden Anpassungs- oder Aufhebungsansprüche tatsächlich angepasst oder rückabgewickelt? – Ergibt die Auslegung des konkret betroffenen Steuertatbestands, dass die nachträgliche Anpassung oder Rückabwicklung steuerlich zurückwirkt? Entsteht mit anderen Worten der Steueranspruch aufgrund der durchgeführten Vertragsanpassung oder Rückabwicklung rückwirkend anders, wird die bislang rechtmäßige Steuerfestsetzung also rückwirkend rechtswidrig? – Ermöglicht das steuerliche Verfahrensrecht eine Korrektur der rechtswidrig gewordenen Steuerfestsetzung?

III. Die zivilrechtliche Anpassung und Rückabwicklung beim Steuerirrtum In der zivilrechtlichen Vertragspraxis werden steuerliche Konsequenzen häufig nicht im Vertragstext geregelt, nicht abschließend geprüft oder schlicht übersehen11. Wird nachträglich der steuerrechtliche Irrtum erkannt oder haben sich steuerrelevante Umstände geändert, die für die Vertragsparteien wesentlich sind und auf die sie keinen Einfluss haben (z.B. Änderung von Steuergesetzen), stellt sich die Frage nach den zivilrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten: 1. Die vertragliche Regelung der Fehlerfolgen in Steuerklauseln Werden zivilrechtliche Verträge sorgsam konzipiert, enthalten sie für den Fall der Fehlvorstellung über erwartete Steuerfolgen salvatorische Steuerklau-

___________ 11 Carlé/Demuth, KÖSDI 2008, 15979.

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seln12. Regelungstechnisch gewähren die Klauseln entweder einen Ausgleichsanspruch zugunsten desjenigen, der von den unerwarteten Steuerfolgen getroffen wird13. Alternativ ermöglichen sie die Anpassung oder Rückabwicklung des Rechtsgeschäfts. Die vertragliche Steuerklausel, die die Rechtsfolgen enttäuschter beiderseitiger Steuererwartungen regelt, verdrängt die gesetzlich vorgesehenen Grundsätze der Vertragsanpassung oder -aufhebung, insbesondere die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage: Die erwarteten Steuerfolgen sind im Anwendungsbereich der Steuerklausel nicht nur Vertragsgrundlage, sondern Vertragsgegenstand. Ist der Tatbestand der Steuerklausel erfüllt, erweist sich die vertraglich vorausgesetzte Steuerfolge also als unzutreffend, richten sich die Rechtsfolgen nach dem vertraglich vorgesehenen Regelungsregime: Ist für diesen Fall beispielsweise ein zeitlich befristetes Rücktrittsrecht vereinbart und lassen die Parteien das Rücktrittsrecht verstreichen, ist der subsidiäre Rückgriff auf § 313 BGB im Grundsatz ausgeschlossen. Eine Rückabwicklung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage scheidet dann aus14. Praxisbeispiel einer gängigen Steuerklausel ist die Umsatzsteuer-Klausel in Mietverträgen: Optiert der Vermieter zur Umsatzsteuerpflicht nach § 9 UStG, hängt sein Vorsteuerabzug von der Nutzung des Mietobjekts zu umsatzsteuerpflichtigen Ausgangsumsätzen durch den Mieter ab, § 15 UStG. Regelmäßig verpflichtet sich der Mieter, den Mietgegenstand ausschließlich für Zwecke zu nutzen, die den Vorsteuerabzug beim Vermieter nicht ausschließen. Für diesen Fall sehen entsprechende Mietverträge zugleich die Pflicht des Mieters – gegebenenfalls auch des Untermieters – vor, dem Vermieter auf erstes Anfordern unverzüglich sämtliche Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die der Vermieter für erforderlich erachtet, um seiner Nachweispflicht nach § 9 Abs. 2 UStG gegenüber den Finanzbehörden nachzukommen. Verwendet werden Steuerklauseln auch in Gesellschafts- und Unternehmenskaufverträgen. In Gesellschaftsverträgen ist es beispielsweise empfehlenswert, die Gewerbesteuer, die allein durch Vorgänge in der Sphäre eines Gesellschafters ausgelöst wird (Sonderbetriebseinnahmen, Veräußerungen von Anteilen an einer Personengesellschaft), demjenigen Gesellschafter zuzuweisen, der die Gewerbesteuer ausgelöst hat; dies ist notwendig, da Schuldner der Gewerbesteuer nicht der einzelne Gesellschafter, sondern die Personengesellschaft ist und ohne Ausgleichsregelung eine gleichmäßige Verteilung der einseitig hervorgerufenen Gewerbesteuer zu ungerechten Ergebnissen führt.

___________ 12 Zur Ausgestaltung von einzelnen Steuerklauseln s. Carle/Demuth, KÖSDI, 2008, 15979. 13 Vgl. zu Ausgleichsansprüchen im Zusammenhang mit Gesellschaftsverträgen und Gewinnverteilungsabreden: Felix/Streck, DB 1975, 2213. 14 Vgl. hierzu BFH v. 18.11.2009 – II R 11/08, BStBl. II 2010, 498, mit Anm. Lühn, BB 2010, 1071; Günther, EStB 2010, 98; vorgehend: FG Münster v. 19.11.2007 – 8 K 2562/05 GrE, EFG 2008, 877.

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Irrtumsbezogene Steuerklauseln sind auch in Unternehmenskaufverträgen enthalten. Typischerweise wird die Erhöhung des Kaufpreises bei Erwerb eines Unternehmensteils um die gesetzliche Umsatzsteuer für den Fall vereinbart, dass wider Erwarten die Voraussetzungen des Betriebsübergangs im Ganzen nicht vorliegen und die Umsatzsteuerfreistellung nach § 1a UStG nicht greift. Möglich sind überdies Steuerklauseln, denen zufolge ein Rechtsgeschäft oder bestimmte Rechtsgeschäfte ganz oder teilweise als aufgelöst oder nicht abgeschlossen angesehen werden oder unwirksam sind und dementsprechend behandelt werden sollen, wenn sich herausstellt, dass die für die Besteuerung zuständige Stelle an das Rechtsgeschäft oder die Rechtsgeschäfte andere (insbesondere ungünstigere) Steuerfolgen knüpft, als die Parteien vorausgesetzt, sich vorgestellt oder erwartet haben15. Nach zutreffender Ansicht handelt es sich bei solchen Steuerklauseln um auflösende Bedingungen; die zivilrechtliche Wirksamkeit hängt somit davon ab, dass die steuerlichen Folgen so eintreffen, wie sie die Parteien sich vorgestellt haben. Kommt es zum Auseinanderfallen zwischen der Vorstellung der Vertragsparteien und der Rechtsauffassung der Finanzverwaltung/Finanzgerichtsbarkeit, ist der Vertrag von Anfang an als unwirksam zu qualifizieren16. Ähnlich wirkt die Widerrufsklausel, die für den Fall des Fehlschlagens einer bestimmten, erwarteten Steuerfolge zum Widerruf berechtigt: Aus dem Schenkungsteuerrecht bekannt sind Widerrufsvorbehalte für den Fall, dass die mit Blick auf eine erwartete Gesetzesänderung oder -anwendung bezweckte Steuerersparnis nicht eintritt. Die Sinnhaftigkeit von auflösenden Bedingungen oder Widerrufsvorbehalten bedarf genauer Prüfung: Die zivilrechtliche Rückabwicklung ist zwar notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die steuerliche Rückwirkung. Eine auflösende Bedingung oder eine Widerrufsklausel für den Fall der steuerlichen Fehlvorstellung nützt steuerlich nichts, wenn der betroffene Steuertatbestand selbst nicht die Möglichkeit der steuerlichen Rückwirkung eröffnet. 2. Fehlen einer vertraglichen Regelung Sind keine Steuerklauseln vereinbart, stellt sich die Frage, inwieweit der ursprüngliche Vertrag an die neuen Verhältnisse angepasst oder rückabgewickelt werden kann, wenn wesentliche, beiderseitige steuerliche Steuererwartungen enttäuscht werden. a) Vorrang der ergänzenden Vertragsauslegung Vorrangig zu prüfen ist, ob den eingetretenen Änderungen der Verhältnisse durch eine Anpassung des Vertrags im Sinne einer interessengerechten Lö-

___________ 15 Vgl. Kruse in Tipke/Kruse, § 41 AO Rz. 49. 16 Vgl. Kruse in Tipke/Kruse, § 41 AO Rz. 51 ff., sowie Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 7 Rz. 16.

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sung Rechnung getragen werden kann17. Grundlage bietet die ergänzende Vertragsauslegung nach Maßgabe der gesetzlichen Vorgaben §§ 157, 133 BGB. Erforderlich ist eine Regelungslücke im Vertrag. Der Vertrag muss einen offen gebliebenen Punkt enthalten, dessen Ergänzung nach dem hypothetischen Parteiwillen zwingend und selbstverständlich geboten ist, um einen offensichtlichen Widerspruch zwischen der tatsächlich entstandenen Lage und dem objektiv Vereinbarten zu vermeiden18. Ausgangspunkt und zugleich Grenze für die Ermittlung des für die ergänzende Vertragsauslegung ausschlaggebenden hypothetischen Parteiwillens ist der Vertragswortlaut. Der hypothetische Parteiwille muss in irgendeiner, wenn auch unvollständiger Weise Ausdruck im Vertragswerk finden, die Lückenschließung mithin eine zwingende, selbstverständliche Folge aus dem Vereinbarten darstellen und in keinem offenen Widerspruch zu dem tatsächlich Vereinbarten stehen („Andeutungstheorie“)19. Das hypothetisch Gewollte muss objektiv nachprüfbar sein. Die Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens stellt einen objektiven Auslegungsmaßstab zur normativen Bewertung des konkreten Vertragsverhältnisses dar. Auf die steuerlichen Folgen bezogen bedeutet dies, dass die steuerlichen Gegebenheiten nicht nur Grundlage des Vertrags sind: Sie müssen Gegenstand des Vertrags sein20. Die Ableitung des hypothetischen Parteiwillens aus dem Vertragswortlaut stößt in der Praxis schnell an Grenzen. Oft fehlt der steuerliche Bezug in der Urkunde, der Anknüpfungspunkt für eine ergänzende Vertragsauslegung und für die objektivierte Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens sein könnte. Die aus dem Vertrag folgenden steuerlichen Gegebenheiten werden zwar den Motiven zum Abschluss des Vertrags zugrunde gelegt, sind jedoch nicht Vertragsinhalt21. Zusätzlich muss die Regelungslücke unter angemessener Abwägung der Parteiinteressen nach Treu und Glauben sowie unter Berücksichtigung der Verkehrssitte geschlossen werden22. Ausdrücklicher Vertragsgegenstand sind die steuerlichen Gegebenheiten häufig bei indirekten Steuern, die unmittelbar auf die Vergütung erhoben werden, so z.B. bei der Umsatzsteuer („zzgl. gesetzlicher Umsatzsteuer“). Kraft Vertragsauslegung kann sich ergeben, dass bei Fehlvorstellung über die Steuerfolgen ein Ausgleich kraft ergänzender Auslegung erfolgen kann: Sind beispielsweise beide Parteien irrtümlich von der Umsatzsteuerbefreiung eines Kaufvertrags ausgegangen, kann die Frage der Kaufpreiserhöhung um die gesetzliche Umsatzsteuer einer ergänzenden Vertragsauslegung zugänglich sein, wenn die Parteien die Frage, wer die Umsatzsteuer zu tragen hat, an sich als

___________ 17 Vgl. dazu bereits Felix/Streck, DB 1975, 2213; Kapp, BB 1979, 1207, sowie BGH v. 14.1.2000 – V ZR 416/97, NJW-RR 2000, 1652. 18 Wendtland in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 157 BGB Rz. 28 und 35. 19 Felix/Streck, DB 1975, 2213; Wendtland in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 157 BGB Rz. 40. 20 Felix/Streck, DB 1975, 2213 (2214). 21 So Felix/Streck, DB 1975, 2213. 22 Wendtland in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 157 BGB Rz. 41.

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regelungsbedürftig angesehen, ihre Regelung aber als unerheblich erachtet haben23. Es liegt in diesem Fall kein in die alleinige Risikosphäre des Verkäufers fallender einseitiger Kalkulationsirrtum des Leistenden, sondern eine Regelungslücke vor, die im Wege der ergänzenden Auslegung geschlossen werden kann24. b) Treuepflicht Anpassungsansprüche zur Beseitigung unangemessener Ergebnisse steuerlicher Fehlvorstellungen können gegebenenfalls aus Treuepflichten hergeleitet werden. Solche Treuepflichten entstehen typischerweise bei eng verflochtenen Dauerschuldverhältnissen, insbesondere Gesellschaftsverhältnissen. Die Treuepflicht verpflichtet die Gesellschafter, alles zu tun und alles zu unterlassen, um den im Vertrag konkretisierten (Gesellschafts-) Zweck zu erreichen oder ihn nicht zu gefährden25. Auch persönliche Interessen zu schützen, kann Gegenstand der Treuepflicht sein26. Anpassungsansprüche im Gesellschafterverhältnis werden häufig kumulativ aus der ergänzenden Vertragsauslegung und Treuepflichten begründet. Praxisrelevantes Beispiel sind unzureichende oder fehlende Gewerbesteuerklauseln in Personengesellschafts- und Unternehmenskaufverträgen: Wie bereits ausgeführt27, können Geschäftsvorfälle, die innerhalb einer Mitunternehmerschaft allein durch einen Mitunternehmer verwirklicht werden, zu unangemessenen Ergebnissen in der Gewinnverteilung führen, soweit die Steuerfolgen im Gesellschaftsvertrag nicht geregelt sind. Dies betrifft zum einen den Bereich der Sonderbetriebseinnahmen. Zum anderen kann Gewerbesteuer in erheblicher Höhe durch die Veräußerung von Mitunternehmeranteilen entstehen, sofern nicht die Befreiungsvorschrift des § 7 Satz 2 2. Halbs. GewStG greift. Ohne vertragliche Regelung ergibt sich ein Gerechtigkeitsproblem: Einerseits wird der mit der Sonderbetriebseinnahme verbundene Gewerbesteueraufwand durch wirtschaftliche Vorgänge hervorgerufen, die einem einzigen Gesellschafter zuzuordnen sind und von denen allein er profitiert. Andererseits ist die Gewerbesteuer eine Verbindlichkeit der Gesamthand, die zulasten aller Gesellschafter passiviert wird. Ohne Gewerbesteuerklausel im Gesellschaftsvertrag wird überwiegend im Schrifttum vertreten, die auf Sonderbetriebseinnahmen oder einen Veräußerungsgewinn entfallende Gewerbesteuer im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung über eine entsprechende Anpassung der Gewinnverteilungsabrede zuzuweisen28; zum Teil wird – zusätzlich – mit der gesellschaftsrechtli-

___________ 23 24 25 26 27 28

BGH v. 14.1.2000 – V ZR 416/97, DStR 2000, 834. BGH v. 14.1.2000 – V ZR 416/97, DStR 2000, 834. Felix/Streck, DB 1975, 2213 (2214). Felix/Streck, DB 1975, 2213 (2214). S. oben, Gliederungspunkt III. 1. Selder in Glanegger/Güroff, 6. Aufl. 2006, § 5 GewStG Rz. 21; Knobbe-Keuk, StuW 1985, 382 (389); Döllerer, DStR 1985, 295 (301); Uelner, DStJG 14 (1991), 139, 148; Füger/Rieger, DStR 2002, 933 (926); zum Ganzen: Scheifele, DStR 2006, 253 f. m.w.N.

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chen Treuepflicht argumentiert29. Auch ohne ausdrückliche Abrede gehe – so die Argumentation – der hypothetische Gesellschafterwille da hin, dass bei der Gewinnverteilung derjenige Gesellschafter, der durch Sonderbetriebseinnahmen Gewerbesteuer ausgelöst hat, „seine“ Gewerbesteuer selbst zu tragen habe30. U.E. ist die Gewerbesteuertragung durch den Gesellschafter, der Sonderbetriebseinnahmen tätigt oder gewerbesteuerpflichtige Veräußerungsgewinne generiert, regelmäßig gewollt. Der Wortlaut der gesellschaftsvertraglichen Gewinnverteilungsabrede kann einer ergänzenden Vertragsauslegung nicht entgegengehalten werden. In jedem Fall schuldet der Gesellschafter, der die Gewerbesteuer durch sein Handeln ausgelöst hat, aus seiner Treuepflicht sein Einverständnis für die einseitige Zuweisung der steuerlichen Konsequenzen. Für diesen Standpunkt kann auch ein steuerliches Argument herangezogen werden. Bei der Gewerbesteuer, die auf Sonderbetriebseinnahmen oder Gewinne aus der Veräußerung von Mitunternehmeranteilen entfällt, handelt es sich nur formell um eine Steuerschuld der Gesellschaft31. Aus materieller, gewerbesteuerrechtlicher Sicht sind die mitunternehmerisch tätigen Gesellschafter „gewerbliche Unternehmer“ im Sinne des § 2 Abs. 1 GewStG; diesen ist als Mitunternehmern „ihre“ Gewerbesteuer zuzurechnen32. Im Bereich der Ertragsteuern dürfte die Erfüllung vorstehend beschriebener Ausgleichspflichten zwischen Gesellschaftern für den Regelfall nicht steuerbar sein33. Eine Schenkung scheidet aus: Der Ausgleich erfolgt aufgrund einer entsprechenden Verpflichtung. Auch ertragsteuerlich ist der Vorgang u.E. regelmäßig neutral: Für den Fall der Anteilsveräußerung wird der Ausgleich der Gewerbesteuer gegenüber der Gesellschaft als Minderung des Kaufpreises für den Erwerb des Gesellschaftsanteils qualifiziert34. Soweit die fremdbestimmte Gewerbesteuer durch den Verkauf von Mitunternehmeranteilen hervorgerufen wird, beruht die Ausgleichszahlung des Verkäufers an die Gesellschaft auf der Kaufpreisminderung für die erworbenen Anteile: Der neue Anteilseigner muss die höhere Gewerbesteuerbelastung tragen. Diese Minderung wird durch die Ausgleichszahlung auf abgekürztem Wege direkt an die Gesellschaft geleistet. Im Fall des Ausgleichs der Gewerbesteuer auf Sonderbetriebseinnahmen kann die zivilrechtliche Verpflichtung des betroffenen Gesellschafters zum Ausgleich durchaus so interpretiert werden, dass sie die

___________ 29 Selder in Glanegger/Güroff, 6. Aufl. 2006, § 5 GewStG Rz. 21; Knobbe-Keuk, StuW 1985, 382 (389); Döllerer, DStR 1985, 295 (301); Uelner, DStJG 14 (1991), 139, 148; Füger/Rieger, DStR 2002, 933 (926); zum Ganzen: Scheifele, DStR 2006, 253 f. m.w.N. 30 Selder in Glanegger/Güroff, 6. Aufl. 2006, § 5 GewStG Rz. 21; a.A.: angeblich OLG München v. 23.7.1986 – 7 U 5095/85, n.v., zitiert nach Scheifele, DStR 2006, 252 (254); Becher, DB 2002, 2238 (2239); Söffing, DStZ 1993, 585 (590). 31 BFH v. 3.4.2008 – IV R 54/04, DStR 2008, 1133. 32 BFH v. 3.4.2008 – IV R 54/04, DStR 2008, 1133. 33 Für den Fall des Ausgleichs steuerlicher Nachteile aus zivil- und steuerrechtlich abweichender Gewinnverteilung: Felix/Streck, DB 1975, 2213 (2217). 34 Brinkmann/Schmidtmann, DStR 2003, 93; Scheifele, DStR 2006, 253 (258); kritisch Bechler/Schröder, DStR 2003, 869.

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Leistung einer „Vorab-Einlage“ ist; aus dieser Einlage werden die Mittel für die Gewerbesteuerzahlung der Gesellschaft zur Verfügung gestellt35. c) Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB Greifen die Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung nicht, bietet sich subsidiär die Möglichkeit der Anpassung oder – wiederum nachrangig – der Aufhebung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage, § 313 BGB. Haben sich Umstände, die Geschäftsgrundlage des Vertrags sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, können die Vertragsparteien nach § 313 Abs. 1 BGB die Anpassung des Vertrags verlangen, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann. Einer Veränderung der Umstände steht es gemäß § 313 Abs. 2 BGB gleich, wenn wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, sich als falsch herausstellen. Ist eine Anpassung des Vertrags nicht möglich oder einem Teil nicht zumutbar, kann der benachteiligte Teil gemäß § 313 Abs. 3 BGB vom Vertrag zurücktreten oder – soweit es sich um ein Dauerschuldverhältnis handelt – kündigen. Der beiderseitige Steuerirrtum, der sachlich den Anwendungsbereich des § 313 BGB eröffnet, muss in Beziehung gesetzt werden zu dem nur ausnahmsweise beachtlichen Motivirrtum gemäß § 119 Abs. 2 BGB in Form eines Rechtsfolgenirrtums. U.E. besteht ein Vorrang des Anfechtungsrechts nicht. Der Wortlaut des § 313 Abs. 2 BGB belegt, dass der Gesetzgeber den Fall des gemeinschaftlichen Irrtums als Fallgruppe der Störung der Geschäftsgrundlage sieht36. Gemäß § 313 Abs. 2 BGB steht es einer Veränderung der Umstände gleich, wenn wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, sich als falsch herausstellen. Nach Ansicht des Gesetzgebers betrifft die Vorschrift das ursprüngliche Fehlen der subjektiven Geschäftsgrundlage37. Dabei gehe es – so der Gesetzgeber – um die Fälle des gemeinschaftlichen Motivirrtums sowie um solche Fälle, in denen sich nur eine Partei falsche Vorstellungen mache, die andere Partei diesen Irrtum aber ohne eigene Vorstellungen hingenommen habe. Damit werden diese Irrtumsfälle, deren Zuordnung bis zum Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes zum Teil umstritten war, ausdrücklich als Anwendungsfall des Wegfalls der Geschäftsgrundlage definiert38. Die Anwendung des Anfechtungsrechts auf den beiderseitigen Motivirrtum würde im Einzelfall auch zu unbilligen Ergebnissen führen: Bei der Anfech-

___________ 35 Die Formulierung einer solchen Steuerklausel empfehlen Schaaf/Engler, EStB 2009, 172 (174). 36 Vgl. Unberath in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2007, § 313 BGB Rz. 82. 37 BT-Drucks. 14/6040, S. 176. 38 BT-Drucks. 14/6040, S. 176.

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tung gemäß §§ 142, 119 Abs. 2 BGB trägt stets der Anfechtende die daraus resultierende Kostenlast. Damit eröffnet der Steuerirrtum den Anwendungsbereich des § 313 BGB, wenn bestimmte Steuerfolgen als wesentliche Vorstellung einer oder beider Parteien zur Grundlage des Vertrags geworden sind und sich nach Vertragsabschluss als falsch herausstellen. Die Geschäftsgrundlage muss eine bei Vertragsschluss zutage getretene, dem anderen Teil erkennbar gewordene, von ihm nicht beanstandete Vorstellung der einen Partei oder die gemeinsame Vorstellung beider Teile vom Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt bestimmter Umstände sein, sofern der Geschäftswille der Parteien auf diesen Vorstellungen beruht39. Hierbei ist genau zu prüfen, ob es sich um einen gemeinsamen Irrtum oder um das jedenfalls von der anderen Partei hingenommene Motiv einer Person gehandelt hat40. Grundsätzlich können nur gemeinsame Vorstellungen der Parteien Grundlage des Vertrags werden, mithin „Geschäftsgrundlage“ sein41. Soweit steuerliche Vorstellungen Geschäftsgrundlage eines Vertrags sein sollen, hat der BGH in einer frühen Entscheidung gefordert, dass die Parteien die Steuerfolgen vor oder bei Vertragsschluss in bestimmter Form ausdrücklich erörtert haben müssen42. Ob in jedem Fall eine positive gemeinsame Vorstellung über die mit dem Rechtsgeschäft verbundenen Steuerfolgen zwingend erforderlich ist, ist bislang nicht abschließend geklärt. Werden die allgemeinen Anforderungen des § 313 BGB zugrunde gelegt, muss für die jeweilige andere Vertragspartei jedenfalls erkennbar sein, dass es sich bei den Steuerfolgen für die von ihr betroffenen Partei um eine wesentliche Grundlage des Vertrags handelt, mit dem der Vertrag in der gefassten Form „stehen und fallen“ soll43. Mit guten Gründen für eine solche Erkennbarkeit der Wesentlichkeit steuerlicher Folgen lässt sich argumentieren, wenn das zugrunde liegende Rechtsgeschäft ausdrückliche Regelungen zu der Verteilung der Steuerlast trifft oder jedenfalls aus der Präambel die steuerliche Zielsetzung erkennbar wird44. Wenn Vertragsparteien dagegen trotz des ausdrücklichen Ausschlusses einer steuerlichen Beratung durch den Notar und trotz des in den Raum gestellten Bestehens einer Schenkungsteuerpflicht einen Schenkungsvertrag schließen, haben sie die Frage des Entstehens bzw. der Höhe der Steuer nach Ansicht des BFH erkennbar nicht zur Grundlage des Vertrags gemacht45.

___________ 39 BGH v. 15.12.1983 – III ZR 226/82, BGHZ 89, 226 (231); v. 17.1.1990 – XIII ZR 1/89, DNotZ 1991, 492 (495) m.w.N; Fuhrmann, ErbStB 2003, 17 (18); Kamps, FR 2001, 717 (719). 40 Vgl. Hohloch in Erman, 12. Aufl. 2008, § 313 BGB Rz. 30. 41 Vgl. nur Kapp, BB 1979, 1207. 42 BGH v. 2.2.1951 – V ZR 15/50, NJW 1951, 517. 43 FG Münster v. 15.3.1978 – III 1954/77, EFG 1978, 602, Fuhrmann, ErbStB 2003, 17 (18). 44 Vgl. BFH v. 28.10.2009 – IX R 17/09, DStRE 2010, 312, Vorinstanz: FG Mecklenburg-Vorpommern v. 8.4.2009 – 1 K 687/04, DStRE 2009, 1517 (1520); FG Rheinland-Pfalz v. 23.3.2001 – 4 K 2805/99, FR 2001, 653, Anm. Kamps, FR 2001, 717 ff.; Gräfe, FR 2001, 653; Fuhrmann, ErbStB 2003, 17 (18); FG Sachsen-Anhalt v. 1.10.2003 – 2 K 329/01, n.v. (juris). 45 BFH v. 11.11.2009 – II R 54/08, BFH/NV 2010, 896.

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Sind Steuerfolgen nicht ausdrücklich im Vertrag geregelt, kann Anhaltspunkt für die erkennbare Wesentlichkeit der Steuerfolgen sein, dass die Beteiligten nach eigener Prüfung oder fachlicher Beratung in – gegebenenfalls dokumentierter Weise – davon ausgegangen sind, dass eine bestimmte Steuerfolge mit Abschluss des Rechtsgeschäfts eintreten würde46. Im Einzelfall kann auch schlicht die besondere wirtschaftliche Schwere der unerwarteten Steuerfolgen ausreichen, dass dies Folge für die Beteiligten als „erkennbar bedeutsam“ zu qualifizieren ist47. Zusätzliche Voraussetzung des Tatbestands nach § 313 BGB ist, dass die mit dem Steuerirrtum einhergehenden Folgen nicht nur in den Risikobereich der durch die Fehlvorstellung benachteiligten Partei fallen48. Auch hier ist genau zu prüfen: Nicht jede Verschiebung der Äquivalenz rechtfertigt ein Abweichen von dem Vertrag, sondern nur eine einschneidende Veränderung, die über das vernünftigerweise von jeder Partei zu tragende Risiko weit hinausgeht und es der benachteiligten Partei unmöglich macht, in dem Vertrag ihre eigenen Interessen auch nur annähernd gewahrt zu sehen49. So sind im Ausgangspunkt die steuerlichen Folgen eines Veräußerungsgeschäfts in die Risikosphäre des Verkäufers zu rechnen. Andererseits gehören die steuerlichen Folgen eines Veräußerungsgeschäfts dann nicht in die alleinige Risikosphäre des Verkäufers, wenn die Vertragsparteien eine bestimmte steuerliche Lastenverteilung explizit zur Vertragsgrundlage gemacht haben50. Im Rahmen einer schenkungsteuerpflichtigen unentgeltlichen Zuwendung werden die Parteien vorbehaltlich einer anderen Regelung regelmäßig davon ausgehen, dass der Beschenkte die anfallende Schenkungsteuer und damit zugleich das Risiko einer irrtumsbedingten Steuerbelastung trägt. Erfolgt hingegen die Übertragung im Wege der vorweggenommenen Erbfolge im Familienverbund, wird viel dafür sprechen, dass unbeabsichtigte Steuerfolgen gemeinschaftlich durch die Familie, mithin sowohl durch den Schenker als auch den Beschenkten, getragen werden sollen. Gleiches gilt u.E. bei Umstrukturierungen im Unternehmensverbund: Hier haben alle Beteiligten ein gemeinsames Interesse an der Vermeidung unbeabsichtigter Steuerfolgen. Sind die Voraussetzungen des § 313 BGB erfüllt, sieht das Gesetz zwei Rechtsfolgen vor. Vorgelagert ist zu prüfen, ob die Störung der Geschäftsgrundlage durch Anpassung des Vertrags behoben werden kann (§ 313 Abs. 1 BGB). Ist dies nicht möglich oder unzumutbar, tritt das Recht zum Rücktritt oder zur Kündigung des Vertrags hinzu (§ 313 Abs. 3 BGB). Die Rückabwicklung ist damit subsidiär zu den Anpassungsansprüchen51.

___________ 46 47 48 49 50

Vgl. Fuhrmann, ErbStB 2003, 17 (18). FG Münster v. 15.3.1978 – III 1954/77, EFG 1978, 602. Vgl. nur Kamps, FR 2001, 717 (719) m.w.N. Kapp, BB 1979, 1207 m.w.N. BFH v. 6.11.2002 – XI R 42/01, BStBl. II 2003, 257; v. 28.10.2009 – IX R 17/09, DStRE 2010, 312; Heuermann, BFH/PR 2010, 187. 51 BFH v. 18.11.2009 – II R 11/08, BStBl. II 2010, 498; mit Anm. Lühn, BB 2010, 1071; Günther, EStB 2010, 98; FG Münster v. 15.8.2007 – 8 K 1813/05 GrE, EFG 2008, 73, rkr.

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Inhalt des vorgelagerten Anpassungsanspruchs kann eine Entgeltanpassung oder die Gewährung einer Ausgleichszahlung zwischen den Parteien sein. Die Störung der Geschäftsgrundlage wird in diesem Fall zivilrechtlich aufgelöst. Bereits das Reichsgericht hat zur sog. Schuldverschreibungssteuer bei Grundstücksgeschäften entschieden, dass die bei Vertragsabschluss von den Parteien nicht vorausgesehene nachträgliche Verschärfung der mit dem Rechtsgeschäft verbundenen Steuerfolgen die Geschäftsgrundlage zerstört und eine Partei zu Ausgleichszahlungen an die mit der zusätzlichen Steuer belastete Partei verpflichten kann52. Praxisrelevantes Beispiel eines Anpassungsanspruchs ist – soweit nicht bereits die Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung greifen53 – die Fehlvorstellung über die Umsatzsteuerpflicht oder -befreiung bei Vertragsabschluss: Gehen die Parteien eines Kaufvertrags von der Umsatzsteuerpflichtigkeit des Rechtsgeschäfts aus, steht dem Käufer gegen den Verkäufer ein Anspruch auf Rückzahlung gezahlter Mehrwertsteuer zu, falls das Geschäft tatsächlich nicht umsatzsteuerpflichtig ist54.

IV. Der Vollzug: Tatsächliche Anpassung oder Rückgängigmachung Soll das Rechtsgeschäft steuerlich rückwirkend angepasst oder rückabgewickelt werden, reicht das bloße Entstehen der Anpassungs- oder Rückabwicklungsansprüche nicht aus: Die wirtschaftlichen Folgen müssen so, wie der Anspruch besteht, sei es auf Anpassung oder Rückabwicklung, von den Parteien wirtschaftlich, tatsächlich und vollständig vollzogen werden, vgl. § 41 Abs. 1 AO55. Basiert beispielsweise der Verkauf einer Kapitalbeteiligung auf einer die Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage eröffnenden steuerlichen Fehlvorstellung, setzt die steuerlich wirksame Rückwirkung insbesondere voraus, dass Folgen des irrtumsbehafteten Rechtsgeschäfts tatsächlich und vollständig rückgängig gemacht werden56. Gerade wenn in der Zwischenzeit Ausschüttungen erfolgt sind, kann dies mit Blick auf die Fragen der Rückabwicklung zu Unsicherheiten führen. Gegebenenfalls muss vor Durchführung der Rückabwicklung eine verbindliche Auskunft eingeholt werden57.

V. Die materiell-steuerliche Rückwirkung des Steuerirrtums Soweit die irrtumsbedingte Störung des Vertrags nicht auf Grundlage der zivilrechtlichen Regulationsmechanismen behoben werden kann, stellt sich die Frage, ob die Anpassung oder Aufhebung des Rechtsgeschäfts steuerlich

___________ 52 RG v. 13.6.1929 – VI 696/28, RGZ 125, 37 (41). 53 S. dazu bereits oben, Gliederungspunkt III. 2. a). 54 LG Gießen v. 22.4.2002 – 4 O 549/01, NJW-RR 2002, 1708; OLG Celle v. 3.11.1999 – 2 U 280/98, OLGR Celle 2000, 31; OLG Thüringen v. 7.11.2000 – 8 U 161/00, OLGR Jena 2002, 330. 55 BFH v. 28.10.2009 – IX R 17/09, DStRE 2010, 312; Enders, MDR 1985, 904. 56 BFH v. 28.10.2009 – IX R 17/09, DStRE 2010, 312. 57 Vgl. hierzu Gliederungspunkt VI. 2.

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nachvollzogen werden kann. Bereits dargestellt wurde, dass die Frage der steuerlichen Rückwirkung im konkret betroffenen Steuertatbestand zu entscheiden ist. Die nachfolgende, nicht abschließende Darstellung gewährt einen Überblick über systematische Grundfragen der steuerlich wirksamen Anpassung oder Rückabwicklung im Rahmen der unterschiedlichen Steuerarten: 1. Ertragsteuern Nach ständiger Rechtsprechung des BFH sollen bei den laufend veranlagten Steuern wie der Einkommensteuer, Körperschaftsteuer oder Gewerbesteuer die aufgrund des Eintritts neuer Ereignisse materiell-rechtlich erforderlichen steuerlichen Anpassungen regelmäßig nicht zurückwirken, sondern in dem Besteuerungszeitraum vorzunehmen sein, in dem sich der maßgebende Sachverhalt ändert. Dies gilt – so der BFH – jedoch nur insoweit, als die einschlägigen steuerrechtlichen Vorschriften nicht bestimmen, dass eine Änderung des nach dem Steuertatbestand rechtserheblichen Sachverhalts zu einer rückwirkenden Änderung steuerlicher Rechtsfolgen führt58. a) Grundsätzlich keine Rückwirkung im Anwendungsbereich des § 11 EStG Nach der Rechtsprechung des BFH ist die Frage der steuerlichen Rückwirkung eng verknüpft mit der Einkunftsart und der konkreten Einkunftsermittlungsmethode: Die sog. Überschusseinkünfte – die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, aus Kapitalvermögen, aus Vermietung und Verpachtung sowie die sonstigen Einkünfte im Sinne des § 22 EStG – ermitteln sich gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 2 EStG aus dem Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten. Nach § 2 Abs. 7 Satz 2 EStG i.V.m. § 25 EStG sind ihre Grundlagen für die Einkommensbesteuerung jeweils für ein Kalenderjahr (Veranlagungszeitraum) nach dem Zufluss und Abfluss von Gütern im Sinne des § 11 EStG und nicht – wie die Gewinneinkünfte im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 EStG – nach der Veränderung des Vermögensbestands zu ermitteln59. Auch im Bereich der Sonderausgaben greift das Zu- und Abflussprinzip. In der Folge lässt auch hier der BFH die steuerliche Rückwirkung der nachträglichen Änderung der zugrunde liegenden Rechtsgeschäfte im Grundsatz nicht zu60. Der Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und das Verbot der Übermaßbesteuerung sollen nach Ansicht des BFH der Anwendung des Zu- und Abflussprinzips auch im Fall zivilrechtlich rückwirkender Änderun-

___________ 58 BFH v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897; v. 1.10.2003 – X R 67/01, BFH/NV 2004, 154; v. 6.3.2007 – IX R 51/04, BFH/NV 2007, 1456; v. 13.9.2000 – X R 148/97, BStBl. II 2001, 641; v. 23.6.1988 – IV R 84/86, BFHE 154, 85. 59 Vgl. BFH v. 26.1.2000 – IX R 87/95, BStBl. II 2000, 396; v. 4.5.2006 – VI R 17/03, BStBl. II 2006, 830. 60 BFH v. 24.9.1985 – IX R 2/80, BStBl. II 1986, 284.

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gen der besteuerten Rechtsgeschäfte nicht entgegenstehen61. Die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen sei auf den jeweils zu beurteilenden Einkommensermittlungszeitraum (Veranlagungszeitraum) zu beziehen. Dies folge aus der auf den jährlichen Besteuerungsabschnitt bezogenen steuerlichen Ermittlungstechnik für die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer in ihrer Ausgestaltung als Jahressteuer62. Es sei hinzunehmen, dass es durch das Zuund Abflussprinzip in § 11 EStG bei einer Zusammenballung von Einnahmen und Ausgaben in einem Veranlagungszeitraum zu steuerlichen Ergebnissen kommen könne, die als Folge der Einkommensteuerprogression oder fehlender tatsächlicher Ausgleichsmöglichkeiten gegebenenfalls zu steuerlichen Beoder Entlastungen führen63. Eine zeitabschnittsbezogene Steuerermittlung bewirkt typischerweise bei progressiven Steuersätzen Unterschiede der Steuerbelastung zwischen den verschiedenen Abschnitten64. Ausnahmen gelten, wo das Gesetz selbst den Grundsatz der Zu- und Abflussbesteuerung durchbricht. Dies gilt für Anschaffungs- und Herstellungskosten für abnutzbare, mehrjährig nutzbare Wirtschaftsgüter. Werden abnutzbare Wirtschaftsgüter angeschafft oder hergestellt, deren Verwendung oder Nutzung durch den Steuerpflichtigen zur Erzielung von Einkünften sich erfahrungsgemäß auf einen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckt, können die Herstellungs- und Anschaffungskosten nicht im Jahr des Abflusses als Werbungskosten abgezogen werden. § 7 EStG ordnet eine gleichmäßige Verteilung der Aufwendungen auf den Zeitraum der zu erwartenden Nutzungsdauer an. Eine steuerliche Rückwirkung kann mit Blick auf die Anschaffung oder Herstellung dieser abzuschreibenden Wirtschaftsgüter eintreten, wenn der von den Beteiligten im Anschaffungszeitpunkt zugrunde gelegte Kaufpreis oder die Herstellungskosten nachträglich – z.B. aufgrund der Störung der Geschäftsgrundlage – verändert werden65. Keine Ausnahme ohne Rückausnahme: Für den Bereich nachträglicher Anschaffungskosten bei Sonderabschreibungen und erhöhten Abschreibungen führt die nachträgliche Änderung der Herstellungs- oder Anschaffungskosten gemäß § 7a Abs. 1 Satz 2 EStG nicht zu einer rückwirkenden Änderung der AfA-Bemessungsgrundlage im Jahr der Anschaffung oder Herstellung. Die Änderung der Bemessungsgrundlage kann vielmehr erst in dem Jahr vollzogen werden, in dem der tatsächliche Zu- oder Abfluss stattgefunden hat. Auch

___________ 61 Für Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit, § 19 EStG: BFH v. 4.5.2006 – VI R 17/03, BStBl. II 2006, 830; v. 26.1.2000 – IX R 87/95, BStBl. II 2000, 396; für Kapitaleinkünfte im Sinne des § 20 EStG: BFH v. 17.4.1996 – I R 78/95, BStBl. II 1996, 571; für sonstige Einkünfte im Sinne des §§ 22, 23 EStG: BFH v. 2.4.1974 – VIII R 76/96, BStBl. II 1974, 540; für Sonderausgaben im Sinne des § 10 EStG: BFH v. 24.9.1985 – IX R 2/80, BStBl. 1986 II, 284. 62 Vgl. BVerfG v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BStBl. II 1997, 518. 63 Vgl. BFH v. 2.4.1974 – VIII R 76/69, BStBl. II 1974, 540; v. 24.9.1985 – IX R 2/80, BStBl. II 1986, 284; v. 17.4.1996 – I R 78/95, BStBl. II 1996, 571; v. 26.1.2000 – IX R 87/95, BStBl. II 2000, 396. 64 BFH v. 4.5.2006 – VI R 17/03, BStBl. II 2006, 830. 65 BFH v. 17.2.1965 – I 400/62 U, BStBl. III 1965, 354; v. 26.7.1984 – IV R 10/83, BStBl. II 1984, 786; v. 6.2.1987 – III R 203/83, BStBl. II 1987, 423; v. 23.6.1988 – IV R 84/86, BStBl. II 1989, 41; v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897 m.w.N.; v. 6.3.2007 – IX R 51/04, BFH/NV 2007, 1456.

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hier gilt das Stichtagsprinzip gerade nicht66. Wird allerdings der Kaufpreis nur vorläufig vereinbart und später von den Vertragsparteien endgültig niedriger festgesetzt, führt diese Vereinbarung als rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu einer entsprechenden Korrektur der Sonderabschreibung. b) Gewinneinkünfte: Realisation – Stichtagsprinzip Im Rahmen der Gewinneinkünfte ist der Gewinn gemäß § 4 Abs. 1 EStG grundsätzlich nach Vermögensbestandsvergleich zu ermitteln. Eine Ausnahme greift für Steuerpflichtige, die nicht gesetzlich verpflichtet sind, Bücher zu führen und Abschlüsse zu machen. Dies betrifft beispielsweise selbständig Tätige im Sinne des § 18 EStG und Gewerbetreibende ohne geschäftsmäßig eingerichteten Gewerbebetrieb. Diese Personengruppen können gemäß § 4 Abs. 3 EStG als Gewinn den Überschuss der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben ansetzen. Auch hier greift das Zu- und Abflussprinzip mit den Modifikationen des § 4 Abs. 3 Satz 2 bis 5 EStG. Es gelten im Wesentlichen die Ausführungen zu den Überschusseinkünften. Im Bereich der Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 1 EStG richtet sich die Frage der Gewinnrealisierung im Ausgangspunkt nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung (GoB). Zu den GoB gehört das in § 252 Abs. 1 Nr. 4, 2. HGB geregelte Realisationsprinzip, demzufolge Gewinne nur dann zu berücksichtigen sind, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind. Der Zeitpunkt der Gewinnrealisierung wird beim Verkauf von Vermögensgegenständen im Allgemeinen als erfüllt angesehen, wenn der Vermögensgegenstand ausgeliefert, der Anspruch auf die Gegenleistung entstanden und die Gefahr des zufälligen Untergangs (sog. Preisgefahr) auf den Käufer übergegangen ist67. Anders als bei außerordentlichen Gewinnen im Sinne der §§ 16, 17, 34 EStG findet eine rückwirkende Korrektur des laufenden, durch Betriebsvermögensvergleich zu ermittelnden Gewinns grundsätzlich nicht statt68. Die hier maßgebenden GoB sehen eine rückwirkende Stornierung früherer laufender Geschäftsvorfälle infolge des späteren Eintritts eines gegenläufigen Ereignisses nicht vor; hier erfolgt nach Ansicht des BFH die Korrektur – nicht zuletzt aus Praktikabilitätsgründen – mit Wirkung ex nunc69. c) Stichtagsprinzip: Anknüpfung des Steuertatbestands an punktuelle Ereignisse Die steuerliche Rückwirkung von nachträglichen Änderungen des zugrunde liegenden Rechtsgeschäfts ist anerkannt für die Steuertatbestände, die an ein

___________ 66 Siebenhüter in Herrmann/Heuer/Raupach, § 7a EStG Rz. 35; Kulosa in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 7a EStG Rz. 2 u. § 7 Rz. 35. 67 Vgl. nur BFH v. 27.2.1986 – IV R 52/83, BStBl. II 1986, 552; v. 8.9.2005 – IV R 40/04, BStBl. II 2006, 26 m.w.N. 68 BFH v. 11.12.2001 – VIII R 58/98, BStBl. II 2002, 420 m.w.N.; FG Baden-Württemberg v. 27.6.2001 – 7 K 70/99 EFG 2003, 430, rkr. 69 BFH v. 26.7.1984 – IV R 10/83, BStBl. II 1984, 786; v. 26.3.1991 – VIII R 315/84, BStBl. II 1992, 472 m.w.N.; v. 11.12.2001 – VIII R 58/98, BStBl. II 2002, 420.

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einmaliges, punktuelles Ereignis anknüpfen, wie z.B. die Veräußerung eines nach § 6b EStG begünstigten Anlageguts oder die Veräußerung eines ganzen Gewerbebetriebs oder einer wesentlichen Beteiligung nach §§ 16, 17 EStG70. Es greift nicht das Realisations- oder Zu- und Abflussprinzip, sondern das Stichtagsprinzip. Stichtag ist der Zeitpunkt, zu dem die Aufgabe oder Veräußerung des Betriebs oder der Kapitalbeteiligung erfolgt71. Der Tatbestand der Betriebsveräußerung wird mit der Übertragung des wirtschaftlichen Eigentums auf den Erwerber verwirklicht. In diesem Zeitpunkt entsteht der Veräußerungsgewinn, und zwar unabhängig davon, ob der vereinbarte Kaufpreis sofort fällig, in Raten zahlbar oder langfristig gestundet sei und wann der Verkaufserlös dem Veräußerer tatsächlich zufließe72. Der Aufgabegewinn entsteht abschließend im zeitlichen Rahmen des – kurz zu bemessenden – Aufgabezeitraums73. Rückwirkende Ereignisse hat die Rechtsprechung darin gesehen, dass eine anlässlich der Betriebsveräußerung ins Privatvermögen übernommene Forderung gegen die Gesellschaft später wegen Zahlungsunfähigkeit wertlos wird74, dass die Gläubiger den Gesellschafter später aus einer für die aufgelöste Gesellschaft eingegangenen Bürgschaft in Anspruch nehmen75 oder dass nach der Betriebsauflösung eine ungewisse und daher nicht aktivierte Forderung beglichen wird76. Auch bei den Besteuerungstatbeständen des UmwStG, z.B. § 21 UmwStG, handelt es sich nach zutreffender Ansicht um eine stichtagsbezogene Besteuerung, bei der die steuerliche Rückwirkung einer irrtumsbedingten Vertragsanpassung oder -rückabwicklung grundsätzlich in Betracht kommt77. Im Rahmen der stichtagsbezogenen Einkunftstatbestände ist Voraussetzung für die steuerlich relevante Rückabwicklung, dass die Abweichung der objektiven steuerlichen Gegebenheiten und subjektiven Vorstellungen der Parteien bei Vertragsabschluss bereits aktuell, mithin der Irrtum präsent ist: Spätere Gesetzesänderungen, die die Parteien nicht prognostiziert haben, können zwar zivilrechtlich die Geschäftsgrundlage zerstören, wirken aber für den Regelfall nicht steuerlich zurück: So soll nach einer Entscheidung des FG Hamburg kein Wegfall der Geschäftsgrundlage vorliegen, wenn ein Grundstück im Jahr 1998 erworben und im Jahr 2005 veräußert wurde und in der Zeit zwischen Anschaffung und Veräußerung die Spekulationsfrist des § 23

___________ 70 BFH v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897; v. 10.2.1994 – IV R 37/92, BStBl. II 1994, 564; v. 6.3.1997 – IV R 47/95, BStBl. II 1997; v. 13.9.2000 – X R 148/97, BStBl. II 2001, 641; v. 23.6.1988 – IV R 84/86, BFHE 154, 85. 71 BFH v. 1.4.1998 – X R 150/95, FR 1998, 738. 72 BFH v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897 m.w.N. 73 BFH v. 26.5.1993 – X R 101/90, BStBl. II 1993, 710; Wacker in Schmidt, 29. Aufl. 2010, § 16 EStG Rz. 261. 74 BFH v. 14.12.1994 – X R 128/92, BStBl. II 1995, 465. 75 BFH v. 1.8.1996 – VIII R 36/95, GmbHR 1997, 468. 76 BFH v. 23.2.1995 – III B 134/94, BFH/NV 1995, 1060. 77 BFH v. 19.8.2009 – I R 3/09, BStBl. II 2010, 249; Vorinstanz: FG Düsseldorf v. 18.9.2008 – 16 K 2635/07 KE, EFG 2009, 723 ff.

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Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG auf zehn Jahre durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 verlängert worden ist78. In die Risikosphäre beider Parteien fallen die Steuerrisiken, wenn die Vertragsparteien eine bestimmte steuerliche Lastenverteilung explizit zur Vertragsgrundlage gemacht haben79. Im einem aktuell vom BFH entschiedenen Fall hatte die Gesellschafterin einer GmbH Geschäftsanteile in der Annahme veräußert, die von der GmbH selbst gehaltenen Anteile seien bei Berechnung der Wesentlichkeitsgrenze einzubeziehen80. Die Parteien waren in der Folge von der Unterschreitung der im damaligen Zeitpunkt greifenden Wesentlichkeitsgrenze von 25% und damit von einer Steuerfreiheit der Anteilsveräußerung ausgegangen. Der Kaufvertrag enthielt folgende Regelung: „Die mit dieser Urkunde und ihrem Vollzug verbundenen Kosten und die evtl. anfallenden Steuern fallen der Gesellschaft zur Last.“ Nach dem der Fehler fünf Jahre später entdeckt wurde, wickelten die Parteien den Anteilskaufvertrag aufgrund eines ausgeübten Rücktrittsrechts aus dem Wegfall der Geschäftsgrundlage wieder ab. Die steuerlichen Folgen der Versteuerung nach § 17 EStG hätten die wirtschaftliche Existenz sowohl der veräußernden Gesellschafterin als auch der Gesellschaft gefährdet. Der BFH entschied: Wird der Verkauf eines Anteils an einer Kapitalgesellschaft durch die Vertragsparteien wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage tatsächlich und vollständig rückgängig gemacht, kann dieses Ereignis steuerlich auf den Zeitpunkt der Veräußerung zurückwirken81. Zwar handele es sich – so der BFH – bei der im Vertrag verwendeten Klausel nicht um eine Steuerklausel im engeren Sinne, die den Vertrag bei einer bestimmten steuerlichen Einordnung von vornherein entfallen lasse82. Indes offenbare diese Vertragsbedingung eine gemeinsame Fehlvorstellung über die steuerrechtlichen Folgen, die erst mit dem BFH-Urteil vom 20.4.199983 und damit nach Vertragsschluss hinreichend geklärt worden seien. d) Gewinnverteilungsabreden Liegen die Voraussetzungen einer irrtumsbegründeten ergänzenden Vertragsanpassung oder Störung der Geschäftsgrundlage vor, dürfte die Anpassung von Gewinnverteilungsabreden für den Regelfall steuerlich zurückwirken, vorausgesetzt, die Anpassung wird nach Aufdeckung des Irrtums tatsächlich vollzogen. Trotz laufender Gewinneinkünfte spricht für eine solche Anpassungsmöglichkeit, dass der irrtumsbedingt zu ändernde Gewinnverteilungsanspruch selbst Gegenstand des Steuertatbestands ist: Die zivilvertraglich geregelte Gewinnverteilung ist Ausgangspunkt für die steuerliche Gewinnzuweisung. Nach zutreffender Ansicht erfolgt eine steuerliche Rückwirkung auf

___________ 78 FG Hamburg v. 30.3.2009 – 6 K 74/08, EFG 2009, 1382; nachgehend: BFH v. 23.12.2009 – IX B 72/09, BFH/NV 2010, 932; vgl. hierzu auch Bauschatz, FR 2005, 1230. 79 Vgl. BFH v. 6.11.2002 – XI R 42/01, BStBl. II 2003, 257. 80 Vgl. hierzu BFH v. 18.4.1989 – VIII R 329/84, BFH/NV 1990, 27. 81 BFH v. 28.10.2009 – IX R 17/09, DStRE 2010, 312; Heuermann, BFH/PR 2010, 187. 82 Vgl. BFH v. 24.11.1992 – IX R 30/88, BStBl. II 1993, 296. 83 BFH v. 20.4.1999 – VIII R 44/96, BStBl. II 1999, 698.

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den Zeitpunkt, in dem der Anspruch auf Anpassung der Gewinnverteilung entsteht, dies gilt auch dann, wenn zwischen den Gesellschaftern zunächst Streit über den Anpassungsanspruch besteht, der dann aber außergerichtlich und einvernehmlich beigelegt wird84: Es handelt sich im Sinne der BFHRechtsprechung um die außergerichtliche Feststellung eines unklaren Sachverhalts, die durch Urteil erfolgt wäre, wenn die Parteien nicht eine einvernehmliche Lösung erzielt hätten85. Eine Anpassung von Dauerschuldverhältnissen an eine geänderte Steuergesetzgebung, hier von Gesellschaftsverträgen, kommt zudem nach den Grundsätzen der ergänzenden Vertragsauslegung bzw. der Störung der Geschäftsgrundlage mit steuerlicher Wirkung ab Gesetzesänderung in Betracht: Ändert sich beispielsweise nach Abschluss des Gesellschaftsvertrags die Rechtslage hinsichtlich der Besteuerung der laufenden Gewinne – als Beispiel mag die Einführung der pauschalierten Gewerbesteueranrechnung nach § 35 GewStG durch das StSenkG angeführt werden –, kann gegebenenfalls im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung bzw. nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage ab Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung eine steuerlich wirkende Anpassung erfolgen, im Beispielsfall durch Herstellung einer sachgerechten Aufteilung des Gewerbesteueranrechnungspotentials86. e) Anfechtung der Ausübung eines steuerlichen Wahlrechts Streitig ist, ob die Ausübung eines steuerlichen Wahlrechts als einseitige Willenserklärung bei Irrtum über die Steuerfolgen mit steuerlicher Rückwirkung geändert werden kann. Nach Auffassung des FG Köln kann die Ausübung eines steuerlichen Wahlrechts (hier: Wahl der AfA nach § 7b EStG) nach den Regeln des bürgerlichen Rechts zur Irrtumsanfechtung angefochten werden87. Anderer Ansicht ist das FG Niedersachsen. Die Ausübung des Wahlrechts könne nicht entsprechend § 119 Abs. 1 BGB wegen eines Willensmangels vom Steuerpflichtigen angefochten werden; die Vorschriften des BGB über die Anfechtung von Willenserklärungen wegen Irrtums seien im öffentlichen Recht bei einseitigen Anträgen, die private Personen an Behörden richten, nicht sinngemäß anzuwenden88. Richtigerweise ist der Auffassung des FG Köln zu folgen. Für öffentlich-rechtliche Verträge ist die Möglichkeit der Anfechtung nach §§ 119 ff. BGB durch den BFH bereits anerkannt89. U.E. kann es für die Anwendung zivilrechtlicher Anfechtungs- und Rückabwicklungsregelungen im Steuerrecht keinen Unterschied machen, ob beiderseitige Verträge und einseitige Willenserklärungen betroffen sind. Allerdings hat der BFH die Frage der Anfechtbarkeit einseitiger

___________ 84 BFH v. 19.8.2009 – I R 3/09, BStBl. II 2010, 249; Bauschatz, FR 2005, 1230 (1235); Kamps, FR 2001, 717 (720). 85 BFH v. 23.4.1975 – I R 234/74, BStBl. II 1975, 603. 86 Bauschatz, FR 2005, 1230 (1232). 87 FG Köln v. 9.10.1997 – 2 K 5347/95, EFG 1998, 552. 88 FG Niedersachsen v. 26.2.2004 – 14 K 858/00, EFG 2004, 1199, rkr. 89 BFH v. 1.9.2009 – VIII R 78/06, BFH/NV 2010, 593; vorgehend: FG Münster v. 30.5.2006 – 11 K 2674/03 E, EFG 2006, 1306; mit Anm. Ballof, AO-StB 2006, 310 ff.

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Anträge gegenüber dem Finanzamt nach den Vorschriften der §§ 119 ff. BGB ausdrücklich offengelassen90. 2. Schenkungsteuerrecht Die Steuertatbestände des Erbschaft- und Schenkungsteuerrechts sind klassisch stichtagsbezogen. Die Steuer entsteht bei rechtsgeschäftlicher Zuwendung unter Lebenden gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG mit dem Zeitpunkt der Ausführung der Zuwendung. Im Gleichlauf mit den Ertragsteuern eröffnet die stichtagsbezogene Besteuerung grundsätzlich die steuerliche Rückwirkung bei Steuerirrtum. Diese steuerliche Rückwirkung ist im Gesetz implementiert. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG erlischt die Schenkungsteuer mit Wirkung für die Vergangenheit, soweit ein Geschenk wegen eines Rückforderungsrechts herausgegeben werden musste. Gemäß § 29 Abs. 2 ErbStG ist der Erwerber für den Zeitraum, für den ihm die Nutzungen des zugewendeten Vermögens zugestanden haben, wie ein Nießbraucher zu behandeln91. Hauptfrage im Anwendungsbereich des § 29 ErbStG ist, ob ein Rückforderungsrecht vorliegt; das Rückforderungsrecht im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG kann grundsätzlich im Rückabwicklungsanspruch nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage begründet sein: Schon in seiner frühen Rechtsprechung hat der BFH die schenkungsteuerliche Rückwirkung aufgrund des Wegfalls der Geschäftsgrundlage in Fällen für möglich gehalten, in denen alle Beteiligten davon ausgehen, dass bestimmte Vorgänge keine Schenkungsteuer auslösen und die Beteiligten den Schenkungsvertrag rückabwickeln92. Voraussetzung soll sein, dass die Vertragsparteien den Umstand, dass keine Schenkungsteuer anfällt, bei Abschluss des Vertrags als für den Vertragsabschluss übereinstimmend vorausgesetzt haben93. Sie müssen diesem Gesichtspunkt erkennbar maßgebende Bedeutung zugemessen haben94. Die Feststellungslast hierfür trifft den Steuerpflichtigen95. Die Irrtumsquellen sind vielfältig96: – Irrtum über die Schenkungsteuerpflicht: Die Parteien gehen z.B. davon aus, dass Leistung und Gegenleistung sich wertmäßig voll entsprechen und eine unentgeltliche Zuwendung schon nicht vorliegt; möglich ist beispielsweise auch der Irrtum über eine Befreiungsvorschrift97.

___________ 90 Vgl. BFH v. 15.10.1996 – IX R 10/95, BStBl. II 1997, 178. 91 Vgl. zur Rechtslage vor Einführung des § 29 ErbStG: BFH v. 19.10.1977 – II R 8992/71, BStBl. II 1978, 217. 92 BFH v. 3.8.1960 – II 263/57, DB 1961, 226; v. 29.7.1964 – II 106/62, BB 1979, 1208; v. 27.10.1972 – II B 7/72, BStBl. II 1973, 14. 93 FG Berlin-Brandenburg v. 22.4.2008 – 14 V 14016/08, DStRE 2008, 1339, rkr. 94 Schumann, UVR 1993, 17 (18); FG Berlin-Brandenburg v. 22.4.2008 – 14 V 14016/08, DStRE 2008, 1339, rkr. 95 Kamps, FR 2001, 717 (718) m.w.N. 96 Vgl. Fuhrmann, ErbStB 2003, 17. 97 FG Köln v. 4.6.2002 – 9 K 5053/98, EFG 2002, 1254, mit Anm. Fumi.

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– Irrtum über die Höhe der Steuer: Denkbar ist, dass die Beteiligten sich über die Höhe der anfallenden Schenkungsteuer eine falsche Vorstellung gemacht haben98; beispielsweise gehen die Parteien irrtümlich davon aus, das Erreichen der nächsten Progressionsstufe und der hiermit einhergehende höhere Steuersatz gelte nicht für die steuerverhafteten Vorerwerbe; – Irrtum über steuerlichen Folgen außerhalb des ErbStG99: Soll beispielsweise das Betriebsvermögens-Privileg nach §§ 13a, 13b ErbStG für eine GmbH in Anspruch genommen werden, liegt die Beteiligungsgrenze aber unterhalb der nach § 13b Abs. 1 Nr. 3 ErbStG erforderlichen Beteiligungsgrenze von mehr als 25%, kann eine Stimmpoolungsvereinbarung mit den übrigen Gesellschaftern erwogen werden, um die Anforderungen des § 13b Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 ErbStG zu erfüllen. Leicht übersehen wird bei einer solchen Vereinbarung, dass Stimmrechtsvereinbarungen nach – u.E. unzutreffender – Auffassung der Finanzverwaltung zum Untergang eines Verlustvortrags der betroffenen Kapitalgesellschaft nach § 8c KStG führen können100. Wie der Jubilar zutreffend ausgeführt hat, ist selbstverständliche Basis eines Schenkungsvertrags, dass die Erträge der geschenkten Einkunftsquelle – z.B. einer vom Vater auf den Sohn übertragenen Gesellschaftsbeteiligung – von dem Beschenkten der Einkommensteuer zu unterwerfen sind und nicht bei dem Schenker der Einkommensteuer unterliegen101. Greift insoweit das Finanzamt ein, indem es die gesellschaftsvertraglich vereinbarte Gewinnverteilungsabrede nicht anerkennt, mit der Folge, dass der Gewinnanteil des Vaters erhöht wird, kann auch dieser Irrtum über Steuerfolgen außerhalb des ErbStG im Einzelfall zur Rückgängigmachung des Vertrags wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage, in jedem Fall aber zu einem Ausgleichsanspruch des Schenkers gegenüber dem Beschenkten führen102. In den vorstehend beschriebenen Fallkonstellationen kommt ein Vorgehen über die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage in Betracht. Werden mögliche Risiken der steuerlichen Fehlvorstellung von den Parteien antizipiert, können Widerrufsvorbehalte im Schenkungsvertrag empfehlenswert sein: Diese sollten sachlich, gegebenenfalls auch der Höhe nach ausdrücklich auf den Eintritt bestimmter Steuerfolgen begrenzt werden103. Freie Widerrufsvorbehalte stehen nach Ansicht des BFH zwar nicht dem schenkungsteuerlichen Vollzug, wohl aber dem ertragsteuerlichen Vollzug entgegen104.

___________ 98 FG Rheinland-Pfalz v. 23.3.2001 – 14 K 2805/99, FR 2001, 653 mit Anm. Kamps, FR 2001, 717 ff.; Gräfe, FR 2001, 653; ablehnend noch zur alten Rechtslage: FG Münster v. 15.3.1978 – III 1954/77, EFG 1978, 602. 99 Vgl. Kamps, ErbStB 2003, 69 (70); Fuhrmann ErbStB 2003, 17; Geck/Messner, ZEV 2001, 310; Kamps, FR 2001, 721; Ebeling, DB 2002, 553 (554) m.w.N. 100 Vgl. hierzu Kamps, FR 2009, 353 (358); Kamps, ErbR 2009, 136 ff. 101 Felix/Streck, DB 1975, 2214. 102 Felix/Streck, DB 1975, 2214; Kapp, BB 1979, 1207 (1209). 103 Formulierungsvorschlag: Kamps, ErbStB 2003, 69 (71). 104 BFH v. 28.6.2007 – II R 21/05, BStBl. II 2007; 669; v. 13.9.1989 – II R 67/86, BStBl. II 1989, 1034; v. 16.5.1989 – VIII R 196/84, BStBl. II 1989, 877; Fuhrmann, ErbStB 2003, 17.

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Auch im Bereich des Schenkungsteuerrechts gilt schließlich: Der Steuerirrtum muss bereits im Zeitpunkt der Schenkung vorliegen. Eine steuerlich wirksame Rückabwicklung scheidet aus, wenn die mit einer möglichen Rückabwicklung verbundenen steuerlichen Vorteile erst nach der Schenkung durch spätere gesetzgeberische Maßnahmen auftauchen105. 3. Umsatzsteuerpflicht Die Fehlerfolgenbeseitigung eines Steuerirrtums im Umsatzsteuerrecht erfolgt im Regelfall über das Zivilrecht im Zusammenspiel mit den verfahrensrechtlichen Sonderregeln des Umsatzsteuerrechts: Gehen beide Parteien erkennbar von der Umsatzsteuerpflicht oder umgekehrt von der Umsatzsteuerfreiheit eines Rechtsgeschäfts aus und stellt sich diese Annahme im Nachhinein als unzutreffend heraus, erhöht bzw. ermäßigt sich der zivilrechtlich geschuldete Entgeltanspruch um die Umsatzsteuer nach den Grundsätzen der ergänzenden Vertragsauslegung bzw. den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage106. Bei irrtümlich angenommener Umsatzsteuerpflicht erteilt der Leistende nunmehr eine Rechnung ohne Umsatzsteuerausweis. Der zunächst durch den unberechtigten Steuerausweis nach § 14c Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 UStG geschuldete Umsatzsteuerbetrag entfällt bei Rechnungsberichtigung unter den Voraussetzungen der § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG, Abs. 2 Satz 3 ff. UStG. Bei umgekehrt unzutreffender Annahme einer Umsatzsteuerfreiheit erteilt der Leistende nachträglich eine Rechnung mit Umsatzsteuerausweis und ermöglicht so dem Leistungsempfänger im Voranmeldungszeitraum der Rechnungsberichtigung den Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG. In dieser Weise können mit steuerlicher ex-nunc-Wirkung die zutreffenden Steuerfolgen gezogen werden. Es verbleibt gegebenenfalls ein Zinsschaden nach § 233a AO. Eine „echte“, steuerlich rückwirkende Steuerkorrektur aufgrund Irrtums über steuerliche Folgen ist dem Umsatzsteuerrecht hingegen im Kern systemfremd. Zum einen haben die §§ 17, 14c, 15a UStG in ihrem Anwendungsbereich Vorrang vor den allgemeinen Korrekturvorschriften des Abgabenrechts, insbesondere § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO107. Diese umsatzsteuerlichen Verfahrensregelungen erklären sich aus der materiell-rechtlichen Besonderheit des Umsatzsteuerrechts, der zeitraumbezogenen Besteuerung nach dem Sollprinzip, d.h. der Berücksichtigung von Umsatzsteuer und Vorsteuer im Zeitpunkt der

___________ 105 FG München v. 2.10.1998 – 4 V 1889/98, DStRE 1999, 234, FG Berlin-Brandenburg v. 22.4.2008 – 14 V 14016/08, DStRE 2008, 1339. 106 BGH v. 14.1.2000 – V ZR 416/97, DStR 2000, 834; LG Gießen v. 22.4.2002 – 4 O 549/01, NJW-RR 2002, 1708; OLG Celle v. 3.11.1999 – 2 U 280/98, OLGR Celle 2000, 31; OLG Thüringen v. 7.11.2000 – 8 U 161/00, OLGR Jena 2002, 330; Meier, UR 1999, 318 f. 107 Vgl. hierzu BFH v. 11.10.2007 – V R 27/05, BStBl. II 2008, 438; v. 4.2.2005 – VII R 20/04, BStBl. II 2010, 55; Wagner, StuW 1993, 260 (266).

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Ausführung der in Rechnung gestellten Leistung ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Vereinnahmung der Gegenleistung108. Zum anderen scheitert die steuerliche Rückwirkung regelmäßig an Formerfordernissen. Die materielle Umsatzsteuerpflicht, aber auch die Vorsteuerabzugsberechtigung knüpft beispielsweise an die Rechnungserstellung. Selbst wenn die eigentliche Aufhebung des Rechtsgeschäfts zurückwirkt, wird regelmäßig der Sachverhalt nicht eine geänderte Steuerfolge auslösen, da es im Zeitpunkt der ursprünglichen Steuerpflicht an den formellen Voraussetzungen wie der ordnungsgemäßen Rechnungsstellung fehlen wird. Jenseits der besonderen Korrekturtatbestände nach UStG sind im Einzelfall gleichwohl rückwirkende Änderungen der Steuerfestsetzung möglich: So ist die steuerlich rückwirkende Rücknahme des Verzichts auf die Steuerbefreiung nach § 9 UStG durch den leistenden Unternehmer denkbar, soweit die Umsatzsteuerfestsetzung ihm gegenüber noch nicht bestandskräftig geworden ist109. 4. Grunderwerbsteuer Das Grunderwerbsteuerrecht enthält – soweit ersichtlich einzigartig im deutschen Recht – die zeitlich befristete Möglichkeit einer von sachlichen Gründen losgelösten, steuerlich wirksamen Rückabwicklung: Erwirbt der Veräußerer das Eigentum an dem veräußerten Grundstück zurück, so wird gemäß § 16 Abs. 2 Nr. 1 GrEStG auf Antrag sowohl für den Rückerwerb als auch für den vorausgegangenen Erwerbsvorgang die Steuer nicht festgesetzt oder die Steuerfestsetzung aufgehoben, wenn der Rückerwerb innerhalb von zwei Jahren seit der Entstehung der Steuer für den vorausgegangenen Erwerbsvorgang stattfindet. Ist für den Rückerwerb eine Eintragung in das Grundbuch erforderlich, so muss innerhalb der Frist die Auflassung erklärt und die Eintragung im Grundbuch beantragt werden. Häufig sind in Grundstücksübertragungsverträgen Rücktrittsrechte für den Fall beiderseitig vorausgesetzter, aber nachträglich enttäuschter Erwartungen vorgesehen. Die Rücktrittsrechte werden häufig zeitlich begrenzt. Sofern der Vertrag die Rechtsfolgen enttäuschter beiderseitiger Steuererwartungen regelt, verdrängt er die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage110. Zeitlich begrenzte Rücktrittsrechte können jedoch im Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG nur bedingt verlängert werden: Liegt eine bis zur vollständigen Rückgängigmachung des Erwerbsvorgangs reichende lückenlose Kette von jeweils noch innerhalb der laufenden Frist vereinbarten Fristverlängerungen vor, bleibt § 16 Abs. 1 Nr. 2 GrEStG anwendbar, wenn dem Steuerpflichtigen jeweils ein Anspruch auf Fristverlängerung zusteht; solche An-

___________ 108 BFH v. 27.10.2009 – VII R 4/08, BStBl. II 2010, 257. 109 BFH v. 10.12.2009 – XI R 7/08, n.v. (juris); v. 25.1.1979 – V R 53/72, BStBl. II 1979, 394; v. 11.8.1994 – XI R 57/93, BFH/NV 1995, 170; v. 2.4.1998 – V R 34/97, BStBl. II 1998, 695. 110 S. oben, Gliederungspunkt III.1.; vgl. auch BFH v. 18.11.2009 – II R 11/08, BStBl. II 2010, 498; mit Anm. Lühn, BB 2010, 1071; Günther, EStB 2010, 98.

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sprüche kommen unter dem Gesichtspunkt des Wegfalls der Geschäftsgrundlage in Betracht111. Soweit der zeitlich vorgegebene Zwei-Jahreszeitraum des § 16 Abs. 2 Nr. 1 GrEStG überschritten wird, ist eine steuerlich rückwirkende Abwicklung möglich, wenn das dem Erwerbsvorgang zugrunde liegende Rechtsgeschäft nichtig oder infolge einer Anfechtung als von Anfang an nichtig anzusehen ist (§ 16 Abs. 2 Nr. 2 GrEStG) und wenn die Vertragsbedingungen des Rechtsgeschäfts, das den Anspruch auf Übereignung begründet hat, nicht erfüllt werden und das Rechtsgeschäft deshalb aufgrund eines Rechtsanspruchs rückgängig gemacht wird (§ 16 Abs. 2 Nr. 3 GrEStG). Die Rückabwicklung nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 GrEStG kann sich insbesondere auf die allgemeinen Tatbestände der Leistungsstörung des allgemeinen Schuldrechts, dh. Verzug, Unmöglichkeit, Fehlen und Wegfall der Geschäftsgrundlage stützen112. Auch nach Ablauf des Zweijahreszeitraums ist daher eine irrtumsbedingte Rückabwicklung wegen der Fehlvorstellung über Steuerfolgen denkbar. 5. Steuerirrtum bei Tatsächlicher Verständigung Die Tatsächliche Verständigung ist aus der Praxis nicht wegzudenken. Das Steuerverfahren ist als Massenverfahren auf sie angewiesen113. Ziel ist es, in Fällen erschwerter Sachverhaltsaufklärung eine einvernehmliche Lösung herbeizuführen, das Steuerverfahren zu beschleunigen und Rechtsfrieden zu schaffen. Trotz ihrer praktischen Bedeutung besitzt die Tatsächliche Verständigung keine gesetzliche Grundlage: Sie ist allgemein anerkanntes Rechtsinstitut114. Nach zutreffender Ansicht des BFH und in Übereinstimmung mit der überwiegenden Auffassung in der Literatur115 sind die Anfechtungsvorschriften der §§ 119 ff. BGB grundsätzlich entsprechend auf einseitige Fehlvorstellungen bei Abschluss der Tatsächlichen Verständigung anwendbar116. Offengelassen hat der BFH bislang, ob die Tatsächliche Verständigung den Regelungen zur Störung der Geschäftsgrundlage in entsprechender Anwendung des § 313 BGB unterliegt oder Rechtsgrundlage für die Anwendung der Regelungen über die Störung der Geschäftsgrundlage §§ 56, 60 VwVfG sind117.

___________ 111 Vgl. hierzu BFH v. 18.11.2009 – II R 11/08, BStBl. II 2010, 498; mit Anm. Lühn, BB 2010, 1071 ff. 112 BFH v. 10.6.1969 – II 41/65, BStBl. II 1969; 559; v. 18.11.2009 – II R 11/08, BStBl. II 2010, 498; FG Münster v. 19.11.2007 – 8 K 2562/05 GrE, EFG 2008, 877; FG Sachsen-Anhalt v. 1.10.2003 – 2 K 329/01, n.v. (juris); FG Sachsen v. 10.6.200 – 3 K 2291/99, n.v. (juris) m.w.N.; FG Niedersachsen v. 23.10.1991 – III 469/87, EFG 1993, 96: Claßen, EFG 2008, 77; von Elsner, JbFfSt 2003/2004, 592 ff. 113 Vgl. Streck, Der Steuerstreit, 2. Aufl. 1994, Rz. 341. 114 Zur tatsächlichen Verständigung s. Seer in Tipke/Lang, 20. Aufl. 2010, § 21 Rz. 20 ff. m.w.N. 115 S. allein Seer, BB 1999, 78 m.w.N. 116 BFH v. 1.9.2009 – VIII R 78/06, BFH/NV 2010, 593; vorhergehend: FG Münster v. 30.5.2006 – 11 K 2647/03 E, EFG 2006, 1306, mit Anm. Ballof, AO-StB 2006, 310 ff. 117 Ausdrücklich offengelassen BFH v. 1.9.2009 – VIII R 78/06, BFH/NV 2010, 593.

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Für die Praxis kann die Frage dahinstehen: Gleichgültig, ob die Tatsächliche Verständigung als öffentlich-rechtlichen Vertrag qualifiziert oder als besonderes Rechtsinstitut aus Treu und Glauben hergeleitet wird, besteht Einigkeit, dass die Parteien bei wirksamer Einigung an sie gebunden sind118. Die Bindungswirkung und die Tatsache, dass die Einigung das Ergebnis eines gemeinsamen Einigungsprozesses darstellt, bei dem sich die Beteiligten nahezu gleichwertig gegenüberstehen, rechtfertigt es, Unstimmigkeiten im Hinblick auf Willensmängel oder Einigunglücken nach allgemeinen zivilrechtlichen Rechtsgrundsätzen zu lösen. Anwendung finden auf steuerliche Fehlvorstellungen insbesondere die Anfechtungsvorschriften im Sinne der §§ 119 ff. BGB sowie die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage119.

VI. Die verfahrensrechtliche Korrektur bei steuerlich beachtlicher Rückwirkung Liegt ein Ereignis vor, das nach Auslegung des konkret betroffenen Steuertatbestands steuerlich zurückwirkt, muss auf Ebene der letzten Stufe geprüft werden, ob die eingetretene materielle Rechtswidrigkeit der Steuerfestsetzung auch formell nachvollzogen werden kann, d.h., ob nach dem Verfahrensrecht eine Korrekturvorschrift zur Verfügung steht, die die Durchbrechung der gegebenenfalls eingetretenen Bestandskraft erlaubt. 1. Korrektur nach § 175 AO Zentrale Korrekturvorschrift ist § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO: Ein Steuerbescheid kann danach erlassen, aufgehoben oder geändert werden, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Das Merkmal des „rückwirkenden Ereignisses“ im Sinne des § 175 AO ist Blankettbegriff: Eine Definition der Änderungsvoraussetzungen enthält das Gesetz nicht120. Rückwirkendes Ereignis ist jeweils das, was der konkret betroffene Steuertatbestand in den Begriff hineinlegt. Je nach Steuertatbestand ist ein anderes Verständnis zugrunde zu legen. Ganz allgemein setzt die Vorschrift voraus, dass die Gründe für das rückwirkende Ereignis bereits im ursprünglichen Vertrag selbst angelegt sind121. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO erfordert – so der BFH –, dass die Änderung des nach dem Steuertatbestand rechtserheblichen Sachverhalts sich – ungeachtet der zivilrechtlichen Wirkungen – steuerlich in die Vergangenheit auswirkt, und zwar in der Weise, dass nunmehr der veränderte, anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist. Ob einer nachträglichen Änderung des

___________ 118 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 21 Rz. 20 ff. 119 So auch das BMF-Schreiben v. 30.7.2008 – IV A 3 – S 02223/07/10002, BStBl. I 2008, 831 das neben §§ 119, 313 BGB auch §§ 117, 154 (164 ff.) als weitere Gründe für eine mögliche Unwirksamkeit nennt. 120 BFH v. 30.11.1994 – XI R 84/92, BFH/NV 1995, 665. 121 Vgl. etwa Loose in Tipke/Kruse, § 175 AO Rz. 35 m.w.N.

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Markus Wollweber

Sachverhalts rückwirkende steuerliche Bedeutung zukommt, bestimmt sich allein nach dem jeweils einschlägigen materiellen Recht122. Liegt nach Auslegung des materiellen Steuertatbestands ein rückwirkendes Ereignis vor, kann grundsätzlich nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert werden. Es greifen besondere Vorschriften der Festsetzungsverjährung: Gemäß § 175 Abs. 1 Satz 2 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem das Ereignis eintritt. Bei zutreffendem Verständnis ist das Ereignis, an das § 175 Abs. 1 AO hier anknüpft, nicht der Zeitpunkt der nachträglichen Erkenntnis über den eigenen Steuerirrtum, sondern der Zeitpunkt, in dem irrtumsbedingt das Rechtsgeschäft tatsächlich angepasst oder aufgehoben wird. Ab der Erkenntnis über den eigenen Steuerirrtum sollte mit einer Anpassung oder Rückabwicklung aber nicht zu lange gewartet werden. Mit dem Zuwarten erhöht sich sukzessiv das Risiko, dass der Fiskus dies als Zeichen der endgültigen Hinnahme der Steuerkonsequenzen deutet: Für diesen Fall bleibt eine steuerliche Rückwirkung nach Maßgabe des § 41 Abs. 1 AO ausgeschlossen. Die Beweislast für diejenigen inneren und äußeren Tatsachen, auf die sich der zivilrechtliche Anpassungs- bzw. Rückabwicklungsanspruch stützt, trägt der Steuerpflichtige. Er trägt insbesondere das Risiko der Nichterweislichkeit einer bei Vertragsabschluss vorliegenden Fehlvorstellung über steuerliche Folgen, deren Erkennbarkeit sowie Wesentlichkeit für den Vertragsabschluss und die gemeinsam übernommene Verantwortlichkeit der Steuerfolgen123. 2. Risikooptimierung: Einholung einer verbindlichen Auskunft Erkennen die Parteien ihren Irrtum über die mit dem geschlossenen Rechtsgeschäft erwarteten Steuerfolgen, ist die Rückabwicklung nicht ohne Risiko. Wird die steuerliche Rückwirkung der Anpassung oder Rückabwicklung nicht anerkannt, wird das Finanzamt die Rückabwicklung als zweiten, erneut der Besteuerung zu unterwerfenden Übertragungsakt qualifizieren. Im Bereich der Schenkungsteuer besteht die Gefahr einer zweiten, erneut der Schenkungsteuer unterliegenden unentgeltlichen Zuwendung mit gegebenenfalls erheblich niedrigeren Freibeträgen und höheren Steuersätzen124; im Bereich der Veräußerungstatbestände der §§ 16, 17 EStG droht die Versteuerung eines weiteren Veräußerungs- oder Aufgabegewinns. Die Risiken können abschließend nur durch Einholung einer verbindlichen Auskunft beseitigt werden. Nach § 89 Abs. 2 Satz 1 AO können die Finanzämter verbindliche Auskünfte über die steuerliche Beurteilung von genau bestimmten, noch nicht verwirklichten Sachverhalten erteilen, wenn daran im Hinblick auf die erheblichen steuerlichen Auswirkungen ein besonderes Interesse besteht. Der von der Finanzverwaltung verbindlich zu prüfende

___________ 122 BFH v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897. 123 Vgl. FG Schleswig-Holstein v. 7.5.1998 – V 1263/96, n.v. (juris); FG Berlin-Brandenburg v. 22.4.2008 – 14 V 14016/08, DStRE 2008, 1339. 124 Vgl. FG München v. 2.10.1998 – 4 V 1889/98, DStRE 1999, 234 (235), rkr.; Kamps, ErbStB 2003, 69 (70) m.w.N.; Kamps, FR 2001, 717 (718).

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Steuerirrtum – Fehlvorstellungen bei Vertragsschluss

Sachverhalt darf noch nicht verwirklicht sein. Die Erteilung einer verbindlichen Auskunft steht grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde. Gemäß Ziff. 3.5.4. des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung erteilt die Finanzverwaltung verbindliche Auskünfte nicht für Angelegenheiten, bei denen die Erzielung eines Steuervorteils im Vordergrund steht (z.B. Prüfung von Steuersparmodellen, Feststellung von Grenzpunkten für das Handeln eines ordentlichen Geschäftsleiters etc.). Wird die verbindliche Zusage erteilt, ist das Finanzamt hieran grundsätzlich nach Treu und Glauben gebunden, wenn der Sachverhalt genauso wie mitgeteilt umgesetzt wird, vgl. Ziff. 3.6.1. AEAO. Seit die Voraussetzungen der verbindlichen Auskunft in § 89 AO gesetzlich geregelt sind, ist die verbindliche Auskunft und deren Ablehnung nach zutreffender Ansicht als Verwaltungsakt zu qualifizieren und mit Einspruch und Klage anfechtbar125.

VII. Fazit Der Berater sollte auf die Möglichkeiten einer steuerlich rückwirkenden Abwicklung bei erheblicher Fehlvorstellung eines Rechtsgeschäfts als präsentes Wissen zurückgreifen können. Für Schäden aus der steuerlichen Fehlvorstellung des Mandanten trifft den Berater im Regelfall eine unmittelbare Einstandspflicht: Der Irrtum des Mandanten ist der Irrtum des Beraters. Die steuerlich rückwirkende Abwicklung des Rechtsgeschäfts ist in dieser Situation häufig letzter Rettungsanker, um den Haftpflichtfall abzuwenden. Auch hier muss mit Vorsicht vorgegangen werden: Die steuerlich nicht anerkannte Rückwicklung erfüllt gegebenenfalls weitere Steuertatbestände und multipliziert den bereits eingetretenen Steuerschaden.

___________ 125 Olgemöller/Wollweber, Stbg. 2008, 206–207.

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Der Fiskus als Krisengewinnler – zur Unzulässigkeit von Auskunftsgebühren in Sanierungsfällen1 Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Entstehungsgeschichte 1. Verbindliche Auskunft 2. Gebührenpflicht 3. Gebührenhöhe 4. Gesetzgeberische Rechtfertigung der Gebührenpflicht III. Verfassungsmäßigkeit der Gebührenpflicht 1. Fehlende Gesetzgebungskompetenz des Bundes 2. Verfassungsmäßigkeit der Gebührenpflicht dem Grunde nach a) Abschöpfung von Sondervorteilen b) Kostendeckung für besonderes Verwaltungshandeln c) Verhaltenslenkung

3. Verfassungsmäßigkeit der Gebührenpflicht der Höhe nach IV. Auswirkungen der Gebührenpflicht auf sanierungsbedürftige Unternehmen 1. Entwicklung des Sanierungssteuerrechts seit 2008 2. Sonderfragen bei verbindlichen Auskünften in Sanierungsfällen a) Anzahl von Auskunftsverfahren bei Umstrukturierungen b) Gläubigerverzicht – fehlende Bindungswirkung der Auskunft für die Gewerbesteuer 3. Abzugsfähigkeit der Gebühr als Betriebsausgabe V. Schlussbemerkung/Resümee

1

I. Einleitung Sanierungstransaktion brauchen verbindliche Auskünfte wie kaum eine andere aktuelle Transaktionsform im Steuerrecht2. Dies liegt an dem lückenhaften Sanierungssteuerrecht3. Die betroffenen Unternehmen sehen sich in Sanierungsfällen erheblichen steuerlichen Risiken ausgesetzt, da weite Bereiche im Sanierungssteuerrecht von Erlassmaßnahmen der Finanzverwaltung neuer, ungeprüfter Gesetzgebung und eben auch von einem sehr hohen Zeitdruck geprägt sind. Jetzt kommt die Einführung einer Gebührenpflicht für verbindliche Auskünfte als zusätzliches Hindernis hinzu. Deshalb sprach sich das Land Hessen in seinem dem Bundesrat vorgelegten Antrag vom 6.3.20094 im Rahmen des Gesetzgebungsverfahren zum Finanzmarktstabilisierungs-

___________ 1 Für die tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags gilt besonderer Dank Herrn wissenschaftlichen Mitarbeiter Matthias Oldiges. 2 Zu Sanierungstransaktionen Rödding/Bühring, DStR 2009, 1933 ff.; Loose/Maier in Lüdicke/Sistermann, Unternehmensteuerrecht, § 17 Krisenfinanzierung und Sanierung, S. 781 ff. 3 Eilers/Bühring, DStR 2009, 137 ff.; Eilers/Bühring, StuW 2009, 246. 4 Vgl. BR-Drucks. 160/2/09, S. 5.

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ergänzungsgesetz für eine Gebührenfreiheit für die Bearbeitung bzw. Erteilung von verbindlichen Auskünften über die steuerliche Beurteilung von Beteiligungserwerben im Rahmen des § 8c KStG aus. Diesen Antrag nahm der Bundesrat in seine Stellungnahme zum Entwurf des Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetzes vom 6.3.20095 auf und schlug die Aufnahme eines neu einzufügenden Satzes 5 im § 89 Abs. 3 AO vor, wonach die Gebühr nicht erhoben werden sollte, soweit sich die verbindliche Auskunft auf die steuerliche Beurteilung der Frage bezieht, ob auf einen Sachverhalt § 8c Abs. 1 Satz 5–9 KStG Anwendung findet. Bis heute wurde dem Vorschlag einer Ausnahmeregelung zur Gebührenpflicht jedoch nicht Folge geleistet. Der folgende Beitrag setzt sich mit der Frage auseinander, ob die Erhebung einer Gebühr für eine verbindliche Auskunft im Allgemeinen und in Sanierungsfällen im Besonderen einer verfassungsrechtlichen Nachprüfung standhält. Weiterhin wird aufgezeigt, welche Begleit- und Folgeprobleme die Erhebung einer Gebühr mit sich bringt und wie diesen Problemen adäquat begegnet werden könnten.

II. Entstehungsgeschichte 1. Verbindliche Auskunft Vereinbarungen zwischen dem Finanzamt und dem Steuerpflichtigen über Sachverhalte und steuerrechtliche Folgen im Rahmen des Besteuerungsverfahrens haben erhebliche praktische Relevanz6. Vor der Kodifizierung der verbindlichen Auskunft in § 89 Abs. 2 AO sah § 89 Satz 2 AO 1977 lediglich im Rahmen eines konkreten steuerlichen Verwaltungsverfahrens gegenüber den Beteiligten eine Auskunftspflicht vor, die sich nach der früher herrschenden Meinung nur auf verfahrensrechtliche Rechte und Pflichten bezog7. Materielle Rechte und Pflichten konnten nicht Gegenstand eines Auskunftsverfahrens sein. Dabei wurden und werden die Grenzen einer zulässigen Auskunft dort gezogen, wo die Neutralität einer vom Staat unabhängigen Beratung, die Sicherstellung eines durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten Rechtsschutzes und die Sicherung eines funktionsfähigen rechts- und steuerberatenden Berufsstandes tangiert werden8. Außerhalb der wenigen gesetzlich ausdrücklich geregelten Fälle – LohnsteuerAnrufungsauskunft nach § 42e EStG, Zolltarifauskunft nach § 12 Zollkodex und verbindliche Auskunft im Anschluss an eine Außenprüfung nach §§ 204 ff. AO – konnten erteilte Auskünfte nur auf der Grundlage der von der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Grundsätze9 sowie nach Treu und Glauben10 eine Bindungswirkung entfalten.

___________ 5 6 7 8 9

Vgl. BR-Drucks. 160/09, S. 8 f. Vgl. Streck, Die Außenprüfung, 2. Aufl., 1993, Anm. 701 ff. Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO und FGO, § 89 AO Rz. 104, m.w.N. Schick in Hübschmann/Hepp/Spilater, AO und FGO, vor § 204 AO Rz. 7. Grundlegend BFH v. 4.8.1961 – VI 269/60 S, BStBl. III 1961, 562; ferner BFH v. 26.11.1997 – III R 109/93, BFH/NV 1998, 808. 10 BFH v. 13.12.1989 – X R 208/87, BStBl. II 1990, 274; BFH v. 16.11.2005 – X R 3/04, BStBl. II 2006, 155.

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Der Fiskus als Krisengewinnler

Mit Erlass vom 24.6.198711, welcher durch das Schreiben vom 29.12.200312 ersetzt wurde, schloss sich auch die Finanzverwaltung im Wege einer freiwilligen Selbstbindung der Rechtsprechung des BFH an und räumte den Finanzämtern ein Ermessen ein, verbindliche Auskünfte über die steuerliche Beurteilung genau bestimmter Sachverhalte zu erteilen, wenn daran im Hinblick auf die erheblichen steuerlichen Auswirkungen ein besonderes Interesse bestand. Hiervon ausgeschlossen wurden Auskünfte in Angelegenheiten, bei denen die Erzielung eines Steuervorteils im Vordergrund stand. Nach einer Reihe vergeblicher Versuche, das Rechtsinstitut der verbindlichen Auskunft bzw. Zusage im Steuerrecht umfassend zu kodifizieren13, wurde die verbindliche Auskunft nunmehr mit dem Föderalismusreform-Begleitgesetz vom 5.9.200614 mit Wirkung vom 12.9.2006 in Gesetzesform gegossen. In den § 89 AO wurde ein neuer Absatz 2 eingefügt, wonach die Finanzbehörden auf Antrag verbindliche Auskünfte über die steuerliche Beurteilung von genau bestimmten, noch nicht verwirklichten Sachverhalten erteilen kann, wenn daran im Hinblick auf die erheblichen steuerlichen Auswirkungen ein besonderes Interesse besteht15. Inhaltlich stimmt § 89 Abs. 2 AO im Wesentlichen mit dem Schreiben des BMF vom 29.12.200316 überein und schreibt nunmehr eine Bindungswirkung der verbindlichen Auskunft von Gesetzes wegen vor, ohne auf das Rechtsinstitut des Treu und Glauben zurückgreifen zu müssen. Der Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Disposition des die Auskunft Ersuchenden bedarf es nunmehr nicht, um eine Bindungswirkung der Finanzbehörde zu begründen. Die wirtschaftliche Disposition in der Form der Realisierung des Vorhabens ist vielmehr nur die Voraussetzung für den Rückgriff auf den Inhalt der verbindlichen Auskunft17. 2. Gebührenpflicht Mit dem JStG 200718 vom 13.12.2006, welches mit Wirkung zum 19.12.2006 in Kraft getreten ist, wurde § 89 AO um die Absätze 3 bis 5 erweitert, welche die Erhebung einer gesonderten Gebühr für die Bearbeitung von verbindlichen Auskünften zum Inhalt haben. Die somit kodifizierte Gebührenpflicht wurde zunächst weder im Gesetzgebungsverfahren des Föderalismusreform-Begleitgesetz thematisiert noch war sie Gegenstand der frühen Phasen des Gesetzgebungsverfahrens zum JStG 200719. Erst auf die Empfehlung des Bundesrates

___________ 11 12 13 14 15 16 17

BMF v. 24.6.1987 – IV A 5 - S 0430-9/87, BStBl. I 1987, 474. BMF v. 29.12.2003 – IV A 4 - S 7/03, BStBl. I 2003, 742. Vgl. dazu Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO und FGO, § 89 AO Rz. 110 ff. Föderalismusreform-Begleitgesetz v. 5.9.2006, BGBl. I 2006, 2098. Vgl. dazu v. Wendelstädt, DB 2006, 2368. BMF v. 29.12.2003 – IV A 4 - S 7/03, BStBl. I 2003, 742. Zu übrigen Voraussetzungen für den Antrag auf Erlass einer verbindlichen Auskunft vgl. Lahme/Reiser, BB 2007, 408. 18 JStG 2007 v. 13.12.2006, BStBl. I 2007, 28. 19 Vgl. Referentenentwurf zum JStG 2007 v. 10.7.2006 und Gesetzentwurf der Bundesregierung zum JStG 2007 v. 23.8.2006.

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in seiner Stellungnahme zum Entwurf des JStG20 nahm der Finanzausschuss21 einen Gebührentatbestand für die Bearbeitung von verbindlichen Auskünften in den Gesetzentwurf auf22. Die nähere Ausgestaltung regelte schließlich das BMF durch die Änderung des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung (AEAO)23. 3. Gebührenhöhe Die Gebühr für die verbindliche Auskunft berechnet sich grundsätzlich in analoger Anwendung des Gerichtskostengesetzes (GKG) nach dem Gegenstandswert, § 89 Abs. 3 Sat 1, Abs. 4 Satz 1 AO, welcher jedoch gemäß § 89 Abs. 5 Satz 2 AO mindestens 5.000 Euro zu betragen hat. In die andere Richtung ist der Gegenstandswert in analoger Anwendung des § 39 Abs. 2 GKG auf maximal 30 000 Euro begrenzt. Aufgrund dieser Begrenzungen bewegt sich die Gebühr für eine verbindliche Auskunft zwischen der Mindestgebühr in Höhe von 121 Euro und der Maximalgebühr in Höhe von 91 456 Euro24. Hingegen ist die Gebührberechnung nach dem tatsächlichen Zeitaufwand nur subsidiär in den Fällen möglich, in denen der Gegenstandswert auch nicht durch Schätzung zu bestimmen ist, § 89 Abs. 4 Satz 4 AO. Bei der Gebührenrechnung nach dem tatsächlichen Zeitaufwand fallen pro angefangener halben Stunde 50 Euro an, wobei ein Mindestbetrag von 100 Euro nach § 89 Abs. 4 Satz 4 AO anzusetzen ist. Dabei steht es dem Gesetzgeber auch frei, eine am Gegenstandswert orientierte Pauschalierung zu verwenden, die unabhängig von der konkreten Arbeitslast anfällt25. Ihre Grenze erfährt eine solche grundsätzlich zulässige Pauschalierung dann, wenn die Höhe der Gebühr völlig unabhängig von den mit ihr abgegoltenen Leistung ist und damit in einem „groben Missverhältnis“ zu den verfolgten Gebührenzwecken steht26. 4. Gesetzgeberische Rechtfertigung der Gebührenpflicht Der Bundesrat27 und der Finanzausschuss des Bundestages28 begründeten die Notwendigkeit einer Gebühr für die Erteilung einer verbindlichen Auskunft damit, dass nach der gesetzlichen Normierung des Anspruchs auf Erteilung einer verbindlichen Auskunft zu erwarten sei, dass die Anzahl der Anträge im Hinblick auf die Kompliziertheit des Steuerrechts stark ansteigen würde, was

___________ 20 21 22 23 24 25

26 27 28

BT-Drucks. 16/3036, Nr. 25, zu Art. 10 nach Nr. 8 (§ 89 Abs. 3 AO). BT-Drucks. 16/3325 v. 8.11.2006. BT-Drucks. 16/3325, S. 68. BMF v. 11.12.2007 – V A 4 - S 0062/07/0003, BStBl. I 2007, 894; Neufassung des gesamten AO-Anwendungserlasses vgl. BStBl. I 2008, 26 ff., DStR 2008, 99. Tz. 4.2.4 des AEAO zu § 89. BVerfG v. 12.2.1992 – 1 BvL 9/89, BVerfGE 85, 337, NJW 1992, 1673; vgl. auch Hartmann, Kostengesetze, 38. Aufl., 2008, Übersicht zu § 48 GKG, Rz. 2; Birk in Transaktionen, Vermögen, Pro Bono, FS zum zehnjährigen Bestehen von Pöllath+Partner, 2008, S. 161 (171). BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98, NVwZ 2003, 715 (717); BVerwG v. 30.4.2003 – 6 C 4.02, MMR 2003, 613 (614); Lahme/Reiser, BB 2007, 408 (413). Vgl. BR-Drucks. 622/1/06, Fz. 26, S. 32 f. Vgl. BT-Drucks. 16/3368, S. 24.

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beispielsweise vermehrt bei größeren Investitionen gelten solle, da insoweit die steuerlichen Auswirkungen für den Antragsteller von besonderem Interesse seien. Ferner wurde ins Feld geführt, dass die vermehrte Erteilung verbindlicher Auskünfte bei den zuständigen Finanzbehörden voraussichtlich zu einem erheblichen zusätzlichen Arbeitsaufwand führen würde. Außerdem sei vor dem Hintergrund, dass die verbindliche Auskunft vor allem bei Dauersachverhalten (z.B. Vermietung und Verpachtung) die Finanzverwaltung für viele Jahre binden könne, eine sehr intensive Prüfung unerlässlich. Da es sich um eine Aufgabe handele, die nicht mehr im Bereich der Steuerfestsetzung und -erhebung liege, sondern eine Dienstleistung gegenüber dem Steuerpflichtigen darstelle, sei es sachgerecht, für die Erteilung einer verbindlichen Auskunft nach § 89 Abs. 2 AO eine Gebühr zu erheben. Schließlich sei die Erhebung von Gebühren für besondere Inanspruchnahme oder Leistungen in § 178 AO bereits für Behörden der Bundeszollverwaltung geregelt und deshalb dem steuerlichen Verfahrensrecht nicht fremd. Durch die Erhebung von Gebühren sei der Steuerpflichtige auch nicht übermäßig belastet, weil die Höhe der Gebühr sehr moderat ausfalle und keine zusätzlichen Kosten für den Steuerpflichtigen anfielen29. Diese Position modifizierte der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 6.3.2009 zum Entwurf des Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetzes30. Seinen Vorschlag hinsichtlich des Einfügens eines neuen Satz 5 in den § 89 Abs. 3 AO, der die Befreiung der Gebührenpflicht bei Fragen vorsah, die sich auf die Anwendbarkeit von § 8c KStG beziehen, begründete der Bundesrat damit, dass neben der Notwendigkeit der Normierung einer „echten Sanierungsklausel“ mit einer Änderung der Abgabenordnung daneben auch sichergestellt werden soll, „dass die Finanzverwaltung verbindliche Auskünfte zu diesen Fragen ausnahmsweise kostenfrei bearbeitet, um dieses Instrument hier zu befördern und die Anzahl möglicher Streitfälle vor Gericht zu reduzieren“. Doch weder im Rahmen des Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetzes noch im Rahmen des mit Wirkung vom 22.7.2009 geltenden Bürgerentlastungsgesetzes31, mit dem im § 8c Abs. 1a KStG das Sanierungsprivileg normiert wurde, wurde die vom Bundesrat vorgeschlagene Ausnahme von der Gebührenpflichtigkeit in Sanierungsfällen berücksichtigt.

III. Verfassungsmäßigkeit der Gebührenpflicht Aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Bedenken steht die Gebührenpflicht seit ihrer Kodifizierung im Fokus steuerrechtlicher Diskussionen32. Die gegen die Verfassungsmäßigkeit geäußerten Bedenken sind vielseitig und erstrecken sich von einer zum Teil fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes33, über ein Missverhältnis zwischen der Höhe der Gebühr und der „besonderen“

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Vgl. Stellungnahme des Finanzausschusses, BT-Drucks. 16/3368, S. 24. Vgl. BR-Drucks. 160/09, S. 8 f. Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung, BStBl. I 2009, 1959. Kritisch hierzu u.a. Keß/Zillmer, DStR 2008, 1466; Blömer, DStR 2008, 1867; Stark, BB 2007, 2333; Hans, DStZ 2007, 421 (424 ff.); Wienbracke, NVwZ 2007, 749. 33 Vgl. Wienbracke, NVwZ 2007, 749 (750 f.).

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Leistung der Finanzverwaltung, die mit der Erhebung der Gebühr entgolten werden soll34, bis hin zur fehlenden Härtefallregelung eines von der Gebühr befreienden Tatbestandes für besondere Fallkonstellationen35. 1. Fehlende Gesetzgebungskompetenz des Bundes Die Gesetzgebungskompetenz für Normierung der verbindlichen Auskunft ergibt sich grundsätzlich kraft Annex aus der Zuständigkeit des Bundes für die Normierung der Abgabenordnung (Art. 108 Abs. 5 GG)36. Für die Normierung der Gebühr für die verbindliche Auskunft in § 89 Abs. 3–5 AO steht dem Bund die Gesetzgebungskompetenz zu, denn nach Art. 108 Abs. 5 Satz 2 GG steht dem Bund nicht nur das Recht zu, das Verfahren der Steuererhebung zu normieren, sondern auch die dafür zu erhebenden Gebühren zu regeln37. Zu Recht wird jedoch eine Kollision mit dem im Grundgesetz verankerten Grundsatz vom Funktionsvorbehalt der Steuer (sog. Steuerstaatsprinzip) diskutiert38, die dadurch entstehen könnte, dass die in § 89 Abs. 3–5 AO normierte Gebühr ihrer Höhe nach über die bloße Kostendeckung hinausgeht und damit dem Kostendeckungsprinzip bei öffentlichen Abgaben zuwiderläuft. Nach dem Kostendeckungsprinzip sind die Gebührensätze so zu bemessen, dass zwischen der den Verwaltungsaufwand berücksichtigenden Höhe der Gebühr einerseits und der Bedeutung, dem wirtschaftlichen Wert oder dem sonstigen Nutzen der Amtshandlung andererseits ein angemessenes Verhältnis besteht. Ist dabei gesetzlich vorgesehen, dass Gebühren nur zur Deckung des Verwaltungsaufwandes erhoben werden, sind die Gebührensätze so zu bemessen, dass das geschätzte Gebührenaufkommen den auf die Amtshandlungen entfallenden durchschnittlichen Personal- und Sachaufwand für den betreffenden Verwaltungszweig nicht übersteigt39. Das Kostendeckungsprinzip wäre in diesem Fall demnach dann verletzt, wenn „das Ergebnis der Multiplikation des durchschnittlichen Einzelgebührensatzes mit der zu erwartenden Anzahl von verbindlichen Auskünften die auf Seiten der jeweiligen Gebietskörperschaft insgesamt pro Rechnungsperiode zu veranschlagenden Kosten übersteigt“40. Würde nun eine nachträgliche Auswertung der für die Höhe der Gebühr zugrunde gelegten Kalkulation ergeben, dass der tatsächliche Kostenaufwand der Finanzbehörden nicht nur unerheblich hinter den hierfür erhobenen Gebühren zurückbleibt, so läge ein Verstoß gegen das Kostendeckungsprinzip mit der Konsequenz vor, dass der Bund außerhalb seiner Gesetzgebungskompetenz eine in das Gewand einer Gebührennorm geklei-

___________ 34 35 36 37 38

Vgl. Keß/Zillmer, DStR 2008, 1466 (1467). Vgl. BR-Drucks. 160/09, S. 8 f. Vgl. Maunz in Maunz/Dürig, GG, 55. Erg.L. 2009, Art. 108 Rz. 56. FG Baden-Württemberg v. 20.5.2008 – 1 K 46/07, Rz. 18. Grundlegend: Isensee in FS für Ipsen, 1977, S. 409; Vogel in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR II, 3. Aufl., 2004, § 30, Rz. 51 ff.; P. Kirchhof in Isensee/Kirchhof, HdbStR V, 3. Aufl., 2007, § 119 Rz. 45 ff.; Selmer/Brodersen, DVBl. 2000, 1153 (1163 f.) m.w.N.; kritisch zur Verankerung eines solchen Prinzips im GG: Sacksofsky, NJW 2000, 2619 (2625). 39 BFH v. 22.9.2009 – VII R 4/07, DStRE 2009, 1524. 40 VG Köln v. 11.4.1986 – 11 K 926/84, BeckRS 2009, 39784; Wienbracke, NVwZ 2007, 749 (751).

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dete und damit verfassungswidrige Steuernorm erlassen hat. Denn anderenfalls würde die Begrenzungs- und Schutzfunktion der Art. 104a ff. GG ihre Funktion und ihren Sinn verlieren, weil es dem Gesetzgeber erlaubt wäre, unter Rückgriff auf die Sachgesetzgebungskompetenz beliebig „nichtsteuerliche“ Abgaben unter Umgehung der finanzverfassungsrechtlichen Verteilungsregeln und durch eine Anmaßung eines von Verfassungs wegen nicht vorgesehen (unbegrenzten) Steuererfindungsrechts zu begründen. 2. Verfassungsmäßigkeit der Gebührenpflicht dem Grunde nach Aber auch die materiell-rechtliche Rechtfertigung des Gesetzgebers hinsichtlich der Erhebung einer Gebühr für die Bearbeitung verbindlicher Auskünfte kann nicht überzeugen. Weder ein mit der Bearbeitung von verbindlichen Auskünften einhergehender Mehraufwand für die Finanzverwaltung, noch die Argumente, dem Auskunftsersuchenden werde mit der Erteilung der verbindlichen Auskunft eine Sonderleistung und damit ein abschöpfbarer Sondervorteil zuteil, auf die er keinen Anspruch habe, und es bestehe die Notwendigkeit, die Funktionsfähigkeit der Finanzbehörden vor einer mit der Gebührenfreiheit einhergehenden Antragsflut zu schützen, erscheinen aus folgenden Gründen verfassungsrechtlich mehr als bedenklich. Auf der einen Seite ist die Verwaltung grundsätzlich berechtigt und verpflichtet, für Dienstleistungen, die sie gegenüber dem Bürger erbringt, Gebühren zu erheben. Einen verfassungsrechtlich verankerten Anspruch des Bürgers auf eine kostenlose Beratungshilfe von Seiten der Verwaltung gibt es nicht. Einzig im gerichtlichen Rechtsschutz kann ein Bedürftiger im Rahmen seiner berechtigten Rechtsdurchsetzung die Prozesskostenhilfe beanspruchen41. Auf der anderen Seite obliegt dem Staat als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 3 GG eine Beratungs- und Fürsorgepflicht gegenüber seinen Bürgern42, welche als allgemeine Betreuungspflicht der Verwaltung gegenüber dem Bürger in § 89 Abs. 1 AO und dem wortgleichen § 25 VwVfG ihren einfachgesetzlichen Niederschlag gefunden hat43. Allerdings vermag der Steuerpflichtige einen Anspruch auf die Erteilung einer „gebührenfreien“ verbindlichen Auskunft nicht schon allein auf das Vorhandensein einer Fürsorgepflicht der Finanzverwaltung ihm gegenüber zu stützen. Zwar resultiert aus der Tatsache, dass sich der Steuerpflichtige dem Steuerverfahren nicht schlechthin entziehen kann, eine grundsätzliche Kostenfreiheit44 eines finanzbehördlichen Verfahrens45, sodass eine zusätzliche, über das eigentliche Steuerfestsetzung- und Steuererhebungsverfahren hinausgehende Inanspruchnahme des Steuerpflichtigen durch Gebühren, die

___________ 41 Vgl. BVerfG v. 5.2.2001 – 2 BvR 1389/99, NJW-RR 2001, 1006; BVerfG v. 19.1.1989 – 1 BvR 1685/88, juris; BVerfG v. 19.12.1988 – 1 BvR 1492/88. 42 Vgl. u.a. Keß/Zillmer, DStR 2008, 1466 (1467), mit den entsprechenden Nachweisen aus Literatur und Rechtsprechung. 43 Vgl. BT-Drucks. 7/910, S. 49. 44 Koenig in Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl. 2009, § 178 Rz. 4; Kruse in Tipke/Kruse, AO, § 178 Rz. 1. 45 Vgl. BVerfG v. 19.3.2003 – BvL 9/98, NVwZ 2003, 715 (716).

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dem Steuerpflichtigen zusätzliche finanzielle Lasten auferlegt, einer sachlicher Rechtfertigung bedarf46. Jedoch stehen dem Gesetzgeber mit der Abschöpfung von Sondervorteilen47, der Kostendeckung für besonderes Verwaltungshandeln48 und der Verhaltenslenkung49 verfassungsrechtlich anerkannte sachliche Gründe zur Seite, die grundsätzlich zur Rechtfertigung einer Gebührennorm herangezogen werden können. a) Abschöpfung von Sondervorteilen Es wurde bereits dargelegt, dass im Gesetzgebungsverfahren50 als Sachgründe für die Einführung der Gebühr in § 89 Abs. 3–5 AO neben der Kompliziertheit des Steuerrechts und dem daraus resultierenden erheblichen zusätzlichen Arbeitsaufwand der Finanzbehörden bei der Erteilung von verbindlichen Auskünften auch und vor allem die in der verbindlichen Auskunft geklärten steuerlichen Fragen außerhalb des Steuerfestsetzungs- und Steuererhebungsverfahrens als individuell zurechenbare Sonderleistung der Finanzbehörden gegenüber dem Steuerpflichtigen angeführt wurden. Ob dem Steuerpflichtigen durch die Erteilung der verbindlichen Auskunft ein individuell zurechenbarer Sondervorteil gewährt wird, hängt entscheidend davon ab, ob dem Steuerpflichtigen ein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch hierauf zusteht. Denn steht dem Steuerpflichtigen ein solcher Anspruch zu, kann die Erteilung der verbindlichen Auskunft denklogisch auch keinen Sondervorteil darstellen51. Durch Art. 20 Abs. 3 GG ist die Finanzverwaltung zunächst dazu verpflichtet, die Steuer gemäß der jeweils geltenden Rechtslage festzusetzen und zu erheben52. Ob dem Bürger darüber hinaus auch ein originär grundrechtlicher Anspruch zusteht, von der Finanzverwaltung in selbstbindender Weise über die Steuer im Vorhinein Auskunft zu erhalten, ist umstritten. Die Freiheitsgrundrechte (Art. 14 Abs. 1, 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG) sind in erster Linie Abwehrrechte gegenüber dem Staat, beinhalten jedoch zudem einen Anspruch auf Dispositionssicherheit. Denn der Bürger kann seine Freiheitsgrundrechte nur dann vollständig entfalten, wenn ihm eine gewisse Planungs- und Entscheidungssicherheit gewährleistet wird. Dem Anspruch auf Dispositionssicherheit wird nur dann Genüge getan, wenn dieser auch die Absicherung zukünftiger Dispositionen durch die Erteilung von verbindlichen Zusagen umfasst. Deshalb ist es zutreffend, aus dem Dispositionsschutz der Freiheitsgrundrechte einen Anspruch des Bürgers auf Erteilung einer verbindlichen

___________ 46 Vgl. BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98, NVwZ 2003, 715. 47 Vgl. BVerfG v. 7.11.1995 – 2 BvR 413/88, BVerfGE 93, 319 (344), NJW 1996, 2296; BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98 NVwZ 2003, 715. 48 Vgl. BVerfG v. 6.2.1979 – 2 BvL 5/76, BVerfGE 50, 217 (226), NJW 1979, 1345 (1346); BVerfG v. 10.3.1998 – 1 BvR 178/97, BVerfGE 97, 332 (345), NVwZ 1998, 834; BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98, NVwZ 2003, 715. 49 Vgl. BVerfG v. 11.10.1988 – 1 BvR 777/85, BVerfGE 79, 1 (28) = NJW 1992, 1303. 50 BR-Drucks. 622/1/06, S. 32; BR-Drucks. 622/06, S. 35; BT-Drucks. 16/3036, S. 15; BT-Drucks. 16/3368, S. 59 f. 51 So auch Wienbracke, NVwZ 2007, 749 (752). 52 Konkretisiert in § 85 S. 1 AO.

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Auskunft abzuleiten53. Dem Steuerpflichtigen steht somit ein aus den Freiheitsrechten begründeter Anspruch auf Erteilung der verbindlichen Auskunft zu. Folgerichtig stellt die Erteilung einer verbindlichen Auskunft keinen individuell zurechenbaren Sondervorteil dar. b) Kostendeckung für besonderes Verwaltungshandeln Keinen verfassungsmäßigen Bedenken begegnet grundsätzlich die Erhebung einer Verwaltungsgebühr zur Kompensation von Kosten, die den Finanzbehörden für die Gewährung eines individuell dem Steuerpflichtigen zugutekommenden Vorteils entstehen54. Solche Gebühren verfolgen in legitimer Weise den Ausgleich von Vorteilen, die der Steuerpflichtige im Vergleich zu anderen Steuerpflichtigen erhält55. Nicht von der Hand zu weisen ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Erteilung einer verbindlichen Auskunft für die Finanzbehörden einen deutlich spürbaren, besonderen Mehraufwand bedeutet. Ein solcher Mehraufwand wird besonders an der Voraussetzung der „Ungewissheit der Rechtslage und der finanzbehördlichen Entscheidung“ deutlich, die einer Entscheidung über den Antrag nach § 89 Abs. 2 AO grundsätzlich zugrunde liegt56. Denn sowohl bei einem Abstandnehmen von der Verwirklichung des der verbindlichen Auskunft zugrunde gelegten Sachverhalts als auch bei dessen Realisierung fällt für die Finanzbehörde ein über den normalen Steuererhebungs- und Steuerfestsetzungsverfahren hinausgehender Mehraufwand an. In einem zweiten Schritt muss die Finanzbehörde dann klären, ob die Voraussetzungen, unter denen sie die Zusage erteilt hat, tatsächlich vorliegen. Eine Regelung, die einen reinen Ausgleich für die Gewährung eines individuellen Vorteils postuliert, ist damit verfassungsrechtlich unbedenklich. Eine andere, sogleich zu beantwortende Frage ist, ob § 89 Abs. 3–5 AO tatsächlich nur die Abschöpfung eines dem Steuerpflichtigen individuell zu Teil werdenden Vorteils bezweckt, d.h., ob auch die Höhe der tatsächlich erhobenen Gebühr mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. c) Verhaltenslenkung Eine bestimmte, durch die Gebühr bezweckte, Verhaltenslenkung lässt sich zur Rechtfertigung nicht heranziehen. Die Gesetzesbegründung zu § 89 Abs. 3–5 AO beschreibt die Gebührenregelung als „sehr moderat“, die „kein Hindernis“ für die Antragstellung darstellen dürfte57. Die Intention des Gesetzgebers ist daher gerade nicht, das Gebrauchmachen vom Instrument der verbindlichen Auskunft zu verhindern. Zwar kann die Höhe der Gebühr in

___________ 53 Vgl. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 195 f.; Seer, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., § 21 Rz. 12. 54 Vgl. BVerfG v. 7.11.1995 – 2 BvR 413/88, BVerfGE 93, 319 (344), NJW 1996, 2296; BVerfG v. 6.2.1979 – 2 BvL 5/76, BVerfGE 50, 217 (226) = NJW 1979, 1345 (1346). 55 Vgl. BVerfG v. 7.11.1995 – 2 BvR 1300/93, BVerfGE 93, 319 (344) = NVwZ 1996, 469. 56 Vgl. Birk, NJW 2007, 1325. 57 Bericht des Finanzausschusses des Bundestages zum Entwurf eines JStG 2007 v. 9.11.2006, BT-Drucks. 16/3368.

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Zweifelsfällen dazu führen, dass Steuerpflichtige von einem Antrag zu verbindlichen Auskunft absehen, ein Vermeidungszweck ergibt sich aber weder aus der tatbestandlichen Ausgestaltung des § 89 Abs. 3–5 AO noch aus den Gesetzesmaterialien. 3. Verfassungsmäßigkeit der Gebührenpflicht der Höhe nach Im Gegensatz zu den Steuern verfügen Gebühren über kein konstitutionelles Rechtfertigungsprivileg und auch dem rein formellen Gebührenbegriff des Grundgesetzes lassen sich keine per se zulässigen Gebührenbemessungsgrundlagen entnehmen. Im Ergebnis bestimmt der Sachgrund, welcher die Auferlegung einer Gebühr dem Grunde nach rechtfertigt, zugleich ihre maximale Höhe58. Besteht der Sachgrund für die Gebühr in der Zuwendung eines Individualvorteils für den Beantragenden, so darf die erhobene Gebühr maximal derart bemessen sein, dass durch sie das in Geldeinheiten ausgedrückte Ausmaß dieses Vorteils für den jeweiligen Gebührenschuldner abgeschöpft wird (Kostendeckungsprinzip). Der 1. Senat des Finanzgerichtes Baden-Württemberg stellte mit Urteil vom 20.5.2008 fest, dass der Gesetzgeber mit der Anlehnung an das Gerichtskostengesetz einen vertretbaren Gebührenmaßstab gewählt und umgesetzt hat59. Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass die Gebühren zumeist in einem Massenverfahren erhoben werden und deshalb jede einzelne Gebühr vielfach nur vergröbert bestimmt und pauschaliert werden kann. In dem Urteil blieb jedoch die Frage, ob auch der hilfsweise anzuwendende Zeitmaßstab verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, unbeantwortet. Diese Frage ist in der Hinsicht höchst zweifelhaft, dass die gesetzlich maximal vorgesehene Zeitgebühr von Steuerberatern nach § 13 Satz 2 StBGebV lediglich 46 Euro je angefangene halbe Stunde beträgt (zum Vergleich: Zeitgebühr für verbindliche Auskunft 50 Euro je angefangene halbe Stunde). Besonders in Fällen, in denen die verbindliche Auskunft zwar keine umfangreiche tatsächliche und rechtliche Prüfung erfordert, aber eine große finanzielle Auswirkung beim Steuerpflichtigen erzielt, erweist sich die Orientierung der Gebühren am Gegenstandswert als kritisch. In diesen Fällen drohen die Kosten für den Antragsteller im Verhältnis zu der Bearbeitungszeit der Finanzbehörde aus dem Ruder zu laufen. Der BVerfG betonte, dass die Pauschalgebühr im Einzelfall nicht zu einem Verstoß gegen das Äquivalenzgebot führen darf, weshalb die Verwaltungsgebühr nicht in einem groben Missverhältnis zu dem Wert der mit ihr abgegoltenen Leistungen stehen darf60. In dem vom BVerfG entschiedenen Fall überstiegen die Verwaltungsgebühren den tatsächlichen Personalaufwand um das ca. 12-fache, was verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigen war. Auch wenn das Verhältnis von 12:1 nur eine grobe Orientierung bietet und das BVerfG sich nicht dazu geäu-

___________ 58 Vgl. BVerfGE 108, 1 (18), NVwZ 2003, 715; BVerfG, NJW 2004, 3321; P.Kirchhof in Isensee/Kirchhof, HdbStR V, 3. Aufl. 2007, § 119 Rz. 198. 59 FG Baden-Württemberg v. 20.5.2008 – 1 K 46/07, Rz. 30. 60 BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvL 9/98, NVwZ 2003, 715 (717); BVerwG v. 30.4.2003 – 6 C 4.02, MMR 2003, 613 (614).

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ßert hat, ab welchem Verhältnis das Äquivalenzprinzip verletzt ist, erscheint die Gebührenregelung weit von der Vorstellung des Gesetzgebers entfernt, „moderat“ und „kein Hindernis“ für die Beantragung einer verbindlichen Auskunft zu sein61.

IV. Auswirkungen der Gebührenpflicht auf sanierungsbedürftige Unternehmen 1. Entwicklung des Sanierungssteuerrechts seit 2008 Befindet sich ein Unternehmen in der Krise, so bedient sich das deutsche Steuerrecht einiger Sanierungsinstrumente, um das Krisenunternehmen von der drohenden Insolvenz zu bewahren. Zum 1.1.2008 wurde im Rahmen der Unternehmensteuerreform 2008 die Norm des § 8c KStG eingeführt, die zu einer sehr scharfen Begrenzung der Nutzung von Verlusten nach Anteilseignerwechsel führte. Diese Regelung enthielt zunächst keine Ausnahme für Sanierungsfälle. Durch das Bürgerentlastungsgesetz Mitte 2009 wurde dann eine allgemeine – zunächst zeitlich beschränkte, nunmehr durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz zeitlich unbeschränkte – Sanierungsklausel in den § 8c KStG aufgenommen, die die Behandlung von Verlustvorträgen in Krisensituationen betrifft. Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz zum 1.1.2010 hat das Sanierungskonzept des Bürgerentlastungsgesetzes mit der Einführung einer Konzernklausel erweitert. Durch die neue Konzernklausel nach § 8c Abs. 1 Satz 5 KStG sollen nunmehr alle Umstrukturierungen vom Tatbestand des § 8c KStG ausgenommen werden, die ausschließlich innerhalb eines Konzerns erfolgen, an dessen Spitze zu 100% eine einzelne Person oder Gesellschaft stehen. Zudem kennt das Sanierungssteuerrecht den Sanierungserlass62, der die mögliche Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen regelt. Nach dem Sanierungserlass, der früher in § 3 Nr. 66 EStG geregelt war, werden die Sanierungsgewinne zwar weiterhin als steuerpflichtig behandelt, die Steuerschuld kann aber unter bestimmten Voraussetzungen gestundet bzw. erlassen werden. In der Praxis bereitet die Erlasskompetenz häufig Schwierigkeiten, da diese für die Körperschaftsteuer bei den Finanzbehörden und für die Gewerbesteuer bei den – meist vielen – unterschiedlich betroffenen Gemeinden liegt. Die nahezu jährlichen Modifizierungen des § 8c KStG dokumentieren den stetigen Wandel des Sanierungssteuerrechts. Dadurch stellt sich für den Steuerpflichtigen die Frage, an welche Vorgaben und Situationen die steuerrechtliche Sanierungsprivilegierung geknüpft ist, als immer unübersichtlicher dar. Hinzu kommt, dass der Sanierungserlass keinen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat, was zum einen rechtstaatlich bedenklich sein dürfte63, zum anderen in der Praxis zu erheblichen Anwendungsschwierigkeiten hinsicht-

___________ 61 Vgl. Keß/Zillmer, DStR 2008, 1466 (1467 f.). 62 BMF-Schreiben v. 27.3.2003 – IV A 6 - S 2140-8/03, BStBl. I 2003, 240. 63 Vgl. zu dieser Problematik die divergierenden Urteile des FG München v. 12.12.2007 – 1 K 4487/06, DStR 2008, 1687, (Revision beim BGH anhängig, Az. VIII R 2/08) und des FG Köln v. 24.4.2008 – 6 K 2488/06, BB 2008, 2666.

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lich der weiten Anwendungs- und Ermessensspielräume führt. Die Anwendung des Sanierungssteuerrechts erweist sich für den Steuerpflichtigen somit speziell bei der Anwendung des § 8c KStG und des Sanierungserlasses als äußerst kompliziert und undurchsichtig. Das macht das derzeitige Sanierungssteuerrecht äußerst auskunftsrelevant, weshalb die Notwendigkeit für verbindliche Auskünfte in Sanierungsfällen deutlich gestiegen ist. Anträge für verbindliche Auskünfte betreffen häufig Fragen über die steuerlichen Konsequenzen der Anwendung von Sanierungsinstrumenten, über die sich das Unternehmen vor Durchführung derer vergewissern möchte. Dabei kann sich die Gebührenpflicht der verbindlichen Auskunft für das Krisenunternehmen zum „Zünglein an der Waage“ in negativer Hinsicht entwickeln. So sind Fälle denkbar, in denen das Unternehmen eine verbindliche Auskunft hinsichtlich einer Sanierungstransaktion einholen möchte, ihm dazu aber die nötigen liquiden Mittel fehlen. In diesen Fallgestaltungen konterkariert der Zweck des Krisensteuerrechts mit der Gebührenpflicht der verbindlichen Auskunft. Zweifelhaft ist, warum beispielsweise dem Unternehmen durch Anwendung des Sanierungserlasses mehr Liquidität verschafft werden soll, ihm diese durch die Gebührenpflicht jedoch wieder entzogen wird. Unbillig erscheint, das Unternehmen auf der einen Seite zu entlasten und ihm auf der anderen Seite eine Gebührenpflicht für eine verbindliche Auskunft, die meist als Vorbereitungsmaßnahme der rettenden Sanierungstransaktion fungiert, aufzuerlegen. 2. Sonderfragen bei verbindlichen Auskünften in Sanierungsfällen a) Anzahl von Auskunftsverfahren bei Umstrukturierungen Die Gebühr der verbindlichen Auskunft richtet sich primär nach dem Gegenstandswert, der sich bei Umstrukturierungen meist aus den steuerlichen Belastungen ergibt, die eine Aufdeckung stiller Reserven zur Folge hätte. Da bei einer Umstrukturierung grundsätzlich mehrere Steuerpflichtige beteiligt sind, entsteht die Gebühr mehrfach, wenn die Beteiligten unabhängig voneinander einen Antrag auf verbindliche Auskunft stellen. Grund dafür ist, dass in Umwandlungsfällen jeder abgebende, übernehmende oder entstehende Rechtsträger eigenständig zu beurteilen ist64. Damit betrachtet die Finanzverwaltung einen Sachverhalt, der nur in der Summe vieler Einzelschritte sinnvoll ist, in seinen Einzelbausteinen getrennt voneinander. In Fällen einer Umstrukturierung sind zwar mehrere Rechtsträger beteiligt, diese sind aber in der Regel nur Teil einer gemeinsamen Konzerngruppe und verfolgen das gemeinsame Ziel einer wirtschaftlichen Optimierung. Besonders kritisch ist die von der Finanzverwaltung praktizierte Aufteilung dann, wenn im Zuge der Umstrukturierung mehrere ähnliche Teilschritte vorgesehen sind, die mit einer einmaligen rechtlichen Prüfung abgehandelt werden können. Zudem erweist sich die Gebührenfrage als zusätzlich kompliziert, wenn sich mehrere zuständige Finanzämter mit der gleichen Fragestellung befassen. In diesen

___________ 64 BMF-Schreiben v. 11.12.2007 – IV A 4 - S 0062/07/0003, BStBl. I 2007, 894.

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Fällen können die Gebühren für den Steuerpflichtigen in die Höhe schnellen, obwohl sie oft inhaltlich diesem Kostenaufwand nicht gerecht werden. Vor diesem Hintergrund sollte die Finanzverwaltung ihre Meinung, dass eine Mehrzahl von Rechtsträgern zu einer Mehrzahl von Sachverhalten führt, hinsichtlich der anfallenden Gebühren überdenken. Um den Arbeitsaufwand für die Finanzämter zu begrenzen, könnte sich eine Bestimmung betreffend einer maximalen Anzahl der Auskunftsverfahren bei Umstrukturierungsfällen als sinnvoll erweisen. Dann würde die Finanzverwaltung auf der einen Seite von der Gebührenpflicht für jeden einzelnen Rechtsträger absehen, auf der anderen Seite aber durch das Zulassen einer bestimmten Anzahl von Auskunftsverfahren bezüglich der gesamten Umstrukturierungen entlastet werden. Folge wäre, dass die Gebühren für verbindliche Auskünfte bei Umstrukturierungen nicht ins Unermessliche steigen und der Aufwand für die Finanzämter in einem angemessenen Rahmen bleibt. b) Gläubigerverzicht – fehlende Bindungswirkung der Auskunft für die Gewerbesteuer Ein Gläubigerverzicht kommt insbesondere dann zur Anwendung, wenn sich das Schuldnerunternehmen in der Krise befindet. Unter Umständen kommt es hinsichtlich des durch den Verzicht entstehenden Gewinns zu einer Privilegierung durch die Anwendung des Sanierungserlasses. Um sich dieser Privilegierung zu vergewissern, ist den beteiligten Parteien zu raten, die Anwendbarkeit des Sanierungserlasses ggf. durch eine verbindliche Auskunft abzusichern. Allerdings entfaltet eine verbindliche Auskunft über die Anwendbarkeit des Sanierungserlasses keine Bindungswirkung im Hinblick auf die Gewerbesteuer, da insofern die jeweilige Gemeinde zuständig ist65. Bei einem Gläubigerverzicht sind somit Konstellationen denkbar, in denen sowohl die beteiligten Parteien als auch die zuständigen Gemeinden jeweils gebührenpflichtige verbindliche Auskünfte über denselben Vorgang stellen. Um diese Häufung gebührenpflichtiger verbindlicher Auskünfte zu vermeiden, bedarf es einer vorherigen Koordination zwischen den beteiligten Parteien und den zuständigen Gemeinden. Da eine solche Koordination in der Praxis häufig schon aus Zeitgründen nicht realisierbar ist, bietet sich als Alternative wieder die (wenn überhaupt) einmalige Gebührenpflicht für den gesamten Vorgang des Gläubigerverzichts kombiniert mit einer maximalen Anzahl der Auskunftsverfahren an66. 3. Abzugsfähigkeit der Gebühr als Betriebsausgabe Die Abzugsfähigkeit der Kosten für eine verbindliche Auskunft hängt nach Auffassung der Finanzverwaltung entscheidend von der Frage ab, ob die verbindliche Auskunft Steuern betrifft, die selbst als Betriebsausgabe abzugsfähig sind. Die Kosten für eine verbindliche Auskunft, die nichtabzugsfähige Posi-

___________ 65 Rödding/Bühring, DStR 2009, 1933 (1936). 66 S. Gliederungspunkt IV. 2. a).

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tionen wie Gewerbe- oder Körperschaftsteuer betreffen, sind somit nicht als Betriebsausgabe abzugsfähig. Die Frage, ob dieses Abzugsverbot gegen das aus dem objektiven Nettoprinzip hergeleitete Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verstößt, könnte bereits mit der Begründung verneint werden, dass es regelmäßig in Fällen einer verbindlichen Auskunft bereits tatbestandlich an einer „Steuer“ fehlt. Andererseits gehört die Gebühr zu den Kosten des Steuerpflichtigen, die er für seine einkunftserzielende Tätigkeit, häufig als Kosten für Strukturierungs- und Gestaltungszwecke, aufwendet. In derartigen Fällen liegt ein Vergleich mit Steuerberatungskosten, die vom BMF den Betriebsausgaben zugeordnet wurden67, nahe. Denn genau wie bei einer Steuerberatung ist der Gegenstand der verbindlichen Auskunft zwar die steuerliche Auswirkung, der Anlass jedoch ist in beiden Fällen die beabsichtigte betriebliche oder berufliche Aktivität68. Eine Abzugsfähigkeit der Gebühr in Bezug auf einkommensteuerliche oder körperschaftsteuerliche Folgen betrieblicher Umstrukturierungen wäre somit angezeigt und entspräche dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Daher ist die gesetzliche Regelung der Nichtabziehbarkeit gemäß § 12 Nr. 3 EStG i.V.m. § 3 Abs. 4 AO bedenklich.

V. Schlussbemerkung/Resümee Nach alledem sollte der Gesetzgeber die Gebührenpflicht für die verbindliche Auskunft und ihre Nichtabziehbarkeit als Betriebsausgabe jedenfalls in Sanierungsfällen überdenken. Die Gebührenfreiheit in Sanierungsfällen kann die Anwendungssicherheit im Sanierungssteuerrecht erhöhen. Mit einer zentralen gebührenfreien Beauskunftung könnte eine gesetzliche Absicherung für Sanierungstransaktionen geschaffen werden, die die Anwendungsvoraussetzungen des Sanierungssteuerrechts planungssicher gewährleistet. Die vom Land Hessen angeregte und vom Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetz aufgegriffene Gebührenfreiheit für verbindliche Auskünfte im Rahmen des § 8c KStG69 wäre ein erster Schritt auf dem Weg hin zu einer Gebührenfreiheit in Sanierungsfällen.

___________ 67 BMF-Schreiben v. 21.12.2007 – IV B 2 - S 2144/07/0002, BStBl. I 2008, 256. 68 Birk, NJW 2007, 1325 (1327). 69 Vgl. BR-Drucks. 160/09, S. 8 f.

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Berücksichtigung festsetzungsverjährter Steuern Fehlerberichtigung gemäß § 177 AO im Grundlagen-Folgebescheid-Verhältnis und verjährte Vorschenkungen im Rahmen des § 14 ErbStG

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Fehlerberichtigung festsetzungsverjährter Folgesteuer 1. Grundlagen a) System der Festsetzungs- bzw. Feststellungsfrist im Grundlagen-Folgebescheid-Verhältnis b) Rechtsfolge des Eintritts der Festsetzungsverjährung 2. Anwendung des § 177 AO auf festsetzungsverjährte Folgesteuer; erweiterter Korrekturrahmen 3. Fehlerberichtigung eines ursprünglich nicht fehlerhaften Bescheids a) Frage, Beispiel b) Prämisse c) BFH vom 11.7.2007 – I R 96/04 und vom 17.3.2010 – I R 86/06 d) Sonstige Rechtsprechung e) Literatur aa) Allgemeine Aussagen bb) Konkrete Aussagen f) Stellungnahme aa) Wortlaut des § 177 AO nicht eindeutig bb) Ursprünglicher Bescheid als zu ändernder Bescheid

cc) Fehler im ursprünglichen Bescheid dd) Von Beginn an oder nachträglich (1) Einstufiges Besteuerungsverfahren (2) Zweistufiges Besteuerungsverfahren: Bekanntgabezeitpunkt (3) Zweistufiges Besteuerungsverfahren: Zwischenzeit III. Festsetzungsverjährte Vorschenkungen im Rahmen des § 14 ErbStG 1. Grundlagen 2. Frage 3. Gesetzesgrundlage 4. Rechtsprechung a) Bundesfinanzhof b) Finanzgerichtliche Entscheidungen 5. Literatur 6. Stellungnahme a) Sinn und Zweck b) Bindungswirkung der Festsetzungsverjährung c) Erhöhung des Steuertarifs d) Befriedungsfunktion e) Verfassungsrecht IV. Zusammenfassung

I. Einleitung Herr Streck hat sich die Stärkung des Rechtsschutzes im Steuerrecht angesichts einer zunehmenden Macht und Effizienz der Finanzverwaltung seit jeher auf die Fahne geschrieben1. Er nutzt dazu nicht nur seine hervorragende Kenntnis des materiellen Steuerrechts, sondern mit Leidenschaft auch diejenige des Verfahrensrechts. Im Jahre 1997 fand mein erstes Mandantenge-

___________ 1 S. nur das Vorwort in Streck, Der Steuerstreit, 2. Aufl. 1994.

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spräch mit ihm statt. Der Mandant wollte um die Abzugsfähigkeit nützlicher Aufwendungen streiten und legte den Betriebsprüfungsbericht vor. Während die ebenfalls anwesende Steuerberaterin den Sachverhalt schilderte, blätterte Herr Streck den Bericht durch und teilte mit funkelnden Augen mit: „Den Fall gewinnen wir“. Der Bericht erwähnte eine bereits zuvor für dasselbe Veranlagungsjahr durchgeführte Betriebsprüfung. Die angedachten Änderungen des Steuerbescheids scheiterten an den gemäß § 173 Abs. 2 AO erhöhten Voraussetzungen zur Durchbrechung der Bestandskraft. Auf materielles Steuerrecht kam es nicht an. Vor mehr als zehn Jahren bat mich der Jubilar um die Einarbeitung in die Fragen der Festsetzungsverjährung von Folgesteuern in ein- und mehrstöckigen Feststellungsverhältnissen. Er sprach vom „Steuerrecht am Hochreck“. Es war Verfahrensrecht. Die damit im Zusammenhang stehenden Rechtsbehelfsverfahren haben uns bis zum Bundesfinanzhof, später auch zum Bundesverfassungsgericht geführt und bis in die Gegenwart begleitet. Der Gesetzgeber setzt Verjährungsvorschriften ein, um nach einer dort bestimmten Zeit Rechts- und Planungssicherheit zu geben sowie den Rechtsfrieden wieder herzustellen bzw. zu sichern2. Der Eintritt der Festsetzungsverjährung führt aufseiten des Fiskus regelmäßig zum Verlust desjenigen Steueranspruchs, der rechtmäßig entstanden war. Die Verjährung ist in der Regel durch Versehen, Nachlässigkeit oder Fehler des Feststellungs- oder Veranlagungsfinanzamts begründet. Die Bereitschaft, die Verjährung anzuerkennen, ist daher eher gering. Kruse3 beschreibt dies folgendermaßen: „In der Rechtsprechung spiegelt sich immer noch das historische Unverständnis für das Institut der Verjährung. Darum misslingt der Rechtsprechung zu oft der angemessene Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und dem fiskalischen Interesse an der Durchsetzung des Steueranspruchs.“ Dies hat sich – jedenfalls zum Teil4 – auch bei dem Kampf um die Festsetzungsverjährung von Folgesteuern bewahrheitet. Hier wurde zwar der Eintritt der Verjährung anerkannt, jedoch deren Rechtsfolgen durch die Fruchtbarmachung des § 177 AO zunichtegemacht5. Nicht abschließend vom BFH geklärt ist eine Detailfrage inner-

___________ 2 Vgl. nur BFH v. 9.9.1994 – III B 78/94, BStBl. II 1995, 385 (387); Kirchhof, DStR 2007, 2284 (2285 f.); Rüsken in Klein, 10. Aufl. 2009, § 169 AO Rz. 1. 3 Kruse in Tipke/Kruse, vor § 169 AO Rz. 6. 4 Zu Erfolgen s. die Rechtsprechungskorrekturen betreffend 1.: keine Rückwirkung bei Ausdehnung der „Verkoppelungsregelung“ des § 171 Abs. 10 Satz 2 AO (Aufhebung des Urteils des FG Nürnberg v. 22.1.2004 – IV 443/2001 durch BFH v. 10.8.2006 – II R 24/05, BStBl. II 2007, 87 (91); vgl. Kamps, FR 2004, 393 ff.); 2.: keine Verlängerung der Festsetzungsfrist für die Folgesteuer durch Anfechtung des Grundlagenbescheids (Abkehr von den Urteilen des BFH v. 30.11.1999 – IX R 41/97, BStBl. II 2000, 173 f.; des FG Nürnberg v. 23.10.2003 – VII 247/2000, EFG 2004, 865 ff.; des FG BadenWürttemberg, Außensenate Freiburg v. 25.4.2002 – 14 K 8/00, EFG 2002, 1069, durch Urteil des BFH v. 19.1.2005 – X R 14/04, BStBl. II 2005, 242 (243 f.); bestätigt durch BFH v. 11.7.2007 – I R 96/04, BFH/NV 2008, 6 (7); vgl. dazu Kamps, DStR 2005, 1381 ff. 5 Dazu nachfolgend unter II. 2.

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halb des Umfangs der Anwendung des § 177 AO, die einen Schwerpunkt dieses Beitrags bildet6. Der Blick zur Festsetzungsverjährung innerhalb des § 14 ErbStG7 ist Herrn Strecks besonderem Interesse am Erbschaftsteuerrecht geschuldet.

II. Fehlerberichtigung festsetzungsverjährter Folgesteuer 1. Grundlagen a) System der Festsetzungs- bzw. Feststellungsfrist im GrundlagenFolgebescheid-Verhältnis Gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid (Folgebescheid) zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 1 AO), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO stellt damit die Änderungsvorschrift dar, um die von einer gesonderten Feststellung abhängige Steuer (Folgesteuer) und damit den Grundlagenbescheid an den Folgebescheid anzupassen8. Neben der Änderungsvorschrift zur Durchbrechung der Bestandskraft ist Voraussetzung für die Transformation der Besteuerungsgrundlagen in den Folgebescheid, dass die Festsetzungsfrist (Ebene Folgebescheid) noch nicht abgelaufen ist. Solange die reguläre vierjährige Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Nr. 2 AO) noch läuft, bedarf es zur Umsetzung keines Spezialtatbestands9. Nach deren Ablauf kann eine Anpassung fristwahrend nur gemäß § 171 Abs. 10 Satz 1 AO erfolgen10: Soweit für die Festsetzung einer Steuer ein Feststellungsbescheid, ein Steuermessbescheid oder ein anderer Verwaltungsakt bindend ist (Grundlagenbescheid), endet die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheids. § 171 Abs. 10 Satz 1 AO ist folglich die „verjährungsrechtliche Ergänzung“ zu § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO11. Die Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 10 Satz 1 AO soll den Finanzbehörden ausreichend Zeit geben, die gesonderten Feststellungen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO in einen

___________ 6 Dazu nachfolgend unter II. 3. Offen ist zudem noch die Frage, ob ein Steuerbescheid, der bereits nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergangen ist, noch innerhalb der Jahresfrist gemäß § 171 Abs. 2 AO wegen einer offenbaren Unrichtigkeit im Sinne von § 129 AO berichtigt werden kann, bejahend FG Nürnberg v. 7.7.2005 – IV 290/2001, ErbStB 2006, 274 ff.; verneinend FG Baden-Württemberg, Außensenate Stuttgart v. 31.3.1999 – 5 K 64/98, EFG 1999, 754 (755); offen gelassen von BFH v. 16.8.2006 – II B 114/05, BFH/NV 2006, 2261 (2262) und v. 9.8.2006 – II R 24/05, BStBl. II 2007, 87 (90); vgl. auch Kamps, Stbg. 2006, 335 f. 7 Dazu nachfolgend unter III. 8 Die Anpassung hat von Amts wegen zu erfolgen, BFH v. 9.9.1988 – III R 253/84, BFH/NV 1989, 138 f.; Kruse/Loose in Tipke/Kruse, § 175 AO Rz. 8. 9 Vgl. FG München v. 11.5.1990 – 15 K 4481/89, EFG 1991, 95 f.; Hartmann in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 171 AO Rz. 86. 10 BFH v. 13.12.1989 – X R 179/87, BFH/NV 1990, 681 f. Der am 24.6.1998 neu eingefügte Satz 2 des § 171 Abs. 10 AO betrifft die Außenprüfung und bleibt hier außer Betracht. 11 BFH v. 13.12.2000 – X R 42/96, BStBl. II 2001, 471 (475); Baum in Koch/Scholtz, 5. Aufl. 1996, § 171 Rz. 38; Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 171 AO Rz. 101, m.w.N.

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(neuen) Folgebescheid zu übernehmen bzw. einen vorhandenen Folgebescheid entsprechend anzupassen12. b) Rechtsfolge des Eintritts der Festsetzungsverjährung Ergeht der Grundlagenbescheid rechtmäßig innerhalb der Feststellungsfrist, wird er jedoch nicht oder außerhalb der Festsetzungsfrist im Folgebescheid (z.B. Einkommensteuerbescheid) umgesetzt, tritt Festsetzungsverjährung der Folgesteuer ein. Dies bewirkt das Erlöschen des Steueranspruchs gemäß § 47 AO: Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlöschen insbesondere durch Verjährung. 2. Anwendung des § 177 AO auf festsetzungsverjährte Folgesteuer; erweiterter Korrekturrahmen Die Nichtberücksichtigung der erloschenen Folgesteuer wertete der II. Senat des BFH am 9.8.200613 als materiellen Fehler im Sinne des § 177 AO: Ein saldierungsfähiger Fehler im Sinne von § 177 Abs. 3 AO sei auch dann gegeben, wenn das Finanzamt einen Grundlagenbescheid nicht rechtzeitig ausgewertet habe und daher durch die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung an einer Auswertung gehindert sei. Bis dato war diese Rechtsfrage umstritten und höchstrichterlich nicht geklärt14. In demselben Urteil vom 9.8.200615 leitet der II. Senat eine neue Rechtsprechung zu der Frage ein, welche Bescheide den Korrekturrahmen des § 177 AO bestimmen: Zur Ermittlung des Umfangs des Saldierungsrahmens im Sinne des § 177 AO sei nicht alleine auf das Verhältnis des zu erlassenden Änderungsbescheids zum vorhergehenden Bescheid abzustellen, sondern seien vielmehr auch alle Änderungen heranzuziehen, die in denjenigen Bescheiden vorgenommen worden sind, die dem zu erlassenden Änderungsbescheid vorangegangen, aber nicht formell bestandskräftig geworden sind16. Der I. und X. Senat des BFH haben die Rechtsprechung des II. Senats bestätigt17.

___________ 12 Amtliche Begründung im Regierungsentwurf zu § 152 Abs. 6 EAO, BT-Drucks. VI/1982, 152; BFH v. 4.4.1989 – VIII R 265/84, BStBl. II 1989, 593 (594). 13 BFH v. 9.8.2006 – II R 24/05, BStBl. II 2007, 87 (92); so auch in den Parallelentscheidungen v. 9.8.2006 – II R 59/05, BFH/NV 2006, 2326 (2330); v. 10.8.2006 – II R 61/05, BFH/NV 2007, 3 (4); und v. 10.8.2006 – II R 62/05, BFH/NV 2007, 8 (10). 14 Die Urteile des BFH v. 1.6.1994 – X R 90/91, BStBl. II 1994, 849; v. 18.12.1991 – X R 38/90, BStBl. II 1992, 504 ff. hatten nicht die Verjährung von Folgesteuern zum Gegenstand. Vielmehr ging es jeweils um unselbständige Besteuerungsgrundlagen, die einer gesonderten Feststellung nicht zugänglich sind. 15 BFH v. 9.8.2006 – II R 24/05, BStBl. II 2007, 87 (93). 16 BFH v. 9.8.2006 – II R 24/05, BStBl. II 2007, 87 (92); so auch in den Parallelentscheidungen v. 9.8.2006 – II R 59/05, BFH/NV 2006, 2326 (2330). 17 Vgl. BFH v. 23.10.2003 – I R 96/04, BFH/NV 2008, 6 (7 ff.); v. 8.2.2007 – I R 51/04, n.v. (juris); v. 3.4.2007 – I B 156/05, BFH/NV 2007, 1078 f., dort allerdings die Frage des Saldierungsrahmens offen gelassen; v. 9.5.2007 – X B 33/05, BFH/NV 2007, 1466 (1467 ff.). Die Urteile des I. II. und X. Senats betreffen dieselbe Unternehmensgruppe.

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Diese Rechtsprechung wurde in der Literatur nach Bekanntgabe des Urteils des II. Senats des BFH vom 9.8.2006 sowohl unter einfachrechtlichen18 als auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten19 abgelehnt. Die gegen die Urteile bzw. Beschlüsse des I. und II. Senats des BFH eingelegten Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen20. Die Rechtsprechung muss inzwischen als gefestigt angesehen werden21. Sie eröffnet jedoch der Finanzbehörde die Möglichkeit, sich den notwendigen Änderungsrahmen – unbeabsichtigt – selbst zu verschaffen. Dies ist der Fall, wenn an einem Steuerbescheid zunächst Änderungen vorgenommen und später im Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden, unabhängig davon, ob diese Änderungen auf fundierter Rechtsbasis beruhen oder nicht22. 3. Fehlerberichtigung eines ursprünglich nicht fehlerhaften Bescheids a) Frage, Beispiel Bisher23 nicht hinreichend geklärt im Zusammenhang mit der Fehlerberichtigung festsetzungsverjährter Folgesteuer ist folgende Frage: Liegen im Grundlagen-Folgebescheid-Verhältnis die Voraussetzungen für eine Fehlerberichtigung gemäß § 177 AO auch dann vor, wenn der Einkommensteuerbescheid, der dem gemäß § 177 AO angeblich berichtigenden Einkommensteuerbescheid vorausging, im Zeitpunkt seiner Bekanntgabe der materiellen Rechtslage entsprach, jedoch zu einem späteren Zeitpunkt ein Grundlagenbescheid ergeht, der den angefochtenen Änderungsbescheid wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung nicht mehr ändern kann? Findet demnach § 177 AO Anwendung, wenn der jeweilige Bescheid, der dem gemäß § 177 AO angeblich fehlerberichtigenden Einkommensteuerbescheid vorausging, ursprünglich selber keinen Fehler enthielt? Folgende abstrakte Konstellation ist betroffen: Im Jahre 01 erging der erste Einkommensteuerbescheid (ESt-Bescheid 01). Zu diesem Zeitpunkt lag für das maßgebliche Feststellungsverhältnis noch kein Grundlagenbescheid vor. Der ESt-Bescheid 01 setzte daher für das maßgebli-

___________ 18 Vgl. Hundt-Esswein, DStR 2007, 751 ff. Gegen die Saldierungsmöglichkeit zuvor schon von Groll, StuW 1993, 312 (317); von Groll, DStZ 2000, 882 (883); von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 177 AO Rz. 115, 140, 170 ff.; Loose in Tipke/ Kruse, § 177 AO Rz. 6; zum Teil auch Söhn, StuW 2000, 232 ff.; kritisch auch Frotscher in Schwarz, § 177 AO Rz. 8. Für eine solche Saldierungsmöglichkeit zuvor Apitz, DStZ 1991, 300 (302); Herrnkind, DStZ 1992, 559 (560); von Wedelstädt in Beermann/Gosch, § 177 AO Rz. 12; Koenig in Pahlke/Koenig, 2004, § 177 AO Rz. 13; Rüsken in Klein, 9. Aufl. 2006, § 177 AO Rz. 11. 19 Kirchhof, DStR 2007, 2284 ff.; Kamps, UVR 2007, 269 (271 ff.). 20 BVerG v. 10.6.2009 – 1 BvR 571/07 zu BFH v. 9.8.2006 – II R 24/05 u.a., DStRE 2009, 1021 ff.; 1 v. 10.6.2009 – BvR 676/08 zu BFH v. 8.2.2007 – I R 51/04 u.a., n.v. 21 Vgl. nur Balmes in Kühn/von Wedelstädt, 19. Aufl. 2008, § 177 AO Rz. 14; Rüsken in Klein, 9. Aufl. 2006, § 177 AO Rz. 11. 22 Vgl. hierzu Kamps, UVR 2007, 269 (276). 23 Das Urteil des BFH v. 17.3.2010 – I R 86/06, BFH/NV 2010, 1779 f., war zum Zeitpunkt der Erstellung des Manuskripts nicht veröffentlicht: s. dazu auch unten 3. c).

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che Feststellungsverhältnis keine Besteuerungsgrundlagen an. Im Jahre 03 erging für das maßgebliche Feststellungsverhältnis ein Grundlagenbescheid (GB). Im Jahre 06 wurde der zweite Einkommensteuerbescheid (ESt-Bescheid 02) bekannt gegeben. Dieser enthielt erstmals die Besteuerungsgrundlagen aus dem GB. Zu diesem Zeitpunkt war die Festsetzungsfrist zum Ansatz der Besteuerungsgrundlagen aus dem GB abgelaufen. Der ESt-Bescheid 02 wurde angefochten. Das Finanzamt will den Ansatz der Besteuerungsgrundlagen aus dem GB auf § 177 AO stützen. b) Prämisse Entsprechend der oben wiedergegebenen Rechtsprechung wird hier unterstellt, dass ein saldierungsfähiger materieller Fehler im Sinne von § 177 Abs. 3 AO auch dann gegeben ist, wenn das Finanzamt einen Grundlagenbescheid nicht rechtzeitig ausgewertet hat und wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung an einer Auswertung gehindert ist. c) BFH vom 11.7.2007 – I R 96/04 und vom 17.3.2010 – I R 86/06 Die hier aufgeworfene Rechtsfrage war bereits Gegenstand des Beschlusses vom 11.7.2007 – I R 96/0424. Der BFH führt dort aus25: „§ 177 AO ist auch nicht zu entnehmen, dass der materielle Fehler Gegenstand einer früheren Steuerfestsetzung gewesen sein muss. Entscheidend ist allein, dass im Augenblick der Aufhebung/Änderung ein nicht eigenständig korrigierbarer materieller Fehler vorliegt (a.A. wohl Hundt-Esswein, Deutsches Steuerrecht 2007, 751, 753). Auch ein materieller Fehler, der erst „in der Zwischenzeit“ eingetreten ist (und nicht eigenständig korrigiert werden kann), führt dazu, dass es ohne Kompensation zur Festsetzung einer Steuer kommt, „die von der kraft Gesetzes entstandenen Steuer abweicht“. Dem Senatsurteil I R 90/92 vom 9. Juni 1993 (BFHE 172, 298, BStBl. II 1993, 822) lässt sich – auch wenn dort ausdrücklich von „früheren Rechtsfehlern“ die Rede ist und der Rechtsfehler dort tatsächlich in der früheren Steuerfestsetzung enthalten war – Abweichendes nicht entnehmen.“

Der I. Senat hat demnach die aufgeworfene Rechtsfrage in dem oben genannten Beschluss entschieden. In der schriftlichen Begründung kommt jedoch nicht zum Ausdruck, der BFH habe sich ausführlich mit der Frage befasst. Der einzige Satz, den der BFH inhaltlich zur Begründung anführt, lautet: „Entscheidend ist allein, dass im Augenblick der Aufhebung/Änderung ein nicht eigenständig korrigierbarer materieller Fehler vorliegt.“ Wieso dies so ist, wird in dem Beschluss nicht erwähnt. Vielmehr weist der BFH zutreffend auf eine in der Literatur gegenteilige Auffassung hin, die er sodann auch zitiert: „a.A. wohl Hundt-Esswein, Deutsches Steuerrecht 2007, 751, 753“. Auch an anderer Stelle26 wird die Ansicht des BFH nicht geteilt. Mit den dort genannten Argumenten setzt sich der I. Senat ebenfalls nicht auseinander.

___________ 24 BFH v. 23.10.2003 – I R 96/04, BFH/NV 2008, 6 ff. 25 BFH v. 23.10.2003 – I R 96/04, BFH/NV 2008, 6 (8). 26 S. dazu unten e).

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Schließlich erwähnt der BFH das Urteil desselben Senats vom 9.6.199327, aus dem „Abweichendes nicht zu entnehmen“ sei. Darüber hinaus führte der BFH im zitierten Beschluss vom 11.7.2007 – I R 96/ 0428 weder Rechtsprechung noch Literatur an, die seinen Ausspruch stützen. Der BFH hat mit Urteil vom 17.3.201029 die hier relevante Rechtsfrage ausdrücklich entschieden. Er wendet § 177 AO an und begründet dies wortkarg mit zwei Gesichtspunkten: Der Wortlaut „materielle Fehler“ in § 177 Abs. 3 AO differenziere nicht hinsichtlich des Entstehungszeitpunkts. Die materiell richtige Steuerfestsetzung habe Vorrang gegenüber der Rechtssicherheit. d) Sonstige Rechtsprechung Sonstige Rechtsprechung, die sich ausdrücklich mit der hier relevanten Rechtsfrage auseinandersetzt, wann der materielle Fehler im Sinne von § 177 AO gegeben sein muss, ist nicht ersichtlich. Das bereits oben erwähnte Urteil vom 9.6.1993 – I R 90/9230 stellt zwar als Voraussetzung für eine Fehlerberichtigung nach § 177 AO darauf ab, dass es sich um „frühere Rechtsfehler“ (in der heutigen Fassung: „frühere materielle Fehler“) handelt. Es bezieht sich dabei auch auf den Bescheid, der dem Änderungsbescheid voranging, und hatte ein Grundlagen-Folgebescheid-Verhältnis zum Gegenstand. Jedoch wird dort nicht ausgeführt, ob diese Aussage uneingeschränkt Geltung hat. Ähnlich verhält es sich mit dem Urteil des BFH vom 24.5.200631. Dort führt das Gericht im Kontext eines Grundlagen-Folgebescheid-Verhältnisses zu § 177 Abs. 2 AO aus: „Nach dieser Vorschrift sind zwar, wenn ein Steuerbescheid zugunsten des Steuerpflichtigen geändert wird, in früheren Steuerbescheiden unterlaufene materielle Fehler zu berichtigen; das gilt auch bei einer Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 … .“. e) Literatur Die Literatur setzt sich mit dem maßgeblichen Zeitpunkt des Vorliegens des materiellen Fehlers – mit zwei Ausnahmen – nicht ausdrücklich auseinander. aa) Allgemeine Aussagen Teilweise wird auf „solche gegenüber der letzten bestandskräftigen Steuerfestsetzung angelaufene Rechtsfehler“32 abgestellt. Ähnlich wird die Auffassung geäußert, maßgebend für das Vorliegen eines materiellen Fehlers sei der Zeitpunkt der Steuerfestsetzung33. Auch Rüsken34 spricht von „materielle(n)

___________ 27 28 29 30 31 32 33 34

BFH v. 9.6.1993 – I R 90/92, BStBl. II 1993, 822. BFH v. 11.7.2007 – I R 96/04, BFH/NV 2008, 6 (8). BFH v. 17.3.2010 – I R 86/06, BFH/NV 2010, 1779 f. BFH v. 9.6.1993 – I R 90/92, BStBl. II 1993, 822 (823). BFH v. 24.5.2006 – I R 93/05, BStBl. II 2007, 76 (78). So Hundt-Esswein, DStR 2007, 751 (753). Weste in Pump/Leibner, § 177 AO, Rz. 10. Rüsken in Klein, 10. Aufl. 2009, § 177 AO Rz. 6.

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Fehler(n), die bei der ursprünglichen Festsetzung unterlaufen sind“ und von „materielle(n) Fehler(n), die dem früheren Bescheid anhaften und die sich zugunsten des Steuerpflichtigen ausgewirkt haben“. bb) Konkrete Aussagen Soweit ersichtlich, nehmen lediglich Frotscher35 und von Groll36 ausdrücklich zum maßgeblichen Zeitpunkt Stellung. Nach Frotscher stelle der Wortlaut des § 177 Abs. 3 AO nicht darauf ab, dass der Steuerbescheid im Zeitpunkt der Berichtigung eine andere Steuer ausweise als nach den gesetzlichen Vorschriften, sondern er verweise auf die kraft Gesetzes entstandene Steuer. Maßgegend für das Vorliegen des materiellen Fehlers sei der Zeitpunkt der Steuerfestsetzung. Abweichend davon sei § 177 Abs. 3 AO de lege ferenda so zu fassen, dass es auf die Rechtmäßigkeit im Zeitpunkt der Änderung bzw. der Anwendung des § 177 AO ankomme. Von Groll kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, der materielle Fehler im Sinne des § 177 AO müsse unter Berücksichtigung des Zeitmoments im ursprünglichen Bescheid zu einem Widerspruch zwischen der nach dem Gesetz gebotenen und der in dem zu korrigierenden Bescheid getroffenen Einzelfallregelung geführt haben37. Mit Blick auf den Eintritt der Festsetzungsverjährung für solche Folgesteuer, die aus Grundlagenbescheiden resultiert, ist er der Auffassung, der Eintritt der Festsetzungsverjährung sei als materiell-rechtliche Veränderung zu berücksichtigen38. f) Stellungnahme Richtigerweise ist hinsichtlich des Vorliegens eines materiellen Fehlers im Sinne von § 177 Abs. 3 AO auf den Zeitpunkt des Erlasses des zu ändernden ursprünglichen Bescheids abzustellen. Spätere Ereignisse sind unbeachtlich. aa) Wortlaut des § 177 AO nicht eindeutig Der Gesetzeswortlaut des § 177 AO gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, wann der nach § 171 Abs. 1 oder 2 AO zu kompensierende materielle Fehler vorliegen muss, damit er die Korrektur beeinflussen kann39. Gleichwohl lassen die einzelnen Teile des Wortlauts des § 177 AO in Verbindung mit Sinn und Zweck der Vorschrift und weiteren in der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen auf die Antwort im hier vertretenen Ergebnis schließen. bb) Ursprünglicher Bescheid als zu ändernder Bescheid Die Anwendung des § 177 AO setzt das Vorliegen eines zu ändernden Bescheids voraus. § 177 Abs. 1 und Abs. 2 AO sprechen von den Voraussetzun-

___________ 35 36 37 38 39

Frotscher in Schwarz, § 177 AO Rz. 8. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 177 AO Rz. 170 ff. Vgl. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 177 AO Rz. 176. Vgl. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 177 AO Rz. 175. So auch von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 177 AO Rz. 170.

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gen für die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids und von der Berichtigung materieller Fehler, soweit die Änderung reicht. Demnach ist im oben genannten Beispiel40 der ESt-Bescheid 01 der Bescheid, der geändert wird. Im Verhältnis zu diesem Bescheid wird auch der Korrekturrahmen des ESt-Bescheids 02 festgelegt. cc) Fehler im ursprünglichen Bescheid Dieser ursprüngliche Bescheid, dessen Bestandskraft auf andere Weise als durch § 177 AO durchbrochen wird, muss den materiellen Fehler im Sinne des § 177 Abs. 3 AO enthalten. Ausgangspunkt ist der Wortlaut des § 177 Abs. 3 AO, der auf die Abweichung der „kraft Gesetzes entstandenen Steuer“ abstellt. Da § 177 AO die Durchbrechung der Bestandskraft immanent ist, kommt es formell jeweils auf den durch den aufgehobenen oder geänderten Steuerbescheid konkretisierten Steueranspruch an41. Maßgebend für das Vorliegen des materiellen Fehlers ist also der Zeitpunkt der Steuerfestsetzung42. Der Rechtsfehler muss dem zu korrigierenden Bescheid anhaften. Nur um dessen Verbesserung geht es, nicht etwa um eine Verbesserung der rechtlichen Situation insgesamt. Die Wirkung der Kompensation beschränkt sich nach Normzweck und Gesetzeszusammenhang darauf, die durch Verwaltungsakt geregelte materiell-rechtliche Situation mit dem materiellen Recht in Einklang zu bringen oder einer solchen Übereinstimmung weiter anzunähern und hierdurch vorhandene Rechtsfehler zu beseitigen oder deren Auswirkung zu minimieren43. Dies scheint der BFH auch in seinem Beschluss vom 11.7.2007 – I R 96/0444 nicht in Frage zu stellen. Zwar spricht er dort von einem materiellen Fehler, der erst „in der Zwischenzeit“ eingetreten ist. Das zwischenzeitliche Eintreten des Fehlers kann nur auf den ursprünglichen Bescheid (hier ESt-Bescheid 01) bezogen sein, und zwar rückwirkend. dd) Von Beginn an oder nachträglich Die entscheidende Frage ist, ob § 177 AO voraussetzt, dass der zu ändernde Bescheid den materiellen Fehler von Beginn an enthalten muss, oder ob es genügt, wenn der Fehler – wie der I. Senat des BFH in seinem Beschluss vom 11.7.200745 ausgeführt hat – erst in der Zwischenzeit eingetreten ist.

___________ 40 S. unter 3. a). 41 Vgl. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 177 AO Rz. 173. 42 Vgl. Frotscher in Schwarz, § 177 AO Rz. 8; Weste in Pump/Leibner, § 177 AO, Rz. 10. 43 Vgl. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 177 AO Rz. 174. 44 BFH v. 11.7.2007 – I R 96/04, BFH/NV 2008, 6 (8). 45 BFH v. 11.7.2007 – I R 96/04, BFH/NV 2008, 6 (8).

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(1) Einstufiges Besteuerungsverfahren Soweit kein Grundlagen-Folgebescheid-Verhältnis betroffen ist, also im „einstufigen“ Besteuerungsverfahren gemäß § 157 Abs. 2 AO, lässt sich die Frage eindeutig beantworten: Der ursprüngliche Steuerbescheid bleibt bis zu seiner Änderung rechtmäßig und fehlerfrei, wenn er im Zeitpunkt seiner Bekanntgabe rechtmäßig und fehlerfrei war. Materielle Fehler, z.B. nicht erfasste Betriebseinnahmen, liegen von Beginn an vor, selbst wenn sie im Zweifel zunächst nicht erkannt waren. Maßgebend ist der Sachverhalt im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung durch den Steuerbescheid. Dieser Sachverhalt ändert sich nicht mehr und hat eine ganz bestimmte Rechtsfolge, nämlich den Umfang des Entstehens der Steuer. Hieran ändert auch ein rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nichts. Dieses rückwirkende Ereignis wirkt fiktiv in den abgeschlossenen Sachverhalt zurück. Der Bescheid wird rückwirkend auf den Zeitpunkt seiner Bekanntgabe fehlerhaft. Ein materieller Fehler, der erst „in der Zwischenzeit“ eingetreten sein könnte, existiert insofern nicht. Hiermit im Einklang steht auch die in der Literatur geäußerte Ansicht, dass der Rechtsfehler dem zu korrigierenden Bescheid anhaften müsse; es gehe um die Beseitigung vorhandener, d.h. die Berichtigung zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Verwaltungsakts begründeter und im Zeitpunkt der Korrektur fortbestehender Rechtsfehler46. Im einstufigen Besteuerungsverfahren ist demnach zur Bestimmung des materiellen Fehlers im Sinne von § 177 AO ohne Abweichung auf die Bekanntgabe des ursprünglichen Steuerbescheids abzustellen. Dies lässt darauf schließen, dass Entsprechendes auch im zweistufigen Verfahren gilt, sofern dort keine zwingenden Gründe Abweichendes rechtfertigen. (2) Zweistufiges Besteuerungsverfahren: Bekanntgabezeitpunkt Der ESt-Bescheid 01 des oben gewählten Beispiels enthielt im Zeitpunkt seines Wirksamwerdens, also der Bekanntgabe, keinen materiellen Fehler im Sinne von § 177 Abs. 3 AO. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Folgebescheid eine von der gesetzlichen Regelung abweichende Steuer festsetzt und daher einen „Fehler“ im Sinne des § 177 Abs. 3 AO aufweist, ist von der bestandskräftigen gesonderten Feststellung der Besteuerungsgrundlagen auszugehen. Berücksichtigt der Folgebescheid die gesonderte Feststellung in zutreffender Weise, ist der Folgebescheid „richtig“, weist daher keinen Fehler im Sinne des § 177 AO auf47. Das gilt auch dann, wenn der Grundlagenbescheid materiell unrichtig ist; auch in diesem Fall ist der Folgebescheid nicht fehlerhaft im Sinne des § 177 AO48.

___________ 46 von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 177 AO Rz. 174. 47 Vgl. Frotscher in Schwarz, § 177 AO Rz. 7 a. 48 Vgl. BFH v. 24.5.2006 – I R 93/05, BStBl. II 2007, 76 (78 f.); Frotscher in Schwartz, § 177 AO Rz. 8.

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Bei einer anderen Handhabung würde die Anwendung des § 177 Abs. 2 AO dazu führen, dass dem (nur) für den Erlass eines Folgebescheids zuständigen Finanzamt letztlich doch die Kompetenz zur abschließenden Beurteilung von Sachverhalten zufallen könnte, die ausschließlich dem Feststellungsverfahren zugewiesen sind. Es müsste insofern die Richtigkeit des Grundlagenbescheids für die Frage der Saldierung überprüfen; dies ist nicht der Fall49. (3) Zweistufiges Besteuerungsverfahren: Zwischenzeit Soweit der I. Senat des BFH in seinem Beschluss vom 11.7.200750 davon ausgeht, der materielle Fehler eines Folgebescheids könne auch in der Zwischenzeit eintreten, stellt sich die Frage, wann der Fehler eingetreten sein soll. Als erster Zeitpunkt kommt im Beispielsfall die Bekanntgabe des GB in Betracht. Aber auch dies führte nicht zur Fehlerhaftigkeit des ESt-Bescheids 01. Zutreffenderweise ist auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem die Anpassungsfrist des § 171 Abs. 10 AO abgelaufen war. Erst dann stand fest, dass der EStBescheid 01 nicht mehr gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert werden durfte. Eine solche Änderung der Rechtslage führte jedoch nicht dazu, dass der ursprünglich materiell fehlerlose ESt-Bescheid 01 vor der Bekanntgabe des EStBescheids 02 materiell fehlerhaft im Sinne des § 177 Abs. 3 AO wurde. Zwar wird in der Literatur dazu folgende Ansicht vertreten51: Der an die Steuerentstehung und damit an die ursprüngliche Steuerfestsetzung anknüpfende Fehlerbegriff des § 177 Abs. 3 AO bedürfe einer systematisch gebotenen Korrektur. Die Fehlerberichtigung des § 177 AO müsse dafür sorgen, dass eine bisher getroffene, gemessen an den einschlägigen materiellen Vorschriften unrichtige Einzelfallregelung durch eine richtige ersetzt werde. Die Anwendung des § 177 AO dürfe nicht zum Erlass eines (teilweise) unrichtigen Steuerbescheids führen. Ob dies der Fall sei, lasse sich verlässlich nur bezogen auf den Zeitpunkt des Erlasses des Korrekturbescheids beantworten. Dies zwinge dazu, auch materiell-rechtliche Veränderungen zu berücksichtigen, die sich kraft Gesetzes seit der Entstehung des Steueranspruchs und seiner Umsetzung durch den korrigierenden Bescheid ergäben. Insofern sei insbesondere das Erlöschen der Steuer durch Eintritt der Festsetzungsverjährung (§ 47 AO) zu berücksichtigen. Ein materieller Fehler bestünde insofern nicht. Gerade diese Auffassung hat jedoch auch der I. Senat in Übereinstimmung mit dem II. Senat des BFH abgelehnt. Im oben genannten Beschluss vom 11.7.200752 stellt das Gericht auf die „kraft Gesetzes entstandene Steuer“ ab. Es komme nur darauf an, ob auf der Basis des materiellen Rechts zu irgendeinem Zeitpunkt ein Steueranspruch bestanden habe; ein späteres Erlöschen

___________ 49 Vgl. BFH v. 24.5.2006 – I R 93/05, BStBl. II 2007, 76 (78 f.); Frotscher in Schwarz, § 177 AO Rz. 8. 50 BFH v. 11.7.2007 – I R 96/04, BFH/NV 2008, 6 (8). 51 von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 177 AO Rz. 175. 52 BFH v. 11.7.2007 – I R 96/04, BFH/NV 2008, 6 (8).

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dieses Anspruchs (z.B. auf der Grundlage des § 47 AO) wirke sich auf die Anwendung des § 177 AO nicht aus53. Damit bleibt für die Beurteilung, ob ein Steuerbescheid fehlerhaft im Sinne von § 177 Abs. 3 AO ist, die ursprünglich entstandene und durch den Folgebescheid (hier ESt-Bescheid 01) konkretisierte Steuer maßgebend. Änderungen der formellen oder materiellen Rechtslage in der Zwischenzeit (hier durch Ablauf der Anpassungsfrist des § 171 Abs. 10 AO im Hinblick auf den GB) bleiben außer Betracht. Käme der hier erkennende Senat zu einem anderen Ergebnis, würde er mit zweierlei Maß messen. Dieses Ergebnis findet zudem eine Stütze im Wortlaut des § 177 Abs. 3 AO. Der Wortlaut beschränkt sich nicht auf den letzten Halbsatz, nämlich auf die Abweichung von der kraft Gesetzes entstandenen Steuer. Dies wäre eine bloße Zustandsbeschreibung. Bei einer Zustandsbeschreibung würde schlicht der Betrag der festgesetzten Steuer mit dem Betrag der kraft Gesetzes entstandenen Steuer zu jedem Zeitpunkt der Wirksamkeit des Bescheids verglichen und bei Abweichung ein Fehler bejaht werden. Maßgebend wäre dann nicht der Zeitpunkt der Bekanntgabe des Vorgängerbescheids, sondern – wie von von Groll oben vertreten – der Zeitpunkt der Änderung des Bescheids. Der Gesetzeswortlaut des § 177 Abs. 3 AO erschöpft sich jedoch nicht in dieser Zustandsbeschreibung im Zeitpunkt der Änderung. Er spricht von materiellen Fehlern, die zur Festsetzung einer Steuer „führen“. Damit ist die Vorschrift zukunftsgerichtet. Sie nimmt ihren Ursprung im ersten Steuerbescheid (hier ESt-Bescheid 01), wie dieser im Zeitpunkt der Bekanntgabe wirksam wird. Sie richtet sich auf die Festsetzung im ESt-Bescheid 02. Änderungen in der Zwischenzeit bleiben ausgeblendet. Eine Abweichung von dem für das einstufige Feststellungsverhältnis gefundenen Ergebnis54 ist damit auch nicht gerechtfertigt.

III. Festsetzungsverjährte Vorschenkungen im Rahmen des § 14 ErbStG 1. Grundlagen Die Erbschaft- bzw. Schenkungsteuer unterliegt, wie sonstige Steueransprüche auch, der Festsetzungsverjährung. Dabei sieht § 171 Abs. 5 AO Besonderheiten für die Anlauf- und § 171 Abs. 12 AO solche für die Ablaufhemmung vor55. Ist die Festsetzungsfrist abgelaufen, gilt nichts Besonderes: Die Festsetzung der Erbschaft- oder Schenkungsteuer sowie ihre Aufhebung oder Ände-

___________ 53 BFH v. 11.7.2007 – I R 96/04, BFH/NV 2008, 6 (8); so auch BFH v. 9.8.2006 – II R 24/05, BStBl. II 2007, 87 (92); inzwischen auch von Wedelstadt in Beermann/Gosch, § 177 AO Rz. 12.2. 54 Oben unter aa). 55 Vgl. zu Einzelheiten Hortense, ZEV 2008, 222 ff.; Halaczinsky, DStR 2006, 828 (833 f.); Kamps, Stbg. 2005, 359 ff.

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rung sind nicht mehr zulässig (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO), die Steuer erlischt gemäß § 47 AO56. 2. Frage Ausgangslage: Eine erste Schenkung kann wegen Ablauf der Festsetzungsfrist nicht mehr der Schenkungsteuer unterworfen werden. Die erste Schenkung wurde jedoch weniger als zehn Jahre vor einer zweiten Schenkung oder einem Erwerb von Todes wegen vorgenommen. Dann stellt sich die bisher nicht hinreichend geklärte Frage: Ist die erste Schenkung im Rahmen der Schenkung- oder Erbschaftsteuerfestsetzung des zweiten Vorgangs als Vorerwerb im Rahmen des § 14 ErbStG zu berücksichtigen? 3. Gesetzesgrundlage § 14 Abs. 1 ErbStG besagt in den Sätzen 1 und 2: „Mehrere innerhalb von zehn Jahren von derselben Person anfallende Vermögensvorteile werden in der Weise zusammengerechnet, dass dem letzten Erwerb die früheren Erwerbe nach ihrem früheren Wert zugerechnet werden. Von der Steuer wird für den Gesamtbetrag die Steuer abgezogen, die für die früheren Erwerbe nach den persönlichen Verhältnissen des Erwerbers und auf der Grundlage der geltenden Vorschriften zur Zeit des letzten Erwerbs zu erheben gewesen wäre.“ Satz 1 der Vorschrift ordnet somit eine Zusammenrechnung aller Erwerbe innerhalb des Zehn-Jahres-Zeitraums an. Satz 2 stellt sicher, dass durch die Anrechnung der Steuer für die früheren Erwerbe keine Doppelbesteuerung eintritt. Ob auch festsetzungsverjährte Vorschenkungen für Zwecke der Steuerberechnung nach § 14 ErbStG einzubeziehen sind, lässt sich aus dem Wortlaut der zitierten Vorschrift nicht ableiten. Auch die Verwendung des Konjunktivs in § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG („… zu erheben gewesen wäre.“) deutet lediglich darauf hin, dass der tatsächlich festgesetzten Schenkungsteuer keine Bindungswirkung für die Ermittlung der Höhe des Steuerabzugs für die Vorerwerbe zukommt. Dem vorgelagert ist allerdings die Frage, ob Vorschenkungen überhaupt in die Steuerberechnung einzubeziehen sind. 4. Rechtsprechung a) Bundesfinanzhof Der BFH hat – soweit ersichtlich – nur einmal die Frage entschieden, ob Vorschenkungen, für die bislang keine Schenkungsteuer festgesetzt wurde und wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist auch nicht mehr festgesetzt werden kann, als Vorerwerbe im Rahmen des § 14 ErbStG bei der Steuerberechnung für den letzten Erwerb zu berücksichtigen sind; er bejahte dies57.

___________ 56 Vgl. nur Kamps, Stbg. 2005, 359 ff. 57 Vgl. BFH v. 21.5.2001 – II R 48/99, BFH/NV 2001, 1407 (1409 f.).

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Auch frühere Erwerbe, deren Besteuerung der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegensteht, seien, so der BFH58, im Rahmen des § 14 ErbStG zu berücksichtigen. Bei der Zusammenrechnung mehrerer, innerhalb von zehn Jahren von derselben Person anfallender Vermögensvorteile mit dem letzten Erwerb seien die früheren Erwerbe unabhängig davon, ob für diese die Steuer richtig festgesetzt wurde, mit den ihnen zukommenden richtigen Werten anzusetzen. Dem stehe – so der II. Senat des BFH – weder die Bestandskraft vorangegangener Steuerbescheide noch der Eintritt der Festsetzungsverjährung entgegen. Der steuerlichen Behandlung der früheren Erwerbe komme nach dem Gesetz keine Bindungswirkung für die Steuerfestsetzung nach § 14 Abs. 1 ErbStG für den letzten Erwerb zu59. b) Finanzgerichtliche Entscheidungen Auch das Finanzgericht Düsseldorf vertritt unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Entscheidung des BFH vom 21.5.2001 die Ansicht, festsetzungsverjährte Vorschenkungen als Vorerwerbe im Sinne des § 14 ErbStG einzubeziehen60. Eine tragfähige Begründung hierzu fehlt ebenfalls. Gleiches gilt für das FG Schleswig-Holstein vom 9.10.200861 und das Urteil des FG Nürnberg vom 17.8.200662. Der BFH hob das Urteil des FG Nürnberg mit Gerichtsbescheid vom 9.12.200963 auf, ohne dass es auf die Frage der Berücksichtigung festsetzungsverjährter Vorschenkungen innerhalb des § 14 ErbStG ankam64. 5. Literatur Die Literatur folgt, soweit ersichtlich, der aufgezeigten Rechtsprechung des BFH65. Erklärungsansätze für die Rechtsprechung des BFH finden sich auch hier nicht. 6. Stellungnahme a) Sinn und Zweck Dem Sinn und Zweck der Vorschrift wird eine Einbeziehung festsetzungsverjährter Vorschenkungen nicht gerecht. Durch § 14 ErbStG soll lediglich verhindert werden, dass mehrere Teilerwerbe gegenüber einem einheitlichen Erwerb steuerlich begünstigt werden66.

___________ 58 59 60 61 62 63 64

BFH v. 21.5.2001 – II R 48/99, BFH/NV 2001, 1407 (1409 f.). BFH v. 21.5.2001 – II R 48/99, BFH/NV 2001, 1407 (1409 f.). FG Düsseldorf v. 23.2.2005 – 4 K 1218/03 Erb, EFG 2005, 1138. FG Schleswig-Holstein v. 9.10.2008 – 3 K 111/06, EFG 2009, 40 (41). FG Nürnberg V. 17.8.2006 – VI 323/2002, ErbStB 2007, 6. FG Nürnberg v. 9.12.2009 – II R 39/07, n.v. Der Revision wurde wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung des angefochtenen Erbschaftsteuerbescheids stattgegeben. 65 Vgl. Knobel in Viskorf/Knobel/Schuck, 3. Aufl. 2009, § 14 ErbStG Rz. 19; Kapp/ Ebeling, § 14 ErbStG Rz. 1.3; Jülicher in Troll/Gebel/Jülicher, § 14 ErbStG Rz. 29; Halaczinsky, AO-StB 2006, 187 (189). 66 Vgl. Kapp/Ebeling, § 14 ErbStG, Rz. 1.2.

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Die Freibeträge (§ 16 ErbStG) und die Steuersätze (§ 19 ErbStG) sind mit dem jeweils einzelnen Erwerb verbunden. Für jeden Erwerb wird ein Freibetrag gewährt. Die Steuerstufe wird nach der Höhe des jeweils einzelnen Erwerbs bestimmt. Dieses Regelungskonzept würde nicht funktionieren, wenn es in der Hand des Steuerpflichtigen läge, die Zahl der Erwerbe mit den genannten Steuerfolgen willkürlich zu bestimmen. Ein zugedachter größerer Erwerb könnte in Teilerwerbe zerlegt werden, um so mehrere Freibeträge zu gewinnen und die Steuerstufe des Erwerbs herabzudrücken67. Wie bereits oben dargestellt68, gilt jedoch Folgendes: Ansprüche aus einem Steuerschuldverhältnis, die nicht innerhalb der für sie geltenden Verjährungsfrist festgesetzt werden, erlöschen nach § 47 AO. Festsetzungen, die außerhalb der Verjährungsfrist erfolgen, sind rechtswidrig. § 14 ErbStG knüpft daran an, dass die dort genannten Vorerwerbe selbst – rechtmäßigerweise – der Schenkungsteuer unterlegen haben. Andernfalls wäre die Zielsetzung der Vorschrift, die mehrfache Ausnutzung von Freibeträgen sowie die geringere Progression bei Teilerwerben durch eine Zusammenrechnung zu egalisieren, ohne Sinn. Nur in dem Fall, in dem der Vorerwerb tatsächlich und zu Recht der Besteuerung unterlag, wurden Freibeträge und geringere Progressionen ausgenutzt. Nur wenn auch tatsächlich ein rechtmäßiges Steuerschuldverhältnis betreffend die Vorschenkungen begründet wurde und bis zum Letzterwerb noch fortbesteht, besteht ein Bedürfnis einer besonderen Besteuerung des Letzterwerbs nach § 14 ErbStG. Andernfalls ist der Steuerpflichtige – steuerlich – so zu stellen, als hätte es nie entsprechende Vorschenkungen gegeben. Ein Rechtsgrund für die Einbeziehung von Vorschenkungen, für die zu keiner Zeit Schenkungsteuer festgesetzt wurde bzw. nicht festgesetzt werden durfte, besteht nicht. b) Bindungswirkung der Festsetzungsverjährung Das Argument des II. Senats des BFH in seiner gegenteiligen Entscheidung vom 21.5.200169, der steuerlichen Behandlung der früheren Erwerbe komme keine Bindungswirkung für die Steuerfestsetzung des letzten Erwerbs zu, überzeugt nicht. Zutreffend ist hierbei allein, dass das Finanzamt bei der Wertermittlung der Vorerwerbe nicht an die seinerzeit zugrunde gelegten Werte im Sinne eines Verhältnisses von Grundlagen- und Folgebescheid gebunden ist70. Eine Rechtfertigung, auch verjährte – zu keiner Zeit steuerlich erfasste – Vorerwerbe einzubeziehen, lässt sich aus der Erklärung der Rechtsprechung nicht ableiten. c) Erhöhung des Steuertarifs Bislang unberücksichtigt blieb vom BFH auch das Argument, dass – jedenfalls mittelbar – festsetzungsverjährte Steueransprüche Eingang in die Ermittlung eines anderen Steueranspruchs, d.h. des Steueranspruchs auf den Letzterwerb,

___________ 67 68 69 70

Vgl. Meincke, 15. Aufl. 2009, § 14 ErbStG Rz. 2. S. unter II. 1. b). BFH v. 21.5.2001 – II R 48/99, BFH/NV 2001, 1407 (1409 f.). Vgl. dazu Götz in Fischer/Jüptner/Pahlke, 2009, § 14 ErbStG Rz. 26.

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finden. Durch die Zusammenrechnung von (festsetzungsverjährten) Vorschenkungen mit dem zu besteuernden Letzterwerb kann sich unter den Voraussetzungen des § 19 ErbStG der Steuersatz erhöhen. Mit anderen Worten: Erloschene Ansprüche aus einem Steuerschuldverhältnis haben steuerbegründende bzw. -erhöhende Wirkung für einen anderen Anspruch aus einem Steuerschuldverhältnis. Eine solche Einbeziehung ist dem deutschen Steuerrecht fremd. d) Befriedungsfunktion Gegen die Einbeziehung festsetzungsverjährter Vorschenkungen in die Berechnung des § 14 ErbStG spricht auch die Befriedungsfunktion der Festsetzungsverjährung. § 47 AO will, wie eingangs dargelegt71, nach Ablauf der Verjährungsfrist mit einer im sonstigen Verwaltungs- und Zivilrecht unüblichen Folge Rechtsfrieden schaffen: Die Festsetzungsverjährung verbietet nicht nur ein neues Verwaltungsverfahren mit abschließendem Festsetzungsakt, sondern greift darüber hinaus ins materielle Recht über und lässt den Anspruch selbst erlöschen. Der Zeitablauf nach Erlass eines Verwaltungsakts soll materielle Folgen bewirken72. Diese Befriedungsfunktion wird verletzt, würden Schenkungen, deren eigenständiger Festsetzung die Festsetzungsverjährung entgegensteht, im Rahmen des § 14 ErbStG als Vorschenkungen erfasst. Denn auch in diesem Fall müsste geprüft werden, ob diese Vorschenkungen tatsächlich erfolgt sind. Rechtsfrieden tritt dann nicht ein. Dies gilt im besonderen Maße vor dem Hintergrund, dass § 14 ErbStG den Zeitraum, in dem Vorschenkungen erfasst werden können, auf zehn Jahre ausdehnt. Versäumt es die Finanzbehörde, die Schenkungsteuer innerhalb der regulären Festsetzungsfrist festzusetzen, kann dies nicht später ersatzweise durch § 14 ErbStG nachgeholt werden. Dies wäre gerade eine Umgehung der in der Abgabenordnung für sämtliche Steuerfestsetzungen normierten Festsetzungsfrist. Diese Sichtweise ist auch interessengerecht. Der Gesetzgeber hat in § 170 Abs. 5 AO speziell für die Erbschaftsteuer bzw. für die Schenkungsteuer weitgehende Tatbestände der Anlaufhemmungen der Festsetzungsfrist eingebaut. Diese schützen das Finanzamt. Versäumt es gleichwohl die fristgerechte Festsetzung der Vorschenkungen, darf sich dies nicht zulasten des Steuerpflichtigen auswirken. e) Verfassungsrecht Schließlich stehen der Berücksichtigung festsetzungsverjährter Dauerschenkungen verfassungsrechtliche Bedenken entgegen. Die Erfassung festsetzungsverjährter Vorschenkungen im Rahmen des § 14 ErbStG unterschreitet

___________ 71 S. unter I. 72 Vgl. dazu Kirchhof, DStR 2007, 2284 (2286).

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das durch das Rechtsstaatsgebot des Art. 20 GG gebotene Maß an Vertrauensschutz. Sie verletzt den dadurch steuerlich belasteten Bürger in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die steuererhöhende Erfassung solcher Tatbestände würde eine zulässige echte Rückwirkung bedeuten. Die Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts zur Unzulässigkeit einer echten Rückwirkung sind auch auf Verwaltungsakte übertragbar73. Die Erfassung festsetzungsverjährter Schenkungen im Rahmen des § 14 ErbStG würde dem Finanzamt die Möglichkeit eröffnen, durch die Berücksichtigung solcher Steueransprüche, die wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung nach § 47 AO erloschen sind, die Steuer zu erhöhen. Es läge ein Eingriff in den bereits abgewickelten, der Vergangenheit angehörenden Tatbestand der Festsetzungsverjährung und darüber hinaus in die Rechtsfolge des materiell-rechtlichen Erlöschens des Anspruchs vor74. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieses rückwirkenden Eingriffs ist nicht erkennbar.

IV. Zusammenfassung Eine Stärkung des Rechtsschutzes im Steuerrecht, der sich Herr Streck angesichts einer zunehmenden Macht und Effizienz der Finanzverwaltung verschrieben hat, lässt sich im Bereich der festsetzungsverjährten Folgesteuer nicht verzeichnen. Nach inzwischen sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur gefestigter, wenn auch ungerechtfertigter, Ansicht, ist ein saldierungsfähiger Fehler im Sinne von § 177 Abs. 3 AO auch dann gegeben, wenn das Finanzamt einen Grundlagenbescheid nicht rechtzeitig ausgewertet hat und daher durch die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung an einer Auswertung gehindert ist. Bisher nicht hinreichend geklärt war die Detailfrage, ob § 177 AO auch dann Anwendung findet, wenn der Folgebescheid, der dem gemäß § 177 AO angeblich fehlerberichtigenden Folgebescheid vorausging, ursprünglich selber keinen Fehler enthielt, sondern erst aufgrund eines zwischenzeitlich bekannt gegebenen Grundlagenbescheids fehlerhaft (Verjährung) wurde. Nach der hier vertretenen Ansicht greift – entgegen der Rechtsprechung – § 177 AO in einem solchen Fall nicht. Auch im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht stellt sich die Frage der Berücksichtigung festsetzungsverjährter Steuern, und zwar im Rahmen des § 14 ErbStG. Nach der hier vertretenen Auffassung darf ein Erwerb, der aufgrund des Eintritts der Festsetzungsverjährung nicht (mehr) besteuert werden kann, im Rahmen der Schenkung- oder Erbschaftsteuerfestsetzung des zweiten Vorgangs nicht als Vorerwerb im Rahmen des § 14 ErbStG berücksichtigt werden.

___________ 73 Vgl. Kamps, UVR 2007, 269 (271 ff.).; anderer Ansicht BVerfG v. 10.6.2009 – 1 BvR 571/07, DStRE 2009, 1021 (1023), wonach diese Grundsätze nicht uneingeschränkt auf die Änderbarkeit bestandskräftiger Steuerbescheide übertragbar seien. 74 Vgl. Kamps, UVR 2007, 269 (271 ff.), im Zusammenhang mit Ertragsteuern.

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Der Steueranwalt im Finanzgerichtsprozess Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Vorfrage: Sind Anwälte im Steuerprozess unverzichtbar? Brauchen Kläger Prozessvertreter? III. Der Klägeranwalt und seine Rolle im Steuerprozess IV. Der Richter und seine Rolle V. Konsequenzen für die Streitführung des Klägeranwalts im Finanzgerichtsprozess 1. Klares Bekenntnis zur Einseitigkeit und zur Interessenvertretung 2. Die Amtsermittlungspflicht des Finanzgerichts – ein schöner Schein 3. Praktische Konsequenzen (aus der Schwäche der Amtsermittlungspflicht) für das Klageverfahren

a) Die gute Klagebegründung aa) Der Sachverhalt bb) Die Akteneinsicht b) Die mündliche Verhandlung aa) Ablauf bb) Öffentlichkeit cc) Neuer Vortrag in der mündlichen Verhandlung dd) Klippe: Rügeverzicht c) Chance und Klippe: Die Kostenverteilung aa) Grundsätze bb) Kostenfolgen aus den Grundsätzen cc) Vertretungskonsequenzen VI. Fazit

I. Einleitung Vor genau zehn Jahren erschien in der NJW1 der Beitrag von Streck „Die anwaltliche Sicht des Steuerprozesses“. Der Aufsatz war ein engagiertes Plädoyer für eine eigene anwaltliche Sicht des Prozesses – in klarem Unterschied zur Sicht des Richters. Maximen des Richters sind die Unparteilichkeit, die Prozessförderung und die Suche nach dem „richtigen“ Prozessergebnis. Die Maximen des Anwalts – so Streck – sind andere. Der Anwalt ist nicht Richter, auch nicht „kleiner Richter“. Er ist einseitiger Interessenvertreter. Auf seine Fahne sind nicht Gerechtigkeit und die Suche nach dem „richtigen“ Prozessergebnis geschrieben. Sein Ziel ist der Prozesserfolg des Mandanten. Damit ist er klar parteilich. Das, so Streck weiter, klingt zwar nicht gleich beeindruckend wie die Vorgaben, die für den Richter verbindlich sind. Die rechtsstaatlich ausgestaltete Prozesssystematik sieht aber genau diese – einseitig interessenvertretende – Rolle des Anwalts vor. Damit, so Streck, ist es für die „anwaltliche Sicht des Steuerprozesses“ des Prozessvertreters wichtig, sich als Anwalt seiner Rolle bewusst zu sein, sie zu

___________ 1 Streck, NJW 2001, 1541.

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reflektieren und sie engagiert auszufüllen und in Handlung umzusetzen. Dazu gehört insbesondere die Kenntnis und der Einsatz aller verfahrensrechtlichen Regeln, um dem Prozess – immer strikt unter Beachtung aller gesetzlichen Vorgaben – die gewünschte Richtung, d.h. zugunsten des Klägererfolgs, zu geben. Auch wenn dies nicht für jede Richterbank zu jedem Zeitpunkt bequem sein mag. Damit hatte Streck aus dogmatischer Sicht eigentlich nur Selbstverständliches gesagt. Umso interessanter war es, dass der Aufsatz in der Praxis seit seinem Erscheinen vor immerhin zehn Jahren für erhebliche Diskussion – gerade auch bei Finanzrichtern – gesorgt hat und heute immer noch sorgt. In Finanzgerichtsverfahren werde ich2 bis heute angesprochen auf die Aussagen des Beitrags. Positive, bestätigende (auch amüsierte) Reaktionen sind darunter. Allerdings auch ablehnend. Und zwar von sachlichem Einwand bis zu offenem Unmut. Ein Nerv – der Nerv des richterlichen Selbstverständnisses? – war jedenfalls getroffen. Zehn Jahre sind seit dem Beitrag von Streck inzwischen vergangen. Finanzgerichtsverfahren und auch die Sensibilitäten für Verfahrensrecht haben sich fortentwickelt. Wie steht es heute um den engagierten Anwalt im Steuerprozess? Ist die von Streck damals geschilderte Rolle für ihn selbst und für die Richterbänke inzwischen selbstverständlich geworden? Klare Antwort: Nein. Nach wie vor ist in der Praxis – so meine Erfahrung – die „anwaltliche Sicht des Steuerprozesses“ weder allen Prozessvertretern noch allen Richtern so präsent, wie man es heute eigentlich erwarten würde. Die selbstbewusste Nutzung von verfahrensrechtlichen Möglichkeiten und damit von Chancen zugunsten der Klägerseite von Prozessvertretern ist bis heute häufig nicht die Regel. Nach meiner Vermutung liegt das hauptsächlich an fehlender Vertrautheit mit dem Verfahrensrecht (gerade wenn Nichtjuristen, z.B. Steuerberater, als Prozessvertreter auftreten). Im Folgenden will ich deshalb aktuelle Chancen und Möglichkeiten, aber auch Fallen, die das Prozessrecht bietet, für den Praxiseinsatz schildern. Darüber hinaus geht es aber auch darum, engagierter Prozessvertretung „moralisch“ den Rücken zu stärken. Die Berufung auf Verfahrensregeln, ihr Einsatz zugunsten des Mandanten, ist nichts, was richterlicher Kritik zugänglich ist, wofür sich der Anwalt entschuldigen muss. Es geht nicht darum, Verfahrensregeln querulatorisch zu nutzen oder als Selbstzweck Richtern das Leben schwer zu machen oder Verfahren zu komplizieren. Es geht darum, der vom Gesetz selbst vorgezeichneten Rolle des Prozessvertreters gerecht zu werden und für das Interesse des Klägers selbstbewusst zu streiten.

___________ 2 Ich spreche hier als Sozia von Streck Mack Schwedhelm.

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Der Steueranwalt im Finanzgerichtsprozess

II. Vorfrage: Sind Anwälte im Steuerprozess unverzichtbar? Brauchen Kläger Prozessvertreter? Formal: Nein. Beim Finanzgericht besteht kein Vertretungszwang (§ 62 Abs. 1 FGO); anders beim BFH (§ 62 Abs. 4 FGO). Und auch ansonsten sieht alles sehr unkompliziert und sehr komfortabel aus für den Kläger, den Steuerpflichtigen, der gegen das Finanzamt streitet. Prozessvertreter scheinen entbehrlich. Es gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen (§ 76 FGO). Fürsorge umfängt den um sein Recht streitenden Steuerpflichtigen: Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, dass Formfehler beseitigt, sachdienliche Anträge gestellt, unklare Anträge erläutert, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden (§ 76 Abs. 2 FGO). Auch der Blick auf die mündliche Verhandlung offenbart zunächst nur Erfreuliches: Keine Massentermine auf die gleiche Uhrzeit oder reine Durchlauftermine. Es wird – regelmäßig vor dem Senat in voller Besetzung (drei Berufsrichter und zwei ehrenamtliche Richter) – verhandelt. Der Tatbestand wird vom wohlvorbereiteten Berichterstatter vorgetragen, Zeugen werden gehört und der Streitstoff wird offen mit dem Senat erörtert und diskutiert. So weit, so gut. Nur – ist damit die gesamte Wirklichkeit abgebildet? Positiv: Der Finanzgerichtsprozess ist im Vergleich zu anderen Verfahrensarten tatsächlich erfreulich wenig von Verfahrensvorgaben geprägt. Gerade diese Unförmlichkeit kann allerdings dazu verführen, das Verfahren zu unterschätzen. Selbstverständlich ist die gute Klagebegründung, der Streit um den Sachverhalt auch im Finanzprozess nicht entbehrlich. Werden Förmlichkeiten missachtet, droht dem Kläger unnötiger Rechtsverlust. Daran ändert auch die Amtsermittlungspflicht des Finanzgerichts nichts. Auch die Fürsorgepflichten des Finanzgerichts sind bei näherem Hinsehen begrenzt, kollidieren mit „prozessökonomischen“ Erfordernissen und ersetzen in keinem Fall die Vertretung durch den kompetenten und engagierten Prozessvertreter. Steuerpflichtige, die den Streit beim Finanzgericht ohne Prozessvertretung führen, laufen Gefahr, unbemerkt an formalen Klippen zu scheitern. Die gleiche Gefahr droht häufig auch Steuerberatern oder Wirtschaftsprüfern, wenn sie als Prozessbevollmächtigte auftreten3. In den streitigen Steuerfragen ohne Zweifel kompetent, fehlt es hier häufig an der Vertrautheit mit dem Verfahrensrecht und scheut man auch die streitige Durchsetzung, vermeidet lieber die Auseinandersetzung mit dem Gericht und vergibt dadurch manche Chance zugunsten des Klägers. Erfahrungsgemäß sind vor diesem Hintergrund Steuerberater selbst oft sehr einverstanden, wenn für die Vertretung im Gerichtsverfahren ein Rechtsanwalt eingeschaltet wird.

___________ 3 Zu ihrer formalen Berechtigung vgl. § 62 Abs. 2 FGO; vgl. im Übrigen vorstehend Punkt I.3.

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Die gute Prozessvertretung ist im Finanzgerichtsverfahren schließlich umso wichtiger, als es kein Berufungsverfahren gibt. Fehler im Finanzgerichtsverfahren sind regelmäßig nicht korrigierbar. Die Revision zum BFH ist nur im Ausnahmefall möglich: Entweder das Finanzgericht lässt in seiner Entscheidung selbst die Revision zu oder sie muss – juristisch sehr anspruchsvoll und statistisch mit außerordentlich geringen Erfolgsaussichten – über die Nichtzulassungsbeschwerde (§ 116 FGO) erstritten werden. Regelmäßig ist daher mit der Entscheidung des Finanzgerichts das letzte Wort im Steuerstreit gesprochen. Eine große Verantwortung für die Prozessvertretung.

III. Der Klägeranwalt und seine Rolle im Steuerprozess Der Steueranwalt ist Parteivertreter4. Er ist vom Kläger eingeschaltet, dessen Interesse zu fördern. Worin dieses Interesse besteht, kann unterschiedlich sein. Regelmäßig ist das Interesse des Klägers der Streit um den belastenden Steuerbescheid. Die Belastung des Klägers, die Steuerschuld, soll reduziert werden. Ob diese Reduzierung moralisch gerecht oder juristisch richtig ist, interessiert den Kläger selten. Es geht ihm um die Reduzierung der eigenen finanziellen Belastung. Um diese zu erreichen – mit legalen Mitteln und Taktiken – ist der Anwalt eingeschaltet, wird beim Gericht geklagt. Die Klage kann allerdings auch rein taktisch motiviert sein. Grenzen der Zulässigkeit gibt es hier nicht. Insbesondere gibt es keinen „illegitimen“ Steuerstreit, keinen „Missbrauch“ von Klagemöglichkeiten oder Ähnliches. Ziel der Streitführung kann auch reiner Zeitgewinn sein. Kann der Steuerpflichtige nicht zahlen, ist aber Aussetzung der Vollziehung gewährt, kann die Klage das Ziel haben, die Basis für die weitere Gewährung der Aussetzung der Vollziehung zu sein, geht es letztlich um eine de-facto-Stundung. Hauptfall taktisch motivierter Streitverfahren sind Steuerprozesse, die vor dem Hintergrund eines anhängigen Steuerstrafverfahrens geführt werden. Ist ein Steuerstrafverfahren anhängig und lässt der Steuerpflichtige den Steuerbescheid bestandskräftig werden, werden Strafverfolgungsbehörden – juristisch fehlerhaft, aber in der Praxis verhängnisvoll – dies regelmäßig wie ein Geständnis werten. Sichere Verteidigungsregel ist daher, dass vor offenen Steuerstrafverfahren Steuerbescheide nicht bestandskräftig werden dürfen. Liegt die Einspruchsentscheidung vor, muss geklagt werden. Alle diese Streitverfahren sind legitim. Es gibt keinen „illegitimen“, missbräuchlichen Steuerstreit. Allerdings zeigen die unterschiedlichen Hintergründe, dass es aus Klägersicht ganz verschiedene Taktiken geben kann, je nachdem, welcher „Erfolg“ mit dem Prozess angestrebt wird. So wäre eine Prozessbeschleunigung für den Fall der „de-facto-Stundungsklage“ aus Klägersicht keineswegs sinnvoll. Anwaltliche Prozessführung wird daher stets auch vom jeweiligen Zweck, von den Hintergründen der Klageerhebung beeinflusst werden.

___________ 4 Die Ausführungen von Streck, NJW 2001, 1541, gelten hier unverändert fort.

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Der Steueranwalt im Finanzgerichtsprozess

Weiter zur Rolle des Steueranwalts im Steuerprozess: Der Anwalt steht nicht im Dienst der Wahrheit, sondern im Dienst seines Mandanten, des Klägers. Es ist nicht seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Entscheidung am Ende des Verfahrens die „richtige“ ist, sondern dass er – mit legalen Mitteln und in Übereinstimmung mit den Regeln des Verfahrensrechts – das optimale Ergebnis für den Kläger erreicht hat. Mit dieser Rolle, die ihm das Verfahrensrecht zuweist, erfüllt er seine Aufgabe als „Organ der Rechtspflege“ (§ 1 BRAO).

IV. Der Richter und seine Rolle Die Rolle des Anwalts im Finanzgerichtsverfahren unterscheidet sich damit klar von der des Richters: Die Maximen des Richters sind Unparteilichkeit und das Bemühen um den „richtigen“ Verfahrensabschluss, das „gerechte“ Ergebnis. Auch die Gründe des steuerlichen Allgemeinwohls können hier eine Rolle spielen, z.B. die Sorge um das Gesamtsteueraufkommen. Dazu kann auch gehören, dass der Richter bei seinen Entscheidungen und seinen Prozessleitungen gezwungen ist, wirtschaftliche Faktoren mit zu berücksichtigen. Sind Justizetats begrenzt, werden Richter bemüht sein, die vorhandenen Finanz- und Personalressourcen aus ihrer Sicht sinnvoll zu verwalten, z.B. gerichtlichen Aufwand gering zu halten. Dass dies nicht in jedem Fall die Klägerinteressen fördert, liegt auf der Hand. Faktischen Einfluss auf die Prozessleitung kann daneben auch die eigene Arbeitsbelastung des Richters, des Senats, haben. Kann ein Verfahren abgeschlossen werden, ohne dass ein Urteil geschrieben werden muss, ist das aus Richtersicht Arbeitsersparnis. Klagerücknahmen oder Einigungen der Parteien sind für den Richterschreibtisch höchst erfreuliche Verfahrensabschlüsse. Erfreulich ist es ebenfalls, wenn zwischen den Prozessparteien die Sachverhalte unstreitig sind. Hier kann die Entscheidung gefällt werden, ohne dass lästige und zeitraubende Sachverhaltsermittlungen erforderlich sind. Aufgabe des Klägeranwalts ist es, auch diesen sachlichen und faktischen Rahmen der richterlichen Prozessführung in seine Streittaktik mit einzubeziehen und für die Position des Klägers zu nutzen.

V. Konsequenzen für die Streitführung des Klägeranwalts im Finanzgerichtsprozess 1. Klares Bekenntnis zur Einseitigkeit und zur Interessenvertretung Streck hat in seinem Aufsatz5 die bei Richtern nicht selten anzutreffende Vorstellung angesprochen, es existiere doch keine spezielle „anwaltliche Sicht“ des Steuerprozesses. Man verfolge doch das gleiche Ziel. Tatsächlich ist diese Tendenz bei Finanzrichtern auch heute noch zu erleben. Für den Anwalt im ersten Augenblick durchaus schmeichelhaft, wird er im

___________ 5 Vgl. Streck, NJW 2001, 1541.

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Prozess angesprochen in der Rolle des „vernünftigen“ Anwalts, des Anwalts, der an fairen Verfahren und rationellen Abläufen interessiert sei. Im ersten Moment mag der so Angesprochene nicken und auf den Zug aufspringen. Geboten im Sinne engagierter Prozessvertretung ist dagegen anderes, nämlich das Beharren auf der eigenen Position des Prozessvertreters, wenn dieser vom Gericht „mit ins Boot geholt“ werden soll. Mit gutem Gewissen kann der Rechtsanwalt sich hier jederzeit verweigern. Zweck von Richterappellen an angebliche Mitverantwortung des Anwalts für reibungslosen Prozessablauf ist häufig ein Verzicht auf Möglichkeiten des Klägers im Sinne der „Prozessvernunft“. Es sollen Klagen zurückgenommen werden, die aus der Sicht des Finanzgerichts unnütz sind, Klagen sollen eingeschränkt werden, um ein Verfahren „schlank“ und handhabbar zu machen etc. Prozessvertreter dürfen sich hier niemals drängen lassen, erst recht nicht unbedacht nachgeben. Es gibt keine „moralische“ Verpflichtung des Klägers oder seines Anwalts, dafür zu sorgen, dass ein Prozess immer klar, unkompliziert und kostengünstig abläuft und der Richter zufrieden ist. Maßstab und Ziel für den Anwalt ist der angestrebte Erfolg des Klägers. Nur soweit dieses Ziel unbeeinträchtigt bleibt, besteht Handlungsfreiheit für den Anwalt im Sinne einer „Zusammenarbeit“ mit dem Gericht. Damit ist nicht Querulantentum das Wort geredet, sondern dem gesetzlichen Leitbild des Prozessvertreters. In der Praxis habe ich übrigens erlebt, dass ein engagiertes Auftreten für dieses Leitbild – z.B. in der mündlichen Verhandlung oder auch in Vorträgen – bei Richtern durchaus positiv gewertet bzw. manchmal in dieser Deutlichkeit auch erst jetzt wahrgenommen wird6. Nach meinem Eindruck machen sich Richter in der Praxis häufig wenig Gedanken über die Rolle engagierter Prozessvertretung. Vielleicht sind sie verwöhnt. Wo Kläger sich im Prozess vertreten lassen, geschieht dies in der Regel durch Steuerberater. Für viele Steuerberater ist das juristische Parkett ein eher ungeliebtes Terrain. Gerichtsverfahren werden lieber vermieden. Es gibt Berater, die offen erklären, sie seien in ihrem Berufsleben noch niemals beim Finanzgericht gewesen. Es ist schwer vorstellbar, dass dies tatsächlich an den Verfahren und nicht vielleicht auch an überhöhtem Respekt des Beraters vor dem „Juristen-Verfahren“ gelegen hat. Respekt und Unsicherheit, insbesondere in Bezug auf Fragen des Verfahrensrechts, werden von Steuerberatern zum Teil offen eingestanden. Außerdem: In ihrem Berufsleben ist es für Steuerberater wichtig, nicht unnötig Streit zu provozieren, einvernehmliche Erledigungen anzustreben. Diese Kombination, so mein Eindruck, führt dazu, dass Richter in Prozessen häufig „leichtes Spiel“ in puncto Verfahrensfragen haben. Dementsprechend überrascht (bzw. je nach Temperament auch ungeduldig oder ärgerlich) können Richterreaktionen ausfallen, wenn – von diesem Erfahrungsalltag abweichend – der engagierte Prozessanwalt nicht allen Vorstellungen des Gerichts folgt, sondern sich „sperrig“ zeigt.

___________ 6 Zu den überzeugendsten Argumenten gehört im Übrigen auch in diesem Zusammenhang die Frage, wie sich die angesprochene Richterbank denn den eigenen Prozessvertreter im eigenen Finanzgerichtsprozess vorstellen würde.

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2. Die Amtsermittlungspflicht des Finanzgerichts – ein schöner Schein Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen (§ 76 Abs. 1 FGO). Kommentare zu dieser Pflicht des Gerichts lesen sich zunächst sehr positiv: Das Gericht hat die Herrschaft über den Prozessstoff und muss die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen selbst ermitteln. Das Gericht trägt die Verantwortung für die Sachaufklärung. Es leitet von sich aus die notwendigen Ermittlungsmaßnahmen ein, um die Streitsache innerhalb der vom Kläger gezogenen Grenzen entscheidungsreif zu machen. Unabhängig von den Beweisanträgen der Beteiligten muss das Gericht im Zweifel auch von sich aus Beweis erheben7. Allerdings – und hier zeigt sich, dass im täglichen Prozessleben nie Verlass auf die Amtsermittlung sein darf – wird das „Ermittlungsprogramm“ des Finanzgerichts durch das Vorbringen der Beteiligten, insbesondere durch ihre Sach- und Beweisanträge abgesteckt: Die Sachaufklärungspflicht gemäß § 76 Abs. 1 FGO erfordert (nur), so die Rechtsprechung des BFH8, „dass das Finanzgericht Tatsachen und Beweismitteln nachgeht, die sich ihm in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls hätten aufdrängen müssen“. Um dies zu erreichen, ist der Kläger gezwungen, streitigen Sachverhalt ausdrücklich als streitig zu präsentieren und die eigene Position mit substanziierten Beweisanträgen zu untermauern. Nur derartig substanziierte Beweisanträge, die den entscheidungserheblichen Sachverhalt betreffen, darf das Finanzgericht dann weder ablehnen noch übergehen (mit der Einschränkung, dass das Finanzgericht nur das aufzuklären hat, was aus seiner Sicht entscheidungserheblich ist)9. Fazit: Beschreibungen der Amtsermittlungspflichten des Finanzgerichts lesen sich im ersten Schritt wesentlich zu positiv. De facto gilt als Folge der Mitwirkungspflichten der Parteien der Grundsatz, dass das Finanzgericht Sachverhaltsermittlungen nur anstellt und anstellen muss, soweit die Parteien – in den meisten Fällen geht es hier um den Steuerpflichtigen, den Kläger – dies ganz konkret beantragen und mit ganz konkreten Beweisanträgen untermauert haben. Die Behauptung, Finanzgerichte müsse man „zum Jagen tragen“, mag überspitzt sein, für die Prozessvertretung ist es aber sicherlich nie ein Fehler, entsprechend dieser Unterstellung vorzutragen und zu handeln10.

___________ 7 8 9 10

Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 2, 19. Vgl. z.B. BFH v. 23.9.2009 – IV B 133/08, BFH/NV 2010, 52 ff. Vgl. BFH v. 23.9.2009 – IV B 133/08, BFH/NV 2010, 52 ff. Die Begründungen für die erforderliche aktive Rolle der Parteien und ihren Einfluss auf die Sachverhaltsermittlungen des Finanzgerichts lesen sich sonderbar: Von einer „Verantwortungsgemeinschaft (ergänze: für die Sachverhaltsaufklärung) mit Letztverantwortung des Finanzgerichts“ ist die Rede (vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 49). „Letztverantwortung“ trägt am Ende des Verfahrens aber nur der Kläger, wenn sein Klageverfahren mangels Sachverhaltsaufklärung durch das Finanzgericht verloren geht bzw. der Prozessvertreter, wenn er sich nach verlorenem Prozess von seinem Mandanten im Haftpflichtverfahren entgegenhalten lassen muss, das Finanzgericht nicht durch Beweisanträge zur Sachverhaltsermittlung gezwungen zu haben. Niemand blickt dagegen auf das Finanzgericht, das nur erklärt, es habe sich ihm eben nichts „aufgedrängt“.

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3. Praktische Konsequenzen (aus der Schwäche der Amtsermittlungspflicht) für das Klageverfahren a) Die gute Klagebegründung aa) Der Sachverhalt Die gute Klagebegründung ist so geschrieben, als ob es eine Amtsermittlungspflicht des Gerichts (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) nicht gäbe. Sachvortrag und Beweisantritten darf nicht weniger Sorgfalt als im Zivilprozess gewidmet werden. Alle notwendigen Ermittlungen des Gerichts müssen sich aus dem Vorbringen des Klägers ergeben. Soweit Sachverhaltselemente streitig sind, müssen Beweismittel, z.B. Zeugen mit ladungsfähiger Anschrift, angegeben werden. Kennt der Kläger die Anschrift nicht, soll die Zeugenbenennung so konkret sein, dass das Gericht die Anschrift ermitteln kann11. Der substanziierte Sachvortrag sollte optimalerweise bereits im Einspruchsverfahren erfolgen. Kein Richter ist – angesichts des ausgelösten Arbeitsaufwands – über die Notwendigkeit von Sachverhaltsermittlungen glücklich. Der Unmut richtet sich gegen den Kläger, wenn der Richter feststellt, dass der Steuerpflichtige vor Gericht erstmals bereit ist, seinen eigenen Mitwirkungspflichten nachzukommen. Im Übrigen kann verspäteter Sachverhaltsvortrag zu konkreten Kostennachteilen führen: Werden Tatsachen erst verspätet geltend gemacht, können dem Kläger die Kosten auferlegt werden, auch wenn er in der Sache gewinnt (§ 137 FGO). Praxisanmerkung: Für die richterliche Beurteilung sind Klageverfahren dankbar, in denen der Sachverhalt unstreitig ist: Es fällt kein Ermittlungsaufwand an, die Entscheidung lässt sich „vom grünen Richtertisch aus“ fällen. Darüber hinaus entsprechen reine Rechtsstreite durchaus auch „Juristen-Chic“. Eine Vielzahl von Klageverfahren ist aber letztlich für den Kläger nur über den Sachverhalt zu gewinnen. Auch für den Anwalt und seinen Mandanten kann die – dringend erforderliche – Arbeit am Sachverhalt aufwendig und ungeliebt sein. Musterbeispiel dafür sind Liebhabereifälle. Der Mandant kommt zum Anwalt, seinem künftigen Prozessvertreter, mit der Vorstellung, dieser werde den Fall zu seinen Gunsten juristisch lösen. Tatsächlich wird der Mandant (hier haben wir in der Praxis Reaktionen bis hin zu konkreter Verärgerung festgestellt) mit der Aufforderung konfrontiert, eigene Betriebskonzepte etc. nachzuweisen.

___________ 11 Lesenswert ist in diesem Zusammenhang der Beitrag von Müller, Die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde bei Verfahrensverstößen des FG, AO-StB. 2009, 302 ff. Hier findet sich eine Auswahl von Entscheidungen, in denen der BFH Beweisanträge für fehlerhaft gehalten hat. Zugleich belegen diese Entscheidungen eindrucksvoll, wie wichtig gute Prozessvertretung ist. Mit spezifizierteren Anträgen hätte in den meisten Beispielsfällen wohl erreicht werden können, dass die Finanzgerichte Sachverhaltsaufklärung hätten betreiben müssen. Gleichzeitig belegen die zitierten Entscheidungen, wie unterschiedlich Gerichte ihre Fürsorgepflichten nach § 76 Abs. 2 FGO handhaben. In den meisten Fällen hätte sich die Situation durch Hinweise des Gerichts an den Kläger klären lassen können, der dann spezifiziert hätte vortragen können.

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Ist der Sachverhalt streitig und sind konkrete Beweisanträge gestellt, entspricht es der Erfahrung, dass die Gerichte die erforderlichen Sachverhaltsaufklärungen auch leisten. Gleichzeitig kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass der richterliche Blick Alternativen prüft, die eine Entscheidung ohne Sachverhaltsaufklärung (z.B. Verjährung) ermöglichen würden. Auch diesen Effekt wird die taktische Klagebegründung des Prozessvertreters mit einbeziehen. bb) Die Akteneinsicht Im Finanzgerichtsverfahren haben die Beteiligten das Recht auf Akteneinsicht. Gemäß § 78 FGO können sie „die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen lassen“. In der Praxis wird das Recht auf Akteneinsicht erstaunlicherweise selten genutzt. Tatsächlich ist die Akteneinsicht in vielen Fällen hilfreich und immer eine Chance für das Klageziel: Häufig können aus Vermerken und Notizen der Steuerakten gute Begründungsansätze für das Klageziel gewonnen werden. Angelpunkte in den Finanzamtsakten sind z.B. Ausführungen zur Abwägung im Rahmen von Ermessensentscheidungen (z.B. bei Haftungsbescheiden) oder Begründungen für eine gewährte Aussetzung der Vollziehung. Eine Akteneinsicht kann auch offenbaren, dass innerhalb der Finanzverwaltung ganz unterschiedliche Standpunkte existieren. Das Recht auf Akteneinsicht besteht erstmals im Klageverfahren. Im Einspruchsverfahren gibt es dieses Recht des Steuerpflichtigen noch nicht. Das Finanzamt ist zwar nicht gehindert, bereits im Vorverfahren Akteneinsicht zu gewähren. Zu entscheiden ist darüber nach pflichtgemäßem Ermessen. In der Praxis geschieht die Akteneinsichtsgewährung in Einspruchsverfahren aber selten12. Auf welche Akten sich das Recht zur Akteneinsicht bezieht, ist im Regelfall nicht streitig: Es sind dies, vgl. § 78 FGO, die Gerichtsakten und die dem Gericht gemäß § 71 Abs. 1 FGO vorzulegenden Akten, d.h. die den Streitfall betreffenden Akten. Hierzu zählen alle Akten, deren Inhalt in Anbetracht des Streitgegenstands erheblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist. In der Praxis geschieht es häufig, dass, hat eine Außenprüfung stattgefunden, die zur Außenprüfung vorgelegte Akte lediglich ein Exemplar des Betriebsprüfungs-Berichts enthält. Prüfungsabläufe usw. lassen sich dagegen nur aus den Handakten des Betriebsprüfers entnehmen, die das Finanzamt jedoch nicht mitübersandt hat. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, dass – wer Einblick in die Abläufe der Betriebsprüfung erhalten will – bereits bei Stellung des Antrags auf Ak-

___________ 12 An die Stelle des Akteneinsichtsrechts tritt im Einspruchsverfahren das – wertvollere – Recht auf Mitteilung der Besteuerungsgrundlagen, § 364 AO. Wertvoll ist dieses Recht insbesondere im Hinblick darauf, dass Aussetzung der Vollziehung zu gewähren ist, solange die Grundlagen der Besteuerung noch nicht mitgeteilt sind, vgl. BFH v. 4.4.1978 – VII R 71/77, BStBl. II 1978, 402.

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teneinsicht ausdrücklich beantragt, auch die Handakte des Betriebsprüfers beizuziehen. Dass die Betriebsprüfungs-Handakte zu den vorzulegenden Unterlagen zählt, ist heute nicht mehr streitig. Einen Anspruch auf Zusendung der Akten in das Büro des Prozessbevollmächtigten lehnt die Rechtsprechung hartnäckig ab13. Aus dem Begriff „Einsehen“ und der Regelung über die Erteilung von Abschriften usw. durch die Geschäftsstelle ergäbe sich, so der III. Senat des BFH in seiner vorzitierten Entscheidung, dass die Einsichtnahme der Akten bei Gericht die Regel sein solle und eine vorübergehende Überlassung von Akten an Prozessbevollmächtigte nur ausnahmsweise in Betracht komme. Diese Auslegung des Akteneinsichtsrechts ist ein Ärgernis. Praktische Notwendigkeiten für die Restriktion sind nicht ersichtlich. Warum der Rechtsanwalt, der Strafverteidiger ist, die Akten des Strafverfahrens selbstverständlich zur Einsichtnahme in sein Büro erhält, der Prozessvertreter im finanzgerichtlichen Verfahren aber nicht, ist nicht nachvollziehbar. Statt die Akte im eigenen Büro studieren und kopieren zu können, ist der Prozessvertreter darauf angewiesen, die Akten beim Finanzgericht einzusehen und einzelne Kopien zu erbitten. Letztlich ist die Einschränkung des Akteneinsichtsrechts nur Folge des Bestrebens, Amts-Ressourcen zu sparen. Würden die Akten dem Prozessvertreter in sein Büro geschickt werden, müssten sie durchgezählt bzw. paginiert werden. Dass sich dazu bei den Finanzgerichten kein Personal findet, ist zwar kaum vorstellbar, scheint aber in der Praxis eines der mitbestimmenden Argumente zu sein14. Liegt der Sitz des Finanzgerichts weiter entfernt vom Wohnsitz des Prozessbevollmächtigten, entspricht es der Praxis, die Akten beim nächstgelegenen Gericht einzusehen. Dass das Finanzamt die Akten vollständig vorzulegen hat, ist selbstverständlich. In der Praxis geschieht dies auch fast ausnahmslos. Gleichwohl sollte stets – insbesondere bei umfangreichen Verfahren – verprobt werden. Stellt sich heraus, dass Aktenteile entfernt sind (z.B. Notizen über Besprechungen; einzelne Schriftstücke, auf die später Bezug genommen wird), ist dies dem Finanzgericht mitzuteilen, das daraufhin die weitere Vorlage anordnen wird. b) Die mündliche Verhandlung In der Klagebegründung sollte erklärt werden, ob auf die mündliche Verhandlung verzichtet wird (vgl. § 90 Abs. 2 FGO). Wir selbst verzichten grundsätzlich nicht. Die mündliche Verhandlung im Finanzgerichtsprozess ist keine bloße Formalität. Es wird tatsächlich verhandelt, der Streitfall wird mit dem Gericht erörtert. Auf diese Chance sollte gerade angesichts der engen Überprüfungsmöglichkeiten finanzgerichtlicher Urteile nie ohne Not verzichtet

___________ 13 Vgl. aktuell zuletzt BFH v. 2.9.2009 – III B 246/08, BFH/NV 2010, 49 f. 14 Spricht man Finanzrichter auf diese Ärgernisse und Hintergründe an, kann es – in Einzelfällen – geschehen, dass man die Akten entgegen der herrschenden Handhabung doch ins Büro geschickt bekommt. Allerdings unter der unausgesprochenen Voraussetzung, Schweigen zu wahren.

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werden. Das Kostenrecht lockt allerdings: Die Verhandlungsgebühr wird nach RVG auch beim Verzicht auf mündliche Verhandlung gewährt. Die mündliche Verhandlung ist das Herzstück des Finanzgerichtsprozesses. aa) Ablauf Bei den Finanzgerichten werden Senate gebildet (drei Richter und zwei ehrenamtliche Richter, § 5 Abs. 3 FGO). Die mündliche Verhandlung findet entweder vor dem vollen Senat in dieser Besetzung statt oder aber, ist der Rechtsstreit auf einen Einzelrichter übertragen, § 6 FGO, vor dem Einzelrichter. Nach § 92 FGO läuft die Verhandlung wie folgt ab: Die Verhandlung wird durch den Vorsitzenden eröffnet und geleitet. Zu Beginn trägt der Vorsitzende oder der Berichterstatter den wesentlichen Inhalt der Akten vor. Es lohnt sich, auf diesen Vortrag gut zu achten. Häufig lässt er bereits Rückschlüsse auf die Ansicht des Berichterstatters zu. Denn bewusst oder unbewusst wird er den Sachverhalt so darstellen, dass er optimal zu dem von ihm bereits ins Auge gefassten Ergebnis führt. Findet eine Beweisaufnahme statt, schließt sich diese meist unmittelbar an. Sodann können die Beteiligten ihre Anträge begründen. Der Vorsitzende kann mit den Beteiligten die Streitsache tatsächlich und rechtlich erörtern (§ 93 Abs. 1 FGO). Hierbei hat jedes Mitglied des Gerichts ein Fragerecht (§ 93 Abs. 2 FGO). Nach Erörterung der Streitsache erklärt der Vorsitzende die mündliche Verhandlung für geschlossen (§ 93 Abs. 3 FGO). In den meisten Fällen findet in der mündlichen Verhandlung eine offene Diskussion über Sachverhalte und Rechtsfragen statt. Zwar gibt es auch Senate, die sich in der mündlichen Verhandlung sphinxhaft zurücklehnen und sich darauf beschränken, Ausführungen und Plädoyers der Beteiligten mit unbewegter Miene anzuhören. Ob Hintergrund hier die fehlende Lust am Disput oder ein Bestreben ist, sich nicht in die Karten sehen und in „unnötige“ Diskussionen verwickeln zu lassen, bleibt ein Geheimnis. Glücklicherweise sind dies jedoch die Ausnahmefälle, führen die überwiegende Anzahl aller Senate Verhandlungen lebendig und offen und beschränkt sich die mündliche Verhandlung nicht auf bloßes „Schaulaufen“. Unerlässlich für den Prozessvertreter: Von ihm wird erwartet, den Inhalt des Streitstoffs präsent zu haben, mit der Akte vertraut zu sein und sich im Plädoyer nicht auf das Vorlesen aus Schriftsätzen zu beschränken. bb) Öffentlichkeit Die mündliche Verhandlung ist öffentlich. Für den Kläger und seinen Berater kann dies echte Belastung sein. Pressevertreter oder Konkurrenz können im Zuschauerraum sitzen. Gemischte Gefühle kann es auch auslösen, wenn ganze Schulklassen (amüsiert oder gelangweilt) zu Ausbildungszwecken den Zuschauerraum füllen oder andere Berufsangehörige (z.B. Gruppen von Steuerberatern) zuhören.

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Wünscht der Kläger dies nicht, kann er beantragen, die Öffentlichkeit auszuschließen (§ 52 Abs. 2 FGO). Dem Finanzamt steht dieses Recht nicht zu. Vorsitzende Richter sind nicht immer angetan von Ausschließungsanträgen. Der Kläger bringe die Zeitpläne der Gruppen durcheinander. Man – d.h. der Vorsitzende – habe keinerlei Verständnis für den Ausschließungsantrag. Derartige Launen werden keinen Anwalt dazu bringen, vom Ausschließungsantrag Abstand zu nehmen. Juristisch sind Einwände gegen Ausschließungsanträge unerheblich. Der Kläger muss seinen Antrag nicht begründen. Das Gericht muss dem Antrag folgen. Außerdem: Die Erfahrung zeigt, dass Ausschließungsanträge auch sinnvoll sind: Die Anwesenheit von Gruppen zur Berufsausbildung kann direkten Einfluss auf den Ablauf der mündlichen Verhandlung haben. Man kann erleben, wie – in schlecht gehandhabten Fällen – die mündliche Verhandlung zur Schulstunde umfunktioniert wird. Im Mittelpunkt steht nicht mehr der Kläger und seine Klage, sondern die Präsentation für das Publikum. Souveräne Verhandlungsführung vonseiten des Gerichts – und das ist der Regelfall – lässt sich von der Anwesenheit der „Öffentlichkeit“ nicht beeinflussen. Im Übrigen kann auch im Laufe der Verhandlung der Ausschließungsantrag noch gestellt werden15. cc) Neuer Vortrag in der mündlichen Verhandlung Nicht selten liegt ein längerer Zeitraum zwischen der Klagebegründung und dem Termin für die mündliche Verhandlung. Niemals lässt sich ausschließen, dass noch unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung Ergänzungen und Korrekturen der bisherigen Begründung erforderlich sind. Sei es im Hinblick auf juristische Argumentationen, sei es im Hinblick auf Ergänzungen des Sachverhalts. Juristisch ist dies kein Problem: Fristen für Ausführungen zur Rechtslage gibt es generell nicht. Hier kann bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung argumentiert werden. Die FGO enthält aber auch keine generelle zeitliche Einengung für Vortrag zum Sachverhalt. Infolgedessen kann auch in der mündlichen Verhandlung noch Sachverhaltsvortrag „nachgereicht“ werden.

___________ 15 Bei Finanzgerichten gibt es „Tage der offenen Tür“. Hier melden sich häufig Zuhörergruppen an. Gute Prozessvorbereitung dieser Tage führt dazu, dass Vorsitzende Richter vor dem Termin Kontakt mit dem Kläger bzw. seinem Prozessbevollmächtigten aufnehmen, um die Abläufe zu klären bzw. sich zu vergewissern, ob Einwände gegen Besuchergruppen bestehen oder nicht. Der Vollständigkeit halber: Hat der Prozessvertreter im Vorfeld keine Einwände gegen die Öffentlichkeit in diesem Sinne geltend gemacht, ist diese Zustimmung juristisch für den Tag der Verhandlung nicht bindend, kann das immer noch beantragt werden, die Öffentlichkeit jetzt auszuschließen. Dies sollte dann tatsächlich allerdings nur in begründeten Fällen erfolgen.

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Sind Ergänzungen erforderlich, kann es sinnvoll sein, dies zusammenfassend in einem neuen Schriftsatz darzustellen und diesen Schriftsatz vorab dem Finanzgericht zu übersenden. Der Schriftsatz kann aber auch erst im Verhandlungstermin präsentiert werden. Wird in dieser Weise (oder auch mündlich zu Protokoll in der Verhandlung selbst) neuer Sachverhalt vorgetragen, wird das Gericht sich nicht immer erfreut zeigen. Die Reaktionen können bis zu offenem Ärger reichen: Man, gemeint sind der Kläger und sein Prozessvertreter, habe schließlich vor der mündlichen Verhandlung Zeit genug gehabt, umfassend zum Sachverhalt vorzutragen. Warum erst jetzt präsentiert werde, was präsentiert wird. Dies ist richtig und nicht richtig: Die mündliche Verhandlung ist vom Gesetz konzipiert als Forum für die Präsentation des Streits, der Streitpunkte und auch der Sachverhalte. Sie darf nicht vom Gericht entwertet werden als reiner Termin zur Wiederholung des bisher bereits Gesagten bzw. Geschriebenen. Hat das Finanzgericht nicht selbst im Vorfeld Frist nach § 79b FGO gesetzt, d.h. den Kläger unter Fristsetzung aufgefordert, zu bestimmten Punkten vorzutragen, gibt es keine Frist, kann ohne Einschränkung in der mündlichen Verhandlung auch neuer Sachverhalt präsentiert werden. Im Übrigen: Selbst wenn das Gericht im Vorfeld Frist nach § 79b FGO gesetzt hat und dem Kläger oder seinem Bevollmächtigten erst vor der mündlichen Verhandlung klar wird, dass noch Weiteres präsentiert werden muss: Das Gericht kann auch verspätet vorgebrachte Erklärungen und Beweismittel noch berücksichtigen, vgl. im Einzelnen § 79b Abs. 2 FGO. Fazit: Selbst nach Fristsetzung nach § 79b FGO sollte in der mündlichen Verhandlung im Zweifel auch Verspätetes noch präsentiert werden. Dass das Finanzgericht diese neuen Aspekte nicht berücksichtigt, ist – trotz der Fristsetzung – nicht zwingend. Der Kläger und sein Prozessvertreter werden allerdings regelmäßig bemüht sein, bereits im Vorfeld der mündlichen Verhandlung ihre Position umfassend zu präsentieren, sodass echte Sachverhaltsergänzungen unmittelbar vor oder in der mündlichen Verhandlung nicht der Regelfall sein müssen. Positiv sind in diesem Zusammenhang zwei Entscheidungen des BFH aus den Jahren 2005 und 200816. In dem 2005 entschiedenen Fall hatte die Klägerin einen Tag vor der mündlichen Verhandlung einen 11-seitigen Schriftsatz an das Finanzgericht geschickt. Das Finanzgericht hatte es jedoch unterlassen, diesen Schriftsatz an das Finanzamt weiterzuleiten oder im Termin zu übergeben. Auf die Rüge des Finanzamts hin hat der BFH das Urteil zugunsten der Klägerin aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurückverwiesen. Allerdings nicht etwa, weil der Schriftsatz zu kurzfristig von der Klägerin eingereicht worden war, sondern weil das Finanzgericht die Weiterleitung an das Finanzamt unterließ, das

___________ 16 BFH v. 24.2.2005 – IX B 179/03, BFH/NV 2005, 1128, und v. 29.9.2008 – X B 203/07, BFH/NV 2008, 2049 ff.

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Recht des Finanzamts auf Gewährung rechtlichen Gehörs folglich verletzt worden sei. Positiv: Neue Sachverhalte können auch noch unmittelbar vor und in der mündlichen Verhandlung präsentiert werden. Sache des Gerichts ist es, dafür zu sorgen, dass die Sachverhalte bzw. die entsprechenden Schriftsätze zur Kenntnis der Gegenpartei gelangen. Hinweis für den umgekehrten – allerdings seltenen – Fall: Legt das Finanzamt unmittelbar vor oder in der mündlichen Verhandlung noch einen Schriftsatz vor oder präsentiert in irgendeiner Form neue Tatsachen, darf sich der Berater nicht überrumpeln lassen. Das Gericht ist in dieser Lage regelmäßig daran interessiert, die Sache trotzdem im Termin zu erledigen und nicht zu vertagen. Hier muss der Prozessvertreter widerstehen und zur Gewährung rechtlichen Gehörs eine hinreichende Frist zur Prüfung und Überlegung, also gegebenenfalls eine Unterbrechung der Verhandlung oder ihre Vertagung verlangen und dies, um einen Rügeverlust zu vermeiden, protokollieren lassen. Die Finanzämter verstoßen übrigens, dies zeigt die Erfahrung, häufig gegen derartige Ratschläge. Schriftsätze werden in der mündlichen Verhandlung zwar unwillig, aber ohne Rüge oder Vertagungsantrag ohne weitere Konsequenzen zur Kenntnis genommen. Zu der zweiten vorzitierten Entscheidung des BFH17: In dem dort entschiedenen Fall hatte der Kläger im finanzgerichtlichen Verfahren 10 Tage vor der mündlichen Verhandlung neuen Sachverhalt und neue Beweisanträge präsentiert. Das erstinstanzliche Gericht zeigte sich darüber so verärgert, dass aller Vortrag wegen „Prozessverschleppung“ zurückgewiesen wurde. Der BFH hat das Urteil aufgehoben. Es stelle „keinen Verstoß gegen die prozessuale Mitverantwortung“ dar, wenn ein Kläger erst im Rahmen der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung 14 Tage nach Erhalt der Ladungsverfügung und 10 Tage vor der mündlichen Verhandlung dem Gericht zusätzliche Bedenken in Bezug auf einen weiteren – hilfsweise zu erwägenden – Gesichtspunkt mitteilt, wenn im bisherigen Verfahren andere Aspekte im Vordergrund standen“. Mit anderen Worten: Neues, das 10 Tage vor der mündlichen Verhandlung präsentiert wird, kann als unproblematisch gelten. Im Übrigen hatte der BFH in dem von ihm entschiedenen Fall lediglich keinen Anlass zu der Prüfung, ob neuer Vortrag 8 Tage oder 5 Tage oder noch kürzer vor der mündlichen Verhandlung ausreichend war oder ob nicht erst die mündliche Verhandlung selbst letzter Zeitpunkt für die Präsentation neuen Sachverhalts gewesen wäre. Fazit: Die Präsentation neuen Sachverhaltsvortrags ist bis zur mündlichen Verhandlung zulässig.

___________ 17 BFH v. 29.9.2008 – X B 203/07, BFH/NV 2008, 2049 ff.

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dd) Klippe: Rügeverzicht Dass im finanzgerichtlichen Verfahren Sachverhaltsschilderungen und entsprechende Beweisanträge von besonderer Bedeutung sind und in der Klagebegründung essenziell, wurde bereits gesagt. Für die mündliche Verhandlung ist hier noch einmal besondere Aufmerksamkeit erforderlich. Sind Beweisanträge gestellt, ist in der mündlichen Verhandlung sorgsam darauf zu achten, wie das Finanzgericht mit diesen Beweisanträgen verfährt. Erhebt es die angebotenen Beweise in der mündlichen Verhandlung nicht, darf dies niemals unkommentiert hingenommen werden. Stattdessen ist ausdrücklich zu Protokoll zu erklären, dass alle unerledigten Beweisanträge aufrechterhalten bleiben. Darüber hinaus muss – ebenfalls zu Protokoll – die Übergehung der Beweisanträge vorsorglich bereits jetzt als Verfahrensfehler gerügt werden. Denn: Werden diese Erklärungen versäumt, gilt dies als Verzicht auf die Beweisanträge bzw. als Verzicht auf die Rüge, das Finanzgericht sei angesichts der unterbliebenen Beweiserhebung seiner Amtsermittlungspflicht nicht nachgekommen18. Der vom Finanzgericht durch die Nichterhebung des Beweises begangene Verfahrensverstoß kann, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht die entsprechenden Anträge gestellt (s. oben), keine Revision oder Revisionszulassung mehr begründen. Ausnahme: Die weitere Sachaufklärung musste sich dem Finanzgericht auch ohne Beweisantrag „aufdrängen“19. Kritik: Die Rechtsprechung des BFH zu diesem sog. „Rügeverzicht“ ist ein ausgesprochenes Ärgernis. Die Literatur kritisiert dieses Ärgernis allerdings erstaunlich wenig20. Es dürfte niemand bezweifeln, dass die Figur des „Rügeverzichts“ reine Fiktion ist. Weder das Finanzgericht noch der BFH wird ernsthaft unterstellen, es mit Klägern und Prozessvertretern zu tun zu haben, die tatsächlich den Willen haben, auf Beweisanträge zu verzichten oder erklären wollen, mit der Nichterhebung einverstanden zu sein und dies niemals beim BFH als Verfahrensfehler rügen zu wollen. Tatsächlich lassen die Finanzgerichte Kläger und ihre Prozessbevollmächtigten hier offenen Auges in die Falle laufen. Auch bei fairsten Senaten wird man nie erleben, dass Kläger auf diese Klippe hingewiesen wurden, ihnen die Gefahr eines Schweigens bewusst gemacht wurde. Tatsächlich würde die Fürsorgepflicht des Finanzgerichts (§ 76 Abs. 2 FGO) es aber eindeutig gebieten, die „schweigende Partei“ offen anzusprechen und ihren tatsächlichen Willen zu klären, d.h. zu klären, ob tatsächlich auf Beweisanträge verzichtet werde.

___________ 18 Zu diesem Rügeverzicht vgl. z.B. BFH v. 17.9.2009 – IV B 82/08, BFH/NV 2010, 50 ff., und v. 23.9.2009 – IV B 133/08, BFH/NV 2010, 52 ff.; Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 92. 19 Vgl. BFH v. 23.9.2009 – IV B 133/08, BFH/NV 2010, 52 ff.; Seer in Tipke/Kruse, § 115 FGO Rz. 92 und § 120 FGO Tz. 115. 20 Beispiele für Kritik bei Müller, Die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde bei Verfahrensverstößen des FG, AO-StB. 2009, 302 (310, 311).

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Für den Anwalt ist es unverzichtbar, sich der eigenen Handlungserfordernisse bewusst zu sein, d.h. in der mündlichen Verhandlung alle Beweisanträge zu wiederholen und ihre Nichterhebung vorsorglich als Verfahrensfehler zu rügen. Dies alles muss zu Protokoll gegeben werden. c) Chance und Klippe: Die Kostenverteilung aa) Grundsätze Die gesetzlichen Regelungen zur Kostenverteilung klingen simpel. Wer verliert, trägt die Kosten (§ 135 Abs. 1 FGO). Wer die Klage zurücknimmt, hat immer verloren, trägt also auch immer die Kosten (§ 136 Abs. 2 FGO). Gewinnt der klagende Steuerpflichtige nur zum Teil, sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen (§ 136 FGO). Ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands (§ 138 Abs. 1 FGO). Diese Regelungen lassen, so scheint es, kaum Gestaltungsspielräume bzw. Optimierungsmöglichkeiten erkennen. Tatsächlich gibt es sie jedoch. bb) Kostenfolgen aus den Grundsätzen Gewinnt der Kläger, hat er keine Gerichtskosten zu zahlen. Außerdem werden ihm die Kosten seiner Vertretung erstattet. Dazu gehören auch die Kosten für die Vertretung im Einspruchsverfahren (§ 139 Abs. 1 FGO). Gerecht ist das Kostenrecht hier nicht: Gewinnt der Steuerpflichtige bereits im Einspruchsverfahren, bleibt er auf seinen Anwaltskosten sitzen. Eine Kostenerstattung sieht das Gesetz nur vor, wenn das Klageverfahren gewonnen wird. Ausnahmsweise kann sich eine Kostenerstattung für eine Vertretung im außergerichtlichen Verfahren nach den Grundsätzen der Amtshaftung ergeben. Verliert der Steuerpflichtige das Klageverfahren, trifft es ihn doppelt: Er hat Gerichtskosten zu zahlen und erhält keine Erstattung seiner Vertretungskosten. Positiv zumindest: Aufwendungen der Finanzbehörde sind nicht zu erstatten (§ 139 Abs. 2 FGO). Verliert das Finanzamt, hat es dagegen in keinem Fall Gerichtskosten zu erstatten. Der Kostentenor „Die Verfahrenskosten trägt das Finanzamt“ ist daher – bezogen auf die Finanzgerichtskosten – eine Mogelpackung: Das Finanzamt zahlt keine Gerichtskosten und muss nur dem Kläger die Kosten seiner Vertretung erstatten. Dies trifft das Finanzamt allerdings in der Praxis unter Umständen hart (s. unten). cc) Vertretungskonsequenzen Erlässt das Finanzamt im Laufe des Klageverfahrens einen Abhilfebescheid, d.h. kommt es dem Begehren des Klägers nach, hat dieser sein Klageziel erreicht und wird die Erledigung des Rechtsstreits erklären. Das Gericht hat

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Der Steueranwalt im Finanzgerichtsprozess

daraufhin gemäß § 138 FGO über die Kosten zu entscheiden und wird sie regelmäßig dem Finanzamt auferlegen. In der Praxis erteilen dagegen Finanzgerichte nach Ergehen eines Abhilfebescheids nicht selten dem Kläger den „Hinweis“, das Klageziel sei ja jetzt erreicht, die Klage möge zurückgenommen werden. Ein solcher Pauschal-Ratschlag aus dem Mund eines Finanzrichters ist unverantwortlich: Wer eine Klage zurücknimmt, unterliegt und trägt gemäß § 135 Abs. 1 FGO die Kosten. Selbstverständlich erhält er seinerseits auch keine Erstattung für die Kosten der eigenen Vertretung. Der Rat an den Kläger, die Klage doch jetzt zurückzunehmen, heißt also, den Kläger direkt in die Kostenfalle laufen zu lassen. Zutreffende Reaktion ist die Erledigungserklärung, in deren Folge dann die Kosten dem Finanzamt aufzuerlegen sind (§ 138 Abs. 2 FGO). Schlägt das Gericht nach Erledigung der Streitsache eine Kostenteilung derart vor, dass das Finanzamt die Gerichtskosten trägt und der Kläger auf Kostenerstattung verzichtet, bedeutet dies, dass die Finanzgerichtskosten letztlich neutralisiert werden, da (s. oben) das Finanzamt niemals Gerichtskosten erstatten muss. Beim Finanzamt führt diese Regelung folglich zu keiner Belastung. Sehr wohl dagegen beim Kläger, der aufgrund dieser Regelung zwar keine Gerichtskosten zu zahlen hat, aber auch sein Recht auf Erstattung der Vertretungskosten preisgibt. Er wird daher abwägen, ob nicht eine Kostenteilung für ihn günstiger wäre, bei der die Gesamtkosten anteilig verteilt werden. Praxisanmerkung: Ärgerlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Finanzgerichte die Hintergründe ihrer Kostenteilungsvorschläge niemals erläutern. Es wird der Eindruck erweckt, als ob die Finanzverwaltung tatsächlich Finanzgerichtskosten zu tragen hätte, der Erledigungsvorschlag damit letztlich ausgeglichen sei. Das ist nicht fair und verletzt die Fürsorgepflicht des Finanzgerichts. Für den Blick auf die Verteilung der Verfahrenskosten ist schließlich wichtig zu wissen: Jede Kostenentscheidung im Finanzgerichtsverfahren, die dazu führt, dass das Finanzamt dem Kläger seine Anwaltskosten zu erstatten hat, ist für das Finanzamt eine doppelte Belastung. Hintergrund: Für diese Kostenerstattungen der Finanzämter gibt es amtsintern separate Etats. Diese Etats sind relativ bescheiden (manchmal sind sie schon vor dem Jahresende komplett aufgebraucht). Vor diesem Hintergrund haben Finanzämter beim Abschluss von Verfahren regelmäßig ein sehr drängendes Interesse daran, eine Kostenverteilung zu erreichen, die diesen Etat nicht belastet, also eine Kostenverteilung, bei dem das Finanzamt keine Anwaltskosten zu zahlen hat bzw. der Kläger auf die Erstattung seiner Prozesskosten verzichtet. Der Klägervertreter, der dies weiß, ist frei darin, diese Bedürfnisse der Finanzverwaltung zu berücksichtigen oder nicht. Werden Einigungsgespräche geführt, wird dieser Kostenaspekt vom Kläger zweckmäßigerweise offen angesprochen. Es kann dann mit dem Finanzamt überlegt werden, ob dort ein Interesse besteht, im Vergleich weiter auf den Kläger positiv zuzugehen im Austausch gegen dessen Zusage, auf Kostenerstattung zu verzichten. In vielen Fällen ist die Finanzverwaltung hier durchaus bereit. Dabei übersteigt be353

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tragsmäßig häufig die positive Verbesserung im Steuerverfahren den Nachteil, den der Kläger mit seinen Verzicht auf Kostenerstattung in Kauf nimmt. Ärgerlich im Finanzgerichtsverfahren ist, dass das Gericht von sich aus diesen Punkt, d.h. das sehr konkrete Kosteninteresse des Finanzamts niemals von sich aus offen anspricht. Von Steuerpflichtigen werde ich hin und wieder gefragt, ob ich als Steueranwältin Finanzrichter tatsächlich für unparteilich halte, obwohl doch eine Vielzahl von ihnen aus der Finanzverwaltung kommt. Diese Frage beantworte ich mit klarem Ja. Nach meiner Erfahrung legen Finanzrichter großen Wert auf ihre Ungebundenheit und dokumentieren dies auch in freien, d.h. unparteilichen Entscheidungen. Den einzigen Vorbehalt muss ich im Kostenrecht machen. Hier gibt es eindeutig zu viel Verständnis auf Richterseite für Kostenbelange der Finanzverwaltung. Es ist leider kein Einzelfall, dass bei der Kostenverteilung Kläger und ihre Prozessbevollmächtigten im Unklaren gelassen werden über Position und Interesse der Finanzverwaltung. Dies lässt sich auch nicht rechtfertigen mit der Behauptung, die Prozessvertreter müssten ja schließlich wissen, wie die Rechtslage sei. Gerade Steuerberater wissen dies – und das wissen auch die Finanzrichter – gerade nicht. Erst recht gilt das für Interna der Finanzverwaltung wie beschränkte Kostenerstattungen, von denen eben die Rede war. Hier sollten Richter in Zukunft mit offenen Karten spielen.

VI. Fazit Auch nach zehn Jahren – blicke ich auf den Beitrag von Streck aus dem Jahre 200121 zurück – lässt sich sagen: Die besondere „anwaltliche Sicht des Steuerprozesses“ ist damals wie heute in der Prozesssystematik fest verankert. Es ist Sache der Anwälte sowie aller Prozessvertreter im Steuerverfahren, diese anwaltliche Sicht selbstbewusst zu vertreten und so Untiefen des Prozessverfahrens zu meiden und verfahrensrechtliche und taktische Möglichkeiten zugunsten des Klägers zu nutzen.

___________ 21 Vgl. Streck, NJW 2001, 1541.

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Der Antrag im Finanzprozess Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Regelung in der FGO 1. § 65 FGO 2. § 76 FGO 3. § 92 FGO 4. § 96 Abs. 1 FGO 5. Zusammenfassung III. Klagebegehren 1. Streitgegenstand des Finanzprozesses

2. Klagebegehren und Streitgegenstand a) Streitgegenstand ist die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts b) Streitgegenstand ist die Besteuerungsgrundlage c) Streitgegenstand, Klagebegehren und Klageantrag

I. Einleitung Während meiner Tätigkeit als Finanzrichter1, aber auch als Professor mit Studenten bei Besuchen zu Verhandlungen vor dem BFH, habe ich Michael Streck als einen Meister des Prozessrechts erlebt. Zu seinen Ehren soll daher ein Thema behandelt werden, das in der Praxis des finanzgerichtlichen Verfahrens selbst sachkundigen Prozessvertretern, Laien somit erst recht, oft erhebliche Probleme bereitet: Welche Bedeutung hat der Antrag im Finanzprozess? Daraus folgt dann, ob er überhaupt und wie er zu stellen und zu formulieren ist. Streck selbst hat hierzu Tipps für die Praxis gegeben2. Doch darum, wie zweckmäßigerweise der Antrag gefasst wird, geht es in diesem Beitrag nicht. Vielmehr liegt ihm die allgemeine These zugrunde, dass die in der Praxis zu beobachtenden Probleme auf einer nicht abschließend geklärten dogmatischen Analyse der Bedeutung des Antrags im Finanzprozess beruhen. Die Ausführungen verstehen sich als ein Beitrag zur Klärung der dogmatischen und theoretischen Stellung des Antrags im Finanzprozess. Ihr Ziel ist nicht, eine umfassende Analyse vorzulegen, sondern sie möchten einen Beitrag zu einer veränderten Betrachtungsweise leisten.

II. Regelung in der FGO Der Antrag wird in vier Normen der FGO behandelt:

___________ 1 Im sog. Zweiten Hauptamt am Niedersächsischen Finanzgericht. 2 Streck, Der Steuerstreit, 2. Aufl. 1994, Rz. 852 ff.

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1. § 65 FGO § 65 FGO führt den notwendigen Inhalt einer finanzgerichtlichen Klage auf. Neben der selbstverständlichen Bezeichnung der Prozessparteien – Kläger3 und Beklagter – besteht dieser zentral in der Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens. Demgegenüber hat die bei Anfechtungsklagen erforderliche Benennung des Verwaltungsakts und der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf eher ergänzende, klarstellende Bedeutung zur eindeutigen Bestimmung des Klagebegehrens. Dem Antrag ist der Satz 2 des Abs. 1 von § 65 FGO gewidmet und lautet recht lakonisch: „Sie (= die Klage) soll einen bestimmten Antrag enthalten“. Dies bedeutet, dass eine Klage auch ohne einen bestimmten Antrag zulässig ist und somit wirksam erhoben werden kann. Der Antrag soll eben nur, muss aber nicht, in der Klage enthalten sein. Versteht man das Sollen so, dass nur beim Vorliegen einer begründeten Ausnahme von einem bezifferten Antrag bei der Klageerhebung abgesehen werden kann, so führt dies sofort zur Frage, was denn solche Ausnahmen sein könnten. Eine eindeutige Antwort wird darauf nicht gegeben4. Stattdessen wird darauf hingewiesen5, dass § 253 ZPO den Antrag zum Musserfordernis erhebt und der Antrag im Finanzprozess demgegenüber in seiner Bedeutung zurücktritt. Brandis6 umschreibt, welche Bedeutung einem Antrag bei der Festlegung des Klagebegehrens zukommen kann. Dieser Unbestimmtheit in der Bestimmung der Bedeutung des bestimmten Antrags in der Klage entspricht es, dass der Vorsitzende bzw. der Berichterstatter zwar zur entsprechenden Ergänzung der Klage gemäß § 65 Abs. 2 Satz 1 FGO den Kläger auffordern kann, dass jedoch nicht die Setzung einer Ausschlussfrist gemäß § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO möglich ist, da der Antrag nicht zu den in § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO genannten Voraussetzungen gehört. Fordert das Gericht zur Stellung eines bestimmten Antrags auf, so fragt sich, wie der Kläger darauf reagieren muss. Manche Finanzrichter als Berichterstatter fordern grundsätzlich zur Stellung eines bestimmten Antrags in der Praxis auf. Wie reagiert der Kläger hierauf? Muss er einen Grund für die Nichtstellung angeben? Kann er einfach die Aufforderung kommentarlos übergehen? 2. § 76 FGO § 76 Abs. 2 FGO überträgt dem Vorsitzenden die Verpflichtung, darauf hinzuwirken, dass „sachdienliche Anträge gestellt“ und „unklare Anträge erläutert“ werden. Das Gesetz sagt nicht explizit, wann dies zu erfolgen hat. Systematisch steht § 76 FGO bei den Vorschriften zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung. Besondere Bedeutung kommt der Vorschrift dann zu, wenn das Gericht den Fall für geeignet hält, ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden zu werden (§ 90a FGO). Dass aber ein Klageantrag überhaupt zu stellen ist, ist dieser Vorschrift nicht zu entneh-

___________ 3 Im Folgenden meint „Kläger“ immer auch „Klägerin“. 4 Brandis in Tipke/Kruse, § 65 FGO Rz. 16; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 65 FGO Rz. 95 ff. 5 So z.B. Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 65 FGO Rz. 97. 6 Brandis in Tipke/Kruse, § 65 FGO Rz. 16.

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Der Antrag im Finanzprozess

men. Dem „Hinwirken auf“ seitens des Vorsitzenden steht keine Verpflichtung des Klägers gegenüber, dem zu folgen. 3. § 92 FGO Aus § 92 FGO ergibt sich, dass in der mündlichen Verhandlung die Gelegenheit gegeben wird, den Antrag zu stellen (§ 92 Abs. 3 FGO). Dabei ist § 92 FGO in mehrfacher Hinsicht nicht eindeutig und wird in der Praxis unterschiedlich gehandhabt. Der Gang der mündlichen Verhandlung ist dadurch so vorgezeichnet, dass nach Aufruf der Sache die mündliche Verhandlung eröffnet wird und der Berichterstatter den wesentlichen Akteninhalt vorträgt, sowie, dass dann die Beteiligten zu Wort kommen. § 92 Abs. 3 FGO formuliert so, dass die Worterteilung an die Beteiligten erfolgt, damit sie „ihre Anträge“ … „stellen“ und „begründen“. Daraus folgern manche in der Praxis, dass der Kläger mit der Stellung seines Antrags zu beginnen habe. Andere Vorsitzende eröffnen die Diskussion zu einem Rechtsgespräch, an dessen Ende die Stellung der Anträge erfolgt7. Erfahrene Berater halten sich die Stellung des Antrags bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung offen, um ihn der Tendenz der Verhandlung anpassen zu können und so beispielsweise unangenehme Folgen bei der Entscheidung über die Kostentragung zu vermeiden. Denn im Steuerprozess gilt, worauf Streck völlig zutreffend hinweist8, dass er aus Sicht des Klägers dann erfolgreich ist, „wenn die Steuerminderung höher ist als die Prozesskosten“. § 92 FGO eröffnet durch seine Unbestimmtheit Spielräume. § 92 Abs. 3 FGO sagt nicht, dass der Kläger auch einen Antrag stellen muss. Sauer/Schwarz9 hingegen meinen, dass der Kläger spätestens in der mündlichen Verhandlung einen bestimmten Antrag formulieren müsse – gegebenenfalls mit Hilfestellung des Gerichts. Schallmoser10 vertritt die Ansicht, dass aus § 92 Abs. 3 FGO nicht abgeleitet werden könne, dass der Kläger einen bestimmten Antrag stellen müsse, er empfiehlt aber die Stellung eines solchen „im eigenen Interesse des Klägers“. 4. § 96 Abs. 1 FGO Das Gericht entscheidet nach seiner freien Überzeugung, die es aus dem Gesamtergebnis der Verhandlung gewonnen hat. Über das Klagebegehren darf es nicht hinausgehen – ne ultra petita –, es ist aber nicht an die Fassung der Anträge gebunden. Aus diesen Formulierungen von § 96 FGO lässt sich wenig über Notwendigkeit und Bedeutung eines Antrags des Klägers entnehmen. Die Vorschrift erlaubt dem Gericht, den Urteilstenor selbstständig zu formulieren. Es ist nicht daran gebunden, wie der Kläger seinen Antrag formuliert hat. Hat dieser keinen bestimmten Antrag gestellt, vorausgesetzt dies sei

___________ 7 So Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 92 FGO Rz. 54 als Regel. 8 Streck, Die anwaltliche Sicht des Steuerprozesses, NJW 2001, 1541 (1543). 9 Sauer/Schwarz, Handbuch des finanzgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl. 2010, Rz. 412. 10 Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 92 FGO Rz. 52.

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nicht erforderlich, so versteht sich dies von selbst, denn das Gericht kann nicht an die Fassung eines nicht gestellten Antrags gebunden sein. Durchaus offen ist jedoch, ob sich daraus Argumente für die Notwendigkeit eines bestimmten Antrags ableiten lassen. Wenn das Gericht an einen gestellten Antrag nicht gebunden ist, so spricht dies eher für dessen Entbehrlichkeit. 5. Zusammenfassung Diese kurze Übersicht über die gesetzlichen Regelungen zum Antrag in der FGO belegt, dass die Funktion des Antrags des Klägers in der FGO nicht abschließend, sondern eher vage geregelt ist, sodass die Klärung der offenen Fragen letztlich der Rechtsprechung überlassen ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Fragen des Klageantrags im Steuerprozess Gegenstand zahlreicher Entscheidungen sind11. Der Klageantrag soll gestellt werden, Klagebegehren und Klagebegründung müssen gegeben werden. Aus diesem Spannungsfeld heraus nur kann die Bedeutung des Klageantrags geklärt werden.

III. Klagebegehren Mit FGO-Änderungsgesetz 199212 wurde zum 1.1.1993 in § 65 FGO der Begriff des Streitgegenstands gegen den des Klagebegehrens ausgetauscht. Dadurch wollte der Gesetzgeber13 für den Steuerprozess den Auslegungsstreit vermeiden, der in anderen Prozessordnungen mit dem Begriff des Streitgegenstands verbunden ist. Erreicht wurde dieses Ziel nicht, da lediglich ein unklarer Begriff durch einen anderen ausgetauscht wurde. Der BFH14 sieht im Begriffsaustausch keine sachliche Änderung. Semantisch betrachtet, könnte man dem zustimmen, da im Prozess um dasjenige gestritten wird, was der Kläger begehrt. 1. Streitgegenstand des Finanzprozesses Einleitend sind thematische Einschränkungen vorzunehmen: Es geht im Weiteren nur um die Anfechtungsklage, mit der ein Steuerbescheid angefochten wird. Auch der seltenere Fall, dass die Rechtmäßigkeit des Steuerbescheids insgesamt angegriffen wird, bleibt außerhalb der Betrachtung. Gegenstand ist somit der Regelfall, dass der Steuerpflichtige mit einzelnen Punkten, die der Festsetzung des Steuerbetrags zugrunde liegen, sog. Besteuerungsgrundlagen, nicht einverstanden ist.

___________ 11 Pust, Überhöhte Anforderungen an die Bezeichnung des Gegenstandes des Klagebegehrens durch die Finanzgerichtsbarkeit?, DStR 2002, 1119, nennt 543 Entscheidungen der Finanzgerichte zu § 65 FGO gegenüber 18 Entscheidungen der Verwaltungsgerichte zur gleichlautenden Vorschrift des § 82 VwGO. 12 BGBl. I 1992, 2109. 13 BT-Drucks. 12/1061, 15. 14 BFH v. 12.9.1995 – IX R 78/94, BFHE 178, 549; von Groll in Gräber, § 65 FGO Rz. 30 f.; s. auch H. Schaumburg, Richterliche Ausschlußfristen für Klagebegehren und Tatsachenvortrag, DStZ 1995, 545 (546).

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Der Antrag im Finanzprozess

Manchmal ist der Blick über den Zaun „in Nachbars Garten“15 hilfreich, doch bei der Bestimmung des Streitgegenstands im Finanzprozess hilft er nicht viel weiter. Zivilprozess und Verwaltungsgerichtsprozess unterscheiden sich grundlegend vom Steuerprozess. Der praktisch bedeutsamste Grundtypus des Zivilprozesses ist die Leistungsklage: Der Kläger verlangt vom Beklagten eine Zahlung, eine Herausgabe einer Sache usw. Was der Kläger verlangt, hat er in seinem Antrag zum Ausdruck zu bringen, etwa: den Beklagten zur Zahlung von 10.000 Euro zu verurteilen. Nach der überwiegend vertretenen Lehre vom zweigliedrigen Streitgegenstand16 gehört noch die Darlegung des Lebenssachverhalts dazu, damit das Gericht erkennen kann, ob es sich beispielsweise um eine Forderung aus einem Vertrag oder um einen Schadensersatz handelt. Im Verwaltungsprozess steht die Anfechtungsklage gegen belastende Verwaltungsakte im Vordergrund. Der Kläger möchte dessen vollständige Aufhebung erreichen. Will er hingegen den Erlass eines ihm günstigeren Verwaltungsakts, so muss er die Verurteilung der Behörde zum Erlass eines solchen anstreben, was implizit die Aufhebung des erlassenen Verwaltungsakts bedeutet. Im Steuerprozess könnte man aufgrund von § 100 Abs. 1 FGO einen Gleichlauf mit dem Verwaltungsprozess annehmen, aber § 100 Abs. 2 FGO ändert die rechtliche Situation grundlegend. Das Finanzgericht beschränkt sich nicht darauf, den Steuerbescheid aufzuheben, sondern es kann die nach seiner Auffassung geschuldete Steuer selbst „in anderer Höhe festsetzen“. Erfordert dies jedoch „einen nicht unerheblichen Aufwand“, kann das Gericht dem Finanzamt die Änderung des Steuerbescheids übertragen, wobei es dem Finanzamt die Angaben an die Hand zu geben hat, sodass es die nach Ansicht des Gerichts geschuldete Steuer „berechnen“ kann. Der Finanzbehörde kommt somit nach dem Gesetzeswortlaut lediglich eine Hilfsfunktion zu. Man kann es so sehen, dass eigentlich das Finanzgericht die Steuer festsetzt, indem es die „tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse“ so bestimmt, dass das Finanzamt nur noch zu rechnen braucht. Nur ausnahmsweise wird der Kläger die ersatzlose Aufhebung des Steuerbescheids anstreben, etwa dann, wenn er das Vorliegen seiner Steuerpflicht grundsätzlich bestreitet. In der Regel wird er einen günstigeren Steuerbescheid erstreben, in dem die geschuldete Steuer niedriger, gegebenenfalls auf „Null“, festgesetzt wird. Dazu wird er Tatsachen oder rechtliche Würdigungen vortragen, die eine derartige Festsetzung rechtfertigen. Diese beziehen sich auf die Besteuerungsgrundlagen. In der Praxis17 beschränkt sich daher der Prozess auf die streitigen Besteuerungsgrundlagen, etwa die Nichtanerkennung von Betriebsausgaben oder die Annahme einer verdeckten Gewinnausschüttung. Dass ein Finanzgericht den Steuerfall umfassend „aufrollt“ und damit in vollem Umfange die Tätigkeit der Behörde wiederholt, dürfte nicht nur die Ausnahme darstellen, sondern würde auch die Arbeit der Finanzge-

___________ 15 Bilsdorfer, Zur Ausreichenden Bezeichnung des „Gegenstandes des Klagebegehrens“ im finanzgerichtlichen Verfahren, INF 1998, 646. 16 Vgl. z.B. die informative Darstellung von Saenger, ZPO, 2009, Einf. Rz. 93 ff. 17 Ebenso Jessen, Die Bezeichnung des Streitgegenstandes in der Klageschrift, FR 1971, 522 (524).

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richte erheblich erschweren. Steuerprozesse werden wegen Einzelfragen geführt. Die Haltung des BFH in diesen Fragen ist nicht eindeutig18. Einerseits nimmt er einen sehr theoretisch geprägten Standpunkt seit der Entscheidung des Großen Senats vom 17.7.196719 ein, andererseits verfahren die einzelnen Senate in der Praxis durchaus sehr großzügig20. Ausgangspunkt der Entscheidung des Großen Senats ist der Inhalt des Steuerbescheids, wie er heute in § 157 AO umschrieben wird. Danach sind Inhalt eines Steuerbescheids, der in Bestandskraft erwachsen kann, die Festlegung des Steuerpflichtigen sowie die Art und die Höhe der geschuldeten Steuer. Gemäß § 157 Abs. 2 AO bilden die Besteuerungsgrundlagen einen unselbstständigen Teil des Steuerbescheids. Entscheidende Aussage ist, dass diese Feststellung nicht gesondert angefochten werden kann. Daraus ergibt sich für den Großen Senat, dass die Rechtsbehauptung des Klägers primär darauf geht, dass der festgesetzte Steuerbetrag unrichtig sei und er dadurch in seinen Rechten verletzt werde (vgl. § 40 FGO). Streitgegenstand der Prüfung und Entscheidung des Gerichts sei daher die Rechtmäßigkeit des festgesetzten Steuerbetrags. Dem folgen die Senate des BFH im Prinzip: „Streitgegenstand ist die mit dieser Klage bestrittene Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheids; dieser verletzt den Kläger durch unrichtige Festsetzung der Steuerschuld in seinen Rechten“21. Die Geltendmachung einer derartigen Rechtsverletzung ist Voraussetzung für die Zulässigkeit der Klage (§ 40 Abs. 2 FGO). Geltendmachung ist nicht gleichzusetzen mit einer schlichten Behauptung. Vielmehr muss der Kläger Umstände vortragen, die eine derartige Rechtsverletzung möglich erscheinen lassen. Die schlichte Behauptung, dass die festgesetzte Steuer falsch sei, reicht demnach nicht22. Der Kläger muss in den Worten Jessens23 „schon in der Klageschrift vorbringen, inwiefern ihn der Steuerbescheid beschwert, also in welcher Hinsicht er ihn für falsch hält.“ Die Frage ist, ob es damit in der Disposition des Klägers liegt, den Streitgegenstand auf diese Fehler des Steuerbescheids zu beschränken. Der BFH24 hat in der erwähnten Entscheidung des Großen Senats den Streitgegenstand im Grunde auf einen streitigen Betrag verengt, der sich aus der Differenz des im Steuerbescheid festgesetzten Betrags und dem Betrag ergibt, der sich aufgrund des Vorbringens des Klägers ergeben würde. Setzt der Bescheid beispielsweise 60.000 Euro an Einkommensteuer für ein bestimmtes Jahr fest und trägt der Kläger vor, zu Unrecht seien Betriebsausgaben nicht anerkannt worden, bei deren Berücksichtigung die festzusetzende Steuer 50.000 Euro

___________ 18 Jessen, Einspruch und Klage im Steuerrecht, 3. Aufl. 2009, Rz. 291: „unbefriedigend“ – „sehr uneinheitlich“ m.w.N. zur Rechtsprechung. 19 BFH v. 17.7.1967 – GrS 1/66, BStBl. II 1968, 344. 20 Begründet mit der „rechtsschutzgewährenden Auslegung“, vgl. Brandis in Tipke/ Kruse, § 65 Rz. 1, 14. 21 So beispielsweise BFH v. 24.9.1970 – II R 37/70, BStBl. II 1971, 112. 22 H.M. vgl. BFH v. 26.11.1979 – GrS 1/78, BStBl. II 1980, 99; v. 16.3.1988 – I R 93/84, BStBl. II 1988, 895. 23 Jessen, FR 1971, 522. 24 BFH v. 17.7.1967 – GrS 1/66, BStBl. II 1968, 344.

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betrüge, so sei Streitgegenstand ein Betrag von 10.000 Euro. Kommt das Finanzgericht zu dem Ergebnis, dass der Kläger recht hat und die strittigen Ausgaben als Betriebsausgaben anzuerkennen seien, dass jedoch das Finanzamt zu Unrecht eine dem Kläger zugeflossene verdeckte Gewinnausschüttung in Höhe von 20.000 Euro nicht berücksichtigt habe, so sei die Klage abzuweisen, da der festgesetzte Steuerbetrag berechtigt sei, wegen des Verböserungsverbots aber eine Festsetzung einer höheren Steuer ausscheide. Das Finanzgericht könne somit im Rahmen des streitigen Betrags saldieren. Käme das Gericht zu dem Ergebnis, es seien zusätzliche Ausgaben zu berücksichtigen, die die festzusetzende Steuer auf 40.000 Euro ermäßigten, so sei der Streitgegenstand auf den Streitbetrag von 10.000 Euro begrenzt. In seiner Kritik an der Entscheidung des Großen Senats kam Woerner25 zu dem Ergebnis, dass „vom Standpunkt des geltenden Rechts schwerlich etwas“ gegen diese Auffassung einzuwenden sei, dass insbesondere der Kläger nicht darüber verfügen könne, „welche Besteuerungsgrundlagen er überprüft haben will.“ Zugleich fügte er hinzu, dass es nicht Aufgabe des Gerichts sein sollte, den Steuerfall bis ins Einzelne zu prüfen und die Beteiligten mit Saldierungen gleichsam aus dem Hinterhalt zu überraschen. Dies trifft genau den Kern des Problems. Offenbar gab es im BFH unterschiedliche Ansichten zu dieser Frage, denn sonst wäre es nicht zur Anrufung des Großen Senats gekommen26. Dann stellt sich aber die Frage, ob die Ansicht des Großen Senats zwingend, oder ob ein anderes Verständnis zumindest vertretbar ist, vor allem nach Ersetzung des Begriffs des Streitgegenstands durch den des Klagebegehrens. 2. Klagebegehren und Streitgegenstand Wie bereits dargelegt, geht der BFH davon aus, dass die ab 1.1.1993 erfolgte Wortänderung keine inhaltliche Änderung bedeutete. Dies ist zumindest angesichts der Gesetzesbegründung verwunderlich. Der Begriff des Streitgegenstands ist im Zivilprozess entwickelt worden und hat dort verschiedene Wandlungen durchgemacht27. Unter ihm wird in der Praxis der prozessuale, vom materiellen Anspruch zu unterscheidende Anspruch des Klägers verstanden, der durch dessen Antrag und den vorgebrachten Sachverhalt bestimmt wird. Jede Änderung des Antrags oder des Lebenssachverhalts führt zu einer Klageänderung28. Die Bedeutung des Streitgegenstandsbegriffs erschöpft sich jedoch nicht darin, anzugeben, wann eine Klageänderung vorliegt. Er ist außerdem bedeutsam für die Rechtshängigkeit und deren Folgen, die Zuständigkeit des Gerichts, die Kostenentscheidung und

___________ 25 Woerner, Der Streitgegenstand bei der finanzgerichtlichen Anfechtungsklage, BB 1968, 1030, der nicht auf die vom Großen Senat zurückgewiesene Auffassung näher eingeht. 26 Die Anrufung des Großen Senates erfolgte gemäß § 11 Abs. 4 FGO zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung der Einheitlichkeit, d.h. nicht wegen Divergenz der Senate. Wäre die Rechtsfrage allerdings unstreitig gewesen, so hätte es der Anrufung nicht bedurft. 27 Vgl. die knappe, konzentrierte Darstellung bei Saenger, ZPO, Einf. Rz. 93 ff. 28 Saenger, ZPO, Einf. Rz. 97 f.

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letztlich die Rechtskraft des Urteils. Auch im Steuerprozess hat das Klagebegehren Bedeutung für diese Punkte. Die Auffassung des Großen Senats von 1967 ermöglicht es dem Kläger, auch nach Ablauf der Klagefrist einen neuen Sachverhalt einzuführen, ohne dass eine Klageänderung vorliegt, vorausgesetzt, er hat seinen Antrag nicht auf einen Sachverhalt ausschließlich ausgerichtet29. Erwägt man die unterschiedlichen, theoretischen Möglichkeiten, so ergeben sich folgende Alternativen: a) Streitgegenstand ist die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts Denkbar wäre die Möglichkeit, dass das Finanzgericht den Steuerbescheid insgesamt aufhebt, wenn er auch nur teilweise rechtswidrig ist und das Finanzamt unter Berücksichtigung der Auffassung des Finanzgerichts einen neuen Steuerbescheid erlässt. Es käme dann auch bei nur teilweiser Fehlerhaftigkeit zur vollständigen Kassation des Steuerbescheids. Die Funktionen von Finanzbehörde und Gericht wären sauber getrennt. Was könnte gegen eine solche Regelung vorgebracht werden? Streitgegenstand wäre hierbei die Rechtmäßigkeit des Steuerbescheids insgesamt und als solche. Der Fall würde durch das Klageverfahren insgesamt offengehalten. Die Rolle des Gerichts würde sich darauf beschränken, den vom Kläger gerügten Rechtsverstoß zu überprüfen. Folgt das Gericht dem Kläger, so würde das Verfahren zur Finanzbehörde zurückgehen. Diese würde einen neuen Steuerbescheid erlassen – unter Beachtung der Entscheidung des Gerichts, im Übrigen aber mit vollständiger neuer Würdigung des Falls. Folgt das Gericht nicht dem Kläger und weist es die Klage ab, so wäre der Bescheid bestandskräftig. Dem Vorteil der klaren Trennung der Funktionen von Gericht und Behörde stünde jedoch der Nachteil entgegen, dass der Steuerpflichtige gegen den neuen Steuerbescheid erneut Klage erheben könnte. Die FGO sieht ein anderes Verfahren vor, da das Finanzgericht selbst die Steuern in seinem Urteil festlegt, also Verwaltungsfunktionen übernimmt. Nach der Entscheidung des Großen Senats von 1967 kann es den Steuerfall sachlich insgesamt aufrollen, nur in der Höhe ist seine Entscheidung begrenzt. Einerseits soll die Rechtmäßigkeit des Steuerbescheids insgesamt bezogen auf die Steuerfestsetzung Streitgegenstand sein, andererseits kann der Kläger den Streit auf einen Teilbetrag beschränken, sodass eine Teilbestandskraft in betragsmäßiger Hinsicht eintritt. Zugleich verwehrt es die Saldotheorie dem Kläger, auch einzelne Besteuerungsgrundlagen außer Streit zu stellen. Dieses Ergebnis trägt alle Züge eines Kompromisses und überzeugt wenig. Der Große Senat setzt sich mit gegenteiligen Auffassungen auseinander und billigt diesen sogar eine günstige und vereinfachende Wirkung für den Steuerprozess zu, folgt aber letztlich der verwaltungsgerichtlichen Betrachtungsweise. Entstehungsgeschichte der FGO und Bezugnahme auf die Regelung der AO – heute § 157 AO – sind dann seine entscheidenden Argumente. Die Besonderheiten des Steuerprozesses treten für ihn dabei in den Hintergrund.

___________ 29 Streck, Der Steuerstreit, 2. Aufl. 1994, Rz. 854.

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b) Streitgegenstand ist die Besteuerungsgrundlage Der Große Senat hat 1967 ausdrücklich verworfen, dass der Steuerstreit auf die angegriffene Besteuerungsgrundlage beschränkt werden könne. Wie dargelegt, stützt er sich dabei auf die AO. Doch diese ist nicht so zwingend, wie es dem Großen Senat erschienen ist. Zwar erklärt § 157 AO die Besteuerungsgrundlagen als nicht selbstständig anfechtbar, dies schließt aber nicht notwendig aus, dass der Streitgegenstand auf diese beschränkt werden könnte. Der Kläger hätte es dann in der Hand, durch die Bestimmung seines Klagebegehrens eine oder mehrere Besteuerungsgrundlagen anzugreifen, ohne die anderen in den Prozess einzubeziehen. Folgt das Gericht nicht dem Kläger und weist die Klage ab, so wird der Bescheid bestandskräftig. Gibt das Gericht dem Kläger recht, so könnte darin eine Änderung des Steuerbescheids im Sinne des § 177 Abs. 2 AO zu sehen sein. Da Streitgegenstand nur die einzelne Besteuerungsgrundlage wäre, würde keine Rechtskraft des Urteils einer Änderung des Bescheids wegen anderer Besteuerungsgrundlagen entgegenstehen. Der Vorteil wäre, dass das Gericht sich auf die ihm vorgelegte Frage beschränken könnte. Bei der vom BFH vertretenen Saldierungstheorie bleibt offen, nach welchen Maßstäben das Finanzgericht auch andere als die streitigen Besteuerungsgrundlagen prüfen muss30. In anderem Zusammenhang setzt § 100 Abs. 2 und 3 FGO einen „nicht unerheblichen Aufwand“ bzw. nach Art und Umfang erhebliche Ermittlungen voraus, um das Verfahren der Verwaltung „zurückzugeben“. Das Gesetz sagt nicht, worauf sich in § 100 Abs. 3 FGO die weitere Sachaufklärung bezieht. Es kann aber nicht anders sein, als dass sie sich auf den Streitgegenstand beziehen muss. Man gerät hierbei leicht in einen Zirkelschluss. Ist Streitgegenstand die Rechtmäßigkeit des Steuerbescheids insgesamt, so kann das Gericht den Steuerbescheid aufheben, „kassieren“, und dem Finanzamt die weitere Aufklärung übertragen; vertritt man hingegen die Ansicht, dass der Streitgegenstand nur der Teil des Steuerbescheids sei, den der Kläger angreift, so kann sich die weitere Sachaufklärung auch nur darauf erstrecken, das heißt, dass die Rechtssache mangels ausreichender Sachaufklärung nicht entscheidungsreif ist und das Gericht die noch erforderliche Sachaufklärung nicht selbst vornimmt. Welche praktischen Probleme sich hier ergeben, möge folgender Fall illustrieren: Das Finanzamt hat beim Gesellschafter-Geschäftsführer eine verdeckte Gewinnausschüttung in Höhe von 4.000 Euro angesetzt, weil er das Geschäftsfahrzeug für private Zwecke verwendet hat31. Das Finanzgericht kommt aufgrund der Umstände des Falls dazu, dass die Voraussetzungen für eine verdeckte Ausschüttung insoweit nicht vorliegen; zugleich jedoch kommen in der mündlichen Verhandlung Tatsachen zur Sprache, die nahelegen, dass der Gesellschafter-Geschäftsführer persönlich ein lukratives Geschäft im Tätigkeitsbereich der Gesellschaft wahrgenommen hat, sodass eine verdeckte Gewinnausschüttung in Höhe von 40.000 Euro anzunehmen ist. Muss das Ge-

___________ 30 Vgl. Jessen, FR 1971, 522 (524). 31 Vgl. hierzu BFH v. 11.2.2010 – VI R 43/09, BFH/NV 2010, 1016.

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richt die Klage schlicht abweisen, da es die nicht gegebene mit der gegebenen verdeckten Gewinnausschüttung im Rahmen des Klageantrags von 4.000 Euro saldiert, oder kann es den Steuerbescheid gemäß § 100 Abs. 3 FGO aufheben und so der Finanzverwaltung ermöglichen, die verdeckte Gewinnausschüttung in voller Höhe anzusetzen? Was bedeutet in diesem Fall die weitere Voraussetzung, dass dieses Verfahren „auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist“? Nach § 157 Abs. 2 AO sind die Besteuerungsgrundlagen nur selbstständig anfechtbar, wenn sie gesondert festgestellt werden. Insbesondere Gewinnfeststellungsbescheide gemäß § 180 Abs. 1 AO kommen hierfür in Betracht. In ihnen nimmt die Rechtsprechung eine Vielzahl selbstständiger Feststellungen an, die auch gesondert angefochten werden können32. Wird nur eine angefochten, so erwachsen die anderen in Bestandskraft33. Diese weitreichende Auslegung kann sich auf § 180 Abs. 1 Nr. 2a AO stützen, indem dort nicht nur die gesonderte Feststellung der Einkünfte, sondern auch die „mit ihnen im Zusammenhang stehenden anderen Besteuerungsgrundlagen“ genannt werden. Wird beispielsweise in einem Feststellungsbescheid die Höhe eines Gewinns aus der Veräußerung eines Mitunternehmeranteils festgesetzt, so enthält dies folgende Feststellungen34: (1) Existenz einer Mitunternehmerschaft, (2) Mitunternehmereigenschaft der betroffenen Personen, (3) Vorliegen einer Veräußerung des Mitunternehmeranteils, (4) Höhe des Veräußerungsgewinns35. Greift der Steuerpflichtige innerhalb der Klagefrist nur die Höhe des Veräußerungsgewinns an, indem er beispielsweise weitere Veräußerungskosten geltend macht, so hat er den Streitgegenstand darauf begrenzt, sodass die übrigen Feststellungen in Bestandskraft erwachsen36. Andererseits hält es der BFH37 für zulässig, dass ein Kläger, der zunächst die Höhe des Messbetrags in einem Gewerbesteuermessbescheid angegriffen hat, auch nach Ablauf der Klagefrist seinen Antrag auf Aufhebung des Messbescheids insgesamt umstellen kann. Zentral ist offenbar das Verständnis des BFH von § 157 Abs. 2 AO: Die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen in einem Steuerbescheid ist nur unter Anfechtung der Steuerfestsetzung und damit „Öffnung“ des gesamten Bescheids, das heißt: aller Besteuerungsgrundlagen möglich. Werden die Besteuerungsgrundlagen gesondert festgestellt, so ist der Streitgegenstand auf die einzelne angefochtene Grundlage beschränkt. Während somit im zweiten Fall dem Antrag des Klägers entscheidende Bedeutung zukommt, ist dies im ersten Fall nicht so. Zu fragen ist jedoch, ob sich dies zwingend aus § 157 Abs. 2 AO ergibt. Das Gesetz spricht von der Feststellung der Besteuerungsgrundlagen. Folglich enthält der Steuerbescheid eine derartige Feststellung für jede einzelne Besteuerungsgrundlage. Weiter ordnet das Gesetz an, dass die Feststellungen nicht selbstständig angefochten werden können. Dies besagt, dass Besteue-

___________ 32 33 34 35 36 37

BFH v. 14.1.2003 – VIII B 108/01, BStBl. II 2003, 335. Ständige Rechtsprechung z.B. BFH v. 12.10.2005 – VIII R 66/03, BStBl. II 2006, 307. Vgl. auch Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 65 FGO Rz. 73. So z.B. BFH v. 12.10.2005 – VIII R 66/03, BStBl. II 2006, 307. BFH v. 15.4.2010 – IV R 9/08, n.v. BFH v. 15.4.2010 – IV R 67/07, n.v.

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rungsgrundlagen nur zusammen mit der Steuerfestsetzung, dem eigentlichen Inhalt des Steuerbescheids, angefochten werden können. Das Gesetz sagt aber nicht, dass der Kläger seine Anfechtung der Steuerfestsetzung nicht auf eine Besteuerungsgrundlage beschränken kann, wie dies in der Praxis ja in der Regel der Fall ist. Will der Kläger beispielsweise die Festsetzung der Höhe des Gewinns aus Gewerbebetrieb anfechten, da seiner Ansicht nach zu Unrecht eine Rückstellung vom Finanzamt nicht anerkannt wurde, und beschränkt er folglich seinen Antrag darauf, dass er eine Steuerfestsetzung unter Berücksichtigung der Rückstellung begehrt, so ficht er nicht selbstständig die Besteuerungsgrundlage an, sondern diese im Zusammenhang mit der Festsetzung der Steuer. Mit § 157 Abs. 2 AO wäre es daher vereinbar, als Streitgegenstand die Steuerfestsetzung in Verbindung mit der angegriffenen Festsetzung der Besteuerungsgrundlage anzusehen. c) Streitgegenstand, Klagebegehren und Klageantrag Nach Auffassung des BFH38 hat die Änderung des Begriffs „Bestimmung des Streitgegenstands“ in „Bezeichnung des Klagebegehrens“ in § 65 FGO keine sachliche Änderung gebracht. Dies ist verwunderlich, da der Gesetzgeber39 ausdrücklich dadurch die Vorschrift vom Meinungsstreit über den Streitgegenstand freihalten wollte. Der Gesetzgeber wollte folglich eine Änderung gegenüber dem früheren Zustand erreichen. Gleichwohl greift die Rechtsprechung auf die Urteile vor der Gesetzesänderung zurück40. Zu diesen Entscheidungen gehört auch und vor allem die Entscheidung des Großen Senats vom 17.7.1967, nach der die Rechtmäßigkeit des Bescheids als solche „Streitgegenstand“ ist. Dies müsste dann konkret die Höhe der festgesetzten Steuer betreffen. Ein Klageantrag, der mittels einer genauen Bezifferung angibt, in welchem Ausmaß der Kläger den Bescheid für rechtswidrig hält, reicht aber nach der Rechtsprechung41 nicht zur Bestimmung des Klagebegehrens aus. Vielmehr muss der Kläger den konkreten Sachverhalt, aus dem er die Rechtswidrigkeit ableitet, dem Gericht unterbreiten, damit die Klage gemäß § 65 FGO zulässig ist42. Dies steht im Widerspruch zu der These, vor dem Finanzgericht werde um die Rechtmäßigkeit des festgesetzten Betrags der Steuer gestritten. Ist es zutreffend, dass auch der Sachverhalt zur Bezeichnung des Klagebegehrens erforderlich ist, dann bildet dieser einen Teil des Klagebegehrens. Das Gericht darf „dem Kläger nicht mehr („ne ultra petita“) und nichts anderes („ne aliud

___________ 38 BFH v. 26.11.1979 – GrS 1/78, BStBl. II 1980, 99; h.M. z.B. Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 65 FGO Rz. 61. 39 BT-Drucks. 12/1061, 14. 40 Z.B. nur BFH v. 30.12.2003 – IV B 21/01, BStBl. II 2004, 239. 41 BFH v. 26.11.1979 – GrS 1/78, BStBl. II 1980, 99; anders möglicherweise Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 65 FGO Rz. 68, 100; s. auch Anm. von Rößler, DStZ 1999, 110 m.w.N.; anders bei Gewinnfeststellungsbescheiden BFH v. 23.1.1997 – IV R 84/95, BStBl. II 1997, 462; auch Rößler, DStZ 1997, 764. 42 Vgl. Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 65 FGO Rz. 63 m.w.N.; Brandis in Tipke/Kruse, § 65 Rz. 12; Rößler, DStZ 1997, 199; 1994, 504; Sauer/Schwarz, Handbuch des finanzgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl. 2010, Rz. 367.

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petita“)“43 zusprechen, als er begehrt. Das Gericht entscheidet über die Klage (§ 95 FGO). § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO bestätigt, dass das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen darf. Merkwürdigerweise enthält die FGO keine Regelung, dass das Gericht über das Klagebegehren zu entscheiden hat. Stattdessen taucht in § 98 FGO wiederum der Begriff des Streitgegenstands auf. Da aber gemäß § 65 FGO der Gegenstand des Klagebegehrens notwendiger Inhalt der Klage ist, kann die Entscheidung des Gerichts auch nur hinsichtlich des Klagebegehrens ergehen und dieses wird auch durch die strittige Besteuerungsgrundlage bestimmt. Folgt man dieser Argumentation, so kann man der Saldierungstheorie des Großen Senats von 1967 nicht mehr zustimmen, denn bei ihr macht das Gericht etwas anderes zum Gegenstand der Klage als das Klagebegehren des Klägers. Diese Schlussfolgerung ist unausweichlich, wenn man zutreffenderweise zur Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens nicht einen Antrag ausreichen lässt, der sich schlicht auf die Festsetzung einer niedrigeren Steuerschuld beschränkt, sondern die Angabe der Besteuerungsgrundlagen verlangt, aus denen sich nach Ansicht des Klägers die richtige Steuerfestsetzung ergibt. Abgesehen von den Fällen, in denen der Kläger überhaupt den Erlass des Steuerbescheids etwa wegen Fehlens der subjektiven Steuerpflicht bestreitet, geht es um die der Berechnung der Steuer zugrunde gelegten Besteuerungsgrundlagen. Versteht man das Klagebegehren in diesem Sinne, so verliert der Klageantrag dann an Bedeutung, wenn die Bezeichnung des streitigen Sachverhalts – etwa: Ansatz einer Rückstellung in Höhe eines Betrags von X – die Berechnung der nach Ansicht des Klägers richtigen Steuerschuld nur noch als Rechenoperation erscheinen lässt. Dies bedeutet, dass zwischen Klagebegehren und Klageantrag nicht nur eine „Interdependenz“44 besteht, sondern sich das eine aus dem anderen und umgekehrt ergeben kann45. Die Beschreibung des Klagebegehrens kann so sein, dass die Auswirkung auf die festgesetzte Steuer sich aus bloßen Rechenschritten ergibt, wie andererseits der Antrag bereits so gefasst sein kann, dass zugleich das Klagebegehren hinreichend deutlich ist. In den Worten Michael Strecks: „Der Klageantrag muss das Begehren des Klägers deutlich kennzeichnen“46. Allerdings bedeutet diese Auslegung zugleich, dass die von Streck47 beschriebene Gefahr, dass durch eindeutige Festlegung des Klagebegehrens innerhalb der Klagefrist dieses nach Ablauf der Frist nicht mehr ausgedehnt werden könne, kaum zu entgehen ist. Der Ratschlag Strecks, bei der Beschreibung des Klagebegehrens möglichst unklare Formulierungen zu wählen, wird von ihm selbst aber sogleich in Anbetracht der Gesetzesänderung in § 65 FGO in Frage gestellt. Die Bestimmungsbefugnis des Klägers hinsichtlich des Gegenstands des Finanzgerichtsprozesses wird „erkauft“ um den Preis der notwendigen

___________ 43 Ganz allgemeiner Grundsatz, vgl. Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 65 FGO Rz. 6. 44 So Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 65 FGO Rz. 100. 45 Vgl. beispielsweise BFH v. 17.10.1990 – I R 118/88, BStBl. II 1991, 242; s. auch Brandis in Tipke/Kruse, § 65 FGO Rz. 13, 16. 46 Streck, Der Steuerstreit, 2. Aufl. 1994, Rz. 855. 47 Streck, Der Steuerstreit, 2. Aufl. 1994, Rz. 855.

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Der Antrag im Finanzprozess

genauen Bestimmung des Klagebegehrens innerhalb der Klagefrist48. Enthält der Steuerbescheid noch andere als die vom Kläger gerügten materiellen Fehler, so liegt möglicherweise ein Fall des § 177 Abs. 2 AO vor, wenn das Gericht dem Antrag des Klägers stattgibt. Dies führt zu einer klaren Trennung von Gerichts- und Verwaltungsverfahren. Allenfalls könnten Gründe der Verfahrensbeschleunigung dafür sprechen, dass das Gericht selbst den Steuerbescheid umfassend prüft. Dagegen sprechen aber einerseits grundlegende Erwägungen, andererseits praktische Gründe. Einerseits würden in der Regel die anderen Fehler im Verfahren von der Finanzbehörde vorgebracht. Ein „Beklagtenbegehren“ kennt die FGO zu Recht aber nicht. Andererseits dürften dem Finanzgericht regelmäßig die Möglichkeiten fehlen, den Steuerbescheid umfassend zu überprüfen49.

___________ 48 Ebenso von Groll in Gräber, § 65 FGO Rz. 3, 57; von Groll, DStjG 18, 68. 49 In diesem Sinne auch Jessen, FR 1971, 522.

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Heide und Harald Schaumburg

Grenzüberschreitende Sachaufklärung Mitwirkungs- und Dokumentationspflichten

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Mitwirkungspflichten 1. Allgemeine Mitwirkungspflichten 2. Erweiterte Mitwirkungspflichten a) Allgemeines b) Sachaufklärungs- und Beweismittelbeschaffungspflicht c) Beweisvorsorgepflicht 3. Gesteigerte Mitwirkungspflichten a) Gesetzgeberischer Hintergrund b) Eidesstattliche Versicherung und Vollmachtserteilung

III. Dokumentationspflichten 1. Gesetzgeberischer Hintergrund 2. Sachverhalts- und Angemessenheitsdokumentation 3. Verletzung der Dokumentationspflichten a) Schätzung b) Steuerzuschläge c) Versagung von Steuerentlastungen IV. Ausblick

I. Einleitung Michael Streck gehört zu jenen renommierten Steueranwälten, die nicht nur für ein gerechtes (materielles) Steuerrecht, sondern auch für ein faires Steuerverfahren streiten, dafür eintreten, dass die Rechte des Steuerpflichtigen in dem durch ein staatliches Gewaltverhältnis geprägten Steuerschuldrecht gewahrt werden. Das gilt vor allem im Hinblick auf die seit Jahren fortschreitende Eskalation von Mitwirkungs- und Dokumentationspflichten, die entweder offen und direkt normativ verankert oder aber indirekt und damit verdeckt durch Verschiebung der Feststellungslast zum Nachteil des Steuerpflichtigen aktiviert werden. Diese Pflichtenerweiterung wird vor allem in den Dienst einer effizienten grenzüberschreitenden Sachaufklärung gestellt, gegen die allerdings völkerrechtliche Schranken gerichtet sind. Denn Sachaufklärungsmaßnahmen im Ausland unter Einsatz hoheitlicher Mittel, insbesondere Außenprüfungen, Fahndungsmaßnahmen und sonstige Ermittlungen auf fremdem Hoheitsgebiet sind grundsätzlich unzulässig1. Damit ergibt sich eine Divergenz zwischen Verwaltungsauftrag und Verwaltungskönnen, d.h. zwischen dem, was entsprechend § 85 AO aufgeklärt werden sollte und dem,

___________ 1 BVerfG v. 22.3.1983 – 2 BvR 475/78, BVerfGE 63, 343 (373); BFH v. 11.2.1959 – II 15/58 U, BStBl. III 1959, 181; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, 277; Stein/von Buttlar, Völkerrecht, 12. Aufl. 2009, 187 ff.; Epping/Gloria in Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 23 Rz. 85 ff.; Seer in Tipke/Kruse, AO, § 117 Rz. 2; speziell zu Außenprüfungs- und Fahndungsmaßnahmen Spatschek/Alvermann, IStR 2001, 33 ff.

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was aufgeklärt werden darf2. Dieses exekutive Unvermögen steht im Kontrast zu der Internationalisierung geschäftlicher und privater Tätigkeiten, deren Einkünfte hieraus bei unbeschränkter Steuerpflicht im Rahmen des Welteinkommens (Universalitätsprinzip) der Besteuerung zu unterwerfen sind. Im Ergebnis divergiert damit die materielle Universalität mit einer bloß formellen Territorialität3. Insbesondere die in § 90 Abs. 2, 3 AO verankerten (erweiterten) Mitwirkungspflichten und Dokumentationspflichten sind darauf gerichtet, diese Divergenz zu beheben. Die Mitwirkungs- und Dokumentationspflichten sind in den letzten Jahren stark ausgeweitet worden, obwohl parallel dazu der internationale Informationsaustausch insbesondere innerhalb der EU4, aber auch darüber hinaus im Verhältnis zu Drittstaaten5 intensiviert wurde. Im Hinblick darauf stellt sich die Frage, ob etwa die durch das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz6 bewirkte Verschärfung der Mitwirkungs- und Dokumentationspflichten nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um das Missverhältnis zwischen materieller Besteuerung einerseits und seiner formalen Durchsetzung andererseits auszugleichen7.

II. Mitwirkungspflichten 1. Allgemeine Mitwirkungspflichten § 90 Abs. 1 AO, der als Generalnorm dem Steuerpflichtigen die Pflicht auferlegt, insbesondere die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offen zu legen und die ihm bekannten Beweismittel anzugeben, wird durch weitere in den Einzelsteuergesetzen verankerte spezielle Mitwirkungspflichten ergänzt. Diese Mitwirkungspflichten hat der Steuerpflichtige auch zu seinem eigenen Nachteil zu erfüllen, andernfalls können sie gegen ihn zwangsweise durchgesetzt werden (§§ 328 ff. AO). Eine Ausnahme hiervon enthält allerdings § 393 Abs. 1 Satz 2 AO, wonach Zwangsmittel (§ 328 AO) gegen den Steuerpflichtigen unzulässig sind, wenn er dadurch gezwungen würde, sich selbst wegen einer von ihm begangenen Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit zu belasten. Dieses Zwangsmittelverbot führt im Ergebnis dazu, dass bei Gefahr einer Selbstbelastung die Mitwirkungspflichten zwar nicht rechtlich, wohl aber faktisch suspendiert werden8.

___________ 2 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 117 Rz. 4; Menck in Menck/Ritter u.a., Internationale Steuerauskunft und deutsches Verfassungsrecht, 1987, 1 f. 3 So die Formulierung von Seer in FS Schaumburg, 2009, 151 (151 ff.); Seer/Gabert, StuW 2010, 3 (4). 4 EG-Amtshilfe-RL (zuletzt geändert durch RL 2006/98/EG v. 20.11.2006, ABl. EU Nr. L 363, 129) und EGAHiG v. 19.12.1985, BGBl. I 1985, 2436 (2459); EG-MwSt-ZusammenarbeitsVO (Nr. 1798/03 v. 7.10.2003, ABl. EG 03 Nr. L 264, 1); Zinsertrag-RL (RL 2003/48/EG v. 3.6.2003, ABl. EU L 157, 38). 5 Art. 26 OECD-MA sowie verschiedene Abkommen auf dem Gebiet der Rechts- und Amtshilfe und des Auskunftsaustauschs; vgl. Übersicht BMF-Schreiben v. 12.1.2010, BStBl. I 2010, 35. 6 SteuerHBekG v. 29.7.2009, BStBl. I 2009, 826; SteuerHBekV v. 18.9.2009, BStBl. I 2009, 1146. 7 Hierzu Seer in FS Schaumburg, 2009, 151 f.; Seer/Gabert, StuW 2010, 3 (4). 8 So schon Streck, BB 1980, 1537 (1539).

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Grenzüberschreitende Sachaufklärung

Das gilt nicht in den Fällen, in denen auf andere Weise unmittelbar oder mittelbar Zwang auf den Steuerpflichtigen ausgeübt wird. Hierzu gehört unter anderem die belastende Schätzung von Besteuerungsgrundlagen, die sich insbesondere bei Verletzung der Mitwirkungspflichten nach § 90 Abs. 3 AO, etwa wegen nicht vorgelegter verwertbarer Verrechnungspreisdokumentation, in besonderer Weise zulasten des Steuerpflichtigen auswirken können (§ 162 Abs. 3 Satz 2 AO). Eine derartige nachteilige Schätzung ist darauf gerichtet, die strafprozessuale Schweigebefugnis auszuhöhlen und damit den nemotenetur-Grundsatz zu verletzen9. Die Grenze zum verbotenen Zwangsmittel wird hierbei jedenfalls dann überschritten sein, wenn es sich um eine Strafschätzung handelt, bei der der übliche von Gesetzes wegen vorgegebene (materielle) Maßstab – bei Verrechnungspreisen der Fremdvergleichspreis – überschritten wird10. Um eine solche Strafschätzung handelt es sich, wenn im Rahmen der gemäß § 162 Abs. 3 Satz 2 AO gebotenen Schätzung die Bandbreite von Fremdvergleichspreisen zulasten des Steuerpflichtigen ausgeschöpft wird11. In diesem Fall wird eine Steuerlast aufgebürdet, die nicht entstanden wäre, wenn der Steuerpflichtige seine Dokumentationspflichten erfüllt hätte12. Im Hinblick darauf ist für die Finanzverwaltung im Rahmen ihrer Ermessensbetätigung Zurückhaltung geboten13, weil andernfalls die seitens des Steuerpflichtigen unter dem Eindruck etwa angedrohter überhöhter Schätzungen erhaltenen Informationen und herausgegebenen Beweismittel zu einem Verwertungsverbot sowohl im Steuerstraf- als auch im Besteuerungsverfahren führen können14. Obwohl in zunehmendem Maße die dem Steuerpflichtigen auferlegten Mitwirkungspflichten als Ergebnis „sphärenorientierter Mitverantwortung“ für die Sachaufklärung gedeutet werden15, die auf die wahrheitsgemäße und vollständige Ermittlung der steuerlich erheblichen Tatsachen durch Finanzbehörde und Steuerpflichtigen als (erzwungene) Verantwortungsgemeinschaft gerichtet sei16, bleibt dennoch richtig: Die Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen ist Ausfluss des öffentlich-rechtlichen Gewaltenverhältnisses mit der Folge, dass das Mitwirkungsverlangen nur dann rechtmäßig ist, wenn es auf eine entsprechende Eingriffsnorm zurückgeführt werden kann17. § 90

___________ 9 So im Ergebnis z.B. Rengier, BB 1985, 720 (722 f.); Seer, StB 1987, 128 (132); Henneberg, BB 1988, 2181 (2186); Streck/Spatschek, wistra 1988, 334 (340). 10 Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 393 Rz. 76; Streck, DStJG (6) 1983, 217 (241 f.); Streck, BB 1984, 199 (201); Mösbauer, DStZ 1986, 339 (341). 11 Nach dem Urteil BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171 ist die Bandbreite stets zugunsten des Steuerpflichtigen zu nutzen. 12 Hierzu ausführlich Frotscher in FS Wassermeyer, 2005, 391 (405 f.); Frotscher in Schwarz, AO; § 162 Rz. 42. 13 Es ist vertretbar innerhalb der Bandbreite auf den „Wert mit der größten Wahrscheinlichkeit“ abzustellen; hierzu ausführlich Cordes, Steuerliche Aufzeichnungspflichten bei internationalen Verrechnungspreisen, 2009, 227 ff.; ggf. ist das der „Mittelwert“; so Bruschke, DStZ 2006, 575 (577). 14 Zu Einzelheiten Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 393 Rz. 112 ff. m.w.N. 15 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 1. 16 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rz. 170. 17 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 3.

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Heide und Harald Schaumburg

Abs. 1 AO und die entsprechenden Sondervorschriften18 begründen im Kern nur eine Mitwirkungsverpflichtung bei der Ermittlung des Sachverhaltes. Indessen gehen insbesondere die in der Abgabenordnung und in den Einzelsteuergesetzen enthaltenen speziellen Mitwirkungspflichten weit über den Rahmen hinaus, den § 90 Abs. 1 AO als Generalnorm absteckt. Dem Steuerpflichtigen wird nämlich in aller Regel auch eine Mitwirkung bei der Rechtsanwendung abverlangt. So fordern etwa die für die einzelnen Steuererklärungen maßgeblichen Vordrucke nicht nur bloße Tatsachenangaben, sondern auch eine (zutreffende) Rechtsanwendung. Wer etwa Einkünfte aus Gewerbebetrieb zu erklären hat, muss nicht nur eine Einkünftezuordnung vornehmen, sondern zugleich auch die entsprechenden Einkünfteermittlungsvorschriften anwenden, was stets eine rechtliche Subsumtion voraussetzt. Irrt der Steuerpflichtige hierbei und erkennt er dies später, so ist er nicht verpflichtet, etwa seine Steuererklärung zu berichtigen, soweit der entsprechende Sachverhalt gegenüber der Finanzverwaltung offengelegt ist19. Mitwirkungspflichten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. So sind Steuerpflichtige überhaupt nur verpflichtet, Aufzeichnungen für Zwecke der Einkünfteermittlung anzufertigen und aufzubewahren, wenn dies ausdrücklich vorgeschrieben ist. § 90 Abs. 1 AO ist jedenfalls hierfür keine Rechtsgrundlage20. Hieraus folgt unter anderem: Wer Aufzeichnungen anfertigt oder anfertigen lässt, ohne hierzu verpflichtet zu sein, hat hierfür keine Aufbewahrungspflicht mit der Folge, dass er diese freiwillig erstellten Aufzeichnungen jederzeit vernichten darf21. Eine allgemeine Beweisvorsorgepflicht gibt es also nicht22 Da die Finanzbehörde jedenfalls die Letztverantwortung für die Sachaufklärung hat, ist die erzwungene Mitwirkung letztlich eine Art Beweismittel (§ 92 AO) mit der Folge, dass das seitens der Finanzbehörde gestellte Mitwirkungsverlangen innerhalb der hierfür maßgeblichen Ermessensgrenzen zu halten ist. Das bedeutet, dass die Mitwirkung des Steuerpflichtigen zur Sachaufklärung notwendig, erfüllbar, verhältnismäßig und zumutbar sein muss23. Werden die Mitwirkungspflichten durch den Steuerpflichtigen verletzt, so können hieraus nicht ohne Weiteres nachteilige Folgen geknüpft werden, weil § 90 Abs. 1 AO keine Beweisführungs- oder Nachweispflicht begründet. Die Verletzung der Mitwirkungspflichten führt allerdings in aller Regel zulasten des

___________ 18 § 90 Abs. 1 AO enthält keine eigenständige Rechtsgrundlage für Mitwirkungspflichten; BFH v. 11.10.1989 – I R 101/87, BStBl. II 1990, 280; Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 3; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 90 Rz. 10. 19 BGH v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99, wistra 2000, 137; Seer in Tipke/Kruse, AO, § 153 Rz. 8; Kuhfus in von Wedelstädt, AO, § 153 Rz. 8; Harms, Stbg. 2005, 12 (14); Randt in FS Schaumburg, 2009, 1255 ff. 20 Vgl. BFH v. 24.6.2009 – VIII R 80/06, DStR 2009, 2006 f. zu § 147 AO (Datenzugriff). 21 BFH v. 24.6.2009 – VIII R 80/06, DStR 2009, 2006 f.; Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 6; Schaumburg, DStR 2002, 829 (833) zu § 147 AO (Datenzugriff). 22 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 4. 23 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 90 Rz. 72 ff.; Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 13, § 92 Rz. 5 ff.

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Grenzüberschreitende Sachaufklärung

Steuerpflichtigen zu einer Beweismaßreduzierung24 und ggf. zu einer Schätzung von Besteuerungsgrundlagen25. 2. Erweiterte Mitwirkungspflichten a) Allgemeines Da die Finanzbehörden aus Gründen des Völkerrechts26 nicht befugt sind, im Ausland Sachverhaltsaufklärung zu betreiben, begründet § 90 Abs. 2 AO erweiterte Mitwirkungspflichten. Hiernach haben Beteiligte grenzüberschreitende und ausländische Sachverhalte aufzuklären und die dafür erforderlichen Beweismittel zu beschaffen. Diese Sachaufklärungs- und Beweismittelbeschaffungspflicht, die erstmals durch Gesetz vom 8.9.197227 als § 171 Abs. 3 AO normativ verankert worden ist, geht zurück auf die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs aus dem Jahre 193028, wonach Steuerpflichtige ihre Mitwirkung nicht versagen dürften, wenn für die Beurteilung der Steuerpflicht Verhältnisse und Vorgänge im Ausland aufzuklären sind, die nur von den Steuerpflichtigen selbst aufgeklärt werden können29. Die erweiterten Mitwirkungspflichten bei Auslandssachverhalten30 haben somit ihre ursprüngliche Legitimationsgrundlage in der fehlenden Möglichkeit der Finanzbehörden, ausländische Sachverhalte aufzuklären. Davon abgesehen, dass es seinerzeit nur wenige Doppelbesteuerungsabkommen gab, war die Abkommenspolitik auch keineswegs auf einen gegenseitigen Informationsaustausch ausgerichtet. Demgegenüber hat Deutschland derzeit auf dem Gebiet der Steuern von Einkommen und vom Vermögen 90 und auf dem Gebiet der Erbschaft- und Schenkungsteuern sieben Doppelbesteuerungsabkommen und darüber hinaus zehn Sonderabkommen betreffend Schifffahrt- und Luftfahrt sowie elf Abkommen auf dem Gebiet der Rechts- und Amtshilfe und des Auskunftsaustauschs abgeschlossen31, aufgrund deren ein weit gehender Informationsaustausch32 ebenso möglich ist wie innerhalb der EU auf der Grundlage der EGAmtshilfe-RL33 und der EG-MWSt-ZusammenarbeitsVO34. Schließlich sind auf Druck der großen Mitgliedstaaten der EU weitere bilaterale Auskunfts-

___________ 24 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 16. 25 Wünsch in Pahlke/König, AO, § 90 Rz. 43; nach BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171 nur, soweit die Pflichtenverletzung die Rechtsfolge betrifft. 26 Vgl. Epping/Gloria in Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 23 Rz. 85 ff. 27 BGBl. I 1972, 1713. 28 RFH v. 30.1.1930 – I A 370/29, RStBl. 1930, 151. 29 Ähnlich später BFH v. 21.1.1976 – I R 234/73, BStBl. II 1976, 513; BFH v. 20.1.1978 – VI R 193/74, BStBl. II 1978, 338. 30 Es reicht aus, wenn der Sachverhalt nur zum Teil Auslandsbezug hat; BFH v. 6.6.2006 – XI B 162/05, BFH/NV 2006, 1785; BFH v. 24.10.2006 – XI B 112/05, BFH/NV 2007, 201. 31 BMF-Schreiben v. 12.1.2010, BStBl. I 2010, 35. 32 Z.B. Art. 26 OECD-MA. 33 Richtlinie 77/799/EWG v. 19.12.1977, ABl. EG Nr. L 336, 15; zuletzt geändert durch RL 2006/98/EG v. 20.11.2006, ABl. EU Nr. L 363, 129; umgesetzt durch EGAHiG v. 30.11.2007, BGBl. I 2007, 2783. 34 AmtshilfeVO (EG) Nr. 1798/03 des Rates v. 7.10.2003 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, ABl. EG 2003 Nr. L 264, 1.

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abkommen35 abgeschlossen36 worden oder in Verhandlung37. Darüber hinaus wurden einige Doppelbesteuerungsabkommen um sog. große Auskunftsklauseln erweitert38. Auch wenn insoweit bislang weit gehend nur eine passive Informationshilfe39 gewährleistet ist, stehen den Finanzbehörden heute dennoch umfangreiche Informationsmöglichkeiten zur Verfügung, deren Inanspruchnahme jedenfalls innerhalb der EU auf der Grundlage der EG-Amtshilfe-RL nicht unzumutbar ist40. Diese veränderten Umstände bleiben nicht ohne Auswirkung auf die Anwendung des § 90 Abs. 2 AO. Nur einige Hinweise: – Im Rahmen der gebotenen Ermessensbetätigung ist zu berücksichtigen, dass auch bei fehlender oder nicht ausreichender Mitwirkung des Steuerpflichtigen Informationen auch anderweitig durch ein entsprechendes internationales Auskunftsersuchen erlangt werden können41. Vor Inanspruchnahme internationaler Amtshilfe ist dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit einzuräumen, seinen Mitwirkungspflichten gemäß § 90 Abs. 2 AO noch nachzukommen42. – Durch § 90 Abs. 2 AO wird der Untersuchungsgrundsatz nicht suspendiert43 mit der Folge, dass die Finanzbehörden auch in den Fällen, in denen der Steuerpflichtige seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt, die Möglichkeiten der internationalen Informationsbeschaffung zu nutzen haben44. – Da § 90 Abs. 2 AO zulasten des Steuerpflichtigen keine subjektive Beweislast begründet45, erfolgt bei Verletzung der erweiterten Mitwirkungspflichten eine Reduzierung des Beweismaßes (§ 162 Abs. 2 Satz 1 und 3 AO) als ultima ratio nur dann, wenn die Sachverhaltsaufklärung auch über den internationalen Auskunftsaustausch (Ersuchenshilfe) nicht möglich ist46.

___________ 35 Information exchange agreements (TIEA). 36 Z.B. mit Jersey v. 18.6.2009 (BStBl. I 2010, 166, 173). 37 Mit Liechtenstein, Cayman-Islands, Guernsey, Isle of Man, Gibraltar, Bermuda (vgl. Hinweise der OFD Münster v. 6.10.2009, DStR 2009, 2199). 38 DBA-Zypern; DBA-Schweiz, DBA-Österreich, DBA-Luxemburg. 39 Hierzu Hendricks, Internationale Informationshilfe im Steuerverfahren, 2004, 188; Seer/Gabert, StuW 2010, 3 (5). 40 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rz. 172. 41 So der Ansatz von Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 117 Rz. 25; noch weitergehend für einen Vorrang der Inanspruchsnahme von internationaler Ersuchenshilfe Stahl, KÖSDI 1993, 9373 (9373); Schwochert, RIW 1991, 407 (409). 42 Vgl. BMF-Schreiben v. 25.1.2006, BStBl. I 2006, 26 Rz. 33. 43 BFH v. 18.11.2008 – VIII R 24/07, BStBl. II 2009, 518; BFH v. 18.11.2008 – VIII R 2/06, BFH/NV 2009, 731. 44 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 88 Rz. 172 für die EU; zu europarechtlichen Aspekten Englisch, IStR 2009, 37 (41); vgl. auch BFH v. 18.11.2008 – VIII R 24/07, BStBl. II 2009, 518. 45 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 20. 46 Das gilt insbesondere innerhalb der EU, weil andernfalls ein Verstoß gegen die europarechtlich verbürgten Grundfreiheiten gegeben wäre; hierzu im Einzelnen Lindenthal, Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen und Folgen ihrer Verletzung, 2006, 43 ff.

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b) Sachaufklärungs- und Beweismittelbeschaffungspflicht Von der Reichweite des § 90 Abs. 2 Satz 1 AO werden nur steuerlich relevante Sachverhalte erfasst, soweit es sich um solche handelt, auf die der Steuerpflichtige Zugriff hat47. Was steuerrechtlich relevant ist oder sein kann, ist eine Rechtsfrage, deren Prüfung dem Mitwirkungsverlangen vorgeschaltet sein muss. Hier ist in Orientierung an die auch für § 90 Abs. 2 AO maßgeblichen Ermessensgrenzen ggf. ein stufenweises Vorgehen geboten. Geht es etwa um die Besteuerung von im Ausland erzielten Einkünften, ist ein Mitwirkungsverlangen an den Steuerpflichtigen über die Höhe dieser Einkünfte erst dann zulässig, wenn zuvor geklärt ist, ob diese Einkünfte abkommensrechtlich überhaupt der deutschen Besteuerung unterliegen. Darüber hinaus muss sich das Mitwirkungsverlangen auf konkrete Sachverhaltsaspekte beziehen; eine allgemeine Befragung ins Blaue hinein ist unzulässig48. Schließlich hat § 90 Abs. 2 Satz 1 AO auch insoweit eine beschränkte Reichweite, als nur Sachverhalte, nicht aber Sachverhaltswürdigungen oder rechtliche Beurteilungen durch den Steuerpflichtigen abgefragt werden dürfen49. Aus diesem Grunde besteht daher auch nicht die Verpflichtung, selbst oder von dritter Seite erstellte Rechtsgutachten, etwa zur Angemessenheit von Verrechnungspreisen (Verrechnungspreisstudien), vorzulegen50. c) Beweisvorsorgepflicht § 90 Abs. 2 Satz 1 AO verlangt von dem Steuerpflichtigen nicht nur die Benennung von Beweismitteln, sondern auch deren Beschaffung, was soweit gehen kann, dass er ggf. auch im Ausland ansässige Zeugen zu stellen hat51. Die Gestellung derartiger Beweismittel setzt voraus, dass der Steuerpflichtige über sie überhaupt verfügen kann. Ist das nicht der Fall, scheitert die Beweismittelbeschaffung von vornherein. In diesem Falle ergeben sich im Grundsatz für den Steuerpflichtigen keine nachteiligen Folgen, es sei denn, er wäre in der Lage gewesen, bei Gestaltung seiner Verhältnisse, etwa durch Einräumung vertraglicher Rechte, sich den Zugriff auf die betreffenden Beweismitteln zu sichern (§ 90 Abs. 2 Satz 4 AO). Insoweit kann sich der Steuerpflichtige nicht auf tatsächliche und rechtliche Unmöglichkeit berufen. Der Vorbehalt tatsächlicher und rechtlicher Unmöglichkeit gilt allerdings dann, wenn entsprechende Beweismittel tatsächlich nicht vorhanden sind. Die Beweisvorsorgepflicht verlangt nämlich lediglich die Sicherung, nicht aber die Herstellung von Beweismitteln52. Schließlich wird sich die Finanzbehörde auch nicht auf

___________ 47 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 21. 48 Hierzu Grothe, StbJb. 1988/89, 345. 49 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 22; Wehnert/Selzer, DB 2005, 1295 ff.; Pfinsterwalder, DStR 2005, 765 (767); a.A. Weiß, StBp. 2004, 220 (222 ff.). 50 So aber BMF-Schreiben v. 12.4.2005, BStBl. I 2005, 570 Tz. 3.3.2 a) mit unzutreffendem Hinweis auf BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171; vgl. hierzu Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2004, 157 (161). 51 BFH v. 1.7.1987 – I R 284–286/83, BFH/NV 1988, 12; BFH v. 21.4.1995 – VIII B 133/94, BFH/NV 1995, 954; BFH v. 26.10.1998 – I B 48/97, BFH/NV 1999, 506; BFH v. 15.2.2000 – X B 121/99, BFH/NV 2000, 1450; Schaumburg/Schaumburg, FR 1997, 749 ff. 52 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 34.

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die Beweisvorsorge berufen können, wenn die Sicherung der Beweismittel im Rahmen der vertraglichen Gestaltung für den Steuerpflichtigen unzumutbar war53. So kann vom Steuerpflichtigen nicht verlangt werden, dass er durch Vereinbarung mit einer ihm nahestehenden ausländischen Person sicherstellt, dass deren Unterlagen nicht vor Ablauf der inländischen Aufbewahrungspflichten vernichtet werden, wenn eine derartige Vereinbarung mit fremden Dritten nicht möglich gewesen wäre54. Im Übrigen gilt das auch in den Fällen, in denen die Beweisvorsorge und die Beschaffung der Beweismittel gegen geltendes Recht verstößt55. 3. Gesteigerte Mitwirkungspflichten a) Gesetzgeberischer Hintergrund Im Zuge des Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes56 ist § 90 Abs. 2 AO dahingehend ergänzt worden, dass in den Fällen, in denen Steuerpflichtige über Geschäftsbeziehungen zu Finanzinstituten in nicht kooperativen Staaten und Gebieten (Jurisdiktionen) verfügt, die Finanzbehörde für die Richtigkeit und Vollständigkeit der vom Steuerpflichtigen erteilten Angaben eine eidesstattliche Versicherung und darüber hinaus eine Vollmacht verlangen kann, im Namen des Steuerpflichtigen mögliche Auskunftsansprüche gegen die betreffenden ausländischen Finanzinstitute außergerichtlich und gerichtlich geltend zu machen (§ 90 Abs. 2 Satz 3 AO). Diese einstweilen auf einer letzten Eskalationsstufe angesiedelten gesteigerten Mitwirkungspflichten sind im Kern darauf gerichtet, nicht kooperative Jurisdiktionen zu einem effektiven Informationsaustausch mit Deutschland zu zwingen57. Im Ergebnis sollen somit Steuerpflichtige, die in nicht kooperativen Jurisdiktionen wirtschaftlich und finanziell engagiert sind, negativen beweisrechtlichen Folgen ausgesetzt sein58, obwohl sie den Umstand, dass Deutschland bislang nicht in der Lage war, mit den betreffenden Staaten und Gebieten Doppelbesteuerungsabkommen mit sog. großen Auskunftsklauseln oder Informationsaustauschabkommen abzuschließen, nicht zu vertreten haben. Diese gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit59 verstoßende Vorgehensweise60 hat allerdings bislang offenkundig insoweit Erfolg

___________ 53 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 34. 54 So aber BMF-Schreiben v. 12.4.2005, BStBl. I 2005, 570 (VerwaltungsgrundsätzeVerfahren), Tz. 3.2.3; kritisch hierzu Kroppen/Rasch, IWB F. 3, Gr. 1, 2091 (2094). 55 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 35. 56 Vom 29.7.2009, BGBl. I 2009, 2302. 57 So die RegBegr., BT-Drucks. 16/13106, 1. 58 Zu den hiermit verbundenen europarechtlichen Bedenken Kessler/Eicke, DB 2009, 1314 (1316 f.); Geurts, DStR 2009, 1883 (1886); Kleinert/Göres, NJW 2009, 2713 (2715); Worgulla/Söffing, FR 2009, 545 (554); Haarmann/Suttorp, BB 2009, 1275 (1277); Puls, Ubg 2009, 186 (191 f.). 59 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet auch den Gesetzgeber, den Eingriff in die Sphäre des Steuerpflichtigen auf solche Maßnahmen zu beschränken, die das eingesetzte Mittel in ein vernünftiges Verhältnis zum angestrebten Zweck setzen; hierzu Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 209 ff. 60 Zu Einzelheiten Geurts, DStR 2009, 1883 (1886); Kessler/Eicke, DB 2009, 1314 (1316); Haarmann/Suttorp, BB 2009, 1275 (1277).

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gehabt, als sich mittlerweile zahlreiche Jurisdiktionen bereit erklärt haben, gegenüber Deutschland entsprechende Auskünfte zu erteilen. Im Hinblick darauf sind aus deutscher Sicht einstweilen keine Staaten und Gebiete auf der sog. schwarzen Liste enthalten61. Hierbei handelt es sich indessen nur um eine Augenblicksaufnahme, weil abzuwarten bleibt, ob die betreffenden Jurisdiktionen ihre Absichtserklärungen auch tatsächlich einlösen. Im Hinblick darauf besteht Ungewissheit, ob und ggf. wann die in § 90 Abs. 2 Satz 3 AO verankerten gesteigerten Mitwirkungspflichten effektiv werden. Abgesehen davon, dass insoweit das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot62 verletzt ist, widerspricht es auch dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts63, wenn der Exekutive die Aufzählung der nicht kooperativen Jurisdiktionen überlassen bleibt und damit in ihre Hände gelegt ist, ob § 90 Abs. 2 Satz 3 AO leer läuft oder nicht64. § 90 Abs. 2 Satz 3 AO leidet darüber hinaus noch an einer weiteren verfassungsrechtlich bedenklichen Merkwürdigkeit: Gemäß Art. 4 SteuerHBekG ist § 90 Abs. 2 Satz 3 AO erst mit Ergehen der SteuerHBekV in Kraft getreten, womit es im Ergebnis wiederum letztlich der Exekutive überlassen wurde, ob und wann die gesteigerten Mitwirkungspflichten zur Geltung kommen sollten65. b) Eidesstattliche Versicherung und Vollmachtserteilung § 90 Abs. 2 Satz 3 AO eröffnet der Finanzbehörde die Möglichkeit, sich die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben des Steuerpflichtigen an Eides statt versichern zu lassen66. Voraussetzung ist, dass es objektiv erkennbare Anhaltspunkte für die Annahme gibt, dass der Steuerpflichtige Geschäftsbeziehungen zu Finanzinstituten in nicht kooperativen Staaten oder Gebieten unterhält. So lange indessen unklar ist, welche Jurisdiktionen überhaupt unkooperativ sind, wird die eidesstattliche Versicherung gemäß § 90 Abs. 2 Satz 3 AO67 in der Praxis keine allzu große Rolle spielen, zumal sie ohnehin nicht erzwingbar ist. Von besonderer Bedeutung ist die in § 90 Abs. 2 Satz 3 AO vorgesehene Verpflichtung, auf Anforderung der Finanzbehörde diese zu bevollmächtigten, im Namen des Steuerpflichtigen mögliche Auskunftsansprüche gegenüber in nicht kooperativen Jurisdiktionen ansässigen Kreditinstituten außergerichtlich und gerichtlich geltend zu machen. Erforderlich hierfür ist, dass die Finanzbehörde im Einzelnen darlegt, aufgrund welcher Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass eine Geschäftsbeziehung zwischen dem Steuerpflichtigen und dem betreffenden Kreditinstitut vorliegt.

___________ 61 62 63 64

BMF-Schreiben v. 5.1.2010, BStBl. I 2010, 19. Hierzu Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 167 ff. Hierzu Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 150 ff. Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 29; Kleinert/Göres, NJW 2009, 2713 (2714 f.); Geurts, DStR 2009, 1883 (1884 f.). 65 Hierzu Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 30. 66 § 90 Abs. 2 Satz 3 AO ist lex specialis zu § 95 AO. 67 Zum Problem der Strafbarkeit einer falschen eidesstattlichen Versicherung (§ 156 StGB) trotz strafbefreiender Selbstanzeige Geuenich, NWB 2009, 2396 (2402); von Wedelstädt, DB 2009, 1731 (1732).

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Eine „Rasterbevollmächtigung“ durch Aufzählung beliebiger ausländischer Kreditinstitute ist daher unzulässig68. Für Zwecke der Informationsbeschaffung beschreitet die Finanzbehörde im Ergebnis den Privatrechtsweg, wobei sie sich diesen erst durch Verwaltungsakt, nämlich der Aufforderung zur Vollmachtserteilung eröffnen muss. Die Befugnisse der so bevollmächtigten Finanzbehörde gehen aber nicht über diejenigen hinaus, die der Steuerpflichtige als Bankkunde hat. Das bedeutet, dass etwa in den Fällen, in denen gesetzliche oder vertragliche Auskunftsschranken bestehen, diese auch gegenüber der Finanzbehörde Geltung haben69. Wird die Vollmacht seitens des Steuerpflichtigen nicht erteilt, ergeben sich über die normative Brücke des § 1 Abs. 5 SteuerHBekV weitreichende zulasten des Steuerpflichtigen wirkende Rechtsfolgen, die im Wesentlichen darin bestehen, dass für Dividenden das Teileinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40 EStG), der Abgeltungsteuertarif (§ 32d Abs. 1 EStG) sowie die Steuerfreistellung (§ 8b Abs. 1 KStG)70 nicht zur Anwendung kommen71. Über diese ohnehin gravierenden Rechtsfolgen hinaus wird der Finanzbehörde auch die Möglichkeit einer besonderen Schätzung eröffnet (§ 162 Abs. 2 Satz 3 AO). Kommt nämlich der Steuerpflichtige dem Verlangen nach eidesstattlicher Versicherung oder nach Vollmachtserteilung nicht nach, greift die widerlegbare gesetzliche Vermutung ein, dass der Steuerpflichtige in dem betreffenden ausländischen Staat steuerpflichtige Einkünfte erzielt hat und/oder die steuerpflichtigen Einkünfte höher sind als bisher erklärt. Damit beschränken sich die Rechtsfolgen nicht auf eine bloße Beweismaßreduzierung, sondern ermächtigen die Finanzbehörden, die Einkünfte dem Grunde nach zu schätzen. Wurden bereits in dem inkriminierten Staat erzielte Einkünfte steuerlich erklärt, so erstreckt sich die widerlegbare gesetzliche Vermutung darauf, dass die Einkünfte tatsächlich höher waren als erklärt. Gegen diese weitreichende Schätzungskompetenz der Finanzbehörde sind die üblichen rechtsstaatlichen Schranken gerichtet72. Daher bietet auch § 162 Abs. 2 Satz 3 AO keine Legitimation für irgendwelche Strafschätzungen, wobei allerdings Schätzungsunschärfen durchaus zulasten des Steuerpflichtigen gehen können73.

III. Dokumentationspflichten 1. Gesetzgeberischer Hintergrund Entsprechend dem Charakter des Steuerrechts als Eingriffsrecht ist der Steuerpflichtige zur Dokumentation von Geschäftsvorfällen nur dann verpflichtet, wenn dies ausdrücklich im Gesetz vorgesehen ist. Derartige Dokumentationspflichten enthalten insbesondere die §§ 140 ff. AO, wobei über § 140 AO auch auf die Buchführungspflichten gemäß §§ 238 ff. HGB verwiesen wird.

___________ 68 69 70 71

Worgulla/Söffing, FR 2009, 545 (548). Hierzu Podewils, DStZ 2009, 686 (687). Entsprechendes gilt für abkommensrechtliche Schachtelprivilegien. Dies gilt auch für die Steuerfreistellung für Veräußerungsgewinne (§ 8b Abs. 2 KStG). 72 Hierzu oben II. 1. 73 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 162 Rz. 44.

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Bis zum Inkrafttreten des Steuervergünstigungsabbaugesetzes74 enthielt das Steuerrecht keine spezifischen Dokumentationspflichten für grenzüberschreitende Geschäftsbeziehungen75. Diese aus der Sicht der Finanzverwaltung bestehende Regelungslücke wurde durch § 90 Abs. 3 AO geschlossen, wonach für grenzüberschreitende Geschäftsbeziehungen76 mit nahe stehenden Personen Aufzeichnungspflichten normiert werden77. Einbezogen werden in diesen Pflichtenkreis unbeschränkt und beschränkt steuerpflichtige Personen. Damit hat § 90 Abs. 3 AO nur eine begrenzte Reichweite: Bei Konzernsachverhalten haben ausländische Mutter- oder Tochtergesellschaften, soweit diese nicht im Inland beschränkt steuerpflichtig sind, keinerlei Dokumentationspflichten. Damit werden regelmäßig ausländische Mutter- oder Tochtergesellschaften eines grenzüberschreitenden Konzerns nicht erfasst. § 90 Abs. 3 AO betrifft ferner nicht rein innerdeutsche Geschäftsbeziehungen, sodass insbesondere grenzüberschreitende Konzerne im Hinblick auf das ausgeprägte Sanktionssystem des § 90 Abs. 3 AO unter Verstoß gegen die europarechtlich verbürgten Grundfreiheiten benachteiligt sind78. Die Dokumentationspflichten betreffen Geschäftsbeziehungen zu ausländischen nahestehenden Personen, womit neben natürlichen Personen auch Kapital- und Personengesellschaften erfasst werden. Damit gleicht § 90 Abs. 3 AO insoweit nur die Vollzugsdefizite aus, die im Zusammenhang mit gebotenen Einkünftekorrekturen wegen unangemessener Verrechnungspreise in der Vergangenheit immer wieder beklagt worden sind79. Angesprochen sind damit insbesondere die Einkünftekorrekturen aufgrund verdeckter Gewinnausschüttungen (§ 8 Abs. 3 Satz 2 KStG), verdeckter Einlagen (§ 8 Abs. 3 Satz 3 KStG) und wegen § 1 AStG. Obwohl diese Einkünftekorrekturnormen in dem hier interessierenden Zusammenhang sich nur auf Geschäftsbeziehungen mit nahe stehenden Personen beziehen, wird die Dokumentationspflicht auch auf die Gewinnaufteilung zwischen Stammhaus und Betriebsstätte bei grenzüberschreitend tätigen Einheitsunternehmen (§ 90 Abs. 3 Satz 4 AO) und auf fremde Dritte, soweit diese in nicht kooperativen Jurisdiktionen ansässig sind (§ 1 Abs. 4 SteuerHBekV) erweitert. Dass auch grenzüberschreitende gewöhnlich durch Interessengegensätze geprägte Geschäftsbeziehungen zu fremden Dritten einbezogen werden, macht deutlich, dass die in diesem Zusammenhang dem Steuer-

___________ 74 Vom 16.5.2003, BGBl. I 2003, 660. 75 BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171. 76 Zum Begriff: Geschäftsbeziehung ist jede schuldrechtliche Beziehung, die keine gesellschaftsvertragliche Vereinbarung ist, und bei dem Steuerpflichtigen oder der nahe stehenden Person Teil einer land- und forstwirtschaftlichen, gewerblichen, freiberuflichen oder eine Vermietungstätigkeit ist (§ 1 Abs. 5 AStG). 77 Einzelheiten bei Cordes, Steuerliche Aufzeichnungspflichten bei internationalen Verrechnungspreisen, 2009, 38 ff. 78 Wassermeyer in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, Außensteuerrecht, § 1 AStG Rz. 823.39; Schnitger, IStR 2003, 73 (75 f.); Schnorberger, DB 2003, 1241 (1246 f.); Schaumburg, DB 2005, 1129 (1137); a.A. Hahn/Surbier-Hahn, IStR 2003, 84 (86); vgl. EuGH v. 21.1.2010 – C-311/08 (SGI), JStR 2010, 144, der die mit § 1 Abs. 1 AStG vergleichbare belgische Vorschrift nicht beanstandet hat. 79 Z.B. von Kuckhoff/Schreiber, IWB F. 3, Deutschland, Gr. 1, 1880 ff.

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pflichtigen auferlegten Dokumentationspflichten ebenfalls nur dem Ziel dienen, Druck auf nicht kooperative Jurisdiktionen auszuüben80. 2. Sachverhalts- und Angemessenheitsdokumentation Soweit § 90 Abs. 3 Satz 1 AO Aufzeichnungen über den Inhalt der Geschäftsbeziehungen zu ausländischen nahestehenden Personen verlangt, korrespondiert diese Pflicht zur Sachverhaltsdokumentation mit den in § 90 Abs. 2 AO verankerten Mitwirkungspflichten, die sich im Grundsatz nur auf Sachverhaltsaspekte beziehen (§ 1 Abs. 2 GAufzV). Über diese Sachverhaltsdokumentation hinaus verlangt § 90 Abs. 3 Satz 2 AO aber auch eine Angemessenheitsdokumentation, in deren Rahmen vom Steuerpflichtigen rechtliche Wertungen, insbesondere eine Subsumtion unter § 1 AStG abverlangt werden (§ 1 Abs. 1 Satz 2 GAufzV). Das gilt insbesondere für Dokumentationspflichten im Zusammenhang mit Funktionsverlagerungen. Soweit es um die Dokumentation außergewöhnlicher Geschäftsvorfälle (§ 90 Abs. 3 Satz 3 AO) geht81, ist diese zeitnah zu erstellen, und zwar nach § 3 Abs. 1 GAufzV innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf des Wirtschaftsjahres, in dem sich der Geschäftsvorfall ereignet hat. Dem Vorlageverlangen selbst ist im Grundsatz nur für Zwecke der Außenprüfung zu entsprechen (§ 90 Abs. 3 Satz 6 AO). Hierfür gilt eine Frist von 60 Tagen für gewöhnliche, und eine solche von 30 Tagen für außergewöhnliche Geschäftsvorfälle (§ 90 Abs. 3 Satz 8 AO). Für kleinere Unternehmen gibt es allerdings Erleichterungen (§ 6 GAufzV). 3. Verletzung der Dokumentationspflichten Die Verletzung der vorstehenden die Unternehmen erheblich belastenden Dokumentationspflichten können zu nachteiligen Schätzungen, Steuerzuschlägen und/oder zur Versagung etwa geltend gemachter Betriebsausgaben (Werbungskosten) oder Steuerentlastungen führen. Im Einzelnen: a) Schätzung Wird die Verrechnungspreisdokumentation nach Anforderung durch die Finanzbehörde nicht vorgelegt oder ist die vorgelegte Dokumentation im Wesentlichen unverwertbar oder wird festgestellt, dass die Dokumentation nicht zeitnah erstellt worden ist, wird gemäß § 162 Abs. 3 Satz 1 AO widerlegbar vermutet, dass die im Inland erzielten steuerpflichtigen Einkünfte, zu deren Ermittlung die Dokumentation dient, höher als die erklärten Einkünfte sind. Es handelt sich hier um eine Beweisvermutung zulasten des Steuerpflichtigen, die unmittelbar auf die Rechtsfolge, nämlich höhere Einkünfte, abzielt82. Voraussetzung ist, dass die Dokumentationspflichten verletzt worden sind, wenn also entweder innerhalb der 60- oder 30-Tages-Frist überhaupt keine

___________ 80 Hierzu oben II. 3. a). 81 Hierzu zählen auch Funktionsverlagerungen (§ 3 Abs. 2 GAufzV). 82 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 162 Rz. 66.

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oder eine im Wesentlichen unverwertbare Dokumentation vorgelegt wird oder wenn außergewöhnliche Geschäftsvorfälle (§ 90 Abs. 3 Satz 3 AO) nicht zeitnah dokumentiert worden sind. In der Betriebsprüfungspraxis entzündet sich die Diskussion nicht selten an der Frage, ob die Dokumentation im Wesentlichen unverwertbar ist oder nicht. Maßstab hierfür ist, ob ein sachverständiger Dritter innerhalb angemessener Zeit feststellen und prüfen kann, welche Sachverhalte der Steuerpflichtige verwirklicht hat und inwieweit dabei der Fremdvergleichsgrundsatz beachtet wurde83. Der Verwertbarkeitstest bezieht sich somit gleichermaßen auf die Sachverhalts- und Angemessenheitsdokumentation. Im Hinblick darauf, dass die Aufzeichnungen nur das ernsthafte Bemühen des Steuerpflichtigen zu belegen haben, dass er seine Geschäftsbeziehungen zu nahestehenden Personen unter Beachtung des Fremdvergleichsgrundsatzes ausgestaltet hat84, ist der Steuerpflichtige allenfalls verpflichtet, die von ihm tatsächlich angewandte Verrechnungspreismethode darzustellen und zu begründen85. Keinesfalls hat er darzulegen, warum er nicht eine andere Verrechnungspreismethode gewählt hat. Im Ergebnis wird daher eine Verrechnungspreisdokumentation überhaupt nur dann unverwertbar sein, wenn ihr keine Aussagekraft mehr zukommt86. Angesichts des Umstandes, dass die Notwendigkeit der Erstellung einer Angemessenheitsdokumentation ohnehin nicht unstreitig ist87, wird die Verwerfung der Verrechnungspreisdokumentation seitens der Finanzbehörde die Ausnahme sein. In den Fällen, in denen wegen Verletzung der Dokumentationspflichten eine Schätzung im vorgenannten Sinne dem Grunde nach zulässig ist, bleibt dem Steuerpflichtigen gleichwohl die Möglichkeit, im Nachhinein die in § 162 Abs. 3 Satz 1 AO verankerte zu seinen Lasten gehende Beweisvermutung durch andere Beweismittel und/oder eine entsprechende Verrechnungspreisanalyse zu widerlegen88. Davon abgesehen bleibt der Finanzbehörde eine entsprechende Schätzung zu Ungunsten des Steuerpflichtigen versagt, wenn sie selbst z.B. aufgrund anderweitiger Erkenntnisse zu dem Ergebnis kommt, dass die Verrechnungspreise angemessen sind89. Der in § 88 AO verankerte Untersuchungsgrundsatz wird nämlich durch § 162 Abs. 3 Satz 1 AO nicht suspendiert, sodass die Schätzung nach § 162 Abs. 3 Satz 1 AO nicht zu einer

___________ 83 BMF-Schreiben v. 12.4.2005, BStBl. I 2005, 570 (Verwaltungsgrundsätze-Verfahren) Tz. 3.4.19. 84 § 1 Abs. 1 Satz 2 GAufzV; BMF-Schreiben v. 12.4.2005, BStBl. I 2005, 570 (Verwaltungsgrundsätze-Verfahren) Tz. 3.4.12.3. 85 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 162 Rz. 67; Sieker in GS Traszkalik, 2005, 142 ff. 86 Bruschke, DStZ 2006, 575 (576 f.). 87 Schnorberger, DB 2003, 1241 (1244); Frotscher in FS Wassermeyer, 2005, 391 (396); Cordes, Steuerliche Aufzeichnungspflichten bei internationalen Verrechnungspreisen, 2009, 134 f. einerseits und Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 42; Andresen, RIW 2003, 489 (491); Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2004, 157 (158 ff.) andererseits. 88 § 90 Abs. 3 AO enthält keine Ausschlussfristen, sodass entsprechende Unterlagen noch im Termin zur mündlichen Verhandlung beim Finanzgericht nachgereicht werden können; Frotscher in Schwarz, AO, § 162 Rz. 30; Lindenthal, Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen und Folgen ihrer Verletzung, 2006, 106; Cordes, Steuerliche Aufzeichnungspflichten bei internationalen Verrechnungspreisen, 2009, 213 f. 89 Cordes, Steuerliche Aufzeichnungspflichten bei internationalen Verrechnungspreisen, 2009, 134 f.; Schreiber, IWB, F. 3, Deutschland, Gr. 1, 2105 (2112).

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Heide und Harald Schaumburg

Strafschätzung werden darf90. Ist indessen eine Schätzung geboten, ermächtigt § 162 Abs. 3 Satz 2 AO die Finanzbehörde in den Fällen, in denen sich angemessene Verrechnungspreise innerhalb bestimmter Bandbreiten bewegen, zu einer Schätzung an dem für den Steuerpflichtigen ungünstigsten Ende der Bandbreite91. Diese Schätzung zulasten des Steuerpflichtigen steht unter dem Vorbehalt des im Rechtsstaatsprinzip verankerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Übermaßverbot), der durch § 162 Abs. 3 AO ebenfalls nicht suspendiert wird, und daher im Rahmen des Schätzungsspielraums zu berücksichtigen ist92. Das gilt vor allen Dingen in den Fällen, in denen durch eine Schätzung eine internationale Doppelbesteuerung hervorgerufen wird93. Der Vorbehalt des Übermaßverbotes wirkt auch gegen § 162 Abs. 3 Satz 3 AO, wonach eine Schätzung auch dann möglich ist, wenn zwar nicht der Steuerpflichtige selbst, aber ausländische, nahe stehende Personen ihre Mitwirkungspflichten verletzt haben. Abgesehen davon, dass ausländische Mutterund Tochtergesellschaften grundsätzlich als im Besteuerungsverfahren nicht beteiligte Personen nicht mitwirkungsverpflichtet sind94, ist eine derartige „Sippenhaft“ auch im Übrigen ohne Rechtsgrundlage95. b) Steuerzuschläge Werden die Dokumentationspflichten verletzt, können Steuerzuschläge bei Nichtvorlage und verspäteter Vorlage verwertbarer Dokumentation festgesetzt werden (§ 162 Abs. 4 AO). Während bei Nichtvorlage ein Steuerzuschlag in Höhe von mindestens 5000 Euro, mindestens aber 5 v.H., höchstens 10 v.H. der hinzugeschätzten Einkünfte fällig wird, sind bei verspäteter Vorlage für jeden vollen Tag der Säumnis 100 Euro, maximal 1 Mio. Euro zu zahlen. Bei diesen Steuerzuschlägen handelt es sich um Beugemittel96, die im Vergleich etwa zu dem in § 152 AO verankerten Verspätungszuschlag völlig überzogen sind97. Schließlich ist auch das Übermaßverbot tangiert, wenn neben einer Schätzung zu Ungunsten des Steuerpflichtigen zusätzlich auch noch Steuerzuschläge erhoben werden. Im Hinblick darauf kommt dem im § 162 Abs. 4 Sätze 4–6 AO eingeräumten Ermessen erhebliche Bedeutung zu98. c) Versagung von Steuerentlastungen In den Fällen, in denen bei grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehungen zu nicht kooperativen Jurisdiktionen die Dokumentationen gemäß § 90 Abs. 3

___________ 90 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 162 Rz. 68; ferner oben II. 1. 91 Der BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171 hatte noch eine Schätzung an dem für den Steuerpflichtigen günstigsten Ende der Bandbreite vorgeschrieben. 92 Hierzu oben. 93 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 162 Rz. 70. 94 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 21. 95 Zu dieser „gesetzgeberischen Missgeburt“ Seer in Tipke/Kruse, AO, § 162 Rz. 71a; Wulf, DB 2007, 2280 (2285); von Wedelstädt, AO-StB 2008, 244 (248). 96 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 162 Rz. 72. 97 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 162 Rz. 73; Wassermeyer in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, Außensteuerrecht, § 1 AStG Rz. 825.7, 825.10; Cordes, Steuerliche Aufzeichnungspflichten bei internationalen Verrechnungspreisen, 2009, 239; Lüdicke, IStR 2003, 433 (436). 98 Zu Einzelheiten Seer in Tipke/Kruse, AO, § 162 Rz. 77 ff.

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Grenzüberschreitende Sachaufklärung

AO nicht zeitnah erstellt und vorgelegt worden sind (§ 1 Abs. 2 SteuerHBekV), werden die Steuerbefreiung gemäß § 8b Abs. 1, 2 KStG sowie die Schachtelfreistellungen nach den Doppelbesteuerungsabkommen versagt (§ 4 SteuerHBekV). Schließlich ergibt sich als zusätzliche Rechtsfolge weiterhin, dass eine völlige oder teilweise Entlastung vom Steuerabzug gemäß § 50d Abs. 1, 2 EStG oder § 44 Abs. 9 EStG außer Betracht bleibt, wenn die ausländische Gesellschaft den Namen und die Ansässigkeit der natürlichen Personen, die zu mehr als 10% an ihr beteiligt sind, nicht benennt (§ 2 SteuerHBekV)99. Auch diese Rechtsfolgen, die eine Strafbesteuerung bedeuten, sind mit dem rechtsstaatlichen Übermaßverbot unvereinbar100 mit der Folge, dass jedenfalls in den Fällen, in denen die dem Steuerpflichtigen auferlegten Dokumentationspflichten an rechtlicher und/oder tatsächlicher Unmöglichkeit scheitern, die Versagung der Steuerentlastungen zu unterbleiben hat.

IV. Ausblick Über die für grenzüberschreitende Geschäftsbeziehungen verankerten erweiterten Mitwirkungspflichten (§ 90 Abs. 2 AO) und die ab 2003 wirksamen Dokumentationspflichten hinaus hat der Gesetzgeber zuletzt im Rahmen des Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes weitere gesteigerte Mitwirkungspflichten in einem Maß verankert, das man vor Jahren noch nicht für möglich gehalten hätte. Bereits die im Jahre 2003 im Rahmen des Steuervergünstigungsabbaugesetzes eingeführten Dokumentationspflichten wurden insbesondere in der Wirtschaft und Beraterschaft als überzogen bezeichnet. Zu jenen, die damals ihre Stimme erhoben, gehört auch Michael Streck101. Er prognostizierte damals: „Der Streit mit dem Finanzamt ist vorprogrammiert. Die Dokumentationsanforderungen sowie nachfolgende Schätzungsbescheide und Strafzuschläge werden die Finanzgerichte bald beschäftigen. Schon die Anforderung von Verrechnungspreisdokumentationen … ist ein Verwaltungsakt, der mit Einspruch und AdV-Antrag angefochten werden sollte. Erst recht sollte gegen Schätzungsbescheide nach § 162 Abs. 3 AO und die Festsetzung von Strafzuschlägen gemäß § 162 Abs. 4 AO stets unter Hinweis auf die Europarechtswidrigkeit der Vorschriften Einspruch eingelegt und ggf. AdV beantragt werden“. Diese Prognose hat sich indessen nicht so bewahrheitet, weil die betroffenen Steuerpflichtigen sich zumeist mit den Finanzbehörden arrangiert haben. Die seinerzeitige Prognose von Michael Streck mag allerdings für die neu eingeführten Mitwirkungspflichten aufgrund des Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes Realität werden, falls seitens des Bundesfinanzministeriums nicht kooperative Jurisdiktionen in die „schwarze Liste“ aufgenommen werden sollten. Der Jubilar wird dann gewiss zu jenen gehören, die sich für die Rechte des Steuerpflichtigen weiterhin einsetzen werden.

___________ 99 Mangels Börsenklausel wird die Benennung nicht selten an tatsächlicher Unmöglichkeit scheitern; hierzu Häuselmann, Ubg 2009, 704 (706). 100 Seer in Tipke/Kruse, AO, § 90 Rz. 33; Puls, Ubg 2009, 556 (557); Kessler/Eicke, DB 2009, 1314 (1316); Haarmann/Suttorp, BB 2009, 1275 (1277). 101 Streck, Stbg. 2003, 428.

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Jürgen Schmidt-Troje

Das Amtsermittlungsprinzip im finanzgerichtlichen Verfahren Inhaltsübersicht I. Allgemeines II. Amtsermittlung 1. Grundsatz 2. Einschränkungen a) Keine unbegrenzte Ermittlungspflicht b) Mitwirkungspflichten c) Verletzung von Mitwirkungspflichten d) Zurückweisung verspäteten Vorbringens aa) Allgemeines bb) Voraussetzungen für die Zurückweisung verspäteten Vorbringens (1) Frist zur Angabe von Tatsachen für die sog. Beschwer (2) Frist zum Vortrag bestimmter Tatsachen, Bezeichnung von Beweismitteln, Vorlage von Urkunden usw.

cc) Folgen der Fristversäumung (1) Formelle Anforderungen an eine wirksame Fristsetzung (2) Ordnungsgemäße Ermessensausübung (3) Ordnungsgemäße Belehrung (4) Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits (5) Verschulden hinsichtlich der Fristversäumung (6) Geringer Ermittlungsaufwand des Finanzgerichts dd) Ermessen bei der Zurückweisung ee) Ausspruch der Zurückweisung ff) Rechtsschutz gegen eine fehlerhafte Zurückweisung e) Sonderfall: Fristsetzung im Einspruchsverfahren III. Fazit

I. Allgemeines Die Ermittlung des richtigen Sachverhalts ist für die Festsetzung der zutreffenden steuerlichen Belastung und deshalb auch für eine zutreffende Entscheidung des Finanzgerichts von zentraler Bedeutung. Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Finanzgericht den Sachverhalt von Amts wegen. Dieser Grundsatz wird als Amtsermittlungsprinzip bzw. Untersuchungsgrundsatz bezeichnet. Er bedeutet, dass das Gericht verpflichtet ist, erforderlichenfalls unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel den Sachverhalt so vollständig aufzuklären, dass eine Sachentscheidung getroffen werden kann1. Die Verantwortung für die Ermittlung des zutreffenden Sachverhalts obliegt hier also in erster Linie dem Gericht. Vom Untersuchungsgrundsatz abzugrenzen ist der sog. Verhandlungs- oder Beibringungsgrundsatz, der im Zivilprozess gilt. Danach darf das Gericht nur die Tatsachen seiner Entscheidung zugrunde legen, die von den Parteien

___________ 1 Vgl. BFH v. 3.11.1988 – III R 288 - 289/84, BFH/NV 1989, 507.

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vorgetragen worden sind. Unstreitiges muss es im Unterschied zu dem im finanzgerichtlichen Verfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz grundsätzlich übernehmen, auch wenn es Zweifel an der Richtigkeit hat2. Hier haben also in erster Linie die Parteien die Verantwortung für die Feststellung des zutreffenden Sachverhalts. Der Unterschied zwischen beiden Sachverhaltsfeststellungsgrundsätzen ist allerdings aufgrund zahlreicher Durchbrechungen sehr gering und kaum mehr wahrnehmbar geworden. So ist der Amtsermittlungsgrundsatz durch umfangreiche Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen und Ausschlussfristen nicht unerheblich aufgeweicht worden. Hierauf wird später noch eingegangen. Andererseits ist der Beibringungsgrundsatz nicht unerheblich durch richterliche Hinweispflichten und Möglichkeiten, auch von Amts wegen bestimmte Beweise zu erheben, verschärft worden3.

II. Amtsermittlung 1. Grundsatz Die gemäß § 76 Abs. 1 FGO im finanzgerichtlichen Verfahren geltende Amtsermittlungspflicht bedeutet, dass das Gericht verpflichtet ist, den Sachverhalt so vollständig aufzuklären, dass eine Sachentscheidung getroffen werden kann. Dabei muss naturgemäß die Aufklärung so vollständig wie möglich sein. Wahrscheinlichkeitserwägungen genügen grundsätzlich nicht4. Auch darf das Gericht seiner Entscheidung nicht allgemein bekannte „Erfahrungssätze“ ohne weitere Sachaufklärung zugrunde legen5. Die Pflicht zur Amtsermittlung gilt auch dann, wenn der angefochtene Bescheid gemäß § 164 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist. Zwar wird in der Literatur die Auffassung vertreten, in diesem Fall habe das Gericht im Hinblick auf seine Funktion, die Entscheidung der Finanzverwaltung auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen, lediglich eine eingeschränkte Ermittlungspflicht6. Diese Auffassung vermag indessen nicht zu überzeugen. Denn die FGO beschränkt auch in diesem Fall die gerichtliche Prüfungspflicht nicht auf eine lediglich summarische oder kursorische Prüfung. Wendet sich der Kläger also z.B. bei einem unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Bescheid dagegen, dass das Finanzamt in bestimmten Punkten von der Steuererklärung abgewichen ist, so muss das Gericht die Steuerfestsetzung jedenfalls nach Maßgabe der Klagebegründung unter Ausnutzung der ihm zur Verfügung stehenden Ermittlungsmöglichkeiten abschließend prüfen und den Streitfall insoweit endgültig entscheiden7.

___________ 2 Vgl. Greger in Zöller, vor § 128 ZPO Rz. 10. 3 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 2; Stöcker in Beermann/Gosch, vor § 76 FGO Rz. 9. 4 Vgl. BFH v. 3.5.2001 – XI B 141/00, BFH/NV 2001, 1420. 5 BFH v. 3.6.2004 – XI B 188/03, n.v. 6 Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 35; ebenso Stöcker in Beermann/Gosch, § 76 FGO Rz. 35 ff.; offen Staperfend in Gräber, § 76 FGO Rz. 14. 7 Vgl. BFH v. 20.12.2000 – III R 17/97, BFH/NV 2001, 914; v. 10.5.1994 – IX R 26/89, BStBl. II 1994, 902 und v. 21.5.1992 – IV R 107/90, BFH/NV 1993, 296.

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Das Amtsermittlungsprinzip im finanzgerichtlichen Verfahren

In den durch den Streitgegenstand gezogenen Grenzen kann das Finanzgericht auch entscheidungserheblichen Fragen nachgehen, über die die Beteiligten nicht streiten (sog. unstreitige Tatsachen)8. Der Umstand, dass das Vorbringen eines Beteiligten nicht bestritten wird, rechtfertigt nicht die Annahme, der behauptete Geschehensablauf sei festgestellt. Eine solche Schlussfolgerung ist einem Verfahren fremd, das vom Untersuchungsgrundsatz geprägt ist9. Das Gericht darf auch nicht vorschnell eine Entscheidung nach Beweislastbzw. Feststellungslastgrundsätzen treffen. Erst dann, wenn der entscheidungserhebliche Sachverhalt trotz Ausschöpfung aller zumutbarer Ermittlungsmöglichkeiten nicht oder nicht vollständig aufgeklärt werden kann, kann das Gericht nach Beweislastregeln entscheiden10. 2. Einschränkungen a) Keine unbegrenzte Ermittlungspflicht Die Pflicht des Gerichts, den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, gilt allerdings nicht unbegrenzt. So ist das Gericht nicht verpflichtet, ohne bestimmten Anlass allen möglichen Umständen von sich aus nachzugehen, quasi ins Blaue zu ermitteln, es sei denn, der Inhalt der Akten oder der Vortrag der Beteiligten gibt hierzu Veranlassung11. Von einer zur Aufhebung des entsprechenden Urteils führenden Verletzung der Aufklärungspflicht kann deshalb nur dann ausgegangen werden, wenn das Gericht Tatsachen oder Beweismittel außer Acht lässt, die sich ihm nach Lage der Akten hätten aufdrängen müssen, und zwar insbesondere dann, wenn sie in das Verfahren von den Beteiligten eingeführt waren12. Hat der Kläger trotz entsprechender Aufforderung des Gerichts seine Klage nicht begründet, verletzt das Gericht seine Aufklärungspflicht nicht, wenn es anhand seiner Akten die Entscheidung des Finanzamts auf Fehler tatsächlicher oder rechtlicher Art nachprüft13. Man wird grundsätzlich auch nicht beanstanden können, wenn sich das Gericht bei fehlender Klagebegründung, zumal dann, wenn der Kläger durch einen Rechtsanwalt oder Steuerberater vertreten wird, in der Regel auf die rechtliche Nachprüfung beschränkt. Allerdings gilt das nicht, wenn das Finanzamt offensichtlich von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist14. Dies muss sich den Akten aber zweifelsfrei entnehmen lassen, sodass sich dem Gericht die Notwendigkeit weiterer Sachverhaltsaufklärung praktisch aufdrängt15.

___________ 8 Vgl. BFH v. 17.5.1995 – X R 185/93, BFH/NV 1995, 1976. 9 Vgl. BFH v. 25.11.2009 – X B 209/08, BFH/NV 2010, 458. 10 BFH v. 31.8.2006 – III R 26/04, BFH/NV 2007, 103 und v. 21.3.2002 – III R 42/00, BFH/NV 2002, 985; Seer in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 19. 11 BFH v. 4.9.1984 – VIII B 157/83, BStBl. II 1984, 834. 12 BFH v. 28.11.2003 – III B 7/03, BFH/NV 2004, 645. 13 BFH v. 29.4.1999 – VII B 253/98, BFH/NV 1999, 1481. 14 BFH v. 7.12.2006 – IX B 50/06, BFH/NV 2007, 1135 und v. 28.11.2003 – III B 7/03, BFH/NV 2004, 645. 15 BFH v. 28.6.2006 – V B 199/05, BFH/NV 2006, 2098.

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Beweisergebnisse anderer Gerichtsverfahren dürfen im Wege des Urkundenbeweises in das finanzgerichtliche Verfahren eingeführt werden (§§ 81, 82 FGO i.V.m. § 415 ZPO)16. Das Finanzgericht kann sich deshalb Feststellungen aus einem in das finanzgerichtliche Verfahren eingeführten Strafurteils – auch eines Strafbefehls – zu eigen machen, wenn sie nach seiner freien, sich aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens ergebenden Überzeugung zutreffend sind und die Beteiligten hiergegen keine substantiierten Einwendungen vorbringen und entsprechende Beweisanträge stellen. Zur Übernahme von Feststellungen und Beweiswürdigungen eines Strafgerichts besteht besonders dann Anlass, wenn die strafgerichtliche Entscheidung bereits rechtskräftig geworden ist17. Das Finanzgericht ist unter diesen Umständen auch nicht verpflichtet, die Akten des Strafverfahrens beizuziehen, solange keine Anhaltspunkte vorliegen, dass darin weitere für das finanzgerichtliche Verfahren entscheidungserhebliche Tatsachen enthalten sein könnten18. Die Übernahme von Feststellungen aus einem Strafurteil/Strafbefehl kommt nur dann nicht in Betracht, wenn ein Beteiligter gegen die strafgerichtlichen Feststellungen substantiierte Einwendungen vorträgt und entsprechende Beweisanträge stellt, die das Finanzgericht nicht nach den allgemeinen, für die Beweiserhebung geltenden Grundsätze unbeachtet lassen kann19. Inwieweit eine Substantiierung entsprechender Einwendungen sowie die Stellung von Beweisanträgen verlangt werden kann, hängt von der Art der Feststellungen im Strafurteil ab, gegen die sich der Beteiligte wendet. Beruhen die strafgerichtlichen Feststellungen z.B. auf Geständnissen, so bedarf es zur Substantiierung einer plausiblen Erklärung, weshalb zu erwarten ist, dass diese Angaben nicht aufrechterhalten werden20. b) Mitwirkungspflichten Inhalt und Umfang der richterlichen Aufklärungspflicht stehen im Zusammenhang mit dem Vorbringen der Beteiligten: Sie sind gemäß § 76 Abs. 1 Satz 2 FGO zur Mitwirkung verpflichtet und haben ihre Erklärung über tatsächliche Umstände vollständig und wahrheitsgemäß abzugeben. Auch der Steuerpflichtige muss also im finanzgerichtlichen Verfahren an der Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts aktiv mitwirken und darf sich nicht passiv verhalten. Dies gilt insbesondere dann, wenn Tatsachen aufzuklären sind, die seiner Sphäre zuzuordnen sind. Deshalb sieht das Gesetz z.B. in § 76 Abs. 1 Satz 4 FGO, der u.a. auf § 90 Abs. 2 AO verweist, eine erweiterte Mitwirkungspflicht bei Auslandssachverhalten vor. Durch die Mitwirkungspflicht wird gleichzeitig die Grenze für die Sachverhaltsaufklärungspflicht des Gerichts abgesteckt. Diese Grenze wird dort gezogen, wo es sich um Verhältnisse handelt, die ohne Mitwirkung des Steuerpflichtigen nicht oder nur unter unverhältnismäßigen Schwierigkeiten ermit-

___________ 16 17 18 19

BFH v. 23.1.1985 – I R 30/81, BStBl. II 1985, 305. BFH v. 2.12.2003 – VII R 17/03, BFH/NV 2004, 597. BFH v. 29.1.1999 – V B 112/97, BFH/NV 1999, 1103. BFH v. 13.1.2005 – VII B 261/04, BFH/NV 2005, 936; v. 2.12.2003 – VII R 17/03, BFH/NV 2004, 597 und v. 29.1.1999 – V B 112/97, BFH/NV 1999, 1103. 20 Vgl. BFH v. 29.1.2007 – V B 160/06, BFH/NV 2007, 759.

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Das Amtsermittlungsprinzip im finanzgerichtlichen Verfahren

telt werden können21. Eine solche Einschränkung der Untersuchungspflicht ist verfassungsrechtlich unbedenklich22. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass in den Fällen, in denen wegen mangelnder Mitwirkung des Steuerpflichtigen das Gericht nicht in der Lage ist, den Sachverhalt vollständig aufzuklären, es gleichwohl die vorliegenden Beweismittel und die ihm bekannten Umstände würdigen und bei seiner Sachentscheidung berücksichtigen muss23. Das Gericht hat den Beteiligten aber weitgehend Hilfe zu leisten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis: Die Durchsetzung eines Rechts darf nicht an der Unbeholfenheit oder Rechtsunkenntnis eines Beteiligten scheitern oder erschwert werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Beteiligte nicht durch einen Rechtsanwalt oder Steuerberater vertreten wird. Diese Verpflichtung des Gerichts ergibt sich aus § 76 Abs. 2 FGO. Danach hat der Vorsitzende darauf hinzuwirken, dass ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt und alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden. Eine entsprechende Pflicht besteht für den Berichterstatter im vorbereitenden Verfahren, wie sich aus § 79 Abs. 1 FGO ergibt. Auf die Erhebung eines von einem Beteiligten angebotenen Beweismittels darf das Gericht im Regelfall nur dann verzichten, wenn – das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, – die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten des betreffenden Beteiligten unterstellt werden kann, – das Beweismittel nicht erreichbar oder – das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist. Einen Antrag auf Vernehmung eines Zeugen darf das Gericht allerdings nicht mit der Begründung ablehnen, das Gegenteil der vom Zeugen zu bekundenden Tatsache sei bereits erwiesen; darin würde eine unzulässige vorweggenommene Würdigung eines nicht erhobenen Beweises und damit eine Verletzung der Aufklärungspflicht liegen24. c) Verletzung von Mitwirkungspflichten Verletzt der Steuerpflichtige die ihm auferlegten Mitwirkungs-, Informationsoder Nachweispflichten, reduziert sich die Amtsermittlungspflicht des Gerichts zulasten des Steuerpflichtigen. Kriterien und Ausmaß dieser Reduzierung lassen sich dabei nicht genau festlegen, sondern nur von Fall zu Fall bestimmen. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs25 können dabei

___________ 21 BFH v. 11.3.1997 – I B 123/95, BFH/NV 1997, 730. 22 Vgl. Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 GG Rz. 221. 23 BFH v. 16.4.1980 – I R 75/78, BStBl. II 1981, 492; vgl. auch BVerfG v. 31.10.1988 – 2 BvR 95/88, NJW 1989, 705. 24 BFH v. 2.6.2003 – II B 49/02, BFH/NV 2003, 1340. 25 BFH v. 15.2.1989 – X R 16/86, BStBl. II 1989, 462 m.w.N.

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folgende Aspekte – mit je nach den Umständen des Einzelfalls unterschiedlicher Gewichtung – eine Rolle spielen: – der Grad der Pflichtverletzung, – der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auch Erwägungen der Prozessökonomie26, – die Zumutbarkeit der Mitwirkung für den Steuerpflichtigen27, – die gesteigerte Mitverantwortung aus vorangegangenem Tun, z.B. bei außergewöhnlicher Sachverhaltsgestaltung oder „ungeordneten Verhältnissen“28, – der Gedanke der Beweisnähe: Die Verantwortung des Steuerpflichtigen für die Aufklärung des Sachverhalts ist umso größer, je mehr Tatsachen oder Beweismittel der von ihm beherrschten Informations- und/oder Tätigkeitssphäre angehören29. Wenn die Verletzung von Mitwirkungspflichten aus dem alleinigen Verantwortungsbereich des Steuerpflichtigen stammt, kann dies sogar dazu führen, dass aus seinem Verhalten für ihn nachteiliger Schlüsse gezogen werden. Solche Schlussfolgerungen können auch nicht bezifferbare Besteuerungsgrundlagen betreffen30. Werden beim Steuerpflichtigen durch das Finanzamt z.B. ungeklärte Einlagen auf einem betrieblichen Bankkonto festgestellt und macht der Steuerpflichtige keine Angaben darüber, wo diese Mittel herkommen, kann das Finanzgericht von einer weiteren Sachverhaltsaufklärung absehen und davon ausgehen, dass es sich insoweit um nicht versteuerte Einnahmen handelt. d) Zurückweisung verspäteten Vorbringens aa) Allgemeines Gemäß § 79b Abs. 1 FGO kann der Vorsitzende oder der Berichterstatter dem Kläger eine Frist setzen zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühlt. Darüber hinaus sieht § 79b Abs. 2 FGO vor, dass der Vorsitzende oder der Berichterstatter einem Beteiligten unter Fristsetzung aufgeben kann, zu bestimmten Vorgängen Tatsachen anzugeben oder Beweismittel zu bezeichnen sowie Urkunden oder andere bewegliche Sachen vorzulegen oder elektronische Dokumente zu übermitteln, soweit der Beteiligte dazu verpflichtet ist. Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer nach den Absätzen 1 und 2 gesetzten Frist vorgebracht werden, kann das Gericht zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und der Beteiligte die Verzögerung nicht genügend entschuldigt und der Beteiligte über die Folgen einer Fristversäumung belehrt worden ist.

___________ 26 27 28 29 30

BFH v. 6.5.2005 – XI B 239/03, BFH/NV 2005, 1605. BFH v. 23.1.1976 – I R 2324/73, BStBl. II 1976, 513. BFH v. 7.7.1983 – VII R 43/80, BStBl. II 1983, 760. BFH v. 9.5.2006 – XI B 104/05, BFH/NV 2006, 1801. BFH v. 15.2.1989 – X R 16/86, BStBl. II 1989, 462.

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Das Amtsermittlungsprinzip im finanzgerichtlichen Verfahren

§ 79b FGO steht im Zusammenhang mit dem Konzentrations- und Beschleunigungsgebot, das sich aus § 79 FGO ergibt. Dem Ziel der Konzentrationsmaxime, das Verfahren in möglichst einer mündlichen Verhandlung zum Abschluss zu bringen, läuft es zuwider, wenn entscheidungserhebliche Umstände erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragen werden. In solchen Fällen muss nämlich häufig die mündliche Verhandlung vertagt bzw. wiedereröffnet werden, damit der Prozessgegner wegen des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs und das Gericht wegen des Amtsermittlungsgrundsatzes Gelegenheit haben, sich auf den neuen Vortrag einzustellen31. Das Gleiche gilt für die in der Praxis vielfach vorkommenden Fälle, in denen das Klageverfahren zur Verschleppung der Steuerfestsetzung benutzt wird, indem z.B. in Schätzungs- und Fahndungsfällen entscheidungserhebliche Umstände oft sehr verzögert während des Prozesses angegeben werden. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass die gerichtliche Amtsermittlungspflicht und der sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergebende Anspruch auf rechtliches Gehör durch § 79b FGO nicht unerheblich eingeschränkt werden. Gerade der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen32. Verfassungsrechtlich ist der Gesetzgeber allerdings nicht gehindert, durch Präklusionsvorschriften auf eine Prozessbeschleunigung hinzuwirken. Der mit der Präklusion verfolgte Zweck, pflichtwidrige Verfahrensverzögerungen durch die Beteiligten zu unterbinden, rechtfertigt verfassungsrechtlich eine Einschränkung des Grundrechts auf rechtliches Gehör. Voraussetzung ist aber, dass die betroffene Partei ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu allen für sie wichtigen Punkten zur Sache zu äußern, dies aber aus von ihr zu vertretenen Gründen versäumt hat33. Zwischen dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs und der Anwendung von Präklusionsvorschriften wie § 79b FGO besteht ein gewisses Spannungsverhältnis. Solche Vorschriften müssen deshalb verfassungskonform ausgelegt und angewendet werden. Sie haben im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG strengen Ausnahmecharakter, weil sie sich nachteilig auf das Bemühen um eine materiell richtige Entscheidung auswirken und nachteilige Folgen für die säumige Partei haben34. Deshalb muss die Anwendung von Präklusionsvorschriften aus verfassungsrechtlichen Gründen strikt auf die gesetzlich vorgesehenen Fallgestaltungen beschränkt bleiben. Eine darüber hinausgehende erweiternde Auslegung auf andere Fallgestaltungen ist nicht zulässig35. Bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten muss diejenige gewählt werden, die dem

___________ 31 Vgl. Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 2; Seer in Tipke/Kruse, § 79b FGO Rz. 1; Fu in Schwarz, § 79b FGO Rz. 3, 4. 32 Vgl. BFH v. 12.7.2005 – X B 37/05, BFH/NV 2005, 1802; Seer in Tipke/Kruse, § 119 FGO Rz. 45; Schmidt-Troje/Schaumburg, Der Steuerrechtsschutz, III Rz. 122 ff. 33 BVerfG v. 6.4.1998 – 1 BvR 219497, NVwZ 1998, 837; v. 26.8.1988 – 2 BvR 1437/87, NJW 1989, 706. 34 Vgl. BVerfG v. 26.8.1988 – 2 BvR 1437/87, NJW 1989, 706; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 103 Abs. 1 GG Rz. 134. 35 Vgl. BFH v. 25.4.1995 – IX R 6/94, BStBl. II 1995, 545.

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Grundrecht auf rechtliches Gehör die stärkste Wirkungskraft verleiht, dieses Grundrecht also am wenigsten einengt36. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Anwendung von Präklusionsvorschiften durch das Gericht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, insbesondere dem Anspruch auf rechtliches Gehör, genügt, müssen auch die Grundsätze rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung in die Prüfung einbezogen werden37. Das heißt: Es muss insbesondere das Gebot der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit eingehalten werden. So muss über Beginn und Ende der Frist bereits zu Fristbeginn Klarheit herrschen. Außerdem hat sich das Gericht selbst bei Erlass seiner Fristsetzungsverfügung sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf die erkennbare Einhaltung der gesetzlichen Form- und Zustellungsvorschriften so klar und eindeutig zu verhalten, dass bei der betroffenen Partei von Anfang an keine Fehlvorstellungen über die schwerwiegenden Folgen der mit einer Fristverletzung verbundenen Konsequenzen aufkommen können38. Hierzu später mehr. bb) Voraussetzungen für die Zurückweisung verspäteten Vorbringens (1) Frist zur Angabe von Tatsachen für die sog. Beschwer Nach § 79b Abs. 1 Satz 1 FGO kann dem Kläger eine Frist gesetzt werden zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühlt. § 79b Abs. 1 Satz 1 FGO ergänzt die Möglichkeit der Fristsetzung nach § 65 Abs. 2 FGO, soweit es die Angabe der den Kläger beschwerenden Tatsachen betrifft. Für eine Fristsetzung nach dieser Vorschrift ist daher kein Raum, wenn der Kläger in hinreichendem Umfang Tatsachen vorgetragen hat, auf die er sein Klagebegehren stützt39. Deshalb darf die Aufforderung nach § 79b Abs. 1 FGO nur ergehen, wenn der Kläger überhaupt noch keine Tatsachen vorgetragen hat oder sein Tatsachenvortrag so dürftig ist, dass hieraus eine mögliche Beschwer des Klägers durch die behördliche Entscheidung nicht ersichtlich ist. § 79b Abs. 1 FGO hat den Zweck, den äußeren Rahmen des Streitprogramms in tatsächlicher Hinsicht abzustecken. Er dient der Substantiierung der Beschwer, nicht aber der Angabe von Tatsachen schlechthin, die bei der Entscheidung zu berücksichtigen sind. Dies folgt aus § 79b Abs. 2 FGO, der eine Fristsetzung zur Angabe von Tatsachen über § 79b Abs. 1 FGO hinaus vorsieht. Ob der Kläger ausreichende Angaben zur Substantiierung seiner Beschwer im Sinne des § 79b Abs. 1 FGO dargetan hat, ist letztlich eine Frage des Einzelfalles. So reicht es für § 79b Abs. 1 FGO aus, wenn der Kläger innerhalb der Ausschlussfrist klar zum Ausdruck bringt, dass er sich durch die Abweichung von den eingereichten Steuererklärungen beschwert fühlt wie z.B. durch die

___________ 36 Vgl. BGH v. 5.3.1990 – II ZR 109/89. NJW 1990, 2389 m.w.N. 37 BVerfG v. 6.4.1998 – 1 BvR 2194/97, NVwZ 1998, 837; vgl. auch Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 5.14. 38 Vgl. BGH v. 5.3.1990 – II ZR 109/89, NJW 1990, 2389 m.w.N. 39 BFH v. 14.8.2008 – X B 212/07, n.v.; BFH v. 23.4.2003 – IX R 22/00, BFH/NV 2003, 1198.

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Versagung eines Verlustvortrages40. Andererseits reichen pauschale Hinweise darauf, was der Kläger erreichen möchte, nicht aus, wie z.B. Aufhebung der Bescheide, soweit Verjährung eingetreten ist, Wegfall der Sicherheitszuschläge für alle Jahre ohne Verjährung, Berücksichtigung von Versicherungsbeiträge bei den Sonderausgaben und weiterer Betriebsausgaben bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb. Solche allgemein gehaltenen, unsubstantiierten Hinweise können nicht als Angabe von „Tatsachen“ zur Beschwer im Sinne des § 79b Abs. 1 Satz 1 FGO angesehen werden41. Die Tatsachen zur Beschwer sind erst angegeben, wenn dem Finanzgericht so viele sachverhaltsmäßige Erläuterungen gegeben worden sind, dass es die Streitpunkte wenigstens in ihren Grundzügen erkennen kann. Das Finanzgericht muss in die Lage versetzt werden, ggf. in der zweiten Stufe der Klagekonkretisierung nach § 79b Abs. 2 FGO bei „bestimmten Vorgängen“ nähere Sachverhaltserläuterungen – durch nunmehr speziellere Tatsachenangaben – zu verlangen42. Der verspätete Vortrag von Rechtsausführungen wird von § 79b Abs. 1 Satz 1 FGO nicht erfasst43. Das Gleiche gilt für die Anforderung einer Klagebegründung. Denn die Aufforderung, die Klage zu begründen, geht über den Anwendungsbereich von § 79b FGO hinaus und ist von dieser Vorschrift nicht gedeckt, weil sie auch die Angabe von Beweismitteln einschließt und als Aufforderung zu Rechtsausführungen verstanden werden kann44. Die Fristsetzung nach § 79b Abs. 1 FGO ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar. Sie ist eine prozessleitende Verfügung im Sinne des § 128 Abs. 2 FGO. Gemäß § 128 Abs. 2 FGO können prozessleitende Verfügungen nicht mit der Beschwerde angefochten werden45. Holt der Kläger innerhalb der nach § 79b Abs. 1 FGO gesetzten Frist die fehlenden tatsächlichen Angaben zur Beschwer nicht nach, kann das FG die Klage als unzulässig abweisen, falls die weiteren Voraussetzungen des § 79b Abs. 3 FGO vorliegen. Dies gilt auch für die Fälle, in denen Unterlagen durch die Steuerfahndung beschlagnahmt sind46. (2) Frist zum Vortrag bestimmter Tatsachen, Bezeichnung von Beweismitteln, Vorlage von Urkunden usw. Gemäß § 79b Abs. 2 FGO können der Vorsitzende oder der Berichterstatter einem Beteiligten unter Fristsetzung aufgeben, zu bestimmten Vorgängen – Tatsachen anzugeben oder Beweismittel zu bezeichnen,

___________ 40 41 42 43 44

BFH v. 21.5.1997 – I R 50/96, BFH/NV 2000, 198. Vgl. BFH v. 8.3.1995 – X B 233 - 244/94, BStBl. II 1995, 417. Vgl. BFH v. 13.6.1996 – III R 93/95, BStBl. II 1996, 483. BFH v. 15.9.2005 – II B 147/04, BFH/NV 2006, 106. BFH v. 19.1.2007 – VII B 50/06, BFH/NV 2007, 946; Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 17. 45 BFH v. 7.2.2005 – V B 62 - 63/04, BFH/NV 2005, 1319. 46 BFH v. 19.1.2000 – II B 112/99, BFH/NV 2000, 1103; von Groll in Gräber, § 79b FGO Rz. 9.

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– Urkunden oder andere bewegliche Sachen vorzulegen oder elektronische Dokumente zu übermitteln, soweit der Beteiligte dazu verpflichtet ist. Während § 79b Abs. 1 Satz 1 FGO die Möglichkeit der Fristsetzung nach § 65 Abs. 2 FGO ergänzt und die Angabe der den Kläger beschwerenden Tatsachen betrifft, konkretisiert die Fristsetzung nach § 79b Abs. 2 FGO den Untersuchungsgrundsatz (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) und ist Ausdruck der Mitverantwortung der Beteiligten für die Aufklärung des Sachverhalts47. Die Aufforderung muss sich auf bestimmte Vorgänge beziehen. Eine allgemeine Aufforderung zur Ergänzung v on Angaben genügt den Anforderungen des § 79b Abs. 2 Nr. 1 FGO ebenso wenig wie eine richterliche Verfügung, die dem Kläger aufgibt, Tatsachen anzugeben, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren er sich beschwert fühlt, falls die Beschwer durch den Kläger bereits hinreichend substantiiert dargestellt ist48. Die Aufforderung muss möglichst konkret formuliert sein und hinreichend deutlich machen, zu welchen Punkten das Gericht ein weiteres Vorbringen für notwendig hält. Eine Fristsetzung nach § 79b Abs. 2 FGO ist deshalb nur wirksam, wenn die von dem Richter für aufklärungs- oder beweisbedürftig erachteten Punkte so genau bezeichnet werden, dass es dem Beteiligten möglich ist, die Anordnung ohne Weiteres zu befolgen49. Eine Aufforderung zur Vorlage von Steuererklärungen ist durch § 79b Abs. 2 FGO nicht gedeckt. Eine Steuererklärung ist mehr als bloßer Tatsachenvortrag zu „bestimmten Vorgängen“ Sie ist eine Verfahrenshandlung, die eine Wissenserklärung über die in der Steuererklärung aufgeführten Tatsachen und zugleich rechtliche Schlussfolgerungen des Steuerpflichtigen enthält50. Eine erweiternde Auslegung des § 79b Abs. 2 FGO kommt nicht in Betracht. Denn die Anwendung der Präklusionsvorschriften ist wegen der mit ihnen verbundenen Begrenzung des rechtlichen Gehörs auf die gesetzlich vorgesehenen Fallgestaltungen zu beschränken. Eine darüber hinausgehende Verfügung stellt keine wirksame Fristsetzung im Sinne des § 79b Abs. 2 FGO dar und ist deshalb auch dann nicht geeignet, die Präklusionsfolgen des § 79b Abs. 3 FGO zu begründen, wenn die formellen Anforderungen im Übrigen erfüllt sind51. Auch die Setzung einer Ausschlussfrist nach § 79b Abs. 2 FGO ist eine prozessleitende Verfügung, die gemäß § 128 Abs. 2 FGO nicht mit der Beschwerde angefochten werden kann52. Ist die Frist versäumt, kommt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht; sie ist lediglich bei der Versäumung gesetzlicher Fristen möglich (§ 56 Abs. 1 FGO). § 56 FGO gilt für

___________ 47 BFH v. 23.4.2003 – IX R 22/00, BFH/NV 2003, 1198. 48 BFH v. 23.4.2003 – IX R 22/00, BFH/NV 2003, 1198. 49 BFH v. 14.8.2008 – X B 212/07, n.v.; BFH v. 25.4.1995 – IX R 6/94, BStBl. II 1995, 545. 50 BFH v. 24.5.2000 – VI R 182/99, BFH/NV 2000, 1481. 51 So zu Recht BFH v. 24.5.2000 – VI R 182/99, BFH/NV 2000, 1481; vgl. auch Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 18 ff. 52 BFH v. 30.4.2009 – VII B 93/09, n.v.; BFH v. 17.1.2006 – XI B 134/05, BFH/NV 2006, 1109.

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richterliche Fristen nur, soweit seine sinngemäße Anwendung angeordnet ist (so in § 62 Abs. 3 Satz 4, § 65 Abs. 2 Satz 3 FGO), was in § 79b FGO nicht der Fall ist53. cc) Folgen der Fristversäumung Das Gericht kann gemäß § 79b Abs. 3 FGO Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer nach den Absätzen 1 und 2 gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn – die Ausschlussfrist wirksam und ermessensfehlerfrei gesetzt worden ist, – der Beteiligte über die Folgen der Fristversäumung zutreffend belehrt worden ist, – die zurückgewiesenen Erklärungen und Beweismittel nach Ablauf der Frist vorgebracht worden sind, – die Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde, – der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt und der Sachverhalt nicht mit geringem Aufwand vom Gericht selbst bis zur Entscheidungsreife ermittelt werden kann. Voraussetzung für die Präklusion nach § 79b Abs. 3 FGO ist zunächst also, dass die Ausschlussfrist wirksam und ermessensfehlerfrei gesetzt war. Bei der Fristsetzung nach § 79b Abs. 1, 2 FGO handelt es sich um eine prozessleitende Verfügung, für die der Vorsitzende oder der Berichterstatter zuständig ist, nicht etwa der Senat als Spruchkörper54. (1) Formelle Anforderungen an eine wirksame Fristsetzung Beim Setzen der Ausschlussfrist ist in formeller Hinsicht Folgendes zu beachten, damit die Präklusion eintreten kann: Die Verfügung, mit der die Ausschlussfrist gesetzt wird, muss vom Vorsitzenden oder Berichterstatter unterschrieben werden, eine Paraphe genügt nicht55. Außerdem muss eine beglaubigte Abschrift der fristsetzenden Verfügung gemäß § 53 Abs. 1 FGO förmlich zugestellt werden56. Hier begründet die Postzustellungsurkunde nach § 3 VwZG i.V.m. § 53 Abs. 2 FGO auch nach der Privatisierung der Deutschen Bundespost als öffentliche Urkunde im Sinne

___________ 53 BFH v. 8.3.1995 – X B 243, 244/94, BStBl. II 1995, 417. 54 Vgl. Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 141; Fu in Schwarz, FGO, § 79b FGO Rz. 16. 55 Vgl. Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 142; Fu in Schwarz, FGO, § 79b FGO Rz. 17. 56 BFH v. 24.6.1999 – V R 1/99, BFH/NV 1999, 1616.

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von § 418 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 195 Abs. 2 ZPO den vollen Beweis hinsichtlich des darin beurkundeten Zustellungsvorgangs57. Erforderlich ist, dass der Beteiligte eine wortgleiche beglaubigte Kopie oder Ausfertigung erhält58. Sollen einem Beteiligten mehrere gerichtliche Verfügungen in einem Briefumschlag zugestellt werden, muss sich aus der auf dem Briefumschlag angebrachten Geschäftsnummer ergeben, welchen Inhalt die zuzustellende Sendung hat. Hierzu genügt die Verwendung des gerichtlichen Aktenzeichens ohne entsprechenden Zusatz als Geschäftsnummer nicht, da hieraus nicht mit der gebotenen Sicherheit auf den Inhalt der durch das Gericht zuzustellenden Sendung geschlossen werden kann59. Die Angabe einer unrichtigen Geschäftsnummer auf einer von Amts wegen zuzustellenden Sendung macht deren Zustellung unwirksam60. Außerdem muss die dem Beteiligten zugestellte beglaubigte Abschrift der Verfügung ein Datum aufweisen61. Die mangelhafte Zustellung kann nach § 9 Abs. 2 VwZG i.V.m. § 53 Abs. 2 FGO nicht geheilt werden. Auf die Rüge eines nicht heilbaren Zustellungsmangels kann auch nicht verzichtet werden (§ 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO)62. (2) Ordnungsgemäße Ermessensausübung Der Vorsitzende oder der Berichterstatter kann gemäß § 79b Abs. 1, 2 FGO eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen (§ 79b Abs. 1 und 2). Diese Entscheidung steht also in seinem Ermessen. Dem Vorsitzenden oder dem Berichterstatter ist ein Entschließungsermessen eingeräumt, ob er zur Förderung des Verfahrens einem Beteiligten eine Ausschlussfrist setzt. Er hat hier einen breiten Ermessensspielraum und ist z.B. nicht verpflichtet, von der Möglichkeit einer Fristsetzung nach § 79b FGO erst nach mehrfacher vergeblicher Aufforderung, bestimmte Tatsachen anzugeben, oder nach Verstreichen einer Zeitspanne von mehr als drei Monaten Gebrauch zu machen63. Auch die Bemessung der Dauer der Ausschlussfrist ist eine Ermessensentscheidung. Denn das Gesetz gibt eine bestimmte Frist nicht vor. Im Hinblick auf das Grundrecht auf rechtliches Gehör muss die Frist allerdings so bemessen sein, dass sie dem Beteiligten ausreichend Zeit gibt, der gerichtlichen Aufforderung nachzukommen. Eine Mindestfrist von einem Monat ist von § 79b Abs. 1, 2 FGO aber nicht vorgesehen. Auch eine kürzere Frist kann der Vorsitzende oder der Berichterstatter als angemessen erachten64. Eine Frist

___________ 57 BFH v. 25.11.1999 – III B 5/99, BFH/NV 2000, 844. 58 BFH v. 24.6.1999 – V R 1/99, BFH/NV 1999, 1616; Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 142. 59 BFH v. 12.9.1995 – IX R 72/94, BStBl. II 1995, 898. 60 BFH v. 25.11.1997 – VII R 79/96, BFH/NV 1998, 1101. 61 BFH v. 5.6.1997 – III R 183/94, BFH/NV 1998, 203. 62 BFH v. 25.11.1999 – III B 5/99, BFH/NV 2000, 844 und v. 25.11.1997 – VII R 79/96, BFH/NV 1998, 1101. 63 BFH v. 6.4.2000 – II B 106/99, BFH/NV 2001, 164. 64 BFH v. 23.2.2004 – VII B 162/03, BFH/NV 2004, 1063.

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von drei Wochen zur Vorlage von Beweismitteln zur Vorbereitung der neun Tage nach Fristablauf stattfindenden mündlichen Verhandlung dürfte grundsätzlich noch als ausreichend angesehen werden können65. (3) Ordnungsgemäße Belehrung Ist nach § 79b Abs. 1, 2 FGO wirksam eine Frist gesetzt worden, kann eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens bzw. eines verspäteten Beweisantritts nur erfolgen, wenn der Beteiligte über die Folgen einer Fristversäumung ordnungsgemäß belehrt worden ist (§ 79b Abs. 3 Nr. 3 FGO). Hierfür reicht die wörtliche Wiedergabe des auch für einen juristischen Laien unmissverständlichen Gesetzestextes aus, also der Hinweis, dass das Gericht Erklärungen und Beweismittel, die nach Ablauf der gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden könne. Damit ist dem Anliegen des Gesetzgebers entsprochen, auch einem „weniger gewandten Rechtssuchenden“ die Folgen einer Fristversäumnis zweifelsfrei vor Augen zu stellen. Insbesondere macht diese Handhabung der Belehrungspflicht für den Betroffenen deutlich, dass das Gericht bei Überschreiten der gesetzten Frist im Rahmen einer Ermessensentscheidung befugt ist, das verspätete Vorbringen zurückzuweisen66. Über die Entschuldigungsmöglichkeit (§ 79b Abs. 3 Nr. 2 FGO) muss das Gericht den Beteiligten nicht belehren67. (4) Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits Weitere Voraussetzung für die Zurückweisung ist gemäß § 79b Abs. 3 Nr. 1 FGO, dass nach der freien Überzeugung des Gerichts ohne die Zurückweisung eine Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits eintreten würde. Nach dem absoluten Verzögerungsbegriff tritt eine Verzögerung dann ein, wenn der Rechtsstreit bei Zulassung der verspäteten Erklärungen oder Beweismittel länger als bei deren Zurückweisung dauern würde. Danach kann es keinesfalls zu einer Verzögerung des Rechtsstreits kommen, wenn eine Erledigung in der ersten vom Finanzgericht nach pflichtgemäßem Ermessen terminierten mündlichen Verhandlung möglich ist68. Ist die Sache nach Fristablauf noch nicht entscheidungsreif, weil wegen anderer Punkte ohnehin noch eine Beweisaufnahme durchzuführen ist, kann es an der Kausalität des verspäteten Vortrags für die Verzögerung fehlen. In einem solchen Fall kann das Finanzgericht auch keine Abtrennung und gesonderte Entscheidung gemäß § 73 FGO unter Zurückweisung des „verspäteten“ Vortrags bezüglich einzelner Teile des Streitgegenstands vornehmen. Eine derartige Entscheidung wäre zumindest ermessensfehlerhaft69.

___________ 65 66 67 68

BFH v. 1.12.2005 – XI B 120/04, BFH/NV 2006, 929. BFH v. 16.1.2006 – VIII B 35/05, NFH/NV 2006, 957. BFH v. 8.3.1995 – X B 243, 244/94, BStBl. II 1995, 417. BFH v. 14.12.2006 – II B 23/06, BFH/NV 2007, 495 und v. 10.6.1999 – IV R 23/98, BStBl. II 1999, 664. 69 Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 70 m.w.N.

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(5) Verschulden hinsichtlich der Fristversäumung Schließlich ist gemäß § 79b Abs. 3 Nr. 2 FGO Voraussetzung für die Zurückweisung, dass von dem betreffenden Beteiligten die Fristversäumnis nicht genügend entschuldigt wurde. Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich, dass die Entschuldigungsgründe von dem säumigen Beteiligten selber vorgebracht werden müssen. Eine Prüfung von Amts wegen scheidet insoweit aus70. Über die Entschuldigungsmöglichkeit (§ 79b Abs. 3 Nr. 2 FGO) muss das Gericht den Beteiligten nicht belehren71. Das Gericht muss den Beteiligten auch nicht darauf hinweisen, etwaige Entschuldigungsgründe bis zum Abschluss der mündlichen Verhandlung noch geltend zu machen72. Eine Frist für das Vorbringen der Entschuldigungsgründe sieht das Gesetz nicht vor. Daher kann die Verspätung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung genügend entschuldigt werden73. Verschuldet ist die Fristversäumung wie bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand schon bei leichter Fahrlässigkeit. Ein berufs- und krankheitsbedingter Auslandsaufenthalt kann z.B. nur dann als Entschuldigungsgrund für eine versäumte Ausschlussfrist nach § 79b Abs. 3 Satz 1 FGO berücksichtigt werden, wenn schlüssig vorgetragen wird, dass die Umstände dieses Auslandsaufenthalts es unmöglich gemacht haben, die Ausschlussfrist selbst oder mithilfe eines Dritten zu wahren74. Dabei muss sich der Beteiligte auch das Verschulden seines Bevollmächtigten zurechnen. Ein Entschuldigungsgrund für die Verzögerung liegt nicht darin, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Unterlagen verspätet erhalten hat75. (6) Geringer Ermittlungsaufwand des Finanzgerichts Die Zurückweisung verspäteten Vorbringens scheidet aus, wenn der Sachverhalt mit geringem Aufwand auch ohne Mitwirkung des säumigen Beteiligten ermittelt werden kann (§ 79b Abs. 3 Satz 3 FGO). Welcher Ermittlungsaufwand noch als gering angesehen werden kann, hängt von dem zur Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts erforderlichen Aufwand ab. Sind andere zur Sachverhaltsaufklärung geeignete Erkenntnismittel ohne Weiteres greifbar, wird man von einem geringen Ermittlungsaufwand ausgehen können76. Umfangreiche Beweisaufnahmen, die bei ordnungsgemäßer Mitwirkung des Beteiligten entbehrlich wären, fallen nicht mehr unter das Tatbestandsmerkmal „geringer Aufwand“. Allerdings schließt

___________ 70 Vgl. Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 94 ff.; Fu in Schwarz, FGO, § 79b FGO Rz. 59. 71 BFH v. 8.3.1995 – X B 243, 244/94, BStBl. II 1995, 417. 72 Vgl. BFH v. 3.6.2004 – VII B 295/03, BFH/NV 2004, 1415 und v. 7.5.2002 – X B 137/01, BFH/NV 2002, 1459; Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 97. 73 BFH v. 8.3.1995 – X B 243, 244/94, BStBl. II 1995, 417. 74 BFH v. 7.5.2002 – X B 137/01, BFH/NV 2002, 1459. 75 BFH v. 30.4.2003 – IX B 37/03, BFH/NV 2003, 1089. 76 Vgl. Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 129 ff.; Schmidt-Troje/Schaumburg, Der Steuerrechtsschutz, II Rz. 497.

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ein geringer Ermittlungsaufwand allein die Zurückweisungsmöglichkeit nicht aus. Hinzukommen muss gemäß § 79b Abs. 3 Satz 3 FGO, dass die Ermittlungen ohne eine weitere Mitwirkung des säumigen Beteiligten möglich sind. dd) Ermessen bei der Zurückweisung Wie sich aus dem eindeutigen Wortlaut des § 79b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1–3 FGO ergibt, müssen die oben genannten Voraussetzungen kumulativ vorliegen. Würde z.B. durch das verspätete Vorbringen die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögert (Nr. 1), kommt auch dann eine Zurückweisung nicht in Betracht, wenn der Kläger die Verspätung nicht genügend entschuldigt hat. Liegen die Voraussetzungen des § 79b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1–3 FGO – kumulativ – vor, ist das Gericht nicht verpflichtet, das verspätete Vorbringen zurückzuweisen. Es kann von der Möglichkeit der Zurückweisung Gebrauch machen, muss dies aber nicht. Es handelt sich insoweit um eine Ermessensentscheidung des Gerichts. Ob das Gericht von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, muss es also nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden. Bei der Ausübung des Ermessens kann sich das Gericht zwar von seiner freien Überzeugung leiten lassen. Es ist an starre Regeln nicht gebunden. Es muss aber die Grundsätze eines rechtsstaatlichen, fairen Verfahrens ebenso berücksichtigen wie den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, der gerade durch eine Zurückweisung nicht unerheblich eingeschränkt wird77. Bei der Ermessensausübung ist u.a. zu berücksichtigen, ob der Beteiligte rechtlich bewandert oder sachkundig vertreten ist, ferner die Dauer der Fristüberschreitung, der Grad des Verschuldens sowie die Möglichkeit einer außergerichtlichen Erledigung78. Die Zurückweisung des verspäteten Vorbringens kann ermessensfehlerhaft sein, wenn trotz der eingetretenen Verspätung eine Verzögerung des Rechtsstreits durch eine rechtzeitige und sachgerechte Vorbereitung der mündlichen Verhandlung hätte vermieden werden können. Denn die Zurückweisung ist nicht gerechtfertigt, wenn die Gefahr der Verzögerung in gleicher Weise auf das Verhalten des Gerichts wie auf dasjenige des Klägers zurückgeht. Das ist dann der Fall, wenn das Gericht bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Prozessförderungspflicht die verspätet vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel ohne Weiteres in der mündlichen Verhandlung hätte berücksichtigen können oder eine unzulängliche Verfahrensleitung bzw. unzureichende Terminsvorbereitung die Verzögerung mit verursacht hat. Hier wäre es mit dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf rechtliches Gehör nicht vereinbar, wenn das Gericht eine von ihm selbst (mit-)bewirkte Verzögerungsgefahr generell und ohne weitere Voraussetzungen zum Anlass nehmen könnte, den Bürger mit seinem Vortrag auszuschließen79. Erkennt das Ge-

___________ 77 BFH v. 17.2.2000 – I R 52 - 55/99, BStBl. II 2000, 354 und v. 15.10.1996 – VII B 119/96, BFH/NV 1997, 514. 78 Vgl. Schmidt-Troje/Schaumburg, Der Steuerrechtsschutz, II Rz. 498; Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 170. 79 Vgl. BVerfG v. 14.11.1989 – 1 BvR 956/89, NJW 1990, 566 und v. 5.5.1987 – 1 BvR 903/85, NJW 1987, 2733; BFH v. 17.2.2000 – I R 52 - 55/99, BStBl. II 2000, 354.

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richt, dass der verspätet vorgetragene Sachverhalt auch unter Berücksichtigung des Akteninhalts in einem entscheidungserheblichen Punkt unvollständig oder unklar ist, muss es die Maßnahmen ergreifen, die zur Klärung des Sachverhalts innerhalb der Frist bis zur mündlichen Verhandlung geeignet erscheinen80. In der Regel handelt das Gericht allerdings nicht ermessensfehlerhaft, wenn es den säumigen Beteiligten, der seine Säumnis nicht hinreichend entschuldigt hat, mit den angedrohten Folgen seiner Säumnis belastet und sein Vorbringen als verspätet zurückweist81. ee) Ausspruch der Zurückweisung Die Zurückweisung verspäteten Vorbringens erfolgt nicht im Tenor der Entscheidung, sondern in den Entscheidungsgründen82. Dabei muss sich das Gericht mit den einzelnen oben genannten Voraussetzungen für eine Zurückverweisung auseinandersetzen; es darf sich nicht auf den bloßen Ausspruch der Zurückweisung beschränken. Vielmehr sind für jede einzelne Voraussetzung die Tatsachen und Erwägungen des Gerichts darzulegen, weshalb die betreffende Voraussetzung bejaht wird83. Außerdem muss das Gericht im Einzelnen seine Ermessenserwägungen darlegen, damit auch insoweit eine etwaige Überprüfung durch das Revisionsgericht möglich ist, das zwar keine eigenen Ermessenserwägungen anstellen darf, aber das Vorliegen von etwaigen Ermessensfehlern zu prüfen hat84. ff) Rechtsschutz gegen eine fehlerhafte Zurückweisung Hat das Gericht zu Unrecht die Voraussetzungen für eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens bejaht, so liegt darin eine Verletzung des sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergebenden Grundsatzes des rechtlichen Gehörs85, die als absoluter Revisionsgrund (§ 119 Nr. 3 FGO) zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils führt. Außerdem liegt insoweit ein Verfahrensmangel im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor, auf den eine Nichtzulassungsbeschwerde gestützt werden kann86. e) Sonderfall: Fristsetzung im Einspruchsverfahren Nach § 76 Abs. 3 Satz 1 FGO kann das Finanzgericht Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der vom Finanzamt nach § 364b Abs. 1 AO

___________ 80 BFH v. 10.6.1999 – IV R 23/98, BStBl. II 1999, 664; Schmidt-Troje/Schaumburg, Der Steuerrechtsschutz, II Rz. 498. 81 Vgl. Schmidt-Troje/Schaumburg, Der Steuerrechtsschutz, II Rz. 498; Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 166. 82 BFH v. 17.10.1990 – I R 118/88, BStBl. II 1991, 242. 83 Vgl. BVerfG v. 14.11.1989 – 1 BvR 956/89, NJW 1990, 566. 84 So auch Stöcker in Beermann/Gosch, § 79b FGO Rz. 155. 85 Vgl. BVerfG v. 14.11.1989 – 1 BvR 956/89, NJW 1990, 566. 86 Vgl. Schmidt-Troje/Schaumburg, Der Steuerrechtsschutz, III Rz. 44 und 122; Seer in Tipke/Kruse, § 79b FGO Rz. 17.

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gesetzten Frist eingehen, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden. Nach § 76 Abs. 3 Satz 2 FGO gilt insoweit § 79b Abs. 3 FGO entsprechend. Das bedeutet: Hat das Finanzamt über den Einspruch unter Zurückweisung von Vorbringen nach § 364b AO 1977 entschieden und wird dagegen Klage erhoben, hat das Finanzgericht bei Prüfung der Begründetheit dieser Klage zunächst zu untersuchen, ob – die Ausschlussfrist vom Finanzamt wirksam und ermessensfehlerfrei gesetzt worden ist, – der Beteiligte über die Folgen der Fristversäumung zutreffend belehrt worden ist, – die zurückgewiesenen Erklärungen und Beweismittel nach Ablauf der Frist vorgebracht worden sind, – die Verspätung nicht genügend entschuldigt worden ist und – der Sachverhalt nicht mit geringem Aufwand vom Finanzgericht selbst bis zur Entscheidungsreife ermittelt werden kann. Außerdem setzt die Zurückweisung der Erklärungen oder Beweismittel weiter voraus, dass die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits nach der freien Überzeugung des Gerichts verzögern würde. Erst wenn alle diese Fragen zu bejahen sind, liegt es im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, die Erklärungen oder Beweismittel zurückzuweisen. Da insoweit § 79b Abs. 3 FGO entsprechend anzuwenden ist, wird wegen der Einzelheiten auf die obigen Ausführungen zu § 79b Abs. 3 FGO verwiesen. Es handelt sich um ein sehr umständliches Verfahren, durch das der mit § 364b AO verfolgte Beschleunigungseffekt erheblich verwässert wird. Hat das Finanzamt im Einspruchsverfahren nämlich von § 364b AO Gebrauch gemacht und Erklärungen und Beweismittel zurückgewiesen und wird hiergegen Klage erhoben, so geht diese Fristsetzung ins Leere, wenn mit der Klage oder kurze Zeit danach die entsprechenden Erklärungen und Beweismittel vorgelegt bzw. benannt werden. In diesem Fall kann es nicht zu einer Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits kommen, wäre eine Zurückweisung also rechtswidrig87. Dabei ist insbesondere auch Folgendes zu berücksichtigen: Das Finazgericht hat schon vor der mündlichen Verhandlung geeignete vorbereitende Maßnahmen gemäß § 79 Abs. 1 FGO zu ergreifen, wenn ihm dies möglich war und hierzu Anlass bestand. Unterlässt das Finanzgericht solche Maßnahmen, ist es regelmäßig ermessensfehlerhaft, vom Kläger erst im Klageverfahren, aber angemessene Zeit vor der mündlichen Verhandlung, nachgereichte Steuererklärungen gemäß §§ 76 Abs. 3, 79b Abs. 3 FGO wegen Verzögerung des Rechtsstreits in der mündlichen Verhandlung zurückzuweisen. Denn das Finanzgericht darf sich nicht darauf beschränken, die nachgereichten Steuererklärungen zunächst nur zu den Akten zu nehmen und ggf. erst in der mündlichen Verhandlung auf Bedenken gegen die Richtigkeit der Erklärungen hin-

___________ 87 Vgl. Schmidt-Troje/Schaumburg, Der Steuerrechtsschutz, II Rz. 499.

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zuweisen. Eine (erneute) Zurückweisung der vom Kläger nachgereichten Steuererklärungen käme allenfalls dann in Betracht, wenn sich zur Überzeugung des Gerichts verlässlich abschätzen ließe, dass das Klageverfahren auch dann verzögert worden wäre, wenn das Gericht seinen Hinweis-, Aufklärungsund Vorbereitungspflichten genügt hätte88.

III. Fazit Zwar hat im finanzgerichtlichen Verfahren das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären und zu ermitteln. Das Gesetz hat den Beteiligten, insbesondere dem Steuerpflichtigen aber nicht unerhebliche Mitwirkungspflichten auferlegt und dem Gericht die Möglichkeit gegeben, durch Fristsetzungen mit Präklusionswirkung die Mitwirkung mehr oder weniger zu erzwingen, will der Steuerpflichtige den Prozess nicht verlieren. Der mit der Präklusion verfolgte Zweck, pflichtwidrige Verfahrensverzögerungen durch die Beteiligten zu unterbinden, rechtfertigt verfassungsrechtlich eine derartige Einschränkung des Grundrechts auf rechtliches Gehör. Allerdings hat das Gericht in jedem Fall die Grundsätze rechtstaatlicher Verfahrensgestaltung einzuhalten und zu versuchen, durch eine ordnungsgemäße Prozessleitung eine die Zurückweisung rechtfertigende Verfahrensverzögerung zu vermeiden. Die Zurückweisung ist nicht gerechtfertigt, wenn die Verzögerung auch auf das Verhalten des Gerichts z.B. durch eine unzulängliche Verfahrensleitung oder Verletzung der richterlichen Fürsorgepflicht zurückzuführen ist. Der Steuerpflichtige steht einer vorschnell und missbräuchlich vorgenommenen Zurückweisung seines – verspäteten – Vorbringens nicht schutzlos gegenüber. Er kann mit der Nichtzulassungsbeschwerde und der Revision rügen, dass die Zurückweisung fehlerhaft war und deshalb das Grundrecht auf rechtliches Gehör verletzt ist.

___________ 88 BFH v. 9.9.1998 – I R 31/98, BStBl. II 1999, 26.

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Tax Compliance und Außenprüfung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Tax Compliance aus der Perspektive der Unternehmen III. Tax Compliance aus der Perspektive der Finanzverwaltung IV. Tax Compliance-Win-Win-Situation bei zeitnaher Außenprüfung V. Keine Abhängigkeit der zeitnahen Außenprüfung von einem unbeschränkten Datenzugriff

1. Ignoranz der tatbestandlichen Voraussetzung des § 147 Abs. 6 AO 2. Konkretisierung des Merkmals „im Rahmen einer Außenprüfung“ durch die Prüfungsanordnung im Sinne des § 196 AO VI. Folgerungen für den Abschluss einer Verfahrensverständigung über eine zeitnahe Außenprüfung VII. Fazit

I. Einleitung Michael Streck besitzt ein sicheres Gespür für aktuelle steuerliche Fragestellungen. Dabei interessieren ihn offenbar besonders solche Praktiken, die sich nicht einfach normativ aus dem Gesetz heraus ablesen lassen. In der Vergangenheit haben mich zwei bemerkenswerte Beiträge aus der Feder des Jubilars inspiriert. 1982 hat er auf der bisher einzigen steuerstrafrechtlichen Tagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft den grundlegenden und heute noch höchst lesenswerten Beitrag zum „Recht des Verhältnisses von Steuerund Strafverfahren“ geleistet1. Gut 10 Jahre später reflektierte er in einem großen Aufsatz scharfsinnig die Praxis der sog. tatsächlichen Verständigung2 und stieß damit die „wissenschaftliche Durchdringung der Einigungspraxis“, die „wissenschaftliche Erhellung des Dämmerlichts“3 an4. Ähnliches hat er im letzten Jahr auf der Jahrestagung des Fachinstituts der Steuerberater zu dem aktuell wissenschaftlich noch „unterbelichteten“ Thema der sog. „Tax Compliance“ getan5. Seine Gedanken entsprechen naturgemäß der Sicht und dem reichhaltigen Erfahrungsschatz eines Jahrzehnte lang praktisch tätigen Steueranwalts und Beraters. Wir haben es Michael Streck zu verdanken, dass ein unscharfer, anglistischer Begriff nicht einfach unreflektiert übernommen, sondern auf seine Herkunft, seinen Bedeutungsinhalt und die von ihm ab-

___________ 1 Streck, in Kohlmann (Hrsg.), Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht, DStJG Bd. 6, Köln 1983, 217 ff. 2 Streck, Die „tatsächliche Verständigung“ in der Praxis, StuW 1993, 366 ff. 3 So die ausdrückliche Forderung von Streck, Die Außenprüfung, 2. Aufl., Köln 1993, Rz. 495. 4 Dazu dann Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, Habil., Köln 1996, passim. 5 Streck, Steuercontrolling, Tax Compliance und Haftungsvorsorge, StbJb. 2009/2010, 415 ff.; nun umfassend Streck/Mack/Schwedhelm (Hrsg.), Tax Compliance, Köln 2010, passim.

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gebildete phänomenologische Reichweite hin kritisch untersucht und eingegrenzt worden ist. Dabei versteht der Jubilar Tax Compliance zutreffend als Unterbegriff der sog. Corporate Compliance im Sinne eines im Unternehmen geschaffenen strukturellen Systems, das die Rechtsbefolgung von Steuergesetzen zur Begrenzung der Risiken für das Unternehmen einschließlich dessen Vorstände und Beschäftigten strategisch absichert6. Gleichzeitig wendet er sich gegen die Verwendung des Begriffs „Tax Compliance“ durch die Finanzverwaltung als ein strategisches Konzept, die Steuerpflichtigen zur eigenmotivierten Erfüllung ihrer steuerlichen Pflichten zu anzureizen7. Tax Compliance im Sinne des von der Finanzverwaltung gepflegten Verständnisses ist in der Tat kein Unterbegriff der Corporate Compliance, sondern ein Begriff mit eigenständigem Inhalt8. Die Okkupation des Begriffs „Compliance“ durch die Finanzverwaltung mag man mit Michael Streck kritisieren. Unzulässig ist sie aber nicht, weil der Begriff „Compliance“ kein feststehender Rechtsbegriff ist, welcher der Kennzeichnung nur eines bestimmten Phänomens vorbehalten wäre. Er wird im internationalen Kontext gerade auch von der OECD zur Kennzeichnung eines modernen Steuervollzugs im Sinne der Finanzverwaltung verwendet9. Letztlich existieren damit zwei unterschiedliche Perspektiven von Tax Compliance, eine der Unternehmen und eine der Finanzverwaltungen. Ob und in welchen Grenzen beide Ansätze zur Deckung gebracht werden können, soll im Folgenden anhand des von der Finanzverwaltung jüngst eingeschlagenen Paradigmenwechsels hin zu einer zeitnahen Außenprüfung10 untersucht werden.

II. Tax Compliance aus der Perspektive der Unternehmen Tax Compliance ist die Implementierung und Pflege eines Systems zur Sicherstellung der steuerlichen Rechtsbefolgung im Interesse des Unternehmens und seiner Mitarbeiter11. Es besteht keine Rechtspflicht zur Einrichtung eines derartigen Systems12. Zutreffend stellt Michael Streck fest: „Es gibt keine Pflicht oberhalb der Abgabenordnung, die gewissermaßen ungeschrieben (und nach der Phantasie der Finanzverwaltung) den Unternehmen vorschreibt, Organisationen und Strukturen zu schaffen, um bestmöglich Steuer-

___________ 6 Streck, StbJb. 2009/2010, 415 (417 f.); Streck in Streck/Mack/Schwedhelm (Fn. 5), Rz. 1.1 u. 1.4. 7 Streck, StbJb. 2009/2010, 415 (422 f.); Streck in Streck/Mack/Schwedhelm (Fn. 5), Rz. 1.13–1.15. 8 So richtig Streck, StbJb. 2009/2010, 415 (423). 9 S. OECD, Compliance Risk Management: Managing and Improving Tax Compliance, Paris 2004; OECD, Engaging with High Net Worth Individuals on Tax Compliance, Paris 2009; OECD Forum on Tax Administration, Tax Compliance and Tax Accounting Systems, Paris 2010; s. den Überblick v. Kaiser, Tax Compliance in ausländischen Finanzverwaltungen, IWB 2010, 774 ff. 10 Dazu Seer, Zeitnahe Außenprüfung bei Groß- und Konzernbetrieben, Ubg 2009, 673 ff. 11 S. Streck, StbJb. 2009/2010, 415 (425); Streck in Streck/Mack/Schwedhelm (Fn. 5), Rz. 1.16 ff. 12 S. Hauschka, Corporate Compliance, 2. Aufl. München 2010, § 1 Rz. 22 f.; J. Wessing, Compliance – Ein Thema auch im Steuerstrafrecht?, Steueranwaltsmagazin 2007, 175 (176).

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pflichten zu erfüllen.“13 Der Einrichtung einer Tax Compliance Organisation14 liegt zunächst die unternehmerische Wertentscheidung zugrunde, die Steuerpflichten ohne Ausnahme zu erfüllen. Gleichzeitig dient eine Tax Compliance Struktur dazu, Steuerrisiken zu begrenzen und zu beherrschen, die Unternehmen als Steuerentrichtungspflichtige (§ 43 AO) treffende Haftungsrisiken sowie steuerstrafrechtliche Risiken für Vorstände und Mitarbeiter zu vermeiden. Dabei geht eine Tax Compliance-Struktur Konflikten mit den Finanzbehörden nicht a priori aus dem Weg. Qualitätssicherung im Steuerbereich meint nicht, zugunsten des Fiskus so „qualitätsvoll“ wie möglich Steuern zu zahlen15. Der Steuerstreit ist – dort, wo er zur Verteidigung einer legitimen Steuerposition des Unternehmens erforderlich wird – vielmehr sogar ein Bestandteil einer funktionsfähigen Tax Compliance-Struktur16.

III. Tax Compliance aus der Perspektive der Finanzverwaltung Dagegen bezeichnet die Finanzverwaltung es als „Tax Compliance“-Strategie, strukturelle Anreize dafür zu geben, dass die Steuerpflichtigen von selbst (ohne unmittelbaren hoheitlichen Zwang) in Erfüllung ihrer steuerlichen Pflichten mitwirken. Dazu gehört die systematische Ausweitung von sog. Service-Leistungen ebenso wie ein kooperativer Steuervollzug, in dem verbindliche Auskünfte und Verständigungen das hoheitliche Eingriffsarsenal ergänzen17. Es handelt sich allerdings um eine Doppelstrategie: den Anreizen zur Kooperation stehen Sanktionen für den Fall der Nichtkooperation gegenüber. Das von der Finanzbehörde verfolgte Ziel besteht darin, möglichst viele Steuerpflichtige zu einer (ggf. unter Inanspruchnahme steuerlicher Berater realisierten) Selbstregulierung ihrer Steuerpflicht zu bewegen. Auf einen kurzen Nenner gebracht, besteht das Ziel in einer hoheitlich kontrollierten Selbstregulierung des Steuervollzugs18. Dass die Finanzbehörde damit letztlich einen Fiskalzweck erfüllt, diskreditiert dieses System nicht19, sondern versteht sich von selbst. Tax Compliance bedeutet allerdings auch aus Sicht der Finanzverwaltung nicht, dass der Steuerpflichtige devot die in Richtlinien und Verwaltungsanweisungen zum Ausdruck gelangende Verwaltungsauffassung zu befolgen hat. Auch ein Steuerpflichtiger, der Rechtsschutz gegen die

___________ 13 Streck, StbJb. 2009/2010, 415 (425). 14 Zu ihren Bestandteilen und Ausgestaltungsmöglichkeiten s. Streck, StbJb. 2009/ 2010, 415 (425–430); Besch/Starck in Hauschka (Fn. 12), § 34 Rz. 47 ff., 61 ff. (unter „Tax-Compliance“). 15 Plastisch Streck, StbJb. 2009/2010, 415 (431); s.a. Besch/Starck in Hauschka (Fn. 12), § 34 Rz. 7. 16 S. außerdem Streck/B.Binnewies, Tax Compliance, DStR 2009, 229 (232); Besch/ Starck in Hauschka (Fn. 12), § 34 Rz. 60; Streck, in Streck/Mack/Schwedhelm (Fn. 5), Rz. 1.33–1.34. 17 S. Seer, Reform der Steuerveranlagung, StbJb. 2004/2005, 53 (57 ff.); zum Compliance-Konzept der Finanzverwaltung s.a. E. Schmidt, Moderne Steuerungssysteme im Steuervollzug, DStJG Bd. 31, Köln 2008, S. 37 (41 f.); Kaiser (Fn. 9), IWB 2010, 774 (775 ff.). 18 Zu diesem Konzept näher Seer, Der Vollzug von Steuergesetzen unter den Bedingungen einer Massenverwaltung, DStJG Bd. 31, Köln 2008, S. 7 (31 ff.). 19 Kritisch Streck, StbJb. 2009/2010, 415 (423): „Damit bekommt Tax Compliance eine Schlagseite, die ich ihr keinesfalls geben will.“

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Verwaltungsmeinung sucht oder Gesetzeslücken ausnutzt, ist ein mitwirkungsbereiter Steuerpflichtiger („compliant taxpayer“), wenn er seine Aufzeichnungs- und Steuererklärungspflichten im Übrigen erfüllt. Insoweit ist die Kritik des Jubilars an diesem System überzogen20.

IV. Tax Compliance-Win-Win-Situation bei zeitnaher Außenprüfung Es besteht also grundsätzlich eine unterschiedliche Perspektive, je nachdem, ob Finanzverwaltungen oder Unternehmen von einem „Tax Compliance“Konzept sprechen. Dies schließt allerdings nicht aus, dass zwischen beiden Compliance-Strukturen Schnittmengen existieren, die für beide Seiten vorteilhaft sind. Zwischen dem Fiskus und dem steuerpflichtigen Unternehmen besteht zwar im Ausgangspunkt ein natürlicher Interessengegensatz, den Michael Streck wie folgt artikuliert: „Der Fiskus will so viel Geld wie möglich, der Steuerpflichtige möchte so wenig wie möglich zahlen“21. Jedoch ist dieses Bild zu undifferenziert und holzschnittartig. Es blendet Zeit-, Unsicherheits- und Kostenfaktoren aus: Dem Fiskus kann das schnelle, sichere Geld lieber sein als der unsichere, lange und kostenintensive Streit um eine Höchstsumme. Umgekehrt kann der Steuerpflichtige den planungssicheren, früh bestandskräftigen Steuerbetrag dem langen, kostenbelasteten Rechtsstreit mit ungewissem Ausgang um die niedrigste Steuer deutlich vorziehen. Ebenso kann es für das Unternehmen sinnvoller sein, den sicheren, aber steuerlich ungünstigeren Gestaltungsweg zu wählen als steuerliches Grenzverhalten zur Steueroptimierung mit ungewissem Ausgang auszutesten22. Schließlich deckt sich mit einem finanzbehördlichen Risikomanagement23 ein unternehmensinternes Tax-Risk-Management als Bestandteil einer Tax Compliance-Struktur, die vermeiden soll, dass „im unternehmerischen Keller steuerliche Leichen liegen“, deren spätere Entdeckung zur Unzeit zu überraschenden und hohen Steuernachforderungen und Zinsbelastungen führen können. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, zwischen beiden unterschiedlichen Tax Compliance-Ansätzen eine sog. Win-Win-Situation herzustellen, obwohl Finanzbehörden und Steuerpflichtige im Ausgangspunkt unterschiedliche Interessen verfolgen. Dazu sind zunächst die Interessen der Beteiligten offen zu artikulieren. Auf dieser Basis ist auszuloten, in welchem Umfang und auf welchen Gebieten kein Interessengegensatz (mehr) besteht24. Eine Win-WinSituation kann etwa auf dem Gebiet der Außenprüfung durch sog. zeitnahe Betriebsprüfungen hergestellt werden. Daher versuchen die Länderfinanzver-

___________ 20 Zur kooperativen Einbindung des Steuerberaters in dieses System s. Seer, Die Rolle des Steuerberaters in einer elektronischen Finanzverwaltung, DStR 2008, 1553 (1554 ff.). 21 Streck, StbJb. 2009/2010, 415 (431). 22 Zur Vermeidung von Risiken aus steuerlichem Grenzverhalten durch eine funktionsfähige Compliance-Struktur und ein unternehmensinternes Risikomanagement s.a. Wessing, Steueranwaltsmagazin 2007, 175 (177 und 179). 23 Zum Risikomanagement in der Finanzverwaltung s. Seer, a.a.O., DStJG Bd. 31 (2008), S. 7 (29 ff.); E. Schmidt, a.a.O., DStJG Bd. 31 (2008), S. 37 (43 ff.). 24 Zur Win-Win-Idee (Doppelsieg-Strategie) s. Fischer/Ury/Patton, Das Harvard Konzept: Der Klassiker der Verhandlungstechnik, 23. Aufl. 2009, S. 89 ff.

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waltungen derzeit, durch eine veränderte Außenprüfungspraxis zu einer beschleunigten Prüfung von Groß- und Konzernbetrieben zu gelangen25. Ziel ist es, eine zeitnahe Besteuerung durchzusetzen. Selbst die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP hat die Realisierung zeitnaher Außenprüfungen unter der Rubrik „Steuervereinfachung“ in dem Koalitionsvertrag vom 26.10.2009 für diese Legislaturperiode auf die Agenda ihrer steuerpolitischen Maßnahmen gesetzt. Worin liegt der Mehrwert der zeitnahen Außenprüfung für beide Seiten? Die bisher statisch dem Prinzip der Anschlussprüfung nach § 4 Abs. 2 BpO26 folgende Prüfungspraxis beinhaltet sowohl für die Unternehmen als auch für den Staat eine Fülle von Nachteilen27. Um nur einige zu nennen: Die lange Prüfungsdauer bewirkt auf beiden Seiten hohe Administrationskosten. Die bisher gepflegte Anschlussprüfungsmaxime erstreckt diese undifferenziert auch auf Unternehmen, die nur ein geringes Steuerausfallrisiko aufweisen. Dadurch werden überflüssigerweise Verwaltungsressourcen gebunden. Es tritt eine lange Phase der Rechts- und Steuerplanungsunsicherheit ein. Aus Sicht der Unternehmen wächst die Gefahr von Steuernachforderungen und erheblichen (nichtabzugsfähigen) Nachzahlungszinsen. Letztere engen zugleich den unternehmerischen Verhandlungsspielraum für konsensuale Lösungen ein. Bei noch ausstehenden bzw. laufenden Betriebsprüfungen bleibt die Unsicherheit über die Ermittlung latenter Steuern. Nach dem späteren, zeitfernen Abschluss der Außenprüfung entsteht ein gesteigerter Anpassungsaufwand für Handels- und Steuerbilanzen. Aufgrund der in den letzten Jahren sowohl in den Unternehmen als auch in der Finanzverwaltung gestiegenen Fluktuation von Mitarbeitern tritt ein Verlust historischen Wissens ein; ein erhöhter Rekonstruktionsaufwand ist die Folge. Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten wird die Abstimmung mit den ausländischen Finanzbehörden um so schwieriger, je länger der Besteuerungszeitraum zurückliegt. Zur Realisierung einer zeitnahen Betriebsprüfung treffen die Prüfungs-Finanzämter mit mitwirkungsbereiten Unternehmen einvernehmliche Verfahrensverständigungen. Ihr Inhalt betrifft einen verkürzten Prüfungszeitraum, die Prüfungsdauer, den Umfang des unmittelbaren Datenzugriffs, die beiderseitige Nutzung von Auswertungsprogrammen, die Schulung der Betriebsprüfer in der Unternehmenssoftware sowie die offene Einsichtnahme in gemeinsame Prüfungsdateien. Aus Sicht der Finanzbehörde erleichtert die Verfahrensverständigung den ungehinderten Zugang auf die steuerlich relevanten Daten des Rechnungswesens und den offenen inhaltlichen Austausch mit der Steuerabteilung sowie den externen steuerlichen Beratern. Die Unternehmen sehen ihren Vorteil in einer Beschleunigung des Prüfungsprozesses und damit verbundener Kostenersparnis, der Gewinnung von Steuerplanungssicherheit, der

___________ 25 FinMin NRW v. 11.6.2008 – S 0401-10-V A 5; OFD Hannover v. 30.3.2009 – S 15027-StO 11 (Erlass und Verfügung abrufbar unter juris); außerdem „Leitfaden Zeitnahe Betriebsprüfung der OFD Hannover, März 2009 (abrufbar unter http://www.ofd.niedersachsen.de) und „Eckpunktepapier der OFD Koblenz“ (nicht veröffentlicht). 26 Betriebsprüfungsordnung v. 15.3.2000, BStBl. I 2000, 368. 27 Seer, (Fn. 10), Ubg 2009, 673 (674).

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Vermeidung von Nachzahlungszinsen und der Entlastung von zeitaufwendigen und kostenintensiven Anpassungen der Handels- und Steuerbilanzen. Dieser Liste von Vorteilen stehen selbst aus Sicht der Unternehmen kaum Nachteile gegenüber28. Bei einem zeitnahen Abschluss der Außenprüfung mit einer sich anschließenden zeitnahen, endgültigen Steuerfestsetzung verkürzt sich ggf. die Zeit für die Ausübung von steuerbilanziellen Wahlrechten und für eine Bilanzberichtigung nach § 4 Abs. 2 Satz 1 EStG. Allerdings sind bedeutende steuerliche Wahlrechte bereits mit der erstmaligen Abgabe der steuerlichen Schlussbilanz bei der für die Besteuerung zuständigen Finanzbehörde (s. § 3 Abs. 2 Satz 2, § 11 Abs. 3 UmwStG) und damit schon vor Durchführung der Außenprüfung weit vor Eintritt der materiellen Bestandskraft der Steuerbescheide auszuüben. Die bei einer längeren Außenprüfung schwebenden Unsicherheiten über Tatsachen und Rechtsfragen ist den Unternehmen wegen der dadurch verbleibenden Planungsunsicherheit in der Regel unwillkommen, mögen sie im Einzelfall auch einmal von einer zwischenzeitlich ergangenen günstigeren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs oder des Europäischen Gerichtshofs wegen des ausbleibenden Eintritts der Bestandskraft der Steuerbescheide profitieren können. Aus Sicht der Finanzbehörden bleibt die bisher noch nicht einhellig beantwortete Frage, mit welchen Unternehmen sie die eingangs genannten Verfahrensverständigungen über eine zeitnahe Betriebsprüfung sinnvollerweise abschließen können. § 194 Abs. 1 Satz 2 AO legt die Bestimmung des Zeitraumes und Umfangs einer Außenprüfung in das pflichtgemäße Ermessen (§ 5 AO) der Finanzbehörde. Nach der derzeit noch geltenden ermessenslenkenden Verwaltungsvorschrift des § 4 Abs. 2 BpO „soll“ bei Groß- und Konzernbetrieben der Prüfungszeitraum an den vorhergehenden Prüfungszeitraum anschließen. Von einer derartigen Sollvorschrift darf in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden29. Solche Ausnahmefälle liegen etwa vor, wenn ein zu prüfendes Unternehmen nur ein geringes Steuerausfallrisiko aufweist. Besteht kein gegenüber Klein- und Mittelbetrieben gesteigertes Steuerausfallrisiko, erweist es sich als gleichheitswidrig und unverhältnismäßig, durch schematische Anknüpfung an Größenklassen am Dogma der Anschlussprüfung festzuhalten. Derartige Unternehmen müssen dadurch nicht nur einen gleichheitswidrig gesteigerten Ermittlungseingriff erdulden, sondern auch noch erhöhte Mitwirkungskosten tragen30. Zugleich verschwenden die Finanzbehörden in diesem Fall ihre knappen Verwaltungsressourcen. Für eine konsensuale Verfahrensverständigung eignen sich daher aus Sicht der Finanzbehörde steuerloyale Unternehmen, die sich nach Auffassung der Finanzverwaltung31 durch folgende Merkmale auszeichnen: – steuerehrliches Verhalten in der Vergangenheit, – aktive Mitwirkung bei vorangegangenen Betriebsprüfungen,

___________ 28 29 30 31

Seer, (Fn. 10), Ubg 2009, 673 (674). Kruse in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, § 5 AO Tz. 11 (September 2009). Seer in Tipke/Kruse, § 194 AO Tz. 18 (Januar 2010). Nachweise in Fn. 25.

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– pflichtbewusstes sonstiges steuerliches Verhalten (z.B. eigenmotivierte Anträge auf Anpassung der Vorauszahlungen zur Vermeidung hoher Abschlusszahlungen), – keine Nutzung fragwürdiger Steuergestaltungsmodelle, – Bereitschaft zu einer steuerlichen Selbstauskunft über neuere gesellschaftsrechtliche und wirtschaftliche Vorgänge mit steuerlicher Relevanz und aus Unternehmenssicht prüfungsrelevante Sachverhalte. Als Teil ihrer Tax Compliance-Strategie gewährt die Finanzverwaltung damit den besonders mitwirkungsbereiten Unternehmen auf der Basis einer positiven Steuervita einen Vertrauensvorschuss32. Problematisch erscheint allerdings der Begriff „fragwürdige Steuergestaltungsmodelle“ und die Forderung, im Rahmen der Selbstauskunft prüfungsrelevante Sachverhalte selbst bezeichnen zu müssen. Letztlich kann es bei dem vierten Spiegelstrich ebenfalls nur um einen Bestandteil der Steuervita gehen, nämlich ob in der Vergangenheit durch aggressive steuerliche Grenzgestaltung (z.B. über sog. Steueroasen) steuerliche Vorteile gesucht worden sind. Im Übrigen kann es für die Frage einer positiven Steuervita nicht darauf ankommen, ob das Unternehmen in seiner Selbstauskunft aus seiner Sicht prüfungsbedürftige Sachverhalte bereits selbst benannt hat. Vorzugswürdig ist es stattdessen, bei der Ermessensentscheidung über die Durchführung einer zeitnahen Außenprüfung darauf abzustellen, ob das Unternehmen eine Tax Compliance Organisation33 eingerichtet hat oder nicht. Damit hat das Unternehmen sein Selbstverständnis, die steuerlichen Vorschriften grundsätzlich einzuhalten, strukturell unter Beweis gestellt. Deckt sich diese strukturierte Unternehmensentscheidung mit der bisher im Kooperationsverhältnis zur Finanzbehörde gezeigten Steuervita, ist der Vertrauensvorschuss fundiert begründet.

V. Keine Abhängigkeit der zeitnahen Außenprüfung von einem unbeschränkten Datenzugriff 1. Ignoranz der tatbestandlichen Voraussetzung des § 147 Abs. 6 AO Sowohl der sog. Leitfaden der OFD Hannover vom März 2009 als auch das bisher – soweit ersichtlich – unveröffentlichte Eckpunktepapier der OFD Koblenz34 fordern für den Abschluss einer die zeitnahe Außenprüfung regelnden Verfahrensverständigung einen unbegrenzten elektronischen Zugriff nach den Grundsätzen zum Datenzugriff und zur Prüfung digitaler Unterlagen (GDPdU)35. Der Datenzugriff soll sich dabei nicht auf den Prüfungszeitraum beschränken, sondern zeitlich unlimitiert sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart bis hin zum aktuellen Prüfungstag erstrecken. Durch den umfassenden Verweis auf die GDPdU dokumentieren die beiden OFDen,

___________ 32 Seer, (Fn. 10), Ubg 2009, 673 (676). 33 Zu den Einzelheiten sei noch einmal auf Streck, StbJb. 2009/2010, 415 (425–430); Streck/Mack/Schwedhelm (Hrsg.), passim (Einzelheiten zu Tax-Compliance-Systemen), hingewiesen. 34 S. Fn. 25. 35 BMF-Schreiben v. 16.7.2001 – IV D 2 - S 0316 - 136/01, BStBl. I 2001, 415.

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dass der Datenzugriff auch außerhalb des Prüfungszeitraums in allen drei von § 147 Abs. 6 AO eröffneten Varianten möglich sein soll. Gemäß I. 1. der GDPdU (dort letzter Absatz) soll die Finanzbehörde nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen entscheiden, von welcher der drei genannten Zugriffsmöglichkeiten sie Gebrauch macht. Dies soll sie auch kumulativ tun können. Nach § 147 Abs. 6 AO darf die Finanzbehörde ihre Lese- und Datenzugriffsrechte aber nur „im Rahmen einer Außenprüfung“ ausüben. Das Ermessen des § 147 Abs. 6 AO ist mithin kein freies, sondern ist tatbestandlich gebunden. Bei einer Ermessensvorschrift sind die folgenden Ebenen zu unterscheiden36: – die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermessensermächtigung (1. Stufe), – die Ausübung des Rechtsfolgeermessens (2. Stufe). Die tatbestandlichen Voraussetzung einer Ermessensermächtigung sind gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar37. Liegen auf der ersten Stufe bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermessensermächtigung nicht vor, ist eine Ermessensausübung a priori ausgeschlossen. Es tritt eine Ermessenssperre ein38; die zweite Stufe wird erst gar nicht erreicht. Auf der ersten Stufe müssen als Voraussetzung einer Ermessensausübung der sachliche, persönliche und zeitliche Anwendungsbereich der digitalen Außenprüfung erfüllt sein, damit die Finanzbehörde überhaupt ein Ermessen ausüben kann39. Ist die Ermessensausübung nach § 147 Abs. 6 AO eröffnet, muss die Finanzbehörde ihr Ermessen gemäß § 5 AO pflichtgemäß ausüben. Dabei beschreibt § 5 AO zwei Pflichten: Die Finanzbehörde hat „entsprechend dem Zweck“ der Ermessensermächtigung zu handeln (innere Ermessensgrenze) und dabei die „gesetzlichen Grenzen des Ermessens“ einzuhalten (äußere Ermessensgrenze)40. Die Einhaltung dieser Ermessensgrenzen ist nach § 102 FGO justiziabel. Handelt eine Finanzbehörde außerhalb der von den tatbestandlichen Voraussetzungen einer Ermessensermächtigung gezogenen Grenzen, liegt der Fall einer (justiziablen) sog. Ermessensüberschreitung vor41. In diesem Fall hat die Finanzbehörde die vom Gesetz gezogene Ermessenssperre pflichtwidrig (s. § 5 AO) missachtet; die Ermessenshandlung ist vom Gericht aufzuheben.

___________ 36 Kruse in Tipke/Kruse, § 5 AO Tz. 30a (September 2009). 37 BFH v. 11.6.1997 – X R 14/95, BStBl. II 1997, 642 (644); BFH v. 14.6.2000 – X R 56/98, BStBl. II 2001, 60 (62); BFH v. 11.3.2004 – VII R 52/02, BStBl. II 2004, 579 (580). 38 Prägnant BFH v. 28.4.1977 – IV R 163/75, BStBl. II 1977, 553 (555); Kruse in Tipke/ Kruse, § 5 AO Tz. 30, 37 (September 2009). 39 Klarsichtig Drüen, Ermessensfragen der digitalen Außenprüfung, StuW 2003, 365 (369). 40 Kruse in Tipke/Kruse, § 5 AO Tz. 33 (September 2009). 41 Kruse in Tipke/Kruse, § 5 AO Tz. 36 (September 2009).

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2. Konkretisierung des Merkmals „im Rahmen einer Außenprüfung“ durch die Prüfungsanordnung im Sinne des § 196 AO Diesen Sachzusammenhang haben die GDPdU auch zutreffend erkannt. Unter I. führen sie in der Einleitung Folgendes aus42: „Das Recht auf Datenzugriff steht der Finanzbehörde nur im Rahmen steuerlicher Außenprüfungen zu. Durch die Regelungen zum Datenzugriff wird der sachliche Umfang der Außenprüfung (§ 194 AO) nicht erweitert; er wird durch die Prüfungsanordnung (§ 196 AO, § 5 BpO) bestimmt.“

Die GDPdU folgen damit dem Willen des subjektiven Gesetzgebers des Steuersenkungsgesetzes vom 23.10.2000, der in der Begründung zu § 147 Abs. 6 AO klarstellt43: „Nach Satz 1 steht der Finanzbehörde dieses Recht nur im Rahmen einer steuerlichen Außenprüfung nach den §§ 193 ff. AO zu, d.h. die Einsichtnahme und Nutzung müssen der Ermittlung der steuerlichen Verhältnisse der in §§ 193 und 194 AO genannten Personen dienen. Der sachliche Umfang der Außenprüfung (§ 194 AO) wird dadurch nicht erweitert.“

Dies bedeutet zunächst, dass es sich überhaupt um eine Außenprüfung im Sinne des § 193 AO handeln muss44. Eine zeitnahe Außenprüfung ist ebenso wie eine abgekürzte Außenprüfung im Sinne des § 203 AO eine Außenprüfung45 und fällt daher in den Anwendungsbereich des § 147 Abs. 6 AO. Dies gilt selbst dann, wenn sie sich auf nur einen Veranlagungszeitraum beschränkt46. § 194 Abs. 1 Satz 2 AO geht nämlich keineswegs davon aus, dass der Prüfungszeitraum mehrere Jahre umfassen muss. Vielmehr nennt die Vorschrift sogar ausdrücklich die Möglichkeit, sich auf einen Besteuerungszeitraum und auf bestimmte Sachverhalte zu beschränken. Die Finanzbehörde hat den nach § 194 Abs. 1, 2 AO eröffneten sachlichen Umfang einer Außenprüfung (eine oder mehrere Steuerarten, einen oder mehrere Besteuerungszeiträume, Beschränkung auf einen oder mehrere Sachverhalte, Einbeziehung der steuerlichen Verhältnisse von Gesellschaftern) nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 AO) näher zu bestimmen. Diese Entscheidung trifft sie – wie die GDPdU zutreffend hervorheben – verbindlich in der nach § 196 AO obligatorischen Prüfungsanordnung47. Die Prüfungsanordnung bildet die formalisierte Grundlage für die Außenprüfung48. Sie bestimmt den

___________ 42 BMF-Schreiben v. 16.7.2001 – IV D 2 - S 0316 - 136/01, BStBl. I 2001, 415. 43 Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN v. 15.2.2000, BTDrucks. 14/2683, 130 zu Nr. 2 lit. c). 44 S. Drüen in Tipke/Kruse, § 147 AO Tz. 70 (September 2009); dazu ausführlich Panek, Die steuerliche Außenprüfung – Digitale Außenprüfung unter Berücksichtigung der §§ 146, 147 und 200 AO, Diss. Würzburg, Hamburg 2008, S. 43 ff. (Außenprüfung als Datenzugriffsberechtigung). 45 Seer in Tipke/Kruse, vor § 193 AO Tz. 16, 42 (September 2009); s.a. Panek, (Fn. 44), S. 98. 46 Seer, (Fn. 10), Ubg 2009, 673 (678 f.). 47 S. auch Drüen, Verfassungsfragen der digitalen Außenprüfung, StuW 2003, 205 (215); Panek, (Fn. 44), S. 48 ff. 48 Eckhoff in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Kommentar, § 196 AO Rz. 19 (November 2005); Frotscher in Schwarz, AO, Kommentar, § 196 AO Rz. 1 (November 2008).

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persönlichen (welcher Steuerpflichtige?), sachlichen (welche Steuerarten bzw. Sachverhalte?) und zeitlichen (welcher Steuerzeitraum?) Umfang, mithin den Rahmen der Außenprüfung49. Nur in dem durch die Prüfungsanordnung abgesteckten sachlichen und zeitlichen Rahmen besitzt die Finanzbehörde das Datenzugriffsrecht des § 147 Abs. 6 AO50. Bereits die tatbestandliche Voraussetzung des § 147 Abs. 6 AO grenzt den Datenzugriff damit so ein, dass sich dieser ex lege nicht auf alle verfügbaren Daten im Sinne des § 147 Abs. 1 AO erstreckt51. Die Maßgeblichkeit der Prüfungsanordnung für den Umfang der Außenprüfung und des Datenzugriffs ist kein bloßer Formalismus. Vielmehr dient diese Formalisierung der Außenprüfung dem Schutz des Steuerpflichtigen, der wissen muss, worauf sich die Außenprüfung als eine umfassende, besonders intensive Ermittlungsmaßnahme bezieht52. Erst die Prüfungsanordnung legt dem betroffenen Steuerpflichtigen die Pflicht auf, den Ermittlungseingriff zu dulden53. Die Prüfungsanordnung ist nicht bloß Mittel zur Unterrichtung des Steuerpflichtigen, die auch auf andere Weise erfolgen könnte, sondern konstitutive Grundlage für ein rechtsstaatliches Außenprüfungsverfahren54. In dieser rechtsstaatlichen Grundrechtsschutz gewährenden Verfahrensfunktion bildet die Prüfungsanordnung auch die rechtliche Basis für die Verpflichtung zur Erfüllung der einzelnen Mitwirkungspflichten nach § 200 AO im Rahmen der Außenprüfung. Ohne bzw. außerhalb einer Prüfungsanordnung fehlt jeder Anforderung nach § 200 AO die Rechtsgrundlage55; die Finanzbehörde kann sich dann allenfalls auf allgemeine Ermittlungsmaßnahmen im Sinne der §§ 93 ff. AO stützen. Daher ist der Steuerpflichtige nur in dem durch die Prüfungsanordnung bestimmten Umfang nach § 200 Abs. 1 Satz 2 AO verpflichtet, die Finanzbehörde bei der Ausübung ihrer Befugnisse nach § 147 Abs. 6 AO zu unterstützen. Die Finanzbehörde ist also außerhalb des durch die Prüfungsanordnung nach §§ 196, 194 AO vorgegebenen sachlichen und zeitlichen Rahmens nicht befugt, Datenzugriffsrechte im Sinne des § 147 Abs. 6 AO geltend zu machen. Damit korrespondierend ist der Steuerpflichtige außerhalb dieses Rahmens auch nicht verpflichtet, nach § 200 Abs. 1 Satz 2 AO Unterstützungsleistungen zu erbringen. Die von den beiden OFDen Hannover und Koblenz aufgestellten Voraussetzungen für die Anordnung einer zeitnahen Außenprüfung überschreiten hinsichtlich des geforderten umfassenden Datenzugriffs den von § 147 Abs. 6 AO eröffneten Rahmen, widersprechen damit zugleich den GDPdU und bleiben ohne Rechtsgrundlage.

___________ 49 Seer in Tipke/Kruse, § 196 AO Tz. 1 (Januar 2010). 50 Drüen, (Fn. 47), StuW 2003, 205 (215); Drüen, Ermessensfragen der digitalen Außenprüfung, StuW 2003, 365 (369); Panek, (Fn. 44), S. 48 ff., 55 f., 99 f. 51 Drüen, (Fn. 47), StuW 2003, 205 (215). 52 Seer in Tipke/Kruse, § 196 AO Tz. 1 (Januar 2010); Panek, (Fn. 44), S. 48 ff. 53 BFH v. 17.7.1985 – I R 214/82, BStBl. II 1986, 21 (22); BFH v. 13.10.2005 – IV R 55/04, BStBl. II 2006, 404 (405). 54 Frotscher in Schwarz, § 196 AO Rz. 3 (November 2008). 55 Zutreffend Frotscher in Schwarz, § 196 AO Rz. 2 (November 2008).

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VI. Folgerungen für den Abschluss einer Verfahrensverständigung über eine zeitnahe Außenprüfung Ein über den Prüfungszeitraum der zeitnahen Außenprüfung hinausgehender, sich sogar auf bereits geprüfte Besteuerungszeiträume erstreckender Datenzugriff widerspricht mithin bereits tatbestandlich der gesetzlichen Ermächtigung des § 147 Abs. 6 AO (s. V.1.). Die Eingriffsintensität des Datenzugriffs steigt, je weiter die Zeiträume zurückreichen. Der Zeitfaktor des Abrufs ist ein Parameter der Verhältnismäßigkeit56. Wegen technisch oder wirtschaftlich notwendiger Archivierungsfunktionen des Datenverarbeitungssystems oder zwischenzeitlicher Systemwechsel können einzelne Auswertungsoptionen im Zeitablauf entfallen oder nur noch eingeschränkt verfügbar sein. Eine Reaktivierung („Reload“) von Originaldaten zur Wiederherstellung historischer Auswertungsmöglichkeiten ist technisch aufwendig, birgt Risiken und bedarf einer besonderen Zumutbarkeitsprüfung. Die Intensität der maschinellen Auswertbarkeit hängt immer von der Zeitnähe der Prüfung ab. Man kann von einem „Gesetz abnehmender digitaler Kontrollmöglichkeiten auf der Zeitachse“ sprechen57. Das Ermessen ist bei der digitalen Außenprüfung daher nicht zeitkonstant, sondern zeitgebunden auszuüben. Die OFDen Hannover und Koblenz verlangen die Eröffnung des Datenzugriffs auch in umgekehrter zeitlicher Richtung bis in die Gegenwart des aktuellen Prüfungstages. Dieses Ansinnen widerspricht ebenfalls § 147 Abs. 6 AO, wenn sich die Prüfungsanordnung – wie bisher üblich – auf bereits abgeschlossene Prüfungszeiträume der Vergangenheit beschränkt (s. oben V.1.). Da in diesem Fall der durch die Prüfungsanordnung vorgegebene „Rahmen der Außenprüfung“ ebenfalls überschritten ist, ist der ermessenseröffnende Tatbestand des § 147 Abs. 6 AO nicht erfüllt. Allerdings könnte die Finanzbehörde auch eine Echtzeit-Außenprüfung, die den laufenden Veranlagungszeitraum umfasst, anordnen58. Weder die AO 1977 noch die BpO 2000 fordern, dass nur bereits abgeschlossene Veranlagungszeiträume geprüft werden dürfen oder der Steuerpflichtige bereits eine Steuerklärung abgegeben haben muss, bevor eine Außenprüfung beginnen darf. So ist es gerade bei Konzernbetriebsprüfungen vorstellbar, dass ein Quartalsabschluss zur Grundlage einer zeitnahen, problemorientierten Schwerpunkt-Außenprüfung gemacht wird. Sollte dies von den Beteiligten gewünscht sein, müsste aber aus Sicht des Unternehmens die Verfahrensverständigung auch die Zusage der Finanzbehörde beinhalten, dass sie die in Echtzeit geprüften Felder in einer späteren Außenprüfung des Gesamtzeitraums nicht wieder aufgreift. Eine zeitnahe Außenprüfung löst sich von dem in § 4 Abs. 2 BpO 2000 für Groß- und Konzernbetriebe grundsätzlich vorgesehenen Prinzip der Anschlussprüfung. Dazu verlässt sie den in der Praxis bisher üblichen Regelprüfungszeitraum von drei zusammenhängenden Besteuerungszeiträumen. Ziel

___________ 56 Drüen, (Fn. 50), StuW 2003, 365 (373). 57 Drüen, (Fn. 50), StuW 2003, 365 (374); Drüen in Tipke/Kruse, § 147 AO Tz. 41b (September 2009); zustimmend Burchert, Praxis der digitalen Betriebsprüfung, INF 2006, 699 (704); Panek, (Fn. 44), S. 158 ff. 58 Seer, (Fn. 10), Ubg 2009, 673 (679).

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der zeitnahen Außenprüfung ist es aus Sicht der Finanzverwaltung, von der bisher üblichen Praxis einer Prüfung im Drei-Jahres-Rhythmus abzugehen und einen Ein- oder Zwei-Jahres-Rhythmus anzustreben. Die Prüfungsphase soll so an aktuelle Veranlagungszeiträume herangeführt (sog. Heranprüfungsphase) und die Prüfungsdauer deutlich verkürzt werden59. Zumindest während der Heranprüfungsphase muss die Finanzverwaltung auch prüfungsfreie Zeiträume in Kauf nehmen, um ihr selbst gesetztes Ziel zu erreichen. Gegenüber der bisherigen, unter dem Defizit „historischer Außenprüfung“ leidenden Prüfungspraxis besteht aus Sicht der Finanzverwaltung der Nachteil, dass sich nach § 147 Abs. 6 AO der Datenzugriff nur auf die zeitnahen (wenigen) Prüfungszeiträume beschränken darf (s. oben V.1.). Beispiel: Am 1.7.2010 beginnt eine zeitnahe Außenprüfung der Veranlagungszeiträume 2008 und 2009 unter Aufgabe des Prinzips der Anschlussprüfung. Abschließend geprüft sind die Zeiträume bis 2006 einschließlich. Nach bisher üblicher Verwaltungspraxis hätte die Prüfungsanordnung sich auf die Zeiträume 2007–2009 erstreckt. Für diesen Zeitraum wäre nach § 147 Abs. 6 AO auch der Datenzugriff möglich gewesen. Da die Außenprüfung nur einen Prüfungszeitraum von 2008–2009 vorsieht, beschränkt sich der Datenzugriff nach § 147 Abs. 6 AO ebenfalls auf diesen kurzen Zeitraum. Hierin kann die Finanzverwaltung eine qualitative Verschlechterung ihrer Ermittlungsmöglichkeiten sehen. Dem könnte der Steuerpflichtige in der Verfahrensverständigung Rechnung tragen, indem er der Finanzbehörde über die von § 147 Abs. 6 AO in Bezug genommenen zeitlichen Grenzen der Prüfungsanordnung hinaus – freiwillig – den Datenzugriff eröffnet. Dadurch wäre sichergestellt, dass der Finanzbehörde dieselben Ermittlungsmöglichkeiten wie im Falle der Einhaltung des Regelprüfungszeitraums verbleiben.

VII. Fazit Die zeitnahe Außenprüfung ist ein Instrument, das sich grundsätzlich sowohl in die Ziele einer unternehmerischen Tax Compliance-Struktur als auch in die einer finanzbehördlichen Tax Compliance-Strategie einfügt. Sie vermag eine Win-Win-Situation zu vermitteln, die sich in einer zwischen der Finanzbehörde und dem Unternehmen getroffenen Verfahrensverständigung äußert. Die Verfahrensverständigung umfasst u.a. den Prüfungszeitraum, die Prüfungsdauer, den Umfang des unmittelbaren Datenzugriffs, die beiderseitige Nutzung von digitalen Auswertungsprogrammen, die Einführung der Betriebsprüfer in die Unternehmenssoftware sowie die Einsichtnahme in eine zentrale Prüfungsdatei, aus der später sowohl Prüferbilanzen als auch die Anpassungen der Steuerbilanzen des Unternehmens abgeleitet werden können60. Das Vorhalten einer Tax Compliance-Struktur weist ein Unternehmen in der Zusammenschau mit seiner vergangenheitsbezogenen Steuervita regelmäßig als ein steuerloyales Unternehmen aus, mit dem die Finanzbehörde

___________ 59 S. Nachweise in Fn. 25. 60 Seer, (Fn. 10), Ubg 2009, 673 (677).

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eine Verständigung über eine zeitnahe Außenprüfung treffen kann. Von § 147 Abs. 6 AO ist es jedoch nicht mehr gedeckt, wenn die Finanzverwaltung den Abschluss einer solchen Verständigung von einem zeitlich unbeschränkten Datenzugriff abhängig macht. Ebenso wenig verlangen die Mitwirkungspflichten des § 200 AO, dass das Unternehmen der Finanzbehörde vorab aus seiner Sicht konkret prüfungsbedürftige Sachverhalte bereits nennt. Unternehmerische Tax Compliance bedeutet nicht – wie Michael Streck klar herausgearbeitet hat – devote Willfähigkeit des Unternehmens gegenüber allen Wünschen der Finanzverwaltung, sondern strukturell gesicherte Rechtsbefolgung im Bereich des Abgabenrechts. Überschreitet die Finanzverwaltung ihre gesetzlichen Ermächtigungen zulasten des Unternehmens, entspricht es gerade struktureller Tax Compliance, sich diesem Ansinnen zu verweigern.

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Der Anwalt als „Organ der Steuerrechtspflege“ und Interessenvertreter1 Inhaltsübersicht I. Einführung II. Die Stellung des Anwalts als unabhängiges Organ der Rechtspflege im Prozess 1. Nationales Standesrecht der Anwälte und Europäische Berufsregeln (CCBE) 2. Bindungen des Anwalts aus seiner Stellung als „Organ der Rechtspflege“? a) Verfassungsrechtliches Verständnis des Begriffs „Organ der Rechtspflege“ b) Verständnis des Merkmals „Organ der Rechtspflege“ in § 1 BRAO 3. Folgerungen aus dem aktuellen Verständnis für das Verhältnis von Anwaltschaft und Justiz III. Anwaltliche Interessenvertretung in der Steuerrechtspflege 1. Interessenvertretung und Amtsermittlungsgrundsatz 2. Interessenvertretung und Rechtsdurchsetzung im finanzgerichtlichen Verfahren a) Rahmenbedingungen des finanzgerichtlichen Verfahrens aus Sicht des Steuerpflichtigen aa) Drohende Belastung durch Säumniszuschläge im Fall des Obsiegens bb) Die Finanzverwaltung als Prozesspartei cc) Zustand der Steuergesetzgebung

b) Formen anwaltlicher Interessenvertretung im finanzgerichtlichen Verfahren aa) Der „unbequeme“ Interessenvertreter bb) Die sog. Konfliktvertretung 3. Konflikte im Umgang der Beteiligten miteinander als ethisches Problem a) Rechtliche Abgrenzung rechtmäßiger von unrechtmäßiger Prozessvertretung b) Anzeichen einer Vertrauenskrise zwischen Anwaltschaft und Justiz IV. Inhalt der gegenwärtigen anwaltlichen und richterlichen Leitbilddebatten 1. Unverzichtbarkeit moderner Leitbilder bei beiden Organen der Rechtspflege 2. Aspekte der anwaltlichen Leitbilddiskussion a) Gemeinwohlbindung der anwaltlichen Betätigung b) Qualitätsanspruch als Teil der Berufsethik c) Wichtige Gesichtspunkte eines Leitbilds forensisch tätiger Anwälte in der Steuerrechtspflege 3. Wichtige Aspekte eines richterlichen Leitbilds im Hinblick auf die Anwaltschaft V. Fazit

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___________ 1 Für die Unterstützung bei der Vorbereitung des Beitrages danke ich Herrn Richter am Finanzgericht Dr. Christian Levedag, zur Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesfinanzhof.

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I. Einführung Als Kernpflichten des Anwalts als „Organ der Rechtspflege“ gelten nach aktuellem Verständnis die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts, die Verschwiegenheit und die Aufgabe, Interessenkonflikte zu vermeiden2. Michael Streck hat sich stets hervorgetan, die Rolle des Anwalts als „Organ der Rechtspflege“ mit Inhalt zu füllen; er ist engagierter Streiter für die Bedeutung und Funktion des Rechtsanwalts als Interessenvertreter3. Wie wenige andere Mitglieder seines Berufsstandes hat sich der Fachanwalt für Steuerrecht Michael Streck für die Anwaltschaft engagiert4. Seine Verdienste in der Steuerrechtspflege sind auch schon an anderer Stelle gewürdigt worden5. In diesem Beitrag soll die anwaltliche Rolle des Interessenvertreters im finanzgerichtlichen Verfahren aus der Sicht des Richters betrachtet und der gegenwärtige Umgang zwischen Anwalt- und Richterschaft im finanzgerichtlichen Verfahren reflektiert werden. Anlass hierzu gibt das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden maßgebend an der Rechtspflege beteiligten Berufsgruppen angesichts zu beobachtender Tendenzen, die sog. „Konfliktvertretung“ aus dem Strafprozess auch im finanzgerichtlichen Verfahren anzuwenden.

II. Die Stellung des Anwalts als unabhängiges Organ der Rechtspflege im Prozess 1. Nationales Standesrecht der Anwälte und Europäische Berufsregeln (CCBE) § 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) bezeichnet den Rechtsanwalt als „unabhängiges Organ der Rechtspflege“. § 3 Abs. 1 BRAO berechtigt den Rechtsanwalt, als berufener unabhängiger Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten aufzutreten. §§ 43 und 43a Abs. 3 BRAO geben dem Rechtsanwalt als berufliche Grundpflichten vor, gewissenhaft zu handeln und das sog. Sachlichkeitsgebot6 zu beachten. Eine weitere Verhaltensregel zum

___________ 2 So M. Westphal in FS Krämer, Berlin 2009, S. 149 (152); Kleine-Cosack, BRAO, § 1 Rz. 21 f. 3 Vgl. aus dem umfangreichen Schrifttumsverzeichnis von Michael Streck die Monographie Beruf: Anwalt Anwältin, München 2001, S. 10 ff. 4 Seit Mai 1997 ist er Mitglied des Vorstandes, von November 1997 bis Mai 2003 Mitglied des Präsidiums und von Mai 1998 bis Mai 2003 Präsident des Deutschen Anwaltsvereins. Daneben steht die langjährige inhaltliche Arbeit Strecks für eine bessere Qualität des Steuerrechts als Mitglied und Vorsitzender des Steuerrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins und im wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Steuerinstituts des Deutschen Steuerberaterverbandes. Zudem hat Streck jahrelang als Vorsitzender des Vorprüfungsausschusses für die Rechtsanwaltskammerbezirke Düsseldorf und Köln gewirkt. 5 S. hierzu auch die Laudatio zum 65. Geburtstag des Jubilars von Schmidt-Troje, DStR 2006, 393. 6 § 43a Abs. 3 BRAO lautet: „Der Rechtsanwalt darf sich bei seiner Berufsausübung nicht unsachlich verhalten. Unsachlich ist insbesondere ein Verhalten, bei dem es sich um die bewusste Verbreitung von Unwahrheiten oder solche herabsetzenden Äußerungen handelt, zu denen andere Beteiligte oder der Verfahrensverlauf keinen Anlass gegeben haben“.

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anwaltlichen Verhalten im Prozess normiert § 1 der Berufsordnung (BORA)7: „Als unabhängiger Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten hat der Rechtsanwalt seine Mandanten vor Rechtsverlusten zu schützen, rechtsgestaltend, konfliktvermeidend und streitschlichtend zu begleiten, vor Fehlentscheidungen durch Gerichte und Behörden zu bewahren und gegen verfassungswidrige Beeinträchtigungen und staatliche Machtüberschreitung zu sichern“. Die Regelungen des anwaltlichen Standesrechts gehen zurück auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 1987, in der das Gericht die frühere Praxis verworfen hat, Standesrichtlinien als Hilfsmittel zur Auslegung und Konkretisierung der Generalklausel über die anwaltlichen Berufspflichten heranzuziehen8. Die europäischen CCBE-Berufsregeln formulieren allgemeine Grundsätze, die allen europäischen Anwaltschaften zu eigen sind: Regelungen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und Bestimmungen, die als Mindeststandard anwaltlicher Pflichten das Ergebnis eines Kompromisses zwischen höchst unterschiedlichen Rechtsbestimmungen in den verschiedenen Mitgliedsstaaten darstellen9. Es handelt sich um Standesregeln, die durch die europäischen Standesorganisationen der Anwaltschaft verabschiedet worden sind10. Der sog. Vorspruch unter 1.1. CCBE weist dem Rechtsanwalt im Rechtsstaat eine hervorgehobene und unentbehrliche Funktion zu, und zwar sowohl für die Justiz als auch als Vertreter und Berater des Rechtssuchenden. Der Rechtsanwalt sei aufgrund seiner Beratungsfunktion insbesondere verpflichtet, nicht nur für die Sache seines Mandanten einzutreten. Unter Bestimmung 2.1.1 Satz 2 CBBE wird die Wichtigkeit der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts hervorgehoben und betont, die Unabhängigkeit der Anwaltschaft habe für das Vertrauen in die Justiz eine der Unparteilichkeit des Richters vergleichbare Bedeutung. 2. Bindungen des Anwalts aus seiner Stellung als „Organ der Rechtspflege“? a) Verfassungsrechtliches Verständnis des Begriffs „Organ der Rechtspflege“ Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit vielen Fragen der anwaltlichen Berufszulassung und Berufsausübung befasst. An dieser Stelle soll nur auf die Rechtsprechung eingegangen werden, die sie sich zur Funktion des Anwalts als „Organ der Rechtspflege“ im Verhältnis zur Justiz geäußert hat. Das Bundesverfassungsgericht hat noch 1975 ausgeführt, der Anwaltsberuf sei ein staatlich gebundener Vertrauensberuf, der dem Anwalt eine auf Wahrheit

___________ 7 Hervorhebungen durch den Verfasser. 8 BVerfG v. 14.10.1987 – 1 BvR 537/81, 1 BvR 195/87, 1 BvR 537/81, 195/87, BVerfGE 76, 196 ff.; Busse, AnwBl 2009, 663 (668 ff.). 9 Vgl. Lörcher in Hartung/Römermann, Berufs- und Fachanwaltsordnung, Einf CCBE, Rz. 20–23. 10 Vgl. Lörcher in Hartung/Römermann, Berufs- und Fachanwaltsordnung, Einf CCBE, Rz. 6–18.

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und Gerechtigkeit verpflichtete amtsähnliche Stellung zuweise11. In seiner späteren Rechtsprechung bis zur Gegenwart hat das BVerfG die Anwaltschaft jedoch aus dieser Bindung „in die Freiheit entlassen“ und zu einer „rundum befreiten Institution“ entwickelt12. Dies geschah in einer Entscheidung aus dem Jahr 198313, in der es heißt: „Die Herauslösung des Anwaltsberufs aus beamtenähnlichen Bindungen und seine Anerkennung als ein vom Staat unabhängiger freier Beruf kann als ein wesentliches Element des Bemühens um rechtsstaatliche Begrenzung der staatlichen Macht angesehen werden, das der Verfassungsgeber vorgefunden und in seinen Willen aufgenommen hat“. Mit der bereits erwähnten Entscheidung zu den Standesrichtlinien vom 14. Oktober 198714 hat das Bundesverfassungsgericht der Anwaltschaft die Grundlage gegeben, sich ein eigenes Standesrecht zu schaffen. Die früher für das anwaltliche Berufsrecht zuständige Richterin des BVerfG Renate Jaeger leitet aus dieser Entscheidung des BVerfG ab, die Stellung des Anwalts als Organ der Rechtspflege bedeute nicht, dass er Teil der Justiz sei; die Aufgabe zur dezidierten Interessenwahrnehmung werde vielmehr als besonderer Eigenwert der Anwaltschaft in der gesamten Rechtspflege vom Verfassungsgericht bewusst hervorgehoben15. Die Entscheidung könne als Bekräftigung dessen verstanden werden, was unter dem Merkmal „Organ der Rechtspflege“ nicht zu verstehen sei16. Gestärkt hat das Bundesverfassungsgericht unter diesem Gesichtpunkt zuletzt die Rolle des Strafverteidigers im Hinblick auf die drohende Strafbarkeit wegen Geldwäsche (§ 261 Abs. 1 Nr. 1 StGB) bei einer Mandatsübernahme: Zur Begründung seiner einschränkenden Auslegung des Tatbestands hat es sich dabei wiederum auf das verfassungsrechtlich gestützte Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Verteidiger einerseits und die rechtsstaatliche Notwendigkeit gestützt, ein Verteidiger habe seiner Funktion nachgehen zu können, ohne zu große strafrechtliche Risiken befürchten zu müssen17. b) Verständnis des Merkmals „Organ der Rechtspflege“ in § 1 BRAO Die Literatur zum anwaltlichen Berufsrecht ist sich auf der vorstehenden verfassungsrechtlichen Grundlage einig, dass mit dem Merkmal „Organ der Rechtspflege“ nur die öffentliche Funktion des Anwalts im demokratischen Rechtsstaat umschrieben werden soll, dem Rechtssuchenden rechtliches Gehör zu vermitteln, dessen objektive Interessen zu vertreten und hierdurch die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu erhalten18. Ein normativer Beleg hierfür sei, dass in § 1 Abs. 3 BORA, der die anwaltliche Betätigung umschreibe, die Organstellung des Anwalts überhaupt nicht mehr erwähnt sei19.

___________ 11 12 13 14 15 16 17 18 19

BVerfG v. 8.10.1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105 ff. Vgl. Hassemer, AnwBl 2008, 413 ff. BVerfG v. 8.3.1983 – 1 BvR 1078/80, BVerfGE 63, 266 ff. BVerfG v. 14.10.1987 – 1 BvR 537/81, 1 BvR 195/87, 1 BvR 537/81, 195/87, BVerfGE 76, 196 ff. Jaeger, NJW 2004, 1 (3); s. auch Busse, AnwBl 2009, 663 (668). Jaeger, NJW 2004, 1 (2); zustimmend Salditt, StraFO 2009, 313 (316). BVerfG v. 30.3.2004 – 2 BvR 1520/01, 2 BvR 1521/01, BVerfGE 110, 226 ff. Vgl. M. Westphal in FS Krämer, Berlin 2009, 149 (151 f.). Vgl. Koch in Hennsler/Prütting, Berufsordnung, § 1 Rz. 11.

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Der Anwalt als „Organ der Steuerrechtspflege“ und Interessenvertreter

§ 1 BRAO ist heutzutage als Bestandteil des Standesrechts daher unstreitig nicht Ermächtigungsgrundlage für einen Eingriffstatbestand, wenn der Anwalt einem allgemeinen Leitbild nicht entspricht, sondern zusammen mit §§ 43, 43a BRAO und § 1 BORA nur eine Auslegungshilfe20. Dem entspricht auch das unter Punkt 1.1. der CCBE-Berufsregeln formulierte anwaltliche Selbstverständnis. 3. Folgerungen aus dem aktuellen Verständnis für das Verhältnis von Anwaltschaft und Justiz Jaeger folgert aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Richter und Anwälte trügen eine vergleichbare Verantwortung für die Verwirklichung des Rechtsstaats, seien jedoch nicht über das Merkmal „Organ der Rechtspflege“, sondern aufgrund ihrer wechselseitig unabhängigen Funktionen im System verklammert21: Der Anwalt erfülle eine originäre und vornehmlich dem Mandanten verpflichtete Aufgabe, die verbindliche Rechtsfindung sei Sache der Gerichte. Michael Streck, dessen Auffassung hier exemplarisch angeführt werden soll, versteht den Anwalt ganz bewusst als Gegenstück des Richters. Er definiert ihn ausdrücklich als parteiischen Interessenvertreter: Es sei nicht primär Aufgabe des Anwalts, „richterähnlich“ einen Sachverhalt samt der darin enthaltenen Rechtsfragen für den Richter als „Entscheider“ aufzubereiten, sondern mit anwaltlicher Fantasie, Kreativität und Taktik sein Ziel durchzusetzen. Bewusst stellt sich Michael Streck daher auch gegen die Definition der anwaltlichen Tätigkeit in § 1 Abs. 3 BORA, die den Anwalt als „Konfliktvermeider“ und „Streitschlichter“ umschreibe sowie dessen Funktion darin sehe, den Mandanten vor „Fehlentscheidungen der Gerichte“ zu bewahren22. Aufgabe des Anwalts sei es, positive Entscheidungen für seine Mandanten zu erstreiten, ohne Auseinandersetzungen zu scheuen. Bewusst wehrt Michael Streck sich gegen richterliche Kritik an der Position, der Anwalt sei einseitiger Interessenvertreter und erwidert hierauf, die Objektivität des Anwalts liege darin, nicht alle Mandantenerwartungen zu befriedigen, sondern dessen objektive Interessen durchzusetzen23. Allerdings ergeben sich aus dem sog. Sachlichkeitsgebot des § 43a Abs. 3 BRAO auch Bindungen des Anwalts. Unsachlich ist gemäß Abs. 3 Satz 2 insbesondere ein Verhalten, bei dem bewusst die Unwahrheit verbreitet oder herabsetzende Äußerungen getan werden, zu denen andere Beteiligte oder der Verfahrensverlauf keinen Anlass geben. Im Hinblick auf hier interessierende Bindungen anwaltlicher Interessenvertretung im Prozess ist vorrangig das sog. Lügeverbot von Bedeutung. Die Kommentierungen erörtern das Lügeverbot unter dem Gesichtpunkt, ob den Rechtsanwalt in der Berufsausübung und

___________ 20 Kleine-Cosack, BRAO, § 1 Rz. 1. 21 Jaeger, NJW 2004, 1 (4). 22 Streck, AnwBl 2004, 266 (266); ähnlich auch Hartung in Hartung/Römermann, BORA, § 1 Rz. 72. 23 Streck, AnwBl 2003, 253 (255); Streck, AnwBl 2004, 266 (266).

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damit im Prozess eine Pflicht zur Wahrheit treffe. Kleine-Cosack hält es für wirklichkeitsfremd, eine strikte Wahrheitspflicht des Rechtsanwalts aus dessen Organstellung abzuleiten und weist darauf hin, der Anwalt dürfe zwar bewusst ihm bekannt unwahre Behauptungen seines Mandanten nicht vortragen; er dürfe jedoch im Prozess einseitigen Parteivortrag mit Halbwahrheiten bis zur Grenze der Sachverhaltsverfälschung bringen24. § 43a Abs. 3 BRAO wird somit als nicht justitiable Appellvorschrift an das anwaltliche Verhalten angesehen, da die tatbestandlich umschriebenen Verhaltensweisen nur selten erreicht seien oder entdeckt würden25. Als Beleg für den vorbeschriebenen eingeschränkten Gehalt des Sachlichkeitsgebots wird regelmäßig auch die langjährige Praxis im Strafprozess herangezogen, eine „unwahre Protokollrüge“ zu erheben, also einen Verfahrensfehler zu rügen, der sich zwar aus dem Protokoll zur Hauptverhandlung ergibt (etwa: eine wesentliche Förmlichkeit sei nicht beachtet worden), aber tatsächlich nicht vorliegt26. Dieser Praxis hat der GrS des BGH in Strafsachen allerdings mit seinem Beschluss vom 23. April 200727 mit einer bemerkenswerten Begründung die Grundlage entzogen. Ich werde an anderer Stelle hierauf zurückkommen (s. unter III.3.b).

III. Anwaltliche Interessenvertretung in der Steuerrechtspflege 1. Interessenvertretung und Amtsermittlungsgrundsatz Steuerrecht ist strafbewährtes Eingriffsrecht. Der Gesetzgeber hat als Gegengewicht zum Steuerzugriff in § 88 Abs. 1 AO und § 76 Abs. 1 FGO sowohl im Veranlagungsverfahren als auch im finanzgerichtlichen Verfahren den Amtsermittlungsgrundsatz zugunsten und zulasten der Steuerpflichtigen festgeschrieben, um die „rechtmäßige“ Steuer im Einzelfall zu ermitteln. Die anwaltliche Rechtsvertretung umschließt neben der gleichlautenden Befugnis für die steuerberatenden Berufe auch die Vertretung in steuerrechtlichen Angelegenheiten. Die Pflicht der Finanzverwaltung und der Gerichte zur Amtsermittlung steht in keinem Widerspruch zur parteiischen anwaltlichen und steuerberatender Interessenvertretung des Steuerpflichtigen28 im vorbeschriebenen Sinn. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einem Kammerbeschluss für das Sozialrecht im Hinblick auf die „Erforderlichkeit“ einer Anwaltsbeiordnung ausgeführt29. Es hat festgestellt, auch in Anbetracht des Amtsermittlungsgrundsatzes dürfe das Recht der Beteiligten auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht verletzt werden. Die Aufklärungs- und Beratungspflicht des Anwalts gehe über die Reichweite der Amtsermittlungs-

___________ 24 Kleine-Cosack, BRAO, § 43a Rz. 66–69; auch Eylmann in Henssler/Prütting, BRAO, § 43a Rz. 115. 25 Henssler/Prütting/Eylmann, BRAO, § 43a Rz. 93; Kleine-Cosack, BRAO, § 43a Rz. 62 ff.; zu einer Gegenposition s. Hirtz, AnwBl 2006, 780. 26 Kleine-Cosack, BRAO, § 43a Rz. 67; auch Eylmann in Henssler/Prütting, BRAO, § 43a Rz. 116. 27 BGH v. 23.4.2007 – GSSt 1/06, NJW 2007, 2419. 28 Jaeger, NJW 2004, 1 (6). 29 BVerfG v. 18.12.2001 – 1 BvR 391/01, Rpfleger 2002, 212.

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pflicht des Richters hinaus. Insbesondere könne der Anwalt verpflichtet sein, auch solche tatsächlichen Ermittlungen anzuregen und zu fördern, die für den Richter aufgrund des Beteiligtenvorbringens nicht veranlasst seien. Diese Grundsätze lassen sich auch auf das steuerrechtliche und finanzgerichtliche Verfahren übertragen, die ohne Anwaltszwang geführt werden können. In Verfahren vor dem BFH ist gemäß § 62 Abs. 4 Satz 1 FGO die Vertretung durch einen Berufsträger weitgehend zwingend30. Gegenwärtig wird erörtert, ob und in welchem Umfang die anwaltliche und steuerberatende Interessenvertretung im Veranlagungsverfahren durch neue elektronische Risikomanagementmethoden der Finanzverwaltung entwertet wird31. Hierbei geht es um die Befürchtung, ein sehr aktiver „unbequemer“ Steuerberater oder Anwalt oder ein in den Augen der Finanzverwaltung unzuverlässiger Berater könne ein negativer „Compliance-Indikator“ für den Steuerpflichtigen (ein sog. Subjektrisiko) werden32. Seer sieht es als Aufgabe des Beraters an, ein schlechtes Risikoprofil des Steuerpflichtigen zu vermeiden33. Eine engagierte Interessenvertretung könne dazu führen, dass der Berater zum schlechten Indikator werde und den Steuerpflichtigen zum Wechsel zu einem „unauffälligeren“ Berater animiere und hierdurch eine mittelbare Berufsaufsicht bewirkt werde34. Diese Befürchtungen sind nicht von der Hand zu weisen. Mit der unter II.3 herausgearbeiteten Funktion des steuerberatenden und anwaltlichen Interessenvertreters des Steuerpflichtigen steht die Inpflichtnahme im Rahmen eines kooperativen Steuervollzugs durch die Finanzverwaltung in teilweisem Widerspruch. Ob eine gesetzliche Regelung erforderlich ist, um der Finanzverwaltung vorzugeben, wie steuerrechtliche Berater in automatisierten Risikomanagmentsystemen zu berücksichtigen sind, ist m.E. nicht eindeutig zu beantworten. Die Berater sind aber an der Entwicklung solcher Systeme zu beteiligen und haben ein Recht darauf zu erfahren, ob die Mitwirkung eines Beraters ein positiver oder neutraler Indikator ist und ob die Finanzverwaltung „schwarze Listen“ von Beratern in das System einspeist, um Risikofälle zu identifizieren. Steuerrechtliche Berater sind als „Organe der Rechtspflege“ nach dem eingangs beschriebenen Begriffsinhalt nicht verlängerter Arm der Finanzverwaltung und daher nicht zur unbedingten Kooperation verpflichtet, selbst wenn ohne ihre Arbeit ein angemessener Steuervollzug heute nicht mehr zu erreichen ist.

___________ 30 Vgl. zur Neuregelung der Vertretungsbefugnis in § 62 FGO durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechtsberatungsgesetzes v. 12.12.2007 (BGBl. I 2007, 2840) unter anderem Spindler, DB 2008, 1283. 31 Zu diesem Ansatz umfassend Seer, DStR 2008, 1553 ff. 32 Seer, DStR 2008, 1553 (1555). 33 Seer, DStR 2008, 1553 (1556). 34 Vgl. Mann, DStR 2009, 506 (509) mit dem Hinweis auf den Steuerberater als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 2 Abs. 1 der Berufsordnung der Steuerberater).

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2. Interessenvertretung und Rechtsdurchsetzung im finanzgerichtlichen Verfahren a) Rahmenbedingungen des finanzgerichtlichen Verfahrens aus Sicht des Steuerpflichtigen aa) Drohende Belastung durch Säumniszuschläge im Fall des Obsiegens Aus Sicht des Steuerpflichtigen trägt ein finanzgerichtliches Verfahren, das gegen eine Steuerfestsetzung gerichtet ist, das Risiko einer sich über die Verfahrenslänge signifikant erhöhenden Belastung, wenn der Steuerpflichtige eine aus seiner Sicht zu hohe erstmalige Steuerfestsetzung oder eine Nachzahlung (aufgrund eines Änderungsbescheids) abwehren möchte. Grund hierfür sind die drohende kumulierte Zinsbelastung aus Aussetzungsund Nachzahlungszinsen (§§ 233a, 237 AO) im Fall des Unterliegens und die drohende Definitivbelastung mit Säumniszuschlägen (§ 240 AO), wenn keine Aussetzung der Vollziehung durch die Finanzverwaltung oder das Gericht durchgesetzt werden konnte. Eine Belastung mit Säumniszuschlägen lässt sich auch im Fall des Obsiegens nicht vermeiden. Nach ständiger Rechtsprechung sind diese ein Druckmittel eigener Art, das den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung anhalten soll. Der Gesetzgeber nimmt mit der Regelung in § 240 Abs. 1 Satz 4 AO bewusst in Kauf, dass Säumniszuschläge auch dann zu entrichten sind, wenn sich die Steuerfestsetzung später als unrechtmäßig erweist. Ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen kommt nicht allein deshalb in Betracht, weil die Steuerfestsetzung zugunsten des Steuerpflichtigen herabgesetzt worden ist35. Sachlich unbillig ist die Erhebung von Säumniszuschlägen erst dann, wenn dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung der Steuer wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich ist und deshalb die Ausübung von Druck zur Zahlung ihren Sinn verliert. Wie Michael Streck zutreffend ausführt36, lässt sich ein Finanzgerichtsprozess nur dann „entspannt“ führen, wenn der angefochtene Bescheid von der Vollziehung ausgesetzt ist oder der Kläger die streitige Steuer entrichtet hat und sich seinerseits gute Chancen ausrechnet, das Verfahren zu gewinnen und eine verzinsliche Erstattung schon geleisteter Beträge zu erreichen. bb) Die Finanzverwaltung als Prozesspartei Zudem entpuppt sich die Finanzverwaltung im finanzgerichtlichen Verfahren als „echter“ Gegner37 und nicht mehr als kooperativer Dienstleister. Es geht ihr sowohl darum, im Einzelfall das Verfahren zu gewinnen, als auch unliebsame Rechtsauslegungen durch die Finanzgerichte und den BFH zu unterbinden. Exemplarisch genannt sei die gelegentliche Praxis, dass das Finanzamt nach Ergehen eines unliebsamen Gerichtsbescheids des BFH mündliche Verhandlung beantragt, einen Abhilfebescheid entsprechend dem Gerichtsbescheid erlässt und den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Dies geschieht selbst dann, wenn schon ein Normenkontrollverfahren bei

___________ 35 Vgl. z.B. BFH v. 7.7.1999 – X R 87/96, BFH/NV 2000, 161. 36 Vgl. Streck, NJW 2001, 1541 (1543). 37 Vgl. Streck, NJW 2001, 1541 (1549).

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dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG anhängig ist38. Dieses Verhalten hat die Rechtsprechung zwar nicht als rechtsmissbräuchlich angesehen39; es zeigt aber deutlich, dass die Finanzverwaltung als Prozesspartei ein Eigeninteresse verfolgt, sich nicht bedingungslos der verbindlichen Letztentscheidung von Rechtsfragen durch die Gerichte unterwirft und die der Rechtsprechung des BFH zugedachte Breitenwirkung teilweise gezielt unterläuft40. In diesen Bereich gehört auch die von mir und anderen vielfach beanstandete Praxis der Nichtanwendungserlasse der Verwaltung41. cc) Zustand der Steuergesetzgebung Ein weiterer Aspekt ist die zunehmende Fragwürdigkeit der Rechtsgrundlagen, auf denen der steuerrechtliche Eingriff beruht. Die Notwendigkeit der Steuererhebung durch den freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat ist unbestritten. Der beklagenswerte Zustand des deutschen Steuerrechts ist es jedoch ebenso. Der Steuererhebung müssen nach Vorgabe der Verfassung rechtliche Wertentscheidungen in Gestalt systemtragender Prinzipien formaler und materieller Rechtsstaatlichkeit zugrunde liegen42. Prinzipien formaler Rechtsstaatlichkeit sind die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, deren Gesetzesbestimmtheit und der Vertrauensschutz des Bürgers vor nachträglichen, rückwirkend belastenden Steuergesetzen43. Zu den Prinzipien materieller Rechtsstaatlichkeit zählen die Gleichmäßigkeit der Besteuerung und das Verbot der Übermaßbesteuerung. Die Zahl verfassungsrechtlich zweifelhafter Steuergesetze und damit die Anzahl der Richtervorlagen an das Bundesverfassungsgericht sind in den letzten Jahren gestiegen. Die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Steuergesetzen44 betreffen zum einen die formale Rechtsstaatlichkeit wie das Zustandekommen von Gesetzen im Vermittlungsausschuss45, die Normenklarheit46 sowie Fragen der Rückwirkung47. In materieller Hinsicht haben Steuergesetze

___________ 38 Vgl. aufhebende BFH-Beschlüsse v. 30.10.2008 – IV R 59/05, BFH/NV 2009, 214 und IV R 4/06, BFH/NV 2009, 214 nach Klaglosstellung der Kläger im Einzelfall. In der Literatur wird vermutet, dass die Finanzverwaltung durch diese Verfahrensweise vermeiden wolle, einen möglichen Erfolg durch Niederlagen in anderen Verlustabzugsfällen, in denen die Verfassungswidrigkeit offenkundiger sei, zu beeinträchtigen (MK, DStR 2008, 2316). 39 Vgl. BFH v. 30.3.2006 – V R 12/04, BStBl. II 2006, 542.; v. 7.11.2007 – III R 7/07, BFH/NV 2008, 403. 40 Vgl. hierzu Drüen, DStR 2010, 2 (7). 41 Spindler, DStR 2007, 1061 ff.; s. auch Pezzer, DStR 2004, 525 ff. 42 K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I, 2. Aufl., S. 105 ff. 43 Vgl. zum Vertrauensschutz gegen Rechtsprechungsänderungen BFH v. 17.12.2007 – GrS 2/04, BFHE 220, 129, BStBl. II 2008, 608. 44 Vgl. Spindler in FS Spiegelberger, Bonn 2009, S. 471 ff.; Spindler in FS Schaumburg, Köln 2009, S. 169 ff. 45 BVerfG v. 15.1.2008 – 2 BvL 12/01, BVerfGE 120, 56; v. 8.12.2009 – 2 BvR 758/07, BGBl. I 2010, 68. 46 BFH-Vorlagebeschluss v. 6.9.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 16. 47 Vgl. z.B. die anhängigen Verfahren beim BVerfG zur Rückwirkung 2 BvL 2/10, 2 BvL 21/09, 2 BvL 2/09; 2 BvR 813/09; 1 BvL 5/08, 1 BvL 6/07; 1 BvL 3/08;2 BvL 57-58/06;

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gelegentlich aus rein fiskalischen Bedürfnissen heraus die Prinzipien der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit oder der Folgerichtigkeit verletzt, so z.B. die Neuregelungen zur Entfernungspauschale48. Schließlich ist vom Bundesverfassungsgericht auch beanstandet worden, dass das Gebot tatsächlicher gleicher Steuerbelastung durch gleichmäßigen Gesetzesvollzug nicht beachtet wurde49. Aus Sicht des Steuerbürgers ist neben der zunehmenden Gefahr, verfassungswidrige Steuern bezahlen zu müssen, auch der Gang durch die Instanzen mit einem Sieg vor dem Verfassungsgericht zumeist allenfalls ein Pyrrhussieg: Materiell wird ihm im Erfolgsfall bescheinigt, das gerügte Gesetz verletze ihn in seinen Grundrechten; gleichwohl verliert er den Rechtsstreit, wenn das Verfassungsgericht wie im Regelfall den Haushaltsschutz des Gesetzgebers höher als seinen Individualschutz bewertet, indem es das Gesetz für unvereinbar mit der Verfassung erklärt und dem Gesetzgeber eine Übergangsfrist für eine Neuregelung setzt50. Der Steuerpflichtige hat dann nach der Rechtsprechung des BFH die Kosten zu tragen. Die Kostenlast knüpft der BFH folgerichtig an den Misserfolg der Klage (§ 135 Abs. 1 FGO)51. In der Literatur wird diese Frage jedoch mit beachtlichen Argumenten als tiefgreifendes Gerechtigkeitsproblem diskutiert52. b) Formen anwaltlicher Interessenvertretung im finanzgerichtlichen Verfahren aa) Der „unbequeme“ Interessenvertreter Michel Streck hat in einem vielbeachteten Aufsatz53 das Ziel und die Form anwaltlicher Interessenvertretung im finanzgerichtlichen Verfahren offengelegt. Ein Finanzgerichtsprozess werde vom Kläger geführt, um seine Steuerlast zu mindern, selbst wenn das Ergebnis nicht zum richtigen und gesetzmäßigen Steuerbescheid führe. Der Prozess „lohne“ sich, wenn die erkämpfte Steuerminderung die gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten des Klägers übersteige. Zur anwaltlichen Vorgehensweise im finanzgerichtlichen Prozess gehöre der bewusste Streit über den Sachverhalt mit Beweisanträgen und umfangreichem, auch verwirrendem Vortrag; Vorschlägen des Richters, sich über den Sachverhalt zu einigen, solle nicht zu schnell nachgegeben werden. Zurück-

___________ 48 49 50 51

52 53

2 BvR 1738/05; 2 BvR 753/05; 2 BvL 2/04; 2 BvL 1/03; 2 BvL 14/02; Spindler, DNotZ 2007, 105 ff.; Spindler in DStJG Band 28 (2003), S. 70 ff. Vgl. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BGBl. I 2008, 2888. Vgl. BVerfG v. 9.3.2004 – 2 BvL 17/02, BStBl. II 2005, 56. Vgl. jüngst BVerfG v. 8.12.2009 – 2 BvR 758/07, BGBl. I 2010, 68; zu dieser Praxis allgemein Drüen, FR 1999, 289 (290). BFH v. 18.3.1994 – III B 543/90, BStBl. II 1994, 473; v. 18.3.1994 – III B 270/90, BStBl. II 1994, 522; v. 6.10.1995 – III R 52/90, BStBl. II 1996, 20; zustimmend Schwarz in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 138 FGO Rz. 55 m.w.N.; zu einer Ausnahme BFH v. 18.8.2005 – VI R 123/94, BFHE 210, 214, BStBl. II 2006, 39. Drüen, FR 1999, 289 (290 f.) zu Lösungsansätzen. Streck, Die anwaltliche Sicht des Steuerprozesses, NJW 2001, 1541 ff.

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haltung gelte auch für die Annahme richterlicher „Vergleichsangebote“ sowie die Abgabe von Erledigungserklärungen vor Prüfung des Änderungsbescheids. Schließlich weist Michael Streck auf die Notwendigkeit eines „gestreckten“ finanzgerichtlichen Verfahrens hin, wenn im Hintergrund ein Steuerstrafverfahren anhängig sei, da ein bestandskräftiger Steuerbescheid über die hinterzogenen Einkünfte wie ein Geständnis wirke54. Man kann sich hiernach gut vorstellen, was Schmidt-Troje gemeint hat, wenn er in der Laudatio zum 65. Geburtstag des Jubilars geschrieben hat, es sei stets eine Herausforderung gewesen, mit diesem zu verhandeln55. bb) Die sog. Konfliktvertretung In finanzgerichtlichen Verfahren hält in jüngerer Zeit gelegentlich auch die Technik der sog. Konfliktvertretung Einzug. Dieses, zum Alltag des Strafprozesses gehörende Verhalten, ist auch im Steuerprozess auf die gezielte Behinderung und Beschäftigung des Gerichts ausgerichtet, um entweder eine rasche Entscheidung zu verhindern oder den Verfahrensablauf zu torpedieren, d.h. die Amtsermittlung durch das Gericht zu beeinträchtigen und hierdurch eine außergerichtliche Einigung mit der Finanzverwaltung zu erreichen. Als Instrumente der Konfliktvertretung werden – wie neuerdings auch im Zivilprozess56 – wiederholende Terminverlegungsanträge und Ablehnungsgesuche (meist pauschal gegen den gesamten Spruchkörper) genutzt, wenn das Gericht während des Verfahrens eine prozessleitende Verfügung erlässt oder eine Rechtsansicht äußert. Zudem werden die Gerichte mit Anhörungsrügen, Gegenvorstellungen, außerordentlichen Beschwerden, „Nichtigkeitsklagen“57 und Restitutionsklagen (§ 579 ZPO) beschäftigt, die im Anschluss an die verfahrensbeendende Entscheidung neben den „vorgesehenen“ Rechtsmitteln erhoben werden58. Die Finanzgerichte reagieren hierauf auf unterschiedliche Weise. Bei ungeordnetem umfangreichem Vortrag wird dieser teilweise nicht mehr zur Kenntnis genommen und das jeweilige Rechtsmittel als unzulässig verworfen59. Dies wird auch vom BFH im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren

___________ 54 S. auch Schwedhelm, BB 2010, 725 ff. 55 Schmidt-Troje, DStR 2006, 393. 56 Vgl. dazu oben die Entscheidung des OLG Köln v. 30.12.2008 – 2 W 127/08, JMBl NW 2009, 89–91. 57 Vgl. hierzu z.B. BFH v. 12.5.2009 – VI K 1/09, juris; v. 11.3.2009 – VI K 2/08, juris. 58 Vgl. z.B. BFH v. 16.2.2006 – VII S 2/06, BFH/NV 2006, 1123 (Befangenheitsantrag, Anhörungsrüge und Gegenvorstellung nach Ablehnung der Prozesskostenhilfe) und BFH v. 12.6.2008 – V E 1/08, BFH/NV 2008, 1687 (Befangenheitsantrag im Erinnerungsverfahren). 59 Vgl. z.B. Urteil des FG Hamburg v. 31.3.2009 – 3 K 31/09, StE 2009, 568: „Die Sachurteilsvoraussetzung der Geltendmachung einer Rechtsverletzung ist nicht erfüllt, soweit die Klagebegründung aufgrund des Umfangs und der Unübersichtlichkeit der Eingaben und Ausführungen die Möglichkeit konkreter Rechtsverletzungen in Bezug auf das Klagebegehren nicht hinreichend klar, geordnet und verständlich erkennen lässt; es ist nicht Aufgabe des Gerichts, sich das herauszusuchen, was zur Darlegung einer Beschwer im Sinne von § 40 Abs. 2 geeignet sein könnte“.

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praktiziert60. Die Entscheidungen zu Ablehnungsgesuchen, die als rechtmissbräuchlich zurückgewiesen werden61, nehmen zu. 3. Konflikte im Umgang der Beteiligten miteinander als ethisches Problem a) Rechtliche Abgrenzung rechtmäßiger von unrechtmäßiger Prozessvertretung Es liegt auf der Hand, dass die anspruchsvolle mandantenorientierte und aufwändige Prozessvertretung, die dem Gericht Mühe machen soll, sich nicht leicht durch eindeutige rechtliche Kriterien von der rechtsmissbräuchlicher Prozessvertretung abgrenzen lässt. Es ist nicht Aufgabe der Anwaltschaft, den Gerichten das Verfahren möglichst einfach zu gestalten. Eine Bindung der Art und Weise der anwaltlichen Vertretung an Interessen der Justiz wird außerhalb des Bereichs der Grundpflichten in §§ 43, 43a BRAO aus der Stellung des Anwalts als Organ der Rechtspflege nach allgemeiner Auffassung nicht mehr abgeleitet62. Die europäischen Standesregeln verlangen unter 2.2 CCBE ebenfalls nur, die Interessen der betreuten Mandantschaft im Umgang mit dem Gericht gewissenhaft und im Auftreten angemessen zu vertreten. Im Abschnitt Verhalten gegenüber den Gerichten verpflichten die Abschnitte 4.3 und 4.4 CCBE den Rechtsanwalt, die dem Richteramt gebührende Achtung und Höflichkeit entgegenzubringen, daneben aber die Interessen seines Mandanten gewissenhaft und furchtlos, ungeachtet eigener Interessen und/oder ihm oder anderer Personen entstehender Folgen zu vertreten. Der Rechtsanwalt dürfe dem Gericht gegenüber hierbei aber niemals vorsätzlich unwahre oder irreführende Angaben machen. Der Anwalt und der steuerliche Berater sind im finanzgerichtlichen Verfahren auch keine „Treuhänder des rechtmäßigen oder richtigen Steueranspruchs“, sondern dürfen Räume und Lücken in Steuergesetzen zugunsten ihrer Man-

___________ 60 Beschluss des BFH v. 23.7.2008 – VI B 78/07, BStBl. II 2008, 878: „Eine mehrere hundert Seiten umfassende Beschwerdebegründung, die zugleich weitere Nichtzulassungsbeschwerden gegen andere Urteile des gleichen FG betrifft und die in großem Umfang Kopien von Schriftstücken enthält, entspricht den Anforderungen nicht, wenn die Ausführungen die das konkret zu entscheidende Verfahren betreffenden Verfahrensrügen nicht hinreichend klar, geordnet und verständlich abgrenzen. Es ist nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, sich aus einer derartigen Beschwerdebegründung das herauszusuchen, was möglicherweise zur Darlegung eines Zulassungsgrundes im Sinne des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO geeignet sein könnte“; ebenso BFH v. 20.11.2008 – VII B 113/07, BFH/NV 2009, 404 und BFH v. 25.9.2008 – VIII B 80/07, BFH/NV 2009, 179. 61 Vgl. z.B. BFH v. 21.4.2008 – IV B 84/07, juris: „Werden pauschal alle Berufsrichter eines Spruchkörpers abgelehnt, so ist ein Ablehnungsgesuch regelmäßig missbräuchlich, sofern nicht konkrete Anhaltspunkte im Hinblick auf die Kollegialentscheidung vorgebracht werden, die auf eine Befangenheit aller Mitglieder des Spruchkörpers hindeuten. Ist das Ablehnungsgesuch danach rechtsmissbräuchlich und deshalb offensichtlich unzulässig, entscheidet das Gericht darüber in der nach dem Geschäftsverteilungsplan vorgesehenen Besetzung, ohne dass es einer vorherigen dienstlichen Äußerung der abgelehnten Richter bedarf. (…) In diesem Fall ist es auch nicht notwendig, über den Antrag in einem besonderen Beschluss zu entscheiden, sondern es kann im Urteil darüber mitentschieden werden. (…)“. 62 Vgl. Koch in Henssler/Prütting, Bundesrechtsanwaltsordnung, § 1 Rz. 79–82.

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danten ausnutzen63. Nach den dargelegten – die Rechtsdurchsetzung des Steuerpflichtigen belastenden – Rahmenbedingungen des finanzgerichtlichen Verfahrens darf und muss der Steuerpflichtige bei der Abwehr des staatlichen Steuerzugriffs alle legalen prozessualen Möglichkeiten nutzen können. Anwälte können im finanzgerichtlichen Verfahren durch ihre Verhandlungsführung somit in zulässiger Weise Prozesslagen schaffen, die zu einer verfahrensbeendenden Einigung der Beteiligten führen und eine negative gerichtliche Endentscheidung verhindern. Die Einigung der Beteiligten im finanzgerichtlichen Verfahren auf der Grundlage einer rechtlich zulässigen tatsächlichen Verständigung64, der ein wechselseitiges Nachgeben aller Beteiligten zugrunde liegt, etwa weil aufgrund umfangreichen anwaltlichen Vortrags nicht alle streitig gestellten tatsächlichen Punkte eines Verfahrens abgearbeitet werden können, ist rechtsstaatlich nicht minder „werthaltig“ als eine Entscheidung des Gerichts durch Urteil über den ausermittelten Sachverhalt. Dies gilt in der Steuerrechtspflege ohnehin unter dem besonderen Aspekt des „Dauerschuldverhältnisses“ zwischen den Beteiligten65. Wichtig ist hier auch, dass es dem Gericht über die Beendigung des konkreten Verfahrens hinaus gelingt, das gestörte Verhältnis wieder auf ein gesundes und vertrauensvolles Fundament zu stellen. Hierzu sind gerade Erörterungstermine und tatsächliche Verständigungen ein probates Mittel66. Den Gerichten ist m.E. in der FGO bereits jetzt ein ausreichendes Instrumentarium an die Hand gegeben, um der Prozessförderungspflicht der Beteiligten Nachdruck zu verleihen und sich gegen rechtsmissbräuchliches Verhalten von Prozessvertretern zu wehren. Es bedarf m.E. derzeit weder einer Veränderung des Prozessrechts noch einer Verschärfung des anwaltlichen Standesrechts. Sinngemäß ist Salditt zuzustimmen, dass jede verschwommene Generalklausel, unabhängig davon, gegen welches an der Rechtspflege gerichtete Organ sie sich wenden würde, die Funktion hätte, ein einseitiges Interesse an mehr prozessualer Macht durchzusetzen und eine gegenläufige Funktion aufzuheben67. b) Anzeichen einer Vertrauenskrise zwischen Anwaltschaft und Justiz Bedenklich stimmen allerdings die Stimmen, die eine wachsende Entfremdung zwischen Justiz und Anwaltschaft, insbesondere im Strafprozess, und eine damit einhergehende Vertrauenskrise konstatieren. Der Große Senat des BGH für Strafsachen hat in dem schon erwähnten Beschluss vom 23. April 2007 eine nachträgliche Protokollberichtigung durch die Vorinstanz für möglich und damit die „Verkümmerung“ einer schon erhobenen Verfahrensrüge entgegen seiner anderslautenden früheren Rechtsprechung für zulässig gehalten. Dies hat er damit unter anderem damit begründet, auch die Revisionsgerichte seien der richtigen und nicht einer „prozessu-

___________ 63 64 65 66 67

Vgl. Seer, DStR 2008, 1553 (1553). Vgl. BFH v. 8.10.2008 – I R 63/07, BFHE 223, 194, BStBl. II 2009, 121. S. hierzu näher Spindler, Stbg. 2010, 49 (53). Spindler, Stbg. 2010, 49 (53). Vgl. Salditt, StraFO 2009, 313 (314).

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alen“ Wahrheit verpflichtet, sodass grundsätzlich der wahre Sachverhalt, wie er sich zugetragen habe, maßgeblich sein müsse, wenn prozessual erhebliche Tatsachen aus der tatrichterlichen Hauptverhandlung der Klärung bedürften. Der Wahrheitspflicht werde nicht dadurch Genüge getan, dass die Wahrheit in eine „materielle“ und eine „formelle“ bzw. „prozessuale“ Wahrheit aufgespalten werde. Tragende Erwägung der Entscheidung ist neben anderen Gesichtspunkten, den Erfolgsaussichten bewusst unwahrer Verfahrensrügen Grenzen zu setzen und dem veränderten anwaltlichen Berufsethos Rechnung zu tragen. Die ursprüngliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Verbot der Rügeverkümmerung sei –-so der Große Senat für Strafsachen – in einer Zeit ergangen, in der die vom Verteidiger bewusst wahrheitswidrig erhobene Verfahrensrüge nach verbreiteter Ansicht noch als standeswidrige Verfehlung gegolten habe. Dieses anwaltliche Ethos habe sich in der Weise verändert, dass es heute als „anwaltlicher Kunstfehler“ bezeichnet werde, sich eines Fehlers im Protokoll nicht zu bedienen. Dies widerstreite diametral den Vorstellungen, von denen der Bundesgerichtshof in seiner früheren anderslautenden Rechtsprechung noch ausgegangen sei. In der Folgeentscheidung hat der 3. Strafsenat des BGH die „bewusst unwahre Protokollrüge“ als rechtsmissbräuchlich beurteilt68. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtsfortbildung durch den BGH unter den verfassungsrechtlichen Maßstäben des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz und ein faires Verfahren geprüft und mit einer Mehrheitsentscheidung gebilligt69. Die Begründung des Großen Senats des BGH, auch der Wandel des anwaltlichen Berufsethos sei mitursächlich für die Rechtsfortbildung, hat das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht aufgegriffen. Es hat aber dem Gesichtspunkt, die Rügeverkümmerung sei geeignet, die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege zu erhalten, entscheidendes Gewicht beigemessen70. Hassemer hat in seiner Rede auf dem 49. Deutschen Anwaltstag am 2. Mai 2008 ausgeführt, die Entscheidung des Großen Senats des BGH in Strafsachen indiziere, dass auf Seiten der Justiz „relevanten Teilen der Anwaltschaft nicht mehr zugetraut oder zugebilligt werde, dass sie sich wie Organe der Rechtspflege benehmen. Von ihnen werde inzwischen erwartet, dass sie jedes Schlupfloch nutzten, um sich einen unverdienten Vorteil zu sichern“71. Auch für den Bereich der Steuerrechtspflege wird diese Vertrauenskrise beschrieben72. Die im Strafprozess anscheinend auf breiter Front gestörte Vertrauenslage zwischen Anwalt- und Richterschaft beobachte ich allerdings im Umgang zwischen Anwalt- und Richterschaft im finanzgerichtlichen Verfahren noch nicht. Wird aber die anwaltliche Interessenvertretung in der Justiz breitgefächert mit einem derart negativen Leitbild belegt und entsteht hierdurch ein Vertrauensverlust, so kann dies letztlich das notwendige Zusammenwirken von Anwaltschaft und Rechtspflege gefährden. Ein solches Bild der Anwaltschaft könnte im Ergebnis zur Folge haben, dass außerrechtli-

___________ 68 69 70 71 72

BGH v. 11.8.2006 – 3 StR 284/05, BGH St 51, 88. BVerfG v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248. Vgl. BVerfGE 122, 248 ff. (unter B.II.4.). Vgl. Hassemer, AnwBl 2008, 413 (419). Vgl. Hommerich, DStR 2008, 1161 (1163 ff.).

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Der Anwalt als „Organ der Steuerrechtspflege“ und Interessenvertreter

che und schwer fassbare Maßstäbe in Prozessinstitute des Rechtsmissbrauchs oder der Prozessverschleppung hineinwirken und diese ihren Ausnahmecharakter verlieren73. Es würde aber die „Gewaltenteilung“ in der Rechtspflege beeinträchtigen, wenn ohne greifbare Abgrenzungskriterien nach dem subjektiven Empfinden des jeweiligen gerichtlichen Spruchkörpers aus der zu exzessiven Inanspruchnahme prozessualer Rechts zunehmend ein prozessualer Missbrauch abgeleitet würde und die Entscheidung hierüber allein beim Gericht läge74. Die Beurteilung anwaltlicher Interessenvertretung als prozessualer Missbrauch muss der Ausnahmefall bleiben. Keinesfalls darf die anwaltliche Interessenvertretung, die dem Gericht Mühe bereitet oder subjektiv unsinnig erscheint, in den Bereich des prozessualen Missbrauchs gerückt werden75. Ziel muss sein, das Vertrauen in die starke anwaltliche Interessenvertretung als notwendigen Eckpfeiler des Systems der Rechtspflege oder anders ausgedrückt, das „angesammelte Kapital der Anwaltschaft zu erhalten“76. Der Weg dahin führt über die aktuell intensive geführte Leitbilddiskussion in Anwaltund Richterschaft, die erreichen soll, den beiden „unabhängigen Organen der Rechtspflege“ eine ethische Selbstbindung als Ordnungsrahmen zu geben77. Diese Leitbilddiskussionen sollten nicht getrennt, sondern nach Möglichkeit auch im wechselseitigen Diskurs geführt werden!

IV. Inhalt der gegenwärtigen anwaltlichen und richterlichen Leitbilddebatten 1. Unverzichtbarkeit moderner Leitbilder bei beiden Organen der Rechtspflege Die Notwendigkeit eines außerrechtlichen ethischen Leitbildes als Gegengewicht zur Unabhängigkeit wird heutzutage uneingeschränkt bejaht. Die anwaltliche Leitbilddiskussion wird in jüngster Zeit im Schrifttum intensiv geführt78. Jaeger betont, aus der herausgehobenen Stellung des Rechtsanwalts als „Organ der Rechtspflege“ folge seine Eigenverantwortung für die Gestaltung des Rechtsstaats. Das Gesamtgefüge der Normen über die berufliche Selbstverwaltung, aber auch in den Prozessordnungen breche jedoch weg,

___________ 73 Vgl. auch Hassemer, AnwBl 2008, 413 (421), der ausführt, die Justiz habe im Bereich ihrer Zuständigkeit stets das letzte Wort, was dazu führe, dass sie vieles richten, aber auch viele folgenreiche Fehler machen könne. 74 Vgl. Salditt, StraFO 2009, 313 (314) und wiederum Hassemer, AnwBl 2008, 413 (421), der es für notwendig hält, die Justiz in ihren Maßstäben zu begleiten, zu kritisieren und zu stützen. 75 Vgl. etwa das Beispiel von Streck, NJW 2001, 1541 (1544) zur Missbilligung mancher Vorsitzender in finanzgerichtlichen Verfahren, schriftlich im Verfahren gestellte anwaltliche Anträge, denen das FG nicht nachkommt, auf Antrag des Anwalts in der Niederschrift zur mündlichen Verhandlung zu protokollieren. Dass diesem Antrag im Hinblick auf die Rechtsprechung des BFH zum sog. Rügeverzicht bei Verfahrensfehlern nachzukommen ist, ist selbstverständlich. 76 Vgl. Salditt, StraFO 2009, 313 (319). 77 Vgl. für die steuerberatenden Berufe Hommerich, DStR 2008, 1161 (1164). 78 Vgl. Henssler, AnwBl 2008, 721 ff.

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wenn gesetz- und ethikkonformes Handeln der Anwälte im Wege der standesrechtlichen Einzelkontrolle und mit Mitteln des Strafrechts gewährleistet werden müsse79. Im Standesrecht verfestige sich zwar die Berufsmoral des Anwalts zu Recht, es folge daraus aber nicht, dass die in den berufsrechtlichen Satzungen nicht angesprochenen Verhaltensweisen des Anwalts über dieses ethische Minimum hinausgehend keinen außerrechtlichen Vorgaben mehr unterlägen80. Michael Streck sieht die Gerechtigkeit als ethischen Maßstab anwaltlichen Handelns, da die Rechts- und Justizordnung der Betätigung durch die Anwaltschaft wertende Gebote und Grenzen setze81. Ähnliche Überlegungen liegen der Leitbilddiskussion in der Richterschaft zugrunde. Der Deutsche Richterbund82 beschäftigt sich im Rahmen der Arbeitsgruppe „Richterliche Ethik“ bereits seit einiger Zeit mit der Frage eines Amtsethos und damit, welche Anforderungen an richterliches Verhalten und richterliches Selbstverständnis gestellt werden müssen. Damit soll ein Signal gegeben werden, dass die Richter ihre richterliche Unabhängigkeit und die hierfür erforderliche Ausstattung nicht als Privileg oder Selbstzweck begreifen, sondern als Verpflichtung zum Schutz des Justizgewährungsanspruchs. 2. Aspekte der anwaltlichen Leitbilddiskussion a) Gemeinwohlbindung der anwaltlichen Betätigung In den Diskussionsbeiträgen im Schrifttum wird zum einen der Gemeinwohlbezug anwaltlicher Betätigung als wichtiger Baustein des Berufsethos verstanden. Der Gemeinwohlbezug ist danach gewahrt, wenn die Anwaltschaft ihre originäre Aufgabe erfüllt, die Mandanteninteressen in einer Weise zu vertreten, dass die anwaltlichen Kerntugenden Unabhängigkeit, Verschwiegenheit und Interessenkonflikte beachtet werden83. Weitergehend wird ein Gemeinwohlbezug der auftragsbezogenen und kommerziellen Tätigkeit des Anwalts im Sinne einer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft zum Beispiel darin gesehen, dass Beratungs- und Prozesskostenhilfemandate sowie Pflichtverteidigungsmandate oder Pro-Bono-Mandate übernommen werden84. Allerdings wird – soweit ersichtlich – aus einem Gemeinwohlbezug der Anwaltschaft aber keine ethische Selbstbeschränkung der Anwaltschaft abgeleitet, Justizressourcen zu schonen.

___________ 79 Jaeger, NJW 2004, 1 (5). 80 Zuck, AnwBl 2002, 3 (4); s. auch Streck, NJW-Spezial 2009, 430, der zwischen der „zu Recht geronnenen Ethik“ in §§ 43, 43a BRAO und der in einem Ethikkodex enthaltenen Pflichten unterscheidet; ebenso Graf von Westphalen, AnwBl 2003, 125 ff. 81 Streck, AnwBl 2004, 266 (269). 82 Vgl. unter www.drb.de unter „Positionen“/„Richterliche Ethik“; s. auch Kauffmann, DRiZ 2008, 194 ff.; Neumann, DRiZ 2008, 101, und rechtsvergleichend Titz, DRiZ 2008, 98 ff. 83 Vgl. Hellwig, AnwBl 2008, 644 (651); Henssler, AnwBl 2008, 721 (724). 84 Hellwig, AnwBl 2008, 644 (651), ebenso Jaeger, NJW 2004, 1 (5); zur Pro-BonoAktivität kritisch Graf von Westphalen, AnwBl 2003, 125 (130).

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Der Anwalt als „Organ der Steuerrechtspflege“ und Interessenvertreter

b) Qualitätsanspruch als Teil der Berufsethik Als fester Bestandteil des anwaltlichen Berufsbildes und einer ethischen Berufsausübung wird unbestritten das Erfordernis hoher Qualität der anwaltlichen Leistung angesehen. Ausdruck hierfür ist die in § 43a Abs. 6 BRAO für alle Anwälte geregelte allgemeine Fortbildungspflicht85, die durch die besondere Fortbildungspflicht der Fachanwälte in § 15 FAO ergänzt wird. c) Wichtige Gesichtspunkte eines Leitbilds forensisch tätiger Anwälte in der Steuerrechtspflege Sehr umstritten ist in der Anwaltschaft, ob ein ausformulierter Ethikkodex benötigt wird86. Ich halte einen solchen Kodex für wichtig, um die notwendige Verbindlichkeit zu erzeugen. Inhaltlich wäre es dabei wünschenswert, dass die Anwaltschaft in ihr Leitbild eine Verpflichtung integrierte, wie das objektive (wohlverstandene) Interesse des Mandanten in der Steuerrechtspflege zu definieren ist87. Angesichts der zunehmend auftretenden Steuerverdrossenheit, deren Ursachen m.E. zum einen im Zustand des Steuerrechts und zum anderen im abnehmenden Solidaritäts- und Verantwortungsgefühl der individualistischen Gesellschaft liegen88, sollte die Anwaltschaft sich verpflichten, sowohl ungesetzlichen Vorstellungen des Mandanten entgegenzutreten89 als auch die moralische Legitimität des steuerlichen Zugriffs und dessen Gemeinwohlfunktion nicht in Frage zu stellen90. Aus dem Blickwinkel des Richters und des hier thematisierten Verhältnisses zwischen Anwaltschaft und Justiz sehe ich es allerdings kritisch, dass in der Anwaltschaft die Frage, ob eine außerhalb der normativen Ebene stehende Anwaltsethik die freie anwaltliche Interessenvertretung hemmen soll, eher verneint wird91. Die Anwaltschaft sollte sich m.E. in ihrem Leitbild zu einer funktionstüchtigen Justiz bekennen und deren beschränkte Ressourcen anerkennen, um den Justizgewährungsanspruch des Bürgers in heutiger Zeit noch erfüllen zu können92. In diesem Sinne erscheint es als Minimum die Selbstverpflichtung der Anwaltschaft angebracht, mit den beschränkten Ressourcen der Justiz maßvoll umzugehen, insbesondere sich der bewussten

___________ 85 Hellwig, AnwBl 2008, 644 (650).; Offermann-Burckart, AnwBl 2008, 763 ff.; KleineCosack, AnwBl 2008, 768 ff.; Stobbe, AnwBl 2008, 654 ff.; Dombek in FS 50 Jahre Dt. Anwaltsinstitut, Bochum 2003, S. 41 ff. 86 Bejahend Henssler, AnwBl 2008, 721; verneinend Hellwig, AnwBl 2008, 644 ff., und Kilger, AnwBl 2008, 824 sowie Sitzungsbericht des Berufsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins auf dem 60. Dt. Anwaltstag in Braunschweig am 21.5.2009, wiedergegeben von Streck, NJW-Spezial 2009, 430. 87 Zur notwendigen Distanz zwischen Anwalt und Mandant aus anwaltlicher Sicht s. Graf von Westphalen, AnwBl 2003, 125 (131 f.). 88 Vgl. näher H.G. Senger, Stbg. 1996, 337 (340); Spindler, Stbg. 2010, 49 (53). 89 Dies ist selbstverständlich, s. H.G. Senger, Stbg. 1996, 337 (341). 90 Vgl. ebenso Hommerich, DStR 2008, 1161 (1165); zu Werten im Steuerrecht Spindler, Stbg. 2010, 49 (54). 91 S. Streck, Braucht die Anwaltschaft einen ausformulierten Ehrenkodex?, NJW-Spezial 2009, 430. 92 S. ebenso Hassemer, AnwBl 2008, 413 (421).

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Wolfgang Spindler

Konfliktvertretung (zumindest im finanzgerichtlichen Verfahren und anderen Verfahren, die dem Untersuchungsgrundsatz folgen) zu enthalten. Dies mag zwar in manchen Fallkonstellationen auch aus den Grundpflichten der Anwaltschaft und ihrer Verpflichtung zur Gewissenhaftigkeit (§ 43 BRAO) als Rechtspflicht ableitbar sein, angesichts des Charakters von § 43 BRAO als Generalklausel wäre diese Selbstbindung m.E. jedoch hilfreich. 3. Wichtige Aspekte eines richterlichen Leitbilds im Hinblick auf die Anwaltschaft Um es deutlich zu betonen: Die vorgenannte anwaltliche Bindung gegenüber der Justiz im Rahmen eines Leitbildes muss eine entsprechende Reflexion im zu entwickelnden Leitbild der Richterschaft finden. Erforderlich ist die richterliche Selbstverpflichtung, bei der Rechtsfindung hohe Qualität zu bieten93. Begleitend muss – dem anwaltlichen Berufsethos entsprechend –, eine richterliche Selbstverpflichtung zur regelmäßigen Fortbildung im Eigenstudium und durch Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen erfolgen94. Wichtiger Bestandteil des Leitbilds sollte m.E. auch ein richterliches Bekenntnis zur Funktion des Rechtsanwalts als unabhängigem und parteiischem Interessenvertreter sein. Dies gilt ausdrücklich auch für das finanzgerichtliche Verfahren; denn die anwaltliche Interessenvertretung dient auch in der Steuerrechtspflege der Gewährleistung der individuellen Rechte des rechtsunterworfenen Steuerbürgers. Für den Umgang mit anwaltlicher Prozessvertretung sollte die Richterschaft sich dazu bekennen, dass eine ethisch fundierte „gute“ richterliche Prozessleitung in Anerkennung einer Fürsorgepflicht für die Beteiligten über das rechtlich geschuldete Minimum des Verfahrensrechts hinausgehen kann und ggf. auch sollte. Wichtig wäre es auch, dass die Richterschaft die Wertung, ob anwaltliches Handeln im Verfahren unangemessen oder rechtsmissbräuchlich ist, nach den Gesamtumständen des Einzelfalls (z.B. eines parallel laufenden Steuerstrafverfahrens) und unter Einbeziehung der spezifischen rechtlichen Bindungen des Anwalts (z.B. des zivilrechtlichen Haftungsriskos) trifft.

V. Fazit Die Verfassung räumt der unabhängigen anwaltlichen Interessenvertretung einen hohen Stellenwert ein, den es zu erhalten und aus Sicht der Justiz zu beachten gilt. Einer Vertrauenskrise zwischen Anwaltschaft und Justiz ist entgegenzuwirken, indem die Berufsbilder beider Berufe weiterentwickelt und um Regeln eines ethisch fundierten Umgangs miteinander erweitert werden.

___________ 93 Zur Qualität in der Justiz s. ausführlicher Spindler in FS 50 Jahre Dt. Anwaltsinstitut, Bochum 2003, S. 145 ff. 94 S. hierzu Dyckmans, DRiZ 2008, 149 ff.

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Karin Stahl-Sura

Zur Dauer der Verfahren vor den Finanzgerichten Inhaltsübersicht I. Einführung II. Statistisches zur Verfahrensdauer III. Praktische Beispiele zum Verfahrensablauf aus dem Alltag eines Finanzrichters/einer Finanzrichterin IV. Einige Faktoren, von denen die Verfahrensdauer abhängen kann 1. Amtsermittlungsgrundsatz 2. Interesse der Beteiligten an einer schnellen Entscheidung des Rechtsstreits? a) Einige Fallkonstellationen b) Bekunden des Interesses durch die Beteiligten an einer baldigen Entscheidung? 3. Mitwirkung/Verhalten der Beteiligten a) Kläger und ihre Prozessvertreter aa) Klageerhebung und Klagebegründung bb) Anträge auf Akteneinsicht cc) Anträge auf Terminsaufhebung/Terminsverlegung b) Vertreter der Beklagten aa) Klageerwiderung bb) Anträge auf Terminsaufhebung/Terminsverlegung 4. Instrumentarium der Finanzgerichtsordnung a) Fristen zur Klagebegründung und zur Klageerwiderung b) Ausschlussfristen c) Löschung des Verfahrens in den Registern des Gerichts bei Nichtbetreiben durch den Kläger?

aa) Fiktive Klagerücknahme bei Nichtbetreiben des Verfahrens durch den Kläger? bb) Folgen der Verfahrenslöschung cc) Verfahrenslöschung in der finanzgerichtlichen Praxis? 5. Anzahl der Verfahren bzw. Schwierigkeitsgrad der Verfahren 6. Anzahl der Richterstellen und die sachliche Ausstattung der Gerichte 7. Kompliziertheit des Rechts und Normenflut 8. Das Verhalten des Richters/der Richterin a) Der Richter im Spannungsfeld zwischen Beschleunigungsmaxime und Beteiligtenfreundlichkeit b) Alsbaldige Durchführung der mündlichen Verhandlung nach der Durchführung des Erörterungstermins? V. Zum Einfluss der Verfahrensdauer auf die Bereitschaft der Steuerpflichtigen, ein Klageverfahren durchzuführen 1. Allgemeine Überlegungen 2. Ergebnis der Beteiligtenbefragung am FG Münster VI. Forderung nach kürzerer Verfahrensdauer bei gleichbleibender Qualität oder sogar bei Steigerung der Qualität VII. Ausblick

I. Einführung Die Dauer der finanzgerichtlichen Verfahren ist ein Dauerbrenner. Bereits im zweiten Geschäftsbericht der Finanzgerichte der Bundesrepublik für das Jahr 1976 heißt es: „Inzwischen ist die Zahl der Eingänge und damit zwangsläufig 435

Karin Stahl-Sura

auch die Zahl der unerledigten Verfahren weiterhin derart angestiegen, dass in der Öffentlichkeit bereits der Vorwurf einer ‚Verweigerung des gerichtlichen Rechtsschutzes’ im Bereich der Finanzgerichtsbarkeit erhoben wird.“1 Die durchschnittliche Verfahrensdauer schwankte zwischen 14 und 28 Monaten2. Seit fast dreißig Jahren beschäftige ich mich mit Verfahren vor den Finanzgerichten und damit auch mit der damit verbundenen Verfahrensdauer, von 1981 bis 1988 zunächst als Rechtsanwältin in der früheren Kanzlei Rädler, Raupach3 & Partner in München, seit Oktober 1988 als Richterin am Finanzgericht in Münster. Auffallend ist, dass in den letzten Jahrzehnten zwar sehr viel zum Thema Verfahrensdauer geschrieben worden ist4 und fast unisono eine kürzere Verfahrensdauer gewünscht oder gar gefordert wird, es aber immer noch an wissenschaftlichen Untersuchungen fehlt, die, nachdem die für die Verfahrensdauer verantwortlichen Faktoren ermittelt und festgelegt worden sind, diese Faktoren in tatsächlichen Erhebungen erfassen und schließlich auswerten5. Dazu gehört neben der Förderung des Verfahrens durch das Gericht auch das Verhalten der an dem Finanzgerichtsprozess Beteiligten, d.h. dem Kläger, dem Prozessvertreter des Klägers und der beklagten Behörde, die sich im Finanzgerichtsprozess in der Regel selbst vertritt. Eine solche umfassende Untersuchung, die alle diese Faktoren berücksichtigt, kann und soll an dieser Stelle nicht geleistet werden. In diesem Beitrag möchte ich vielmehr aus der Sicht eines Praktikers einige von vielen Faktoren beleuchten, von denen die Dauer der finanzgerichtlichen Verfahren abhängig ist. Dabei werde ich insbesondere auf die Belange der Kläger eingehen, während die Interessen des Beklagten im Hinblick auf die Verfahrensdauer nur angerissen werden sollen. Nicht behandelt werden in diesem Beitrag der Anspruch auf ein Verfahren in angemessener Zeit6 (Justizgewährungsanspruch nach Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG sowie Verfahrensgrundrecht aus Art. 6 Europäische Menschenrechtskonvention) und die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen überlange

___________ 1 Geschäftsbericht der Finanzgerichte der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 1976, EFG 1977, 410. 2 Geschäftsbericht (Fn. 1). 3 Raupach in Birk (Hrsg.), Die Situation der Finanzgerichtsbarkeit, 1989, S. 50, hat sich schon 1989 kritisch aus anwaltlicher Sicht mit der Verfahrensdauer vor den Finanzgerichten und dem BFH auseinandergesetzt. 4 Vgl. Steger, Überlange Verfahrensdauer bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten vor deutschen und europäischen Gerichten, Dissertation 2008; vgl. auch Ottaviano, Der Anspruch auf rechtzeitigen Rechtsschutz im Gemeinschaftsprozessrecht, Dissertation, 2009; Brett, Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerden im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, Dissertation 2009. 5 Steger (Fn. 4), S. 65, weist zu Recht darauf hin, dass diese Gründe kaum abschließend erforschbar sein werden. 6 Vgl. dazu Steger (Fn. 4), S. 166 ff.; Müller, Die Verfahrensverzögerung im Steuerprozess, AO-StB 2010, 21.

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Zur Dauer der Verfahren vor den Finanzgerichten

Verfahrensdauer7, sowie die Frage, welche Verfahrensdauer als eine angemessene Verfahrensdauer und welche Verfahrensdauer als überlange Verfahrensdauer bezeichnet werden kann8. Der Zeitraum, innerhalb dessen Rechtsschutz zu gewähren ist, wird sich im Übrigen nicht allgemein feststellen lassen, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab9.

II. Statistisches zur Verfahrensdauer Die Eingänge (Klagen und Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes) und die durchschnittliche Verfahrensdauer bei den Finanzgerichten haben sich wie folgt entwickelt10:

1980

Eingänge11 Eingänge12 nur Klagen 49.380 ./.

1981 1982 1983 1984 1985

./. 61.829 55.98215 55.910 62.244

Jahr

./. ./. ./. ./. ./.

Verfahrensdauer für alle Klagen bis zu 48 Monaten14 ./. 19,3 Monate ./. 18,5 Monate 21,5 Monate

Verfahrensdauer bei Sachentscheidung13

./. ./. ./. ./. ./.

___________ 7 Vgl. dazu Steger (Fn. 4), S. 251 ff.; vgl. dazu auch den Gesetzentwurf vom 12.8.2010: Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. 8 Witting-Vogel/Ulick, Kriterien für die Bewertung der Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, DRiZ 2008, 87. 9 Vgl. BVerfG v. 2.9.2009 – 1 BvR 3171/08, AnwBl 2009, 801; v. 30.7.2009 – 1 BvR 2662/06, DVBl. 2009, 1164; Staatsgerichthof des Landes Hessen v. 21.9.2009 – P.St. 2236, juris; Wagner, Überlange Verfahrensdauer – Anmerkungen u.a. zur Entscheidung des BVerfG v. 2.9.2009 – 1 BvR 371/08, DStR 2009, 2110, mit Ausführungen zur überlangen Verfahrensdauer in Finanzgerichtsverfahren. 10 Die Angaben sind den Geschäftsberichten der Finanzgerichte in der Bundesrepublik Deutschland entnommen: Für das Jahr 1980, EFG 1981, 374; für das Jahr 1982, EFG 1983, 385; für das Jahr 1984, EFG 1985, 422; für die Jahre 1985–1986, EFG 1987, 386; für die Jahre 1987–1988, EFG 1989, 382; für die Jahre 1989–1990, EFG 1991, 434; für die Jahre 1991–1992, EFG 1993, 490; für die Jahre 1993–1994, EFG 1995, 738; für die Jahre 1995–1996, EFG 1997, 922; für die Jahre 1997–1998, EFG 1999, 742; für die Jahre 1999–2000, EFG 2001, 1094; für die Jahre 2001–2002, EFG 2004, 2; für die Jahre 2003–2004, EFG 2006, 942; für die Jahre 2005–2006, EFG 2008, 2; für die Jahre 2007 und 2008, EFG 2009, 1702. Der Geschäftsbericht der Finanzgerichte wird in EFG seit 1974 veröffentlicht, und zwar in der Regel im Zweijahresturnus; in den ersten Jahren noch ohne Angabe genauer Zahlen: Für das Jahr 1974, EFG 1975, 350; für das Jahr 1976, EFG 1977, 410; für das Jahr 1978, EFG 1979, 366. 11 Klagen und Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. 12 Nur Klagen, d.h. ohne Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, soweit diese Angaben in den Geschäftsberichten enthalten sind. 13 Hier wird die Verfahrensdauer für die Klagen dargestellt, die durch Urteil oder Gerichtsbescheid entschieden wurden, ohne unzulässig zu sein, soweit diese Angaben in den Geschäftsberichten enthalten sind. 14 Geschäftsbericht für das Jahr 1980, EFG 1981, 374 (376). 15 Umstellung der Zählweise, tatsächlich Zunahme der Eingänge um ca. 4,4 v.H., vgl. EFG 1985, 423.

437

Karin Stahl-Sura

1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

59.676 59.238 62.199 62.054 59.487 59.250 56.918 56.07016 56.74717 61.32218 65.311 82.92019 84.177 81.773 79.709 77.119 75.859 77.153 73.190 59.128 57.519 56.064 53.332

./. ./. ./. ./. ./. ./. ./. ./. ./. ./. 56.780 72.508 73.583 70.960 69.160 66.498 65.549 66.399 62.811 50.286 48.606 47.397 45.294

21,3 Monate 21,6 Monate 22,0 Monate 22,7 Monate 23,9 Monate 23,1 Monate 23,1 Monate 22,4 Monate 21,6 Monate 21,6 Monate 19,5 Monate 16.9 Monate 15,7 Monate 16,7 Monate 17,0 Monate 17,8 Monate 18,3 Monate 17,4 Monate 17,0 Monate 18,6 Monate 19,0 Monate 18,5 Monate 18,0 Monate

./. ./. ./. ./. 32,3 Monate 32,0 Monate 32,1 Monate 31,4 Monate 29,9 Monate 30,1 Monate 28,2 Monate 26,0 Monate 24,8 Monate 26,3 Monate 26,3 Monate 27,5 Monate 26,8 Monate 26,1 Monate 27,0 Monate 26,5 Monate 26,3 Monate 25,7 Monate 25,4 Monate

Festzuhalten ist, dass ein Klageverfahren seit 1997 durchschnittlich innerhalb von 18 Monaten nach Klageeingang beendet wird. Für den Fall, dass eine Sachentscheidung ergeht, sind seit 1997 durchschnittlich etwas weniger als 27 Monate zu veranschlagen, d.h. wenn das Verfahren durch ein Urteil entschieden wird, dauert es nach Klageeingang bis zur Entscheidung im Durchschnitt 2 Jahre und 3 Monate. Darauf, dass die Verfahrensdauer in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich ist20, soll hier nicht eingegangen werden.

___________ 16 Erstmals ab 1993 wird in den Geschäftsberichten der Finanzgerichte die Entwicklung in den neuen Bundesländern dargestellt, so sind 1993 dort 1.985 und 1994 3.288 Eingänge verzeichnet, die nicht in den oben angegebenen Zahlen enthalten sind. 17 Klagen und Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. 18 Eingänge in den neuen Bundesländern: 1995 4.375 und 1996 5.586. 19 Ab 1997 wird in den Geschäftsberichten nicht mehr zwischen der Geschäftslage in den alten und in den neuen Bundesländern unterschieden. 20 Im Bundesland mit der kürzesten Dauer werden durchschnittlich 9,0 Monate vom Eingang bis zu Beendigung des Klageverfahrens benötigt, während die Bürgerinnen und Bürger im Bundesland mit der längsten Dauer mit durchschnittlich 26,1 Monaten rechnen müssen. 12,9% der Verfahren dauern länger als 24 Monate, über 16,3%

438

Zur Dauer der Verfahren vor den Finanzgerichten

Solche Laufzeiten hören sich zunächst einmal nicht sehr bürgerfreundlich an. Zumal es sich um Durchschnittswerte handelt und eine Vielzahl von Verfahren durchaus auch viel länger als die oben angegebenen Zeiten bis zur Entscheidung anhängig sein können. Ich möchte deshalb im folgenden Abschnitt einige Beispiele vorstellen, die die vermeintlich so langen Laufzeiten beleuchten.

III. Praktische Beispiele zum Verfahrensablauf aus dem Alltag eines Finanzrichters/einer Finanzrichterin Wie stellt sich der Verfahrensablauf nach Klageeingang regelmäßig dar? Im seltensten Fall wird gleichzeitig mit der Erhebung der Klage die Klage auch begründet; meist wird die Klagebegründung angekündigt und dafür eine angemessene Frist beantragt. Ich möchte exemplarisch hier zwei Fälle aus meinem Dezernat vorstellen. Im ersten Fall geht es um eine Klage wegen Kindergeld21 mit ganz normalem Verfahrensablauf: 25.3.2009 26.3.2009 6.4.2009 8.4.2009 9.4.2009 29.4.2009 30.4.2009 20.5.2009 20.5.2009 15.7.2009

13.8.2009 14.8.2009

Klageeingang und Antrag auf Akteneinsicht Anfrage bei Klägervertreter, wo Akteneinsicht genommen werden soll, Prozessvollmacht angefordert Eingang der Vollmacht Mitteilung, dass Akteneinsicht beim LG in P. genommen werden soll Die Beklagte wird gebeten, Akteneinsicht beim LG P. zu gewähren Mitteilung der Beklagten, dass die Akten an das LG P. versandt worden sind Klägervertreter beantragt Frist zur Klagebegründung bis zum 29.5.2009 Eingang der Klagebegründung Frist zur Klageerwiderung bis zum 15.7.2009 Antrag auf Fristverlängerung der Beklagten, da ihr die Verwaltungsgänge der örtlichen Familienkasse noch nicht vorlägen bis zum 10.8.2009 Eingang der Klageerwiderung der Beklagten, weitere Nachweise des Klägers seien erforderlich Weiterleitung des Schreibens an Klägervertreter mit Frist zur Vorlage der Unterlagen bis zum 25.9.2009

___________ länger als 36 Monate: http://www.bmj.bund.de/enid/ 6db97b6a6f2e206021e933658a1096b5,c1b2c85f7472636964092d0935323933/ Rechtspflege/Rechtsschutz_bei_ueberlanger_Verfahrensdauer_1ot.html. Aus der Quelle ergibt sich nicht, um welche Bundesländer es sich handelt. 21 Seit 1.1.1996 erhalten Kindergeldberechtigte, die nach § 1 EStG in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig sind, Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz mit der Folge, dass bei Streitigkeiten die Finanzgerichte zuständig sind.

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21.9.2009 2.10.2009 2.12.2009 3.12.2009 7.1.2010 8.2.2010 16.2.2010 22.2.2010 3.3.2010

5.3.2010 29.3.2010

17.5.2010

8.6.2010

Unterlagen werden vorgelegt, weitere Unterlagen sollen nachgereicht werden Weitere Unterlagen werden vom Klägervertreter vorgelegt, Weiterleitung an Beklagte Die Beklagte weist darauf hin, dass noch Nachweis der Ausbildung des Kindes fehlt Weiterleitung des Schriftsatzes an Klägervertreter mit Stellungnahmefrist bis zum 15.1.2010 Stellungnahme des Klägervertreters geht ein, die Vorlage der Studienbescheinigungen wird angekündigt Die Studienbescheinigungen aus Polen werden vorgelegt Die Beklagte bittet um Übersendung von Übersetzungen Klägervertreter wird aufgefordert, Übersetzungen bis zum 25.3.2010 vorzulegen Klägervertreter bittet um Rücksendung der Originalstudienbescheinigungen, da versehentlich keine Kopien gefertigt worden seien Die Studienbescheinigungen werden im Original an den Klägervertreter zurück übersandt Die übersetzten Studienbescheinigungen gehen ein und werden der Beklagten mit Fristsetzung bis zum 15.5.2010 übersandt Mitteilung der Beklagten, dass die Akten an die örtliche Familienkasse zur erneuten Überarbeitung übersandt worden seien, eine weitere Stellungnahme werde bis zum 25.6.2010 eingereicht werden Die Beklagte übersendet einen Abhilfebescheid und erklärt den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.

Seit Eingang der Klage am 25.3.2009 sind bis zum Eingang des Abhilfebescheids bereits über 14 Monate vergangen. Hätte sich der Rechtsstreit nicht in der Hauptsache erledigt, hätte es bis zur Entscheidung des Verfahrens erfahrungsgemäß noch ein paar Monate länger gedauert. Der zweite Fall repräsentiert keinesfalls ein Verfahren, wie es regelmäßig vorkommt, es handelt sich vielmehr um ein „Einzelschicksal“. Dieser Fall zeigt jedoch deutlich, dass die Dauer des finanzgerichtlichen Verfahrens nicht allein in den Händen der Richter und Richterinnen liegt. Streitig war beim Finanzgericht die Höhe eines Veräußerungsgewinns nach § 17 EStG, gleichzeitig führte der Kläger ein Verfahren wegen fehlerhafter steuerlicher Beratung vor dem Landgericht auf Schadensersatz gegen seine früheren Steuerberater. 11.12.2003 12.12.2003 1.2.2004 440

Eingang der Klageschrift Fristsetzung zur Klagebegründung bis 20.2.2004 Fristverlängerungsantrag bis 9.3.2004

Zur Dauer der Verfahren vor den Finanzgerichten

1.2.2004 15.3.2004 8.4.2004 10.4.2004 15.5.2004 13.7.2004 25.9.2004 27.9.2004 25.11.2004 25.11.2004 7.10.2005 30.11.2005 3.1.2006 25.1.2006 25.1.2006

11.7.2006

31.7.2006 5.2.2007 Februar 2008

März 2008

26.4.2008 10.7.2008

15.10.2009 10.11.2009

Frist antragsgemäß verlängert Erinnerung an die Einreichung der Klagebegründung, Nachfrist: 20.4.2004 Antrag auf Fristverlängerung Frist antragsgemäß bis zum 10.5.2004 verlängert Erinnerung an die Abgabe der Klagebegründung, Nachfrist: 30.6.2004 Ausschlussfrist nach § 65 FGO, § 79b FGO bis zum 25.9.2004 Eingang der Klagebegründung Übersendung der Klagebegründung an das Finanzamt mit der Bitte um Gegenäußerung bis zum 27.11.2004 Eingang der Klageerwiderung Übersendung an Klägervertreter zur Abgabe einer Gegenäußerung bis zum 25.1.2005 Ladung zum Erörterungstermin am 1.12.2005 Antrag des Klägervertreters auf Aufhebung des Termins Ladung zum Erörterungstermin am 23.2.2006 Aufhebung des Erörterungstermins auf Antrag des Klägervertreters wegen Urlaub Schriftlicher Hinweis des Berichterstatters zur Sach- und Rechtslage mit der Bitte um Stellungnahme. Hinweis, dass gegebenenfalls der Unternehmenswert per Gutachten ermittelt werden müsste. Antrag auf Ruhen des Verfahrens im Hinblick auf den beim LG anhängigen Zivilprozess, mit dem der Beklagte einverstanden ist. Das Verfahren wird zum Ruhen gebracht. Anfrage der Berichterstatterin nach Stand des Zivilprozesses, keine Reaktion der Beteiligten Die Berichterstatterin ruft beim LG an, um sich nach dem Stand des Verfahrens zu erkundigen und erfährt, dass das zivilrechtliche Verfahren auf Antrag des dortigen Prozessbevollmächtigten (nicht mit dem Prozessbevollmächtigten im Steuerprozess identisch!) ausgesetzt worden ist bis zur Entscheidung über das finanzgerichtliche Verfahren Bestellung eines weiteren Prozessvertreters im finanzgerichtlichen Verfahren, der Akteneinsicht begehrt und Frist zur Stellungnahme erbittet, beides wird gewährt Ladung zum Erörterungstermin 10.7.2008 Erörterungstermin, in dem die Berichterstatterin einen Einigungsvorschlag unterbreitet, den die Beteiligten prüfen wollen Die Beteiligten haben sich außergerichtlich geeinigt Die Änderungsbescheide werden dem Gericht übersandt 441

Karin Stahl-Sura

30.3.2010 10.4.2010

Eingang der Erledigungserklärungen Kostenbeschluss nach Hauptsacheerledigung

Hier dauerte es über 6 Jahre, bis das Klageverfahren – aus der Sicht des Richters endlich – abgeschlossen werden konnte. Die beiden Erörterungstermine wurden auf Antrag des Klägervertreters aufgehoben, nach über 31 Monaten seit Klageeingang wurde ein Antrag auf Ruhen des Verfahrens im Hinblick auf das Verfahren beim Landgericht gestellt, das allerdings ebenfalls auf einen Antrag der dortigen Prozessbevollmächtigten, die nicht mit den Prozessbevollmächtigten des finanzgerichtlichen Verfahrens identisch sind, im Hinblick auf das Verfahren vor dem Finanzgericht zum Ruhen gebracht wird. Nach einer routinemäßigen Anfrage nach dem Stand des zivilgerichtlichen Verfahrens wird das finanzgerichtliche Verfahren weiterbetrieben. Der Vorschlag zur außergerichtlichen Einigung im Erörterungstermin vom 10.7.2008 wird nach schwierigen Verhandlungen des Klägers mit den Beklagten im Zivilprozess über ein Jahr später angenommen, und der Rechtsstreit schließlich nach Erlass der Änderungsbescheide im November 2009 und weiteren Streitigkeiten über die Aussetzungszinsen, die nicht Streitgegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens waren, im März 2010 in der Hauptsache für erledigt erklärt. Und schon sind mehr als 6 Jahre seit Erhebung der Klage vergangen!

IV. Einige Faktoren, von denen die Verfahrensdauer abhängen kann 1. Amtsermittlungsgrundsatz Die finanzgerichtlichen Verfahren sind geprägt vom Amtsermittlungsgrundsatz: Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Der entscheidungserhebliche Sachverhalt ist dabei so vollständig wie möglich aufzuklären22. An das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten ist das Gericht nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 Satz 3 FGO). Diese Verpflichtung zur Sachverhaltserforschung wird von vornherein durch ihre Abhängigkeit vom Klagebegehren begrenzt. Die Beachtung des Amtsermittlungsgrundsatzes kostet Zeit; die Mitwirkung der Beteiligten – bei der Sachverhaltsaufklärung ist das in aller erster Linie der Steuerpflichtige – ist nicht immer genügend und vor allen Dingen oft sehr zeitintensiv. Es ist häufig nicht so, dass die Beteiligten den Mitwirkungspflichten, die in § 76 Abs. 1 Satz 3 FGO verankert sind, nicht nachkommen wollen. Oft sind aber zahlreiche richterliche Aufforderungen und Erinnerungen erforderlich und in der Zwischenzeit vergeht Monat um Monat und so erhöht sich die durchschnittliche Verfahrensdauer. Woran das liegt? Am unterschiedlichen Interesse des Klägers und des Richters. Der Richter ist verpflichtet, den angefochtenen Bescheid auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Soweit ein angefochtener Verwaltungsakt rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt wird, hat

___________ 22 Vgl. BFH v. 21.8.2007 – I B 26/07, BFH/NV 2007, 2354, unter Hinweis auf BFH v. 8.6.2004 – IX B 128/03, DStRE 2004, 1187, und BFH v. 26.4.1988 – VII R 124/85, BFHE 153, 463.

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Zur Dauer der Verfahren vor den Finanzgerichten

das Gericht den Verwaltungsakt und die etwaige Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufzuheben (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Es geht also um den „richtigen Steuerbescheid“23. Das Interesse des Klägers geht in eine andere Richtung: „Kein Kläger will im Steuerprozess den richtigen, gerechten, gesetzlichen Steuerbescheid. Er will nichts anderes als die Minderung der Steuerlast. Er führt Steuerprozesse, weil er wissen will, ob das, was ihm der Steuerberater versprochen hat, richtig ist. Verliert er, so ist der verlorene Prozess die Eingangspforte zum Haftpflichtanspruch24.“ Der Kläger wird häufig Nachfragen zum in der Regel lange zurückliegenden Sachverhalt (von der Verwirklichung des Sachverhalts bis zum Steuerbescheid und dem sich, oft nach einer Betriebsprüfung, daran anschließenden Einspruchsverfahren vergehen ja schon viele Monate, meistens sogar Jahre, bis es überhaupt zum Klageverfahren kommt) als lästig und unbequem empfinden und oft auch als überflüssig erachten. Es ist doch meistens aus seiner Sicht alles während der Betriebsprüfung und/oder des Einspruchsverfahrens umfassend und eingehend erörtert und geschrieben worden. Gleichwohl gebietet der Amtsermittlungsgrundsatz, dass sich das Gericht, das sich erstmals mit dem Sachverhalt, der besteuert werden soll, befasst, ihn erforscht und dabei jedenfalls solchen tatsächlichen Zweifeln nachgeht, die sich ihm nach Lage der Akten und dem Vortrag der Beteiligten aufdrängen müssen25. 2. Interesse der Beteiligten an einer schnellen Entscheidung des Rechtsstreits? Es ist keineswegs so, dass alle Kläger, die eine Klage vor dem Finanzgericht erheben, ein Interesse an einer baldigen Entscheidung haben. Damit soll nun nicht gesagt werden, dass die Forderung nach einer Verkürzung der Laufzeiten nicht im Interesse aller Kläger wäre. Die Interessen der Kläger sind aber weit vielschichtiger. a) Einige Fallkonstellationen In den Fällen, in denen es darum geht, ob ein Kindergeldanspruch, der von der Behörde abgelehnt worden ist, besteht, wird dem Kläger an einer möglichst schnellen Entscheidung gelegen sein, denn es geht darum, dass er möglichst schnell erfährt, ob ihm Kindergeld zusteht oder nicht, und dass, wenn er einen Anspruch hat, dieser auch durch die Behörde baldmöglichst erfüllt wird. Anders stellt sich die Lage beispielsweise dar, wenn ein Steuerstrafverfahren anhängig ist; hier muss der Steuerpflichtige gegen den Steuerbescheid Klage vor dem Finanzgericht erheben, insbesondere um den Eintritt der Bestandskraft des Steuerbescheids vor Abschluss des Steuerstrafverfahrens zu verhindern. Oftmals ist es das Ziel, das Steuerstrafverfahren vor dem finanzgerichtlichen Verfahren abzuschließen, was nur gelingt, wenn die Verfahrens-

___________ 23 Streck, Die anwaltliche Sicht des Steuerprozesses, NJW 2001, 1541 (1542). 24 Streck, Die anwaltliche Sicht des Steuerprozesses, NJW 2001, 1541 (1542). 25 Vgl. u.a. BFH v. 8.6.2004 – IX B 128/03, DStRE 2004, 1187.

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dauer bei den Finanzgerichten ausreichend lang ist. Hier ist also oft gerade keine zügige Durchführung des finanzgerichtlichen Verfahrens gewünscht. Auch der Steuerpflichtige, der liquide ist und die Steuerschuld bezahlt hat, freut sich über eine längere Verfahrensdauer, kommt er dann bei einem Gewinn des Prozesses doch in den Genuss der Prozesszinsen. Die Verzinsung von 6 v.H. (§ 236 AO, § 238 AO) ist seit Jahren äußerst günstig. An einer zügigen Entscheidung sind auch die Steuerpflichtigen nicht interessiert, die vor allem deswegen klagen, um den Steuerbescheid offenzuhalten, damit etwaige Änderungen der Rechtsprechung noch zu ihren Gunsten berücksichtigt werden können. In den Fällen, in denen Aussetzung der Vollziehung gewährt worden ist, verlieren viele Kläger das Interesse an dem Fortgang des Prozesses26. Dies ist aus der Sicht des Richters unverständlich. Denn es entstehen ja, wenn der Prozess verloren geht, Aussetzungszinsen von 6 v.H. (§ 237 AO, § 238 AO). Und da kommt es bei einer Verfahrensdauer von mehreren Jahren (Zeitpunkt, von dem an ausgesetzt wird, d.h. in der Regel ab Fälligkeit der Steuer, bis zur rechtskräftigen Entscheidung) immer wieder dazu, dass die entstandenen Aussetzungszinsen die Steuerschuld erreichen oder sogar übersteigen. Ich habe immer wieder erlebt, dass erst in der mündlichen Verhandlung, wenn die Erfolgsaussichten des Prozesses letztmals erörtert werden, die Problematik auftaucht: Ist eigentlich ausgesetzt? Wenn ja, wie viel, seit wann und wie hoch werden die Aussetzungszinsen sein? Häufig führt das zu einem bösen Erwachen für den Kläger, der Freude daran gehabt hat, dass er bisher, weil Aussetzung der Vollziehung gewährt war, nichts bezahlen musste. Ich habe es auch noch nicht erlebt, dass ein Kläger auf eine Entscheidung gedrängt hat mit dem Hinweis, es sei Aussetzung der Vollziehung gewährt, er sei nicht in der Lage, die Steuerschuld zu begleichen, aber an einer vorrangigen Bearbeitung seiner Sache interessiert, damit im Falle des Unterliegens nicht so hohe Aussetzungszinsen entstünden. Streck bringt ein weiteres Beispiel dafür, dass kein Interesse an einer zügigen Entscheidung durch das Finanzgericht besteht: Verlange das Finanzamt beispielsweise eine Empfängerbenennung vom Kläger nach § 160 AO, so könne das Interesse dahin gehen, diese Empfängerbenennung so spät wie möglich zu befolgen, z.B. um dem Benannten die Selbstanzeige zu ermöglichen, die Verjährung wirken zu lassen27. An einer schnellen Entscheidung ist möglicherweise auch der Prozessvertreter nicht interessiert, der zwar die Klageerhebung empfohlen hat, aber derzeit den Verlust des Prozesses erwartet28 und sich bis zum Fortgang dieses Verfahrens eine in der Zwischenzeit eintretende Wende in der Rechtsprechung erhofft.

___________ 26 Kirchhof in Birk (Hrsg.), Die Situation der Finanzgerichtsbarkeit, 1989, S. 17. 27 Streck, Die anwaltliche Sicht des Steuerprozesses, NJW 2001, 1541 (1542). 28 Kirchhof in Birk (Hrsg.), Die Situation der Finanzgerichtsbarkeit, 1989, S. 17.

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Zur Dauer der Verfahren vor den Finanzgerichten

Der Aussage Kirchhofs kann ich aus meinen praktischen Erfahrungen im Übrigen nur zustimmen: „Die befriedigende Wirkung eines faktisch ruhenden Verfahrens mäßigt die rechtliche Anspannung, mindert das praktische Interesse am Prozessausgang und rückt das subjektive Beteiligtsein gelegentlich in die Nähe des Vergessens29“ und erleichtert für alle – einschließlich des Richters – eine gütliche Einigung. b) Bekunden des Interesses durch die Beteiligten an einer baldigen Entscheidung? Sollte der Kläger an einer baldigen Entscheidung interessiert sein und sollten insbesondere Gründe dafür vorliegen, dass die Sache gegenüber anderen, schon länger anhängigen Sachen vorgezogen wird, sollte er dies dem Gericht auch mitteilen. Dies könnte beispielsweise durch die Anregung eines Erörterungstermins oder einer Ortsbesichtigung erfolgen oder durch den Hinweis, der Kläger selbst möchte Gelegenheit haben, sein Anliegen dem Gericht persönlich vorzutragen, da er bisher von der Finanzbehörde noch nicht angehört worden sei. Bei einer Unternehmensnachfolge könnte auch ein nicht aus der Akte erkennbarer Grund vorliegen: Der Kläger (als Nachfolger) klagt wegen eines Veräußerungsgewinns, den das Finanzamt angenommen hat, der Vater des Klägers, der ihm das Unternehmen übertragen hat, ist schon älter und möchte den Ausgang des Prozesses noch erleben. Zeugen können erkranken, aber noch in der Lage sein, eine Aussage zu machen; der Kläger selbst kann während des Prozesses erkranken und möchte das Verfahren abschließen, um zumindest damit nicht mehr belastet zu sein. Auch Zeugen können schon in fortgeschrittenem Lebensalter sein; in den Schriftsätzen wird zwar wohl die ladungsfähige Anschrift angegeben, das Lebensalter aber regelmäßig nicht. In Schenkungsteuer- und Erbschaftsteuerfällen, aber auch in Ertragsteuerfällen, können Familienstreitigkeiten entstanden sein und der baldige Abschluss des Finanzgerichtsprozesses könnte zur Herstellung des Familienfriedens beitragen. Oder es handelt sich um einen Dauersachverhalt, Klage ist aber nur für ein Jahr erhoben worden, während viele andere Jahre sich im Einspruchsverfahren befinden und ruhen. Welche Konsequenzen der einzelne Richter aus einem solchen Hinweis zieht und ob er gar einen Grund sieht, das Verfahren gegebenenfalls vorzuziehen, ist selbstverständlich offen. Nach meiner Erfahrung schadet es aber nichts, wenn der Richter von solchen Umständen überhaupt in Kenntnis gesetzt wird. Denn aus den Akten ergeben sich diese Hinweise oft gar nicht oder erst dann, wenn man mit der intensiven Bearbeitung des Falls beginnt. Auch eine Anfrage nach dem Stand des Verfahrens kann durchaus zweckmäßig sein. Sie wird zwar häufig von den Richtern als unangenehm empfunden, weil man oft nur schreiben kann, dass wegen der Vielzahl der schon länger

___________ 29 Kirchhof in Birk (Hrsg.), Die Situation der Finanzgerichtsbarkeit, 1989, S. 17.

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anhängigen Verfahren noch nicht absehbar sei, bis wann mit einer Entscheidung zu rechnen sei. Und diese Antwort stellt weder den Richter noch den Fragesteller zufrieden. Gleichwohl wird ein Interesse des Klägers am finanzgerichtlichen Verfahren deutlich. Solche Hinweise, schriftlich oder telefonisch, sind in jedem Stadium des Verfahrens zweckmäßig, nicht erst dann, wenn der Rechtsstreit schon Jahre anhängig ist30. Auch die Behörden können im Übrigen solche Hinweise geben, z.B. darauf, dass es sich um ein Musterverfahren handelt oder dass bei der beklagten Behörde oder einer anderen Behörde noch mehrere Parallelfälle anderer Steuerpflichtiger anhängig sind. 3. Mitwirkung/Verhalten der Beteiligten Kläger, ihre Prozessvertreter (in der Regel Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer), Vertreter des Beklagten und Sachverständige haben großen Einfluss auf die Verfahrensdauer. a) Kläger und ihre Prozessvertreter aa) Klageerhebung und Klagebegründung Sieht man einmal von der bewussten Verzögerung durch die Kläger und deren Prozessvertreter ab, so muss man sich als Richter bewusst werden, dass das Führen eines Finanzgerichtsprozesses in der Regel nicht der krönende Abschluss der Tätigkeit des Prozessvertreters ist, sondern oftmals ein letztes (lästiges) Tätigwerden in dieser Sache nach Einspruchsverfahren und möglicherweise vorausgehender Betriebsprüfung. In der täglichen Arbeit des Prozessvertreters stehen, wenn er sich nicht ausnahmsweise auf die Führung von Finanzgerichtsprozessen spezialisiert hat, regelmäßig andere Dinge an erster Stelle, nämlich die laufende Beratung, die Planung und Gestaltung für die kommenden Jahre, die Abschlussarbeiten für das vorangegangene Jahr (Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen), die Erstellung der Steuererklärungen und vieles mehr. Ein Finanzgerichtsprozess macht für manchen Prozessvertreter nur zusätzliche Arbeit, für die der Steuerberater häufig von seinem Mandanten nicht extra bezahlt wird. Außerdem hat der Mandant häufig kein Verständnis dafür, dass ein Prozess überhaupt notwendig ist, weil sein Berater ihm ja zu der Gestaltung, deren steuerliche Folgen nun streitig sind, geraten

___________ 30 Müller, Die Verfahrensverzögerung im Steuerprozess, AO-StB 2010, 21, meint: „Wenn man als Angehöriger der beratenden Berufe den entsprechenden Mut aufbringt, sollte man in einem überlangen Rechtsstreit wenigstens jährlich den Antrag stellen, dem Verfahren Fortgang zu geben, muss sich aber im Klaren darüber sein, dass dies, abhängig von der Persönlichkeit des zuständigen Richters, zu einem Bumerang werden kann.“ Dem ist so nicht zuzustimmen. Eine Anfrage nach dem Stand des Verfahrens bzw. der Anregung auf Betreiben des Verfahrens sollte keinen Mut benötigen, sondern zum Repertoire des Prozessvertreters gehören. Und was soll der Bumerang sein? Vielleicht meint Müller, dass das Verfahren dann extra lange nicht bearbeitet wird – ich kann das im Einzelfall zwar nicht ausschließen, halte dies aber grundsätzlich für eine nicht zutreffende Einschätzung.

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Zur Dauer der Verfahren vor den Finanzgerichten

hat. Auch wenn es im Übrigen zum Hauptgeschäft eines Beraters gehört, Finanzgerichtsprozesse zu betreuen, darf man als Richter nicht außer Acht lassen, dass der Prozessvertreter nicht nur einen Prozess führt, sondern Fristabläufe auch in anderen Verfahren drohen, Besprechungen mit Mandanten notwendig sind etc. Dies hat zur Folge, dass die Klagebegründung meist erst nach Wochen oder Monaten31 und häufig nach mehreren Anmahnungen durch das Gericht eingereicht werden. Begünstigt wird diese Tendenz, sich Zeit für die Einreichung der Klagebegründung zu lassen, dadurch, dass den Klägern und Prozessvertretern die übliche, d.h. in der Regel längere Verfahrensdauer bei den Finanzgerichten bekannt ist und sie deshalb auch gar keine zügige Erstellung der Klagebegründung für erforderlich halten. Denn auch die Einreichung der Klagebegründung bereits bei Klageeinreichung führt in der Praxis nicht dazu, dass das Verfahren bei Gericht zügiger bearbeitet wird. Denn bearbeitet werden sollten vorrangig die bereits länger anhängigen Sachen, damit diese abgeschlossen werden können. bb) Anträge auf Akteneinsicht Von dem Recht auf Akteneinsicht in die Gerichtsakte und vor allem in die dem Gericht vorgelegten Akten der Behörde (§ 78 Abs. 1 FGO) wird von den Prozessvertretern nur zum Teil Gebrauch gemacht. Akteneinsicht ist nach meiner Erfahrung immer förderlich32, selbst wenn sich nichts Neues aus der eingesehenen Akte für den Prozessvertreter oder den Kläger selbst, der auch zur Akteneinsicht berechtigt ist, ergibt. Denn damit sind Kläger, Prozessvertreter, Beklagter und Richter auf dem gleichen Erkenntnisstand. Überraschungen dergestalt, dass der Richter und/oder der Vertreter des Beklagten mehr wissen als der Prozessvertreter, sind damit nahezu ausgeschlossen. Der Antrag auf Akteneinsicht verzögert zwar das Verfahren; diese Verzögerung ist aber insbesondere dann, wenn der Antrag auf Akteneinsicht innerhalb der ersten Monate nach Erhebung der Klage erfolgt und die Akteneinsicht auch wahrgenommen wird, in der Regel nicht allzu groß, wie man an dem unter III. dargestellten Fallbeispiel 1 sehen kann. Zu einer Verzögerung kann der Antrag auf Akteneinsicht jedoch dann führen, wenn er z.B. kurzfristig vor einem Erörterungstermin oder einem Termin zur mündlichen Verhandlung gestellt und damit die Durchführung des anberaumten Termins zum Teil bewusst verhindert werden soll, was auch immer wieder gelingt. Auch dies kann zur Prozesstaktik des Prozessvertreters gehören. Gezeigt werden soll damit nur, dass die Verfahrensdauer nicht nur von der Zahl der zu erledigenden Fälle, der Anzahl der Richter, der Schwierigkeit der Materie etc. abhängt, sondern noch ganz andere Imponderabilien eine bedeutende Rolle spielen können.

___________ 31 Nach Streck, Der Steuerstreit, 2. Aufl. 1994, Rz. 751, erfolgt die Klagebegründung innerhalb von zwei bis vier Monaten. Es ist darauf hinzuweisen, dass auch hier statistische Erhebungen fehlen. 32 Ebenso Streck, Der Steuerstreit, 2. Aufl. 1994, Rz. 850.

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cc) Anträge auf Terminsaufhebung/Terminsverlegung Anträge auf die Aufhebung/Verlegung von Terminen zur mündlichen Verhandlung (§ 90 Abs. 1 Satz 1 FGO) und Terminen zur Erörterung des Sachund Streitstandes und zur gütlichen Beilegung des Rechtsstreits (§ 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 FGO) gehören zum Alltag. Leider verzögern sie, insbesondere wenn es um einen Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat geht, den zügigen Abschluss des Verfahrens häufig um viele Monate. Anträge auf Terminsänderung sind nach § 155 FGO i.V.m. § 227 ZPO zu behandeln, d.h. aus erheblichen Gründen kann ein Termin aufgehoben oder verlegt werden. Von den Anträgen auf Terminsänderung abgesehen, die aus prozesstaktischen Gründen gestellt werden und oftmals die Verzögerung des Abschlusses des finanzgerichtlichen Verfahrens zum Ziel haben, sind nach meiner Erfahrung viele dieser Anträge begründet, weil tatsächlich der Prozessvertreter zu dem Zeitpunkt, zu dem er die Ladung vom Finanzgericht erhalten hat, bereits an diesem Tag zu einem Gerichtstermin in einer anderen Sache geladen worden war oder die Ladung mit gebuchtem Urlaub oder mit einer gebuchten Fortbildungsveranstaltung kollidiert. Sind gar zwei Prozessvertreter tätig, beispielsweise weil sich auch ein Beigeladener vertreten lässt, kann das Finden eines Termins erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Wird der Kläger durch einen Prozessvertreter, der einer Sozietät angehört, vertreten, wird seitens der Gerichte häufig der Antrag auf Terminsänderung mit dem Hinweis abgelehnt, den Termin könne ja ein anderes Mitglied der Sozietät wahrnehmen, wenn die Vertretung durch einen anderen Prozessbevollmächtigten vom Gericht für zumutbar gehalten wird33. In der Praxis habe ich damit keine guten Erfahrungen gemacht, in diesen Fällen auf der Durchführung des Termins zu bestehen. Denn der Prozessvertreter, der vertretungsweise den Termin zur mündlichen Verhandlung oder den Erörterungstermin wahrnimmt, ist oftmals nicht mit entsprechenden Kompetenzen zur eventuellen außergerichtlichen Erledigung ausgestattet und überdies, verständlicherweise, in der Regel nicht motiviert, sich mehr als unbedingt nötig, mit der Sache zu befassen. Außerdem ist meist sein Mandant, also der Kläger verärgert, weil er sich durch einen Prozessvertreter vertreten lassen muss, den er sich nicht ausgesucht hat, während er zu dem von ihm ausgesuchten Prozessvertreter ein Vertrauensverhältnis, möglicherweise entstanden aufgrund jahrelanger Zusammenarbeit, aufgebaut hat. Geht das Gericht aber auf die Terminsänderungsanträge der Beteiligten ein, bedeutet dies grundsätzlich eine Verzögerung des Verfahrens. Diese ist aber im Hinblick auf die Interessen des Klägers hinzunehmen.

___________ 33 Vgl. z.B. BFH v. 25.11.2008 – III B 161/07, BFH/NV 2009, 406, und v. 18.12.2009 – III B 118/08, BFH/NV 2010, 655, sowie die Rechtsprechungsnachweise bei Koch/ Gräber, 2. Aufl. 2006, § 91 FGO Rz. 4.

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b) Vertreter der Beklagten aa) Klageerwiderung Nach meiner Erfahrung gehen die Klageerwiderungen regelmäßig zügiger als die Klagebegründungen34 ein. Dennoch kommt es auch hier immer wieder zu erheblichen Verzögerungen durch Personalengpässe (Stellenabbau, Krankheit, Urlaub) sowie durch das Erfordernis, Stellungnahmen der Betriebsprüfung, der Steuerfahndung oder des Bausachverständigen einholen zu müssen. Im Einzelfall kommt es auch vor, dass der Prozess bewusst verzögert werden soll35; das ist nach meiner Erfahrung aber die absolute Ausnahme. Bei der Fristsetzung gegenüber den Behörden ist auch zu bedenken, dass jedenfalls in Nordrhein-Westfalen die Post für die Finanzämter, soweit sie nicht per Fax weitergeleitet wird, aus Kostenersparnisgründen nur bei besonderer Anordnung durch den Richter mit der normalen Post versandt wird. Ansonsten wird die Post durch den Aktenwagen der Oberfinanzdirektion beim Finanzgericht abgeholt und sodann auf die Finanzämter, die je nach Größe einmal oder mehrere Male pro Woche angefahren werden, verteilt. Bedenkt man dann, dass die Post, wenn sie im Finanzamt angelangt ist, zunächst dem Vorsteher und dann dem Sachgebietsleiter zugeleitet wird, bis sie endlich den zuständigen Sachbearbeiter erreicht, wird klar, dass Fristsetzungen von vier bis sechs Wochen mindestens nötig sind, damit die Finanzämter überhaupt in der Lage sind, die ihnen gesetzten Fristen einzuhalten. Bei der Post für die Familienkasse Düsseldorf, die in Nordrhein-Westfalen für alle Familienkassen der Bundesagentur für Arbeit in Nordrhein-Westfalen die Vertretung vor den Finanzgerichten Düsseldorf, Köln und Münster übernimmt, wird jedenfalls am FG Münster aus Kostenersparnisgründen ähnlich verfahren. Die Post für die Familienkasse Düsseldorf wird in einem Postfach gesammelt und je nach Aufkommen zwei- bis dreimal wöchentlich abgesandt, wenn genug Briefe zum Packen eines Pakets zusammengekommen sind. Gewährleistet ist, dass mindestens alle drei Tage ein Paket an die Familienkasse Düsseldorf abgeschickt wird. Berücksichtigt man dann noch, dass im Fall von Klageerhebungen die Kindergeldakte von der Familienkasse Düsseldorf zunächst bei der zuständigen Familienkasse angefordert werden muss, wird deutlich, dass die Schriftsatzfrist für die Erstellung der Klageerwiderung mindestens 6 bis 8 Wochen betragen muss, damit ihre Einhaltung, unabhängig von der personellen Situation, überhaupt faktisch möglich ist.

___________ 34 Nach Streck, Der Steuerstreit, 2. Aufl. 1994, wird die Klageerwiderung innerhalb von zwei bis acht Monaten nach Eingang der Klageerwiderung gefertigt. Es ist darauf hinzuweisen, dass auch hier statistische Erhebungen fehlen. 35 Steger (Fn. 4), S. 144, weist daraufhin, dass sich Behörden bei der Weiterleitung von Akten an das Gericht und bei ihren Schriftsätzen sehr viel Zeit ließen und dass Behörden die Dauer gerichtlicher Auseinandersetzungen bewusst instrumentalisierten, um den Bürger zu Kompromissen zu zwingen.

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bb) Anträge auf Terminsaufhebung/Terminsverlegung Auch die Vertreter der Behörden stellen Anträge auf Terminsaufhebung/Terminsverlegung, denn auch dort gibt es Terminkollisionen (z.B. Termin zur mündlichen Verhandlung eines anderen Senats, Krankheit, Urlaub etc.). Die Vertretung der Behörde durch ein anderes Mitglied der Behörde ist zwar grundsätzlich möglich, ist aber nicht immer zweckmäßig. Hier gelten ähnliche Erwägungen wie oben unter 3 a) cc) dargestellt. Der Vertreter der Behörde, der als Ersatz einspringen muss, wird einem Vorschlag zur außergerichtlichen Einigung eher nicht zustimmen, er wird in die Sache möglicherweise nicht so gut eingearbeitet sein etc. Auch hier vertrete ich persönlich die Meinung, dass den Anträgen regelmäßig stattzugeben und die damit verbundene Verfahrensverlängerung auch vom Kläger hinzunehmen ist. 4. Instrumentarium der Finanzgerichtsordnung a) Fristen zur Klagebegründung und zur Klageerwiderung Die Fristen zur Klagebegründung und zur Klageerwiderung, die in der Finanzgerichtsbarkeit gesetzt werden, werden in der Regel aus der Sicht des Richters geräumig mit 4 bis 8 Wochen bemessen. Aus der Sicht der Beteiligten ist das, wie die Fristverlängerungsanträge zeigen, nicht einmal ausreichend. Die Belange der Beteiligten sollten auch angemessen berücksichtigt werden. Wegen der praktischen Schwierigkeiten verweise ich auf die Darstellung unter III. 3. b) Ausschlussfristen Die FGO sieht als Mittel zur Förderung des Verfahrens insbesondere die Setzung von Ausschlussfristen nach § 65 Abs. 2 Sätze 2 und 3 i.V.m. § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO sowie § 79b Abs. 1 und Abs. 2 FGO vor. Von der Möglichkeit, solche Fristen zu setzen, wird in der finanzgerichtlichen Praxis, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, Gebrauch gemacht. Zu einer Verfahrensbeschleunigung und damit der Verkürzung der Verfahrensdauer dienen sie jedoch nur in eingeschränktem Umfang. Bleibt eine Reaktion auf die Ausschlussfrist aus, kann alsbald terminiert werden; dies ist jedoch nur in einer geringen Anzahl von Klageverfahren der Fall, die statistisch gesehen, vermutlich keine große Rolle spielen dürften. Erfolgt eine Reaktion auf die Ausschlussfrist (häufig kommt zunächst ein Fristverlängerungsantrag), wird das Klageverfahren genauso behandelt wie jedes andere, d.h. in der Regel werden zunächst die älteren Verfahren bearbeitet, also die Klagen, die schon länger bei Gericht anhängig sind. Die gesetzte Ausschlussfrist dient zwar der Förderung des Verfahrens, denn ohne die Ausschlussfrist und den Hinweis auf deren Folgen bei Versäumung der Ausschlussfrist wäre der Gegenstand des Klagebegehrens bzw. wären Tatsachen und Beweismittel nicht bezeichnet bzw. Urkunden nicht vorgelegt worden. Sie trägt aber in diesen Verfahren regelmäßig nicht zur Verkürzung der Verfahrensdauer vor den Finanzgerichten bei.

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c) Löschung des Verfahrens in den Registern des Gerichts bei Nichtbetreiben durch den Kläger? aa) Fiktive Klagerücknahme bei Nichtbetreiben des Verfahrens durch den Kläger? In der FGO ist eine Löschung des Verfahrens in den Registern des Gerichts nicht vorgesehen. Die Verfahrenslöschung wird im Schrifttum und in der Rechtsprechung jedoch als Rechtsinstitut anerkannt36. Nach der Rechtsprechung des BFH können Verfahren, die länger als sechs Monate vom Rechtsmittelführer nicht betrieben werden, „zur Herbeiführung der praktischen Verfahrensbeendigung in den Registern des Gerichts gelöscht werden“37. Hintergrund dieser Rechtsprechung ist, dass die FGO anders als andere Verfahrensordnungen eine „fiktive Klagerücknahme“ nicht kennt. § 92 Abs. 2 VwGO und § 102 Abs. 2 SGG nehmen eine fiktive Klagerücknahme an, wenn das Verfahren trotz Aufforderung durch das Gericht länger als zwei beziehungsweise drei Monate vom Kläger nicht betrieben wird38. § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG setzt eine deutliche und in Handlungsaufträgen bestehende klare Betreibensaufforderung voraus; wegen der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG hat eine Betreibensaufforderung deshalb konkrete Auflagen zu enthalten wie z.B. die Anforderung von Angaben zu einem bestimmten Sachverhalt, Teilnahme an einer ärztlichen Untersuchung oder vergleichbare konkrete Handlungen. Ein allgemeiner Hinweis, das Verfahren sei zu betreiben, reicht nicht aus39. Nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung setzt eine fiktive Antragsrücknahme nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 GG) voraus, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden haben40. Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzinteresses können sich etwa aus dem fallbezogenen Verhalten des Klägers aber auch daraus ergeben, dass er prozessuale Mitwirkungspflichten verletzt hat41.

___________ 36 Vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 72 FGO Rz. 9 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen. 37 Vgl. BFH v. 22.1.1988 – V B 95/86, BFH/NV 1988, 648; v. 30.4.1985 – II R 89/82, BFH/NV 1986, 12. 38 § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO: „Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt.“ § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG: „Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.“ 39 Vgl. Bayerisches Landessozialgericht v. 8.12.2009 – L S R 884/098 unter Hinweis auf BR-Drucks. 820/07 v. 11.1.2008, S. 28. 40 Vgl. BVerwG v. 7.7.2005 – 10 BN 1/05, juris, unter Hinweis auf BVerfG v. 27.10.1998 – 2 BvR 2662/95, DVBl. 1999, 166; BVerwG v. 23.4.1985 – 9 C 48.84, BVerwGE 71, 213. 41 Vgl. BVerwG v. 7.7.2005 (Fn. 40).

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bb) Folgen der Verfahrenslöschung Die richterliche Anordnung, ein Verfahren im Prozessregister auszutragen, ist eine nicht anfechtbare prozessleitende Verfügung; sie bewirkt, dass die Gerichtsakte aus dem Geschäftsgang genommen und nicht mehr zur Bearbeitung vorgelegt wird42. Durch die Löschung wird das Verfahren faktisch unterbrochen, aber nicht beendet. Dem Kläger steht die Fortführung des Verfahrens nach Wegfall des Grundes für die Löschung des Verfahrens jederzeit frei43. cc) Verfahrenslöschung in der finanzgerichtlichen Praxis? In der finanzgerichtlichen Praxis werden Verfahren regelmäßig nur in Ausnahmefällen aus den Registern des Gerichts gelöscht44. 5. Anzahl der Verfahren bzw. Schwierigkeitsgrad der Verfahren Dass die Anzahl der zu bearbeitenden Verfahren und vor allem der Schwierigkeitsgrad dieser Verfahren ebenfalls erheblichen Einfluss auf die Verfahrensdauer haben, liegt auf der Hand. Verlässliche Erhebungen darüber, ob die von den Finanzgerichten zu entscheidenden Verfahren in den letzten Jahrzehnten schwieriger geworden sind, liegen nicht vor. Aus meiner eigenen Erfahrung als Richterin am Finanzgericht Münster kann ich nur sagen, dass es seit Jahren, anders als zu Beginn meiner Tätigkeit, in der Regel – keine Massenverfahren45 mehr gibt, – so gut wie keine Klagen vorsorglich, d.h. zur Fristwahrung, erhoben werden46, – reine Schätzungsfälle (Kläger hat keine Steuererklärung abgegeben) fast vollständig fehlen47, – die Finanzverwaltung die Veranlagungen unter Berücksichtigung von Risikomanagement und tax compliance durchführt. Das bedeutet, dass sog. „leichte“ Fälle fehlen und jedenfalls nach meinen Erfahrungen sich im Dezernat des Richters fast ausschließlich nur noch „schwere“ Fälle befinden, während sich früher in einem finanzrichterlichen Dezernat ein mindestens zweistelliger Prozentsatz von sog. „leichten“ Fällen, die sich regelmäßig „von selbst“ erledigten (Entscheidung eines Musterver-

___________ 42 Vgl. BFH v. 23.8.1993 – V B 135/91, BFH/NV 1994, 186. 43 Vgl. BFH v. 6.8.1990 – IV B 190/89, BFH/NV 1991, 689; v. 19.4.2005 – IV B 181/03, BFH/NV 2005, 1360. 44 Vgl. BFH v. 22.1.1998 – V B 95/86, BFH/NV 1988, 648; v. 30.4.1985 und v. 23.8.1993 – V B 135/91, BFH/NV 1994, 186. 45 Der Steuerbescheid wird vielmehr für vorläufig nach § 165 Abs. 1 AO erklärt. 46 Verfahren, die bis zum 30.6.2004 bei Gericht eingegangen waren, konnten gerichtskostenfrei zurückgenommen werden, wenn die Klage früher als eine Woche vor Beginn des Tages, der für die mündliche Verhandlung vorgesehen war, zurückgenommen worden ist. Klagen, die nach dem 30.6.2004 eingegangen sind und eingehen, können nicht mehr kostenfrei zurückgenommen werden. 47 Dies gilt jedenfalls für das FG Münster, für andere Finanzgerichte liegen mir keine Erkenntnisse vor.

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fahrens mit der Folge der quasi automatischen Erledigung der weiteren anhängigen Massenverfahren; Klagerücknahme bei vorsorglich erhobenen Klagen; Abgabe der Steuererklärung mit anschließendem Änderungsbescheid durch das Finanzamt in Schätzungsfällen), befand. Ob auch der Schwierigkeitsgrad der anhängigen Verfahren gegenüber früher gestiegen ist, lässt sich nicht verifizieren. Jedenfalls sind die Verfahren „gefühlt“ schwieriger, insbesondere weil sie umfangreicher und damit aufwendiger (z.B. Zeugenvernehmungen, Einholung von Gutachten) geworden sind. 6. Anzahl der Richterstellen und die sachliche Ausstattung der Gerichte Die Anzahl der Richterstellen und die sachliche Ausstattung der Gerichte haben ebenfalls Einfluss auf die Verfahrensdauer. Je mehr Richter tätig sind, umso mehr Verfahren können auch in durchschnittlich kürzerer Zeit bearbeitet werden. Der Ruf nach der Schaffung von weiteren Richterstellen ist in Zeiten der knappen finanziellen Mittel jedoch Wunschdenken48. Ein Blick auf die Entwicklung der Richterstellen zeigt übrigens, dass bundesweit die Zahl der Finanzrichter inzwischen wieder rückläufig ist49; die Entwicklung in den einzelnen Bundesländern ist aber sehr unterschiedlich. Ende des Jahres 1986 Ende des Jahres 1988

476 Richter 517 Richter

Für 1990 wurde erstmals die Zahl der Richter ermittelt, die tatsächlich zur Verfügung waren50; die Ist-Zahl (sog. richterliche Arbeitskraft) betrug: 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999

499,10 503,36 506,37 467,272 469,598 492 494 513 519 531

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

533 554 551 553 547 524 511 513 508

Die Zahl der Richter, die in Rechtssachen tatsächlich im Einsatz waren, schwankt zwischen 467 im Jahr 1993 und dem Spitzenwert von 554 im Jahr 2001.

___________ 48 Vgl. dazu auch Steger (Fn. 4), S. 68 ff. 49 Die Zahlen sind wieder den Geschäftsberichten der Finanzgerichte entnommen, s. Fn. 10. 50 Vgl. dazu Geschäftsbericht der Finanzgerichte für die Jahre 1989 und 1990, EFG 1991, 434, (435).

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Die richterliche Arbeit wird unterstützt von den Prüfern des Gerichts51, die in geeigneten Fällen, meist Kalkulationen nach Betriebsprüfung, eingesetzt werden. Anders als am BFH gibt es aber keine wissenschaftlichen Mitarbeiter oder weiteres Hilfspersonal. Dass auch die sachliche Ausstattung teilweise zu wünschen lässt, soll hier nicht weiter vertieft werden52. 7. Kompliziertheit des Rechts und Normenflut Über die Kompliziertheit des Rechts und die Normenflut ist schon so viel geschrieben worden, dass ich mich darauf beschränken will, mich diesem Klagelied anzuschließen53. Rechtsprechung und Verwaltung können selbstverständlich auch zur Komplizierung des Rechts beitragen54. Nach Auffassung von Kirchhof ist der wichtigste Grund für die langdauernden Verfahren „die Unübersichtlichkeit, Widersprüchlichkeit und ständige Änderung des Steuerrechts“55. 8. Das Verhalten des Richters/der Richterin56 Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut (Art. 92 GG). Dazu gehört auch die straffe Führung eines Prozesses; allerdings benötigt das gerichtliche Verfahren „mit diesen hochgesteckten rechtsstaatlichen Anforderungen Zeit“57. a) Der Richter im Spannungsfeld zwischen Beschleunigungsmaxime und Beteiligtenfreundlichkeit Bei allen Überlegungen, die anzustellen sind, ist auch ein Blick auf die Arbeitsweise des einzelnen Richters zu werfen58. Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Die Überlastung der Gerichte entschuldigt zwar den einzelnen Richter, gleichwohl stellt sich fast jeder Richter auch kritische Fragen: Führe ich die Verfahren effizient genug?

___________ 51 Vgl. Koch/Gräber, 2. Aufl. 2006, § 81 FGO Rz. 19 unter Hinweis auf Seer, Der Einsatz von Prüfungsbeamten durch das Finanzgericht – Zulässigkeit und Grenzen der Delegation richterlicher Sachaufklärung auf nichtrichterliche Personen, Dissertation 1992; vgl. auch Hesdahl, Der Prüfungsbeamte des Finanzgerichts, Dissertation 1992. 52 Vgl. dazu Steger (Fn. 4), S. 149 ff. 53 Klein in Birk (Hrsg.), Die Situation der Finanzgerichtsbarkeit, 1989, S. 36 ff.; vgl. auch Raupach in Raupach/Tipke/Uelner, Neuordnung oder Niedergang des deutschen Einkommensteuerrechts, 1985, S. 15 (20 ff.). 54 Vgl. dazu Raupach in Raupach/Tipke/Uelner, S. 75 ff. 55 Kirchhof in Birk (Hrsg.), Die Situation der Finanzgerichtsbarkeit, 1989, S. 17 f. 56 Vgl. dazu Steger (Fn. 4), S. 111 ff., der u.a. auch Ausführungen zur Problematik der Nebentätigkeiten der Richter (S. 125 f.) macht, auf die im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden soll. 57 Kirchhof in Birk (Hrsg.), Die Situation der Finanzgerichtsbarkeit, 1989, S. 16. 58 Steger (Fn. 4), S. 111–119 eingehend zur Arbeitsweise der Richter und dazu, warum sich das Vorurteil des faulen Richters hartnäckig hält.

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Zur Dauer der Verfahren vor den Finanzgerichten

Fördere ich die Verfahren ausreichend? Mache ich ausreichend von den Instrumenten der FGO59 Gebrauch? Gewähre ich zu großzügige oder zu kurze Fristen? Gebe ich Anträgen auf Fristverlängerung und Anträgen auf Verlegung von Terminen zu großzügig statt oder lehne ich dies zu schnell ab? Nehme ich den Amtsermittlungsgrundsatz zu ernst? Was kann ich dazu beitragen, um die Verfahren zu beschleunigen? Arbeite ich effizient? Dass Arbeit immer zu verbessern ist, ist auch Richtern nicht fremd. Es ist aber auf die Belange der Kläger Rücksicht zu nehmen und wenn diese mit begründeten Anträgen auf Fristverlängerungen und Verlegung von Terminen zu einer längeren Verfahrensdauer beitragen, ist es nach meiner Auffassung nicht die Aufgabe des Richters, aus Gründen der gewünschten Verkürzung der Verfahrensdauer, diesen Anträgen in gebotenem Umfang nicht mehr zu entsprechen. Gleiches gilt nach meiner Auffassung für den Gebrauch des Instrumentariums der FGO (Ausschlussfristen). Denn eine Verkürzung der Verfahrensdauer soll im Interesse der am finanzgerichtlichen Verfahren Beteiligten, also der Kläger und der Beklagten, liegen und nicht zum Selbstzweck werden. In aller erster Linie ist nach meiner Auffassung Aufgabe des Richters, die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids im Hinblick auf das Klagebegehren unter Berücksichtigung der Grundsätze der FGO zu überprüfen. Jeder am Finanzgerichtsprozess Beteiligte, insbesondere Kläger und Beklagter, muss sich aber darüber im Klaren sein, dass jeder Antrag auf Fristverlängerung zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer führen kann, während jeder Antrag auf Terminsänderung mit Sicherheit zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer führt. Bei der Entscheidung über Anträge auf Fristverlängerung und Terminsänderung steht der Richter immer im Spannungsfeld zwischen Beschleunigungsmaxime und Beteiligtenfreundlichkeit. Dass in Fällen, in denen die Kläger das Verfahren bewusst verzögern wollen, anders verfahren werden kann und auch soll, mit der Folge, dass Fristen nicht verlängert werden und Terminsverlegungsanträgen nicht stattgegeben wird, wird wohl auch der Prozessvertreter verstehen, auch wenn er dem vielleicht im jeweiligen Fall nicht ausdrücklich zustimmen wird. b) Alsbaldige Durchführung der mündlichen Verhandlung nach der Durchführung des Erörterungstermins? Häufig wird auch die Frage gestellt, weshalb nach der Durchführung eines Erörterungstermins nicht alsbald zur mündlichen Verhandlung terminiert werde, es hätten sich jetzt doch Prozessvertreter, Beklagter und vor allem der Richter selbst in die Sache eingearbeitet und es erscheine wenig effektiv, wenn 6, 12 oder gar mehr Monate verstreichen würden, bis die Sache terminiert werde. Die Stellung der Frage ist berechtigt, aber nicht einfach und pauschal zu beantworten. Verschiedene Fallgruppen sind zu unterscheiden:

___________ 59 S. oben unter IV. 4.

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– Die Sache ist nach der Durchführung des Erörterungstermins entscheidungsreif60. Die Sache könnte also theoretisch bereits in der nächsten Senatssitzung verhandelt werden. Dabei wird aber nicht berücksichtigt, dass zum Zeitpunkt des Erörterungstermins bereits häufig die nächsten Senatssitzungen terminiert sind, d.h. die nächsten an den Erörterungstermin anschließenden Senatssitzungen sind bereits voll. Und für die noch freien Senatssitzungen stehen nicht nur die vom für diese Sachen zuständigen Berichterstatter erörterten Sachen an, sondern auch noch, bei einem 1:2 besetzten Senat, die Sachen von zwei Kollegen, bei einem 1:3 besetzten Senat sogar die Sachen von drei Kollegen, sowie jeweils die Sachen, die vom Vorsitzenden als Berichterstatter bearbeitet werden. So kommt es, dass auch in entscheidungsreifen Sachen die mündliche Verhandlung zum Teil erst Monate nach dem Erörterungstermin durchgeführt werden kann. – Ist die Sache nach der Durchführung des Erörterungstermins nicht entscheidungsreif, weil der Kläger seinen Sachvortrag ergänzen, weil die Annahme eines außergerichtlichen Einigungsvorschlags des Gerichts von den am Verfahren Beteiligten geprüft werden muss61, weil die Vorlage von Unterlagen erforderlich ist, weil Berechnungen beispielsweise zum Unternehmenswert erfolgen müssen etc., ist den Beteiligten dazu eine angemessene Frist einzuräumen, die ja, worauf ich bereits hingewiesen habe, außer der Führung dieses Finanzgerichtsprozesses auch noch mit anderen Dingen beschäftigt sind. Dem Gegner ist Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen. In der Praxis zeigt sich, dass auch in den Fällen, in denen die Beteiligten zügig mitarbeiten, mehrere Monate ins Land gehen, bis die Sache entscheidungsreif ist. Dann stellt sich die oben dargestellte Problematik für entscheidungsreife Sachen. Macht man sich diese Verfahrensabläufe klar und schenkt dem Recht der Beteiligten auf rechtliches Gehör Beachtung, ergeben sich die Verfahrensdauern, wie unter II. beschrieben, zwangsläufig. Um es noch einmal zu betonen, auch ich halte eine Verfahrensdauer von 12 bis 18 Monaten bis zur Sachentscheidung für mindestens wünschens- und erstrebenswert!

V. Zum Einfluss der Verfahrensdauer auf die Bereitschaft der Steuerpflichtigen, ein Klageverfahren durchzuführen 1. Allgemeine Überlegungen Ob die Dauer, bis ein Klageverfahren beendet ist, tatsächlich einen Einfluss, und wenn ja welchen, auf die Bereitschaft der Steuerpflichtigen hat, ein Verfahren beim Finanzgericht anhängig zu machen, ist bislang lediglich Gegenstand von Vermutungen, tatsächliche Untersuchungen gibt es, soweit mir dies bekannt ist, nicht. Nach meinen persönlichen Erfahrungen ist einem Teil der Steuerpflichtigen an einem zügigen Verfahren gelegen, einem anderen Teil kommt eine eher längere Verfahrensdauer entgegen, während einen weiteren

___________ 60 Nach meinen persönlichen Erfahrungen ist das in den wenigsten Fällen der Fall. Statistische Erhebungen fehlen aber auch hier. 61 S. hierzu das unter III. dargestellte Fallbeispiel 2.

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Teil weder der Ausgang noch die Dauer des Verfahrens zu interessieren scheint62. Streck meint, die Dauer der Finanzgerichtsprozesse schreckten den Bürger ab63. Gleichzeitig weist er aber zu Recht auch darauf hin, dass, sobald die Frage der Zahlung der Steuer geregelt sei, der Steuerprozess mehr oder weniger schmerzlos laufe. Da der Bürger so wenig Steuern wie möglich zahlen wolle, könne er im Finanzgerichtsprozess nur gewinnen, weil eine Verböserung verboten sei. Außerdem könne ein Bescheid, solange ein Klageverfahren anhängig sei, nicht bestandskräftig werden, was ebenfalls – wegen des Verböserungsverbots – von vielen Steuerpflichtigen und auch deren Beratern als positiv und wünschenswert gehalten werde. Die These von Streck, wenn die Dauer der Prozesse sinke, würden mehr Prozesse geführt als zuvor, und wenn die Dauer der Prozesse unerträglich lang werde, würden wiederum weniger Prozesse geführt, weil das Interesse an einem ordentlichen Umfeld das Interesse an der Minderung der Steuerschuld schlage64, d.h. je länger die Prozesse dauerten, umso weniger werde gestritten65, lässt sich anhand des dargestellten Zahlenmaterials66 meines Erachtens nicht belegen. Die Verfahrensdauer ist im Wesentlichen seit 1997 konstant und kann, jedenfalls im Hinblick auf die durchschnittliche Verfahrensdauer, meines Erachtens nicht (mehr) als unerträglich lang bezeichnet werden. Gleichwohl werden seither Jahr für Jahr weniger Prozesse vor den Finanzgerichten geführt. Auf die Gründe, die möglicherweise zu einem Rückgang der Eingangszahlen geführt haben, soll hier nicht eingegangen werden. 2. Ergebnis der Beteiligtenbefragung am FG Münster In der Zeit vom 2. November bis 15. Dezember 2009 hat das FG Münster eine Beteiligtenbefragung durchgeführt. „Gefragt“ wurden Steuerpflichtige, Berater sowie Mitarbeiter der Finanzbehörden und Familienkassen – also alle, die eine Meinung zur Arbeit des FG Münster haben. An der Umfrage haben 508 Personen teilgenommen. Die Frage, von welchen Überlegungen die Entscheidung für die Erhebung einer Klage vor dem Finanzgericht abhänge, Mehrfachnennungen (bis zu drei) waren möglich, wurde wie folgt beantwortet (Reihenfolge wie in der Beteiligtenbefragung)67: von der Einschätzung der Erfolgsaussichten im Klageverfahren von den voraussichtlichen Kosten des Verfahrens

475

93%

195

38%

___________ 62 63 64 65

Vgl. dazu oben unter IV. 2. Streck, Über die Dauer der Steuerprozesse, Stbg. 2010, 264. Streck, Über die Dauer der Steuerprozesse, Stbg. 2010, 264. Streck, Wer die Streitlust senken will, darf Prozesse nicht verkürzen, Interview, DRiZ 2000, 126. 66 Oben unter II. 67 Beteiligtenbefragung des FG Münster 2009: http://www.fg-muenster.nrw.de/ wir_ueber_uns/Beteiligtenumfrage/index.php.

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von der Höhe der steuerlichen Auswirkung von der voraussichtlichen Verfahrensdauer68 von ihren bisherigen Erfahrungen aus anderen finanzgerichtlichen Verfahren von dem erwarteten Arbeitsaufwand von der erwarteten persönlichen Belastung durch ein gerichtliches Verfahren von anderen Gründen

367 21 159

72% 4% 31%

59 18

11% 3%

36

7%

Unter Ziffer 8a) der Umfrage wurde danach gefragt, welche Bedeutung ein zügiges gerichtliches Verfahren habe: sehr wichtig wichtig weniger wichtig unwichtig Anzahl

231 230 38 2 501

46% 45% 7% 0%

Die Beteiligtenbefragung zeigt, dass ein zügig durchgeführtes Verfahren zwar von großer Bedeutung für die Beteiligten ist; denn 91% der Befragten ist ein zügiges gerichtliches Verfahren sehr wichtig bzw. wichtig. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass für die Entscheidung, ob Klage erhoben werden soll, die Dauer des gerichtlichen Verfahrens eher von untergeordneter Bedeutung ist. Denn nur für 4% der Befragten war die voraussichtliche Verfahrensdauer für die Entscheidung, ob Klage erhoben werden soll, wichtig. Im Vordergrund stehen vielmehr Überlegungen zu den Erfolgsaussichten der Klage (93%), der Höhe der steuerlichen Auswirkung (72%) und den voraussichtlichen Kosten des Verfahrens (38%).

VI. Forderung nach kürzerer Verfahrensdauer bei gleichbleibender Qualität oder sogar bei Steigerung der Qualität Für all diejenigen, die eine kürzere Verfahrensdauer der finanzgerichtlichen Verfahren anstreben oder fordern, ist selbstverständlich, dass die Qualität der Arbeit, die die Finanzgerichte bieten, mindestens gleich bleibt, wenn nicht sogar der Wunsch nach Steigerung der Qualität laut wird. Zur Qualität gehört auch das „Recht auf eine rechtsstaatliche, also in ihrer Ableitung aus dem Gesetz nachvollziehbare, in Rechtsmaßstab und Rechtsanwendung kontrollierbare, in ihrer Willkürfreiheit ersichtliche Gerichtsentscheidung“69; Art. 19 Abs. 4 GG – Justizgewähranspruch. Die Beteiligten haben Anspruch auf eine Begründung der gerichtlichen Entscheidung, die diesen Anforderungen gerecht wird. Dass sich der Richter dafür ausreichend Zeit nehmen sollte, versteht sich von selbst.

___________ 68 Hervorhebung hinzugefügt. 69 Kirchhof in Trzaskalik (Hrsg.), Der Rechtsschutz in Steuersachen, 1995, S. 17 (44).

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Zur Dauer der Verfahren vor den Finanzgerichten

Wassermeyer formulierte dies wie folgt: „Positiv hervorgehoben wird das Bemühen der einzelnen Finanzgerichte bzw. des einzelnen Richters, voll in den Sachverhalt einzusteigen, jeder Einwendung des Steuerpflichtigen nachzugehen und nach einer rechtlich abgesicherten Lösung zu suchen … Bemängelt wird natürlich die lange Verfahrensdauer bei den Finanzgerichten, die manchen Steuerpflichtigen davon abhält, überhaupt eine Klage zu erheben. Dabei nimmt die Beraterschaft die lange Verfahrensdauer wohl eher in Kauf als eine qualitative Einbuße in der Arbeit der Finanzgerichte“70.

VII. Ausblick Der markanten Formulierung von Kirchhof: „Das verspätete (gemeint ist wohl das späte) finanzgerichtliche Urteil schafft Unrecht, mag es das Gesetz im Übrigen auch richtig anwenden“71 kann ich so pauschal nicht zustimmen. Ein spätes Urteil kann in der Regel dann kein Unrecht schaffen, wenn es „nach den Regeln der Kunst“ getroffen worden ist, d.h. wenn das materielle Recht (Verfahrensvorschriften der FGO) zutreffend angewendet wird und sich das Urteil mit dem Vorbringen der Beteiligten auseinandersetzt und sorgfältig begründet ist. Demgegenüber kann schneller Rechtsschutz nicht mit gutem Rechtsschutz gleichgesetzt werden, denn ein „frühes“, d.h. schnelles Urteil wird den oben geschilderten Anforderungen nicht immer in vollem Umfang gerecht werden können, jedenfalls solange die Finanzgerichte keine personelle Verstärkung bekommen. Denn „ein schneller Rechtsschutz ist nichts wert, wenn er schlecht ist“72. Davon unabhängig bleibt das Bestreben, die Verfahrensdauer der finanzgerichtlichen Verfahren zu verkürzen, soweit dies unter den vorhandenen Bedingungen möglich ist. Denn Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit zu gewähren, ist selbst eine Forderung materieller Gerechtigkeit73. „Materiale Gerechtigkeit“ führt zur Sicherung rechtsstreitig verunsicherter Freiheit oder zur Vergewisserung ungeklärten Rechts74.

___________ 70 Wassermeyer, Rechtsschutz in Steuersachen, DStR 1985, 159 ff. 71 Kirchhof, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Verfahrensdauer und für die Rechtsmittel, DStZ 1989, 55. 72 Addicks, Schneller, höher, weiter – bessere Verwaltungsgerichte durch abgesenkte „Standards“?, NWVBl. 2005, 293 (294). 73 Steger (Fn. 4), S. 28, unter Hinweis auf Otto, Der Anspruch auf ein Verfahren innerhalb angemessener Zeit, 1994, S. 38. 74 BVerfG v. 20.4.1982 – 2 BvL 26/81, BVerfGE 60, 253 (269).

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Der Zeugenbeweis im finanzgerichtlichen Verfahren Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Vorbereitung des Zeugenbeweises 1. Der Beweisantritt a) Die individualisierte Zeugenbenennung b) Die substantiierte Tatsachenbezeichnung 2. Die Ablehnung eines Beweisantrags 3. Die Anordnung einer Beweisaufnahme III. Die Durchführung der Beweisaufnahme 1. Die Vernehmung eines Zeugen a) Die Vernehmung zur Person b) Die Vernehmung zur Sache aa) Der Zeugenbericht

bb) Das Zeugenverhör cc) Das Fragerecht der Beteiligten dd) Die Beeidigung eines Zeugen 2. Die Protokollierung der Zeugenaussage 3. Der Rügeverzicht und seine Folgen IV. Der Wert und die Würdigung einer Zeugenaussage 1. Psychologische Voraussetzungen 2. Realitätskennzeichen und Lügensignale 3. Die richterliche Überzeugungsbildung 4. Die Begründung der Entscheidung V. Zusammenfassung: Worauf ist zu achten?

I. Einleitung Im Steuerprozess hat das Gericht von Amts wegen gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO zwar auch ohne einen entsprechenden Antrag eines Beteiligten Beweis zu erheben, wenn eine entscheidungserhebliche Tatsache beweisbedürftig ist. Aus den Mitwirkungs- und Erklärungspflichten nach § 76 Abs. 1 Satz 2 und 3 ergibt sich aber, dass die Beteiligten auf Anforderung des Gerichts Beweismittel und insbesondere auch Zeugen zu benennen haben, wollen sie nicht Gefahr laufen, dass die Beweiserhebung unterbleibt. Auch wenn der Sachverhalt bereits im Betriebsprüfungsbericht oder in der Einspruchsentscheidung festgestellt zu sein scheint, ist es doch regelmäßig so, dass sich im finanzgerichtlichen Verfahren zusätzliche tatsächliche Nuancen ergeben, von deren Nachweis oder Nichtnachweis dann das Prozessergebnis abhängt. Daher werden die meisten Finanzgerichtsprozesse über den Sachverhalt und nicht über Rechtsfragen geführt und gewonnen oder verloren1. Um das tatsächliche Geschehen aufzuklären und damit den entscheidungserheblichen Sachverhalt zu ermitteln, bedarf es vielfach einer Beweisführung nicht nur durch Belege, sondern auch durch Zeugenaussagen.

___________ 1 Streck, Die anwaltliche Sicht des Steuerprozesses, NJW 2001, 1541 (1543); Streck, Der Schriftsatz im Steuerstreitverfahren, DStR 1989, 439 (442).

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II. Die Vorbereitung des Zeugenbeweises Der Zeugenbeweis wird, sofern er nicht von Amts wegen angeordnet wird, auf einen Beweisantrag hin durch einen Beweisbeschluss vorbereitet. 1. Der Beweisantritt Mit einem Beweisantrag fordert ein Beteiligter das Gericht auf, durch ein bestimmtes Beweismittel bestimmte Tatsachen festzustellen2. Der Zeugenbeweis wird gemäß § 373 ZPO i.V.m. § 82 FGO angetreten durch die Benennung des Zeugen und die Bezeichnung der Tatsachen, über welche die Vernehmung des Zeugen stattfinden soll. a) Die individualisierte Zeugenbenennung Grundsätzlich kann ein Zeuge noch in der mündlichen Verhandlung benannt werden, ohne dass der Vorwurf der schuldhaften Verfahrensverzögerung erhoben werden kann. Ist allerdings zuvor eine Frist nach § 79b Abs. 2 Nr. 1 FGO zur Bezeichnung eines geeigneten Zeugen als Beweismittel gesetzt worden, kann dies unter den Voraussetzungen des § 79b Abs. 3 FGO zurückgewiesen werden3. Ein zu hörender Zeuge muss nicht mit ladungsfähiger Privatanschrift benannt werden, unter der auch eine Ersatzzustellung möglich wäre4. Wenn die aktuelle Anschrift allerdings durch das Gericht nicht ermittelt werden kann, bleibt der Zeuge unerreichbar und kann somit nicht vernommen werden. Ein auf die Erhebung des Zeugenbeweises gerichteter Beweisantrag muss einen zu vernehmenden Zeugen lediglich als unverwechselbare Person individualisieren. Kann der Antragsteller den Zeugen nicht mit vollständigem Namen und genauer Anschrift ermitteln, so reicht es aus, den Arbeitgeber zu bezeichnen, bei dem der Zeuge beschäftigt ist5. Zu vernehmende Zeugen sind als bestimmte Beweismittel auch dann genügend individualisiert, wenn anstelle von Namen und Anschriften ein Weg angeboten wird, die Namen und die Anschriften des in Betracht kommenden feststehenden Personenkreises festzustellen6. Ist die im Beweisantrag angegebene Adresse des Zeugen unrichtig oder nicht mehr aktuell, darf das Finanzgericht den Beweisantrag nicht einfach unbeachtet lassen. Bleiben die Bemühungen des Finanzgerichts, die ladungsfähige Anschrift des Zeugen von Amts wegen zu ermitteln, erfolglos, so kommt wohl auch in Betracht, dem Beteiligten eine Frist nach § 79b FGO zur Benennung der aktuellen Adresse zu setzen oder ihn auf die Stellung des Zeugen im

___________ 2 3 4 5 6

Seer in Tipke/Kruse, § 81 FGO Rz. 37. Stöcker in Beermann/Gosch, § 82 FGO Rz. 11. Stöcker in Beermann/Gosch, § 82 FGO Rz. 9. BFH v. 30.4.2002 – X B 132/00, BFH/NV 2002, 1457. Birkenstock, Verfahrensrügen im Strafprozess, 2004, vor § 244 Abs. 3–6 StPO, Erfolglose Rügen 8 mit Hinweis auf den BGH-Beschluss v. 2.5.1989 – 2 StR 155/89. Zur Erreichbarkeit des Zeugen als notwendiger Teil eines Beweisantrags BGH v. 14.1.2010 – 1 StR 620/09.

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Der Zeugenbeweis im finanzgerichtlichen Verfahren

Termin zu verweisen7. Allerdings genügt es bei Auslandssachverhalten und einem im Ausland ansässigen Zeugen nicht, ihn ladungsfähig zu benennen. Nach § 90 Abs. 2 AO haben Beteiligte Beweismittel, die sich auf Vorgänge im Ausland beziehen, selbst zu beschaffen. Sie müssen in einem solchen Falle den im Ausland ansässigen Zeugen zur Sitzung mitbringen. Eines entsprechenden richterlichen Hinweises darauf bedarf es bei rechtskundiger Prozessvertretung nicht8. Bereits bei der Benennung eines Zeugen muss sich der Beteiligte die Frage stellen, ob der Zeuge ihm im Ergebnis nützen kann oder sogar schaden wird. In diesem Zusammenhang kann es sinnvoll sein, den Zeugen vorab selbst außergerichtlich zu befragen und auf seine gerichtliche Aussage vorzubereiten. Zeugen sind nach § 85 FGO verpflichtet, von sich aus ihrem Gedächtnis durch Einsicht in verfügbare Unterlagen nachzuhelfen. Dann aber kann es im Interesse der Wahrheitsfindung auch nicht schädlich sein, dies zu unterstützen. Darin ist nichts Verwerfliches zu sehen, sofern die Grenze zur versuchten Anstiftung oder Verleitung zur Falschaussage gemäß den §§ 159, 160 StGB nicht überschritten wird. b) Die substantiierte Tatsachenbezeichnung Nach § 373 ZPO sind die Tatsachen zu bezeichnen, über welche die Vernehmung der Zeugen stattfinden soll. Anzugeben sind Tatsachen, die der Zeuge bestätigen soll. Diese Tatsachen sind klar zu bezeichnen. Unsubstantiierter Vortrag verpflichtet das Gericht nicht, den angebotenen Zeugen zu hören. Es müssen greifbare Anhaltspunkte für den vorgetragenen Sachverhalt vorliegen und dieser muss zumindest wahrscheinlich sein9. Bei ungenauen oder unvollständigen Beweisanträgen ist zunächst nach § 76 Abs. 2 FGO auf eine Klarstellung und Ergänzung hinzuwirken. Wenn entsprechende Fragen und Hinweise an den Antragsteller erfolglos bleiben und sich auch unter Heranziehung des sonstigen Vorbringens sowie des Akteninhalts keine beweisfähige Tatsache ergibt, kann der Beweisantrag als unsubstantiiert abgelehnt werden. Ein Beweisantrag des Inhalts, ein Arbeitnehmer habe den „Mittelpunkt seiner Lebensinteressen“ im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG an einem bestimmten Ort innegehabt, ist hinreichend substantiiert und bestimmt, sodass die den Begriff des Lebensmittelpunkts prägenden Einzeltatsachen nicht zusätzlich benannt und unter Beweis gestellt werden müssen10. Zwischen der Beweisbehauptung und dem benannten Beweismittel muss ein verbindender Zusammenhang bestehen. Ein Beweisantrag liegt nicht vor, wenn ein Konnex zwischen Beweistatsache und Beweismittel nicht erkennbar ist, sodass das Gericht die Ablehnungsgründe der Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache oder der völligen Ungeeignetheit des Beweismittels nicht

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Streck, Rechtsbehelfsempfehlung Nr. 394/97, Stbg. 1997, 400. BFH v. 7.7.2008 – VIII B 106/07, BFH/NV 2008, 2028. Eichele in Heidelberger Kommentar, § 373 ZPO Rz. 5. BFH v. 1.2.2007 – VI B 118/04, BStBl. II 2007, 538.

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sinnvoll zu prüfen vermag11. Einen Zeugen zu verhören, der den entscheidenden Vorgang gar nicht wahrgenommen haben kann, ist sinnlos. Es ist daher erforderlichenfalls auf Nachfrage des Gerichts darzulegen, aus welchem Grund der Zeuge die in sein Wissen gestellte Beweistatsache bestätigen kann, damit die Tauglichkeit des Beweismittels geprüft werden kann. Probleme bestehen vor allem bei schlagwortartigen Verkürzungen der in das Wissen des Zeugen gestellten Tatsache, ohne dass die einzelne Wahrnehmung näher konkretisiert wird. Ist unklar, ob ein möglicher Zeuge etwas von dem beweisbedürftigen Sachverhalt weiß und gegebenenfalls was genau, kann der Prozessbevollmächtigte ihn schriftlich befragen oder mündlich von seinem Mandanten fragen lassen. Er sollte ihn aber nicht persönlich vernehmen. Erfährt das Gericht davon, wird es dazu tendieren, die Glaubwürdigkeit eines derart vorbereiteten Zeugen abzuschwächen12. 2. Die Ablehnung eines Beweisantrags Aus der Pflicht des Gerichts, die Wahrheit zu erforschen, ergibt sich, dass die von den Beteiligten angetretenen Beweise grundsätzlich erhoben werden müssen. Insbesondere darf auf eine Zeugenvernehmung nur verzichtet werden, wenn das Finanzgericht die Richtigkeit der behaupteten Tatsache vollständig zugunsten des behauptenden Beteiligten unterstellt, wenn der Zeuge nicht erreichbar oder die Tatsache unerheblich ist13. Die Beteiligten haben ein Recht auf Beweisführung und Beweiserhebung14. Ein ordnungsgemäß gestellter und inhaltlich hinreichend substantiierter Beweisantrag kann nur unter eingeschränkten Voraussetzungen abgelehnt werden. Diese sind weder in der FGO noch in der ZPO kodifiziert, können aber § 244 Abs. 3 StPO entnommen werden, der insofern allgemein gültige Rechtsgedanken enthält15. Nach § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO ist ein Beweisantrag abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Im Übrigen darf nach § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (1. Variante), wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Be-

___________ 11 So BGHSt 40, 3 (6); kritisch dazu Heghmanns/Scheffler, Handbuch zum Strafverfahren, 2008, VII Rz. 804, und Herdegen in Karlsruher Kommentar, 6. Aufl. 2008, § 244 StPO Rz. 48. Inwieweit eine derartige Konnexität zwischen Beweismittel und Beweistatsache dargelegt werden muss, ist somit umstritten; dazu auch Meyer-Goßner, 52. Aufl. 2009, § 244 StPO Rz. 21 sowie BGH v. 14.8.2008 – 3 StR 181/08, NStZ 2009, 171. 12 So der Praxishinweis von Egon Schneider in Zimmermann, 8. Aufl. 2008, § 373 ZPO Rz. 12. 13 Streck, Rz. 834; Heghmanns/Scheffler, Handbuch zum Strafverfahren, VII Rz. 811 ff. teilen die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO in zwei Gruppen mit jeweils vier Varianten ein: (1.) Überflüssigkeit der Beweiserhebung mit den Varianten (a) Bedeutungslosigkeit, (b) Erwiesenheit, (c) Offenkundigkeit und (d) Wahrunterstellung, (2.) Unmöglichkeit der Beweiserhebung mit den Varianten (a) Unzulässigkeit, (b) Aussichtslosigkeit bzw. Verschleppungsabsicht, (c) Unerreichbarkeit und (d) völliger Ungeeignetheit. 14 Leipold in Stein/Jonas, Bd. 4, 22. Aufl. 2008, § 284 ZPO Rz. 53. 15 BFH, BStBl. II 1974, 1103; ebenso für den Zivilprozess das Anastasia-Urteil des BGH, BGHZ 53, 245 = NJW 1970, 946; Stöcker in Beermann/Gosch, § 82 FGO Rz. 14.

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deutung (2. Variante) oder wenn sie schon erwiesen ist (3. Variante), wenn das Beweismittel völlig ungeeignet (4. Variante) oder wenn es unerreichbar ist (5. Variante) oder wenn der Antrag zum Zweck der Prozessverschleppung gestellt ist (6. Variante) oder wenn eine erhebliche Behauptung so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr (7. Variante). Die Ablehnung eines Beweisantrages wegen Prozessverschleppungsabsicht setzt sowohl in objektiver Hinsicht als auch in subjektiver Hinsicht jeweils zweierlei voraus: – In objektiver Hinsicht muss die beantragte Beweiserhebung nach Überzeugung des Gerichts zum einen nichts Sachdienliches erbringen können und zum anderen zu einer wesentlichen Verfahrensverzögerung führen; insofern ist ausnahmsweise eine vorweggenommene Beweiswürdigung zulässig16. – In subjektiver Hinsicht muss sich der Antragsteller einerseits selbst der Aussichtslosigkeit der Beweiserhebung sowie der Verzögerung bewusst sein und andererseits mit seinem Beweisbegehren ausschließlich diese Folge bezwecken17. Der Ablehnungsgrund der Prozessverschleppungsabsicht soll auf extreme Ausnahmen in eindeutigen Fällen beschränkt sein und erfordert einen hohen argumentativen Begründungsaufwand. Zumeist dürfte es angebracht sein, mit dem Antragsteller darüber zu reden, was er von dem Beweisantrag erwartet, wie lange er schon über das Beweismittel informiert war und weshalb er den Antrag zu diesem Zeitpunkt gestellt hat. Selbst wenn ein Beweisantrag aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt wurde, muss für eine Verschleppungsabsicht das Bewusstsein des Antragstellers, die Beweiserhebung werde nichts Sachdienliches erbringen können, gesondert dargelegt werden18. Der Antragsteller ist keineswegs verpflichtet, Beweisanträge zu dem Zeitpunkt zu stellen, der vom Gericht für richtig gehalten wird. Die Neuheit der Beweistatsache oder des Beweismittels und die Unwahrscheinlichkeit der Beweisbehauptung reichen als Indiz für eine Verschleppungsabsicht allein nicht aus, da dieses Vorbringen gerade dem Sinn des Beweisantragsrechts entspricht und es dem Antragsteller unbenommen ist, auch Vermutungen unter Beweis zu stellen. Das Gericht ist verpflichtet, Beweisanträge bis zum Beginn der Urteilsverkündung entgegenzunehmen19. Der Antragsteller muss auch nicht plausibel erklären, weshalb er von seinem Recht Gebrauch macht, den Antrag erst in der mündlichen Verhandlung und nicht bereits in einem vorbereitenden Schriftsatz zu stellen20. Keinesfalls kann ein Kläger als Prozessverschlepper behandelt werden, wenn im Ein-

___________ 16 Birkenstock, Verfahrensrügen im Strafprozess, § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 6 StPO mit Hinweis auf das BGH v. 3.8.1966 – 2 StR 242/66. 17 Scheffler in Heghmanns/Scheffler, Handbuch zum Strafverfahren, VII Rz. 870. 18 Birkenstock § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 6 StPO, Erfolgreiche Rügen 3 mit Hinweis auf das BGH v. 27.5.1982 – 4 StR 34/82. 19 Julius in Heidelberger Kommentar, 4. Aufl. 2009, § 244 StPO Rz. 37. 20 Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 67. Aufl. 2009, § 286 ZPO, Rz. 14.

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spruchsverfahren und in früheren Schriftsätzen zunächst nur dem Grunde nach um Grundstücksentnahmen gestritten wurde und erst terminsvorbereitend schriftsätzlich der Wert der entnommenen Grundstücke und damit die Höhe des Entnahmegewinns in Frage gestellt wird. Es kann niemandem verwehrt werden, einen neuen Aspekt vorzutragen, auch wenn im bisherigen Verfahren andere Gesichtspunkte im Vordergrund gestanden haben. Schon gar nicht kann argumentiert werden, die Kanzlei des Prozessbevollmächtigten sei dafür gerichtsbekannt, dass sie regelmäßig kurz vor einer mündlichen Verhandlung in umfangreichen Schriftsätzen bisher Unstreitiges in Zweifel ziehe sowie Beweisanträge stelle und bei Tolerierung eines solchen Verhaltens eine ordnungsgemäße Sitzungsvorbereitung unmöglich mache21. In diesem Falle ist vielmehr dem Berichterstatter vorzuhalten, dass er offensichtlich sich und den Senat hinsichtlich der fraglichen Entnahme nur dem Grunde, aber nicht der Höhe nach vorbereitet hat. Er hätte gemäß § 76 Abs. 1 Satz 3 FGO und bei befürchteter Verfahrensverzögerung mit Fristsetzung nach § 79b Abs. 2 Nr. 1 FGO rechtzeitig klären können, von welchen Grundstückswerten zum Entnahmezeitpunkt die Beteiligten ausgingen. Geschieht dies nicht, bleibt es dabei, dass neuer Sachverhaltsvortrag noch in der mündlichen Verhandlung präsentiert werden kann22. Zudem hätte der Vorsitzende den Termin nach Bekanntwerden der Bedenken der Höhe nach verlegen müssen, wozu hinreichend Zeit vorhanden war. Auch der Beklagte hätte Gelegenheit bekommen müssen, sich mit den von den Klägern in Frage gestellten Grundstückswerten zu befassen. Nach Jahren faktischer Untätigkeit war es völlig unnötig, den unzureichend vorbereiteten Verfahrensabschluss zu erzwingen. Im Übrigen wäre, selbst wenn der Prozessbevollmächtigte in anderen Fällen Prozesse verschleppt hätte, dies kein Grund, dem Kläger in diesem Verfahren das rechtliche Gehör zu versagen23. Da Verzögerungen durch nicht alsbald benannte Beweismittel mit einer Fristsetzung nach § 79b FGO verhindert werden können, dürften praktisch keine Fälle mehr übrig bleiben, in denen Beweisanträge wegen rechtsmissbräuchlicher Prozessverschleppung abgelehnt werden könnten. Insofern ist § 79b Abs. 3 FGO vorrangig; danach können Beweistatsachen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer entsprechend gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückgewiesen werden, wenn ihre Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und der zuvor über die Folgen einer Fristversäumung belehrte Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt. Es stellt sich die Frage, ob angesichts der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten der Verfahrens-

___________ 21 So aber der 10. Senat des FG Köln, EFG 2008, 98, ohne Angabe einer Rechtsgrundlage als Obersatz. Sollten die Kollegen sich damit in unvertretbarer Weise eindeutig schwerwiegend vom Gesetz entfernt und ihr richterliches Handeln bewusst und gewollt nicht an Gesetz und Recht, sondern an eigenen Maßstäben ausgerichtet haben, um die Kanzlei zu „erziehen“, vor einem Termin nicht Neues vorzutragen, dann könnte das wohl als Rechtsbeugung angesehen werden. Persönliche Machtausübung gegenüber einem Organ der Rechtspflege dürfte jedenfalls völlig unangebracht sein. 22 Streck, Rechtsbehelfsempfehlung Nr. 327/95, Stbg. 1995, 326. 23 BFH v. 29.9.2008 – X B 203/07, BFH/NV 2008, 2049.

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beschleunigung durch sinnvollen Einsatz des § 79b FGO24 überhaupt noch Extremfälle denkbar sind, in denen auf den Rechtsgedanken der 6. Variante des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO zurückgegriffen werden muss. 3. Die Anordnung einer Beweisaufnahme Eine förmliche Beweisaufnahme wird nach § 358 ZPO durch einen Beweisbeschluss angeordnet und kann in geeigneten Fällen bereits vor der mündlichen Verhandlung durch einen einzelnen Richter durchgeführt werden. Vom Grundsatz her gilt aber, dass die Beweisaufnahme vor dem Senat in der mündlichen Verhandlung stattfindet. Die Beweisaufnahme durch den beauftragten Richter ist zwar nicht beschwerdefähig, kann aber gleichwohl gerügt werden, wenn keine besonderen Gründe für ein solches Verfahren vorliegen25. Gedankliche Voraussetzung eines Beweisbeschlusses ist die Schlüssigkeitsprüfung. Das Finanzgericht darf nur über die Tatsachen Beweis erheben, die entscheidungserheblich sind. Ob eine Tatsache entscheidungserheblich ist, ist durch rechtliche Subsumtion unter ein steuerliches Tatbestandsmerkmal zu klären. Dabei ist zu prüfen, ob sich eine andere steuerliche Rechtsfolge ergäbe, wenn die fragliche Tatsache vorläge, als wenn dies nicht der Fall wäre26. Die schriftliche Fixierung des konkreten Beweisthemas zwingt das Gericht dazu, die Beweiserheblichkeit sorgfältig zu bedenken27. Nach § 81 Abs. 2 FGO und § 375 Abs. 1a ZPO i.V.m. § 82 FGO kann ein Senatsmitglied als beauftragter Richter den Zeugenbeweis erheben, wenn dies zur Vereinfachung der Verhandlung vor dem Senat zweckmäßig erscheint und von vornherein anzunehmen ist, dass der Senat das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag. Unter denselben Voraussetzungen können auch einzelne Beweise nach § 79 Abs. 3 FGO durch den Vorsitzenden oder den Berichterstatter erhoben werden. Diese handeln insofern in eigener Zuständigkeit. Von der Zeugenvernehmung vor dem Senat kann mithin nicht regelmäßig, sondern nur ausnahmsweise abgesehen werden28. Der durch Senatsbeschluss beauftragte oder als Berichterstatter selbständig handelnde Senatskollege muss die Beweisaufnahme so umfassend durchführen und das Ergebnis so zuverlässig protokollieren, dass die übrigen Senatsmitglieder nicht nur auf den unmittelbaren Eindruck vom Zeugen, sondern auch darauf verzichten können, weitere Fragen nach § 396 Abs. 2 und 3 ZPO an den Zeugen zu stellen. Diese Bedingung dürfte allenfalls dann erfüllt sein, wenn von vornherein keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage bestehen.

___________ 24 Vorgänger des § 79b FGO war Art. 3 § 3 VGFGEntlG; dazu Woring, Die Zurückweisung verspäteten Vorbringens im finanzgerichtlichen Verfahren, Diss. iur. Münster 1985. 25 Streck, Rechtsbehelfsempfehlung Nr. 189/91, Stbg. 1991, 82. 26 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 19. Aufl. 2008, § 22 Rz. 184. 27 Seer in Tipke/Kruse, § 82 FGO Rz. 9. 28 Stöcker in Beermann/Gosch, § 81 FGO Rz. 35.

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In einem solchen Falle könnte es auch als ausreichend erachtet werden, die Beweisfrage nach § 377 Abs. 3 ZPO schriftlich beantworten zu lassen. Entstehen Bedenken, so kann der Zeuge nachträglich vom Senat gehört werden. Hierauf ist der Zeuge hinzuweisen. Ein Einverständnis der Beteiligten mit der schriftlichen Zeugenaussage ist nicht vorgeschrieben. Die Beteiligten haben aber das Recht, schriftlich ihr Fragerecht nach § 83 Satz 2 FGO auszuüben29. Ist ein Beteiligter mit der vorweggenommenen Beweisaufnahme nicht einverstanden, muss er dies rügen. Andernfalls wird ein etwaiger Verfahrensmangel nach § 295 Abs. 1 ZPO geheilt30.

III. Die Durchführung der Beweisaufnahme Am Beginn der Durchführung einer Beweisaufnahme steht die Zeugenladung. Darin ist dem Zeugen einerseits mitzuteilen, worum es geht. Andererseits ist er darüber zu belehren, welche Folgen es hat, wenn er der Ladung nicht folgt. Der erschienene Zeuge ist bei der Beweisaufnahme zunächst über seine Wahrheitspflichten sowie sein eventuelles Recht zur Zeugnis- oder Auskunftsverweigerung nach § 84 FGO i.V.m. §§ 101 bis 103 AO zu belehren und zur Person zu befragen. Erst dann geht es um die Sache. Zur Dokumentation der Beweisaufnahme sind alle wesentlichen Vorgänge zu protokollieren. Es ergibt sich aus den §§ 392 Satz 3 und 395 ff. ZPO, dass der Zeuge verpflichtet ist, subjektiv wahrhaftig und ohne etwas zu verschweigen auf die Fragen zur Person zu antworten sowie zur Sache alles auszusagen, was ihm vom Beweisgegenstand bekannt ist. Zusätzlich kommt in seltenen Fällen eine Vereidigung in Betracht. Abschließende Phase ist die in § 96 Abs. 2 FGO angesprochene Erörterung der Tatsachen und Beweisergebnisse. 1. Die Vernehmung eines Zeugen Die Zeugenvernehmung kann in verschiedene Phasen unterteilt werden: In der Eröffnungsphase geht es um die Zeugenbelehrung und die Vernehmung zur Person. Die nachfolgende Vernehmungsphase teilt sich in den zusammenhängenden Zeugenbericht sowie in die ergänzende Zeugenbefragung auf. a) Die Vernehmung zur Person Jeder Zeuge ist nach § 394 Abs. 1 ZPO einzeln und in Abwesenheit der später zu hörenden Zeugen zu vernehmen. Zeugen, deren Aussagen sich widersprechen, können nach § 394 Abs. 2 ZPO einander gegenübergestellt werden. Vor der Vernehmung wird der Zeuge nach § 395 Abs. 1 ZPO zur Wahrheit ermahnt und darauf hingewiesen, dass er in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen unter Umständen seine Aussage zu beeidigen habe. Nach § 395 Abs. 2 Satz 1 ZPO beginnt die Vernehmung damit, dass der Zeuge zur Person befragt wird. Erforderlichenfalls sind ihm gemäß § 395 Abs. 2 Satz 2 ZPO Fragen über solche Umstände zu stellen, die seine Glaubwürdig-

___________ 29 Stöcker in Beermann/Gosch, § 82 FGO Rz. 99. 30 Stöcker in Beermann/Gosch, § 81 FGO Rz. 36.

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keit in der vorliegenden Sache betreffen, insbesondere über seine Beziehungen zu den Beteiligten. Die Vernehmung zur Person und deren Protokollierung sollte sich mithin nicht darauf beschränken, nur die Personalien abzufragen und aufzunehmen31. Wichtig ist es, schon zu Beginn der Vernehmung die Beziehungen des Zeugen zum Beweisgegenstand zu erkunden sowie zu anderen Personen. Das können nicht nur Prozessbeteiligte und deren Angestellte und Geschäftspartner sein, sondern auch andere Zeugen, um nicht auf ein Zeugenkomplott hereinzufallen32. Diese Umstände sind in der Niederschrift festzuhalten. b) Die Vernehmung zur Sache Die Zeugenvernehmung ist eine besondere Form der Kommunikation. Diese enthält nicht nur sachbezogene Inhalte, sondern auch persönliche Elemente sowohl aufseiten des Zeugen als auch aufseiten des Vernehmenden. Dabei geht es um Beziehungs- und Selbstoffenbarungsaspekte sowie um Einflussnahmen und Appelle in beide Richtungen33. Dem Zeugen ist es vielfach weniger wichtig, zuverlässig über seine Wahrnehmung auszusagen, als zu zeigen, welche wichtige Rolle er spielt und dass er in diesem Moment allen Anwesenden überlegen ist. Außerdem will er das Gericht veranlassen, die Dinge so zu sehen und zu bewerten, wie es seinen Interessen entspricht. Die Zeugenaussage wird daher nur unzureichend gewürdigt, wenn ausschließlich der Sachverhalt berücksichtigt wird. Die Vernehmung zur Sache besteht aus dem Zeugenbericht nach § 396 Abs. 1 ZPO und der anschließenden ergänzenden Befragung nach § 396 Abs. 2 ZPO, dem sog. Zeugenverhör. Zunächst ist der Zeuge zu veranlassen, dasjenige, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang anzugeben. Danach sind dem Zeugen nötigenfalls weitere Fragen zur Aufklärung und zur Vervollständigung der Aussage zu stellen sowie zur Erforschung des Grundes, auf dem die Wissenschaft des Zeugen beruht. aa) Der Zeugenbericht Der zusammenhängende Bericht ist das Kernstück der Zeugenvernehmung34 und gilt als der beste Weg, um das für die Entscheidung bedeutsame Wissen weitgehend vollständig und unverfälscht zu erfahren. Der zugleich hinreichend mitteilsame, vollständig, aber nicht weitschweifig, präzise und nicht wertende Zeuge dürfte allerdings kaum zu erwarten sein, sodass es erforder-

___________ 31 Rüßmann, DRiZ 1985, 41 (44/45). 32 Ein Zeugenkomplott gegen „Susanna im Bade“ hat Daniel aufgedeckt, indem er in Alternativen dachte, die Zeugen voneinander getrennt vernahm und dabei die – unterschiedlich beantwortete – Situationsfrage stellte, unter welchem Baum der angebliche Ehebruch stattgefunden habe; s. Daniel 13, 45 ff. Wäre wenigstens ein Zeuge ein schlauerer Lügner gewesen, hätte er geantwortet: Auf den Baum habe ich nicht geachtet. 33 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 6. Aufl. 2008, Rz. 1329; Schulz von Thun, Miteinander reden 1, 2003, 25 ff. 34 Senge in Karlsruher Kommentar, § 69 StPO Rz. 4.; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl. 2007, Rz. 808.

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lich sein kann, ihn mit Zwischenfragen, Denkanstößen und Ermahnungen, bei der Sache zu bleiben, Hinweise auf offenbare Ungereimtheiten und Vorhalte schon bei der Abgabe seines Berichts zu leiten35. Den weitschweifigen Zeugen zu stoppen oder den wortkargen Zeugen zu ermuntern, kann der Vorsitzende psychologisch wirksamer dem Beweisführer und dessen Prozessbevollmächtigten überlassen, wobei Großzügigkeit der Verhandlungsführung nicht zu Hilflosigkeit entarten darf36. Jedoch hat der Zeuge grundsätzlich einen Anspruch darauf, seine Aussage unbeeinflusst von Fragen und Vorhalten im Zusammenhang abzugeben. Unzweckmäßige Unterbrechungen durch die Beteiligten sind daher vom verhandlungsleitenden Richter zu verhindern. Es macht Sinn, diese Verfahrensregeln schon vorher insbesondere den nichtjuristischen Beteiligten zu erläutern und ihnen zuzusagen, dass sie nach der Protokollierung des Zeugenberichts noch hinreichend Gelegenheit haben, Fragen zu stellen, die sie sich rechtzeitig aufschreiben sollten, um sie nicht zu vergessen. Es ist von größter Wichtigkeit, vom Zeugen zu erfahren, was er aus seiner eigenen Wahrnehmung und Erinnerung zu berichten weiß, bevor er durch Sachfragen und Vorhalte seine Fantasie entfalten kann37. bb) Das Zeugenverhör Der Zeugenbericht kann durch das Zeugenverhör aufgeklärt und vervollständigt werden. Dabei können nicht nur Zusatzfragen gestellt, sondern dem Zeugen auch anderslautende Aussagen Dritter, frühere eigene Angaben oder Schriftstücke vorgehalten werden, zu denen der Zeuge dann weitere Erklärungen abzugeben hat. Bei der Protokollierung des Zeugenverhörs sollte festgehalten werden, wer die Zusatzfragen gestellt und die Vorhalte gemacht hat. Wird nicht zwischen Zeugenbericht nach § 396 Abs. 1 ZPO und Zeugenverhör nach § 396 Abs. 2 ZPO unterschieden, so begründet dies einen Verfahrensmangel, auf dessen Rüge allerdings nach § 295 ZPO verzichtet werden kann. Der vernehmende Richter kann die Zeugenaussage durch verbale und nonverbale Beeinflussung verfälschen. Wenn er durch sog. aktives Zuhören erkennen lässt, was er hören möchte, kann er einen „Pygmalion“-Effekt auslösen. Diese Gefahr besteht bei einer nur eingleisigen erkenntnisleitenden Anfangshypothese. Dann verläuft die weitere Sachverhaltsermittlung nach dem Grundsatz „Suchet, so werdet ihr finden“38, ohne dass Alternativen nachgegangen wird39. Wer fragt, erhält Antworten, wer richtig fragt, die richtigen40. Can. 1564 des Codex iuris canonici von 1983 enthält dazu allgemein gültige Empfehlungen: Die Fragen sollen kurz und dem Auffassungsvermögen des zu Befragenden angepasst sein, nicht mehreres zugleich enthalten, nicht verfänglich, nicht hinterlistig und nicht so sein, dass sie die Antwort nahelegt (suggerentes

___________ 35 36 37 38 39 40

Lemke in Heidelberger Kommentar, § 69 StPO Rz. 5. Hartmann in Baumbach u.a., § 396 ZPO Rz. 3. Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 816. Matthäus 7, 7. Stöcker in Beermann/Gosch, § 83 FGO Rz. 12. Hoffmann/Wendler, NJW 2010, 1216.

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responsionem); sie sollten fern jeder Beleidigung und auf die Prozesssache bezogen sein. Ein Richter kann nur über eine beschränkte Simultankapazität verfügen. Wenn er nicht nur beim Zuhören den Aussageinhalt verstehen muss, sondern auch noch auf Zeugensignale achten, wenn er gleichzeitig das Gehörte und Gesehene sortieren, erinnern, mitschreiben und diktieren will und letztlich dafür zu sorgen hat, dass die Verhandlung und Vernehmung in geordneten Bahnen verläuft, erreicht er schnell seine Grenzen41. Legt bereits die Art der Fragestellung nahe, wie die Antwort ausfallen soll, handelt es sich mithin um eine sog. Suggestivfrage, und gibt der Zeuge dann die erwartete Antwort, so ist diese Auskunft wertlos42. Zu weiteren Erkenntnissen führen auch nicht die sog. geschlossenen Fragen, die nur mit einem Ja oder einem Nein beantwortet werden können. Professionell sind hingegen sog. offene Fragen, die typischerweise ein mit „W“ beginnendes Fragewort enthalten, z.B. „wer“, „was“, „wann“, „womit“ getan hat. Vorsicht ist hingegen bei Warum-Fragen angebracht, da diese den Zeugen oftmals dazu zwingen, das eigene Verhalten oder das eines Beteiligten wahrheitswidrig zu rechtfertigen, und da die Antwort keinen wahrgenommenen tatsächlichen Vorgang wiedergibt, sondern vielfach eine nur vermutete innere Annahme. Ein Phänomen ist bei einer Zeugenbefragung regelmäßig zu beobachten: Nahezu jeder Zeuge scheut sich davor zuzugeben, dass er die gestellte Frage nicht beantworten kann. Wie ein vom Lehrer befragter Schüler möchte er die in der Frage liegende Erwartung einer Antwort nicht enttäuschen und tischt dann lieber das aus seiner Sicht vermutlich Richtige auf als offen zu bekennen, dass er die Antwort nicht weiß. Der Zeuge spürt aufgrund der Fragen und Vorhalte, dass es Lücken in seiner Aussage gibt, und bemüht sich, diese zu schließen. Er zieht Schlüsse, wie es wohl gewesen sein muss, und bietet diese als wirkliche Erinnerung an, ohne dies selbst zu bemerken. Daher besteht die Gefahr, dass sich in das Zeugenverhör viel mehr Fehler einschleichen als in den Zeugenbericht43. cc) Das Fragerecht der Beteiligten Nach § 83 Satz 1 FGO werden die Beteiligten von allen Beweisterminen benachrichtigt und können der Beweisaufnahme beiwohnen, die somit beteiligtenöffentlich durchgeführt wird. Sie können nach § 83 Satz 2 FGO an Zeugen sachdienliche Fragen richten. Die Beteiligten dürfen nur bestimmte Fragen stellen, aber nicht den Zeugen allgemein verhören. Die Fragen müssen sich nicht auf das Beweisthema beschränken, sondern können sich auch auf die allgemeine Glaubwürdigkeit des Zeugen beziehen44. Wird eine Frage beanstandet, entscheidet nach § 83 Satz 3 FGO das Gericht. Damit gibt es für das Fragerecht der Beteiligten eine eigenständige finanzgerichtliche Regelung,

___________ 41 Bender/Nack/Treuer, a.a.O, Rz. 103 ff.; Stöcker in Beermann/Gosch, § 83 FGO Rz. 14. 42 Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 199. 43 Rüßmann, DRiZ 1985, 41 (46). 44 Julius in Heidelberger Kommentar, § 261 StPO Rz. 33.

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sodass § 397 ZPO nicht gilt. Daraus ergibt sich, dass die Beteiligten ihr Fragerecht unmittelbar und nicht nur über den Vorsitzenden ausüben dürfen. Sachdienliche Fragen sind solche, die geeignet sind, die Sachaufklärung zumindest mittelbar zu fördern. Suggestivfragen sind nicht als sachdienlich anzusehen45. Eine Frage kann von einem Richter, vom Zeugen selbst und von einem Beteiligten beanstandet werden. Darüber entscheidet nicht der Vorsitzende, sondern das Gericht durch Beschluss, der als prozessleitende Verfügung nach § 128 Abs. 2 FGO nicht beschwerdefähig ist. Der befragende Beteiligte oder dessen Prozessvertreter sollte sich und nach Möglichkeit auch den von ihm selbst benannten Zeugen auf die Fragen vorbereiten. Von einem Anwalt, dessen Name hier keine Rolle spielt, wird überliefert, er stelle einem Zeugen niemals eine Frage, wenn er die Antwort nicht bereits kenne. Ziel darf dabei zwar auch in dieser Prozessphase nicht die versuchte Anstiftung oder die Verleitung zu einer Falschaussage im Sinne der §§ 159 und 160 StGB sein. Die volle Ausschöpfung des Zeugenwissens ist aber durchaus im Interesse der Wahrheitsfindung. Wird der Zeuge von einer Fragestellung überrascht, mit der er nach der eher abstrakten Formulierung des Beweisbeschlusses nicht gerechnet hat, dann besteht die Gefahr, dass er einer vollständigen Beantwortung ausweicht und damit eine ihm mögliche Sachaufklärung verhindert. Es dürfte zudem die Überzeugungskraft der Aussage eher noch stärken, wenn der Zeuge einleitend offen zur Sprache bringt, dass er die Frage zwar bereits mit dem Beteiligten erörtert, aber seine Antwort sorgfältig und unbeeinflusst vorbereitet hat. dd) Die Beeidigung eines Zeugen Trotz klarer Anweisung in der Bergpredigt46 ist die Beeidigung einer Zeugenaussage auch im christlichen Abendland nicht abgeschafft worden. Nach § 391 ZPO ist ein Zeuge zu beeidigen, wenn die Beteiligten auf die Beeidigung nicht ausdrücklich oder stillschweigend verzichten. Letzteres dürfte der Regelfall sein. Außerdem muss das Gericht die Beeidigung für geboten erachten. Dafür nennt das Gesetz zwei Beweggründe: erstens die Bedeutung der Aussage und zweitens die Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Aussage. Eine Bedeutung hat die Aussage nicht schon deshalb, weil davon die Entscheidung abhängt. Das trifft schließlich auf jede Zeugenaussage zu, die beweis- und damit entscheidungserheblich ist. Die Bedeutung der Aussage hängt insbesondere von den wirtschaftlichen und existenziellen Folgen der Aussage ab. Keine Bedeutung hat eine Aussage, die unergiebig ist und nichts zur Klärung der Beweisfrage beiträgt47. Zur Herbeiführung einer wahren Aussage ist die Beeidigung zulässig, wenn der Zeuge offensichtlich die Unwahrheit sagt oder Tatsachen verschweigt und die begründete Annahme besteht, dass er unter Eid – genauer gesagt: in Erwartung seiner angekündigten und bevorstehenden Beeidigung – seine Aussage

___________ 45 Seer in Tipke/Kruse, § 83 FGO Rz. 6. 46 Vgl. Matthäus, 5, 34 bis 37. 47 Stöcker in Beermann/Gosch, § 82 Rz. 113.

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der Wahrheit gemäß korrigieren wird48. Die angekündigte Beeidigung kann zu einer Änderung oder Präzisierung der Aussage führen. Sie kann noch vorhandene Zweifel des Gerichts mindern oder beseitigen. Ob eine Beeidigung sinnvoll ist, wenn eigene Interessen des Zeugen im Spiel sind, dürfte fraglich sein49. Hält das Gericht die Aussage auch dann für unglaubhaft, wenn sie beeidet würde, dann ist die Beeidigung zur Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Aussage nicht geboten50. Im finanzgerichtlichen Verfahren spielt der Zeugeneid praktisch keine Rolle. Der Verfasser hat als Finanzrichter in mehr als dreißig Jahren nur in zwei Verfahren eine Zeugenvereidigung durchgeführt, allerdings mehrfach bei einer vermuteten Falschaussage damit gedroht und dadurch Aussagekorrekturen erreicht51. 2. Die Protokollierung der Zeugenaussage Nach § 160 Abs. 2 ZPO sind die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung aufzunehmen. Im Protokoll oder einer Anlage dazu (160 Abs. 5 ZPO) sind insbesondere die Aussagen der Zeugen nach § 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO festzustellen. Dazu sind sie, soweit es inhaltlich darauf ankommen kann (arg. § 160 Abs. 4 Satz 2 ZPO) möglichst vollständig und wortgetreu wiederzugeben52. Die größte Verfälschungsgefahr droht aus dem Glattschleifen der Aussage auf das rechtsrelevante Kerngeschehen im anwendungsgerechten Juristenjargon53. Ein als zuverlässig zu beurteilendes Vernehmungsprotokoll sollte die Zweiteilung der Vernehmung in Bericht und Verhör gemäß § 396 Abs. 1 und 2 ZPO widerspiegeln54. Wenn das Gericht sein Zeugenverhör gemäß § 396 Abs. 2 und 3 ZPO abgeschlossen hat, sollte es nicht sofort den Zeugen durch die Beteiligten und ihre Prozessvertreter nach § 83 Satz 2 FGO befragen lassen, sondern zunächst die bis dahin erzielten Ergebnisse protokollieren. Sonst entsteht die Gefahr, dass diese Ergebnisse durch suggestive oder gar aggressive Fragen und die Diskussionen über ihre Zulässigkeit zerredet werden. 3. Der Rügeverzicht und seine Folgen Nach § 295 Abs. 1 ZPO, der gemäß der Generalverweisung in § 155 FGO auch im finanzgerichtlichen Verfahren gilt, kann die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozesshandlung betreffenden Vorschrift

___________ 48 49 50 51

Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rz. 1135. So aber Stöcker in Beermann/Gosch, § 82 Rz. 113. Berger in Stein/Jonas, Bd. 5, 22. Aufl. 2006, § 391 ZPO Rz. 9. Nach 1. Könige 3, 25 hatte bereits Salomo mit einer ernst genommenen richterlichen Scheindrohung Erfolg. 52 Nach Nr. 45 Abs. 2 Satz 1 der RiStBV empfiehlt es sich für bedeutsame Teile der Vernehmung, Fragen, Vorhalte und Antworten möglichst wörtlich in die Niederschrift aufzunehmen. Dies ist auch bei einem finanzgerichtlichen Zeugenverhör sinnvoll. 53 Rüßmann, DRiZ 1985, 41 (47). 54 Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 1006 und 1376.

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nicht mehr gerügt werden, wenn der Beteiligte auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet. Schweigen auf erkennbare Verfahrensmängel ist NichtRügen und damit Rügeverzicht mit der Folge, derartige Fehler später nicht mehr angreifen zu können55. Dies gilt nach § 295 Abs. 2 ZPO nur dann nicht, wenn Vorschriften verletzt sind, auf deren Befolgung ein Beteiligter wirksam nicht verzichten kann. Von einem Rügeverzicht ist bereits dann auszugehen, wenn zur mündlichen Verhandlung kein Zeuge geladen worden und damit für den Kläger erkennbar ist, dass das Finanzgericht die beantragte Zeugenvernehmung nicht durchzuführen beabsichtigt. Wird dies in der mündlichen Verhandlung nicht gerügt, so liegt darin ein Verzicht darauf, als Verfahrensmangel geltend zu machen, dass ein Beweisantrag übergangen sei56. Dem in § 83 Satz 2 FGO eröffneten Fragerecht entspricht eine entsprechende Mitwirkungspflicht der Beteiligten, durch sachdienliche Fragen selbst das Prozessgeschehen aktiv mitzugestalten. Verzichtet ein Beteiligter ausdrücklich oder stillschweigend auf sein Fragerecht, kann er nicht als Verfahrensmangel rügen, dass sich dem Finanzgericht eine weitere Zeugenbefragung hätte aufdrängen müssen57. Nach Abschluss der Beweisaufnahme wird über deren Ergebnis verhandelt, woraus sich zugleich ergibt, dass weitere Zeugen nicht mehr vernommen werden sollen. Die Beteiligten müssen sich dann entscheiden, ob sie den Abschluss der Beweisaufnahme rügen und die Vernehmung weiterer Zeugen zu Protokoll beantragen wollen.

IV. Der Wert und die Würdigung einer Zeugenaussage Um den Wert einer Zeugenaussage richtig einschätzen zu können, müssen die Voraussetzungen der Wahrnehmung, des Behaltens und der Motivation bekannt sein. Es müssen nicht nur gesteuerte Wahrheitsverfälschungen durch Lügen, sondern ungesteuerte Verfälschungen durch Wahrnehmungs- und Gedächtnisfehlleistungen ausgeschlossen werden können. Nicht die Lüge, sondern der unbewusste Irrtum ist der größere Feind der Wahrheit58. 1. Psychologische Voraussetzungen Wahrnehmen bedeutet nicht, dass äußere Ereignisse objektiv getreu repräsentiert werden, sondern dass sie nach subjektiven Vorgaben innerlich bereits vorhandenen Abbildungen zugeordnet werden. Die Tatsache als solche gibt es nicht. Was wir als Tatsachen wahrnehmen, sind Ganzheiten, auf die wir aus wahrgenommenen Einzelheiten schließen. Dieser zumeist unbewusste

___________ 55 Streck, Der Steuerstreit, 1986, Rz. 868. 56 BFH v. 11.8.2006 – VIII B 322/04, BFH/NV 2006, 2280; v. 29.9.2005 – III B 104/05, BFH/NV 2006, 314; Streck, Rechtsbehelfsempfehlung Nr. 137/89, Stbg. 1989, 279. 57 BFH. v. 28.1.1993 – X B 80/92, BFH/NV 1994, 108. 58 Rüßmann, Die Zeugenvernehmung im Zivilprozess, DRiZ 1985, 41; Rüßmann in Wassermann (Hrsg.) Alternativkommentar (AK), 1987, vor § 373 ZPO.

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Schluss kann zu einem zutreffenden Ergebnis führen, muss dies aber nicht59. Für die Wahrnehmung entscheidend ist nicht nur die Ausrichtung der Aufmerksamkeit, sondern auch das Streben nach Stimmigkeit. Man kann nur etwas bewusst wahrnehmen, was man bewusst beobachtet, und man beobachtet nur solche Dinge bewusst, über die man bereits eine gewisse Vorstellung hat60. Dabei sieht der beruflich vorgebildete Zeuge zwar mehr als ein nicht entsprechend ausgestatteter Zeuge, unterliegt aber zugleich stärker der Neigung, etwas nicht Geschehenes dem Wahrnehmungsbild aus dem Bereich seines Wissens hinzuzufügen. Die meisten Irrtümer werden durch Erwartungshaltungen herbeigeführt, die durch Gewohnheiten und Standardisierungen verursacht sind61. An einzelne Routineinformationen und Routinehandlungen gibt es keine echte Erinnerung. Der Zeuge kann immer nur berichten, wie er sich in solchen Fällen üblicherweise zu verhalten pflegt62. Mehrere ähnliche Vorgänge verschmelzen miteinander63. Die Erinnerung wird zudem im Laufe des Verfahrens verfälscht. Wenn bereits Aussagen über einen Sachverhalt gemacht worden sind, besteht die Möglichkeit, dass der Zeuge sich mehr an die frühere Aussage erinnert als an die Wahrnehmung selbst64. Insofern besteht ein „konstruktives“ Gedächtnis. Ebenso wie schon bei der Informationsaufnahme ein für den Zeugen selbst stimmiges Bild aufgebaut wird, kann durch inzwischen eingetretene Veränderungen das seinerzeit aufgebaute Bild ein anderes sein als das später reproduzierte stimmige Bild. Auch eine aufmerksam beobachtete, jedoch nicht außergewöhnliche Situation kann nur schwer abgerufen werden. Der Zeuge berichtet dann über das, was er zu beobachten pflegt. Die Tendenz, etwas Beobachtetes durch das vorhandene Erfahrungswissen zu ergänzen, wird in der Erinnerung noch verstärkt. Das Erinnerungsbild wird dem Wunschbild angenähert. Zwar steigert die wiederholte Beschäftigung mit dem Geschehen die Behaltens- und Abrufleistungen. Dabei kann aber nicht mehr ausgeschlossen werden, dass der Zeuge ein Bild abruft, dass erst in der wiederholten Beschäftigung entstanden ist und von dem abweicht, was er ursprünglich wahrgenommen hat65. Ob eine gesteuerte Verfälschung eines Ereignisses vorliegt, hängt nicht von den äußeren beruflichen oder gesellschaftlichen Eigenschaften des Zeugen ab. Auch der Ehrenmann kommt einmal in die Lage, möglicherweise aus ehrenhaften Gründen zu lügen, wie der übel Beleumundete durchaus die Wahrheit sagen kann. Interessengeleitete Aussageverfälschungen sind aber dort in Rechnung zu stellen, wo Arbeitgeber, Kollegen oder nahestehende Personen begünstigt oder wo Personen oder Institutionen benachteiligt werden, denen der Zeuge negativ gegenübersteht. Negative Einstellungen bestehen vor allem gegen anonyme Institutionen, also auch gegenüber dem Finanzamt. Das Bild

___________ 59 60 61 62 63 64 65

Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 18; zum „Knallzeugen“ Rz. 71. Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 89. Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 91. Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 149. Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 152. Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 180. Rüßmann in AK, vor § 273 ZPO.

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vom neutralen Zeugen ist somit gerade auch im Steuerprozess eine Illusion. Das wohl häufigste Motiv einer Falschaussage ist das Bedürfnis, einen Kläger in seiner vermeintlichen Beweisnot helfen zu wollen66. 2. Realitätskennzeichen und Lügensignale Um die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage beurteilen zu können, ist nach Wahrheits- und Unwahrheitskriterien im Aussageverhalten und im Inhalt und der Struktur der Aussage selbst zu suchen. Warnsymptome beim Aussageverhalten sind z.B. die Vermeidung des Blickkontaktes, die Veränderung der Stimmlage, häufiger Selbstkontakt mit der Hand am Gesicht und Kopfsenken. Wahrheitszeichen sind die gleichbleibende natürliche, auch vorwegnehmende Körpersprache bei unverfänglichen Themen wie bei entscheidungserheblichen Vorgängen, insbesondere unwillkürliche Kopfbewegungen67. Für eine wahre Aussage sprechen zahlreiche und möglichst spontan in die Schilderung einfließende Einzelheiten, die das Ereignis farbig und einfühlbar machen und nicht nur das zentrale Beweisthema abstützen68. Entsprechendes gilt, wenn die Aussage ein unverwechselbares Gepräge von der Persönlichkeit und dem Sprachstil gerade der betreffenden Auskunftsperson erhält. Allerdings sind derartige Realitätsmerkmale auch in Aussagen anzutreffen, in denen ein tatsächlicher Vorgang gewollt auf eine andere Person, eine andere Zeit oder einen anderen Ort verlagert wird. Denn eine derart beschränkte Einzelverfälschung gelingt dem Zeugen zumeist, ohne dass dies auffällig wird. Um eine solche gewollte Verlagerung auszuschließen, bietet sich an, die Gesamtaussage vielfältigen Verflechtungen in zeitlicher, örtlicher und personeller Hinsicht auszusetzen, indem der Zeuge dazu angehalten wird, umfangreich zu berichten. Neben die inhaltlichen Beurteilungskriterien Detailreichtum, Individualität und Verflechtung treten strukturelle Kriterien sprachlicher und situativer Art. Bleiben auch im Übergang zwischen unerheblichem oder unstreitigen Geschehen und dem rechtserheblichen Sachverhalt Sprachfluss, Satzbau und Ausdrucksweise ebenso konstant wie die Körpersprache und die gefühlsmäßige Begleitung, dann spricht diese Strukturgleichheit für die subjektive Wahrheit. Zeigt die Auskunftsperson bei der für denselben Beteiligten günstigen und ungünstigen Teilen der Aussage ein gleich gutes Gedächtnis, dann ist dies ebenfalls ein Wahrheitsmerkmal, insbesondere, wenn spontan und zwanglos Details in den ungestörten Zeugenbericht einfließen und prompt weitere Einzelheiten auf zusätzliche Fragen nachgeschoben werden.

___________ 66 Bender/Nack/Treue, a.a.O., Rz. 227. 67 Zu einzelnen Lügensignalen und Realitätskriterien Rüßmann in AlternativKommentar, vor § 373 ZPO Rz. 46 ff. 68 Um „auff den grundt der warheyt“ zu gelangen, empfiehlt bereits die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina) von 1532, nach den tatsächlichen Umständen zu fragen und diese dem zu Befragenden nicht schon vorher mitzuteilen.

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Je impulsiver und assoziativer und je weniger chronologisch oder nach anderen Gesichtspunkten geordnet und je weniger bewusst die Aussage auf eine bestimmte Überzeugung des Vernehmenden zielt, desto wahrscheinlicher ist sie realitätsbegründet (Nichtsteuerungskriterium), was insbesondere dann gilt, wenn sich die ungesteuerte Aussage gleichwohl zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen lässt (Homogenitätskriterium), indem voneinander entfernte Teile der Aussage nicht nur zu einander widerspruchsfrei sind, sondern sich wechselseitig ergänzen und bestätigen. Die erlogene Aussage ist gekennzeichnet durch das Fehlen derartiger Realitätskriterien und durch wenigstens einige Merkmale aus den drei Gruppen der Lügensignale: den Verlegenheitssignalen, den Übertreibungssignalen und den Kompetenzmangelsignalen69. Ein Verlegenheitssignal ist die Zurückhaltung in wesentlichen Punkten, wenn sie mit ausführlichen Darstellungen unwesentlicher Punkte einhergeht. Übertreibungssignale sind die auffällige Beteuerung sicherer Erinnerung und Wahrheit der Aussage sowie dreiste Gegenangriffe, insbesondere die entrüstete Verteidigung gegen einen noch nicht erhobenen Vorwurf. Je mehr weitschweifige Begründungen der Zeuge für die Richtigkeit seiner Aussage gibt, umso eher ist ihm zu misstrauen. Kompetenzmangel wird durch eine abstrakte, karge oder zielgerichtet glatte Zeugenaussage angezeigt. Auch ein Strukturbruch im Sprachstil oder in der Gestik beim Übergang vom unstreitigen und unerheblichen Geschehen zum rechtsrelevanten Kern der Aussage ist als Lügensignal anzusehen. In dem zusammenhängend vorgetragenen Zeugenbericht verfälscht der Zeuge hauptsächlich durch Auslassungen. Bei der ergänzenden Befragung im Zeugenverhör sind Ersetzen, Erdichten und Verschönern häufiger70. Zusammengefasst gilt für die falsche Aussage regelmäßig: Ein Fantasiegebilde ist abstrakt und glatt, karg und zurückhaltend im Detail und auf Nachfrage unbestimmt. Für die wahre Aussage gilt typischerweise: Sie ist detailreich und kompliziert, gleichwohl stimmig sowie individuell geprägt und einzigartig71. Systematisch ist von einer Nullhypothese auszugehen: Jede Aussage gilt solange als unwahr, bis diese Vermutung sich angesichts der Zahl und der Qualität der Realitätskriterien in der Aussage nicht mehr aufrechterhalten lässt72. Bei der inhaltlichen Überprüfung der Glaubhaftigkeit einer Aussage kann die Annahme zugrundegelegt werden, dass die Rekonstruktion und Schilderung eines wahren Geschehens aus dem Gedächtnis keine besondere geistige Anstrengung erfordert. Demgegenüber konstruiert der bewusst lügende Zeuge seine Aussage ohne Rückhalt in der Realität. Es erfordert ein hohes Maß an geistiger Anstrengung, eine Aussage über ein komplexes Geschehen ohne

___________ 69 Dazu Rüßmann, DRiZ 1985, 41; Rüßmann, in AlternativKommentar, vor § 373 ZPO Rz. 56 ff.; weitere Literaturangaben zur Glaubwürdigkeitsanalyse: Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, 4. Aufl. 2007; Arntzen, Vernehmungspsychologie, 2. Aufl. 1989; Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, 1994. 70 Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 191 ff. 71 Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 440 ff. 72 Grundlegend zu den wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsgutachten BGHSt 45, 164 = NJW 1999, 2746; Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 216.

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eigene Wahrnehmungsgrundlage zu erfinden und zudem über einen längeren Zeitraum und gegenüber argumentativen Angriffen aufrechtzuerhalten. Zusätzlich muss der Lügner sich darum bemühen, seinem Gegenüber glaubwürdig zu erscheinen. Daher nimmt er nur in geringem Ausmaß Selbstkorrekturen vor und ist nicht bereit, Erinnerungslücken zuzugeben73. Lässt sich nur ein vereinzeltes Realitätsmerkmal erkennen, besagt dies nicht viel. Erst mehrere Anzeichen können eine tragfähige Glaubhaftigkeitsgrundlage bilden. Zudem sind Realitätskennzeichen ungeeignet, eine wahre von einer suggerierten, aber objektiv falschen Aussage zu unterscheiden. Denn der Zeuge hält eine solche an Erwartungen ausgerichtete Aussage subjektiv für wahr. Ein Unterschied zwischen erlebnisbasierten und suggerierten Aussagen lässt sich somit nicht erkennen74. Zusammenfassend ist der gerichtlichen Aussagepsychologie der Grundsatz zu entnehmen: Ein Richter muss einem Zeugen gar nichts glauben75. Wenn er es doch will, dann muss er dafür gute Gründe haben und sich dieser auch bewusst sein, um sie einer nachvollziehbaren Beweiswürdigung nutzbar machen zu können. 3. Die richterliche Überzeugungsbildung Beweiswürdigung bedeutet, dass der Richter das Ergebnis von Verhandlung und Beweisaufnahme einer inneren Reflexion unterzieht, deren Ziel es ist, sich vom tatsächlichen Geschehen eine Überzeugung zu verschaffen76. Überzeugung ist die persönliche subjektive Gewissheit, das Gewissheitserlebnis des Richters von der objektiven Wahrheit der entscheidungserheblichen Tatsachen77. Um eine sinnvolle Beweiswürdigung zu ermöglichen, muss das Gericht bereits in der Vorbereitungsphase der Beweisaufnahme in Alternativen denken. Mit nur einer einzigen Sachverhaltsannahme steigt die Gefahr selektiven Aufnehmens. Die Fragen, auf die in jedem Falle eine Antwort erforderlich ist, sollten vorher notiert werden. Das Gericht entscheidet gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen bestimmter Tatsachen. Die richterliche Überzeugung ist weniger als die kaum erreichbare Gewissheit, aber mehr als nur ein überwiegender Grad von Wahrscheinlichkeit78. Damit wird vom Richter keine Wahrheitsfeststellung im Sinne des kartesischen Rationalismus verlangt, wonach niemals eine Sache als wahr anzunehmen ist, die nicht so sicher und einleuchtend erkannt wird (certo et evidenter cognoscere) und sich nicht so

___________ 73 74 75 76

BGHSt 45, 164. BGHSt 45, 164. Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 415. Prütting in Münchner Kommentar, 3. Aufl. 2008, § 286 ZPO Rz. 7; Julius in Heidelberger Kommentar, § 261 StPO Rz. 27; Musielak, JA 2010, 561 (564). 77 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rz. 89. 78 Alles was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch (Descartes).

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klar und deutlich (clare et distincte) darstellt, dass es gar keine Möglichkeit gibt, daran zu zweifeln79. Entscheidend ist vielmehr ein so hoher Grad von Wahrscheinlichkeit, dass er nach der Lebenserfahrung praktisch der Gewissheit gleichkommt. Als erwiesen anzusehen ist ein Sachverhalt, wenn er sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt80. Damit wird im Interesse der Gerechtigkeit vermieden, dass praktisch alle Entscheidungen nach der Feststellungslast getroffen werden müssen. Für die Überzeugungsbildung ist einerseits hinreichend, andererseits notwendig, ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur dem eigenen Gewissen unterworfen persönliche Gewissheit in einem Maße zu erlangen, dass der Richter an sich mögliche Zweifel überwindet und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann81. Ob andere, insbesondere die Beteiligten noch zweifeln oder bereits überzeugt sind, ist unerheblich. Denn die Urteilsfindung ist nicht ihnen, sondern nach Art. 92 GG den zuständigen Richtern anvertraut. Die Überzeugung ist höchstpersönlich82. Auch innerhalb eines Kollegialgerichts bleibt die subjektive Gewissheit maßgebliches Kriterium, wobei die Überzeugungsbildung hier im Rahmen einer sozialen Interaktion zwischen den Mitgliedern stattfindet. Geeignete, die Gewissheit ausschließende Zweifel sind nicht abstrakte, rein theoretische Zweifel, die sich im Hinblick auf die allgemeine Unzulänglichkeit menschlichen Erkenntnisvermögens ergeben können, sondern nur auf konkreten Umständen beruhende vernünftige Zweifel83. Mögliche Zweifel überwinden und sich von etwas überzeugen können heißt zugleich, dies bei sich zuzulassen und zu wollen. Damit gehört zur Urteilstätigkeit nicht nur ein voluntatives Element, sondern auch ein gewisses Maß an Entschlossenheit. Wer überall nur Bedenken trägt, kommt über ein non liquet nicht hinaus. Fehlerhaft ist allerdings die selektive Berücksichtigung nur derjenigen Anhaltspunkte, die dem gewünschten Ergebnis entsprechen. Auch dürfen Zweifel dann nicht unberücksichtigt bleiben, wenn sie sich zu einem für eine vernünftige lebensnahe Betrachtung beachtlichen Grad verdichtet haben84. Da die erreichte Beweisstärke nicht objektiv messbar ist, bleibt es bei der Notwendigkeit einer subjektiven, persönlichen Entscheidung. Der Richter hat die Frage, ob eine tatsächliche Behauptung wahr ist, dann zu bejahen, wenn er als besonnene, gewissenhafte und lebenserfahrene Person aus objektiven

___________ 79 Die erste der vier (der Analysis und Algebra entlehnten) Regeln des Beweises der Wahrheit gemäß Descartes, Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, Leiden 1637, II 7 bis 10; die weiteren (auch für die Rechtsanwendung empfehlenswerten) Regeln sind: Schwierige Probleme in Teilschritten erledigen, vom Einfachen zum Schwierigen fortschreiten und stets prüfen, ob bei der Untersuchung Vollständigkeit erreicht ist. 80 von Groll in Gräber, 6. Aufl. 2006, § 96 FGO Rz. 16; Musielak, JA 2010, 561 (564). 81 BFH, BFH/NV 1987, 560, unter Bezugnahme auf das Anastasia-Urteil des BGH, BGHZ 53, 245 (256), zu § 286 Abs. 1 ZPO. 82 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rz. 92. 83 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rz. 90; Birkenstock, Verfahrensrügen im Strafprozess, Erfolgreiche Rügen zu § 261 StPO Nr. 28; BGH, NStZ 1988, 236. 84 BFH v. 24.3.1987 – VII R 155/85, BFH/NV 1987, 560.

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Gründen die gewonnene Wahrscheinlichkeit als genügend ansieht. Es geht mithin um eine Kombination objektiver und subjektiver Faktoren85. Die subjektive Seite würde überbewertet, wenn es nur um die persönliche Gewissheit ginge. Der Richter hat nicht in seiner Person, sondern in seiner Rolle als Richter überzeugt zu sein86. Kann er in dieser Funktion vorhandene Zweifel nicht überwinden, dann fehlt ihm die erforderliche richterliche Gewissheit, auch wenn er „als wohlwollender Mensch“ dem Zeugen im Interesse eines Beteiligten wohl glauben möchte. Um der Gefahr einer willkürlichen Entscheidung vorzubeugen, muss die Überzeugung des Richters objektiv eine tragfähige tatsächliche Grundlage haben und auf einer logischen, nachvollziehbaren Beweiswürdigung beruhen, die einer rationalen Argumentation standhält. Aneinanderreihungen erhobener Beweise genügen ebenso wenig wie bloße Annahmen oder Intuitionen87. Die Beweiswürdigung ist keine isolierte Bewertung einzelner Vorgänge, sondern es ist eine erschöpfende Gesamtwürdigung vorzunehmen. Das Gericht muss sich vor seiner Entscheidung mit allen naheliegenden Tatsachenalternativen auseinandersetzen, das heißt mit allen Möglichkeiten, die sich mit den gewonnenen Beweisergebnissen ebenso gut vereinbaren lassen88. In logischer Hinsicht muss die Beweiswürdigung folgerichtig, vollständig und widerspruchsfrei sein und darf keine Verwechslungen, Zirkelschlüsse oder sonstige Verstöße gegen Denkgesetze enthalten89. Sie darf keinesfalls nur das Ergebnis eines dunklen Gefühlsprozesses oder allgemeiner Vermutungen sein90. 4. Die Begründung der Entscheidung Durch den Zwang, die Urteilsbegründung schriftlich abzufassen, wird der Richter bereits bei der Sachverhaltsermittlung, aber auch bei der Urteilsberatung zu einem rationalen, durch Tatsachen belegbaren Erkennen angehalten91. Dem Gebot, die richterliche Entscheidung zu begründen, entspricht es nicht, nur dann Gründe zu nennen, wenn dem Zeugen nicht geglaubt wird, etwa weil objektive Tatsachen gegen die Richtigkeit der Aussage sprechen, weil ein Widerspruch zu anderen Zeugenaussagen besteht oder weil der Zeuge ein Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat. Es bedarf ebenfalls einer Begründung dafür, weshalb dem Zeugen geglaubt werden kann und warum das Gericht ihm auch glaubt, mit anderen Worten: mit welchen nachvollziehbaren Gründen es seine Überzeugung gebildet und rationale Zweifel überwunden hat. Nach § 96 Abs. 1 Satz 3 FGO sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Das Urteil muss erkennen lassen, dass alle Umstände, welche die Überzeugungsbildung zu beeinflussen geeig-

___________ 85 86 87 88 89 90 91

Leipold in Stein/Jonas, Bd. 4, § 286 ZPO Rz. 1 ff. Leipold in Stein/Jonas, Bd. 4, § 286 ZPO Rz. 4. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rz. 91. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rz. 100. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, Rz. 102. Leipold in Stein/Jonas, Bd. 4, § 286 ZPO Rz. 17. Julius in Heidelberger Kommentar, § 267 StPO Rz. 1.

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Der Zeugenbeweis im finanzgerichtlichen Verfahren

net sind, erkannt und in die Überlegungen einbezogen wurden92. Die Würdigung einer Zeugenaussage beinhaltet stets eine erschöpfende, sich mit dem unterschiedlichen Beteiligtenvortrag auseinandersetzende Bewertung der Aussage. Dazu muss diese einerseits inhaltlich konkret dargestellt und andererseits mitgeteilt werden, warum das Gericht der Aussage folgt oder warum nicht93. In einem stattgebenden Urteil94, in dem es um den Anteil der Speisen und Getränke ging, die in einem Kölner Altstadtimbiss zum Mitnehmen verkauft wurden, war das Gericht von der Richtigkeit der Einnahmenzuordnung in ermäßigt zu besteuernde und regelbesteuerte Umsätze überzeugt. Es heißt dann in diesem Urteil wörtlich: „Gestützt wird diese Überzeugung zusätzlich durch die glaubwürdige Aussage des Zeugen H in der mündlichen Verhandlung. Der Zeuge erschien in der mündlichen Verhandlung nicht interessengeleitet, da er zu der Klägerin in einem langjährigen, rein arbeitsrechtlichen Verhältnis steht und in den Streitjahren ein Festgehalt bezogen hat, also weder am Umsatz noch am Gewinn beteiligt war. Er hat in glaubhafter Weise erläutert, wie die Einnahmezuordnung durch vorheriges Befragen der Kunden zustande gekommen ist. Die Art der Ausführung der Kasse in den Streitjahren mit verschiedenen Tasten für einen „Im-Haus“- und einen „Außer-Haus“-Verzehr bedingte sogar bei jedem einzelnen Umsatz eine gedankliche Auseinandersetzung mit der streitgegenständlichen Thematik. Erst durch Drücken der jeweiligen Taste wurde der konkrete Umsatz dem Regel- und dem ermäßigten Steuersatz zugeordnet. Insbesondere die einleuchtende Erläuterung des Zeugen, dass wegen der starken Geruchs- und Hitzeentwicklung in dem nur 25 qm großen Imbiss lediglich einer von zehn Kunden im Lokal seine Speisen verzehrt habe, macht das von der Klägerin erklärte Umsatzverhältnis plausibel und in sich schlüssig.“

Nun kann man die Aussageehrlichkeit des langjährigen Angestellten95 anders beurteilen. Auch die äußeren Umstände lassen andere Schlüsse zu: Wenn der Angestellte es trotz der „Geruchs- und Hitzeentwicklung“ Stunden hinter der Theke aushält, könnten die Gäste durchaus vor der Theke ihr Spanferkelbrötchen verzehren sowie Trinkgefäß, Einwegbesteck, Pappteller und Serviette vor Ort zurücklassen, zumal nach dem mitgeteilten Sachverhalt Spielautomaten zum Zeitvertreib vorhanden waren. Ebenso kann man wegen der „gedanklichen Auseinandersetzung mit der streitgegenständlichen Thematik“ beim Bedienen der Kasse folgern, dass die entsprechenden Tasten in „steuersparender“ Weise gedrückt wurden. Leider setzt sich das zitierte Urteil nicht einmal ansatzweise mit diesem Gesichtspunkt auseinander. Es hätte nahe gelegen, dass der Berichterstatter terminsvorbereitend einen Gerichtsprüfer als Augenscheinsgehilfen oder einen sonstigen Gerichtsangehörigen richterassistierend damit beauftragt hätte, abends eine halbe Stunde lang vor Ort zu zählen, wie viele Kunden das Lokal bereits gesättigt verlassen und wie viele den Imbiss oder ein Getränk in den Händen halten, um die

___________ 92 Bender/Nack/Treuer, Rz. 1360; Birkenstock, Erfolgreiche Rügen zu § 261 StPO Nr. 26. 93 Julius in Heidelberger Kommentar, § 261 StPO Rz. 27. 94 FG Köln v. 6.5.2009 – 15 K 1154/05, EFG 2009, 1261. 95 Bender/Nack/Treuer, a.a.O., Rz. 223, empfehlen, vor dem vorauseilend gehorsamen Angestellten den Chef zu vernehmen.

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Serviette und den Pappbecher anschließend in der Altstadt zu entsorgen. Ein derartiges Stichprobenergebnis hätte die Beteiligten nach Erörterung möglicherweise zu einer tatsächlichen Verständigung geführt. Wenn schon der Betriebsprüfer des Beklagten nicht auf diese Ermittlungsidee gekommen ist, hätte zumindest der Prozessvertreter des Beklagten einen diesbezüglichen Beweisantrag stellen können. Die Begründungspflicht gemäß § 96 Abs. 1 Satz 3 FGO hat den Sinn, insbesondere dem unterlegenen Beteiligten die Erwägungen des Gerichts verständlich zu machen, damit er sie auf ihre Richtigkeit überprüfen und die Erfolgschancen eines Rechtsmittels abschätzen kann96. Durch die schriftliche Festlegung werden Schwächen und Leerformeln deutlich, welche die Entscheidungsfindung zwar angreifbar machen, aber damit noch keine Verfahrensrevision eröffnen97. Die Darlegung der Beweiswürdigung in den Urteilsgründen macht das psychologische Phänomen des Überzeugtseins juristisch rational und intersubjektiv vermittelbar. Es muss erkennbar sein, dass eine umfassende Beweiswürdigung in sachgerechter Weise stattgefunden hat98. Für die Begründung eines Urteils genügen keine allgemeinen Redensarten. Die Überzeugung des Gerichts muss zur Selbstprüfung wie zur Fremdkontrolle rational nachvollziehbar begründet werden. Eine vermeintliche Überzeugung, die nicht in dieser Weise begründet werden kann, ist keine taugliche Entscheidungsgrundlage99. Das heißt nicht, dass Intuition und Gefühl ausgeschaltet werden müssen. Sie sind aber mit Denken und Vernunft zu verknüpfen100. Die richterliche Entscheidung findet nicht im Bauch oder im Herzen statt, sondern im Kopf.

V. Zusammenfassung: Worauf ist zu achten? Wer sich das Wissen eines Zeugen zu Nutze machen will, muss diesen ordnungsgemäß in das finanzgerichtliche Verfahren einführen. Dazu muss in der Vorbereitungsphase klar sein und im Beweisantrag deutlich gemacht werden, welche entscheidungserhebliche Tatsache der Zeuge bestätigen kann. Es ist während der Beweisaufnahme darauf zu achten, dass verfügbares Zeugenwissen auch abgefragt wird. Die Zeugenaussage ist unter Beachtung aussagepsychologisch bedeutsamer Begleitumstände so genau wie möglich mitzuschreiben. Protokollierungsmängel sind sofort durch Ergänzungen und Berichtigungen zu beseitigen. Verfahrensfehlerhafte Unterlassungen in der mündlichen Verhandlung sind rechtzeitig zu rügen und zu protokollieren. Die gerichtliche Entscheidung ist daraufhin zu überprüfen, ob der Wahrheitsgehalt einer Zeugenaussage mit rational nachvollziehbaren Gründen bejaht oder verneint wurde.

___________ 96 97 98 99 100

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Schmidt-Troje in Beermann/Gosch, § 96 FGO Rz. 75. von Groll in Gräber, § 96 FGO Rz. 21; Ruban in Gräber, § 115 FGO Rz. 76. Greger in Zöller, 28. Aufl. 2010, § 286 ZPO Rz. 21. Gottwald in Rosenberg u.a., Zivilprozessrecht, § 112 Rz. 3. Hartmann in Baumbach u.a., § 286 ZPO Rz. 4.

Ute Döpfer

„Schweigen ist das am schwersten zu widerlegende Argument“ Anmerkungen zur Bedeutung des Anspruchs auf rechtliches Gehör für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren

Inhaltsübersicht I. Das Operationsfeld II. Rechtliche Brennpunkte 1. Die Selbstanzeige gemäß § 371 AO 2. Die tatsächliche Verständigung 3. Die Schätzung gemäß § 162 AO 4. Die Einlassung des Beschuldigten/ der Beschuldigten im Steuerstrafverfahren III. Die Streck’sche Methode

1. Die Selbstanzeigeberatung 2. Das Aushandeln einer tatsächlichen Verständigung 3. Aktive Einflussnahme auf eine Schätzung 4. Die Einlassung im Steuerstrafverfahren IV. Die kritische Perspektive der Strafverteidigerin

I. Das Operationsfeld Die Frage nach der Bedeutung des Anspruchs auf rechtliches Gehör für die Strafverteidigung – egal auf welchem Rechtsgebiet des Strafrechts – zu stellen, mag auf den ersten Blick als eine petitio principii anmuten. Da es für das Rechtsinstitut der Strafverteidigung keine eigene Rechtsgrundlage im Grundgesetz seit 1949 gibt, stellt Artikel 103 Abs. 1 GG als das Basisverfahrensgrundrecht in der Verfassung die rechtliche Grundlage für die Verteidigung und das Recht auf Verteidigung in jedem Strafverfahren dar1, so die Ausgangsposition, von der aus hier argumentiert wird. Aus zwei Gründen ist eine petitio principii gleichwohl nicht gegeben: 1. Die Basisnorm für den Anspruch auf rechtliches Gehör im gerichtlichen Verfahren, Artikel 103 Abs. 1 GG, gibt diesen Anspruch lediglich dem Beschuldigten, nicht jedoch der Verteidigung selbst, zumindest nicht de lege lata. 2. Im Steuerstrafprozess gelten die gesetzlichen Spezialvorschriften der Abgabenordnung (künftig: AO) zu Artikel 103 Abs. 1 GG, namentlich die §§ 93, 293, 393 AO nach der herrschenden Meinung in der Literatur nicht, da die Mitwirkungspflicht des Beschuldigten aus dem materiellen Besteuerungsverfahren im Steuerstrafverfahren entfällt. Rein rechtsdogmatisch muss daher die Frage nach dem spezialgesetzlichen Einfallstor für den Anspruch

___________ 1 S. dazu Döpfer, Strafverteidigung im Prisma, Sonderdruck der Juristischen Fakultät der FU Berlin, April/Mai 2008, 32 ff.

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auf rechtliches Gehör bereits für den Beschuldigten im Steuerstrafverfahren gestellt werden. Wenn man von der These ausgeht, dass das Institut der Strafverteidigung im Kern die Verkörperung und Personalisierung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Artikel 103 Abs. 1 GG in jedwedem Strafverfahren gerade für den Beschuldigten ist, also auch im Steuerstrafverfahren, wird offenkundig, wohin dieser Beitrag zielt. Er dient der Analyse und Darstellung von strukturellen und methodischen Voraussetzungen der Verteidigung im Steuerstrafverfahren in Theorie und praktischer Anwaltstätigkeit. Derjenige, dem dieser Beitrag gewidmet ist, ist der lebende und personale Beweis, gleichsam die Personifizierung dieser These. – Was heißt das? Nichts anderes, als dass der Bedeutungsgehalt und der Praxisbezug der nun folgenden Ausführungen sich an der wissenschaftlichen und praktischen Tätigkeit des verehrten und lieben Jubilars werden messen lassen müssen. Sie wollen dies auch! Das vorliegende Operationsfeld ergibt sich aus zwei Seiten institutioneller Gegebenheiten: Die erste Seite ist die der Steuerfahndung, die nach den §§ 208, 404 AO eine Doppelfunktion hat: Sie ist Behörde des materiellen Steuerrechts mit den Aufgaben des Finanzamts; zugleich ist sie Strafverfolgungsbehörde im Bereich des Steuerstrafrechts und damit Ermittlungsorgan (früher: Gehilfin) der Staatsanwaltschaft. Sie bewegt sich damit in zwei unterschiedlichen Rechtsgebieten: dem materiellen Steuerrecht und dem Steuerstrafrecht. Verfahrensmäßig ist sie deshalb sowohl durch die Abgabenordnung als auch durch die Strafprozessordnung in ihren Befugnissen und Eingriffsmöglichkeiten bestimmt. Die andere Seite ist die anwaltliche Beratung und Vertretung in Steuerrecht und Steuerstrafrecht: Hier handelt es sich einerseits um den steuerlichen Berater und andererseits um den Strafverteidiger im Steuerstrafverfahren.

II. Rechtliche Brennpunkte Nachdem soeben unter Ziffer I. das Operationsfeld umrissen und strukturiert worden ist, in dem sich der vorliegende Beitrag bewegt, das heißt, das Grenzgebiet zwischen materiellem Steuerrecht, Strafrecht, Abgabenordnung und Strafprozessordnung, soll nun eine Darstellung der Bedeutung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in diesem Grenzgebiet für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren anhand einzelner gesetzlicher und in der Rechtsprechung entwickelter Rechtsfiguren konkret erfolgen. Es handelt sich hierbei um die Selbstanzeige gemäß § 371 AO, die tatsächliche Verständigung gemäß Urteil des BFH vom 11.12.1984, die Schätzung gemäß § 162 AO; sowie die Einlassung des Beschuldigten/der Beschuldigten im Steuerstrafverfahren gemäß § 91 AO, § 136 StPO. Diesen vier Rechtsfiguren ist gemeinsam, dass es sich um institutionalisierte Äußerungsrechte des Beschuldigten/der Beschuldigten im Steuerstrafverfahren handelt, die allesamt eine Konkretisierung des Verfahrensgrundrechts aus Artikel 103 Abs. 1 GG darstellen und beinhalten. Dabei kommen diese vier Rechtsfiguren für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten vor bzw. während des Steuerstrafverfahrens zur Wirkung. 486

„Schweigen ist das am schwersten zu widerlegende Argument“

1. Die Selbstanzeige gemäß § 371 AO Hierbei handelt es sich um eine hochformalisierte, an enge formelle und inhaltliche Voraussetzungen gebundene schriftliche Form der Stellungnahme, noch vor Beginn eines Steuerstrafverfahrens oder Steuerermittlungsverfahrens (s. dazu die Voraussetzungen in § 371 AO). Für die Verteidigung ist die Rechtsfigur der Selbstanzeige dann das Mittel der Wahl, wenn der Mandant über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, um die errechnete Steuerschuld umgehend zu begleichen, zuzüglich angefallener Verzugszinsen; die Selbstanzeige entfaltet dann strafbefreiende Wirkung. Sie ist damit ein objektives Strafverfolgungshindernis. Aufgrund der für die Selbstanzeige vorgesehenen schriftlichen Form und der in ihr aufzuführenden ausführlichen steuerlichen Bemessungsgrundlagen, Festsetzungen und Berechnungen birgt die Erstattung der Selbstanzeige als Ausdruck des Anspruchs auf rechtliches Gehör, in diesem Fall vor Beginn eines Steuerermittlungsverfahrens, nicht unerhebliche Risiken für die Mandantschaft, für den Fall, dass die Selbstanzeige aufgrund fehlender inhaltlicher und formeller Voraussetzungen als unwirksam bewertet wird. Die einmal eingereichte Selbstanzeige des Steuerpflichtigen durchbricht sein Schweigerecht gemäß § 136 StPO i.V.m. § 293 AO. Auch unvollständige oder fehlerhafte Angaben in der nunmehr eingereichten Selbstanzeige, die möglicherweise wirkungslos ist, unterfallen damit dem Bewertungsbereich des strafprozessualen Teilschweigens in der BGH-Rechtsprechung2. Auch die unvollständigen und nicht für eine wirksame Selbstanzeige geeigneten oder gar falschen Angaben in dem Schriftsatz können nunmehr durch die Steuerfahndung zum Nachteil des späteren Beschuldigten in einem künftig noch einzuleitenden Steuerstrafverfahren verwertet werden. – „si tacuisses“ – nirgendwo zeigt sich die Ambivalenz des Anspruchs auf rechtliches Gehör für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren brennglasartig konzentrierter als im Institut der Selbstanzeige gemäß § 371 AO. 2. Die tatsächliche Verständigung In einem späteren Stadium des Steuerstrafverfahrens ist die tatsächliche Verständigung nicht weniger gewichtig in der Wirkung auf den Gang des bereits eingeleiteten Steuerstrafverfahrens als die Selbstanzeige in ihrer Wirkung auf ein künftiges Steuerstrafverfahren, jedoch kalkulierbarer in den Auswirkungen, da nicht an solche engen formalen und schriftlichen Voraussetzungen gebunden wie die Selbstanzeige (s.o. Ziffer II.1.). In ihrer Handhabung durch die Verteidigung im Steuerstrafverfahren ist profunde Aktenkenntnis, eine umfassende Information über den Sachverhalt durch die Mandantschaft gegenüber dem Steuerstrafverteidiger/der Steuerstrafverteidigerin und meistens eine sehr intensive gute Zusammenarbeit mit dem steuerlichen Berater der Mandantschaft unerlässlich und notwendig3. Gerade aufgrund ihrer informellen Voraussetzungen, jedenfalls bis zu ihrer schriftlichen Fixierung und Unterschrift durch die Steuerfahndung und die Steuerpflichtigen, ist die tatsächliche Verständigung jedoch noch mehr als die Selbstanzeige Quelle von Re-

___________ 2 S. grundlegend BGHSt 20, 298 ff.; 32, 140 ff. 3 S. Streck/Spatscheck, Die Steuerfahndung, 4. Aufl. 2004, Rz. 50 f.

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gress- und Haftungsansprüchen gegenüber der Steuerstrafverteidigung für den Fall fehlerhafter Beratung und Vertretung der Mandantschaft bei ihrem Zustandekommen. Die wirksame tatsächliche Verständigung in Form einer Paketlösung beendet sowohl das materielle Besteuerungsverfahren als auch das Steuerstrafverfahren, letzteres grundsätzlich im Wege der §§ 153 oder 153a StPO, das heißt der Verfahrenseinstellung mit oder ohne Auflagen. Eine fehlgeschlagene tatsächliche Verständigung birgt jedoch in den Verhandlungsinhalten – ebenso wie die unwirksame Selbstanzeige – die Gefahr, zulasten der Mandantschaft einen Übergang in den bewertbaren Bereich des Teilschweigens zu verursachen. Hierbei haben fehlgeschlagene Verhandlungen zu einer tatsächlichen Verständigung dieselbe für die Mandantschaft negative Wirkung wie eine unwirksame steuerstrafrechtliche Selbstanzeige gemäß § 371 AO. 3. Die Schätzung gemäß § 162 AO Meistens im Rahmen einer tatsächlichen Verständigung kann in einem Steuerermittlungsverfahren für die Verteidigung das Institut der Schätzung gemäß § 162 AO und die Einflussnahme auf die Ausgestaltung dieser Schätzung im bestmöglichen Interesse der Mandantschaft von Bedeutung sein4. Das von der Verteidigung zu rechtlichem Gehör zu Bringende im Rahmen der Durchführung einer Schätzung bezieht sich grundsätzlich auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein objektiver Besteuerungsgrundlagen und ergänzender Fakten hierzu. Bei der Stellungnahme zu einer Schätzung durch die Verteidigung handelt es sich um ein sehr eng begrenztes, sachlich bedingtes Anwendungsgebiet des Anspruchs auf rechtliches Gehör für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren. Gleichwohl ist auch dieser eng begrenzte objektive Bereich wirksam und von immenser Wichtigkeit für den Ausgang sowohl eines Steuerstrafverfahrens, wo sich die Strafzumessung wesentlich nach der Höhe der hinterzogenen Steuerschuld richtet, als auch für die Beendigung eines materiellen Besteuerungsverfahrens, die wesentlich davon abhängt, dass der Mandant in der Lage ist, die errechnete oder geschätzte Steuerschuld auch tatsächlich gegenüber dem Finanzamt zu begleichen. Die Verteidigung im Steuerstrafverfahren sollte es sich also beispielsweise im Rahmen einer tatsächlichen Verständigung nicht nehmen lassen, gerade zu einer Schätzung inhaltlich Stellung zum Nutzen des Beschuldigten zu nehmen. 4. Die Einlassung des Beschuldigten/der Beschuldigten im Steuerstrafverfahren Gemäß §§ 136 Abs. 1 und 2, 258 Abs. 1 StPO, §§ 91, 293 AO gibt es im Rahmen des Steuerstrafverfahrens unterschiedliche formale Zeitpunkte, den Standpunkt des Beschuldigten im Steuerstrafverfahren in schriftlicher oder mündlicher Stellungnahme zu Gehör zu bringen. Das Steuerstrafverfahren ist dabei dem allgemeinen Strafverfahren, das ausschließlich nach der StPO geregelt ist, was das Stellungnahmerecht des Beschuldigten angeht, bei weitem

___________ 4 S. hierzu Streck/Spatscheck, Die Steuerfahndung, Rz. 200 ff.

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„Schweigen ist das am schwersten zu widerlegende Argument“

überlegen, indem es spezielle Anhörungs- und Abschlussbesprechungstermine vorsieht (§§ 91, 201, 364a AO). Die Übernahme solcher Besprechungstermine in die StPO war oft Gegenstand von Reformvorschlägen in den vergangenen Jahrzehnten, ohne tatsächlich Eingang in die StPO zu finden. Lediglich § 257b StPO, der ein förmliches Rechtsgespräch im allgemeinen Strafverfahren vorsieht, ist eine Variante zu solchen formalisierten Besprechungsterminen in der Strafprozessordnung. Den vier unter Ziffer II.1–4. dargelegten rechtlichen Brennpunkten der Geltendmachung des Anspruchs auf rechtliches Gehör für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren ist gemeinsam, dass es neben der Erfüllung ihrer jeweiligen rechtlichen Voraussetzungen ihrer Ausfüllung durch das kommunikative Potential des jeweiligen Verteidigers/der Verteidigerin bedarf, um die Interessen der Mandantschaft im Steuerstrafverfahren bestmöglich zur Geltung bringen zu können.

III. Die Streck’sche Methode „Schweigen ist das am schwersten zu widerlegende Argument“, so der Leitspruch des Steuerstrafverteidigers Michael Streck, der in seinem Beratungszimmer gut lesbar für die Mandantschaft an der Wand hängt5. Ein weiterer Merkspruch des Jubilars lautet: Es ist notwendig, sowohl die Sprache der Mandanten als auch die der Steuerbehörden zu sprechen, wenn es um Verteidigung im Steuerstrafverfahren geht. Was bedeuten diese Leitsätze des Jubilars für die zu behandelnde Problematik, was bedeuten sie im Rahmen des vorliegenden Operationsfeldes (s. dazu oben Ziffer I.)? Steuerstrafverteidigung bedeutet vom ersten Augenblick der Mandatsübernahme an, unabhängig davon, ob bereits ein förmliches Ermittlungsverfahren begonnen hat oder ob lediglich eine Beratung zum Beispiel in Bezug auf die Möglichkeit einer Selbstanzeige gefragt ist, aktiv Informationen im vorliegenden Fall zu sammeln und Kommunikation zu betreiben. Aktiv bedeutet: sachgerecht, zielorientiert und juristisch absolut präzise und punktgenau. Um diese Qualität zu gewährleisten, ist der Jubilar auch nicht davor zurückgeschreckt, die „spezifisch weibliche“ Perspektive mit in das Boot der Steuerstrafverteidigung einzubeziehen. Diese bedeutet aus Sicht des verehrten Jubilars eine kreative Bereicherung des Spektrums rein männlicher Kommunikationsstrategien. Dem damit verbundenen Zugewinn an kritischem Potential gegenüber typisch männlichen Kommunikationsmustern6 stellt sich der Jubilar – grundsätzlich – gerne und mit Charme7.

___________ 5 Streck/Spatscheck, Die Steuerfahndung, Rz. 65 ff. 6 S. dazu Döpfer, Möglichkeiten und Grenzen der Verteidigerin im Strafverfahren, in: AnwBl 2002, 192–194. 7 Auf den Jubilar geht die Gründung der ARGE Rechtsanwältinnen im DAV in 2002 zurück. Dem Argument, dass Anwältinnen sich im praktischen Berufsalltag gleichermaßen mit Kolleginnen wie mit Kollegen auseinandersetzen müssen und dies nicht in einem rein weiblichen Schutzgehege wie der ARGE Anwältinnen realitätsgetreu üben können, begegnete der Jubilar mit Schweigen.

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Konkret für die unter Ziffer II. dargelegten einzelnen dogmatischen Institute bedeutet die Streck’sche Methode: 1. Die Selbstanzeigeberatung In der Beratungspraxis für die Möglichkeit der Selbstanzeige gemäß § 371 AO zur Einleitung eines förmlichen Steuerermittlungsverfahrens ist von dem Jubilar immer wieder nachdrücklich darauf hingewiesen worden, dass eng umrissene Voraussetzungen vorliegen müssen und zwei Grundabwägungen getroffen werden müssen. Eine Grundvoraussetzung ist, dass genügend finanzielle Mittel auf Seiten des potentiellen Beschuldigten vorhanden sind, um die nach der Selbstanzeige geschuldete Steuerzahlung einschließlich der angefallenen Verzugszinsen zu bewirken. Die zwei Grundabwägungen lauten: Wird die Selbstanzeige noch erfolgreich sein, weil der Sachverhalt noch nicht durch die Steuerfahndung ermittelt ist? – und zudem: Ist das Risiko der Einleitung eines noch nicht begonnenen Steuerermittlungsverfahrens so naheliegend, dass ihm aus wirtschaftlichen und persönlichen Erwägungen mit der Erstattung einer Selbstanzeige nur noch wirksam begegnet werden kann? Nur wenn es möglich ist, nach umfassenden Gesprächen mit der Mandantschaft und Kenntnis des Aktenmaterials der Mandantschaft entsprechend eine Selbstanzeige in schriftlicher Form zu formulieren, die bis in alle Einzelheiten präzise und genau tatsächlich die ausstehende Steuerschuld berechnen lässt und dadurch zwangsläufig zur Straffreiheit der Mandantschaft führt, rät der Jubilar zur Erstattung einer solchen Selbstanzeige. Sofern diese präzise und in allen Details berechnete Form der Geltendmachung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß § 371 AO aus irgendwelchen Gründen nicht möglich ist, rät der Jubilar grundsätzlich hiervon ab. Die Geltendmachung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Besteuerungsverfahren an der Nahtstelle zum Steuerstrafverfahren gemäß § 371 AO in der Gestalt der hochformalisierten schriftlichen Selbstanzeige ist also keinesfalls um jeden Preis ratsam. Zu viele Rechte des Beschuldigten im Strafverfahren können durch eine fehlerhafte Form der Selbstanzeige vereitelt werden, zumeist unwiederbringlich. Die Streck’sche Methode will genau dieses verhindern. 2. Das Aushandeln einer tatsächlichen Verständigung Das Verhandeln einer tatsächlichen Verständigung im Rahmen eines Steuerstrafverfahrens, die möglichst im Wege einer Paketlösung der Beendigung sowohl des Steuerstrafverfahrens als auch des Besteuerungsverfahrens dient, gilt dem Jubilar als die hohe Schule der Steuerstrafverteidigung und als Königsweg der Ausübung des rechtlichen Gehörs im Steuerstrafverfahren. Seit der Anerkennung der tatsächlichen Verständigung im Steuerstrafverfahren durch die Entscheidung des Bundesfinanzhofs von 1984 hat sich der Jubilar vielfach zu diesem Rechtsinstitut und Instrument der Verteidigung im Steuerstrafverfahren geäußert8. Diesen Äußerungen ist zu entnehmen, dass es sich hierbei gleichsam um das Florett der Verteidigung im Steuerstrafverfahren

___________ 8 Streck/Spatschek, Die Steuerfahndung, Rz. 828 ff. m.w.N.

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handelt. Fingerspitzengefühl, Sensibilität und Offenheit für den Standpunkt der Gegenseite, das heißt der Steuerfahndung und der Finanzbehörden sowie der BuStra, profunde Kenntnis des materiellen Steuerrechts wie der Strafprozessordnung und des Akteninhalts, sowie Kreativität in den Grenzen des Rechts, wird Streck nicht müde, immer wieder für diesen Bereich der Steuerstrafverteidigung anzufordern. „Eine Verständigung aus Inkompetenz ist tödlich“, so ein weiterer Leitsatz der Streck’schen Methode im Bereich der tatsächlichen Verständigung im Steuerstrafverfahren. 3. Aktive Einflussnahme auf eine Schätzung Selbst für die Einflussnahme auf eine steuerliche Schätzung gemäß § 162 AO als Element der Steuerstrafverteidigung, wird Streck nicht müde einzufordern, dass hier in profunder Kenntnis der materiellen Rechtsgrundlagen der Besteuerung, die Besteuerungsgrundlagen intensiv und präzise durch den Verteidiger analysiert werden müssen, um gegenüber der Steuerfahndung zu einer möglichen Schätzung Stellung nehmen zu können9. „Steuerstrafverteidigung findet im objektiven Tatbestand statt“, so ein vierter Leitsatz des Jubilars für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren. 4. Die Einlassung im Steuerstrafverfahren Was schließlich die Einlassung des Beschuldigten/der Beschuldigten im Steuerstrafverfahren angeht, so fordert der Jubilar zweierlei ein: keine Einlassung ohne vorherige profunde Aktenkenntnis und erste Gespräche zur Bewertung des Akteninhalts mit der Steuerfahndung und der BuStra. Im Übrigen: Wenn eine Einlassung abgegeben werden soll, dann nach Möglichkeit in schriftlicher Form, die Anforderung eines Fragenkatalogs von der BuStra kann hier hilfreich sein. Im Vordergrund sollten hier detaillierte und präzise Angaben zum objektiven Tatbestand der Vorwürfe gemacht werden, das heißt zu den materiell-steuerrechtlichen Voraussetzungen für die Entstehung und das Fortbestehen der geltend gemachten Steuerforderung.

IV. Die kritische Perspektive der Strafverteidigerin Nach dem vorstehend zu Ziffer II. und III. Ausgeführten gilt grundsätzlich: Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist Grundlage nicht nur für die Strafverteidigung allgemein10, sondern auch und gerade für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren, das heißt, in dem ganz spezifischen Grenzstreifen zwischen Strafprozessrecht, allgemeinem Strafrecht und Abgabenordnung, sowie den materiellen Steuergesetzen, der durch §§ 370 ff. AO umrissen wird. Dies gilt sowohl methodisch wie inhaltlich, als auch rechtsdogmatisch. Methodisch gilt dies, weil der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß der lex generalis des Artikels 103 Abs. 1 GG i.V.m. mit den leges speciales der §§ 91, 394a AO beinhaltet, dass die Einflussnahme des Beschuldigten auf den Gang des

___________ 9 Streck/Spatschek, Die Steuerfahndung, Rz. 1317 ff. 10 S. dazu Döpfer, Strafverteidigung im Prisma (Fn. 1).

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Steuerstrafverfahrens vom Beginn der Ermittlungen an und sogar noch davor, nämlich im Wege der Selbstanzeige gemäß § 371 AO sichergestellt sein soll. Genau diese Einflussnahme auf den Gang des Strafverfahrens ist aber Sinn und Zweck von Strafverteidigung, sofern sie im besten Interesse des Beschuldigten, das heißt der Mandantschaft, erfolgt11. Inhaltlich gilt dies, weil gerade durch die Zu-Gehör-Bringung der Standpunkte des Beschuldigten im Steuerstrafverfahren neue Inhalte in das Verfahren eingeführt werden, die dazu dienen, die Blankettvorschrift des § 370 AO (Steuerhinterziehung) im objektiven und subjektiven Tatbestand auszufüllen und dadurch eine Zurechnung zu dem Beschuldigten zu ermöglichen oder – bestenfalls – zu verhindern. Rechtsdogmatisch gilt dies, weil das Recht auf Strafverteidigung positivrechtlich de lege lata lediglich in den §§ 137–148 StPO einfach-gesetzlich verankert ist. Eine tiefergehende dogmatische Ableitung fehlt im deutschen Recht. Die Rückführung des Rechts auf Strafverteidigung auf Artikel 103 Abs. 1 GG, der Basisnorm für den Anspruch auf rechtliches Gehör im Strafverfahren, ist daher konsequent und erforderlich, um das Recht auf Strafverteidigung sowohl institutionell als auch funktional in der deutschen Rechtsdogmatik zu begründen und abzusichern – im besten Interesse der Mandantschaft. Eines darf aber bei aller methodischen, inhaltlichen und rechtsdogmatischen Relevanz des Anspruchs auf rechtliches Gehör für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren niemals vergessen werden: „Schweigen ist das am schwersten widerlegbare Argument“, so der bereits zuvor unter Ziffer III. zitierte Leitspruch des Jubilars für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren12. Dies bedeutet, dass das Schweigerecht des Mandanten niemals durch den Anspruch auf rechtliches Gehör und seine Bedeutung für die Verteidigung im Steuerstrafverfahren blind überrannt werden darf. Hier bedarf es sorgfältiger Abwägung, was im Einzelfall der anzuratende Weg für die Verteidigung, das heißt für die Verteidigungsstrategie, ist. Der nemo-tenetur-se-ipsum-laedere-Grundsatz des § 136a StPO gilt auch im Steuerstrafverfahren, wenn auch nur auf dem Umweg über eine nicht mit Zwangsmitteln durchsetzbare Mitwirkungspflicht gemäß §§ 90, 393 AO während der Dauer des Steuerstrafverfahrens13. Der Soziologe Paul Watzlawick hat als Kernsatz seiner Theorie zum Begriff der Kommunikation mit von dem Jubilar so sehr geschätzter eindringlicher Klarheit festgehalten: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“14 Das heißt, der scheinbare Widerspruch, das Paradox, löst sich auf, wenn man sich mit Watzlawick als Verteidiger/Verteidigerin im Strafstrafverfahren klar macht, dass auch Schweigen eine Art ist, hier treffend die Mandantschaft in bestmöglicher Weise zu Gehör zu bringen. Es bedarf hier sorgfältiger Abwägung und umsichtiger und umfassender Beratung der Mandantschaft durch die Verteidigung im Steuerstrafverfahren, welcher Weg zu wählen ist. Dies kann bei einem bisher lediglich erwarteten Steuerstrafverfahren, zu dem es bisher keinen Einleitungsvermerk gemäß § 397 AO gibt, die Erstattung einer Selbstanzeige bedeu-

___________ 11 S. zu diesem Verständnis von Strafverteidigung Dahs, Handbuch der Strafverteidigung, 7. Aufl. 2010, Rz. 201 ff. 12 S. oben, unter Ziffer III. 13 S. dazu Streck/Spatscheck, Die Steuerfahndung, Rz. 65 ff. 14 Paul Watzlawick, Kommunikation, 1963, S. 65 f.

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„Schweigen ist das am schwersten zu widerlegende Argument“

ten (s. dazu oben, Ziffer II.2). Es kann im laufenden Steuerermittlungsverfahren den Abschluss im Wege einer tatsächlichen Verständigung gemäß Urteil des BFH vom 11.12.1984 bedeuten15, bei der im Wege der Paketlösung sowohl die Beendigung des materiellen Besteuerungsverfahrens als auch des Steuerstrafverfahrens erreicht wird, sofern die Mandantschaft in der Lage ist, die geschuldete Steuersumme ad hoc zu bezahlen. Es kann bedeuten, sich im laufenden Steuerstrafverfahren an Gesprächen über eine Schätzung in Bezug auf die geschuldete Steuerschuld von Seiten der Steuerstrafverteidigung aktiv einzuschalten. Und schließlich ist die Beratung zu dem Einlassungsverhalten des Beschuldigten in Bezug auf eine Aussage oder ein komplettes Schweigen aktive Ausübung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in methodischer, inhaltlicher und rechtsdogmatischer Hinsicht durch die Verteidigung im Steuerstrafverfahren. Mit anderen Worten: Verteidigung im Steuerstrafverfahren ist die aktive, wohl überlegte und gut gegenüber anderen Verfahrensgrundsätzen, wie z.B. der Unschuldsvermutung, abgegrenzte Ausübung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im besten Interesse der Mandantschaft. Dies hat, wie der Jubilar nur zu gut weiß, nichts mit großen Worten, wehender Robe und persönlicher (auch im Sinne von männlicher/weiblicher) Eitelkeit zu tun. Es betrifft umso mehr persönliche Kompetenz, Sachkenntnis und kommunikatives Potential.

___________ 15 BFH v. 11.12.1984 – VIII R 131/76, BStBl. II 1985, 354.

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Internationale Verrechnungspreise und das Steuerstrafrecht Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Ermittlung der Verrechnungspreise nach dem Fremdvergleichsgrundsatz 1. Überblick über die Rechtsgrundlagen der internationalen Einkünfteabgrenzung 2. Funktions- und Risikoanalyse als Ausgangspunkt 3. Bandbreitenbetrachtung 4. Arten des Fremdvergleichs a) Tatsächlicher Fremdvergleich b) Hypothetischer Fremdvergleich 5. Methoden der Verrechnungspreisermittlung a) Rangfolge b) Standardmethoden aa) Preisvergleichsmethode bb) Wiederverkaufspreismethode cc) Kostenaufschlagsmethode c) Gewinnorientierte Methoden 6. Zwischenergebnis III. Verfahrensrechtliche Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen 1. Erweiterte Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen gemäß § 90 Abs. 2 AO 2. Dokumentationsverpflichtung gemäß § 90 Abs. 3 AO

3. Sanktionen bei einer Verletzung der Dokumentationspflichten IV. Unangemessene Verrechnungspreise als Steuerhinterziehung 1. Tatbestandsvoraussetzungen einer Steuerhinterziehung im Allgemeinen 2. Verrechnungspreise und objektiver Tatbestand der Steuerhinterziehung a) Steuerhinterziehung durch „unrichtige oder unvollständige Angaben“ b) Steuerhinterziehung durch „Unterlassen“ c) Zwischenergebnis 3. Verrechnungspreise und subjektiver Tatbestand der Steuerhinterziehung a) Vorsätzliche Steuerverkürzung b) Steuerverkürzung durch Leichtfertigkeit c) Zwischenergebnis 4. Praxisprobleme mit steuerstrafrechtlichem Bezug a) Rückdatierung von Verträgen b) Mündliche Vereinbarungen V. Fazit

I. Einleitung Nach Einschätzung der OECD wird mittlerweile ein Großteil des Welthandels zwischen international verbundenen Unternehmen abgewickelt. Tendenziell wird dieser Anteil aufgrund der zunehmenden Globalisierung und Internationalisierung der Wirtschaft einerseits sowie fortschreitender internationaler Unternehmenszusammenschlüsse andererseits weiter steigen1.

___________ 1 Vgl. Boos/Rehkugler/Tucha, DB 2000, 2389.

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Als international verbundene Unternehmen sind rechtlich selbstständige, in verschiedenen Staaten ansässige Unternehmen zu verstehen, die einem Konzernverbund angehören. Dabei ist – nach dem Trennungsprinzip – für jedes verbundene Unternehmen nach den jeweiligen Gewinnermittlungsvorschriften seines Ansässigkeitsstaates die steuerliche Bemessungsgrundlage zu ermitteln. Diese wird maßgeblich durch konzerninterne Lieferungs- und Leistungsverrechnungen determiniert, wobei das für die konzerninternen Lieferungs- und Leistungsbeziehungen angesetzte Entgelt als „Verrechnungspreis“ oder „Transferpreis“ bezeichnet wird. Im Gegensatz zum Marktpreis, der sich im freien Wettbewerb am Markt durch das Zusammenwirken von Angebot und Nachfrage ergibt, ist der Verrechnungspreis das Ergebnis zweckorientierter Leistungsbewertung innerhalb eines Konzerns2. Dementsprechend können international agierende Konzerne im Interesse einer möglichst geringen Konzernsteuerquote geneigt sein, durch die zielorientierte Festlegung ihrer Verrechnungspreise das internationale Steuergefälle zum Zwecke der Einkünfteverlagerung in Länder mit vergleichsweise niedrigeren Steuersätzen zu nutzen3. Solchen steuerlich motivierten Einkünfteverlagerungen ins Ausland stehen indessen die fiskalischen Interessen der Ansässigkeitsstaaten der Konzerngesellschaften gegenüber. Aus diesem Grund steht die Angemessenheit von Verrechnungspreisen zunehmend im Fokus der (Betriebs-)Prüfung durch die internationalen Finanzbehörden. Dabei ist international anerkannt, dass sich die Ermittlung und Dokumentation von Verrechnungspreisen am Grundsatz des Fremdvergleichs („dealing at arm’s length“-Prinzip) auszurichten hat4. Nach diesem Maßstab sind die Verrechnungspreise zwischen verbundenen Unternehmen so zu gestalten, wie sie auch am Markt zwischen fremden Dritten unter vergleichbaren Umständen vereinbart worden wären. In der Verrechnungspreispraxis der letzten Jahre haben steuerstrafrechtliche Gesichtspunkte eine untergeordnete Rolle gespielt; sie waren auf absolute Extrem- und Ausnahmefälle beschränkt. Dies insbesondere deswegen, weil die Bestimmung angemessener Verrechnungspreise von zahlreichen Einflussfaktoren abhängig ist, sodass in der Verrechnungspreispraxis regelmäßig nur Bandbreiten von Verrechnungspreisen bestimmt werden können5. Dies eröffnet dem Steuerpflichtigen Ermessenspielräume, die grundsätzlich auch von der Finanzverwaltung anzuerkennen sind6.

___________ 2 Davon zu unterscheiden sind Verrechnungspreise zwischen Kostenstellen eines Unternehmens bzw. zwischen Stammhaus und Betriebsstätte. Vgl. dazu im Einzelnen Ditz, Internationale Gewinnabgrenzung bei Betriebsstätten, 2004, S. 261 ff. 3 Zu den Auswirkungen der Verrechnungspreispolitik auf die Konzernsteuerquoten vgl. Herzig/Dempfle, DB 2002, 6 f.; Baumhoff, IStR 2003, 4 f. 4 Vgl. aus deutscher Sicht nur § 1 Abs. 1 AStG; BMF v. 23.2.1983 – IV C 5 - S 1341 4/83, BStBl. I 1983, 218, nachfolgend: „VWG 1983“, Tz. 2.1.1. und international OECD Transfer Pricing Guidelines for multinational Enterprises and Tax administrations (im Folgenden OECD-Guidelines 1995/96) 1995 Kapitel 1. 5 Vgl. Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2005, 1554; Baumhoff in FS Wassermeyer, 2005, S. 348 ff.; Schwedhelm in Streck, KStG, 2008, Rz. 270. 6 Vgl. zur Anerkennung von Preisbandbreiten durch die Finanzverwaltung auch VWG 1983, Tz. 2.1.8 und 2.1.9; BMF v. 26.2.2004 – IV B 4 - S 1300 - 12/04, BStBl. I 2004, 270.

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Internationale Verrechnungspreise und das Steuerstrafrecht

Gleichwohl ist unzweifelhaft, dass die steuerstrafrechtlichen Normen der §§ 369 ff. AO generell auch in Verrechnungspreisfragen Anwendung finden können. So weist auch die Finanzverwaltung in den sog. VWG-Verfahren7 explizit darauf hin, dass die Durchführung eines Straf- oder Ordnungswidrigkeitsverfahrens nach §§ 369 ff. AO in Frage kommt, wenn der Steuerpflichtige seinen Mitwirkungspflichten nach § 90 Abs. 1 bis 3 AO nicht oder nicht vollständig nachkommt. Dies sei insbesondere dann der Fall, „wenn dem Steuerpflichtigen zum Zeitpunkt der Verrechnungspreisfestsetzung zuverlässige Fremdvergleichspreise bekannt waren, er diese aus Gründen der Steuerersparnis nicht verwendet hat, oder bei einer Verletzung der Berichtigungspflicht nach § 153 AO“8. Diese Verlautbarung der Finanzverwaltung lässt vermuten, dass die Thematik „Internationale Verrechungspreise und Steuerstrafrecht“ zukünftig an Bedeutung gewinnen wird9.

II. Ermittlung der Verrechnungspreise nach dem Fremdvergleichsgrundsatz 1. Überblick über die Rechtsgrundlagen der internationalen Einkünfteabgrenzung Im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung von Konzernunternehmen werden konzerninterne Lieferungs- und Leistungsbeziehungen mit steuerlicher Wirkung grundsätzlich anerkannt. Die für die Abrechnung dieser Lieferungs- und Leistungsbeziehungen der Höhe nach angesetzten Verrechnungspreise werden indessen durch die Finanzbehörden nur dann akzeptiert, wenn sie dem Grundsatz des Fremdvergleichs entsprechen. Der Fremdvergleichsgrundsatz ist im deutschen Steuerrecht in den folgenden Vorschriften kodifiziert: – verdeckte Gewinnausschüttung im Sinne des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG; – verdeckte Einlage im Sinne des § 8 Abs. 3 Satz 3 KStG; – Einkünftekorrektur nach § 1 AStG sowie – die dem Art. 9 OECD-MA entsprechenden Vorschriften der deutschen Doppelbesteuerungsabkommen. Den vorstehenden Vorschriften ist es gemeinsam, dass sie im Hinblick auf die Ermittlung von Verrechnungspreisen auf den Maßstab des Fremdvergleichs verweisen und dabei dem Zweck dienen, eine von diesem abweichende Verrechnungspreisfestsetzung zu korrigieren. Die steuerliche Prüfung der Verrechnungspreise soll wiederum durch spezielle Vorschriften zur Dokumentation von Verrechnungspreisen ermöglicht werden. Hierbei handelt es sich insbesondere um § 90 Abs. 2 und 3 AO, die Gewinnabgrenzungsaufzeich-

___________ 7 Vgl. BMF v. 12.4.2005 – IV B 4 - S 1341 - 1/05, BStBl. I 2005, 570, nachfolgend: „VWGVerfahren“, Tz. 5.3.1. 8 VWG-Verfahren, Tz. 4.1. 9 Vgl. auch Kiesel/Theisen, IStR 2006, 284 ff.; Sidhu/Schemmel, BB 2005, 2549 ff.

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nungsverordnung (GAufzV) v. 13.11.200310 sowie den damit verbundenen Sanktionsmechanismus des § 160 Abs. 3 und 4 AO. 2. Funktions- und Risikoanalyse als Ausgangspunkt Die Durchführung eines Fremdvergleichs hat ihren Ausgangspunkt in einem Vergleich der konzerninternen Lieferungs- oder Leistungsbeziehungen mit den Vereinbarungen voneinander unabhängiger Unternehmen unter gleichen oder ähnlichen Verhältnissen. Um in diesem Zusammenhang der Voraussetzung der „Vergleichbarkeit der Verhältnisse“ zu genügen, ist sicherzustellen, dass die in die Lieferungs- oder Leistungsbeziehung einbezogenen verbundenen Unternehmen und die als Vergleichsobjekt fungierenden unabhängigen Unternehmen vergleichbare Funktionen ausüben bzw. vergleichbare Risiken tragen11. Dies setzt im Rahmen der sog. Funktions- und Risikoanalyse eine detaillierte Untersuchung der von den verbundenen Unternehmen ausgeübten Funktionen und der von diesen getragenen Risiken sowie die Feststellung der jeweils eingesetzten Produktionsmittel voraus. Auf dieser Grundlage ist ein potenzielles Referenzunternehmen bzw. eine geeignete Referenztransaktion zwischen unabhängigen Dritten zu ermitteln, bei dem bzw. bei der eine vergleichbare oder ähnliche Verteilung von Funktionen und Risiken vorzufinden ist. Die Abrechnungsformen der potenziellen Referenzunternehmen bzw. die identifizierte Referenztransaktion werden dann zur Ableitung eines fremdvergleichskonformen Verrechnungspreises für die zu bewertende konzerninterne Lieferungs- oder Leistungsbeziehung herangezogen. Die Verwendung der Funktions- und Risikoanalyse als Ausgangspunkt der Verrechnungspreisermittlung nach dem Grundsatz des Fremdvergleichs hat zur Folge, dass sich die Bemessung von Verrechnungspreisen maßgeblich an den von den verbundenen Unternehmen wahrgenommenen Funktionen und Risiken sowie der eingesetzten Wirtschaftsgüter ausrichtet. Diese Vorgehensweise lässt sich damit begründen, dass der von einem unabhängigen Unternehmen für eine Leistung geforderte Preis umso höher ist, je mehr Funktionen und Risiken von diesem wahrgenommen werden12. Im Ergebnis bilden damit der Umfang und die Art der wahrgenommenen Funktionen und die daraus resultierenden Risiken bzw. der damit einhergehende Kapitaleinsatz die den Verrechnungspreis determinierenden Faktoren. 3. Bandbreitenbetrachtung In seinem Grundsatzurteil zu Verrechnungspreisen vom 17.10.200113 kommt der BFH zum Ergebnis, dass es den „einen“, richtigen Fremdvergleichspreis

___________ 10 Vgl. GAufzV v. 13.11.2003, BGBl. I 2003, 2296. 11 Vgl. VWG 1983, Tz. 2.1.3., 2.2.3., 2.4.4. Buchst. a, 2.2.4.; VWG-Verfahren, Tz. 3.4.11.4.; Tz. 1.20 OECD-Guidelines 1995/96. 12 Vgl. Tz. 1.20 OECD-Guidelines 1995/96; VWG-Verfahren, Tz. 3.4.10.2.; Ditz, IStR 2002, 211. 13 Vgl. BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171 und dazu im Einzelnen Wassermeyer, DB 2001, 2465 ff.; Baumhoff, IStR 2003, 2; Kuckhoff/Schreiber, IWB Fach 3 Deutschland Gruppe 1, 863 ff.

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nicht gibt, sondern dass der Fremdvergleichspreis in der Regel aus einer Bandbreite von Preisen besteht. Dies erkläre „sich nicht nur aus dem Unterschied zwischen übernommenen Funktionen und Risiken, sondern ebenso z.B. aus unterschiedlichen Unternehmensstrategien und Zielsetzungen“14. Auch nach Auffassung der Finanzverwaltung, ergibt sich bei der Ermittlung von Fremdvergleichspreisen „regelmäßig eine Reihe möglicher Werte“15. Sowohl die Rechtsprechung des BFH als auch die Finanzverwaltung erkennen damit an, dass die Ermittlung von Verrechnungspreisen nur innerhalb von Bandbreiten erfolgen kann. Dies ist insoweit zutreffend, als auch am Markt für vergleichbare Güter bzw. vergleichbare Dienstleistungen unterschiedliche Preise vereinbart werden. So ist es beispielsweise beim Kauf von bestimmten Waren, deren Preise nicht in – öffentlich zugänglichen – Preislisten festgehalten sind, typisch, dass die Anbieter unterschiedliche Preise für die gleiche Ware verlangen. Bei der Preisfestlegung kann es dabei z.B. auf die ökonomische Bedeutung des Nachfragers, seine Zahlungsbereitschaft, seine Marktmacht, seine Bereitschaft zur langfristigen Abnahme, die Möglichkeit zur Ausnutzung von Informationsasymmetrien etc. ankommen. Ferner können auch persönliche oder sachliche Präferenzen eines Nachfragers dazu führen, dass ein höherer Preis im Vergleich zu einem anderen Nachfrager durchgesetzt werden kann. Dabei kann weder der eine noch der andere Preis als „der richtige“ Preis für die betreffende Ware bzw. Dienstleistung bezeichnet werden. Vielmehr existiert eine Bandbreite von Marktpreisen. Folglich kann aufgrund der Unvollkommenheit der Märkte, der Vielgestaltigkeit autonomer unternehmerischer Strategien sowie unterschiedlicher ökonomischer Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren ein „richtiger“ Preis nicht abgeleitet werden. Es lässt sich vielmehr lediglich eine Bandbreite angemessener Preise feststellen. 4. Arten des Fremdvergleichs a) Tatsächlicher Fremdvergleich Der tatsächliche Fremdvergleich orientiert sich bei der Ermittlung von Verrechnungspreisen an tatsächlich am Markt feststellbaren Preisen, die zwischen gesellschaftsrechtlich nicht verbundenen Unternehmen unter vergleichbaren oder ähnlichen Verhältnissen getroffen wurden. Der tatsächliche Fremdvergleich lässt sich in Form eines innerbetrieblichen (bzw. internen) oder eines zwischenbetrieblichen (externen) Vergleichs durchführen. Ein innerbetrieblicher Vergleich ist immer dann möglich, wenn das verbundene Unternehmen die gleiche Lieferung bzw. Leistung sowohl mit verbundenen als auch mit unverbundenen Geschäftspartnern austauscht. Als Vergleichstatbestände im Rahmen des zwischenbetrieblichen Vergleichs dienen hingegen Vereinbarungen, die zwischen zwei unabhängigen Geschäftspartnern am Markt für eine vergleichbare Lieferung oder Leistung unter vergleichbaren Bedingungen vereinbart wurden. Der Unterschied zum innerbetrieblichen

___________ 14 BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171 (176). 15 VWG-Verfahren, Tz. 3.4.12.5. Buchst. a und dazu im Einzelnen Baumhoff/Ditz/ Greinert, DStR 2005, 1554.

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Vergleich liegt folglich darin, dass der Ursprung der zugrunde zu legenden Vereinbarungen außerhalb des Einflussbereiches des Unternehmensverbundes liegt. Werden durch einen tatsächlichen Fremdvergleich mehrere Werte festgestellt, so liegt eine Bandbreite angemessener Verrechnungspreise vor. Welchen Wert der Steuerpflichtige aus dieser (Preis-)Bandbreite auswählen soll, ist nach § 1 Abs. 3 Satz 1 AStG davon abhängig, ob uneingeschränkt oder eingeschränkt vergleichbare Werte vorliegen16. Sofern mehrere Fremdvergleichswerte identifiziert werden und diese uneingeschränkt vergleichbar sind, kann die so ermittelte (Preis-)Bandbreite von dem Steuerpflichtigen in vollem Umfang ausgeschöpft werden. Der Steuerpflichtige darf also auch den aus seiner Sicht vorteilhaftesten Wert als Verrechnungspreis ansetzen17. Für den Fall, dass die durch einen tatsächlichen Fremdvergleich ermittelten Werte nur eingeschränkt vergleichbar sind, verlangt § 1 Abs. 3 Satz 3 AStG, die sich ergebende Bandbreite einzuengen18. Dies ist z.B. bei Datenbankanalysen zur Ermittlung von Gewinnaufschlägen oder sonstigen Renditekennziffern denkbar19. b) Hypothetischer Fremdvergleich Dem tatsächlichen Fremdvergleich ist grundsätzlich Vorrang vor anderen Vergleichsverfahren einzuräumen20. Ein tatsächlicher Fremdvergleich erweist sich allerdings immer dann als nicht umsetzbar, wenn es an einer effektiven Vergleichsmöglichkeit am Markt zwischen unabhängigen Vertragspartnern fehlt. In diesem Fall ist es notwendig, die Verrechnungspreisermittlung auf Basis eines hypothetischen Fremdvergleichs durchzuführen21. Dem hypothetischen Fremdvergleich liegt die sog. „Theorie des doppelten ordentlichen Geschäftsleiters“ zugrunde22. Danach ist ein Verrechnungspreis als angemessen anzusehen, wenn er für eine bestimmte Lieferungs- oder Leistungsbeziehung auch zwischen zwei ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleitern vereinbart worden wäre. Auch insofern ist eine Bandbreitenbetrachtung in Form der Ermittlung eines sog. Einigungsbereichs durchzuführen. Dieser Einigungs-

___________ 16 Vgl. auch VWG-Verfahren, Tz. 3.4.12.7.; Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2007, 1462. 17 Vgl. § 1 Abs. 3 Satz 3 AStG. Vgl. ferner BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171; Ditz, DStR 2006, 1628; Wassermeyer, WPg 2002, 15. 18 Diese Forderung steht im Widerspruch zur Rechtsprechung des BFH, wonach grundsätzlich jeder Wert innerhalb der Bandbreite angemessen ist und sich der Steuerpflichtige an dem für ihn günstigsten Rand der Preisbandbreite orientieren kann. Vgl. BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171; Baumhoff/Ditz/Greinert DStR 2005, 1554 m.w.N. 19 Vgl. dazu im Einzelnen VWG-Verfahren, Tz. 3.4.12.5; Baumhoff in FS Wassermeyer, 2005, S. 362 ff.; Werra, IStR 2005, 21; Finsterwalder, DStR 2005, 769; Steuerfachausschuss des IDW, FN-IDW 2004, 787 f. 20 Vgl. § 1 Abs. 3 Satz 1 AStG; Tz. 2.5 und 2.7 OECD-Guidelines 1995/96; Baumhoff/ Ditz/Greinert, DStR 2007, 1464; differenzierend Ditz, Internationale Gewinnabgrenzung bei Betriebsstätten, 2004, S. 190 ff. 21 Vgl. § 1 Abs. 3 Satz 5 AStG. 22 Vgl. § 1 Abs. 1 Satz 2 AStG sowie die Rechtsprechung des BFH zur verdeckten Gewinnausschüttung. Vgl. nur BFH v. 17.5.1995 – I R 147/93, BStBl. II 1996, 204; BFH v. 6.12.1995 – I R 88/94, BStBl. II 1996, 383; BFH v. 19.5.1998 – I R 36/97, BStBl. II 1998, 689; BFH v. 24.2.2002 – I R 18/01, DStR 2002, 1614.

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bereich findet seine Untergrenze in dem Mindestpreis des liefernden oder leistenden Unternehmens und einem Höchstpreis des Lieferungs- oder Leistungsempfängers. Demnach müssen zur Bestimmung des Einigungsbereichs im Rahmen eines hypothetischen Fremdvergleichs die individuellen Preisgrenzen sowohl des leistenden als auch des empfangenden Unternehmens ermittelt werden. Zu der Frage, wie ein derart ermittelter Einigungsbereich zwischen den Vertragsparteien aufzuteilen ist, ordnet § 1 Abs. 3 Satz 7 AStG an, dass der Preis zugrunde zu legen ist, der dem Fremdvergleichsgrundsatz „mit der höchsten Wahrscheinlichkeit“ entspricht. Hierbei fehlt es allerdings an objektivierten Kriterien zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit23. Wird daher kein anderer Wert glaubhaft gemacht, ist der Mittelwert des Einigungsbereichs zugrunde zu legen. Kann also ein Wert mit der höchsten Wahrscheinlichkeit nicht ermittelt werden, ist – widerlegbar – auf den Mittelwert abzustellen. Eine solche hälftige Aufteilung des Einigungsbereichs ergibt sich auch aus den sog. Zinsurteilen des BFH24 sowie aus der Rechtsprechung zur Aufteilung von Standardvorteilen bei einem Lohnfertiger25. 5. Methoden der Verrechnungspreisermittlung a) Rangfolge Zur Bestimmung der Angemessenheit von Verrechnungspreisen nach dem Fremdvergleichsgrundsatz kommen in der Regel die drei – national wie auch international anerkannten – Standardmethoden (Preisvergleichs-, Wiederverkaufspreis- und Kostenaufschlagsmethode) zur Anwendung26. Ferner werden unter bestimmten Voraussetzungen mehrere gewinnorientierte Methoden zugelassen27. Die Standardmethoden finden ihre theoretische Fundierung im Grundsatz des Fremdvergleichs. Die Finanzverwaltung schreibt grundsätzlich keine bestimmte Rangfolge der Anwendung der Standardmethoden vor28; vielmehr sind die Standardmethoden als untereinander gleichrangig zu betrachten29. Infolgedessen ist die Methodenwahl des Unternehmens von der Finanzverwaltung immer dann anzuerkennen, wenn diese nach Art und Anwendung in Bezug auf den betreffenden Sachverhalt sachgerecht ist30. Sofern die Methodenwahl des Unternehmens zulässig ist, kann die Finanzverwal-

___________ 23 Vgl. Baumhoff in FS Wassermeyer, 2005, S. 369. 24 Vgl. BFH v. 19.1.1994 – I R 93/93, BStBl. II 1994, 725; BFH v. 28.2.1990 – I R 83/97, BStBl. II 1990, 649. 25 Vgl. FG Münster v. 16.3.2006 – 8 K 2348/02 E, IStR 2006, 794; Baumhoff/Greinert, IStR 2006, 789. 26 Vgl. § 1 Abs. 3 Satz 1 AStG; VWG 1983, Tz. 2.2.; VWG-Verfahren, Tz. 3.4.10.3. Buchst. a; Tz. 2.1 OECD-Guidelines 1995/96. 27 Vgl. VWG-Verfahren, Tz. 3.4.10.3 Buchst. b und c. 28 Vgl. VWG 1983, Tz. 2.4.1. 29 Auch nach der BFH-Rechtsprechung stehen die Standardmethoden „gleichberechtigt nebeneinander“; vgl. BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171; BFH v. 6.4.2005 – I R 22/04, DStR 2005, 1307; Wassermeyer, WPg 2002, 14. 30 Vgl. VWG 1983, Tz. 2.4.1. Satz 2.

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tung dieser nicht ihre eigene, davon abweichende Methodenwahl entgegensetzen31. b) Standardmethoden aa) Preisvergleichsmethode Die Preisvergleichsmethode orientiert sich zur Bestimmung von Verrechnungspreisen an Entgelten, die bei vergleichbaren Geschäften zwischen unabhängigen Dritten am Markt vereinbart werden (sog. Marktpreise)32. Damit ist die Preisvergleichsmethode methodisch dem tatsächlichen Fremdvergleich zuzuordnen. Im Rahmen der Anwendung der Preisvergleichsmethode ist zwischen einem inneren Preisvergleich (betriebsindividuelle Preise) und einem äußeren Preisvergleich (markt- oder branchenübliche Preise) zu unterscheiden33. bb) Wiederverkaufspreismethode Die Wiederverkaufspreismethode ist anwendbar, wenn ein verbundenes Unternehmen an ein anderes verbundenes Unternehmen Lieferungen oder Leistungen erbringt und diese Lieferungen oder Leistungen danach an konzernexterne Dritte weiterveräußert werden34. Der Marktpreis bei Wiederverkauf der Lieferung oder Leistung an unabhängige Dritte bildet damit die Ausgangsbasis der Wiederverkaufspreismethode. Der angemessene Verrechnungspreis wird dann auf retrogradem Weg durch Subtraktion bestimmt35: Marktpreis bei Wiederverkauf an Fremde (Wiederverkaufspreis) ./.

marktübliche Handelsspanne des Wiederverkäufers

=

Verrechnungspreis

cc) Kostenaufschlagsmethode Bei der Kostenaufschlagsmethode wird der Verrechnungspreis dadurch bestimmt, dass zunächst die Selbstkosten des liefernden oder leistenden Unternehmens ermittelt und anschließend um einen angemessenen Gewinnaufschlag erhöht werden36. Nach dem Grundsatz des Fremdvergleichs ist die Kostenbasis anhand von Kalkulationsmethoden zu ermitteln, die der Liefernde oder Leistende auch bei seiner Preispolitik gegenüber Fremden zugrunde legt bzw. den betriebswirt-

___________ 31 Vgl. Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2005, 1551; Gotzens, Praxis Steuerstrafrecht 2006, 255. 32 Vgl. VWG 1983, Tz. 2.2.2.; Tz. 2.6 OECD-Guidelines 1995/96. 33 Zu Einzelheiten vgl. Baumhoff in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, Außensteuerrecht § 1 AStG Rz. 396 ff. 34 Vgl. VWG 1983, Tz. 2.2.3.; Tz. 2.14 ff. OECD-Guidelines 1995/96. 35 Zu Einzelheiten vgl. Baumhoff in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, Außensteuerrecht § 1 AStG Rz. 416 ff. 36 Vgl. VWG 1983, Tz. 2.2.4.; Tz. 2.32 ff. OECD-Guidelines 1995/96.

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schaftlichen Grundsätzen entsprechen37. Ausgangspunkt der Ermittlung der Kostenbasis sind damit die Vollkosten (Einzel- und Gemeinkosten), die durch die Herstellung und Lieferung des Produkts bzw. die Erbringung der Dienstleistung verursacht sind. In bestimmten Fällen kann die Kostenbasis allerdings auch auf Basis von Teilkosten – z.B. auf Grundlage einer Deckungsbeitragsrechnung – ermittelt werden38. Sowohl im Rahmen der Vollkosten- als auch im Rahmen der Teilkostenrechnung steht es dem Steuerpflichtigen frei, ob er die Vollkosten auf Plan-, Ist- oder Normalkostenbasis ermittelt39. Die Kostenbasis ist anschließend um einen Gewinnaufschlag zu erhöhen40. Dieser beträgt in der Verrechnungspraxis häufig zwischen 5% und 10%41. c) Gewinnorientierte Methoden Die VWG-Verfahren lassen auch die Verwendung gewinnorientierter Methoden in Form der geschäftsvorfallbezogenen Nettomargenmethode („Transactional Net Market Method“ und kurz „TNMM“) und der geschäftsvorfallbezogenen Gewinnaufteilungsmethode („Profit Split Method“ und kurz „PSM“) zu42. Dies gilt gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 AStG jedoch nur, wenn die Standardmethoden der Verrechnungspreisermittlung nicht anwendbar sind. Die gewinnorientierten Methoden können damit nur subsidiär zu den Standardmethoden zur Anwendung kommen. 6. Zwischenergebnis Im Kontext der vorstehenden Ausführungen lässt sich festhalten, dass es den einen „richtigen“ Verrechnungspreis nicht gibt. Vielmehr lässt sich ausgehend von einer Funktions- und Risikoanalyse des betreffenden Unternehmens nur eine Bandbreite von Werten ermitteln, die als Verrechnungspreise in Betracht kommen. Hierzu steht dem Steuerpflichtigen eine Reihe von Berechnungsmethoden zur Verfügung. Dementsprechend kann der Steuerpflichtige die für ihn günstigste Verrechnungspreisgestaltung frei wählen. Im Ergebnis verfügt der Steuerpflichtige über erhebliche Ermessensspielräume bei der Ermittlung von Verrechnungspreisen.

___________ 37 Vgl. VWG 1983, Tz. 2.2.4. 38 Baumhoff in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, Außensteuerrecht, § 1 AStG Rz. 512. 39 Vgl. Tz. 2.42 OECD-Guidelines 1995/96; Ditz in Wassermeyer/Andresen/Ditz, Betriebsstätten-Handbuch, 2006, Rz. 4.78. 40 Vgl. VWG 1983, Tz. 2.2.4. 41 Vgl. Baumhoff in Mössner u.a., Steuerrecht international tätiger Unternehmen, 3. Aufl., 2005, Rz. C 359; Ditz in Wassermeyer/Andresen/Ditz, BetriebsstättenHandbuch, 2006, Rz. 4.78. 42 Vgl. VWG-Verfahren, Tz. 3.4.10.3. Buchst. b und c. Vgl. zu Einzelheiten der gewinnorientierten Methoden und ihrer praktischen Umsetzung Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, 6. Aufl., 2007, S. 759 ff.; Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2005, 1551 ff.

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III. Verfahrensrechtliche Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen 1. Erweiterte Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen gemäß § 90 Abs. 2 AO Bei Sachverhalten mit grenzüberschreitendem Bezug sieht § 90 Abs. 2 Satz 1 AO eine erweiterte Mitwirkungspflicht vor, wonach der Steuerpflichtige den Sachverhalt aufzuklären und die diesbezüglich erforderlichen Beweismittel zu beschaffen hat. Dabei hat der Steuerpflichtige gemäß § 90 Abs. 2 Satz 2 AO alle für ihn bestehenden rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten zur Sachverhaltsaufklärung und zur Beweismittelbeschaffung zu nutzen. Hierzu hat er nach § 90 Abs. 2 Satz 3 AO Beweisvorsorge zu treffen und zwar nach Auffassung der Finanzverwaltung auch dadurch, dass er seine Vertragspartner im Ausland verpflichtet, ihm bestimmte Auskünfte zu erteilen, die für die Ermittlung, Aufteilung und Abgrenzung der Einkünfte für Zwecke der deutschen Besteuerung erkennbar erforderlich sein können43. Die erweitere Mitwirkungspflicht gemäß § 90 Abs. 2 AO umfasst – soweit rechtlich und tatsächlich möglich – auch die Angabe verrechnungspreisrelevanter Informationen von nahe stehenden Personen im Ausland. Daher basierte in der Vergangenheit (d.h. vor Einführung der Verrechungspreisdokumentationspflichten gemäß § 90 Abs. 3 AO durch StbVergAbG44) die Sachverhaltsaufklärung im Rahmen von Verrechnungspreisprüfungen auf § 90 Abs. 2 AO45. In diesem Zusammenhang hat auch der BFH in seinem Grundsatzurteil v. 17.10.200146 sowie dem dazu ergangenen Beschluss v. 10.5.200147 ausführlich zu den Dokumentations- und Mitwirkungspflichten bei der Prüfung internationaler Verrechnungspreise Stellung bezogen48. Danach kommt der BFH zum Ergebnis, dass nach damals gültigem Recht außerhalb der Buchführungspflichten gemäß §§ 238 ff. HGB und §§ 140 ff. AO keine verrechnungspreisspezifischen Dokumentationspflichten existieren. Dementsprechend verneinte der BFH eine Verletzung der Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 2 AO, wenn eine inländische Tochter-Vertriebsgesellschaft keine Unterlagen zur Preiskalkulation der ausländischen Muttergesellschaft vorlegt49. 2. Dokumentationsverpflichtung gemäß § 90 Abs. 3 AO Auf die beiden Entscheidungen des BFH hat der Gesetzgeber reagiert und mit dem StVergAbG v. 16.5.200350 die Dokumentationsanforderungen im Bereich

___________ 43 Vgl. VWG-Verfahren, Tz. 3.3.3. 44 Steuervergünstigungsabbaugesetz v. 16.5.2003, BGBl. I 2003, 660. 45 Vgl. im Einzelnen dazu Cordes, Steuerliche Aufzeichnungspflichten bei internationalen Verrechnungspreisen, 2009, S. 37. 46 Vgl. BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171. 47 Vgl. BFH v. 10.5.2001 – I S 3/01, IStR 2001, 474. 48 Vgl. dazu auch Baumhoff, IStR 2001, 751; Gosch, StBp. 2001, 360; Kuckhoff/ Schreiber, IWB Fach 3 Deutschland Gruppe 1, 863; Kaminiski/Strunk, IWB Fach 3 Deutschland Gruppe 1, 1831; Wassermeyer, DB 2001, 2465; Seer, FR 2002, 382; Ditz, Internationale Gewinnabgrenzung bei Betriebsstätten, 2004, S. 107 ff. und S. 351 ff. 49 Vgl. BFH v. 10.5.2001 – I S 3/01, IStR 2001, 474, unter Abschn. 5 der Gründe. 50 Steuervergünstigungsabbaugesetz v. 16.5.2003, BGBl. I 2003, 660.

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der Verrechnungspreise – insbesondere zur Sicherstellung und Erleichterung der Verrechnungspreisprüfung durch die Finanzverwaltung – erheblich verschärft. Es handelt sich hierbei im Wesentlichen um § 90 Abs. 3 AO, wonach international tätige Unternehmen verpflichtet werden, die Ermittlung von Verrechnungspreisen bei grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehungen mit nahestehenden Personen zu dokumentieren. Zur Konkretisierung der Dokumentationspflichten des § 90 Abs. 3 AO hat das BMF mit Zustimmung des Bundesrates die GAufzV v. 13.11.200351 erlassen. Ferner werden die Dokumentationspflichten durch die VWG-Verfahren52 spezifiziert. Prinzipiell bietet es sich an, die Verrechnungspreisdokumentation an den Vorgaben der §§ 4 und 5 GAufzV auszurichten. In diesem Zusammenhang sind die folgenden Tatbestände zu dokumentieren, wobei für sog. „kleinere Unternehmen“ Dokumentationserleichterungen bestehen53: – Allgemeine Informationen über Beteiligungsverhältnisse, Geschäftsbetrieb und Organisationsaufbau der Unternehmensgruppe; – grenzüberschreitende Geschäftsbeziehungen zu verbundenen Unternehmen; – Funktions- und Risikoanalyse; – Verrechnungspreisanalyse; – ergänzende Angaben in besonderen Fällen (z.B. Vorteilsausgleich, Kostenumlagen, Preisanpassungen). 3. Sanktionen bei einer Verletzung der Dokumentationspflichten Kommt der Steuerpflichtige seinen im Rahmen des § 90 Abs. 3 AO definierten Mitwirkungspflichten nicht nach, drohen ihm die weitreichenden Sanktionen des § 162 Abs. 3 und 4 AO. § 162 Abs. 3 AO kommt dann zur Anwendung, wenn ein Steuerpflichtiger seine Mitwirkungspflichten nach § 90 Abs. 3 AO verletzt hat, z.B. dadurch, dass – er die Aufzeichnungen (in Form einer Verrechnungspreisdokumentation) nicht vorlegt, – vorgelegte Aufzeichnungen im Wesentlichen unverwertbar sind oder – festgestellt wird, dass bestimmte Aufzeichnungen nicht zeitnah erstellt wurden. In diesen Fällen wird seitens der Finanzbehörde widerlegbar vermutet, dass die inländischen Einkünfte höher als die erklärten Einkünfte sind und die Verrechnungspreise nicht fremdvergleichskonform festgelegt wurden54. Somit kommt es regelmäßig zu einer Umkehr der Beweislast zulasten des Steuerpflichtigen in Form einer Schätzung an den für den Steuerpflichtigen ungüns-

___________ 51 BGBl. I 2003, 2296. 52 BMF v. 12.4.2005 – IV B 4 - S 1341 - 1/05, BStBl. I 2005, 570. 53 Zu Einzelheiten vgl. § 4 GAufzV; s. ferner Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2004, 157; dies., DStR 2005, 1549. Zu den Dokumentationserleichterungen für kleinere Unternehmen vgl. § 6 GAufzV; Baumhoff/Ditz/Greinert, DStR 2004, 162. 54 Vgl. Seer in Tipke/Kruse, § 162 AO Rz. 66.

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tigen Rand einer möglichen Preisbandbreite. Hierbei ist die Finanzverwaltung nach dem Wortlaut „kann“ weiterhin zur pflichtgemäßen Ermessensausübung verpflichtet55. Der Steuerpflichtige behält nach § 162 Abs. 3 Satz 1 AO die Möglichkeit, die Vermutung, dass seine Einkünfte höher sind als erklärt, zu widerlegen. Hierzu muss er nachweisen, dass er seine Einkünfte sachlich zutreffend erklärt hat, indem er insbesondere die Angemessenheit seiner Verrechnungspreise begründet56. Im umgekehrten Fall, d.h. wenn der Steuerpflichtige die Dokumentationspflichten erfüllt und somit seine Mitwirkungspflichten nicht verletzt hat, liegt die Beweislast für die Unangemessenheit der Verrechnungspreise bei der Finanzverwaltung. Darüber hinaus sieht § 162 Abs. 4 AO besondere Zuschläge („penalties“) vor. Diese Zuschläge sind als steuerliche Nebenleistungen im Sinne des § 3 Abs. 4 AO zu qualifizieren und stellen folglich nicht abzugsfähige Betriebsausgaben dar57. Der Zuschlag beträgt 5% bis 10% des Mehrbetrags der Einkünfte, der sich aufgrund einer Verrechnungspreiskorrektur nach § 162 Abs. 3 AO ergibt, mindestens jedoch 5000 Euro. Ferner sieht § 162 Abs. 4 Satz 3 AO einen Zuschlag bei verspäteter Vorlage von verwertbaren Aufzeichnungen in Höhe von bis zu 1 Mio. Euro, mindestens jedoch 100 Euro für jeden vollen Tag der Fristüberschreitung, vor. Die Finanzverwaltung weist ausdrücklich darauf hin, dass die Festsetzung von Zuschlägen gemäß § 162 Abs. 4 AO die Durchführung eines Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren gemäß § 369 ff. AO nicht ausschließt58. Dies gilt insbesondere dann, wenn dem Steuerpflichtigen zum Zeitpunkt der Verrechnungspreisfestsetzung zuverlässige Fremdvergleichspreise bekannt waren, die er aber aus Gründen der Steuerersparnis nicht verwendet hat59.

IV. Unangemessene Verrechnungspreise als Steuerhinterziehung 1. Tatbestandsvoraussetzungen einer Steuerhinterziehung im Allgemeinen Im Hinblick auf die Tatbestandsvoraussetzungen der Steuerhinterziehung wird allgemein zwischen dem objektiven und dem subjektiven Tatbestand unterschieden. Der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO setzt u.a. voraus, dass der Steuerpflichtige – den Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO), oder – die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) und dadurch Steuern verkürzt bzw. nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt. Die Festlegung unangemessener Verrechnungspreise zwischen in- und

___________ 55 Vgl. Joecks/Kaminsiki, IStR 2004, 71; Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1591; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 162 AO Rz. 77. 56 Vgl. Cöster in Pahlke/König, AO, 2009, § 162 AO Rz. 74. 57 Vgl. § 10 Nr. 2 KStG; § 12 Nr. 3 EStG; VWG-Verfahren, Tz. 4.6.3; Rödder/Schumacher, DStR 2003, 818. 58 Vgl. VWG-Verfahren, Tz. 4.6.3. 59 Vgl. VWG-Verfahren, Tz. 4.1. Vgl. dazu kritisch Weigel, IStR 2005, 162.

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ausländischen verbundenen Unternehmen stellt in diesem Zusammenhang eine steuererhebliche Tatsache dar, da sie die Höhe des staatlichen Steueranspruchs beeinflusst. Dies sollte unzweifelhaft sein60. Eine Steuerverkürzung liegt in ihrem objektiven Tatbestand vor, wenn die Steuern nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt werden.61 Dies gilt gemäß § 370 Abs. 4 Satz 1 AO auch dann, wenn die Steuer vorläufig oder unter Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt wird oder eine Steueranmeldung einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht. Nicht gerechtfertigte Steuervorteile sind erlangt, wenn sie nach § 370 Abs. 4 Satz 2 AO zu Unrecht gewährt oder belassen werden. Damit setzt der objektive Tatbestand voraus, dass durch den Ansatz unangemessener Verrechnungspreise im Rahmen der Geschäftsbeziehungen zwischen verbundenen Unternehmen eine Steuerverkürzung im Inland erzielt wird. Die Steuerhinterziehung ist nur dann strafbar, wenn der Steuerpflichtige vorsätzlich handelt (subjektiver Tatbestand). Ein direkter Vorsatz liegt dann vor, wenn der Wille vorhanden ist, den Straftatbestand in Kenntnis seiner Tatumstände zu verwirklichen. Der Täter muss also z.B. wissen, dass die Angaben, die er gemacht hat, unrichtig oder unvollständig sind und dass dadurch eine Steuerverkürzung eintreten kann62. Bezogen auf die Verrechnungspreispraxis muss damit dem Steuerpflichtigen bewusst sein, dass der Ansatz unangemessener Verrechnungspreise eine Steuerverkürzung im Inland zur Folge hat bzw. muss der Steuerpflichtige diese Tatbestandsverwirklichung ernstlich für möglich halten und billigend in Kauf nehmen (Eventualvorsatz). Ist dies nicht der Fall, kann keine Steuerhinterziehung vorliegen. 2. Verrechnungspreise und objektiver Tatbestand der Steuerhinterziehung a) Steuerhinterziehung durch „unrichtige oder unvollständige Angaben“ Angaben sind unrichtig, wenn die hierin enthaltenen Behauptungen mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Angaben sind unvollständig, wenn der Sachverhalt nur teilweise erklärt, jedoch gleichzeitig ein Eindruck der Vollständigkeit erweckt wird63. Wenn der Steuerpflichtige seiner Steuererklärung unangemessene Verrechnungspreise zugrunde legt, macht er im Ergebnis unrichtige Angaben im Sinne des § 370 Abs. 1 AO64. Unangemessene Verrechnungspreise sind grundsätzlich zu berichtigen. Je nach den Umständen des Einzelfalls erfolgt hierbei die Berichtigung nach den Grundsätzen der verdeckten Gewinnausschüttung, der verdeckten Einlage oder des § 1 AStG65. Dabei führt das Vorliegen einer verdeckten Gewinnausschüttung nicht per se zu einer steuerstrafrechtlichen Konsequenz. Denn für

___________ 60 So auch Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 2009, § 370 AO Rz. 130; Sidhu/Schemmel, BB 2005, 2550. 61 Vgl. Streck/Spatscheck, Die Steuerfahndung, 2006, Rz. 1006. 62 Vgl. Meyer in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 370 AO Rz. 126; Senge in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 2009, § 370 AO Rz. 62. 63 Vgl. Cöster in Pahlke/Koenig, AO, 2009, § 153 AO Rz. 15. 64 Vgl. Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1595. 65 Vgl. Abschn. II.1.

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vorsätzlich bzw. bewusst vorgenommene verdeckte Gewinnausschüttungen besteht eine Deklarationspflicht in den amtlichen Vordrucken für die Körperschaftsteuererklärung. Erst, wenn diese Deklarationspflicht bewusst missachtet wird, kann eine unrichtige bzw. unvollständige Angabe vorliegen66. Bei vorsätzlich vorgenommenen verdeckten Einlagen muss der steuerpflichtige inländische Gesellschafter diese in seiner Bilanz als zusätzliche Anschaffungskosten auf seine Beteiligung abbilden. Unterlässt er dies, enthält die der Steuererklärung beigefügte (Steuer-)Bilanz unrichtige Angaben. Sind die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 AStG erfüllt, so sind die Einkünfte des Steuerpflichtigen in der Höhe anzusetzen, wie sie zwischen unabhängigen Dritten erzielt worden wären. Die Einkünftekorrektur ist nach h.M. außerhalb der Steuerbilanz vorzunehmen67. Der Steuerpflichtige macht damit eine unrichtige Angabe im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO (bzw. § 378 Abs. 1 AO), wenn er die unangemessenen Verrechnungspreise seiner Steuererklärung zugrunde legt und damit keine außerbilanzielle Korrektur unter den Voraussetzungen des § 1 AStG vornimmt68. Dies setzt freilich voraus, dass nachweislich unangemessene Verrechnungspreise zum Ansatz kamen. Die Ausführungen in Abschnitt II.3. haben insbesondere gezeigt, dass sowohl die Rechtsprechung als auch die Finanzverwaltung davon ausgehen, dass es den einen „richtigen“ Verrechnungspreis nicht gibt. Vielmehr lässt sich nur eine Bandbreite von Werten ermitteln, die als Verrechnungspreise in Betracht kommen. Hierbei ist der Steuerpflichtige innerhalb der Bandbreite nicht an bestimmte Werte gebunden. Damit kann eine unrichtige Angabe im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO erst dann vorliegen, wenn der vom Steuerpflichtigen zugrunde gelegte Verrechnungspreis von keiner der zugelassenen Methoden gedeckt ist69. Dabei steht es dem Steuerpflichtigen frei, die ihm günstigste Verrechnungspreisgestaltung zu wählen70. Der BGH nimmt allerdings eine Offenlegungspflicht für steuerlich erhebliche Tatsachen an, die es der Finanzverwaltung ermöglichen, die Steuer unter abweichender rechtlicher Beurteilung zutreffend festzusetzen71. Das gilt nach Auffassung des BGH insbesondere dann, wenn der Steuerpflichtige von der Auffassung der Rechtsprechung oder der Finanzverwaltung – wie sie z.B. in den BMF-Schreiben zu Verrechnungspreisen dokumentiert wird72 – abweicht. Hierbei macht er dann keine unrichtigen Angaben im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, „wenn er offen oder verdeckt eine ihm günstige unzutreffende Rechtsansicht vertritt, aber die steuerlich erheblichen Tatsachen richtig und

___________ 66 Vgl. Kiesel/Theisen, IStR 2006, 285; Sidhu/Schemmel, BB 2005, 2550. 67 Vgl. VWG-Verfahren, Tz. 5.3.3.; BFH v. 30.5.1990 – I R 97/88, BStBl. II 1990, 875; Wassermeyer in Flick/Wassermeyer/Baumhoff, Außensteuerrecht, § 1 AStG Rz. 811; Wassermeyer, IStR 2001, 634; a.A. Baranowski, Besteuerung von Auslandsbeziehungen, 1996, Rz. 769 ff.; Döllerer, JbFSt 1980/81, 274. 68 Vgl. Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1594. 69 Vgl. Gotzens, Praxis Steuerstrafrecht 2006, 255; Kiesel/Theisen, IStR 2006, 286; Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1593. 70 Vgl. BGH v. 27.1.1982 – 3 StR 217/81, NStZ 1982, 206. 71 Vgl. BGH v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99, NStZ 2000, 203. 72 Vgl. etwa VWG 1983; VWG-Verfahren; BMF v. 30.12.1999 – IV B 4 - S 1341 - 14/99, BStBl. I 1999, 1122; BMF v. 9.11.2001 – IV B 4 - S 1341 - 20/01, BStBl. I 2001, 796.

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vollständig vorträgt und es dem Finanzamt ermöglicht, die Steuer unter abweichender rechtlicher Beurteilung zutreffend festzusetzen.“73. Soweit die Finanzbehörde über sämtliche erforderliche Informationen und konkrete Besteuerungsgrundlagen verfügt, fehlt es an einer Unkenntnis74. Die Darlegung auch einer unzutreffenden Rechtsansicht stellt hierbei noch keine Täuschung über steuerlich erhebliche Tatsachen im Sinne des § 370 Abs. 1 AO dar, solange sie sich im Rahmen des Vertretbaren bewegt. Darüber hinaus ist eine Offenlegung dann nicht erforderlich, wenn sich der Steuerpflichtige auf die bisherige BFH-Rechtsprechung berufen kann75. Vor diesem Hintergrund lässt sich in Bezug auf Verrechnungspreise eine Steuerhinterziehung vermeiden, wenn die Dokumentationspflichten im Sinne des § 90 Abs. 3 AO und der GAufzV erfüllt werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn aus der Verrechnungspreisdokumentation hervorgeht, dass sich der Steuerpflichtige ernsthaft um eine dem Fremdvergleich genügende Preisbildung für Zwecke seiner steuerlichen Einkünfteermittlung bemüht hat und damit die Anforderungen der GAufzV76 und der VWG-Verfahren77 erfüllt hat. Der Steuerpflichtige kann deshalb die Bandbreite von Fremdvergleichspreisen dokumentieren und dabei aus seiner Sicht begründen, dass die angesetzten Verrechnungspreise innerhalb dieses Bandes liegen78. Darüber hinaus kann die Angemessenheit der Verrechnungspreise auch – z.B. mangels Fremdvergleichswerten bei Lizenzgebühren – über eine qualitative Argumentation dokumentiert werden. Damit fehlt es in den Fällen, in denen der Steuerpflichtige einen Sachverhalt, aus dem sich eine verdeckte Gewinnausschüttung, eine verdeckte Einlage oder eine Einkünftekorrektur nach § 1 AStG ergeben könnte, im Rahmen seiner Dokumentationspflichten gemäß § 90 Abs. 3 AO schildert, an einer unrichtigen oder unvollständigen Angabe im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO79. Außerdem wäre unzulässig, den Steuerpflichtigen für die „Unrichtigkeit“ seiner Erklärung im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO an der von ihm gewählten Berechnungsmethode festzuhalten, weil dadurch derjenige Steuerpflichtige, der eine Verrechnungspreisdokumentation unterlässt, dem Steuerpflichtigen, der sie nur leichfertig falsch durchführt, besser gestellt würde80. Im Ergebnis kann eine Steuerhinterziehung durch „unrichtige oder unvollständige Angaben“ im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht vorliegen, wenn die Fremdvergleichskonformität von Verrechnungspreisen durch vertretbare betriebswirtschaftliche Argumente unter Anwendung einer von der BFHRechtsprechung sowie von der Finanzverwaltung anerkannten Ermittlungsmethode begründet werden kann. Aufgrund der erheblichen Ermessensspiel-

___________ 73 BGH v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99, NStZ 2000, 203. 74 Vgl. Meyer in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 370 AO Rz. 86. 75 Vgl. Harms, Stbg. 2005, 14; Spriegel in Grotherr, Handbuch der internationalen Steuerplanung, 2003, S. 1672. 76 Vgl. § 1 Abs. 1 GAufzV. 77 Vgl. VWG-Verfahren, Tz. 3.4.12.3. 78 Vgl. Schwedhelm in Streck, KStG, 2008, § 8, Rz. 270. 79 Vgl. Gotzens, Praxis Steuerstrafrecht 2006, 255; Meyer in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 370 AO Rz. 86. 80 Vgl Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1596.

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räume81 steht es diesbezüglich dem Steuerpflichtigen frei, die günstigste zulässige Berechnungsmethode zur Ermittlung von Verrechnungspreisen zu wählen. Dies gilt auch dann, wenn die Argumente des Steuerpflichtigen von der Auffassung der Finanzverwaltung abweichen und sich damit zulasten des deutschen Fiskus auswirken. Insoweit kann der Steuerpflichtige im Bereich der Verrechnungspreise durch eine entsprechende „Tax Compliance“ eine Steueroptimierung erreichen, ohne dabei steuerstrafrechtliche Tatbestände zu erfüllen82. b) Steuerhinterziehung durch „Unterlassen“ Stellt der Steuerpflichtige nachträglich vor Ablauf der Festsetzungsfrist fest, dass die angesetzten Verrechnungspreise unangemessen sind, hat er nach § 153 Abs. 1 Nr. 1 AO eine Berichtigung vorzunehmen. Unterlässt der Steuerpflichtige die unverzügliche Berichtigung gemäß § 153 Abs. 1 Nr. 1 AO, so begeht er eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO83. Hierbei muss die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Steuererklärung für die Steuerverkürzung ursächlich sein84. Allerdings trifft den Steuerberater – im Gegensatz zum Steuerpflichtigen – die Berichtigungspflicht gemäß § 153 AO nicht. Stellt der Berater aber im Rahmen der Erstellung einer Verrechungspreisdokumentation die Fehlerhaftigkeit der abgegebenen Steuererklärung fest, so hat er die Pflicht, den Mandanten auf die Korrekturpflicht gemäß § 153 AO und die steuerstrafrechtlichen Folgen einer Unterlassung der Berichtigung hinzuweisen85. Im Zusammenhang mit der Steuerhinterziehung durch pflichtwidriges „in Unkenntnis lassen“ der Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen stellt sich die Frage, ob dies bereits dann vorliegen kann, wenn die Dokumentationspflichten für internationale Verrechnungspreise gemäß § 90 Abs. 3 AO missachtet werden. Diesbezüglich vertritt die h.M. zutreffend die Ansicht, dass die bloße Nichtbeachtung der Mitwirkungspflichten des § 90 Abs. 3 AO nicht zu einer Strafbarkeit bzw. Ordnungswidrigkeit nach §§ 369 ff. AO führen kann86. Dies insbesondere deswegen, weil eine unmittelbare strafrechtliche Sanktionierung eines solchen Verstoßes aus dem Gesetz nicht abgeleitet werden kann. Vielmehr sind in diesem Fall lediglich die rein steuerrechtlichen Rechtsfolgen zu ziehen, die bei Verstößen gegen die Mitwirkungspflichten gemäß § 162 Abs. 3 und 4 AO vorgesehen sind87. Ein bloßer Verstoß gegen die Mitwirkungspflichten des § 90 Abs. 3 AO bedeutet für sich genommen also noch keinen Verstoß gegen eine Rechtspflicht zur Offenbarung steuerlich erheblicher Tatsachen im Sinne des § 370 Abs. 1 AO. Denn aus der Verletzung der Mitwirkungspflichten kann noch keine Unangemessenheit der Ver-

___________ 81 Vgl. zu Einzelheiten Abschn. II. 82 Vgl. Streck/Binnewies, DStR 2009, 231. 83 Vgl. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht 2009, § 370 AO Rz. 185; Streck, DStR 1996, 290. 84 Vgl. Cöster in Pahlke/Koenig, AO 2009, § 153 AO Rz. 16. 85 Vgl. Kiesel/Theisen, IStR 2006, 287. 86 Vgl. Gotzens, Praxis Steuerstrafrecht 2006, 254; Kiesel/Theisen, IStR 2006, 285; Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1594. 87 Vgl. dazu im Einzelnen Abschn. III.3.

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rechnungspreise abgeleitet werden. Hinzukommen muss vielmehr eine weitere Handlung oder ein weiteres Unterlassen, welches zur vorsätzlich begangenen Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO oder zur leichtfertigen Steuerverkürzung gemäß § 378 AO führt88. c) Zwischenergebnis Der Ansatz von Verrechnungspreisen kann nur in seltenen Ausnahmefällen den objektiven Tatbestand einer Steuerhinterziehung erfüllen. Dies insbesondere deswegen, weil der Steuerpflichtige keine „unrichtigen“ oder „unvollständigen“ Angaben macht, wenn er Verrechnungspreise festlegt, die innerhalb einer Bandbreite liegen, die er aus seiner Sicht begründen kann. Soweit sich eine Bandbreite von Preisen nicht ermitteln lässt (z.B. bei Lizenzgebühren), ist dabei auch eine qualitative Argumentation möglich. Eine Steuerhinterziehung durch „Unterlassen“ kann nur dann vorliegen, wenn der Steuerpflichtige nachträglich vor Ablauf der Festsetzungsfrist erkennt, dass seine Verrechnungspreise unter Würdigung aller Umstände unangemessen sind und eine Berichtigung gemäß § 153 Abs. 1 Nr. 1 AO unterlässt. Der bloße Verstoß gegen die Mitwirkungspflichten gemäß § 90 Abs. 3 AO begründet hingegen keine Steuerhinterziehung durch „Unterlassen“. 3. Verrechnungspreise und subjektiver Tatbestand der Steuerhinterziehung a) Vorsätzliche Steuerverkürzung Die Steuerhinterziehung ist nur dann strafbar, wenn der Steuerpflichtige vorsätzlich handelt (subjektiver Tatbestand). Ein direkter Vorsatz liegt dann vor, wenn der Wille, den Straftatbestand in Kenntnis seiner Tatumstände zu verwirklichen, vorhanden ist. Der Täter muss also z.B. wissen, dass die Angaben, die er gemacht hat, unrichtig oder unvollständig sind und dass dadurch eine Steuerverkürzung eintreten kann89. Eventualvorsatz ist dabei ausreichend, wenn der Steuerpflichtige die Verwirklichung des Tatbestandes ernstlich für möglich hält und den Erfolg billigend in Kauf nimmt90. Dementsprechend ist nach der neueren Rechtsprechung des BGH in diesem Fall eine steuerliche Anzeige- und Berichtigungspflicht anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die Unrichtigkeit seiner Angaben bei Abgabe der Steuererklärung nicht gekannt, aber billigend in Kauf genommen hat und er später zu der sicheren Erkenntnis gelangt ist, dass die Angaben unrichtig sind91. Allerdings wird der objektive Tatbestand der Steuerhinterziehung durch das Erfordernis des subjektiven Tatbestandes stark eingeschränkt. Bezogen auf die Angemessenheit der Verrechnungspreise bedeutet dies, dass der Steuerpflichtige die Verletzung des Fremdvergleichsgrundsatzes ernsthaft beabsichtigt hat92.

___________ 88 Vgl. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht 2009, § 370 AO Rz. 185 m.w.N.; Sidhu/Schemmel, BB 2005, 2551. 89 Vgl. Meyer in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 370 AO Rz. 126; Senge in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 2009, § 370 AO Rz. 62. 90 Vgl. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 2009, § 370 AO Rz. 50. 91 Vgl. BGH v. 17.3.2009 – 1 StR 479/08, BB 2009, 1903, 1. Leitsatz und Tz. 20. 92 Vgl. VWG-Verfahren, Tz. 4.1.

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Dies kann praktisch nur dann nachgewiesen werden, wenn der Steuerpflichtige den Fremdvergleichsgrundsatz völlig ignoriert hat oder er über ihm bekannte, absolut zweifelsfreie Vergleichsdaten im Hinblick auf die Erzielung eines erheblichen Steuervorteils bewusst hinweggegangen ist93. Die bloße Möglichkeit, die Unrichtigkeit der gemachten Angaben zu erkennen, genügt unstreitig nicht94. Ein vorsätzliches Handeln liegt dementsprechend z.B. dann vor, wenn der Steuerpflichtige bewusst – Verrechnungspreise außerhalb der Bandbreite festlegt; – eine falsche Methode zur Ermittlung der Verrechnungspreise verwendet; – Teilkosten ohne Begründung ermittelt. Eine vorsätzliche Steuerhinterziehung könnte damit dann angenommen werden, wenn ein inländisches Unternehmen Betriebsausgaben begründende Lizenzgebühren an ein funktionsloses Unternehmen in einem Niedrigsteuerland zahlt, ohne hieraus einen tatsächlichen wirtschaftlichen Vorteil im Inland erzielen zu können, und dieser Umstand dem inländischen Steuerpflichtigen bewusst ist. Gleiches gilt auch, wenn der inländische Steuerpflichtige als Betriebsausgaben abziehbare Zahlungen leistet, obwohl er die vertraglich vereinbarte Leistung tatsächlich nicht erhalten hat95. Hierbei handelt es sich indessen weniger um Fälle von unangemessenen Verrechnungspreisen, sondern um Zahlungen eines inländischen verbundenen Unternehmens, ohne dass der Zahlung eine adäquate Leistung gegenüber steht. Würde hingegen eine inländische Vertriebsgesellschaft über einen längeren Zeitraum hinweg (z.B. mehr als fünf Jahre) Anlaufverluste erzielen, und ließe sich hierfür auch nur ein einziger betriebswirtschaftlicher Grund anführen, käme eine Verletzung des Fremdvergleichsgrundsatzes nicht in Betracht, sodass eine vorsätzlich begangene Steuerhinterziehung hierbei ausgeschlossen wäre. Denn für diesen Fall hat der BFH festgestellt, dass nach einer mehr als 3-jährigen Verlustphase einer Vertriebsgesellschaft widerlegbar vermutet werden kann, dass die Verrechnungspreise unangemessen sind96. Der Vorsatz lässt sich in der Praxis verhältnismäßig leicht nachweisen, wenn es sich um die Fälschung von Belegen oder um offensichtliche Manipulationen der Buchführung handelt. Mit Bezug auf die Verrechnungspreise bereitet der Nachweis eines vorsätzlichen Handelns indessen regelmäßig Schwierigkeiten. So fehlt es an einem Vorsatz u.a. dann, wenn der Steuerpflichtige anhand einer ordnungsgemäßen Dokumentation eine vertretbare Vorgehensweise zur Ermittlung der Verrechnungspreise nachweisen kann. Dies gilt auch dann, wenn die Vorgehensweise von der Finanzverwaltung im Ergebnis nicht akzeptiert wird97. Diesbezüglich reicht allerdings auch die bewusste Verletzung einer Dokumentationspflicht nicht zur Bejahung des Vorsatzes

___________ 93 Vgl. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 2009, § 370 AO Rz. 185. 94 Vgl. BGH v. 17.3.2009 – 1 StR 479/08, BB 2009, 1903, Tz. 15. 95 Vgl. Vögele/Collardin/von Jesche in Vögele/Borstell/Engler, Handbuch der Verrechnungspreise, 2004, Kapitel L, Rz. 2. 96 Vgl. BFH v. 17.2.1993 – I R 3/92, BStBl. II 1993, 457; BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171. 97 Vgl. Gotzens, Praxis Steuerstrafrecht 2006, 255.

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aus, wenn der Steuerpflichtige von der Fremdüblichkeit der angesetzten Verrechnungspreise ausging und damit eine Steuerverkürzung nicht für möglich gehalten hat. Allein die Verletzung von Mitwirkungspflichten kann nicht zu einem strafbaren Verhalten führen98. Dies kann allenfalls eine Leichtfertigkeit im Sinne des § 378 AO begründen99. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, ob ein Steuerpflichtiger, der eine Verrechnungspreisdokumentation nicht erstellt und möglicherweise die Unrichtigkeiten seiner Angaben in Kauf genommen hat, auch die Gefahr einer daraus resultierenden Steuerverkürzung kennen musste. Diesbezüglich wird in der Literatur zutreffend die Ansicht vertreten, dass aus dem Verstoß gegen die Mitwirkungspflichten gemäß § 90 Abs. 3 AO nicht auf einen Hinterziehungsvorsatz zu schließen ist, wenn der Steuerpflichtige befürchten muss, dass die Finanzbehörde den Sanktionsmechanismus des § 162 Abs. 3 AO in Anspruch nehmen kann, sofern er keine ordnungsgemäße Verrechnungspreisdokumentation vorlegt100. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass selbst dann, wenn bei der Verwendung unangemessener Verrechnungspreise der objektive Tatbestand der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO vorliegt, nur in sehr seltenen Fällen ein vorsätzliches Handeln vorliegen kann101. b) Steuerverkürzung durch Leichtfertigkeit Da der „Vorsatz“ sich auf jedes einzelne Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes beziehen muss, entfällt er, wenn der Steuerpflichtige einen äußeren Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört bzw. darüber irrt und damit einem Tatbestandsirrtum gemäß § 16 StGB unterliegt102. Wenn der Steuerpflichtige nicht erkennt, dass er unrichtige Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen macht und dadurch Steuern verkürzt (der Steuerpflichtige irrt beispielsweise über den Eintritt einer Steuerverkürzung), handelt er nicht vorsätzlich (§ 369 Abs. 2 AO i.V.m. § 16 StGB). Leistet damit z.B. ein inländischer Steuerpflichtiger Zahlungen für vertraglich geschuldete Leistungen, die er – ohne es zu wissen – tatsächlich nicht erhalten hat, entfiele damit der Vorwurf der vorsätzlichen Steuerhinterziehung (§ 370 AO), allerdings könnte bei grober Unachtsamkeit eine leichtfertige Steuerverkürzung (§ 378 AO) oder eine Steuergefährdung (§ 379 AO) vorliegen103. Hierfür muss der objektive Tatbestand einer Steuerverkürzung im Sinne des § 370 Abs. 1 AO vorliegen104.

___________ 98 Vgl. Sidhu/Schemmel, BB 2005, 2551. 99 Vgl. dazu Abschn. IV.3.b. 100 Vgl. Kiesel/Theisen, IStR 2006, 285 f.; Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1599. 101 Vgl. Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1600. 102 Vgl. Streck/Spatscheck, Die Steuerfahndung, 2006, Rz. 1014. 103 Vgl. Vögele/Collardin/von Jesche in Vögele/Borstell/Engler, Handbuch der Verrechnungspreise, 2004, Kapitel L, Rz. 3; Streck/Spatscheck, Die Steuerfahndung, 2006, Rz. 1017. 104 Vgl. Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 2009, § 378 AO Rz. 31.

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Rudolf Gocke und Xaver Ditz

Im Kontext der vorstehenden Ausführungen ist allerdings fraglich, ob aufgrund des Ansatzes unangemessener Verrechnungspreise der Vorwurf der Leichtfertigkeit erhoben werden kann. Dies insbesondere deswegen, weil eine Leichtfertigkeit nur dann begründet werden kann, wenn der Steuerpflichtige zur Verwendung „zuverlässiger Fremdvergleichspreise“ verpflichtet wäre105. Eine derartige Pflicht lässt sich aber weder aus § 90 Abs. 3 AO noch aus der GAufZV ableiten. Vielmehr liegen in der Praxis nur Bandbreiten von Preisen vor106. Dementsprechend fehlen auch klare Kriterien, wonach der Steuerpflichtige die Zuverlässigkeit der Verrechnungspreise feststellen kann (dies gilt insbesondere für die Ermittlung von Lizenzgebühren). Angesichts der erheblichen Ermessenspielräume bei der Ermittlung von Verrechnungspreisen kann der Steuerpflichtige nicht an der Zuverlässigkeit der von ihm festgelegten Verrechnungspreisen zweifeln, soweit sie nach einer zulässigen Methode ermittelt wurden und sich innerhalb der entsprechenden Bandbreite befinden. Dies gilt auch dann, wenn dem Steuerpflichtigen auch andere als die von ihm ermittelten Fremdvergleichspreise bekannt sind. Im Ergebnis dürfte auch der Vorwurf der Leichtfertigkeit im Zusammenhang mit der Festlegung von Verrechnungspreisen regelmäßig ausscheiden. Dafür spricht auch der Umstand, dass die Finanzverwaltung selbst mangels konkreter Vergleichspreise regelmäßig Schwierigkeiten bei der Überprüfung der Angemessenheit von Verrechnungspreisen hat107. c) Zwischenergebnis Selbst wenn der Ansatz unangemessener Verrechnungspreise den objektiven Tatbestand einer Steuerhinterziehung erfüllen würde, wäre es in strafrechtlicher Hinsicht kaum möglich, dem Steuerpflichtigen ein vorsätzliches Handeln nachzuweisen. Dies setzt voraus, dass der Steuerpflichtige die Verletzung des Fremdvergleichsgrundsatzes ernsthaft beabsichtigt bzw. billigend in Kauf genommen hat. Ersteres würde nur dann vorliegen, wenn der Steuerpflichtige bewusst Verrechnungspreise, die sich außerhalb einer Bandbreite befinden, festgelegt hat. Angesichts der erheblichen Ermessensspielräume im Hinblick auf die Ermittlung von Verrechnungspreisen hätte allerdings der Steuerpflichtige meistens eine umfangreiche Argumentationsbasis, um den gewählten Ansatz zu rechtfertigen. Darüber hinaus ist es zweifelhaft, ob der Steuerpflichtige erkennen kann, dass die festgelegten Verrechnungspreise zu einer Steuerverkürzung führen. Daher ist es auch fraglich, ob der Ansatz unangemessener Verrechnungspreise eine Leichtfertigkeit im Sinne des § 378 AO begründen kann. Denn mangels klarer Kriterien kann der Steuerpflichtige die Zuverlässigkeit der von ihm angesetzten Verrechnungspreise nicht beurteilen. Damit dürfte auch der Vorwurf einer leichfertigen Steuerverkürzung regelmäßig ausscheiden.

___________ 105 Vgl. Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1602. 106 Vgl. Abschn. II.3. 107 Vgl. Schwedhelm in Streck, KStG, 2008, § 8, Rz. 265.

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Internationale Verrechnungspreise und das Steuerstrafrecht

4. Praxisprobleme mit steuerstrafrechtlichem Bezug a) Rückdatierung von Verträgen In der Verrechnungspreispraxis sind gelegentlich sog. „nachgeschobene Verträge“ von Bedeutung, die in Gestalt verdeckter oder offener Rückdatierungen auftauchen108. Dies geschieht meistens bei Anforderung von Unterlagen durch den Betriebsprüfer oder der Erstellung einer ordnungsgemäßen Verrechnungspreisdokumentation. Hierbei wird oft festgestellt, dass schriftliche Verträge über konzerninterne Liefer- und Leistungstransfers entweder fehlen oder derart unvollständig sind, dass sie als nicht fremdüblich angesehen werden können. Durch die Rückdatierung von Verträgen können strafrechtliche Risiken entstehen. Dies insbesondere deswegen, weil die Rechtsprechung109 und die Finanzverwaltung110 im Verhältnis zwischen Gesellschaft und Gesellschafter einen Betriebsausgabenabzug nur dann anerkennen, wenn den Aufwendungen im Voraus getroffene klare und eindeutige Vereinbarungen zugrunde liegen. Das Fehlen an derartigen Vereinbarungen kann steuerlich eine verdeckte Gewinnausschüttung zur Folge haben111. Diese Rechtsprechung wird in Verrechnungspreis-Fällen indessen dadurch eingeschränkt, dass abkommensrechtlich eine Verrechnungspreiskorrektur bei internationalen Sachverhalten nach Art. 9 OECD-MA ausscheidet, wenn lediglich die formalen Anforderungen im Fall von beherrschenden Gesellschaftern vernachlässigt wurden112. In diesen Fällen ist es lediglich erforderlich, die zwischen den Vertragsparteien vereinbarten Regelungen hinreichend zu konkretisieren. Dabei ist es nach Auffassung des FG Köln unerheblich, wann die erforderliche Konkretisierung durchgeführt wird, im Vor- oder im Nachhinein113. Im Hinblick auf die Vertragsgestaltung werden die verdeckte und die offene Rückdatierung differenziert. Bei der verdeckten Rückdatierung erfolgt die Unterzeichnung eines Vertrags mit einem in der Vergangenheit liegenden Datum. In diesem Fall würde z.B. der Geschäftsführer einer inländischen Konzerngesellschaft einen Vertrag über geleistete und verbuchte Zahlungen an eine ausländische Konzerngesellschaft verfassen und ihn auf ein mehrere Jahre in der Vergangenheit liegendes Datum zurückdatieren. Führt die Vorlage des rückdatierten Vertrags zu einer Steuerverkürzung, so ist die Erstellung des Vertrags als Vorbereitung einer Steuerhinterziehung im Sinne des § 370 AO anzusehen114. Denn die Steuerschuld entsteht nach § 38 AO durch Tatbestandserfüllung aufgrund eines realen Sachverhalts. Soweit sich reales

___________ 108 Vgl. Vögele/Collardin/von Jesche in Vögele/Borstell/Engler, Handbuch der Verrechnungspreise, 2004, Kapitel L, Rz. 52. 109 Vgl. FG München v. 16.7.2002 – 6 K 1910/98, DStRE 2003, 868. 110 Vgl. VWG 1983, Tz. 1.4.1. 111 Vgl. FG München v. 16.7.2002 – 6 K 1910/98, DStRE 2003, 868; H 36 „Beherrschender Gesellschafter“ KStH. 112 Vgl. FG Köln v. 22.8.2007 – 13 K 647/03, DStRE 2008, 696, rkr.; vgl. im Einzelnen dazu Baumhoff/Greinert, IStR 2008, 353. 113 Vgl. FG Köln, DStRE 2008, 696, rkr. 114 Vgl. Sidhu/Schemmel, BB 2005, 2551; Vögele/Collardin/von Jesche in Vögele/ Borstell/Engler, Handbuch der Verrechnungspreise, 2004, Kapitel L, Rz. 8.

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Geschehen und eingetretene Rechtswirkungen nicht mehr ändern lassen, entsteht die Steuerschuld unabänderlich115. Eine Durchbrechung des steuerrechtlichen Rückwirkungsverbots ist hierbei lediglich dann zulässig, wenn sich die Rückwirkung nur über eine kurze Zeit erstreckt116 oder nur technische Bedeutung hat, sodass keine steuerlichen Folgen daraus entstehen117. Eine offene Rückdatierung liegt hingegen vor, wenn der Steuerpflichtige die Festlegung des Inkrafttretens des Vertrags zu einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt und die Unterzeichnung mit aktuellem Datum vornimmt. Dies wäre z.B. der Fall, wenn der Geschäftsführer einer inländischen Konzerngesellschaft einen Vertrag über geleistete und verbuchte Zahlungen an eine ausländische Konzerngesellschaft verfasst, der zwar einen Zeitraum in der Vergangenheit regelt, aber mit einem Datum der Gegenwart versehen wird. Eine Steuerstraftat kommt hier nur dann in Betracht, wenn in der Vergangenheit eine Steuerverkürzung vorliegt und der Steuerpflichtige vorsätzlich gehandelt hat118. Die Vorlage eines rückwirkenden Vertrages selbst ist nicht strafbar. Von dem steuerlichen Rückwirkungsverbot zu unterscheiden sind nachträgliche Preisfestlegungen bzw. -anpassungen. Denn nach Auffassung der Finanzverwaltung119 und des BFH120 sind in Ausnahmefällen nachträgliche Preisvereinbarungen oder -anpassungen anzuerkennen, wenn der Steuerpflichtige anhand von Aufzeichnungen glaubhaft macht, dass sie in vergleichbaren Fällen auch zwischen fremden Dritten vorgenommen worden wären. b) Mündliche Vereinbarungen Von den vorstehend dargestellten Rückdatierungsfällen sind die Fälle nachträglich behaupteter mündlicher Vereinbarungen zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang können sich eindeutige Vereinbarungen auch aus konkludentem Handeln (§§ 344, 362 HGB) ergeben. Denn Ausnahmen von der Forderung nach klaren und eindeutigen Vereinbarungen können in Abhängigkeit vom Einzelfall durchaus zulässig sein121. Trägt damit der Geschäftsführer einer inländischen Konzerngesellschaft vor, dass geleisteten und verbuchten Zahlungen an eine ausländische Konzerngesellschaft ein konkludent geschlossener Vertrag zugrunde gelegt wurde, kann eine Steuerhinterziehung nur dann vorliegen, wenn nachgewiesen wird, dass der Vertrag nicht konkludent geschlossen wurde und dass der Geschäftsführer vorsätzlich Steuern verkürzt hat.

___________ 115 Vgl. BFH v. 7.7.1983 – IV R 209/80, BStBl. II 1984, 53. 116 Vgl. BFH v. 22.5.1987 – III R 220/83, BStBl. II 1987, 711. 117 Vgl. BFH v. 23.1.1986 – IV R 335/84, BStBl. II 1986, 623; vgl. auch Vögele/ Collardin/von Jesche in Vögele/Borstell/Engler, Handbuch der Verrechnungspreise, 2004, Kapitel L, Rz. 54. 118 Vgl. Sidhu/Schemmel, BB 2005, 2551; Vögele/Collardin/von Jesche in Vögele/ Borstell/Engler, Handbuch der Verrechnungspreise, 2004, Kapitel L, Rz. 8. 119 Vgl. VWG-Verfahren, Tz. 3.4.12.8. 120 Vgl. BFH v. 14.8.1974 – I R 168/72, BStBl. II 1975, 123. 121 Vgl. BFH v. 21.7.1982 – I R 56/78, BStBl. II 1982, 761; BFH v. 24.1.1990 – I R 157/86, BStBl. II 1990, S. 645.

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Internationale Verrechnungspreise und das Steuerstrafrecht

Gleichwohl ist es insbesondere bei langfristigen Rechtsbeziehungen im Interesse der Transparenz solcher Rechtsbeziehungen und einer erleichterten Nachweis- und Nachprüfbarkeit zweckmäßig, schriftliche Vereinbarungen zu treffen. Dazu gehören z.B. der Abschluss mehrperiodiger Beratungsverträge, die langfristige Übernahme von Verwaltungs- und Werbeaufgaben oder die Gewährung von Marken- oder Patentlizenzen.

V. Fazit Im Kontext der vorstehenden Ausführungen lässt sich festhalten, dass die Relevanz des Steuerstrafrechts im Rahmen der internationalen Verrechnungspreispraxis deutscher Konzernunternehmen auf Extremfälle begrenzt ist122. Dies insbesondere deswegen, weil es aufgrund der großen Bandbreite der Verrechnungspreise sowie der verschiedenen Berechnungsmethoden regelmäßig kaum möglich ist, einem international tätigen Unternehmen Steuerhinterziehung durch den Ansatz unangemessener Verrechnungspreise nachzuweisen123. Gleichwohl hat der Steuerpflichtige gemäß § 90 Abs. 2 und 3 AO die Ermittlung seiner Verrechnungspreise umfassend zu dokumentieren. Dadurch kann der Steuerpflichtige zum einen die Sanktionen des § 162 Abs. 3 und 4 AO vermeiden und zum anderen die Finanzbehörden (indirekt) über „steuerlich erhebliche Tatsachen“ in Kenntnis setzen. Ferner wäre der Steuerpflichtige im Kontext der Rechtsprechung des BGH124 gut beraten, im Rahmen der Festlegung von Verrechnungspreisen auf Abweichungen von der Rechtsauffassung der Finanzverwaltung ausdrücklich hinzuweisen. Andernfalls besteht ein steuerliches Risiko, dass trotz fundierter Argumentation seiner Auffassung gegenüber der Finanzverwaltung steuerstrafrechtliche Folgen ausgelöst werden können.

___________ 122 So auch Kroppen/Rasch, IWB 2005 Fach 3, Gruppe 1, S. 2093; Sidhu/Schemmel, BB 2005, 2551; Weigell, IStR 2005, 164. 123 Vgl. Gotzens, Praxis Steuerstrafrecht 2006, 255. 124 Vgl. BGH v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99, NStZ 2000, 203.

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Markus Gotzens

Grenzüberschreitung im Steuerfahndungsverfahren Effizienz vor Rechtsstaat?

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Zur Sache III. Grundsätzliches: Was darf die Steufa eigentlich?

IV. Was darf die Steufa (eigentlich) nicht – Grenzüberschreitungen V. Wünschenswertes

I. Einleitung Vor einigen Jahren wurde ich gebeten, in Köln einen Vortrag zum Thema „Grenzüberschreitung im Steuerfahndungsverfahren“ zu halten. Begeistert machte ich mich an die Arbeit und sammelte Erfahrungsberichte, die davon zeugen sollten, dass Steuerfahndungsbeamte nicht selten „über die Stränge“ schlagen. Es sollte mir ein Anliegen sein, dies nicht nur zu dokumentieren, sondern auch zu kommentieren und im Rahmen des Vortrags zur Diskussion zu stellen. Wenige Tage später bekam ich jedoch einen Telefonanruf des Kollegen Streck, welcher im Auftrag des Veranstalters anrief, um – wie er sich in seiner unnachahmlichen und charmanten Art ausdrückte – die „verirrten Schäfchen wieder einzufangen“. Tatsächlich sollte er mich vor einer Themaverfehlung bewahren, welche mir nach Einreichung meiner vorläufigen Vortragsgliederung zu unterlaufen drohte. Gemeint war natürlich damals nicht die sachliche, sondern vielmehr die geographische Grenzüberschreitung im Steuerfahndungsverfahren. Selbstverständlich habe ich mich seinerzeit dem Wunsch des Kollegen sowie des Veranstalters gebeugt und den Vortrag nach geographischer Orientierung aufgestellt. Unabhängig von der – im Übrigen unstrittigen – Frage, dass es auch bei geographischen Grenzüberschreitungen zu durchaus interessanten rechtlichen Fragestellungen kommt, welche sicherlich einen eigenen Beitrag wert sind, konnte ich mir die Gelegenheit bei der Anfrage nach Verfassung eines Beitrages zu vorliegender Festschrift nicht entgehen lassen, das damals angestrebte Thema nun quasi wieder aufleben zu lassen – und dies ohne Gefahr zu laufen, dass mich erneut ein Anruf des Jubilars vorher auf den rechten Weg zurückführt.

II. Zur Sache Bekanntlich hat das spezielle (Straf)Rechtsgebiet des Steuerstrafrechts spätestens seit Beginn des Jahres 2008 eine bis dahin nicht gekannte und unge519

Markus Gotzens

wohnte Aufmerksamkeit erfahren. Auslöser dafür waren unzweifelhaft die (bewusst oder unbewusst) spektakulär geführten Ermittlungshandlungen gegen den ehemaligen Postchef Zumwinkel. Infolge dessen kam das mehr oder weniger zielführende „Hantieren“ mit dem Straftatbestand der Steuerhinterziehung und dessen „Begleiterscheinungen“ sowohl im journalistischen als auch im politischen Bereich immer mehr „in Mode“. Dies war nicht immer hilfreich. Mit dem vorliegenden Beitrag möchte ich versuchen, die nicht nur in diesem Zusammenhang festzustellenden Auswüchse kurz darzustellen und zu kommentieren sowie zum Nachdenken anregen. Es wäre wünschenswert, wenn man insgesamt und auf allen Ebenen – Steuerfahndung, Justiz sowie Verteidigung – wieder auf den festen, rechtlichen Boden zurückfinden würde, der dem Straftatbestand der Steuerhinterziehung, den damit verbundenen Ermittlungen und insbesondere der Verteidigung gegenüber dem zu Recht oder zu Unrecht erhobenen Hinterziehungsvorwurf stets als stabiles Fundament gedient hat. Selbstverständlich können und sollen dabei auch die jüngsten Änderungen in Rechtsprechung und Gesetzgebung – auch und gerade in Folge der geschilderten, jüngsten Ereignisse – nicht übersehen werden. Die in letzter Zeit zu verzeichnenden aktuellen Entwicklungen im Steuerstrafrecht sind dabei umso bemerkenswerter, als Änderungen in diesem speziellen Rechtsbereich in den vergangenen Jahren, gar Jahrzehnten ausgesprochen selten waren. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang lediglich die Einführung, vorgebliche „Verbesserung“ und Wiederabschaffung der gewerbs- und bandenmäßigen Steuerhinterziehung des § 370a AO. Wesentlich mehr hat sich bis zum Jahre 2008 im gesetzlich normierten Straftatbestand der Steuerhinterziehung nicht getan. Rechtsfortbildung fand vor Gericht statt. Dass dies auch heute noch so ist, zeigt beispielsweise das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 2.12.20081 mit dem versucht wird, allgemein gültige Leitlinien in der Strafzumessung bei der gerichtlichen Beurteilung der Steuerhinterziehung aufzustellen. Ähnliches gilt für die Entscheidung des Gerichts vom 20.5.20102 mit der massiv die Vorgaben zur Selbstanzeige nach § 371 AO geändert und verschärft wurden. Auch der Gesetzgeber war nicht untätig: Mit der Neufassung des § 376 AO ist er jedoch nach einhelliger Literaturmeinung (wieder einmal) über das Ziel hinaus geschossen3. Auch die genauso eindrucksvoll wie mit „heißer Nadel“ gestrickten Änderungen im Amts- und insbesondere Rechtshilfeverkehr mit sog. „Steueroasen“ sollen nicht unerwähnt bleiben. Jede dieser Entscheidungen und Gesetzesänderungen wären sicherlich einen eigenen Beitrag wert. Für den vorliegenden Beitrag sind sie in ihrer Gesamtschau und als Tendenz relevant. Sie lassen insgesamt erkennen, dass die „Spielregeln“ im Steuerstrafverfahren gerade in jüngster Zeit und in immer kürzeren Abständen stetig verschärft werden. Das – bildlich gesprochen –

___________ 1 BGH v. 2.12.2008 – 1 StR 416/08, NJW 2009, 528; vgl. dazu u.a. Salditt, PStR 2009, 15; Stahl, KÖSDI 2009, 16464. 2 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133. 3 Pelz, NJW 2009, 470; Wegener, PStR 2009, 33; Wulf, DStR 2009, 459; Rolletschke/ Jope, Stbg. 2009, 213.

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Grenzüberschreitung im Steuerfahndungsverfahren

„breite Kreuz“, mit dem der ein oder andere Steuerfahnder gewohnt ist, in Verfahren gegenüber einem Beschuldigten und oftmals auch dessen Verteidiger aufzutreten, wird dadurch stetig gestärkt. Die dabei oftmals offen zu Tage tretende „Botschaft“, dass die Ermittlungen in erster Linie möglichst effizient zu führen sind (und nach Rückdeckung durch die Rechtsprechung auch geführt werden können und sollen), wird mehr und mehr deutlich. All diese Entwicklungen sind durchaus und immer wieder und speziell von Seiten des Verteidigers im Steuerfahndungsverfahren im Zusammenhang mit der Arbeit der Steuerfahndung in der täglichen Praxis zu sehen. Dass es dabei oftmals zu Grenzüberschreitungen – und dies durchaus im doppeldeutigen Sinne – kommt, ist sicherlich allgemeine Erfahrung. Besser wird die Situation dadurch natürlich nicht.

III. Grundsätzliches: Was darf die Steufa eigentlich? Die Steuerfahndung ist einerseits Fiskalbehörde und verfügt als solche über die Eingriffsmöglichkeiten der AO. Sie ist andererseits Strafverfolgungsbehörde mit den Machtmitteln der StPO. Allgemein wird daher von einer „janusköpfigen“ Behörde gesprochen. Diese Machtkonzentration verlangt – vor allem im strafprozessualen Bereich – eine ständige Orientierung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und des geringmöglichen Eingriffs in die Grundrechte des Bürgers, Offenlegung der jeweils gewählten Verfahrensart, Disziplin im Umgang mit den zur Verfügung stehenden Machtmitteln und vor allem: Wirksamen Rechtsschutz des betroffenen Bürgers. Die Wirklichkeit des Ermittlungsverfahrens sieht indessen anders aus: Wichtige Fragen z.B. nach dem Verhältnis zwischen Besteuerungs- und Strafverfahren und den sich daraus für die Fahndung ergebenden Folgerungen oder nach dem Rechtsschutz gegen Fahndungsmaßnahmen sind unklar bzw. unzureichend geregelt. Diese rechtlichen Unzulänglichkeiten werden verstärkt durch die starke faktische Stellung der Fahndung. Im Verhältnis zu den Veranlagungs-, Betriebsprüfungsoder auch Strafsachenstellen bzw. der Staatsanwaltschaft ist die Fahndung im Regelfall der „stärkere“ Partner, auch wenn die Fahnder rechtlich nur deren „Ermittlungsbeamte“ sind. In der Regel dominieren sie das Ermittlungsverfahren, d.h. sie bestimmen, wann ein Sachverhalt aufgegriffen und ein Strafverfahren eingeleitet wird, welche Maßnahmen getroffen werden und wie die verkürzten Steuern fällig gestellt werden. Wer in diesem Stadium die Sachlage falsch ein- und die Ermittlungsmöglichkeiten der Steuerfahndung unterschätzt, den Mandanten unzureichend berät und sich möglicherweise selbst unklug gegenüber den Ermittlungsbeamten verhält, begeht gravierende, oft auch in den späteren Verfahrensabschnitten irreparable Fehler. Besonders für den Verteidiger im Steuerfahndungsverfahren ist daher die Kenntnis der gesetzlichen Grundlagen für die Tätigkeit der Steuerfahndung, also deren rechtliche Kompetenzabgrenzung, wie natürlich oftmals auch persönliche Befindlichkeiten und die Kenntnis des internen Behördenapparates von wesentlicher Bedeutung4.

___________ 4 Wannemacher im Vorwort zum Handbuch „Steuerberater und Mandant im Steuerstrafverfahren“, 3. Aufl. 1989.

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Markus Gotzens

Zentrale Bedeutung hat in diesem Zusammenhang § 399 AO, welcher die Rechte und Pflichten der Finanzbehörde bei der Bearbeitung einer Strafsache normiert. Den Beamten der Steuerfahndung steht kein selbstständiges Ermittlungsrecht nach § 399 AO zu; sie sind nach § 404 Satz 2 AO grundsätzlich Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft5. Die Finanzbehörde ist nach dem Legalitätsprinzip6 zum Einschreiten verpflichtet, sobald ein Anfangsverdacht (also zureichende tatsächliche Anhaltspunkte, § 152 Abs. 2 StPO) für das Vorliegen einer Steuerstraftat bejaht wird. In diesem Fall hat die Finanzbehörde den Sachverhalt zu ermitteln, d.h. die Tatsachen, aus denen sich Hinweise auf den objektiven und subjektiven Tatbestand einer Steuerstraftat ergeben. Dabei müssen sich die Ermittlungen auch auf die Rechtsfolgeumstände erstrecken, die für die Bemessung der Strafe von Bedeutung sind7, insbesondere die inneren Abläufe, die zur Tat geführt haben, die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten sowie die Vorstrafen. Die Finanzbehörde ist dem rechtsstaatlichen Gebot des fairen Verfahrens zur Objektivität verpflichtet und muss daher belastende und entlastende Umstände gleichermaßen ermitteln (§ 160 Abs. 2 StPO)8. Diese strafprozessuale Verpflichtung, nach der sich auch die Ermittlungen der Finanzbehörde im Steuerstrafverfahren zu richten haben, kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden.

IV. Was darf die Steufa (eigentlich) nicht – Grenzüberschreitungen Wie bereits mehrfach angedeutet, wird der soeben angesprochene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und insbesondere die Verpflichtung der Ermittlungsbehörden und ihrer „Hilfsbeamten“, sowohl Belastendes als auch Entlastendes zu ermitteln, nicht immer (und leider oftmals gar nicht) in der Praxis mit der gebotenen Konsequenz beachtet. Fahndungsbeamte sind in der täglichen Praxis nicht nur aufgrund ihrer „doppelten“ rechtlichen „Ausstattung“ (Januskopf) mit einer außerordentlichen Machtfülle versehen, sie sind in der Regel auch außerordentlich gut ausgebildet, durchaus wirtschaftlich erfahren und dementsprechend mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein unterwegs. Gekrönt wird das Ganze durch ein oftmals undurchsichtiges System verschiedener Behördenapparate und damit korrespondierend einem – speziell für den steuerstrafrechtlich unerfahrenen Verteidiger und erst Recht natürlich für den mit einem steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren konfrontierten steuerpflichtigen Mandanten – nur schwer nachvollziehbaren Kontroll- und Überwachungsapparat, bestehend aus diversen internen Vorgesetzten und vorgesetzten Behörden bis hin zu den entsprechenden Rechtsmittelinstitutionen innerhalb der Justiz. Schwedhelm spricht von einem umgekehrten Verhältnis dieses diffusen Systems zur Machtfülle der Steuerfahnder und verglei-

___________ 5 6 7 8

Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl. 2009, § 399 Rz. 7. Über § 399 Abs. 1 AO i.V.m. §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 StPO. § 160 Abs. 3 Satz 1 StPO, §§ 46, 47 Abs. 1, 48 Abs. 1, 56 Abs. 1 und 2 StGB. Seipl in Beermann, § 399 AO Rz. 13.

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Grenzüberschreitung im Steuerfahndungsverfahren

che die Behörde mit einer auf dem Kopf stehenden Pyramide9. Seine Feststellungen kumulieren in der Bemerkung, dass sich die Fahndung verselbstständige und der Diener sich zum Herren aufgeschwungen habe. Dies kann von meiner Seite aus nur bestätigt werden. Einige Beispiele aus der Praxis mögen dies verdeutlichen. 1. Zur besseren Illustration – und weil es so schön zur Doppeldeutigkeit des Begriffs der Grenzüberschreitung passt – sei zunächst ein kurzes Beispiel aus der Praxis geschildert: Aufgrund einer denunziatorischen Anzeige gelangte eine deutsche Steuerfahndungsstelle zu „Erkenntnissen“, die zur Einleitung eines steuerstrafrechtlichen Ermittungsverfahren und zu Durchsuchungsbeschlüssen im Inland sowie im Ausland – in diesem Fall in Form der Rechtshilfe in Spanien – führten. Bei der Durchsuchungsaktion in Spanien waren u.a. auch – wie inzwischen nahezu üblich – die deutschen Fahnder vor Ort anwesend. Man musste allerdings feststellen, dass – anders als in Deutschland – die spanischen Behörden offenbar keine Handhabe hatten, das zu durchsuchende Objekt – welches verlassen und verschlossen war – quasi gewaltsam zu öffnen. Es wurde daher zunächst abgewartet in der Hoffnung, dass ein Bewohner heimkommen würde. Als dies nicht geschah, wurde von den deutschen Fahndungsbeamten kurzerhand das mit dem Verkauf des Objektes betreute Immobilienbüro angerufen und um einen Besichtigungstermin für den gleichen Abend gebeten. Dem deutschen Fahnder war aus seinen Vorermittlungen bekannt, dass der Beschuldigte das Objekt zu verkaufen beabsichtigte. Es wurde dann auch ein Termin vereinbart. Zur ausgemachten Zeit erschien eine Abgesandte des Immobilienbüros mit einem Schlüssel und sperrte das Objekt auf. In dem dazu angefertigten Aktenvermerk der Steuerfahndung heißt es darauf hin wörtlich: „Nur weil das Objekt jetzt offen war, konnten sich die spanischen Behörden Zutritt verschaffen. Die Durchsuchung verlief in üblichen Bahnen“. Würden wir uns nicht im Steuerfahndungsverfahren befinden, würde das Verhalten des Fahnders zumindest als ausgesprochen clever bezeichnet werden können. Wir befinden uns aber im Steuerfahndungsverfahren und daher gilt, dass (selbst) die Steuerfahndung an Recht und Gesetz gebunden ist. Dieses sieht nun mal nicht vor, dass die gegebenen Regeln der Rechtshilfe nicht beachtet oder zumindest umgangen werden und sei die Umgehung noch so „clever“. Natürlich ist es auf der einen Seite nachvollziehbar, wenn ein deutscher Steuerfahnder im Rahmen einer (genehmigten) Teilnahme an einer Durchsuchungsaktion feststellt, dass offenbar seine Kollegen nicht „so einfach“ Wohnungen gewaltsam öffnen können, wie dies in Deutschland der Fall ist und dass der deutsche Beamte dies nur widerwillig zur Kenntnis nimmt. Dies ändert aber auf der anderen Seite nichts daran, dass man im Rahmen der Rechtshilfe nicht einfach bestehende Regeln durch eine „List“ umgehen kann, nach dem Motto „Es lebe die Effizienz – Rechtsstaat kommt später“.

___________ 9 Schwedhelm, BB 2010, 731 ff.

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2. Ein weiteres Beispiel aus der schillernden Welt der Durchsuchung und Beschlagnahme verdeutlicht, dass Grenzüberschreitungen auch im Inland stattfinden: In diesem Fall waren im Rahmen einer Betriebsprüfung verschiedene Geldzuflüsse aufgefallen und vom Betriebsprüfer beim Unternehmer nachgefragt worden. Zur Erläuterung gab der Unternehmer an, die Mittel stammten aus einem vom Schwiegervater ausgereichten Darlehen. Dieser hätte seinerseits das Geld aus einem Grundstücksverkauf erlöst. Die Erklärung reichte dem Außenprüfer allerdings nicht aus. Er fertigte vielmehr eine sog. „Geldverkehrsrechnung“, welche die Mittelherkunft (beim Schwiegervater) aber ebenfalls nicht ausreichend klären konnte. Der Prüfer hatte daher den Verdacht, es würde sich um „Schwarzgeld“ handeln und rief die Steuerfahndung auf den Plan. Diese unternahm ebenfalls keinerlei sinnvolle Vorfeldermittlungen, sondern leitete gegen den Unternehmer, dessen Ehefrau und den Schwiegervater kurzerhand ein Steuerstrafverfahren ein und beantragte beim Amtsgericht den Erlass einer Vielzahl von Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüssen. Diese ergingen antragsgemäß und wurden mit einem Personaleinsatz von mehr als 20 Beamten vollzogen. Kurz danach stellte sich heraus, dass die Angaben des Unternehmers zur Mittelherkunft zutreffend waren. Dennoch blieb das daraufhin angestrengte Beschwerdeverfahren gegen die Durchsuchung und Beschlagnahme vor dem Amts- und Landgericht erfolglos. Es blieb nur der Gang zum Bundesverfassungsgericht10. Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde mit deutlichen Worten statt und stützte seine Entscheidung im Wesentlichen auf drei Argumente11: Zunächst bezweifelte es, dass die im Durchsuchungsbeschluss gewählte Schilderung des Tatvorwurfs geeignet gewesen sei, die Zwangsmaßnahme als angemessen zu begrenzen. Als „bedenklich“ bezeichnete es darüber hinaus diejenigen Überlegungen, welche zur Begründung des erforderlichen Anfangsverdachts herangezogen wurden. Zwischen den Zeilen konstatiert das Bundesverfassungsgericht das Vorliegen einer „Ausforschungsdurchsuchung“, indem es mitteilt, eine Durchsuchung bei dem Beschwerdeführer hätte „nicht der Ermittlungen von Tatsachen dienen“ dürfen, die zur „Begründung eines Verdachts erforderlich sind“. Einen solchen Verdacht setzt die Durchsuchung nämlich bereits voraus. Jedenfalls aber – und dies ist Kernstück der Entscheidung – sei es unverhältnismäßig gewesen, die Herkunft der fraglichen Geldmittel durch einen empfindlichen Grundrechtseingriff zu überprüfen, ohne zuvor weniger einschneidende Mittel in Erwägung zu ziehen. Verkürzt dargestellt, erteilt das höchste deutsche Gericht also dem oftmals nach dem „Effizienzmotto“ abgeleiteten Durchsuchungsgrundsatz, nachdem sich schon irgendetwas finden werde, was die Durchsuchung jedenfalls nachträglich rechtfertigen würde, eine klare Absage.

___________ 10 Sachverhalt nach Wiese, PStR 2006, 191. 11 BVerfG v. 3.7.2006 – 2 BvR 2030/04, wistra 2006, 377.

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Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist, dass sie in einer ganzen Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht steht, welche in der Praxis die „Leitlinien“ für die Rechtmäßigkeit von Durchsuchungsmaßnahmen vorgeben12. Allen diesen Entscheidung ist gemeinsam, dass die Betroffenen zur Erschöpfung des Rechtswegs zunächst das Beschwerdeverfahren nach der StPO vor den Amts- und Landgerichten erfolglos durchlaufen haben. Die erfolgreichen Verfassungsbeschwerden sind hingegen das Testat, dass die Beschwerdeentscheidungen der Fachgerichte falsch waren. Zu Unrecht haben diese Gerichte von der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeit einer Selbstkorrektur keinen Gebrauch gemacht. Also haben Sie auch nicht verantwortungsbewusst gehandelt. Unbekannt ist die Anzahl der falschen Fachgerichtsentscheidungen, welche – möglicherweise auch aus verjährungsrechtlichen Gründen – gar nicht erst beim Bundesverfassungsgericht anhängig gemacht werden13. 3. Besonders problematisch fällt die Grenzziehung (und damit auch die Grenzüberschreitung) aus, wenn im Rahmen von Durchsuchungen die Elektronik ins Spiel kommt. Gerade in wirtschafts- und steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren sind beispielsweise die Geschäftsräume des Betroffenen bzw. seiner Berater und insbesondere die EDV-Anlagen als Durchsuchungs- und Beschlagnahmeobjekte von außerordentlich hoher Relevanz. Die Strafverfolgungsbehörden neigen in diesem Zusammenhang dazu, schlicht den gesamten Datenbestand zu kopieren und bzw. oder ggf. sogar die gesamte Computeranlage (in der Regel also den Server) mitzunehmen. Entsprechend dem Wunsch der Strafverfolgungsorgane nach umfassender Aufklärung werden eigens hierfür entwickelte EDV-Programme (etwa das Programm „BINGO“) zur gezielten Suche in den Datenbeständen eingesetzt. Derartige Suchprogramme sind geradezu eine Einladung für die Strafverfolgungsbehörden, unzulässigerweise gezielt nach Zufallsfunden (§ 108 StPO) zu suchen. Die Vorgehensweise der Ermittlungsbehörden im Zusammenhang mit der Beschlagnahme von EDV-Anlagen ermöglicht faktisch einen umfassenden Zugriff auf alle möglicherweise ermittlungsrelevanten Daten, also auch die im PC gespeicherten Daten z.B. der Handakte des Steuerberaters oder Rechtsanwalts. Das Beschlagnahmeverbot des § 97 Abs. 1 StPO greift zwar dann nicht, wenn der Steuerberater der Teilnahme an der durch seinen Mandanten begangenen Steuerhinterziehung verdächtigt ist und bei ihm folglich nach § 102 StPO als Mitbeschuldigtem durchsucht wird. Dies wird zwar gerade in jüngster Zeit immer häufiger (und vorschnell) behauptet. Daran jedoch eine gewisse „Methode“ zur einfacheren Erlangung ansonsten gesetzlich geschützter Daten auszumachen, erscheint nicht immer ausgeschlossen. In diesen Fällen besteht stets die Gefahr, dass bei Durchsicht des EDV-Datenbestandes „rein zufällig“ auch Daten anderer Mandan-

___________ 12 Z.B. BVerfG v. 23.6.1990 – 2 BvR 910/88, StV 1990, 483; BVerfG v. 27.5.1997 – 2 BvR 1992/92, wistra 1997, 223 (225); BVerfG v. 22.3.1999 – 2 BvR 2158/98, StV 1999, 519; BVerfG v. 5.5.2000 – 2 BvR 2212/99, NStZ 2000, 601. 13 Wiese, wistra 2006, 417.

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ten gesichtet werden, die mit dem eigentlichen Anlass der Durchsuchung nichts zu tun haben. Das Problem der Durchsicht EDV-gespeicherter Daten im Rahmen einer Durchsuchung ist also ein zweistufiges: Wird gegen den Berater nur gemäß § 103 StPO durchsucht, besteht die Gefahr, dass bei Durchsicht oder Beschlagnahme der EDV „rein zufällig“ auch die an sich beschlagnahmefreien Daten aus der Handakte gesichtet werden. Wird gegen den Berater gemäß § 102 StPO vorgegangen, entfällt zwar die Beschlagnahmefreiheit der Handakten, es bleibt jedoch die Gefahr, dass dann – genauso wie im Falle der Durchsuchung gemäß § 103 StPO – in unzulässiger Weise Daten anderer Mandanten, die nichts mit dem Fall zu tun haben, gesichtet werden. Die Ermittlungsbehörden bei der Durchsuchung in ihre rechtlichen Schranken zu weisen ist in der Praxis extrem schwierig. Eine Möglichkeit besteht darin, die EDV-Datenstruktur differenziert und transparent zu gestalten und damit zu ermöglichen, dass man auf den ersten Blick sieht, welche Daten für die Untersuchung relevant sind und welche Daten ggf. beschlagnahmefrei sind. Glücklicherweise gab es auch zu dieser Fallkonstellation nicht nur ein Verfahren, sondern auch den mit dem nötigen Ergeiz (und dem nötigen Geld) ausgestatteten Mandanten, der einen solchen Fall zum Bundesverfassungsgericht „getrieben“ hat. Mit Beschluss vom 12.4.200514 hat das Bundesverfassungsgericht nämlich der in Deutschland verbreiteten Praxis der undifferenzierten Beschlagnahme von Daten im Zusammenhang mit einer Durchsuchung bei Berufsgeheimnisträgern klare Grenzen gesetzt. Das Gericht macht deutlich, dass im Rahmen eines derartigen Ermittlungsverfahrens nicht willkürlich und undifferenziert einfach der gesamte elektronische Datenbestand beschlagnahmt werden darf. Zum effektiven Schutz unbeteiligter Mandanten ist vielmehr eine genaue Sichtung des Materials auf Relevanz für den in Frage stehenden Tatvorwurf vorzunehmen. Im Ergebnis wird dem Schutz des zwischen Mandant und Rechtsanwalt/ Steuerberater bestehenden Vertrauensverhältnisses Rechnung getragen. Das Bundesverfassungsgericht macht in seiner Entscheidung nochmals deutlich, dass in der Durchsuchung und Sicherstellung des vollständigen Datenbestandes von Berufsgeheimnisträgern ein erheblicher Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung liegt. Dem müsse durch strikte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und durch die Beachtung von Verfahrensregeln begegnet werden. Beidem könne wohl – im vorliegenden Fall – nur durch die Annahme eines Beweisverwertungsverbots zur Geltung verholfen werden. Die Entscheidung ist nicht nur lesenswert, sondern auch erfreulich klar und dient (erneut, s. oben) als Leitlinie bei entsprechenden Durchsuchungsaktionen in der Zukunft. Dabei sollte insbesondere darauf geachtet werden, dass das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben hat, dass als Ausfluss aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besonders darauf zu achten ist, dass

___________ 14 BVerfG v. 12.4.2005 – 2 BvR 1027/02, NJW 2005, 1917; vgl. dazu Kutzner, NJW 2005, 2652; Burhoff, PStR 2005, 147; sowie allgemein Wegner, PStR 2005, 208.

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der Zugriff auf bedeutungslose Informationen soweit wie möglich vermieden wird. Hierzu sei bereits in dem der Beschlagnahme vorgelagerten Stadium der Durchsicht gemäß §§ 110 ff. StPO die sorgfältige Sichtung und Trennung der Akten nach Verfahrensrelevanz geboten, sowie die Bedeutung des potentiellen Beweismittels für das Strafverfahren zu bewerten. Dabei könne im Einzelfall die Geringfügigkeit der zu ermittelnden Straftat und die geringfügige Beweisbedeutung der auf den Datenträgern vermuteten Informationen einer Sicherstellung des Datenbestandes entgegenstehen. Jedenfalls bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen – so das höchste deutsche Gericht – sei ein Beweisverwertungsverbot als Folge einer fehlerhaften Durchsuchung und Beschlagnahme von Datenträgern und der darauf vorhandenen Daten geboten. Dem ist in seiner Klarheit nichts hinzufügen. 4. Dass die Grenzziehung im Ermittlungsverfahren oftmals nur unter Zuhilfenahme des Bundesverfassungsgerichts möglich ist, haben die vorstehenden Fälle gezeigt. Dass dennoch immer noch „Wildwuchs“ entsteht, ist eine unbestreitbare Tatsache und sollte speziell und gerade für den Verteidiger in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen Ansporn genug sein, dem entgegenzutreten und – so Fall und Mandant dafür geeignet sind – für weitere Klarheit im Sinne allgemeiner „Rechtshygiene“ zu sorgen. Dass man dabei sehr häufig gegen Windmühlen ankämpft und nicht selten bei Mandanten auf Unverständnis und Kopfschütteln im Zusammenhang mit dem Versuch einer Erklärung einer (wieder mal) abgewiesenen Beschwerde stößt, dürfte ebenfalls allgemeiner Erfahrungssatz sein. Dass offensichtlich rechtswidriges Handeln inzwischen auch staatlich und von Regierungsseite gedeckt ist, ist jedoch mutmaßlich nur mit klammen Haushalten zu erklären. Gemeint ist der in jüngster Zeit aufgekommene, florierende Handel mit ausländischen „Daten-CDs“. Es würde den Rahmen dieses Beitrags komplett sprengen, wollte man sich an dieser Stelle mit dem Für und Wider insbesondere der Rechtsmäßigkeit des Ankaufs solcher Daten befassen15. Es bleibt abzuwarten, wie das Bundesverfassungsgericht hierüber entscheidet16. Die im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu stellende Frage, wenn es um den Ankauf solcher Daten-CDs geht, ist vielmehr eine moralische. Die Antwort auf diese kann nur lauten, dass der Staat schon aus seinem Selbstverständnis heraus keine Geschäfte mit kriminellen Datenhändlern machen darf. Tut er dies trotzdem – wie in der Vergangenheit mehrfach geschehen – macht er sich nicht nur unglaubwürdig, sondern signalisiert jedem dafür empfangsbereiten Steuerfahnder, dass Effizienz vor Rechtsstaatlichkeit geht und jedes Mittel recht sein muss, die Staatskassen zu füllen. Oder – um das Maß mit Stammtischparolen zu füllen – wie es die Bundes-

___________ 15 Aus der zahlreich zur Frage der Rechtmäßigkeit erschienenen Literatur sei besonders auf den Beitrag von Heine in HRRS, Dezember 2009, S. 540, sowie auf die Diskussion zwischen Lüderssen und Ambos in der FAZ v. 11.2.2010, S. 6, hingewiesen. 16 Zur Zeit der Abfassung des Beitrags war das Verfahren mit dem Az. 2 BvR 2101/09 beim Bundesverfassungsgericht zur Frage der Rechtmäßigkeit eines CD-Ankaufs und der daraus gewonnenen Informationen noch nicht entschieden.

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abgeordnete Höll (Die Linke) im Rahmen einer parlamentarischen Diskussion17 ausdrückte: „Recht wird zunehmend ökonomisiert. Die Durchsetzung von Recht hängt von Kosten und Nutzen ab: Wie viel kostet die angebotene CD? Was bringt sie ein? Wie viel kostet die Bundländer ein ordentlicher Steuervollzug? Was nimmt man dadurch ein? Das ist doch keine Rechtsstaatlichkeit mehr, sondern eine Verhöhnung des Rechtsstaates“.

Dem sei – unabhängig von allen politischen Richtungen – an dieser Stelle uneingeschränkt zuzustimmen. 5. Ein besonders eklatantes Beispiel für die massive Gefahr von Grenzüberschreitungen im Steuerfahndungsverfahren ist die Verhängung von Untersuchungshaft. Schon lange gilt in einschlägigen Ermittlerkreisen das zynische Sprichwort: „U-Haft schafft Rechtskraft.“ Um es an dieser Stelle klar zu sagen: Dass und wie hier mit der Freiheit von Menschen umgegangen wird, ist oftmals schier unerträglich. Natürlich sollte an dieser Stelle aber auch nicht der Eindruck entstehen, dass ohne jegliche rechtliche Verankerung jeder mal eben so verhaftet werden kann. Auch für die Anordnung von Untersuchungshaft gelten die Regeln der StPO. Danach (§§ 112 ff. StPO) kann Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn ein dringender Tatverdacht vorliegt, wenn das Vorliegen eines Haftgrundes angenommen wird (insbesondere Flucht- oder Verdunklungsgefahr) und wenn die Anordnung von Untersuchungshaft verhältnismäßig ist. Insbesondere letzteres wird jedoch in der Praxis häufig nur formel- oder floskelhaft festgestellt. Tatsächlich ist es vielfach so, dass die Steuerfahndung den Erlass eines Haftbefehls bei der dafür (spätestens dann) zuständigen Staatsanwaltschaft „anregt“ bzw. bereits einen entsprechenden Haftbefehlsentwurf vorlegt. Dieser wird von der Staatsanwaltschaft sodann dem zuständigen Ermittlungsrichter mit der Bitte um Unterschrift übermittelt. Nach Unterschrift wird der Betroffene in der Regel recht zügig zunächst vorläufig festgenommen und ihm innerhalb von 48 Stunden der Haftbefehl durch den Ermittlungsrichter eröffnet (§ 115 StPO). Leider lässt sich in der Praxis nur selten feststellen, dass der Staatsanwalt und/oder der Ermittlungsrichter den Haftbefehl möglichst umfassend und insbesondere auch zur Frage der Verhältnismäßigkeit prüfen. Gerade in Steuerstrafsachen wird oftmals mit „leichter Hand“ unterschrieben nach dem Motto: Wenn es um so viel Geld geht, wird schon was daran sein. Die von Schwedhelm geschilderten Praxiserfahrungen können dabei nur bestätigt werden18: „Rückfragen der zuständigen Richter sind selten, im Wege der Akteneinsicht kann zumeist nicht einmal festgestellt werden, ob der Richter die Akte überhaupt gelesen hat. Als Steuerstrafverteidiger gewinnt man im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit den Eindruck, als ob sich in der Praxis der Staatsanwaltschaften inzwischen ‚gewohnheitsrechtlich‘ fundierte, im Hinblick auf eine schnelle Aufklärung überaus effektive, aber rechtsstaatlich abwegige Haftgründe eingespielt hätten. Hintergrund ist die

___________ 17 Am 3.3.2010 im Bundestag zur Notwendigkeit einer einheitlichen Praxis beim Kauf von Steuer-CDs (Plenarprotokoll 17/26). 18 Schwedhelm, BB 2010, 731 (732).

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Erfahrung, dass selbst die hartgesottensten Hinterzieher nach längerer Untersuchungshaft eine deutlich größere Geständnis- und Kooperationsbereitschaft zeigen, als zuvor. Welcher Ermittler kann von sich sagen, dieser Versuchung immer widerstanden zu haben?“ Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dem Appell, sich insbesondere den in Haftfällen bietenden Grenzüberschreitungen mit aller rechtlich gebotenen und notwendigen Penetranz von Seiten des Verteidigers zu widersetzen. 6. Ein paar abschließende Gedanken neben den bisher gebildeten Beispielen für solche Grenzüberschreitungen im Steuerfahndungsverfahren sollen – quasi präventiv – den ebenfalls jüngst zu beobachtenden Tendenzen gelten, welche in vielen Rechtsanwaltskanzleien unter dem Stichwort „Compliance“ Einzug gefunden haben. Zu Recht werden diese Tendenzen von vielen Seiten einigermaßen argwöhnisch beobachtet. Nicht nur, dass der Begriff „Compliance“ unübersetzbar scheint und damit sich einer Definition entzieht, was dazu führt, dass unter „Compliance“ eine Vielzahl anwaltlicher Tätigkeiten verstanden werden kann. Eine davon kann – salopp ausgedrückt – als „Staatsanwaltschaftsarbeit“ durch von einem Unternehmen beauftragte Rechtsanwälte bezeichnet werden. Erstmals in größerer Ausprägung fand dies im Zuge der Aufarbeitung der sog. „Siemens-Korruptionsaffäre“ durch eine US-amerikanische Anwaltskanzlei statt. Die damit einhergehenden massiven rechtsstaatlichen Bedenken und Probleme greifen in zahlreiche Rechtsgebiete ein. So wird nicht nur das Gesellschaftsrecht, sondern auch das Arbeitsrecht sowie der Datenschutz tangiert. Besonders bedenklich ist jedoch der Eingriff in die strafprozessual normierten Rechte von mit solchen Untersuchungen betroffenen Personen und deren Individualinteressen, sei es als Beschuldigte oder sei es als Zeugen. Bedenklich deshalb, weil damit auch der Grenzüberschreitung in dem Sinne Vorschub geleistet werden könnte, als dass strafprozessuale Rechte nach dem „Effizienzgedanken“ im Ermittlungsverfahren nicht nur durch staatliche Ermittlungsorgane, sondern auch durch private Ermittler (in Persona Rechtsanwälte und Steuerberater) hintangestellt oder sogar ganz übergangen werden19. Man denke nur an die – inzwischen offenbar in solchen Verfahren nicht mehr unübliche – Inaussichtstellung des Erhalts des eigenen Arbeitsplatzes gegen umfassende Aussage (sog. „Amnestie“). Werden die Betroffenen dabei eigentlich über die ihnen nach der StPO zustehenden Rechte informiert? Wird bei der Aussage ein Verteidiger/Zeugenbeistand hinzugezogen? Bleibt dem betroffenen Mitarbeiter überhaupt die „Wahl“, auszusagen oder zunächst zu schweigen? Was passiert dann mit der Aussage? Ist diese in einem sich ggf. anschließenden Gerichtsverfahren überhaupt verwertbar? Zahlreiche (weitere) Fragen sind bislang ungeklärt. Man bewegt sich sprichwörtlich in einer Grauzone. Zu Recht mehren sich daher auch Stimmen in der Litera-

___________ 19 Hierzu passt das von Streck im Rahmen einer Vortragsveranstaltung in Köln wiedergegebene Zitat eines Steuerfahnders: „Uns kann nichts besseres passieren, als in einem Unternehmen zu ermitteln, dass Compliance-Strukturen hat. Hier können wir sodann die gesamte Arbeit der Compliance-Abteilung überlassen. Sie erreicht und erwirkt mehr, als wir könnten, die stößt an kein Aussageverweigerungsrecht“.

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tur, welche diese Praxis der Delegation staatsanwaltlicher Ermittlungsaufgaben auf private Ermittler durch Unternehmen ausgesprochen kritisch beleuchten20. Diese Entwicklung wird ebenso kritisch in Zukunft zu beobachten sein. Auf sie ist hier jedoch nicht weiter einzugehen. Vielmehr soll darauf hingewiesen werden, dass von der „Compliance“-Tätigkeit im vorgenannten Sinne der Begriff der „Tax-Compliance“ abzugrenzen ist. Eine solche Abgrenzung ist wohltuend und sinnvoll und führt im Ergebnis dazu, dass „Tax-Compliance“ eigentlich nichts anderes ist, als die Implementierung und Überwachung steuerrechtlicher Mindeststandards im Unternehmen – von der Einhaltung der entsprechenden Steuergesetze bis hin zur Vorbereitung eines eventuellen Betriebsprüfungs- oder gar Fahndungsverfahrens21. Insbesondere letzteres (also die Prävention im Rahmen von „Tax-Compliance“) kann an dieser Stelle nur nachhaltig unterstützt werden, trägt sie doch mutmaßlich von vorneherein zur Verhinderung allzu ausrufender Grenzüberschreitungen beispielsweise im Rahmen eines Fahndungseingriffs bei. Erstaunlicherweise ist es nach wie vor immer noch und immer wieder festzustellen, dass nämlich vielfach Unternehmen und Unternehmer auf einen Steuerfahndungseingriff – selbst wenn er zunächst nicht konkret droht oder sogar ausgeschlossen erscheint – vollkommen unvorbereitet sind. Es fehlt an allem: Von der Zuständigkeit im Vorstand über die Benennung entsprechender Mitarbeiter und die Schulung derselben bis hin zur Bereitstellung eines „Notfallplans“ für den Fall, dass doch (wider Erwarten) eines Tages ein Steuerfahndungseingriff erfolgt22. Im Ergebnis sollte also „Tax-Compliance“ dazu führen, dass Unternehmer und Unternehmen sowie dessen Mitarbeiter auf einen möglichen Eingriff der strafrechtlichen Verfolgungsorgane bestmöglich vorbereitet sind. Nur dann kann ansatzweise von einem Gleichgewicht der Kräfte gesprochen werden. Grenzüberschreitungen, wie sie bislang geschildert wurden, kann am wirksamsten dadurch begegnet werden, dass der Betroffene die ihm zustehenden Rechte kennt und auch durchzusetzen weiß. Insofern wäre die Implementierung von „Tax-Compliance“ in jedem Unternehmen nur zu begrüßen.

V. Wünschenswertes Was könnte sich für das Fazit eines Beitrages, der sich mit Kritik an der Steuerfahndung befasst, besser eignen, als den Jubilar selber aus seinem Standardwerk zum Steuerstrafrecht23 zu zitieren, der unter genau dieser Überschrift (Kritik an der Steuerfahndung) Folgendes feststellt24:

___________ 20 Vgl. hierzu den Beitrag von Wastl/Litzka/Pusch: „SEC-Ermittlungen in Deutschland – eine Umgehung rechtsstaatlicher Mindeststandards!“, NStZ 2009, 68. 21 Vgl. hierzu den instruktiven Beitrag von Streck/Binnewies, DStR 2009, 229. 22 Vgl. hierzu die Praxisbeispiele bei Streck/Binnewies, DStR 2009, 229 (233). 23 Streck/Spatscheck, Die Steuerfahndung, 4. Aufl. 2006. 24 Streck/Spatscheck, Die Steuerfahndung, 4. Aufl. 2006, Rz. 52.

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Grenzüberschreitung im Steuerfahndungsverfahren „Da die Grenzen wenig klar gezogen sind, neigt die Steuerfahndung dazu, diese Grenzen zu überschreiten und in rechtliche Grauzonen vorzudringen. Dies ist ein wesentlicher Grund für das Unbehagen, das gegenüber der Steuerfahndung empfunden wird. Abhilfe kann nur der Gesetzgeber schaffen“.

Dieser Feststellung kann in ihrer erfreulichen Klarheit – wie sie den zahlreichen schriftlichen und mündlichen Äußerungen des Jubilars stets zu eigen ist, war und sein wird – nur wenig hinzugefügt werden. Ergänzen möchte ich jedoch, dass auch und gerade nach den zuvor dargestellten Beispielen eine Abhilfe durch den Gesetzgeber zum einen nicht ausreichend, aber auch zum anderen nicht notwendig erscheint. Nicht notwendig erscheint sie deshalb, da der Gesetzgeber mit dem Instrumentarium der Abgabenordnung und der StPO bereits ausreichende Grenzen gezogen hat, die auch im steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu beachten sind. Dies gilt erst recht im Lichte der bei der Steuerfahndung wie beschrieben konzentrierten Machtfülle. So wird in dem Kapitel über die Kritik an der Steuerfahndung zu Recht vom Jubilar auch festgestellt, dass der Staat durch die Steuerfahndung seine Übermacht in intensiver Konzentration gegen einen einzelnen Bürger einsetzt. Nachdrücklich sei zu fragen, ob diese Machtverknüpfung rechtsstaatlich ist. Zumindest sei es ein rechtsstaatliches Gebot, dass dieser geballter Machteinsatz gesetzlich exakt und eingrenzend geregelt ist. Eine Regelung läge für das Abgabenrecht ebenso vor wie für das Strafprozessrecht25. Also noch einmal: Die gesetzlichen Regelungen liegen vor, sie müssen aber auch ausreichend beachtet werden. Dies gilt beispielhaft und insbesondere für die Regelung in § 160 Abs. 2 StPO. Da man sich nun aber – wie dargestellt – auf die Beachtung dieser gesetzlichen Regeln durch eifrig (und manchmal übereifrig) ermittelnde Steuerfahnder nicht immer verlassen kann und sollte, ist eine Überwachung durch den steuerstrafrechtlich tätigen Verteidiger wichtiger Bestandteil des gesamten Verfahrens. Der im Steuerstrafverfahren tätige Verteidiger sollte von Beginn an nicht nur darauf achten, dass die steuerstrafrechtlichen Ermittlungsbehörden ihre Grenzen kennen und einhalten, sondern auch regelmäßig auf diese hinweisen und danach seine Strategie ausrichten. Dies gilt in Zeiten „knapper Kassen“ mehr denn je und sollte zum Ziel haben, in jedem einzelnen Fahndungsfall dessen Besonderheiten und natürlich auch die Befindlichkeiten des betroffenen Mandanten herauszuheben. Nur so kann erreicht werden, dass eben gerade nicht (nur) nach dem Motto „Effizienz vor Rechtsstaat“ nach Steuersündern gefahndet wird.

___________ 25 Streck/Spatscheck, Die Steuerfahndung, 4. Aufl. 2006, Rz. 51.

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Ausgewählte Grundsatzprobleme und Grenzbereiche der Selbstanzeige Inhaltsübersicht I. Vorwort II. Einleitung III. Allgemeine Grundsätze IV. Ankündigung einer Selbstanzeige/ gestufte Selbstanzeige/Teilselbstanzeige V. Verjährungsfragen 1. Fristen a) Strafverfolgung b) Steuerfestsetzung 2. Ablaufhemmung

1. Gesetzliche Sperren a) Erscheinen eines Amtsträgers b) Bekanntgabe eines eingeleiteten Ermittlungsverfahrens c) Tatentdeckung 2. Faktische Sperren 3. Grenzen des Wiederauflebens der Berichtigungsmöglichkeit VII. Sonderbereich Erbschaft-/Schenkungsteuer VIII. Ausblick

VI. Sperrgründe

I. Vorwort Der Autor hat den Jubilar im Jahr 1983 kennengelernt. Er war damals junger Sachgebietsleiter in der Amtsbetriebsprüfungsstelle des Finanzamts KölnMitte und Herr Dr. Michael Streck bereits ein bundesweit anerkannter Steuerrechtler und Strafverteidiger. Das zwischen uns streitige Kernthema war die beabsichtigte Zuschätzung aufgrund eines aus Sicht der Verwaltung ungeklärten Vermögenszuwachses, der durch eine Geldverkehrsrechnung untermauert werden sollte. Dieser Klassiker – Erklärung der Mittelherkunft – ist auch heute noch weitgehend eine „Glaubensfrage“ mit einem beiderseitigen Streitrisiko. Nach ergebnisloser erster Besprechung gelang es in einer Folgebesprechung im Büro des Jubilars, unter Wahrung der beiderseitigen Interessen die Eckpunkte einer Einigung festzulegen. Die zwischen uns lediglich mündlich getroffene Vereinbarung hatte Bestand – sein Wort galt und gilt auch heute noch. Dies ist in der allgemeinen Praxis leider nicht mehr selbstverständlich. Die aktuellen Berührungspunkte mit ihm – sei es bei Podiumsdiskussionen oder von ihm betreuten Fahndungsfällen – sind stets spannend und bereichernd. Direkt und streitbar, sachkundig und nicht überziehend – diese Eigenschaften zeichnen sein Auftreten nach wie vor aus. Ich schätze es und wünsche eine gute Zukunft und vor allem Gesundheit.

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II. Einleitung Der Ankauf einer CD mit Kundendaten einer Schweizer Bank durch die Finanzverwaltung hat seit Jahresanfang 2010 eine Selbstanzeigewelle ungeahnten Ausmaßes – es liegen derzeit mehr als 20 000 vor – ausgelöst, die in der jahrzehntelangen Geschichte dieses Rechtsinstituts1 beispiellos ist und die Auswirkungen der sog. Liechtenstein-Affäre bei Weitem übertrifft. Die eingehenden Selbstanzeigen gehen weit über die durch den Datenankauf betroffenen Fälle hinaus. Diese Entwicklung hat – insofern vorhersehbar – parallel zu vermehrten Beiträgen in der Literatur2 geführt mit Darstellung von Selbstanzeigevoraussetzungen und Gestaltungsempfehlungen. Die üblichen Beratungsindikatoren zur Abgabe von Selbstanzeigen3 dürften derzeit nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ein wesentlicher Faktor zum Entstehen der aktuellen Situation sind die Medienberichte zum Ankauf von Bankdaten. Neben der hierdurch bewirkten Verunsicherung ist insbesondere bei der älteren Generation – auch im Hinblick auf anstehende Vermögensübergänge an die nachrückende Generation – eine gewisse Hinterziehungsmüdigkeit festzustellen und es soll „reiner Tisch“ gemacht werden. Teilweise wird eine Selbstanzeige in den derzeitigen Verfahren als überflüssig bezeichnet, da die Kontodaten in rechtswidriger Weise erlangt worden seien und damit ein allgemeines Verwertungsverbot greife4. Angesicht der – wenn auch umstrittenen – bestehenden Rechtsprechung des BGH5 zur Fernwirkung von Beweisverboten und des BFH6 zum Eingreifen eines qualifiziert materiellrechtlichen Verwertungsverbots wird ein Verwertungsverbot sowohl im Strafals auch im Besteuerungsverfahren selbst bei Rechtswidrigkeit des Datenankaufs eher nicht greifen. Eine höchstrichterliche Klärung dieser Problematik ist bisher nicht erfolgt. Ein Grund hierfür dürfte insbesondere sein, dass viele betroffene Steuerpflichtige das Risiko eines öffentlichen Verfahrens scheuen. Daher geht die Tendenz hin zur geräuschlosen Erledigung in Form der Abgabe einer Selbstanzeige und – auch bei strittigen Rechtsfragen – zum Anstreben einer Einigung mit den Ermittlungsbehörden. Damit hat sich dann jedoch die Frage eines Verwertungsverbots erledigt, da die Ermittlungsbehörden bei Abgabe einer Selbstanzeige nunmehr auf eigene Angaben des Steuerpflichtigen zurückgreifen können.

___________ 1 S. hierzu etwa Joecks in Franzen/Gast/Joecks, 7. Aufl. 2009, § 371 AO Rz. 1 ff.; Eigenthaler, StW 2010, 32 (32). 2 Beispielhaft Eigenthaler, StW 2010, 32 ff.; Keller, NWB-EV 2010, 169 ff.; Roth, NWB 2010, 1004 ff.; Schäfers StBW 2010, 181 ff.; Stahl/Rau, KÖSDI 2010, 16958 ff.; Wegner, aktualisierte Checkliste Selbstanzeigeberatung, Sonderbeilage PStR 2010 Heft 3. 3 Bornheim, Steuerstrafverteidigung, 2. Aufl. 2009, S. 375 f. 4 Zum Stand der Diskussion etwa Kleinhofer/Krug, StV 2008, 660; Göres/Kleinert, NJW 2008, 1353; s. auch Kamps, ErbR 2010, 153 (157 f.). 5 BGH v. 15.2.1978 – 3 StR 495/77, BGHSt 27, 355 (357); BGH v. 18.4.1980 – 2 StR 731/79, BGHSt 29, 244 (249). 6 BFH v. 4.10.2006 – VIII R 53/04, BStBl. II 2007, 227 (233 f.) m.w.N. = FamRZ 2006, 2302.

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Ausgewählte Grundsatzprobleme und Grenzbereiche der Selbstanzeige

Die Grundsätze der Selbstanzeige sind weitgehend geklärt. Unwägbarkeiten gibt es noch etwa im Bereich der Fristenberechnung, der sog. gestuften Selbstanzeige und zu dem Zeitpunkt des Eintretens der Sperrwirkung aufgrund Tatentdeckung. Zu den beiden letzten Punkten existiert ein aktueller Beschluss des BGH7, der die Konturen klarer werden lässt und dessen Eckpunkte eingearbeitet werden konnten. Der nachstehende Beitrag greift einige aus meiner Sicht praxisrelevante Problemkreise auf.

III. Allgemeine Grundsätze Die Rechtsgrundlagen der Selbstanzeige ergeben sich aus § 371 AO, § 378 Abs. 3 AO, § 153 AO sowie AStBV (St) 20108, Nr. 115, Nr. 120 und Nr. 150. Bei der Selbstanzeige handelt es sich nach h.M. um einen persönlichen Strafaufhebungsgrund9, der nur dem zugute kommt, der die tatbestandlichen Voraussetzungen in seiner Person erfüllt. Anzeigeberechtigt sind Täter einer Steuerhinterziehung, Mittäter, Nebentäter, Anstifter und Gehilfen10. Bei Ehegatten ist der Selbstanzeige-Erstatter grundsätzlich derjenige Ehegatte, der die nicht erklärten Einkünfte erzielt hat. Der andere Ehegatte ist nach der Rechtsprechung11 – selbst wenn er von der Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der Angaben Kenntnis hatte – nicht bereits deshalb Mittäter oder Gehilfe, weil er die gemeinsame Steuererklärung mit unterzeichnet hat. Gleichwohl kann die Mitunterzeichnung der Selbstanzeige aus taktischen Gründen sinnvoll sein. Die Objektivierung der (positiven und negativen) Wirksamkeitsvoraussetzungen in § 371 AO bewirkt ferner, dass die Gewährung der Straffreiheit grundsätzlich an keine subjektiven Voraussetzungen geknüpft ist12. Damit erlangen jedenfalls nach der geltenden Rechtslage auch solche Steuerhinterzieher Straffreiheit, die wegen einer vermeintlichen oder tatsächlichen Entdeckungsgefahr – und damit letztlich unfreiwillig – Selbstanzeige erstatten. Soweit die Finanzverwaltung bei vorliegenden Informationen den Sachverhalt zunächst durch schriftliche Erörterung aufzuklären versucht, ermöglichen diese sog. „Brückenschreiben“ daher bei Vorliegen einer Steuerhinterziehung noch eine wirksame Selbstanzeige. Dieses Verfahren ist bei den Bankenfällen Anfang der 90er Jahre auch aus Arbeitskapazitätsgründen vermehrt praktiziert worden13. Derartige Anschreiben sind auch in der heutigen Praxis durchaus noch üblich etwa bei Vorliegen von allgemeinem Kontrollmaterial oder in

___________ 7 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 ff. 8 BStBl. I 2009, 1533 (1562 und 1569 f.). 9 Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 25 m.w.N.; ferner BGH v. 5.5.2004 – 5 StR 548/03, wistra 2004, 309 (310). 10 Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 38. 11 BFH v. 16.4.2002 – IX R 40/00, BStBl. II 2002, 501 f. = FR 2002, 1377. 12 Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 13 m.w.N.; Jäger in Klein, Abgabenordnung, 10. Aufl. 2009, § 371 AO Rz. 4. 13 S. etwa Burhoff, PStR 2000, 154 (157).

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Fällen, in denen ein Datenabgleich mit dem Inhalt der Steuerakten keinen konkreten Anfangsverdacht ergeben hat. Bei den aktuellen Fällen, die aus dem Datenankauf heraus entstanden sind, wird dieses Verfahren allerdings nicht angewendet. Sollte eine Erörterung wie vorstehend beschrieben trotz vorliegenden Anfangsverdachts ohne Belehrung erfolgen, wäre der Steuerpflichtige bei Erteilung der erbetenen Auskünfte ebenfalls straffrei, da bei Verstoß gegen die strafprozessuale Belehrungspflicht nach absolut herrschender Meinung14 sich aus den §§ 136 Abs. 1, 163a StPO iVm. 385 Abs. 1 AO ein strafrechtliches Verwertungsverbot ergibt. In diesem Fall wäre der Steuerpflichtige letztlich sogar besser gestellt, da anders als bei der Selbstanzeige – dort aufgrund § 371 Abs. 3 AO – der Anspruch auf Straffreiheit nicht von der fristgerechten Nachzahlung der hinterzogenen Steuern abhängig wäre. Zu denken wäre dann jedoch an die Vorschrift des § 258a StGB. Adressat der Selbstanzeige ist nach dem Wortlaut des § 371 Abs. 1 AO die „Finanzbehörde“. Der Begriff wird in § 6 Abs. 2 AO näher definiert. Es ist umstritten15, ob jede Finanzbehörde im Sinne des § 6 AO unabhängig von ihrer sachlichen und örtlichen Zuständigkeit für die verkürzten Steuern zur Entgegennahme von Selbstanzeigen tauglich ist. Dies wird teilweise in der Literatur vertreten, da die Behörden nach § 111 AO zur Weiterleitung an die zuständige Behörde verpflichtet seien. Insoweit trägt allerdings der Steuerpflichtige das Übermittlungsrisiko. Nach der Gegenmeinung erfordert die Wirksamkeit der Selbstanzeige den Eingang der Berichtigungserklärung bei der im Einzelfall örtlich und sachlich zuständigen Behörde16. Die Frage ist bisher höchstrichterlich nicht entschieden worden17. In der Praxis ist es ratsam, den sicheren Weg zugehen und die Selbstanzeige an die zuständige Finanzbehörde zu richten. Entscheidend ist, dass eine Selbstanzeige tatsächlich den für die Bearbeitung des Steuerfalls zuständigen Amtsträger erreicht hat, bevor ein Ausschlussgrund nach § 371 Abs. 2 AO die Wirksamkeit verhindert18. Örtlich und sachlich zuständig ist in der Regel das jeweilige für die Veranlagung zuständige Finanzamt. Bei der Erbschaftssteuer ist es das am Wohnsitz des inländischen Erben zuständige Erbschaftsteuerfinanzamt (s. § 35 Abs. 1 ErbStG i.V.m. §§ 19 Abs. 1, 20 AO). Sind mehrere Finanzämter für einen Hinterziehungstatbestand zuständig, sollte die Selbstanzeige sicherheitshalber zeitgleich bei jedem der zuständigen Finanzämter abgegeben werden19.

___________ 14 S. hierzu etwa Kohlmann, § 397 AO Rz. 41 ff. 15 Vgl. die Literaturnachweise bei Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 AO Rz. 88. 16 Str., vgl. die Nachweise bei Bornheim, Steuerstrafverteidigung, S. 383 sowie Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 AO Rz. 89 ff.; a.A. Jäger in Klein, § 371 AO Rz. 26. 17 Offen lassend BGH v. 18.6.2003 – 5 StR 489/02, NJW 2003, 2996 (3000). 18 Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 AO Rz. 90. 19 So etwa auch Roth, NWB 2010, 1004 (1005); s. auch Wenzler, PStR 2007, 216 (219).

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Derartige Koordinierungsprobleme stellen sich auch bei mehreren Tatbeteiligten20. Der nicht an der Tat seines Mandanten beteiligte steuerliche Berater würde bei Mitteilung des Fehlverhaltens seines Mandanten an die Behörde gegen die Verschwiegenheitspflicht des § 203 StGB verstoßen. Es gibt auch keine strafrechtliche Pflicht des Steuerberaters, seinem Mandanten zur Selbstanzeige oder Berichtigungsmeldung zu raten21. Allerdings können strafrechtliche Risiken für die Folgejahre entstehen, wenn der Mandant keine Selbstanzeige abgibt22. Grundsätzlich sind – bestätigt durch die Rechtsprechung23 – nach dem das Strafverfahren beherrschenden Legalitätsprinzip die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet, nach Eingang der Selbstanzeige ein Strafverfahren zum Zwecke der Prüfung der Straffreiheit gemäß § 371 Abs. 1 und 3 AO einzuleiten. Es gibt allerdings Fälle, in denen der Steuerpflichtige alle Voraussetzungen der Strafbefreiung durch umfassende Angaben und gleichzeitige Zahlung der hinterzogenen Steuern erfüllt hat. In diesen Fällen ist bereits die Straffreiheit eingetreten und nach der Neufassung der Nr. 120 Abs. 1 Satz 2 AStBV (St) 201024 soll daher von der Einleitung eines Strafverfahrens abgesehen werden. Nach h.M25 ist eine verdeckte Stellvertretung bei Berichtigung durch einen bevollmächtigten Vertreter zulässig. Entscheidend soll in diesem Zusammenhang sein, dass der Täter die Mitteilung veranlasst hat und sie ihm deshalb zurechnen ist. Allerdings muss die Person des Vertretenen der Finanzbehörde bekannt werden, damit eine Frist gemäß § 371 Abs. 3 AO gesetzt werden kann26. Hieraus könnte – auch im Zusammenhang mit der vorstehend erwähnten Änderung der AStBV – im Umkehrschluss folgen, dass bei Entfallen der Notwendigkeit einer entsprechenden Fristsetzung auch die Person des Vertretenen nicht mehr bekanntgegeben werden muss. Dies geht m.E. zu weit, da jedenfalls das vorgetragene Vertretungsverhältnis überprüfbar sein muss. Die Nichteinleitung eines Strafverfahrens wäre allerdings z.B. im Konzernbereich bereits ein erheblicher Vorteil, wenn Täter ein Vorstandsmitglied ist, bei dem eingeleitete Strafverfahren etwa im Ausland der Börsenaufsicht mitgeteilt werden müssten. Die aktuellen Ermittlungen erstrecken sich – wie generell in den Bankenfällen – auch auf die Aufdeckung eventueller Beihilfehandlungen von verant-

___________ 20 Grundsätzlich zu den Problemen der Selbstanzeigekoordination bei Beteiligung von verschiedenen Personen Bornheim, Steuerstrafverteidigung, S. 378 ff.; Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 65.4. 21 BGH v. 20.12.1995 – 5 StR 412/95, wistra 1996, 184 (188). 22 S. etwa Roth, NWB 2010, 1004 (1008). 23 Etwa BFH, wistra 2009, 166. 24 BStBl. I 2009, 1533 (1562). 25 Bornheim, Steuerstrafverteidigung, 393 ff.; Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 AO Rz. 82 m.w.N. 26 BGH v. 5.5.2004 – 5 StR 548/03, wistra 2004, 309 (310).

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wortlichen Bankmitarbeitern27. Soweit die Steuerpflichtigen hierzu im laufenden Überprüfungsverfahren ihrer Selbstanzeige befragt werden, können sie sich regelmäßig auf ihr Auskunftsverweigerungsrecht berufen.

IV. Ankündigung einer Selbstanzeige/gestufte Selbstanzeige/ Teilselbstanzeige Eine bestimmte Form ist für die Selbstanzeige nicht vorgeschrieben. Allerdings ist aus Sicherheitsgründen die schriftliche Einreichung ratsam. Die Selbstanzeige muss ferner nicht ausdrücklich als solche bezeichnet sein. Es genügt eine Erklärung des Steuerpflichtigen, die inhaltlich die Anforderungen des § 371 AO erfüllt. Die „Tarnung“ als Berichtigungserklärung kann u.a. deshalb sinnvoll sein, weil bei einer ausdrücklich als solchen bezeichneten Selbstanzeige der subjektive Tatbestand eingeräumt wird und kaum noch später bestritten werden kann. Die Finanzverwaltung erreichen auch in der aktuellen Situation Schreiben unterschiedlichen Inhalts. Die schlichte Mitteilung des Steuerpflichtigen, er besitze ein Konto in der Schweiz, ist nicht geeignet, Rechtswirkungen auszulösen. Mangels konkreten Inhalts stellt sie weder eine Selbstanzeige nach § 371 AO dar noch löst sie zwingend einen Anfangsverdacht aus. In diesen Fällen wird der Steuerpflichtige um Konkretisierung gebeten werden mit der Möglichkeit, bei Vorliegen einer Hinterziehung noch eine Selbstanzeige erstatten zu können. Insoweit es handelt es sich um ein sog. Brückenschreiben wie oben erwähnt. Die Ankündigung einer Selbstanzeige, etwa des Inhaltes, man beabsichtige demnächst eine Selbstanzeige einzureichen, stellt ebenfalls keine Selbstanzeige im Rechtssinne dar. Eine solche Ankündigung ohne weiteren konkreten Inhalt kann nicht zur Straffreiheit führen. Sie kann allerdings die Einleitung eines Steuerstrafverfahrens bewirken, das dann als Sperrgrund einer wirksamen Selbstanzeige entgegensteht. In weiteren Fällen gibt der Steuerpflichtige dem Grunde nach an, Steuern hinterzogen zu haben, und gleichzeitig teilt er mit, konkrete Zahlen erst zu einem späteren Zeitpunkt zu liefern. Steuerarten und Besteuerungszeiträume werden genannt, auch hier wird jedoch eine weitere Präzisierung angekündigt. Dieses Vorgehen wird empfohlen, wenn – wie in vielen aktuellen Fällen – schnell reagiert werden muss und der Steuerpflichtige noch kein Zahlenmaterial hat. Fraglich ist, ob hier eine wirksame Selbstanzeige unter dem Gesichtspunkt der sog. gestuften oder Stufen-Selbstanzeige28 vorliegt, in der eine Konkretisierung in mehreren Stufen vorgenommen wird. Die Möglichkeit dieses Vorgehens ist umstritten29.

___________ 27 Grundlegend zu dem Problem BGH v. 1.8.2000 – 5 StR 624/99, wistra 2000, 340. 28 Ausführlich zu diesem Institut Wenzler Steueranwaltsmagazin 2005, 130 ff. sowie PStR 2007, 216 ff. 29 Kritisch etwa Webel, PStR 2007, 213 f.

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Bereits in der älteren BGH-Rechtsprechung wurde die Zulässigkeit einer Selbstanzeige dem Grunde nach bzw. einer gestuften Selbstanzeige grundsätzlich anerkannt30. Unproblematisch war eine gestufte Selbstanzeige hiernach, wenn sie mit einer ausreichend hohen Schätzung des hinterzogenen Betrags verbunden wurde31. Die AStBV (St) Nr. 120 alter Fassung sah ausdrücklich vor, dem Steuerpflichtigen noch eine Gelegenheit zur Nachbesserung seiner Angaben zu geben. Die neue AStBV (St) Nr. 120 aus dem Jahr 2004 – die auch heute noch gilt32 – sieht eine solche Gelegenheit zur Nachbesserung ausdrücklich nicht mehr vor, dort ist nunmehr normiert, dass die BuStra die Ermittlungen selbst durchführt oder die Ermittlungen veranlasst. Unter „veranlassen“ kann aber nach wie vor auch die Nachfrage bei dem Steuerpflichtigen und damit auch die Gelegenheit zur Nachbesserung gesehen werden. Dies würde auch einem elementaren Bedürfnis der Praxis entsprechen, da in vielen Fällen der Steuerpflichtige erst nach eigenen intensiven Ermittlungen seine Selbstanzeige in vollem Umfange zahlenmäßig belegen kann. Insoweit lässt die aktuelle Fassung der AStBV eine gestufte Selbstanzeige m.E. grundsätzlich immer noch zu, die Problematik im Hinblick auf das Legalitätsprinzip33 darf aber weiterhin nicht verkannt werden. Es gilt allerdings im Rahmen des § 371 AO der Grundsatz der Materiallieferung. Dies hat der BGH34 aktuell in Bezug auf die gestufte Selbstanzeige – letztlich in konsequenter Fortführung seiner bisherigen Auffassung – dahingehend präzisiert, dass der Steuerpflichtige, wenn eine genau bezifferte Selbstanzeige nicht möglich ist, von Anfang an und damit bereits auf der ersten Stufe der Selbstanzeige alle erforderlichen Tatsachen, notfalls auf der Basis einer Schätzung anhand der ihm bekannten Informationen, zu berichtigen, zu ergänzen oder nachzuholen hat. Das Finanzamt muss also durch die Angaben in der Selbstanzeige in die Lage versetzt werden, den Sachverhalt ohne langwierige größere Nachforschungen vollends aufzuklären und die zutreffende Steuer – gegebenenfalls seinerseits im Schätzungswege – richtig festzusetzen35, die Bestätigung von Feststellungen im Rahmen einer Außenprüfung reicht hierfür allein nicht aus36. Es soll ein strenger Maßstab anzulegen sein mit der Folge, dass, wenn die Angaben diesen Anforderungen nicht genügen, lediglich die Ankündigung einer Selbstanzeige vorliegt. Dies bedeutet, dass Schreiben, die Lücken hinsichtlich konkreter Zahlen oder der betroffenen Steuerarten und Zeiträume aufweisen, nicht (mehr) als wirksame Selbstanzeige anerkannt werden können. Nach dem Legalitätsprinzip

___________ 30 31 32 33 34 35

BGH v. 13.11.1952 – 3 StR 398/52, NJW 1953, 475. BGH v. 5.9.1974 – 4 StR 369/74, NJW 1974, 2293 (2294). BStBl. I 2009, 1533 (1562). S. hierzu Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 AO Rz. 77. BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 (1136) Rz. 35. Gefestigte Rechtsprechung, aktuell BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 (1136) Rz. 36 m.w.N.; s. auch BFH v. 8.7.2009 – VIII R 5/07, DStR 2009, 2428 (2430) m.w.N.; in diesem Sinne auch OFD Koblenz, Pressemitteilung vom 25.2.2010, zitiert von Keller in NWB-EV 2010, 169 (170). 36 BGH v. 16.6.2005 – 5 StR 118/05, wistra 2005, 381.

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des § 152 Abs. 2 StPO wird dann regelmäßig eine Verpflichtung der Finanzbehörde zur Einleitung eines Strafverfahrens bestehen. Nachkonkretisierungen sind also – anders als bisher teilweise üblich – nicht mehr zur Erlangung der angestrebten strafbefreienden Wirkung geeignet. Daher sollte die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen eher zu hoch als zu niedrig ausfallen. Sofern die für die Entscheidung über die Strafbefreiung zuständigen Stellen erkennbar unzureichende Angaben als Berichtigung hinnehmen, ohne dass rechtlich gebotene Nachforschungen zur Ermittlung des wahren Sachverhalts angestellt werden, soll nach Auffassung des BGH37 ebenfalls keine Strafbefreiung eintreten. Bei einer sog. Teilselbstanzeige wurde der Täter einer Steuerstraftat nach bisher h.M.38 insoweit straffrei, soweit der Inhalt seiner Nacherklärung reichte. Dies sollte sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergeben. Reichte der Steuerpflichtige eine Teilselbstanzeige, die erheblich abweicht, ein, so war er zwar für den Teil der Selbstanzeige straflos, allerdings war der Umstand, dass bewusst eine falsche Selbstanzeige eingereicht wurde, hinsichtlich des verbleibenden Teils straferhöhend zu werten. Nunmehr hält der BGH39 in Änderung seiner früheren Rechtsprechung eine Teilselbstanzeige nicht mehr für ausreichend, um die Strafbefreiung zu erlangen, da es gerade an der Rückkehr zur vollständigen Steuerehrlichkeit fehle. Offen geblieben ist allerdings in dem Beschluss, ob bei Steuerstraftaten bezüglich unterschiedlicher Steuerarten darauf abzustellen ist, dass diese ebenfalls aufgedeckt werden müssen. Nach der bisherigen Rechtsprechung setzten Teilselbstanzeigen immer zumindest die gleiche Steuerart (und häufig den gleichen Besteuerungszeitraum) voraus. Von daher wäre – jedenfalls bei getrennten Lebenssachverhalten/Steuerquellen – denkbar, dass z.B. für Umsatzsteuerdelikte eine wirksame Selbstanzeige auch dann noch möglich ist, wenn die Straffreiheit für die Einkommensteuerhinterziehung wegen einer Unvollständigkeit der Angaben nicht mehr in Betracht kommt. Die geänderte Rechtsauffassung des BGH bei unveränderter gesetzlicher Ausgangslage gilt für alle offenen Selbstanzeigefälle und führt dazu, dass wenn ein Steuerpflichtiger etwa in der sog. Liechtenstein-Affäre eine Selbstanzeige abgegeben hat und nunmehr für ein damals nicht miterklärtes Schweizer Konto eine nochmalige Selbstanzeige abgibt, ihm nicht nur für die aktuelle Selbstanzeige die Strafbefreiung versagt bleibt, sondern auch der Erstvorgang – sofern kein Verfahrenshindernis entgegensteht – erneut aufgegriffen werden muss und zudem die addierten Zahlen beider Vorgänge für die Prüfung der Voraussetzungen des großen Ausmaßes nach § 370 Abs. 3 Satz 2 Ziff. 1 AO heranzuziehen sind. Hier ist zu berücksichtigen, dass die Einstellung nach

___________ 37 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 (1136) Rz. 37. 38 BGH v. 13.10.1998 – 5 StR 392/98, wistra 1999, 27 f.; Jäger in Klein, § 371 AO Rz. 20; Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 AO Rz. 75. 39 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 (1134) Rz. 11.

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§ 371 Abs. 3 AO i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO regelmäßig nicht zu einem Verfahrenshindernis führt. Dies mag im Einzelfall für die Steuerpflichtigen bitter sein. Einen Vertrauensschutz wie im Steuerrecht nach § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO kennt das Strafrecht jedoch nicht. Nach Auffassung des BVerfG40 sind die Gerichte an eine einmal feststehende Rechtsprechung insbesondere dann nicht gebunden, wenn diese sich im Licht geläuterter Erkenntnis oder angesichts des Wandels der sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse als nicht haltbar erweist. In einer ersten Stellungnahme in der Literatur41 wird die Auffassung vertreten, es müsse jedenfalls bei Selbstanzeigen vor Ergehen der neuen Rechtsprechung auf den Wissenshorizont des Betroffenen abgestellt werden. Hierfür findet sich im Gesetz allerdings keine Stütze. M.E. kann nur die allgemeine Strafmilderung bei unwirksamer Selbstanzeige gewährt werden42. Sofern die hinterzogenen Steuern gleichzeitig mit Erstattung der Selbstanzeige gezahlt werden, könnte auch in geeigneten Fällen über eine Einstellung nach § 153 StPO nachgedacht werden. Die Praxis wird zeigen, ob zumindest in den Altfällen ein Ausgleich über ein geringeres Strafmaß in Betracht kommen kann. Es ist auch weiterhin fraglich, ob bei einer nur geringen Abweichung noch eine strafbefreiende Wirkung im vollen Umfange eintreten kann. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ist in der Praxis eine nur geringfügige Abweichung noch für eine vollständige Selbstanzeige als ausreichend angesehen worden, wobei die Abweichung nicht mehr als ca. 3 bis 5%43 betragen durfte. Auch dies ist m.E. durch die aktuelle Rechtsprechung in Frage gestellt, obwohl der BGH44 geringfügige Differenzen zu den wahrheitsgemäßen Angaben als unschädlich betrachtet hat, ohne den Begriff näher zu definieren.

V. Verjährungsfragen 1. Fristen a) Strafverfolgung Die Selbstanzeige muss sich nur auf den strafrechtlich nicht verjährten Zeitraum erstrecken, da ihr Ziel die Erlangung von Straffreiheit ist. Im Rahmen des Grundsystems der strafrechtlichen Verjährungsfristen war früher nach § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB eine Frist von fünf Jahren nach der Beendigung des Delikts maßgebend. Die Neufassung der strafrechtlichen Verjährungsvorschrif-

___________ 40 BVerfG v. 11.11.1964 – 1 BvR 488/62, 1 BvR 562/63, 1 BvR 216/64, NJW 1965, 243; s. auch zur rückwirkenden Anwendung des (damals) neuen Grenzwerts für die absolute Fahruntüchtigkeit BayOblG v. 20.7.1990 – RReg 1 St 164/90, NJW 1990, 2833. 41 Salditt, PStR 2010, 168 (174). 42 Hinweis auf Nr. 150 Ziff. 3a) AStBV (St), BStBl. I 2009, 1533 (1570); Jäger in Klein, § 370 AO Rz. 331; Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 260. 43 In der Praxis uneinheitliche Linie, s. auch Nachweise bei Jäger in Klein, § 370 AO Rz. 331; Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 66.2; Burkhard, PStR 2010, 148 (149). 44 BGH v. 16.6.2005 – 5 StR 118/05, wistra 2005, 381.

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ten für Steuerhinterziehung im Jahressteuergesetz 2009 hat zur Folge, dass für Taten, für die mit Ende des 24.12.200845 die Verfolgungsverjährung noch nicht abgelaufen war, zwei strafrechtlich relevante Verjährungszeiträume zu beachten sind. Dies sind der Fünf-Jahreszeitraum für den Grundtatbestand des § 370 AO und der Zehn-Jahres-Zeitraum für besonders schwere Fälle, in denen ein Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 AO verwirklicht worden ist. Hierbei ist zu beachten, dass die Neuregelung in § 376 Abs. 1 AO nur an den Nichteintritt der Strafverfolgungsverjährung anknüpft. Dies kann im Ergebnis bewirken, dass eine zehnjährige Verfolgungsverjährung auch in den Fällen in Betracht kommt, die bei Tatbegehung noch keinem Regelbeispiel entsprochen haben, es aber begrifflich ausfüllen46. Allerdings ist hinsichtlich der vor dem 1.1.2008 begangenen Taten für die Ahndung als besonders schwere Steuerhinterziehung die Vorschrift des § 370 Abs. 3 a.F. maßgebend47, die eine Hinterziehung in „großem Ausmaß“ aus „grobem Eigennutz“ erforderte. In der Praxis werden insbesondere die Fälle einer Steuerverkürzung „in großem Ausmaß“ nach § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO zu beachten sein. Die aktuelle Rechtsprechung48 hat die Grenzwerte 50 000 Euro bei tatsächlicher Schädigung des Fiskus und 100 000 Euro bei Gefährdung des Steueranspruchs geschaffen, die Prüfung ist für jede Einzeltat vorzunehmen49. Es wird empfohlen50, sicherheitshalber zunächst in allen Fällen von einem Grenzbetrag von 50 000 Euro auszugehen. b) Steuerfestsetzung Soweit sich eine Selbstanzeige nach den vorstehend dargestellten Grundsätzen bei dem Grundtatbestand des § 370 AO nur auf den strafrechtlich relevanten Zeitraum erstreckt, wird die Finanzverwaltung gleichwohl für die Vorjahre die verlängerte Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO aufgreifen. Je nach Abgabeverhalten des Steuerpflichtigen können hiervon maximal 13 Veranlagungszeiträume betroffen sein. Strafprozessuale Maßnahmen sind nicht mehr zulässig, es besteht eine Beschränkung auf die Ermittlungsmöglichkeiten nach der Abgabenordnung. Nach ständiger BFH-Rechtsprechung51 verlängert sich die Verjährungsfrist nur dann auf 10 Jahre, wenn der objektive und der subjektive Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt sind. Das Vorliegen der objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale ist nach den Vorschriften der AO und FGO, nicht aber nach den der StPO zu prüfen52.

___________ 45 S. hierzu etwa Stahl/Rau, KÖSDI 2010, 16958 (16966); ferner Wulf, DStR 2009, 459 ff.; Samson/Brüning, wistra 2010, 1 ff. 46 Jäger in Klein, § 376 AO Rz. 14; a.A. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 376 AO Rz. 14e. 47 So offensichtlich BGH v. 30.4.2009 – 1 StR 342/08, wistra 2009, 359 (362) unter 5.b). 48 BGH v. 2.12.2008 – 1 StR 416/08, wistra 2009, 107 (111). 49 Stahl, KÖSDI 2009, 16464 (16465); Wulf, PStR 2010, 13 (17). 50 Etwa Spatscheck/Birkenmaier, Stbg. 2010, 361 (366); Kamps, ErbR 2010, 153 (161); Wulf, PStR 2010, 13 (21). 51 Grundlegend etwa BFH v. 27.8.1991 – VIII R 84/89, BStBl. II 1992, 9 ff. 52 BFH v. 27.11.2003 – II B 104/02, BFH/NV 2004, 463 f.

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Ausgewählte Grundsatzprobleme und Grenzbereiche der Selbstanzeige

Nach allgemeinen Grundsätzen ist die Finanzbehörde für steuerbegründende Tatsachen beweispflichtig Damit trägt sie auch die objektive Beweislast (Feststellungslast) für das Vorliegen aller Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung („mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“). Nach aktueller Rechtsprechung53 ist der strafverfahrensrechtliche Grundsatz „in dubio pro reo“ auch in finanzgerichtlichen Verfahren zu beachten. Es gibt insoweit auch keine Beweismaßreduzierung54. Allerdings hindert der zu beachtende Grundsatz „in dubio pro reo“ das Finanzgericht nicht, aufgrund seiner Feststellungen zu der vollen Überzeugung zu gelangen, dass eine Steuerhinterziehung vorliegt55. Zudem ist auch im Steuerstrafverfahren die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen zulässig56, wenn zwar feststeht, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat, das Ausmaß der verwirklichten Besteuerungsgrundlagen aber ungewiss ist. Insofern liegt auch bei nicht völlig geklärten Sachverhalten ein Prozessrisiko beim Steuerpflichtigen, das in entsprechenden Fällen die Vereinbarung einer tatsächlichen Verständigung als sinnvoll erscheinen lässt. Zu beachten ist weiterhin, dass durch die in § 171 Abs. 7 AO enthaltene Ankoppelung der steuerlichen Festsetzungsfrist an die Strafverfolgungsverjährung künftig bei hinterzogenen Steuern auch steuerliche Festsetzungsfristen von bis zu 20 Jahren möglich sind57. 2. Ablaufhemmung Die in weitgehend in § 171 AO geregelte Ablaufhemmung verringert in den entsprechenden Fällen für die Finanzverwaltung das Risiko des Eintritts der Festsetzungsverjährung und schiebt den planmäßigen Eintritt hinaus. Wenn die Außenprüfung mit der Steuerfahndung eine sog. Kombiprüfung58 oder eigenständig Ermittlungen in einem durch die Straf- und Bußgeldsachenstelle eingeleiteten Verfahren durchführt und der Steuerpflichtige für nicht von den Ermittlungen betroffene Jahre eine wirksame Selbstanzeige erstattet, konkurrieren die Ablaufhemmungstatbestände nach § 171 Abs. 4, Abs. 5 und Abs. 9 AO. Sie sind in Voraussetzung und Wirkung unterschiedlich. Die Ablaufhemmung durch Außenprüfung nach § 171 Abs. 4 AO setzt voraus, dass vor Ablauf der regulären Festsetzungsfrist eine Prüfungsanordnung erlassen und die Prüfung durch qualifizierte Prüfungshandlungen ernsthaft begonnen wird59. Hierdurch tritt die Ablaufhemmung für alle in der Prüfungsanord-

___________ 53 Grundlegend BFH v. 7.11.2006 – VIII R 81/04, BStBl. II 2007, 364 ff. mit kritischer Anm. Rau in PStR 2007, 130 ff. 54 BFH v. 7.11.2006 – VIII R 81/04, BFH/NV 2007, 534. 55 BFH v. 4.5.2005 – XI B 230/03, BFH/NV 2005, 1485 ff. 56 BGH v. 24.5.2007 – 5 StR 58/07, PStR 2007, 175 = wistra 2007, 345. 57 Stahl, KÖSDI 2009, 16464 (16467); Wulf, DStR 2009, 459 ff. (463). 58 Hinweis auf Nr. 129 AStBV (St), BStBl. I 2009, 1533 (1564); ferner BFH v. 4.11.1987 – II R 102/85, BStBl. II 1988, 113. 59 Etwa BFH v. 2.2.1994 – I R 57/93, BStBl. II 1994, 377; BFH, BFH/NV 2004, 1510.

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nung genannten und tatsächlich geprüften Steuerarten ein; unerheblich ist, ob jeder einzelne Sachverhalt, aus dem sich der Steueranspruch ergibt, überprüft wurde60. Zeitlich besteht ein Zwang für die Finanzverwaltung, nach Schlussbesprechung oder letzten Ermittlungen im Rahmen der Außenprüfung innerhalb der Fristen des § 169 Abs. 2 AO tätig zu werden (§ 171 Abs. 4 Satz 3 AO). Im Rahmen von § 171 Abs. 5 Satz 1 AO genügt die Aufnahme ernsthafter Ermittlungen durch die Steuerfahndung. Der Umfang der Ablaufhemmung wird durch die tatsächlichen für den Steuerpflichtigen erkennbaren Prüfungshandlungen bestimmt und ist grundsätzlich sachverhaltsbezogen zu sehen61. Damit wird die Festsetzungsfrist nicht für den Steueranspruch insgesamt gehemmt62. Auch bei Einleitung des Steuerstrafverfahrens durch die Straf- und Bußgeldsachenstelle – die keine Hemmung nach Satz 1 bewirken kann – ist der Ablauf der Festsetzungsfrist gemäß § 171 Abs. 5 Satz 2 AO nur für diejenigen Steueransprüche gehemmt, wegen deren vermeintlichen Verletzung das Strafverfahren tatsächlich eingeleitet und die Einleitung dem Steuerpflichtigen bekanntgegeben worden ist63. Damit ist § 171 Abs. 5 AO in seinen tatbestandlichen Voraussetzungen zugleich enger als auch weiter als § 171 Ab. 4 AO. Enger insoweit, als die Hemmung nicht den gesamten Steueranspruch für den jeweiligen Veranlagungszeitraum erfasst, sondern nur den Sachverhalt, auf den sich die Ermittlungen erstrecken, und weiter insofern, als die betroffenen Steuerarten und Veranlagungszeiträume nicht durch einen Steuerverwaltungsakt vorab umgrenzt werden (müssen). Hat die Steuerfahndung den Umfang ihrer Ermittlungen hinsichtlich eines Dauersachverhaltes nicht erkennbar auf bestimmte Veranlagungszeiträume beschränkt, werden von der Ablaufhemmung des § 171 Abs. 5 AO sämtliche noch nicht festsetzungsverjährte Zeiträume umfasst, in denen sich der entsprechende Sachverhalt auswirkt64. Zudem wird in § 171 Abs. 5 AO keine Frist bestimmt, innerhalb derer die Ermittlungsergebnisse umgesetzt werden müssen. Denkbar wäre hier in Extremfällen allenfalls an den Tatbestand der Verwirkung (acht Jahre Untätigkeit genügen nicht65). Durch § 171 Abs. 9 AO wird dagegen nur eine partielle Hemmung des Ablaufs der Festsetzungsverjährung hinsichtlich der offenbarten Steueransprüche bewirkt. Soweit eine sog. gestufte Selbstanzeige eingereicht wird, soll die Jahresfrist erst beginnen, wenn der Steuerpflichtige seine Selbstanzeige hinsichtlich Steuerart und Veranlagungszeitraum konkretisiert hat66 bzw. der

___________ 60 BFH v. 27.3.1996 – I R 182/94, BStBl. II 1997, 449 = FR 1996, 638 (451). 61 BFH v. 14.4.1999 – XI R 30/96, BStBl. II 1999, 478; BFH v. 13.2.2003 – X R 62/00, BFH/NV 2003, 740. 62 S. auch Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, § 171 AO Rz. 72 m.w.N. 63 BFH v. 8.7.2009 – VIII R 5/07, DStR 2009, 2428 (2429) unter 2. c) aa) m.w.N. 64 FG Niedersachsen v. 15.12.2003 – 1 K 55/03, EFG 2004, 701 m.w.N. 65 BFH v. 9.3.1999 – VIII R 19/97, BFH/NV 1999, 1186 ff. 66 FG Niedersachsen v. 10.11.2003 – 1 K 10277/00, EFG 2004, 468 als Vorinstanz zu BFH v. 8.7.2009 – VIII R 5/07, DStR 2009, 2428.

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Ausgewählte Grundsatzprobleme und Grenzbereiche der Selbstanzeige

Sachverhalt gegenständlich bestimmt ist67. Erst die eigentliche Berichtigungserklärung soll eine Ablaufhemmung auslösen können68. Hier hat der BFH69 gegen die Auffassung der Erstinstanz70 aktuell entschieden, dass der Beginn der Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 9 AO keine substantiiert begründete Schätzung der Besteuerungsgrundlagen aufgeschlüsselt nach Veranlagungszeiträumen erfordere, sondern die angezeigte Steuerverkürzung dem Grunde nach individualisierbar sein müsse. Dies setze voraus, dass der Steuerpflichtige Steuerart und Veranlagungszeitraum benenne und den Sachverhalt so schildere, dass der Gegenstand der Selbstanzeige erkennbar werde. An eine zur Ablaufhemmung führende Selbstanzeige seien geringere Anforderungen zu stellen als an eine die Straffreiheit bewirkende Selbstanzeige. Auch eine Anzeige nach § 153 AO löse die Ablaufhemmung des § 179 Abs. 9 AO aus. Streitig war, ob durch den Beginn von Streuerfahndungsermittlungen innerhalb der Jahresfrist des § 171 Abs. 9 AO eine zeitlich unbefristete Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 5 AO auch für solche Zeiträume erreicht werden kann, für die bereits die zehnjährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO abgelaufen war. Dies hat der BFH71 abgelehnt. Die in der Spezialvorschrift des § 171 Abs. 9 AO geregelte Jahresfrist solle lediglich dem Finanzamt über das Ende der regulären Festsetzungsfrist hinaus ein Jahr Zeit geben, um die Selbstanzeige auszuwerten. Die Jahresfrist habe keine darüber hinaus gehende Brückenfunktion, die dem Finanzamt die Möglichkeit eröffne, mit nach Ablauf der regulären Festsetzungsfrist (aber innerhalb eines Jahres nach Eingang der Selbstanzeige) beginnenden Ermittlungen der Steuerfahndung die Festsetzungsfrist bis zur Bestandskraft der künftigen Änderungsbescheide einzufrieren. Auch im Konkurrenzverhältnis zu § 171 Abs. 3 bilde Abs. 9 eine Spezialvorschrift, die Abs. 3 verdränge. Die Tatbestände des § 171 Abs. 5 und Abs. 9 AO lassen sich also nicht kombiniert anwenden; vielmehr verdrängt Abs. 9 als Spezialvorschrift die Regelung des Abs. 5. Zudem kann eine Selbstanzeige nicht als Antrag im Sinne des § 171 Abs. 3 AO beurteilt werden.

VI. Sperrgründe 1. Gesetzliche Sperren Die (gesetzlichen) in § 371 AO abschließend genannten Sperrgründe für eine Selbstanzeige sind:

___________ 67 BFH v. 10.6.2005 – VIII B 324/03, StE 2005, 2149. 68 FG Düsseldorf v. 29.11.2007 – 16 K 458/05 E,U,G, Rz. 52 f., juris. 69 BFH v. 21.4.2010 – X R 1/08, juris; insoweit Bestätigung des FG Köln v. 30.10.2003 – 14 K 6980/02, n.v., dass auf den Eingang des Erstschreibens abgestellt hat, da eine Anzeige im Sinne des § 171 Abs. 9 AO nach Sinn und Zweck der Regelung nicht zur Erlangung der Straffreiheit nach § 371 AO geeignet sein müsse. 70 FG Düsseldorf v. 29.11.2007 – 16 K 458/05 E,U,G, Rz. 52 f., juris. 71 BFH v. 8.7.2009 – VIII R 5/07, DStR 2009, 2428 (2430).

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– Nr. 1 a) Erscheinen eines Amtsträgers zur steuerlichen Überprüfung; – Nr. 1 b) Bekanntgabe eines Straf- oder Bußgeldverfahrens; – Nr. 2 Tatentdeckung, die der Täter kannte oder mit der er rechnen musste. Da jeder Grund die Sperrwirkung auslösen kann, sind sie jeweils gesondert zu prüfen bzw. zu beachten. a) Erscheinen eines Amtsträgers Kernaussage dieser Sperrwirkung ist, dass ein Amtsträger der Finanzbehörde mit dem – ernsthaften72 – Ziel einer steuerlichen Prüfung oder steuerstrafrechtlicher Ermittlungen erscheinen muss. Der Begriff der steuerlichen Prüfung ist dabei in einem weiten Sinn zu verstehen und umfasst alle Maßnahmen, die einer vollständigen und richtigen Steuerfestsetzung durch Ermittlung der steuerlichen Verhältnisse dienen73. Es kommt auf den konkreten Prüfungsauftrag und den Ermittlungswillen des Beamten an74. Neben normalen Außenprüfungen, Sonderprüfungen, Prüfungen der Steuerund Zollfahndung sind damit grundsätzlich auch Maßnahmen der sog betriebsnahen Veranlagung geeignet, um die Sperrwirkung herbeizuführen75. Umstritten ist die Stellung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit als Finanzbehörde im Sinne des § 371 AO. Nach h.M.76 ist der FKS eine steuerliche und steuerstrafrechtliche Prüf- und Ermittlungskompetenz nicht eingeräumt worden. Dies ergebe sich einmal aus der Historie des Gesetzgebungsverfahrens. Zum anderen sei eine eigenständige steuerliche Prüfungsbefugnis aus dem Wortlaut des für die FKS maßgebenden SchwarzArbG nicht herleitbar. Damit kann das alleinige Erscheinen der FKS keine Sperrwirkung auslösen, denkbar wäre allenfalls an die Möglichkeit einer Tatentdeckung nach § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO. Der BGH77 hat sogar den Beginn einer routinemäßigen Überprüfung der Veranlagungsarbeiten innerhalb eines Finanzamtes durch die Innenrevision der Oberfinanzdirektion als ausreichend angesehen, um eine Sperrwirkung für einen Finanzbeamten zu bewirken, der seine Befugnisse und seine Stellung zur Begehung von Steuerhinterziehungen missbraucht hat. Allerdings wird man die Innenrevision nur für diesen Sonderfall als Amtsträger nach § 371 Abs. 2 Nr. 1a AO ansehen können.

___________ 72 Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO, Rz. 131. 73 BayObLG v. 17.9.1986 – RReg.4 St 155/86, MDR 1987, 433 = wistra 1987, 77 (78); Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 AO Rz. 139 m.w.N. 74 BGH v. 5.4.2000 – 5 StR 226/99, wistra 2000, 219 (225) mit Anm. Jäger, wistra 2000, 227. 75 Jäger in Klein, § 371 AO Rz. 36. 76 Buse, AO-StB 2007, 80 ff. und Mössmer/Moosburger, wistra 2007, 55 ff. jeweils m.w.N. 77 BGH v. 20.1.2010 – 1 StR 634/09, wistra 2010, 152.

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Erschienen ist ein Amtsträger grundsätzlich dann, wenn er am Prüfungsort mit der Absicht und dem ernsthaften Willen zur Durchführung einer Außenprüfung beim Steuerpflichtigen in dessen Herrschaftssphäre eingetroffen oder dort zumindest in dessen Blickfeld getreten ist. Der Begriff des Erscheinens ist vom Beginn der Prüfung unabhängig. Die bloße telefonische Anmeldung oder schriftliche Ankündigung reicht nicht aus78. Damit hat der Steuerpflichtige nach der angeordneten Außenprüfung Bedenkzeit zur Abgabe einer Selbstanzeige. Wird die Prüfung an Amtsstelle durchgeführt, ist auf den persönlichen Kontakt des Steuerpflichtigen oder seines Bevollmächtigten im Finanzamt mit dem Prüfer abzustellen, denn das Merkmal Erscheinen ist im Sinne von Zusammenkommen (Kontakt) zu verstehen, der nach außen erkennbar macht, dass der Amtsträger mit der Außenprüfung beginnt. Erst dann besteht die mit einem Erscheinen verbundene Entdeckungsgefahr, die zum Ausschluss einer Selbstanzeige führen soll79. Der Amtsträger muss in einer Weise in die Sphäre des Steuerpflichtigen getreten sein, die diesem grundsätzlich ermöglicht, von dem Erscheinen des Amtsträgers Kenntnis zu nehmen. Nicht erforderlich soll hingegen sein, dass der Steuerpflichtige von diesem „Erscheinen“ tatsächlich unmittelbar oder mittelbar Kenntnis erlangt80. Der sachliche und zeitliche Umfang der Sperrwirkung richtet sich nach dem Inhalt der Prüfungsanordnung (§ 196 AO)81. Diese ist von zentraler Bedeutung. Die Sperrwirkung erstreckt sich daher (nur) auf die in der Prüfungsanordnung genannten Steuerpflichtigen, Steuerarten und Veranlagungszeiträume. Der Steuerpflichtige kann also bei fehlender Tatentdeckung noch nach dem Erscheinen des Prüfers Selbstanzeige für solche Zeiträume erstatten, für die die PA noch nicht erweitert ist. Ist die zugrunde liegende PA nichtig, weil sie an besonders schwerwiegenden, offenkundigen Fehlern leidet, ist eine Selbstanzeige auch bei Erscheinen des Amtsträgers wirksam; dagegen soll es im Übrigen für die Frage der Sperrwirkung nicht auf die Rechtswidrigkeit der Prüfungsanordnung oder der Prüfungsdurchführung ankommen82. Im Falle der Erweiterung der Prüfungsanordnung im Laufe der Prüfung erscheint der Amtsträger hinsichtlich derjenigen Steuerarten und Zeiträume, die nach der erweiternden PA zu prüfen sind, erstmals in dem Zeitpunkt zur steuerlichen Prüfung, in dem er, die schriftliche Erweiterungsanordnung bei

___________ 78 Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 123 m.w.N. 79 Jäger in Klein, § 371 AO Rz. 38; BFH v. 9.3.2010 – VIII R 50/07, DStR 2010, 1075 (1077) Rz. 18. 80 BFH v. 7.10.1997 – VIII R 52/94, BFH/NV 1998, 1059. 81 BGH v. 15.1.1988 – 3 StR 465/87, MDR 1988, 429 = wistra 1988, 151; BFH v. 19.6.2007 – VIII R 99/04, wistra 2008, 68 (70) unter 2. b); aktuell BFH v. 9.3.2010 – VIII R 50/07, DStR 2010, 1075 (1076) Rz. 13. 82 BGH v. 16.6.2005 – 5 StR 118/05, wistra 2005, 381; a.A. Hagemeier/Hunsmann, NWB F.13, S. 2085 ff., die eine Selbstanzeige auch dann zulassen, wenn die PA rechtswidrig ist und im Strafverfahren ein Verwertungsverbot besteht; dazu Apitz, StBp. 2007, 1.

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sich führend, die Räume des Steuerpflichtigen zum Zwecke der Prüfung betritt83. Unschädlich soll sein, dass hier die Bekanntgabe der erweiterten PA und das Erscheinen des Prüfers zeitlich zusammenfallen, da der Steuerpflichtige die Möglichkeit habe, die Erweiterung der Prüfungsanordnung anzufechten. Die erfolgreiche Anfechtung der PA bewirke neben einem Verwertungsverbot, dass nicht mehr von einem Erscheinen ausgegangen werden könne und daher die Straffreiheit bei einer Selbstanzeige nicht gesperrt sei84. Diese Auffassung dürfte durch den BGH85 überholt sein. Probleme ergeben sich auch im Rahmen der digitalen Außenprüfung nach § 147 Abs. 6 AO. Beim Datenzugriff in Form der Datenträgerüberlassung (Zugriff Z 3) wird in der Praxis – obwohl kein Rechtsanspruch hierauf besteht – häufig die Übersendung der Datenträger-CD vor dem vereinbarten Prüfungsbeginn erbeten. Mit dem Zeitpunkt des Einlesens der Daten und Einsichtnahme in die Einzelkonten auf dem Rechner des Prüfers liegt ein Prüfungsbeginn im Sinne des § 171 Abs. 4 AO vor, da der Prüfer konkrete Ermittlungshandlungen86 vorgenommen hat. Gleichwohl ist durch die Übersendung des Datenträgers im Rahmen des Datenzugriffs oder die Überbringung durch eine nichtvertretungsberechtigte Person an Amtsstelle das Merkmal „Erscheinen des Amtsträgers“ nicht erfüllt, sodass eine spätere Selbstanzeige noch möglich ist. Ebenso liegt kein Erscheinen vor, wenn der Prüfer nur zur bloßen Abholung eines Datenträgers ohne Prüfungsabsicht erscheint. Dagegen ist von einem Erscheinen auszugehen, wenn der Steuerpflichtige oder sein rechtlicher Vertreter an Amtsstelle beim zuständigen Prüfer erscheinen, um den Datenträger zu übergeben87. Dies ist allerdings aus dem Wortlaut des Gesetzes so nicht herleitbar. Durch eine vorzeitige Datenträgerüberlassung kann allerdings eine Sperrwirkung nach § 371 Abs. 2 Ziff. 2 AO ausgelöst werden, wenn die Auswertung der Daten zu einer Tatentdeckung führt und der Steuerpflichtige hiermit bei verständiger Würdigung rechnen musste. Bezüglich des Erscheinens eines Amtsträgers zur Ermittlung einer Straftat oder Steuerordnungswidrigkeit (§ 371 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a, 2. Alt. AO) soll sich die Sperrwirkung auch auf solche steuerlichen Sachverhalte erstreckt, bei denen – soweit sie nicht bereits von dem bisherigen Ermittlungswillen erfasst

___________ 83 FG Bremen v. 6.10.2004 – 2 K 152/04 (1), EFG 2005, 15; BFH, BStBl. II 2007, 7 zum Strafbefreiungserklärungsgesetz. 84 FG Bremen, EFG 2005, 15, ferner Nachweise bei Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 155.2 85 BGH v. 16.6.2005 – 5 StR 118/05, wistra 2005, 381. 86 S. hierzu BFH v. 6.3.2006 – IV B 82/04, BFH/NV 2006, 1291 f.; Niedersächsisches FG v. 13.5.2004 – 6 K 312/00, EFG 2004, 1652 f. 87 Str., Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 126; Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 AO Rz. 145; s. aber nunmehr BFH v. 9.3.2010 – VIII R 50/07, DStR 2010, 1075 (1077) Rz. 18.

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sind – eine Aufdeckung nach normalem Ermittlungsverlauf zu erwarten sei88. Wenn sich neue Tatvorwürfe lediglich auf weitere Besteuerungszeiträume hinsichtlich derselben Steuerarten bei identischen Einkunftsquellen erstreckten, erscheine ein Amtsträger zur Ermittlung zusammenhängender Taten und damit auch hinsichtlich der Zeiträume, die ursprünglich nicht Gegenstand des Ermittlungsverfahrens waren. Der BGH hat mit diesen Ausführungen seine bereits früher89 diesbezüglich vertretene Auffassung („enger sachlicher Zusammenhang mit dem bisherigen Ermittlungsgegenstand“) bestätigt. Im Ergebnis bedeutet dies eine zeitliche Erweiterung des Sperrgrundes bei einem entsprechenden sachlichen Zusammenhang. Dies gilt allerdings nicht für das Erscheinen eines Prüfers zur normalen Außenprüfung, da es hierbei um die umfassende Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen im Rahmen der Prüfungsanordnung geht, nicht aber konkret um ein Verhalten des Steuerpflichtigen, das eine Steuerhinterziehung oder eine Steuerordnungswidrigkeit beinhaltet90. Anders dürfte die Rechtslage sein, wenn – zulässigerweise91 – eine Außenprüfung im eingeleiteten Steuerverfahren stattfindet und die strafbefangenen Sachverhalte entsprechend vom Ermittlungswillen des Außenprüfers umfasst sind. Ein schriftliches Auskunftsverlangen der Steuerfahndung zur Vorlage von Unterlagen über ausländische Konten und Depots bewirkt zwar eine Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 5 Satz 1 AO, schließt jedoch nicht nach § 371 Abs. 2 Nr. 1 AO den Eintritt der Straffreiheit aus92. b) Bekanntgabe eines eingeleiteten Ermittlungsverfahrens Dieser Sperrgrund bereitet in der Praxis kaum Schwierigkeiten. Sein Eingreifen erfordert neben der Verfahrenseinleitung die amtliche Bekanntgabe an den Steuerpflichtigen oder seinen Vertreter. Die Sperrwirkung richtet sich nach dem Inhalt der Mitteilung und den darin genannten Steuerarten und Besteuerungszeiträumen93. Bei dem Tatbegriff soll hierbei auf die Nichtabgabe bzw. auf die Abgabe einer falschen Erklärung abzustellen sein94. c) Tatentdeckung Dieser Sperrgrund ist in der Praxis problematisch, da ein objektiver und ein subjektiver Tatbestand verwirklicht sein müssen. Nach der bisherigen gefestigten Rechtsprechung des BGH95 reichte für die Annahme einer Tatentdeckung ein bloßer Anfangsverdacht nicht aus, da das Merkmal der Tatentdeckung mehr als die Kenntnis von Anhaltspunkten er-

___________ 88 89 90 91 92 93 94 95

BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 (1134) Rz. 15 ff. BGH, wistra 2000, 219 (225). BFH v. 9.3.2010 – VIII R 50/07, DStR 2010, 1075 (1077) Rz. 19. BFH v. 19.8.1998 – XI R 37/97, BStBl. II 1999, 7; BFH v. 4.11.1987 – II R 102/85, BStBl. II 1988, 113. BFH v. 3.2.2010 – VIII B 164/09, PStR 2010, 159. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 AO Rz. 182. BGH v. 5.4.2000 – 5 StR 226/99, wistra 2000, 219 (226). Nachweise bei Randt/Schauf, DStR 2008, 489 (490).

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fordere auch dann, wenn die Wahrscheinlichkeit späterer Aufklärung gegeben sei. Der hinreichende Tatverdacht setze voraus, dass bei vorläufiger Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Täters wahrscheinlich sei. Diese Anforderungen hat der BGH nunmehr96 modifiziert. Die nach der bisherigen Rechtsprechung für die Tatentdeckung erforderliche Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Ergebnisses bei vorläufiger Tatbewertung erfordere keinen hinreichenden Tatverdacht im Sinne von §§ 170 Abs. 1, 203 StPO, da dieser mit der notwendigen Prognose der Verurteilungswahrscheinlichkeit auf einem ausermittelten Sachverhalt aufbaue. Eine derartige Prognose lasse sich bei Entdeckung der Tat – eine nur teilweise Entdeckung soll reichen – noch nicht verlässlich stellen, die Entdeckung bilde vielmehr erst den Ausgangspunkt der dann gebotenen Ermittlungen. Es sei weder erforderlich, dass der Täter der Steuerhinterziehung bereits ermittelt ist noch dass die tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen bereits so weit bekannt sind, dass der Schuldumfang verlässlich beurteilt werden kann. Es genüge, dass konkrete Anhaltspunkte für die Tat als solche bekannt sind. Nach diesen Grundsätzen stelle die Kenntniserlangung von einer Steuerquelle für sich allein noch keine Tatentdeckung dar. Stets sei eine Tat entdeckt – dies war auch bisher unstrittig –, wenn der Abgleich mit den Steuererklärungen des Steuerpflichtigen ergibt, dass die Steuerquelle nicht oder nur unvollständig angegeben wurde. Nunmehr soll eine Entdeckung auch schon vor einem Abgleich denkbar sein, wenn entsprechende Aussagen von den dem Steuerpflichtigen nahestehenden Personen vorliegen oder bei verschleierten Steuerquellen die Art und Weise der Verschleierung ein signifikantes Indiz für unvollständige oder unrichtige Angaben ist. Folge dieser aktuellen Rechtsprechung ist die Vorverlegung des Zeitpunkts der Tatentdeckung in einer Reihe von Fallgestaltungen. Der BGH betont zudem mehrfach, dass die Entdeckung eines Teils der Tat für die Tatentdeckung ausreichend ist. Dies kann entgegen der teilweise in der Literatur97 vertretenen Auffassung bedeuten, dass bei vorliegendem Kontrollmaterial nur für 2002 die Entdeckung dieses Teils der bis dahin unbekannten Steuerquelle im Ergebnis zur Tatentdeckung auch für alle anderen Jahre führt, in denen diese Steuerquelle existiert hat. Allerdings ist der Begriff der Steuerquelle unklar. Dies kann m.E. nicht nur etwa auf ein Konto beschränkt sein, sondern das ist z.B. die gesamte Geschäftsverbindung mit einem Kunden einschließlich vereinnahmter Barzahlungen. Hier muss noch eine Präzisierung durch die Rechtsprechung erfolgen. Der Eintritt der Sperrwirkung hängt nicht nur von der Tatendeckung ab. Der Täter muss ferner subjektiv die Tatentdeckung vor Abgabe seiner Selbstanzeige erfasst haben. Dies ist einmal der Fall, wenn er positiv Kenntnis von seiner Entdeckung erhalten hat. Ausreichend ist aber auch, wenn er mit der Entdeckung seiner

___________ 96 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 (1135) Rz. 23 ff. 97 Etwa Randt/Schauf, DStR 2008, 489 (490).

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Tat rechnen muss. Hier ist streitig, ob es auf die individuellen Fähigkeiten des Täters ankommt oder ein objektivierter Maßstab anzulegen ist98. Nach der überwiegenden Literaturmeinung soll es nur auf die persönlichen Fähigkeiten ankommen, da die Selbstanzeige ein persönlicher Strafausschließungsgrund sei. Entscheidend ist hiernach, ob der Täter nach seiner individuellen Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit in der konkreten Situation die Tatentdeckung erkennen musste. Eine Erhöhung des Entdeckungsrisikos allein ist dann nicht ausreichend99. Die Rechtslage ist auch durch den aktuellen Beschluss des BGH nicht geklärt. Auf der einen Seite betont er100, der Sperrgrund sei heute maßgeblich durch die objektive Voraussetzung der Tatentdeckung und weniger durch die subjektive Komponente bestimmt. Er hat allerdings im konkreten Fall auch darauf abgestellt, dass der Steuerpflichtige – bei dem die Steuerfahndung mit Durchsuchungsmaßnahmen begonnen hatte – aus den ihm bekannten Tatsachen den Schluss ziehen musste, das die Tat auch für die Jahre vor dem ursprünglichen Ermittlungszeitraum entdeckt war101. Dies spricht dafür, ein abstraktes erhöhtes Entdeckungsrisiko als nicht ausreichend auch für ein Rechnenmüssen zu werten. Auch hier bleibt die weitere Rechtsprechung abzuwarten, wobei der BGH das gesetzlich verankerte subjektive Element nicht völlig negieren kann. 2. Faktische Sperren Der an sich anzeigewillige Steuerpflichtige kann bei bestehenden außersteuerstrafrechlichen Sanktionsmöglichkeiten in eine Konfliktsituation geraten, die ihn faktisch an der Abgabe der Selbstanzeige hindert. So hat der BGH102 entschieden, dass die strafbefreiende Wirkung einer Selbstanzeige nur die Steuerstraftaten erfasst. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut und dem fiskalischen Zweck der Regelung des § 371 AO. Ein gleichzeitig mit der Steuerhinterziehung begangenes Allgemeindelikt wie etwa eine Urkundenfälschung bleibe strafbar. Das Verwendungsverbot des § 393 Abs. 2 AO greife bei dieser Fallgestaltung nicht. Der Steuerpflichtige bleibt damit bei Abgabe einer wirksamen Selbstanzeige zwar hinsichtlich des Steuerdelikts straffrei, kann damit aber zugleich die Strafverfolgung wegen des Allgemeindelikts in Gang setzen, das sonst möglicherweise unentdeckt geblieben wäre. Ferner bestehen – auch bei wirksamer Selbstanzeige – die vom Steuergeheimnis entbindenden Mitteilungspflichten nach § 31a AO (Illegale Beschäftigung/ Leistungsmissbrauch) und § 31b AO (Geldwäschebekämpfung) weiter. Außersteuerliche Risiken bestehen weiterhin für bestimmte Berufsgruppen.

___________ 98 99 100 101 102

S. etwa Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 AO Rz. 199 m.w.N. Randt/Schauf, DStR 2008, 489 (491). BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 (1136) Rz. 33. BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 (1136) Rz. 32. BGH v. 5.5.2004 – 5 StR 548/03, wistra 2004, 309 (312).

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So müssen nach h.M.103 Beamte und Richter nach Erstattung einer Selbstanzeige mit disziplinarrechtlichen Folgen rechnen, da das Steuergeheimnis zulässig durchbrochen werde und die Daten betreffend die Selbstanzeige auch im Disziplinarverfahren verwendet werden dürften. Diese Grundzüge sind vom BMF übernommen worden104. Allerdings soll ein Interessenausgleich im Disziplinarverfahren auf der Ebene der disziplinarrechtlichen Milderungsgründe hergestellt werden. Für den Steuerberater besteht eine Risikolage sowohl bei Unehrlichkeit in eigenen Steuerangelegenheiten als auch bei Beteiligung an der Tat seines Mandanten. So kann er zwar im letzteren Fall – sofern der Mandant keine Selbstanzeige wünscht – für sich eine Selbstanzeige ohne Verstoß gegen die Verschwiegenheitspflicht des § 203 StGB abgeben105. Für beide Fallgestaltungen besteht jedoch bei Erstattung einer Selbstanzeige eine Mitteilungspflicht nach § 10 Abs. 1 StBerG an die Berufskammer106. Das Verhältnis des berufsgerichtlichen Verfahrens zu einem Straf- oder Bußgeldverfahren regelt § 109 Abs. 2 StBerG. Berufsrechtliche Folgen sind nur bei einem Freispruch ausgeschlossen; ansonsten ist nach der Rechtsprechung des BGH107 eine Gesamtanalyse aller Sachverhaltsaspekte erforderlich. Für den Rechtsanwalt ist die Vorschrift des § 113 Abs. 2 BRAO maßgeblich, die ein außerberufliches Fehlverhalten voraussetzt. Die rechtswidrige Verwirklichung des Tatbestands der Steuerhinterziehung kann bei Mitteilung an die Berufskammer ebenfalls zu berufsrechtlichen Sanktionen führen. 3. Grenzen des Wiederauflebens der Berichtigungsmöglichkeit Fraglich ist, ob und wann bei einer durchgeführten Außenprüfung oder nach eingeleitetem Steuerstraf- oder Steuerordnungswidrigkeitsverfahren die Selbstanzeigemöglichkeit wieder auflebt. Hierbei ist der Bereich der Außenprüfung von besonderer Praxisbedeutung. Folgender Ausgangsfall soll die Problematik verdeutlichen: Bei S wird für die Jahre 2004 bis 2006 eine Außenprüfung ordnungsgemäß angeordnet und durchgeführt. Die Streichung von gebildeten Rücklagen bleibt streitig. S legt zunächst Einspruch gegen die Änderungsbescheide der Außenprüfung ein und erhebt nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage beim Finanzgericht. S hatte im Prüfungszeitraum in seinen Steuererklärungen in erheblichem Umfang (jährlich ca. 120 000 Euro) Einkünfte verschwiegen und diese auf einem Konto in der Schweiz angelegt; die hieraus resultierenden Zinsen sind ebenfalls nicht erklärt worden. Der Außenprüfer hat diesen Sachverhalt nicht entdeckt.

___________ 103 S. BVerfG v. 6.5.2009 – 2 BvR 336/07, BB 2009, 1623 f.; BFH v. 15.1.2008 – VII B 149/07, wistra 2008, 224 ff.; OVG Rheinland-Pfalz v. 15.4.2005 – 3 A 12188/04, 3 A 12224/04, PStR 2006, 54 ff.; ferner etwa Flore/Burmann, PStR 1999, 140; Dörn, wistra 2002, 170 (172); kritisch Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 AO Rz. 218– 218 f. m.w.N. 104 Ziff. 8.6 AEAO zu § 30 mit dem Richtwert von 2.500 Euro. 105 Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 46 m.w.N. 106 Bielefeld, PStR 2008, 53 f. 107 BGH v. 15.12.1997 – StbSt(R) 6/97, HFR 1998, 1025.

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Ausgewählte Grundsatzprobleme und Grenzbereiche der Selbstanzeige Anfang 2010 erscheinen Medienberichte über Datenankäufe der Finanzverwaltung zu Konten in der Schweiz. Die Daten von S befinden sich auf einer angekauften CD-Rom. S – der dies nicht weiß – fürchtet seine Enttarnung und möchte auch für die Jahre des Prüfungszeitraums eine Selbstanzeige abgeben. Ein Abgleich der Kontodaten mit dem Inhalt seiner Steuererklärungen hat zu diesem Zeitpunkt noch nicht stattgefunden.

Die h.M.108 geht – obwohl der Wortlaut des Gesetzes keine zeitliche Begrenzung der einmal eingetretenen Sperrwirkung enthält – davon aus, dass ein Wiederaufleben der Selbstanzeige zumindest in den Fällen des § 371 Abs. 2 Nr. 1a AO möglich ist, sobald die Prüfung abgeschlossen ist. Dies soll spätestens dann der Fall sein, wenn das Finanzamt die aufgrund der Prüfung zu erlassenden Bescheide abgesandt hat oder die Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz. 3 AO ergangen ist, dass die Außenprüfung zu keiner Änderung der Besteuerungsgrundlagen geführt hat. Das Abstellen auf den früheren Zeitpunkt der Schlussbesprechung109 oder den Zeitpunkt des Übersendens des Prüfungsberichts wird abgelehnt, weil – jedenfalls bei Fällen außerhalb der veranlagenden Betriebsprüfung – noch Nachermittlungen durch den Veranlagungsbezirk erfolgen könnten110. Erst die Auswertung der Prüfungsfeststellungen beseitige die bis dahin bestehende latente Entdeckungsgefahr. Diese sei nach (körperlichem) Weggang des Amtsträgers grundsätzlich auch nicht mehr vorhanden. Die Problematik ist jedoch differenzierter zu betrachten. Für die sachliche und zeitliche Sperrwirkung einer Außenprüfung ist – wie oben111 dargestellt – nach Auffassung des BGH neben dem körperlichen Erscheinen des Amtsträgers der Inhalt der Prüfungsanordnung von zentraler Bedeutung. Sinnvoller Anknüpfungspunkt für den Wegfall des Sperrgrundes ist daher meines Erachtens der Verbrauch der Prüfungsanordnung. Das ist aber – wie etwa im vorstehenden Beispielsfall bei Rechtsbehelfen gegen die Änderungsbescheide – keiner der bisher diskutierten Zeitpunkte. Der verfahrensrechtliche Abschluss der Außenprüfung ist als solcher nicht ausdrücklich in der AO geregelt. Jedoch enthält § 12 Abs. 3 BpO 2000 insoweit eine mittelbare Definition. „In dem durch die Prüfungsanordnung vorgegebenen Rahmen muss die Außenprüfung entweder durch Steuerfestsetzung oder durch Mitteilung über eine ergebnislose Betriebsprüfung abgeschlossen werden.“ Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich bisher nur beiläufig im Zusammenhang mit anderen Rechtsfragen zur Prüfungsanordnung in einigen älteren Entscheidungen112 mit der Frage beschäftigt, wann eine Außenprüfung

___________ 108 S. Nachweise bei Randt/Schauf, DStR 2008, 489 (490) unter 3.1.; Jäger in Klein, § 371 AO Rz. 44; Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 155. 109 So Heumann, StBp. 1963, 296. 110 Brauns, wistra 1987, 242 ff. 111 Nachweise in BGH v. 15.1.1988 – 3 StR 465/87, MDR 1988, 429 = wistra 1988, 151; BFH v. 19.6.2007 – VIII R 99/04, wistra 2008, 68 (70); aktuell BFH v. 9.3.2010 – VIII R 50/07, DStR 2010, 1075 (1076) Rz. 13. 112 Etwa BFH v. 17.7.1985 – I R 214/82, BStBl. II 1986, 21; BFH, BFH v. 28.8.1987 – III R 189/84, BStBl. II 1988, 2; BFH v. 29.1.1998 – V R 67/96, BStBl. II 1998, 413.

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als beendet gilt. Danach soll die Außenprüfung abgeschlossen sein, wenn die prüfende Behörde den Abschluss ausdrücklich oder konkludent erklärt. In der Regel könne die Zusendung des Prüfungsberichts als Abschluss angesehen werden. Die Finanzverwaltung113 hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen. Ausgehend von dieser Rechtsprechung wäre damit eine Wiederaufnahme von Ermittlungen im Außendienst (vor Ort) nach Bekanntgabe des Betriebsprüfungs-Berichts ohne neue Prüfungsanordnung grundsätzlich ausgeschlossen. Dies würde ebenfalls für die Aufhebungsfälle nach § 100 Abs. 3 FGO gelten. Allerdings hat der BFH114 auch die Auffassung vertreten, eine Prüfungsanordnung verfalle innerhalb der Festsetzungsfrist nicht durch bloßen Zeitablauf. Sie gestatte vielmehr Prüfungsmaßnahmen bis zum Eintritt der Bestandskraft der aufgrund der Prüfung ergehenden Bescheide bzw. der Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO 1977. Selbst wenn eine bereits für abgeschlossen gehaltene Prüfung wieder aufgenommen werden solle, bedürfe es keiner neuen Prüfungsanordnung. Der Steuerpflichtige sei lediglich in entsprechender Anwendung von § 197 AO vor dem erneuten Prüfungsbeginn zu unterrichten. Damit tritt ein Verbrauch der Prüfungsanordnung erst ein, wenn die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 4 Satz 1 AO endet, also mit Unanfechtbarkeit der aufgrund der Außenprüfung ergangenen Bescheide. Das Fortgelten der Prüfungsanordnung als Rechtsgrundlage für (weitere) Ermittlungshandlungen und Dauer der Ablaufhemmung laufen – was auch rechtssystematisch Sinn macht – synchron. Entsprechend muss bis zu diesem Zeitpunkt auch die Sperrwirkung nach § 371 Abs. 2 Nr. 1a AO gelten. Soweit in der Literatur115 von einem „Wiederaufleben“ der Sperrwirkung bei der Notwendigkeit neuer Ermittlungen im Betrieb ausgegangen wird, beruht dies auf der unzutreffenden Annahme des Verbrauchs der Prüfungsanordnung. Im Beispielsfall könnte S damit erst nach Beendigung des Klageverfahrens und der damit verbundenen Unanfechtbarkeit der Änderungsbescheide eine wirksame Selbstanzeige abgeben, soweit noch keine Tatentdeckung erfolgt ist. Die vorhandene BGH-Rechtsprechung116 zu der Problematik steht diesem Ergebnis nicht entgegen, da in den zugrunde liegenden Fällen die Selbstanzeige noch vor der Schlussbesprechung bzw. während laufender Prüfung erstattet worden war und der BGH einen dem Beispielsfall entsprechenden Sachverhalt bisher noch nicht entschieden hat. Das Argument, ein Verzicht auf möglicherweise berechtigte Einwendungen gegen Prüfungsfeststellungen bedeute für den Steuerpflichtigen eine unzumutbare Härte, überzeugt nicht. Er hatte vor Prüfungsbeginn ausreichend

___________ 113 Tz. 2 AEAO zu § 201 AO. 114 BFH v. 13.2.2003 – IV R 31/01, BStBl. II 2003, 552 (554). 115 Etwa Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 Rz. 206; Lenckner/Schumann, wistra 2003, 172 (177). 116 BGH v. 24.8.1988 – 3 StR 232/88, MDR 1989, 83 = NJW 1989, 112 (113), BGH v. 23.3.1994 – 5 StR 38/94, wistra 1994, 228 (229).

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Gelegenheit, eine wirksame Selbstanzeige zu erstatten. Die aktuelle BGHRechtsprechung lässt zudem insbesondere mit den Ausführungen zur Teilselbstanzeige erkennen, dass „Taktieren“ des Steuerpflichtigen nicht honoriert werden soll. Zusätzlich betont der BGH117 die aufgrund des Ausnahmecharakters von § 371 AO gebotene restriktive Auslegung der Vorschrift, die auch Auswirkung auf die Auslegung der Sperrgründe habe. Im Beispielsfall wäre zwar die Aufdeckung der bis dahin unerkannten Steuerquelle auch ohne Initiative des S erfolgt. Die mangelnde Freiwilligkeit des Handelns ist allerdings zzt. noch kein Kriterium für das Versagen der Strafbefreiung. Bei dem zweiten angesprochenen Problemkreis lebt nach wohl h.M.118 die Selbstanzeigemöglichkeit wieder auf, wenn ein eingeleitetes Steuerstraf- oder Steuerordnungswidrigkeitsverfahren ohne Strafklageverbrauch eingestellt worden ist.

VII. Sonderbereich Erbschaft-/Schenkungsteuer Neben der klassischen Einkommensteuerhinterziehung ist häufig parallel der Bereich Erbschaft-/Schenkungsteuerhinterziehung betroffen. Die Ermittlungen der Verwaltung konzentrieren sich erfahrungsgemäß auf folgende Punkte: – Name, Anschrift und möglichst Geburtsdatum sowohl des Schenkers als auch des Beschenkten und sowohl des Erblassers als auch des Erben, jeweils zum Stichtag, also Todestag bzw. Tag der Schenkung (z.B. richtet sich die Zuständigkeit nach dem Wohnsitz des Schenkers bzw. des Erblassers) – Datum des jeweiligen Vermögensübergangs (Todestag bzw. Tag der Schenkung) – Wert der einzelnen Vermögensgegenstände (Konten) zum Stichtag – Informationen zum Verwandtschaftsverhältnis zwischen Erblasser bzw. Schenker und Erwerber – Erkenntnisse zum subjektiven Tatbestand (wegen Festsetzungsfrist und Hinterziehungszinsen) Diese Punkte sind spiegelbildlich für die Erstellung einer wirksamen Selbstanzeige von Bedeutung. In diesem Bereich sind vor allem Verjährungsfragen nicht immer eindeutig. Bei der Erbschaftsteuer beginnt die Festsetzungsfrist regelmäßig mit dem Zeitpunkt des Todes (§ 9 ErbStG). Allerdings können Hemmungstatbestände eingreifen.

___________ 117 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 (1134) Rz. 17. 118 Vgl. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 371 AO Rz. 208; Aue, PStR 2010, 127 (128).

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So wird der Anlauf der Festsetzungsfrist einmal in den Fällen des § 170 Abs. 5 AO gehemmt (bei Erbschaft Kenntniserlangung durch den Erwerber, bei Schenkung Kenntnis des Finanzamts oder Tod des Schenkers maßgebend). Zum andern ist der Beginn der Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 1 Nr. 1 AO gehemmt, wenn eine Steuererklärung oder eine Anzeige zu erstatten ist. Es sind für den Erben die Anzeigepflicht nach § 30 ErbStG (zu beachten hier die ab 2009 geltende Erweiterung auf Auslandsvermögen) und die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung nach § 31 ErbStG i.V.m. § 149 AO von Bedeutung. Wenn mehrere Erwerbe/Schenkungen zu verschiedenen Zeitpunkten stattgefunden haben. entsteht für jeden einzelnen Erwerb eine neue Anzeigepflicht. In der Praxis sind eine Reihe von Fallkonstellationen denkbar119. Die Strafverfolgungsverjährung beginnt an dem Tag der Tatbeendigung zu laufen (§ 78a StGB). Auch hier sind – neben der Prüfung fünf – oder zehnjährigen Verjährungsfrist – unterschiedliche Fallgestaltungen zu beachten. Folgende Grundsachverhalte sind von Bedeutung: Bei Abgabe einer unrichtigen Schenkung-/Erbschaftsteuererklärung tritt die Tatvollendung mit der Bekanntgabe des falschen Bescheides ein120. Bei Abgabe einer unrichtigen Anzeige (Anzeigeerstatter gibt nur unvollständige Angaben zum Erwerb, sodass es nicht zu einer ErbSt-Festsetzung kommt), beginnt die Vollendung mit der Entscheidung des Finanzamtes, keine Erklärung anzufordern. Maßgebend ist das Datum der in dem Vorgang dokumentierten Überprüfung. Bei Nichtabgabe der Steuererklärung und der dadurch begangenen Steuerhinterziehung durch Unterlassen tritt die Vollendung mit dem allgemeinen Abschluss der Veranlagungsarbeiten, wie sie unter normalen Umständen erfolgt wäre, ein121. Nach gefestigter Rechtsprechung ist dies der Zeitpunkt, bei dem im zuständigen Veranlagungsbezirk 95% der Veranlagungen des jeweiligen Veranlagungszeitraums durchgeführt worden sind. Diese bei der Einkommensteuerveranlagung statistisch relativ leicht durchzuführende Berechnung ist im Rahmen der Veranlagung von Erbschaft- und Schenkungsteuer nicht ohne weiteres anzuwenden, weil jede Erklärung eine individuelle Abgabefrist hat. Daher erscheint es vertretbar, auf die übliche Bearbeitungsfrist für eine durchschnittliche Steuererklärung abzustellen. Hier gibt es keine genauen Parameter, teilweise wird zugunsten der Steuerpflichtigen von einer kurzen Bearbeitungszeit von höchstens drei Monaten ausgegangen. Damit wären im Falle der Aufforderung zur Abgabe der Erklärung bei der Berechnung der Zeit mindestens die sechswöchige Abgabefrist – falls keine Fristverlängerung gewährt worden ist – sowie eine dreimonatige Bearbeitungszeit zu berücksichtigen. Die in der Literatur genannten vier bis sechs

___________ 119 Vgl. z.B. Halaczinsky, DStR 2006, 828; Stahl/Durst, KÖSDI 2009, 16604. 120 Joecks in Franzen/Gast/Joecks, § 376 AO Rz. 15. 121 Grundlegend BGH v. 7.11.2001 – 5 StR 395/01, wistra 2002, 64 ff.; s. auch Wulf, PStR 2010, 13 (15) m.w.N.

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Ausgewählte Grundsatzprobleme und Grenzbereiche der Selbstanzeige

Monate nach Kenntniserlangung durch den Erwerber122 sind von daher durchaus realistisch. Bei Nichterstattung einer Anzeige (trotz Verpflichtung) und dadurch eingetretener Steuerverkürzung müssten die dreimonatige Anzeigefrist, die sechswöchige Abgabefrist für die Steuererklärung und eine dreimonatige Bearbeitungszeit bis zur Bescheiderteilung für die Berechnung der Tatvollendung berücksichtigt werden. Soweit geraten wird, bei der Bestimmung des Zeitraums, für den eine Selbstanzeige abgeben werden soll, ein Jahr nach dem Todestag anzusetzen bzw. den Beginn auf ein Jahr nach Kenntniserlangung vom Erwerb zu bestimmen123, ist dies auf jeden Fall ausreichend, um Unwägbarkeiten zum Beginn der Strafverfolgungsverjährung auszuschalten.

VIII. Ausblick Die „goldene Brücke zur Straflosigkeit“ wird derzeit kritisch vor allem in der politischen Diskussion gesehen124. Die Vorschläge reichen bis zur völligen Abschaffung. Hierzu ist anzumerken, dass die Vorschrift des § 371 AO einmal auf schlichten fiskalischen Erwägungen beruht. Die Straffreiheit wird insofern nicht als Belohnung für bessere Einsichten, sondern als Anreiz zur Aufdeckung bisher verschlossener Steuerquellen gewährt. Ausgehend von dieser außerstrafrechtlichen und bisher auch nicht als verfassungswidrig125 eingestuften Zielsetzung, die nicht den Täter, sondern das geschützte Rechtsgut, die Finanzierung der öffentlichen Haushalte, im Auge hat, ist die ersatzlose Streichung der Vorschrift kaum vorstellbar. Der Staat wird auf diese Einnahmemöglichkeit nicht verzichten wollen. Die Ermöglichung der Rückkehr des Täters in die Steuerehrlichkeit ist bisher weitgehend lediglich als Sekundärzweck126. betrachtet worden. Nach aktueller Auffassung des BGH127 soll angesichts heute bestehender Ermittlungsmöglichkeiten und der verbesserten internationalen Zusammenarbeit die Erschließung unbekannter Steuerquellen an Bedeutung verloren und damit die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit zusätzliches Gewicht erlangt haben. Ich vermag diese These des BGH zu den Erfolgen aufgrund verbesserter Ermittlungsmöglichkeiten aus meiner Berufserfahrung heraus nicht uneingeschränkt zu unterstützen. Es wird auch zukünftig – ohne dies als Ermitt-

___________ 122 123 124 125

Rolletschke, wistra 2001, 287, Eich, ErbStB 2008, 76. Kamps, ErbR 2010, 153 (160). Zu den Einzelheiten s. Wegner PSTR 2010, 12 ff. und PStR 2010, 145 ff. Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 24 sowie Wegner, PStR 2010, 121 (122) jeweils m.w.N. 126 Vgl. etwa Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 11 und 12 sowie Keller, NWBEV 2010, 169 (169) jeweils m.w.N.; ferner BGH v. 16.6.2005 – 5 StR 118/05, wistra 2005, 381 (383). 127 Hinweis auf BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 ff.

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lungsnotstand128 bezeichnen zu wollen – trotz potentiellen massiven Drucks aufgrund verbesserter Ermittlungsmöglichkeiten eine Reihe von Hinterziehungssachverhalten geben, die ohne Aufdecken durch die Steuerpflichtigen im Rahmen einer Selbstanzeige kaum enttarnbar sein werden129. Insofern wird das Argument der Aufdeckung unbekannter Steuerquellen durch eine Selbstanzeige seinen Stellenwert behalten. Zudem hat der BGH trotz dieser neuen Gewichtung das Rechtsinstitut der Selbstanzeige als solches nicht in Frage gestellt. Zu würdigen ist ferner die zur Berichtigungspflicht nach § 153 AO ergangene Rechtsprechung des BGH130, die mit der Abschaffung der Selbstanzeige kollidieren würde131. Angeregte Modifikationen von § 371 AO müssen umsetzbar sein. Soweit es etwa um stärkere finanzielle Belastung des Steuerhinterziehers durch Einführung eines Zuschlags geht – aktuell ist in der Diskussion ein pauschaler Zuschlag in Höhe von fünf Prozent des hinterzogenen Steuerbetrags –, erscheint das machbar und würde auch dem Eindruck der Privilegierung des Steuerhinterziehers in unserer Rechtsordnung entgegenwirken. Gleiches gilt für das geplante gesetzliche Erfordernis einer vollständig und richtig erstatteten Selbstanzeige (insoweit Bestätigung der aktuellen BGH –Rechtsprechung zur Teilselbstanzeige) sowie der gesetzliche Ausschluss der Selbstanzeigemöglichkeit für den Fall, dass ein Abgleich von eingegangenem Kontrollmaterial mit den Steuerdaten des Angezeigten den Hinweis auf nicht versteuerte Einnahmen ergibt. Letzteres wäre eine Ausprägung des durch den BGH ebenfalls erfolgten Vorverlegung des Zeitpunkts der Tatentdeckung (tatsachengestützter Anfangsverdacht anstelle einer konkreten Tatentdeckung („Wahrscheinlichkeit der Verurteilung“). Wenn hingegen Schranken definiert werden sollen etwa für Fälle, in denen die Täter bereits von Anfang an das Instrument der Selbstanzeige mit krimineller Energie in die Steuerhinterziehungsplanung mit einbezogen haben132, dürften kaum zu bewältigende Abgrenzungsschwierigkeiten entstehen. Auf einen weiteren beachtlichen Aspekt wird in Ziff. 2 der PM 8/10 des Bundesverbandes der Steuerberater vom 23.5.2010133 hingewiesen bezüglich des Konflikts zwischen Selbstbelastungsschutz und möglicher strafbewehrter (Steuer-)Erklärungspflicht. Der Staat verlangt dem Steuerhinterzieher weiterhin steuerrechtlich korrektes Verhalten ab (Ausfluss von § 393 AO). Dies kann zu einer Kollision mit dem verfassungsrechtlich verankerten nemotenetur-Prinzip führen.

___________ 128 S. hierzu etwa Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 18. 129 Zur m.E. auch heute noch gültigen Wertung der Steuerhinterziehung als „typisches Intelligenzdelikt“ etwa Lenckner/Schumann/Winkelbauer, wistra 1983, 123 (127). 130 BGH v. 17.3.2009 – 1 StR 627/08, PStR 2009, 150 f. 131 S. im Einzelnen Wegner, PStR 2010, 145 (146). 132 Etwa wistra 6/2010, VI. 133 http://www.bvstb.de/aktuelles-presse/details/article//bundesverband-der-steuerberate-3.html.

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Ausgewählte Grundsatzprobleme und Grenzbereiche der Selbstanzeige

In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 21.4.1988134 das Fortbestehen der Steuererklärungspflichten trotz der Gefahr der Selbstbelastung nur deshalb bejaht, weil die Möglichkeit einer Selbstanzeige bestand und der Betroffene im entschiedenen Fall über ausreichende Mittel zur Bezahlung der Steuern verfügte. Zwar könnte diese Problematik etwa durch Einführung eines allgemeinen Vertrauensschutzes oder Verwertungsverbots für entsprechende Fälle gelöst werden. Gleichwohl macht das Rechtsinstitut der Selbstanzeige auch in diesem Problembereich Sinn. Die Selbstanzeige wird daher – obwohl die Hürden für die Wirksamkeit erkennbar höher geworden und weitere Verschärfungen durch Gesetzgebung und die Rechtsprechung des BGH nicht auszuschließen sind – nach meiner Prognose der Praxis grundsätzlich erhalten bleiben. Allerdings lässt die aktuelle Rechtsprechung auch eine Reihe von Einzelfragen offen135, die in den nächsten Jahren zu klären sein werden.

___________ 134 BVerfG v. 21.4.1988 – 2 BvR 330/88, wistra 1988, 302 f. 135 Salditt, PStR 2010, 168 (171 ff.).

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Zum Unwerte der Steuerhinterziehung Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Überlegungen zum Strafrahmen und Strafmaß III. Zu Recht und Gerechtigkeit im Steuerstrafverfahren 1. Die Ermittler 2. Die Verfahrensrechte des Beschuldigten 3. Das Abhören des (Mobil-)Telefons (TKÜ) 4. Dinglicher Arrest

5. Mitwirkungspflichten des Beschuldigten im Besteuerungsverfahren 6. Steuerliche Erklärungspflicht des Beschuldigten bei laufendem Strafverfahren? IV. Der „Deal“ V. Die Öffentlichkeit und die Politik – Praxiserfahrungen VI. Zusammenfassende Thesen

I. Einleitung Streck hat unter dem Titel „Der Steuerhinterzieher als Mandant“ auf dem Steuerberatertag 1984 in Stuttgart die These vertreten, dass 90% der Steuerzahler Steuern verkürzen1. Was damals noch zu einem Eklat führte, ist heute allgemeine Gewissheit. Bezeichnete die FAZ die damalige Behauptung von Streck noch als „größte Diffamierung des deutschen Volkes, die man sich vorstellen könne“, so liest man heute in Entscheidungen des BGH1a, dass es „verbreiteter Einstellung“ entspricht, dass die Steuerhinterziehung als „eine durch einen erheblichen Unrechtsgehalt gekennzeichnete Norm“ nicht ernst genommen werde. Die von Streck aufgestellten Thesen zu den Ursachen des Phänomens sowie zu einer stärkeren Differenzierung bei der Beurteilung des Unrechtsgehalts haben bis heute nichts an Aktualität verloren. Sie waren daher Bestandteil meines Vortrags „Werte in der Steuerfahndung und im Steuerstrafrecht“ auf dem Steuerberatertag 2009 in Bremen, auf dem die nachfolgenden Ausführungen beruhen.

II. Überlegungen zum Strafrahmen und Strafmaß Nach § 370 Abs. 1 AO wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer gegenüber den Finanzbehörden unrichtige oder unvollständige Angaben über steuererhebliche Tatsachen (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) macht oder Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt oder

___________ 1 Streck, BB 1984, 2205. 1a BGH v. 30.4.2009 – 1 StR 342/08, NJW 2009, 3379.

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Rolf Schwedhelm pflichtwidrig die Verwendung von Steuerzeichen/Steuerstemplern (praktisch ohne Bedeutung) unterlässt und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.

In besonders schweren Fällen der Steuerhinterziehung beträgt der Strafrahmen Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren (§ 370 Abs. 3 AO). Der Gesetzgeber hat diese und andere Strafvorschriften der Abgabenordnung mit Wirkung zum 25.12.2008 erheblich verschärft2. In § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO wurde das Merkmal „aus grobem Eigennutz“ gestrichen. Strafschärfend ist fortan allein das Vorliegen einer Steuerverkürzung oder einer Vorteilserlangung „in großem Ausmaß“3. An die Stelle der verfassungsrechtlich bedenklichen Vorschrift des § 370a AO ist der neu geschaffene § 370 Abs. 3 Nr. 5 AO getreten. Nach dieser neuen Vorschrift liegt ein strafschärfendes Regelbeispiel vor, „wenn der Täter als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Taten nach Abs. 1 verbunden hat, Umsatz- oder Verbrauchsteuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Umsatz- oder Verbrauchsteuervorteile erlangt“. Im Zuge der Aufhebung von § 370a AO hat der Gesetzgeber auch den Straftatbestand der Geldwäsche erneut geändert. Der Katalog in § 261 Abs. 1 Satz 2 StGB führt jetzt die Steuerhinterziehung nach § 370 AO als taugliche Vortat auf, soweit sie „gewerbsmäßig oder von einem Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat, begangen worden ist“ (§ 261 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4b StGB n.F.). Seit dem 25.12.2008 beträgt in den in § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AO genannten Fällen besonders schwerer Steuerhinterziehung die Verjährungsfrist zehn statt fünf Jahre (§ 376 Abs. 1 AO in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2009). Man mag diese Maßnahmen im Hinblick auf den systematischen und hoch kriminellen Umsatzsteuerbetrug, der in der EU jährlich einen Schaden von 100 Milliarden Euro verursachen soll4, für gerechtfertigt halten (auch wenn es hierfür bessere Wege der Bekämpfung gäbe5). Man sollte aber nicht die Augen davor verschließen, dass insbesondere die Strafverschärfung für die Steuerhinterziehung „in großem Ausmaß“ jede Begehungsform der Steuerhinterziehung, also auch die durch bloße Nichterklärung von Einkünften, erfasst. Hier liegt das eigentliche Problem. Das Gesetz differenziert nicht nach der Art der Tatbegehung. Die Erschleichung einer Vorsteuererstattung von 100.000 Euro steht nach dem Gesetzeswortlaut dem Verschweigen von Zinseinnahmen, die zu einer Steuerpflicht von 100.000 Euro führt, gleich.

___________ 2 Eingehend Wulf, DStR 2009, 459. 3 Nach der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung habe sich das Merkmal als zu schwer bestimmbar erwiesen, vgl. BT-Drucks. 16/5846, 75, unter Hinweis auf BGH v. 13.6.1985 – 4 StR 219/85, NStZ 1985, 459 = StRK-AO, § 370 Rz. 75. 4 Rat der Europäischen Union, Mitteilung an die Presse 8850/08 v. 14.5.2008; s. auch Muhler, wistra 2009, 1. 5 S. zuletzt Ammann, UR 2009, 372.

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Zum Unwerte der Steuerhinterziehung

Besonders eklatant wird dieses Problem, wenn man sich vergegenwärtigt, dass im Rahmen der Steuererklärung rechtliche Einordnungen vorgenommen werden, die eine Subsumtion voraussetzen. Zwar hat der BGH klar entschieden, dass der Steuerpflichtige in seinen Steuererklärungen jede ihm günstige Rechtsansicht vertreten darf6. Eine Steuerhinterziehung scheidet daher aus, wenn der Steuerpflichtige mit der Erklärung dem Finanzamt alle maßgeblichen Tatsachen mitteilt, die für eine eigene Rechtsentscheidung des Finanzamts erforderlich sind oder ausdrücklich darauf hinweist, von welcher Rechtsansicht er bei der Verfassung seiner Erklärung ausgegangen ist. Was ist aber, wenn er einen solchen Hinweis unterlässt? Ab welchem Grad der Rechtsunsicherheit bei der Subsumtion liegt eine Steuerhinterziehung vor? Die Literatur geht im Anschluss an diese Rechtsprechung des BGH ganz einheitlich davon aus, dass der Steuerpflichtige in seiner Steuererklärung jede ernsthaft vertretbare Rechtsauffassung zugrunde legen darf und ihn – soweit er nicht von Rechtsprechung, Richtlinien der Finanzverwaltung oder Veranlagungspraxis abweicht – dann keine weitergehende Offenbarungspflicht trifft7. Harms, die ehemalige Vorsitzende des 5. Strafsenats des BGH und jetzige Generalbundesanwältin, hat die zitierte Entscheidung des BGH dahingehend präzisiert, der Steuerpflichtige müsse nicht etwa jede von der Rechtsauffassung der Finanzverwaltung (bspw. in den Richtlinien) abweichende rechtliche Einordnung erläutern, solange er sich selbst auf BFH-Rechtsprechung oder andere seriöse Quellen berufen könne. „Auch unzutreffende Rechtsansichten sind indes noch keine Täuschung über steuerlich erhebliche Tatsachen im Sinne des § 370 Abs. 1 AO, solange sie sich im Rahmen des Vertretbaren bewegen“8. Die Praxis spricht aber eine andere Sprache. Strafverfahren werden von den Strafverfolgungsbehörden (Straf- und Bußgeldsachenstelle und Staatsanwaltschaft) zunehmend auch dann eingeleitet und bis hin zu Durchsuchungen auch durchgeführt, wenn die „unterlassene Erklärung“ erkennbar auf einer abweichenden Rechtsauffassung beruht9. Die Finanzverwaltung initiiert diese zunehmende strafrechtliche Sicht bisher rein steuerrechtlicher Streitfragen, indem sie ihren Beamten mit dem Strafbarkeitsvorwurf der Strafvereitelung droht10. Zur problematischen Frage, wann eine Steuerverkürzung in großem Ausmaß gemäß § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO vorliegt, hat der 1. Strafsenat des BGH in zwei Entscheidungen ausführlich Stellung genommen. Die Pressemitteilung zur ersten Entscheidung aus Dezember 2008 hatte folgenden Wortlaut:

___________ 6 BGH v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99, wistra 2000, 137. 7 Vgl. nur Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl., 2009, § 370 AO Rz. 128; Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rz. 86 f.; Meyer in Beermann/Gosch, § 370 AO Rz. 40 f.; Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 237, sowie Rolletschke in Kemper/Rolletschke, Steuerverfehlungen, § 370 AO Rz. 47. 8 Harms, Stbg. 2005, 12 (14). 9 Praxisbeispiele: Nach Ansicht der Finanzverwaltung zu hoch bemessene Gewährleistungsrückstellungen; Abgrenzung Anschaffungskosten – Beratungskosten; steuerpflichtiger Arbeitslohn oder steuerfreier Veräußerungsgewinn. 10 S. gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder, BStBl. I 2009, 829.

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Rolf Schwedhelm „Eine Steuerhinterziehung „in großem Ausmaß“ im Sinne des Regelbeispiels aus § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO ist danach anzunehmen, wenn der Steuerschaden im Einzelfall mehr als 50.000 Euro beträgt. Jedenfalls bei einem Schaden ab 100.000 Euro kommt die Verhängung einer Geldstrafe somit nur bei Vorliegen von gewichtigen Milderungsgründen in Betracht. Bei einem Steuerschaden ab 1 Mio. Euro kommt eine aussetzungsfähige Freiheitsstrafe nur bei Vorliegen von besonders gewichtigen Milderungsgründen noch in Betracht. Dies bedeutet gleichzeitig, dass diese Fälle für eine Erledigung im Strafbefehlsverfahren regelmäßig nicht geeignet erscheinen.“

Die Ausführungen in den Urteilsgründen sind differenzierter. Im Kern bleibt aber die Aussage, dass die Höhe der hinterzogenen Steuer der bestimmende Strafzumessungsumstand sei. Wörtlich heißt es: „Bei der Zumessung einer Strafe wegen Steuerhinterziehung hat das in § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB vorgegebene Kriterium der ‚verschuldeten Auswirkung der Tat‘ im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung besonderes Gewicht. ‚Auswirkungen der Tat‘ sind insbesondere die Folgen für das durch die Strafnorm geschützte Rechtsgut. Das durch § 370 AO geschützte Rechtsgut ist die Sicherung des staatlichen Steueranspruchs, d.h. des rechtzeitigen und vollständigen Steueraufkommens jeder einzelnen Steuerart. Deshalb ist die Höhe der verkürzten Steuern ein bestimmender Strafzumessungsumstand im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO (vgl. BGH NJW 2009, 528, 531 m.w.N.).“

Das „große Ausmaß“ im Sinne des § 370 Abs. 3 AO legt der BGH im Anschluss an die Rechtsprechung zum Betrug mit 50.000 Euro fest. Wiederum wörtlich: „Der Senat ist daher der Ansicht, dass das Merkmal „in großem Ausmaß“ des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO wie beim Betrug nach objektiven Maßstäben zu bestimmen ist. Das Merkmal „in großem Ausmaß“ liegt danach nur dann vor, wenn der Hinterziehungsbetrag 50.000 Euro übersteigt.

Der Senat hat dabei auch bedacht, dass bei größeren Geschäftsvolumina Steuerschäden in dieser Größenordnung schneller erreicht werden als bei wirtschaftlicher Betätigung in kleinerem Umfang, dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung regelmäßig bereits bei der Gefährdung des Steueraufkommens verwirklicht wird (vgl. § 370 Abs. 4 Satz 1 AO), dass die Tatbestandsmäßigkeit weder direkten Vorsatz noch Bereicherungsabsicht voraussetzt und dass regelmäßig auch die bloße Untätigkeit den Straftatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt, weil die Abgabe von Steuererklärungen gesetzlich vorgeschrieben ist (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO). Gleichwohl lassen derartige qualitative Besonderheiten des Einzelfalls die Erfüllung des Ausmaßes der Steuerverkürzung unberührt, dass solche Umstände die Auswirkungen der Tat auf das Steueraufkommen nicht verändern. Schutzgut des Straftatbestands der Steuerhinterziehung ist – wie oben ausgeführt – das öffentliche Interesse am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen jeder einzelnen Steuerart. Im Übrigen schafft eine Abgrenzung, die sich an einer eindeutigen Betragsgrenze ausrichtet, größere Rechtssicherheit für die Praxis. Eine solche Relation von Geschäftsvolumen und Steuerschaden kann allerdings das Gewicht des Hinterziehungsbetrags bei der Strafzumessung vermindern. Der Umstand, dass sich die Betragsgrenze von 50.000 Euro an derjenigen des Vermögensverlusts großen Ausmaßes im Sinne von § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB orientiert, bedeutet zugleich, dass – ähnlich wie beim Betrug – zwischen 564

Zum Unwerte der Steuerhinterziehung

schon eingetretenem Vermögensverlust und einem Gefährdungsschaden zu differenzieren ist: Die Betragsgrenze von 50.000 Euro kommt namentlich dann zur Anwendung, wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erlangt hat, etwa bei Steuererstattungen durch Umsatzsteuerkarusselle, Kettengeschäfte oder durch Einschaltung von sog. Serviceunternehmen. Ist hier – der Steuerbetrug hat zu einem Vermögensverlust geführt – diese Wertgrenze überschritten, dann ist das Merkmal erfüllt. Beschränkt sich das Verhalten des Täters dagegen darauf, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen und führt das lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs, dann kann das große Ausmaß höher angesetzt werden. Der Senat hält hierbei eine Wertgrenze von 100.000 Euro für angemessen.“ Die Übernahme der für den Betrug festgelegten betragsmäßigen Grenze ist angesichts der strukturellen Unterschiede zwischen beiden Delikten nicht überzeugend. Der BGH erwähnt zwar, dass der Steuerschaden bei der Steuerhinterziehung immer in Relation zum Umfang der Geschäftstätigkeit zu sehen ist und insoweit keinen unmittelbaren Rückschluss auf die kriminelle Energie ermöglicht (was beim Betrug sicherlich anders ist), dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung in der Variante der Steuerverkürzung regelmäßig bereits bei Gefährdung des Steueraufkommens vollendet ist, dass das Delikt keine Bereicherung oder Bereicherungsabsicht voraussetzt und dass bereits die bloße Untätigkeit den Straftatbestand erfüllen kann (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO). Alle diese Punkte schiebt der BGH dann aber beiseite, ohne sich eingehend mit ihnen auseinanderzusetzen. In der Begründung des BGH fehlt ein entscheidender Gesichtspunkt: Die Steuerhinterziehung hat strukturell den Charakter einer unterlassenen Vermögensmehrung zugunsten des Fiskus. Der Steuerpflichtige wird (von Sonderfällen abgesehen) dafür bestraft, dass er durch seine Steuererklärung nicht ordnungsgemäß an der Herbeiführung eines gegen ihn selbst gerichteten Titels (d.h. dem Steuerbescheid) mitwirkt. Ob diese „erzwungene Selbstschädigung“ im Interesse des Gemeinwohls notwendig und schützenswert ist, will ich hier nicht in Frage stellen, obwohl man dies mit guten Gründen tun könnte. Peter Sloterdijk, Philosoph und Hochschullehrer in Karlsruhe, hat in einem bemerkenswerten Artikel in der FAZ vom 10.6.2009 die Frage aufgeworfen, warum angesichts der Tatsache, dass eine Handvoll Leistungsträger mehr als die Hälfte des nationalen Einkommensteuerbudgets bestreiten, die Betroffenen nicht in einem antifiskalischen Bürgerkrieg ihre Zuflucht nehmen. Sloterdijk will damit – was er in einem weiteren Artikel vom 26.9.2009 in gleicher Zeitung klarstellt – nicht die Steuererhebung an sich in Frage stellen. Er nimmt Anstoß an dem System der Zwangsbesteuerung, so als sei es – frei nach dem Lehrsatz des Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon „Eigentum ist Diebstahl“ – ein Naturrecht des Staats, mehr als die Hälfte aller Wirtschaftserfolge der produktiven Schichten seiner Gesellschaft für sich zu reklamieren. Steuerhinterziehung in der Form der unterlassenen Erklärung ist weder „Betrug am Staat“ noch „Diebstahl an der Gemeinschaft“. Von der Struktur des Unrechts her besteht ein gravierender Unterschied zu einem durch Täu565

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schung begangenen Eingriff in fremdes Vermögen, sodass eine betragsmäßige Gleichbehandlung von Betrug und Steuerhinterziehung – gerade auch angesichts der anderen vom BGH genannten qualitativen Unterschiede – nicht überzeugend ist. Die Steuerhinterziehung hat keinen eigenen Unwertgehalt wie Betrug, Diebstahl oder Körperverletzung. § 370 AO verfolgt nicht kriminelles Unrecht, sondern „Verwaltungsunrecht“. Ziel ist ausschließlich die Sicherstellung des Steueraufkommens des Staats. Demzufolge verwundert es nicht – bezieht man den Bereich der Kleinhinterziehung in die Beurteilung ein – dass nahezu jeder Steuerbürger hinterzieht11. Steuerhinterziehung ist ein Delikt mit geringem Unrechtsbewusstsein12. Sie verfügt über keine moralische Instanz, über kein aktives Gewissen; erst durch einen willentlichen Vernunftsakt kommt der Bürger zu dem Ergebnis, es sei wohl richtig, Steuern zu zahlen. Nicht ein bejahtes sittliches Gebot, Steuern zu zahlen, sondern der Gesetzgebungsbefehl wird befolgt. Genau diese fehlende „Steuermoral“ hat der 1. Senat des BGH aber wohl im Blick, wenn er in den Urteilsgründen im Verfahren 1 StR 342/0813 ausführt: „Der Bundesgerichtshof hat bereits mehrfach ausgesprochen, dass bei Steuerhinterziehungen beträchtlichen Umfangs auch von Gewicht ist, die Rechtstreue der Bevölkerung, auch auf dem Gebiet des Steuerrechts zu erhalten. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe kann sich daher zur Verteidigung der Rechtsordnung als notwendig erweisen, wenn die Tat Ausdruck einer verbreiteten Einstellung ist, die eine durch einen erheblichen Unrechtsgehalt gekennzeichnete Norm nicht ernst nimmt und von vorneherein auf die Strafaussetzung vertraut (BGH NStZ 1985, 459; GA 1979, 59; Urt. vom 28. September 1983 – 3 StR 280/83). Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Verteidigung der Rechtsordnung ist insbesondere dann geboten, wenn eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung im Hinblick auf schwerwiegende Besonderheiten des Einzelfalls für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen müsste und dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts erschüttert werden könnte (vgl. BGHSt 24, 40, 46; BGHR StGB § 56 Abs. 3 – Verteidigung 15; BGH wistra 2000, 96, 97).“

Wenn man sich vor Augen führt, dass die Rechtsprechung des BGH weder für die Instanzgerichte noch für die Staatsanwaltschaften Bindungswirkung hat14, geht es offensichtlich allein darum, den Strafverfolgungsbehörden ein höheres Drohpotenzial an die Hand zu geben, um den potenziellen Steuerhinterzieher einzuschüchtern. Der BGH macht sich zum Knüppel des die Steuern eintreibenden Landvogts. Den Differenzierungen im Unwertgehalt wird der BGH mit seiner bisherigen Rechtsprechung in keiner Weise gerecht. Meines Erachtens wäre es geboten, § 370 AO grundlegend zu reformieren. Der gesamte Bereich der Kleinhinterziehung gehört in den Bereich der Ordnungs-

___________ 11 Streck, BB 1984, 2205. 12 S. hierzu auch Tipke, Besteuerungsmoral und Steuermoral, 2000; Lösel/Brähler/ Hackert, Die Tipke‘schen Steuerzahlertypen, StuW 2009, 221; s. auch Spindler, Werte im Steuerrecht, Stbg. 2010, 49; Spindler, Zum Verhältnis von Besteuerungsmoral und Steuermoral, BB 10/2010, III. 13 BGH v. 30.4.2009 – 1 StR 342/08, NJW 2009, 3379. 14 Stellen Staatsanwälte trotz höherer Beträge die Verfahren ein oder erkennt ein Gericht auf geringere Strafen als vom BGH vorgegeben, wird der Täter dies kaum rügen.

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widrigkeiten15. Im Tatbestand ist zwischen der Steuerhinterziehung als Nichterklärung von Einkünften und Steuerbetrug als Erschleichung von Steuererstattungen zu differenzieren. In den Fällen der Steuerhinterziehung durch Nichterklärung von Einkünften muss über die Sanktionierung nachgedacht werden. Freiheitsstrafen erscheinen mir in diesem Zusammenhang als unvernünftig. Da § 370 AO das Steueraufkommen sichert und sichern soll, ist es für mich nicht nachvollziehbar, warum jemand, der beispielsweise jährlich 100.000 Euro Steuern durch Nichterklärung von Kapitaleinkünften hinterzieht, aber im Übrigen deutlich höhere Beträge als Einkommensteuer abgeführt hat, aus dem Verkehr gezogen werden soll, mit dem Effekt, dass er zumindest in dieser Zeit keinerlei Beiträge zum Steueraufkommen mehr leisten kann. Viel vernünftiger erschiene es mir, zumindest in diesem Bereich der Steuerhinterziehung Umfang und Reichweite von Geldstrafen deutlicher auszudehnen und Freiheitsstrafen nur in Ausnahmefällen, z.B. bei mehrfach Wiederholungstätern, anzuwenden. Hierfür spricht auch unsere Erfahrung, dass den klassischen Steuerhinterzieher die Geldzahlung viel härter trifft, als eine Freiheitsstrafe zur Bewährung. Aus den eben dargelegten Gründen ist auch die Selbstanzeige nach § 371 AO ein gerechtfertigtes Instrument der „nachträglichen Steuererhebung“. Durch die Zahlung der bisher nicht entrichteten Steuer entfällt jedes kriminelle Unrecht der Steuerhinterziehung. Die in jüngster Zeit gegen die Selbstanzeige vorgebrachte Polemik16 ist ebenso verfehlt wie die von Gesetzgeber17 und BGH18 angestrebte Kastration der Selbstanzeige.

III. Zu Recht und Gerechtigkeit im Steuerstrafverfahren 1. Die Ermittler Die undifferenzierte Strafandrohung für Steuerhinterziehung jeglicher Form geht einher mit einer kumulierten Verfahrensmacht der Verfolgungsbehörden und deren mangelnder gerichtlicher Kontrolle. Dies beginnt mit der Machtkompetenz der Ermittelnden. Zur Ermittlung der Steuerhinterziehung und Nacherhebung der Steuern hat der Gesetzgeber einer einzigen Dienststelle – der Steuerfahndung – in der AO und StPO ein Normensystem an die Hand gegeben, das über die schärfsten Eingriffsmöglichkeiten des Staats überhaupt verfügt. Die Steuerfahndung verfügt zum einen über

___________ 15 Streck, BB 1984, 2205. 16 S. die Gesetzesinitiative der SPD-Bundestagsfraktion zur Abschaffung von § 371 AO, BT-Drucks. 17/1411 v. 20.4.2010. 17 S. Entschließungsantrag der CDU/CSU/FDP-Bundestagsfraktionen v. 19.5.2010, BTDrucks. 17/1755; sowie die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses v. 28.6.2010, BR-Drucks. 318/1/10; zur Kritik Binnewies, GmbHR 2010, R 257; Geuenich, BB 2010, 2148; Heuel, AO-StB 2010, 246; Füllsack/Bürger, BB 2010, 2403; Rüping, DStR 2010, 1768. 18 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/05, DStR 2010, 1133; dazu Kamps, DB 2010, 1488; Wulf, wistra 2010, 286; Schwedhelm, Stbg. 2010, 348.

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die Ermittlungsrechte der AO (§ 208 Abs. 1 Satz 2 AO)19, die zudem gegenüber den Rechten des Finanzamts ausgeweitet werden20: Die Beamten der Steuerfahndung sind zum anderen Ermittlungspersonen (bis 2004 Hilfsbeamte) der Staatsanwaltschaft (§ 404 AO). Als solche verfügen sie über die Machtmittel der Strafprozessordnung. Sie können beschlagnahmen, Häuser und Wohnungen durchsuchen, Verhaftungen vornehmen (§§ 404, 399 AO), bei Gefahr im Verzug auch ohne richterlichen Beschluss21. Steuerfahndung ist somit Steuereintreibung und Steuerstrafverfolgung unter massivem Einsatz der hoheitlichen Möglichkeiten des Staats. Fiskal- und Strafzweck verbinden sich, um sich in höchstmöglicher Konzentration und Rigorosität gegen einen Bürger zu wenden, der im Verdacht steht, dem Staat Steuern vorzuenthalten. Der doppelte Zweck macht die Fahndung im Verhältnis zum Bürger zu einer der mächtigsten Behörden. Zudem sind die Entscheidungskompetenzen bei der Steuerfahndung atypisch geregelt. Entgegen allen sonstigen Gesetzmäßigkeiten eines Behördenaufbaus konzentriert sich die Verantwortung und Entscheidungsmacht für die Tätigkeit der Fahndung nicht in der Hand einer vorgesetzten Behörde, sondern diffundiert zwischen zuständigem Finanzamt, Bußgeld- und Strafsachenstelle, Staatsanwaltschaft und OFD. Die Verantwortung „nach oben“ steht im umgekehrten Verhältnis zur Machtfülle der Steuerfahnder22. Es ist vielfältig berichtete Erfahrung im Fahndungsverfahren, dass sowohl Finanzamt und OFD als auch die Staatsanwaltschaften, häufig sogar die Amtsgerichte, bei der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen, bei der Entscheidung über das strafrechtliche Prozedere, bei Durchsuchungen, Beschlagnahmen und Verhaftungen in faktische Abhängigkeit zur Steuerfahndung geraten sind23. Die Fahnder sind Steuerbeamte des gehobenen Dienstes, die zumeist aus der Betriebsprüfung kommen. In der Regel geht dem Wechsel keine intensive und ausreichende Schulung im Strafprozessrecht voraus, während sie als Steuerbeamte exzellent ausgebildet sind. Mit dem Überwechseln zur Fahndung erhält der „neugeborene“ Fahnder unmittelbar die Aufgabe und Möglichkeit, zu beschlagnahmen, Häuser zu durchsuchen, zu verhaften. Der Fahnder lernt durch seine Arbeit eine Vielzahl von Fällen kennen, in denen Steuerbürger Steuern hinterzogen haben. Dieser einseitige Umgang im täglichen Beruf

___________ 19 Nach BFH v. 16.12.1997 – VII B 45/97, BStBl. II 1998, 231; v. 15.6.2001 – VII B 11/00, BStBl. II 2001, 625 kann die Steuerfahndung die Besteuerungsgrundlagen nach dieser Vorschrift auch dann ermitteln, wenn bezüglich der Steuerstraftaten selbst Strafverfolgungsverjährung eingetreten ist. 20 Sie hat das uneingeschränkte Recht auf Auskünfte Dritter und des Betroffenen; unter Aufhebung des § 93 Abs. 1 Satz 3 AO ist die Fahndung nicht verpflichtet, sich zuerst an den Betroffenen selbst zu halten (§ 208 Abs. 1 Satz 3 AO); die Dritten haben kein Recht auf schriftliches Auskunftsersuchen (§ 208 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 93 Abs. 2 Satz 2 AO). Ebenfalls sind zugunsten der Steuerfahndung die Einschränkungen des § 97 Abs. 2 und 3 AO (Nachrang der Vorlage und Prüfung von Urkunden gegenüber Auskunft) aufgehoben (§ 208 Abs. 1 Satz 3 AO). 21 Zur Kritik an der Verbindung steuerlicher und strafrechtlicher Funktionen Schick in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 208 AO Rz. 54 ff.; Schick, JZ 1982, 125. 22 Eingehend Schwedhelm, BB 2010, 731. 23 Daher kann Müller-Brühl, DStZ 1991, 712, trotz der vier vorgesetzten Dienststellen eine „Aufsichtsbehörde für die Steuerfahndung“ fordern.

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beginnt, die strafprozessualen Werte – sofern der Beamte sie überhaupt gelernt hat – zu verschieben. Der Fahnder gewinnt die Neigung, aus dem Erfolg die Rechtmäßigkeit seiner Mittel abzuleiten. Wer häufig bei Hausdurchsuchungen etwas findet, überzeugt die Kritiker, die einen Tatverdacht nicht sahen, eben durch den Erfolg. Obwohl das Strafprozessrecht gerade nicht von dem Prinzip der unbedingten Wahrheitsfindung beherrscht wird, ist allein die begangene Steuerhinterziehung das rechtfertigende Mittel für alle Eingriffe. Die einseitig konzentrierte Berufserfahrung prägt den Fahnder und sein Auftreten. Die Steuer- und Strafverfolger werden im Übrigen in ihren Aktionen weniger durch persönliche, gefühlsmäßige, prestigebetonte oder politische Gründe motiviert, als dies die Beschuldigten häufig annehmen. Die Bußgeld- und Strafsachenstellen führen das strafrechtliche Ermittlungsverfahren in der Regel selbständig durch, wenn die Tat ausschließlich eine Steuerstraftat darstellt oder andere öffentlich-rechtliche Abgaben betrifft, die an Besteuerungsgrundlagen anknüpfen (§ 386 Abs. 2 AO). Der 1. Strafsenat hat die Finanzbehörden unlängst aber ermahnt, die Staatsanwaltschaft, die grundsätzlich Herrin des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ist, frühzeitig über Ermittlungsverfahren zu informieren, bei denen eine „Evokation“ in Betracht kommen könnte, um Verfahrensverzögerungen zu vermeiden24. Mit der Federführung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft tritt der strafrechtliche Aspekt des Verfahrens in der Regel in den Vordergrund, was nicht immer förderlich ist, da die meisten Staatsanwaltschaften – selbst wenn sie über gesonderte Einheiten für Wirtschafts- und Steuerstrafsachen verfügen – trotz einer guten juristischen Ausbildung mit komplexeren steuerlichen Fragen überfordert sind. 2. Die Verfahrensrechte des Beschuldigten Die Einleitung eines Steuerstrafverfahrens ist dem Beschuldigten nach § 397 Abs. 3 AO spätestens mitzuteilen, wenn er dazu aufgefordert wird, Tatsachen darzulegen oder Unterlagen vorzulegen, die im Zusammenhang mit der Straftat stehen, derer er verdächtig ist. Prüfungshandlungen hinsichtlich eines Sachverhalts, auf den sich der Verdacht einer Straftat bezieht, dürfen erst fortgesetzt werden, wenn dem Steuerpflichtigen die Einleitung des Steuerstrafverfahrens mitgeteilt worden ist (§ 10 BpO)25. Nach § 393 Abs. 1 Satz 4 AO ist der Steuerpflichtige zu belehren, dass gegen ihn keine Zwangsmittel zur Mitwirkung eingesetzt werden dürfen, wenn er sich durch die Mitwirkung selbst belasten würde. Der Verstoß gegen Belehrungspflichten über die Aussagefreiheit des Beschuldigten führt im Strafprozess zu einem Verwertungsverbot der unmittelbar hierdurch erlangten Informationen26, hindert aber nicht weitere Ermittlungen

___________ 24 BGH v. 30.4.2009 – 1 StR 90/09, NJW 2009, 2319. 25 Weyand, INF 2005, 717, m.w.N. 26 Grundlegend: BGH v. 27.2.1992 – 5 StR 190/01, wistra 1992, 187; v. 16.6.2005 – 5 StR 118/05, wistra 2005, 381; Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 393 AO Rz. 122.

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aufgrund und unter Benutzung des nicht verwertbaren Beweismittels27. Nur dieses selbst ist nicht verwertbar; die „Früchte des vergifteten Baums“ dürfen genossen werden28. Steuerrechtlich führt die unterlassene Mitteilung über die Einleitung eines Strafverfahrens (§ 397 Abs. 3 AO) oder die unterlassene Belehrung nach § 393 Abs. 1 Satz 4 AO nicht zu einem Verwertungsverbot, denn diese Vorschriften dienen dem Nemo-tenetur-Prinzip und sind keine Regelungen des Besteuerungsverfahrens29. Anders ist dies, wenn Informationen rechtswidrig im Strafverfahren erlangt wurden. Diese sind im Umkehrschluss aus § 393 Abs. 3 Satz 1 AO meines Erachtens nicht verwertbar30. Beispiel: Der Betriebsprüfer fordert den Steuerpflichtigen auf, ihm sämtliche Konten mitzuteilen, obwohl der Prüfer weiß, dass gegen den Steuerpflichtigen bereits ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Einkommensteuerhinterziehung eingeleitet wurde. Deckt der Steuerpflichtige nunmehr ein Konto auf, dessen Zinsen bisher nicht erfasst waren, kann diese Information strafrechtlich nicht verwertet werden, wohl aber steuerlich. Weiteres Beispiel: Der Steuerfahnder droht dem Steuerpflichtigen während der Durchsuchung mit Schlägen, wenn er nicht endlich zugebe, dass er ein Konto in Liechtenstein besitze. Daraufhin holt der Steuerpflichtige die Kontoauszüge aus Liechtenstein hervor. Die Kontoauszüge dürfen weder strafrechtlich (§ 136a StPO) noch steuerlich (§ 393 Abs. 3 AO) verwertet werden. Gegen die Einleitung eines Strafverfahrens gibt es kein Rechtsmittel. Dies erscheint auf den ersten Blick auch nicht notwendig, da ja während des Verfahrens der allgemeine Grundsatz der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 MRK) gilt. Berücksichtigt man jedoch, dass es eine Reihe von gesetzlichen Mitteilungspflichten bezüglich eines anhängigen Ermittlungsverfahrens gibt (siehe z.B. § 24 Abs. 1 Nr. 1 KWG und § 8 Abs. 2 KWG31), erscheint mir die fehlende Möglichkeit, gegen die Einleitung eines Strafverfahrens Rechtsmittel einzulegen, rechtsstaatlich bedenklich.

___________ 27 Vgl. zu diesem Thema BGH v. 18.4.1980 – 2 StR 731/79, 1980, NJW 1980, 1700; v. 28.4.1987 – 5 StR 666/86, StV 1987, 283, mit Anm. von Grünwald, StV 1987, 470; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. 2010, Einl. Rz. 57. 28 Anders die „fruit of the poisonous tree doctrine“ des amerikanischen Rechts (vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, 193). 29 Brockmeyer in Klein, 10. Aufl. 2009, § 92 AO Rz. 5. 30 A.A. Jäger in Klein, 10. Aufl. 2009, § 393 AO Rz. 62. 31 Gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 1 KWG sind vor Bestellung eines Geschäftsleiters die für die Beurteilung der Zuverlässigkeit wesentlichen Tatsachen anzuzeigen. Gemäß § 8 Satz 2 Nr. 2 AnzV ist dieser Anzeige eine Erklärung des Betroffenen, ob gegen ihn ein Strafverfahren schwebt, ob ein Strafverfahren wegen eines Verbrechens oder Vergehens gegen ihn anhängig gewesen ist, beizufügen. Die BaFin kann gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 KWG eine entsprechende Auskunft verlangen (Braun in Boos/Fischer/ Schulte-Mattler, § 44 KWG Rz. 39). § 8 Abs. 2 KWG enthält eine Berechtigung der Finanzbehörden, entgegen § 30 AO Informationen über ein anhängiges Strafverfahren an die BaFin zu übermitteln. Eine entsprechende Verpflichtung der Straf- und Bußgeldsachenstelle ergibt sich aus einer Verfügung des Bayerischen Landesamts für Steuern v. 16.1.2006 – S 0130 – 22 St41M, n.v. (juris).

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Die Steuerfahndung beginnt in der Regel mit einer Hausdurchsuchung. Dies bedarf – außer bei „Gefahr im Verzug“ – eines schriftlichen, vom Richter (vgl. § 105 Abs. 1 StPO) ausgestellten Durchsuchungsbeschlusses. Der Durchsuchungsbeschluss muss durch tatsächliche Angaben den Tatvorwurf konkretisieren; die Beweismittel, denen die Durchsuchung gilt, müssen in etwa umschrieben sein. Die Anforderungen an Durchsuchungsbeschlüsse, ihre Formulierung und ihre Voraussetzungen sind damit eigentlich hoch. In der Praxis muss jedoch das Gegenteil festgestellt werden. Die Schwelle zum Durchsuchungsbeschluss ist außerordentlich gering. Eigenverantwortliche Prüfungen durch Richter sind offensichtlich die Ausnahme. Beispiele aus der Praxis: – Die Betriebsprüfung überprüft einen Anteilsverkauf und ist aufgrund einer eigenen Unternehmensbewertung der Auffassung, der gezahlte Kaufpreis sei zu niedrig. Der Steuerpflichtige behauptet, ein höherer Kaufpreis sei nicht zu erzielen gewesen, da er nur zu 50% beteiligt gewesen sei. Allein die Vermutung der Betriebsprüfung genügte dem Untersuchungsrichter, einen Durchsuchungsbeschluss und eine Arrestanordnung zu unterschreiben. – Aufgrund einer anonymen Anzeige überprüft die Steuerfahndung die Angebote eines Gebrauchtwagenhändlers im Internet. Sie unterstellt, dass Fahrzeuge, die nach einiger Zeit nicht mehr angeboten werden, zu dem Angebotspreis verkauft wurden. Die so über mehrere Monate „ermittelten“ Umsätze stellt sie den erklärten gegenüber und stellt nicht unerhebliche Abweichungen fest. Daraufhin ergehen Durchsuchungsbeschlüsse und Haftbefehle gegen die Unternehmensinhaber. Auch für die Anordnung der Untersuchungshaft gilt: Die Unterschrift des Richters unter den Haftbefehl erfolgt mit leichter Hand. Rückfragen der zuständigen Richter sind selten. Im Wege der Akteneinsicht kann zumeist nicht einmal festgestellt werden, ob der Richter die Akte überhaupt gelesen hat. Als Steuerstrafverteidiger gewinnt man im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit den Eindruck, als ob sich in der Praxis der Staatsanwaltschaften und Haftrichter inzwischen „gewohnheitsrechtlich“ fundierte, im Hinblick auf eine schnelle Aufklärung überaus effektive, aber rechtsstaatlich abwegige Haftgründe eingespielt hätten32. Hintergrund ist die Erfahrung, dass selbst die hartgesottensten Hinterzieher nach längerer Untersuchungshaft eine deutlich größere Geständnis- und Kooperationsbereitschaft zeigen, als zuvor. Welcher Ermittler kann von sich sagen, dieser Versuchung immer widerstanden zu haben? Rechtsbehelfe haben nur selten Aussicht auf Erfolg33. Allgemein gilt, dass Gerichte den Tatverdacht in Steuerstrafverfahren nur unzureichend prüfen. Das Vorliegen des objektiven Tatbestands der Steuerhinterziehung wird oftmals aufgrund der Behauptungen der Steuerfahndung unterstellt, gleichwohl

___________ 32 Von Paeffgen, NJW 1990, 537, als „apokryphe Haftgründe“ bezeichnet. Ablehnend Lemme, wistra 2004, 288. S. auch Jahn/Nack, Strafprozesspraxis und Rechtswissenschaft – getrennte Welten? 2008, 35. 33 Vgl. dazu im Ergebnis Streck/Spatscheck, Die Steuerfahndung, 4. Aufl. 2006, Rz. 386 ff.

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aber in der Begründung der Entscheidung zur Anklage- oder Verurteilungsgewissheit verdichtet34. 3. Das Abhören des (Mobil-)Telefons (TKÜ) Die Überwachung und die Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger, das Abhören des Telefons erlaubt § 100a StPO nur bei im Einzelnen aufgezählten Delikten. Hierzu gehören seit 2008 die bandenmäßige Umsatzsteuerund Verbrauchsteuerhinterziehung (§ 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO), der gewerbsmäßige, gewaltsame und bandenmäßige Schmuggel (§ 373 AO) und die Steuerhehlerei im Fall der gewerbsmäßigen oder bandenmäßigen Begehung (§ 374 Abs. 2 AO), nicht die „normale“ Steuerhinterziehung. Die Anordnung der TKÜ fällt in den Kompetenzbereich des Richters. Antragsberechtigt ist die Staatsanwaltschaft oder – bei selbständiger Führung des Strafverfahrens durch die Finanzbehörde – die BuStra (vgl. § 100b StPO i.V.m. § 386 AO). Nur bei Gefahr im Verzug kann die Staatsanwaltschaft (oder die BuStra) auch selbstständig Anordnungen treffen, die binnen drei Werktagen von dem Gericht bestätigt werden müssen. Wird das Strafverfahren wegen des Verdachts einer Steuerstraftat geführt, die zur Vornahme von TKÜ-Maßnahmen berechtigt, so dürfen die so erlangten Erkenntnisse zur Strafverfolgung dieser wie auch anderer Katalogtaten verwertet werden (beispielsweise bei Entdeckung eines qualifizierten Subventionsbetrugs nach § 264 Abs. 2 Nr. 1 StGB, vgl. § 100a Abs. 2 StPO). Die Erkenntnisse können ferner verwertet werden zur Verfolgung von Nicht-Katalogtaten, soweit diese im engen Zusammenhang (abzustellen ist auf den Begriff der prozessualen Tat, § 264 StPO) mit der bandenmäßigen Steuerhinterziehung stehen, und als Ermittlungsansatz für andere Straftaten, die nicht im Zusammenhang mit dem Ursprungsverfahren stehen. Erkenntnisse, die die Finanzbehörde oder die Staatsanwaltschaft rechtmäßig im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen gewonnen hat, dürfen auch im Besteuerungsverfahren verwendet werden (§ 393 Abs. 3 AO). Dies gilt auch für Erkenntnisse, die dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis unterlagen, soweit sie entweder durch die Finanzbehörde rechtmäßig im Rahmen eigener strafrechtlicher Ermittlungen gewonnen wurden oder (bei Gewinnung der Erkenntnisse durch andere Strafverfolgungsbehörden) nach den Vorschriften der StPO Auskunft an die Finanzbehörden erteilt werden darf. Die AO statuiert neben dem Erfordernis der Rechtmäßigkeit der Maßnahme scheinbar keine inhaltliche Beschränkung der Verwendung. Nach dem Wortlaut des Gesetzes scheinen die wegen des Verdachts der bandenmäßigen Umsatzsteuerverkürzung (§ 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO) durch die Strafverfolgungsbehörden (Staatsanwaltschaft oder Steuerfahndung) erlangten Erkenntnisse auch hinsichtlich jeder anderen Steuerart verwendbar zu sein. Dies ist meines Erachtens bedenklich. Eine Verwendung erscheint mir aus den Rechtsgedanken des § 406e Abs. 6 i.V.m. § 477 Abs. 5 StPO nur für die Fest-

___________ 34 Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl. 2005, S. 251.

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setzung der Steuern gerechtfertigt, die Gegenstand der Ermittlung nach § 100a StPO waren (also nur für die betreffende Umsatz- oder Verbrauchsteuer). 4. Dinglicher Arrest In der Praxis häufen sich die Fälle, in denen die Steuerfahndung zeitgleich mit der ersten Durchsuchung umfangreiche Arreste ausbringt und in diesem Zusammenhang alle Bankverbindungen des Beschuldigten sperrt, Bargeld, Fahrzeuge und andere Wertgegenstände beschlagnahmt und/oder Arresthypotheken in dessen Grundvermögen eintragen lässt. Rechtsgrundlage hierfür ist § 111b Abs. 2 StPO. Ausreichend ist ein einfacher Tatverdacht einer Steuerhinterziehung und die „Besorgnis“, dass die Vollstreckung der angeblich hinterzogenen Steuer vereitelt oder erschwert wird35. Auch diese denkbar niedrige Eingriffsschwelle verleitet zu missbräuchlichen Maßnahmen, um auf einen schweigenden Beschuldigten Druck auszuüben36. Die Anordnung des dinglichen Arrests durch das Gericht kann generell mit der einfachen Beschwerde (§ 304 StPO) angefochten werden. Adressat ist das Amtsgericht, welches die Arrestanordnung erlassen hat. Hilft das Amtsgericht nicht ab, so entscheidet abschließend das Landgericht. Seit dem 1.1.2007 ist gegen die Entscheidung des Landgerichts bei einem Wert von mehr als 20.000 Euro die weitere Beschwerde nach § 310 StPO zulässig. Dann entscheidet das Oberlandesgericht. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gelten für die gerichtliche Anfechtung von Arrestanordnungen bei größeren Beträgen – die in der Praxis an der Tagesordnung sind – die für die Untersuchungshaft geltenden Grundsätze entsprechend. Danach kann die Beschwerdeentscheidung nur auf die Tatsachen und Beweismittel gestützt werden, die dem Beschuldigten durch die Akteneinsicht bekannt gemacht worden sind37. Erforderlich ist umfassende Akteneinsicht, dem Betroffenen bzw. dessen Strafverteidiger dürfen keine Aktenbestandteile vorenthalten werden38. Verweigert die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht, so ist die Arrestanordnung aufzuheben. 5. Mitwirkungspflichten des Beschuldigten im Besteuerungsverfahren Trotz Einleitung eines Steuerstrafverfahrens und dem damit verbundenen Recht, im Strafverfahren zu schweigen (Nemo-tenetur-Prinzip), bleibt der Steuerpflichtige im Besteuerungsverfahren hingegen zur Mitwirkung verpflichtet (§ 393 Abs. 1 Satz 1 AO)39. Der Hinterzieher soll nicht besser stehen als der Steuerehrliche. Zur Durchsetzung der steuerlichen Mitwirkungspflicht dürfen lediglich keine Zwangsmittel eingesetzt werden, wenn dies zu einer

___________ 35 Vgl. nur Meyer-Goßner, 53. Aufl. 2010, § 152 StPO Rz. 4. 36 Wehnert/Mosiek, StV 2005, 569 f., mit Beispielen. 37 BVerfG v. 5.5.2004 – 2 BvR 1012/02, StV 2004, 411; v. 19.1.2006 – 2 BvR 1075/05, NJW 2006, 1048. 38 BVerfG v. 29.5.2006 – 2 BvR 820/06, wistra 2006, 337. 39 BFH v. 19.9.2001 – XI B 6/01, BStBl. II 2002, 4.

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„Selbstbelastung“ des Steuerpflichtigen führen würde (§ 393 Abs. 1 Satz 2 AO). Erfüllt der Steuerpflichtige dennoch seine steuerliche Mitwirkungspflicht und verschafft hierdurch den Behörden Kenntnisse, können diese im Strafverfahren wegen Steuerdelikten verwertet werden40. § 393 Abs. 2 AO kennt ein Verwertungsverbot nur für Nicht-Steuerdelikte41. Schweigt der Steuerpflichtige, folgert die BFH-Rechtsprechung42 daraus einen Pflichtverstoß des Steuerpflichtigen. Es darf geschätzt werden. Nur soweit Steuerhinterziehung und Steuerverkürzung zum Tatbestandsmerkmal der Steuernorm gehört43, liegt die Feststellungslast hierfür beim Finanzamt44. Insoweit gilt auch im Steuerverfahren der Grundsatz des „in dubio pro reo“45. Beweismaßerleichterungen, die im Besteuerungs- und Finanzgerichtsverfahren infolge verweigerter Mitwirkung des Steuerpflichtigen an der Aufklärung des Sachverhalts eintreten, dürfen bei der Feststellung einer Steuerhinterziehung dem Grunde nach nicht genutzt werden. Die Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung dem Grunde nach sind auch bei einer Verletzung von Mitwirkungspflichten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen. Bei nicht behebbaren Zweifeln ist die Feststellung einer Steuerhinterziehung mittels reduzierten Beweismaßes nicht zulässig. Lediglich die Schätzung der Höhe hinterzogener Steuern ist mit einer Einschränkung bezüglich des Schätzungsrahmens möglich46. 6. Steuerliche Erklärungspflicht des Beschuldigten bei laufendem Strafverfahren? An sich erlaubt § 393 Abs. 1 Satz 2 AO nicht, unrichtige Erklärungen für „neue“ Veranlagungszeiträume abzugeben und somit verbotene Handlungen vorzunehmen bzw. neues Unrecht zu schaffen. Das hinter der Norm stehende Nemo-tenetur-Prinzip garantiert zunächst nur das Recht zur Passivität47. Würde man in der Argumentation an dieser Stelle Halt machen48, käme man jedoch zu völlig unbefriedigenden Ergebnissen. Das bestehende Zwangsmit-

___________ 40 Vgl. BVerfG v. 21.4.1988 – 2 BvR 330/88, wistra 1988, 302. 41 Ausführlich: Jarke, wistra 1997, 325; Spriegel, wistra 1997, 321. 42 Vgl. BFH v. 19.1.2006 – VIII B 114/05, BFH/NV 2006, 709; v. 13.1.2006 – VIII B 7/04, BFH/NV 2006, 914; v. 19.10.2005 – X B 88/05, BFH/NV 2006, 15; v. 6.10.2005 – II B 9/04, BFH/NV 2006, 24. 43 Beispiele: Verlängerung der Festsetzungsfrist für vorsätzlich oder leichtfertig hinterzogene Steuern (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO), erweiterte Änderungsmöglichkeit wegen „neuer Tatsachen“ bei Steuerhinterziehung (§ 173 Abs. 2 AO). 44 Vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 70 AO Rz. 9. 45 BFH v. 7.11.2006 – VIII R 81/04, BStBl. II 2007, 364; v. 20.6.2007 – II R 66/06, BFH/NV 2007, 2057. 46 So BFH v. 7.11.2006 – VIII R 81/04, BStBl. II 2007, 364, m.w.N auch aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. 47 Rüster, Der Steuerpflichtige im Grenzbereich zwischen Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, 1989, 58 ff.; Joecks in Franzen/Gart/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl., 2009, § 393 AO Rz. 37. 48 So aber der BGH, z.B. v. 10.1.2002 – 5 StR 452/01, wistra 2002, 149; der nicht nur für den – seltenen – Fall, dass noch eine strafbefreiende Selbstanzeige abgegeben werden kann, an einer strafbewehrten Mitwirkungs- und Erklärungspflicht festhält. S. hierzu Kohlmann, § 393 Rz. 53 ff.; Salditt, PStR 2001, 141; Salditt, PStR 2002, 142.

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telverbot für die im Ermittlungsverfahren befindlichen Zeiträume würde leerlaufen, wenn der Steuerpflichtige gezwungen wäre, für Folgejahre Sachverhalte zu erklären, die ohne Weiteres Rückschlüsse auf den Ermittlungszeitraum zulassen49. Nach zutreffender Ansicht besteht für die neuen Veranlagungszeiträume daher keine Erklärungspflicht50. In einem Urteil vom 5.5.200451 nähert sich der 5. Strafsenat des BGH dieser Ansicht, indem er in den geschilderten Konfliktfällen eine ungenauere Erklärung, z.B. nur die Angabe eines Betrags ohne Verteilung auf Einkunftsquellen, zulässt. Der gleiche Senat geht in dem Beschluss vom 12.1.200552 davon aus, dass sich für die im Rahmen der steuerrechtlichen Offenbarungspflichten gemachten zutreffenden Angaben unmittelbar aus dem Verbot des Selbstbelastungszwangs ein „strafrechtliches Verwendungsverbot“ ergibt.

IV. Der „Deal“ Der im Verhandlungsweg erreichten Einigung mit der Finanzverwaltung und den Strafverfolgungsbehörden haftet das Merkmal des „Handels“ an, den es in dem Recht und Gesetz verpflichteten Steuer- und Strafrecht eigentlich nicht geben darf. Die Praxis des Arrangements scheint hier das Recht zu überspielen; es wird von Grauzonen und von Dämmerlicht gesprochen. Für das Steuerstrafrecht ist zu differenzieren. Die Einigungen mit der Steuerbehörde gibt es, seitdem es Finanzämter gibt. Zunächst gab es die Einigung nur als Instrument des „Fair Play“ zwischen Steuerbürger und Finanzverwaltung. Man einigte sich auf einen Sachverhalt oder eine Steuerfolge. Die Einigung war ohne Bindungskraft. Die rechtliche Bindungswirkung trat erst durch bestandskräftige Steuerbescheide ein. Seit dem Urteil des BFH vom 11.12.198453 ist die tatsächliche Verständigung als rechtlich bindende Einigung zwischen Finanzamt und Steuerbürger anerkannt. Nach Auffassung des BFH ist zwar eine Vereinbarung über steuerrechtliche Fragen nicht möglich, zulässig ist es jedoch, über tatsächliche Umstände bzw. über einen Sachverhalt eine bindende tatsächliche Verständigung zu erzielen. Eine Einigung über die Erledigung des Strafverfahrens kennt das Gesetz nur in der Form der Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO gegen Auflagen. Danach können Steuerstrafverfahren eingestellt werden, wenn die Auflagen geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen,

___________ 49 Es bestehen verschiedene dogmatische Ansätze, das Problem in den Griff zu bekommen z.B. Böse, wistra 2003, 48 ff. unter Anwendung der Grundsätze der „omissio libera in causa“, vgl. weiterführend die Literaturzusammenstellung bei Joecks, in Franzen/Gart/Joecks, § 393 AO Rz. 38 mit Zumutbarkeitserwägungen. Demnach soll die Nichtabgabe oder Abgabe einer unzutreffenden Erklärung nur zulässig sein, wenn nicht durch eine wirksame Selbstanzeige, § 371 AO, ohne weitere Nachteile Straffreiheit erlangt werden kann. 50 Streck/Spatscheck, wistra 1998, 334 (341 f.); OLG Hamburg v. 7.5.1996 – 2 StO 1/96, wistra 1996, 239. 51 BGH v. 5.5.2004 – 5 StR 139/03, wistra 2004, 391, m. Anm. Odenthal. 52 BGH v. 12.1.2005 – 5 StR 191/04, NJW 2005, 763. 53 BFH v. 11.12.1984 – VIII R 131/76, BStBl. II 1985, 354.

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und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht. Die Einstellung bedarf der Zustimmung des Gerichts, der BuStra und des Beschuldigten. Auf die Zustimmung des Gerichts kann verzichtet werden (Verweis in § 153a Abs. 1 Satz 6 StPO auf § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO). Darüber hinaus ist die einvernehmliche Erledigung von Strafverfahren in anderen Formen, wie etwa durch Erlass eines Strafbefehls ebenso üblich wie Absprachen über den Ablauf und den Ausgang von strafrechtlichen Hauptverhandlungen. Ob solche Absprachen einem rechtsstaatlichen Verfahren entsprechen, ist seit jeher umstritten54. Den Kritikern ist unumwunden zuzugeben, dass die Möglichkeiten zur Einigung im Strafverfahren den Strafverfolgungsbehörden und auch den Richtern die sog. „Sanktionsschere“ als ein nicht unerhebliches Druckmittel in die Hand gibt, frei nach dem Motto: Wenn der Angeklagte das von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht angebotene Strafmaß nicht akzeptieren will, wird er schon sehen, was er davon hat. In Steuerstrafsachen begegnet einem dieses Szenario in besonderer Ausprägung: Hat die Steuerfahndung ermittelt, muss mehr als die Steuer herauskommen, auch wenn sich der Vorwurf der vorsätzlichen Steuerhinterziehung kaum halten lässt. Straf- und Bußgeldsachenstellen bieten hier regelmäßig eine Einstellung nach § 153a StPO gegen Zahlung einer erheblichen Geldauflage an und drohen ansonsten mit dem Erlass eines Strafbefehls in gleicher Höhe, wissend, dass der typische Steuerhinterzieher ein ansonsten unbescholtener Bürger ist, der nichts mehr scheut, als eine öffentliche Hauptverhandlung vor dem örtlichen Strafrichter. Selbst wenn der Steuerpflichtige ausnahmsweise diese Öffentlichkeit nicht scheut, bleibt das Risiko, an ein Gericht zu geraten, das den objektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung allein durch die Tatsache der Steuerfestsetzung für gegeben hält und jeden Vortrag zum Vorsatz als Schutzbehauptung qualifiziert. Im Steuerstrafverfahren kommt daher aus Sicht des Beschuldigten der Verknüpfung von Besteuerungsverfahren und Strafverfahren besondere Bedeutung zu. Besteuerungsgrundlagen dürfen nicht akzeptiert werden, solange ihre strafrechtliche Würdigung nicht geklärt ist. Nur so kann die Steuer nach Grund und Höhe als Verhandlungsmasse genutzt werden, um das Strafverfahren zu einem akzeptablen Abschluss zu bringen. Natürlich gilt auch hier, dass umgekehrt Druck ausgeübt wird. Nach meiner Wahrnehmung häufen sich die Fälle, in denen die Finanzverwaltung durch die Einleitung des Strafverfahrens Druck auf den Steuerpflichtigen ausüben will, damit dieser streitige Steuern akzeptiert. Meines Erachtens sind Deal und Verständigung im Steuer- und Strafverfahren durchaus Instrumente rechtsstaatlicher Ordnung. Voraussetzung ist aber, dass sie auf Augenhöhe erfolgen. Nach meinem Verständnis können und sollten sie nur zwischen Finanzamt und Steuerpflichtigem bzw. Beschuldigtem und Staatsanwaltschaft zulässig sein. Funktioniert diese Einigung nicht, muss das Gericht als objektive Institution der Streitbeilegung bleiben. Insofern teile ich die Bedenken gegen die durch den Gesetzgeber im „Gesetz zur Regelung der

___________ 54 S. nur Kempf, StV 2009, 269.

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Verständigung im Strafverfahren“ vom 29.7.200955 in § 257c StPO geschaffene gesetzliche Regelung56.

V. Die Öffentlichkeit und die Politik – Praxiserfahrungen Wenn heute über Steuerhinterziehung in der Öffentlichkeit, der Presse, gesprochen oder geschrieben wird, erscheinen regelmäßig Bilder aus dem Fall Klaus Zumwinkel. Und dies nicht von ungefähr. Dieses Verfahren ist jedenfalls nach meiner Kenntnis das einzige Steuerstrafverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik, das von Anfang bis Ende von der Presse „begleitet“ wurde. Presse und Fernsehsender waren vorab informiert, sodass Bürger schon das Erscheinen der Steuerfahndung und Staatsanwaltschaft vor Morgengrauen am Valentinstag 2008 live mitverfolgen konnten. Schon wenige Stunden nach Beginn der Durchsuchung brachten wichtige und weniger wichtige Personen des öffentlichen Lebens ihre Missbilligung und ihr Unverständnis vor jedem vorgehaltenen Mikrofon zum Ausdruck und verlangten nach unnachgiebiger Bestrafung. Der Verdächtige war verurteilt, lange bevor Anklage erhoben wurde. Psychologisch kann man dies nachvollziehen. Wer kennt nicht die Situation, in der man auf der Autobahn bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h mit 120 km/h fährt und von einem anderen mit 150 km/h überholt wird. Wie sehr wünscht man diesem Fahrer, dass an der nächsten Ecke eine Kontrolle steht und dem Überholer der Führerschein abgenommen wird. Psychologen nennen dies das Sündenbocksyndrom: Wie gerne würde ich auch die Geschwindigkeitsübertretung begehen. Ich diszipliniere mich aber selbst. Dann soll aber bitte auch derjenige, der dies nicht tut, ordentlich bestraft werden. Ich brauche die Bestrafung des anderen, um die Unterdrückung meiner eigenen Wünsche vor mir selbst zu rechtfertigen. Psychologen behaupten sogar, dass es denjenigen, die am lautesten nach der harten Strafe schreien, am schwersten fällt, ihr Verlangen nach dem Begehen eben dieser Tat zu unterdrücken. Ich überlasse es dem Leser, die Geschwindigkeitsüberschreitung durch Steuerhinterziehung zu ersetzen und dann die Bilder des Verfahrens Revue passieren zu lassen. Beunruhigend fand ich, dass auch Amtsträger wie Minister, Ministerpräsidenten und Richter sich nicht scheuten, an der öffentlichen Vor- oder Nachverurteilung mitzuwirken57. Umso bemerkenswerter ist, dass Staatsanwaltschaft und Gericht es im konkreten Fall – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – geschafft haben, dem öffentli-

___________ 55 Gesetz v. 3.8.3009, BGBl. I 2009, 2354. 56 Weimar/Mann, StraFO 2010, 12; Rieß, StraFO 2010, 10; Kirsch, StraFO 2010, 96; Geuenich/Höwer, DStR 2009, 2320; Bittmann, wistra 2009, 414; Meyer-Goßner, ZRP 2009, 107. 57 S. „Der Spiegel“ 6/2009 v. 27.1.2009 in einem Bericht über den Jahrespresseempfang des BGH: „Im Fall Zumwinkel, hieß es im Kreis der BGH-Richter, wären deshalb auch drei Jahre Freiheitsstrafe ohne Bewährung gut vertretbar gewesen“.

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chen und politischen Druck standzuhalten, selbst wenn dies nicht jedem zum Vorteil gereichte58. Bis heute ist diese Art der „öffentlichen Hinrichtung“ die Ausnahme geblieben. Bisher galt und gilt nach meiner Beobachtung, dass Steuerstrafverfahren nur in absoluten Ausnahmefällen derartige Publizität erlangen. Dies gilt zunächst uneingeschränkt für Verfahren, die nur auf Finanzamtsebene, also von der Steuerfahndung und den Straf- und Bußgeldsachenstellen, geführt werden. Hier sind Finanzbeamte tätig, für die das Steuergeheimnis ein hohes Gut darstellt. Allerdings ist die Verletzung des Steuergeheimnisses unter anderem dann möglich, wenn „die Offenbarung erforderlich ist, zur Richtigstellung in der Öffentlichkeit verbreiteter unwahrer Tatsachen, die geeignet sind, das Vertrauen in die Verwaltung erheblich zu erschüttern; … .“ (§ 30 Abs. 4 Nr. 5 AO). Demzufolge sollte derjenige, der selbst mit seinem Steuerstrafverfahren an die Öffentlichkeit geht, nicht verwundert sein, wenn nunmehr auch die Verfolgungsbehörden die Presse unterrichten59. Weniger öffentlichkeitsscheu sind die Staatsanwaltschaften. Hier gibt es regelmäßig gute Kontakte zwischen Staatsanwaltschaft und Presse. Das Steuergeheimnis steht der Mitteilung, dass ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung anhängig ist, nicht im Weg. Allerdings gilt auch hier, dass die Staatsanwaltschaften – von Ausnahmen abgesehen – in der Regel nicht an einer großen Öffentlichkeit interessiert sind. Nach meiner Erfahrung ist das Interesse der Medien an der individuellen Steuerhinterziehung gering. Die Steuerhinterziehung als solche ist – anders als Mord oder Entführung – keine Meldung wert. Sie wird allenfalls durch die Person des Hinterziehers (Boris Becker, Verona Poth) zur Meldung, was bei dem einen oder anderen meiner Mandanten schon zu gewisser Enttäuschung geführt hat. Es bleibt festzuhalten: Die Medien haben in aller Regel keinen Einfluss auf das Steuerstrafverfahren, weil sie nichts wissen oder nicht interessiert sind. Wo das Verfahren öffentlich wird, stehen die Strafverfolgungsbehörden unter höherem Druck, öffentlichkeitswirksam und hart zu bestrafen. Aus diesem Grund sollten der Beschuldigte und sein Verteidiger alles unterlassen, was das Interesse der Medien an dem Fall steigern könnte.

VI. Zusammenfassende Thesen – Die undifferenzierte Strafvorschrift des § 370 AO bedarf der Reform durch den Gesetzgeber. Zu fordern ist eine Differenzierung nach der Art der Tatbegehung und dem damit verbundenen unterschiedlichen Unwertgehalt der Tat. – Wir haben hinsichtlich der Aufklärung und Verfolgung von Steuerhinterziehungen einen starken Staat. Dies ist akzeptabel. Nicht akzeptabel ist, dass die Strafgerichte ihre Aufgabe, die Eingriffe des Staats auf das rechts-

___________ 58 S. Handelsblatt v. 19.1.2009: „Wenn Ankläger zu Verteidigern werden“. 59 OLG Hamm v. 14.7.1980 – 1 VAs 7/80, NJW 1981, 356.

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staatliche Maß zu beschränken, faktisch nicht wahrnehmen. An dieser Stelle kann nur der Appell an die Strafrichter stehen, ihre Aufgabe ernst zu nehmen. – Der Gesetzgeber sollte zur Sicherung der Rechte des Beschuldigten bereits gegen die Einleitung eines Strafverfahrens ein Rechtsmittel schaffen. – Die öffentliche zur Schau Stellung des Steuerhinterziehers – ebenso wie jedes anderen Straftäters – ist nicht im Interesse des Rechtsstaats.

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Die Selbstanzeige Von der Wiege bis zum Grab?

Inhaltsübersicht I. Der Jubilar und die Selbstanzeige – früher II. Warum es die Selbstanzeige nach § 371 AO gibt und immer geben muss III. Fortentwicklung durch die Praxis und den Gesetzgeber IV. Erster Einschnitt: Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 20.5.2010 1. Teilselbstanzeige

2. Ausschluss der Selbstanzeige nach Erscheinen des Amtsträgers 3. Ausschluss der Selbstanzeige durch Tatentdeckung 4. Verhaltensüberlegungen nach dem Beschluss V. Zweiter Einschnitt: Jahressteuergesetz 2010 oder § 371 Sondergesetz VI. Der Jubilar und die Selbstanzeige – heute

I. Der Jubilar und die Selbstanzeige – früher Es ist kein Zufall, dass die Selbstanzeige nach § 371 AO in dem Buch „Die Steuerfahndung“, das der Jubilar ins Leben gerufen hat und das demnächst in der fünften Auflage erscheinen wird, allein 36 Seiten und 121 Textziffern einnimmt. D.h. ein Zehntel des gesamten Werks, das von der Beraterwahl bis zur Untersuchungshaft alle relevanten Bereiche des steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens umfasst, beschäftigt sich ausschließlich mit diesem wichtigen Thema. Der junge Anwalt im „Büro Streck“ musste schon früh in seiner Ausbildung lernen, dass es im Steuerstrafrecht etwas Einzigartiges gibt, das sonst bei keiner anderen Straftat möglich ist, nämlich die Erlangung nachträglicher Straffreiheit von der bereits tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft begangenen Tat. Hiermit ließen sich, wie der Jubilar mit erkennbarer Begeisterung lehrte, tolle Dinge machen – wenn man die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm sowie ihre Fallvarianten und Tücken in der praktischen Anwendung genau kannte; und hier konnte man alles von ihm lernen. In zahlreichen Fällen wurde so Mandanten in vermeintlich aussichtslosen Situationen geholfen und gleichzeitig dem deutschen Fiskus erhebliche Mehreinnahmen verschafft. Der in Beratungsgesprächen und Vortragsveranstaltungen stets offensiv gegebene Rat des Jubilars, von der Selbstanzeigemöglichkeit intensiv Gebrauch zu machen, hat – auf das Berufsleben gerechnet – dem Staat sicher Steuermehreinnahmen und Zinsen von mehr als 100 Mio. Euro eingebracht. Das Selbstanzeigesystem funktionierte, weil Berater ihren Mandanten ganz konkret raten und den strafbefreienden Erfolg der Berichtigungserklärung sicher prognostizieren konnten.

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II. Warum es die Selbstanzeige nach § 371 AO gibt und immer geben muss Die Selbstanzeige hat eine lange Tradition. Schon das Badische Kapitalrentensteuergesetz vom 29.6.18741 enthielt in Art. 30 eine Selbstanzeigenregelung: „Wird die unterbliebene oder zu niedrig abgegebene Erklärung späterhin nachgetragen oder berichtigt, bevor das Vergehen … angezeigt worden ist, so fällt jede Strafe weg.“ Vorgänger des heutigen § 371 AO ist § 374 Reichsabgabenordnung von 1919. Darin sowie in der Nachfolgevorschrift des § 410 Reichsabgabenordnung von 1931 sind im Kern die gleichen Regelungen getroffen, wie im späteren § 371 der AO des Jahres 2010. Aus den Motiven des Jahres 19192 ergibt sich deutlich, dass Anlass für die Regelung vor allem die Erschließung neuer Steuerquellen war. Parallel hierzu sollte die Vorschrift als Appell zur Rückkehr zur Steuerehrlichkeit zu verstehen sein. Hintergrund schien auch die Hilflosigkeit der Finanzbehörden bei der Aufdeckung von Steuerhinterziehungen zu sein3. Heute besteht weiterhin Einigkeit, dass § 371 AO in erster Linie eine steuerpolitische Zielrichtung hat, die einerseits den ermittlungstechnisch ungünstigen Bedingungen des Steuerstrafrechts gerecht wird und andererseits einen Anreiz zur Rückkehr in die Steuerehrlichkeit darstellt, wodurch letztlich verheimlichte Steuerquellen fruchtbar gemacht werden sollen4. In der neueren Literatur sind es vor allem strafrechtliche Prinzipien, die im allgemeinen Strafrecht dem „Rücktritt vom Versuch“, § 24 StGB, oder den Vorschriften über die „tätige Reue“ entsprechen. Die Selbstanzeige wird letztlich als spezielle Rücktrittsvorschrift gesehen, die sogar zu einer vollständigen Wiedergutmachung der Rechtsgutsverletzung führt5. In jahrzehntelanger Praxis hat sich die Norm bewährt. Vor allem vor dem Hintergrund der zu erwartenden und bereits in hohem Maße realisierten Mehrsteuern, ist die Selbstanzeige nicht hinwegzudenken. Finanz- und Ermittlungsbehörden wären weder personell noch hinsichtlich der Ermittlungsmöglichkeiten in der Lage, die Vielzahl der Selbstanzeigefälle als „echte“ Ermittlungsverfahren aufzuarbeiten. Das wird besonders deutlich, wenn man sich z.B. die Anzahl von mehr als 20.000 Selbstanzeigen nach dem Ankauf der Daten-CD betreffend CreditSuisse-Kunden Ende Januar 2010 durch das Bundesfinanzministerium vor Augen führt. Die ganz deutliche Mehrzahl dieser Fälle hat mit den angekauften Daten nichts zu tun und wäre deshalb auch nie ermittelt worden. Ferner darf nicht vergessen werden, dass die Selbstanzeige neben der Umsetzung der allgemeinen strafrechtlichen Grundsätze von „Rücktritt“ und „tätiger Reue“ auch eine spezifische strukturelle, rechtstechnische Aufgabe hat.

___________ 1 2 3 4 5

GVBl. 361. Verhandlungen der Nationalversammlung, Band 331, S. 4136 ff. v. 17.12.1919. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, 7. Aufl. 2009, § 371 AO Rz. 3. Joecks in Franzen/Gast/Joecks, 7. Aufl. 2009, § 371 AO Rz. 19. Grötsch, Persönliche Reichweite der Sperrwirkung im Rahmen des § 371 Abs. 2 AO unter besonderer Berücksichtigung von Personen- und Kapitalgesellschaften, 2003, S. 21 ff.; Joecks in Franzen/Gast/Joecks, 7. Aufl. 2009, § 371 AO Rz. 20, 21.

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Die Selbstanzeige

Sie löst den Konflikt, den ein Steuerhinterzieher hat, wenn seine Tat in gleicher Weise mehrere Veranlagungszeiträume betrifft, wie z.B. in den Fällen des verschwiegenen Auslandsvermögens. Entschließt er sich, ab sofort steuerehrlich zu sein, würde die plötzliche Erklärung von Auslandseinkünften die vergangenen Hinterziehungstaten offenbaren und letztlich den Hinterzieher zur Selbstbezichtigung zwingen, was gegen das Nemo-Tenetur-Prinzip verstößt. So bleibt die Selbstanzeige häufig die einzige Möglichkeit zur Rückkehr in die Steuerehrlichkeit, d.h. sie ermöglicht diese erst. Als Alternative, die von der Rechtsprechung nur sehr zögerlich aufgenommen wird6, käme nur ein strafrechtliches Verwertungs- oder gar ein Verwendungsverbot für vergangene Zeiträume in Betracht, wenn für den aktuellen Veranlagungszeitraum eine zutreffende Steuererklärung eingereicht wird. Bei der letzteren Lösungsvariante würden dem Fiskus letztlich keine Informationen für die Altjahre mitgeteilt, was eine zeitnahe, kostensparende Veranlagung nahezu unmöglich macht. An der Selbstanzeige geht demnach kein Weg vorbei.

III. Fortentwicklung durch die Praxis und den Gesetzgeber Verglichen mit der Häufigkeit und Wichtigkeit der Anwendung der Selbstanzeige gab es hierzu in der Vergangenheit nur wenige höchstrichterliche Entscheidungen. Das macht deutlich, dass die Norm offensichtlich über eindeutig definierte Tatbestandsmerkmale verfügt und sicher in der Anwendung ist. Die wenigen, wichtigen Entscheidungen beschäftigten sich beispielsweise mit folgenden Detail-Rechtsfragen: Eher banal klingt der Tenor der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 13.10.19987, nach der in der Berichtigungserklärung das Wort „Selbstanzeige“ nicht verwandt werden muss. Es reicht aus, dass der Anzeigeerstatter den objektiven Sachverhalt zutreffend und für die Finanzverwaltung prüffähig darstellt. Eine Selbstbezichtigung oder Ähnliches ist nicht erforderlich. Ferner hatte sich der Bundesgerichtshof mit der Frage zu beschäftigen, inwieweit die Umsatzsteuerjahreserklärung als Selbstanzeige in Bezug auf die unzutreffend abgegebenen Umsatzsteuervoranmeldungen angesehen werden kann, was er im Ergebnis bejaht hat8. Gleiches gilt im Verhältnis der Einkommensteuerjahreserklärung zu den Vorauszahlungen. Leichte Einschränkungen brachte die höchstrichterliche Rechtsprechung9 bei der Anwendungsmöglichkeit der sog. „verdeckten Stellvertretung“. Insofern wurde lange Zeit davon ausgegangen, dass es nicht erforderlich ist, dass der Anzeigende gegenüber der Finanzverwaltung erkennen lässt, dass er diese auch im Auftrage eines Dritten erstattet. Der Bundesgerichtshof hat jedenfalls in den Fällen, in denen tatsächlich eine Steuerverkürzung entstanden ist, Bedenken an der Wirksamkeit einer in verdeckter Stellvertretung abgegebenen Selbstanzeige geäußert. Hintergrund ist, dass es dem Fiskus nicht mög-

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BGH v. 12.2.2005 – 5 StR 191/04, wistra 2005, 148. BGH v. 13.10.1998 – 5 StR 392/98, wistra 1999, 28. BGH v. 13.10.1998 – 5 StR 392/98, wistra 1999, 27. BGH v. 5.5.2004 – 5 StR 548/03, wistra 2004, 309 (310).

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lich ist, die Steuerschuld z.B. nach § 71 AO zu realisieren, wenn Täter und Teilnehmer der Steuerhinterziehung unbekannt sind. Die Rechtsprechungsentwicklung ist insofern noch nicht am Ende. Mit Konkretisierungen ist zu rechnen. In manchen Fällen musste die Rechtsentwicklung in Bezug auf die Selbstanzeige schlicht mit geänderten Lebens- bzw. Geschäftsgewohnheiten und technischen Gegebenheiten zurechtkommen. Wann im Sinne von § 371 Abs. 2 Nr. 1a AO ein Amtsträger zur Prüfung erschienen ist und somit die Möglichkeit zur Einreichung einer Berichtigungserklärung genommen wurde, war sehr einfach zu bestimmen, als früher der Betriebsprüfer persönlich am Sitz des Steuerpflichtigen die Bücher und sonstige relevante Unterlagen durchsah. Zweifel kamen erst auf, als begonnen wurde, Prüfungen auch an Amtsstelle durchzuführen, was in jüngerer Zeit immer häufiger durch die Übersendung von Daten-DVDs oder die Einräumung eines Online-Nur-LeseZugriffs auf die EDV des Unternehmens durchgeführt wird. So ist davon auszugehen, dass kein „Erscheinen“ gegeben ist, wenn vorab freiwillig eine Daten-CD übersandt oder rein technisch der Online-Zugriff eingerichtet wird. Die Sperrwirkung tritt erst ab dem Zeitpunkt ein, an dem die Prüfung an Amtsstelle beginnt10. Abweichend hiervon ist von einer Sperrwirkung auszugehen, wenn der Betriebsprüfer – einverständlich festgelegt – im Steuerberatungsbüro als Ort der Prüfung erscheint. Was den Umfang der Sperrwirkung anbelangt, so ist jedenfalls bei der Betriebsprüfung inzwischen einhellige Ansicht, dass auf den konkreten Prüfungsauftrag des einzelnen Beamten abzustellen ist11. Es kommt also im Wesentlichen auf die Prüfungsanordnung an. Etwas anderes gilt für die Steuerund Zollfahndungsfälle. Hier gibt es keine konkrete Prüfungsanordnung. Auch Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse enthalten keine abschließende Regelung. Insofern ist auf den „Ermittlungswillen des Amtsträgers“ abzustellen12. Wird also wegen des Verdachts, ausländische Kapitalerträge nicht erklärt zu haben beim Steuerpflichtigen durchsucht, ist noch keine Sperrwirkung in Bezug auf eine eventuelle Erbschaftsteuerhinterziehung eingetreten. Ferner war die Frage zu klären, wann Tatentdeckung im Sinne von § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO in Bezug auf die konkrete Person des Täters eingetreten ist. Der Bundesgerichtshof13 ging insofern bei betrieblichen Steuern davon aus, dass eine konkrete Namensbenennung nicht erforderlich ist, sondern als ausreichend anzusehen ist, wenn der Täter aufgrund der Organisationsstruktur des Unternehmens bestimmt werden kann. Von erheblicher praktischer Bedeutung ist die Frage, ob und wann die Berichtigungsmöglichkeit nach abgeschlossener Betriebsprüfung wieder auflebt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs14 lebt die Selbstanzeige-

___________ 10 11 12 13 14

BFH v. 9.3.2010 – VIII R 50/07, DStR 2010, 1075 ff. BGH v. 5.4.2000 – 5 StR 226/99, wistra 2000, 219. BGH v. 5.4.2000 – 5 StR 226/99, wistra 2000, 225. BGH v. 24.10.1990 – 3 StR 16/90, wistra 1991, 107 (108). BGH v. 23.3.1994 – 5 StR 38/94, wistra 1994, 228.

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möglichkeit wieder auf, wenn das Finanzamt die aufgrund der Prüfung erstmalig erlassenen oder berichtigten Steuerbescheide abgesandt hat oder die Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO ergeht, dass die Prüfung zu keiner Änderung von Besteuerungsgrundlagen geführt hat. Der Zeitpunkt der Schlussbesprechung im Rahmen der Betriebsprüfung ist insofern für die Berichtigungsmöglichkeit ohne Bedeutung.

IV. Erster Einschnitt: Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 20.5.2010 2010 war kein gutes Jahr für die Selbstanzeige. Der Bundesgerichtshof hat sich in dem Beschluss vom 20.5.2010 – 1 StR 577/0915 umfassend zum Institut der strafbefreienden Selbstanzeige geäußert16. Die Entscheidung erfolgt im Kontext der aktuellen Geschehnisse des Ankaufs von Bankdaten aus der Schweiz und Liechtenstein. Nachdem die Bundesregierung im Februar dieses Jahres den Ankauf einer Steuer-CD aus der Schweiz angekündigt hatte, kam es zu einer Flut von Selbstanzeigen. In der Folge entflammte eine öffentliche Diskussion über den Bestand und die Sinnhaftigkeit des Instituts der Selbstanzeige, durch die die Steuerhinterziehung zu einem Kavaliersdelikt verharmlost werde. Vor diesem Hintergrund kam die Entscheidung des Bundesgerichtshofs auch für die Beratungspraxis unerwartet, überraschend und – in Erwartung der bevorstehenden Gesetzesänderung als obiter dictum – völlig überflüssig. Unter Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung ruft der Bundesgerichtshof mit seinen obiter dicta nun zu einer restriktiven Auslegung des § 371 AO auf. Das Institut der Selbstanzeige hat der Bundesgerichtshof mit seiner Entscheidung sowohl hinsichtlich der positiven als auch hinsichtlich der negativen Voraussetzungen des § 371 AO, d.h. den Sperrgründen, einer eingehenden Überprüfung unterzogen und aktuellen politischen Bestrebungen entsprechend modifiziert17. Seine Entscheidung gründet das Gericht auf prinzipiellen Erwägungen zur Rechtfertigung des Instituts der strafbefreienden Selbstanzeige18. Im Gegensatz zum historischen Gesetzgeber sowie der bislang herrschenden höchstrichterlichen Rechtsprechung und überwiegenden Literaturmeinung, die den primären Zweck der Norm in der Erschließung neuer Steuerquellen sahen, unterstreicht der Bundesgerichtshof mit seinem Beschluss den kriminalpolitischen Zweck der Norm. Die Bereitstellung einer goldenen Brücke zur Steuerehrlichkeit sei die vornehmliche Aufgabe der Norm, insbe-

___________ 15 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 ff.; mit Anmerkung Beyer, AOStb 2010, 195; Bittmann, NJW 2010, 2149 f.; Carlé, DStZ 2010, 473; Marfels, StbW 2010, 499; kritische Stellungnahme von Weidmann, PStR 2010, 175 f.; Salditt, PStR 2010, 168 ff.; zustimmend Meyberg, PStR 2010, 162 ff. 16 Hierzu Spatscheck/Willems, Steueranwaltsmagazin 2010. 17 Hierzu das nachfolgende Kapitel. 18 Im Einzelnen BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 ff. Tz. 6 f.

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sondere da der fiskalpolitische Zweck aufgrund der modernen Ermittlungsmöglichkeiten zunehmend an Bedeutung verliere19. 1. Teilselbstanzeige Vor dem Hintergrund dieses Wandels der Gewichtung der Rechtfertigungsgründe macht der Bundesgerichtshof nun die vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit zur zwingenden Voraussetzung einer strafbefreienden Selbstanzeige. Der Steuerbürger müsse bei der Berichtigungserklärung alle für die Besteuerung erforderlichen Informationen vollständig und richtig angeben20. Das Privileg der Straffreiheit soll nur derjenige genießen dürfen, der „reinen Tisch“ macht. Die dahingehenden Erwartungen an den Täter der Steuerhinterziehung konkretisiert der Senat leider nicht und lässt den Steuerbürger mit dieser bildhaften Formulierung im Unklaren zurück. Der Gedanke der Vollständigkeit wird von dem Gericht durch den Ausschluss der Möglichkeit einer Selbstanzeige konsequent weitergeführt21. Eine Rückkehr zur Steuerehrlichkeit mit dem Genuss der Straffreiheit gebe es nur, wenn der Steuerpflichtige vollumfänglich ehrlich sei und nicht nur aus finanziellem Kalkül oder Entdeckungsangst eine Teilselbstanzeige abgebe22. Die inhaltlichen Anforderungen an eine Selbstanzeige definiert der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung dergestalt, dass die Finanzbehörde auf Grundlage der Angaben in der Lage sein müsse, ohne langwierige Nachforschungen den Sachverhalt aufzuklären und die Steuer zutreffend festzusetzen23. In diesem Kontext hätte es einer genaueren Bestimmung des vom Bundesgerichtshof neu eingefügten „Tatbestandsmerkmals“ der Vollständigkeit sowohl in sachlicher als auch in zeitlicher Hinsicht bedurft. Sind sämtliche hinterzogenen Einkünfte zu deklarieren? Genügt die Angabe solcher hinterzogenen Einkünfte, die in einem sachlichen Zusammenhang stehen? Die Auslegung des Kriteriums der Vollständigkeit in der Weise, dass eine wirksame Selbstanzeige nur bei Aufdeckung aller bisher nicht oder nicht richtig oder unvollständig deklarierten Besteuerungsgrundlagen möglich sein

___________ 19 BFH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 ff., Tz. 10. Diese Ausführungen sind jedoch nicht nachvollziehbar, da durch den Fortschritt der Technik zwar bessere Ermittlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die Finanzverwaltung dieses Potential aufgrund mangelnder Personalressourcen jedoch nicht nutzt. Auch zukünftig wird sich der Fiskus hinsichtlich einer richtigen und vollständigen Besteuerung auf die Mitwirkung des Bürgers verlassen. Mit „besseren Ermittlungsmöglichkeiten“ dürfte nicht der von weiten Teilen der Literatur als illegal eingestuften Ankauf unberechtigt entwendeter Bankdaten auf einer CD gemeint sein. 20 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, Tz. 8 f. Der Senat folgt damit einem früheren Urteil des BGH v. 5.9.1974 – 4 StR 369/74, NJW 1974, 2293. 21 Bisher war die Möglichkeit der Abgabe einer Teilselbstanzeige, auch einer dolosen Teilselbstanzeige, in Rechtsprechung und Literatur unbestritten. BGH v. 12.8.1987 – 3 StR 10/87, wistra 1987, 342 f.; v. 13.10.1998 – 5 StR 392/98, wistra 1999, 27 f.; Jäger in Klein, AO, 10. Aufl. 2009, § 371 AO Tz. 20; Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Tz. 66.1. 22 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 ff., Tz. 12. 23 BGH v. 13.11.1952 – 3 StR 398/52, BGHSt 3, 373 ff.; BGH v. 5.9.1974 – 4 StR 369/74, NJW 1974, 2293; BGH v. 5.5.2004 – 5 StR 548/03, wistra 2004, 309 ff.

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soll, birgt beträchtliche praktische Schwierigkeiten. In vielen Fällen haben die Steuerpflichtigen keine tatsächliche Kenntnis über die steuerlich relevanten Sachverhalte oder Unterlassen die Angabe von Besteuerungsgrundlagen unvorsätzlich. Denkbar ist, dass der Steuerpflichtige seine bisher nicht deklarierten Konten in der Schweiz offenlegt und den Weg zurück in die Legalität sucht. In unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang wird gegen ihn wegen Steuerhinterziehung in einem weiteren Fall ermittelt, was er jedoch nicht weiß. Ihm wird die unvollständige oder unrichtige Angabe von Besteuerungsgrundlagen auf der Grundlage einer unzutreffenden Rechtsauffassung und damit zumindest eine bedingt vorsätzliche Steuerhinterziehung vorgeworfen. In objektiver Hinsicht hat er den Tatbestand erfüllt, er hatte jedoch keine Kenntnis und auch keine Anhaltspunkte hinsichtlich der Unrechtmäßigkeit seines Vorgehens. Da die Hürde für die Annahme eines Vorsatzes bei Steuerstrafverfahren der vorliegenden Konstellation relativ gering angesetzt wird, ist eine Verurteilung nicht unwahrscheinlich. Der Steuerpflichtige müsste seine „Unkenntnis“ nachweisen, was in der Praxis äußerst schwierig ist. Die abgegebene Selbstanzeige wäre bei einem absoluten Vollständigkeitsverständnis nicht wirksam. Es droht ihm eine weitere Verurteilung wegen Steuerhinterziehung. Ferner ist denkbar, dass im Erbfall bislang nur eine unvollständige Besteuerung erfolgte. Der Steuerpflichtige entschließt sich letztlich doch für die Offenlegung der bisher verheimlichten Steuerquellen. Problematisch ist jedoch, dass er keinen vollständigen Überblick über die Erbmasse hat und weitere auch dem Erben unbekannte Auslandskonten bestehen. Diese Konten werden von der Finanzverwaltung durch den Ankauf von Bankdaten entdeckt. Damit wäre die Selbstanzeige unvollständig und unwirksam. Besonders deutlich werden die Praxisprobleme der neuen BGH-Rechtsprechung an folgendem Beispielsfall: Berichtigt der Steuerpflichtige und deckt große Vermögen gegenüber der Finanzverwaltung auf, wobei er nicht bedenkt, dass er bei den Werbungskosten eine Fahrtkostenpauschale geltend gemacht hat, die die wirkliche Entfernung um 30% übersteigt. Für eine wirksame Selbstanzeige hätte auch diese Steuerhinterziehung angezeigt und die Besteuerungsgrundlagen berichtigt werden müssen. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs behandelt den eher untypischen Beispielsfall, dass mehrere Konten mit Auslandsbezug bestanden, diese jedoch nur teilweise unter dem Druck einer möglichen Entdeckung nacherklärt wurden24. Eine solche vorsätzliche partielle Selbstanzeige soll in Zukunft nicht mehr möglich sein; zu den Fällen anderer Arten von Selbstanzeigen hat sich das Gericht nicht geäußert. Insofern stellt sich die Frage, ob die Entscheidung, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse des Ankaufs gestohlener Steuerdaten aus Liechtenstein und der Schweiz, wirklich dahingehend zu verstehen ist, dass Teilselbstanzeigen generell unwirksam sein sollen oder ob der Ausschluss nur dieselbe Einkunftsart bzw. einen ähnlichen Lebenssachverhalt betrifft, also etwa Kapitaleinkünfte aus der Schweiz einer-

___________ 24 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 ff., Tz. 1 ff.

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seits und aus Liechtenstein andererseits. Das wäre zumindest nachvollziehbar. Ferner stellt sich die Frage, in welchem zeitlichen Umfang die unrichtigen oder unvollständigen Angaben zu berichtigen sind? Ist auf die Tat im materiellen oder prozessualen Sinne oder auf den strafrechtlich relevanten Verjährungszeitraum von – im Normalfall25 – fünf Jahren oder auf den steuerlich relevanten Festsetzungszeitraum von zehn Jahren abzustellen? Da der BGH am Tatbegriff der Hinterziehungsdelikte grundsätzlich keine Änderung vorgenommen hat, gilt auch für den notwendigen Berichtigungsbereich der materielle, hilfsweise der etwas weitere prozessuale Tatbegriff. Praktisch wird der strafrechtlich noch nicht verjährte Fünfjahreszeitraum regelmäßig als Mindesterklärungszeitraum anzusehen sein, da bei Dauerdelikten, wie z.B. der Hinterziehung ausländischer Kapitalerträge, für die nicht berichtigten Jahre Tatentdeckung anzunehmen sein wird. Somit spricht neben sachlichen Erwägungen das Argument des Gleichklangs, dass die Pflicht zur Berichtigung auch nur maximal soweit reichen sollte, wie das Gesetz mit Strafe droht. So hat der Bundesgerichtshof auch als Strafgericht über eine mögliche Straffreiheit und nicht über die von den Finanzgerichten zu behandelnde Problematik der Steuerfestsetzung in Altjahren entschieden. Eine Erweiterung der Berichtigungspflicht auf zehn Jahre wäre nur in den Fällen der schweren Steuerhinterziehung angemessen. Der Aspekt der Zeitspanne spielt für die steuerliche Beratung eine nicht unerhebliche Rolle. Mit der Ausweitung des Berichtigungszeitraums steigt zugleich die Schwierigkeit einer korrekten und zeitnahen Aufarbeitung und damit das Risiko der Abgabe einer den Anforderungen der Selbstanzeige nicht genügenden Nacherklärung. Einer schnellen und umfassenden Aufarbeitung steht oftmals der Mangel an verlässlichen Unterlagen entgegen. Für alte Zeiträume, die unter Umständen bis zu fünfzehn Jahre zurückliegen, sind z.B. Bankunterlagen nicht mehr zu erhalten. So stellen Schweizer Banken Erträgnisaufstellungen heute regelmäßig nur für die letzten zehn Jahre aus. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bereitstellung der Unterlagen eines langen zeitlichen Vorlaufs von durchschnittlich etwa drei Monaten bedarf. Bei Fehlen der erforderlichen Unterlagen muss die Berichtigungserklärung insoweit auf Schätzungen beruhen. Eine Schätzung der Erträge anhand vorliegender Informationen ist zwar zulässig, beinhaltet aber den Nachteil, dass auch sie möglichst genau erfolgen sollte. Eine zu geringe Schätzung würde zur Unwirksamkeit der Selbstanzeige führen und eine zu hohe Schätzung bedeutet eine finanzielle Mehrbelastung für den Steuerpflichtigen. Das Erfordernis der Vollständigkeit begründet der Bundesgerichtshof aus dem Wortlaut der Norm. In der Aufzählung aller denkbaren Berichtigungsvarianten und deren Verbindung mit einem „oder“ komme der Gesetzeswille nach

___________ 25 In einem besonders schweren Fall der Steuerhinterziehung § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1–5 AO beträgt die strafrechtliche Verfolgungsverjährung 10 Jahre, § 376 Abs. 1 AO.

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Vollständigkeit zum Ausdruck26. Zudem begründet der Senat seine Auffassung damit, dass sich die im Gesetzestext vorhandene Formulierung „insoweit“ auf den Umfang der Strafbefreiung insgesamt beziehe27. Hätte der Gesetzgeber eine Strafbefreiung auch schon für nur teilweise richtige Selbstanzeigen gewollt, so das Gericht, dann hätte er das Gesetz anders formuliert. Damit tritt das Gericht der bisherigen Rechtsprechung und der überwiegenden Auffassung in der Literatur entgegen, dass sich das Wort „insoweit“ auf den Umfang der gemachten Angaben beziehe28. Für die bislang absolut herrschende Wortlautauslegung sprechen gute Gründe. „Insoweit“ steht in Relation zum Objekt des Hauptsatzes, den Fällen des § 370 AO. Diese Abgrenzung zu anderen Strafnormen ist erforderlich, da durch die in § 371 AO beschriebene Tathandlung oftmals auch andere Tatbestände außerhalb des Steuerstrafrechts mitverwirklicht werden29. Lange Zeit vor der bis zum 20.5.2010 geltenden Rechtsprechung hatte der Bundesgerichtshof schon einmal, noch zur alten Regelung des § 410 AO, das Wort „insoweit“ auf den Umfang der Strafbefreiung bezogen30. Die nachfolgende Rechtsprechung hatte sich hiervon u.a. mit dem Hinweis auf die eindeutige Formulierung des Gesetzestextes des dann neuen § 371 AO distanziert31. Selbst wenn sich die Rechtmäßigkeit einer Teilselbstanzeige nicht wie bisher in der Literatur und Rechtsprechung vertreten aus dem Wort „insoweit“ ableiten ließe, würde sie nicht ihre Berechtigung verlieren. Die Annahme des Senats, dass eine Teilselbstanzeige ausgeschlossen sei, ist in der Sache nicht haltbar. Primärer Zweck der Selbstanzeige ist nicht die Belohnung für eine bessere Einsicht und eigene Aufklärung des Steuersünders, sondern der Anreiz zur Aufdeckung bislang unbekannter Steuerquellen32. Zudem will der Staat in den Besitz aller ihm geschuldeten Steuern kommen, damit er seine Aufgaben erfüllen kann33. Entsprechend liegt das geschützte Rechtsgut der Norm in dem Interesse der Allgemeinheit an einem rechtzeitigen und vollständigen Steueraufkommen. Zur Verwirklichung dieses Willens des Gesetzgebers und der Intention der Norm ist die Möglichkeit von Teilselbstanzeigen unabdingbar. Die Aufdeckung und Besteuerung jeder einzelnen Steuerquelle trägt zur Maximierung des Steueraufkommens und zur Erfüllung der durch die Norm intendierten Rechtsfolge bei. Insofern wendet sich der Senat mit seiner Annahme, Teilselbstanzeigen seien unrechtmäßig, gegen den ausdrücklichen

___________ 26 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 ff., Tz. 9. 27 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133 ff., Tz. 9. 28 Die Zulässigkeit einer Teilselbstanzeige wird durch den BGH v. 12.8.1987 – 3 StR 10/87, DStR 1987, 633; BGH v. 13.10.1998 – 5 StR 392/98, wistra 1999, 27, bestätigt; gleicher Ansicht sind Jäger in Klein, 10. Aufl., 2009, § 371 AO Rz. 20; Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 66.1. 29 Regelmäßig werden bei der Steuerhinterziehung, z.B. durch Einreichen falscher Belege, auch die Tatbestände der Urkundsdelikte, §§ 267 ff. StGB, verwirklicht. 30 BGH v. 11.11.1958 – 1 StR 370/58, BGHSt 12, 100 ff. 31 BGH v. 12.8.1987 – 3 StR 10/87, BGHSt 35, 36; BGH v. 13.10.1998 – 5 StR 392/98, wistra 1999, 27. 32 BGH v. 5.9.1974 – 4 StR 369/74, NJW 1974, 2293; BGH v. 4.7.1979 – 3 StR 130/79, BGHSt 29, 37 ff.; BGH v. 12.8.1987 – 3 StR 10/87, DStR 1987, 633; BGH v. 13.10.1998 – 5 StR 392/98, wistra 1999, 27. 33 BGH v. 4.7.1979 – 3 StR 130/79, BGHSt 29, 37 ff.

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Willen des Gesetzgebers und den primären Zweck der Regelung und überschreitet die Grenze einer zulässigen Auslegung. Wenn man dem kriminalpolitischen Zweck der Rückkehr zur Steuerehrlichkeit zukünftig mehr Bedeutung beimisst, ist dies kein Argument gegen die Rechtmäßigkeit einer Teilselbstanzeige. Warum sollte nicht auch eine Teilrückkehr zur Steuerehrlichkeit mit einer Teilstraflosigkeit honoriert werden? 2. Ausschluss der Selbstanzeige nach Erscheinen des Amtsträgers Die strafbefreiende Wirkung einer Selbstanzeige ist nach § 371 Abs. 2 Nr. 1a AO ausgeschlossen, wenn vor der Berichtigung, Ergänzung oder Nachholung ein Amtsträger der Finanzbehörde zur steuerlichen Prüfung oder zur Ermittlung einer Steuerstraftat oder einer Steuerordnungswidrigkeit erschienen ist. Für die Bestimmung des sachlichen Umfangs der Ausschlusswirkung gilt in den Fällen der steuerlichen Prüfung nach allgemeiner Auffassung das formale Kriterium der Prüfungsanordnung34. Die Sperrwirkung erfasst die in der Prüfungsanordnung genannten Personen, Steuerarten und Veranlagungszeiträume. In den Fällen der steuerstrafrechtlichen Ermittlung fehlt es an einem formalen Kriterium, sodass sich die Reichweite nach dem Ermittlungswillen des erschienenen Amtsträgers bestimmt35. Der Ausschlussgrund erstreckt sich aber auch auf solche Sachverhalte, die mit dem bisherigen Ermittlungsgegenstand in engem sachlichen Zusammenhang stehen36. In seinem Beschluss bestätigt der Bundesgerichtshof das Kriterium des sachlichen Zusammenhangs, ohne die Gelegenheit zu einer bislang ausstehenden inhaltlichen Konkretisierung zu nutzen37. Die Ausführung, dass eine Sperrwirkung zu bejahen sei, wenn die Sachverhalte einen so engen sachlichen Zusammenhang zu dem Verfahrensgegenstand aufweisen, dass bei üblichem Gang des Ermittlungsverfahrens eine Einbeziehung in die Überprüfung zu erwarten ist, trägt nicht zu einer hinreichenden Bestimmung des Begriffs des sachlichen Zusammenhangs und einer für den Hinterziehungstäter verlässlichen Konkretisierung bei38. Nach Abgabe einer Selbstanzeige im Rahmen eines laufenden Strafverfahrens ist der Nachweis, dass der Sachverhalt nicht entdeckt worden wäre, für den Steuerpflichtigen nur schwer zu erbringen. Die Unbestimmtheit der sachlichen Reichweite des Ausschlussgrundes birgt für den Täter der Steuerhinterziehung somit auch zukünftig die Gefahr, sich durch die Selbstanzeige einer strafrechtlichen Sanktion auszuliefern.

___________ 34 BGH v. 15.1.1988 – 3 StR 465/87, wistra 1988, 151 f.; zuletzt BGH v. 16.6.2005 – 5 StR 118/05, wistra 2005, 381 ff.; Jäger in Klein, 10. Aufl. 2009, § 371 AO Rz. 42. 35 BGH v. 5.4.2000 – 5 StR 226/99, wistra 2000, 219 ff.; Jäger in Klein, 10. Aufl. 2009, § 371 AO Rz. 42. 36 BGH v. 5.4.2000 – 5 StR 226/99, wistra 2000, 227 ff.; Jäger in Klein, 10. Aufl. 2009, § 371 AO Rz. 42. In dem Beschluss des BGH v. 5.4.2000 hat dieser zwar das Kriterium des sachlichen Zusammenhangs für Ermittlungen der Steuerfahndung genannt. Eine inhaltliche Bestimmung des Kriteriums durch höchstrichterliche Rechtsprechung ist bislang jedoch nicht erfolgt. 37 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133. 38 Unter Bezugnahme auf die Ausführungen von Jäger zum Beschluss des BGH v. 5.4.2000 – 5 StR 226/09, wistra 2000, 227 ff.

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Da der Bundesgerichtshof das Kriterium des sachlichen Zusammenhangs in seinen bisherigen Entscheidungen und so auch in dem aktuellen Beschluss immer nur im Zusammenhang mit steuerstrafrechtlichen Ermittlungen zur Bestimmung der sachlichen Reichweite des Sperrgrundes herangezogen hat, gilt für die Fälle der steuerlichen Prüfung nach wie vor ausschließlich das formale Kriterium der Prüfungsanordnung. Der Bundesgerichtshof weist in seinem Beschluss zudem ausdrücklich darauf hin, dass nach seiner Ansicht der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Nr. 1a AO nicht durch eine gestufte Selbstanzeige umgangen werden könne39. Die Erklärung dürfe nicht nur die Ankündigung einer Selbstanzeige sein, sondern müsse alle für die Besteuerung erheblichen Tatsachen enthalten. Dabei verkennt der Senat jedoch nicht die tatsächlichen Umstände in der Praxis, dass die Gefahr der Entdeckung oder die psychische Drucksituation der Mandanten die zügige Nacherklärung erfordern. Da in dieser Lage vielfach keine Zeit für eine umfassende Aufarbeitung der Besteuerungsgrundlagen vorhanden ist, erklärt der Senat auch eine vorläufige Berichtigung auf der Basis einer Schätzung für ausreichend und bestätigt somit die Wirksamkeit einer „Selbstanzeige in Stufen“40. 3. Ausschluss der Selbstanzeige durch Tatentdeckung Der Bundesgerichtshof nimmt die Gelegenheit wahr, auch zu dem Ausschlussgrund der Tatentdeckung gemäß § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO Stellung zu nehmen. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Tat entdeckt, wenn sich der Tatverdacht insoweit konkretisiert hat, dass bei vorläufiger Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit eines verurteilenden Erkenntnisses gegeben ist41. Die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeitsprognose versucht der 1. Senat in Abgrenzung zum Anfangsverdacht und zum hinreichenden Tatverdacht näher zu konkretisieren. Den bisherigen Standpunkt, dass bei Kenntnis von nur groben Anhaltspunkten die Tat noch nicht entdeckt sei, gibt das Gericht nicht auf42. Mit seiner Feststellung, dass die Wahrscheinlichkeitsprognose auf einer noch schmalen Tatsachenbasis erfolgen müsse und daher nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden dürften, nähert der Senat den Begriff dem des Anfangsverdachts an. Eine Tat sei nicht erst mit ausermitteltem Sachverhalt – Kenntnis über Täter oder Besteuerungsgrundlagen – entdeckt, sondern es genügten konkrete Anhaltspunkte43. Weder im Wege der Abgrenzung noch mit der der positiven Formulierung, dass in der Regel eine Tatentdeckung anzunehmen sei, wenn unter Berücksichtigung der zur Steuerquelle oder zum Auffinden der Steuerquelle bekannten weiteren Umstände nach allgemeiner

___________ 39 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133. 40 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133. 41 BGH v. 27.4.1988 – 3 StR 55/88, wistra 1988, 308 f.; BGH v. 5.4.2000 – 5 StR 226/09, wistra 2000, 227 ff.; Jäger in Klein, 10. Aufl. 2009, § 371 AO Rz. 60. 42 Teile der Literatur setzen die v. BGH vertretene Auffassung zur Wahrscheinlichkeitsprognose mit dem strafprozessualen Begriff des hinreichenden Tatverdachts gleich, so Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 Rz. 204 (Sept. 2001); Rüping in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 371 AO Rz. 183 (Nov. 2000). 43 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133.

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kriminalistischer Erfahrung eine Steuerstraftat naheliegt, gelingt es dem Gericht, die Konturen der Wahrscheinlichkeitsprognose zu schärfen44. Die Frage der Qualifizierung der Wahrscheinlichkeit dürfte in den aktuellen Fällen, der Nacherklärung von Auslandskonten, praktisch nicht maßgeblich sein. Die Tatsache der bloßen Existenz eines ausländischen Bankkontos begründet nicht die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung. Bei der Vielzahl völlig legaler Konten deutscher Staatsangehöriger in der Schweiz, Österreich und Liechtenstein kann nicht per se angenommen werden, dass diese dem deutschen Fiskus unbekannt sind. In allen Bereichen des Steuerrechts besteht die Möglichkeit, die Besteuerungsgrundlagen nicht richtig oder unvollständig zu deklarieren und Steuern zu verkürzen. Das alleinige Wissen, dass ein Lebenssachverhalt Verkürzungspotenzial bietet, ist zu wage und bietet keinen Rückschluss für eine gewisse Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung wegen Steuerhinterziehung. Aktuelles Problem ist in diesem Zusammenhang zudem die Herkunft der Daten, aus denen sich die Existenz bisher nicht deklarierter Konten ergibt. Die Frage der Verwertbarkeit von gestohlenen Daten, die durch den deutschen Fiskus angekauft wurden, steht noch in diesem Jahr zur Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht aus45. 4. Verhaltensüberlegungen nach dem Beschluss Die jahrzehntelang eindeutigen Konturen der Selbstanzeige sind verwischt, was zu einer Unsicherheit in der Beratungspraxis führt. Angesichts der latenten Gefahr der Abgabe einer unwirksamen Selbstanzeige und der Selbstbezichtigung einer Straftat ist eine seriöse Selbstanzeigeberatung zurzeit nur schwer möglich. Die praktische Relevanz der Entscheidung zeigt sich insbesondere angesichts der Vielzahl der aktuellen Auslandsanlegerverfahren mit Selbstanzeigebezug. Nachdem der Fiskus im Januar dieses Jahres unberechtigt erlangte Bankdaten angekauft hat, ist die Zahl der Selbstanzeigen sprunghaft gestiegen. Die Aufarbeitung dieser Flut ist seitens der Justiz noch lange nicht abgeschlossen. Vor dem Hintergrund der geänderten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt sich insbesondere das Problem, wie diese offenen Verfahren zu behandeln sind. Auf die Selbstanzeigen, bei denen die Berichtigungserklärung bis zum 27.5.201046 abgegeben worden ist, findet die bisherige Auslegung und Rechtsausübungspraxis nach bislang umstrittener Ansicht aus Gründen des Vertrauensschutzes Anwendung. Grundsätzlich stellt eine Rechtsprechungs-

___________ 44 BGH v. 20.5.2010 – 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133. 45 Unter dem Aktenzeichen 2 BvR 2101/09 liegt eine Verfassungsbeschwerde gegen zwei Urteile des Landgerichts Bochum v. 22.4.2008 – 2 Qs 10/08 und v. 7.8.2009 – 2 Qs 2/09 vor. Das Landgericht hatte die Verwertbarkeit der gestohlenen Steuerdaten angenommen, dabei jedoch die Frage der Strafbarkeit des Datenkaufs bewusst offen gelassen. 46 Die Veröffentlichung des Beschlusses v. 20.5.2010 erfolgte durch die Pressemitteilung des BGH, datierend auf den 28.5.2010.

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änderung zwar keine dem Rückwirkungsverbot unterliegende Gesetzesänderung dar und begründet keinen Vertrauensschutztatbestand; eine Ausnahme besteht jedoch bei Änderung einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, die ihrerseits dazu beigetragen hat, für die Blankettnorm der §§ 370 ff. AO den strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz zu erfüllen47. Bisher hatte der Bundesgerichtshof in allen Entscheidungen immer die Auffassung vertreten, dass auch eine Teilselbstanzeige zur Straffreiheit führe48. Diese ständige und in der Öffentlichkeit allgemein bekannte höchstrichterliche Rechtsprechung zur Teilselbstanzeige begründet einen Vertrauensschutztatbestand. Insbesondere, da sich der Täter einer Steuerhinterziehung freiwillig und im Vertrauen auf die zum Zeitpunkt der Abgabe der Berichtigungserklärung aktuelle Auslegung und Praxis des Schutzes des Nemo-Tenetur-Grundsatzes begibt, indem er sich selbst der Tat bezichtigt und dem Fiskus durch Offenlegung der Besteuerungsgrundlagen deren Aufklärung ermöglicht. Für die Inanspruchnahme des Vertrauensschutzes ist nicht auf den Zeitpunkt der Wirksamkeit einer Selbstanzeige mit der Zahlung der hinterzogenen Steuern abzustellen. Schon bei Abgabe der Berichtigungserklärung entscheidet sich der Täter für die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit, begibt sich im Vertrauen auf die bisherige Rechtsprechung seines Schutzes und nimmt die schützenswerte Position der Selbstanzeige in Anspruch. Der Bundesgerichtshof hat in dem aktuellen Beschluss nun jedoch angedeutet, von dieser Rechtsprechung in zukünftigen Entscheidungen abweichen zu wollen. Obwohl sich der Täter einer Steuerhinterziehung in Kenntnis der Rechtsprechungsänderung ab dem 27.5.2010 nicht mehr auf einen Vertrauensschutztatbestand berufen kann, erfordern das Gebot der Verhältnismäßigkeit sowie Vertrauensschutzaspekte, dass der Steuerbürger die Möglichkeit erhält, sich auf die geänderten Bedingungen einzustellen49. Daher sind Selbstanzeigen auch noch für eine gewisse Übergangszeit nach der bisherigen Rechtsprechung zu behandeln. Der kritische Wendepunkt, ab dem sich der Steuerbürger wohl nicht mehr auf seine Unkenntnis der Rechtsprechungsänderung wird berufen können, ist spätestens mit der einsetzenden Diskussion erreicht. Steuerberatende und Steuerpflichtige sollten zukünftige Selbstanzeigen an den durch den Bundesgerichtshof formulierten höheren Anforderungen an eine strafbefreiende Selbstanzeige ausrichten.

V. Zweiter Einschnitt: Jahressteuergesetz 2010 oder § 371 Sondergesetz Inspiriert durch die öffentliche Diskussion über die moralische Verwerflichkeit der Steuerhinterziehung anlässlich der Daten-CD-Ankäufe betreffend

___________ 47 BVerfG v. 14.1.1987 – 1 BvR 1052/79, BVerfGE 74, 129 (155 f.); BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (227 f.); Jarass in Jarass/Pieroth 10. Aufl. 2009, Art. 20 GGR Tz. 79. 48 BGH v. 13.10.1998 – 5 StR 392/98, wistra 1999, 28; Jäger in Klein, 10 Aufl. 2009, § 371 AO Rz. 20; Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 66.1. 49 In Fällen der Gesetzesänderung ist ein gewisser, zeitlich begrenzter Schutz anerkannt, vgl. Jarass in Jarass/Pieroth 10. Aufl. 2009, Art. 20 GGR Rz. 76, m.w.N.

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Auslandsanleger und hinsichtlich der Umsetzung unterstützt durch die in der Vorziffer beschriebene BGH-Rechtsprechung hat sich die Politik der Selbstanzeige angenommen. Mehrere aktuelle Gesetzgebungsvorhaben beschäftigen sich mit der Einschränkung bis hin zur von der SPD geforderten vollständigen Abschaffung der Selbstanzeige im Sinne von § 371 AO50. Mit größter Wahrscheinlichkeit – nach dem Kenntnisstand der Drucklegung – wird Nr. 49 der Empfehlungen des Ausschusses des Bundesrats zum Entwurf des Jahressteuergesetzes 2010 (strafbefreiende Selbstanzeige51) Regelungsinhalt durch das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz51a, voraussichtlich mit Gültigkeit per 1.4.2011 umgesetzt werden. Dort wird grundsätzlich von der Berechtigung und der Fortdauer der Selbstanzeigemöglichkeit ausgegangen. Die folgenden, einschneidenden gesetzlichen Einschränkungen sind geplant: Die Möglichkeit einer wirksamen Teilselbstanzeige soll gesetzlich ausgeschlossen werden, nachdem der Bundesgerichtshof ohnehin bereits deren Unwirksamkeit festgestellt hatte. Unklar ist sowohl nach der neuen BGHRechtsprechung als auch nach dem Gesetzgebungsentwurf, wie bei Änderungen von Steuervoranmeldungen vorgegangen werden soll. Bei Groß- und Konzernunternehmen ist es absolut üblich, dass beispielsweise Umsatzsteuervoranmeldungen entsprechend dem aktuellen Kenntnisstand der Steuerabteilung laufend und mehrfach geändert werden. Bislang galten die Änderungen jeweils steuerstrafrechtsdogmatisch als strafbefreiende Selbstanzeige im Sinne von § 371 AO. Wenn diese nun als „Teilselbstanzeigen“ nicht mehr zulässig sein sollten, ist die Frage, wie sie dennoch dogmatisch zu fassen sind. Hier bietet sich an, die neueren Erklärungen als Berichtigungen im Sinne von § 153 AO anzusehen, da der Erklärende im Zeitpunkt seiner Erklärung von der Vollständigkeit – jedenfalls momentan – ausgeht und somit vorsatzlos und ohne Fahrlässigkeit handelt. Da er allerdings aus der Erfahrung der vergangenen Monate und Jahre weiß, dass er sicher eine unzutreffende Erklärung abgeben wird, ist diese Konstruktion angreifbar. Für Unternehmen besonders wichtig ist die Änderung des § 371 Abs. 2 Nr. 1a AO – n.F. Demnach ist eine Selbstanzeige nicht erst ausgeschlossen, wenn ein Betriebsprüfer zur Prüfung „erscheint“. Vielmehr soll die Selbstanzeigemöglichkeit mit der Versendung der Prüfungsanordnung nicht mehr gegeben sein, was heftiger Kritik in der Literatur ausgesetzt ist52. Der Steuerpflichtige kann nie wissen, ob eine Prüfungsanordnung bereits erstellt und per Post auf den Weg gebracht wurde. Es ist deshalb denkbar, dass eine Selbstanzeige während der Postlaufzeit eingereicht wird, die dann unwirksam wäre. Die Wirksamkeit einer Selbstanzeige wäre nie wirklich vorhersehbar, was das Institut letztlich deutlich entwertet. Derzeit wird über eine vermittelnde Lösung nachgedacht,

___________ 50

Antrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP, BT-Drucks. 17/1755; Gesetzentwurf der Fraktion SPD, BT-Drucks. 17/1411; Antrag der Fraktion Die Linke, BT-Drucks. 17/1149; Antrag der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen, BT-Drucks. 17/1765. 51 Empfehlungen 318/1/10, S. 79 ff. 51a Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung, Entwurf der Bundesregierung v. 8.12.2010, www.bundesfinanzministerium.de. 52 S. www.bundestag.de/presse/hib/2010_07/2010_241/01.html.

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bei der die Selbstanzeige nur ausgeschlossen sein soll, wenn die Prüfungsanordnung auf besondere Weise, z.B. per Einschreiben, Postzustellungsurkunde etc. dem Betroffenen bekannt gegeben wird. So hätten es die Prüfungsfinanzämter in der Hand, bei Steuerpflichtigen, die regelmäßig kurz vor Beginn der Betriebsprüfung größere Beträge nacherklären, ein Zeichen zu setzen. Von den Ländern und der Finanzverwaltung bewusst eingefügt wurde der Sperrgrund des „abgeschlossenen“ Prüfungszeitraums, § 371 Abs. 2 Nr. 1b AO n.F. Demnach ist eine Selbstanzeige nicht mehr möglich, wenn eine Betriebsprüfung den betreffenden Veranlagungszeitraum abschließend bearbeitet hat. Im Großunternehmen scheidet damit faktisch die Möglichkeit der Abgabe einer Selbstanzeige aus, da immer entweder eine Betriebsprüfung bereits beendet ist oder eine neue Betriebsprüfung für die Folgezeiträume aktuell läuft. In der Vergangenheit war es schwierig genug, ein Zeitfenster zu finden, in dem gerade keine Betriebsprüfung stattfindet. Wenn jetzt noch zusätzlich abgeschlossene Betriebsprüfungen zum Ausschluss der Selbstanzeigemöglichkeit führen sollen, dürfte § 371 AO für größere Unternehmen im Ergebnis nicht mehr zur Diskussion stehen. Schließlich wird der Sperrgrund der Verfahrenseinleitung und Tatentdeckung, § 371 Abs. 2 Nr. 1c und d AO – n.F., dahin gehend ausgedehnt, dass das subjektive Element des Wissens um die Einleitung des Verfahrens bzw. die Tatentdeckung wegfallen soll. Demnach wird die Einreichung einer Selbstanzeige für die Betroffenen zum „Glücksspiel“. In der Argumentation als „Bearbeitungszuschlag“ bezeichnet, tatsächlich aber mit Strafcharakter versehen, soll im Selbstanzeigefall ein 5%-Zuschlag auf die entfallenden Steuern und Zinsen bezahlt werden, § 371 Abs. 3 AO – n.F. Ein reiner Bearbeitungszuschlag wäre allein nach dem Aufwand zu bemessen, der unabhängig von der Höhe der nachzuentrichtenden Steuer zu bemessen wäre. Für die Praxis dürfte aus Sicht der Betroffenen dieser „5%-Mehraufwand“ noch das geringste Problem der Gesetzesänderung darstellen. Hingegen wird es für die Finanzverwaltung praktisch ein Problem darstellen, die Bemessungsgrundlage der 5%-Regelung im Einzelfall für den kompletten, steuerlich noch nicht verjährten Zehn-Jahres-Zeitraum genau festzulegen. Die Praxisprobleme sowie die Erforderlichkeit klarstellender Rechtsprechung sind greifbar.

VI. Der Jubilar und die Selbstanzeige – heute Wenn man die Entwicklung der Selbstanzeige und deren sukzessive Einschränkung von einer umfassenden Berichtigungsmöglichkeit bis zur nur noch in seltenen Fällen anwendbaren Strafbefreiungsvorschrift nach dem Jahressteuergesetz 2010 sieht, könnte man vermuten, der Jubilar habe „die Lust verloren“. Weit gefehlt! Während jüngere Kollegen vor dem Hintergrund der BGH-Rechtsprechung und der aus heutiger Sicht drohenden Gesetzgebungsverschärfung die Selbstanzeige schon der Vergangenheit zuordnen, zeigt sich der Jubilar erfindungsreich und kampfeslustig. Die dadurch zum Ausdruck kommende Eigenschaft, sich schnell in neue Situationen ein- und zu595

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rechtzufinden, ermöglicht erst einen langjährigen Umgang mit dem Steuerrecht und hat das berufliche Leben des Jubilars geprägt. Die revolutionären Änderungen auf dem Gebiet der Selbstanzeige hat er jedenfalls als Ansporn verstanden, in dem enger gewordenen Raster die dann optimale Lösung zu finden. Solange der Gesetzgeber § 371 AO nicht völlig abschafft, wird von ihm immer ein sinnvoller Lösungsweg gefunden werden.

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Prozessprinzipien im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Unmittelbarkeit 1. Unmittelbar ist nicht besser 2. Zeugen vom Hörensagen 3. Urkundenbeweis 4. Die Verbindung zum materiellen Recht

IV. Legalitätsprinzip V. Nemo tenetur VI. In dubio pro reo VII. Freie Beweiswürdigung VIII. Amtsaufklärung IX. Steuerstrafsachen

III. Mündlichkeit und Öffentlichkeit

I. Einleitung „Die Gesellschaft, die Justiz“, so hat Michael Streck geschrieben1, „kommen ohne Rituale und Posen nicht aus“. Zu den gesellschaftlichen Ritualen, jedenfalls in der „community“, gehört es, vom verehrten Jubilar zu sprechen. Ich scheue mich, das zu tun, weil es etwas geriatrisches an sich hat, und das passt so gar nicht zu ihm. „Verehrt“ hat er ohne Frage verdient. Zu den justiziellen Posen gehören die Prozessprinzipien. Das allerdings ist nicht allgemeine Ansicht, sondern die These dieses Beitrags. Ich beginne wie Michael Streck in Frankreich, der in jenem Beitrag den Prozess gegen Jeanne d’Arc tiefgreifend und ergreifend geschildert und kommentiert hat. Etwa 350 Jahre später hat die Französische Revolution den Prozessprinzipien der Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit eine Bresche geschlagen in die Mauern der geheimen Inquisition. Sie hat die Türen der Gerichtssäle aufgebrochen, dem schriftlichen und geheimen Verfahren ein Ende gemacht, den Leuten aus dem Volke Zutritt verschafft und sie als Laien mit auf die Richterbank gesetzt. Bis dahin hatte ein Richter den Sachverhalt hinter verschlossenen Türen festgestellt, seine Akten an ein ebenfalls im Geheimen tagendes Spruchkollegium versandt und sich dort das Urteil eingeholt. Dieses Kollegium bekam den Angeklagten nie zu Gesicht. Das Verfahren war schriftlich, und Beweise gab es nur mittelbar (quod non est in actis non est in mundo). Mit der Öffentlichkeit war die Mündlichkeit erzwungen und damit prinzipiell auch die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Nicht mehr haltbar war auch das System der gesetzlichen Beweisregeln, denn von Laien kann man nicht verlangen, dass sie es beherrschen. Die innere Überzeugung (intime conviction), geschöpft aus dem Inbegriff der miterlebten Verhandlung, wurde zum Kriterium der Wahrheit. Das Inquisitionsverfahren hatte sein Ende, weil der Richter nicht länger zugleich

___________ 1 Streck in FS Volk, 2009, S. 789 (800).

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Ankläger war. Aber inquisitorisch ist es bis heute geblieben. Das Gericht hat die Wahrheit von Amts wegen zu erforschen. Und schriftlich und geheim ist noch immer das Ermittlungsverfahren. Daraus entsteht, wie zu belegen sein wird, ein „Weiterfresserschaden“ (zivilrechtlich assoziiert) in der Hauptverhandlung. Wie viel von der „Trikolore“ der Unmittelbarkeit, Mündlichkeit und Öffentlichkeit in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen übrig bleibt, hängt von den Verfahrensbeteiligten ab. Diese Prinzipien sind disponibel geworden.

II. Unmittelbarkeit 1. Unmittelbar ist nicht besser Das Gericht hat die alleinige Kompetenz zur Feststellung der Wahrheit. Es soll sich so nah wie möglich an das vergangene Geschehen, die „Wirklichkeit“, heranarbeiten und deshalb „unmittelbare“ Beweise führen. Die StPO legt aber bekanntlich nirgends fest, dass das sachnächste Beweismittel benutzt werden muss. Mittelbare Indizien können verlässlicher sein als unmittelbare Zeugen. Der Personalbeweis hat zwar Vorrang vor dem Sachbeweis. Das jedoch hat nichts mit der Qualität der Beweismittel zu tun, zumal das deutsche Recht auch Zeugen vom Hörensagen zulässt. 2. Zeugen vom Hörensagen Auch solche Zeugen würden ja unmittelbar über das berichten, was ihnen vermittelt wurde2. Das Gericht könne sich selbst dann mit einem Zeugen vom Hörensagen begnügen, wenn es möglich wäre, seinen Gewährsmann selbst zu hören3. Das richte sich allein nach der Aufklärungspflicht des Gerichts. Der dogmatische Trick, mit dem der Sinn des Unmittelbarkeitsgrundsatzes4 ausmanövriert wird, macht Unbehagen. Die Rechtsprechung beruhigt ihr schlechtes Gewissen damit, dass sie „äußerste Vorsicht bei der Beweiswürdigung“ und insbesondere verlangt, dass die Aussage durch andere wichtige Indizien bestätigt werde5. Das Problem hat bekanntlich auch eine europäische Dimension. Mit dem Konfrontationsrecht aus Art. 6 Abs. 2 d EMRK geht die deutsche Rechtsprechung ähnlich gewunden um. Immerhin akzeptiert sie, dass ein Mitbeschuldigter „Zeuge“ im Sinne der Konvention ist. Dann fragt sie, ob die unterbliebene konfrontative Vernehmung der Justiz zuzurechnen sei6. Dass dieser

___________ 2 Ständige Rechtsprechung, vgl. BGH v. 1.8.1962 – 3 StR 28/62, BGHSt 17, 382; damit ist die „formelle“ Unmittelbarkeit gewahrt. Das Problem sind vor allem die Aussagen von V-Leuten. Es stellt sich in Wirtschaftsstrafsachen selten und wird daher hier nur gestreift. 3 Vgl. für alle Meyer-Goßner, 53. Aufl. 2010, § 250 StPO Rz. 4. 4 In seinem materiellen Sinne. 5 BVerfG v. 19.7.1955 – 2 BvR 1142/93, NStZ 1995, 600; BGH seit Urteil v. 1.8.1962 – 3 StR 28/62, BGHSt 17, 382. 6 Wenn ja, müsse es wieder eine Bestätigung durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage geben; BGH v. 29.11.2006 – 1 StR 493/06, BGHSt 51, 150.

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Prozessprinzipien im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht

Gedanke im System der EMRK Sinn macht, darf man bezweifeln. Im Verfahrensrecht kommt es, wenn man die ihm eigene Formalisierung ernst nimmt, nur auf „Fehler“ an, nicht aber darauf, wer sie verschuldet hat. Zweifelhaft ist auch die Kernthese des BGH, das Konfrontationsrecht sei keine selbständige Garantie, sondern nur ein Teilaspekt des übergeordneten Prinzips der Verfahrensfairness. Das macht es ihm möglich, einen Konventionsverstoß trotz unterlassener Konfrontation zu verneinen, wenn nur das Verfahren insgesamt fair gewesen sei und die Verteidigungsrechte des Angeklagten insgesamt angemessen gewahrt wurden7. Das nicht gewährte Konfrontationsrecht führt nicht zu einem Verwertungsverbot, sondern soll in der Beweiswürdigung kompensiert werden8. Auch in Großverfahren kann es zu der Konstellation kommen, dass ein Angeklagter eine Verständigung anstrebt, deshalb ein Geständnis ablegt, darin den Mitangeklagten belastet, im Übrigen aber schweigt und sich vom Verteidiger des anderen nicht befragen lässt. Kommen wir zurück zu dem bereits angesprochenen, aber noch nicht näher ausgeführten Vorrang des Personalbeweises vor dem Sachbeweis. 3. Urkundenbeweis Dieser Vorrang steht praktisch nur auf dem Papier. Das Gesetz sagt zwar, dass der Personalbeweis, wenn er geführt werden kann, nicht durch einen Urkundenbeweis ersetzt werden darf (§ 250 StPO). Bei dieser Direktive haben jedoch, wie so oft, die zahlreichen Ausnahmen größere Bedeutung als die Regel selbst9. Die Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten darf nämlich durch die Verlesung eines Vernehmungsprotokolls oder von schriftlichen Erklärungen der Genannten ersetzt werden, wenn der Staatsanwalt, der Angeklagte und sein Verteidiger einverstanden sind (§ 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO)10. Das erfasst natürlich auch polizeiliche oder staatsanwaltliche Vernehmungsprotokolle aus dem Ermittlungsverfahren. Diese Vorschrift dokumentiert den Trend, der seit Langem zu beobachten ist: In der Hauptverhandlung werden die Beweise nicht produziert, sondern nur noch reproduziert. Die Würfel fallen im Ermittlungsverfahren. Das aber ist, wie bereits erwähnt, im Grundsatz schriftlich und geheim. Genauer gesagt: Die Möglichkeiten der Teilhabe und Einwirkung sind für die Verteidigung in diesem Verfahrensabschnitt gering und schwach ausgeprägt.

___________ 7 Gebilligt durch BVerfG v. 5.7.2006 – 2 BvR 1317/05, BVerfG NJW 2007, 204; v. 8.10.2009 – 2 BvR 547/08, NJW 2010, 925. 8 Eingehend Dehne-Niemann, HRRS 2010, 189, abzurufen über www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/10-04. 9 Wie immer bei Prinzipien, vgl. Volk in FS Schüler-Springorum, 1993, S. 505 (507 ff.). 10 Zu dem schwer verständlichen Unterschied zwischen Verfahren mit und ohne Verteidiger vgl. Frister in FS Fezer, 2008, S. 211 ff. Er wird hier aufgegriffen – in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen gibt es (fast) keine Hauptverhandlung ohne Verteidiger.

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Kommen wir zurück zu jener konsensualen Verlesung, die eine Vernehmung ersetzt. Der Urkundenbeweis wird im gesetzlichen Normalfall so geführt, dass das Schriftstück ganz verlesen wird. In Wirtschaftsstrafsachen ist das mittlerweile die Ausnahme. Die Rechtsprechung hat im Wege richterlicher Rechtsschöpfung den Bericht des Vorsitzenden erfunden. Die Verlesung darf, wenn alle einverstanden sind, wiederum ersetzt werden dadurch, dass der Vorsitzende über den Inhalt der Urkunde berichtet. Von weit größerer Bedeutung ist das Selbstleseverfahren11. Es macht natürlich Sinn, wenn zum Beispiel Bankbelege, Steuerbescheide etc. nicht langwierig und langweilig Buchstabe für Buchstabe und Zahl für Zahl verlesen werden. Aber von diesem Selbstleseverfahren wird unterdessen exzessiv Gebrauch gemacht. Da kommt man als Verteidiger in den Gerichtssaal, findet an seinem Platz fünf dicke Leitzordner mit Schriftstücken vor und erfährt vom Vorsitzenden, dass er insofern das Selbstleseverfahren angeordnet habe. Das ist übrigens auch in dem oben erwähnten Fall zulässig, dass man sich anstelle einer neuerlichen Vernehmung auf eine Verlesung verständigt hat. Die Konsequenzen für die Öffentlichkeit sind allen klar. Presse und Zuhörer werden nie erfahren, was der im Ermittlungsverfahren vernommene Zeuge oder Mitbeschuldigte gesagt hat. Das Selbstleseverfahren schließt die Öffentlichkeit aus. Und es derogiert den Grundsatz der Mündlichkeit. Hieß es früher, was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt, heißt es heute, was in den Akten ist, muss nicht das Licht der Welt erblicken. Es bleibt in den Köpfen derer, die es gelesen haben, wird aber dennoch zur Urteilsgrundlage. 4. Die Verbindung zum materiellen Recht Beweise, so sagt das hier erörterte Prinzip, sind „unmittelbar“ zu erheben. Beweise aber wofür? Das gibt das materielle Recht vor. Die Querverbindungen zwischen dem materiellen Recht und dem Prozessrecht sind lange geleugnet oder übersehen worden, vor allem weil sich die klassische kontinental-europäische Dogmatik den Blick selbst verstellt hat. Man hat das materielle Recht und das Prozessrecht als streng getrennte Blöcke behandelt und noch dazu behauptet, dass das Prozessrecht wie eine Magd dem materiellen Recht zu dienen habe. Typisch für dieses strenge Trennungsdenken ist der Satz: „Die Rücksicht auf Beweissituationen ist dem materiellen Recht grundsätzlich fremd und muss ihm fremd sein“12. Das hat sich gründlich geändert. Es ist insbesondere die Entwicklung im Bereich des modernen Wirtschaftsstrafrechts gewesen, die in letzter Zeit zu der Einsicht geführt hat, dass pro-

___________ 11 Das vor allem entwickelt wurde zu Zeiten, als es Mode war, die Sitte zu wahren und Bücher als pornographisch zu inkriminieren. Gegen den Einwand, man dürfe diesen und jenen Satz nicht aus dem (insgesamt künstlerischen) Zusammenhang reißen, half nur die komplette Verlesung. Das war für die Verteidigung günstig. Wenn sich mehrere Vertreter(innen) der Staatsanwaltschaft damit abmühen, einen Tag lang ein Buch herunter zu rattern, das im Verdacht der Pornographie steht, verflüchtigt sich dieser Verdacht von alleine. Ob nun, nach der Einführung des Selbstleseverfahrens, die Richter bei der Lektüre rote Köpfe bekommen, weiß man nicht. 12 Dreher, MDR 1970, 370.

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zessuale Sachgesetzlichkeiten, wie eben z.B. die „Beweisbarkeit“ eines Verhaltens, das materielle Recht verändern. Hier geht es um die noch wenig erörterte umgekehrte Perspektive: Was lässt das materielle Wirtschafts- und Steuerstrafrecht von den Prozessprinzipien übrig? Nicht viel, um es vorab zu sagen. Das Verfahrensrecht ist parzelliert, parallel zum materiellen Recht. Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren, in denen es um Kapital geht, laufen nicht nur anders ab als Prozesse um „Kapitaldelikte“. Sie folgen auch anderen Regeln. Das erste Beispiel ist der Grundsatz der Unmittelbarkeit. Er gilt nur noch dort, wo man die (wie ich es nenne) Schwurgerichtsdogmatik anwendet. Damit ist die Dogmatik gemeint, die man für jene „Kapitaldelikte“ braucht, also Mord, Totschlag, Körperverletzung, etc. Es ist kein Zufall, dass die meisten Lehrbuch-Beispiele aus diesem Bereich genommen werden. Zu dieser Schwurgerichtsdogmatik gehört auch die Vorstellung, dass immer ein Individuum im Zentrum des Geschehens steht. An Organisationen, Hierarchien etc. hat man dabei ursprünglich nicht gedacht. Unterscheidungen wie die zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit, Täterschaft und Teilnahme, Tun und Unterlassen, etc. sind nicht für Sachverhalte des Wirtschaftsstrafrechts entwickelt worden und nicht ohne Weiteres auf sie übertragbar. Der Transfer zwingt zu Modifikationen. Viele Organisationsstrukturen des Wirtschaftslebens, wie etwa Zuständigkeit, Delegation oder Kollegialentscheidung müssen erst in die strafrechtlichen Kategorien übersetzt werden. Das Gleiche gilt für Handlungsmuster. So ist zum Beispiel eine Entscheidung unter Risiko natürlich nicht per se eine bedingt vorsätzliche Entscheidung. Es kommt hinzu, dass der Schutz von Funktionen und Institutionen als Rechtsgüter viele feinsinnige dogmatische Unterscheidungen des Allgemeinen Teils nivelliert – der Angriff auf die Funktion liegt im „dysfunktionalen“ Verhalten. Das alles kann hier nur angedeutet werden13. Die prozessuale Konsequenz ist, dass sich mit dem materiell-rechtlich „Relevanten“ natürlich das Beweisthema verändert. Auch die gewohnte Denkweise, die äußere von der inneren Tatseite zu trennen und dementsprechend objektiven und subjektiven Tatbestand zu trennen, funktioniert in vielen Fällen nicht mehr ohne Weiteres. Ein Beispiel: die Business-Judgement-Rule des Aktienrechts. Sie verknüpft in einer Weise objektive und subjektive Elemente, die zu den strafrechtlichen Kategorien quer steht. Danach handelt objektiv nicht pflichtwidrig, wer subjektiv angenommen hat, im Interesse des Unternehmens zu entscheiden und dazu objektiv guten Grund hatte. Das gibt demjenigen, der die richtige Zuordnung in der Dogmatik des materiellen Rechts sucht, einige Rätsel auf14. Aus prozessualer Sicht sind sie leicht zu lösen. Der Beweis für die Annahme, im Interesse des Unternehmens zu handeln, kann nur durch objektive Gründe geliefert werden. Die Business-Judgement-Rule integriert also die Beweisbarkeit in den

___________ 13 Näher Volk in Handbuch der Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 2006, S. 35 ff. und Volk in FS Roxin, 2001, S. 563 (570 f.). 14 Zur Diskussion im Aktienrecht vgl. für alle Hüffer, 9. Aufl. 2010, § 93 AktG Rz. 3 a („Doppelfunktion“).

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Begriff. Gerade im Wirtschaftsstrafrecht wird, wie gesagt, die seit langer Zeit übertriebene Trennung von materiellem Recht und Prozessrecht zurückgenommen. In der „Parzelle“ des Wirtschaftsstrafrechts ist der objektive Tatbestand in der Regel durch Urkunden zu ermitteln. Die zahlreichen Pflichten zur Dokumentation der Abläufe, seien sie wirtschafts- und steuerrechtlich vorgegeben oder durch das Strafrecht implementiert (Untreue bei unternehmerischen, riskanten Entscheidungen), sorgen dafür, dass die Staatsanwaltschaft ein Tagebuch der Vorgänge erhält15. Diese Urkunden werden über die erwähnten Methoden eingeführt. Zeugen? Wenn es sein muss, aber es muss selten sein. Braucht man sie wenigstens für den Vorsatz, der in aller Regel die Grenze zwischen Strafbarkeit und Straflosigkeit markiert? Auch das meist nicht. Der bedingte Vorsatz, um den es häufig geht, kann als hoch normatives Merkmal leicht „zugeschrieben“ werden. Ein Zitat aus der fernen Welt der Schwurgerichtsdogmatik: „Insbesondere bei einer spontanen, unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Einzelhandlung kann aus dem Wissen von einem möglichen Erfolgseintritt nicht allein ohne Berücksichtigung der sich aus der Persönlichkeit des Täters und der Tat ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass auch das … voluntative Vorsatzelement gegeben ist“16. All das sind Fremdworte im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Hier verlangt der BGH eine „Gesamtwürdigung des Einzelfalls, bei der auch (!) die Motive und die Interessenlage des Täters ebenso zu berücksichtigen sind wie der konkrete Zuschnitt der zu beurteilenden Geschäfte“17. Das Beweisthema ist ein anderes und die zu beweisende Faktenbasis schmaler, die Fakten sind objektiver und normativ flexibler zu deuten. Der Vorsatz wird entweder aus Indizien erschlossen, die sich ebenfalls in den Unterlagen (Schriftverkehr, E-Mails) befinden oder zugestanden, vielleicht wahrheitsgemäß, vielleicht auch nicht (Absprache). Fazit: Der Unmittelbarkeitsgrundsatz ist disponibel und hat in Wirtschaftsund Steuerstrafsachen nur marginale Bedeutung. Es ist vielmehr so, dass dem Gericht „der Prozessstoff durch ein anderes Verfahrensorgan (Ermittlungsorgan) oder aber … in der Form der Aufzeichnung (Protokoll, Bericht, Brief) vermittelt wird“. So lautet die klassische Umschreibung des Gegensatzes, nämlich der „Mittelbarkeit“18. Das ist der Normalfall. Die Beweise werden in der Hauptverhandlung nicht produziert, sondern reproduziert.

III. Mündlichkeit und Öffentlichkeit Es braucht nicht näher ausgeführt zu werden – ohne Differenzierungen im Detail herauszuarbeiten –, dass damit auch diese beiden Grundsätze „verlie-

___________ 15 Manchmal wird es auch nachträglich erstellt, z.B. durch ein Team externer Anwälte, das vom Unternehmen im Anschluss an den ersten Zugriff der Staatsanwaltschaft damit beauftragt wird, das Geschehen lückenlos aufzuklären. 16 BGH v. 23.4.2003 – 2 StR 52/03, NStZ 2003, 603. 17 BGH v. 6.4.2000 – 1 StR 280/99, BGHSt 46, 30 (zur Kreditvergabe). 18 Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Aufl. 1968, S. 328.

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ren“ und zur Disposition stehen. Dass sie im Falle einer Verständigung praktisch derogiert sind, ist klar. Quantitativ gesehen, sind sie durch die häufigen Erledigungsformen der Einstellung gemäß § 153a StPO oder des Strafbefehlsverfahrens ohnehin marginalisiert.

IV. Legalitätsprinzip Es ist sattsam bekannt, wie die „Opportunität“ regiert – nach Maßstäben, die von der Legislative nicht überprüft werden, geschweige denn von ihr gesetzt worden sind. Abgeurteilt wird nicht selten nur die Spitze des Eisbergs und große Massen Verdachtsmaterial bleiben abgetaucht und unsichtbar (§ 154 StPO). In Wirtschafts- und Steuerstrafsachen wird spürbar, dass mit dem Legalitätsprinzip auch „moralische“ Ansprüche verknüpft sind. Wenn die Staatsanwaltschaft zum Beispiel ein Pharma-Unternehmen durchleuchtet, weil der Verdacht besteht, dass ein Medikament mit korruptiven Mitteln im Markt etabliert wurde, sagen die Betroffenen „das machen doch alle so, aber nur wir werden verfolgt“. Damit dürften sie recht haben. Davon abgesehen, dass es Gleichheit im Unrecht nicht gibt – allein die Tatsache, dass auf Märkten mit Verdrängungswettbewerb die Vermutung gleichförmigen Verhaltens eine gewisse Berechtigung hat, ist eben noch keine „Tatsache“, die einen Anfangsverdacht begründet. So immunisiert sich das Legalitätsprinzip selbst, bleibt im Rahmen der Legalität intakt und wehrt „moralische“ Ansprüche ab.

V. Nemo tenetur Über den Nutzen des Schweigens mag es unterschiedliche Ansichten geben, variierend auch nach der konkreten Prozesslage und den Temperamenten des Beschuldigten und seiner Verteidigung. Die wird dem Mandanten vor allem erklären müssen, ob und wie sinnvoll das Schweigen angesichts der Fülle schriftlicher Beweise sein kann. Für den gesamten Bereich der Unterlassung gilt nemo tenetur nicht19. Den Vorwurf, etwas nicht getan zu haben, kann man nur bekämpfen, indem man nachweist, aktiv geworden zu sein. Das muss man natürlich nicht. Aber dann beweist sich der Vorwurf in der Regel von selbst. Das gilt insbesondere im Bereich der Compliance. Die Ermittlungen gegen die Geschäftsleitung zielen häufig auf Beihilfe zu den aus dem Unternehmen begangenen Taten. Das ist jedenfalls am Ende eine Vorsatzfrage. Aber, so denkt die Strafverfolgung, wenn schon nicht Komplize, dann eben Compliance. Und die fahrlässige Aufsichtspflichtverletzung (§ 130 OWiG) ist schnell bewiesen. Risikoerhöhung genügt, und irgendetwas kann man immer besser machen. Gegen diesen Vorwurf anzuschweigen, verbessert die Lage nicht. In der Theorie gibt es natürlich keine Beweisführungslast für den Beschuldigten. Aber das Gericht verletzt seine Aufklärungspflicht nur, wenn es nahe liegenden, greifbaren Anhaltspunkten (für einen anderen Geschehensverlauf) nicht nachgeht. Die zum Greifen nahe zu bringen, ist in aller Regel nur dem Beschuldigten möglich. Schweigt er, bleibt es bei dem, was das Ge-

___________ 19 Näher Volk in Strafverteidigung im Rechtsstaat, 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins, 2009, S. 885 ff.

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richt als den Regelfall ansieht. Der erste Anschein einer fahrlässigen Unterlassung gehöriger Aufsicht verdichtet sich zur richterlichen Überzeugung.

VI. In dubio pro reo Dem Ermittlungs- und dem Zwischenverfahren sind Zweifel inhärent. In der Hauptverhandlung ist der Anwendungsbereich der Regel eng, weil sie nicht sagt, wann ein Richter zu zweifeln hat. Das ist ihre erste große Schwäche. Die zweite liegt in ihrer Abhängigkeit vom materiellen Recht. Was dort nicht vorkommt, kann nicht Gegenstand eines Zweifels werden. Wenn man, um nur zwei evidente Beispiele in Erinnerung zu rufen, den deliktischen Erfolg von Verletzung zu Gefährdung umdefiniert oder den Erfolg durch eine „Eignung“ des Verhaltens ersetzt, läuft die Regel leer. Sie steht zur Disposition des Gesetzgebers. Klare kriminalpolitische Maximen, die ihm Grenzen setzen könnten, gibt es nicht. Roxin hält es für „illegitim …, wenn die Vorverlagerung der Strafbarkeit und die Ersetzung klar umrissener Rechtsgüter zur Bewältigung prozessualer Beweisschwierigkeiten missbraucht wird“20. Dem kann man nur zustimmen. Das Problem ist nur, wo der legitime Gebrauch endet und der illegitime Missbrauch beginnt. Die Strategie, Beweisprobleme gar nicht erst aufkommen zu lassen, indem man das materielle Recht dezimiert, hat spätestens seit 1976 Konjunktur. Ein markantes Beispiel ist der Subventionsbetrug (§ 264 StGB), der von den Tatbestandsmerkmalen des klassischen Betrugs nur noch die Täuschungshandlung übrig gelassen hat. Überdies hat der Gesetzgeber in einer Panikattacke – der Vorsatz des Schadens (auf den es ja gar nicht mehr ankommt) sei so schwer zu beweisen – auch noch die Leichtfertigkeit unter Strafe gestellt, bei der der Beweis subjektiver Befindlichkeiten durch eine normative Ableitung aus dem objektiven Geschehen ersetzt wird („hätte sich aufdrängen müssen“). Und nun? Ist das einer jener illegitimen Missbrauchsfälle? Weiter hätte man die Strafbarkeit nicht mehr vorverlagern können; dahinter beginnt das Nichts. Wissenschaft und Praxis haben sich beeilt, ein funktionalistisches Rechtsgut von postmoderner Künstlichkeit nachzuschieben, die Institution der Subvention in ihrer Funktion als Instrument der Wirtschaftslenkung21. Aus dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes, dazu ausersehen, dem Gesetzgeber ein Limit zu setzen, ist eine Lizenz zur Erfindung von Verbotsmaterie geworden22.

VII. Freie Beweiswürdigung Eingeführt, um den Richter aus den Fesseln gesetzlicher Beweisregeln zu befreien und dem Beschuldigten das Vertrauen zu geben, auch angesichts drückender Beweise nicht chancenlos zu sein, hat man dieses Prinzip inzwischen zur Waffe gemacht, die sich gegen Rechtspositionen und Interessen des

___________ 20 Roxin, AT I § 3 Rz. 69. 21 Vgl. Lencker/Perron in Schönke/Schröder, 27. Aufl. 2006, § 264 StGB Rz. 4. 22 Bei dieser provokanten These, die der Debatte um den Rechtsgüterschutz nicht gerecht wird, muss ich es hier belassen.

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Prozessprinzipien im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht

Beschuldigten richten lässt. Der BGH reagiert auf Fehler und Verstöße, die „eigentlich“ zu einem Verwertungsverbot führen sollten, mit einer Ausweichbewegung und verschiebt das Problem in die Beweiswürdigung. Die Beweiswürdigungslösung (ein Beispiel oben I.2) verschafft dem Gericht Freiheiten im Umgang mit Rechtspositionen. So war das mit der freien Beweiswürdigung nicht gemeint.

VIII. Amtsaufklärung Die Frage dieses Beitrags ist, was aus den klassischen Prozessprinzipien in Wirtschaftsstrafsachen wird und was von ihnen übrig bleibt. Bei den bislang abgehandelten Grundsätzen war die Antwort, dass sie wegen der Struktur des materiellen (Wirtschafts-)Strafrechts wertlos oder disponibel sind. Das kann man von der ehernen Regel, dass das Gericht verpflichtet ist, von Amts wegen die Wahrheit zu erforschen (§ 244 Abs. 2 StPO) so nicht sagen. Das Folgende ist also nur ein „Abgrenzungsposten“ und bleibt notgedrungen skizzenhaft sowie skeptisch und ironisch (wobei Letzteres nicht mit begrenztem Raum, sondern mit mir zu tun hat). Von Ritualen und Posen hat der verehrte Michael Streck gesprochen. Dazu gehört, in vorderster Linie, die Beschwörung der materiellen Wahrheit (sollte ein weltweiser Druckfehlerteufel aus Pose „Posse“ machen, würde ich so tun, als hätte ich es nicht bemerkt). „Der Strafprozess kann … nur durch das Verfahrensziel der materiellen Wahrheitsfindung legitimiert werden, weil ihm dies vom materiellen Recht, zu dessen Durchsetzung er dient, vorgeschrieben wird“23. Dann wäre also das anglo-amerikanische Strafverfahrensrecht, das den Beteiligten Dispositionsbefugnis einräumt, illegitim24. Das materielle Recht präjudiziert nicht, wie es im Verfahren angewandt25 werden will oder soll. Ich möchte auch nicht erneut ausführen, dass der schroffe Gegensatz materielle – formelle Wahrheit nicht existiert und dass es selbstverständlich „diverse Wahrheiten“ gibt26. Man sollte aus dem ideellen Wert der materiellen Wahrheit keine Ideologie machen. In den meisten Fällen werden Verfahren so erledigt, dass von materieller Wahrheit keine Rede sein kann. Niemand wird behaupten, dass ein Strafbefehl, der dem rechtskräftigen Urteil gleichgestellt ist, die materielle Wahrheit feststellt. Es handelt sich um eine „Unterwerfung unter die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens“27. Und eine Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen (§ 153a StPO) ist von der materiellen Wahrheit noch weiter entfernt. In beiden Fällen kann der Beschuldigte dar-

___________ 23 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 15 Rz. 6. 24 Und nicht nur das: aus erkenntnistheoretischen Gründen sei die Inquisitionsmaxime unverzichtbar; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 15 Rz. 6. Auch die dort (§ 69) unterbreiteten Vorschläge zur Reform des Verfahrens wären mit diesen Prämissen nicht in Einklang zu bringen. 25 „Durchgesetzt“ verstößt nach meinem Geschmack stilistisch gegen die Unschuldsvermutung. 26 So der Titel meines Beitrags in FS Salger, 1995. 27 Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 17 Rz. 27 als Kritik an den Absprachen (mit der berechtigten Forderung, das Ermittlungsverfahren zu reformieren).

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über disponieren, ob ein Gericht die Wahrheit von Amts wegen feststellt oder nicht. Es stand ihm auch schon immer frei, ein Geständnis abzulegen und die Beweisaufnahme auf diese Weise abzukürzen28. In solchen Fällen29 beunruhigt die Öffentlichkeit die Frage nicht, ob denn da die Wahrheit ans Licht gekommen sei, sondern allenfalls der Zweifel, ob die Erledigung denn „gerecht“ sei. Wenn man schon davon spricht, dass der Prozess das materielle Recht zur Geltung bringen müsse, dann muss man dessen „Strafzweck“ zum Maßstab nehmen, also die Stärkung des Vertrauens der Normadressaten in die Geltung des Rechts und seine Unverbrüchlichkeit (oder wie immer man die positive Generalprävention umschreibt). Dazu kommt es auf Gerechtigkeit an, und die Wahrheit ist ein nicht notwendiges Zwischenziel auf dem Weg dahin. Zur Gerechtigkeit gehört vor allem auch Fairness, und hier liegt das Hauptproblem nicht nur der Absprachen, sondern unserer gesamten Verfahrensstruktur. Es ist ja dabei geblieben, dass, wie von der StPO vorgesehen, die Entscheidungsgrundlagen von Amts wegen festgestellt werden. Das aber geschieht, wie erwähnt, in aller Regel bereits im Ermittlungsverfahren. Ob es die „Wahrheit“ dokumentiert, ist eine andere Frage. In der Hauptverhandlung wird am Ende mehr oder weniger „nach Aktenlage“ entschieden30. „Die Aufgabe des Vorsitzenden besteht darin, den Inbegriff der Hauptverhandlung in Übereinstimmung mit den Akten zu bringen“31. Wenn der Verteidiger des Beschuldigten auf diese Aktenlage Einfluss nehmen könnte, würden sich viele Bedenken gegen die Absprachen erledigen. Wir brauchen also, wie man seit Langem weiß, eine Reform des Ermittlungsverfahrens. Hätten wir sie, käme die Inquisitionsmaxime erst recht unter Druck. Ein Richter, der den Pakt der Absprache mit geschlossen hat, soll weiterhin die Wahrheit von Amts wegen erforschen und über seine eigene Beteiligung richten? Das ist der Rückfall in den alten Inquisitionsprozess, dessen Hauptmakel darin bestand, dass der Richter (damals zugleich als Ankläger) seine eigenen Vorurteile in das Urteil transportierte oder jedenfalls immer verdächtig war, das zu tun. Es wird also nicht die Inquisitionsmaxime sein, die Pflicht zur Wahrheitserforschung von Amts wegen, die Absprachen diskreditiert, sondern es werden die Absprachen diese Maxime zu Fall bringen. Darüber muss man nicht traurig sein, wenn nur die Verfahrensstruktur so umgestaltet wird, dass die Ergebnisse eines fairen Verfahrens als gerecht erscheinen.

___________ 28 Der Einwand gegen die Absprachen, dass „der für den Geständigen offerierte Strafrabatt … alsbald zur Normalstrafe“ mutiert, „was die nicht legitimierbare Strafverschärfung für denjenigen, der unter Wahrnehmung seiner prozessualen Recht um seine Unschuld kämpft“ (Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 69 Rz. 1) beschreibt nur, was schon immer gilt. Der Hinweis, dass es bei Geständnis eine Strafmilderung geben könne, ist stets eine leise Drohung gewesen. 29 Zumindest bei den zuerst genannten, Strafbefehl und Einstellung. 30 Und so wird nach der neuen Rechtslage zu den Absprachen auch die Glaubhaftigkeit des Geständnisses überprüft werden – nach Aktenlage. 31 Wer der weise Richter war, der mir das vor vielen Jahren gesagt hat, möchte ich nicht offenbaren. Es ist auch nicht nötig, weil es cum grano salis ohnehin verbreitete Praxis ist.

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IX. Steuerstrafsachen Am Anfang des Beitrags war von Wirtschafts- und Steuerstrafsachen die Rede und dann, ohne es offen zu sagen, nur noch von Wirtschaftsstrafsachen. Lässt sich nun, am Ende, der Bogen wieder schlagen? Michael Streck hat so gefragt: „Sind Steuerstrafverteidiger Strafverteidiger“32? Ganz gewiss, was die hier behandelten Themen betrifft. „Steuerstrafverteidigung ist ganz überwiegend konsensuale Bewältigung des Steuerstrafdelikts“33. Und die Parallelen zwischen einer tatsächlichen Verständigung im Steuerstreit und der Absprache in Strafverfahren liegen offen zutage (ohne dass, um es am Rande zu sagen, im Steuerrecht große Klage darüber geführt würde, dass der Amtsermittlungsgrundsatz unter die Räder gekommen sei). Michael Streck hat allerdings auch konstatiert, bezogen auf Steuerstrafsachen: „Der Merkantilismus ist überall bestimmend“34. Auch in Wirtschaftsstrafsachen? Die Antwort möchte ich den Lesern und ihren persönlichen Erfahrungen überlassen.

___________ 32 Streck in Strafverteidigung im Rechtsstaat, 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins, 2009, S. 863 ff. 33 Streck in Strafverteidigung im Rechtsstaat, 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins, 2009, S. 863. 34 Streck in Strafverteidigung im Rechtsstaat, 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins, 2009, S. 867.

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Überlegungen zum Steuer(straf)recht Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Steuerstrafrecht im aktuellen Umfeld 1. Ausgangslage – 99% Steuerhinterzieher a) Kurzer Blick in die Medien und neueren Untersuchungen zur Schattenwirtschaft b) Eigene Erfahrungen 2. Briefwechsel – oder: Widersprüche und Chaos im Steuerrecht

a) Die Änderungsflut b) (Steuer-)Privilegien für Abgeordnete c) Nichtanwendungserlasse d) Datenklau e) Steuerhinterziehung und OECDVorgaben 3. Bestrafung von Steuerstraftätern III. Schlussbetrachtung

I. Einleitung Michael Streck ist mir im Laufe des Berufslebens immer wieder über den Weg gelaufen, häufig wohl, ohne dass er es überhaupt bemerkt hat. Seine „Betriebsanleitung“ zur Führung von Steuerstrafverfahren durch Steuerstrafverteidiger1 hat meine Arbeitsweise in der Handhabung von Steuerstrafrechtsfällen nachhaltig geprägt. Daneben sind es vor allem drei Äußerungen bzw. Beiträge, die zum Nachlesen bzw. -denken anregen und anregen sollten – und dies gilt nicht nur für die Vertretung und Verteidigung in Steuer(straf)sachen, sondern auch für die in „amtlicher“ Funktion mit diesen Fällen befassten Personen, also Steuer(fahndungs)beamte, Richter und Staatsanwälte. Zwei Aussagen können nachgelesen werden, eine dritte ist nur vom Hören-Sagen überliefert: – In seinem Beitrag „Steuer- und strafrechtliche Verteidigung wider die Steuerstrafverfolgung“2 stellt Streck Überlegungen zum aktuellen Zweck der Steuerstrafverfolgung an. Er führt aus: „Vielleicht sollten wir einmal über den Sinn der Bestrafung von Steuerhinterziehung nachdenken. Warum stecken wir Leistungsträger dieser Gesellschaft in ein Gefängnis, wo sie nur Kosten verursachen, warum sagen wir nicht, sie könnten das Gefängnis dadurch vermeiden, dass sie den dreifachen Betrag der hinterzogenen Steuern zahlen. Wäre dies nicht eher im Sinn des § 370 AO, der das Steueraufkommen sichern soll?“ Diese Frage

___________ 1 Heute in 4. Aufl. gemeinsam mit Spatscheck, Streck/Spatscheck, Die Steuerfahndung, 2006. 2 Streck in Harzburger Protokolle 1999, S. 83 ff.

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hat aktuell nichts – aber auch gar nichts – an Brisanz verloren. Sie kann gar nicht oft genug wiederholt werden. – Im Mai 1990 hat Streck3 einen „Briefwechsel zur Abschaffung der mit Steuerreformgesetz 1990 eingeführten Kapitalertragsteuer“4 geführt. In dem Briefwechsel mit dem seinerzeitigen Bundesfinanzminister Waigel bzw. dessen parlamentarischen Staatssekretär, Friedrich Voss, ging es um Fragen zur Abschaffung der gerade ein Jahr zuvor eingeführten 10%-igen Quellensteuer auf Kapitalerträge. Warum wird die seinerzeit gerade eingeführte Quellensteuer wieder abgeschafft, bemühen sich Gesetzgeber und Finanzverwaltung um die Sicherung des Steueraufkommens – sinnvoll und zu erwarten wäre dann doch eher eine Erhöhung des Quellensteuersatzes auf 25% –, wollen Gesetzgeber und Finanzverwaltung das Geld vom Steuerpflichtigen überhaupt? Was hat es mit dem Bankgeheimnis auf sich und kann man (wenn ja, warum) für die Nichtdeklaration von Zinserträgen strafrechtlich überhaupt noch belangt werden? Die Antwort schwankt zwischen Formalismus und – dies in erster Linie und vor allem – einer erschreckenden Hilflosigkeit. Das in der „zweiten Runde“ des Schriftwechsels eingefügte Zitat von Sendler, des damaligen Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, saß: „Denken Sie an die Quellensteuer, die jetzt wieder entfallen soll. DAS ist eine gesetzgeberische Bestätigung der Steuerhinterziehung als wohl erworbenes Recht, als Anerkennung des offenbar von vielen beherrschten Grundsatzes: Die staatsgetreue Gesinnung darf ja nun wirklich nicht bis zum Exzess der Steuerehrlichkeit getrieben werden“5.

Sicher handelt es sich – wie Voss in der Antwort hervorhebt – um eine private Meinung von Sendler. Gerade eine solche private Äußerung eines Präsidenten eines obersten Bundesgerichts in der Öffentlichkeit zeigt aber, wie widersprüchlich das Verhalten der Politik war (und ist) und auf welches Unverständnis dies bei vielen schon damals gestoßen ist. – Nur vom Hören-Sagen überliefert ist eine Aussage von Streck auf einer Fachtagung Mitte der 90iger Jahre. Sie lautet (verkürzt): Steuerhinterziehung wird von 99% der Bevölkerung begangen, also auch praktisch von allen Anwesenden in „diesem“ Raum. Die Empörung vieler anwesender hoher Richter (und auch Finanzbeamter) soll groß gewesen sein, mussten sie sich doch auch persönlich angesprochen fühlen. Drei Aussagen – Thesen –, die ausdrücklich oder zwischen den Zeilen derselben Frage nachgehen: Wenn der weit überwiegende Teil der Bevölkerung Steuern hinterzieht, die Gesetzgebung in vielerlei Hinsicht widersprüchlich ist, kann – soll – Steuerhinterziehung dann überhaupt noch strafrechtlich sanktioniert werden. Hiermit setzen sich die nachfolgenden Überlegungen auseinander.

___________ 3 Mit seinem damaligen Partner Thomas Rainer. 4 Handelsblatt v. 11.5.1989, S. 3 und 26./27.5.1989, S. 7 sowie v. 5.6.1989, S. 4; StuW 3/1989, 280 ff. 5 Spiegel Nr. 20/1989, S. 85.

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II. Steuerstrafrecht im aktuellen Umfeld Das aktuelle Umfeld ist – wie immer – geprägt von einer langen und facettenreichen Vorgeschichte. Im Anhang des Buches von Streck/Spatscheck „Die Steuerfahndung“ findet sich wohl nicht umsonst die Geschichte von Heinrich von Kleist, der in einem Brief an seinen Bruder von der Diskrepanz der tatsächlichen Nutzung der von ihm gehaltenen Pferde und Fuhrwerke einerseits und der steuerlichen Deklaration dieser andererseits berichtet. „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“6. Die Ehebrecherin aus der biblischen Überlieferung hätte als Steuerhinterzieherin im christlichen (besser, wenn nicht bestenfalls muss man leider wohl sagen: christlich geprägten) Deutschland keine Überlebenschancen. Die Alten und Weisen, die den Platz zuerst verließen, sind nicht in Sicht. Umso sichtbarer ist gerade in den letzten Jahren die Gruppe derjenigen, vor allem „Spitzen“Politiker, Journalisten und – weniger sichtbar und durchaus differenzierter – mit der Verfolgung von Steuerstraftaten befassten Steuerfahnder, Staatsanwälte und Richter, die ein immer schärferes Vorgehen gegen Steuerhinterzieher fordern. Der Tenor ist mehr oder weniger unisono gleichlautend: Steuerhinterziehung muss bekämpft, ihre Begehung bestraft werden. Die Rechtsprechung wird – jedenfalls die des Bundesgerichtshofs – zunehmend rigider. Ab einer Hinterziehung von einer Millionen Euro soll eine Freiheitsstrafe regelmäßig nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden können; so fordert es jedenfalls der für das Steuerstrafrecht neuerdings zuständige 1. Strafsenat des BGH7. Dass die Instanzgerichte dieser rigiden Linie keinesfalls regelmäßig folgen, ist bekannt und zeigt sich im Einzelfall immer wieder. Kritische Stimmen sind praktisch nicht vernehmbar. Dies gilt jedenfalls in der öffentlichen Meinungsäußerung, hinter vorgehaltener Hand sieht es (selbstverständlich) anders aus. Hat die Masse recht? Sie hat es nicht und sollte ihre Positionen überdenken. 1. Ausgangslage – 99% Steuerhinterzieher 99% aller Deutschen hinterziehen Steuern. Diese Aussage lässt aufhorchen, sie soll daher zuerst beleuchtet werden. Um es vorwegzunehmen: Beweisen lässt sich die Aussage – natürlich – nicht. Es kann lediglich um die Frage gehen, ob die Aussage plausibel ist. Hierfür kann neben eigenen Erfahrungen zunächst zurückgegriffen werden auf allgemein zugängliche Quellen.

___________ 6 Johannes-Evangelium 8.7. 7 Urteil des BGH v. 2.12.2008 – 1 StR 416/08, NJW 2009, 528 = AO-StB 2009, 63; selbstverständlich ist die Entscheidung weit differenzierter, als dies die im Text vorgenommene Darstellung nahelegt. Die Urteilsgründe zielen auf eine einheitlichere Anwendung des Steuerstrafrechts, vor allem hinsichtlich der verhängten Sanktionen in den unterschiedlichen Regionen, ab. Gleichwohl bleibt es bei dem Eindruck, dass die Sanktionen nach Ansicht des 1. Strafsenats eher schärfer werden sollen.

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a) Kurzer Blick in die Medien und neueren Untersuchungen zur Schattenwirtschaft „Wer Abgaben an den Staat vermeidet, gehört einer Volksbewegung an. 60% der Bundesbürger halten es laut Umfragen für ein Kavaliersdelikt, bei der Steuererklärung ein wenig zu schummeln, wenn es nicht um Millionen Euro geht, sondern um ein paar Hundert8.“ Ähnliche Aussagen finden sich in der Tagespresse und in einschlägigen Journalen immer wieder und – aber dies mag nur meine persönliche Wahrnehmung sein – in jüngerer Vergangenheit vermehrt. Die dann gestellten Beispiele für die Steuerhinterziehung im Kleinen wiederholen sich ebenso regelmäßig: Dass Reinigungskräfte keine Lohnsteuer bezahlen und ihre Arbeitgeber keine Sozialabgaben abführen, die Putzfrauen ihren Lohn im Regelfall in bar fordern oder im anderen Fall schlicht und ergreifend die Arbeit erst gar nicht antreten, ist fast schon ein Standardfall. Auch in anderen Bereichen der Wirtschaft hat die Schwarzarbeit – gerade in der Wirtschaftskrise – deutlich zugenommen. Der Linzer Volkswirtschaftler, Friedrich Schneider, hat jüngst eine Berechnung vorgelegt, die dies belegt9. Auch das Institut der Wirtschaft sieht 2009 einen Trend zu mehr Schwarzarbeit10. Fasst man die beiden ausführlichen Studien in wenigen Worten zusammen, so lässt sich feststellen: Jeder fünfte Deutsche arbeitet selbst schwarz, meist nebenbei. Fast jeder Dritte fragt Schwarzarbeit nach; die Ausgaben dafür belaufen sich auf etwa 1.000 Euro jährlich. Vier Millionen Haushalte beschäftigen eine Aushilfe, in etwa 95% aller Fälle ist diese nicht angemeldet. Schneider schätzt das Gesamtvolumen der Schattenwirtschaft in Deutschland im Jahr 2009 auf bis zu 365 Milliarden Euro. Dabei berücksichtigt er nicht nur die Schwarzarbeit, deren Volumen er mit etwa der Hälfte dieses Betrages ansetzt, sondern auch das Beschaffen von Material ohne Rechnung und die sog. Untergrundwirtschaft mit etwa einem Viertel des Gesamtbetrags. Plastisch ist das „Phänomen Wolfsburg“: Als Volkswagen in seinem niedersächsischen Werk in den 90iger Jahren die Vier-Tage-Woche einführte, zogen die Umsätze der Baumärkte in der Umgebung an – und zwar deutlich. Handwerk und Baugewerbe klagten: Der Auftragsschwund war massiv. „Freitag ab eins macht jeder seins.“ Nach diesem alten Spruch aus dem deutschen Baugewerbe lief es offensichtlich auch hier. Interessant ist, dass Schneider sich durch solche Zahlen nicht irritieren lässt. Er gewinnt der Schwarzarbeit sogar positive Aspekte ab. Zwar gingen Staatsund Sozialkassen erhebliche Beträge verloren, der größte Batzen des unversteuerten erwirtschafteten Geldes fließe aber wieder in den Konsum und dämpfe so den Abschwung.

___________ 8 www.sueddeutsche.de v. 18.2.2008, „Die kleinen Steuersünder“. 9 www.schwarzarbeitsberater.de/forschung.htm; F. Schneider in Schneider: Arbeiten im Schatten. 10 www.iwkoeln.de v. 15.10.2009 „Schwarzarbeit summiert sich auf rund sieben Prozent des BIP“.

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Diese These lässt Erinnerungen an meine Studienzeit wach werden: Der renommierte Münchner Steuerrechtslehrer Klaus Vogel hielt in der zweiten Hälfte der 70iger und Anfang der 80iger Jahre regelmäßig sog. offene Seminare ab, zu denen er Praktiker aus Rechtsprechung, der Finanzverwaltung und der Wirtschaft einlud. Um 1980 war ein Referent der Leiter der Steuerabteilung eines großen deutschen Unternehmens. Dieser beschäftigte sich mit volkswirtschaftlichen Fragen im Zusammenhang mit Schwarzarbeit. Die These lautete seinerzeit ebenfalls: „Was soll’s!“ Solange das Geld im Wirtschaftskreislauf verbleibt, ist diese letztlich überhaupt nicht schädlich. Die seinerzeitige Empörung unter den zahlreich anwesenden Richtern des Bundesfinanzhofs, des Finanzgerichts in München und aus der Finanzverwaltung war kaum noch zu überbieten. Die Diskussion war kurz und frostig, der anschließende obligatorische Biergartenbesuch bot dann die Möglichkeit, seiner Empörung freien Lauf zu lassen. Bedarf es weiterer Beispiele? Dieter Ondracek, Chef der Deutschen Steuergewerkschaft, schätzt das jährliche Hinterziehungsvolumen auf mehr als 30 Milliarden Euro11. Er glaubt, diesem Problem durch mehr Beamte und schärferen Kontrollen Herr werden zu können. Hiergegen sprechen indes Untersuchungen des amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträgers Gary Becker12. Dieser hat sich in seinen Untersuchungen mit zahlreichen praktischen Verhaltensweisen beschäftigt, auch mit Gesetzesverstößen. Er argumentiert, es gäbe ein striktes Kosten-Nutzenverhältnis. In Anlehnung hieran haben der norwegische Ökonom Agnar Sandmo und sein britischer Kollege Michael Allingham eine Theorie der Steuerhinterziehung präsentiert13. Das paradoxe Ergebnis lautet, dass die Höhe der zu erwartenden Strafe ein Ansteigen des Hinterziehungsvolumens nach sich zieht. Begründet wird dies damit, dass eine potenzielle Strafe den hohen potenziellen Nutzen signalisiert. Der Gewinn wird also offensichtlich höher als das Risiko eingeschätzt. Oder um es anders auszudrücken: Das Preis-Leistungsverhältnis stimmt ganz offensichtlich und damit wird der Anreiz erhöht, Steuern nicht zu bezahlen. Bei aller Empörung über die Reichen, die durch Anlagen im Ausland Steuern verkürzt haben: „Normalbürger hinterziehen mehr Steuern als Reiche.“14 Der Linzer Wirtschaftsprofessor Schneider hat diese These auf der Basis der bereits vorstehend erwähnten gründlichen Recherchen schon vor Jahren aufgestellt. Kleinvieh macht eben auch Mist, in der Masse sogar viel. b) Eigene Erfahrungen Einen nicht unerheblichen Einfluss auf die eigene Meinungs- und letztlich Überzeugungsbildung haben persönliche Kontakte, sei es im beruflichen oder

___________ 11 www.tagesspiegel.de, Kleine Steuerflucht, v. 18.2.2008. 12 Becker, Crime and Punishment: An Economic Approach, Journal of Political Economy 76 (2), 1968, S. 169 (217). 13 Allingham/Sandmo: Income Tax Evasion: A theoretical Analysis, Journal of Public Economics, Vol. 1, 1972, S. 323 (338). 14 F. Schneider in spiegel.online v. 20.2.2008.

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persönlichen Umfeld, und daraus gewonnene Eindrücke und Erfahrungen. Um es vorwegzunehmen: Diese bestätigen das vorstehend beschriebene Bild. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Zum Zeitpunkt, als diese Zeilen verfasst wurden (Ende 2009), war aus der Tagespresse bekannt, dass sich im Verhältnis insbesondere zu Liechtenstein und zur Schweiz voraussichtlich die Rechtslage ab 2010 ändern würde. Konkret mussten Steuerpflichtige mit Schwarzkonten in diesen Ländern damit rechnen, dass im Zusammenhang mit Amtshilfeersuchen spätestens ab 2011 für das Jahr 2010 bisher dort geführte, dem deutschen Fiskus nicht bekannte schwarze Konten bekannt werden. Die Einzelheiten waren nicht absehbar, die Unsicherheit war groß. Diese Situation war Gegenstand vieler Gespräche. Die Ausgangslage war in sehr vielen Fällen ähnlich, wenn nicht gleich gelagert: Es gab langjährige, häufig von den Eltern übernommene Kontakte zu Banken in den genannten Ländern. Bei den Banken waren nicht nur Mittel angelegt, die in Deutschland bekannt waren. Die allermeisten der Betroffenen berichteten freimütig davon, dass das Thema im Freundes- und Bekanntenkreis eine große Rolle spiele. Nahezu jeder sei betroffen. Unrechtsbewusstsein war teilweise vorhanden, jedoch keineswegs durchgängig. Viele Betroffene berichteten von eigenen familiären Erfahrungen, wonach sich „diskrete“ Anlagen in der Schweiz für die Familie in der Vergangenheit als teilweise überlebensnotwendig erwiesen hatten. Andere wollten die Mittel vor Ehepartnern, Kindern oder sonstigen Verwandten verbergen, nicht in erster Linie vor dem Fiskus. Gerade der Umstand, dass die steuerstrafrechtlich beratende Tätigkeit zwangsläufig auch von Fall zu Fall nach außen bekannt wird, führt dazu, dass auch Personen, die nicht wegen großen Einkommens oder Vermögens unter dem Generalverdacht der Steuerhinterziehung stehen15, sich (mit vorsichtigem Blick nach links und rechts, ob niemand mithört) fragend an mich wenden: Sagen Sie mal, Sie betreiben doch Steuerstrafrecht, ich habe da mal eine Frage, die mich persönlich betrifft. Nur ein konkretes Beispiel: Ein Beamter einer JVA, in der ich auf einen Mandanten wartete, wandte sich hilfesuchend mit folgendem Problem an mich: Er habe von seiner Tante ein schwarzes Konto in Österreich geerbt, er hoffe doch sehr, dass dies auch nach wie vor sicher sei und bat um entsprechende Bestätigung. Zur Erläuterung erklärte er, er sehe überhaupt nicht ein, dass er einmal versteuertes Geld (die Nachfrage ergab: Er wusste dies gar nicht) nochmals versteuern müsse. Zum „Trost“ gab er mir am Ende des kurzen Gesprächs mit, mein Mandant täte ihm und auch den meisten seiner Kollegen wirklich leid. Zu blöd, dass dieser sich wegen Steuerhinterziehung habe erwischen lassen, ob er es denn nicht intelligenter habe anstellen können. Eigentlich mache dies doch ohnehin jeder. Der geschilderte Fall ist kein Einzelfall. Er ist auch nicht besonders drastisch. Steuerberater begeben sich bekanntlich in eine außerordentlich prekäre Situation, wenn sie Mandanten laufend steuerlich beraten, insbesondere Steuerer-

___________ 15 Diesen Generalverdacht gibt es leider, vgl. hierzu Weigell, Vom Misstrauen im Steuerrecht, in FS Klaus Volk 2009, S. 847 ff.

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klärungen für diese erstellen und wissen, dass diese Steuererklärungen – warum auch immer – unvollständig sind. Viele (die Guten: durchwegs) Berater wissen dies. Das Problem besteht nunmehr darin, dass sie einen Großteil ihrer Mandanten vor die Tür setzen müssten, wenn sie jedes Mal gleich das Mandat niederlegen würden, sobald sie etwas von nicht deklarierten Einkünften erfahren16. Die Schlussfolgerung aus der Summe der geführten Gespräche kann nur lauten: Die Quote der Problemfälle ist sehr hoch. Unterschiedlich ist das Bild (von vorstehend beschriebenem Einzelfall eines JVA-Beamten u.a. abgesehen) beim Gespräch mit Praktikern aus der Finanzverwaltung oder Richtern bzw. Staatsanwälten. Teilweise herrscht hier großer Pragmatismus. Dieser äußert sich in Aussagen wie: Wenn Ihr Mandant an seinem Geburtstag mit seiner Frau und seinen Kindern einmal schön essen geht, und setzt dies als Essen mit Geschäftsfreunden ab, so habe ich hierfür volles Verständnis. Häufig geht es weiter: Das interessiert mich nicht, ich selber würde es genauso machen. Es gibt allerdings auch Puristen: Jeder Kilometer zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, der zum Zweck der Erhöhung der Werbungskosten bewusst zu viel angegeben wird, führt zur Steuerhinterziehung. Dies muss unter allen Umständen bestraft werden. Die Begründungen hierfür sind – formal – korrekt. Ob sie der Lebenswirklichkeit gerecht werden, ist eine andere Sache. Ob die Vertreter der zuletzt genannten Gruppe immer (und zu allen Zeiten) so korrekt handeln (gehandelt haben), steht auf einem andern Blatt. Ich behaupte: Dies ist nicht der Fall – und für diese Behauptung erhalte ich immer wieder Bestätigungen, auch sehr überraschende. Die biblische Geschichte mit dem ersten Stein hat eben viele Facetten. 2. Briefwechsel – oder: Widersprüche und Chaos im Steuerrecht Der Briefwechsel beleuchtet anhand eines einzelnen, sehr griffigen Beispiels – der 1990 nach nur einem Jahr wegen massiver Kapitalabflüsse wieder abgeschaffenen 10%-igen Quellensteuer auf Kapitalerträge – ein generelles Problem: Die (Steuer-)Politik verirrt sich in unabgestimmten, unsystematischen Einzelregelungen und verliert dabei den Grundgedanken, ein einfaches, gerechtes und als gerecht empfundenes Steuerrecht zu schaffen, manchmal – vielleicht auch regelmäßig – aus dem Auge. Man mag die Erwähnung des Briefwechsels zur Abschaffung der Quellensteuer als schlechtes Beispiel ansehen: Dass die Steuergesetzgebung nicht versucht, dem Volkssport (ich will es einmal so bezeichnen) Steuerhinterziehung mit allen Mitteln einen Riegel vorzuschieben und dies durch die Politik gerade in den letzten Jahren auch verbal vehement vertreten wurde, ist nicht zu leugnen. An dem Grundübel ändert sich jedoch nichts. Die Steuerehrlichkeit steigt allein wegen größerer Kontrolldichte und eines verbesserten inter-

___________ 16 Zu Verteidigungsstrategien vgl. Streck/Spatscheck, Die Steuerfahndung, S. 108 ff., Rz. 70 ff.

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nationalen Auskunftsverkehrs nicht17. Man muss gar nicht an die Cayman Islands oder Mauritius denken: Die USA werden sich Delaware nicht nehmen lassen, der Nahe Osten lässt sich politisch nicht so leicht unter Druck setzen wie die Schweiz oder Liechtenstein. Aber völlig unabhängig hiervon stellt sich die Frage, wie man einem Steuerpflichtigen als Berater in einer laufenden steuerlichen Angelegenheit, bei einer Gestaltungsthematik, in einem Steuerstreitverfahren oder gar in einem Steuerstrafverfahren die Sinnhaftigkeit noch vermitteln und erklären soll. Denn man muss im Rahmen der Beratung vor allem auch Folgendes im Hinterkopf behalten: Schon 1987 (also kurz vor dem zitierten Schriftwechsel) äußerte Klaus Vogel sich in einem Vortrag zum Thema „Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht als Herausforderung an das Verfassungsrecht“18 mit deutlichen und überaus kritischen Worten über den Zustand des deutschen Steuerrechts und beklagte den „Verlust an demokratischer Legitimation und an Rechtlichkeit“. Schon damals konstatierte er einen Verfall der Steuerrechtskultur und verglich die immer neuen Steuergesetze mit „biblischen Heuschreckenschwärmen“. Vogel führte aus: „Steuern verleihen Macht, politische Macht, und Macht ist eine Droge. Die gefährlichste aller Drogen ist es, über das Geld anderer verfügen zu können19.“ Politische Akteure, so Vogel, missbrauchen diese Macht und flüchten in die Kompliziertheit, die die demokratische Verantwortlichkeit und Kontrolle verhindere. Er schloss mit den zuversichtlichen Sätzen: „Ich bleibe zuversichtlich, dass unser Staat auch in seinem Steuerrecht wieder ein Rechtsstaat, ein Staat des Rechts werden wird“. Wohlbemerkt: … werden wird, 1987! Vogels Schüler, Dieter Birk, hat diese Aussage zum Gegenstand eines Vortrages im Jahr 2009 gemacht20: „Dass unser Staat auch in seinem Steuerrecht wieder ein Rechtsstaat, ein Staat des Rechts werden wird“. Birk kommt zum Ergebnis: „Die Analyse Vogels hat nichts an Bedeutung eingebüßt. Seine am Ende des Vortrages geäußerte Hoffnung auf eine verbesserte und solidere Gesetzgebungspraxis hat sich nicht erfüllt. Der Gesetzgeber ist nach wie vor nicht in der Lage, für Rechtskontinuität zu sorgen und eine angemessene Planungssicherheit für Unternehmen und Steuerbürger herzustellen.“ In seinem Schlusssatz drückt auch Birk gleichwohl Zuversicht aus. Vogel und Birk sind – bei Weitem – nicht die einzigen Steuerrechtslehrer, die die Problematik aufgrund gründlicher Analyse aufgegriffen haben. Von einem kritischen „Beobachter“ des Steuerrechts in der täglichen Praxis kann die wissenschaftliche

___________ 17 Vgl. hierzu etwa Die Zeit Nr. 37 v. 3.9.2009, S. 22 „Vertreibung an den nächsten Strand – Finanzminister kämpfen zwar erbittert gegen Steueroasen – wenn eine Oase schließt, macht eine neue auf.“. 18 Vogel, Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht, in DStJG 12 (1989), S. 123 ff. 19 Vogel, a.a.O., DStJG 12 (1989), S. 123 (128). 20 Vortrag v. 2.4.2009 anlässlich einer Gedenkveranstaltung an Klaus Vogel, abgedruckt in Lehner, Reden zum Andenken an Klaus Vogel, Münchner Schriften zum Internationalen Steuerrecht 2010, 17 ff.

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Analyse leider nur bestätigt werden. Auf einige – nur symptomatisch beschreibende – Einzelfälle soll eingegangen werden: a) Die Änderungsflut Die Beck’schen Textausgaben „Aktuelle Steuergesetze 2009“ weisen in ihrer Übersicht 21 Gesetzgebungswerke aus, die allein in diesem Jahr das Steuerrecht erheblich verändert haben. Die Textausgabe 2010 kann immerhin Änderungen aufweisen – und dies, obwohl wegen der Wahlen für einige Zeit „Ruhe“ herrschte. In beiden Jahren wurden allein durch die jeweiligen Steuerjahresgesetze Hunderte von Vorschriften geändert. Festzustellen ist, dass die Änderungshäufigkeit wie auch deren Umfang in den letzten Jahren zunimmt. Teilweise wurden Änderungen bereits wieder außer Kraft gesetzt, bevor sie überhaupt in Kraft getreten bzw. anzuwenden waren21. Steuerpflichtige wie Berater können die Änderungen häufig ebenso wenig nachvollziehen wie die völlig überforderte Verwaltung. Die Zinsschranke (§ 4h EStG) ist dermaßen kompliziert ausgestaltet, dass trotz eines umfangreichen BMF-Schreibens22 und einer Flut von kritischen Veröffentlichungen eine steuerliche Planung faktisch unmöglich ist. Nawrath23 hat in einem Aufsatz freimütig bekannt, in einer globalisierten Wirtschaft könne das objektive Nettoprinzip der Zinsschranke nicht entgegengehalten werden. Nawrath ist bekanntlich Staatssekretär im BMF. Er verteidigt eine Regelung, die es Kaufleuten im wirtschaftlichen Interesse gebietet, aufgrund der Zinsschranke weltweit im Konzern vorausschauend, verlässlich und rechtzeitig die Eigenkapitalquote zu ermitteln, damit im Folgejahr (!) Bankzinsen steuerlich abzugsfähig sind24. Dies ist faktisch unmöglich, kein Konzern kann unter diesen Voraussetzungen noch verlässlich planen. Im gleichen Beitrag weist Nawrath am Ende auf einen Festvortrag von Bundespräsident Köhler bei der Verleihung des Max-Weber-Preises für Wirtschaftsethik am 27.5.2008 hin. Köhler hat gesagt: „Ein ehrbarer Kaufmann ist jemand, der davon lebt, dass es so etwas gibt wie Bürgersinn, soziale Norm, sittliches Empfinden, Maß“. Nawrath führt aus, dass diese Maßstäbe von manchen als altmodisch belächelt werden, sie seien auch nicht erkennbar einfach operabel. Das „Leben“ der von Nawrath angemahnten Grundsätze ist erstrebenswert. Indes ist anzumerken: Die Vorgaben des Steuergesetzgebers selbst lassen jegliches Maß vermissen. Die Begriffe „Bürgersinn, soziale Norm und sittliches

___________ 21 Durch das Gesetz zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts (UntStFG) v. 20.12.2001 (BGBl. I 2001, 3858) wurden diverse Änderungen, die im Rahmen des Gesetzes zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung (StSenkG) v. 23.10.2000 (BGBl. I 2000, 1433) eingeführt worden waren, wieder aufgehoben. So wurde beispielsweise die definitiv wirkende Steuer von 38 v.H. auf den Hinzurechnungsbetrag (§ 10 Abs. 2 AStG) zugunsten der Altregelung aufgehoben, bevor sie anzuwenden war. 22 BMF-Schreiben v. 4.7.2008, BStBl. I 2008, 718. 23 Nawrath, DStR 2009, 1 (2 und 3). 24 Die – lächerliche – Toleranzgrenze von 1% löst das Problem sicher nicht, auch nicht nach der Anhebung auf 2% ab 2010.

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Empfinden“ lassen sich auf die Steuergesetzgebung nur im übertragenen Sinn anwenden. Nawrath hebt zu Recht hervor, dass der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang nicht an Einzelinteressen gebunden, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Dies ist richtig, es werden jedoch die völlig falschen Konsequenzen gezogen. Ein völlig unsystematisches, in vielerlei Hinsicht ungerechtes, überkompliziertes und widersprüchliches Steuerrecht verleitet gerade zu dem Missbrauch, den Nawrath anprangert. Im Kleinen führt dies dazu, dass der Betriebsprüfer dem Unternehmer zugesteht, zum „Ausbügeln“ von Ungerechtigkeiten seine Ehefrau zum Geburtstag zum Essen einzuladen und dies als Geschäftsessen abzusetzen. Im Großen wird es (richtig) problematisch. b) (Steuer-)Privilegien für Abgeordnete Ein anderes Beispiel: Steuerprivilegien für die eine oder andere Berufsgruppe sind ein weit bekanntes und verbreitetes Ärgernis. Ein Blick in die lange Liste der §§ 3 ff. EStG fördert eine Menge solcher Privilegien zutage. Warum Nachtarbeit oder Schwerarbeit ganz oder teilweise steuerfrei sind, ist schon nicht recht nachvollziehbar; dem freiberuflich tätigen Rechtsanwalt kommt dieses Privileg genauso wenig zugute, wie dem Künstler oder Schriftsteller. Ein besonderes Ärgernis ist die Steuerfreiheit der Kostenpauschale der Abgeordneten (§ 3 Nr. 12 Satz 1 EStG). Dass diese Privilegierung verfassungswidrig ist, wurde ausführlich dargelegt und diskutiert25. Genau die Abgeordneten, die Steuergesetze durchwinken, mit denen neben materiellen auch hohe und höchste administrative Hürden an die Abzugsfähigkeit von Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten gestellt werden, wollen diese Regeln auf sich selbst nicht angewandt wissen. Der BFH hat die Privilegierung im Ergebnis gebilligt, er hat die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift nicht zur Überprüfung dem allein hierfür berufenen Bundesverfassungsgericht vorgelegt26. Formal mag der BFH auf der Basis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts korrekt argumentiert haben: Denn für den Kläger des Ausgangsverfahrens hätte wohl kaum die Chance bestanden, eine – auch für ihn – günstigere Regelung durch den Gesetzgeber zu erreichen. Verständlich zu machen ist dies niemandem (jedenfalls keinem Nicht-Juristen). Hier war der II. Senat des BFH mit seinen Vorlagebeschlüssen zur Verfassungswidrigkeit etwa der Einheitswerte für Grundstücke mutiger: Auch dort hätte aus formalen Gründen eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht unterbleiben können. Gleichwohl wurde ein Weg gefunden – Juristen finden immer einen Weg, wenn sie denn nur ein bestimmtes Ergebnis begründen wollen. Das eigentliche Ärgernis bleibt jedoch die Privilegierung selbst. Wie beispielsweise im Bereich des Korruptionsstrafrechts – Abgeordnete können nicht bestochen werden, ist dies gleichwohl der Fall, so ist es jedenfalls nicht strafbar – stellen diese sich damit besser als beispielsweise Pfarrer (hier wird es mit der Korruption schwierig, laden sie jedoch einen Straftäter, der sich

___________ 25 Vgl. nur Drysch, DStR 2008, 1217 ff. 26 BFH v. 11.9.2006 – VI R 13/06, DStR 2008, 2009 = FR 2008, 1170.

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ihnen gegenüber offenbart hat, ein, muss der Bewirtungsbeleg gleichwohl richtig ausgefüllt sein) oder Anwälte. Gerade der letzten Berufsgruppe wird auch im Bereich der anwaltlichen Verschwiegenheit heute nicht mehr annähernd der Freiraum zugestanden, den sich die Abgeordneten selbst gönnen. Warum eigentlich? Dieses warum eigentlich ist in der rechtswissenschaftlichen Aufarbeitung unter allen erdenklichen und klugen Gesichtspunkten erörtert worden. Ein Aspekt ist dabei aber – soweit ersichtlich – nicht zur Sprache gekommen: Früher waren es Könige und Fürsten, die von Steuern und anderen (lästigen) Abgaben befreit waren. Diese Könige und Fürsten waren es andererseits, die ihre Macht an demokratisch gewählte Parlamente erst dann wirklich abgegeben haben, als diese Parlamente die Verfügungsgewalt über die Steuern und das damit eingetriebene Geld – und die damit verliehene Macht – übernommen haben. Ein klein wenig haben die Parlamente von dieser Macht der Könige und Fürsten einerseits und den steuerlichen Privilegien dieser andererseits mit der Steuerfreiheit der Kostenpauschale für sich herüber retten können. Immerhin: Ein klein wenig dürfen sich Abgeordnete damit auch wie Fürsten fühlen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat diesen Aspekt im Rahmen der Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil vom 11.9.2006 (Fn. 26) nicht behandelt26a. c) Nichtanwendungserlasse Nichtanwendungserlasse sind ein weiteres Ärgernis: Passt der Finanzverwaltung die Rechtsprechung des BFH nicht, so reagiert sie mit einem solchen Nichtanwendungserlass. Gemäß Aussage der parlamentarischen Staatssekretärin vom 12.12.2008 wurden in der Zeit vom 1.1.1998 bis 12.12.2008 65 Nichtanwendungserlasse von der Finanzverwaltung verfügt27. Das Thema Nichtanwendungserlasse spielt in Mandantengesprächen eine zunehmende Rolle. Die Praxis stößt auf völliges Unverständnis. Warum – so der Mandant – soll ich denn dieses oder jenes gegen mich gelten lassen, wenn die Finanzverwaltung macht, was sie will und sich um die Rechtsprechung nicht schert. Natürlich ist diese Meinung verkürzt (aber häufig werden Dinge genau dadurch auf den Punkt gebracht!). Viele Mandanten denken selbst weiter: Sie wissen, dass die Finanzverwaltung ihr unliebsame Rechtsprechung auch dadurch konterkariert, dass sie entsprechende Änderungsgesetze auf den Weg bringt. Die Hürden, um solche Änderungen durch den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess zu bringen, sind gering. Die Praxis der Nichtanwendungserlasse – und auch im Übrigen der Änderung von Gesetzen nach Ergehen der Verwaltung missliebiger BFH-Urteile – hat ein solches Ausmaß erreicht, dass sich der Präsident des BFH auf der Jahrespressekonferenz des Gerichts vom 21.1.2009 hierüber sehr deutlich geäußert hat. Er hat darauf hingewiesen, dass 2007 fünfzehn und 2008 acht Nichtanwendungserlasse verfasst wurden, davon dreizehn bzw. sieben zulasten des

___________ 26a BVerfG v. 26.7.2010 – 2 BvR 2227/08 u. 2 BvR 2228/08. 27 BT-Drucks. 16/11477, 13.

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Steuerzahlers28. Dies ist – worauf Präsident Spindler zu Recht hingewiesen hat – bei hundert bis hundertfünfzig Grundsatzentscheidungen pro Jahr eine maßgebliche Größenordnung. Konkret gerügt hat er einen Eingriff in die Gewaltenteilung. Die Diskussion hat zu einer heftigen Kontroverse mit dem Bundesfinanzministerium geführt. Diese Kontroverse war überfällig. Sie zeigt, welches Ausmaß – welche Ignoranz – hier von der Verwaltung zwischenzeitlich an den Tag gelegt wird. d) Datenklau Ein Ausflug in die Niederungen des Steuerstrafrechts führt zu einem weiteren Gesichtspunkt für den von Nawrath29 eingeforderten Bürgersinn und das sittliche Empfinden und den aus dem Ruder gelaufenen Maßstab: Für den Ankauf von der LGT gestohlenen Daten hat die deutsche Finanzverwaltung fünf Millionen Euro aufgewandt. Das schon damit gesetzte Signal „Klauen lohnt“ hat sich ausgezahlt, jedenfalls für die Datendiebe, die bei Schweizer Banken aktiv geworden sind. Mandanten sagen: Der Staat klaut Daten und ich werde bestraft, wenn ich in meiner Steuererklärung falsche Angaben mache. Warum werden die Beamten, die die geklauten Daten angekauft haben, nicht bestraft30? Strafanzeigen gegen die handelnden Beamten sind gestellt worden. Sie werden geprüft und verworfen werden. Eine Begründung wird sich finden. e) Steuerhinterziehung und OECD-Vorgaben Deutschland steht mit seinem Kampf gegen die Steuerhinterziehung nicht alleine da. Letztlich werden OECD-Vorgaben umgesetzt. Vielleicht ist diese die treibende Kraft. Macht es das besser? Nein! Nach der OECD-Konvention31 umfassen die Aufgaben der Organisation u.a. die Schaffung stabiler öffentlicher Finanzen. Dieser Aspekt umfasst neben anderen Themen die Analyse nationaler Steuersysteme und deren Auswirkungen auf Arbeits-, Kapital- und Produktmärkte. Damit ist die intensive Beschäftigung der OECD mit Fragen des nationalen und internationalen Steuerrechts begründet. Die Tätigkeit ist durchaus auch segensreich; dies gilt beispielsweise für die Arbeiten an den seit Jahrzehnten herausgegebenen OECD Musterabkommen zur Vermeidung von internationaler Doppelbesteuerung. Wenig – wenn überhaupt – wird in der Öffentlichkeit allerdings folgender Aspekt wahrgenommen: Innerhalb der OECD arbeiten (nahezu) ausschließlich Finanzbeamte aus den Mitgliedsländern. Alle Meinungsäußerungen der OECD stammen aus der Feder der Vertreter von Mitgliedsstaaten, sprich der

___________ 28 Süddeutsche Zeitung v. 22.1.2009, Nr. 19, 26, „Zwei Männer im Staat“. 29 Nowrath, DStR 2009, 3 ff. 30 Zur Strafbarkeit vgl. Trüg/Habertha, NJW 2009, 997 ff.; vgl. auch Grögel, NJWEditorial 12/2008; zum neuerlichen Datenklau bei Schweizer Banken auch Hamm, NJW-Editorial/2009. 31 Art. 1 der Konvention.

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Finanzverwaltungen. Eine Mitarbeit von Verbänden, die die Interessen der Wirtschaft vertreten, ist nicht vorgesehen. Im Einzelfall mögen Stellungnahmen eingeholt werden. Beschlossen wird jedoch das, was die Vertreter der Finanzverwaltung letztlich für richtig halten. Eine parlamentarische Kontrolle findet nicht im Ansatz statt. Und das sind somit die so viel bemühten OECD-Empfehlungen: Es handelt sich um nichts anderes, als die Meinung der Mehrheit der Verwaltungsvertreter. Teilweise drängt sich der Eindruck auf, dass das, was von der OECD vorgeschlagen wird, geradezu sakrosankt ist. Eine kritische Überprüfung wäre jedoch zwingend erforderlich. Faktisch läuft es jedoch so: Die Finanzverwaltungen überlegen sich, wie sie mehr Geld in die Kasse holen können, vor allem auch von Steuerhinterziehern. Hierzu bedarf es auch erweiterter Informationsbeschaffungsmöglichkeiten auf internationaler Ebene. Dem steht die frühere eigene Abkommenspolitik beim Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen jedoch entgegen. Im Rahmen ihrer – wie dargestellt segensreichen – Arbeiten für ein Muster-Doppelbesteuerungsabkommen hat die OECD einen Art. 26 zum Informationsaustausch in zwei unterschiedlichen (alternativen) Varianten vorgeschlagen. Dieser Vorschlag hatte über Jahrzehnte hinweg Bestand. Er bestand darin, einerseits eine sog. kleine, andererseits eine sog. große Auskunftsklausel zuzulassen. Die kleine Auskunftsklausel ermöglicht sehr eingeschränkten Auskunftsverkehr mit Bezug nur auf die Durchführung des Abkommens, also seine korrekte Anwendung, mithin die Vermeidung der Doppelbesteuerung. Nur die große Auskunftsklausel ermöglicht darüber hinaus die Erlangung von weitergehenden Auskünften, auch soweit es unabhängig von der Abkommensanwendung um die Durchsetzung nationaler (fiskalischer) Interessen geht. Deutschland hat auf der Basis der OECD-Empfehlungen zahlreiche Abkommen mit sog. kleinen Auskunftsklauseln abgeschlossen, u.a. mit der Schweiz, aber auch mit dem – politisch völlig unverdächtigen – Japan. Und nun will man dieses Abkommen mit der kleinen Auskunftsklausel, das man selbst ausgehandelt und verbindlich festgeschrieben hat, nicht mehr. Da kommt es recht, wenn die Finanzbeamten anderer Länder ähnlich denken und „Rückenwind“ von der OECD mit sog. schwarzen und grauen Listen sog. unkooperativer Staaten aufkommt32. Festzuhalten bleibt: Ebenso wie der Bürger verpflichtet ist, Steuergesetze zu beachten, sollte die Finanzverwaltung sich verpflichtet fühlen, die von ihr geschlossenen Abkommen zu respektieren. Sie mag eine Änderung anstreben. Die Methoden, die dabei angewendet werden, sollten allerdings den üblichen Anstand wahren. Anstand und Sitte können eben nicht nur vom Steuerpflichtigen abverlangt werden; sie müssen vor allem auch vorgelebt werden.

___________ 32 „Overview of the OECD‘s work on countering international tax evaluation“, www.oecd.org.

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3. Bestrafung von Steuerstraftätern Streck33 hat den Sinn der Bestrafung von Steuerhinterziehung in Frage gestellt. Steuerhinterziehung ist ein mit anderen Vermögensdelikten nicht vergleichbarer Straftatbestand. Dem Bürger werden weitgehende Mitwirkungsund Erklärungspflichten mit dem Ziel auferlegt, dass er sich selbst finanziell schädigt – er muss Steuern bezahlen. Eine konkrete Gegenleistung erhält er hierfür kraft Gesetzes nicht (§ 3 AO). Der Staat, der im Fall der Hinterziehungshandlung „geschädigt“ wird34, kümmert sich nicht nur umfassend um die mögliche Wiedergutmachung des Schadens durch Steuerfestsetzung und ggf. Beitreibung, sondern übernimmt die strafrechtliche Behandlung gleich mit. Formal geschieht dies selbstverständlich durch die Aufteilung auf verschiedene Staatsgewalten, aber: es bleibt der Staat. Der Staatsanwalt, der hier nicht verfolgt, der Richter, der hier nicht verurteilt, sorgt ein ganz klein bisschen mit dafür, dass der nicht bestraft wird, der zu seiner eigenen Bezahlung seinen Anteil nicht leisten will. „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“ Über den Sinn und Zweck der Bestrafung von Steuerhinterziehung wurde auch in anderen Ländern nachgedacht. So war es in der Schweiz bis Mitte der 70er Jahre so, dass Steuerhinterziehung überhaupt nicht strafbar gewesen ist. Vielmehr wurde die Hinterziehung generell lediglich mit Nach- und Strafsteuern sanktioniert, wobei die Strafsteuer bis zum Dreifachen der nachzuentrichtenden – also hinterzogenen – Steuern reichen kann. Hinzu kommen hohe Verzugszinsen. Der Steuerhinterzieher wurde also da getroffen, wo er den Vorteil gesucht hat: Am Geldbeutel. Erst 1975 wurde diese Praxis teilweise geändert. Seitdem ist der Steuer- bzw. Abgabebetrug in der Schweiz auch strafbar. Zur damaligen Gesetzesbegründung führte der Schweizer Bundesrat was folgt aus: „Schwere Steuerdelikte, insbesondere der oftmals mit gefälschten Unterlagen begangene Steuerbetrug, sind moralisch sicher ebenso verwerflich, wie der gemeinrechtliche Betrug und die zum Nachteil Privater begangene Fälschung. Es ist deshalb nicht einzusehen, weshalb gerade diese gravierenden Verfehlungen zum Nachteil der Allgemeinheit nach heutigem Steuerrecht höchstens mit Buße bestraft werden. Es liegt daher sicher im Sinne einer ernsthaften generalpräventiven Bekämpfung des Steuerdelikts, wenn skrupellose Steuerhinterzieher mit einer Freiheitsstrafe im Fall der Entdeckung rechnen müssen35.“

Bei dieser Differenzierung ist es in der Schweiz geblieben. Nur der „schwere“ Steuerhinterzieher macht sich strafbar, dem einfachen Steuerhinterzieher – der etwas zu Unrecht verschweigt – wird mit heftigen Geldauflagen deutlich auf die Finger geklopft. Es gibt andere Rechtssysteme in der westlichen Welt, die ähnlich zwischen strafrechtlichen Steuervergehen und einfacher, nur mit Geldauflagen zu sanktionierender Steuerhinterziehung differenzieren, etwa Schweden. Auch hier wird bei geringen Verstößen lediglich eine besondere

___________ 33 Streck in Harzburger Protokolle 1999, S. 83 ff. 34 Ob dies immer der Fall ist, ist nicht einmal gesagt. Getätigte zusätzliche Ausgaben führen zu Einnahmen des Staates z.B. über Mehrwertsteuer oder steuerpflichtige Einkünfte Dritter. 35 Schweizerisches Bundesblatt 1975, Bd. 1, Heft 4 v. 3.12.1975, S. 358.

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Abgabe in Form eines Steuerzuschlags fällig, lediglich schwerwiegendere Verstöße werden strafrechtlich verfolgt. Deutschland ist für das Schweizer Modell nicht reif. Das Modell ist politisch nicht gewollt. Die Presse schlägt in die gleiche Kerbe. Steuerhinterziehung muss mit allen Mitteln bekämpft werden, gerade wenn es um die Reichen, ohnehin Privilegierten geht. Dass Steuerhinterziehung in Deutschland weitverbreitet ist und als quasi Volkssport bezeichnet werden kann, spielt keine Rolle. Dass weite Teile der Bevölkerung Steuerhinterziehung im Kleinen begehen, ist „etwas anderes“. – Tatsächlich ist es nichts anderes. Tatsächlich sollten dies auch die Politiker in ihren Wahlkreisen mitbekommen. Sie hören es dort auch, an Stammtischen, in Gesprächen mit Bürgern usw. Unterstützung für eine Abschaffung der Bestrafung der Steuerhinterziehung kommt – wohl unbemerkt und ungewollt – von einem führenden aktuellen Vertreter der Philosophie, Peter Sloterdijk. Unter der Überschrift „Die Revolution der gebenden Hand – Enteignung qua Einkommensteuer“36 beschäftigt sich Sloterdijk mit dem zeitgenössischen Staat als geldsaugendes Ungeheuer. Wolle man – so Sloterdijk – die Aktivitäten der nehmenden Hand auf dem neuesten Stand der Kunst erfassen, so sei festzustellen: „Um die unerhörte Aufblähung der Staatlichkeit in der gegenwärtigen Welt zu ermessen, ist es nützlich, sich an die historische Verwandtschaft zwischen frühem Liberalismus und dem anfänglichen Anarchismus zu erinnern. Beide Bewegungen wurden von der trügerischen Annahme animiert, man gehe auf ein geschwächtes Staatswesen zu.“ Der Liberalismus habe nach einem Minimalstaat gestrebt, der Anarchismus habe auf die Abschaffung des Staates hingearbeitet. Beide hätten die Logik des Systems gegen sich gehabt: „Wer eine gütige Sicht auf die Tätigkeiten der nehmenden Hand hätte entwickeln wollen, hätte vor allem die größte Nehmermacht der modernen Welt ins Auge fassen müssen, den aktualisierten Steuerstaat, der sich auch mehr und mehr zum Schuldenstaat entwickeln sollte.“ Die Entwicklung des modernen Staates binnen nur eines Jahrhunderts zu einem geldsaugenden und geldspeienden Ungeheuer von beispielsloser Dimension sei durch die Einführung der progressiven Einkommensteuer gelungen. Diese bedeute nichts anderes als ein „funktionales Äquivalent“ zur sozialistischen Enteignung, mit dem bemerkenswerten Vorzug, dass sich diese Prozedur Jahr für Jahr wiederholen lässt37. Voll ausgebaute Steuerstaaten reklamierten heute Jahr für Jahr die Hälfte aller Wirtschaftserfolge, die plausibelste Reaktion hierauf, der antifiskalische Bürgerkrieg, bleibe jedoch aus. Dieses politische Dressurergebnis hätte jeden Finanzminister des Absolutismus vor Neid erblassen lassen. Und noch einen Aspekt hebt Sloterdijk hervor: Den heutigen Bedingungen des Steuerstaates wohne eine Tendenz zur Ausbeutungsumkehrung vor: „Lebten im ökonomischen Altertum die Reichen unmissverständlich und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne

___________ 36 FAZ.net (Die Zukunft des Kapitalismus), Beitrag 8 v. 13.6.2009. 37 Sloterdijk weist darauf hin, dass Queen Victoria in England bei der erstmaligen Erhebung einer Einkommensteuer in England in Höhe von 5% sich darüber Gedanken mache, ob man hiermit nicht die Grenze des Zumutbaren überschritten habe – dies zeige die heutige Steuergeduldsamkeit bei den Wohlhabenden.

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dahin kommen, dass die Unproduktiven unmittelbar auf Kosten der Produktiven leben“. Das Ergebnis seiner Überlegungen ist konsequenterweise die Forderung nach einer Revolution der gebenden Hand, die Abschaffung von Zwangssteuern und deren Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit, ohne dass der öffentliche Bereich deswegen verarmen müsste. Die Thesen Sloterdijks haben eine heftige Reaktion ausgelöst. Axel Honneth wirft ihm aberwitzigen Klassenkampf von Oben vor – und hält gleichzeitig den Klassenkampf von Unten für „moralisch legitim38„. Jens Jessen hat in einem differenzierten Beitrag39 Sloterdijks Denkmodell hinterfragt und hat dabei auf den teilweise energischen Widerspruch auch anderer Philosophen und Soziologen hingewiesen. Völlig zu Recht weist er auf Widersprüche in der Argumentation der Gegner Sloterdijks hin. Man mag Sloterdijks Überlegungen als Spinnerei eines Einzelnen abtun. Dies ändert aber nichts an der Richtigkeit seiner Auffassung, die Staaten bei ihren Stärken aufzurufen, ein solches sinnvolles Verhalten zu fördern. Weiterer, verschärfter Druck auf die Leistungsträger ist der falsche Weg40. Und hier schließt sich der Kreis: Die Überlegung einzelner oder einiger Philosophen war in der Geschichte immer wieder Ausgangspunkt für Entwicklungen, die ursprünglich als Spinnereien abgetan wurden, uns aber heute als selbstverständlich erscheinen. Ein erster Schritt in diese Richtung wäre es, wie Sloterdijk Steuern für sich ganz persönlich, „privatissime“, als eine Spende an das Gemeindewesen anzusehen – und eben nicht als Bußgeld für ein Leistungsvergehen. Nach geltendem Recht sind Steuern keine Spende, sondern eine kraft Gesetzes auferlegte Zahlungspflicht. Die Voraussetzungen für den Umfang dieser Zahlungspflicht ergeben sich aus Gesetzen. Ein erster Schritt im Sinne der Sloterdijkschen Überlegungen wäre es indes, den Zwang zur Verpflichtung von Steuern nicht noch dadurch zu verschärfen, dass bei Nichtbeachtung der Gesetze eine strafrechtliche Sanktion auferlegt wird. Betrachtet man Steuern als im derzeitigen Umfeld notwendiges Übel, so muss dieses Übel eben nicht noch verstärkt werden. Es würde dem Sinn und Zweck – die Staatskassen zu füllen, um damit staatliche Aufgaben erfüllen zu können – viel mehr dienen, diese Steuerzahlung jedenfalls insoweit als „Spende“ des Einzelnen anzusehen, als im Fall des Nichtleistens der Spende dann eben eine höhere Spende (man mag dies Strafsteuer nennen) fällig wird. Dies wäre ein erster und richtiger Schritt.

III. Schlussbetrachtung Die Thesen bzw. Aussagen von Streck – steckt Leistungsträgern dieser Gesellschaft nicht wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis, der Staat muss bei seiner Gesetzgebung im Rahmen konsequenter Vorgaben handeln, 99% der

___________ 38 Die Zeit, Nr. 40/09 v. 24.9.2009. 39 Die Zeit, Nr. 4/10 v. 21.1.2010, S. 44. 40 Interview in Süddeutsche Zeitung v. 5./6.1.2010, S. 26.

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Bevölkerung begehen Steuerhinterziehung – haben in ihrer Aktualität nichts eingebüßt. Es lohnt unter vielerlei Aspekten, über den Sinn und Zweck der Bestrafung der Steuerhinterziehung nachzudenken. Steuern zahlen nur die Dummen, Steuerhinterziehung ist ein Volkssport. Die erste dieser beiden Aussagen zielt nicht nur auf Steuerhinterziehung, sondern auch auf geschickte (oder häufig vermeintlich geschickte) Steuergestaltung ab. Die Aussage ist jedoch zugleich auch ein Hinweis auf latente Steuerhinterziehungsmentalität. Wenn tatsächlich so weite Kreise der Bevölkerung, wie dies den Anschein hat, Steuern in mehr oder weniger großen Umfang verkürzen, so ist dies ein Aspekt, der die Politik zum Nachdenken nicht nur anregen sollte, sondern muss. Das praktisch die gesamte Bevölkerung in mehr oder weniger großem Umfang kriminell ist, sofern es um die Erfüllung der Steueransprüche geht, kann nicht richtig sein. Die Politik muss darüber nachdenken, wie sie auf einen solch hohen Grad der Kriminalisierung reagiert. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage zu betrachten sein, wie der Staat sich selbst verhält und mit welchem moralischen Anspruch er bei der Durchsetzung seiner Steuerforderung an seine Bürger herangeht und herangehen kann. Wenn der Staat – die Verwaltung, gedeckt von den Spitzen der Politik – in seiner Steuerpolitik nicht nur ständig Kehrtwendungen vollzieht, sondern durch Nichtanwendungserlasse zu höchstrichterlichen Urteilen oder Änderungsgesetze signalisiert, dass er selbst sich nicht an gesetzliche Vorgaben halten will, verliert er seinen moralischen Anspruch darauf, entsprechendes Fehlverhalten zusätzlich auch noch strafrechtlich zu sanktionieren. Die Abgeordneten sollten erkennen, dass sie sich selbst wie kleine Fürsten benehmen, wenn sie ihre eigenen Aufwandspauschalen steuerfrei stellen und die von ihnen aufgestellten Gesetze für sie selbst keine Anwendung finden sollen. Auch die früheren Fürsten und Könige haben die Begründung dafür, warum sie selbst von Abgaben verschont geblieben sind, gefunden. Moralisch gerechtfertigt war auch dies nicht. Es konnte daher auf Dauer letztlich keinen Bestand haben. Die Überlegungen von Sloterdijk zur „Revolution der gebenden Hand – Enteignung qua Einkommensteuer“ sind noch die Meinung eines Einzelnen. Die Forderung zur Abschaffung der Einkommensteuer wird sich sicher in den nächsten Jahrzehnten, vielleicht auch Jahrhunderten, nicht durchsetzen. Vielleicht wird es dann lebenden Generationen allerdings ebenso schwer fallen, sich ein Leben unter einer Zwangsabgabe à la Einkommensteuer vorzustellen, wie es uns heute schwer fällt, uns ein Leben unter den Bedingungen im Mittelalter oder auch noch in der Zeit vor etwa hundert Jahren vorzustellen. Es waren immer die Überlegungen einiger weniger fortschrittlicher Geister, die langfristig zu nachhaltigen Veränderungen geführt haben. Anfangs wurden diese alle bekämpft und verhöhnt. Ein erster und richtiger Schritt wäre es, die Verletzung der Steuerpflicht nicht zusätzlich strafrechtlich zu sanktionieren.

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Erfreulich wäre, wenn sie diese Einsichten umsetzen würden. Umsetzen nicht nur dergestalt, dass die Steuerhinterziehung jedenfalls im privaten Bereich als Straftatbestand schlicht und ergreifend abgeschafft und künftig mit Geldauflagen sanktioniert wird – genau wie Streck es gefordert hat. Wenn es darüber hinaus der Dritten Gewalt gelänge, dem Treiben der Exekutive bei der Steuergesetzgebung Einhalt zu gebieten und wieder Ordnung in das Chaos zu bringen, so wäre dies umso erfreulicher. Die Aussichten hierfür stehen indes nach allen Erfahrungen nicht gut.

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Reichweite steuerlicher Erklärungspflichten bei unklarer Rechtslage – wo beginnt der Bereich strafbaren Verhaltens? Inhaltsübersicht I. Einleitung 1. Praktische Bedeutung und Beispielsfälle 2. Die Grundpositionen II. Anwendung der BGH-Entscheidung vom 10.11.2000 1. Zwei Möglichkeiten zur Vermeidung jeglicher Risiken 2. Umfassende Offenbarung aller Zweifelsfälle? 3. Rückführung der Erklärungsinhalte auf Tatsachenangaben und der maßgebliche Empfängerhorizont a) Maßgeblichkeit der BFH-Rechtsprechung

b) Konflikt von Verwaltungsauffassung und anderen Autoritäten c) Erweiterte Offenbarungspflicht bei nur vermuteter Abweichung der Finanzverwaltung? d) Resümee 4. Übertragung auf Unterlassungskonstellationen im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO 5. Besonderheiten bei Angemessenheits-Bandbreiten und steuerlichen Formvorschriften III. Ergebnis

I. Einleitung Der Streit mit der Steuerfahndung zeichnet sich durch die Verknüpfung verschiedener Rechtsgebiete aus. Von den Ermittlungsbehörden und der Verteidigung, aber auch den mit der Sache befassten Richtern werden fundierte Kenntnisse im Strafrecht und im Steuerrecht verlangt. Die Verknüpfung betrifft den verfahrensrechtlichen Bereich einerseits, andererseits aber auch das materielle Recht. Die Verteidigung im Steuerstrafverfahren erfolgt über den Steueranspruch. Dies ist einer der von Streck geprägten Lehrsätze. Das Tatbestandsmerkmal der Steuerverkürzung ist das klassische Einfallstor, durch das das Steuerrecht Bedeutung für die strafrechtliche Würdigung eines Sachverhalts erlangt. Strafverfolger und Verteidiger vergessen aber gelegentlich, dass der Straftatbestand der Steuerhinterziehung auch auf der Ebene des Handlungsunrechts durch Tatbestandsmerkmale beschränkt ist. Es führt eben nicht jede vorsätzliche Verkürzung von Steuern zur Strafbarkeit. Vielmehr gilt: Die vorsätzliche Herbeiführung einer Steuerverkürzung ist rechtlich erlaubt, solange sie nicht durch die gesetzlich in § 370 Abs. 1 AO beschriebenen Tathandlungen erfolgt. Eine Steuerhinterziehung begeht insoweit nur, wer über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht oder die Finanz-

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behörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt (vgl. § 370 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AO)1. Das Handlungsunrecht der Steuerhinterziehung besteht im Kern darin, dass der Täter eine unvollständige oder unzutreffende Kenntnis des Finanzamts von den maßgeblichen Tatsachen bewirkt und auf diesem Wege den Erfolg der Steuerverkürzung (oder der ungerechtfertigten Vorteilserlangung) herbeiführt. Die Schutzrichtung des Straftatbestands der Steuerhinterziehung besteht darin, die vollständige und zutreffende Sachverhaltskenntnis des Finanzamts sicherzustellen, damit auf der Grundlage einer vollständigen und fehlerfreien Informationsbasis durch die Behörde die richtige rechtliche Einordnung getroffen werden kann, die dann (im Idealfall) in der zutreffenden Steuerveranlagung endet. Geschützt ist die Informationsbeziehung. Bereits im Rahmen dieser Informationsbeziehung werden spezifisch steuerliche Fragen relevant, wenn es darum geht, ob die von dem Betroffenen abgegebenen Erklärungen die steuerlichen Mitwirkungspflichten verletzen oder die abgegebenen Erklärungen nach Maßgabe der Vorschriften der AO zutreffend und vollständig waren. Praktiker neigen häufig dazu, die Frage, ob unrichtige Angaben im steuerlichen Sinne gemacht wurden, vorschnell auf die Ebene des subjektiven Tatbestands zu verschieben und das Problem allein unter dem Gesichtspunkt zu diskutieren, ob der Täter den notwendigen Vorsatz zur Erfüllung des Straftatbestands hatte. Diese Herangehensweise ist aber höchst gefährlich. Denn die Anforderungen an den Vorsatz sind niedrig. Im Hinblick auf das Merkmal der Steuerverkürzung reicht es bereits aus, wenn der Täter die Existenz des zugrunde liegenden Steueranspruchs nur für konkret möglich erachtet. Probleme des „voluntativen Elements“ spielen im Steuerstrafrecht so gut wie keine Rolle. Denn jeder Steuerpflichtige, sei er nun Richter oder Anwalt, Steuerberater oder Steuerbeamter, Großindustrieller oder Arbeitnehmer, ist doch prinzipiell damit einverstanden, wenn das Finanzamt in seiner persönlichen Veranlagung einen Fehler begeht, von der geltenden Rechtslage abweicht und infolge dessen die Steuer zu niedrig festsetzt. Die eintretende Steuerverkürzung ist uns allen hoch willkommen. Strafrechtlich relevant wird dieses Geschehen nur und erst dann, wenn zuvor schuldhaft Fehler im Rahmen der Informationsvermittlung begangen worden sind – sei es, dass es sich um eine vorsätzliche (§ 370 AO) oder eine grob fahrlässige (§ 378 AO) Verletzung der Erklärungspflicht handelte. 1. Praktische Bedeutung und Beispielsfälle Die Abgrenzung zwischen der „Täuschung über Tatsachen“ und dem im Gegensatz hierzu strafrechtlich irrelevanten „Vertreten abweichender Rechts-

___________ 1 Die dritte Variante des Handlungsunrechts, die pflichtwidrige Nicht-Verwendung von Steuerzeichen oder Steuerstemplern, ist heute ohne weiter gehende praktische Bedeutung; vgl. nur Schmitz/Wulf in Münchener Kommentar, StGB, 2010, § 370 AO Rz. 316 ff. m.w.N.

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ansichten“ wird seit längerer Zeit diskutiert2. Gleichwohl existieren nur wenige höchstrichterliche Entscheidungen zu diesem Fragenkomplex. Dies hängt nach unserer Erfahrung damit zusammen, dass die Strafverfolgungsbehörden im Grenzbereich zwischen unrichtigen Tatsachenangaben und bloßen Rechtsbehauptungen vorsichtig sind. Man streitet gegebenenfalls über die richtige steuerliche Einordnung und die Konsequenz, ob Steuern zu zahlen sind oder nicht. Dieser Streit wird im Besteuerungsverfahren und vor dem Finanzgericht ausgetragen. Die Eskalation ins Steuerstrafverfahren wird vielfach nicht für erforderlich erachtet. Typischerweise werden diese Fragen allerdings relevant, wenn bereits die Frage der Steuererhebung von der Vorfrage abhängig ist, ob eine Steuerhinterziehung begangen wurde. Insbesondere in den Fällen, in denen der Steuerpflichtige sich gegen die Veranlagung mit dem Argument der Festsetzungsverjährung wehrt, erlebt man immer wieder – und in zunehmendem Umfang – dass die Finanzbehörde ihr Heil in der Anwendung von § 169 Abs. 2 Satz 2 AO sucht und folgerichtig strafrechtliche Vorwürfe zu begründen versucht, die ohne das Argument der Festsetzungsverjährung wahrscheinlich nicht aufs Tableau gebracht worden wären. Vor diesem Hintergrund soll die Frage, unter welchen Umständen die Zugrundelegung abweichender Rechtsansichten zu einem strafrechtlichen Vorwurf führen kann, anhand von drei kleinen Beispielsfällen behandelt werden: Beispiel 1: A ist als Steuerberater in einer Einzelpraxis tätig. Er berät erfolgreich einige Familienunternehmen. Sein Kanzleiauftritt ist betont seriös-konservativ. Hierzu gehört, dass er im Büro ausschließlich gepflegte dreiteilige Anzüge in gedeckten Farben trägt. Privat trägt er dagegen eher legere Kleidung. Da er seine Anzüge ausschließlich zu beruflichen Anlässen trägt, setzt er die Kosten für ihre Anschaffung als Betriebsausgaben ab, wobei er selbstverständlich weiß, dass die Finanzverwaltung hierzu anderer Auffassung wäre. Nachdem er zunächst erklärungsgemäß veranlagt wird, wird dem Finanzamt nach einer Betriebsprüfung der volle Sachverhalt bekannt. Beispiel 2: Der B ist seit langen Jahren als Arbeitnehmer in einer GmbH beschäftigt. Die Arbeitnehmer haben vor 2008 im Rahmen eines Mitarbeiterprogramms Anteile erhalten. Sein Anteil beläuft sich auf 0,8%. Nachdem die Gesellschaft eine höchst lukrative Entwicklung gemacht hat, wird sie durch einen ausländischen Investor übernommen. Der Anteilskaufvertrag wird für alle Gesellschafter einheitlich durch die Mehrheitsgesellschafter ausgehandelt. Der Kaufpreis wird auf Grundlage der durch Wirtschaftsprüfer verifizierten Verhältnisse der Gesellschaft auf den 31.12.2008 bestimmt. Die Vertragsverhandlungen ziehen sich Anfang 2009 in die Länge. In einer besonderen Klausel wird

___________ 2 Vgl. die Nachweise zur älteren Literatur bei J. Müller, Vorsatz und Erklärungspflicht im Steuerstrafrecht, 2007, S. 160 ff.; vor J. Müller haben sich bereits eine Reihe von anderen Dissertationen mit dem Thema befasst, u.a. Hanßen, Steuerhinterziehung und leichtfertige Steuerverkürzung (§§ 370, 378 AO) durch Abweichen von der höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung – insbesondere durch Steuerberater, 1984; Krieger, Täuschung über Rechtsauffassungen im Steuerstrafrecht, 1987; Pipping, Die „steuerlich erheblichen Tatsachen“ im Rahmen der Steuerhinterziehung, 1998; sowie aus der allgemeinen Literatur zuletzt beispielsweise Randt in FS Schaumburg, 2009, S. 1255 ff.

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Martin Wulf vereinbart, dass der von dem Erwerber zu zahlende Kaufpreis für die Zeit zwischen dem 1.1.2009 und dem Anteilsübergang mit 8% verzinst wird, während der laufende Gewinn des Jahres bereits dem Investor zustehen soll. Die Unterzeichnung des Vertrags und die Abtretung der Anteile erfolgen erst am 30.4.2009. B erhält für seine Anteile 500.000 Euro. Entsprechend der „Zinsklausel“ des Vertrags erhält er nach Abwicklung der Vereinbarung am 30.4.2010 zusätzlich eine Zahlung über 10.000 Euro. Er fragt einen befreundeten Steuerberater, ob er diese Zahlung versteuern muss. Dieser erklärt ihm wörtlich: „Meines Erachtens gehört die Zahlung mit zu dem eigentlichen Kaufpreis, der steuerfrei ist, aber das Finanzamt wird die Sache sicher anders sehen.“ Auf Grundlage dieser Auskunft entschließt sich der B, die Zahlung besser nicht anzugeben, und wird entsprechend veranlagt. Nachdem Kollegen von B ihrem Finanzamt den Anteilskaufvertrag vorgelegt haben, ergeht eine Kontrollmitteilung an das für B zuständige Finanzamt, welches die Zahlung von 10.000 Euro als Einkünfte aus Kapitalvermögen veranlagen und nur die Zahlung von 500.000 Euro als steuerfreien Veräußerungserlös anerkennen will. Beispiel 3: Der C ist alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer einer Baugesellschaft (XGmbH). Durch schriftlichen Geschäftsführervertrag hat er ein Gehalt in Höhe von 240.000 Euro zzgl. eines „angemessenen“ Bonus festgelegt. Er zahlt sich aufgrund dieser Vertragsklausel seit jeher einen Betrag in Höhe von 40% des Jahresüberschusses vor Steuern als Gewinntantieme aus. Im Jahr 2009 ergibt dies einen Betrag von 240.000 Euro (also 600.000 Euro Jahresüberschuss vor Tantiemezahlung). Insgesamt verdient der C so 480.000 Euro. Sein Steuerberater erläutert ihm, dass die Finanzverwaltung die Tantieme nur auf der Grundlage einer konkretisierten Vertragsklausel anerkennen würde und dass das Finanzamt sein Gehalt möglicherweise auch als überhöht einordnet. Der C will diese Frage einer möglichen Betriebsprüfung überlassen und gibt die Steuererklärung der Gesellschaft zunächst unter Zugrundelegung eines Geschäftsführergehalts von 480.000 Euro als Betriebsausgabe ab. Das Finanzamt veranlagt zunächst entsprechend, greift den Sachverhalt nach einer Betriebsprüfung dann aber wie erwartet auf.

In allen drei Fällen haben die Steuerpflichtigen sich eine bestimmte Rechtsauffassung gebildet und sie ihrer Steuererklärung zugrunde gelegt. Steuerstrafrechtlich würden Praktiker die Fälle auf den ersten Blick unterschiedlich einordnen: Im ersten Beispielsfall liegt die Einleitung des Steuerstrafverfahrens nahe, kommt der Fall vor Gericht, so würde der A wohl unzweifelhaft wegen Steuerhinterziehung verurteilt werden. Der zweite Beispielsfall liegt auf der Grenze; allerdings dürften steuerstrafrechtliche Vorwürfe spätestens dann erhoben werden, wenn der B sich gegen die Veranlagung mit dem Argument der Festsetzungsverjährung wehren würde3. Der dritte Beispielsfall würde, nach einem Aufgriff in der Betriebsprüfung, wohl kaum zur Einleitung des Steuerstrafverfahrens führen. Mit großer Sicherheit würde das Finanzamt hier zur Annahme von verdeckten Gewinnausschüttungen nach § 8 Abs. 3 KStG gelangen, dies aber auf die regulär festsetzungsverjährten Jahre beschränken und nicht etwa noch Alt-Jahre aufgreifen, die vor dem Prüfungszeitraum liegen und regulär bereits verjährt sind.

___________ 3 Es handelt sich um einen realen Fall, in der Tat wurde das Steuerstrafverfahren eingeleitet, sobald der Steuerpflichtige im Einspruchsverfahren den Verjährungseinwand erhoben hatte.

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Man fragt sich, wie diese höchst unterschiedliche Einordnung unter steuerstrafrechtlichen Aspekten zu rechtfertigen ist. 2. Die Grundpositionen Für die Frage, ob derjenige eine Steuerhinterziehung begeht, der seiner Steuererklärung eine von der Verwaltungsauffassung abweichende Rechtsansicht zugrunde legt, lassen sich zwei Grundpositionen unterscheiden4. Die eine geht davon aus, dass der Steuerpflichtige seiner Erklärung jede denkbare Rechtsansicht zugrunde legen darf und keine unrichtigen Tatsachenangaben im Sinne des Tatbestands macht, solange sich seine Erklärung nur auf eine irgendwie begründbare, abweichende Rechtsauslegung zurückführen lässt5. Die Gegenposition stellt auf den Empfängerhorizont der Finanzverwaltung ab. Nach ihr liegen unrichtige Angaben im Sinne des Tatbestands bereits dann vor, wenn der Erklärende von der nur für möglich gehaltenen Rechtsauffassung der Behörde abgewichen ist und dies nicht in besonderer Form kenntlich gemacht hat6. Der 5. Strafsenat des BGH hat in einer Leitentscheidung aus dem Jahr 1999 zu dem Problem Stellung genommen, nachdem in vorangegangenen Entscheidungen des Gerichts die Problematik noch allein als Vorsatzproblem behandelt worden war7. Der 5. Strafsenat hat in diesem Urteil eine vermittelnde Position formuliert: „Dem Steuerpflichtigen steht es frei, jeweils die ihm günstigste steuerrechtliche Gestaltung zu wählen. Er macht jedenfalls dann keine unrichtigen Angaben im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, wenn er offen oder verdeckt eine ihm günstige unzutreffende Rechtsansicht vertritt, aber die steuerlich erheblichen Tatsachen richtig und vollständig vorträgt und es dem Finanzamt dadurch ermöglicht, die Steuer unter abweichender rechtlicher Beurteilung zutreffend festzusetzen. (…) Nach § 90 Abs. 2 Satz 2 AO haben die Beteiligten im Rahmen ihrer Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenzulegen. (…) Nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO müssen die Angaben nicht nur richtig sein, sondern auch vollständig. Da sich hinter den mitgeteilten Zahlen die verschiedensten Sachverhalte verbergen können, die für das Finanzamt nicht erkennbar sind, besteht zumindest eine Offenbarungspflicht für diejenigen Sachverhaltselemente, deren rechtliche Relevanz objektiv zweifelhaft ist.

___________ 4 Umfassend zum Meinungsstand J. Müller, Vorsatz und Erklärungspflicht im Steuerstrafrecht, S. 155. 5 In diesem Sinne etwa Krieger, Täuschung über Rechtsauffassungen im Steuerstrafrecht, S. 71 ff.; ähnlich auch Tipke, BB 2009, 636 (639) m.w.N. 6 So insbesondere Danzer in Kohlmann, Grundfragen, DStJG Band 6, S. 94 f.; Meine, wistra 1992, 84 sowie Lang, StuW 2003, 289 (292). 7 BGH v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99, wistra 2000, 137 ff.; vorhergehend BGH v. 8.8.1985 – 2 ARs 223/85, wistra 1986, 27 (28) und BGH v. 15.11.1994 – 5 StR 237/94, wistra 1995, 69 – in diesen Entscheidungen wird das Problem noch zu Unrecht allein als Vorsatzproblem behandelt, während der BGH in seinem zweiten „Parteispendenurteil“ das Problem zurecht bereits als Problem des objektiven Tatbestands erkannte, vgl. BGH v. 19.12.1990 – 3 StR 90/90, BGHSt. 37, 266 (284) = wistra 1991, 139.

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Dies ist insbesondere der Fall, wenn die von dem Steuerpflichtigen vertretene Auffassung über die Auslegung von Rechtsbegriffen oder die Subsumtion bestimmter Tatsachen von der Rechtsprechung, Richtlinien der Finanzverwaltung oder der regelmäßigen Veranlagungspraxis abweicht. In einem derartigen Fall kann es ausreichend sein, die abweichende Rechtsauffassung mitzuteilen, wenn deren Schilderung die erforderliche Tatsachenmitteilung enthält. Ob darüber hinausgehend für den Steuerpflichtigen in allen Fällen eine Mitteilungspflicht hinsichtlich der vertretenen Rechtsansicht besteht, in denen er eine abweichende Rechtsansicht der Finanzverwaltung auch nur für möglich hält, braucht der Senat nicht zu entscheiden.“ II. Anwendung der BGH-Entscheidung vom 10.11.2000 1. Zwei Möglichkeiten zur Vermeidung jeglicher Risiken Die Entscheidung des BGH vom 10.11.2000 ist zunächst schon deshalb bedeutsam, weil sie sich des Problems überhaupt angenommen hat. Viel zu selten bringen Richter die notwendige gedankliche Genauigkeit auf, um das Problem sachgerecht zu behandeln. Viel zu oft entscheiden die Gerichte über die Frage, ob „unrichtige Angaben“ im Sinne des Tatbestands vorliegen, auf der Grundlage der Rechtsansicht, die sie persönlich für zutreffend halten und dann auch für die Prüfung des Merkmals der „Steuerverkürzung“ zugrunde legen. Bei dieser Vorgehensweise wird die tatbestandliche Handlungsbeschreibung weitestgehend eingeebnet und der objektive Straftatbestand auf das bloße Bewirken einer Steuerverkürzung reduziert. Es kommt dann scheinbar nur noch darauf an, ob der Steuerpflichtige eine abweichende Rechtsauslegung für möglich hielt und insoweit vorsätzlich handelte (bzw., ob ihm insoweit grobe Fahrlässigkeit vorgehalten werden kann, vgl. § 378 AO). Dies ist fehlerhaft. Allerdings kam es auch in der Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1999 letztlich nicht zum „Schwur“, denn der Angeklagte konnte sich nach dem Sachverhalt nicht ernsthaft darauf berufen, richtige und vollständige Angaben gemacht zu haben, weshalb der BGH seine Verurteilung letztlich zutreffend bestätigte. Die Entscheidung des 5. Strafsenats ist aber auch insoweit höchst praxisrelevant, da sie dem Steuerpflichtigen zwei Möglichkeiten eröffnet, wie er mit rechtlichen Zweifelsfragen bei Erstellung der Steuererklärung umgehen kann, wenn er ein theoretisches strafrechtliches Risiko mit absoluter Sicherheit ausschließen will: – Es ist als solches strafrechtlich nicht relevant, wenn der Steuerpflichtige der Erklärung seine persönliche Rechtsansicht zugrunde legt, selbst wenn sie abwegig ist und von der Auffassung der Finanzverwaltung definitiv abweicht. Solange mit der Steuererklärung alle relevanten Tatsachen mitgeteilt werden, die das Finanzamt benötigt, um eine eigene Entscheidung über die Auslegung der Rechtsfrage treffen zu können, scheidet der Vorwurf einer Steuerhinterziehung aus. Der A begeht somit keine Steuerhinterziehung, wenn er die Kosten seiner Anzüge als abzugsfähige Betriebsausgaben behandelt und in einem begleitenden Anschreiben oder der beizufügenden Anlage zur Gewinnermittlung erkennbar macht, dass die Be632

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triebsausgaben sich zu einem gewissen Anteil aus den Anschaffungskosten für Herrenanzüge zusammensetzen8. Dabei wird man von dem Veranlagungsbeamten erwarten dürfen, dass er die eingereichte Erklärung in vollem Umfang zur Kenntnis nimmt. Maßgeblich ist letztlich auch nicht die individuelle Kenntnis des Sachbearbeiters, sondern welche Informationen aktenkundig sind. Der ergänzende Sachverhaltshinweis muss folglich nicht im Anschreiben enthalten sein und dem Sachbearbeiter insoweit unmittelbar ins Auge springen, sondern kann sich auch in den Anlagen zur Steuererklärung wie beispielsweise dem beigefügten Jahresabschluss und den dortigen Erläuterungen zu bestimmten Bilanzpositionen befinden. – Er begeht auch dann keine Steuerhinterziehung, wenn er in der Erklärung beispielsweise darauf hinweisen würde, dass nach seiner Auffassung die Rechtsprechung zur Arbeitskleidung von Oberkellnern9 entsprechende Anwendung auch für die dreiteiligen Anzüge von Steuerberatern finden müsse. Denn mit diesem Hinweis wäre es für das Finanzamt möglich, die in der Erklärung enthaltenen Zahlenangaben dem wahren Sachverhalt zuzuordnen. Die beschriebenen Varianten für einen „sicheren“ Weg zu kennen, ist ein wichtiger Punkt für Steuerpflichtige, die – wie etwa Unternehmenssteuerabteilungen – laufend mit steuerlichen Zweifelsfragen befasst sind. Abhängig von dem dahinterstehenden Risiko und der individuellen Einschätzung der „Zweifelhaftigkeit“ der eigenen Rechtsauslegung kann auf diesem Weg ein steuerstrafrechtliches Risiko für die Beteiligten und ein möglicher Reputationsschaden für das Unternehmen sicher vermieden werden, ohne den eigenen Rechtsstandpunkt aufgeben zu müssen. 2. Umfassende Offenbarung aller Zweifelsfälle? Der Steuerpflichtige wird aber nicht in jedem Fall den sicheren Weg der vollständigen Offenbarung beschreiten. In der täglichen Erklärungspraxis bleibt dieser Weg bewusst gewählten Ausnahmekonstellationen vorbehalten. Dies hat im Wesentlichen zwei legitime Gründe: Die Finanzverwaltung denkt und arbeitet profiskalisch. Dies ist kein Vorwurf, sondern eine Selbstverständlichkeit und dient unser aller gemeinsamen Interesse. Lässt ein Sachverhalt zwei rechtliche Lösungen zu, von denen die eine zur Steuerfreiheit und die andere zur Steuerpflicht führt, so vertreten die Mitarbeiter der Finanzverwaltung zunächst mit Sicherheit die Auffassung, welche zur höheren Steuerlast führt. Dies ist menschlich verständlich. Es ist

___________ 8 Nebenbei bemerkt zeigt dies, dass auch § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO das Tatbestandsmerkmal der „Unkenntnis“ der Behörde beinhalten muss, denn für die Strafbarkeit des Verhaltens wegen vollendeter Steuerhinterziehung kann es kaum darauf ankommen, ob der A selbst den Hinweis macht oder die Information sich aufgrund einer Kontrollmitteilung zum Zeitpunkt der Veranlagungsentscheidung in der Akte des Veranlagungssachbearbeiters befindet. 9 Nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. BFH v. 9.3.1979 – VI R 171/77, BStBl. II 1979, 519) sind die schwarzen Anzüge eines Kellners ausschließlich für den beruflichen Gebrauch bestimmt und verwendbar und fallen deshalb nicht unter das sonst geltende Abzugsverbot.

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rollengerecht, denn wir alle wünschen uns Finanzbeamte, die sich mit ihrer Arbeit identifizieren und für den Fiskus Partei ergreifen. Das Verhalten der Behörden ist auch in einem Rechtsstaat nicht zu beanstanden, solange die Parteilichkeit gewisse Grenzen nicht überschreitet und die Verwaltung den Argumenten des Bürgers gegenüber offen bleibt. Der Steuerbürger tendiert in seiner Rechtsauslegung aber selbstverständlich in die entgegengesetzte Richtung. Wer nun in seiner Steuererklärung jede denkbare Zweifelsfrage ausbreitet, der wird laufend Rechtsbehelfsverfahren um die Auslegung der für seine Steuererklärung relevanten Rechtsfragen führen müssen. Dies kostet Nerven, Aufmerksamkeit, Zeit und im Zweifel Geld in der Form von Beraterhonoraren oder Mitarbeiterlöhnen. Der Steuerpflichtige als „homo oeconomicus“ hat folglich allen Anlass dazu, unnötigen Auseinandersetzungen mit dem Finanzamt aus dem Wege zu gehen und auf eine umfängliche Darstellung möglicher Zweifelsfragen in seiner Steuererklärung zu verzichten. Anders als von der Finanzverwaltung und den Staatsanwaltschaften im Streitfall gerne suggeriert wird, haben auch die Finanzbehörden tatsächlich kein Interesse an der umfänglichen Darstellung jeder denkbaren Zweifelsfrage. Hierbei handelt es sich um ein Problem der schlichten Masse von Erklärungen. Die Finanzverwaltung legt Wert auf Formalisierung. Bei den Aspekten, über die wir vorliegend sprechen, handelt es sich durchgängig um Details, die in den Erklärungsformularen der Verwaltung gerade nicht abgefragt werden. Wollte die Finanzverwaltung ernsthaft, dass zu jeder Zweifelsfrage (d.h. auch zu denen, die das Finanzamt später im Sinne des Steuerpflichtigen behandelt) eine umfängliche Sachverhaltsdarstellung geliefert würde, so wäre das System der bisherigen Abgabe von Steuererklärungen nach Formular schnell gesprengt. Die Abgabe von Steueranmeldungen auf elektronischem Wege – beispielsweise für die praktisch höchst bedeutsamen USt.-Voranmeldungen – würde unmöglich gemacht. Die Finanzverwaltung will keine umfassende Sachverhaltsdetaillierung zu jeder abgegebenen Steuererklärung. Werden über die Erklärungsformulare hinaus ergänzende Erläuterungen gegeben, so bildet dies einen Störfall, welcher nicht zum Regelfall werden darf. Die gleichen sachlichen Zwänge treffen selbstverständlich den Steuerpflichtigen, zumindest wenn es sich um keine ganz einfach strukturierte Steuerveranlagung handelt. Meilicke hat schon früh darauf hingewiesen, dass Unternehmen ab einer gewissen Größe ihre Steuererklärung per LKW zu dem Finanzamt bringen müssten, wenn man von ihnen ernstlich verlangen wollte, sämtliche rechtliche Zweifelsfragen ihrer Erklärungen nicht nur zu entscheiden, sondern sie mit umfassenden Sachverhaltsdokumentationen zu versehen10. Die berechtigten Interessen aller Beteiligten im Besteuerungsverfahren führen folglich dazu, dass nicht zu jeder Zweifelsfrage in einer Steuererklärung ergänzende Sachverhaltsdarstellungen erfolgen können. Der Bereich der „erweiterten Offenbarungspflicht“ im Sinne der Rechtsprechung des BGH muss

___________ 10 Meilicke, BB 1984, 1885 ff.

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daher klar definiert werden und kann sich nicht wahllos auf alle Rechtsfragen erstrecken, zu denen man verschiedene Ansichten vertreten kann. 3. Rückführung der Erklärungsinhalte auf Tatsachenangaben und der maßgebliche Empfängerhorizont Für die Festlegung des Bereichs, in dem die vom BGH angeführten „erweiterten Offenbarungspflichten“ gelten, ist strafrechtlich vom Wortlaut des Straftatbestands auszugehen. Zu fragen ist, in welcher Form und bis zu welcher Grenze sich die Zugrundelegung bestimmter Rechtsansichten unter die Verhaltensbeschreibung des Tatbestands subsumieren lässt. § 370 Abs. 1 Nr. 1 setzt voraus, dass unrichtige oder unvollständige Tatsachenangaben gemacht werden. Die Eintragungen in die vorgegebenen Felder des Steuererklärungsformulars bestehen zum ganz überwiegenden Anteil aus Betragsangaben. Die vom Steuerpflichtigen einzutragenden Zahlen sind das Ergebnis einer rechtlichen Würdigung. Denn beispielsweise setzt die Ermittlung der „Einnahmen“ aus einem Vermietungsobjekt eine Subsumtion unter die Vorschriften des § 21 EStG und § 10 EStG (wenn nicht noch weiterer Vorschriften) voraus. Die Mitteilung einer rechtlichen Bewertung stellt aber im Normalfall keine Tatsachenangabe im Sinne des Strafgesetzes dar11. Das Steuerstrafrecht behilft sich in dieser Situation mit einem Kunstgriff: Hinter der konkret mitgeteilten Zahl als Subsumtionsergebnis kann sich eine unübersehbare Vielzahl von denkbaren Sachverhalten verbergen. Allgemein wird nun so vorgegangen, dass man prüft, ob der nach dem Ergebnis der Ermittlungen feststellbare wahre Sachverhalt zu der Gruppe der möglichen Sachverhalte zählt, die zu dem konkreten Subsumtionsergebnis führen können. Solange dies der Fall ist, liegen keine unrichtigen oder unvollständigen Tatsachenangaben vor. Stellt man hingegen fest, dass der verwirklichte Sachverhalt nicht mehr zu der Gruppe der Sachverhalte zählt, die in das konkrete Subsumtionsergebnis münden können, so liegen unrichtige Tatsachenangaben vor. Im Beispiel 1 würde man also untersuchen, ob der für das konkrete Jahr mitgeteilte Betrag der Betriebsausgaben in Höhe von beispielsweise 30.000 Euro durch die verwirklichten Sachverhalte gedeckt ist. Lassen sich zunächst nur betrieblich bedingte Aufwendungen von 28.800 Euro feststellen und entfällt die Differenz auf den Kauf eines Anzugs im Wert von 1.200 Euro, so bleibt die Frage, ob dieser Sachverhalt (Anschaffungskosten eines Anzugs) noch zu der Gruppe der mit dem Subsumtionsergebnis von „30.000 Euro“ mitgeteilten möglichen Sachverhalte zählt. Ebenso würde man genau betrachtet im Beispiel 3 vorgehen: Zählt das Geschäftsführergehalt von 480.000 Euro bei einem mitgeteilten Gewinn der Gesellschaft von 360.000 Euro und verdeckten Gewinnausschüttungen (für die das Erklärungsformular ein eigenes Feld vorsieht) von 0 Euro noch zu der Gruppe der sich hinter dieser Zahl mög-

___________ 11 Zu der Frage, wann Rechtsbehauptungen ausnahmsweise als Tatsachenangaben im Sinne des Betrugstatbestands angesehen werden, vgl. Hefendehl in Münchener Kommentar, StGB, 2006, § 263 Rz. 70; Kindhäuser in Nomos-Kommentar, StGB, 3. Aufl. 2010, § 263 Rz. 89.

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licherweise verbergenden Sachverhalt oder liegt der wahre Sachverhalt außerhalb der gleichsam als miterklärt geltenden Sachverhaltsvariationen? Die beschriebene Herangehensweise ist vergleichbar mit der allgemeinen Auslegung des Betrugstatbestands, wonach auch schlichte Rechtsbehauptungen (z.B.: „Ich bin Eigentümer des zum Kauf angebotenen PKWs“) als Täuschung über Tatsachen in Betracht kommen sollen, da die dahinterstehenden Tatsachen konkludent als miterklärt gelten. Man wird allerdings zugeben müssen, dass im Steuerstrafrecht weit komplexere „Rechtsbehauptungen“ zu Tatsachenangaben umdefiniert werden, als man dies für eine Tatsachentäuschung im Betrugstatbestand jemals akzeptieren würde. An der Stelle, welche Sachverhalte noch als miterklärt gelten können, setzt der beschriebene Konflikt um die zugrunde zu legende Rechtsansicht ein. Geht man mit dem 5. Strafsenat und der einheitlichen steuerlichen Literatur davon aus, dass der Steuerpflichtige seinen Erklärungen prinzipiell jede Rechtsauffassung zugrunde legen darf, so müsste man eigentlich annehmen, dies sei auch der Maßstab, nach dem sich die Gruppe der durch das Subsumtionsergebnis mitgeteilten Sachverhaltsvariationen bestimmt. Auch der Anzugkauf des A könnte dann nicht zu unrichtigen Angaben im Sinne des Tatbestands führen, denn schließlich ist die Annahme von betrieblich bedingtem Aufwand in dem Beispielsfall 1 nicht logisch unsinnig und insofern rechtlich nicht unvertretbar. Der BGH will dies einengen und beruft sich hierfür auf den Empfängerhorizont der Finanzbehörde als Erklärungsadressaten. Ergänzend führt der Senat in seiner Entscheidung die gesetzliche Verpflichtung des Steuerpflichtigen zur Abgabe von vollständigen und wahrheitsgemäßen Steuererklärungen an (§ 90 Abs. 1 Satz 2 AO). Letztlich ist dies, wenn man ehrlich ist, nichts anderes als eine willkürliche, normative Grenzziehung, die der Stabilisierung des geltenden Systems dient12. Denn wer dem Steuerpflichtigen erlaubt, seiner Erklärung jede denkbare Rechtsauslegung zugrunde zu legen, ohne dies irgendwie einzugrenzen und den Steuerpflichtigen insofern zu weitergehender Information zu verpflichten, der führt das Veranlagungssystem der AO als Massenverwaltungsverfahren ad absurdum. Die Steuererklärungen wären, wenn jedermann von der Zugrundelegung „seiner Rechtsauffassung“ Gebrauch machen würde, für eine gleichheitsgerechte Steuererhebung nicht mehr zu gebrauchen. Im Ergebnis ist es deshalb unumgänglich, sich mit dem BGH um eine Eingrenzung zu bemühen, wenngleich unter dem Aspekt des Wortlauts der Strafvorschrift ein gewisses Unbehagen verbleibt. Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen für den BGH ist die Bezugnahme auf den Erklärungshorizont der Finanzverwaltung. Dies wird in der Literatur

___________ 12 Streng genommen handelt es sich um einen Zirkelschluss, denn die Mitwirkungspflichten der Steuerpflichtigen im Rahmen der Steuererklärung werden richtigerweise durch die von der Finanzbehörde herausgegebenen amtlichen Formulare begrenzt und konkretisiert, grundlegend hierzu Schick, StuW 1988, 301 ff.; wenn aber die Finanzverwaltung in den Vordrucken nur die Mitteilung von Subsumtionsergebnissen verlangt, fragt man sich, woher eine darüber hinausgehende Mitteilungspflicht kommen soll.

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kritisiert13. M.E. ist diese Position zumindest im Ausgangspunkt zutreffend. Denn es entspricht der allgemeinen Vorgehensweise, den Inhalt von Erklärungen aus der Sicht des Adressaten zu bestimmen (vgl. nur § 133 und § 157 BGB). Allerdings handelt es sich um einen Trugschluss, wenn Rolletschke und andere meinen, dass damit zwangsläufig auf die in den Erlassen und Richtlinien der Finanzverwaltung dokumentierte Rechtsansicht der Behörden abgestellt werden müsse14. Denn wie allgemein üblich ist der objektivierte Empfängerhorizont maßgebend. Hieraus folgt bereits, dass nicht ein Beteiligter der Kommunikationsbeziehung einseitig den maßgeblichen Auslegungshintergrund bestimmen kann. a) Maßgeblichkeit der BFH-Rechtsprechung Maßstab für die Auslegung der Steuererklärung aus objektiver Sicht muss zunächst die geltende höchstrichterliche Rechtsprechung sein. Dies wird auch von niemandem ernsthaft bezweifelt. Wer also seine Erklärung in Übereinstimmung mit der Rechtsauslegung des BFH verfasst, der kann sich auf die Mitteilung des Subsumtionsergebnisses beschränken und hat keinerlei weitere Offenbarungspflichten. Richtigerweise kommt es an dieser Stelle nicht darauf an, ob die betreffende Entscheidung des BFH im BStBl. II veröffentlicht und damit durch die Finanzverwaltung für verbindlich erklärt worden ist. Selbst Urteilen, die mit einem Nichtanwendungserlass belegt worden sind, darf der Steuerpflichtige folgen, ohne dies besonders offenlegen zu müssen15. Anders herum gilt: Wer von der Auslegung steuerlicher Vorschriften, wie sie sich aus der geltenden Rechtsprechung des BFH ergibt, abweicht, der macht unrichtige Angaben im Sinne des Tatbestands, wenn er dies nicht offenbart oder den Sachverhalt offenlegt. Dies erklärt, warum man dem A im Beispielsfall 1 den Vorwurf machen kann, unrichtige Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen gemacht zu haben, denn nach Rechtsprechung des BFH fallen Kosten für „bürgerliche Kleidung“ unter das Abzugsverbot des § 12 EStG, selbst wenn sie tatsächlich ausschließlich beruflich getragen werden16. Eine hiervon abweichende Rechtsauffassung darf der Steuerpflichtige in seiner Erklärung zwar vertreten, die Finanzbehörde als Adressat muss diese Rechtsauslegung aber nicht gleichsam „mitdenken“, sondern darf erwarten, dass der Erklärende dies offenlegt und sich nicht auf die bloße Mitteilung „seines“ Subsumtionsergebnisses beschränkt. Für die Praxis ist mit dieser ersten Festlegung noch wenig geholfen, denn nur wenige Zweifelsfälle bei der Erstellung von Steuererklärungen lassen sich auf

___________ 13 Kritisch etwa J. Müller, Vorsatz und Erklärungspflicht im Steuerstrafrecht, S. 260 f. m.w.N. 14 Rolletschke in Kemper/Rolletschke, Steuerverfehlungen, § 370 Rz. 47; ähnlich Meine, wistra 1992, 84 und Seer in Tipke/Kruse, AO, § 150 Rz. 17 sowie Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 10. Aufl. 2008, § 23 Rz. 24. 15 Dem zustimmend wohl auch Rolletschke in Kemper/Rolletschke, § 370 Rz. 47; strenger hingegen Seer (Fn. 14). 16 Zuletzt BFH v. 6.6.2005 – VI B 80/04, BFH/NV 2005, 1792; weiterführend Drenseck in Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 9 Rz. 172 f.

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Grundlage der BFH-Rechtsprechung eindeutig in dem einen oder dem anderen Sinne entscheiden. b) Konflikt von Verwaltungsauffassung und anderen Autoritäten Die erste wirklich problematische Gruppe bilden die Fälle, in denen der Steuerpflichtige in seiner Erklärung von der veröffentlichten Rechtsauslegung der Finanzverwaltung, also beispielsweise eindeutigen Vorgaben der ESt.-Richtlinien oder einem anderen bundeseinheitlichen Erlass, abweichen will, ohne dies in seiner Steuererklärung kenntlich zu machen (und ohne sich auf ein abweichendes BFH-Urteil berufen zu können). Seer argumentiert, der Steuerpflichtige müsse in diesem Fall zu einem ergänzenden Hinweis (d.h. einem Rechtshinweis oder einer Sachverhaltsvervollständigung) verpflichtet sein, da den Finanzämtern anderenfalls die Möglichkeit genommen werden würde, ihre Rechtsauslegung überhaupt geltend zu machen und gegebenenfalls in einem Rechtsbehelfsverfahren durchzusetzen17. Dagegen ist einzuwenden, dass es die Finanzbehörden bereits durch die Gestaltung der Erklärungsvordrucke und durch die Vorgaben darüber, welche Unterlagen der Steuererklärung beizufügen sind, in der Hand haben, ihre Interessen an einer vollständigen Sachverhaltskenntnis durchzusetzen. Strafrechtlich gilt das ultima-ratio-Prinzip. Dies spricht dafür, die von der Verwaltung durch Erlasse etc. vorgegebene Erwartungshaltung nur in modifizierter Form für maßgebend zu erklären. Anderenfalls würde die Verwaltung letztlich über die Reichweite der Strafbarkeit entscheiden. Denn als Vergehen strafbar ist bereits die versuchte Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 2 AO). Hierfür reicht es aus, wenn der Betroffene unrichtige Angaben macht und dabei eine Steuerverkürzung für möglich erachtet, selbst wenn sich seine Rechtsauffassung im Ergebnis als zutreffend erweist. Wer sich also beispielsweise an der Entscheidung eines Finanzgerichts oder an den Ausführungen in einer der führenden Kommentierungen orientiert, die den Verwaltungsrichtlinien widerspricht, der wäre wegen versuchter Steuerhinterziehung zu belangen, sobald er seine Erklärung auf die Mitteilung des Subsumtionsergebnisses beschränkt, selbst wenn er den sich nach der Aufdeckung des Sachverhalts anschließenden Rechtsstreit bis vor den BFH gewinnt. Denn er hätte nach der Auffassung von Seer u.a. vorsätzlich unrichtige Angaben gemacht und es dabei wohl billigend in Kauf genommen, dass ein möglicherweise doch existierender Steueranspruch nicht festgesetzt wird. Gerade derjenige Steuerpflichtige, der sich beraten lässt und über die Auffassung der Finanzverwaltung aufgeklärt wird, wird sich nämlich kaum damit verteidigen können, er habe die Existenz eines Steueranspruchs für absolut ausgeschlossen erachtet. Der Fall lässt sich folglich nicht über die subjektive Tatseite lösen, sobald man das Vorliegen von unrichtigen Tatsachenangaben bejaht. Im Ergebnis muss deshalb bei einem Abweichen von Erlassen und Vorgaben der Finanzverwaltung differenziert werden. Dies gilt zum einen für die Auswahl der zu berücksichtigenden Verwaltungshinweise. Die Erlasslage ist unübersichtlich. Zu einer Reihe von Fragen wird man erst nach längerem Su-

___________ 17 Seer (Fn. 14).

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chen überhaupt fündig. Solche versteckten Hinweise können nicht über die Reichweite der Strafbarkeit bestimmen. Bedeutung für die Auslegung von § 370 Abs. 1 AO können daher nur die amtlich veröffentlichten Richtlinien der Finanzverwaltung haben. Dies entspricht auch den Formulierungen des BGH aus dem Urteil vom 10.11.1999. Jedoch können auch die Richtlinien nicht einseitig herangezogen werden. Wie bereits das Beispiel der Nichtanwendungserlasse zeigt, ist die Finanzverwaltung in dem Vertrauen auf die „Richtigkeit“ der in den Steuererklärungen mitgeteilten Subsumtionsergebnisse strafrechtlich dann nicht geschützt, wenn es sich um eine kontrovers diskutierte Rechtsauffassung handelt. Sprechen sich verbreitete Kommentare oder sogar Entscheidungen der Finanzgerichte gegen die in den Richtlinien niedergelegte Gesetzesauslegung aus, so kann dem Steuerpflichtigen bei bloßer Mitteilung des Subsumtionsergebnisses nicht der Vorwurf gemacht werden, er habe einen unzutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt. In dieser Konstellation begeht der Steuerpflichtige weder eine vollendete Straftat noch den Versuch einer Steuerhinterziehung, wenn er seiner Erklärung verdeckt die ihm günstige Rechtsansicht zugrunde legt18. Welche Position der BGH zu dieser Fallgruppe einnimmt, ist bedauerlicherweise unklar. Die Entscheidung vom 10.11.1999 äußert sich nicht eindeutig zu der Frage, ob aufklärungsbedürftige Verhältnisse auch dann vorliegen, wenn sich die vom Senat aufgeführten Autoritäten (Rechtsprechung/Verwaltungsrichtlinien/allgemeine Veranlagungspraxis) widersprechen. Harms hat nachfolgend ausgeführt, bei Berufung auf „seriöse Quellen“ bestehe keine erweiterte Hinweispflicht, sie bestehe nur, wenn „man von allen gängigen Rechtsauffassungen“ abweiche19. Dies spricht für die hier dargelegte Interpretation. Klargestellt hat der BGH selbst dies aber bis heute nicht20. c) Erweiterte Offenbarungspflicht bei nur vermuteter Abweichung der Finanzverwaltung? Die letzte und in der Praxis tatsächlich sehr relevante Gruppe bilden die Fälle, in denen der Steuerpflichtige eine bestimmte Rechtsfrage als problematisch erkennt, eine abweichende Auffassung der Finanzverwaltung aber nur für möglich hält. Der 5. Strafsenat hatte in seinem Urteil vom 10.11.1999 aus-

___________ 18 A.A. FG München v. 16.8.2007 – 13 V 1918/07, juris; in der zitierten Aussetzungsentscheidung ging es um die Frage der rückwirkenden Absenkung der Beteiligungsgrenze in § 17 EStG. Fraglich war, ob der Steuerpflichtige einen Beteiligungsverkauf erklären musste, obwohl andere Finanzgerichte in Aussetzungsbeschlüssen zuvor eine verfassungskonforme Reduktion des Wortlauts befürwortet hatten. Das FG München bejahte dies unter Berufung auf das BGH-Urteil v. 10.11.1999, ohne das hier beschriebene Problem zu erkennen. 19 Harms, Stbg. 2005, 12 (14), die zum Zeitpunkt der Leitentscheidung vom 10.11.1999 Vorsitzende des 5. Strafsenats war. 20 Die Entscheidung BGH v. 23.2.2000 – 5 StR 570/99, wistra 2000, 217, führt in diesem Punkt nicht weiter, denn dort berief sich der Angeklagte lediglich auf einen Zeitungsartikel aus der Süddeutschen Zeitung, in dem über die mögliche Steuerfreiheit von „Scheinrenditen“ berichtet, aber gleichzeitig auch die entgegenstehende Rechtsansicht der Finanzverwaltung dargestellt wurde. Dies reichte dem BGH nicht aus, um eine Offenbarungspflicht zu verneinen – anders als in der hier diskutierten Konstellation gab es dort auch keinen greifbaren „Autoritätenkonflikt“.

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drücklich offengelassen, ob in dieser Konstellation eine Verpflichtung zu erweiternden Angaben besteht. Bedeutung hat auch insoweit die Überlegung zur Reichweite der Versuchsstrafbarkeit. Die Erfolgsbeschreibung des Straftatbestands, das Merkmal der Steuerverkürzung, stellt ein normatives Tatbestandsmerkmal dar. Ausreichend für eine Versuchsstrafbarkeit hinsichtlich des tatbestandlich Erfolgs ist es bereits, wenn der Steuerpflichtige bei einer Parallelwertung in der Laiensphäre die Existenz eines nicht festgesetzten Steueranspruchs für konkret möglich erachtet. Wer aber bei bloßer Mitteilung der von der Finanzverwaltung in ihren Erklärungsvordrucken abgefragten Subsumtionsergebnisse unrichtige Angaben bereits dann bejaht, wenn der Steuerpflichtige eine abweichende Ansicht der Finanzverwaltung nur für möglich erachtet, der lässt bei genauer Betrachtung eine Flut von Versuchstaten entstehen. Denn in der Masse der Fälle machen die Steuerpflichtigen keine ergänzenden Angaben, nur weil sie eine abweichende Auffassung ihres Finanzamts für möglich halten. Und in Wirklichkeit haben die Finanzämter mit ihrer dünnen Personaldecke auch kein Interesse daran, in jedem dieser Fälle ergänzende Erläuterungen zur Steuererklärung zu erhalten. Was geschieht, wenn man eine Strafbarkeit abstrakt bereits dann bejaht, wenn nur die Möglichkeit einer abweichenden Rechtsansicht des Finanzamts besteht, ist Folgendes: Es entsteht ein Reservoir von Sachverhalten, in denen formal die Voraussetzungen strafbaren Verhaltens erfüllt sind. Diese Fälle werden keineswegs alle aufgegriffen. Vielmehr zieht die Finanzverwaltung den (latenten) Vorwurf des strafbaren Verhaltens nur dann heran, wenn es opportun erscheint, d.h., wenn beispielsweise der Steuerpflichtige sich neben der abweichenden Rechtsansicht verfahrensrechtlich auf Verjährung beruft oder wenn der Steuerpflichtige aus anderen Gründen diszipliniert werden soll. § 370 AO wird bei dieser Rechtsauslegung missbraucht, die strafrechtliche Verfolgung wird faktisch in das Belieben der Behörde gestellt21. Im Ergebnis ist allein die Möglichkeit, die Finanzbehörde könnte eine abweichende Rechtsansicht vertreten, nicht ausreichend, um eine erweiterte Erklärungspflicht auszulösen. d) Resümee Für die Frage, wann eine Konstellation „objektiv zweifelhaft“ ist, sodass den Steuerpflichtigen eine erweiterte Offenbarungspflicht trifft, ist vorrangig auf die geltende Rechtsprechung abzustellen. Bei unklarer Rechtslage und fehlender höchstrichterlicher Rechtsprechung muss der Steuerpflichtige sich an den Richtlinien der Finanzverwaltung orientieren, er darf aber ergänzend auch die Rechtsprechung der Finanzgerichte und die Kommentarliteratur heranziehen. Ein (verdecktes) Abweichen von den Richtlinien stellt dann keine Verletzung

___________ 21 Letztlich wäre dies im Übrigen auch für die Behörden nicht unproblematisch, denn schließlich handelt es sich auch bei dem Versuch der Steuerhinterziehung um ein Offizialdelikt, sodass – wenn man der hier als verfehlt bezeichneten Rechtsansicht folgt – jeweils der Vorwurf der Strafvereitelung im Amt zu prüfen wäre, wenn die Finanzverwaltung unkommentierte Steuererklärungen trotz zweifelhafter Rechtslage akzeptiert.

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der Erklärungspflichten dar, wenn die Rechtslage offenkundig streitig ist und der Steuerpflichtige sich für sein Abweichen auf finanzgerichtliche Entscheidungen oder andere Autoritäten wie anerkannte Kommentierungen berufen kann. Äußern sich die Richtlinien der Finanzverwaltung nicht zu der relevanten Rechtsfrage, so ist der Steuerpflichtige prinzipiell frei. Er kann jede objektiv nachvollziehbare, ernsthaft vertretbare Rechtsansicht zugrunde legen, auch wenn er eine abweichende Auffassung des Finanzamts konkret für möglich erachtet22. Im Beispielsfall 2 kann dem B somit nicht der Vorwurf einer versuchten oder vollendeten Steuerhinterziehung gemacht werden. Der Verzicht auf einen weitergehenden Hinweis war legitim, auch wenn der B dabei aufgrund der Mitteilung seines Steuerberaters eine abweichende Auffassung der Finanzverwaltung für möglich erachten musste und die Existenz eines Steueranspruches für möglich hielt. Denn bei Auslegung der Erklärung ist zu bedenken, dass Einkünfte aus § 20 EStG stets ein Entgelt für eine überlassene Kapitalnutzung darstellen. Im Beispielsfall ist dem Erwerber aber für den Zeitraum zwischen Januar und April tatsächlich kein Kapital durch den B zur Nutzung überlassenen worden. Vielmehr gleicht die Zinsberechnung lediglich den Vorteil aus, der für den Anteilserwerber dadurch entsteht, dass ihm der laufenden Gewinn des Jahres 2009 zusteht, obwohl der Kaufpreis auf den 31.12.2008 berechnet ist. Damit handelt es sich nach objektiv vertretbarer Rechtsauslegung bei den zusätzlich gezahlten 10.000 Euro um einen weiteren Bestandteil des Kaufpreises, der zu dem nach § 17 EStG steuerfreien Veräußerungserlös zählt23. 4. Übertragung auf Unterlassungskonstellationen im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO Der 5. Strafsenat stellt für seine Lösung maßgeblich auf die Pflicht des Steuerpflichtigen zur Vollständigkeit bei Erfüllung seiner Mitwirkungspflichten ab (§ 90 Abs. 1 Satz 2 AO). Der BGH will wohl in dem verdeckten Vertreten abweichender Rechtsansichten keine „unrichtige“, sondern lediglich eine „unvollständige“ Angabe im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO sehen. Richtigerweise ist dies aber nur ein Spiel um Worte. Denn gerade wegen der gesetzlichen Vollständigkeitspflicht ist jede „unvollständige“ Angabe im Rahmen der Steuererklärung stets auch eine „unrichtige“ Angabe über den pflichtgemäß mitzuteilenden Gesamtsachverhalt. Insoweit ist es irrelevant, ob man im vorliegenden Zusammenhang von unrichtigen oder von unvollständigen

___________ 22 In diesem Sinne auch die überwiegende Kommentarliteratur, vgl. nur Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl. 2009, § 370 Rz. 128a; Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 370 Rz. 86 f.; Ransiek in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 Rz. 237 ff.; Meyer in Beermann/Gosch, AO, § 370 Rz. 41. 23 In dem echten Fall hat das Finanzamt im Klageverfahren den angefochtenen Bescheid aufgehoben, nachdem das Finanzgericht einen rechtlichen Hinweis erteilt hatte. Das eingeleitete Steuerstrafverfahren war zuvor, nach Vorlage der Klagebegründung, durch die Straf- und Bußgeldsachenstelle nach § 153a StPO eingestellt worden.

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Tatsachenangaben spricht, letztere Bezeichnung im Gesetzestext dient nur der Klarstellung24. Der Begründungsansatz des BGH lässt aber einen anderen Zusammenhang klar erkennen: Die Strafbarkeit hängt von der Reichweite der steuerlichen Mitwirkungspflichten ab. Dies bedeutet umgekehrt, dass es nicht darauf ankommt, ob eine Handlungssituation oder eine Unterlassungssituation gegeben ist. Im Beispielsfall 2 macht der B sich nur dann strafbar, wenn man ihn durch das Steuergesetz für verpflichtet hält, den rechtlich zweifelhaften Sachverhalt dem Finanzamt vorzutragen. Ob er daneben noch andere Einkünfte erzielt oder nicht (d.h., ob er zu weitergehenden Einkünften Angaben macht oder nicht), ist für die strafrechtliche Lösung irrelevant. Auch in der reinen Unterlassungssituation beantwortet sich die Frage nach der Strafbarkeit mithin nach den identischen Kriterien. Der BGH selbst hat dies in seiner nachfolgenden Entscheidung vom 23.3.2000 anerkannt25. Auch bei einem bloßen Unterlassen bleibt der Steuerpflichtige dann straflos, wenn er eine objektiv vertretbare Rechtsansicht in dem oben beschriebenen Sinne vertritt. Ist die Rechtsauffassung, auf deren Grundlage er zur NichtSteuerbarkeit des maßgeblichen Sachverhalts gelangt, hingegen objektiv zweifelhaft im oben beschriebenen Sinne, dann ist er zur Abgabe einer Steuererklärung und in diesem Zusammenhang zur Mitteilung von Sachverhalt oder Rechtsauffassung verpflichtet. Verstößt er gegen diese Pflicht, erfüllt er das Handlungsunrecht nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO. 5. Besonderheiten bei Angemessenheits-Bandbreiten und steuerlichen Formvorschriften Vor dem dargestellten Hintergrund erscheint es zunächst überraschend, wenn der allgemeinen Praxis folgend im Beispielsfall 3 keine strafbare Steuerhinterziehung in Bezug auf die verdeckten Gewinnausschüttungen nach § 8 Abs. 3 KStG angenommen wird. Denn nach der Lage der Richtlinien und der allgemeinen Veranlagungspraxis haben die Geschäftsführervergütungen recht eindeutig zu verdeckten Gewinnausschüttungen im Sinne der Finanzverwaltung geführt. Der C ist der beherrschende Gesellschafter. In dieser Situation wird die vereinbarte Tantiemezahlung durch die Finanzverwaltung nur anerkannt, wenn sie vorab klar und eindeutig vereinbart ist. D.h. insbesondere auch, dass im Voraus eine eindeutige Bemessungsgrundlage für die Tantieme vereinbart worden sein muss26. Eine „Gewinnabsaugung“, die zur verdeckten Gewinnausschüttung führt, liegt zudem nach Auffassung der Finanzverwaltung im Regelfall vor, wenn die Geschäftsführervergütung mehr als 50% des zur Verfügung stehenden Jahresüberschusses ausmacht27. Darüber hinaus darf nach

___________ 24 Vgl. nur Schmitz/Wulf in Münchener Kommentar, StGB, 2010, § 370 AO Rz. 210. 25 BGH v. 23.2.2000 – 5 StR 570/99, wistra 2000, 217; hierzu auch Randt in FS Schaumburg, 2009, S. 1255 ff. 26 Vgl. nur Abschnitt 36 KStR, unter Abschnitt III, Stichwort „Klare und eindeutige Vereinbarungen“. 27 In diesem Sinne BMF v. 14.10.2002 – IV A 2 - S 2742 - 62/02, BStBl. I 2002, 972.

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der Finanzverwaltung – zumindest im Regelfall – die gezahlte Vergütung nur zu höchstens 25% aus erfolgsabhängigen Bestandteilen, d.h. Tantiemen, bestehen28. Der C ist also in seiner Steuererklärung deutlich von den Vorgaben der Finanzverwaltung abgewichen, indem er „seine übliche Tantieme“ als Geschäftsführergehalt und Betriebsausgabe behandelte, ohne eine Hinzurechnung nach § 8 Abs. 3 KStG vorzunehmen, für die im Übrigen im Erklärungsvordruck durch die Finanzverwaltung ein gesondertes Feld vorgesehen ist. Dass gleichwohl richtigerweise keine steuerstrafrechtlichen Vorwürfe erhoben werden, hat mit zwei Faktoren zu tun: Zum einen handelt es sich bei der Frage nach der Angemessenheit nach der klaren Rechtsprechung des BFH um eine Bandbreitenbetrachtung29. Steuerrechtlich gesehen sind alle Werte, die innerhalb dieser Bandbreite liegen, noch richtige, d.h. vertretbare Subsumtionen unter die maßgeblichen Rechtsbegriffe der Angemessenheit30. Selbst die Grenzen der Bandbreite lassen sich rechtlich zumeist nicht exakt bestimmen, weshalb hier ein außerordentlich weiter Maßstab anzuwenden ist. Zwar dienen die Richtlinien und Erlasse der Finanzverwaltung gerade dem Zweck, diese Bandbreite einzuengen und den Steuerpflichtigen auf bestimmte Werte innerhalb dieser Bandbreite festzulegen. Es ist aber allgemein anerkannt, dass dies für den Steuerpflichtigen letztlich keine Bindungswirkung hat, sodass folglich auch der Empfängerhorizont der Finanzbehörde nicht durch die Erlass- und Richtlinienvorgaben bestimmt werden kann. Trotz der (eindeutigen) Abweichung von den Vorgaben der Finanzverwaltung besteht in dem Bereich, in dem es um die Rechtsfrage der Angemessenheit von Vergütungen und ähnlichen Positionen geht, keine erweiterte Offenbarungspflicht des Steuerpflichtigen. Das mitgeteilte Subsumtionsergebnis lässt sich in diesen Bereichen nicht entsprechend der oben beschriebenen Vorgehensweise auf einen „unzutreffenden Sachverhalt“ zurückführen, einfach weil der Maßstab zur Rückführung der mitgeteilten Beträge auf eine konkrete Gruppe „richtiger“ Sachverhalte zu unbestimmt ist. Darüber hinaus ist eine Abweichung von den Richtlinien der Finanzverwaltung auch dann strafrechtlich nicht relevant, wenn es lediglich um die Frage des formellen Nachweises von Sachverhaltsumständen geht. Das Erfordernis der „klaren und eindeutigen Vereinbarungen“ für die steuerliche Anerkennung der Tantiemezahlungen ist nicht von materieller Bedeutung, sondern beinhaltet steuerlich eine Art Beweisregel: Existiert keine klare und im Vornherein getroffene Vereinbarung, so wird annähernd unwiderruflich vermutet, dass der eintretende Vermögenstransfer durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist. Die Frage der steuerlichen Darlegungs- und Beweislast und die steuerlichen Beweisregeln sind aber für das Strafverfahren und die Feststel-

___________ 28 Abschnitt R 39 KStR, m.w.N. 29 Vgl. nur Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 8 Rz. 312 sowie Schwedhelm in Streck, KStG, 7. Aufl. 2008, § 8 Anh. Rz. 284 ff. mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung. 30 Instruktiv BFH v. 17.10.2001 – I R 103/00, BStBl. II 2004, 171 ff. zur Verrechnungspreisabgrenzung zwischen international verbundenen Unternehmen.

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lung strafrechtlicher Vorwürfe nicht relevant31. Aus diesem Grunde ist auch die Abweichung von den Richtlinien der Finanzverwaltung zu diesen Nachweispflichten strafrechtlich nicht von Bedeutung. Strafrechtlich ist die Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis im Beispielsfall eigenständig und materiell festzustellen. Kann ein solcher Beweis nicht erbracht werden, so scheiden strafrechtliche Vorwürfe aus.

III. Ergebnis Die Steuerpflichtigen wirken durch die Erfüllung ihrer Mitwirkungspflichten am Besteuerungsverfahren mit. Im Rahmen der Steuererklärungen wird von dem Steuerpflichtigen die Mitteilung steuerlicher Subsumtionsergebnisse verlangt. Hierbei handelt es sich streng genommen um die Mitteilung rechtlicher Bewertungen, die sich nur schwer unter die Handlungsbeschreibung des § 370 Abs. 1 AO subsumieren lässt. Der 5. Strafsenat des BGH hat in seiner Entscheidung vom 10.11.1999 Leitlinien formuliert, innerhalb welcher Grenzen die Zugrundelegungen eigener und von der Finanzverwaltung abweichender Rechtsansichten die Handlungsbeschreibung des Straftatbestands erfüllen. Richtigerweise ist zur Bestimmung des Sachverhalts, welcher unter normativen Gesichtspunkten in der Steuererklärung als miterklärt zu gelten hat, von dem objektivierten Empfängerhorizont auszugehen. Dieser wird vorrangig durch die geltende Rechtsprechung des BFH bestimmt. Existiert zu einer Rechtsfrage keine klare Vorgabe des BFH, so sind die amtlichen Richtlinien sowie die Veröffentlichungen der Finanzgerichte und die anerkannten Kommentierungen heranzuziehen. Will der Steuerpflichtige von der in den Richtlinien veröffentlichten Sichtweise der Finanzverwaltung abweichen, so ist dies in verdeckter Form dann zulässig, wenn die Rechtsfrage streitig ist und er sich für seine Auffassung auf andere Autoritäten berufen kann. Handelt es sich hingegen um eine Rechtsfrage, zu der es keine Vorgaben der Finanzverwaltung in den Richtlinien gibt, so ist der Steuerpflichtige frei, jede gut begründbare Rechtsauffassung zugrunde zu legen, ohne hierauf besonders hinweisen oder den Sachverhalt komplett darstellen zu müssen. Der gleiche Maßstab gilt letztlich auch für den Umfang der Erklärungspflicht in § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO. Schließlich sind Besonderheiten zu bedenken, wenn es um die Einordnung von Sachverhalten in Angemessenheitskategorien oder um besondere steuerliche Beweisregeln geht. In diesen Bereichen scheidet der Vorwurf strafbaren Verhaltens regelmäßig aus, selbst wenn der Steuerpflichtige erkennbar von den entsprechenden Vorgaben der Finanzverwaltung abweicht, ohne sich für seinen konkreten Fall auf eine eindeutige Rechtsprechung o.Ä. berufen zu können.

___________ 31 Zu Einzelheiten vgl. nur Schmitz/Wulf in Münchener Kommentar, StGB, 2010, § 370 AO Rz. 222 ff. m.w.N.

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Entwicklung und Zukunft der Fachanwaltschaften in Deutschland Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Fachanwaltschaften in Deutschland 1. Die geschichtliche Entwicklung der Fachanwaltschaft 2. Der Fachanwaltstitel als Marketinginstrument 3. Qualifizierung unterhalb der Fachanwaltschaft III. Probleme beim Erwerb der Fachanwaltschaft

1. Änderungen beim Weg zum Fachanwalt a) „Zentralabitur“ b) Fallzahlen c) Qualitätsprüfung IV. Qualifizierungen unter oder neben dem Fachanwalt V. Die Beschlüsse der Satzungsversammlung am 25./26.6.2010 VI. Schlussbetrachtung

I. Einleitung Insgesamt 38 475 Fachanwaltsbezeichnungen in den 20 Rechtsgebieten des § 1 FAO waren am 1.1.2010 verliehen, erfahrungsgemäß führen rund 15% der Kolleginnen und Kollegen zwei Fachanwaltstitel; seit dem 1.9.2009 sind drei Fachanwaltstitel zulässig. Der Anteil der Fachanwälte an der Gesamtzahl der Rechtsanwälte ist in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen. Während am 1.1.1997 erst 6,5% der zugelassenen Rechtsanwälte Fachanwälte waren, steigerte sich der Anteil kontinuierlich und beträgt heute deutlich über 20%. Es darf erwartet werden, dass bald jeder 3. Rechtsanwalt eine Fachanwaltsbezeichnung – oder mehrere – führen wird.

II. Fachanwaltschaften in Deutschland Die Diskussion über Fachanwaltschaften hat bereits vor mehr als 80 Jahren begonnen und beschäftigt mehr als alle anderen berufsrechtlichen Themen die Satzungsversammlung. 1. Die geschichtliche Entwicklung der Fachanwaltschaft Bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich in der Anwaltschaft die Erkenntnis durch, dass Rechtsanwälte nicht auf allen Rechtsgebieten über umfassende Rechtskenntnisse verfügen können. Es sei ein Gebot der Stunde, sich auf bestimmte Rechtsgebiete zu spezialisieren und diese Spezialisierung

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auch in Form von Fachanwaltsbezeichnungen kundzugeben1. Der 24. Deutsche Anwaltstag in Hamburg beschloss am 11.9.1929 die Einführung von Fachanwaltschaften und die Einrichtung einer Kommission durch den Vorstand des Deutschen Anwaltvereins in Gemeinschaft mit der Vereinigung der Vorstände der deutschen Rechtsanwaltskammern. Die Kammervorstände verabschiedeten 1930 erstmalig eine Richtlinie zur Einführung von Fachanwaltsbezeichnungen für folgende Gebiete: 1. Steuerrecht, 2. Urheber- und Verlagsrecht, gewerblicher Rechtsschutz, 3. Staats- und Verwaltungsrecht, 4. Ausländerrecht, 5. Arbeitsrecht, 6. Sozialversicherungsrecht. Die Richtlinien sahen vor, dass diese Fachgebietsbezeichnungen erst nach fünfjähriger Zulassung und nach Erteilung einer Unbedenklichkeitsbescheinigung durch die zuständige Rechtsanwaltskammer geführt werden durften2. Während der nationalsozialistischen Diktatur wurde zunächst die Führung von Fachanwaltsbezeichnungen verboten, lediglich der Fachanwalt für Steuerrecht wurde gestattet, allerdings durch den Titel „Steuerberater“ ersetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Führung von Fachanwaltsbezeichnungen in den Bundesländern unterschiedlich gehandhabt. Die Bundesrechtsanwaltskammer beschloss in ihrer 16. Hauptversammlung am 10.10.1986 neben dem Fachanwalt für Steuerrecht die Einführung der Fachanwaltsbezeichnungen Arbeitsrecht, Sozialrecht und Verwaltungsrecht. Bereits die erste Satzungsversammlung beschloss die Fachanwaltschaften Familienrecht und Strafrecht, das Insolvenzrecht wurde aufgrund des Beschlusses der Satzungsversammlung vom 21./22.3.1999 in die Fachanwaltsordnung aufgenommen3. Die 2. Satzungsversammlung beschloss den Fachanwalt für Versicherungsrecht, weil es sich um ein abgeschlossenes Rechtsgebiet handelt, wie dies bei den bisherigen Fachanwaltschaften der Fall war. Die Satzungsversammlung ließ sich bei den späteren Beratungen nicht mehr von der Frage leiten, ob ein in sich geschlossenes Rechtsgebiet Voraussetzung für eine Fachanwaltschaft sein soll, im Vordergrund stand der jeweilige Lebenssachverhalt, der Spezialkenntnisse auf unterschiedlichen Rechtsgebieten erfordert. Die 3. Satzungsversammlung beschloss in ihrer Sitzung am 22./23.11.2004 sechs neue Fachanwaltschaften: 1. Medizinrecht, 2. Miet- und Wohnungseigentumsrecht,

___________ 1 Hartung/Scharmer, Anwaltliche Berufsordnung, 3. Aufl., Einführung zur FAO, Rz. 2 ff. m.w.N. 2 Hartung/Scharmer, Einführung FAO, Rz. 7 m.w.N. 3 Offermann-Burckart, Fachanwalt werden und bleiben, 2. Aufl., Rz. 45 m.w.N.

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Entwicklung und Zukunft der Fachanwaltschaften in Deutschland

3. Verkehrsrecht, 4. Bau- und Architektenrecht, 5. Erbrecht, 6. Transport- und Speditionsrecht. In der 5. Sitzung der Satzungsversammlung am 5.11.2005 wurden die Fachanwaltschaften für gewerblichen Rechtsschutz sowie Handels- und Gesellschaftsrecht und in der 6. Sitzung am 3.4.2006 die Fachanwaltschaften für Urheber- und Medienrecht sowie für Informations-Technologierecht beschlossen. Es folgte dann noch der Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht sowie am 1.7.2009 der Fachanwalt für Agrarrecht4. 2. Der Fachanwaltstitel als Marketinginstrument Die Fachanwaltschaften in Deutschland sind nach überwiegender Meinung ein Erfolgsmodell. So überschreibt das Soldan-Institut für Anwaltsmanagement in einer Pressemitteilung vom 10.5.2010: „Fachanwälte agieren erfolgreich im Markt“. Dort heißt es unter anderem: „Mit dem Erwerb eines Fachanwaltstitels verbinden Rechtsanwälte vor allem die Ziele einer weiteren fachlichen Qualifizierung und der Durchsetzung oder Vertiefung einer bereits vorhandenen Spezialisierung am Rechtsdienstleistungsmarkt. Darüber hinaus versprechen sie sich auch wirtschaftlichen Erfolg in Form der Steigerung ihrer persönlichen Honorarumsätze. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass diese Ziele weitgehend erreicht werden. 55% der befragten Rechtsanwälte haben nach dem Erwerb des Fachanwaltstitels nach eigener Einschätzung ihre Marktstellung verbessert. Zwei Drittel der Fachanwälte waren bereits vor Erwerb des Fachanwaltstitels spezialisiert und konnten diese Spezialisierung in ihrer täglichen Berufsausübung weiter vertiefen. Lag der durchschnittliche Tätigkeitsanteil der Rechtsanwälte auf ihrem Spezialgebiet vor Erwerb des Fachanwaltstitels bei 37%, erhöhte er sich nach der Verleihung des Titels auf 64%. Diese Zahlen unterstreichen die Ergebnisse einer vom Essener Forschungsinstitut durchgeführten Bevölkerungsstudie, nach der Bürger, die ein Rechtsproblem haben, immer stärker nach einem anwaltlichen Spezialisten suchen. Die wirtschaftlichen Folgen der Zugehörigkeit zu einer Fachanwaltschaft werden von 44% der Fachanwälte positiv eingeschätzt. Soweit Steigerungen der persönlichen Honorarumsätze erzielt werden können, sind diese erheblich und liegen bei durchschnittlich 43%. Besonders starke Zuwächse berichten Fachanwälte für Steuerrecht, Medizinrecht, Insolvenzrecht und Arbeitsrecht (jeweils mehr als 50%). Dass Fachanwälte in größerem Ausmaß Mandate aus Rechtsgebieten verlieren, die nicht von ihrer Fachanwaltschaft abgedeckt sind, hat die Untersuchung nicht bestätigt: Nur 13% der befragten Fachanwälte teilen solche Mandatsverluste als Folge ihrer Spezialisierung mit. Prof. Dr. Christoph Hommerich, Direktor des Soldan Instituts: ‚Die Ergebnisse dieser Untersuchung unterstreichen eindrucksvoll die Tendenz zu fortschreitender Spezialisierung im Anwaltsberuf. Mandanten suchen den Spezialisten – und Anwälte reagieren hierauf mit einem entsprechend qualifizierten Angebot, das auch nach außen sichtbar wird.‘ Sein Co-Direktor Dr. Matthias Kilian von der Universität zu Köln ergänzt: ‚Rechtsanwälte werden für den – nach unserer Studie bisweilen mühsamen – Erwerb eines Fachan-

___________ 4 Zur Geschichte s. Quaas in Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 2010, Einführung FAO, Rz. 1 ff.

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Hubert W. van Bühren waltstitels wirtschaftlich belohnt: Sie können am Markt um bis zu 40% höhere Stundensätze abrechnen und ihre Umsätze häufig signifikant steigern.‘ “

Diese Feststellungen von Hommerich entsprechen auch allen weiteren Daten, die es über Umsatzzahlen und Erlöse gibt5. Fachanwälte verdienen – sei es in einer Einzelpraxis, sei es in einer Sozietät – deutlich mehr als Kollegen ohne diese Bezeichnung. 3. Qualifizierung unterhalb der Fachanwaltschaft Doch ist damit alles in Ordnung? Nein – es gibt Handlungsbedarf bei den Fachanwaltschaften. Denn die Diskussionen über den Weg zur Fachanwaltschaft, die Frage der Qualifizierung unterhalb des Fachanwalts oder neben dem Fachanwalt sind voll im Gange. Im Mai/Juni 2010, kurz vor einer Satzungsversammlung, die sich wiederum dem Thema der Fachanwaltschaft gewidmet hat, wurden heftig verschiedene Auffassungen vertreten: „Klagen für den Fachanwalt“ heißt es6 oder „Bessere Fachanwälte durch Zentralabitur“7 und auch „Statt Fachanwalt: Werben mit Zertifizierungen“8. Vertreten wird auch ein „Junior-Fachanwalt“9. Ich selbst habe mich bereits zweimal zu diesem Thema geäußert10.

III. Probleme beim Erwerb der Fachanwaltschaft Wer heute als junge Rechtsanwältin/junger Rechtsanwalt zugelassen wird, muss sich auf dem Markt behaupten; dies geschieht in erster Linie durch Spezialisierung auf einem bestimmten Rechtsgebiet. Dies Spezialisierung muss in geeigneter Form dem rechtsuchenden Publikum vermittelt werden können. In der Regel geschieht dies durch den Titel „Fachanwalt“. 1. Änderungen beim Weg zum Fachanwalt Nach den oben beschriebenen Entwicklungen muss es also für junge Anwälte attraktiv sein, sich möglichst rasch um die Erlangung einer Fachanwaltsbezeichnung zu bemühen. Zunächst geht es um den Erwerb der nach § 4 FAO erforderlichen theoretischen Kenntnisse. Dies geschieht bisher meist noch durch die Teilnahme an Lehrgängen unterschiedlicher Anbieter oder – als neue Entwicklung – durch die Verbindung einer Masterausbildung an einer Fachhochschule11 oder

___________ 5 6 7 8 9 10 11

S. zu den wirtschaftlichen Daten Huff, KammerForum 2009, 163. Schellenberg, AnwBl 2010, 399. Wendt, AnwBl 2010, 416. Brügmann, AnwBl 2010, 417. Offermann-Burckart, BRAK-Mitt. 2009, 258. van Bühren, KammerForum 2009, 65 und 2009, 161. Etwa des Masterstudiengangs „Medienrecht“ an der Fachhochschule Köln.

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Entwicklung und Zukunft der Fachanwaltschaften in Deutschland

Universität12, die in der Ausbildung den Anforderungen des § 4 FAO entsprechen müssen. a) „Zentralabitur“ In der Diskussion sind zurzeit besonders die Abschlussklausuren nach § 4a FAO. Um diese Klausuren, die bisher von den Lehrgangsanbietern selber gestellt und korrigiert werden, gibt es heftige Diskussionen. So wird insbesondere die Einführung eines „Zentralabiturs“ gefordert: Die Klausuraufgaben sollen bundesweit durch eine bei der BRAK angesiedelte Aufgabenkommission erstellt werden. Die Korrektur der Klausuren soll dann durch die Fachausschüsse/ Vorprüfungsausschüsse der regionalen Rechtsanwaltskammern geschehen. Dagegen habe ich – wie jetzt ausdrücklich auch Wendt13 – ganz erhebliche Bedenken und zwar aus folgenden Gründen: Mit der Aufgabenkommission bei der BRAK wird ein neuer – teurer – Apparat geschaffen, der die Fachanwaltsausbildung deutlich verbürokratisiert. Zum einen ist zu überlegen, wer denn in der Lage ist, solche Klausuren zu erstellen. Zudem muss eine enge Abstimmung mit allen Anbietern erfolgen, denn bisher konnten, was meines Erachtens auch sinnvoll war, eigene Schwerpunkte in den einzelnen Lehrgängen gesetzt werden. Zudem wird dann plötzlich – wie an der Universität der Repetitor – von den Teilnehmern in dem Lehrgang auch eine Klausurvorbereitung erwartet. Ob dies wirklich Sinn und Zweck der Lehrgänge sein kann, wage ich sehr zu bezweifeln. Bedenken habe ich auch dagegen, die Korrekturarbeit in die regionalen Vorprüfungsausschüsse zu geben. Denn hier würden wir völlig neue Aufgaben auf diese ehrenamtlich tätigen Ausschussmitglieder übertragen. Ob viele der von den Kammern dringend benötigten erfahrenen Kolleginnen und Kollegen in den einzelnen Fachgebieten bereit sind, auch noch Korrekturaufgaben zu übernehmen, wage ich zu bezweifeln. Nach meiner Übersicht als langjähriger Vorsitzender eines Vorprüfungsausschusses und als Kammerpräsident erwerben mindestens 90% aller Fachanwälte/Fachanwältinnen den Titel ordnungsgemäß („rite“). Es fragt sich, ob wegen dieser geringen Zahl von etwa 10% unredlicher Bewerber das gesamte System, das sich grundsätzlich bewährt hat, geändert werden soll. b) Fallzahlen Ohne die in der Fachanwaltsordnung vorgeschriebenen Fälle gibt es keinen Fachanwaltstitel, ohne Fachanwaltstitel gibt es nicht genügend Fälle. Ich habe dies einmal als „Die Leiden des Schusters Wilhelm V.“ bezeichnet14.

___________ 12 Z.B. an der Universität Düsseldorf bei dem LL.M. „Gewerblicher Rechtsschutz“. 13 Wendt, AnwBl 2010, 416. 14 van Bühren, KammerForum 2009, 65.

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Hubert W. van Bühren

Nur Großsozietäten sind in der komfortablen Situation, die in der Sozietät eingehenden Fälle auf die Bewerberin bzw. den Bewerber zu fokussieren, der sich gerade um eine Fachanwaltschaft bewirbt. Junge Anwälte in Einzelpraxis und in kleineren Sozietäten haben dabei erhebliche Schwierigkeiten. Daher sind hier, ohne Abstriche an der Qualität des Fachanwalts zu machen, einige Änderungen erforderlich. Ich meine, dass auch Fälle aus benachbarten Rechtsgebieten zuzulassen sind, etwa an der Schnittsstelle Familien- und Erbrecht oder Versicherungs- und Verkehrsrecht. Zu denken wäre auch daran, die Hälfte der erforderlichen Fälle durch ein – dann ausführliches – Fachgespräch zu ersetzen. Auch könnte man daran denken, einen Fachanwalt „auf Widerruf“ zu verleihen, wenn die Hälfte der Fälle nachgewiesen ist und während der nächsten drei Jahre die in der FAO vorgesehenen Fallzahlen insgesamt nachgewiesen werden. Dies wäre zwar eine höhere Belastung für den Kollegen, der den Fachanwalt auf diese Weise erhält, aber ihm wird damit die Möglichkeit eröffnet, einmal als Fachanwalt „zu starten“ und Mandate zu erhalten. Dass er sich darum bemühen muss, entspricht den Qualitätsanforderungen an einen Fachanwalt. Auch wenn die Satzungsversammlung am 15.6.2009 meine diesbezüglichen Anträge zurückgewiesen hat, wird über diese und andere Zugangserleichterungen wieder diskutiert, da auch jüngeren Kolleginnen und Kollegen, die nicht in Großsozietäten arbeiten, die Möglichkeit gegeben werden muss, einen Fachanwaltstitel zu erwerben. c) Qualitätsprüfung Der missbräuchliche Erwerb eines Fachanwaltstitels könnte leicht dadurch verhindert werden, dass den Vorprüfungsausschüssen auch ein Prüfungsrecht in fachlicher Hinsicht eingeräumt wird. Es ist Aufgabe der Satzungsversammlung, die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür zu schaffen und dem Gesetzgeber vorzuschlagen. Die Fachanwaltsordnung verbietet eine Qualitätsprüfung durch die Vorprüfungsausschüsse der Rechtsanwaltskammern, da auch falsch bearbeitete Fälle „zählen“. Die Kritik der Vorprüfungsausschüsse an ungeeigneten Kandidaten richtet sich ausschließlich auf fehlende Fachkunde und keineswegs auf handwerkliche oder prozessuale Fehler. Ein Kandidat, der beispielsweise im Versicherungsrecht 80 Fälle falsch bearbeitet hat, erhält den Fachanwaltstitel, wenngleich zu befürchten ist, dass auch die nächsten 80 Fälle nicht besser bearbeitet werden. Solange den Vorprüfungsausschüssen eine fachliche Prüfung untersagt ist, darf die Zulassung als Fachanwalt nicht an der Zahl der – wie auch immer bearbeiteten – Fälle scheitern.

IV. Qualifizierungen unter oder neben dem Fachanwalt Solange wir die Fachanwaltschaften nicht auch für junge, engagierte Anwälte öffnen, wird es weiter die Versuche geben, gegenüber den Mandanten auf andere Art und Weise eine besondere Qualifikation/Spezialisierung nachzuweisen. 652

Entwicklung und Zukunft der Fachanwaltschaften in Deutschland

Private Anbieter haben hier rasch eine Marktchance gesehen und eine Zertifizierung angeboten. Rechtsanwaltskollegen und ich selber als Rechtsanwalt haben mit Unterstützung des Vorstands der Rechtsanwaltskammer bereits im vergangenen Jahr15 und auch in diesem Jahr eine einstweilige Verfügung u.a. gegen die DEKRA Certification GmbH in Stuttgart erwirkt, die mit einem DEKRA-Zertifikat für Rechtsanwälte – unter anderem auch in Gebieten, in denen es Fachanwaltschaften gibt – geworben hat. Unserer Auffassung hat sich auch das LG Köln im Urteil vom 26.11.200916 ausdrücklich angeschlossen und die bisherige Werbung untersagt. Die DEKRA hat mittlerweile angekündigt, keine weiteren Versuche in dieser Richtung zu unternehmen. Gestützt hat das Gericht seine Ansicht insbesondere auf die §§ 3, 5 UWG und § 7 BORA. Erstaunlich ist auch, mit welcher Skepsis verbrauchernahe Organisationen diese „Zertifizierung“ sehen17. Auch vertritt der Vorstand der Kölner Kammer – wie auch ich selber – die Auffassung, dass die Benennung als „zertifizierter Testamentsvollstrecker“ für Rechtsanwälte ohne den Nachweis praktischer Erfahrungen als Testamentsvollstrecker einen Verstoß gegen § 7 Abs. 1 Satz 2 BORA darstellt. Unterstützt werden wir dabei jetzt nicht nur durch den AGH Niedersachsen18 sondern auch durch das OLG Nürnberg19, das seine Auffassung allerdings auf § 6 BORA stützt, weil, wer keine Erfahrung als Testamentsvollstrecker hat, damit auch nicht werben darf. Auch andere Zusatzbezeichnungen20 werden gerne verwendet. Diese lauten etwa „Spezialist“21 (was nur unter engen Voraussetzungen zulässig ist22), „Prädikatsanwalt“ (mittlerweile untersagt und vom Markt verschwunden)23 oder „zertifizierter Rechtsanwalt“24. Brügmann25 plädiert zu Recht dafür, kein öffentlich-rechtliches System der Zertifizierungen zu schaffen. Denn ein solches System begegnete erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich des Art. 12 GG. Die Rechtsanwaltskammer Köln hat sich in dieser Frage durch einstimmigen Vorstandsbeschluss positioniert: Unterhalb des Fachanwaltstitels soll es

___________ 15 LG Köln, BRAK-Mitt. 2009, 91 – zur Beendigung des Verfahrens vor dem OLG Köln s. Huff, BRAK-Mitt. 2009, 165. 16 LG Köln v. 26.11.2009 – 31 O 607/09. 17 S. nur Wilde, AnwBl 2010, 182. 18 AGH Niedersachsen, BRAK-Mitt. 2009, 135. 19 OLG Nürnberg v. 28.5.2010 – 3 U 318/10. 20 S. so anschaulich Wilde, AnwBl 2010, 182 – „Der Angriff auf die Fachanwaltschaften“. 21 S. dazu die Beschlüsse des Vorstands der Rechtanwaltskammer Köln vom 31.10.2009 veröffentlicht in KammerForum 2009, 172. S. auch jüngst den Begriff „Spezialist für Erbrecht“ für einen Nicht-Fachanwalt untersagend das LG München I v. 9.2.2010 – 33 O 427/09. 22 Dazu Huff in Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 1. Aufl. 2010, § 43b BRAO/§ 7 BORA Rz. 41 ff. 23 OLG Nürnberg v. 13.7.2009 – 3 U 525/09 mit Besprechung Huff, ZAP 2009, 1115. 24 Verliehen von dem Anwaltsnetzwerk advounion e.V., dass sich gegenüber der Rechtsanwaltskammer Köln verpflichtet hat, keine neuen „Zertifizierungen“ zu verleihen, sondern nur Fortbildungsnachweise ausgibt. 25 Brügmann, AnwBl 2010, 417.

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Hubert W. van Bühren

keine weiteren Titel geben. Hierdurch würde der Fachanwaltstitel entwertet und verwässert, der rechtsuchende Bürger kann den Unterschied zwischen einer Zertifizierung und einer Fachanwaltsprüfung nur schwer nachvollziehen, sodass auch eine Verwechslungsgefahr besteht. Der „Junior-Fachanwalt“, der Rechtsanwalt „mit geprüftem Schwerpunkt“ ist daher ebenso wenig hilfreich, wie der Titel „zertifizierter Rechtsanwalt“. Rechtsanwälte dürfen ohnehin mit Schwerpunktbezeichnungen und der Bezeichnung „Kanzlei für …“ werben.

V. Die Beschlüsse der Satzungsversammlung am 25./26.6.2010 Die Satzungsversammlung hat beschlossen, den Gesetzgeber aufzufordern, den Prüfungsausschüssen der Rechtsanwaltskammer Prüfungskompetenz einzuräumen. Es wurde ein Prüfungskonzept für Fachanwälte diskutiert, das insbesondere die Stellung einheitlicher, zentral gestellter Klausuren zum Nachweis der theoretischen Kenntnisse eines Fachanwalts vorsieht. Die Korrektur und Bewertung der Klausuren soll durch die Prüfungsausschüsse erfolgen. Dieses oder ein anderes Modell kann erst verwirklicht werden, wenn die Aufforderung an den Gesetzgeber erfolgreich war.

VI. Schlussbetrachtung Der Fachanwaltstitel ist ein Erfolgsmodell und ein wichtiges Werbe- und Kommunikationsmittel. Der Fachanwaltstitel signalisiert geprüfte Qualität und wird vom rechtsuchenden Publikum nachgefragt. Mit den zurzeit vorhandenen zwanzig Fachanwaltschaften dürfte der Bedarf abgedeckt sein, eine Ausweitung auf weitere Fachanwaltschaften erscheint nicht als notwendig. Dem Ausschuss 1 der Satzungsversammlung lagen und liegen mehrere weitere Vorschläge vor, z.B. „Fachanwalt für Sportrecht“, „Fachanwalt für Umweltrecht“, „Fachanwalt für Energierecht“ und „Fachanwalt für Vergaberecht“. Diese Spezialisierungen innerhalb einer bestehenden Fachanwaltschaft sind sicherlich sinnvoll und bisweilen auch notwendig. Es dürfte jedoch genügen, wenn ein Fachanwalt für Verwaltungsrecht als Spezialgebiet „Vergaberecht“ nennt. Die Fachanwaltsordnung hat sich in ihren Grundzügen bewährt, sie bedarf lediglich der Anpassung an die gegenwärtigen Verhältnisse. Alle Nachteile der Fachanwaltsordnung lassen sich dadurch beseitigen, dass bei den Fallzahlen Ersetzungsmöglichkeiten geschaffen und den Vorprüfungsausschüssen, die bislang lediglich eine „Zählkommission“ sind, eine Prüfungskompetenz zugestanden wird.

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Bernhard Dombek

Das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gesetzliche Regelung des Vertrauens 1. Das Vertrauen im Berufsrecht 2. Das Vertrauen im Zivilrecht a) Vertrauen in fachliche Kompetenz b) Vertrauen in anwaltliche Sekundärtugenden c) Vertrauen in Empathie des Anwalts d) Vertrauen ohne persönlichen Kontakt e) Vertrauen in Verschwiegenheit und Integrität f) Vertrauen nur zu natürlichen Personen? 3. Vertrauen des Rechtsanwalts in den Mandanten

a) Vertrauen in Honorarzahlung b) Vertrauen in wahre Informationen c) Vertrauen in blindes Vertrauen des Mandanten d) Kein gegenseitiges Vertrauensverhältnis 4. Honorare des Rechtsanwalts bei Mandatsbeendigung wegen Vertrauensverlust III. Beeinträchtigungen des Vertrauensverhältnisses 1. Recht der freien Anwaltswahl 2. Anwaltszwang 3. Pflichtverteidigung 4. Staatliche Eingriffe in das Vertrauensverhältnis

I. Einleitung Die vor einigen Jahren sehr massiven Bemühungen der Europäischen Kommission um eine Deregulierung der Freien Berufe und damit auch des Berufsrechts der Rechtsanwälte führten zu einer Abwehrhaltung der Organisationen der Freien Berufe, insbesondere der Anwälte. Die Deregulierung sollte nach Auffassung der Kommission zu einer verbraucherfreundlichen Ökonomisierung des Freien Berufs führen. Die Freien Berufe stellten diesem Bemühen eine Rückbesinnung auf ethische Prinzipien ihrer Berufe gegenüber. So geriet auch das in der Vergangenheit selbstverständliche und daher nicht besonders hinterfragte Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant wieder stärker in den Blickpunkt1. Das bedeutet jedoch noch nicht, dass wir Genaueres über dieses Vertrauensverhältnis wissen, worauf es beruht, ob es nur das Vertrauen des Mandanten in seinen Anwalt gibt oder auch umgekehrt das Vertrauen des Anwalts in seinen Mandanten und was bei Beeinträchtigungen des Vertrauensverhältnisses geschieht.

___________ 1 Z.B. Hommerich, Die freien Berufe und das Vertrauen in der Gesellschaft, 2009.

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Bernhard Dombek

Jedermann weiß, dass ebenso wie zwischen Arzt und Patient zwischen Rechtsanwalt und Mandant ein besonderes Vertrauensverhältnis bestehen soll. Das wissen nicht nur alle Rechtsanwälte, sondern alle, die daran denken, anwaltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Fragt man jedoch, was Vertrauen bedeutet, wird der Befragte mit großer Sicherheit in Verlegenheit kommen. Wenn er besonders intelligent ist, wird er Vertrauen vielleicht damit definieren, dass man einem anderen „traut“, eine Definition, die nicht viel weiterhilft. Zuck bezeichnet das Wort „Vertrauensverhältnis“ daher zu Recht als eine Breitbandvokabel2. Sogar der Brockhaus3 tut sich schwer. Er definiert Vertrauen als die Einstellung, einem anderen zu „trauen“, d.h. von ihm nichts Böses zu erwarten. Er spricht von der Geneigtheit, ihn für charakterlich zuverlässig zu halten, sodass seinen Worten und namentlich seinen Versprechungen Glauben zu schenken sei. Vertrauen sei nie eine bloße Meinung vom anderen, sondern ein zu ihm eingegangenes persönliches Verhältnis und damit ein Stück Wagnis, dessen Eingehen indes dazu beitragen könne, im anderen den Willen zur Rechtfertigung des ihm entgegengebrachten Vertrauens zu stärken. Vertrauen sei eine der Grundlagen gemeinschaftlicher Verbundenheit. Besonders erwähnt wird das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Als menschlich-ethische Komponente werde Vertrauen auch dort gefordert, wo sonst Zwecküberlegungen vorherrschten, z.B. im Wirtschaftsleben. Wikipedia versteht unter Vertrauen die Annahme, dass Entwicklungen einen positiven oder erwarteten Verlauf nehmen. Es beschreibe die Erwartung an Bezugspersonen oder Organisationen, dass deren künftige Handlungen sich im Rahmen von gemeinsamen Werten oder moralischen Vorstellungen bewegen werden. Vertrauen werde durch Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Authentizität begründet. Es wirke sich in der Gegenwart aus, sei aber auf künftige Ereignisse gerichtet. Der Begriff des Vertrauens werde in den Wissenschaften unterschiedlich verwendet und sei auch innerhalb einer Disziplin oft umstritten4.

II. Gesetzliche Regelung des Vertrauens Versuchen wir Juristen also, uns über das Gesetz und über die das Gesetz ausfüllende Rechtsprechung dem Begriff des Vertrauens im Verhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt zu nähern. Dabei stellen wir fest, dass unsere Gesetze das Wort „Vertrauen“ fast nicht kennen. Wir finden es in Art. 68 GG, bei der sog. „Vertrauensfrage“ des Bundeskanzlers. Dort ist aber der Vertrauensbegriff nicht auslegungsbedürftig. Vertrauen bedeutet dort lediglich Zustimmung. Das Wort „Vertrauen“ finden wir ferner in § 627 BGB. Diese Vorschrift erwähnt Dienste höherer Art, die aufgrund besonderen Vertrauens übertragen

___________ 2 Zuck in Lingenberg/Hummel/Zuck/Eich, Kommentar zu den Grundsätzen des anwaltlichen Standesrechts, 2. Aufl.1988, § 43 BRAO Rz. 2. 3 Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Aufl. 1986 ff. 4 http://de.wikipedia.org/wiki/vertrauen 24.7.2010.

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Das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt

zu werden pflegen. Auch § 43 BRAO spricht von Vertrauen. Diese Regelung verlangt vom Rechtsanwalt, dass er sich innerhalb und außerhalb des Berufs der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen hat. Die Bundesregierung hat derzeit den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht vorgelegt. Danach soll der absolute Schutz des § 160a Abs. 1 StPO vor strafprozessualen Beweiserhebungs- und Verwertungsmaßnahmen auf alle Rechtsanwälte erstreckt werden. Schließlich lässt § 19 Abs. 5 AGG in einem besonderen Nähe- oder Vertrauensverhältnis ansonsten nach dem AGG unzulässige zivilrechtliche Benachteiligungen ausnahmsweise zu. Sonst suchen wir das Wort „Vertrauen“ in unseren Gesetzen vergeblich. Auch der Index der Kommentierungen zum Bürgerlichen Gesetzbuch hilft nicht weiter. Es sieht also so aus, als sei Vertrauen kein juristischer Begriff. Der ehemalige Vorsitzende des Rates der evangelischen Kirche in Deutschland, Huber, meint in seinem Festvortrag auf dem Deutschen Anwaltstag 2006 daher, dass man unter juristischen Gesichtspunkten diesen Begriff vielleicht sogar für kaum fassbar ansehen muss5. Wir finden aber in den Sachverzeichnissen der Kommentare uns bekannte Worte wie Vertrauenshaftung, Vertrauensinteresse, Vertrauensschaden, Vertrauensschutz, Vertrauensstellung, sodass wir die Hoffnung nicht aufgeben, doch heraus zu finden, was das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Anwalt ausmacht. 1. Das Vertrauen im Berufsrecht Es liegt nahe, die Suche zunächst mit dem Gesetz zu beginnen, das die Berufsausübung der Rechtsanwälte regelt. Prütting6, Feuerich7 und Kleine-Cosack8 äußern sich zu dem Tatbestandsmerkmal Vertrauen in § 43 BRAO mit keinem Wort. Zuck9 meint, dass Vertrauen nicht als allgemeine moralische Kategorie zu verstehen sei, sondern als jene besondere Beziehung, die Dienste höherer Art im Rahmen des Anwaltsvertrages auszeichnet. An dieser Auffassung bestehen zumindest Zweifel. § 43 BRAO ist eine berufsrechtliche Regelung. § 627 BGB, auf den Zuck, ohne ihn an dieser Stelle zu nennen, Bezug nimmt, ist eine Kündigungserleichterung im Dienstvertragsrecht des BGB. In § 43 BRAO ist nicht das individuelle Vertrauen des Mandanten in seinen Anwalt gemeint, sondern das Vertrauen, welches „die Stellung des Rechtsanwalts erfordert“, also ein generalisiertes Vertrauen, das nicht der einzelne Rechtsanwalt beansprucht, sondern der Berufsstand als solcher10. Auffällig ist auch, dass § 43 BRAO im Wesentlichen zwar die frühere Regelung der Rechtsanwaltsordnung vom 1.7.1878 wiederholt. Das Tatbestandsmerkmal Vertrauen fand sich jedoch in § 28 RAO a.F. nicht. Damals lautete die Regelung nur:

___________ 5 6 7 8 9 10

Huber, AnwBl 2006, 537. Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl. 2010, § 43. Feuerich/Weyland, BRAO, 7. Aufl. 2008, § 43. Kleine-Cosack, BRAO, 6. Aufl. 2009, § 43. Zuck in Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 2010, § 43 BRAO Rz. 56. Zu dem generalisierten Vertrauen vgl. Göcken in FS Ulrich Scharf, 2008, S. 211.

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Bernhard Dombek „Der Rechtsanwalt ist verpflichtet, seine Berufstätigkeit gewissenhaft auszuüben und durch sein Verhalten in Ausübung des Berufs sowie außerhalb desselben sich der Achtung würdig zu erweisen, die sein Beruf erfordert11.“

Erst die nationalsozialistische Reichsrechtsanwaltsordnung vom 21.12.1936 fügte in § 31 das Tatbestandsmerkmal Vertrauen ein: „Er hat sich auch außerhalb seiner Berufstätigkeit des Vertrauens und der Achtung würdig zu erweisen, die sein Beruf als Diener am Recht erfordert12.“

Die von der Arbeitsgemeinschaft der Kammervorstände 1949 gewählte siebenköpfige Kommission zur Fertigung des Entwurfs einer Bundesrechtsanwaltsordnung ließ das Tatbestandsmerkmal Vertrauen wieder fallen, allerdings auch das Tatbestandsmerkmal „Achtung“, und formulierte erheblich gravitätischer: „Der Rechtsanwalt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben, wie sein Eid es ihm gebietet. Auch außerhalb seines Berufes muss er die Würde und das Ansehen des Standes wahren.9“

Auch das deutet darauf hin, dass § 43 BRAO nicht von dem individuellen Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant redet, sondern das Vertrauen meint, das in den Beruf des Rechtsanwalts allgemein gesetzt wird. Die Bundesrechtsanwaltsordnung hilft also bei der Suche nach dem Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Anwalt nicht. Die von der Satzungsversammlung der deutschen Rechtsanwälte erstellte Berufsordnung (BORA) erwähnt das Vertrauensverhältnis nur in der erst ab 1.9.2009 geltenden Regelung des § 16a Abs. 3 d), wonach ein wichtiger Grund für die Ablehnung oder Beendigung eines Beratungshilfemandats die schwerwiegende Störung des Vertrauensverhältnisses ist, wenn die Störung auf dem Verhalten oder der Person des Mandanten beruht. Auch § 16a BORA geht also ganz selbstverständlich von einem Vertrauensverhältnis aus, definiert es aber nicht näher. Die BORA regelt in § 29 außerdem, dass bei grenzüberschreitender Tätigkeit die Berufsregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Gemeinschaft (CCBE) gelten. Diese Berufsregeln bestimmen unter der Überschrift „Vertrauen und Würde“ in Ziff. 2.2.: „Das Vertrauensverhältnis setzt voraus, dass keine Zweifel über die Ehrenhaftigkeit, die Unbescholtenheit und die Rechtschaffenheit des Rechtsanwaltes bestehen. Diese traditionellen Werte des Anwaltsstandes sind für den Rechtsanwalt gleichzeitig Berufspflichten.“

Hier werden also Voraussetzungen für ein als selbstverständlich angesehenes, aber nicht näher beschriebenes Vertrauensverhältnis genannt. In den als Voraussetzung genannten Begriffen „Ehrenhaftigkeit“, „Unbescholtenheit“ und „Rechtschaffenheit“ wird der romanische, etwas feierliche Einfluss auf die Berufsregeln deutlich. Im deutschen anwaltlichen Berufsrecht kommen diese Begriffe nicht mehr vor13.

___________ 11 Zitiert nach Isele, BRAO, 1976, S. 490; Koch in Henssler/Prütting, BRAO, Einl. Rz. 5. 12 Zitiert nach Isele, BRAO, 1976, S. 490. 13 Eichele in Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, S. 1741.

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Das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt

§ 43 BRAO der früheren Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts, der sog. Richtlinien, stellte zunächst fest, dass die Beziehungen zwischen Rechtsanwalt und Auftraggeber auf einem Vertrauensverhältnis beruhen. Die Regelung folgerte daraus, dass deshalb die Annahme eines Auftrages in allen Fällen ausgeschlossen sei, in denen dieses Vertrauensverhältnis nicht bestehen könne. Entsprechendes gelte in der Regel für die Beibehaltung eines Auftrages. Das deutsche wie das europäische Berufsrecht der Rechtsanwälte setzt also ein Vertrauensverhältnis als selbstverständlich voraus. Auch die früheren Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts, die sog. Richtlinien, sprachen in § 43 BRAO von einem Vertrauensverhältnis zum Auftraggeber. Aus den Normen des Berufsrechts wird jedoch Näheres über dieses Vertrauensverhältnis nicht erkennbar. 2. Das Vertrauen im Zivilrecht Wenden wir uns also vom Berufsrecht ab und dem Zivilrecht zu. Der zivilrechtliche Gesetzgeber spricht in dem bereits erwähnten § 627 BGB von Vertrauen. Nach dieser Regelung ist bei einem Dienstverhältnis, das kein Arbeitsverhältnis ist, die Kündigung auch ohne wichtigen Grund zulässig, wenn der zur Dienstleistung Verpflichtete, ohne in einem dauernden Dienstverhältnis mit festen Bezügen zu stehen, Dienste höherer Art zu leisten hat, die aufgrund besonderen Vertrauens übertragen zu werden pflegen. Die zu dieser Regelung ergangenen Entscheidungen nähern uns einer Deutung des Wortes „Vertrauen“ nur an, abschließende Aufklärung geben auch diese Entscheidungen nicht. Immerhin erfahren wir im Wege einer negativen Auslese, dass nicht alle Dienste höherer Art solche sind, die aufgrund eines besonderen Vertrauens übertragen zu werden pflegen. Das besondere Vertrauen sei auch nicht nur ein solches in die fachliche Qualität der versprochenen Dienstleistung. Schließlich komme es nicht auf im Einzelfall gewährtes besonderes Vertrauen an, sondern darauf, ob die übertragenen Dienste im Allgemeinen, ihrer Art nach, nur zufolge besonderen Vertrauens übertragen zu werden pflegen14. Außerdem könne eine Vertrauensstörung schon durch unwägbare Umstände, ja durch rational nicht begründbare Empfindungen, die objektiv keinen wichtigen Grund darstellen, eintreten. a) Vertrauen in fachliche Kompetenz Das Argument, das in § 627 BGB erwähnte besondere Vertrauen sei nicht nur ein solches in die fachliche Qualität der versprochenen Dienstleistung, stellt immerhin das Vertrauen in die fachliche Kompetenz an eine vordere Stelle. Dieses Vertrauen gehört daher auf alle Fälle zu dem besonderen Vertrauen im Sinne des § 627 BGB. Allerdings: Auch wer die Dienste eines Taxifahrers oder eines Schuhmachers oder Friseurs in Anspruch nimmt, erwartet Kompetenz auf den entsprechenden Gebieten. Er hat allerdings in der Regel die Fähigkeiten, die Kompetenz zu prüfen. Diese Fähigkeit hat derjenige, der die Dienste

___________ 14 BGH v. 18.10.1984 – IX ZR 14/84, NJW 1986, 373.

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eines Anwalts in Anspruch nimmt, in der Regel nicht. Er bleibt trotz aller Informiertheit meist Laie und ist daher darauf angewiesen, dass der Anwalt als Experte die ihm gegebenen Informationen verständlich bündelt und zu seinem Wohl aufbereitet. Man spricht daher insoweit auch von Wissensasymmetrie15, die zwingend das Vertrauen des Laien in die Kompetenz des Experten verlangt. Außerdem gibt es verschiedene Grade des Vertrauens in die Kompetenz des Beauftragten. Je schwieriger die übertragene Aufgabe ist, desto höher ist die erwartete Kompetenz, also auch das dem Beauftragten entgegengebrachte Vertrauen. Weil aber nicht nur Rechtsanwälten schwierige Aufgaben übertragen werden, ist ein gesteigertes Vertrauen in eine besondere Kompetenz noch nicht das besondere Vertrauen, das für die Mandant-Anwalt-Beziehung typisch ist. Zu dem Vertrauen in die Kompetenz muss noch etwas Zusätzliches hinzukommen. Schlosser16 stellt unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des BGB das persönliche Vertrauensverhältnis in den Vordergrund. Der Arzt müsse mit seinem Patienten, der Anwalt mit seinem Klienten auch menschlich vertrauensvoll zusammenarbeiten können. Persönliche Spannungen oder gar menschliche Apathie müssten jederzeit die Lösung des Verhältnisses gestatten. Zuck17 sieht in dem „geknüpften menschlichen Band das wichtigste Argument, um den Anwalt nicht nur als Teil eines mechanisch verstandenen Rechtspflegesystems zu verobjektivieren“ oder ihn als „bloßen Marktteilnehmer zu denaturieren, und damit zugleich auch das Recht, das so als bloße Ware missverstanden würde.“ b) Vertrauen in anwaltliche Sekundärtugenden Wenn man, wofür vieles spricht, diese Gedanken von Schlosser und Zuck aufnimmt, muss man sich fragen, wie persönlich das Vertrauensverhältnis sein muss und woraus dieses „menschliche Band“ geknüpft ist. Einen großen Anteil der Fäden zu diesem Band stellen sicher die Eigenschaften des Rechtsanwalts und seiner Kanzlei dar, die wir als die sog. anwaltlichen Sekundärtugenden ansehen, also z.B. der äußere Eindruck der Kanzlei, des Rechtsanwalts verständliche Ausdrucksweise und seine ständige Gesprächsbereitschaft, ferner alle die Dinge, die ihn sympathisch erscheinen lassen, die also mit juristischen Definitionen nur schwer oder gar nicht darstellbar sind. Diese sog. Sekundärtugenden gehören aber wohl noch zur fachlichen Kompetenz, denn diese setzt nicht nur juristisches Fachwissen voraus, sondern auch die Fähigkeit, dieses Fachwissen glaubwürdig zu vermitteln, dem eigenen Mandanten, dem Gegner und dem Gericht. c) Vertrauen in Empathie des Anwalts Das „Stimmen der Chemie“ zwischen Anwalt und Mandant hängt aber nicht nur von den sog. anwaltlichen Sekundärtugenden ab. Viel wichtiger und damit vertrauensbildender ist, dass der Mandant den Eindruck hat, der Rechts-

___________ 15 Hommerich, (Fn. 1), S. 75. 16 Schlosser, NJW 1980, 273. 17 Zuck, Veröffentlichungen der Rechtsanwaltskammer Köln 1999, 89 (94).

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Das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt

anwalt sei nicht apathisch, also nicht teilnahmslos gegenüber dem Problem des Mandanten, er verfüge vielmehr über Empathie, er versetze sich in die Lage des Mandanten und fühle mit ihm. Diese Erkenntnis hat bezeichnenderweise bisher kein Jurist klar ausgesprochen, sondern der Soziologe Hommerich18. Empathie ist nach ihm die zentrale Voraussetzung für die Entstehung und Stabilisierung von Vertrauensverhältnissen. Von Rechtsanwälten wird erwartet, dass sie sich für ihre Klienten verantwortlich fühlen, ihnen gegenüber Fairness walten lassen, sich loyal gegenüber ihren Klienten verhalten, ihnen die nötige Aufmerksamkeit entgegenbringen und nicht zum Nachteil ihrer Klienten eigennützig handeln19. d) Vertrauen ohne persönlichen Kontakt Freilich gibt es viele Anwälte, die manche ihrer Mandanten noch nie gesehen haben, weil der Kontakt immer telefonisch oder schriftlich erfolgt. Das hindert das persönliche Vertrauensverhältnis nicht. Für die Kündigungserleichterung des § 627 BGB spielt das im Einzelfall gewährte oder versagte besondere Vertrauen ohnehin keine Rolle, weil es nach § 627 BGB nur darauf ankommt, ob die übertragenen Dienste im Allgemeinen nur zufolge besonderen Vertrauens übertragen zu werden pflegen. Auch sonst hindert aber der Umstand, dass sich Anwalt und Mandant nie von Angesicht zu Angesicht gegenüber gesessen haben, den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses nicht. Daher ist auch das vor einigen Jahren gegen die damals modernen sog. Anwalts-Hotlines ins Feld geführte Argument falsch, diese seien unzulässig, weil angesichts der Kürze des telefonischen Beratungsgesprächs ein Vertrauensverhältnis sich nicht aufbauen könne. e) Vertrauen in Verschwiegenheit und Integrität Das von Zuck erwähnte „menschliche Band“ wird aber nicht nur aus dem Vertrauen in die fachliche Kompetenz, den Fäden der anwaltlichen Sekundärtugenden und dem Eindruck des Mandanten, der Rechtsanwalt verfüge über Empathie, geknüpft. Es muss noch einen starken weiteren Faden haben, der es zu etwas Besonderem macht. Dem Wort „Vertrauen“ ist verwandt das Wort „Vertraulichkeit“. „Strikte Verschwiegenheit ist die unerlässliche Basis des Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Mandant“20. Sie ist „essentiell für das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und seinem Mandanten“21. Die von jedem Rechtsanwalt erwartete Verschwiegenheit ist daher ein weiterer starker Faden in dem zwischen Anwalt und Mandant geknüpften menschlichen Band des Vertrauens. Der derzeit vorliegende Gesetzentwurf, der den Schutz des § 160a Abs. 1 StPO vor strafprozessualen Beweiserhebungs- und Verwertungsmaßnahmen auf alle Rechtsanwälte erstreckt, be-

___________ 18 Hommerich, (Fn. 1), S. 173. 19 Hommerich, (Fn. 1), S. 234. 20 Henssler, NJW 1994, 1817; Jessnitzer/Blumberg, BRAO, 8. Aufl. 1998, § 43a Rz. 2; Gaier, BRAK-Mitt. 2006, 2 (4); BVerfG v. 12.4.2005 – 2 BvR 1027/02, NJW 2005, 1917 (1919). 21 Busse, Anwaltsethik unter der Geltung des neuen Berufsrechts, AnwBl 1998, 231 (235).

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zeichnet sich daher zu Recht als Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht. Der Mandant erwartet von seinem Anwalt nicht nur, dass er sich an die Pflicht zur Verschwiegenheit hält, er erwartet generell die Integrität seines Beraters. Integrität wird denen attestiert, die unabhängig und verschwiegen sind und auf dieser Basis im wohlverstandenen Interesse ihrer Klienten handeln. Dazu gehört auch, dass dieses Verhalten konsistent und verlässlich ist22. Auch die eingangs erwähnte Definition des Begriffs „Vertrauen“ durch die Brockhaus-Enzyklopädie sieht die charakterliche Zuverlässigkeit als Voraussetzung dafür an, dass jemandem Vertrauen geschenkt wird. Es mag Fälle geben, in denen dem Mandanten diese besonderen anwaltlichen Pflichten gleichgültig sind. Möglicherweise kommt es einem Versandhaus, das über einen Anwalt massenhaft Forderungen eintreibt, nicht auf die Verschwiegenheit seines Anwalts an. Derartige Einzelfälle sprechen jedoch nicht gegen die Vertraulichkeit als Grundlage des Vertrauensverhältnisses, da nicht Einzelfälle entscheidend sind, sondern die typische Lage. Gerade dieser Beispielsfall zeigt aber auch, dass ein Wegfall der Verschwiegenheitserwartung auch einen Wegfall des besonderen Vertrauens bedeutet. Erhebliche Unterschiede zu einem sog. Callcenter, das die telefonischen Aufträge für das Versandhaus entgegennimmt, gibt es nicht. Auch dort erwartet der Auftraggeber Kompetenz und reibungslose Zusammenarbeit, aber nicht besondere Verschwiegenheit. Man mag daher zweifeln, ob man insoweit von einem besonderen Vertrauensverhältnis reden kann. Ohnehin gibt es verschiedene Grade des Vertrauens. Das Vertrauen des Mandanten in seinen langjährigen Hausanwalt oder des in Untersuchungshaft Genommenen zu seinem Strafverteidiger ist erheblich höher als das Vertrauen desjenigen, der in einer Mietangelegenheit telefonisch einen kurzen Rechtsrat einholt. f) Vertrauen nur zu natürlichen Personen? Die herrschende Auffassung im Rahmen des § 627 BGB meint, dass man nur einer natürlichen Person Vertrauen entgegenbringen könne23 nicht auch einer Institution24. Dieser Auffassung ist nicht zu folgen. Sie lässt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht begründen. Man kann nicht nur Menschen vertrauen, sondern auch Gegenständen oder Institutionen, z.B. dem Wachhund, dem Computer, einem Krankenhaus oder der Katholischen Kirche. Auch aus dem Sinn der Vorschrift lässt sich nicht herleiten, dass nur der einzelne Mensch Vertrauen beanspruchen kann. Dieser Sinn wird darin gesehen, dass Dienstverträge in besonderen Vertrauensverhältnissen deswegen leicht

___________ 22 Hommerich (Fn. 1), S. 234. 23 So z.B. OLG Celle v. 19.6.1981 – 3 U 30/81, NJW 1981, 2762; OLG Karlsruhe v. 16.6.1981 – 13 U 166/80, NJW 1981, 1676; KG v. 10.3.2003 – 12 U 106/01, NJW-RR 2003, 1062; Schlosser, NJW 1980, 273 (274); Schwerdtner in Münchener Kommentar, 5. Aufl. 2004, § 627 BGB Rz. 10; D. W. Belling in Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 627 Rz. 4; Weidenkaff in Palandt, 69. Aufl. 2010, § 627 BGB, Rz. 2. 24 Für Vertrauen auch gegenüber einer Institution: OLG Schleswig v. 8.2.1977 – 9 U 30/76, MDR 1977, 753; Dörner, NJW 1979, 242 (245); Heinbuch, NJW 1981, 2734; Fuchs in Bamberger/Roth, 2. Aufl. 2008, § 627 BGB, Rz. 7.

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aufgelöst werden müssen, weil der Verlust des besonderen Vertrauens dem Beweis ungleich schwerer zugänglich sei als ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 BGB25. Vertrauen könne nämlich schon durch unwägbare Umstände, durch rational nicht begründbare Empfindungen gestört werden, die objektiv keinen wichtigen Grund im Sinne von § 626 BGB darstellten26. Dieser Sinn der Vorschrift wird nicht beeinträchtigt, wenn man auch Institutionen als vertrauenswürdig im Sinne von § 627 BGB ansieht. Es lassen sich viele Beispiele bilden, in denen der Dienstberechtigte sein Vertrauen in eine Institution verliert. Warum ihm dann nicht die erleichterte Kündigungsmöglichkeit des § 627 BGB zur Seite stehen soll, er also anders behandelt wird, als wenn er sein Vertrauen in eine natürliche Person verloren hat, ist nicht einsichtig. Dieser Auffassung ist bezüglich Zusammenschlüssen von Anwälten, also Anwaltssozietäten und Rechtsanwaltsgesellschaften jetzt auch Henssler27 gefolgt. Er begründet das damit, dass Mandanten unabhängig von der vertraglichen Ausgestaltung zu allen Berufsträgern einer Sozietät ein enges Vertrauensverhältnis entwickeln. Alle Rechtsanwälte einer Sozietät seien persönlich berufsrechtlich gebunden. An dieser komplizierten Begründung kann man zweifeln, denn das menschliche Band zwischen dem Mandant und den Mitgliedern der großen Sozietät, die der Mandant gar nicht kennt, die vielleicht auf einem anderen Kontinent für die Sozietät tätig sind, wird wohl nicht vorhanden sein. Einfacher wäre es, das besondere Vertrauensverhältnis auch zu einer Institution im Rahmen des § 627 BGB anzuerkennen28. Das führt zu dem Ergebnis, dass zwischen Mandant und großer Anwaltssozietät oder Rechtsanwalts-GmbH ein besonderes Vertrauensverhältnis im Sinne von § 627 BGB bestehen kann und auch typischerweise besteht. Es beruht ebenso wie beim Einzelanwalt auf dem Vertrauen in die anwaltliche Fachkompetenz der gesamten Sozietät und auf der Erwartung der Verschwiegenheit und der sonstigen anwaltlichen Tugenden. Das menschliche Band besteht zum Gesprächspartner innerhalb der großen Sozietät; dass es nicht zu jedem Sozietätsmitglied besteht, ist unerheblich. 3. Vertrauen des Rechtsanwalts in den Mandanten Im Rahmen des § 627 Abs. 1 BGB kommt es nur auf das Vertrauen des Mandanten in den Rechtsanwalt an, weil es dort um Dienste geht, die aufgrund besonderen Vertrauens, also das Vertrauen des Mandanten, übertragen zu werden pflegen. § 627 Abs. 2 BGB sieht es jedoch als eine Pflichtverletzung an, wenn der zur Dienstleistung Verpflichtete, also der Anwalt, zur Unzeit kündigt, es sei denn, für die unzeitige Kündigung liege ein wichtiger Grund vor. Als wichtiger Grund wird von Rechtsanwälten oft das gestörte Vertrauen des Rechtsanwalts in den Mandanten angeführt. Ob der Rechtsanwalt seinem Mandanten vertrauen darf und welches Vertrauen der Rechtsanwalt berech-

___________ 25 26 27 28

OLG Celle v. 19.6.1981 – 34 30/81, NJW 1981, 2762. Schwerdtner in Münchener Kommentar, § 627 BGB Rz. 1. Schwerdtner in Münchener Kommentar, § 627 BGB Rz. 25. Die Rechtsprechung und Literatur, die das leugnet, erging allein zu Unterrichtsinstitutionen. Wikipedia (Fn. 4) hält Vertrauen zu Organisationen für möglich.

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tigterweise in seinen Mandanten setzen darf, wird in der Literatur kaum erörtert. Lediglich Zuck29 erwähnt Fälle, in denen der Rechtsanwalt seinem Mandanten kein Vertrauen entgegenbringen könne. Zum einen geht es um die Nichtzahlung der Gebühren, zum anderen um die Erteilung von wissentlich falschen Informationen. a) Vertrauen in Honorarzahlung Der Mandatsvertrag als entgeltlicher Geschäftsbesorgungsvertrag verpflichtet den Mandanten zur Zahlung des vereinbarten oder gesetzlichen Honorars. Mit dieser Pflicht des Mandanten korrespondiert das Recht des Anwalts auf Erhalt des Honorars und damit das Vertrauen des Rechtsanwalts in den Mandanten, dass dieser seiner Zahlungspflicht nachkommen wird. Die Nichtzahlung des zu Recht geltend gemachten Honorars trotz Anmahnung und Androhung der Kündigung des Mandats stellt daher einen wichtigen Grund im Sinne des § 627 Abs. 2 BGB dar. Allerdings ist die Erwartung des Rechtsanwalts, der Mandant werde das Honorar zahlen, kein Kriterium für ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Anwalt. Diese Erwartung besteht nämlich in jedem Vertragsverhältnis, das den Austausch von Leistungen zum Inhalt hat. Der Leistungserbringer erwartet immer die Gegenleistung. § 284 BGB, also eine Regelung des allgemeinen Schuldrechts, das für jedes Gläubiger-Schuldner-Verhältnis gilt, spricht daher auch vom Vertrauen auf den Erhalt der Leistung. b) Vertrauen in wahre Informationen Ein Geschäftsbesorgungsvertrag legt dem Auftraggeber die Nebenpflicht auf, den Geschäftsbesorger umfassend und zutreffend zu informieren. Diese Pflicht trifft den Auftraggeber aber nur deswegen, damit der Geschäftsbesorger seinerseits der ihn treffenden Hauptpflicht, das ihm übertragene Geschäft sorgfältig zu erledigen, ordnungsgemäß nachkommen kann. Sie stellt sich also als Mitwirkungspflicht des Auftraggebers zur Erreichung des Vertragszwecks dar. Der vertragsgetreue Geschäftsbesorger wird daher regelmäßig auf eine Vertragstreue seines Auftraggebers vertrauen, also darauf, dass der Auftraggeber ihn nicht wissentlich falsch informiert, weil er sich damit selbst schädigen dürfte. Dieses Vertrauen besteht bei einem Anwaltsvertrag erst recht. Wird einem Anwalt, wie es regelmäßig der Fall ist, der Auftrag zu rechtlichem Beistand erteilt, wird er als „Organ der Rechtspflege“ (§ 1 BRAO) tätig. Diese Stellung beinhaltet die Verpflichtung des Anwalts, das Gericht nicht zu täuschen30. Auch § 43a BRAO verbietet dem Anwalt die bewusste Verbreitung von Unwahrheiten, und zwar generell, also nicht nur gegenüber dem Gericht31. Das Bundesverfassungsgericht räumt dem Anwalt eine zur

___________ 29 Zuck in Lindenberg/Hummel/Zuck/Eich, § 43 BRAO Rz. 2; Zuck in Gaier/Wolf/ Göcken, § 43 BRAO Rz. 35. 30 Feuerich-Weyland, BRAO, 6. Aufl. § 43a BRAO Rz. 38; Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, § 43a BRAO Rz. 137; Hummel (Fn. 2), § 68 Rz. 2. 31 Henssler in Henssler/Prütting, § 43a BRAO Rz. 141; Feuerich-Weyland, (Fn. 30).

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Wahrheit verpflichtete Stellung ein32. § 138 Abs. 1 ZPO verpflichtet die Parteien des Zivilprozesses zu wahrheitsgemäßem Vortrag. Die Verletzung dieser Verpflichtung kann zu einer Verurteilung wegen Prozessbetruges führen. Gibt ein Anwalt ihm vom Mandanten erteilte Falschinformationen weiter, verstößt er damit allerdings noch nicht ohne Weiteres gegen ihm obliegende Verpflichtungen. Das ist erst dann der Fall, wenn er die Unwahrheit kennt. Eine Wahrheitspflicht des Beschuldigten im Strafverfahren gibt es nicht. Viele Beschuldigte sagen daher auch ihrem Verteidiger bewusst die Unwahrheit, weil sie wollen, dass der Verteidiger von ihrer Unschuld überzeugt ist. Verteidiger wissen das natürlich und schätzen es gelegentlich. Die volle Kenntnis der Wahrheit würde ihre Verteidigung unter Umständen einschränken. Die Erteilung bewusst unwahrer Informationen durch den Mandanten dürfte daher einen wichtigen Grund im Sinne des § 627 Abs. 2 BGB darstellen, und zwar schon deswegen, weil der Mandant seiner Mitwirkungspflicht aus dem Anwaltsvertrag nicht nachgekommen ist. Der Mandant hat damit das allgemeine Vertrauen, das jeder Vertragspartner in den anderen Vertragspartner setzt, verletzt. Ob die Verpflichtung des Mandanten, seinem Anwalt die Wahrheit zu sagen, darüber hinaus Kriterium eines besonderen Vertrauensverhältnisses ist, ist aber für den Regelfall zu bezweifeln. c) Vertrauen in blindes Vertrauen des Mandanten Viele Anwälte verlangen von ihrem Mandanten blindes Vertrauen. Sie setzen also Vertrauen in sein Vertrauen, in seine Treue33. Dieses Vertrauen des Anwalts wird gestört, wenn der Mandant Zweifel an den Fähigkeiten des Anwalts äußert, wenn er die in seinen Augen säumige oder unsorgfältige Arbeitsweise rügt, wenn er die Tätigkeit seines Anwalts dadurch überprüft, dass er sich anderen anwaltlichen Rat einholt. Das Vertrauen des Anwalts in das gläubige Vertrauen des Mandanten wird jedoch nicht geschützt. Der Mandatsvertrag gibt dem Mandanten gegenüber dem Anwalt dieselben Rechte, die jeder Auftraggeber eines jeden Geschäftsbesorgungsvertrages gegenüber seinem Geschäftsbesorger hat. Der Mandant darf dem Anwalt misstrauen und dennoch das Mandat aufrechterhalten wollen. d) Kein gegenseitiges Vertrauensverhältnis Das Vertrauen des Rechtsanwalts ist also – anders als das Vertrauen des Mandanten in seinen Rechtsanwalt – kein besonderes Vertrauen. Es geht nicht über das Vertrauen hinaus, das in jedem Vertragsverhältnis der Beauftragte zu seinem Auftraggeber hat. Auch das Bundesverfassungsgericht spricht daher nur vom Vertrauen des Bürgers zum Rechtsanwalt34. Es ist daher nicht rich-

___________ 32 BVerfG v. 8.10.1974 – 2 BvR 747/73, NJW 1975, 103 (105); v. 14.7.1987 – 1 BvR 537/81, 1 BvR 195/87, NJW 1988, 191. 33 Auch Zuck (Fn. 9), § 43 BRAO Rz. 35, meint, dass der Mandant dem Anwalt Vertrauen schulde. 34 BVerfG v. 8.3.1983 – 1 BvR 1078/80, BVerfGE 63, 266 (284), und Gaier, BRAK-Mitt. 2006, 2.

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tig, von einem gegenseitigen Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant zu sprechen35. 4. Honorare des Rechtsanwalts bei Mandatsbeendigung wegen Vertrauensverlust Wird ein Mandatsverhältnis beendet, steht dem Rechtsanwalt grundsätzlich ein Honoraranspruch für die Leistungen zu, die er bis zum Zeitpunkt der Kündigung erbracht hat (§ 628 Abs. 1 Satz 1 BGB). Gemäß § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB steht dem Anwalt ein Anspruch auf die Vergütung der bisher geleisteten Dienste nur dann zu, wenn die Kündigung vom Rechtsanwalt wegen eines vertragswidrigen Verhaltens des Mandanten oder vom Mandanten ohne ein vertragswidriges Verhalten des Rechtsanwalts ausgesprochen wurde. Regelmäßig wird nämlich die bisherige Tätigkeit des Rechtsanwalts für den Auftraggeber ohne Interesse sein, weil er einen anderen Rechtsanwalt beauftragen und diesem die gleichen Gebühren nochmals in voller Höhe entrichten muss. Kündigungen des Mandatsverhältnisses werden in den meisten Fällen mit einem Verlust des Vertrauensverhältnisses begründet. Kündigt der Rechtsanwalt, weil der Mandant seiner Vorschusspflicht gemäß § 9 RVG nicht nachkommt oder weil der Mandant ihm unrichtige oder unvollständige Informationen erteilt oder weil er an ihn unzumutbare Anforderungen stellt, so sind das vom Mandanten ausgehende Störungen des Vertrauensverhältnisses, die gleichzeitig mandatsvertragswidrig im Sinne des § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB sind, sodass der Anwalt seinen Gebührenanspruch behält. Er wird aber in allen diesen Fällen zunächst eine deutliche Abmahnung oder Niederlegungsandrohung aussprechen müssen. Kündigt der Rechtsanwalt den Mandatsvertrag, weil der Mandant sich auch bei einem anderen Rechtsanwalt beraten lassen hat oder weil der Mandant in einer anderen Sache einen anderen Anwalt betraut hat oder weil der Mandant die Arbeitsweise des Anwalts sachlich kritisiert, mag das zwar den Rechtsanwalt kränken, sein Vertrauen in das „blinde Vertrauen“ des Mandanten wird jedoch nicht geschützt. Bei einer Kündigung in einem derartigen Fall würde der Rechtsanwalt daher regelmäßig seine Gebührenansprüche gemäß § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB verlieren. Kündigt der Mandant, weil z.B. der Rechtsanwalt in einer anderen Sache den Gegner des Mandanten vertritt oder weil er in einer anderen Sache einen Dritten gegen den Mandanten vertritt, ist das zwar keine Interessenkollision im Sinne von Parteiverrat. Aus der Sicht des Mandanten dürfte jedoch im Regelfall das Vertrauensverhältnis so gestört sein, dass es für den Mandanten einen wichtigen Grund zur Kündigung darstellt, der in dem Verhalten des Rechtsanwalts liegt. Auch hier tritt also die Folge des Gebührenverlustes für den Rechtsanwalt gemäß § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB ein. Dasselbe Ergebnis tritt natürlich ein, wenn der Rechtsanwalt seine Schweigepflicht aus dem Mandat verletzt.

___________ 35 Zuck (Fn. 9) hält das Vertrauensverhältnis zwar für gegenseitig, fürchtet allerdings, dass die Rede vom Vertrauensverhältnis eine bloße Metapher für einen idealtypischen Bezug ist.

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III. Beeinträchtigungen des Vertrauensverhältnisses 1. Recht der freien Anwaltswahl Das Recht der freien Anwaltswahl, wie es in § 3 Abs. 3 BRAO normiert ist, folgt aus dem Vertrauensverhältnis, das sachliche Grundlage jedes Mandatsverhältnisses ist36. Dieses Recht hat das Gesetz dem Einzelnen um seines individuellen Schutzes willen verliehen. Es kann daher grundsätzlich auch nur von dem in seinen Interessen betroffenen Rechtsuchenden selbst wahrgenommen werden. Dieses Recht hängt eng zusammen mit dem Grundsatz der freien Advokatur, der zu den tragenden Grundlagen der Rechtsordnung zählt37. Dieses Recht der freien Anwaltswahl ist beeinträchtigt, wenn die Auswahl des Rechtsanwalts nicht mehr dem Mandanten überlassen bleibt, sondern z.B. aufgrund von Mitgliedschaftsbedingungen einem Mieterverein. Das Vertrauen in die persönliche und fachliche Qualifikation des Rechtsanwalts bliebe in einem solchen Fall unberücksichtigt38. 2. Anwaltszwang § 48 BRAO verpflichtet den Rechtsanwalt, in gerichtlichen Verfahren die Vertretung einer Partei zu übernehmen, wenn er dieser Partei gemäß § 78b ZPO beigeordnet wird. Das schränkt die Freiheit des Anwalts ein, über die Annahme eines Mandats frei zu entscheiden. Der beigeordnete Anwalt ist nämlich grundsätzlich verpflichtet, mit der Partei, der er beigeordnet worden ist, einen Mandatsvertrag abzuschließen. Die Institution des sich aus § 78 ZPO und aus anderen Vorschriften ergebenden Anwaltszwangs stellt daher – ebenso wie die Institution der Pflichtverteidigung – per se einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit gemäß Art. 12 GG dar. Die dem Anwalt in §§ 48 bis 49a BRAO auferlegten Pflichten „sind allerdings das Äquivalent dafür, dass der Gesetzgeber in zahlreichen Normen die Wahrnehmung von Aufgaben in der Rechtspflege in die Hände der Rechtsanwaltschaft gelegt hat. Effektiver Rechtsschutz wird vielfach erst dadurch gewährleistet, dass der rechtsuchende Bürger auch in der Praxis in die Lage versetzt wird, sich der ihm gewährten Rechte auch zu bedienen. Dazu bedarf er in vielen Fällen rechtskundiger Hilfe. Jener Anspruch auf effektiven Rechtsschutz wird dem Einzelnen verfassungsrechtlich über das Rechtsstaatsgebot, Art. 19 Abs. 4 GG sowie durch Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiert. Verfahrensordnungen müssen deshalb Regelungen enthalten, die dem Gericht die Möglichkeit geben, Prozessbeteiligten einen Bevollmächtigten beizuordnen, wenn der Beteiligte die ihm nach der Verfahrensordnung zugewiesene Rechtsstellung nicht eigenständig wahrnehmen kann. Das Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, ist unabhängig davon auch ein Belang des Allgemeinwohls“39. Außer-

___________ 36 BGH v. 26.10.1989 – I ZR 242/87, BGHZ, 109, 153, (160). 37 BVerfG v. 19.12.1962 – 1 BvR 163/56, BVerfGE 15, 226 (234); v. 14.2.1973 – 2 BvR 667/72, NJW 1973, 696 (697); BGH v. 26.10.1989 – I ZR 242/87, BGHZ 109, 160. 38 Vgl. Schwerdtner in Münchener Kommentar, § 627 BGB Rz. 1. 39 Vorwerk in Gaier/Wolf/Göcken, Rz. 1 vor §§ 48, 49, 49a BRAO.

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dem kann der Rechtsanwalt gemäß § 48 Abs. 2 BRAO die Aufhebung der Beiordnung beantragen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Die Prüfung der Frage, ob ein wichtiger Grund vorliegt, hat entsprechend der Regelung in § 627 Abs. 2 BGB zu erfolgen. Als wichtiger Grund wird auch die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses angesehen40. Wenn damit das allgemeine Vertrauen verstanden wird, das in jedem Vertragsverhältnis besteht, ist das zu akzeptieren. Auf ein besonderes Vertrauen zu seinem Mandanten wird sich der Rechtsanwalt jedoch aus den Gründen, die oben zu § 627 Abs. 2 BGB (I. 3.) dargelegt sind, nicht berufen können, weil es ein besonders schützenswertes Vertrauen des Rechtsanwalts in den Mandanten nicht gibt. Allerdings kann auch die Partei beantragen, ihr einen anderen Rechtsanwalt beizuordnen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt41. Insoweit ist ein wichtiger Grund in der Regel gegeben, wenn das Vertrauensverhältnis gestört ist. Der Partei wird die Beiordnung eines neuen Anwalts nur dann verwehrt, wenn sie den Vertrauensverlust selbst durch ihr Verhalten herbeigeführt hat42. Außerhalb der Beiordnung bei Prozesskostenhilfe bedarf es einer strengen Auslegung des Begriffes des wichtigen Grundes in § 48 Abs. 2 BRAO nicht. Jede von der Partei behauptete Störung des Vertrauensverhältnisses stellt einen wichtigen Grund dar und führt damit zu einer Aufhebung der Beiordnung. Der Mandant hat die Möglichkeit, sich einen anderen Rechtsanwalt zu suchen oder sich einen anderen Rechtsanwalt gemäß § 78c ZPO als Notanwalt beiordnen zu lassen. Die Gefahr einer Doppelzahlung an zwei Anwälte besteht für ihn wegen § 628 BGB dann nicht, wenn er nicht die Ursache für die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zu seinem ersten Anwalt gesetzt hat. Etwas differenzierter ist die Rechtslage im Falle einer Beiordnung im Prozesskostenhilfeverfahren gemäß § 121 ZPO. Dem Rechtsanwalt steht zwar auch hier das Recht zu, gemäß § 48 Abs. 2 BRAO die Aufhebung der Beiordnung zu beantragen, wenn ein wichtiger Grund besteht. Auch der Partei steht das Recht zu, wegen Zerstörung des Vertrauensverhältnisses die Aufhebung der Beiordnung zu beantragen. Hat der Anwalt die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zu vertreten, hat das Gericht die Beiordnung aufzuheben. Muss deswegen ein neuer Rechtsanwalt im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet werden, entfällt der Gebührenanspruch des zunächst beigeordneten Rechtsanwalts gemäß § 54 RVG. Hat die Störung des Vertrauensverhältnisses ihre Ursache im Verhalten des Mandanten, wird der Begriff des wichtigen Grundes in § 48 Abs. 2 BRAO von den Gerichten streng ausgelegt. Jedenfalls dann, wenn sich das Gerichtsverfahren bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befindet, muten sie Mandant und Rechtsanwalt zu, das Verfahren trotz gestörten Vertrauens gemeinsam zu Ende zu führen43. Diese Rechtspre-

___________ 40 BGH v. 31.10.1991 – XII ZR 212/90, NJW-RR 1992, 189; OLG Zweibrücken v. 21.12.1987 – 2 WF 200/87, NJW 1988, 570; Vorwerk in Gaier/Wolf/Göcken, § 48 BRAO Rz. 9. 41 Henssler in Henssler/Prütting, § 48 BRAO, Rz. 22; Vorwerk in Gaier/Wolf/Göcken, § 48 BRAO Rz. 11. 42 Vorwerk (Fn. 40), § 48 BRAO Rz. 12. 43 OLG Dresden v. 24.8.1998 – 7 W 1039/98, NJW-RR 1999, 643; OLG Frankfurt v. 16.9.1988 – 22 U 222/86, AnwBl 88, 643; OLG Zweibrücken v. 21.12.1987 – 2 WF 200/87, NJW 1988, 570.

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chung stimmt nicht mit dem Grundsatz überein, dass jedes Mandatsverhältnis zwischen Anwalt und Mandant des Vertrauens bedarf. Sie ist nur aus einer sich um die Staatskasse sorgenden Haltung der Richter zu verstehen. Würde nämlich ein Gericht bei einer bloßen Behauptung der Störung des Vertrauensverhältnisses die Beiordnung bei Prozesskostenhilfe aufheben, müsste in den meisten Fällen die Beiordnung eines anderen Rechtsanwalts erfolgen, weil in den seltensten Fällen schnell festgestellt werden könnte, wer die Störung des Vertrauensverhältnisses zu vertreten hat. Das Gericht muss jedoch schnell einen anderen Rechtsanwalt beiordnen, um das Verfahren – auch im Interesse des Prozessgegners – fortsetzen zu können. Oft wird sich erst nachträglich herausstellen, dass die Störung vom Mandanten zu vertreten ist. Hätte dies sofort mit Sicherheit festgestanden, hätte das Gericht zwar die Beiordnung des bisherigen Anwalts aufheben können, aber der Partei keinen neuen Anwalt im Prozesskostenhilfeverfahren beiordnen müssen44. Bei einer schnellen Feststellung, wer die Störung des Vertrauensverhältnisses zu vertreten hat, hätte die Justizkasse also nur einmal einen Anwalt zu bezahlen gehabt. Nur um dieses Ergebnis der einmaligen Zahlung eines Anwalts zu erreichen, dürfte die Rechtsprechung in den bisher von ihr entschiedenen Fällen von einer noch hinnehmbaren Störung des Vertrauensverhältnisses ausgegangen sein. Nur aus diesem Grunde dürfte die Rechtsprechung auch gerade noch hinnehmbar sein. Der Rechtsanwalt muss die Zumutung, trotz fehlenden Vertrauensverhältnisses ein Mandat noch für kurze Zeit zu Ende zu führen, wegen seiner Eigenschaft als Organ der Rechtspflege und der ihm damit gerade in Prozesskostenhilfeverfahren auferlegten verfahrenssichernden Funktion tragen. 3. Pflichtverteidigung Ähnlich wie in § 48 BRAO zur Übernahme einer Prozessvertretung wird der Rechtsanwalt durch § 49 BRAO verpflichtet, Pflichtverteidigungen zu übernehmen. Auch zwischen Pflichtverteidiger und Beschuldigtem ist ein Vertrauensverhältnis notwendig. Das Gericht muss dem Beschuldigten einen Anwalt seines Vertrauens beiordnen45. Das ergibt sich aus dem grundgesetzlich geschützten Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren46. Diese bereits durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eindeutige Rechtslage ist durch die Neufassung des § 142 Abs. 1 StPO verdeutlicht worden, wonach der Vorsitzende den vom Beschuldigten bezeichneten Verteidiger bestellen muss, wenn nicht wichtige Gründe entgegenstehen. Diese Einschränkung ist zulässig47, denn sie zwingt dem Beschuldigten nicht einen Verteidiger auf, zu dem er kein Vertrauen hat. Das Gericht wird dem Beschuldigten allerdings, wenn es einen wichtigen Grund zur Nichtbestellung des ursprünglich vom Beschuldigten bezeichneten Rechtsanwalts annimmt, Gelegenheit geben müssen, gemäß § 142 Abs. 1 Satz 2 StPO einen anderen Ver-

___________ 44 OLG Köln v. 11.5.1987 – 14 WF 92/87, FamRZ 1987, 1168; OLG Düsseldorf v. 5.7.1994 – 1 WF 112/94, FamRZ 1995, 241. 45 Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. 2010, § 142 Rz. 9. 46 BVerfG v. 8.4.1975 – 2 BvR 207/75, NJW 1975, 1015. 47 EGMR v. 25.2.1992 – 62/1991/314/385, EuGRZ 92, 542.

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teidiger zu bezeichnen48. Die wichtigen Gründe des § 142 Abs. 1 Satz 3 StPO können natürlich nicht dieselben wichtigen Gründe sein, wie die in § 49 Abs. 2 i.V.m. § 48 Abs. 2 BRAO erwähnten wichtigen Gründe. Der vom Beschuldigten gemäß § 142 Abs. 1 Satz 2 StPO bezeichnete Verteidiger hat das Vertrauen des Beschuldigten. Ein nicht bestehendes Vertrauensverhältnis kann also kaum jemals einen wichtigen Grund zur Nichtbestellung eines vom Beschuldigten bezeichneten Verteidigers darstellen. Anders bei § 49 BRAO: Hier stellt die ernsthafte Störung49 oder Zerstörung50 des Vertrauensverhältnisses einen wichtigen Grund für die Aufhebung der Beiordnung als Pflichtverteidiger dar. Diese berufsrechtliche Regelung wird, allerdings ohne Erwähnung der §§ 48 und 49 BRAO, in der Rechtsprechung51 und in der herrschenden Meinung der Literatur52 als ein sonstiger Grund neben § 143 StPO für eine Rücknahme der Bestellung eines Pflichtverteidigers angesehen. Problematisch ist die Beantwortung der Frage, was der Beschuldigte oder der Verteidiger vortragen muss und darf, um eine Aufhebung der Beiordnung im Falle der ernsthaften Störung des Vertrauensverhältnisses zu erreichen. Der bloße Hinweis auf ein gestörtes Vertrauensverhältnis reicht nach der herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur nicht aus. Es wird vielmehr verlangt, dass Umstände dargelegt und glaubhaft gemacht werden, die bei objektiver Betrachtung zumindest aus der Sicht des Angeklagten eine Erschütterung seines Vertrauens zu dem bestellten Pflichtverteidiger besorgen lassen53. Diese „strenge Rechtsprechung“ berücksichtigt nicht das Dilemma, in dem sich Beschuldigter oder Verteidiger befinden, wenn sie Umstände zur Darlegung der Zerstörung des Vertrauensverhältnisses vortragen müssen, um eine Aufhebung der Pflichtverteidigung zu erreichen. Es wird oft nicht möglich sein, insoweit etwas vorzutragen, ohne etwas über den Tatvorwurf und seine Würdigung durch den Beschuldigten oder den Verteidiger und die Verteidigungsstrategie zu sagen. Der Beschuldigte kommt also in Konflikt mit seinem Schweigerecht54, der Verteidiger mit seiner gemäß § 203 StGB strafbewehrten

___________ 48 Lüderssen in Löwe-Rosenberg, 26. Aufl. 1997, § 142 StPO Rz. 16. 49 OLG Karlsruhe v. 12.2.1988 – 2 Ws 23/88, NStZ 1988, 239; KG v. 10.1.1990 – 4 Ws 298/89, StV 1990, 347. 50 BGH v. 19.5.1988 – 2 StR 22/88, StV 1988, 469. 51 BVerfG v. 25.9.2001 – 2 BvR 1152/01, NJW 2001, 3695; BGH v. 19.5.1988 – 2 StR 22/88, StV 1988, 469; OLG Karlsruhe v. 2.3.1978 – 3 Ws 48/78, NJW 78, 1172; OLG Karlsruhe v. 12.2.1988 – 2 Ws 23/88, NStZ 1988, 239 mit Anm. Molketin, NStZ 1989, 87; KG v. 10.1.1990 – 4 Ws 298/89, StV 1990, 347; OLG Düsseldorf v. 18.3.1996 – 1 Ws 182/96, StV 1997, 576. 52 Meyer-Goßner, § 143 StPO Rz. 5; Laufhütte in KK; 6. Aufl. 2008, § 143 StPO Rz. 5; a.A.: Lüderssen in Löwe-Rosenberg, § 143 StPO Rz. 9, und Barton, StV 1997, 576, die für eine grundsätzlich freie Möglichkeit der Abwahl des Pflichtverteidigers sind, sodass es auf ein gestörtes Vertrauensverhältnis nicht mehr ankommt; a.A. auch: Hilgendorf, NStZ 1996, 1 (5), der der Erschütterung des Vertrauensverhältnisses eine eigenständige Funktion nicht zubilligt. 53 BVerfG v. 25.9.2001 – 2 BvR 1152/01, NJW 2001, 3695 (3698); KG v. 10.1.1990 – 4 Ws 298/89, StV 1990, 347; OLG München v. 17.12.2009 – 2 Ws 1101/09, NJW 2010, 1766. 54 OLG Karlsruhe v. 12.2.1988 – 2 Ws 23/88, NStZ 1988, 239.

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Das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt

Schweigepflicht55 und zerstört mit einem die Schweigepflicht missachtenden Vortrag auf alle Fälle das Vertrauensverhältnis56. Da kaum ein Vortrag eines Verteidigers zur Zerstörung des Vertrauensverhältnisses vorstellbar ist, der die das ganze Mandatsverhältnis umfassende Schweigepflicht nicht verletzt, ist der Auffassung zu folgen, dass im Regelfall eine Auswechselung des Pflichtverteidigers auf bloßen Wunsch des Beschuldigten zu erfolgen hat, es also einer Darlegung der Zerstörung des Vertrauensverhältnisses nicht bedarf57. 4. Staatliche Eingriffe in das Vertrauensverhältnis Es gibt immer wieder Versuche, von Staats wegen in das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant einzugreifen, indem die Grundlage dieses Vertrauensverhältnisses, nämlich das Schweigerecht und die Schweigepflicht des Anwalts, angetastet werden. So hat schon in den 1980er-Jahren der Berliner Verfassungsschutz einen V-Mann als Rechtsanwaltsgehilfen in die Kanzlei der Verteidiger der Angeklagten im sog. „Schmücker-Mord-Prozess“ eingeschleust. Im Rahmen der Änderung des Art. 13 GG wollte der Gesetzgeber des Jahres 1998 nur Strafverteidiger, nicht jedoch Rechtsanwälte schlechthin vom sog. „Großen Lauschangriff“ ausnehmen, was zur Folge gehabt hätte, dass kein Mandant mehr hätte sicher sein können, ob seine Gespräche mit seinem Anwalt nicht abgehört würden. Er hätte zwar noch Vertrauen in die Verschwiegenheit seines Anwalts haben können. Dieses Vertrauen wäre aber hohl gewesen, weil auch ohne Zutun des Anwalts der Inhalt der Gespräche nach außen gedrungen wäre. Der europäische Gesetzgeber hat sich im Rahmen der Bekämpfung der Geldwäsche bemüht, auch Rechtsanwälten Verpflichtungen aufzuerlegen, die das Vertrauensverhältnis zu ihren Mandanten tangieren. Diese Beispiele zeigen, dass die Versuchung des Staates sehr groß ist, in dieses Vertrauensverhältnis einzudringen. Die durch das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung im Jahre 2008 eingeführte Aufteilung der Rechtsanwälte in Strafverteidiger und andere Rechtsanwälte wird erst jetzt durch das Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten wieder aufgehoben. Die von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hervorgehobene Rolle des Rechtsanwalts im System der Rechtspflege und damit auch die Rechtspflege selbst sind also immer wieder gefährdet. Wesentliches Kriterium der Beistandsfunktion des Rechtsanwalts ist das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt58. Wesentliches Kriterium dieses Vertrauensverhältnisses ist die Verschwiegenheit des Rechtsanwalts. Die Beistandsfunktion des Rechtsanwalts ist also nur dann

___________ 55 Laufhütte in Löwe-Rosenberg, § 143 StPO Rz. 9; Hilgendorf, NStZ 1996, 1 (5); weisen zumindest darauf hin, dass der Verteidiger die Grenzen seiner Schweigepflicht zu wahren hat. 56 Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl. 2005, Rz. 47. 57 Lüderssen in Löwe-Rosenberg, § 142 StPO Rz. 16; Barton, StV 1997, 576; Molketin, NStZ 1989, 87; KG v. 20.11.1992 – 4 Ws 228/92, NStZ 1993, 201; OLG Hamburg v. 15.6.1998 – 2 Ws 153/98, StraFo 1998, 307 m. Anm. Moore. 58 Krämer, NJW 1975, 849 (853).

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Bernhard Dombek

gewährleistet, wenn der Staat nicht in das Schweigerecht des Rechtsanwalts eingreift. Daher ist die jetzige Gesetzesinitiative, den absoluten Schutz des § 160a StPO vor strafprozessualen Beweiserhebungs- und Verwertungsmaßnahmen nicht nur für den Strafverteidiger vorzusehen, sondern auf jeden Rechtsanwalt zu erstrecken, nachdrücklich zu unterstützen, wie es Bundesrechtsanwaltskammer und Deutscher Anwaltverein seit Langem fordern. Beide Organisationen machen sich seit einiger Zeit Gedanken über das Anwaltsethos. Dazu gehört auch die Betonung des Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Mandant. Ein Anwalt ohne Ethos ist auf die Dauer ein Anwalt ohne Vertrauen, und das Vertrauen der Mandanten ist die wichtigste Grundlage der anwaltlichen Tätigkeit. Ohne Vertrauen kein Mandat!59 Dieser Beitrag versuchte, sich einer Begriffsbestimmung dieses Vertrauensverhältnisses anzunähern. Michael Streck steht dem Ausschuss für Berufsrecht des Deutschen Anwaltverein vor, der versucht, sich einer Bestimmung des Anwaltsethos anzunähern. Vielleicht gelingt es ihm bei diesen Versuchen, über meine Annäherungsversuche hinaus, zu bestimmen, was es mit dem Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Anwalt auf sich hat.

___________ 59 Hellwig, AnwBl 2009, 465 (468). Sein starker Ausruf lässt zweifeln, ob die hervorragende Werbekampagne des DAV „Vertrauen ist gut, Anwalt ist besser“ unter der richtigen Überschrift steht, denn sie fordert eigentlich zum Misstrauen auf, wenn auch nicht gegenüber dem Anwalt.

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Mechtild Düsing

Frauen in der Anwaltschaft – eine Machtfrage Frauen sind in der Anwaltschaft immer noch eine Minderheit, obwohl seit Jahrzehnten an den Universitäten die Zahl der Juraabsolventinnen gleich hoch – teilweise sogar höher – wie diejenige der Männer ist. Woran liegt es, dass Frauen diesen Beruf noch längst nicht so erobert haben, wie es ihren Fähigkeiten entspricht? Wollen sie nicht oder lässt man sie nicht? Eins steht mit Sicherheit fest: An der Qualifikation der Frauen liegt es sicherlich nicht, wenn sie im Anwaltsberuf immer noch in der Minderheit sind und wenn sie – trotz ihres Anteils von inzwischen 30% an der gesamten Anwaltschaft – in der Öffentlichkeit nach wie vor von den männlichen Kollegen dominiert werden. Schon zu Beginn der Diskussion über die Zulassung von Anwältinnen im Anwaltsberuf ist – ebenso wie bei der Diskussion über die Zulassung von Ärztinnen – ersichtlich, dass es den Männern, die seinerzeit als Vertreter ihres Standes diese Diskussion unter sich führten, keineswegs um Qualifikation, sondern letztlich um die Abwehr der drohenden „Überfüllung des Standes“ ging. Diese Diskussion spielte sich sowohl um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert in den Medizinischen Fakultäten ab als auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Rechtsanwaltskammern. Den Frauen war es bis zum Jahre 1909 nach langen Kämpfen gelungen, in allen Ländern des Reiches zum Studium der Jurisprudenz zugelassen zu werden. Dies führte jedoch keineswegs auch zur Zulassung in die juristischen Berufe. Zwar konnten die Frauen die Doktorprüfung ablegen, einen juristischen Beruf durften sie jedoch nicht ergreifen. Zu Beginn der Weimarer Republik wurde die Debatte um die Zulassung der Frauen noch heftiger. In dieser Debatte ging es auf sehr direkte Weise um die Frage von Prestige und Konkurrenz. Die Anwaltskammern diskutierten die Frage, ob die Aufnahme von Frauen „nicht endgültig zur Überfüllung des Standes führen und zudem dessen eh niedriges Prestige weiter beschädigen würde“. Als der Reichstag im Jahre 1922 die Zulassung der Frauen zu allen juristischen Berufen beschloss, setzte er sich damit über die mit großer Mehrheit gefassten Beschlüsse aller davon in der Folge betroffenen Berufsstände hinweg1. Die mangelnde Repräsentanz von Frauen sowohl im Anwaltsberuf allgemein als auch in den Leitungsgremien der Anwaltskammern und der Bundesrechtsanwaltskammer hat also mit Sicherheit nichts mit deren Qualifikation zu tun, sondern eher etwas mit Macht. Dies verdeutlicht auch der berühmte Vorschlag des Präsidenten des OLG Braunschweig Wassermann, der 1985 anregte, die Eingangsnoten für die Zulassung zum Justizdienst zu senken mit der Begründung, dass unter den Assessoren mit voll befriedigen-

___________ 1 Zitiert aus Angelika Wetterer, Rhetorische Präsenz – faktische Marginalität. Zur Situation von Wissenschaftlerinnen in Zeiten der Frauenförderung, Zeitschrift für Frauenforschung, 1+2/1994, 93–110.

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Mechtild Düsing

dem Examen überproportional Frauen vertreten seien. Es sei aber nicht erstrebenswert, wenn in Zukunft überwiegend Frauen in der Justiz tätig seien2. Zwar wurde Maria Otto als erste Anwältin Deutschlands 1922 in München zugelassen, dies führte jedoch damals nicht zu einer Eroberung des Anwaltsstandes durch die Frauen. Der ausschließlich männlich dominierte Nationalsozialismus hat dies verhindert. Nicht nur die jüdischen Kollegen, sondern auch die Frauen wurden aus dem Anwaltsberuf entfernt. Was die nationalsozialistischen Männer vollstreckten, war manchem Kollegen in der Anwaltschaft mit Sicherheit nur Recht. Die Frauen standen daher zu Beginn der Bundesrepublik wieder ganz am Anfang. Sie mussten sich in einem männlich geprägten Umfeld durchsetzen und sich mit Machtansprüchen der männlichen Kollegen auseinandersetzen. Als ich von 1965 an die Vorlesungen an der Universität Münster und München besuchte, waren die Studentinnen eine kleine Minderheit. In den Vorlesungen von Prof. Harry Westermann wurden Frauen nur dann angesprochen, wenn es um das Vorlesen von Gesetzestexten ging, da nach Meinung von Prof. Harry Westermann dies den Frauen besonders lag. Ich erinnere mich an den Besuch meiner Mutter, als ich an der Universität in München studierte. Wir standen am Fuße einer Treppe, als in der juristischen Fakultät die Vorlesung beendet war. Hier die damaligen Worte meiner Mutter: „Mein Gott Kind, so viele Männer!“ Meine Mutter hatte offensichtlich Zweifel, ob es mir gelingen würde, mich in dieser Männerwelt durchzusetzen. Ich muss sagen, dass dies auch nicht so einfach war. Dies begann damit, dass ich selbst zunächst auch davon ausging, dass es Männern grundsätzlich leichter fiel, juristische Probleme zu lösen. Erst nach und nach – sowohl im Studium als auch im späteren Anwaltsberuf – wurde mir klar, dass es häufig andersherum war. Mit anderen Worten: Das Selbstbewusstsein, es genauso gut zu können, wie die Männer oder sogar besser (wie sich häufig herausstellte), wuchs erst mit der Zeit. Meinen Mitstudenten war jedoch das Selbstbewusstsein, es auf jeden Fall besser zu können als die Frauen, sozusagen mit in die Wiege gelegt. Auch nach Aufnahme meiner selbstständigen Tätigkeit als Rechtsanwältin im Jahre 1973 verließen mich diese Zweifel – trotz mit „gut“ bestandenem Examen – so schnell nicht. Ich hatte mich als Rechtsanwältin selbstständig gemacht und war zunächst ohne Personal tätig. Wenn ich dann einem neuen Mandanten die Tür öffnete und dieser „Frau Rechtsanwältin“ sprechen wollte, weil er mich für die Sekretärin hielt, hatte ich häufiger das Gefühl, dass der Mandant am liebsten wieder weggelaufen wäre, jedenfalls bereute er offensichtlich den Beschluss, eine Anwältin aufzusuchen – vielleicht, weil diese nun ganz und gar nicht wie ein Mann aussah? Allerdings haben neuere Untersuchungen ergeben, dass dieses Problem offensichtlich der Vergangenheit angehört. Nach einer Untersuchung von Homme-

___________ 2 Ebenfalls zitiert nach Wetterer, a.a.O., S. 101.

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Frauen in der Anwaltschaft – eine Machtfrage

rich/Kilian aus dem Jahr 2007 spielt für 94% der Befragten das Geschlecht des Anwalts keine Rolle3. Ob sich dieses wissenschaftliche Ergebnis in den großen Anwaltskanzleien schon herumgesprochen hat, wage ich zu bezweifeln. Jedenfalls ist es vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar, weshalb in den Partnerschaften der großen Anwaltskanzleien so gut wie keine Anwältinnen vertreten sind. Das heißt, die Anwaltschaft ist immer noch männlich geprägt, obwohl zwischenzeitlich die Zahl der Anwältinnen die 30%-Marke stetig überschreitet. Die Macht der Männer ist im Anwaltsberuf nach wie vor nicht gebrochen. Dies ergibt ein Blick in die Einkommensstruktur von Männern und Frauen im Anwaltsberuf sowie ein Blick in die Leitungsgremien der Anwaltskammern. Die neuesten Daten des statistischen Bundesamtes aus der Einkommensteuerstatistik 2004 bringen eklatante Unterschiede im Einkommen der freiberuflich tätigen Rechtsanwälte jeweils nach Geschlecht zutage. So liegen die durchschnittlichen überwiegenden Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit von Rechtsanwältinnen ohne Notariat 56% niedriger als die ihrer männlichen Kollegen, bei Rechtsanwältinnen mit Notariat beträgt die Differenz 58% und bei Notarinnen 52%. Hier werden also Einkommensdifferenzen zwischen Männern und Frauen, die im sonstigen Wirtschaftsleben zwischen 25 und 30% liegen, noch haushoch übertroffen. Dabei sind in diesen Zahlen die „Wohnzimmerkanzleien“ mit Umsätzen von weniger als 17 500 Euro gar nicht enthalten4. In der Bundesrechtsanwaltskammer, in der die Präsidenten aller Rechtsanwaltskammern Deutschlands vertreten sind, gibt es nur eine Frau (von der Berliner Rechtsanwaltskammer). In den Präsidien der Rechtsanwaltskammern selbst sitzen fast nur Männer. Zum Beispiel ist in der Rechtsanwaltskammer Hamm nur eine Frau unter fünf Präsidiumsmitgliedern. In der Rechtsanwaltskammer Frankfurt befindet sich im sechsköpfigen Präsidium keine Frau, und im 37-köpfigen Vorstand sind es nur drei Frauen. Der Machtanspruch der Männer scheint ungebrochen, während die Frauen offenbar immer noch nicht erkannt haben, dass einem die Macht nicht von selbst zufällt, sondern dass sie erkämpft sein will. Zwar ist ein Drittel der zugelassenen Rechtsanwälte weiblich, jedoch erwirtschaften sie noch nicht – wie die oben zitierte Statistik erweist – ein Drittel des Einkommens der Rechtsanwaltschaft. Wenn Geld Macht ist, erklärt sich hieraus schon die mangelnde Repräsentanz der Frauen in den Partnerschaften der großen Anwaltskanzleien und in den Rechtsanwaltskammern. Die Anwältinnen sind daher aufgerufen, ihren Teil an dieser Macht zu ergreifen und sich nicht mit minderwertigen Positionen abspeisen zu lassen. Da jedoch die Inhaber dieser Macht diese nicht freiwillig abgeben, brauchen die Anwältinnen Netzwerke und Mentoren. Ein solcher Mentor war und ist Dr.

___________ 3 Christoph Hommerich/Matthias Kilian, Frauen im Anwaltsberuf, Forschungsberichte des Soldan Instituts für Anwaltsmanagement, Band 5, S. 26. 4 Statistik aus Anwaltsblatt 4/2010, S. 278, auch „Strukturwandel und wirtschaftliche Situation der Anwaltschaft“ von Prof. Christoph Hommerich und Matthias Kilian.

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Mechtild Düsing

Streck, dem die Anwältinnen im Deutschen Anwaltverein viel zu verdanken haben. Er ist der Vater der Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen im DAV und hat dafür gesorgt, dass das Thema „Frauen und Anwaltschaft“ auf die Agenda des DAV kam. Noch während des letzten Jahres seiner Zeit als DAV-Präsident hat Dr. Streck erstmals Funktionsträgerinnen aus dem DAV nach Berlin zusammengerufen, um die Frage zu diskutieren, was zur Verbesserung der Mitarbeit von Frauen im DAV getan werden könnte. Dr. Streck hatte festgestellt, dass sowohl im Vorstand des DAV als auch in den Ausschüssen und Arbeitsgemeinschaften Frauen nicht entsprechend ihrer Mitgliedschaft repräsentiert waren und insgesamt eine untergeordnete Rolle spielten. Nach intensiven Diskussionen wurde der Beschluss gefasst, eine Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen im DAV zu gründen. Dies geschah ein Jahr nach dem Ende der Präsidentschaft von Dr. Streck anlässlich des Anwaltstages am 20. Mai 2004 in Hamburg. Die zentrale Aufgabe dieser Arbeitsgemeinschaft bestand und besteht in der Förderung der speziellen Belange der Berufstätigkeit von Rechtsanwältinnen, um deren paritätische Teilhabe am erwerbswirtschaftlichen und berufspolitischen Leben herzustellen und zu sichern. Dr. Streck hat während der ersten fünf Jahre des Bestehens der Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen als vom DAV-Vorstand entsandtes Mitglied im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft mitgewirkt und deren Belange immer im Vorstand und im Präsidium des DAV aktiv aber auch kritisch begleitet. Ich wurde zur ersten Vorsitzenden des Geschäftsführenden Ausschusses der Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen gewählt und habe meine ein Jahr später erfolgte Wahl in den Vorstand des DAV ebenfalls dem Einsatz von Rechtsanwalt Dr. Streck zu verdanken. Sein Einsatz als Mentor für die Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen und deren Belange im Vorstand und im Präsidium des DAV war von unschätzbarem Wert. Nach meiner Wahl in den Vorstand des DAV im Jahre 2005 habe ich dort die Ansprüche der Anwältinnen auf Teilhabe an der Arbeit des DAV formuliert, das heißt, immer wieder und penetrant habe ich die Berücksichtigung der Belange von Anwältinnen eingefordert. Die Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen wurde zum Netzwerk von Frauen innerhalb des DAV, jedoch teilweise auch auf Vereins- und Anwaltskammerebene. Letztlich führte diese Lobbyarbeit dazu, dass bei den Vorstandswahlen im Mai 2009 insgesamt acht Frauen in den 27-köpfigen Vorstand des DAV gewählt worden sind! Die Tatsache, dass ich bei dieser Wahl im Jahre 2009 nicht wieder gewählt wurde, lässt allerdings erkennen, dass die Männer durchaus gewillt sind, ihre Machtstellung zu verteidigen. Trotzdem: Die Frauen im DAV sind – nicht zuletzt mit der Hilfe ihres Mentors Dr. Streck – selbstbewusster geworden. Sie verlangen offen an der Arbeit des DAV gleichberechtigt beteiligt zu werden und sind auch bereit, dafür zu kämpfen.

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Martin Henssler

Die berufsrechtliche Zulässigkeit der anwaltlichen Vertretung mehrerer Gesamtschuldner Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtliche Ausgangslage III. Die Bestimmung der Interessenlage 1. Subjektive versus objektive Theorie 2. Der Begriff des Interesses als subjektiv geprägtes Tatbestandsmerkmal IV. Die Vertretung widerstreitender Interessen 1. Der Begriff des Interessengegensatzes 2. Anforderungen an die Konkretisierung des Interessengegensatzes a) Meinungsstand b) Verfassungswidrigkeit von Anscheinsverboten c) Erfordernis eines tatsächlichen Interessengegensatzes

3. Der Interessengegensatz bei Vertretung mehrerer als Gesamtschuldner in Anspruch genommener Mandanten a) Die gesetzliche Anordnung der Zulässigkeit einer Mehrfachvertretung b) Die Unbeachtlichkeit späterer Streitigkeiten im Innenverhältnis c) Die Bedeutung einer möglichen Streitverkündung d) Notwendige Beurteilung des Einzelfalls 4. Die „Vertretung“ widerstreitender Interessen V. Zusammenfassung

I. Einleitung Michael Streck, dem dieser Beitrag in hoher Wertschätzung und Anerkennung seiner vielfältigen Verdienste um die deutsche Anwaltschaft mit herzlichen Glückwünschen zum 70. Geburtstag gewidmet ist, zählt neben Ludwig Koch zu jenen Präsidenten des Deutschen Anwaltvereins, die sich in besonderer Weise des anwaltlichen Berufsrechts angenommen haben. Immer wieder hat er sich nicht nur in die berufspolitische Diskussion eingeschaltet, sondern auch berufsrechtliche Fragen in Veröffentlichungen aufgegriffen. Aus gutem Grund hat der Deutsche Anwaltverein ihm daher den wichtigen und einflussreichen Vorsitz des Berufsrechtsausschusses anvertraut. Ein Schwerpunkt seiner zahlreichen berufsrechtlichen Veröffentlichungen lag im Bereich des Rechts der mono- und interprofessionellen Zusammenarbeit1, aber auch der zentralen anwaltlichen Berufspflichten, wie des Verbots der Vertretung wider-

___________ 1 Streck, Die Sozietät im Rahmen sonstiger Kooperationsformen – Sozietäten und andere Zusammenschlüsse rechts- und steuerberatender Berufe, Beratungsakzente 26 (1999), S. 23 ff.; Streck, Sozietät oder Bürogemeinschaft? Entscheidungshilfen für den (Jung)-Anwalt, MDR 1997, 897; Henssler/Streck (Hrsg.), Handbuch des Sozietätsrechts, 2001.

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Martin Henssler

streitender Interessen, hat sich Michael Streck wiederholt angenommen. Erwähnt sei nur sein 2004 veröffentlichter Beitrag, dessen Titel „Meine Anwältin – Wem gehört der Anwalt: Licht und Schatten der Interessenvertretung“ zugleich ein schönes Beispiel für die Freude des Jubilars an pointiert geschliffenen Formulierungen ist2. Der Verfasser dieser Zeilen hofft daher, mit einem Beitrag zu aktuellen Praxisfragen des Prävarikationsverbots das Interesse des Jubilars zu finden. Das anwaltliche Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen hat in den letzten Jahren dramatisch an Bedeutung gewonnen. Insbesondere im Bereich der Wirtschaftsberatung sind vielfältige neue Fragestellungen aufgeworfen worden, auf die es noch kaum gefestigte und für die Praxis zufriedenstellende Antworten gibt3. Hinzu kommt, dass das Größenwachstum der Anwaltskanzleien die Gefahr, dass sich Mitarbeiter oder Partner derselben Kanzlei auf verschiedenen Seiten von komplexen Streitigkeiten wiederfinden, exponentiell erhöht hat. Der vorliegende Beitrag greift einen der aktuellen Streitfälle heraus, der zwar nicht neu, aber trotz seiner Praxisrelevanz noch nicht zufriedenstellend geklärt ist, vielmehr in den meisten Stellungnahmen nicht einmal angesprochen wird: die Vertretung mehrerer Gesamtschuldner durch denselben Rechtsanwalt bzw. verschiedene Mitglieder derselben Anwaltsgesellschaft. Die berufsrechtliche Problematik liegt darin begründet, dass einer erfolgreichen Klage gegen Gesamtschuldner ein streitiger Gesamtschuldnerausgleich folgen kann. Damit stellt sich die Frage: Schlagen diese denkbaren Interessengegensätze im Folgeprozess schon auf den Vorprozess durch? Hinzu kommt, dass eine der gesamtschuldnerisch verklagten Parteien über eine Streitverkündung (§ 72 ZPO) die Interventionswirkung des § 68 ZPO erreichen, das Urteil im Vorprozess also Wirkungen für eine Entscheidung im Folgeprozess haben kann. Die Auseinandersetzungen über die berufsrechtliche Zulässigkeit der gemeinsamen Vertretung mehrerer Gesamtschuldner durch einen gemeinsamen Prozessbevollmächtigten sind regelmäßig von der Hoffnung getragen, die Zahlung der Anwaltskosten wegen der nach herrschender Meinung eintretenden Nichtigkeit des Anwaltsvertrags gemäß § 134 BGB vermeiden zu können. Denkbar ist aber auch, dass der Kläger als gegnerische Partei einen „Verrat“ der von einem gemeinsamen Anwalt vertretenen Beklagten ausgemacht haben will. Wird er zur Zahlung der außergerichtlichen Kosten der Beklagten verurteilt, so kann er über den Einwand der Vertragsnichtigkeit versuchen, im Wege der Vollstreckungsgegenklage einen zu seinen Lasten ergangenen Kostenfestsetzungsbeschluss zu Fall zu bringen4.

___________ 2 Streck, AnwBl 2004, 266 ff. 3 Ein Beispiel ist die Vertretung mehrerer Bieter bei einem Unternehmenskauf, dazu Henssler in FS Maier-Reimer, 2010, S. 217 ff. 4 Zu den Rechtsfolgen des Verbots der Vertretung widerstreitender Interessen s. ausführlich Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz. 772 ff.; Deckenbrock, AnwBl 2010, 221 ff.

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Zulässigkeit der anwaltlichen Vertretung mehrerer Gesamtschuldner

II. Rechtliche Ausgangslage Die rechtlichen Grundlagen für die Beurteilung anwaltlicher Interessenkonflikte finden sich in verschiedenen straf- und berufsrechtlichen Vorschriften, konkret in § 356 StGB, § 43a Abs. 4 BRAO und § 3 BORA. Während in § 356 StGB das Verhalten eines Anwalts oder eines anderen Rechtsbeistands unter Strafe gestellt wird, der bei den ihm in dieser Eigenschaft anvertrauten Angelegenheiten in derselben Rechtssache beiden Parteien durch Rat oder Beistand pflichtwidrig dient, hat sich der Gesetzgeber in § 43a Abs. 4 BRAO mit der schlichten Feststellung begnügt, dass einem Rechtsanwalt die Vertretung widerstreitender Interessen untersagt ist. Eine detailliertere berufsrechtliche Regelung findet sich in der Satzungsbestimmung des § 3 BORA, dessen aktuelle Fassung die Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer mit Wirkung zum 1. Juli 2006 verabschiedet hat5. Nach § 3 Abs. 1 BORA darf ein Rechtsanwalt nicht tätig werden, wenn er eine andere Partei in derselben Rechtssache im widerstreitenden Interesse bereits beraten oder vertreten hat oder mit dieser Rechtssache in sonstiger Weise im Sinne der §§ 45, 46 BRAO beruflich befasst war. Dieses Verbot wird in § 3 Abs. 2 Satz 1 BORA auf alle mit ihm in derselben Berufsausübungs- oder Bürogemeinschaft gleich welcher Rechts- oder Organisationsform verbundenen Rechtsanwälte erstreckt. Satz 2 sieht hiervon eine Ausnahme vor, wenn sich im Einzelfall die betroffenen Mandanten in den widerstreitenden Mandaten nach umfassender Information mit der Vertretung ausdrücklich einverstanden erklärt haben und Belange der Rechtspflege nicht entgegenstehen. Auch wenn sich dieser Beitrag nicht primär mit dem Straftatbestand des Parteiverrats befasst, so ist doch zu beachten, dass die hier relevanten Tatbestandsmerkmale der „Vertretung widerstreitender Interessen“ bei § 356 StGB und § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 BORA identisch ausgelegt werden. Zwar soll die anwaltliche Berufspflicht ausweislich der Gesetzesbegründung über die Strafbestimmung des § 356 StGB hinausgehen6. In welchen Konstellationen dies der Fall sein soll, wird aber nicht näher spezifiziert. In der Rechtsprechung wird die in der Gesetzesbegründung enthaltene Aussage ohne inhaltliche Überprüfung nur unreflektiert wiedergegeben7. Eine genaue Analyse der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen (Rechtsanwalt, dieselbe Rechtssache, widerstreitende Interessen etc.) ergibt, dass die straf- und berufsrechtlichen Normen in ihrem Kerntatbestand vollständig gleichlaufen. Unterschiede bestehen – wie der Verfasser an anderer Stelle näher ausgeführt hat8 – nur im Hinblick auf den Verschuldensmaßstab für eine Sanktionierung eines Verstoßes und bei der sozietätsweiten Erstreckung des Verbots. So ist bei § 356 StGB Vorsatz erforderlich, während für § 113 BRAO i.V.m. § 43a Abs. 4 BRAO, § 3

___________ 5 Vgl. BRAK-Mitt. 2006, 79. § 3 Abs. 2 BORA a.F. war von BVerfG v. 3.7.2003 – 1 BvR 238/01, BVerfGE 108, 250 = NJW 2003, 2520 für nichtig erklärt worden. 6 BT-Drucks. 12/4993, S. 27. 7 S. etwa BGH v. 25.6.2008 – 5 StR 109/07, BGHSt 52, 307 (313) = NJW 2008, 2723 (2725). 8 S. ausführlich zum Verhältnis von § 356 StGB und § 43a Abs. 4 BRAO Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl. 2010, § 43a Rz. 213 f. sowie Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 241 f., 283 f.

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Martin Henssler

BORA Fahrlässigkeit genügt. Eine sozietätsweite Erstreckung kennt die Strafnorm nicht, sie gibt es nur im Berufsrecht und wird auch dort nur durch § 3 Abs. 2 BORA angeordnet. Folge dieses Gleichlaufs im Bereich des objektiven Kerntatbestands ist es, dass die Rechtsprechung und Literatur, die zu § 356 StGB ergangen ist bzw. sich mit dieser Norm beschäftigt, unmittelbar für die Auslegung des berufsrechtlichen Verbots der Vertretung widerstreitender Interessen nutzbar gemacht werden kann. Außerdem gilt, dass der Straftatbestand des § 356 StGB nie verwirklicht sein kann, wenn die Voraussetzungen des § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 BORA nicht erfüllt sind. Für die Frage, ob die anwaltliche Vertretung mehrerer Gesamtschuldner eine berufsrechtswidrige Vertretung widerstreitender Interessen darstellt, ist dagegen unmittelbar ohne Bedeutung, ob ein und derselbe Rechtsanwalt oder verschiedene Anwälte der Sozietät die Vertretung übernommen haben. Denn dass ein Tätigkeitsverbot innerhalb einer Berufsausübungsgemeinschaft erstreckt werden kann, setzt zunächst voraus, dass überhaupt ein konkreter Berufsträger persönlich disqualifiziert ist. § 3 Abs. 2 BORA verdeutlicht dies anschaulich, indem er an „das Verbot des Abs. 1“ anknüpft9. Die Subsumtion unter die Tatbestandsmerkmale „dieselbe Rechtssache“, „widerstreitende Interessen“ und „vertreten“ erfolgt allerdings unabhängig davon, ob ein und derselbe Anwalt oder zwei verschiedene Anwälte einer Sozietät die kollidierenden Mandate betreuen. Die in der Literatur anklingende Überlegung, dass § 3 BORA ein bewegliches System der Tatbestandsmerkmale enthalte10, überzeugt nicht: Der Norm lässt sich nicht entnehmen, dass alle Tatbestandsmerkmale in einer Art Gesamtabwägung zu beurteilen wären11. Fragen der sozietätsweiten Erstreckung des Verbots der Vertretung widerstreitender Interessen bleiben daher in diesem Beitrag außer Betracht12. Im Interesse besserer Verständlichkeit wird daher im Folgenden von einem und nicht mehreren gemeinsamen Prozessbevollmächtigten gesprochen.

III. Die Bestimmung der Interessenlage Entscheidend ist damit, ob der Prozessbevollmächtigte die drei zentralen, inhaltlich eng miteinander verwobenen (vgl. dazu IV. 4.) Tatbestandsmerkmale der Verbotsnormen, nämlich die (1) Vertretung (2) widerstreitender (3) Interessen erfüllt. Der Ausgangspunkt der Prüfung, der den beiden Fragen, ob die Interessen der Mandanten einander „widerstreiten“ und ob der Prozessbevollmächtigte diese auch tatsächlich „vertreten“ haben, vorgelagert ist, betrifft die Ermittlung der Interessenlage der Parteien.

___________ 9 Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, § 3 BORA Rz. 2; Kleine-Cosack, BRAO, 6. Aufl. 2009, § 3 BORA Rz. 5; Deckenbrock, AnwBl 2009, 170 (171). 10 Kleine-Cosack, BRAO, § 43a Rz. 96. 11 Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 674; Deckenbrock, AnwBl 2009, 170 (171 f.). 12 Zu § 3 Abs. 2 BORA s. Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, § 3 BORA Rz. 6 ff., sowie Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 614 ff.; Deckenbrock, AnwBl 2009, 170 (171 ff.).

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Zulässigkeit der anwaltlichen Vertretung mehrerer Gesamtschuldner

1. Subjektive versus objektive Theorie In der Rechtsprechung und Literatur ist insoweit umstritten, ob die maßgeblichen Interessen subjektiv aus Sicht des Mandanten oder objektiv zu ermitteln sind, wobei das objektive Interesse als „wohlverstandenes“ Interesse interpretiert wird. Die früher herrschende und teilweise heute noch vertretene Ansicht, nach der die Interessenlage objektiv zu bestimmen ist, wird damit begründet, dass es sich beim Parteiverrat um ein Rechtspflegedelikt handele. Sei dieses Delikt somit gegen die Allgemeinheit gerichtet, verbiete sich von vornherein eine subjektive Betrachtungsweise. Das so bestimmte Rechtsgut unterliege nicht der Disposition der Parteien13. Inzwischen geht die in Rechtsprechung und Schrifttum überwiegend vertretene Meinung jedoch von einem subjektiven Ansatz aus, nach dem allein der Mandant bestimmt, welche Interessen der Anwalt im Rahmen der Vertragsbeziehung zu vertreten hat14. Nach einer dritten Literaturansicht, die grundsätzlich der subjektiven Theorie folgt, muss ausnahmsweise dann auf die objektive Interessenlage abgestellt werden, wenn der Streitstoff nicht der Verfügungsmacht der Parteien unterliegt. Dies sei namentlich im Strafverfahren und bei Statussachen nach §§ 606 ff. ZPO der Fall15. Bei der gleichzeitigen Vertretung mehrerer Parteien in den verschiedenen Instanzen eines Zivilprozesses, in dem nicht der Amtsermittlungs-, sondern der Beibringungsgrundsatz gilt, kommen die Vertreter dieser dritten Ansicht zu demselben Ergebnis wie die Anhänger der rein subjektiven Theorie.

___________ 13 S. exemplarisch BGH v. 20.11.1952 – 4 StR 850/51, BGHSt 4, 80 (82) = NJW 1953, 428; BGH v. 2.2.1954 – 5 StR 590/53, BGHSt 5, 284 (287 ff.) = NJW 1954, 482 (483); BayObLG v. 29.9.1994 – 5 St RR 60/94, NJW 1995, 606; OLG Zweibrücken v. 27.5.1994 – 1 Ss 12/94, NStZ 1995, 35 (36); Kühl in Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 356 Rz. 7; Hartung in Hartung/Römermann, BORA, 4. Aufl. 2008, § 3 Rz. 73; Westerwelle, Rechtsanwaltssozietäten und das Verbot widerstreitender Interessen, 1997, S. 95; O. Geppert, Der strafrechtliche Parteiverrat, 1961, S. 99 f.; Sahan, AnwBl 2008, 698 (700). 14 S. nur BGH v. 4.2.1954 – 4 StR 724/53, BGHSt 5, 301 (307) = NJW 1954, 726 (727 f.); BGH v. 2.12.1954 – 4 StR 500/54, BGHSt 7, 17 (20) = NJW 1955, 150 (151); BGH v. 24.6.1960 – 2 StR 621/59, BGHSt 15, 332 (334); BGH v. 16.11.1962 – 4 StR 344/62, BGHSt 18, 192 (198) = NJW 1963, 668 (670); BGH v. 7.10.1986 – 1 StR 519/86, BGHSt 34, 190 (192) = NJW 1987, 335; BGH v. 15.1.1981 – III ZR 19/80, NJW 1981, 1211 (1212); BGH v. 13.7.1982 – 1 StR 245/82, NStZ 1982, 465 (466); KG v. 10.5.2006 – (3) 1 Ss 409/05 (139/05), NStZ 2006, 688; OLG Karlsruhe v. 11.4.1997 – 2 Ss 259/96, NStZ-RR 1997, 236 (237); OLG Koblenz v. 6.8.2002 – 3 U 78/02, NJOZ 2005, 4119 (4124); Dahs in MüKo/StGB, Bd. 4, 2006, § 356 Rz. 56; Gillmeister in LK/StGB, Bd. 13, 12. Aufl. 2009, § 356 Rz. 59; Fischer, StGB, 57. Aufl. 2010, § 356 Rz. 7; Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 147 ff.; Knöfel, Grundfragen der internationalen Berufsausübung von Rechtsanwälten, 2005, S. 765 f. 15 Hübner in LK/StGB, Bd. 7, 10. Aufl. 1988 (Stand der Kommentierung zu § 356 StGB: Juli 1980), § 356 Rz. 82 f.; Heine in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 356 Rz. 18 ff.; Feuerich in Feuerich/Weyland, BRAO, 7. Aufl. 2008, § 43a Rz. 64; KleineCosack, BRAO, 6. Aufl. 2009, § 43a Rz. 109; Kilian in Koch/Kilian, Anwaltliches Berufsrecht, 2007, B Rz. 637; Kilian, WM 2000, 1366 (1368). S. auch Richter in Hense/Ulrich, WPO, 2008, § 53 Rz. 8 zum Wirtschaftsprüfer.

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2. Der Begriff des Interesses als subjektiv geprägtes Tatbestandsmerkmal Das subjektive Interesse des Mandanten wird zwar regelmäßig dem entsprechen, was auch objektiv in seinem wohlverstandenen Interesse liegt. Die persönlichen Umstände des Mandanten können aber auch eine vom objektiven Interesse abweichende Zielsetzung begründen. Diese muss dann für den beratenden Anwalt als Interessenvertreter verbindlich sein. Überzeugend ist es daher allein, dem subjektiven Ansatz zu folgen16. Das „Interesse“ ist schon dem Begriff nach ein subjektiv geprägtes Tatbestandsmerkmal. Außerdem bestimmt der Mandant – und nicht der Anwalt – mit der Mandatserteilung, welche Interessen zu vertreten sind17. Die nach § 675 Abs. 1 BGB auf den Anwaltsvertrag als entgeltliche Geschäftsbesorgung anzuwendende Vorschrift des § 665 BGB stellt klar, dass der Rechtsanwalt grundsätzlich an Weisungen seines Mandanten gebunden ist, und zwar selbst dann, wenn diese zu Nachteilen für den Mandanten führen können, etwa zusätzliche Kosten verursachen oder nicht den sichersten Weg betreffen. Schließlich trägt allein der Mandant das mit der Durchführung seines Auftrags verbundene Erfolgs- und Kostenrisiko, er muss daher auch die konkrete Durchführung und Erledigung des Mandats steuern können. Es ist daher nur folgerichtig, dem Mandanten auch das Recht zuzubilligen, die Art und Weise der Wahrnehmung seiner Interessen zu bestimmen18. Die Rechtsprechung hat diesen, das Selbstbestimmungsrecht des Mandanten betonenden Ansatz in verschiedenen Entscheidungen aufgegriffen. So ist etwa anerkannt, dass eine Verletzung der (grundsätzlichen) Pflicht, Anweisungen des Auftraggebers zu beachten, Schadensersatzansprüche des Mandanten gegen den Anwalt nach sich ziehen kann19. Nicht einmal dann, wenn berufsrechtliche Vorgaben es dem Anwalt verbieten, eine Weisung seines Mandanten zu befolgen, darf der Anwalt ohne Weiteres den Mandantenwunsch ignorieren und diesen auf diese Weise bevormunden. Eine Ausnahme kennt § 665 Satz 2 BGB. Dem Rechtsanwalt bleibt in solchen Konstellationen immer noch der Ausweg der Mandatsniederlegung20. Diese allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätze sind bei der Auslegung des Interessengegensatzes zu berücksichtigen. Es wäre widersprüchlich, wenn das Gesetz einerseits dem Mandanten ein Weisungsrecht zubilligte, andererseits diese Weisungen, aus denen sich die Interessen des Mandanten ergeben, bei der Bestimmung der Interessen im Sinne des § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 BORA unberücksichtigt blieben21.

___________ 16 S. bereits Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, § 43a Rz. 171 ff.; Henssler, NJW 2001, 1521 (1522). 17 Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, § 43a Rz. 172; Henssler, NJW 2001, 1521 (1522). Vgl. nur BGH v. 20.3.1984 – VI ZR 154/82, NJW 1985, 42 (43); BGH v. 13.3.1997 – IX ZR 81/96, NJW 1997, 2168 (2169) (vorher aber Hinweispflicht des Anwalts auf etwaige Nachteile). 18 OLG Karlsruhe v. 8.3.1994 – 3 U 45/93, NJW-RR 1994, 1084; Zugehör in Zugehör/ Fischer/Sieg/Schlee, Handbuch der Anwaltshaftung, 2. Aufl. 2006, Rz. 936; Vollkommer/Greger/Heinemann, Anwaltshaftungsrecht, 3. Aufl. 2009, § 14 Rz. 1. 19 Vgl. nur BGH v. 30.10.1984 – IX ZR 6/84, VersR 1985, 83 (84); BGH v. 12.12.1985 – IX ZR 1/85, BGHZ 96, 352 (354) = NJW 1986, 1047 (1048). 20 Vgl. hierzu auch OLG Karlsruhe v. 8.3.1994 – 3 U 45/93, NJW-RR 1994, 1084. 21 Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 148.

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Denn Anwälte sind – wie u.a. aus der berufsbildprägenden Vorschrift des § 3 Abs. 1 BRAO folgt – berufene Berater und Vertreter des Rechtsuchenden. Auch deshalb müssen sie allein dessen Interessen verpflichtet sein. Das Bundesverfassungsgericht folgt dementsprechend zu Recht dem subjektiven Ansatz, wenn es in der berühmten Sozietätswechslerentscheidung von 2003 ausführt: „Dies bedeutet indessen nicht, dass die Definition, was den Interessen des eigenen Mandanten und damit zugleich der Rechtspflege dient, abstrakt und verbindlich von Rechtsanwaltskammern oder Gerichten ohne Rücksicht auf die konkrete Einschätzung der hiervon betroffenen Mandanten vorgenommen werden darf.“22 2006 hat das Bundesverfassungsgericht in einer Kammerentscheidung nochmals betont, dass „eine dem Einzelfall gerecht werdende Abwägung aller Belange unter besonderer Berücksichtigung der konkreten Mandanteninteressen“ erfolgen müsse23. Die von den Vertretern der objektiven Theorie vorgebrachten Gegenargumente erweisen sich bei genauer Betrachtung als nicht stichhaltig. Sie stützen sich im Kern auf das Argument, der Parteiverrat sei ein Rechtspflegedelikt. Es sei daher widersprüchlich, wenn die Bestimmung der widerstreitenden Interessen aus subjektiver (Mandanten-)Sicht erfolge, zugleich aber die Unerheblichkeit der Mandanteneinwilligung in die Vertretung widerstreitender Interessen propagiert werde. Diese Argumentation vermischt indes zwei strikt voneinander zu trennende Problemkreise. Die Frage, wie die Interessen der Parteien zu bestimmen sind, ist von der Folgeproblematik zu unterscheiden, ob sich die so ermittelten Interessen widersprechen. Während die Interessen der Parteien nach den dargelegten Erwägungen subjektiv zu bestimmen sind, erfolgt die Feststellung eines Interessengegensatzes aufgrund eines objektiven Vergleichs der vom Mandanten vorgegebenen subjektiven Interessen (dazu sogleich noch IV.). Gestaltet der Mandant die zu vertretenden Interessen so, dass sie nicht mehr im Widerspruch zu denen der anderen Partei stehen, muss von vornherein eine Gefahr für die individuellen Interessen des Mandanten entfallen. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Integrität der Anwaltschaft kann dann zwangsläufig nicht enttäuscht werden24. Ergibt der Vergleich der jeweiligen Interessenlage dagegen einen Interessengegensatz, so folgt daraus ein – im Hinblick auf einen Einzelanwalt – nicht disponibles Tätigkeitsverbot25. Eine entsprechende Differenzierung nimmt auch das Bundesverfassungsgericht vor, wenn es auf der einen Seite von einer subjektiven Interessenbestimmung spricht, auf der anderen Seite aber betont: „Die Wahrnehmung anwaltlicher Aufgaben setzt den unabhängigen, verschwiegenen und nur den Interessen des eigenen Mandanten verpflichteten

___________ 22 BVerfG v. 3.7.2003 – 1 BvR 238/01, BVerfGE 108, 150 (162) = NJW 2003, 2520 (2521) (Hervorhebung hinzugefügt). 23 BVerfG v. 20.6.2006 – 1 BvR 594/06, BVerfGK 8, 239 (243) = NJW 2006, 2469 (2470) (Hervorhebung hinzugefügt). 24 Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 149 f. 25 Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 165 ff. Etwas anderes gilt nach § 3 Abs. 2 Satz 2 BORA bei einer Vertretung durch unterschiedliche Anwälte derselben Sozietät.

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Rechtsanwalt voraus. Diese Eigenschaften stehen nicht zur Disposition der Mandanten26.“ Bei der (subjektiven) Bestimmung der Interessenlage ist insbesondere der Umfang des dem Anwalt erteilten Mandats zu berücksichtigen. Grundsätzlich wird einem Rechtsanwalt ein sog. unbeschränktes Mandat erteilt, was bedeutet, dass er seinen Auftraggeber in der gesamten Rechtsangelegenheit umfassend zu beraten und zu vertreten hat. Zulässig und in der Praxis nicht selten anzutreffen ist aber auch ein sog. beschränktes Mandat. Der Rechtsanwalt ist dann nur beauftragt, seinen Mandanten in einer Rechtsangelegenheit bezüglich eines Teils des Gegenstands oder in einer bestimmten Art, Richtung und Reichweite zu beraten und zu vertreten27.

IV. Die Vertretung widerstreitender Interessen Ist die Vorfrage nach der Interessenlage somit dahingehend zu beantworten, dass die Interessen der betroffenen Parteien subjektiv zu bestimmen sind, kann sich die rechtliche Beurteilung nunmehr der Kernproblematik der Prävarikationsvorschriften zuwenden: Nach welchen Kriterien ist zu ermitteln, ob tatsächlich eine Kollision zwischen den anwaltlich vertretenen Interessen der Parteien besteht? Im Schrifttum wird diese Frage häufig nicht mit der gebotenen Präzision herausgearbeitet, sondern allein zum Streit um die objektive oder subjektive Bestimmung der Interessenlage sowie zu Einzelfällen Stellung genommen. Ausführungen zur Frage, welche Anforderung an einen Interessengegensatz und die Vertretung der gegensätzlichen Interessen zu stellen sind, fehlen dagegen regelmäßig28. 1. Der Begriff des Interessengegensatzes Ausgangspunkt der Prüfung eines Interessengegensatzes muss eine Gegenüberstellung der jeweils auf subjektiver Basis ermittelten Interessenlagen sein. Für die Annahme eines Tätigkeitsverbots reicht es indes nicht aus, dass zwischen den Parteien überhaupt widerstreitende Interessen bestehen. Voraussetzung ist vielmehr, dass der Anwalt für beide Parteien auch im gegensätzlichen Interesse tätig geworden ist29. Zu berücksichtigen ist ferner, dass ein solcher Interessenwiderstreit zum Zeitpunkt der Tat vorliegen muss. Es kommt daher für die Beurteilung der

___________ 26 BVerfG v. 3.7.2003 – 1 BvR 238/01, BVerfGE 108, 150 (161 f.) = NJW 2003, 2520 (2521). 27 Vgl. nur BGH NJW 1996, 2929 (2931); Zugehör in Zugehör/Fischer/Sieg/Schlee, Handbuch der Anwaltshaftung, Rz. 493 ff. 28 S. exemplarisch Hartung in Hartung/Römermann, BORA, § 3 Rz. 71; Feuerich in Feuerich/Weyland, BRAO, § 43a Rz. 64 ff.; Offermann-Burckart, AnwBl 2008, 446 (447 ff.). 29 BGH v. 6.4.1982 – 5 StR 8/82, NStZ 1982, 331 (332); OLG Düsseldorf v. 5.11.2002 – 2a Ss 167/02 – 57/02 I, NZV 2003, 297; Fischer, StGB, § 356 Rz. 9; Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 161; Kretschmer, Der strafrechtliche Parteiverrat (§ 356 StGB), 2005, S. 233; Schramm, Das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2004, S. 52.

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Interessen frühestens auf den Zeitpunkt an, zu dem der Dienst für die zweite Partei begonnen wird30. Zugleich folgt aus dieser Einschränkung, dass ein Interessenkonflikt, der zwischen den Parteien erst nach dem Abschluss eines Mandats auftritt, keine Vertretung widerstreitender Interessen darstellt. Das gilt insbesondere für solche nachträglichen Interessenkonflikte, die durch die Geltendmachung von Ausgleichsansprüchen zwischen den vertretenen Parteien entstehen. 2. Anforderungen an die Konkretisierung des Interessengegensatzes Welche Anforderungen sind an die Qualität eines Interessenkonflikts zu stellen bzw. anders gewendet: Wie konkret muss der Interessenwiderstreit sein? Muss er bereits tatsächlich vorliegen, genügt eine konkrete Gefahr oder gar eine bloße abstrakte Gefahr eines Interessenkonflikts? Über all diese Fragen konnte bis heute keine abschließende Einigung im berufsrechtlichen Schrifttum erzielt werden. Anerkanntermaßen kommt eine Verletzung der Verbotsnorm des § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 BORA nicht in Betracht, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts von vornherein keinem seiner Mandanten zum Nachteil gereichen kann31. Auf der anderen Seite kommt es ebenso unstreitig nicht darauf an, ob der Anwalt seinen Mandanten durch die Vertretung der widerstreitenden Interessen tatsächlich geschädigt hat. Verboten ist schon die Vertretung der widerstreitenden Interessen, nicht erst die Schädigung des Mandanten. In dem zwischen diesen beiden Eckdaten liegenden Bereich sind dagegen viele Detailfragen nur unzulänglich geklärt. Insbesondere wird im Schrifttum häufig nicht exakt getrennt zwischen einerseits der Gefahr einer Benachteiligung/ Schädigung des Mandanten durch die Vertretung der widerstreitenden Interessen und andererseits der bloßen Gefahr eines Interessenkonflikts. Eben diese Unterscheidung ist aber für die Beurteilung der hier diskutierten Frage von entscheidender Bedeutung. a) Meinungsstand Teilweise wird darauf hingewiesen, dass bereits ein sog. latent vorhandener Interessenkonflikt für die Annahme eines Tätigkeitsverbots genügen und ein Anwalt schon dann von der Mandatsübernahme ausgeschlossen sein soll, wenn jedenfalls theoretisch die Wahrung des einen Interesses der Verfolgung des anderen Interesses zuwiderläuft32. Andere Literaturstimmen verlangen

___________ 30 RG v. 19.4.1937 – 2 D 21/37, RGSt 71, 231 (236); OLG Karlsruhe v. 19.9.2002 – 3 Ss 143/01, NJW 2002, 3561 (3563); Kilian in Koch/Kilian, Anwaltliches Berufsrecht, B Rz. 634; Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 172; Schramm (Fn. 29), S. 54 (93 f.). 31 S. nur KG v. 10.5.2006 – (3) 1 Ss 409/05 (139/05), NStZ 2006, 688; Kleine-Cosack, BRAO, § 43a Rz. 107. 32 So LAG München v. 16.6.2005 – 4 Sa 1391/04, juris; Hartung in Hartung/Römermann, BORA, § 3 Rz. 59 („Selbst dann darf der Rechtsanwalt aber nur eine Partei vertreten, weil es im Laufe des Scheidungsverfahrens zu verfahrensrechtlich widerstreitenden Interessen kommen kann …“; Hervorhebung hinzugefügt); Schramm (Fn. 29), S. 50. Auch LG Hildesheim v. 26.3.2004 – 7 S 364/03, FF 2006, 272 (273); LAG Köln v. 15.11.2000 – 3 TaBV 55/00, NZA-RR 2001, 252 und LAG Hamm v.

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„die berechtigte Gefahr“, „dass die Verwirklichung des einen Interesses unmittelbar zulasten des anderen geht“33. Die für grenzüberschreitende anwaltliche Tätigkeiten maßgebliche Nr. 3.2.1. des Code of Conduct for European Lawyers des CCBE34 stellt ebenfalls auf eine Gefahr ab, untersagt dem Anwalt die Mandatsübernahme aber erst dann, wenn die „ernsthafte Gefahr“ eines Interessenkonflikts besteht. Nach § 29 BRAO kommt diese Regelung allerdings für einen deutschen Rechtsanwalt nur zur Anwendung, wenn sie nicht gegen höherrangiges Recht verstößt. Die durch Art. 12 GG gezogenen Schranken sind daher auch insoweit zu beachten35. b) Verfassungswidrigkeit von Anscheinsverboten Berücksichtigt man die verfassungsrechtlichen Vorgaben, so ist der Begriff der „Gefahr“ generell ungeeignet, um die Reichweite des Verbots der Vertretung widerstreitender Interessen zu bestimmen. Entsprechende Versuche erinnern an die in den früheren Standesrichtlinien anzutreffenden sog. Anscheinsverbote, nach denen der Anwalt bereits den Anschein eines berufsrechtswidrigen Verhaltens zu vermeiden hatte36. Inzwischen kann nach den klaren Aussagen des Bundesverfassungsgerichts allerdings kein Zweifel mehr bestehen, dass Verbotstatbestände, die bereits den „bösen Schein“ einer Berufspflichtverletzung sanktionieren wollen, wegen Verstoßes gegen das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot als unzulässiger Eingriff in die anwaltliche Berufsausübungsfreiheit zu qualifizieren und damit verfassungsrechtlich nicht haltbar sind37. Die Vermutung, die abstrakte Gefahr oder ein bloßer Anschein pflichtwidrigen Verhaltens dürfen daher generell nicht als Grundlage eines Tätigkeitsverbots dienen. Diese Eigenschaft des § 43a Abs. 4 BRAO als „Begehungsdelikt“ lässt sich nicht deutlich genug betonen. Mit dem Rechtsstaatsprinzip ist es unvereinbar, anwaltliche Berufspflichten als Gefahren- oder als Anscheinstatbestände durchzusetzen. Insoweit gilt für das berufsgerichtliche Verfahren nichts anderes als für das Strafverfahren. Art. 12 Abs. 1 GG steht in beiden Fällen einer Berücksichtigung hypothetischer Geschehensabläufe im Wege38. Eine weite Auslegung des § 43a Abs. 4 BRAO unter Einbeziehung von abstrakten Gefährdungssachverhalten würde zudem den Umstand vernach-

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10.10.2003 – 10 TaBV 94/03, NZA-RR 2004, 262 (Vorinstanz zu BAG v. 25.8.2004 – 7 ABR 60/03, BAGE 111, 371 = NJW 2005, 921) erachten einen strukturellen bzw. möglichen Interessenkonflikt als ausreichend. Schramm (Fn. 29), S. 50. Ebenso Kilian in Koch/Kilian, Anwaltliches Berufsrecht, 2007, B Rz. 635. Zu den CCBE-Regeln in der Rechtsprechung deutscher Gerichte s. Henssler/Kilian in FS Hellwig, 2010, S. 47 ff. Dazu Lörcher in Hartung/Römermann, BORA, Nr. 3.2. CCBE Rz. 4. Dazu Zuck in Lingenberg/Hummel/Zuck/Eich, Kommentar zu den Grundsätzen des anwaltlichen Standesrechts, 2. Aufl. 1988, § 46 Rz. 8 f. BVerfG v. 14.7.1987 – 1 BvR 362/79, BVerfGE 76, 196 (206 ff.) = NJW 1988, 194 (195); BVerfG v. 3.7.2003 – 1 BvR 238/01, BVerfGE 108, 150 (164) = NJW 2003, 2520 (2522); Kleine-Cosack, BRAO, § 43a Rz. 108; Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, § 43a Rz. 174; Henssler, NJW 2001, 1521 (1522); Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 21; a.A. nur noch Schlosser, NJW 2002, 1376 (1380). Knöfel, AP § 43a BRAO Nr. 1 bei III. 3.

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lässigen, dass die Bundesrechtsanwaltsordnung gerade nicht davon ausgeht, bei Rechtsanwälten als unabhängige Organe der Rechtspflege (§ 1 BRAO) könne ein berufswürdiges und gesetzeskonformes Handeln nur im Wege der Einzelkontrolle oder mit Mitteln des Strafrechts gewährleistet werden39. c) Erfordernis eines tatsächlichen Interessengegensatzes Aus verfassungsrechtlichen Gründen lässt sich das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen mit Blick auf den Interessenwiderstreit nicht als abstraktes Gefährdungsdelikt verstehen. Vielmehr muss § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 BORA vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG zwingend als Verbotsvorschrift qualifiziert werden, bei deren Anwendung hypothetische Geschehensabläufe außer Betracht bleiben müssen40. Selbst die Vorhersehbarkeit eines Widerstreits reicht noch nicht aus41. Die etwas missverständliche Einordnung als Gefährdungsdelikt, die sich in Rechtsprechung und Schrifttum gelegentlich findet, ist demnach nur insoweit zutreffend, als in der Tat eine Schädigung des Mandanten vom Tatbestand des § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 BORA nicht vorausgesetzt wird. Die mit dem Begriff angesprochene Gefährdung bezieht sich jedoch nicht auf das Tatbestandsmerkmal der Interessenkollision. Insoweit muss vielmehr ein tatsächlicher Interessengegensatz vorliegen42. Die hier entwickelten Grundsätze sind höchstrichterlich für verschiedene Fallkonstellationen ausdrücklich bestätigt worden. So darf nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts ein Anwalt in einem Beschlussverfahren nach § 103 Abs. 2 BetrVG gleichzeitig den Betriebsrat und das betroffene Betriebsratsmitglied vertreten. Betriebsrat und Betriebsratsmitglied verfolgen nämlich in diesem Verfahren in der Regel dasselbe Ziel, den Zustimmungsersetzungsantrag abzuwehren. Erst wenn der Betriebsrat seine Meinung ändert und an der Zustimmungsverweigerung nicht mehr festhält, können widerstreitende Interessen entstehen. Ein vorheriges Vertretungsverbot verbietet das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgebot, das einem gesetzlichen Eingriff in das Recht eines Anwalts auf freie Berufsausübung enge Grenzen zieht. Verhältnismäßig ist der mit einem Tätigkeitsverbot verbundene Eingriff erst, wenn der Widerstreit der Interessen tatsächlich entstanden ist43.

___________ 39 BVerfG v. 3.7.2003 – 1 BvR 238/01, BVerfGE 108, 150 (163) = NJW 2003, 2520 (2521). 40 RG v. 29.4.1937 – 2 D 21/37, RGSt 71, 231 (236); BVerfG v. 3.7.2003 – 1 BvR 238/01, BVerfGE 108, 150 (164) = NJW 2003, 2520 (2522); BAG v. 25.8.2004 – 7 ABR 60/03, BAGE 111, 371 (375) = NJW 2005, 921 (922); Erb, Parteiverrat, 2005, S. 257; Knöfel (Fn. 14), S. 729 f.; Knöfel, AP § 43a BRAO Nr. 1 bei III. 3.; Kilian, RdA 2006, 120 (124); Kempf in FS Busse, 2005, S. 191 (194 f.); Kleine-Cosack, AnwBl 2005, 338 (339). 41 OLG Karlsruhe v. 19.9.2002 – 3 Ss 143/01, NJW 2002, 3561 (3563). 42 So muss man die etwa von BayObLG v. 26.7.1989 – RReg. 3 St 50/89, NJW 1989, 2903; Heine in Schönke/Schröder, StGB, § 356 Rz. 3; Gillmeister in LK/StGB, § 356 Rz. 10; Gillmeister, NJW 2008, 2726 (2727) verwandte Terminologie verstehen. 43 BAG v. 25.8.2004 – 7 ABR 60/03, BAGE 111, 371 (375) = NJW 2005, 921 (922). In der instanzgerichtlichen Rechtsprechung wurde die Frage uneinheitlich beantwortet: Während LAG Köln v. 15.11.2000 – 3 TaBV 55/00, NZA-RR 2001, 252 sowie LAG Hamm v. 10.10.2003 – 10 TaBV 94/03, NZA-RR 2004, 262 (Vorinstanz zu BAG v.

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Mit einer vergleichbaren Tendenz hatte der Bundesgerichtshof keine Bedenken, wenn ein Rechtsanwalt einen Pachtvertrag im Auftrag beider Vertragspartner entwirft. Die Vertragspartner hätten mit dem Auftrag, einen Vertrag mit einem im Wesentlichen von ihnen vereinbarten Inhalt zu entwerfen, dem Anwalt die Wahrnehmung eines gemeinsamen Interesses anvertraut44. Auch bei einer Beratung mittels Telefonhotline kann dem Bundesgerichtshof zufolge nicht per se ein Verstoß gegen das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen angenommen werden45, obwohl hier nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich auch die Gegenseite an die Hotline wendet und um Rat bittet. Soweit der Verfasser dieses Beitrags in einer früheren Veröffentlichung ausgeführt hat, dass ein latent vorhandener Interessenkonflikt für § 43a Abs. 4 BRAO ausreichen könne, eine Mandatsübernahme durch den Anwalt damit bereits dann ausgeschlossen sei, wenn jedenfalls theoretisch die Wahrung des einen Interesses der Wahrung des anderen Interesses zuwiderlaufe46, sollte damit ebenfalls nur zum Ausdruck gebracht werden, dass das Tätigkeitsverbot keine Schädigung des Mandanten voraussetzt. Dementsprechend hat der Verfasser an anderer Stelle der Veröffentlichung ausdrücklich betont, dass Anscheinsverbote verfassungsrechtlich unzulässig sind und dass § 43a Abs. 4 BRAO nicht zum abstrakten Gefährdungsdelikt ausgeweitet werden dürfe47. Davon unabhängig wäre ein Verständnis als abstraktes Gefährdungsdelikt vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts jedenfalls heute nicht mehr vertretbar48. Richtig ist vielmehr, dass noch nicht einmal eine konkrete Gefahr eines Interessenkonflikts ein Tätigkeitsverbot begründen kann49, sondern allein das tatsächliche Vorliegen eines Interessengegensatzes50. Zusammenfassend lässt sich daher betonen, dass eine berufsrechtlich relevante Interessenkollision bei einer bloßen Gefahr eines Interessengegensatzes noch nicht gegeben ist. Potenzielle Interessenkonflikte genügen nicht. Be-

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44 45 46 47 48 49 50

25.8.2004 – 7 ABR 60/03, BAGE 111, 371 = NJW 2005, 921) einen Verstoß gegen das (berufsrechtliche) Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen bejahten, wurde dieser von LAG Hannover v. 1.7.2003 – 13 TaBV 6/03, NZA-RR 2004, 22 verneint. S. nur BGH v. 20.6.1996 – IX ZR 106/95, NJW 1996, 2929 (2931), ebenso KleineCosack, AnwBl 2005, 338 (339). BGH v. 26.9.2002 – I ZR 44/00, BGHZ 152, 153 (164) = NJW 2003, 819 (822); zustimmend Kleine-Cosack, BRAO, § 43a Rz. 108; Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, § 43a Rz. 183. Henssler, NJW 2001, 1521 (1522). Henssler, NJW 2001, 1521 (1525). In seiner Kommentierung des § 43a Abs. 4 BRAO hat der Verfasser seine Position vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung klargestellt, vgl. Henssler in Henssler/ Prütting, BRAO, § 43a Rz. 171, 174. Knöfel (Fn. 14), 2005, S. 729 f. Dies entspricht auch der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zu § 43a Abs. 4 BRAO, s. BVerfG v. 20.6.2006 – 1 BvR 594/06, BVerfGK 8, 239 (244) = NJW 2006, 2469 (2470): „Das berufsrechtliche Verbot, das einen aktuell vorhandenen Interessenwiderstreit voraussetzt, reicht hinsichtlich einer Erstreckung auf Sozien weiter als § 146 StPO, der bereits einen potenziellen Interessenkonflikt vermeiden soll.“ (Hervorhebung hinzugefügt).

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Zulässigkeit der anwaltlichen Vertretung mehrerer Gesamtschuldner

steht ein tatsächlicher Interessengegensatz, ist es für die Anwendbarkeit des § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 BORA jedoch nicht erforderlich, dass diese Vertretung einen Schaden eines der Mandanten nach sich zieht. Nur hinsichtlich dieser möglichen Folge eines verbotsauslösenden Interessengegensatzes, nicht aber hinsichtlich des Tatbestandsmerkmal „Vertretung widerstreitender Interessen“ passt damit der Begriff der Gefährdung. 3. Der Interessengegensatz bei Vertretung mehrerer als Gesamtschuldner in Anspruch genommener Mandanten a) Die gesetzliche Anordnung der Zulässigkeit einer Mehrfachvertretung Aus der Erkenntnis, dass die bloße Möglichkeit eines Interessenkonflikts für das Eingreifen der Verbotsnorm des § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 BORA bedeutungslos ist, folgt zwingend, dass die Vertretung mehrerer Streitgenossen regelmäßig unproblematisch ist. Die Zulässigkeit einer solchen Mehrfachvertretung wird vom Gesetzgeber folgerichtig nicht nur toleriert, sondern sogar als ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Entsprechende eindeutige Wertungen lassen sich den die Anwaltsgebühren regelnden Vorschriften des § 7 RVG und des § 50 WEG entnehmen51. Der Bundesgerichtshof hat noch einen Schritt weitergehend sogar betont, dass unter dem Gesichtspunkt der Kostenerstattungsansprüche für Streitgenossen grundsätzlich eine Pflicht besteht, einen gemeinsamen Anwalt zu mandatieren. Aus § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO folge, dass die Beauftragung mehrerer Prozessbevollmächtigter eines sachlichen Grundes bedürfe52. Anderenfalls dürfe dem unterliegenden Prozessgegner die Übernahme der Kosten für mehrere Anwälte nicht abverlangt werden. b) Die Unbeachtlichkeit späterer Streitigkeiten im Innenverhältnis Zwar könne das Vorliegen eines Interessenwiderstreits grundsätzlich einen solchen sachlichen Grund darstellen53. Allein der Umstand, dass zwei Beklagte gesamtschuldnerisch mit der Folge eventueller interner Ausgleichsforderungen in Anspruch genommen werden, kann einen solchen Interessenkonflikt ersichtlich nicht begründen. In einer solchen Annahme läge ein Zirkelschluss. Käme es auf den potenziellen im Innenverhältnis bestehenden Konflikt an, so müsste – in klarem Widerspruch zur gesetzlichen Wertung – die

___________ 51 Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, § 43a Rz. 184a; Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 206; Erb, Parteiverrat, S. 257. 52 BGH v. 30.4.2003 – VIII ZB 100/02, NJW-RR 2003, 1217 (1218); BGH v. 20.1.2004 – VI ZB 76/03, NJW-RR 2004, 536; BGH v. 2.5.2007 – XII ZB 156/06, NJW 2007, 2257; s. ferner OLG Celle v. 8.1.1987 – 8 W 520/86, JurBüro 1987, 601; OLG Naumburg v. 27.1.2005 – 12 W 120/04, Rpfleger 2005, 482; OLG Köln v. 17.11.2005 – 17 W 224/05, MDR 2006, 896; OLG Köln v. 2.6. 2010 – 17 W 107, 108/10, MDR 2010, 1428; OLG Koblenz v. 5.8.2010 – 14 W 420/10, MDR 2010, 1158; OLG Düsseldorf v. 21.12.2009 – I-24 W 61/09, BeckRS 2010, 12619. In Einzelfällen ist die Erstattungsfähigkeit der Kosten mehrerer Anwälte anerkannt worden von BGH v. 3.2.2009 – VIII ZB 114/07, BeckRS 2009, 06496; BGH v. 6.7.2010 – VI ZB 31/08, MDR 2010, 1048; BGH v. 8.7.2010 – V ZB 153/09, MDR 2010, 1286 (zum WEG). 53 Vgl. BGH v. 2.5.2007 – XII ZB 156/06, NJW 2007, 2257; BGH v. 6.7.2010 – VI ZB 31/08, MDR 2010, 1048 (zu § 114 ZPO).

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Mehrfachvertretung von gesamtschuldnerisch verklagten Parteien grundsätzlich unzulässig sein. Es lässt sich nämlich nie ausschließen, dass es im Falle eines der Klage stattgebenden Urteils zu einem Streit über die interne Haftungsverteilung kommt; damit besteht auch stets die Möglichkeit einer Streitverkündung. Dies würde nicht nur der ständigen Praxis widersprechen, sondern auch das vom Bundesgerichtshof betonte Gebot der Kostenminimierung konterkarieren. Maßgeblich ist daher, ob sich hinsichtlich der Rechtsverteidigung der Beklagten Interessenkonflikte zeigen. Hieran fehlt es insbesondere, wenn die Rechtsverteidigung der Beklagten identisch ausgerichtet ist54. Eine wortgleiche Rechtsverteidigung aller Beklagten zeigt demgegenüber sogar besonders eindeutig, dass Interessenkonflikte nicht vorliegen55. Geht also ein Kläger gegen zwei – von demselben Anwalt vertretene – Beklagte vor, und verlangt er von ihnen gesamtschuldnerisch Schadensersatz, so ist eine Doppelvertretung stets dann unproblematisch, wenn – wie hier – beide Parteien Klageabweisung erstreben. Dies entspricht der in Schrifttum und Rechtsprechung einhellig vertretenen Ansicht56. Gleiches gilt im Übrigen, wenn ein Nebenintervenient nach § 66 ZPO dem Rechtsstreit aufseiten des Beklagten beitritt. Er kann sich grundsätzlich vom selben Anwalt wie der Beklagte vertreten lassen, solange er im Prozess gegen den Kläger identische, auf Abweisung der Klage gerichtete Interessen hat57. Ohne Bedeutung ist auch, ob einer der Beklagten eine andere Verteidigungsstrategie hätte verfolgen und den anderen Beklagten belasten können. Hypothetische Vorgänge sind – wie dargelegt wurde – nicht zu berücksichtigen. Wenn tatsächlich ein Konflikt nie bestanden hat, kann ein solcher nicht durch die Unterstellung fingiert werden, dass die Parteien andere Interessen hätten verfolgen können. Ebenso wenig ist von Relevanz, ob der Kläger seine gegen die Beklagten gerichteten Ansprüche auf unterschiedliche Rechtsgrundlagen stützt. Von Bedeutung ist allein, ob die Abwehr der jeweiligen vom Kläger erhobenen Ansprüche das rechtliche Verhältnis zwischen den Beklagten unmittelbar beeinflusst. Die Tatsache, dass im Fall eines der Klage stattgebenden Urteils ein Interessenkonflikt, der auf der Verteilung der internen Haftung beruht, möglich erscheint oder sogar mit ihm zu rechnen ist, muss außer Betracht bleiben. Der potenzielle künftige Konflikt, den § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB in sich birgt, wird erst relevant, wenn es um den Regress im Innenverhältnis der Gesamtschuldner geht58. Er ist nicht Gegenstand des im Außenverhältnis zu führenden Rechtsstreits, sondern allenfalls dessen Folge59.

___________ 54 So der argumentative Ansatz des OLG Naumburg v. 27.1.2005 – 12 W 120/04, Rpfleger 2005, 482. 55 BGH v. 2.5.2007 – XII ZB 156/06, NJW 2007, 2257 (2258). 56 Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, § 43a Rz. 184a; Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 207; Erb, Parteiverrat, S. 257. S. auch BayOblG v. 29.9.1994 – 5 St RR 60/94, NJW 1995, 606 (607); OLG Koblenz v. 30.8.1993 – 14 W 569/93, MDR 1994, 416; Gillmeister in LK/StGB, § 356 Rz. 65. 57 Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 207 Fn. 510. 58 So ausdrücklich Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, § 43a Rz. 184a; Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 207; Erb, Parteiverrat, S. 257. 59 BGH v. 2.5.2007 – XII ZB 156/06, NJW 2007, 2257 (2258).

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Zulässigkeit der anwaltlichen Vertretung mehrerer Gesamtschuldner

In diesem Zusammenhang ist auch der Umfang des dem Anwalt erteilten Mandats zu beachten. Ist Gegenstand der Mandatierung des Prozessbevollmächtigten ausschließlich die Abwehr der vom Kläger eingeklagten Ansprüche und haben die Parteien für Fragen ihres rechtlichen Innenverhältnisses und möglicher Ausgleichansprüche andere Anwälte mandatiert, wird der fehlende Interessengegensatz sogar besonders deutlich nach außen dokumentiert. Entsprechende Maßstäbe sind für Mehrfachvertretungen im Anschluss an Verkehrsunfälle anerkannt. Auch dort werden der beklagte Fahrer/Halter und die mitverklagte Versicherung regelmäßig von einem gemeinsamen Prozessbevollmächtigten vertreten. Dass nach Abschluss des Prozesses möglicherweise Regressforderungen der Haftpflichtversicherung im Raum stehen, steht der Zulässigkeit der gemeinsamen Mandatierung anerkanntermaßen und völlig unbestritten nicht entgegen60. c) Die Bedeutung einer möglichen Streitverkündung Selbst die mögliche Streitverkündung durch einen Gesamtschuldner ändert hieran grundsätzlich nichts61. Eine verbotswidrige Vertretung im Sinne von § 43a Abs. 4 BRAO kann zwar auch in einem Unterlassen bestehen. Die Nichteinlegung eines Rechtsmittels, die Versäumung einer Frist, der unvollständige Sachvortrag und damit auch die unterlassene Streitverkündung verstoßen allerdings nur dann gegen § 43a Abs. 4 BRAO, wenn sie durch das Bestreben motiviert sind, auf diese Weise pflichtwidrig der Gegenpartei zu nutzen. Wer aus bloßer Nachlässigkeit einen Prozess schlecht führt und damit objektiv dem Gegner einen Vorteil verschafft, vertritt damit noch keine widerstreitenden Interessen62. Andernfalls verlöre die Vorschrift des § 43a Abs. 4 BRAO jegliche Konturen. Gleiches gilt erst recht, wenn die Gegenpartei noch nicht einmal den Auftrag zur Streitverkündung erteilt hat bzw. ihn mangels Zuständigkeit gar nicht erteilen kann. d) Notwendige Beurteilung des Einzelfalls Es hat sich gezeigt, dass die Vertretung mehrerer gesamtschuldnerisch verklagter Parteien in einem Zivilprozess grundsätzlich berufsrechtlich unproblematisch ist. Dies bedeutet indes nicht, dass ein Verstoß gegen das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen in diesem Zusammenhang undenkbar ist. Vor dem Hintergrund der subjektiven Beurteilung der Interessenlage der Mandanten ist es vielmehr eine Frage des Einzelfalls, ob die von ei-

___________ 60 Dazu ausführlich Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 208 ff.; Scherf, Der Rechtsanwalt im Kraftfahrzeughaftpflichtprozess, Diss. Köln 1996, S. 81. S. aber BGH v. 6.7.2010 – VI ZB 31/08, MDR 2010, 1048 zu einem Fall, in dem sich ein Versicherungsnehmer im Verkehrsunfallprozess gegen den von seinem mitverklagten Haftpflichtversicherer gegen ihn erhobenen Vorwurf eines Versicherungsbetrugs verteidigen will. 61 Der Bundesgerichtshof hat eine Pflicht, dem Mandanten zu einer Streitverkündung gegenüber einem Dritten zu raten (§§ 72 ff. ZPO), ausdrücklich für den Fall angenommen, dass sich während eines Rechtsstreits herausstellt, dass dem Auftraggeber für den Fall des Unterliegens Ansprüche gegen Dritte zustehen, vgl. BGH v. 29.4.1993 – IX ZR 101/92, NJW 1993, 2045; Sieg in Zugehör/Fischer/Sieg/Schlee, Handbuch der Anwaltshaftung, Rz. 661 ff. 62 Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, § 43a Rz. 187.

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nem gemeinsamen Prozessbevollmächtigten vertretenen Mandanten kollidierende Interessen haben. Verneinen etwa die (beklagten) Parteien ihre Haftung jeweils mit der Begründung, nicht sie, sondern die jeweils andere Partei sei alleinige Schuldnerin des Anspruchs, sind die Interessen der beiden Beklagten unvereinbar63. Ein Interessenwiderstreit dürfte auch dann zu bejahen sein, wenn jemand über eine tatsächlich ausgesprochene Streitverkündung (§ 72 ZPO) gegen seinen Willen in einen Prozess hineingezogen und auf diese Weise die Wirkung der Streitverkündung (§ 74 Abs. 3 i.V.m. § 68 ZPO) erreicht wird. Eine gemeinsame Vertretung von Streitverkünder und Streitverkündetem ist dann aufgrund der Gegnerschaft berufsrechtswidrig64. Denkbar ist aber auch, dass die Interventionswirkung im gemeinsamen Interesse von Streitverkünder und Streitverkündetem liegt. Nicht jede Streitverkündung führt damit zu einem Interessenkonflikt. 4. Die „Vertretung“ widerstreitender Interessen Nach der hier vertretenen Auffassung fehlt es somit aufgrund des gebotenen subjektiven Verständnisses des Interessenbegriffs und der Notwendigkeit eines tatsächlich bestehenden Konflikts bei der Vertretung gesamtschuldnerisch verklagter Parteien durch einen gemeinsamen Prozessbevollmächtigten grundsätzlich bereits am erforderlichen Widerstreit der Interessen der Mandanten. Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen nach den Mandatsverträgen der den Prozessbevollmächtigten erteilte Auftrag außerdem darauf beschränkt war, das gemeinsame Interesse der Beklagten an der Abwehr der klägerischen Ansprüche zu vertreten. Damit fehlte es zwangsläufig zugleich an der anwaltlichen „Vertretung“ widerstreitender Interessen. Da die maßgeblichen Interessen durch den Inhalt des Mandats bestimmt werden, der Mandatsumfang aber zugleich darüber entscheidet, welche Interessen der Anwalt „vertritt“, sind die einzelnen Tatbestandsmerkmale, aus denen sich die gesetzlich sanktionierte „Vertretung widerstreitender Interessen“ zusammensetzt, zwangsläufig eng miteinander verknüpft. Dementsprechend erscheint es denkbar, die notwendige mandatsbezogene Einschränkung entweder auf der Ebene der kollidierenden Interessen oder aber auf der Ebene der anwaltlichen „Vertretung“ dieser Interessen anzusiedeln. In Rechtsprechung und Schrifttum werden die einzelnen Tatbestandsmerkmale der § 356 StGB, § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 BORA aus diesem Grund häufig nicht trennscharf abgegrenzt, sondern gemeinsam erörtert.

V. Zusammenfassung 1. Der objektive Tatbestand der straf- und berufsrechtlichen Prävarikationsvorschriften in § 356 StGB, § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 BORA ist bei der Vertretung mehrerer Mandanten durch einen Anwalt deckungsgleich.

___________ 63 Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 207. 64 Deckenbrock (Fn. 4), Rz. 207.

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Zulässigkeit der anwaltlichen Vertretung mehrerer Gesamtschuldner

2. Die Interessenlage der Parteien ist rein subjektiv aus Sicht der Mandanten zu bestimmen. Die auf diese Weise ermittelten Ergebnisse sind anschließend objektiv miteinander zu vergleichen. 3. Ein Tätigkeitsverbot ist nur dann anzunehmen, wenn die betroffenen Anwälte bei einem tatsächlich zwischen den Mandanten bestehenden Interessengegensatz tätig werden. Potenzielle Interessenkonflikte genügen nicht, weil ansonsten in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise an den Anschein einer Interessenkollision angeknüpft würde. Dass die vertretenen Gesamtschuldner zukünftig einmal kollidierende Interessen haben können, ist daher bedeutungslos. 4. Vor diesem Hintergrund ist die Vertretung mehrerer gesamtschuldnerisch verklagter Parteien in einem Zivilprozess grundsätzlich berufsrechtlich unproblematisch. Sie wird dementsprechend auch von verschiedenen gesetzlichen Vorschriften als zulässig unterstellt und von der Rechtsprechung gesamtschuldnerisch verklagten Parteien zur Kostenersparnis abverlangt. Der potenzielle Konflikt, den ein im Falle des prozessualen Unterliegens möglicher interner Gesamtschuldnerausgleich in sich birgt, ist nicht der Gegenstand des zu führenden Rechtsstreits, sondern allenfalls dessen Folge. 5. Etwas anderes gilt nur dann, wenn eine Betrachtung des Einzelfalls ergibt, dass sich bereits aus der Rechtsverteidigung der als Gesamtschuldner verklagten Parteien unmittelbare Interessengegensätze ergeben. Dies ist denkbar, wenn eine Partei die jeweils andere als allein einstandspflichtig ansieht oder eine Partei der anderen gegen ihren Willen tatsächlich den Streit verkündet. 6. Bei der Beurteilung des Einzelfalls muss auch berücksichtigt werden, welchen Auftrag die als Gesamtschuldner in Anspruch genommenen Mandanten dem gemeinsamen Prozessbevollmächtigten erteilt haben. War der Prozessbevollmächtigte ausschließlich für die Abwehr der vom Kläger erhobenen Ansprüche mandatiert, hatten beide Beklagte schon nach dem allein maßgeblichen Inhalt der Mandatsverträge ein gleichgerichtetes Interesse. Jedenfalls aber hat der Prozessbevollmächtigte nach den in wirksamer Weise beschränkten Mandatsverträgen ausschließlich das gemeinsame Interesse der Beklagten an der Abwehr der vom Kläger erhobenen Ansprüche „vertreten“.

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Anwaltsmanagement im DAV Inhaltsübersicht I. Die ersten Jahre II. Der Rationalisierungsausschuss

IV. Die Arbeitsgemeinschaft Kanzleimanagement (ab 2000)

III. Der Ausschuss Büroorganisation und Bürotechnik (1983–2000)

– Ein kurzer Blick zurück – Schon bald, nachdem Michael Streck Präsident des Deutschen Anwaltvereins (DAV) geworden war (1998–2003), lud er mich ein, für den Vorstand zu kandidieren. Das kam für mich überraschend, auch wenn ich in den Jahren 1984– 1992 dem Ausschuss Büroorganisation und Bürotechnik angehört und so einen gewissen Einblick in die Arbeit des DAV gewonnen hatte. Ich habe schon an anderer Stelle sein besonderes Verhandlungsgeschick gelobt, das ich bei seiner Amtsführung unmittelbar kennen lernte: Wenn Streck eine Idee hat, drängt er sie anderen Leuten nicht auf, sondern hilft ihnen, selbst herauszufinden, was für ihn nützlich ist. So ist es auch mir ergangen: Nach wenigen Wochen war mir klar, dass ich mich auch im Vorstand um das Anwaltsmanagement kümmern und dort meine früheren Erfahrungen einbringen sollte. Die Managementfragen der Kollegen haben den Deutschen Anwaltverein schon immer beschäftigt, vermutlich schon vor seiner Neugründung im Jahr 1949. Erst ab diesem Zeitpunkt aber sind Art und Umfang dieses Interesses in den Archiven dokumentiert. Sie zeigen einzelne Phasen, die teils von der technisch/organisatorischen Entwicklung, teils von politischen Absichten geprägt sind: – Die ersten Jahre von 1950–1958: Hier ist es überwiegend der Geschäftsführer Dr. Jürgen Chemnitz selbst, der den Kollegen mit Rat und Tat zur Seite steht, – der Rationalisierungsausschuss (1959–1983): Das war eine Handvoll von Kollegen, die sich auf Zuruf organisierten und zusammen mit dem Geschäftsführer neben der individuellen Beratung einzelner Anwälte nun auch im Anwaltsblatt eine laufende Kolumne unterhielten, – der Ausschuss Büroorganisation und Bürotechnik (1984–2000): Er war ein förmlich vom DAV Vorstand berufener Ausschuss, der Art und Umfang seiner Tätigkeit zwar mit dem Geschäftsführer, dem Institut der Anwaltschaft für Büroorganisation und Bürotechnik (IdA) und dem Vorstand abstimmte, das Tagesgeschäft aber allein besorgte. Er begann, sich systematisch um Projekte und Veröffentlichungen zu kümmern, und eigene Ideen zu entwickeln. 695

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– die Arbeitsgemeinschaft Kanzleimanagement (ab 2000): Sie wurde auf Anregung des Vorstandes von ihren Mitgliedern gegründet, die sich zum Ziel gesetzt haben, den Erfahrungsaustausch untereinander in das Zentrum ihrer Bemühungen zu stellen. Sie erfüllt gleichzeitig die Aufgaben des früheren Ausschusses Büroorganisation und Bürotechnik, soweit der DAVVorstand ihn in Einzelfragen beratend hinzuzieht (www.dav-mm.de).

I. Die ersten Jahre Unmittelbar nach dem Krieg bestand das erste Problem der Kollegen darin, sich die einfachsten Dinge wie Schreibmaschinen, Papier, Stempel usw. zu besorgen und ihren Bürobetrieb so einzurichten, dass sie ihre Arbeit machen konnten. Anwälte, die schon vor dem Krieg in ihrem Beruf tätig waren, wussten, wie sie das zu machen hatten, denn einige von ihnen benutzten schon Diktiergeräte1, vervielfältigten Dokumente über Matrizen, hatten moderne Telefone usw. Die Anfänger hingegen, die sich oft nicht trauten, die örtlichen Kollegen um Rat zu fragen, schrieben an die Geschäftsstelle des DAV und der Geschäftsführer Dr. Chemnitz hatte stets ein offenes Ohr für sie. In seiner Korrespondenz finden sich Dutzende von Briefen mit individuellen und konkreten Ratschlägen zu Büromaschinen, Einkaufsmöglichkeiten, Preisvergleichen etc.: „Sehr geehrter Herr Kollege – die unter dem Namen »Rokli« vertriebenen Additionsmaschinen werden von der Firma Robert Kling, Wetzlar-GmbH, Oberbiel, hergestellt. Fordern Sie von dieser Firma bitte Prospekte an. In Betracht kommen für sie wohl die S 18 E zum Preise von 930,00 DM oder die S. 21 E zum Preise von 940,00 DM. Die Maschinen rechnen auch unter Null und addieren. Möglicherweise genügt für ihre Zwecke aber auch die A. 17 E zum Preise von 598,00 DM die nur bis null rechnet. – mit kollegialer Hochachtung, Dr. Jürgen Chemnitz, Geschäftsführer“. Zugegeben: Damals gab es in ganz Deutschland vielleicht 20 000 Anwälte, und heute gibt es über 150 000. Aber wir haben heute auch nicht einen Geschäftsführer, sondern 16, und trotzdem käme keiner von ihnen zu seiner Arbeit, wenn er solche Anfragen von Kollegen beantworten wollte. Chemnitz aber schreibt daneben noch zur Buchführung2 oder verweist auf eine Kartei ausländischer Anwälte3. Immerhin erhielt er hier und da Hilfe von

___________ 1 Der Parlograph, ein Platten-Diktiergerät war von Carl Lindström schon 1913 entwickelt worden. Franz Kafka benutzte es in der Rechtsabteilung der Arbeiter-UnfallVersicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen (AUVA) in Prag, in der er tätig war, zwar nicht, aber seine Verlobte, die es in Berlin vertrieb, stellte ihm die Neuerung vor. Ihm war sofort klar, welche technischen Möglichkeiten sich daraus ergaben: „Übrigens ist die Vorstellung ganz hübsch, dass in Berlin ein Parlograph zum Telefon geht und in Prag ein Grammophon, und diese zwei eine kleine Unterhaltung miteinander führen.“ (Franz Kafka, Briefe an Felice, Hrsg. Max Brod, Frankfurt am Main, Fischer 1967, S. 265). 2 AnwBl 1950, 27. 3 AnwBl 1950, 34.

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interessierten Kollegen, die Tipps zur Verfügung stellten wie vor allem Dr. Bury aus Hameln, Dr. Schramm aus München und Hans-Joachim Rückert aus Wetzlar. Aber auch andere Kollegen, helfen ihm hier und da mit Ideen, wie Rechtsanwalt Steinbicker aus Bielefeld: „Mit bestem Erfolg verwende ich seit Jahren farbige Aktenschwänze in Leinen, acht Farben. Jedes Fach der laufenden Akten erhält eine Farbe. Vorteil: es fällt sofort auf, wenn eine Akte falsch abgelegt ist!“ Aber schon kurz danach hat die Einführung der Hängeregistratur – eine ähnliche Revolution wie 1961 die IBM Kugelkopf-Maschine – das ganze System der farbigen Schwänze wieder beseitigt, wie Rechtsanwalt Dehmer, Frankfurt am 13.7.1962 begeistert an die Schriftleitung des Anwaltsblattes schreibt: „Diese Methode scheint mir sogar wesentlich günstiger zu sein als die Methode des Aktenschwanzes, bei welcher immer der eine Aktenschwanz von dem anderen verdeckt wurde. Nach meiner Auffassung gehört der Aktenschwanz zu den schlechtesten Organisationsmitteln“. Diese Meinung hätte Rolf Bossi nicht unbedingt geteilt, denn auch in den Zeiten der Hängeregistratur liefen in seinem Büro jeden Tag zwei Rentner mit großen Waschkörben aktensuchend treppauf und treppab4, wie ich selbst beobachtet habe. Um viele solcher Details wurde unter den Kollegen hart gekämpft, denn Anwälte sind Individualisten und jeder hält seine eigenen Organisationsideen für die genialsten. Reinhold Other aus Herzberg im Harz hatte zum Beispiel „mit der Stoppuhr festgestellt, dass meine Lehrlinge zum Ösen der Urkunde (2 Ösen einschließlich Einlegen) etwa 10 Sekunden benötigen. Mein Personal hat mir bestätigt, dass die Methode auf alle Fälle sehr viel schneller ist, als das frühere Heften mit der Heftnadel.“ Chemnitz ging diesen Hinweisen im Detail nach, verwies im konkreten Fall auf „den Nachteil, dass die Stanze zu klein ist, um durch die entstehende Öse das betreffende Schriftstück in einem Schnellhefter abzuheften.“ und schickte die Briefe an die mitarbeitenden Kollegen, womit er eine heftige interne Diskussion über das Problem auslöste: Dr. Bury hatte nämlich sofort durch Überprüfung anhand eigener Akten festgestellt, dass „durch die Stärke der Metallöse eine etwa dreifache Abhefthöhe in Anspruch genommen (wird), als wenn die Heftösen außerhalb des Bügels des Schnellhefters verwendet werden.“ Eine so völlige Ablehnung von Stanze und Öse wollte Dr. Chemnitz aber keinesfalls hinnehmen: „Notarielle Urkunden sind normalerweise in Anwaltsakten keine Massenerscheinungen. Wenn in einem Prozess zwei oder drei davon einmal eine Rolle spielen, dann ist das schon viel. Unter diesen Umständen kann man – glaube ich – die dreifache Abhefthöhe der Ösung der Löcher für den Schnell-

___________ 4 Auch heute noch ist die Aktensuche eines der wichtigsten Probleme: Elektronische Markierungen, wie man sie auch für Textilien verwendet, könnten eine Lösung sein.

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hefter in Kauf nehmen, wenn man damit zugleich vermeiden kann, dass die Urkunde zum Zwecke des Abheftens in der Handakte des Anwalts für die Dauer des Prozesses gelocht und damit beschädigt werden muss.“ Wer außer einem deutschen Anwalt hätte die Nerven, den Detailproblemen so tief auf den Grund zu gehen und darüber mit anderen auch noch Debatten zu führen? Die Hartnäckigkeit des DAV-Geschäftsführers in diesen Fragen wird ihm gewiss auch bei anderen Debatten zugute gekommen sein. Damals konnte er noch alles selbst machen, heute hätte er gewiss mit gleicher Konsequenz das Delegieren gelernt, so wie es seine Nachfolger Karl Peter Winters und Dierk Mattik getan haben – nur so kann man die großen Linien im Auge behalten!

II. Der Rationalisierungsausschuss Die Kollegen, die sich immer wieder zu Organisations-Themen austauschten, entschlossen sich Anfang 1959, beim Vorstand die Gründung eines offiziellen DAV-Ausschusses anzuregen, um so ihre Wirkung innerhalb des Verbandes zu verstärken. In diesem Ausschuss gab es sechs Referate: (Büroausrüstung/ Arbeitsgang/Personaleinsatz/Gemeinschaftseinrichtungen der Anwaltschaft/ Betriebsvergleich und Buchführung/Dokumentation und Rationalisierung der literarischen Hilfsmittel) die alle Organisationsprobleme abbildeten, die wir auch heute noch in unseren Unternehmen haben. Den Namen „Organisationsausschuss“ verwarf man, weil er zu allgemein sei, denn die Rationalisierung sollte das Ziel sein. Dr. Bury hatte dazu dynamische Vorstellungen, die er 1959 in einem Aufsatz im Anwaltsblatt veröffentlichen wollte: „Eine Frage vorweg: weshalb kleinlich an Gehältern usw. sparen, statt mit frischer Kraft den Umsatz steigern? Antwort: der Anwaltsbetrieb verschluckt heute rund 60% der Roheinnahmen. Ein Senken der Unkosten um nur 10% entspricht geldlich einer Dauererweiterung des Mandantenkreises um 15%. Wie schwer ist das! … hier will der DAV mit seinem neu gegründeten »Organisationsausschuss« (OrgA) helfen, nach dem Muster der Industrie. Bei dieser hat sich die Produktivität des technischen Arbeiters in den letzten 100 Jahren um 1.400%, die des Büroarbeiters aber nur um 40% erhöht.“ Danach folgen eine Vielzahl von Ideen, die mit 1. „Aufstellen von Tätigkeitsblättern“, 2. „Ermitteln des Arbeitsflusses“, 3. „Normung des Schreibgutes“ bis 4. „Einsatz der leitenden Kräfte“ reichten. Wie wenige Anwaltsbüros realisieren heute, 50 Jahre später, auch nur die wichtigsten diese Ideen! Bury war seiner Zeit weit voraus und nannte die Dinge beim Namen: „Jeder fege in seinem Stall“ forderte er die Kollegen auf, mit allen Ideen erst einmal

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bei sich selbst anzufangen, was ihm einen milden Tadel des Geschäftsführers einbrachte: „Der von ihnen erteilte Rat »Jeder fege in seinem Stall!« mag einem in ländlichen Gegenden gebräuchlichen Sprichwort entsprechen, muss aber den in einer größeren Stadt praktizierenden Anwalt, der keinen Kontakt zur Landbevölkerung mehr hat, eigenartig berühren. Es wird sie so verstehen, dass Sie damit sein Büro als »Stall« bezeichnen wollen. Wie wäre es mit der Fassung: »Jeder fange bei sich an!?«“ regt Chemnitz an und sandte den Briefwechsel an die anderen Kollegen im Ausschuss (Schramm, Boeckler, Rückert, Schreiber). Die hatten mit Burys Ideen noch ganz andere Probleme: „Ich würde anregen, im ersten Absatz den Hinweis auf die Dauererweiterung des Mandantenkreises zu streichen. Ich weiß nicht, inwiefern durch Senkung der Kosten der Mandantenkreis erweitert werden kann. Darüber hinaus rege ich an, die Punkte 1–4 nicht zu veröffentlichen. Es werden hier die Kollegen aufgefordert, in bestimmter Weise tätig zu werden. Vielleicht stimmt aber diese Arbeit mit dem, was wir später vorschlagen, nicht überein, dann gibt es Verärgerung“ schreibt Dr. Schramm per Eilboten an den DAV, der den Artikel dann stoppt. Schramm hatte Bury gründlich missverstanden, der lediglich meinte, es sei gewiss einfacher, durch richtige Arbeitsorganisation vor allem im Bereich der Arbeitsabläufe auf Dauer 10% der Kosten zu sparen als 15% mehr Dauermandanten zu akquirieren. Heute wissen wir, dass er recht hatte. Das zeigt sich vor allem beim Kampf um das Diktiergerät. „Wo ist das Gerät, das eine mitdenkende Sekretärin ersetzt?“ fragt Dr. Frank aus Mosbach, „die Mädchen fühlen sich als Roboter und beklagen sich insbesondere bei Versicherungsgesellschaften über die dadurch eintretende Überbelastung“ meint Dr. Eble aus München, und ohne „lebensgetreue Tonwiedergabe“ will Dr. Gloede aus Frankfurt so etwas nicht kaufen, denn „die Schreibdamen wollen die »Stimme ihres Herrn« hören und nicht das Gekrächze eines heiseren Raben“. Für Curt Daust aus Gelsenkirchen hingegen „leistet tatsächlich der Bürovorsteher zusammen mit dem Lehrling fast dasselbe, was früher fünf Angestellte geleistet haben … . Grundsatz: die teuerste Maschine ist immer noch billiger als der billigste Mensch.“ Auf den ersten Blick klingt eine solche Bemerkung nicht sehr freundlich, aber die Erfahrung hat uns gezeigt, dass Anwälte nahezu nie Mitarbeiter entlassen, sondern lediglich durch geschickte Organisation mit den gleichen Mitarbeitern immer höhere Umsätze zuwege bringen. Heute führen wir die gleiche Diskussion über die Einführung von Spracherkennungssystemen, und ich bin sicher, in fünf Jahren haben sie sich durchgesetzt. Solche Auseinandersetzungen blieben natürlich intern. Ins Anwaltsblatt kamen nur abgestimmte Verlautbarungen, überwiegend in amtlichem Ton („Der Rationalisierungs-Ausschuss gibt bekannt“5) so etwa zur Übersendung von Mandantenkopien durch Gerichte und Behörden (1961), zur Versendung

___________ 5 AnwBl 1959, 246.

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von Gerichtsakten, zur bargeldlosen Zahlung von Gerichtsgebühren (1972), usw. Von 1959–1983 leistete der Ausschuss neben der allgemeinen Korrespondenz mit den Kollegen ganz Erhebliches: – Er entwickelte einen Fragebogen, um zu ermitteln, welche Bürogeräte und Bürotechnik die Kollegen einsetzten (1961), – er gab ein „Merkblatt für Einkauf und Einsatz von Bürogeräte im Anwaltsbüro“ heraus (1960), – er stellte den Kollegen immer wieder Markt- und Preisvergleiche zur Verfügung und beantwortet eine Vielzahl individueller Anfragen nach geeigneten Geräten und Organisationsmaßnahmen, – im Kontakt mit Justizministern sorgte er für Vereinheitlichung einzelner Vorgänge und Formulare, – er besuchte die Hannover Messe (seit 1961) und sorgte bei Anwaltstagen immer wieder für einzelne Bürogeräte-Ausstellungen (seit 1961), – er arbeitete einen Organisations-, Funktions- und Aktenplan für die Anwaltskanzlei aus (1970) (Schramm), den man noch heute im Wesentlichen übernehmen könnte. Schramms durchdachter Entwurf wurde allerdings scharf kritisiert, weil er viel zu kompliziert sei und ein „Sturm der Entrüstung“ kam von den Bürovorstehern, die sich durch ihn gegängelt sahen. Was jedes einzelne der Ausschussmitglieder geleistet hat, kann man nur schwer voneinander unterscheiden. Hervorzuheben ist aber der Einsatz von Hans-Joachim Rückert (Wetzlar), des Vorsitzenden von 1972–1982, der auch nach seinem Ausscheiden aus dem Ausschuss unzähligen Kollegen viele Jahre lang mit Rat und Tat zur Seite stand. Er wurde für diesen Einsatz 1983 mit dem Ehrenzeichen der deutschen Anwaltschaft ausgezeichnet (hochbetagt starb er im Frühjahr 2009 im Alter von 97 Jahren). Schon 1961 machte der Ausschuss unerfreuliche Bekanntschaft mit dem Wettbewerbsrecht: Rinck hatte im Betriebsberater 1961, 613 darauf hingewiesen, dass konkrete Produktempfehlungen durch einen Verband problematisch seien, und die Firma Hermann Wolf Kunststoff Chemie beschwerte sich darüber, dass ihre Fotokopiegeräte nicht richtig bewertet worden seien. Chemnitz war nicht beeindruckt: „Ich meine deshalb, dass wir künftig der Anwaltschaft eindeutig sagen sollten, was wir von den einzelnen auf dem Markt angebotenen Bürogeräten und deren Eignung für das Anwaltsbüro halten, da wir nur dadurch den Anwälten bei der Einrichtung ihrer Büros wirklich helfen können6.“

___________ 6 Brief an den Ausschuss vom 15.6.1961.

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III. Der Ausschuss Büroorganisation und Bürotechnik (1983–2000) Im Jahre 1981 hatte Karl Peter Winters das Amt des Hauptgeschäftsführers übernommen, es waren für einzelne Tätigkeitsbereiche jüngere Geschäftsführer eingestellt worden und ein neues Ausschussmitglied, Dr. Johann Tiling aus Hamburg, hinzugestoßen (1985–1988 auch als Vorsitzender). Tiling war ein außergewöhnlicher Anwalt, der mit seinem Bruder unter der sehr hanseatisch wirkenden Firmierung „Tiling Gebrüder“ tätig war. Er hatte auch in Frankreich studiert, war international tätig und lehnte sich sicher bewusst an die Firmierung der „Coudert Brothers“ an. Tiling hatte zutiefst verstanden, dass Anwälte auch Unternehmer sind und hat diese Perspektive mit seiner Firmierung, aber auch durch ein Unternehmens-Logo (einen reitenden Landsknecht, der auf einer Fahne vor seinem Büro flatterte und die Ex-Libris aller Bücher zierte!) unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Mit ihm, drei DAV Geschäftsführern (Winters, Dr. Chemnitz und Neuhaus), Rückert und Dr. Boye, ebenfalls aus Hamburg und stark für schwedische Mandanten engagiert, war der Ausschuss zweifellos professionell besetzt. In der Folgezeit traten außer mir selbst (1984) auch noch Dr. Abel, Schleswig, Hans Buschbell, Düren, Michael Abels (Oppenhoff), Köln, Siegfried Irion, Munster, Claudia Wolf, Achern und Manfred Brüning, Köln hinzu – jeder in seinem Büro mit anspruchsvollen Managementaufgaben beschäftigt. 1991 luden wir Artur Garke, Quedlinburg aus den neuen Bundesländern als weiteres Ausschussmitglied ein. Er konnte von den großen Organisationsproblemen der Kollegen berichten, die sich erstmals selbstständig machten. Im „Protokoll der Sitzung vom 15. April 1991 in Berlin (Ost)“, auf der der Ausschuss noch weitere vier Kollegen aus den neuen Bundesländern gebeten hatte, über die Lage zu berichten, heißt es: „Herr Rechtsanwalt Garke beschreibt die aktuelle Situation der Kolleginnen und Kollegen wie folgt: Keine Erfahrungen als Freiberufler, keine technische Ausstattung, Fachwissen muss erst angeeignet werden, sämtliche Hilfsmaterialien müssen angeschafft werden, Existenzängste bei den meisten Berufseinsteigern, hohe Mieten, Raumprobleme, keine Telefonleitungen der Bundespost, Schwierigkeiten beim Telefaxen (gefaxte Schriftsätze kommen häufig verstümmelt beim Empfänger an) – Ausnahme: Telefax um 2:00 Uhr morgens … auch die Gerichte verfügen über keinerlei Fachliteratur … der Umgang mit Mandanten und Kanzleipersonal konnte in der Regel nicht erlernt werden … Der Konkurrenzkampf ist sehr groß …“ Garke nahm es auf Anregung von Buschbell dann energisch in die Hand, mit einer Handvoll Kollegen ein Buch über die wichtigsten Fragen zu schreiben, die man bei der neuen Einrichtung und den Betrieb eines Büros berücksichtigen muss7. Viele seiner Ideen sind in die künftigen Auflagen des DAV-Ratgebers für junge Anwälte eingegangen.

___________ 7 Artur Garke (Hrsg.), Die moderne Anwaltskanzlei, 2. Aufl. 1997.

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Die starke Einbeziehung der Geschäftsführung des DAV zeigte, wie sehr sich der Verband unter seinem jungen Präsidenten Dr. Rabe (1978–1983, ebenfalls Hamburg) und auch in der Folgezeit unter den Präsidenten Koch, Senninger und Busse bewusst war, dass er seinen fast 30 000 Mitgliedern in Managementfragen professionelle Unterstützung geben musste. Auch deshalb erhielt der Ausschuss die neue Bezeichnung „Ausschuss für Büroorganisation und Bürotechnik (BuB)“. Das Interesse des Vorstandes für das Thema Büroorganisation und Bürotechnik (im Klartext: überwiegend Hardware und Software) überstieg bei weitem den Aufgabenbereich, den der Ausschuss bisher ausgefüllt hatte. Das war dem Vorstand von Anfang an klar. Dem DAV war darüber hinaus bewusst, dass die Frage, inwieweit der Verband sich für oder gegen einzelne Produkte/Firmen, grundsätzliche rechtliche Probleme aufwarf und wollte dieses Thema daher in einem gewissen Abstand zur Verbandsarbeit halten. So wurde am 14.4.1983 eine GmbH mit der Bezeichnung „Institut der Anwaltschaft für Büroorganisation und Bürotechnik mbH“ (IdA) gegründet, ein Betriebswirt (Harald Schütz) eingestellt und später die Hans-Soldan-Stiftung als Kommanditist aufgenommen. Rechtsanwältin Christel Riedel verstärkte die Geschäftsführung, die später von Helmut Ullrich übernommen wurde. Die Aufgabe des Ausschusses sollte darin bestehen, nicht nur der Geschäftsführung und den Kollegen sondern jetzt auch diesem Institut beratend zur Seite zu stehen. Hans-Jürgen Rabe schrieb selbst 1984 das Geleitwort zu einem Sonderheft des Anwaltsblattes, in dem diese neue Struktur im Einzelnen vorgestellt wurde. Sein Nachfolger Ludwig Koch, der sich dem Thema ebenfalls engagiert widmete, sorgte 1985 auf dem 43. Anwaltstag in Mannheim für eine große Podiumsdiskussion, in der der Ausschuss seine Arbeit erläuterte und im Anwaltsblatt 10/85 ausführlich dokumentierte. Sie gilt, wie Dr. Schiefer, Stuttgart, in seiner Festrede auf dem 44. Anwaltstag 1986 hervorhob „als Geburtsstunde einer ersten Marketing-Idee der deutschen Anwaltschaft“8. Tatsächlich war es ein Wagnis, vor Rechtsanwälten die sich herkömmlich als Organe der Rechtspflege und nicht als Dienstleister sahen, kommerzielle Begriffe wie „Management“ oder „Marketing“ zu benutzen. Bücher, die sich mit solchen Fragen beschäftigen, bleiben auch heute noch wie Blei in den Regalen liegen: Anwälte scheinen eine ganz unlogische Freude daran zu haben, sich so zu organisieren, wie es ihrem jeweiligen Charakter entspricht (also oft genug kostspielig und umständlich), und effizientes Management gilt vielen von ihnen als Beweis für fehlende Kreativität und Eigensinn – Eigenschaften, die wir aber brauchen, um unser Geld zu verdienen. Gut organisierte Mitarbeiter können in großen Büros das Schlimmste verhindern, aber Einzelanwälte bleiben mit diesen Problemen allein.

___________ 8 Schiefer, Anwalt im Zeitalter der Dienstleistung – Herausforderung zum Wandel, NJW 1987, 1969.

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Das Institut sollte sich neben den allgemeinen Managementfragen aber vor allem darauf konzentrieren, geeigneten Computerlösungen auf dem Markt zum Erfolg zu verhelfen. Dr. Thomas Graefe, Anwalt aus München und Spezialist im IT Recht, hatte dem Vorstand dazu 1982 (Gründungsjahr von Microsoft) eine 50seitige Ausarbeitung geschrieben, die noch heute durch ihre Präzision und Vollständigkeit beeindruckt. Im Grunde enthielt sie ein grobes Pflichtenheft für eine noch nicht geschriebene Software. Schon früher hatte es immer wieder Ansätze gegeben, sich mit der Industrie zusammen zu tun, um bestimmte Produkte besonders anwaltsfreundlich zu entwickeln. Im Bereich der Software lag die Möglichkeit dazu näher auf der Hand als in allen anderen Bereichen. So entschied man sich im Vorstand, das Institut damit zu beauftragen, in Kooperation mit geeigneten Partnern (Advodat, Modsoft) dafür zu sorgen, dass ein genau auf Anwaltskanzleien zugeschnittenes Angebot auf den Markt käme. Tatsächlich gab es damals zwar einzelne Programme die meist von Anwälten für besondere Aufgabenstellungen entworfen worden waren (zum Beispiel Forderungs-Einzug, Arbeiten mit Textbausteinen, Buchhaltung etc.), aber eine Lösung für die typische Allgemeinpraxis oder das mittelgroße Büro fehlten. Die Komplexität der Aufgabe ist von in jedem von ihnen unterschätzt worden und wird immer noch unterschätzt: Trotz großer Verbreitung vieler Programme gibt es auch heute noch vielfach Umständlichkeiten in der Bedienung, unlogische Arbeitsabläufe und unfreundliche Bedieneroberflächen. Programme, die zum Beispiel in der Zwangsvollstreckung ein gutes Design aufweisen, haben Mängel in der Textverarbeitung usw. Auch die Standardisierung hatte noch einen weiten Weg vor sich, an dessen Beginn noch nicht absehbar war, dass Microsoft ein de facto-Monopol erlangen würde: Modsoft versuchte mit einer Handvoll Informatikern gegen Microsoft ein Betriebssystem im Markt zu etablieren, das den unglücklichen Namen EUMEL9 trug – ein typischer Informatiker-Scherz, bei dem aber kein anderer mitlachen konnte. Und schon bald tauchten ähnliche Probleme auf wie früher: Andere Anbieter von Software beschwerten sich spätestens seit 1986 über die – wie behauptet einseitige – Förderung von Konkurrenten durch das Institut und dem dahinter stehenden DAV. Das Ziel, durch das Institut ein objektiv gültiges Qualitätssiegel vergeben zu lassen, war naturgemäß gefährdet, wenn das Institut selbst eigene Kooperationen mit Softwarehäusern einging. Auf Dauer zeigte sich, dass dieser Konflikt nicht lösbar war: Das Institut wurde in der Folgezeit wieder aufgelöst, und auch mit Modsoft, dass ein Mitgliederverwaltungs-Programm für den DAV geschrieben hatte, gab es Spannungen.

___________ 9 Eumel – (Ruhrpott-Slang): ursprünglich im Werbefernsehen beheimatete Spezies von Gardinenschädlingen: kugelförmiger, fransiger Körper mit zwei langen Greifarmen, Kulleraugen und einem großen Maul mit entsprechendem Gebiss, welches dazu dient, die Gardine möglichst irreparabel zu schädigen. Im allgemeinen Sprachgebrauch auch: ein etwas dummer und chaotischer, aber liebenswerter Mensch – so wie die meisten Softwareprogramme eben waren. Microsoft war aber der größere Eumel. In der IT Szene hat der Begriff sich bis heute erhalten, s. etwa www.eumel.org.

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Die Gründung des Instituts war trotz der wenigen Jahre der Zusammenarbeit mit dem DAV nicht ohne Wirkung: Das Institut hat gemeinsam mit dem Ausschuss Büroorganisation und Bürotechnik viele Marktteilnehmer erst darauf aufmerksam gemacht, dass die Anwälte ein Markt sind, um den es sich zu bemühen lohnt. Jedenfalls ist ab 1987 eine Vielzahl von Firmen mit Hardware, Software und allen neuen Technologien an die Anwälte herangetreten, haben branchenspezifische Lösungen angeboten und einen breiten Markt gefunden. Neben dem Institut sind auch andere Anbieter wie Advozert (Zertifizierungslösungen für Anwälte) oder Advo-Consult (Unternehmensberatung für Anwälte) entstanden, teilweise auch in Kooperation mit dem DAV oder mit seiner Unterstützung. Trotz all dieser Schwierigkeiten hat das Institut in intensiver Zusammenarbeit mit dem Ausschuss eine Vielzahl von Managementthemen bearbeitet, und die Mitglieder seines Ausschusses und viele andere Kollegen haben dabei mitgewirkt. Man organisierte: – Fachausstellungen für Bürotechnik in verschiedenen Städten (Wanderzirkus), – Seminare (in Zusammenarbeit mit der Anwaltsakademie), – Großveranstaltungen wie zum Beispiel den EDV-Sachverständigen-Tag, – die Veröffentlichung geeigneter Anwaltsstatistiken (ab 1987), – die Einrichtung von EDV-Stammtischen, – die Organisation von Software-Hinterlegungsmodellen, – Anregung von Wissensdatenbanken (Kooperation mit der Universität Erlangen), – Ideen um die betriebliche Altersversorgung, – alle Tätigkeiten rund um die Anwaltstage, soweit sie mit seinem Thema zusammenhingen, vor allem die Lebende Musterkanzlei (ab 1989) und die Veranstaltungen für die Mitarbeiter zum Thema „Ich freu‘ mich aufs Büro“ (Stuttgart 1993, Berlin 1995), – Ausbildung und Fortbildung für Anwälte und ihre Mitarbeiter, – EDV-Checkbuch für Rechtsanwälte (Heussen im Oldenbourg-Verlag 1986, 1988), – Mitarbeit im Management-Teil des Beck’schen Rechtsanwaltshandbuches (seit 1989), – Kooperationen mit Rechtsschutzversicherern, – Kooperationen mit Hersteller/Händlern für Bürogeräte oder andere Produkte (Kfz), – Kooperationen mit Verlagen (zum Beispiel im Bereich Datenbanken), – Pflege internationaler Kontakte (zum Beispiel mit der Law Society, London). Der Ausschuss wurde von Anfang an sehr fachkundig von Heidemarie HaackSchmahl betreut, die ihn mit vielen eigenen Ideen unterstützt hat. Die beste davon war die Erfindung eines Slogans, der seit Jahren im Zentrum der Wer704

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bekampagnen des DAV steht und wie kein anderer das Ziel des DAV auf den Punkt bringt: „Anwalt der Anwälte“10! Danach folgten Andreas Hagenkötter und Jens Wagener, der auch die nachfolgende Arbeitsgemeinschaft von Anfang an mit organisiert hat. Jedes Mitglied des Ausschusses hat im Lauf der Jahre im Anwaltsblatt zu einer Vielzahl von Managementfragen geschrieben, überwiegend aus eigener Erfahrung und als Antwort auf Hunderte von Nachfragen, die die Kollegen uns gestellt haben, wenn sie eine der vielen Veranstaltungen besuchten11. 1988 war ein kritisches Jahr für den Ausschuss. Tiling hatte persönlich den aus dem Umfeld der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (die Erfinder von EUMEL!) neu gegründeten Verein Recht und Information e.V. gefördert und damit möglicherweise Irritationen mit dem Institut der Anwaltschaft heraufbeschworen, das sich in Konkurrenz zu dem Verein fühlte. Im Ausschuss sah man das unkritisch, aber die Situation eskalierte, und Tiling legte sein Amt nieder12. Manfred Brüning wurde bis zuletzt sein Nachfolger. Seine Amtszeit war durch den Präsidenten Busse am 6.2.1996 bis zum 31.12.2000 verlängert worden.

IV. Die Arbeitsgemeinschaft Kanzleimanagement (ab 2000) So engagiert viele einzelne Kolleginnen sich mit Managementfragen beschäftigen, so wenig ist das selbstverständlich für die Masse der Anwälte. Das gilt für damals und gilt leider auch noch heute. Der Rückblick zeigt uns, dass der DAV – anders als die meisten seiner Mitglieder – die Bedeutung dieser Fragen von Anfang an klar erkannt hat, auch wenn sie organisatorisch ein wenig unklar gegliedert worden waren: Neben dem BuB-Ausschuss gab es im DAV auch den Ausschuss für Qualitätsmanagement (TQM) und einen anderen nur für Marketing, die auch jeweils mit dem Institut der Anwaltschaft zusammenarbeiteten. Nachdem das Institut seine Tätigkeit eingestellt hatte, haben die Geschäftsführer des DAV viele seiner Aktivitäten unmittelbar fortgeführt – so vor allem die Organisation der Büro-Fachausstellungen, die stets parallel zum Anwaltstag stattfinden. Das sollte unter der Präsidentschaft von Michael Streck anders werden. Während die Ausschüsse – unmittelbar berufen vom Vorstand – nur beratend und anregend innerhalb des DAV wirken konnten, erschien es nun sinnvoll, sie

___________ 10 Wie sie in einem Brief an Dr. Tiling, der sie um eine neue Idee für den Namen des Ausschusses gebeten hatte, am 27. April 1987 schreibt, ist ihr dieser Slogan „ganz zufällig im Wartezimmer meines Arztes eingefallen“. 11 Viele dieser Aufsätze wirken auch heute noch völlig aktuell so etwa Tiling, Die Organisation der Anwaltsbibliothek, AnwBl 1985, 574 oder Abels, Der Computer im Anwaltsbüro – auch ein rechtliches Problem?, AnwBl 1984, 17. 12 Sein Abschiedsbrief vom 24. Mai 1988 an die Mitglieder des Ausschusses ist bemerkenswert. Dort heißt es unter anderem: „Herrn Abels danke ich für die Übernahme des dornenreichen Dezernats Basisarbeit und für seinen erfrischenden Ausspruch, dass der Ausschuss doch bitte ein Sauhaufen bleiben möge!“ (Michael Abels war hochrangiger Reserveoffizier und sprach auch gelegentlich so).

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zusammenzufassen und als Arbeitsgemeinschaft auf eine breite Basis zu stellen. Diese Aufgabe übertrug er mir. Ich arbeitete gemeinsam mit den anderen Ausschussmitgliedern im Februar 2000 ein Konzept, das der Hauptgeschäftsführer Dierk Mattik sehr unterstützte, und mit der Gründungsveranstaltung am 31. März 2000 wurde die neue Arbeitsgemeinschaft aus der Taufe gehoben. Der DAV Vorstand war durch Rembert Brieske (1948–2010) vertreten, dessen unermüdlichen Einsatz für den Deutschen Anwaltverein nicht genug zu loben ist. Er hat die Arbeitsgemeinschaft immer wieder in vielen kritischen Situationen unterstützt. Gastgeber war der Hamburgische Anwaltverein, dessen Vorstandsmitglied Dietrich Wenke schon vor längerer Zeit als Erster einen Werbefilm für Anwälte angeregt hatte und ihn tatsächlich herstellen ließ. Diese ungewöhnliche Idee hat den Boden für die spätere Werbekampagne des DAV bereitet. In der ersten Versammlung fanden sich 34 Kollegen, die fest davon überzeugt waren, von den 100 000 Anwälten, die es damals schon gab, müssten sich doch mindestens 10% für ihr wirtschaftliches Überleben und damit für ihre Managementprobleme interessieren13. Darin haben wir uns getäuscht: Zum 1. Januar 2010 gibt es 260 Mitglieder, also 0,1735% der zirka 150 000 Anwälte, die derzeit zugelassen sind. Die geringe Zahl der Anwälte, die sich im Bereich des Management für den Erfahrungsaustausch unter Kollegen interessieren, zeigt, dass der Markt das offenbar zulässt. Nur die großen Sozietäten organisieren sich professionell, alle anderen lassen sich von der Macht des Schicksals treiben. Früher konnte das nicht anders sein: Schon Julius Magnus14 meinte angesichts der ständig steigenden Anwaltszahlen lakonisch: „der Divisor steigt, der Dividendus fällt“15 – und ihm ist nichts dazu eingefallen, wie sich das ändern könnte. Angesichts der strengen Bindungen durch die Standesrichtlinien und den Gesetzgeber konnte es die Idee eines „Anwaltsmarktes“ nicht geben. Auch dreißig Jahre später war das noch nicht anders. Nahezu selbstverständlich schreibt Rechtsanwalt Dr. Dittenberger, Kitzingen im Geleitwort zum ersten Heft des Anwaltsblattes 1950: „Es ist das alte Problem der Überfüllung des Berufes, das sich uns stellt“ – und hatte bei nur 12 844 Anwälten ebenso wie wir heute keine Antwort darauf16. Man kann die Zahl aber auch positiver betrachten: Der damalige DAV-Ausschuss war genauso groß wie heute der geschäftsführende Ausschuss der Arbeitsgemeinschaft, dahinter stehen jetzt aber fast 300 Kollegen, von denen

___________ 13 Zum Vergleich: Die größten Arbeitsgemeinschaften Im DAV (zum Beispiel Familienrecht und Verkehrsrecht haben jeweils circa 6000 Mitglieder. 14 Vorsitzender des DAV (1919–1922), Herausgeber der NJW (1867 [Berlin] – 1944 [Theresienstadt]). 15 Man merkt, dass wir nicht mehr so gebildet sind wie die Alten: Ich habe einige Zeit rätseln müssen, bis mir klar wurde, dass er den Umsatz aller Anwälte durch deren Zahl geteilt hat. 16 Allerdings dürfen wir aus politischen Gründen auch keine Antwort darauf wissen: Würden wir es ebenso wie die Steuerberater in Deutschland oder die Anwaltskammern in Japan machen und hinter eine gediegene Ausbildung eine Anwaltsprüfung (oder wie in Österreich ein Assessoriat) setzen, wäre das Problem längst gelöst.

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viele in örtlichen Netzwerken (Stammtische etc.) und Vereinen tätig sind und die wichtige Idee vermitteln, dass kein Anwalt, der sich aktiv um seine Managementprobleme kümmert, zum Strandgut der Anwaltsschwemme werden kann. Das Arbeitsprogramm und die Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft die der Geschäftsführende Ausschuss unter seinem jetzigen Vorsitzenden, Christoph Vaagt durchführt, sind überwiegend identisch mit dem, was früher der Ausschuss getan hat. Hervorzuheben sind drei wichtige Veranstaltungen: – Auf jedem Anwaltstag gibt es ein anspruchsvolles Programm zu einem aktuellen Schwerpunktthema (z.B. Personalmanagement) mit einer Vielzahl interner und externer Referenten, – auf der jährlichen Herbsttagung, die meist auch von einem informellen Treffen der Mitglieder begleitet wird, werden die Grundlagenthemen behandelt, – auf der Frühjahrstagung gibt es in zwei bis dreitägigen Workshops (möglichst im frühlingshaften Ausland) Gelegenheit zur Bewältigung typischer Probleme in einer kleinen Runde von Teilnehmern. Für andere Arbeitsgemeinschaften, wie zum Beispiel die Familienrechtler, hat ihre Frühjahrstagung in Griechenland Kultstatus. Das muss sich in der Arbeitsgemeinschaft Anwaltsmanagement erst noch entwickeln. All diese Veranstaltungen werden von einer wesentlichen Idee getragen: im Zentrum steht immer der „Erfahrungsaustausch unter Kollegen“, also die Förderung aller Möglichkeiten, das Managementwissen des einen mit dem anderen zu vergleichen und seine eigenen Kenntnisse auf diese Weise zu verbessern. In vielen örtlichen Anwaltvereinen geschieht das jeden Tag, wenn die Kollegen sich treffen – dafür brauchen sie die Arbeitsgemeinschaft nicht. Aber mancher Anwalt hat gute Gründe zu zögern, vertrauliche Daten, Informationen und Ideen, die ihm nützlich erscheinen, im örtlichen Kollegenkreis zur Debatte zu stellen. Manche Anwältin würde sich gerne mit einer Kollegin darüber austauschen, wie sie es fertig bringt, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen und findet in ihrer unmittelbaren Umgebung vielleicht niemanden, der eine vergleichbare Konstellation hat. Beide haben in der Arbeitsgemeinschaft über die Webseite oder andere Kontakte die Möglichkeit, einen Kollegen zu finden, der helfen wird, eine Lösung zu finden. Die neue Struktur, die Michael Streck für die Behandlung der Managementfragen im DAV angeregt hat, ist in den letzten Jahren wirksam geworden und hat eine gewisse Eigendynamik erreicht, die für die Zukunft hoffen lässt. Anwälte, die die Bedeutung des Managements auch für die Qualität ihrer Arbeit kennen, geben hier und da ihr Wissen weiter, und vor allem die jüngeren Kollegen tauschten sich ohne jene Vorbehalte untereinander aus, die noch zum traditionellen Stil früherer Generationen gehören.

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Dr. Michael Streck als Präsident des Deutschen Anwaltvereins 1998–2003 Soweit bekannt, hat noch kein Präsident des DAV Persönliches über seinen Vorgänger geschrieben. Wenn dies nachfolgend dennoch geschieht, so hat dies seine Ursache in den Besonderheiten der Person des Jubilars Michael Streck. Das gilt besonders für den Ort, in dem dieser Beitrag erscheint. Eine Festschrift soll ja eigentlich den wissenschaftlichen Geist des mir ihr Geehrten belegen und ihm dadurch ein Denkmal setzen. Da sich Anwälte auf eine wissenschaftliche Grundausbildung berufen, und dies zu recht, erst recht, wenn sie promoviert sind, werden auch sie mit Festschriften geehrt. Bei einem Adressaten wie Michael Streck kann man, will man sein Denkmal wirklich aufrichten, jedoch nicht allein an sein Denken und Schreiben erinnern – es muss auch sein Handeln in den Blick genommen werden. Michael Streck ist nun einmal zuerst ein wirklicher Praktiker, mit ganzem Herzen auch im eigenen begeisterten Selbstverständnis, durch und durch in der Wolle gefärbt. Also wäre es ein besonderes Fest zu wissen, wie seine Mandanten über ihn schreiben würden. Dass dies nicht üblich ist, und generell aus sachlichen Gründen auch gar nicht möglich wäre, hat seinen Grund in den Inhalten, die Gegenstand des Anwaltsvertrags sind und die zu recht (hoffentlich auch weiterhin) Geheimnis zwischen Anwalt und Mandant bleiben. Nun gibt es aber noch eine weitere Seite der praktischen Tätigkeit von Michael Streck, über die nicht generell der Mantel der Schweigepflicht gebreitet ist: Er war ja immerhin von 1998 bis 2003 Präsident des Deutschen Anwaltvereins. Darüber zu schreiben liegt umso näher, als dieses Amt dem Jubilar beileibe nicht an der Wiege gesungen worden war. Denn man braucht nicht nur zu vermuten, dass Michael Streck in einem früheren Leben ein solches Amt – wäre es ihm denn überhaupt angetragen worden – wohl nie übernommen hätte. Michael Streck war durchaus nicht „verbandslike“. Zwar stand er schon längere Zeit als Vorsitzender des DAV-Vorstandsausschusses Steuerrecht im engeren Kreis der Repräsentanten dieses Berufsverbandes. Aber man tritt ihm mit der Feststellung nicht zu nahe, dass er sicher weit mehr dem Steuerfach, als den oft merkwürdigen Windungen von Verbandsfragen verpflichtet war. Will man daher die Übernahme der Verantwortung für den DAV durch Michael Streck näher beschreiben, sind zwei „Entitäten“ ins Auge zu fassen: der Deutsche Anwaltverein einerseits und sein Präsident als Institution andererseits. Es ist überflüssig, an dieser Stelle näher zu beschreiben, was der DAV ist. Das kann man bei Felix Busse in seinem soeben erschienen Buch über die Deutsche Anwaltschaft seit dem Kriegsende nachlesen. Auch ist absehbar, dass Hans-Jürgen Rabe einen Artikel über die Geschichte des DAV in dem 2011 erscheinenden Buch „Moderne Anwaltsgeschichte“ aus berufenem Munde veröffentlichen wird – beides sind Vorgänger von Michael Streck als DAVPräsidenten. Über Aufbau, Organisation, Wirken in Politik und Gesellschaft 709

Hartmut Kilger

kann man auch die Homepage www.anwaltverein.de bemühen. Hier seien nur drei Punkte hervorgehoben: Erstens ist der DAV 1871 gegründet worden. Die „alte Dame DAV“ verfügt also über ein ehrwürdiges Alter. Das bedeutet eine nicht unerhebliche historische Last – negativ wie positiv. Wer – wie Michael Streck – eine Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen im DAV ins Leben rief und ein Buch mit dem Titel „Anwalt, Anwältin“ schrieb, hatte sich vor Augen zu halten, dass der von ihm vertretene Verband 90 Jahre zuvor noch der – auch sonst verbreiteten – Meinung gewesen war, weibliche Juristen schadeten der Justiz. Aber er wusste auch, dass der DAV von Anfang an – vom Kampf für die Freie Advokatur bis zur Ablehnung der Vorratsdatenspeicherung – ein hervorgehobener Kämpfer für die Freiheit war und ist. Ein Mensch mit dem Freiheitsgefühl eines Michael Streck war an der Spitze hierfür gerade richtig. Zweitens ist der DAV europaweit absolut singulär. Vergleichbares gibt es nicht. Er stellt die Kraft von über 65 000 auf freiwilligem Entschluss gemeinsam organisierter Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten dar. Überall sonst in Europa gibt es nur (auf Pflichtmitgliedschaft beruhende) Kammern. Eine Interessenvertretung der Anwälte von nationalem Gewicht auf freiwilliger Basis gibt es nur in Deutschland – wenn man als einzige Ausnahme von der Schweiz absieht, die aber zahlenmäßig naturgemäß viel weniger Anwälte umfasst (nicht umsonst sind die Beziehungen zwischen DAV und SAV traditionell besonders gut – auch Michael Streck hat sie mit Freuden gepflegt). Diese singuläre Stellung gibt dem DAV-Präsidenten auf nationalem, aber auch besonders internationalem Parkett ein gesondertes Gewicht, welches durchaus wahrgenommen wird. Eine solch singuläre Stellung liegt Michael Streck naturgemäß ganz besonders. Und Drittens: Der gesamte Verband beruht auf einem fein differenzierten Gleichgewicht. So ist er zwar als Zusammenfassung aller Anwaltsvereine strukturiert – nichtsdestoweniger spielen die Arbeitsgemeinschaften eine immer wichtigere Rolle. Vereinsgedanke einerseits und Fachbezogenheit andererseits müssen miteinander leben und sich verstehen und ergänzen. Das ist nicht einfach und bedarf der ständig austarierenden Vermittlung zwischen höchst selbstbewussten Persönlichkeiten. Dasselbe ist bei den Vorstandsausschüssen gefordert: Dort arbeiten Deutschlands Fachkoryphäen ehrenamtlich mit hoher Fachkompetenz – natürlich ist es nicht angezeigt, dass der Präsident in ihre Ergebnisse hineinregiert, obwohl doch ihre Stellungnahmen bundesweit beachtet und dem Gesamt-DAV zugerechnet werden. Nur der immer ausgleichende Einsatz der Verbandsspitze hält das Gleichgewicht, welches bewirkt, dass in Deutschland alle Fachleute im gesamten Berufsverband gemeinsam organisiert und präsent sind – im Gegensatz zu anderen Berufsgruppen, wo, wie bei den Ärzten beispielsweise, sich zahlreiche Einzelgruppierungen zum Nachteile des Ganzen untereinander nicht einig sind. Die richtig gestellte und beantwortete Frage nach dem inneren Gleichgewicht – historisch gewachsen und auf dem Grundsatz der gegenseitig gewährten Freiheit basierend – bestimmt Erfolg und Überleben des DAV. Eine für einen Präsidenten wie Michael Streck wahrhaft spannende Aufgabe.

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Dr. Michael Streck als Präsident des Deutschen Anwaltvereins 1998–2003

Mit diesen drei Punkten ist aber auch zugleich bestimmt, was den Präsidenten ausmacht. Hier ist nicht platte „Führung“ gefragt, wie sie heute in betriebswirtschaftlichen Modellen oft propagiert wird. Auch isolierte Strategien und Programmvorgaben helfen nicht weiter. Hier ist eine ganze Person gefragt, die Kommunikation nicht nur im Munde führt, sondern wirklich lebt. Kommunikation heißt vor allem: Motivation. Wer für den DAV arbeitet, arbeitet freiwillig. Er erwartet, dass dies respektiert und anerkannt wird. Er freut sich, wenn er für die gemeinsame Arbeit ermuntert und beachtet wird. Dafür das beste Beispiel zu geben, ist Aufgabe des Präsidenten. Das ist umso wichtiger, als die Satzung dem Präsidenten eine weite Kompetenz einräumt. Nach § 21 repräsentiert der Präsident den Verein und führt die laufenden Geschäfte. Er leitet die Mitgliederversammlungen, die Vorstands- und Präsidiumssitzungen und entscheidet in allen unaufschiebbaren Angelegenheiten, auch in den Fällen, in denen das Präsidium zuständig ist. Dass die schnelllebige Zeit immer mehr Angelegenheiten unaufschiebbar macht, vermehrt den Kompetenzbereich. Damit konzentriert sich eine ungewöhnlich hohe Informations- und Entscheidungsdichte auf den Präsidenten. Michael Streck hat sich nach diesem Amt nicht gedrängt. Schicksalhafte Konstellationen haben ihn dazu gebracht. Nach dem plötzlichen Tod seiner ersten Ehefrau lag es als Aufgabe vor ihm, wieder ins bejahende Leben mit Tatkraft zurückzukehren. Das öffnete die Augen für alle Möglichkeiten. Aber auch der DAV sah in ihm die Möglichkeit, aus einem Personaldilemma herauszufinden; nicht ohne die tätige Mithilfe des unvergessenen, erst in diesem Jahr verstorbenen Rembert Brieske. Also kam Michael Streck plötzlich sozusagen als Quereinsteiger ins Präsidentenamt. In Vorstand und Präsidium war er – im Gegensatz zu allen seinen Vorgängern und Nachfolgern – nur kurze Zeit gewesen. Er verfügte damit auch nicht über deren Erfahrung, was Chance und Gefahr zugleich war. Dieses Amt hat er in der ihm eigenen Art unverwechselbar ausgeführt. Das ging nicht ohne Friktionen ab. Ging die allgemeine Klage allenthalben dahin, die Anwaltsschwemme und das nachgerade groteske quantitative Anwachsen der Anwaltschaft zu beweinen, so trat er sogleich mit dem Aufruf hervor, es gebe „nicht zu viele, sondern zu wenige Anwälte“. Das hat ihm einige Feindschaft eingebracht. Dabei hatte er diese Aussage in seinem Sinne gemeint: Gedacht war sie als Motivation an die Vielen, die nur jammerten. Denn dass der Anwaltsmarkt bei aller Überfüllung für den Wachen vielfältige Chancen bot, war offensichtlich. Man musste sie nur ergreifen. Auch die Reklame für den DAV auf den Rückseiten der NJW mit der „taffen“ Dame DAV war – scheinbar – nicht von Erfolg gekrönt. Beide Aktionen belegen aber die Intention Michael Streck’s, die letztlich auch erfolgreich war: Die „alte Dame DAV“ jünger zu machen. Das ist ihm gelungen, entsprach es doch auch der Wirklichkeit. Denn die Kehrseite des enormen Anschwellens der Anwaltschaft war und ist, dass der Berufsstand im Ganzen immer jünger wurde und wird. Da war ein Michael Streck an der Spitze gerade richtig. Denn alle seine Auftritte waren von Optimismus und Zukunftsfreude geprägt. Denkwürdig ist ein Auftritt vor dem Forum Junge Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, wo er zur Revolution aufrief. „Wo seit Ihr Jungen mit 711

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neuen, frischen, unkonventionellen Ideen?“ Etwa 300 Junganwälte saßen geduckt und leicht verschreckt über die Standpauke, die ihnen gehalten wurde. Aber sie hat gewirkt: Das Forum Junge Anwaltschaft hat sich zu einer der größten Arbeitsgemeinschaften des DAV mit enormem Gewicht herausgebildet, welches inzwischen bei Wahlen in verschiedenen Bereichen der Anwaltschaft zum Ausdruck kommt. Dabei hat Michael Streck nicht etwa den „Altachtundsechziger“ gespielt, der er gar nicht ist. Es lag ihm vielmehr an der verdeutlichten Idee, die ihn sein ganzen Leben bewegt: an der des Konstruktivistischen. Natürlich ist das Leben von Schicksal und Zufällen abhängig. Aber es ist auch so, wie man es sich selbst konstruiert. Denke optimistisch und positiv, dann wird dein Leben auch so. Die Botschaft, dass der Beruf des Anwalts mit großer Freude ausgeübt werden kann, ist gerade heute für die Jungen besonders wichtig. Betrachtet man die Fotogalerie aller DAV-Präsidenten im Sitzungszimmer des 7. Stockwerks im DAV-Haus, so ist der erste, der auf dem Bild herzlich lacht: Michael Streck. Die Gabe des Unkonventionellen hat Michael Streck bei der Ausfüllung des beschriebenen Amtes viel geholfen. Bei der Aufrechterhaltung des beschriebenen Gleichgewichts bedarf es oft der Bewältigung der Quadratur des Kreises. Aber selbst der sperrigste Spagat fand immer eine kreative Lösung nach Streck’scher Manier. Deswegen hat er auch – was für DAV-Präsidenten nicht immer selbstverständlich war – den Spagat zwischen Kanzlei und DAV-Tätigkeit bestens bewältigt. Allerdings hat er dies sicher auch dem Umstand zu verdanken, dass er die richtigen Sozien hatte, die dem Treiben ihres Seniorpartners manchmal vielleicht amüsiert, immer jedoch positiv gegenüberstanden. Dabei darf man die positive, optimistische, unkonventionelle und kreative Art von Michael Streck nicht derart verkennen, dass sie Ausdruck fehlender Tiefe und Nachdenklichkeit wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Nur ein Bespiel: Dass der von Rembert Brieske angeregte ökumenische Gottesdienst am Anwaltstag Fuß gefasst hat, ist Michael Streck zu verdanken. Und dass er zum Teil schwere Konflikte auszutragen und tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten zu schlichten hatte – und dies erfolgreich –, soll hier nur angedeutet werden. Die letzte Rede, die er auf der Zentralveranstaltung des DAT 2003 in Freiburg hielt, war von Streck’schen Idiomen gespickt. Dass die Anwälte in vielen Bereichen nicht die ihnen gebührende Achtung finden, ist von vielen beklagt worden; Streck setzte die Beobachtung hinzu, dass dem noch so hoch mögenden Juristen aus Justiz und Verwaltung dennoch nichts Besseres einfalle, als sich nach seiner Pensionierung mit dem Anwaltstitel zu schmücken. Den Bedeutungsverlust der Justizministerien konnte man nicht besser kennzeichnen als mit seiner Bemerkung, dass keiner der Justizminister, die er bei Amtsantritt angetroffen hatte, bei seinem nun bevorstehenden Amtsende noch vorhanden war. Michael Streck wurde vom Publikum der ganzen Festveranstaltung mit stehendem Applaus verabschiedet. Die größte Aufgabe in einem solchen Amt ist denn auch wohl die Organisation des Abgangs – sowohl vor als auch nach dem Amtsende. Insoweit enthält die Satzung des DAV zunächst ein weise Regelung: Sie bestimmt zwar, wie der Präsident gewählt wird. Aber darüber, wie sein Amt endet, schweigt sie 712

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sich aus. Einen Präsidenten, der an seinem Sessel klebt, wird man deswegen wohl nur durch Abwahl los. Die einzig scheinbare Notbremse würde nichts helfen. Zwar wählt der Vorstand nach der Satzung „aus der Mitte der gewählten Vorstandsmitglieder“ den Präsidenten, aber ob der Präsident fürderhin immer Vorstandsmitglied sein muss, ist unklar. Er müsste sich dann nicht einmal mehr den turnusgemäß alle vier Jahre stattfindenden Vorstandswahlen stellen. Diese nach dem Ende offene Regelung entspricht allerdings den Realitäten: Niemand hält – wenn er im Beruf bleiben will – die Zusatzbelastung des Amts auf Dauer aus. Deswegen haben alle Präsidenten von sich aus nach einigen Amtsjahren ihren Rücktritt erklärt und damit den Weg für die Neuwahl eines Nachfolgers frei gemacht. Diese Art des Amtsendes hat den Vorteil, dass die vielen widerstreitenden Belange, die für einen Übergang notwendig sind, flexibel gehandhabt werden können. Der Amtsinhaber weiß, wie er die Rückkehr seiner vollen Arbeitskraft in die Kanzlei organisiert, ob und wen er über ein definiertes Amtsende einweiht oder auch nicht, wie er Brüche bei gleichzeitigem personellen Wechsel in der Geschäftsführung vermeidet usw. Im Übrigen lässt die taggenaue Bestimmung des Rücktrittsdatums die Entscheidung darüber zu, ob der „alte“ oder der „neue“ Vorstand über den neuen Präsidenten entscheidet. Das legt es nahe, die notwendige Rücktrittserklärung vor oder nach Neukonstituierung des von der Mitgliederversammlung traditionell auf dem Anwaltstag gewählten Vorstandes zu legen. Natürlich hat Michael Streck die Chancen und Klaviatur einer so flexiblen Regelung in der ihm eigenen Weise genutzt. Eine solche Regelung ist seinem Konstruktions- und Ordnungstalent besonders entgegengekommen. Natürlich hatte Michael Streck das Amtsende schon weit voraus bestimmt: Nur wusste er es einzurichten, dass es nur die Richtigen auch wirklich kannten. Hier werden keine intimen Geheimnisse ausgeplaudert: Michael Streck hat vielmehr selbst auf der Trauerfeier für Michael Brieske kundgetan, wie dieser als der erprobte „Königsmacher“ im DAV auch in dieses Thema bestens eingeweiht war. Er trat in der Vorstandssitzung vom Samstag auf dem Anwaltstag in Freiburg 2003 zurück – unmittelbar danach wurde sein Nachfolger vom drei Tage zuvor neu bestimmten Vorstand gewählt. Und so hat sich, jedenfalls aus der Sicht des Verfassers dieser Zeilen, zeitlich, aber vor allem inhaltlich ein bruchloser Übergang ergeben. Michael Streck hat damit, wie er es bei der genannten Gelegenheit ebenfalls zum Ausdruck brachte, nicht nur seine Amtszeit, sondern den Charakter insgesamt des ersten Jahrzehnts des DAV in diesem Jahrtausend maßgeblich geprägt und bestimmt. Es ist ihm anzumerken, dass er stolz darüber war und ist, diese Aussage öffentlich verkünden zu können. Und er kann es wirklich sein. Dass Michael Streck durchaus bereit war, nicht nur seinem Nachfolger gewisse Benimmregeln ans Herz zu legen, soll bei dieser Gelegenheit nicht verschwiegen werden; sie sind dankbar aufgenommen worden. Dass die Routineaufgaben einer Nachfolgeregelung musterhaft erledigt waren, als seine Amtszeit endete, versteht sich von selbst. Dazu gehörte vor allem die in solchen Fällen immer gebotene Bereinigung „heikler“ Fragen, die nur ein scheidender Präsident auf sich nehmen kann. Dies betraf nicht nur z.B. Fragen der Entschädigung ehrenamtlich Tätiger. Das betraf vor allem sein 713

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ureigenes Feld, das Steuerrecht. Am Ende seiner Amtszeit wussten alle Kolleginnen und Kollegen im DAV, dass zwischen einem gemeinnützigen Verein und einem Berufsverband durchaus Unterschiede bestehen – eine so feine Differenzierung war für alle übrigen Nichtsteuerrechtler durchaus nicht immer präsent gewesen. Auch die Arbeitsgemeinschaften waren besser über die Kategorien steuerrechtlicher Behandlung ihre Aktivitäten unterrichtet. Nicht nur der Wechsel von Bonn nach Berlin, nicht nur das weitere Voranschreiten steuerrechtlichen Vollzugs, vor allem eines hat diesen Fortschritt bewirkt: dass mit Michael Streck ein Steuerrechtler an der Spitze des DAV gestanden hatte. Mindestens insoweit ist offenkundig, wie sein persönlicher Weg mit dem des DAV in volle Übereinstimmung gebracht worden war. Dieser Einfluss – verstärkt durch den im folgenden Absatz erwähnten Umstand – wird noch lange fortwirken. Die Satzung des DAV bietet, was den Präsidenten angeht, noch eine weitere interessante Facette. § 16 Absatz 4 bestimmt nämlich schließlich: „Außerdem gehören dem Präsidium die gewählten Vorstandsmitglieder mit beratender Stimme an, die das Amt des Präsidenten inne hatten“. Also blieb Michael Streck nach Ende seiner Amtszeit noch im Präsidium. Damit hatte er eine neue Aufgabe vor sich: nämlich die, den „elder statesman“ zu geben. Es ist schon eine besondere Rolle, die die Satzung ihm hier zugedacht hatte: Mitglied des Präsidiums, zumindest am Anfang besser informiert als alle übrigen Präsidiumsmitglieder, und doch ohne Stimmrecht. Letzteres wusste Michael Streck besonders zu nutzen: Zu jedem Thema seine Meinung sagen zu können, dann aber nicht abstimmen zu müssen, war für ihn kein Handicap, sondern ein Privileg. Und er hat oft mit großer Zufriedenheit auf dieses Privileg verwiesen. Natürlich führt die beschriebene, dem Altpräsidenten nach der Satzung vorgegebene Stellung zu einer weiteren Aufgabe: nämlich der, sich zurückzuhalten. Er kann ja neben dem neuen Präsidenten nicht als eine Art immerwährender Nebenpräsident agieren. Es muss es ertragen, dass manches anders bewältigt wird als vorher, dass sich die Bebilderung der Gazetten und die Nachfragefrequenz von Kollegen und Presse schlagartig ändern. Das ist nicht nur ein psychisch zu bewältigendes Problem – so hat Michael Streck einmal zugestanden, er habe in dieser Zeit durchaus das eine oder andere Mal den Telefonhörer abgehoben, um zu prüfen, ob es noch funktioniert. Auch praktisch ist Einordnung gefragt: Und so kommt es, dass das nicht stimmberechtigte Mitglied in Präsidiumssitzungen immer wieder durchaus umfangreich in eigenen Akten geblättert oder andere Arbeit nebenher erledigt hat. So wussten die Aktiven dann jeweils auch, dass alles relativ ist – auch die angeblich brennendsten berufspolitischen Themen. Ist dann der erwähnte Samstag des Rücktritts und die Neuwahl des Nachfolgers vorbei, dann endet mit einem Schlag der täglich hereinbrandende Informationsstrom. Es müssen nicht mehr täglich zahlreich wichtige unaufschiebbare Entscheidungen getroffen werden, von denen immer vorauszusehen war, dass die Kritik der Kollegen bald nachfolgen werde. Mit einem Schlag ist das Amt vorbei – und man muss sich erst wieder an normales Leben gewöhnen. Michael Streck hat das im Vorhinein gewusst; mit der Bewältigung abrupter Lebenswechsel hatte er ja Erfahrung. Und deswegen hat er, kaum waren der 714

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bewusste Samstag und das Wochenende vergangen, zu Beginn der folgenden Woche seine neue Ehe geschlossen. Ein Abschnitt war endgültig zu Ende; ein neuer freudiger Abschnitt begann, den mitzuerleben ebenso eine Freude ist. Besser konnte er gar nicht demonstrieren, was seine „konstruktivistische“ Lebenshaltung bewirken kann: nämlich das Leben optimistisch aktiv in die Hand zu nehmen, immer noch vorn zu schauen, das Leben wirklich zu leben. Viele haben von ihm dies gelernt. Wäre er nicht DAV-Präsident geworden, wären es weit weniger gewesen.

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Strafrechtliche Risiken des anwaltlichen Berufs Inhaltsübersicht I. Einführung II. Einzelne Straftatbestände 1. Ehrverletzungsdelikte, §§ 185 f. StGB 2. Verletzung und Verwertung fremder Geheimnisse, §§ 203, 204 StGB 3. Aussagedelikte, §§ 153 f. StGB 4. Parteiverrat, § 356 StGB 5. Gebührenüberhebung, § 352 StGB

6. Betrug, § 263 StGB 7. Untreue, § 266 StGB 8. Nötigung und Erpressung, §§ 240, 253 StGB 9. Falsche Versicherung an Eides statt, § 156 StGB 10. Wirtschaftsdelikte III. Schlussbemerkung

I. Einführung Der Rechtsanwalt gerät bei Ausübung seiner Tätigkeit immer wieder in die Gefahr, die Grenze des zulässigen Vorgehens oder Verhaltens zu überschreiten. Der Rechtsanwalt ist Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO); er vertritt aber in erster Linie die Interessen seines Mandanten. Diese einseitige Interessenvertretung findet ihre Grenze jedoch dort, wo der Rechtsanwalt mit seinem Vorgehen oder Verhalten zugunsten des Mandanten das nach dem Strafrecht und/oder Berufsrecht Zulässige überschreitet. Es besteht für den Rechtsanwalt aber nicht nur das Risiko, anlässlich der Interessenvertretung für den Mandanten die Grenze des Strafbaren zu überschreiten. Die Verletzung von Strafrechtsnormen kann auch in einem Verhalten zulasten des eigenen Auftraggebers, z.B. in der Einforderung einer überhöhten Gebührenrechnung, liegen. Die strafrechtliche und/oder berufsrechtliche Bewertung des rechtsanwaltlichen Vorgehens oder Verhaltens ist in vielen Fallgestaltungen schwierig. Selbst der erfahrene Rechtsanwalt bewegt sich deshalb schon mal in einer Grauzone. Der Rechtsanwalt, der sich der strafrechtlichen Risiken bewusst ist, kann sein mögliches Vorgehen oder Verhalten so einrichten, dass es sich noch im Rahmen des Zulässigen bewegt. Dies ist aber dem Rechtsanwalt nicht möglich, der mit der Thematik nicht vertraut ist; er muss damit rechnen, unter Umständen strafrechtliche und/oder berufsrechtliche Normen zu verletzen mit der Folge, hierfür strafrechtlich und/oder berufsrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Der strafrechtliche Vorwurf gegen den Rechtsanwalt kann neben Vermögensdelikten, insbesondere dem Vorwurf des (Prozess-)Betrugs, auch eine Vielzahl anderer Delikte betreffen.

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Wird gegen den Rechtsanwalt allerdings in seiner Eigenschaft als Verteidiger der Vorwurf der Strafbarkeit wegen Strafvereitelung nach § 258 StGB erhoben, so muss ihm hinsichtlich der Vereitelung direkter Vorsatz nachgewiesen werden1. Das bedeutet, dass der Rechtsanwalt als Strafverteidiger nicht schon dann in die Gefahr eigener Strafbarkeit gerät, wenn er ihm zweifelhafte Behauptungen aufstellt2. Dieser zu § 258 StGB entwickelte Grundsatz – es ist, wie ausgeführt, direkter Vorsatz erforderlich – ist aber nicht auf andere, auch nicht in einen engen Kreis „verteidigungsspezifischen“ Handelns fallende Straftatbestände, wie z.B. Verstöße gegen die §§ 153 ff., 267 ff. StGB, zu übertragen. Die Verwirklichung anderer Straftatbestände ist damit ohne Weiteres mit (nur) bedingtem Vorsatz möglich3. Für den (nur) mit bedingtem Vorsatz handelnden Verteidiger streitet auch nicht etwa ein besonderer Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung von Verteidigerpflichten. Für einen solchen Rechtfertigungsgrund fehlt eine gesetzliche Grundlage. Dennoch wird den schwierigen Situationen, die gerade für den Strafverteidiger entstehen, Rechnung zu tragen sein, und zwar in der Weise, dass eine sorgfältige und strenge Prüfung der Frage geboten ist, ob – zumindest – bedingt vorsätzliches Handeln des Verteidigers tatsächlich gegeben ist4. Wird gegen den Rechtsanwalt der Vorwurf erhoben, er habe sich durch die Erteilung eines Rechtsrats der Beihilfe zu einer Straftat des Mandanten schuldig gemacht, so streitet für ihn der Erfahrungssatz, dass das Bewusstsein und der Wille eines Rechtsanwalts bei der Erteilung eines Rechtsrats in der Regel darauf gerichtet ist, pflichtgemäß Rat zu erteilen, und nicht darauf, eine Straftat zu fördern5. Es stellt sich damit die allgemeine Frage, wann berufstypische „neutrale“ Handlungen des Rechtsanwalts als strafbare Beihilfe zu Straftaten des Mandanten anzusehen sind. Zielt das Handeln des Haupttäters (Mandanten) ausschließlich darauf ab, eine strafbare Handlung zu begehen, und weiß dies der Hilfeleistende, so ist sein Tatbeitrag als Beihilfehandlung zu werten. In diesem Fall verliert sein Tun stets den „Alltagscharakter“; es ist als „Solidarisierung“ mit dem Täter zu deuten und nicht mehr als „sozialadäquat“ anzusehen. Weiß der Hilfeleistende dagegen nicht, wie der von ihm geleistete Beitrag vom Haupttäter verwendet wird, hält er es lediglich für möglich, dass sein Tun zum Begehen einer Straftat genützt wird, so ist sein Handeln regelmäßig noch nicht als strafbare Beihilfehandlung zu beurteilen, es sei denn, das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des von ihm Unterstützten wäre derart hoch, dass er sich mit seiner Hilfeleistung „die Förderung eines erkennbar tatgeneigten

___________ 1 Fischer, StGB, 57. Aufl. 2010, § 258 Rz. 33 m.w.N. 2 So BGH, Urt. v. 1.9.1992 – 1 StR 281/92, StV 1992, 575 (576) m. Anm. Scheffler, StV 1993, 470 = BGHSt 38, 345 = JR 1994, 114 m. Anm. Beulke; BGH, Beschl. v. 9.5.2000 – 1 StR 106/00, StraFo 2000, 315 (317 f.) = NJW 2000, 2433 (2435 f.) = JuS 2000, 1124. 3 BGH, StV 1992, 575 (576) m.w.N. 4 BGH, StV 1992, 575 (576 f.). 5 BGH, Beschl. v. 21.8.1992 – 2 ARs 346/92, StV 1993, 28 = wistra 1993, 17 = NJW 1992, 3047, jeweils m.w.N.

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Täters angelegen“ sein ließe6. Nimmt der Rechtsanwalt billigend in Kauf, dass sein geleisteter Beitrag von dem Haupttäter zur Begehung einer Straftat genutzt wird, so reicht dies für die subjektive Tatseite der Beihilfe aus7. Im Folgenden soll anhand einzelner Delikte ein Überblick über die „berufsspezifischen“ Strafbarkeitsrisiken des Rechtsanwalts gegeben werden.

II. Einzelne Straftatbestände 1. Ehrverletzungsdelikte, §§ 185 f. StGB Das Risiko einer Strafbarkeit wegen eines Verstoßes gegen die Ehrverletzungsdelikte wird nicht selten unterschätzt. Der Rechtsanwalt gerät bei seiner Tätigkeit leicht in die Gefahr, hier die Grenze zur Strafbarkeit zu überschreiten. Er trägt im Rahmen der gerichtlichen und außergerichtlichen Vertretung seiner Mandanten oftmals Tatsachen vor oder äußert Werturteile und Meinungen, die die weit gefassten objektiven Tatbestände der Ehrverletzungsdelikte, insbesondere der Beleidigung, § 185 StGB, oder der üblen Nachrede, § 186 StGB, erfüllen. Selbst wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Ehrverletzungsdelikts vorliegen, ist das Verhalten des Rechtsanwalts in der Regel nach § 193 StGB gerechtfertigt. Nach § 193 StGB sind Äußerungen, die zur Ausführung oder Verteidigung von Rechten oder zur Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht werden, nur insofern strafbar, als das Vorhandensein einer Beleidigung aus der Form der Äußerung oder aus den Umständen, unter welchen sie geschah, hervorgeht. Zur Ausführung oder Verteidigung von Rechten gehören alle Verhaltensweisen, durch die die Durchsetzung eines Rechts vorbereitet oder bewirkt wird, oder die der Abwehr eines eingeleiteten oder erwarteten Rechtsangriff dienen8. Eine zur Wahrung von Rechtspositionen abgegebene ehrenrührige Äußerung muss jedoch immer im Hinblick auf die konkrete Prozesssituation zur Rechtswahrung geeignet und erforderlich erscheinen sowie der Rechtsgüter- und Pflichtenlage angemessen sein9. Nicht grundsätzlich zulässig ist es, dem Rechtsanwalt die Berufung auf den Rechtfertigungsgrund des § 193 StGB allein deshalb zu versagen, weil dieser die umstrittene Äußerung „leichtfertig“ aufgestellt hat. § 193 StGB steht mit seiner offenen Formulierung einer Berücksichtigung der Belange der Meinungsfreiheit in besonderer Weise offen und ist deshalb vor jeder Verurteilung nach § 185 StGB zu beachten10. Die in der Rechtsprechung und im Schrifttum wohl h.M., dass „leichtfertig“ aufgestellte unwahre Tatsachenbehauptungen ehrenrühriger Art zum Ausschluss des § 193 StGB führen11, kann wegen ihrer die

___________ 6 BGH, Beschl. v. 20.9.1999 – 5 StR 729/98, NStZ 2000, 34 m.w.N. = StV 2000, 479 = wistra 1999, 459. 7 BGH, Beschl. v. 26.1.1993 – 2 ARs 548/92, wistra 1993, 181. 8 Vgl. z.B. Rudolphi/Rogall in SK StGB, § 193 Rz. 8; vgl. hierzu auch BVerfG, Beschl. v. 15.4.2008 – 1 BvR 1793/07, AnwBl 2008, 463 (464). 9 BVerfG, Beschl. v. 11.4.1991 – 2 BvR 963/90, NJW 1991, 2074 (2075) = StV 1991, 458 (459); OLG Bremen, Beschl. v. 26.8.1999 – Ss 16/99, StV 1999, 534 (536). 10 BVerfGE 93, 266 (291). 11 Fischer, § 193 StGB Rz. 9.

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Belange der Meinungsfreiheit regelmäßig verdrängende Wirkung vor Art. 5 Abs. 1 GG nur dann Bestand haben, wenn das Merkmal der „Leichtfertigkeit“ nicht über Gebühr ausgedehnt wird12. Leichtfertigkeit liegt im Übrigen nicht schon bei vermeidbar fehlerhafter Information vor13. § 193 StGB rechtfertigt nicht nur die Äußerungen des Rechtsinhabers selbst, sondern auch die Äußerungen seines Prozessvertreters oder Verteidigers, da der Rechtsinhaber ihnen die Wahrnehmung seiner Interessen übertragen hat. Insoweit bedarf es also auch beim Rechtsanwalt eines besonderen Auftrags; sein Beruf allein berechtigt ihn nicht, fremde Interessen zu wahren14. Stellt der Rechtsanwalt z.B. einen Beweisantrag und erfüllt das Beweisthema den Tatbestand der üblichen Nachrede, so kann die Stellung des Beweisantrags in Wahrnehmung berechtigter Interessen geschehen sein, sodass die Handlungsweise gerechtfertigt ist und ein strafbares Verhalten nicht vorliegt15. Voraussetzung für die Annahme des Rechtfertigungsgrundes nach § 193 StGB ist, dass – der Rechtsanwalt berechtigterweise tatsächlich berechtigte Interessen wahrnimmt, – die Beleidigung (üble Nachrede) zur Wahrnehmung dieser Interessen geeignet und erforderlich ist, – sich die Beleidigung (üble Nachrede) aufgrund einer Interessenabwägung als angemessenes Mittel erweist und – der Täter die Tat subjektiv zur Wahrnehmung berechtigter Interessen begeht16. Selbst wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass bei einer leichtfertigen Verletzung der Prüfungspflicht die Anwendung des § 193 StGB entfällt, wird eine Leichtfertigkeit deshalb zu verneinen sein, weil der Antragsteller grundsätzlich nicht verpflichtet ist, sich von der Richtigkeit der Beweisbehauptung vorab zu überzeugen17. Der Rechtsanwalt darf für seinen Mandanten im Verfahren im Hinblick auf die Grundrechte der freien Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) und des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) grundsätzlich alles vortragen, was aus seiner Sicht rechtserheblich sein könnte18; es sei denn, die Unhaltbarkeit oder besondere Bedenklichkeit der Behauptung liegt „von vornherein

___________ 12 BVerfG, Beschl. v. 16.3.1999 – 1 BvR 734/98, StV 1999, 532 (534) = StV 2000, 414 (415). 13 Vgl. BVerfG, StV 1999, 532 (534). 14 Rudolphi/Rogall in SK StGB, § 193 StGB Rz. 16; Fischer, § 193 StGB Rz. 14; Lenckner in Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 193 Rz. 22; vgl. auch Krekeler, AnwBl 1976, 190. 15 LG Düsseldorf, Urt. v. 11.8.2001 – XXIII 94/99, StV 2002, 660. 16 LG Düsseldorf, StV 2002, 660. 17 So auch das LG Düsseldorf, StV 2002, 660 (661). 18 Vgl. KG, Urt. v. 9.6.1988 – (4) 1 Ss 75/88 (44/88), JR 1988, 522 (523).

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offen auf der Hand“19, oder die Äußerung steht offensichtlich in keinem inneren Zusammenhang mit der Ausführung oder Verteidigung von Rechten20. So ist anerkannt, dass die Gewährleistung einer effektiven Strafverteidigung dann nicht in Frage steht und der Grundsatz der freien Advokatur zurückzustehen hat, wenn die zu beurteilende Prozesserklärung des Verteidigers ohne jeden Bezug zur Verteidigung ist oder sich als verteidigungsfremdes Verhalten erweist, das sich nur den äußeren Anschein der Verteidigung gibt, tatsächlich aber nach den Maßstäben des Strafverfahrensrechts und des materiellen Strafrechts nichts zu solcher beizutragen vermag21. Die Abgrenzung und Ausgrenzung solcher Ausnahmefälle kann sich im Einzelfall als schwierig erweisen; im Zweifel wird den Erfordernissen wirksamer Verteidigung der Vorrang einzuräumen sein22. Das Recht des Rechtsanwalts auf umfassenden Vortrag umfasst grundsätzlich auch die Äußerung der aus den Tatsachen gezogenen Folgerungen23. Dies gilt unabhängig davon, ob sich die Äußerung gegen den Prozessgegner oder gegen einen Dritten richtet24. Der Rechtsanwalt darf die Behauptungen „auch in starken, eindringlichen Äußerungen und sinnfälligen Schlagworten“ vortragen25 und sich zur Wahrung der Interessen seines Mandanten auch drastischer Formulierungen bedienen26. Das BVerfG billigte z.B. die Äußerung eines Rechtsanwalts, eine Verfahrenseinstellung der Staatsanwaltschaft sei „willkürlich“ und begründe den Verdacht einer „rassistisch gelenkten Fehlbeurteilung“, weil es die Kritik des Rechtsanwalts als nicht völlig fernliegend ansah27. Der Rechtsanwalt darf die Interessen seines Mandanten also mit Nachdruck und Entschiedenheit vertreten. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit setzt der Zulässigkeit seiner Äußerungen allerdings Grenzen. Diese Grenzen dürfen nicht eng gezogen werden, weil die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG ins Gewicht fällt28.

___________ 19 RGZ 140, 392 (397); vgl. auch BGH, Urt. v. 14.11.1961 – VI ZR 89/59, NJW 1962, 243 (244); vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 4.3.1998 – 5 Ss 47/98-25/98II, NJW 1998, 3214. 20 BVerfG, Beschl. v. 11.4.1991 – 2 BvR 963/90, StV 1991, 460; OLG Bremen, Beschl. v. 26.8.1999 – Ss 16/99, StV 1999, 534 (536). 21 BGH, Urt. v. 6.4.2000 – 1 StR 502/99, NJW 2000, 2217 (2219) m.w.N. = StV 2000, 418. 22 BGH, NJW 2000, 2217 (2219). 23 BGH, NJW 1962, 243 (244); OLG Hamburg, Urt. v. 13.5.1980 – 1 Ss 43/80, MDR 1980, 953. 24 Vgl. OLG Celle, NJW 1961, 231; OLG Hamburg, JW 1938, 3104 NR. 6. 25 OLG Hamburg, Urt. v. 7.6.1984 – 6 U 4/84, MDR 1984, 940; vgl. ferner BVerfG, Beschl. v. 11.4.1991 – 2 BvR 963/90, NJW 1991, 2074 (2075); OLG Düsseldorf, Urt. v. 11.9.1995 – 5 Ss 220/95 – 26/95 IV, NStZ-RR 1996, 5 (7); KG, Urt. v. 3.7.1997 – (4) 1 Ss 290/96 (110/96), StV 1998, 83. 26 OLG Bremen, Beschl. v. 26.8.1999 – Ss 16/99, StraFo 2000, 60 u.a. unter Hinweis auf BVerfG, NJW 1991, 2074 (2075); s. auch Hamburgisches AnwG, Beschl. v. 17.7.2008 – I AnwG 8/08, BRAK-Mitt. 2008, 275 (277) mit Hinweis auf die hierzu vom BVerfG und BGH gesetzten Maßstäbe. 27 BVerfG, Beschl. v. 14.7.1993 – 1 BvR 126/91, StV 1994, 489. 28 KG, Urt. v. 20.9.1996 – (5) 1 Ss 204/95 (31/95), StV 1997, 485.

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Die Verwendung von Schimpfwörtern, die den Betroffenen zusätzlich abwerten, z.B. „Schwätzer“, ist von § 193 StGB aber nicht mehr gedeckt29. Der Rechtsanwalt darf die Grenze zur Formalbeleidigung nicht überschreiten. Formalbeleidigungen sind nämlich in keinem Fall zur anwaltlichen Interessenvertretung erforderlich30. Dasselbe gilt für eine Schmähkritik31. Der Rechtsanwalt darf sich auf die Angaben seines Mandanten regelmäßig verlassen32. Eine regelmäßige Kontrolle der von Mandanten mitgeteilten Tatsachen ist von ihm nämlich nicht zu verlangen33. Er darf sich aber nicht leichtfertig verhalten; er hat deshalb die Richtigkeit der Äußerung grundsätzlich nachzuhalten, wenn er konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Angaben seines Mandanten hat34. Feste Regeln bestehen hinsichtlich des Umfangs dieser Prüfungspflicht des Rechtsanwalts allerdings nicht; tendenziell sind die Anforderungen jedoch gering: Die Prüfungspflicht orientiert sich im Einzelfall insbesondere an der Erreichbarkeit von sicheren Informationen und an der Schwere der Äußerung35. Der Rechtsanwalt soll jedenfalls solche Informationen nachprüfen müssen, die er sich schnell und zuverlässig selbst verschaffen kann36. Bei verbleibenden Zweifel braucht er aber keine weiteren Recherchen durchzuführen; er hat den Mandanten jedoch ggf. auf die mögliche Strafbarkeit nach den §§ 185 f. StGB hinzuweisen37. Der Rechtsanwalt trägt die volle Verantwortung für ehrenrührige Äußerungen, die er von sich aus aufstellt38. Das ist der Fall, wenn er bei der Erstattung einer Strafanzeige für den Mandanten deutlich macht, dass er eigene Kenntnis von den vorgetragenen Umständen hat39. Umstritten ist, ob es einen beleidigungsfreien Raum zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten gibt, weil insoweit ein von der anwaltlichen Schweigepflicht abgesichertes Vertrauensverhältnis besteht. Anerkannt ist, dass dem Einzelnen ein letzter Freiraum verbleiben muss, wo er straffrei vertrauliche Gespräche führen und durchaus einmal seinen angestauten Emotionen Luft verschaffen darf. Allerdings werden die Grenzen des beleidigungsfreien Raumes unterschiedlich weit gezogen. Nach ganz h.M. werden beleidigende Äußerungen über Dritte z.B. im engsten Familienkreis als nicht strafbar angesehen40. Unterschiedlich wird dies in Bezug auf beleidigende Äußerungen

___________ 29 Vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 11.9.1995 – 5 Ss 220/95 – 26/95 IV, NStZ-RR 1996, 5 (7). 30 Z.B. OLG Stuttgart, NJW 1963, 119 (120); vgl. auch Praml, NJW 1976, 1967 (1969) f. 31 Vgl. BGH, Urt. v. 19.1.1989 – 1 StR 641/88, BGHSt 36, 83 (85); vgl. BGH, Urt. v. 27.3.2009 – 2 StR 302/08, NJW 2009, 2690. 32 Vgl. BGH, Urt. v. 14.11.1961 – VI ZR 89/59, NJW 1962, 244; Praml, NJW 1976, 1967 (1969 f.). 33 BVerfG, Beschl. v. 16.7.2003 – 1 BvR 801/03, NJW 2003, 3263 (3264). 34 Vgl. LG Berlin, MDR 1956, 758. 35 Vgl. Praml, NJW 1976, 1967 (1969 f.); Lenckner in Schönke/Schröder, § 193 Rz. 22. 36 Vgl. Einstellungsverfügung der StA Stuttgart, Verfügung v. 3.2.1986 – 118 Js 40433/85, StV 1986, 211. 37 Vgl. Praml, NJW 1976, 1967 (1969 f.). 38 RG, HRR 1941, 840; Seibert, MDR 1951, 711; Lenckner in Schönke/Schröder, § 193 StGB Rz. 22. 39 Vgl. hierzu BGH, NJW 1984, 316. 40 Fischer, § 185 StGB Rz. 12 m.w.N.

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beantwortet, die in Gesprächen zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten gemacht werden. Die wohl h.M. verneint hier die Straflosigkeit41. 2. Verletzung und Verwertung fremder Geheimnisse, §§ 203, 204 StGB Die Taten nach den §§ 203 und 204 StGB sind Sonderdelikte; der Rechtsanwalt gehört zum Täterkreis, § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB. Die Verletzung von Privatgeheimnissen stellt § 203 StGB unter Strafe, die Verwertung fremder Geheimnisse § 204 StGB. Nach § 205 StGB werden die Taten nach den §§ 203, 204 StGB nur auf Antrag verfolgt. Gegenstand der §§ 203 f. StGB sind Tatsachen, die geheim sind und an denen ein Geheimhaltungswille sowie ein Geheimhaltungsbedürfnis besteht42. Das Geheimnis muss dem Rechtsanwalt im Mandatsverhältnis – und sei es auch nur bei Gelegenheit der Berufsausübung – anvertraut worden, also z.B. im Mandantengespräch mitgeteilt oder sonst bekannt geworden sein43. Fremde Geheimnisse sind Tatsachen, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt sind und nach dem verständlichen Interesse des Geheimnisträgers nicht weiter bekannt werden sollen44. Nicht mehr geheim ist das, was schon Gegenstand einer öffentlichen Gerichtsverhandlung oder eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens war, falls beliebige Dritte von seinem Vorhandensein wissen können45. Dabei kommt es nicht darauf an, ob bei der öffentlichen Gerichtsverhandlung Zuhörer anwesend waren. Andererseits kann aber eine öffentlich bekannt gewesene Tatsache in Vergessenheit geraten und so durch Zeitablauf wieder zu einem Geheimnis werden46. „Anvertrauen“ bedeutet das Einweihen in ein Geheimnis unter ausdrücklicher Auflage des Geheimnishaltens oder doch unter Umständen, aus denen sich eine Verpflichtung zur Verschwiegenheit ergibt; d.h., es muss ein Vertrauensakt vorliegen47. Wer das Geheimnis mitteilt – der Betroffene selbst oder ein Dritter –, ist unerheblich48. „Sonst bekannt geworden“ ist ein Geheimnis dem Täter, wenn er es auf andere Weise, insbesondere aufgrund eigener Tätigkeit, erfahren hat49. Dabei kommt es nur darauf an, dass der Täter von dem Geheimnis kraft Berufsausübung Kenntnis erlangt hat. Eine Sonderbeziehung zwischen Täter und Be-

___________ 41 Vgl. zum Streitstand Fischer, § 185 Rz. 12 unter Hinweis auf BGH, Urt. v. 27.3.2009 – 2 StR 302/08, NJW 2009, 2690 m. Besprechung von Ruhmannseder, NJW 2009, 2647; OLG Hamburg, Urt. v. 23.1.1990 – 2 Ss 103/89 (42), NJW 1990, 1246, das die Strafbarkeit jedenfalls dann annimmt, wenn die Äußerung eine Formalbeleidigung darstellt. 42 LG Hamburg, Urt. v. 1.8.1991 – 302 O 269/90, NJW 1992, 842 = CR 1992, 842. 43 OLG Köln, Urt. v. 24.6.1992 – 17 U 30/91, ZIP 1992, 1320 (1322). 44 Lackner/Kühl, § 203 Rz. 14. 45 Fischer, § 203 StGB Rz. 5 unter Hinweis auf OLG Koblenz, OLGSt § 203, 5 und OLG Schleswig, Beschl. v. 24.9.1984 – 2 Ws 708/84, NJW 1985, 1090 f.; einschränkend OLG Frankfurt, Beschl. v. 11.1.2005 – 3 Ws 1003/04, StV 2005, 204 (205). 46 LK-Jähnke, § 203 StGB Rz. 23. 47 OLG Düsseldorf, JMBl. NW 1990, 153. 48 OLG Köln, Beschl. v. 30.11.1982 – 3 Zs 162/82, NStZ 1983, 412 m.N. 49 OLG Hamburg, NJW 1962, 689 (691).

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troffenem, auf die die Kenntniserlangung zurückgeht, ist nicht erforderlich50. Das Tatbestandsmerkmal „oder sonst bekannt geworden“ hat ersichtlich Auffangcharakter51. Tathandlung ist das Offenbaren, d.h. jedes Mitteilen an einen Dritten (auch das schlüssige Verhalten oder Unterlassen des Verschließens), der das Geheimnis nicht, nicht in dem Umfange, nicht in dieser Form oder nicht sicher kennt52. Bei einem Rechtsanwalt ist vor allem die Gewährung von Akteneinsicht als Geheimnisverletzung denkbar. Sie liegt auch vor, wenn ein Rechtsanwalt das Geheimnis einem anderen Rechtsanwalt mitteilt, mit dem er nicht sozietätsmäßig verbunden ist, und zwar unabhängig davon, dass auch der andere Rechtsanwalt der Geheimhaltungspflicht unterliegt, es sei denn, dass der Mitteilungsempfänger zu dem Kreis derer gehört, denen das Wissen vermittelt werden darf, z.B. Berufsgehilfe ist53. Das Merkmal „unbefugt“ betrifft die Frage der Rechtswidrigkeit des tatbestandsmäßigen Verhaltens. Es ist hier zu prüfen, ob das im Übrigen tatbestandsmäßige Verhalten nach einschlägigen gesetzlichen Regelungen und allgemeinen Rechtsgrundsätzen straflos ist54. Trotz der in § 43a Abs. 2 BRAO bzw. in § 203 StGB verankerten Verschwiegenheitspflicht des Rechtsanwalts ist die Abtretung oder die Übertragung der Einziehung anwaltlicher Vergütungsforderungen ohne Verstoß gegen den Straftatbestand möglich, allerdings nur eingeschränkt. Die Regelung findet sich in § 49b Abs. 4 BRAO. Nach dieser Vorschrift ist die Abtretung von Vergütungsforderungen oder die Übertragung ihrer Einziehung an Rechtsanwälte und rechtsanwaltliche Berufsausübungsgemeinschaften (§ 59a Abs. 1 BRAO) unproblematisch. Vor ihrer Einführung durch die BRAO-Novelle von 1994 verstieß die Zession ohne Zustimmung des Mandanten nach der Rechtsprechung des BGH gegen § 203 StGB, und dies mit der Folge, dass die Abtretung oder die Übertragung nach § 134 BGB i.V.m. § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB nichtig war. Diese Ansicht wurde damit begründet, dass mit der Abtretung oder der Übertragung die umfassende Informationspflicht nach § 402 BGB gegenüber dem neuen Gläubiger verbunden sei55. Seit einer Entscheidung des BGH aus dem Jahre 200756, die die bis dahin kontrovers diskutierte Frage beantwortete, enthält § 49b Abs. 4 BRAO einen Erlaubnistatbestand, der eine Strafbarkeit des Zedenten nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB sowie eine Unwirksamkeit der Verfügung nach § 134 BGB ausschließt. Die Abtretung ohne Zustimmung des

___________ 50 OLG Köln, Beschl. v. 4.7.2000 – Ss 254/00, StraFo 2000, 352 (355) m.N. für diese und die Gegenmeinung. 51 Rogall, NStZ 1983, 413 m.N. 52 Fischer, § 203 StGB Rz. 30. 53 LG Hamburg, Urt. v. 1.8.1991 – 302 O 269/90, NJW 1992, 842 (843); Fischer, § 203 StGB Rz. 30 b. 54 S. zu gesetzlichen Offenbarungspflichten Fischer, § 203 StGB Rz. 37 ff. 55 BGH, Urt. v. 25.3.1993 – IX ZR 192/92, BGHZ 122, 115 (119); BGH, Urt. v. 7.6.2001 – VII ZR 420/00, BGHZ 148, 97 (101 f.); BGH, Urt. v. 8.7.1993 – IX ZR 12/93, WM 1993, 1849 (1850). 56 BGH, Urt. v. 1.3.2007 – IX ZR 189/05, NJW 2007, 1196 (1197).

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Mandanten war schon vorher zulässig bei bereits vorhandener Kenntnis des anwaltlichen Zessionars57. Die Abtretung von Vergütungsansprüchen oder die Übertragung ihrer Einziehung an Dritte, z.B. Inkassobüros, anwaltliche Verrechnungsstellen oder Faktoringgesellschaften, ist nach § 49b Abs. 4 Satz 2 und 3 BRAO ohne Verstoß gegen § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB nur zulässig unter den dort genannten Voraussetzungen. Als Rechtfertigung für die Offenbarung von Geheimnissen kommt auch eine Pflichtenkollision in Betracht58. Auch bei § 203 StGB kann sich nämlich die Befugnis zur Offenbarung fremder Geheimnisse – neben dem Rechtfertigungsgrund des § 34 StGB – aus den – die Rechtsordnung allgemein beherrschenden – Grundsätzen über die Abwägung widerstreitender Pflichten und Interessen ergeben59. Dieser Rechtfertigungsgrund steht dem Rechtsanwalt allerdings nicht zur Seite, wenn er als Zeuge vernommen wird, da ihm insoweit ein Zeugnisverweigerungsrecht nach den § 53 Abs. 1 StPO, § 383 ZPO zusteht, solange er nicht von seiner Verschwiegenheitspflicht entbunden ist, § 53 Abs. 2 StPO, § 385 Abs. 2 ZPO. Macht der Rechtsanwalt von diesem Recht keinen Gebrauch, erfolgt die Offenbarung des Geheimnisses unbefugt60. Zu beachten hat der Rechtsanwalt insbesondere, dass der Geheimnisschutz so lange besteht, wie die Tatsachen nicht allgemein bekannt oder jedermann ohne Weiteres zugänglich sind61, und dass er auch über den Tod des Geschützten hinaus fortdauert, § 203 Abs. 4 StGB. 3. Aussagedelikte, §§ 153 f. StGB Die Aussagedelikte sind eigenhändige Delikte62. Für den Rechtsanwalt besteht deshalb hinsichtlich dieser Straftatbestände vor allem die Gefahr, sich wegen Teilnahme an ihnen strafbar zu machen. Eine Beihilfe durch aktives Tun kommt zum einen in Betracht, wenn der Rechtsanwalt den bereits zur Falschaussage entschlossenen Zeugen in Bezug auf seine Entscheidung bestärkt63, indem er z.B. den Zeugen ermuntert, „die Sache durchzustehen“64, zum anderen dann, wenn der Rechtsanwalt die äußeren Umstände für den Zeugen günstiger gestaltet, z.B. durch Versprechen von Geschenken oder Ähnlichem oder durch die Beseitigung von Hindernissen65. Beihilfe kann auch dadurch geleistet werden, dass eine nach Kenntnis des Handelnden zur Falschaussage entschlossene Person als Zeuge benannt

___________ 57 58 59 60 61 62 63 64 65

S. hierzu BGH, Urt. v. 20.9.2004 – II ZR 302/02, NJW 2005, 145. Dazu Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 120. OLG Köln, Beschl. v. 4.7.2000 – Ss 254/00, StraFo 2000, 352 (355) m.w.N. Fischer, § 203 StGB Rz. 39 m.w.N. OLG Köln, Urt. v. 24.6.1992 – 17 U 30/91, ZIP 1992, 1320 (1322). Fischer, Vor § 153 StGB Rz. 2. Vgl. dazu etwa BGH, Urt. v. 27.3.2009 – 2 StR 302/08, NJW 2009, 2690 (2693 f.). BGH, Beschl. v. 18.11.1982 – VII ZB 24/82, VersR 1983, 185 (187). BGH, Urt. v. 6.4.1962 – 4 StR 32/62, BGHSt 17, 321 (323); vgl. dazu Lenckner in Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 153 ff. StGB Rz. 35 ff.; Heinrichs, JuS 1995, 1115 (1118) m.w.N.

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wird66. Jedoch steht die Unsicherheit einer Partei im Zivilprozess in Bezug auf die Wahrheit einer behaupteten Tatsache der Benennung eines Zeugen nicht entgegen67. Auch darf der Verteidiger einen Zeugen über einen Antrag in das Verfahren einbringen, wenn er Zweifel an der Richtigkeit der Zeugenaussage hat68. Eine Beihilfe durch Unterlassen setzt eine Garantenstellung des Rechtsanwalts im Sinne des § 13 StGB voraus. Eine solche Stellung ergibt sich nicht aus der Berufspflicht des Rechtsanwalts69 und auch nicht aus der Wahrheitspflicht der Prozessparteien nach § 138 ZPO70. Eine Garantenstellung des Rechtsanwalts ist daher in der Regel nur aus vorangegangenem Tun ableitbar. Die Rechtsprechung hat ihre ursprüngliche – zu weit gehende Ansicht71 –, nach der schon das unwahre Bestreiten der Prozesspartei im Zivilprozess ein pflichtbegründendes Verhalten darstellt, aufgegeben72. Eine Garantenstellung aus vorangegangenem Tun wird bejaht, wenn der Rechtsanwalt einen Zeugen durch sein Vorverhalten in eine besondere, dem Prozess nicht mehr eigentümliche (inadäquate) Gefahr einer Falschaussage oder eines Meineids gebracht hat73. Eine solche Gefahr ergibt sich noch nicht daraus, dass der Rechtsanwalt im Prozess zum Beweis für eine wahre oder für wahr gehaltene Behauptung einen Zeugen benennt74. Dies gilt selbst dann, wenn der Rechtsanwalt erkennt, dass der Zeuge die – falsche – Aussage beeiden wird75, es sei denn, der Rechtsanwalt hat selbst den Antrag auf Vereidigung gestellt76. 4. Parteiverrat, § 356 StGB Der Tatbestand des Parteiverrats, eines ausgesprochenen Berufsvergehens77, soll die Rechtspflege davor schützen, dass Rechtsanwälte und Rechtsbeistände sie dadurch beschädigen, indem sie sich gegenüber ihren Auftraggebern pflichtwidrig verhalten (Schutz des Vertrauens der Bevölkerung in die Integrität der Rechtspflege, insbesondere der Rechtsbeistandschaft). Die Wahrung

___________ 66 Fischer, § 153 StGB Rz. 15; einschränkend OLG Hamm, Urt. v. 29.1.1992 – 3 Ss 1128/91, NJW 1992, 1977; s. dazu auch Beulke/Ruhmannseder, Rz. 258 und 260. 67 Fischer, § 153 StGB Rz. 15. 68 Beulke/Ruhmannseder, Rz. 259 m.w.N. in der dortigen Fn. 998. 69 BGH, Urt. v. 20.8.1953 – 1 StR 88/53, BGHSt 4, 327 (328); Fischer, § 153 StGB Rz. 16. 70 BGH, Urt. v. 21.12.1951 – 1 StR 431/51, BGHSt 2, 134; BGH, Urt. v. 2.5.1962 – 2 StR 132/62, BGHSt 17, 327 (328); BGH, NJW 1953, 1399 (1400); OLG Köln, Beschl. v. 10.7.1990 – Ss 320/90, NStZ 1990, 594. 71 Vgl. RGSt 75, 271; BGH, Urt. v. 11.10.1951 – 4 StR 208/51, BGHSt 3, 18. 72 BGH, Urt. v. 6.4.1962 – 4 StR 32/62, BGHSt 17, 321. 73 BGH (s. Fn. 69 u. 72), BGHSt 4, 327 (330); 17, 321 (323); OLG Hamm, Urt. v. 29.1.1992 – 3 Ss 1128/91, NJW 1992, 1977; vgl. auch Lenckner in Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 153 ff. StGB Rz. 39 m.w.N.; s. auch Beulke/Ruhmannseder, Rz. 261, dort auch zu den Einschränkungen durch das Eigenverantwortlichkeitsprinzip. 74 BGH (s. Fn. 69), BGHSt 4, 329. 75 BGH, MDR 1957, 267; vgl. auch Lenckner, JR 1969, 29. 76 BGH, Urt. v. 18.5.1993 – 1 StR 209/93, NStZ 1993, 489. 77 BGH, Urt. v. 6.10.1964 – 1 StR 226/64, BGHSt 20, 41; differenzierend Gillmeister in LK, § 356 StGB Rz. 5.

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der Interessen der Auftraggeber ist nur sekundärer Schutzzweck78. Das Einverständnis des früheren Auftraggebers ist daher grundsätzlich irrelevant79. In Ausnahmefällen kann aber dessen Einverständnis den Interessengegensatz als solchen beseitigen80; es führt also dazu, dass die für die Gegenpartei entwickelte Tätigkeit in keiner Beziehung mehr gegen die Belange gerichtet ist, deren Wahrnehmung der erste Auftraggeber dem Rechtsanwalt anvertraut hatte81, wenn z.B. die Parteien noch um eine gütliche Beilegung eines Interessenwiderstreits im Sinne eines Interessenausgleichs bemüht sind82. Zum Täterkreis gehören auch die nach den §§ 206 f. BRAO in Deutschland niedergelassenen ausländischen und die europäischen Rechtsanwälte83. Nach Absatz 1 der Vorschrift wird ein Rechtsanwalt oder ein anderer Rechtsbeistand bestraft, welcher beiden Parteien in derselben Rechtssache pflichtwidrig dient. Dabei kommt es nicht darauf an, ob durch seine Tätigkeit die Interessen der Partei tatsächlich beeinträchtigt werden (sollen)84, sondern nur darauf, ob der Rechtsanwalt den Interessen der anderen Partei entgegengewirkt hat. Erforderlich ist auch nicht, dass die Auftraggeber voneinander wissen oder Kenntnis von dem Interessengegensatz haben85. Insoweit liegt ein abstraktes Gefährdungsdelikt vor86. Absatz 2 qualifiziert die Tat zum Verbrechen; er setzt voraus, dass der Rechtsanwalt im Einverständnis mit der Gegenpartei handelt. In diesem Fall werden das Ansehen und Vertrauen in den Berufsstand in besonderem Maße geschädigt87. Der Rechtsanwalt muss „bei den ihm in dieser Eigenschaft anvertrauten Angelegenheiten“ tätig werden. Zu den anvertrauten Angelegenheiten gehört alles, was für das Verfahren von Bedeutung sein kann, auch wenn der Rechtsanwalt es noch nicht weiß88. Das Anvertrautsein endet auch nicht mit dem Ende des Mandats89.

___________ 78 BGH, Urt. v. 24.6.1960 – 2 StR 621/59, BGHSt 15, 332 (336); BayObLGSt 1959, 219 (222); BayObLG, Urt. v. 26.7.1989 – PReg 3 St 50/89, JR 1991, 163 (164). 79 BayObLG, Urt. v. 29.9.1994 – 5 St RR 60/94, StV 1995, 473. 80 Näher dazu Dahs, NStZ 1991, 561 (564). 81 BGH, Urt. v. 24.6.1960 – 2 StR 621/59, BGHSt 15, 332 (336); BGH, Urt. v. 16.11.1962 – 4 StR 344/62, BGHSt 18, 192 (198); BayObLG (s. Fn. 79), StV 1995, 473. 82 Ranft, JR 1991, 163 (166). 83 Gillmeister in LK, § 356 StGB Rz. 16. 84 Gefährdungsdelikt, BGH, Urt. v. 2.12.1954 – 4 StR 500/54, BGHSt 7, 17 (21); BayObLGSt 1959, 219 (222); BayObLG, Urt. v. 26.7.1989 – PReg 3 St 50/89, JR 1991, 163 (164); vgl. dazu auch Ranft, JR 1991, 163 (164). 85 RGSt 71, 114 (115). 86 Cramer/Heine in Schönke/Schröder, § 356 StGB Rz. 3 m.w.N. 87 Cramer/Heine in Schönke/Schröder, § 356 StGB Rz. 3 m.w.N. 88 BGH, Urt. v. 21.8.1956 – 5 StR 153/56, BGHSt 9, 341 (345); BGH, Urt. v. 16.11.1962 – 4 StR 344/62, BGHSt 18, 192; BayObLG, Urt. v. 29.9.1994 – 5 St RR 60/94, StV 1995, 473. 89 BGH, Urt. v. 7.10.1986 – 1 StR 519/86, BGHSt 34, 190 (191); BayObLG (s. Fn. 88), StV 1995, 473.

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Darüber hinaus muss „dieselbe Rechtssache“ gegeben sein90. Der Begriff derselben Rechtssache geht weiter als der Begriff des „Rechtsstreits“91. Rechtssachen sind alle Rechtsangelegenheiten, bei denen mehrere Beteiligte in entgegengesetztem Interesse einander gegenüber stehen können92. Identität liegt nicht nur dann vor, wenn es sich um dasselbe Verfahren handelt. Vielmehr ist entscheidend, dass ein identischer Sachverhalt von rechtlicher Bedeutung gegeben ist93. So stellen z.B. zwei dieselbe Ehe betreffende Scheidungsprozesse eine identische Rechtssache dar, und zwar unabhängig davon, ob die im ersten Verfahren geltend gemachten Scheidungsgründe im zweiten nicht wieder vorgebracht werden94. Dieselbe Rechtssache liegt auch vor, wenn ein Rechtsanwalt zunächst den Ehemann wegen eines Sittlichkeitsdelikts verteidigt und anschließend die Ehefrau in einem darauf gestützten Scheidungsverfahren vertritt95. Der Rechtsanwalt muss beiden Parteien durch Rat oder Beistand dienen. Mitbeschuldigte derselben Straftat können untereinander „Parteien“ sein, gleichviel, ob sie gemeinsam oder getrennt angeklagt werden. Geht die Verteidigung des einen zulasten des anderen, verstößt der Rechtsanwalt gegen § 356 StGB, wenn er die Verteidigung eines Tatgenossen führt, obwohl er zuvor schon dem anderen in entgegengesetztem Interesse gedient hat96. „Dienen“ umfasst jede berufliche Tätigkeit des Anwalts rechtlicher oder tatsächlicher Art, durch die das Interesse des Auftraggebers – durch Rat oder Beistand – gefördert werden soll97. § 356 StGB ist also nicht anwendbar, wenn der Rechtsanwalt einer Partei nur außerberuflich Beistand geleistet hat98. Erforderlich soll aber nicht unbedingt sein, dass der Rechtsanwalt der früheren Partei persönlich gedient hat. Nach OLG Hamm99 soll dem Rechtsanwalt auch eine frühere Tätigkeit eines Sozius zugerechnet werden können; nach OLG Stuttgart100 ist eine solche Zurechnung nicht zulässig. Es ist also durchaus möglich, eine Rechtssache nur einem Mitglied einer Rechtsanwaltssozietät anzuvertrauen mit der Folge, dass ein Mitglied der Sozietät ohne Verstoß gegen § 356 StGB den Schädiger verteidigt, während ein anderes Mitglied der Sozietät für den Geschädigten z.B. einen Strafantrag gestellt hat. Es darf aller-

___________ 90 S. zu Beispielen für „dieselbe Rechtssache“ bei Gillmeister in LK, § 356 StGB Rz. 92. 91 RGSt 66, 316 (320); BGH (s. Fn. 84), BGHSt 7, 17 (19). 92 RGSt 66, 316 (320); BGH (s. Fn. 88), BGHSt 18, 192. 93 BGH (s. Fn. 88), BGHSt 18, 192; BGH, Urt. v. 7.10.1986 – 1 StR 519/86, BGHSt 34, 190 (191). 94 BGH, Urt. v. 21.8.1956 – 5 StR 153/56, BGHSt 9, 341 (346); zu weiteren Beispielen für das Vorliegen derselben Rechtssache s. Lackner/Kühl, § 356 StGB Rz. 5. 95 BGH, AnwBl 1954, 199 (200). 96 OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.4.1990 – 2 Ws 2/90, NStZ 1990, 542 mit zustimmender Anmerkung von Geppert, ebenda. 97 BGH, Urt. v. 4.2.1954 – 4 StR 724/53, BGHSt 5, 301 (305); BGH (s. Fn. 84), BGHSt 7, 17 (19); BGH, Urt. v. 23.10.1984 – 5 StR 430/84, NStZ 1985, 74; OLG Karlsruhe, Urt. v. 19.9.2002 – 3 Ss 143/01, NJW 2002, 3561 f. 98 BGH, Urt. v. 6.10.1964 – 1 StR 226/64, BGHSt 20, 41 (43). 99 OLG Hamm, NJW 1955, 803. 100 OLG Stuttgart, Urt. v. 14.11.1985 – 4 Ss 609/85, NStZ 1986, 412 (413) = NJW 1986, 948 (949).

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dings der Mandant jeweils nur dem einzelnen Mitglied der Sozietät und nicht der Sozietät als solcher das Mandat erteilen101. Keine gegensätzliche Interessen vertritt danach der Rechtsanwalt, der für eine Partei in einem Unterhaltsrechtsstreit tätig wurde, nachdem ein mit ihm in Sozietät verbundener Rechtsanwalt von der anderen Partei in einer Scheidungs- und Unterhaltssache beauftragt und für diese allein tätig gewesen war. Ist der Rechtsanwalt selbst Partei, ist er nicht Dritter, wie es von § 356 StGB verlangt wird102. „Pflichtwidrigkeit“ des Dienens liegt vor, wenn die Vertretung beider Parteien trotz entgegengesetzter Interessen erfolgt103. Es muss ein Interessengegensatz der Parteien zu bejahen sein. Die Pflichtwidrigkeit des Dienens wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Partei mit der Vertretung der Gegenpartei einverstanden ist104. Für die Beurteilung eines Interessengegensatzes ist die wirkliche Interessenlage von Bedeutung105. So macht sich ein Rechtsanwalt des Parteiverrats schuldig, wenn er nach einem Verkehrsunfall gleichzeitig oder nacheinander den unfallverursachenden Fahrer/Halter des Kraftfahrzeugs in einem Ermittlungs-, Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren und einen Unfallgeschädigten (auch Fahrzeuginsassen) in einem zivilrechtlichen Schadensersatzprozess gegen den Haftpflichtversicherer des Schädigers vertritt106. Ein Interessengegensatz zwischen dem Unfallverursacher (und seinem Haftpflichtversicherer) einerseits und dem Geschädigten andererseits liegt auf der Hand107. Der mit der Beitreibung einer Forderung beauftragte Rechtsanwalt handelt nicht pflichtwidrig, wenn er vor Erledigung des Erstauftrags vom Schuldner das Mandat übernimmt, ein Moratorium mit allen Gläubigern herbeizuführen, sofern die vorrangige und vollständige Befriedigung des Erstmandanten vereinbart ist108. Der Interessengegensatz ist nämlich nicht abstrakt und von der objektiven Interessenlage der Partei her, sondern in der Weise zu bestimmen, dass auf der Grundlage der konkreten Fallgestaltung entscheidend ist, welches Ziel die Partei verfolgt haben will und welchen Inhalt der dem Rechtsanwalt erteilte Auftrag hat109.

___________ 101 BGH, Urt. v. 7.6.1994 – 5 StR 85/94, NStZ 1994, 490. 102 BGH, Urt. v. 21.7.1999 – 2 StR 24/99, StraFo 1999, 424 (425). 103 BGH, Urt. v. 16.12.1952 – 2 StR 198/51, BGHSt 3, 400 (402); BGH (s. Fn. 84), BGHSt 7, 17 (20); BGH (s. Fn. 88), BGHSt 9, 341 (346); BGH (s. Fn. 89), BGHSt 34, 190 (192 f.). 104 BGH, Urt. v. 20.11.1952 – 4 StR 850/51, BGHSt 4, 80 (82); BGH, Urt. v. 26.6.1962 – 5 StR 180/62, BGHSt 17, 306; BGH (s. Fn. 88), BGHSt 18, 192 (198). 105 BGH, Urt. v. 2.2.1954 – 5 StR 590/53, BGHSt 5, 284 (287 f.) = NJW 1954, 482. 106 BayObLG, Urt. v. 29.9.1994 – 5 StRR 60/94, NJW 1995, 606 = NStZ 1995, 191 = StV 1995, 473. 107 BayObLG (s. Fn. 106), NJW 1995, 606 (607). 108 OLG Karlsruhe, Beschl. v. 11.4.1997 – 2 Ss 259/96, AnwBl 1998, 102 = MDR 1997, 698 = wistra 1997, 315. 109 OLG Karlsruhe (s. Fn. 108), AnwBl 1998, 102; s. auch Müller, NStZ 2002, 363 f.; OLG Karlsruhe, StraFo 2002, 410 = NJW 2002, 3561 = StV 2003, 340.

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Entscheidend ist also, welche Parteibelange sich nach den besonderen Umständen des Falles aus den anvertrauten Rechtssachen ergeben110. Bereits entgegengesetzte Prozessziele begründen entgegengesetzte Interessen, wenn also jede Partei ein Interesse daran hat, dass sie und nicht die andere Partei in dem Rechtsstreit obsiegt111. Es fehlt an der Pflichtwidrigkeit, wenn der Rechtsanwalt bei seinem zweiten Auftrag gleichgerichtete Belange der beiden Beteiligten vertritt112. Kontrovers wird bzw. wurde die Frage diskutiert, ob, wenn in Scheidungssachen das Einverständnis der Ehepartner in der Sache besteht, die grundsätzlich nun einmal aus der Natur des Scheidungsverfahrens folgende Gegensätzlichkeit der Interessen aufgehoben sein kann, mit der Folge, dass die Verwirklichung des Tatbestandes des Parteiverrats entfällt113. Pflichtwidrig soll der Rechtsanwalt nicht handeln, der zunächst beide Eheleute aufgrund deren gemeinsamen Auftrags ausschließlich über die Voraussetzungen und die Herbeiführung der von beiden Eheleuten übereinstimmend gewollten einverständlichen Scheidung der Ehe sowie den Unterhaltsanspruch beraten und den Unterhaltsanspruch berechnet hat, wenn er später einen der Ehepartner vertritt und den Unterhaltsanspruch geltend macht114. Es ist nämlich rechtlich durchaus möglich, dass ein Rechtsanwalt in derselben Rechtssache mehreren Beteiligten dient, deren Interessen sich tatsächlich widerstreiten, soweit sich die Interessen der Parteien in derselben Rechtssache vom Standpunkt der Beteiligten aus miteinander vereinigen lassen, und soweit die Parteien dem Rechtsanwalt die Wahrnehmung ihres gemeinsamen (vermeintlichen) Interesses anvertraut haben. Es handelt sich dann für den Rechtsanwalt nicht um Gegenparteien oder um entgegengesetzte Interessen. Es kann dann von einem Missbrauch des Vertrauens im Dienste des Gegners nicht die Rede sein. Sind die Ziele, deren Verfolgung mehrere Beteiligte einen Rechtsanwalt anvertraut haben, nicht gegeneinander gerichtet, so verstößt er nicht gegen die Bestimmung des § 356 StGB, wenn er beiden Parteien, obwohl sie tatsächlich entgegengesetzte Interessen haben, im gemeinsamen beiderseitigen Interesse dient115. Sowohl dieselbe Rechtssache als auch das entgegengesetzte Interesse der beiden Parteien, der Interessengegegensatz, sind Tatbestandsmerkmale des Par-

___________ 110 BGH (s. Fn. 97), BGHSt 7, 17 (19); BGH (s. Fn. 78), BGHSt 15, 332 (334); BayObLG (s. Fn. 88), StV 1995, 473. 111 BGH (s. Fn. 88), BGHSt 9, 341 (347). 112 BGH (s. Fn. 88), BGHSt 18, 192 (198). 113 So z.B. BayObLG, JZ 1981, 318 m. zust. Anm. Baumann/Pfohl ebenda; Rudolphi in SK StGB, § 356 Rz. 27; a.A. Gillmeister in LK, § 356 Rz. 83; zu weiteren Einzelheiten s. Gatzweiler/Schmülling, FORUM Familien- und Erbrecht, 2000, 131 ff. 114 OLG Karlsruhe (s. Fn. 97), NJW 2002, 3561 = StraFo 2002, 410, unter eingehender Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung. 115 OLG Karlsruhe (s. Fn. 97), NJW 2002, 3561; BGH (s. Fn. 97), BGHSt 5, 301 (307 f.); s. hierzu den Besprechungsaufsatz zu dieser Entscheidung von Erb, NJW 2003, 730 ff., der in seiner Stellungnahme zu dieser Entscheidung u.a. meint: „Eine im Berufsalltag vieltausendfach praktizierte, aber strafbare Beratungstätigkeit, die den Rechtsanwalt mit einer Mindestfreiheitsstrafe von drei Monaten Dauer bedrohte, scheint sich nunmehr auf dem Weg der Entkriminalisierung zu befinden.“

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teiverrats, die vom Vorsatz des Täters umfasst sein müssen. Dem Rechtsanwalt muss die Identität des materiellen Rechtsverhältnisses bewusst sein; er muss in dem neuen Auftrag den alten Streitstoff wiedererkennen116. In einem falschen Verständnis dieser Begriffe bei Kenntnis und korrekter Wertung der Tatumstände liegt kein Tatumstandsirrtum im Sinne des § 16 StGB, sondern ein Verbotsirrtum. Dieser kann im Allgemeinen von einem Rechtsanwalt vermieden werden. Dieser muss sich Kenntnis von der veröffentlichten Rechtsprechung verschaffen und die Rechtslage eingehend prüfen; ggf. muss er die Rechtsanwaltskammer oder einen erfahrenen Kollegen um Rat und Auskunft ersuchen117. Ein erfahrener Anwalt mit langjähriger Berufserfahrung darf sich u.U. nach sorgfältiger Prüfung auf seine eigene Überzeugung verlassen118. Bedingter Vorsatz bezüglich der Tatbestandsmerkmale ist ausreichend119. Fahrlässige Tatbegehung ist nicht strafbar, kommt aber als Berufsvergehen in Betracht120. Teilnehmer ist regelmäßig nicht, wer dem Täter lediglich eine (falsche) Rechtsauskunft erteilt hat121. 5. Gebührenüberhebung, § 352 StGB Der Tatbestand der Gebührenüberhebung – ein echtes Amtsdelikt, sodass § 28 Abs. 1 StGB anzuwenden ist – sichert die korrekte Gebührenabrechnung durch den Rechtsanwalt ab. Es handelt sich um einen privilegierenden Spezialfall des Betrugs122. Anders aber als beim Betrug braucht keine Bereicherungsabsicht vorzuliegen. Nach h.M. erfordert der subjektive Tatbestand Vorsatz123; dieser erfordert das Bewusstsein, übermäßige Gebühren zu erheben. § 352 StGB ist nur für die Vergütung des Rechtsanwalts einschlägig, d.h. für Entgelte für die berufliche Müheverwaltung. Rechnet der Rechtsanwalt z.B. nicht angefallene Auslagen ab, so greift der Betrugstatbestand, § 263 StGB, ein124. Tathandlung ist die Erhebung von Gebühren oder Vergütungen, die kostenrechtlich nicht oder nicht in der geforderten Höhe geschuldet sind. Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal ist, dass der Rechtsanwalt den Schuldner über die Rechtmäßigkeit der Erhebung der Gebühren oder Vergütungen täuscht125. Erheben ist auch im Wege der Aufrechnung möglich.

___________ 116 BGH (s. Fn. 78), BGHSt 15, 332 (338). 117 BGH (s. Fn. 88), BGHSt 9, 341 (347); BGH (s. Fn. 78), BGHSt 15, 332 (338); BGH (s. Fn. 104), BGHSt 18, 192 (197); BayObLG (s. Fn. 79), StV 1995, 473. 118 BGH (s. Fn. 78), BGHSt 15, 332 (341). 119 Lackner/Kühl, § 356 StGB Rz. 8. 120 Vgl. RGSt 71, 231 (237); Eylmann in Henssler/Prütting, BRAO, § 43a Rz. 127 ff. 121 BGH, Beschl. v. 21.8.1992 – 2 ARs 346/92, NJW 1992, 3047. 122 Vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 1.6.1989 – 1 Ws 456/89, NJW 1989, 2901. 123 Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, § 352 StGB Rz. 10 m.w.N., Fischer, § 352 Rz. 8; a.A. Lackner/Kühl, § 352 StGB Rz. 6. 124 Fischer, § 352 StGB Rz. 4. 125 Fischer, § 352 StGB Rz. 6; BayObLG, Beschl. v. 27.11.1989 – RReg. 2 St 194/89, NJW 1990, 1001; OLG Hamm, Beschl. v. 11.1.2002 – 2 Ws 296/01, wistra 2002, 354.

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Die Gebühren oder Vergütungen sind nicht geschuldet, wenn diese die im RVG gesetzlich geregelten Gebühren übersteigen126. Haben Rechtsanwalt und Mandant eine Vergütungsvereinbarung geschlossen, so kommt eine Strafbarkeit nach § 352 StGB aber, selbst wenn die vereinbarten Gebühren die gesetzlichen Gebühren überschreiten, nur dann in Betracht, wenn der Rechtsanwalt Gebühren erhebt, die über die Vereinbarung hinausgehen127. Bei unzulässiger Vereinbarung von Erfolgshonoraren liegt z.B. eine Gebührenüberhebung dann vor, wenn der Rechtsanwalt ein Honorar verlangt, das den gesetzlichen Gebührenanspruch nach dem RVG überschreitet128. Der Tatbestand des § 352 StGB ist erst vollendet, wenn die Leistung erfolgt ist. Mit der Geltendmachung überhöhter Gebühren ist aber schon ein wegen des Absatzes 2 strafbarer Versuch gegeben129. Im Falle einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten kann der Verlust der Amtsfähigkeit ausgesprochen werden, § 358 StGB. 6. Betrug, § 263 StGB Im Rahmen der Führung von Mandanten durch den Rechtsanwalt kann die Gefahr aufkommen, dass er sich zum einen des (Prozess-)Betrugs (als Täter oder Teilnehmer) zum Nachteil Dritter und zum anderen des Betrugs zum Nachteil des eigenen Auftraggebers strafbar macht. Der Tatbestand des (Prozess-)Betrugs wird dadurch erfüllt, dass bewusst unwahre Tatsachen, u.U. auch durch die Benennung oder Einführung falscher Beweismittel (Zeugen, Urkunden, seltener: Sachverständige), in einem Rechtsstreit eingebracht werden. Dabei reicht es aus, wenn die Unlauterkeiten nur deshalb begangen werden, um einen günstigen Ausgang des Verfahrens als solchen und damit die Abwälzung der Kostentragungspflicht zu erreichen. Nach § 138 Abs. 1 ZPO obliegt der Partei eines Rechtsstreits die Pflicht, Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben. Wer diese prozessuale Wahrheitspflicht verletzt, spiegelt regelmäßig falsche Tatsachen vor, oder er entstellt oder unterdrückt wahre Tatsachen und verwirklicht damit entscheidende Tatbestandsmerkmale des § 263. Die Wahrheitspflicht trifft zum einen die Partei des Rechtsstreits, zum anderen aber auch ihren etwaigen gesetzlichen Vertreter (z.B. Organmitglied) und ihren Prozessbevollmächtigten. Der Prozessbevollmächtigte ist allerdings nicht verpflichtet, frühere Behauptungen seines Mandanten und von ihm für seinen Mandanten aufgestellte Behauptungen, die er zunächst als richtig angesehen hat, später aber als falsch

___________ 126 127 128 129

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Vgl. z.B. Fischer, § 352 StGB Rz. 6. BayObLG, NJW 1989, 2091. BayObLG, NJW 1989, 2902. Fischer, § 352 StGB Rz. 9.

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erkennt, gegenüber dem Gericht zu berichtigen und den Mandanten dadurch eines versuchten (Prozess-)Betrugs zu bezichtigen130. Strittig ist die Möglichkeit eines (Prozess-)Betrugs im Versäumnis- und Mahnverfahren. Die Rechtsprechung bejaht trotz fehlender materieller Prüfungspflicht in diesen Verfahren die Täuschung und die Irrtumserregung131. Das Schrifttum weist dagegen zu Recht darauf hin, dass Versäumnisurteil und Vollstreckungsbescheid auf einem bestimmten Parteiverhalten (Säumnis, §§ 330, 331 ZPO; Nichterheben eines Widerspruchs, § 699 ZPO) und nicht auf der richterlichen Überzeugung von der Wahrheit des vorgetragenen Sachverhalts beruhen. Es fehle daher an einer konkludenten Täuschung und Irrtumserregung132. Den Tatbestand des Betrugs, nicht des sog. (Prozess-)Betrugs, dem eigen ist, dass die Betrugshandlungen dem Gericht gegenüber begangen werden, kann der Rechtsanwalt auch dann (als Täter oder Teilnehmer) verwirklichen, wenn der Verfahrensgegner oder die für ihn tätig werdende Person durch Täuschung zu einer Klagerücknahme, zu einem Anerkenntnis (§ 307 ZPO) oder zum Abschluss eines nachteiligen (Prozess-)Vergleichs133 veranlasst wird. Ein Rechtsanwalt, der wissentlich einen unwahren Sachverhalt vorträgt oder ein falsches Beweismittel einführt, um einen nach seiner Überzeugung begründeten Anspruch seines Mandanten durchzusetzen, dessen Durchsetzung anderenfalls gefährdet wäre, ist mangels Vorsatzes nicht wegen Teilnahme am Betrug strafbar134. Eines Betrugs zum Nachteil des eigenen Mandanten kann sich der Rechtsanwalt dadurch schuldig machen, dass er einen Auftrag übernimmt, durch den eine Verpflichtung begründet wird, die er nicht erfüllen kann. Seine Täuschungshandlung besteht in der vorbehaltlosen, uneingeschränkten Mandatsübernahme. Es ist nämlich im allgemeinen Geschäftsverkehr anerkannt, dass derjenige, der eine vertragliche Verpflichtung übernimmt, sofern sich aus den Umständen nichts anderes ergibt, auch ohne dies ausdrücklich zu sagen, nach der Verkehrsanschauung die (stillschweigende) Erklärung abgibt, er sei zur Erfüllung seiner vertraglichen Pflichten willens und (nach seiner Einschätzung) in der Lage135. Dies gilt auch für die Übernahme eines Mandats durch einen Rechtsanwalt136.

___________ 130 BGH, NJW 1952, 1148; Cramer/Perron in Schönke/Schröder, § 263 StGB Rz. 71; differenzierend Häcker in Müller-Gugenberger/Bieneck, § 95 Rz. 52. 131 BGH, Urt. v. 25.10.1971 – 2 StR 238/71, BGHSt 24, 257 (261); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.8.1991 – 2 Ws 317/91, NStZ 1991, 586; s. hierzu § 692 Abs. 1 Nr. 2 ZPO. 132 Cramer/Perron in Schönke/Schröder, § 263 StGB Rz. 73; Lackner/Kühl, § 263 StGB Rz. 17. 133 BayObLG, JR 1969, 307 m. Anm. Schröder. 134 Cramer/Perron in Schönke/Schröder, § 263 StGB Rz. 75. 135 BGH, Urt. v. 22.10.1981 – 4 StR 429/81, NStZ 1982, 70 m.w.N. 136 BGH (s. Fn. 135), NStZ 1982, 70. Der BGH bestätigt die Verurteilung eines Rechtsanwalts wegen Betrugs, der einen Auftrag zur Herbeiführung der förmlichen Voraussetzungen der Grundstücksübertragung (§ 313 BGB) übernommen hatte, wissend, dass dieses die Einschaltung eines Notars bedingt. Die Vermögensverfügung

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Klärt der Rechtsanwalt den Mandanten über die Kostentragungspflicht des unterliegenden Prozessgegners nicht auf, um so zu erreichen, dass er seine Gebühren doppelt erhält, nämlich einmal vom Mandanten und einmal vom unterlegenen Prozessgegner, so begeht er Betrug137. Keinen Betrug begeht der anwaltliche Verteidiger, der ein berufsrechtlich unstatthaftes Erfolgshonorar verlangt, weil er dadurch nicht konkludent die Zulässigkeit seines Verhaltens vorspiegelt. Es fehlt an der Täuschungshandlung. Der Verteidiger ist nämlich nicht verpflichtet, sein berufswidriges Verhalten dem Mandanten zu offenbaren138. 7. Untreue, § 266 StGB Dem Untreuetatbestand als Vermögensdelikt kommt eine große Bedeutung zu. Der Rechtsanwalt kommt nämlich im Rahmen seiner Tätigkeit fortlaufend mit fremden Geldern in Berührung, so z.B. bei der Weiterleitung oder Rückzahlung empfangener Leistungen an den Mandanten, der Durchsetzung und Einziehung von Forderungen, der Führung von Anderkonten usw. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade junge Anwälte, denen es an der notwendigen Erfahrung im Hinblick auf eine ordnungsgemäße Führung einer Kanzlei sowie an den erforderlichen finanziellen Mitteln zur Beschäftigung qualifizierten Büropersonals fehlt, Gefahr laufen, den objektiven Tatbestand der Untreue zu verwirklichen139. § 266 erfasst die Fälle der Vermögensschädigung durch eine dem Vermögen nahe stehende Person durch Missbrauch (Abs. 1 1. Alt.) oder durch Treubruch (Abs. 1 2. Alt.). Der Missbrauchstatbestand (1. Alt.) setzt zunächst die Befugnis voraus, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten. Diese Befugnis kann auf Gesetz, behördlichen Auftrag oder auf Rechtsgeschäft beruhen. Diese Befugnis kommt z.B. einem als Nachlassverwalter (§ 1985 BGB) oder als Betreuer (§ 1896 BGB) bestellten Rechtsanwalt zu. Häufigster Fall in der Praxis wird die Bevollmächtigung des Rechtsanwalts durch den Mandanten in Form eines Anwaltsvertrags sein (ein auf Geschäftsbesorgung gerichteter Dienstvertrag). Die Tathandlung besteht im Missbrauch der Befugnis, d.h. beim Handeln im Rahmen des rechtlichen Könnens (Außenverhältnis) durch Überschreiten der Grenzen im Innenverhältnis140. Voraussetzung ist jedoch, dass die Bevollmächtigung rechtswirksam ist. Bei Unwirksamkeit der Bestellung des Rechtsanwalts im Innenverhältnis scheidet daher der Missbrauchstatbestand

___________ 137 138 139 140

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liegt in der Übertragung des Mandats, der Vermögensschaden in den zusätzlichen, vermeidbaren Kosten. S. hierzu OLG Karlsruhe, Beschl. v. 20.12.1990 – 2 Ws 265/89, NStZ 1991, 239 (240). KG, JR 1984, 292. Franzheim, StV 1986, 409. BGH, Urt. v. 16.6.1953 – 1 StR 67/53, BGHSt 5, 61 (63).

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aus, sodass nur der Treubruchstatbestand in Betracht kommen kann141. Nach ständiger Rechtsprechung ist, um eine Ausuferung des § 266 StGB zu verhindern, auch für den Missbrauchstatbestand eine Vermögensbetreuungspflicht erforderlich. Damit ist der Missbrauchstatbestand nur noch ein spezieller Anwendungsfall des Treubruchstatbestands142. Täter des Treubruchstatbestands (2. Alt.) können zunächst sowohl dieselben Personen sein, die auch als Missbrauchstäter in Betracht kommen, als auch solche Personen, die keine Vertretungsbefugnisse besitzen, sondern nur im Innenverhältnis zur Vermögensfürsorge verpflichtet sind (so z.B. der Notar, der bei der Beurkundung eines Grundstückskaufvertrags unparteiischer Betreuer beider Vertragsparteien ist und nach § 14 BNotO verpflichtet ist, die Vermögensinteressen beider Parteien wahrzunehmen. Ferner nennt die 2. Alt. auch das tatsächliche Treueverhältnis. Hierunter fallen – rechtsunwirksame Rechtsverhältnisse (z.B. der Rechtsanwalt veruntreut Kaufpreiszahlungen, die an ihn aufgrund formungültiger Kaufverträge und Vollmachten geleistet werden143, ein nicht zugelassener Rechtsberater übernimmt Geschäftsbesorgungen für einen Rechtssuchenden144), – wegen Gesetzes- oder Sittenwidrigkeit nichtige Rechtsgeschäfte145, (z.B. der Rechtsanwalt verwendet Gelder, die er unter Verstoß gegen devisenrechtliche Vorschriften für seinen Auftraggeber ins Ausland zu verbringen hat, für sich146) oder – erloschene Rechtsverhältnisse vermögensfürsorglicher Art. Die Verwirklichung des Treubruchstatbestands setzt das Bestehen einer Vermögensbetreuungspflicht voraus. Diese liegt dann vor, wenn der Täter innerhalb eines nicht unbedeutenden Pflichtenkreises bei Einräumung von Selbstständigkeit und Bewegungsfreiheit zur fremdnützigen Vermögensfürsorge verpflichtet ist147. Die Wahrnehmung von Fremdinteressen muss einen essentiellen Bestandteil des Verhältnisses, d.h. eine vertragliche Hauptpflicht, nicht bloß eine vertragliche Nebenpflicht, ausmachen148.

___________ 141 Fischer, § 266 StGB Rz. 24 m.w.N. 142 BGH, Urt. v. 26.7.1972 – 2 StR 62/72, BGHSt 24, 386; BGH, Urt. v. 13.6.1985 – 4 StR 213/85, BGHSt 33, 244 (250); OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.8.1989 – 1 Ws 60/89, NStZ 1990, 82 (83); Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, § 266 StGB Rz. 2; a.A.: Labsch, Jura 1987, 343 (346); Samson/Günther in SK StGB, § 266 StGB Rz. 16. 143 Schmid in Müller-Gugenberger/Bieneck, § 31 Rz. 79. 144 Schmid in Müller-Gugenberger/Bieneck, § 31 Rz. 79; BGHZ 37, 258. 145 BGH, Urt. v. 17.11.1955 – 3 StR 234/55, BGHSt 8, 254 (258); Schmid in MüllerGugenberger/Bieneck, § 31 Rz. 82; a.A. Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, § 266 StGB Rz. 31; Samson/Günther in SK StGB, § 266 Rz. 36. 146 Schmid in Müller-Gugenberger/Bieneck, § 31 Rz. 82; RGSt 73, 157. 147 BGH, Urt. v. 4.11.1952 – 1 StR 441/52, BGHSt 3, 289 (293); BGH, Urt. v. 14.12.1983 – 3 StR 452/83, BGHSt 32, 208; BGH, Beschl. v. 11.2.1982 – 4 StR 10/82, NStZ 1982, 201 m.w.N. 148 BGH, Urt. v. 8.5.1951 – 1 StR 171/51, BGHSt 1, 186 (189); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 24.11.1997 – 5 Ss 342/97 – 96/97 I, NJW 1998, 690 (691).

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Der BGH hat das Vorliegen eines den Rechtsanwalt verpflichtenden Treueverhältnisses z.B. in folgenden Fällen bejaht: – das Mandat verpflichtete zur Einziehung und Durchsetzung von Forderungen zugunsten des Mandanten149 oder zur Auszahlung von zu diesem Zweck empfangenem Geld an den Prozessgegner150, – zwischen dem Rechtsanwalt und dem Mandanten bestand die Vereinbarung, den Kostenvorschuss des Mandanten zurückzuzahlen, wenn die Versicherung ebenfalls einen Kostenvorschuss leistet151, – der Rechtsanwalt sollte den Mandanten bei einer Erbauseinandersetzung vertreten und in diesem Zusammenhang Gelder entgegennehmen und abführen bzw. sie gewinnbringend anlegen152, – gegenüber Geldanlegern hatte der Rechtsanwalt die Verpflichtung übernommen, die Verwendung der Anlagemittel zu kontrollieren und erst unter bestimmten Voraussetzungen freizugeben153, – bei Auflösung einer Anwaltssozietät, bei welcher der zwischen den Beteiligten geschlossene Auflösungsvertrag die Verteilung der bis zum Stichtage angefallenen Gewinne zum Inhalt hatte154. Die Tathandlung des Treubruchs kann jedes Handeln oder Unterlassen des Rechtsanwalts sein, welches im Widerspruch zu der Treuepflicht steht. Voraussetzung ist jedoch, dass er seine spezifische Treuepflicht verletzt hat155. Ob die Verletzung einer spezifischen Treuepflicht vorliegt, hängt vom Inhalt und vom Umfang der Abrede ab, sodass die zugrunde liegende Vertragsvereinbarung nach Treu und Glauben auszulegen ist156. Handelt der Täter nur allgemeinen Schuldnerpflichten zuwider, so liegt auch dann keine Untreue vor, wenn sich die vertragliche Rechtsbeziehung insgesamt als Treueverhältnis darstellt157. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob der Rechtsanwalt, der seiner Verpflichtung zur Schadensregulierung (z.B. nach einem Verkehrsunfall) mit der gegnerischen Partei nachgekommen ist und lediglich die empfangene Zahlung nicht umgehend an seinen Mandanten ausgekehrt hat, damit seine spezifische Treuepflicht verletzt hat, oder ob die Nichtauszahlung lediglich

___________ 149 BGH, Urt. v. 3.11.1982 – 2 StR 159/82, NJW 1983, 461; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.8.1989 – 1 Ws 60/89, NStZ 1990, 82; OLG Köln, Beschl. v. 9.1.1998 – Ss 670/97260, AnwBl 1999, 608; BGH, Urt. v. 11.11.1982 – 4 StR 406/82, JR 1983, 515 m.w.N. 150 BGH, Urt. v. 29.4.1960 – 4 StR 544/59, NJW 1960, 1629. 151 BGH, Urt. v. 3.10.1986 – 2 StR 256/86, wistra 1987, 65. 152 BGH, Urt. v. 30.10.1985 – 2 StR 383/85, wistra 1986, 71. 153 Häcker in Müller-Gugenberger/Bieneck, § 95 Rz. 69. 154 OLG Koblenz, Beschl. v. 5.9.1994 – 1 Ws 164/94, NStZ 1995, 50. 155 BGH (s. Fn. 157), NStZ 1986, 361; OLG Frankfurt, Beschl. v. 5.7.1994 – 3 Ss 97/94, MDR 1994, 1233; OLG Düsseldorf (s. Fn. 157), AnwBl 1998, 47; Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, § 266 Rz. 23. 156 BGH, Urt. v. 30.10.1985 – 2 StR 383/85, StV 1986, 204. 157 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.3.1997 – 1 Ws 120/97, AnwBl 1998, 47; BGH, Urt. v. 30.10.1985 – 2 StR 383/85, NStZ 1986, 361; BGH, Urt. v. 16.12.1987 – 3 StR 497/87, BGHR StGB § 266 Abs. 1, Vermögensbetreuungspflicht 9, m.w.N.; BGH, Urt. v. 30.10.1990 – 1 StR 544/90, StV 1991, 65 = wistra 1991, 137.

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eine bloße Zuwiderhandlung gegen die Schuldnerpflichten darstellt. Der engere Missbrauchstatbestand (1. Alt.) scheidet hier von vornherein aus, da das Vorenthalten der geschuldeten Gelder kein rechtsgeschäftliches Schädigungsverhalten darstellt158. In Betracht kann allenfalls ein Treubruch im Sinne der 2. Alt. kommen. Nach Ansicht des BGH159 unterscheidet sich die Pflicht des Rechtsanwalts, das empfangene Geld nach Mandatsbeendigung an den Auftraggeber rechtzeitig auszuzahlen, nicht von der Herausgabepflicht anderer Schuldverhältnisse, denen keine Treuabrede im Sinne des § 266 StGB zugrunde liegt. Auch eine als Treueverhältnis anzusehende vertragliche Beziehung kann daher Verpflichtungen enthalten, deren Verletzung nicht vom Untreuetatbestand erfasst ist160, da sie nicht in direktem Zusammenhang mit der dem Täter übertragenen Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen stehen161. Nach Ansicht des OLG Karlsruhe162 kann jedoch in den Fällen, in denen die Abwicklung des Auftragsverhältnisses noch nicht beendet ist, ein erteilter Auftrag zur Schadensregulierung nicht in eine Schadensregulierung nach außen als eine nach § 266 StGB strafbewehrte Treuepflicht und in eine die alsbaldige Auskehr erhaltener Gelder an seinen Mandanten umfassende bloße Schuldnerpflicht aufgespalten werden. Aus der Sicht des Mandanten mache es keinen wesentlichen Unterschied, ob der beauftragte Rechtsanwalt gar nichts unternimmt und deshalb seinen Verpflichtungen zuwiderhandelt oder zunächst tätig wird und Zahlungen durch den jeweiligen Schädiger/Versicherer erwirkt, die Gelder jedoch für sich behält163. Insoweit könne nur eine einheitliche Betrachtungsweise dem Sinn und Zweck der Beauftragung gerecht werden. Zu unterscheiden ist daher, ob das Mandatsverhältnis bereits beendet war oder nicht. Unterrichtet der Rechtsanwalt seinen Mandanten infolge einer erteilten Abrechnung, welcher Betrag diesem zusteht, so liegt in der verzögerten Auszahlung keine Verletzung des Treubruchstatbestands. Hat dagegen der Mandant keinerlei Kenntnis von den ihm zustehenden Beträgen, weil er z.B. darüber im Unklaren gelassen wird, so ist die Abwicklung des Auftragsverhältnisses noch nicht beendet, sodass in der verzögerten Auszahlung der Mandantengelder eine Verletzung der spezifischen Treuepflicht liegt164.

___________ 158 OLG Celle, MDR 1990, 846; OLG Düsseldorf (s. Fn. 157), AnwBl 1998, 47; a.A. BGH, Urt. v. 20.10.1959 – 1 StR 466/59, BGHSt 13, 274. 159 BGH, Urt. v. 30.10.1985 – 2 StR 383/85, NStZ 1986, 361. 160 BGH (s. Fn. 152), wistra 1986, 71; BGH, Urt. v. 30.10.1990 – 1 StR 544/90, wistra 1991, 138; BGH (s. Fn. 172), NStZ 1995, 233 (234). 161 BGH (s. Fn. 159), NStZ 1986, 361; Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, § 266 StGB Rz. 23. 162 OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.8.1989 – 1 Ws 60/89, NStZ 1990, 82 (83). 163 OLG Karlsruhe (s. Fn. 162), NStZ 1990, 82 (83). 164 OLG Karlsruhe (s. Fn. 162), NStZ 1990, 82 (83); zum Umfang der erforderlichen Feststellungen, wenn der Tatrichter einen Rechtsanwalt nach zögerlicher Behandlung einer Verkehrsunfallsache und nur teilweisen Weiterleitung eines Akonto-Betrags wegen Untreue verurteilt hat, s. OLG Hamm, Beschl. v. 20.1.2000 – 2 Ss 1293/99, StraFo 2000, 261.

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In einer neueren Entscheidung hatte das OLG Hamm165 Gelegenheit, sich wiederum zum erforderlichen Umfang der Feststellungen bei der Untreue, begangen durch einen Rechtsanwalt, dem vorgeworfen wird, Mandantengelder nicht bzw. nicht rechtzeitig weitergeleitet zu haben, zu äußern. Es hob zunächst hervor, dass der Rechtsanwalt zur alsbaldigen Weiterleitung der für seinen Mandanten bestimmten Gelder verpflichtet ist und ein Verstoß gegen diese Pflicht eine Untreue durch Unterlassen darstellen kann166. Es führte dann aus, eine Verurteilung wegen Untreue durch Unterlassen setze jedoch weiter voraus, dass der Täter die Möglichkeit der Erfolgsabwendung habe. Hierzu seien entsprechende Feststellungen notwendig. Wäre der Rechtsanwalt z.B. zahlungsunfähig gewesen oder habe die Zahlungsunfähigkeit bevorgestanden, so sei er verpflichtet gewesen, die erwarteten Gelder auf ein Anderkonto überweisen zu lassen. Jedoch setze in einem solchen Fall die Strafbarkeit wegen Untreue voraus, dass der Rechtsanwalt mit seiner Zahlungsunfähigkeit (zumindest) gerechnet habe. Die Verwirklichung des Treubruchstatbestands durch Unterlassen kann z.B. in der Nichtgeltendmachung einer Schadensersatzforderung liegen. Ein Missbrauch im Sinne der 1. Alt. des § 266 StGB scheidet aus, da dem Verjährenlassen einer Forderung, d.h. dem reinen Nichtstun, keine rechtsgeschäftliche Qualität zukommt. Die Verjährung führt zu keiner Rechtsänderung oder Rechtsaufhebung, sondern gibt dem Schuldner lediglich eine Einrede, während die Forderung unverändert bleibt167. In Betracht kann jedoch eine Verletzung des Treubruchstatbestands kommen. Als Pflichtverletzung gilt das Unterlassen der aus dem Treueverhältnis geschuldeten Geltendmachung einer Forderung innerhalb der Verjährungsfrist, da es zu den wichtigsten Pflichten eines Rechtsanwalts gehört, diese Frist zu prüfen168. Weitere Voraussetzung ist jedoch, dass durch diese Pflichtverletzung die Zufügung eines Nachteils bei dem zu betreuenden Vermögen erfolgt ist. Die Herbeiführung eines Vermögensschadens ist daher in den Fällen zu verneinen, in denen die Schadensersatzforderung von vornherein nicht durchsetzbar gewesen war. Der Begriff des Vermögensnachteils ist mit dem des § 263 StGB identisch und umfasst neben der realen Vermögenseinbuße auch die konkrete, wirtschaftlich schon zu einer Minderung des Vermögens führende Vermögensgefährdung169. Ein Vermögensschaden ist dann anzunehmen, wenn der Rechtsanwalt die Herausgabe des Geldes ohne rechtlichen Grund auf Dauer verweigert und dieses nicht durch einen damit unmittelbar in Zusammenhang stehenden gleichzeitigen und entsprechenden Vermögensvorteil ausgeglichen wird170.

___________ 165 OLG Hamm, Beschl. v. 3.6.2002 – 3 Ss 74/02, wistra 2002, 475. 166 Das OLG Hamm verweist hierzu auf Fischer, § 266 StGB Rz. 16; Schünemann in LK, § 266 Rz. 93. 167 Labsch, Jura 1987, 348; Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, § 266 StGB Rz. 16; offengelassen BGH, Urt. v. 3.11.1982 – 2 StR 159/82, NJW 1983, 461 = JR 1983, 515. 168 BGH (s. Fn. 167), NJW 1983, 461 m. Anm. Keller, JR 1983, 516. 169 Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, § 266 StGB Rz. 45 m.w.N. 170 OLG Düsseldorf (s. Fn. 157), AnwBl 1998, 47.

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Ein solcher Ausgleich kann gegeben sein, wenn der Rechtsanwalt in zulässiger Weise die Aufrechnung z.B. mit einer Honorarforderung erklärt171. An einer Nachteilszufügung kann es fehlen, wenn der die Treuepflicht verletzende Täter zum Ersatz des Geldes eigene Mittel ständig „bereithält“172. Bereithalten meint, dass der Täter sein Augenmerk darauf zu richten hat, diese Mittel ständig zum Ausgleich benutzen zu können173. Es muss ein ständiger Ersatzwillen vorhanden sein174. Kann einem solventen Schuldner das Fehlen eines solchen Ersatzwillens nachgewiesen werden, kommt eine Strafbarkeit wegen Untreue in Betracht175. Die Möglichkeit, bei Bedarf einen Kredit aufzunehmen, reicht nicht aus176. Anhaltspunkte dafür, dass der Täter nicht zahlungswillig und das Vermögen des Mandanten deshalb konkret gefährdet war, können u.a. sein ein bewusstes Abstreiten von Zahlungseingängen, ein konkludentes Leugnen, Gelder erhalten zu haben, Vertröstungen, langer Zeitablauf zwischen Geldeingang und Tataufdeckung, fehlende Mitteilung von Geldeingängen an den Mandanten177 und Auszahlung erst nach Einschaltung Dritter. In subjektiver Hinsicht genügt dolus eventualis178. Jedoch erfordert gerade der weite Rahmen der Untreue – erst recht bei der Verwirklichung durch Unterlassen – eine besonders sorgfältige Überprüfung der inneren Tatseite. Dazu gehört insbesondere auch das Bewusstsein im Hinblick auf die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens179. Nicht erforderlich ist, dass der Täter mit Bereicherungsabsicht gehandelt hat, da § 266 StGB nur eine Vermögensentziehung voraussetzt. Der Rechtsanwalt muss wissen, dass sein Tun das Vermögen des Mandanten schädigt; dieses muss er auch wollen. Auch wenn strenge Anforderungen an den Nachweis des subjektiven Tatbestands – insbesondere bei bedingtem Vorsatz und im Falle des Unterlassungsvorwurfs und bei nicht eigennützigem Verhalten – gestellt werden, sollte es ein „redlicher“ Rechtsanwalt von vornherein vermeiden, sich so zu verhalten, dass der Verdacht eines treuwidrigen Verhaltens aufkommen kann.

___________ 171 OLG Düsseldorf (s. Fn. 157), AnwBl 1998, 47. 172 S. z.B. BGH, Beschl. v. 30.10.2003 – 3 StR 267/03, wistra 2004, 61; BGH, Beschl. v. 13.12.1994 – 1 StR 622/94, NStZ 1995, 233 (234). 173 H.M.; BGH, Urt. v. 16.12.1960 – 4 StR 401/60, BGHSt 15, 342; BGH, Urt. v. 6.4.1982 – 5 StR 8/82, NStZ 1982, 331; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.8.1989 – 1 Ws 60/89, NStZ 1990, 84; RG (s. Fn. 176), RGSt 73, 283 (285); BGH (s. Fn. 172), NStZ 1995, 233 (234); kritisch Fischer, § 266 StGB Rz. 168 f. 174 OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.8.1989 – 1 Ws 60/89, NStZ 1990, 82 (84); BGH bei Holtz, MDR 1983, 281; BGH, Urt. v. 27.1.1988 – 3 StR 61/87, BGHR StGB, § 266 I, Nachteil 8. 175 BGH, Urt. v. 6.4.1982 – 5 StR 8/82, wistra 1982, 150 (151); BGH, Beschl. v. 25.7.1997 – 3 StR 179/97, NStZ-RR 1997, 357. 176 RG, Urt. v. 4.6.1939 – 2 D 650/38, RGSt 73, 283 (286); BGH (s. Fn. 175), wistra 1982, 150 (151). 177 Vgl. zum Umgang mit Fremdgeld § 4 BORA. 178 Fischer, § 266 StGB Rz. 171. 179 Ständige Rechtsprechung des BGH; s. hierzu bei Fischer, § 266 StGB Rz. 176.

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Nach § 266 Abs. 2 StGB, der auf § 263 Abs. 3 StGB verweist, besteht die Möglichkeit der Begehung eines besonders schweren Falls (Ausnahme: bei Geringwertigkeit im Sinne des § 266 Abs. 2 i.V.m. 243 Abs. 2 StGB). Im Rahmen des § 266 Abs. 2 StGB kommen vor allem die Regelbeispiele der § 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB (Vermögensverlust von großem Ausmaß oder im Hinblick auf eine Vielzahl von Personen) und § 263 Abs. 3 Nr. 3 StGB (wirtschaftliche Not des Mandanten als Folge der Untreue) in Betracht. Eine Strafmilderung ist nach § 13 Abs. 2 StGB möglich, wenn der Rechtsanwalt den Untreuetatbestand ausschließlich dadurch verwirklicht, dass er Gelder pflichtwidrig auf seinem Geschäftskonto belässt180. 8. Nötigung und Erpressung, §§ 240, 253 StGB Die Nötigung nach § 240 StGB schützt die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung181. Die Erpressung nach § 253 StGB ist die Nötigung einer Person, durch die dem Vermögen der genötigten oder einer anderen (natürlichen oder juristischen) Person in Bereicherungsabsicht ein Vermögensnachteil zugefügt wird182. Obwohl es sich bei diesen Delikten nicht um Straftaten handelt, die als „berufstypisch“ angesehen werden können, besteht auch hier die Gefahr, dass der Rechtsanwalt in Wahrnehmung der ihm übertragenen Aufgaben die Grenze zur Strafbarkeit überschreitet. Typische Gefahren sind in den Fällen gegeben, in denen eine Verquickung oder ein Bezug zwischen einem (möglicherweise) gegebenen strafrechtlichen Verhalten des Anspruchsgegners und den für den Auftraggeber zu verfolgenden Ansprüchen besteht oder hergestellt werden kann, und der Rechtsanwalt Anlass nimmt, die Geltendmachung bzw. Durchsetzung von Ansprüchen mit einem wie auch immer gearteten Hinweis auf das (mögliche) strafbare Verhalten des Anspruchsgegners zu verbinden. Der Rechtsanwalt setzt also die (mögliche) Straftat des Anspruchsgegners als „Druckmittel“ gegen diesen ein. Maßgebliches Kriterium zur Beurteilung der Frage, ob der Rechtsanwalt im Rahmen seiner Tätigkeit zur Durchsetzung der Ansprüche seines Auftraggebers seinerseits die Grenze strafrechtlichen Verhaltens überschreitet, wenn er auf die (mögliche) Verwirklichung eines Straftatbestands durch den Anspruchsgegner hinweist, ist die Verwerflichkeitsklausel der Absätze 2 der §§ 240, 253 StGB. Über die Rechtswidrigkeit des Vorgehens des Rechtsanwalts entscheidet also die sog. Mittel-Zweck-Relation; d.h. das Ergebnis ist herzuleiten aus der Verknüpfung von Nötigungsmittel und Nötigungszweck. In Beachtung dieser Abwägungskriterien ist es nicht rechtswidrig, wenn ein Rechtsanwalt die Forderung seines Auftraggebers gegenüber dem Anspruchsgegner unter Androhung der Erstattung einer Strafanzeige wegen eines De-

___________ 180 BGH, NStZ 1997, 357; OLG Köln, Beschl. v. 9.1.1998 – Ss 670/97-260, AnwBl 1999, 608. 181 BVerfG, Urt. v. 11.11.1996 – 1 BvR 713/83 u.a., BVerfGE 73, 237; Beschl. v. 10.1.1995 – 1 BvR 718/89 u.a., BVerfGE 92, 13; Fischer, § 240 StGB Rz. 2. 182 Fischer, § 253 StGB Rz. 2.

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likts geltend macht, das demselben äußeren Geschehen angehört wie das Delikt, durch das der Anspruch entstanden ist183. Eine willkürliche Verknüpfung eines Vorgangs, aus dem die Berechtigung zu einer Strafanzeige erwächst, mit einem Anspruch, der auf einem ganz anderen Lebensvorgang beruht, ist dagegen regelmäßig als verwerflich im Sinne der §§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2 StGB anzusehen184. Der Rechtsanwalt darf sich bei seinem Handeln grundsätzlich auf die Richtigkeit der Angaben seines Mandanten verlassen. Zurückhaltung ist erst geboten, wenn Zweifel an dessen Äußerungen angebracht sind. Der Rechtsanwalt hat bei seinem Bemühen, den Anspruch seines Mandanten mittels einer Drohung durchzusetzen, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten185. Der Rechtsanwalt darf aber nicht nur mit dem Mittel der Strafanzeige und mit den Mitteln des Zivilprozessrechts drohen, sondern auch damit, die Öffentlichkeit zu informieren186. Allerdings soll es verwerflich sein, jemanden bloßzustellen durch die öffentliche Mitteilung einer Straftat anstatt der Stellung einer entsprechenden Strafanzeige187. Dem Gericht zu drohen, besteht für den Rechtsanwalt (z.B. auch in seiner Eigenschaft als Verteidiger) im Allgemeinen kein Anlass und keine Berechtigung. Es müssen schon besondere Umstände vorliegen, die dieses Vorgehen weder als strafbar noch als berufswidrig erscheinen lassen. Solche besondere Umstände können dann gegeben sein, wenn das Gericht zulasten des Mandanten eine Maßnahme trifft, die prozessual in keiner Weise erlaubt ist188. Mit Drohungen gegenüber dem eigenen Mandanten zur Durchsetzung von für begründet angesehenen Ansprüchen (z.B. auf Zahlung der Vergütung) oder von für gerechtfertigt angesehenen Maßnahmen (Unterzeichnung eines Schriftstücks) sollte der Rechtsanwalt zurückhaltend sein189. Der versuchten Erpressung kann der Rechtsanwalt schuldig sein, der aufgrund einer ungeprüften Mandanteninformation einem Dritten eine angeblich begangene Straftat vorwirft und von diesem zur Abwendung einer Verurteilung die Zahlung eines Geldbetrags an eine gemeinnützige Einrichtung verlangt190.

___________ 183 BGH (s. Fn. 187), BGHSt 5, 254 = NJW 1954, 565; OLG Düsseldorf, Urt. v. 11.9.1995 – 5 Ss 220/95, StraFo 1996, 51; zu Beispielen für (noch) bestehende Konnexität der Lebenssachverhalte s. Donath/Mehle, NJW 2009, 2363. 184 BayObLG 1956, 282. 185 Zu Beispielen, bei denen die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein kann oder auch nicht, s. Donath/Mehle, NJW 2009, 2363. Zu der Zulässigkeit der Drohung, die Forderung des Mandanten mit zivilprozessualen Mitteln durchzusetzen, s. ebenfalls Donath/Mehle, NJW 2009, 2363 (2364). 186 Zu Beispielen für die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens s. Donath/Mehle, NJW 2009, 2509. 187 Vgl. BGH, Urt. v. 19.11.1953 – 3 StR 17/53, BGHSt 5, 254 = NJW 1954, 565. 188 Vgl. hierzu BGH, Urt. v. 15.12.1980 – AnwSt(R) 14/80, StV 1981, 133; RAK Frankfurt a.M., Stellungnahme v. 18.2.1981 – PStr 1859/80, StV 1981, 210. 189 Zu Beispielsfällen für zulässige bzw. unzulässige Drohungen gegenüber dem Mandanten s. Donath/Mehle, NJW 2009, 2509. 190 OLG Karlsruhe, Justiz 1981, 212.

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9. Falsche Versicherung an Eides statt, § 156 StGB Ein strafrechtliches Risiko läuft der Rechtsanwalt auch bei der Mitwirkung an der Abfassung oder Abreichung einer falschen eidesstattlichen Versicherung. Zwar ist die falsche Versicherung an Eides statt nach § 156 ein eigenhändiges Delikt191. Sie kann deshalb weder in Mittäterschaft noch in mittelbarer Täterschaft begangen werden192. Teilnahme an dieser Straftat durch Dritte (Anstiftung oder Beihilfe) ist aber nach allgemeinen Grundsätzen möglich193. Die Mitwirkung des Rechtsanwalts anlässlich der Abfassung von eidesstattlichen Versicherungen ist vielfältig, z.B. in einstweiligen Verfügungs- und Arrestverfahren (§§ 920, 936 ZPO), in Wiedereinsetzungsverfahren (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO, § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO), in Zwangsvollstreckungsverfahren (§§ 807, 883 Abs. 2 ZPO, § 153 InsO). Strafbar ist die Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung und damit die Teilnahme an ihr allerdings nur dann, wenn die konkrete Versicherung über den Gegenstand, auf den sie sich bezieht, und in dem Verfahren, zu dem sie eingereicht wird, abgenommen werden darf, und wenn sie nicht rechtlich völlig wirkungslos ist194. Dieses ist dem Tatbestandsmerkmal „vor einer zur Abnahme einer Versicherung an Eides statt zuständigen Behörde“ zu entnehmen. Eine eidesstattliche Versicherung ist falsch, wenn in ihr wesentliche Umstände verschwiegen werden. Was wesentlich ist, bestimmt sich nach dem Verfahrensgegenstand und den Regeln des Verfahrens, in dem die eidesstattliche Versicherung abgegeben wird195. Das Strafbarkeitsrisiko des Rechtsanwalts aktualisiert sich insbesondere dann, wenn dieser – oft zu schnell und zu leichtsinnig auf den Erfolg für den Mandanten ausgerichtet – die eidesstattliche Versicherung für den Auftraggeber schriftlich niederlegt und diese einen unrichtigen (eventuell durch Nichtoffenbarung wesentlicher Umstände) Sachverhalt darstellt. Zwar darf sich der Rechtsanwalt grundsätzlich auf die ihm gemachten Angaben verlassen. Jedoch wird ihm wegen der auch für ihn hier geltenden prozessualen Wahrheitspflicht und wegen seiner beruflichen Stellung abverlangt, die Richtigkeit des namens seines Auftraggebers eidesstattlich versicherten Sachverhalts mit der gebotenen Sorgfalt zu prüfen196. Diese Verpflichtung kann den Rechtsanwalt aber nur dann treffen, wenn er ernstliche Zweifel an der Richtigkeit und/oder Vollständigkeit des ihm unterbreiteten Sachverhalts hat bzw. haben muss, und ihm das Nachprüfen möglich und zumutbar ist. Die Schwelle der Strafbarkeit ist für den Rechtsanwalt zweifellos da überschritten, wo er die

___________ 191 192 193 194

Statt vieler Lackner/Kühl, § 156 StGB Rz. 7 unter Hinweis auf Vor § 153 Rz. 7. Lackner/Kühl, § 156 StGB Rz. 7 unter Hinweis auf Vor § 153 Rz. 7. Lackner/Kühl, § 156 StGB Rz. 7 unter Hinweis auf Vor § 153 Rz. 7. H.M.; s. z.B. Lackner/Kühl, § 156 StGB Rz. 2 m.w.N.; kritisch Häcker in MüllerGugenberger/Bieneck, § 95 Rz. 54. 195 Lackner/Kühl, § 156 StGB Rz. 3 m.w.N., so z.B. auf BGH, Urt. v. 24.10.1989 – 1 StR 504/89, NJW 1990, 918 (920) m. Anm. Keller, JR 1990, 480. 196 Häcker in Müller-Gugenberger/Bieneck, § 95 Rz. 55.

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von ihm mitgestaltete falsche Versicherung an Eides statt verfahrensgemäß verwendet, wissend oder jedenfalls in Kauf nehmend197, dass sie falsch ist. Beihilfe durch Unterlassen begeht derjenige, der vorsätzlich die Abgabe einer falschen Versicherung an Eides statt geschehen lässt, obwohl er verpflichtet und im Stande ist, die Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung zu verhindern, indem er die Wahrheit offenbart oder die Offenbarung der Wahrheit veranlasst. Eine allgemeine Pflicht obliegt dem Rechtsanwalt nicht, die Abgabe einer falschen Versicherung an Eides statt durch seinen Auftraggeber zu unterbinden. Im Einzelfall kann eine solche Verpflichtung aus einer Garantenstellung erwachsen. Keine Garantenstellung begründet allerdings die Wahrheitspflicht nach § 138 ZPO als solche198.

10. Wirtschaftsdelikte199 Nicht nur dann, aber gerade dann, wenn der Mandant des Rechtsanwalts in eine schwierige Lage gerät oder sich schon in einer schwierigen Lage befindet, und der Mandant deshalb der besonderen Betreuung bedarf, gerät der anwaltliche Berater in die Versuchung, jedenfalls bedenkliche oder gar illegale „Auswege“ zu suchen, dies letztlich in der Absicht, dem Mandanten zu helfen. Dabei lässt sich der Berater nicht selten von der – irrigen – Auffassung leiten, ein angeratenes Vorgehen sei deshalb zulässig oder noch vertretbar und damit strafrechtlich nicht relevant, weil eine rechtliche Gestaltungsmöglichkeit gegeben sei. Er veranlasst beispielsweise einen zahlungsunfähigen Mandanten, einen Vermögensgegenstand auf einen Dritten, in der Regel auf einen Angehörigen, zu übertragen, um ihn vor dem Zugriff der Gläubiger „zu schützen“. Beschränkt sich die Tätigkeit des Rechtsanwalts allerdings auf die bloße Information oder auf die Erteilung einer Auskunft oder eines Rats im Rahmen des für seinen Beruf typischen Handelns, so wird die Schwelle zur strafrechtlichen Relevanz in der Regel nicht überschritten. Bei spezifischen anwaltlichen Tätigkeiten ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Berater eine Straftat des Mandanten nicht herbeiführen oder unterstützen, sondern lediglich pflichtgemäß seinen Beruf ausüben will200. Wie der oben als Beispiel angeführte Fall zeigt, besteht bei der Beratung von in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befindlichen Mandanten für den Rechtsanwalt die Gefahr, sich an Insolvenzdelikten des Mandanten zu beteiligen. Voraussetzung ist allerdings, dass sich der Mandant im Zustand der

___________ 197 Bedingter Vorsatz genügt nämlich; zu Einzelheiten s. insoweit Lackner/Kühl, § 156 StGB Rz. 6. 198 BGH, Urt. v. 20.8.1953 – 1 StR 88/53, BGHSt 4, 327; zu weiteren Einzelheiten s. auch Lackner/Kühl, Vor § 153 Rz. 7. 199 S. hierzu z.B. Häcker in Müller-Gugenberger/Bieneck, § 95 „Teilnahme von Beratern an Wirtschaftsstraftaten ihrer Mandanten.“ Böttger in Volk, MAH Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, § 18 Rz. 385 ff. „Strafrechtliches Risiko des Beraters“; Wessing, „Insolvenz und Strafrecht“, NZI 2003, 1. 200 BGH (s. Fn. 202), wistra 1999, 459 = StraFo 1999, 418 = NStZ 2000, 34; Volk, BB 1987, 139; Krekeler, NStZ 1989, 146 (147).

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Krise im Sinne des § 283 Abs. 1 StGB (Überschuldung, drohende oder eingetretene Zahlungsunfähigkeit) befindet. Es kommt dann insbesondere die Beteiligung an einer Straftat des Mandanten nach § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB (Beiseiteschaffen von Vermögensbestandteilen) in Betracht. Mit einem derartigen Vorgehen innerhalb einer Gesellschaft (z.B. einer GmbH oder GmbH & Co. KG) kann der Mandant auch den Tatbestand der Untreue nach § 266 StGB zum Nachteil der Gesellschaft oder der Gesellschafter verwirklichen, sodass für den Berater eine Teilnahme an diesen Delikten gegeben sein kann. Verschiebungen und Verheimlichungen von Vermögensgegenständen bei anderer Gelegenheit oder auf andere Weise, unter Beteiligung des Beraters, können sich ebenfalls als strafrechtlich relevant, z.B. nach den §§ 246 StGB (Unterschlagung) und § 288 StGB (Vereiteln der Zwangsvollstreckung), darstellen. Gelegentlich sieht sich der anwaltliche Berater in der Situation, dass er gegen einen Mandanten, der sich in einer schlechten wirtschaftlichen Lage befindet, Vergütungsansprüche aus zurückliegenden Tätigkeiten hat oder aus künftigen Leistungen erwerben wird, und er deren Absicherung für wünschenswert oder gar für erforderlich erachtet. Als Mittel hierzu bieten sich Sicherungsübereignungen, Forderungsabtretungen und die Bestellung von Grundpfandrechten an. Veranlasst der Rechtsanwalt in einer solchen Situation seinen schon in der Krise befindlichen Mandanten, eine Absicherung der Altforderungen vorzunehmen, oder gestaltet er die hierzu notwendigen Vereinbarungen, so ist er Anstifter oder Gehilfe zur Gläubigerbegünstigung nach § 283c StGB, falls auch die weiteren Voraussetzungen dieser Vorschrift (darunter auch die objektive Bedingung der Strafbarkeit nach Abs. 6) gegeben sind. Lässt der Berater sich allerdings (nur) die Vergütung für seine künftigen Leistungen (auch den Vorschuss) in angemessenem Umfang absichern, so liegt ein Fall kongruenter Deckung und damit keine strafbare Handlung vor201. Strafrechtliche Risiken entstehen für den Rechtsanwalt insbesondere dann, wenn er von einem in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindlichen Mandanten damit beauftragt wird, sich um die Sanierung seines Unternehmens zu bemühen. Da nach dem Eintritt der Krise im Sinne des § 283 Abs. 1 StGB die Gesamtheit der Gläubiger gefährdende oder schädigende Maßnahmen unzulässig sind, besteht für den Berater die Gefahr, sich wegen Beteiligung an einer solchen – strafbaren – Vorgehensweise des Mandanten (z.B. Gläubigerbegünstigung) strafbar zu machen. Eine weitere strafrechtlich bedeutsame Situation besteht für den anwaltlichen Berater dann, wenn er nach seiner Ansicht in Wahrnehmung wohlverstandener Interessen seines Mandanten veranlasst oder dazu beiträgt, dass der Mandant seiner Pflicht zur Insolvenzantragsstellung nicht, nicht richtig oder jedenfalls nicht rechtzeitig nachkommt. Es wird dem Rechtsanwalt nämlich die Verpflichtung angelastet, und zwar unter dem

___________ 201 Vgl. hierzu z.B. BGH, Urt. v. 29.9.1988 – 1 StR 332/88, wistra 1989, 102 (103) = NJW 1989, 1167 f.; s. auch BGH, Urt. v. 6.11.1986 – 1 StR 327/86, NJW 1987, 1710 m. Anm. Winkelbauer, JR 1988, 33; BGH, Urt. v. 19.1.1993 – 1 StR 518/92, NStZ 1993, 239.

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Gesichtspunkt der vertraglichen Nebenpflichten, den Mandanten über seine Insolvenzantragspflicht zu informieren und diesen zu deren Erfüllung anzuhalten202. Unterbleibt die notwendige Insolvenzantragstellung durch den Mandanten, kann der anwaltliche Berater wegen (psychischer) Beihilfe zu einem Vergehen des Mandanten nach § 15a Abs. 4 InsO (früher: §§ 84 Abs. 1 Nr. 2, 64 Abs. 1 GmbHG, 130b, 177a HGB, 401 AktG, 148 GenG) zur Verantwortung gezogen werden203. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass die Strafbarkeit des Mandanten (Organs einer juristischen Person) und des unterstützenden Beraters auch dann gegeben ist, wenn die Sanierung nach Überschreiten der – dreiwöchigen – Insolvenzantragsfrist gelingt. Nicht selten wird der in der Krise befindliche Mandant den Rechtsanwalt fragen, ob und ggf. wie es möglich ist, ihn, der bisher als Einzelunternehmer tätig sei, vor der (weiteren) persönlichen Haftung zu bewahren. Wenn der Rechtsanwalt in dieser Situation z.B. dazu rät, eine GmbH zu gründen und die Vermögensgegenstände des Einzelunternehmens in Form der Sacheinlage in die GmbH einzubringen, läuft er Gefahr, sich wegen einer Teilnahme an einem Delikt des Beiseitebringens von Vermögensgegenständen nach § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB schuldig zu machen. Bezahlt der Mandant dann in der Folgezeit mit Wissen und Wollen des Beraters Altschulden des Einzelunternehmens aus Mitteln der GmbH, um z.B. Lieferanten, auf die auch die GmbH angewiesen ist, zufrieden zu stellen, so kann die Entnahme dieser Gelder aus der GmbH auch dann treuwidrig im Sinne des § 266 StGB sein, wenn diese Gelder in der Gesellschaft ordnungsgemäß als Darlehen an den geschäftsführenden Gesellschafter gebucht sind, die GmbH durch die Entnahmen aber in Liquiditätsschwierigkeiten gerät, und der Anspruch der GmbH auf Rückzahlung des Darlehens angesichts der wirtschaftlichen Lage des Darlehensnehmers praktisch wertlos, zumindest aber in seiner Werthaltigkeit zweifelhaft ist. Betreut der Rechtsanwalt den Mandanten in steuerlicher Hinsicht und wirkt er z.B. bei der Abgabe einer unrichtigen Steuererklärung oder bei der Nichtabgabe einer Erklärung mit, so kann er sich – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen des § 370 AO und der §§ 25, 27 StGB – als Mittäter oder Teilnehmer – letzteres insbesondere in Form der psychischen Beihilfe – einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung strafbar machen204.

___________ 202 BGH, Beschl. v. 20.9.1999 – 5 StR 729/98, wistra 1999, 459 (463) = NStZ 2000, 34 (36) unter Hinweis auf Häcker in Müller-Gugenberger/Bieneck, § 95 Rz. 13 ff.; zur Strafbarkeit von Rechtsanwälten und anderen Beratern wegen unterlassener Konkursanmeldung s. Baumgarten, wistra 1992, 41 ff.; Wessing, NZI 2003, 2 f. m.N. 203 U.a. ein Fall der psychischen Beihilfe des Beraters zu einer Straftat gemäß § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG lag auch der Entscheidung des BGH (s. Fn. 202), wistra 1999, 459 (463) = NStZ 2000, 34 (36) zugrunde. 204 Zu den straf- und bußgeldrechtlichen Risiken des steuerlichen Beraters im Einzelnen s. Krekeler, StraFo 1997, 132 ff.; auch Häcker in Müller-Gugenberger/Bieneck, § 95 Rz. 19–33; ferner BGH, Beschl. v. 18.6.1991 – 5 StR 32/91, wistra 1991, 343.

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Ein besonderes Problem für den Rechtsanwalt als steuerlichen Berater ist darin zu sehen, dass der BGH205 die Anforderungen sowohl an den Steuerpflichtigen als insbesondere auch an den steuerlichen Berater hinsichtlich der Pflicht zur Offenbarung solcher Sachverhalte, deren (steuer-)rechtliche Relevanz objektiv zweifelhaft ist, verschärft hat. Dieses wird vornehmlich dann akut, wenn die von dem Steuerpflichtigen und damit von seinen steuerlichen Berater vertretene Auffassung über die Auslegung von Rechtsbegriffen oder die Subsumtion bestimmter Tatsachen von der Rechtsprechung, den Richtlinien der Finanzverwaltung oder der regelmäßigen Veranlagungspraxis abweicht. Der steuerliche Berater läuft Gefahr, dass gegen ihn strafrechtliche Vorwürfe, z.B. der Beihilfe zur Steuerhinterziehung, erhoben werden, wenn er die höchstrichterliche Rechtsprechung und die finanzbehördlichen Richtlinien den von ihm erstellten Erklärungen nicht zugrunde legt und diese Abweichung nicht von sich aus ausdrücklich offenbart206. Schon zuvor hatte der BGH den bedingten Vorsatz des Rechtsanwalts zur Teilnahme an einer von dem Mandanten begangenen Steuerhinterziehung für den Fall bejaht, dass dem Rechtsanwalt die „objektive Zweifelhaftigkeit der Rechtsfrage“, d.h. die Tatsache, dass die in Rede stehende Rechtsfrage nicht in seinem Sinne geklärt war, bewusst war, und er seinem Mandanten gleichwohl nicht den Rat gegeben hatte, dem Finanzamt den Sachverhalt offenzulegen207. Wird der Rechtsanwalt unter Herausstellung seiner beruflichen Stellung als Funktionsträger (Treuhänder, Mitglied des Beirats oder des Aufsichtsrats) bei Unternehmen tätig, deren Geschäftstätigkeit in dem Einwerben von Anlagen und Beteiligungen, in dem Beschaffen von Darlehen und Krediten oder in Grundstücksgeschäften besteht und deren betrügerischer Charakter (später) festgestellt wird, so läuft er Gefahr, wegen der Teilnahme an den Delikten des Betrugs nach § 263 StGB, des Kapitalanlagebetrugs nach § 264a StGB oder der strafbaren Werbung nach § 16 UWG verfolgt zu werden, wenn er die irreführenden, die Risiken der Geschäfte verharmlosenden oder gar verneinenden Werbeaussagen kennt und dennoch die (weitere) Verwendung seines Namens zulässt. Für die Strafbarkeit wegen Beihilfe reicht es dabei aus, wenn er eine Gefährdung der Vermögenswerte der Vertragspartner des Unternehmens gesehen und diese in Kauf genommen hat208. Hat sich der Rechtsanwalt gegenüber Geldanlegern treuhänderisch verpflichtet, die Verwendung der Gelder zu überwachen und diese nur bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen freizugeben, so wird dadurch in der Regel eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 StGB zugunsten der Anleger

___________ 205 BGH, Urt. v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99, wistra 2000, 137. 206 Vgl. zu dieser Problematik Dörn, wistra 2000, 334; Singer, StuB 2000, 830; Bilsdorfer, PStR 2000, 150, und insbesondere Weyand, INF 2000, 726 (728). 207 BGH, Beschl. v. 8.8.1985 – 2 ARs 223/85, wistra 1986, 27 = NStZ 1986, 37 m. Anm. Hammerstein, der darauf hinweist, dass das einschlägige Schrifttum u.a. verlange, dass der Berater jede Abweichung von der herrschenden Ansicht zu deklarieren habe. 208 In diesem Zusammenhang ist zudem zu sehen, dass Treuhänder auch bei nur fahrlässiger Duldung von oder bei Mitwirkung an Werbemaßnahmen, die über Anlagerisiken hinwegtäuschen, schadenersatzpflichtig sind; vgl. hierzu Häcker in MüllerGugenberger/Bieneck, § 96 Rz. 66 und die Nachweise in der dortigen Fn. 130.

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begründet209. Verstößt er gegen die von ihm übernommenen Pflichten, indem er z.B. die eingegangenen Gelder freigibt, ohne dass die Freigabevoraussetzungen gegeben sind, und tritt dadurch ein Vermögensschaden oder auch nur eine vermögensschadensgleiche Vermögensgefährdung ein, so kann er dadurch den Tatbestand der Untreue nach § 266 StGB erfüllen. Allerdings setzt das voraus, dass er bei bewusster Verletzung seiner Pflichten einen Verlust der Gelder zumindest billigend in Kauf nimmt. Strafrechtliche Risiken für den anwaltlichen Berater bestehen auch im Rahmen von Mandaten, die bei der Gründung oder bei der Sanierung von Gesellschaften übernommen werden. Bei der Gründung von Unternehmen in der Form juristischer Personen (z.B. GmbH oder AG) und bei der Erhöhung des Kapitals solcher Gesellschaften kommt es nicht selten zu Falschangaben gegenüber den Registergerichten (§ 82 Abs. 1 GmbHG bzw. § 399 Abs. 1 Nr. 1 bis 4, Abs. 2 AktG), dies insbesondere zur Verschleierung von Sacheinlagen, die häufig „zur Vereinfachung der Kapitaleinbringung“ als Bareinlagen gekennzeichnet werden. Täter der genannten Tatbestände können angesichts deren Charakters als Sonderdelikte nur die Gesellschafter und Geschäftsführer bei der GmbH und die Gründer, Vorstandsmitglieder und Aufsichtsratsmitglieder bei der AG sein. Der Rechtsanwalt als Berater (und insbesondere auch der Notar) kann sich aber der Anstiftung oder der Beihilfe zu diesen Delikten schuldig machen, wenn er um die falschen Angaben gegenüber dem Registergericht weiß und die Falschangaben entweder veranlasst oder die Erklärenden bei der Abgabe ihrer falschen Angaben unterstützt hat210.

III. Schlussbemerkung Den Rahmen dieses Beitrags hätte es gesprengt, wenn auch nur der Versuch unternommen worden wäre, alle wesentlichen strafrechtlichen Risiken des anwaltlichen Berufs aufzuzeigen oder auch nur anzusprechen, zu vielfältig ist das Arbeitsgebiet des Rechtsanwalts und zu risikoträchtig sind seine breit gefächerten Tätigkeiten. So konnte hier nur eine Auswahl von Sachverhalten auf ihre „Gefahrengeneigtheit“ untersucht und auf die in ihnen vorhandenen Risiken hingewiesen werden.

___________ 209 Vgl. z.B. Lackner/Kühl, § 266 Rz. 13; s. auch Häcker in Müller-Gugenberger/Bieneck, § 96 Rz. 75. 210 S. zu Einzelheiten Häcker in Müller-Gugenberger/Bieneck, § 96 Rz. 76 ff., der auch (Rz. 85) darauf hinweist, dass auch bei fehlendem Vorsatz eine Verfolgung wegen fahrlässiger Berufspflichtverletzung befürchtet werden muss; s. zur (möglichen) Teilnahme durch Angehörige rechtsberatender Berufe auch Tiedemann, GmbHStrafrecht, 5. Aufl. 2010, § 82 Rz. 25.

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Dierk Mattik

Festakt „60 Jahre Bundesrechtsanwaltskammer“ Ein Bericht Alle Ehrengäste hatten in den ersten zwölf Reihen des Parketts in der Staatsoper unter den Linden ihren namentlich ausgeschilderten Platz gefunden. Erst durch das Eingreifen eines Vizepräsidenten konnte der Abgeordnete Dr. S. bewogen werden, den für ihn vorgesehenen Platz in der 2. Reihe zu akzeptieren, nachdem ihm versichert worden war, dass selbstredend seine Funktion im Rechtsausschuss bei der Platzierung berücksichtigt worden sei. Die Unruhe und das Gemurmel legte sich, als in der ersten Reihe der Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), Prof. Dr. K. und seine Frau neben dem Festredner auf der einen Seite und dem Bundesjustizminister auf der anderen Seite Platz genommen hatten. Die übrigen Gäste verstanden dies als Signal, sich ebenfalls zu setzen. Illustre Gäste in den ersten beiden Reihen: Der Bundestagspräsident, Kollege Rechtsanwalt Dr. F., 18 Bundestagsabgeordnete, alle 7 Parteien des Bundestages waren vertreten, darunter der Vorsitzende des Rechtsausschusses, die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, alle Präsidenten der oberen Bundesgerichte, 5 Abgeordnete des Abgeordnetenhauses Berlin, der Justizsenator als Vertreter der Regierenden Bürgermeisterin, die in letzter Minute wegen einer dringenden Reise nach Brüssel mit großem Bedauern hatte absagen müssen. 4 Plätze in der ersten Reihe – für die Abgeordneten Dr. D., Prof. Dr. Z., P. und H reserviert – waren noch nicht besetzt. Eine Rückfrage im Tagungsbüro ergab, dass keine Absagen vorlagen. Es war mal wieder eine knifflige Sache gewesen, alle Ehrengäste, insbesondere die very VIPs, protokollarisch und nach ihrem Selbstverständnis richtig zu setzen, obwohl diesmal in den ersten beiden Reihen zwei Plätze mehr zur Verfügung standen. Das Parkett war im Übrigen gut gefüllt, ebenso der erste Rang, waren doch nicht nur die bei solchen Veranstaltungen der BRAK üblichen Gäste eingeladen worden, sondern auch alle Vorsitzenden der örtlichen Anwaltvereine des Deutschen Anwaltvereines (DAV), die nach der gestrigen Mitgliederversammlung des DAV zahlreich der Einladung gefolgt waren. Der BRAK-Präsident lehnte sich gutgelaunt und entspannt zurück. Es hatte sich alles so wie geplant entwickelt. Beifall brandete auf, der Dirigent des Europäischen Jugendorchesters ging zum Pult, verbeugte sich knapp, mehr vor der ersten Reihe als vor dem Publikum, und hob den Taktstock. Die letzten Gespräche verstummten. Bei den ersten Tönen der Nationalhymne erhoben sich im Parkett die ersten Reihen und dann zögerlich das ganze Parkett – in den Rängen blieb man, bis auf einige in den ersten Reihen sitzen. Mehr oder weniger textsicher versuchten die Ehrengäste mitzusingen, nachdem der BRAK-Präsident mit hörbarem Bariton die 749

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Hymne intonierte. Die Ausnahme bildete der Präsident des Bundesfinanzhofes, der beim anschließenden Empfang seinem Sitznachbarn, dem Präsidenten des Bundessozialgerichtes, erläuterte, nicht fehlende Vaterlandsliebe sei der Grund seines Schweigens, sondern er sei schon in der Schule ein Brummer gewesen. Nachdem die Hymne verklungen war und man wieder Platz genommen hatte, erklang Ludwig van Beethoven, Ouvertüre op. 124 „Weihe des Hauses“. Der BRAK-Präsident hatte dies so angeregt. Zwar war im eigentlichen Sinn kein Haus zu weihen – das im Bau befindliche „Haus des deutschen Anwalts“, in prominenter Lage Unter den Linden, das die seit Langem trotz mehrfachen Zuerwerbs von Nachbarflächen viel zu engen Räumlichkeiten in der Littenstraße ersetzen sollte, würde erst in einem Jahr eingeweiht werden können – wobei man noch darüber stritt, ob der Name des Hauses korrekt war – warum „deutsch“? warum nicht „Anwältin“? Im übertragenen Sinn aber war gestern doch ein Gebäude vollendet worden: das geistige Verbandsgebäude der Deutschen Anwaltschaft. Die gestrigen Beschlüsse der Mitgliederversammlung des Deutschen Anwaltvereins hatten vollendet, was seit Langem von Vielen mehr gefordert als angestrebt war: die Schaffung einer einheitlichen, starken, durchsetzungsfähigen Vertretung der Anwaltschaft. Nach dem freundlichen Beifall für das Orchester und den mit großer Geste agierenden Dirigenten erklomm der BRAK-Präsident den Aufgang zur Bühne, um dann mit federnden Schritten zum Rednerpult zu gehen. Er begrüßte zugewandt und routiniert in der gebührenden Reihefolge einzeln die Ehrengäste, bedachte den Bundesjustizminister mit einer Bemerkung, aus der Vertraulichkeit sprach, und entdeckte gerade noch rechtzeitig den nicht in seinem Manuskript vermerkten EU-Kommissar für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, den Spanier Gonzales A., um ihn herzlich willkommen zu heißen. Bevor der Präsident zum Anlass der Versammlung und zum obligatorischen programmatischen Teil seiner Rede kam, verkündete er mit ihm anzumerkendem Stolz, dass er heute die verehrten Gäste nicht nur als Präsident der BRAK, sondern gleichzeitig auch als Präsident des DAV begrüßen könne. Die deutsche Anwaltschaft werde also zukünftig mit einer Stimme sprechen. Beifall brandete auf, der Präsident hob vorsichtig abwehrend die Arme und setzte dann seine Rede fort, wobei er sich plötzlich an den 67. Anwaltstag in München erinnerte. Er war damals als stellvertretender Vorsitzender des Anwaltvereins Frankfurt nach München angereist und hatte zum ersten Mal an einer Mitgliederversammlung des DAV an der Seite seines Vorsitzenden teilgenommen. Der Anwaltstag in München war der erste Anwaltstag, den der DAV und die BRAK gemeinsam veranstaltet hatten, genauer: bei dem DAV und BRAK gemeinsam als Veranstalter nach außen auftraten. Hoch ging es in der DAV-Mitgliederversammlung in München her, als in der allgemeinen Aussprache nach dem Bericht des Hauptgeschäftsführers und des Schatzmeisters der Vorsitzende des Anwaltvereins Flensburg fragte, ob es 750

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richtig sei, dass der Grund für die Beteiligung der BRAK als Veranstalter des diesjährigen Anwaltstages ein Zuschuss der BRAK von 230 000 Euro für das Anwaltstag-Budget sei? Der damalige DAV-Präsident ebenso wie der in der Mitgliedersammlung anwesende damalige BRAK-Präsident bestritten dies wortreich, ohne letztlich überzeugen zu können. Sorgfältige Leser des DAV-Schatzmeisterbriefes nebst Anlagen hatten ohne Mühe erschließen können, dass der DAV seinerzeit ein Finanzproblem hatte. Die Finanzlage des DAV war schon seit Jahren nicht einfach gewesen. Jährliche Zuwächse in der Mitgliedschaft waren die Ausnahmen, die Mitgliederzahlen waren bei gleichbleibend moderat steigenden Zulassungszahlen rückläufig. Die Vereinsbeiträge waren seit Jahren nicht erhöht worden. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation der Anwaltschaft im Allgemeinen und der kleineren Kanzleien im Besonderen glaubten die örtlichen Anwaltvereine, keine höheren Mitgliedsbeiträge bei ihrer Mitgliedschaft durchsetzen zu können. Der Rechtsberatungsmarkt war nach wie vor ein Angebotsmarkt. Wenn die Zulassungszahlen jetzt auch auf hohem Niveau stagnierten, zzt. waren um die 171 000 Anwältinnen und Anwälte in der Bundesrepublik zugelassen – entsprach die Nachfrage nach Rechtsberatung und Rechtsvertretung doch keineswegs dem Angebot an anwaltlicher Dienstleistung. Durch hohe Ausgaben für die Anwalts-Gemeinschaftswerbung, die nach wie vor umstritten war – für die einen war sie nutzlos, nur ein Profilierungsvorhaben der Geschäftsführung, für die anderen die unverzichtbare Marketingmaßnahme der Anwaltschaft, die nur als Gemeinschaftsaufgabe zu bewältigen war –, waren das DAV-Budget und die DAV-Vermögensreserven ausgereizt, als es plötzlich notwendig wurde, 3 Wochen lang eine ganzseitige Anzeigenkampagne in allen drei großen Tageszeitungen zu schalten, um ein Gesetzesvorhaben der Regierungsmehrheit im Rahmen der Terroristenbekämpfung abzuwehren, durch das die Garantie der anwaltlichen Verschwiegenheit praktisch beseitigt worden wäre. Diese Anzeigenkampagne war zwar erfolgreich, aber als Folge fehlten dem DAV die Mittel für die Durchführung des kommenden Anwaltstages. Der im DAV-Vorstand gemachte Vorschlag, bei der BRAK das aktuelle Finanzierungsproblem des DAV anzusprechen, kam damals vom Vizepräsidenten des DAV, RA Dr. C., der seit 4 Jahren Kammerpräsident der RAK Köln war. C., der großen Einfluss in der BRAK-Hauptversammlung hatte und bei seiner Berufung ins DAV-Präsidium im Hinblick auf seine Kammerfunktion gezögert hatte, sich dann aber schnell vom damaligen DAV-Präsidenten von der Problemlosigkeit überzeugen ließ, bereitete die Gespräche mit der BRAK so vor, dass eine Einigung schnell erreicht war. Die BRAK war bereit, den Fehlbetrag von 230 000 Euro zur Verfügung zu stellen, unter der Voraussetzung, dass DAV und BRAK den 67. Anwaltstag in München und zukünftig alle Anwaltstage gemeinsam veranstalten würden. 751

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Die BRAK gestand dem DAV dabei zu, dass hinsichtlich des Namens, der Struktur und des Ablaufs des DAT alles beim Alten bleiben könne. Neben das DAV-Logo solle nur das BRAK-Logo gesetzt werden. Die Programme der zukünftigen Anwaltstage sollten gemeinsam beraten und kollegial entschieden werden. Die Eröffnungsreden der nächsten beiden Anwaltstage könnte selbstverständlich der DAV-Präsident halten, man begnüge sich mit einem kurzen Grußwort. Ab dem 69. Anwaltstag sollte dann die Eröffnungsrede alternierend vom DAV- und BRAK-Präsident gehalten werden. Im DAV-Präsidium war die Frage einer finanziellen Unterstützung des Anwaltstages durch die BRAK sehr kontrovers diskutiert worden. Insbesondere der Schatzmeister hatte sich dagegen ausgesprochen und ein von der Geschäftsführung vorgelegtes Alternativkonzept favorisiert. In der entscheidenden Vorstandsitzung – das Alternativkonzept der Geschäftsführung lag dem Vorstand als Papier vor –, in der Dr. C. für seinen Vorschlag wortreich geworben hatte, kam der Schatzmeister dann jedoch ohne erkennbaren Grund nicht auf das Alternativkonzept zurück. Auch im DAV-Vorstand gab es Einwände gegenüber dem Angebot der BRAK. Man befürchtete, der DAV verliere in einem nicht mehr zu akzeptierenden Maße seine Unabhängigkeit und Sichtbarkeit. Der Anwaltstag sei eines der wenigen Alleinstellungsmerkmale des DAV gegenüber der BRAK und den Kammern. Man könne den Umgang der Kammern mit Kammerbeiträgen nicht kritisieren, dann aber aus diesen Beiträgen großzügige Hilfe entgegennehmen, liege es doch auf der Hand, dass die Durchführung von Anwaltstagen nicht zu den gesetzlichen Aufgaben der Kammern gehöre. Diese Einwände wurden vielfach hin- und hergedreht, dann aber im Ergebnis nicht für so überzeugend gehalten, um die angebotene Hilfe der BRAK abzulehnen. Der Anwaltstag in München war ein großer Erfolg. Bei der Mitgliedschaft wurde die gemeinsame Durchführung überwiegend begrüßt. Man verband damit die Hoffnung, dass die Kooperation zwischen DAV und BRAK auch auf anderen Gebieten ausgedehnt würde, sodass die Anwaltschaft zukünftig mit einer Stimme gegenüber Gesellschaft, Medien und Politik spreche und auftrete. Die Rede des Präsidenten wurde mit viel Beifall bedacht und der Bundesjustizminister mit freundlichem Beifall begrüßt. Er gratulierte dem Präsidenten zunächst zu seiner Wahl auch zum DAV-Präsidenten und der Anwaltschaft zu dieser Bündelung der Kräfte, um dann auf den Anlass der Zusammenkunft heute in der Staatsoper einzugehen. Nach den Grußworten der Präsidentin des Europäischen Anwaltsverbandes und des Berliner Justizsenators war nach der ursprünglichen Planung der Festveranstaltung eigentlich die Uraufführung eines von der BRAK bei dem Komponisten Ottokar U. in Auftrag gegebenen Intermezzos für Klavier und Orchester vorgesehen. Damit sollte eine seit der 50-Jahr-Feier der BRAK begründete Tradition fortgesetzt werden – ein zweites Feld der Kulturförderung der BRAK neben der Förderung der bildenden Künste durch die jährliche Ver752

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leihung des BRAK-Karikaturenpreises. Aber der Komponist war nicht fertig geworden und auch nicht bereit, das unvollendete Werk ohne den Klavierpart aufführen zu lassen. Schade, so musste man auf den 2. Satz der Pastorale ausweichen, ja auch ganz passabel. Ja, die BRAK hatte sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten gut aufgestellt. Mit Respekt, wenn auch teilweise mit kritischer Distanz, wurden ihre Aktivitäten auch beim DAV wahrgenommen. Die BRAK war in allen nationalen und internationalen Anwalts- und Standesorganisationen vertreten und bei allen internationalen Anwaltstreffen präsent, mit Aktivitäten und teilweise eigenen Büros in Brüssel, New York und Peking. Über ein Aktionsprogramm für Afrika wurde seit Langem nachgedacht. Es war der BRAK gelungen, die nur für eine eng umgrenzte Aufgabe konzipierte Satzungsversammlung in ein ständig tagendes Anwaltsparlament fortzuentwickeln. Die Satzungsversammlung tagte wenigstens dreimal im Jahr jeweils eine Woche lang. Beratungsgegenstände der Satzungsversammlung waren alle Belange des Berufstandes. Mehr als 30 Gesetzgebungsausschüsse arbeiteten der Satzungsversammlung ebenso zu wie dem Präsidium der BRAK und auf Anforderung auch den örtlichen Kammervorständen. Die örtlichen Rechtsanwaltskammern hatten sich als Rundum-Versorger und Serviceleister auf allen berufsrelevanten Bereichen etabliert. Es gab kaum eine Frage, weder aus dem fachlichen noch aus dem betriebswirtschaftlichen Sektor einer Anwaltskanzlei, auf die man als Kammerangehöriger von seiner Kammer nicht eine kompetente, umfassende und auch noch schnelle Antwort erhielt. Die finanziellen Ressourcen der Kammern waren schier unerschöpflich, in früheren Zeiten gespeist durch den unaufhaltsamen Anstieg der Zulassungszahlen, jetzt versorgt durch stetige und problemlose Anpassungen der Kammerbeiträge. Das Fortbildungsangebot der Kammern war sowohl für Berufsträger als auch für das Büropersonal flächendeckend und – da es aus Kammermitteln gefördert wurde – preislich hoch attraktiv, um nicht zu sagen unschlagbar. Jede neue Anforderung aus der Mitgliedschaft, jede neue Leistungsidee wurde von den Kammern aufgegriffen, geprüft und wenn ein Bedarf festgestellt wurde, in ein Leistungsangebot umgesetzt. Kritiker sprachen von einem Aufgabenerfindungsrecht der Kammern, vom unzulässigen Einsatz der Kammerbeiträge, aber sie blieben allein. Die Kammerangehörigen nahmen wie selbstverständlich diese Leistungen entgegen, sie hatten ja schließlich mit ihrem Kammerbeitrag dafür gezahlt. Angesichts dieser Aktivitäten der Kammern hatte es der DAV schwer mitzuhalten. In den örtlichen Anwaltvereinen erlahmte der Einsatz für den Verein, und es war oft schwierig, die richtigen Vereinsmitglieder zu finden, die bereit waren, als Vorstandsmitglieder den Vereinskarren für einen begrenzten Zeitraum zu ziehen. Wenn die Kammer doch alles schon anbot, was konnte man dann auf der örtlichen Ebene mit den sehr begrenzten Mitteln des örtlichen Vereins noch dagegen stellen? Gut, der gesellschaftliche Bereich, der Juristenball, das Gän753

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seessen, die Maiausfahrt und Ähnliches blieb, aber dafür den hohen Beitrag verlangen? Zumal in Berlin neben dem DAV kraftvoll die BRAK mit der Politik und der Öffentlichkeit sprach und die Funktionäre von DAV und BRAK es immer noch nicht schafften, sich auf einheitliche Positionen zu verständigen und diese dann nach außen gegenüber der Politik als die gemeinsame Position der Anwaltschaft zu artikulieren. Die Mitglieder und potenzielle Mitglieder stellten nach wie vor die Frage: Was habe ich von einer Mitgliedschaft im DAV? Wenn der Gefragte daraufhin das weitgefächerte Leistungsspektrum des DAV aufzählte, bekam er als Antwort, alle diese Leistungen bekomme er von seiner Kammer auch, bis hin zu deutlich kostengünstigerer Fortbildung als der Verein oder die Deutschen Anwaltakademie diese anbiete. Der DAV musste die ewige Frage nach seiner Legitimation immer wieder beantworten, insbesondere, als der Organisationsgrad unter 40% aller zugelassenen Anwältinnen und Anwälte fiel. Das Argument der Kammern, bei ihnen seien alle Anwälte Mitglied, beeindruckte nach wie vor, wurde nicht hinterfragt und büßte an Gewicht auch nicht durch den Hinweis auf die obligatorische Kammermitgliedschaft ein. In allen Kanzleien waren Zeit- und Kostenmanagement angesagt, und für ehrenamtliches Engagement stand – wenn überhaupt – nur ein sehr geringes Budget zur Verfügung. Und viele stellten sich die Frage: Kann ich mir überhaupt ehrenamtliche Arbeit leisten und wenn ja – macht es Sinn, das im Berufsverband zu tun? Oder nicht viel publikums- und marketingwirksamer in einer gemeinnützigen Vereinigung? Hinzu kam die Dauerfrage, wozu es eigentlich notwendig und sinnvoll sei, neben der Zugehörigkeit zur örtlichen Kammer (und dadurch auch zur BRAK) dem DAV, d.h. seinem örtlichen AV beizutreten und sich dort zu engagieren. Auf der anderen Seite war die Mitarbeit in der Kammer ehrenvoll und für die Tätigkeit als Vereinsvorsitzender hilfreich. Es gab eine steigende Zahl von Vereinsvorsitzenden die gleichzeitig im Kammervorstand waren oder dort Führungsaufgaben wahrnahmen. All diese Überlegungen hatten auf der örtlichen Ebene bereits faktisch zu einer weitgehenden Arbeitsteilung geführt: Die berufliche und berufsrechtliche Rundum-Versorgung leistete die örtliche Kammer, für die kommunikativen und gesellschaftlichen Bereiche war der örtliche Anwaltverein zuständig. So keimte sowohl bei den Kammern aber auch in allen Ebenen des DAV – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven – der Gedanke, ob es nicht sinnvoll sei, die Kräfte zu bündeln, einmal um die Effizienz zu steigern, d.h. auch die finanziellen Ressourcen der Anwaltschaft zu schonen, aber auch um Reibungsverluste und unliebsame Konkurrenz und Wettbewerb zu vermeiden. Die Ökonomisierung auch dieses Bereichs und die all gegenwärtige Effizienzdiskussion beschleunigte diese Entwicklung. Der DAV-Vorstand setzte vor 2 Jahren eine Arbeitsgruppe ein, die bereits nach 5 Monaten ein Arbeitspapier vorlegte, das folgende Thesen und Vorschläge enthielt: 754

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1. Anzustreben ist eine weitgehende Verzahnung von BRAK und DAV in Vorstand, Präsidium und Geschäftsführung, z.B. durch Übernahme von Funktionen in beiden Organisationen in Personalunion. 2. Die Satzungsbestimmung über die DAV-Mitgliedschaft wird dahin geändert, dass Rechtsanwaltskammern Mitglieder im DAV werden können, d.h. die BRAK kann außerordentliches, die Rechtsanwaltskammern können ordentliche Mitglieder im DAV werden, Letztere mit einem auf die Nichtmitglieder von örtlichen Anwaltvereinen reduziertes Stimmrecht. 3. Durch die Aufgabenteilung, Vermeidung von Parallelaktivitäten und durch Aufgabenverlagerung vom DAV auf die BRAK können die Personal- und Sachaufwendungen des DAV deutlich gesenkt werden. Diese Einsparpotentiale auf der einen Seite und der Mitgliederzuwachs durch die Kammermitglieder auf der anderen Seite kann zu einer deutlichen Senkung des DAVMitgliedbeitrags für die örtlichen AV genutzt werden, der nach einer verlässlichen Prognose des DAV-Schatzmeisters unter der Grenze von 35 Euro liegen wird (bei 171 000 errechnet der Schatzmeister bei 30,– Euro DAVMitgliedsbeitrag ein Beitragsaufkommen von 5,13 Millionen Euro jährlich). 4. Die Gesetzgebungsausschüsse von BRAK und DAV werden zusammengeführt und auf jeweils 8 Mitglieder einschließlich Vorsitzendem begrenzt. Sie werden von der BRAK organisatorisch betreut und geführt. 5. Die bestehenden DAV-Arbeitsgemeinschaften werden weiterhin vom DAV organisatorisch betreut und geführt. Die Arbeitsgemeinschaften können weiterhin über das von ihnen bisher erarbeitete und verwaltete Sondervermögen verfügen. Jeder zugelassene Anwalt, jede zugelassene Anwältin kann Mitglied in einer oder mehreren Arbeitsgemeinschaften werden. 6. Die Vertretung des DAV und der BRAK in nationalen und internationalen Organisationen erfolgt gemeinschaftlich und wird durch die BRAK organisiert und geführt. Bestehen in einem Land Büros des DAV und der BRAK, so werden sie zusammengelegt und als gemeinsame Büros betrieben. 7. Die BRAK-Mitteilungen und das Anwaltsblatt erscheinen zukünftig monatlich gemeinschaftlich in der Weise, dass die BRAK-Mitteilungen auf den Charakter eines Gesetzes- und Verordnungsblatt reduziert werden und in das Anwaltsblatt als Mittelteil eingeheftet werden. Nach der Kaffeepause begrüßte Präsident Prof. Dr. K. den Festredner, den Historiker und Soziologen Prof. Dr. Dr. E., der laut Programmzettel zum Thema: „Wieviel ehrenamtliches Engagement braucht die demokratische Bürgergesellschaft?“ sprechen sollte. Im Parkett im Bereich der nicht namentlich gesetzten Ehrengäste saß RA Rüdiger P., bis gestern noch DAV-Präsident. Nachdem die Mehrheit der gestrigen Mitgliederversammlung für die Satzungsänderung, die eine Kammermitgliedschaft ermöglichte, feststand, hatte er, wie angekündigt, seinen Rücktritt erklärt. Er war von Anfang an ein Gegner dieser Öffnung gewesen, hatte dies in vielen internen Diskussionen immer wieder betont und auch in den vielen Erörterungen im Präsidium und Vorstand zu Protokoll gegeben, um aber immer 755

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gleichzeitig anzufügen, dass er selbstverständlich ein anderes Mehrheitsvotum in den Gremien des Verbandes akzeptieren werde. Er bewerte und gewichte seine Meinung als eine unter vielen und respektiere selbstredend die anderen Auffassungen, für die es ja sicher gute Gründe gebe. Da nunmehr seine Meinung bekannt sei, sehe er seine Aufgabe in der Moderation der bevorstehenden Diskussionen im Vorstand und in der Mitgliederversammlung. Nein, er sah sich von Anfang an nicht als Meinungsführer und wollte auch für seine Position nicht kämpfen, wenn denn die sachliche Position allein nicht überzeugen konnte. Er hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht resigniert, wenn auch die mit der Übernahme des Präsidentenamtes verbundenen Probleme zunahmen. Als er das Amt übernahm, erahnte er die grundsätzlichen Probleme, in denen der DAV steckte. Durch seine lange Präsidiumszugehörigkeit hätte er die Situation im Einzelnen genau kennen müssen. Aber es fehlte eigentlich immer die Zeit (oder er hatte sie sich einfach nicht genommen), sich genauer mit den Problemen zu beschäftigten, alle Vorlagen zu lesen und sich in die Diskussion aktiv einzubringen. Und eigentlich fühlte er sich damals auch nicht so direkt in der Pflicht, ja er war froh, dass der amtierende Präsident und die Geschäftsführung sich quasi von Amts wegen um Lösungen zu bemühen hatten. Die zeitliche Belastung durch das Präsidentenamt war tatsächlich viel größer als er gedacht hatte, obwohl ihn sein Vorgänger ziemlich deutlich darauf hingewiesen hatte. Seine Abwesenheit in der Kanzlei und seine gedankliche Beanspruchung durch den DAV wurden in der Kanzlei, bei Mitarbeitern und den beiden Kollegen deutlich bemerkt. Es gab hier Abstimmungsprobleme, dort Missverständnisse und auch an der einen oder anderen Stelle Unmut. Der wuchs, als man gemeinsam nach dem ersten Jahr seiner Präsidentschaft die Umsatzentwicklung ebenso wie das wirtschaftliche Ergebnis der Kanzlei unter die Lupe nahm. Er fehlte schlicht in der Kanzlei, und die Gedanken um die zukünftige Entwicklung der Kanzlei nahmen zu. Deshalb war es ihm nicht sehr schwer gefallen, ja es hatte fast etwas von einer Erleichterung, als er im DAV-Vorstand ankündigte, dass er – sollte die Mitgliederversammlung die DAV-Mitgliedschaft für die Kammern öffnen – vom Amt des Präsidenten zurücktreten werde, und zwar ohne Groll und Bitternis. Er halte dies entsprechend seiner Haltung nur für konsequent und für das Gelingen eines Neuanfangs auch für zwingend notwendig. Seine Erklärung wurde damals vom Vorstand mit Beifall quittiert, und man sprach ihm seinen Respekt aus. Der Festredner war bei Gliederungspunkt 4 angelangt. Wie er angekündigt hatte, waren noch 3 weitere Punkte zu erwarten. Es hatte den Anschein, dass der Vortrag für Redner und Publikum eher mühselig war. Und so war es kein Wunder, dass hier und da mit Müdigkeit gekämpft wurde und die Gedanken auf Reisen gingen. Der Satzungsausschuss des DAV hatte vom Vorstand den Auftrag erhalten, auf der Grundlage des von der Arbeitsgruppe vorgelegten Papiers und unter 756

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Berücksichtigung der Ergebnisse der Diskussionen im Präsidium und Vorstand einen Satzungsänderungsvorschlag zu erarbeiten. Nachdem dieser Vorschlag vom Vorstand mit großer Mehrheit gebilligt worden war, hatte man zur gestrigen Mitgliederversammlung eingeladen mit zwei Tagesordnungspunkten – Satzungsänderung und Neuwahlen. Da der Termin für die 60-Jahrfeier der BRAK schon seit Langem feststand und zu diesem Termin ohnehin viele Vorsitzende der örtlichen Vereine des DAV in Berlin sein würden, hatte man beide Termine miteinander verbunden. Die Hauptpunkte in der Diskussion in der DAV-Mitgliederversammlung waren die Regelungen über die Mitgliedschaft (§ 3) und das Stimmrecht in der Mitgliederversammlung (§ 15). Der vorgeschlagene neue § 3 lautete (Änderungen: kursiv): 1. Ordentliches Mitglied kann jeder am Sitz eines deutschen Gerichts bestehender Anwaltverein und jede Rechtsanwaltskammer werden, die einem Landesverband (§ 5 Abs. 1) angehören. 2. Ordentliches Mitglied mit allen Rechten und Pflichten dieser Satzung kann außerdem jeder Zusammenschluss deutscher Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte im Ausland werden, dessen Form dem deutschen Verein ähnlich oder vergleichbar ist (Auslandsverein). 3. Als außerordentliches Mitglied sind auf entsprechenden Antrag aufzunehmen a. ein Landesverband b. die Bundesrechtsanwaltskammer c. das Forum Junge Anwaltschaft. d. Außerordentliches Mitglied kann außerdem … In § 15 sollte nach dem Vorschlag ein Absatz 3a mit folgendem Wortlaut eingefügt werden: 3a. Jede Kammer hat pro angefangene 100 bei ihr zugelassener Anwältinnen und Anwälte 10 Stimmen, wobei von der Gesamtzahl der bei der Kammer zugelassenen Anwältinnen und Anwälten, die Zahl der Mitglieder der örtlichen Anwaltvereine des Kammerbezirkes abzuziehen sind. Maßgebend sind die Zulassungs- und Mitgliederzahlen am 1. Januar des Jahres, in dem die MV stattfindet. Das DAV-Präsidium hatte angesichts der vorgeschlagenen Satzungsänderung mit einer großen Beteiligung an der Mitgliedversammlung gerechnet. Als eine halbe Stunde nach Sitzungsbeginn der Zettel mit der Zahl der anwesenden Stimmen hereingereicht wurde, stellte man erstaunt fest: Die Beteiligung überstieg das Übliche nicht: 60% aller Vereine war anwesend mit ca. 75% aller Stimmen. Wie abgesprochen begründete nicht der DAV-Präsident, sondern der Vizepräsident Dr. C., Köln, die Vorstandsvorlage und die damit vorgeschlagene Satzungsänderung. Schon dabei gab es erste Unmutsäußerungen. Man stellte sich auf sehr kontroverse Diskussionen ein. 757

Dierk Mattik

Die ersten Redner waren allesamt scharfe Kritiker der Vorstandsvorlage. Nicht Fusion sei angezeigt, sondern Abgrenzung und Zurückdrängen der sich krakenhaft ausbreitenden Kammeraktivitäten. Anstatt die Kammern durch eine Mitgliedschaft im DAV aufzuwerten, sollte man ernsthaft über die Abschaffung dieser aus dem Zunftgedanken und damit aus vordemokratischer Zeit überkommenen Einrichtungen nachdenken. Wenn man sie denn nicht gänzlich abschaffen wolle, müssten sie in ihren Funktionen und Aufgaben auf das absolut notwendige Minimum zurückgedrängt werden, und zu diesem Zweck müsste für die Kammerbeiträge eine gesetzliche absolute Begrenzung eingeführt werden, um das von den Kammern seit Jahren praktizierte Aufgabenerfindungsrecht wirksam zu unterbinden. Die Selbstverwaltung durch die Kammern sei für denkende Menschen in der heutigen Zeit eine Zumutung. Es würden 171 000 Anwälte durch eine Bundeskammer und 28 Kammern jeweils mit Vorständen und Geschäftsführungen mit einem Aufwand von durchschnittlich 210 Euro pro Mitglied pro Jahr für sage und schreibe 36 Millionen Euro jährlich verwaltet, wobei die eigentlichen Verwaltungsaufgaben der Kammern eher kümmerlich seien. Warum gebe es für diese in Zeiten von EDV und Internetkommunikation vergleichsweise kleine Zahl von Berufsträgern und dem tatsächlich geringen Verwaltungsaufwand pro Einzelfall nicht endlich eine bundesweite zentrale Verwaltung? Warum griffen hier nicht auch die allgegenwärtigen Effizienzund Kostenüberlegungen? Seit vielen Jahren finde Verschwendung statt, ohne dass jemand diese stoppe. Die Kontrollmechanismen wie Kammerversammlung und Kammeraufsicht seien untauglich. Die Kammern und damit auch die Bundesrechtsanwaltskammer seien Organisationen der Selbstverwaltung, mit der Betonung auf Verwaltung und nicht Vertretung, schon gar nicht Interessenvertretung der Anwaltschaft. Es würde immer wieder vergessen, dass die Kammern durch die Tatsache der Pflichtmitgliedschaft schon vom Grundsatz her untauglich und inhabil seien, als Interessenvertreter oder Sprachrohr der Anwaltschaft zu fungieren. Ihnen fehle insoweit jegliche Legitimation. Und deswegen könnten sie auch nicht Mitglieder in dem freien Verband DAV sein und werden. Diesen Auffassungen wurde ebenso vehement widersprochen. Das ehrenamtliche Engagement vieler Kollegen in den Kammern würde hier missachtet. Die Kammern seien anerkannte Einrichtungen der Anwaltschaft. Eine enge Zusammenarbeit und eine Einbindung dieses Teils der Anwaltschaft in den DAV könne doch für die Schlagkraft und Durchsetzungskraft der Anwaltschaft in Gesellschaft und Politik nur förderlich sein. Die Kollegenschaft habe nichts gegen die Aktivitäten der Kammern einzuwenden, ja begrüße diese. Anders könne man die Inanspruchnahme der Kammerdienstleistungen nicht verstehen. Diskutiert wurde auch ein mögliches Übergewicht der Kammern, die zukünftig alles dominieren könnten und würden. Dagegen wurde eingewandt, dass nach Modellrechnungen die einzelne Kammer in etwa das Stimmgewicht eines Großstadtvereins hätte. Das Stimmgewicht aller Kammern zusammen sei allenfalls ein theoretisches Übergewicht, da – wie die Erfahrung in der 758

Festakt „60 Jahre Bundesrechtsanwaltskammer“

Hauptversammlung der BRAK zeige – auch die einzelnen Kammern in der Regel unterschiedliche Interessen hätten und auch wahrnehmen würden. Schließlich würden die Kammern ja nun einmal eine große Zahl der Anwälte in den DAV einbringen und auch für jedes Mitglied den Beitrag leisten. Für die seit Langem geforderte einheitliche Interessenvertretung und die doch von vielen angestrebte Einheitlichkeit des Auftretens der Anwaltschaft sei eben auch ein Preis zu zahlen. Man komme neben dieser Einheit ja auch zu einer sehr gravierenden Senkung der DAV-Mitgliedsbeiträge, die voraussichtlich dazu führen werde, dass die Beitritte zu den örtlichen AV stark zunähmen, sei doch das Hindernis des hohen Mitgliedsbeitrages jetzt beseitigt. Ausführlich wurde dieses Einsparpotential diskutiert, ebenso wie die weitere zukünftige Entwicklung. Es wurde der Verdacht geäußert, dass hier aus Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit ein Weg gegangen werde, der unweigerlich in die Selbstauflösung des DAV führe. Warum man nicht mit offenen Karten spiele und warum man verschweige, dass die DAV-Arbeitsgemeinschaften in naher Zukunft zu BRAK-Arbeitsgemeinschaften und die örtlichen Anwaltvereine zu Kammervereinen umgeformt werden würden, um die Übernahme des DAV durch die Kammern zu vollenden. Aber diese Wortgefechte gehörten seit gestern der Vergangenheit an. Der Festredner war nach 56 Minuten zum Ende gekommen und hatte damit die Vorgabe von 45 Minuten deutlich überschritten. Der Beifall war freundlich und erleichtert. Der Doppel-Präsident bedankte sich, auch beim Dirigenten und dem Orchester, das mit Schwung das Finale bestritt. Rechtsanwalt S. aus Emden, der seit 28 Jahren dem örtlichen Anwaltverein mit seinen 100 Mitgliedern vorsteht, erhob sich nach dem letzten Ton der zweiten Zugabe, einem ungarischen Tanz von Brahms, und suchte in seiner Jacketttasche nach der Garderobenmarke. Er fand dabei in der rechten Tasche das Flugblatt wieder, das er beim Betreten der Oper in die Hand gedrückt bekommen hatte. Während er sich mit der Masse auf die Garderobe zu bewegte, warf er einen Blick auf das Blatt. Es war schwarz umrandet wie eine Todesanzeige und überschrieben „Nachruf auf den DAV“. Was er las, fesselte ihn. Er wurde von hinten angerempelt, weil er plötzlich stehengeblieben war, um genauer zu lesen. „Ihre Garderobenmarke!“ forderte ihn der junge Mann hinter dem Garderobentisch auf und verdrängte damit die in ihm sich formulierende Frage: „Haben wir was falsch gemacht“?

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Der europäische Steuerberater – Illusion oder Wirklichkeit? Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Gibt es einen europäischen Steuerberater? 1. Ein erster Blick nach Europa: Anklänge im europäischen Recht? 2. Ein zweiter Blick nach Europa: Europäische Berufsorganisationen a) Confédération Fiscale Européenne (CFE) b) European Federation of Accountants and Auditors for small and medium-Sized enterprises (EFAA) III. Was macht einen „europäischen Steuerberater“ aus? 1. Ein genauerer Blick nach Deutschland: das Tätigkeitsfeld des deutschen Steuerberaters 2. Ein dritter Blick nach Europa: das Tätigkeitsfeld der anderen IV. Begründen Gemeinsamkeiten in den Berufsbildern den europäischen Steuerberater? 1. Gesetzliche Regulierung von Steuerberatung als Vorbehaltsaufgabe 2. Gesetzlich angeordnete Verkammerung 3. Freiberuflichkeit im Sinne von Nicht-Gewerblichkeit 4. Selbständigkeit 5. Unabhängigkeit 6. Hohes fachliches Niveau 7. Vorhandensein besonderer berufsethischer Standards a) Unabhängigkeit und Vermeidung von Interessenkonflikten b) Sorgfaltspflichten c) Verschwiegenheit

d) Vereinbare Tätigkeiten e) Werbung f) Berufshaftpflichtversicherung V. Welches Erscheinungsbild hat der europäische Steuerberater heute? 1. Steuerberatung nicht überall Vorbehaltsaufgabe 2. Steuerliche Beratung wird durch unterschiedlich strukturierte Berufe erbracht 3. Qualifikationsniveau der steuerlichen Berater beruht national oft auf Gesetz oder Satzung 4. Nebengebiete der Beratung 5. Kein einheitlicher Begriff des Tax Consultant 6. Kein einheitlicher Begriff des Accountants 7. Heterogene Zusammensetzung aller Berufsorganisationen 8. Berufsorganisationen garantieren vergleichbares fachliches Niveau auf europäischer Ebene 9. Berufsorganisationen garantieren vergleichbares ethisches Niveau auf europäischer Ebene 10. Bedarf nach mehr Rechtstatsachenforschung VI. Welchen Stellenwert hat das Manifest der CFE zum Leitbild des Steuerberaterberufs in Europa? VII. Was bedeuten die gefundenen Ergebnisse für die Zukunft des europäischen Berufs? VIII. Was macht die Praxis? IX. Zurück zur Ausgangsfrage

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I. Einleitung Längst hat der europäische Rechtsanwalt im deutschen Steuerrecht Fuß gefasst, § 3 Nr. 1 StBerG. Das Gleiche gilt für den in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zugelassenen Abschlussprüfer, § 28 Abs. 1 bis 4 WPO. Den Begriff des europäischen Steuerberaters sucht man hingegen vergebens. Nur schemenhaft lässt er sich erkennen, wenn in § 3a Abs. 1 Satz 1 StBerG im Zusammenhang mit der Dienstleistungsfreiheit von Personen die Rede ist, „die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union beruflich niedergelassen sind und dort befugt geschäftsmäßig Hilfe in Steuersachen nach dem Recht des Niederlassungsstaates leisten“ oder wenn in § 56 Abs. 3 StBerG über berufliche Zusammenschlüsse ausländische Berufsangehörigen erwähnt werden, die „ihre berufliche Niederlassung im Ausland haben und im Ausland einen den in § 3 Nr. 1 StBerG genannten Berufen in der Ausbildung und in den Befugnissen vergleichbaren Beruf ausüben“, wobei deutsche Steuerberater mit letzteren nur dann in Sozietät oder Bürogemeinschaft zusammenarbeiten dürfen, wenn auch „die Voraussetzungen für die Berufsausübung dieser ausländischen Berufsangehörigen den Anforderungen des Steuerberatungsgesetzes im Wesentlichen entsprechen“. Immerhin spricht § 44b Abs. 2 Satz 2 WPO von „Steuerberatern anderer Staaten“. Vor diesem Hintergrund soll in dem vorliegenden Beitrag der Frage nachgegangen werden, ob es einen europäischen freien Beruf des Steuerberaters gibt, der demjenigen des europäischen Rechtsanwalts oder demjenigen des europäischen Wirtschaftsprüfers vergleichbar ist, welche Konturen er hat und was ggf. geschehen müsste, um ihn weiter zu entwickeln. Außerdem soll die praktisch bedeutsame Frage untersucht werden, wie deutsche Rechtsanwälte mit den entsprechenden Berufsangehörigen des Auslands zusammenarbeiten können1.

II. Gibt es einen europäischen Steuerberater? In Deutschland ist der Steuerberater gesetzlich reglementiert. Für ihn gelten das Steuerberatungsgesetz, die Durchführungsverordnung zum StBerG, die Steuerberatergebührenverordnung und die Berufsordnung der Steuerberater. Seinem rechtlichen Status nach ist er ein Organ der Steuerrechtspflege (§ 2 Abs. 1 BOStB)2 – nachgebildet dem Rechtsanwalt, der Organ der Rechtspflege ist (§ 1 BRAO). Dieses Regelungsregime beschreibt den Steuerberater „nach deutschem Modell“. Gibt es so etwas auch auf europäischer Ebene?

___________ 1 Zu den Möglichkeiten der Kooperation mit deutschen Steuerberatern schon Streck in Kooperation in der Rechts- und Steuerberatung, Podiumsdiskussion auf dem 13. Deutschen Steuerberatertag 1990, Protokoll, S. 217 ff.; zur gesellschaftsrechtlich verfestigten Zusammenarbeit u.a. Henssler in Henssler/Streck (Hrsg.), Handbuch des Sozietätsrechts, München, 2001, S. 12 ff. 2 S. auch BVerfG v. 4.7.1989 – 1 BvR 1460/85 u.a., BVerfGE 80, 269 (281). S. auch BGH v. 10.12.2009 – VII ZR 42/08, Stbg. 2010, 135.

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1. Ein erster Blick nach Europa: Anklänge im europäischen Recht? Schaut man sich nach berufstandsbezogenen Regulierungen auf EU-Ebene um, wie es sie für Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer gibt3, so stellt man fest, dass sich eine vergleichbare Richtlinie für Steuerberater nicht finden lässt. Zwar gab es einmal einen entsprechenden Vorstoß, dieser war indessen nicht von Erfolg gekrönt. Betrachtet man den Gesamtbereich der europäischen Rechtssetzung, so stellt sich heraus, dass es dort Vorschriften gibt, in denen mit europaweiter Geltung zwar Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer erwähnt werden, nicht aber Steuerberater. Dies trifft z.B. auf die verschiedenen Geldwäscherichtlinien zu4. Auch die Praxis zeigt, dass – wenn man nach einer einheitlichen Bezeichnung für den europäischen Steuerberater sucht – man eine solche nicht findet. Verwendet werden vielmehr unterschiedliche Begriffe wie Tax Advisor, Chartered oder Certified Tax Advisor, Tax Consultant, Tax Accountant und Accountant. 2. Ein zweiter Blick nach Europa: Europäische Berufsorganisationen Richtet man den Blick sodann auf die auf europäischer Ebene bestehenden Berufsorganisationen, in denen deutsche Berufsorganisationen von Steuerberatern Mitglied sind, so schöpft man Hoffnung, doch noch fündig zu werden. Denn es gibt dort einerseits die Confédération Fiscale Européenne (CFE), die von sich sagt, sie sei die Organisation der europäischen Steuerberater, zum anderen die European Federation of Accountants and Auditors for small and medium-sized enterprises (EFAA), die u.a. den Begriff des „Accountant“ in ihrem Namen führt. a) Confédération Fiscale Européenne (CFE) Die CFE wurde 1959 gegründet. Sie umfasst 32 Mitglieder aus 24 Mitgliedstaaten. Deutsche Mitglieder sind die Bundessteuerberaterkammer (BStBK), der Bundesverband der Steuerberater und – seit 1997 – der Deutsche Steuerberaterverband (DStV).

___________ 3 Richtlinie 77/249/EWG v. 22.3.1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (ABl. L 78 v. 26.3.1977, S. 17) und Richtlinie 98/5/EG v. 16.2.1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde ABl. L 77 v. 14.3.1998) sowie Richtlinie 2006/43/EG v. 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen etc. (ABl. L 157/87 v. 9.6.2006). 4 Vgl. Erwägungsgründe 16 und 17 der Richtlinie 2001/97/EG v. 4.12.2001 zur Änderung der Richtlinie 91/308/EWG zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche (ABl. L 344/76 v. 28.12.2001) sowie Erwägungsgründe 19 und 20 der Richtlinie 2005/60/EG v. 26.10.2005 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung (ABl. L 309/15 v. 25.11.2005).

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Die CFE hat Berufsgrundsätze für europäische Steuerberater beschlossen5. Auffällig ist allerdings schon, dass – obwohl es sich bei der CFE um eine Organisation von Steuerberatern handelt – im Namen dieser Organisation eine Berufsbezeichnung nicht verwendet wird. Warum ist das so? Schaut man sich die in der CFE vertretenen Berufe an, so stellt man fest, dass sie alle über Steuern beraten, dass sie aber – wenn man sie den deutschen Kategorien Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater zuordnet – sehr unterschiedlichen Berufsgruppen angehören, ja zum Teil sogar Berufe darstellen, die im Kern unternehmensberatende oder qualifizierte Buchhaltungsberufe sind. Im Folgenden seien einige Beispiele aufgeführt. Eine vollständige Darstellung aller Berufe würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Beispiele: – Frankreich Frankreich ist in der CFE u.a. durch das Institut des Avocats Conseils Fiscaux (IACF) vertreten. Nach deutschen Kategorien beurteilt, würde es sich hier um Fachanwälte für Steuerrecht handeln. Auch die zweite französiche CFE-Mitgliedsorganisation, die Union Professionelle des Sociétés d’Avocats (UPSA), ist eine Organisation von Rechtsanwälten. – Italien Italien ist in der CFE durch die Associazione Nazionale Tributaristi Italiani (A.N.T.I.) vertreten. Die meisten ihrer Mitglieder sind sog. Dottori Commercialisti. Letztere sind nach deutschem Verständnis verkammerte Unternehmensberater, deren Beratungsschwerpunkte im Bereich der Betriebswirtschaft liegen, und von denen nur ein Teil, eben die sog. Tributaristi oder Consulenti Fiscali, ihren Tätigkeitsschwerpunkt auf steuerlichem Gebiet haben. – Großbritannien Das Vereinte Königreich ist in der CFE durch drei Organisationen vertreten, nämlich das Institute of Indirect Taxation (IIT), das Chartered Institute of Taxation (CIOT) und durch die „Tax Faculty“ des Institute of Chartered Accountants in England and Wales (ICAEW). Während sich das CIOT an alle Berufe wendet, die auf dem Gebiet der indirekten Steuern beraten, praktizieren oder lehren – diese Mitglieder führen die Bezeichnung „Chartered Tax Advisers“ –, wenden sich die anderen beiden Organisationen an sog. Chartered Accountants, die Tax Faculty des ICAEW aber nur an diejenigen in diesem Beruf, die sich speziell für Steuerrecht interessieren. Bei den Chartered Accountants handelt es sich, wenn man diesen Beruf insgesamt betrachtet, um einen staatlich nicht regulierten Beruf, der Jahresab-

___________ 5 Grundsätze „Berufsqualifikationen und Ethik der Steuerberater in Europa“, verabschiedet von der Generalversammlung am 13.9.1991 in Zürich und geändert durch Beschluss des Rates am 29.4.2005 in Brüssel, Berufsrechtliches Handbuch der Steuerberater, www.bstbk.de.

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schlüsse erstellt, Unternehmen bei strategischen Entscheidungen und in Finanzierungsangelegenheiten berät und dessen Mitglieder sich nur teilweise auch mit Steuerfragen befassen, u.a. eben diejenigen, die in der Tax Faculty des ICAEW zusammengeschlossen sind. Nach deutschem Verständnis entspricht dieses Berufsbild am ehesten dem eines qualifizierten Buchhaltungsberufs mit starker Orientierung zur Unternehmens- und Steuerberatung. – Finnland Das finnische Mitglied der CFE, Suomen Verokonsultit SVK ry, vertritt in erster Linie Wirtschaftsprüfer, welche in Finnland neben den Rechtsanwälten die Aufgaben der Steuerberatung wahrnehmen, da es in Finnland keinen offiziellen Titel „Steuerberater“ und folglich auch keinen darauf ausgerichteten eigenen Ausbildungsgang gibt. Allerdings gibt es in der CFE auch Berufe, die dem „deutschen Modell“ des Steuerberaters vergleichbar sind bzw. nahekommen. Beispiele: – Österreich Österreich ist in der CFE durch die Kammer der Wirtschaftstreuhänder vertreten. Der Begriff Wirtschaftstreuhänder umfasst u.a. die österreichischen Wirtschaftsprüfer und die österreichischen Steuerberater, die in diesem Land gesetzlich reguliert sind. – Polen Polen ist in der CFE durch die Organisation Krajowa Izba Doradców Podatkowych (KIDP) vertreten, die ihren Namen mit Polish National Chamber of Tax Advisors übersetzt. Auch dieser Beruf ist durch ein spezielles Berufsgesetz geregelt. – Tschechien

Tschechien wird durch die Organisation Komora daňových poradců in der CFE vertreten. Sie übersetzt ihren Namen mit The Chamber of tax advisers of the Czech Republic. Die Mitglieder dieser Organisation unterliegen einer gesetzlichen Regulierung. Ähnlich ist die Situation in der Slowakei und in Rumänien. Darüber hinaus sind in der CFE auch auf die Steuerberatung fokussierte Berufe vertreten, die nicht gesetzlich, wohl aber durch privatrechtliche Statuten reguliert sind. – Niederlande Das belegen etwa die niederländischen Mitgliedsorganisationen der CFE, nämlich De Nederlandse Federatie van Belastingadviseurs (the Dutch Federation of Tax Advisers), deren Mitglieder den Titel Federatie-Belastingadviseur (FB) tragen dürfen und De Nederlandse Orde van Belastingadviseurs (The Dutch Association of Tax Advisers), NOB, dessen Mitglieder die Berufsbezeichnung Belastingadviseur NOB tragen dürfen. Diese Titel, zusammengesetzt aus Berufsangabe und dahinter stehender Organisation, sind gesetzlich geschützt.

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– Spanien Ein weiteres Beispiel sind die in der Organisation Asociación Española de Asesores Fiscales (AEDAF) zusammengeschlossenen spanischen Asesores Fiscales. Deren Titel ist in Spanien allerdings nicht geschützt. Liefert die Betrachtung der CFE somit ein eher heterogenes Bild, fragt es sich, ob im Kreis der EFAA vielleicht eine größere Einheitlichkeit herrscht. b) European Federation of Accountants and Auditors for small and mediumSized enterprises (EFAA) Die EFAA wurde im Jahre 1994 als Organisation von Rechnungslegern und Abschlussprüfern kleiner und mittlerer Unternehmen in Europa gegründet. Ihr gehören zzt. 12 Mitgliedsorganisationen aus 12 Ländern an. Die EFAA ist die auf kleine und mittlere Unternehmen (KMU) und kleine und mittlere Praxen (KMP) spezialisierte „kleine Schwester“ der FEE6. In der EFAA sind ebenfalls verschiedene Arten von Berufen vertreten. Beispiele: – Frankreich In der EFAA ist Frankreich durch den Verband Experts-Comptables de France – ECF – vertreten. Er vertritt die französischen Experts Comptables7. Auch wenn diese, was die von ihnen ausgeübten Tätigkeiten angeht, den deutschen Steuerberatern sehr ähnlich sind8, ist nicht zu verkennen, dass es sich bei ihnen nicht um einen Steuerberaterberuf „nach deutschem Modell“ handelt. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt eindeutig bei der Buchführung. Die steuerliche Beratung von Unternehmen dürfen die Experts Comptables nur als Annex zur Buchführung erbringen9. Gegenüber Privatpersonen dürfen die Experts Comptables nach noch immer bestehender Rechtslage in Frankreich

___________ 6 Die FEE (Fédération des Experts Comptables Européenne) tritt in erster Linie als europäische Organisation wirtschaftsprüfender Berufe in Erscheinung. Sie verfügt über Mitgliedsorganisationen, deren Mitglieder alle zu gesetzlich vorgeschriebenen Abschlussprüfungen berechtigt sind (z.B. das Institut der Österreichischen Wirtschaftsprüfer IWP oder das belgische Institut des Reviseurs d’entreprises IRE), andererseits auch über Mitgliedsorganisationen, die qualifizierte Buchhaltungsberufe oder Unternehmensberatungsberufe repräsentieren (z.B. das belgische Institut des ExpertsComptables et des Conseils Fiscaux IEC und der italienische Consiglio Nazionale dei Dottori Commercialisti e degli Esperti Contabili CNDCEC), sodass bei ihren Mitgliedern, wenn sie gesetzliche Abschlussprüfungen durchführen wollen, noch ein gesonderter Qualifikationsnachweis für gesetzliche Abschlussprüfungen – entsprechend dem europäischen Recht (Abschlussprüfer-Richtlinie) – hinzutreten muss. 7 Den gleichen Beruf vertreten in der FEE der französische Ordre des Experts-Comptables (OEC), eine Kammer, und das Institut Francais des Experts Comptables, IFEC, ein weiterer Verband. 8 Vgl. bereits Pestke, Der Beruf des französischen Expert Comptable als Partnerberuf des deutschen Steuerberaters, Stbg. 1994, S. 491–495. 9 Ähnlich einer Annexkompetenz, wie sie das frühere RBerG für die allgemeine Rechtsberatung durch Steuerberater und Wirtschaftsprüfer vorsah, vgl. Art. 1, § 5 Nr. 2 RBerG.

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keine steuerliche Beratung betreiben; diese ist den Rechtsanwälten (Avocats) vorbehalten10. – Niederlande Die Niederlande sind durch den Nederlandse Orde van Accountants-Administratieconsulenten, NovAA, vertreten. Auch hier handelt es sich eher um einen qualifizierten Buchhaltungsberuf. – Azerbaijan Dieses Land ist in der EFAA mit einer Organisation prüfender Berufe vertreten, der Chamber of Auditors of the Azerbaijan Republic. – Ungarn Vor Kurzem wurde die Association of Hungarian Certified Tax Advisors in die EFAA aufgenommen. Dabei handelt es sich um eine Vereinigung von Berufsangehörigen, die ihren Beratungsschwerpunkt im Steuerrecht haben. In Ungarn ist Steuerberatung gesetzlich bestimmten Berufsgruppen vorbehalten. In erster Linie sind dies Steuerberater (Tax Advisor), Diplom-Steuersachverständige (Certified Tax Advisor) und zum Teil auch Rechtsanwälte. Wirtschaftsprüfer benötigen einen Zusatztitel, welchen sie jedoch nach dreijähriger Tätigkeit als Wirtschaftsprüfer ohne weitere Prüfung erhalten. Die Ausbildung zum Steuerberater erfordert ein Studium an einer Hochschule/Universität. Anschließend muss ein auf den Steuerberater gerichtetes Studium erfolgen. Dann folgt ein aus 6 Prüfungen bestehendes Examen, welches vom Finanzministerium abgenommen wird. Der Diplom-Steuersachverständige ist eine weitere Stufe. Voraussetzung ist der vorherige Erwerb des Steuerberatertitels. Nach fünfjähriger Arbeit als Steuerberater und weiteren Studien (u.a. mit Schwerpunkt internationales Steuerrecht), muss eine Diplomarbeit (mindestens 80 Seiten) und eine weitere Prüfung abgelegt werden, um Diplom-Steuersachverständiger zu werden. – Spanien Spanien ist in der EFAA durch einen interprofessionellen Zusammenschluss, den Consejo General de Colegios de Economistas de España (CGCEE), vertreten. In ihm sind neben Steuerberatern (Assessores Fiscales) auch qualifizierter Buchhalter, Wirtschaftsprüfer, Finanzberater und Wirtschaftsdozenten zusammengefasst. Generell lässt sich danach feststellen, dass die in der EFAA vertretenen Berufe schwerpunktmäßig Rechnungsleger (Accountants) sind, von denen einige aufgrund zusätzlicher Qualifizierungen die Befugnis zur Durchführung gesetzlicher Abschlussprüfungen besitzen können (Auditors, Registered Auditors) und die des weiteren auch zur Steuerberatung befugt sind11. Auch unter dem Dach der EFAA lassen sich also – gemessen an deutschen Kategorien – keine weiteren Steuerberaterberufe „nach deutschem Modell“ finden, sondern ausschließlich Berufe, die – neben anderen Tätigkeiten – auch

___________ 10 Vgl. Stbg. 2009, 528. 11 Die teilweise Einschränkung bei den frz. Experts Comptables wurde erwähnt.

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mit Steuerrecht umgehen, wobei das Steuerrecht vielfach nicht einmal im Vordergrund steht. Demgemäß beschäftigt sich die EFAA gegenwärtig auch vornehmlich mit Fragen der internationalen Rechnungslegung und Prüfung, während sich die CFE außer mit berufsrechtlichen Fragen v.a. mit Fragen des internationalen Steuerrechts befasst12. Zwischenergebnis: Es gelingt nicht, auf europäischer Ebene, d.h. europaweit einheitlich, einen Steuerberater „nach deutschem Modell“ oder einen Steuerberater nach dem Modell eines anderen europäischen Landes auszumachen.

III. Was macht einen „europäischen Steuerberater“ aus? Müssen wir die Suche nach dem europäischen Steuerberater also für gescheitert erklären? Das hängt davon ab, von welchen Kriterien wir den europäischen Steuerberater abhängig machen: von den (ausdifferenzierten) deutschen Kriterien, die den Steuerberater als ein Organ der Steuerrechtspflege charakterisieren, oder von den (allgemeineren, verschiedene Berufstypen umfassenden) europäischen? 1. Ein genauerer Blick nach Deutschland: das Tätigkeitsfeld des deutschen Steuerberaters Betrachten wir zunächst das deutsche Modell noch einmal etwas genauer, insbesondere bezüglich der Frage, welche Tätigkeiten der deutsche Steuerberater ausüben darf. Der deutsche Steuerberater hat gesetzliche Vorbehaltsaufgaben und darf bestimmte vereinbare Tätigkeiten ausüben. Zu den Vorbehaltsaufgaben nach § 33 StBerG zählen – die Steuerdeklaration (Mitwirkung an Steuererklärungen) inklusive der Buchführung, wobei die steuerliche Buchführung unstreitig Vorbehaltsaufgabe ist, während bei der handelsrechtlichen Buchführung unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, ob sie – wegen der Maßgeblichkeit des Handelsrechts für das Steuerrecht – als Vorbehaltsaufgabe der steuerberatenden Berufe zu betrachten ist (so wohl § 33, 35 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 i.V.m. § 1 Abs. 1 StBGebVO), ob insofern inzwischen ein Wandel eingetreten ist oder ob sie vielleicht sogar niemals eine Vorbehaltsaufgabe darstellte,

___________ 12 Kawalle-Schildbach/Weiler, Die Confédération Fiscale Européenne – Tradition und Perspektive, Beihefter zu IStR 9/1996, S. 7.

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Der europäische Steuerberater – Illusion oder Wirklichkeit?

– die Steuerrechtsdurchsetzungsberatung, v.a. – die Mitwirkung an Einspruchsverfahren13, – die Mitwirkung an Betriebsprüfungen14, – das Führen von Finanzgerichtprozessen15 sowie – die Mitwirkung am Verfahren des Steuerordnungswidrigkeiten- und des Steuerstrafrechts16. – die Steuergestaltungsberatung, d.h. die Beratung darüber, wie steuerlich relevante Sachverhalte so gestaltet werden können, dass sie möglichst geringe oder keine Steuerpflicht auslösen. Unter die vereinbaren Tätigkeiten nach § 57 Abs. 3 StBerG fallen – die Wahrnehmung fremder Interessen, z.B. als Vermögensverwalter (§ 39 Abs. 1 Nr. 1 BOStB), als Aufsichtsrat oder Beirat (§ 39 Abs. 1 Nr. 4 BOStB), als Umweltgutachter (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 BOStB), als Testamentsvollstrecker (§ 39 Abs. 1 Nr. 6 BOStB)17, als Nachlasspfleger (§ 39 Abs. 1 Nr. 6 BOStB), als Vormund (§ 39 Abs. 1 Nr. 6 BOStB), als Betreuer (§ 39 Abs. 1 Nr. 6 BOStB), als Pfleger, als Insolvenzverwalter (§ 39 Abs. 1 Nr. 7 BOStB), als Liqudator (§ 39 Abs. 1 Nr. 7 BOStB), als Nachlassverwalter (§ 39 Abs. 1 Nr. 7 BOStB), als Sequester (§ 39 Abs. 1 Nr. 7 BOStB), als Zwangsverwalter (§ 39 Abs. 1 Nr. 7 BOStB), als Mitglied in einem Gläubigerausschuss (§ 39 Abs. 1 Nr. 7 BOStB), als Hausverwalter, als WEG-Verwalter (§ 39 Abs. 1 Nr. 8 BOStB), als externer Datenschutzbeauftragter oder als Notgeschäftsführer; – die betriebswirtschaftliche Beratung (Unternehmensberatung), z.B. als Unternehmensberater, inkl. JA-Analyse, Controlling, als Sanierungsberater/Insolvenzberater, als Ratingberater, als IFRS-Berater, als Finanzierungsberater, als Fördermittelberater, als Personalberater, als IT-Berater, als Versicherungsberater, als Existenzgründungsberater, als Nachfolgeberater, als Vermögensberater/Anlageberater/Financial Planner/Berater für betriebliche Altersvorsorge oder als Mediator; – Prüfungen, soweit es sich nicht um gesetzlich vorgeschriebene Abschlussprüfungen handelt, z.B. – Bestätigungen über Vermögensübersichten für Kreditzwecke, – Gründungsprüfungen nach § 33 AktG. Der Schwerpunkt der Tätigkeiten des deutschen Steuerberaters dürfte auch heute noch bei der Steuerdeklarationsberatung liegen (inkl. Buchführung), die

___________ 13 Vgl. Streck, Verhandeln aus der Sicht des Steuerrechtlers, FF. 202, 160 f. 14 Vgl. Streck, Steuerberatung in der Lohnsteueraußenprüfung, in FS Küttner zum 70. Geburtstag, München, 2006, S. 231 ff. 15 Vgl. Streck, Die anwaltliche Sicht des Steuerprozesses, NJW 2001, 1541 ff. 16 Vgl. Streck, Der Steuerberater als Verteidiger, in Deutsches Steuerberaterinstitut/ Streck (Hrsg.), Aktuelle Problemfelder in der Steuerberatung, BeratungsAkzente Band 23, 1988, S. 35 ff. 17 Hierzu Streck, Der Steuerberater als Testamentsvollstrecker und Vermögensverwalter, DStR 1991, 592.

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Steuerrechtdurchsetzungsberatung sowie die Steuergestaltungsberatung und die vereinbaren Tätigkeiten nehmen in ihrer Bedeutung aber deutlich zu18. Zusammenfassend bedeutet dies, dass der deutsche Steuerberater auf folgenden Gebieten tätig sein darf: Steuerberatung Buchführung Unternehmensberatung inkl. z.B. Existenzgründung, Finanzierung, Sanierung, Unternehmensnachfolge Vertretung ggü. Finanzbehörden und Finanzgerichten Rechtsberatung und Vertretung im Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht (eingeschränkt) Prüfungen (eingeschränkt) Sonderfunktionen, z.B. Insolvenzverwaltungen

§ 3 Nr. 1 i.V.m. § 1 StBerG, § 33 StBerG § 3 Nr. 1 i.V.m. § 1 StBerG, § 33 StBerG § 57 Abs. 3 Nr. 3 StBerG

§ 3 Nr. 1 i.V.m. § 1 StBerG, § 33 StBerG § 3 Nr. 1 i.V.m. § 1 StBerG, § 33 StBerG § 3 i.V.m. § 2 und § 5 RDG § 57 Abs. 3 Nr. 1 StBerG Eingeschränkt ja, d.h. bei entsprechender Bestellung, § 57 Abs. 3 Nr. 2 StBerG i.V.m. § 56 InsO

2. Ein dritter Blick nach Europa: das Tätigkeitsfeld der anderen Legt man dieses (breite) Tätigkeitsspektrum des deutschen Steuerberaters zugrunde und vergleicht es mit den Tätigkeitsgebieten der im europäischen Ausland tätigen Berufe, so gibt es in den anderen Mitgliedstaaten der EU – zum Teil wegen der geringeren Regulierungsdichte als in Deutschland – viele Länder, in denen die dort existierenden Berufe ein ebenso breites Beratungsgebiet abdecken dürfen, wie in Deutschland die Steuerberater19. Das gilt mit gewissen Einschränkungen, wie nachfolgende Darstellung zeigt.

___________ 18 Vgl. Praxenvergleich des DStV, unter www.dstv.de, Rubrik „Für die Praxis“, Stand 7.6.2010: Danach betrug der Anteil der vereinbaren Tätigkeiten am Leistungsspektrum der Steuerberater im Jahre 2008 rund 7,9%, während er im Jahre 2006 noch bei rund 3% lag. 19 Vgl. hierzu in Ansätzen schon Behrens, Steuerberatung in der Europäischen Gemeinschaft, Schriften zur betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, Band 11, 1982, S. 80 ff.; Jacobs, Die Zukunft der Steuerberatung in der EG, Freiburg, 1990, S. 31 ff., Mack in Deutsches Steuerberaterinstitut/Streck (Hrsg.), Steuerberatung in der Europäischen Gemeinschaft, BeratungsAkzente Band 3, 1993, S. 153 ff.; Carl, Beratende Berufe im Europäischen Binnenmarkt – Berufliche Perspektiven und rechtlicher Rahmen der steuer-, rechts- und wirtschaftsberatenden Tätigkeit, Bielefeld, 1995, S. 196 ff., 201 ff.; vgl. auch Dann, Das Leistungsspektrum des Steuerberaters in Europa und seine berufsrechtlichen Grundlagen, IStR 1993, S. 44 ff. und Feuser, Auswirkungen des EG-Rechts auf das Berufsrecht des Steuerberaters, Essen, 1998, S. 42 f.

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Beispiele: Frankreich (am Fall der Experts Comptables)

Italien (am Fall des Dottore Commercialista)

Großbritannien (am Fall des Chartered Accountants)

Österreich (am Fall des österreichischen Steuerberaters)

Steuerberatung

eingeschränkt

ja

ja

ja

Buchführung

ja

ja

ja

ja

Unternehmensberatung

ja

ja

ja

ja

Vertretung ggü. Finanzbehörden und Finanzgerichten

nein

ja

ja

ja

Rechtsberatung und Vertretung im Steuerstrafund Steuerordnungswidrigkeitenrecht (eingeschränkt)

nein

ja

ja

ja

Prüfungen (eingeschränkt)

Ja, gesetzliche Abschlussprüfungen nur bei Zusatzqualifikation als Commissaire aux Comptes

Ja, gesetzliche Abschlussprüfungen nur bei Zusatzqualifikation als Revisor die Conti

Ja, gesetzliche Abschlussprüfungen nur bei Zusatzqualifikation als Registered Auditor

Ja, gesetzliche Abschlussprüfungen nur bei Zusatzqualifikation als österr. Wirtschaftsprüfer

Sonderfunktionen, z.B. Insolvenzverwaltungen

Eingeschränkt, d.h. bei entsprechender Bestellung

Eingeschränkt, d.h. bei entsprechender Bestellung

Eingeschränkt, d.h. bei entsprechender Bestellung

Eingeschränkt, d.h. bei entsprechender Bestellung

Festzuhalten ist immerhin, dass in allen hier erwähnten Ländern die steuerliche Beratung und die Buchführung sowie die Unternehmensberatung den in der CFE und der EFAA vertretenen Berufen erlaubt sind. Unter ihnen besteht also als gemeinsamer Nenner die Befugnis, über Steuern zu beraten20, daneben auch über Buchführung und BWL. Weiteres Zwischenergebnis: Ausgehend von den erlaubten und wahrgenommenen Tätigkeitsfeldern gibt es zwar noch keinen einheitlichen Beruf des „europäischen Steuerberaters“, wohl aber gibt es in allen Ländern der Europäischen Union Berufe, die über Steuern, Buchführung und BWL beraten. Insofern ist es auch sinnvoll, dass die deutschen Steuerberater in den europäischen Berufsorganisationen mitwirken und internationale Kontakte pflegen21.

IV. Begründen Gemeinsamkeiten in den Berufsbildern den europäischen Steuerberater? Gibt es – über die gemeinsame Aufgabe der steuerlichen Beratung, der Buchführung und der BWL-Beratung hinaus – Gemeinsamkeiten, die die genannten

___________ 20 So auch der Anknüpfungspunkt in § 3a StBerG. 21 So auch Schmidt-Keßeler, Die Auswirkungen des europäischen Rechts auf den Berufsstand der Steuerberater, Kammerreport, Beihefter zu DStR 5/2006, S. 5.

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Berufe verbinden und sie so zu einem Typus „europäischer Steuerberater“ werden lassen? Gibt es mit anderen Worten über das sich teilweise überlappende Tätigkeitsgebiet hinaus weitere Gemeinsamkeiten in den Berufsbildern? 1. Gesetzliche Regulierung von Steuerberatung als Vorbehaltsaufgabe Eine solche Gemeinsamkeit könnte das Vorhandensein gesetzlicher Regulierungen über die steuerberatende Tätigkeit (Steuerberatung) sein. Schon ein erster Blick auf die hier behandelten Berufe ergibt aber, dass die Steuerberatung in den Ländern Europas vielfach nicht reguliert ist, so z.B. in Großbritannien, Italien, Spanien, Finnland und den Niederlanden. In anderen Ländern hingegen steht sie unter Erlaubnisvorbehalt zugunsten bestimmter Berufsgruppen, so außer in Deutschland z.B. auch in Österreich, Polen, Tschechien und Ungarn. Jedenfalls lässt sich nicht sagen, dass die gesetzliche Regulierung der Steuerberatung ein geeigneter Anknüpfungspunkt für einen europaweit verstandenen europäischen Steuerberaterberuf wäre. 2. Gesetzlich angeordnete Verkammerung Der deutsche Steuerberaterberuf gehört traditionsgemäß zu den verkammerten Berufen (§ 73 StBerG, vgl. auch § 60 BRAO, § 58 WPO). Betrachtet man die Vergleichsberufe in Europa, ist aber festzustellen, dass sie vielfach nicht in öffentlich-rechtlichen Kammern zusammengeschlossen sind, sondern in privatrechtlichen Organisationen, so z.B. in Großbritannien22. Auch in Ungarn gibt es bisher kein Kammersystem für Steuerberater. Daneben gibt es allerdings auch einige Länder, in denen durch Gesetz Kammern für Berufe geschaffen wurden, die über Steuern beraten, z.B. Österreich, Polen, Tschechien, Frankreich, Italien, Luxemburg. Jedenfalls aber ist eine gesetzlich angeordnete Verkammerung kein gemeinsames Merkmal der in der CFE und der EFAA zusammengeschlossenen steuerberatenden Berufe, sodass sie nicht als Wesensmerkmal eines europäischen Steuerberaterberufs angesehen werden kann. 3. Freiberuflichkeit im Sinne von Nicht-Gewerblichkeit In Deutschland ist bei Steuerberatern, ebenso wie bei Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern gesetzlich bestimmt, dass es sich um freie Berufe handelt. Ausdrücklich wird jeweils hervorgehoben, dass es sich nicht um gewerbliche Berufe handelt (§ 32 Abs. 2 StBerG, § 2 BRAO, § 1 Abs. 2 WPO).

___________ 22 Oftmals sind auch Organisationen, die „Chamber“ oder „Kammer“ heißen, in Wahrheit private Organisationen (z.B. in Russland die Chamber of Tax Advisers of Russia, die zzt. Beobachter-Status in der CFE besitzt).

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Ob dies im europäischen Ausland gleichermaßen gilt, muss z.T. bezweifelt werden. Jedenfalls gibt es Beispiele, wo ausländische, in den europäischen Berufsorganisationen erfasste Berufe auch gewerbliche Leistungen erbringen dürfen, (so z.B. die unter dem Begriff Economistas mit erfassten Finanzberater in Spanien). Teilweise ist die Unterscheidung zwischen Freiem Beruf und Gewerbe auch gar nicht so geläufig, wie sie uns in Deutschland geläufig ist (z.B. Spanien). Zwar mag es bei den meisten Berufen in Europa so sein, dass sie keine gewerblichen Tätigkeiten ausüben, als Definitionsmerkmal des europäischen Steuerberaters eignet sich dieses Kriterium dennoch nur bedingt. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass selbst in Deutschland Steuerberater nunmehr in bestimmten Ausnahmesituationen gewerbliche Tätigkeiten ausüben dürfen, § 57 Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 StBerG23 und dies deutschen Rechtsanwälten in noch weit größerem Maße möglich ist. 4. Selbständigkeit Möglicherweise könnte die Selbständigkeit der Berufsausübung (self-employment) ein gemeinsames Merkmal für den europäischen Steuerberater sein. In einigen Ländern ist sie in der Tat vorgeschrieben (z.B. in Frankreich, Polen, Tschechien). In Betracht kommt hier allenfalls die Anstellung bei einem anderen Berufsträger. Eine gewisse Abstufung stellt es dar, wenn andere Länder den sog. SyndikusSteuerberater zulassen, d.h. einen Steuerberater, der einerseits in einem Unternehmen oder bei einem Verband tätig ist, der daneben aber auch über eine Kanzlei als selbständiger, „freiberuflicher“ Steuerberater verfügen muss, so jetzt Deutschland nach § 58 Nr. 5a StBerG. Zu beobachten ist aber auch, dass viele der in der CFE und der EFAA vertretenen Berufe in wieder anderen Ländern gar nicht in eigener Praxis ausgeübt werden müssen, sondern dass sie ausschließlich als Angestellter im gewerblichen Bereich erbracht werden können (so z.B. in Großbritannien der Beruf des Chartered Accountant und des Management Accountant oder der Beruf des Asesor Fiscal in Spanien)24. Die Selbständigkeit als Begriffsmerkmal des europäischen Steuerberaters scheidet also ebenfalls aus. 5. Unabhängigkeit Begrenzen wir den Blick auf diejenigen, die ihren steuerberatenden Beruf jedenfalls auch in eigener Praxis, also nicht ausschließlich im Angestelltenver-

___________ 23 Vorschrift eingefügt durch das 8. StBerÄndG. Das deutsche Recht ist insoweit jetzt liberaler, als das Recht solcher Länder, die sich in vergangenen Jahren am deutschen Steuerberatungsgesetz orientiert hatten (z.B. in Polen). 24 Vgl. z.B. auch Art. 5 Abschnitt 2.3.3 der EFAA-Statuten, der hier einen großen Spielraum lässt.

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hältnis ausüben, so könnte – bezogen auf diesen Kreis – die Unabhängigkeit bei der Berufsausübung ein den europäischen Steuerberater prägendes Merkmal sein. In der Tat betrachten sich alle in der CFE und der EFAA vertretenen Berufe als unabhängige, sozusagen „freie“ Berufe – unabhängig vom Staat, vom Auftraggeber (soweit es um die Respektierung des Rechts geht) und unabhängig von Dritten wie privaten Institutionen oder Mitarbeitern25. Unabhängigkeit könnte deshalb ein verbindendes Element der betrachteten Berufe sein (vgl. auch noch das Manifest der CFE, unten VI.). Wir kommen darauf zurück. 6. Hohes fachliches Niveau Die in der CFE vertretenen Berufe verfügen regelmäßig über ein hohes, in der Satzung der CFE, Art. 6, sowie in den Grundsätzen der CFE über Berufsqualifikationen und Ethik der Steuerberater in Europa umrissenes fachliches Niveau26. Das Gleiche gilt für die in der EFAA vertretenen Berufe, denn auch dort sieht die Satzung, Art. 5, ein hohes fachliches Niveau als Aufnahmebedingung vor27. Ein ebenso hohes fachliches Niveau kann auch für die FEE festgestellt werden. So gesehen stellt es tatsächlich ein verbindendes Merkmal zwischen den europäischen, über Steuern beratenden Berufen dar, dass sie über ein hohes, nachgewiesenes fachliches Niveau, in der Regel ein Hochschulstudium mit anschließender einschlägiger Praxis, verfügen. Der europäische Steuerberaterberuf ist insofern ein Querschnittsberuf, der durch unterschiedlich ausgerichtete und unterschiedlich strukturierte steuer-, rechts- und wirtschaftsberatende bzw. wirtschaftsprüfende Berufe gebildet wird.

___________ 25 S. auch Kapitel „Berufliches Verhalten“, dort Nr. 1, der Grundsätze der CFE über Berufsqualifikationen und Ethik der Steuerberater in Europa sowie Art. 3 Abschnitt 1.1.1 der EFAA-Statuten. 26 S. dort das Kapitel „Zugangsbedingungen zu den Mitgliedsorganisationen“, die allerdings nur Soll-Charakter haben. 27 Von Bedeutung ist hier v.a. die Abgrenzung des (qualifizierten) Accountant-Berufs vom (weniger qualifizierten) Bookkeeper-Beruf, wobei nicht zu verkennen ist, dass sich Organisationen, in denen Bookkeeper zusammengeschlossen sind, aus naheliegenden Gründen mit immer größerem Nachdruck des (gesetzlich nicht definierten) Begriffs des „Accountants“ bemächtigen. Während der Accountant-Beruf, wie er in der EFAA definiert ist, in der Regel ein Hochschulstudium voraussetzt, ist dies bei den Bookkeeper-Berufen, wie sie etwa in § 6 Nr. 4 StBerG erwähnt sind, nicht der Fall. Gerade dies sollte unter dem Aspekt der Verbraucheraufklärung Anlass geben, auf europäischer Ebene für eine klare Unterscheidung dieser Qualifikationsniveaus einzutreten, s. noch unten Kapitel VII. Der Verbraucher vermag diese Begriffe trotz intensiven Bemühens vielfach nicht zu entschlüsseln und korrekt voneinander abzugrenzen.

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7. Vorhandensein besonderer berufsethischer Standards Im Jahre 2008 hat der Verfasser mit einem Kollegen für die CFE eine Untersuchung darüber durchgeführt, welche der in der CFE vertretenen Berufe über berufsspezifische Qualitätsstandards, sog. Codes of Ethics, verfügen28. Das Ergebnis war, dass alle untersuchten Berufe solche besonderen Berufsgrundsätze haben und dass deren Inhalt sich in vielen Punkten entspricht. So gibt es in allen entsprechenden Codes of Ethics Regelungen zu folgenden Aspekten: a) Unabhängigkeit und Vermeidung von Interessenkonflikten Die Regeln zu Unabhängigkeit und Interessenkonflikten unterscheiden sich nicht in der Zielrichtung, jedoch im Umfang der beschriebenen Konflikte. Um z.B. zu verhindern, dass Interessenkonflikte gegenüber dem Mandanten entstehen, verbieten die Kodizes in Österreich, Belgien, Frankreich und Deutschland ausdrücklich, dass der Steuerberater Zahlungen von anderen Personen als dem Mandanten annimmt. Der IFAC-Kodex (Dänemark, Luxemburg) und der Rumänische Kodex verbieten solche Zahlungen, soweit sie einen Einfluss auf das professionelle Urteil des Steuerberaters haben können. b) Sorgfaltspflichten Alle Kodizes enthalten Ausführungen zu den Sorgfaltspflichten der Steuerberater und ihrer Angestellten. c) Verschwiegenheit 18 von 19 untersuchten Kodizes enthalten Regeln zur beruflichen Verschwiegenheit, welche in hohem Maße übereinstimmen. – So umfasst die Verschwiegenheit alle Informationen, welche in Ausübung des Berufes erlangt werden, – währt auch nach Mandatsbeendigung fort und – erstreckt sich auch auf die Angestellten. Ausnahmen sind möglich, wenn – der Mandant den Berater von der Verschwiegenheitspflicht befreit, – der Berater durch Gesetz zur Herausgabe der Information verpflichtet ist oder – der Berater die Information zur eigenen Verteidigung herausgibt. Allerdings ist die Pflicht zur Verschwiegenheit nicht gleichbedeutend mit einem Schutz vor Beschlagnahmehandlungen. Auch können wohl nicht alle betrachteten Berufe Zeugnisverweigerungsrechte geltend machen, wie dies heute in Deutschland bei Steuerberatern, Rechtsanwälten und Wirtschafts-

___________ 28 Bericht an den CFE-Berufsrechtsausschuss Pestke/Reibel, 25.9.2008 (nicht veröffentlicht).

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prüfern möglich ist (z.B. fehlt eine solche Befugnis bei den Asesores Fiscales in Spanien). d) Vereinbare Tätigkeiten Die Mehrzahl der Kodizes enthält Ausführungen zu vereinbaren Tätigkeiten. So werden z.B. in Deutschland, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden und Spanien spezifische Aktivitäten neben der Steuerberatung als erlaubt definiert. e) Werbung 16 von 19 Kodizes enthalten Regeln zur Werbung. Die meisten führen aus, dass Werbung wahrheitsgemäß, fair und nicht irreführend oder aufdringlich sein darf29. f) Berufshaftpflichtversicherung 9 von 19 Kodizes enthalten Regelungen über eine Berufshaftpflichtversicherung. Jedoch fordern nur Österreich, Deutschland und Großbritannien eine Mindestdeckungssumme. Fazit: Auch das Vorhandensein besonderer berufsethischer Standards kann daher als ein gemeinsames Merkmal des „europäischen Steuerberaters“ betrachtet werden, auch wenn diese Standards noch nicht in allem übereinstimmen. Zwischenergebnis: Die steuerlichen Berater in Europa, so wie sie in der CFE und der EFAA zusammengeschlossen sind, lassen sich insofern als „europäischer Steuerberater“ verstehen, als sie alle nicht nur auf steuerlichem Gebiet beraten, sondern auch – unabhängig sind, soweit sie eine eigene Praxis betreiben oder bei einem anderen Berufsangehörigen angestellt sind, – über ein hohes fachliches Niveau verfügen, welches in der Regel einen Universitätsabschluss und berufspraktische Erfahrungen beinhaltet, – bestimmte berufsethische Standards, mit allerdings unterschiedlichen Anforderungen, beachten müssen. Da manche der in der CFE oder der EFAA vertretenen Berufe aber nicht gesetzlich normiert sind (z.B. die spanischen Asesores Fiscales) und mitunter auch kein Titelschutz besteht, da sich also die Pflicht zur Einhaltung der genannten Qualitätskriterien „nur“ im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft in einer privatrechtlichen Organisation ergibt, empfiehlt es sich, darauf zu achten, dass der Berufsangehörige, um den es geht, tatsächlich in einer

___________ 29 Zum Verhältnis von Verschwiegenheit und Werbung, aber auch zum Verhältnis von Berufsrecht und Berufsethik Streck, Über die Entwertung der anwaltlichen Vertraulichkeit durch die Anwaltschaft, NJW 2001, 3605 f. sowie Streck, Braucht die Anwaltschaft einen ausformulierten Ethik-Kodex?, NJW-Spezial 2009, 430 f.

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Mitgliedsorganisation der CFE oder der EFAA organisiert ist. Bei deren Mitgliedern handelt es sich tatsächlich um „europäische Steuerberater“ des beschriebenen Inhalts.

V. Welches Erscheinungsbild hat der europäische Steuerberater heute? 1. Steuerberatung nicht überall Vorbehaltsaufgabe Steuerberatung im Sinne der §§ 1, 2 und 3 StBerG ist, wie festgestellt wurde, keine Tätigkeit, die – wie die Rechtsberatung oder die Wirtschaftsprüfung – überall in Europa gesetzlich reglementiert wäre. Die Steuerberatung ist nur in Teilen Europas gesetzlich normiert, insbesondere in Mitteleuropa (z.B. Deutschland, Österreich, Polen, Tschechien, Ungarn). Demgemäß gibt es kein europaweit einheitliches Berufsbild des Steuerberaters „nach deutschem Modell“ (insbesondere nach dem Konzept der §§ 3 Nr. 1, 32, 33 und 57 StBerG)30. 2. Steuerliche Beratung wird durch unterschiedlich strukturierte Berufe erbracht In allen Ländern Europas gibt es indes Berufe, die über Steuern beraten. Europaweit betrachtet umfassen die Berufe, die über Steuern beraten, neben Steuerberatern nach deutschem Modell (z.B. Österreich, Polen, Tschechien) auch Steuerberater nach anderen nationalen Modellen (z.B. die Belastingsadviseure NOB in den Niederlanden), Wirtschaftsprüfer (Auditors/Commissaires aux Comptes), Rechtsanwälte (Advocats) und qualifizierte Buchhalter (Certified und Chartered Accountants/Experts Comptables); je nach Land können daneben auch noch Unternehmensberater (Consultants, z.B. die italienischen Dottori Commercialisti), einfache Buchhalter (Bookkeepers) und z.T. sogar gänzlich ungeregelte Berufe Steuerberatung anbieten, d.h. Berufe, die im Ausland – weil die Steuerberatung dort nicht reglementiert ist – befugter Weise geschäftsmäßige Hilfe in Steuersachen leisten, ohne eine bestimmte Qualifikation nachweisen zu müssen. In Deutschland ist Unternehmensberatern, Buchhaltern und sonstigen Berufen, die nicht unter § 3 Nr. 1 StBerG fallen, eine geschäftsmäßige Hilfeleistung in Steuersachen hingegen verboten (§ 5 StBerG). Tendenziell lässt sich wohl sagen, dass die Regulierungsdichte in Mitteleuropa einschließlich Frankreich und in Osteuropa am höchsten ist, und dass sie demgegenüber im angelsächsichen Bereich, in Skandinavien und in den Niederlanden, aber auch im Süden Europas geringer ist.

___________ 30 Vgl. auch Hackl, Die Auswirkungen des Rechts der Europäischen Gemeinschaften auf das Recht der Freien Berufe, Diss. Bayreuth, 1992, S. 145 sowie Drüen/Thulfant, Zur Europäisierung der Steuerberatung, IStR 2004, 499 (500).

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3. Qualifikationsniveau der steuerlichen Berater beruht national oft auf Gesetz oder Satzung Für viele der genannten Berufe des Auslands gibt es gesetzlich vorgeschriebene Qualifikationsniveaus (z.B. für StBs in Österreich, Polen und Tschechien, für WPs und RAs europaweit, für Experts Comptables in Frankreich und Belgien, für Dottori Commercialisti in Italien). Für einige andere Berufe existieren private, teilweise staatlich anerkannte Berufsorganisationen, deren Mitglied nur werden kann, wer ein von diesen Organisationen gefordertes Qualifikationsniveau besitzt (Chartered oder Certified Accountants, Belastingsadviseure FB und NOB etc.) 4. Nebengebiete der Beratung Vielfach nehmen die genannten, über Steuern beratenden Berufe neben der Steuerberatung auch noch Buchhaltungsfunktionen wahr und betreiben betriebswirtschaftliche Beratung (z.B. die Steuerberater in Deutschland, Österreich, Polen und Tschechien, die Wirtschaftsprüfer, die Chartered und Certified Accoutants, die Experts Comptables in Frankreich und Belgien, die Dottori Commercialisti in Italien). In der Regel ist die Buchhaltung staatlich nicht reglementiert (Ausnahme z.B. Frankreich und Belgien). Das Gleiche – keine Reglementierung – gilt regelmäßig für die betriebswirtschaftliche Beratung (Ausnahme z.B. die Insolvenzberatung in GB). 5. Kein einheitlicher Begriff des Tax Consultant Die Begriffe Tax Consultant, Tax Advisor und Tax Accountant werden in Europa sehr unterschiedlich gebraucht und meinen je nach Sinnzusammenhang – Steuerberater mit öffentlich-rechtlich geregelten Berufsbild (Deutschland, Österreich, Polen, Tschechien); – Steuerberater mit privatrechtlich verfasstem Berufsbild (NL); – spezialisierte Untergruppen innerhalb anderer Berufe (Tributaristi als Untergruppe der Dottori Commercialisti); – z.T. werden sie, weil es keine Regulierung bezüglich der Steuerberatung gibt und ein Titelschutz nicht existiert, benutzt, ohne dass dem eine nachprüfbare Qualifikation zugrundeliegt (Selbstbenennung). Nicht zu verkennen ist, dass vielfach auch Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer, weil sie in einem Land der EU zur geschäftsmäßigen steuerlichen Hilfeleistung befugt sind, sich im Internet der Begriffe Steuerberater, Tax Advisor, Tax Consultant etc. bedienen, um potentielle Mandanten auf sich aufmerksam zu machen. Dies gilt gerade auch für die großen, international agierenden Rechtsanwalts- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften.

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6. Kein einheitlicher Begriff des Accountants Auch der Begriff des Accountant ist schillernd und wird vielfach mit unterschiedlichem Inhalt verwendet31. Er steht – z.T. für qualifizierte Buchhalterberufe (z.B. Certified and Chartered Accountants, Experts Comptabels in Frankreich und Belgien), – teilweise für verkammerte Unternehmensberater (Dottori Commercialsti), – z.T. wird er für einfache Buchhalter (Bookkeepers) verwendet – für Berufe also, die dort, wo die Steuerberatung, wie z.B. in Deutschland, gesetzlich reglementiert ist, geschäftsmäßig Jahresabschlüsse nicht erstellen, sondern nur vorbereiten dürfen, indem sie die laufende Buchführung betreiben; – z.T. wird er auch – weil kein entsprechender Titelschutz besteht – verwendet, ohne dass dem eine nachgewiesene Qualifikation zugrunde liegt (Selbstbenennung). 7. Heterogene Zusammensetzung aller Berufsorganisationen Weil die nationalen Zusammenschlüsse von Berufen, die Steuerberatung, Buchführung, BWL-Beratung und/oder Wirtschaftsprüfung anbieten, sehr unterschiedlich zusammengesetzt sein können und zudem frei sind, welcher Organisation auf europäischer Ebene sie sich anschließen, wobei dies oft auch von politischen Wertungen beeinflusst wird, gibt es keine klare, trennscharfe Zuordnung bestimmter Berufe zu bestimmten übergeordneten Organisationen. Dem sehr heterogenen Erscheinungsbild des „europäischen Steuerberaters“ entsprechend (s. oben) sind in den europäischen Berufsorganisationen CFE, FEE und EFAA sehr unterschiedliche Berufe zusammengefasst. Tendenziell kann man sagen, dass – in der CFE über die dortigen Mitgliedsorganisationen Berufe vertreten sind, die sich schwerpunktmäßig mit Steuern befassen, daneben aber auch Buchhaltung, BWL und z.T. Wirtschaftsprüfung anbieten, – in der FEE über die dortigen Mitgliedsorganisationen Berufe vertreten sind, die schwerpunktmäßig Buchführung (Accounting) und Wirtschaftsprüfung (Auditing) betreiben, daneben aber auch über Steuern und über Betriebswirtschaft beraten und – in der EFAA über die dortigen Mitgliedsorganisationen Berufe vertreten sind, die ebenso schwerpunktmäßig Buchführung (Accounting) und Wirtschaftsprüfung (Auditing) betreiben, daneben aber auch Beratung und Vertretung in den Bereichen Steuern und Betriebswirtschaft anbieten, wobei hier ein Schwerpunkt bei der Vertretung der Inhaber kleiner und mittlerer Praxen mit KMU-Mandanten gesetzt wird.

___________ 31 Vgl. bereits Fn. 27 sowie auch die verzweifelten Klärungsversuche von Nutzern des Internet unter http://dict.leo.org/forum unter der Überschrift „Accountant versus Bookkeeper“ (Stand: 31.5.2010).

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8. Berufsorganisationen garantieren vergleichbares fachliches Niveau auf europäischer Ebene Berufe, die in einer der genannten Organisationen – CFE, FEE oder EFAA – vertreten sind, verfügen über ein durch die Aufnahmebedingungen dieser Organisationen festgelegtes vergleichbares Qualifikationsniveau, sodass Berufe, die keine Qualifikation nachgewiesen haben (Selbstbenennung) oder nur eine Qualifikation nachweisen können, die den gestellten Anforderungen nicht entspricht (Bookkeeper), hier nicht vertreten sind. 9. Berufsorganisationen garantieren vergleichbares ethisches Niveau auf europäischer Ebene Berufe, die in einer der genannten Organisationen – CFE, FEE oder EFAA – vertreten sind, verfügen auch über vergleichbare ethische Standards, zum Beispiel in Bezug auf die Unabhängigkeit, das Verbot der Wahrnehmung widerstreitender Interessen und die Verschwiegenheit. Nicht bei allen dort vertretenen Berufen, sondern in der Regel nur bei den gesetzlich regulierten Berufen, bestehen gesetzlich abgesicherte Zeugnisverweigerungsrechte bzw. ein gesetzlich abgesicherter Schutz vor Beschlagnahmen. 10. Bedarf nach mehr Rechtstatsachenforschung Diese heterogene Zusammensetzung der europäischen Berufsorganisationen CFE, FEE und EFAA stellt ein besonderes Problem bei Strukturdatenerhebungen über die beteiligten Berufe dar. In bisherigen Strukturdatenerhebungen wurde zu wenig Wert darauf gelegt, dass die antwortende Mitgliedsorganisation in ihren Antworten nicht nur die Verhältnisse der von ihr jeweils vertretenen Gruppe von Berufsangehörigen beschreiben darf (was die Vergleichbarkeit behindert und das Bild regelmäßig verfälscht), sondern dass zunächst in jedem Land nach in voraus festgelegten übergeordneten Kriterien eine Gesamtschau der am Markt tätigen Berufe erfolgen müsste. Eine solche Gesamtdarstellung zu geben, fällt den befragten Mitgliedsorganisationen teilweise schwer, ist aber erforderlich, um ein zutreffendes Gesamtbild zu erarbeiten, in das sich die Antworten spezieller Gruppen einordnen lassen. Bei der bisherigen Art von Befragungen ergab und ergibt sich immer wieder die Gefahr, dass Besonderheiten der antwortenden Gruppe unzulässig verallgemeinert werden, wodurch ein unklares, unübersichtliches und z.T. auch falsches Bild entsteht.

VI. Welchen Stellenwert hat das Manifest der CFE zum Leitbild des Steuerberaterberufs in Europa? Aus Anlass ihres fünfzigjährigen Bestehens hat die in CFE im Jahre 2009 ein Manifest „50 Jahre Steuerberaterberuf in Europa“ veröffentlicht32.

___________ 32 Deutsche Fassung in Stbg. 11/2009, S. 529 f.

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In Übereinstimmung mit den in diesem Beitrag gefundenen, oben dargestellten Ergebnissen stellt dieses Manifest fest, dass Steuerberater in Europa hoch qualifiziert sind und einen unabhängigen freien Beruf ausüben33. Dem entspricht es, wenn auch die EFAA in ihren Veröffentlichungen betont: „High quality audit requires high quality auditors with the appropriate level of professional knowledge, professional skills, and professional values, ethics and attitudes, and this throughout their whole working lives. The Directive 2006/43/EC on statutory audits of annual accounts and consolidated accounts in the EU establishes a framework for the education and training.“, dem dann aber hinzufügt: „The accountancy profession nowadays covers much more than the auditing. Hence educational curricula should address the differentiation of the structure of the profession. A variety of non-auditors, but fully-qualified accountants, is also at the very heart of EFAA interest. We believe that accountants in business as well as public accountants specialised in taxation, solvency, management accounting and other do have different needs in terms of education and training. This should be addressed by the regulators and training providers.“34

Insofern gibt es bereits das Phänomen des „europäischen Steuerberaters“. Dessen ungeachtet kann gegenwärtig aber noch nicht der Schluss gezogen werden, dass dieser Begriff gleich scharf konturiert wäre, wie der des europäischen Rechtsanwalts oder der des europäischen Abschlussprüfers. Immerhin wirken die berufständischen Organisationen CFE und die EFAA auf die Festigung des entsprechenden Berufsbilds hin. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sie durch ihr Wirken solchen Berufen (insbesondere Osteuropas), die noch in der Entstehung befindlich sind, Anreize bieten, sich höheren Qualitätsanforderungen als bislang dort üblich zu stellen. Insofern ist von einem Trend zur Professionalisierung auszugehen, wie er sich rückblickend auch bezüglich des deutschen Steuerberaterberufs vollzogen hat35. Hierin liegt ein weiteres Argument dafür, dass die deutschen Berufsorganisationen der Steuerberater in den europäischen Berufsorganisationen vertreten sind und dort intensiv mitarbeiten.

VII. Was bedeuten die gefundenen Ergebnisse für die Zukunft des europäischen Berufs? Berufspolitisch bedeuten sie, – dass es sinnvoll ist, die tatsächliche und rechtstatsächliche Situation der über Steuern beratenden Berufe weiter zu klären – insofern müssen die in diesem Beitrag in das europäische Ausland geworfenen „Blicke“ noch um viele weitere Blicke ergänzt werden36,

___________ 33 Deutsche Fassung in Stbg. 11/2009, S. 529 f. 34 www.efaa.com, Stand: 6.6.2010. 35 Holldorf, Prestige, Profit, Profession – Der Professionalisierungsprozess der steuerberatenden Berufe in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1975, Diss. Köln, 2003, S. 90 ff. 36 Die CFE ist gegenwärtig dabei, eine Strukturdatenerhebung ihrer Mitgliedsberufe durchzuführen. Mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse ist in Kürze zu rechnen.

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– dass es sinnvoll ist, das Leitbild der Steuerberater in Europa fortzuentwickeln und immer wieder publik zu machen37, – dass es zur Festigung des Berufsbilds des europäischen Steuerberaters wünschenswert wäre, wenn dieser Begriff in Akte europäischer Rechtssetzung Eingang fände, – dass es sinnvoll sein könnte, den Begriff des europäischen Steuerberaters durch europäisches Recht näher zu umreißen (Titelschutz), – und dass die betroffenen Berufsstände vielleicht sogar einen neuen Anlauf zur europaweiten Harmonisierung des europäischen Steuerberaters unternehmen sollten, unabhängig davon, wie sie in den jeweiligen Ländern organisiert sind38. Fachlich besonders wichtig und hilfreich dürfte es in diesem Zusammenhang sein, wenn die interessierten Berufe freiwillige Qualitätsstandards entwickeln würden, wie es Art. 26 der EU-Dienstleistungsrichtlinie39 vorsieht. Da es in vielen Ländern Europas keine Berufskammern nach öffentlichem Recht gibt (s. oben) und Art. 26 DLRL auf freiwillige Maßnahmen ausgerichtet ist, kommt den Berufsverbänden hierbei eine besonders wichtige Rolle zu. Der Deutsche Steuerberaterverband hat damit bereits begonnen, indem er – das DStV-Qualitätssiegel und – Fachberater für vereinbare Tätigkeiten (DStV e.V.) konzipiert hat und anbietet. Auf der Basis gemeinsam verabredeter Qualitätsstandards könnte dann auch eine neue Initiative zur europarechtlichen Etablierung des „europäischen Steuerberaters“ erfolgen40. Zusammenfassung: Es gibt in Europa keinen einheitlichen Beruf des Steuerberaters nach deutschem Modell. In allen Ländern Europas gibt es aber Berufe, die über Steuern beraten. Dies sind z.T. Anwälte und Wirtschaftsprüfer, daneben aber auch qualifizierte Buchhalter (Accountants) oder Steuerberater, die dem deutschen Modell zumindest nahekommen (Tax Adviser). Angehörige der am Steuerrecht interessierten Berufe haben sich national und international organisiert. Dabei gibt es sowohl monoprofessionelle als auch interprofessionelle Zusammenschlüsse, wodurch ein unübersichtliches Beziehungsgeflecht entstanden ist. Keine der auf europäischer Ebene bestehenden großen Berufsorganisationen CFE, FEE und EFAA ist rein monoprofessionell ausgerichtet. Allen

___________ 37 Es ist ausweislich seines Wortlauts ausdrücklich darauf angelegt, dass sich die politischen Entscheidungsträger der wichtigen Rolle der Steuerberater als desjenigen Berufs bewusst sind, der in allen in Europa vorhandenen Steuerrechtsordnung den Steuerzahlern dabei hilft, ihre Steuerpflichten zu verstehen und zu befolgen. 38 Auch das Manifest der CFE nennt ausdrücklich Gemeinsamkeiten, die unabhängig davon bestehen, wie der Beruf national organisiert ist. 39 Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. L 376/36 v. 27.12.2006). 40 Auch die Berufsgrundsätze der CFE sprechen davon, die CFE setze sich für die „Schaffung“ eines Freien Berufs „Steuerberater“ in Europa ein, a.a.O.

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Der europäische Steuerberater – Illusion oder Wirklichkeit?

diesen Organisationen gehören unterschiedliche Berufe an, die alle über Steuern beraten dürfen. Dadurch, dass die europäischen Organisationen nationale Organisationen nur aufnehmen, wenn die von ihnen vertretenen Berufsangehörigen bestimmte Mindeststandards in Bezug auf fachliche und ethische Qualifikationen erfüllen, entsteht so etwas wie ein gemeinsames europäisches Qualifikationsniveau, das es rechtfertigt, insofern von „europäischen Steuerberatern“ zu sprechen.

VIII. Was macht die Praxis? Häufig bedürfen Mandanten der Unterstützung durch ausländische steuerliche Berater41. Die hier skizzierten „europäischen Steuerberater“, die auch Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer umfassen, bieten sich insofern an. Das Bundesfinanzministerium hat eine Liste mit den Berufen veröffentlicht, die wegen der Übereinstimmung ihres Berufsbildes mit dem Berufsbild der in § 3 StBerG genannten steuerberatenden Berufe (Steuerberatern, Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern, vereidigten Buchprüfern) mit Steuerberatern sozietätsfähig sein sollen42. Diese Liste, die allerdings der Aktualisierung bedarf43, gibt einen ersten Anhaltspunkt, an welche Berufe man sich als deutscher Rechtsanwalt diesbezüglich wenden kann. Eine weitere Möglichkeit zur Orientierung bieten insbesondere die von der CFE und der EFAA im Internet veröffentlichten Listen ihrer Mitgliedsorganisationen. Die CFE verfügt darüber hinaus über eine sog. Kooperations-Datenbank, in der zur Beratung bereite ausländische Berufsangehörige (auch solche mit deutschen Sprachkenntnissen) aufgelistet sind. Ähnliche Informationen lassen sich zum Beispiel über den Steuerberater-Suchservice des Deutschen Steuerberaterverbandes unter www.steuerberater-suchservice.de gewinnen. Besteht der Wunsch nach einer intensiveren Zusammenarbeit, kommen auch bestimmte gesellschaftsrechtliche Zusammenschlüsse in Betracht. Dabei kann es sich um solche auf europäischer Ebene handeln (EWIV etc.)44, aber auch um solche des nationalen Rechts (grenzüberschreitende Sozietät etc.)45.

___________ 41 Vgl. Streck, Steuerliche Grenzüberschreitungen – Steuerberatung in Europa, in: Harzburger Steuerprotokoll 1993, S. 359 ff. 42 Bekanntmachung des Bundesministeriums der Finanzen über den Zusammenschluss von Steuerberatern mit ausländischen Berufsangehörigen nach § 56 Abs. 4 StBerG v. 23.6.2005 (BStBl. I 2005, 814 f.). 43 Weil viele der dort aufgeführten Berufe inzwischen anders heißen oder anders organisiert sind und weil die Liste auch sonst nicht abschließend ist, vgl. Schnepel in Hense/Ulrich, WPO, § 44b Rz. 23. 44 Dazu Streck in Deutsches Steuerberaterinstitut/Streck (Hrsg.), Sozietäten und andere Zusammenschlüsse rechts- und steuerberatender Berufe, BeratungsAkzente Band 26, 1999, S. 35 ff. 45 Dazu Kilian/Streck, Grenzüberschreitende Organisationsformen, in: Henssler/ Streck, Handbuch des Sozietätsrechts, 2001, S. 893 ff.

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IX. Zurück zur Ausgangsfrage Der europäische Steuerberater – definiert als ein dem europäischen Rechtsanwalt oder dem europäischen Wirtschaftsprüfer gleich scharf konturierter Beruf – ist weder Illusion noch Wirklichkeit; er ist im Entstehen begriffen, in vielem bereits erkennbar, in vielem noch in der Entwicklung. Gut orientierten Anwälten bieten sich aber schon heute vielfältige Möglichkeiten, zum Wohle ihrer Mandanten mit steuerberatenden Berufen in Europa zu kooperieren.

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Fünfzehn Jahre später! Neujahrsinterview des Anwaltsblatts mit Dr. Anne Adams, Präsidentin des DAV, am 31. Dezember 2025 Auch in diesem Jahr setzt das Anwaltsblatt die Tradition der Neujahrsgespräche mit dem oder der Vorsitzenden des DAV-Präsidiums fort. Das Gespräch, das sich nicht als verbandspolitischer Beitrag versteht, soll persönliche Beurteilungen aufspüren. Heute sprechen wir mit der Rechtsanwältin Dr. Anne Adams aus Köln, die seit 2024 als Präsidentin des DAV amtiert. Der Öffentlichkeit wurde sie bekannt, als der Gesetzgeber ihrem Vorschlag folgte, bei den Landgerichten Schiedsgerichte als neue Zivilkammern zu bilden. Diese verhandeln und entscheiden unter dem Vorsitz eines erfahrenen Berufsrichters mit zwei Beisitzern, die von den jeweiligen Parteien benannt und bezahlt werden. Die Verhandlungen sind nicht öffentlich, die Urteile endgültig. Schon jetzt steht fest, dass diese Spruchkörper auf reges Interesse stoßen. AnwBl: Frau Präsidentin Adams, Sie unterbrechen Ihre Amtszeit, weil Sie Ihr erstes Kind erwarten und sich bis zum Ablauf des neuen Jahres ganz der Mutterrolle widmen wollen. War das vorhersehbar, als man Sie gewählt hat? Adams: Wer das nicht vorhersehen konnte, versteht das Leben nicht und sollte seine Eignung zum Anwaltsberuf selbstkritisch hinterfragen. Im Übrigen gibt es keinen Grund zur Aufregung. Meine vorübergehende Vertretung ist bestens geordnet. AnwBl: Trifft es zu, dass Jean Picard, Rechtsanwalt in Paris, Sie vertreten wird? Adams: Er gehört zu meinen Vertretern. Bekanntlich hat der DAV einen Platz im Vorstand mit einem Delegierten des französischen CNB besetzt. Dem steht eine spiegelbildliche Lösung im CNB gegenüber, was dort einige rechtliche Schwierigkeiten bereitete. Jetzt wollen wir aus dieser eng gewordenen Verbindung auch nach außen sichtbare Konsequenzen ziehen. AnwBl: Wird es sprachliche Probleme geben? Adams: Wir verständigen uns schon bisher auf Englisch, wenn nicht alle Beteiligten in einer der beiden Muttersprachen kommunizieren können. Unsere Texte müssen ohnehin für Brüssel übersetzt werden. Daran ist längst auch die deutsche Öffentlichkeit gewöhnt. Die französischen Kollegen hatten hiermit zunächst patriotische, aber keine linguistischen Probleme. AnwBl: Das klingt europäisch. Sie selbst sind Head of Litigation einer Kölner Sozietät. Geht es bei Ihrem Arbeitsfeld, trotz dieser Bezeichnung, nicht hauptsächlich um die Prozessführung vor deutschen ordentlichen Gerichten? Adams: Da irren Sie. Der Umgang mit Zivilrechtsstreitigkeiten hat sich geändert. Lassen Sie mich das erklären. Im letzten Jahrhundert, der Blütezeit der 785

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ordentlichen Gerichtsbarkeit, zeichnete sich diese durch ein hohes Maß an Kontrolle aus. Massive Einschnitte im Bereich der Rechtsmittel und das vom Gesetzgeber gewollte Ausbluten der Spruchkörper haben ihre Spuren hinterlassen. Kontrolle ist ineffizient geworden. Darunter hat die Qualität gelitten. Seither erleben wir eine sich beschleunigende Flucht in die private Schiedsgerichtsbarkeit. Deren Qualität gilt als vorzüglich. Die Mehrzahl der großen Wirtschaftssachen wird vor Schiedsgerichten verhandelt, die keine nationalen Grenzen mehr kennen. Der überwiegende Teil meiner Mandate spielt sich hier ab. Ist ein ausländisches Unternehmen beteiligt oder wird dies von den Parteien aus anderen Gründen gewünscht, kann auch vor deutschen Schiedsgerichten Englisch als Verfahrenssprache gewählt werden. AnwBl: Hat unsere Justiz auf diese Entwicklung denn nicht mit interessanten Mediationsangeboten reagiert? Adams: Sie hat es lange versucht. Der Versuch ist gescheitert. Das streng auf Rechtsbindung angelegte Richteramt und die ungebunden auf Interessenausgleich eingestellte Mediation wollen nicht zueinander passen. Außerdem machte sich vor allem an dieser Stelle gelegentlich ein unvermeidbarer Mangel an breiter Erfahrung bemerkbar. In diesem Zusammenhang habe ich, wie Sie wissen, vorgeschlagen, bei den Landgerichten Schiedsgerichtskammern unter dem Vorsitz eines Berufsrichters zu schaffen. Der Gesetzgeber hat reagiert. Das Experiment ist aber noch zu jung, um schon von einer Wende zu sprechen. AnwBl: Wird die staatliche Justiz ihren Vorrang behalten? Adams: Es bleibt genug – außer dem Strafrecht und den Fachgerichtsbarkeiten, also Arbeits-, Sozial-, Verwaltungs- und Steuerrecht, im Wesentlichen das Familien- sowie das Miet- und Verbraucherschutzrecht. AnwBl: Schlägt sich die Entwicklung in den Statistiken nieder? Adams: Vor zwanzig Jahren hatten wir etwa 15 000 Richter im Landesdienst, von denen 10 000 auf die ordentlichen Gerichte entfielen. Inzwischen sind daraus bei den ordentlichen Gerichten 7000 geworden. AnwBl: Was heißt das in der Praxis? Adams: Die staatliche Zivilgerichtsbarkeit hat sich, wie neulich ein Mitglied des Richterbundes warnend formulierte, zum Forum der kleinen Leute entwickelt. Da der Einzelrichter dominiert, gibt es allenthalben eine Tendenz zu den Amtsrichtern alten Stils. Die Urteile werden, übrigens auch bei den Strafgerichten und den Fachgerichten, kürzer. Der Begründungsaufwand hat sich nach Meinung unserer älteren Kollegen gegenüber früher halbiert, weil vielfach keine effizienten Rechtsmittel mehr zur Verfügung stehen. Die berühmten mit Zitatenschätzen angereicherten Texte, wie unsere Vorgänger sie kannten, haben Seltenheitswert. Ohnehin kann jeder Interessierte mit Google-Law Courts innerhalb von Minuten alle einschlägigen Quellen selbst erschließen. AnwBl: Betrachten Sie das als Vorteil?

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Adams: Das hängt von der Perspektive ab. Bekanntlich hat sich auch die durchschnittliche Prozessdauer zum Stolz der Justizminister während der letzten zwanzig Jahre fast auf die Hälfte verkürzt. Geschwindigkeit hat aber ihren Preis; die Urteilsgründe wirken zuweilen eher individualistisch und eklektisch. Ausgefeilte Argumentationen bleiben den Obergerichten für den Rest der noch statthaften Rechtsmittel vorbehalten. Auch die Wissenschaft wandert in die privaten Schiedsgerichte ab. All das hat Folgen. Die ständig vorgehaltenen Schiedsgerichte, insbesondere mit Sitz in Berlin und Paris, haben prägenden Rang und sind dazu übergegangen, ihre Entscheidungen (neutralisiert) zu veröffentlichen. Ähnliches gilt für die sehr erfolgreichen Neugründungen in Cambridge und Göttingen. Es ist kein Zufall, dass seit einigen Jahren selbst manche unserer lokalen Anwaltsvereine regionale Schiedsgerichte für örtliche Streitigkeiten anbieten. AnwBl: Spielt es bei der Entwicklung der staatlichen Justiz auch eine Rolle, dass sich die Richterschaft deutlich verjüngt hat? Adams: Möglicherweise, aber auf einer anderen Ebene als der Qualität. Dank der Aufhebung der Wehrpflicht und der mit dem Bologna-Begriff bezeichneten Ausbildungsreform beginnen die richterlichen Laufbahnen heute um einiges früher. Am oberen Ende hat es im zweiten Jahrzehnt eine ausgeprägte Pensionswelle gegeben. Im Ergebnis sind die Richterinnen und Richter, wenn man einen Mittelwert bildet, jung wie nie zuvor. Weil der Spruchkörper, in dem ältere Richter die Jüngeren einfangen konnten, zur Ausnahme geworden ist, wird diese Tendenz indirekt noch verstärkt. Bei den Parlamenten dagegen wirkt es sich aus, dass die Gruppe der Senioren als Wähler weiterhin wächst. Viele Gesetze haben deshalb das Interesse der Älteren im Blick, viele Richter aber die Perspektive der Junioren. AnwBl: Spüren Sie einen sich aus der Veränderung ergebenden Konflikt? Adams: Wir sprechen von einer Konkurrenz der demokratischen Macht alter Wähler und der forensischen Macht junger Richter. Die daraus folgenden Spannungen werden uns begleiten. Der Gesetzgeber wird von den Wählern kontrolliert, der Richter allenfalls von Rechtsmittelinstanzen. Soweit diese ausgetrocknet worden sind, ist der Richter nur noch abhängig von sich selbst. Der Vorsitzende des Richterbundes hat kürzlich von einer „splendid isolation“ des Richters gesprochen. Ich würde es eine „sad isolation“ nennen. AnwBl: Macht Ihnen das Sorge? Adams: Nicht so sehr im Zivilrecht, wohl aber im Strafrecht. Vor allem hier bleibt Rechtsprechung staatliche Gewalt. Diesen Begriff verwendet bekanntlich schon der zweite Satz des Artikel 1 des Grundgesetzes. Insbesondere die Beweiswürdigung des Tatrichters, oft aber auch die Strafzumessung, ist ohne gut besetzte Spruchkörper und effiziente Rechtsmittel kaum noch kontrollierbar. Da käme es weniger auf richterlichen Schwung an, sondern auf zögernde Behutsamkeit. Die Entwicklung hat aber den schnellen Griff nach vermeintlicher Wahrheit nahegelegt. AnwBl: Kann das Bundesverfassungsgericht die kontrollierende Funktion einer Revisionsinstanz übernehmen? 787

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Adams: Darüber wird gestritten. Ich erinnere an die etwa zehn Jahre zurückliegende große Kontroverse, die dem Bundesverfassungsgericht selbstverliebten Historismus und im Umgang mit der Dritten Gewalt zuviel Zurückhaltung vorgeworfen hat. Hier beobachten wir einen neuen Aufbruch. Immer häufiger sind es Mitbürger aus zugewanderten Familien, die unsere Verfassung für sich als Magna Charta entdecken. In diesem Zusammenhang überrascht manche die lange unterschätzte Reichweite des Artikel 3 Abs. 3 Grundgesetz, soweit dort Abstammung, Sprache, Heimat, Herkunft und Glaube ausdrücklich angesprochen werden. Unvergessen sind die leider erst vor dem EGMR in einem weiteren Sinne erfolgreichen Ablehnungsanträge, mit denen beanstandet worden war, dass kein Richter der Strafsenate des Bundesgerichtshofs einen Migrationshintergrund aufweisen konnte. Der EGMR hat die deutsche Justiz ermahnt, sich bei Auswahl und Beförderung von Richtern an dem amerikanischen Vorbild der affirmative action zu orientieren. Die Mahnung blieb ungehört. Seitdem die Justiz aus der Personalhoheit der den Parlamenten verantwortlichen Minister herausgelöst ist, trägt keiner mehr eine konkrete und sichtbare Verantwortung. AnwBl: Wie meinen Sie das? Adams: Wir sehen die Gefahr, dass sich die Richterschaft zu einem geschlossenen System entwickelt und sich damit, überspitzt ausgedrückt, von der Gesellschaft löst. Der Nachwuchs bildet die etablierten Strukturen der Dritten Gewalt ab, anstatt diese durch Vielfalt zu bereichern. Die Beisitzer der neugeschaffenen staatlichen Schiedsgerichte sollen das aufbrechen. Die Bandbreite wird an dieser Stelle weiterreichen als bei den Kammern für Handelssachen. AnwBl: Trotz Ihrer Kritik an den Strukturen setzen Sie auf das Bundesverfassungsgericht. Warum? Adams: Die Auswahl dieser Richter folgt anderen Regeln als die Laufbahnen der ordentlichen Justiz. Vielleicht haben unsere Minderheiten das Bundesverfassungsgericht gerade deshalb für sich entdeckt. Der beginnende Aufbruch wird übrigens auch von den Alteingesessenen getragen. Zunehmend wird nämlich mit verfassungsrechtlichen Instrumenten versucht, den Gesetzesbeschlüssen parlamentarischer Zufallsmehrheiten entgegenzuwirken, die sich als Folge der häufig wechselnden Regierungskoalitionen herausbilden. AnwBl: Haben also die Bürger aus zugewanderten und die aus alteingesessenen Familien hier etwas gemeinsam? Adams: Ich meine ja – das politische wird durch das (verfassungs-)rechtliche Argument verstärkt oder sogar verdrängt. Advocacy, sagen unsere schlagfertigen britischen Kollegen, beats democracy. AnwBl: Halten Sie es daher für wünschenswert, dass die Verfassungsrichter mit ihrer Macht wieder entschlossener umgehen? Adams: Die Antwort darauf fällt schwer. An der Gesetzgebung sind wir als Wähler beteiligt, an der Rechtsprechung nicht. Auf lange Sicht hängt die Autorität des Bundesverfassungsgerichts wesentlich von der Nähe seiner Entscheidungen zu den demokratischen Wurzeln unserer Rechtsordnung ab. Mir 788

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scheint, dass man dies in Karlsruhe erkannt hat. Das Bundesverfassungsgericht konzentriert sich in jüngerer Zeit, vielleicht aus solchen Erwägungen, wieder stärker auf die Auslegung des im Grundgesetz vorzufindenden Wortlauts. Das mag manche der Antragsteller und Beschwerdeführer enttäuschen. Vor zwanzig Jahren hätte man solche Prioritäten noch als methodischen Irrweg bezeichnet. Heute geht die Rede vom judikativen Respekt vor der Verfassung um. Hinzu kommt: Die sog. neue Offenheit macht sich frei vom mühsamen Unter- und Überbau älterer Entscheidungen, der vielfach als juristische Selbstfesselung verstanden worden ist. AnwBl: Sprechen Sie sich also für oder gegen den Aufbruch aus? Adams: Ich schwanke. Neue Offenheit ist, wenn man sie zu Ende denkt, neue Unberechenbarkeit. Die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung schwimmt. Hinter Auslegung kann sich auch politische Macht des Richterkönigs verbergen. Um so größeres Gewicht müssen wir, auf allen Ebenen, der Auswahl der Richter beimessen. Minderheiten, auf die der EGMR unseren Blick gelenkt hat, sind bekanntlich (auch) im Bundesverfassungsgericht bislang nicht vertreten. AnwBl: Deutschland hat aber doch der Weisheit des Bundesverfassungsgerichts viel zu verdanken. Adams: Eben. Ich erinnere an die im letzten Jahr erschienene Habilitationsschrift eines jungen Staatsrechtlers mit dem viel zitierten Titel „Republik unter Vormundschaft – 60 Jahre deutscher Richteradel.“ Darin ist nachzulesen, dass nahezu alle fundamentalen außen- und innenpolitischen Entwicklungen unserer jungen Geschichte wesentlich vom Bundesverfassungsgericht beeinflusst oder sogar in Gang gesetzt worden sind. Es handelte und handelt sich um eine fürsorgliche Komplementärfunktion zur Rolle des gewählten Gesetzgebers. Wir müssen deshalb darüber nachdenken, wie die Auswahl der mit solcher Verantwortung betrauten Persönlichkeiten zur öffentlichen Sache gemacht werden kann, die sie in den Vereinigten Staaten seit Langem ist. AnwBl: Das ist ein Programm auf längere Sicht. Stehen in Karlsruhe schon demnächst Entscheidungen von besonderer Tragweite an? Adams: Dazu zählt vor allem das Gesetz zur Abwehr einer Störung der Wirtschaftsführung von Bund und Ländern. Mit diesem Gesetz hat uns eine fünfzehn Jahre zurückreichende Altlast eingeholt. Hinter dem bürokratischen Namen des Gesetzes verbirgt sich die als Stundung geregelte Aussetzung aller Auszahlungen auf staatliche Anleihen für insgesamt zehn Jahre. Der Kabinettsbeschluss mit dem maßgebenden Stichtag ist über Nacht ergangen. Dies war koordiniert mit den anderen europäischen Regierungen. Zugleich hat es die bekannten Einschränkungen des Börsenhandels gegeben. Wir halten das Gesetz, dessen Begründung jeden Leser zutiefst alarmieren muss, für eine entschädigungslose und deshalb verbotene Enteignung. AnwBl: Das Gesetz gilt aber doch nur für Papiere, die zum Zeitpunkt des Stichtags Gläubigern innerhalb der EU gehörten. Außerdem bleiben die Investoren verschont, die nachweisen können, dass ihre Anleihen am Stichtag

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insgesamt den Schwellenwert von nominal einer halben Million Euro unterschritten haben. Adams: Trotzdem lässt die Sozialpflichtigkeit des Eigentums keine derartigen Eingriffe in rechtlich bindende Schuldverhältnisse zu. Man hält uns zwar entgegen, die Anleihen seien ohne dieses Gesetz wertlos, weil die öffentlichen Schuldner sonst zahlungsunfähig wären. Der traurige Glanz dieses Arguments trügt – die willkürliche Begünstigung ausländischer und auch eines für schutzwürdig gehaltenen Kreises „kleinerer“ inländischer Gläubiger kennzeichnet das Gesetz als verwirrende Mischung. Außen-, sozial- und fiskalpolitische Zwecke stehen ungeordnet nebeneinander. AnwBl: Kritisieren Sie damit ausdrücklich auch die Privilegierung außereuropäischer Gläubiger? Adams: Diese müssen das Risiko der Zahlungsfähigkeit ihrer staatlichen Schuldner genauso tragen wie die Bürger der Union. Stattdessen verteilt das Gesetz die begrenzten finanziellen Mittel von Europa ins Ausland. Dafür aber reicht das Motiv, einen internationalen Kursverfall zu verhindern, nicht aus. AnwBl: Das Gesetz gilt unter Politikern als alternativlos. Auch unsere Nachbarstaaten sehen dies so. Kennen Sie eine andere Lösung? Adams: Mit dem Argument der angeblichen Alternativlosigkeit werden alle politischen und rechtlichen Diskurse von vornherein erstickt. Die Zahlungsfähigkeit der staatlichen Kassen muss über Steuern gewährleistet werden, notfalls über eine noch höhere Mehrwertsteuer oder einen Schulden-Soli, der sich verfassungsrechtlich absichern ließe. In diese Richtung hätte ich mir mehr europäische Impulse gewünscht. Vermutlich befürchteten einzelne Mitgliedstaaten der Union, dass ihre Abgabenlast bereits an die Grenze stoße. AnwBl: Wird sich das Bundesverfassungsgericht gegen Europa stellen können? Adams: Dazu gehört Mut. Aber gerade in Grenzsituationen, die Mut erfordern, kann nur das Recht helfen. Glaubt man dem amtlich mitgeteilten Anlass des Gesetzes, dann wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so oder so existentiell wirken. Die Staaten argumentieren, sie könnten nach zehn Jahren ihre sämtlichen Verbindlichkeiten wieder uneingeschränkt bedienen und neue Kredite erhalten. Die enttäuschten Gläubiger aber werden die Lektion nicht vergessen und aus der Erfahrung bittere Konsequenzen ziehen. AnwBl: Die Hoffnung, die der DAV auf das Bundesverfassungsgericht setzt, sendet ein deutliches Signal: Alle demokratischen Zweifel an dessen Rolle erweisen sich als bloßes Glasperlenspiel. Adams: Das kann man auch anders sehen. Über den Weg nach Karlsruhe hat man im Plenum des Bundestages offen gesprochen. Aus meiner ganz persönlichen Sicht würde manches zweifelhafte Gesetz in Deutschland schon parlamentarisch scheitern, wenn es nicht die Möglichkeit gäbe, dessen Überprüfung dem Bundesverfassungsgericht zu überlassen. Erst die geteilte Verantwortung verleitet zur legislativen Verwegenheit. Die Richter aber könnten, wie früher, europapolitische Rücksicht nehmen und mit einem Ja-aber-Urteil 790

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Grenzen für die Zukunft setzen. Allzu oft wird solche Rhetorik von der Geschichte überholt. AnwBl: Was halten Sie von den steuerlichen Aspekten des Gesetzes? Adams: Die Auffassung der Finanzbehörden, bilanzierende Gewerbetreibende müssten die nur gestundeten Zinsansprüche mit dem jeweiligen Gegenwartswert versteuern, nenne ich dreist. Hier wird Enteignung besteuert. Der Fiskus profitiert doppelt. Aber viele Finanzinstitute dürften auf diese Zumutung aus kosmetischen Gründen angewiesen sein. AnwBl: Wenn Sie zurückblicken, können Sie uns ein Beispiel aus der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts nennen, an dem die neue Konzentration auf den Wortlaut des Grundgesetzes bereits sichtbar wird? Adams: Die Entscheidung über Absprachen im Strafverfahren! Schon früher hatten die britischen Law Lords und ihr Nachfolger, der Supreme Court, das Guilty Plea des Angeklagten im Blick auf die Menschenrechtskonvention geprüft. Nach deren Artikel 5 Absatz 1 darf Freiheit nur durch gerichtliche Verurteilung entzogen werden. Beim Guilty Plea gibt es zwar keinen richterlichen Schuldspruch, doch eine verhängte Strafe. Dies hat in Straßburg eben noch gehalten, weil der angelsächsische Strafprozess ein reines Parteiverfahren ist. Den kritischen Unterton haben wir seinerzeit überhört. Auch in unserem Falle hatte ein Angeklagter gegenüber dem Revisionsgericht gerügt, seine Verurteilung sei abgesprochen gewesen, denn die Richter hätten mit ihm und der Staatsanwaltschaft das alsdann verkündete Ergebnis vereinbart. Statt zu entscheiden, hätten die Richter diese Vereinbarung vollzogen. AnwBl: Das Gesetz des Jahres 2009 hat verboten, dass ein Gericht sich mit den Parteien über den Schuldspruch verständigt. Adams: Genau deshalb hatte der Bundesgerichtshof die Revision verworfen – weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Mit der Verfassungsbeschwerde argumentierte der Angeklagte, die gesetzliche Regelung sei längst zur frommen Fassade geworden. In Wirklichkeit reiche es der Praxis aus, dass die Angeklagten mit zur Routine gewordenen Formulierungen erklären, der vereinbarten Beweiswürdigung und Strafe nicht entgegenzutreten. So sei es auch in seinem Falle gewesen. Die umfangreiche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht, bei der sämtliche Mitglieder unseres Strafrechtsausschusses gehört wurden, hat die Behauptung bestätigt. Die Hüter unserer Verfassung haben das für eine Verletzung von Artikel 104 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes gehalten. Danach nämlich darf über eine Freiheitsentziehung „nur der Richter“ entscheiden. Das Wort „nur“ gab den Ausschlag; es verbietet den Richtern des inquisitorischen Verfahrens, eine solche Entscheidung mit anderen zu teilen und durch Absprache festzulegen. Derart kurze auf den Wortlaut des Grundgesetzes verweisende Begründungen signalisieren, wie ich meine, eine Wende. AnwBl: Aber das Bundesverfassungsgericht hat § 257c der Strafprozessordnung nicht für nichtig erklärt. Adams: Das konnte und brauchte der Senat auch nicht. Er hat eine verfassungskonforme Auslegung vorgegeben, die es dem Tatrichter untersagt, an 791

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Verständigungen über zu vollziehende Freiheitsstrafen mitzuwirken. Seither tobt der Streit darüber, ob als Folge dieser Entscheidung die Angeklagten dort, wo zu verbüßende Freiheitsstrafen nach Vereinbarung verhängt und rechtskräftig geworden sind, Wiederaufnahme beantragen können. Unabhängig davon haben wir die Kollegen bereits alarmiert: Die Zivilgerichte könnten bei entsprechenden Schadensersatzklagen der Mandanten möglicherweise dazu neigen, die Karlsruher Wende für vorhersehbar zu halten. Sieht man das so, hätte zum Rechtsmittel geraten werden müssen. AnwBl: Wenn in den rechtskräftig abgeschlossenen Fällen die Wiederaufnahme statthaft sein sollte, ist dann im weiteren Verlauf doch wieder mit ähnlichen Freiheitsstrafen zu rechnen? Adams: Nach oben schützt das zunehmend umstrittene Verschlechterungsverbot. Im Übrigen besteht ein delikates Sonderproblem. Sollte den abgesprochenen Strafurteilen nicht die vorausgesetzte Qualität eines richterlichen Urteils zukommen, erscheint es denkbar, dass die Verjährungsfristen weitergelaufen sind und sich vollendet haben. AnwBl: Und was halten Sie selbst von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts? Adams: Sie gibt dem Richteramt die Würde zurück, die es verdient und auf die wir angewiesen sind. Die sog. Absprachen waren allzu oft das Ergebnis von Druck und Überredung. Das hat alle Beteiligten beschädigt. AnwBl: Vor einigen Monaten haben der Richterbund und der DAV vereinbart, den Nachwuchs durch Mock Trials in nachgespielten Verhandlungen gemeinsam zu schulen. Gibt es Defizite, die auf diesem Wege überwunden werden sollen? Adams: Mündliche Verhandlungen werden in der gesamten Gerichtsbarkeit immer mehr beherrscht von dem Bemühen, einvernehmliche Erledigungen herbeizuführen. Die streitigen forensischen Formen werden verlernt. Das fällt mir vor allem dann auf, wenn ich vor den Schiedsgerichten unsere britischen und französischen Kollegen beobachten kann. Eine Gruppe junger Richter und Staatsanwälte hat angeregt, die forensische Form als geregelte Kommunikation in mündlichen Verhandlungen wieder neu zu entdecken. Der formalisierte Prozess, so haben sie argumentiert, vermittelt Distanz und Objektivität. Zu meiner Freude haben wir das gemeinsam mit dem Richterbund aufgenommen. Die eben besprochene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird zumindest im Strafrecht ohnehin wieder eine vorsichtige Annäherung an den strenger geordneten Prozess zur Folge haben. AnwBl: Wie beurteilen Sie den auffälligen statistischen Rückgang der Anwaltszulassungen? Adams: Er hat nur zum Teil demographische Gründe. Eine massive Veränderung ist eingetreten, weil durchgesetzt wurde, dass unsere Versorgungswerke mit Erreichen des 65. Lebensjahres Renten nur noch auszahlen dürfen, wenn der Berechtigte auf seine Zulassung verzichtet. Das hat viele gezwungen, eine bittere Konsequenz zu ziehen. Mich hat diese Entwicklung geschmerzt. Die

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junge Generation besteht darauf, die doppelte Belastung durch die Versorgung der Älteren und deren fortdauernde Konkurrenz sei unfair gewesen. AnwBl: Überlassen Sie Ihrem vorübergehenden Nachfolger ein rechtspolitisches Thema, das für Sie besonders negativ aufgeladen ist? Adams: Da brauche ich gar nicht nachzudenken. Auf den Entwurf des Gesetzes zur Stärkung des Vertrauens in die Redlichkeit der Gewerbetreibenden (kurz V-Gesetz genannt) kann ich nur mit Empörung reagieren. Ein Vorstandskollege, der sich für Geschichte interessiert, hat dazu polemisch einen Begriff verwendet, den ich hier nicht wiederholen möchte. AnwBl: Warum die Aufregung? Brauchen wir, auch als Folge der seit eineinhalb Jahrzehnten anhaltenden Finanz- und Haushaltskrise, nicht doch mehr Vertrauen? Adams: Das Gesetz soll alle gewerbetreibenden Kaufleute mit mehr als zehn Beschäftigten oder einem Jahresumsatz von mehr als zehn Millionen Euro dazu verpflichten, einen Compliance-Beauftragten zu bestellen. Das gilt auch für Einzelfirmen und Personengesellschaften. Der Compliance-Beauftragte soll verpflichtet werden, Anhaltspunkte für strafbare Handlungen bei Ausübung des Gewerbebetriebs aufzugreifen. Gelingt es ihm nicht, eine drohende Straftat zu verhindern oder die Folgen begangener Straftaten, etwa Steuerhinterziehungen, rückgängig zu machen, ist er zur Anzeige verpflichtet. Damit würde ein Netz der Denunziation über das Land gelegt. Für dessen Kosten und Effizienz müssten die Denunzierten selbst eintreten. AnwBl: Davor braucht sich nur zu fürchten, wer Straftaten begehen will. Der Redliche ist nicht betroffen. Er wird im Wettbewerb sogar gestärkt. Adams: Ich will diese platte Behauptung nicht durch eine juristische Antwort ehren. Wer den Bürger institutionell in die Pflicht nimmt, sich selbst oder sein Umfeld ans Messer zu liefern, verändert die Republik. Mich schaudert bei dem Gedanken, wie schnell unsere kollektive Erinnerung an die beiden Diktaturen verlorengegangen ist. AnwBl: Wird der Widerstand Erfolg haben? Adams: Die Verfasser des Entwurfs argumentieren mit einer in Brüssel getroffenen Absprache, die auf gleichförmige europäische Regelungen drängt. Doch zeichnet sich schon jetzt ab, dass dieses Projekt in den Parlamenten unserer Nachbarstaaten untergehen wird. Das hilft auch uns, weil sonst unstatthafte Verzerrungen entstehen würden. AnwBl: Um den düsteren Ton zu vertreiben – gibt es aus Ihrer bisherigen Amtszeit eine Thematik, auf die Sie besonders zufrieden zurücksehen? Adams: Die gibt es in der Tat. Wir haben eine Arbeitsgemeinschaft interessierter Anwältinnen und Anwälte gegründet, die den Titel trägt „Artikel 4 – Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des Bekenntnisses.“ Der unmittelbare Anstoß ging von dem Verzicht der beiden christlichen Kirchen darauf aus, ihren durch das Grundgesetz geschützten Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts fortzuführen. Seit Längerem gilt auch Christlichkeit als „believing without belonging“ und hat sich anstelle der bisherigen großen 793

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Volkskirchen eine bunte religiöse Vielfalt entwickelt. Ein Theologe (F. W. Graf) hat diese Tendenz schon früh als strukturelle Islamisierung der konfessionellen Christentümer bezeichnet. Da zugleich die Bereitschaft zum öffentlichen religiösen Bekenntnis allseits gewachsen ist, haben uns die weltlichrechtlichen Folgen dieser Implosion kirchlicher Institutionen interessiert. AnwBl: Sollte aber insbesondere die Anwaltschaft nicht scharf zwischen staatlichem Recht und privaten Weltanschauungen unterscheiden? Adams: Diese Unterscheidung stellen wir nicht in Frage. Doch führt religiöse Vielfalt, wie seit Jahren zu beobachten ist, zu gesellschaftlichen Konflikten. Das gilt nicht nur für die berühmte Minaretten-Frage oder die immer noch ungelöste Burka-Problematik. Solche und ähnliche Auseinandersetzungen können, anders als früher, nicht mehr durch kirchliche Organisationen aufgefangen, verarbeitet und neutralisiert werden. Wir müssen, wenn Sie mir das Pathos nachsehen, zu einem neuen Gesellschaftsvertrag finden, selbstverständlich unter Einbeziehung des ebenfalls vielfältigen Islam. AnwBl: Wo sehen Sie denn da die Rolle der Anwaltschaft? Adams: Was einstmals Nachbarstreitigkeiten um den berüchtigten Baum auf der Grenze waren, das sind heute die multiplen Konflikte mit weltanschaulichen Bezügen. Die Vermittlung eines toleranten Zusammenlebens ohne Verlust religiöser Identität wird deshalb zur langfristigen Aufgabe, die Distanz und Neutralität erfordert. All das kann von niemandem besser geleistet werden als von der freiberuflichen, unabhängigen, konflikterfahrenen und toleranten Advokatur. Nicht wenige Kollegen betätigen sich inzwischen als Rechtsbeistand religiöser Gruppierungen. Unsere Arbeitsgemeinschaft will das fördern und vertiefen. Dabei handelt es sich, wie ich meine, um eine im wahrsten Sinne des Wortes Frieden stiftende Initiative. AnwBl: Der nächste Anwaltstag, der in Gelsenkirchen stattfindet, steht unter dem Motto: Schicksalsgemeinschaft im Recht. Was wollen Sie damit anstoßen? Adams: Die großen politischen Themen unserer Zeit sind bekannt. Ich will die gewaltigen Herausforderungen nicht aufzählen, die allesamt mit Worten wie „sprengt Grenzen“, „völlig unvorhersehbar“ und „grundlegender Umbau“ beschrieben werden. Auch verzichte ich darauf, von Abgründen oder von Zeichen zu sprechen, die auf Sturm stehen. Wie meine persönliche Befindlichkeit zeigt, neige ich zur Zuversicht. Doch müssen wir umdenken. Recht darf nun wirklich nicht mehr nur als Addition von Normen verstanden werden. Es muss uns dazu anhalten, Verantwortung zu übernehmen. AnwBl: Erinnert der Begriff der Schicksalsgemeinschaft aber nicht sehr an die unselige Volksgemeinschaft? Adams: Was Sie meinen, war ein Monstrum. Es vermittelte Identität durch Ausschließung und Willkür. Wir dagegen knüpfen an eine wachsende Überzeugung an, dass die aufgelaufenen Probleme als gemeinsam zu meisternde Herausforderung verstanden werden müssen. Dieses Bewusstsein hat zunächst noch diffus mit der Ethikdiskussion vor zwanzig Jahren begonnen. Schicksalsgemeinschaft bedeutet Einbeziehung aller. Steuerhinterziehung 794

Fünfzehn Jahre später!

zum Beispiel muss man, um wirklich erfolgreich zu sein, bekämpfen, indem zur Mitverantwortung verführt wird. Wir wollen eine Diskussion, die Werte im Recht als das einigende Band versteht, vielleicht das einzige verbliebene überhaupt. Wir wollen aber auch die Gefahren diskutieren, die mit einer irrlichternden Rechtsromantik verbunden wären. AnwBl: Sie haben sich eben kritisch zum Entwurf des Gesetzes über die Aussetzung von Zinszahlungen geäußert. Passt das zu dem, was Sie uns jetzt sagen? Adams: Verantwortung darf nicht ungerecht verteilt werden. Der Anwaltstag im übernächsten Jahr, den wir sozusagen geschwisterlich mit unseren französischen Freunden an 2000 Jahre alten historischen Plätzen, nämlich in Trier und Metz, veranstalten wollen, bringt dies treffend zum Ausdruck. Wir haben uns in der gemeinsamen europäische Sprache auf das Thema geeinigt – Justitia fundamentum! Bis dahin bin ich, um das ebenfalls in dieser Sprache auszudrücken, längst post partum und also wieder dabei. AnwBl: Wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Und wir wünschen Ihnen eine filia oder einen filius fortunae.

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Anwaltliche Unabhängigkeit Wozu? Wie weit? Wovon?

Inhaltsübersicht a) Besondere Rolle der Anwälte im Rechtspflegesystem aa) Organ der Rechtspflege bb) Vertretung nur berechtigter Ansprüche cc) Orientierung am Allgemeininteresse b) Anwälte mit staatlichen Aufgaben c) Verbote jeglicher Abhängigkeit vom Staat 2. Unabhängigkeit vom Klienten a) Wahrung der Klienteninteressen b) Vorbehaltlose Interessenwahrung c) Innere Unabhängigkeit, hoher ethischer Maßstab 3. Unabhängigkeit von Dritten a) Unabhängigkeit vom Rechtsgegner b) Unabhängigkeit von Anwälten derselben Kanzlei c) Unabhängigkeit vom Arbeitgeber aa) Anstellung bei einem Anwalt bb) Anstellung bei einem Nicht-Anwalt cc) Anstellung im Zweitberuf d) Unabhängigkeit bei selbständiger Nebentätigkeit e) Sonstige Unabhängigkeiten

I. Ausgangslage 1. Notwendigkeit oder arabischer Phönix? 2. Ein Blick zurück 3. Problematische Normierung II. Unabhängigkeit wozu? 1. Rechtsstaatliche Notwendigkeit a) Zugang zum Recht b) Rechtskontrolle und -fortbildung c) Anwälte als Voraussetzung des Rechtsstaats d) Unbeeinflusste Interessenwahrung aa) Einseitige Interessenwahrung bb) Wahrung der subjektiven Interessen des Klienten cc) Individuelle Interessenwahrung ist Verwirklichung des Rechts 2. Notwendige Regulierung III. Unabhängigkeit wie weit? 1. Notwendiger Umfang a) Keine mandatsstörende Abhängigkeiten … b) … und Interessenkonflikte c) Allgemeine Unabhängigkeitsgebote 2. Weiter gehende Unabhängigkeit IV. Unabhängigkeit wovon? 1. Unabhängigkeit vom Staat

V. Schlussbemerkungen

I. Ausgangslage 1. Notwendigkeit oder arabischer Phönix? Der Unabhängigkeit der Anwälte und Anwältinnen wird ein hoher Stellenwert beigemessen. Neben der Verschwiegenheit und dem Verbot von Interes-

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senkonflikten wird die Unabhängigkeit als einer der drei unverrückbaren Grundpfeiler des anwaltlichen Berufsrechts bezeichnet. So klar und unangefochten die anwaltliche Unabhängigkeit im Grundsatz scheint, so schwierig wird es, sie zu begründen und zu konkretisieren. Begründungen geraten rasch ins Allgemeine oder weichen auf das Verbot von Interessenkonflikten aus. Bei den Versuchen, die Unabhängigkeit zu konkretisieren, fällt eine gewisse Hilflosigkeit auf. Klare, sachbezogene Kriterien fehlen weitgehend. Auffällig ist auch, dass die Unabhängigkeit vor allem als schlagwortartiges Dogma im berufspolitischen Diskurs ins Feld geführt wird, wenn es darum geht, andere Dienstleister vom Anwaltsmarkt auszugrenzen. Das muss Skepsis wecken. Ist die Unabhängigkeit der Anwälte wirklich notwendig? Oder ist sie nicht vielmehr ein Phantasiegebilde wie der arabische Phönix, dessen Existenz keiner anzweifelt, den aber noch niemand gesehen hat? 2. Ein Blick zurück Mit dem Entstehen der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und deren Gesetzgebungstätigkeit nahm auch der Bedarf an ausgebildeten Juristen zu. Das bisherige, im Lauf der Zeit entstandene unüberblickbare Gewirr unterschiedlichster Formen von Prozessbeiständen rief nach einer Ordnung. Ausserdem genossen die Rechtsbeistände gegen Ende des ancien régime einen miserablen Ruf, den es zu korrigieren galt. Vor diesem Hintergrund sind die meisten europäischen Anwaltsgesetze und die meisten Anwaltsverbände entstanden. Das anwaltliche Sonderrecht orientierte sich primär am Anwalt als Prozessvertreter, der als Teil des Rechtspflegesystems mit einer starken Bindung zum Staat als eine Art Halbbeamter begriffen wurde. Dieses Verständnis kam in einer Reihe von Loyalitätspflichten der Anwälte gegenüber dem Staat zum Ausdruck. Das Bemühen, das schlechte Anwaltsbild zu korrigieren, äusserte sich in zahlreichen Regeln, die den Anwälten ein besonderes Ansehen verleihen sollten. Überdies gaben sich die Berufsverbände eine zunftähnliche Ordnung und unterstellten ihre Mitglieder ausgedehnten Verhaltenspflichten, insbesondere auch hinsichtlich des Verkehrs unter Berufskollegen. Dieses Anwaltsverständnis hat sich stark geändert. Namentlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Anwaltsberuf einem grundlegenden Wandel unterworfen. Aus Loyalitätspflichten zum Staat haben sich eigentliche Berufspflichten entwickelt. Die Verpflichtungen gegenüber Berufskollegen und -kolleginnen wurden durch Verschärfungen des Wettbewerbsrechts abgeschwächt oder aufgehoben. Der Anwalt wurde vom streng reglementierten, beamtenähnlichen Prozessvertreter sukzessive zum freien Rechtsdienstleister. Aufgrund des anhaltenden Drucks auf das anwaltliche Sonderrecht, vor allem aufgrund der Bedürfnisse der Geschäftswelt, dürfte dieser Liberalisierungsprozess noch nicht abgeschlossen sein. Zahlreiche berufsrechtliche Begriffe und Vorschriften zeugen indessen noch heute von der traditionellen Nähe des Anwalts zum Staat, von der kartellisti798

Anwaltliche Unabhängigkeit. Wozu? Wie weit? Wovon?

schen Haltung der Berufsverbände und vom Bemühen, die Anwälte gleichsam auf eine höhere Stufe zu stellen. Zu denken ist an die Anwalts-„Gebühr“, an eigentliche Gebührentarife, an den Berufs-„Stand“, an die „Würde“ des Anwalts und des Anwaltsberufs, an Werbebeschränkungen, an Verbote von Haftungsfreizeichnungen etc. Dieses gefärbte, im Anwaltsverständnis des 19. Jahrhunderts begründete Vokabular verstellt die klare Sicht auf das Anwaltsrecht und dessen Legitimation. Bevor es unkritisch übernommen und weitergetragen wird, empfiehlt sich eine nüchterne Beurteilung im heutigen tatsächlichen und rechtlichen Umfeld. Das gilt auch für die Unabhängigkeit. 3. Problematische Normierung Vollständig unabhängig, vollständig frei von allen Bindungen und Einflüssen, ist niemand. Auch Anwälte sind abhängig von Mitmenschen und Umwelt. Eine absolute, umfassende Unabhängigkeit ist eine Utopie, die nie bestanden hat und nie bestehen wird. Eine Verpflichtung zu absoluter Unabhängigkeit ist weder erfüllbar noch sinnvoll. Zudem ist die Unabhängigkeit eine innere Haltung, die einer Normierung nicht zugänglich ist. Eine unabhängige Haltung lässt sich nicht befehlen. Möglich sind höchstens programmatische Grundsätze oder aber Vorschriften zu äusseren Erscheinungsformen, die typischerweise eine Abhängigkeit oder Unabhängigkeit indizieren. Damit stellt sich die Frage, ob ein derart abstrakter und schwer normierbarer Zustand überhaupt angeordnet werden soll. Von vornherein kann es nicht darum gehen, den Anwälten und Anwältinnen jede Abhängigkeit zu verbieten. Zu fragen ist vielmehr, wozu der Anwalt unabhängig sein soll, wie weit und wovon.

II. Unabhängigkeit wozu? 1. Rechtsstaatliche Notwendigkeit a) Zugang zum Recht Im Rechtsstaat muss jedem rechtsuchenden Bürger der Zugang zum Recht offen stehen. Nun war und ist der Bürger zu keiner Zeit in der Lage, seine Rechte selber zu kennen und schon gar nicht, sie selber wahrzunehmen. Ohne fachmännische Unterstützung kann er sich weder gegen die Willkür des Staats oder Dritter ausreichend zur Wehr setzen noch seine Rechte gegen jene durchsetzen, die sie ihm verwehren. Ohne fachmännische Unterstützung ist der Zugang zum Recht nicht gewährleistet. Im Rechtsstaat ist es deshalb notwendig, dass dem Bürger Rechtsbeistände zur Verfügung stehen, die ihn beim Zugang zum Recht unterstützen. b) Rechtskontrolle und -fortbildung Das Recht ist keine statisch feststehende Ordnung. Es entwickelt sich dynamisch aus einer Vielzahl von Interessengegensätzen, die fortlaufend entstehen und gelöst werden. Recht wird kontradiktorisch gewonnen, tagtäglich und auf allen Ebenen. Es entsteht durch Auseinandersetzung, durch den Ausgleich 799

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von Interessengegensätzen. „Alles Recht in der Welt ist erstritten worden, jeder wichtige Rechtssatz hat erst denen, die sich ihm widersetzten, abgerungen werden müssen“1. Ausgewogen wird es nur, wenn Argument und Gegenargument, Angriff und Verteidigung im Gleichgewicht sind, wenn die relevanten Argumente beider Seiten gleichermassen sorgfältig und kompetent vorgebracht werden. Die Qualität des Rechts ist umso höher, je besser der Bürger seine Interessen wahrnimmt, je besser das Scharnier zwischen Bürger und Recht funktioniert, je höher das Niveau der juristischen Argumentation ist. Täglich stehen tausende von Rechtsfragen auf dem Prüfstand. Jedes Gesetz, jede Verordnung, jeder Verwaltungsakt und jedes rechtlich relevante Handeln Privater unterliegt der möglichen Kontrolle durch ausgewiesene Rechtsberater. Die Kontrolle hat präventive und therapeutische Wirkung. Präventiv, weil jedermann weiss, dass er bei seinem Handeln diesem Test ausgesetzt ist, und therapeutisch, weil Fehler korrigiert werden können. Hoch qualifizierte Rechtsbeistände garantieren eine wirksame Rechtskontrolle und eine ausgewogene Rechtsfortbildung. c) Anwälte als Voraussetzung des Rechtsstaats Diese Rolle des Rechtsbeistands wird in den meisten Rechtsordnungen den Anwälten zugewiesen. Anwälte und Anwältinnen sind unabdingbar für den freien Zugang zum Recht und tragen entscheidend zur Rechtskontrolle und -fortbildung bei. Sie sind eine notwendige Voraussetzung des Rechtsstaats. Der Rechtsstaat braucht den Anwalt, um Rechtsstaat zu bleiben2. d) Unbeeinflusste Interessenwahrung Optimale Unterstützung und Interessenwahrung bedeutet, dass der Anwalt sein Mandat vorbehaltlos, einzig und allein im Interesse des Klienten führt. Der Zugang zum Recht ist nicht gewährleistet, wenn der Anwalt das Mandat gleichsam mit angezogener Handbremse führt, weil er auf die Interessen anderer schielt, von denen er sich etwas erhofft, oder weil er auf andere Rücksicht nehmen muss. Unbeeinflusste anwaltliche Interessenwahrung ist im Rechtsstaat unabdingbar. aa) Einseitige Interessenwahrung Unbeeinflusste Interessenwahrung muss einseitige Interessenwahrung sein. Die Interessen des Klienten sind die einzige Richtschnur, ihre Vertretung die eigentliche raison d’être des Anwalts. Der Anwalt kann seine Interessenwahrungspflicht zugunsten des Klienten nicht vorbehaltlos erfüllen, wenn ihm gleichzeitig abweichende Loyalitätspflichten abverlangt werden. Anders als der Richter erfüllt der Anwalt seine rechtsstaatliche Aufgabe nicht durch objektive Wahrheitssuche und ausgewogene Rechtsanwendung, sondern dadurch, dass er die individuellen Interessen seines Klienten einseitig wahrt.

___________ 1 Rudolf von Jhering, Der Kampf ums Recht, 1872, Neuauflage Frankfurt am Main, 2003, S. 5. 2 Walter Schluep, Über Sinn und Funktion des Anwaltsgeheimnisses im Rechtsstaat, Zürich, 1994, S. 62.

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Der Anwalt ist Interessenvertreter seines Klienten, nicht dessen Richter. Der Anwalt muss parteiisch sein, der Richter darf es nicht. Das gilt auch dann, wenn die Interessenwahrung verlangt, dass unsichere Rechtspositionen oder Auffassungen vertreten werden, die im Widerspruch zur herrschenden Lehre und Praxis stehen. Wenn die Anwälte und Anwältinnen nur noch gefestigte Rechtspositionen vertreten dürften, wäre dem Rechtsuchenden die Möglichkeit genommen, einen unsicheren, aber doch denkbaren Anspruch mit anwaltlicher Hilfe geltend zu machen. Die rechtsstaatliche Kontrollfunktion der Anwälte würde nicht wahrgenommen, die Rechtsfortbildung wäre gehemmt. bb) Wahrung der subjektiven Interessen des Klienten Welches die Interessen sind, die der Anwalt, die Anwältin wahren soll, bestimmt der Klient aus seiner subjektiven Sicht. Er kennt seine Interessen selbst am besten und weiss besser als jeder andere, was für ihn wesentlich und was belanglos ist. Dementsprechend entscheidet er, welche Interessen er verfolgen will, und ob und in welchem Umfang ein Anwalt oder eine Anwältin ihn dabei unterstützen soll. Das kommt im Mandat zum Ausdruck, das der Klient mit seinem Anwalt vereinbart. Rechtsordnungen, die von der Idee des mündigen Bürgers ausgehen, respektieren den Willen des Klienten. Der Klient will zu seinem Recht kommen. Er beauftragt den Anwalt, die Anwältin sein Problem zu lösen, seine Vorstellungen und seine Ziele zu erreichen. Wenn der Anwalt ein Mandat übernimmt, ist er verpflichtet, die Klienteninteressen im vereinbarten Umfang mit allen von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Mitteln vorbehaltlos und nach besten Kräften zu verfolgen. cc) Individuelle Interessenwahrung ist Verwirklichung des Rechts Sowohl die vertraglichen Pflichten aus dem Anwaltsmandat als auch rechtsstaatliche Gründe verlangen, dass der Anwalt, die Anwältin nur die individuellen Interessen des Klienten wahrt, parteiisch und einseitig, so wie sie der Klient aus seiner subjektiven Sicht definiert, und so wie sie mit dem Mandat verbindlich vereinbart worden sind. Indem die Anwälte unmittelbar die Interessen ihrer Klienten einseitig wahren, tragen sie mittelbar zur Verwirklichung des Rechtsstaats und zur Weiterentwicklung des Rechts bei. Gerade in der parteiischen, einseitigen Interessenvertretung liegt ihre unverzichtbare Funktion im Rechtsstaat. Der Kampf um den individuellen Anspruch ist Verwirklichung des objektiven Rechts3. 2. Notwendige Regulierung Wenn also rechtsstaatlich unverzichtbar ist, dass die Anwälte und Anwältinnen die Interessen ihrer Klienten unbeeinflusst wahren, muss dies auf irgendeine Weise sichergestellt sein. Der freie Markt, das Spiel von Angebot und

___________ 3 Rudolf von Jhering, Der Kampf ums Recht, S. 31.

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Nachfrage, führt nicht zum Zugang zum Recht für jedermann, insbesondere nicht zur unbeeinflussten Interessenwahrung. Deshalb ist im Rechtsstaat eine Regulierung notwendig, welche die unbeeinflusste Interessenwahrung durch die Anwälte und Anwältinnen gewährleistet.

III. Unabhängigkeit wie weit? 1. Notwendiger Umfang Die Unabhängigkeit der Anwälte ist kein Ziel in sich selbst und als solche nicht schutzbedürftig. Im Gegenteil, ihr gesetzlicher Schutz führt zur Bevorzugung eines Berufszweigs, was nicht unproblematisch ist. Jedenfalls muss die Legitimation eines Unabhängigkeitsgebots für Anwälte besonders solide abgestützt sein. Die anwaltliche Unabhängigkeit ist jedoch insoweit erforderlich, als sie eine Voraussetzung der unbeeinflussten Interessenwahrung ist und den Zugang zum Recht sicherstellt4. Damit stellt sich die Frage, was ein Unabhängigkeitsgebot für Anwälte und Anwältinnen zur unbeeinflussten Interessenwahrung beitragen kann. Erst aus der Antwort auf diese Frage kann abgeleitet werden, ob eine Regelung zur Unabhängigkeit der Anwälte sich rechtfertigt oder sogar notwendig ist, und wie eine solche ausgestaltet werden sollte. a) Keine mandatsstörende Abhängigkeiten … Wer unabhängig ist, lässt sich nicht beeinflussen. Mit unabhängigen Anwälten und Anwältinnen ist die unbeeinflusste Interessenwahrung gewährleistet. Aber nicht jeder, der abhängig ist, lässt sich beeinflussen, und nicht jede Abhängigkeit der Anwälte tangiert die unbeeinflusste Interessenwahrung. Auch enge Abhängigkeiten und Bindungen beeinträchtigen eine Mandatsführung im ausschliesslichen Klienteninteresse nicht, wenn sie mit dem Mandat nichts zu tun haben. Nur eine Abhängigkeit, die einen Bezug zum Mandat aufweist, kann für den Zugang zum Recht überhaupt von Belang sein. Aber selbst mandatsbezogene Abhängigkeiten beeinträchtigen die unbeeinflusste Interessenwahrung nicht immer. Einflüsse auf den Anwalt, die im Interesse des Klienten liegen, unterstützen vielmehr eine optimale Interessenwahrung und erleichtern den Zugang zum Recht. So ist der Anwalt zweifellos von einem Klienten abhängig, mit dem er den Grossteil seines Honorarumsatzes erzielt. Hat dieser Hauptklient ebenfalls ein Interesse daran, dass der Anwalt für einen anderen Klienten obsiegt, kann diese Abhängigkeit die unbeeinflusste Interessenwahrung nicht beeinträchtigen. Wenn schon, sollten solche unterstützende Beeinflussungen nicht verhindert, sondern gefördert werden. Um die unbeeinflusste Interessenwahrung zu gewährleisten, müssen deshalb nur diejenigen Abhängigkeiten und Bindungen ausgeschlossen sein, welche die Führung eines konkreten Mandats im alleinigen Interesse des Klienten beeinträchtigen, d.h. nur mandatsstörende Abhängigkeiten.

___________ 4 S. oben II. 1.

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b) … und Interessenkonflikte Jede mandatsstörende Abhängigkeit ist begriffsnotwendig ein Interessenkonflikt: Der Anwalt ist im Konflikt, ob er den Interessen seines Klienten oder den Interessen desjenigen den Vorzug geben soll, von dem er abhängig ist. Es ist kein Fall denkbar, der aus rechtsstaatlichen Gründen ein Unabhängigkeitsgebot erforderte, das nicht bereits von einem Konfliktverbot abgedeckt wäre. Unter dem Gesichtswinkel der unbeeinflussten Interessenwahrung bleibt belanglos, ob, wie sehr und von wem der Anwalt abhängig ist, solange er das Verbot von Interessenkonflikten beachtet. Zwar ist die anwaltliche Unabhängigkeit im Rechtsstaat unverzichtbar. Ihr notwendiger Umfang geht aber nicht weiter als ein konsequentes Verbot von Interessenkonflikten. Die unbeeinflusste Interessenwahrung durch die Anwälte kann mit verschiedenen Berufspflichten umgesetzt werden. Ob dies nun mit einem Unabhängigkeitsgebot oder mit einem Konfliktverbot geschieht, welches der Umfang dieser Pflichten ist und wie diese im Einzelnen ausgestaltet sind, ist nicht von Bedeutung. Wesentlich ist nur, dass sie insgesamt die unbeeinflusste Interessenwahrung durch den Anwalt gewährleisten. Die Legitimation und die Verfassungsmässigkeit eines gesetzlichen Eingriffs in diesem Umfang können angesichts der rechtsstaatlichen Notwendigkeit des Zugangs zum Recht nicht zur Diskussion stehen. c) Allgemeine Unabhängigkeitsgebote Zahlreiche Rechtsordnungen verlangen von ihren Anwälten „Unabhängigkeit“, ohne diese näher zu umschreiben. Was eine solche generelle Unabhängigkeit im Einzelnen bedeutet, muss der jeweiligen Rechtsordnung überlassen bleiben. Regelmässig wird aber eine allgemein formulierte Unabhängigkeit nicht ausreichen, um eine selbständige, über das Verbot von Interessenkonflikten hinausgehende Pflicht zu begründen. Wo ein Konfliktverbot besteht, wird deshalb einem unspezifizierten Gebot der anwaltlichen Unabhängigkeit in aller Regel kein eigenständiger materieller Normgehalt zukommen. 2. Weiter gehende Unabhängigkeit Aus rechtsstaatlicher Sicht ist nur erforderlich, dass die Mandatsführung tatsächlich nicht beeinträchtigt wird5. Die blosse Möglichkeit oder Gefahr einer Beeinflussung ist noch keine Beeinflussung und beeinträchtigt den Zugang zum Recht nicht. Je nach Rechtskultur kann aber wünschbar scheinen, den Anwälten bereits bestimmte Situationen zu verbieten, die typischerweise besondere Risiken einer Beeinflussung in sich bergen. Insofern kann auch eine weiter gehende Unabhängigkeit angeordnet werden. Bei solchen weiter gehenden Unabhängigkeitsgeboten stellt sich die Frage der Verfassungsmässigkeit. Es ist ein Grundprinzip des demokratischen Rechtsstaats, dass Eingriffe in die Wirtschaftsfreiheit im überwiegenden öffentlichen Interesse liegen, auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen und

___________ 5 S. oben III. 1. a), b).

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verhältnismässig sein müssen. Zwar kann die Bekämpfung der Risiken von Beeinflussungen der Anwälte durchaus als legitimes Anliegen angesehen werden. Ob und wie weit sich ein spezifisches Unabhängigkeitsgebot über ein Konfliktverbot hinaus rechtfertigt, liegt jedoch nicht von vornherein auf der Hand und ist im Einzelnen zu prüfen.

IV. Unabhängigkeit wovon? 1. Unabhängigkeit vom Staat Der Ursprung der anwaltlichen Unabhängigkeit liegt im Bedürfnis, den rechtsuchenden Bürger vor Staatswillkür zu schützen. Wer Rat und Hilfe gegen Übergriffe des Staats sucht, soll nicht befürchten müssen, dass sein Anwalt bei der Mandatsführung staatlicher Beeinflussung ausgesetzt ist oder Rücksichten auf Staat und Behörden nimmt. Nichts darf den Anwalt hindern, engagiert und mit aller Härte und Konsequenz den Standpunkt seines Klienten gerade auch gegen den Staat durchzusetzen. Das steht im Widerspruch zum historischen Verständnis des Anwalts als Teil des Rechtspflegesystems6. Wenn Anwälte dem Staat gegenüber zur Loyalität verpflichtet sind, ist ihre Handlungsfreiheit gegenüber dem Staat, seiner Regierung und seinen Gerichten eingeschränkt. Sie können somit den Schutz vor Staatswillkür nicht sicherstellen. Der Zugang zum Recht ist beeinträchtigt. Jede Rechtsordnung wird entscheiden müssen, ob und wie weit sie solche Eingriffe in den Rechtsstaat toleriert oder sogar wünscht. a) Besondere Rolle der Anwälte im Rechtspflegesystem Sei es als verbliebener Rest eines historischen Anwaltsverständnisses oder sei es aus politischen Gründen, zahlreiche Rechtsordnungen enthalten Bestimmungen, die den Anwälten eine besondere Rolle im Rechtspflegesystem und eine besondere Nähe zum Staat zuweisen. Eine solche Staatsnähe kann von unterschiedlicher Intensität sein: von einer mehr oder weniger ausgeprägten Erwartungshaltung der Behörden über einen gewissen Anpassungsdruck bis hin zur sanktionsbewehrten Überwachung und Kontrolle der Anwaltstätigkeit in totalitären Regimes. Aber auch in Rechtsstaaten finden sich Vorschriften, Gerichtsentscheide und Literatur, welche den Anwälten Attribute und Pflichten zuordnen, die Rücksichtnahmen auf den Staat und seine Rechtspflege nahelegen. Ihre Bedeutung im Licht der rechtsstaatlich unverzichtbaren unbeeinflussten Interessenwahrung ist nicht von vornherein klar. aa) Organ der Rechtspflege Beispielsweise werden die Anwälte in zahlreichen Rechtsordnungen als „Organ der Rechtspflege“, „Mitarbeiter der Justiz“, „Gehilfe des Richters“, „Diener des Rechts“ oder dergleichen bezeichnet. Solche Begriffe suggerieren ein Subordinationsverhältnis und eine besondere Loyalität gegenüber dem Staat, die den Klienteninteressen überzuordnen sei. Zwar ist richtig, dass dem An-

___________ 6 S. oben I. 2.

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walt eine unverzichtbare Bedeutung im Rechtsstaat zukommt und dass die Anwälte die Arbeit des Richters erleichtern. In diesem Sinn dient der Anwalt in der Tat der Justiz, dem Recht und dem Rechtsstaat. Er tut dies aber nur mittelbar, indem er unmittelbar die individuellen Interessen des Klienten einseitig und unbeeinflusst von Dritten wahrnimmt7. Sobald der Anwalt bei seiner Tätigkeit auf staatliche Interessen Rücksicht nimmt, gerät er in Widerspruch zur rechtsstaatlich notwendigen unbeeinflussten Interessenwahrung ausschließlich zugunsten des Klienten. Begriffen wie „Organ der Rechtspflege“ etc. kann kein normativer Gehalt zukommen, ohne dass der Rechtsstaat eingeschränkt wird. Ähnliches gilt für die häufig vorgebrachte Aufforderung, der Anwalt habe die Rechtspflege zu unterstützen und den geordneten Gang der Justiz nicht zu behindern, ja diese sogar zu entlasten. Der geordnete Gang der Justiz ist primär durch die Gerichte aufgrund der Verfahrensordnungen und der Sitzungspolizei zu gewährleisten, nicht durch die Anwälte. Von prozessualen Rechten darf grundsätzlich Gebrauch gemacht werden. Der Anwalt sollte sich keine weiter gehende Zurückhaltung auferlegen müssen als andere Prozessteilnehmer. Andernfalls würde der Klient, der einen Anwalt beizieht, benachteiligt und beim Zugang zum Recht beeinträchtigt. Auch die Entlastung der Gerichte kann keine primäre Aufgabe der Anwälte sein. Der Anwalt hat sein Vorgehen am Interesse des Klienten zu orientieren. Ob damit dem Gericht viel oder weniger Arbeit entsteht, darf seine Überlegungen nicht beeinflussen. Jedenfalls darf die Interessenwahrung zugunsten des Klienten nicht durch Rücksichtnahmen auf staatliche Interessen beeinträchtigt werden. Alles andere würde den Zugang des Bürgers zum Recht einschränken. bb) Vertretung nur berechtigter Ansprüche Verbreitet ist die Vorstellung, der Anwalt müsse dem Recht zum Durchbruch verhelfen. Er dürfe deshalb nur berechtigte Ansprüche vertreten und nicht bewusst Unrecht fördern. Abgesehen davon, dass es das objektiv richtige Recht nicht gibt8, widerspricht eine solche Auffassung der Pflicht, das vereinbarte Mandat unbeeinflusst und ausschliesslich im Interesse des Klienten zu wahren9. Der Anwalt und die Anwältin haben den mit dem Mandat umschriebenen Interessen ihrer Klienten zum Durchbruch zu verhelfen, nicht einem wie auch immer verstandenen objektiven Recht. cc) Orientierung am Allgemeininteresse Verschiedentlich wird von den Anwälten verlangt, sie hätten sich am Interesse der Allgemeinheit, am Gemeinwohl zu orientieren. Der Begriff eines Gemeinwohls, auf das Rücksicht zu nehmen wäre, ist überaus undeutlich. Was dies in der täglichen Anwaltstätigkeit konkret bedeuten soll, wird häufig schwer zu fassen sein. Vor allem aber darf der Anwalt tun, was das Recht zulässt, ja er soll dies tun, wenn es das vereinbarte Mandat verlangt. Der

___________ 7 S. oben II. 1. d) cc). 8 S. oben II. 1. b). 9 S. oben II. 1. d).

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Klient, der den Anwalt zu seiner Interessenwahrung beizieht, muss sich nicht gefallen lassen, dass der Anwalt mit Rücksicht auf ein Gemeinwohl von seinen vertraglich vereinbarten Pflichten abweicht. Normen, die den Anwalt und die Anwältin verpflichten, sich an den Interessen des Staats oder am Gemeinwohl zu orientieren, widersprechen der Verpflichtung, ausschliesslich die Klienteninteressen zu wahren. Sie beeinträchtigen den Zugang zum Recht und den Rechtsstaat. b) Anwälte mit staatlichen Aufgaben Vor allem in ländlichen Regionen üben Anwälte neben dem Anwaltsberuf häufig auch Funktionen in der Justiz oder in der öffentlichen Verwaltung aus. Verbreitet sind Anwälte, die als Notare tätig sind. Durch solche obrigkeitlichen Tätigkeiten entsteht eine mehr oder weniger ausgeprägte Nähe des Anwalts zum Staat, die je nach Art und Funktion der Tätigkeit als unerwünschte Abhängigkeit angesehen werden kann. Abhängigkeiten des Anwalts vom Staat sind jedoch nicht an sich problematisch, sondern nur dann, wenn sie eine unbeeinflusste Mandatsführung im Interesse des Klienten beeinträchtigen, wenn sie mandatsstörend sind. Solange das Verbot von Interessenkonflikten in Bezug auf das konkrete Mandat nicht verletzt ist, bleibt der Anwalt für den Klienten unabhängig10. Zum Schutz des rechtsuchenden Bürgers und zur Gewährleistung des Zugangs zum Recht braucht es deshalb kein über ein konsequentes Verbot von Interessenkonflikten hinausgehendes Verbot der Übernahme staatlicher Aufgaben durch Anwälte. Eine andere Frage ist, ob und welche Amtspflichten oder Unvereinbarkeitsverbote aus Sicht des Staates zur ordnungsgemässen Erfüllung der obrigkeitlichen Aufgaben nötig sind. c) Verbote jeglicher Abhängigkeit vom Staat Abhängigkeiten der Anwälte vom Staat sind immer heikel. Wenn nur staatsabhängige, angepasste Anwälte zur Verfügung stehen, wird es ungemütlich. Länder ohne freie, vom Staat unabhängige Anwälte und Anwältinnen können keine Rechtsstaaten sein. Um Klarheit zu schaffen und um die Gefahr staatlicher Einflussnahmen von vornherein auszuschliessen, mag deshalb wünschbar scheinen, nur Personen zur Anwaltstätigkeit zuzulassen, die vollständig unabhängig vom Staat sind. Aus rechtsstaatlicher Sicht ist ein solches Verbot staatlicher Abhängigkeiten der Anwälte und Anwältinnen aber dann nicht erforderlich, wenn neben staatsabhängigen Anwälten ein ausreichendes Angebot von Anwälten und Anwältinnen zur Verfügung steht, die keine besondere Bindung zum Staat aufweisen. Ein spezifisches Verbot von Abhängigkeiten aller Anwälte und Anwältinnen vom Staat ist nicht erforderlich. Es kann dem Klienten überlassen werden, ob er die Nähe seines Anwalts zum Staat und zu Amtskollegen in Kauf nimmt, ob er eine solche Nähe und die damit verbundenen Kenntnisse und Beziehungen sogar wünscht, oder ob er vielmehr einen Anwalt vorzieht,

___________ 10 S. oben III. 1. a), b).

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der frei von jeder Bindung zum Staat ist. Das setzt voraus, dass der Klient informiert ist, welche allfällige Bindung zum Staat besteht und welche Vorund Nachteile dies im konkreten Fall für ihn haben kann. 2. Unabhängigkeit vom Klienten a) Wahrung der Klienteninteressen Der Klient beauftragt den Anwalt mit der Wahrung seiner Interessen. Mit der Umschreibung seiner Ziele und des Mandats und mit seinen Instruktionen nimmt er notwendigerweise Einfluss auf die Mandatsführung. In diesem Sinn sind Anwälte und Anwältinnen bei ihrer Berufstätigkeit von ihren Klienten immer beeinflusst und damit in Bezug auf das Mandat abhängig. Beeinflussungen des Anwalts sind indessen nur dann problematisch, wenn sie die mit dem Mandat vereinbarte Wahrung der Klienteninteressen beeinträchtigen. Der Klient, der selber Einfluss auf die Mandatsführung nimmt, macht seinen Einfluss gerade deshalb geltend, weil er glaubt, dies sei zu seinem Vorteil und liege in seinem Interesse. Einflussnahmen des Klienten auf die Mandatsführung können deshalb die Klienteninteressen nicht beeinträchtigen. Sie sind nicht mandatsstörend und deshalb im Grundsatz unbedenklich. b) Vorbehaltlose Interessenwahrung Der Anwalt hat die subjektiven Interessen des Klienten in dem Umfang zu wahren, als es mit dem Mandat vereinbart worden ist11. Wenn der Anwalt das Mandat übernommen hat, steht es ihm nicht zu, davon abzuweichen oder dem Klienten vorzuschreiben, etwas anderes zu wollen. Das gilt auch dann, wenn die Interessen des Klienten mit der Rechtsordnung nicht in Einklang stehen. Selbstverständlich darf der Anwalt keine Mandate mit rechtswidrigem Inhalt annehmen. Sollte die Interessenwahrung ein rechtswidriges Vorgehen erfordern, wird der Anwalt versuchen, den Klienten von einem rechtmässigen Weg zu überzeugen. Beharrt der Klient auf den problematischen Instruktionen, bleibt als einziger Ausweg die Niederlegung des Mandats. Gleiches gilt für ein Vorgehen, das zwar nicht rechtswidrig, aber doch unvereinbar mit den Wertvorstellungen des Anwalts ist. Darf oder will der Anwalt ein Mandat nicht führen, hat er es abzulehnen oder niederzulegen. Niemals aber darf er es im Widerspruch zum vereinbarten Mandatsinhalt des Klienten führen. Entweder verficht der Anwalt die Interessen im vereinbarten Umfang vorbehaltlos und engagiert – oder er führt das Mandat nicht. Tertium non datur. Eine Unabhängigkeit vom Klienten mag wünschbar scheinen und auch vom Gesetzgeber angeordnet werden. Im Rechtsstaat darf dies aber niemals dazu führen, dass der Anwalt vom Mandat abweicht. Die Wahrung der Klienteninteressen muss stets Ziel und Aufgabe anwaltlichen Handelns bleiben.

___________ 11 S. oben II. 1. d) bb).

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c) Innere Unabhängigkeit, hoher ethischer Maßstab Auch wenn der Anwalt aus rechtsstaatlichen Gründen von seinem Klienten nicht unabhängig sein muss, so bedeutet das nicht, dass der Anwalt, die Anwältin die Wünsche des Klienten unbekümmert um deren Inhalt und Ziel blindlings befolgen soll. Vom Anwalt darf und muss erwartet werden, dass er seine gedankliche Distanz, seine Eigenständigkeit und Souveränität gegenüber dem Klienten bewahrt. Er soll sich nicht für alles hergeben und einfach die Lösung vorschlagen, die der Klient am liebsten hört. Vielmehr soll er sich mit dem Problem des Klienten kritisch auseinandersetzen, seine eigene Meinung dazu bilden und nach seiner Überzeugung die im Interesse des Klienten beste Lösung empfehlen. Der Klient hat Anspruch auf die persönliche, schonungslos offene Beurteilung und Meinung des Anwalts, im wohlverstandenen Klienteninteresse, wie wenn der Anwalt selber in der Situation des Klienten wäre. Dabei soll sich der Anwalt, die Anwältin nicht nur an rechtlichen, sondern auch an ethischen Massstäben orientieren. Gerade in einer zunehmend kommerzialisierten Welt und in Rechtsordnungen, die den individuellen Eigennutzen immer stärker in den Mittelpunkt stellen, soll der anwaltliche Rat auch einem hohen ethischen Anspruch standhalten. Die Anwälte und Anwältinnen sollen sich nicht nur im Rahmen der Legalität, sondern auch anständig und fair verhalten. Innere Unabhängigkeit, Anstand und Souveränität lassen sich aber nicht anordnen. Gleichwohl ist die Unabhängigkeit vom Klienten ein berechtigtes und wesentliches Anliegen. Auch dort, wo allgemeinen Unabhängigkeitsgeboten kein Eingriffscharakter zukommt, so haben sie doch ihren guten Sinn. Sie sollen die Anwälte und Anwältinnen stets ermahnen, von ihren Freiheiten Gebrauch zu machen, von der Freiheit der kritischen, schonungslosen Beurteilung der Angelegenheit gegenüber dem Klienten und von der Freiheit, wenn nötig ein Mandat abzulehnen oder niederzulegen. Reine Fachkompetenz ist auch anderswo erhältlich. Die gedankliche Unabhängigkeit und die kritische Beurteilung dagegen sind untrennbar mit der Person des Anwalts, der Anwältin verbunden. Insofern ist der anwaltliche Rat auch nicht austauschbar. In dieser inneren Unabhängigkeit und in der persönlichen, kritischen Beurteilung des Anwalts liegt ein wesentlicher Wert der anwaltlichen Dienstleistung, auch wenn dies für den Klienten gelegentlich Widerstand und ein Ringen um Ziele und Vorgehen bedeutet. Unabhängigkeit bleibt ein leeres Schlagwort, wenn sie wirtschaftlich nicht abgesichert ist. Verdient der Anwalt nicht genug für seinen Lebensunterhalt, steigt seine Bereitschaft zu fragwürdigem Vorgehen. Der Anwalt, der auf ein Mandat oder auf einen Klienten angewiesen ist, verliert seine innere Unabhängigkeit gegenüber dem Klienten, namentlich seine Freiheit, das Mandat abzulehnen oder niederzulegen. Auch in der Beurteilung und Mandatsführung ist er nicht mehr frei und kann versucht sein, Schritte zu empfehlen, von denen er vernünftigerweise abraten müsste. Ähnliches gilt umgekehrt auch für die Anwälte, die einzig auf kurzfristige Gewinnmaximierung aus sind oder in Strukturen arbeiten, in denen beruflicher Erfolg allein am erzielten Hono808

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rarumsatz gemessen wird. Seitdem die Anwälte nicht mehr ehrenamtlich und allenfalls für ein freiwilliges, im Belieben des Klienten stehendes honorarium arbeiten, besteht immer die latente Gefahr, dass der Anwalt aus kommerziellen Gründen seine eigenen Interessen denjenigen des Klienten voranstellt. Ein Verbot von Abhängigkeiten ist aber auch in diesem Zusammenhang nur insoweit notwendig, als diese mandatsstörend sind, d.h. sofern sie einen Interessenkonflikt mit Eigeninteressen begründen12. Die blosse Gefahr eines Konflikts ist noch kein Konflikt. Schliesslich kann auch wirtschaftliche Unabhängigkeit nicht gesetzlich befohlen oder gewährleistet werden. Eine besondere Verpflichtung zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit ist weder möglich noch aus rechtsstaatlichen Gründen erforderlich. Gelegentlich wird beklagt, die Moral der Anwälte lasse mehr und mehr zu wünschen übrig. Um die Ethik im Anwaltsberuf ist es jedoch so schlecht nicht bestellt. Gewiss sind Anwälte nicht anständiger, aber auch nicht unanständiger als andere Berufsleute. Unethisches Verhalten von Anwälten hat es immer gegeben und wird es auch immer geben. Immerhin ist das grösste Kapital des Anwalts sein Ruf. Wer sich fragwürdig verhält, riskiert, dieses Kapital zu verlieren. Und wer zudem die oft fließende Grenze zwischen Anstand und Berufsrecht überschreitet, riskiert darüber hinaus eine Disziplinierung bis hin zum Entzug seiner Zulassung und damit seiner wirtschaftlichen Existenz. Vieles spricht dafür, dass sich berufsethisches Verhalten auf die Dauer auch kommerziell lohnt. Ein Blick auf den Rechtsalltag zeigt denn auch, dass sich die allermeisten Anwälte und Anwältinnen verantwortungsbewusst und anständig verhalten. Die innere Unabhängigkeit wird von den Anwälten und Anwältinnen durchaus gelebt. 3. Unabhängigkeit von Dritten Damit die unbeeinflusste, vorbehaltlose Wahrung der Klienteninteressen nicht beeinträchtigt wird, müssen die Anwälte unabhängig sein. Gerade bei Abhängigkeiten und Beeinflussungen von Dritten wird deutlich, dass aus rechtsstaatlichen Gründen nur eine mandatsstörende Unabhängigkeit notwendig ist, die nicht weiter geht als ein Verbot von Konflikten mit Interessen Dritter13. a) Unabhängigkeit vom Rechtsgegner Dass der Anwalt nicht vom Rechtsgegner beeinflusst sein darf, bedarf keiner weiteren Begründung. Abhängigkeiten und Beeinflussungen vom Rechtsgegner sind klassische Konfliktsituationen. Ein spezifisches Gebot der Unabhängigkeit vom Rechtsgegner bringt in diesem Zusammenhang nichts, was nicht bereits ein Verbot von Interessenkonflikten leistet.

___________ 12 Vgl. oben II. 1. d). 13 S. oben III. 1. a), b).

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b) Unabhängigkeit von Anwälten derselben Kanzlei Anwälte derselben Kanzlei werden schon aufgrund ihres Sozietäts- oder Anstellungsvertrags immer einander verpflichtet und mehr oder weniger voneinander abhängig sein. Bisweilen ist die Abhängigkeit erheblich. Es lässt sich nicht vermeiden, dass sich Bürokollegen und -kolleginnen gegenseitig beeinflussen. Solche Beeinflussungen sind aus rechtsstaatlicher Sicht dann unbedenklich, wenn die Interessenwahrung zugunsten des Klienten nicht beeinträchtigt wird. Das ist solange der Fall, als alle Anwälte und Anwältinnen den Interessen aller Klienten ihrer Kanzlei verpflichtet sind, d.h. wenn alle Anwälte und Anwältinnen der Kanzlei gleichsam als ein einziger Anwalt angesehen werden. Unterstehen jedoch die Anwälte nicht einem Konfliktverbot zugunsten aller Klienten ihrer Kanzlei, erheben sich ernstliche Bedenken. Die unvermeidlichen Rücksichtnahmen und Beeinflussungen können die Mandatsführung im ausschliesslichen Interesse des Klienten beeinträchtigen und damit dessen Zugang zum Recht. Auch die viel gepriesenen chinese walls können keinen wirksamen Schutz bieten. Sie sind Augenwischerei. c) Unabhängigkeit vom Arbeitgeber Das Angestelltenverhältnis begründet eine intensive Bindung zum Arbeitgeber. Der Angestellte kann ein existenzielles Interesse haben, seinem Arbeitgeber gefallen zu wollen und auf diesen Rücksicht zu nehmen. Der angestellte Anwalt ist von seinem Arbeitgeber immer weisungsabhängig und beeinflussbar. Nachdem der Arbeitgeber Einfluss auf die Mandatsführung nehmen kann, muss auch er Gewähr dafür bieten, dass für ihn keine mandatsstörenden Abhängigkeiten bestehen. Ist der Arbeitgeber in diesem Sinn unabhängig und konfliktfrei, bleibt die Abhängigkeit des Anwalts von einem solchen Arbeitgeber unbedenklich. Andernfalls ist die unbeeinflusste Interessenwahrung beeinträchtigt. Die Situation ist grundsätzlich verschieden, je nachdem, ob der Arbeitgeber seinerseits Anwalt oder Nicht-Anwalt ist. aa) Anstellung bei einem Anwalt Von jeher gab und gibt es Anwälte, die bei anderen Anwälten und Anwältinnen angestellt sind. Das bietet in Bezug auf die Unabhängigkeit insofern keine Schwierigkeiten, als der Arbeitgeber ebenfalls Anwalt ist und der Anwaltsgesetzgebung untersteht. Sowohl der arbeitgebende als auch der angestellte Anwalt sind an das Verbot von Interessenkonflikten gebunden. Damit ist die unbeeinflusste Interessenwahrung, die mandatsbezogene Unabhängigkeit, trotz der Anstellung gewährleistet. Das muss auch gelten, wenn der Anwalt bei einer Anwaltsgesellschaft angestellt ist, solange die Anwälte jeden Entscheid verhindern können, der dem Berufsrecht widerspricht. Anwälte und Anwältinnen werden deshalb in allen entscheidenden Gremien stets über die Mehrheit oder mindestens über ein Vetorecht verfügen müssen.

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bb) Anstellung bei einem Nicht-Anwalt Problematisch sind jedoch Anstellungen bei einem Nicht-Anwalt, welcher der Anwaltsgesetzgebung nicht untersteht. Weichen die Weisungen des Arbeitgebers von den Interessen des Klienten ab, ist der Anwalt im Konflikt, ob er diese Weisungen befolgen oder pflichtgemäss die Interessen des Klienten wahren soll. Die rechtsstaatlich unabdingbare unbeeinflusste Interessenwahrung ist nicht gewährleistet. Um Beeinflussungen der Mandatsführung durch einen Arbeitgeber von vornherein auszuschliessen, wird sich deshalb rechtfertigen lassen, jede Anstellung bei Nicht-Anwälten zu verbieten. Rechtsstaatlich notwendig ist ein solches Verbot jedoch nicht. Es genügt, wenn die mandatsbezogene Unabhängigkeit, also die Konfliktfreiheit sichergestellt ist. cc) Anstellung im Zweitberuf Ist der Anwalt in einem Zweitberuf angestellt, kann er die Anwaltstätigkeit grundsätzlich unabhängig von seinem Arbeitgeber ausüben und die Interessen seiner Klienten unbeeinflusst von diesem wahren. Der Arbeitgeber ist zur Anwaltstätigkeit nicht weisungsberechtigt. Solange kein Konflikt mit Interessen des Arbeitgebers vorliegt, ist der Anwalt in Bezug auf das Mandat unabhängig. Ein Ausschluss jedes Zweitberufs für Anwälte und Anwältinnen ist daher nicht zwingend, ließe sich aber allenfalls rechtfertigen, um die Gefahr von Beeinflussungen durch den Arbeitgeber zu verhindern. Bei einem generellen Zweitberufsverbot würde sich jedoch die Frage der Verhältnismässigkeit eines solchen Eingriffs in die Wirtschaftsfreiheit stellen. d) Unabhängigkeit bei selbständiger Nebentätigkeit Häufig nehmen Anwälte und Anwältinnen neben ihrer herkömmlichen Tätigkeit auch weitere selbständige Aufgaben wahr, die wenig oder nichts mit der Anwaltstätigkeit zu tun haben. Zu denken ist an die Tätigkeit als Mitglied eines Aufsichtsrats, als Willensvollstrecker, als Vermögensverwalter, als Mediator etc. Durch solche Tätigkeiten können Abhängigkeiten entstehen, welche die unbeeinflusste Wahrung der Klienteninteressen ihrer Anwaltstätigkeit beeinträchtigen. Das ist jedoch solange nicht der Fall, als keine Konfliktsituation entsteht. Rechtsstaatlich ist ein über das Konfliktverbot hinausgehendes Verbot von Nebentätigkeiten nicht erforderlich. e) Sonstige Unabhängigkeiten Auch sonstige Abhängigkeiten des Anwalts von Dritten, wie z.B. gesellschaftliche oder familiäre, können für den Klienten nur insoweit relevant werden, als sie die unbeeinflusste Interessenwahrung beeinträchtigen. Sie sind daher unter dem Gesichtspunkt des Konfliktverbots zu beurteilen.

V. Schlussbemerkungen Ist nun die anwaltliche Unabhängigkeit eine Notwendigkeit oder ein arabischer Phönix? Nach dem Gesagten lautet die Antwort: Beides.

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– Im Rechtsstaat ist die Unabhängigkeit der Anwälte und Anwältinnen insoweit unabdingbar, als sie die unbeeinflusste Interessenwahrung zugunsten des Klienten garantiert und damit den Zugang des rechtsuchenden Bürgers zum Recht sicherstellt. Der Umfang dieser unverzichtbaren Unabhängigkeit ist deshalb begrenzt. Zwingend ist nur, dass mandatsstörende Einflüsse ausgeschlossen sind. Damit geht die notwendige Unabhängigkeit nicht weiter als ein Verbot von Interessenkonflikten. Wo bereits ein Konfliktverbot besteht, wird einem allgemeinen Unabhängigkeitsgebot kein eigenständiger Regelungsgehalt zukommen. – Als rechtsstaatlich nicht notwendig erweist sich dagegen die anwaltliche Unabhängigkeit in einem weiter gehenden Umfang. Erachtet der Gesetzgeber eine weiter gehende Unabhängigkeit dennoch als wünschbar, so muss er dies spezifisch anordnen. Solche Verpflichtungen zur Unabhängigkeit der Anwälte und Anwältinnen von bestimmten Personen oder in einer bestimmten Richtung sind jedoch stets auf ihre Verfassungsmässigkeit zu prüfen. Sie dürften diesem Test nicht immer standhalten. Auch dort, wo einem Unabhängigkeitsgebot kein eigenständiger Regelungsgehalt zukommt, hat es gleichwohl seine Berechtigung, wenn auch nicht als Eingriffs-, so doch als Programmnorm, als Appell an die Anwälte und die Anwältinnen, ihre innere Unabhängigkeit zu bewahren, d.h. ihre Freiheit der unerschrockenen und engagierten Vertretung der anvertrauten Klienteninteressen, vor allem aber ihre Freiheit, dem Klienten auch einmal nein zu sagen. Dabei sollen sie durchaus einen hohen ethischen Wertmaßstab anwenden. Anwälte und Anwältinnen, die diesen Appell ignorieren, werden zwar nicht diszipliniert werden können. Sie laufen aber Gefahr, dass ihre Tätigkeit als beliebige, austauschbare commodity wahrgenommen wird, und dass sie von ihren Klienten auch dementsprechend behandelt werden. Wer dagegen den Appell zur Unabhängigkeit ernst nimmt, wird nicht nur bei der Morgentoilette seinem Spiegelbild mit gutem Gewissen in die Augen schauen können, sondern auch seinen Klienten den Halt bieten, den diese suchen.

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Der „Brand“ von Anwaltssozietäten Inhaltsübersicht I. Zur Entwicklung der Anwaltschaft II. „Brand“, „Brand Equity“ und „Strategic Brand Management“

III. Das „Branding“ bei in Deutschland tätigen (Wirtschafts-)Kanzleien IV. Back to the roots

I. Zur Entwicklung der Anwaltschaft Michael Streck kann Vieles: Er ist – zuerst – Rechtsanwalt mit Herz und Kopf. Dass der Rechtsanwalt nicht nur seinen Broterwerb im Auge haben darf, sondern sich auch für seinen Berufsstand (und damit für die Gesellschaft) engagieren muss, hat er – in exponierter Stellung – als langjähriger Vorsitzender des Steuerrechtsausschusses im DAV, als Mitglied des Vorstands und zuletzt als Präsident des Dachverbandes der deutschen Anwälte bewiesen. Die von ihm verfassten Publikationen sind auf die Praxis ausgerichtet, Dogmatik um ihrer selbst willen ist ihm fremd1. Von all diesen – auch: beneidenswerten – Eigenschaften und beruflichen Stationen soll hier nicht berichtet werden. Michael Streck hat das ihm eigene (und gerechtfertigte) Selbstbewusstsein auch auf die Einheit erweitert – sozusagen: erstreckt –, der er früh angehörte: die Gemeinschaft der anwaltlichen Partner, deren Darstellung in der Fachgemeinschaft, im Kreise der Klienten und in der Öffentlichkeit er offensiv vertreten, entwickelt und ständig optimiert hat. Sehr früh fand die auf Steuerrecht spezialisierte Anwaltskanzlei ihren Platz in einem von Steuerberatern dominierten Rechtsgebiet – dies nicht gegen deren Profession, sondern in Aufgabenteilung mit ihnen. Die Sozietät baute ihr Image, ihre Marke, kurz: ihren „brand“ auf. Womit wir beim Thema wären: Die Anwaltschaft in der Bundesrepublik Deutschland hat sich innerhalb eines Vierteljahrhunderts – die Diskussionen um die überörtliche Sozietät sowie die Singular- und Simultanzulassung fanden in der 2. Hälfte der 80er-Jahre statt2 – einer Metamorphose unterzogen, die nicht allein mit der notwendigen Anpassung an ein verändertes gesellschaftliches und wirtschaftliches Umfeld erklärt werden kann. Setzten sich zu Beginn der 80er-Jahre große Sozietäten noch aus

___________ 1 Die Liste der Publikationen von Michael Streck ist Bestandteil dieser Festschrift, neben Standardwerken (mit regelmäßiger Überarbeitung) zum Steuerrecht finden sich auch Themenbearbeitungen, die auf die Wunden des Steuerstaates abzielen: „Wie bestechungsgefährdet sind Berater des Bundesfinanzministeriums“ in NJW-Editorial 48/2005. 2 Eine bedeutsame Weichenstellung für die Zulässigkeit der überörtlichen Sozietät ist dem Aufsatz von Salger, NJW 1988, 186 beizumessen; Nachweise zur damaligen Diskussion bei Feuerich, AnwBl 1989, 360.

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etwa 10 bis 15 Anwälten zusammen – und bildeten in der Reihenfolge ihres Eintritts in die Sozietät die Namen der ältesten Partner noch die „Firma“ der Kanzlei ab –, so beherrschen heute Einheiten von einigen hundert Berufsträgern in mehreren Städten den Markt; Boutiquen weisen die Größenordnung von ehedem führenden Sozietäten auf. Auch die Bezeichnung hat sich verändert: Abbreviaturen oder – allenfalls – ein oder zwei Namen mit dem Zusatz (im Plural) „Rechtsanwälte“ vermitteln die Loslösung von den einzelnen Angehörigen der Sozietät. Kurz: Die Anwaltschaft erfährt ihr Gepräge durch Gemeinschaften, die erkennbar darauf abzielen, mit einem „brand“ im Wettbewerb zu bestehen und ihre Position im Markt, ihre Anziehungskraft für die Klienten und ihr ehemals von einzelnen herausragenden Protagonisten bestimmtes „standing“ unter einer Marke zusammenzuführen.

II. „Brand“, „Brand Equity“ und „Strategic Brand Management“ Was unter einem „brand“ zu verstehen ist – und welchen Stellenwert er in der heutigen globalen Wirtschaft aufweist – lässt sich vor jeder Definition am Beispiel des Computerherstellers Apple veranschaulichen: Das Unternehmen gilt als vorbildlich im Aufbau eines weltumspannenden „brands“ mit der Konsequenz einer beeindruckenden Kundentreue. Die vom Gründer und CEO Steve Jobs persönlich zelebrierte Einführung neuer Produkte weist Eventcharakter auf, iPad und iPhone gehören derzeit zu den weltweit begehrtesten Kommunikationsmitteln3. Die Produkte sind untrennbar mit dem „brand“ verbunden, dieser weist – auch bilanziell – seinen eigenen Wert auf. Die im Wesentlichen im anglo-amerikanischen Raum beheimatete Wissenschaft des „brand managment“ ist eindeutig praxisbezogen, orientiert sich an der Erfolgs- und Misserfolgsgeschichte vorfindbarer „brands“ in den Märkten und ist in dem Sinne phänomenologisch, als sie Strukturen zwischen dem Subjekt (dem Kunden) und dem Objekt (Produkt oder Dienstleistung) zu erfassen und zu analysieren versucht4. Als Definition eines „brand“ wird regelmäßig die klassische Begriffsbestimmung von Keller herangezogen: „A brand is a set of mental associations, held by the consumer, which add to the perceived value of a product or service“5.

___________ 3 Kotler/Keller, Marketing Management, 13. Aufl. 2009, S. 282, beschreiben dies wie folgt: „Apple Computer is a master at building a strong brand that resonates with customers across generations and national boundaries. It achieves incredible brand loyalty largely by delivering on its mission as defined by CEO Steve Jobs: ‚To create great things that change people’s lives.‘ The company has created an army of Apple evangelists, not just because it produces great advertising but also because it focuses on the consumer in everything it does‘“. 4 Beispielhaft hierfür sind Publikationen wie Aaker, Building Strong Brands, 1996; Aaker/Joachimsthaler, Brand Leadership, 2000; Keller/Apéria/Georgson, Strategic Brand Management, 2008 oder der Harvard Business Review on Brand Managment, 1994. 5 Keller, Strategic Brand Management, 1998, zitiert nach Kapferer, The New Strategic Brand Management, 4. Aufl. 2008, S. 10; in der letzten Auflage (2008) definiert Keller „brand“ ergänzend: „A brand is therefore a product, but one that adds other dimen-

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Der „Brand“ von Anwaltssozietäten

Andere Stimmen in der Literatur – wie Kapferer – kritisieren diese Umschreibung mit dem Einwand, dass das Produkt (die Dienstleistung) selbst ausgeblendet wird, da jedes „brand management“ seinen Ursprung im Produkt oder in der Dienstleistung finden muss6. Die auf den Begriff des „brand“ aufbauende Wertfrage – das „brand equity“ – unterliegt ebenfalls unterschiedlichen Betrachtungsweisen – je nachdem, ob die Perspektive des Kunden oder die des objektiven Betrachters, der das „brand equity“ als Bestandteil des Vermögens validiert, eingenommen wird7. Ausgangspunkt ist seit Mitte der 90er-Jahre die Formel von Aaker, der „brand equity“ als einen zusätzlichen Vermögenswert des Produkts (oder der Dienstleistung) begreift: „Brand equity is a set of assets (and liabilities) linked to a brands name and symbol that adds to (or subtracts from) the value provided by a product or service to a firm and/or that firm’s customers“8. Die vier Quellen des „brand equity“ – sozusagen seine Säulen – erschließen sich aus dem nachfolgenden Diagramm:

Brand Awareness

Brand Associations

Brand Equity

Perceived Quality

Brand Loyality

___________ sions that differentiate it in some way from other products designed to satisfy the same need“. Die American Marketing Association (AMA) definiert „brand“ als „a name, term, sign, symbol or design, or a combination of them, intended to identify the goods of services of one seller or group of sellers and to differentiate them from those of competitors.“. 6 Kapferer, The New Strategic Brand Management, S. 10: „Modern brand management starts with the product and service as the prime vector of perceived value, while communication is there to structure, to orient tangible perceptions and to add intangible ones.“ Streck hat sich diesem Konflikt zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Qualität des Anwalts in einem umfassenden Aufsatz zum anwaltlichen Qualitätsmanagement (AnwBl 1996, 57) früh gestellt: „Der objektiv gute Anwalt kann dem Mandanten aus seiner subjektiven Sicht ein schlechter Anwalt sein. Der objektiv schlechte Anwalt kann dem Mandanten ein subjektiv guter Anwalt sein. … Diese Problemsituationen muss man sehen. Aber sie dürfen einen jedoch letztlich nicht davon abhalten, sich auf die Suche nach den objektiven Maßstäben für den qualitativ guten Anwalt zu begeben“ (Streck, a.a.O., S. 63 f.). 7 Einerseits die Vertreter des „customer based brand equity“ (CBBE-model) wie Keller et al (Fn. 4), S. 42 ff. sowie der „consumer behaviour“-Ansatz von Elliot/Percy, 2007, S. 5 ff.; andererseits die vielfältigen Bewertungmodelle des „brand equity“, vgl. hierzu den Überblick bei Klein-Bölting/Maskus, Value Brands, 2003, S. 153 ff. 8 Aaker, Building Strong Brands, 1996, S. 7.

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Unter „brand awareness“ ist nicht nur die Präsenz der Marke in der Wahrnehmung der Kunden zu verstehen, sondern auch das aus der „Bekanntheit“ resultierende Vertrauen („people like the familiar“)9. Die „brand associations“ bilden die Elemente ab, die der Kunde mit dem „brand“ verbindet10; „brand loyalty“ – die Kundentreue – stellt nach Aaker den Kernbestandteil des „brand equity“ dar11. Mit „perceived quality“ schließlich wird die Qualität des Produkts (der Dienstleistung) aus der Sicht des Kunden beschrieben. Mit den Worten von Aaker: „Perceived quality can be defined as the customer’s perception of the overall quality or superiority of a product or service with respect to its intended purpose, relative to alternatives“12. Das CBBE-Modell (Customer Based Brand Equity) von Keller ist deutlich komplexer strukturiert, weist aber ähnliche Grundlagen auf: brand strength

brand knowledge

brand image

kind of associations

strength of brand associations

brand awareness

favourability of brand associations

uniqueness of brand associations

recall

recognition

measures of marketing

Fundamental für das CBBE-Modell ist nach Keller, dass „the power of the brand lies in what customers have learned, felt, seen and heard about the brand as a result of their experiences. In other words, the power of a brand lies in what resides in the mind of customers“13. Die von Keller vorgenommene Aufspaltung der „brand awareness“ in „recall“ und „recognition“ beinhaltet eine Differenzierung zwischen der Fähigkeit des Kunden, den „brand“ wiederzuerkennen, wenn er das Produkt (den Namen) wahrnimmt (recognition), und dem Vermögen, bei einer Befassung mit der Produktkategorie den spezifischen „brand“ als Vertreter dieser Produkt (oder Service)-Gruppe zu lokalisieren.

___________ 9 Aaker/Joachimsthaler, Brand Leadership, 2000, S. 17. 10 Aaker/Joachimsthaler, Brand Leadership, 2000, S. 17. 11 Aaker/Joachimsthaler, Brand Leadership, 2000, S. 17; was „brand loyalty“ in der Praxis bedeutet, wird am Beispiel der Tabakindustrie deutlich: Ein einziger „markentreuer“ Raucher generiert über Jahrzehnte sechsstellige Erträge. 12 Aaker, Managing Brand Equity, S. 85. 13 Keller et al (Fn. 4), S. 43.

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Der „Brand“ von Anwaltssozietäten

Welche Bedeutung weisen diese verhaltenswissenschaftlichen Modelle nun für die Zukunft der Dienstleistung „Rechtsberatung“ durch die Anwaltschaft und ihre Einheiten auf? Dass die anwaltliche Tätigkeit keine Verbindung zu den Topoi „brand“ und „brand equity“ aufweist, ist ein seit den 80er-Jahren überholtes Dogma. Auch Dienstleistungen unterliegen – wenn ein „brand“ aufgebaut werden soll – dem Zwang der kontinuierlichen „perceived quality“, d.h. einer Garantie der gleichbleibenden, wahrgenommenen Qualität der Dienstleistung durch jedes Mitglied der Einheit. Kapferer beschreibt dies mit dem Satz: „In the services sector, in order to carry out the primary function of any major brand (guaranteeing the same quality of service), the brand is necessarily linked to the setting up of international and customer-facing process“14. Die anwaltliche Beratung und Gestaltung – einschließlich der forensischen Tätigkeit – zeichnet sich durch ein enormes Maß an Komplexität mit Blick auf Sachverhalt und Rechtslage aus, es werden „höhere Dienstleistungen“ erbracht. Diese sind mit der Person des jeweiligen Rechtsanwalts, seinen Fähigkeiten und Erfahrungen verbunden. Der Konflikt zwischen der personalisierten Verbindung des Klienten zu einzelnen – möglicherweise herausragenden – Angehörigen einer Sozietät und dem Erfordernis einer regelmäßigen, verlässlichen Qualität kann sicherlich nicht durch Nivellierungsprozesse gelöst werden. Fest steht indes, dass die Zeiten des „Personenkults“ unwiderruflich vorüber sind und das Anforderungsprofil der Klienten zunehmend nicht mehr auf einzelne Berufsträger in den Sozietäten ausgerichtet ist. Dies bedeutet: Die Feststellung Kapferers – „Since service is carried out by people, their variability is a risk for the brand. The brand promises regular and dependable quality“15 – ist auch für die Sozietät – gleich welcher Größenordnung – prägend: Eine von den Klienten wahrgenommene Validität ist personenunabhängig zu gewährleisten, eine Erkenntnis, die extreme Anforderungen hinsichtlich der Auswahl der Berufsangehörigen innerhalb einer Sozietät stellt. Neben der kontinuierlichen Qualität, der „perceived quality“, sind die Kriterien der „brand associations“ und der „brand awarenes“ (gleich welchem Modell man anhängt) untrennbar mit einem Aspekt verbunden, der in einer Publikation von Trout/Rivkin seinen spektakulären Ausdruck fand: „Differentiate or Die“ lautete die Botschaft, die im Jahre 2000 in die MarketingSzene eingebracht wurde16. Die Autoren wenden sich gegen eine primär an der Qualität des Produktes ausgerichtete Gewinnung von Präferenzen gegenüber Wettbewerbern17. Sie verweisen auf das hohe Maß an Auswahlmöglichkeiten des Konsumenten

___________ 14 15 16 17

Kapferer, The New Strategic Brand Management, S. 105. Kapferer, The New Strategic Brand Management, S. 105. Trout/Rivkin, Differentiate or Die, 2. Aufl. 2008. Trout/Rivkin, vii: „What we tend to see are two types of organisations. One type still doesn’t get it. They’re out there doing battles with ‚higher quality‘ or ‚good value’ or good old ‚better products‘. They feel that they are better than their competitors and that truth will prevail. They surround themselves with gurus who talk about quality, empowerment, customer orientation and various forms of leadership. Unfortunately, all of their competitors are surrounded by the same cast of ‚you-can-get-better‘ gurus. Nothing different.“.

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(Klienten), einer „explosion of choice“, die den Zwang zur Differenzierung angesichts einer prinzipiell gleichwertigen Güte des Produktes (Dienstleistung) nach sich ziehe18. Als Medien der erforderlichen Abgrenzung zur Erzielung eines eigenständigen „Brands“ verwerfen sie beispielsweise die Preisgestaltung, die Qualität und die Kundenausrichtung oder den „Slogan“ als Kennzeichen eines Anbieters19. Elemente der Differenzierung sind für sie eindeutige Spezialisierung, Innovationen des Produkts (der Dienstleistung) oder der Anspruch auf die Marktführerschaft in einem Segment20.

III. Das „Branding“ bei in Deutschland tätigen (Wirtschafts-)Kanzleien Vergleicht man diese – was einzuräumen ist – wenig systematischen und empirisch nur punktuell unterlegten Ratschläge mit dem Erscheinungsbild der in Deutschland tätigen (Wirtschafts-)Kanzleien, wie es sich aus Anzeigen und anderen Formen der Präsentation ergibt21, so finden sich durchaus interessante Kongruenzen. Die großen internationalen Sozietäten mit starker Marktpräsenz in Deutschland heben nahezu durchgängig auf ihren globalen Status ab, die Aussagen sind hinsichtlich ihrer Verweisungen auf die „weltweite“, „internationale“ oder „globale“ Tätigkeit an einer Vielzahl von Standorten (in den Metropolen) mit hunderten oder tausenden von Berufsangehörigen nahe identisch. Das offerierte Angebot an Beratungsleistungen ist ebenfalls weitgespannt und deckt regelmäßig alle relevanten Bereiche ab. Nur wenige dieser internationalen Kanzleien verzichten auf die Mitteilung der ihre Größe konstituierenden Daten und wählen stattdessen prägnante Kurzbezeichnungen für ihre weltweiten Aktivitäten oder lassen den „Brand“ für sich sprechen22. Hier wird

___________ 18 Trout/Rivkin, 2: „What has changed in business over recent decades is the amazing proliferation of product choices in just about every category“. Trout/Rivkin, 5 verweisen weiter auf die „Choice Industry“, die zur Hilfestellung bei der Auswahl der Produkte entstanden ist. In der Rechtsanwaltschaft haben „Guide Michelin“ und „Varta-Führer“ ihr Analogon unter anderem im jährlichen „JUVE-Handbuch“ gefunden. 19 Trout/Rivkin, 55: „Price is rarely a differentiating idea“; 35: „Quality and customer orientation are rarely differentiating ideas“; 52: „Difference, not slogans“. So verwerfen sie z.B. den Slogan von Nokia: „Nokia, when they are selling cell phones, talks about ‚Connecting people‘. What else are they connecting? Animals?“. Sie schlagen mit Blick auf die Marktführerschaft der Marke vor: „This point of difference is simple: The world’s No. 1 cell phone. And what do most people want to buy? You guessed it: It’s what other people buy“. 20 Trout/Rivkin, 91: „First, the specialist can focus on one product, one benefit, and one message. This focus enables the marketer to put a sharp point on the message that quickly drives it into the mind“; 155: „How a product is made can be the differentiating idea“; 117: „Leadership is a way to differentiate“. 21 Für die nachfolgende Analyse ist lediglich auf die von den Kanzleien geschalteten Anzeigen im JUVE-Handbuch 2009/2010 der Wirtschaftskanzleien zurückgegriffen worden, die weitaus differenzierteren Internet-Auftritte haben keine Berücksichtigung gefunden. 22 Beispiele sind Baker & McKenzie, JUVE-Handbuch 2009/2010, S. 647, ohne Hinweis auf die Internationalität und Linklaters, JUVE-Handbuch 2009/2010, S. 808, die knapp titeln: „Weltklasse. Linklaters.“.

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Der „Brand“ von Anwaltssozietäten

also auf das bewiesene Monumentum, die Attraktivität für ebenfalls global agierende Klienten und die von Personen unabhängige Qualität der stetig wachsenden Einheit Bezug genommen. Der Versuch einer darüber hinaus gehenden Differenzierung findet – wenn überhaupt – zumeist ergänzend durch Hinweise auf die Wertschätzung der Sozietät durch Branchenbeobachter statt. Eine Differenzierung – im Sinne einer Produktinnovation – ist bei Heisse Kursawe Eversheds zu finden, die auf die von ihnen entwickelten Rechtsberatungslösungen hinweisen, die den „Mandanten weltweit die Kontrolle ermöglichen, insbesondere in Hinblick auf Kosten, Umfang und Zeit“23. Bei den überregionalen Sozietäten – die nicht in internationale Kanzleien eingebunden sind – ist neben der parallelen Betonung der Kapazitäten (wie bei den globalen Wettbewerbern) auch ein Trend zum „Being first“-Ausweis erkennbar. Hengeler Mueller etwa verzichten auf jede eigene Aussage zur Qualität und Stärke der Kanzlei und referieren – im Sinne einer Darstellung ihrer Benchmark-Funktion – die „perceived quality“ aus der Sicht von Branchendiensten: „JUVE Rechtsmarkt 2008: Messlatte für ihre Wettbewerber!“24. Gleiss Lutz stellen Prädikate Dritter ebenfalls in das Zentrum ihrer Präsentation („… a leading firm that sets the standards … – Chambers Europe 2009“)25. Andere grenzen sich bewusst von den internationalen Kanzleien mit der Maßgabe ab, dass sie den gleichen oder sogar einen höheren Qualitätsstandard reklamieren oder auf die lange Tradition ihres „brand“ verweisen26. Während bei den großen internationalen und nationalen Kanzleien eine gewisse Gleichförmigkeit ohne ein ausgeprägtes „brand managment“ lokalisierbar ist, wird bei den – umsatzmäßig zum Teil durchaus in der ersten Liga auftretenden – spezialisierten Kanzleien eine Ausrichtung an einem differenzierten „brand“-Konzept erkennbar. FGS – Flick Gocke Schaumburg weisen einerseits eine hohe Kapazität und ein breites wirtschaftsrechtliches Spektrum auf, betonen aber zugleich, dass sie sich seit mehr als 35 Jahren der „steuerzentrierten wirtschaftsrechtlichen Spezialberatung (widmen)“. Das in der „brand“-Literatur durchaus kontrovers behandelte Problem der „line extension“27, d.h. der Ausdehnung des Kerngebietes mit entsprechender Kompetenz auf andere Felder (z.B. Kartellrecht und Fusionskontrolle), löst die Sozietät durch das klare Bekenntnis zu einer steuerlichen Beratungsperspektive, womit der differenzierende „brand“

___________ 23 24 25 26

JUVE-Handbuch 2009/2010, S. 746. JUVE-Handbuch 2009/2010, S. 748. JUVE-Handbuch 2009/2010, S. 724. Beispiele sind Orth Kluth, JUVE-Handbuch 2009/2010, 843: „Wenn unsere Muttergesellschaft darauf besteht, mandatiere ich schon eine internationale Großsozietät. Aber wenn ich freie Hand habe, beauftrage ich Orth Kluth“; SZA (Schilling, Zutt & Anschütz), JUVE-Handbuch 2009/2010, 884: „… eine der traditionsreichsten deutschen Wirtschaftssozietäten“, „Ein Ansatz, für den der Name Schilling, Zutt und Anschütz seit über 80 Jahren steht“. 27 Hierzu Aaker, Managing Brand Equity, 1991, 206; Keller et al (Fn. 4), 568, der als „line extension“ die Erweiterung des „parent brand“ auf verwandte Produkte bezeichnet. Die Gefahr der Ausdehnung liegt in der Beschädigung des eigentlichen „brands“.

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Sven Thomas

der Steuerkanzlei erhalten bleibt und zugleich eine Ausdehnung der Beratungsleistung auf alle wirtschaftsrechtlichen Segmente verbunden wird28. Eine ganze Reihe anderer Sozietäten stellen klar auf ihre Spezialisierung ab, wobei die Profilierung über die tragenden Elemente der „brand associations“ und der „differentiating idea“ (Trout/Rivkin) bei einigen Kanzleien ausgeprägt und offensiv vorgetragen wird. Ein Beispiel hierfür ist P+P Pöllath + Partners, die die bewusste Begrenzung ihres Angebotes mit dem Qualitätsanspruch verbinden, ihre anwaltliche Tätigkeit als Entscheidungsvorschlag für den Mandanten begreifen, die Unabhängigkeit von jedem Netzwerk betonen und den „Full Service“ ihrer Erreichbarkeit propagieren29. Hier – wie auch bei anderen im Rahmen dieses Beitrags nicht behandelten Einheiten – ist durchaus „strategic brand managment“ feststellbar.

IV. Back to the roots Der Verfasser weiß, dass mit einigen Schaubildern und der rudimentären Vorstellung der – manchmal trivial erscheinenden – Erkenntnisse der „brand gurus“ (Aaker, Kapferer, Keller) nur begrenzter Nutzen für den Aufbau eines „brands“ mit Blick auf eine Anwaltssozietät zu erzielen ist. Gleichwohl: der Trend – und der Zwang – zur Differenzierung über die Basis kontinuierlicher Qualität der Dienstleistung – oder: der „perceived quality“ – hinaus ist unumkehrbar. Das singuläre Profil einer Kanzlei ist letztlich das Kriterium für den Erfolg im Markt. Aber: Es waren immer einzelne Personen, die die Grundlage für den „brand“ geschaffen haben. Und: Der kurze Ausflug in die Welt von Apple, Coca-Cola, Nokia und anderen „brands“ betrifft nur die Ertragsseite der Gewinn- und Verlustrechnung und die Aktivseite der Bilanz, nicht aber den Schützling des Anwalts: seinen Mandanten. Dieser steht im Zentrum. Michael Streck sieht dies ebenso.

___________ 28 JUVE-Handbuch 2009/2010, S. 711. 29 JUVE-Handbuch 2009/2010, S. 848 f.

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Zum Spannungsverhältnis zwischen § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG und § 64 Satz 3 GmbHG Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Bedeutung des § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG III. Die Bedeutung des § 64 Satz 3 GmbHG

V. Rangrücktritt und Stundungsabrede VI. Exkurs: Bedeutung des § 64 Satz 3 GmbHG im Rahmen des § 135 Abs. 3 InsO VII. Zusammenfassung

IV. Verhältnis der beiden Vorschriften mit Blick auf die Zahlungsfähigkeitsprüfung

I. Einleitung Hinlänglich bekannt ist, dass durch das MoMiG1 das vormalige Recht der eigenkapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen grundlegend geändert worden ist. In der Insolvenz der Gesellschaft sind Gesellschafterdarlehen nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO n.F. stets nachrangig, ohne dass es auf einen Eigenkapitalersatzcharakter ankommt. Ebenso sind Rückzahlungen auf Gesellschafterdarlehen, die im letzten Jahr vor Antragstellung erfolgt sind, unabhängig davon anfechtbar, ob sie als eigenkapitalersetzend zu qualifizieren sind (§ 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO n.F.). Im Gegenzug hat der Gesetzgeber des MoMiG die „Rechtsprechungsregeln“ abgeschafft, indem er gemäß § 30 Abs. 1 Satz 3 InsO GmbHG Gesellschafterdarlehen und wirtschaftlich entsprechende Leistungen ausdrücklich von dem Auszahlungsverbot des § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG ausgenommen hat. Die hiermit verbundene Einschränkung der Gesellschafterhaftung soll nach dem Willen des Gesetzgebers durch die Verschärfung der Geschäftsführerhaftung gemäß § 64 Satz 3 GmbHG in gewissem Umfang ausgeglichen werden2. Danach haften Geschäftsführer nicht mehr nur für Zahlungen, die nach Eintritt der Insolvenzreife (Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung) erfolgen, sondern auch für Zahlungen an Gesellschafter, die zur Zahlungsunfähigkeit führen mussten. Damit stellt sich die Frage, wie die Vorschriften des § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG und des § 64 Satz 3 GmbHG zueinander in ein Verhältnis zu bringen sind. Dieser Frage, die sich insbesondere mit Blick auf die Berücksichtigung von Gesellschafterforderungen bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft stellt, will der Beitrag nachgehen.

___________ 1 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen v. 23.10.2008, BGBl. I, S. 2026. 2 BT-Drucks. 16/6140, S. 105 ff.

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II. Die Bedeutung des § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG Nach überkommenem Recht war eine dem Auszahlungsverbot nach den §§ 30, 31 GmbHG a.F. unterliegende Forderung ebenso wie eine solche, die den Eigenkapitalersatzregeln nach §§ 32a, 32b GmbHG a.F. unterlag, nicht „fällig“ und somit bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit außer Acht zu lassen3. Nunmehr sind Gesellschafterdarlehen und gleichgestellte Leistungen aber ausdrücklich vom Auszahlungsverbot nach § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG ausgenommen, sodass diese Forderungen grundsätzlich auch in der Krise beglichen werden müssen. Erst mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens unterliegen – bis dahin nicht bediente – Gesellschafterforderungen dem Nachrang. Nach dem Regelungsgehalt des § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG steht der vorinsolvenzlichen Durchsetzbarkeit von Gesellschafterforderungen also nichts mehr entgegen, sodass es folgerichtig wäre, sie auch bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit uneingeschränkt zu berücksichtigen.

III. Die Bedeutung des § 64 Satz 3 GmbHG § 64 Satz 3 GmbHG normiert eine persönliche Haftung des Geschäftsführers, wenn er Zahlungen an Gesellschafter vornimmt, die zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen mussten, es sei denn, die Zahlungen waren mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar. Um Umgehungen zu vermeiden, gilt § 64 Satz 3 GmbHG nach zutreffender h.M4. auch für gesellschaftergleiche Dritte, wobei insoweit auf die zum (früheren) Eigenkapitalersatzrecht entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden kann. Für nicht anwendbar werden dagegen die Regeln zum Kleinbeteiligten- (§ 39 Abs. 5 InsO) und Sanierungsprivileg (§ 39 Abs. 4 Satz 2 InsO) gehalten5. Die Haftung des Geschäftsführers greift nur dann ein, wenn später tatsächlich Zahlungsunfähigkeit eintritt. Der Anspruch wird also in aller Regel erst in der Insolvenz der Gesellschaft vom Insolvenzverwalter geltend gemacht werden6. Gefordert wird vom Geschäftsführer aber bei Vornahme der Zahlung eine exante-Prognose, ob die Gesellschaft künftig in der Lage sein wird, ihre fälligen Verbindlichkeiten zu erfüllen (solvency test)7. Der Sache nach hat sich die im Rahmen des § 64 Satz 3 GmbHG vorzunehmende Solvenzprognose an der Fortführungsprognose bei der Überschuldungsprüfung zu orientieren8, da letztere umgekehrt nichts anderes ist als eine Zahlungsfähigkeitsprognose9,

___________ 3 Vgl. Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2003, § 17 InsO Rz. 8 m.w.N. 4 Vgl. etwa K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2010, § 64 GmbHG Rz. 64; Seulen/Osterloh, ZInsO 2010, 881 (886), jeweils m.w.N. 5 Casper in Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, 2008, § 64 Rz. 102; K. Schmidt in Scholz, § 64 GmbHG Rz. 79. 6 Vgl. K. Schmidt in Scholz, § 64 GmbHG Rz. 68, Rz. 81: Die Sichtweise des Gesetzes ist eine Sichtweise ex post aus der Perspektive der Gesellschaft, nach Insolvenzeröffnung aus der Perspektive des Insolvenzverwalters. 7 Haas in Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 64 GmbHG Rz. 94; Seulen/ Osterloh, ZInsO 2010, 881 (885). 8 Knof, DStR 2007, 1536 (1542); Haas in Baumbach/Hueck, § 64 GmbHG Rz. 95. 9 Müller in Jaeger, InsO 2004, § 19 InsO Rz. 36; Uhlenbruck, InsO, 13. Aufl. 2010, § 19 InsO Rz. 45, jeweils m.w.N.

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Zum Spannungsverhältnis zwischen § 30 und § 64 GmbHG

bei der maßgeblich ist, ob das Unternehmen voraussichtlich wenigstens mittelfristig in der Lage sein wird, seine fälligen Verbindlichkeiten zu begleichen10. Für die Fortbestehensprognose ist – wie der BGH erst jüngst ausdrücklich festgestellt hat11 – ein aussagekräftiges Unternehmenskonzept (Ertragsund Finanzplan) erforderlich12. Als hierbei zu berücksichtigender Zeitraum werden das laufende und das kommende Geschäftsjahr angesehen, mithin eine Periode von zwölf bis 24 Monaten13. Ist danach der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit „überwiegend wahrscheinlich“ im Sinne einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50%, ist der Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG eröffnet14. Konnte der Geschäftsführer dagegen die Eignung der von ihm vorgenommenen Zahlung zur Herbeiführung der Zahlungsunfähigkeit nicht in diesem Sinne erkennen, kann er sich nach § 64 Satz 3 i.V.m. Satz 2 GmbHG exkulpieren15. Muss eine Zahlung an einen Gesellschafter erkennbar zur Zahlungsunfähigkeit führen, so folgt aus der persönlichen Haftung des Geschäftsführers, dass ihn ein Verhaltensgebot trifft, die Zahlung zu unterlassen16. Teilweise wird davon ausgegangen, dass er diesem Verhaltensgebot nicht dadurch entsprechen kann, dass er ein Leistungsverweigerungsrecht der Gesellschaft geltend macht17. Richtigerweise wird man aber dem Geschäftsführer nicht einerseits ein bestimmtes Verhalten, nämlich die Nichtzahlung aus Mitteln der Gesellschaft, auferlegen und ihm andererseits die Möglichkeit verwehren können, sich durch Geltendmachung eines Leistungsverweigerungsrechts der Gesellschaft haftungsfrei zu verhalten. Es wäre widersprüchlich, den Geschäftsführer einerseits zur Zahlung für die Gesellschaft verpflichtet zu halten und ihn andererseits später für die Zahlung persönlich haften zu lassen18. Den Geschäftsführer in diesen Fällen darauf zu verweisen, sein Amt niederzulegen19, kann keine taugliche Alternative darstellen. Gesellschaften in einer angespannten Lage, womöglich schon im Stadium drohender Zahlungsunfähigkeit, würden anderenfalls oftmals führungslos, weil sich die Geschäftsführer damit konfrontiert sähen, einerseits ohne Einredemöglichkeit an die Ge-

___________ 10 Kirchhof in HK-InsO, 5. Aufl. 2008, § 19 Rz. 12. 11 BGH, Beschl. v. 9.10.2006 – II ZR 303/05, NZI 2007, 44. 12 Ausführlich zu den Anforderungen an Unternehmenskonzept und Finanzplan, gerade in Bezug auf § 64 Satz 3 GmbHG Knof, DStR 2007, 1580 ff. 13 Bork, ZIP 2000, 1709; Müller in Jaeger, 2004, § 19 InsO Rz. 37; Uhlenbruck, § 19 InsO Rz. 50; Uhlenbruck in Gottwald, Insolvenzrechtshandbuch, 3. Aufl. 2006, § 6 Rz. 25; ausdrücklich für die Übertragung dieses Zeitraums auf die Solvenzprognose Knof, DStR 2007, 1580 (1582 f.). 14 Knof, DStR 2007, 1536 (1540). 15 BT-Drucks. 16/6140, S. 47. 16 So ausdrücklich auch Hölzle, GmbHR 2007, 729 (731): „Handlungsanordnung“. Dass § 64 Satz 3 GmbHG ein „Zahlungsverbot“ anordnet, entspricht ganz h.M., vgl. LG Berlin, Urt. v. 16.12.2009 – 100 S 75/09 = GmbHR 2010, 201; Bormann, DB 2006, 2616 (2619); Knof, DStR 2007, 1536 (1537); K. Schmidt in Scholz, § 64 GmbHG Rz. 64; Casper in Ulmer/Habersack/Winter, § 64 Rz. 102; Gehrlein, BB 2008, 846 (849); Hirte, ZInsO 2008, 689 (698); Roth, GmbHR 2008, 1184 (1190). 17 Haas in Baumbach/Hueck, § 64 GmbHG Rz. 107; Haas, DStR 2009, 326 (Fn. 10). 18 Seulen/Osterloh, ZInsO 2010, 881 (887 f.). 19 So der Vorschlag in der Gesetzesbegründung zum MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 107.

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sellschafter zahlen zu müssen und andererseits für diese Zahlungen später zu haften20. Das kann nicht Ziel der durch § 64 Satz 3 GmbHG eingeführten Haftungsverschärfung sein. Auch aus den in § 15a Abs. 3 InsO neu eingefügten Regelungen über die Insolvenzantragspflicht von Gesellschaftern und Aufsichtsräten bei Führungslosigkeit ergibt sich nichts anderes. Hierdurch soll nur sichergestellt werden, dass die Insolvenzantragspflicht nicht ins Leere läuft, wenn die Vertretungsorgane der Gesellschaft ihre Ämter niedergelegt haben, aber kein Anreiz zur Amtsniederlegung gegeben wird. Zudem greifen die Insolvenzantragspflichten erst bei eingetretener Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, während § 64 Satz 3 GmbHG ein Verhaltensgebot gerade vor dem Eintritt der Insolvenzreife normiert. Ebenso wenig kann der Geschäftsführer gehalten sein, gemäß § 18 InsO Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit zu stellen. Insoweit ist zu beachten, dass er gegenüber der Gesellschaft und deren Gesellschaftern verpflichtet ist, sämtliche Möglichkeiten zur Sanierung auszunutzen. Ein Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit kann eine Haftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG auslösen, wenn nicht alle Möglichkeiten zur Sanierung ausgenutzt wurden21. Das lässt sich bei der GmbH nur vermeiden, wenn der Geschäftsführer vor Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit die Zustimmung der Gesellschafterversammlung einholt22. Erhält er diese Zustimmung nicht, kann es nicht richtig sein, dass er sich der Gefahr einer Haftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG wegen verfrühter Antragstellung aussetzen muss, weil ihm kein anderer Weg verbleibt, der Haftung nach § 64 Satz 3 GmbHG zu entgehen. Schließlich ist es auch nicht Sinn und Zweck des § 64 Satz 3 GmbHG, die Insolvenz der Gesellschaft herbeizuführen, vielmehr soll die Vorschrift die Gläubiger vor dem Eintritt der Insolvenz schützen23. Aus diesen Gründen nimmt die h.M. zu Recht an, dass bei drohender Zahlungsunfähigkeit aus § 64 Satz 3 GmbHG ein Leistungsverweigerungsrecht der Gesellschaft gegenüber den Gesellschaftern folgt24.

___________ 20 Vgl. Seulen/Osterloh, ZInsO 2010, 881 (888). 21 Götker, Der Geschäftsführer in der Insolvenz, 1999, Rz. 300 ff.; Haas in Gottwald, § 92 Rz. 129 ff.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 6; Meyke, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, 5. Aufl. 2007, S. 126. 22 Ebenso etwa Götker, Der Geschäftsführer in der Insolvenz, 1999, Rz. 500 f.; Haas in Gottwald, § 92 Rz. 131; Meyke, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, 5. Aufl. 2007, S. 126. 23 Seulen/Osterloh, ZInsO 2010, 881 (888). 24 Vgl. LG Berlin, v. 16.12.2009 – 100 S 75/09 = GmbHR 2010, 201; Bormann, DB 2006, 2616 (2619); Dahl in Michalski, 2. Aufl. 2010, Anh. II §§ 32a, 32b GmbHG a.F. Rz. 78; Dahl/Schmitz, NZG 2009, 567 (569); Hölzle, GmbHR 2007, 729 (732); Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 102; K. Schmidt in Scholz, § 64 GmbHG Rz. 77, 91; Spliedt, ZIP 2009, 149 (160); tendenziell auch Pentz in FS Hüffer, 2010, 747 (753).

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Zum Spannungsverhältnis zwischen § 30 und § 64 GmbHG

IV. Verhältnis der beiden Vorschriften mit Blick auf die Zahlungsfähigkeitsprüfung Für Gesellschafterdarlehen und gleichgestellte Forderungen gilt danach: Zwar besteht kein auf Unterkapitalisierung gestütztes Zahlungsverweigerungsrecht, jedoch können Zahlungen wegen drohender Zahlungsunfähigkeit verweigert werden25. Dies wirft die Frage auf, ob der Geschäftsführer im Rahmen der von ihm geforderten Prüfung26 zur Zahlungsfähigkeit die Gesellschafterforderungen als Verbindlichkeiten berücksichtigen muss oder nicht. Sicher muss der Geschäftsführer die Gesellschafterforderung zunächst in die Liste der Kreditoren einstellen. Führte ihr Ausgleich – auch auf Sicht (dazu oben III.) – zu keiner Zahlungsunfähigkeit, ist er erlaubt (oder sogar geboten). Führt die Zahlung zur Zahlungsunfähigkeit, weil die Mittel der Gesellschaft nicht mehr zur Begleichung der übrigen Gläubiger ausreichen, so muss die Gesellschaft bereits akut zahlungsunfähig sein. Das folgt schon daraus, dass die Zahlungsunfähigkeit anhand eines Vergleichs der zur Verfügung stehenden Mittel mit den fälligen Verbindlichkeiten ermittelt wird. Sie ist daher – worauf Spliedt27 zu Recht hinweist – entweder gegeben oder sie ist es nicht. Durch die bloße Zahlung einer fälligen Verbindlichkeit kann sie nicht herbeigeführt werden. Der Geschäftsführer wäre also entweder zahlungsberechtigt oder – binnen höchstens drei Wochen – insolvenzantragspflichtig (§ 15a InsO) ohne eine vorgelagerte Zahlungssperre. In diesem Fall würde § 64 Satz 3 GmbHG praktisch leerlaufen. Teilweise wird vertreten, bei eben diesem Ergebnis verbleibe es28. Andere sind der Auffassung, es gebe einen praktischen Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG für Zahlungen an Gesellschafter, die nicht gleichzeitig die fälligen Verbindlichkeiten reduzieren29. Als Beispiele hierfür werden etwa die vorfällige Zahlung von Zinsen oder die ungerechtfertigte Zahlung von Management Fees oder Beratungsgebühren an Gesellschafter genannt30. Dass aber Geschäftsführer – insbesondere bei drohender Zahlungsunfähigkeit – keine Zahlungen zulasten der Gesellschaft vornehmen dürfen, zu denen die Gesellschaft nicht oder wegen fehlender Fälligkeit noch nicht verpflichtet ist und bei Verstoß gegen diese Pflicht haften, ergibt sich bereits aus § 43 GmbHG bzw. aus allgemeinem Zivilrecht31. Hierfür hätte es der Einführung der eigenständigen Haftungsnorm des § 64 Satz 3 GmbHG nicht bedurft. Tatsächlich soll aber die Gesellschaft durch § 64 Satz 3 GmbHG vor einer Liquiditätsbelastung durch die Begleichung gegenüber einem Gesellschafter bestehender Verbindlichkeiten geschützt werden32. Sachgerechter scheint es

___________ 25 26 27 28 29 30 31 32

Hölzle, GmbHR 2007, 729 (732); K. Schmidt in Scholz, § 64 GmbHG Rz. 64. Zu den Anforderungen hieran s. oben III. ZIP 2009, 149 (159). So Altmeppen in FS Hüffer, 2010, S. 1 (5 f., 12). Niesert/Hohler, NZI 2009, 345 (350). Niesert/Hohler, NZI 2009, 345 (350). Dahl in Michalski, Anh. II §§ 32a, 32b GmbHG a.F. Rz. 79 (Fn. 221). Spliedt, ZIP 2009, 149 (159).

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daher, aus der Haftungsnorm des § 64 Satz 3 GmbHG und dem hieraus folgenden Zahlungsverweigerungsrecht des Geschäftsführers herzuleiten, dass Gesellschafterforderungen, wenn deren Begleichung zur Zahlungsunfähigkeit führen würde, schon nicht mehr als fällige Verbindlichkeiten anzusehen sind und damit im Rahmen der Zahlungsfähigkeitsprüfung außer Betracht bleiben müssen33. Dem Geschäftsführer wäre danach auferlegt zu prüfen, ob der Gesellschaft im Fall der Begleichung einer Gesellschafterforderung noch ausreichend Mittel zur Verfügung stehen, um die außenstehenden Gläubiger zu befriedigen. Durch ein solches Verständnis des § 64 Satz 3 GmbHG würde das oben aufgezeigte Paradoxon vermieden, dass eine Verbindlichkeit einerseits im Rahmen der Zahlungsfähigkeitsprüfung berücksichtigt werden müsste, andererseits aber gerade deren Erfüllung wegen des daraus folgenden Eintritts der Zahlungsunfähigkeit verweigert werden soll. Dass § 64 Satz 1 GmbHG anders ausgelegt wird34, steht dem nicht entgegen: Im Anwendungsbereich dieser Vorschrift muss die Zahlungsunfähigkeit bereits eingetreten sein und kann nicht infolge der Haftungsanordnung wieder entfallen35. Würde § 64 Satz 1 GmbHG der Fälligkeit von Forderungen entgegenstehen, könnte letztlich niemals Zahlungsunfähigkeit bestehen und die Vorschrift wäre sinnentleert. § 64 Satz 3 GmbHG kann demgegenüber überhaupt nur eine sinnvolle Wirkung entfalten, wenn Gesellschafterforderungen bei der Zahlungsfähigkeitsprüfung außer Betracht bleiben36. Man wird sicherlich die Frage aufwerfen können, ob § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG durch eine solche Auslegung des § 64 Satz 3 GmbHG nicht zu sehr eingeschränkt wird. Immerhin resultiert hieraus im Ergebnis ein Zahlungsverbot für den Zeitraum der drohenden Zahlungsunfähigkeit vergleichbar dem Zahlungsverbot in der Krise nach überkommenem Eigenkapitalersatzrecht37. Ob dieses Ergebnis dem Willen des Gesetzgebers entspricht, das vormalige Eigenkapitalersatzrecht abzuschaffen, dürfte immerhin zweifelhaft sein. Andererseits war es aber, wie bereits in der Einleitung ausgeführt, auch die Intention des Gesetzgebers des MoMiG38, die Einschränkung der Gesellschafterhaftung durch eine Verschärfung der Geschäftsführerhaftung in gewissem Umfang auszugleichen39. Dieses Ziel würde verfehlt, legte man § 64 Satz 3 GmbHG in einer Weise aus, die die Vorschrift im Ergebnis leer laufen

___________ 33 Dahl in Michalski, Anh. II §§ 32a, 32b GmbHG a.F. Rz. 80; Dahl/Schmitz, NZG 2009, 567 (569 f.); so ausdrücklich auch für Gesellschafterdarlehen, die § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG unterliegen, K. Schmidt/Bitter in Scholz, Vor § 64 GmbHG Rz. 7 f.; für ein weites Verständnis der Norm, sodass auch Zahlungen auf fällige Gesellschafterverbindlichkeiten umfasst sind, auch Seulen/Osterloh, ZInsO 2010, 881 (884). 34 Dies verkennt der Fachausschuss Sanierung und Insolvenz des IDW, ZIP 2009, 201 (205) der ohne Weiteres davon ausgeht, auch ein Zahlungsverweigerungsrecht gemäß § 64 Satz 1 GmbHG (§ 64 Abs. 2 GmbHG a.F.) führe zur Nichtberücksichtigung der Forderung im Rahmen der Zahlungsfähigkeitsprüfung. 35 Vgl. Spliedt, ZIP 2009, 149 (160). 36 So auch Dahl/Schmitz, NZG 2009, 567 (570); Spliedt, ZIP 2009, 149 (160). 37 Vgl. Dahl/Schmitz, NZG 2009, 567 (570); Hölzle, GmbHR 2007, 729 (732). 38 BT-Drucks. 16/6140, S. 105 ff. 39 S. auch Seulen/Osterloh, ZInsO 2010, 881 (884): „§ 64 Satz 3 GmbHG wurde also gewissermaßen als Korrektiv für gesetzliche Lockerungen in anderen Bereichen eingeführt.“

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Zum Spannungsverhältnis zwischen § 30 und § 64 GmbHG

ließe und nicht über die Haftung gemäß § 64 Satz 1 GmbHG wegen Zahlungen bei bereits bestehender Zahlungsunfähigkeit hinausginge40. Richtigerweise ist also davon auszugehen, dass der Gesetzgeber – möglicherweise unbewusst – durch § 64 Satz 3 GmbHG eine „Hintertür eingebaut“41 hat, um Auszahlungen an Gesellschafter bereits vorinsolvenzlich zu verhindern. Nur die Sanktion für verbotswidrige Zahlungen ist danach eine andere: Anstatt den Gesellschafter über §§ 32a, 32b GmbHG a.F. bzw. nach den „Rechtsprechungsregeln“ auf Rückzahlung in Anspruch zu nehmen, muss der Insolvenzverwalter nunmehr die Haftung des Geschäftsführers gemäß § 64 Satz 3 GmbHG geltend machen – wobei dies bei Gesellschafter-Geschäftsführern im Ergebnis dieselbe Person trifft. Freilich mag die Hürde des Erfordernisses einer „Zahlung, die zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen muss“ häufig schwerer zu überwinden sein als der Krisenbegriff nach bisherigem Recht.

V. Rangrücktritt und Stundungsabrede Das Verständnis von § 64 Satz 3 GmbHG und insbesondere dessen Verhältnis zu § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG wirkt sich auch darauf aus, welchen Inhalt eine Rangrücktrittsabrede haben muss, damit eine Gesellschafterforderung bei Überschuldungs- und Zahlungsunfähigkeitsprüfung unberücksichtigt bleiben darf. Der Streit zum alten Recht über die notwendige Tiefe einer Rangrücktrittserklärung, um die Passivierungspflicht in der Überschuldungsbilanz entfallen zu lassen, hat sich erledigt: Nach neuem Recht bestimmt § 19 Abs. 2 Satz 3 InsO i.d.F. des MoMiG eindeutig, dass ein Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 2 InsO erforderlich, aber auch ausreichend ist. Nach altem Recht war – ungeachtet des Streits über Tiefe und Inhalt des Rangrücktritts – nach der Rechtsprechung des BGH42 klar, dass sich der Gesellschafter verpflichten musste, seine Forderung während der gesamten Dauer der Krise nicht einzufordern, um die Passivierungspflicht in der Überschuldungsbilanz zu vermeiden. Für die (Nicht-)Berücksichtigung eines Gesellschafterdarlehens bei der Zahlungsfähigkeitsprüfung als fällige Verbindlichkeit war dagegen das Vorliegen eines Rangrücktritts nicht maßgeblich: Nach bisherigem Recht war eine dem Auszahlungsverbot nach §§ 30, 31 GmbHG a.F. unterliegende Forderung ebenso wie eine solche, die den Eigenkapitalersatzregeln nach §§ 32a, 32b GmbHG a.F. unterlag, nicht „fällig“ und somit bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit außer Acht zu lassen43. Auf die Rechtsnatur der Rangrücktrittserklärung44, insbesondere auf die Frage, ob diese eine Stundungsabrede darstellt, kam es demgemäß nicht entscheidend an; zwecks Vermeidung der Überschuldung war jedenfalls eine Rangrück-

___________ 40 41 42 43 44

Dahl/Schmitz, NZG 2009, 567 (570). Spliedt, ZIP 2009, 149 (160). BGH v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, NJW 2001, 1280. S. bereits oben IV. Eingehend hierzu Teller/Steffan, Rangrücktrittsvereinbarungen zur Vermeidung der Überschuldung bei der GmbH, 3. Aufl. 2003, Rz. 250 ff; insbesondere Rz. 305 ff.

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trittsabrede des beschriebenen Inhalts erforderlich, während sich ein der Fälligkeit entstehendes Auszahlungsverbot bereits aus dem Gesetz ergab. Nachdem das frühere kapitalersatzrechtliche Auszahlungsverbot nicht mehr gilt, stellt sich die Frage, ob eine ausdrückliche Stundung erforderlich ist, um die Gesellschafterforderung nicht nur bei der Überschuldungs-, sondern auch bei der Zahlungsfähigkeitsprüfung außer Betracht lassen zu können. Sieht man in § 64 Satz 3 GmbHG ein Zahlungsverweigerungsrecht der Gesellschaft, das der Fälligkeit der Gesellschafterforderung entgegensteht, bedarf es keines Rangrücktritts bzw. keiner ausdrücklichen Stundungsabrede für die Zahlungsfähigkeitsprüfung45. Gleiches gilt dann hinsichtlich der im Rahmen einer Überschuldungsprüfung vorzunehmenden Fortführungsprognose. Diese ist für die Frage des Bestehens einer insolvenzrechtlichen Überschuldung in erster Linie maßgeblich, weil der Gesetzgeber durch das Finanzmarktstabilisierungsgesetz46 – zunächst befristet bis zum 31.12.2010 und sodann durch das Gesetz zur Erleichterung der Sanierung von Unternehmen47 weiter befristet bis zum 31.12.2013 – den modifiziert zweistufigen Überschuldungsbegriff wieder eingeführt hat. Liegt eine positive Fortführungsprognose vor, ist danach derzeit eine Überschuldung per se ausgeschlossen, ohne dass es einer weitergehenden Ermittlung der Fähigkeit zur Deckung der Schulden durch Erstellung eines Überschuldungsstatus bedarf. Muss aber – weil eine negative Fortführungsprognose vorliegt – eine Überschuldungsbilanz erstellt werden, so ist eine Rangrücktrittserklärung zwingend erforderlich, wenn Gesellschafterdarlehen nicht passiviert werden sollen; an § 19 Abs. 2 Satz 3 InsO führt insoweit kein Weg vorbei. Eines ausdrücklich vereinbarten Rangrücktritts bereits für die Krisenzeit wird es hierfür aber nicht bedürfen48. Der Wortlaut von § 19 Abs. 2 InsO n.F. fordert lediglich die Vereinbarung des Nachrangs im Insolvenzverfahren. Der Wortlaut beruht auch nicht auf einem Redaktionsversehen49. Die Rangrücktrittserklärung sollte eine Warnfunktion erfüllen50, „aus Gründen des Gläubigerschutzes eine nachrangige Berichtigung im Insolvenzverfahren“ ausreichen51. Versteht man § 64 Satz 3 GmbHG als Zahlungsverweigerungsrecht, besteht auch nicht die Gefahr, dass die Überschuldungsbilanz die vorinsolvenzliche Gläubigergefährdung nicht wirklichkeitsgetreu abbildet, weil die Gesellschafterforderung vor Insolvenzeröffnung ohne Weiteres durchsetzbar wäre52. Und schließlich ist zweifelhaft, wie die Krise überhaupt in einer Rangrücktrittsabrede tauglich ex ante erfasst werden kann, da es nach neuem Recht auf die „Kreditunwürdigkeit“ im Sinne des vormaligen Eigenkapitaler-

___________ 45 Dahl in Michalski, Anh. II §§ 32a, 32b GmbHG a.F. Rz. 83. 46 Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes v. 17.10.2008, BGBl. I, S. 1982. 47 Gesetz v. 24.9.2009, BGBl. I, S. 3151. 48 So aber Haas, DStR 2009, 326 (327); wie hier Dahl in Michalski, Anh. II §§ 32a, 32b GmbHG a.F. Rz. 84. 49 Hierfür hält Haas, DStR 2009, 326 (327) den Verzicht in § 19 Abs. 2 InsO auf einen Rangrücktritt bereits für die Krisenzeit. 50 BT-Drucks. 16/9737, S. 104 f. 51 BT-Drucks. 16/9737, S. 105. 52 So aber Haas, DStR 2009, 326 (327).

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Zum Spannungsverhältnis zwischen § 30 und § 64 GmbHG

satzrechts nicht mehr ankommt, sondern die Krise richtiger Ansicht nach53 nunmehr erst ex post rückwirkend ab Insolvenzantragstellung vermutet wird54.

VI. Exkurs: Bedeutung des § 64 Satz 3 GmbHG im Rahmen des § 135 Abs. 3 InsO Bekanntlich hat der MoMiG-Gesetzgeber „auf den letzten Drücker“ noch eine ausdrückliche Regelung des Rechts der (vormals eigenkapitalersetzenden) Gebrauchsüberlassung durch einen Gesellschafter geschaffen. Anders als nach überkommenem Recht steht der Gesellschaft kein unentgeltliches Nutzungsrecht in Krise und Insolvenz mehr zu, vielmehr ist nach § 135 Abs. 3 Satz 2 InsO, befristet auf ein Jahr ab Insolvenzeröffnung, ein Nutzungsentgelt zu zahlen, das dem Durchschnitt der im letzten Jahr vor Verfahrenseröffnung geleisteten Vergütung entspricht55. Dabei entspricht es der ganz h.M56., dass bei der Bemessung des Nutzungsausgleichs für das Jahr nach Verfahrenseröffnung diejenigen im Jahr vor Eröffnung gezahlten Nutzungsentgelte außer Betracht bleiben müssen, die anfechtbar erlangt worden sind. Diese zutreffende Auffassung wird nunmehr auch auf Nutzungsentgelte angewandt, die unter Verstoß gegen § 64 Satz 3 GmbHG gezahlt worden sind57. Der „angemessene Ausgleich“ im Sinne des § 135 Abs. 3 Satz 2 InsO soll sich nicht an Beträgen orientieren, die vor Eröffnung in insolvenzrechtlich zu missbilligender Weise aus dem Schuldnervermögen abgeflossen sind. Ebenso wenig sollten dann Beträge maßgeblich sein, die der Gesellschafter bei bereits drohender Zahlungsunfähigkeit durch pflichtwidrige Zahlungen des Geschäftsführers erhalten hat58. Die Berücksichtigung der Wertung des § 64 Satz 3 GmbHG im Rahmen der Bemessung des Nutzungsentgelts nach § 135 Abs. 3 Satz 2 InsO kann insbesondere dann von Bedeutung sein, wenn eine Insolvenzanfechtung der Mietzahlungen gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO ausscheidet, weil keine Stundung des Mietzinses vorliegt59, zumal in diesem Fall

___________ 53 Nach a.A. soll das Tatbestandsmerkmal der „Krise“ sogar vollständig weggefallen sein, vgl. etwa Gehrlein, BB 2008, 846 (849); Habersack, ZIP 2007, 2145 (2146 f.); Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 111 ff. 54 Altmeppen, NJW 2008, 3601 (3602 f.); Bork, ZGR 2007, 250 (257); Dahl in Michalski, Anh. II §§ 32a, 32b GmbHG a.F. Rz. 6 f.; J.-S. Schröder in HambKomm-InsO, 3. Aufl. 2009, § 135 Rz. 8a; Spliedt, ZIP 2009, 149 (153); wohl auch Hirte, WM 2008, 1429 (1431). 55 Sachgerechter dürfte freilich sein, § 135 Abs. 3 Satz 2 InsO dahingehend auszulegen, dass es auf das letzte Jahr vor Antragstellung ankommt, s. Dahl in Michalski, Anh. II §§ 32a, 32b GmbHG a.F. Rz. 57 m.w.N. 56 Dahl/Schmitz, NZG 2009, 325 (330); J.-S. Schröder in HambKomm-InsO, § 135 InsO Rz. 70; Marotzke in HK-InsO, § 108 InsO Rz. 51h; Preuß in Kübler/Prütting/Bork, InsO, § 135 InsO Rz. 40; Rühle, ZIP 2009, 1358 (1362); Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 141; aA Hörndler/Hoisl, NZM 2009, 377 (380). 57 Pentz in FS Hüffer, 2010, 747 (754). 58 S. Pentz in FS Hüffer, 2010, 747 (754): „Dass sich ein mögliches Fehlverhalten des Geschäftsführers hier zugunsten des Gesellschafters auswirken soll, ist ein seltsames Ergebnis.“ 59 Nach neuem Recht kann als darlehensgleiche Rechtshandlung – mit einer Folge der Anwendbarkeit des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO – nur eine Stundung der Mietforde-

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auch eine Anfechtung nach § 130 InsO wegen Vorliegen eines Bargeschäfts im Sinne des § 142 InsO ausgeschlossen sein dürfte. Eine Anfechtbarkeit und eine daraus resultierende Reduzierung des nach Eröffnung gemäß § 135 Abs. 3 Satz 2 InsO geschuldeten Nutzungsentgelts besteht in diesem Fall regelmäßig nur dann, wenn der Insolvenzverwalter die Voraussetzungen einer vorsätzlichen Gläubigerbenachteiligung gemäß § 133 Abs. 1 InsO nachweist. Demgegenüber fordert § 64 Satz 3 GmbHG als Haftungsvorschrift zulasten des Geschäftsführers keine besonderen subjektiven Voraussetzungen auf Seiten des Gesellschafters, sodass auf diesem Wege ggf. leichter eine Verminderung des nach § 135 Abs. 3 Satz 2 InsO geschuldeten Entgelts erzielt werden kann.

VII. Zusammenfassung Betrachtet man § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG isoliert, so scheint der Durchsetzbarkeit von Gesellschafterforderungen auch in der Krise kein Hindernis mehr entgegen zu stehen. Folgerichtig wären diese auch bei Prüfung der Zahlungsunfähigkeit uneingeschränkt zu berücksichtigen. Nimmt man dagegen § 64 Satz 3 GmbHG mit in den Blick, so zeigt sich, dass es bei diesem Ergebnis nicht verbleiben kann. Muss der Geschäftsführer haften, wenn er Zahlungen an Gesellschafter vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit vornimmt, diese aber die Zahlungsunfähigkeit zur Folge haben, so muss er auch bereits vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit die Leistung verweigern können. Weitere Konsequenz der Einführung des § 64 Satz 3 GmbHG ist, dass bei der Zahlungsfähigkeitsprüfung Gesellschafterforderungen außer Betracht bleiben müssen, soll die Vorschrift nicht leer laufen. Im Ergebnis besteht also auch nach dem MoMiG weiterhin ein bereits vorinsolvenzlich greifendes Auszahlungsverbot an Gesellschafter. Einer gesonderten Stundungsabrede bedarf es dagegen nicht, um die Gesellschafterforderung bei der Zahlungsfähigkeitsprüfung oder der Fortführungsprognose nicht berücksichtigen zu müssen. Es bedarf auch keines Rangrücktritts bereits für die „Krise“. Erforderlich ist gemäß § 39 Abs. 2 InsO nur die Vereinbarung eines Nachrangs im Insolvenzverfahren, da § 19 Abs. 2 Satz 3 InsO einen derartigen Rangrücktritt ausdrücklich fordert, um eine Passivierung der Gesellschafterforderung in der Überschuldungsbilanz zu vermeiden.

___________ rungen, nicht mehr aber die Gebrauchsüberlassung als solche angesehen werden, vgl. etwa Dahl in Michalski, Anh. II §§ 32a, 32b GmbHG a.F. Rz. 45, Rz. 51; Rühle, ZIP 2009, 1358 (1360); Spliedt, ZIP 2009, 149 (156).

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Friedrich Graf von Westphalen

Vertragsfreiheit aufgrund zwingenden Rechts und der Schutz des Schwächeren als Grundlage des europäischen Verbraucherleitbilds Inhaltsübersicht I. Zwangsweise Einschränkungen der Freiheit 1. Statt einer Vorrede 2. Vertragsfreiheit: Rechtliches und tatsächliches Datum a) Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt b) Europarechtliche Daten aa) Regulierungsprivatrecht bb) Informationsmodell – Widerrufs- und Rückgaberechte des Verbrauchers cc) Konsequenzen 3. Formale Freiheit – Zwingendes materielles Recht

a) Ausgangsüberlegungen b) Zwingendes materielles Recht aa) Distributive Gerechtigkeit – Sache des Gesetzgebers bb) Gewährleistung einer Zugangsgerechtigkeit cc) Vertragsgerechtigkeit – dispositives Recht 4. Verbraucherleitbild a) Europarechtliche Vorgaben: Wettbewerbsrecht b) Mindestharmonisierung II. Summe

I. Zwangsweise Einschränkungen der Freiheit 1. Statt einer Vorrede Der mit dieser Festschrift zu ehrende Jubilar hat als Präsident des Deutschen Anwaltvereins (DAV) wohl als Erster erkannt, dass Fragen der Rechtsethik – nicht zuletzt auch im Berufsrecht – eine wachsende Bedeutung erlangen. Die Gründe hierfür sind vielfältig; die inzwischen im Anwaltsblatt angeschwollene Diskussion1 belegt diesen Zusammenhang nachhaltig. Doch wenn Ethos – auch für den Anwalt – in erster Linie Ausdruck einer freiwillig übernommenen Tugend ist, die nicht rechtlich in Form gegossen ist2, dann zielt sie natürlich zunächst nicht nur auf den „gegnerischen Kollegen“, sondern in allererster Linie auf den Bürger, sei es der eigene Mandant oder der Gegner. Damit ist für die nachfolgenden Ausführungen eine doppelte Beschränkung ins Auge gefasst: Zum einen geht es nicht um den weiten Bereich der berufsrechtlichen Ethik, die ja, wenn sie denn Anspruch auf Gültigkeit erheben soll, alle Sparten des anwaltlichen Berufsbildes erfassen muss, also den Strafrechtler, den Zivilrechtler, aber auch die Vertreter des Berufsstandes, die sich in der einen oder anderen Facette dem weiten Bereich des öffentlichen Rechts, ein-

___________ 1 Vgl. Singer, AnwBl 2009, 393 ff.; Hellwig, AnwBl 2009, 465 ff.; Herrmann, AnwBl 2009, 812 ff.; Salditt, AnwBl 2009, 805 ff.; Graf von Westphalen, AnwBl 2009, 821 ff. 2 Hierzu auch neuestens Kilger in FS für Krämer, Berlin 2009, S. 135 (139 ff.).

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schließlich des Steuerrechts verschrieben haben, also den Staat in seinen unterschiedlichen Machtkonzentrationen zum Gegner haben. Das erfordert auch im Kontext von ethischen Erwägungen eine wesentlich schärfere antipodale Stellung, als wenn „nur“ die Ebene des Zivilrechts betreten wird, wo von vornherein ein beträchtliches Maß an Waffengleichheit besteht. Daher sind die nachfolgenden Gedanken – und das ist der zweite Strang der hier auszubreitenden Einschränkung – dem Zivilrecht gewidmet. Genauer gesagt: Es soll nach dem „Bild“ des Bürgers gefragt werden, weil dieser ja entweder als Mandant oder eben als Gegner dem Anwalt entgegentritt. Anders gewendet: Es soll der Frage nachgespürt werden, welches Bild denn unsere Rechtsordnung – vor allem im Blick auf die Vertragsfreiheit von eben diesem Bürger zeichnet. Denn abhängig von dem Maß an materialer, nicht aber nur formaler Freiheit, welches die Rechtsordnung3 – vor allem auch im europäischen Maßstab4 – bereit hält, um so auch den Schutz des Schwächeren zu gewährleisten, verändert sich das Umfeld, auf dem ethisches Handeln und Verhalten des Anwalts eingefordert werden kann. Das Codewort dürfte sein: Anwaltliches Ethos ist jedenfalls dort nicht mehr eingefordert – weder zugunsten des eigenen Mandanten noch gegenüber dem „gegnerischen Kollegen“, wo der Grundsatz beachtet ist „volenti non fit iniuria“. Dies vorausgeschickt soll – sozusagen den cantus firmus der anzustellenden Überlegungen umschreibend – an ein Wort erinnert werden, welches Gustav Radbruch, der große Rechtsphilosoph der Weimarer Zeit, in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung sagte: Nichts, so führte er aus, ist für ein Rechtszeitalter so bedeutsam wie das „Bild vom Menschen“, das sich das Recht schafft5. Bezogen auf den weiten Bereich des Zivilrechts geht es also – auf der Suche nach einer Signatur für dieses Bild vom „Menschen im Recht“ am ausgehenden 20. und dem bereits eine Dekade währenden 21. Jahrhundert – vor allem um die Frage nach der Vertragsfreiheit, die dem Bürger zugestanden und damit auch von der Rechtsordnung vorausgesetzt wird. Aber es geht dabei auch um die Figur des Bürgers als citoyen, des freien und selbstverantwortlich entscheidenden Bürgers, der an den Dingen des öffentlichen Lebens teilhat, weil er dem Grundsatz der römischen Staatsphilosophie des Cicero verpflichtet ist, dass es sich nämlich immer um „tua res agitur“ handelt. Und schließlich geht es auch um die Rechtsfigur des Verbrauchers, um das Leitbild, welches sich die Rechtsordnung – nicht nur in Deutschland, sondern im Maßstab des europäischen Rechts – von dem Menschen macht, der Bürger des europäischen Binnenmarktes ist und aktiv an der Rechtsordnung teilnimmt, Verträge für Waren und Dienstleistungen schließt und eben damit auch seiner Rolle als „consumer“ gerecht zu werden sich anschickt. Denn in jeder dieser Erscheinungsformen begegnet er als Mandant dem Anwalt, ist sein Gesprächsund sein Verhandlungspartner, aber eben auch sein Schutzbefohlener, weil ihm Unrecht geschehen ist.

___________ 3 Hierzu vor allem Canaris, AcP 200 (2000) S. 273 (276 ff.). 4 Hierzu Hesselink, Common Frame of Reference (CFR) & Social Justice, Munich 2008, S. 29 ff. 5 Radbruch, Das Bild vom Menschen im Recht, Göttingen 1957.

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Vertragsfreiheit aufgrund zwingenden Rechts

Doch im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen muss – sozusagen nunmehr die Basis schaffend – die Antwort auf die Frage stehen, wie es denn mit der Vertragsfreiheit des Verbrauchers bestellt ist. Denn es ist ja der Verbraucher, der als Marktteilnehmer in seiner Funktion als Nachfrager das entscheidende Wort spricht. Ist er noch frei oder unterliegt er weithin dem Diktat eines zwingenden Rechts? Und wenn das so ist, sind dann Gründe der Schutzbedürftigkeit von Gnaden des Staates maßgebend, weil dem Bürger in seiner Funktion als Verbraucher nicht mehr zugemutet werden kann und soll, dass er sein Schicksal, seine Rechtsverhältnisse im Bereich des Privatrechts autonom gestaltend, in die eigenen Hände nimmt und sie auch so ordnet, wie er selbst sie für sich und die Seinen als zukunftsweisend einstuft. 2. Vertragsfreiheit: Rechtliches und tatsächliches Datum Nach der als klassisch zu bezeichnenden Formulierung von Flume ist die Vertragsfreiheit das entscheidende Datum der Privatautonomie, verstanden nämlich als das „Prinzip der Selbstgestaltung des Rechtsverhältnisses durch den Einzelnen nach seinem Willen“6. Gemeint ist damit die spezifische rechtliche Befugnis, welche die Rechtsordnung den Parteien gewährt, einen Vertrag nach ihrem übereinstimmenden Willen in Geltung zu setzen und damit die Rechtsfolgen auszulösen, die auf eben diesem – freien – Willen beruhen7. Die damit umschrieben Formel wird von Schmidt-Rimpler mit der Version umschrieben, dass eben der so abgeschlossene Vertrag die „Richtigkeitsgewähr“ für sich beansprucht8. In dieser Ausgangslage stimmen formaler und auch materialer Freiheitsbegriff überein. Denn wenn ein jeder Vertrag schlechthin die „Richtigkeitsgewähr“ für sich reklamieren darf und auch soll, dann decken sich auch rechtliche und tatsächliche Entscheidungsfreiheit. Doch ist für den weiteren Gang der hier anzustellenden Untersuchungen zu fragen, ob denn auch unter den Bedingungen der Globalisierung und der nicht endenden Finanzkrise die materiale Freiheit als Ausweis einer realen Entscheidungsfreiheit noch weiterhin verbürgt ist oder ob sie sich in dem formalen Datum erschöpft, welches man gemeinhin nur der Vertragsabschlussfreiheit zuschreibt, ohne damit auch die Vertragsgestaltungsfreiheit als Inbegriff der materialen Freiheit gleichermaßen in den Blick nehmen zu müssen. a) Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt Das BVerfG – daran ist immer wieder zu erinnern – hat in mehreren durchaus prominenten Entscheidungen sich dahin geäußert, dass der Vertragsfreiheit zugunsten des Schwächeren Schranken zu ziehen sind, die im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG, also von Verfassungswegen geboten sind9. Es begann mit dem Beschluss des Karlsruher Gerichts vom 7.2.199010. Dort ging es um den

___________ 6 7 8 9

Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 4. Aufl., Berlin 1992, § 1, 1. Canaris, AcP 200 (2000) S. 273 (277). Schmidt-Rimpler, AcP 137 (1941), S. 130. Vgl. zum AGB-rechtlichen Ansatz Stoffels, AGB-Recht, 2. Aufl. München 2009, Rz. 76 ff. 10 BVerfG v. 7.2.1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469.

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Fall eines Handelsvertreters, der zwar einem Wettbewerbsverbot unterworfen worden war, ohne aber in den Genuss einer entsprechenden Karenzentschädigung zu gelangen, weil diese für den Fall einer von einem Mitarbeiter des Handelsvertreters verursachten fristlosen Kündigung vertraglich abbedungen war. Die Kernaussage des Gerichts: Die den Vertrag konstituierende Vertragsfreiheit beruht auf dem Grundgedanken der autonomen Selbstbestimmung. Aber sie setzt voraus – und dieser Gedanke ist bahnbrechend – dass „auch die Bedingungen freier Selbstbestimmung tatsächlich gegeben sind“11 Und dann: „Hat einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, dass er vertragliche Regelungen faktisch einseitig setzen kann, bewirkt dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung12. Denn mit den „Mitteln des Vertragsrechts allein kann kein sachgerechter Ausgleich der Interessen“ gewährleistet werden, sofern es „an einem annährend Kräftegleichgewicht der Beteiligten fehlt“13. Deshalb – so die Folgerung des Gerichts – darf über „grundrechtlich verbürgte Positionen“ bei einer solchen Sachlage nicht verfügt werden, weil der Gesetzgeber vielmehr verpflichtet ist. „ausgleichend einzugreifen“. In zeitlichem Anschluss an diesen Beschluss ist dann die bekannte Bürgschaftsentscheidung des Verfassungsgerichts in Erinnerung zu rufen, die vom 19.10.1993 datiert14. Der Leitsatz dieser Entscheidung ist schon hinreichend einprägsam, weil er den staatlichen Gerichten eine „Pflicht zur Inhaltskontrolle“ von solchen Verträgen auferlegt, die einen der beiden Vertragspartner „ungewöhnlich stark belasten“. Gemeint waren damit Bürgschaftsverträge von einkommens- und vermögenslosen Familienangehörigen, die rein aus emotionaler Bindung zu dem Schuldner sich gegenüber einem Kreditinstitut zur Übernahme einer Bürgschaft verpflichtet hatten15. Der zeitlich gesehen nächste erwähnenswerte Entscheid ist das Urteil vom 6.2.200116, in dem eine Inhaltskontrolle von Eheverträgen am grundgesetzlichen Maßstab der Art. 2 Abs. 1 und 6 Abs. 2 und 4 GG vorgenommen wurde. In diesem Fall hatte ein Ehemann die Notlage seiner vormaligen Freundin, die von ihm ein Kind erwartete, ausgenutzt und einen Vertrag von ihr unterzeichnen lassen, in dem sie auf jeglichen Unterhalt nach einer etwaigen Scheidung verzichtete. Das Karlsruher Gericht übernahm in einem ersten Gedankenschritt die zuvor umschriebenen Grundsätze, meinte aber dann: Wenn in einem Vertragsverhältnis ein Partner „ein solches Gewicht hat, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen beider Vertragspartner hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt“17. An anderer Stelle umschreibt das Gericht diese Ausgangslage für das Eingreifen einer richterlichen Inhaltskontrolle noch deutlicher. Es redet nämlich davon, dass das Gericht dem – freien – Vertrag

___________ 11 12 13 14 15

BVerfG, a.a.O., NJW 1990, 1469 (1470). Ebenda. Ebenda. BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, NJW 1994, 36 ff. Rechtsprechungsübersicht bei Palandt/Ellenberger, BGB, 69. Aufl., München 2010, § 138 Rz. 37 ff. 16 BVerfG v. 6.2.2001 – 1 BvR 12/92, NJW 2001, 957 ff. 17 BVerfG, a.a.O., NJW 2001, 957 (958).

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Vertragsfreiheit aufgrund zwingenden Rechts

dort Grenzen setzen muss, „wo der Vertrag nicht Ausdruck und Ergebnis gleichberechtigter Lebenspartnerschaft ist, sondern eine auf ungleichen Verhandlungspositionen basierende einseitige Dominanz eines Ehepartners widerspiegelt“18. Zieht man daraus die Summe, dann wird deutlich, dass die Gewährleistung einer privatautonomen Vertragsfreiheit grundgesetzlich nach Art. 2 Abs. 1 GG eingefordert wird, um „Fremdbestimmung“ – soweit wie möglich – zu vermeiden. b) Europarechtliche Daten Doch neben diesen verfassungsrechtlichen Feststellungen sind notgedrungen auch die europarechtlichen Parameter in den Blick zu nehmen, um die Frage zu beantworten, inwieweit das Verbraucherschutzrecht – es ist ja primär europäisches Richtlinienrecht19 – nicht nur die formale, sondern auch die materiale Vertragsfreiheit gewährleistet. Denn der Verbraucher ist ja der Bürger schlechthin, sodass es entscheidend um die Gewährleistung dieser Freiheit – seiner Freiheit als Bürger – durch die Normen des Privatrechts geht. Denn eine Vertragsfreiheit, die nur dem Unternehmer offensteht, ist für eine freiheitliche Gesellschaft nicht hinnehmbar, was nicht zuletzt auch durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts belegt wird, welche die Freiheit eines Handelsvertreters – also: eines Unternehmers nach § 14 BGB – gesichert hat20. Hier müssen freilich einige wenige Striche genügen, um das Bild zu zeichnen: aa) Regulierungsprivatrecht Mit Recht ist in der Literatur geltend gemacht worden21, dass das Verbraucherschutzrecht im Kern Europäisches Privatrecht repräsentiert. Es ist als Sekundärrecht weithin Richtlinienrecht, welches sektoral in das nationale Privatrecht einschneidet und dort immer Fragen nach einer hinreichenden Kohärenz der nationalen und der europarechtlichen Rechtsordnung aufwirft – vom Vertragsrecht zum Arbeitsrecht, vom Kapitalmarktrecht bis zum Gesellschafts- und Steuerrecht. Doch davon soll hier nicht weiter die Rede sein. Doch lässt sich leicht zeigen, dass und wie sehr die – materiale – Vertragsfreiheit des Verbrauchers nicht erst auf tatsächlicher Ebene mangels wirtschaftlicher Macht, sondern bereits im normativen Bereich durch – fragmentierendes22 – Sonderprivatrecht eingeschränkt ist23: Denn es sind nicht die dispositiven Normen des privaten Schuldrechts, welche allein den Grundansatz der Privatautonomie prägen, sondern es ist zugunsten des Verbrauchers vor allem und in erster Linie zwingendes Richtlinienrecht, welches in wachsendem

___________ 18 19 20 21 22 23

Ebenda. Hierzu Köndgen in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, Berlin 2006, S. 144 ff. BVerfG v. 7.2.1990 – 1 BvR 26/84, NJW 1990, 1469. Micklitz, GPR 2009, 254 ff.; ders., GPR 2010, 2 ff. Köndgen in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, Berlin 2006, § 7 Rz. 32 ff. Die nationalstaatliche Umsetzung der einzelnen Verbraucherschutz-Richtlinien ist umfassend dargestellt bei Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers, EC Consumer Law Compendium, Munich 2008.

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Maß als Schutzrecht den Verbraucher zum Adressaten und den Unternehmer als den anderen Marktteilnehmer zum gebändigten Gegner hat. Ausgangspunkt zahlreicher Verbraucherschutz-Richtlinien ist dabei das hier nicht im Einzelnen zu vertiefende sog. Informationsmodell24. Ihm liegt der Gedanke zugrunde, dass zwischen Verbraucher und Unternehmer grundsätzlich eine Informationsasymmetrie besteht, welche ein Marktversagen zur Konsequenz hat – eine Feststellung, die freilich nicht auf das Europäische Vertragsrecht beschränkt ist, sondern maßgebend auch das Kapitalmarkt- und das Gesellschaftsrecht beherrscht25. Die diese Asymmetrie beseitigenden Informationspflichten des Unternehmers zugunsten des Verbrauchers sind aber stets als zwingendes Recht ausgestaltet. Sie erfassen sowohl die Phase vor dem Abschluss des Vertrages als auch nachvertragliche Informationspflichten. Inzwischen finden sie sich an zahlreichen Stellen des Privatrechts, wobei hier beispielhaft die Regeln der BGB-InfoV und die zu Art. 248 EGBGB für Zahlungsdienste/Kredite vorgesehene Informationspflichten hervorzuheben sind. bb) Informationsmodell – Widerrufs- und Rückgaberechte des Verbrauchers Dieses Informationsmodell findet allerdings auch im Bereich des Vertragsrechts durch das weitreichende Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB seine Konkretisierung. Danach ist der Verwender von vorformulierten Klauseln verpflichtet, Rechte und Pflichten seines Vertragspartners in den AGBKlauseln möglichst klar, einfach und präzise darzustellen26. Die betreffende einzelne Klausel muss deshalb so gestaltet sein, dass sie die wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen des Verbrauchers/Kunden so weit erkennen lässt, wie das nach den Umständen gefordert werden kann27. Maßstab ist dabei nach deutschem Recht, was noch zu vertiefen sein wird, der Verbraucher, der ohne Rechtsrat, d.h. ohne fremde Hilfe in der Lage ist, Inhalt und Tragweite der jeweiligen Klausel exakt zu erkennen28. Das dahinter stehende Leitbild des Verbrauchers ist kaum sehr konturenscharf. Auch das zahlreichen Europäischen Richtlinien eigentümliche Widerrufsrecht, das zugunsten des Verbrauchers – trotz Vorliegens eines formal wirksam abgeschlossenen Vertrages – eingreift, ist im Ergebnis dem Informationsmodell geschuldet29. Denn die dem Verbraucher vor- und nachvertraglich übermittelten Informationen sollen ihm die Möglichkeit eröffnen, ein (aktuelles) Marktversagen, welches trotz angeblicher Überwindung der Informationsasymmetrie durch Erfüllung der vom Unternehmer geschuldeten Informationspflichten weiterhin besteht, innerhalb bestimmter Fristen durch Ausübung eines Widerrufs- oder Rückgaberechts zu revidieren. Im Kontext des

___________ 24 Grundmann in Riesenhuber, a.a.O., § 10 Rz. 39 ff.; ders., JZ 2000, 1133 ff. 25 Windbichler/Krolop in Riesenhuber, a.a.O., § 19 Rz. 13, 26; Grundmann, JZ 2000, 1133 (1137). 26 BGH v. 5.3.2008 – VIII ZR 95/07, NJW 2008, 1438; BGH v. 26.9.2007 – VIII ZR 143/06, NJW 2007, 3632 (3635). 27 BGH v. 9.5.2001 – IV ZR 121/00, NJW 2001, 2014 (2016). 28 BGH, a.a.O., NJW 2008, 1438. 29 Franck in Riesenhuber, a.a.O., § 6 Rz. 25.

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Vertragsfreiheit aufgrund zwingenden Rechts

deutschen Rechts ist hier in erster Linie an das Widerrufsrecht bei Verbraucherverträgen gemäß § 355 BGB zu denken, welches durch das – gleichwertige – Rückgaberecht gemäß § 356 BGB flankiert wird. Aber auch das Widerrufsrecht beim Verbraucherkreditvertrag gemäß § 495 BGB ist in den Blick zu nehmen. Dabei sind die Hürden einer ordnungsgemäßen, d.h. transparenten Widerrufsbelehrung sehr hoch; die Rechtsprechung ist mit Recht formalistisch und daher streng30. Dass auch die entsprechende Widerrufs- und Rückgabebelehrung ihrerseits deutlich gestaltet sein muss, sei – anknüpfend an die Überlegungen zum Transparenzgebot des Vertragsrechts – der Vollständigkeit halber erwähnt. Denn dieses Merkmal wird nur dann bejaht, wenn die betreffende Belehrung des Verbrauchers durch Farbe, größere Letter, Sperrschrift oder Fettdruck in nicht übersehbarer Weise aus dem übrigen Text des Vertrages, einschließlich der AGB hervorragt und so dem Verbraucher praktisch ins Auge springt31. Auch diese Anforderungen sind – entsprechend dem Charakter des Informationsmodells – zwingend ausgestaltet. Aber sie einzuhalten ist so kompliziert, dass sich der Gesetzgeber schon seit Jahren gezwungen gesehen hat, hier Abhilfe dadurch zu schaffen, dass er ein Muster für eine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung dem Unternehmer in Form einer Verordnung zur Verfügung stellt32. cc) Konsequenzen Wie immer man die Dinge – bezogen auf das Bild vom Verbraucher – bewerten will, man kommt an der zentralen Erkenntnis schwerlich vorbei: Das europäische Verbraucherprivatrecht begründet Rechte und Pflichten zugunsten wie zum Nachteil des Verbrauchers nicht mehr ausschließlich durch Abschluss eines privatautonomen Vertrages, sondern in vielen Fällen erst dann, wenn – ordnungsgemäße Widerrufs- oder Rückgabebelehrung vorausgesetzt – der Verbraucher nicht von eben diesem Instrument Gebrauch gemacht hat, um sich vom Vertrag zu lösen. Der abgeschlossene Vertrag ist dabei freilich nicht schwebend wirksam, sondern er ist gleichwohl im Rahmen der §§ 145 ff. BGB wirksam. Denn das Widerrufs- oder Rückgaberecht gemäß §§ 355, 356 BGB, aber auch das des § 495 BGB ist ein besonders ausgeprägtes Gestaltungsrecht, das sich aber in der Praxis wie ein Rücktrittsrecht zugunsten des Verbrauchers und weithin zum Nachteil des Unternehmers auswirkt33. Bis zur Ausübung des Widerrufs- oder Rückgaberechts bleibt nämlich der ursprünglich abgeschlossene Vertrag gültig; es besteht ein entsprechender Erfüllungsanspruch des Verbrauchers34, sodass dieser im Fall des Widerrufs oder Rücktritts auch nicht mit den Hinsendekosten für die Ware belastet werden darf35.

___________ 30 BGH v. 29.3.2009 – XI ZR 456/07, NJW-RR 2009, 1275; BGH v. 27.4.1994 – VIII ZR 223/93, NJW 1994, 1800; vgl. auch Palandt/Grüneberg, BGB, 69. Aufl., München 2010, § 355 Rz. 14 m.w.N. 31 BGH v. 23.6.2009 – XI ZR 156/08, NJW 2009, 3020. 32 Anlage 1–5 zu Art. 246, 247 EGBGB; hierzu auch Micklitz, GPR 2009, 254 (261 f.). 33 BGH v. 17.3.2004 – VIII ZR 265/03, BB 2004, 1246. 34 Palandt/Grüneberg, § 355 Rz. 4. 35 EuGH v. 15.4.2010 – Rs. C 511/08, NJW 2010, 1941 – Heinrich Heine.

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Dabei wird allerdings nur sehr selten die Frage gestellt, ob denn in der Tat die Erfüllung dieser oft als abundant empfundenen Informationspflichten36 die Rechte des Verbrauchers in der Tat im Sinn der Gewährleistung eines Mehr an Vertragsfreiheit stärken. Sicherlich, die zahlreichen Informationen dienen immer dem Zweck, dass der Verbraucher auf diese Weise in die Lage versetzt wird, sich selbst zu schützen, weil er ja – Stichwort: Transparenzgebot – auch aufgrund der einzelnen Vertragsbestimmungen so eindeutig und klar über seine Rechte und Pflichten unterrichtet werden soll, dass er sich selbst gegenüber dem Unternehmer auch – notfalls im Rahmen eines Widerrufs- oder Rückgaberechts – durchsetzen kann37. Doch eine zu große Zahl an Informationen führt beim Verbraucher auch – das ist die zu bedenkende Kehrseite – zu Frustrationen. Er ist überfordert, verwirrt, er überliest sie schlicht, richtet aber sein rechtsgeschäftliches Verhalten nicht anhand der ihm übermittelten Informationen aus: Entweder kontrahiert er ohne Rücksicht oder gar in Unkenntnis der Tatsache, welche Informationen er erhalten hat oder er nimmt – vor allem bei Abschluss von Verträgen im Internet – schlicht vom vorgesehenen Abschluss eines Vertrages wegen des unübersichtlich Wirrwarrs von Bedingungen, Informationspflichten und Widerrufsbelehrung Abstand. Überdies ist aus Sicht der ökonomischen Analyse des Rechts angemerkt worden, dass ein Verbraucher in der Regel darauf verzichtet, das „Kleingedruckte“ tatsächlich im Rahmen von § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB inhaltlich zur Kenntnis zu nehmen oder dessen Inhalt auch noch individuell entsprechend seinen Vorstellungen und Wünschen abzuändern, was in der Sache den Verbraucher ebenfalls oft überfordert und im Ergebnis allemal dazu führt, die Transaktionskosten zu erhöhen38. 3. Formale Freiheit – Zwingendes materielles Recht a) Ausgangsüberlegungen Gerade im Blick auf die zusammen mit dem Inkrafttreten der Schuldrechtsmodernisierung umgesetzte Richtlinie zum Verbrauchsgüterkauf39 sowie – neuestens – im Blick auf die erst zum 31.10.2009 ins nationale Recht transformierte Zahlungsdienste- und Verbraucherkredit-Richtlinie40 wird man nicht an der Erkenntnis vorbeisehen dürfen, dass der europäische Gesetzgeber neben der Verschärfung des Informationsmodells41 weithin zwingendes materielles Recht zugunsten des Verbrauchers für so zentrale Gebiete wie den Kauf-, den Kredit- und den Bank- und Überweisungsvertrag geschaffen hat.

___________ 36 Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, München 2004, S. 266 ff. 37 Vgl. auch Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, München 2005, S. 111 ff. betreffend Verbrauchererwartung und Verbrauchervertrauen. 38 MünchKomm/Kieninger, BGB, 5. Aufl., München 2007, § 305 Rz. 37. 39 Hierzu im Einzelnen Grundmann/Bianca, EU-Kaufrechts-Richtlinie, Köln 2002; vgl. auch Zerres, Die Bedeutung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie für die Europäisierung des Vertragsrechts, München 2007. 40 BGBl. I 2009, 2355; hierzu im Einzelnen Grundmann, WM 2009, 1109 ff.; 1157 ff.; Lohmann/Koch, WM 2008, 57 ff. 41 Anl. 3 zu Art. 247 RGBGB; Anl. 4 zu Art. 247 EGBGB sowie Anl. 5 zu Art. 247 EGBGB.

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Dabei ist eine sehr wichtige Unterscheidung vorzunehmen: Die Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie ist entsprechend zahlreichen anderen Richtlinie im Bereich des Verbraucherschutzes auf eine Mindestharmonisierung gerichtet42. Demgegenüber zielt die Zahlungsdienste-Richtlinie sowie die damit gekoppelte Verbraucher-Kredit-Richtlinie auf eine Vollharmonisierung, wie sich aus Art. 86 der Zahlungsdienste-Richtlinie ergibt43. Dies besagt: Bei einer Mindestharmonisierung sind die Mitgliedstaaten berechtigt, den Schutzstandard des Verbraucherschutzes durch einzelstaatliche Regelungen höher anzusetzen, während eine Vollharmonisierung sie verpflichtet, auf jedwede Abweichung von dem vorgegebenen Standard des europäischen Rechts schlechthin zu verzichten44. Mehr noch: Entstehen Auslegungsstreitigkeiten im Bereich einer national umgesetzten Mindestharmonisierung, dann vollzieht sich die Auslegung – auch wenn sie vom EuGH vorgegeben wird – im Kontext des nationalen Rechts45 und die nationalen Gerichte behalten letztlich das Sagen, was sich vor allem an Entscheidungen zur Klausel-Richtlinie zeigen lässt46. Ist hingegen eine Vollharmonisierung im Streit, dann beansprucht der EuGH die abschließende Auslegungskompetenz für die Entscheidungen aller nationalen Gerichte, wie jetzt im Zusammenhang mit der Zahlungsdienste-Richtlinie mit Recht angemerkt47. Dieser immer weiter um sich greifende Harmonisierungsansatz des europäischen Gesetzgebers löst eine doppelte Frage aus, der nachzugehen ist: Es kann überhaupt kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass die Vertragsgestaltungsfreiheit im Verbraucherrecht durch materiell zwingendes Recht – gerade bei diesen beiden Richtlinien, aber auch aufgrund der dem deutschen AGBGesetz nachgebildeten Klausel-Richtlinie48 – erheblich eingeschränkt ist49. Erkennbar wird dies vor allem daran, dass das gesamte Mängelhaftungsrecht des Kaufvertrags gemäß §§ 474, 475 BGB durch Übererfüllung der Verbrauchsgütekauf-Richtlinie zum zwingenden Recht erhoben worden ist; ausgenommen bleiben lediglich Schadensersatzansprüche gemäß § 475 Abs. 3 BGB, welche aus § 437 Nr. 3 BGB resultieren. Und im Rahmen des Unternehmerregresses der §§ 478, 479 BGB ist ebenfalls zwingendes Recht50 selbst auf den unternehmerischen Verkehr ausgedehnt worden. Doch werden die Möglich-

___________ 42 Hierzu Grundmann in Grundmann/Bianca, a.a.O., Art. 8 Rz. 4 ff. 43 Hierzu Grundmann, WM 2009, 1109 (1110); vgl. im Übrigen auch Gsell/Schellhaas, Zum Vollharmonisierungsansatz bei der Verbraucher-Kredit-Richtlinie 87/102/ EWG, JZ 2009, 20. 44 Im Einzelnen Schmidt-Kessel in Jud/Wendehorst, Neuordnung des Verbraucherprivatrechts in Europa? Zum Vorschlag einer Richtlinie über Rechte der Verbraucher, Wien 2009, S. 21 (26 ff.), der für eine Vollharmonisierung des Obligationenrechts eintritt. 45 Vgl. auch Schmidt-Räntsch in Riesenhuber, a.a.O., S. 554 ff. 46 EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C 243/08, NJW 2009, 2367; EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C 168/05, NJW 2007, 135; EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C 237/02, NJW 2004, 1647. 47 Vgl. auch Grundmann, WM 2009, 1109 (1112). 48 Richtlinie 93/13/EWG – zu den Umsetzungen dieser Richtlinie in den einzelnen Ländern der Europäischen Union vgl. Ebers in Schulte-Nölke/Flesner/Ebers, a.a.O., S. 197 ff. 49 Hierzu auch neuestens Dauner-Lieb/Axer, ZIP 2010, 309 f. 50 Vgl. Art. 7 der Richtlinie hierzu Stjijns/van Gerven in Grundmann/Bianca, a.a.O., Art. 7 Rz. 13 ff.

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keiten des Unternehmers, das Risiko von Schadensersatzansprüchen bei einer mangelhaften Lieferung durch einseitige Klauseln erfolgreich abzuwehren, wiederum – jedenfalls im Rahmen des Verbraucherrechts – durch §§ 309 Nr. 7, 307 BGB eingeschränkt51: Der Verkäufer ist praktisch nicht in der Lage, seine Schadensersatzhaftung gegenüber dem Verbraucher in wirksamer Weise abzubedingen. Mindestens ebenso dramatisch ist die durch zwingendes Recht ausgelöste Entwicklung im Bereich der Zahlungsdienste gemäß §§ 675c ff. BGB, weil insoweit – auch gegenüber einem Unternehmer – abweichende Vereinbarungen zum Nachteil des Zahlungsdienstnutzers lediglich gemäß § 675e Abs. 4 BGB zulässig sind. b) Zwingendes materielles Recht Damit aber ist die zentrale Erkenntnis zu stabilisieren: Bezogen auf die – materiale – Vertragsfreiheit in ihrer Form als einer autonomen, selbstbestimmten Gestaltungsfreiheit führen zwingende Rechtsregeln unweigerlich dazu, dass lediglich das Residuum einer – formalen – Vertragsfreiheit zugunsten des Verbrauchers erhalten bleibt. Es ist nur noch die Vertragsabschlussfreiheit, die dem Verbraucher als Marktteilnehmer zuzuweisen ist. Rein faktisch sind damit die Würfel gefallen, weil die weit überwiegende Mehrzahl aller Verträge von Verbrauchern abgeschlossen wird. Man kann daher nicht daran vorbeisehen, dass die Vertragsgestaltungsfreiheit jedenfalls zugunsten eines Verbrauchers als des zentralen Marktpartners vom Gesetzgeber nicht mehr gewollt ist. Nur so erklärt sich die große Masse zwingenden Rechts, welche der Europäische Gesetzgeber als Richtlinienrecht, aber auch in anderen Bereichen als Verordnungsrecht – etwa an Rom I und Rom II ist hier zu denken – weithin abseits einer rechtspolitischen Grundsatzdebatte geschaffen hat. aa) Distributive Gerechtigkeit – Sache des Gesetzgebers Wenn es aber richtig ist, dass Vertragsfreiheit nur in dem Rahmen erstrebenswert ist, indem sie wenigstens – im Grundsatz – auch die Vertragsgerechtigkeit gewährleistet52, so lässt sich durchaus daraus die Frage formulieren, ob denn zwingendes Recht gegenüber dem Verbraucher überhaupt geeignet ist, den Erfordernissen der distributiven Vertragsgerechtigkeit zu genügen. Dies wird man jedenfalls – abseits einer vertiefend zu führenden Diskussion – sicherlich insoweit bejahen können, als die gesetzgeberischen Entscheidungen zum Verbraucherschutz jedenfalls ein Mindestmaß an demokratisch legitimierten Gerechtigkeitsvorstellungen zum Gegenstand haben, die an der Wiege der jeweiligen Verbraucherschutz-Richtlinien stehen und ihre Umsetzung ins nationale Recht absichern. Doch führt dies sogleich zu der weitreichenden Erkenntnis: Die Absicherung der in den Normen des zwingenden Rechts enthaltenen Gerechtigkeitsgebote ist nicht mehr dem Willen der Parteien und der Wahrnehmung ihrer je eigenen Interessen zugewiesen, sondern vom Gesetzgeber mediatisiert. Im Verbraucherprivatrecht ist also der Gesetzgeber

___________ 51 Hierzu im Einzelnen AGB-Klauselwerke/Graf von Westphalen, 26. Ergänzungslieferung, München 2010, Freizeichnungsklausel Rz. 24 ff. 52 Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen europäischen Verbrauchervertragsrechts, S. 311 f.

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in sein Recht getreten und hat die Vertragsgestaltungsfreiheit dem Unternehmer praktisch aus der Hand genommen. Denn weil zwingendes Recht den Verbraucher schützt, besteht auch für den Unternehmer schlicht keine alternative Wahlmöglichkeit: Will er einen Vertrag mit dem Verbraucher schließen und will dieser Güter erwerben oder Dienstleistungen im Rahmen einer Kreditgewährung oder eines Zahlungsvorgangs oder auch eines Zahlungsauftrags in Anspruch nehmen, dann vollzieht sich dieser Leistungsaustausch im Wesentlichen – unter strikter Beachtung der vorgeschalteten Informationspflichten – auf Basis zwingenden Rechts. Dieses aber enthält ein umfassend ausgestaltetes, den demokratisch legitimierten Gerechtigkeitsanforderungen entsprechendes Schutzkonzept zugunsten des Verbrauchers, indem die materiale Vertragsgerechtigkeit in dem jeweiligen Leistungsaustausch durch staatlichen Befehl – freilich: innerhalb des Rahmen eines privatautonom geschlossenen Vertrages und ausgelöst durch den Kontrakt – erzwungen wird. bb) Gewährleistung einer Zugangsgerechtigkeit Auch wenn man ein wenig abschätzig bedenkt, dass (möglicherweise) sich der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der diversen VerbraucherschutzRichtlinien des europäischen Gesetzgebers keine eigenen (weiterreichenden, rechtspolitischen) Gedanken mitunter gemacht hat53, so ist doch dies im Auge zu behalten: Dem europäischen Gesetzgeber geht es bei allen Verbraucherschutz-Richtlinien – gedeckt durch das Konzept der wirtschaftlichen Grundfreiheiten in Europa – im Kern darum, den transnationalen Wirtschaftsverkehr zu fördern, ihn von Hemmnissen zu befreien, welche auch und nicht zuletzt in der Existenz unterschiedlicher Rechtsregeln gesehen werden. Das Konzept einer Vollharmonisierung berücksichtigt diese Zielsetzung optimal. Ohne diesen Gedanken hier weiter ausziehen zu wollen, so ist doch der Einwand von Micklitz bedenkenswert: Materialer Ansatzpunkt für ein durch diese Grundfreiheiten bestimmtes Gerechtigkeitsdenken des europäischen (und auch in der Folge des nationalen) Gesetzgebers ist hier in erster Linie die Sicherung der Zugangsgerechtigkeit, die für jeden Marktteilnehmer in der angestrebten Vervollkommnung des Binnenmarktkonzepts zu gewährleisten ist54. Dieser Ansatz aber führt unmittelbar dazu, die Funktion eines so verstandenen Verbraucherprivatrechts als Instrument zu erkennen, welches primär nicht auf eine Austauschgerechtigkeit im Rahmen der Privatautonomie zielt, sondern mit den Mitteln des zwingenden Rechts der Beseitigung von Marktstörungen dient55.

___________ 53 Hierzu Roth, JZ 2001, 475 (485). 54 Hierzu im Einzelnen Micklitz, The Visible Hand of European Regulatory Private Law – The Transformation of European Private Law from Autonomy to Functionalism in Competition and Regulation, Yearbook of European Law, Bd. 28 (2009) S. 3 (13 ff.). 55 Micklitz, GPR 2009, 254 (261).

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cc) Vertragsgerechtigkeit – dispositives Recht Nichts oder doch nur wenig hat eine so verstandene Zugangsgerechtigkeit mit dem Gebot der materialen Gerechtigkeit zu tun, welche – privatautonom – zwischen den Parteien mit Hilfe des selbstbestimmenden Konzepts der Vertragsfreiheit akkordiert wird. Denn eine so verstandene und auch durchgesetzte Zugangsgerechtigkeit erweitert lediglich die Marktchancen des Verbrauchers; sie schafft mehr Umsatz zugunsten des Unternehmers als Anbieter von Waren und Dienstleistungen; allein das ist auch ihre raison d‘être. Diese Einsicht löst die nächste Frage aus: Wenn schon das zwingende Recht einen materialen Gerechtigkeitsgehalt aufweist, ist dann nicht auch das gleiche Attribut dem dispositiven Gesetzesrecht zuzusprechen – vorausgesetzt, es ist sein Grundanliegen, Antworten im Rahmen und aufgrund der distributiven Gerechtigkeit überhaupt zu begründen56? Genau dies aber ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BGH, wie sie sich bei der Verwendung einseitig vorformulierter AGB-Klauseln im Sinne des § 305 BGB57 entwickelt hat, nach Maßgabe der Kriterien der richterlichen Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 BGB uneingeschränkt zu bejahen. Gerade weil die Klausel-Richtlinie 93/13/EWG nur in einigen Rudimenten in deutsches Recht durch ausdrückliche neue Regelungen transformiert wurde, ist der Befund von Wichtigkeit: Der BGH steht durchweg auf dem Standpunkt, dass dispositivem Recht regelmäßig ein hoher Gerechtigkeitsgehalt zugewiesen werden muss58. Vorformulierte AGB-Klauseln, die von diesem Standard nicht nur unerheblich abweichen, verfallen daher dem Verdikt der Unwirksamkeit59, und zwar, wie der Vollständigkeit halber hinzuzusetzen ist, auch im unternehmerischen Verkehr60. Die richterliche Inhaltskontrolle gemäß § 307 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 BGB führt also zur Unwirksamkeitssanktion der betreffenden Klausel, sodass als Ersatzrecht dispositives Rechts gemäß § 306 Abs. 2 BGB eingreift: Die dispositiven Normen sind damit Grundlage der materialen Vertragsfreiheit, soweit sie der AGB-Verwender im Übermaß für sich – und damit in unangemessener Weise zum Nachteil des Verbrauchers – in Anspruch genommen hat61. Sie sind also Maßstab der richterlichen Inhaltskontrolle, aber auch gleichzeitig Ersatzrecht. Damit aber steht der Befund fest: Nicht die privatautonom sich äußernde Vertragsfreiheit verbürgt zugunsten des Verbrauchers materiale

___________ 56 Ablehnend Unberath/Cziupka, AcP 209 (2009) S. 37 (76 ff.) doch ausgehend von einer ökonomischen Analyse des Rechts. 57 Hierzu neuestens zum Begriff des Stellens in § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB: BGH v. 17.2.2010 – VIII ZR 67/09, ZIP 2010, 628 mit Anm. von Kaufhold. 58 BGH v. 25.6.1991 – XI ZR 257/90, BGHZ 115, 38 (42) – statt vieler mit der immer wiederkehrenden Unterscheidung, ob denn die Norm, von der durch eine Klausel abgewichen wird, nur reine Zweckmäßigkeitserwägungen (was bislang fast nie abschließend bejaht wurde) reflektiert oder auch Gerechtigkeitsgebote des Gesetzgebers widerspiegelt. 59 Statt aller Palandt/Grüneberg, § 307 Rz. 25 ff. m.w.N.; im unternehmerischen Verkehr insbesondere BGH v. 19.9.2007 – VIII ZR 141/06, NJW 2007, 3774 – „Gleichschritt“. 60 Vgl. BGH, a.a.O. 61 Statt aller Palandt/Grüneberg, § 306 Rz. 6 m.w.N.

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Gerechtigkeit, sondern es ist sowohl das zwingende Verbraucherschutzrecht oder auch das dispositive Recht, welches diese Funktion erfüllt. Damit ist eine so verstandene formale Vertragsfreiheit – man mag das „sozial“ nennen62 – die Garantin der Vertragsgerechtigkeit. 4. Verbraucherleitbild Zieht man aus dem Gesagten die Summe, dann wird deutlich, wie wenig letztlich von den hehren und immer wieder beschworenen Grundsatz der Vertragsfreiheit verblieben ist, wenn es um die Sache des Bürgers, des Verbrauchers, in seinen vertraglichen Beziehungen zum Unternehmer geht. Ersichtlich geht es dem europäischen Gesetzgeber dabei darum, ein Marktungleichgewicht zwischen den Vertragsparteien zu beseitigen, um auf diesem Weg – mit Hilfe zwingenden Rechts – den Verbraucher zu schützen. Doch dabei stechen sogleich Diskrepanzen ins Auge. a) Europarechtliche Vorgaben: Wettbewerbsrecht Seit längerer Zeit gibt es im Bereich des Lauterkeitsrechts einen einheitlichen europarechtlichen Standard, um das Bild des Verbrauchers im Recht zu umschreiben. Der deutsche Gesetzgeber hat es in § 3 Abs. 2 Satz 2 UWG seit 2008 verankert63. Es ist der durchschnittliche, informierte und verständige Verbraucher. Dieser Prototyp ist eine Schöpfung der Rechtsprechung des EuGH64, was der BGH dann schrittweise übernommen und inzwischen auch auf das Markenrecht65 ausgedehnt hat66. Es ist also nicht mehr der flüchtig lesende und leicht zu verwirrende und vor allem auch irrezuführende Verbraucher, sondern – hier liegt ein Wechsel des Paradigmas vor – der Verbraucher, der hinreichend verständig ist, der sich vor allem die Werbung mit einer situationsadäquaten Aufmerksamkeit ansieht67. b) Mindestharmonisierung Doch diese Rechtsentwicklung hängt unmittelbar mit dem Befund zusammen, dass bei einer Mindestharmonisierung der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht das letzte Sagen hat, weil vielmehr Raum besteht, dass sich der nationale Gesetzgeber mit seinen Vorstellungen von einem Leitbild durchsetzt, solange es einen höheren Schutz reklamiert als der Schutz, den ein durchschnittlicher, informierter und verständiger Verbraucher verlangen kann68. Genau dies ist geschehen. Wenn es um die Konkretisierung des Transparenzgebots des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB und ganz allgemein darum geht, den gene-

___________ 62 Vgl. Canaris, a.a.O., S. 273 (289 ff.). 63 Bornkamm/Bornkamm in Köhler/Bornkamm, UWG, 28. Aufl., München 2010, § 5 Rz. 2.87a. 64 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C 210/96, GRURInt. 1998, 785 – Gut Springerheide. 65 BGH v. 19.9.2001 – I ZR 54/96, NJW 2002, 600 (602) – Warsteiner II. 66 BGH v. 20.10.1999 – I ZR 167/97, GRUR 2000, 619 (621) – Orient-Teppichmuster; BGH v. 2.10.2003 – I ZR 150/01, GRUR 2004, 244 (245) – Marktführerschaft. 67 BGH v. 13.3.2003 – I ZR 212/00, GRUR 2003, 626 (627) – Umgekehrte Versteigerung II. 68 MünchKomm/Micklitz, BGB, 5. Aufl., München 2006, § 13 Rz. 99.

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rell-abstrakten Horizont auszuleuchten, welcher für die Auslegung von AGBKlauseln maßgebend ist, dann wendet der BGH häufig69 ersichtlich einen höheren Standard an, weil er den Verbraucher als intellektuell unterlegen, als wirtschaftlich und sozial hilfsbedürftig einordnet und auch meint, er müsse vom AGB-Verwender verlangen, dass dieser die Klauseln so formuliert, dass der Verbraucher sie auch ohne Einholung von Rechtsrat verstehen und auch in ihren wirtschaftlichen und rechtlichen Bezügen bewerten könne70. Darin liegt zwar eine gewisse Diskrepanz der Wertung des Verbraucherleitbildes, weil gerade unter Beachtung von § 4 Nr. 11 UWG vieles dafür spricht, eine Parallelität in der ohnedies gegebenen Verknüpfung zwischen AGB-Recht und Lauterkeitsrecht vorzunehmen, weil ja unwirksame AGB-Klauseln grundsätzlich geeignet sind, das in § 4 Nr. 11 UWG geschützte Marktverhalten nachteilig zu beeinflussen71. Doch auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, dass auf diese Weise nachgerade die Möglichkeit erst eröffnet wird, dass der nationale Gesetzgeber und auch die nationalen Gerichte in der Lage sind, Rücksicht auf die besonderen faktischen Gegebenheiten im eigenen Land zu nehmen72. Verstärkt wird dieser Ansatz im praktischen Resultat auch im Kontext der Umsetzung der Klausel-Richtlinie73. Denn nach Art. 4 Abs. 2 vollzieht sich die richterliche Inhaltskontrolle einer vorformulierten Klausel nicht primär nach einem generell-abstrakten Maßstab, sondern es ist geboten, dass alle den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie andere Klauseln des Vertrages bei der Bewertung der Unangemessenheit in den Blick genommen werden74. Da es sich jedoch bei dieser Richtlinie um eine der zahlreichen Fälle einer Mindestharmonisierung handelt, wie sich aus Art. 8 ablesen lässt, sind die deutschen Gerichte im Kontext der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB auch im Rahmen des gebotenen Verbraucherschutzes bislang einen strengeren Weg gegangen. Sie sind im Ergebnis nicht von der generell-abstrakten Bewertung der Klausel abgewichen; die individuellen Umstände des Vertrages bleiben praktisch außer Betracht75, obwohl formell Gegenteiliges in § 310 Abs. 2 Nr. 3 BGB steht76. Es herrscht also der Grundsatz einer strengeren Kontrolle, eines weiter reichenden Schutzes zugunsten des deutschen Verbrauchers.

II. Summe Es fällt nicht schwer, aus dem Gesagten abzuleiten, dass das hinter dieser Rechtsentwicklung stehende Bild des Verbrauchers mit den Vorstellungen nicht unbedingt sehr viel zu tun hat, die in dem Verbraucher primär einen mündigen Bürger, einen selbstbewussten und auch stolzen citoyen sehen

___________ 69 70 71 72 73 74

Vgl. allerdings auch BGH v. 12.6.2001 – XI ZR 274/00, NJW 2001, 2635 (2636). BGH v. 5.11.1998 – III ZR 226/97, NJW 1999, 276 (278). Köhler, NJW 2008, 177 ff. MünchKomm/Micklitz, BGB, 5. Aufl., § 13 Rz. 100. Richtlinie 13/93/EWG vom 5.4.1993, ABl. v. 21.4.1993 Nr. L 95, S. 29 ff. Hierzu Wolf in Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 5. Aufl., München 2008, Art. 4 RiLi Rz. 3 ff. 75 Bedenken bei MünchKomm/Kieninger, BGB, 5. Aufl. § 310 Rz. 74. 76 Vgl. Palandt/Grüneberg, § 310 Rz. 19.

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wollen und sein Engagement und seinen Bürgersinn als unabdingbar für den weiteren Bestand unseres Gemeinwesens einschätzen. Doch hat auch die aufgezeigte Entwicklung ihren großen Vorteil: Sie führt dazu, dass Marktmacht eingeschränkt und beschnitten wird, weil zwingendes Recht Einhalt gebietet. Marktungleichgewichte werden auf diesem Weg beseitigt; das tendenziell sehr hohe Schutzniveau zugunsten des Schwachen steht im Rahmen des europäischen Verbraucherschutzrechts im Vordergrund. Der Anwalt, der den Bürger als Verbraucher berät, muss sich freilich darüber im Klaren sein, dass die Genese dieses Rechts europäischen Ursprungs ist und daher in vielen Fällen beträchtliche intellektuelle Hürden errichtet, bevor das zutreffende Ergebnis zu Tage gefördert werden kann. Doch das ist hier nicht weiter zu vertiefen. Vielmehr ist an den Beginn der Ausführungen anzuknüpfen: Wenn es darum geht, dass anwaltliches Handeln auch mehr als in der Vergangenheit dem Gebot ethisch verantwortlichen Verhaltens gehorchen muss, dann sind zwei Schlussfolgerungen angezeigt: Vor allem gebietet das Ethos anwaltlichen Verhaltens genau an der Stelle anzusetzen, an der der europäische und auch der nationale Gesetzgeber den Bürger sieht: Es ist der Ort, an dem Hilfe eingefordert ist, um dem schwachen und schutzbedürftigen Verbraucher zu seinem Recht gegenüber dem Mächtigen zu verhelfen. Es ist dies ein Schutz, der wegen der mannigfachen Verschränkung zwischen nationalen und europäischen Rechtsregeln, wegen der in diesen Feldern oft nicht mehr anzutreffenden Kohärenz der anwendbaren Rechtsregeln und der ständigen Neuerungen dieses Rechts vom Anwalt oft sehr hohe Kenntnisse verlangt, die ihm in der Regel in der Ausbildung nicht ansatzweise vermittelt worden sind. Doch der so vom Anwalt gewährte Schutz kommt dann nicht nur dem einzelnen Verbraucher zugute, sondern – und das ist der zweite Ansatz – auch dem Gemeinwohl. Das aber ist eine eminent wichtige ethische Dimension. Denn ein solcher Schutz ergänzt – und dies in einer immer noch sehr virulenten Finanzkrise zu betonen fällt nicht schwer – den von der Politik nicht oder nicht ausreichend durchgesetzten Schutz, die ungezügelte Freiheit des Marktes durch Schaffung von Recht im Einzelfall, möglicherweise auch durch Setzung wichtiger Präjudizien zu regulieren. Das freilich vollzieht sich abseits der großen und auskömmlichen Streitwerte. Man kann es auch anders sehen und den zu ehrenden Jubilar wieder ins Bild rücken. Als er seine schöne Schrift über St. Ivo77 seinen Wegbegleitern verehrte, schrieb er, der Heilige – im Übrigen der einzige Heilige, der Anwalt war – habe sich der Rechtssorgen der mittellosen Bürger angenommen, weil er darin ein Werk der Barmherzigkeit sah.

___________ 77 Streck/Rieck, St. Ivo 1247-1303 Schutzpatron der Richter und Anwälte, Verlag Dr. Otto Schmidt (Köln) 2007.

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Finanzwetten zerstören Finanzmärkte Inhaltsübersicht I. Zwei Finanzkrisen in zwei Jahren II. Individuelle Akteure der Finanzkrise

5. Risikosteigerung durch Zertifikate

III. Zwei fast unabänderliche Ursachen

VII. Finanzwetten als Differenzgeschäft

IV. Begrenzung der Finanzaktivitäten des Staates

VIII. Widersprüche in der deutschen Rechtsordnung

V. Rückführung des Fremdmanagements an das Eigentümerinteresse VI. Verbot von Finanzwetten 1. Derivate als typische Finanzwetten 2. Real- und Finanzwirtschaft 3. Janusköpfige Derivate 4. Optionsgeschäfte

IX. Markt ohne Finanzwetten X. Schritte zur Beseitigung der Finanzwetten 1. Verbot und Teilschritte 2. Maßnahmen gegenüber den institutionellen Akteuren 3. Maßnahmen gegenüber den Vertragsformen

I. Zwei Finanzkrisen in zwei Jahren Innerhalb von zwei Jahren hat die Welt zwei Finanzkrisen erlebt. 2008 ließ die erste Krise den Kreditmarkt versiegen. Sie wurde von Zertifikaten verursacht, die in den USA ausgegebene subprime mortgages unterschiedlichster Bonität verbrieften, bündelten und weitergaben. Als die Kredite von den Hauseigentümern nicht mehr bedient wurden, brach ein rasch angewachsener Finanzmarkt zusammen und aus den hochgelobten Derivaten wurden plötzlich toxische Papiere, die keiner mehr kaufte. Dadurch wurden Banken und Investmenthäuser insolvent, der größte amerikanische Kreditversicherer konnte einen derartigen Massenausfall von Krediten nicht mehr finanziell abdecken. Gelöscht wurde dieser monetäre Flächenbrand von den Nationalstaaten, die „Rettungsschirme“ in Form von Bürgschaften, Kreditübernahmen, Erwerb von Banken in Schieflage oder Gründung von „bad banks“ aufspannten. Die zweite Krise erfasste 2010 den Euro und bedrohte ebenfalls das globale Finanzsystem. Dieses Mal lösten Berichte über ein sprunghaft angestiegenes Haushaltsdefizit in Griechenland die Krise aus. Der Markt reagierte mit höheren Zinsen für griechische Anleihen und drohte, überhaupt nicht mehr in griechische Staatspapiere anzulegen. Verstärkt wurde die Krise durch Kreditversicherungen (credit defaults swaps – CDS), mit denen sich Spekulanten, die gar keine griechischen Staatsanleihen gezeichnet hatten, gegen den Ausfall dieser Kredite versicherten und damit gezielt auf deren Ausfall setzten1.

___________ 1 FTD v. 15.2.2010, S. 17.

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So stieg die CDS-Prämie auf griechische Anleihen von 1,23% im Oktober 2009 auf über 4% im Februar 20102. Ursache in der zweiten Krise war zweifellos eine überhöhte Staatsverschuldung. Sie ist aber von derartigen CDS-Geschäften verstärkt worden. Der Versuch, den Euro zu stabilisieren, ging vom Internationalen Währungsfonds und erneut von den nationalen Mitgliedstaaten aus. In beiden Fällen wurde die globale Bedrohung der Finanzmärkte von neuartigen Finanzgeschäften, wie z.B. Derivaten und CDS-Verträgen, ausgelöst.

II. Individuelle Akteure der Finanzkrise Beide Krisen wurden von mehreren Akteuren verursacht. Die Stabilität des Euro bedrohten 2010 diejenigen Staaten, die sich zu einem einheitlichen Währungsraum zusammengeschlossen hatten, aber gleichwohl die finanziellen Grenzen für ihre Verschuldung nicht einhielten, und Spekulanten, die mit credit default swaps deren Schwierigkeiten vergrößerten. In der ersten Krise des Jahres 2008 waren es in erster Linie Banken und Investmenthäuser, aber auch Rating-Agenturen, Versicherungsunternehmen oder einzelne verantwortungslose Finanzmanager oder gierige Anleger, welche den Finanzmarkt an den Abgrund führten. Es ist richtig, sichere Finanzmarktstrukturen zu erreichen, indem staatliche Regelungen bei diesen Akteuren ansetzen, wie es z.B. bei den Vergütungs- und Haftungsregelungen für Manager auf diesem Markt geplant ist. Die Aufregung über einzelne Individuen und deren ungerechtfertigte Gewinne ohne Risiko ist zum Teil durchaus berechtigt. Die Fehlersuche bei individuellen Personen kommt auch in einer Öffentlichkeit gut an, die Sachfragen und Strukturkonflikte gerne in Personen und deren Aktionen simplifiziert. Zur Vermeidung derartiger Finanzkrisen tragen Vorschriften gegenüber den jeweiligen Marktakteuren indessen weniger bei. Derartige Maßnahmen sind zwar auch wichtig, vor allem muss der (Fremd-)Manager wieder an die Eigentümerinteressen der Unternehmen auf dem Finanzmarkt herangeführt werden, damit er dessen langfristiges Wohl statt kurzfristiger Buchgewinne im Auge hat. Personenorientierte Maßnahmen leisten aber allenfalls Teilbeiträge zur Sanierung. Besser ist es, nach den objektiven Ursachen der Krisen zu suchen und dort das Risiko zu bekämpfen. Anzusetzen ist an den rechtlichen Rahmenbedingungen, die der Finanzmarkt vorfindet. Der Staat muss sich also mit den Institutionen, also mit Banken, Investmenthäusern, Ratingagenturen u.Ä., und mit den Rechtsinstrumenten des Bankenverkehrs, also mit den Verträgen, Konditionen u.Ä., befassen. Dort kann er seine Befugnisse zur Vermeidung künftiger Finanzkrisen mit Erfolg wahrnehmen.

III. Zwei fast unabänderliche Ursachen Zwei Ursachen muss man hinnehmen, denn sie sind durch den technischen Fortschritt entstanden und nicht mehr zurückzunehmen. Außerdem bringen

___________ 2 FTD v. 15.2.2010, S. 17; FAZ v. 20.2.2010, S. 21.

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sie erhebliche Vorteile, auf die man heute nicht mehr verzichten kann. Hier können Rechtsregeln allenfalls Randkorrekturen anbringen, den entscheidenden Schritt gegen das Risiko von Krisen aber nicht tun. Eine Ursache liegt in der Globalisierung der Finanzbeziehungen. Jedem Wirtschaftssubjekt steht mittlerweile ein weltweiter Banken- und Finanzmarkt zur Verfügung, der die nationalen Grenzen überspringt. Wenn die Börse in New York hustet, bekommen London, Frankfurt, Tokio und Singapur eine Erkältung. Diese Grenzenlosigkeit des Finanzmarktes sollte man nicht aufheben, weil man den weltumspannenden Ressourceneinsatz beeinträchtigen würde. Die zweite Ursache bilden die elektronischen Handelstechniken über Computer und Internet. Blitzschnelle Bankgeschäfte und präformierte Handelsentscheidungen sind mittlerweile üblich. Das Einzelgeschäft entgleitet der Aufmerksamkeit des individuellen Finanzdienstleisters. Damit werden bei Erreichen bestimmter finanzieller Grenzwerte gleichgerichtete Geschäftsentscheidungen in Massen möglich, die jede Auf- und Abwärtsbewegung an der Börse verstärken. Auch daran kann man wenig ändern; allenfalls wäre daran zu denken, dass der Staat bestimmte Geschäftsentscheidungen von größerer Tragweite rechtlich wieder an die individuelle Entscheidung eines Bankiers bindet und sie so der Fällung durch Computerprogramme entzieht.

IV. Begrenzung der Finanzaktivitäten des Staates Am meisten Erfolg verspricht es, an den Institutionen sowie an den Verträgen anzusetzen. Schon eine Betrachtung des Verhaltens der institutionellen Wirtschaftssubjekte auf den Finanzmärkten führt zu einigen klaren Forderungen. Zuvorderst müssen die Staaten selbst auf neue Anleihen verzichten und Altkredite zurückzahlen, d.h. ihre Verschuldung beenden. Diese Forderung wird von Finanzwissenschaftlern und -rechtlern schon seit Jahrzehnten erhoben. Durch die Eurokrise hat sie neuen Schub erhalten. Auch wäre zu überlegen, ob man staatliche Banken nicht auf die Sicherung des Geldverkehrs, auf die Vergabe von Subventionen zu Förderzwecken und auf die Versorgung mit Krediten an Personen beschränkt, die sonst keine erhalten würden. Die Erfahrung gerade der letzten Jahre hat gezeigt, dass der Staat als Unternehmer auch in der Bankenwelt eine schlechte Figur macht. Der Schutzschirm für den Euro ist z.B. auch aufgespannt worden, um den Wert der von staatlichen Banken in großem Umfang gekauften griechischen Staatsanleihen zu halten. Landesbanken haben in der Vergangenheit mit riskanten Geschäften regelmäßig Verluste gemacht, die nur mit Haushaltsmitteln des Staates ausgeglichen werden konnten. Allein die kommunalen Sparkassen sind wegen ihrer regionalen Verwurzelung und der strikten Orientierung an ihren öffentlichen Auftrag davon auszunehmen. Im Grundsatz sollten aber die Geschäftsfelder staatlicher Banken nicht in die privater Finanzinstitute eindringen und dort tätig werden, sondern auf ihren öffentlichen Auftrag beschränkt bleiben. Freilich müssen sie in einem einheitlichen Finanzmarkt auch miteinander Geschäfte abschließen und ihre Geschäftsbeziehungen verzahnen, sodass hier zwangsläufig eine gemeinsame Zone der Geschäftstätigkeit entsteht; es gilt aber, deren Bandbreite zu begrenzen. 851

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V. Rückführung des Fremdmanagements an das Eigentümerinteresse Private Banken, Versicherungen und sonstige Finanzdienstleister tragen zur Instabilität des Finanzmarktes bei, weil die leitenden Organe von Managern besetzt werden, die nicht zugleich Eigentümer mit Kapitalrisiko und entsprechendem Erhaltungsinteresse sind. Das Interesse eines Bankenvorstands, der nur durch Dienstvertrag an das Unternehmen gebunden ist, ist kurzfristiger Natur. Er ist an Boni interessiert, an guten Quartalsbilanzen und hohen Renditen. Er neigt deshalb eher zu riskanten Geschäften und verliert das langfristige Unternehmensinteresse aus dem Auge. Eine Leitung, die von den Eigentümern eines Finanzdienstleisters gebildet wird, richtet die Geschäftspolitik ihres Instituts auf langfristige Erfolge und Kapitalerhaltung aus. Sie entnimmt Gewinne nur vorsichtig und vermeidet riskante Geschäfte. Deshalb ist das Fremdmanagement wieder an die Eigentümerinteressen eines Finanzinstituts heranzuführen. Hierzu gibt es schon erfolgversprechende Vorschläge und Regelungen gegenüber erhöhten Boni aus kurzfristigen Buchgewinnen oder zur Haftung des Managements. Soweit sie nicht von Neidgesichtspunkten diktiert wurden, sondern am Ziel der Wiederheranführung an die Eigentümerinteressen ausgerichtet sind, sollte man diese Linie weiter verfolgen.

VI. Verbot von Finanzwetten 1. Derivate als typische Finanzwetten Die entscheidende Ursache für die erste und ein wesentliches Verstärkungsmoment für die zweite Finanzkrise liegt jedoch in Finanzinstrumenten, die sich seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts ausgebildet und den Finanzmarkt erobert haben: den Finanzwetten. Bei einer Wette setzt der eine auf den Eintritt eines bestimmten Ereignisses, der andere dagegen auf dessen Ausbleiben. Der gesetzte Geldbetrag geht an den Gewinner, der Gegenspieler verliert sein eingesetztes Kapital. Auf dem Finanzmarkt finden sich solche Finanzwetten in Derivaten, Zertifikaten und Optionen, die jeweils ihre eigene Grundstruktur aufweisen, aber oftmals allein einem Wettziel dienen3. Derivate sind handelbare Verträge über die Veränderung eines beliebigen Basiswerts, z.B. von Aktien- oder Devisenkursen, von Rohstoffpreisen oder Branchenindizes. Anders als die Aktie, die Währung, der Rohstoff oder das Unternehmen selbst ist der Anleger aber gar nicht am realen Austausch von Gütern und Dienstleistungen oder am ökonomischen Erfolg eines Unternehmens beteiligt. Er benutzt deren ökonomische Daten nur, um nach Ablauf einer bestimmten Zeit aus deren Veränderung Gewinn zu erzielen. Der Gewinn wird nicht durch ökonomischen Güteraustausch am Markt erwirtschaftet, sondern vom Gegenspieler bezogen, der dagegengehalten und verloren hat. Der Vorgang ist ökonomisch völlig sinnlos, er schafft keinen Mehrwert an Gütern oder Dienstleistungen, sondern befriedigt lediglich das Spiel- und Gewinninteresse der Beteiligten. Der Anleger wird dabei zum Spekulanten. Man muss derartige Finanzwetten nicht unbedingt aus der moralischen Per-

___________ 3 Vgl. von Randenborgh, ZRP 2010, 76 (77).

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spektive verdammen. Es genügt bereits die Feststellung, dass sie für eine Volkswirtschaft völlig unnütz sind, Wirtschaft und Staat – wie zwei Finanzkrisen belegen – schaden und die gesamte Finanzstruktur, auf die alle angewiesen sind, sogar gefährden. 2. Real- und Finanzwirtschaft Finanzwetten koppeln sich von der Realwirtschaft völlig ab. Die Realwirtschaft besteht im tatsächlichen Angebot von Gütern und Leistungen und deren Austausch. Hinzu treten „angehängte“ Finanzgeschäfte der Banken und Versicherungen, die das Gelingen des Austauschs vor Ausfallrisiken sichern oder die dafür benötigten Geldmittel im Wege des Kredits zur Verfügung stellen, d.h. der Realwirtschaft dienen. Die Finanzwetten leben hingegen allein vom Gewinninteresse der Beteiligten. Sie sind an einer Produktion von Mehrwert in Form von Gütern und Leistungen nicht interessiert, sie wollen kein Risiko für wertschöpfende Unternehmen tragen, obwohl wir alle von dem Mehrwert leben, der durch Produktion, Dienstleistung und Güteraustausch geschaffen wird. Schon Josef Schumpeter hatte erkannt, dass die Realwirtschaft der Herr und die Finanzwirtschaft der Hund sein müssten, d.h., dass die Finanzwirtschaft allein eine dienende Funktion für die Realwirtschaft haben könne. Angesichts des gigantischen Volumens von Derivaten, Optionen und Zertifikaten wackelt heute der Schwanz allerdings mit dem Hund. Wie unsinnig Finanzwetten sind, zeigen eindringlich die Auswüchse bei Derivaten. Es ist heute möglich, in „Minifonds“ auf die Veränderung des Kurses einer Aktie innerhalb eines halben Tages durch Kauf von Derivaten zu wetten. Unter Einsatz von leverage-Effekten lassen sich damit innerhalb kürzester Zeit horrende Gewinne erzielen, aber selbstverständlich auch Verluste gleichen Volumens produzieren. Während der Fußballweltmeisterschaft 2010 wurden z.B. im Internet Derivate angeboten, mit denen man auf die Entwicklung in diesem Turnier setzen konnte. Wer auf die richtige Mannschaft tippte, dem winkten Ausschüttungen von über 1000%, die anderen erlitten einen Totalverlust des eingesetzten Kapitals. 3. Janusköpfige Derivate Es gibt auch janusköpfige Derivate, die sowohl der Real- als auch allein der Finanzwirtschaft dienen können. So ist eine Wetterversicherung für die Logistik- und Nahrungsmittelbranche zur Abdeckung ihrer Risiken in der Realwirtschaft der Dienstleistungen und des Güteraustauschs sinnvoll. Wenn aber ein Privatmann eine Wetterversicherung für Zeiten und Gebiete abschließt, in denen für ihn überhaupt kein Risiko liegt, weil er sich dort weder aufhält noch etwas produzieren oder liefern will, handelt es sich um eine Finanzwette. Vor allem die credit default swaps (= CDS) weisen diese Janusköpfigkeit auf. Wenn ein Kreditgeber sich gegen den Ausfall seines Kreditnehmers durch CDS-Verträge sichert, schließt er ein die Realwirtschaft begleitendes Geschäft ab. Er will sein Kapital erhalten. Wenn jedoch ein Dritter sich gegen den Ausfall eines fremden Kredits versichert, den er weder gegeben noch genommen 853

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hat, ist er nicht auf Kapitalerhalt und Rückzahlung des Kredits aus, sondern erstrebt im Gegenteil sogar ein Scheitern der Rückzahlung des Darlehens, um seine Versicherungssumme zu erhalten4. Solche Fälle hat es nach Berichten in der Finanzpresse durchaus gegeben5. Kreditunbeteiligte Dritte schlossen CDSVerträge, um sodann das kreditierte Unternehmen schlecht zu reden und in die Insolvenz zu treiben. Auch bei der zweiten Finanzkrise des Jahres 2010 dürften Anleihen defizitgefährdeter Staaten auf derartige Weise von Personen versichert worden sein, die gar keine Anleihen gezeichnet hatten und deshalb nur am Eintritt des Staatsbankrotts interessiert waren. Da diese CDS-Verträge meistens nicht nur bei völligem Ausfall der Kreditrückzahlung, sondern schon bei schlechteren Ratings des Kreditnehmers, bei Veränderungen des Zinsniveaus oder bei einer Umstrukturierung insolvenzbedrohter Kreditnehmer eintreten, wird der Markt der Finanzwetten von ihnen erheblich erweitert. Er hat heute ein Volumen erreicht, das jeden Finanzmarkt bedrohen kann. So werden mittlerweile allein von den Clearing-Stellen der ICE-Börse in den USA pro Woche etwa 5000 Mrd. Dollar und von ihren europäischen Stellen 1000 Mrd. Dollar an CDS umgesetzt6. Nach Zeitungsberichten betrug der Basiswert der CDS-gesicherten Anleihen und Kredite im Herbst 2008 2.000 Mrd. Dollar, der Bruttowert aller darauf abgeschlossenen CDS-Kontrakte (trotz einer internen Saldierung, welche den Betrag senkt) im Herbst 2009 30.000 Mrd. Dollar7. Finanzexperten bezeichnen deshalb Derivate – vor allem in der Gestalt der CDS-Verträge – als „antisozial“8, „zutiefst asozial“9, als „kriminelle Machenschaften“10 oder als „finanzielle Massenvernichtungswaffen“11, die „perverse Anreize schaffen“12 können. George Soros wird sogar das Wort zugeschrieben, CDS-Verträge funktionierten wie eine Brandschutzversicherung auf das Haus des Nachbarn, das man später legal anzünden dürfe13. 4. Optionsgeschäfte Ähnliches gilt für Optionen, bei denen keiner der Vertragspartner die Ware tatsächlich geliefert haben will, sondern nur auf die Preisdifferenz zum Optionszeitpunkt wettet. Wenn ein Großmetzger einen Terminkontrakt über die Lieferung von Schweinehälften in sechs Monaten schließt, will er seinen Preis bereits jetzt festlegen und halten. Er schließt ein Geschäft ab, das der Realwirtschaft angehört, denn er will den tatsächlichen Güteraustausch nach einem halben Jahr. Wenn ein privater Anleger eine derartige Option eingeht, wäre es für ihn ein Alptraum, wenn nach sechs Monaten der Kühlwagen mit den Schweinehälften vor seiner Wohnung stünde. Er ist von vorneherein

___________ 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Vgl. dazu Mitteilung der EG-Kommisson v. 3.7.2009, KOM (2009) 332 endg., S. 5. NZZ v. 14.1.2010, S. 13. FAZ v. 20.2.2010, S. 21. FAZ v. 20.2.2010, S. 21. NZZ v. 16.11.2009, S. 11. FTD v. 9.12.2009, S. 24. FTD v. 9.12.2009, S. 24. Z.B. NZZ v. 16.11.2009, S. 11; FTD v. 9.12.2009, S. 24 und v. 18.2.2010, S. 17. NZZ v. 14.1.2010, S. 13. FAZ v. 20.2.2010, S. 21.

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nicht an der Realwirtschaft interessiert, sondern wettet nur auf Preisveränderungen. Nur die beiderseitigen Preisvorstellungen werden nachher zwischen Gewinner und Verlierer ausgeglichen. Das Geschäft zählt zu den Finanzwetten. 5. Risikosteigerung durch Zertifikate Unter Zertifikaten versteht die Bankenwelt mittlerweile alle in Form von Wertpapieren gehandelten Derivate und Optionsgeschäfte. Treffender ist es jedoch, darunter nur die Verbriefung eines Vertrages mit Derivat- oder Optionsinhalt zu erfassen. Zertifikate tragen keinen neuen Inhalt, bergen aber eine zusätzliche Gefahr für den Finanzmarkt, weil sie Derivate und Optionen in Form eines Wertpapiers zum unbegrenzten Handel freigeben. Sie verbürgen die in Derivaten und Terminkontrakten enthaltenen Rechte und Pflichten in Schriftform, sie ermöglichen darüber hinaus die Bündelung von mehreren Geschäften dieser Art und erlauben die Weitergabe, ohne dass der Verkäufer eines Zertifikats nachher dem Käufer für den Ausfall seines im Zertifikat verpflichteten Gegenspielers haften würde. Der weitergebende Verkäufer eines Zertifikats setzt sich keinerlei Risiko aus. Zertifikate verstärken mithin die negativen Wirkungen der Finanzwetten in Form von Derivaten und Optionsgeschäften. Derartige Verbriefungen bergen zusätzliche Gefahren über den Inhalt des Vertrages hinaus, weil riskante Geschäfte so erst handelbar gemacht werden. Die Verbriefung von unsicheren Forderungen verlockt den Staat ferner zu riskanten Geschäften. So hat z.B. Griechenland sein Haushaltsdefizit auch dadurch verursacht, dass es künftige Einnahmen aus EG-Strukturförderungen, Flughafengebühren oder Lotterieveranstaltungen verbrieft und über Banken in den Verkehr gebracht hat14. Im Ergebnis wird damit das Jährlichkeitsprinzip des Haushalts verletzt, denn Einnahmeerwartungen in künftigen Jahren erscheinen bereits als aktuelle tatsächliche Zahlungsströme. Dass sie in künftigen Haushaltsjahren für den Staat ausfallen, geht bei der noch üblichen kameralistischen Haushaltsführung unter. Ohne Verbriefung wären derartige Umgehungsgeschäfte kaum beim Publikum unterzubringen.

VII. Finanzwetten als Differenzgeschäft Rechtlich sind Wetten in Form von Derivaten oder Optionen Differenzgeschäfte. § 764 Satz 1 BGB a.F. definierte diesen Typ als „ein auf Lieferung von Waren oder Wertpapieren lautender Vertrag in der Absicht …, dass der Unterschied zwischen dem vereinbarten Preis und dem Börsen- oder Marktpreis der Lieferungszeit von dem verlierenden Teil an den gewinnenden gezahlt werden soll …“. Er charakterisierte ihn als „Spiel“, durch das nach § 762 Abs. 1 Satz 1 BGB eine Verbindlichkeit nicht begründet wird. Das „Gesetz zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland“ vom 26. Juni 2002, BGBl. I, S. 2009, hob dann § 764 BGB a.F. auf und bestimmte in einem neuen § 37e

___________ 14 FAZ v. 16.2.2010, S. 17 und v. 17.2.2010, S. 17 (auch mit Beispielen aus Deutschland).

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Wertpapierhandelsgesetz, dass „gegen Ansprüche aus Finanztermingeschäften … der Einwand des § 762 des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht erhoben werden“ könne. Mit diesem Gesetz wurde die Finanzwette für zulässig und verbindlich erklärt und dem allgemeinem Publikum zugänglich gemacht15. Diese Entwicklung lag auf der Linie expandierender Finanzmärkte und ausländischer Entwicklungen. (Für Börsentermingeschäfte hatte bereits § 38 Börsengesetz zu Anfang der 90er-Jahre den Differenzeinwand nach §§ 762 und 764 BGB a.F. ausgeschlossen.)

VIII. Widersprüche in der deutschen Rechtsordnung Diese Entwicklung im deutschen Recht zur Zulassung von Finanzwetten, die hier exemplarisch für das ähnlich laufende Geschehen in anderen Ländern dargestellt wird, erstaunt. Allgemein werden Finanzwetten als für Bürger und Wirtschaft schädlich angesehen. Sogar die im Verlustrisiko geradezu harmlosen Lotterien wurden beim Staat monopolisiert, um ihre Ausbreitung einzudämmen. §§ 284 f. StGB stellen die unerlaubte Veranstaltung eines Glückspiels und die Beteiligung daran, § 287 StGB die unerlaubte Veranstaltung, Anbietung oder Annahme von Lotterien oder Ausspielungen unter Strafe. Es bleibt unerfindlich, warum das grundsätzlich verbotene Glücksspiel in Form von Derivaten oder Optionskontrakten für das allgemeine Publikum als Alltagsgeschäft zugelassen und deren Verbriefung in Form von Zertifikaten vom Staat geduldet wird.

IX. Markt ohne Finanzwetten Gegen eine Beseitigung von Finanzwetten wird oft eingewendet, der Markt verlange sie. In der Tat sind Spekulanten auf sie aus; sie bringen aber keinen volkswirtschaftlichen Mehrwert, sondern schädigen den Markt. Es ist nur eine Gruppe von spekulierenden Anlegern, die nach Finanzwetten verlangt. Der „Markt“ braucht sie nicht. Auch wird die Forderung erhoben, ohne Finanzwetten in Form von Derivaten und Optionen fehle der Realwirtschaft ein notwendiger finanzieller Risikopuffer. Das ist zweifellos richtig; es stellt sich nur die Frage, ob die Realwirtschaft überhaupt Geschäfte eingehen sollte, die so riskant sind, dass sie nur bei finanzieller Abfederung durch Dritte in Form von Wetten gelingen können. Zudem ist wie oben geschildert, bei janusköpfigen Derivaten wie z.B. CDS-Geschäften, gegen die Abdeckung eines Risikos aus der Realwirtschaft nichts einzuwenden. Wer aber auf den Ausgang der Fußballweltmeisterschaft wettet, Leerverkäufe vornimmt oder als Dritter sich gegen den Ausfall fremder Kredite versichert, will nicht für den realen Güterund Leistungsaustausch Risiken übernehmen, sondern ausschließlich aleatorisch handeln.

___________ 15 Vgl. dazu z.B. von Randenborgh, ZRP 2010, 76 (78).

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X. Schritte zur Beseitigung der Finanzwetten 1. Verbot und Teilschritte Ziel einer Sanierung des Finanzmarkts sollte im Endergebnis das völlige Verbot von Finanzwetten sein, die keinen Zusammenhang mit der Realwirtschaft aufweisen16. Wegen des hohen Risikos, das von ihnen ausgeht, und ihrer völligen Nutzlosigkeit für die Volkswirtschaft müssen sie ausgeschlossen werden. Im Alleingang eines Nationalstaates ist ein Verbot kaum zu erreichen; so kann man nur appellative Akzente setzen. Die Euro-Region oder der europäische Binnenmarkt wären dazu schon eher imstande, denn sie umfassen einen bedeutenden Wirtschaftsraum, der auch Vorbildfunktion erfüllen kann. Zum hinreichenden Erfolg führt jedoch erst ein global abgestimmtes Verhalten aller wichtigen Wirtschaftsnationen. Zu bedenken ist ferner, dass ein seit 30 Jahren gewachsener Markt, auf den sich die Wirtschaftssubjekte eingestellt haben, nicht von einem Tag auf den anderen einzustellen ist. Deshalb sind Zwischenschritte notwendig, die auf das endgültige Ziel eines Verbots von Finanzwetten hinführen. Man darf sich aber nicht mit dem Erreichen von Teillösungen zufrieden geben, sondern muss bei jedem Schritt auf das endgültige Ziel achten, durch die völlige Beseitigung von Finanzwetten einen selbstreferentiell gewordenen Finanzmarkt zu bändigen, welcher der Realwirtschaft nur schadet, und Banken, Versicherungen und Finanzinstitutionen wieder an ihre Servicefunktion für die Realwirtschaft heranzuführen. 2. Maßnahmen gegenüber den institutionellen Akteuren Aus der Perspektive der Akteure und Institutionen wäre zu erwägen, den Banken und Investmenthäusern den Eigenhandel ganz zu untersagen oder sie zu einem Eigenbehalt eines bestimmten Prozentsatzes der gehandelten Zertifikate zu verpflichten. Auch sollten sie zu einer Einheitsbilanz für ihr Haus und ihre (conduit-)Gesellschaften verpflichtet werden, welche auch die „geparkten“ toxischen Papiere ausweist, damit künftig bilanzielle Versteckspiele bei privaten Unternehmen und beim Staat (!) unterbunden werden. 3. Maßnahmen gegenüber den Vertragsformen Aus dem Blickwinkel der Rechtsinstitute des Handels, also der Vertragsformen u.Ä., könnte man an eine Zulassungspflicht für Derivate, Optionen und Zertifikate an der Börse oder an ihre auf dem Wege der Zulassung oder einer gesetzlichen Strukturierung mögliche Standardisierung denken, um dem Wildwuchs unterschiedlichster Anlageformen mit umfangreichen vertraglichen Konditionen Herr zu werden. Mit dem alleinigen Ausschluss von handelbaren Verbriefungen würde die Verbreitung von Finanzwetten ebenfalls stark eingedämmt, letztlich wohl auf professionelle Anleger beschränkt. Man könnte auch generell den Handel mit Zertifikaten auf Kaufleute beschränken und so das allgemeine Publikum ausschließen. Ich halte es auch für eine erwägenswerte Alternative wie beim Wechsel für den Handel gesetzlich eine

___________ 16 Vgl. z.B. NZZ v. 16.11.2009, S. 11; FTD v. 9.12.2009, S. 24 und v. 24.11.2009, S. 24.

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Indossierung vorzusehen, sodass derjenige, der durch sein Indossament ein Zertifikat weitergibt, dem Nacherwerber für dessen Bonität haftet. Ein partielles Verbot von Finanzwetten wird schon mit der Untersagung von Leerverkäufen von Aktien oder des Abschlusses von CDS-Verträgen für fremde Kredite durch Dritte erreicht. Es gibt also genügend Techniken, sich schrittweise und behutsam dem Verbot von Finanzwetten zu nähern und es dann in Etappen vollständig durchzusetzen. Wichtig ist nur, dass der Staat endlich entschlossen handelt, damit wir nicht in die nächste Finanzkrise schlittern.

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Die versicherungsrechtlichen Auswirkungen auf die Pauschalierungs- und Quotierungsnovationen (Konzeptverantwortungsvereinbarung und Referenzmarkt) in der Zuliefererindustrie Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Pauschalierungen III. Die sog. „Konzeptverantwortungsvereinbarung“ (sog. „KVV“) 1. Inhalt, Anwendungsbereich und Ausgestaltung der KVV 2. AGB-rechtliche Probleme der KVV IV. Das sog. „Referenzmarktverfahren“ V. Die versicherungsrechtlichen Konsequenzen auf die Pauschalierungsnovationen 1. Anfängliche Skepsis der Versicherungswirtschaft

2. Einzelne die KVV einbeziehende Versicherungsklauseln a) Als Unterfall der sog. Aus- und Einbaukostenklausel (Ziff. 4.4 des Produkthaftpflicht-Modells in der Fassung von August 2008) b) Wiederum Aus- und Einbaukostenklausel in der erweiterten Produkthaftpflicht c) Eine weitere, die KVV berücksichtigende Versicherungsklausel könnte lauten 3. Deckungsrechtliche Klausel zum Referenzmarktverfahren VI. Fazit

I. Einleitung Die heutigen Produktionsprozesse werden weitestgehend von arbeitsteiligen Produktionsweisen dominiert, bei denen jeder Zulieferant mehr oder weniger stark die Verantwortung für sein (Teil-)Produkt trägt. Die Zuliefererbeziehung hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend internationalisiert. Zahlreiche Branchen, etwa in der Automobilindustrie, haben Großkonzerne hervorgerufen; Zulieferer sind zum Teil mitgewachsen oder in Fusionen aufgegangen. Die vertraglichen Regelungswerke haben sich dadurch weitestgehend verändert. Basierend insbesondere auf der in Deutschland kodifizierten Fassung des Bürgerlichen Gesetzbuchs genügten zu Beginn der Nachkriegsjahre auch in der Zuliefererbeziehung oft wenige Seiten umfassende Verträge. Heute sprechen wir von vertraglichen Konglomeraten, wenn wir die Vertragswerke in der Zuliefererindustrie bewerten. Der Zulieferermarkt ist beherrscht von stetem Wettbewerbs- und Konkurrenzdruck; Kosteneinsparungen beherrschen die Vertragspartner. Diese versuchen dabei – natürlich zu Recht – Abläufe zu beschleunigen und zu vereinfachen, und weitestgehend sogar – und hier wird es rechtlich – Inhalte des Vertrags zu pauschalieren. Gerade in der Automobilbranche – durchaus als Vorreiter für andere Bereiche – werden bekanntlich verschiedene Elemente miteinander verzahnt: Ungeachtet der technischen

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Vorgehensweise werden Verträge zum Teil als „Zulieferer-“ oder „Rahmenverträge“, oder als „Lieferanten-“ oder auch „Gewährleistungsvereinbarungen“ überschrieben, in denen ähnliche Inhalte entweder in einem Regelungswerk zusammengefasst werden oder in verschiedenen Bedingungswerken – einmal mit mehr, einmal mit weniger klarer Synchronisierung oder Hierarchieregeln – verschiedene vertragliche Regelungen nebeneinander stehen. Neben den bekannten Regelungswerken, wie etwa die Qualitätssicherungsvereinbarungen und/oder Einkaufs- und Verkaufsbedingungen, gegebenenfalls mit Bezugnahme auf Hersteller-Richtlinien oder „allgemeingültige Richtlinien“ oder Analysevorschriften und Bezugnahmen auf sog. Pflichtenhefte treten seit einigen Jahren – entsprungen in der Automobilindustrie – weitergehende Regelungswerke hervor, die alle mehr oder weniger zumindest auch das Ziel verfolgen, die Kosten zu reduzieren durch pauschalere Abwicklungen im Geschäftsverkehr. Dies kommt nicht nur dem Endhersteller zugute, sondern, wenn vielleicht auch nicht im gleichen Maße, letztlich jedenfalls in bestimmten Bereichen namentlich auch dem Zulieferer. Mit der Formulierung „zunehmbare Pauschalierung“ allein lässt sich das Phänomen noch nicht hinreichend beschreiben. Ist jedoch die Analyse richtig, dass sich weitergehende Pauschalierungen durchsetzen werden, müssen alle damit konfrontierten Beteiligten Wege finden, diesem Phänomen zu begegnen. Einen kleinen Beitrag möchte ich leisten in der Weise, dass ich auf der einen Seite die Zuliefererbeziehung noch einmal durchleuchte und auf der anderen Seite Überlegungen anstelle, wie etwa am Vertragsschluss nicht unmittelbar beteiligte Versicherer den dadurch entstehenden Problemen begegnen können. Dabei steht unter deckungsrechtlichen Aspekten die sog. „Konzeptverantwortungsvereinbarung“ im Fokus, ein auf Initiative des Endherstellers VW seit etwa 2006 implementiertes neues Regelwerk, das – nach eigenen Angaben dieses Herstellers – neben den „bereits bestehenden Standards“ Anwendung findet und die bestehenden Vereinbarungen zwischen Endhersteller und Zulieferer ergänzen soll. Aber auch das sog. „Referenzmarktverfahren“ bleibt dabei nicht unerwähnt; denn beide relativ jungen Regelungswerke hängen eng mit dem Versuch zusammen, vertragliche Gestaltungen zunehmend von „Pauschalierungen“ abhängig zu machen.

II. Pauschalierungen Pauschalierungen sind den verschiedenen Rechtsordnungen und insbesondere dem deutschen Recht nicht fremd. Die Pauschalierung kann sich einerseits ganz konkret auf den Preis auswirken oder nach Inhalten richten. Dabei sprechen wir zum einen vor allem über die sog. Schadenspauschalierung (vgl. etwa §§ 276, 309 BGB) in Abgrenzung dazu aber auch über die sog. Vertragsstrafe (vgl. § 339 BGB i.V.m. § 309 BGB). Pauschalierungsklauseln finden sich nicht nur bei Reiseverträgen (vgl. § 651i BGB), sondern typisch etwa auch beim Werk- (vgl. §§ 632, 649 BGB) oder Kaufvertrag (§§ 433 ff.). Praktisch bleiben keine erwähnens- und nennenswerten wirtschaftsrelevanten Verträge von Pauschalierungen unberührt. Pauschalierungen entsprechen daher einem

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praktischen Bedürfnis1. Sie verdeutlichen – ihre Angemessenheit stets als zutreffend unterstellt – auch das finanzielle Risiko einer Vertragsverletzung, insbesondere auch z.B. bei einer unberechtigten Lösung vom Vertrag. Sie können andererseits, wenn die Schadensersatzverpflichtungen dem Grunde nach feststehen, den Streit über die Schadenshöhe vermeiden oder jedenfalls vermindern. Dies bedeutet eine mehr oder weniger hohe Ersparnis an Kosten für die Ermittlung konkreter Schadensumstände. Einerseits gewinnen die Vertragspartner damit Transparenz, andererseits können beide ihr unternehmerisches Risiko anhand von Pauschalierungen – jedenfalls unter bestimmten Umständen – angemessener kalkulieren. Der Rationalisierungseffekt – jedenfalls für den Verwender von entsprechenden Vertragsklauseln – findet allerdings ein gewisses Äquivalent auf der Seite dessen, der Pauschalierungen zu akzeptieren hat. Setzt sich der Verwender mit entsprechenden Vertragsklauseln durch, kann er jedenfalls bewirken, dass mit maßvollen Pauschalen langwierige Streitereien vermieden werden. Dies kommt wiederum beiden Vertragspartnern – und auch hier spreche ich über Risiken aus dem drohenden Zuliefererregressprozess – entgegen. Dabei sind natürlich auch die – von Staat zu Staat unterschiedlichen – gesetzlichen Schranken der Pauschalierungen zu berücksichtigen. Insbesondere sind Abweichungen von den gesetzlichen Vorschriften bekanntlich nach deutschem Recht in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam, wenn es sich um Vereinbarungen über pauschalierte Ansprüche des Verwenders auf Schadensersatz oder Ersatz einer Wertminderung handelt, wenn die Pauschale den in den geregelten Fällen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden Schaden oder die gewöhnlich eintretende Wertminderung übersteigt, oder wenn dem anderen Vertragsteil nicht ausdrücklich der Nachweis gestattet wird, ein Schaden oder eine Wertminderung sei überhaupt nicht entstanden oder wesentlich niedriger als die Pauschale selbst (vgl. dazu § 309 Ziff. 5 a) und b) BGB). Anders als man dies auf den ersten Blick annehmen könnte, findet § 309 Ziff. 5 BGB über die Regelung des § 307 BGB auch im Verkehr zwischen Unternehmern und damit auch im Zuliefererbereich grundsätzlich Anwendung2. Andererseits lässt sich aber – etwas holzschnittartig – auch formulieren, dass Unternehmer im Bereich von sog. Individualvereinbarungen (vgl. § 305b BGB) weitergehend in der Lage sind, Pauschalierungen nach deutschem Recht vorzunehmen. Dort werden die gesetzlichen Schranken durch die Regelungen zu Treu und Glauben, §§ 138 und 242 BGB, weitestgehend abgesteckt. Im Individualverkehr sind Schadenspauschalierungen weitestgehend zulässig3. Zudem sind – nach den jeweiligen nationalen Rechten – aber auch die dort geltenden prozessualen Besonderheiten im Hinblick auf Darlegungs- und Beweislastverteilung zu beachten.

___________ 1 So ausdrücklich der BGH v. 16.6.1982 – VIII ZR 89/81, NJW 1982, 2316. 2 BGH v. 10.11.1976 – VIII ZR 115/75, BGHZ 67, 312; BGHZ 113, 61; v. 27.11.2990 – X ZR 26/90; v. 12.11.2994 – VIII ZR 165/92, NJW 1994, 1068; anderer Ansicht aber Lindacher in FS Birk, S. 515; demgegenüber aber auch Grüneberg in Palandt, 69. Aufl. 2010, § 309 BGB Rz. 32. 3 BGH v. 8.10.1969 – VIII ZR 20/68, NJW 1970, 29 (32).

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Die – bisweilen sogar plakativ – hervorgehobene Kritik an der doch möglicherweise für zu scharf gehaltenen AGB-rechtlichen Kontrolle durch die deutsche Rechtsprechung und die Forderungen zur Liberalisierung der Inhaltskontrolle im Unternehmensverkehr spielt daher auch im Bereich des Zulieferervertrags eine ganz erhebliche Rolle4. Auch hier kann die oft als letzter Ausweg vor der scharfen Inhaltskontrolle im unternehmerischen Verkehr beschriebene sog. „Flucht aus dem deutschen Recht“ für Zuliefererbeziehungen gewählt werden, insbesondere dann, wenn der deutsche Gesetzgeber und die deutsche Rechtsprechung allzu hohe Hürden für die Vertragsparteien im Zusammenhang mit Pauschalierungen in AGB aufstellen5. Die politische Debatte und die Reformbemühungen werden insbesondere auf der Grundlage der Ansichten von Berger6 geführt. Bis zur nur von Teilen der Literatur geforderten Umsetzung der Liberalisierung – wenn sie denn überhaupt kommt – könnten die Parteien des Zulieferervertrags, also beispielsweise Endhersteller und Zulieferer oder Zulieferer und Subzulieferant, eine ausländische Rechtsordnung – wenn auch nur in gewissen Grenzen – frei wählen. Art. 3 der ROM-I-VO kodifiziert nunmehr diesen schon alten Grundsatz zur Privatautonomie7. Danach können die Parteien das für einen Schuldvertrag und damit auch für einen Zulieferervertrag maßgebliche Recht durch Rechtswahl selbst bestimmen. Die Rechtswahl wird gegebenenfalls durch einen kollisionsrechtlichen Verweisungsvertrag vorgenommen, dessen Zustandekommen sich aus Art. 3 Abs. 5 i.V.m. den Art. 10, 11 ROM-I-VO regelt. Im Einzelfall ist allerdings die Geltung zwingender Vorschriften zu beachten. So sind nach Art. 3 Abs. 3 der Rom-I-VO auch die einfach zwingenden Vorschriften einer Rechtsordnung zu berücksichtigen und unabhängig von der von den Parteien getroffenen Rechtswahl

___________ 4 Zum Meinungsstand sehr früh schon Berger, ZIP 2006, 2149, und vertiefend jetzt NJW 2010, 465, sowie Graf von Westphalen, NJW 2009, 2977. 5 Die Kritik an Urteilen im unternehmerischen Verkehr betrifft insbesondere bekanntlich die zu hohen Hürden beim Begriff des „Aushandelns“ im Sinne des § 305 BGB, vgl. dazu etwa BGH v. 8.10.2008 – XII ZR 84/06, NJW 2008, 3772: Keine starren Schönheitsreparaturfristen; BGH v. 23.1.2003 – VII ZR 210/01, NJW 2003, 1805: Vertragsstrafe im B2B-Bauvertrag; v. 18.4.2002 – VII ZR 192/01, NJW 2002, 2388: Bürgschaft auf erstes Anfordern (Bau-AGB); v. 3.11.1999 – VIII ZR 269/98, NJW 2000, 1110: B2B-Tankstellenhalter, und berühren daher im Wesentlichen Haftungsbegrenzungs- und Freizeichnungsklauseln, aber eben auch Vertragsstrafenklauseln und auch Pauschalierungen. 6 Berger, NJW 2010, 465 ff. fordert die Liberalisierung der Inhaltskontrolle und fordert den Gesetzgeber auf, die §§ 305 ff. BGB zu überarbeiten und insbesondere dem Begriff des „Aushandelns“ im Sinne des § 305 Abs. 1 BGB einen Satz 4 in folgender Weise anzufügen: „Wird eine Vertragsbedingung gegenüber einem Unternehmer … verwendet, so gilt sie als ausgehandelt, wenn die Vertragsparteien über sie (im Einzelnen oder im Zusammenhang mit anderen Bestimmungen des Vertrages…) in angemessener Weise verhandelt haben. Mit anderen Worten: „Aushandeln“ im Sinne des BGB wäre ein Verhandeln im unternehmerischen Verkehr. 7 Im internationalen Schuldrecht ist die Verordnung (EG) Nr. 593/2008 vom 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom-I-Verordnung) in Kraft getreten und gilt für alle Verträge, die nach dem 17.12.2009 geschlossen werden; mit der seit 11.1.2009 geltenden Rom-II-Verordnung ist damit nunmehr ein kohärentes System im IPR entstanden; vorher: Art. 27 ff. EGBGB a.F.

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gelten Sonderanknüpfungen nach Art. 9 Abs. 2 Rom-I-VO8. Wollen also die Parteien oder dürfen die Parteien ausnahmsweise eine konkrete ausländische Rechtsordnung nicht wählen – aus welchen Gründen auch immer –, wären die Vertragspartner bei Zuliefererverträgen nach deutschrechtlichen Vorgaben – zumindest aber durch Individualvereinbarungen – in der Lage, weitgehend Pauschalierungen vorzunehmen, die vonseiten des Gesetzgebers und der Gerichte durchaus akzeptiert und in der Praxis als Vereinfachungsmechanismen im Regelfall für zulässig erachtet werden. In diesem Kontext sind zwei Novationen zu erwähnen, mit denen die Zuliefererindustrie – vor allem im Bereich der Kraftfahrzeugbranche – derzeit befasst ist, die sog. „Konzeptverantwortungsvereinbarung“ und das sog. „Referenzmarktverfahren“. Nach einer ganz knappen Darstellung und einer Einschätzung dieser noch immer jungen Regelungen zum Zulieferervertrag werde ich mich dann der versicherungsrechtlichen Entwicklung – beschreibend – zuwenden.

III. Die sog. „Konzeptverantwortungsvereinbarung“ (sog. „KVV“) 1. Inhalt, Anwendungsbereich und Ausgestaltung der KVV Nach Angaben von VW9 wird im Rahmen der Konzeptverantwortungsvereinbarung bereits in einer frühen Phase eines Neufahrzeug-Projekts zwischen dem Lieferanten und dem Endhersteller vertraglich festgehalten, welche Konzeptverantwortung aufgrund des jeweiligen Know-how-Anteils von wem bei dem konkreten Zulieferervertrag übernommen wird. Nach Darlegung von VW sei Ziel der KVV, eine erhöhte Eigenverantwortung der Lieferanten zu gewinnen. Der Lieferant erhält – so VW – mehr Einfluss auf die gemeinsamen Produkte. Durch die KVV käme es zu klaren Verantwortungsaufteilungen und zur frühzeitigen Eliminierung von Konzeptproblemen, was im Ergebnis zu mehr Kundenzufriedenheit durch Reduzierung der Schadensfälle und zur Verringerung der Gewährleistungskosten führe. Die KVV sei also – so VW – ein weiterer zentraler Baustein der Qualitätsoffensive. Fakt ist, dass mit Hilfe der KVV, vereinfacht ausgedrückt, im Hinblick auf sog. „Konzeptfehler“ generalisierende Regelungen getroffen werden, inwieweit der Zulieferer an bestimmten Sachmängelhaftungskosten des Endherstellers beteiligt wird. Schon deshalb handelt es sich bei der KVV (jedenfalls auch) um eine sog. „Regulierungsvereinbarung“ im weiteren Sinne10. Dabei wird der „konkrete Anteil des Lieferanten am technischen Konzept“ des zu entwickelnden Bauteils – vertraglich – festgelegt. Dieser „Konzeptanteil“ ist vom sog. „Prozessanteil“ zu unterscheiden. Während mit dem Prozessanteil der Anteil in Bezug auf die Fertigung, den Einbau oder die Programmierung gemeint ist, wird unter dem „Konzeptanteil“ der Anteil am technischen Design, mithin der Konstruktion, verstanden. Die Konzeptverantwortungsvereinbarung betrifft ausschließlich den sog. „Konzeptanteil“ eines Zulieferers an einem Bauteil. Dieser Konzept-

___________ 8 Vgl. dazu Thorn, in Palandt, 69. Aufl. 2010, Art. Rom-I-VO Rz. 5. 9 Vgl. etwa die Internetangaben und Prospektierungen zu „Volkswagen Qualitätsoffensive“ – KVV zur Einführung der ersten Version. 10 Vgl. dazu Lenz, Die Konzeptverantwortungsvereinbarung, PHi 2008, 164.

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anteil, auch „Konzeptverantwortungsquote (KV-Quote)“ genannt, wird festgelegt, und zwar – so die Idee von VW – „gemeinsam“ zwischen Endhersteller und Zulieferer. Dabei war es historisch so, dass die festzulegende KV-Quote von der „Entwicklungstiefe“ des Lieferanten abhängig war. Einfach ausgedrückt: Je mehr konstruktive Vorgaben durch den Endhersteller übermittelt werden, desto geringer ist die sog. KV-Quote des Zulieferers. Umgekehrt ist die KV-Quote umso höher, je weniger konstruktive Vorgaben der Endhersteller an den Zulieferer richtet. Eine stufenlose Festlegung der KV-Quoten war ursprünglich vonseiten des Herstellers VW nicht vorgesehen, vielmehr sollte – nach Angaben des Automobilherstellers – immer eine Quote von 10%, zwischen 30% und 70% oder von 90% gewählt werden. Diese – soeben beschriebene – „Teilungsquote“ wurde nur zu Anfang in den früheren Jahren von 2005/2006 und nur kurzfristig gegenüber den Zulieferern verwandt. Die Ausgestaltungen der sog. Konzeptverantwortungsvereinbarungen haben sich im Laufe der Jahre verändert. In der dritten Version, die schon ab 2008 im Markt verwandt wurde, wird unterschieden zwischen sog. Konzeptentwicklern, Serienentwicklern und Serienbelieferern, die im Einzelnen definiert und in diesen Kategorien dann entsprechend der den Parteien jeweils zufallenden Entwicklungsverantwortung am betroffenen Bauteil/Modul/System KV-Quoten zwischen 90% und 10% zuzuordnen sind11. Es handelt sich um die „Rahmenvereinbarung zur Konzeptverantwortung“ mit der gesonderten Anlage einer „KV-Quotenvereinbarung“. 2. AGB-rechtliche Probleme der KVV Im Jahr 200812 – bedingt durch Anfragen von zahlreichen Interessenvertretungen in der Einführungsphase, aber auch durch Hinweise in der Versicherungswirtschaft – habe ich die Frage aufgeworfen, ob im Hinblick auf die recht komplizierten Regelungen, deren Inhalte erheblich interpretationsfähig und auslegungsbedürftig waren, die einzelnen Klauseln insbesondere der Ursprungsversion, aber auch der weiteren beiden Folgeversionen, allesamt AGBrechtlichen Anforderungen gerecht werden würden und ich habe darüber hinaus auch die Frage nach der Gesamtkonzeption insgesamt – allerdings nur bezüglich der ersten Version – in Frage gestellt, was im Hinblick auf mögliche übermäßige Beschränkungen der Zulieferer durch Übernahme zusätzlicher Verantwortung (§§ 307 ff., 134, 138, 242 BGB) durchaus nicht unberechtigt war. Dies hat eine Diskussion unter Experten ausgelöst13. Die Auffassungen

___________ 11 Vgl. zum Anwendungsbereich der sog. „Rahmenvereinbarung zur Konzeptverantwortung“ die Ziff. 1. i.V.m. Ziff. 2.1.: In Ziff. 2.1 letzter Absatz heißt es: Die Vereinbarung einer KV-Quote erfolgt nicht, soweit der Lieferant ohne Konzept- oder Entwicklungsverantwortung fertigt; in diesen Fällen hat vorliegende Rahmenvereinbarung keine Wirkung, eine Haftung des Lieferanten für konzept- und entwicklungsbedingte Mängel besteht nicht. 12 Lenz, Die Konzeptverantwortungsvereinbarung, PHi 2008, 164. 13 Vgl. dazu Helmig, Die Konzeptverantwortungsvereinbarung von VW im Konflikt mit Angemessenheit und Transparenz, PHi 2009, 30 ff.; Kohl, Konzeptverantwortungsvereinbarung – Haftungserweiterung für Zulieferer Automotive oder Luftblase?, www.brennecke-partner.de, Konzeptverantwortungsvereinbarung, Stand 6.1.2008/6.1.2010; Meier, Rückruf-Szenarien, VW 2008, 854; Meier, VW 2009, 1111;

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reichen von der fehlenden Ausgewogenheit der KVV insgesamt und der fehlenden Transparenz und damit von der Kollision mit den Wertungen der Angemessenheit und der Überzeugung, dass die Klauseln der KVV unwirksam sind14, bis zur Gegenauffassung15 dahin, dass die Gefahrenpotenziale, die mit der Konzeptverantwortungsvereinbarung zusammenhängen, insgesamt überschätzt werden, und – jedenfalls lässt sich dies den Ausführungen entnehmen – generell und ohne weitere Kritik für AGB-rechtswirksam gehalten werden. Ich selbst habe – wie Helmig in seinem Beitrag „Die Konzeptverantwortungsvereinbarung von VW im Konflikt mit Angemessenheit und Transparenz“ zutreffend hervorhebt – die AGB-rechtlichen Fallstricke (§ 305 BGB: Aushandeln; § 307 BGB) sehr vorsichtig formuliert und bin aber – wenn auch mit Vorbehalten – am Ende zu dem Ergebnis gekommen, die KVV sei vorbehaltlich künftiger Erfahrungswerte, insbesondere AGB-rechtlich – (jedenfalls) in den neuen Versionen – nicht generell mehr zu beanstanden. Die sich mit der Konzeptverantwortung ergebenden AGB-rechtlichen Themenkomplexe (im Zusammenhang mit der Einbeziehungsregelung des § 305 Abs. 1 BGB; den Regelungen und den Rechtsgedanken aus § 309 Nr. 5 bzw. 309 Nr. 12 i.V.m. § 307 Abs. 1 BGB; oder auch die Thematik des Transparenzgebots nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB und mögliche Verstöße gegen grundlegende Prinzipien des Schadensersatzrechts) sind entsprechend bereits vorgetragen16 und hier ist nicht der Ort, um die unterschiedlichen Auffassungen dogmatisch weiter zu zergliedern. Ob die Vorgehensweise zutreffend ist, Fragen der Angemessenheit und Transparenz ausschließlich anhand der konkreten KVV, die zwischen VW und den Zulieferern als eine vertragliche Vereinbarung abgeschlossen wird, zu beantworten – ein Kritikpunkt von Helmig17 –, mag die Praxis später beurteilen. Helmig steht jedenfalls auf dem Standpunkt, dass die bloße Betrachtung der KVV als sog. „selbstständige Vereinbarung“ zu kurz greife. Man könne die KVV nur verstehen, beurteilen und in ihren Auswirkungen bewerten, wenn man den Bezug zur verzahnten gegenseitigen Abhängigkeit zwischen OEM (Original Equipment Manufacturer = Fahrzeughersteller) und Zulieferern im Rahmen der gesamten Zuliefererkette herstellt und den Stellenwert der KVV im gesamten Vertragsgefüge zwischen VW und den Zulieferern bewertet. Helmig kommt nach umfassender Darstellung der Zuliefererbeziehung anhand einiger Beispiele aus der Praxis zu dem Ergebnis, dass die KVV mit den Wertungen vor allem über die angemessene Transparenz kollidieren würde. Ich möchte mich mit den einzelnen Argumenten an dieser Stelle nicht vertiefend beschäftigen, weise aber ergänzend darauf hin, dass bei vertraglichen Konglomeraten nicht stets das gesamte Vertragswerk unwirksam ist, wenn einzelne Teilbereiche für unwirksam gehalten werden. Ausdrücklich lautet § 306 Abs. 1 BGB: Sind Allgemeine Geschäftsbedingun-

___________

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Nickel/Schade, Konzept-Verantwortung in der Automobil-Industrie, VW 2009, 1100; vgl. auch Reusch, KVV – Vereinfachung oder Verschlechterung?, Quality Engineering 2007, 13; Grote/Seidel, Lieferantenhaftung, VW 2009, 756 (758); Just, Die Industrieversicherung geht am Bedarf der Zuliefererindustrie vorbei, VW 2010, 852. Helmig, PHi 2009, 30 ff. Nickel/Schade, VW 2009, 1100. Lenz (Fn. 10), 166 f. Helmig, PHi 2009, 30 ff.

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gen ganz oder teilweise nicht Vertragsbestandteil geworden oder unwirksam, bleibt der Vertrag – und dies ist AGB-rechtlich bekannt – im Übrigen wirksam. Da aber Rechtsprechung zu diesem Problem nicht vorliegt und auch in absehbarer Zeit aus meiner Sicht nicht zu erwarten ist, möchte ich dieses „Scheingefecht“ nicht weiterführen.

IV. Das sog. „Referenzmarktverfahren“ Wiederum betroffen ist die Gewährleistungsabwicklung und die möglicherweise weitergehend pauschalierte Abwicklung von Mängelhaftungsansprüchen in der Automobilindustrie. Endhersteller und Zulieferer sind in mannigfaltigerweise mit Rückabwicklungen und Rücklieferungen von notwendig gewordenen Austauschteilen konfrontiert. Typischerweise müsste der Endhersteller nach der gesetzlichen Ausgangslage im Falle von Mängelhaftungsansprüchen das Vorliegen des Sachmangels im Sinne des § 434 BGB – und damit die Abweichung des Istzustands von der Sollbeschaffenheit – nachweisen. Im Zweifel müsste der Endhersteller also, wenn bei einem Fahrzeug ein Teil innerhalb der Sachmängelhaftungsfrist ausfällt, dieses Teil – im Falle des Bestreitens des Sachmangels durch den Zulieferer – dem Zulieferer zeigen oder aber – im Falle eines Prozesses – dieses Teil sogar schlimmstenfalls am Ort der Verhandlung (je nach Umständen) vorlegen. Dies alles ist unproblematisch, wenn beispielsweise der Verbraucher das geschädigte Blitzlicht am Fotoapparat zum Händler bringt und ihm anzeigt, dass der Apparat nicht ordnungsgemäß funktioniert. Der historische Gesetzgeber mag diese Sachverhalte als Leitbild für die Formulierung auch im Auge gehabt haben. Bei weltweitem Vertrieb aber gestaltet sich – auch für den OEM – die Darlegungs- und Beweislast wesentlich schwieriger. Andererseits bestehen aber die vertraglichen Grundlagen nach wie vor. Insbesondere auch Versicherer haben – etwa wenn sie Mangelbeseitigungsnebenkosten versichern o.Ä. – ein absolut berechtigtes Interesse vor allem daran, Nachweise über die vorliegende Mangelhaftigkeit zu erhalten und bestehen deshalb in der Regel auch auf entsprechende Nachweise. Was ist nun ein sog. „Referenzmarkt“? Gesetzliche Kategorien fehlen. Der Referenzmarkt wird daher in vertraglichen Regelungen zwischen den Vertragsparteien von vornherein festgelegt. Inhalt der Festlegung ist die Thematik, aus welchem Markt Rücksendepflichten entstehen sollen. In der Regel finden sich Vereinbarungen, dass alle anfallenden Ausfallteile aus dem Referenzmarkt – ob mit oder ohne Voranalyse – dem Zulieferanten zur Verfügung gestellt werden. Man muss sich das Ganze wie folgt vorstellen: Unterstellt, man habe ein bestimmtes Zuliefererprodukt in einem Endprodukt weltweit vertrieben und es ist weltweit zu Ausfällen gekommen, dann gehen die Vertragsparteien – abweichend von den ursprünglichen Notwendigkeiten – davon ab, die weltweiten Ausfälle zurückzuführen und die Parteien der Zuliefererbeziehung vereinbaren stattdessen einen Referenzmarkt als „sendepflichtigen Markt“. Dieser ist ein konkreter Ausschnitt aus dem weltweiten Ausfallmarkt. Der Sinn der Vereinbarung eines sog. „Referenzmarkts“ dürfte klar sein: Zum einen dient sie dazu, unnötig erscheinende Analysen dadurch zu vermeiden, dass man diese nicht mehr an einer Vielzahl von Ausfallteilen oder gar an allen durchführt, sondern eben nur an einer 866

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„Teilmenge“. Es gilt insbesondere, den mit der Rückführung von weltweiten Ausfallteilen verbundenen Aufwand zu minimieren und die Kosten zu senken. Es geht also wiederum darum, die Abwicklung im Falle von Sachmängelhaftungsansprüchen zu vereinfachen, Kosten zu sparen und praktisch mit Pauschalen oder Quoten zu agieren. Dabei werden verschiedene Abrechnungsmethoden – soweit ersichtlich – verwendet. Zum einen bekannt sind Gewährleistungsabwicklungen mit sog. Anerkennungsquoten oder aber auch Abrechnungsmodelle mit Analysen aus einem definierten Markt (sog. „Weltmarktfaktor“). Bei der Abwicklung mit Anerkennungsquoten wird nach wie vor jeder Feldausfall weltweit in einem zentralen System erfasst, wobei vertraglich unterschiedlich geregelt ist, ob diese Erfassung dem Endhersteller obliegt oder ob diese die Vertragshändler durchführen. Stellt man Feldausfälle fest, erhält der Zulieferer eine Stichprobe, eine bestimmte Anzahl von Teilen pro Modelljahr aus einem bestimmten Land. Allein aus dieser Stichprobe soll der Zulieferant bzw. dessen Haftpflichtversicherer dann den Ausfall insgesamt anerkennen. Dann lässt dieses – wohl gemeinsam – getroffene Analyseergebnis eine sog. Anerkennungsquote zu, die dann zulasten des Zulieferers berechnet wird. Die weltweite Feldausfallmenge und die Anerkennungsquote werden dabei in ein Verhältnis gesetzt. Wenn das Abrechnungsmodell „definierter Markt“ vereinbart wird, ist dieses gekennzeichnet durch eine Analyse aus dem vereinbarten und dem definierten Markt. Dem Zulieferer wird eine bestimmte Prozentzahl von Feldausfällen von dem weltweiten Markt zur Verfügung gestellt. Der Zulieferer soll dann die Feldausfälle analysieren und gegebenenfalls den Mangel anerkennen. Jetzt geht es bei der konkreten Berechnung der Gewährleistungskosten wiederum um die Anzahl der Zuliefererprodukte, die die Basis für die Hochrechnung der zu zahlenden Feldausfälle weltweit sind. Der wiederum zugrunde zu legende Faktor zur Hochrechnung der Feldausfälle ergibt sich aus dem Verhältnis des vereinbarten Referenzmarkts zu den sonstigen Märkten. Es sei an dieser Stelle nur erwähnt, dass die konkreten Ausgestaltungen – immer unterstellt, es handelt sich auch hier um AGB – wiederum rechtlich nicht gänzlich unproblematisch erscheinen (Stichwort: Inhaltskontrolle) und den Zulieferer in gewisser Weise erheblich belasten können und – bedingt durch den pauschalierenden Ansatz – im Einzelfall den Zulieferer sogar unangemessen benachteiligen können. Aber gerade das ist die Natur von Pauschalierungen, Prozentvereinbarungen und Quotenbildungen: Diese sind nicht immer dann unwirksam, nur weil sie im konkreten Einzelfall von der gesetzlichen Lage abweichen. Rechtsprechung zu diesem Komplex ist nicht ergangen und auch in der Literatur finden sich dazu noch keine erwähnenswerten Hinweise.

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V. Die versicherungsrechtlichen Konsequenzen auf die Pauschalierungsnovationen 1. Anfängliche Skepsis der Versicherungswirtschaft Zu Beginn der Einführung der Konzeptverantwortung standen einzelne Versicherer der Übernahme des KVV-Risikos skeptisch gegenüber. Bisweilen erhielten die Zulieferer ablehnende Stellungnahmen ihrer Versicherer, in denen die Auffassung übermittelt wurde, dass die konkreten, jeweils geprüften Konzeptverantwortungsvereinbarungen „deckungsschädlich“ seien, da sie die gesetzliche Haftungslage unangemessen erweitern würden. Die Begründungen einzelner Versicherer waren dahingehend ähnlich, dass man zwar die vom Endhersteller erwünschte Wirkung von Rationalisierungen bei der Geschäftsabwicklung und die Beschleunigung der Schadensregulierung durchaus nachvollziehen könne, es aber wohl dem Endhersteller – jedenfalls im Einzelfall – auch um die Umverteilung der Mangel- bzw. Garantiekosten gehen würde und auch z.B. um sog. Kulanz- und Garantiekosten, für die bekanntlich im Rahmen der Haftpflichtversicherung kein Versicherungsschutz gewährt werden kann. Zumindest was die erste Version (Anfang 2006) anging, sah man auch die Einordnung des Zulieferers in eine der drei möglichen Kategorien (90%, 30%–70%, 10%) als eine „unter Umständen“ jedenfalls vertragliche „Haftungserschwerung“, die die Haftung des Versicherungsnehmers über das gesetzliche Maß hinaus erweitern könnte. Man stufte die vertragliche Vereinbarung einer Verantwortungsfixierung grundsätzlich als haftungserweiternd auf der Rechtsfolgenseite ein. Die Argumente liefen alle darauf hinaus, dass eine prozentuale – also eine pauschalierte – Haftungsverteilung nicht akzeptabel und deckungsschädlich sei. An Zulieferer wurden diese Aspekte unter Umständen auch vertiefend dahingehend übermittelt, dass die Haftung zwar auch verringert werden könnte, aber eben im Einzelfall auch eine Erweiterung zu befürchten sei. Bisweilen wurde unter Berufung auf die Regelung des § 307 BGB und unter Zitation einschlägiger Rechtsprechung zum Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen18 von Versichererseite vertieft ausgeführt, dass der Abschluss der KVV für deckungsschädlich gehalten werde. 200819 habe ich darauf hingewiesen, dass es auf der Hand liege, dass Versicherer der Konzeptverantwortungsvereinbarung gegenüber durchaus zu Recht zunächst einmal skeptisch gegenüber stehen durften. Dabei ging es nicht nur um den Fall, in dem die vertraglich vereinbarte KV-Quote weiter ging als die gesetzliche Haftpflicht im Ergebnis (bei nicht pauschalierter Betrachtung) tatsächlich gehen würde; ein Fall also, in dem der Lieferant dann definitiv eine Lücke hätte zwischen der Inanspruchnahme durch den Endhersteller und der ihn sichernden Haftpflichtdeckung. Denn auf den Zulieferer kommen – insbesondere bei Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen vertraglicher und gesetzlicher Haftung und den – lediglich gedeckten – gesetzlichen Haftpflichtbestimmungen naturgemäß höhere Risiken aufgrund der vertraglichen KVV zu und sei es auch „nur“ unter dem Gesichtspunkt der Beweislast im Deckungsverhältnis. Seinerzeit hatte ich empfohlen, der Zulieferer sollte vor

___________ 18 BGH v. 23.4.1991 – XI ZR 128/90, NJW 1991, 1886 (1887). 19 Lenz, PHi 2008, 164.

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Abschluss einer KVV seinen Makler und/oder seinen Versicherer zu etwaig bestehenden Risiken befragen und versuchen, etwaig erkennbare Deckungslücken – gegen höhere Prämien – zu schließen. Entsprechende Arbeitskreise haben sich konstituiert, um Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Die Schwierigkeiten für Versicherer liegen auf der Hand: Neue vertragliche Vereinbarungen im Zulieferervertrag erfordern kreative, notwendig neue Lösungen auch auf dem Versicherungsmarkt. Einige äußerst versiert agierende Versicherungsmakler haben inzwischen schon in Abstimmung mit Experten der Versicherungsbranche Modelle aufgelegt, die – mehr oder weniger verhandelbar – dann im Versicherungsvertrag vereinbart werden können, eine Entwicklung, die Schule machen sollte. Pauschalierungen, Festsetzungen von Abwicklungsquoten oder Abwicklungsprozentzahlen bergen Risiken, mag man die einzelnen Vereinbarungen eher für rechtlich wirksam oder unwirksam, für transparent oder unangemessen halten. Trotzdem kann sich die Versicherungsbranche diesen Novationen nicht entziehen, und ich meine, dies sei auch nicht notwendig. Denn würde ein mit der Wirksamkeit von Konzeptverantwortungsvereinbarungen befasstes Gericht zu der Entscheidung gelangen, diese oder aber zumindest Teile davon seien AGB-rechtlich oder aus sonstigen Gründen unwirksam, hätten die Versicherer keinerlei Nachteile zu erwarten, da die Haftung der Versicherungsnehmer – der Zulieferer – dann nach den gesetzlichen Vorgaben zu beurteilen wären. Der Zulieferer trägt das Risiko und dieser ist Kunde. Für diesen muss sich der Versicherer im eigenen Interesse bemühen. Aber auch für den Fall, dass die Wirksamkeit von Konzeptverantwortungsvereinbarungen und Referenzmarktverfahren gerichtlich bestätigt würde, wären die Risiken für die Versicherer, die insoweit den Versicherungsnehmern – Zulieferern – jedenfalls teilweise Deckung bieten wollen, überschaubar. Die Branche hat dementsprechend auch reagiert und Deckungsmöglichkeiten vorgelegt, die ich nachfolgend nicht abschließend kommentieren, sondern (auszugsweise) lediglich darstellen möchte: Dabei weise ich darauf hin, dass es sich um Klauseln handelt, die exzellent agierende Makler und Industrieversicherer für ihre Kunden erarbeitet haben. 2. Einzelne die KVV einbeziehende Versicherungsklauseln a) Als Unterfall der sog. Aus- und Einbaukostenklausel (Ziff. 4.4 des Produkthaftpflicht-Modells in der Fassung von August 2008): „Ausschließlich für Austauschkosten im Rahmen und Umfang von Ziff. … (Aus- und Einbaukosten außerhalb der Gefahrenabwehr) besteht auch dann Versicherungsschutz, wenn die auf Sachmängeln beruhenden Schadenersatzansprüche Dritter aufgrund der dem Versicherer vorliegenden Konzeptverantwortungsvereinbarung (Vereinbarung über die Verteilung der Verantwortlichkeit für ausschließlich konzept- bzw. entwicklungsbedingte Sachmängel) Stand (Datum) für – Produkt/Bauteil/Modul – festgeschriebenen Konzeptfehlerquote (KV-Quote) vom gesetzlichen Umfang abweicht. Vorbezeichnete Deckungserweiterung erstreckt sich nicht auf Regelungen zur Ermittlung eines technischen Faktors (TF), auch wenn die KV-Quote in die Berechnung des technischen Faktors Eingang findet. …“

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b) Wiederum Aus- und Einbaukostenklausel in der erweiterten Produkthaftpflicht: „Eingeschlossen ist – abweichend von § 4 I 1 AHB (Ziff. 7.3 AHB neu) – die vom Versicherungsnehmer … durch die Konzeptverantwortungsvereinbarung (KVV) mit dem Volkswagenkonzern, Stand (Datum) vom … vertraglich übernommene Verpflichtung zur Regulierung von Ansprüchen wegen der Lieferung mangelhafter Erzeugnisse entsprechend der vereinbarten Quote. Während des Versicherungsjahres neu hinzu kommende KVV mit anderen Abnehmern innerhalb des … Konzerns sind mitversichert, wenn sie inhaltlich der oben genannten KVV qualitativ entsprechen und zu Beginn eines jeden Versicherungsjahres dem Versicherer schriftlich mitgeteilt werden. Die Ausdehnung bestehender KVV (KVV-Quotenvereinbarung) auf neue Erzeugnisse/ Quoten ist mitversichert und ist dem Versicherer zu Beginn eines jeden Versicherungsjahres schriftlich mitzuteilen. Der Umfang des Versicherungsschutzes ist auf den Ersatz von Kosten der Ziff. … („Einund Ausbaukosten“) beschränkt. Kein Versicherungsschutz besteht für folgende Kostenarten, auch wenn die KVV hierfür einen Anspruch gegen den Versicherungsnehmer vorsieht: – Kosten wegen Prozessfehlern; Prozessfehler sind im Gegensatz zu Konzeptfehlern z.B. der fehlerhafte Einbau, die fehlerhafte Fertigung oder die fehlerhafte Programmierung; – Kosten für Fehler, deren Ursache nicht eindeutig feststellbar ist, („trouble not found“-Quote“); – Folgekosten jeglicher Art sowie Kosten im Rahmen von Kulanzregelungen; – Kosten, die im Rahmen von „Aktionen“ anfallen; Aktionen sind z.B. vom Abnehmer (Kfz-Hersteller) initiierte Vorfeldaktionen, Werkstattaktionen bei technischen Mängeln sowie offene oder stille Rückrufe, die eine Vielzahl von Produkten oder Fahrzeugen betreffen. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen des Versicherungsschutzes aus dieser Ziffer … obliegt dem Versicherungsnehmer.

c) Eine weitere, die KVV berücksichtigende Versicherungsklausel könnte lauten: „Abweichend von § 4 I 1 AHB (Ziffer 7.3 AHB neu) besteht im Rahmen und Umfang der Ziffer … (Aus- und Einbaukosten) auch dann Versicherungsschutz, wenn die vom Versicherungsnehmer durch die Rahmenvereinbarung zur Konzeptverantwortung vom – Datum – vertraglich festgelegte KV-Quote von der gesetzlichen Haftungsquote abweicht. Der Versicherer erkennt die im Folgenden genannten und vertraglich festgelegten KVQuoten für folgende Bauteile als Schadenregulierungsgrundlage an: FS-/GS-Nummer

Volkswagen Teile-Nummer

KV-Quote in%

Basis der Schadenregulierungsgrundlage ist die vorgenannte KV-Quote, nicht der technische Faktor, in dessen Berechnung die KV-Quote einfließt.

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Versicherungsrechtliche Auswirkungen Kein Versicherungsschutz besteht für Kosten für Fehler, deren Ursache nicht eindeutig feststellbar ist oder die Ursache nicht gefunden wurde („Trouble not found“/“kein Fehler feststellbar“ (kFf)). Der Versicherungsnehmer hat im konkreten Schadenfall den Nachweis zu erbringen, dass es sich um Bauteile handelt, die unter die getroffene Rahmenvereinbarung zur Konzeptverantwortung fallen und ist verpflichtet, dem Versicherer die Ergebnisse der Analyse zwischen dem Endhersteller des Kfz und dem Versicherungsnehmer zu übersenden. Auch die darauf basierende Bildung des Technischen Faktors ist dem Versicherer nachvollziehbar zu erläutern. Die Deckungssumme und Selbstbeteilung für diese Ziffer … ist der Vertragsübersicht zu entnehmen.

3. Deckungsrechtliche Klausel zum Referenzmarktverfahren Eine mögliche Klausel zur Deckung des Referenzmarktverfahrens könnte für die gemäß der Ziff. 4.2 bis 4.4 in der erweiterten Produkthaftpflichtversicherung bzw. in der Rückrufkostenversicherung angebotene Vertragshaftung lauten: „… besteht Versicherungsschutz auch dann, wenn diese durch den Anspruchsteller auf Basis eines vertraglich zwischen dem Versicherungsnehmer und dem Abnehmer vereinbarten folgenden Abrechnungsverfahren geltend gemacht werden: – Referenzmarktverfahren – Quotenverfahren – Weltmarktfaktorverfahren Auch ohne Nachweis der tatsächlich entstandenen Gesamtaufwendungen werden die versicherten Kosten erstattet, wenn – die vertragliche Vereinbarung vor Unterzeichnung dem Versicherer vorgelegt und von diesem akzeptiert wurde; – die Verantwortlichkeit des VN für den entstandenen Schaden dargelegt wurde; – die geltend gemachten Kosten bzw. Pauschalen durch den Anspruchsteller dem Versicherer nachgewiesen und nachvollziehbar gemacht wurden; – der Anspruchsteller den Nachweis der verkauften Stückzahl und des Rückrufes/Austausches weltweit erbracht hat; – die sendepflichtigen Märkte repräsentativ sind und in diesen mindestens 50% der weltweit verkaufen Stückzahlen ausgeliefert wurden; Das Sublimit für Schäden an den vorgenannten Vertragsbedingungen beträgt … Euro; der Selbstbehalt beträgt … Euro.

VI. Fazit Natürlich werden sich Fragen aufdrängen: Was bedeuten die Begriffe „Konzeptfehler“ oder „KV-Quote“? Was muss ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer bei der Formulierung, dass sich die vorbezeichnete Deckungserweiterung „nicht auf Regelungen zur Ermittlung eines technischen Faktors (TF) bezieht“, verstehen? Muss der „technische Faktor“ nicht definiert werden? Reicht es aus, wenn sich der Versicherer gegenüber dem Versicherungsnehmer das Recht vorbehält, die Bildung des technischen Faktors erläutert zu erhalten? Reicht es wirklich aus, allgemeine Formulierungen zu finden oder 871

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sind die Versicherer nicht gut beraten, die im Einzelnen akzeptierten vertraglich festgelegten Quoten, die jeweils konkreten Bauteile zur Deckungsgrundlage zu machen? Möglicherweise sind Ausschlüsse dahingehend, dass kein Versicherungsschutz für Kosten bzw. Fehler, deren Ursache nicht eindeutig feststellbar ist oder deren Ursache nicht gefunden wurde, nicht einmal notwendig. Klarstellungen schaden aber nur selten. Und welche Informationen kann der Versicherer erlangen, um zu erkennen, dass die vertraglich festgesetzte KV-Quote nicht allzu orbitant von der gesetzlichen Haftungsquote abweicht? Hat der Versicherer ein Recht auf Überlassung der Analyse? Die Schwierigkeit der Versicherungswirtschaft im Umgang mit derartigen Klauseln oder Formeln liegt auf der Hand, gänzlich ungeachtet AGB-rechtlicher Themen. Erfreulich schnell und unkompliziert und mit hohem ExpertenKnow-how, begleitet von exzellentem Fachwissen einschlägiger IndustrieVersicherungsmakler, haben sich – wie gezeigt – inzwischen verschiedene Modelle entwickelt, die – jedes für sich betrachtet – Vor- und Nachteile haben können. Was die Ausgangslage der übernommenen – möglichen zusätzlichen – vertraglichen Haftungserweiterung angeht, dürfte das Risiko in praktischer Hinsicht für den Zulieferer und aber auch für Versicherer überschaubar sein. Was die Konzeptverantwortungsvereinbarung angeht, veröffentlichen Zuliefererverbände die Tendenz, dass einige Zulieferer sich nach wie vor zieren (und damit durchsetzen können), entsprechende Vereinbarungen abzuschließen. Kleinere Unternehmen im Zuliefererbereich, die sich hingegen aus kaufmännischen Erwägungen heraus ohnehin nicht gegen den OEM durchsetzen und eine andere Entscheidung fällen können, als die Inhalte mehr oder weniger „ausverhandelt“ zu akzeptieren, dürften mit den jetzt vorliegenden oder im Einzelfall zu verhandelnden Versicherungsangeboten ebenfalls bestens zurecht kommen. Dies ist jedenfalls die Verlautbarung einschlägiger Zuliefererverbände. In einschlägigen Anwalts- und Beraterkreisen herrscht jedenfalls seit einiger Zeit die Auffassung, dass die Inhalte der Konzeptverantwortungsvereinbarung – jedenfalls bis jetzt – nicht zu ernsthaften Problemen oder gar zu verschärften Inanspruchnahmen von Zulieferern geführt hätten. Das Risiko ist damit für den Zulieferer und erst recht für die Versicherungswirtschaft überschaubar. Wenig an Informationen erhalten anwaltliche Berater im Markt über das sog. Referenzmarktverfahren. Es scheint, dass die mit dem sog. Referenzmarktverfahren vorgenommenen Pauschalierungen den Zulieferer wohl eher weniger belasten. Ernsthafte Probleme im Zusammenhang mit den sich daraus ergebenden vereinfachten stichprobenartig bezogenen Ermittlungen etc. scheinen den Zulieferern derzeit keine „Kopfschmerzen“ zu bereiten. Dennoch gilt auch hier bereits die Idee, entsprechende Novationen zu versichern, und damit auch Versicherer vor neue Herausforderungen zu stellen. Auch hier sind die von ausgewiesenen Maklern vorformulierten Vorschläge von entscheidendem Wert. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, wenn renommierte Versicherungsmakler, Versicherer und Verbände zusammenwirken, um sich den nicht

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Versicherungsrechtliche Auswirkungen

mehr hinwegdenkbaren Pauschalierungs- und Quotierungsnovationen zu stellen und den sich daraus ergebenden Herausforderungen gerecht zu werden. Richter werden sich von dieser Einschätzung nicht beeindrucken lassen, sodass naturgemäß bei der Umschreibung der einzelnen Klauseln und bei der Wahl der Formulierungen im Einzelfall das Damoklesschwert des AGBRechts auch über diesen Regelungen schwebt.

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Zur Schiedsklausel in der GmbH-Satzung Zulässigkeitsvoraussetzungen und Gestaltungsempfehlungen

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Allgemeine Grundsätze zur Schiedsklausel und zum Schiedsverfahren 1. Grundsätzliche Voraussetzungen der Schiedsfähigkeit 2. Formale Anforderungen 3. Wirkung des Schiedsspruchs und Nebenintervention III. Zu den Besonderheiten von Beschlussmängelstreitigkeiten bei der GmbH 1. Besondere Klagearten a) Nichtigkeitsklage b) Anfechtungsklage c) Positive Beschlussfeststellungsklage 2. Einbeziehung der Mitgesellschafter 3. Klagefrist IV. Entwicklung und Stand der Beurteilung der „Schiedsfähigkeit“ von Beschlussmängelstreitigkeiten 1. Stand bis zur Reform des Schiedsverfahrensrechts a) Allgemeiner Stand: Fehlende Schiedsfähigkeit

b) Die BGH-Entscheidung vom 29.3.1996 2. Die Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts zum 1.1.1998 a) Inhalt der Neuregelung b) Die weitere Entwicklung 3. Die BGH-Entscheidung vom 6.4.2009 V. Analyse des gegenwärtigen Standes und Konsequenzen für die Vertragsgestaltung 1. Die konkreten Vorgaben des Bundesgerichtshofs a) Zustimmung aller Gesellschafter b) Information aller Gesellschafter und Ermöglichung ihrer Teilnahme c) Mitwirkung an Auswahl und Bestellung der Schiedsrichter d) Konzentrationswirkung des Verfahrens 2. Geltung für Rechtsnachfolger 3. Berücksichtigung der Anfechtungsfrist 4. Anpassung bestehender Schiedsklauseln

I. Einleitung Das Schiedsverfahren als Alternative zum Verfahren vor den ordentlichen Gerichten hat in gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen erhebliche praktische Bedeutung. Dabei liegt es in der Natur der Sache (fehlende Öffentlichkeit und teilweise sogar Regelungen zur Verschwiegenheitsverpflichtung), dass offizielle Statistiken mit detaillierten Angaben nicht existieren. Immerhin liegen Schätzungen vor, nach denen ein Drittel aller in Deutschland verhandelten Schiedsverfahren einen gesellschaftsrechtlichen Hintergrund ha-

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ben1. Der Verfasser kann aus eigener Erfahrung und aus vielfältigen Erfahrungen im unmittelbaren Kollegenkreis bestätigen, dass in Gesellschafterkonflikten (und zwar auch bereits im vorhinein bei der Diskussion über den Satzungsinhalt) der Wunsch nach einem Schiedsverfahren bei den Beteiligten besonders ausgeprägt ist. Dies gilt nicht nur in Konzernverhältnissen oder bei internationalen gesellschaftsrechtlichen Verflechtungen, sondern – sogar in besonderem Maße – bei personalistisch geprägten, mittelständischen Gesellschaften oder Familienunternehmen. Folgende Vorteile, die in gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten besonders relevant sein können, sprechen dabei für ein Schiedsgericht: – Nicht öffentliches Verfahren: Die fehlende Öffentlichkeit hat große Bedeutung in Gesellschafterkonflikten, in denen „Interna“ des Unternehmens – bis hin zu familiären Streitigkeiten, die in die Gesellschaft hineinreichen – eine besondere Rolle spielen. – Fachliche Kompetenz des Schiedsgerichts: In den Augen vieler Gesellschafter erscheint es vorzugswürdig, selbst Einfluss auf die Zusammensetzung des Gerichts nehmen zu können. Dies begründet sich daraus, dass für Gesellschafterkonflikte oft wirtschaftlicher Sachverstand (z.B. bei Streitigkeiten über bilanzielle Fragen, über die Angemessenheit bestimmter Rechtsgeschäfte oder über die Qualifikation von Geschäftsführern) verlangt wird, der – nach landläufiger Ansicht – bei einem ordentlichen Gericht nicht als ausreichend vorhanden angesehen wird. – Schnelligkeit des Verfahrens: Ein Schiedsgericht kann sehr zügig entscheiden. Vor allem ist eine Entscheidung mangels weiterer Instanzen – vorbehaltlich des Aufhebungsverfahrens gemäß § 1059 ZPO – sehr schnell verbindlich. Diesen Vorteilen stehen allerdings auch Nachteile gegenüber, die sich oft erst im konkreten Verfahren ergeben, die in der (vorbeugenden) Beratung jedoch nicht übersehen werden sollten: – Der „Preis“ für die zeitliche Straffung durch fehlende Instanzen ist (auch hier wieder: abgesehen vom Aufhebungsverfahren gemäß § 1059 ZPO, welches jedoch auf besondere Umstände beschränkt ist) die fehlende Überprüfung des Schiedsspruchs durch ein weiteres Gericht und damit eine nur sehr eingeschränkte staatliche Kontrolle; dies wird regelmäßig der im Schiedsverfahren unterliegenden Partei schmerzlich bewusst. – Die Dispositionsbefugnis der Parteien zur Zusammensetzung des Schiedsgerichts geht oft mit einer erheblichen Dauer bis zur Konstituierung des Gerichts einher. Angesichts des oft mehrstufigen Verfahrens zur Auswahl eines mehrköpfigen Gremiums und bis zur Einigung über die Regelungen für die Schiedsrichter können Monate vergehen, bis das eingeleitete Verfahren beginnt. Dies gilt in besonderer Weise bei gesellschaftsrechtlichen Verfahren, an denen – oft zwingend (dazu unten) – mehrere Parteien beteiligt sind. Hinzu kommt, dass das Schiedsgericht aufgrund der Benennung

___________ 1 Bayer, ZIP 2003, 881; vgl. auch allgemein zur Bedeutung in Wirtschaftsstreitverfahren: Schneider, GmbHR 2005, 86.

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und Verpflichtung durch die Parteien nur auf schuldrechtlicher Grundlage und nicht hoheitlich tätig wird; dies kann sich für bestimmte Verfahrensmaßnahmen (z.B. Beweisaufnahme und Verpflichtung von Zeugen) nachteilig auswirken. – Ein oft übersehener Nachteil ist der Kostenfaktor: Da die regelmäßig komplexen gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten eine anwaltliche Vertretung auch im Schiedsverfahren praktisch immer erforderlich machen, tritt – trotz fehlenden gesetzlichen Anwaltszwangs – insofern keine Kostenersparnis ein; andererseits ist die Vergütung für das Schiedsgremium selbst immer deutlich höher als die Gerichtsgebühr zum gleichen Streitgegenstand vor einem ordentlichen Gericht. Zusammenfassend bleibt es bei der – sehr allgemeinen, aber gleichwohl richtigen – Erkenntnis, dass das Für und Wider in jedem Einzelfall und abhängig von den besonderen Umständen sehr genau abgewogen werden muss. Nach den Erfahrungen des Verfassers ist die Vermeidung der Öffentlichkeit oft das wichtigstes Argument, welches in gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten für die Wahl eines Schiedsgerichts spricht.

II. Allgemeine Grundsätze zur Schiedsklausel und zum Schiedsverfahren 1. Grundsätzliche Voraussetzungen der Schiedsfähigkeit Die grundsätzliche Schiedsfähigkeit gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten war bereits nach dem alten – bis 1997 geltenden – Schiedsverfahrensrecht anerkannt2. Seit dem Inkrafttreten des Schiedsverfahrensneuregelungsgesetzes vom 22.12.19973 gilt dies erst Recht. Es ist nahezu einhellige Auffassung, dass auch ein gesellschaftsrechtliches Leistungs-, Feststellungs- oder Gestaltungsbegehren ein „vermögensrechtlicher Anspruch“ im Sinne von § 1030 Abs. 1 Satz 1 ZPO n.F. ist und damit zulässigerweise Gegenstand einer Schiedsvereinbarung sein kann4. Das Kernproblem der Schiedsklausel in der Satzung der GmbH besteht also nicht in der grundsätzlichen Zulässigkeit, sondern speziell in der Anwendung auf die GmbH-spezifischen Beschlussmängelstreitigkeiten; diese Frage ist Gegenstand der Ausführungen unter Abschnitt IV. Die maßgebenden Kriterien für die Beurteilung dieser Frage sind die allgemeinen Voraussetzungen, die an die Zulässigkeit einer Schiedsklausel zu knüpfen sind: Nach altem wie nach neuem Recht ist die Schiedsvereinbarung ein Pro-

___________ 2 Vgl. etwa Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1991, § 61 GmbHG Rz. 36 zum Streit bei Auflösung der GmbH. 3 BGBl. I 1997, 3224, in Kraft getreten zum 1.1.1998. 4 So im Ergebnis: BGH v. 10.5.2001 – III ZR 262/60, NJW 2001, 2170; BGH v. 6.4.2009 – II ZR 255/08, GmbHR 2009, 705 – „Schiedsfähigkeit II“; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl., Anhang zu § 47 GmbHG Rz. 96 m.w.N.; Geimer in Zöller, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 1030 ZPO Rz. 9 ff.; K. Schmidt, BB 2001, 1857 (1858); Bayer, ZIP 2003, 881; Schneider, GmbHR 2005, 86.

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zessvertrag5. Dessen materiell-rechtliche Gültigkeitsgrenzen ergeben sich aus § 138 BGB. Danach ist die Schiedsvereinbarung nichtig, wenn sie eine übermäßige Einschränkung des Rechtsschutzes zum Gegenstand hat. Dies wiederum ist der Fall, wenn sie einem von der Wirkung des Schiedsspruchs Betroffenen (also nicht unbedingt nur einer direkt beteiligten Verfahrenspartei!) den notwendigen Rechtsschutz entzieht6. 2. Formale Anforderungen Gemäß § 1031 ZPO (in der seit dem 1.1.1998 geltenden Fassung) muss die Schiedsvereinbarung in einem „von den Parteien unterzeichneten Dokument oder in zwischen ihnen gewechselten Schreiben, Fernkopien, Telegrammen oder anderen Formen der Nachrichtenübermittlung, die einen Nachweis der Vereinbarung sicherstellen, enthalten sein“. Es bedarf also der klassischen Schriftform oder einer sonstigen dokumentierten Form moderner Nachrichtenmittel7. Zu berücksichtigen ist dabei, dass nach immer noch weit überwiegender Auffassung die Schiedsklausel in der Satzung einer Körperschaft (also auch bei der GmbH) als „nicht auf Vereinbarung beruhende Verfügung“ im Sinne von § 1066 ZPO gilt8. Jedenfalls besteht Einvernehmen darüber, dass bei Aufnahme einer Schiedsklausel in der Satzung der GmbH der Form genüge getan ist und es nicht einer zusätzlichen Vereinbarung gemäß § 1031 ZPO bedarf9. 3. Wirkung des Schiedsspruchs und Nebenintervention Eine – für die hier erörterten Fragen relevante – Besonderheit des Schiedsverfahrens ergibt sich daraus, dass gemäß § 1055 ZPO n.F. (wortgleich mit § 1040 ZPO a.F.) der Schiedsspruch nur zwischen den Parteien des Schiedsverfahrens wirkt. Eine automatische – d.h. ohne besondere Vereinbarungen – geltende Wirkung über die direkt Beteiligten (Schiedsparteien) hinaus, wie sie das Gestaltungsurteil eines ordentlichen Gerichts entfalten kann, kommt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur für das Verfahren vor staatlichen Gerichten in Betracht10. Von den vorstehenden Feststellungen unberührt bleibt die – herkömmlich bereits bejahte – Bindungswirkung des Schiedsspruchs für den Rechtsnachfolger einer Schiedspartei11 oder die Bindung für

___________ 5 BGH v. 3.12.1986 – II ZR 80/85, BGHZ 99, 143 (147); BGH v. 6.4.2009 – II ZR 255/08, GmbHR 2009, 705 (707); ausführlich zur Übersicht: Geimer in Zöller, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 1029 ZPO Rz. 15 ff. 6 BGH v. 6.4.2009 – II ZR 255/08, GmbHR 2009, 705 (707). 7 Vgl. Geimer in Zöller, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 1031 ZPO Rz. 6 ff. 8 BGH v. 3.4.2000 – II ZR 373/98, NJW 2000, 1713; Geimer in Zöller, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 1066 ZPO Rz. 2; kritisch dazu vor dem Hintergrund der verbandsrechtlichen Normentheorie: K. Schmidt, BB 2001, 1857 (1862). 9 BGH v. 3.4.2000 – II ZR 373/98, NJW 2000, 1713; Geimer in Zöller, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 1066 ZPO Rz. 2; im Ergebnis auch: K. Schmidt, BB 2001, 1857 (1862); Bayer, ZIP 2003, 881 (821). 10 BGH v. 29.3.1996 – II ZR 124/95, ZIP 1996, 830 (833); so im Grundsatz auch: BGH v. 6.4.2009 – II ZR 255/08, GmbHR 2009, 705 (707). 11 Dazu unten Abschnitt V. Ziffer 2.

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Dritte (Nichtparteien), die sich vertraglich der Schiedsklausel unterwerfen12. Aus den vorstehenden Feststellungen folgt weiterhin, dass es eine Nebenintervention, also den Beitritt eines – nicht direkt als Partei beteiligten – Dritten im Schiedsverfahren grundsätzlich nicht gibt. Im Einverständnis aller Parteien kann jedoch eine Nebenintervention vereinbart werden13.

III. Zu den Besonderheiten von Beschlussmängelstreitigkeiten bei der GmbH 1. Besondere Klagearten Die eigentliche Problematik der Schiedsklausel bei Streitigkeiten im Zusammenhang mit der GmbH liegt nicht in der allgemeinen Frage der Schiedsfähigkeit gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten, sondern in den Besonderheiten der Klageverfahren und der Urteilswirkungen bei „Beschlussmängelklagen“ von GmbH-Gesellschaftern. Dies macht es erforderlich, zunächst auf diese Besonderheiten einzugehen: a) Nichtigkeitsklage Besonders schwerwiegende Mängel von Beschlüssen bei der GmbH führen zur Nichtigkeit des jeweiligen Beschlusses14. Die Nichtigkeit wird geltend gemacht durch Nichtigkeitsklage, analog § 249 Abs. 1 Satz 1 AktG15. Klagebefugt ist jeder Gesellschafter, unabhängig von seiner Teilnahme an der konkreten Beschlussfassung; Klagegegner ist die GmbH selbst (die Klage richtet sich also nicht gegen den oder die Mitgesellschafter)16. Die Klage zielt auf Feststellung der Nichtigkeit. Hat sie Erfolg, so wird durch Urteil festgestellt, dass der angegriffene Beschluss nichtig ist; die Feststellung gilt „inter omnes“, also nicht nur für die am Klageverfahren direkt beteiligten Parteien (klagender Gesellschafter und GmbH), sondern für alle Gesellschafter, Organe und Organmitglieder der betroffenen GmbH und im Außenverhältnis gegenüber allen Dritten17. Daneben kommt die Geltendmachung der Nichtigkeit auch durch „einfache“ Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO in Betracht. Für eine derartige Feststellungsklage fehlt jedoch das Feststellungsinteresse, wenn der Kläger zulässigerweise (als Gesellschafter) die spezielle Nichtigkeitsfeststel-

___________ 12 Dazu allgemein: Bayer, ZIP 2003, 881 (886) m.w.N. 13 Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008, Rz. 2826 ff.; für eine stillschweigend zugelassene Nebenintervention: OLG Stuttgart v. 16.7.2000 – I Sch 8/02, NJW-RR 2003, 495 (496). 14 Zur Überblick über die Nichtigkeitsgründe: K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 GmbHG Rz. 61 ff. 15 K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 GmbHG Rz. 45; Happ, Die GmbH im Prozess, 1997, § 19 Rz. 48. 16 BGH v. 14.12.1961 – II ZR 97/59, BGHZ 36, 207 (208); BGH v. 10.11.1980 – II ZR 51/80, NJW 1981, 1041; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 GmbHG Rz. 128 und Rz. 148. 17 BGH v. 13.10.2008 – II ZR 112/07, BGH GmbHR 2009, 39 (40); BGH v. 17.2.1997 – II ZR 41/96, BGHZ 134, 364 (366); Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, Anhang zu § 47 GmbHG Rz. 30; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 GmbHG Rz. 45.

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lungsklage analog § 249 AktG erheben könnte18. Der klagende GmbH-Gesellschafter ist also regelmäßig zur Geltendmachung der Nichtigkeit auf die spezielle Nichtigkeitsfeststellungsklage verwiesen. b) Anfechtungsklage Gesellschafterbeschlüsse bei der GmbH, die mangelhaft sind, jedoch nicht an einem zur Nichtigkeit führenden Mangel leiden, sind zunächst wirksam. Ihre Unwirksamkeit muss durch eine Gestaltungsklage in Form der Anfechtungsklage herbeigeführt werden; der BGH wendet hierauf in ständiger Rechtsprechung bei der GmbH die §§ 245 ff. AktG analog an (allerdings mit Abweichungen wegen Besonderheiten bei der GmbH)19. Zur Erhebung dieser Klage ist jeder Gesellschafter befugt. Sie ist darauf gerichtet, dass der angegriffene Beschluss „für nichtig erklärt wird“. Ein klagestattgebendes Urteil hat Gestaltungswirkung und bewirkt – wie auch die Feststellung der Nichtigkeit20 – die für alle Gesellschafter, Organe und Organmitglieder und alle Dritten geltende Nichtigkeit, hat also umfassende kassatorische Wirkung (analog § 248 Abs. 1 Satz 1 AktG), und zwar „ex tunc“21. Auch diese Klage ist zu richten ausschließlich gegen die GmbH selbst, nicht gegen Mitgesellschafter oder Organe22. c) Positive Beschlussfeststellungsklage Die unter vorstehendem Buchst. b angesprochene Anfechtungsklage (wie auch die Nichtigkeitsklage gemäß Buchst. a) ist ausschließlich auf Beseitigung eines mangelhaften Beschlusses gerichtet, hilft dem klagenden Gesellschafter also nicht, wenn er das Ziel verfolgt, einen nach seiner Auffassung tatsächlich (und rechtmäßig) beschlossenen Inhalt einer Gesellschafterentscheidung feststellen zu lassen. Beispiele hierfür sind etwa fehlerhafte (nämlich aus Sicht des klagenden Gesellschafters „ablehnende“) Feststellung des Abstimmungsergebnisses durch den Versammlungsleiter oder fehlerhafte Berücksichtigung der Gegenstimmen eines Gesellschafters, der tatsächlich an einer Abstimmung gehindert war23. Für diese Klage gelten die Ausführungen zur Anfechtungsklage entsprechend: Klagebefugt sind alle Gesellschafter; die Klage ist gegen die GmbH zu richten. Das stattgebende Urteil (welches den

___________ 18 OLG Hamburg v. 31.5.1995 – 11 U 183/94, GmbHR 1995, 734; Bayer in Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, Anhang zu § 47 GmbHG Rz. 30; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 GmbHG Rz. 44. 19 BGH v. 5.12.1968 – II ZR 57/67, BGHZ 51, 209; BGH v. 21.3.1988 – II ZR 308/87, BGHZ 104, 66; BGH v. 13.11.1995 – II ZR 288/94, BGH ZIP 1995, 1982; Überblick bei: K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 GmbHG Rz. 45 ff. 20 S. oben Buchst. a). 21 K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 GmbHG Rz. 171; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, Anhang zu § 47 Rz. 87; Happ, Die GmbH im Prozess, 1997, § 19 Rz. 111 ff. 22 Einhellige Auffassung, vgl. nur K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 GmbHG, Rz. 149 m.w.N. 23 Vgl. die Beispiele bei Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, Anhang zu § 47 GmbHG Rz. 40 und Happ, Die GmbH im Prozess, 1997, § 20 Rz. 14 ff.; allgemein zur Herleitung dieser Klageart: BGH v. 20.1.1986 – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28 (30); BGH v. 13.1.2003 – II ZR 173/02, GmbHR 2003, 355 (356).

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begehrten Beschluss positiv feststellt) wirkt analog § 248 Abs. 1 AktG ebenfalls gegenüber jedermann24. 2. Einbeziehung der Mitgesellschafter Aufgrund der Besonderheit, dass die vorstehend dargestellten Klagen im Zusammenhang mit Beschlussmängeln bei der GmbH einerseits ausschließlich gegen die Gesellschaft (vertreten durch die Geschäftsführung) zu richten sind, andererseits aber nicht nur zwischen den Parteien (klagende Gesellschaft, beklagte GmbH) gelten, sondern „inter omnes“ und insbesondere auch für und gegen die zunächst nicht verfahrensrechtlich beteiligten Mitgesellschafter, ergibt sich die Notwendigkeit zur Sicherstellung der Einbeziehung der Mitgesellschafter: Im Falle der vorstehend genannten Klagearten (Nichtigkeitsklage, Anfechtungsklage und positive Beschlussfeststellungsklage) sind die Geschäftsführer der beklagten GmbH analog §§ 246 Abs. 4, 249 Abs. 1 Satz 1 AktG verpflichtet, alle Gesellschafter und alle Organmitglieder über die Klageerhebung und den Termin zur ersten mündlichen Verhandlung zu informieren25. Bestehen Zweifel daran, ob die Geschäftsführer diesen Pflichten nachgekommen sind, soll sogar das Gericht selbst nach einer insofern vertretenen Auffassung eine Mitteilung vornehmen26. Die Gesellschafter können ihrerseits entweder auf Seiten des Klägers oder auf Seiten der Gesellschaft dem Rechtsstreit beitreten. Das gemäß § 66 ZPO notwendige „rechtliche Interesse“ ist in diesem Fall für den jeweiligen Mitgesellschafter zu bejahen27. Wegen der allgemein verbindlichen Wirkung handelt es sich um eine streitgenössische Nebenintervention, die jedenfalls zulässig ist28. 3. Klagefrist Eine weitere Besonderheit der Gesellschafterklagen zu Beschlussmängeln bei der GmbH ergibt sich aus der Anfechtungsfrist. Es handelt sich um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist für die Geltendmachung der Anfechtbarkeit eines Beschlusses, die sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus dem „Leitbild“ des § 246 Abs. 1 AktG herleitet29. Der BGH betont dabei, dass nicht die genaue Monatsfrist in Analogie zu § 246 Abs. 1 AktG gilt, sondern dass die im Aktienrecht gesetzlich geregelte Frist lediglich als Orientierungsmaßstab für die GmbH heranzuziehen ist30. In der Literatur wird teilweise vertreten, es sollte auf die feste Monatsfrist abgestellt wer-

___________ 24 BGH v. 13.11.1995 – II ZR 288/84, BGHZ 76, 191; 199, Happ, Die GmbH im Prozess, 1997, § 20 Rz. 16. 25 BGH v. 20.1.1986 – II ZR 73/85, BGHZ 97, 28 (31 f.); Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 17. Aufl. 2009, Anhang zu § 47 Rz. 33; entsprechend auch für die positive Feststellungsklage: Happ, Die GmbH im Prozess, 1997, § 20 Rz. 3. 26 So Happ, Die GmbH im Prozess, 1997, § 19 Rz. 86 unter Hinweis auf eine entsprechende Auffassung im Aktienrecht. 27 K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 GmbHG Rz. 156. 28 K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 GmbHG Rz. 156. 29 BGH v. 3.5.2005 – 1 W 319/03, GmbHR 2005, 929; BGH v. 3.5.1999 – II ZR 119/98, GmbHR 1999, 714; BGH v. 15.6.1998 – II ZR 40/97, GmbHR 1998, 891 (892). 30 BGH v. 14.5.1990 – II ZR 126/89, BGHZ 111, 224.

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den31; teilweise wird im Gegenteil eine starre Anwendung abgelehnt und lediglich eine „Konkretisierung“ anhand der Wertung des § 246 Abs. 1 AktG befürwortet32. Für den vorsichtigen Berater kann diese Diskussion letztlich dahinstehen; aus Gründen der Vorsorge ist dringend anzuraten, die Klage auf Anfechtung binnen eines Monats zu erheben. Dabei ist zu beachten, dass binnen der Anfechtungsfrist nicht nur die Klage erhoben werden muss, sondern auch alle geltend zu machenden Anfechtungsgründe zumindest in ihrem Kern vorgebracht werden müssen, ein Nachschieben von Gründen nach Fristablauf ist unzulässig33. Die Frist kann durch Regelungen im Gesellschaftsvertrag modifiziert, jedoch nicht unter einen Monat verkürzt werden34. Sie gilt für die Geltendmachung von Anfechtungsgründen und – spiegelbildlich – auch für die Erhebung der positiven Beschlussfeststellungsklage35, nicht jedoch für die Geltendmachung der Nichtigkeit. Es handelt sich genau genommen um eine materiell-rechtliche Präklusionsfrist, die bei Nichtigkeitsgründen nicht greift; hierin liegt der wesentliche materiell-rechtliche Unterschied zwischen der Geltendmachung von Nichtigkeitsgründen einerseits und von Anfechtungsgründen andererseits, weniger in der „Klageart“ Nichtigkeitsoder Anfechtungsklage, die ja beide kassatorisch wirken.

IV. Entwicklung und Stand der Beurteilung der „Schiedsfähigkeit“ von Beschlussmängelstreitigkeiten 1. Stand bis zur Reform des Schiedsverfahrensrechts a) Allgemeiner Stand: Fehlende Schiedsfähigkeit Wie oben36 bereits dargelegt, wurde auch nach herkömmlicher Auffassung die Schiedsfähigkeit gesellschaftsrechtlicher Auseinandersetzungen nicht verneint. Da in der Praxis des GmbH-Rechts jedoch die besonderen Klagearten zur Geltendmachung von Beschlussmängeln37 die wesentliche Rolle spielen, wurde die Diskussion schon immer – zu Recht – durch die Beurteilung dieser Beschlussmängelstreitigkeiten geprägt. Speziell für diese Streitigkeiten bei der GmbH wurde die Schiedsfähigkeit jedoch aus verschiedenen Gründen verneint: – Gemäß § 1025 ZPO a.F. waren objektiv schiedsfähig nur solche Streitgegenstände, über die die Parteien sich auch vergleichen können. Daraus wurde die Versagung der objektiven Schiedsfähigkeit für Beschlussmängelverfahren hergeleitet, da die Gesellschafter sich nach dieser Auffassung

___________ 31 Vgl. Geißler, GmbHR 2002, 520 (527). 32 K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2007, § 45 GmbHG Rz. 143. 33 BGH v. 10.11.1954 – II ZR 299/53, BGHZ 15, 177 (180) (für die Genossenschaft); BGH v. 14.3.2005 – II ZR 153/03, ZIP 2005, 706; Happ, Die GmbH im Prozess, 1997, § 19 Rz. 82. 34 BGH v. 21.3.1988 – II ZR 308/87, BGHZ 104, 66 (73); OLG Düsseldorf v. 8.7.2005 – 16 U 104/04, GmbHR 2005, 1353 (1354). 35 Happ, Die GmbH im Prozess, 1997, § 20 Rz. 16; Zöllner, ZGR 1982, 623 (628 ff.). 36 S. oben Abschnitt II. Ziffer 1. 37 S. oben Abschnitt III. Ziffer 1.

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nicht über die Rechtmäßigkeit eines Beschlusses vergleichen können sollten38. – Daneben wurde auch die subjektive Schiedsfähigkeit versagt, da die GmbH selbst (die ja zwingend Partei der genannten Klagen ist) nicht als Beteiligte des Schiedsverfahrens in Frage komme39. b) Die BGH-Entscheidung vom 29.3.1996 Mit einer – für die weitere Diskussion wesentlichen – Entscheidung aus dem Jahre 199640 verneinte der BGH im konkreten Fall die Schiedsfähigkeit einer gegen die GmbH erhobenen Anfechtungsklage und verwarf damit die von der Beklagten erhobene Schiedseinrede. Das OLG Karlsruhe41 hatte in der vorangegangenen Berufungsentscheidung – entgegen der bis dahin geltenden Rechtsprechung – die Schiedsfähigkeit und damit die Begründetheit der Schiedseinrede bejaht. Diese Entscheidung hob der BGH auf, wobei allerdings seine – im konkreten Fall verneinende – Begründung gegen die Schiedsfähigkeit der Anfechtungsklage richtungsweisend wurde. Der Leitsatz lautet: „§§ 248 Abs. 1 Satz 1, 249 AktG sind auf Entscheidungen privater Schiedsgerichte nicht entsprechend anwendbar.“42.

Bereits diese Aussage – die für sich allein genommen als Begründung für die Klageabweisung noch nicht vollständig verständlich ist – macht klar, dass das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der Schiedsfähigkeit die besondere Wirkung der Beschlussmängelklagen aufgrund der analogen Anwendung der §§ 248, 249 AktG auf die GmbH43 ist. So setzt sich der BGH in seiner Begründung mit den bisherigen Argumenten gegen die Schiedsfähigkeit auseinander und widerlegt diese: – Die – angeblich fehlende – objektive Vergleichsfähigkeit als Voraussetzung der Schiedsfähigkeit (§ 1025 ZPO a.F.) wird nicht als Problem angesehen, da Gesellschafterbeschlüsse sehr wohl der privaten Disposition unterliegen und durch die Gesamtheit aller Gesellschafter aufgehoben werden können44. Dann können die Gesellschafter in ihrer Gesamtheit aber auch ein Schiedsgericht mit der Beurteilung der Wirksamkeit der Beschlüsse betrauen. – Die subjektive Schiedsfähigkeit (also die Frage der richtigen Parteien) ist ebenfalls nicht als Hindernis anzusehen, da die GmbH selbst als zukünftige Beklagte für ein Beschlussstreitverfahren zwar nicht Partei der Schiedsabrede ist, da sie jedoch aus allgemeinen verbandsrechtlichen Gesichtspunk-

___________ 38 BGH v. 11.7.1966 – II ZR 134/65, NJW 1966, 2055; OLG Hamm v. 8.12.1986 – 8 U 73/86, ZIP 1987, 780. 39 BGH v. 11.7.1966 – II ZR 134/65, NJW 1966, 2055; OLG Hamm, DB 1987, 780; Petermann, BB 1996, 277. 40 BGH v. 29.3.1996 – II ZR 124/95, GmbHR 1996, 437 „Schiedsfähigkeit I“, vgl. dazu die ausführliche Analyse bei: K. Schmidt, BB 2001, 1857 (1858 ff.). 41 OLG Karlsruhe v. 16.2.1995 – 19 U 169/94, GmbHR 1995, 455. 42 BGH v. 29.3.1996 – II ZR 124/95, GmbHR 1995, 437. 43 S. oben Abschnitt III. Ziffer 1. 44 Unter Abschnitt II. Ziffer 4. der Gründe der vorstehend zitierten Entscheidung.

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ten (natürlich!) an die Regelungen in ihrer eigenen Satzung, also auch an eine darin enthaltene Schiedsklausel, gebunden ist45. Damit blieb nur noch der – für den BGH damals entscheidende – Gesichtspunkt, dass die Rechtskraftwirkung einer Entscheidung in Beschlussmängelstreitigkeiten bei der GmbH – nämlich die zwingende „inter omnes“ Wirkung der gerichtlichen Entscheidung – im Schiedsverfahren nicht gewährleistet ist. Eine „automatische“ analoge Anwendung der §§ 248, 249 AktG auf das Schiedsverfahren lehnte der BGH ausdrücklich ab; zur Begründung verwies er u.a. auf die Probleme, eine für die derartige Wirkung des Schiedsspruchs schädliche Konkurrenz verschiedener Schiedsverfahren auszuschließen und die verfahrensrechtlichen Interessen nicht am Schiedsverfahren beteiligter, gleichwohl materiell-rechtlich betroffener Gesellschafter sicherzustellen46. Die entscheidende Aussage des BGH lautet: „Angesichts der unterschiedlichen Bedingungen eines Rechtsstreits vor einem staatlichen Gericht und einem schiedsgerichtlichen Verfahren sieht der Senat jedoch für eine analoge Anwendung der Regelungen der §§ 248 Abs. 1 Satz 1, 249 Abs. 1 Satz 1 AktG auf die Entscheidung eines privaten Schiedsgerichts gegenwärtig keine tragfähige Grundlage.“47

Damit war der Weg vorgegeben: Wenn es gelingt, das Schiedsverfahren so auszugestalten – insbesondere im Hinblick auf die Allgemeingültigkeit und Verfahrensbeteiligung –, dass eine Rechtskraftwirkung des Schiedsspruchs entsprechend einem gerichtlichen Urteil in Beschlussmängelstreitigkeiten möglich und rechtsstaatlich vertretbar ist, dann kann die Schiedsfähigkeit bejaht werden48. 2. Die Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts zum 1.1.1998 a) Inhalt der Neuregelung Durch die Neufassung der ZPO-Regelungen zum Schiedsverfahren, die am 1.1.1998 in Kraft getreten ist49 wird in § 1030 ZPO n.F. klargestellt, dass alle vermögensrechtlichen Ansprüche – also auch Leistungs-, Feststellungs- oder Gestaltungsbegehren im gesellschafsrechtlichen Bereich – grundsätzlich schiedsfähig sind50. Das spezielle Problem der Schiedsfähigkeit der Beschlussmängelklage bei der GmbH (Gestaltungswirkung und Rechtskrafterstreckung gemäß §§ 248, 249 AktG) griff der Gesetzgeber jedoch bewusst nicht auf. In der amtlichen Begründung zur Reform ist ausdrücklich ausgeführt: „Grundsätzlich bestehen keine Bedenken dagegen, dass ein Schiedsgericht Entscheidungen mit rechtsgestaltender Wirkung erlassen kann … Fraglich bleibt jedoch, inwieweit ein Schiedsspruch Rechtsgestaltung mit Wirkung für und gegen Dritte bewirken,

___________ 45 46 47 48

Unter Abschnitt II. Ziffer 5. der Gründe der vorstehend zitierten Entscheidung. Unter Abschnitt II. Ziffer 6. a) der Gründe der vorstehend zitierten Entscheidung. Unter Abschnitt II. Ziffer 6. a) der Gründe der vorstehend zitierten Entscheidung. So die zutreffende Schlussfolgerung aus der Entscheidung bei K. Schmidt, BB 2001, 1857 (1858); infolge der BGH-Entscheidung v. 29.3.1996 die Schiedsfähigkeit noch ablehnend: OLG Celle v. 31.7.1998 – 9 U 1/98, NZG 1999, 167. 49 BGBl. I 1997, 3224. 50 S. bereits oben Abschnitt I., dazu auch m.w.N.: Schneider, GmbHR 2005, 86.

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Zur Schiedsklausel in der GmbH-Satzung ein Schiedsspruch über eine aktienrechtliche Anfechtungsklage also beispielsweise für und gegen Aktionäre wirken kann. Diese Problematik soll … nicht im bejahenden Sinne präjudiziert, sondern angesichts ihrer Vielschichtigkeit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht weiterhin der Lösung durch die Rechtsprechung … überlassen bleiben.“51

Auch in Kenntnis der BGH-Entscheidung vom 29.3.1996 traf der Gesetzgeber also keine Vorgaben, sondern gab „den schwarzen Peter“52 wieder an die Rechtsprechung zurück. b) Die weitere Entwicklung In der Folgezeit bejahte der BGH – entsprechend seiner eingeschlagenen Linie – im Grundsatz die Schiedsfähigkeit von Streitigkeiten über GmbH-Beschlüsse53. Da es im konkreten Fall jedoch nur um die Wirkung einer Schiedsklausel bei allgemeiner Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO ging, blieb die entscheidende Frage der Anwendung und der Auswirkungen der §§ 248, 249 AktG offen. In der Literatur wurde zunehmend die Schiedsfähigkeit auch in Beschlussmängelstreitigkeiten bejaht und das Problem vor dem Hintergrund der Anforderungen diskutiert, die im Einzelnen an ein entsprechendes Schiedsverfahren zu stellen sind, insbesondere an die rechtsstaatlich ordnungsgemäße Ausgestaltung54. 3. Die BGH-Entscheidung vom 6.4.2009 Mit seiner Entscheidung vom 6.4.200955 nimmt der BGH schließlich den ihm zugeschobenen „schwarzen Peter“ auf und löst – in Weiterentwicklung der bereits in der Entscheidung vom 29.3.1996 vorgegebenen Linie – das Problem der Entscheidungswirkungen gemäß §§ 248, 249 AktG für das Schiedsverfahren; bezüglich einer Reihe von Details wird allerdings – um im Bild zu bleiben – der „schwarze Peter“ an die Vertrags- und Gestaltungspraxis weitergegeben. Gegenstand der Entscheidung war die Klage eines mit 50% beteiligten Gesellschafters gegen die GmbH, an der neben dem Kläger noch zwei Mitgesellschafter mit je 25% beteiligt waren, wovon wiederum ein Mitgesellschafter Geschäftsführer war; es handelte sich also um eine klassische personalistisch strukturierte Gesellschaft mit einem kleinen Gesellschafterkreis. Der BGH verneinte im konkreten Fall die Begründetheit der erhobenen Schiedseinrede, sah die Klage aufgrund der konkreten Schiedsklausel also als nicht schiedsfähig an. Dieses Ergebnis beruht jedoch auf einer Beurteilung der Einhaltung rechtsstaatlicher Vorgaben an die Schiedsklausel im konkreten Einzelfall. Das Gericht stellte zunächst fest, dass auch Beschlussmängelstreitigkeiten bei der GmbH durchaus schiedsfähig sein können, nämlich dann, wenn die Schiedsklausel – auch ohne dass die Wirkungen der §§ 248, 249 AktG für das

___________ 51 52 53 54

BT-Drucksache 13/5374 v. 12.7.1996. So Henze, ZIP 2002, 97 (100). BGH v. 10.5.2001 – II ZR 262/00, NJW 2001, 2177. Vgl. nur Bayer, ZIP 2003, 881 (886 ff.); Schneider, GmbHR 2005, 86 ff., jeweils m.w.N. 55 BGH v. 6.4.2009 – II ZR 255/08, GmbHR 2009, 705 ff. „Schiedsfähigkeit II“.

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Schiedsverfahren gesetzlich festgelegt sind – kraft ihrer vertraglichen Bestimmungen diese Wirkungen herbeiführt und wenn diese Wirkungen auch durch ein Schiedsverfahren in einer dem Rechtsschutz durch staatliche Gerichte gleichwertigen Weise herbeigeführt werden. Dabei greift der Senat ausdrücklich den gesetzlichen Auftrag56 auf und bejaht „… die grundsätzliche Zulässigkeit einer analogen Herbeiführung der Wirkungen des § 248 Abs. 1 Satz 1, § 249 Abs. 1 Satz 1 AktG durch Schiedssprüche auf der Grundlage gesellschaftsvertraglicher Schiedsklauseln“.57

Folgende Kernaussagen lassen sich der Entscheidung entnehmen: – Bereits § 1025 ZPO a.F. stand und § 1030 ZPO n.F. steht der grundsätzlichen Schiedsfähigkeit nicht nur von gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten allgemein, sondern speziell auch von Beschlussmängelstreitigkeiten nicht entgegen. – Maßgebend ist, ob aufgrund der privat autonom geregelten vertraglichen Bestimmungen im konkreten Fall, also durch die konkret vereinbarte Schiedsklausel, ein Schiedsverfahren geregelt ist, welches die (für die Schiedsfähigkeit notwendige) analoge Geltung der §§ 248, 249 AktG rechtfertigt. – Dies wiederum ist der Fall, wenn das Schiedsverfahren in einer dem Rechtsschutz durch staatliche Gerichte gleichwertigen Weise ausgestaltet ist, insbesondere, wenn für alle betroffenen Gesellschafter der an § 138 BGB zu messende Mindeststandard der Mitwirkung gewahrt ist. – Die sich aus diesen Vorgaben ergebenden Anforderungen müssen abstrakt und vor Verfahrensbeginn durch die Schiedsklausel eingehalten sein; es kommt dabei für die Bewertung nicht darauf an, dass im konkreten Fall ein so kleiner Kreis von Gesellschaftern betroffen ist, dass ohnehin alle einbezogen sind. Die Schiedsklausel muss – abstrakt – den Anforderungen entsprechen (unabhängig von der „Übersichtlichkeit“ des Gesellschafterkreises im konkreten Fall). Die letzte Feststellung führte im entschiedenen Fall dazu, dass die personalistische Struktur der betroffenen GmbH und die offensichtlich rein praktisch gegebene Einbeziehung aller drei Gesellschafter in dem Rechtsstreit irrelevant waren.

V. Analyse des gegenwärtigen Standes und Konsequenzen für die Vertragsgestaltung 1. Die konkreten Vorgaben des Bundesgerichtshofs Die unter vorstehendem Abschnitt IV. Ziffer 3. angesprochenen Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren als Voraussetzung für die dann geltenden Wirkungen der §§ 248, 249 AktG, also als Voraussetzung für die Schiedsfähigkeit, wurden vom BGH in vier Punkten ausdrücklich konkretisiert, die

___________ 56 S. oben Abschnitt II. Ziffer 2. a). 57 Abschnitt II. Buchst. A. Ziffer 3. der Gründe der vorstehend zitierten Entscheidung.

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nachstehend dargestellt werden. Dazu liegt auch bereits von der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) ein Regelungsvorschlag vor58, der diese Punkte aufgreift: a) Zustimmung aller Gesellschafter Die vollständige Schiedsabrede muss mit Zustimmung sämtlicher Gesellschafter vereinbart sein. Vorrangig nennt der BGH dazu die Aufnahme in die Satzung; alternativ soll eine Vereinbarung außerhalb der Satzung zulässig sein, an der dann jeder Gesellschafter und zusätzlich die GmbH selbst mitwirken muss59. Für die Gestaltungspraxis ist vorsorglich eine Aufnahme in die Satzung zu empfehlen, da dies der „sichere“ Weg ist und auch jegliche Zweifel an der ordnungsgemäßen Form vermeidet. Die ERGeS/DIS gehen in ihrer Präambel davon aus, dass die vorgeschlagenen Regelungen, die auf die ERGeS/DIS verweisen, in den Gesellschaftsvertrag aufgenommen werden. b) Information aller Gesellschafter und Ermöglichung ihrer Teilnahme Diese Vorgabe ist eine direkte Konsequenz daraus, dass ein Schiedsverfahren – wenn es als zulässig angesehen wird – analog §§ 248, 249 AktG zu einer für alle an der beklagten GmbH beteiligten Gesellschafter verbindlichen Entscheidung führt. Sie wurde bereits in der Entscheidung des BGH vom 29.3.199660 als ein wesentlicher Gesichtspunkt im Zusammenhang mit der Problematik der §§ 248, 249 AktG angesprochen und ihr sollte in der vertraglichen Ausgestaltung ein erhebliches Gewicht zukommen. Als Maßstab der – im Einzelnen zu regelnden – Informationspflichten können die Grundsätze zu § 246 Abs. 4 AktG, der ja auch analog im gerichtlichen Verfahren bei der GmbH gilt, herangezogen werden. Dabei ist aber dringend zu beachten, dass die Informationen an die übrigen Gesellschafter bereits vor Konstituierung des Schiedsgerichts erfolgen müssen, damit die übrigen Gesellschafter über die Bestellung mitentscheiden können. Die zu § 246 Abs. 4 AktG geführte Diskussion, ob ggf. sogar das Gericht selbst zu Informationen verpflichtet ist61, hilft an dieser Stelle also nicht weiter. Die ERGeS/DIS sehen in §§ 2 und 3 vor, dass die DIS-Geschäftsstelle die übrigen Gesellschafter, die sämtlich vom jeweiligen Kläger zu benennen sind, informiert und in § 5, dass das Schiedsgericht selbst im weiteren Verfahren fortlaufend unterrichtet. Die so unterrichteten Gesellschafter können dem Schiedsverfahren gemäß § 69 ZPO als Nebenintervenienten beitreten. Der allgemeine Grundsatz, dass eine Nebenintervention im Schiedsverfahren mangels Einbeziehung des jeweiligen Dritten in die Schiedsvereinbarung ausscheidet62, gilt an dieser Stelle nicht, da ja alle Gesellschafter zwingend an der Schiedsvereinbarung beteiligt sein müssen. Ein etwaiges Ermessen des Schiedsgerichts (§ 1042 Abs. 4 Satz 1

___________ 58 DIS – Ergänzende Regelungen für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, ERGeS, gültig ab 15.9.2009. 59 Unter Abschnitt II. Buchst. A. Ziffer 3. Buchst. c der Gründe. 60 BGH v. 29.3.1996 – II ZR 124/95, GmbHR 1996, 437. 61 S. oben Abschnitt III. Ziffer 2. 62 S. oben Abschnitt II. Ziffer 3.

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ZPO) auf Zulassung der Nebenintervention ist in diesem Falle auf 0 reduziert63. c) Mitwirkung an Auswahl und Bestellung der Schiedsrichter Alle Gesellschafter – also nicht nur der klagende Gesellschafter – müssen an der Auswahl der Schiedsrichter mitwirken können; eine tatsächliche Mitwirkung ist also nicht erforderlich. Gleichwohl sind hier – angesichts der möglichen Vielzahl der betroffenen Gesellschafter – an die Formulierung des „Mitwirkungsverfahrens“ in der Schiedsvereinbarung hohe Anforderungen gestellt. Es muss gewährleistet werden, dass alle Gesellschafter – und zwar entweder auf Seiten des Klägers oder auf Beklagtenseite beitretend – über die Bestellung des Schiedsgerichts auf ihrer jeweiligen Seite mitbestimmen können. Dies setzt auch die Einhaltung gewisser Bedenkzeiten voraus64. Immerhin werden zwei Erleichterungen angeboten: – Bei Beteiligung mehrerer Gesellschafter (also auch nach Beitritt) auf einer Seite kann das Mehrheitsprinzip gelten65. – Alternativ zur Auswahl durch alle Gesellschafter kommt die – dann von vornherein anzuordnende – Auswahl durch eine neutrale Stelle in Betracht66. Dieser Weg wird auch in der Literatur als praktikable Lösung vorgeschlagen67. Er „entwertet“ allerdings etwas den Aspekt der direkten Auswahl des Schiedsgerichts durch die Parteien selbst, der oft als ein grundsätzlicher Vorteil des Schiedsverfahrens angesehen wird. d) Konzentrationswirkung des Verfahrens Auch diese Voraussetzung ergibt sich direkt aus der „Allgemeinverbindlichkeit“, die – wenn sie denn aus einem Schiedsspruch resultieren soll – erforderlich macht, dass abweichende andere Entscheidungen zu dem gleichen, in Streit stehenden Beschluss vermieden werden68. Diese Voraussetzung wirkt in zwei Richtungen. In der Schiedsvereinbarung muss sichergestellt werden, dass – im Falle eines parallelen Verfahrens vor den ordentlichen Gerichten die Schiedseinrede erhoben wird69 – und dass bei mehreren Schiedsklagen betreffend denselben Beschluss, die ja von verschiedenen Klägern (also verschiedenen Gesellschaftern) erhoben werden können, eine Sperrwirkung für ein vorrangiges Schiedsverfahren

___________ 63 BGH v. 6.4.2009 – II ZR 255/08, GmbHR 2009, 705 (709); so schon Ebenroth/Bohne, BB 1996, 1393 (1396 f.). 64 In der Literatur wird als Frist zwischen der Information an den und Anfrage bei dem Gesellschafter und Entscheidung durch die Gesellschafter ein Zeitraum von 2 Wochen genannt, vgl. Bayer, ZIP 2003, 881 (888); die ERGeS/DIS sehen in § 8 eine Frist von 30 Tagen vor. 65 BGH v. 6.4.2009 – II ZR 255/08, GmbHR 2009, 705 (708). 66 BGH v. 6.4.2009 – II ZR 255/08, GmbHR 2009, 705 (708). 67 Bayer, ZIP 2003, 881 (888); K. Schmidt, BB 2001, 1857 (1859). 68 BGH v. 6.4.2009 – II ZR 255/08, GmbHR 2009, 705 (708); dazu ebenfalls bereits BGH v. 29.3.1996 – II ZR 124/95, GmbHR 1996, 437 (440). 69 Vgl. Ziffer 4. des Vorschlages zur Schiedsklausel der DIS.

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gilt; eine solche „Rangregelung“ ergibt sich nicht gesetzlich – § 261 Abs. 3 ZPO gilt nur für die Parteien eines Rechtsstreits selbst – und muss daher in der Schiedsklausel geregelt werden70. 2. Geltung für Rechtsnachfolger Das Erfordernis, dass alle betroffenen Gesellschafter der Schiedsvereinbarung zugestimmt haben müssen, wirft die Frage der Geltung für Rechtsnachfolger eines Gesellschafters, also insbesondere nach einer Anteilsübertragung, auf. In diesem Punkt besteht jedoch Klarheit: Es ist mittlerweile anerkannt, dass eine im Gesellschaftsvertrag enthaltene Schiedsklausel auf den neu eintretenden oder den den Anteil erwerbenden Gesellschafter übergeht71. Dieser Aspekt spricht ebenfalls dafür, die Schiedsklausel in die Satzung aufzunehmen und damit alle Probleme, die sich aus der Rechtsnachfolge und der Geltung ergänzender Gesellschaftervereinbarungen für den Rechtsnachfolger eines Gesellschafters ergeben, zu vermeiden. 3. Berücksichtigung der Anfechtungsfrist Bei Geltendmachung von Anfechtungsgründen im Rahmen von Beschlussmängelstreitigkeiten ist zwingend die materiell-rechtlich wirkende Anfechtungsfrist (Anwendung der Wertung des § 246 Abs. 1 AktG, vgl. oben III. 3.) zu beachten; diese darf auch durch eine Schiedsklausel nicht verkürzt werden. Für die Vertragsgestaltung ist daraus der Schluss zu ziehen, dass sämtliche Maßnahmen zur Information und Einbeziehung der Mitgesellschafter einschließlich der Ermöglichung einer gemeinsamen Schiedsrichterbenennung72 und die damit verbundenen Fristen die Anfechtungsfrist nicht verkürzen dürfen, sondern „nachgeschaltet“ sein müssen73. 4. Anpassung bestehender Schiedsklauseln Aufgrund der bereits angesprochenen Beliebtheit des Schiedsverfahrens in gesellschaftsrechtlichen Konflikten bestehen in einer Vielzahl von Fällen bereits ältere Schiedsklauseln, die den oben geschilderten Anforderungen nicht genügen, also angepasst werden müssen. Dabei stellt sich die Frage, welches Mehrheitserfordernis dafür gilt, ob eine Mitwirkung aller Gesellschafter erforderlich ist (da ja alle von den Verfahrensregelungen betroffen sind). Die erstmalige Einführung einer Schiedsklausel in die Satzung bedarf – ungeachtet § 53 GmbHG, der für Satzungsänderungen die ¾-Mehrheit ausrei-

___________ 70 Vgl. die Regelung in § 9 ERGeS/DIS, die diesen Anforderungen meines Erachtens genügt. 71 Für die Kapitalgesellschaft: BGH v. 28.5.1979 – III ZR 18/77, GmbHR 1979, 202; entsprechend für die Personengesellschaft: BGH v. 2.10.1997 – III ZR 2/96, NJW 1998, 371; vgl. auch Schneider, GmbHR 2005, 86 (90) m.w.N. 72 S. oben Ziffer 1. Buchst. b und c. 73 So wohl auch: Bayer, ZIP 2003, 881 (888); ergänzend zu den Regelungen der ERGeS/ DIS sollte – sofern diese gewählt werden – daher noch in der Satzung die klarstellende Regelung aufgenommen werden, dass zur Wahrung der Anfechtungsfrist die Einreichung der Schiedsklage gemäß § 2 Ziffer 2.2 ERGeS/DIS genügt.

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chen lässt – der Einstimmigkeit, also der Mitwirkung aller Gesellschafter. Dies folgt aus der Kernbereichslehre und der Garantie des gesetzlichen Richters, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG74. Etwas anderes gilt jedoch für die Anpassung einer bestehenden Schiedsklausel an die oben dargestellten Anforderungen. In diesem Fall hat jeder Gesellschafter bereits der Übertragung der Rechtsstreits auf ein Schiedsgericht dem Grunde nach zugestimmt. Sämtliche vom BGH formulierten, notwendigen Voraussetzungen für die Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten verstärken die Mitwirkungsrechte der einzelnen Gesellschafter. Vor diesem Hintergrund genügt nach Auffassung des Verfassers für eine Anpassung der Klausel die satzungsändernde Mehrheit gemäß § 53 GmbHG (sofern die Satzung selbst keine größere Mehrheit vorschreibt). Auch dieser Aspekt spricht im Übrigen wiederum für eine Aufnahme der Schiedsklausel in die Satzung; bei gesonderter Gesellschaftervereinbarung kann sich durchaus die Frage stellen, ob nicht alle Vertragsparteien – ungeachtet einer satzungsändernden Mehrheit – bei einer Anpassung mitwirken müssten.

___________ 74 So ausdrücklich: K. Schmidt, BB 2001, 1857 (1861); vgl. BGHZ 144, 146.

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Kernbereich der Mitgliedschaft als Schranke der Testamentsvollstreckung? Inhaltsübersicht I. Thema II. Kernbereichslehre 1. Ansatz 2. Reichweite III. Stand der Diskussion 1. Testamentsvollstreckung an Gesellschaftsanteilen 2. Kernbereichsanhänger 3. Kernbereichsgegner IV. Erbrecht contra Gesellschaftsrecht 1. Ausgangspunkt

2. Stellung des Testamentsvollstreckers 3. Erbrechtliche Grenzen a) Verbot unentgeltlicher Verfügungen b) Verbot persönlicher Verpflichtung des Erben c) Gebot ordnungsgemäßer Verwaltung 4. Strukturänderungen der Mitgliedschaft 5. Prävalenz des Erbrechts V. Fazit

I. Thema Der 68. Deutsche Juristentag 2010 hat sich in seiner zivilrechtlichen Abteilung mit der Frage „Ist unser Erbrecht noch zeitgemäß?“ auseinandergesetzt. Dabei ist auch die Testamentsvollstreckung wieder einmal in den Fokus der Kritik geraten. Sie sei „im Interesse der heute auch aus verfassungsrechtlichen Gründen aufmerksamer wahrgenommenen Erbenfreiheit“ kritisch zu betrachten1. Darum soll es hier indessen nicht gehen. Für unsere Fragestellung wird vielmehr die Testamentsvollstreckung auf dem Boden des geltenden Rechts als das genommen, was sie ist, nämlich ein bewährtes Instrument zu einer sinnvollen Bewahrung des Nachlasses, gerade auch dann, wenn dieser unternehmerisches Vermögen enthält. Behandelt werden soll ein wichtiger Teilaspekt daraus, nämlich die immer noch durchaus streitige Frage, ob der Testamentsvollstreckung an Gesellschaftsanteilen durch den sog. Kernbereich der Mitgliedschaft Schranken gesetzt sind. Während das lange Zeit von der überwiegenden Ansicht im Schrifttum bejaht wurde, zeichnet sich inzwischen ein gewisser Meinungsumschwung ab. Er gibt Veranlassung, über das Problem noch einmal nachzudenken, zumal dabei die Grundsatzfrage der Kompetenzabgrenzung zwischen Erbrecht und Gesellschaftsrecht aufs Tapet kommt.

___________ 1 Röthel, Gutachten A zum 68. Deutschen Juristentag: Ist unser Erbrecht noch zeitgemäß?, 2010, S. 92 f.

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Aus der Sicht der Rechtsanwendung wird diese Frage nicht zuletzt bei einer Änderung der Rechtsform der Gesellschaft, also beim umwandlungsrechtlichen Formwechsel relevant. Ein solcher spielt – wie man weiß – in der Praxis eine große Rolle, ist er doch in vielen Fällen geboten, um den unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Rechtsform, vor allem auf dem Gebiet des Steuerrechts Rechnung zu tragen. In einer Festschrift für Michael Streck werden Überlegungen zu diesem Thema voraussichtlich eine der wenigen zivilrechtlichen Inseln im Meer des Steuerrechts bilden. Wenn eine solche Insel hier gleichwohl vorgestellt werden soll, geschieht dies, weil der Jubilar und der Verfasser in zurückliegenden Jahren auf Tagungen mit der Geschäftsverteilung „Steuerrecht/Zivilrecht“ einander ergänzend zusammengewirkt haben. Dabei hat sich der Jubilar nicht nur mit großem Interesse, sondern auch mit ebensolcher Kompetenz insbesondere des Gesellschaftsrechts angenommen.

II. Kernbereichslehre 1. Ansatz Der „Kernbereich der Mitgliedschaft“ hat sich im Recht der Personengesellschaften – nomen est omen – zu einem Kernthema entwickelt. Er wird üblicherweise zurückgeführt auf eine Entscheidung des BGH aus dem Jahre 19562, die ein Teilnahmerecht eines gesellschaftsvertraglich stimmrechtslosen Kommanditisten an Beschlussfassungen statuiert hat, die gravierend in seine Rechtsstellung als Gesellschafter eingreifen, indem sie etwa „seine Beteiligung als Kommanditist oder seine Haftsumme durch Neufassung des Gesellschaftsvertrages ändern oder indem sie auf diesem Wege seine Gewinnbeteiligung oder die Höhe seines Auseinandersetzungsguthabens schmälern.“ Der Begriff selbst wird dort aber noch nicht verwendet. Dieser wurde erst später eingeführt, nämlich von H. P. Westermann3. Auch sein konzeptioneller Ansatz hat sich ausgeweitet: Dem Betroffenen wird nicht allein eine Stimmbefugnis eingeräumt, sondern mittels des Erfordernisses seiner Zustimmung eine Vetoposition. Auf dieser Basis ist die sog. Kernbereichslehre4 inzwischen zu einem festen Bestandteil in Judikatur und Literatur geworden. Gerade in der jüngeren Rechtsprechung des BGH ist sie mehrfach aufgetaucht. Das gilt zunächst einmal für das berühmte „Otto“-Urteil5. Hier hat das Gericht in deutlicher Restriktion des vielfach angefeindeten Bestimmt-

___________ 2 BGH v. 14.5.1956 – II ZR 229/54, BGHZ 20, 363 (369 f.). Es fing also langsam an: Der Kommanditist muss mitstimmen dürfen. Er kann aber überstimmt werden. 3 H. P. Westermann, Gestaltungsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften, 1970, S. 351 ff. 4 Monographisch Röttger, Die Kernbereichslehre im Recht der Personengesellschaften, 1989; aus jüngerer Zeit sei etwa auf Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, S. 219 ff. und S. 302 ff. verwiesen. 5 BGH v. 15.1.2007 – II ZR 245/05, BGHZ 170, 283 ff.

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heitsgrundsatzes6 das Verbot von Kernbereichseingriffen neben dem Belastungsverbot als Instrument des Individualschutzes gegenüber Mehrheitsbeschlüssen herausgestellt7. Im nachfolgenden Urteil „Schutzgemeinschaftsvertrag II“8 wurde diese Beurteilung noch einmal ausdrücklich bestätigt. Danach ergibt sich: Mehrheitsbeschlüsse sind auf gesellschaftsvertraglicher Grundlage auch bei Personengesellschaften zulässig. Ihre Grenzen finden sie aber im Belastungsverbot und im Kernbereichsschutz. Beschlüsse, die zusätzliche Leistungspflichten auferlegen oder in den Kernbereich der Mitgliedschaft eingreifen, bedürfen der Zustimmung seitens der davon betroffenen Gesellschafter. Diese Zustimmung kann im Voraus erteilt werden, auch im Gesellschaftsvertrag, bedarf dann aber der Festlegung von Art und Ausmaß solcher Eingriffe, nicht zuletzt der Festlegung von Obergrenzen9. In Ausnahmefällen können Einschränkungen solcher Rechte allerdings aus wichtigem Grund auch gegen den Willen des Betroffenen gerechtfertigt sein10. 2. Reichweite Was den Kernbereich ausmacht, liegt noch nicht vollständig fest. Immerhin wird man jedenfalls das Stimmrecht, die Gewinnteilhabe, das Abfindungsguthaben, die Beteiligung am Liquidationserlös und etwaige Sonderrechte dazu rechnen können11. Eine abschließende Katalogisierung dürfte kaum erreichbar sein. Vielmehr wird man auf die jeweilige Gesellschaftsstruktur und damit letztlich auf den Einzelfall abstellen müssen12. Wenn der BGH daneben die schlechthin unverzichtbaren Rechte13 erwähnt14, liegt das auf einer anderen Ebene. Solche Einschränkungen können nämlich auch gesellschaftsvertraglich, also unter Mitwirkung des Betroffenen, nicht erlaubt werden15. Sie sind also schlechthin unwirksam.

___________ 6 Dieser wurde früher einmal dahin interpretiert, dass über ungewöhnliche Änderungen des Gesellschaftsvertrags nur dann mit Mehrheit beschlossen werden könne, wenn die Beschlussgegenstände einzeln – katalogmäßig – aufgelistet sind. Damit hat der BGH im „Otto“-Urteil zu Recht aufgeräumt – BGH v. 15.1.2007 – II ZR 245/05, BGHZ 170, 283 Tz. 9 f. 7 BGH v. 15.1.2007 – II ZR 245/05, BGHZ 170, 283 Tz. 10. 8 BGH v. 24.11.2008 – II ZR 116/08, BGHZ 179, 13 Tz. 25. 9 BGH v. 19.3.2007 – II ZR 73/06, ZIP 2007, 812 (813); allg. Ansicht; vgl. nur Weitemeyer in Oetker, 2009, § 105 HGB Rz. 46. 10 Vgl. nur Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 16 III, 3 b bb, S. 472. 11 Nachweise bei Enzinger in Münchener Kommentar zum HGB, 2. Aufl. 2006, § 110 HGB Rz. 70 f. 12 Etwa: Röttger, Die Kernbereichslehre im Recht der Personengesellschaften, 1989, S. 143 f.; Mecke, BB 1988, 2258 (2264). 13 Dazu werden insbesondere das Informationsrecht, das Recht auf Teilnahme an Gesellschafterversammlungen und das Austrittsrecht aus wichtigem Grund gezählt; etwa: Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 16, 3a; Priester/Veil in Scholz, 10. Auf. 2010, § 53 GmbHG Rz. 44. 14 BGH v. 15.1.2007 – II ZR 245/05, BGHZ 170, 283 Tz. 10. 15 Vgl. nur Goette in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 2. Aufl. 2008, § 119 HGB Rz. 53.

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III. Stand der Diskussion 1. Testamentsvollstreckung an Gesellschaftsanteilen Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, also Aktien oder GmbH-Anteile als Gegenstand einer Testamentsvollstreckung werden üblicherweise für unproblematisch gehalten. Bei ihnen wurden allenfalls Randfragen diskutiert16. Anderes galt bzw. gilt weiterhin für Anteile an Personengesellschaften. Was persönlich voll haftende Gesellschafter, also Mitglieder einer offenen Handelsgesellschaft oder Komplementäre einer Kommanditgesellschaft angeht, wird von der immer noch herrschenden Meinung eine uneingeschränkte Testamentsvollstreckung nicht zugelassen. Vielmehr hat der Erbrechtssenat des BGH insoweit eine Differenzierung zwischen der „Außenseite“ des Anteils und seiner „Innenseite“ vorgenommen: Erstere meint die Vermögenszuordnung. Die Anteilsübertragung unterliegt damit der Befugnis des Testamentsvollstreckers, auch bleibt der Anteil dem Zugriff der Eigengläubiger des Gesellschafters entzogen. Letztere betrifft die Ausübung der Verwaltungsrechte. Sie ist Sache des Erben17. Auch hinsichtlich des Kommanditanteils wurde die Zulässigkeit einer Verwaltungstestamentsvollstreckung erst vor gut 20 Jahren höchstrichterlich anerkannt18. Es ist deshalb wohl kein Zufall, dass sich die Diskussion um einen Kernbereichsschutz auf dem Felde der Kommanditbeteiligung entzündet hat. Dabei verdient als Einstieg in die weiteren Überlegungen festgehalten zu werden, dass der BGH diese Frage in seiner einschlägigen Grundsatzentscheidung ausdrücklich offengelassen hat19. 2. Kernbereichsanhänger Eine erste nähere Auseinandersetzung mit unserem Thema stammt von Ulmer. Im Rahmen seiner grundsätzlichen Untersuchung der Zulässigkeit einer Testamentsvollstreckung am Kommanditanteil stellt er fest, der Testamentsvollstrecker stoße bei Beschlüssen oder der Ausübung von Gestaltungsrechten dann auf Schranken, wenn sie in den Kernbereich der Mitgliedschaft eingreifen. Dort ende die Gestaltungsfreiheit im Personengesellschaftsrecht. Der Mitgliedschaft seien wegen der mit ihr verbundenen höchstpersönlichen Rechte und Pflichten immanente Grenzen der Fremdbestimmung gezogen20.

___________ 16 Vor allem die Frage einer Anwendbarkeit des Kernbereichsschutzes gegenüber Maßnahmen des Testamentsvollstreckers; vgl. Priester in FS Stimpel, 1985, S. 463 (481 ff.). 17 BFH v. 14.5.1986 – IV a ZR 155/84, BGHZ 98, 48 (57 f.); dazu Schmitz, ZGR 1988, 140 ff.; Weidlich, ZEV 1994, 205 (208). 18 BGH v. 3.7.1989 – II ZB 1/89, BGHZ 108, 187. 19 BGH v. 3.7.1989 – II ZB 1/89, BGHZ 108, 187 (198 f.). 20 Ulmer, ZHR 146 (1982), 555 (563 ff.).

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Kernbereich der Mitgliedschaft als Schranke der Testamentsvollstreckung?

Das nachfolgende Schrifttum hat diese Überlegungen aufgegriffen. Entscheidungen, die zu einer Aufhebung des Charakters der Mitgliedschaft führten, könnten nur von den Gesellschaftern selbst „kraft eigenen Willens“ als deren Rechtsinhaber ausgeübt werden. Das treffe auch auf den Fall der Testamentsvollstreckung zu21. Dieser Grundsatz sei auf die GmbH entsprechend anzuwenden22. Die aus der Mitgliedschaft resultierenden personenrechtlichen Bindungen und Bezüge ließen sich in das „mehr sachenrechtlich orientierte Verfügungsschema des Testamentsvollstreckers nicht bruchlos einordnen“23. Daran ändere auch – so hieß es weiter – das argumentum a maiore ad minus nichts, das da lautet: Wenn der Testamentsvollstrecker die Mitgliedschaft ganz aufgeben kann, indem er den Anteil veräußert, muss er erst recht zu Inhaltsänderungen befugt sein24. Denn: eine Verschlechterung der innergesellschaftlichen Rechtsstellung des Gesellschafters kann diesen wegen der personenrechtlichen Komponente der Mitgliedschaft weit stärker belasten als die Veräußerung des Anteils gegen ein angemessenes Entgelt25. Die Einschränkung der Rechtsmacht des Testamentsvollstreckers durch die Kernbereichslehre hat auch weiterhin Anhänger26. Ihre Konsequenzen werden unterschiedlich gesehen. Teilweise wird vertreten, solchenfalls sei nur der Gesellschaftererbe zur Mitwirkung bei entsprechenden Beschlüssen berufen27. Die Mehrheit der Kernbereichsanhänger befürwortet dagegen eine gemeinsame Zuständigkeit von Testamentsvollstrecker und Gesellschaftererbe. Die Stimmrechtsausübung liegt allein beim Testamentsvollstrecker, zu ihrer Wirksamkeit muss jedoch die Zustimmung des Erben hinzukommen. Sie entfaltet eine dingliche Wirkung. Einigen sich Testamentsvollstrecker und Erbe nicht, ist die Vertragsänderung gescheitert28.

___________ 21 Quack, BB 1989, 2271 (3273). Im Ergebnis ebenso Eschelbach, Die Testamentsvollstreckung am Kommanditanteil, 1990, S. 91 ff.; D. Mayer, ZIP 1990, 976 (978); Raddatz, Die Nachlasszugehörigkeit vererbter Personengesellschaftsanteile – Folgerungen für die Rechte nachlassbeteiligter Dritter, 1991, S. 173 ff.; Reimann, DNotZ 1990, 190 (192); Reimann in Staudinger, Bearb. 2003, § 2205 BGB Rz. 122; Ulmer, NJW 1990, 73 (79); Weidlich, Die Testamentsvollstreckung im Recht der Personengesellschaften, 1993, S. 42 ff., S. 119 f.; Weidlich, ZEV 1994, 205 (208 f.). 22 Priester in FS Stimpel, 1985, S. 463 (481 ff.). 23 Priester in FS Stimpel, 1985, S. 463 (481 f.); Muscheler, Die Haftungsordnung der Testamentsvollstreckung, 1994, S. 506, meint allerdings, in dieser Feststellung liege eine „Unschlüssigkeit im Verhältnis zum Beweisthema.“ 24 So Muscheler, Die Haftungsordnung der Testamentsvollstreckung, 1994, S. 507; Ulmer in Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2009, § 705 BGB Rz. 116. 25 Ulmer, NJW 1990, 73 (79); Priester in FS Stimpel, 1985, S. 463 (482); D. Mayer, ZIP 1990, 976 (978). 26 Etwa Hopt in Baumbach/Hopt, 34. Aufl. 2010, § 139 HGB Rz. 27; Koller in Koller/ Roth/Morck, 6. Aufl. 2007, § 139 HGB Rz. 15; Strohn in Ebenroth/Boujong/Joost/ Strohn, 2. Aufl. 2008, § 177 HGB Rz. 20. 27 Buschmann, Testamentsvollstreckung im Gesellschaftsrecht – Hindernisse und Möglichkeiten, 1982, S. 176; Eschelbach, Die Testamentsvollstreckung am Kommanditanteil, 1990, S. 101; Quack, BB 1989, 2271 (2273). 28 Priester in FS Stimpel, 1985, S. 463 (483 f.); Raddatz, Die Nachlasszugehörigkeit vererbter Personengesellschaftsanteile – Folgerungen für die Rechte nachlassbeteiligter Dritter, 1991, S. 174 f.; Ulmer, NJW 1990, 73 (80 f.).

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3. Kernbereichsgegner Nach frühen Äußerungen renommierter Praktiker29 hat sich inzwischen eine Phalanx von Autoren aufgestellt, die eine Beschränkung des Testamentsvollstreckers durch den Kernbereich der Mitgliedschaft ablehnen30. Auch prominente Kernbereichsanhänger haben ohne viel Aufhebens die Seiten gewechselt31. Sie meinen, der Gesellschaftererbe brauche keinen Schutz durch die Kernbereichslehre. Er sei gegen unzumutbare Eingriffe in seine Mitgliedschaftsrechte durch die Vorschriften des Erbrechts ausreichend gesichert. Die Kernbereichslehre sei ein Institut des Minderheitenschutzes vor Beeinträchtigungen durch Gesellschaftermehrheiten, das im Verhältnis zum Testamentvollstrecker keine Anwendung finden könne32. Gegenüber den Mitgesellschaftern würden die aus dem Kernbereich resultierenden Ansprüche vom Testamentsvollstrecker wahrgenommen33. Dieser Standpunkt hat inzwischen auch in der Rechtsprechung Unterstützung gefunden34. Als Konsequenz für die Kompetenzverteilung zwischen Erben und Testamentsvollstrecker ergibt sich nach dieser Auffassung eine Alleinzuständigkeit des Letzteren, und zwar auch dann, wenn die Maßnahme in den Kernbereich der Mitgliedschaft eingreift35. Eine Zustimmung des Ersteren soll nur in den Fällen Bedeutung erlangen, in denen das Handeln des Testamentsvollstreckers seine erbrechtlichen Grenzen überschreiten würde.

IV. Erbrecht contra Gesellschaftsrecht 1. Ausgangspunkt Eine kritische Musterung der beiden gegensätzlichen Positionen zur Anwendung der Kernbereichslehre im Rahmen der Testamentsvollstreckung an Gesellschaftsanteilen muss als Ausgangspunkt die letztlich wohl unstreitige

___________ 29 Rowedder in FS Goerdeler, 1987, S. 445 (464 ff.); Brandner in FS Kellermann, 1991, S. 37 (44 f.). 30 Dörrie, Die Testamentsvollstreckung im Recht der Personenhandelsgesellschaften und der GmbH, 1994, S. 92 ff.; Hehemann, BB 1995, 1301 (1309); Lorz, Testamentsvollstreckung und Unternehmensrecht, 1995, S. 326 ff.; Lorz in FS Boujong, 1996, S. 319 ff.; Muscheler, Die Haftungsordnung der Testamentsvollstreckung, 1994, S. 506 f.; Schäfer in Staub, 5. Aufl. 2009, § 139 HGB Rz. 62; W. Zimmermann in Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2009, § 2205 BGB Rz. 45; Everts, MittBayNot 2003, 427 (429); Wenninger, Der Testamentsvollstrecker in der Umwandlung, Diss. Regensburg, 2002, S. 48 ff. 31 So Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, 2. Aufl. 2006, § 139 HGB Rz. 51b; (anders noch Karsten Schmidt in Schlegelberger, 5. Aufl. 1992, § 139 HGB Rz. 51; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 16 III 3 c, S. 475; Ulmer, in Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2009, § 705 BGB Rz. 89. Letzterer erklärt immerhin ausdrücklich, er halte an seiner bisherigen Auffassung nicht fest. 32 Hehemann, BB 1995, 1301 (1309); ähnlich Muscheler, Die Haftungsordnung der Testamentsvollstreckung, 1994, S. 507. 33 Muscheler, Die Haftungsordnung der Testamentsvollstreckung, 1994, S. 506 f.; Eschelbach, Die Testamentsvollstreckung am Kommanditanteil, 1990, S. 100. 34 LG Berlin v. 1.10.2002 – 102 T 85/02, ZEV 2004, 29 (30) m. zust. Anm. Rosener/ Bugge. 35 Lorz in FS Boujong, 1996, S. 334; Dörrie, ZEV 1996, 370 (376).

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Feststellung nehmen, dass das Schutzanliegen der Kernbereichsanhänger im Ansatz berechtigt ist. Es trifft zwar zu, dass die Kernbereichslehre Mehrheitsbeschlüssen der Gesellschafter Schranken setzen soll. Aus der Sicht des betroffenen Gesellschaftererben kommt es aber nicht darauf an, ob in seine Rechtsstellung durch die Mitgesellschafter oder durch den Testamentsvollstrecker eingegriffen wird36. Nachzudenken ist allerdings darüber, ob nicht wesentliche Teile des Kernbereichschutzes, wie dies die Kernbereichsgegner vortragen, bereits durch erbrechtliche Vorschriften bewerkstelligt werden. Beide Schutzinstrumente sind einander gegenüberzustellen. Soweit sie sich decken, ist die Frage zu klären, welcher Regelungsebene der Vorrang einzuräumen ist. Soweit sich erbrechtliche Schutzdefizite gegenüber der gesellschaftsrechtlichen Kernbereichslehre ergeben sollten, bleibt zu beantworten, ob diese nicht nach unserem Recht hinzunehmen sind. Beide Fragen betreffen die Kompetenzabgrenzung zwischen Erbrecht und Gesellschaftsrecht, hier unter dem Blickwinkel der Testamentsvollstreckung an Gesellschaftsanteilen. 2. Stellung des Testamentsvollstreckers Das Institut der Testamentsvollstreckung räumt ebenso wie dasjenige der Vor- und Nacherbschaft dem Erblasser die Möglichkeit ein, auf sein Vermögen über den Tod hinaus Einfluss zu nehmen. Beide sind gleichwohl in ihrer Zielsetzung unterschiedlich. Mit der Vor- und Nacherbschaft soll eine Steuerung des Nachlasses über regelmäßig zwei Erwerber-Stationen erreicht werden. Die Testamentsvollstreckung bezweckt dagegen – wenn sie als Verwaltungsvollstreckung über die reine Auseinandersetzung des Nachlasses hinausgeht – die Entscheidung über den weiteren Umgang mit dem Erblasservermögen nicht dem Erben, sondern einer Vertrauensperson des Erblassers zu überlassen. Nicht ausgeschlossen ist freilich, dass gelegentlich auch schlichte Herrschsucht, der Versuch, sich selbst über den Tod hinaus fortzusetzen, mit im Spiel ist37. Damit verbleibt zwar die Rechtsträgerschaft beim Erben. Sämtliche Verwaltungs- und Verfügungsrechte liegen aber beim Testamentsvollstrecker. Dieser entscheidet, was mit den seiner Verwaltung unterliegenden Nachlassgegenständen passieren soll. Für Gesellschaftsbeteiligungen gilt: Der Testamentsvollstrecker übt das Stimmrecht aus, ebenso die Informationsrechte. Er ist Adressat von Rechtshandlungen, die die Gesellschaft gegenüber dem Gesellschafter vorzunehmen hat. Gewinnausschüttungen haben an ihn zu erfolgen.

___________ 36 Wie D. Mayer in Bengel/Reimann, Handbuch der Testamentsvollstreckung, 4. Aufl. 2009, Rz. 254 mit Recht feststellt. 37 Darauf haben Wiedemann, Die Übertragung und Vererbung von Mitgliedschaftsrechen bei Handelsgesellschaften, 1965, S. 316, und Emmerich, ZHR 132 (1969), 297 nicht ohne Grund aufmerksam gemacht.

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Bei dieser Rechtsausübung ist der Testamentsvollstrecker allerdings durch ausdrückliche gesetzliche Verbote und darüber hinaus durch eine generelle Pflichtenstellung gegenüber dem Erben eingeschränkt. 3. Erbrechtliche Grenzen a) Verbot unentgeltlicher Verfügungen Die erste wichtige erbrechtliche Schranke des Testamentsvollstreckers ist das in § 2205 Satz 3 BGB ausgesprochene Verbot unentgeltlicher Verfügungen. Eine Unentgeltlichkeit liegt dabei vor, wenn – objektiv – dem Nachlass keine gleichwertige Gegenleistung zufließt und – subjektiv – der Testamentsvollstrecker das Fehlen oder die Unzulänglichkeit der Gegenleistung kennt oder bei ordnungsgemäßer Verwaltung hätte erkennen müssen38. Nach dem weitgefassten Verfügungsbegriff sind von der Vorschrift nicht nur Verfügungen über die Mitgliedschaft im Ganzen, sondern auch Beschlussfassungen über Satzungsänderungen und die rechtliche Struktur der Gesellschaft betroffen39. Eine einseitige Beschneidung der Mitgliedschaftsrechte kann der Testamentsvollstrecker nur dann durch Beschlussmitwirkung vornehmen, wenn sie im Hinblick auf gewandelte Verhältnisse und künftige Entwicklungen des Unternehmens erforderlich ist und der Stärkung oder Erhaltung des Unternehmens dient. In diesem Sinne hat der BGH für die den Nacherben schützende Vorschrift des § 2113 Abs. 2 BGB entschieden40. Das lässt sich aber auch auf die Testamentsvollstreckung anwenden41. Wichtig ist, dass § 2205 Satz 3 BGB eine dingliche Schranke für das Handeln des Testamentsvollstrecker darstellt. Unentgeltliche Verfügungen sind schwebend unwirksam. Verweigern die Erben ihre Genehmigung, werden sie endgültig unwirksam42. b) Verbot persönlicher Verpflichtung des Erben Des Weiteren kann der Testamentsvollstrecker Verbindlichkeiten nur „für den Nachlass“ eingehen. Das gilt sowohl nach der Grundregel des § 2206 BGB, mit der die Verpflichtungsbefugnis auf den Rahmen ordnungsmäßiger Verwaltung beschränkt wird, als auch dann, wenn der Erblasser den Testamentsvollstrecker von solchen Beschränkungen gemäß § 2207 BGB freigestellt hat43. Er kann demnach den Erben in keinem Falle persönlich, also mit

___________ 38 Edenhofer in Palandt, 69. Aufl. 2010, § 2205 BGB Rz. 28; Reimann, in Staudinger, BGB, Bearbeitung 2003, § 2205 Rz. 42. 39 Allg. Ansicht; etwa Lorz, in FS Boujong, 1996, S. 326; K. Müller, WM 1982, 466 (467 f.); Paschke, ZIP 1985, 129 (135). 40 BGH v. 6.10.1980 – II ZR 268/79, BGHZ 78, 177 (183); dazu Lutter, ZGR 1982, 108 ff. 41 Muscheler, Die Haftungsordnung der Testamentsvollstreckung, 1994, S. 504; Reimann, DNotZ 1990, 190 (192). 42 Edenhofer in Palandt, 69. Aufl. 2010, § 2205 Rz. 30, Reimann in Staudinger, Bearb. 2003, § 2205 Rz. 39, 81. 43 KGJ 33, 108 (119).

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seinem eigenen, nicht aus dem Erbfall stammenden Vermögen, verpflichten. Eine solche Befugnis kann ihm der Erblasser auch nicht verleihen. Diese Grenzen bieten dem Erben ebenfalls erheblichen Schutz. Sie führen einmal dazu, dass die Testamentsvollstreckung am Anteil eines persönlich haftenden Gesellschafters stark eingeschränkt ist44. Sie führen aber auch bei beschränkt haftenden Gesellschaftern, also bei Kommanditisten oder GmbHGesellschaftern dazu, dass der Testamentsvollstrecker eine Gesellschaftsgründung oder eine Kapitalerhöhung nur aus Nachlassmitteln vornehmen kann45. Schwierigkeiten können sich ergeben, wenn dem Erben aufgrund einer Maßnahme des Testamentsvollstreckers eine Ausfallhaftung nach § 24 GmbHG droht. Hier sollte es darauf ankommen, ob die sofortige volle Erfüllung aller neuen Einlagepflichten auch der Mitgesellschafter stattfindet. Anderenfalls darf sich der Testamentsvollstrecker am Erhöhungsbeschluss nicht beteiligen, es sei denn, seine Stimmkraft ist so gering, dass er den Beschluss nach den Verhältnissen des konkreten Falls nicht verhindern könnte46. Ein ähnliches Problem stellt sich hinsichtlich einer Differenzhaftung bei überbewerteter Sacheinlage (§ 9 GmbHG)47. Diese Begrenzungen werden teilweise aus dem Kernbereich der Mitgliedschaft hergeleitet48. Systematisch richtiger erscheint zwar, sie dem Belastungsverbot (§ 707 BGB) zuzuordnen. Für den Erben ist das aber am Ende gleichgültig. Jedenfalls kann er mit seinem Eigenvermögen nicht herangezogen werden. Für Verstöße gegen dieses Verpflichtungsverbot gilt das Gleiche wie bei unentgeltlichen Verfügungen: die Maßnahme ist schwebend unwirksam49. c) Gebot ordnungsgemäßer Verwaltung Ein drittes Schutzinstrument zugunsten des Erben ist das zwischen ihm und dem Testamentsvollstrecker bestehende gesetzliche Schuldverhältnis, kraft dessen dieser an den Grundsatz ordnungsgemäßer Nachlassverwaltung gebunden ist (§ 2216 Abs. 1 BGB). Im Verletzungsfall treffen ihn Schadenersatzpflichten (§ 2219 Abs. 1 BGB). Verstöße können sogar seine Entlassung aus wichtigem Grund rechtfertigen (§ 2227 BGB). Im Hinblick auf diese Bindungen und Sanktionen ist allerdings zu bedenken, dass sie nur schuldrechtlich wirken50. Maßnahmen, die der Testamentsvoll-

___________ 44 BGH v. 14.5.1986 – IV a ZR 155/84, BGHZ 98, 48 (56 f.). 45 Zur Erhöhung der Kommanditeinlage näher Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, 2. Aufl., 2008, § 139 Rz. 87. 46 Dann resultiert die Haftung nicht aus seiner Stimmabgabe. Das Handeln des Testamentsvollstreckers kollidiert aber nur dort mit § 2006 BGB, wo die Haftung auf seiner Tätigkeit beruht; Bommert, BB 1984, 178 (182). 47 Dazu etwa Dörrie, GmbHR 1996, 245 (247); J. Mayer, ZEV 2002, 209 (214). 48 So Quack, BB 1989, 2271 (2273); Raddatz, Die Nachlasszugehörigkeit vererbter Personengesellschaftsanteile – Folgerungen für die Rechte nachlassbeteiligter Dritter, 1991, S. 166. 49 Vgl. nur W. Zimmermann in Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2009, § 2006 BGB Rz. 45. 50 W. Zimmermann in Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2009, § 2216 BGB Rz. 11.

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strecker unter Verletzung seiner Pflichten trifft, erzeugen Ansprüche gegen ihn, nützen dem Erben aber im Verhältnis zu den Mitgesellschaftern nichts. 4. Strukturänderungen der Mitgliedschaft Als wesentliche offene Posten des Kernbereichsschutzes verbleiben solche Beeinträchtigungen des Erben, die weder durch das Verbot unentgeltlicher Verfügungen noch das der persönlichen Verpflichtung des Erben erfasst werden. Betroffen sind damit Strukturänderungen der Mitgliedschaft, wie sie insbesondere die Folge eines Formwechsels sein können. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Formwechsel auch ohne Berührung der persönlichen Sphäre des Erben einen Kernbereichseingriff darstellt51. Das leuchtet ein, wenn man als Beispielsfall den Formwechsel einer GmbH in eine Aktiengesellschaft nimmt. Hier bleibt zwar das Unternehmen unverändert. Auch der Umfang der Beteiligung ändert sich nicht, wohl aber ihre Rechtsnatur52. Die Stellung des GmbH-Gesellschafters ist mit deutlich mehr innergesellschaftlichen Befugnissen verbunden als diejenige des Aktionärs. Insoweit seien nur die Bestellung der Geschäftsführer, die Weisungsbefugnisse ihnen gegenüber oder das Recht zur Feststellung des Jahresabschlusses genannt. All das fehlt den Aktionären. Ein derartiger Formwechsel kann zwar mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden (§ 240 Abs. 1 Satz 1 UmwG). Wer dagegen gestimmt hat, kann aber – als Kompensation – gegen Entgelt ausscheiden (§§ 207 ff. UmwG). Für den Erben wirkt sich diese Veränderung der Mitgliedschaft letztlich erst beim Ende der Testamentsvollstreckung aus, dann nämlich, wenn er sich in einem anders strukturierten Verband wiederfindet als im Zeitpunkt des Erbfalls. Man könnte also sagen, er bekommt nicht das, was er geerbt hat. Sei seine Mitgliedschaft vor derartigen von ihm nicht mitgetragenen Strukturänderungen geschützt, müsse das, so wäre zu argumentieren, auch im Verhältnis zum Testamentsvollstrecker gelten. Gleichwohl hat die Rechtsprechung einen solchen Formwechsel in die alleinige Rechtsmacht des Testamentsvollstreckers gestellt. Zu nennen ist hier einmal ein Beschluss des BayObLG aus dem Jahre 197653, in dem das Gericht darauf abgestellt hat, dass für den Erben keine weitergehenden Verpflichtungen begründet würden. Eine Auseinandersetzung mit der Kernbereichslehre fand allerdings nicht statt. Anders liegt es bei einem späteren Urteil des LG Mannheim von 199854, in dem es ausdrücklich heißt, trotz Einwirkung in den Kernbereich der Mitgliedschaft könne ein Testamentsvollstrecker die erfor-

___________ 51 Harry Schmidt in FS Brandner, 1996, S. 133 (146); Priester, ZGR 1990, 420 (439); Weidlich, MittBayNot. 1996, 1 (3). 52 Der formwechselnde Rechtsträger besteht in der in dem Umwandlungsbeschluss bestimmten Rechtsform weiter. Die Anteilsinhaber des formwechselnden Rechtsträgers sind an dem Rechtsträger nach dem für die neue Rechtsform geltenden Vorschriften beteiligt … (§ 202 Abs. 1 Nr. 1, 2 UmwG). 53 BayObLG, NJW 1976, 162. 54 LG Mannheim v. 10.11.1998 – 2 O 193/98, MittBayNot 2000, 570 m. zust. Anm. Wenninger, ZEV 1999, 445; m. zust. Anm. Pentz, NZG 1999, 825.

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derlichen Beschlüsse ohne Zustimmung der Erben fassen, solange keine weitergehenden Verpflichtungen für den Erben begründet würden55. 5. Prävalenz des Erbrechts Schließt man sich dieser Beurteilung an, ist zu konstatieren, dass die erbrechtlichen Instrumente nicht vollständig ausreichen, den Kernbereich der Mitgliedschaft zu schützen. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit diese Schutzlücke hinzunehmen ist. Ausgangspunkt muss dabei sein, dass die Testamentsvollstreckung ein Institut des Erbrechts ist. Dieses räumt dem Testamentsvollstrecker die vollumfängliche Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis ein. Sie enthält als ein Kernelement gerade den Ausschluss des Erben von der Verfügungsbefugnis über den Nachlass. Wie insbesondere das Verpflichtungsverbot des § 2006 BGB, aber auch das Verbot unentgeltlicher Verfügungen in § 2205 BGB zeigen, ist der Testamentsvollstrecker dinglich an einer Beeinträchtigung der Eigensphäre des Erblassers gehindert, nicht aber an der Ausübung der Verwaltung. Insoweit bleibt es bei einer schuldrechtlichen Verpflichtung gegenüber dem Erben gemäß §§ 2216, 2219 BGB. So entspricht es dem Willen des Erblassers. Der Testamentsvollstrecker soll pflichtgemäß entscheiden, wie mit dem Nachlass am besten zu verfahren ist. Das gilt auch für einen Formwechsel. Will der Erblasser dem Testamentsvollstrecker hinsichtlich seiner Verwaltung Grenzen ziehen, kann er ihn durch Verfügung von Todes wegen entsprechend beschränken (§ 2208 Abs. 1 Satz 1 BGB). Aufgrund der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Testamentsvollstreckers muss der Erbe den Nachlassgegenstand in dem Zustande hinnehmen, wie er sich am Ende der Testamentsvollstreckung befindet. Für Sachen ist das selbstverständlich: Der Testamentsvollstrecker kann aus einem Wohnhaus ein Geschäftshaus machen und umgekehrt. Das gilt aber auch für unternehmerisches Vermögen: Der Testamentsvollstrecker kann dem Erben „faktisch ein anderes Unternehmen überlassen, als er es selbst angetroffen hat“56. Wer eine Testamentsvollstreckung am Gesellschaftsanteil akzeptiert, muss auch akzeptieren, dass für das Verhältnis vom Erben zum Testamentsvollstrecker erbrechtliche Regeln gelten. Der Kernbereichsschutz ist damit keineswegs erledigt. Im Verhältnis zu den Mitgesellschaftern besteht er auch während der Testamentsvollstreckung. Die daraus resultierenden Rechte werden jedoch vom Testamentsvollstrecker wahrgenommen57. Nebenbei: Seine klare Alleinzuständigkeit schafft für die Mitgesellschafter einen Kolla-

___________ 55 Dem folgend Happ/Göthel in Lutter, 4. Aufl. 2009, § 233 UmwG Rz. 44; Vossius in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, Lfg. 102 Stand August 2008, § 233 Rz. 39. Ablehnend dagegen N. Zimmermann in Kallmeyer, 4. Aufl., 2010, § 193 UmwG Rz. 27. 56 Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, 2004, § 5 III 3 b, S. 493. 57 Darin ist Muscheler, Die Haftungsordnung der Testamentsvollstreckung, 1994, S. 506, durchaus zuzustimmen.

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teralnutzen, vermeidet sie doch eine Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Reichweite des Kernbereichs im konkreten Fall. Man mag in dem Ergebnis ein weiteres Argument gegen die Bevormundung des Erben durch eine Testamentsvollstreckung sehen, sie entspricht aber dem geltenden Recht. Und: der Erbe hat sich mit Annahme der Erbschaft freiwillig unter die Herrschaft des Testamentsvollstreckers begeben.

V. Fazit Nach einer früher überwiegend – auch vom Verfasser – vertretenen Auffassung sind der Testamentsvollstreckung an Gesellschaftsanteilen Grenzen durch die gesellschaftsrechtliche Lehre vom Kernbereich der Mitgliedschaft gesetzt. Daran sollte nach nochmaliger Überprüfung nicht festgehalten werden. Grenzen seiner Befugnisse werden dem Testamentsvollstrecker allein durch das Erbrecht gezogen. Sie decken einen großen Sektor des Kernbereichsschutzes ab. Verbleibende Schutzlücken sind durch die gesetzgeberischen Ziele des Erbrechts bedingt, die insoweit das Gesellschaftsrecht überlagern.

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„Grau teurer Freund, ist alle Theorie. Und grün des Lebens goldner Baum“1. Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die Änderung der Norm 1. Das Prinzip der Ehe auf Lebenszeit 2. Das Verantwortungsprinzip III. Die Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs – auch im Familienrecht: die Situation Ende der 60er Jahre IV. Das Leitbild der Ehe und die Sanktionen ehewidrigen Verhaltens 1. Das Leitbild der Ehe 2. Die Sanktionen V. Die Vorstellung von einer Ehe im individuellen Einvernehmen und die Eherechtsreform 1. Das Streck’sche Vertrauensschutzprinzip 2. § 1353 BGB nach der Eherechtsreform VI. Die Pflicht zur Haushaltsführung und der „Wahlakt“ 1. Die Pflicht zur Haushaltsführung 2. Der „Wahlakt“ oder das Streck’sche Vertrauensschutzprinzip? VII. Die damalige Rechtsprechung und das Bild der Ehe – Die Erwerbstätigkeit der Ehefrau und die „Mithilfe“ des Ehemannes im Haushalt

VIII. Die Rollenwahl: Von der Nachrangigkeit der Erwerbstätigkeit zur Erwerbsobliegenheit 1. Erster Rang: Haushaltsführungspflicht – Zweiter Rang: Recht auf Erwerbstätigkeit 2. Das Recht, zu Hause zu bleiben – 1978 3. Die Pflicht, Einkommen zu erzielen – 1993 4. Die verheiratete als „fiktiv geschieden“ geltende Ehefrau im Unterhaltsrecht – 2009 5. Die ehelichen Lebensverhältnisse aus § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB – seit 2008 wandelbar? IX. Unbestimmte Rechtsbegriffe im Unterhaltsrecht – damals wie heute 1. Unterhalt: angemessen und billig 2. Unterhalt und Verschuldensprinzip X. Fazit 1. § 1353 BGB wirkt nur noch im Vermögensrecht 2. Wandel des Inhalts der Norm 3. Überzogene Scheidungsfolgen im 1. EheRG unter Berufung auf § 1353 BGB 4. Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und das „Modell Ehe“ als verblassendes Vorbild

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I. Einleitung Michael Streck machte mich schon vor Jahren darauf aufmerksam, dass er seine Dissertation auf dem Gebiet des Familienrechts geschrieben habe. Erst jetzt habe ich sie von ihm erhalten. Der Titel der Arbeit lautet: „General-

___________ 1 Goethe, Faust I, S. 2038 f. (Mephisto zum Schüler in der 2. Studierzimmerszene).

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klausel und unbestimmter Begriff im Recht der allgemeinen Ehewirkungen, Bonn 1970“. Die allgemeinen Ehewirkungen sind bis heute in § 1353 BGB normiert. Die Vorschrift ist seither nicht wesentlich geändert worden, aber ihr familienrechtliches Umfeld hat sich erheblich gewandelt. § 1353 BGB lautet heute anders als damals: § 1353 BGB Eheliche Lebensgemeinschaft (1) Die Ehe wird auf Lebenszeit geschlossen. Die Ehegatten sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet; sie tragen füreinander Verantwortung. (2) Ein Ehegatte ist nicht verpflichtet, dem Verlangen des anderen Ehegatten nach Herstellung der Gemeinschaft Folge zu leisten, wenn sich das Verlangen als Missbrauch seines Rechts darstellt oder wenn die Ehe gescheitert ist.

II. Die Änderung der Norm 1. Das Prinzip der Ehe auf Lebenszeit Das Prinzip der Lebenszeitehe galt seit jeher als selbstverständliche Folgerung aus der Pflicht zur ehelichen Lebensgemeinschaft. Dass eine Ehe auf Lebenszeit geschlossen wird, wurde daher nicht in Frage gestellt. Die ausdrückliche Formulierung dieses Prinzips in § 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB durch das 1. EheRG verwundert daher und lässt vermuten, dass das Prinzip der Lebenszeitehe im wahren Leben gerade nicht mehr als gültig angesehen wird. Das auf Antrag des Bundestags-Rechtsausschusses2 aufgenommene Bekenntnis zur Lebenszeitehe ist anlässlich der Eherechtsreform von 1976 wohl aufgenommen worden, um die starken Reformgegner zu besänftigen. Diese waren wegen des eingeführten Zerrüttungsprinzips, das nach dem zeitlichen Ablauf bestimmter Trennungsfristen eine Ehescheidung unproblematisch zulässt (§§ 1565 ff. BGB), besonders aufgebracht. Da die Unauflöslichkeit der Ehe allerdings kein Dogma, sondern nur ein Grundsatz ist, steht die Scheidungsmöglichkeit zu ihr nach allgemeiner Meinung nicht in Widerspruch. Zunehmend scheitern Ehen weltweit unabhängig davon, welches Scheidungsrecht jeweils gilt. Die Statistik spricht hier eine deutliche Sprache. Damit ist die Scheidung die notwendige Ausnahme vom Lebenszeitprinzip, um die Möglichkeit eines Neuanfangs in einer Zweitehe zu ermöglichen3. Zweitehen wollte der Gesetzgeber anlässlich des 1. EheRG

___________ 2 BT-Drucks. 7/4361, 6. Dazu: Diederichsen, NJW 1977, 217. 3 BVerfG v. 28.2.1980 – 1 BvL 136/78, 1 BvR 890/77, 1 BvR 1300/78, 1 BvR 1440/78, 1 BvR 32/79, FamRZ 1980, 319: Der Verfassung liege das Bild der „verweltlichten“ bürgerlich-rechtlichen Ehe zugrunde, zu dem es auch gehöre, dass die Ehegatten unter den vom Gesetz normierten Voraussetzungen geschieden werden können und damit ihre Eheschließungsfreiheit wiedererlangen. Auch aus der Begründung des Unterhaltsrechtsreformgesetzes, BGBl. I 2007, 3189, ergibt sich nun, dass der Gesetzgeber ausdrücklich Zweitehen (mit Kindern) ermöglichen will, die zuvor wegen der lebenslangen Unterhaltslast nicht ohne Weiteres möglich gewesen seien.

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durch die gleichzeitig eingeführten lückenlosen nachehelichen Unterhaltsansprüche der geschiedenen Erstehefrau jedenfalls noch behindern4. Angesichts der steigenden Lebenserwartung der Menschen geht die Tendenz nun auch zur Drittehe. Dabei ist es gleichzeitig nützlich, dass das Lebenszeitprinzip einer im höheren Alter oder am Totenbett geschlossenen Ehe nicht entgegensteht5. Mit dem Lebenszeitprinzip musste sich Streck anlässlich seiner Dissertation also noch nicht auseinandersetzen. Damals wurde es – obwohl nicht normiert – für selbstverständlich gehalten. 2. Das Verantwortungsprinzip Damals fehlte § 1353 BGB auch der letzte Halbs. von Abs. 1 Satz 2 „sie tragen füreinander Verantwortung.“ Dieser Halbs. wurde erst 19986 angefügt. Die Klarstellung, der dieser Zusatz dient, soll – gegenüber anderen Lebensgemeinschaften – den besonderen Charakter der Ehe als Verantwortungsgemeinschaft verdeutlichen und dazu beitragen, den Tatbestand des Eheaufhebungsgrundes der sog. Scheinehe (§ 1314 Abs. 2 Nr. 5 BGB, wonach eine Ehe aufgehoben werden kann, wenn beide Ehegatten sich bei der Eheschließung darüber einig waren, dass sie keine Verpflichtung gemäß § 1353 Abs. 1 BGB begründen wollen) näher zu konkretisieren7. Auch mit dieser – eher rhetorischen – Vorschrift war also eine Aufwertung des Instituts der Ehe gegenüber solchen Verbindungen beabsichtigt, die eine dem Wesen der Ehe entsprechende eheliche Gesinnung nicht aufweisen (wollen). Der Pflichtenkreis der Eheleute wurde hierdurch aber gerade nicht ausgeweitet8.

III. Die Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs – auch im Familienrecht: die Situation Ende der 60er Jahre Strecks Auseinandersetzung mit den ehelichen Pflichten des damaligen § 1353 BGB und den Folgenormen, die diese Pflichten konkretisierten, fand in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs statt. Er schrieb in der Zeit der Studentenunruhen, die die bürgerlichen Konventionen damals besonders in Frage stellten – auch die Ehe – und vor allem nicht mehr bereit waren, die väterliche Autorität in allen Varianten zu akzeptieren. Er selbst war bereits verheiratet. Seine Frau war eine berufstätige Frau. Seine erste Tochter wurde 1968 geboren. Weitere Töchter kamen 1971 und 1976 zur Welt. Schon die der Dissertation vorangestellte Literaturliste mit Aufsatzüberschriften wie: „Zwang zur Ehe“, „Das Recht auf eheliche Lebensgemein-

___________ 4 Born, Intakte Ehe trotz fehlender Sexualität, FuR 2009, 61; Anm. zu OLG Zweibrücken NJW-RR 2009, 371. 5 Wellenhofer in NK-BGB, 2. Aufl. 2010, § 1353 BGB Rz. 3. 6 Durch EheSchlRG v. 4.5.1998, Art. 1 Nr. 3, BGBl. I 1998, 833. 7 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum Entwurf des EheschlRG, BT-Drucks. 13/9416, 29. 8 Brudermüller in Palandt, 69. Aufl. 2010, § 1353 BGB Rz 4.

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schaft und seine prozessuale Durchsetzung“, „Das natürliche Entscheidungsrecht des Mannes in Ehe und Familie“, zeigt, in welchen „juristischen“ Zeiten sich Michael Streck der eherechtlichen Generalklausel des § 1353 BGB zuwandte. Das Gleichberechtigungsgesetz war zwar am 1.7.1958 in Kraft getreten, aber ersichtlich im Familienrecht noch nicht ganz verdaut. Die Eherechtskommission beim Bundesministerium der Justiz hatte – wohl knapp nach Fertigstellung der Dissertation – 1970 ihren Bericht zur Reform des Ehescheidungsrechts und des Unterhaltsrechts vorgelegt. Die Diskussion über die Reformvorstellungen (Abkehr vom Schuldprinzip hin zum Zerrüttungsprinzip) wurde noch bis zum Inkrafttreten des 1. EheRG im Jahre 1977 – hoch streitig – geführt.

IV. Das Leitbild der Ehe und die Sanktionen ehewidrigen Verhaltens 1. Das Leitbild der Ehe Die Rechtsprechung ging davon aus, dass beide Eheleute verpflichtet sind, sich auch unter Opfern und Verzichten um die Verwirklichung der ehelichen Gemeinschaft zu bemühen und nach bestem Vermögen zu versuchen, Enttäuschungen, die ihnen der Ehepartner im Verlaufe der Ehe bereitet hat, zu überwinden. Das Leitbild des Gesetzgebers von der Ehe war natürlich die Hausfrauenehe, da dieser Ehetyp in der sozialen Wirklichkeit auch der vorherrschende war. „Die Frau gehört ins Haus“ lautete damals das in der familienrechtlichen Literatur vorherrschende Credo. Zu den Wesensmerkmalen der Ehe als (prinzipiell lebenslanger) Verbindung eines Mannes mit einer Frau gehören bis heute die Gebote der Einehe (§ 1306 BGB) und der Geschlechtsverschiedenheit (die Merkmale der Exklusivität und der Geschlechtsverschiedenheit gelten allerdings heute ebenso nach der Definition des BVerfG für die nichteheliche Lebensgemeinschaft9). 2. Die Sanktionen An ehewidriges Verhalten knüpften sich vor dem Inkrafttreten des 1. EheRG Sanktionen durch das Scheidungsrecht selbst mit seinen Scheidungsgründen (§§ 42, 43 EheG a.F.) und seinen Folgen: dem Unterhaltsrecht unter Geschiedenen (§§ 58 ff. EheG a.F.), der Übertragung der elterlichen Gewalt für die Kinder an den schuldlosen Ehegatten (§ 1671 Abs. 3 Satz 2 a.F.) und vielem mehr, was an Sanktionen für ein ehewidriges Verhalten im damaligen Recht dienen konnte. Scheidungsrecht und Scheidungsfolgenrecht spiegelten damit das Recht der allgemeinen Ehewirkungen aus den §§ 1353 ff. BGB wider.

___________ 9 BVerfG v. 17.11.1992 – 1 BvL 8/87, FamRZ 1993, 164: „Eine eheähnliche Gemeinschaft ist eine Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau, die auf Dauer angelegt ist, daneben keine weitere Lebensgemeinschaft gleicher Art zulässt und sich durch innere Bindungen auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander begründen, also über die Beziehungen in einer reinen Haushaltsund Wirtschaftsgemeinschaft hinausgehen“.

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Streck war sichtlich bemüht, derartige Sanktionen für ehewidriges Verhalten zurückzudrängen, indem er auf die konkret gelebte Ehe und weniger auf das vorherrschende Bild der Ehe Bezug nahm. Er entwickelte in seiner Dissertation ein Vertrauensschutzprinzip, das sich als juristische Figur durchaus eignete und § 1353 BGB die gleiche Aufgabe zuwies wie dem § 242 BGB im Schuldrecht. Den Zusammenhang zwischen Eheverfehlungen und Sanktionen änderte erst 1976 das 1. EheRG mit der Abschaffung des Schuldprinzips im Scheidungsrecht. Das an die formalen Trennungsfristen anknüpfende, bis heute geltende Scheidungsrecht wirkt nun nicht mehr auf die Auslegung der §§ 1353 ff. BGB zurück, es liefert keine Sanktionsmöglichkeiten mehr für ein ehewidriges Verhalten. Schwerwiegende Eheverfehlungen können allerdings auch heute noch Bedeutung für die Auslegung der §§ 1565 Abs. 2, 1381, 1579 BGB entfalten. Dort regiert in gewisser Weise auch weiterhin noch das Schuldprinzip. Davon abgesehen bleibt im bisherigen Scheidungsrecht eine Verletzung der Pflichten aus § 1353 BGB sanktionslos. Die aus § 1353 BGB fließenden Pflichten der Ehegatten untereinander gelten damals wie heute als zwingend, allerdings überwiegend als nicht einklagbar. Ihre Unabdingbarkeit betonten besonders die institutionellen Ehelehren10. Andere Auffassungen ließen der Parteivereinbarung dagegen weiten Spielraum.

V. Die Vorstellung von einer Ehe im individuellen Einvernehmen und die Eherechtsreform 1. Das Streck’sche Vertrauensschutzprinzip Streck gilt nach den heutigen Kommentierungen11 des § 1353 BGB als Vertreter der interindividuellen Ehelehre, die schon früh auf das durch die Ehe gesetzte Vertrauen der Eheleute gesetzt hat. Schon damals erkannte er nur noch zwei Formalpflichten der Eheleute an, nämlich die zur gemeinsamen Entscheidung in allen Fragen der Ehe und zum Leben in räumlicher Zuordnung, und verwies im Übrigen auf die jeweilige durch die konkrete Ehe geschaffene Vertrauenslage. Das moderne Familienrecht hat sich in diese Richtung seiner damaligen Ausführungen entwickelt. Als Faustformel gilt auch bis heute: Je deutlicher die Eheleute eine Einigung über ihre gemeinsamen Angelegenheiten in der Ehe erzielt haben und je länger sie von ihnen praktiziert wurde, ein desto größeres zu schützendes Vertrauen hat sich entwickelt und desto wirksamer ist die getroffene Absprache der Eheleute. Diese wechselseitige Verantwortung aus der gelebten Ehe überdauert als „nacheheliche Solidarität“ sogar die Ehescheidung.

___________ 10 RG v. 29.5.1905 – IV 26/05, RGZ 61, 50 (53); JW 1914, 355 f.; DJ 1941, 712; BGH v. 18.12.1957 – IV ZR 226/57, NJW 1958, 546; OLG Frankfurt OLGE 7, 548 f. 11 Wacke in Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2000, § 1353 BGB Rz. 3.

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Das 1. EheRG12 hat die Möglichkeit der freien internen Vereinbarungen erweitert. Völlige Freiheit herrscht heute bei der Rollenverteilung (§§ 1356, 1357 BGB). Die frühere Mitarbeitspflicht (§ 1356 Abs. 2 BGB a.F.), mit der sich Streck ausführlich auseinandersetzt, ist entfallen. Das geltende Eherecht enthält insgesamt nur noch wenige absolut zwingende Normen. Unabdingbar sind die Verpflichtung zur geschlechtlichen Treue sowie das Lebenszeitprinzip (§ 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB); grundsätzlich verpflichtend ist auch das Leben in häuslicher Gemeinschaft. Das staatliche Personenstandsrecht ist selbstverständlich weiterhin verbindlich, schon damit Beginn und Ende der Ehe festgestellt werden können, da mit Wirkung allen gegenüber Klarheit bestehen muss, ob zwei Personen miteinander verheiratet sind oder nicht.

2. § 1353 BGB nach der Eherechtsreform Der Versuch einer Auslegung des § 1353 BGB im Lichte des 1. EheRG zeigt, dass das Fehlen von Sanktionen für ein ehewidriges Verhalten es unmöglich und weitgehend überflüssig macht, das Bestehen einzelner Ehepflichten verbindlich festzustellen, sofern sie nicht vermögensrechtlicher Natur sind. Die allgemeinen Ehepflichten können allenfalls Obliegenheiten insoweit sein, als sie keine unmittelbar durchsetzbaren Verbindlichkeiten mehr erzeugen, aber zum Nachteil wirken können, wenn man gegen sie verstößt. Man muss dann die Scheidung hinnehmen, ohne sich – auf Dauer – dagegen wehren zu können. Der Verzicht auf Eheleitbilder und die Erweiterung der Ehegattenautonomie zeigt, dass die staatliche Gemeinschaft bis heute nicht mehr in der Lage ist, einzelne Ehepflichten allgemeingültig zu formulieren. Nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers anlässlich der Eherechtsreform sollte die Generalklausel des § 1353 BGB mit ihrem bisherigen Inhalt unverändert weiterhin gelten. Diese Absicht war offenbar ein reines Lippenbekenntnis, um die Scheidungsreformgegner zu beruhigen. Im Gesetz kommt sie nicht mehr zum Ausdruck. Aktuelle Urteile zu den Pflichten des § 1353 BGB sind selten und betreffen ausschließlich vermögensrechtliche Fragen. Die Eheleute müssen ihre Ehe daher weitgehend autonom im Miteinander gestalten. Für eine hierzu erforderliche Verständigung und das Verständnis füreinander gibt es keine Entsprechung. Damit ist eine richterliche Regelung innerer ehelicher Verhältnisse begrenzt. Es kann aber auch nicht die Aufgabe von Juristen sein, (moralisierende) Einzelanweisungen für ein harmonisches Ehe- und Familienleben heute noch zu erteilen13, obwohl es auf kaum einem Gebiet so viele Laien-Sachverständige gibt, die sich gerne und unaufgefordert hierzu äußern, wie im Familienrecht.

___________ 12 Erstes Eherechtsreformgesetz vom 14.6.1976 (BGBl. I, 1421). 13 Wacke in Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2000, § 1353 BGB Rz. 15.

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VI. Die Pflicht zur Haushaltsführung und der „Wahlakt“ 1. Die Pflicht zur Haushaltsführung Michael Streck untersucht in seiner Dissertation die nach seiner Auffassung dem § 242 BGB nachgeformte Generalklausel des § 1353 BGB und beschäftigt sich dort im III. Abschnitt gesondert mit dem Verhältnis des § 1353 BGB zum Modell der Hausfrauenehe. Schon damals wurde – halbherzig – erkannt, dass es den Ehegatten besser unbenommen bleiben sollte, auch eine Doppelverdienerehe zu führen, oder gar eine Ehe, in der der Mann den Haushalt führt und die Frau den Familienunterhalt verdient. Art. 3 Abs. 2 GG existierte, ohne jedoch wirklich umgesetzt zu sein. Die damalige Fassung von § 1356 Abs. 1 Satz 1 BGB stand mit der freien Wahl der Rollen in der Ehe nicht in Einklang. Er gab der Frau das Recht und die Pflicht, den Haushalt zu führen. Eine Frau, die das Geld verdiente und dem Mann die Haushaltsführung überließ, verletzte jedoch hierbei unablässig ihre Pflicht zur Haushaltsführung aus § 1356 Abs. 1 Satz 1 BGB. Der Mann konnte hieraus einen Scheidungsgrund nach dem EheG herleiten. Dies galt auch für den Fall der Doppelverdienerehe, sofern die Frau neben ihrer Arbeit den Haushalt nicht zur Zufriedenheit des Mannes führte. Die Familienrechtslehre merkte natürlich, dass § 1356 BGB angesichts der Gleichberechtigung nicht mehr als „zwingend“ angesehen werden konnte und versuchte deshalb dessen Anwendung von einem „Wahlakt“ der Eheleute über die Rollenverteilung abhängig zu machen, sodass die Vorschrift auch in umgekehrter Rollenverteilung Anwendung finden konnte. 2. Der „Wahlakt“ oder das Streck’sche Vertrauensschutzprinzip? Streck argumentierte gegen diesen „Wahlakt“. Wenn die Eheleute keine Lebensgemeinschaft in einer von dem sozialen Leitbild (Hausfrauenehe) abweichenden Form verwirklichen, behielt nach seiner Auffassung allerdings die Pflicht zur Haushaltsführung durch die Frau weiter Geltung. Abweichende Vereinbarungen hielt er gemäß § 134 BGB für nichtig. Erst mit der Verwirklichung einer anderen Lebensform und Gemeinschaft würden selbst nichtige Vereinbarungen wirksam, da sich die Ehepartner hierdurch von der verpflichtenden Regelung des § 1356 Abs. 1 Satz 1 BGB gelöst hätten. Die Ehefrau könne sich zwar nicht von ihrer Pflicht zur Haushaltsführung „loskaufen“, die Ehepartner können aber gemeinsam die Ehefrau von jeglicher Pflicht zur Haushaltsführung befreien, wenn beispielsweise der Mann es ist, der über längere Zeit hinweg in der Realität den Haushalt geführt hat. Insoweit widerspricht Streck einer Vereinbarung, also einem „Wahlakt“ der Ehegatten zur Rollenverteilung, sondern knüpft an die tatsächlichen Verhältnisse, an die in der Realität verwirklichte Eheführung an. Dies hatte natürlich Folgen. Wären Abreden der Ehegatten verbindlich, könnten sich daraus ergebende Pflichten notfalls auch gerichtlich feststellen lassen. Eine derartige Einmischung von Außenstehenden in Eheangelegenheiten und die persönlichen Beziehungen der Ehegatten zueinander sollte nach seiner Auffassung nur dann möglich sein, wenn nicht nur eine „nicht durchgeführte“ Vereinbarung möglich ist, 909

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sondern erst wenn sie effektiv auch längere Zeit durchgeführt wurde. „Erst wenn die Ehepartner faktisch ihr gemeinsames Leben von dem Modell der Hausfrauenehe lösen, verlieren die dahingehenden Normen ihre verpflichtende Kraft14.“ Lebensmodelle können sich ändern. Die Kritik an dem Streck’schen Vetrauensschutzprinzip lässt dies außer Acht und knüpft allein an der für die Zukunft geschlossenen Planung und Vereinbarung an15. Erst wenn derartige Ehevereinbarungen demgemäß „schlicht gelebt“ werden, wie bei der Rollenverteilung gemäß § 1356 BGB, beziehen sie ihren Geltungsgrund nach Streck also weniger aus ihrer rechtsgeschäftlichen Verbindlichkeit als vielmehr aus dem Gedanken der Bindung an zurechenbar geschaffenes Vertrauen. Streck weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass, wenn der Mann seine Arbeit verliert, die Ehefrau wohl arbeiten gehen „muss“, um den Familienunterhalt zu sichern. Mit der Haushaltsführung wird es dann nicht mehr getan sein. Bekommen die Eheleute Kinder, wird sie wieder zu Hause bleiben „dürfen“. An diesen die Ehe konkret herausfordernden Änderungen der Lebensverhältnisse kann eine vorangehende Vereinbarung („Wahlakt“) über das geplante Ehemodell nichts ändern. Sie ist nicht bindend. Menschen ändern ihr Leben und bleiben gerade nicht bei einer einmal getroffenen Entscheidung. Dies gilt auch für die Rollenwahl in der Ehe. Der Vertrauensschutzgedanke und die Grundsätze der Verständnis- und Verständigungsbereitschaft erfordern eine Bindung an die getroffene Abrede nur in der Weise, dass eine Lossagung von ihr dem anderen Ehegatten mit den zugrunde liegenden Motiven mitgeteilt und mit dem Ziel einer verständnisvollen Einigung erörtert werden muss. Sie darf auch nicht zur Unzeit „gekündigt“ werden, sondern muss ausreichend Gelegenheit zu einer Umdisposition des anderen Ehegatten und der Familie ermöglichen. Dieser Vereinbarungsgrundsatz gilt auch heute noch. Zu einer inneren Organisation der Ehe wird bis heute Gernhuber zitiert, wonach mit dem Begriff der „Ordnung“ alle privatautonomen Bestimmungen des Eheinhalts zu beschreiben sind, mithin alles Einvernehmen, das die konkrete Ehe grundlegend „modelliert“ und sich als innere „Verfassung der Ehe“ beschreiben lässt. Dazu zähle das von § 1356 BGB geforderte Einvernehmen über Haushaltsführung und Erwerbstätigkeit. Als „Beschlüsse“ werden alle vorausplanenden Vereinbarungen verstanden, mit denen die Ehegatten ihre konkreten Pläne festlegen (z.B. die Begründung des Wohnsitzes) oder auch nur Rahmenbedingungen schaffen (z.B. über die Höhe des Wirtschaftsgeldes) oder Richtlinien entwickeln (z.B. Prioritäten über die Verwendung der zur Verfügung stehenden Gelder)16. Das Schrifttum hält damit in gewisser Weise weiter an den internen Vereinbarungen über die Eheplanung fest. Dies ergibt sich auch in Bezug auf die Eheverträge daraus, dass eine Anpassung der Verträge gemäß § 242 BGB dann möglich ist, wenn der Verlauf der Ehe (Planung: kin-

___________ 14 Streck, Generalklausel und unbestimmter Begriff im Recht der allgemeinen Ehewirkungen, 1970, S. 119. 15 Brühl, FamRZ 1970, 612 ff. 16 Gernhuber, FamRZ 1979, 193 ff.

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derlose Ehe mit beiderseitiger Erwerbstätigkeit – Realität am Ende der Ehe: drei Kinder und eine Hausfrau) von der geplanten Ehe abweicht. Notare sind daher gehalten, die konkrete Eheplanung (Gründe und Motive des Vertrags) jeweils in einer Präambel in den Ehevertrag aufzunehmen17. Allerdings gilt der Gedanke der Planbarkeit von Eheverläufen nur noch eingeschränkt, da man sich auf eine einmal getroffene und gelebte Rollenwahl schon angesichts der hohen Scheidungszahlen und der statistischen Möglichkeit einer Ehescheidung nicht wird verlassen können. Keine Frau wird daher realistischerweise heute darauf bauen können, dass sie – auch wenn sie wegen der Kindererziehung viele Jahre wie geplant Hausfrau war – nie wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen muss. Die Ehe ist spätestens seit der Unterhaltsrechtsreform von 2007 keine Lebensversicherung mehr.

VII. Die damalige Rechtsprechung und das Bild der Ehe – Die Erwerbstätigkeit der Ehefrau und die „Mithilfe“ des Ehemannes im Haushalt Die damalige Rechtsprechung förderte die Erwerbstätigkeit der Frau nicht. Im Gegenteil. Auch die Rolle des Mannes war fest umschrieben. Noch 1959 befand der BGH, dass von einem Ehemann allenfalls eine „Mithilfe“ im Haushalt zu erwarten sei: „Der Ehemann ist auch im Haushalt zur Mithilfe verpflichtet, soweit dies nach den Verhältnissen der Eheleute üblich ist. Ist er nicht mehr berufstätig, so wird er im Allgemeinen zu erhöhter Mithilfe im Haushalt verpflichtet sein“18. Sieht man sich die heutigen Untersuchungen über die Beteiligung von Männern an der Hausarbeit an, so hat sich diese Haltung nicht wesentlich geändert. Sie gilt vielmehr hartnäckig auch weiterhin. In bundesdeutschen Haushalten sieht es auf diesem Gebiet nicht viel anders aus als früher. Das OLG Stuttgart beschrieb den Alltag von Eheleuten 1961 so, dass es hier wegen des sprachlichen Ausdrucks wörtlich zitiert werden muss: „Betrachtet man … die konkrete Ordnung der Ehe des Klägers, dann ist festzustellen, dass sich hier zwei junge Leute aus dem Kleinbürgertum zu einer Ehegemeinschaft zusammengefunden haben, die beide sehr fleißig und bemüht waren, jedem von ihnen Raum und Möglichkeit für seine Liebhabereien zu lassen. Bedingt durch Tradition und Erziehung sah die Ehefrau des Klägers … in der Führung und tadellosen sparsamen Bewältigung ihres Haushaltes nicht nur eine ihr in der Ehe gestellte Aufgabe, sondern auch den sie befriedigenden und mit Stolz erfüllenden Ausgleich zu ihrer Berufsarbeit. Deshalb legte sie … keinen gesteigerten Wert auf die Mithilfe des Klägers. Dieser hingegen, durch Überstunden mehr als üblich bei der Berufsarbeit festgehalten, benützte seine Freizeit für den Sport und zur Erledigung übernommener ehrenamtlicher Aufgaben. In einer derartigen keineswegs selten anzutreffenden Ehe beschränkt sich üblicherweise die Mithilfe des Ehemannes im Hauswesen im weiteren Sinn auf Arbeiten, für die der Ehefrau Zeit, Begabung oder Neigung fehlen. Im gegebenen Fall kamen hierfür die im Garten anfallenden Arbeiten, die Erledigung der Korrespondenz und die

___________ 17 Langenfeld, Handbuch der Eheverträge, 5. Aufl. 2005, § 3 II. 5. Rz 66. 18 BGH v. 10.11.1959 – VI ZR 201/58, NJW 1960, 141.

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Ingeborg Rakete-Dombek Ausführung kleinerer Reparaturen im Haushalt in Frage. Mit diesen Arbeiten, denen sich der Kläger … nicht entzog, … erfüllte der Kläger die ihm nach der typischen Gestaltung seiner Ehe obliegende Mithilfepflicht im Haushalt. Die Leistungen, zu denen die Ehefrau des Klägers im Haushalt verpflichtet war, umfassten sonach u.a. den Einkauf sämtlicher Lebensmittel und der im Haushalt laufend benötigten Gegenstände (Reinigungsmittel etc.), die Zubereitung des Frühstücks, eines Imbisses zum Mittagessen, einer vollständigen warmen Abendmahlzeit an Wochentagen sowie warmer Mittagsmahlzeiten an Samstagen und Sonntagen, die Reinigung und Instandhaltung der Wäsche des Klägers und der benötigten Tisch- u. Bettwäsche, die tägliche Ordnung und Säuberung des Wohnzimmers, Schlafzimmers, des Bades und der Küche, die wöchentlichen gründlicheren Säuberungen dieser Räume und des Treppenhauses vom Dachstock bis zum Erdgeschoss“19.

Die Rollenverteilung war – einvernehmlich und den beiderseitigen Neigungen entsprechend – im entschiedenen Fall offenbar überaus gut gelungen und konnte sogar durch ein Oberlandesgericht derart farbig beschrieben werden.

VIII. Die Rollenwahl: Von der Nachrangigkeit der Erwerbstätigkeit zur Erwerbsobliegenheit 1. Erster Rang: Haushaltsführungspflicht – Zweiter Rang: Recht auf Erwerbstätigkeit Damals wurde gleichzeitig versucht, ein Rangverhältnis zwischen § 1356 Abs. 1 Satz 1 BGB und dessen Satz 2 aufzustellen, wonach die Haushaltsführungspflicht der Ehefrau ihrem Recht auf Erwerbstätigkeit im Rang vorgehen solle. Dieses Rangverhältnis hatte das Bundesverfassungsgericht zwar schon 1957 im Zusammenhang mit der Beurteilung einer einkommensteuerlichen Vorschrift (§ 26 EStG 1951) verworfen: Es hatte entschieden, dass zur Gleichberechtigung der Frau gehört, dass sie die Möglichkeit hat, mit gleichen rechtlichen Chancen marktwirtschaftliches Einkommen zu erzielen wie jeder männliche Staatsbürger auch. Eine Erwerbstätigkeit der Frau von vornherein als „ehezerstörend“ zu werten, widerspreche dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 GG. Die Zweckrichtung des Gesetzes, die Ehefrau von marktwirtschaftlicher Tätigkeit zurückzuhalten, sei ungeeignet, eine steuerliche Vorschrift20 zu rechtfertigen. Zu dem Gehalt der privaten Entscheidungsfreiheit der Ehegatten gehöre auch die Entscheidung darüber, ob eine Ehefrau sich ausschließlich dem Haushalt widmet, ob sie dem Manne im Beruf hilft oder ob sie eigenes Einkommen erzielt. Das zur Rechtfertigung der benachteiligenden Vorschrift angeführte Ziel, die erwerbstätige Ehefrau „ins Haus zurückzuführen“, entspreche zwar einer bestimmten Vorstellung von der „besten Art der Ehegestaltung“. Das Gebot des Schutzes von Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG beziehe sich aber auf jede Ehe und überlasse die Gestaltung der Privatsphäre

___________ 19 OLG Stuttgart v. 18.5.1961 – 2 U 43/61 NJW 1961, 2113. 20 BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, NJW 1957, 417, § 26 EStG 1951 wurde für verfassungswidrig erklärt.

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den Ehegatten selbst. Der Gesetzgeber dürfe daher eine bestimmte Gestaltung der privaten Sphäre der Ehe nicht unmittelbar erzwingen21. Heute wird allerdings niemand mehr auf die Idee kommen, eine Pflicht zur Haushaltsführung stünde über dem Recht der Frau, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Paul Kirchhof schafft es, am 31.3.2002 in der „Welt“ als „vermittelnde Lösung“ die Pflicht zur Haushaltsführung als Familienkarriere zu beschreiben und stellt damit die Haushaltsführung der Berufstätigkeit gleich: „Wie sieht Familienglück in einer wirklich gelebten, echten Gemeinschaft von Eltern und Kindern aus? Die Mutter macht in ihrer Familie Karriere, die nicht Macht, sondern Freundschaft verheißt, nicht Geld, sondern Glück bringt. Ihr Beruf als Familienmanager fordert – jenseits des zweiten, des eher handwerklichen Auftrags – stetige Präsenz, einen Raum der Bedingungslosigkeit und des Humanum, eine Intimität als Grundmuster der Familie, ohne die eine Frau zwischenmenschliche Beziehungen nicht gestalten, Menschlichkeit nicht schenken kann. Die Mutter widmet ihren Kindern vor allem Zeit, gibt ihnen auf dieser Grundlage Zärtlichkeit, Zuwendung und ein Zuhause. Dieses Selbstbewusstsein eines Berufs, der unsere Kultur trägt und weitergibt, einen Schatz an Erfahrung, Wissen und sozialer Kompetenz hervorbringt, macht unempfindlich gegen gesellschaftliche Vorurteile und staatliche Ungerechtigkeit.“

2. Das Recht, zu Hause zu bleiben – 1978 Noch kurz nach der großen Eherechtsreform von 1976 und der Abschaffung des Verschuldensprinzips entschied das OLG Hamm, dass die Verpflichtung einer Ehefrau, die 9 und 10 Jahre alten Kinder ihres Ehemannes aus seiner früheren Ehe (ihre Stiefkinder) als Hausfrau zu betreuen, sich aus der Pflicht zur ehelichen Lebensgemeinschaft aus § 1353 BGB ergebe und damit der von den Ehegatten einvernehmlich vorgenommenen Aufteilung ihrer ehebezogenen Funktionen entspreche. Hierzu gehöre die von der Ehefrau nach Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit übernommene volle Versorgung des häuslichen Bereichs sowie die Pflege und Miterziehung der darin befindlichen Kinder des jetzigen Ehegatten in der neuen Ehe. Daraus folge, dass die Ehefrau im Verhältnis zu ihren unterhaltsfordernden Kindern (aus ihrer vorangegangenen Ehe) wegen der Betreuung der Kinder ihres jetzigen Ehemannes nicht erwerbspflichtig sei22. 3. Die Pflicht, Einkommen zu erzielen – 1993 Das klingt 1993 bereits anders: „Eine ihrem minderjährigen Kind aus erster Ehe barunterhaltspflichtige Mutter ist auch dann, wenn sie ein Kleinkind aus zweiter Ehe zu betreuen hat, unterhaltsrechtlich verpflichtet, in ihrer Freizeit (z.B. an den Wochenenden) einer Teilzeittätigkeit nachzugehen (z.B. als Hilfskraft in der Gastronomie), um zumindest zu dem unbedingt erforderlichen Barunterhalt für ihr (bei dem Vater lebendes) Kind aus erster Ehe beitragen zu können“23.

___________ 21 BVerfG v. 17.1.1957 – 1 BvL 4/54, NJW 1957, 417. 22 OLG Hamm v. 3.11.1978 – 5 UF 356/78, n.v. (juris). 23 OLG Karlsruhe v. 26.1.1993 – 18 UF 140/92, FamRZ 1993, 1118.

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Schon anhand dieser beiden Leitsätze lässt sich erkennen, wie das zunächst lediglich „nachrangige“ Recht zur Erwerbstätigkeit der Frau sich heute in eine Erwerbsobliegenheit gewandelt hat. Beide Entscheidungen berufen sich dabei auf § 1353 BGB, zitieren diesen jedenfalls. 4. Die verheiratete als „fiktiv geschieden“ geltende Ehefrau im Unterhaltsrecht – 2009 Den vorläufigen Höhepunkt hinsichtlich der Erwerbsobliegenheit einer Hausfrau und der in der Ehe getroffenen Rollenwahl setzte kürzlich der Bundesgerichtshof24. Er stellt darin – erstmals – klar, dass sich die neue Ehefrau (jedenfalls im Verhältnis zur geschiedenen Ehefrau ihres Ehemannes) nicht auf die gewählte Rollenverteilung in der neuen Ehe berufen kann, wenn sie dort nicht erwerbstätig ist, da die gleichen Maßstäbe in Bezug auf die Erwerbspflicht für beide Ehefrauen anzulegen sind. Deshalb wird die zweite Ehefrau im Rahmen der Bedarfsbestimmung wie eine „fiktiv geschiedene“ Ehefrau behandelt. Tatsächlich lebt die zweite Ehefrau mit dem Ehemann, der seiner früheren Ehefrau Unterhalt schuldet, derzeit in einer intakten Beziehung; rechtlich wird die Beziehung vom Bundesgerichtshof durch eine fingierte Scheidung aber als gestört behandelt. Bei einem Anspruch wegen Kindesbetreuung (§ 1570 BGB) bleiben elternbezogene Gründe, die auf der gewählten Rollenverteilung in der neuen Ehe beruhen, danach außer Betracht. Sie mögen im Innenverhältnis zwischen den Ehegatten gelten, nicht aber im Außenverhältnis bei der Bemessung des Unterhaltsbedarfs zulasten der geschiedenen ersten Ehefrau. In der Folge dieser Sichtweise wird der „fiktiv geschiedenen“ Ehefrau „fiktives Einkommen“ zugerechnet, da sie dieses erzielen könnte. Eine doppelte Fiktion also. Danach trifft eine Hausfrau während der bestehenden intakten Ehe jedenfalls eine fiktive Erwerbsobliegenheit, auch wenn die interne Rollenverteilung gerade eine andere ist. 5. Die ehelichen Lebensverhältnisse aus § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB – seit 2008 wandelbar? Auch die Unterhaltspflicht zählt – wie zur Zeit der Erstellung der Dissertation – zu den Beistands- und Fürsorgepflichten, die ihre Ursache und ihre Begründung in § 1353 BGB finden. Allerdings war wegen des vorherrschenden Modells der Hausfrauenehe in der Regel nur der Mann zum Unterhalt verpflichtet. Die nacheheliche Solidarität war regelmäßig eine Einbahnstraße, da Unterhalt nur in eine Richtung floss. Auch noch heute sind die Fälle selten, in denen eine Frau von ihrem Ehemann wegen Unterhalts in Anspruch genommen wird. Das Maß des Unterhalts richtete sich bis zur Reform des Unterhaltsrechts nach den Verhältnissen der gemeinsam gelebten Ehe (eheliche Lebensverhältnisse § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB). Die Ehewirklichkeit und der Lebensstil der

___________ 24 BGH v. 18.11.2009 – XII ZR 65/09, NJW 2010, 365.

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konkreten Ehe im Zeitpunkt des Endes dieser Ehe bestimmten die Höhe des Unterhalts. Jetzt hat der Bundesgerichtshof die Theorie von den sog. „wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen“ entwickelt. Danach soll es für den unterhaltsberechtigten Ehegatten keine die früheren ehelichen Lebensverhältnisse unverändert fortschreibende Lebensstandardgarantie mehr geben. Für eine solche lebenslange Absicherung biete das (neue) Recht des nachehelichen Unterhalts25, das nur die Risiken der mit der Scheidung fehlgeschlagenen Lebensplanung der Ehegatten und der von ihnen in der Ehe praktizierten Arbeitsteilung angemessen ausgleichen wolle, keine Rechtfertigung. Das Unterhaltsrecht wolle den bedürftigen Ehegatten nach der Scheidung wirtschaftlich nicht besser stellen, als er ohne die Scheidung stünde. Bei Fortbestehen der Ehe hätte ein Ehegatte die negative Einkommensentwicklung des anderen Ehegatten wirtschaftlich mit zu tragen. Es sei daher nicht einzusehen, warum die Scheidung ihm das Risiko einer solchen Entwicklung abnehmen soll. Daher müsse eine Korrektur nicht erst bei der Leistungsfähigkeit, sondern schon bei der Bedarfsbemessung ansetzen. Die Anknüpfung an den Stichtag der rechtskräftigen Scheidung, wonach für die Bemessung der ehelichen Lebensverhältnisse grundsätzlich die Entwicklungen bis zur Rechtskraft des Scheidungsurteils maßgebend und Änderungen in der Folgezeit nur dann zu berücksichtigen seien, wenn diese schon in der Ehe angelegt gewesen seien, sei damit überholt26. Somit mindert der Unterhaltsanspruch nach der Ehescheidung geborener oder auch adoptierter Kinder und der Familienunterhaltsanspruch der zweiten Ehefrau – sofern sie die Prüfung nach den Grundsätzen der „fiktiv geschiedenen Ehefrau“ ohne die Zurechnung fiktiven Einkommens überstanden hat – den Unterhaltsanspruch der geschiedenen Ehefrau. Auf diese Weise wandeln sich also die früheren ehelichen Lebensverhältnisse der ersten Ehe fortlaufend. Diese neue Rechtsprechung, die zur Dreiteilung des gemeinsamen Einkommens von erster Ehefrau, zweiter Ehefrau (oder der nicht mit dem Unterhaltspflichtigen verheirateten Mutter seines nachehelichen Kindes) und Ehemann führt, erntet derzeit erhebliche Kritik, sogar aus dem XII. Zivilsenat des BGH selbst: „Wer – wie der BGH – spätere Ehegatten, Mütter und Kinder mit in das Boot der früheren Ehe setzt, lässt dieses Schiff schon auf der Bedarfsebene und damit, bar des Rettungsrings von Leistungsfähigkeit und Angemessenheit, leichtfertig und zu früh sinken. Mehr noch: Wer solches tut, gerät – bei gebotener Bindung an das Gesetz – in Begründungsnot. Denn die „wandelbaren ehelichen Lebensverhältnisse“ sind – entgegen § 1578 BGB – nicht länger „ehelich“. Diese Beurteilung … führt zu einer gesetzlich nicht gerechtfertigten Besserstellung der neuen Ehe, obwohl jene im Bewusstsein anderweitiger Unterhaltspflichten geschlossen wurde, während die geschiedene Ehefrau auf eine – nur durch die Leistungsfähigkeit und eine Angemessenheitsprüfung zu korri-

___________ 25 Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts v. 21.12.2007, BGBl. I 2007, 3189. 26 BGH v. 6.2.2008 – XII ZR 14/06, NJW 2008, 1663.

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Ingeborg Rakete-Dombek gierende – Bedarfsbemessung nach den Lebensverhältnissen der beendeten Ehe vertrauen durfte“27.

Der Gesichtpunkt der Solidarität scheine zwar auch in der Rechtsprechung des BGH zu den „wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen“ noch auf; doch wolle der BGH diese Solidarität nur anspruchsbegründend – beim Unterhaltsberechtigten – einfordern. Eine solche Einbahnstraße sei die Solidaritätspflicht indes auch im Unterhaltsrecht nicht28. Die Problematik der ehelichen Lebensverhältnisse und ob diese so wandelbar sind, wie der Bundesgerichtshof sie konstruiert, wird demnächst durch das Bundesverfassungsgericht entschieden werden müssen, da geschiedene Ehefrauen gegen eine Verminderung ihrer Unterhaltsansprüche wegen der finanziellen Belastungen durch eine weitere Ehe oder aber durch die Geburt weiterer Kinder – mit gewichtigen Stimmen in der juristischen Literatur29 – Sturm laufen.

IX. Unbestimmte Rechtsbegriffe im Unterhaltsrecht – damals wie heute 1. Unterhalt: angemessen und billig Der Trennungsunterhalt aus § 1361 Abs. 1 BGB war in der zur Zeit der Dissertation geltenden Fassung allein nach Billigkeit zu gewähren. „Die Ehe ist eine Schicksalsgemeinschaft. Solange sie nicht aufgelöst ist, sind die den Ehegatten zur Verfügung stehenden Geldmittel billig und angemessen zwischen ihnen aufzuteilen. Verschieden hohes Einkommen der Ehegatten ist dabei zu berücksichtigen.“30 Der herrschende Gedanke war, dass die Eheleute trotz ihrer Trennung dennoch zunächst verheiratet blieben und deshalb weiter zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet waren. Deshalb mussten ihre gegenseitigen Ansprüche den Zweck der Ehe zum Maßstab nehmen. Da der Getrenntlebensunterhalt aber vor allem das Alleinleben (Getrenntleben) ermöglichen soll, stand er im Gegensatz zum eigentlichen fortgeltenden Ehezweck. Streck stellt die auch aus heutiger Sicht berechtigte Frage, warum die Billigkeitsbestimmung nicht durch Begriffe wie „notwendig“ oder „erforderlich“ statt „billig“ und „angemessen“, also durch normative Begriffe, die den Zweck der Alimentation während der Trennung beschreiben, gefüllt wurden31. Natürlich durfte auch seinerzeit keinesfalls der Zweck, die Trennung zu vermeiden oder aber die Ehe einer Scheidung schneller zuzuführen, Maßstab der Billigkeitsregeln im Unterhaltsrecht sein. Unter Übergehung der

___________ 27 Weber-Monecke in Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2010, § 1361 BGB Rz. 14. 28 Weber-Monecke in Münchener Kommentar zum BGB, § 1361 BGB Rz. 15. 29 Brudermüller, FF. 2010, 134. 30 OLG Hamm v. 11.10.1977 – 3 WF 132/77, n.v. (juris). 31 Vgl. auch Brudermüller, FF. 2010, 134 – allerdings insoweit für den nachehelichen Unterhalt; Brudermüller, Geschieden und doch gebunden, Ehegattenunterhalt zwischen Recht und Moral, 2008.

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Vorschrift des § 1614 BGB, wonach auf den Unterhalt unter Verwandten nicht – auch nicht teilweise – verzichtet werden kann, wendet er sich gegen die Billigkeitsklauseln als unbestimmte Regeln und damit gegen den sog. Halbteilungsgrundsatz, der heute nicht nur das Recht des Versorgungs- und des Zugewinnausgleichs, sondern auch das Unterhaltsrecht beherrscht32. Aber, wer die Trennung durch pflichtwidriges Verhalten verursacht hat, durfte natürlich auch nach seiner Auffassung nicht selbst auf Pflichterfüllung durch den anderen, also auf Unterhaltszahlungen bestehen. 2. Unterhalt und Verschuldensprinzip Durch die Verknüpfung der Trennungsunterhaltsverpflichtung mit Fragen des Verschuldens an Trennung und Scheidung, die für den wahren Zweck einer reinen Alimentation während der Trennungszeit völlig unbeachtlich sind, nahm der Gesetzgeber deutlichen Bezug auf die Ehe und die daraus folgenden Pflichten. Durch das Verschuldensprinzip gab es vor allem im Unterhaltsrecht gravierende Sanktionen, vor allem für die Frauen, da sie weit überwiegend kein eigenes Einkommen erwirtschaften konnten, da sie während der Ehe Hausfrauen waren. Heute nehmen die Regelungen des Unterhaltsrechts trotz der Abkehr vom Verschuldensprinzip immer noch auf das Verschulden anlässlich der Trennung Bezug, was insbesondere hinsichtlich des Anspruchs auf den Kindesbetreuungsunterhalt umstritten ist. § 1579 BGB, der auch auf den Trennungsunterhalt anzuwenden ist, sieht Regelungen vor, die eine rechtsmissbräuchliche Beanspruchung von Unterhalt vermeiden sollen. Bei der Klärung der Frage „War die Ehe intakt?“ befassen sich auch heute noch unsere Familienrichter mit Entscheidungen, die das Verschuldensprinzip – jedenfalls im Unterhaltsrecht – lebendig halten, um zu klären, ob der unterhaltsbegehrende Ehegatte etwa aus einer „intakten Ehe“33 ausgebrochen ist und damit seinen Unterhaltsanspruch verwirkt haben könnte.

X. Fazit 1. § 1353 BGB wirkt nur noch im Vermögensrecht Die Wirkung von § 1353 BGB ist in der heutigen familienrechtlichen Praxis nur noch auf wenige vermögensrechtliche Anwendungsfälle beschränkt. Es geht allenfalls um die Übertragung von Schadensfreiheitsrabatten in der PkwHaftpflichtversicherung, die Zustimmung zur gemeinsamen steuerlichen Veranlagung bzw. bei Getrenntveranlagung um die Zustimmung zum begrenzten steuerlichen Realsplitting. Häufig dient § 1353 BGB dazu, eine mit einem Ausländer beabsichtigte Eheschließung abzulehnen, da es sich um eine aufhebbare Scheinehe handeln könnte. Eine wichtige Funktion hat § 1353 BGB noch im Zugewinnausgleichsrecht. § 1386 Abs. 3 BGB regelt den An-

___________ 32 BVerfG v. 5.2.2002 – 1 BvR 105/95, 1 BvR 559/95, 1 BvR 457/96, FamRZ 2002, 527. 33 Born, Intakte Ehe trotz fehlender Sexualität, FuR 2009, 61; Anm. zu OLG Zweibrücken NJW-RR 2009, 371.

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spruch auf einen vorzeitigen Zugewinnausgleich für den Fall, dass der andere Ehegatte seiner Unterrichtungspflicht über sein Vermögen nicht nachkommt. Nach allgemeiner Auffassung wird diese Unterrichtungspflicht aus § 1353 BGB hergeleitet. Ein weiterer Anwendungsfall ist die Zwangsversteigerung einer im gemeinschaftlichen Eigentum stehenden Immobilie, meistens also des Familienheims. Der Antrag eines Ehegatten auf Teilungsversteigerung der Ehewohnung verstößt danach während des Bestehens der Ehe gegen die Pflicht aus § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB zur ehelichen Lebensgemeinschaft. Er bedarf in entsprechender Anwendung des § 1365 Abs. 1 BGB der Zustimmung des anderen Ehegatten, wenn es sich bei dem ideellen Anteil des Antragstellers um dessen wesentliches Vermögen handelt. Die verweigerte Zustimmung bewirkt dann ein absolutes Veräußerungsverbot. 2. Wandel des Inhalts der Norm Damit ist der Inhalt von § 1353 BGB nicht mehr der, der er seinerzeit noch war. Versteht man Streck im Ergebnis so, dass das Bestehen einer Ehe von der Fähigkeit der Ehegatten abhängt, auf eine Veränderung ihrer Verhältnisse flexibel zu reagieren und die für ihre Ehe getroffenen Vereinbarungen (Rollenwahl, Gestaltung etc.) jeweils einvernehmlich an die geänderten Lebensumstände anzupassen, so spiegelt die Entwicklung des Familienrechts und die maßvolle Akzeptanz der Gleichberechtigung in den 41 Jahren seit Erscheinen seiner Dissertation diese Auffassung heute wider. Während es im allgemeinen Vertragsrecht zulässig sein mag, auf die Übereinstimmung von gestern zu verweisen, können die Ehegatten ihre Lebensgemeinschaft nur verwirklichen, wenn es ihnen gelingt, immer wieder von neuem miteinander Einigkeit zu erzielen. Streck hatte jedenfalls als Ehemodell eine Vereinbarungsparität unter Berücksichtigung tatsächlicher Veränderungen der Beziehungswirklichkeit unter den Ehegatten vor Augen. Sie sollten sich miteinander abstimmen und über neue Situationen gleichberechtigt kommunizieren. Kein Ehegatte hat ein originäres Alleinentscheidungsrecht34. 3. Überzogene Scheidungsfolgen im 1. EheRG unter Berufung auf § 1353 BGB Im Zuge der Eherechtsreform von 1976 wurden allerdings zur Beruhigung der Reformgegner überzogene und vor allem lebenslang wirkende Scheidungsfolgen normiert, denen man auf andere Weise als durch einen Ehevertrag nicht – auch nicht mit einer Scheidung – entkommen konnte. Einem geschiedenen Ehemann war es kaum möglich, eine weitere Familie zu gründen und zu unterhalten. Ein darauf abzielender Wille des Gesetzgebers lag dem 1. EheRG noch zugrunde und kam in den Erwägungen zum Rangverhältnis des geschiedenen und des neuen Ehegatten im Unterhaltsrecht zum Ausdruck. Der geschiedene Ehegatte ging dem neuen Ehegatten im Rang vor. Nach den damaligen Vorstellungen war die zweite Ehe des Unterhaltspflichtigen mit einer „wirtschaftlichen Hypothek“ belastet, die von der zweiten Ehefrau mitgetra-

___________ 34 Wellenhofer in NK-BGB, 2. Aufl. 2010, § 1353 BGB Rz 10.

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gen werden müsse35. Den Ehegatten der neuen Ehe werde daher die Möglichkeit, eine „Hausfrauenehe“ zu wählen, oft nicht mehr offenstehen, und in manchen Fällen werde von ihnen auch auf Kinder verzichtet werden müssen36. In diesem Zusammenhang wurde auch das Argument aus § 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB, dass die Ehe auf Lebenszeit geschlossen wird und keine „Lebensabschnittsgemeinschaft“ ist, genutzt. Dieses Abstellen auf den in § 1353 BGB enthaltenen Satz, dass die Ehe auf Lebenszeit geschlossen wird, war jedoch in Anbetracht der durch die Scheidung beendeten Ehe widersprüchlich und lief auf die Fiktion eines Fortbestands der geschiedenen Ehe und der aus ihr erwachsenden – gegenseitigen – Rechtswirkungen hinaus37. Die Abwägung zwischen dem Vertrauensschutz für die bei Inkrafttreten der Unterhaltsreform zum 1.1.2008 bereits lange Jahre bestehenden (Hausfrauen-)Ehen und der Verschärfung des Grundsatzes der Eigenverantwortung ist derzeit die schwierige Aufgabe. Die Diskussion ist noch lange nicht abgeschlossen. 4. Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und das „Modell Ehe“ als verblassendes Vorbild Der Bundesgerichtshof hat kürzlich erstmals entschieden, dass das Vertrauen eines nicht verheirateten Lebenspartners in den Fortbestand der nichtehelichen Lebensgemeinschaft nicht weniger schutzwürdig als das gleiche Vertrauen in einer Ehe sei. Dass nur das Vertrauen von Ehegatten in die lebenslange Dauer ihrer Verbindung rechtlich geschützt sei (§ 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB), vermöge mit Blick auf die hohe Scheidungsquote eine unterschiedliche Behandlung nicht mehr überzeugend zu begründen38. Man kann der Auffassung sein, damit schreite die Abwertung des § 1353 BGB und damit verbunden des Instituts der Ehe voran. Die Betrachtung kann aber auch dahin gehen, dass dessen Wirkung nun auch auf andere Lebensgemeinschaften erstreckt wird, die Verantwortung füreinander übernommen haben. Der Bundesgerichtshof spricht in diesem Zusammenhang auch von anderen Formen des gemeinschaftlichen Lebens und Wirtschaftens, wie sie etwa unter verwitweten Geschwistern, sonstigen Verwandten oder Freunden vorstellbar sind. Damit ist der Bundesgerichtshof bei der Vielfalt der heutigen Lebensformen angekommen. So grün ist also heute des Lebens Baum und so grau die Rechtswissenschaft, die natürlich niemals in der Lage sein wird, die stetigen Veränderungen der Zusammenlebensformen zeitnah zu erfassen, geschweige denn, vorauszusehen. Nach der früheren Ausrichtung am Alleinverdienermodell für die klassische Ehe muss sich das Familienrecht heute vielfältigen neuen Leitbildern von Ehe und Familie stellen. Während der soziale Wandel sich immer schneller vollzieht, bleiben daneben viele der alten Grundlagen erhalten, auf denen

___________ 35 36 37 38

BT-Drucks. 7/650, 143. BT-Drucks. 7/650, 143. BGH v. 18.11.2009 – XII ZR 65/09, NJW 2010, 365. BGH v. 9.7.2008 – XII ZR 179/05, FPR 2008, 519.

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das frühere Modell beruhte. Ob sich im gleichen Tempo die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse geändert haben, kann man sich fragen. Mit der Änderung des Scheidungsrechts von 1976 und der Reform des Unterhaltsrechts von 2008 wurden dem früheren Ehemodell neue Lebensentwürfe gesetzlich gegenübergestellt, ohne dass deren gesellschaftliche Absicherung und Unterstützung auch gesichert wäre. Was wäre eine gleichberechtigte und gerechte Beziehung heute und wo ist der richtige Ansatz, um familiäres Zusammenleben heute allgemein verbindlich zu regeln? Die Rechtsprechung hantiert derzeit mit den verschiedenen Leitbildern von Ehe und Familie eher im „Versuchsstadium“. Das Ergebnis ist noch offen, da die Kluft zwischen Tradition und Moderne sicher noch lange Zeit geöffnet bleiben wird. Eine große, alle Modelle überspannende Linie ist – wie in der sozialen Entwicklung selbst – noch nicht erkennbar. Die Modelle von Ehe und Familie alter und neuer Form existieren derzeit in „grünem“39 Nebeneinander. Deutlich wird aber, dass der Schwerpunkt rechtlicher Regelungen zukünftig stärker den Begriff der Familie und der sozialen Verantwortungsgemeinschaften ins Visier nehmen wird und die Ehe kein exklusives, alleine zum Vorbild taugendes Modell mehr sein wird. Die abnehmenden Eheschließungs- und die zunehmenden Scheidungszahlen stellen das Modell auf eine harte Probe, zumal die nichtehelichen Lebensgemeinschaften offenbar deshalb zunehmend bevorzugt werden, weil die vermögensrechtlichen Wirkungen der Ehe dort gerade nicht eintreten. Man hält die Ehe daher schlicht für unromantisch und mit zu vielen Pflichten versehen, die die Gefühlslage beeinträchtigen können. Die Reduzierung der Ehewirkungen aus § 1353 BGB auf „Geldfragen“ mag ihren Beitrag hierzu geleistet haben. All dies konnte Streck zur Zeit seiner Dissertation nicht voraussehen, obwohl er als „Visionär“ versucht hat, einen großen Schritt hin zu einer modernen gleichberechtigten Ehe zu gehen.

___________ 39 Gemeint ist das „Grün“ in der Überschrift des Aufsatzes.

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Nachweis der Erbfolge in deutsch-schweizerischen Erbfällen Inhaltsübersicht I. Einführung II. Anwendbares Erbrecht 1. Deutsche Sicht a) Staatsangehörigkeitsprinzip b) Geplante EU-Erbrechtsverordnung c) Zwischenergebnis 2. Schweizer Sicht a) Wohnsitzprinzip b) Erblasser mit letztem Wohnsitz in der Schweiz c) Erblasser mit letztem Wohnsitz in Deutschland d) Zwischenergebnis III. Internationale Zuständigkeit 1. Deutschland 2. Schweiz 3. Zwischenergebnis IV. Nachweis der Erbfolge 1. Deutschland a) Erbnachweise in Deutschland aa) Erbschein bb) Verfügung von Todes wegen in öffentlicher Urkunde samt gerichtlicher Eröffnungsniederschrift b) Anerkennung ausländischer Erbnachweise in Deutschland 2. Schweiz a) Erbnachweise in der Schweiz

b) Anerkennung ausländischer Erbnachweise in der Schweiz aa) Rechtsgrundlagen bb) Voraussetzungen der Anerkennung (1) Gegenstand der Anerkennung (2) Zuständigkeit für den anzuerkennenden Erbnachweis (3) Bestandskraft des anzuerkennenden Erbnachweises (4) Kein Verstoß gegen den ordre public cc) Rechtsfolgen der Anerkennung dd) Praktische Verfahrensfragen bei der Verwendung deutscher Erbnachweise in der Schweiz (1) Erbbescheinigung oder gleichwertiger Erbnachweis (2) Form und Sprache des Erbnachweises (3) Vorlage einer Sterbeurkunde (4) Identifikation der Erben V. Testamentsvollstreckung (Willensvollstreckung) 1. Willensvollstreckung in der Schweiz 2. Testamentsvollstreckung in Deutschland VI. Zusammenfassung

I. Einführung Zahlreiche Deutsche verfügen über – teilweise erhebliche – Vermögenswerte in der Schweiz. Neben Unternehmensbeteiligungen handelt es sich dabei vor allem um Immobilien und Kapitalvermögen. Jüngsten Schätzungen zufolge sollen allein über hunderttausend deutsche Eigentümer von Ferienimmobilien in der Schweiz sein. Die Kapitalvermögen von Deutschen in der Schweiz bewegen sich angeblich in einer Größenordnung von mehreren hun921

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dert Millionen Euro. Diese Vermögenswerte müssen spätestens im Erbfall auf die nächste Generation übertragen werden. Streitigkeiten im Familienkreis sind dabei ebenso zu vermeiden wie Ärger mit dem Finanzamt. Der Jubiliar, Dr. Michael Streck, hat sich in seiner beruflichen Tätigkeit immer wieder auch mit komplexen Fragen der Nachfolgeplanung und der Nachlassabwicklung befasst. Dabei spielten gerade auch deutsch-schweizerische Erbfälle eine nicht unerhebliche Rolle, etwa im Zusammenhang mit der Erbschaft- und Schenkungsteuer, der Steueramnestie oder auch der Steuerfahndung. Eine wichtige „Vorfrage“ für die steuerliche Beratung im Erbfall ist die Frage nach der zivilrechtlichen Erbfolge. In der Praxis erweist sich dabei insbesondere der Nachweis der Erbfolge gegenüber Banken oftmals als problematisch. Der nachfolgende Beitrag untersucht daher, wie die Erbfolge in deutschschweizerischen Erbfällen rechtssicher nachgewiesen werden kann. Einleitend wird dabei zunächst die Frage nach dem anwendbaren Erbrecht skizziert (Teil II.) und die internationale Zuständigkeit von Gerichten und Behörden in Deutschland und der Schweiz dargestellt (Teil III.). Auf dieser Grundlage wird sodann untersucht, wie die Erbfolge in der Schweiz und in Deutschland nachgewiesen werden kann und inwieweit die entsprechenden Nachweise im jeweiligen Nachbarland anerkannt werden (Teil IV.). Anschließend werden diese Überlegungen auch auf Testamentsvollstrecker übertragen (Teil V.). Grundlage der nachfolgenden Überlegungen soll dabei der Fall eines deutschen Staatsangehörigen sein, der in Deutschland und der Schweiz über (bewegliches und unbewegliches) Vermögen verfügt und mit letztem Wohnsitz in Deutschland verstirbt.

II. Anwendbares Erbrecht 1. Deutsche Sicht a) Staatsangehörigkeitsprinzip Auf dem Gebiet des Erbrechts bestehen derzeit keine vorrangigen Staatsverträge zwischen der Schweiz und Deutschland (s. Art. 3 Nr. 2 EGBGB)1. Aus deutscher Sicht bestimmt sich die Rechtsnachfolge von Todes wegen daher nach dem Recht des Staates, dem der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes angehörte (Art. 25 Abs. 1 EGBGB). Die Erbfolge richtet sich aus deutscher Sicht somit nach der Staatsangehörigkeit des Erblassers zum Zeitpunkt seines Todes. Für deutsche Staatsangehörige kommt danach regelmäßig deut-

___________ 1 Zum anwendbaren Erbrecht in deutsch-schweizerischen Erbfällen s. u.a. von Oertzen, ZEV 2000, 495; Lorenz in Ferid/Firsching/Hausmann/Dörner, Internationales Erbrecht, Band VII, Schweiz (Stand: 2002); Siehr in FS Geimer, 2002, S. 1097 ff.; Stober, Der deutsch-schweizerische Erbfall: Eine rechtsvergleichende und internationalprivatrechtliche Analyse, 2008; Wolf/Berger-Steiner in Süß, Erbrecht in Europa, 2. Aufl. 2008, S. 1323 ff.

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sches Erbrecht zur Anwendung. Dies gilt unabhängig von dem letzten Wohnsitz oder Aufenthalt des Erblassers2. Nach dem Grundsatz der Nachlasseinheit gilt das deutsche Erbrecht für das gesamte Nachlassvermögen. Auf die Zusammensetzung des Nachlasses kommt es somit nicht an. Eine Ausnahme gilt jedoch für Vermögensgegenstände, die im Ausland belegen sind und dort „besonderen Vorschriften“ unterliegen (Art. 3a Abs. 2 EGBGB). In der Schweiz3 bestehen jedoch keine solchen Vorschriften, sodass auch das gesamte in der Schweiz belegene (bewegliche und unbewegliche) Vermögen nach deutschem Erbrecht vererbt wird. Allerdings ist zu beachten, dass der Erwerb von Grundstücken durch Ausländer in der Schweiz einer behördlichen Genehmigung (Bewilligung) bedarf4. Dies gilt auch für deutsche Staatsangehörige, sofern diese in der Schweiz nicht über einen (rechtmäßigen) Wohnsitz verfügen. Genehmigungspflichtig ist grundsätzlich auch der Erwerb eines Grundstücks aufgrund eines Erbfalls. Ausnahmen gelten jedoch für die gesetzlichen Erben im Sinne des schweizerischen Rechts (Art. 457 ff. ZGB5) sowie den Erwerb durch Ehegatten, Kinder und einzelne Verwandte (s. Art. 7 Buchstabe a) und b) BewG). Diese öffentlich-rechtliche Genehmigungspflicht ist zwingend und gilt auch dann, wenn sich die Erbfolge im Übrigen nach deutschem Erbrecht richtet. Eine Rechtswahl ist lediglich für das in Deutschland belegene unbewegliche Vermögen und nur zugunsten des deutschen Erbrechts möglich (Art. 25 Abs. 2 EGBGB). Bei deutschen Erblassern ist eine solche Rechtswahl in der Regel gegenstandslos, da insoweit bereits aufgrund der Staatsangehörigkeit deutsches Erbrecht zur Anwendung kommt. b) Geplante EU-Erbrechtsverordnung Nach dem Vorschlag der EU-Kommission für eine Erbrechtsverordnung (ROM IV-Verordnung)6 soll sich die Rechtsnachfolge von Todes wegen künftig

___________ 2 Zum Erbstatut bei einem deutschen Staatsangehörigen, der mit letztem Wohnsitz in der Schweiz verstorben ist, s. zuletzt Beschluss des OLG München v. 8.4.2009 – 31 Wx 121/08, ZEV 2009, 512 mit Anm. Muscheler = ZErb 2009, 165 = MittBayNot 2009, 484 mit Anm. Süß. 3 Umfassende Informationen zum Schweizer Recht finden sich im Internet unter www.admin.ch (Bundesbehörden der Schweizer Eidgenossenschaften). Dort finden sich u.a. auch sämtliche Gesetzestexte in aktueller Fassung (und in allen Amtssprachen). 4 Die maßgeblichen Rechtsgrundlagen finden sich in dem Bundesgesetz über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland, Bewilligungsgesetz und der Verordnung über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland, Bewilligungsverordnung. Ein hilfreiches Merkblatt zu dieser Thematik (mit den Adressen der zuständigen kantonalen Behörden) findet sich im Internet auf der Seite des Eidgenössischen Bundesamts für Justiz, www.bj.admin.ch. 5 Zum Erbrecht in der Schweiz s. etwa (neben den Kommentaren zum schweizerischen Zivilgesetzbuch) Abt/Weibel, Praxiskommentar Erbrecht, Basel 2007; Druey, Grundriss des Erbrechts, 5. Aufl., Bern 2002; Lorenz in Ferid/Firsching/Hausmann/Dörner, Internationales Erbrecht, Band VII, Schweiz (Stand: 2002); Wolf/Berger-Steiner in Süß, Erbrecht in Europa, 2. Aufl. 2008, S. 1323 ff. 6 Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Erbrechtsverordnung (ROM IVVerordnung) v. 14.10.2009, KOM (2009) 154 endg. Ausführlich dazu u.a. Dörner, ZEV

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einheitlich nach dem Recht des Staates richten, in dem der Erblasser im Zeitpunkt des Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (Art. 16 EU-ErbR-VOE). Dieser Wechsel vom Staatsangehörigkeits- zum Domizilprinzip wirkt sich insbesondere in den Fällen aus, in denen deutsche Staatsangehörige ihren letzten Aufenthaltsort im Ausland haben. Allerdings sollen diese dann die Möglichkeit haben, für ihre Erbfolge ihr Heimatrecht durch eine ausdrückliche Rechtswahl zu bestimmen (Art. 17 EU-ErbR-VO-E). c) Zwischenergebnis Im Fall eines deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz und Aufenthalt in Deutschland richtet sich die Rechtsnachfolge von Todes wegen nach deutschem Erbrecht. Dies gilt auch für das gesamte in der Schweiz belegene (bewegliche und unbewegliche) Vermögen. Eine Änderung durch die geplante EU-Erbrechtsverordnung ergibt sich insoweit nicht. 2. Schweizer Sicht a) Wohnsitzprinzip Das Kollisionsrecht der Schweiz ist im Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG) geregelt7. Dort finden sich u.a. Bestimmungen über die internationale Zuständigkeit (Art. 86 bis Art. 89 IPRG), das anwendbare Recht (Art. 90 bis Art. 95 IPRG) und die Anerkennung ausländischer Entscheidungen (Art. 96 IPRG). Bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts folgt das Schweizer Recht dem Wohnsitzprinzip. Maßgebend ist danach, ob der Erblasser seinen letzten Wohnsitz in der Schweiz oder im Ausland gehabt hat. Der Wohnsitzbegriff ist für Zwecke des Kollisionsrechts gesondert definiert (Art. 20 IPRG). Danach hat eine Person ihren Wohnsitz in dem Staat, in dem sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält (Art. 20 Abs. 1 Buchst. a 1 IPRG). Gemeint ist der Ort, an dem sich der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen einer Person befindet. Der Mittelpunkt liegt regelmäßig dort, wo die familiären Bindungen und Interessen am stärksten lokalisiert sind. Niemand kann an mehreren Orten zugleich einen Wohnsitz haben (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 IPRG). Mangels Wohnsitz tritt der gewöhnliche Aufenthaltsort an die Stelle des Wohnsitzes (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 1

___________ 2010, 221; Kindler, IPrax 2010, 44; Süß, ZErb 2009, 342; Steinmetz/Löber/Alcázar, ZEV 2010, 234 (speziell zu deutschspanischen Erbfällen), und die (umfangreichen) Stellungnahmen u.a. des Deutschen Anwaltsvereins vom Januar 2010, im Internet abrufbar unter www.anwaltverein.de, des Deutschen Notarvereins vom Januar 2010, im Internet abrufbar unter www.dnotv.de, und des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht vom März 2010 (in englischer Sprache), im Internet abrufbar unter www.mpipriv.de. 7 S. allgemein dazu etwa Furrer/Girsberger/Schramm/Guillaime, Internationales Privatrecht, 2. Aufl., Zürich 2008; Girsberger/Heini/Keller/Kren/Siehr/Vischer/Volken, Zürcher Kommentar zum IPRG, Zürich 2004; Honsell/Vogt/Schnyder/Berti, Basler Kommentar Internationales Privatrecht, 2. Aufl., Basel 2007; Siehr, Das Internationale Privatrecht der Schweiz, Zürich 2002.

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Nachweis der Erbfolge in deutsch-schweizerischen Erbfällen

Buchst. b IPRG). Das ist der Ort, an dem eine Person längere Zeit lebt, selbst wenn diese Zeit von vornherein befristet ist (Art. 20 Abs. 1 Buchst. b IPRG). b) Erblasser mit letztem Wohnsitz in der Schweiz Bei Erblassern mit letztem Wohnsitz in der Schweiz ist auf die Erbfolge schweizer Erbrecht anzuwenden (Art. 90 Abs. 1 IPRG). Auf die Zusammensetzung und die Belegenheit des Nachlassvermögens kommt es nicht an8. Ein deutscher Erblasser mit letztem Wohnsitz in der Schweiz hat aber die Möglichkeit, das deutsche Erbrecht zu wählen (Art. 90 Abs. 2 Satz 1 IPRG). Voraussetzung dafür ist, dass der Erblasser sowohl im Zeitpunkt der Rechtswahl als auch im Zeitpunkt des Todes deutscher Staatsangehöriger war (Art. 90 Abs. 2 Satz 2 IPRG)9. c) Erblasser mit letztem Wohnsitz in Deutschland Hatte der Erblasser seinen letzten Wohnsitz in Deutschland, richtet sich die Rechtsnachfolge nach dem Recht, auf welches das Kollisionsrecht des Wohnsitzstaates verweist (Art. 91 Abs. 1 IPRG). Bei einem deutschen Erblasser kommt es zu einer Annahme der Verweisung, sodass deutsches Erbrecht zur Anwendung kommt. Bei einem schweizer Erblasser, der mit letztem Wohnsitz in Deutschland verstirbt, käme – aus schweizer Sicht – grundsätzlich schweizer Erbrecht zur Anwendung. Die Frage ist allerdings sehr umstritten10. Aus deutscher Sicht käme es dagegen zur Anwendung deutschen Erbrechts (Art. 4 Abs. 1 und Art. 25 Abs. 1 EGBGB, Art. 91 Abs. 1 EGBGB)11. In diesen Fällen kann sich zur Vermeidung einer etwaigen Entscheidungsdivergenz zwischen deutschen und schweizerischen Gerichten eine (vorsorgliche) Rechtswahl empfehlen. Der im Ausland wohnende Schweizer kann nämlich sein Vermögen dem

___________ 8 Eine Ausnahme gilt lediglich für im Ausland belegene Grundstücke, für die der Belegenheitsstaat eine ausschließliche Zuständigkeit beansprucht (Art. 86 Abs. 2 IPRG). Im Verhältnis zu Deutschland greift diese Regelung regelmäßig nicht ein. S. dazu zuletzt Schnyder/Grolimund in FS Kropholler, 2008, S. 423 ff. 9 Nach dem Regelstatut kommt es im Verhältnis zu Deutschland zu einem Nachlasskonflikt, wenn ein deutscher Erblasser mit letztem Wohnsitz in der Schweiz verstirbt. Aus der Sicht des deutschen Kollisionsrechts wäre allein deutsches Erbrecht (Art. 25 Abs. 1 EGBGB) und aus der Sicht des schweizer Kollisionsrechts allein schweizerisches Erbrecht (Art. 90 Abs. 1 IPRG) anwendbar (s. dazu Urteil des OLG Frankfurt am Main v. 18.8.1999 – 23 U 265/95, ZEV 2000, 513 mit Anm. Küpper). Der Nachlasskonflikt kann (und sollte) durch eine Rechtswahl zugunsten des deutschen Rechts verhindert werden. 10 Ausführlich dazu zuletzt Pfeiffer, succesio 2008, 313; Süß in Mayer/Süß/Tanck/Bittler/Wälzholz, Handbuch Pflichtteilsrecht, 2. Aufl. 2010, § 19 Rz. 392, jeweils m.w.N. zum Streitstand und im Ergebnis für die Anwendung deutschen Erbrechts. 11 S. dazu etwa Beschluss des BayObLG v. 3.8.2001 – 1 Z BR 101/00, BayObLGZ 2001, 203 = ZEV 2001, 483 = NJW-RR 2001, 1588 (Erbfolge nach einem schweizer Erblasser mit letzten Wohnsitz in Deutschland); Teilurteil des LG Kempten v. 8.8.2002 – 3 O 2474/01, ZEV 2003, 165 = ZErb 2003, 163 = NJW-RR 2002, 1588 = IPrax 2004, 530 (Erbfolge nach einem schweizer Staatsangehörigen mit letztem Wohnsitz in Deutschland, zu dessen Nachlass eine Beteiligung an einer deutschen Kommanditgesellschaft gehört). Ausführlich dazu Dörner, IPrax 2004, 519.

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schweizer Erbrecht unterstellen (Art. 91 Abs. 2 und Art. 87 Abs. 2 IPRG), sodass dann aus Sicht beider betroffener Staaten schweizer Erbrecht zur Anwendung gelangt. d) Zwischenergebnis Bei einem deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz und Aufenthalt in Deutschland richtet sich die Rechtsnachfolge von Todes wegen somit auch aus schweizer Sicht nach deutschem Erbrecht. Das schweizer Kollisionsrecht unterscheidet zwischen Erbstatut und Verfahrensstatut (Eröffnungsstatut) (Art. 92 IPRG). Dem Verfahrensstatut unterliegen insbesondere die gesamte Nachlassabwicklung (Art. 92 Abs. 2 Satz 2 IPRG). Verfahrensstatut ist das Recht am Sitz der den Erbgang eröffnenden Behörde (Art. 92 Abs. 2 Satz 1 IPRG).

III. Internationale Zuständigkeit 1. Deutschland Die internationale Zuständigkeit der deutschen Nachlassgerichte war lange Zeit gesetzlich nicht geregelt. Die Rechtsprechung folgte dem Gleichlaufgrundsatz, wonach die deutschen Gerichte grundsätzlich nur insoweit zuständig sind, als deutsches Erbrecht zur Anwendung kommt. Im Rahmen der Reform der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Jahre 2009 hat der deutsche Gesetzgeber den (vielfach kritisierten) Gleichlaufgrundsatz aufgegeben12. Die internationale Zuständigkeit der Nachlassgerichte richtet sich seitdem13 nach der örtlichen Zuständigkeit (§§ 105 i.V.m. 343 FamFG). Die örtliche Zuständigkeit richtet sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz, den der Erblasser zur Zeit des Erbfalls hatte (§ 343 Abs. 1 Halbs. 1 FamFG i.V.m. §§ 7 bis 11 BGB). Maßgebend für den Wohnsitz ist der Ort, an dem sich der Mittelpunkt der gesamten Lebensinteressen befindet. Eine Anmeldung beim Einwohnermeldeamt ist dafür nicht erforderlich. Bei einem Erblasser mit mehreren Wohnsitzen, ist das Nachlassgericht zuständig, dass zuerst mit der Angelegenheit befasst worden ist (§ 2 Abs. 1 FamFG). Fehlt es an einem inländischen Wohnsitz des Erblassers, richtet sich die Zuständigkeit nach dem letzten Aufenthalt des Erblassers (§ 343 Abs. 1 Halbs. 2

___________ 12 S. dazu die amtliche Gesetzesbegründung zu dem FGG-Reformgesetz in BT-Drucks. 16/6308, S. 221 f., S. 277, S. 280 f. und S. 348 f. Ausführlich zu den damit verbundenen Auswirkungen auf das Nachlassverfahren (neben den Kommentaren zum FamFG) u.a. Althammer, IPrax 2009, 381; Fröhler, BWNotZ 2008, 183; Geißler, notar 2010, 160; Kroiß, ZEV 2009, 493; Schaal, BWNotZ 2007, 154; Schäuble, ZErb 2009, 200; Wittkowski, RNotZ 2010, 102; Zimmermann, ZErb 2009, 86; Zimmermann, ZEV 2009, 53. 13 Maßgeblich für die Anwendbarkeit des alten FGG oder des neuen FamFG ist vor allem, ob der Erbschein vor oder nach dem 1.9.2009 beantragt worden ist (s. Art. 111 Abs. 1 FamFG). Dazu jetzt auch der Beschluss des OLG Köln v. 2.11.2009 – 2 Wx 88/09, ZEV 2010, 89.

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FamFG). Aufenthalt meint den Ort, an dem sich der Erblasser im Zeitpunkt des Todes tatsächlich (wenn auch nur vorübergehend) aufgehalten hat. Hatte der Erblasser in Deutschland weder einen Wohnsitz noch einen Aufenthaltsort, kommt es auf die Staatsangehörigkeit des Erblassers an. Bei deutschen Staatsangehörigen ist grundsätzlich das Amtsgericht Schöneberg in Berlin zuständig (§ 343 Abs. 2 FamFG). Bei ausländischen Staatsangehörigen ist jedes Gericht zuständig, in dessen Bezirk sich Nachlassgegenstände befinden (§ 343 Abs. 3 FamFG). Die Zuständigkeit ist auch in diesem Fall nicht auf die im Gerichtsbezirk belegenen Nachlassgegenstände beschränkt, sondern erstreckt sich auf den gesamten (weltweiten) Nachlass. Bei Erblassern mit mehrfacher Staatsangehörigkeit ist die deutsche Staatsangehörigkeit vorrangig (Rechtsgedanke des Art. 5 Abs. 1 EGBGB). Im Ergebnis ist die internationale Zuständigkeit der deutschen Nachlassgerichte somit erheblich ausgeweitet worden. Bei (auch) deutschen Erblassern ist stets ein deutsches Nachlassgericht zuständig. Bei ausländischen Erblassern sind die deutschen Nachlassgerichte nur dann nicht zuständig, wenn diese in Deutschland weder ihren Wohnsitz bzw. Aufenthalt hatten noch über Vermögen in Deutschland verfügten. In dem Fall eines deutschen Erblassers mit Wohnsitz in Deutschland ist die internationale Zuständigkeit der deutschen Nachlassgerichte ohne weiteres gegeben (§§ 105 i.V.m. 343 Abs. 1 FamFG). Die Zuständigkeit umfasst dabei den gesamten (weltweiten) Nachlass und ist nicht etwa auf die in Deutschland belegenen Nachlassgegenstände beschränkt. 2. Schweiz Für das Nachlassverfahren sind grundsätzlich die schweizerischen Gerichte und Behörden am letzten Wohnsitz des Erblassers zuständig (Art. 86 Abs. IPRG)14. Hatte der Erblasser seinen letzten Wohnsitz in der Schweiz, ist die Zuständigkeit der jeweiligen kantonalen Gerichte und Behörden gegeben. Hatte der Erblasser dagegen keinen Wohnsitz in der Schweiz, sind die schweizer Gerichte und Behörden nur ausnahmsweise zuständig. Die Zuständigkeit hängt dabei von der Staatsangehörigkeit des Erblassers ab. Bei schweizer Erblassern besteht eine Zuständigkeit in diesen Fällen nur dann, wenn sich die Behörden im Ausland mit dem Nachlass nicht befassen (Art. 87 Abs. 1 IPRG) oder der Erblasser sein Vermögen der Zuständigkeit der schweizerischen Behörden oder dem schweizerischen Recht unterstellt hat (Art. 87 Abs. 2 IPRG). Zuständig sind dann die Gerichte und Behörden am schweizer Heimatort des Erblassers. Bei ausländischen Erblassern ohne Wohnsitz in der Schweiz besteht eine Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte und Behörden nur dann, wenn sich

___________ 14 Zu den Zuständigkeitsfragen im internationalen Erbrecht s. Schwander in FS Druey, Zürich 2002, S. 243 ff.

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die Behörden im Ausland mit dem Nachlass nicht befassen (Art. 88 Abs. 1 und 2 IPRG). Die Zuständigkeit ist in diesem Fall allerdings auf das in der Schweiz belegene Vermögen beschränkt. Bei deutschen Erblassern ist diese Zuständigkeit nie begründet, weil bei deutschen Staatsangehörigen die deutschen Nachlassgerichte stets international zuständig sind (§§ 105 i.V.m. 343 Abs. 1 und 2 FamFG). Insgesamt zeigt sich, dass die internationale Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte und Behörden weniger weitreichend ist als die der deutschen Nachlassgerichte. Während die deutsche Staatsangehörigkeit stets eine umfassende Zuständigkeit der deutschen Nachlassgerichte begründet, sind die schweizerischen Gerichte und Behörden grundsätzlich nur bei schweizer Erblassern mit letztem Wohnsitz in der Schweiz umfassend zuständig. Die Belegenheit von Nachlassvermögen begründet in der Schweiz gleichfalls nur im Ausnahmefall eine Zuständigkeit von Gerichten und Behörden, die zudem auf die in der Schweiz belegenen Gegenstände beschränkt ist. In Deutschland begründet die Belegenheit von Nachlassvermögen dagegen stets eine umfassende Zuständigkeit der deutschen Nachlassgerichte. 3. Zwischenergebnis In dem Fall eines deutschen Staatsangehörigen mit letztem Wohnsitz in Deutschland und Vermögen in Deutschland und der Schweiz ist somit nur die Zuständigkeit der deutschen Nachlassgerichte gegeben. Die schweizerischen Gerichte und Behörden sind in diesem Fall nicht zuständig, sodass in der Schweiz auch kein Nachlassverfahren durchgeführt werden kann. Für die Erben besteht daher keine Möglichkeit, sich in der Schweiz einen Legitimationsnachweis in Form einer Erbbescheinigung ausstellen zu lassen.

IV. Nachweis der Erbfolge 1. Deutschland a) Erbnachweise in Deutschland aa) Erbschein Als Erbnachweis dient in Deutschland regelmäßig ein Erbschein, der den Erben auf Antrag vom zuständigen Nachlassgericht erteilt wird (§§ 2353 ff. BGB, §§ 342 ff. FamFG). Das Nachlassgericht ist dabei nicht an die Angaben der Antragsteller gebunden, sondern hat den gesamten Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 2358 BGB, § 26 FamFG). Dem Erbschein kommt eine umfassende Legitimations-, Vermutungs- und Publizitätswirkung zu (§§ 2365 ff. BGB, § 35 GBO). Bei Erbfällen mit Auslandsberührung wird zwischen Eigenrechtserbscheinen (in denen die Erbfolge nach deutschem Erbrecht bezeugt wird) und Fremdrechtserbscheinen (in denen die Erbfolge nach ausländischem Erbrecht bezeugt wird) unterschieden. Eigen- und Fremdrechtserbscheine sind dabei grundsätzlich unbeschränkt und erstrecken sich auf das gesamte weltweite Vermögen des Erblassers. Beide Arten von Erbscheinen können jedoch auf das 928

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in Deutschland belegene Nachlassvermögen beschränkt werden, wenn der Nachlass auch Vermögenswerte im Ausland umfasst (§ 2369 Abs. 1 BGB n.F.). Dies ist eine wichtige Änderung der Rechtslage, die durch das am 1.9.2009 in Kraft getretene Gesetz in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG)15 erfolgt ist. Früher waren Fremdrechtserbscheine stets zwingend auf das in Deutschland belegene Nachlassvermögen beschränkt (§ 2369 Abs. 1 BGB a.F.). In internationalen Erbfällen kann es vielfach sinnvoll sein, einen Erbscheinsantrag auf das in Deutschland belegene Vermögen zu beschränken. Ein Grund dafür ist, dass dann die (vielfach zeit- und kostenaufwendige) Ermittlung des ausländischen Erbrechts bzw. des ausländischen Vermögens unterbleiben kann und das Nachlassverfahren somit nicht unerheblich vereinfacht und beschleunigt werden kann. Für eine Beschränkung eines Erbscheinsantrags auf das in Deutschland belegene Vermögen können darüber hinaus auch Kostenüberlegungen eine Rolle spielen, weil das ausländische Vermögen dann bei der Geschäftswertermittlung außer Betracht bleibt (§ 107 Abs. 2 Satz 3 KostO; s. aber auch §§ 46 Abs. 4 Satz 1, 18 Abs. 3 KostO). Schließlich ist eine Beschränkung des Erbscheinsantrags dann zweckmäßig, wenn dieser im Ausland ohnehin nicht erkannt wird. In deutsch-schweizerischen Erbfällen ist eine solche Beschränkung allerdings regelmäßig nicht empfehlenswert. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein deutscher Erblasser mit letztem Wohnsitz in Deutschland verstirbt. Die schweizerischen Gerichte und Behörden sind in einem solchen Fall international gar nicht zuständig16, sodass die Erben in der Schweiz keinen Erbnachweis in Form einer Erbbescheinigung (Art. 559 ZGB) erhalten. Die Erbfolge kann damit nur durch einen deutschen Erbschein nachgewiesen werden. Der deutsche Erbschein wird in der Schweiz auch in vollem Umfang anerkannt (Art. 96 Abs. 1 IPRG)17. Schließlich ist die Ermittlung des schweizerischen Erbrechts bzw. von Vermögen in der Schweiz aufgrund der gemeinsamen sprachlichen und kulturellen Grundlagen meist mit keinen großen praktischen Schwierigkeiten verbunden. Im Ergebnis sollte in deutsch-schweizerischen Erbfällen daher grundsätzlich ein unbeschränkter Eigen- oder Fremdrechtserbschein beantragt werden, der sich auch auf das im Ausland belegene Nachlassvermögen erstreckt. bb) Verfügung von Todes wegen in öffentlicher Urkunde samt gerichtlicher Eröffnungsniederschrift In Deutschland kann der Nachweis der Erbfolge grundsätzlich nur durch einen Erbschein geführt werden (§ 35 Abs. 1 Satz 1 GBO). Von diesem Grundsatz hat der Gesetzgeber jedoch für Grundbuchzwecke eine Ausnahme vorgesehen, die für den Nachweis der Erbfolge gegenüber anderen Behörden und

___________ 15 S. dazu oben die Nachweise in Fn. 12. 16 S. dazu oben Abschnitt III.2. 17 S. dazu unten Abschnitt IV.2.b).

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Gerichten (z.B. Handelsregistern) entsprechende Anwendung findet18. Danach ist die Vorlage eines Erbscheins regelmäßig entbehrlich, wenn eine Verfügung von Todes wegen zusammen mit der gerichtlichen Eröffnungsniederschrift vorgelegt wird (§ 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 GBO, §§ 348 ff. FamFG). Die Verfügung von Todes wegen muss dabei in einer öffentlichen Urkunde (§ 415 ZPO) enthalten sein (in der Regel notariell beurkundete Testamente oder Erbverträge)19. Privatschriftliche Verfügungen von Todes wegen genügen insoweit nicht. Allerdings kann das Grundbuchamt gleichwohl auf der Vorlage eines Erbscheins bestehen, wenn sich bei der Prüfung der Verfügung von Todes wegen Zweifel am behaupteten Erbrecht ergeben, die durch weitere Ermittlungen nicht aufgeklärt werden können (§ 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 GBO)20. b) Anerkennung ausländischer Erbnachweise in Deutschland Ausländische Entscheidungen in Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit werden in Deutschland grundsätzlich anerkannt, ohne dass es dafür eines besonderen Verfahrens bedarf (§§ 108, 109 FamFG). Dies gilt allerdings grundsätzlich nur für gerichtliche Entscheidungen. Die schweizer Erbbescheinigung (Art. 559 ZGB) wird allerdings im Regelfall nicht von einem Gericht, sondern – je nach Kanton – von Behörden bzw. Notaren erteilt. Solche Entscheidungen können in Deutschland nur dann anerkannt werden, wenn sie auch im Hinblick auf die Verfahrensweise der Entscheidung eines deutschen Nachlassgerichts entsprechen. Diese Gleichwertigkeit ist bei einer schweizer Erbbescheinigung nicht gegeben21. Denn die Erbbescheinigung wird in der Schweiz auf bloßes Verlangen der Erben ausgestellt, ohne dass zuvor eine sachliche

___________ 18 S. dazu auch Nr. 5 der AGB der deutschen Banken. Ausführlich dazu Bunte in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, Band I, § 10, S. 173 ff.; Palandt/Edenhofer, BGB, 69. Aufl. 2010, § 2353 Rz. 22. S. dazu jüngst auch Urteil des BGH v. 7.6.2005 – XI ZR 311/04, NJW 2005, 2779 = ZErb 2006, 29 mit Anm. Keim = ZEV 2005, 388 mit Anm. Werkmülller; Urteil des LG Lüneburg v. 30.4.2008 – 6 O 28/08, ZEV 2009, 303 mit Anm. Gahle. Ausführlich zum Ganzen u.a. Keim, WM 2006, 753; Schröder/Meyer, NJW 2006, 3252; Starke, NJW 2005, 3184. 19 Dabei kann es sich grundsätzlich auch um eine öffentliche Urkunde handeln, die im Ausland errichtet worden ist, z.B. eine Verfügung von Todes wegen, die von einem Notar in der Schweiz beurkundet worden ist (s. Art. 499 ZGB und Art. 55 SchlTZGB). 20 S. dazu u.a. Palandt/Edenhofer, BGB, 69. Aufl. 2010, § 2353 Rz. 25 f.; Demharter, Grundbuchordnung, 27. Aufl. 2010, § 35 Rz. 31 ff. 21 S. etwa Beschluss des BayObLG v. 27.3.1991 – BReg. 1 a Z 80/88, NJW-RR 1991, 1098 = FamRZ 1991, 1237 = DNotZ 1992, 804 (Nachweis der Erbfolge nach einem deutschen Erblasser, der mit letzten Wohnsitz in der Schweiz verstorben ist); Beschluss des LG Stuttgart v. 15.8.2007 – 1 T 59/2007, ZEV 2008, 83 = NJW-RR 2008, 1463 (Erbbescheinigung nach Schweizer Recht kein Erbnachweis im Sinne von § 35 GBO); Palandt/Edenhofer, BGB, 69. Aufl. 2010, § 2353 Rz. 21; Meikel/Hertel, Grundbuchordnung, 10. Aufl. 2009, Einl L Rz. 234; Meikel/Roth, Grundbuchordnung, 10. Aufl. 2009, § 35 Rz. 42 ff.; wohl auch Keidel/Zimmermann, FamFG, 16. Aufl. 2009, § 108 Rz. 35. AA aber Kaufhold, ZEV 1997, 399 (die im Ergebnis der Auffassung ist, dass die schweizerische Erbbescheinigung einem deutschen Erbschein gleichwertig ist und daher Grundlage für eine Grundbuchberichtigung in Deutschland sein kann).

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Prüfung des behaupteten Erbrechts erfolgt. Dementsprechend handelt es sich bei der Erbbescheinigung auch um einen bloß provisorischen Legitimationsnachweis. Demgegenüber muss das deutsche Nachlassgericht die dem Erbrecht zugrundeliegenden Tatsachen stets umfassend ermitteln und gegebenenfalls auch darüber Beweis erheben. Der Erbschein ist somit das Ergebnis einer echten Entscheidung des Nachlassgerichts. Die Anerkennung der schweizer Erbbescheinigung lässt sich auch nicht damit begründen, dass ein deutscher Erbschein in gewisser Weise gleichfalls ein nur vorläufiger Erbnachweis ist. Es ist zwar zutreffend, dass ein unrichtiger Erbschein vom Nachlassgericht jederzeit eingezogen oder für kraftlos erklärt werden kann (§ 2361 BGB). Allerdings kommt dem einmal erteilten Erbschein aufgrund der zwingend vorgeschalteten gerichtlichen Prüfung der Sach- und Rechtslage eine deutlich stärkere Legitimationswirkung zu als einer Bescheinigung, die mehr oder weniger alleine aufgrund des Antrags des begünstigten Erben erteilt wird. Schließlich kommt es für die Frage der Anerkennung auch nicht auf die Gegenseitigkeit an. Der Umstand, dass der deutsche Erbschein in der Schweiz als Erbnachweis regelmäßig anerkannt wird (Art. 96 Abs. 1 IPRG)22 zwingt somit nicht dazu, auch die schweizer Erbbescheinigung in Deutschland anzuerkennen. Vielmehr ist festzuhalten, dass beide Erbnachweise in rechtsstaatlich völlig unterschiedlichen Verfahren erteilt werden und daher nicht als gleichwertig angesehen werden können. Im Ergebnis kann die schweizer Erbbescheinigung in Deutschland somit nicht als Erbnachweis anerkannt werden. Für eine solche Anerkennung besteht auch keine zwingende23 Notwendigkeit, weil in allen diesen Fällen in Deutschland ein entsprechender Eigen- oder Fremdrechtserbschein beantragt werden kann. 2. Schweiz a) Erbnachweise in der Schweiz Als Erbnachweis dient in der Schweiz eine Erbbescheinigung24, die im Zivilgesetzbuch aber eher kursorisch geregelt ist25. Art. 559 Abs. 1 ZGB lautet wie folgt:

___________ 22 S. dazu unten Abschnitt IV.2.b). 23 Abgesehen von dem mit der Erteilung eines Erbscheins verbundenem Zeit- und Kostenaufwand. 24 Die Bezeichnung ist bei den einzelnen Kantonen unterschiedlich. Üblich sind etwa Erbenschein, Erbschein, Erbbescheinigung, Erbgangsbescheinigung und Erbgangsurkunde. Im vorliegenden Beitrag wird die Bescheinigung nach Art. 559 Abs. 1 ZGB als Erbbescheinigung bezeichnet. Die Bezeichnung als Erbschein wird bewusst vermieden, um Verwechslungen mit dem deutschen Erbschein zu vermeiden. 25 Ausführlich zum Ganzen (neben den Kommentierungen zum schweizerischen Zivilgesetzbuch) Breitschmid, Vorsorgliche Massnahmen im Erbrecht, successio 2009, 102; Dallafior, Die Legitimation des Erben. Eine rechtsvergleichende und internationalprivatrechtliche Studie, Zürich 1990; Knubel, Der Erbenschein, Zeitschrift für Walliser Rechtsprechung (ZWR) 2001, 235; Pfäffli, Der Ausweis für die Eigen-

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Thomas Wachter „Nach Ablauf eines Monats seit der Mitteilung an die Beteiligten wird den eingesetzten Erben, wenn die gesetzlichen Erben oder die aus einer früheren Verfügung Bedachten nicht ausdrücklich deren Berechtigung bestritten haben, auf ihr Verlangen von der Behörde eine Bescheinigung darüber ausgestellt, dass sie unter Vorbehalt der Ungültigkeitsklage und der Erbschaftsklage als Erben anerkannt seien.“

Mit dem Tod eines Erblassers müssen alle letztwilligen Verfügungen bei der zuständigen kantonalen Behörde eingeliefert werden (Art. 556 ZGB). Die Verfügungen von Todes wegen werden dann innerhalb eines Monats eröffnet (Art. 557 ZGB) und alle Beteiligten entsprechend informiert (Art. 558 ZGB). Diese haben dann die Möglichkeit, die Berechtigung der eingesetzten Erben innerhalb eines Monats zu bestreiten. Machen sie davon keinen Gebrauch, kann den Erben eine Erbbescheinigung erteilt werden. Anspruch auf die Erteilung einer Erbbescheinigung haben nach dem Gesetzeswortlaut nur die „eingesetzten Erben“, d.h. die Erben, die der Erblasser durch Testament oder Erbvertrag bestimmt haben. Es ist aber allgemein anerkennt, dass auch die gesetzlichen Erben eine Erbbescheinigung beantragen können. Denn die gesetzlichen Erben müssen sich ebenso wie die eingesetzten Erben als Rechtsnachfolger legitimieren können. Die Erbbescheinigung ist lediglich ein provisorischer Legitimationsnachweis für die Erben. Dies zeigt sich schon daran, dass die Erbbescheinigung stets unter dem „Vorbehalt der Ungültigkeitsklage oder der Erbschaftsklage“ erteilt wird. Die Erbbescheinigung enthält somit keinerlei Entscheidung über die materiell-rechtliche Erbenstellung der in ihr genannten Personen. Gleichwohl ist die Erbbescheinigung von großer praktischer Bedeutung. Die Erbbescheinigung dient insbesondere als Legitimationsnachweis gegenüber Grundbuchämtern (Art. 18 Abs. 2 Buchst. a GBV), Handelsregistern und Banken. Der Grundbuchführer ist im Allgemeinen weder berechtigt noch verpflichtet, die Richtigkeit der Erbbescheinigung zu überprüfen. Noch nicht abschließend geklärt ist bislang, ob der gute Glaube an eine unrichtige Erbbescheinigung geschützt wird. Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung fehlt (s. demgegenüber §§ 2366, 2367 BGB). Die Rechtsprechung hat die Frage bislang offen gelassen26, im Schrifttum wird der Gutglaubensschutz aber überwiegend bejaht. Zur Begründung wird vor allem auf die Legitimationsfunktion der Erbbescheinigung im Grundbuchverfahren hingewiesen (s. Art. 18 Abs. 2 Buchst. a GBV und Art. 975 ZGB). Form und Inhalt der Erbbescheinigung sind bundesgesetzlich nicht im Einzelnen geregelt, sondern den Kantonen überlassen. In der Praxis ist eine große Vielfalt an Bescheinigungen festzustellen. In der Regel werden in die Erbbescheinigung aber u.a. folgende Angaben aufgenommen: Name und Todestag des Erblassers, Namen und Adressen aller Erben sowie des nießungsberechtig-

___________ tumseintragung im Grundbuch beim Erbgang, Aktuelle Juristische Praxis (AJP) 2000, 421; Tuor/Schnyder/Schmid/Rumo-Jongo, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 13. Aufl., Zürich 2009, § 73 II. 3; Wolf, Die Sicherungsmassregeln im Erbgang (Art. 551–559 ZGB), Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins (ZBJV) (Band 135) 1999, 181. 26 Schweizer Bundesgericht, BGE 95 II 109, 118.

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ten Ehegatten (Art. 473 ZGB) samt einer Bestätigung, dass dies die einzigen Erben sind, Hinweis auf einen Willensvollstrecker sowie der Vorbehalt der erbrechtlichen Klagen. Dagegen werden die Erbquoten der einzelnen Erben, pflichtteilsberechtigte Personen und Vermächtnisnehmer in der Erbbescheinigung im Allgemeinen nicht angegeben. Die Erbbescheinigung erstreckt grundsätzlich auf den gesamten Nachlass, und zwar einschließlich des im Ausland belegenen Nachlassvermögens. b) Anerkennung ausländischer Erbnachweise in der Schweiz aa) Rechtsgrundlagen Die Anerkennung ausländischer Erbnachweise ist in der Schweiz gesetzlich ausdrücklich geregelt27. Die maßgebliche Regelung des Schweizer Bundesgesetzes über das Internationale Privatgesetz (Art. 96 Abs. 1 IPRG)28 hat folgenden Wortlaut: „(1) Ausländische Entscheidungen, Massnahmen und Urkunden, die den Nachlass betreffen, sowie Rechte aus einem im Ausland eröffneten Nachlass werden in der Schweiz anerkannt: (a) wenn sie im Staat des letzten Wohnsitzes des Erblassers oder im Staat, dessen Recht er gewählt hat, getroffen, ausgestellt oder festgestellt worden sind oder wenn in einem dieser Staaten anerkannt werden, oder (b) wenn sie Grundstücke betreffen und in dem Staat, in dem sie liegen, getroffen, ausgestellt oder festgestellt worden sind oder wenn sie dort anerkannt werden.“

bb) Voraussetzungen der Anerkennung (1) Gegenstand der Anerkennung Der Kreis der anerkennungsfähigen Erbnachweise wird im Gesetz sehr weit umschrieben. Ausdrücklich genannt werden „Entscheidungen, Massnahmen und Urkunden, die den Nachlass betreffen, sowie Rechte aus einem im Ausland eröffneten Nachlass“. Die Anerkennung ist danach nicht auf Nachweise beschränkt, die in einem bestimmten gerichtlichen oder behördlichen Verfahren ergangen sind. Erbscheine werden in Deutschland von den Nachlassgerichten im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit erteilt (§§ 2353 ff. BGB, §§ 342 ff. FamFG). Dabei handelt es sich um eine den Nachlass betreffende Entscheidung, die

___________ 27 Sehr hilfreich ist in der Praxis dabei eine Broschüre des Schweizerischen Bundesamts für Justiz, Sektion für internationales Privat- und Zivilverfahrensrecht, Eidgenössisches Amt für Grundbuch- und Bodenrecht, Ausländische Erbfolgezeugnisse als Ausweis für Eintragungen im schweizerischen Grundbuch, Bern 2001 (mit zahlreichen Länderberichten, u.a. auch Deutschland), Volltext im Internet abrufbar unter www.bj.admin.ch. Diese Broschüre war ursprünglich wohl als Orientierungshilfe für die Schweizer Grundbuchämter gedacht, hat sich aber auch darüber hinaus als nützlicher Ratgeber erwiesen. 28 Umfassend dazu zuletzt (neben den Kommentierungen zu Art. 96 IPRG, s. oben Fn. 7) Kuhn, Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht (SZIER) 2002, 1. Früher bereits Dallafior, Die Legitimation der Erben: eine rechtsvergleichende und internationalprivatrechtliche Studie, Zürich 1990.

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von der Schweiz unstreitig als anerkennungsfähiger Erbnachweis angesehen wird. Nach deutschem Recht stellt grundsätzlich auch eine (in einer öffentlichen Urkunde enthaltene) Verfügung von Todes wegen samt der gerichtlichen Eröffnungsniederschrift einen ausreichenden Erbnachweis dar (s. § 35 Abs. 1 Satz 2 GBO)29. Bei dieser Form des Erbnachweises handelt es sich gleichfalls um Urkunden, die den Nachlass betreffen und somit um anerkennungsfähige Erbnachweise30. Die insbesondere bei Banken gelegentlich anzutreffende Praxis, auch in diesen Fällen stets die Vorlage eines Erbscheins zu verlangen ist daher nicht gesetzeskonform. Ein Erbschein kann vielmehr nur dann verlangt werden, wenn aufgrund der vorgelegten Verfügung von Todes wegen im Einzelfall konkrete Zweifel an der tatsächlichen Erbfolge bestehen. (2) Zuständigkeit für den anzuerkennenden Erbnachweis Die Anerkennung eines ausländischen Erbnachweises ist ferner davon abhängig, dass dieser im ausländischen Errichtungsstaat von der zuständigen Stelle erstellt worden ist. Diese Zuständigkeit kann in mehreren Fällen vorliegen: Ausstellung oder Feststellung des Erbnachweises im Staat des letzten Wohnsitzes des Erblassers (Art. 96 Abs. 1 Buchst. a Fall 1 IPRG), Ausstellung oder Feststellung des Erbnachweises im Staat, dessen Recht der Erblasser gewählt hat (Art. 96 Abs. 1 Buchst. a Fall 2 IPRG), Anerkennung des Erbnachweises im Staat des letzten Wohnsitzes des Erblassers oder im Staat, dessen Recht der Erblasser gewählt hat (Art. 96 Abs. 1 Buchst. a Fall 3 IPRG) und schließlich Ausstellung, Feststellung oder Anerkennung in dem Staat, in dem zum Nachlass gehörende Grundstücke belegen sind (Art. 96 Abs. 1 Buchst. b IPRG). Erbscheine, die von deutschen Nachlassgerichten erteilt werden, sind daher regelmäßig von der zuständigen Stelle ausgestellt und können in der Schweiz anerkannt werden. Entsprechendes gilt auch für Verfügungen von Todes wegen in einer öffentlichen Urkunde und die gerichtliche Eröffnungsniederschrift. (3) Bestandskraft des anzuerkennenden Erbnachweises Die Anerkennung eines ausländischen Erbnachweises setzt ferner voraus, dass auch die allgemeinen Voraussetzungen für die Anerkennung ausländischer Entscheidungen gegeben sind (Art. 25 bis 27 IPRG). Für Entscheidungen und Urkunden der freiwilligen Gerichtsbarkeit gelten diese Voraussetzungen allerdings nur sinngemäß (Art. 31 IPRG).

___________ 29 S. dazu oben Abschnitt IV.1.a) Buchst. bb). 30 So insbesondere auch Schweizerisches Bundesamt für Justiz, Sektion für internationales Privat- und Zivilverfahrensrecht, Eidgenössisches Amt für Grundbuchund Bodenrecht, Ausländische Erbfolgezeugnisse als Ausweis für Eintragungen im schweizerischen Grundbuch, Bern, 2001, Volltext im Internet abrufbar unter www.bj.admin.ch, Länderbericht Deutschland, und im Schrifttum etwa Becker, ZEV 2007, 208 (209); Wolf/Berger-Steiner in Süß, Erbrecht in Europa, 2. Aufl. 2008, S. 1373, Rz. 161.

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Nachweis der Erbfolge in deutsch-schweizerischen Erbfällen

Die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung setzt somit voraus, dass „gegen die Entscheidung kein ordentliches Rechtsmittel mehr geltend gemacht werden kann“ oder dass „sie endgültig ist“ (Art. 25 Buchst. b IPRG). Ein deutscher Erbschein erwächst nicht in Rechtskraft. Vielmehr kann ein Erbschein im Falle seiner Unrichtigkeit vom Nachlassgericht eingezogen oder für kraftlos erklärt werden (§ 2361 BGB und § 353 FamFG). Der wirkliche Erbe kann zudem eine Herausgabeklage erheben (§ 2362 BGB). Entscheidungen über Erbscheinsanträge können schließlich mit der Beschwerde angegriffen werden (§ 352 FamFG und §§ 58 ff. FamFG). Gleichwohl kommt dem einmal erteilten Erbschein eine gewisse Bestandskraft zu. Der Erbschein legitimiert die Erben als Rechtsnachfolger und wird im Rechtsverkehr allgemein anerkannt (§§ 2365 ff. BGB). Die schweizerische Erbbescheinigung (Art. 559 ZGB) ist im Übrigen auch nur ein provisorischer Legitimationsnachweis der Erben ohne jede materielle Bedeutung für Erbberechtigung. Eine Erbbescheinigung kann von der ausstellenden Behörde jederzeit geändert werden, wenn sich nachträglich ihre Unrichtigkeit herausstellt. Zudem steht eine Erbbescheinigung stets unter dem Vorbehalt der erbrechtlichen Klagen, und zwar auch dann, wenn diese in der Erbbescheinigung nicht ausdrücklich erwähnt sind. Der deutsche Erbschein stellt somit eine in diesem Sinne „endgültige“ Entscheidung dar, die in der Schweiz uneingeschränkt anzuerkennen ist. Die Anerkennung hängt dabei auch nicht davon ab, dass gegen die Entscheidung des Nachlassgerichts keine Beschwerde mehr erhoben werden kann. Vielmehr ist der Erbschein mit der Aushändigung der Urschrift oder Ausfertigung wirksam erteilt. Der Erbschein hat uneingeschränkt Bestand, solange er nicht eingezogen oder für kraftlos erklärt wird. (4) Kein Verstoß gegen den ordre public Schließlich setzt die Anerkennung eines ausländischen Erbnachweises voraus, dass diese mit dem schweizerischen ordre public nicht offensichtlich unvereinbar ist (Art. 27 Abs. 1 IPRG) und bei der zugrundeliegenden Entscheidungen nicht gegen grundlegende Verfahrensgrundsätze verstoßen worden ist (Art. 27 Abs. 2 IPRG). Bei deutschen Erbnachweisen erscheint ein solcher Verweigerungsgrund kaum vorstellbar. cc) Rechtsfolgen der Anerkennung Deutsche Erbnachweise können und müssen in der Schweiz somit ohne Weiteres anerkannt werden. Die Anerkennung erfolgt kraft Gesetzes und bedarf keiner besonderen Feststellung. Ein deutscher Erbnachweis hat demnach in der Schweiz die gleichen Wirkungen wie in Deutschland. Einem deutschen Erbschein kommt somit auch in der Schweiz die im deutschen Recht vorgesehene Legitimations-, Vermutungs- und Publizitätswirkung zu (§§ 2365 ff. BGB). Allerdings kann ein deutscher Erbnachweis in der Schweiz nur dann anerkannt werden, wenn er sich nach deutschem Recht auch auf die Schweiz erstrecken soll. Denn die Schweiz kann einem deut935

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schen Erbschein keine weitergehende Wirkung beimessen als ihm nach deutschem Recht zukommen soll. Die am 1.9.2009 in Deutschland in Kraft getretenen Neuregelungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit31 haben insoweit zu einer wichtigen Änderung geführt. Sowohl Eigenrechtserbscheine (in denen die Erbfolge nach deutschem Erbrecht bezeugt wird) als auch Fremdrechtserbscheine (in denen die Erbfolge nach ausländischem Erbrecht bezeugt wird) gelten grundsätzlich unbeschränkt und erstrecken sich auf das gesamte weltweite Nachlassvermögen. Allerdings kann auch jeder Erbschein auf das in Deutschland belegene Nachlassvermögen beschränkt werden (§ 2369 Abs. 1 BGB n.F.)32. Eine solche Beschränkung muss jedoch sowohl in dem Erbscheinsantrag als auch in dem Erbschein selbst ausdrücklich vermerkt werden. Fehlt ein solcher Vermerk, kommt dem Erbschein daher uneingeschränkte Wirkung zu. Der Erbschein bezieht sich dann auf das gesamte in- und ausländische Nachlassvermögen. Die bis zum 31.8.2009 in der Schweiz geübte Praxis nur Eigenrechtserbscheine, nicht aber auch Fremdrechtserbscheine anzuerkennen, ist somit überholt. Nach früherer Rechtslage war diese Auffassung zutreffend, da Fremdrechtserbscheine damals nur für in Deutschland befindliche Gegenstände erteilt worden sind (§ 2369 Abs. 1 BGB a.F.) und sich daher zwangsläufig nicht mehr auf den in der Schweiz belegenen Nachlass erstrecken konnten. Diese Beschränkung für Fremdrechtserbscheine wurde vom Gesetzgeber jedoch aufgehoben. Sowohl Eigenrechtserbscheine als auch Fremdrechtserbscheine erstrecken sich jetzt auf das gesamte weltweite Nachlassvermögen, sofern sie nicht ausdrücklich auf das Inlandsvermögen beschränkt worden sind. Unverändert richtig ist, dass Erbscheine, die in Deutschland nur für Grundbuchzwecke erteilt worden sind (s. § 107 Abs. 3 KostO), in der Schweiz nicht anerkannt werden können. Diese Erbscheine beziehen sich ausdrücklich nur auf die in Deutschland belegenen Grundstücke und nicht auch auf das in der Schweiz belegene Nachlassvermögen. dd) Praktische Verfahrensfragen bei der Verwendung deutscher Erbnachweise in der Schweiz (1) Erbbescheinigung oder gleichwertiger Erbnachweis Deutsche Erbnachweise werden in der Schweiz somit anerkannt. In der Praxis tauchen allerdings gerade bei der Vermögensübertragung auf die Erben immer wieder verschiedene Probleme auf.

___________ 31 S. dazu oben die Nachweise in Fn. 12. 32 § 2369 Abs. 1 BGB n.F. (seit 1.9.2009) lautet wie folgt: „Gehören zu einer Erbschaft auch Gegenstände, die sich im Ausland befinden, kann der Antrag auf Erteilung eines Erbscheins auf die im Inland befindlichen Gegenstände beschränkt werden.“ – Demgegenüber lautete § 2369 Abs. 1 BGB a.F. (bis zum 31.8.2008) noch wie folgt: „Gehören zu einer Erbschaft, für die es an einem zur Erteilung des Erbscheins zuständigen deutschen Nachlassgericht fehlt, Gegenstände, die sich im Inland befinden, so kann die Erteilung eines Erbscheins, für diese Gegenstände verlangt werden.“

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Nachweis der Erbfolge in deutsch-schweizerischen Erbfällen

Eine gesetzliche Regelung für die erforderlichen Nachweise findet sich lediglich in Bezug auf Grundstücke. Nach der Verordnung betreffend Grundstücke muss im Falle eines Eigentumserwerbs durch Erbgang eine „Bescheinigung, dass die gesetzlichen und die eingesetzten Erben als einzige Erben des Erblassers anerkannt sind“ als Erwerbsnachweis vorgelegt werden (Art. 18 Abs. 2 Buchst. a GBV). Diese Regelung gilt nach allgemeiner Auffassung für den Nachweis der Erbfolge gegenüber anderen Behörden (z.B. Handelsregister) oder Stellen (z.B. Banken) sinngemäß. Im Regelfall ist daher eine Erbbescheinigung (Art. 559 ZGB) vorzulegen. Ein deutscher Erbschein wird in der Schweiz als Erbnachweis anerkannt (Art. 96 Abs. 1 IPRG) und kann daher auch Grundlage für eine entsprechende Grundbuchberichtigung sein. Dies gilt sowohl für Eigenrechtserbscheine als auch für Fremdrechtserbscheine, sofern sie nicht ausdrücklich auf die in Deutschland befindlichen Nachlassgegenstände beschränkt sind. Der deutsche Erbschein ist der schweizerischen Erbbescheinigung aufgrund seiner gesetzlichen Legitimations-, Vermutungs- und Publizitätswirkung in jeder Hinsicht gleichwertig. Als Erbnachweis ist auch eine Verfügung von Todes wegen in einer öffentlichen Urkunde samt gerichtlicher Eröffnungsniederschrift anzuerkennen. Bei der Verfügung von Todes wegen kann es sich um ein Einzeltestament, ein gemeinschaftliches Testament oder einen Erbvertrag handeln. Die öffentliche Urkunde wird in der Praxis meist durch einen Notar errichtet worden sein (s. § 415 ZPO). Ein solcher Erbnachweis ist der schweizerischen Erbbescheinigung schon deshalb gleichwertig, weil diese in manchen Schweizer Kantonen ebenfalls von einem Notar (und nicht einem Gericht) ausgestellt wird. Zudem bietet dieser Erbnachweis in gleicher Weise wie die Erbbescheinigung Gewähr dafür, dass unrichtige Eintragungen im Grundbuch möglichst unterbleiben (s. auch § 35 Abs. 1 Satz 2 GBO). Neben der Verfügung von Todes wegen ist stets auch die gerichtliche Eröffnungsniederschrift (§§ 348 ff. FamFG) vorzulegen, um sicherzustellen, dass auch alle Verfügungen von Todes wegen ordnungsgemäß eröffnet worden sind. (2) Form und Sprache des Erbnachweises Der Erbschein muss stets in Urschrift oder in Ausfertigung vorgelegt werden33. Die Vorlage der beglaubigten Abschrift eines Erbscheins genügt nicht, da der Erbschein trotz deren Vorliegen zwischenzeitlich eingezogen worden sein könnte (s. § 2361 BGB). Dagegen genügt von einer Verfügung von Todes wegen samt Eröffnungsniederschrift auch eine beglaubigte Abschrift.

___________ 33 Je nach Umfang und Struktur des Nachlassvermögens sollten daher bereits im Rahmen des Erbscheinsantrags mehrere Ausfertigungen des Erbscheins bzw. Testamentsvollstreckerzeugnisses beantragt werden.

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Deutsche Urkunden bedürfen für die Anerkennung in der Schweiz einer Überbeglaubigung in Form einer Apostille34. Diese erteilt in Deutschland der Präsident des jeweiligen Landgerichts. Eine Übersetzung ist in der Regel nicht erforderlich. Amtssprachen der Schweizer Bundesbehörden sind Deutsch, Französisch und Italienisch (s. Art. 4, 18 und 70 der Schweizerischen Bundesverfassung). Die Amtssprachen der einzelnen Kantone werden von diesen selbst geregelt. (3) Vorlage einer Sterbeurkunde In der Praxis wird vielfach neben dem Erbnachweis die Vorlage einer Sterbeurkunde verlangt. Dies ist aber nicht erforderlich, da der deutsche Erbnachweis nicht nur den vollen Beweis für die Erbfolge, sondern auch für den Eintritt des Erbfalls erbringt. Ein Erbschein wird ohne Vorlage einer Sterbeurkunde grundsätzlich nicht erteilt (§ 2354 Abs. 1 Nr. 1, 2355 und 2356 BGB). Entsprechendes gilt für die Erstellung einer gerichtlichen Eröffnungsniederschrift über eine Verfügung von Todes wegen (§ 348 ff. FamFG). (4) Identifikation der Erben Schließlich müssen sich die Erben selbst durch Vorlage eines gültigen Reisepasses oder Personalausweises identifizieren.

V. Testamentsvollstreckung (Willensvollstreckung) 1. Willensvollstreckung in der Schweiz Der Erblasser kann in einer letztwilligen Verfügung eine oder mehrere Personen mit der Vollstreckung seines Willens beauftragen (Art. 517 Abs. 1 ZGB)35.

___________ 34 Haager Übereinkommen zur Befreiung ausländischer öffentlicher Urkunden von der Legalisation vom 5.10.1961 (BGBl. II 1965, 875; für die Schweiz am 11.3.1973, BGBl. II 1973, 176, und für Deutschland am 13.2.1966, BGBl. II 1966, 106, in Kraft getreten). S. dazu auch www.hcch.net. Zwischen der Schweiz und Deutschland besteht ferner ein bilateraler Vertrag über die Befreiung öffentlicher Urkunden von der Legalisation (Vertrag zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Deutschen Reich über die Befreiung öffentlicher Urkunden von der Legalisation vom 14.2.1907, RGBl. 1907, 411 (415) = StAZ 1907, 257, der am 16.8.1907 in Kraft getreten ist). Danach bedürfen die von den Gerichten und bestimmten höheren Verwaltungsbehörden aufgenommenen, ausgestellten oder beglaubigten und mit Siegel oder Stempel versehenen Urkunden zum Gebrauch im anderen Vertragsstaat keiner Legalisation. Die unter das Abkommen fallenden Verwaltungsbehörden sind in einem dem Vertrag beigefügten Verzeichnis aufgeführt (BGBl. II 1956, 30 = StAZ 1956, 57, geändert BGBl. II 1968, 905 = StAZ 1968, 340, BGBl. II 1977, 658 und BGBl. II 1982, 80 = StAZ 1982, 114). Auf notarielle Urkunden findet der Beglaubigungsvertrag keine Anwendung. 35 Ausführlich zum Ganzen Druey/Breitschmid, Willensvollstreckung, Bern 2001; Genna, ZErb 2006, 296 (speziell zur Willensvollstreckung durch Banken in der Schweiz); Haas/Sieghörtner in Bengel/Reimann (Hrsg.), Handbuch der Testamentsvollstreckung, 4. Aufl. 2010, Kap. 9 Rz. 299 ff.; Künzle in FS Druey, Zürich 2002, S. 209 ff.; Künzle, Der Willensvollstrecker im schweizerischen und US-amerikanischen Recht, Zürich 2000; Lorz in Henssler/Kolbeck/Moritz/Rehm (Hrsg.), Europäische Integration und globaler Wettbewerb, 1993, S. 489 ff.

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Nachweis der Erbfolge in deutsch-schweizerischen Erbfällen

Der Willensvollstrecker hat die Erbschaft zu verwalten, die Schulden zu begleichen, die Vermächtnisse zu erfüllen und die Teilung des Nachlasses vorzunehmen (Art. 518 Abs. 2 ZGB). Der Willensvollstrecker ist befugt, ohne Zustimmung der Erben über die Nachlassgegenstände zu verfügen. Die Verfügungsbefugnis erstreckt sich insbesondere auch auf den zum Nachlass gehörenden Grundbesitz. Die Verfügungsbeschränkung der Erben kann im Grundbuch eingetragen werden. Wird ein Erblasser nach Schweizer Recht beerbt und hat der Erblasser Willensvollstreckung angeordnet, kann ein entsprechender Vermerk auch in das deutsche Grundbuch eingetragen werden (§ 52 GBO analog)36. Der Willensvollstrecker untersteht in der Regel der Aufsicht der jeweiligen kantonalen Behörde. Der Willensvollstrecker weist sich im Rechtsverkehr durch eine beglaubigte Abschrift des Testaments oder durch ein Vollstreckungszeugnis aus. Ein derartiges Zeugnis ist gesetzlich nicht vorgesehen. In der Praxis erhält der Willensvollstrecker von der für die Erteilung der Erbbescheinigung zuständigen Behörde jedoch meist ein entsprechendes Zeugnis ausgestellt. Der Inhalt des Willensvollstreckerzeugnisses ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Die Schweizer Willensvollstreckerzeugnisse werden in Deutschland nicht als Testamentsvollstreckzeugnisse anerkannt37. Dem Willensvollstrecker kann aber auf Antrag für die in Deutschland befindlichen Nachlassgegenstände ein entsprechend beschränktes Testamentsvollstreckerzeugnis erteilt werden (§§ 2368 Abs. 3, 2369 BGB). 2. Testamentsvollstreckung in Deutschland Nach deutschem Recht kann der Erblasser Testamentsvollstreckung anordnen und einen oder mehrere Testamentsvollstrecker ernennen (§§ 2197 ff. BGB). Dem Testamentsvollstrecker wird auf Antrag vom Nachlassgericht ein Testamentsvollstreckerzeugnis ausgestellt (§ 2368 BGB, § 354 f. FamFG und § 35 Abs. 2 GBO). Die Vorschriften für den Erbschein gelten für das Testamentsvollstreckerzeugnis entsprechend38. Deutsche Testamentsvollstreckerzeugnisse werden in der Schweiz als Legitimationsnachweis anerkannt, sofern sie nicht auf den in Deutschland belegenen Nachlass beschränkt sind (Art. 96 Abs. 1 IPRG). Dies gilt sowohl für Eigenrechtstestamentsvollstreckerzeugnisse als auch für Fremdrechtstestamentsvollstreckerzeugnisse.

VI. Zusammenfassung Die Anforderungen an den Nachweis der Erbfolge sind in deutsch-schweizerischen Erbfällen durch Gesetzgeber und Rechtsprechung weitestgehend geklärt. Die praktischen Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen.

___________ 36 Beschluss des BayObLG v. 15.3.1990 – 2 Z 21/90, BayObLGZ 1990, 51 = NJW-RR 1990, 906 = IPrax 1991, 343; zustimmend Roth, IPrax 1991, 322. 37 S. zur parallelen Frage der Anerkennung von Schweizer Erbbescheinigungen in Deutschland bereits oben unter Abschnitt IV.1.b). 38 S. dazu oben Abschnitt IV.1.a).

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1. Deutsche Erbscheine werden in der Schweiz bei Gerichten, Behörden und Banken als Erbnachweis anerkannt, sofern sie nicht ausdrücklich auf das in Deutschland belegene Vermögen beschränkt sind. Dies gilt sowohl für Eigenrechtserbscheine als auch für Fremdrechtserbscheine. Der Erbschein ist in Urschrift oder Ausfertigung vorzulegen und sollte mit einer Apostille versehen sein. 2. Als gleichwertiger Erbnachweis werden in der Schweiz auch Testamente und Erbverträge anerkannt, die von einem Notar beurkundet worden sind und zusammen mit einer gerichtlichen Eröffnungsniederschrift vorgelegt werden. Etwas anderes gilt allenfalls dann, wenn sich die Erbfolge aus der vorgelegten Verfügung von Todes wegen nicht klar und eindeutig ergibt. 3. Schweizer Erbbescheinigungen werden in Deutschland dagegen nicht als Erbnachweis anerkannt. In entsprechenden Fällen ist vielmehr die Beantragung eines deutschen Eigen- oder Fremdrechtserbscheins unerlässlich. 4. Für Testamentsvollstreckerzeugnisse bzw. Bescheinigungen über schweizer Willensvollstrecker gelten die vorstehenden Ergebnisse entsprechend.

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Verzeichnis der Schriften von Michael Streck I. Bücher und selbständige Schriften Generalklausel und unbestimmter Begriff im Recht der allgemeinen Ehewirkungen, Diss., Bonn 1970 Die Steuerfahndung (seit 4. Aufl. mit Spatscheck), 4. Aufl., Köln 2006 (bis 1981: Der Eingriff der Steuerfahndung) Die Außenprüfung, 2. Aufl., Köln 1993 Der Steuerstreit, 2. Aufl., Köln 1994 Beruf: AnwaltAnwältin, München 2001 Handbuch des Sozietätsrechts (mit Henssler), 2. Aufl., 2011, Köln 2001 St. Ivo (1247–1303) – Schutzpatron der Richter und Anwälte (mit Rieck), Köln 2007 Tax Compliance – Risikominimierung durch Pflichtenbefolgung und Rechteverfolgung, hrsg. von der Sozietät Streck Mack Schwedhelm, Köln 2010

II. Kommentierungen Berater-Kommentar zur Steueramnestie, hrsg. Streck, Einl., § 1, Köln 2004 Körperschaftsteuergesetz, 7. Aufl., 2008, hrsg. von Streck (bis 2. Aufl., 1984 mit Felix), Vorwort, §§ 1–3, 5 (mit Alvermann), 6, 30–35 KStG, AnrV, KapErhStG, Beratungs-ABC (mit Alvermann), München 2008

III. Beiträge in Festschriften und Sammelwerken Die Streichung des negativen Kapitalkontos – Über das Verhältnis von Mittel und Zweck einer Gesetzgebungsinitiative – in: Das negative Kapitalkonto des Kommanditisten, hrsg. von Raupach im Auftrag der Deutschen steuerjuristischen Gesellschaft, Köln 1978 Körperschaftsteuerreform in: Reform der Körperschaft- und Umwandlungsteuer (mit Felix/Heinemann/Korn/Richter), hrsg. von Felix, 3. Aufl., Köln 1978 Steuerliche Bedingungen der Betriebsaufspaltung in: Kölner Handbuch der Betriebsaufspaltung und Betriebsverpachtung (mit Felix/Heinemann/Carlé/ Korn/Richter), hrsg. von Felix, 4. unveränderte Aufl. mit Nachtrag, Köln 1979

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Satzungsentwurf und Erläuterungen, Schwerpunkte der laufenden Besteuerung, Kapitalerhöhung, Kapitalherabsetzung, Liquidation sowie Einzelfragen und Gestaltungsmöglichkeiten in: Die GmbH in der Steuerberatung (mit Felix/Heinemann/Carlé/Korn/Richter), hrsg. von Felix, Köln 1979 Erfahrungen mit der Rechtsanwendungspraxis der Finanzämter (einschließlich Außenprüfungsstellen) bei der Abgrenzung der Betriebsausgaben/Werbungskosten von den Privatausgaben in: Die Abgrenzung der Betriebs- oder Berufssphäre von der Privatsphäre im Einkommensteuerrecht, hrsg. von Söhn im Auftrag der Deutschen steuerjuristischen Gesellschaft, Köln 1980, S. 273 Hausdurchsuchung und Beschlagnahme bei Steuerfahndungen in: Schröder/ Muuss, Handbuch der steuerlichen Betriebsprüfung, 6650, 9. Lfg., Berlin 1980 Mitunternehmerschaft, Gewinnverteilung, Einzelprobleme zur Ertragsbesteuerung, Aktuelle zivilrechtliche Schwerpunkte in der Beratungspraxis, Die nichtgewerbliche, insbesondere vermögensverwaltende GbR in: Steuerund Rechtspraxis der Mitunternehmer (mit Felix/Heinemann/Carlé/Korn/ Mathiak), hrsg. von Felix, Köln 1980 Folgende Stichworte: Festlandsockel, Gründungsgesellschaft, Internationales Steuergefälle, Kursgewinn, Mitunternehmeranteil, Mitunternehmerische Betriebsaufspaltung, Montageerlaß, Nationalitätsprinzip, Sachverständiger, Schiffahrt, Schiffsveräußerung, Selbständigkeit, Steuerausländer, Tochtergesellschaft, Universalprinzip, Ursprungsprinzip, Wohnsitzprinzip in: Handwörterbuch des Steuerrechts, 2. Aufl., München und Bonn 1981 Verwertungsverbote bei rechtswidrigen Prüfungsfeststellungen durch Außenprüfung und Steuerfahndung: in Schröder/Muuss, Handbuch der steuerlichen Betriebsprüfung, 6045, 14. Lfg., Berlin 1981 Neue Entwicklungen bei Betriebsaufspaltungen (mit Carstens/Groh/Wendt) in: Harzburger Protokoll ’82, S. 379 Die Selbstanzeige – Recht und Praxis –, Hinweise zur Verteidigungspraxis, Aktuelle Entwicklung des Rechts der Betriebsprüfung, Fragen der Seminarteilnehmer in: Steuerkontrolle Folge 1, hrsg. von Felix, Köln 1982 Das Recht des Verhältnisses von Steuer- und Strafverfahren in: Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht, hrsg. von Kohlmann im Auftrag der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft, Köln 1983, S. 217 Sachverhaltsermittlungen im nationalen und internationalen Steuerrecht sowie Steuerstrafrecht (mit Pelka/Becker) in: JbFfSt 82/83, Berlin, S. 99 Praxis der Selbstanzeige in: Harzburger Protokoll ’84, S. 123 Konsequenzen aus dem Beschluss des Großen Senats vom 25.6.1984 in: Harzburger Protokoll ’85, S. 239 Probleme des Körperschaftsteuerrechts in der Steuerberaterpraxis in: Harzburger Protokoll ’86, S. 223

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Die Praxis des Steuerstreits und der steuerlichen Einigung in: Harzburger Protokoll ’87, S. 305 Auswirkungen der Ertrags- und Verwaltungshoheit auf die steuerliche Belastung in: Steuerrecht und Verfassungsrecht, hrsg. von Friauf, DStJG 12, Köln 1989, S. 187 Abwehr von Schätzungen, unbenannte Geldempfänger (Schmiergelder) in: Harzburger Protokoll ’89, S. 243 Steuerberatung im Risiko (mit Mack/Schwedhelm) in: Harzburger Protokoll ’89, S. 205 Trouble in der Sozietät (mit Mack/Schwedhelm), Harzburger Protokoll ’90, S. 323 Der Steuerberater als Testamentsvollstrecker und Vermögensverwalter in: Harzburger Protokoll ’90, S. 309 Betriebsaufspaltung und GmbH (mit Schwedhelm) in: Steuerliches Vertragsund Formularbuch, 2. Aufl., München 1992 Testathaftung, Hinweise zu ihrer Vermeidung (Engels/Hartmann/Pestke), Dt. Steuerberaterinstitut – Verlautbarungen zum Handels- und Steuerrecht Nr. 5, 1991 Der „Vertrag“ zur Vermeidung verdeckter Gewinnausschüttungen an beherrschende Gesellschafter in: Harzburger Protokoll ’91, S. 151 Beratungsstreß in Bp.- und SteuFa.-Fällen (mit Mack/Schwedhelm), Harzburger Protokoll ’91, S. 239 Steuerliche Grenzüberschreitung – Steuerberatung in Europa (mit Mack/ Schwedhelm) in: Harzburger Steuerprotokoll 1993, S. 359 Einkünfte aus Kapitalvermögen – national und international in: Harzburger Steuerprotokoll 1993, S. 323 Bearbeitung: Steuerstrafrecht in: Steuerberater-Handbuch, Bonn 1994 Rechtsschutz in Steuerstrafsachen in: Der Rechtsschutz in Steuersachen, hrsg. von Trzaskalik, DStJG 18, Köln 1995, S. 173 Der Parteigänger in: Juristen im Spiegel ihrer Stärken und Schwächen, hrsg. von Schmidt, Köln 1998, S. 129 Steuer- und strafrechtliche Verteidigung wider die Steuerstrafverfolgung in: Harzburger Steuerprotokoll 1999, S. 83 Bearbeitung: GbR, oHG (mit Mack), KG (mit Schwedhelm), Familie und Unternehmen (mit Schwedhelm), Unternehmensnachfolge (mit Schwedhelm) in: Steuerberater-Rechtshandbuch, Bonn 1999 Ausschüttungsstrategien beim Übergang zur Definitivbelastung und zum Halbeinkünfteverfahren in: Harzburger Steuerprotokoll 2000, S. 139 Aus Beratersicht in: Die Vereinfachung des Steuerrechts aus Berater- und Richtersicht, Der Steueranwalt 2004, Bonn 2004, S. 63 943

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Der Rechtsanwalt/Die Rechtsanwältin in der Gesellschaft in: DAV-Anwaltausbildung, Historische und gesellschaftliche Grundlagen des Anwaltsberufs, Berlin 2005 Liebhaberei – Spenden – Gemeinnützigkeit – öffentliches Interesse – NonProfit-GmbH in: FS Wassermeyer, München 2005 Steuerberatung in der Lohnsteueraußenprüfung in: FS Küttner, München 2006 Steuerrecht, Der Finanzgerichtsprozess (mit Mack) in: Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, 9. Aufl., München 2007 Anwalt – Verlegenheitslösung oder Planung? in: DAV-Ratgeber für junge Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte 12. Aufl., Bonn 2008 Verein, GmbH (mit Schwedhelm), Betriebsaufspaltung (mit Schwedhelm) in: Formularbuch Recht und Steuern, 6. Aufl., München 2008 Josef Ackermann, Jeanne d’Arc, Christian Klar, Überlegungen zum VictoryZeichen und dem Reuepostulat in: FS Volk, In dubio pro Libertate, München 2009 Über die Unternehmenskultur einer Anwaltssozietät in FS Heussen, Köln 2009 Sind Steuerstrafverteidiger Strafverteidiger? In: 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins, Baden-Baden 2009 Steuercontrolling, Tax Compliance und Haftungsvorsorge, StJB 2009/2010, Köln 2010, S. 415

IV. Beiträge in Zeitschriften (ohne Urteilsanmerkungen und Buchbesprechungen) Zur Formalisierung des Eherechts, FamRZ 1970, 9 Wahlrecht zwischen Kinderfreibetrag und Schuldenabzug bei der Vermögensteuer, StW 1971, 88 Die Vertretung der Finanzämter vor den Finanzgerichten, StW 1971, 137 Schadensersatzanspruch, Mehrwertsteuer und Vorsteuerabzug, BB 1971, 1085 Verlustabzug nach dem Auslandsinvestitionsgesetz bei Beteiligungen an ausländischen Personengesellschaften, AWD 1971, 521 Der abzugsfähige Verlust ausländischer Betriebstätten und Personengesellschaften nach dem Auslandsinvestitionsgesetz, AWD 1972, 341 Die Körperschaftsteuerpflicht juristischer Personen im Gründungsstadium, BB 1972, 261 Bilanzierungs- und Buchführungspflichten bei ausländischen Betriebstätten und Personengesellschaften zum Zweck der deutschen Besteuerung, BB 1972, 1363

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Die maßgebliche Bilanz bei ausländischen Betriebstätten und Personengesellschaften zum Zweck der deutschen Besteuerung, BB 1973, 32 Gewerbebetrieb, Mitunternehmerschaft, Bilanzbündeltheorie, FR 1973, 297 Die Angemessenheit der Gewinnverteilung bei Mitunternehmerschaften, FR 1973, 461 Eine Verwaltungsentscheidung zur Qualifikation ausländischer Personengesellschaften, FR 1973, 537 Steuerpflicht und Steuerbefreiungen von Diplomaten, Konsulen, NATOTruppenmitgliedern und ihnen gleichgestellten Personen, StuW 1973, 119 Keine Frist mehr für das Tarifwahlrecht personenbezogener Kapitalgesellschaften, FR 1974, 112 = GmbHR 1974, 72 Einige grundsätzliche Fragen zur Auslegung der Erfinderverordnung, StuW 1974, 126 Die Angemessenheit der Gewinnverteilung in der Angehörigen-GmbH & Co. KG (mit Felix), DStR 1975, 244 Nichtanerkennung gesellschaftsvertraglicher Vereinbarungen durch die Finanzverwaltung bei Personengesellschaften – Zivilrechtliche Ausgleichsansprüche (mit Felix), DB 1975, 2213 Schwerpunkte des Doppelbesteuerungsrechts in der Praxis, KÖSDI 1975, 1495, 1586 Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, KÖSDI 1975, 1556 Aktuelle Hinweise zum Antrag auf Aussetzung der Vollziehung, KÖSDI 1975, 1688 Die Beitreibung in der Praxis – Vollstreckungsrecht und praktische Erfahrungen, KÖSDI 1975, 1724 Zur Abgrenzung des laufenden vom begünstigten Gewinn bei Betriebsaufgabe, DB 1975, 521 Besteuerung von Devisen- und Warentermingeschäften im privaten Bereich, DB 1975, 2104 Investitionszulage und Geschäftsführertantieme, DB 1975, 2203 Zur Haftung nach § 115 AO, DStR 1975, 381 Steuerpflicht der Diplomaten – Methodische Probleme beim Zusammentreffen von Steuerrecht und Völkerrecht, FR 1975, 261 Die gescheiterte GmbH & Co.-Gründung oder Beteiligung, GmbHR 1975, 95 Die Steuerpflicht nichtrechtsfähiger Stiftungen und anderer Zweckvermögen, StuW 1975, 135 Steuerfreie Kiesverkäufe (mit Stahl), INF 1976, 457

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Neues Ertragsteuerrecht der Mitunternehmerschaften (mit Felix), DStR 1976, 243 Überlegungen zur Gewinnentstehung und zur Gewinnverwendung vor dem Systemwechsel im Körperschaftsteuerrecht (mit Felix), DStR 1976, 539, 650 Die Angehörigen-GmbH & Co. KG I/II (mit Felix), FR 1976, 107, 501 Liquidationsüberlegungen auf der Schwelle zum Körperschaftsteuerreformgesetz (mit Felix), BB 1976, 923 Preisgestaltung und Steuervorteil bei der Übertragung von Anteilen an Kapitalgesellschaften nach der Körperschaftsteuerreform – Ein Beitrag zur Auslegung des § 39 KStG 1977 (mit Felix), BB 1976, 1309 Rechts- und Steuerfragen zur stillen Gesellschaft, KÖSDI 1976, 1758, 1840 Grundstück und Steuern, KÖSDI 1976, 1815 Steuern im Konkurs, KÖSDI 1976, 1867 Körperschaftsteuerreform, KÖSDI 1976, 1914, 1996, 2023, 2088 Zweifelsfragen zum „Verwertungsbeginn“ im Sinne von § 4 Ziff. 3 ErfVO, FR 1976, 160 Kirchensteuerpflicht durch Kirchensteuerzahlung, FR 1976, 452 Die steuerliche Behandlung von Wirtschaftsgütern im Erfinderbetrieb, FR 1976, 599 Hinzurechnung von Pensionsverpflichtungen beim unentgeltlichen Erwerb eines Anteils an einer Personengesellschaft gemäß §§ 8 Ziff. 2, 12 Abs. 3 Ziff. 1 GewStG, DB 1976, 267 Kritische Bemerkungen zur Neuorganisation der Finanzämter und zur Neuordnung des Besteuerungsverfahrens, StB 1976, 212 Verpachteter Gewerbebetrieb und Übergang zur beschränkten Steuerpflicht (mit Lagemann), DStR 1976, 13 Steuerstrafrecht nach AO 1977 – Leichtfertige Steuerverkürzung, KÖSDI 1977, 2203 Aus der Praxis der steuerlichen Beurteilung von Auslandsbeziehungen, KÖSDI 1977, 2244 Praxisfragen des Steuerfahndungsverfahrens, KÖSDI 1977, 2331 20 Praxisfälle zum Rechtsschutz nach der AO, KÖSDI 1977, 2349 Vollstreckung und AO 1977, KÖSDI 1977, 2445 Einige Anmerkungen zum KStG 1977, KÖSDI 1977, 2552 „Schütt-aus-Hol-zurück“-Verfahren (mit Felix), DStR 1977, 42 Die nichtige Umwandlung einer GmbH in der Betriebsprüfung (mit Felix), GmbHR 1977, 65 946

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Dauerschulden des Leasinggebers beim Mobilien-Leasing (mit Felix), BB 1977, 583 Eine erste Zwischenbilanz über die Anwendung der Körperschaftsteuerreform (mit Felix), BFuP 1977, 305 Die Körperschaftsteuer im ersten Jahr ihrer Anwendung – ein Modellfall, KÖSDI 1978, 2763 Aktuelle Probleme und Erfahrungen aus Betriebsprüfungen, KÖSDI 1978, 2809 Praktische Hinweise zum Rechtsbehelfsverfahren, KÖSDI 1978, 2853 Vorabdividende bei der GmbH, KÖSDI 1978, 2957 Aufspaltung von Familienunternehmen nach dem „Wiesbadener Modell“ – Steuerrecht –, KÖSDI 1978, 2985 Erfinderfragen in der Steuerberatung, KÖSDI 1978, 3012 Der Steuerfahndungseingriff, KÖSDI 1978, 3100 Darlehen im Familienverbund, KÖSDI 1978, 3123 Zurechnungskonflikt zwischen Einzelunternehmen und Mitunternehmerschaft, BB 1978, 189 Probleme der gemeinschaftlichen Verteidigung (§ 146 StPO) in Steuerstrafsachen, MDR 1978, 893 Die steuerliche Behandlung von Vertretungs- und Verteidigungsaufwendungen in Steuerstrafsachen (mit Felix), DStR 1979, 479 Beratungsempfehlungen 12 Jahre KÖSDI-„Know-how“ im ABC (mit Korn), Köln 1979 Werbungskosten bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit – Aktuelle Fragen im ABC (mit Korn), KÖSDI 1979, 3451 Die Feststellung der Steuerhinterziehung im Besteuerungsverfahren nach dem Tode des mutmaßlichen Hinterziehers (mit Rainer), StuW 1979, 267 Aktuelle Probleme des Lohnsteuerverfahrensrechts, KÖSDI 1979, 3197 Steuerstrafrecht des steuerlichen Beraters in Stichworten, KÖSDI 1979, 3205 Der Steuerprozeß in der Praxis, KÖSDI 1979, 3330 Ausländer im Inland – Zwei aktuelle Problemkreise, KÖSDI 1979, 3383 Zur Besteuerung von Vereinen, KÖSDI 1979, 3414 Regeln richtiger Selbstanzeigen, KÖSDI 1979, 3426 Meine Meinung – Finanzbürokratie ohne Steuermoral, FR 1979, 267 Über eine moralische und humane Finanzverwaltung, FR 1979, 445 Wenn die SteuFa kommt – Verteidigungshinweise, Der Steuerzahler 1979, 108

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Der steuerberatende Beruf zwischen aktueller Bürgervertretung und unzumutbaren Fiskalpflichten im Steuerstrafrecht (mit Felix), Stbg. 1980, 78 Unvollständige Errichtung des FG Köln (mit Felix), DB 1980, 1715 Liebhaberei (mit Rainer), KÖSDI 1980, 3638, 3656 Steuerumgehung und Steuerhinterziehung, KÖSDI 1980, 3603 Praxiswissen zur verdeckten Gewinnausschüttung, KÖSDI 1980, 3704 Steuerfolgen und Steuergestaltungen bei Ehescheidungen, KÖSDI 1980, 3778 Änderungen des Steuerverfahrens und der Vereinsbesteuerung, KÖSDI 1980, 3853 Steuerfolgen der GmbH-Novelle, KÖSDI 1980, 3958 Verbot des Ansatzes von ausschüttungsbedingten Gewinnminderungen beim Anteilserwerb von Nichtanrechnungsberechtigten und Änderungen des KStG 1977 – Überblick, KÖSDI 1980, 3965 Teilung von Unternehmen im Familienverband, KÖSDI 1980, 3993 Die Betriebsaufspaltung in der Betriebsprüfung, FR 1980, 83 Betriebsprüfung und Steuerstrafverfahren, BB 1980, 1537 In die Schranken gewiesen – Entlarvendes Steuerfahndungsurteil in Bonn, Der Steuerzahler 1980, 1 Steuerprobleme bei Subunternehmern (mit Rainer), KÖSDI 1981, 4124 Endet die Frist für die Zulassung zur Prüfung als Steuerbevollmächtigter am 12.8.1980, am 28.6.1983 oder zu einem anderen Zeitpunkt? (mit Felix), Stbg. 1981, 184 BFH: Die Frist für die Zulassung zur Prüfung als Steuerbevollmächtigter endet am 12.8.1980 – Das letzte Wort hat das Bundesverfassungsgericht (mit Felix), Stbg. 1981, 211 Praxishinweise zu steuerlichen Streitverfahren, KÖSDI 1981, 4169 Die Steuersparbeschlüsse der Bundesregierung, KÖSDI 1981, 4348 Haftungsbescheide und Vorbehaltsfestsetzungen – Aktuelle Fragen –, KÖSDI 1981, 4354 Verdeckte Gewinnausschüttungen, verdeckte Einlagen bei mittelständischen Unternehmen – Neue Erkenntnisse, KÖSDI 1981, 4434 Strafbedrohte Steuerberatung (Praxis des Steuerstrafverfahrens; Fragen der Staatshaftung), StbKongrRep. 81, 163 Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum strafrechtlichen Verwertungsverbot bei Aussagen des Gemeinschuldners und seine Auswirkungen im Steuerstrafrecht, StV 1981, 362 Wertungswiderspruch bei der Behandlung von Familienangehörigen im steuerlichen Verfahrensrecht und im Steuerstrafrecht, StuW 1981, 135 948

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Licht scheut, wer Licht zu scheuen hat, Anmerkungen zu dem RichtlinienEntwurf „Anweisungen für das Steuerstraf- und Bußgeldverfahren“, StV 1982, 244 Rechtsstaatswidrige und überflüssige Verwaltungsanweisungen für das steuerliche Straf- und Bußgeldverfahren (mit Felix), wistra 1982, 161 Der Steuerrechtsstatus der Staatsbürgerlichen Vereinigung 1954 e.V., Köln und Koblenz (mit Felix), DB 1982, 461 Verfassungsrechtliche Anmerkungen zur zweiten steuerlichen Spenden-Verordnung vom 23.10.1956 (mit Felix), DB 1982, 2107 Baden-Badener Verhaltensgrundsätze bei Zugriff von Steuerstrafverfolgern auf Informationen und Unterlagen des Steuerberatungsmandats (mit Felix/ Korn), KÖSDI 1982, 4873 Das neue Steuerrecht der Spargesetze, KÖSDI 1982, 4463 Notwendige Rechtsinformationen zum Steuerberater als Strafverteidiger, KÖSDI 1982, 4472 Neues zur Körperschaftsteuer, KÖSDI 1982, 4642 Recht der Kostenerstattung nach § 80a AO und erste Erfahrungen, KÖSDI 1982, 4767 Zur Verjährung nach der AO 1977, KÖSDI 1982, 4827 Aktuelle Probleme offener und verdeckter Gewinnausschüttungen und Einlagen bei der mittelständischen GmbH, GmbHR 1982, 22 Steuerrechtsänderungen des 2. Haushaltsstrukturgesetzes, AnwBl 1982, 155 Streck Doppelbesteuerung – Außensteuerrecht (mit Rainer), KÖSDI 1982, 4566 Beschränkter Ausgleich von Auslandsverlusten § 2a EStG, KÖSDI 1983, 4904 Betriebsausgaben, Werbungskosten und Lebensführung – Grenzbereiche –, KÖSDI 1983, 4970 Rechtsprechung zur Anfechtung von Prüfungsanordnungen, KÖSDI 1983, 4983 Körperschaftsteuer – Beratungsschwerpunkte –, KÖSDI 1983, 5084 Steuerfragen des Ehegüter- und Scheidungsrechts, KÖSDI 1983, 5150 Inhalte und Tragweite der Reform der ertragsteuerlichen Abzugsfähigkeit staatspolitischer und staatsdemokratischer Ausgaben aufgrund der Novelle 1983 des Parteiengesetzes (mit Felix), DStZ 1984, 79 Sachgerechter Vorschlag des BFH-Präsidenten zur Beschränkung des Vertretungsrechts in der Revisionsinstanz?, Stbg. 1984, 38 Über Betriebsprüfung und Steuerstrafverfahren im Widersinn, BB 1984, 199 Die Anordnung eines Steuerabzugs für beschränkt Steuerpflichtige nach § 50a Abs. 7 EStG, BB 1984, 846 949

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Immobilieninvestitionen von Ausländern im Inland durch Einschaltung einer ausländischen Kapitalgesellschaft, BB 1984, 1999 Der Steuerhinterzieher als Mandant, BB 1984, 2205 Erfahrungen bei der Anfechtung von Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüssen in Steuerstrafsachen, StV 1984, 348 Die Steueränderungsgesetze 1984 Teil I (mit Korn), KÖSDI 1984, 5359 Die Steueränderungsgesetze 1984 Teil II, KÖSDI 1984, 5402 Einzelkenntnisse zur Besteuerung von Kapitalgesellschaften, KÖSDI 1984, 5409 Aktuelle Einsichten zur Steuerfahndung und zu steuerstrafrechtlichen Verfahren, KÖSDI 1984, 5445 Beratung zu steuerlichen Nebenfolgen der Steuerhinterziehung, KÖSDI 1984, 5452 Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung und Steuerhinterziehung, NStZ 1985, 17 Werden unsere Steuerstrafrichter indoktriniert?, Stbg. 1985, 338 Eine Sofortmaßnahme zur Rechtsverkürzung im Steuerrecht, AnwBl 1985, 241 Unerwünschte und geplante Steuerfolgen der Erbauseinandersetzung, NJW 1985, 2454 Praxis der Selbstanzeige, DStR 1985, 9 Das neue finanzgerichtliche Revisionsrecht und seine Auswirkung auf die Prozeßpraxis (mit Rainer), DStR 1985, 487 Zwischenbilanz der Rechtsentwicklung nach dem Geprägebeschluß des Großen Senats, DStR 1986, 3 Der Rechtsschutz des Steuerbürgers im OFD-Bezirk Nürnberg, DStZ 1986, 137 „Tatsächliche Verständigung“ und § 370 AO (mit Schwedhelm), DStR 1986, 713 Grundsatzprobleme der Verordnung über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen nach § 180 Abs. 2 AO (mit Mack), DStR 1987, 707 Verdeckte Gewinnausschüttungen und verdeckte Einlagen in der Steuerpraxis, GmbHR 1987, 104 Eine unnötige Diskriminierung des Rechtsanwalts bei Steuerberatungsgesellschaften, AnwBl 1987, 77 Steuerpflichtige Spekulationsgeschäfte durch Einziehung erworbener Forderungen, FR 1987, 297 Das gestörte Verhältnis der Finanzverwaltung zum „Handeln eines ordentlichen Geschäftsleiters“ einer GmbH, GmbHR 1987, R 73 950

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Fehlkalkulation des Bundesfinanzministers bei den Mehreinnahmen aus der Vollverzinsung des Steueranspruchs, Stbg. 1987, 352 Zar und Zimmermann: „O sancta Justitia“, FR 1987, 578 Die Anwaltssozietät und das Kraftfahrzeug (mit Schwedhelm), AnwBl 1987, 263 Kosten der Steuerstrafverteidigung als Steuerberatungskosten im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 6 EStG (mit Schwedhelm), FR 1987, 461 Gewerblicher Grundstückshandel – Die Entwicklung der jüngeren Rechtsprechung (mit Schwedhelm), DStR 1988, 527 Zwei aufeinanderfolgende Rumpfwirtschaftsjahre – stets unzulässig? (mit Schwedhelm), BB 1988, 679 Fälle verdeckter Gewinnausschüttungen bei Umwandlungsvorgängen (mit Schwedhelm), BB 1988, 1639 Die Praxis des Steuerstreits und der steuerlichen Einigung, Stbg. 1988, 47 Gestaltungen zur Vermeidung der Betriebsaufgabe, FR 1988, 57 Jahresbericht des Bundesfinanzhofs 1987, AnwBl 1988, 272 DATEV – Eine Datenbank für die Finanzverwaltung (mit Mack), Stbg. 1988, 82 Noch einmal: Grundsatzprobleme der Verordnung über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen nach § 180 Abs. 2 AO (mit Mack), DStR 1988, 475 Der „neue Wohnbegriff“ und das „aufwendige Zweifamilienhaus“ – Probleme der Zweifamilienhausbesteuerung (mit Schwedhelm), DStR 1988, 167 Briefwechsel zur Abschaffung der mit dem Steuerreformgesetz 1990 eingeführten Kapitalertragsteuer (mit Rainer), StuW 1989, 280 Unerlaubte Rechtsberatung durch Steuerberater und ihre Folgen (mit Schwedhelm), Stbg. 1989, 379 Verlustabzug und Mantelkauf nach der Steuerreform (mit Schwedhelm), FR 1989, 153 Die Anerkennung von Aufwendungen für die Ausstattung von Dienstzimmern als Werbungskosten (mit Schwedhelm), StWa 1989, 43 Der Schriftsatz im Steuerstreitverfahren, DStR 1989, 439 Steueramnestie – Chancen und Risiken, Stbg. 1989, 51 Fristen in der Steuerberatung, Stbg. 1989, 387 Die steuerliche Behandlung von Vorschüssen, AnwBl 1989, 645 Haftungsrisiken des Steuerberaters bei der Beteiligung an der Hinterziehung des Mandanten (mit Mack), Stbg. 1989, 300

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Steuerzinsen: Gestaltungs- und Beratungsempfehlungen für die Praxis (mit Mack), DStR 1989, 119 Sanktionen und Verfahrenswege des Berufsrechts der Steuerberater (mit Mack), Stbg. 1990, 49 Aufteilung und Veräußerung eines Mietwohngrundstückes als gewerblicher Grundstückshandel (mit Schwedhelm), DStR 1991, 237 Der Steuerberater als Testamentsvollstrecker und Vermögensverwalter, DStR 1991, 592 Steuerprobleme örtlicher, überörtlicher und internationaler Anwaltssozietäten, AnwBl 1991, 449 = NJW 1991, 2252 Entlastung der Rechtspflege – Verkürzung des Rechtsschutzes, AnwBl 1991, 319 Die Praxis der Registergerichte angesichts der Publizitätsverweigerung kleiner GmbH, GmbHR 1991, 407 Der Staat in Steuersachen – ein miserabler Schulmeister, Konzepte 1991, 22 Haftungsfall Testat, Stbg. 1991, 98 Jahresbericht des Bundesfinanzhofs 1990 – Erkenntnisse für Rechtsanwälte –, AnwBl 1991, 326 Beratungs-Wissen zu Steuerzinsen, DStR 1991, 369 Zur Verfassungsmäßigkeit des § 2a EStG (Verbot des Ausgleichs ausländischer Verluste) – Hinweis zum Verfahrensrecht, DStR 1991, 903 Ein Berliner Lehrstück – Ein Lehrstück für Berlin zum Thema verdeckte Gewinnausschüttung, DStR 1991, 938 Der „Vertrag“ zur Vermeidung verdeckter Gewinnausschüttung bei beherrschenden Gesellschaftern aus Beratersicht, DStR 1991, 1645 Der schöne Schein des Schein-Sozius und die harten Realitäten, Beruf spezial, DStR 1991, Heft 48, XVIII Management-Buy-out und verdeckte Gewinnausschüttung (mit Schwedhelm), BB 1992, 792 Bestätigungsvermerk nach § 322 HGB durch Steuerberater, DStR 1992, 75 Der Traum vom „freien“ Mitarbeiter, Die Brutalpädagogik des Dritten Abschnitts SGB IV und die Streicheleinheiten des Steuerrechts, AnwBl 1992, 309 = DStR 1992, Nr. 32 Beruf Spezial XXI Steuerberatersozietäten mit beschränkter Haftung, DStR Beruf Spezial 1992 Heft 14 XXII Die Steuerinteressen und Steuermodelle beim Unternehmenskauf, BB 1992, 685 Falsche Scheu vor guten Steuerberatersozietäten, DStR Beruf Spezial 1992, Heft 5, XXIII 952

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Das BMF-Schreiben vom 4.2.1992 zum Wettbewerbsverbot: ein didaktisches „Meisterstück“, DStR 1992, 609 Probleme beim Kauf steuerkontaminierter Unternehmen, BB 1992, 1539 Unternehmenskauf und Steuerklauseln (mit Mack), BB 1992, 1398 Die „tatsächliche Verständigung“ in der Praxis, StuW 1993, 766 Worte und Begriffe des Unternehmenskaufs, Stbg. 1993, 455 Besteuerung inländischer und ausländischer Einkünfte aus Kapitalvermögen, DStR 1993, 342 Das Recht der Europäischen Gemeinschaft und seine Durchsetzung in der Steuerberaterpraxis (mit Olgemöller), DStR 1993, 417 Einschränkung von Steuervergünstigungen im Fall der Einbringung in eine Personengesellschaft durch das Mißbrauchsbekämpfungsgesetz (mit Schwedhelm), BB 1993, 2420 Warum eine Sozietät gründen? (mit Schwedhelm), DSWR 1994, 162 Grundstücksübertragungen zur vorweggenommenen Erbfolge – Fallgestaltungen und ihre einkommensteuerlichen und erbschaftsteuerlichen Folgen (mit Schwedhelm), DStR 1994, 1143 Problemfelder des Erbschaftsteuerrechts I, II (mit Schwedhelm/Olbing), DStR 1994, 1441, 1481 Muß der Kläger im Steuerprozeß nach § 23 GKG den Streitwert beziffern? (mit Olgemöller), DStZ 1994, 643 Ausschluß der Selbstanzeige bei Offenbarung einer Steuerstraftat gegenüber der Staatsanwaltschaft? (mit Olgemöller), DStR 1994, 966 Der beim Finanzamt angezeigte Steuerbürger: Auskunftsanspruch contra Steuergeheimnis (mit Olbing), BB 1994, 1267 Auswirkungen der steuerlichen Rückwirkung auf die Schachtelprivilegien bei Einbringung einer KG in eine GmbH, BB 1994, 1830 Die Auswirkungen des Wegfalls des strafrechtlichen Fortsetzungszusammenhangs auf Besteuerungs- und Prüfungssituationen, DStR 1994, 1723 Kosten und Kostenrückerstattung im finanzgerichtlichen Abänderungsverfahren (69 Abs. 6 FGO) (mit Olgemöller), DStR 1995, 877 Bewährungswiderruf trotz Selbstanzeige (mit Spatscheck), NStZ 1995, 269 Vollverzinsung von Erstattungsansprüchen auch im Einspruchsverfahren (mit Olbing), DStR 1995, 127 Banken und Bankkunden im Steuerfahndungsverfahren (mit Mack), BB 1995, 2137 Die Spaltung der GmbH nach neuem Umwandlungsrecht l, ll (mit Mack/ Schwedhelm), GmbHR 1995, 7, 100

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Verschmelzung und Formwechsel nach dem neuen Umwandlungssteuergesetz l, ll (mit Posdziech), GmbHR 1995, 271, 357 Verschmelzung und Formwechsel nach dem neuen Umwandlungsgesetz (mit Mack/Schwedhelm), GmbHR 1995, 161 Anwaltliche Werbung, AnwBl 1995, 64 Exklusive Sonderzulassung für Fachanwälte bei den obersten Bundesgerichten, BRAK-Mitt. 1995, 96 Der objektiv „gute“ Rechtsanwalt, AnwBl 1996, 57 Die Selbstanzeige – Beratungssituation, DStR 1996, 288 Anwaltschaft und ISO 9000, MDR Report 9/1996, R 1 Die wirksame Selbstanzeige, StraFo 1996, 112 Der Streit mit dem Zoll – Der neue Zollkodex, DStR 1996, 1105 Abwehrstrategien zur Ausschlußfrist nach § 364b AO, StuW 1996, 183 Anwendbarkeit von Normen ISO 9004, Teil 2, (Leitfaden) und ISO 9001 (Zertifizierungsmodell) auf Dienstleistungen des Rechtsanwalts (mit Kilger/ Ehnert), AnwBl 1997, 190 Die Fertigung von Kontrollmitteilungen bei Außenprüfungen in Banken (mit Peschges), DStR 1997, 1993 Investitionszulage und Subventionsbetrug (mit Spatscheck), DStR Beihefter zu Heft 34, 1997 Steuerrechtsfragen der Rechtsanwalts- und Steuerberatersozietät (mit Mack), Stbg. 1997, 440 Zur steuerlichen Absetzbarkeit von Zertifizierungsaufwendungen nach ISO 9001-9003 (mit Alvermann), BB 1997, 1184 Ausgewählte Überlegungen zum Jahreswechsel (mit Mack/Schwedhelm), DStR 1997, 1865 Steuerprobleme bei Sozietäten, Der Steueranwalt ’97, 1997, 24 Sozietät oder Bürogemeinschaft? Empfehlung für den (Jung)-Anwalt, MDR 1997, 897 Fristen in der Steuerberatung, Stbg. 1997, 401 Rechtswidrige Steuererklärungen „zur vorläufigen Ermittlung des Grundstückswerts“ im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, DStR 1997, 1800 Vorurteile zum Steuerberater als steuerstrafrechtlicher Mittäter (mit Heine), Stbg. 1998, 193 Steuerliche Mitwirkungspflicht trotz Strafverfahrens? (mit Spatscheck), wistra 1998, 334 Sonderbedingungen im (Steuer-)Recht der verdeckten Gewinnausschüttungen auch für den beherrschenden Aktionär? (mit Binnewies), AG 1998, 26 954

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Aufforderung zur „Ermittlung des Grundstücksteilwerts“ im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht aus verfahrensrechtlicher Sicht, DStR 1998, 1296 Anwaltliche Honorargestaltung Fragen des richtigen Zeitpunkts – der richtigen Zahl; Steuerfragen; Anregungen, AnwBl 1998, 439 Möglichkeit und Notwendigkeit von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, auf Normensysteme Einfluss zu nehmen, AdVoice 1999, 21 Die Banken und Sparkassen in der Spannung zwischen Kundenberatung und Steuerfahndung, WM 1999, 719 Fachanwaltschaft, AnwBl 1999, 668 Auf dem Weg zum Assistenzanwalt, WM 1999, 2155 Nachruf auf ein steuerliches Optionsmodell, NJW 2000, 3692 Ehegattensplitting nicht mehr zeitgemäß, NJW 2000, 335 Rechtsanwältinnen/Rechtsanwälte an der Schwelle des dritten Jahrtausends, AnwBl 2000, 1 Der Rechtsanwalt im 21. Jahrhundert, AnwBl 2000, 335 Juristenausbildung ein Teufelskreis, BB 2000, Heft 55, I. Betriebsprüfung und Steuerfahndung in Deutschland, Der Wirtschaftstreuhänder (Österreich) 2000, 20 Fristen in der Steuerberatung, Stbg. 2000, 501 Die anwaltliche Sicht des Steuerprozesses, NJW 2001, 1541 Über die Entwertung der anwaltlichen Vertraulichkeit durch die Anwaltschaft selbst, NJW 2001, 3605 Historische Überlegungen zur Neugestaltung des Zivilverfahrensrechts, ZRP 2001, 434 BRAGO-Reform in greifbarer Nähe, AnwBl 2001, 661 Verhandeln aus der Sicht des Steuerrechtlers, Forum Familien- und Erbrecht 2002, 160 Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Behandlung des Körperschaftsteuer-Guthabens zum Halbeinkünfteverfahren (mit Binnewies), DB 2002, 1956 Steuernummer – Ein Schlag gegen die Steuerkriminalität, NJW 2002, 1848 Die DAV-Ausbildung zur Rechtsanwältin/zum Rechtsanwalt, AnwBl 2003, 207 Bericht über eine Präsidentschaft, AnwBl 2003, 402 Rechtsanwälte als Gestalter der Gesellschaft, AnwBl 2003, 253 Das verfassungswidrige Fiskalspiel mit dem Körperschaftsteuerguthaben (mit Binnewies), DB 2003, 1133

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Sach- und Dienstleistungen für eine gemeinnützige Körperschaft (mit Heussen), AnwBl 2003, 90 Fast zwölf Monate Steueramnestie, NJW 2004, 3737 Vertrauensschadensfonds der Rechtsanwälte für kriminelle Kollegen?, AnwBl 2004, 212 Meine Anwältin – Wem gehört der Anwalt?, AnwBl 2004, 266 Juristentag anerkennt Stellenwert der Anwaltschaft, AnwBl 2004, 622 Die steuerliche Abzugsfähigkeit der Aufwendungen für die DAV-Ausbildung, AnwBl 2004, 282 Beim Rechtsberatungsgesetz die Weichen stellen, AnwBl 2004, 395 Zur Verfassungswidrigkeit von Gesetzen aufgrund Verwaltungshandelns – Folgerungen aus der Rechtsprechung des BVerfG zur Spekulationssteuer, NJW 2004, 1580 Gestaltungsmöglichkeiten, Bilanzierungs- und Steuerfragen zum Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen nach dem TreibhausgasEmissionshandelsgesetz (TEHG) (mit Binnewies), DB 2004, 1116 Der BFH und die Steuerneutralität des Erbschaftsteuerrechts, NJW 2005, 805 Know-how und Erfahrungen im Zollstreit (mit Olgemöller), DB 2006, 971 Die das Gemüt des Rechtsanwalts Hans-Peter Schurf zu Düren/Rheinland beängstigenden Fragen zur Freiheit, Gewerblichkeit und Verkammerung des eigenen Berufs, AnwBl 2006, 401 Aktuelle erbschaftsteuerliche Probleme, ErbR 2006, 66 Die Vergütungsvereinbarung für die außergerichtliche anwaltliche Beratung, AnwBl 2006, 149 Die Unternehmensteuerreform 2008, NJW 2007, 3176 Hat das verfassungswidrige Fiskalspiel mit dem Körperschaftsteuerguthaben nunmehr das Schlussdrittel erreicht? (mit Binnewies), DB 2007, 359 LL.M.-Studium ist steuerlich abzugsfähig (mit Gomes), AnwBl 2009, 763 Braucht die Anwaltschaft einen ausformulierten Ethikkodex?, NJW Spezial 2009, 430 Das Ausscheiden von Gesellschaftern aus Personen- und Kapitalgesellschaften sowie die Einziehung von GmbH-Anteilen als leicht zu übersehende Schenkungsteuertatbestände, AG 2009, 162 Betriebsausgaben ohne betriebliche Veranlassung, AG 2009, 820 Tax Compliance (mit Binnewies), DStR 2009, 229 Anwaltliches Ehrenamt und Steuerrecht (mit Finke), AnwBl 2010, 262 Steueranwaltliche Beratung in Fällen des illegalen Datenhandels – Handwerkszeug und Probleme, NJW 2010, 1326 956

Verzeichnis der Schriften von Michael Streck

V. Herausgebertätigkeit Steuerkontrolle Folge 2, mit Beiträgen von Felix/Korn/Rainer/Rüping/Streck, Köln 1984 Mit-Herausgeber der Zeitschrift „Neue Juristische Wochenschrift“ Mit-Herausgeber BeratungsAkzente, Stollfuß Verlag, Bonn 1. GmbH-Geschäftsführer in Bedrängnis I, 1993 2. GmbH-Geschäftsführer in Bedrängnis II, 1993 3. Steuerberatung in der Europäischen Gemeinschaft, 1993 4. Kauf – Verkauf von Unternehmen und Beteiligungen, 1993 5. Steuerbelastungs- und Steuerentlastungsgesetze, 1993 6. Testaments- und Nachfolgeberatung von Steuerberater-Mandanten I, 1994 7. Testaments- und Nachfolgeberatung von Steuerberater-Mandanten II, 1994 8. Aktuelle Umsatzsteuer, 1994 9. Neues Umwandlungsrecht, 1994 10. Steuerberatungsphantasie I, 1995 11. Steuerberatungsphantasie II, 1995 12. Gründung, Gestaltung und Betreuung der GmbH, 1995 13. Unternehmenssicherung – Unternehmensgestaltung durch Gesellschafterwechsel, 1995 14. Unternehmenssicherung – Gestaltungsplanung für den Erbfall und nach dem Erbfall, 1996 15. Besteuerung grenzüberschreitender Aktivitäten, 1996 16. Steuerstreitkultur, 1996 17. GmbH in Bedrängnis, 1996 18. Die GmbH und ihre Gesellschafter, 1997 19. Die Besteuerung nach dem Wegzug ins Ausland, 1997 20. Renaissance der Personengesellschaft, 1997 21. Auslandssachverhalte in der Betriebsprüfung 22. Der Eingriff der Steuerfahndung, 1998 23. Aktuelle Problemfelder in der Steuerberatung, 1998 24. Die praktische Durchführung einer Jahresabschlußprüfung, 1999 25. Umwandlungsteuerrecht, 1998 26. Sozietäten, 1999 27. Grenzüberschreitende Steuerplanung, 1999 28. Steuerstreit und Steuerstrafverteidigung, 1999 29. Jahresabschlußprüfung unter Berücksichtigung des KonTraG und der Einführung des Euro, 1999 957

Verzeichnis der Schriften von Michael Streck

30. Internationales Steuerrecht, 2000 31. Brennpunkte der Steuerberatung, 2000 32. Die moderne Steuerberatungskanzlei, 2000 33. Steuerthemen im Trend, 2001 34. Internationales Steuerrecht, 2002 35. Personengesellschaft – Mitunternehmerschaft – Betriebsaufspaltung, 2002 36. Strategien zur Bewältigung der künftigen Anforderungen an mittelständische Prüfungspraxen, 2002 37. Testaments- und Nachfolgeberatung, 2003 38. Betriebswirtschaftliche und rechtliche Beratung durch den Steuerberater I, 2003 39. Betriebswirtschaftliche und rechtliche Beratung durch den Steuerberater II, 2003 40. Honorare und Gerichtskosten im Steuerprozess, 2004 41. Unternehmensnachfolge – Testamentsberatung und Erben, 2005 42. Die Prüfung kleiner und mittelgroßer Unternehmen nach dem IDWPrüfungshinweis IDW PH 9.100.1 Teil I, 2005 43. Die Prüfung kleiner und mittelgroßer Unternehmen nach dem IDWPrüfungshinweis IDW PH 9.100.1 Teil II, 2005 44. Steuerfahndung und Steuerstreit, 2007 Goldwaage, Köln 1998 Beratungsbücher für Berater: Rechtsschutz und Gestaltung im Unternehmensrecht, Steuerrecht und Steuerstrafrecht, Köln Band 1: Steuerfahndung (mit Spatscheck), 4. Aufl. 2006 Band 2: Die Außenprüfung, 2. Aufl. 1993 Band 3: Der Steuerstreit, 2. Aufl. 1994 Band 4: Die Unternehmensumwandlung (von Schwedhelm), 6. Aufl. 2008 Band 5: Steuern im Internet (von Spatscheck), 2000

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