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German Pages 1038 [1044] Year 1999
Festschrift für Hans Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag
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1999
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Festschrift für
HANS JOACHIM HIRSCH zum 70. Geburtstag am 11. April 1999
herausgegeben von Thomas Weigend und Georg Küpper
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1999 Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Festschrift für Hans Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag am 11. April 1999 / hrsg. von Thomas Weigend und Georg Küpper. Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 ISBN 3-11-015586-9
© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, 10785 Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer GmbH, 10963 Berlin
Vorwort Am 11. April 1999 vollendet Hans Joachim Hirsch das 70. Lebensjahr. Aus diesem Anlaß widmen ihm Freunde, Kollegen und Schüler die vorliegende Festschrift als Zeichen der Verbundenheit und Dankbarkeit. In dem bunten Strauß der Beiträge spiegeln sich die Vielfalt und die Breite der wissenschaftlichen Interessen und der Arbeitsgebiete des Jubilars wider. Wie wenige andere hat Hans Joachim Hirsch bei seinen Forschungen den Blick über den Bereich des deutschen Strafrechts hinausgelenkt. Insbesondere die Allgemeinen Lehren des Strafrechts sieht er stets im internationalen Zusammenhang, und zahlreiche persönliche Kontakte zu ausländischen Kollegen haben ihn nicht nur zu einem Botschafter der deutschen Strafrechtswissenschaft werden lassen, sondern ihm auch vielerlei Ideen für die Lösung strafrechtlicher Probleme vermittelt. Die Beteiligung zahlreicher ausländischer Gelehrter an dieser Festgabe macht deutlich, daß die Wertschätzung, die Hans Joachim Hirsch genießt, ebenso wie die Ausstrahlung seines Werkes weit über die Grenzen Deutschlands hinausreicht. Viele der in diesem Band versammelten Autoren setzen sich mit den Lehren des Jubilars auseinander. Wir sind zuversichtlich, daß Hans Joachim Hirsch, der stets den wissenschaftlichen Dialog sucht und schätzt, an diesen Beiträgen Freude hat, selbst wenn die Autoren nicht in allem seine Meinung teilen. Der Verlag Walter de Gruyter, insbesondere Frau Dr. Dorothee Walther, hat das Vorhaben dieser Festschrift von Anfang an unterstützt und mit großem Engagement mitgetragen. Dafür und für die höchst angenehme Zusammenarbeit sagen die Herausgeber herzlichen Dank. Wer den Jubilar kennt, weiß, daß die Vollendung des 70. Lebensjahres für ihn keinen wesendichen Einschnitt in der wissenschaftlichen Forschung bedeutet, sondern daß wir von ihm noch viel an Belehrung und intellektueller Bereicherung erwarten dürfen. Für die Zukunft gelten ihm unsere besten Wünsche. Die Herausgeber
Inhalt I. Vita em. Professor Dr. jur. Dr. jur. h.c. mult., Freiburg i. Br.: Zu Leben und Werk von Hans Joachim Hirsch
H A N S - H E I N R I C H JESCHECK,
3
II. Grundlagen des Strafrechts Professor Dr. jur., Thessaloniki: Der Tatsachenbegriff im Strafrecht
29
Professor Dr. jur., Bonn: Bemerkungen zur objektiven Zurechnung
45
Professor Dr. jur., Hamburg: Der Begriff der Zurechnung
65
em. Professor Dr. jur., Bielefeld: Zur ontologischen Struktur des strafbaren Unrechts
83
NIKOLAOS BITZILEKIS,
GÜNTHER JAKOBS,
MICHAEL KÖHLER,
ERNST-JOACHIM LAMPE,
em. Professor Dr. jur., Köln: Benedict Carpzovs Practica Nova (1635) in heutiger Betrachtung
105
Professor Dr. jur., Lublin: Die Regelungen zum Straf- und Strafprozeßrecht in der Verfassung der Republik Polen von 1997
115
DIETRICH OEHLER,
ANDRZEJ WASEK,
III. Allgemeine Lehren des Strafrechts Professor Dr. jur., Madrid: Die Regelung des Versuchs und die Auffassung des Unrechts im neuen spanischen Strafgesetzbuch
127
Professor Dr. jur., Bayreuth: Der Allgemeine Teil eines europäischen Strafrechts als Herausforderung für die Strafrechtswissenschaft
141
em. Professor Dr. jur. Dr. jur. h.c., Tokio: Bedeutungskenntnis und Vorsatz
175
em. Professor Dr. jur., Erlangen: Über die sog. Regelbeispielstechnik und die Abgrenzung zwischen Straftat und Strafzumessung
183
JOSÉ CEREZO M I R ,
GERHARD DANNECKER,
TAIRA FUKUDA,
K A R L HEINZ GÖSSEL,
Vili
Inhalt
Professor Dr. jur., Gießen: Die „Pflichtenkollision": weder eine Kollision von Pflichten noch Pflichten in Kollision
207
Professor Dr. jur., Tokio: Inhalt und Funktion der Norm beim fahrlässigen Erfolgsdelikt
225
Professor Dr. jur. Dr. phil., Jena: Tatschuld, Koinzidenzprinzip und mittelbar-unmittelbare Täterschaft
241
Professor Dr. jur. Dr. phil., Tübingen: Freiheit und Solidarität bei den Notrechten
259
Professor Dr. jur., Halle: Zur Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung
277
Professor Dr. jur. Dr. jur. h.c., Bayreuth: Die strafrechdiche Haftung für die Auslieferung gefährlicher Produkte
291
Professor Dr. jur., Marburg: Fahrlässiges Verhalten im Sport als Prüfstein der Fahrlässigkeitsdogma tik
313
Professor Dr. jur. Dr. jur. h.c. mult., München: Die Verhinderung der Vollendung als Rücktritt vom beendeten Versuch
327
Professor Dr. jur., Bochum: Zur vorsätzlichen actio libera in causa bei Erfolgsdelikten . . .
345
Professor Dr. jur., München: Vom philologischen zum typologischen Vorsatzbegriff
363
em. Professor Dr. jur., Würzburg: Actio libera in causa und kein Ende
379
em. Professor Dr. jur., Bochum: Konstruktive Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenfassung eines mehraktigen Geschehens zu einer Tat, dargestellt am Beispiel des Tatbestandsmerkmals „quälen" in § 225 StGB
391
Professor Dr. jur. Dr. jur. h.c., Krakau: Die Bedeutung des Irrtums für die strafrechtliche Verantwortlichkeit im neuen polnischen Strafgesetzbuch
419
WALTER GROPP,
MAKOTO IDA,
G Ü N T E R JEROUSCHEK,
KRISTIAN K Ü H L ,
H A N S LILIE,
H A R R O OTTO,
DIETER RÖSSNER,
CLAUS ROXIN,
ELLEN SCHLÜCHTER,
BERND S C H Ü N E M A N N ,
G Ü N T E R SPENDEL,
G Ü N T E R WARDA,
ANDRZEJ ZOLL,
Inhalt
IX
IV. Einzelne Delikte Professor Dr. jur., L L . M . , Bern: Bemerkungen zum Uberzeugungsopfer — insbesondere zum Betrug durch Verkauf von Illusionen
431
Professor Dr. jur., Köln: Zur Verfassungswidrigkeit von § 34 Abs. 4 AWG
451
Professor Dr. jur. Dres. jur. h.c., Freiburg i. Br.: Zur Regelung der Heilbehandlung in rechtsvergleichender Perspektive
465
Professor Dr. jur., Freiburg i. Br.: Zum Unrecht der sittenwidrigen Körperverletzung (§ 228 StGB)
485
em. Professor Dr. jur., Bochum: Rechtsbeugung durch Verfolgung
507
Professor Dr. jur., Berlin: Zur Strafbarkeit des Anstellungsbetruges, insbesondere bei Erschleichung einer Amtsstellung
525
Professor Dr. jur., Tübingen: Der Zusammenhang zwischen Raub und Todesfolge (§ 251 StGB)
543
Professor Dr. jur. Dr. jur. h.c., Heidelberg: Zur Reichweite der Beleidigungstatbestände
555
Professor Dr. jur., Köln: Zur Ahndung grenzüberschreitender Steuerhinterziehungen . .
577
Professor Dr. jur., Heidelberg: Lebensgefáhrdende Behandlung
595
Professor Dr. jur., Potsdam: Unmittelbarkeit und Letalität
615
Professor Dr. jur., Göttingen: Auslegungsprobleme im Tatbestand der Geldwäsche
631
Professor Dr. jur., Marburg: Wahrnehmung berechtigter Interessen und Meinungsfreiheit. .
651
Professor Dr. jur., Berlin: Beleidigung und Indiskretion
665
GUNTHER ARZT,
KLAUS BERNSMANN,
ALBIN ESER,
WOLFGANG FRISCH,
G E R D GEILEN,
KLAUS GEPPERT,
H A N S - L U D W I G GÜNTHER,
THOMAS HILLENKAMP,
GÜNTER KOHLMANN,
WILFRIED KÜPER,
GEORG KÜPPER,
MANFRED MAIWALD,
DIETER MEURER,
KLAUS ROGALL,
χ
Inhalt
Professor Dr. jur., München: Offene Fragen zur Begrenzung lebensverlängernder Maßnahmen
693
Professor Dr. jur. Dr. jur. h.c. Dres. med. h.c., Göttingen: Zur Reform des Arztstrafrechts
713
Professor Dr. jur., Regensburg: Begriff und Rechtsgut der „Körperverletzung"
725
Professor Dr. jur., Athen: Das Rechtsgut der Ehre
739
Professor Dr. jur. Dr. jur. h.c. mult., Freiburg i. Br.: Körperverletzung und strafrechtliche Produktverantwortung. .
765
Präsident des Landgerichts a D., Professor Dr. jur., Waldshut: Der Hirntod, seine rechtliche Bedeutung und das neue Transplantationsgesetz
779
Professor Dr. jur., Tübingen: Zur Reichweite sektoraler gesetzlicher „Mißbrauchsklauseln", insbesondere des § 330d Nr. 5 StGB
795
Professor Dr. jur., Istanbul: Zum türkischen Geldwäschegesetz
809
Professor Dr. jur., Trier: § 193 StGB als Rechtfertigungsgrund
819
Privatdozent Dr. jur., Köln: Der Einfluß der Gesamtrechtsordnung auf den Umfang des Vermögensschutzes durch den Betrugstatbestand
831
HEINZ S C H Ö C H ,
HANS-LUDWIG SCHREIBER,
FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER,
DIONYSIOS SPINELLIS,
K L A U S TIEDEMANN,
HERBERT TRÖNDLE,
ULRICH WEBER,
FERIDUN YENISEY,
RAINER ZACZYK,
FRANK ZIESCHANG,
V. Sanktionen und Kriminalpolitik Loos, Professor Dr. jur., Göttingen: Bemerkungen zu § 46a StGB
851
Professor Dr. jur., Frankfurt am Main: Opfer im Zwielicht
879
Professor Dr. jur., Köln: Kriminalpolitik im Zeichen der Verbrechensfurcht: von der Speziai- über die General- zur „Ubiquitäts"prävention?
897
FRITZ
K L A U S LÜDERSSEN,
MICHAEL WALTER,
Inhalt
Professor Dr. jur., Köln: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Grenze staatlicher Strafgewalt
XI
THOMAS WEIGEND,
917
VI. Strafverfahren und Strafvollzug Professor Dr. jur., Buenos Aires: Anfechtung der Verurteilung: Garantie für den Angeklagten oder Entscheidungskontrolle?
941
Professor Dr. jur. Dr. jur. h.c. mult., Tokio: Gefángnisarbeit in Japan
949
Professor Dr. jur., Hannover: Rechtsfragen der „deutschen Magna Charta"
959
Professor Dr. jur., Köln: Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung
977
Professor Dr. jur., Krakau: Die neue polnische Strafprozeßordnung im Vergleich mit dem deutschen Strafprozeßrecht
995
JULIO Β . J . MAIF.R,
KOICHI MIYAZAWA,
HINRICH RÜPING,
J Ü R G E N SEIER,
STANISLAW WALTOS,
Bibliographie Verzeichnis der Schriften von Hans Joachim Hirsch
1017
I. Vita
Zu Leben und Werk von Hans Joachim Hirsch HANS-HEINRICH JESCHECK
Hans Joachim Hirsch, dem dieser Band von Freunden, Kollegen und Schülern gewidmet ist, wurde am 11. April 1929 in Wittenberge an der Elbe geboren. Die Familie folgte dem Vater, der als Wasserbauingenieur oft versetzt wurde, nach Berlin, Emden und Stettin und wurde von dort 1943 nach Pasewalk evakuiert. Hirsch kam 1944 als Fünfzehnjähriger zum Stellungsbau nach Schneidemühl, anschließend zum Volkssturm und fand sich bei Kriegsende in Verden a. d. Aller wieder, wo er nach einer Lehre in der Landwirtschaft die Schulzeit abschließen konnte. Seine akademische Ausbildung wurde wesentlich durch die großen Gestalten seiner Lehrer Hans Weisel1 in Götdngen und Karl Engisch2 in Heidelberg bestimmt. Während eines halbjährigen Studiums an der London School of Economics (1959/60) trat die Beziehung zu Max Grünhufi hinzu, der 1939 als Flüchding in Oxford Aufnahme gefunden und dort hohes Ansehen gewonnen hatte. Die von Hirsch als für ihn besonders wichtig empfundene Verbindung zu Grünhut bestand bis zu dessen Tode 1964 fort, da Grünhut im Sommersemester regelmäßig an seine alte Universität Bonn zurückkehrte, wo Hirsch wissenschaftlicher Assistent am Rechtsphilosophischen Seminar bei Hans Weisel war. Grünhut lehrte ihn, wie es seiner gesamten wissenschaftlichen und menschlichen Haltung als Schüler Morìt¡ζ Liepmanns entsprach, daß es für die Ausgestaltung des Strafrechts nicht nur auf die dogmatische Konstruktion, sondern vor allem auf die Orientierung am sozialen Zweck des Strafrechts und für dessen Anwendung auf die Sorge um das Schicksal der Verurteilten, insbesondere der zu Freiheitsstrafe Verurteilten, ankomme. 1 Hirsch hat in einem Glückwunsch für seinen Lehrer Hans Weisel zum 70. Geburtstag QZ 1974, 102 f) vor allem dessen heute zuweilen verkannte maßgebende Bedeutung für die Umgestaltung des Straftatsystems mit ihren weitreichenden Folgen für Gesetzgebung und Praxis hervorgehoben. 2 Der Nachruf von Hirsch auf Karl Engisch (ZStW 103 [1991], S. 623 ff) betont die Weite und Tiefgründigkeit seines wissenschafdichen Werks, aber auch seine distanzierte Stellung zur Lehre Weisels. 3 Zu Grünhut vgl. die Ansprachen von Ernst Friesenhahn und Hellmuth von Weber bei der Gedenkfeier der Rechts- und Staatswissenschafdichen Fakultät der Universität Bonn am 25. 7. 1964, in: Hilde Kaufmann/Erich Schwinge/Hans Weli^el (Hrsg.), Erinnerungsgabe für Max Grünhut (1893-1964), 1965, S. 5 ff; 25 ff.
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Hans-Heinrich Jescheck
I. Dissertation und Habilitationsschrift Am 29. Juli 1957 hat Hirsch mit der bekannten Arbeit über „Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen. Der Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund" (1960) in Bonn bei Hans Weisel mit „summa cum laude" promoviert. Die umfangreiche Dissertation zeigte bereits seine große dogmatische Begabung, die außerordentliche Sorgfalt in der Darstellung des Streitstands und die Konsequenz in der Durchführung seiner Problemlösung sowie stets auch die Treue zu seinem Lehrer Wel%el. Hirsch gelangte hier nach einer die Entwicklung seit Adolf Merkel umfassenden, keine Nuance auslassenden dogmengeschichtlichen Untersuchung und nach der minutiösen Widerlegung der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen zu dem Ergebnis, daß der Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes ein Verbotsirrtum ist, der nach der strengen Schuldtheorie behandelt werden muß und deswegen bei Vermeidbarkeit zur Anwendung des Vorsatztatbestands ohne Abstriche führt (S. 247). Die Lehre von der Doppelstellung des Vorsatzes, die in der Dissertation bereits gestreift ist (S. 189), wird später in dem Aufsatz „Der Streit um Handlungs- und Unrechtslehre" (ZStW 94 [1982], S. 262 ff) eingehend erörtert und als Anregung zu einer Modifikation der strengen Schuldtheorie angesehen (S. 265). Dabei ist Hirsch auch in seiner vorerst letzten Äußerung zu dem strittigen Punkt geblieben (LK, 11. Aufl. 1994, vor § 32 Rdn. 8). Die soziale Adäquanz, die in der Dissertation noch als Auslegungsgesichtspunkt einen bescheidenen Platz fand und in ZStW 74 (1962), S. 80 ff, jedenfalls als Rechtfertigungsgrund, zu Recht abgelehnt wird, ist in LK, 11. Aufl., vor § 32 Rdn. 29, wegen der Unbestimmtheit des Begriffs schließlich ganz aufgegeben, was die Fähigkeit Hirschs zeigt, sich von Überliefertem auch zu trennen, wenn er zu anderer Einsicht gelangt ist. Für den Zugang zum Besonderen Teil hat sich Hirsch durch das Thema der Habilitationsschrift „Ehre und Beleidigung" (1967) einen besonders anspruchsvollen Weg gewählt. Das Rechtsgut „Ehre" definiert er mit der überwiegenden Meinung als „verdienten Achtungsanspruch" im Unterschied zum bloß faktischen guten Ruf (S. 29). Den Schutz gegen die öffentliche Behauptung ehrenrühriger Tatsachen über fremde Privatangelegenheiten verweist er in den Bereich des „Indiskretionsdelikts" (§ 182 E 1962), das freilich nicht Gesetz geworden ist. Den Ausschluß des Wahrheitsbeweises in § 182 Abs. 2 E 1962 hält er jedoch auch beim Indiskretionsdelikt nicht für vertretbar (S. 44), denn die Möglichkeit der öffentlichen Kritik ehrenrührigen Verhaltens bilde „eine der stärksten Garantien für die Gewährleistung der sozialen Ordnung" (ZStW 90 [1978], S. 882). Für die Strafbarkeit der üblen Nachrede bei
Zu Leben und Werk von Hans Joachim Hirsch
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Mißlingen des Wahrheitsbeweises verlangt er im Hinblick auf das von ihm stets als Höchstwert eingeschätzte Schuldprinzip zumindest sorgfaltswidriges Verhalten des Beleidigers (S. 168 ff). Die Strafbarkeit der Beleidigung von Kollektivpersonen darf nach seiner Ansicht wegen der Unbestimmtheit der Abgrenzung des Kreises der beleidigungsfähigen Kollektive nicht über die Fälle der §§ 196, 197 StGB a. F. hinaus erstreckt werden (S. 117), was seine hohe Achtung für ein zweites Grundprinzip, die Rechtssicherheit, bekundet. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen wird auf „echte Rechtfertigungssituationen" beschränkt (S. 203). Dieser Gedanke bleibt zur Verteidigung des Ehrenschutzes gegenüber der Ausdehnung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung durch das Bundesverfassungsgericht auch heute wichtig, denn das „Recht der persönlichen Ehre" ist in Art. 5 Abs. 2 GG ausdrücklich als Schranke der Meinungsfreiheit und damit als gleichwertiges Gut bei der Abwägung der Rechtsgüter anerkannt. Die Habilitation in Bonn am 25. Februar 1966 führte Hirsch alsbald auf einen Lehrstuhl an der Universität Regensburg. Zehn Jahre später erfolgte die Berufung als ordentlicher Professor für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Rechtsphilosophie und Direktor des Kriminalwissenschaftlichen Instituts an die Universität Köln 4 .
II. Strafrechtsdogmatik — Allgemeiner Teil Das stärkste wissenschaftliche Interesse Hirschs gilt seit jeher der Dogmatik des Allgemeinen Teils, und hier liegt darum auch ein Schwerpunkt seiner Arbeiten. Grundlegend für dieses Gebiet ist seine schon erwähnte große Abhandlung über die Handlungs- und Unrechtslehre (ZStW 93 [1981], S. 831 ff; ZStW 94 [1982], S. 239 ff). Ausgehend von dem Systemumbau der Grundbegriffe durch Weisels finale Handlungslehre wird hier die auf der personalen Auffassung des Unrechts basierende neuere Verbrechenslehre eingehend dargestellt, die sich in ihren praktischen Ergebnissen durchgesetzt habe (ZStW 93, S. 833). Die von den Gegnern des strengen Finalismus bevorzugte eigenständige normative Begründung der Umstellung des Vorsatzes aus dem Sinn des Deliktstypus wird erörtert, aber nicht akzeptiert (ZStW 93, S. 838 ff) 5 , 4 Seinen Amtsvorgänger Richard Lange hat Hirsch zu dessen 70. Geburtstag „als große fachliche und persönliche Autorität" gewürdigt und seine „wissenschafdiche Wachsamkeit" gegenüber der „Reform- und Veränderungseuphorie seiner Zeit" hervorgehoben (JR 1976, 105 f). 5 Die Ubereinstimmung in den Ergebnissen (beider Lehren) wird von Hirsch aber als das Wesentliche angesehen; zu Bockelmann ZStW 100 (1988), S. 284; zum Erfolg der herrschend gewordenen Lehre von Gallas ZStW 102 (1990), S. 495.
6
Hans-Heinrich Jescheck
ebensowenig der soziale Handlungsbegriff (ZStW 93, S. 859), der übrigens auch gar nicht als systemtragend gedacht war, sondern nur den Versuch einer Definition des Allgemeinbegriffs „Handlung" für das Strafrecht darstellt. Dagegen wird die Lehre von der Doppelstellung des Vorsatzes, wie schon gesagt, als dogmatisch mögliche und konsensfähige Lösung des Problems des Rechtfertigungsirrtums anerkannt (ZStW 94, S. 257 ff) 6 . Im übrigen bleibt Hirsch jedoch mit der für ihn typischen Uberzeugungstreue bei der vorrechtlichen Grundlage des Handlungsund Unterlassungsbegriffs und bei den sich daraus sachlogisch ergebenden Folgerungen (Spendel-Festschrift, 1992, S. 47 f). Hirsch hat die neuere deutsche Verbrechenslehre als Gegenposition zur Ablehnung des dreistufigen Deliktsaufbaus durch den italienischen Kassadonshof noch einmal in den „Studi in memoria di Giacomo Delitalia", 1984, S. 1933 ff, zusammengefaßt. Seine Erwartung, daß der dreistufige Deliktsaufbau sich auch in Italien durchsetzen werde, hat sich inzwischen erfüllt7. Einer anderen, im Schrifttum erfolgreichen neueren Lehrmeinung im Bereich der Theorie des tatbestandsmäßigen Unrechts, der Lehre von der objektiven Zurechnung, hat Hirsch kürzlich in einem tiefgründigen Beitrag zur Lenckner-Festschrift (1998) eine Absage erteilt. Diese Lehre sei bei den Vorsatztatbeständen „nicht nur entbehrlich, sondern auch nicht sachgemäß", weil sich die Kriterien für die Abgrenzung des dem Täter zurechenbaren Unrechts sachlich richtig aus dem Begriff der tatbestandsmäßigen, aus objektiven und subjektiven Elementen zusammengesetzten Handlung, und nicht aus dem Risikogedanken ergäben. Beim Fahrlässigkeitsdelikt, bei dem es in der Tat um die Zurechnung des Erfolgs einer Risikohandlung geht, seien die Kriterien dafür aus den Besonderheiten der Struktur des fahrlässigen Deliktstypus selbst abzuleiten; die objektive Zurechnung sei also auch hier eine unnötige und dazu ungenaue Generalklausel. Man sieht, daß Hirsch sich auch gegen eine herrschende, im Ausland vielfach rezipierte Lehre mit eigenständigen Argumenten zu wehren weiß, indem er zeigt, daß die gleichen Ergebnisse sich durch die herkömmliche Theorie ebenso gewinnen und zudem sachgerechter begründen lassen. 6 Entscheidend ist für Hirsch, daß beim Rechtfertigungsirrtum der Tatbestandsvorsatz unberührt bleibt und die Lösung im Schuldbereich liegt; s. seine Besprechung meines Lehrbuchs in: ZStW 95 (1983), S. 655 f. 7 Siehe Romano, Commentario sistematico del Codice penale, Bd. I, 2. Aufl. 1995, Pre-Art. 39 Rdn. 22; ferner Ri^ ZStW 93 (1981), S. 1005 ff. Auch die frühere Ansicht des Kassadonshofs, daß der Satz „in dubio pro reo" für Rechtfertigungsgründe nicht gelten sollte, hat sich zuletzt durch den neuen Art. 530 Abs. 3 C. p. p. erledigt.
Zu Leben und Werk von Hans Joachim Hirsch
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Die Lehre von den „Typen der Tatbestände" hat Hirsch dadurch verfeinert, daß er — ausgehend von den Begriffen „Gefahr" (ein Zustand, in dem einem Gut mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit eine Verletzung droht) und „Gefährlichkeit" (Eigenschaft eines riskanten Verhaltens, eine bestimmte Art von Gefahren herbeiführen zu können) - bei den Gefährlichkeitsdelikten (den bisherigen abstrakten Gefahrdungsdelikten) eine abstrakte und eine konkrete Form unterscheidet (Arthur Kaufmann-Festschrift, 1993, S. 545 ff; H.-K. Lee-Festschrift, 1998). Konkrete Gefährlichkeitsdelikte sind bei ihm vor allem die „Eignungsdelikte" (z. B. § 308 zweiter Halbsatz a. F. StGB). Abstrakte Gefährlichkeitsdelikte enthalten dagegen nur generalisierende Merkmale eines typischerweise riskanten Verhaltens (z. B. § 153 StGB). Sie sind, wie Hirsch zu Recht feststellt, dann legitim, „wenn der Gesetzgeber den Rechtsgüterschutz nicht in die Kompetenz oder Inkompetenz der Risikoprognose des Täters legen will" (Buchala-Festschrift, 1994, S. 162). Zu denken ist ζ. B. an Vorkehrungen zum Katastrophenschutz in der modernen Risikogesellschaft, wie die Sicherheitsvorschriften für den Betrieb von Atomkraftwerken. Den Charakter der erfolgsqualifizierten Delikte als konkrete Gefährdungsdelikte betont Hirsch durch die Forderung, „daß der Eintritt der schweren Folge auf der tatbestandsspezifischen Gefahrenträchtigkeit des grunddeliktischen Erfolgs beruhen muß" (Oehler-Festschrift, 1985, S. 133). Die Rechtfertigungsgründe hat Hirsch in den Vorbemerkungen zu den §§ 32ff, LK, 11. Aufl. 1994, Rdn. 5 - 1 8 1 (ebenso schon in der 9. und 10. Auflage) so umfassend und grundlegend bearbeitet, daß für den Rezensenten kaum mehr als eine Wiederholung des Gesagten übrigbliebe. Ich möchte deswegen nur wenige Punkte hervorheben, die mir für die Denkweise des Autors besonders charakteristisch erscheinen. Die Rechtswidrigkeit kennzeichnet nach Hirsch den Widerspruch der Tat zur Gesamtrechtsordnung, eine besondere „Strafrechtswidrigkeit" gebe es nicht; man könne nur von „strafbedrohtem Unrecht" sprechen (vor § 32 Rdn. 10). Auch die Lehre vom „erlaubten Risiko" hält er für entbehrlich, da die einschlägigen Probleme auf der Ebene des Tatbestandes, insbesondere bei dem Merkmal der erforderlichen Sorgfalt im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte, ihren sachentsprechenden Platz fänden (vor § 32 Rdn. 32). Eine Vorschrift des positiven Rechts, die wie das Grenzgesetz der früheren D D R das Lebensrecht des Menschen entgegen den internationalen Menschenrechtspakten in unerträglicher Weise verletzt, ist, wie Hirsch unter Berufung auf Gustav Radbruch betont, als Rechtfertigungsgrund nicht zu beachten; er schließt sich damit dem Standpunkt an, den der Bundesgerichtshof in den „Mauerschützen-Fällen" in zwar
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Hans-Heinrich Jescheck
vielfach angegriffener Rechtsprechung, aber mit entschiedener Billigung des Bundesverfassungsgerichts eingenommen hat (vor § 32 Rdn. 42) 8 . Im übrigen gelte Art. 103 Abs. 2 GG nicht nur für die Straftatbestände, sondern auch für die im Strafrecht normierten Rechtfertigungsgründe, so daß diese nicht in einem ihren Wordaut einschränkenden Sinne ausgelegt werden dürften (vor § 32 Rdn. 37; Tjong-Gedächtnisschrift, 1985, S. 63). Alle Rechtfertigungsgründe verlangen, wie Hirsch überzeugend begründet, daß das ihrem Sinngehalt entsprechende subjektive Rechtfertigungselement gegeben sein muß (vor § 32 Rdn. 50); wo dieses fehlt, will Hirsch, allerdings entgegen der vorherrschenden Lehre, nicht nur Versuch, sondern Vollendung der Tat annehmen (vor § 32 Rdn. 59). Die rechtfertigende Pflichtenkollision betrachtet er mit der heute überwiegenden Lehre als einen vom Notstand unabhängigen eigenen Rechtfertigungsgrund (vor § 32 Rdn. 74), was im Falle der Kollision gleichwertiger Handlungsgebote die Annahme einer Wahlmöglichkeit des Adressaten erlaubt (vor § 32 Rdn. 79). Die Einwilligung ist bei Hirsch mit der in Deutschland noch überwiegenden, im Ausland unangefochten gebliebenen Lehre ein Rechtfertigungsgrund; die vielfach vertretene Einordnung in den Tatbestand, die auf einer die Unterschiede der Rechtsgüter nivellierenden allgemeinen Subjektivierung beruhe, wird von ihm auch wegen ihrer praktischen Konsequenzen abgelehnt (vor § 32 Rdn. 92, 97 ff). Auch die mutmaßliche Einwilligung ist, wie Hirsch entsprechend der herrschenden Lehre annimmt, echter Rechtfertigungsgrund, der auf dem objektiv zu vermutenden Willen des Berechtigten beruht (vor § 32 Rdn. 132). Endlich müssen bei der vorläufigen Festnahme durch Privatpersonen, wie Hirsch entsprechend der überwiegenden Meinung erklärt, die Voraussetzungen des § 127 Abs. 1 StPO objektiv gegeben sein (vor § 32 Rdn. 156). In der Frage der Behandlung von Fehlern der behördlichen Genehmigung eines tatbestandlichen Verhaltens stellt Hirsch für ihre Wirksamkeit im Strafrecht wegen der Rechtseinheit ausschließlich auf die verwaltungsrechdichen Maßstäbe ab (strenge Verwaltungsakzessorietät), so daß auch eine mißbräuchlich erlangte, aber nach dem Ver-
8 Hirsch hat diesen allein richtigen Standpunkt sehr eindrucksvoll begründet und ausführlich belegt in seinem Vortrag an der Nordrhein-Westfálischen Akademie der Wissenschaften über das Thema „Rechtsstaadiches Strafrecht und staadich gesteuertes Unrecht", 1996, S. 13 ff. In diesem Vortrag wird m. E. zu Recht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu einem anderen Problem des DDR-Unrechts kritisiert, nämlich bei der zu engen Beschränkung des objektiven Tatbestands der Rechtsbeugung in § 244 StGB-DDR auf Fälle, in denen sich die Entscheidung „offensichtlich als Willkürakt" darstellt (S. 24 f).
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waltungsrecht gleichwohl wirksame Genehmigung im Strafrecht zu berücksichtigen ist (vor § 32 Rdn. 165)9. Der rechtfertigende Notstand ist bei Hirsch Gegenstand einer gesonderten Kommentierung, die in ihrer Intensität und Tiefe das Thema erschöpfend behandelt (LK, 11. Aufl. 1994, § 34 Rdn. 1 - 9 5 ) . Aus diesem Abschnitt möchte ich zwei Punkte ins Auge fassen, bei denen Hirsch zu praktisch besonders gravierenden Fragen Stellung nimmt. Entgegen der überwiegenden Meinung hält er § 34 StGB auf hoheitliche Eingriffe in Individualrechtsgüter nicht für anwendbar; Amtspersonen seien insoweit an die Grenzen des öffentlichen Rechts gebunden (§ 34 Rdn. 6 f). Nur für Eingriffe in Rechtsgüter des Staates oder der Allgemeinheit stehe § 34 StGB zur Verfügung, so daß die Freilassung von Häftlingen, die im Falle Lorenz durch die Geiselnahme seitens ihrer Gesinnungsgenossen von der Regierung erpreßt wurde, gerechtfertigt gewesen ist (§ 34 Rdn. 20). Für eine darüber hinausgehende Anwendungsmöglichkeit des § 34 StGB besteht nach Hirsch kein praktisches Bedürfnis (Cieslak-Festschrift, 1993, S. 124 f). Beim Defensivnotstand wird von ihm für die Güterabwägung der Rechtsgedanke des § 228 BGB herangezogen, wenn die Notstandsgefahr von der Person ausgeht, gegen die sich der Eingriff richtet und die deshalb äußerstenfalls zur Rettung des Lebens des Betroffenen geopfert werden darf (Fall der Perforation) (§ 34 Rdn. 72, 74; Dreher-Festschrift, 1977, S. 228 f). Die Arbeiten zum Allgemeinen Teil hat Hirsch abgeschlossen durch eine nicht weniger eindrucksvolle Darstellung der Lehre von der Schuld als der dritten Wertungsstufe der Straftat nach Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit (ZStW 106 [1994], S. 746 ff; LK, 11. Aufl. 1994, vor § 32 Rdn. 182 ff). Sein Ausgangspunkt ist zu Recht der herrschende normative Schuldbegriff. Dieser betrifft die Frage, ob und in welchem Umfang dem Täter die tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung vorgeworfen werden kann (vor § 32 Rdn. 183). Auf eine so^ialethische Begründung des materiellen Gehalts der Schuld läßt Hirsch sich jedoch nicht ein, er will sich vielmehr, um jedes „sittliche Pathos" bei der Schuldbegründung zu vermeiden, „auf eine mehr rechtliche Begründung beschränken" (vor § 32 Rdn. 182). Mir scheint jedoch, wenigstens bei der Straf^umessungsschuld, eine sozialethische Begründung des 9 Später hat er diesen Standpunkt im Hinblick auf §§ 330 d Nr. 5 StGB eingeschränkt; vgl. dazu Hirsch, Straf- und Strafprozeßrecht gegenüber neuen Formen und Techniken der Kriminalität, in: Hirsch/Hofmanski u. a. (Hrsg.), Neue Erscheinungsformen der Kriminalität in ihrer Auswirkung auf das Straf- und Strafprozeßrecht, Bialystok 1996, S. 42.
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Schuldmaßes unverzichtbar zu sein. Jedenfalls würde — daran läßt Hirsch keinen Zweifel - die von wenigen Stimmen geforderte gänzliche Abschaffung des Schuldprinzips die spezifisch menschliche Orientierung der strafrechtlichen Zurechnung zerstören (ZStW 106, S. 748). Die Kriterien der Strafbegründungsschuld (vor allem die strafrechtliche Verantwortlichkeit des schuldfähigen Menschen) werden ohne weiteres vom Gesetzgeber als gegeben vorausgesetzt und sind deswegen bei der Beurteilung eines praktischen Falls durch den Richter nicht mehr in Frage zu stellen. Defekte im Grad der Motivationsfähigkeit endasten den Täter bis zur Grenze der Schuldunfähigkeit nicht. Um die Notwendigkeit der positiven Feststellung der Merkmale der Strafbegründungsschuld zu vermeiden, ist gemäß der Struktur des Gesetzes die Möglichkeit von Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen überhaupt nur dann zu berücksichtigen, wenn Anhaltspunkte für ihr Vorliegen gegeben sind (ZStW 106, S. 750). Zu Recht geht Hirsch bei der Grundannahme der subjektiven Zurechenbarkeit des Unrechts davon aus, daß das Andershandelnkönnen des Menschen im Normalfall außer Zweifel steht und der richterlichen Entscheidung zugrundegelegt werden muß (ZStW 106, S. 751). Den Anknüpfungspunkt für diese Annahme sieht er in der Tatsache, daß „der Mensch sich als grundsätzlich frei empfindet", und zu diesem „gelebten allgemeinen Selbstverständnis" könne sich die Strafrechtsordnung nicht in Widerspruch setzen (ZStW 106, S. 763; ferner neuestens in: Piywac^ewski [Hrsg.], Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie, 1998, S. 201 f). Die Annahme der persönlichen Verantwortlichkeit des geistig und seelisch gesunden Menschen für das eigene Handeln ist, wie wir es im Anschluß an Gallas (ZStW 80, S. 3) ausgedrückt haben, „eine unbezweifelbare Realität unseres sozialen und moralischen Bewußtseins" (Jescheck/Weigend, Lehrbuch, 5. Aufl. 1996, S. 412). Hirsch lehnt deswegen mit der überwiegenden Lehre Abschwächungen des Schuldprinzips ab. Diese Ablehnung betrifft sowohl den rein funktional als „Derivat der Generalprävention" verstandenen Schuldbegriff (Jakobs) als auch die Beschränkung des Schuldprinzips auf die Rolle einer Strafmaßobergrenze (AE § 59), wie auch endlich die Verknüpfung von Schuld und Prävention in dem Begriff der „Verantwortlichkeit" (Roxin) (vor § 3 2 Rdn. 182 a, 182 b). Schuld und Prävention müssen, wie Hirsch zu Recht sagt, als sachlich verschiedenartige Kategorien der Beurteilung einer Straftat unabhängig voneinander und eigenständig begründet werden (ZStW 106, S. 758). Ausgangspunkt der Lehre von den Entschuldigungsgriinden und unbestrittene Grundlage für das Verständnis aller Gründe von Straffreiheit ist auch bei Hirsch die Unterscheidung von Rechtfertigung und Ent-
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schuldigung (Die Stellung von Rechtfertigung und Entschuldigung im Verbrechenssystem, in: Eser/Perron [Hrsg.], Rechtfertigung und Entschuldigung, Bd. III, 1991, S. 54), deren praktische Bedeutung für Notwehr, Irrtum und Teilnahme er hervorhebt. Von den Entschuldigungsgründen hat Hirsch dem entschuldigenden Notstand als Gegenstück zum rechtfertigenden Notstand eine gesonderte Kommentierung von entsprechender Intensität gewidmet (LK, 11. Aufl. 1994, §35 Rdn. 1 - 8 1 ) . § 35 StGB ist für ihn der Hauptfall der Anerkennung der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens durch Gewährung von Straffreiheit. Der Verzicht auf den Schuldvorwurf beruht nach der neueren Lehre, der sich Hirsch anschließt, auf zwei Gründen: einmal auf verminderter Schuld infolge der außergewöhnlichen Motivationslage durch das Bestehen einer gegenwärtigen Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit, zum anderen auf vermindertem Handlungsunrecht im Hinblick auf den Rettungswillen, der die Handlung des Notstandstäters bestimmt (vor § 32 Rdn. 195). Einbezogen in § 35 StGB sind nur diese drei fundamentalen persönlichen Rechtsgüter und auch nur Gefahren für den Täter selbst, einen Angehörigen oder eine ihm sonst nahestehende Person. Die analoge Anwendung des § 35 StGB auf Fälle der Gefährdung anderer Rechtsgüter und auf Außenstehende ist damit ausgeschlossen (§ 35 Rdn. 10, 30). Erst recht gibt es keinen allgemeinen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens (vor § 32 Rdn. 196). Jedoch nimmt Hirsch mit der überwiegenden Lehre in der Extremsituation unerträglichen Leidens eines Sterbenden bei übermäßiger Gewissensnot des Helfers sogar für die direkte aktive Sterbehilfe einen übergesetzlichen entschuldigenden Notstand in Anspruch (vor § 32 Rdn. 216; Lackner-Festschrift, 1987, S. 165; Welzel-Festschrift, 1974, S. 796; siehe hierzu auch den Fall BGHSt. 32, 367, 380 f). Zwei schwer zu interpretierende Regeln des § 35 StGB finden bei Hirsch eine überzeugende Erklärung. Die Zumutbarkeit der Gefahrtragung für Personen in einem Rechtsverhältnis, das typischerweise mit erhöhten Gefahren verbunden ist (§ 35 Abs. 1 Satz 2 StGB), beruht nicht auf generalpräventiven Erwägungen, sondern darauf, daß vom Schutzpflichtigen verlangt wird, dem typischen Motivationsdruck durch persönliche Disziplin zu widerstehen, so daß die Schuld nicht vermindert ist, wenn er versagt und sich auf Kosten anderer rettet. Auch das Handlungsunrecht ist nach Hirsch nicht vermindert, wenn jemand seine Schutzpflicht verletzt, um sich selbst unter Preisgabe der ihm anvertrauten Rechtsgüter der Gefahr zu entziehen; der Rettungswille des Handlungspflichtigen in bezug auf die eigene Person endastet ihn deswegen nicht (§ 35 Rdn. 53). Daß die für andere Fälle vorgesehene Strafmilderung (ζ. B. bei Verlet-
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zung einer Garantenpflicht durch den Unterlassungstäter nach § 13 Abs. 2 StGB) dem Notstandstäter hier versagt wird, zeigt den hohen Rang an, den der Gesetzgeber den Pflichten, auf die sich § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB bezieht, - auch im Hinblick auf § 6 WStG — beigemessen hat (§ 35 Rdn. 68). Hirsch erklärt ferner die strenge „Vorsatzlösung" beim vermeidbaren Putativnotstand (§ 35 Abs. 2 Satz 1 StGB) damit, daß diese die unerwünschte Konsequenz der von der Rechtsprechung früher angewendeten „Fahrlässigkeitslösung" vermeidet, nämlich den erforderlichen Strafschutz (für das Opfer) unangemessen zu verkürzen, wobei Härten aber durch die obligatorische Strafmilderung nach §§ 35 Abs. 2 Satz 2, 49 Abs. 1 StGB aufgefangen werden können (§ 35 Rdn. 73). Hirsch hat auch ψ aktuellen Streitfragen oft seine Stimme erhoben, so erst kürzlich wieder bei dem Konflikt zwischen dem 4. und dem 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs über die Rechtsfigur der „actio libera in causa" (BGHSt. 42, 235; BGH JR 1997, 391 m. Anm. Hirsch) zugunsten von deren Beibehaltung. Seine Lösung über die Verwendung der eigenen Person als „mittelbarer Täter" (ausführlich begründet in dem Beitrag zur Nishihara-Festschrift, 1998) erscheint mir freilich zu konstruiert; die offene Anerkennung einer Ausnahme vom Koinzidenzmerkmal des § 20 StGB unter Berufung auf die nur beschränkte Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG im Bereich der gewohnheitsrechtlich fest etablierten Rechtsbildungen des Allgemeinen Teils wäre der direktere Weg zu einem Ergebnis, das mir, ebenso wie Hirsch, gerechter erscheint und auch volkstümlicher ist als die Verlagerung des Problems auf § 323a StGB 10 . Den wesentlichen Ertrag seiner eigenen Arbeiten zur Dogmatik des Allgemeinen Teils hat Hirsch in einem aus zahlreichen Vorarbeiten, auch mehreren Auslandsvorträgen, erwachsenen Uberblick über die Gesamtentwicklung der Strafrechtsdogmatik in Deutschland in diese hineingestellt und ihr auch entgegengestellt („Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach Welzel", in: Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 399 ff). Die starke Bindung an den Lehrer tritt schon im Titel hervor und gibt dem Ganzen seine Geschlossenheit. Hirsch bedauert, daß das methodische Anliegen 10 Hirsch versteht übrigens § 323 a StGB mit Rücksicht auf das Schuldprinzip entgegen der herrschenden Meinung als konkretes Gefährdungsdelikt, was die Anwendbarkeit der Vorschrift stark einschränken würde; siehe den Vortrag über die „Alkoholdelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland", in: Beiträge zum VI. Deutsch-Jugoslawischen Juristentreffen in Köln 1980, Beiheft zur ZStW 1981, S. 16.
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Welzels, „die Strafrechtsdogmatik auf den Phänomenen der Wirklichkeit aufzubauen", durch den normativistischen Ansatz in der Gegenwart zurückgedrängt worden ist. Er lehnt darum auch hier die Lehre von der objektiven Zurechnung ebenso ab wie die soziale Handlungslehre. Dem extremen Subjektivismus in der Unrechtslehre stellt er die subjektivobjektive Sinneinheit des Tatbestandes entgegen und begrüßt deswegen die von Weisel begründete Tatherrschaftslehre, die auf dieser Sinneinheit beruht. Die zweckrationale (funktionale) Richtung bringt nach Hirsch nur insofern etwas Neues, als sie „die Strafzwecke direkt bei den einzelnen Deliktsmerkmalen" berücksichtigen will, während die herkömmliche Lehre dies sachgerecht erst bei den Rechtsfolgen tut. Insbesondere führe die Einordnung der Schuld in die Generalprävention zu deren „völliger Entindividualisierung". Positiv beurteilt Hirsch in der neueren Entwicklung der Dogmatik außer der Tatherrschaftslehre die Auffassung des Erlaubnistatbestandsirrtums als Schuldproblem, die überwiegende Ablehnung der Risikoerhöhungslehre, die Anerkennung des Unmittelbarkeitszusammenhangs bei den erfolgsqualifizierten Delikten und die Verfeinerung der Rücktrittslehre. In der Zurückhaltung gegenüber der Berücksichtigung eines Vorverschuldens (ζ. B. bei der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums oder bei der Beurteilung von Affekttaten) deutet sich schon sein späterer Standpunkt zur Lehre von der actio libera in causa an, die er damit begründet, daß er die „actio praecedens" in den Tatbestand hineinnimmt. Sehr eindrucksvoll heißt es zum Schluß, daß „dem Täter ein gerechter Schuldausgleich gebührt" und daß es bei der Strafe deswegen „gegenüber dem Täter um eine gerechte Ahndung geht" (S. 425) und erst in zweiter Linie um die Generalprävention.
III. Strafrechtsdogmatik — Besonderer Teil Im Besonderen Teil steht für Hirsch die Bearbeitung der Körperverlet^ungsdelikte im Vordergrund, vielleicht weil gerade hier Grundprobleme des Allgemeinen Teils in ihrer sozialen Realität besonders deutlich in Erscheinung treten. Nur auf diese Punkte möchte ich hier eingehen, da sie Hirsch in seiner stets das Grundsätzliche aufsuchenden Haltung charakterisieren. In den ausführlichen Erläuterungen der §§ 223 — 233 StGB in der 10. Auflage des LK (1989) ist seine Meinung zu diesen Punkten dargelegt. Der erste betrifft das Rechtsgut der §§ 223 ff. Es ist die körperliche Unversehrtheit des Menschen, der erst mit dem Beginn der Geburt als solcher rechtlich vorhanden ist, so daß in den Contergan-Fällen keine
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Körperverletzung gegeben war, obwohl die betroffenen Kinder mit schweren Körperschäden zur Welt kamen (vor § 223 Rdn. 7). Gegenüber der bekannten Auffassung der Rechtsprechung, die im ärztlichen Heileingriff stets eine tatbestandsmäßige Körperverletzung sieht, die durch rechtfertigende Einwilligung des Patienten straflos werde (§ 226a Rdn. 14), verweist Hirsch auf den Tatbestand der eigenmächtigen Heilbehandlung (§ 110 österr. StGB; §§ 161, 162 E 1962: § 123 AE) als den allein sachgerechten Weg (vor § 2 2 3 Rdn. 3 - 6 ; § 226a Rdn. 1 4 - 3 7 ) , würde aber wohl bis zur Einführung dieses Tatbestandes der Rechtsprechung wegen der sonst unausweichlichen Straflosigkeit ungenehmigter Eingriffe durch Ärzte die Gefolgschaft nicht versagen. Die Möglichkeit der Einwilligung in eine Körperverletzung wird von Hirsch als Rechtfertigungsgrund nachdrücklich verteidigt, zumal die Subjekrivierung des Rechtsguts hier ganz unvertretbar wäre. Die Regelung der Einwilligung des Verletzten in § 226a StGB betone auch eindeutig ihren Charakter als Rechtfertigungsgrund (§ 226a Rdn. 1). Jedoch müsse die Limitierung anders als durch das anfechtbare Kriterium der „Sittenwidrigkeit der Tat" erfolgen, etwa durch Einführung der schweren Körperverletzung als Grenze (Welzel-Festschrift, 1974, S. 799). Die Zweifel hinsichdich der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift wegen der für die Rechtssicherheit bedenklichen Verweisung auf den unbestimmten Begriff der „guten Sitten" teilt Hirsch im Ergebnis nicht (§ 226a Rdn. 2); er zeigt aber, daß mit dem Abstellen auf den „Zweck der Tat" Gesichtspunkte eingeführt werden, die die Sittenwidrigkeit der Einwilligung selbst betreffen und damit die Bezogenheit auf das Rechtsgut verfehlen (§ 226a Rdn. 9; Waseda-Festschrift, 1988, S. 868 ff mit Rechtsvergleichung zu Japan). Jedenfalls dürfe die Vorschrift auf andere Tatbestände nicht ausgedehnt werden (§ 226a Rdn. 1). Ihre praktische Bedeutung hat sie besonders für die Einwilligung in Sportverletzungen, etwa beim Fechten, Boxen, Fußball und anderem Kampfsport, die bei „adäquatem Verlauf der betreffenden Sportart" durch die Einwilligung gedeckt sind, nicht aber bei „vorsätzlicher schwerer Mißachtung der Sportregeln" (§ 226a Rdn. 12). Die Erläuterungen zur fahrlässigen Körperverletzung bringen ausführliche Ubersichten über die vielgestaltige Rechtsprechung, insbesondere eine nach Sachgebieten geordnete Darstellung der Praxis zur fahrlässigen Körperverletzung im Straßenverkehr (§ 230 Rdn. 18 — 45). Dieser Teil zeigt erneut Hirschs starkes Interesse für die praktische Seite der Strafrechtsnormen und ihrer Auslegung. Der schon weiter zurückliegende Vortrag Hirschs zur Reform der Körperverletymgsdelikte (ZStW 83 [1971], S. 140 ff) hat noch immer Bedeutung durch die Empfehlung der Ausgliederung des Bagatellunrechts aus
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dem Kriminalstrafrecht (S. 146) und die Ablehnung der beiden divergierenden Vorschläge zur Neufassung der Einwilligungsvorschrift (S. 165 ff), nämlich die des E 1962 (Verwerflichkeitslösung) und des AE (überhaupt keine Einschränkung). Die große Arbeit über die Reform des Besonderen Teils in der Asüa-Gedächtnisschrift 11 ist vor allem wichtig durch die methodische Kritik an der Reformarbeit im Besonderen Teil, insbesondere wegen der zu geringen Beteiligung der Wissenschaft und der unsystematischen Eingriffe in den Bestand des geltenden Rechts durch Teilreformen. Diese Kritik klingt schon in dem Aufsatz zur Reform des §113 StGB in der Klug-Festschrift, Bd. II, 1983, S. 254 f, an. IV. Kriminalpolitik und Strafrechtsreform Nächst der Dogmatik des Allgemeinen Teils steht bei Hirsch die Kriminalpolitik und die Strafrechtsreform im Vordergrund des Interesses. Er folgt damit seinem Lehrer Max Grünhut, der ihn schon früh davon überzeugt hatte, daß es für die wissenschaftliche Arbeit am Strafrecht nicht nur auf die dogmatische Konstruktion, sondern vor allem auf den sozialen Zweck des Strafrechts ankommt (s. oben Einleitung). 1. Oie. große Strafrechtsreform der fünfziger und sechziger Jahre folgte „unmittelbar auf eine Blütezeit der dogmatischen Diskussion" (DeutschSpanisches Strafrechtskolloquium 1986, 1987, S. 72). Hirsch betrachtet dementsprechend im Rückblick die Neugestaltung des Allgemeinen Teils, jedenfalls was die dogmatischen Bestimmungen anlangt, „als eine ausgewogene und daher dauerhafte gesetzgeberische Leistung" (Hilde Kaufmann-Gedächtnisschrift, 1986, S. 165). Er betont vor allem die zentrale Stellung des Schuldprinzips, insbesondere als Schutz des Beschuldigten gegen Ermessensmißbrauch und Ubermaß bei der Bestimmung der Strafe (S. 134), er lobt die Regelung des Verbotsirrtums nach der Schuldtheorie unter Offenlassen des Erlaubnistatbestandsirrtums und begrüßt die Vorsatzakzessorietät der Teilnahme (Deutsch-Spanisches Strafrechtskolloquium, S. 49 ff, 53 ff). Hirsch konstatiert aber auch hier einen „großen Qualitätsunterschied" zwischen dem neuen Allgemeinen Teil und den Teilreformen des Besonderen Teils (Hilde Kaufmann-Gedächtnisschrift, S. 157). In diesem Zusammenhang kritisiert er unter anderem die Methode der unbenannten besonders schweren Fälle und die 1 1 Tendencias en la evolución de la reforma de la Parte Especial usw., in: Estudios de derecho penal en homenage al Profesor Luis Jiménez de Asúa, 1986, S. 395 f.
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Einführung der Regelbeispiele, die eine „Umetikettierung" von Qualifikationsmerkmalen in Strafzumessungsgesichtspunkte darstellten und damit das Gesetzlichkeitsprinzip abschwächten (Deutsch-Spanisches Strafrechtskolloquium, S. 69). Ein Defizit des Besonderen Teils sei ferner das Fehlen einer Reform der Tötungsdelikte, insbesondere das Ausbleiben einer Milderungsvorschrift für Mord, die es ermöglichen würde, die absolut angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe zu vermeiden, wenn nach der Schuld des Täters nur eine zeitige Freiheitsstrafe gerechtfertigt erscheint. Die Entscheidung BGHSt. (GS) 30, 105, die entgegen dem Gesetzestext aus eigener richterlicher Machtvollkommenheit einen übergesetzlichen Strafmilderungsgrund aufstellt, überschreitet jedoch nach Hirsch „die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung" und bewirkt „einen Schwund an Rechtssicherheit" (Hilde KaufmannGedächtnisschrift, S. 155). Den Schwerpunkt der Reform sieht Hirsch zu Recht „in der inhaltlichen Ausgestaltung der Rechtsfolgenregelung" (S. 135). Er bekennt sich zu den großen Reformzielen der „Resozialisierung, Entkriminalisierung und Humanisierung" (S. 159), beklagt aber auch „eine gewisse Phantasielosigkeit" des Reformgesetzgebers bei der Neuregelung der Rechtsfolgen (S. 162). So sei die reformierte Geldstrafe als einzige Alternative zur Freiheitsstrafe nicht ausreichend; durch gemeinnützige Arbeit als Hauptstrafe und Wochenendarrest hätten Zwischenstufen zwischen Freiheits- und Geldstrafe in den Sanktionenkatalog eingebaut werden sollen (S. 137). Wiederholt richtet sich seine Kritik gegen die Behandlung der Bagatellkriminalität; sie betrifft einen besonders schwierigen und bisher unerledigt gebliebenen Teil der Reformproblematik. Das Privatklageverfahren biete dem Verletzten heute praktisch keinen Schutz mehr und müsse durch ein andersartiges, auch gerichtliches, aber nicht kriminalrechtliches Verfahren abgelöst werden. Hirsch denkt hier an die Einführung eines neuen Typs der Unrechtshandlung, den er „Verfehlung" nennt (Lange-Festschrift, 1976, S. 815 ff). Auch die Lösung über die bedingte Einstellung des Strafverfahrens gegen Zahlung einer Geldbuße nach § 153a StPO wird von Hirsch abgelehnt. Seine Gründe sind der Einbruch in das Legalitätsprinzip auf der ganzen Breite der mittleren Kriminalität, die Einführung einer Sanktionskompetenz der Staatsanwaltschaft, die Abschwächung der Unschuldsvermutung, die Abkehr von der Pflicht zur Feststellung der materiellen Wahrheit, die Bevorzugung von Straftätern, die sich eine hohe Geldbuße und einen guten Verteidiger leisten können, sowie die Ausdehnung des Verfahrens weit über den Bereich der wirklichen Bagatellkriminalität hinaus (ZStW 92 [1980], S. 221 ff; Hilde Kaufmann-Gedächtnisschrift, S. 140 ff). Diese
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Gründe sind gewiß schwerwiegend, man muß sich jedoch fragen, wie die Strafjustiz bei der hohen prozeßökonomischen Bedeutung, die das Verfahren nach § 153a StPO inzwischen gewonnen hat, ohne diese Form der Erledigung auskommen sollte, die auch für den Beschuldigten Vorteile hat und deswegen von den Verteidigern angestrebt wird. 2. Neue Lösungen in der Kriminalpolitik, die heute propagiert werden, hat Hirsch sich teilweise zu eigen gemacht, überwiegend aber abgelehnt. Einen Schritt weit ins Neuland hinein hat Hirsch durch die Anerkennung der Straffahigkeit der Personenverbände getan (Die Frage der Straffähigkeit von Personenverbänden, 1993; ZStW 107 [1995], S. 285 ff). Er bejaht sowohl die Handlungsfähigkeit als auch die Schuldfähigkeit der Verbände, stützt sich dabei allerdings stark auf die präjudizielle Regelung des § 30 OWiG, die nach meiner Ansicht freilich selbst noch der Begründung bedürfte. Am schwierigsten wird es, wenn Hirsch den von ihm ausdrücklich bejahten ethischen Gehalt der Kriminalstrafe gegenüber einem Personenverband zu rechtfertigen sucht. Er beschränkt sich dabei auf die Erklärung, daß gegen den Verband wegen der Normverletzung ein Schuldvorwurf erhoben werden könne; deswegen sei der Verband auch „im ethischen Sinne ausreichend Person, um Adressat der Bestrafung sein zu können" (S. 19). Dagegen läßt sich immerhin einwenden, daß der Verband nach bisherigem Recht Adressat einer Norm nur im Sinne der zivil-, verwaltungs- und ordnungsrechtlichen Haftung für eine Normverletzung durch seine Organe ist, aber nicht selbst als Träger eigener ethischer Pflichten betrachtet wird. Auch ein eigenes „Verbandsverschulden" läßt sich an „Mängeln bei der Auswahl und der Überwachung der Organe, sonstigen Organisationsmängeln, kriminogener Geschäftspolitik usw." (S. 26) kaum festmachen, da es sich hierbei ebenfalls immer nur um das Verschulden der Organe, beim Verband aber um Haftung für fremdes Verschulden handelt. Auch die Bejahung eines praktischen Bedürfnisses für die Einführung der Strafbarkeit der Personenverbände würde m. E. den Nachweis voraussetzen, daß § 30 OWiG, auch in Verbindung mit § 130 OWiG, kriminalpolitisch nicht ausreicht, um der „Verbandskriminalität" wirksam zu begegnen, und aus welchen Gründen diese Vorschriften nicht ausreichen. Dagegen ist Hirsch dem verbreiteten und in § 46a StGB auch durchgedrungenen Gedanken entschieden entgegengetreten, daß Wiedergutmachung des Schadens einer Straftat durch den Täter gegenüber dem Verletzten auch die an sich verdiente Strafe bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe ersetzen könne („Zusammenfassung der Ergebnisse des Kolloquiums", in: Eser/Kaiser/Madiener [Hrsg.], Neue Wege der Wiedergutmachung, 1990, S. 377 ff; ZStW 102 [1990], S. 534 ff). Wiedergutmachung kann
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zwar, wie Hirsch zu Recht sagt, die Strafe mildern sowie als Auflage bei der Strafaussetzung zur Bewährung und bei der bedingten Einstellung des Strafverfahrens verwendet werden, aber sie kann nicht „eine selbständige strafrechtliche Sanktion" bilden. Die Strafe dient der gerechten Ahndung der Tat und soll eine davon ausgehende Auswirkung auf den Täter und die Allgemeinheit ausüben. Die Wiedergutmachung dient dagegen der Erfüllung des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs des Verletzten, zu der der Täter ohnehin verpflichtet ist (S. 541). Eine Ahndung von Unrecht und Schuld kann sie nicht sein und deswegen auch nicht die davon ausgehende Präventionswirkung haben. Die Unterscheidung von Strafe und Schadensersatz sei somit nicht, wie dagegen eingewendet wird, „doktrinär", sondern bringe die inhaltliche Verschiedenheit der beiden Rechtsfolgen der Straftat nach ihrem Sinn und Zweck juristisch zutreffend zum Ausdruck (S. 542). Man fühlt sich angesichts der modischen Begeisterung für die Wiedergutmachung an den in dem Referat von Weigernn2 „Wiedergutmachung in den USA" enthaltenen Satz erinnert, daß dort niemand gegen sie auftritt, aber auch „näheres Nachdenken verpönt ist". Zu neuen Wegen der Verbesserung der Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren hat Hirsch in der Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 699 ff, Stellung genommen. Die Ausdehnung des Klageerzwingungsverfahrens auf „Ermessens"-Einstellungen wird von ihm befürwortet und mit dem „Genugtuungsinteresse" und dem „Gerechtigkeitsbedürfnis" des Verletzten begründet (S. 704 f). Gegenüber der Forderung nach einer aktiven Beteiligtenposition des Verletzten am Strafverfahren verweist Hirsch jedoch darauf, daß es im heutigen Strafverfahren „um den das öffentliche Interesse repräsentierenden staadichen Strafanspruch" geht, der eine „Objektivierung des Strafverfahrens" bewirkt und dieses aus guten Gründen von „Rachsucht und Emotionen" freigemacht habe (S. 713 f). Hirsch verwirft deswegen auch die weitere Ausdehnung des Nebenklagerechts und beschränkt den Verletzten auf eine neu einzuführende Rechtsmittelbefugnis, weil dadurch ein dem Genugtuungsbedürfnis funktional entsprechender und auch ausreichender Weg der Berücksichtigung seiner Interessen eröffnet werden würde (S. 715). An die Stelle des in der Praxis kaum verwendeten Adhäsionsverfahrens sollte „die Bindung der Zivilgerichte an die strafrechtliche Verurteilung" treten (S. 717).
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Der vielfach propagierten Neuorientierung des Strafrechts an Zukunftsaufgaben ist Hirsch im übrigen nicht gefolgt (s. „Strafrecht als Mittel zur Bekämpfung neuer Kriminalitätsformen?" in: Kiihne/Miyw^awa [Hrsg.], Neue Strafrechtsentwicklungen im deutsch-japanischen Vergleich, 1995, S. 11 ff; übereinstimmend in: Hirsch/Hofmanski u.a. [Hrsg.], Neue Erscheinungsformen der Kriminalität in ihrer Auswirkung auf das Strafprozeßrecht, Bialystok 1996, S. 42). Er unterschätzt die neuen Formen der Kriminalität keineswegs, wie sie uns als Folge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (Umstellung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs auf Computer, Gefahren der Atomanlagen, Mißbrauch der Gentechnologie), mit dem Erscheinen neuer Rechtsgüter (Umweltschutz) und als „organisierte Kriminalität" entgegentreten, lehnt aber radikale Lösungsvorschläge ab. Dies gilt einmal für den Rückzug des Strafrechts auf einen „Kernbereich" und seine Ersetzung auf dem dadurch frei werdenden Feld durch das Ordnungswidrigkeitenrecht bzw. ein neues „Interventionsrecht", das zwischen diesem und dem Strafrecht stehen und mit geringeren prozessualen Garantien sowie weniger intensiven Sanktionen ausgestattet sein soll (Hassemer) (S. 28). Seine Ablehnung trifft aber ebenso die Idee, daß das Strafrecht umgekehrt die Bekämpfung aller neuen Kriminalitätsformen, soweit diese die Zerstörung der Grundlagen des künftigen Lebens in der Welt besorgen lassen, selbst voll übernehmen solle, dafür aber mit einem neuen Instrumentarium ausgerüstet werden müsse (Stratenwerth) (S. 29). Gegen beide Vorschläge spreche, wie man Hirsch zugeben muß, die Unklarheit des Vorgeschlagenen. Hirsch wendet sich auch gegen die Preisgabe des Rechtsgutsbegriffs auf dem Gebiet der Zukunftssicherung und damit gegen den Vorschlag, das Strafrecht auf den Schutz bloßer Verhaltensgebote ohne Rechtsgutsbezug umzustellen (Stratenwerth). Der Rechtsgutsbegriff sei vielmehr zu erhalten und zu präzisieren als „eine Barriere gegenüber Irrationalität und Verschwommenheit im Strafrecht" (S. 17). Zur sinnvollen Beschränkung des Strafrechts in der Zukunft verweist Hirsch auf das Subsidiaritätsprinzip und die Verantwortung der Institutionen im „Primärbereich" (S. 30). Das Schlimme ist freilich — dieser Einwand drängt sich auf —, daß diese Institutionen selbst anfällig geworden sind, wie die unerwartete Ausdehnung der Kriminalität gerade im Primärbereich anzeigt (Bestechung und Bestechlichkeit, Korruption, Machtmißbrauch, Untreue bei der öffentlichen Hand, Bereicherung von Richtern und Beamten bei Nebentätigkeiten, Beteiligung von Banken an der Steuerhinterziehung, Betrug durch Arzte zum Nachteil der Krankenkassen, Verfälschung und fälschliche Aufstellung wissenschaftlicher Daten durch die beteiligten Wissenschaftler selbst).
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V. Strafrechtsvergleichung Hirsch hat sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit auch intensiv der Strafrechtsvergleichung zugewendet. Die Kölner Juristenfakultät gibt ihm dafür Vorbilder und Anregungen in mehreren Fachdisziplinen, die gut ausgestatteten Kölner Bibliotheken erlauben ihm, das „Zugangsproblem" zu Quellen und Schrifttum des Auslands zu lösen, die Kölner Universität zieht in seinem Fach zunehmend ausländische Gäste an, denen er ein aufgeschlossener und hilfsbereiter Förderer und Gesprächspartner ist. Insbesondere sind aus der Schar dieser Gäste zahlreiche rechtsvergleichende Dissertationen unter seiner Leitung entstanden. Seine vom Gesetzespositivismus unabhängige, rein auf wissenschaftliche Erkenntnis ausgerichtete Einstellung (hierzu sein Beitrag „Gibt es eine national unabhängige Strafrechtswissenschaft?", Spendel-Festschrift, 1992, S. 43 ff), führte ihn ohne Vorurteile an ausländische Strafrechtsordnungen mit ihren spezifischen Lösungen und Begründungen heran und erleichterte ihm die Diskussion mit Kollegen aus anderen Rechtskreisen. Hirsch hat von diesen Möglichkeiten vielfach Gebrauch gemacht. Frühzeitig begann er damit, in eigenen Arbeiten ausländisches Strafrecht heranzuziehen. So enthält schon die Habilitationsschrift über „Ehre und Beleidigung" (S. 40 - 42) einen Abschnitt über den Standpunkt der wichtigsten kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen zu der kriminalpoliüschen Grundfrage seines Themas: Ehrenschutz oder FriedensscYmtz? In dem deutschen Landesbericht über die Behandlung der Bagatellkriminalität für die Lausanner Tagung für Rechtsvergleichung von 1979 findet sich weiter eine Auseinandersetzung mit der materiellrechtlichen Lösung des § 42 österr. StGB als Gegenstück zu dem von ihm abgelehnten prozessualen Weg in § 153a dt. StPO (ZStW 92 [1980], S. 236—239). Voll entwickelt ist die rechtsvergleichende Methode in dem Beitrag zur Waseda-Festschrift über „Probleme der Körperverletzungsdelikte im deutschen und japanischen Strafrecht" (S. 853 ff). Zweimal wurde er mit der Aufgabe betraut, die Ergebnisse internationaler rechtsvergleichender Kolloquien in einer Synthese zusammenzufassen, so im Jahre 1980 am Schluß des deutsch-italienischen Kolloquiums zur Strafrechtsreform in Turin 13 , ferner im Jahre 1989 am Ende der fünf Arbeitssitzungen des Wiedergutmachungskolloquiums in Freiburg 14 . 1 3 Schlußbemerkungen aus deutscher Sicht, in: Jescheck (Hrsg.), Strafrechtsreform in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, 1981, S. 153 — 163. 1 4 Zusammenfassung der Ergebnisse des Kolloquiums und Fragen weiterer Forschungen, in: Eser/Kaiser/Madiener (Anm. 12), S. 377.
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Wichtig für die internationale Vertretung der deutschen Strafrechtswissenschaft und für die persönliche Beziehung zu Kollegen und Fakultäten in anderen Ländern sind weiter die Vorträge, die Hirsch in Japan, Korea, Griechenland, Polen, Spanien und der Türkei gehalten hat. Selbst im fast vergessenen Estland hat er sich für die dortigen Vorarbeiten zur Strafrechtsreform persönlich eingesetzt und dadurch an der Lösung der Probleme des durch die frühere Besatzungsmacht schwer geschädigten Landes beim Ubergang aus dem sowjetischen Imperium in die Freiheit eines souveränen westlichen Staates mitgewirkt 15 . Durch die mit den Vorträgen verbundenen Auslandsreisen hat Hirsch auch immer die für die Rechtsvergleichung unerläßliche persönliche Anschauung zu gewinnen gesucht. Er traf dabei auf die Grundfragen der Rechtsvergleichung, wie ausländisches Strafrecht in der Praxis angewendet wird, in welchem Verhältnis materielles Strafrecht und Strafprozeßrecht zueinander stehen, welche Bedeutung die Strafrechtswissenschaft für die Rechtsprechung hat, welchen Einfluß die obersten Gerichte, insbesondere auch die Verfassungsgerichte, auf die Handhabung des Strafrechts ausüben, welche Rolle Honoratioren und Autoritäten spielen und welche Chance die jüngere Generation des Landes besitzt, auf die zukünftige Strafrechtsentwicklung einzuwirken. Durch all diese Bemühungen hat er hohes Ansehen im Ausland gewonnen. Hirsch hat auch selbst rechtsvergleichende Kolloquien mit hervorragender internationaler Beteiligung vorbereitet, organisiert und geleitet. Eröffnet wurde diese besonders erfolgreiche und fruchtbare Seite seiner Tätigkeit durch das deutsch-spanische Strafrechtskolloquium 1986 in Köln mit den drei Themen „Dogmatischer Teil der Strafrechtsreform", „Sanktionensystem", „Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität" und dem Einleitungsvortrag von Hünerfeld „Die Beziehungen der deutschen zur spanischen Strafrechtswissenschaft" 16 . Es folgte das zusammen mit Thomas Weigend veranstaltete deutsch-japanische Strafrechtskolloquium 1988, ebenfalls in Köln, mit den Themen „Kriminalpolitik", „Entwicklung der Strafrechtsdogmatik", „Versuchslehre", „Schuldlehre", „Gesetzlichkeitsprinzip", einem Eröffnungsvortrag von Nishihara über „Die Rezeption des deutschen Strafrechts in Japan in historischer Sicht" sowie einem Festvortrag von Ishikawa über „Bewußtsein des Volkes und das System der Erledigung von Rechtsstreitigkeiten" 17 . Diese Initiative 15 Probleme einer Strafrechtsreform hinsichtlich der allgemeinen Straftatvoraussetzungen, Jurídica (Tallinn), 1995, S. 402 ff (estnisch). 16 Hirsch (Hrsg.), Deutsch-Spanisches Strafrechtskolloquium 1986, 1987. 17 Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989.
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Hirschs hat fortgewirkt in einem II. Deutsch-Japanischen Kolloquium 1994 in Tokio18 und einer dritten deutsch-japanischen Veranstaltung, die 1997 in Trier stattgefunden hat (die Synthese von Roxin ist jetzt in ZStW 110 [1998] S. 806 ff veröffentlicht). Hirsch war auch Mitveranstalter der deutsch-polnischen Strafrechtskolloquien 1994 in Halle 19 und 1995 in Bialystok und Rajgród (oben Fn. 9). Zu danken ist Hirsch endlich die Auswahl der Themen und Redner sowie die Leitung von fünf Arbeits Sitzungen der strafrechtlichen Fachgruppe in der Gesellschaft fiir Rechtsvergleichung. 1989 in Würzburg („Die Maßregeln der Besserung und Sicherung"), 1991 in Saarbrücken („Reform des Strafverfahrens in Europa"), 1994 in Berlin („Strafrechtliche Aufarbeitung von staatlich gesteuertem Unrecht"), 1996 in Jena („Strafrechtlicher Schutz des Vermögens gegen Täuschung") und 1997 in Graz („Grunderfordernisse des Allgemeinen Teils für ein europäisches Sanktionenrecht"). VI. Rechtstheorie, Rechtsphilosophie Auch die Arbeiten von Hirsch zur Rechtstheorie und Rechtsphilosophie sind für seine Denkweise kennzeichnend. Sie betreffen stets aktuelle Probleme, die aber von ihm anhand von allgemeinen Fragestellungen in grundsätzlicher Weise erörtert werden. Der ihm zu Gebote stehende Überblick über die dem Strafrecht benachbarten Rechtsgebiete erleichtert ihm dabei die Orientierung und Bewertung. 1. Sein immer wiederkehrendes Thema ist die Bindung des Richters an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG). In der Antrittsvorlesung, die er als Privatdozent am 9. 6. 1966 in Bonn über „Richterrecht und Gesetzesrecht" gehalten hat (JR 1966, 334), erörtert Hirsch kritisch die Ausdehnung der Geldentschädigung für immaterielle Schäden, die im Gesetz (§§ 847, 253 BGB) abschließend nur für die Verletzung von Körper, Gesundheit oder Freiheit vorgesehen ist, auf die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (BGHZ 26, 349). Hirsch sieht in dieser Rechtsprechung Gefahren für die Rechtssicherheit durch ein selbstgeschaffenes Recht der Richter. Diese liegen nach seiner Ansicht in dem Eindringen individueller Wertvorstellungen des jeweiligen Entscheidungsträgers in die gesetzlich festgelegte Rechtsordnung, da es ein anwendbares Naturrecht, auf das der 18 Kühne/Miya^awa (Hrsg.), Neue Strafrechtsentwickiungen im deutsch-japanischen Vergleich, 1995. 19 Bericht von Wapk/Zieschang, ZStW 107 (1995), S. 441 ff.
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Richter bei der Rechtsschöpfung aus eigener Macht zurückgreifen könnte, nicht gebe. Das an sich richtige Bestreben der Gerichte, die Erstarrung von kodifiziertem Recht durch eigene Initiativen zu verhindern, dürfe über die anerkannten Grenzen der Auslegung des Gesetzes nicht hinausführen. Echtes Richterrecht verletze den fundamentalen Grundsatz der Gewaltenteilung und bedeute im Grunde nichts anderes als „Rechtsbruch" (S. 341). Hirsch wendet sich ferner in einem Aufsatz „Zur Abgrenzung von Strafrecht und Zivilrecht" (Engisch-Festschrift, 1969, S. 304 ff) gegen die mit BGHZ (GS) 18, 149 einsetzende Ausdehnung des § 847 BGB vom Schadensausgleich auf eine Genugtuungs- und Sühnefunktion. Er erblickt darin eine Rückkehr zur alten Privatstrafe, die wegen des Ubergangs zur öffentlichen Strafe in der neueren Geschichte des Strafrechts abgeschafft worden sei und für deren Wiedereinführung es an einer gesetzlichen Grundlage und an den notwendigen strafrechtlichen Garantien fehle. § 847 BGB müsse streng auf den Ausgleich des immateriellen Schadens beschränkt bleiben und dürfe nicht zur Grundlage einer Geldbuße zugunsten des Verletzten umgewandelt werden. Hirsch ist damit nicht durchgedrungen. Er hat seinen Standpunkt von der Notwendigkeit einer strengen Unterscheidung von Schadensersatz und Strafe auch gegenüber der Wiedergutmachung als Ersatz von Strafe wiederholt geltend gemacht (siehe oben S. 17 f) — auch hier ohne Gehör zu finden, wie die Einführung des § 46 a 2. Halbsatz StGB zeigt. In dem Beitrag zur Tröndle-Festschrift 1989, S. 19 ff („Zum Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis"), äußert sich Hirsch grundsätzlich zu den unterschiedlichen Aufgaben, die Rechtswissenschaft und Rechtsprechung gestellt sind (S. 37 f). Der Richter sei „mit einem konkreten Fall befaßt" und bestrebt, „diesen zu einer ihm gerecht erscheinenden Entscheidung zu bringen". Die Wissenschaft habe dagegen „das Gesamtgefüge eines Rechtsgebiets vor Augen" und sei „darauf ausgerichtet, durch Systematisierung generelle Lösungen zu entwikkeln". „Das Streben der Praxis nach gerechter Entscheidung" müsse jedoch seine Grenze „an der fragmentarischen Natur des Strafrechts" finden. Zum „Ersatzgesetzgeber" sei der Strafrichter nicht berufen. Diese These erörtert Hirsch an mehreren Beispielen. Interessant ist vor allem, daß er hier — lange vor der Entscheidung BVerfGE 92, 1, 18 f — die Ausdehnung des Gewaltbegriffs im Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) auf Sitzblockaden kritisiert hat. Der BGH habe damit „den Boden der deutschen Sprache verlassen"; Sitzblockaden hätten „einer selbständigen tatbestandlichen Vertypung" bedurft, wenn sie strafbar sein sollten (S. 25 ff). Bemerkenswert ist auch seine Kritik an der Ablehnung
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einer straflosen Beihilfe zum Selbstmord (durch Unterlassen) im WittigFall durch den 3. Strafsenat (BGHSt. 32, 367) (S. 29 ff). Übereinstimmend mit Hirsch hat der 2. Strafsenat (NJW 1988, 1532) demgegenüber entschieden, „ein ernsthafter, freiverantwordich gefaßter Entschluß des Patienten zur Selbsttötung ist vom Arzt zu respektieren" und hat dadurch die Grenze der strafrechtlich sanktionierten Garantenpflicht des Arztes gegenüber dem Suizid-Patienten zutreffend gekennzeichnet. 2. Ein Grundproblem derjuristischen Logik wird von Hirsch in dem Beitrag zur Bockelmann-Festschrift (1979, S. 89 ff) „Strafrecht und rechtsfreier Raum" erörtert. Es gebe zwar Bereiche, so sagt er, die jenseits des rechtlichen Regelungsgebiets liegen, doch komme dies niemals in Fällen eines tatbestandsmäßigen Verhaltens in Betracht (S. 96). „Wenn etwas von einem generellen rechtlichen Verbot erfaßt ist, dann besteht nur noch die Alternative zwischen .rechtswidrig' und ausnahmsweise rechtlich erlaubt; eine dritte Möglichkeit ist logisch ausgeschlossen" (S. 100). Dies gelte insbesondere auch für die Fälle des straffreien Schwangerschaftsabbruchs. Deswegen hatte man sich auch bei der geltenden Fristenlösung mit Beratung der Schwangeren zu entscheiden, ob der Schwangerschaftsabbruch in diesem Fall rechtswidrig bleibt oder gerechtfertigt ist. BVerfGE 88, 299 f hat dazu bekanntlich ausgesprochen: „Das Beratungskonzept kann nicht zu einer Rechtfertigung des Schwangerschaftsabbruchs führen". Dies hat in § 218a Abs. 1 StGB zu der Formulierung geführt „Der Tatbestand des § 218 ist nicht verwirklicht" 20 , während die Indikationen in § 218a Abs. 2 und 3 StGB klar als Rechtfertigungsgründe gekennzeichnet sind. Hirsch hat die Lehre vom rechts freien Raum auch für alle ähnlichen Konfliktsituationen (z. B. Notstand, Pflichtenkollision, Abwägung von Leben gegen Leben) abgelehnt. 3. In einem Vortrag vor der Berliner Juristischen Gesellschaft über das Thema „Strafrecht und Uberzeugungstäter" (1996) hat Hirsch zu der Frage Stellung genommen, wie die Bindung des Strafrichters an die Verfassung zu verstehen ist, wenn sich der Beschuldigte auf Gewissensfreiheit nach Art. 4 GG oder auf „zivilen Ungehorsam" beruft. Der Vortrag geht aus von der begrifflichen Unterscheidung zwischen Gewissenstätern, Uberzeugungstätern und Tätern von Aktionen zivilen Ungehor2 0 Nach Hirsch, LK, 11. Aufl., § 34 Rdn. 84, sollte die Straffreiheit bei fortbestehender Rechtswidrigkeit freilich nicht durch Tatbestandseinschränkung, sondern durch einen persönlichen Strafausschließungsgrund gesetzlichen Ausdruck finden. Die gegenwärtige Regelung laufe rechtssystematisch auf einen Rechtfertigungsgrund hinaus, obwohl ein solcher vom Gesetzgeber gerade nicht gewollt gewesen sei.
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sams (S. 9). Soweit das Grundrecht der Gewissensfreiheit in Anspruch genommen wird und keine verfassungsimmanenten Schranken entgegenstehen, müsse der Gewissenstäter tatsächlich von jeder Sanktion des Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrechts sowie von jedem polizeilichen Einschreiten unbehelligt bleiben (daher die neue Bestimmung in § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG, die eine Ausnahmegenehmigung für das Schächten von Tieren vorsieht). Verfassungsbedingte Schranken schützten aber selbstverständlich Leib, Leben und Eigentum (S. 17) (ebenso sicher auch die Freiheit) sowie den Bestand und die Funktionsfähigkeit des Staates selbst (S. 20). Absolut geschützt durch Art. 4 GG sei danach nur ein kleiner Kreis von Fällen deliktischen Handelns aufgrund der Gewissensfreiheit. Hirsch nennt hier als Beispiele die gewissensbedingte Verweigerung eines militärischen Befehls und die aus Gewissensnot erfolgende Unterbrechung einer Predigt durch einen Gottesdienstbesucher. Täter von rechtswidrigen, d. h. nicht durch Art. 4 GG absolut erlaubten Taten haben nach Hirsch im Strafrecht aber doch Anspruch auf eine Verminderung des Schuldvorwurfs und sie können sogar in den Genuß eines niedrigeren Strafrahmens durch analoge Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB kommen, was hier — anders als im Falle der Heimtückemorde zulässig sei, „da das Verfassungsrecht die Verhältnismäßigkeit zwischen Gewissenstat und gesetzlicher Reaktion verlangt" (S. 26). Der Überzeugungstäter hat dagegen keinen Anspruch auf Privilegierung; es kann bei ihm freilich ein Verbotsirrtum vorliegen, wie etwa in den Mauerschützen-Fällen (S. 28). Auch beim zivilen Ungehorsam (ζ. B. Sitzblockaden, Hausbesetzungen, Attentate auf Eisenbahnstrecken, die für den Transport von Atommüll vorgesehen sind) kommt nur eine Berücksichtigung achtenswerter Motive bei der Strafzumessung in Betracht, jedoch kein Verbotsirrtum, weil die Täter sich ja gerade nach formellem Recht strafbar machen wollen, um als Märtyrer für ihre Uberzeugung zu werben. VII. Schlußbemerkung Das wissenschaftliche Werk von Hans Joachim Hirsch hat hohe Anerkennung gefunden. Die Universitäten Thessaloniki (1986), Tokio (Keio) und Posen (beide 1990) sowie Seoul (Sun Kyun Kwan) (1994) haben ihm die juristische Ehrendoktorwürde verliehen. 1996 wurde er für seine vielfältige Förderung der deutsch-polnischen Strafrechtsbeziehungen mit dem Offizierskreuz des polnischen Verdienstordens ausgezeichnet. 1991 wurde er als ordentliches Mitglied in die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften aufgenommen und ist seit 1994
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Mitglied ihres Präsidiums. Seit 1975 ist er Mitherausgeber der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, seit 1987 ihr Gesamtschriftleiter. Von 1987 bis 1997 war er Vorsitzender der Fachgruppe für Strafrechtsvergleichung in der Gesellschaft für Rechtsvergleichung und ist seither gewähltes Vorstandsmitglied der Gesellschaft. Von 1994 bis 1997 war Hirsch ferner nach seiner Emeriderung in Köln Gastprofessor an der Juristischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg mit allen Lehr- und Prüfungspflichten eines aktiven Fakultätsmitglieds. Herausragende Leistungen eines Gelehrten und beliebten akademischen Lehrers werden durch Ehrungen, Auszeichnungen und Berufungen öffentlich anerkannt. Die hohen persönlichen Eigenschaften und Qualitäten unseres Jubilars finden dagegen ihre Resonanz in der Stille: in der Hochachtung der Kollegen, in der Dankbarkeit der Schüler und in der Zuwendung der Freunde. Als ein solcher möchte ich mit herzlichen Geburtstagswünschen schließen und zugleich danken für dieses lange Gespräch mit Hans Joachim Hirsch über sein Werk, das in vier Jahrzehnte deutscher Strafrechtswissenschaft eingegangen ist und diese Epoche vom Beginn der Großen Strafrechtsreform bis zum heutigen Tage widerspiegelt.
II. Grundlagen des Strafrechts
Der Tatsachenbegriff im Strafrecht NIKOLAOS BITZILEKIS
I.
Der Tatsachenbegriff taucht als Tatbestandsmerkmal in verschiedenen Delikten auf. Man denkt zunächst an die Tatsachenbehauptung als Tatbestandsmerkmal der üblen Nachrede (§ 186 StGB) und der Verleumdung (§ 187 StGB) — ein Sachgebiet, zu dessen theoretischer Vertiefung der verehrte Jubilar durch seine Habilitationsschrift entscheidend beigetragen hat 1 . Weiter kann sich im Betrugstatbestand (§ 263 StGB) die Täuschungshandlung nur auf Tatsachen beziehen. Auf subventionserhebliche Tatsachen beziehen sich auch die Begehungsmodalitäten des Subventionsbetrugs (§ 264 StGB), während beim Kapitalanlagebetrug (§ 264a StGB) vom Verschweigen nachteiliger Tatsachen die Rede ist. Von Bedeutung ist der Tatsachenbegriff auch im Rahmen der falschen uneidlichen Aussage und des Meineids (§ 153 StGB), wo der Aussagegegenstand ein tatsächliches („objektives") Geschehen oder Sachverhalt ist. Schließlich muß bei der Fälschung technischer Aufzeichnungen (§ 268 StGB) die technische Aufzeichnung zum Beweis einer rechtlich erheblichen Tatsache bestimmt sein, während bei der Falschbeurkundung im Amt (§ 348 StGB) der Amtsträger eine Tatsache beurkundet. Die Bedeutung des Tatsachenbegriffs beschränkt sich nicht allein auf das materielle Strafrecht. Geht man davon aus, daß die Revision im Strafprozeß eine Nachprüfung des angefochtenen Urteils nur in rechtlicher, nicht aber in tatsächlicher Hinsicht eröffnet, so spielt hier der Unterschied zwischen Tat- und Rechtsfrage eine grundsätzliche Rolle. Man darf auch nicht vergessen, daß die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 359 Nr. 5 StPO für den Fall neuer Tatsachen oder Beweismittel offensteht. Welche Bedeutung hat der Tatsachenbegriff in allen diesen Topoi? Die des Seienden und Wirklichen im Gegensatz zu dem Nicht-Seienden und Unwirklichen, die des Deskriptiven im Gegensatz zum Normativem, die des Sicheren und Gewissen im Gegensatz zum bloß Möglichen 1 Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967; zum Gegensatz „Tatsachenäußerung/Werturteil" insbes. S. 2 1 0 ff.
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oder die des bereits Geschehenen oder noch Bestehenden im Gegensatz zu dem bloß zu Erwartenden? In der Literatur wird häufig der Begriff der Tatsache dem Begriff des „Werturteils" gegenübergestellt. Wollte man mit „Tatsache" den Gegenstand einer Äußerung, mit „Werturteil" dagegen die Form der Äußerung bezeichnen, so ist diese Gegenüberstellung problematisch 2 . Denn die Tatsache, als die von unserem Sprechen und Denken unabhängige Wirklichkeit, kann weder wahr noch falsch sein; entweder existiert sie oder nicht 3 . Wollte man dagegen das als Tatsache bezeichnen, was wahre Sätze darstellen oder ausdrücken, nämlich die über die Wirklichkeit aufgestellten Behauptungen 4 , so könnten wir, wie der Gesetzgeber in § 263 Abs. 1 StGB, von falschen Tatsachen sprechen. Das Werturteil ist aber dann nicht der Gegensatz zur Tatsache, soweit beide Aussagen darstellen, die in sprachlicher Form zum Ausdruck kommen. Darüber hinaus ist diese Gegenüberstellung nicht treffend, soweit sie auf die problematische Abgrenzung zwischen Ontologie und Normativität hinweist. Denn Tatsachen sind nicht bloß wertfreie Gegenstände, Eigenschaften oder Ereignisse. Begriffe wie z. B. Vaterschaft, Vormundschaft, Ehe, Freundschaft, Waffe, fremd, drücken bestimmte Werte aus, und niemand hat ihnen die Eigenschaft als Tatsache abgesprochen. Werte sind nicht immer etwas Subjektives und Willkürliches; sie können auch intersubjektiv vertretbar sein, durch Heranziehen allgemein angenommener Wertmaßstäbe und Beurteilungskriterien 5 . Wollte man aus dem Tatsachenbegriff das Subjektive und Willkürliche ausschließen, so wäre diese Abgrenzung von Werturteilen nicht richtig. Das hat besonders die Theorie von den institutionellen Tatsachen (menschenabhängigen Tatsachen) gezeigt, welche in der Rechtstheorie die scharfe Trennung zwischen Normativität und Faktizität, Sein und Sollen erheblich So Blei, Strafrecht II, Besonderer Teil, 1983, S. 194; Müller, JuS 1981, 257. „Facts themselves are neither true nor false, but just are": Bennett/Baylis, Formal logic. A modern Introduction, New York 1939, S. 49. 4 Näher zu den verschiedenen Bedeutungen des Tatsachenbegriffs und zu dem Verhältnis zwischen Satz und Tatsache Patzig, Tatsachen, Normen, Sätze, 1988, S. 15 ff. Vgl. früher auch Ducasse, Propositions, Opinions, Sentences, and Facts, Journal of Philosophy 1940, 709 ff. Zur Frage der Abgrenzung zwischen „Wirklichkeit" und „Tatsache" vgl. weiterhin auch Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, S. 39 ff. 5 Bei der Wiederaufnahme des Verfahrens werden als Tatsachen u. a. wissenschaftliche Tatsachen, darunter die Gültigkeit von Denkgesetzen und Erfahrungssätzen, sowie auch Rechtstatsachen anerkannt. Es wird hier auf die Allgemeingültigkeit und Unabhängigkeit von einer subjektiven Bewertung abgestellt. Vgl. dazu insbes. Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S. 674; den., Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 3, 1974, S. 63, 65; Klug, Spendel-Festschrift, 1992, S. 684 f. 2 3
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abgeschwächt hat6. Man spricht hier, im Unterschied zu den natürlichen oder nackten Tatsachen (facta bruta), von Tatsachen, d. h. Beziehungen, Handlungen und Instituten des täglichen sozialen Lebens, die nur existieren, weil und soweit es Regeln gibt, nach denen sie sich konstituieren. Diese institutionellen Fakten, die auf Grund konstitutiver Regeln entstehen, sind objektiv und stehen unter den Anforderungen sachlicher Richtigkeit. Noch weiter geht Ferber, der im Rahmen der moralischen Urteile von moralischen Tatsachen spricht, d. h. von institutionellen Tatsachen höherer Ordnung. So sei z. B. das moralische Urteil „Es ist moralisch falsch, einer alten Frau die Handtasche zu entreißen" deskriptiv, in realistischer Sprache verfaßt und beschreibe eine Tatsache7. II. Sehr oft findet man in der Strafrechtswissenschaft folgende Definition des Tatsachenbegriffs: Tatsachen sind konkrete Vorgänge oder Zustände der Vergangenheit oder der Gegenwart, die sinnlich wahrnehmbar in die Wirklichkeit eingetreten und so dem Beweis zugänglich sind8. Es werden hiermit drei Hauptkriterien erwähnt, obwohl manchmal mehr das eine oder das andere betont oder das eine als die notwendige Folge des anderen angesehen wird, nämlich die sinnliche Wahrnehmbarkeit, die Beweisbarkeit und die geschichtliche Existenz. /. Das Kriterium der sinnlichen Wahrnehmbarkeit stammt aus der Erkenntnistheorie des Positivismus. Tatsachen sind nur solche Gegenstände oder Umstände, die unmittelbar wahrgenommen worden sind. Wollte man fragen, warum dieses Kriterium für den Tatsachenbegriff bestimmend ist, würde die Antwort vermutlich lauten, daß die sinnliche Wahrnehmbarkeit eine objektive Sicherheit oder Gewißheit über das, was vorhanden oder nicht vorhanden ist, zuläßt; sie führt zu einer sog. Beobachtungsevidenz. 6 Die Kategorie der institutionellen Tatsachen ist in die Rechtstheorie insbes. von G. E. Ansombe, On Brute Facts, Analysis 1958, 69 ff, und ]. R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, 1969, S. 50 ff, eingeführt und insbesondere von Neil MacCormick und Ota Weinberger zur Lösung einer Reihe klassischer rechtsphilosophischer Probleme entwickelt worden, wie z. B. der Kontroversen zwischen Rechtsrealismus und Normativität, Naturrecht und Rechtspositivismus. Grundlegend dazu MacCormick/ Weinberger, Grundlagen des institutionalistischen Rechtspositivismus, 1985, S. 22 ff, 108 ff. 7 Ferber, ARSP 1993, 372 ff, 377 ff. 8 Vgl. insbes. Lenckner, in: Schönke/Schröder, 25. Aufl. 1997, § 186 Rdn. 3; IMehner, in: LK, 10. Aufl., § 263 Rdn. 10; Herdegen, in: LK, 10. Aufl., § 185 Rdn. 4. Vgl. auch Pallin, in: Wiener Kommentar zum StGB, 1980, § 288 Rdn. 10.
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Diese Beobachtungsevidenz ist aber durch die neue Entwicklung der Naturwissenschaften abgeschwächt worden. Die heute geltende Physik lehrt, daß die Beobachtung sowohl vom beobachtenden Subjekt als auch vom beobachtenden Apparat abhängig ist. Der Gegenstand der Beobachtung, der sich nicht vom Beobachter trennen läßt, antwortet je nachdem, wie er befragt wird. Große Physiker, wie ζ. B. Einstein und Heisenberg, haben mit Nachdruck die Rolle des Forschers betont, des beobachtenden Subjekts in der modernen Naturwissenschaft; die durch Beobachtung angestrebte Sicherheit in den Naturwissenschaften entspricht also nicht ganz dem heutigen physikalischen Weltbild9. Abgesehen davon, ob eine solche Evidenz möglich ist, stellt sich die Frage, ob diese Evidenz allein durch die bloße Beobachtung ohne logische und kategoriale Bearbeitung erreicht werden kann. Naturgesetzliche Zusammenhänge, Wirkungszusammenhänge (z. B. daß ein Virus ein Krankheitserreger ist) beobachtet man nicht, sondern man schließt sie logisch aus Indizien des sich in der Außenwelt Abspielenden. Man darf nicht verkennen, daß man diese Indizien nicht unabhängig von Gesetzen empirisch erkennen und testen kann, die zur Erklärung genügend spezifisch sind 10 . Die Ergebnisse unserer Sinneseindrücke sind Produkte unserer Erkenntnisfähigkeit. Wenn es so ist, dann ist die Frage nach der Tatsachenbehauptung eine Frage nach der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Darüber hinaus ist das Kriterium der Sinneswahrnehmung zu eng, um die Tatsache zu erfassen. Elemente der psychischen Welt, wie Absichten, Ziele und Präferenzen, sind ihrem Wesen nach nicht beobachtbare Zustände; beobachtbar sind nur ihre Auswirkungen, aus denen diese Elemente logisch zu schließen sind. Psychische Faktoren und mentale Daten, die im Innern des Menschen ablaufenden psychischen Prozesse (eigenpsychische und fremdpsychische) sind etwas „Substantielles", etwas „Reales", das bewertet werden kann 11 . Aber die Realität läßt sich nicht auf die Gegenstände und Vorgänge der Außenwelt und die seelischen Ereignisse und Vorkommnisse beschränken. Es gibt noch eine andere Welt, die in Poppers dreigeteiltem Universum als Welt 3 im Gegensatz zu Welt 1 (der physikalischen Gegenstände und Zustände) und Welt 2 (der Welt der Bewußtseinszustände) bezeichnet wird und die „Erzeugnisse des menschlichen Lebens" umfaßt. Diese Welt, die gegenüber dem erkennenden Subjekt autonom sei, sei keine Fiktion,
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Ausführlich dazu Dreher, Die Willensfreiheit, 1987, S. 382. Vgl. dazu Albert, Traktat über kritische Vernunft, 4. Aufl. 1980, S. 59 f. So auch Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, 1987, S. 68 ff.
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sondern „wirklich" vorhanden. Die Welt der objektiven Gedankeninhalte, insbesondere der wissenschaftlichen und dichterischen Gedanken und der Kunstwerke (Gedichte, Symphonien, Malereien), sei „ein natürliches Erzeugnis des Lebewesens Mensch, vergleichbar mit einer Spinnwebe". Wenn jemand ein Buch liest, einen Text in eine andere Sprache übersetzt, hat er mit einer Welt zu tun, die objektives Wissen enthält, das wahr oder falsch sein kann 12 . Man braucht aber nicht Poppers Dreiteilung der Welt zu folgen, um den ontologischen Status der geistigen Gegebenheiten anzuerkennen. Und man braucht auch nicht den Idealismus zu vertreten, sei es in Form der berühmten Ideenwelt von Plato oder der Theorie des „objektiven Geistes", die N. Hartmann13 im Anschluß an Hegel entwickelt hat, um hier von Realitäten zu sprechen. Selbst ein Positivist wie Carnap unterscheidet die geistigen von den physischen und psychischen Gegenständen. Zu den geistigen zählt er Einzelereignisse und umfassende Vorgänge, soziologische Gruppen, Einrichtungen (z. B. den Staat), Strömungen auf allen Kulturgebieten (z. B. eine Sitte), Beziehungen zwischen den Menschen, wie Freundschaft und Liebesverhältnisse, Ehe, Verwandtschaft. Alles das ist Realität14. Und nicht zuletzt zeigt die Relationsontologie, die im Gegensatz zur Substanzontologie im Recht besonders von Arthur Kaufmann15 entwickelt worden ist, den ontologischen, realen oder tatsächlichen Charakter einer Relation zwischen Menschen oder zwischen einem Menschen und einer Sache. Um alle diese Realitäten zu erfassen, ist die Sinneswahrnehmung nicht das einzige oder ausschlaggebende Kriterium. Mit der Sinneswahrnehmung scheint ein anderes Kriterium implizit oder explizit verbunden zu werden: das Kriterium der wissenschaftlichen Rationalität. Nur die Tatsache ist Gegenstand wissenschaftlichrationalen Erkennens. Nur Aussagen über Tatsachen könnten als wahr oder falsch aufgewiesen, verifiziert oder falsifiziert werden. Werturteile seien dagegen aus dem Bereich der wissenschaftlichen Rationalität auszuklammern. Solche Thesen drücken die uns bekannten positivistischen oder neopositivistischen Theorien aus, nach denen wissenschaftliche Aussagen nichts anderes sind als die Verarbeitung von Beobachtungen nach den Popper.; Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, 1979, Chap. 4. Das Problem des geistigen Seins, 1933, S. 15 f, 66 ff, 175 ff. Weiter dazu Engisch, Logische Studien, S. 44 ff. 14 Carnap, Der logische Aufbau der Welt, 3. Aufl. 1996, § 23 ff. 15 Rechtstheorie 1986, 270 ff. 12
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Regeln der Logik. Aussagen über Werte, Werturteile, vor allem ethische Urteile, seien Sache des individuellen Beliebens, über die man nicht rational debattieren könne. Diese strenge These hat sich mit der Zeit geändert, nachdem festgestellt wurde, daß Werte nicht einfach subjektives Belieben, sondern der Nachprüfung zugänglich sind und daß ihr Inhalt wissenschaftlich nachprüfbar ist (ζ. B. daß etwas ein Kunstwerk ist). Zunächst wollte man diese wissenschaftliche Nachprüfung auf die innere Widerspruchslosigkeit eines Wertesystems beschränken, in dem Sinne, daß die Möglichkeit der Vernunfteinsicht nur systemimmanent einwirke und daß sie dort ende, wo verschiedene Wertesysteme in Konflikt treten. Das bedeutet, daß sich die rationale Diskussion allein auf die Nachprüfung eines Werturteils im Rahmen eines Wertesystems anhand der Regeln der logischen Schlußfolgerung beschränkt, während alles andere völlig subjektiv ist. Dieser Wertrelativismus, der letzten Endes zu einem Dezisionismus führt, ist inzwischen angezweifelt worden. Der Aufbau der rationalen Ethik in der Philosophie hat gezeigt, daß man über Werte vernünftig debattieren kann, daß sie wahr oder falsch sein können 16 . Ihre rationale Nachprüfbarkeit ist mehr als eine Frage der logischen Schlußfolgerung; sie ist eine Frage der Wirkungen der Werte in den realen Lebenszusammenhängen. Man darf nicht verkennen, daß ein Wertkonflikt ein Lebenskonflikt ist, daß die Werte Lebensvorschläge sind, die durch empirische Anwendung der von ihnen abgeleiteten Folgen geprüft werden können. Der Satz „Auge um Auge, Zahn um Zahn" und der Satz „Liebe deinen Feind" sind ζ. B. zwei verschiedene Wertvorstellungen und ethische Prinzipien. Beispiele aus der Geschichte sowie die tägliche Lebenserfahrung erlauben uns, anhand ihrer Folgen für die menschlichen Beziehungen und das menschliche Sein rational über diese Sätze zu diskutieren und ihre Leistungsfähigkeit zu vergleichen 17 . Wenn also das Wahrheitskriterium ein Kriterium des Tatsachenbegriffs ist, dann sind Tatsachen nicht bloß naturwissenschaftlich faßbare Sachverhalte, sondern auch Institutionen, geistige Erzeugnisse und Wertesysteme, denn auch sie können als wahr oder falsch erwiesen werden. Es folgt daher, daß wahr oder falsch nicht die Tatsache ist, sondern daß Tatsache ist, was wahr oder falsch sein kann 18 . Ausführlich dazu Apel, Constantin Tsatsos-Festschrift, 1980, S. 221, 224. So insbes. Albert (Anm. 10), S. 78 f. Auf die praktischen Folgen und Konsequenzen einer Theorie hat besonders der englische Pragmatismus (William James, John Deweyj hingewiesen. Dazu siehe Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas, 1967, S. 38 ff. 1 8 So auch Ducasse, Journal o f Philosophy 1940, 710 f („,a fact' and ,a true proposition' mean identically the same thing"). 16 17
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Sucht man die Tatsachen im rein „empirisch-deskriptiven" Bereich, der durch Sinneswahrnehmung unmittelbar erkannt und in theoriefreier Beobachtungssprache wiedergegeben wird, so sucht man vergebens 19 . Hinter jedem Beobachtungssatz steht eine Theorie. Der Zeuge erzählt ζ. B. über bestimmte Momente des Geschehens, die für ihn Interesse und Bedeutung haben. Er ruft ins Gedächtnis nicht die ganze Vergangenheit zurück, sondern das, was er wahrgenommen hat. Und er hat das wahrgenommen, was er akzentuiert und interpretiert hat. Zu Recht schreibt Grasnick. Der Angeklagte oder Zeuge „beschreibt nicht lediglich das Tatgeschehen, er deutet es. Sowenig, wie es reine Beobachtungssätze gibt, sowenig gibt es pure Deskriptionen. Wir können der Theorie nicht entkommen. Wir können auch der Wertung nicht entkommen." 20 Und weiter fügt er hinzu: „Am Ende steht Interpretation gegen Interpretation, Werturteil gegen Werturteil."21 Das Kriterium der Wahrnehmbarkeit scheint mir in der von der Rechtsprechung und einem großen Teil des Schrifttums inzwischen akzeptierten Definition abgeschwächt zu sein. Für die ständige Rechtsprechung zu den Beleidigungsdelikten reicht es aus, daß die Tatsache „in erkennbare Beziehung ... zu bestimmten äußeren Geschehnissen, durch die sie in das Gebiet der wahrnehmbaren äußeren Welt getreten ist", [gesetzt wird] 22 . Tatsachen sind also nicht nur diejenigen Umstände, die direkt der unmittelbaren Wahrnehmung zugänglich sind, sondern auch solche, die mit Hilfe von Erfahrungssätzen erschlossen werden können 23 . Ähnlich ist auch bei Herdegen zu lesen, daß „eine Äußerung eine Behauptung von Tatsachen sein kann, wenn sie eine Wahrnehmungsbasis hat" 24 . Es gibt aber keine Begriffe ohne eine Wahrnehmungsbasis, ohne daß sie irgendwie auf indizielle, wahrgenommene oder wahrnehmbare äußere Fakten bezogen werden. Die Frage ist, welche Beobachtungsdaten einen Begriff, eine Theorie indizieren und in welcher Beziehung und welchem Sinnzusammenhang sie zueinander stehen25. 19 Vgl. hierzu insbes. Bohnen, in: Albert (Hrsg.), Theorie und Realität, 2. Aufl. 1972, S. 171 ff, 190. 20 Grasnick (Anm. 11), S. 211. 21 Grasnick (Anm. 11), S. 219. 2 2 Siehe die Nachweise bei Herdegen in: LK, § 185 Rdn. 4. 2 3 „Erschließen" heißt hier wohl nicht die logische Deduktion aus Prämissen, sondern die Aufstellung von Hypothesen, die durch Wahrnehmung bekräftigt oder erschüttert werden. 2 4 In: LK, § 185 Rdn. 4. 2 5 Zur Abgrenzung zwischen Beobachtungssprache (Lo) und theoretischer Sprache (Lt) vgl. statt vieler Carnap, in: H. Feigl/M. Scriven (eds.), The Foundations of Science, 1965, S. 38 ff. Kritisch dazu mit Recht Popper, Logik der Forschung, 8. Aufl. 1984,
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2. Als zweites Kriterium des Tatsachenbegriffs wird entweder selbständig oder als Folge des Kriteriums der Wahrnehmbarkeit die Beweisbarkeit der Tatsache erwähnt. Eine Tatsache soll der prozessualen Prüfung zugänglich sein. Was aber damit gemeint ist, von welcher prozessualen Prüfung die Rede ist, bleibt unklar. Weist man auf die prozessualen Möglichkeiten hin, die die Prüfung der Wahrheit einer Tatsache ermöglichen, so ist damit nichts anderes gemeint, als daß von einer Tatsache gesprochen werden kann, wenn sie nach den Erkenntnisgrundsätzen als wahr oder falsch nachgewiesen werden kann. Was aber falsch oder wahr sein kann, das ist eine Tatsache26. Man gerät also in einen Zirkelschluß. Versteht man dagegen unter prozessualer Prüfung die Möglichkeiten der Strafprozeßordnung, so läßt sich der Tatsachenbegriff unmittelbar durch die Regeln der StPO bestimmen, nämlich durch die Regeln, die die Wahrnehmung nicht um jeden Preis erlauben, sondern auch andere Prinzipien respektieren, wie dasjenige des Rechtsstaates. Diese Regeln können aber nicht den Tatsachenbegriff bestimmen, sondern sie ziehen die Grenzen einer Wahrheitsprüfung im Rahmen eines normativen Rechtssystems. Art. 366 gr. StGB zeigt dies, wenn es den Wahrheitsbeweis einer Tatsache bei den Beleidigungsdelikten verbietet, wenn die Tatsache ausschließlich Verhältnisse des Familien- oder Privatlebens betrifft, die das öffentliche Interesse nicht berühren. Eine Tatsache bleibt also auch dann Tatsache, wenn ihr Nachweis an Beweisverboten scheitert. 3. Wir kommen nun zum dritten Kriterium, das in fast jeder Definition des Tatsachenbegriffs enthalten ist. Tatsachen seien konkrete Geschehnisse oder Zustände der Vergangenheit oder der Gegenwart. Zukünftiges, soweit es nicht geschieht oder geschehen ist, sei keine Tatsache; es werde eine solche erst mit seinem Eintritt. Definiert man „Tatsache" nur als das bereits Geschehene, so ist jedes Zukünftige per definitionem aus dem Tatsachenbegriff ausgeschlossen. Was aber berechtigt zu einer solchen Definition? Wollte man im Tatsachenbegriff die Realitätsfrage berühren und die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft hinsichtlich der Realität definieren, so bedarf es der Erklärung, warum das Vergangene, nicht aber das ZuS. 377 ff. Nach ihm bewegen wir uns immer in Theorien, sogar dann, wenn wir die trivialsten singulären Sätze aussprechen. 2 6 Im Zivilprozeßrecht wird häufig geschrieben, daß Beweisgegenstand eine Tatsache sei; vgl. etwa Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 15. Aufl., Einf. § 284 Rdn. 17 ff. Das heißt aber wieder, daß die Beweisbarkeit den Tatsachenbegriff voraussetzt.
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künftige wirklich ist 27 . Alles, was existiert, ist in ständiger Bewegung, ist nicht Ruhe, sondern fortwährendes Werden. Abgesehen vom Streit zwischen Determinismus und Indeterminismus ist das Zukünftige bereits im Gegenwärtigen, zugleich aber auch im Vergangenen enthalten 28 . Daß ich irgendwann sterben werde, ist wirklich, ist eine Tatsache, genauso wie es eine Tatsache ist, daß ζ. B. Aristoteles gestorben ist. Der einzige Unterschied ist, daß die eine Tatsache schon geschehen ist, während die andere bevorsteht. Im letzten Fall ist eine Tatsache nicht, daß ich gestorben bin, sondern daß ich irgendwann sterben werde. Man darf überdies nicht übersehen, daß als Beweisgegenstand im Prozeßrecht nicht nur wirkliche, sondern auch hypothetische oder negative Tatsachen anerkannt werden 29 . Unzutreffend wäre auch, die Tatsache dem bereits Geschehenen mit der Begründung gleichzusetzen, daß das Geschehene im Gegensatz zu dem Erwarteten sicher und gewiß sei. Daß ich irgendwann sterben werde, ist genauso sicher und gewiß wie daß Aristoteles schon gestorben ist. Was sich auf die Zukunft bezieht, ist nicht immer bloße Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, im Gegensatz zu dem, was der Vergangenheit oder der Gegenwart zugehört, welches allein ein objektives Wissen ermögliche. Sprechen wir von objektivem Wissen, so meinen wir ein hypothetisch gut geprüftes und bewährtes Denken, das mit der Vernunft und dem Alltagsverstand in Einklang steht. Und dies beschränkt sich nicht allein auf das Vergangene oder das Gegenwärtige und nicht auf alles, was der Vergangenheit oder Gegenwart zugehört. Es ist zweifellos eine Tatsache, daß wir im Rahmen des Alltags Verstandes sicher sind, daß die Sonne morgen über uns aufgehen wird oder daß das Wetter morgen regnerisch sein wird. Und diese notwendige Hoffnung, die sich auf in der Vergangenheit wiederholt gemachte Beobachtungen oder auf wissenschaftliche Kenntnisse stützt, erzeugt größere Gewißheit als die auf die Vergangenheit bezogene Hypothese, daß ζ. B. Alexander der Große an Erkältung gestorben ist oder daß der Palast von Knossos auf Kreta durch den Vulkanausbruch in Santorini zerstört wurde. Entscheidend ist daher nicht die zeitliche Dimension einer Tatsache, sondern ihr Gewißheitsgrad. 27 „The Future is really real" antwortet Faye, Is the Future Really Real?, American Philosophical Quarterly 1993, 259 ff, 268. 28 „Mit der Kausalität aber ist nicht nur die Gegenwart da, sondern auch Vergangenheit und Zukunft. Denn alle Wirkung kommt von etwas her, das früher war, und alle Wirkung wirkt immer weiter auf Späteres"; so Bröcker, ARSP 1985, 39. 29 Vgl. statt vieler Hartmann (Anm. 26), Einf. § 284 Rdn. 20; Prutting, in: MünchKomm ZPO, 1992, § 284 Rdn. 40; Stein/Jonas/Leipold, 21. Aufl., § 284 Rdn. 11, 12.
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Die künftigen Ereignisse werden besonders im Zusammenhang mit dem Betrug diskutiert. Dort wird angenommen, daß Betrug begeht, wer über das Bestehen naturgesetzlicher Gegebenheiten (ζ. B. über den Frühlingsanfang, das Osterfest) täuscht. Betrug wird auch im Falle des Verkaufs von gefärbten Gläsern zur Beobachtung einer angeblich bevorstehenden Sonnenfinsternis bejaht 30 . Man denkt hier an die wissenschaftlichen Erkenntnisse oder Konventionen, die auf den Eintritt künftiger Ereignisse sichere Schlußfolgerungen zulassen. Man könnte die Frage des Zukünftigen umgehen, indem man das Erwartete durch die vorhandenen Elemente ersetzt, die uns logisch zu diesem Glauben führen. Jede Aussage über künftige Ereignisse könnte zu einer Aussage über gegenwärtige oder vergangene Ereignisse umgedeutet, mit anderen Worten: in ihren der Vergangenheit oder der Gegenwart angehörigen Voraussetzungen analysiert werden 31 . Damit wird aber das Problem kaum gelöst. Daß die Sonne morgen aufgehen wird, wie sie es bisher getan hat, daß der Vollmond am 20. des Monats sein wird, ist eine zukünftige Tatsache, eine Perspektive, die sich auf die wiederholt gemachte Beobachtung in der Vergangenheit stützt. Die Tatsache ist aber nicht die Erd- oder Mondbewegung in den vergangenen Jahrtausenden, sondern der Sonnenaufgang morgen bzw. der Vollmond am 20. des Monats. Wollte man das erwartete Faktum vom Tatsachenbegriff ausschließen und es durch seine vergangenen oder gegenwärtigen faktischen Voraussetzungen ersetzen, so würde man die logische Schlußfolgerung außer acht lassen, die beide Fakten miteinander in Verbindung setzt. Machen wir uns das an einem Beispiel klar: Ich sage: A ist zahlungsfähig. Ich mache damit eine Prognose über ein zukünftiges Verhalten des A. Ist das keine Tatsachenbehauptung, weil sie sich auf etwas Zukünftiges bezieht? Und muß diese Prognose in den gegenwärtigen Verhältnissen, auf denen sie basiert, analysiert werden, in dem Sinne, daß ζ. Β. A zahlungsfähig ist, weil er einen gut bezahlten Beruf ausübt und großes Eigentum besitzt? Die Täuschungshandlung bezieht sich aber nicht auf den gut bezahlten Beruf oder das große Eigentum des A, sondern auf die Schlußfolgerung der Zahlungs3 0 Vgl. z. B. Cramer, in: Schönke/Schröder, 25. Aufl., § 263 Rdn. 8; Maurach/Schroeder/ Maiwald, Bes. Teil 1, 7. Aufl. 1988, S. 4 1 1 , und früher auch Weisel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 368. 3 1 Vgl. Lackner, in: LK, 10. Aufl., § 263 Rdn. 11. Nach ihm ist nicht der künftige Eintritt einer Sonnenfinsternis oder einer Jahreszeit als solcher eine Tatsache, sondern das Bestehen einer allgemeinen wissenschaftlichen Uberzeugung oder einer Konvention, daß die Naturerscheinung oder der neue Jahresabschnitt zu dem angegebenen Zeitpunkt eintreten bzw. beginnen wird.
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fahigkeit des A von den genannten Prämissen. Letztere mögen wahr und dennoch kann die Schlußfolgerung der Zahlungsfähigkeit falsch sein, wenn es neben den erwähnten Bedingungen noch andere gibt, welche die Schlußfolgerung der Zahlungsfähigkeit nicht erlauben, ζ. B. neben dem gut bezahlten Beruf hohe Schulden des A oder neben dem großen Eigentum dessen Belastung durch Hypotheken 32 . Sieht man also hier als Tatsache die Zahlungsfähigkeit an, so ist Betrug vorhanden. Betrachtet man dagegen die Zahlungsfähigkeit als Meinungsäußerung, als bloßes Werturteil, so liegt keine Täuschungshandlung i. S.v. § 263 StGB vor, falls man den Tatsachencharakter auf den gut bezahlten Beruf und das große Eigentum beschränkt. Ein entsprechendes Beispiel ist auch der Fall des Marktwertes einer Sache (eines Grundstücks oder eines Autos). Ist dieser Marktwert eine Tatsache, oder sind es nur die ihn begründenden Elemente und Indizien? Die Frage hängt damit zusammen, ob der Außerungsempfänger seine eigenen Schlüsse aus den genannten Indizien zieht und selbst das Risiko dieser Schlußfolgerung tragen muß oder ob diese Konklusion eine etablierte Meinung, etwas Gegebenes ist, worauf er sich wie jeder verlassen kann 33 . Diese Rückübertragung der Tatsachenbehauptung von der Konklusion auf die Prämissen ist kein Charakteristikum des Zukünftigen, sondern betrifft jede Aussage, egal ob sie sich auf Zukünftiges, Vergangenes oder Gegenwärtiges bezieht. Man kann ζ. B. den gut bezahlten Beruf oder das große Eigentum in dem oben erwähnten Fall weiter in die Indizien und Umstände zerlegen, die eine solche Schlußfolgerung zulassen. Der Regreß ist dann unendlich. Ich fasse zusammen: Unmittelbare Wahrnehmbarkeit, Beweisbarkeit und geschichtliche Existenz können nicht als entscheidende Abgrenzungskriterien des Tatsachenbegriffs funktionieren. Alle drei Kriterien zielen auf ein und dasselbe: die intersubjektive Nachprüfbarkeit und objektive Gültigkeit der Tatsache. III.
Tatsachenbehauptungen und Werturteile haben etwas Gemeinsames. Sie drücken das Problem des Verstehens der Welt aus. Die Methode des 3 2 Das heißt, daß die Bedingungen, auf die die Zahlungsfähigkeit zurückführbar ist, nicht vollständig sind und daher keine solche Schlußfolgerung erlauben. 3 3 Deutlich heißt es bei Maurach /Schroeder/Maitvald, Bes. Teil 1, S. 441, daß Betrug durchaus durch Behauptung einer zukünftigen Tatsache begehbar ist, sofern durch die Art der Behauptung zugleich die prinzipielle intersubjektive Nachprüfbarkeit mitbehauptet wird.
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Verstehens ist aber nicht ein Charakteristikum der Geisteswissenschaften, sondern auch der Naturwissenschaften 34 . „Alles Sein für uns ist Ausgelegtsein" sagt Jaspers35. Genauso wie wir Menschen mit einer gewissen Rationalität die Handlungen von Menschen verstehen, können wir auch die Naturgesetze verstehen. Gegenstand unseres Verstehens ist nicht nur die physische Welt, sondern auch die subjektiven, persönlichen, psychologischen Vorgänge (facta interna) sowie die geistige Welt, die Erzeugnisse der Geistestätigkeit. Tatsachenbehauptungen und Werturteile beziehen sich auf denselben Gegenstand, die Welt, sei sie die physische oder die psychische oder sogar die geistige. Während die Tatsachenbehauptung ein „etablierter Glaube", ein „pragmatischer Glaube" ist, um die Poppersche Bezeichnung zu benutzen 36 , ein Glaube, der der Widerlegung widerstanden hat, ist das Werturteil ein Vorschlag, der sich noch keiner kritischen Untersuchung ausgesetzt hat. Die Tatsachenbehauptung sucht nach Widerlegung, das Werturteil dagegen sucht nach Ak%eptan%. Die Tatsachenbehauptung ist eine Aussage, eine Hypothese, die der Überprüfung standgehalten hat. Sie hat ihre Uberlebenstüchtigkeit durch Bestehen von Prüfungen erwiesen. Ob sie diese Uberlebenstüchtigkeit auch in der Zukunft erweisen wird, ist nicht das Entscheidende. Die Tatsache ist, um mit Plato zu sprechen, die gnosis, die doxa der vielen im Gegensatz zu der doxa des einzelnen oder der wenigen 37 . Hat eine Theorie, eine Hypothese der rationalen Diskussion standgehalten, so führt diese Bewährung zu einer weitgehenden Akzeptanz, zu einer objektiven Einsicht, einer sog. Intersubjektivität. Sie bildet die objektive Basis, die Gewißheit innerhalb einer Kommunikationsgesellschaft schafft, eine Objektivität, auf die sich jeder verlassen kann. Wer sich also darauf verläßt, braucht strafrechtlichen Schutz für sein Vermögen. Von einer Täuschungshandlung kann im § 263 StGB nur dann die Rede sein, wenn jemand über etwas täuscht, das im Rahmen einer Kommunikationsgesellschaft als Gegebenes gilt. Die intersubjektive Nachprüfbarkeit fehlt aber, wenn es um Innenvorgänge beim Täuschenden geht. Die eigenpsychischen Vorgänge, mögen sie auch facta interna sein, sind im Gegensatz zu dem Fremdseelischen (den psychischen Vor-
Vgl. 2. B. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 4. Aufl. 1972, S. 53. Einführung in die Philosophie, 1971, S. 60 f. 36 Popper, Objective Knowledge, Chap. 1. 37 Zu dem Platonischen Begriff von „doxa" vgl. Lafrance, La théorie platonicienne de la Doxa, 1981, S. 19 ff, 215 ff. 34 35
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gängen bei Dritten) der intersubjektiven Nachprüfbarkeit entzogen 38 . Zwischen dem Täuschenden und dem Getäuschten sind bloße Behauptungen über die Zwecke und Wünsche des Täuschenden (ζ. B. die Zahlungswilligkeit des Schuldners) nicht Gegenstand einer kritischen Diskussion, sondern eine Sache des Vertrauens und der Glaubwürdigkeit. Wenn sich der Getäuschte darauf verläßt, trägt er selbst das Risiko und bedarf daher nicht des Schutzes durch die Betrugsvorschriften 39 . Ahnlich ist auch der Unterschied zwischen Beleidigung und übler Nachrede. Entscheidend ist hier, ob der objektive Sinngehalt der ehrenrührigen Äußerung dem Außerungsadressaten ein ehrenrühriges Faktum vermittelt, das Objektivität und Verifizierbarkeit beansprucht 40 . Wenn ich etwas Ehrenrühriges als objektiv Gegebenes und durch Nachprüfung intersubjektiv Bestätigtes gegenüber einem Dritten behaupte, so wiegt diese Ehrverletzung schwerer als eine Beleidigung durch bloße abwertende Urteile und Meinungsäußerungen. Der objektive Sinngehalt der Äußerung sucht dann nicht nach Akzeptanz wie die bloße Meinungsäußerung, sondern nach Widerlegung. Dem Kundgabeempfänger bleibt es überlassen, diesen Sinn nicht bloß zu akzeptieren, sondern zu widerlegen. Die Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptung und Werturteil ist auch ein Thema der Ausdifferenzierung der Sprache von generellen und abstrakten Sätzen zu konkreteren Definitionen, zu „Elementarsätzen", wie sie Wittgenstein bezeichnet, auf die jeder Satz logisch zurückführbar ist 41 , ein Thema des Fortschreitens zu den einfacheren und weniger umstrittenen Schichten der Erklärung 42 . Auf der Stufe, wo man auf „Objektivierung" und Intersubjektivität stößt, wo man den Verständigungs- und Gewißheitsgrad in einer Diskussionsgemeinschaft erreicht 38 Carnap, Der logische Aufbau der Welt, § 58, bemerkt zu dieser Abgrenzung, daß das Eigenpsychische in bezug auf die physischen Gegenstände erkenntnismäßig primär ist, das Fremdpsychische dagegen sekundär, in dem Sinne, daß die physischen Gegenstände aus den eigenpsychischen und die fremdpsychischen aus den physischen erkannt werden. 3 9 So auch im Ergebnis Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 1964, S. 111, 214. Anders insoweit die h. M.; siehe statt vieler Cramer, in: Schönke/Schröder, 25. Aufl., § 263 Rdn. 10; Lackner, in: LK, 10. Aufl., § 263 Rdn. 11,13. Vgl. auch die Differenzierung bei Weisel, Strafrecht, S. 368. 40 Herdegen, in: LK, 10. Aufl., § 185 Rdn. 2. 41 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 4.1: „Der Satz stellt das Bestehen oder Nichtbestehen der Sachverhalte dar.", und 4. 121: „... Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit". Vgl. auch 4. 01: „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Ein Modell der Wirklichkeit so wie wir sie uns denken". 42 Wittgenstein (Anm. 41), 5, 5.01.
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hat, ist von Tatsachenbehauptung die Rede. Dies ist die Stufe, wo der Begriff seine „Sinnautonomie" erreicht hat und keiner weiteren Analyse bedarf. Würde eine solche erfolgen, so wäre sie eine bloße Beweisanalyse und keine Erklärungsanalyse. Wenn der Zeuge vor Gericht erklärt, er habe A mit einer Waffe gesehen, so macht er eine Aussage über eine Tatsache (daß A eine Waffe bei sich hatte). Die „Waffe" ist ein Alltagsbegriff, ein Begriff, der innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft einen ziemlich sicheren Inhalt hat. Hier interessiert nicht die Frage, ob z. B. Salzsäure oder ein eiserner Stock unter den Rechtsbegriff „Waffe" fallen. Wenn jemand behauptet „A hat mich bestohlen", bekundet er eine Tatsache, weil er damit die Behauptung des Sprechenden, von A bestohlen zu sein, in objektivierter Form zum Ausdruck bringt. Dieser Satz hat einen umgangssprachlichen Bedeutungskern, über den man sich verständigen kann, eine „Sinnautonomie". Er braucht nicht weiter in dem Sinne aufgelöst zu werden, daß A die Brieftasche weggenommen hat, um sie zu behalten. Wenn der Zeuge vor Gericht erzählt, „A hat mich bestohlen" oder „A hat die Wohnung gemietet" oder „A ist ein uneheliches Kind des B", berichtet er über Tatsachen, solange nach dem Dialogprinzip Sprecher und Hörer sich verständigen. Und „sich verständigen" heißt nicht bloß, daß der eine versteht, was der andere sagt, sondern daß das, was der eine sagt, für den anderen als Laien dieselbe Deutung hat, die keiner weiteren Analyse und kritischer Diskussion bedarf. Die Bedeutung der Sprache für die Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptung und Werturteil ist auch im Fall der Revision zu sehen. Zu erwähnen ist hier die Meinung, die sich an der Differenz zwischen Rechtssprache und Alltagssprache (vorrechtlichen sozialen Begriffen und rechtlichen Begriffen) orientiert, um Rechts- und Tatfrage voneinander abzugrenzen43. In derselben Richtung liegt auch das Kriterium der logischen Struktur des Satzes, nach dem die Grenze zwischen Revisiblem und Irrevisiblem in der Unterscheidung zwischen singulären Sätzen (irrevisibel) und Sätzen mit der Struktur eines logischen Allsatzes (revisibel) zu erblicken ist 44 . Ob dieses Kriterium eine präzise Grenzziehung ermöglicht, braucht hier nicht analysiert zu werden. So sind z. B. „erotische Darstellung" oder „beleidigende Aussage" Begriffe der Alltagssprache mit vorrechtlicher sozialer Natur und mit 43 Vgl. Roxi», Strafverfahrensrecht, 23. Aufl. 1993, S. 386; Schümmann, Arthur Kaufmann-Festschrift, 1993, S. 299 ff, 311. 44 Vgl. Rüssmann, in: H.J. Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 243 ff, 267; Kuhlen, in: L. Burgmann/M. T. Fögen/A. Schminck (Hrsg.), Cupido legum, 1988, S. 99 ff; Neumann, GA 1988, 389 ff.
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einer gewissen „Sinnautonomie", die innerhalb einer Gesellschaft einen mehr oder weniger festen Inhalt haben. Daß sie von Regeln konstituiert werden, ist nicht das Ausschlaggebende. Nicht nur institutionelle Tatsachen oder „Kulturtatsachen" 45 werden aus Regeln konstituiert, sondern fast alle Begriffe; sie sind, um mit Carnap zu sprechen, Konstitutionsbegriffe und werden aus Begriffen niederer Stufe konstituiert. Wenn das so ist, dann ist es nicht einleuchtend, daß ein Urteil über den pornographischen Charakter eines Buches in der Revisionsinstanz aufgehoben werden kann, mit der Begründung, der Tatrichter habe die Regeln verkannt, welche diesen Charakter bestimmen. Würde man dasselbe sagen, wenn der Tatrichter die Regeln verkennen würde, die bestimmen, wann es sich um die Darstellung eines erotischen Bildes oder eines nackten menschlichen Körpers handelt? Die Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage hat nicht mit dem durch Regeln bestimmten Inhalt eines Begriffs zu tun, sondern mit dem Sinn (nach rechtlichen oder vorrechtlichen Maßstäben), mit dem ein Begriff in einer Vorschrift benutzt wird. Bei der „pornographischen Schrift" geht es mehr um ein Wertprädikat nach dem deliktischen Sinn des § 184 StGB; dies ist etwa bei den Begriffen „fremd" in § 242 StGB oder „Wohnung" in § 123 StGB nicht der Fall. Deshalb ist die irrtumsdogmatische Behandlung beider Fälle unterschiedlich46. Mag der Tatsachenbegriff nicht überall dieselbe Bedeutung haben, wo er auftaucht, so bleibt er doch in seinem Kern derselbe. Bei ihm geht es um eine intersubjektive Nachprüfbarkeit, um einen „etablierten", „pragmatischen" Glauben im Rahmen einer Kommunikationsgesellschaft, der nichts mit der Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Elementen zu tun hat und sich nicht auf naturwissenschaftlich faßbare Sachverhalte beschränkt.
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So Umpe, J R 1985, 160; Neumann, G A 1988, 402. Vgl. Puppe, G A 1990, 174 f.
Bemerkungen zur objektiven Zurechnung G Ü N T H E R JAKOBS
I. Objektive Beherrschbarkeit versus objektive Zurechnung? Daß der Jubilar die Lehre von der objektiven Zurechnung in dem Teil, der sich mit der Mißbilligung einer Risikosetzung befaßt, für teils falsch und ansonsten überflüssig hält, hat er mehrfach 1 ausgeführt. Trotzdem, so hoffe ich, gerät der Beitrag zu einer Geburtstagsgabe, zumal unten (II) eine Möglichkeit gezeigt wird, die Lehre von der objektiven Zurechnung in den Teilen, die nicht die Erfolgszurechnung betreffen, vom Zurechnungsvorgang, so man will, zu lösen und auf eine bestimmte Norminterpretation zu reduzieren, mit den Worten von Frisch2·. auf eine Lehre vom tatbestandsmäßigen Verhalten, genauer noch, vom Inhalt des Tatbestands, wie Hirschs Lehre von der objektiven Beherrsch1 Hirsch, Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 399, 403 ff; ders., in: Hirsch/ Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 65, 67 ff; ders., Festschrift für Lenckner, 1998 (der Beitrag wird nachfolgend nach seinen Gliederungspunkten zitiert, da Seitenzahlen zur Zeit der Abfassung des hiesigen Beitrags noch nicht feststehen), I I I . 1 - 3 mit dem Nachweis weiterer Gegenstimmen Fn. 3; siehe auch ders., Festschrift für Spendel, 1992, S. 43, 44 und passim. 2 Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 9 ff, 58 f, 66 f. — Zur Terminologie: Einigkeit sollte herrschen, daß der objektive Tatbestand keine abschließende Wertungsstufe darstellt (Hirsch, Strafrecht und Kriminalpolitik [Fn. 1], S. 69; ders., Lenckner-Festschrift [Fn. 1], I, weist nunmehr freilich auf einen Zusammenhang von Tatbestandsverwirklichung und „Unrechtsgehalt" hin), daß also mit „objektiver Zurechnung" keine komplette Zurechnung geleistet werden kann — komplett ist die Zurechnung erst nach Feststellung der Schuld —, sondern allenfalls (aber immerhin) ein Schritt (Roxin, Strafrecht AT I, 3. Aufl. 1997, 11/46). Seit der Studie von Honig, Festgabe für Frank, Bd. I, 1930 (Neudruck 1969), S. 174, wird ein in doppeltem Sinn objektives Urteil gefällt {Honig, aaO, S. 188: objektive Zweckhaftigkeit): (1) Eine Maßstabsperson als ex ante urteilende schätzt die Lage ein und (2) entscheidet, unter Anwendung formeller oder informeller Regeln — als gren^bewußte (als „gewissenhafte"), ob der Täter für das Risiko zuständig ist oder nicht, was bejahendenfalls heißt, daß jedenfalls eine Maßstabsperson an der Stelle des Täters sich unerlaubt verhalten hätte (deshalb üblicherweise: objektive Zurechnung). Das ist ein Zwischenschritt! Nur auf die Maßstabsperson als gren^bewußte kann nicht verzichtet werden, als ex ante urteilende Person mag man zur Ermitdung der Zurechnung (aber auch nur dazu; zur Bestimmung der Abwehrrechte ist auf die objektiv urteilende Person nicht zu verzichten; siehe unten Fn. 41) den Täter mit seinen Urteilsfähigkeiten einsetzen; dazu unten II.
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Günther Jakobs
barkeit, auf welche noch einzugehen sein wird, als eine solche vom Inhalt des Tatbestands verstanden werden kann. Für das Vorsatzdelikt behandelt Hirsch die Problematik immer wieder an zwei Leitfallen, bei denen die Lehre von der objektiven Zurechnung das Verhalten als erlaubt3 einstuft: Eine Person wird auf eine Reise geschickt, damit (!) sie durch die üblichen Gefahren, die eine Reise nun einmal mit sich bringt, ums Leben komme, was auch geschieht; und, bei einem technischen Großprojekt werden erwartungsgemäß (!) trotz Beachtung aller Arbeitsschutzvorschriften Arbeiter getötet. In einer frühen Veröffentlichung heißt es zum ersten Fall, es handele sich um „Anstiftung zur Selbstgefährdung"4 oder, wenn der Reisende die Gefahr nicht selbst überblicke, um einen Fall fehlender Tatherrschaft, da die Gefahr eines Erfolgseintritts sehr gering sei5; zum zweiten, es fehle mangels Tatherrschaft in Gestalt ,,ausreichende(r) gestaltende(r) Einwirkungsmöglichkeit" auf den Eintritt des konkreten Erfolges ein Merkmal des objektiven Tatbestands6. Später wird der zweite Fall (technisches Großprojekt) im subjektiven Tatbestand gelöst: Es könne „keine Rede" von einer Vorsatztat sein, „wenn die Vorstellung von der Möglichkeit eines tatbestandsmäßigen Erfolges eine bloß generelle" sei7. Abermals später wandert auch die Lösung des ersten Falls in den subjektiven Tatbestand: Dem zur Reise Veranlassenden fehle jedenfalls — möge der Reisende die Gefahr überblicken oder nicht — ein Verletzungsvorsatz, da sich „seine Vorstellung ... lediglich auf das gewöhnliche, allgemeine Risiko des Soziallebens" beziehe, „Opfer eines Unglücksfalls zu werden" 8 . Zuletzt wird die Lösung des zweiten Falls (technisches Großprojekt) 9 im subjektiven Tatbestand als die „herkömmliche" bezeichnet, als Hirsch meint, schon die Terminologie sei falsch; es müsse — statt von einem erlaubten — von einem unverbotenen Risiko die Rede sein; Hirsch, in: LK, 10. Aufl., 1985, vor § 32 Rdn. 32; ders., in: LK, 11. Aufl. 1994, vor § 32 Rdn. 32; aber eine Erlaubnis liegt nach üblichem Sprachgebrauch nicht nur bei aufgehobenem Verbot vor („Erlaubnissatz"), sondern auch bei fehlendem Verbot („Was nicht verboten ist, ist erlaubt!"). — Hirsch kritisiert auch die Ausdrucksweise, der Täter hafte (Lenckner-Festschrift [Fn. 1], III.l). Wer haftet, kann rechtlich in Anspruch genommen werden; ansonsten entscheidet der Kontext, so daß Strafoaft (!) eben nur dem Schuldigen zukommt. 4 Hirsch, ZStW 74 (1962), 78, 100. 5 Hirsch, ZStW 74 (1962), 101. 6 Hirsch, ZStW 74 (1962), 98. 7 Hirsch, in: LK, 10. Aufl., vor § 32 Rdn. 32. 8 Hirsch, Universität zu Köln-Festschrift (Fn. 1), S. 405; ders., Strafrecht und Kriminalpolitik (Fn. 1), S. 68; ders., Lenckner-Festschrift (Fn. 1), II.l a. 9 Der erste Fall wird noch bei der Darstellung der Lehre von der Sozialadäquanz genannt (Hirsch, in: LK, 10. Aufl., vor § 32 Rdn. 26); seine Lösung soll wohl nicht anders ausfallen als diejenige des zweiten Falls; so ausdrücklich Hirsch, Lenckner-Festschrift (Fn. 1), II.l a; ferner Küpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, 3
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„ K r i t e r i u m , auf das es . . . a n k o m m t " , jedoch „die objektive B e h e r r s c h barkeit des K a u s a l g e s c h e h e n s " a n g e g e b e n 1 0 . D i e drei Lösungsvarianten, die sämtlich plausibel sind — g e w i ß ist eine A n s t i f t u n g z u r S e l b s t g e f ä h r d u n g straffrei, u n d e b e n s o g e w i ß w i r d m a n einen Tatbestandsvorsatz o d e r eine o b j e k t i v e B e h e r r s c h b a r k e i t so d e f i n i e r e n k ö n n e n , daß sie in d e n g e n a n n t e n Fällen fehlen —, lassen sich auf zwei reduzieren; denn der M a n g e l an o b j e k t i v e r B e h e r r s c h b a r k e i t ist — w e n n I r r t u m s f ä l l e ausgeschlossen w e r d e n — nichts als die o b j e k t i v e Spiegelung eines t a t o h n m ä c h t i g e n Vorsatzes, w i e dieser w i e d e r u m nichts als die subjektive Spiegelung der o b j e k t i v e n T a t o h n m a c h t i s t 1 1 . A l s L ö s u n g v e r b l e i b e n also „ A n s t i f t u n g zur Selbstverletzung" u n d „ o b jektive u n d subjektive (oder: subjektive u n d objektive) T a t o h n m a c h t " 1 2 . S. 92; daneben dürfte die Lösung gültig bleiben, es gehe um eine Anstiftung zur Selbstverletzung. 10 Hirsch, in: LK, 11. Aufl., vor § 32 Rdn. 32, unter Bezug auf Küpper (Fn. 9), S. 91 ff. 11 So jetzt auch Hirsch, Lenckner-Festschrift (Fn. 1), II.l a - c , III.2, wobei zudem die Problematik einer „wesendichen Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf' (Beispiel: Der mit Tötungsvorsatz Niedergeschossene kommt bei einem Brand im Krankenhaus ums Leben) bereits im objektiven Tatbestand loziert wird (aaO II.l b). 12 Hirsch hat es jüngst unternommen, die Problematik dergestalt mittels seiner Handlungslehre zu lösen, daß beim Vorsatzdelikt alles, was nicht Tathandlung oder deren Versuch sei, aus der Zurechnung auszuscheiden habe (Lenckner-Festschrift [Fn. 1], III.2). Er führt dazu beispielhaft an, mit der Produktion eines Objekts könne, auch bei gegebenem Vorsatz auf eine später erfolgende Zerstörung, nicht schon zur Zerstörungshandlung angesetzt werden. Daran ist richtig, daß es ohne Ausführung nie zur strafrechdichen Haftung kommt; aber sehr wohl kann auch haften, wer nicht ausführt. Ein Verweis auf die Beteiligung und ihre Akzessorietät soll genügen. Freilich kommt es beim Verhalten der Nicht-Ausführenden darauf an, ob es im Kontext der Ausführung steht oder nicht, und die Produktion einer Sache dürfte in der Regel nicht im Kontext ihrer Zerstörung erfolgen (anders vielleicht bei der Produktion von Tonscheiben für Scharfschützen); dazu Jakobs, GA 1996, 253, 257 ff. - Bei Fahrlässigkeit verhält es sich nicht anders: ohne Ausführung keine Haftung. Abermals läßt sich — wie bei Vorsatz — nicht irgendein erfolgskausales Verhalten zur Tat stilisieren; Tat ist vielmehr nur die Ausführung. Deshalb ist (entgegen Hirsch aaO) die Eröffnung einer Arztpraxis durch einen Unqualifizierten dann keine geeignete Tathandlung, wenn noch — ihrerseits zu verantwortende — Behandlungsakte des Unqualifizierten folgen müssen, bis es zum Schaden kommt. Aber sehr wohl kann die Ubergabe eines brandgefährdeten Hochhauses eine Tathandlung sein, wie sie es bei einer Vorsatztat wäre, wenn etwa der Erbauer bei der Ubergabe wüßte, daß jederzeit mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Katastrophe eintreten könnte (abermals entgegen Hirsch aaO). Hirsch beruft sich zur Begründung der beliebigen Vorverlagerung der Ausführung beim Fahrlässigkeitsdelikt auf BGHSt. 42, 235, 236 ff. Aber auch beim Fahrlässigkeitsdelikt kann nur dasjenige Ausführung sein, was, läge Vorsatz vor, Ausführung wäre. Die genannte Entscheidung fällt insoweit eher zufällig richtig aus: Das vom Gericht gewählte frühe Verhalten (ein Sich-Betrinken) war nur deshalb Ausführung, weil das nachfolgende nicht verantwortlich, also von einem Werkzeug, vollzogen wurde; dazu eingehender Jakobs, Nishihara-Festschrift, 1998, S. 103, 118 f. Kraß: Wer eine Autofahrt
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Zunächst zur ersten Lösung. — Warum ist die Anstiftung zur Selbstverletzung straffrei? Man mag positivrechtlich argumentieren, etwa mangels tatbestandsmäßiger Haupttat sei akzessorische Beteiligung ausgeschlossen. Aber das positive Recht gibt nur einen Grund, soweit es um technokratische Regelungen geht (Rechts fahren!) oder um einen Machtspruch zur Uberwindung einer Zerrissenheit der Gesellschaft (Faktisch Fristenlösung!). Ansonsten ist das positive Recht nichts als Folge, Uberbau eines Grundes, den es seinerseits erst einmal zu entdekken und zu formulieren gilt. Der Grund für die Akzessorietätslösung des geltenden Rechts bei der Anstiftung zur Selbstverletzung ist nicht schwer zu finden: Es handelt sich um das Synallagma von Handlungsfreiheit und Folgenverantwortung, die überhaupt wichtigste Institution der Gesellschaft; frei entscheiden zu können, heißt immer zugleich, das Produkt der Entscheidung als sein (positiv zu bewertendes) Werk reklamieren zu dürfen wie als sein (negativ zu bewertendes) Werk verantworten zu müssen. Deshalb endet die Selbstverantwortung auch nicht mit dem Ende des aktuellen Wissens, sondern mit dem Ende der Freiheit des Entscheidenden13. Beispielhaft: Geht es um eine Reise in einem Sessellift bei erkennbar windigem Wetter und bedenkt der Reisende nicht die Gefahr einer Nierenentzündung, wohl aber der zur Reise Animierende, der vielleicht sogar die Obliegenheitsvergessenheit des anderen kennt, so ist die Freiheit des Reisenden nicht eingeschränkt, da nichts ihn hindert, seine Interessen selbst zu wahren, so daß eine Anstiftung zu einer — freilich unvorsätzlichen - Selbstgefährdung oder (bei Eintritt der Nierenentzündung) Selbstverletzung vorliegt und nicht etwa eine Körperverletzung in mittelbarer Täterschaft. Völlig zutreffend führt Hirsch aus, die Verkehrsgerechtheit eines Verhaltens hänge „davon ab, welches Maß an Sorgfalt der Gefährdete in der konkreten Situation von dem sich gefährlich Verhaltenden erwarten" dürfe 14 , und im anstehenden Fall darf der Reisende gewiß nicht erwarten, ihn Animierende würden die Sorgfalt einer Amme aufbringen (wenn es sich nicht gerade um den behandelnden Arzt oder die Ehefrau handelt). Die Beziehung zwischen dem Anstifter und dem Angestifteten ist eben nicht eine solche zwischen zwei Buchungsstellen für aktuelles Wissen, sondern zwibeginnt, obgleich er zu — durchaus vermeidbaren — Geschwindigkeitsüberschreitungen mit schlimmen Folgen neigt, soll nicht das Fahren überhaupt lassen (das gesamte Vorverhalten), sondern das übermäßige Beschleunigen (die Ausführung). 1 3 Α. A. Zactyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, 1993, S. 62. 1 4 ZStW 74 (1962), 97.
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sehen zwei jeweils freien Personen15. Sieht man die Anstiftung zur Selbstverletzung in der geschilderten Weise, so ist sie nichts als ein Fall des Zusammenwirkens mit einer Person, die auf eigene Gefahr handelt, mit anderen Worten, sie ist ein Fall fehlender objektiver Zurechenbarkeit. Nunmehr zur zweiten Lösung, zur objektiven und subjektiven Tat(ohn)macht. Nimmt man die „objektive Beherrschbarkeit" 16 als reines Faktum, so ist sie in dem von Hirsch herangezogenen Fall (technisches Großprojekt) durchaus gegeben. Man unterstelle, beim Bau eines Hochhauses sei mit einer bestimmten Zahl schwerer Körperverletzungen zu rechnen (Versicherungen wissen solches ziemlich exakt zu kalkulieren); der Betreiber des Baus hat dann genau folgende faktische Macht: Er betreibt den Bau und bewirkt die Verletzungen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit, oder er läßt die Baupläne fahren und niemand wird verletzt. Aber eine solche an den faktischen Chancen orientierte Interpretation der Tatmacht (der „objektiven Beherrschbarkeit") würde Hirsch wohl zu Recht als sachfremd zurückweisen. Als nur ein anderes Wort für das Entstehen-lassen-Können von Risiken wäre die Tatmacht schlechthin stets gegeben, wo ein — noch so minimales - Risiko geschaffen wird, und wäre deshalb neben der Risikoschaffung ohne jede Bedeutung. Dasselbe gilt für die subjektive Spiegelung: Wenn es am Tatbestandsvorsatz mangelt, soweit nur eine generelle Vorstellung von der Möglichkeit eines Erfolges gegeben ist 17 , so darf das Nur-Generelle, das zum Vorsatz nicht Hinreichende der Vorstellung, offenbar nicht schon ausgeschlossen werden, wenn überhaupt eine benennbare Erfolgswahrscheinlichkeit geschaffen wird; denn bei einem solchen Verständnis hätte das Vorsatzerfordernis des Nicht-nur-Generellen abermals nämlich wie auf der objektiven Seite — keinerlei Bedeutung. Nun könnte sich die Grenze der Tatmacht wie ihrer subjektiven Spiegelung aus der individuellen Erfahrung ergeben. Schaut man bei Hirschs Schüler Küpper nach, scheint zunächst einiges für eine solche Bestimmung zu sprechen; denn Küpper bezieht sich auf die Wel^ekchc Differenzierung von „Hoffen" und „Verwirklichen-Wollen"18, also auf die Ge1 5 Auf einem anderen Blatt steht, daß das geltende Recht, da bei seiner Abfassung die Zugehörigkeit der Beteiligungslehre zur objektiven Zurechnung noch nicht durchschaut war, bei /rawaVerletzungen die Anstiftung zur unvorsätzlichen Fremdverletzung als mittelbare Täterschaft wertet; dazu kritisch Jakobs, GA 1996, 265 ff; ders., GA 1997, 553, 557 f. 16 Hirsch, in: LK, 11. Aufl., vor § 32 Rdn. 32. 1 7 Wie Fn. 7. 18 Küpper (Fn. 9), S. 92 Fn. 67, unter Bezug auf Weisel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 66; - zum Reisebeispiel, dort „wünschen" statt „hoffen".
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ringfiigigkeit der Chancen in individueller Sicht einerseits oder ihre Beachtlichkeit in eben dieser Sicht andererseits. Aber gegen ein solches Verständnis spricht nicht nur die Benennung der Tatmacht als „objektive Beherrschbarkeit", sondern mehr noch ihre Funktion: Sie soll ja zur Interpretation des objektiven — und dann auch subjektiven — Tatbestands helfen, darf also nicht auf einen einzelnen Wissenshorizont abgestimmt, sondern muß auf das allgemein Bekannte ausgerichtet werden. Bei dieser Lage bleiben die Möglichkeiten, die Interpretation der Tatmacht durch eine objektiv (nicht individuell) bestimmte Risikoquantität zu versuchen oder durch die Herausarbeitung bestimmter Risikotypen (was einen Blick auf das Risikoquantum nicht ausschließen muß). Die allein quantitätsbestimmende Variante läßt sich einigermaßen rasch ausschließen; denn es liegt auf der Hand, daß die Gesellschaft das Hervorrufen quantitativ völlig identischer Risiken je nach Kontext einmal als tolerierbar und ein anderes Mal als sozial auffällig behandelt. So ist etwa das Risiko, das beim - korrekten! — Autofahren bei Nebel und Glatteis eingegangen werden darf, ungleich höher als dasjenige des „Normal"Verkehrs, und wer im letzteren die Risikomarge auf das Nebel-GlatteisMaß heraufschraubt, muß für „Verwirklichungen" einstehen. Oder, ein leicht betrunkener Routinier fährt — zwar unerlaubt, aber - gewiß sicherer als ein nüchterner Anfänger — trotzdem hat er abermals für „Verwirklichungen" einzustehen. Offenbar läßt sich die Komplexität der Inhalte der Verbote und Erlaubnisse nicht in Risikoquantitäten auflösen. Küpper bringt die Problematik auf die durchaus brauchbare Formel, zu prüfen sei, ob der Handelnde „sein Werk" realisiere19. Damit wird freilich der Grund der Straffreiheit der Anstiftung zur Selbstverletzung wieder thematisiert, nämlich die Freiheit der Person. Werk einer Person ist das Produkt ihrer Freiheit, nicht aber dasjenige der Freiheit anderer. Es muß also gefragt werden, wann sich die Freiheit eines Handelnden in seinem „Werk" objektiviert, wann es weiterhin um das „Werk" eines anderen Täters oder um dasjenige des Opfers geht (und wann schließlich das Opfer mit dem Schaden als mit einem Unglück fertig zu werden hat). Die Antwort auf diese Frage liegt ebensowenig verborgen wie diejenige nach dem Grund der Straffreiheit der Anstiftung zur Selbstverletzung: Wenn der Täter ein Risiko schafft, das vom Opfer hingenommen werden muß, weil das Risiko nun einmal zur erlaubten Gestalt der Gesellschaft gehört, dann fehlt dem Täter per definitionem die „objektive Beherrschbarkeit", eben weil es Aufgabe des Opfers ist, mit dem Risiko fertig zu werden; und 19
Küpper (Fn. 9), S. 93.
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in der Umkehrung ist Werk des Täters, was durch ihn entsteht und weder vom Opfer (und sei es als Zufall) noch von dritten Personen zu verantworten ist. Dasselbe Bild zeigt sich auf der subjektiven Seite: Die Vorstellung bleibt nur-generell, ist also kein Tatvorsatz, solange sie sich einzig auf Ereignisse bezieht, die den Rahmen der nicht zu verantwortenden Handlungsfolgen nicht übersteigen; findet aber der Überstieg statt, wird sie notwendig speziell, eben tatbestandsbezogen. Die Tatmacht hängt also von der Risikoart ab — unerlaubt, also vom Täter zu verantworten, oder nicht unerlaubt, also Sache eines anderen Täters oder des Opfers - , wobei freilich nicht für alle Risiken bei demselben Quantum der Umschlag vom Erlaubten zum Unerlaubten erfolgt; vielmehr wird in aller Regel die Beurteilung um so eher umschlagen je größer der drohende Schaden ist (ein Atomkraftwerk muß intensiver „objektiv beherrscht" werden als ein Lagerfeuer und vice versa). Einzelheiten mögen hier dahinstehen; jedenfalls werden die Tatmacht, die „objektive Beherrschbarkeit" und ihre subjektive Spiegelung, das Nicht-nur-Generelle der Vorstellung, normativ begrenzt. Sie sind in personale Strukturen (Tatmacht, nicht-nur-generelle Vorstellung) übertragene gesellschaftliche Institute, hier: eine Übertragung des Instituts des (nicht mehr) erlaubten20 Risikos. Mit anderen Worten, die Person, die als Subjekt ihre gesellschaftliche Gestalt akzeptiert und verinnerlicht hat 21 , kann nicht anders, als ihre Möglichkeiten und Grenzen als Tatmacht (oder als spezielle Vorstellung) und als Tatohnmacht (oder als nur-generelle Vorstellung) in derjenigen Gestalt zu sehen, die mit den Erwartungen, die gesellschaftlich garantiert werden, völlig identisch ist. Damit soll freilich nicht so etwas wie eine Priorität der Gesellschaft vor dem Subjekt behauptet werden 22 ; man mag auch formulieren, die bei den Subjekten ausgebildeten Strukturen ermöglichten eine Gesellschaft entsprechender Gestalt. Kurzum, es interessiert hier nicht, ob die Lehre von Hirsch der Lehre von der objektiven Zurechnung logisch vorausgeht oder ob es sich umgekehrt verhält, sondern einzig, daß beide Lehren einmal im System „Subjekt", ein anderes Mal im System „Gesellschaft", zwingend Korrespondierendes beschreiben. Ist es erst einmal erkannt, daß es um die Tatmacht oder Siehe oben Fn. 3 zum Unverbotenen. Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 1997, S. 29 ff, 33 ff. 2 2 Nutzlos der Prioritätenstreit bei Küpper (Fn. 9), S. 93 Fn. 70, gegen Krauß, ZStW 76 (1964), 19, 46; zur Nutzlosigkeit solcher Prioritätsbehauptungen siehe auch Jakobs (Fn. 21), S. 44 ff, 49 f. 20 21
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die nicht-nur-generelle V o r s t e l l u n g gesellschaftlich g e b u n d e n e r Subjekte geht, nicht aber u m O r d n u n g s v o r s t e l l u n g e n , die d e n m e n s c h l i c h e n Indiv i d u e n v o n G e b u r t an als natürliche A u s s t a t t u n g e n mitgeliefert w e r d e n , so fällt es leicht, den A n f a n g bei der Person, die sich als P e r s o n b e g r i f f e n hat, also d e n A n f a n g beim S u b j e k t 2 3 , nicht m e h r als G e g e n s a t z zu einem A n f a n g bei d e n gesellschaftlichen Institutionen zu begreifen, s o n d e r n als einen Z u g a n g v o n einer anderen Seite. „ D i e d e m Recht zugrundeliegende Wirklichkeit ist die im praktischen H a n d e l n g e g e b e n e Wirklichkeit des sozialen L e b e n s " 2 4 . D e r A n s a t z b e i m „praktischen H a n d e l n " immunisiert nicht gegen die p r ä g e n d e K r a f t der sozialen Institutionen 2 5 , w i e der A n s a t z bei der „Wirklichkeit des sozialen L e b e n s " nicht d a v o n befreit, dieses als „praktisches Handeln" darzustellen, u n d d a v o n soll n a c h f o l g e n d die Rede sein.
Jakobs {Fn. 21). Weisel, ZStW 58 (1939), 491, 496. Die Vereinbarkeit der Lehre Wetzls mit derjenigen von der objektiven Zurechnung, mehr noch, die Ausrichtung Weisels (auch) darauf, hat Cancio Melia in einem sehr bemerkenswerten Aufsatz dargelegt (GA 1995, 179), auf den hier zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen sei. 25 Hirsch hat gegen die Lehre von der objektiven Zurechnung gerade wegen der Berücksichtigung sozialer Institutionen den Vorwurf erhoben, „unscharfe Allgemeinbegriffe an die Stelle sachlich präziser Begriffsbildung und Systematisierung zu setzen" (Strafrecht und Kriminalpolitik [Fn. 1], S. 69 f; ähnlich ders., Universität zu Köln-Festschrift [Fn. 1], S. 407; ders., in: LK, 11. Aufl., vor § 32 Rdn. 32; ders., Lenckner-Festschrift [Fn. 1], III.l, Text zu Fn. 47; auch Küpper [Fn. 9], S. 115 f und passim). Eingeräumt sei vorab eine bemerkenswerte ÄaWunschärfe (der Kern ist gesichert). Aber diese ist unvermeidbar, weil sachangemessen. Soweit formelle Normen zur Scheidung des Zurechenbaren von fremden „Werken" fehlen, bleibt eben nur der Rückgriff auf die „Wirklichkeit des sozialen Lebens" (Weisel), was nicht heißt, jeder Schlendrian entwickele normative Kraft, sondern das kommunikativ stabil als richtig Genommene und in diesem Sinn Wirkliche gelte auch als das Richtige. Wenn dessen Beschreibung genauer ausfällt, als es selbst ist, muß sie falsch sein, und das stabil kommunikativ als richtig Genommene kann in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht in einer scharfen Linie, sondern nur in einer Grauzone enden, da diverse Retardierungen wie Entwicklungen nie ausgeschlossen werden können. Bei dieser Lage betreffen exakte Begriffe entweder Nebensächliches oder sind falsch gebildet. Beispielhaft: Im Interesse der Produktion lag die Grenze zum Unerlaubten, was — auch informelle — Arbeitsschutzregeln angeht, in den fünfziger Jahren gewiß unvergleichlich höher, als sie heute liegt. Die Grenze wurde permanent gesenkt, was es eben erschwerte, zu irgendeinem Zeitpunkt eine exakte Höhe anzugeben, und unmöglich machte, die aktuelle Höhe durch langjährige Rechtsprechung zu verdeudichen und abzustützen. Aber diese Unsicherheit schwindet keineswegs, wenn die Problematik in der Terminologie „Sorgfaltswidrigkeit/-gemäßheit" oder, Vorsatz unterstellt, „genereller/ spezieller Vorsatz", „Beherrschbarkeit/keine Beherrschbarkeit" formuliert wird; denn ein präziser Venveisungfoegúii („genau das Zeitangemessene") bezöge sich auf eben Ungenaues, aber ein präziser selbständiger Begriff würde die Entwicklung verfehlen und wäre bestenfalls an einer Stelle der Entwicklungslinie angemessen. 23
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II. Das objektive Minimum bei der objektiven Zurechnung Es geht weiterhin nur um die Mißbilligung eines Risikos, nicht um Erfolgszurechnung26. Wie diese Mißbilligung zustandekommt, wird üblicherweise am genauesten zum Fahrlässigkeitsdelikt beschrieben, ohne freilich darauf beschränkt zu sein; eine deliktische, aber — etwa — erlaubt riskante oder auf eigene Gefahr des „Opfers" verwirklichte, jedenfalls: sorgfaltsgemäße Vorsatztat wäre eine contradictio in adiecto. Das wird insoweit bestritten, als die Zurechnungsregeln des Vorsatzdelikts gegenüber der Lehre von der objektiven Zurechnung Vorrang genießen sollen, und zwar soll „die objektive Zurechnung (schon) ... ein Bestandteil des Handlungsbegriffs" sein. „Was nicht in der Tatmacht des Handelnden liegt, kann ihm als ,personales Aktionszentrum' nicht zugerechnet werden" 27 . Man mag das so sehen, muß dann aber den Begriff der „Tatmacht", den Begriff vom „Werk" des Täters 28 um den gesamten Bereich des objektiv nicht Zurechenbaren stutzen, nicht nur um die relativ „weichen" Fälle ubiquitärer Risiken 29 . „Harte" Fälle finden sich im Bereich des Regreßverbots (oder wie man das Erfordernis des Unerlaubten bei akzessorischer Beteiligung auch immer nennen mag 30 ) und des Handelns auf eigene Gefahr. Ein Beispiel zu ersterem: Wenn in der „Wirklichkeit des sozialen Lebens" 31 niemand auf die Idee kommt, den Klavierabend des Pianisten auch dem Taxifahrer als „Werk" gutzuschreiben, der den Künstler zum Konzertsaal gefahren hat, so wird man nicht begründen können, daß der Taxifahrer dann mit dem „Werk" etwas zu tun haben soll, wenn der Pianist zum Aktionskünstler mutiert, der — ohne Erlaubnis des Eigentümers — die Tastatur mit einem Hammer traktiert. „Werk" einer Person ist das Produkt ihrer Freiheit; im Beispielsfall dürfte es im Guten wie im Bösen um das „Werk" des Künstlers gehen, der, nach seinen Beteiligten befragt, vielleicht einmal Busoni und das andere Mal Nietzsche nennt, aber gewiß keinen Taxifahrer, mag dieser was auch immer gewußt haben oder erkennen könSiehe oben zu Beginn von I. Küpper (Fn. 9), S. 93. 28 Küpper (Fn. 9), S. 93. 2 9 Bei diesen Fällen läßt sich die Problematik des Sonderwissens (unten Fn. 38) nicht völlig ausklammern: Das macht gerade deren Härte aus! 3 0 Dazu zuletzt mit umfassenden Nachweisen Wohlleben, Beihilfe durch äußerlich neutrale Handlungen, 1996. Wohllebens eigene Lösung fällt freilich viel zu stark psychologisierend aus: Erwartungen, jemand werde kraft seines Wissens die Situation beherrschen (S. 159f, Regeln 1 und 2), können nur Verhalten leiten, soweit Wissen erwartet werden darf; aber daran fehlt es bei rollenübergreifendem Wissen. 31 Weisel (Fn. 24). 26 27
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nen (fahrlässige Sachbeschädigung ist freilich de lege lata straffrei). Entsprechend verhält es sich beim Handeln auf eigene Gefahr; auch dazu ein Beispiel: Wenn dem Verkäufer eines normalen Schnitzbestecks nicht auch die Skulptur als (auch) sein Werk zugeschrieben wird, die der Käufer mit Hilfe der Instrumente schafft, so auch nicht die Wunde, die das ungeschickt eingesetzte Gerät beim Käufer oder dessen Gehilfen reißt, und zwar auch dann nicht, wenn der Verkäufer dem extrem fahrigen Käufer, der sich zudem jeden Rat verbat, solche Fehlleistungen allemal zutraute (Vorsatz) oder doch hätte zutrauen können (Fahrlässigkeit). Damit soll nicht behauptet werden, die genannten Fälle seien damit endgültig gelöst, aber sehr wohl, daß die „objektive Beherrschbarkeit" für die „objektive Zurechnung" genannte Problematik geöffnet werden muß, wenn es um die Zuschreibung von „Werken" gehen soll. Verfährt man so, unterscheiden sich allerdings die Regeln der „objektiven Beherrschbarkeit" nicht mehr von denjenigen zur Bestimmung der Sorgfaltswidrigkeit beim Fahrlässigkeitsdelikt; in beiden Fällen handelt es sich um Regeln zur Scheidung zwischen eigenen Werken, Werken anderer Täter, Werken des Opfers und dessen Unglück. Unter welchem Namen diese Scheidung geschieht, ist eine cura posterior. Wenn Hirsch einige vorliegende Versuche einer Scheidung als „Statements" abtut32, so mag diese Qualifikation stimmen, aber die Vertreter von der Lehre von der objektiven Beherrschbarkeit werden solche auch noch formulieren müssen, wenn sie nicht vor den Problemen ausweichen. Wie will man etwa im Kontext negativer Pflichten die Frage, ob ein Lieferant ubiquitär legal erhältlicher Produkte sich darum kümmern muß, was der Empfanger damit anstellt (vielleicht baut dieser Lampenschalter in Höllenmaschinen ein), anders beantworten als mit dem „Statement", im Wirtschaftsleben gehe es um eine nur - hier: auf einen Kaufvertrag beschränkte Gemeinsamkeit (also: Regreßverbot)? Wieso gibt eine solche Antwort weniger an Begründung als ein Verweis auf einen bislang nur für einzelne Fallgruppen entwickelten Begriff der objektiven Beherrschbarkeit? Die Mißbilligung beim Fahrlässigkeitsdelikt — nach hiesiger Ansicht also keine andere als beim Vorsatzdelikt — hat man sich nach der überwiegenden, auch von Hirsch vertretenen33 Ansicht so vorzustellen, daß ein „gewissenhafter" Angehöriger des relevanten Verkehrskreises, der auch über ein eventuell vorhandenes Sonderwissen der handelnden Per32 33
Lenckner-Festschrift (Fn. 1), III.l (Text zu Fn. 47). Hirsch, in: LK, 10. Aufl., § 230 Rdn. 6.
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son verfügt 34 , das Handlungsprojekt nebst den ihm erkennbaren Konsequenzen beschreibt und sodann dahin beurteilt, es sei gesellschaftlich unverträglich 35 . Es soll in einem doppelten Sinn um eine objektive Sorgfaltswidrigkeit 36 gehen: Die ex ante die Risiken einschätzende und in diesem Sinn urteilende Person ist ebenso objektiv bestimmt wie die über die Grenzen der (Un-) Erträglichkeit entscheidende, also gren^bewußte21. Die Tat des Täters wird also als Tat einer Maßstabsperson gedacht und dieser als Unrecht zugerechnet. Die Lehre, die zum Vorsatzdelikt (!) auf „objektive Beherrschbarkeit" abstellt (oder darauf, was sich als „Werk" des Täters darstellen läßt), muß ganz entsprechend verfahren. Auf die Sicht ex post kann es nicht ankommen; denn ist der genaue Verlauf bekannt, kann er immer auch beherrscht werden; neben der Kenntnis von der konkreten Kausalität ist für eine Beherrschbarkeitsprüfung kein Raum mehr. Soll es nicht um ex post bestimmte Kausalität, aber doch um eine Beherrschbarkeit gehen, deren Vorliegen schon zum objektiven Tatbestand konstatiert werden kann (so daß zum subjektiven Tatbestand nur noch zu prüfen ist, ob der Täter um das Gegebene weiß), so muß die Prüfung der Beherrschbarkeit für eine objektiv ausgestattete Maßstabsperson vorgeschaltet, also als objektive Zurechnung ausgestaltet werden. Beispielhaft: Ex post steht fest, daß der Tod eines Arbeiters, der in einen dann einstürzenden Bergwerks s tollen geschickt wurde, beherrschbar war. Ex ante läßt sich dasselbe Urteil zum objektiven Tatbestand nur fallen, wenn eine Maßstabsperson entsprechend urteilt. Man wird gegen diese Vorgehensweise kaum einwenden können, sie führe nicht zum richtigen Ergebnis; denn sie legt ja nur ein Haftungshöchstmaß fest, von dem in mehrfacher Hinsicht noch nicht ausgemacht ist, ob es reduziert werden muß: Kommt es auf das Sonderwissen des Täters überhaupt an? Entspricht der objektiven Kenntnis der Lage die subjektive? Und, wieso entscheidet das „Gewissen" eines objektiv bestimmten Verkehrsteilnehmers und nicht dasjenige des Täters? Die Antwort auf die erste Frage wird hier so weit wie möglich ausgeklammert 38 , aber die beiden folgenden sollen behandelt werden. Zu dieser Inkonsequenz Struensee, JZ 1987, 53, 58 f. Roxin (Fn. 2), 24/46 ff; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 577 ff; Kaminski, Der objektive Maßstab im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts, 1992. 36 Hirsch, in: LK, 10. Aufl., § 230 Rdn. 6 i. V. m. 5; Jescheck/Weigend (Fn. 35), S. 577. 37 Siehe schon oben Fn. 2. 38 Siehe aber oben Fn. 29. Zum Sonderwissen Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 7/49 f; siehe auch oben den Text zu Fn. 13. 34
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Zunächst zur Frage nach dem Sinn der objektiven Lagebeurteilung, wo doch die subjektive39 den Umfang der Zurechnung begründet wie begrenzt. Nun kommt es in bestimmten Zusammenhängen einigermaßen evident auf eine objektive Lagebeurteilung an, so etwa zum Begriff der Gefahr beim aggressiven Notstand, was insbesondere Hirsch im einzelnen präzisiert hat40. Eine Pflicht zur Solidarität läßt sich nicht auf subjektiv noch so gut geprüftes — Meinen41 gründen; denn sonst würde der Duldungspflichtige einem Urteil unterworfen, das gesellschaftlich nicht bindet. Die Duldungspflicht kann vielmehr nur aus einem fachmännischen Urteil resultieren, was heißt, aus einem unter den gegebenen Bedingungen nun einmal gültigen Urteil42. Genauer: die als subjektiv ^geschriebene Lagebeurteilung. Hirsch, Festschrift für Arthur Kaufmann, 1993, S. 545; den., in: LK, 11. Aufl., § 34 Rdn. 27 ff. Hirsch unterscheidet zwischen Gefährlichkeit (einer Handlung; die Maßstabsperson steht in der Situation des Handelnden) und Gefahr (alle in der Geschehenssituation überhaupt feststellbaren Umstände sind zu berücksichtigen); die Notwendigkeit der Unterscheidung wird unter anderem damit begründet, ansonsten wachse bei unvermeidbarer Putativnotwehr ein Verteidigungsrecht im Rahmen des defensiven Notstandes zu (in: LK, 11. Aufl., § 34 Rdn. 28 mit Fn. 70). Schlägt man aber den defensiven Notstand dem Rechtfertigungsprinzip der Verantwortung oder Veranlassung zu (Jakobs, Allg. Teil [Fn. 38], 11/3), so müssen die Verantwortung oder Veranlassung begründenden Umstände wirklich (objektiv ex post) vorliegen, wobei freilich auch ein zurechenbar erregter Anschein eines Angriffs Verantwortung begründen kann. 41 Nach Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 224, 267 (ebenso Schaffstein, Festschrift für Bruns, 1978, S. 89), ist „Unrecht ... immer dann ausgeschlossen, wenn die vom Täter angenommene (!) Gefahr mit Rücksicht auf die vom Täter in der von ihm angenommenen (!) Situation gegebenen Möglichkeiten nicht anders als durch die rechtsgutsverletzende Handlung zu beseitigen intendiert werden konnte" und das Angenommene die Rechtfertigung schlüssig ergibt. Aber aus dieser Beschreibung der Grenzen eines Bewußtseins folgt kein Eingriffsrecht, also keine gegenüber dem Opfer wirksame Handlungserlaubnis, sondern nur Zurechnungsfreiheit, diese eben wegen der Beschränktheit des Bewußtseins. Von strafrechtlicher Zurechnung frei sein und eingreifen dürfen ist zweierlei. Zwar kann letzteres nie ohne ersteres vorliegen, aber ersteres sehr wohl ohne letzteres, wie daran zu sehen ist, daß bei gegebenem Eingriffsrecht allein die geringeren Solidaritätspflichten die Handlungsfreiheit begrenzen, während bei NichtZurechenbarkeit, aber fehlendem Eingriffsrecht, trotz des Freiseins von Strafe die erheblich stärkere (bei der Abwehr mehr Befugnis einräumende) Zuständigkeit für die Konflikdösung nach den Regeln des defensiven Notstands bleibt; dazu Jakobs, Allg. Teil, (Fn. 38), 11/13 ff, auch 6/72 f, 11/7. 4 2 Gegen die Lehre, die bei diesem objektiven Urteil ein Sonderwissen - anders als Hirsch — nicht berücksichtigt, ließe sich einwenden, der Eingreifende könne nicht zu einem Eingriff — als Garant oder nach § 323 c StGB — verpflichtet sein, den er als nutzlos erkannt habe. Aber er kann dieser an sich bestehenden (!) Pflicht entkommen, indem er sein Sonderwissen in seine Rolle einbringt (Jakobs, Allg. Teil [Fn. 38], 7/50 a. E.). Solange er das Einbringen nicht erkennbar macht — er unternimmt nichts, ohne zu erkennen zu geben, warum — muß er sich als jemand behandeln lassen, der sich als 39 40
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Anders bei der Prüfung, ob ein Verbrechen vorliegt! Während die Notstandsrechtfertigung eine Lagebeurteilung voraussetzt, für die ein gewisses Maß an Allgemeingültigkeit beansprucht werden kann (und die Notwehrrechtfertigung sogar ex post die Verantwortlichkeit des Abgewehrten indizieren muß 43 ), geht es bei der Verbrechensfrage, solange als Dogma gilt, der Täter habe zwar für Normuntreue, nicht aber ansonsten für Mängel seiner Konstitution einzustehen (Schuldprinzip), um die Beurteilung aus der Sicht des Täters. Freilich muß der Täter in kommunikativ relevanter Weise zu seinem Urteil kommen, also ohne abergläubische oder sonst dem naturwissenschaftlichen Weltbild widersprechende Annahmen 44 ; aber ansonsten darf das Urteil aus seiner Sicht gefällt werden. Das Strafrecht garantiert — anders als das Zivilrecht — keine Standardleistungen von speziellen Rollenträgern (Ärzten, Autofahrern etc.), sondern einzig die Standardleistung der allgemeinen Bürgerrolle: hinreichende Rechtstreue. Wer diese Standardleistung erbringt, haftet — mangels Erkennbarkeit der Norm oder wegen unvermeidbarer Annahme einer Rechtfertigungssituation oder mangels Erkennbarkeit der Verwirklichung des objektiven Tatbestands — strafrechtlich auch dann nicht, wenn er hinter dem Standard einer speziellen Rolle weit zurückbleibt. Deshalb ist es für die Verbrechensfrage — nicht schädlich, aber - schlechthin überflüssig, in den objektiven Tatbestand eine objektive Lagebeurteilung einzubauen: Über die beste mit hinreichender Rechtstreue erreichbare subjektive Lagebeurteilung geht die Haftung doch nicht hinaus 45 . Was die Lagebeurteilung angeht, so hat ein objektives Urteil also allenfalls die Funktion, Sonderwissen abzuschneiden — davon soll hier, wie schon ausgeführt wurde 46 , nicht gehandelt werden. Ansonsten kommt es nicht auf ein solches Urteil an; denn die höchstens erreichbare Lagebeurteilung abzüglich der dem Täter unzugänglichen Lagerechtswidrig Unterlassenden darstellt. — Auch zur Begründung einer Gefahr kann (nicht: muß) der Täter sein Sonderwissen in seine Rolle einbringen. 4 3 Oben Fn. 40. 44 Jakobs, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 271, 277 ff. 45 Treffend Stein, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, S. 233, 236, der - gleichfalls treffend — darauf hinweist, daß es auch nicht darauf ankommt, ob eine Maßstabsperson weitere Erkundigungen eingezogen hätte oder ähnliches; denn den Anlaß dazu könnte wiederum nur die Lagebeurteilung des Täters geben. Der mit hinreichender Rechtstreue versehene Täter, der nicht selbst zu dem Urteil gelangen kann, es bestehe ein Risiko der Tatbestandsverwirklichung, kann nicht vermeiden. — Eingehend demnächst Lesch, Grundlinien einer funktionalen Revision des Verbrechensbegriffs, Habilitationsschrift 1998, 2. Kapitel IV.2 c. 4 6 Siehe Fn. 38.
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beufteilung ist gleich der dem Täter erreichbaren Lagebeurteilung. Die Sorge, die Lehre von der objektiven Zurechnung trage in das Vorsatzdelikt ein dort nicht hingehörendes objektives Moment hinein, ist im Ergebnis ebenso unbegründet wie die Ansicht, ohne ein solches Moment könne man beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht auskommen: Alles erforderliche Objektive läßt sich zum Norminhalt schlagen. Zur dritten Frage: Diese, wenn man so will, „Subjektivierung" (aber die am Anfang stehende hinreichende Rechtstreue muß objektiv hinreichen) bezieht sich einzig auf die Lagebeurteilung als Kalkulation der bestehenden Risiken und Chancen und der sonstigen zur sozialen Situation gehörenden Daten (Wer tritt in welcher Rolle auf, wie beteiligt sich das Opfer etc.?). Das Programm, nach dem diese — damit in ihrem Stand beschriebene und in ihren Entwicklungsmöglichkeiten beurteilte — Lage als tatbestandsmäßig oder nicht tatbestandsmäßig bewertet wird, schreibt eine objektiv bestimmte Person47, welche die formellen und informellen Normen der Gesellschaft kennt und begreift, was heißt, die dem einzelnen Täter erkennbare Lage werde nach den Rechtsnormen (Beispiel: Das Risiko, das ein wegen Trunkenheit Fahruntüchtiger schafft, ist unerlaubt.) oder den informellen Normen, wie sie von anerkannten Fachleuten angewandt werden, beurteilt (Beispiele zu letzterem: Das Risiko, das sich ergibt, wenn ein sechsjähriges Kind allein eine stark befahrene Straße außerhalb eines Fußgängerüberwegs überquert, ist unerlaubt. — Das Risiko, das verbleibt, wenn auf die ordnungsgemäße Verrichtung durch einen examinierten Facharzt vertraut wird, ist nicht unerlaubt. — Das sich beim Verkauf von Alkohol an zurechnungsfähige Erwachsene für diese wie eventuell dritte Personen ergebende Risiko ist erlaubt etc.). Das verbleibende Objektive besteht darin, daß sich auch bei der Verbrechens frage der Bereich des Zurechenbaren von demjenigen des Erlaubten nicht nach der Ängstlichkeit und dem Wagemut, dem Lebensstil, des Täters richtet, sondern nach verfestigten gesellschaftlichen und in diesem Sinn nach objektiven Normen. Es geht also um die Interpretation der Strafrechtsnormen mit Hilfe anderer Rechtsnormen oder informeller Normen, wobei die inkriminierte Tätigkeit dahin konkretisiert wird, was genau an Erfolgsgeschehen mit der Organisation des (deswegen so heißenden) Täters zur Tatbestandsverwirklichung verbunden wird 48 und was an Erfolgsgeschehen
47 Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S. 68; ders., Deutsche strafrechtliche Landesreferate zum IX. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung, Teheran 1974, Beiheft ZStW 1974, 6, 12 ff. 4 8 Auch Kausalität gehört zur objektiven Zurechnung, ebenso Garant-Sein.
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als Organisation des Opfers (Handeln auf eigene Gefahr), dritter Personen oder als Unglück des Opfers zu erklären ist. Das Material dieser objektiven Differenzierung ist freilich, dies sei wiederholt, solange es um die Verbrechens frage geht, im Ergebnis einzig das dem Täter bei objektiv hinreichender Normtreue Erkennbare. Zur Entscheidung der Verbrechensfrage nehme man also die mit Hilfe formeller und informeller Normen objektiv interpretierte Strafrechtsnorm und denke sich den Täter hinreichend rechtstreu. Jedes Verhalten, das der Täter unter solchen Bedingungen (planvoll) vermeidet, ist deliktisch; jedes unter solchen Bedingungen nicht (planvoll) zu vermeidende Verhalten ist entweder sozial unauffällig oder unvermeidbar, jedenfalls also nicht zurechenbar. Im Ergebnis bleibt im Rahmen der Verbrechensfrage von der objektiven Zurechnung nur, daß die Norminterpretation im Blick auf längst bestehende und in diesem Sinn objektive rechtliche oder informelle generelle Zuordnungsmuster erfolgt. Insbesondere wird in das Vorsatzdelikt nichts Objektives hineingetragen - außer daß es nach der objektiv interpretierten Norm bestimmt wird. Diese Norminterpretation ist gegenüber der überhaupt alles Vermeidbare erfassenden Norm restriktiv. „Der Sinn des Rechts besteht nicht darin, daß es von den unverletzt gedachten Rechtsgütern alle verletzenden Einwirkungen abwehrt, sondern daß es von den unzähligen Funktionen, in denen das Rechtsgut wirkend und leidend darinsteht, die für ein sittlich-geordnetes Gemeinschaftsdasein Unverträglichen auswählt und verbietet." 49 Um diese restringierende Norminterpretation geht es. Das Produkt der Norminterpretation ist der Tatbestand, der nunmehr nicht nur die Kausierung oder Nicht-Hinderung eines Erfolges, sondern auch eine Beschreibung des unerlaubt Riskanten oder des Regreßverbots, des Ausschlusses des Opferhandelns auf eigene Gefahr und des Unglücks des Opfers etc. enthält, so daß nur bestimmte Wege verbleiben, auf denen — besser wohl, nur bestimmte soziale Konstellationen unter Einschluß von Verlaufsprognosen, in denen — ein Erfolg zurechenbar herbeigeführt wird oder werden könnte. Objektiv erfolgt nur die Grenzziehung zwischen dem, wofür der Täter zuständig ist, und dem, was ihn nichts angeht, also die Trennung aller möglichen Tatbestandsverwirklichungen vom nicht Zurechenbaren. Das Bild von den wirklichen Konstellationen, die Lagebeurteilung einschließlich der Prognosen, richtet sich nach dem, was der Täter leisten kann, so er nur als 49 Weisel, Z S t W 58 (1939), 516. Weisel nennt als Restriktionsgründe das Fehlen einer Handlung und die Sozialadäquanz — um letztere geht es hier.
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rechtstreu gedacht wird. Deshalb kann als Wirklichkeit des Handelns (als Konkretisierung einer tatbestandsmäßigen Konstellation), so man auf eine Maßstabsperson bei der Lagebeurteilung verzichtet, nur das gelten, was sich der Täter als Wirklichkeit erschließen kann, mit anderen Worten, bevor man nicht ermittelt hat, was der Täter „sah" oder „sehen" konnte, kann man nicht wissen, in welchem Zusammenhang das Geschehen zu beurteilen ist, also nicht, ob ein unerlaubtes Verhalten vollzogen wurde. Es ist bei Verzicht auf eine die Lage beurteilende Maßstabsperson insoweit dem objektiven Tatbestand die subjektive Seite vorzuschalten. Liegt das dem Täter erreichbare Bild der Lage im Unerlaubten, so ist Verhaltensunrecht gegeben, also ein subjektiver wie objektiver Versuchstatbestand. Anschließend wäre zu erörtern, ob die Vollendung auf dem erkannten oder erkennbaren oder einem konkurrierenden Risiko beruht (etwa weil das Opfer subjektiv ex ante nicht verantwortlich zu sein schien, objektiv ex post aber auf eigene Gefahr handelte). Wem ein solches Vorgehen nicht paßt, der mag auch bei der Verbrechensfrage die Maßstabsperson für die Lagebeurteilung beibehalten und erst einmal in diesem Sinn objektiv zurechnen; er wird nichts falsch machen, nur eben umständlich verfahren, solange allein die Verbrechensfrage zu beantworten ist. Wiederum gilt das alles ganz entsprechend für die Lehre von der objektiven Beherrschbarkeit. Auch sie kann auf eine objektive Maßstabsperson50 insoweit verzichten, als es um die Lagebeurteilung geht, und statt dessen auf das dem Täter Zugängliche abstellen. Objektiv bleiben dabei die Kriterien, nach denen zwischen dem Beherrschbaren und dem nicht Beherrschbaren unterschieden wird; die gren^bewußte Person bleibt also objektiv bestimmt. Freilich kann auch diese Lehre bei dieser Vorgehensweise nichts über die Beherrschbarkeit ausmachen, bevor nicht die Reichweite der Tätervorstellung ermittelt wurde. Letztlich entscheidet freilich nicht, ob man die Zurechnungs frage eher umständlich oder eher elegant angeht, sondern ob die Trennung in zurechenbare und nicht zurechenbare Risiken überhaupt erfolgt. Wer dabei, aus welchen Gründen auch immer, die objektive Zurechnung beim Vorsatzdelikt scheut, mag das Problem als ein solches der Norminterpretation ohne objektive Zurechnung (aber mit objektiver Festlegung der Normgrenze) behandeln (und ob dieses Vorgehen auch auf das Fahrlässigkeitsdelikt zu erstrecken ist, dürfte gleichfalls eine cura posterior sein). Dabei wird über die Kriterien der Grenzziehung und ihre Ordnung zu Instituten zu handeln sein, soweit die Grenzen der „im 50
Dazu, was die Lagebeurteilung betrifft, oben im Text zu Fn. 4 3 bis 46.
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praktischen Handeln gegebenen Wirklichkeit des sozialen Lebens" 51 in Streit stehen können — „objektive Beherrschbarkeit" oder „erlaubtes Risiko"; nur „Anstiftung zur Selbstgefährdung" oder überhaupt „Handeln auf eigene Gefahr"? etc.; nur die Kontroverse darüber lohnt. Ist dem Täter keine Lage erkennbar, was heißt, bei hinreichender Normtreue erreichbar, die einen Tatbestand verwirklicht, so ist, was die Verbrechens frage angeht, die Feststellung eines „an sich" gegebenen objektiven Tatbestands überflüssig. Beispielhaft gesprochen: Einem ausländischen Autofahrer wurde vertrauenswürdig berichtet, in Deutschland seien Fußgänger an Zebrastreifen wartepflichtig; infolgedessen geht er davon aus, ein sich langsam einem solchen Uberweg Nähernder werde gewiß warten, es bestehe somit keine Verletzungsgefahr, wenn er selbst weiterfahre. Die sorgfältige Feststellung der Unmöglichkeit einer Verletzung schließt jede im Rahmen der §§ 222, 229 StGB (aber auch des § 212 StGB) tatbestandsverwirklichende Lage aus. Daß ein anders begabter Autofahrer eine Verletzung nicht als unmöglich ausgeschlossen hätte, ist für die Verbrechens frage ohne Erkenntnisinteresse, was nicht besagt, daß sich nicht etwa die Frage des Abwehrrechts (defensiver Notstand) danach entschiede. Ist dem Täter, obgleich ihm keine den Tatbestand eines Erfolgsdelikts verwirklichende Lage erkennbar ist, immerhin zugänglich, daß eine Norm besteht, Lagen der vorliegenden Art zu meiden, so verwirklicht er ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Abermals beispielhaft 52 : Ein Arzt weiß zwar, daß eine bestimmte Rezeptur verboten ist, hat aber allerbeste (und kommunikativ relevante) Gründe zu der Annahme, das Medikament werde nutzen; es schadet. Mangels Voraussehbarkeit eines Schadens scheidet ein Verletzungsdelikt aus, aber ein Ungehorsamsdelikt wurde verwirklicht 53 . Ist dem Täter schließlich zwar eine tatbestandsverwirklichende Lage nach Risikohöhe und sonstiger sozialer Konstellation erkennbar, nicht aber, daß bei dieser Lage nach den formellen oder informellen Regeln der Gesellschaft die Konsequenzen seiner Organisation zugeordnet werden, so mag diese Unfähigkeit als eine solche zur Erfassung des socialen Wehdel (Fn. 24). Jakobs, Studien (Fn. 47), S. 66 f. 53 Α. A. Hirsch, ZStW 93 (1981), 831; 94 (1982), 239, 269 f, mit dem Argument, zur „Nichtbefolgung der verbotenen ... riskanten Handlung (sei) ... der Handelnde ... allemal in der Lage" (S. 269). Das ist an sich richtig, aber nicht genug! Unrechtsbewußtsein ist teilbar und deshalb muß nicht nur ein Ungehorsamsumtcht, sondern ein Verlet^ungsunrecht erkennbar sein. 51
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Sinns der Lage den subjektiven Tatbestand ausschließen (die objektiven Zurechnungsvoraussetzungen werden dann als normative Tatbestandsmerkmale begriffen) oder als eine solche zur Erfassung des Unrechts zwar die Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung belassen (die Voraussetzungen lassen sich bei dieser Sicht in Deskriptives auflösen), aber als Normirrtum zu behandeln sein 54 . Nochmals beispielhaft: Weiß ein einreisender Täter, daß sein Kraftfahrzeug nur mit einem einzigen Bremssystem ausgestattet ist und daß dies gegenüber Fahrzeugen mit zwei Systemen eine Risikoerhöhung bringt, hält er diese freilich — nach vertrauenswürdiger Beratung — für allseits toleriert, wie es in seinem Heimatland der Fall ist, so mag nicht „nur" ein Normirrtum gegeben sein, sondern „schon" eine zur Tatbestandsverwirklichung hinreichende Kenntnis fehlen. Es geht also darum, ob die tatbestandliche Lage als normatives oder als deskriptives Tatbestandsmerkmal begriffen werden muß, ob also die Kenntnis der sozialen Inadäquanz oder nur diejenige der inadäquaten Lage zum Vorsatz gehört. Zur Lösung der Verbrechens frage ist die Antwort nur insoweit von Interesse, als die §§16, 17 StGB je unterschiedliche Regeln (Psychologismus — Kenntnisprinzip — versus Verantwortungsprinzip) mit der Konsequenz aufstellen, daß selbst der leichtfertigste Tatbestandsirrtum Vorsatzstrafe ausschließt, ein Normirrtum freilich die Möglichkeit voller Strafe beläßt. Da die Verbrechensfrage nur eine einzige ist - Schuld oder keine Schuld? — muß die Zerreißung falsch sein. Was von den Verbrechensvoraussetzungen zum Unrecht geschlagen wird und was zur Schuld, ist — abgesehen davon, daß mindestens der (vorgestellte) Kausalstrang als minimaler Bezugsgegenstand der Schuld im Unrecht und mindestens ein Bezug auf Unrecht als Schuld bleibt — ein Problem der Verbrechensdidaktik, nicht aber des Verbrechensbegriffs 55 . Die Antwort mag also dahinstehen. Daß sie in einem modernen Strafrechtssystem im Sinne des Verantwortungsprinzips (also nicht psychologisierend) auszufallen hätte (was nicht nur auf § 17 StGB, sondern auch auf einen besser verstandenen — oder reformierten - § 16 StGB zielen mag), bestätigt den Jubilar, der schon am Beginn seines Wirkens die Überlegenheit dieses Prinzips zum Thema des Irrtums über einen Rechtfertigungsgrund bis in feinste Verästelungen demonstriert hat 56 .
Dazu Hirsch, Lenckner-Festschrift (Fn. 1), III.2 (Text zu Fn. 57). Jakobs, Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, S. 41 ff; demnächst eingehend Usch (Fn. 45), 2. Kapitel III, IV. 56 Hirschι Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960. 54
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III. Zusammenfassung 1. Was die Mißbilligung eines Risikos angeht, so bedarf es für die Frage, ob ein Verbrechen vorliegt, keiner objektiven Zurechnung als Zurechnung zu einer Maßstabsperson. 2. Die Unterscheidung „mißbilligte/nicht mißbilligte Risiken" läßt sich als Unterscheidung „Norminhalt/nicht Norminhalt" darstellen. Das zum Begriff des Risikos konstitutive prognostische Moment kann dann freilich nur dasjenige der subjektiven Tatseite sein. 3. Die Vorschaltung der Zurechnung zu einer objektiv bestimmten Maßstabsperson trägt zum Begriff des Verbrechens nichts bei, stört dessen Entwicklung freilich auch nicht. 4. Für die Lehre von der objektiven Beherrschbarkeit gelten die Thesen 1 bis 3 entsprechend.
Der Begriff der Zurechnung MICHAEL KÖHLER
Hans Joachim Hirsch repräsentiert ein Strafrechtsdenken, das im Gegenzug zum Naturalismus und Positivismus den Begriff des personalen Handelns in seiner die Objektivität bestimmenden Macht herausgestellt und dadurch eine grundlegende Neuorientierung der Straftatsystematik angeregt hat 1 . Das weiterführende Element dieser Konzeption ist es, das begreifend-handelnde Subjekt wieder überhaupt für den rechtsnormativen Zusammenhang und dessen Bruch in der Straftat konstitutiv mitanzusetzen, nicht als eine bloß zu „bekämpfende" Gegenwelt und ein Demonstrationsobjekt für andere — „die Gesellschaft" — erscheinen zu lassen. Ganz entsprechend der Entdeckung „subjektiver Unrechtselemente" erhält der auf die Verletzung gerichtete Vorsatz des Täters seine Stelle im Tatbestand des Verbrechens. Die starke Seite dieses Ansatzes gilt es gegen Widersprüche und Rückfälle auf an sich überwundene Positionen festzuhalten und durchzusetzen. Dazu soll beigetragen werden in einer Reflexion über den verbrechenskonstitutiven Begriff der (subjektiven) Zurechnung. Der Grundgedanke der subjektiven Zurechnung soll zuerst im theoriegeschichtlichen Grundriß erinnert werden (I). Sodann wird der gegenwärtige Stand der Strafrechtsdoktrin kritisch darauf bezogen (II). Schließlich werden einige besondere praktische Fragen erörtert (III). I. Der Grundgedanke der subjektiven Zurechnung 1. Zurechnung seit Aristoteles Mit der Zurechnung wird das handelnd-regelbegreifende Subjekt als freier (selbstbestimmter) Grund eines normativ bedeutsamen Geschehens identifiziert 2 . Zurechnung beruht also auf dem reflexiven Bezug des Subjekts auf die objektive Norm des Handelns oder vielmehr deren konkrete Mitkonstitution im Handlungsvollzug. Die Voraussetzung der subjektiven Zurechnung für Verdienst und Strafe ist seit Aristoteles' Aus1 Vgl. die Auseinandersetzungen Hirscbs zur Lehre Weisels in ZStW 93 (1981), S. 831; 94 (1982), S. 239. 2 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Einl. IV (AA VI, 227).
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führungen im 3. Buch der Nikomachischen Ethik europäisches Gemeingut3: Nur freiwilliges Handeln verdient Lob oder Tadel und Strafe, nicht was unfreiwillig, ohne Wissen von der konkreten normativen Bedeutung des Tuns geschieht. Der Gedanke steht freilich zunächst unter einer teleologischen Einheit von Ethik und Recht; durch seine Vernunft hat der Mensch ursprünglich teil an der objektiven Ordnung. Er ist — so Aristoteles — entweder in von Natur („physei") geordneter Gemeinschaft — oder kein Mensch. Daher ist der schwere Normbruch normalerweise seinem bösen Willen zuzurechnen. Die strafrechtliche Zurechnungslehre differenziert das weiter aus. Charakteristisch dafür ist die regelmäßige Zurechnung der ignorantia iuris4. Zurechnung bleibt in dieser Tradition also grundsätzlich an die freie normbezogene Willenshandlung geknüpft 5 . Eine „objektive Zurechnung" in dem extrem gegensätzlichen Sinne der paulinisch-reformatorischen Gnaden- und Verwerfungslehre 6 ist damit, und das bedeutet: mit dem begründeten Selbstbewußtsein des Menschen von eigener Freiheit und Schuld, nicht vereinbar; auch hat die „objektive Zurechnung" später bei Hegel, der diesen Terminus nicht verwendet, keineswegs die Bedeutung, die (subjektive) Zurechnung der gewußt-gewollten Tat zu ersetzen, sondern etwa den Sinn von objektivem Geltungsanspruch einer freiheitsvermittelten Rechtsordnung in der persönlichen Unrechtsverantwortung zivilund ordnungsrechdichen Sinnes7. 2. „Zurechnung' in der empiristischen Teleologie Mit der empiristischen Teleologie, wie sie maßgebend von Hobbes vorgetragen wurde, steht das selbstbezogene, nach Glück und Macht strebende Subjekt in einem bloß rationalen, instabilen Verhältnis zum staatlichen Recht. Dieses gilt als eine äußere Notordnung. „Strafe" wird 3 Vgl. Aristoteles, NE, III, 1 ff; dazu Hardwig, Die Zurechnung (1957), S. 11 ff; Köhler, Die bewußte Fahrlässigkeit (1982), S. 103 ff; s. auch Hruschka, Strukturen der Zurechnung (1976). 4 Vgl. maßgebend Pufendorf, De iure naturae et gentium (1672), 1 V 8; theoriegeschichtlich Schaffstein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen (1930), S. 134 ff; Arthur Kaufmann, Unrechtsbewußtsein (1949); ders., Schuldprinzip (1961), S. 130 ff; Groteguth, Norm- und Verbots (un)kenntnis (1993), S. 24 ff. 5 Vgl. Pufendorf (Fn. 4), 1 V 8; dazu Hardwig (Fn. 3), S. 35 ff; zusf. Köhler, Strafrecht Allg. Teil (1997), S. 368 f, m. w. N. 6 Zusf. Peters, Imputation, in: HWPh (1976), Sp. 274. 7 Hegel, Rechtsphilosophie, § 120, spricht in diesem Sinne vom „Recht der Objektivität"; dazu eingehend die Hamburger Dissertation von Molkentin (demnächst); zum Begriff der objektiven Zurechnung IzarenHegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung (1927).
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Der Begriff der Zurechnung
zu einem Mittel des sichernden oder gegenmotivierenden Rechtszwangs; nach den Präventionstheorien ist Zweck der Strafe, zum Gehorsam zu zwingen, abzuschrecken8. „Subjektive Zurechnung" entfernt sich dadurch von der alten teleologischen Einheit. Die Verbindung der Person zum Staat und seiner Rechtsordnung wird zunächst äußerlich motiviert. Der Sache nach wird die subjektive Seite des Verbrechens zum Kriterium der Abweichung von der objektiv-äußeren Norm und zum Grund der bloßen Motivierbarkeit durch den Präventionszwang des absolutistischen Staates. Besonders deutlich wird das an Feuerbachs Versuch, die Straftheorie des psychologischen Zwangs und die Imputationslehre miteinander zu verbinden — mit bemerkenswerten Widersprüchlichkeiten besonders zur Frage der Strafbarkeit der culpa. So bestimmte er zunächst die culpa als willentliche (vorsätzliche) Unaufmerksamkeit, rückte davon aber schon in den Konkretisierungen, später auch im Grundsatz wieder ab und fiel auf die Definition der unbewußten culpa als Verstandesmangel („Unbedachtsamkeit") zurück9. 3. Zurechnung nach dem freiheitlichen
Rechtsbegriff
Mit dem freiheitlichen Rechtsprinzip vertieft sich der Begründungszusammenhang. Praktische Objektivität, insbesondere die Rechtsordnung legitimiert sich neu durch die vernünftige Selbstbestimmung in Gemeinschaft — die kopernikanische Wende im europäischen Denken von Hobbes über Loche, Rousseau bis zu KantXi). Freies Handeln bestimmt sich als Akt der Anwendung einer begriffenen Regel, eines allgemein gültigen Gesetzes. Für dessen Objektivität ist die Vernunft des Subjekts der Idee nach mitkonstitutiv. Hervorzuheben ist: Dies gilt auch für das Rechtsgesetz, also die notwendige Anerkennung der Person des anderen im äußeren Verhältnis. Kant formuliert: „Die moralische Persönlichkeit ist nichts anderes, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen." Der freiheitsrechtliche Grund umfaßt im unterschiedlichen Geltungsmodus Recht und Ethik mit 11 . „Zurechnung (im8 Vgl. Hobbes, Leviathan, Kap. 28; Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts I (1799), S. 41 ff; zur Gebrochenheit der Straftheorie Fichtes s. Zactyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981), S. 104 ff. 9 Vgl. Feuerbach, Revision II (1800), S. 47 ff; ders., in: Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde, II 1 (1800), S. 193, 209 ff; sodann ders., Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (11. Aufl. Gießen 1832), §§ 55 ff; dazu Köhler (Fn. 3), S. 391 ff. 10 Zur Aktualisierung E.A. W o l f f , in: Strafrechtspolitik (hrsg. von Hassemer, 1987), S. 137 ff; Köhler (Fn. 5), S. 9 ff. 11 Kant, MdS, Einl. IV (AA VI, S. 221 ff, 223).
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putatio) in moralischer Bedeutung ist das Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann Tat (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird." 12 Die Freiheit der Handlung ist also eigentlich „Grund der Imputabilität derselben"13. Für die Begriffe Unrecht und Verbrechen folgt daraus: Das Verbrechen ist zwar im äußeren Rechtsverhältnis notwendigerweise eine objektiv-äußere Verletzung rechtlicher Freiheit, Unrecht; das schließt eine bloß subjektive, ethisierende Verbrechensauffassung aus (etwa im Sinne der sog. subjektiven Unrechtslehre, wie noch zu erinnern sein wird). Aber das Erfordernis der subjektiven Zurechnung gewinnt in der Strafrechtsbegründung seine eigene, von der alten Teleologie befreite Selbständigkeit. Zum einen: Wenn allgemeine Selbstbestimmung konstitutiv für das Recht wird, dann muß sich das Verbrechen als fundamentale Negation des Rechts besonders auch durch die negative Allgemeingültigkeit der die Objektivität des interpersonalen Verhältnisses formenden subjektiven Entscheidung bestimmen. Das Verbrechen ist in gleicher Weise objektiver und subjektiver Bruch des Rechtsverhältnisses. Zum anderen: Die subjektive Zurechnung im konkreten Rechtsverhältnis wird unter dem Freiheitsprinzip zur relativ selbständigen Voraussetzung. Diese kann nicht mehr so selbstverständlich unterstellt werden wie in der teleologisch geschlossenen Welt. Die Behauptung, Werte und Normen seien einfachhin gegeben, wird fraglich14. Zumal in Anbetracht der Komplexität moderner Rechtsverhältnisse wird der subjektive Geltungsvollzug als eigene Vernunftleistung erkennbar. Es bedarf einer Konvergenz zwischen freiheitlichen Institutionen und Rechtsregeln einerseits, der praktisch-rechtlichen Selbstbewußtseins- und Haltungsbildung der Person andererseits. An solchem konkreten Einbezug kann es aus subjektiv nicht zurechenbaren Gründen fehlen. Charakteristisch für diese Einsicht ist die prinzipielle Anerkennung des schuldausschließenden Rechtsirrtums in der Strafrechtslehre. Diese auf der begriffenen Freiheit beruhende Eigenständigkeit der subjektiven Zurechnung hat besonders eindrucksvoll Hegel formuliert: „Das Recht des Willens aber ist, in seiner Tat nur dies als seine Handlung anzuerkennen, und nur an dem Schuld zu haben, was er von ihren Voraussetzungen in seinem Zwecke weiß ... die Tat kann nur als Schuld des Willens zugerechnet werden; - das Recht des Wissens"; im gleichen Zusammenhang ist vom „Recht der
Kant, MdS, Einl. IV (AA VI, S. 227). Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 476. 14 Zur Kritik s. Groteguth (Fn. 4), S. 24 ff; zur weiteren Entfaltung Köhler (Fn. 5), S. 402 ff. 12 13
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Subjektivität" die Rede 1 5 . Diese Einsicht wird freilich nur mit Brechungen rezipiert, wie besonders die fortdauernde Kontroverse zwischen Vorsatz- und Schuldtheorie zeigt. Festzuhalten ist aber: Aus dem freiheitlichen Rechtsprinzip resultiert ein Begriff des Verbrechens als Handlung, die eine objektiv schwere und subjektiv zurechenbare Negation des rechdichen Anerkennungsverhältnisses enthalten muß.
II. Zum Stand der Zurechnungslehre Die seitherige Entwicklung kann man als Prozeß der Verdunklung des Prinzips und einer Wiederannäherung beschreiben — mit Brechungen und Widersprüchen. /. „Subjektive" Zurechnung im Positivismus Im klassischen Verbrechensbegriff des Positivismus bedeutete subjektive Zurechnung die „psychische" Beziehung des Täters zur objektiv tatbestandsmäßigen und formell-rechtswidrigen Handlung in den nebeneinandergestellten Formen „Vorsatz" und „Fahrlässigkeit" 16 . Die den Positivismus prägende Asymmetrie zwischen „Subjekt" als Untertan und objektivem Recht — charakteristisch dafür ist die Imperativentheorie - beraubte das Theorem der subjektiven Zurechnung seines Fundamentes im Rechtsbegriff und in der Strafbegründung. Wie konventionell-äußerlich und reflexionslos schließlich die „Schuldformen" Vorsatz und Fahrlässigkeit gleichsam mitgeschleppt werden, weil das Gesetz es befiehlt, ist erstaunlich. Mit der Herrschaft des gesellschaftlichen Zwecks im Recht, den Zwecktheorien im Strafrecht — gipfelnd in der modernen Schule — wird der Verbrecher vollends zum objektivsubjektiven Störpotential bestimmt: Die subjektive Seite der Tat sinkt damit vom Rechts- und Verbrechenskonstitutivum herab zu einem Moment der objektiven Gefährlichkeit unter anderen. In einem „Strafrecht", das sich als Bekämpfungsrecht versteht, hat deshalb zunächst weder das Festhalten an der Schuldrelevanz des Verbotsirrtums noch die virulente Kritik an der Strafbarkeit der bloßen culpa eine Chance. Bei noch fundamentaleren Abweichungen, insbesondere der Hang- oder Gewohnheitskriminalität, verliert der Begriff der subjektiven Zurechnung und der Schuld seine schützende Funktion im nur von Zweckmäßigkeit gesteuerten Ubergang zum Maßnahmerecht. 1 5 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie, §§ 115 ff, 117, 120, 132; dazu Köhler {Fn. 3), S. 199 ff; den. (Fn. 5), S. 117 f. 1 6 Vgl. Merger, Moderne Wege (1950), S. 27; Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre (1968), S. 19 ff.
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2. Vom wertbe^iehenden Denken %um Funktionalismus Mit der teleologisch-wertbezogenen, dann personal-ethischen Fassung des Verbrechens (Verbrechen als Rechtsgutsverletzung, als Pflichtverletzung, Gesinnungsunwert) ergibt sich eine mehrdeutige Verschiebung. Einerseits konstituiert die personale oder finale Handlung mit Bezug auf die Tatbestandsverwirklichung den Verbrechensbegriff17. Die starke Seite der finalen Handlungslehre Wetzls ist die, wenn auch zunächst instrumental verkürzte, Wiederanknüpfung an Hegels Handlungstheorie im Begriff des Vorsatzes: Vorsätzliches Handeln ist kein bloßer Naturalismus, sondern die selbstbewußte Konzeption der Wirklichkeit. In dieser Logik liegt aber: Maßgebend wird die Kenntnis der normativen Bedeutung, das Wissen des Täters vom Rechtsgut, das er handelnd negiert. Das subjektive Unrechtselement etwa der Zueignungsabsicht beim Diebstahl kommt ohne das subjektive Begreifen fremden Eigentums nicht aus. Ahnlich verhält es sich mit dem Verletzungsvorsatz überhaupt; schon die Berücksichtigung von Nebenfolgen läßt sich nicht bloß instrumental, sondern nur durch ein normatives Moment denken. Andererseits bleibt aber die Strafrechtskonzeption des Finalismus in der Grundlage einer objektiven Wertteleologie verhaftet. Der Wille des Täters ist in dieser Sicht bloß Objekt der Wertung; Unrecht wird wesentlich zum „sozialethischen" Aktunwert. Besonders in der Nachfolge Armin Kaufmanns vertieft sich eine subjektiv-ethisierende Unrechtslehre; diese bildet die „normative Schuldlehre" nochmals ab 18 . „Subjektive Zurechnung" ist daher nach dieser Lehre kein einheitlicher Grundsatz. Einesteils — im Vorsatzbegriff — bedeutet sie einen wirklichen subjektiven Geltungsvollzug. Anderenteils meint man aber die bloße Möglichkeit zur Einsicht — „subjektive Erkennbarkeit", „Vermeidbarkeit", „Vorwerfbarkeit". Der Bruch zwischen Elementen der subjektiven Zurechnung und einer objektiv-teleologischen Zuschreibung schlägt sich nieder in der normativ-objektiven Definition der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums mit hervorgehobenen Bezugnahmen auf den Affekttäter, den Hangtäter, den Uberzeugungstäter19. Auch die behauptete Strafbarkeit der unbewußten Fahrlässigkeit gehört dazu. Mit wirklichem Verschulden — subjektiver Zurechnung strengen Sinnes — haben diese Bestimmungen jedoch nichts zu tun. Diese Grundwidersprüchlichkeit 1 7 Vgl. Weisel, Das Deutsche Strafrecht (11. Aufl. 1969), S. 1, 33 ff; Gallas (Fn. 16), S. 19 ff; Hirsch (Fn. 1). 1 8 Vgl. Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie (1954), S. 69 ff; kritisch Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 240 ff, 250 f. 1 9 Vgl. BGHSt. 2, 194, 205 ff.
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prägt immer noch die dominierende Doktrin und die Gesetzeslage sowie die Strafrechtspraxis. Zumal bei der Fahrlässigkeit, aber auch bei der Auslegung der „Vermeidbarkeit" des Rechtsirrtums, des „Anlasses" zur Normreflexion ist der Widerspruch als solcher immer auch empfunden worden. Der Schritt von der objektiven Wertteleologie zum Funktionalismus in der Strafrechtslehre ist nicht weit 20 . An die Stelle des objektiven Wertbezuges und einer so verstandenen Norm setzt sich die Funktion der Gesellschaft oder des „Systems". Fundamental ist allerdings die Rücknahme des in Weisels Handlungstheorie eigentlich Angelegten. Terminologisch zeigt das der Verzicht auf den Ausdruck der (subjektiven) Zurechnung zugunsten der Termini der „Zuständigkeit" oder „Zuschreibung". Theoriegeschichtlich betrachtet wird die //«¿¿/-Referenz um das „Recht der Subjektivität" und Hegels freiheitsbegriffliche Explikation der aristotelischen Zurechnungslehre verkürzt. In der Sache selbst wird „Schuld" zuerst als Ableitung aus einer gesellschaftlich legitimierten Generalprävention funktionalistisch unterbestimmt, dann aber — in auch terminologischer Annäherung an Weisel — als „Rechtsuntreue gegenüber der legitimen Norm" definiert 21 . Weder die Normlegitimation noch der Schuldvorwurf werden aber hinreichend begründet. Normlegitimierend wirken soll „nicht die Festlegung der Binnenorganisation von Subjekten auf eine Norm, sondern die Zuschreibung an eine Person, sie beanspruche eine Rolle, zu der die Beachtung der Norm gehört, insbesondere die Rolle des in seiner Verhaltensgestaltung freien Bürgers". Aber entweder konstituiert die rechtsvernünftige Selbstbestimmung handelnder Subjekte prinzipiell die Rechtsnorm mit (und zwar nicht nur „insbesondere"), oder deren Legitimität wird nur teleologisch-objektivistisch behauptet („Zuschreibung", „Norm gehört dazu"), ohne daß der Grund der Setzung für freie Subjekte ausgewiesen wird. Zweideutig ist sodann, was „Mangel an Rechtstreue", „Rechtsuntreue" über den Sachverhalt des objektiven Unrechts hinaus schuldkonstitutiv bedeuten soll. Hält man sich an die besonderen Auslegungen, so werden zunächst Mangelsachverhalte angeführt - etwa „mangelndes Interesse am Recht", „Ablehnung von Erkenntnisgegenständen". Selbst die „Unkenntnis" der möglichen Tatbestandsverwirklichung, also die objektive Fahrlässigkeit, soll als „Unwissenheit eines am Wissen nicht Interessierten" eigentlich die Vorsatzstrafe verdienen — entgegen einer angeblich 20 Die folgende Kritik bezieht sich auf Jakobs, Schuld und Prävention (1976); ders., Das Schuldprinzip (1993). 21 Vgl. Jakobs, Das Schuldprinzip (Fn. 20), zusf. S. 35.
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„psychologisierend" festgelegten Vorsatzgrenze22. Aber der Vorsatz trägt als frei-normbezogenes Handeln selbst den Zurechnungsgrund. Denn entweder ist die „Rechtsuntreue" eine Handlung, die der normativen Anforderungen (zu „Treue") eigentlich bewußt ist — ein entschieden handelndes, schließlich vielleicht habituelles Sich-„Abwenden"; es setzt dann aber den Schluß auf die Besonderheit der normbezogenen Handlungssituation, den erkannten „Anlaß" im personalen Rechtsgut voraus. Die weitere Unterscheidung zwischen Gefährdungs- und Verletzungsvorsatz beruht darauf; ob ihre Schwereeinstufung ausweislich des Strafmaßes im Gesetz richüg getroffen ist, mag für den Begründungszusammenhang dahinstehen23. Oder „Untreue" wird als eine gleichsam ursprüngliche Handlung unterstellt und ihr eine je situative objektive Normwidrigkeit zugeordnet, ohne daß ein konkreter, sei es auch habitueller Entscheidungszusammenhang für das handelnde Subjekt wirklich aufgewiesen wird. So wird die konstitutive Stelle des Vorsatzes oder subjektiver Unrechtselemente im Verbrechensbegriff überhaupt in Frage gestellt. Die objektive Abweichung als solche, die zur „Rechtsblindheit" stilisierte Fahrlässigkeit wird zur Grundform des „Verbrechens". Gegen diese Unterstellung wird jede Verteidigung aussichtslos. Tatbezogene „Schuld" in einem gegenüber objektivem Unrecht eigenständigen, strafbegründenden Sinne ist damit aber nicht aufgewiesen. 3. Die Wiederaufnahme des Zurechnungsbegriffs Arthur Kaufmanns Willensschuldlehre repräsentiert dagegen eine weitgehende Wiederannäherung an den Grundgedanken der Zurechnungslehre 24 . Auf der Grundlage eines Begriffs personaler Würde in Freiheit (Selbstbestimmung) definiert Kaufmann Schuld als „freie, selbstverantwordiche Willensentscheidung gegen eine erkannte sittliche Pflicht". Daher beharrt er darauf, daß die Strafbarkeit die bewußte Negation der Norm voraussetzt; deshalb folgt er zur Frage des Verbotsirrtums der sog. Vorsatztheorie. Eingehend kritisiert er die Strafbarkeit der schlichten unbewußten Fahrlässigkeit (culpa). Auch Schmidhäuser bestimmt Schuld als das auf Werterleben, auf Teilhabe des Täters an den Gemeinschaftswerten beruhende rechtsgutverletzende „geistige Verhalten"25. 22 Vgl .Jakobs (Fn. 21), S. 18 ff; s. bereits detts., Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt (1972), S. 104 f. 23 Vermengend Jakobs (Fn. 21), S. 20. 24 Vgl. Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 127 ff; s. auch Hardwig (Fn. 3). 25 Vgl. Schmidhäuser, Strafrecht Allg. Teü (2. Aufl. 1975), 6/16 ff; 10/1 ff; im Übergang zur sog. Vorsatztheorie 10/57 ff.
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Das führt ihn gleichfalls zur sog. Vorsatztheorie, während er in der Frage der Strafbarkeit unbewußter Fahrlässigkeit weniger konsequent ist als Kaufmann. In diesen Kontext einzuordnen sind auch ältere Anläufe, so etwa Bockelmanns entschiedener Ansatz, die Gewohnheits- oder Hangtäterschaft — gegen diffuse Vorstellungen von Charakterschuld — auf subjektive Entscheidungsprozesse zurückzuführen; er prägt dafür den Begriff der Lebensentscheidungsschuld — übrigens deutlich in aristotelischer Tradition26. Das ist — trotz individualistischer Verengungen — ein schlüssiger Ansatz, vom Grundsatz der subjektiven Zurechnung aus den Phänomenen schuldstrafrechtlich gerecht zu werden. Denn es kommt darauf an, das in der Strafrechtswirklichkeit der modernen Verhältnisse imponierende Phänomen der habituellen Delinquenz, das sich stets in institutionellen Verhältnissen und typischerweise von Jugend an entwickelt, nicht bloß als objektiven Gegensatz (als „Devianz") zu definieren. Das ist unter Umständen auch für die Gesellschaft peinlich, weil sich die Schuld an der Fehlhaltung auf verschiedene Personen verteilen und nach objektiv-systemischen Verantwortlichkeiten zurechtrücken mag. Daraus ergeben sich strikte Folgerungen für das Strafmaß, ebenso für die notwendige Härte der Strafen wie für ihre chanceneröffnende Ausgestaltung. All dies wird zur Frage der zurechnenden Strafmaßgerechtigkeit und bleibt nicht obrigkeitsstaatlichem oder wohlfahrtsstaatlichem Gutdünken überlassen. Die Willensschuldlehre Kaufmanns beruht freilich auf teleologischer Gebundenheit der „Freiheit" an das als objektiv vorgegeben vorgestellte Sittengesetz und identifiziert deshalb Schuld mit sittlicher Schuld. Dies ist aber eine methodologische Engführung, die dem eigenen Objektivitätsgehalt der personalen Selbstbestimmung in Gemeinschaft und der relativen Besonderheit des Rechts gegenüber der Ethik, die äußeren Verhältnisse in Freiheit zu ordnen, nicht hinreichend gerecht wird. Eine Theorielinie, die von E. A. Wolff angeregt ist, gründet demgegenüber das Strafrecht und alle seine Begriffe auf das Prinzip des freiheitlichen Rechts im Ausgang von Kants Rechtsphilosophie. Danach bestimmt sich das Verbrechen als von objektiven Rechtsverletzungen (Zivilunrecht, Verwaltungsunrecht) grundsätzlich unterschiedener Bruch des rechtskonstitutiven Anerkennungsverhältnisses — die Verletzung des „Rechts als Recht" (Hegel). Substantielle Voraussetzung dafür ist einesteils die 26 Vgl. Bockelmann, Studien zum Täterstrafrecht (1940); zum Begründungszusammenhang Ε.Λ. W o l f f , Der Handlungsbegriff in der Lehre vom Verbrechen (1964); Köhler (Fn. 5), S. 353 ff; KJesc^ewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 105 ff.
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Objektivation des Rechtsbruchs im äußerlich praktischen Verhältnis als freiheitsbedeutsam für den anderen — die unwirksame bloße „Expression" einer unrechtlichen Intention genügt nicht. Anderenteils muß das Verbrechen aber in der subjekdven, die Objektivität bestimmenden Entgegensetzung einer negativ-allgemeinen Unrechtsregel durch den Täter, der eigentlich die konkrete Rechtsregel als für sich gültig begriffen hat, bestehen. Oder anders: Das Verbrechen ist handelnde Geltungsnegation des Rechts von subjektiv-objektivem Allgemeinheitsanspruch. Dieser Begründungszusammenhang, der die Stärke des personalen Handlungsverständnisses aufnimmt, führt zu einer kompromißlos-strengen Durchbestimmung der subjektiven Zurechnung im Begriff des Verbrechens. III. Das Konzept der subjektiven Zurechnung im besonderen 1. Umriß eines strikten Konzepts der subjektiven Zurechnung Ein begründetes und widerspruchsfreies Konzept der subjektiven Zurechnung 27 im Verbrechensbegriff erfordert hauptsächlich einen Begriff des Tatvorsatzes als praktischer Geltungswille mit Bezug auf die konkrete Verwirklichung des objektiven (Verletzungs-)Tatbestandes und einen Begriff des Unrechtswillens, der auf konkreter Normeinsicht des Täters beruht. Kritisch bedeutet das: Ein fahrlässiges Verbrechen ist, abgesehen von der erforderlichen Schwere der Sorgfaltsverletzung, nur als „bewußtes" möglich, also unter der Voraussetzung einer willentlichen Entscheidung zur normwidrigen Gefährdung. Dagegen ist die „unbewußte Fahrlässigkeit" (culpa) keine Straftat. Es bedeutet weiter: Der „vermeidbare" Normirrtum (Verbotsirrtum) setzt seinerseits einen aktuellen Unrechtswillen voraus, der sich auf eine vorgelagerte Pflicht zur objektiven Normklärung bei subjektivem Geltungszweifel bezieht. Die objektive Unbestimmtheit der Norm darf also nicht dem Täter zur Last fallen, so daß man an ihm die zunächst noch ungeklärte Normgeltung erst bestimmt und mit „Strafe" demonstriert. Praktisch imponierende Tatbesonderheiten wie die Affekttat oder die Tat aus einem eingewurzelten Habitus dürfen nicht bloß als objektive Abweichungen begriffen werden, sondern müssen gleichfalls aus einem subjektiv zurechenbaren Entscheidungsprozeß bestimmt werden; dieser kann allerdings Momente lebensgeschichtlich und institutionell vermittelter Haltungsbildung mit aufnehmen. 27
Zum folgenden eingehend Köhler (Fn. 5); s. auch Groteguth (Fn. 4).
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Schließlich kann das Subjekt der Tat und ihrer subjektiven Zurechnungsvoraussetzungen nur das norm- und geltungsreflektierende menschliche Subjekt selbst sein. Dadurch identifiziert es sich zugleich als das Subjekt von Verbrechen und Strafe, sei es auch im objektivsubjektiven Zusammenwirken mit anderen. Kritisch bedeutet das: Die Meinung, man könne vom geltungsreflektierend-handelnden Subjekt der Tat noch ein gesondertes „Zurechnungssubjekt" für die Strafbarkeit unterscheiden, ist verfehlt. Entsprechende Vorstellungen einer von der subjektiven Zurechnung gelösten „Verbandsstrafbarkeit" laufen auf die „Bestrafung" Unschuldiger hinaus 28 . 2. Alte und neue Widersprüche Verglichen mit diesem das „Recht der Subjektivität" wahrenden Zurechnungskonzept spiegeln Doktrin und Praxis des Strafrechts noch eine Zwiespältigkeit in der Grundlage wider. Die alten offenen Widersprüche verbinden sich mit der („normativen") Schuldtheorie. Der nach einem letztlich objektivierenden Maßstab „vermeidbare" Verbotsirrtum soll in Anwendung von § 17 S t G B strafbar sein 29 . Die subjektive Zurechnung wird damit durch „Vorwerfbarkeit" ersetzt. Sieht man von systematischen Einordnungsfragen ab, so bringt in der Sache die sog. Vorsatztheorie die Grundwidersprüchlichkeit einer solchen Begriffsbildung, den Verstoß gegen das Schuldprinzip zwingend zur Geltung 30 . Die subjektive Zurechnung trotz Normirrtums ist allerdings dann kein Widerspruch, wenn eingesehen wird, daß eine unrechtseinsichtige Entscheidung sich auch gegen eine erkannte vermittelnde Normklärungspflicht bei vorläufiger subjektiver Ungewißheit wenden kann. Diese Form von Norm-„Leichtsinn" ist gerade für unübersichdiche Verhältnisse intuitiv gut zugänglich; in diesem Sinne kann gültig von einem willentlich schuldhaft „vermeidbaren" Normirrtum die Rede sein, der weniger schwer wiegt als das direkte Ubergehen der Norm. Das geltende Gesetz zum Normirrtum und der Grundsatz der subjektiven Zurechnung können also gut in Ubereinstimmung gebracht werden. Eine ähnliche Kritik ist gegenüber der von der normativen Schuldtheorie behaupteten Strafbarkeit der unbewußten Tatfahrlässigkeit anzu-
Eingehend von Freier.; Kritik der Verbandsstrafe (1998). Vgl. BGHSt. 2, 194; zml Jescheck/Weigend, Allg. Teil, 5. Aufl. 1996, S. 452 ff. 3 0 Eingehend Arthur Kaufmann (Fn. 24), S. 130 ff; Schmidhausen Strafrecht Allg. Teil, 10/57 ff; klärend Groteguth (Fn. 4). 28
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bringen 31 . Der Widerspruch gerade auch zum Ansatz der finalen Handlungslehre ist hier besonders deutlich. Dagegen genügt es nicht, auf der objektiven Seite Einschränkungen in Richtung auf grobe oder schwere Fahrlässigkeit (Leichtfertigkeit) vorzunehmen. Denn es gibt auch das schuldlose Augenblicksversagen bei objektiv schwerer Fahrlässigkeit. Hier hat das Strafrecht aus dem Grunde der subjektiven Zurechnung keine Legitimation. Aufgabe einer prinzipienorientierten Strafrechtswissenschaft ist es, dies unablässig „kontrafaktisch" zur Geltung zu bringen. Der Begriff des Tatvorsatzes ist eigentlich am stärksten von der handlungstheoretischen Orientierung in der Folge des Finalismus geprägt. Aber es bleiben Auseinandersetzungen mit einer Tendenz, anstelle der subjektiven Zurechnung die objektive genügen zu lassen. Methodisch ist es verfehlt, die Vorsatzfrage so zu stellen, als handle es sich um die mehr oder weniger weitgehende Abbildung eines objektiv vorausgesetzten Gefährdungs- oder Verletzungsgeschehens; dies ist der Mangel der älteren und jüngeren „Vorstellungstheorien" 32 . Umgekehrt ist im Willens- und Vorsatzbegriff die subjektive Konzeption (Hervorbringung) eines objektiven Geschehens gefaßt. Vom Handlungs- und Zurechnungsbegriff aus bestimmt sich der Vorsatz also richtig als (objektiv tatbestandsbezogener) Verwirklichungswille, der sich durch ein subjektiv-praktisches Geltungswissen bezüglich eines teleologischen (oder finalen) Geschehensverlaufs konstituiert; das bedeutet eine Einheit von Wissen und Wollen, nicht etwa Wissen und Wollen als getrennte Entitäten 33 . Den Tatbestand einer Verletzung oder Gefährdung verwirklichen zu wollen, heißt daher, ihn subjektiv zu begreifen als objektiv-regelhaft gesetztes Teilmoment der eigenen Handlungskonzeption; das ist ein affirmatives praktisches Geltungsurteil („es soll so sein"), welches eine Einheit von konkreter Realmöglichkeit und ihrem immanenten Zufall (d. h. Wirklichkeit) einschließt. Eindeutig liegt ein so begriffener Tatvorsatz bei der Absicht engeren Sinnes und beim Handeln in Gewißheit bezüglich einer „Neben"-Folge vor. Nicht vorsätzlich handelt der Täter dagegen, insofern er zu einem negativen Geltungsurteil hinsichtlich der als möglich erkannten Verwirklichung des (Gefährdungs- oder VerletEingehend Köhler (Fn. 5), S. 171 ff. In dieser Richtung zuletzt Puppe, Vorsatz und Zurechnung (1992), S. 35 ff; zur Kritik Köhler (Fn. 3), S. 296 ff. 3 3 Vgl. grundlegend E.A. Wolff, Gallas-Festschrift (1973), S. 197 ff; treffend die Formulierung Hirschs, ZStW 94 (1982), S. 250, „jede Handlung (ist) eine Symbiose von subjektiver und objektiver Seite, nämlich Willensverwirklichung"; s. auch Köhler (Fn. 3), S. 199 ff; ders. (Fn. 5), S. 161 ff; Frisch, Vorsatz und Risiko (1983), S. 255 ff. 31
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zungs-)Tatbestandes gelangt. Dadurch bestimmt sich auch der praktisch bedeutsame Grenzbegriff des dolus eventualis. Nimmt man den Begriff des Willens und der subjektiven Zurechnung ernst, dann kann für den Verletzungsvorsatz nicht genügen, daß der Täter die Möglichkeit oder die Gefahr des tatbestandsmäßigen Verletzungserfolges erkannt hat; denn das bedeutet nur Gefährdungsvorsatz. Vorauszusetzen ist vielmehr, daß er den tatbestandsmäßigen Erfolg selbst mit einem affirmativen Geltungsurteil für sich einsetzt, und zwar so, daß das Ausbleiben des Erfolges im Status des vagen Zufalls, ohne regelhafte Chance bleibt. Nur dann hat er hinsichtlich der Tatbestandsverwirklichung praktisches Wissen oder anerkennendes Geltungswissen. Dieses praktische Fürsich-Einsetzen des Verletzungserfolges selbst wird auch dem Sprachsinn vom dolus eventualis am nächsten ausgedrückt durch die Formulierung, der Täter müsse „für den Fall des Erfolgseintritts in diesen eingewilligt" haben 34 . Freilich darf die „Einwilligung" nicht als hypothetischer „Wille" mißverstanden, sondern muß als aktueller, durch die Einsicht in die Situation unausweichlicher Geltungswille interpretiert werden: „Sich abfinden" mit der Tatbestandsverwirklichung, diese „ernst nehmen", „billigen" sind ähnliche Annäherungen - im Unterschied zum „vertrauen" auf das Ausbleiben des tatbestandsmäßigen Erfolges bei der bewußten Fahrlässigkeit (luxuria). An diesen Formulierungen wird zwar kritisiert, sie seien bloß beschreibend, setzten ein unausgewiesenes Willens- oder „emotionales" Moment neben den eigentlich maßgebenden Wissenssachverhalt 35 . Aber damit werden diese Formeln doch auch in der Sache unterbestimmt, da sie einen unter dem Gesichtspunkt der subjektiven Zurechnung und des Verwirklichungswillens durchaus maßgebenden gegensätzlichen Urteilsinhalt praktischen Geltungswissens (und Wollens) des normreflektierenden Subjekts ausdrücken: „Es ist zwar eine Erfolgsmöglichkeit, Verletzungsgefahr real gegeben, aber letztlich wird nichts passieren." Dieses subjektiv gegensätzliche praktische Geltungsurteil über die Wirklichkeit eigenen Handelns macht den „Leichtsinn" oder die bewußte Fahrlässigkeit aus; es genügt nicht, um Verletzungsvorsatz anzunehmen. Als relativ selbständige subjektive Geltungsreflexion wird es nicht durch objektive Gefahrdefinitionen bestimmt oder ausgeschlossen, wie jedoch auch neuere Formulierungsversuche behaupten, die für den Verletzungsvorsatz auf eine „unabge-
Vgl. Köstlin, Neue Revision (1845), S. 259; zusf. Maurach, Strafrecht Allg. Teil (3. Aufl. 1965), S. 226 f. 35 Klärend die Kritik von Armin Kaufmann, ZStW 70 (1958), S. 64 ff; zuletzt Puppe (Fn. 32). 34
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schirmte Gefahr" oder eine „qualifizierte Gefahrvorstellung" abstellen 36 . Denn das bewußte Eingehen einer (qualifizierten) Gefahr bedeutet nicht schon Verletzungsvorsatz; Gefährdungs- und Verletzungstatbestand müssen objektiv wie subjektiv unterschieden bleiben 37 . Die den Phänomenen nahe Entscheidungspraxis der Rechtsprechung kommt daher auf der Grundlage der „Einwilligungs"-Formeln ganz überwiegend zu treffenden Unterscheidungen. Praktisch nimmt die im ganzen kritische Rechtsprechung dolus eventualis an, wenn der Täter zwar ohne Verletzungsabsicht, aber objektiv und subjektiv höchst gefährlich handelte 38 . Dies sind Fälle nahe der subjektiven Gewißheit, wo allenfalls die Hoffnung auf den Zufall, normalerweise die gleichgültige Negation gegenüber dem anderen übrig bleibt. Beispielsweise stößt der Täter dem Opfer mit Wucht ein Messer in den Leib und bekundet danach, er habe dem anderen „einen Denkzettel verpassen" wollen. Dagegen wird in Konstellationen hoher Gefahr, in denen der Täter gleichwohl auf eine regelmäßige Vermeidechance setzt, der Vorsatz treffend ausgeschlossen; ein praktisch häufiges Beispiel: Der Täter fährt mit hoher Geschwindigkeit auf eine Polizeisperre zu im Vertrauen darauf, der erfahrene Polizist werde es nicht darauf ankommen lassen, sondern rechtzeitig beiseite springen. In solchen Fällen wird regelmäßig zutreffend zwar ein vorsätzliches Gefährdungsdelikt angenommen, aber ein (versuchtes) vorsätzliches Verletzungsdelikt ausgeschlossen. In der Sache überzeugend unterscheidet die Rechtsprechung auch zwischen dem Begriff des dolus und einer problematischen Beweisregel zu seiner Feststellung. Die in der Doktrin vertretene Gegenauffassung läßt die Vorstellung von der Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit des Erfolges, von der „unabgeschirmten" oder „qualifizierten" Gefahr für den Verletzungserfolgsvorsatz zureichen 39 . Der Sache nach liegt darin eine Wiederannäherung an die alte dolus-indirectus-Lehre: Ausdrücklich soll eine „normative" Betrachtungsweise oder ein objektives Zurechnungskonzept den „Vorsatz" begründen 40 . Dies konvergiert mit einer subjektiv-ethisierenden Vgl. Helberg, JZ 1988, 573, 635; Puppe (Fn. 32), S. 37 ff. Vom objektiven Tatbestand her klärend Frisch (Fn. 33), S. 92 ff. u. ö. 3 8 Grundlegend BGHSt. 7, 363; zur Judikatur Köhler (Fn. 3), S. 45 ff; ders. (Fn. 5), S. 168f, m. w. N. 3 9 Vgl. Helberg (Fn. 36); Puppe (Fn. 32). 40 Puppe (Fn. 32), S. 36 ff, hält es für „rechtsethisch" zweifelhaft, ob bei ernst zu nehmender Gefahr ein Leichtnehmen im Vergleich zum Ernstnehmen überhaupt eine günstigere Bewertung verdiene, und setzt anstelle des subjektiven Tatbestandes eine „Interpretation des Täterhandelns nach allgemeinen Maßstäben der Vernunft" (S. 39 f). 36
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Unrechtsauffassung. Nicht die wirklichkeitsbestimmende Qualität des Unrechtswillens ist danach maßgebend, sondern die intendierte Abwendung von der Norm überhaupt, während das Maß ihrer subjektiv-objektiven Realisation außer Betracht gerät. Die Folgerungen zeigen sich also nicht nur in einer Moralisierung der Versuchsdoktrin und der Beteiligungslehre, sondern auch beim Vorsatzbegriff. Aber dagegen ist festzuhalten: Unrecht und Verbrechen besdmmen sich im wirklichen äußeren Freiheitsverhältnis zum anderen als ein subjektiv-objektiver Sachverhalt willentlichen Handelns. Das Erfordernis der subjektiven Zurechnung beruht nach Grund und Maß darauf, daß der Wille regelanwendend diese Objekdvadon selbst konstituiert. Hat man das eingesehen, dann ist die Überwindung der dolus-indirectus-Lehre ein notwendiger Fortschritt. Der Verletzungsvorsatz in der Form des dolus eventualis muß zwingend vom Gefährdungsvorsatz und von einer bloßen Beweisregel unterschieden werden. Der Gefährdungsvorsatz bzw. die bewußte Fahrlässigkeit behalten freilich ihr eigenes Gewicht im Verbrechensbegriff. Im geltenden Gesetz mögen sie nicht angemessen bewertet sein, was an der Konfusion mit der illegitimen Strafbarkeit der unbewußten Fahrlässigkeit liegt. Das könnte gesetzgeberisch zurechtgerückt werden. Die Verabschiedung eines auf dem Grundsatz der subjektiven Zurechnung beruhenden Begriffs des Tatvorsatzes kann dagegen nicht ernstlich in Frage kommen. Eine ähnlich begründete Kontroverse bleibt für den Vorsatz hinsichtlich des Kausalverlaufs zu verzeichnen. Hier herrscht - so muß man sagen — trotz gegenteiliger Versicherungen eine starke Tendenz zur dolus-generalis-Doktrin 41 . Auch wenn nicht die vorsätzlich-kausale Handlung des Täters selbst, sondern sein zusätzliches vorsatzloses Handeln früher oder später den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeigeführt hat, wird dieser dem Täter ganz zugerechnet. Die Formel lautet: „unwesentliche Abweichung" vom vorgestellten Kausalverlauf. Manche wollen dies sogar bei „aberratio ictus" und „abstrakter Gleichwertigkeit" des betroffenen Objekts annehmen. Die letztere Erweiterung entspricht zwar nicht der vorherrschenden Auffassung und wird auch von der Rechtsprechung im allgemeinen abgelehnt — mit der Ausnahme der Konstellation des Rose-Rosahl-Falles: Bei Personenverwechslung durch den Täter, die dadurch für den Anstifter eigentlich zur aberratio ictus wird, nimmt auch der Bundesgerichtshof die Zurechnung der vollende-
41 Vgl. BGHSt. 14, 193; zusf. Jescheck/Wägend, S. 152 ff, m. w. N.
Allg. Teil, S. 31 Iff; Köhler (Fn. 5),
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ten Tat zum Vorsatz des Anstifters an 4 2 . Der wirkliche Mangel der subjektiven Zurechnung wird durch eine unausgewiesene „Gleichbewertung" gleichsam übersprungen. Dies ist wiederum ein bezeichnender Terminus auf dem Hintergrund eines objekdv-teleologischen Zurechnungskonzepts. Denn an die Stelle der rechtsbegrifflichen Zurechnung treten der moralische Sachverhalt der manifestierten Unrechtseinstellung, die Tötung eines anderen herbeiführen zu wollen, und deren negative Bewertung. Dieser Ubersprung findet um so leichter statt, als ein vollendungsnahes Gefährdungsverhalten vorliegen mag, vielleicht auch ein hypothetisch anzunehmender Wunsch des Täters, der Erfolg möge auf jede Weise eintreten. Aber der bloße Versuch der Tat wird, auch wenn er mit dem bösen Wunsch verbunden ist, nicht zum die Vollendung beherrschenden Willen. Ein um Konsequenz bemühter Begründungsversuch 43 nimmt demgegenüber an, der lediglich durch das Erfordernis einer Vorsatzgefahr definierte Inhalt der Vorsatzvorstellung müsse auch nur insoweit mit der objektiven Realität übereinstimmen; welche Vorstellungen konstitutive Bestandteile eines Vorsatzes sind, bestimme der Gesetzgeber in den Tatbeständen, „und damit auch den Umfang der Klasse von Erfolgen und Kausalverläufen, die dem Täter nach diesem Tatbestand zum Vorsatz zurechenbar sind. Der Täter ist jedenfalls nicht kompetent, diese Klasse durch besondere Vorstellungen oder gar Wünsche einzuschränken." Aus dieser Abstraktion soll folgen, daß für den Vorsatz eine Vorstellung von der Eignung des Handelns zureichen soll, „überhaupt ein tatbestandsmäßiges Objekt" zu betreffen; ähnlich soll in den dolus-generalis-Fällen für die Vorsatzzurechnung nicht erforderlich sein, „daß der Täter die vollständige hinreichende Erfolgsbedingung kennt, sei es in ihren Details, sei es auch nur in ihren groben Zügen" 4 4 . Solche Folgerichtigkeit hat das Verdienst, den Mangel im Grundsätzlichen klar vorzuführen. Der Begriff des Willens und des Vorsatzes wird fundamental verfehlt. Die auch dem Vorverständnis klare Unterscheidung zwischen (unwesentlichem) error in objecto einerseits und den Fällen abweichenden Verlaufs bis hin zur aberratio ictus andererseits ist aus den Begriffen des Handelns, der subjektiven Zurechnung und des Vorsatzes abgeleitet. Vorsatz (ähnlich wie Absicht) impliziert als Wille aus der Kategorie der inneren Teleologie den konkreten Zusammenschluß der subjektiven Konzeption und ihrer objektiven Realisation. Solches konkrete Handeln
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Vgl. BGHSt. 37, 214; zum Streitstand Köhler
Vgl. Puppe (Fn. 32), insbesondere S. 49 ff. Puppe (Fn. 32), S. 49 ff, 52, 54 f; zusf. S. 72 ff.
(Fn. 5), S. 156, 528 f.
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und Verwirklichen ist selbstverständlich in den Tatbeständen vorausgesetzt, nicht bloß die abstrakte Vorstellung von Merkmalen („Klassen"), die auf irgendeine „objektiv geeignete" Weise Realität gewinnen können. Dies als Handeln auszugeben und subjektiv zuzurechnen, überschritte umgekehrt die Kompetenz eines Gesetzgebers, dessen Normen sich auf selbstbestimmt handelnde Personen beziehen. Zum tatbestandsmäßigen concretum einer subjektiv zuzurechnenden „objektiven" Wirklichkeit eigenen Handelns gehört zwar auch der immanente Zufall, wodurch die Rede von der „unwesentlichen" Abweichung einen guten begrenzten Sinn hat, nicht aber die für den Täter äußere Verwirklichung einer objektiv ganz anderen Regelhaftigkeit. Zusammengefaßt: Mit dem Begriff der subjektiven Zurechnung wird das „Recht der Subjektivität" in der Begründung des Strafrechts gewahrt. Das Strafrecht hat nicht die Funktion, eine objektiv-teleologisch behauptete Normgeltung gegenüber dem abweichenden Subjekt und im Hinblick auf die Rechtstreue anderer mit Strafe zu demonstrieren. Es bezieht sich auf diejenige fundamental-allgemeine Geltungsnegadon, die in der bewußten Gegenentscheidung des normreflektierenden Subjekts als Mitgrundes des Rechtsverhältnisses wurzelt; die Strafe legitimiert sich daher zugleich gegenüber dem Täter wie der Gesellschaft als wirklich allgemeingültige und allenfalls insofern generalpräventive Geltungsrestitution. Subjektive Zurechnung, ein daraus begriffenes Schuldprinzip und die Strafrechtsbegründung sind also substantiell miteinander verknüpft. Das ist in der Systematik, namentlich in den Begriffen des Vorsatzes und des Unrechtswillens, in Kritik an der „Strafbarkeit" unbewußter Fahrlässigkeit und auch an der behaupteten Strafbarkeit von Subjekten ohne jede subjektive Zurechnung (Stichwort: Verbandsstrafe), kompromißlos durchzusetzen. Sonst verliert das Strafrecht seine Identität und seinen Namen. Nicht zuletzt geht es hierbei um das Tat- und Schuldstrafrecht einer freiheitlichen Republik, oder in europäischer Wendung: um einen zentralen Grundsatz des Strafrechts in einem Bund freier Republiken.
Zur ontologischen Struktur des strafbaren Unrechts ERNST-JOACHIM LAMPE
I.
Die strafrechtliche Lehre vom Unrecht hat in jüngster Zeit von ihrem Gegenstück, der Lehre von den Unrechtsfolgen, wichtige Anregungen erhalten. Vor allem das neue Institut des Täter-Opfer-Ausgleichs (§ 46 a StGB) hat zu einer Änderung der Blickrichtung auf das Unrecht geführt: weg von der Personalität, hin auf die Interpersonalität, auf den zwischenmenschlichen Gehalt. Damit bahnt sich eine Versöhnung zwischen „personaler" und „objektiver" Unrechtslehre an. Weder ist Unrecht schon, was eine „Person" in Gang setzt, noch erst das, was einem „Objekt" widerfährt, sondern was sich zwischen Täter und Opfer ereignet: soziales „Beziehungsunrecht"1. Damit erlangen konsequent auch die Unrechtsfolgen eine umfassendere Funktion: Sie dienen sowohl dem retributiven Ausgleich zwischen Täter und Opfer als auch der präventiven Sorge um die weitere Entwicklung ihrer Beziehungen und schließlich dem Erhalt der Rechtsordnung, der ihre Beziehungen den Frieden verdanken. Da die Strafrechtsordnung — wie jede andere Teilrechtsordnung — aus zwei Perspektiven begründet werden kann: aus der Perspektive seiner Regelungs folge, d.i. der Strafe, und aus der Perspektive seines Regelungsgegenstandes, d.i. des Unrechts, stehen zwei Begründungs¿w//>0¿&« zur Verfügung. Von der Regelungs folge geht die funktionale Begründung aus. Günther Jakobs, ihr konsequentester Verfechter, sieht die Funktion der Strafe darin, die Rechtsordnung „als Orientierungsmuster für den sozialen Kontakt" zu erhalten2 und das (vorrechdiche3) Strafbedürfnis der Gesellschaft angesichts eines Rechtsbruchs rechtsstaatlich zu kanalisieren 1 Ich habe diese Auffassung in meiner Habilitationsschrift „Das personale Unrecht" (1966, S. 211 ff, 223 ff) begründet. Im wesentlichen übereinstimmend dann Mylonopoulos, Uber das Verhältnis von Handlungs- und Erfolgsunrecht im Strafrecht, 1 9 8 1 , S. 59 ff, 67 ff, bes. S. 80 ff. 2 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1 9 9 1 , 1 / 1 1 . 3 Die gelegentlich zu hörende Behauptung, das Strafbedürfnis werde erst durch die Existenz von Strafrecht begründet, ist historisch unhaltbar und anthropologisch absurd.
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und zu befriedigen4. Als Strafrechtsgut gelten ihm folglich die staatlichen Rechtsnormen5. Was zu ihrer Erhaltung erforderlich ist, bestimme sich nach den Funktionsnotwendigkeiten der Gesellschaft6. An diesen Notwendigkeiten sei die Strafe auszurichten7. Sie müsse denjenigen treffen, der die Norm gebrochen hat, und sie müsse ihn in dem Maße treffen, wie sein Normbruch den Orientierungswert der Norm beeinträchtigt hat 8 . Inhalt der Strafe sei somit „ein auf Kosten des Normbrechers erfolgender Widerspruch gegen die Desavouierung der Norm" 9 . Vom Entstehungsgrund des Strafbedürfnisses, vom Tatbestand des Strafunrechts, geht dagegen die ontologische Begründung aus: Was Unrecht „ist", welche ontologische Struktur es besitzt, das sei jeder Wertung und somit auch der strafrechtlichen vorgegeben. Die (anzuerkennenden) Funkdonsnotwendigkeiten der Gesellschaft dürften das Strafrecht nicht beliebig normieren, die Normierung sei vielmehr an vorgesellschafdiche „sachlogische" Gegebenheiten gebunden. Hauptvertreter einer solchen Lehre sind heute Hans Joachim Hirsch, der hochverehrte Jubilar, sowie sein Schüler Georg Küpper. Hirsch moniert, daß „es Theoretikern des Rechts nach wie vor schwer fällt, sich aus der — gedanklich bequemeren und wissenschaftlich schwerer überprüfbaren — rein normativen Vorgehensweise zu lösen" 10 . Küpper setzt demzufolge, wie er sagt, „die Wirklichkeit wieder in ihr Recht" ein 11 . Was diese Wirklichkeit „ist", offenbare einem die Phänomenologie: „Die Betrachtung der Seinssphäre darf nicht bei den Einzelerscheinungen stehenbleiben, son4 5
Jakobs (Fn. 2), 1/15 (mit Fn. 15). Jakobs (Fn. 2), 2/1 ff.
6 Jakobs (Fn. 2), 17/22. Jakobs schwankt nicht nur hier zwischen Deskription und Präskription. Auch sein Diktum „Jedenfalls bewirkt [!] die Strafe, daß die Norm taugliches Orientierungsmuster bleibt" (aaO 1/11) ist zwar deskriptiv formuliert, m. E. aber präskriptiv zu verstehen. 7 Für Jakabs folgt hieraus, daß die Strafe die Funktion hat, generalpräventiv im Sinne der Stärkung der Norm zu wirken. Entsprechend einer klaren Scheidung zwischen positiv-funktionalistischer und normativ-funkdonalistischer Straftheorie sind jedoch zwei Fragen zu trennen: (a) ob die Strafe geeignet ist, positiv-generalpräventiv zu wirken; (b) ob sie in diesem Sinne (und nur in diesem Sinne) wirken soll. Die Strafrechtsdoktrin wird auf die Beantwortung der normativen Frage um so weniger verzichten können, als sich die empirische Frage generell nur vage, für den Einzelfall aber gar nicht beantworten läßt, somit die positiv-generalpräventive Funktion der Strafe für die Höhe der generell anzudrohenden Strafe nur einen vagen, für deren Höhe im Einzelfall aber gar keinen Maßstab abgibt.
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Jakobs (Fn. 2), 1/9. Jakobs (Fn. 2), 1/11. Hirsch, ZStW 93 (1981), 831 (850). Küpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, S. 12.
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dem muß dem „Wesen" der Dinge auf den Grund gehen" 12 . Dieses „Wesen" habe „zeitlose Gültigkeit" bzw. „ewige Wahrheit"; und an solche Wahrheit sei jede wertende Betrachtung, auch die des Rechts, gebunden 13 . Spezifischer Ausdruck solcher Bindung sei die „Natur der Sache". Sie gebe den Rechtsprädikaten eine objektive Basis und der Rechtserkenntnis Orientierungssicherheit14. Ich werde meine Ausführungen dieser ontologischen Begründung des Strafrechts widmen, allerdings mit einem bedeutsamen Unterschied. Küpper versteht sie als Gegenposition zur funktionalen Begründung — ebenso wie Jakobs die funktionale als Gegenposition zur ontologischen Begründung. Ich selbst bin nicht dieser Meinung. Den Grund, weshalb beide Positionen als gegensätzlich erscheinen, sehe ich in ihrer Verschärfung einerseits zur normativ-funktionalen und andererseits zur realontologischen Begründung. „Setzt man bei der Aufgabe des Strafrechts an ..., so führt das zu einer (Re-)Normativierung der Begriffe", behauptet Jakobs15. Und Küpper lehnt Radbruchs Deutung des ontologischen Zentralbegriffs „Natur der Sache" als „Ausdruck der Rechtsidee"16 nicht etwa deshalb ab, weil sich aus der Rechtsidee keine ontologischen Strukturen entwickeln lassen, sondern weil die „Natur des Regelungsgegenstandes" angeblich keiner Mediatisierung durch die Rechtsidee bedarf, um für die Rechtsgestaltung „verbindlich" zu sein 17 . Im Gegensatz zu beiden Autoren meine ich, daß das Strafrecht sich weder normativ-funktional noch real-ontologisch begründen läßt. Denn der eine Versuch, das Funktionale zum rechtlich Richtigen zu erhöhen, führt in die Irrungen des Utilitarismus, und der andere, aus der dem realen Sein innewohnenden Ordnung, aus den Naturgesetzen (einschließlich etwaiger „Wesensgesetze") Maßstäbe für die Sollensordnung, für die Rechtsgesetze, herzuleiten, führt in das Dilemma entweder des Zirkelschlusses18 oder des naturalistischen Fehlschlusses. Küpper {Fn. 11), S. 33. Küpper en. 11), S. 24 ff. 14 Küpper (Fn. 11), S. 36. 15 Jakobs (Fn. 2), S. VII. 10 Radbruch, Festschrift Laun, 1948, S. 157 (162). 17 Küpper (Fn. 11), S. 38 f, wo im einzelnen noch zwischen „absoluter", „relativer" und „hilfsweiser" Verbindlichkeit unterschieden wird. Die realontologische Ausdeutung der „Natur der Sache" hängt sicher auch mit der Redeweise von „sachlogischen" Strukturen zusammen, die nach Welsgl den ganzen Rechtsstoff wie ein Gewebe durchziehen (Festschrift Niedermeyer, 1953, S. 279 [290 ff]), sowie mit der Annahme eines wertfreien Tatbestandes, die dem dreigliedrigen Verbrechensaufbau zugrunde liegt und in den z. B. auch ein wertfreier Handlungsbegriff eingebettet ist. 1 8 Ein Beispiel ist Küppers Forderung, der Gesetzgeber dürfe „durch Verhaltensnormen allein menschliches Verhalten beeinflussen" ([Fn. 11] S. 39). 12
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Gleichwohl muß deshalb der Stab weder über die funktionale noch über die ontologische Unrechtsbegründung gebrochen werden. Denn an die Stelle der realontologischen kann eine sozialontologische Begründung aus der „Natur der Sache" treten, die dann der funktionalen Begründung nicht einmal widerspricht, sondern zu ihr in einem komplementären Verhältnis steht. Den Kernpunkt einer solchen sozialontologischen Begründung hat bereits Dernburg19 formuliert: „Die Lebensverhältnisse [!] tragen, wenn auch mehr oder weniger entwickelt, ihr Maß und ihre Ordnung in sich. Diese den Dingen innewohnende Ordnung nennt man die Natur der Sache." Gegenüber einer solchen sozialontologischen Begründung gilt das Verdikt des naturalistischen Fehlschlusses nicht; denn das Soziale ist normativ durchsetzt. Ich werde daher im Folgenden von einer solchen sozialontologischen Basis aus argumentieren. Aus Raumgründen werde ich meine Untersuchung allerdings nicht auf sämtliche Lebensverhältnisse, sondern nur auf jenen Teilbereich erstrecken, aus dem das formale Strafunrecht hervorgeht. Als „formal" bezeichne ich das Unrecht dann, wenn es zwar abhängig ist vom Stand der menschlichen Entwicklung (Anthropogenese) und von der Differenziertheit einerseits, Homogenität andererseits der gesellschaftlichen Strukturen (Soziogenese), jedoch unabhängig von jedem kulturspezifischen Inhalt. Die Schwierigkeit der Abstraktion und damit der Eingrenzung des Untersuchungsstoffes ist zuzugeben. Exakt läßt sie sich nicht auflösen, weil ich nicht vollständig von der Realität abstrahiere, sondern diese lediglich auf die Gesamtheit der Sozialbeziehungen begrenze, die allemal besonders sind. Man mag die Eingrenzung deshalb zusätzlich rechtstechnisch verstehen als Begrenzung auf den Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs 20 . Doch selbst das ist ungenau. Denn ich werde Gelegenheit haben zu rügen, daß Strafnormen statt im Allgemeinen im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs loziert sind. II. Ontologische Grundlage des Unrechts und damit auch des Strafunrechts sind, so lautet meine Ausgangsthese, nicht reale Tatsachen oder Ereignisse, sondern sociale Beziehungen. Diese sind Funktionen (d. h. objektive Konsequenzen) socialer Prozesse. Produziert, d. h. hergestellt, ver19 Dernburg, Pandekten, Bd. I, 3. Aufl. 1892, S. 87 — von zustimmend zitiert! 2 0 Vgl. dazu auch Weisel (Fn. 17), S. 291 f.
Küpper überraschenderweise
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ändert oder aufgehoben, werden sie von Soiçialpersonen, worunter ich nicht nur (1) natürliche Personen sowie Personengemeinschaften verstehe, sondern auch (2) Personenverbände sowie Verbandspersonen. Unrecht sind die Sozialbeziehungen, wenn sie rechtsgesetzlich negativ bewertet werden. Die Unrechtsproduzenten sind dann für die Sozialprozesse rechtlich verantwortlich. Im einzelnen: (1) Eine natürliche Person ist Produzentin eines Sozialprozesses, wenn sie sich „in bezug a u f eine andere Sozialperson „verhält". Der von ihr produzierte Sozialprozeß kann, wenn er das soziale Zusammenleben aller unter dem Schutz der staatlichen Rechtsordnung stört, vom Gesetz als Unrecht bewertet werden. Die natürliche Person ist in diesem Fall für ihn juristisch verantwortlich. Sozial gesehen ist auch eine Personengemeinschaft, d.i. eine Verbindung natürlicher Personen, eine (einheitliche) Person. Auch sie kann soziale Prozesse erzeugen, und das Gesetz kann diese als Unrecht werten. Verantwortlich dafür ist primär ebenfalls sie selbst 21 . Als strafgesetzliche Beispiele nenne ich aus dem Allgemeinen Teil die mittäterschaftliche Tatbegehung (§ 25 II StGB), aus dem Besonderen Teil die „von mehreren gemeinschaftlich" begangene Körperverletzung, die unter verschärfter Strafdrohung steht (§ 223 a StGB a.F.). Nicht nur externe Akte der Personengemeinschaft, auch interne Akte zu ihrer Bildung sind soziale Prozesse. Und sofern externe sozialwidrige Beziehungen die Folge sind, kann das Gesetz bereits die internen Akte als Unrecht werten. Gesetzliche Beispiele sind die Anstiftung 22 und die Verabredung zu einem Verbrechen. Selbst der Versuch, eine Personengemeinschaft zu bilden, kann Unrecht bedeuten, sofern er eine Gefahr für Dritte begründet. Unser Strafgesetz gibt wiederum eine Reihe von Beispielen. Die gesetzlichen Beispiele finden wir teils im Allgemeinen Teil (§§ 26 ff StGB), teils im Besonderen Teil (§§ 111,124 f, 129 f StGB). Diese Aufteilung ist m. E. zu beanstanden. Mehr noch zu beanstanden sind aber die inhaltlichen Differenzierungen, die das Gesetz hiermit verbindet; sie finden nämlich in der „Natur der Sache" keine hinreichende Stütze.
Näher dazu Lampe, Z S t W 106 (1994), 683 (688 ff). Fälschlich sieht das Gesetz in der Anstiftung nur einen Anstiftungsversuch, solange die Tat nicht ausgeführt wurde. Ontologisch richtig sind zu unterscheiden (1) der interne Versuch, einen anderen zu bestimmen (§ 3 0 I StGB), (2) die intern vollendete Bestimmung (ebenfalls § 30 I StGB) und (3) die Zurechnung der externen Folgen der Bestimmung an den Anstifter (§ 26 StGB). 21
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Ernst-Joachim Lampe Nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im Besonderen Teil finden wir Regelungen über die Verabredung einer Straftat. Sie unterscheiden sich hauptsächlich durch die Zahl der Beteiligten und durch die Art der verabredeten Delikte. Verabreden sich zwei Personen, dann machen sie sich nur strafbar, wenn sie ein Verbrechen begehen und beide sich als Täter beteiligen wollen (§ 30 II StGB). Verabreden sich mehr als zwei Personen, dann machen sie sich auch strafbar, wenn sie ein Vergehen verüben wollen und „sie sich untereinander als einheidicher Verband fühlen" 23 (§ 129 StGB). Die Differenzierung leuchtet nicht ein und wird deshalb von der Rechtsprechung abgeschwächt24. Ebenfalls sowohl im Allgemeinen als auch im Besonderen Teil geregelt ist die Aufforderung zur Begehung einer Straftat. Wiederum wird sie das eine Mal nur bei Verbrechen bestraft (§ 30 I StGB), das andere Mal auch bei Vergehen, hier allerdings mit der Einschränkung, daß die Aufforderung öffentlich erfolgt sein muß (§111 StGB). Die Rechtsfolgen weisen schwer verständliche, hier nicht zu erörternde Unterschiede auf. Schließlich wird das Sich-Erbieten zum Verbrechen zwar im Allgemeinen Teil der Aufforderung gleichgestellt (§ 30 II StGB), nicht aber das öffentliche Sich-Erbieten (ζ. B. seitens des sog. „Bravo") der öffentlichen Aufforderung im Besonderen Teil (§111 StGB). Ein einleuchtender Grund ist abermals nicht ersichtlich.
Da die Personengemeinschaft nur sozialontologisch (nicht jedoch realontologisch) eine Einheit ist, muß die juristisch notwendige 1Verteilung der Unrechtsverantwortung unter ihre Mitglieder ebenfalls sozialontologisch begründet werden. Dem widerspricht jedoch ζ. T. die strafrechtliche Lehre. — Die Verantwortung für Anstiftung (§ 26 StGB) und psychische Beihilfe (§ 27 StGB) begründet die heute herrschende Verursachungstheorie25 realontologisch mit der (kausalen) Einwirkung auf den Täterwillen. Konsequent soll das realontologische Kriterium der Einwirkungsstärke die Grenze zwischen Anstiftung und Beihilfe markieren26. Beides ist unbefriedigend. Denn zum einen begründet die Einwirkung auf den Täterwillen nur insoweit Unrechtsverantwortung, wie sie sozialwidrige Folgen hat, nicht dageBGHSt. 31, 202 (205) m.w.N. Vgl. BGHSt. 31, 202 (207) und 41, 47 (51). Beide Entscheidungen lesen aus § 129 II Nr. 2 StGB heraus, daß die Vergehen eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründen müssen. Sachbeschädigungen, Beleidigungen u. ä. reichten dafür nicht aus. 25 Genauer „akzessorietätsorientierte Verursachungstheorie"; vgl. Baumann/ Weber, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 1995, §30 Rdn. 3 ff. (S. 639 ff); Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1994, § 20 Rdn. 130 ff. (S. 667 f). 26 Vgl. dazu Sehnig JuS 1986, 933 (937): „Der Anstifter muß sich gegenüber dem Täter in gewisser Hinsicht als dominant erweisen, während der Gehilfe durch ein Unterordnungsverhältnis gekennzeichnet ist"; Jakobs (Fn. 2), 22/22: „Psychische Beeinflussung ist nur dann Anstiftung, wenn der Täter ... seinen Entschluß in Abhängigkeit vom Willen des Beeinflussenden faßt und durchhält." 23 24
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gen, wenn sie das Risiko für das Opfer vermindert 27 . Das beweist, daß Grundlage für das Teilnehmerunrecht nicht nur die interne Vergemeinschaftung durch den „gemeinsamen Tatplan", sondern auch die daraus resultierende externe Sozialbeziehung ist 28 . Und zum anderen bedarf es oft nur eines geringen Anstoßes, um beim Täter den Tatentschluß hervorzurufen, jedoch erheblicher seelischer Unterstützung, um ihn bei der Stange zu halten. Das beweist, daß auch die Abgrenzung von Anstiftung und Beihilfe kein realontologisches, sondern ein sozialontologisches Problem ist, welches nach der internen Verteilung der sozialen Gewichte 29 und dem externen Ausmaß der hierdurch begründeten „sozial inadäquaten Risikoerhöhung" 30 zu lösen ist 31 . — Ähnlich unbefriedigend bleibt die Abgrenzung zwischen Mittäterschaft (§ 25 II StGB) und physischer Beihilfe (§ 27 StGB), wenn man mit der ganz überwiegend vertretenen Tatherrschaftslehre 32 ein realontologisches Kriterium zugrunde legt. Die faktische Beherrschung der Tat kann nämlich mit einer vollständigen Unterordnung unter die soziale Herrschaft eines anderen (ζ. B. eines Sektenführers) verbunden sein, umgekehrt die soziale Herrschaft in der Herrschaft über den Tatablauf kein Pendant finden. Entscheidend ist dann jeweils die soziale Komponente. Der Gangsterboss ist Täter, selbst wenn er sich nicht persönlich am Raubzug beteiligt. Der persönlich Beteiligte dagegen ist bloß (physischer) Gehilfe, wenn er sich sozial unterordnet und „die Tat nicht als eigene will" 33 . Darüber hinaus spielt abermals die soziale BeVgl. dazu Küpper, JuS 1996, 23 ff; Roxin, in: LK, 11. Aufl. 1993, § 26 Rdn. 23 ff; ferner unten III.3. Beispiel: A rät dem B, den C kräftig zu verprügeln, statt ihn umzubringen. 28 Jakobs (Fn. 2), 22/6: „Erst die Haupttat externalisiert (auch) das Teilnahmeverhalten." Siehe ferner Roxin, in: LK, vor § 26 Rdn. 7: Teilnahme ist „akzessorischer Rechtsgutsangriff'. 2 9 Vgl. Puppe, GA 1984, 101 (115): Es komme darauf an, wie sehr es dem Anstifter gelungen ist, sich den Täter zu verpflichten. 3 0 Vgl. Hilgendorf, Jura 1996, 9 (10 ff). 31 Das gilt zum einen für das Ob der Tatbegehung, wo ζ. B. der ständig bohrende Gehilfe („Wann geht's endlich los?") in die Rolle des Anstifters überwechseln kann. Das gilt zum anderen für den Inhalt des Tatentschlusses, der vom Gehilfen u.U. „übersteigert" werden kann: Wer einen Täter, dem er zunächst zur schon beschlossenen Ohrfeige Mut gemacht hat, schließlich antreibt, noch kräftig einen draufzusetzen, steigert sich selbst in die Rolle des Anstifters hinein. Vgl. ferner die Beispiele bei Roxin, in: LK, § 26 Rdn. 42. 3 2 Vgl. Roxin, in: LK, § 25 Rdn. 7 ff, 34 ff. 3 3 So die Formulierung der subjektiven Teilnahmetheorie, die freilich außerhalb einer sozialontologischen Grundlegung mißverständlich bleibt und deshalb nach neuerer 27
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ziehung zum verletzten Rechtsgut eine Rolle. Täter einer Untreue (§ 266 StGB) ist nicht, wer das Vermögen eines anderen real schädigt, sondern wer es sozial hätte betreuen sollen. Bei den Unterlassungsdelikten entscheidet ebenfalls primär nicht die realontologische Herrschaft über die Art der Tatbeteiligung, sondern die soziale Garantenstellung (§13 StGB). Lediglich sekundär werden realontologische Momente relevant: Der Gefahrdungsgarant wird regelmäßig in die Täterrolle einrücken, der mitwirkende Obhutsgarant eher eine Teilnehmerposition innehaben. Doch selbst dann noch bleiben soziale Faktoren relevant: Eltern, die der Verletzung ihrer Kinder nicht wehren, sind eher Mittäter als andere Angehörige der Hausgemeinschaft.
(2) Daß unser Strafgesetz nur natürliche Personen und Personengemeinschaften als Unrechtsproduzenten anerkennt, hat sich in jüngster Zeit als ungenügend erwiesen. Denn das Sozialleben kennt zudem gestalthafte Gebilde, deren Existenz unabhängig von den daran beteiligten Personen ist. Zu unterscheiden sind Personenverbände und Verbandspersonen. Als Personenverband bezeichne ich ein Sozialgebilde, das keine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt. Seine Gestalt kann sich unterschiedlich klar ausprägen; der Ubergang zur Personengemeinschaft ist daher fließend. Gering ausgeprägt ist die Gestalt bei der „Menschenmenge" (§§ 124, 125 StGB); das Gesetz (§ 125 StGB) unterteilt die Unrechtsverantwortung deshalb hier ebenso wie bei den Personengemeinschaften in Täterschaft und Teilnahme 34 . Geschlossener stellt sich die „Rotte" dar (§§ 121, 124 StGB), noch mehr die „Bande" (z. B. §§ 244a, 260a StGB), die sich von der Rotte hauptsächlich durch die Dauer ihres Zusammenhalts unterscheidet. Die „kriminelle (oder terroristische) Vereinigung" (§§ 129, 129a StGB) schließlich besitzt die festeste soziale Gestalt 35 . Hier unterscheidet das Gesetz zwischen „Rädelsführern", d. h. Personen, die in der Organisation eine führende Rolle spielen und deshalb die Hauptverantwortlichen sind, und sonstigen Mitgliedern (§§ 129 IV, 129a II StGB). Die Zitate belegen bereits, daß unser Strafgesetzbuch die Personenverbände — im Gegensatz zu den Personengemeinschaften — ausschließlich im Besonderen Teil erfaßt. Inhaltlich sind seine Normierungen wiederum unstimmig. So wird nach § 125 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft, wer auf eine Menschenmenge
Rechtsprechung zu „wertender Betrachtung" Anlaß gibt (vgl. etwa BGHSt. 36, 363 [367]; 38, 315 [319]). 3 4 Anders § 124 StGB, der nur „Teilnehmer" im Sinne von Beteiligten (§ 28 II StGB) kennt. 35 Vgl. im einzelnen Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, § 45,2.
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einwirkt, um ihre Bereitschaft zu Gewalttätigkeiten zu fördern, nach § 124 StGB dagegen mit Freiheitsstrafe nur bis zu zwei Jahren, wer sich einer Menschenmenge anschließt, die zur Ausführung von Gewalttätigkeiten bereits entschlossen ist und zu diesem Zweck in fremde Wohnungen o. ä. eindringt. Die Bildung von kriminellen Banden läßt das Gesetz — im Gegensatz zur Bildung von kriminellen Vereinigungen (5 129 StGB) — grundsätzlich straffrei, obwohl ζ. B. eine hierarchisch organisierte kriminelle Bande kaum weniger gefährlich ist als eine kriminelle Vereinigung, deren charakteristisches Merkmal „die Unterordnung des Willens des einzelnen unter den Willen der Gesamtheit" sein soll 36 .
Die straffste Einheit bildet die Verbandsperson. Sie ist juristisch organisiert; noch weniger als beim Personenverband spielt daher die Mitwirkung von natürlichen Personen eine Rolle. Der Ubergang zum Personenverband ist gleichwohl fließend. § 14 StGB beispielsweise stellt den juristischen Personen des bürgerlichen und des öffentlichen Rechts die Personenhandelsgesellschaften gleich. Kriminalpolitisch erscheint das vertretbar, da sie neben den Aktiengesellschaften und den Gesellschaften mbH die wichtigsten Urheber sozialwirtschaftlicher Prozesse und demgemäß auch die wichtigsten Produzenten von Wirtschaftsunrecht sind. Das Gesetz weist allerdings allen Verbandspersonen nur eine mittelbare Unrechtsverantwortung zu (§ 30 OWiG). De lege ferenda läßt sich indessen auch eine unmittelbare Unrechtsverantwortung gut begründen 37 . Sowohl der Personenverband als auch die Verbandsperson können Mitglieder einer Personengemeinschaft sein. Die außerhalb des Personenverbandes bzw. der Verbandsperson stehenden Gemeinschaftsmitglieder bezeichnet das Gesetz dann als „Hintermänner", „Gründer", „Werber" und „Unterstützer" (vgl. etwa § 129 I und IV StGB).
III.
Damit gegen eine Sozialperson Strafe verhängt werden kann, muß sie straflares Unrecht begangen haben. Dieses Attribut der Strafbarkeit bedarf ebenfalls der Begründung, die diesmal aber nicht aus der „Natur", sondern aus der „Funktion der Strafe" folgen muß. Denn Strafe ist, wie eingangs erwähnt, die Regulation von Unrecht, und folglich sind die Funktionen der Strafe Gründe für die Strafbarkeit des Unrechts. Funktionen der Strafe sind die Retribution, die Prävention und die Verteidigung der Rechtsordnung „als Orientierungsmuster für den sozialen BGHSt. 31, 239 (240). Vgl. dazu Hirsch, Die Frage der Straffähigkeit von Personenverbänden, 1993; ferner I^ampe (Fn. 21), S. 721 ff; Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995, S. 249 ff. 36
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Kontakt". Aus den beiden ersten Funktionen folgt, daß strafbar nur ein vom personalen Willen abhängiges Unrecht ist, aus der dritten, daß der Wille rechtsgestaltende Macht besitzen muß. Ontologisch setzt somit die Strafbarkeit des Unrechts vor allem die personale Fähigkeit zur Willensbildung und somit außer dem sozialen auch ein personales Unrechtselement (vgl. unten 1 und 2) 38 voraus, daneben wiederum die soziale Relevanz der personalen Fähigkeit (vgl. unten 3). (1) Das personale Unrechtselement, die Fähigkeit zur Willensbildung, wird bei der natürlichen Person als Handlungsvermögen bezeichnet. Gemeint ist die mentale, voluntative und physische Fähigkeit der natürlichen Person, in die Realität einzugreifen, indem sie einen Kausalverlauf anstößt („kausale Handlungslehre") und ihn auf ein Ziel hin- oder von ihm weglenkt („finale Handlungslehre"). Während über das Erfordernis grundsätzlich Einigkeit besteht 39 , ist umstritten, ob es in jedem Einzelfall vorhanden sein muß oder ob genügt, daß eine „Normalperson" es „standardmäßig" besitzt und es dann der individuellen Person „normativ zugerechnet" werden kann. Die letztgenannte Auffassung liegt der sozialen Handlungslehre zugrunde 40 . Sie bildet daher ein gutes Beispiel für die vom Jubilar gerügte vorschnelle „normative Vorgehensweise" in der Strafrechtsdogmatik, welche die ontologischen Gegebenheiten links liegen läßt. Anlaß zur Kritik besteht hauptsächlich nach zwei Richtungen 41 : -
Zum einen verstößt die soziale Handlungslehre gegen das deontologische Prinzip „Sollen impliziert Können". Danach darf das
3 8 Ich muß aus Raumgründen verkürzen. Die Strafbarkeit setzt darüber hinaus voraus, daß der Täter im Verurteilungszeitpunkt das Unrecht zu verantworten hatte und überdies für die Zukunft normativ ansprechbar ist. 3 9 Zu Unrecht verneint Roxin (Strafrecht Allgemeiner Teil I, 3. Aufl. 1997, § 8 Rn. 19 f) die grundlegende Bedeutung der Handlungsfähigkeit bzw. des Handlungsvermögens für strafrechtlich relevante soziale Prozesse. Seine Behauptungen, daß „die Fähigkeit zu einer Handlung etwas anderes ist als die Handlung selbst" und daß „eine nur mögliche Finalität in Wirklichkeit gerade keine ist", sind ontologisch inkorrekt. Vielmehr ist die Handlungsfähigkeit Grundlage jeder Handlung, die (modal) mögliche Finalität zwar keine (modal) wirkliche, aber dennoch Finalität. 4 0 Sie wird wiederum in verschiedenen Versionen vertreten, entweder als Einschränkung eines kausalen Handlungsbegriffs (κ IJs^t/Schmidt, Strafrecht, Bd. I, 26. Aufl. 1932, §§ 28, 30) oder als Einschränkung finalen Handelns bei der Fahrlässigkeit (Jescheck/Wetgend, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 23 IV 1). 4 1 Das weitere Monitum, nur noch soziale Verhaltensweisen seien nach ihr „Handlungen", nicht ζ. B. das Ankleiden am Morgen oder der anschließende Dauerlauf im Freien, lasse ich außer Betracht. Denn für die Unrechtsbegründung taugen in der Tat nur „soziale Handlungen" — eine Trivialität, die der sozialen Handlungslehre dennoch Plausibilität verschafft.
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Recht dem einzelnen zwar eine Haftung für das Unterschreiten von Sollensstandards auferlegen, doch niemals die Einhaltung der Standards ultra vires zur Pflicht machen 4 2 . Handlungsnormen sind danach an die Grenzen des individuellen Handlungsvermögens gebunden. Werden gleichwohl Verhaltensweisen „als" Handlungen zugerechnet, dann geschieht dies um den Preis einer Verdopplung des Handlungsbegriffs; denn die Zurechnung „als" Handlung ist etwas anderes als die Handlung selbst 43 . — Zum anderen konfundiert die soziale Handlungslehre individuelle Handlung und sozialen Prozeß und damit Faktizität und Normativität. Die menschliche Handlung ist individuell, sie wird vom faktischen „Können" des einzelnen umgrenzt; der soziale Prozeß dagegen ist standardisiert, er erhält von normativen „Sollens"erwartungen Kontur. Nur die saubere Trennung von Faktizität und Normativität aber führt zu einer brauchbaren Begrenzung der Unrechtssphäre. Der weltweit einzige Spezialist für eine bestimmte Art von Operationen etwa unterfällt nicht hinsichtlich seines Handlungsvermögens einem normativen Standard, sondern lediglich hinsichtlich der Erwartungen, die sich an den sozialen Gebrauch seines Handlungsvermögens knüpfen. Entsprechendes gilt vice versa für den angetrunkenen Kraftfahrer, der durch einen Notfall gezwungen wird, einen Schwerverletzten ins Krankenhaus zu bringen: Er hat normativ nur die verkehrserforderliche Sorgfalt eines angetrunkenen, nicht die eines nüchternen Kraftfahrers aufzubringen, d. h. so langsam und aufmerksam zu fahren, daß er trotz seinem Zustand niemanden verletzt oder gefährdet 44 . Insgesamt bleibt es daher dabei: Das Handlungsvermögen ist ein personalontologisches Strukturelement des Strafunrechts, das deshalb individuell beim Unrechtstäter vorhanden sein muß.
4 2 Allenfalls ist an eine Trennung zwischen standardbezogener Normwidrigkeit und personbezogener Pflichtwidrigkeit zu denken — mehr als ein terminologischer Gewinn wird damit aber nicht erreicht. Gegen die Trennung daher schon Lampe, Das personale Unrecht, 1967, S. 103 f. 4 3 Mit Recht sagt daher Hirsch (Fn. 10), S. 856, daß die soziale Handlungslehre nicht davon entbinden kann, sich mit der personalen Struktur von Tun und Unterlassen näher zu befassen. 4 4 Vgl. BGHSt. 24, 31 (35 f); Stratmwerth, Festschrift Jescheck, 1985, S. 285 (288 f). Anders allerdings Hirsch, in: ders./Weigend, Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 65 (70 f), u.ö.
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„Individuell" bedeutet nicht „unteilbar", sondern „ungeteilt". Aus diesem Grunde besitzt individuelles Handlungsvermögen auch die Personengemeinschaft, 2. B. die mittäterschaftliche Gruppe. Sie kann aufgrund eines gemeinschafdichen Tatplans als funktionale Einheit — wenn auch mit verteilten Rollen — auf die Sozialsphäre einwirken und strafbares Unrecht verüben, das ihr dann zugerechnet wird. Allerdings ist sie kein Rechtssubjekt, das selbst strafbar, d. h. für die strafrechtlichen Folgen zuständig ist. Deshalb bestimmt § 25 II StGB, daß sich die Folgen statt gegen sie gegen ihre Mitglieder richten — diese sind, quasi im Durchgriff, als „Täter" haftbar 45 . (2) Das personale Unrechtselement sozialer Gebilde ist, mangels eigener Handlungsfähigkeit, das Organisationsvermögen fremder Handlungsfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, soziale Prozesse statt durch eigene Handlungen durch die Organisation fremder Handlungen auszulösen. Zu diesem Zweck bildet das Sozialgebilde überindividuelle Attitüden und Intentionen aus und setzt sie mittels eines Systems von Verhaltens- und Kontrollnormen in soziale Realität um. Organisationsvermögen besitzen zum einen die in § 14 StGB genannten juristischen Verbandspersonen (des privaten ebenso wie des öffentlichen Rechts), insbesondere die meisten Wirtschaftsunternehmen, sowie der Staat nebst seinen Untereinheiten. Organisationsvermögen besitzen zum anderen die ebenfalls in § 14 StGB genannten Personenverbände, allen voran die Personenhandelsgesellschaften, daneben spezielle kriminelle Verbände, insbesondere innerhalb der Organisierten Kriminalität. Da sämtliche Sozialgebilde nur mental existieren, infolgedessen weder sinnlich wahrnehmbar sind noch durch eigene Äußerungen in die soziale Umwelt eingreifen können, normieren sie die Tätigkeit von Funktionären, Mitgliedern oder Beauftragten: Sie schreiben ihnen entweder explizit vor, wie sie sich zu verhalten haben, oder sie geben ihnen implizite Anweisungen, die einen Entscheidungsspielraum offen lassen. Unrecht produzieren sie, wenn ihre Verhaltensnormen den sozialen Standards nicht entsprechen oder durch Kontrollnormen nicht hinreichend abgesichert sind, so daß ein externes Risiko für Rechtsgüter entsteht. (3) Die Unrechtsstrafe gilt demjenigen personalen Willen, der das Sozialleben (die „sozialen Beziehungen") gestaltet und der daher auch über Recht oder Unrecht Gestaltungsmacht besitzt. Dieses wiederum soziale Unrechtselement geht auf die ebenfalls soziale Funktion der Strafe zu45
Vgl. Lampe (Fn. 21), S. 716; Dencker, Kausalität und Gesamttat, 1996, S. 138 ff.
Zur ontologischen Struktur des strafbaren Unrechts
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rück, die Herrschaft der Rechtsordnung über die sozialen Lebensverhältnisse zu sichern und den Bürgern das Gefühl der „Geborgenheit im Recht" zu vermitteln. Dogmatisch anerkannt wird das Unrechtselement von der Risikoerhöhungstheorie. Der Streit zwischen ihrer schwachen und ihrer starken Form 4 6 ist zwar bis heute nicht beigelegt. Einigkeit besteht jedoch im m. E. wesentlichen Gehalt: Der vom Täter gestaltete Sozialprozeß muß eine negative Funktion für die sozialen Lebensverhältnisse (Verletzung bzw. Gefährdung eines Rechtsguts) besitzen. Dieses Erfordernis kann man aus der grammatischen Fassung einiger gesetzlicher Tatbestände herleiten, insbesondere der §§ 222, 230 StGB a. F. („Wer durch Fahrlässigkeit ... verursacht"). Man kann es aber auch teleologisch begründen: Strafunrecht verlangt als Grundlage einen sozialen Prozeß, der, in die Gesamtheit der Sozialbeziehungen hineingestellt, mehr Schaden als Nutzen stiftet 47 . Daher ist das Handlungs- und Organisationsvermögen nur dann strafrechtlich relevant, wenn sein Inhaber die Macht darüber hat, ob sich ein solcher Sozialprozeß (oder ein funktional äquivalenter) verwirklicht oder nicht. Er besitzt die Macht, wenn er das Kausalgeschehen „überdeterminieren" kann, und zwar entweder aufgrund deterministischer Gesetze, die den Eintritt eines Erfolges notwendig machen, oder aufgrund statistischer bzw. Wahrscheinlichkeitsgesetze, die lediglich das Risiko des Erfolgseintritts erhöhen. Wie stark im letzten Fall das Risiko erhöht sein muß, damit die Strafbarkeitsschwelle erreicht wird, ist Gegenstand nicht der empirischen Schätzung, sondern der normativen Bewertung 48 . Die Risikoerhöhungstheorie trägt dazu nichts bei. Vielmehr müssen wir uns der Hilfe einer weiteren Theorie, der sog. Eindruckstheorie, bedienen. Diese hat sich bisher hauptsächlich als Abgrenzungskriterium für die Strafbarkeit des Versuchs etabliert. Doch ihre Bedeutung erstreckt sich darüber hinaus auf das gesamte Strafrecht. Denn es geht ihr ganz allgemein um das „Expressiv-Werden" der personalen Handlung in bezug auf andere, wodurch erst die soziale Dimension erreicht wird 49 . Daher kann nur eine riskante Handlung, welche die Sozietät als Störung ihrer wechselseitigen Beziehungen „beeindruckt", zur Grundlage strafrechtlicher Zurechnung und damit der Bestrafung gemacht werden. 4 Die natürliche Handlungseinheit, 1964, S. 72 ff; Vogler (Fn. 12), Rdn. 31, 36; ähnlich Kühl (Fn. 26), S. 724 Rdn. 25, unter Bezugnahme auf Maiwald, NJW 1978, 702: „Einzelakte aus derselben motivatorisch wirkenden Situation". 53 Vgl. oben V. 1, letzter Absatz. 54 BGHSt. 15, 259, 262. 55 GA 1976, 26 f. 56 wistra 1982, 38. 57 BGHSt. 43, 252, 256. 50 51
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standlichen Handlungseinheit am jeweiligen Tatbestand orientieren. Denn es geht ja darum, unter welchen äußeren und inneren Voraussetzungen durch diesen mehrere Willensbetätigungen zu einer deliktischen Einheit verknüpft werden. Das bedeutet nicht, daß auf der subjektiven Seite der Verbrechenseinheit andere als tatbestandsimmanente Aspekte von vornherein keine Berücksichtigung finden können. Vielmehr liegt die Annahme nicht fern, daß das Urteil über die innere Einheit eines mehraktigen Geschehens durch subjektive Bewertungsgesichtspunkte, die sich aus allgemeinen Unrechtsmerkmalen der Vorsatztat ergeben können, beeinflußt wird. Als ein solches allgemeines Unrechtsmerkmal, das in einer auf die Gesamtheit der Vorgänge bezogenen speziellen Ausprägung die nötige subjektive Verbindung unter den Einzelakten herzustellen geeignet ist, ist der in der Diskussion über die Bildung von Handlungseinheiten verschiedentlich angesprochene „einheitliche Vorsatz" in Betracht zu ziehen. Dazu bedarf es zunächst einer Klarstellung dieses mehrdeutigen Begriffs. Entweder ist er im technischen Sinne als Tatbestandsvorsatz zu verstehen. Dann besagt er nur, daß der Vorsatz bei Ausführung der Einzelakte gleichermaßen auf die Verwirklichung der objektiven Merkmale des Tatbestandes gerichtet sein muß (was selbstverständlich ist), ohne ein zusätzliches subjektives Moment anzugeben, das die mehreren den äußeren und inneren Tatbestand erfüllenden Akte zu einer Einheit zu verbinden vermag. Diese Funktion könnte der Begriff des einheitlichen Vorsatzes nur erfüllen, wenn er etwa ausdrücken soll, daß Vorstellung und Wille des Täters nach Art eines Gesamtvorsatzes von vornherein das Gesamtgeschehen in seinen wesentlichen Zügen oder wenigstens während der Vornahme eines Einzelakts das jeweils nachfolgende Verhalten umschließen müssen. In dieser Deutung hält Jakobs die Einheitlichkeit des Vorsatzes für ein unabdingbares Erfordernis jeder juristischen Handlungseinheit und begründet dies damit, daß mit dem Fortfall des Handlungswillens das Delikt ende 58 . Letztere These kommt aber einer petitio principii zumindest nahe, denn ob das Delikt in allen Fällen endet, wenn der Täter bei mehrfacher Normverletzung nicht schon zu Beginn oder jeweils während der Einzelbetätigungen den Willen hat weiterzuhandeln, ist gerade eine der zu klärenden Fragen59. In der Sache mag es zutreffen, daß bei nicht weni-
(Fn. 36), 32/8, 9. Rinding, Handbuch des Strafrechts, Bd. I, 1885, S. 545, auf den Jakobs, Allg. Teil, 32/9 Anm. 10, verweist, bejaht die Frage nicht absolut, sondern macht, wie Jakabs selbst anmerkt, Konzessionen ζ. B. für den Fall, daß der Täter eine als abgeschlossen betrachtete Mißhandlung gleich darauf aus demselben Beweggrund wieder aufgreift. 58 59
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gen Delikten, auch beim Vergehen des § 225 StGB, der explizit gefaßte Entschluß, das tatbestandsmäßige Verhalten nicht mehr fortzuführen — im Falle des Quälens etwa deshalb, weil der Schützling aus dem gegebenen Anlaß genug „gestraft" sei und weitere massive Mißhandlungen dessen Gesundheit über Gebühr beeinträchtigen würden —, grundsätzlich eine die Einbeziehung späterer Rechtgutsverletzungen in dieselbe Tat hindernde Zäsur bedeutet. Gerade bei Körperverletzungshandlungen, durch die ein Schutzbefohlener gequält wird, liegt es aber häufig so, daß der Täter sich über die etwaige künftige Vornahme gleicher oder ähnlicher Handlungen gar keine Vorstellung macht. O b dann, wenn er kurz oder alsbald darauf aus demselben Grund erneut auf das Opfer einschlägt, die Einheitlichkeit der Gesetzesverletzung zu verneinen ist, weil der Handelnde sich nicht von vornherein oder spätestens während des Vollzugs des vorangegangenen Verhaltens bereits den oder die weiteren Akte vorgestellt hat, ist nicht anhand eines vermeintlich allgemeinverbindlichen Kriteriums der rechtlichen Handlungseinheit, sondern am Maßstab des betreffenden Tatbestands zu entscheiden 60 . Ein die zu beurteilenden Geschehnisse insgesamt oder stückweise von Aktion zu Aktion antizipierender „Vorsatz" läßt sich aber der subjektiven Seite des handlungsvereinigenden Tatbildes des Quälens eines Schutzbefohlenen nicht als notwendige Voraussetzung entnehmen. Zur Herstellung der rechtlichen Einheit erforderlich ist danach ein derartiger die Verletzungsabfolge vorausschauend fixierender Handlungsplan nicht. Wenn er aber im Einzelfall besteht, stellt er eine feste, die Einzelakte subjektiv zu einer Einheit verbindende Klammer dar. Die subjektive Einheitlichkeit des Geschehens kann aber auch, und zwar in einer für das quälerische Agieren i. S. v. § 225 S t G B charakteristischeren Weise, durch andere innerpsychische Momente als durch die beschriebene Beschaffenheit des „Vorsatzes" begründet werden. Nicht von ungefähr wurde und wird vereinzelt auch heute dem Quälen eine „gefühllose und unbarmherzige Gesinnung" als eigen zugeschrieben 61 . O b es sich hierbei wirklich um ein zum Tatbestandsvorsatz hinzutretendes subjektives Unrechtsmerkmal handelt, kann dahinstehen. Jedenfalls 6 0 Für eine tatbestandsbezogene Bestimmung auch der subjektiven Komponente der tatbestandlichen Handlungseinheit ausdrücklich Werle (Fn. 22), S. 105 ff, 107. 6 1 So RGSt. 62, 160; Ebermayer/Lobe/Rosenberg, RStGB, 3. Aufl. 1925, § 223a Anra. 9 c , Frank, StGB, 18. Aufl. 1931, § 223a Anm. III 3a), jeweils zu der mit dem heutigen § 225 StGB inhaltlich verwandten Vorschrift des § 223a II StGB a. F.; Horn (Fn. 6) Rdn. 6. Ähnlich („Lust an Schmerzbereitung") v. Olshausen, Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 1942, § 223b Anm. 3; auch Hirsch (Fn. 1), S. 37, hält eine solche Auslegung für überlegenswert.
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deutet die genannte Umschreibung die Richtung an, in der das eine Mißhandlungsserie zu einem einheitlichen Quälen verknüpfende subjektive Band vornehmlich zu suchen ist: in den emotionalen Bereichen der Täterpsyche. Werden z. B. Tätlichkeiten gegen Schutzbefohlene unter der enthemmenden Wirkung übermäßigen Alkoholgenusses begangen, was vor allem im häuslichen Bereich nicht selten zu beobachten ist, so sind sie Ausfluß der gleichen durch den Alkoholgenuß ausgelösten Aggressionslust. Bestehen sexuelle Kontakte zu der Schutzbefohlenen Person, so kann mehrfach wiederholte Schmerzbereitung in sadistischen Neigungen des Peinigers ihren gemeinsamen Ursprung haben. Ferner können seelisch nicht „verkraftete" Erlebnisse der Enttäuschung und Zurücksetzung zu einem Stau an Frustrationen führen, der sich nicht auf einmal, sondern in Abständen phasenweise in Aggressionen gegen Abhängige entlädt. Das gleiche kann aus einer innerlich ablehnenden, bis zu tiefsitzendem Haß reichenden Einstellung, die eine Mutter z. B. gegenüber einem unerwünschten Kind entwickelt hat, heraus geschehen. Auch andere Stimmungslagen, Gefühlseinstellungen oder Gewissenshaltungen, die keine dauerhaften Charaktereigenschaften zu sein brauchen, häufig aber durch abnorme Persönlichkeitsstrukturen mitbedingt sind, können, wenn sie hinreichend klar bestimmbar sind, einer Mehrzahl von Attacken ein einheitliches subjektives Gepräge geben. Die kriminologische Literatur zur Kindesmißhandlung bietet hierzu vielfältiges Anschauungsmaterial62. Will man die damit skizzierten Möglichkeiten einer dem Sinngehalt des Tatbestandsmerkmals „quälen" adäquaten subjektiven Verklammerung von Einzelakten auf einen gemeinsamen Nenner bringen, so kann man sagen: Subjektive Einheitlichkeit ist gegeben, wenn die Einwirkungen auf den Schutzbefohlenen ihre Motivation in der gleichen psychischen, namentlich emotionalen Verfassung des Täters finden. Unabhängig hiervon bleibt die weiter oben festgestellte Möglichkeit bestehen, die subjektive Einheit des Geschehens im Einzelfall damit zu begründen, daß der Täter sich bereits im voraus alle oder jeweils den oder die nächstfolgenden Teilakte vorgesetzt hat. Gegenüber der Ansicht, die in einem in diesem Sinne einheitlichen Vorsatz das allein in Betracht kommende, aus dem Begriff der rechtlichen Handlungseinheit folgende subjektive Einheitskriterium sieht, stellt die hier vertretene Auffassung eine tatbestandsspezifische Erweiterung dar. Sie ist andererseits enger als die — generell und damit auch bei Vergehen nach § 225 StGB - auf eine „einheitliche Motivations-
62 Besonders reichhaltig, die Untersuchungsergebnisse zahlreicher anderer Autoren einbeziehend, Schaible-Fink, Das Delikt der körperlichen Kindesmißhandlung (Kriminolog. Schriftenreihe, Bd. 34), 1968, S. 30 ff, mit Statistik über Anzahl und Gesamtdauer wiederholter Mißhandlungen S. 54 f; aufschlußreich auch L. H. Schreiber.; Die Mißhandlung von Abhängigen, Diss. Mainz 1969, S. 137 ff.
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läge" abstellende Betrachtungsweise. Denn einheitliche Anreize zur Tat kann der Täter auch auf exogene Weise durch gleichbleibende außerpsychische Umstände (fortgesetzte Disziplinlosigkeit eines Heiminsassen, ständiges Schreien eines Kleinkindes, bestimmte tatbegünstigende Lebensumstände des Täters u. dgl.) empfangen. Derartige die äußere Tatsituation betreffende Konstanten können zwar, wie ausgeführt, als objektive Elemente einer Bewertungseinheit bedeutsam sein, entsprechen aber nicht der notwendigerweise endogenen Motivation durch bestimmte innerpsychische Gegebenheiten beim Täter, die nach Vorstehendem die Zusammenfügung mehrerer schmerzverursachender Handlungen zu einem einheidichen Quälen zu rechtfertigen vermag.
c) Sollen mit Hilfe von Wesensmerkmalen einer tatbestandlichen Handlungseinheit deren Voraussetzungen und damit Grenzen näher bestimmt werden, so genügt es nicht, die dabei nach der Gestaltung des jeweiligen Tatbestandes zu beachtenden äußeren und inneren Umstände der Tat zu beschreiben. Vielmehr müssen die einzelnen Elemente in ein System gebracht werden, das ihr möglicherweise unterschiedliches Gewicht und ihr Verhältnis zueinander erkennbar macht. Wird ein Rechtsinstitut durch starre, in jedem Fall zwingend und damit kumulativ erforderliche, exakte Merkmale, deren Vorliegen nur bejaht oder verneint werden kann, definiert, so spricht man von einem „unbeweglichen System" 63 . „Bewegliche Systeme" sind demgegenüber durch das Zusammenspiel verschiedener, in der Regel quantitativ abstufbarer Elemente gekennzeichnet, wobei die schwache Ausbildung, u. U. auch das Fehlen eines Merkmals durch eine besonders starke Ausprägung eines oder mehrerer anderer Merkmale in gewissen Grenzen aufgewogen werden kann. Die Kriterien der Verknüpfung eines mehraktigen Geschehens zu einer deliktischen Einheit nach § 225 StGB bilden ein solches bewegliches System. Aus diesem fällt allein die Identität des Opfers der mehreren Mißhandlungen als feste Größe und zudem unverzichtbare Voraussetzung einer Unrechtseinheit heraus. Alle anderen oben zu b) angesprochenen Momente können in unterschiedlicher Intensität in Erscheinung treten. Dies gilt nicht nur für den zeitlichen und räumlichen Konnex der Ausführungsakte, sondern auch für die Kontinuität der Tatsituation im übrigen; je nach der Zahl der bei den Einzelbetätigungen übereinstimmenden Tatumstände (Anlaß der Mißhandlungen, Begehungsweise, Art der Verletzungen, sonstige äußere Umstände) kann die situative Kontinuität in mehr oder minder großem Umfang gegeben sein. Selbst bei den beiden Alternativen einer subjektiven Verklammerung des Geschehens sind gewisse Abstufungen möglich. So ist der die Einzelakte ggf. verbindende einheitliche Vorsatz um so stärker ausge6 3 Instruktiv hierzu und zum folgenden Schmoller, Bedeutung und Grenzen des fortgesetzten Delikts, 1988, S. 62 ff, mit Belegen aus der methodologischen Literatur.
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prägt, je genauer in ihm die Einzelheiten der geplanten Handlungen bereits konkretisiert sind. Und auch eine als gemeinsame Triebfeder fungierende bestimmte emotionale Verfassung des Täters kann in ihrem Stärkegrad (etwa des durch Frustration oder Alkoholmißbrauch ausgelösten Aggressionsdranges) schwanken. Die Abstufbarkeit der besprochenen Merkmale prädestiniert sie als Bestandteile eines beweglichen Systems. Dieses erfordert eine Gesamtbewertung, innerhalb derer der konkrete Ausprägungsgrad der Einzelelemente angemessene Berücksichtigung finden kann. Dabei ist es auch möglich, daß Defizite in der Ausbildung eines Elements durch die hohe Intensität, in der eines oder mehrere andere Merkmale verwirklicht sind, ausgeglichen werden. Entscheidend ist, ob die zu beurteilenden Tätlichkeiten so viel an substantiellen Gemeinsamkeiten, so viel an äußerer und innerer Geschlossenheit aufweisen, daß sie dem Tatbild eines einheitlichen Quälens entsprechen. In diesem Tatbild dürfte der subjektiven Komponente und unter den objektiven Erfordernissen der zeitlichen Dichte der Mißhandlungen eine dominierende Rolle zukommen. Prügelt etwa ein betrunkener Vater im Verlauf einiger Stunden grundlos, allein seine wiederholt aufflammende Aggressivität auslebend, dreimal brutal auf eines seiner Kinder ein, so ist wegen der zeitlichen Nähe der einer homogenen psychischemotionalen Quelle entspringenden Gewalttätigkeiten ein Vergehen des § 225 StGB gegeben, ohne daß es noch auf andere für die Einheitlichkeit der Tat sprechende Umstände ankäme. Ebenso verhält es sich, wenn eine Mutter ihre kleine Tochter meint für allerlei Bösartigkeiten dadurch nachhaltig strafen zu müssen, daß sie das Mädchen, vorgefaßter Absicht entsprechend, an drei Tagen hintereinander für jeweils eine halbe Stunde unter Einflößen panischer Angst vor Ratten und Gespenstern in einen dunklen Keller sperrt. Auch hier ist das subjektive Band — in diesem Fall als konkret ausgeformter einheitlicher Vorsatz — stark genug und liegen die Maßnahmen zeitlich noch nahe genug beieinander, um die Bewertung als einheitliche Tat ohne Rücksicht auf etwaige weitere hierfür streitende Gründe zu rechtfertigen 6 4 . Umgekehrt schließt die große zeitliche Distanz eine Deliktseinheit aus, wenn etwa der sprichwörtliche „Quartalsäufer" wirklich (nur) alle drei Monate einmal seine alkoholbedingte Aggressionslust an einer abhängigen Person ausläßt, mag das auch jeweils in derselben Umgebung geschehen und die Vorgehensweise sich in allen Fällen glei6 4 Ein besonders enger zeitlicher Zusammenhang kann Abstriche an der Qualität des subjektiven Bindeglieds erlauben. Prügelt der Täter mit mehreren Faustschlägen auf einen Schutzbefohlenen ein und fügt er sofort danach, ohne dies zunächst vorgehabt zu haben, einen weiteren Hieb hinzu, weil das vor Schmerzen schreiende Opfer ihn unflätig beschimpft, so stellt sich der Gesamtvorgang in seinem äußeren Ablauf deutlich als eine Einheit dar. In subjektiver Hinsicht wird man es dann genügen lassen können, daß überhaupt eine psychologische Verbindung zu dem ersten Teil des Geschehens besteht. Diese ist darin zu sehen, daß der Täter sich zu dem weiteren Schlag aus Zorn über die durch die vorangegangenen Faustschläge hervorgerufene beleidigende Reaktion des Mißhandelten entschließt.
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chen. Entsprechendes gilt in Ermangelung einer geeigneten subjektiven Klammer, wenn die Einsperrung eines sensiblen Kindes in einem dunklen Kellerraum zwar das Standardmittel elterlicher „Erziehung" bildet, also gleichförmig wiederholt — u. U. auch innerhalb weniger Tage mehrmals — angewendet wird, aber der Entschluß dazu aufgrund unterschiedlicher Anlässe immer neu gefaßt wird und nicht jeweils aus der gleichen psychisch-emotionalen Grundhaltung im Sinne der obigen Ausführungen zur subjektiven Komponente der Bewertungseinheit resultiert.
Im Verhältnis zum Stellenwert der zeitlichen und der subjektiven Zusammengehörigkeit der Einzelakte treten andere Gesichtspunkte (räumliche Nähe, gleichbleibende Rahmenbedingungen, konstante Einzelfakten der Tatsituation u. dgl.) in den Hintergrund, ohne deswegen generell bedeutungslos zu sein. Sie können, wie bereits oben (zu I.) festgestellt, die einheitsindizierende Wirkung anderer Faktoren verstärken und u. U. — insbesondere im Falle ihrer Häufung — auch einmal den Ausschlag geben, wenn die aktuelle Schwäche eines der beiden genannten Hauptkriterien durch eine starke Ausprägung des jeweils anderen noch nicht als hinreichend kompensiert erscheint. Diese noch etwas allgemein gehaltenen Aussagen weiter zu konkretisieren und beispielhaft zu erläutern, bietet sich der der Entscheidung BGHSt. 41, 138 zugrunde liegende, in den wesentlichen Zügen oben (zu I.) berichtete Sachverhalt an. VI. Zur Lösung des Ausgangsfalles /. Argumente für und gegen eine Bewertungseinheit Nur bedingt spricht gegen eine Zusammenfügung aller von der Mutter (M) an ihrer Tochter (T) begangenen Mißhandlungen zu einer Tat deren mit sieben Monaten verhältnismäßig lange Gesamtdauer. Denn wie zu V. 2 b) ausgeführt, kann ein Quälen auch aus einem stückweise über längere Zeit hinweg bereiteten Martyrium bestehen. Regelmäßig vorauszusetzen ist dann aber — neben anderen Erfordernissen - eine zeitlich relativ nahe Abfolge der Einwirkungen. Daran hapert es hier teilweise. „Zuletzt" hat M die Τ zwar täglich mit Schlägen und/oder Tritten traktiert. Im übrigen stellt das Urteil eine zunehmende Häufigkeit der Mißhandlungen fest. Das besagt, daß die Unterbrechungsdauer sich allmählich dem eintägigen Rhythmus angenähert hat, die Intervalle aber, vor allem in den ersten Monaten, auch wesentlich größer gewesen sein und mitunter, was nicht auszuschließen ist, mehrere Wochen betragen haben können. Insoweit ist das äußere Bild einer einheitlichen Tat erheblich beeinträchtigt. Andererseits ist die Beziehung der Einzelvorgänge untereinander durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten geprägt. Durchgehend handelt
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es sich um die Zufügung erheblicher körperlicher Schmerzen, ein der Kontinuität insoweit abträgliches (bloßes) seelisches Quälen hat nicht stattgefunden. In der Art der Ausführung waren die Schläge und Tritte allesamt typisch für ein körperliches Quälen; durch außergewöhnliche Begehungsweise auffallende „Ausreißer" sind nicht zu verzeichnen. Das gesamte Geschehen spielte sich in derselben häuslichen Umgebung ab. Jeweils nutzte M die Abwesenheit des Ehemanns zum Verprügeln der Τ aus 65 . In diesen Gegebenheiten zeigt sich immerhin ein beachtliches Maß an Konformität im Handeln der M. Dieses reicht aber wegen des größeren Gewichts, das der zeitlichen Dimension im Erscheinungsbild einer einheitlichen Tat zukommt, nicht aus, um das Manko an temporärer Geschlossenheit der Verletzungshandlungen auszugleichen. Fraglich ist, ob die Einbeziehung der subjektiven Komponente zu einer anderen Gesamtbeurteilung führt. Von einem einheitlichen, die Prügeleien insgesamt oder wenigstens jeweils von Fall zu Fall vorausplanend umfassenden Vorsatz der M ist nach dem mitgeteilten Sachverhalt nicht auszugehen. Es läßt sich aber andererseits auch nicht feststellen, daß M jemals beschlossen hat, von weiteren Tätlichkeiten definitiv Abstand nehmen, was, wenn es so wäre, eine gravierende, durch durchgehende Kontinuität in anderer Hinsicht kaum zu überspielende Zäsur bedeuten würde. Dagegen spricht, daß mehrfache Ermahnungen des Ehemanns, der von einzelnen Vorfällen durch seinen sich zeitweise in der Familienwohnung aufhaltenden Bruder Kenntnis erhielt, das Kind nicht mehr zu mißhandeln, erfolglos blieben. Selbst dessen Einschreiten in einem Fall mittels physischer Gewalt hat M an der künftigen Fortsetzung der Attacken gegen Τ nicht gehindert. Dies und die zunehmende Heftigkeit und Häufigkeit der Mißhandlungen zeugen von einer anhaltenden Bereitschaft und einem sich steigernden Drang der M, gegen das Kind tätlich zu werden. Ursache und Erklärung hierfür liegen in spezifischen emotionalen Strukturen der Psyche der Täterin. Neben dem Gefühl, mit der Versorgung ihrer beiden Kinder überfordert zu sein, haben Enttäuschung und Wut über die Abwendung des tagsüber ständig abwesenden Ehemanns von ihr und der Familie ein Aggressionspotential entstehen lassen, das sich in rüden Ausschreitungen gegen das schutzlose Mädchen entladen hat. Das Abreagieren derartiger frustrationsbedingter Aggressionen hat, wie dem Zusammenhang der Urteilsgründe in Ermangelung gegenteiliger Feststellungen zu entnehmen ist, das Vorgehen der M von Anbeginn an bestimmt. Es charakteri6 5 Als der Ehemann ausnahmsweise einmal zugegen war, griff er ein und hielt M von weiteren Tätlichkeiten ab.
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siert deshalb alle von der M begangenen Tätlichkeiten als aus der gleichen psychischen Motivation verübte Akte eines Quälens. Dieses die Einzelbetätigungen verknüpfende subjektive Element tritt derart eindeutig und markant hervor, daß es das Gesamturteil über die Einheitlichkeit der Tat in starkem Maße beeinflußt. O b sein Gewicht ausreicht, um allein die besonders in den Anfängen der Mißhandlungsserie nicht unerheblichen Defizite an zeitlicher Dichte wettzumachen, kann zweifelhaft sein. Zu berücksichtigen ist aber, daß die Einheitlichkeit des äußeren Erscheinungsbildes nur in zeitlicher Hinsicht teilweise leidet, während dieses Bild im übrigen, wie dargelegt, durch eine Reihe konformer Züge geprägt ist. Nimmt man diese zu der intensiven subjektiven Verklammerung des Geschehens hinzu, so erscheint es gerechtfertigt, auch die ersten Ausfälle gegen das Kind als kontinuierliche Bestandteile eines, in loserer Folge beginnenden, sich progressiv (auch an Heftigkeit) steigernden Vergehens der Mißhandlung eines Schutzbefohlenen zu betrachten. Der Einwand von Wolfslast/Schmeissner, Unrecht und Schuld einer sich über mehrere Monate erstreckenden Reihe von Tätlichkeiten könnten durch deren Verschmelzung zu einem Delikt nicht sachgerecht erfaßt werden 6 6 , greift nicht durch. Die Erhöhung des Unwertgehalts durch oftmals wiederholte Schmerzzufügung muß nicht in einer Verurteilung wegen selbständiger Straftaten zum Ausdruck kommen. Ihr kann auch im Rahmen der Strafzumessung (Normalstrafrahmen: sechs Monate bis zehn Jahre Freiheitsstrafe) ohne Schwierigkeiten Rechnung getragen werden. Ebensowenig indiziert der Schutzzweck der Norm, der bei der Zusammenfassung eines mehraktigen Geschehens zu einer Bewertungseinheit bei manchen Delikten in bestimmten Konstellationen eine wesentliche Rolle spielt 67 , eine andere Beurteilung. § 225 S t G B will einem besonders schutzbedürftigen Kreis von Personen, denen gegenüber der Täter zur Fürsorge oder Obhut verpflichtet ist, vor bestimmten der Art nach gravierenden Beeinträchtigungen ihrer körperlichen oder seelischen Unversehrtheit einen erhöhten Strafrechtsschutz gewähren 68 . Dieser Zweckbestimmung ist nichts zu entnehmen, was der Wertung vielfach wiederholter Schmerzverursachung als einer einheitlichen Tat des Quälens in einem Fall wie dem vorliegenden entgegensteht. (Fn. 1), S. 338 f. So nach BGHSt. 43, 252, 259 = NStZ 1998, 251, 253 mit Anm. Erb für die Frage, ob die gewaltsame Wiederbeschaffung gestohlenen Heroins mit dem früheren Handeltreiben eine einheitliche Tat bildet. 6 8 Vgl. Horn (Fn. 6), Rdn. 2; Stree (Fn. 16), Rdn. 3. 66 67
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Beachtung verdient schließlich die verschiedentlich — auch von dem Jubilar — ausgesprochene Warnung vor der Versuchung, den Verlust der u. a. wegen ihrer nicht sicher eingrenzbaren Weite aufgegebenen Figur der fortgesetzten Handlung durch exzessive Anwendung anderer Formen einer rechtlichen Handlungseinheit zu egalisieren. In der Tat ist gerade bei Tatbeständen, deren gesetzliche Verhaltensbeschreibung — wie das Quälen in § 225 StGB — auf die Erfassung einer Mehrzahl natürlicher Handlungen zielt, die Gefahr einer Uberdehnung nach den Erfahrungen mit der Praxis zum Fortsetzungszusammenhang nicht von der Hand zu weisen und deshalb bei der Verknüpfung einer größeren Anzahl von Einzelakten Zurückhaltung geboten. Erstrecken sich die Mißhandlungen über mehrere Monate und folgen sie nicht sämtlich relativ nah aufeinander, so kommt ihre Zusammenfügung zu einer deliktischen Einheit des Quälens nur ausnahmsweise unter besonderen Umständen in Betracht. Daß solche Umstände hier gegeben sind, haben die vorstehenden Ausführungen aufzuzeigen versucht.
2. Vorsat£ Zur Vorsatzfrage äußert sich das Urteil des 4. Strafsenats nicht. Hirsch sieht darin deshalb ein Versäumnis, weil der Vorsatz konkret auf die Verwirklichung des Tatbestandsmerkmals „quälen" durch das Verursachen sich wiederholender erheblicher Schmerzen oder Leiden gerichtet sein müsse, es sich im Einzelfall aber so verhalten könne, daß der Täter immer wieder situationsbedingt dem Drang erliege, einen neuen Entschluß zu einer körperlichen Mißhandlung zu fassen, die für sich allein kein Quälen darstellt. Mit diesem Hinweis wird zu Recht eine Klarstellung des notwendigen Inhalts des Tatbestandsvorsatzes angemahnt. Da das Tatbestandsmerkmal „quälen" in der Begehungsweise der Verursachung sich wiederholender erheblicher Schmerzen oder Leiden erst mit der Iteration einer erheblichen Schmerzzufügung verwirklicht ist, könnte man meinen, daß zum Vorsatz der Wille gehöre, die Schmerzbereitung künftig (mindestens einmal) zu wiederholen. Das würde jedoch bedeuten, daß der letzte Akt einer — auch nach der Vorstellung des Täters — abgeschlossenen, zusammengehörenden Folge von Mißhandlungen aus der Strafbarkeit herausfallen würde. Das kann nicht richtig sein. Die Erklärung hierfür liegt darin, daß das Erfordernis der Wiederholung begrifflich nicht an ein zukünftiges, sondern an ein in der Vergangenheit liegendes Verhalten anknüpft. Erforderlich und ausreichend ist die wissentliche und willentliche Verursachung erheblicher Schmerzen oder Leiden, die bei Wiederholungsakten in dem Bewußtsein geschehen muß, daß (mindestens) eine ebensolche Schmerz-
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oder Leidensverursachung vorausgegangen ist. Die Absicht künftiger Wiederholung braucht hingegen bei keiner der für sich allein jeweils kein Quälen darstellenden Mißhandlungen vorzuliegen. Dies gilt auch für den ersten Angriff auf das Opfer. Die Vorsatzfrage stellt sich erst für den Zeitpunkt, in dem durch das weitere Handeln des Täters das zur Tatbestandserfüllung notwendige Schmerzquantum erreicht ist. Sie ist dann wie vorstehend zu beantworten. Daß M die Τ hiernach vorsätzlich gequält hat, ist in dem Urteil zwar nicht ausdrücklich festgestellt, aber nach der Sachlage anzunehmen. Steht es somit der Vorsätzlichkeit des Quälens durch wiederholte Schmerzverursachung nicht entgegen, wenn ein Täter sich zu den einzelnen Mißhandlungen aufgrund eines situationsbedingt ausgelösten Dranges immer erneut entschließt, so ist ein derartiger Umstand doch für die — vom Tatbestandsvorsatz zu unterscheidende, in dem Urteil des 4. Strafsenats völlig übergangene — Frage von Bedeutung, wie die subjektive Verbindung unter den Einzelakten einer tatbestandlichen Bewertungseinheit beschaffen sein muß. Das dazu generell und im Hinblick auf den vorliegenden Fall Nötige ist oben (zu V.2 und VI.l) gesagt. Insgesamt erweist sich demnach die Entscheidung BGHSt. 41, 113 bei allen Unzulänglichkeiten der Begründung als im Ergebnis akzeptabel. Dies darzutun, war aber nicht das Hauptanliegen unserer Untersuchung. In erster Linie ging es darum, bewußt zu machen, daß die Möglichkeit der Zusammenfassung eines mehraktigen Geschehens zu einer Tat mittels der Figur der tatbestandlichen Handlungseinheit mehr Aufmerksamkeit im Detail verdient, als ihr bislang - insbesondere, aber nicht nur in der Praxis — meist zugewandt worden ist. Daß die Voraussetzungen und Grenzen dieser Rechtsfigur deliktsspezifisch erarbeitet werden müssen, sollte am Beispiel des Tatbestandsmerkmals „quälen" in § 225 StGB unter Verwendung eines „beweglichen Systems" von Kriterien gezeigt werden. Möglicherweise entsprechen die dazu angestellten Überlegungen nicht in allem den Intentionen der Urteilsanmerkung, mit der Hans Joachim Hirsch den Anstoß zu der vorliegenden Studie gegeben hat. Das tut aber der Verehrung, mit der dieser Beitrag dem um die Strafrechtswissenschaft verdienten Jubilar gewidmet ist, nicht den mindesten Abbruch.
Die Bedeutung des Irrtums für die strafrechtliche Verantwortlichkeit im neuen polnischen Strafgesetzbuch ANDRZEJ ZOLL
Am 1. September 1998 ist das 1997 verabschiedete neue polnische Strafgesetzbuch in Kraft getreten1. Manche der Vorschriften des neuen Strafgesetzbuchs gehen auf eigenständige Überlegungen in der polnischen Strafrechtslehre zurück, viele Regelungen des Allgemeinen Teils stützen sich jedoch auf die Ideen der europäischen, insbesondere der deutschen Lehre. Unter deren Vertretern ist Hans Joachim Hirsch ein Autor, dessen Arbeiten einen nicht zu überschätzenden Einfluß auf die polnische Strafrechtslehre ausgeübt haben. Aufgrund seiner häufigen Besuche in Polen hatten die Vertreter der polnischen Strafrechtslehre die Möglichkeit, ihn zu hören, mit ihm zu diskutieren und seine Publikationen mit großem Interesse zu verfolgen. Mir selbst waren die Arbeiten des Jubilars schon relativ früh bekannt. Schon bei meinem ersten Aufsatz über den psychischen Faktor bei der Notwehr2 war mir seine hervorragende Monographie über die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen3 eine große Hilfe. Dieses Werk hat zweifellos auch prägend auf die Regelungen des polnischen Strafgesetzbuchs, insbesondere hinsichtlich des Irrtums über die Merkmale des Konträrtypus, gewirkt. In der Regelung der Irrtums schlägt sich die Einstellung des Gesetzgebers zum Verbrechensaufbau sowie zu den Beziehungen zwischen den Grundelementen des Verbrechens besonders deutlich nieder. Insbesondere geht es um das Verhältnis zwischen der Rechtswidrigkeit der Tat (d. h. dem Verstoß gegen die Strafnorm und dem Fehlen von Rechtfertigungsgründen), der Tatbestandsmäßigkeit, der Strafwürdigkeit der Tat (der Überschreitung eines bestimmten Unrechtsgehalts durch eine konkrete rechtswidrige Tat) und der Schuld (der Erforderlichkeit normkonformen Verhaltens beim Fehlen von Umständen, die den Vorwurf
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Dziennik ustaw (Gesetzblatt) Nr. 88, Pos. 553. Zoll, Nowe prawo 1965, Heft 12. Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960.
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ausschließen 4 ). Gegenstand des Irrtums können nämlich Umstände oder Bewertungen sein, die für die Feststellung jedes einzelnen dieser Elemente der Straftat relevant sind. Die Folgen, die das Strafrecht für den Fall eines Irrtums vorsieht, erlauben eine Rekonstruktion des theoretischen Modells des Verbrechensaufbaus, der dem jeweiligen Strafrecht zugrunde liegt. Im polnischen Strafgesetzbuch von 1969 war der Irrtum in unvollständiger und inkonsequenter Weise geregelt. Insbesondere fehlte es — und dies ist vor allem der polnischen Strafrechtslehre anzulasten — an einer klaren Unterscheidung zwischen der subjektiven Seite der verbotenen Tat (d. h. den Elementen, die die verbotene Tat selbst charakterisieren und über ihre Strafbarkeit, manchmal sogar über die Rechtswidrigkeit - wie bei den sog. subjektiven Unrechtselementen — entscheiden) und der Schuld als Erforderlichkeit normkonformen Verhaltens. Diese fehlende Trennung kam in Art. 6 StGB 1969 zum Ausdruck, der die Straftaten in vorsätzlich begangene („vorsätzliche" Schuld) und fahrlässig begangene („fahrlässige" Schuld) unterteilte. Für die Feststellung der Schuld muß die ganze Tat, d. h. sowohl deren subjektive als auch deren objektive Elemente, zum Gegenstand der Bewertung gemacht werden. In der polnischen Strafrechtslehre herrschte jedoch die sog. komplexe Normativlehre vor, die den Bewertungsgegenstand mit der Bewertung selbst verwechselte 5 . Die Unvollständigkeit der Regelung kam insbesondere darin zum Ausdruck, daß das Gesetz keine Bestimmung über die Folgen eines Irrtums über die Merkmale des Konträrtypus (Rechtfertigungsgründe) sowie über die Merkmale eines privilegierten Tatbestandes traf. Im folgenden möchte ich die Lösungen des neuen Strafgesetzbuchs hinsichtlich des Irrtums darstellen, wobei ich aus praktischen Gründen 6 4 Vgl. Zoll, ZStW 107 (1995), 417. Die im Text genannte Reihenfolge der Elemente der Straftat ist in der Funktion des Strafrechts und seiner Beziehung zu anderen Rechtsgebieten verankert. Das primäre Element der Bewertung einer Tat muß die Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit, d. h. ihres Widerspruchs zur Rechtsordnung, sein. Erst danach wird die Tatbestandsmäßigkeit der Tat festgestellt. Das Strafrecht hat nämlich nicht darüber zu entscheiden, welches Verhalten rechtswidrig ist, sondern darüber, welche rechtswidrigen Verhaltensweisen strafbar sind. Im Hinblick auf die Garantiefunktion des Strafrechts (nullum crimen sine lege poenali) setzt allerdings die Bewertung einer Tat in der Praxis bei der Feststellung an, ob das Verhalten des Täters einem unter Strafandrohung verbotenen Tatbestand entspricht. 5 Zu den Befürwortern dieser Konzeption gehörte auch W. Wolter.; der insbesondere in den sechziger und siebziger Jahren die unbestrittene Autorität in der polnischen Strafrechtslehre war. 6 Vgl. Anm. 4.
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die traditionelle Reihenfolge einhalte, d. h. zunächst auf den Tatbestandsirrtum, dann auf den Verbotsirrtum, den Irrtum über Rechtfertigungsgründe, den Irrtum über schuldausschließende Umstände und schließlich auf den Irrtum über den Grad der Gesellschaftsschädlichkeit eingehen werde. I. Tatbestandsirrtum Einige polnische Strafrechtler sehen den Irrtum über Tatbestandsmerkmale nach wie vor als einen Umstand an, der die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließt oder mindert7. Diese Meinung ist jedoch irreführend. Der Irrtum, der sich auf Tatbestandsmerkmale bezieht, kann sogar die strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen oder für die rechtliche Qualifizierung einer verbotenen Tat maßgeblich sein. Andererseits kann der Irrtum auch zu der Feststellung führen, daß Tatbestandsmerkmale nicht verwirklicht sind. Hat der Täter jedoch die Tatbestandsmerkmale verwirklicht, so kann ein Irrtum über diese Merkmale die strafrechtliche Verantwortlichkeit niemals ausschließen. Der Irrtum über Tatbestandsmerkmale gehört der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit, nicht der Schuldebene an 8 . Die Stellung des Irrtums über Tatbestandsmerkmale im Verbrechensaufbau war nach dem früher geltenden Strafgesetzbuch nicht eindeutig; dies ergab sich aus der mangelnden Trennung zwischen den Elementen, die die verbotene Tat charakterisieren, und den Elementen der Vorwerfbarkeit (Schuld). Das Fehlen einer solchen Trennung zeigte sich deutlich in Art. 24 § 1 StGB 1969, der folgende Bestimmung über die Folgen eines Tatbestandsirrtums traf: „Keine Straftat begeht, wer eine Tat infolge eines Irrtums über Umstände begeht, die Merkmale der verbotenen Tat bilden, es sei denn, daß es sich um ein fahrlässiges Vergehen handelt und der Irrtum die Folge von Leichtsinn und Sorglosigkeit ist." 9 Das neue Strafgesetzbuch unterscheidet dagegen klar zwischen den Elementen, die die verbotene Tat charakterisieren, und der Bewertung dieser Tat selbst, die zur Feststellung der Schuld führt. Art. 28 § 1 StGB 1997 lautet: „Keine vorsätzliche Straftat begeht, wer im Irrtum über einen Umstand handelt, der ein Tatbestandsmerkmal bildet." Das Straf-
Zu diesen Autoren gehört auch Wolter, Nauka o przestçpstwie, 1973, S. 209 ff. Auch Marek, Prawo käme, 1997, S. 143 ff, zählt den Tatbestandsirrtum zu den Umständen, die die Schuld ausschließen oder mindern. 9 Übersetzung von Geilke, Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, 1970. 7
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gesetzbuch beschränkt sich in dieser Vorschrift auf die Feststellung, daß derjenige, der sich über einen zum Tatbestand gehörenden Umstand irrt, die Merkmale eines Vorsatztatbestandes nicht verwirklicht. Ob die Merkmale eines Fahrlässigkeitstatbestandes verwirklicht sind, hängt nicht vom Wesen des Irrtums, sondern von der Frage ab, ob das Gesetz fahrlässige Begehung unter Strafe stellt sowie ob die Tat die Bedingungen für eine Zurechnung zur Fahrlässigkeit erfüllt 10 . Art. 28 § 1 StGB 1997 betrifft sowohl die Unkenntnis eines positiven Merkmals des Tatbestandes als auch die irrige Annahme eines negativen Tatbestandsmerkmals. Ahnlich wie im alten Strafgesetzbuch werden auch im neuen die Folgen des Irrtums über Merkmale geregelt, die die Strafbarkeit qualifizieren. Bei diesen Irrtümern kommt es wesentlich auf den Charakter des betroffenen Merkmals an. Bezieht sich der Irrtum auf einen qualifizierenden Umstand mit statischem Charakter (d. h. einen Umstand, der bereits zur Zeit der Verwirklichung des Tatbestandes gegeben war), so schließt die Unkenntnis dieses Merkmals (bzw. die irrige Annahme eines entsprechenden negativen Tatbestandsmerkmals) die Möglichkeit aus, dem Täter die Begehung des qualifizierten Straftatbestandes zuzurechnen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Irrtum verschuldet war. Stellt dagegen ein bestimmter Erfolg das qualifizierende Merkmal dar, so kann ein Irrtum des Täters über den Eintritt des Erfolges dazu führen, daß der Täter wegen eines Delikts bestraft wird, das die Vorsatztat durch die fahrlässige Herbeiführung eines Erfolges qualifiziert (erfolgsqualifiziertes Delikt). Die Zurechnung von Tatfolgen wird allerdings in Art. 9 § 3 StGB durch die Grenze der Vorhersehbarkeit eingeschränkt. Art. 9 § 3 StGB definiert die Möglichkeit, den Erfolg vorauszusehen, objektiv und bestimmt sie anhand der Naturgesetze und des Grades der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts. Es geht also auch hier um die Festlegung der Grenzen der Strafbarkeit und nicht um die Schuld, die unabhängig vom Vorliegen eines Irrtums festzustellen ist. Das alte Strafgesetzbuch enthielt keine Regelung hinsichtlich eines Irrtums über privilegierende Merkmale. Theoretisch kam bei irriger Annahme eines privilegierenden Tatbestandsmerkmals Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs des privilegierten Tatbestandes oder auch Strafbarkeit nach einem Fahrlässigkeitstatbestand in Betracht. Kannte der Täter ein privilegierendes Merkmal nicht, so war es theoretisch möglich, 1 0 Art. 9 § 2 S t G B 1997 lautet: „Eine verbotene Tat ist fahrlässig begangen, wenn der Täter, ohne die Absicht der Tatbegehung zu haben, die Tat infolge der Nichteinhaltung der unter den gegebenen Umständen erforderlichen Sorgfalt begeht, obwohl er die Möglichkeit der Begehung voraussah oder voraussehen konnte."
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ihn wegen untauglichen Versuchs des Grundtatbestandes oder wegen fahrlässiger Begehung des privilegierten Tatbestandes zu bestrafen. Mit der juristischen Intuition waren alle diese Lösungen jedoch nicht vereinbar. Das neue Strafgesetzbuch knüpft an § 16 Abs. 2 dt. StGB an. Art. 28 § 2 StGB 1997 lautet: „Nach der milderen Vorschrift ist ein Täter verantwortlich, der die Tat in der begründeten irrigen Annahme begeht, daß ein Umstand vorliegt, der ein Tatbestandsmerkmal bildet, das zu dieser milderen Verantwortlichkeit führt." Danach wird dem Täter nur bei begründeter irriger Annahme eines privilegierten Tatbestandsmerkmals die privilegierte Tat (als vollendete Tat) zugerechnet. Ein unbegründeter Irrtum hinsichtlich des Vorliegens eines privilegierenden Tatbestandsmerkmals führt dagegen nicht zum Ausschluß der Vorsatzstrafbarkeit wegen der Begehung des Grundtatbestandes. In diesem Sinne stellt Art. 28 § 2 StGB 1997 eine Ausnahme von Art. 28 § 1 StGB dar, die kriminalpolitisch begründet ist, sich dogmatisch aber nicht rechtfertigen läßt 11 . II. Verbotsirrtum Schon nach dem alten Strafgesetzbuch entsprach es allgemeiner Ansicht, daß der Verbotsirrtum (das fehlende Bewußtsein von der Rechtswidrigkeit der Tat) bei der Schuld einzuordnen ist. Nach Art. 24 § 2 StGB 1969 schloß das Fehlen des Unrechtsbewußtseins den Tatbestandsvorsatz nicht aus und war somit für die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit irrelevant 12 . Dieser Konstruktion lag eindeutig die sog. Schuldtheorie zugrunde: War das fehlende Unrechtsbewußtsein unverschuldet, so entfiel die Schuld und damit zugleich die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Hatte der Täter das Fehlen des Unrechtsbewußt11 In der polnischen Strafrechtslehre wird im Anschluß an Wolter angenommen, daß sich der Grundtatbestand und ein modifizierter (qualifizierter oder privilegierter) Tatbestand gegenseitig ausschließen. Die Merkmale des privilegierten und des qualifizierten Tatbestandes seien negative Merkmale des Grundtatbestandes. Der Anwendungsbereich der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen beschränkt sich also nicht auf die Umstände, die die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließen. Von diesem Standpunkt aus ist freilich eine dogmatische Begründung der in Art. 28 § 2 StGB 1997 verwirklichten Lösung um so schwieriger (vgl. Wolter, Reguly wyt^czania wielosci ocen w prawie karnym, 1961, S. 34 ff). 1 2 Art. 24 §§ 2, 3 StGB 1969 lauteten: „Die Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Tat schließt die Verantwortlichkeit für die Tat nicht aus, es sei denn, der Täter konnte den Irrtum nicht vermeiden. Im Falle des § 2 kann das Gericht gegenüber dem Täter einer vorsätzlichen Straftat die Strafe außerordendich mildern." Vgl. auch Anm. 9.
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seins dagegen verschuldet, so minderte der Verbotsirrtum lediglich die Intensität des Vorwurfs, so daß das Gericht zu einer außerordentlichen Strafmilderung gelangen konnte. Das neue Strafgesetzbuch führt in diesem Bereich keine neuen Lösungen ein. Art. 30 StGB 1997 lautet: „Keine Straftat begeht, wer eine verbotene Tat in der begründeten irrigen Annahme von deren Rechtmäßigkeit begeht; ist der Irrtum des Täters unbegründet, so kann das Gericht die Strafe außerordentlich mildern." Dennoch enthält die neue Fassung des Art. 30 StGB eine wesentliche Änderung gegenüber dem bisherigen Recht. In der polnischen Rechtslehre ist umstritten, ob ein Verbotsirrtum nur dann die gesetzlich bestimmten Folgen bewirkt, wenn der Täter im übrigen den vollständigen Vorsatz hinsichtlich der Tatbestandsverwirklichung hat, oder ob ein Verbotsirrtum auch dann strafrechtlich relevant ist, wenn gleichzeitig ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum vorliegt 13 . Nach Art. 24 § 3 StGB 1969 konnte sich ein Verbotsirrtum nur dann strafmildernd auswirken, wenn der Täter die Merkmale des Tatbestandes vorsätzlich verwirklicht hatte. Dieser Vorbehalt fehlt in Art. 30 des neuen Strafgesetzbuchs, so daß nunmehr beide Irrtümer gleichzeitig berücksichtigt werden können und die außerordentliche Strafmilderung wegen des (unbegründeten) Verbotsirrtums auch gegenüber Fahrlässigkeitstätern angewandt werden kann. Diese Lösung entspricht der Annahme, daß die Frage der vorsätzlichen oder fahrlässigen Verwirklichung des Tatbestandes lediglich die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit der Tat betrifft. Die Frage, ob der Täter mit Unrechtsbewußtsein gehandelt hat, ist dagegen eine Frage der Schuld, also eines ganz anderen Elements des Verbrechens. Die Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit des Verhaltens zu erkennen, ist erst dann festzustellen, wenn die Begehung einer strafbaren Tat durch den Täter bejaht worden ist. III. Irrtum über Rechtfertigungsgründe Ebenso wie in der deutschen Lehre 14 unterscheidet man auch in der polnischen zwischen der irrigen Annahme, die Rechtsordnung sehe für 1 3 Für den Fall, daß der Täter sowohl einem Tatbestands- als auch einem Verbotsirrtum unterlag, sahen den Verbotsirrtum als irrelevant an Wolter; Funkcja blçdu w prawie karnym, 1965, S. 202; Mçcior, Pañstwo i Prawo 1983, Heft 12, S. 105; die Gegenmeinung vertraten Cieslak, Pañstwo i Prawo 1970, Heft 12, S. 898; Filar.; in: Marek (Hrsg.), Prawo karne, 1986, S. 113. 1 4 Vgl. z. B. Jescheck/ Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 5. Aufl. 1996, S. 461 ff, wo zwischen dem Irrtum über Rechtfertigungsgründe (indirekter Verbotsirrtum) und dem Erlaubnistatbestandsirrtum unterschieden wird.
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die Tatsituation einen Konträrtypus (Rechtfertigungsgrund) vor, und der Fehlvorstellung, daß tatsächliche Umstände vorlägen, die die Merkmale eines von der Rechtsordnung tatsächlich anerkannten Rechtfertigungsgrundes darstellen. Im ersteren Fall wird der Irrtum als Verbotsirrtum angesehen und ist, entsprechend den Prämissen der Schuldtheorie, bei der Frage der Schuld zu berücksichtigen. Auf die Bewertung der Tatbestandserfüllung wirkt er sich dagegen nicht aus. Um die Beurteilung der zweiten Art von Fehlvorstellungen wurde seit langer Zeit gestritten, wobei die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen wesentliche Argumente zu diesem Streit beigesteuert hat. Da das StGB 1969 keine Regelung über diesen Irrtum traf, blieb die Lösung der Frage Lehre und Rechtsprechung überlassen. Hier bildete sich jedoch keine einheidiche Meinung heraus 15 . Es ist auch dem Einfluß von Hans Joachim Hirsch zu verdanken, daß die Entwicklung in diesem Bereich über die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen hinweggegangen ist. Ein die Rechtswidrigkeit ausschließender Umstand ist kein negatives Tatbestandsmerkmal. Die Feststellung eines solchen Umstandes ist nur dann praktisch sinnvoll, wenn die Tatbestandsmäßigkeit gegeben ist, d. h. wenn der Täter sämtliche Tatbestandsmerkmale verwirklicht hat. Nur wenn gegen das Verbot verstoßen worden ist, ist die Frage nach der Rechtfertigung sinnvoll. Dies bedeutet, daß es Notwehr schlechthin nicht gibt, wohl aber die Tötung eines Menschen in Notwehr. Folglich sind auch die Merkmale, die die Rechtfertigungsgründe bestimmen, keine negativen Tatbestandsmerkmale. Vielmehr gehört die Verwirklichung des Tatbestandes, selbstverständlich ohne Negation, zu den Merkmalen des Rechtfertigungsgrundes. Ebenso ist die Verwirklichung der subjektiven Tatseite (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) Teil des Tatbestandes und damit auch Voraussetzung der Rechtfertigung; man kann also sinnvoll nur von einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Tötung eines Menschen in Notwehr sprechen. Wenn wir also von Umständen sprechen, die Merkmale des Konträrtypus darstellen, so meinen wir damit nicht Tatbestandsmerkmale, sondern lediglich rechtfertigende Umstände. Mit der Uberwindung der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen war allerdings das Problem des Irrtums über die tatsächlichen Voraussetzungen von Rechtfertigungsgründen noch nicht gelöst. Da keine gesetzliche Regelung bestand, konnte man meinen, der entsprechende Irrtum sei strafrechdich irrelevant oder es seien auf ihn per analogiam die Vorschriften über den Tatbestandsirrtum bzw. über den Verbots15
Vgl. Zoll, Okolicznosci wyl^czaj^ce bezprawnosc czynu, 1982, S. 130 ff.
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irrtum anzuwenden. In der Rechtsprechung wurden die beiden letztgenannten Auffassungen vertreten 16 . Nach dem neuen Strafgesetzbuch wird der Irrtum über einen konträrtypischen Umstand als Irrtum besonderer Art angesehen, der sich sowohl vom Tatbestandsirrtum als auch vom Verbotsirrtum unterscheidet und dennoch für die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit relevant ist. Für die Bewertung der Tatbestandsmäßigkeit ist er freilich bedeutungslos. Dem Täter, der schuldlos zu der irrigen Annahme gelangt ist, es liege ein Umstand vor, der die Verletzung des Verbots gestattet, kann jedoch kein Vorwurf gemacht werden. War sein Irrtum verschuldet, so führt der anormale Motivationsprozeß immerhin zur außerordentlichen Strafmilderung (Art. 29 StGB 1997). Der hier erörterte Irrtum ist, wie der Verbotsirrtum, mit der Frage der Schuld verbunden. IV. Irrtum über Schuldausschließungsgründe Auf den Irrtum über Entschuldigungsgründe ist die polnische Lehre bisher kaum eingegangen. Die irrige Annahme des Täters, er könne wegen Schuldunfähigkeit oder Minderjährigkeit nicht bestraft werden, ist strafrechdich irrelevant. Beachdich ist dagegen die Fehlvorstellung, es liege ein Umstand vor, der den Entschuldigungsgrund des Notstandes begründen würde 17 . Objektive Voraussetzungen des Notstandes können Gegenstand des Irrtums sein, und ein derartiger Irrtum muß zu denselben Konsequenzen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit führen wie ein Irrtum über das Vorliegen konträrtypischer Umstände. Diese Annahme liegt auch der in Art. 29 StGB 1997 getroffenen Regelung zugrunde: „Keine Straftat begeht, wer eine verbotene Tat in der irrigen Annahme begeht, es liege ein die Rechtswidrigkeit oder die Schuld ausschließender Umstand vor; ist der Irrtum des Täters unbegründet, so kann das Gericht die Strafe außerordentlich mildern." Offen bleibt, ob die vom Gesetz in Bezug genommenen Entschuldigungsgründe gesetzlich bestimmt sein müssen oder ob sich der Irrtum auch auf außergesetzliche Entschuldigungsgründe beziehen kann. Richtig dürfte sein, daß die Irrtumsregelung nur dann zum Zuge kommt, Zoll(Anra. 15), S. 149, 151. Im polnischen Strafrecht unterscheidet man, ebenso wie im deutschen, den rechtfertigenden und den entschuldigenden Notstand. Das Kriterium der Unterscheidung ist das Verhältnis zwischen dem geretteten und dem geopferten Rechtsgut: Rechtfertigung setzt voraus, daß das gerettete Rechtsgut höher bewertet wird als das geopferte. 10
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wenn der Entschuldigungsgrund gesetzlich verankert ist; eine richterrechtliche Entschuldigung wäre ein unzulässiger Eingriff der Judikative in den Bereich, der der gesetzgebenden Gewalt vorbehalten ist. V. Irrtum über den Grad der Gesellschaftsschädlichkeit Ein Element des Verbrechensaufbaus ist die Strafbarkeit. Art. 1 § 2 StGB 1997 lautet: „Keine Straftat bildet eine verbotene Tat, deren Gesellschaftsschädlichkeit geringfügig ist." Der polnische Gesetzgeber hat sich also, anders als der deutsche mit § 153 d. StPO, für eine materiellrechtliche Lösung des Geringfügigkeitsproblems entschieden. Eine verbotene Tat kann nur dann als Straftat angesehen werden, wenn sie einen Unrechtsgehalt von bestimmter Intensität aufweist. Die Bewertung des Grades der Gesellschaftsschädlichkeit einer Tat und insbesondere dessen Einschätzung als geringfügig kann Gegenstand eines Irrtums sein. Ein entsprechender Irrtum könnte für die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters Bedeutung haben. Allerdings stellen weder die Gesellschaftsschädlichkeit selbst noch deren Grad Tatbestandsmerkmale dar. Tatbestandsmerkmale sind vielmehr nur die Elemente, die eine Verhaltenskategorie im Hinblick auf ihre vom Gesetzgeber erkannte Schädlichkeit für gesellschaftlich bedeutsame Güter beschreiben. Grundsätzlich ist jede Handlung, die dieser Kategorie von Verhaltensweisen zugehört, nach der Vorstellung des Gesetzgebers gesellschaftsschädlich. Eine konkrete Tat kann jedoch trotz ihrer Zugehörigkeit zu der tatbestandlichen Verhaltenskategorie einen atypisch geringen Grad an Gesellschaftsschädlichkeit aufweisen. Ein Irrtum über die Bewertung dieses Grades setzt voraus, daß der Täter den Tatbestand vorsätzlich verwirklicht, kann also nicht die Tatbestandsmäßigkeit betreffen. Der Täter weiß ja, daß er eine rechtswidrige und tatbestandsmäßige Tat begeht. Daher sollte selbst ein unverschuldeter Irrtum über den Grad der Gesellschaftsschädlichkeit die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht ausschließen; er kann lediglich bei der Strafzumessung berücksichtigt werden. Demgegenüber haben verschiedene Mitglieder der Ausschusses für die Reform des Strafrechts (vor allem Marian Cieslak) die Einführung einer besonderen Vorschrift über die Konsequenzen des genannten Irrtums in das Strafgesetzbuch gefordert. Auch Cwiqkahki sah eine entsprechende Regelung als notwendig an, ohne freilich einen detaillierten Vorschlag zu formulieren 18 . Bei der endgültigen Fassung des Strafge18
Civigkahki,
S. 1 1 8 ff.
Bigd co do bezprawnosci czynu w polskim prawie karnym, 1 9 9 1 ,
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setzbuchs wurde diese Form des Irrtums jedoch nicht geregelt. Daraus kann man schließen, daß dieser Irrtum nach Meinung des Gesetzgebers für die strafrechtliche Verantwortlichkeit irrelevant ist und lediglich nach richterlichem Ermessen bei der Strafzumessung herangezogen werden kann.
IV. Einzelne Delikte
Bemerkungen zum Überzeugungsopfer — insbesondere zum Betrug durch Verkauf von Illusionen GUNTHER ARZT
I. Definition des Marktes der Illusionen Der Verkauf von Illusionen soll einleitend in tatsächlicher Hinsicht kurz beschrieben und zugleich in rechtlicher Hinsicht konturiert werden. Wie auch immer solche Eingrenzungen aussehen mögen, das Thema wird sich nicht auf seltene Extremfälle beschränken lassen. Deshalb ist die Diskrepanz beunruhigend, die zwischen einer weitgehenden — und weitgehend als selbstverständlich angesehenen - theoretischen Strafbarkeit des Verkaufs von Illusionen einerseits und einer praktischen Duldung andererseits besteht. Mein Beitrag sucht nach einer Erklärung für diesen Widerspruch. Im Zentrum steht die Glaubens- und Aberglaubensfreiheit des potentiellen Opfers, sein Recht auf Irrationalität und Illusion. Hans Joachim Hirschx, an dessen Ehrung ich mit diesem Beitrag mitwirken möchte, hat am Anfang seines Berliner Vortrags über den Uberzeugungstäter auf „pluralistische und multikulturelle Entwicklungen in unserer Gesellschaft" verwiesen. Meiner Ansicht nach gehört zu diesen Entwicklungen auch der Rückfall in Unvernunft und Wunderglauben. Es liegt auf der Hand, daß das Strafrecht auf solche Entwicklungen besondere Rücksicht nehmen muß, wo es nicht — wie beim Uberzeugungstäter — um Schädigung anderer, sondern um Selbstschädigung geht. Wie beim Uberzeugungstäter sind auch beim Uberzeugungsopfer Gewissen (gut/böse) und einfaches subjektives Besserwissen (richtig/falsch) schwer zu trennen2. Der Akzent liegt jedoch auf
Hirsch, Strafrecht und Uberzeugungstäter, 1996 (Zitat S. 1). Uberhaupt lassen sich Uberzeugungstäter von Uberzeugungsopfern nicht immer befriedigend trennen, wie die von Hirsch, aaO S. 18 ff, im Zusammenhang mit Uberzeugungstätern (Gewissenstätern) behandelte verweigerte Zustimmung der Eltern zur für das Kind lebensrettenden Bluttransfusion zeigt (Zeugen Jehovas). 2 Hirsch (Fn. 1), S. 9, betont diese Unterscheidung. Eine Uberzeugung ζ. B. bezüglich richtiger bzw. falscher Ernährung kann rasch zur Gewissensfrage werden, etwa weil man das mit Fleisch verbundene Leiden der Tiere unerträglich findet; zu vegetarischer Ernährung (im Kontext des Schächtens) Hirsch, aaO S. 14. 1
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einer Richtigkeitsüberzeugung, die von der Mehrheit als unvernünftig eingeschätzt wird. Kehrseite der Existenz solcher Uberzeugungen bei potentiellen Opfern muß eine Reduktion der Strafbarkeit von Tätern sein, die solche Opfer ausnutzen. Mein Ergebnis wird lauten, daß eine derartige Reduktion schon auf der Tatbestandsebene erreicht werden muß und erreichbar ist, also nicht in die Grauzone einer Verfolgung gemäß Opportunität verlagert werden darf. 1. Ausgrenzung: Opfer, die um die Illusion wissen Ein erster Blick auf den Markt der Illusionen führt zur Ausscheidung von drei häufigen Fallgruppen aus den folgenden Erörterungen: Hier interessieren die Fälle nicht, in denen die Opfer wissen, daß sie es mit einem Illusionisten, Zauberer etc. zu tun haben, vorausgesetzt, die Opfer glauben nicht an Zauberei. Wer sich selbst als „Illusionist" oder als „Magier" bezeichnet und vor einem Publikum auftritt, das nicht an Zauberei glaubt, verkauft keine Illusionen, sondern bietet eine sehr reale Unterhaltung, eine Show. „Die Freude an der Zauberei — und das gilt nur für wenige andere menschliche Tätigkeiten — liegt ja teilweise in der Gewißheit begründet, daß man getäuscht wird" (Satterthwaitp. Wie und wie rasch von diesem klaren Ausgangspunkt aus die Massenmärkte der Kosmetikindustrie, der Verjüngungs- und Schlankheitskuren etc. problematisch werden, ist unten (III.2, 5) behandelt. 2. Ausgrenzung: Täter, die an die Illusion glauben Die zweite Fallgruppe, die aus den folgenden Betrachtungen ausgeschieden wird, betrifft die Fälle, in denen die Täter an ihre Fähigkeit glauben, Wunder bewirken zu können. Eine Kirche, die an ihre eigenen Lehren glaubt, muß nicht fürchten, daß der Ablaßverkauf als Betrug verfolgt wird. Was dem Glauben recht ist, ist dem Aberglauben billig. Ein Gesundbeter 4 , der an seine Fähigkeit glaubt, will keine Illusion verkaufen. Erst in extremen Fällen ist an eine Strafbarkeit zu denken, ins3 Walter Satterthwait, Miss Lizzie, 1989 (zitiert nach der dtv-Ausgabe, 4. Aufl. 1997 S. 30; Hervorhebung wie im Original). 4 Zum Gesundbeten vgl. die Schilderung des Ubergangs zu religiöser und religiös gefärbter Kurpfuscherei anhand spektakulärer Fallbeispiele bei Hans-Werner Blum, Der verfassungsrechtliche Schutz des „Gesundbetens", Winterthur 1961, bes. S. 40 ff, 74 f, 106f, u.a. Magnetismus von Mesmer (1734-1815). Zum Geistheilen vgl. die Berner Dissertation von Bruno Rösch, Die Stellung der Erfahrungsheilkundigen aus verfassungsund verwaltungsrechtlicher Sicht, dargestellt am Beispiel der geistig Heilenden, 1994.
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besondere bei Verletzung von Rechtsgütern wie Leben und Gesundheit, die das Strafrecht schon gegen fahrlässige5 Angriffe schützt: Teufelsaustreibung 6 ; Züchtigungen aus Aberglauben 7 ; abergläubische Pseudomedizin. Diese Fälle berühren sich oder überschneiden sich mit der Problematik der Überzeugungstäter. Wie schon bei der Fallgruppe 1.1 erreicht man auch bei dieser Fallgruppe 1.2 vom klaren Ausgangspunkt aus rasch problematische Illusions-Massenmärkte. Sekten und Sektierer, Esoterik, Okkultismus und Pseudo-Alternativmedizin gehören zum Markt der Illusionen, sobald sie ihrer eigenen Botschaft nicht trauen. Beispiel (1), Säentology: Scientologen verkaufen einer Frau Scientologybzw. Dianetik-Bücher und Kurskassetten in vier Monaten für insgesamt Fr. 12.000, — , unter anderem für Fr. 63,— „Haben Sie vor dem Leben gelebt?". Die Verurteilung wegen Betrugs wird darauf gestützt, die Verkäufer hätten erkannt, daß die Frau geistig behindert gewesen sei und daß das Material deshalb nicht (wie ihr vorgetäuscht worden sei) zur Lösung ihrer persönlichen Probleme geeignet gewesen sei 8 . 3. Ausgrenzung: Materiell-wirtschaftliche
Illusionen
Die dritte (und problematischste) Fallgruppe, die nicht zu meinem Thema gehört, betrifft materiell-wirtschaftliche Illusionen. Wenn vorstehend (1.1, 2) für eine Illusion vorausgesetzt worden ist, daß das Opfer an „Wahrheit" glaubt (wobei je nach Kontext die Wahrheit sich als Wirkung oder Wirkungschance ausdrücken läßt), der Verkäufer (Täter) aber seinerseits weiß, daß es sich um eine Lüge handelt (d. h. Wirkung oder Wirkungschance nur vorgetäuscht sind), dann ist — jedenfalls zunächst — Illusion nur ein anderer Ausdruck für Irrtum. 5 Ausnahmsweise kann auch vorsätzliche Körperverletzung oder sogar vorsätzliche Tötung in Betracht kommen, so im nachstehend Fn. 7 genannten Fall der abergläubisch motivierten Züchtigung (vorsätzliche Körperverletzung und fahrlässige Tötung). Ob der Aberglaube zu einem Verbotsirrtum führt, hängt von den Details der Fallgestaltung ab. 6 Obergericht Zürich, SJZ 1966, 58; im Kontext der Ehrverletzung zu Hexen Ançt/ Weber, Strafrecht BT, LH 1, 3. Aufl. 1988, N. 426. 7 BGE 97 IV 84 („Heilige Familie" des Pater Stocker: 16-jährige gesteht Pakt mit dem Teufel, 100 Stock- und Peitschenhiebe als Züchtigung mit tödlichem Ausgang). 8 BGE 119 IV 210. Rechtspolitisch ist anzumerken, daß das Sektenproblem mit dieser Kriminalisierung nicht zu lösen ist. Dogmatisch ist die Frage nicht bewältigt, ob das Bundesgericht die Betrugskonstruktion von der Schadenshöhe abhängig machen will; zum Wucher unten II. 2. — Zu Bestrebungen des Kantons Genf, die Sekten u. a. durch Ausdehnung des Betrugstatbestandes zu bekämpfen, vgl. Tages-Anzeiger (Zürich) vom 9. 7. 1998. Vgl. noch Bauhofer/Bolle/Dittmann (Hrsg.), Sekten und Okkultismus - Kriminologische Aspekte, 1976.
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Die weitgehende begriffliche Deckung von Irrtum und Illusion führt zu einer einfachen Lösung eines großen Segments des Illusionsmarktes: Wer eine wirtschaftliche Illusion verkauft und dabei weiß, daß es sich um eine Illusion handelt und daß sein Opfer den Illusionscharakter nicht durchschaut, ist ein mehr oder weniger gewöhnlicher, gelegendich ungewöhnlicher Betrüger. Beim Verkauf eines Rezepts „Reichtum ohne Risiko"9 (auf der Rechnung lautet die Artikel-Bezeichnung „Wie man mühelos Millionär wird") handelt es sich um eine solche wirtschaftliche Illusion. Ob das Betrug ist, hängt von einigen dogmatischen Details ab. Ein prinzipielles Problem im Sinne eines Interesses des Opfers an solchen Illusionen existiert nicht. Die folgenden Beispiele sollen in den kritischen Bereich überleiten. Beispiel (2), Schneeballsystem1 n: Der European Kings Club hat seinen in Clubpapiere investierenden Opfern die Illusion hoher Zinsen und sicherer Rückzahlung des Kapitals verkauft. Darüber hinaus hat er eine reale innere Befriedigung geliefert, nämlich das gute Gefühl, eine vorzügliche Anlage getroffen zu haben. Hier deckt sich das mit der Strafdrohung gegen den Täter verfolgte Ziel eines Schutzes des Opfers (über das Rechtsgut „Vermögen") mit dem wirklichen Willen des Opfers. Zwar ist es im konkreten Fall in Bern zu Demonstrationen der Opfer für Einstellung des Strafverfahrens und Freilassung der festgenommenen 9 In TV-täglich, Nr. 12, 2 1 . - 2 7 . 3. 1998, wird ein solches Rezept vom „Verlag für Wissenschaft und Medizin AG" in Zürich für 49,80 Fr. vertrieben. Der Autor dieser „Wundermethode" schreibt gegen Ende der volle zwei Seiten (!) umfassenden Annonce: „Ich weiß, daß Sie bis jetzt Ihre Zweifel hatten. Das ist völlig verständlich. Was ich Ihnen gerade erzählt habe, widerspricht sicher Ihren Erfahrungen: »Sie brauchen Geld, um Geld zu verdienen« und »Sie müssen hart arbeiten, um erfolgreich zu sein«. Aber, wie Sie wissen, gibt es für jede Regel eine Ausnahme. Und mein Verfahren ist die Ausnahme, welche die Regel bestätigt". — Unterstellt, „der Weg zum Reichtum für Faule" ist ein Holzweg, die Käufer können mit diesem Rezept nicht „2.000, 3.000 oder sogar 5.000 Fr. verdienen, in der Woche selbstverständlich ... indem sie zu Hause arbeiten, während nicht mehr als 10 bis 15 Stunden wöchentlich". Dann hängt die Strafbarkeit nur von betrugsdogmatischen Details ab, ζ. B. ob eine solche Täuschung angesichts der halbwegs gut beleumundeten Zeitungen, denen diese TV-Programmzeitschrift beigelegt wird, leicht durchschaubar ist (und ob solche Täuschungen nicht „arg"listig im Sinne des Betrugs sind) oder ob angesichts des Rechts zur Zurücksendung binnen fünf Tagen bei Nichtgefallen die Schädigung entfällt (dazu Fn. 27). Bei letzterem ist noch zu fragen, ob ein solches Rückgaberecht den Betrugsschaden auch dann ausschließt, wenn der Besteller erst beim Empfang der Sendung erfährt, daß das Rückgaberecht nur besteht, wenn das Buch im Originalzustand, d. h. in Folie eingeschweißt, zurückgesendet wird. — Ob pressestrafrechtliche Privilegien, die einer Verurteilung der für die Aufnahme solcher Annoncen Verantwortlichen im Wege stehen, zeitgemäß sind, ist hier nicht zu erörtern. 10 Vgl. BGH JR 1999, Heft 2 mit Anm. A r # (betr. Geldwäsche im Fall EKC).
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Täter gekommen. Erklärlich ist das nur wegen des noch andauernden Irrtums. Die wirtschaftliche Illusion, die Seifenblase muß platzen. Ist sie geplatzt, so ist dem Opfer klar, daß das Verbot des fraglichen Verhaltens seinen Interessen dient. Beispiel (3), gefälschte Antiquität: Nimmt man die relativ seltenen Fälle, in denen die wirtschaftliche Illusion möglicherweise vom Opfer nie entdeckt werden wird, ζ. B. wenn der Täter eine gefälschte Antiquität verkauft, dann kann die Zufriedenheit des Opfers mit der Illusion theoretisch bis zum Tod des Opfers anhalten. Trotzdem stellt sich die im folgenden Abschnitt behandelte Frage nicht, ob die Aufdeckung der Täuschung den Opferinteressen zuwiderläuft. Weil das Risiko einer Desillusionierung objektiv besteht, liegt es im Interesse des Opfers, daß solche Illusionen nicht verkauft werden. Dieses Interesse des Opfers ist nicht fiktiv, d. h. es ergibt sich nicht (oder nicht nur) aus einem objektiven Maßstab als wohlverstandenes Interesse, sondern es entspricht dem wirklichen subjektiven Willen eines potentiellen Opfers. Beispiel (4), Hans im Glück: Es ist unvermeidbar, daß die Herausnahme wirtschaftlicher Illusionen aus meinem Thema zu Abgrenzungsschwierigkeiten führt. Wie der Hans im Glück11 exemplarisch zeigt, basiert der rein wirtschaftliche Austausch von Gütern auf dem Marktplatz auf einem pseudo-objektiven Maßstab. Die Wertschätzung wirtschaftlicher Güter ist heute noch viel irrationaler als zur Zeit der Entstehung dieses Märchens. Wertdifferenzen zwischen Nahrungsmitteln (Bio!)12, Kleidung, Uhren, Parfüms lassen sich nicht als Qualitätsdifferenzen objektiv fassen, sondern sind weitgehend imaginär. Wenn die „oft sehr stark voneinander abweichenden Preise für den Hopfen verschiedener Herkunft nicht ihre Begründung in Unterschieden nach Güte und Beschaf11 Betrugsdogmatisch wird vor allem die Frage diskutiert, wieweit in der Forderung eines bestimmten Entgelts die konkludente Aussage liegt, es werde ein angemessener bzw. üblicher Preis verlangt; vgl. OLG Stuttgart NJW 1966, 990 (überhöhter Preis für ein Pferd); dazu und zu weiteren Fällen Artf/ Weber, Strafrecht BT, LH 3, 2. Aufl. 1986, N. 414. Ob der Hans im Glück auf den illusionären Charakter marktüblicher Wertschätzungen hinweisen will oder ob es um banale Vorzüge einer Geldwirtschaft geht (in der Wertdifferenzen anders als in den märchenhaften Situationen durch Zuzahlung etc. ausgeglichen werden können), ließe sich nur entwickeln in Auseinandersetzung mit der Deutung von Lüderssen, in: Brackert (Hrsg.), Und wenn sie nicht gestorben sind ... Perspektiven auf das Märchen, 1980, S. 137 ff. 1 2 Wenn afrikanische Antilope statt Reh geliefert wird, ist es für den Betrugsschaden irrelevant, daß Antilope schmackhafter und auch sonst „besser" ist als Rehfleisch. Maßgebend ist, daß der Verbraucher willens ist, für Reh mehr zu bezahlen; BGE 119 IV 289.
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fenheit und auch nicht nach dem chemischen Gehalte finden"13, erwarten die Brauer gleichwohl (und mit Recht) Schutz des § 263 StGB, weil ihr Aberglaube preis- und damit vermögensrelevant ist. Die in Beispiel (4) angedeutete illusionäre Basis des Marktpreises und damit des Maßstabes im wirtschaftlichen Bereich führt im hier interessierenden Kontext zu der Frage, ob sich zwischen einer materiellen Illusion und einer immateriellen Illusion überhaupt unterscheiden läßt, wenn das Opfer für die immaterielle Illusion Vermögenswerte hingibt. Auf diese Frage wird anschließend (II. 1) anhand eines mit dem materiellen „Opfer" erstrebten und verfehlten Zwecks eingegangen. 4. Eingren^ung auf immaterielle Illusionen Wenn der Verkauf wirtschaftlicher Illusionen bestraft wird (meist als Betrug), dann ist das damit zu erklären, daß die Desillusionierung des Opfers im Vermögensbereich entweder denknotwendig eintritt (Schneeballsystem) oder daß das Opfer mindestens mit einem entsprechenden Desillusionierungsrisiko belastet wird (gefälschte Antiquität). Eine solche Desillusionierung droht auch dem Hans im Glück, denn seine von der h. M. abweichende Wertschätzung führt in die Isolation. Niemand ist zu annähernd gleichen Bedingungen zum Rücktausch bereit; die Altersvorsorge für die Mutter ist unerreichbar geworden. Aus den genannten Gründen beschränkt sich mein Thema auf die Besonderheiten der Illusion im immateriellen Bereich. Dort und nur dort ist ein objektiv beschreibbares Interesse von „Opfern" solcher immaterieller Illusionen vorstellbar als Aufrechterhaltung der Illusion auf Zeit — oder sogar auf Lebenszeit. Der Schutz dieses Interesses steht nicht von vornherein und denknotwendig im Widerspruch zu einem anderen strafrechtlich fixierten Rechtsgut. Anders als bei materiellen Illusionen ist das Interesse des Opfers an der immateriellen Illusion auch mit dem Schutz seines Rechtsgutes „Vermögen" vereinbar. Das gilt selbst dort, wo — wie meist — die immaterielle Illusion vom Opfer erkauft werden muß (dazu anschließend II.).
II. Dem Opfer oktroyierte Desillusionierung durch Strafdrohung gegen den Täter 1. Sociale b^w. asolale
Zweckverfehlung
Vorstehend ist das Thema des Verkaufs von Illusionen auf immaterielle Illusionen eingeengt worden. Ob eine solche Begrenzung haltbar ist, ist 13
BGHSt. 8, 46, 47.
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zweifelhaft, wenn der Täter für die immaterielle Illusion ein wirtschaftliches Entgelt fordert und insofern Vermögensinteressen seines Opfers angreift. Wenn irgendein Wundermittel die versprochenen Eigenschaften nicht aufweist, besteht auf den ersten Blick kein Unterschied zum gängigen Betrug bei vorsätzlicher Nichterfüllung oder vorsätzlicher Schlechterfüllung. Ob der angebliche Unkrautvertilger wirkungslos ist oder ob das Haarwuchsmittel nichts taugt, scheint auf eine vergleichbare Schadenskonstruktion hinauszulaufen. Ob Fische nach ein Paar Tropfen des Lockmittels nicht - wie versprochen — zur Angel eilen oder ob der Liebestrank sich als wirkungslos erweist, so oder so erhält der Käufer nicht die versprochene Gegenleistung, wird also um sein Geld geprellt. Dementsprechend wird der Betrugsschaden in solchen Fällen bejaht; vgl. schon Beispiel (1) und aus der Judikatur den Wundermittel-Fall (BGHSt. 34, 199)14. Meiner Ansicht nach kommt es darauf an, ob der „Käufer" angesichts des Umstandes, daß sein Bedürfnis in der Realität nicht befriedigt werden kann, ein Interesse an der entsprechenden Illusion hat. Wie immer bei juristischen Lösungen muß ein solches Interesse generalisiert sein. Deshalb scheidet die illusionäre Befriedigung materieller Bedürfnisse von vornherein aus (oben 1.3). Unkrautvertilger und wohl auch Fischköder sind der Verfolgung wirtschaftlicher Zwecke zuzuordnen — bei Liebestrank und Haarwuchsmittel geht es um immaterielle Interessen. Die vorstehende Differenzierung steht in Widerspruch zu einer Ausdehnung des Schadens auf Fälle der socialen Zmckverfehlung. Bei einem Opfer, das in Kenntnis der wirtschaftlichen Selbstschädigung handelt, soll der Schaden in der fehlenden Erreichung eines nicht-wirtschaftlichen Sinns liegen. Nach h. L. 15 liegt Betrug, Subform Spendenbetrug vor, wenn das gute Gefühl, das der Spender dank seiner Spende hat, vom Täter enttäuscht wird, weil er die Spende zweckentfremdet. Ist das richtig, dann greift jeder Täter, der seinem Opfer immaterielle Illusionen verkauft, dessen Rechtsgut „Vermögen" an, weil das Vermögensopfer den Zweck verfehlt. Soziale Zwecke sind gerade nicht auf wirtschaftliche Ziele reduziert. Die Einwände gegen die Theorie von der sozialen Zweckverfehlung können hier nicht ausgebreitet werden. Meiner Meinung nach ist das Dazu Hassemer,)uS 1987, 4 9 9 (insb. zum Rücktrittsrecht, dazu hier Fn. 27). Lackner, in: LK, 10. Aufl. 1988, § 263 Rdn. 166 ff, und zum Kontext mit asozialen Zwecken Rdn. 242; anders An^/Weber (Fn. 11), LH 3, N. 4 9 3 ff (und zu asozialen Zwek14
15
ken N. 496), je m. w. N.
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gute Gefühl, das das Opfer wegen seiner Spende haben mag, wirtschaftlich nicht bewertbar. Die Enttäuschung dieser Befriedigung ist kein Vermögensschaden. Wenn in solchen Fällen ein Strafbedürfnis besteht, ist es über eine spezialgesetzliche Regelung (im SammlungsG) zu befriedigen. Auf diese Weise wird klar, daß es nicht primär um Betrug gegenüber dem individuellen Spender geht, sondern um die Gefährdung der Spendenfreudigkeit der Bevölkerung. Die Existenz der sich gerne „Hilfswerke" nennenden organisierten Sammlungen zu „gemeinnützigen" Zwecken stünde auf dem Spiel, wenn man Spendenbetrug radikal entkriminalisieren würde. Auf solche nicht primär mit dem Schutz von Individualrechtsgütern begründbare Strafbedürfnisse ist anhand des Verkaufs immaterieller Illusionen zurückzukommen. Beispiel (5), Heiratsschwindel: Wenn Τ von O ein Darlehen erbittet, angeblich für eine einmalig günstige Investition, in Wahrheit zur Begleichung seiner Spielschulden, und das Vertrauen der O auch auf Heiratsversprechungen beruht, liegt ein „gemeiner" Darlehensschwindel vor. Wenn Τ dagegen ein Darlehen von O wahrheitsgemäß zur Bezahlung seiner Spielschulden erbittet und wahrheitswidrig von Heiratsplänen spricht, dann bezieht sich die Täuschung und der korrespondierende Irrtum nicht auf das wirtschafdich faßbare Darlehensgeschäft. Man kann jedoch auch die zweite Variante des Beispiels (5) unter § 263 StGB subsumieren, wenn man die Lehre von der sozialen Zweckverfehlung dehnt. Ob sich die Erkenntnis, daß Spendenbetrug nicht unter § 263 StGB subsumierbar ist, durchgesetzt hätte, wenn sich nicht das Subventionsunwesen breitgemacht hätte, sei dahingestellt. Die Ausdehnung des § 263 StGB vom Schutz der Vermögensinteressen auf den Schutz immaterieller Interessen ist mit der Lehre der sozialen Zweckverfehlung erreicht worden. So ist insbesondere die Bekämpfung des Subventionsmißbrauchs mit Hilfe des § 263 StGB ermöglicht worden. Freilich hat man sich damit das Problem aufgeladen, wieweit die Verfehlung illegaler bzw. asozialer Zwecke 16 als Betrug bestraft werden soll. Wie weit man auch immer mit Hilfe der Lehre von der Zweckverfehlung den Schutz des Vermögens auf den Schutz immaterieller Interessen ausdehnen mag, man erreicht auf diese Weise nicht den Kern des hier thematisierten Verkaufs immaterieller Illusionen. Beim Spendenbetrug verkauft zwar der Täter dem Spender die besagte innere Befriedigung, 1 6 Wie der Spender weiß der Auftraggeber ζ. B. eines Mörders, daß seine Zahlung sein Vermögen vermindert. Der Zug um Zug erwartete „Zufluß" ist in beiden Fällen eine Frage von Sinn und Zweck der Weggabe — und nicht die Frage eines marktwirtschaftlich faßbaren Ausgleichs.
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doch hat der Spender kein Interesse an einer illusionären Befriedigung. Anders gesagt: Die innere Befriedigung ist als Realität von einem ehrlichen Spendensammler erhältlich. Am Kauf einer immateriellen Illusion kann dem Opfer erst dort gelegen sein, wo die Realität als Alternative nicht erhältlich ist 1 7 , so u. U. schon in der zweiten Variante des Beispiels (5), Heiratsschwindel. 2. Das Interesse des Opfers an der Illusion Schon bei der einfachen Schadensermittlung durch Bilanzierung (Zahlung des Opfers steht nur Lieferung einer Illusion gegenüber) und erst recht bei der Ausdehnung des Schadensbegriffs durch die Lehre von der sozialen Zweckverfehlung werden die Opferinteressen verkannt, wenn die Realität nicht erhältlich ist. Ein Verzicht auf strafrechdiches Einschreiten ist Voraussetzung dafür, daß das Opfer sein Bedürfnis nach Illusion befriedigen kann. Je nach Situation kann ein Verzicht auf strafrechdiches Einschreiten die Aufrechterhaltung der Illusion auf Zeit, u. U. sogar auf Lebenszeit des Opfers ermöglichen. Beispiel (6), Wirkungslose Krebskur18: O glaubt, daß seine Krebserkrankung mit der Wunderkur des Wunderdoktors Τ in dessen Klinik heilbar ist. Die Täuschung des 7" liegt in dessen Wissen, daß die Kur wirkungslos ist, d. h. Γ weiß, daß er eine Illusion verkauft. Ich gehe davon aus, daß O normal gepflegt wird und O nicht um eine bessere Alternative gebracht wird (daß keine lebensverlängernde schulmedizinische Behandlung möglich ist). Von jedem einzelnen Opfer aus gesehen würde die optimale Lösung in derartigen Situationen im Erhalt der Illusion liegen. Deshalb war der Glaube die Stärke der Kirche. Illusionen bezüglich der Zeit nach dem Tode werden unzerstörbar. Nicht bei allen, aber bei den meisten Illusionen ist dagegen eine Zerstörung über kurz oder lang unvermeidlich. Mit etwas Glück kann die Krebskur-Illusion bis zum Tode des Opfers aufrechterhalten werden. Beim Heiratsschwindel (2. Variante des Beispiels (5)) platzt die Illusion meist nach ein paar Monaten. Schon nach dreißig Minuten sollte die Illusion bei der von BGHSt. 34, 199 als Betrug beurteilten Badekur platzen, angesichts der Formel 10 Minuten Bad = Verjüngung um fünf Jahre. 1 7 Auf Ubergänge (ζ. B. Realität ist zwar theoretisch lieferbar, aber für das Opfer unerschwinglich) weise ich hin. 1 8 Historisch ist das wichtigste Beispiel der Ablaßkauf, dazu als Korruption der Glaubensverwaltung Achan, in: Rrunner (Hrsg.), Korruption und Kontrolle, Wien 1981, S. 27 ff. Zu Dr. Issels B G H LM Nr. 48 zu § 222 und Anf/Weber (Fn. 6) LH 1, N. 323.
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Nach Art und Dauer der Illusion und dem finanziellen Aufwand muß entschieden werden, wieweit auf den Wunderglauben der Opfer Rücksicht zu nehmen ist. Wenn die h. M. das Vermögen als verletzt ansieht, wird dem Opfer ein Schutz aufgedrängt, der ihm unerwünscht ist. Betrug mutiert zu einem wucherähnlichen Schutz des vernünftigen Willens statt des wirklichen Willens des Opfers. Statt echter Freiheit schützen wir eine wohlverstandene Freiheit des Opfers 19 . Wir bevormunden das Opfer. Wir halten solche Illusionen für gesellschaftlich unerwünscht, obwohl jedes einzelne Opfer anderer Ansicht ist.
3. Große und kleine, teure und billige, gan^e und halbe Illusionen Vielfach handelt es sich um Versprechungen des Täters, die nach den Gesetzen des gesunden Menschenverstandes und/oder der Marktwirtschaft von geradezu ungeheurem Wert wären, wenn sie einlösbar wären: Ablaß, Rettung vor der Sintflut durch Verkauf eines Platzes auf einer modernen Arche 2 0 , ewige Jugend, Leben vor dem Leben (Beispiel (1)), Sieg über Glatze oder Krebs. Es ist jedoch für die juristische Beurteilung vielleicht nicht irrelevant, daß es neben diesen großen Wundern von jeher eine Vielzahl von Versprechungen gegeben hat, die beim Opfer kleine Illusionen geweckt oder (häufiger!) nur genährt haben: vage Tips als Entscheidungshilfe in mehr oder weniger schwierigen Lebenslagen, eingeholt über ein Medium von der verstorbenen Großmutter, Tischrücken, Hellsehen oder sonstige Formen des Okkultismus, Esoterik, Hinweise auf die Haarfarbe des nächsten Liebhabers durch Handlesen oder Kartenlegen, Bewältigung der durch Erdstrahlen hervorgerufenen mehr oder weniger ernsten Beschwerden durch alternativ-physikalische Methoden etc. Dem Konflikt zwischen Opferschutz und Opferbevormundung und der Differenzierung zwischen großen und kleinen Illusionen soll anschließend (III.) anhand der praktisch wichtigsten Fallgruppe, nämlich dem Gesundheitsbereich, nachgegangen werden. Vor allem hinter kleinen (und billigen) Illusionen kann als Sinn die Sorge um sich selbst stecken. (Zur Geldausgabe als Selbstzweck unten III.5.)
1 9 Zu den Übergängen echter Freiheit zu wohlverstandener Freiheit Festschrift für Lackner, 1987, S. 641. 2 0 Zu nichtexistierenden Lotussitzen im Tempel für die Asche der Verstorbenen vgl. Ar^t, StGB 260'", Rdn. 182, in: N. Schmid (Hrsg.), Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen und Geldwäscherei, Bd. 1, 1998.
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III. Illusionen im Bereich der Gesundheit und des allgemeinen Wohlbefindens 1. Heilslehren Das Paradies im Jenseits und die Gesundheit bzw. Lebensverlängerung im Diesseits sind die beiden zentralen Quellen für ein Bedürfnis nach Illusion. Alles weitere läßt sich als eine Abschwächung dieser Themenbereiche begreifen: der Sinn des Daseins und der Lauf der Welt, Liebe, Schlankheit, Haarwuchs, Schönheit und Glück im umfassenden Sinn. In solchen Aufzählungen mag ein Schuß Ironie mitschwingen, doch das Bedürfnis nach Botschaften von Heil, Heilung, Glück und Sinn ist ernst zu nehmen. Soweit es das Jenseits betrifft, ist eine Befriedigung dieses Bedürfnisses über einen Zusammenschluß von Gleichgesinnten erreichbar: Glaubensgemeinschaften, Sekten. Eine Desillusionierung würde den Nachweis der Falsifikation voraussetzen — und der ist in jenseitigen Angelegenheiten nur ausnahmsweise zu führen, etwa wenn der prophezeite Weltuntergang nicht termingerecht stattfindet. Wo die Botschaft als Glaubensfrage objektiv nicht falsifizierbar ist, ist der Nachweis 21 überaus schwierig, daß die Gurus ihrerseits nicht an ihre Heilslehre glauben. Sollten sie an ihre eigenen Lehren glauben, entfällt in aller Regel die Verwirklichung von Straftatbeständen im Vorsatzbereich (oben 1.2).
2. Gesundheit und Wohlbefinden Sieht man aus den skizzierten Gründen von religiös-philosophischen Heilslehren ab, beanspruchen Illusionen im Gesundheitsbereich den Löwenanteil des Umsatzes. Von Krebskranken 22 oder chronisch Kranken 23 , denen eine Heilungs- oder Besserungsillusion verkauft wird, über seelische Hilfen aller Art weiter zu immer neuen Wundermitteln für Schlankheit oder Haarwuchs bis hinab zu den Verjûngungscrèmes der Kosmetikindustrie läßt sich eine Skala entwickeln. Jeder kann diese Skala anhand eigener Erfahrungen und Bedürfnisse oder durch einen flüchtigen Blick in Zeitschriften mit entsprechender Werbung anreichern. In2 1 Beim Transfer zum Sirius ist der Nachweis gelungen; vgl. BGHSt. 32, 38. Gegen den Vertrieb einer Fastenkur (mit tödlichem Ausgang) als kosmische Ernährung ist die schweizerische Justiz nicht unter dem Aspekt des Vorsatzdeliktes (Betrug), sondern nur wegen fahrlässiger Tötung vorgegangen; B G E 108 IV 3. 2 2 Zum Fall Issels oben Fn. 18. 2 3 Zur Fastenkur als kosmische Ernährung bei Arthrose vgl. B G E 1 0 8 IV 3 und vorstehend Fn. 21.
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telligenz ist eßbar, Altern ist vermeidbar, ein Bad von zehn Minuten mit in der Schweiz (!) entwickelten Frischzellen macht mindestens fünf Jahre jünger 24 . Wenn die vielen, die diese Illusionsmärkte beliefern, fakdsch nicht wegen Betrugs oder Körperverletzung verfolgt werden, liegt das meiner Ansicht nach nicht an mehr oder weniger subtilen betrugsdogmatischen Erwägungen bzw. Subtilitäten zur Rechtfertigungsdoktrin (Einwilligung, Aufklärung). Gewiß, auch an solchen dogmatischen Finessen kann die Strafbarkeit in einem Teil der hier behandelten Fälle scheitern. Beim Betrug kann man den Irrtum des Opfers dann verneinen, wenn das Opfer an der Richtigkeit des Vorbringens des Täters zweifelt. Oft wird das Opfer sich nicht blindlings der Illusion hingeben. Vom sicher nicht an Zauberei glaubenden Besucher einer Show über den Verbraucher, der eigendich nicht an Erdstrahlen glaubt (aber angesichts von Schlafstörungen es doch einmal mit einschlägigen Gegenmitteln versucht), weiter zur skeptischen Anwenderin einer Schlankheitskur bis hin zur total von den Fähigkeiten der schweizerischen Heilerin und Seherin Uriella 25 überzeugten Kranken existieren alle nur denkbaren Übergänge und Schattierungen. Die Medien verdienen erst an einschlägigen Annoncen über Wundermittel etc., dann an Berichten voller Empörung und Schadenfreude über Bauernfängerei und last but not least an Berichten, die immer neue Illusionen zu nähren helfen. Es mag verlockend sein, den betrugsdogmatischen Hebel beim Zweifel als „halbem" Irrtum des Opfers oder schon früher, bei der nicht sehr listigen (und damit nicht arglistigen) Täuschung des Täters anzusetzen. Meiner Meinung 2 6 nach sind solche Lösungen nicht gangbar oder nicht ergiebig genug. Auch andere zur Restriktion des § 263 StGB eingesetzte dogmatische Verfeinerungen können bestenfalls die Straflosigkeit des Illusionsverkaufs in einigen peripheren Fällen erklären 27 . Die fehlende Strafwürdig24
ren.
BGHSt. 34, 199, 200; ebenda zu Schlankheit, Figurlifting und Haarverdickungsku-
2 5 Details bei Wicki, Komplementärmedizin im Rahmen des Rechts, Bern 1998; vgl. auch Fn. 30. Zum Weltuntergang gemäß Uriella Tagesanzeiger vom 11.3. 98. 2 6 Ausführliche Auseinandersetzung mit viktimo-dogmatischen Ansätzen, insbesondere zu Hillenkamp bei MschrKrim. 1984, 105. 2 7 Beispielsweise gibt es Illusionsverkäufer, die ihre Versprechungen „garantieren" (und so ihre Arglist intensivieren). Den Kunden, die nicht resdos zufrieden sein sollten, versprechen solche Täter die anstandslose Kaufpreisrückzahlung. Es gibt Stimmen im Schrifttum, die in solchen oder ähnlichen Situationen eine Vermögensschädigung der Opfer verneinen wollen (selbstverständlich vorausgesetzt, daß der unzufriedene Kunde sein Geld wirklich anstandslos zurückerhält). Nach richtiger Auffassung ändert die Bereitschaft des Täters, Schadensersatzansprüche desjenigen, der den Betrug durchschaut, anstandslos zu befriedigen, nichts am vollendeten Betrug; so Arg/Weber (Fn. 11), N. 453,
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keit des Illusionsverkäufers hängt jedoch nicht von derartigen mehr oder weniger zufälligen Attributen seines Vorgehens ab, sondern vom Bedürfnis seiner Opfer nach der Illusion. Wir müssen nicht vernünftig sein. Bis zur zivilrechtlichen Grenze der Entmündigung wegen extremer Unvernunft oder/und der Ausnutzung unserer Unvernunft durch sittenwidrig-wucherisches Geschäftsgebaren sind wir eine Rechtsgemeinschaft nur relativ vernünftiger Wesen. Wir kommen gar nicht auf die Idee, den Verkäufer von Büchern über die Landung von UFOs oder den Verfasser von Büchern, die Pyramiden etc. der Leistung außerirdischer Wesen zuschreiben, wegen Betrugs zu verfolgen. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen (insbesondere dem Wucher), ist es nicht Sache des Kernstrafrechts, „Opfern" den Schutz ihrer Rechtsgüter zu oktroyieren. Eine solche Bevormundung ist Sache des Nebenstrafrechts, soweit sie überhaupt legitim ist (dazu unten IV.). Der Täter liefert dem Opfer eine Illusion — und wie sonst bei Waren oder Diensdeistungen steht es dem Täter frei, dafür das ihm richtig erscheinende Entgelt zu fordern. Die einzige Besonderheit besteht darin, daß der Täter nicht sagt (und nach der Natur des Geschäfts nicht sagen kann), daß er nur eine Illusion liefert. Die hier verfochtene weitgehende Reduktion des § 263 StGB und der §§ 223ff StGB beim Verkauf immaterieller Illusionen harmoniert mit der Entscheidung des Gesetzgebers, Freiheit gegen List grundsätzlich nicht zu schützen. Insbesondere die sexuelle Selbstbestimmung ist nicht weniger wichtig oder weniger wert als körperliche Integrität - aber richtig/falsch bzw. Realität/Illusion lassen sich bei der sexuellen Selbstbestimmung nicht in einer mit der körperlichen Integrität vergleichbaren Weise trennen. Selbst bei gröbsten Täuschungen ist das in der Enttäuschung liegende Strafbedürfnis dogmatisch kaum begründbar 28 . 3. Schaffung
oder Ausnutzung
von
Illusionen
Das Angebot von Illusionen ist eine Form der Täuschung, weil der Nachfrager definitionsgemäß (oben I. 1) den illusorischen Charakter und der Wundermittelfall in BGHSt. 34, 199, jeweils mit Hinweisen auf andere Auffassungen. Vgl. auch das Beispiel in Fn. 9. 28 Beispiele·. Zur Vortäuschung, sexuelle Handlungen würden Erblindung abwenden, vgl. den Tübinger Rotbartfall, OLG Stuttgart NJW 1962, 62, und Antf, Willensmängel bei der Einwilligung, 1970, S. 23; zur Vortäuschung, Geschlechtsverkehr mit dem behandelnden Psychologen sei therapeurisch sinnvoll, vgl. BGE 106 IV 358; zur Vortäuschung, die eine Frau verführende Person sei ein Mann, vgl. BGE 115 IV 220; zur Vortäuschung, der Beischlafspartner sei der Ehemann, vgl. BGE 119 IV 230.
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nicht durchschaut. Die Skala beginnt bei einem Opfer, das vom Täter systematisch getäuscht wird; sie reicht bis zu einem Opfer, das sich schon vor dem Kontakt mit dem Täter die Illusion aufgebaut hatte (d. h. der Täter nutzt die Illusion aus, u. U. bekräftigt er sie). Bei gewöhnlichen Irrtümern sind solche Ausnutzungs fälle selten, obwohl sie der Gesetzgeber in § 263 StGB besonders erwähnt hat. In der Realität dominiert der Zwischenbereich: Der Täter stößt auf ein Opfer, bei dem eine latente Bereitschaft besteht, das zu glauben, was der Täter dann behauptet. Die Massenmärkte manifest unvernünftiger Nachfrage nach Wundermitteln könnten sich nicht entwickeln, wenn die Täter — und seien sie noch so listig — gegen einen Strom von Rationalität schwimmen müßten. Wenn wir es zulassen, daß das Bedürfnis nach Zeitvertreib mit märchenhaften Berichten über Glück und Leid im Königshaus befriedigt wird, oder mit einer Story über UFOs — dann können wir doch den Verkauf von Verjüngungskuren oder Amuletten nicht als Betrug unterdrücken! Dieser gesellschaftliche Kontext kommt im Wundermittel-Fall „durch die gezielte Auswahl der Werbeträger" 29 zum Ausdruck, wird aber vom BGH ignoriert. 4. Strafbarkeit des Illusionsverkaufs bei besserer realer Alternative Aus der Überlegung (oben II. 2, III. 2), daß § 263 und §§ 223ff StGB den Rechtsgutsinhaber in seinem wirklichen Willen schützen und deshalb nicht dazu benützt werden können, den Rechtsgutsinhaber zu einem verständigen Gebrauch seiner Rechtsgüter anzuhalten, ergibt sich die wichtigste Schranke der weitgehenden Straffreiheit des Illusionsverkaufs, insbesondere bei illusionären Therapien: Die einem Kranken vorgetäuschte Heilungschance darf nicht auf Kosten einer echten Heilungschance gehen. Schon oben (II. 2) ist dargelegt, daß dem Opfer nur dann an der Illusion gelegen sein kann, wenn die Realität als Alternative nicht erhäldich ist. Bei der Gesundheit geht es meist nicht um den schroffen Gegensatz zwischen illusionär-pfuscherischer Behandlung und schulmedizinischer Heilung, sondern um eine Abwägung von Chancen und Risiken. Die Beurteilung der Heilungschancen erfordert Sachkenntnis, Sachkenntnis setzt Ausbildung voraus. Daraus ergibt sich das Minimum an Schutz der Schulmedizin gegen Kurpfuscher 30 . BGHSt. 34, 199, 200. Paul Heimonds, Kurpfuscher des 18. Jahrhunderts mit einigen interessanten Fällen aus der Stadt Köln, Kölner (zahnmedizinische) Dissertation 1939, führt das erste Kurpfuschereiverbot in Deutschland auf den Freiheitsbrief der Universität Tübingen von 1477 zurück, in dem der medizinischen Fakultät ein Zulassungsmonopol für die Ausübung der Heilkunde zuerkannt wird (aaO S. 4). Dort auch viele konkrete Beispiele von Scharlatanen und ausführlich zum Magnetismus bzw. zu Fluidumstheorien (auch Mesmerismus) 29 30
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D e s h a l b endet der S c h u t z der Schulmedizin d o r t , w o die S c h u l m e d i zin mit i h r e m Latein am E n d e ist, bei unheilbaren K r a n k h e i t e n , c h r o n i schen K r a n k h e i t e n , A l t e r s e r s c h e i n u n g e n und bei den vielen d i f f u s e n S t ö r u n g e n i m k ö r p e r l i c h e n u n d seelischen B e r e i c h 3 1 . O f t e r w a r t e t der K r a n k e , d a ß der A r z t etwas macht, i n s b e s o n d e r e etwas v e r s c h r e i b t . S c h o n in d e r Schulmedizin ist A k t i v i t ä t (auch w o sie nicht hilft) als ein sich u m d e n Patienten K ü m m e r n v o n d e r L i e f e r u n g einer s i n n v o l l e n Illusion nicht z u trennen. A n diesem alltäglichen B e d ü r f n i s des Patienten nach L ü g e n und Illusionen g e h t die D o g m a t i k zur Einwilligung u n d A u f k l ä r u n g vorbei. D i e unterschiedliche juristische L ö s u n g der K r a n k e n b e h a n d l u n g im e n g e r e n Sinne u n d der B e h a n d l u n g v o n S t ö r u n g e n des allgemeinen W o h l b e f i n d e n s b e r u h t darauf, daß b e i m W o h l b e f i n d e n fast alles Illusion ist: H a u t s t r a f f u n g , L i b i d o - S t e i g e r u n g 3 2 , seelische A u s geglichenheit, Schlankheit und S c h ö n h e i t m ö g e n z w a r
unerreichbar
sein, schädlich (im Sinne einer V e r h i n d e r u n g w i r k u n g s v o l l e r T h e r a p i e ) ist der Einsatz illusionärer B e h a n d l u n g s m e t h o d e n in diesem Bereich jed o c h so gut w i e nie. D i e R a u c h e r e n t w ö h n u n g 3 3 n e n n e ich als ein Beispiel dafür, daß etwas aus der Illusion des W o h l b e f i n d e n s hinaus- in die Schulmedizin h i n e i n w a c h s e n kann.
als „Heilmode" der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zu sektiererischer Außenseitermedizin vergleiche zu Uriella oben Fn. 25 und den Fall Olivia Pilhar (Nierenkrebs einer Sechsjährigen, Behandlung nicht schulmedizinisch, sondern durch Neue Medizin des Arztes Geerd Hamer, dem die Approbation entzogen worden war); Bericht in DAS (Tagesanzeiger) MAGAZIN, 13/1998; juristisch detailliert dazu Schick, in Bauhofer u. a. (Fn. 8), S. 351 ff. Schick bemerkt (aaO S. 362), „eine Verurteilung wegen Körperverletzung oder Tötung infolge unwissenschaftlicher Behandlung i. S. der Geist- und Wunderheiler, sowie Scharlatane ist weder wahrscheinlich noch im Schrifttum ausgewiesen" (zu Osterreich). 31 Bei psychischcn Störungen zeigt die im Vergleich zu Westeuropa um ein Vielfaches höhere Therapiedichte in den USA, daß in weiten Bereichen ein schulmedizinischer Konsens über Behandlungsbedürftigkeit oder Behandlungsfahigkeit fehlt (unten Fn. 40). 32 Ktip (ein Printmedienableger des Schweizerischen Fernsehens) v. 11. 3. 1998, S. 21 („Potenzmittel sind teuer und wirkungslos") vertritt die Ansicht, bei den in Sexshops verkauften Tonika gehe es um „Heilsanpreisung" (!). Der Verkauf sei strafbar, weil diese Mittel nicht bei der Interkantonalen Stelle für Arzneimittel (IKS) registriert seien. (Das Viagra-Zeitalter war noch nicht angebrochen). — Im gleichen Heft werden „esoterische Geschäfte" angeprangert als „simple Philosophie - teuer verkauft" (S. 5). Im gleichen Heft wird vor dem Vertrieb eines „Blauen Kreuzes" für Fr. 49,90 gewarnt. Das Kreuz soll dem Träger angeblich „Geld, viel Geld, Glück im Spiel, Liebe und F.influß" schenken — wer nicht zufrieden ist, kann es binnen 90 Tagen zurücksenden (S. 2). 33 Deshalb ist entgegen BGHSt. 34, 199 das Wundermittel „Nichtraucher-Pille" anders zu beurteilen als ein Verjüngungsbad.
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5. Unterhaltungswert der Illusion speziell im Bagatellbereich Im Bagatellbereich, zu dem auch Schmerzlinderung bei chronischen Beschwerden oder Beeinflussung von Alterserscheinungen gehört, wird die Illusion vom Käufer weitgehend durchschaut. Der Sinn der entsprechenden Mittel liegt wesentlich darin, daß der Käufer sich für sich und seine Beschwerden Zeit nimmt. In einer Gesellschaft, in der Geld ausgeben als Freizeitbeschäftigung eine wesentliche Rolle spielt, in der die Bierbrauer Hopfen nicht nach Qualität, sondern nach Herkunft bezahlen (oben I. 3) und in der der K a u f noch eines Paar Schuhe oder noch eines Hemdes objektiv unnütz ist, ist der K a u f eines unnützen Mittels für Schlankheit, gegen Alterung etc. nicht unsinnig. Das gilt ganz besonders im Bereich kleiner Illusionen oder/und kleiner Ausgaben. Wie sonst bei überflüssigen Sachen liegt auch hier der Nutzen in der Beschäftigung des Käufers mit sich selbst, im Geld ausgeben per se. Neben dem Bedürfnis nach Illusionen begründet der im Shopping liegende Unterhaltungswert der Geldausgabe die Herausnahme der Kosmetik-, Schönheits- und Wellnessindustrie aus dem Betrugsbereich. Maßgebend ist nicht, ob das Mittel oder die Behandlung schlank oder schön macht oder ob Sex-Appeal oder Libido oder das allgemeine Wohlbefinden gesteigert werden. Maßgebend ist, daß der Kunde Geld ausgibt und sich für sich selbst Zeit nimmt. Sogar bei Vermögenswerten Austauschverhältnissen ist auf solche hinter einem Nahziel stehenden Fernziele zu achten. Beispiel (7), Cidre Mousseux34: Wer in einer Kölner Bar für die Bardame Sekt „Hausmarke" bestellt, wird nicht betrogen, wenn der Barkeeper Cidre Mousseux ausschenkt. Im sprachgewandteren Bern würde schon die Täuschung bzw. der Täuschungsvorsatz fehlen. In Köln mag zwar eine Täuschung vorliegen (Apfel statt Trauben, konkludente Täuschung im Gesamtzusammenhang wird durch die Wahrheit auf französisch nicht beseitigt), aber der K a u f des Getränks kaschiert nur das eigentliche Geschäft, nämlich die gekaufte Zeit. Diesen Gegenwert erhält der Gast. Auch die h. M . 3 5 befreit die Anbieter im Bereich des Wohlbefindens von den Bindungen des Heilbehandlungs- und Heilmittelrechts, insbe34
I m Originalfall O L G Köln O L G S t . § 263 S. 150 stand der Cidre auf der Getränke-
karte unter der Rubrik „Sekt/Schaumwein"
als „Hausmarke"; Arg/Weber
(Fn. 11),
N. 490. — Konsequent die modernen Restaurants, die den Gästen reiche Auswahl offerieren, dann aber leere Teller servieren und in leere Gläser schwungvoll nichts einschenken, denn die Gäste erhalten, was sie wirklich wünschen, nämlich Ambience, Sehen und Gesehenwerden; D e r Bund, 18. April 1998, S. 44. 35
Wtcki (Fn. 25).
Betrug durch Verkauf von Illusionen
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sondere von dem Wirkungsnachweis bzw. der lex artis. Die gängige Begründung läßt sich dahin zusammenfassen, daß es sich bei der Gesundheit um ein besonders wichtiges Rechtsgut handle, weshalb das Kurpfuschertum zu unterdrücken sei. Dagegen gehe es beim allgemeinen Wohlbefinden um eine Bagatelle. Deshalb seien marktschreierische und pfuscherische Behandlungen zu tolerieren. Diese Deutung greift zu kurz, weil sie die Straflosigkeit unter dem Aspekt des Betrugs nicht erklären kann. Meiner Meinung nach liegt der richtige Ansatz, um die Differenz zwischen Gesundheit und Wohlbefinden zu erklären, im Fehlen einer quasi-schulmedizinischen Therapie. Beim Wohlbefinden ist fast alles Illusion. 6. Zusammenfassende dogmatische
Begründung
Die vorstehend entwickelten Kriterien zur Bestimmung und Begrenzung der von der Strafbarkeit ausgenommenen Illusionen lassen sich nicht einfach aus einem Baustein der Betrugsdogmatik herleiten. Das Interesse des Opfers an einer Illusion muß dazu führen, daß letztlich der Schaden zu verneinen ist: Das Opfer hat für sein Geld die Illusion als Gegenwert erhalten 36 . Eine solche Schadensbetrachtung wirkt bis zur Täuschung zurück: Eine dem Opfer mutmaßlich willkommene Täuschung ist aus § 263 StGB auszunehmen. Dieser Aspekt ist wichtig, weil so die Argumentationsbrücke zu anderen Rechtsgütern geschlagen werden kann. Auch bei der körperlichen Integrität gibt es solche mutmaßlich willkommenen Täuschungen. Einigermaßen gesichert ist freilich nur die Fallgruppe des vom Patienten nur angedeuteten Aufklärungsverzichts 37 . — Nur hinweisen kann ich auf die Selbstverantwortung des Opfers, die in verschiedenen Zusammenhängen von der modernen Dogmatik wieder entdeckt worden ist. Sie wird als strafbarkeitseinschränkendes Argument eingesetzt. Beim Betrug genügt nach h. M. zwar nicht eine Quasi-Fahrlässigkeit im Sinne eines Opferselbstverschuldens, um den Täter von der Strafbarkeit auszunehmen. Bei den Illusionsmärkten setzt sich das Opfer jedoch bewußt (quasivorsätzlich) einem Risiko aus — und es verfolgt und erreicht darüber
3 6 Betrug und zivilrechdiche Ansprüche wegen arglistiger Täuschung sind nicht dekkungsgleich; ich lasse offen, wann bei geplatzter Illusion das Opfer seine Leistung (Zahlung) zurückfordern kann. 37 Hirsch, in: I X , 10. Aufl. 1989, § 226a Rdn. 20. Den Zusammenhang mit der schonenden Nichtaufklärung (ebenda Rdn. 25, 28) sehe ich darin, daß ein Patient nicht gezwungen werden kann, sich selbst gegenüber schonungslos zu sein (weil er nur so deutlich auf Aufklärung verzichten kann).
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hinaus die ihm wichtigen Fernziele (Geldausgabe, Zeitvertreib, Beschäftigung mit sich selbst). Insofern können die Kriterien, wie sie allgemein zur Abgrenzung Fremdschädigung/Opferselbstschädigung entwickelt worden sind, erfüllt sein. Schließlich kann man bis hinauf zur Aberglaubensfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht des Opfers greifen, also ins Verfassungsrecht der Art. 4 GG und Art. 2 GG. Diese Freiheitsrechte verbieten eine Handhabung des Strafrechts, die potentielle Opfer zur Vernunft zwingt, weil diejenigen, die unvernünftige Sehnsüchte befriedigen, als Betrüger (gegebenenfalls als Täter einer Körperverletzung oder eines Sexualdelikts) bestraft werden. IV. Nebenstrafrecht Mit der hier verfochtenen weitgehenden Straflosigkeit des Illusionsverkaufs nach gemeinem Strafrecht sind spezialgesetzliche Regelungen verträglich, die Verbote bzw. Beschränkungen im Nebenstrafrecht vorsehen, insbesondere im Gewerbe-, Lebensmittel-, Arzneimittel- und sonstigen Gesundheitsrecht. Hellseher, Pendler, Kartenleger und sonstige Formen des Ausnutzens des Aberglaubens (auch im Gesundheitswesen) sind früher nicht als gemeine Betrüger angesehen worden, sondern ins polizeirechtliche Bagatellstrafrecht 38 abgedrängt worden. Auch im Nebenstrafrecht wird man jedoch der irrationalen Seite der Menschen Rechnung tragen müssen. Ein Totalverbot der Scharlatanerie wäre gewerbepolizeilich verfehlt und würde an der Realität eines in die Illegalität gedrängten Marktes nichts ändern. Im Gesundheitswesen ist die Hinwendung zu alternativen, komplementären, sich von einem Wirkungsnachweis freizeichnenden Therapien handgreiflich. Die Grenze seriös — unseriös wird sich als diffus erweisen. Außerordentlich unscharf ist auch die Grenze zwischen seelischer Krankheit und einem vagen Bedürfnis nach Lebensberatung durch Psychologen, Psychiater und andere Personen 39 . 3 8 Die Entwicklung in der Schweiz war durch eine Vielfalt kantonaler Übertretungstatbestände gegen Schatzgraben, Geisterbeschwören, Marktschreierei, vorgebliches Goldmachen, Traumdeuten, Hypnotismus, Magnetismus, Chirologie etc. geprägt. Nach Streichung des im R 1918 vorgesehenen bundesrechtlichen Übertretungstatbestandes der Bekämpfung der okkulten Künste ist unklar, wieweit den Kantonen angesichts des bundesrechtlichen Tatbestandes des Betrugs eine Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich verblieben ist; näher dazu die von Pfenniger betreute vorzügliche Dissertation von Robert Thurnherr, Ausbeutung der Leichtgläubigkeit, Zürich 1947. 3 9 Zur Psychotherapeuten-Dichte der USA schon oben Fn. 31 und im Kontext mit sexuellem Mißbrauch von Kindern A r g , Festschrift für Schnyder, Freiburg/Schweiz 1995, S. 13 ff, 27 ff, mit Zahlenangaben.
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Beispiel (8), Gesundheitsrecht des Kantons Bern: 1995 hat die Sehnsucht nach Alternativen zur Schulmedizin in Art. 41 der neuen Kantonsverfassung Eingang gefunden. Parallel dazu ist es zum Kollaps des im bernischen Gesundheitsgesetz von 1984 festgeschriebenen Systems eines numerus clausus der Heilberufe mit behördlicher Überwachung gekommen. Naturheilpraktiker hatte das Gesundheitsgesetz (GesG) von 1984 bewußt nicht zugelassen 40 . Läßt man sie zu, dito Ausübende der chinesischen bzw. tibetischen Medizin und Ausübende des Ayurveda, ist schon fraglich, wie „erfahrungswissenschaftliche" Behandlungsformen behördlichneutral kontrolliert werden sollen und können. Beschwerdeverfahren wegen Behandlungsfehlern mit drei Instanzen mit jeweils neuen Gutachtern sind schon im schulmedizinischen Bereich nicht einfach. Ein solches Verfahren bei Anwendern der tibetischen etc. Medizin dürfte im Ergebnis von einem totalen Kontrollverzicht nicht weit entfernt sein. — Zum anderen ist die theoretische Rechtslage, nach der im Gesundheitsbereich nur Tätigkeiten im Rahmen der im numerus clausus enthaltenen Berufsbilder zulässig sind, von der Realität überrollt worden. Beispielsweise hat man über zehn Jahre lang das Gesundheitsgesetz dahin interpretiert, daß die Tätowierer, weil sie im Katalog nicht genannt sind, im Kanton nicht tätig sein dürfen — eine Praxis, die erst 1997 aufgegeben worden ist (notabene bei unverändertem Gesetzestext!). Das Wohlbefinden fördernde Massagen, Transplantation von Haarwurzeln, das Aufblühen von Sexshops mit einem Angebot von Tonika aller Art und die zur Normalität gewordenen Hellseher, Kartenleger 4 1 , die Hilfe im psychischen und physischen Bereich versprechen, das alles hat dazu geführt, daß nach dem Vor-E eines neuen G e s G von 1997 „Tätigkeiten des Gesundheitswesens", die ein geringes gesundheidiches Gefahrenpotential bergen, künftig keiner Berufsausübungsbewilligung mehr bedürfen (Grundsatz der freien Ausübung).
40
V o r - E 1997 eines G e s G ( B E ) , Erläuterungen Ziff. 2.2. zu Heilpraktikern (bisher)
und Ziff. 5.2.1 (neu); zum Berufsausübungsbewilligungskatalog vgl. V o r - E einer Gesundheits-VerO 1997 Ziff. 2 lit. w (chinesische Medizin), lit. χ (tibetische Medizin) und lit. y (Ayurveda). Z u den keiner Berufsausübungsbewilligung bedürftigen Tätigkeiten (geringes Risiko) Erläuterungen 5.3.2. 41
I m „Brückenbauer" (größte Wochenzeitschrift der Schweiz, Kundenmagazin der
Migros) v. 1 7 . 3 . 1998 findet man allein in der Rubrik „Beratungen" 10 Hellseher, 11 Kartenleger (zum Teil in Idealkonkurrenz mit Pendlern). E s k o m m e n hinzu Parapsychologen, Magiere, mediale Lebensberater etc. So hilft ein diplomierter Parapsychologe „sofort und zuverlässig bei: Ehe- und Partnerwiederzusammenführung,
gesundheitlichen
Problemen, Schmerzen, Ubergewicht" — er verspricht auch Hilfe für Personen „ohne deren Wissen". Annoncen aus der Rubrik „Gesundheit" sind in diese Zählung nicht eingeschlossen.
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V. Ausblick, irrationale Ängste Was bleibt, ist die Erwartung, daß insbesondere im Gesundheitswesen das Bedürfnis nach Illusion nicht auf eigene Kosten, sondern auf Kosten einer Versicherung zu befriedigen sei. Darauf will ich hier nicht eingehen. Unvermeidlich scheint mir auch zu sein, daß eine Gesellschaft, deren Mitglieder ein starkes Bedürfnis nach Illusionen und nach rational nicht begründbaren Hoffnungen im Privatbereich haben, anfällig ist für Wundermittel, Aberglaube („Voodoo economics") 42 und Kosmetik im politischen Bereich. Dann wird der Politiker zum Heilkünstler, dem der Wähler nach dem Motto dankt 43 : „Heilkünstler W. hat mir aus meinen Augen und dem Kaffeesatz schwerste Blutvergiftung prophezeit. Bereits drei Flaschen Heilbalsam haben mich davor bewahrt." Mit irrationalen Ängsten als der Kehrseite irrationaler Hoffnungen sind wir jedoch bei einem neuen Thema.
4 2 Der Ausdruck ist dem damaligen Vize-Präsidenten der USA, Bush, zu verdanken; Nachweis dazu und zur Wirtschaftswissenschaft als Quasi-Religion bei Ar%t, Festschrift für Triffterer, 1996, S. 527, 544; zur Frage, wie eine Gesellschaft den Maßstab des „vernünftigen" Zweifels an Tat oder Schuld handhaben kann, in der 48% an UFOs und 40% an übernatürliche Kräfte glauben, Arrçt, Ketzerische Bemerkungen zum Prinzip in dubio pro reo, 1997, S. 7. In Deutschland glauben 59% an Übersinnliches, Die Woche v. 11. April 1997, S. 26. 43 Heimonds (Fn. 30), S. 28.
Zur Verfassungswidrigkeit von § 34 Abs. 4 AWG KLAUS BERNSMANN
I. Die Beteiligung deutscher Unternehmer am (Auf-)Bau von Fabriken zur Herstellung von chemischen Kampfstoffen in Libyen und an der Aufrüstung des Irak hat der Gesetzgeber beginnend im Jahre 1990 zu Recht zum Anlaß genommen, die einschlägigen Vorschriften des Außenwirtschaftsgesetzes (AWG) und des Kriegswaffenkontrollgesetzes (KWKG) innerhalb kurzer Zeit mehrfach zu verschärfen bzw. neu zu formulieren. Eine vor allem auch praktisch wichtige Funktion soll dabei die durch das 7. Änderungsgesetz zum AWG im Jahre 1992 neu in das Gesetz eingefügte Vorschrift des § 34 Abs. 4 AWG erfüllen, die im Ergebnis Verstöße gegen Embargos, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossen hat, mit vergleichsweise hoher Strafe bedroht. In der Vorschrift heißt es u. a.: „Mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren wird bestraft, wer einer Vorschrift dieses Gesetzes oder einer aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnung oder einem im Bundesgesetzblatt oder im Bundesanzeiger veröffentlichten Rechtsakt der Europäischen Gemeinschaften zur Beschränkung des Außenwirtschaftsverkehrs, die der Durchführung einer vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme dienen, zuwiderhandelt, ...".
Dem Gesetzgeber geht es also um die Sicherung der Durchführung eines UN-Embargos; dies soll durch zusätzliche Einfügung einer Embargovorschrift in das AWG oder durch Rechtsverordnung oder durch Veröffentlichung einer Embargobestimmungen enthaltenden EG-Verordnung geschehen. II. So richtig es ist, jegliche Beteiligung an der Vorbereitung oder Durchführung z. B. einer Chemiewaffenproduktion unter strenge Strafe zu stellen — zumal dann, wenn sie in einem Staat stattfinden soll, der von einem entsprechenden UN-Embargo betroffen ist —, so darf doch bei Umsetzung dieses Anliegens der noch so berechtigte Zweck nicht jegliches Mittel seiner Durchsetzung heiligen, insbesondere darf der Gesetzgeber verfassungsrechtliche Vorgaben nicht mißachten. Genau das
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könnte aber dort der Fall (gewesen) sein, wo der Gesetzgeber die Vorschrift des § 34 Abs. 4 AWG mit Rechtsverordnungen — konkret den §§ 69a ff. Außenwirtschaftsverordnung (AWV) - ausgefüllt hat. Die verfassungsrechtliche Brisanz des Zusammenspiels von § 34 Abs. 4 AWG und §§ 69a ff. AWV soll im folgenden am Beispiel des Libyen-Embargos verdeutlicht werden. Dabei ist der für das Nebenstrafrecht allgemein nicht ganz untypische Umgang des Gesetzgebers mit „offenen" Normen nicht nur von theoretischem Interesse, sondern — wie einige Gerichtsentscheidungen aus letzter Zeit zeigen 1 — auch von konkretem praktischem Bezug. In diesen Entscheidungen ging es unter anderem um die Konkretisierung von § 34 Abs. 4 AWG durch § 69g AWV 2 . Darum soll es auch hier gehen: III.
1. Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann Strafe nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes oder aufgrund einer Rechtsverordnung verhängt werden, deren gesetzliche Grundlage in der Weise nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmt ist, daß die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe für den Bürger schon aufgrund des Gesetzes und nicht erst aufgrund der hierauf gestützten Verordnung voraussehbar sind (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) 3 . Zudem hat der Gesetzgeber gemäß Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG bei Erlaß einer Strafvorschrift, die Freiheitsstrafe androht, mit hinreichender Deutlichkeit festzulegen, welches Verhalten unter Androhung einer Freiheitsstrafe verboten oder geboten sein soll 4 : Der „geEtwa LG Stuttgart NStZ 1997, 289; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1998, 153. § 69g AWV galt nur bis zum 14. 12. 1993 und wurde dann durch den in wesentlichen Teilen gleichen § 691 AWV ersetzt. § 69g Abs. 1 Nr. 2, 3 AWV (= § 691 Abs. 1 Nr. 1, 2 AWV) hatte folgenden Wortlaut: „Folgende Tätigkeiten sind verboten: Nr. 2: die Lieferung von Rüstungsmaterial und damit im Zusammenhang stehender Waren aller Art sowie Ersatzteilen, einschließlich des Verkaufs oder der Lieferung von Waffen, Munition, militärischen Fahrzeugen und Ausrüstungsgegenständen hierfür und paramilitärischer Polizeiausrüstung; ebenso die Lieferung jeder Art von Ausrüstung, von Nachschub und der Abschluß von Lizenzabkommen für die Herstellung oder die Wartung der genannten Waren. Nr. 3: Diensdeistungen, die sich auf technische Beratung, Unterstützung oder Ausbildung im Hinblick auf die Lieferung, Herstellung, Wartung oder den Gebrauch der in Nummer 2 genannten Gegenstände beziehen." 3 BVerfGE 14, 174, 185; 75, 329, 342; 78, 374, 382; 85, 69, 72; 87, 399, 411; SchmidtBleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Grundgesetz, 8. Aufl. 1995, Art. 103 Rdn. 7; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 3. Aufl. 1995, Art. 103 Rdn. 48. 4 BVerfGE 14, 245, 251; 75, 329, 342; 78, 374, 383; 82, 236, 269; Rüping, in: Dalmer/ Vogel (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: Mai 1990, Art. 103 Fn. 79; Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bkibtreu /Klein, Art. 104 Rdn. 5: Zulässigkeit von Freiheitsbe1
2
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Zur Verfassungswidrigkeit von § 34 Abs. 4 A W G
settiche" Tatbestand muß dem Bürger die strafbewehrte Verbotsmaterie erklären; nur so wird die von Art. 103 Abs. 2 G G (sowie von § 1 S t G B und Art. 7 Abs. 1 M R K ) geforderte Garantiefunktion des Tatbestandes gewährleistet, und nur so erhält der Straftatbestand seine demokratische Legitimation. § 3 4 Abs. 4 A W G erfüllt diese Bedingungen nicht: Diese Vorschrift bestimmt nicht abstrakt und generell, unter welchen Voraussetzungen eine Person eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren soll verwirken können. D e r N o r m kann lediglich entnommen werden, daß man sich nach Transformation irgendeines E m b a r g o s des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in ein Strafgesetz nach diesem Gesetz gegebenenfalls strafbar machen kann. Ein weniger bestimmter und für den Normadressaten unbestimmbarer N o r m b e f e h l läßt sich kaum denken. Pönalisiert wird die „Zuwiderhandlung" (d. h. die denkbar allgemeinste F o r m des Ungehorsams) gegen eine aufgrund des A W G erlassene Rechtsverordnung, deren einzige „Konkretisierung" durch den Gesetzgeber darin besteht, daß sie der Durchführung einer vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufgrund des Kapitels V I I der UN-Charta 5 beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme dient. Welches Verhalten — Tun oder/und Unterlassen — verboten bzw. geboten wird, ist nicht erkennbar: Z u m einen sind die Rechtsakte, denen zuwidergehandelt werden könnte, zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes überhaupt noch nicht vollzogen, und zum anderen fehlt jede Beschreibung möglicher Tathandlungen. Als solche mögen denkbar bzw. wahrscheinlich sein: „die Ausfuhr, der sonstige Warenverkehr, Dienstleistungen, Kapital- und Zahlungsverkehr sowie alle Tätigkeiten, welche die mittelbare oder unmittelbare Förderung bestimmter Tathandlungen bezwecken oder bewirken" 6 . O b all (oder nur) dies Tathandlungen sein sollen bzw. können 7 , läßt sich der gesetzlichen Regelung nicht entnehmen. Damit bleibt aber im Dunkeln, was Art. 103 Abs. 2 G G , § 1 S t G B als Grundausstattung eines Straftatbestandes garantieren. Folge davon ist unter anderem, daß sich die Vorschrift dem strafrechtsdogmatischen Zugang fast völlig entzieht:
schränkungen und -entziehungen nur aufgrund förmlicher Gesetze; Pieroth,
in:
Jarass/
Pieroth, Art. 104 Rdn. 3. 5
Zur Unbestimmtheit selbst dieses Verweises vgl. unten nach Fn. 50.
f'
So jedenfalls Bieneck,
7
Immerhin werden in einem Atemzug „täterschaftliche" Handlungen und bloße
Teilnehmerbeiträge (Anm. 6).
wistra 1995, 256, 259.
(„mittelbares
oder
unmittelbares
Fördern")
genannt;
s.
Bieneck
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Was ζ. Β. soll ein „Umstand" sein, „... der zum gesetzlichen Tatbestand gehört", über dessen (Nicht-)Vorliegen der Täter sich also i. S. v. § 16 Abs. 1 StGB relevant irren könnte? Der gesetzliche Tatbestand des § 34 Abs. 4 AWG enthält überhaupt keine konkreten irrtumstauglichen Umstände. Oder: Wo sollen bei einem „Zuwiderhandeln" gegen ein gesetzlich nicht bestimmtes Gebot/Verbot die Grenzen von Vorbereitung, Versuch und Vollendung verlaufen, wenn der Deliktsinhalt von § 34 Abs. 4 AWG überhaupt nicht klar bzw. nicht zu klären ist? Und wie sollen die allgemeinen Kriterien der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme gelten können, wenn ein bloßer Ungehorsam unter Strafe gestellt wird? § 34 Abs. 4 AWG entspricht in der Konzeption insoweit einer Ordnungswidrigkeit. Im Ordnungswidrigkeitenrecht gilt aber die Einheitstäterregelung des § 14 OWiG, die von vielen Problemen befreit, vor die die Vorschriften der §§ 25 — 29 StGB Rechtsanwender und -adressaten stellen. Die Vorschrift des § 34 Abs. 4 AWG enthält auch keine Verweisung 8 auf Vorschriften des AWG, welche die Verordnungen, deren Nicht-Beachtung bestraft wird, konkretisieren würden. Zwar wird in Zusammenhang mit § 69g AWV die Ermächtigungsgrundlage für den Erlaß der Rechtsverordnung genannt (§§ 27 Abs. 1 Satz 1 und 2 i. V. m. § 2 Abs. 1, §§ 5 und 7 Abs. 1 und 3 AWG). Dies entspricht aber gerade nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot des Art. 103 Abs. 2 bzw. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG: Die Voraussetzungen der Strafbarkeit müssen in dem förmlichen Gesetz selbst geregelt werden. Hier ergeben sie sich aber erst und nur aus der Rechtsverordnung, auf die das Strafgesetz keinen konkreten Bezug nimmt. Anders als ζ. B. im Falle des § 34 Abs. 1 Nr. 3 AWG a.F. können die Voraussetzungen der Strafbarkeit noch nicht einmal durch eine geschlossene Verweisungskette 9 erkannt werden. Es fehlt schon an einer Verweisung 10 . 2. Die Vorschrift des § 34 Abs. 4 AWG genügt dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) auch dann nicht, wenn die Grundsätze zugrunde gelegt werden, die für sogenannte Blankettstrafvorschriften gelten 11 : Vgl. hierzu BVerfG NJW 1993, 1909, 1910. Vgl. hierzu BVerfG NJW 1993, 1909, 1910. 1 0 Anders das OLG Düsseldorf (NStZ-RR 1998, 155), das - zu Unrecht - meint, der Gesetzgeber habe in Zusammenhang mit § 34 Abs. 4 AWG die gleiche Regelungstechnik verwendet wie bei § 34 Abs. 1 Nr. 1, 3 AWG i.d.F. vom 28. März 1976. Davon kann — abgesehen von dem unterschiedlichen Gehalt beider Vorschriften — keine Rede sein. 11 Vgl. dazu allgemein Jescbeck/Weigend, Allg. Teil, 5. Aufl. 1996, § 12 III. 8
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Zur Verfassungswidrigkeit von § 34 Abs. 4 AWG
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a) Erfolgt die Ergänzung eines Blankettstrafgesetzes — wie hier — durch eine Rechtsverordnung, so müssen die Voraussetzungen der Strafbarkeit sowie Art und Maß der Strafe entweder im Blankettstrafgesetz selbst oder in einer anderen gesetzlichen Vorschrift, auf die das Blankettstrafgesetz Bezug nimmt, hinreichend deutlich umschrieben werden. Dem Verordnungsgeber dürfen lediglich gewisse Spezifizierungen des Straftatbestandes überlassen werden 12 . Allerdings muß der Gesetzgeber die Strafbarkeitsvoraussetzungen um so genauer fesdegen und um so präziser bestimmen, je schwerer die von ihm angedrohte Strafe ist 13 . Wenn das BVerfG in diesem Zusammenhang meint, das Bestimmtheitsgebot dürfe auch nicht „übersteigert" werden, weil die Gesetze sonst zu starr und kasuistisch und den Besonderheiten des Einzelfalls nicht mehr gerecht würden 14 , dann mag die damit verbundene Zuweisung der Strafgesetzregelungskompetenz an ein Exekutivorgan verfassungsrechtlich gerade noch möglich sein, wenn es ζ. B. um die „Präzisierung" genehmigungspflichtiger Waren 15 geht, aber nicht mehr, wenn die gesamte Verbots- bzw. Gebotsmaterie noch offen ist. Der Gesetzgeber hat diese verfassungsrechtlichen Vorgaben bei Schaffung der Vorschrift des § 34 Abs. 4 AWG nicht beachtet. § 34 Abs. 4 AWG legt nicht fest, unter welchen Voraussetzungen Strafbarkeit begründet wird; es fehlt — wie soeben erörtert — auch jeglicher Verweis auf eine gesetzliche Vorschrift, die dem Bestimmtheitsgebot entsprechen würde. b) Das läßt sich am Beispiel des Libyen-Embargos anschaulich zeigen: Dem zum Erlaß der Rechtsverordnung ermächtigten Exekutivorgan — gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 AWG ist das der Bundeswirtschaftsminister — sind hier wesentliche Entscheidungsspielräume bei Bestimmung der Voraussetzungen der Strafbarkeit eingeräumt; von bloßen Spezifizierungen bzw. Präzisierungen kann keine Rede sein: Die UN-Resolution 748 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 31. März 1992 fordert in den Ziffern 4 - 6 die Mitgliedstaaten zur Verhängung bestimmter Sanktionen gegen Libyen auf 16 . Daraufhin hat der Rat der Europäischen Gemeinschaften in der Verordnung 1 2 BVerfGE 37, 201, 209; 75, 329, 342; 78, 374, 383; Schmidt-Aßmann, in: Maun%/ Düng/Herzog, Grundgesetz, Stand: Dezember 1992, Art. 103 Rdn. 210; Raping, in: Bonner Kommentar, Art. 103 Rdn. 42; Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 103 Rdn. 9; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 103 Rdn. 48. 1 3 BVerfGE 14, 245, 251; 41, 314, 320; BVerfG NJW 1993, 1909, 1910. 1 4 BVerfG NJW 1993, 1910. 1 5 BVerfG NJW 1993, 1910. l ú Resolution 748: The Security Council Nr. 4: decides also that all States shall: (a) Deny permission to any aircraft to take off from, land in or overfly their territory if it is destined to land in or has taken off from the territory of Libya, unless the particular
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Nr. 945/92 vom 14. April 1992 17 die Verbote nach Ziffer 4 a) 18 , nach Ziffer 4 b) 1 9 und nach Ziffer 6 b) der UN-Resolution 20 in den Mitgliedstaaten in unmittelbar geltendes Recht 21 umgesetzt. Der Bundeswirtschaftsminister hat im deutschen Recht durch § 69g AWV 22 ebenfalls nicht alle, sondern nur einige der in der Resolution 748 beschlossenen „Sanktionen" auf dem Verordnungsweg in das deutsche Recht übernommen: Dem Verbot der Ziffer 4 b) der UN-Resolution soll offensichtlich § 69g Abs. 1 Nr. 1 AWV entsprechen. Dabei hatte der Verordnungsgeber allerdings übersehen, daß diesbezüglich bereits eine unmittelbar geltende EWG-Verordnung — Art. 2 der Verordnung 945/92 - existierte und es damit zu einer Wiederholung gekommen war, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes EG-rechtlich die Nichtigkeit von § 69g Abs. 1 Nr. 1 AWV zur Folge haben könnte 23 . flight has been approved on grounds of significant humanitarian need by the Committee established by paragraph 9 below; (b) Prohibit, by their nationals or from their territory, the supply of any aircraft or aircraft components to Libya, the provision of engineering and maintenance servicing of Libyan aircraft or aircraft components, the certification of airworthiness for Libyan aircraft, the payment of new claims against existing insurance contracts and the provision of new direct insurance for Libyan aircraft. Nr. 5: Decides further that all States shall: (a) Prohibit any provision to Libya by their nationals or from their territory of arms and related material of all types, including the sale or transfer of weapons and ammunition, military vehicles and equipment, paramilitary police equipment and spare parts for the aforementioned, as well as the provision of any types of equipment, supplies and grants of licensing arrangements, for the manufacture or maintenance of the aforementioned; (b) Prohibit any provision to Libya by their nationals or from their territory of technical advice, assistance or training related to the provision, manufacture, maintenance, or use of the items in (a) above; (c) Withdraw any of their officials or agents present in Libya to advise the Libyan authorities on military matters; Nr. 6: Decides that all States shall: (a) Significantly reduce the number and the level of the staff at Libyan diplomatic missions and consular posts and restrict or control the movement within their territory of all such staff who remain; in the case of Libyan missions to international organisations, the host State may, as it seems necessary, consult the organisation concerned on the measures required to implement this subparagraph; (c) Take all appropriate steps to deny entry to or expel Libyan nationals who have been denied entry to or expelled from other States because of their involvement in terrorist activities. 17
Abl. E G Nr. L 101/53. In Art. 1 Abs. 1 und 2 der EWG-Verordnung Nr. 945/924. 19 In Art. 2 der EWG-Verordnung. 20 In Art. 1 Abs. 3 der EWG-Verordnung. 21 Art. 189 Abs. 2 EWG-Vertrag. 22 Bundesanzeiger vom 16. April 1992, S. 3277. 23 Vgl. Samson/Gustafsson, wistra 1996, 201, 209 f; Michalhe, StV 1993, 262, 265. Dem obigen trägt im Ergebnis die Aufhebung von § 69g AWV durch die 31. V O zur Änderung 18
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Des weiteren hat der Verordnungsgeber das Verbot nach Ziffer 5 a) der UN-Resolution (§ 69g Abs. 1 Nr. 2 AWV), Ziffer 5 b) (§ 69g Abs. 1 Nr. 3 AWV) sowie Ziffer 6 b) (§ 69g Abs. 1 Nr. 4 AWV) transformiert, wobei in bezug auf Ziffer 6 b) ein weiterer Verstoß gegen das Wiederholungsverbot vorliegt, da eine Umsetzung bereits durch Art. 1 Abs. 3 der EWG-Verordnung erfolgt ist. Die Ziffern 4 a), 5 c), 6 a) und 6 c) der UN-Resolution wurden dagegen nicht in den Katalog des § 69g AWV aufgenommen, obwohl dies zumindest mit Blick auf Ziffer 6 c) 24 der Resolution — theoretisch — durchaus möglich gewesen wäre 25 . Daraus folgt aber, daß dem Bundeswirtschaftsminister ein Ermessen eingeräumt wurde (bzw. er ein solches ausgeübt hat), die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Straf(barkeits)androhung des § 34 Abs. 4 AWG im einzelnen festzulegen. Damit wurde einem Exekutivorgan nicht nur die Entscheidung darüber anvertraut, ob die Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen durch eine Regelung in der Außenwirtschaftsverordnung oder — soweit existent — durch Veröffendichung der entsprechenden EWGVerordnung 26 in das deutsche (Straf-) Recht übernommen werden sollen, sondern der Gesetzgeber hat sich auch der Festlegung enthalten, welche Sanktionsmaßnahmen der UN in das Strafrecht transformiert werden. c) Die gesetzgeberische Abstinenz geht aber noch weiter: Voraussetzung der Strafbarkeit wegen eines Embargoverstoßes ist natürlich auch die Deckungsgleichheit von UN-Resolution und Verordnung 27 . Wie auch immer aber die englischsprachige UN-Resolution 748 in ein deutsches Strafgesetz transformiert worden sein mag, kann dies jedenfalls nicht (einfach) durch ihre Ubersetzung durch ein deutsches Exekutivorgan erfolgt sein. Daß dem Exekutivorgan bei der Ubersetzung der englischen Resolution ins Deutsche nämlich strafbegründendes Ermessen zuteil wird, zeigt schon ein flüchtiger Vergleich der Formulierung in § 69g Abs. 1 Nr. 2 AWV 28 („... die Lieferung von Rüstungsmaterial und der A W V vom 14. 12. 1 9 9 3 Rechnung, die § 69g durch den mit Ausnahme von § 69g Abs. 1 Nr. 1 inhaltsgleichen § 691 A W V ersetzt. 2 4 Zu den Vorschriften der Resolution vgl. oben Fn. 16. 2 5 Jedenfalls gibt es keine spezifische Strafnorm, die 2—15 Jahre Freiheitsstrafe demjenigen androhte, der libysche Staatsangehörige, denen i. S. v. Ziffer 6 c der Resolution der Vereinten Nationen von einem anderen Staat die Einreise verweigert worden ist, in die Bundesrepublik einreisen läßt. 2 6 Vgl. BGHSt. 4 1 , 127, 132; BGH NStZ 1995, 550, 551. 2 7 BGHSt. 41, 127. 2 8 Wortgleich § 691 Nr. 1 AWV.
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damit im Zusammenhang stehender Waren aller Art sowie Ersatzteilen, einschließlich des Verkaufs oder der Lieferung von Waffen, Munition, militärischen Fahrzeugen und Ausrüstungsgegenständen hierfür und paramilitärischer Polizeiausrüstung ...") mit der Übersetzung des deutschen Uberset^ungsdienstes der Vereinten Nationen (in der es in Ziffer 5 a heißt: „... jede Bereitstellung von Waffen und Wehrmaterial jeder Art, einschließlich des Verkaufs oder der Weitergabe von Waffen und Munition, Militärfahrzeugen und militärischem Gerät, paramilitärischer Polizeiausrüstung sowie von Ersatzteilen dafür an Libyen durch ihre Staatsangehörigen oder von ihrem Hoheitsgebiet aus wie auch die Bereitstellung aller Arten von Ausrüstung und Versorgungsartikeln ..."). Diese Formulierungen sind bei genauerem Zusehen — in strafrechdich u.U. durchaus belangreichem Umfang - nicht deckungsgleich: „Wehrmaterial jeder Art" etwa ist enger als „Waren", die in Zusammenhang mit der Lieferung von Rüstungsmaterial stehen 29 . Der Hinweis, ein Blick in die UN-Charta könnte (relative) Klarheit verschaffen, würde in diesem Zusammenhang auch nicht verfangen. „Eine amtliche Ubersetzung" 30 (die im vorliegenden Kontext der Strafgesetzgebung doch nur eine solche sein könnte, die vom Parlament gebilligt wurde) ist nicht erfolgt, und auch sonst ist die UN-Resolution im Originaltext in Deutschland nicht allgemein, zumindest nicht, was für Straftatbestände selbstverständlich sein sollte, jederzeit zugänglich 31 . Was sie „bestimmt", ist daher mit Blick auf die Voraussehbarkeit für den Normadressaten unbrauchbar; aus seiner Perspektive bestimmt dann aber ein Exekutivorgan unkontrolliert vom Gesetzgeber Voraussetzungen und Grenzen der Strafbarkeit. Aus alledem folgt ein Verstoß gegen die Gesetzesvorbehalte der Art. 103 Abs. 2 und 104 Abs. 1 GG, die es der vollziehenden und der
2 9 In der Resolution 748 heißt es dazu: „Prohibit any provision to Libya by their nationals or from their territory of arms and related material of all types, including the sale or transfer of weapons and ammunition, military vehicles and equipment, paramilitary police equipment and spare parts for the aforementioned, as well as the provision of any types o f equipment, supplies and grants of licensing arrangements, for the manufacture or maintenance of the aforemendoned."
O L G Düsseldorf NStZ-RR 1998, 154. Wenn das O L G Düsseldorf (NStZ-RR 1998, 154) auf eine jährlich erscheinende Sammlung der Resolutionen des Sicherheitsrats in englischer Sprache verweist, die im Handel erhältlich sei, vergißt es einerseits, die Lieferzeit mitzuteilen, und übersieht andererseits, daß der englische Text dem Normadressaten die Straf-Norm gerade nicht mitteilt — die existiert nur in der Übersetzung! 30 31
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rechtsprechenden Gewalt verwehren, die normativen Voraussetzungen insbesondere für die Verhängung einer Freiheitsstrafe festzulegen 32 . d) Gegen dieses Ergebnis streitet auch nicht der Beschluß des BVerfG vom 21. Juli 1992 3 3 , in dem das Gericht die Regelung des § 34 Abs. 1 Nr. 3 AWG in der Fassung des dritten Änderungsgesetzes vom 29. März 1976 für verfassungsgemäß hält 3 4 · 3 5 . Im Gegenteil, diese Entscheidung spricht angesichts der erheblichen Unterschiede zwischen § 34 Abs. 1 Nr. 3 AWG a.F. und § 34 Abs. 4 des geltenden AWG weitaus mehr für die Annahme, daß die nach § 34 Abs. 4 AWG mögliche Verhängung einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren selbst dann gegen Art. 103 Abs. 2, 104 Abs. 1 G G verstoßen würde, wenn sich aus dem AWG — und sei es auch nur im Wege der Verweisungstechnik — irgendeine Umschreibung eines tatbestandlichen Verhaltens ergeben würde: Schon der Grad der Unbestimmtheit von § 34 Abs. 4 AWG ist mit dem von § 34 Abs. 1 Nr. 3 AWG a.F. nicht vergleichbar, da letztere Vorschrift immerhin auf subsumtionstaugliche gesetzliche Begriffe verwies. Aber selbst wenn beide Normen hinsichdich ihrer Bestimmtheit vergleichbar wären, hätte der Verbrechenstatbestand des § 34 Abs. 4 AWG im Verhältnis zu dem wesentlich milderen Vergehenstatbestand des § 34 Abs. 1 Nr. 3 AWG a.F. einer deudich präziseren Beschreibung der gesetzlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen bedurft; es sei denn, das BVerfG nähme den selbst aufgestellten, einsichtigen Grundsatz, daß die Voraussetzungen der Strafbarkeit um so genauer festzulegen und um so präziser zu bestimmen sind 3 6 , je schwerer die angedrohte Strafe ist, nicht ernst 3 7 . Die Delegation der Strafbarkeitsbestimmung an den Verordnungsgeber läßt sich schließlich auch nicht mit Hinweis auf den Beschluß des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des § 5a AWV i.V. mit der Ausfuhrliste 3 8 in Zweifel ziehen. In diesem Beschluß geht es allein um die Zulässigkeit von Exportbeschränkungen und damit um die Grundrechte aus 3 2 BVerfG NJW 1993, 1909, 1910; BVerfGE 47, 109, 120; 73, 206, 234; 75, 329, 341; 78, 374, 382; 85, 69, 72; 87, 399, 411. 3 3 BVerfG NJW 1993, 1909. 3 4 Α. A. O L G Düsseldorf NStZ-RR 1998, 159. 3 5 § 34 Abs. 1 Nr. 3 AWG a.F. lautete folgendermaßen: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine in § 33 Abs. 1 bezeichnete Handlung begeht und dadurch die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich stört." 3 6 Vgl. BVerfG NJW 1993, 1909. 3 7 Diesen Aspekt ignoriert das O L G Düsseldorf (NStZ-RR 1998, 155) völlig. 3 8 BVerfG NJW 1995, 1537.
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Art. 12 und 14 GG, nicht aber um die Ausfüllung einer Strafvorschrift und die strafrechtsspezifischen, grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 103, 104 GG. e) § 34 Abs. 4 AWG verstößt aber noch aus einem weiteren Grund gegen Art. 103 Abs. 2, 104 Abs. 1 G G : Der Gesetzgeber hat die Bestimmung der strafbarkeitsbegründenden Umstände Sanktionsbeschlüssen der Vereinten Nationen überlassen, ohne daß der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erlassene Rechtsakt vom Bundesgesetzgeber gebilligt worden wäre. Die Vorschriften des AWG bilden erst in Verbindung mit der jeweiligen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen — hier Resolution 748 — einen vollständigen Ermächtigungstatbestand. § 5 AWG sieht vor, daß die Beschränkungen im Außenwirtschaftsverkehr zur Erfüllung zwischenstaatlicher Vereinbarungen, denen die gesetzgebenden Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes zugestimmt haben, erfolgen. Bei der UN-Resolution 748 handelt es sich aber um einen sekundären, von zwischenstaatlichen Organen erlassenen Rechtsakt 39 , der nicht vom Bundesgesetzgeber gebilligt wurde. Die Strafbarkeit nach deutschem Recht wird auf diese Weise von der Entscheidung der Vereinten Nationen, d. h. einer zwischenstaatlichen Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 2 G G 4 0 , abhängig gemacht, der die Bundesrepublik, im Gegensatz etwa zur Europäischen Gemeinschaft, bislang noch keine Hoheitsrechte übertragen hat 41 . Eine Zustimmung des Bundesgesetzgebers zu den konkreten zwischenstaatlichen Vereinbarungen fehlt. Sie kann insbesondere nicht darin gesehen werden, daß die Bundesrepublik Deutschland den Vereinten Nationen beigetreten ist. Daher kann durch die Bezugnahme auf die UN-Resolution kein förmliches Gesetz entstanden sein, das die Voraussetzungen der Strafbarkeit nach § 34 Abs. 4 AWG enthielte.
IV. § 34 Abs. 4 AWG ist materiell verfassungswidrig. Aber damit nicht genug. Auch die von § 34 Abs. 4 AWG (partiell) in Bezug genommenen Vorschriften der AWV halten verfassungsrechtlichen Postulaten — dies39 40 41
Puttier, Die Ermächtigungen des Außenwirtschaftsgesetzes, 1987, S. 49. BVerfG NJW 1994, 2207, 2209; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art 24 Rdn. 17. S. BVerfG NJW 1994, 2207, 2209; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art 24 Rdn. 17.
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mal formell — nicht stand. Auch hier soll § 69g AWV als Beispiel fungieren: 1. Das vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen durch Resolution 748 beschlossene Libyen-Embargo vom 31. März 1992 wurde im deutschen Recht durch Einfügung des § 69g in die Außenwirtschaftsverordnung umgesetzt. In § 69g AWV wird als Ermächtigungsgrundlage für die angeordneten Verbote bestimmter Lieferungen nach Libyen die Resolution 748 (1992) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Kapitel VII der Charta) vom 31. März 1992 und §§ 27 Abs. 1 Satz 1 und 2 i. V. m. § 2 Abs. 1, §§ 5 und 7 Abs. 1 und 3 4 2 des Außenwirtschaftsgesetzes 43 genannt. Dies hält den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Zitiergebotes nicht stand: Gemäß Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG ist in Rechtsverordnungen die „Rechtsgrundlage" anzugeben. „Rechtsgrundlage" meint dabei die die Ermächtigung zum Erlaß einer Rechtsverordnung enthaltende Gesetzesnorm nach Paragraph, Absatz, Satz und Nummer 44 ; hinzuzufügen ist die einschlägige amtliche Fundstelle (ggf. ergänzt um die Fundstelle der letzten Änderung 45 ). a) Die ohne Hinweis auf die Fundstelle erfolgte Nennung der Resolution 748 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 31. März 1992 wird dem nicht gerecht. Eine Nennung der Fundstelle wäre schon deswegen erforderlich, weil eine (amtliche) Veröffentlichung der Resolution der Vereinten Nationen in Deutschland nicht erfolgt ist. Die Resolution ist in der BRD nicht einmal allgemein, d. h. jedermann zu jeder Zeit zugänglich 46 . Eine Resolution 748 in deutscher Sprache gibt es
§ 7 Abs. 3 durch das Gesetz vom 20. Juli 1990 eingefügt, s. BGBl. I S. 1457. In der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 7400 — 1, veröffendichten bereinigten Fassung. 44 Pieroth, in: Jarass/Pierotk, Art. 80 Rdn. 2; Lücke, in: Sachs, Grundgesetz, 1996, Art. 80 Rdn. 29; Sachs, BayVBl. 1987, 210. 45 S. Lücke, in: Sachs, Art. 80 Rdn. 29. 4 6 Eine Beschaffung der Resolution ist im Gegenteil mit erheblichem Aufwand verbunden — beispielsweise dauert sie über die deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen in Bonn mindestens 2 Wochen, und es gibt keine Garantie, daß gerade die gewünschte Resolution vorhanden ist. Die jährlich erscheinende Sammlung der Resolutionen des Sicherheitsrates im Handel erfolgt für den Adressaten der Strafnorm u.U. zu spät, sofern eine Umsetzung bereits zu Beginn des Jahres erfolgt ist; daß das OLG Düsseldorf (NStZ-RR 1998, 154) auf diese „Sammlung" - die allerdings vom Verordnungsgeber nicht zitiert wird — verweist, wirkt eher hilflos. 42
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nicht — die Übersetzung in § 69g AWV verweist lediglich auf die im Original englischsprachige Resolution 47 . Da die wirtschaftliche Sanktionsmaßnahme des Sicherheitsrates konstitutive Bedeutung für die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens hat 48 , ist sie die maßgebliche Rechtsgrundlage im Sinne des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 G G 4 9 . Der Umstand, daß ein Hinweis auf eine (amtliche) Fundstelle der strafbarkeitsbegründenden Resolution nicht erfolgt ist, muß deshalb zur Verfassungswidrigkeit dieser Strafnorm führen. b) In der „Einundzwanzigsten Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung" vom 15. April 1992 fehlt zudem die genaue Angabe der einschlägigen Bestimmung des zwischenstaatlichen Vertrages bzw. supranationalen Rechtsaktes 50 , auf dem die Verordnung basiert: § 69g AWV verweist (neben Vorschriften aus dem AWG) lediglich auf Kapitel VII der UN-Charta. Dieser zwischenstaatliche Vertrag enthält aber in Kapitel VII die Art. 39 — 51, d. h. insgesamt 13 (ganz unterschiedliche) Normen. Rechtsgrundlage für die Verhängung eines Wirtschaftsembargos i. S. v. § 69g AWV ist allein Art. 41 der UN-Charta. Der bloße Verweis auf Art. VII der Charta ist viel zu vage und verstößt daher gegen das von Art. 80 Abs. 1 Satz 3 G G aufgestellte Gebot, die Rechtsgrundlage nicht nur zu nennen, sondern um der Rechtsklarheit willen genau zu zitieren 51 . Die Verletzung des Zitiergebots führt zur Nichtigkeit der Rechtsverordnung 5 2 und damit - mittelbar - zum Wegfall des insoweit durch § 34 Abs. 4 AWG geschaffenen (Straf-)Tatbestandes. 47 Zu den möglichen Abweichungen, die sich durch unterschiedliche Übersetzungen ergeben können, vgl. oben bei Fn. 28. 48 Vgl. Fuhrmann, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechdiche Nebengesetze, 112. Ergänzungslieferung, Außenwirtschaftsgesetz - A 217 - (Stand: März 1996), § 34 AWG Rdn. 24. 49 Vgl. auch BGHSt. 41, 127, 130: „ . . . daß nur der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Kompetenz besitzt, Art und Umfang der zulässigen und gebotenen Embargo-Maßnahmen zu bestimmen, daß derartige Beschlüsse des Sicherheitsrates gem. Art. 41 der UN-Charta konstitutiv sind und strikte Bindungswirkung gegenüber den Mitgliedstaaten entfalten. ... Ein durch die Rechtsverordnung statuiertes Verbot muß daher im strikten Regelungsbezug zu den vom Sicherheitsrat beschlossenen Sanktionsmaßnahmen stehen, insbesondere darf es in seinem Regelungsgehalt nicht über die in dem Beschluß des Sicherheitsrates verhängten Maßnahmen hinausgehen." 50 Vgl. Puttier, Die Ermächügungen des Außenwirtschaftsgesetzes, 1987, S. 50; Ipsen, Außenwirtschaft und Außenpolitik, 1967, S. 23, 24; s. auch Fuhrmann, in: Erbs/Kohlhaas, § 34 AWG Rdn. 24; Bieneck, wistra 1995, 227. 51 Vgl. auch B G H MDR 1977, 474; Putzer (Fn. 50), S. 50; Ipsen (Fn. 50), S. 23, 24. 52 BVerwG NJW 1971, 1626; B G H MDR 1977, 474; V G H Kassel NJW 1981, 779; Maunin: Maun^JDüng/Herzog, Grundgesetz, Stand: Oktober 1996, Art. 80 Rdn. 20; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 80 Rdn. 20; Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 80 Rdn. 17.
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V. Fazit Der Gesetzgeber hat (u. a.) durch das A W G und die AWV den Außenhandel in der dafür üblichen Art und Weise geregelt. E r hat dabei ganz offensichdich übersehen, daß Art. 103 Abs. 2, 104 Abs. 1 G G insbesondere für den Fall der Integration strafrechtlicher Verbrechenstatbestände in das Außenwirtschaftsrecht aus naheliegenden Gründen größere rechtsstaatliche Sensibilität verlangen als dies ζ. B. bei nicht-strafbewehrten Handelsbeschränkungen erforderlich sein mag. D a ß eine Verordnung nicht über einen bis zu 15 Jahre währenden Freiheitsverlust einer Person letzt-entscheiden kann, sollte sich allerdings auch in außenwirtschaftsrechtlichen Zusammenhängen von selbst verstehen. Rechtsstaatliche Gebote müssen auch und gerade dann ernstgenommen werden, wenn sich über die Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit eines Verhaltens leicht Einigkeit erzielen läßt. Der Gesetzgeber, den der hochverehrte Jubilar in vielen Fällen des Kernstrafrechts unter Berufung auf rechtsstaatliche Prinzipien immer wieder zu Recht zu einem Tätigwerden aufgefordert hat 5 3 , ist auch hier in der Pflicht.
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Vgl. nur Hirsch, Festschrift für Tröndle, 1989, S. 39 ff.
Zur Regelung der Heilbehandlung in rechts vergleichender Perspektive* ALBIN ESER
I. Ausgangslage Die Heilbehandlung — als Sammelbegriff für jede Art von medizinischen Maßnahmen, die zum Zwecke der Behebung von Krankheiten, der Gesundheitsverbesserung oder auch nur der Schmerzlinderung mit Auswirkungen im oder am Körper eines Menschen vorgenommen werden — ist in Deutschland bekanntlich nicht in einer besonderen Vorschrift geregelt, und zwar gleichgültig, ob solche Behandlungen durch einen Arzt oder einen medizinischen Laien erfolgen. Demzufolge ist umstritten, ob die Heilbehandlung — gleichsam nach dem Motto „Der Heilzweck salviert auch vom Recht" — grundsätzlich vom Strafrecht auszunehmen ist oder ob — in Mißtrauen gegenüber jeder Art von professionellem Privileg - das Eingreifen in die körperliche Integrität einer anderen Person nicht schon deshalb vom allgemeinen Strafrechtsschutz auszugrenzen ist, weil es durch einen Arzt geschieht. Da weder das exemtorische Extrem zugunsten des Arztes noch das protektionistische Extrem zugunsten des Patienten akzeptabel erscheint, versucht man mittlere Wege zu gehen, deren Verlauf teils von verbrechenssystematischen Vorgaben und teils von bestimmten Rechtsgutsaspekten abhängt. Ohne den Meinungsstand in seinen vielfältigen Nuancierungen hier voll darstellen zu können 1 , sind wenigstens die Hauptpositionen zu markieren, die bei einer etwaigen Neuregelung entscheidungsbedürftig erscheinen: * Zu den Problembereichen, mit denen sich Hans Joachim Hirsch wiederholt befaßt hat, gehört auch der ärztliche Heileingriff (vgl. die Nachweise in den Fn. 1, 5, 9). Daher mögen ihm diese rechtspolitischen Überlegungen zu jüngsten Regulierungsbemühungen zu seinem 70. Geburtstag in freundlicher Verbundenheit gewidmet sein. — Zu danken habe ich für die Erschließung des ausländischen Rechts den jeweiligen Länderreferenten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht sowie insbesondere für die Mitarbeit bei der Sichtung des Materials und der Erstellung eines Entwurfs Rechtsreferendarin Katja Langneff. 1 Vgl. dazu bereits den Überblick von Hirsch, in: LK, 10. Aufl. 1991, Vorbem. 3 - 5 vor § 223, sowie aus neuerer Zeit Eser, in: Schänke/Schröder, Strafgesetzbuch, 25. Aufl. 1997, § 223 Rdn. 2 8 - 5 5 .
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Nach der von der ständigen Rechtsprechung vertretenen Position ist jede ärztliche, die Integrität des Körpers berührende Maßnahme tatbestandlich eine Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB, unabhängig davon, ob der Eingriff erfolgreich oder mißglückt bzw. kunstgerecht oder fehlerhaft ausgeführt wurde; eine Straflosigkeit des einzelnen Arztes ist damit nur auf der Rechtswidrigkeitsebene mittels einer Einwilligung des Patienten zu erreichen 2 . Auch wenn dies möglicherweise nicht von allen Vertretern dieser Auffassung so beabsichtigt ist, läuft sie aufgrund der Unerheblichkeit der gesundheitlichen Auswirkungen und der Kunstgerechtheit des ärzdichen Handelns doch letztlich darauf hinaus, daß nicht das Wohl, sondern der Wille des Patienten zum obersten Prinzip und Schutzgut erhoben wird. Dieser Einseitigkeit versucht die überwiegende Lehre dadurch zu begegnen, daß die Straffreistellung der Heilbehandlung nicht erst durch rechtfertigende Einwilligung des Patienten erreicht wird, sondern bereits durch Ausgrenzungen aus dem Straftatbestand. Dies geschieht auf unterschiedliche Weise und letztlich auch mit unterschiedlichen Folgen für das Schutzgut: Soweit der Tatbestandsausschluß vom Gelingen des Eingriffs abhängig gemacht wird, nämlich davon, ob im Ergebnis das körperliche Wohl des Patienten im ganzen erhöht oder jedenfalls bewahrt worden ist 3 , wird — im Sinne einer „Körper(interessen)theorie" — auf das Wohl des Patienten (unter Vernachlässigung seines Willens) das Hauptgewicht gelegt. Soweit hingegen maßgeblich auf die Kunstgerechtheit des ärztlichen Handelns abgehoben wird 4 , treten sowohl das Wohl als auch der Wille des Patienten hinter das Vertrauen auf die ärztliche Professionalität zurück, mit der Folge, daß der Individualschutz durch gesellschaftliche Inter-
2 So bereits das RG seit RGSt 25 (1894), 375 bis hin zu BGH NStZ 1996, 34 mit Anm. Ulsenheimer.; NStZ 1996, 132 f. Auch in der Rechtslehre hat diese Auffassung vereinzelt Anhängerschaft gefunden, wie namendich bei Ar^t/Weber, Strafrecht, Besonderer Teil, LH 1 , 3 . Aufl. 1988, Rdn. 320; Schwalm, Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 539, 547; im Ergebnis ähnlich Horn, in: SK StGB, § 223 Rdn. 33 ff; Krey, Strafrecht Besonderer Teil I, 10. Aufl. 1996, Rdn. 219 ff, sowie im Ergebnis auch Cramer; Festschrift für Lenckner, 1998, S. 761, 776 ff. 3 Vgl. z. B. Bockelmann, Strafrecht des Arztes, 1968, S. 67 ff; Harding, GA 1965, 161; Arthur Kaufmann, ZStW 73 (1961), 341, 372 f; H. Mayer, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1953, S. 170. Im gleichen Sinne Hirsch (vgl. die Nachw. in Fn. 5). 4 So insbesondere Engisch, ZStW 58 (1939), 1, 5 ff; Eh. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht, 1939, S. 69 ff; Weisel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 289.
Zur Regelung der Heilbehandlung in rechtsvergleichender Perspektive
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essen (wie die Integrität des Ar^testandes) ergänzt, wenn nicht sogar überlagert wird5. Gewiß gibt es noch sonstige Meinungsvarianten6 und auch weiter differenzierende Wege, wie etwa der eigene7; diese mögen jedoch hier ebenso dahingestellt bleiben wie eine nähere Auseinandersetzung mit dem gesamten Meinungsstand8. Denn was in dieser Ausgangsbeschreibung zu zeigen war, sollte bereits deutlich geworden sein, nämlich daß der Mangel einer besonderen gesetzlichen Regelung für die Heilbehandlung nicht nur Rechtsunsicherheit zur Folge hat, sondern auch Wertentscheidungen über unterschiedlich weitgehende Schutz- und Freistellungskonzepte der Rechtsprechung überlassen bleiben. Da dies alles andere als ein guter Zustand ist, war es zu begrüßen, daß im Zusammenhang mit den verschiedenen Reformbemühungen in diesem Jahrhundert auch immer wieder Versuche zu einer gesetzlichen Regelung des ärztlichen Heileingriffs unternommen wurden 9 , ohne daß s Den Blick für diese Einschätzung aus der Bürgerperspektive darf man sich auch nicht dadurch trüben lassen, daß es aus dogmatischer Sicht bei Kunstgerechtheit eines gelungenen Eingriffs bereits am Erfolgsunwert und beim Mißlingen eines kunstgerechten Eingriffs jedenfalls am Handlungsunwert fehle bzw. ersterenfalls bereits der objektive und letzterenfalls der subjektive Tatbestand zu verneinen sei (vgl. Hirsch, Recht in Ost und West. Festschrift zum 30-jährigen Jubiläum des Instituts für Rechtsvergleichung der Waseda Universität, Tokio 1988, S. 853, insbes. 862 ff, sowie bereits ders., in: LK, Vorbem. 3 ff vor § 223); denn diese verbrechenssystematische Einordnung ist nicht möglich, ohne zuvor den Patientenwillen aus dem Erfolgswert ausgeklammert bzw. die ärztliche Sorgfalt und damit das professionelle Element zu einem maßstäblichen Wert erhoben zu haben. 6 Vgl. den Uberblick bei Hirsch, in: LK, Vorbem. 3 f vor § 223, sowie bei Horn, in: SK StGB, § 223 Rdn. 31 ff. 7 Nämlich durch Differenzierung zwischen gelungenen Heilmaßnahmen ohne wesentlichen Substanzverlust, wo Körperverletzung auch ohne Einverständnis bereits tatbestandlich ausgeschlossen ist, einerseits und wesentlichen Substanzveränderungen und gesundheitsverschlechternden Eingriffen, bei denen nur unter weiteren Voraussetzungen — einschließlich der Einwilligung des Betroffenen — Körperverletzung entfällt, andererseits; zur näheren Begründung vgl. Eser, in: Schänke/Schröder, § 223 Rdn. 32 ff. 8 Lediglich in einem Punkt mag im Hinblick auf meine vorangehende Differenzierung (Fn. 7) eine Klarstellung gegenüber dem Jubilar erlaubt sein: Wenn er zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und dem Körperwohl ein „Tertium" für nicht gegeben erklärt (Hirsch, in: LK, Vorbem. 4 vor § 223), so dürfte er verkennen, daß Eingriffe, die zu wesentlichen Substanz- oder Funktionsverlusten oder ähnlich gravierenden Persönlichkeitsveränderungen führen können, selbst dann, wenn sie zu seinem „Wohle" sein mögen, nicht ohne seinen „Willen" vorgenommen werden dürfen, falls der Mensch Herr seiner inneren und äußeren Person und Gestalt bleiben soll. — Im übrigen vgl. zu den zu berücksichtigenden Schutzaspekten und den Auswirkungen auf das Tatbestandsverständnis auch Eser, ZStW 97 (1985), 1, insbes. 3 ff. 9 Vgl. § 279 des E 1911; § 313 des E 1919; § 235 des Radbruch-E 1922; § 238 des E 1925; §§ 263, 281 des E 1927/1930; §§ 286, 299 des E 1933; §§ 419, 431 des E 1936; §§ 419, 431 des E 1939; §§ 161, 162 des E 1962 und § 123 des AE-BT 1970. Im übrigen
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diese jedoch zum Erfolg geführt hätten 10 . Um so mehr mußte es überraschen, daß mit dem Entwurf eines 6. Strafrechtsreformgesetzes, der vom Bundesministerium der Justiz im Jahr 1996 zur Diskussion gestellt wurde, ein neuer Anstoß zu einer gesetzlichen Regelung der Heilbehandlung unternommen wurde (§§ 229, 230 BMJE-StGB 1 1 ). Auch wenn dieser Anlauf einmal mehr ins Stocken kam, indem dieser Regelungskomplex im Interesse einer raschen Verabschiedung der übrigen
wurde auch von Hirsch ein Regelungsvorschlag vorgelegt, wobei er im Sinne sowohl des E 1962 als auch des AE offenbar davon ausging, daß die gelungene und kunstgerechte Heilbehandlung ohnehin aus dem Körperverletzungstatbestand ausgegrenzt und nur noch die eigenmächtige Heilbehandlung als Freiheitsdelikt strafbar sei, so daß es ihm vor allem um eine Klärung der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für Sterilisation und Organspende ging; Hirsch, ZStW 83 (1971), 140, insbes. 165, 174 f. 10 (5b sich dieses Scheitern allerdings mit Hinweis auf den raschen Wechsel der politischen Systeme in Deutschland ausreichend erklären läßt, wie von Schroeder (Besondere Strafvorschriften gegen Eigenmächtige und Fehlerhafte Heilbehandlung?, 1998, S. 11) vermutet, erscheint zweifelhaft. " Diese Vorschriften des BMJE-StGB haben folgenden Wordaut: § 229 Eigenmächtige Heilbehandlung (1) Wer ohne wirksame Einwilligung bei einer anderen Person einen körperlichen Eingriff oder eine andere deren körperliche Integrität oder deren Gesundheitszustand nicht nur unwesentlich beeinflussende Behandlung vornimmt, um bei ihr oder ihrer Leibesfrucht vorhandene oder künftige körperliche oder seelische Krankheiten, Schäden, Leiden, Beschwerden oder Störungen zu erkennen, zu heilen, zu lindern oder ihnen vorzubeugen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. § 226 gilt sinngemäß. (2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn die Behandlung 1. der Erprobung einer neuen Behandlungsmethode dient, ohne daß dies im Interesse der behandelten Person oder ihrer Leibesfrucht geboten ist, oder 2. unter Abwägung des mit ihr verfolgten Zwecks und einer mit ihr für die behandelte Person verbundenen Gefährdung nicht verantwortet werden kann. (3) Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, daß 1. sie unter den in Absatz 2 Satz 2 genannten Voraussetzungen begangen ist oder 2. die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält. Stirbt die verletzte Person, so geht das Antragsrecht nach § 77 Abs. 2 auf die Angehörigen über. § 230 Fehlerhafte Heilbehandlung (1) Wer fahrlässig durch einen Behandlungsfehler eine andere Person im Rahmen einer den in § 229 Abs. 1 Satz 1 bezeichneten Zwecken dienenden Behandlung an ihrer Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) § 229 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 gilt entsprechend.
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Teile des 6. Strafrechtsreformgesetzes wieder abgekoppelt wurde 12 , ist damit die Reformdiskussion erneut in Gang gekommen 13 . Da es sich dabei um ein Regelungsproblem handelt, das sich praktisch in jeder Rechtsordnung stellt, erscheint es zur Erweiterung des Beurteilungshorizonts angebracht, auch die Erfahrungen anderer Länder einzubeziehen. Deshalb soll der Entwurf nachfolgend in rechtsvergleichender Perspektive beleuchtet werden, wobei freilich — nicht zuletzt aus Zeit- und Raumgründen — eine Beschränkung auf zugängliche europäische Rechtsordnungen geboten war. Zuvor erscheint jedoch noch eine Offenlegung des rechtspolitischen Vorverständnisses angebracht. Wie bereits an anderer Stelle dargetan, geht es bei der rechtlichen Erfassung medizinischer Behandlungsmaßnahmen um einen optimalen Ausgleich zwischen den Interessen des Patienten an Wahrung seiner Gesundheit und Achtung seiner Selbstbestimmung einerseits und dem Interesse des Arztes an einer von strafrechtlichem Risiko freien Berufstätigkeit andererseits, wobei nicht zuletzt auch darauf zu achten ist, daß ärztliches Handeln als tendenziell auf das Wohl des Patienten ausgerichtet nicht pauschal mit nicht-altruistischen Mißhandlungen und Gesundheitsbeschädigungen auf dieselbe Wertungsstufe gestellt wird 14 . Demzufolge hat einerseits der Patient ein legitimes Interesse am Schutz seines Willens gegen ärzdiche Eigenmacht und am Schutz seines körperlichen Wohles gegen ärztliche Behandlungsfehler. Andererseits darf der Arzt erwarten, daß alles, was über diese Schutzinteressen des Patienten hinausgeht, straffrei bleibt. Diesen rechtspolitischen Vorgaben scheint der BMJE zu entsprechen, indem er nur noch Straftatbestände für „eigenmächtige Heilbehandlung" (§ 229) und „fehlerhafte Heilbehandlung" (§ 230) vorsieht. Inwieweit diese begrüßenswerte Selbstbeschränkung auch in der Einzelgestaltung gelungen ist, soll einem abschließenden Resümee vorbehalten bleiben (VII.). Zuvor jedoch sei der bereits angekündigte Blick über die Grenzen geworfen, wobei es zunächst um die Frage nach etwaigen Sondertatbeständen für Heilbehandlung geht (II.), um sodann speziell nach dem Schutz vor eigenmächtiger (III.) und fehlerhafter (IV.) Heilbehandlung
1 2 Vgl. BT-Drs. 13/7164. Im übrigen ist das 6. Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 1998, S. 164) am 1. April 1998 in Kraft getreten. 1 3 Wie die bereits genannten Arbeiten von Cramer (Fn. 2) und Schroeder (Fn. 10) zeigen; vgl. auch den Bericht über die Stellungnahme eines Arbeitskreises von Strafrechtslehrern von Freund, ZStW 109 (1997), 455, insbes. 475 ff, sowie Katynmeier, ZRP 1997, 156. 1 4 Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, § 223 Rdn. 31, sowie ders., ZStW 97 (1985), 3 ff.
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sowie nach möglichen allgemeinen Einschränkungen strafrechtlicher Verantwortlichkeit von Medizinern (V.) bzw. nach etwaigen sektoralen Regelungsbedürfnissen (VI.) zu fragen. II. Sondertatbestände für Heilbehandlung Als erstes erscheint die Frage angebracht, inwieweit es in anderen europäischen Ländern für medizinisches Handeln überhaupt Sondervorschriften gibt bzw. inwieweit man auch dort - ähnlich wie im deutschen Recht — mit allgemeinen Körperverletzungstatbeständen auszukommen und möglichen Sonderbedürfnissen bei ärztlichem Handeln durch die Rechtsprechung Rechnung zu tragen versucht. Es ist festzustellen, daß letzteres die Regel ist, während sich Sonderregeln nur in wenigen europäischen Ländern finden.
1. Rechtsordnungen mit besonderen Straftatbeständen für Heilbehandlung Diesen Weg ist bisher wohl am weitesten der portugiesische Codigo Penal 15 gegangen, indem nach seinem Art. 150 „die nach dem Stand der Erkenntnisse und Erfahrung der Medizin angezeigten und in Übereinstimmung mit den leges artis vorgenommenen Heilbehandlungen durch einen Arzt oder eine andere autorisierte Person nicht als Körperverletzungen angesehen (werden)" 16 . Diese ausdrückliche Exemtion „medizinisch-chirurgischer Eingriffe und Behandlungen" aus dem allgemeinen Körperverletzungstatbestand bedeutet jedoch nicht, daß der Patient völlig schutzlos gestellt wäre; denn zum einen sind die in Art. 150 genannten Eingriffe oder Behandlungen, wenn sie ohne Einwilligung des Patienten vorgenommen werden, durch Art. 156 gesondert unter Strafe gestellt 17 , und zum anderen bleibt im Falle einer (gesundheitsverschlechternden) Heilbehandlung diese als fahrlässige Körperverletzung nach Art. 148 port. StGB strafbar, wobei jedoch von Strafe abgesehen werden kann, wenn die ärztliche Handlung eine Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit von nicht mehr als acht Tagen zur Folge hat (Art. 148 Abs. 2 a port. StGB). 1 5 Port.StGB vom 23. 9. 1982 in der Fassung der neuen Bekanntmachung vom 15. 3. 1995. 1 6 Eine ähnliche Vorschrift findet sich auch in § 161 des E 1962. 1 7 Wobei es vom Einwilligungserfordernis ausdrückliche Ausnahmen gibt, wie vor allem bei einer Lebens- oder schweren Gesundheitsgefahr im Falle eines Aufschubs bzw. wenn zur Abwendung solcher Gefahren eine mit Einwilligung begonnene Behandlung auszuweiten oder zu modifizieren ist (Art. 156 Abs. 2 port. StGB).
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Auch in Osterreich wird die „eigenmächtige Heilbehandlung" in § 110 ö. StGB von 1974 gesondert unter Strafe gestellt, ohne daß allerdings wie in Portugal die Heilbehandlung insgesamt ausdrücklich von den allgemeinen Körperverletzungstatbeständen ausgenommen wäre. Gleichwohl gelten die allgemeinen Körperverletzungstatbestände insoweit als ausgeschlossen, als es sich um eine Behandlung „nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft" handelt18, wobei der Behandelnde nicht einmal Arzt zu sein braucht19. Vielmehr spielt die berufliche Qualifikation als Arzt erst dann eine Rolle, wenn es sich um eine „fehlerhafte" Heilbehandlung handelt, die durch den allgemeinen Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung (§ 88 ö. StGB) strafbar bleibt, aber selbst dies bei ärztlicher Berufsausübung nur für den Fall eines „schweren Verschuldens" (§ 88 Abs. 2 Nr. 2 ö. StGB). Sieht man von diesem etwas stärkeren ärztlichen Privilegierungsaspekt20 einmal ab, so geht es auch in Österreich — ähnlich wie bereits in Portugal — nicht um Schutz der körperlichen Integrität als solcher, sondern lediglich um den des Selbstbestimmungsrechts im Sinne einer freien Entscheidung über die Vornahme bzw. Zulassung einer Behandlung 21 . 2. Rechtsordnungen ohne tatbestandliche Ausgrenzungen Zwar gibt es auch in einigen anderen Ländern noch gewisse Sondervorschriften für ärztliche Behandlung, wie beispielsweise im dänischen Ärztegesetz über die Aufklärung und Einwilligung des Patienten (§ 6 Abs. 3) sowie zur Strafbarkeit des Arztes bei Verletzung seiner Pflichten (§ 18); auch die besondere slowenische Regelung für fehlerhafte Heilbehandlung wäre hier zu erwähnen 22 . Aber ganz abgesehen davon, daß dabei das jeweilige Verhältnis zu den allgemeinen Körperverletzungstatbeständen unklar ist, wird auch in diesen Ländern die Heilbehandlung jedenfalls nicht in Form eines Sondertatbestandes aus den allgemeinen Körperverletzungstatbeständen ausgegrenzt. 1 8 Trotz weitgehender Einigkeit in diesem Ergebnis hätte sich aber bei ausdrücklicher Ausgrenzung aus dem Körperverletzungstatbestand sicherlich mancher Theorienstreit erübrigt; vgl. dazu Schmoller.; in: Triff lerer (Hrsg.), StGB-Kommentar (Stand: Juli 1997), § 110 Rdn. 5, 7. 1 9 Vgl. Schmoller (Fn. 18), § 110 Rdn. 21. 2 0 So besonders betont von Zipf Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 577, 578. 21 Kienapfel, Grundriß des österreichischen Strafrechts. Besonderer Teil I, Delikte gegen Personenwerte, 4. Aufl. 1997, § 1 1 0 Rdn. 3; aber auch Schmoller (Fn. 18), § 1 1 0 Rdn. 12. 2 2 Vgl. unten zu IV.
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Soweit ersichtlich, besteht daher — abgesehen von den in der vorangehenden Position genannten Ländern - in den übrigen europäischen Rechtsordnungen ähnlich wie in Deutschland keine Einigkeit darüber, ob und inwieweit es bei einer ärztlichen Heilbehandlung bereits an der Tatbestandsmäßigkeit einer Körperverletzung fehlt bzw. ob eine solche tatbestandlich gegeben ist und daher eines besonderen Ausschlusses, wie insbesondere durch vorherige Einwilligung des Patienten, bedarf. Innerhalb dieser Länder lassen sich jedoch ihrerseits gewisse Gruppierungen unterscheiden: Sowohl die englische als auch die französische, die italienische, die norwegische., die schwedische und die slowenische Jurisprudenz gehen im Falle eines ärztlichen Heileingriffs grundsätzlich vom Vorliegen einer tatbestandlichen Körperverletzung aus. Dennoch soll in den meisten Fällen keine strafbare Körperverletzung vorliegen, da der Heileingriff entweder durch eine tatsächlich vorhandene Einwilligung oder aber zumindest durch eine mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt ist. Einen etwas anderen Weg verfolgt Frankreich, wo man die körperliche Unversehrtheit ebenso wie das menschliche Leben für unverfügbar hält 23 und als Rechtfertigungsgrund nur die autorisation de la loi, wie sie in Art. 122—4 Abs. 1 franz. StGB explizit normiert ist, in Betracht kommt. Damit wird die (wirksame) Einwilligung in die Behandlung weder als Rechtfertigungsgrund im eigentlichen Sinne angesehen 24 , noch scheint sie eine notwendige Bedingung der Straflosigkeit zu sein. Somit steht in Frankreich offenbar der ordre public bzw. ein objektiviertes Heilungsinteresse gegenüber dem Willen des Patienten im Vordergrund. Auch im slowenischen Strafrecht ist die rechtfertigende Wirkung der Einwilligung in diesem Zusammenhang nicht bekannt. Vielmehr wird ein eigenständiger Rechtfertigungsgrund traditionellerweise im Handeln nach den Regeln der ärztlichen Kunst (den „Regeln der ärztlichen Wissenschaft und des Ärztefachs") gesehen. Von diesem Terminus werden nach slowenischer Auffassung allerdings nur die „technischen Regeln" umfaßt, mit der Folge, daß das Einholen der Einwilligung des Patienten nicht hierunter fällt. Konsequenterweise stellt damit der eigenmächtige Heileingriff, soweit er unter Einhaltung der „technisch" verstandenen Regeln erfolgt, nach slowenischem Recht keine Straftat dar. Andererseits ist aber die Einwilligung eines Patienten auch nicht in der Lage, die
2 3 Vgl. Doucet, La protection pénale de la personne humaine, Band 1, 2. Aufl. 1993, Rdn. 64. 2 4 Vgl. auch Stefani/Levassent, Droit pénal général, 15. Aufl. 1995, Rdn. 409.
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Rechtswidrigkeit eines nicht den „technischen Regeln" folgenden Eingriffs zu beseitigen. In einer anderen Ländergruppe hingegen wird versucht, die mit einer besonderen Rechtfertigung durch Einwilligung verbundenen Probleme dadurch zu umgehen, daß im Wege der Auslegung der ärztliche Heileingriff aus dem Tatbestand der Körperverletzung ausgegrenzt wird. So soll nach der herrschenden Auffassung in Finnland und Dänemark bei einem eigenmächtigen, aber erfolgreichen Heileingriff in die körperliche Integrität der Tatbestand der Körperverletzung nicht erfüllt sein, da die Annahme einer Körperverletzung mit der Grundvorstellung vom ärztlichen Handeln unvereinbar sei 25 . Auch von der herrschenden Meinung in Spanien wird im Falle eines einverständlichen Heileingriffs die Tatbestandsmäßigkeit einer Körperverletzung verneint 26 . Diesen Punkt zusammenfassend, spricht schon allein der theoriebeladene Begründungsaufwand, der erforderlich ist, um den Besonderheiten der Heilbehandlung in ausgewogener Weise Rechnung zu tragen, für eine klarstellende Sonderregelung, zumal für die dabei zu treffenden Wertentscheidungen der Gesetzgeber die Verantwortung zu übernehmen hat. III. Schutz vor eigenmächtiger Heilbehandlung Nachdem gegenüber einem Sondertatbestand für „eigenmächtige Heilbehandlung" neuerdings in Frage gestellt wurde, ob ein derartiger isolierter Schutz des Selbstbestimmungsrechts nur gegen Heileingriffe überhaupt legitim bzw. ob dies nur im Rahmen eines umfassenderen Selbstbestimmungsschutzes berechtigt sei 27 , erscheint es aufschlußreich zu erfahren, ob und inwieweit in anderen europäischen Ländern das eigenmächtige Handeln des Arztes unter Strafe gestellt wird 28 . Dazu Vgl. Uhti, in: Westerhäll/Phillips (Hrsg.), Patient's Rights, 1994, S. 207, 213. Vgl. Tamarit Sutnalla, in: Quinten Olivares u. a., Comentarios a la Parte Especial del Derecho Penal, 1996, Art. 155 Anm. 2, sowie Suare^ Gon^ale^ in: Rodrigue^ Mourullo/Jorge Barreiro (Hrsg.), Comentarios al Codigo Penal, 1996, Art. 155 Anm. 1. Vgl. hinsichtlich der Zustimmung des Patienten allerdings auch unten zu Fn. 36. 2 7 So offenbar der Arbeitskreis von Strafrechtslehrern in seiner Würdigung des BMJE-StGB; vgl. Fremd, Z S t W 109 (1997), 476. 2 8 Wen — wie offenbar manche Ärzte — der Terminus „eigenmächtig" stört, weil damit den Ärzten ein ihnen völlig fernliegendes „Machtstreben" gegenüber dem Patienten unterstellt werde, dem könnte ohne wesendiche inhaldiche Einbußen auch durch die Bezeichnung als „ungewollte" oder „unerbetene" Heilbehandlung entgegengekommen werden; vgl. dazu bereits Schroeder (Fn. 10), S. 23. 25 26
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ergibt sich — bei weitgehender Einigkeit in grundsätzlicher Anerkennung eines Schutzbedürfnisses — ein recht variantenreiches Bild. Dazu einige Beispiele: In Osterreich wird allein auf die Eigenmächtigkeit des Arztes, d. h. auf sein Handeln ohne Einwilligung des Patienten, abgestellt; ob der Eingriff lege artis oder erfolgreich durchgeführt wurde, ist dabei ohne Belang 29 . Ebenso verhält es sich in Portugal. In Dänemark ergibt sich das Erfordernis einer Einwilligung des Patienten aus § 6 Abs. 3 des Ärztegesetzes 31 . Nur bei akuter Lebensgefahr oder im Falle der Bewußtlosigkeit reicht eine mutmaßliche Einwilligung aus 32 . Nimmt der Arzt gegen den Willen des Patienten eine Heilbehandlung vor, so kann diese als ärztlicher Fehler nach § 18 des Arztegesetzes mit Geldstrafe oder Haft geahndet werden. Daneben kommt eine Strafbarkeit wegen Nötigung (§ 260 dän. StGB) oder wegen Nachlässigkeit im öffentlichen Dienst (§ 157 dän. StGB) in Betracht. Auch in Polen ist die Einwilligung des Betroffenen die Grundvoraussetzung für die Legalität des ärztlichen Handelns 33 . Verlangt wird sie expressis verbis freilich nur für die Durchführung einer Operation 34 . Bei anderen, nichtoperativen Eingriffen wird das Erfordernis der Einwilligung aus dem verfassungsrechtlich verankerten Recht eines jeden Menschen auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit abgeleitet 35 . Ein eigenmächtig und lege artis durchgeführter Heileingriff des Arztes wird allerdings im polnischen Strafrecht nicht als Körperverletzung, sondern ausschließlich als eine Verletzung der Freiheit des Patienten (nämlich als Freiheitsberaubung nach Art. 165 § 1 oder als Nötigung nach Art. 167 § 1 poln. StGB) bestraft. Gleichwohl wird in Polen zunehmend Kritik an dieser Rechtslage laut, um statt dessen einen eigenständigen Straftatbestand der „eigenmächtigen Heilbehandlung" ähnlich der österreichischen Regelung zu fordern. Da in Spanien nach herrschender Meinung ein Heileingriff keine tatbestandliche Körperverletzung darstellt, kommt bei Eigenmächtigkeit des Kienapfel (Fn. 21), § 110 Rdn. 9 f. Art. 156 port. StGB. Vgl. dazu auch oben II.l. 31 Laegeloven in der Fassung der Bekanntmachung lovbekendtgorelse nr. 632 vom 20. 7. 1995. 32 § 12 des Runderlasses der Gesundheitsverwaltung vom 22. 9. 1992. 33 Vgl. Zoll, Odpowiedzialnosc karna lekarza za niepowodzenie w leczeniu (Strafrechtliche Verantwortung des Arztes für das Mißlingen der Heilbehandlung), Warschau 1988, S. 16 ff; Rejman, Odpowiedzialnosc karna lekarza (Strafrechtliche Verantwortung des Arztes), Warschau 1991, S. 51 ff. 34 Vgl. insbesondere Art. 17 des Gesetzes über den Arzteberuf von 1950. 35 Vgl. Zoll (Fn. 33), S. 17. 29
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Arztes eine tatbestandsmäßige Nötigung in Betracht36. Diese kann allerdings gegebenenfalls durch Notstand (Art. 20 Nr. 5 span. StGB) oder durch die rechtmäßige Ausübung eines Berufs (Art. 20 Nr. 7 span. StGB) gerechtfertigt und damit straflos sein. Frankreich und Slowenien hingegen, wo zwar bei jedem ärztlichen Heileingriff der Tatbestand der Körperverletzung als erfüllt angesehen wird, versagen der Einwilligung die Anerkennung als Rechtfertigungsgrund. So kommt es in Frankreich ausschließlich auf ein objektiviertes Heilungsinteresse bzw. in Slowenien auf die Einhaltung der Regeln der ärztlichen Kunst im „technischen Sinne" an 37 . Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß eigenmächtiges Handeln des Arztes in der Mehrzahl der europäischen Staaten unter Strafe gestellt ist. Divergenzen finden sich jedoch hinsichtlich der dafür in Betracht kommenden Straftatbestände. Während in Rechtsordnungen ohne — ausdrückliche oder interpretative — Ausgrenzung der Heilbehandlung aus dem Körperverletzungstatbestand dieser konsequenterweise auch bei gelungener und kunstgerechter, aber eigenmächtiger Heilbehandlung zur Anwendung kommen kann 38 , werden in anderen Ländern Freiheitsdelikte (wie Nötigung und Freiheitsberaubung) herangezogen 39 . Auf dieser Linie liegen auch die selbständigen Regelungen der eigenmächtigen Heilbehandlung in Osterreich und Portugal. Der Grundgedanke dieser Auffassung besteht darin, daß der einen Heileingriff vornehmende Arzt — auch wenn er ohne Zustimmung des Patienten handelt — nicht in das Lebensrecht bzw. das Recht auf Gesundheit des Betroffenen eingreift, sondern im Gegenteil diese zu retten bzw. zu schützen versucht. Deshalb widerstrebt es, einen medizinisch indizierten, lege artis durchgeführten und die Gesundheit verbessernden Heileingriff als Körperverletzung einzuordnen. Darauf wird noch zurückzukommen sein. IV. Schutzbedürfnis gegenüber fehlerhafter Behandlung Diese Frage ist von vornherein nur bei solchen Ländern ein besonderes Problem, wo die Heilbehandlung in gewisser Weise von den allgeRomeo Casabona, El médico y el derecho penal I, 1981, S. 288; Jorge Barreiro, La relevancia jurídico-penal del consentimiento del paciente en el tratamiento médico-quirúrgico, in: Cuadernos de política criminal Nr. 16 (1982), S. 17. 3 7 Vgl. hierzu oben 11.2. 3 8 So in Deutschland, Belgien, England, Italien, Norwegen, Schweden und Slowenien. 3 9 So in Dänemark, Polen und Spanien. 36
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meinen Tötungs- und Körperverletzungstatbeständen ausgenommen ist. Sind diese nämlich ohne jede Abstriche auch auf medizinische Maßnahmen anzuwenden, so kommen sie bei jeder Art von fehlerhaftem Verhalten — sei es wegen mangelnder Indikadon, kunstfehlerhafter Durchführung oder auch etwaiger Einwilligungsmängel — zum Zuge, ohne daß es eines besonderen Tatbestandes für „fehlerhafte Heilbehandlung", wie er in § 230 BMJE-StGB vorgeschlagen wird, bedürfte. Das bedeutet, daß irgendwelche Sonderregeln für „fehlerhafte Heilbehandlung" von vornherein nur dort veranlaßt sind, wo aufgrund von Einschränkungen der allgemeinen Tötungs- und Körperverletzungstatbestände Lücken zu schließen sind oder Privilegierungen bzw. Qualifizierungen für fehlerhaftes medizinisches Handeln angebracht erscheinen. Deshalb wird auch die offenbar vor allem in der Ärzteschaft verkannte, weil als Verschärfung mißverstandene Einführung eines besonderen Tatbestandes für „fehlerhafte Heilbehandlung" in § 230 BMJEStGB in ihrer eigenen Bedeutung erst dann verständlich, wenn man sich klar macht, daß neben der grundsätzlich auf vorsätzliche Eigenmacht beschränkten Strafbarkeit jedenfalls auch noch die fahrlässig fehlerhafte Heilbehandlung (§ 230 BMJE-StGB) strafbar bleiben soll, während beispielsweise fahrlässige Einwilligungsmängel demnach ungeahndet blieben 40 . Behält man also das ohnehin fragliche Regelungsbedürfnis im Sinne von Lückenschließung und/oder Modifizierung gegenüber den allgemeinen Schutztatbeständen im Auge, so kann schwerlich überraschen, daß in anderen europäischen Ländern ein eigenständiger Tatbestand für „fehlerhafte Heilbehandlung" kaum zu finden ist. Eine Ausnahme hiervon macht, soweit ersichtlich, offenbar nur Slowenien mit einem dem deutschen Entwurf sehr nahekommenden Tatbestand für „Fahrlässige Heilbehandlung" (Art. 190 slow. StGB). Dieser Mangel an eigenständigen Sondertatbeständen bedeutet aber nicht, daß nicht doch gewisse Modifizierungen der allgemeinen Fahrlässigkeitstatbestände im Hinblick auf fehlerhaftes ärztliches Verhalten vorzufinden wären. Das gilt namentlich für Osterreich und Portugal,, wo die fehlerhafte Heilbehandlung an sich unter den allgemeinen Tatbestand 4 0 In diesem Sinne wird auch die Begründung zum BMJE-StGB, S. 92, 141 f, zu verstehen sein. Eine ganz andere Frage ist, ob diese Konstruktion, die offensichtlich sogar den Arbeitskreis von Strafrechtslehrern etwas rados gelassen hat (vgl. Freund, ZStW 109 [1997], 477), auch gesetzestechnisch als geglückt zu bezeichnen ist. Diese Frage stellt sich auch hinsichdich der offenbar ebenfalls beabsichtigten Beschränkung der „fehlerhaften Heilbehandlung" auf gesundheitsschädliche Folgen (unter Ausschluß „folgenloser" Behandlung; vgl. unten zu Fn. 49). Vgl. auch die kritischen Anfragen von Schroeder (Fn. 10), S. 38 f.
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der fahrlässigen Körperverletzung fällt (§ 88 ö. StGB bzw. Art. 148 port. StGB), jedoch für bestimmte Fälle ein Absehen von Strafe vorgesehen ist: so in Portugal für den Fall, daß die fehlerhafte Behandlung eine Erkrankung oder Arbeitsunfähigkeit von nicht mehr als acht Tagen zur Folge hat (§ 148 Abs. 2 a port. StGB). Und noch mehr kommt Österreich den Ärzten entgegen, indem ein gesundheitlicher Ausfall bis zu 14 Tagen als tolerabel angesehen wird und die Strafbarkeit sogar ganz entfällt, wenn den Arzt kein „schweres Verschulden" trifft (§ 88 Abs. 2 Nr. 2 ö. StGB 4 1 ). Umgekehrt besteht in strafschärfender Richtung in den Niederlanden die Möglichkeit, im Falle einer fahrlässigen Körperverletzung die Strafe zu erhöhen, wenn diese in Ausübung eines Amtes oder Berufes begangen wurde (Art. 309 nl. StGB). Eine ähnliche Verschärfung sieht das spanische Strafrecht vor, das drei verschiedene Arten der Fahrlässigkeit, die leichte {leve), die schwere (grave) und die berufliche {profesional) kennt, wobei letztere sowohl das Ausführen einer gefahrlichen Tätigkeit ohne die entsprechende Vorbereitung als auch die unangebrachte Anwendung von Fertigkeiten und Kenntnissen aufgrund fehlender Sorgfalt umfaßt, die von einer durchschnittlichen Person in diesem Beruf verlangt werden kann 42 . Diese Strafverschärfung kann sowohl bei fahrlässiger Tötung (Art. 142 Abs. 3 span. StGB) als auch bei fahrlässiger Körperverletzung (Art. 152 Abs. 3 span. StGB) zum Zuge kommen. Im übrigen können sich Einschränkungen bei fehlerhafter Heilbehandlung gegenüber den allgemeinen Körperverletzungstatbeständen auch dahingehend ergeben, daß für Tatbestandserfüllung nicht schon jede körperliche Beeinträchtigung genügt, sondern eine „Gesundheitsbeschädigung" (wie nach § 230 BMJE-StGB) 4 3 oder eine „spürbare Gesundheitsverschlechterung" (wie in Art. 190 slow. StGB) verlangt wird 44 . V. Allgemeine Einschränkungen strafrechtlicher Verantwortlichkeit Wie vorangehend bereits verschiedentlich angeklungen, sind Begrenzungen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im medizinischen BeDieses „Arzteprivileg" durch weitreichende strafrechtliche Freistellung von leichter Fahrlässigkeit wird in Osterreich im Zusammenhang mit einer weitgehenden Entkriminalisierung der Heilbehandlung gesehen. Vgl. auch Kienapfel (Fn. 21), § 88 Rdn. 46 und § 110 Rdn. 2. 41
42 43 44
Vgl. Tamarit Sumalla (Fn. 26), Art. 152 Anm. 4. Schroetter (Fn. 10), S. 38 f.
Vgl. aber dazu auch Vgl. dazu auch V.l.
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reich nicht nur durch die Bildung von Sondertatbeständen für Heilbehandlung zu erreichen; vielmehr können sich auch durch besondere Anforderungen an einzelne Tatbestandsmerkmale oder durch besondere Strafverfolgungserfordernisse Einschränkungen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ergeben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erscheinen dazu folgende vergleichende Beobachtungen bemerkenswert. /. Auf tatbestandlicher Ebene Auf dieser Ebene kommt zunächst die Ausklammerung von Bagatelleingriffen in Betracht, wie dies beispielsweise in § 229 BMJE-StGB vorgeschlagen wird, indem nur „körperliche Eingriffe" und andere die körperliche Integrität oder den Gesundheitszustand „nicht nur unwesentlich beeinflussende Behandlungen" erfaßt werden; damit werden beispielsweise medizinische Maßnahmen wie Pulsfühlen, Abhorchen und Blutdruckmessen schon tatbestandlich ausgegrenzt 45 . Eine ähnliche Beschränkung findet sich in verschiedenen anderen europäischen Ländern. So wird in Spanien im Falle einer Körperverletzung eine erforderliche einfache ärztliche Überwachung oder Weiterbehandlung nicht als „medizinische Behandlung" und somit als minderschwerer Fall angesehen 46 . Ferner ist beispielsweise in Dänemark und Finnland die Strafbarkeit der fahrlässigen Körperverletzung auf die Hervorrufung erheblicher Schäden an Körper und Gesundheit beschränkt 47 . Weitere Ausgrenzungen können sich durch Einschränkungen beim Einmlligungserfordernis ergeben. Ein Beispiel dafür ist im englischen common law zu finden. Zwar stellt dort jede Heilbehandlung eine tatbestandsmäßige Körperverletzung (battery) dar, deren Strafbarkeit bei Vorliegen einer wirksamen Einwilligung (consent) ausgeschlossen wird. Darüber hinaus sind in bestimmten Fällen ärztliche Eingriffe aber auch ohne Einwilligung des Patienten gerechtfertigt, wie bei permanent or temporary incompetence sowie bei Minderjährigkeit des Betroffenen, wobei freilich vorausgesetzt wird, daß der ärzdiche Eingriff notwendig ist und im besten Interesse des Patienten erfolgt 48 . 45 Vgl. die Begründung zu § 229 BJME-StGB, S. 135; im gleichen Sinne bereits Koch, in: Eser/Nishihara (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung IV, 1995, S. 213, 223 f. Anders insoweit noch § 161 des E 1962. 46 Vgl. Art. 147 span. StGB. 47 Vgl. § 249 dän. StGB und § 10 fin. StGB. 48 Vgl. hierzu Kennedy/Grubb, Medical Law, Text with Materials, 2. Aufl. London 1994, S. 324 ff. Die deutsche Parallele zu diesem Fall wäre die mutmaßliche Einwilligung (vgl. dazu Koch [Fn. 45], S. 232 ff). Vgl. auch die Begründung zu § 229 BMJE-StGB, S. 139.
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Ferner sind hinsichtlich des Täterkreises Differenzierungen denkbar, etwa in der Weise, daß bestimmte Straffreistellungen und/oder Strafmilderungen nur Ärzten zugute kommen. Während der BMJE-StGB von solchen Differenzierungen abgesehen49 und sich dafür bereits Kritik zugezogen hat 50 , meinten Osterreich und Portugal die bereits erwähnten Privilegierungen bei fehlerhafter Heilbehandlung51 nur den Ärzten zugestehen zu sollen. Daß ansonsten derartige täterspezifische Differenzierungen nicht zu finden sind, mag auf den ersten Blick überraschen, kann aber letztlich nicht verwundern, wenn man an die enge Interaktion des medizinischen Personals, wie sie nicht nur im Krankenhausbetrieb zu beobachten ist, sowie an neue Formen ernstzunehmender alternativer Medizin denkt: Selbst wenn mögliche Scharlatane und Quacksalber keinesfalls vom allgemeinen Strafrecht auszunehmen sind, hätte dies jedenfalls nicht durch Diskriminierung zwischen verschiedenen Arten von Heilpersonen, sondern allenfalls gemäß dem Charakter als anerkennenswerte Heiltätigkeit zu geschehen52. 2. Hinsichtlich subjektiver Anforderungen Auf dieser Ebene sind vor allem Einschränkungen auf die Weise möglich, daß man für die Tatbestandsverwirklichung nicht bloße Fahrlässigkeit genügen läßt, sondern Vorsatz oder zumindest qualifizierte Fahrlässigkeit fordert. Dafür lassen sich wiederum Osterreich und Portugal als Beispiele anführen. Bei deren Tatbeständen für eigenmächtige Heilbehandlung handelt es sich jeweils um Vorsatzdelikte53. Da dafür das Fehlen einer wirksamen Einwilligung als objektives Tatbestandsmerkmal zu verstehen ist, muß sich der Vorsatz des Arztes darauf beziehen. Demzufolge ist bei irrtümlicher Annahme einer Einwilligung eine Bestrafung wegen eigenmächtiger Heilbehandlung ausgenommen. Damit läßt es allerdings Portugal nicht bewenden; ist nämlich hinsichtlich der falschlichen Annahme einer Einwilligung dem Täter grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen, so macht er sich - mit einer allerdings wesendich milderen Strafandrohung (6 Monate anstatt 3 Jahren Höchststrafe im Vorsatzfalle) — strafbar (Art. 156 Abs. 1 bzw. 3 port. StGB). In allen übrigen Ländern, in denen es an 4 9 Im gleichen Sinne bereits §§ 161, 162 des E 1962; vgl. dazu die Begründung in BT-Drs. IV/650, S. 298. 5H So von Cramer (Fn. 2), S. 766, und Schroetter (Fn. 10), S. 35 f. 51 Vgl. dazu oben zu Fn. 41. 5 2 Vgl. auch Koch (Fn. 45), S. 224. 53 § 110 Abs. 1 ö. StGB bzw. Art. 156 Abs. 1 port. StGB; vgl. oben II.l.
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einem Sondertatbestand für die eigenmächtige Einwilligung fehlt, bleibt die fahrlässige Annahme einer nicht vorhandenen Einwilligung in Form der fahrlässigen Körperverletzung strafbar. Auch hinsichtlich Behandlungsfehlern, die in der Regel als fahrlässige Körperverletzung strafbar sind, sind Einschränkungen der Verantwortlichkeit in der Weise möglich, daß nicht schon jede Fahrlässigkeit genügt. Ein Beispiel dafür ist wiederum Osterreich, wo der Arzt von der Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 88 Abs. 1 ö. StGB) ausgenommen wird, wenn er „in Ausübung der Heilkunde" behandelt hat, ihn kein „schweres Verschulden" trifft und sich die gesundheitsbeeinträchtigenden Folgen in einem bestimmten - zeitlichen und schweremäßigen - Rahmen halten (§ 88 Abs. 2) 54 . Auch wenn man über die gesetzestechnische Fassung eines solchen „Arzteprivilegs" wird streiten können, wird doch der grundsätzlichen Beschränkung auf grobe Fahrlässigkeit, um die möglicherweise entscheidungshemmende Angst vor Kriminalisierung jedweder Art von Nachlässigkeit zu nehmen, eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen sein 55 , wobei dies freilich nicht auf eine — andere Heilpersonen diskriminierende — Bevorzugung einer bestimmten „Schulmedizin" hinauslaufen dürfte. 3. Auf Strafverfolgungsebene Wer vor materiellrechtlichen Einschränkungen der vorgenannten Art zurückscheut, kann natürlich noch auf der Strafverfolgungsebene mit Hilfe des Opportunitätsprinzips zur Ausgrenzung von geringfügigen Fehlleistungen kommen 56 . Eine weitere Hemmschwelle läßt sich dadurch einbauen, daß die Einleitung einer Strafverfolgung von einem Strafantrag des Betroffenen abhängig gemacht wird. Diesen Weg sind wiederum Osterreich und Portugal bei der eigenmächtigen Heilbehandlung gegangen 57 . Auch der BMJEStGB hat mit seinem Antragserfordernis bei eigenmächtiger Heilbehandlung (§ 229 Abs. 3) diesen Weg eingeschlagen, ist ihn jedoch nicht bis zum Ende gegangen, indem er in besonders schweren Fällen (wie bei fremdnütziger Erprobung einer neuen Behandlungsmethode oder nicht verantwortbarer UnVerhältnismäßigkeit) bzw. bei besonderem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung das Antragserfordernis entAusführlich dazu Kienapfel (Fn. 21), § 88 Rdn. 29 ff. Vgl. dazu bereits Eser, ZStW 97 (1985), 540 mit Anm. 131. 56 So namendich Schroeder (Fn. 10), S. 345 f, durch Verweis auf die Verfahrenseinstellung bei geringer Schuld nach §§ 153, 153a StPO. 57 § 110 Abs. 3 ö. StGB bzw. Art. 156 Abs. 4 port. StGB. 54 55
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fallen läßt (Abs. 3). Auch in einem weiteren Punkt gehen Österreich und der neue deutsche Entwurf verschiedene Wege, nämlich bei der in anderen Lebensbereichen wohl weniger wichtigen Vererblichkeit des Antragsrechts. Während dieses in Osterreich nicht fortlebt 58 , war dies bereits im E 1962 vorgesehen 59 , und zwar mit gutem Grund, können doch gerade in Fällen, in denen der Patient plötzlich stirbt, strafrechtliche Nachforschungsmaßnahmen äußerst angebracht erscheinen. VI. Sektorale Sonderregelungen Es versteht sich, daß ein volles Bild von Regelungen der Heilbehandlung über „gewöhnliche" Routinemaßnahmen der Inneren Medizin und Chirurgie hinaus auch noch die Berücksichtigung von „außergewöhnlichen" Eingriffen — wie noch nicht voll standardisierte Heilversuche, Neulandoperationen und Organtransplantationen bis hin zu besonderen Schutzbedürfnissen bei Humanexperimenten — erfordern würde. Da dies hier schon aus Raumgründen nicht möglich ist — hatte doch schon allein ein kürzlich unternommener Uberblick über Regelungen von Humanexperimenten mehr Raum in Anspruch genommen, als hier insgesamt zur Verfügung steht 60 —, muß es hier mit einem Hinweis sein Bewenden haben, daß es neben allgemeinen Regeln für die Heilbehandlung in den meisten Ländern auch noch Sonderregeln für bestimmte Sektoren medizinischer Tätigkeit gibt. Diese Feststellung gilt nicht nur für jene Länder, die ohnehin bereits aus den allgemeinen Tötungs- und Körperverletzungstatbeständen herausgenommene Sondertatbestände für die (eigenmächtige oder fehlerhafte) Heilbehandlung haben, sondern auch — wenn nicht sogar noch mehr — für jene Rechtsordnungen, die in der Heilbehandlung einen nach allgemeinen Grundsätzen zu rechtfertigenden Fall von „Körperverletzung" sehen. Denn bei diesem Regelungsstatus wird das Bedürfnis, „außergewöhnlichen" medizinischen Eingriffen wie Transplantationen, Sterilisationen und Kastrationen bis hin zu experimentellen Verfahren und Sterbehilfe durch Sonderregeln Rechnung zu tragen, um so
58 Vgl. hierzu Bertel/Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht. Besonderer Teil I, 3. Aufl. 1993, § 110 Rdn. 11. 59 § 162 Abs. 5 E 1962; ebenso § 123 Abs. 2 AE-BT 1970 sowie jetzt auch § 229 Abs. 3 S. 2 BMJE-StGB. 60 Eser, in: Nobk/Vincent (eds.), The ethics of life, UNESCO Publishing 1997, S. 1 2 5 - 1 5 5 .
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dringlicher. Deshalb ist von einer abschließenden Gesamtbeurteilung abzusehen, solange über die allgemeinen Regeln der Heilbehandlung hinaus nicht auch etwaige sektorale Regelungen mitberücksichtigt sind. VII. Schlußbetrachtung Eingedenk des vorangehenden Vorbehalts sei von vornherein Abstand genommen von dem untauglichen Versuch, eine abschließende Würdigung vorzunehmen, geschweige einen umfassenden Regelungsvorschlag vorzulegen. Statt dessen mögen vor dem Hintergrund ausländischer Regelungsbeispiele einige allgemeine Bemerkungen zum neuesten deutschen Regelungsversuch im BMJE-StGB erlaubt sein. /. Ohne die Schwierigkeiten der gesetzestechnischen Umsetzung verkennen zu wollen, erscheint es mir an der Zeit, die sich von „normalen" Körperverletzungen abhebenden „heilungsbezogenen" Eingriffe in die körperliche Integrität auch tatbestandlich abzuheben und dabei die Schutzrichtung im wesentlichen auf zwei Interessen zu konzentrieren: die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten und die Sicherung medizinischer Qualität. Dem wäre — nach dem Vorbild von Österreich und Portugal - durch Sondertatbestände für „eigenmächtige 61 Heilbehandlung" sowie — insoweit über diese ausländischen Vorbilder noch hinausgehend - für „fehlerhafte Heilbehandlung" Rechnung zu tragen. Dabei wäre auch zu bedenken, inwieweit — ähnlich dem österreichischen Vorbild — die strafrechtliche Verantwortlichkeit auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu beschränken wäre. 2. Falls man sich zu diesem Schritt zu Sondertatbeständen für Heilbehandlung entschließt, muß das Verhältnis zu den allgemeinen Tötungsund Körperverletzungstatbeständen klargestellt werden, ähnlich wie dies — anders als in Osterreich — jedenfalls in Portugal geschehen ist und auch schon in früheren deutschen Entwürfen vorgesehen war. Denn wenn Strafrecht im Sinne von Verhaltensregeln ernstgenommen sein will, dann muß es seinerseits den Bürger ernstnehmen und einerseits dem Arzt (im Sinne aller „Heilpersonen") so ausdrücklich wie möglich sagen, was er zu beachten hat, und andererseits den Heilsuchenden erkennen lassen, was er an Schutz erwarten darf. Was demgegenüber die jetzigen Fassungen der §§ 229, 230 BMJE-StGB an Entschlüsselungsarbeit im Verhältnis zu den teilweise denn doch noch zum Zuge kommen61
Oder meinetwegen auch „ungewollte" bzw. „unerbetene"; vgl. oben zu Fn. 28.
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den allgemeinen Verletzungstatbeständen selbst einschlägig erfahrenen Juristen abverlangt 62 , ist schlicht ein Unding 63 . 3. Wenn schon eine gesetzliche Regelung gemacht werden soll und es dabei insbesondere um den Schutz vor Eigenmacht geht, dürfen dafür erforderliche Schlüsselbegriffe wie ärztliche Aufklärung und Einwilligung des Patienten nicht völlig ungeregelt bleiben. Auch dafür ließen sich ausländische Vorbilder — wie beispielsweise Finnland — finden64. 4. Nicht zuletzt wäre im Falle einer gesetzlichen Regelung anzustreben, daß über die „Heilbehandlung" im allgemeinen hinaus auch sektorale Sonderregelungen — wie insbesondere für Neulandverfahren, Transplantationen und Sterilisationen — mitgeregelt oder jedenfalls aufeinander abgestimmt werden. Bei einem derart umfassenden Programm ist freilich zu befürchten, daß die vom Jubilar bereits im Jahr 1981 alsbald erhoffte gesetzliche Reform der Heilbehandlung 65 noch eine Weile auf sich warten läßt.
Vgl. oben zu Fn. 40. Allgemein zu der auch sonst noch viel zu sehr vernachlässigten Rolle des eigentlichen Normadressaten Eser, Festschrift für Lenckner (Fn. 2), S. 25, insbes. 39 ff. 6 4 Vgl. Lahti (Fn. 25), S. 217 f. 65 Hirsch, in: LK, Vorbem. 6 vor § 223. 62
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Zum Unrecht der sittenwidrigen Körperverletzung (§ 228 StGB) W O L F G A N G FRISCH
Nach § 228 StGB 1 bleibt eine Körperverletzung auch bei Einwilligung des Verletzten rechtswidrig, „wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt". Der Gesetzgeber, der die Vorschrift 1933 als § 226a StGB einfügte, wollte mit ihr zum Ausdruck bringen, daß der Maßstab der guten Sitten nicht nur die Wirksamkeit bürgerlichrechtlicher Erklärungen begrenze, sondern auch der Macht des einzelnen, wirksam in eine Körperverletzung einzuwilligen, Grenzen setze2. Das klingt zunächst überzeugend. Unter der Geltung des Grundgesetzes scheint es zusätzlich bestätigt durch Art. 2 Abs. 1 GG, der das Sittengesetz ebenfalls als Grenze der Handlungsfreiheit nennt. Gleichwohl hat die Vorschrift gerade unter Berufung auf die Verfassung lebhafte Kritik erfahren — bis hin zum Verdikt ihrer verfassungsrechtlichen Unhaltbarkeit3. I.
1. Im Mittelpunkt dieser Kritik steht der Vorwurf der Unbestimmtheit der gesetzlichen Regelung4. Er wird meist darauf gestützt, daß die Vor1 In der Fassung des 6. StrRG; je nach Kontext ist im Folgenden ζ. T. auch vom gleichlautenden Vorgänger § 226a StGB die Rede. 2 Vgl. die Erläuterung zum Vorläufer des § 226a StGB, dem § 264 E 1927 (Reichstag 1924/27, Drs. 3390, S. 134); vorangehende Niederschläge in der Judikatur z.B. in RG JW 1928, 2229, 2232 m. Anm. Bohne-, RG JW 1929, 1015. Weitere Nachweise bei Rüb, Die Vorschrift des § 226a StGB in kritischer Betrachtung, Diss. Frankfurt 1957, S. 12 ff, 19 ff, 35, 37, dort sowie bei Ber^ GA 1969, 149, 151, und Sternberg-IJeben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 129, 141, auch zum konkreten Anlaß der Einführung des § 226a StGB. Zur Rechtslage in Osterreich vgl. § 90 ö.StGB und Burgstaller, in: Wiener Kommentar, 1989, § 90 Rdn. 65 ff. 3 Vgl. etwa Class, Eb. Schmidt-FS, 1961, S. 129; R. Schmitt, Maurach-FS, 1972, S. 118f; ders., Schröder-GS, 1978, S. 129; Woesner, NJW 1963, 275; Sternberg-Ueben (Anm. 2), S. 162. 4 Vgl. Ber% CA 1969, 145, 146; Kohlhaas, NJW 1963, 2348 ff; Lenckner, JuS 1969, 307 f; Reinhardt, JR 1964, 373 f; Roxin, JuS 1964, 376, 379; weitere Nachweise in Anm. 3 und bei Hirsch, in: LK, 10. Aufl. 1989, § 226a Rdn. 2. Aus der Rechtsprechung im Ansatz auch BGHSt. 4, 24, 32.
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Stellungen über das, was zum Kanon der „guten Sitten" gehört, seit langem weit auseinandergehen 5 — ein Beispiel unter vielen bilden die gravierenden Meinungsverschiedenheiten im Bereich sexueller Praktiken. Aus diesem Befund zieht die Kritik unterschiedliche Folgerungen. Die h. M. beschränkt sich darauf, die Spannung der Gesetzesbegriffe zum verfassungsrechtlichen Bestimmtheitspostulat zu vermerken und zu einer Gesetzesanwendung zu raten, die diese Spannung möglichst aufhebt. Dem entspricht der Vorschlag, das Rechtswidrigkeits- und Strafbarkeitsurteil auf solche Sachverhalte zu begrenzen, die nicht nur seitens bestimmter Gruppen, sondern allgemein als Verstoß gegen die guten Sitten angesehen werden 6 . Es gibt jedoch auch Summen, die eine derartige „Entschärfung" der Vorschrift als nicht gangbar verwerfen und § 228 StGB bzw. seinen Vorläufer wegen Unvereinbarkeit mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot als verfassungswidrig erachten 7 . Eine bekannte andere Kritik betrifft mehr die inhaltliche Seite. Sie rügt die Vermengung von Recht und Moral in § 228 StGB bzw. § 226a StGB a. F.8, die Fragwürdigkeit der Berufung auf moralische Kategorien im Kontext der Strafbarkeitsbegründung 9 und die Spannung einer so begründeten Strafbarkeit zur Rechtsgüterschutzaufgabe des Strafrechts 10 . Und sie rät, um dieser Fragwürdigkeit zu entgehen, die Anwendung des § 228 StGB auf Konstellationen zu beschränken, bei denen die Problematik des Handelns auch rechtlich objektivierbar ist 11 — 5 In diesem Sinne etwa Hanack, JZ 1964, 397; Lenckner, JuS 1968, 309; Reinhardt, JR 1964, 371; Roth-Stielow, JR 1965, 211; Eb. Schmidt, JZ 1964, 300; Sternberg-Ueben (Anm. 2), S. 141, 148 f. 6 In diesem Sinne Stree, in: Schänke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 226a Rdn. 6 m. w. N.; Weber; Baumann-FS, 1992, S. 47. Gleiches kommt auch in der Forderung eines Verstoßes gegen das „Anstandsgefühl aller (!) billig und gerecht Denkenden" (BGHSt. 4, 24, 32; 88, 91) zum Ausdruck sowie in der Ablehnung der Strafbarkeit, wenn es an einem solchen sicheren Werturteil fehlt (vgl. etwa Engisch, H. Mayer-FS, 1966, S. 399, 401; Hirsch, in: LK, § 226a Rdn. 2; Lenckner, JuS 1968, 308). 7 Vgl. für § 226a StGB a. F. vor allem R. Schmitt, Schröder-GS, 1978, S. 263, 265, und zuletzt eingehend Sternberg-Lieben (Anm. 2), S. 136 ff, 140 ff, 147 ff, 156 f, 161 (mit über den Text z. T. hinausgehenden weiteren Bedenken), der sogar von einer „Normzweckverschleierung" spricht (S. 159, 161). 8 Vgl. etwa (Entscheidung nach außerrechdichen Maßstäben) R. Schmitt, MaurachFS, S. 113, 118; s. auch Roxin, JuS 1964, 373, 380. 9 In diesem Sinne verstehe ich Sternberg-IJeben (Anm. 2), S. 363 ff, 367 f. 1 0 S. etwa Dach, Zur Einwilligung bei Fahrlässigkeitsdelikten, Diss. Mannheim 1979, 5. 81. 11 So z. B. Roxin, JuS 1964, 379 f (Ausschluß metaphysischer Begründung der Sittenwidrigkeit; Verifizierbarkeit eines Verstoßes gegen eine objektivierbare rechtliche Moral).
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etwa, weil die Tat rechtlich mißbilligten Zwecken dient, sonstigen Prinzipien der Rechtsordnung zuwiderläuft oder sich als schwere Störung der sozialen Ordnung darstellt 12 . 2. Die skizzierte Kritik liegt im Blick auf geläufige Prinzipien und Vorstellungen von der Aufgabe des Strafrechts gewiß nahe. Sie faßt gleichwohl zu kurz. § 228 StGB leidet in Wahrheit an einem weit gravierenderen, kaum bemerkten 13 Mangel in der grundsätzlichen Unrechtsbegründung - jedenfalls wenn man die gesetzliche Begrifflichkeit ernst nimmt. Deshalb sind auch die an die gesetzliche Begrifflichkeit und Vordergrundkritik anschließenden Ratschläge zur Entproblematisierung der Vorschrift ihrerseits mit Skepsis zu betrachten 14 . Sie sind allenfalls geeignet, die augenscheinlichen Schwächen der Vorschrift zu beheben; ihren eigentlichen grundsätzlichen Mangel beseitigen sie nicht 15 . Die Aufdeckung dieses grundsätzlichen Mangels ist nun freilich nicht nur bedeutsam, um dies näher zu belegen. Sie ist es auch, weil über die Erfassung dieses Mangels zugleich erkennbar wird, worin allein der legitimierbare Grund für eine Bestrafung wegen Körperverletzung trotz Einwilligung liegen kann. Dieser Grund und damit die Funktion und der auch von dem verehrten Jubilar nachdrücklich betonte berechtigte Kern der Vorschrift 16 werden durch die gesetzliche Begrifflichkeit leider eher verstellt als bezeichnet. Sind sie andererseits klar erfaßt, so erledigt sich nicht nur die Vordergrundkritik an der Vorschrift. Dann stehen auch die Maßstäbe für ihre zutreffende Interpretation zur Verfügung,
Darauf hebt ζ. B. Unckmr, JuS 1968, 308 ab. Das gilt auch für Sternberg-Ueben (Anm. 2), der das Problem der Inkonsistenz der Strafbarkeitsbegründung aus dem Individualdelikt bei Statuierung drittinteressenorientierter Einwilligungsschranken durchaus sieht (S. 521 ff), aber nicht im Rahmen des § 226a StGB auswertet (wohl weil er diesen schon aus formellen Gründen für verfassungswidrig hält). 14 Etwa der bei Anm. 6 genannte Vorschlag oder der, nicht auf die Sittenwidrigkeit, sondern darauf abzustellen, ob ein bestimmtes (bewilligtes) Verhalten das Rechtsgut „Körperintegrität" angreift, weil ihm eine Mißachtung der Rechtsgutsklasse zu entnehmen ist (so Dach [Anm. 10], S. 81), oder darauf, ob das Verhalten gegen Drittinteressen (einschließlich sog. Allgemeininteressen) verstößt, so daß es deshalb notwendig erscheint, der Einwilligung (auch in bezug auf die Körperintegrität) die Wirksamkeit zu versagen; vgl. beispielhaft etwa Hanack, Die strafrechdiche Zulässigkeit künsdicher Unfruchtbarmachung, 1959, S. 191 f; Hirsch, in: LK, Rdn. 105 vor § 32; Wägend, ZStW 98 (1986), 62 f, 64 f. 1 5 Das gilt auch für die von Lenckner, JuS 1968, 308, empfohlene enumerative Benennung der Sachverhalte der Sittenwidrigkeit. 16 Vgl. etwa Hirsch, Welzel-FS, 1974, S. 775, 798 f. 12
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die im direkten Anschluß an die gesetzliche Begrifflichkeit nicht zu finden sind und in den nur vordergründige Inadäquitäten ausräumenden oben wiedergegebenen Ratschlägen sicher auch nicht liegen. II. Der eigentliche Mangel der gesetzlichen Regelung ist konzeptioneller Art. Er betrifft die gesetzliche Verknüpfung: die Bestrafung wegen Körperverletzung bei Verstoß der Tat gegen die guten Sitten. Sie weicht, wenn das eigentlich Störende wirklich allein in einem Verstoß gegen die guten Sitten liegt, nicht nur vom sonstigen Vorgehen des Gesetzgebers ab. Denn sonst trägt der Gesetzgeber der Unvereinbarkeit einer vom Gutsträger bewilligten Beeinträchtigung mit anderen Interessen nicht durch die Aufrechterhaltung der Bestrafung wegen der bewilligten Güterbeeinträchtigung, sondern durch Sondervorschriften Rechnung, die dem Schutz eben dieser anderen Interessen dienen 17 . Die Bestrafung wegen Körperverletzung bei Verstoß der Tat gegen die guten Sitten ist vor allem auch sachlich inadäquat und wird dem Wesen des Unrechts der Körperverletzung nicht gerecht. Plausibel und konsistent wäre sie nur, wenn man das Unrecht der Körperverletzung allein schon durch den naturalistischen körperlichen Eingriff vollständig begründet sähe und weiter annähme, daß dieses Unrecht zwar im Falle der Einwilligung normalerweise entfalle, eben diese Wirkung aber der Einwilligung in eine gegen die guten Sitten verstoßende Tat nicht eigne - womit, mangels wirksamer Einwilligung, das Unrecht bestehen bleibe. Man vermutet wohl kaum falsch, wenn man annimmt, daß dies das Konzept ist, welches der Strafbarkeit der Körperverletzung bei Sittenwidrigkeit der (bewilligten) Tat vor allem zugrunde liegt 18 . Indessen weist dieses Konzept zumindest zwei gravierende Mängel auf. 1 7 Wie etwa § 109 und § 304 StGB; s. ergänzend R. Schmitt, Maurach-FS, S. 113 f. Bezogen auf die Sittenwidrigkeit der Tat liefe das auf einen die Verletzung der guten Sitten ahndenden Sondertatbestand hinaus - also einen Tatbestand, der wohl keinerlei Chance hätte, akzeptiert zu werden. Um so weniger vermag dieser Gesichtspunkt dann aber ein ganz anders zu begründendes Unrecht und eine darauf aufbauende Strafbarkeit zu tragen; zu derartigen „Rechtsgutsvertauschungen" s. auch Sternberg-Lieben (Anm. 2), S. 521 ff, 526 ff, 531. 1 8 Relativ deudich in diese Richtung z. B. RG J W 1928, 2228, 2232 m. abl. Anm. Bohne-, R. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, 1930, S. 245 m. Fn. 2, aber auch die älteren Auflagen des Lehrbuchs von Baumann, z. B. Strafrecht Allg. Teil, 8. Aufl. 1977, S. 337 f; s. ferner die Schilderung des Konzepts von Mitsch, Rechtfertigung und Opferverhalten, bei Sternberg-Lieben (wie Anm. 2), S. 521 ff.
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Es verkürzt erstens das unrechtsbegründende Datum. Wenn ein bestimmter körperlicher Eingriff oder eine Veränderung der Güter anderer als Unrecht erscheint, so nicht allein wegen dieses Sachverhalts, sondern weil wir die Veränderung stillschweigend als Verletzung des Willens des anderen und damit als Bruch des insoweit bestehenden Rechtsverhältnisses setzen (was ja vielfach auch der Fall ist 19 ). Nur deswegen ist es auch zutreffend und konsequent, das Unrecht bei Einwilligung entfallen zu lassen — die Einwilligung macht (jedenfalls wenn sie bestimmte Anforderungen erfüllt) diese Bedingung hinfällig20. Zweitens und vor allem aber ist es verfehlt, die Frage, ob diese Unrechtsbedingung erfüllt ist oder aufgrund der Einwilligung entfällt, nach dem Muster zivilrechtlicher Willenserklärungen zu entscheiden — also einer Einwilligung, die sich auf eine sittenwidrige Tat bezieht, die Wirksamkeit zu versagen und damit von vorhandenem Unrecht auszugehen 2 1 . Die Sittenwidrigkeit der Tat mag auf die Einwilligung ausstrahlen, auch sie als sittenwidrig erscheinen lassen — und das mag sogar in gewisser Hinsicht rechtliche Folgen haben 22 . Eines vermag sie indessen nicht: aus einer Güterveränderung, die dem Willen des Betroffenen entspricht, eine solche zu machen, die man als Verletzung eines in Wahrheit anzunehmenden oder zu unterstellenden, auf Erhaltung der Unversehrtheit gerichteten Willens anzusehen hat. Dazu taugt weder die Unvereinbarkeit der Willensbildung mit moralischen oder sittlichen Maßstäben noch der Widerspruch zu irgendwelchen öffentlichen Interessen 23 . Nämlich dort, wo es an einer Einwilligung oder auch nur einer mutmaßlichen Einwilligung fehlt. 2 0 Käme es dagegen für die Unrechtsbegründung überhaupt nicht auf den mutmaßlich entgegenstehenden Willen an, so ließe sich schwerlich erklären, wie die Einwilligung den Unrechtsausschluß soll bewirken können. Näher zu diesen Fragen des Unrechts der Körperverletzung sowie zu den seitens der Einwilligung zu erfüllenden Anforderungen demnächst Frisch, Grund- und Grenzfragen der Einwilligung, 2. Abschnitt. 2 1 Im Grunde liegt darin ein Rekurs auf die längst allgemein abgelehnte Zitelmannsche. Deutung der Einwilligung als privatrechdiches Rechtsgeschäft (AcP 99 [1906], 51 ff, 56); zutreffend Bohne, J W 1928, 2231. In den älteren Stellungnahmen zur Unwirksamkeit der Einwilligung bei Verstoß (der Einwilligung oder der Tat) gegen die guten Sitten ist dieser Hintergrund noch sehr deutlich erkennbar (vgl. etwa R. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, 1930, S. 247). 19
2 2 Nämlich insoweit, als eine Einwilligung und die ihr entsprechende Aktion des Dritten dann bei (nicht selbstverständlicher!) Gleichsetzung dieser Sittenwidrigkeit mit der Überschreitung der Schranken des Art. 2 Abs. 1 G G („Sittengesetz") nicht mehr als Ausübung rechdich anerkannter Handlungsfreiheit anzusehen wären. Freilich hätte diese Rechtswidrigkeit mit dem spezifischen Unrecht der Körperverletzung nichts zu tun. S. auch den folgenden Text. 2 3 Etwa (im Sinne eines besonders aktuellen Beispiels) der Freiheit des Sports von Dopingmitteln; s. dazu Ahlers, Doping und strafrech diche Verantwordichkeit, 1994,
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Konsistent begründet ist die (im Unrecht der Körperverletzung stillschweigend vorausgesetzte) Beeinträchtigung der Unversehrtheit gegen den anzunehmenden Willen des Betroffenen vielmehr nur, wenn die Einwilligung oder Freigabeerklärung schon gar nicht als Ausdruck einer autonomen Entscheidung des Rechtsgutsträgers angesehen werden kann. Nur wenn der geäußerte Wille unter diesem spezifischen Aspekt unbeachtlich ist, läuft die Aufhebung der körperlichen Unversehrtheit — so wie bei einer überhaupt fehlenden Einwilligung — dem anzunehmenden Willen des Betroffenen zuwider und ist damit Körperverletzungsunrecht. Die bloße Sittenwidrigkeit der Tat oder deren Spannung zu gewissen Drittinteressen oder öffentlichen Interessen, ja sogar ihre Unvereinbarkeit mit sonstigen rechtlichen Regelungen, mögen die Tat unter diesen Aspekten problematisch erscheinen lassen, vielleicht deshalb ihr Verbot tragen oder eine Strafbarkeit unter diesem Aspekt legitimieren — das Unrecht der Körperverletzung ergeben sie ebensowenig wie sie dieses im Begründungszusammenhang der Strafbarkeit wegen Körperverletzung zu ersetzen vermögen 24 . Daß die Freiheit auch nach der Verfassung (Art. 2 Abs. 1 GG) am Sittengesetz ihre Grenze findet, ändert an all dem nichts — und zwar ganz unabhängig von dem um diese Schranke kreisenden Streit 25 . Das gilt auch dann, wenn man den tieferen Grund für die Relevanz der Einwilligung darin sieht, daß der Einwilligende durch die Abgabe seiner Einwilligung (und das Verlangen z. B. bestimmter Güterveränderungen)
S. 165 ff m. w. N.; Turner, NJW 1991, 2943; zu anderen öffentlichen Interessen Ber% G A 1969, 151. — In der Sache übereinstimmend Sternberg-Lieben (Anm. 2), S. 521 ff, unter dem Aspekt einer für die Bestrafung aus dem Individualdelikt (nicht) ausreichenden Rechtsgutsbeeinträchtigung. 24 Nicht überzeugend deshalb Sternberg-Lieben (Anm. 2), der zwar zunächst zutreffend hervorhebt, daß der Verstoß der konsentierten Tat gegen irgendwelche Drittinteressen allein die Bestrafung aus dem Individualdelikt nicht legitimiert (S. 512 ff, insbes. 521 ff), dann aber doch eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung für legitim hält, wenn die konsentierte Individualgutsbeeinträchtigung notwendigerweise mit der pönalisierten Drittinteressenverletzung verbunden ist oder der Drittinteressen schützende Tatbestand eine ähnliche Zielrichtung hat (S. 566 ff; ähnlich schon Weber, Spendel-FS, 1992, S. 378). Der dabei in den Vordergrund gestellte Gedanke des bereichsweisen Verbotes (S. 567, 570: Verbot „in bestimmten Konstellationen") bietet indessen keine ausreichende Begründung für die spezifischen Voraussetzungen des Körperverletzungsunrechts. 25 S. dazu statt vieler Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 4. Aufl. 1992, Art. 2 Rdn. 26 ff; Murswiek, in: Sachs, Grundgesetz, 1996, Art. 2 Rdn. 94 ff. Insgesamt wird in der verfassungsrechtlichen Diskussion eine eigenständige Bedeutung der Schranke des Sittengesetzes zunehmend in Frage gestellt; vgl. z. B. Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 1996, Art. 2 II Rdn. 44; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 3. Aufl. 1997, Art. 2 Rdn. 16.
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von seiner Entfaltungsfreiheit Gebrauch macht 26 . Daraus folgt zwar, daß der Staat einer sich in den Grenzen der rechtlichen Freiheit bewegenden Einwilligung durch Zurücknahme etwaiger rechtlicher Verbote gegenüber Dritten Rechnung zu tragen hat und das Festhalten an den Verboten auch bei dieser Sachlage auf eine Konterkarierung der Handlungsfreiheit des Einwilligenden hinausliefe 27 . Uber die Folgen, die eine die Grenzen (ζ. B. wegen Unvereinbarkeit mit dem Sittengesetz) überschreitende Einwilligung für das Unrecht bestimmter Individualdelikte hat, besagt diese Begrenzung der rechtlichen Freiheit jedoch nichts 28 . Diese Folgen hängen vielmehr allein von der Struktur des Unrechts dieser Delikte ab. Basiert die Qualifikation bestimmter Güterveränderungen als Unrecht hier (unausgesprochen) darauf, daß diese Güterveränderungen, soweit der Gutsinhaber in sie nicht eingewilligt hat (bzw. seine Einwilligung nicht zu mutmaßen ist), als unerwünscht gelten und auf eine Verletzung des dann anzunehmenden entgegenstehenden Willens hinauslaufen, so ist naheliegenderweise auch eine (wegen ihres Bezugs auf eine sittenwidrige Tat) sittenwidrige Einwilligung durchaus relevant. Die Sittenwidrigkeit der Einwilligung im Blick auf ihren Bezugspunkt (die sittenwidrige Tat) mag einen Grund bilden, das Geschehen wegen des Verstoßes gegen das Sittengesetz überhaupt als rechtswidrig zu bezeichnen. Das eigenständige Unrecht der Körperverletzung begründet sie jedoch nicht, sofern die Willensentscheidung des Einwilligenden nur im übrigen Ausdruck einer autonomen Entscheidung ist.
III. Die bisherigen Überlegungen machen zugleich deutlich, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit das Unrecht der Körperverletzung wirklich vorliegt und eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung legitimierbar ist: Die Einwilligung darf gar nicht als wirklich autonome 2 6 In diesem Sinne ζ. B. Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 26 ff; Jakabs, Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl. 1991, 7/111 f, 14/4 (an letzterer Stelle mit dem zusätzlichen Erfordernis eines vernünftigen Handlungsanlasses für Dritte); Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts, 1992, S. 21 ff; Frisch, in: iMpold (Hrsg.), Selbstbestimmung in der modernen Gesellschaft aus deutscher und japanischer Sicht, 1997, S. 103 ff; Roxin, Strafrecht Allg. Teil I, 3. Aufl. 1997, § 13 Rdn. 14. Zum Grund der Wirksamkeit der Einwilligung auch Weigend, ZStW 98 (1986), 44 ff. 2 7 S. dazu Frisch (Anm. 26), S. 103 ff, 109 ff, 121 ff. 2 8 Zutreffend Göbel (Anm. 26), S. 47, in Auseinandersetzung mit Amelung (Anm. 26), S. 56 f.
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Freigabeerklärung anzusehen sein 29 — so daß der Gütereingriff wegen des Fehlens einer autonomen Freigabeerklärung dann eben doch normativ ohne Willen des Betroffenen erfolgt und seiner Vornahme damit die grundsätzliche Vermutung der Unerwünschtheit entgegensteht. Allein auf dieser Basis eröffnet sich für § 228 StGB bzw. § 226a StGB a. F. ein gewisser — allerdings rein deklaratorischer — Anwendungsbereich. Freilich stellen sich damit - zumindest - zwei Fragen. Wenn der maßgebende, die Bestrafung wegen Körperverletzung tragende Gesichtspunkt darin liegt, daß bestimmte Einwilligungen nicht als Ausdruck einer autonomen Entscheidung angesehen werden können: Was hat das mit der in § 228 StGB betonten Sittenwidrigkeit der Tat zu tun? Zweitens und vor allem aber erhebt sich die Frage, welche Sachverhalte bei einer solchen Sicht noch für § 228 StGB bleiben. Die Fälle, in denen die erklärte Einwilligung nicht als autonome Willensentscheidung angesehen werden kann, sind ja seitens der Einwilligungsdogmatik seit langem in eigenen Rubriken erfaßt: Es sind vor allem die Fälle der Einwilligungsunfähigkeit des Erklärenden und die diversen Sachverhalte der Willensmängel (Täuschung, Irrtum usw.). Diese Sachverhalte dem § 228 StGB zu unterlegen, erscheint wenig sinnvoll. Welche Sachverhalte verbleiben dann aber noch für § 228 StGB? Besteht mit anderen Worten für eine neben die längst anerkannten Sachverhalte „unwirksamer" Einwilligung tretende weitere Regelung — heute — überhaupt ein Anwendungsfeld und Bedürfnis? 1. Tatsächlich ist das der Fall. Die Einwilligungsdogmatik und die gesetzlichen Regelungen zur Einwilligung haben nicht nur der autonomen Entscheidung des Gutsträgers zur Geltung zu verhelfen (und insoweit hindernde Vorschriften zu relativieren 30 ). Sie haben — auf der Linie der Grundaufgabe des Rechts und des Strafrechts - auch zu verhüten, daß Einwilligungserklärungen, die nicht Ausdruck einer autonomen Entscheidung der Person sind, zu (vermeidbaren) Güterbeeinträchtigungen bei dieser führen. Die bisher entwickelten Regeln, die die Unwirksamkeit der Einwilligung einer einwilligungsunfähigen Person normieren oder bei bestimmten Irrtümern oder Zwang der Einwilligung die Wirkung versagen, gewährleisten dies nur begrenzt. 2 9 In diesem Sinne verstehe ich auch Köhler., Strafrecht Allg. Teil, 1997, S. 256: Haltbarkeit der Vorschrift des § 226a StGB nur hinsichtlich ihres „freiheitsrechtlichen Kerns". 5 0 Jedenfalls, soweit die autonome Entscheidung (und ihr Vollzug) Ausdruck der allgemeinen Handlungsfreiheit sind — andernfalls unterliefe das Strafrecht mit seinen (beibehaltenen) Verboten die allgemeine Handlungsfreiheit. S. dazu Frisch (Anm. 26), S. 109 ff.
Zum Unrecht der sittenwidrigen Korperverletzung (§ 228 StGB)
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Das liegt zunächst schon daran, daß die Extension der Sachverhalte der Einwilligungsunfähigkeit und der relevanten Willensmängel nur unvollständig abgeklärt ist 31 . Einigkeit besteht lediglich über einen gewissen Kernbereich hierher gehörender Sachverhalte. Jenseits dieses konsentierten Kernbereichs herrschen Meinungsverschiedenheiten; zudem gibt es Konstellationen, deren Zugehörigkeit zu den genannten Kategorien kaum diskutiert ist. Das gilt bereits für relativ alltägliche Sachverhalte. Ob und wann etwa momentane Unkonzentriertheiten, mehr oder weniger starke Ablenkungen, eine bestimmte euphorische Stimmung oder eine beharrliche Unbelehrbarkeit 32 die Einwilligungsfähigkeit aufheben, ist ebensowenig eindeutig geklärt wie die Frage, von welchem Grad der Alkoholisierung an eine Person nicht mehr einwilligungsfähig ist 33 . Ähnlich unabgegrenzt ist die Kategorie der (relevanten) Willensmängel. Handelt es sich um einen Irrtum, wenn eine Person bestimmte Dinge an sich genau weiß, aber aus einer momentanen Verengung des Bewußtseins bei der Entscheidung nicht bedenkt? Oder wenn sie genau weiß, daß die Zusammenhänge, von denen sie ausgeht, von anderen anders beurteilt werden 34 ? Kann man von Irrtum oder Zwang sprechen, wenn eine Person sich im Bereich ihrer entscheidungsleitenden Wertvorstellungen ein Bild zurechtgemacht hat, das für andere abwegig ist oder die Werte auf den Kopf zu stellen scheint 35 ? — Wahrscheinlich ist das Fehlen einer eindeutigen Klassifikation dieser und ähnlicher psychischer Befunde sogar sachbedingt: weil eine eindeutige Zuordnung 31 S. dazu für die Kategorie der Einwilligungsfahigkeit bzw. -Unfähigkeit die eindrucksvolle Darstellung von Amelung, ZStW 104 (1992), 525 ff, 537 ff, 540 ff; zu den vielfaltigen Streitfragen über die Relevanz von Willensmängeln vgl. etwa Ar^t, Willensmängel bei der Einwilligung, 1970; Göbel (Anm. 26), S. 85 ff; Roxin, NoII-GS, 1984, S. 275 ff, und jüngst Amelung, ZStW 109 (1997), 490 ff, sowie Sternberg-Lieben (Anm. 2), S. 532 ff. 3 2 Vgl. etwa einerseits BGH NJW 1978, 1206, andererseits Roxin, Strafrecht Allg. Teil I, § 13 Rdn. 57 f m. Fn. 93; Rogali, NJW 1978, 2344; Hruschka, JR 1978, 529; Horn, JuS 1979, 29. 33 Vgl. die kritischen Bemerkungen von Amelung, ZStW 104 (1992), 525, 538. 3 4 Vgl. wiederum BGH NJW 1978, 1206, wo ein Irrtum der Frau (die ihre gesunden Zähne als Grund für ihre dauernden Kopfschmerzen ansah, freilich mehrfach darüber belehrt worden war, daß dies nicht zutreffe) nicht einmal thematisiert wird; im Sinne eines Irrtums Bichlmeier, JZ 1980, 53, 55; ablehnend dagegen Horn, JuS 1979, 30 f, der § 226a StGB a. F. als einschlägig ansieht, also einen mit „Einwilligungsunfahigkeit" und „Willensmängel" nicht faßbaren Unwirksamkeitsfall für gegeben erachtet. 35 Man denke etwa an Vorstellungen, wie sie das Opfer im sog. „Sirius-Fall" (BGHSt. 32, 38) oder der „Vordermann" im „Katzenkönig-Fall" (BGHSt. 35, 347) hatten, und stelle sich eine auf solcher Basis erteilte Einwilligung in eine körperliche Beeinträchtigung vor.
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nicht möglich ist oder im Blick auf die Funktion der genannten Kategorien problematisch wäre. Denn angenommen, eine Person träfe in einem solchen Zustand eine absolut vernünftig erscheinende Entscheidung: Soll man dieser nicht folgen dürfen? Wirklich legitimierbar erscheint die Nichtanerkennung bestimmter Erklärungen als Ausdruck einer autonomen Entscheidung der Person hier erst, wenn sich der Zustand gewissermaßen auch im Erklärungsinhalt spiegelt — dieser nicht mehr als Ausdruck der Autonomie begreifbar ist, weil eine vernünftige Person so nicht entscheiden würde. Das aber bedeutet, daß es offenbar eine nicht unerhebliche Zahl von Sachverhalten gibt, die auf der Ebene der Voraussetzungen der Einwilligungs(-un)fähigkeit und der (relevanten) Willensmängel nicht eindeutig zugeordnet sind, sich wohl auch bei einer funktionsorientierten Kategorienbildung auf der isolierten Ebene der psychischen Befunde gar nicht eindeutig zuordnen lassen 36 und so von der auf Gewährleistung von Entfaltung wie von Schutz ausgerichteten Rechtsordnung nur am „faßbaren Ende" verarbeitet werden können: indem diese nämlich Einwilligungen, die sich nicht mehr als Ausdruck der Entscheidung einer vernünftigen Person begreifen lassen, die Anerkennung versagt. Schon unter diesem Aspekt besteht mithin Bedarf für eine — geschriebene oder ungeschriebene — Norm, die unabhängig von den Kategorien der Einwilligungsunfähigkeit und der relevanten Willensmängel bei bestimmten Einwilligungen (im Blick auf ihren Inhalt und Gegenstand) am Verbot der Körperverletzung festhält und dagegen verstoßendes Handeln als Körperverletzung bestraft. Freilich gibt es auch noch einen zweiten Grund. Effizienten Schutz vermögen die an Sachverhalte der Einwilligungsunfähigkeit und der relevanten Willensmängel anknüpfenden Regeln nur zu gewährleisten, soweit diese Sachverhalte bekannt oder ohne weiteres erkennbar sind. Daran fehlt es nicht selten. Ob etwa jene Defizite bekannt sind, die bei einem prinzipiell als einwilligungsfähig geltenden Erwachsenen 37 (ausnahmsweise) die Einwilligungsfähigkeit ausschließen, ist zufällig; auch ihre Erkennbarkeit ist nicht prinzipiell gewährleistet. Ganz Entsprechendes gilt für Willensmängel, insbesondere — jenseits der Sachverhalte der Täuschung — für autonomieverzerrende Irrtümer. Einen ge3 6 Weil sie das eine Mal offenbar keine Auswirkung haben, das andere Mal dagegen doch (und damit eine einheitliche, allein an den psychischen Befund anknüpfende Zuordnung inadäquat wäre). 3 7 Vgl. dazu Roxin, Strafrecht Allg. Teil I, § 13 Rdn. 57; Lenckner, in: Schänke/Schröder, vor § 32 Rdn. 40; Amelung, ZStW 104 (1992), 525, 551 ff.
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wissen Schutz vor Güterbeeinträchtigungen als Folge von nicht der Autonomie entspringenden Einwilligungen vermag die Rechtsordnung bei dieser Sachlage jenseits der Fälle bekannter oder erkennbarer Einwilligungsunfähigkeit oder erkennbarer Willensmängel damit nur dort zu bieten, wo ein faßbares Datum vorliegt, das als solches das Gegebensein einer autonomen Entscheidung in Frage stellt. Das wiederum trifft dann zu, wenn der Inhalt der Einwilligung so ist, daß diese sich nicht als Ausdruck der Entscheidung einer autonomen Person begreifen läßt 38 — weil eine vernünftige Person eine solche Einwilligung nicht erteilen würde. Wo das der Fall ist, hat die Rechtsordnung freilich nicht nur die Möglichkeit des Schutzes. Hier ist sie zum Schutz der Person vor einer durch eine autonome Einwilligungsentscheidung nicht gedeckten Güterbeeinträchtigung prinzipiell auch gehalten, Schutz zu gewähren, indem sie das Verbot trotz Einwilligung aufrechterhält. Allein dies entspricht ihrer Verantwortung für den durch seine eigene nicht autonome Einwilligung bedrohten Gutsträger 39 . 2. Diese Schutzgewährung hat nichts mit einer paternalistischen Bevormundung des einzelnen zu tun 40 . Sie entspricht — ganz im Gegenteil — dem, was das vernünftige Individuum selbstfiir solche Sachverbalte will, jedenfalls im Kern. Das gilt schon rein empirisch: Natürlich will die vernünftige Person regelmäßig, daß man das nicht ausführe und sie vor dem bewahre, was sie im Zustand (vorübergehender) Einwilligungsunfähigkeit verlangt oder gestattet hat und was ihr selbst im Zustand der Vernunft als ganz unvernünftig erscheint 41 . Freilich ist diese rein empirische Seite nur eine zusätzliche Bestätigung und letztlich nicht entscheidend. Wichtiger ist, daß die Rechtsordnung dem, den sie als Vernünftigen anerkennt, nicht zugleich unterstellen kann, ernsthaft und als Vemünfti3 8 Übereinstimmend wohl Köhler.; Strafrecht Allg. Teil, S. 255: die Einwilligung müsse sich „überhaupt noch als eine dem Rechtsprinzip freier Subjektivität entsprechende Selbstverfügung verstehen lassen". 3 9 Sachlich übereinstimmend Stratenwerth, Strafrecht Allg. Teil I, 3. Aufl. 1981, Rdn. 374 f. — Den Gesichtspunkt der Verantwortung der Gesellschaft betont im vorliegenden Zusammenhang — wenngleich in etwas anderer Akzentuierung („Verantwortung für die Wahrung des Respekts vor der physischen Integrität des Mitmenschen") - auch Hirsch, Welzel-FS, S. 798 f. S. ferner Sternberg-Ueben, JuS 1986, 675. 4 0 Wie das den Ansätzen, die § 226a StGB als Schutz der Einwilligenden vor sich selbst verstehen, oft nachgesagt wird; vgl. Sternberg-Lieben (Anm. 2), S. 122. 41 Das ist auch die Grundlage für die Annahme eines in diese Richtung gehenden, freilich leicht mißverständlichen (s. Hirsch, Welzel-FS, S. 783 f) „wohlverstandenen Interesses" an Nichtanerkennung der Einwilligung - das in diesem Sinne kein heteronomer Oktroi, sondern eine erfahrungsbegründete Annahme über regelmäßig wirklich Gewolltes ist; sachlich übereinstimmend wohl Stratenwerth, Strafrecht Allg. Teil I, Rdn. 375.
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ger etwas grob Unvernünftiges zu wollen. Einzig konsistent ist vielmehr die Annahme, daß der als vernünftig Anerkannte das, was als Ausdruck der Vernunft nicht mehr begreifbar ist, als Vernünftiger nicht will — seine Erklärung vielmehr Ausdruck irgendwelcher Fehlvorstellungen, Kurzschlüsse, Entscheidungsdefizite oder sonstiger verzerrender Prozesse ist, die sich möglicherweise noch nicht einmal klar benennen lassen 42 . Das ist auch der legitimierende Grund dafür, der als Ausdruck der Entscheidung eines Vernünftigen nicht mehr begreifbaren Einwilligung die Wirksamkeit selbst dann zu versagen, wenn der Einwilligende - etwa weil er sich in eine Scheinwelt verrannt oder die vernunftbegründete Einsicht in gewisse Werte verloren hat — an seiner offensichtlich vernunftwidrigen Entscheidung festhält. Bisweilen findet die Richtigkeit solchen Verfahrens und der Annahme des hier vom Vernünftigen in Wahrheit Gewollten ja sogar noch ihre empirische Bestätigung — wenn nämlich die Person sich von den Grundlagen ihrer früheren Entscheidung mittlerweile wieder gelöst und zur Vernunft zurückgefunden hat und aus dieser Sicht froh ist, daß der damaligen Entscheidung die Anerkennung versagt wurde 43 . 3. Der Wille des einzelnen als vernünftiges Wesen bildet freilich nicht nur den prinzipiellen Hintergrund für die Aufrechterhaltung der Verbote und damit des Schutzes vor den Folgen von Einwilligungen, die sich nicht mehr als Ausdruck der Entscheidung einer vernünftigen Person begreifen lassen. Aus ihm folgen zugleich die Grenzen solcher Nichtanerkennung, ergibt sich insbesondere, daß diese lediglich einen engen Kreis von Sachverhalten betreffen kann. Das nicht nur deshalb, weil auch die vernünftige Person daran interessiert ist, eine Reihe von Entscheidungen nicht unbedingt nach Vernunftgründen, sondern nach der momentanen Stimmung, nach Lust und Laune, dem Geschmack, abweichend vom Üblichen usw. zu treffen 44 . Auch wo das nicht mehr zutrifft, vernünftige Personen vielmehr bereichsweise nach Vernunfterwägungen entscheiden, gibt es doch Gründe, die Nichtanerkennung bestimmter Einwilligungen wegen Vernunftwidrigkeit restriktiv gehandhabt zu wis4 2 Und die daher auch über die psychischen Kategorien der Willensmängel oder der Einwilligungs(un-) Fähigkeit nicht adäquat zu fassen sind (s. ergänzend oben zu Anm. 35 ff). 4 3 Oder, wenn dieser gefolgt wurde, die frühere Entscheidung bereut; weshalb der Hinweis auf die später möglicherweise bereute Einwilligung (vgl. Ar^t/Weber, Strafrecht Bes. Teil I, 3. Aufl. 1988, Rdn. 274; Noll, O L G Zweibrücken-FS, 1969, S. 223) durchaus einen bedeutsamen (empirischen) Aspekt für die Begründung der Irrelevanz der Einwilligung (s. auch schon oben bei Anm. 41) beisteuert. 4 4 Vgl. auch Roxin, Strafrecht Allg. Teil I, § 13 Rdn. 58 f.
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sen. Dies weniger, weil man über die Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit bestimmter Entscheidungen innerhalb gewisser Grenzen streiten kann — dem ließe sich Rechnung tragen, indem man die Nichtanerkennung auf Sachverhalte beschränkt, in denen die Unvernünftigkeit evident ist. Gewichtiger ist, daß auch dieses Urteil ohne Kenntnis der Gründe des Entscheidenden oder ohne Wissen um das Gegebensein oder Nichtgegebensein bestimmter Sachverhalte meist nicht möglich ist, zugleich aber auch die vernünftige Person ein Interesse daran hat, derartige Sachverhalte nicht stets preisgeben zu müssen, wenn sie eine unvernünftig erscheinende Entscheidung vollzogen haben will. Wo die Willensrichtung der vernünftigen Person so ist, muß eine Nichtanerkennung bestimmter Entscheidungen wegen ihrer (u. U. durchaus naheliegenden) Unvernünftigkeit ebenso entfallen wie dort, wo sonstige Gründe (wie das Interesse an der Unkompliziertheit gewisser Abläufe usw.) es als durchaus vernünftig erscheinen lassen, im Einzelfall lieber eine u. U. unvernünftige Entscheidung durchgehen zu lassen als zur Vermeidung der mit ihr verbundenen Folgen global Einschränkungen der Selbstbestimmung (und ihres Vollzugs) hinzunehmen 4 5 . Dem Willen der vernünftigen Person entspricht die Nichtanerkennung einer unvernünftig erscheinenden Einwilligung daher nur, soweit diese (und ggf. denkbare weitere) Vorbehalte nicht greifen. Es muß sich also um Einwilligungen handeln, die die vernünftige Person (allein) nach Vernunftgründen zu treffen pflegt, und ihr Interesse, die Folgen einer unvernünftigen (Einwilligungs-)Entscheidung zu vermeiden, muß auch eindeutig größer sein als ihr Interesse, daß man ihrer Entscheidung ohne Rücksicht auf deren mögliche oder nachträglich erkennbare Unvernünftigkeit Rechnung tragen möge. Das läßt sich allgemein 46 ersichtlich nur für einen kleinen Kreis von Sachverhalten sagen - etwa für gravierende irreversible Beeinträchtigungen: Sie bei Unvernünftigkeit der Einwilli45
Sachlich handelt es sich dabei nicht um eine an die Einwilligung von außen herangetragene Abwägung (wie dies wohl den die Wirkung der Einwilligung auf das Prinzip des höheren Interesses stützenden Güterabwägungsansätzen entspricht; s. dazu etwa Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, im besonderen die Einwilligung des Verletzten, 1955, S. 74 ff). Die Abwägung vollzieht sich vielmehr in der Person selbst, und ihr Ergebnis artikuliert sich im (anzunehmenden) Willen der Person. 46 Im Einzelfall mag anderes gelten: Ist etwa bekannt, daß eine Person auch schon unterhalb dieser Schwelle liegende Beeinträchtigungen bei für andere erkennbarer (ihr selbst aber verborgener) Unvernünftigkeit nicht will, so entfallt damit bei Gegebensein dieser Voraussetzung dann auch in diesem Fall die legitimierende Wirkung der Einwilligung (und wäre deren Exekution „sittenwidrig"). Sachlich wird man in diesem Fall freilich u. U. nicht auf § 228 StGB rekurrieren, sondern über Gesichtspunkte wie Irrtum oder überlegenes Wissen zu helfen versuchen.
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gung zu vermeiden, wird der vernünftigen Person regelmäßig wichtiger erscheinen als die Vermeidung der damit (als Kehrseite) verbundenen Fragen (nach den Gründen) und die Nichtbeachtung bestimmter Wünsche oder Einwilligungen, solange für diese streitende Vernunftgründe nicht ersichdich sind. Natürlich liegt gegenüber diesen Gedanken die Frage nahe, ob sie sich nicht zu weit von dem entfernen, worum es in § 228 StGB geht oder zu gehen scheint. Tut man dieser Vorschrift nicht Gewalt an, wenn man sie als schlecht gefaßte, weil verfehlt moralisierende Regelung eines an sich schon aus autonomiebezogenen Erwägungen folgenden, relativ eng begrenzten Unwirksamkeitsgrundes versteht? — Wir wollen diese Frage noch einen Augenblick zurückstellen. Sie läßt sich überzeugender beantworten, wenn man bei ihrer Beantwortung nicht nur auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Begrifflichkeit sieht, sondern auch die Ergebnisse der Konkretisierung des Ansatzes einbezieht. IV. Diese Konkretisierung führt zu einer bemerkenswerten Ubereinstimmung mit den neueren Versuchen einer dezidiert restriktiven Interpretation der Vorschrift. Doch nicht nur das. Der Ansatz vermag diesen Ergebnissen und manchen Differenzierungen, die sich im direkten Anschluß an die gesetzliche Begrifflichkeit nur schwer fundieren lassen 47 , auch ein tragfahiges Fundament zu geben. /. Nach den obigen Erwägungen muß sich die Nichtanerkennung einer Einwilligung wegen ihrer - aus der Sicht Dritter gegebenen oder naheliegenden — Unvernünftigkeit im Interesse der grundsätzlichen Erhaltung der Selbstbestimmung auf Ausnahmefälle beschränken. Sie kann nur solche Einwilligungen betreffen, bei denen klar ist, daß eine vernünftige Person sie nicht erteilen würde und daher auch unter Berücksichtigung ihres Interesses an möglichster Erhaltung der Selbstbestimmung ein Handeln entsprechend dieser Einwilligung nicht wünscht, weil nicht wünschen kann 48 . 47 Konkret: Hebt man auf das Kriterium der Sittenwidrigkeit ab, so fallt die Herausnahme solcher Sachverhalte, die ganz überwiegend noch als sittenwidrig gelten (wie z. B. anstößige Sexualpraktiken), zumindest einigermaßen schwer (vgl. auch Stratenwerth, Strafrecht Allg. Teil I, Rdn. 376). Natürlich kann man das formal abwenden, indem man eine allgemeine Qualifikation als sittenwidrig fordert. Nur: Fehlt es an dieser allgemeinen Qualifikation als sittenwidrig (im Blick auf die abweichende Sicht etwa Handelnder) nicht auch in Fällen, die erfaßt bleiben sollen? 48 Es geht also um nichts von außen Herangetragenes, sondern um eine dem Willen der autonomen Person selbst entsprechende Maxime; s. schon Anm. 45.
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Das Hauptbeispiel dafür bilden gravierende körperliche Eingriffe, insbesondere solche mit irreversiblen Folgen, die ohne ersichtlichen oder nachvollziehbaren Grund verlangt oder bewilligt werden 49 : Sie sind als Ausdruck der Entscheidung eines Vernünftigen nicht begreifbar — denn niemals kann sich eine als vernünftig geltende Person, solange sie im Zustand der Vernunft entscheidet, zur grundlosen (einschließlich nicht nachvollziehbarer Gründe) irreversiblen Aufgabe substantieller Bedingungen ihres Daseins und ihrer Freiheit, also zur Preisgabe ζ. B. wichtiger Organe, zur Einwilligung in eine Verstümmelung oder in eine Amputation wichtiger Körperteile bereitfinden. Entscheidungen dieser Art trifft die vernünftige Person allein auf der Basis eines ganz begrenzten Kanons hinreichender Gründe 5 0 . Sind solche nicht ersichtlich, so ist davon auszugehen, daß hier eine Person unter grober Verkennung von Sachzusammenhängen oder ohne wirklichen Einsatz ihrer Vernunft entschieden hat oder möglicherweise — in Wahnvorstellungen befangen oder von selbstzerstörerischen Kräften getrieben — zu einer vernünftigen Entscheidung gar nicht in der Lage war. Eine solche Entscheidung kann als legitimierende Grundlage für die Vornahme des bewilligten Eingriffs nicht ausreichen, weil die empirisch einwilligende Person, als Vernünftiges anerkannt, ihre Befolgung in Wahrheit gerade nicht will (und wollen kann). Ganz vergleichbare Erwägungen gelten für eine Reihe von Verhaltensweisen und ihre Bewilligung, die zwar ihrem Sinngehalt nach nicht darauf zielen, gravierende Beeinträchtigungen mit irreversiblen Folgen
4 9 Dazu, daß diese auch in der neueren restriktiven Auslegung des § 228 bzw. § 226a StGB den eigentlichen Anwendungsfall der Vorschrift darstellen, vgl. z. B. Baumann/ Weber/Mitscb, Strafrecht Allg. Teil, 10. Aufl. 1995, S. 355; Hirsch, ZStW 83 (1971), 166 f; ders., in: LK, § 226a Rdn. 9; Jakobs, Strafrecht Allg. Teil, 14/9; Jescheck/Weigend, Strafrecht Allg. Teil, 5. Aufl. 1996, § 34 V; Köhler, Strafrecht Allg. Teil, S. 255 f; Stree, in: Schänke/ Schröder, § 226a Rdn. 10; s. auch Göbel(Anm. 26), S. 54 f, 56; Weigend, ZStW 98 (1986), 65. 5 0 Wobei der Kreis dieser Gründe freilich ζ. T. unscharf und auch Schwankungen unterworfen ist; s. noch unten 3. sowie Köhler, Strafrecht Allg. Teil, S. 256, 257; Horn, JuS 1979, 31, und Göbel (Anm. 26), S. 56 f. — Sachlich klingt das Erfordernis derartiger Gründe vor allem in der (die Relevanz der Einwilligung auf den Vorrang des höheren Interesses gründenden) Güterabwägungslehre an (vgl. etwa Noll, OLG Zweibrücken-FS, S. 222 f); doch dürfte das Erfordernis des (objektiv) höheren Interesses die Sache nicht ganz treffen (ganz abgesehen davon, daß es nicht um eine heteronome Bewertung unter Interessengesichtspunkten geht): Entscheidend ist, ob Gründe vorliegen, die die Entscheidung als vertretbar, als mögliche Entscheidung eines Vernünftigen, nachvollziehbar erscheinen lassen (zutr. Jakobs, Strafrecht Allg. Teil, 14/9; Köhler, Strafrecht Allg. Teil, S. 257; Stratenwertb, Strafrecht Allg. Teil I, Rdn. 376).
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herbeizuführen, aber doch erhebliche Gefahren dieser Art beinhalten 51 . Auch die Einwilligung in solche Verhaltensweisen kann unter bestimmten Umständen das Vorhandensein einer autonomen Entscheidung in Frage stellen. In Betracht kommt dies vor allem dann, wenn zwischen den für die Handlung sprechenden Gründen und den mit ihr verbundenen Gefahren auch unter Berücksichtigung der Bandbreite subjektiver Präferenzen ein so offensichtliches Mißverhältnis besteht, daß es zu ihr bei der Entscheidung eines Vernünftigen nur im Irrtumsfall käme 52 . Beispiele bilden etwa die Einwilligung in offenbar sinnlose, aber hochgefährliche Humanexperimente oder in Züchtigungen und Bestrafungsaktionen mit naheliegenden schweren Folgen oder das Einverständnis mit kurpfuscherischen Eingriffen, die mit erheblichen Gefahren für Leib oder Leben behaftet sind 53 . Einwilligungen dieser Art lassen sich aus der Perspektive des Vernünftigen regelmäßig nur als Ausdruck der Unfreiheit verstehen, angefangen bei (zu vermutenden) Irrtümern über Zustände panikartiger Verzweiflung, die Vernunft überrennenden Wahnvorstellungen oder krankhaften Zügen der Selbstzerstörung bis hin zu (regelmäßig von anderen) irregeleiteten „religiösen" Vorstellungen. 2. Anderes gilt für eine Reihe von Sachverhalten, die vor allem früher verbreitet als Fälle rechtswidriger Körperverletzung trotz Einwilligung benannt wurden. Hierher gehört nicht nur die Aussehensveränderung auf Verlangen eines Straftäters 54 - denn daß dieser Wunsch jeder Vernunft widerstreite, wird man schwerlich sagen können; hier sind vielmehr ganz andere Interessen verletzt, die mit dem Unrecht der Körper-
S. dazu auch Hirsch, in: LK, § 226a Rdn. 10. Insoweit spielen also die von der Güterabwägungslehre im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der Einwilligung betonten Interessen und ihr Gewicht durchaus eine Rolle. Freilich geht es nicht um eine Uberprüfung des bewilligten Verhaltens am Prinzip des (objektiv) höheren Interesses, sondern nur um die Verstehbarkeit des Ganzen als Entscheidung eines Vernünftigen. Deswegen geht auch das Erfordernis der Verfolgung des überwiegenden Interesses zu weit; die Diskrepanz darf nur nicht so groß sein, daß sich die Einwilligung nicht mehr als Entscheidung eines Vernünftigen begreifen läßt. Wohl übereinstimmend Jakobs, Strafrecht Allg. Teil, 14/12; s. auch Anm. 50. 53 Anders ist es dagegen angesichts der relativ geringen Infektionswahrscheinlichkeit bei der Einwilligung in den ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem HIV-Infizierten; vgl. auch Helgerth, NStZ 1988, 361 (mit freilich z. T. problematischen Zusatzvoraussetzungen), sowie Weber, Baumann-FS, S. 541. 5 4 Jedenfalls wenn es dabei nicht um dessen dauernde Entstellung, sondern nur um Eingriffe geht, die Personen aus ästhetischen Gründen oder um „anders zu sein" auch sonst vornehmen lassen. 51
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Verletzung nichts zu tun haben 55 . Es gilt vor allem für die Einwilligung in eine Reihe von Formen der leichteren, insbesondere vorübergehenden Körperverletzung 56 . Insoweit wirkt sich zunächst schon aus, daß es für die Vornahme oder Zulassung von (im naturalistischen Sinne) geringfügigen Beeinträchtigungen recht unterschiedliche Vernunftgründe geben kann — womit man bei Unkenntnis der Gründe die Einwilligung nicht einfach als Ausdruck der Entscheidung eines Unvernünftigen ignorieren kann, andererseits aber auch eine Aufdeckung der Gründe (etwa durch Fragen und Recherchen) ausscheidet, weil die autonome Person ein Recht hat, die Gründe ihrer Entscheidung für sich zu behalten 57 . Aber auch wenn die Hintergründe der Einwilligung und das, was der Einwilligende mit der Zulassung oder dem Verlangen bestimmter körperbezogener Handlungen Dritter bezweckt, auf der Hand liegen - es etwa um die Befriedigung ritueller oder sexueller Bedürfnisse geht —, ist eines unübersehbar: Das Urteil, daß eine bestimmte Einwilligung nicht mehr als Ausdruck der Entscheidung eines Vernünftigen nachvollziehbar sei, läßt sich bei Einwilligungen in leichtere Körperverletzungen kaum je fällen. Dem steht allein schon der Umstand entgegen, daß auch vernünftige Personen Launen haben und dort, wo es um nicht allzuviel geht, bereit sind, aus für andere wenig einsichtigen Motiven oder wenig überzeugenden Gründen gewisse (insbesondere nur vorübergehende) körperliche Beeinträchtigungen hinzunehmen. Pointiert: In diesem Bereich tragen keineswegs nur unanfechtbare Gründe, wie 55 Nämlich Strafverfolgungsinteressen (§ 258 StGB!) usw. Nicht überzeugend daher Ber?, GA 1969, 146, und Horn, in: SK StGB, § 226a Rdn. 9, nach deren grundsätzlicher Leitlinie (Körperverletzung zum Zwecke der Vorbereitung, Vornahme, Verdeckung oder Vortäuschung einer Straftat) dieser Fall erfaßt wäre. Gegen diesen Ansatz auch Jakobs, Strafrecht Allg. Teil, 14/9 (m. Fn. 13); Hirsch, in: LK, § 226a Rdn. 9; ders., ZStW 83 (1971), 165 ff, und \Veigend, ZStW 98 (1986), 64. 56 Daß diese — trotz Sittenwidrigkeit im moralischen Sinne — bei Einwilligung des Verletzten (und fehlenden psychischen Defekten usw.) regelmäßig nicht als Grundlage der Strafbarkeit taugen, betonen mit Recht auch Köhler, Strafrecht Allg. Teil, S. 256; Gäbe! (Anm. 26), S. 54 f. 57 An dieser Stelle liegt ein wichtiger Unterschied zur Einwilligung in gravierende körperliche Eingriffe, für die es regelmäßig nur einen engen Kanon von Vernunftgründen gibt, deren Gegebensein oder Nichtgegebensein zudem vom Erklärungsempfänger leicht erkannt werden kann — insbesondere wenn es sich um operative Eingriffe handelt, bei denen der Handelnde regelmäßig selbst fachkundig in bezug auf das Gegebensein bestimmter Gründe ist. — Damit soll nicht gesagt sein, daß als Gründe für die Vornahme eines bestimmten Eingriffs nur Indikationen der Schulmedizin in Betracht kommen. Der Kreis dessen, was als Grund eines Vernünftigen noch nachvollziehbar oder vertretbar erscheint, ist weiter. Vgl. dazu auch Köhler,; Strafrecht Allg. Teil, S. 257; Horn, JuS 1979, 31; Roxin, Strafrecht Allg. Teil I, § 13 Rdn. 58.
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das Bestreben, Heilung zu erfahren, das Fortschreiten eines Leidens zu verhindern, anderen (z. B. durch eine Organspende) das Weiterleben zu ermöglichen, das eigene Aussehen zu verbessern usw. Hier genügen als motivierende Gründe auch eine Mutprobe, die Befriedigung ritueller Bedürfnisse, die symbolische Bekräftigung bestimmter Bindungen oder Absprachen, sexuelle Bedürfnisse, aber auch die bloße Demonstration, anders zu sein, so zu erscheinen, wie andere es nicht wagen würden oder es nicht mögen 5 8 usw. An dieser Stelle liegt auch der tiefere Grund dafür, daß die vor allem in der älteren Rechtsprechung und Literatur als Paradefälle der Rechtswidrigkeit wegen Sittenwidrigkeit der Tat genannten Körperverletzungen (körperlichen Mißhandlungen) mit sexuellem Hintergrund 59 als Sachverhalte einer rechtswidrigen und strafbaren Körperverletzung ausscheiden: So motivierte Verhaltensweisen mögen gegen gewisse Sittenlehren verstoßen, vielen, vielleicht sogar den meisten, als unmoralisch oder pervers gelten — daß man sie nicht mehr als Ausdruck der Entscheidung eines Vernünftigen begreifen könne, läßt sich im Vergleich mit vielen anderen als ausreichend angesehenen Gründen oder zugestandenen, sich auf die körperliche Integrität auswirkenden Launen auch Vernünftiger schwerlich überzeugend sagen. 3. Was in diesem Sinne genügt, um Beeinträchtigungen oder Gefährdungen noch als hinzunehmende Selbstbestimmung einer Vernunftperson gelten zu lassen, steht nicht unabänderlich fest. Es ist in hohem Maße zeit- und kulturgebunden und hängt vor allem vom Maß der Toleranz und der Akzeptanz auch ganz anderer Einstellungen und Motivationen als anzuerkennendem möglichem und daher hinzunehmendem Ausdruck der Selbstbestimmung einer Vernunftperson ab 60 . Das bedeutet zugleich, daß die angedeutete Klassifizierung ganz unterschiedlich motivationsbedürftiger Körperbeeinträchtigungen in schwerere und leichtere nur eine grobe Leitlinie abgeben kann. Vergegenwärtigt man sich bestimmte Kampfsportarten, die auf die Ausschaltung des Gegners durch dessen Verletzung zielen, oder lebensgefährliche Sportarten oder 58 Man denke an Ganzkörpertätowierungen, vielfaltiges Durchstechen von Ohren oder Nase usw. 59 Vgl. etwa RGSt. 74, 91; RG DR 1943, 234; zu sadomasochistischen Verletzungen usw. s. z. B. LG Hamburg DR 1939, 1508 sowie — einschränkend auf gravierende Körperverletzungen - Slamanti, G A 1991, 71 ff, 78 f, und Ber^ GA 1969, 147, 148 (sittenwidrig, aber nicht strafwürdig). 6 0 Ebenso Gäbet (Anm. 26), S. 54 f; auch in den immer wieder auftauchenden Hinweisen auf die Vertretbarkeit der Gründe (Stratenmrth, Strafrecht Allg. Teil I, Rdn. 376) oder auf den Aspekt „pragmatischer Autonomie" (Köhler; Strafrecht Allg. Teil, S. 256 f) kommt diese (begrenzte) Relativität zum Ausdruck.
Zum Unrecht der sittenwidrigen Körperverletzung (§ 228 StGB)
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mit w a f f e n ä h n l i c h e n G e g e n s t ä n d e n ausgetragene traditionell akzeptierte M u t p r o b e n (studentische M e n s u r 6 1 ) , so w i r d schnell sichtbar, daß m i t der A n e r k e n n u n g b e s t i m m t e r E n t f a l t u n g s m ö g l i c h k e i t e n durchaus auch w e i t e r g e h e n d e k ö r p e r l i c h e G e f ä h r d u n g e n u n d Beeinträchtigungen (im R a h m e n der Regeln solcher Veranstaltungen) einwilligungsfähig w e r d e n können62. D i e v o r s t e h e n d e n B e m e r k u n g e n zur K o n k r e t i s i e r u n g des A n s a t z e s sind sicherlich e r g ä n z u n g s b e d ü r f t i g 6 3 . Sie lassen indessen auch so e r k e n nen, zu w e l c h e n K o n s e q u e n z e n der hier v e r t r e t e n e A n s a t z im wesentlic h e n führt. In der Sache ist eine w e i t g e h e n d e U b e r e i n s t i m m u n g mit d e n n e u e r e n V e r s u c h e n einer restriktiven I n t e r p r e t a t i o n des § 2 2 6 a bzw. § 2 2 8 S t G B n. F. unübersehbar. D a s läßt v e r m u t e n , d a ß auch in diesen
S. dazu BGHSt. 4, 24; ablehnend Hb. Schmidt, JZ 1954, 369; gegen ihn Härtung, NJW 1954, 1225. 62 Ubereinstimmend Köhler, Strafrecht Allg. Teil, S. 256; s. auch Roxin, Strafrecht Allg. Teil I, § 13 Rdn. 58. 63 So wurde auf die Frage, ob es für die Beurteilung der Einwilligung als wirksam oder unwirksam nur auf die Art und das Ausmaß der Beeinträchtigung oder auch auf die dabei verfolgten Zwecke und Motive ankommt (dazu etwa Hirsch, in: LK, § 226a Rdn. 9; Stree, in: Schänke/Schröder, § 226a Rdn. 7 f, m. w. N.; Weigend, ZStW 98 [1986], 64 f), bislang zumindest nicht näher eingegangen. Freilich ist die hier für richtig gehaltene Antwort aus dem obigen Text unschwer abzuleiten: Soweit die Einwilligung des einzelnen (jenseits faßbarer Defizite und Willensmängel) ohne Rücksicht auf das Vorhandensein bestimmter Gründe zählt, kommt es auf Zwecke, Motive usw. nicht an — daß ζ. B. durch eine geringfügige körperliche Beeinträchtigung ein Versicherungsbetrug vorbereitet oder zur Vermeidung der Bestrafung das Aussehen verändert werden soll, rechtfertigt (entgegen der sog. Zwecktheorie) ebensowenig die Strafbarkeit als Körperverletzung wie der Verstoß der konsentierten Körperverletzung gegen verbreitete Vorstellungen über das adäquate Sexualverhalten. Wo es dagegen, wie bei gravierenden Körperverletzungen, auf das Gegebensein tragfahiger Gründe ankommt, läßt sich vom Subjektiven nicht völlig absehen — allein anhand der Gründe ist zu ersehen, ob die Einwilligung in concreto als Ausdruck einer autonomen Entscheidung gelten kann oder nicht (übereinstimmend Hirsch, in: LK, § 226a Rdn. 9). Freilich interessiert dabei nicht der ganze Bereich des Subjektiven, sondern nur das Vorhandensein eines tragfähigen Grundes. Beispiel: Die Einwilligung in eine Organentnahme bleibt auch dann wirksam, wenn das für die Organspende verwendete Geld zu unsittlichen oder gesetzwidrigen Zwecken verwendet werden soll; denn als tragfähiger Grund für die Einwilligung in die Organentnahme reicht die vereinbarte Verwendung des Organs für einen anderen aus. Das ist die richtige Grundeinsicht der Auffassung, die sich um eine möglichste Ausblendung der Motive und Zwecke bemüht. (Außerdem ist es natürlich richtig, daß, wenn die Einwilligung in die Tat nach den vorstehenden Grundsätzen wirksam ist, unsittliche Zielsetzungen des Handelnden allein die bewilligte Beeinträchtigung nicht rechtswidrig machen — allenfalls ist denkbar, daß das Handeln des Täters bei solcher Sachlage oder bei Nichtverfolgung bestimmter vorgeblicher Ziele [ζ. B. Entnahme des Organs zur Durchführung einer Transplantation] zu einem von der Einwilligung in Wahrheit gar nicht gedeckten Verhalten wird.). 61
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Versuchen trotz des formalen Anschlusses an den „Verstoß gegen die guten Sitten" seit langem der Gedanke eine Rolle spielt, ob sich die je in Frage stehende Einwilligung noch als Ausdruck der Entscheidung einer vernünftigen Person begreifen läßt oder nicht 64 . V. Es bleibt die Frage nach der Vereinbarkeit des Ansatzes mit dem Gesetz oder vielleicht auch den Intentionen des Gesetzgebers. Sie ist differenziert zu beantworten. Sicherlich entfernt sich die hier entwickelte Deutung des § 228 StGB von den Vorstellungen des Gesetzgebers im Jahre 1933. Dieser sah — aufbauend auf entsprechende Vorschläge der damaligen Literatur 65 — das Entscheidende offenbar wirklich in der Sittenwidrigkeit der Körperverletzung und meinte wohl, über die damit gegebene Bemakelung und Unbeachtlichkeit auch der Einwilligung zugleich die Strafbarkeit wegen Körperverletzung ausreichend begründet zu haben 66 . Indessen enthält die Entstehungsgeschichte des heutigen § 228 StGB und früheren § 226a StGB durchaus auch Anhaltspunkte für ein Verständnis, das dem hier entwickelten ähnelt. So ging es den § 226a StGB zugrundeliegenden Entwürfen vor allem darum, in Fällen der abgenötigten Einwilligung die Strafbarkeit des Handelnden wegen Körperverletzung aufrechtzuerhalten 67 — die Körperverletzung auf der Grundlage einer so zustande gekommenen Einwilligung erschien den Verfassern der Entwürfe sittenwidrig. In der Sache ist das eine deutliche Parallele zu dem hier vertretenen Ansatz; denn damit bildet den eigendichen Hintergrund der Strafbarkeit ebenfalls nicht die Sittenwidrigkeit, sondern ein Autonomiedefizit. Diese Auffassung der Entwürfe ist zwar für die heutige Interpretation des § 228 StGB nicht mehr direkt und unmittelbar ergiebig. Denn die Lehre von den Willensmängeln der Einwilligung ist inzwischen so 6 4 Sehr deutlich in diese Richtung jüngst Köhler.; Strafrecht Allg. Teil, S. 255 f; s. aber auch schon Stratenwerfh, Strafrecht Allg. Teil I, Rdn. 375 f, und Noll, OLG ZweibrückenFS, S. 222 ff. 65 Vgl. etwa R. v. Hippel\ Deutsches Strafrecht, Bd. 2, S. 245 ff (symptomatisch insbes. der Bezug auf ZitelmannV). 6 6 Zur Untauglichkeit einer solchen Argumentation, das spezifische Unrecht der Körperverletzung zu begründen, s. oben II. 67 Vgl. E 1925 (Begründung zu § 239, S. 124), E 1927 (Begründung zu § 264, S. 134); s. auch Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Bes. Teil I, 8. Aufl. 1995, § 8 Rdn. 13. In der damaligen literarischen Diskussion spielten freilich z. T. auch ganz andere Aspekte eine Rolle; vgl. z. B. R. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, S. 245 ff; Meiner, Strafrecht. Ein Lehrbuch, 2. Aufl. 1933, S. 215 ff, 218.
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ausgearbeitet und in ihren Kernbereichen auch unabhängig von § 228 StGB anerkannt 68 , daß es zur Lösung derart willensmängelbehafteter Sachverhalte der Heranziehung des § 228 StGB nicht mehr bedarf (und andererseits diese Fälle offenbar auch nicht mehr die durch § 228 StGB gemeinten repräsentieren). Indirekt bleibt die schon den Aspekt des Autonomiedefizits erfassende Sicht der Entwürfe freilich als Leitlinie für die Funktion oder das Verständnis des § 228 StGB durchaus bedeutsam. Der entsprechende Gedanke ist nur weiterzuführen: Es gilt zu erkennen, daß § 228 StGB zum Schutz des Einwilligenden vor den Folgen einer nicht autonomen Entscheidung den klar eingegrenzten Kanon der psychisch beschreibbaren Autonomiedefizite durch einen Wechsel der Blickrichtung ergänzt — indem er nämlich am Inhalt und Bezugspunkt der Einwilligung ansetzt und ergänzend bestimmte unter dem Aspekt der Autonomie insoweit problematische Einwilligungen ebenfalls nicht anerkennt. Sachlich handelt es sich dabei um einen Unwirksamkeitsgrund, den eine sorgfältig entworfene Einwilligungsdogmatik selbst dann enthalten müßte, wenn es eine Vorschrift wie § 228 StGB nicht gäbe 69 . Das bedeutet zugleich: Eigentlich geht es im jetzt interessierenden Zusammenhang nur noch darum, ob das aus Sachgründen Bedeutsame so (d. h.: wie sonstige Segmente der Einwilligungslehre auch 70 ) als Inhalt dogmatischer Einsichten gilt oder ob sich das aus sachlichen Gründen Richtige als eigentlich Gemeintes der ansonsten inkonsistenten Vorschrift des § 228 StGB ausgeben läßt. Vorzugswürdig erscheint das Letztere; der Gesetzeswordaut steht nicht entgegen. Denn natürlich ist die Vornahme einer Körperbeeinträchtigung an einer einwilligenden Person, wenn der Inhalt der Einwilligung diese als Ausdruck mangelnder Autonomie erscheinen läßt, unsittlich, sittenwidrig und in diesem Sinne ein Verstoß gegen die „guten Sitten" 71 . Das hier vertretene, aus den Sachzusammenhängen der Un6 8 In den Randbereichen bestehen freilich erhebliche Kontroversen (s. oben Anm. 31 - 34) - doch erscheint es auch insoweit sinnvoller, die genannten Kategorien zu konkretisieren, als auf § 228 S t G B zurückzugreifen. 6 9 Pointiert: Auch eine Rechtsordnung, die eine Vorschrift wie § 2 2 8 S t G B nicht kennt, steht vor der Frage, ob einer Einwilligung oder einem Verlangen nachgekommen werden darf, die sich nicht mehr als Entscheidung eines Vernünftigen begreifen lassen (ohne daß schon ein klar die Einwilligungsunfähigkeit ergebender psychischer Defekt ersichtlich wäre). 7 0 Etwa die nicht kodifizierte — Lehre von den Willensmängeln oder Einwilligungsunfähigkeit usw. 7 1 Das folgt schon daraus, daß sich der Handelnde in solchen Fällen ja über den anzunehmenden wahren Willen der Person (oben III.) hinwegsetzt und diese damit in ihrer Subjektqualität mißachtet. Im übrigen haben auch die Vertreter der hier unterstütz-
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rechtslehre und der Einwilligungsdogmatik entwickelte Verständnis des § 228 StGB zieht so gesehen nichts unter die Vorschrift, was nicht auch die gesetzliche Begrifflichkeit erfüllte. Im Gegenteil: Es schränkt den Kreis der Sachverhalte, die von der gesetzlichen Begrifflichkeit erfaßt werden, deutlich ein und verfolgt damit eine allenthalben für richtig gehaltene Tendenz. Freilich erfolgt diese Einschränkung nicht einfach im direkten Anschluß an die gesetzliche Begrifflichkeit, indem etwa das besondere Gewicht oder die besondere Klarheit des Verstoßes gegen die guten Sitten zum Leitprinzip der Konkretisierung erhoben wird 72 . Versuche dieser Art sind ungeeignet, die in der direkten Anknüpfung an die „guten Sitten" liegende prinzipielle Inkonsistenz der Unrechtsund Strafbarkeitsbegründung zu beheben. Die Einschränkung erfolgt vielmehr, indem für die Umschreibung und Konkretisierung der Fälle rechtswidriger Körperverletzung trotz Einwilligung auf das abgestellt wird, was im Begründungszusammenhang die Annahme gerade von Körperverletzungsunrecht trotz gegebener Einwilligung allein zu tragen vermag: die fehlende Begreifbarkeit der Einwilligung als Ausdruck einer autonomen Entscheidung (über die körperliche Integrität). Natürlich ist eines richtig: Bei einer solchen Sicht sinkt die vom Gesetz hervorgehobene Sittenwidrigkeit der Körperverletzung, die bei einer nicht als Ausdruck der Entscheidung eines Vernünftigen begreifbaren Einwilligung zugleich gegeben ist, zu einem Sekundärphänomen herab, einer Umschreibung, die — wie Hans Joachim Hirsch zutreffend sagt 73 — das eigentlich Maßgebende nicht trifft und damit auch gefahrlich wird, wenn man sich zu sehr von dieser Begrifflichkeit leiten läßt. Aber das spricht nicht gegen den vorliegenden Ansatz, sondern gegen die gesetzliche Begrifflichkeit. Die mit dieser verbundenen Gefahren, die sich in vielfaltigen Unsicherheiten und Schwankungen bei der Auslegung der Vorschrift spiegeln, werden erst entfallen, wenn man die Qualifikation der Tat als sittenwidrig als bloßes Begleitphänomen dessen versteht, worum es aus Sachgründen allein gehen kann: die fehlende Begreifbarkeit der Einwilligung in bestimmte Verletzungen als Ausdruck der autonomen Willensentscheidung eines Vernünftigen.
ten restriktiven Interpretation des § 228 StGB keine Bedenken, in den von ihnen dem § 228 StGB unterstellten Fällen semantisch von einer „Sittenwidrigkeit" zu sprechen. 72 So aber die oben Anm. 6 zitierten Vorschläge. 73 Welzel-FS, S. 799.
Rechtsbeugung durch Verfolgung § 344 StGB im Spiegel eines Fehlurteils
GERD
GEILEN
§ 344 StGB, die sog. „Verfolgung Unschuldiger", stößt forensisch wie publizistisch kaum auf Interesse. Das ist seltsam, wenn man die auch praktisch sehr weittragende Umgestaltung des Tatbestandes durch das EG StGB bedenkt. Nach dem jetzigen Stand der Diskussion ist § 344 StGB schwerpunktmäßig ein Ort für „Katalaunische Schlachten", etwa für Kontroversen darüber, wie die bei pflichtgemäßer Verfolgung jedenfalls selbstverständliche Straflosigkeit des Amtsträgers konstruktiv zu begründen ist. Kann man sich mit dem Hinweis auf das bei Gutgläubigkeit jedenfalls subjektiv bestehende Manko begnügen, oder geht es um Figuren wie Sozialadäquanz, erlaubtes Risiko, ausgeschlossene oder fehlende Rechtswidrigkeit usw.? So kann der Tatbestand im Mißverhältnis zum praktischen Ertrag zur Kampfarena für dogmatische Gefechte werden. Die gerade bei § 344 StGB sehr brisanten Sachprobleme werden durch den dabei aufgewirbelten Staub verdeckt. I. Demgemäß überrascht es auch nicht, daß sich im — ebenso einhellig wie vorbehaltlos zustimmenden - Schrifttum eine Entscheidung als Beispiel einer geradezu exemplarischen Auslegung etabliert hat, die ein evidentes, für den Betroffenen leider nicht mehr rückgängig zu machendes Fehlurteil ist 1 . Weil in dem zugrundeliegenden Fall Strukturfragen des § 344 StGB wie in einem Brennspiegel zusammentreffen, ist von diesem — jedenfalls für Illustrationszwecke nützlichen — Urteil auszugehen. Der nach § 344 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB verurteilte Angeklagte, der als Dezernatsleiter jährlich ca. 4000 Bußgeldsachen zu bearbeiten und in dem fraglichen Zeitraum den erkrankten Leiter eines weiteren Dezernats zu vertreten hatte, ließ an den Halter 1 Vgl. LG Hechingen NJW 1986, 1823; positive Hervorhebung im Schrifttum u. a. bei Wagner, JZ 1987, 663; Tröndle, StGB, 48. Aufl., § 344 Rdn. 3; Schänke./Schröder,/Cramer, 25. Aufl., § 344 Rdn. 11; Lackner/Kühl, StGB, 22. Aufl., § 344 Rdn. 4; SK-Horn, StGB, § 344 Rdn. 8, 9 (mit nachdrücklicher Zustimmung auch zur Irrtumslösung des LG); Maurach/Schroeder /Maiwald, BT 2, 7. Aufl., S. 254.
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eines in eine Ordnungswidrigkeit verwickelten Fahrzeugs das „zur Anhörung des Betroffenen zur Verkehrs-Ordnungswidrigkeit-Anzeige" verwendete Formular übersenden, obwohl, wie er wußte, der Halter mit dem für die Tat verantwortlichen Fahrer nicht identisch war. Auf diese Weise wollte er Angaben über die Identität des Fahrers und damit einen Ausgangspunkt erhalten, um gegen den in Wirklichkeit Verantwortlichen vorzugehen. Weil er einen die sog. „Kennzeichenanzeige" betreffenden Ministererlaß mißverstanden hatte, hielt der Angeklagte die Verwendung des falschen, weil nur für persönlich Betroffene geltenden Formulars irrtümlich für erlaubt. Infolge einer Verkettung von Umständen — der Halter reagierte nicht, und der Angeklagte war nach einem Unfall vorübergehend nicht im Dienst — kam es dann dazu, daß ein Vertreter den Bußgeldbescheid erließ. In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht wurde der Halter freigesprochen. — Ausdrücklich verneint das LG eine Verantwortung des Angeklagten für den anschließenden, der Ubersendung des Anhörungsbogens nachfolgenden Bußgeldbescheid. Vielmehr soll schon in der unzulässigen, fälschlich an den Halter adressierten Zusendung des Anhörungsbogens als „erstem Ermittlungsakt" der entscheidende, die Subsumtion unter § 344 StGB tragende Verfolgungsschritt liegen. Dabei beruft sich das LG auf den Vergleichsfall, „daß ein Staatsanwalt gegen einen Unschuldigen wider besseres Wissen ein förmliches Ermitdungsverfahren in der Absicht einleitet, über die Vernehmung des .Beschuldigten' den wahren Täter zu ermitteln". Weiter wörtlich: (Auch) „Das wäre Verfahrenswillkür, die § 344 strafrechdich erfaßt." Subjektiv wird darauf abgestellt, der Angeklagte habe trotz der ihm (in dieser Anfangsphase noch) bewußt gewesenen Begehung der Ordnungswidrigkeit durch eine andere Person die Ubersendung des Anhörungsbogens an den Halter veranlaßt und damit trotz besserer Kenntnis einen nicht in Frage kommenden „Unschuldigen" verfolgt. Demgegenüber wird die Vorstellung des Angeklagten, bei einer „Kennzeichenanzeige" aufgrund des „Ministererlasses" zu einer solchen Ermittlungsmethode berechtigt zu sein, als (allerdings „unschwer zu vermeidender") Verbotsirrtum verbucht. Weil der Angeklagte die Reichweite des Erlasses verkannt habe, wird eine Fehlvorstellung „über die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes" und damit als hier einschlägiger Unterfall Erlaubnisirrtum angenommen. Aus diesen G r ü n d e n soll der Angeklagte wegen „absichtlicher Verfolgung Unschuldiger i. S. d. § 3 4 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 S t G B " strafbar sein. Das Urteil, immerhin ergangen nach bereits erfolgtem Durchlauf der Sache durch drei Instanzen, ist fast durchgängig fehlerhaft. 1. Natürlich lag die Übersendung des Anhörungsbogens, der hier zur Strafbarkeit führende „erste Ermitdungsakt", in der Regie des als D e zernatsleiter für das Verfahren zuständigen Angeklagten. Deshalb hätte der Angeklagte, folgt man dem L G , selbst „verfolgt", statt darauf nur „hinzuwirken", worauf trotz der hier dominierenden Beteiligungsrolle fälschlich abgestellt wird 2 . 2 Daß mit dem Begriff des „Hinwirkens" auch Hilfsorgane, die nicht selbst Träger der Verfolgung sind, als tätertauglich einbezogen werden, entspricht der h. M.; vgl. für viele Lackner/Kühl, § 344 Rdn. 4; Geerds, Spendel-FS, 1992, S. 509; OLG Oldenburg MDR 1990, 1135; a. A. SK-Horn, Rdn. 4, der in der Alternative eine auch Frühstadien erfassende Vorverlagerung des Tatbestandes sieht und mit dieser Begründung den Lösungsweg der Entscheidung billigt.
Rechtsbeugung durch Verfolgung
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2. Genauso ist klar, daß auch ein richtig verstandener, weil die Verfolgung Unschuldiger fälschlich deckender Ministererlaß das Vorgehen nicht gerechtfertigt hätte. Deshalb ist es abwegig, die Verkennung „der Reichweite des Erlasses" als (nach § 17 StGB zu behandelnden) Irrtum „über die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes" anzusehen. Demgemäß kann auch von einem Verbotsirrtum in der speziellen Variante des Erlaubnisirrtums nicht die Rede sein. Vielmehr ist zu bezweifeln, ob überhaupt Verbotsirrtum in Frage kommt. 3. Weiter ist der Ausgangspunkt des LG, aber auch der ihm zustimmenden einhelligen Meinung in der Literatur, nicht einmal subsumtionstechnisch zu begreifen. Das LG berücksichtigt nicht den abweichend formulierten Wordaut in § 344 Abs. 2 StGB. Der Begriff der „Verfolgung Unschuldiger", der der Verurteilung zugrunde liegt, taucht dort überhaupt nicht auf. Stattdessen wird auf die „Unzulässigkeit" einer strafrechtlichen oder sonst nach Nr. 1 oder Nr. 2 einschlägigen „Verfolgung" abgestellt. Demgemäß ist zunächst zu beachten, daß nach der Neufassung jedenfalls im zweiten Absatz eine ausschließlich prozessuale Umschreibung zugrunde liegt 3 . Gesetzestechnisch handelt es sich um eine ähnliche Diskrepanz wie bei § 164 StGB. Auch dort sind die Bezichtigungsvarianten — „Verdächtigen" bei Straftaten sowie Verletzung von Dienstpflichten, dagegen „Behaupten" belastender Tatsachen bei anderen, mit einem vergleichbaren Sanktionsrisiko verbundenen Verfahren — nicht sauber aufeinander abgestimmt 4 . Mit diesem subsumtionstechnisch falschen Ansatz könnte auch die Irrtumslösung des LG zusammenhängen. 4. Schließlich ist erstaunlich, daß weder das Urteil noch die ihm zustimmende Literatur die von § 339 StGB (= § 336 StGB a. F.) ausgehende, sonst allgemein anerkannte Sperrwirkung 5 beachtet. Der Angeklagte hat, wenn auch fälschlich, an die Berechtigung seiner Ermittlungsmethode geglaubt. Deshalb würde zumindest die Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung 6 daran scheitern, daß jedenfalls in diesem Rahmen die 3 Es fallt auf, daß in fast allen Kommentaren die bei § 344 StGB zwischen Abs. 1 und Abs. 2 divergierende, nämlich nur bei Abs. 1 alternative Umschreibung der Tathandlung nicht berücksichtigt wird. Durchgängig wird auf die „Unschuld" des Betroffenen und das davon zu trennende Vorliegen von Verfolgungshindernissen abgestellt. 4 Dazu Geilen, jura 1984, 252 f, mit Nachweisen. 5 Vgl. Tröndle, § 336 Rdn. 7; Lackner/Kühl, § 336 Rdn. 11; Schroeder,; GA 1993, 389 f; OLG Düsseldorf NJW 1990, 1347. 6 Für die als tauglicher Täter der Angeklagte in seiner Eigenschaft als Leiter einer Bußgeldstelle in Frage kommt; vgl. IK-Spendel\ 10. Aufl., § 336 Rdn. 20 m. Nachw.; a. A. Seebode, Rechtsbeugung, 1969, S. 77 f.
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rechtliche Fehlbeurteilung zum Vorsatzausschluß gemäß § 16 StGB führt. Daraus ergibt sich mittelbar, daß ohne Rücksicht auf die tatbestandsinterne Irrtumslösung bei § 344 StGB schon aus Gründen der Sperrwirkung kein Raum sein kann für eine auf dem Umweg über § 344 StGB trotzdem strafbare „Rechtsbeugung durch Verfolgung". 5. Noch eine weitere Frage wird durch diese Konfrontation mit der Rechtsbeugung aufgeworfen. Es bedarf keiner Ausführung, daß die hier zu Ermitdungszwecken erfolgte Zweckentfremdung eines nur für den Betroffenen bestimmten Formulars im tatbestandlich jedenfalls untersten Bagatellbereich liegt. Mit Sicherheit haben schon viele „Halter" zu Unrecht „Anhörungsbögen" erhalten, obwohl sie ausweislich der zu Beweiszwecken beigefügten, völlig evidenten Photographie (etwa der jugendlichen, am Steuer sitzenden Tochter) als Fahrer nicht in Frage kamen. Trotzdem ist nicht davon auszugehen, daß es deshalb zu einer entsprechend landesweiten Prozeßlawine wegen „Verfolgung Unschuldiger" gekommen ist. Zieht man den Vergleich zur Rechtsbeugung, so ist der Befund, hält man sich an die Rechtsprechung, auch nicht erstaunlich. Bei § 339 StGB (= § 336 StGB a. F.) soll nicht jede peripher unrichtige Anwendung des Rechts genügen, sondern in dem Begriff der „Beugung" eine normative Einschränkung, nämlich die Fesdegung auf ganz elementare, schwerwiegende und zudem bewußte Verstöße gegen Gesetz und Recht enthalten sein 7 . Daß, wie hier, ein formulartechnischer Fehlgriff nicht nur überhaupt, sondern weit unterhalb dieser — in den Tatbestand damit eingebauten — Erheblichkeitsschwelle liegt, bedarf keiner Ausführung. Um so erstaunlicher ist, daß bei § 344 StGB trotz des hier maximal sogar verdoppelten Strafrahmens keine — dieser Behandlung von Bagatellfällen entsprechende — Entkriminalisierungstendenz zu finden ist. Projiziert man die Tatzeit auf einen vor 1975 liegenden Zeitpunkt zurück, hätte in der Konsequenz des Urteils ein weit oberhalb der Rechtsbeugung angesiedeltes, weil maximal bis zu einer fünfzehnjährigen Freiheitsstrafe reichendes Verbrechen gemäß § 344 StGB a. F. vorgelegen 8 . Offensichtlich steht diese gegensätzliche, den Wordaut voll ausschöpfende Entwicklung bei § 344 StGB im psychologischen Zusammenhang mit der Paragraphenüberschrift, wonach es - dann natürlich ohne jeden Abstrich und mit letzter Unerbittlichkeit — darum geht, „Unschuldige vor Verfolgung" zu schützen. 7 Vgl. u. a. BGHSt. 32, 357; 38, 381; 40, 30 (insoweit zur Rechtsbeugung in der ExDDR); dazu Lackner/Kühl, § 336 Rdn. 5 m. Nachw.; kritisch u. a. Seebode, JR 1994, 1. 8 Unter der Voraussetzung, daß man die durch BGHSt. 1, 255 etablierte, extensive Auslegung zugrunde legt.
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6. Auch wenn man den behutsamen Umgang der Rechtsprechung mit Staatsanwälten und deren Bestrafung für eindeutig unzulässige Verfolgungsakte vergleicht, muß die Entscheidung des L G befremden. Ein typisches Beispiel ist ein gegen einen Staatsanwalt u. a. wegen Rechtsbeugung angestrengtes Klageerzwingungsverfahren vor dem O L G Bremen 9 . Hier hatte der Beschuldigte einen „auf die Auffindung von Brandmitteln" beschränkten Durchsuchungsbeschluß dazu mißbraucht, unter Beteiligung zweier zugezogener Finanzbeamter auch eine Steuerfahndung durchzuführen. Obwohl das O L G im Einklang mit der h. M. auch Staatsanwälte in § 339 StGB (damals § 336 StGB) einbezieht, kommt es zu einer funktionellen Einschränkung dadurch, daß für die staatsanwaltschaftliche Rechtsbeugung eine das Ermitdungsverfahren abschließende, weil angeblich nur insoweit „richterähnliche" Entscheidung (etwa nach §§ 170 Abs. 2, 153 Abs. 1 S. 2 StPO, § 45 Abs. 2 J G G ) verlangt wird. - Zweierlei ist an dieser OLG-Entscheidung bezeichnend. Der vom L G Hechingen für strafbar erklärte, formulartechnische Fehlgriff des Dezernatsleiters betraf ein ganz initiales, an der äußersten Peripherie liegendes und von einer Abschlußentscheidung weit entferntes Verfahrensstadium, zumal es nach der Absicht des Angeklagten nur um die Identifizierung des Verantwortlichen und im übrigen nicht einmal um eine in einen Bußgeldbescheid ausmündende Verfolgung des Halters ging. Deshalb hätte man im Fall des L G Hechingen den Angeklagten, geht man von dem Restriktionsversuch des O L G Bremen aus, wegen Rechtsbeugung nicht einmal dann bestrafen können, wenn er die Ubersendung des falschen Formulars nicht, wie im zugrundeliegenden Fall gutgläubig, sondern mit Rechtsbeugungsvorsatz veranlaßt hätte. Zweitens ist erstaunlich, daß das O L G den — jedenfalls mit dieser Begründung nicht auszuschließenden, vielmehr auf unzulässige Verfolgungsakte primär sogar zugeschnittenen! — § 344 StGB nicht einmal anspricht. Da die Entscheidung über die subjektive Situation des Falles keine Angaben macht und da die zugrundeliegende Konstellation ein für § 344 StGB hochbrisantes, trotzdem aber kaum beachtetes Auslegungsproblem betrifft, ist das Stillschweigen der Entscheidung ein für die Ignorierung des § 344 StGB höchst bezeichnendes Symptom.
II. Solchen Verwerfungen zwischen § 339 StGB und § 344 StGB ist hier wenigstens ansatzweise nachzugehen. 9
Vgl. NStZ 1986, 120 f.
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1. Seltsamerweise finden sich auch in der Literatur zur Koordinierung der Tatbestände nur einige, auf die Konkurrenzsituation 10 bezogene Bemerkungen, während eine prinzipielle Auseinandersetzung fast gänzlich fehlt 11 . Insbesondere wird in der jetzt lebhafter gewordenen Diskussion um § 339 StGB (früher § 336 StGB) nicht berücksichtigt, daß sich durch die Neufassung im E G StGB die Überlappung zwischen §§ 344 und 339 StGB ganz entscheidend verändert, d. h. die Subsumtionsmöglichkeit unter § 344 StGB statt „nur" unter § 339 StGB in folgenschwerer Weise erweitert hat. Praktisch heißt das, daß sich - je nach Konkurrenzlösung — bei einer Rechtsbeugung durch Strafverfolgung ( = Abs. 1) der maximale Strafrahmen verdoppelt (zehn statt fünf Jahre), während andererseits die über § 339 StGB starre Mindeststrafe von einem Jahr bei dem (nach oben weitergehenden!) § 344 StGB nach unten — durch die dort vorgesehene Berücksichtigung minder schwerer Fälle - flexibler ist. Weiter bedeutet das, daß bei solchen Diskrepanzen auch und gerade in dem engeren Fall strafrichterlichen Fehlverhaltens zu Lasten eines „Unschuldigen" die erforderliche Koordinierung fehlt. Würde in einem Bußgeldverfahren ein vom Betroffenen eingelegter Einspruch bewußt rechtswidrig zurückgewiesen, also qua Rechtsbeugung eine Entscheidung zu Lasten des Betroffenen gefällt, läge bei Sperrwirkung des Spezialgesetzes ein nur nach Maßgabe von § 344 Abs. 2 StGB zu ahndendes Vergehen vor, während bei Rechtsbeugung in umgekehrter Richtung, im Fall einer dem Betroffenen entgegenkommenden Aufhebung des Bußgeldbescheids, § 339 StGB angewendet und „nur" danach bestraft werden könnte. Unterstellt man den Fall einer entsprechend in einer richterlichen Rechtsbeugung endenden Behandlung eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl, so zeigt sich wiederum die Paradoxie: Konkurrenz zwischen §§ 339 und 344 StGB bei einer den Angeklagten benachteiligenden Rechtsbeugung mit der Konsequenz eines einerseits nach oben verdoppelten Strafrahmens und einer andererseits eintretenden, bis zur Mindestgrenze von drei Monaten reichenden Absenkung der Strafbarkeit, dagegen bei „begünstigender" Rechtsbeugung „nur" § 336 StGB ( = § 339 StGB) und der seit der Neufassung daneben ohnehin nicht mehr ernstzunehmende § 258a StGB!
1 0 Vgl. die umfassenden Nachweise bei Vormbaum, Det strafrechtliche Schutz des Strafurteils, 1987, S. 466 Fn. 21; zu einer mit Recht detaillierteren Darstellung vgl. aber Schroeder, G A 1985, 485, 487 f. 1 1 Zwar nur eine Äußerlichkeit, trotzdem aber auffallend ist schon die Tatsache, daß in Gemeinschaftskommentaren eine in Personalunion durchgeführte Bearbeitung der beiden Tatbestände trotz der sachlich engen Berührungspunkte fast nie zu finden ist.
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2. Deshalb lohnt es, auf die alte, durch das E G StGB umformulierte Fassung des § 344 StGB zurückzugehen. Hier war die Uberschneidungszone schon nach dem Wortlaut wesentlich enger. Die Strafrahmendiskrepanz war demgegenüber noch paradoxer, weil — ohne jede Milderungsmöglichkeit — Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren angedroht war, während die Obergrenze für Rechtsbeugung (damals wie heute) bei nur fünf Jahren lag. § 344 StGB a. F. lautete: „Ein Beamter, welcher vorsätzlich zum Nachtheile einer Person, deren Unschuld ihm bekannt ist, die Eröffnung oder Fortsetzung einer Untersuchung beantragt oder beschließt, wird mit Zuchthaus bestraft". Schon diese Regelung war nicht gerade gelungen. a) Nach dem dafür zu starren Wortlaut war ausgerechnet das vorsätzlich falsche Strafurteil, weil es der Abschluß und gerade nicht die „Eröffnung" oder „Fortsetzung" einer „Untersuchung" war, als „Verfolgung Unschuldiger" nicht zu fassen 12 . Der Richter war sinnwidrig durch die für § 336 StGB a. F. geltende Absenkung der Maximalstrafe auf fünf Jahre privilegiert. Historisch hat sich das insofern ausgewirkt, als bei der nachträglichen Aufarbeitung regimebedingter Unrechtsurteile der Strafjustiz Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung die allgemeine Rechtsbeugung (§ 336 StGB a. F.; heute § 339 StGB), nicht aber der entstehungsgeschichtlich gerade zum Schutz Unschuldiger vorgesehene § 344 StGB war. Diese Focussierung auf die Rechtsbeugung galt faktisch genauso für andere, nicht richterlich Beteiligte. Die jedenfalls in diesem Punkt flexibleren Möglichkeiten von § 344 StGB a. F. wurden gar nicht erst hinterfragt. b) Das zweite Grundgebrechen war die dem Schutzzweck kraß zuwiderlaufende, aber im Wortlaut durchklingende Formalisierung des Tatbestands. Von der seit jeher gebräuchlichen Umschreibung des Tatverhaltens als „Verfolgung Unschuldiger" konnten nach der Textfassung nur inselförmige Ausschnitte, nämlich bestimmte, verfahrensrechtlich einschneidende Zäsuren erfaßt sein. Wenn die Tathandlung in einem auf die Eröffnung oder Fortsetzung einer Untersuchung gerichteten Antrag oder Beschluß bestehen soll, ist es schwer, an etwas anderes als eine förmliche Untersuchung zu denken. Zweifelsfrei einschlägig waren Als seinerzeit einzige Gegenstimme vgl. H. Meyer, Lehrbuch, 5. Aufl., S. 683 unter (de lege lata allerdings nicht durchschlagender) Berufung auf die sonst unerträgliche Strafrahmendiskrepanz. - Historisch zu dieser Fehlentwicklung vgl. die immer noch instruktive Monographie von Oppenheim, Rechtsbeugungsverbrechen, 1886, S. 152 ff u. passim. 12
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also die (inzwischen längst obsolete) Voruntersuchung, die Eröffnung des Hauptverfahrens, vielleicht auch noch der in der Hauptverhandlung vom Staatsanwalt wider (jetzt) besseres Wissen gestellte Antrag auf Verurteilung. Dagegen war bei entsprechend formaler, dem Wortlaut verhafteter Interpretation der praktisch wichtigste Sektor, die (in eigener Regie vorgenommene) Einleitung und Durchführung eines Ermittlungsverfahrens, nicht zu fassen. Von einer solchen, den Tatbestand praktisch entwertenden Strafschutzlücke ging — bis auf vereinzelte Gegenstimmen — die seinerzeit herrschende Meinung im Schrifttum aus 13 . c) Ein letzter forensischer Niederschlag dieser ursprünglich ganz engen Auslegung von § 344 StGB a. F ist eine in der Rückschau heute noch lesenswerte, weil für die Engpässe im Tatbestand illustrative Entscheidung des OLG Kassel 14 aus der frühen Nachkriegszeit. Danach sollte ein materiell ganz elementarer Verfolgungsfall, die indizielle Belastung eines Unschuldigen durch zu Täuschungszwecken eingeschmuggeltes Beweismaterial, für § 344 StGB a. F. nicht genügen, weil das Täuschungsmanöver „nur" zur Inhaftierung des Betroffenen im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens geführt hatte. Dabei berief man sich, was in der späteren, demgegenüber extensiveren Rechtsprechung des BGH nicht mehr zum Ausdruck kommt, weniger auf den Begriff der „Untersuchung", als vielmehr auf seine verbale Verknüpfung mit dem als Handlungsalternative vorausgesetzten „Beantragen" oder „Beschließen". Nebenbei bemerkt: Noch heute — auch auf der völlig veränderten Basis der inzwischen geltenden Neufassung des § 344 StGB — macht (jedenfalls nach herrschender Auffassung) die Einbeziehung des damals zugrundeliegenden Falles, der Falschbelastung durch von Amtsträgern künstlich fabriziertes Beweismaterial, immer noch Schwierigkeiten, für die als Notlösung, folgt man dem neuen Kurs des BGH, auch nicht mehr der Rückgriff auf § 164 StGB zur Verfügung steht. Darauf ist zurückzukommen. d) Demgegenüber hat der BGH 1 5 schon auf der Basis der alten Fassung in genau umgekehrter Richtung die Notwendigkeit betont, entsprechend dem „offensichtlichen" Gesetzeszweck „einen Unschuldigen gegen die Nachteile und Gefahren jeder gesetzlich möglichen Art von Untersuchung zu schützen". Demnach sollte „Untersuchung" jedes „ge1 3 Vgl. Frank, StGB, 18. Aufl., Α. II, mit Nachweisen; im Sinne der späteren Entwicklung schon seinerzeit „progressiver" v. Lis^t/Schmidt, Lehrbuch, 25. Aufl., § 179. 1 4 HESt. 1, 118, 121 = SJZ 1947, 443. 1 5 BGHSt. 1, 255, 257.
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setzlich vorgesehene Verfahren" sein, in dem ein dafür zuständiger Beamter gegen einen Betroffenen wegen der Sanktionierung einer von ihm angeblich begangenen Handlung vorging. Unter extremer Strapazierung des Wordauts war damit die eigene (initiale oder auch sukzessive) Mitwirkung an einem Ermitdungsverfahren ein auf die „Eröffnung oder Fortsetzung einer Untersuchung" gerichtetes „Beschließen". Damit hatte der B G H schon in seinen ersten Anfangen die Auslegung entformalisiert und eine Brücke zu der — in diesem Punkt jetzt eindeutig berichtigten — Neufassung des § 344 S t G B 1 6 geschlagen. Allerdings war in dieser Ubergangsphase das Mißverhältnis auf der Strafrahmenseite noch extremer zugespitzt: für den subalternen Polizeibeamten maximal bis zu 15 Jahren Zuchthaus; dagegen höchstens fünf Jahre für die Verurteilung eines Unschuldigen durch den Richter! Auch zeigte sich, soweit ersichdich, nicht die geringste Tendenz, in der Konsequenz der neuen, umgestellten Auslegung auch die Verfolgung durch Richterspruch dem so erweiterten § 344 StGB zuzuschlagen. Die Paradoxie nahm noch faktisch dadurch zu, daß sich durch die Strafentwicklung, besonders durch den Effektivitätsschwund bei der Freiheitsstrafe, die Möglichkeit verringerte, wenigstens ersatzweise auf entsprechend brisante Strafalternativen wie § 239 Abs. 2 StGB (a. F.) zurückzugehen. Um so rätselhafter ist das (hier etwas anders verstandene) „Richterprivileg", daß sich auch der B G H bei § 344 StGB ausnahmslos nur mit subalternem Personal, niemals aber mit Richtern beschäftigt und diese Privilegierung auch nach der - den Tatbestand offener machenden — Neufassung aufrechterhalten hat. 3. Eine völlig andere, den Tatbestand radikal öffnende und gleichzeitig differenziertere Neufassung hat die — zum Teil auf § 456 E 62 zurückgehende — Umformulierung des § 344 StGB durch das E G StGB gebracht. a) Neben der strafrechdichen Verfolgung ist auch ein Vorgehen wegen anderer, enumerativ aufgelisteter Sanktionen einbezogen, wobei entsprechend dieser Ausweitung der Strafrahmen im Einklang mit der unterschiedlichen Eingriffsschwere der Verfolgung abgeschichtet ist. Der eigenen Verfolgung ist das darauf abzielende „Hinwirken" durch untergeordnete Hilfsorgane gleichgestellt, wodurch sich nicht nur der Täterkreis erweitert, sondern — was praktisch wichtiger ist — auch die (über mittelbare Täterschaft nicht zu begründende) Möglichkeit besteht, bei Irreführung des primär zuständigen Amtsträgers den Hintergrundakteur 16
Vgl. E G StGB vom 2. 3. 1974.
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trotz seiner hierarchisch subordinierten Rolle zur Verantwortung zu ziehen. b) Im übrigen ist der damit als zentrales Merkmal eingeführte Verfolgungsbegriff denkbar umfassend. Gemeint ist jedes diensdiche Tätigwerden, das gegen eine bestimmte Person gerichtet ist und das nach seiner Zweckbestimmung dazu dient, durch Ermittlungen bzw. durch die prozessual sonst erforderlichen Verfahrensschritte die Bestrafung des Betroffenen oder eine der sonst tatbestandsmäßigen Sanktionen herbeizuführen 17 . Es sollte selbstverständlich sein, daß dann auch und erst recht das Urteil oder die sonst in der Sache gefällte Entscheidung, gewissermaßen der Kulminationspunkt der Verfolgungsprozedur, dazugehört 18 . Nur so ist auch — zwar nicht restlos, aber doch immerhin einigermaßen befriedigend — die nach der Begründung erklärtermaßen auf § 339 StGB (= § 336a StGB a. E) abgestimmte Strafrahmenlösung zu erklären, die zwar nicht mehr, wie früher, bei der Maximalhöhe von 15 Jahren liegt, aber trotz der Novellierung immerhin noch doppelt so hoch ist wie das für die Rechtsbeugung angedrohte Strafmaximum. Wird im Sinne von § 258a StGB Rechtsbeugung durch Strafvereitelung begangen, bleibt es bei § 339 StGB. Besteht dagegen die Rechtsbeugung in der Verurteilung eines „Unschuldigen", ist auf dem Weg über § 344 StGB der zur Verfügung stehende Strafrahmen wesentlich höher. Die Wortlautschranke, die ausweislich der zu diesem Punkt früher geführten Diskussion bei § 344 StGB a. E zu beachten und de lege lata nicht auszuräumen war, ist im Zuge der Neufassung verschwunden. Damit ist der Weg frei für die Wiederbelebung einer früher geläufigen, ja schon beinahe selbstverständlichen Tradition, wonach, was prinzipiell sicher Sinn macht, die bewußt zu Unrecht erfolgte strafrechtliche Verurteilung Unschuldiger einen als Rechtsbeugung besonders massiven, deshalb auch gesteigert strafwürdigen Sonderfall betrifft 19 . III. Trotzdem kann das nur ein erster Ansatz für eine die Tatbestände koordinierende Lösung sein. De lege lata nicht zu behebende Ungereimtheiten bleiben. Dazu auch Schroetter, GA 1985, 485. Vgl. Tröndle, § 344 Rdn. 3 („Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens"). 19 Dazu vgl. im einzelnen Oppenheim (Fn. 12), passim. 17 18
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1. Zunächst ist unbefriedigend, daß für eine solche Erklärung der für § 344 StGB geltende Täterkreis zu weit ist. Auch wenn jetzt der Strafrahmen auf maximal zehn Jahre abgesenkt ist, kann die Gleichstellung zwischen Richtern und subalternem Verfolgungspersonal nicht überzeugen. 2. Auch sind die subjektiven Merkmale nicht sauber aufeinander abgestimmt: Vorsatz unter Einbeziehung sämtlicher Vorsatzvarianten bei § 339 StGB, dagegen „Absicht" oder „Wissentlichkeit" bei § 344 StGB! 3. Was aber als Diskrepanz noch wichtiger ist und eine für § 344 StGB durchgängig entscheidende Grundsatzfrage betrifft, ist die sonstige, im Schrifttum auch nicht einheitlich beurteilte Konturierung des Tatbestandes. a) Bei § 344 StGB muß ein „Unschuldiger" oder eine sonst nach dem Gesetz (u. a. strafrechtlich) nicht zu verfolgende Person betroffen sein. Demgegenüber ist klar, daß für § 339 StGB jede Benachteiligung eines Verurteilten durch irgendeine, auf bestimmte Voraussetzungen nicht festgelegte Beugung des Rechts genügt. Man denke an den Fall, daß ein unzweifelhaft Schuldiger zulässigerweise verfolgt wird, die Rechtsbeugung aber darin besteht, daß eine unangemessen hohe Strafe verhängt wird. Bei einer solchen Konstellation ist zwar § 339 StGB klar, während es nach dem Wordaut Schwierigkeiten macht, die auch hier „qualifizierte" Rechtsbeugung auf dem Weg über § 344 StGB zu erfassen. Der Betroffene ist ebensowenig unschuldig wie die Verfolgung unzulässig ist. Man müßte schon ein modales Moment (nicht in diesem Sinn, nicht „so" schuldig bzw. Unzulässigkeit einer „solchen" Verfolgung) in den Text forciert hineinlesen, um auch hier eine Möglichkeit zum Rückgriff auf § 344 StGB zu finden. b) Noch größer sind mögliche Diskrepanzen zwischen §§ 339 und 344 StGB in einem weiteren, praktisch wichtigeren Bereich. Das dafür beste Illustrationsobjekt ist der Fall einer bewußten Beweismittelmanipulation durch für die Beweisführung bzw. -Würdigung zuständige Amtsträger, die - sei es zu Recht oder zu Unrecht — den dadurch belasteten Betroffenen für schuldig halten. Gehen wir nicht nur, aber auch aus aktuellem Anlaß von dem Beispiel aus, daß ein Kriminalbeamter, der die Ermittlungen wegen eines an einem Kind begangenen Sexualmords durchführt, von der Täterschaft eines bestimmten, wegen einschlägiger Vorstrafen, wegen eines unbefriedigenden Alibis und/oder sonstiger Umstände Verdächtigen überzeugt ist. Weil aber die bislang vorliegenden Indizien für eine Uberführung nicht genügen, insbesondere auf Spuren an der Leiche nicht zurückgegriffen werden kann, ist er schon wegen der bestehenden Rückfallgefahr entschlossen, durch
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einen Trick den Verdächtigen „aus dem Verkehr zu ziehen". Demgemäß bietet er bei einer Vernehmung, wie er sagt, „zur Auflockerung der Atmosphäre" dem nervösen Kettenraucher eine ganze Schachtel von dessen Lieblingsmarke an. Dem danach randvoll gefüllten Aschenbecher entnimmt er mehrere „Kippen", die er in einer zum sonstigen Spurenbild passenden Plazierung in der Nähe des Tatorts an einer durch ein Gebüsch versteckten Stelle verteilt. Diese — bis jetzt „übersehenen" — Zigarettenstummel werden von anderen, das Umfeld nochmals durchkämmenden Polizeibeamten gefunden, und anhand des „genetischen Fingerabdrucks" wird die Anwesenheit des Verdächtigen am Tatort und damit das noch fehlende Schlußstück in der Indizienkette „unwiderleglich" festgestellt.
Seit dem von BGHSt. 35, 50 durchgeführten Kahlschlag wissen wir, daß eine solche — auch ohne Rücksicht auf die Schuldfrage ungeheuerliche und bei einem in Wirklichkeit Unschuldigen geradezu katastrophale — Beweismanipulation (durch einen Amtsträger ebenso wie durch einen Privatmann) jedenfalls nach § 164 StGB nicht strafbar ist. Weiter: Eine Sachverhaltsverfälschung wie hier ist zwar ein typischer Unterfall der Rechtsbeugung. Im Gegensatz zum Staatsanwalt mit seiner nach der Papierform zwar führenden, bei kriminaltechnisch schwierigen Fällen materiell aber subalternen Ermittlungsrolle würde der Kriminalbeamte, der im Fall als Beweismanipulant ausschlaggebende Hintergrundakteur, nicht zum Täterkreis des § 339 StGB gehören. Damit spitzt sich — sieht man von den für mittelbare Täterschaft in Frage kommenden, aber, wenn überhaupt, dann nur als Behelfs- und Verlegenheitslösung diskutablen Möglichkeiten wie § 239 StGB ab - die Problematik auf § 344 StGB zu 20 . Aber auch hier bestehen infolge der Wortfassung Schwierigkeiten, obwohl das Beispiel einen für eine mißbräuchliche Verfolgung geradezu paradigmatischen Fall betrifft. c) Die einleitende Opferumschreibung, die „Unschuld" des Betroffenen, ist nicht dynamisch, sondern statisch konzipiert. Dafür soll - nach noch überwiegender traditioneller Auffassung — maßgebend sein, ob der Betroffene die Tat begangen (bzw. sich daran beteiligt) hat, ob (oder ob nicht) Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- oder Strafausschließungsgründe eingreifen und ob nach Maßgabe von § § 3 — 7 StGB deutsches Strafrecht anzuwenden ist 21 . Die im Fall relevante Täterschaftsfrage, Begehung oder Nichtbegehung der Mordtat durch den Betroffenen, 2 0 Dazu vgl. Schilling, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 595, 602, der die für § 164 StGB negative Lösung des BGH ebenfalls vertritt, aber zur Erfassung einer von Amtsträgern begangenen Beweismanipulation auf § 344 StGB als Auffangmöglichkeit verweist. 21 Vgl. für viele Lackner/Kühl, § 344 Rdn. 3.
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kann mit Bezug auf den Verfolgungsbeamten nur bejaht werden, so daß an dieser - primär scheinbar passenden — Stelle der Einstieg in den Tatbestand blockiert ist. Entweder war der Betroffene — aus dem Blickwinkel ex post — der in Wirklichkeit schuldige Täter; dann muß schon wegen der objektiv fehlenden Opfereigenschaft § 344 StGB entfallen. Bleibt es beim non liquet, gilt das Gleiche, weil dann in dubio pro reo zugunsten des Amtsträgers die Begehung des Mordes durch den Betroffenen zu unterstellen ist. Aber auch wenn sich die Unschuld nachweislich herausstellt, ist insoweit die Beweismanipulation nicht von Belang. Auch dann würde am jedenfalls fehlenden Vorsatz des Täters die Strafbarkeit wegen „Verfolgung eines Unschuldigen" scheitern. Die an diesem Punkt bestehende Strafschutzlücke geht sogar noch weiter. Da der erforderliche Vorsatz (abgesehen von der hier nicht interessierenden Absicht) Wissentlichkeit voraussetzt, würde der im Beispielsfall als Amtsträger verantwortliche Beweismanipulant nach dieser Alternative sogar straflos sein, wenn er zwar ohne Gewißheit, aber doch ernsthaft mit der Möglichkeit der Unschuld rechnet. d) Der weitere alternative Schutzaspekt, die Abschirmung des Betroffenen vor einer „sonst nach dem Gesetz nicht" zulässigen strafrechtlichen Verfolgung, könnte demgegenüber dynamisch verstanden werden. So hängt, wie aus der StPO unschwer abzulesen ist, die Eingriffsintensität der Verfolgung vom Schweregrad des — ex ante zu beurteilenden — Verdachts ab. Die Höhe der jeweils maßgebenden Verdachtsschwelle schwankt, je nachdem ob es sich um die Aufnahme des Ermitdungsverfahrens, um den Eröffnungsbeschluß (§ 203 StPO) oder gar um die Verurteilung handelt, die Gewißheit voraussetzt, also noch oberhalb eines noch so massiven Tatverdachts liegt. Entsprechend sind bei strafprozessualen Einzeleingriffen (wie Durchsuchung, Inhaftierung usw.) die vorausgesetzten Schweregrade des Verdachts nach den Belastungsfolgen für den Betroffenen gestuft. Um einen Ausdruck von Niese22 abzuwandeln: Die Verfolgung ist als prozessualer Vorgang eine nur dynamisch zu verstehende „Entwicklung zum Urteil hin", die ihre Schlußzäsur in der eingetretenen Rechtskraft der Entscheidung hat. Bei einer so umfassend prozessualen Deutung müßte man zu einer — mit der jeweiligen Prozeßsituation wechselnden — Dynamisierung des Merkmals kommen. 2 2 Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen, 1950, S. 57 u. passim; vgl. auch die insoweit bestehenden Berührungspunkte mit der spezifisch prozessualen Betrachtungsweise von Goldschmidt, Prozeß als Rechtslage, 1925, sowie von Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Bd. I, 2. Aufl. 1964, S. 48 ff.
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In der Literatur ist das Meinungsbild nicht einheitlich. In den Kommentaren noch vorherrschend ist eine demgegenüber konventionelle Betrachtungsweise, die mit der ursprünglich engeren Fassung des § 344 StGB zusammenhängt. Da in § 344 StGB a. F. nur von der „Unschuld" des „Betroffenen" die Rede war, war sogar die Einbeziehung prozessualer Ausschlußgründe der Verfolgung umstritten. So hat noch das LG Memmingen 23 in strikt materiell-rechtlicher Deutung des früheren Wortlauts bei verjährungswidriger Verfolgung eines „Schuldigen" § 344 StGB a. F. verneint. Demgegenüber hat sich eine schon damals so genannte, aber ganz anders, nämlich wesentlich enger zu verstehende „prozessuale Theorie" 24 für die Berücksichtigung auch verfahrensbedingter Ausschlußgründe der Verfolgung ausgesprochen. Wie aus der Entstehungsgeschichte hervorgeht, ging es bei der alternaüven Erweiterung des Tatbestandes durch das EG StGB darum, die damalige, auf Verfahrenshindernisse festgelegte Spielart der „prozessualen Theorie" gesetzlich zu verankern. Diesem Stand der Entwicklung entspricht das im Anschluß entstandene Meinungsbild. Mit dem Begriff der „Unschuld" sollten das materiell-rechtliche Verfolgungsverbot und mit der hinzugesetzten Alternative die prozessual außerdem zu berücksichtigenden Verfolgungshindernisse gemeint sein. Die einschlägigen Äußerungen lesen sich deshalb auch wie ein nur annexartiger, auf zum Teil sogar exotische Einzelfälle wie Rechtskraft, Amnestie, Exterritorialität usw. beschränkter Beispielskatalog, führen aber zu keiner den Schutzbereich des Tatbestandes grundsätzlich umstellenden Deutung 25 . Damit wäre im Beispielsfall auch über die zweite Alternative die Beweismanipulation des Kriminalbeamten nicht zu fassen. Entsprechendes gilt für den durch die Beweismanipulation die Indizienkette schließenden und nur dadurch zur Verurteilung kommenden Richter: Rechtsbeugung läge zwar vor, aber bei gleichzeitiger Privilegierung durch das im Vergleich mit § 344 StGB wesentlich niedrigere Strafmaximum. e) Demgegenüber sind in zunehmendem Umfang Gegenstimmen in der Literatur im Sinne einer radikaleren, nicht nur ergänzenden Lösung um eine durchgängige Prozessualisierung der für § 344 StGB erforderlichen NJW 1961, 571 m. Anm. Rutkomkj Dazu Krause, SchlHA 1969, 77 bei und in Fn. 9; mißverständlich insoweit Geerds, Spendel-FS, S. 511 bei und in Fn. 39. 2 5 Vgl. etwa Schänke/Schröder/Cramer, § 344 Rdn. 16, 17; Tröndle, § 344 Rdn. 4; LKJescheck, 10. Aufl., § 344 Rdn. 8, 9; Preisendan£ StGB, 30. Aufl., § 344 A III; Otto, Bes. Teil, 5. Aufl., S. 509; wohl auch Arg/Weber, Bes. Teil, LH 5, S. 155 i. V. m. 121; Schmidhausen Bes. Teil, 2. A u f l , S. 255. 23
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Opfereigenschaft bemüht. Schon mit dem Begriff der „unschuldigen" sei nicht die materiellrechtliche Strafbarkeitsfrage, sondern jede Person gemeint, die strafrechtlich oder nach den im Rahmen von Abs. 2 stattdessen einschlägigen Vorschriften nicht verfolgt werden darf. Allerdings besteht im Detail kein durchgängiger Konsens über die aus diesem Konzept zu ziehenden Konsequenzen. Horn26, der ganz in diesem Sinn die Gesetzwidrigkeit der Verfolgung als das entscheidende Merkmal für die Umschreibung des Opfers ansieht, schwenkt danach auf die herkömmliche Linie, die Unterscheidung zwischen materiellrechtlicher „Unschuld" und den außerdem prozessual zu beachtenden Ausschlußgründen der Verfolgung ein. Wagner21, der sich, soweit ersichtlich, als erster für die prozessuale Umdeutung des § 344 StGB eingesetzt hat, legt — wohl auch aus Anlaß des aaO besprochenen Falles — den Hauptakzent darauf, die Tatbestandslosigkeit der Verfolgung eines Verdächtigen trotz später festgestellter „Unschuld" darzutun. Besonders weitgehende Konsequenzen ziehen hanget28 und Geerds2 s· 18. 2 0 Anschaulich Sohn, Referatedienst Kriminologie, Schwerpunkt: Kriminalprävention, Ausgabe 1996, Folge 6. 21 Vgl. z. B. IL Kaufmann (Hrsg.), Die Kriminalität Jugendlicher und wir. Repression oder Vorbeugung durch Erziehung? 1974. 2 2 Siehe die Beiträge in Feest/Lautmann (Hrsg.), Die Polizei, 1971.
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soll. Und die Unbestimmtheit der präventiven Aktivitäten im einzelnen ist eine Folge dieses Ansatzes, da sich aus den Schwierigkeiten des Feldes noch keine Handlungsmodelle ergeben. In dieser Beziehung wird nur ein allgemeiner Grundgedanke, nämlich der der Vorbeugung genannt. Vereinfacht kann man sagen, es wird nicht mehr von einem System aus auf eine Realität gefolgert, sondern von einer Realität aus werden — vorab sehr unbestimmte - regionale Reaktionsweisen entwickelt. 2. Des weiteren ist aus der immer schon bekannten Kenntnis „problematischer Felder", insbesondere sozialer Brennpunkte, das Anliegen erwachsen, die betreffenden Problemlagen systematisch unter dem Blickwinkel einer Kriminalprävention zu beeinflussen, und zwar in Ausschöpfung sämtiicher vorfindlicher gesellschafdicher und rechtlicher Möglichkeiten — es geht um einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz 23 . IX. Nach der Versicherung, daß nicht lediglich schon Bekanntes wiederentdeckt worden ist, stellt sich die erste der oben aufgeführten Fragen nach den Folgerungen und Lehren aus bisherigen kriminalpolitischen Deficiten oder Fehlern. Der Schwenk von der Kriminaljustiz zu präventiv verheißungsvolleren Feldern wird mitunter recht pauschal von der Einschätzung begleitet, die Justiz habe versagt, vor allem seien die spezialpräventiven Erträge enttäuschend24. Derartige Qualifikationen erscheinen als ebenso undifferenziert wie voreilig. Zunächst hängt die Berechtigung einer solchen Beurteilung von der Formulierung realistischer Erwartungen an das Justizsystem ab. Ferner kann man angesichts der vielen und immer heftiger gewordenen Widerstände gegen die „Behandlung" von Straftätern kaum sagen, deren Erträge seien enttäuschend. Enttäuschend waren bis jetzt hauptsächlich die sehr geringen Chancen, die diesem Bemühen jemals eingeräumt worden sind25. Und die Ergebnisse der tatsächlich zugelassenen sozial therapeutischen Versuche liefern keinen Grund zur Aufgabe oder gar Resignation.
2 3 Siehe etwa G. Müller.; Kriminalprävention - Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, in: Die Kriminalpolizei, 1995, S. 137 f. 2 4 Die Argumentationen zusammenfassend Heinç (Anm. 17), S. 2 2 f. 2 5 Siehe Walter, Strafvollzug, 1 9 9 1 , S. 191 f.
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Teilweise wird gesagt, die gesamte Kriminologie entwickle sich von der Täterbehandlung zu neuen Strategien der Tatvermeidung 26 . Wieweit solche Tendenzen tatsächlich auszumachen sind, kann hier im wesentlichen dahinstehen. Denn zentrale Bemühungen der neuen Präventionsbewegung sind sehr wohl weiterhin an die Psyche der Menschen adressiert. Erwähnt seien nur die vielen Bemühungen, gewaltverdächtige oder -bereite Jugendliche zu identifizieren und gezielt in den Blick zu nehmen. Wir stoßen schnell wieder auf vertraute Fragen des Behandlungsansatzes, nur daß sie nicht nach einer Verurteilung, sondern schon vorher auftreten. Damit aber scheint sich die Problematik nicht zu verringern, sondern im Gegenteil zu erhöhen, denn die wiederkehrenden Behandlungsgrenzen und -zweifei treten nunmehr in Verbindung mit einer Vorfeldproblematik auf. Sie birgt nicht allein rechtliche Schwierigkeiten einer Verdachtserfassung, sondern auch faktische Hindernisse, angefangen von prognostischen Überlegungen bis hin zu Zugangsschwierigkeiten zur Klientel. Anhaltspunkte für ein innersystematisches Lernen aus erfahrenen Mängeln bisheriger Konzepte sind mithin kaum auffindbar. Vielmehr eröffnet man ein neues Feld, dessen Weite und Tücken wenig bedacht worden zu sein scheinen. Freilich bedeutet das Betreten von Neuland auch, daß nicht sogleich alle damit verbundenen Schwierigkeiten gelöst sein können. Sie sind gewissermaßen der Preis für das Innovative. Doch wie steht es mit dem Innovationspotential des neuen Präventionskon^epts? Augenblicklich ist noch viel im Fluß. Wir wissen jedoch jetzt schon, daß neue behördliche oder behördenähnliche Einrichtungen und Strukturen geschaffen worden sind und weiter geschaffen werden (Präventionsbeauftragte, Präventionsräte, innerbehördliche Arbeitskreise usw.). Das Ganze vollzieht sich nicht allein auf kommunaler Ebene, vielmehr in den Regionen (Kreisen), in den Ländern, auf Bundesebene und außerdem trans- und international 27 . Dabei wird von einer beachtlichen Vielfalt auf der Ebene der verschiedenen Bundesländer berichtet. Die Präventionsgremien suchen verständlicherweise nach Kompetenzen, weshalb auch tatsächliche Verschiebungen in dieser Hinsicht wahrscheinlich sind. Man will Einfluß nehmen, u. a. auch auf die kriminologische Forschung. 2 6 Siehe Sèssar, Zu einer Kriminologie ohne Täter, MschrKrim 1997, S. 1 f; Donally/ Kimble, Community Organizing, Environmental Change, and Neighborhood Crime, Crime and Delinquency 1997, S. 493; Ward, Community Crime Prevention, Journal of Criminal Justice 1997, 1. 2 7 Literaturübersicht bei Göbel/ Wallraff- Unsicher, Kriminalprävention. Eine Auswahlbibliographie, BKA 1997, S. 73 f (Teil 3).
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Nun stimmt die Schaffung neuer Einrichtungen und Bürokratien nicht eo ipso hoffnungsvoll. Gegenwärtig dürfte noch ein gewisser „Eingangselan" vorherrschen. Doch man kann schon jetzt erahnen, wie rasch der wieder verflogen sein wird. Einmal ins Leben gerufene Institutionen lösen sich aber nicht so schnell wieder auf. Manchen Praxisschilderungen läßt sich bereits im gegenwärtigen Zeitpunkt entnehmen, daß einige Gremien viel über Prävention reden, daß jedoch kaum konkrete Taten folgen. Aus der Organisationssoziologie ist das Auseinanderklaffen von offiziellen behördlichen Aufträgen und faktischem behördlichen Handeln bekannt. Auch präventiv gedachte Einrichtungen entwickeln ihre Eigendynamik. Derartige Aspekte werden im Zuge einer Anfangsbegeisterung noch verdrängt, kommen nicht zum Vorschein. Wenn aber der Schritt zum Handeln getan ist, muß als nächstes gefragt werden, ob eine verbesserte Erfüllung kriminalpräventiver Aufgaben erwarten steht. Wie schon erwähnt, liefert die Präventionsbewegung nicht schon konkrete Lösungen. Betont wird vielmehr, die jeweilige Vorgehensweise hänge von regionalen Problemanalysen ab. Propagiert wird eine kommunikative Problem- und Interventionsfindung 28 . Die einzelnen Agenturen, die durch die neuen Gremien und Ausschüsse vernetzt werden, sollen die besten Präventionsstrategien gemeinsam erarbeiten. Das hört sich gut an. Faktisch sind jedoch die Möglichkeiten — bereits rein zeitlich - begrenzt. Ein Ausschuß kann nicht dauernd tagen. Während der Sitzungen spielen viele Momente eine Rolle, gruppendynamische und profilierungsbezogene eingeschlossen. So vermag die gepriesene „horizontale Koordination" 29 auch zu erheblichen Verflachungen und zu „einfachen Lösungen" beizutragen. In Köln beispielsweise bestand bei vielen die Tendenz, Kinderdiebstähle auf dem Platz vor dem Dom zu dem dominierenden Problem der Stadt zu erklären, das nur durch eine geschlossene Unterbringung eben dieser Straßenkinder zum Schutze der Bürger gelöst werden könne. Derart handlungsorientierte Verständnisse beziehen jedenfalls sozialstrukturelle Gesamtbedingungen kaum ein. Die propagierte regionale Problemanalyse und ein regional entwickeltes Handlungskonzept stehen in der latenten Gefahr, einfache Erklärungen und Lösungen zu bieten, die dann weit hinter jeglichen wissenschaftlich vertretbaren Meinungsstand zurückfallen. Die Notwendigkeit verbesserter Kooperation wird oft sehr einleuchtend dargelegt. Die eine kommunale Behörde wisse mitunter nicht, was
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Zusammenfassend Trenc^ek/Pfeiffer (Anm. 7), S. 11 f. Heinz ( A n m · 17)> S. 37.
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die andere tue usf. 30 . So kann es geschehen, daß sich das Jugendamt um Freizeitstätten und Abenteuerräume mühe, während das für die Industrieansiedlung zuständige Amt gegenteilig tätig sei, die letzten Freiräume vergebe. Nur: Bei all diesen Beispielen muß das Machtgefálle bedacht werden. Mangelnde Kooperation kann daher rühren, daß eine Seite an der Kommunikation mit der anderen letztlich nicht interessiert ist. Ein Trugschluß läge vor, wollte man Machtgefälle als Kommunikationslücken verstehen oder interpretieren. Das Vertrauen in die Vorzüge von Managementmethoden darf nicht den Blick für Realitäten trüben. Eine bessere kriminalpräventive Aufgabenerfüllung verspricht man sich nicht zuletzt durch eine Gewichtsverlagerung von der Justiz auf die Polizei. Während die Justiz zunehmend als zu unentschlossen, rechtsstaatlich-zögerlich, halbherzig und teilweise auch wirklichkeitsfremd eingestuft wird, erscheint die Polizei als die „geborene" Präventionsbehörde, die, wenn sie künftighin nicht mehr so stark behindert werde, beherzt und entschlossen durchzugreifen in der Lage sei. Von einigen Ausnahmen abgesehen haben denn auch die Polizeibehörden im Rahmen der neuen Präventionsbewegung die führende Rolle übernommen. Damit ist ein erheblicher Imagewechsel verbunden: Bilder, auf denen hochgerüstete Polizeibeamte gegen Atomkraft-Demonstranten vorgehen, werden von neuen Szenarien abgelöst, die Polizeibeamte als Partner und Freunde der Bürger zeigen. Es ist ein Abbau von Akzeptanzproblemen zu beobachten. Im anglo-amerikanischen Bereich wird von „community policing" als einer neuen Form polizeilicher Arbeit gesprochen. Freilich ist nicht so recht klar, was eigentlich im näheren damit gemeint sein soll 31 . Wenn man daran denkt, entsprechende Ansätze zu importieren, muß die jeweilige Gesamtsituation einschließlich der historischen Entwicklungen in beiden Kulturkreisen mitbedacht werden. Und hier fragt sich, ob die unterschiedlichen Polizeitraditionen hinreichend berücksichtigt werden. In Deutschland gibt es — anders als im anglo-amerikanischen Rechtskreis — insbesondere keine gemeindlich organisierte Polizei, sondern nur staatlich-zentrale Strukturen, wenn auch föderal verteilt auf die einzelnen Bundesländer. Im übrigen wurden aufgrund historischer Erfahrungen die Befugnisse der Polizei begrenzt und justizieller Kontrolle unterworfen. Deswegen ist zu prüfen, inwieweit Aufgabenzuwächse oder -Veränderungen bei den Polizeibehörden nicht gleichzeitig neue wirkungsvolle Rechtskontrollen erforderlich ma-
Trenc^ek/Pfeiffer (Anm. 7), S. 26 f. Zum Thema siehe den Sammelband von Dölling/Feltes (Hrsg.), Community Policing — Comparative Aspects of Community Oriented Police Work, 1993. 30
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chen (Art. 19 Abs. 4 GG). Aus den USA wird berichtet, es würden Änderungen im Sinne der community-policing-Philosophie (was auch immer das konkret heißen mag) angestrebt, indessen sei die Realität dem Ideal noch nicht gefolgt 32 . Vielmehr könnten die Polizeibehörden kaum als ein Muster für Legalität betrachtet werden, sie hätten in der Vergangenheit ihre Aufgabe hauptsächlich in der Kontrolle der unteren sozialen Schichten erblickt. Die vorgenannten Überlegungen schließen zwar, das sei hervorgehoben, Verbesserungen in kriminalpräventiver Hinsicht keineswegs aus. Es bestehen aber erhebliche Gefahren und Unklarheiten, die eine künftige Bilanz der gesamten Aktivitäten als höchst ungewiß erscheinen lassen. Trotz der Forderung, mehr Prävention statt Repression vorzusehen, die ja vom Wortlaut her eine Alternativität beinhaltet, ist letztlich nicht ernsthaft davon die Rede, daß die tertiäre Prävention, also die Strafverfolgung, eingeschränkt werden solle. Angesichts dessen beinhaltet der Ausbau präventiver Einrichtungen und Gremien ein netwidening socialer Kontrolle und somit eine Entwicklung, die noch vor kurzem als Sündenfall ersten Ranges beurteilt worden wäre. In der Diskussion dieses Befundes, der unumwunden zugegeben und allgemein anerkannt wird, herrscht die Ansicht vor, man müsse dafür sorgen, daß sich die Ausdehnung nicht in einem wiederum repressiven Sinne vollziehe. Doch wo sind die Grenzen? Vor allem besteht die Versuchung, einschränkend-kontrollierende Eingriffe gegenüber neu festgelegten Gefahrengruppen, etwa arbeitslosen Jugendlichen, nunmehr als Präventionsaktivitäten zu deklarieren und damit konzeptionell zu überhöhen. Es liegt auf der Hand, daß die zusätzliche Präventionsarbeit nicht gänzlich vom Staat wird finanziert werden können. Insoweit dürfte dem Präventionsschub alsbald ein Privatisisierungsschub folgen, soweit das nicht schon derzeit der Fall ist. Daraus resultieren weitere Fragen und Bedenken, die bisher kaum benannt worden sind. Generell stellt sich die Frage einer letztendlichen Verbesserung der Lebensqualität. Die internationale Diskussion kennt bereits das Problem einer Kriminalitätsverlagerung zu denen hin, die sich nicht so gut schützen können, sowie einer Eskalation der Deliktsschwere und -brutalität, mit der die Täter die höheren Hindernisse ihrerseits wiederum zu überwinden suchen 33 . Nicht minder schwierig erscheint ein nunmehr entstandenes Auswahlproblem. Da nahezu alle sinnvollen sozialen Unternehmungen auch 3 2 Siehe J. R. Green, Community Policing in the United States: Historical Roots, Present Practices and Future Requirements, in: Dolling/Feltes (Anm. 31), S. 71 f. 33 Zusammenfassend Graham/Bennett (Anm. 18), S. XVI f.
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unter dem Blickwinkel der Kriminalprävention betrachtet werden können, ist die Präventionsbewegung ständig vor die Frage gestellt, welche der unendlich vielen Möglichkeiten ausgewählt und als intendierte Prävention herausgestellt werden sollen. In gewisser Hinsicht käme es einem Armutszeugnis gleich, wollte man nachbarschaftliche Mitmenschlichkeit und Hilfe vorwiegend (und lediglich) als kriminalpräventive Abwehrstrategie auffassen. Auf der anderen Seite erwächst die Gefahr der präventiven Übergriffe, wenn in einer Dauerstimmung des Verdachts in privaten Bereichen anderer herumgeforscht wird, und zwar weit im Vorfeld der Kriminalität. X. Als Fazit ergibt sich eine Reihe von Bedenken. Keines der zuvor genannten „Gütekriterien" ist eindeutig gegeben. Die Ubiquitätsprävention erscheint als ein Ansatz, der nicht mehr in der Tradition einer fachlich begrenzten Reform steht, sondern als kollektive Reaktion auf elementare Verunsicherungsgefühle und Kriminalitätsängste begriffen werden muß. Aus diesem Blickwinkel betrachtet folgt die Präventionsbewegung einer anderen Logik und Gesetzmäßigkeit. Im Vordergrund steht der Drang einer alternden, indessen sehr wohlhabenden Gesellschaft, aus einer eher lähmenden Furcht vor ausgegrenzten, chancenlosen und als gefährlich qualifizierten sozialen Gruppen endlich in eine Offensive überzuwechseln. Der Universalismus des Präventionsansatzes, daß sich Prävention in unendlich vielen Verhaltensweisen auffinden läßt, kann, soweit derart weite Thematisierungen — oder besser: Assoziationen — Platz greifen, dazu führen, daß Kriminalität als Bezugsobjekt der Prävention zum beherrschenden Gesprächsgegenstand wird. Kriminalität kann in diesem Sinne „herbeigeredet" werden und eine neu gestaltete subjektive Realität „in den Köpfen" der Menschen bilden. Je nachdem, welche Formen diese subjektiven Vorstellungen annehmen, werden vernünftige oder aber übertriebene Verhaltensweisen begünstigt. Stark emotionalisierte „Stimmungen" bergen die Gefahr von Verstärkungseffekten, ohne daß dem Ganzen noch objektiv faßbare Gegebenheiten zugrunde lägen. Letztendlich kann ein Kreislauf entstehen, bei dem die Präventionsmaßnahmen die Kriminalitätsgefahren lebendig werden lassen, das aktivierte Gefahrenbewußtsein wiederum zu größerer Furcht führt, seinerseits daher neue Präventionsbemühungen hervorruft usf. Im negativsten Falle bahnt sich, von manchen Massenmedien zusätzlich geschürt, eine regelrechte Hysterie an. Aus dieser Sicht erscheint die Präventionsbewegung
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nicht nur als eine Antwort auf gestiegene Verbrechensfurcht, sondern zugleich als ein „laufender Motor", der seinerseits Furchtmomente zu beleben und anzutreiben in der Lage ist. Diese Wirkung dürfte vor allem dem rapide wachsenden Sicherheitsgewerbe willkommen sein 34 , das — vergleichbar der zusätzlichen privaten Altersvorsorge — mehr Lebensqualität durch ein breit gefächertes Angebot von Sicherheitsdienstleistungen verspricht. Und dieser Prävendon sind endgültig keine Grenzen mehr gesetzt, denn die versprochene Sicherheit 35 bleibt ja — soviel ist wirklich sicher — unerreichbar.
34 Vgl. 1Viehmann, Kriminalpolitisches Bewußtsein im Wandel — 25 Jahre Jugendstrafrechtspflege, ZBIJugR 1996, 81 f. 35 Die manche auf ein „Recht auf Sicherheit in der Europäischen Union" beziehen wollen, dazu Pitschas, Politik und Recht auf innere Sicherheit in Europa, in: Schriftenreihe der Polizei-Führungsakademie 1 /97, S. 9. Bemerkenswerterweise dient diese rechtliche Konstruktion letztlich einer Legitimierung der polizeilichen Zusammenarbeit; Pitschas spricht von „europäischer Sicherheitsvorsorge", durch welche „Defizite aus Schengen und Europol" beseitigt werden sollen (aaü S. 17).
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I. „Aus den allgemeinen Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere dem Rechtsstaatsprinzip, folgt für das Strafrecht, daß die angedrohte Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zu dem Verschulden des Täters stehen muß (...); sie darf nach Art und Maß der unter Strafe gestellten Handlung nicht schlechthin unangemessen oder gar grausam sein (··.)·" Dieser Satz aus einer heute ansonsten recht verstaubt anmutenden frühen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1 bildet die Keimzelle einer umfangreichen, im strafrechdichen Schrifttum relativ wenig beachteten 2 Rechtsprechung, die Kernfragen des Strafrechts und seiner verfassungsrechtlichen Legitimation betrifft. Die noch relativ vage, bezüglich ihrer grundrechtlichen Verankerung undeudiche Formulierung aus dem Jahre 1957 ist dabei nach und nach zu einem differenzierten Maßstab ausgebaut worden, mit dessen Hilfe das Bundesverfassungsgericht strafrechdiche Vorschriften an den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips mißt, das seinerseits auf die fundamentalen grundrechtlichen Freiheiten der Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG sowie auf das Rechtsstaatsprinzip gegründet wird 3 . Mit dieser Rechtsprechung setzt sich das Bundesverfassungsgericht zwar gelegentlich dem Vorwurf aus, daß es das Verhältnismäßigkeitsprinzip als allgemeinste verfassungsrechtliche Generalklausel zur Korrektur rechtspolitisch unerwünschter Entscheidungen des 1 BVerfGE 6, 389, 439. Gegenstand der Entscheidung war die — vom Bundesverfassungsgericht bejahte — Frage der Verfassungsmäßigkeit der Bestrafung der „einfachen" männlichen Homosexualität (§ 175 StGB a.F.). 2 Siehe aber Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, S. 215 ff, und insbesondere ÌMgodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 275 ff. Die Abhandlung von Appel, Verfassung und Strafe, 1998, die sich (S. 574 ff) u. a. mit dem Thema dieses Beitrags beschäftigt, ist erst nach dessen Fertigstellung erschienen und konnte daher leider nicht mehr berücksichtigt werden. 3 Siehe etwa BVerfGE 34, 261, 267; 45, 187, 259 f; 50, 205, 215; 54, 100, 108; 90, 145, 173; zuletzt BVerfG NJW 1998, 2585, 2586 (Kammer). Weitere Nachweise der Judikatur bei Günther (Anm. 2), S. 215 Fn. 7.
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Gesetzgebers benutze 4 . Die verschiedenen Einzelaspekte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit von Grundrechtseingriffen) 5 schaffen jedoch ein differenziertes und durchaus rational handhabbares Instrumentarium zur Kontrolle der staatlichen Strafe als der schärfsten Waffe des Staates gegenüber dem Individuum, und zwar sowohl auf der Ebene der Gesetzgebung als auch auf derjenigen der Gesetzesanwendung. Der Ausbau dieses Instrumentariums verdient nicht nur wegen der rechtspolitischen Brisanz mancher Anwendungsfälle in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts 6 die Beachtung der Strafrechtswissenschaft, sondern vor allem deshalb, weil das Gericht hier Antworten auf Grundfragen von Zweck und Grenzen des Strafrechts entwickelt, die manche hergebrachten Grundsätze der Kriminalpolitik gewissermaßen von außen (oder, aus dem Blickwinkel der Normenhierarchie, von „oben") her in Frage stellen. Die folgenden Bemerkungen dürfen daher vielleicht auf das Interesse des verehrten Jubilars hoffen, der bei aller Präzision im Detail bei der Durchdringung strafrechtlicher Probleme stets die Grundlagen und allgemeinen Prinzipien des Strafrechts im Blick behält. Im folgenden werde ich zunächst (II.) anhand von drei Beispielen darlegen, in welcher Weise das Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Überprüfung strafrechtlicher Entscheidungen einsetzt, und sodann einige Fragen, die sich aus dieser Rechtsprechung ergeben, erörtern (III.). Am Schluß werden eigene Überlegungen zu Reichweite und Stellenwert des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich strafrechtlicher Sanktionierung stehen (IV.). II. 1. a) Die erste Entscheidung, in der sich das Bundesverfassungsgericht eingehender mit der Bedeutung des Übermaßverbots für die Andro4 Siehe etwa Bäumlin /Ridder, in: AK GG, Art. 20 III Rdn. 67; Ν elles/ Velten, NStZ 1994, 366; siehe auch den entsprechenden Vorwurf der dissentierenden Richter in der Entscheidung zur Strafbarkeit der DDR-Spione (BVerfGE 92, 277, 350) sowie die bei Günther (Anm. 2), S. 226 f, nachgewiesenen kritischen Stimmen aus dem strafrechtlichen Schrifttum zur Leistungsfähigkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips. 5 Zur grundlegenden Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips siehe nur Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, 1996, Vorb. 91 ff; Herzog, in: Maun^JDürig, Grundgesetz, 1980, Art. 20 Abschn. VII Rdn. 71 ff; von Münch/Kimig, Grundgesetz, 4. Aufl. 1992, Art. 2 Rdn. 24 mit zahlreichen Nachweisen. 6 Beispielhaft seien die unten näher erörterten Fälle „Lebenslange Freiheitsstrafe" (BVerfGE 45, 187), „Cannabis" (BVerfGE 90, 145) und „DDR-Spione" (BVerfGE 92, 277) genannt.
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hung und Verhängung von Kriminalstrafen beschäftigt hat, war der Beschluß zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe im Fall des Mordes 7 . Das Gericht sah sich hier vor allem vor drei Fragen gestellt: erstens, ob die lebenslange Freiheitsstrafe als solche den Grundsatz der Menschenwürde verletzt, zweitens, ob sie eine „notwendige und angemessene" Sanktion für Mord darstellt, und drittens, ob ihre unbedingte Androhung für alle Fälle des Mordes gegen das Ubermaßverbot verstößt. Die Vereinbarkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe als solcher mit der Menschenwürde hat das Gericht bekanntlich unter der Voraussetzung bejaht, daß der Gesetzgeber auch Verurteilten mit lebenslanger Freiheitsstrafe unter bestimmten Voraussetzungen die Aussicht auf vorzeitige Endassung gewährt 8 . Dem ist hier nicht weiter nachzugehen. Die zweite Frage behandelt das Gericht dann auf der Basis der — nicht näher entwickelten, aber potentiell durchaus explosiven — These, daß es ein „verfassungsrechtliches Gebot des sinn- und maßvollen Strafens" gebe 9 . Diese These nimmt das Gericht zum Anlaß für eine Untersuchung, ob die Androhung der lebenslangen Freiheitsstrafe für Mord einen legitimen Zweck erfüllt. Als „oberstes Ziel des Strafens" wird die Bewahrung der Gesellschaft vor sozialschädlichem Verhalten sowie der Schutz der elementaren Werte des Gemeinschaftslebens bezeichnet 10 . Dieses Ziel soll — so läßt sich den Darlegungen des Gerichts zumindest implizit entnehmen — in erster Linie durch positive und/oder negative Generalprävention erreicht werden 11 . In einem ungeklärten Verhältnis zu den zweckrationalen Erwägungen, die der Gesetzgeber anzustellen hat, stehen die Gedanken des Schuldausgleichs und der Sühne, die offenbar gleichfalls als legitime Rechtfertigungen einer (bestimmten) Strafdrohung anerkannt werden 12 — wobei das Gericht hervorhebt, daß dem Gesetzgeber die „Gestaltungsfreiheit" zukomme, „einzelne Strafzwecke anzuerkennen, sie gegeneinander abzuwägen und miteinander abzustimmen" 13 . Hinsichtlich der dritten Frage nach der Zulässigkeit einer einzigen (höchsten) Strafdrohung für alle Fallgestaltungen, die von § 211 StGB BVerfGE 45, 187 (1977). Hierzu BVerfGE 45, 187, 2 2 9 - 2 5 2 . 9 BVerfGE 45, 187, 253. 1 0 BVerfGE 45, 187, 254. 11 Daß die lebenslange Freiheitsstrafe bei Mord generalpräventive Wirkung habe, versucht das Gericht im einzelnen darzutun (BVerfGE 45, 187, 2 5 4 - 2 5 8 ) . 1 2 BVerfGE 45, 187, 253, 258 f. 1 3 BVerfGE 45, 187, 253. 7
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erfaßt werden, rekurriert das Gericht zunächst auf seine damals bereits feststehende Rechtsprechung, wonach die angedrohte Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der Schuld des Täters stehen muß 14 . Das werfe insbesondere bei absoluten Strafdrohungen Probleme auf; der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlange nämlich, daß dem Richter bei der Entscheidung konkreter Fälle die Möglichkeit offenbleibt, eine jeweils schuldangemessene Strafe zu verhängen 15 . Auf welche Weise diese Möglichkeit geschaffen werde, sei Sache (nicht etwa des Gesetzgebers, sondern) der Fachgerichtsbarkeit; das Bundesverfassungsgericht weist speziell für § 211 StGB auf die Möglichkeiten einer Strafmilderung nach Regelungen des Allgemeinen Teils (etwa § 21 StGB) sowie einer restriktiven Auslegung einzelner Mordmerkmale hin, ohne eine dieser Optionen von Verfassung wegen für verbindlich zu erklären 16 . Der BGH hat das verfassungsgerichdiche Mandat dann bekanntlich in der Weise ausgeführt, daß er für Mordfälle, in denen die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe unverhältnismäßig wäre, in freier Rechtsschöpfung praeter legem eine Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB vorgeschrieben hat 17 . b) 17 Jahre nach der „Lebenslang"-Entscheidung wurde das Bundesverfassungsgericht mit der Frage konfrontiert, ob das strafbewehrte Verbot des Umgangs mit Betäubungsmitteln mit dem Grundgesetz vereinbar ist 18 . Das Gericht nahm zur Beantwortung dieser Frage eine intensive und differenzierte — wenn auch im Ergebnis umstrittene - Analyse der in Frage gestellten Strafvorschriften (des BtMG) unter dem Aspekt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor. Ebenso wie in der „Lebenslang"-Entscheidung hatte das Gericht hier zum einen im Wege der (konkreten) Normenkontrolle die Zulässigkeit bestimmter gesetzgeberischer Maßnahmen als solcher zu beurteilen, zum anderen die Frage der verfassungskonformen Anwendung dieser Normen im Einzelfall. Bezüglich des ersten Problemkreises prüft das Gericht, ob ein, strafbewehrtes Verbot bestimmter Drogen zur Verwirklichung eines legitimen Ziels geeignet und erforderlich sei. Beides wird mit relativ knappen BVerfGE 45, 187, 259 f. BVerfGE 45, 187, 261. 16 BVerfGE 45, 187, 2 6 1 - 2 6 7 . 17 BGHSt. 30, 105, 118—121. Der BGH ist wegen dieser Vorgehensweise zum Teil heftig kritisiert worden; siehe z. B. Bruns, JR 1981, 358, 360 ff; Lackner, NStZ 1981, 348; Tröndle, StGB, 48. Aufl. 1997, §211 Rdn. 17 m.w.N. Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 14, weist demgegenüber mit Recht darauf hin, daß der BGH mit seiner Konstruktion genau die verfassungsgerichtliche Vorgabe erfülle. 18 BVerfGE 90, 145 (1994). 14 15
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Erwägungen unter Hinweis auf eine hier bestehende Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers bejaht19. Hinsichtlich der Strafbewehrung als solcher sei auch kein Verstoß gegen das Ubermaßverbot zu erkennen 20 , da wichtige Gemeinschaftsbelange des Schutzes durch Generalprävention bedürften, so daß der einzelne die Strafdrohung auch schon bei nur abstrakt gefährlichen Verhaltensweisen, ja sogar schon beim bloßen Besitz von Drogen zum Eigenverbrauch, hinnehmen müsse 21 . Auf der Anwendungsebene könne dies jedoch anders zu beurteilen sein: Hier gehe es um die Frage, ob die abstrakt als geeignet und erforderlich erkannten Maßnahmen unter Berücksichtigung der von ihnen ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen „noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen". Sei diese Frage im Einzelfall zu verneinen, so müsse „der an sich in legitimer Weise angestrebte Schutz zurückstehen", und eine Bestrafung dürfe nicht erfolgen 22 . Auf welche Weise der Gesetzgeber das Ergebnis der Straffreistellung erreiche, sei ihm überlassen; neben entsprechenden Regelungen im materiellen Recht kämen auch prozessuale Möglichkeiten der Nichtverfolgung in Betracht23. c) Ebenso kontrovers wie die Cannabis-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist sein 1995 ergangener Beschluß 24 zur Strafbarkeit von Spionen der DDR nach §§ 94, 99 des (westdeutschen StGB aufgenommen worden 25 . Hier stand nicht die Legitimität der StrafvorschrifBVerfGE 90, 145, 182 f (nur „gesicherte kriminologische Erkenntnisse" — die in concreto nicht vorlägen — könnten den Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers auf Null reduzieren). 2 0 Diese Frage wird in der abweichenden Ansicht des Richters Sommer (BVerfGE 90, 145, 2 1 4 - 2 2 1 ) wegen der geringen Gefahren, die vom Konsum von Cannabis für die Gesundheit ausgehen, anders beurteilt (mit dem Ergebnis, daß schon die Inkriminierung der meisten Verhaltensweisen in bezug auf „weiche" Drogen unverhältnismäßig - i. e. S. — und daher verfassungswidrig sei). Nach der „concurring opinion" der Richterin Graßhof handelt es sich hier dagegen um eine Frage der Erforderlichkeit; eine geeignete und erforderliche Strafdrohung könne in keinem Fall eine unzumutbare Belastung für den Bürger darstellen (BVerfGE 90, 145, 203). 21 BVerfGE 90, 145, 184, 187 f. 2 2 BVerfGE 90, 145, 185. 2 3 BVerfGE 90, 145, 1 8 9 - 1 9 1 . Das Gericht verweist hier - neben §§ 153ff StPO — auf die spezifischen drogenstrafrechtlichen Einstellungsmöglichkeiten nach §§ 29 Abs. 5 und 31a BtMG, die es als ausreichend für das Ausfiltern von Bagatellfällen ansieht, sofern eine ländereinheitliche Einstellungspraxis erreicht werden kann. Auch in diesem Punkt anderer Ansicht Sommer (BVerfGE 90, 145, 224-226). 2 4 BVerfGE 92, 277. 2 5 Siehe nut Arndt, NJW 1995, 1803; Classen, NStZ 1995, 371; Hillenkamp, JZ 1996, 179; Huber, Jura 1996, 301; Schlächter/Duttge, NStZ 1996, 457; W. Schmidt, JR 1996, 430; 19
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ten als solcher zur Debatte, sondern lediglich die Zulässigkeit ihrer Anwendung auf einen bestimmten Personenkreis, nämlich die vom Gebiet der DDR aus zum Nachteil der Bundesrepublik Deutschland tätig gewordenen Spione. Deren Bestrafung nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde vielfach als unbillig empfunden 26 ; eine Amnestie, wie sie verschiedendich vorgeschlagen wurde, kam jedoch nicht zustande. Das Bundesverfassungsgericht versuchte dieses rechtspolitische Problem wiederum durch den Rückgriff auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu lösen. Es stellte zunächst fest, daß das Prinzip der Verhältnismäßigkeit nicht nur (auf der Ebene der Gesetzgebung) die Strafbewehrung einer Norm und das angedrohte Strafmaß sowie (auf der Ebene der gerichtlichen Strafzumessung) die „Zumessung der Strafe nach dem Maß der Schuld und der Strafbedürftigkeit" berühre, sondern darüber hinaus auch die „dazwischenliegende Entscheidung über die Strafverfolgung" 27 . Für den diesmal allein entscheidungsrelevanten Bereich der Gesetzesanwendung ergebe sich die Geeignetheit und Erforderlichkeit im Hinblick auf die Erreichung des Strafzwecks schon aus der Überlegung, daß ein Straftatbestand seinen Zweck nur erfüllen kann, wenn er auch durchgesetzt wird 28 . In bezug auf die dann noch zu prüfende Frage der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne greift das Gericht auf die Formulierungen zurück, die es in der Cannabis-Entscheidung gefunden hatte: Der mit der Strafverfolgung verbundene Grundrechtseingriff sei gegen die zu schützenden Belange des Gemeinwohls abzuwägen; wenn die Schwere des Eingriffs gegenüber dem Betroffenen außer Verhältnis zu dem verwirklichbaren sozialen Nutzen stehe, müsse eine Bestrafung unterbleiben 29 . Während das Übermaßverbot bei der Strafzumessung im eigentlichen Sinne mit dem Gebot schuldangemessenen Strafens identisch sei, müßten bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf die Frage der Sttziverfolgung auch „andere Bedingungen" in die Beurteilung einbezogen werden 30 . Mit dieser - nicht
Schroeder, JR 1995, 441; Volk, NStZ 1995, 367; sowie die gegenüber dem BVerfG sehr kritische Entscheidung BayObLG JR 1996, 427. 26 Zu Lösungsmöglichkeiten siehe die Beiträge von Neumann und Scbünemann, in: iMtnpe (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. II, 1993, S. 161, 170 f bzw. S. 173, 188-191. 27 BVerfGE 92, 277, 326. 28 BVerfGE 92, 277, 326. Skeptisch zu der Möglichkeit, gegenüber DDR-Spionen (noch) legitime Strafzwecke zu verwirklichen, Hillenkamp, JZ 1996, 179, 183. 29 BVerfGE 92, 277, 326 f. 30 BVerfGE 92, 277, 327.
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näher begründeten - These 31 öffnet sich das Gericht das Tor zur Einbeziehung der historischen Besonderheiten des Falles, aufgrund derer die Mehrheit des Senats eine Strafverfolgung der DDR-Spione im Ergebnis als „unangemessen" und damit als verfassungsrechtlich unzulässig ansieht32. Da das Gericht das Problem — freilich wiederum ohne nähere Begründung — auf die Schiene der Entscheidung über die „Strafverfolgung" schiebt, ist es nur konsequent, wenn es als Rechtsfolge ein „unmittelbar von Verfassungs wegen" bestehendes Verfolgungshindernis postuliert33. 2. Faßt man die in den drei genannten Entscheidungen entwickelten Grundsätze zusammen, so läßt sich die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zur Funkdon des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Beschränkung der staatlichen Strafgewalt folgendermaßen skizzieren: Auf der Ebene der Gesetzgebung ist zu fragen, ob eine Strafnorm zum Schutz eines Rechtsguts gegen verbotene Beeinträchtigungen geeignet und — im Vergleich zu anderen, den einzelnen weniger stark belastenden rechtlichen Instrumenten — erforderlich ist 34 . Dabei hat die Strafe hauptsächlich die Funktion, die Schuld des Täters auszugleichen sowie die Allgemeinheit durch („negative" und „positive") Generalprävention von Verletzungshandlungen abzuhalten35. Sowohl die Gewichtung der Strafzwecke als auch die Einschätzung von Geeignetheit und Erforderlichkeit der Strafbewehrung unterliegen einer nur sehr begrenzt überprüfbaren Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers. Ob die Verhält31 Vor allem hieran entzündet sich die Kritik der drei dissentierenden Richter Klein, Kirchhof und Winter. Sie machen geltend, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Kontext der Strafverfolgung nur die Berücksichtigung zweier Gesichtspunkte erlaube: der Eignung und Erforderlichkeit der Bestrafung zur Verwirklichung eines anerkannten Strafzwecks sowie der Schuldangemessenheit der verhängten Sanktion. Soweit die Senatsmehrheit das von ihr postulierte Verbot einer Strafverfolgung auf sonstige Umstände, nämlich die historischen Besonderheiten des Falles, stütze, habe sie das Ubermaßverbot zu einer konturlosen Generalklausel ausgeweitet und sich unzulässigerweise an die Stelle des Gesetzgebers gesetzt (BVerfGE 92, 277, 342 f, 3 4 7 - 3 5 1 ) . Letzteren Vorwurf erheben ζ. B. auch Hillenkamp, JZ 1996, 179, 180, und Huber, Jura 1996, 301, 306. 3 2 Zu den — hier nicht interessierenden — Gründen für diese Einschätzung siehe BVerfGE 92, 277, 3 3 2 - 3 3 5 . 3 3 BVerfGE 92, 277, 335. 34 Siehe etwa die Analyse der Vorschriften des Betäubungsmittelstrafrechts in BVerfGE 90, 145, 182 f. 35 Das Wesen der Kriminalstrafe scheint das BVerfG (zutreffend) in „Repression und Vergeltung" für rechtlich verbotenes Verhalten zu sehen; vgl. zuletzt BVerfGE 95, 96, 140; BVerfG NJW 1998, 2585, 2586, wo aus dieser Annahme jeweils die Geltung des Schuldgrundsatzes hergeleitet wird. Zu den Strafzwecken näher BVerfGE 45, 187, 255-259.
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nismäßigkeit im engeren Sinne auf dieser Ebene überhaupt eine Rolle spielt und worin diese gegebenenfalls besteht, ist offenbar innerhalb des Gerichts umstritten36. Auf der Ebene der Rechtsanwendun£37 setzt sich das Bundesverfassungsgericht mit den Fragen von Geeignetheit und Erforderlichkeit (der Bestrafung im Einzelfall) nicht mehr näher auseinander, sondern fragt nur, ob sich irgendein Strafzweck finden läßt, der durch die Sanktionierung des Täters gefördert werden kann38. Der Schwerpunkt liegt hier vielmehr beim dritten Element der Prüfung der Verhältnismäßigkeit, d. h. auf der Frage, ob die Sanktion „angemessen" ist. Dies wird (nur) unter zwei Voraussetzungen bejaht: Erstens muß die Schwere der Sanktion dem Maß der Schuld des Täters entsprechen, und zweitens darf die Belastung des Betroffenen nicht außer Verhältnis zu dem Nutzen der Sanktionierung für den Rechtsgüterschutz stehen39. (Daß ein solcher Nutzen überhaupt erzielt werden kann, stellt das Gericht nicht in Frage.) Das Verhältnis dieser beiden Voraussetzungen zueinander ist nicht eindeutig geklärt: Verschiedentlich wird ihre Identität behauptet40, manchmal werden sie aber auch unabhängig voneinander geprüft und beurteilt41. Verantwortlich für die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist in erster Linie der Gesetzgeber: Er darf keine strafbewehrten Normen erlassen, die zum Rechtsgüterschutz schlechthin ungeeignet Siehe die gegensätzlichen Stellungnahmen hierzu in BVerfGE 90, 145, 203 (Graßhof) und 213 f {Sommer). 37 Auf der Ebene der Rechtsanwendung kontrolliert das Bundesverfassungsgericht die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes generell strikter als auf der Ebene der Gesetzgebung; dazu allgemein Tiedemann (Anm. 17), S. 14. 38 Siehe BVerfGE 28, 386, 391; 45, 187, 253; 92, 277, 347 (abweichende Meinung); nach der letztgenannten Stellungnahme würde es an der Geeignetheit der Strafverfolgung als Instrument zur Bekämpfung von Unrecht fehlen, wenn feststünde (!), daß durch die Anwendung der Strafvorschrift keiner der gesetzlich anerkannten Strafzwecke mehr zu erreichen ist. Da zu diesen „Strafzwecken" aber gerade auch der Schuldausgleich gehören soll (BVerfGE 92, 277, 348 f), sind Fälle, in denen mit einer schuldadäquaten Strafe kein legitimer Zweck zu erreichen ist, kaum denkbar. Siehe allerdings auch den - freilich sehr kursorischen — Hinweis auf negative spe^ialpräventive Wirkungen einer Bestrafung des Besitzes von Drogen in BVerfGE 90, 145, 188. 39 Dieser Aspekt wird insbesondere in der Cannabis-Entscheidung hervorgehoben; BVerfGE 90, 145, 185. 40 BVerfGE 50, 205, 215; 90, 145, 203 (abw. Meinung Graßhof)·, 92, 277, 342 f, 347 (abw. Meinung); 95, 96, 140. 41 BVerfGE 92, 277, 327. Hier werden die Gründe, die (ausnahmsweise) gegen eine Strafverfolgung sprechen, explizit dem „Interesse an einer Verwirklichung des bestehenden Strafanspruchs" gegenübergestellt (aaO S. 333). 36
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oder nicht erforderlich sind 42 ; und er muß außerdem durch den Erlaß von Regelungen mit der notwendigen Flexibilität dem Rechtsanwender die Möglichkeit einräumen, im Einzelfall die Proportionalität zwischen Individualeingriff und sozialem Nutzen zu wahren. Ob der Gesetzgeber hierfür Instrumente des materiellen oder des prozessualen Rechts verwendet, stellt ihm das Bundesverfassungsgericht frei 43 . Sind solche Instrumente nicht vorhanden oder in concreto nicht anwendbar, so muß der Rechtsanwender dennoch dem verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen, notfalls dadurch, daß er sich über die Anordnung des einfachen Rechts hinwegsetzt und unter unmittelbarem Rückgriff auf das Grundgesetz eine unangemessene Bestrafung des Betroffenen vermeidet 44 .
III. Der hier unternommene Versuch, aus den Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Grundsätze für die Begrenzung des Strafrechts am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes herauszukristallisieren, hat zwar ein insgesamt stimmiges Konzept des Gerichts zutage gefördert, andererseits aber doch einige Unschärfen erkennen lassen. Die durch die Rechtsprechung explizit oder implizit aufgeworfenen Fragen sollen im folgenden näher betrachtet werden. 7. Zunächst ist nach dem Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu fragen. Da nicht erst die Verhängung einer Strafe, sondern schon die Aufstellung einer Verbotsnorm und die Bedrohung ihrer Übertretung mit Kriminalstrafe in den Freiheitsbereich des Individuums eingreifen 45 , verfährt das Bundesverfassungsgericht richtig, wenn es die Prüfung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch auf die Ebene der Gesetzgebung erstreckt. Allerdings sollte man dann auch erwarten, daß Gesetzgebung und Rechtsanwendung mit gleicher Strenge an allen Elementen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gemessen werden. Daß das Bundesverfassungsgericht dies nicht tut, sondern sich jeweils nur auf bestimmte Aspekte des Verhältnismäßigkeitsprinzips Solche Strafnormen dürften als nichtig anzusehen sein; siehe BVerfGE 47, 109, 117; Lagodny (Anm. 2), S. 173 f. 4 3 BVerfGE 34, 261, 267; 90, 145, 1 8 9 - 1 9 1 . 4 4 BVerfGE 92, 277, 326, 335. 45 Lagodny (Anm. 2), S. 78 ff, 96 ff et passim, sieht im Verbot von bestimmten Verhaltensweisen einerseits und in der Sanktionsandrohung andererseits mit Recht zwei getrennt zu beurteilende Grundrechtseingriffe. 42
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konzentriert (Geeignetheit und Erforderlichkeit bei der Gesetzgebung, Angemessenheit bei der Rechtsanwendung), mag mit gewissen Schwierigkeiten bei der Anwendung der jeweils im Hintergrund gelassenen Kriterien zusammenhängen, verkürzt jedoch die Diskussion um nicht unwesentliche Gesichtspunkte, wie sich unten (IV.) noch zeigen wird. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang auch, ob es richtig ist, die Kontrolle gegenüber dem Gesetzgeber unter großzügiger Respektierung seines Beurteilungsspielraums, gegenüber Exekutive und Judikative dagegen mit großer Strenge zu handhaben — da alle Zweige der Staatsgewalt in gleicher Weise an die Grundrechte gebunden sind, sollte ihre Tätigkeit auch mit etwa der gleichen Intensität überprüft werden. 2. Was den Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes betrifft, so fordern zunächst die Kriterien der Geeignetheit und der Erforderlichkeit die Wahrung von Zweckrationalität in bezug auf bestimmte (legitime) Ziele staatlicher Aktivität. Für das Strafrecht und dessen Anwendung sieht das Bundesverfassungsgericht das relevante Ziel in Ubereinstimmung mit der herrschenden Meinung 46 im Schutz der „elementaren Werte des Gemeinschaftslebens" 47 . Die Androhung von Strafe durch den Gesetzgeber vermag dieses Ziel insofern zu fördern, als sie einerseits in der Bevölkerung das Bewußtsein von der Verbindlichkeit der betreffenden Norm wachhält, andererseits demjenigen, der sich über die Norm hinwegsetzen möchte, ein starkes Motiv dafür gibt, seine gesetzeswidrigen Regungen zu unterdrücken. Sofern man die so umschriebenen psychologischen Prozesse für einigermaßen real hält 48 , stellt eine Strafdrohung, die Generalprävention intendiert, ein rational akzeptables Mittel zum Zweck des Rechtsgüterschutzes dar, das aufgrund der Stärke des von ihm erzeugten Motivationsdrucks anderen Instrumenten überlegen 49 (und deshalb in einigen Bereichen „erforderlich") sein mag. Für den vom Bundesverfassungsgericht als gleichrangig, ja möglicherweise sogar als vorrangig angesehenen „Strafzweck" des Schuldaus4 6 Siehe etwa Baumann/ Weber/'Müsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 1995, S. 11; Je scheck / Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 2; Rudolphi, in: SK StGB, vor § 1 Rdn. 1. 47 So BVerfGE 45, 187, 254. Näher zu dieser Terminologie Vogel, StV 1996, 110, 111 m.w.N. 4 8 Siehe dazu allerdings die kritischen Bemerkungen von Baurmann, GA 1994, 368, und Bock, ZStW 103 (1991), S. 636. 49 Tiedemann (Anm. 17), S. 52, versteht die Kriminalstrafe als gegenüber anderen Mitteln sozialer Kontrolle „singulares aliud", das sich einem Vergleich eigentlich entziehe.
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gleichs 50 kann diese Aussage allerdings nicht gelten: Daß auf einzelne Verstöße nachträglich mit schuldangemessener Sanktionierung reagiert wird, kann als solches dem Rechtsgüterschutz nicht dienen - es sei denn, über die Brücke der Generalprävention, indem die Vollstreckung der angedrohten Strafe deren Androhung erst glaubhaft macht 51 . Es wäre daher besser gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht weniger Abstinenz in der Strafzweckdiskussion geübt, sondern sich im Rahmen der zweckrational geprägten Maßstäbe der Gebotenheit und der Erforderlichkeit klar zur Generalprävention als Zweck staatlichen Strafens bekannt hätte. So hätte das Gericht nicht nur dem in einen Zirkelschluß führenden Argument den Boden entzogen, daß es ausreiche, wenn die Strafe zum Ausgleich der Schuld des Täters 52 (oder gar zur „Sühne" 53 ) geeignet und erforderlich sei, sondern überhaupt erst einen eindeutigen Bezugspunkt für die Frage geschaffen, wo^u die angedrohte Strafe geeignet und erforderlich sein muß 54 . 3. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne bzw. der ¿Angemessenheit" der Sanktionierung im Einzelfall sieht das Bundesverfassungsgericht den Hauptanwendungsbereich des Schuldgrundsatzes: Jede Strafe muß von Verfassung wegen „verhältnismäßig" zur Schwere des Verschuldens des Täters sein. Dieser Satz, den das Bundesverfassungsgericht, wie erwähnt, bereits 1957 aus den „allgemeinen Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere dem Rechtsstaatsprinzip" hergeleitet hat 55 , wirft jedoch mehrere Fragen auf. Zunächst bedarf die Annahme der Begründung, daß das Rechtsstaatsprinzip sowie Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG nicht nur dem Grundsatz „nulla poena sine culpa" verfassungsrechtliche Dignität verleihen, sondern auch die Schuldproportionalität des konkreten Strafmaßes verbürgen. Dafür spricht zwar das Argument, daß es dann, wenn Strafe ohne Schuld nicht verhängt werden darf, auch nicht angehen Siehe insbesondere BVerfGE 45, 187, 254, 258 f; 95, 96, 140. Einen Zusammenhang zwischen Repression und Rechtsgüterschutz begründen etwa Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 1/9 — 1/11, und Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1998, S. 3 — 5, in der Weise, daß die (vergeltende) Strafe die Geltungskraft der übertretenen Verhaltensnorm durch „Widerspruch gegenüber dem Normbruch" wiederherstelle. 5 2 BVerfGE 92, 277, 349 (abw. Meinung). 53 Im Sinne einer „Schuldverarbeitung" durch den Täter wird „Sühne" in BVerfGE 45, 187, 259 als „legitimer Strafzweck" bezeichnet. 5 4 Siehe zu dieser Frage auch Frisch, Festschrift für Stree und Wessels, 1993, S. 69, 70. 55 BVerfGE 6, 389, 439. 50 51
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kann, dem Täter ein (zusätzliches) Stta.îquantum ohne Bezug zu dem von ihm schuldhaft verwirklichten Unrecht aufzuerlegen. Ob es jedoch die in diesem Zusammenhang angeführten sehr allgemeinen Grundsätze der Verfassung tatsächlich prinzipiell ausschließen, bei der Strafzumessung andere als strikt tatschuldbezogene Umstände zu Lasten des Täters zu verwerten, läßt sich dennoch mit Fug bezweifeln — schon die in § 46 Abs. 1 StGB enthaltene Kompromißformel, ganz zu schweigen von einigen der in § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB aufgeführten Strafzumessungsgesichtspunkte (Vorleben des Täters, wirtschaftliche und persönliche Verhältnisse) und dem Kriterium „Gebotenheit der Verteidigung der Rechtsordnung" (§§ 47 Abs. 1, 56 Abs. 3 StGB), wäre verfassungsrechdich höchst suspekt, wenn das Grundgesetz tatsächlich eine strikte und ausschließliche Tatschuldadäquität der Sanktionsbemessung vorschriebe. Vom Bundesverfassungsgericht gemeint sein dürfte allerdings auch nur eine „weiche" Schuldorientierung im Sinne der vom BGH entwickelten Schuldrahmentheorie, wonach eine — nach welchen Kriterien immer im einzelnen bestimmte — Strafe jedenfalls nicht die Obergrenze dessen überschreiten darf, was dem Täter angesichts des von ihm verschuldeten Unrechts auferlegt werden kann 56 . Selbst wenn man das verfassungsrechtliche Gebot der Schuldangemessenheit der Strafe (als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) in diesem Sinne versteht, kann die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ungeahnte — und von dem Gericht sicher nicht beabsichtigte — Folgen haben: Da der Grundsatz der Proportionalität zwischen Schuld und Strafe nicht nur das (in den bisherigen Entscheidungen thematisierte) Ob der Bestrafung, sondern auch das Wieviel betrifft, wird jeder Fall der Strafzumessung mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar — nämlich mit der Begründung, die verhängte Sanktion gehe über das Maß der Schuld hinaus und greife daher in „unangemessener" Weise in die Freiheitsrechte des Verurteilten ein. Es bleibt abzuwarten, wie sich das Bundesverfassungsgericht im Angesicht einer möglichen Flut entsprechender Verfassungsbeschwerden zu verhalten gedenkt und in welchem Maße es sich zur Super-Strafzumessungsinstanz (mit der möglichen Folge einer Entmündigung der Fachgerichtsbarkeit) machen läßt 57 . Die Keimzelle für eine solche Entwicklung ist jedenfalls gelegt. 4. Ungeklärt ist das Verhältnis zwischen Schuldgrundsatz und Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die These, beide Grundsätze besagten im Bereich 5 6 BGHSt. 20, 264; 24, 132; 27, 2; Einzelheiten bei Gribbohm, in: LK, 11. Aufl. 1994, § 46 Rdn. 1 1 - 1 3 , 18. 5 7 . Davor warnt auch Arndt, NJW 1995, 1803, 1804.
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des Strafrechts dasselbe 58 , trifft insoweit zu, als eine das Schuldmaß (deutlich) übersteigende Strafe nicht „angemessen" sein kann, da die Strafe ihrem Wesen nach schuldvergeltenden Charakter hat. Die Frage ist aber, ob es Fälle gibt, in denen selbst eine schuldproportionale Sanktion nicht „verhältnismäßig" (im engeren Sinne) ist. Anerkannt ist diese Möglichkeit für den (eher theoretischen) Fall, daß die Sanktionierung des Täters keinen einzigen legitimen Strafzweck zu erfüllen vermag 59 . Es ist jedoch auch vorstellbar, daß eine schuldadäquate Strafe aus anderen Gründen übermäßig in die Grundrechtssphäre des Täters eingreift — etwa weil sie sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) beeinträchtigt. In der Entscheidung zu den DDR-Spionen hat das Bundesverfassungsgericht insoweit nur zu einer historisch einmaligen Fallgestaltung (der Spion wird zwangsweise zu einem Bürger des Staates, den er ausspioniert hat) Stellung beziehen müssen; es hat aber in diesem Zusammenhang den Grundsatz anerkannt, daß auch andere als schuldbezogene Umstände zu einer Unangemessenheit der Bestrafung führen können 60 . Dies halte ich auch angesichts der Kritik seitens der dissentierenden Richter 61 und trotz der evidenten Unbestimmtheit des dann anzuwendenden Maßstabs für richtig. Die abweichende Meinung stützt sich im wesentlichen auf die These, es stelle eine „unabweisbare Begrenzung der ... Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts dar, daß es die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung abzuwägenden Gesichtspunkte nicht nach eigenem Gutdünken auswählt, sondern sich dabei von den in der Rechtsordnung bereits enthaltenen übergeordneten Wertungsentscheidungen für den jeweils betroffenen Rechtsbereich ... leiten läßt" 62 . Diese These ist jedoch formal eine petitio prineipii und inhaltlich ein Blankoscheck für den einfachen Gesetzgeber, der danach die Gesichtspunkte, die die „Angemessenheit" eines Grundrechtseingriffs begründen sollen, exklusiv und mit verfassungsrechtlicher Verbindlichkeit vorgeben könnte. Tatsächlich wird man sagen können, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz immer, aber nicht nur dann verletzt ist, wenn eine das Maß der Schuld überschreitende Strafe verhängt wird. Zu der Frage, in welchen sonstigen Fällen eine (bestimmte) Strafe „unangemessen" ist, besagt Siehe oben Anm. 40. Grundlegend BVerfGE 45, 187, 253; anerkannt auch in B V e r f G E 92, 277, 3 4 7 (abw. Meinung). 6 0 BVerfGE 92, 277, 327 (allerdings ausdrücklich nur bezogen auf „andere strafrechtliche Maßnahmen" als die Strafzumessung durch das Gericht). 6 1 B V e r f G E 92, 277, 350 f (abw. Meinung). 6 2 BVerfGE 92, 277, 350 f (abw. Meinung). 58 59
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allerdings die vom Bundesverfassungsgericht verwendete Abwägungsklausel 63 wenig, da diese nur die allgemeinsten Gesichtspunkte (Belastung des Individuums vs. Allgemeininteresse am Rechtsgüterschutz) benennt, ohne Kriterien für deren Ausfüllung anzugeben. Für die nähere Beschreibung der (Ausnahme-) Fälle „sonstiger" Unangemessenheit wird man davon ausgehen müssen, daß die Verhängung und Vollstrekkung der Kriminalstrafe — deren generelle Geeignetheit und Erforderlichkeit zum Rechtsgüterschutz auf dieser Stufe der Prüfung ja vorauszusetzen ist — grundsätzlich auch in jedem Einzelfall notwendig ist, um den Zweck der Generalprävention zu erreichen. Da die Strafe nach ihrem Wesen und ihrer Intention mit erheblichen Rechtseinbußen für den Verurteilten verbunden ist, kann die „normale" Belastung des Betroffenen mit den Folgen der Bestrafung nicht zu deren Unangemessenheit führen. Dies kann jedoch ausnahmsweise anders sein, wenn die Belastung des individuellen Täters wesentlich über die vom Gesetzgeber vorausgesehene und in Kauf genommene „Normalbeeinträchtigung" hinausgeht (etwa weil der zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilte Täter aufgrund einer Krankheit nur noch kurze Zeit zu leben hat). Bei solchen Fallgestaltungen kann ein bestimmtes Strafmaß oder sogar jede Bestrafung tatsächlich ein unzumutbares Opfer darstellen und so — trotz Schuldproportionalität - gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen 64 . Das geltende Strafrecht enthält bereits einzelne solcher Fälle, z. B. in § 60 StGB 65 ; damit kann aber die unmittelbar auf Verfassungsrecht gestützte Berücksichtigung anderer, vom Gesetz nicht erfaßter Fallgestaltungen nicht ausgeschlossen sein 66 . 5. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich auch mit der Frage zu beschäftigen, in welcher Weise Gesetzgeber und Rechtsanwender die Gefahr „unverhältnismäßiger" Bestrafung abwenden sollen. Hierzu hat es 63 Siehe etwa BVerfGE 90, 145, 185; 92, 277, 327; zustimmend Bartlsperger, DVB1. 1993, 333, 343. 64 Dagegen führt das vom Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 92, 277, 334 f angedeutete Argument, daß das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung von Spionen ausweislich der Sonderregelungen in §§ 153d, 153 e StPO generell weniger stark ausgeprägt sei, nicht zu der hier angesprochenen Variante der fehlenden „Angemessenheit" von Strafe, sondern würde bereits die Erforderlichkeit einer Bestrafung (im Einzelfall) entfallen lassen. 6 5 Die meisten der darüber hinaus in BayObLG JR 1996, 427, 428 als Anwendungsfalle des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angeführten Vorschriften (wie § § 1 3 Abs. 2, 17, 21 StGB) betreffen allerdings bereits die verminderte Schuld des Täters und sind daher hier nicht unmittelbar einschlägig. 6 6 Demgegenüber scheint Classen, NStZ 1995, 371, 373 f, die entsprechenden einfachgesetzlichen Regelungen für abschließend zu halten.
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einen überaus pragmatischen Standpunkt eingenommen: Aus verfassungsrechtlicher Perspektive, so muß man die Aussagen des Gerichts verstehen, komme es ausschließlich darauf an, daß eine gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßende Bestrafung irgendwie vermieden wird; ob dies durch Regelungen des materiellen Rechts, durch die Anwendung der im positiven Verfahrensrecht bereits vorgegebenen Möglichkeiten der Verfahrenseinstellung oder durch eine Verfahrensbeendigung unmittelbar kraft Verfassungsrechts geschieht, sei gleichgültig 67 . Gegen diesen rein ergebnisorientierten Ansatz ist mit Recht eingewandt worden, daß er an den gravierenden Wertungsunterschieden vorbeigehe, die zwischen einem materiellrechtlichen Ausschluß von Strafbarkeit und einem „bloßen" (auf ganz andersartigen Erwägungen beruhenden) Verfahrenshindernis bestehen, sowie daß das Gericht die Wirkung der Unschuldsvermutung übersehen habe, die es ausschließe, das Verfahren gegen einen bloß Beschuldigten mit der Begründung einzustellen, daß seine Bestrafung unverhältnismäßig wäre 68 . Tatsächlich begrenzt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz das materielle Strafrecht. Uber die Frage der angemessenen Sanktionierung nach den Geboten der Verfassung hat daher prinzipiell das Gericht zu entscheiden, und zwar nachdem es die schuldhafte Verwirklichung des Tatbestandes durch den Angeklagten festgestellt hat. Eine pauschale Verfahrenseinstellung kommt nicht in Betracht. Die Staatsanwaltschaft kann allerdings die Entscheidung des Gerichts (nur) dann vorwegnehmen, wenn sie nach Abschluß der Ermittlungen zu der Uberzeugung gelangt, daß das Gericht unter den konkreten Umständen des Falles selbst einen bloßen Schuldspruch mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) als unverhältnismäßig ansehen wird; dann muß sie das Verfahren in der Tat einstellen, allerdings nicht in freier Verfassungsrechtsschöpfung, sondern schlicht nach § 170 Abs. 2 StPO 69 .
BVerfGE 90, 145, 191; 92, 277, 326, 335. Auch in BVerfGE 45, 187, 261 (Lebenslange Freiheitsstrafe) kommt es dem Bundesverfassungsgericht nur darauf an, daß der Richter irgendwie (und sei es unter Zubilligung verminderter Schuldfahigkeit nach § 21 StGB) zu einer angemessenen Strafe gelangen kann; eine prozeßrechdiche Lösung stand hier nicht zur Debatte. Siehe auch BVerfGE 34, 261, 267, wo bereits auf die Möglichkeiten der Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO sowie der Strafaussetzung zur Bewährung hingewiesen wird. 6 8 Siehe etwa BayObLG JR 1996, 427, 429; 1Melles/ Velten, NStZ 1994, 366, 370; Schroeder, JR 1995, 441, 443; Volk, NStZ 1995, 367, 369 f; siehe aber andererseits Frisch (Anm. 54), S. 100 f, der annimmt, daß abschließend erst im Verfahrensrecht festgelegt werde, was materiell strafbar ist. 6 9 Vgl. BayObLG JR 1996, 427, 428. 67
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IV. Das Bundesverfassungsgericht setzt, wie sich bei der Analyse seiner Rechtsprechung gezeigt hat, die Elemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Uberprüfung von Akten der Legislative und der Gerichte selektiv ein und schöpft — trotz mancher überraschender und kontroverser Ergebnisse in Einzelfällen — ihr strafrechtsbegrenzendes Potential nicht aus. Im folgenden möchte ich noch kurz skizzieren, welche (möglicherweise weiterreichenden) Konsequenzen eine systematische und umfassende Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich des Strafrechts hätte. 1. a) Auf der Ebene der Strafgesetygebung wäre zunächst — wie dies auch das Bundesverfassungsgericht tut — danach zu fragen, ob die Androhung von Kriminalstrafe für bestimmte Verhaltensweisen ein geeignetes Mittel zur Erreichung legitimer staatlicher Zwecke darstellt. Die vorgelagerte Frage, welche Zwecke — nach der üblichen Redeweise: welche „Rechtsgüter"70 — der Staat überhaupt verfolgen und notfalls mit Hilfe von Eingriffen in Individualrechte absichern darf, ist ein verfassungsrechtliches71, aber kein genuin strafrechtliches Problem. Die Eignung der Aufstellung von Strafdrohungen zur (besseren) Durchsetzung des vorgegebenen Zwecks der jeweiligen Verhaltensnorm hängt, da ein Schutzeffekt im wesentlichen nur über den Mechanismus von Abschreckung und/oder „Normstabilisierung" zu erwarten ist, davon ab, wie man die generalpräventive Wirkung von Pönalisierungen allgemein zu beurteilen hat. Da aussagekräftige empirische Forschungen zu dieser Frage kaum vorliegen72, ist man bei ihrer Beantwortung auf Vermutun7 0 Zum Wert des Rechtsgutsbegriffs in dem hier interessierenden Zusammenhang mit Recht kritisch Frisch (Anm. 54), S. 7 2 - 7 6 ; iMgodny (Anm. 2), S. 145 ff; siehe auch Jakobs (Anm. 51), 2 / 7 - 2 / 2 5 ; Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S. 24 f. Für die Beibehaltung eines — allerdings sehr weitgefaßten, an der Verfassung orientierten — Rechtsgutsbegriffs jedoch Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 3. Aufl. 1997, § 2 Rdn. 9 ff. 71 Zu den hier einschlägigen Kategorien der „Staatsziele" und „Staatsaufgaben" siehe Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 57 Rdn. 115 — 155. Allgemeine Umschreibungen der zulässigen Bezugspunkte speziell von Strafnormen bei Roxin (Anm. 70), § 2 Rdn. 9; Rudolphi, in: SK StGB, vor §1 Rdn. 1 („Wahrung und Sicherung der Lebensbedingungen unserer ... Gesellschaft"); I^agodny (Anm. 2), S. 137 — 140, 288 — 294 (der vor allem auf den Begriff der „Gemeinwohlinteressen" rekurriert; eingehend und kritisch zur Leistungsfähigkeit des Begriffs „Gemeinwohl" Isensee, aaO, § 57 Rdn. 1—40). Daß sowohl Individual- als auch Gemeinschaftsgüter als Schutzobjekte in Betracht kommen, betont mit Recht Vogel, StV 1996, 110, 111. 72 Eisenberg, Kriminologie, 4. Aufl. 1995, S. 719 f. Einigermaßen erforscht ist allerdings die — hier nicht relevante — Frage des Einflusses bestimmter quantitativer Faktoren (Höhe, Wahrscheinlichkeit der Sanktionierung) auf die Normkonformität; siehe
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gen angewiesen73. Dabei kann allerdings die Annahme, daß Strafdrohungen irgendeine Verhaltens steuernde Wirkung auf die Mitglieder der Gesellschaft haben, ein gewisses Maß an Plausibilität für sich in Anspruch nehmen 74 . Freilich mag es Bereiche menschlichen Verhaltens geben, die sich von vornherein der rational vermittelten Beeinflussung durch Sanktionsandrohungen entziehen, wie etwa Körperbewegungen, bei denen eine willentliche Steuerung fehlt (ζ. B. körperliche Reflexe), oder Handlungen, bei denen die Modvierbarkeit des Individuums durch die Norm von übermächtigen irrationalen Antrieben überlagert oder ausgeschaltet ist (ζ. B. bei hochgradigem Affekt). In solchen Fällen würde es — unabhängig von strafrechtsintrinsischen Gründen für den Ausschluß von Strafbarkeit — bereits an der Geeignetheit strafrechtlicher Verbote zur Erreichung des Normzwecks fehlen. b) Das Kriterium der Erforderlichkeit verlangt vom Gesetzgeber zunächst zu untersuchen, ob der Einsatz des Strafrechts zur Erreichung des gewünschten Ziels notwendig ist oder ob weniger eingriffsintensive75 rechtliche (ζ. B. Steuerrecht, Schadensersatzrecht, Verwaltungsrecht76) oder auch außerrechtliche (ζ. B. Mediation, Verhaltens Steuerung durch ökonomische Anreize) Mittel zur Verfügung stehen, die denselben Zweck zu verwirklichen geeignet sind. Tatsächliche Schwierigkeiten bereitet hier vor allem die Einschätzung (und gegebenenfalls Erprobung) der relativen Eignung verschiedener denkbarer Instrumente; in normativer Hinsicht liegt die Crux bei der Frage, um wieviel geringer die Wirkungschance eines alternativen Mittels sein darf, um ihm noch den Vorhierzu Eisenberg, aaO S. 721 —726; Kaiser.; Kriminologie, 3. Aufl. 1996, S. 259 — 264; Schöch, Festschrift für Jescheck, 1985, S. 1081, 1 0 8 2 - 1 1 0 3 . 7 3 Zutreffend Tiedemann (Anm. 17), S. 51. 7 4 Ob sich ein „normstabilisierender" Effekt von Sanktionsdrohungen freilich überhaupt anders als auf theoretischer Ebene feststellen läßt, ist schon grundsätzlich zweifelhaft; siehe dazu Baurmann, GA 1994, 368, 376-382; Dötting, ZStW 102 (1990), S. 1 , 1 4 - 2 0 ; Frisch (Anm. 54), S. 78; Schumann, Positive Generalprävention, 1989, S. 35 ff; Weigend, Festschrift für Triffterer, 1996, S. 695, 709 f. 75 Ob das Strafrecht stets und unter allen Umständen das relativ eingriffsintensivste Mittel darstellt, wird unterschiedlich beurteilt. Wenn man nur die Wirkung auf das betroffene Individuum (und nicht die Vervielfältigung des „Betroffenseins" etwa bei flächendekkenden verwaltungsrechdichen Präventionsmaßnahmen) in die Betrachtung einbezieht, wird man die Frage wohl bejahen müssen. Siehe hierzu jedoch auch die Gegenauffassung von Tiedemann (Anm. 17), S. 52; ders., Festschrift für Stree und Wessels, 1993, S. 527, 530 f. 7 6 Die schwierige und umstrittene Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Mittel des Ordnungswidrigkeitenrechts an die Stelle derjenigen des Kriminalstrafrechts treten können (siehe dazu zusammenfassend Vogel, StV 1996, 110, 112), lasse ich hier bewußt beiseite.
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zug vor der (bei entsprechend drakonischer Höhe) immer „verläßlichen" Strafandrohung geben zu können bzw. zu müssen 77 . Das Bundesverfassungsgericht hat alle diese Fragen in weiser Zurückhaltung der Einschätzung des Gesetzgebers überlassen 78 . Damit ist das Problem freilich nur für das Gericht durch Zurückreichen an die Legislative „gelöst". „Erforderlich" muß nicht nur der Einsatz des Strafrechts als solcher, sondern auch das Maß gerade der vom Gesetzgeber in dem jeweiligen Tatbestand angedrohten Strafe sein 79 . Auch in diesem Punkt kann sich der Gesetzgeber nur an der empirischen Forschung zu der Frage orientieren, welcher positive Effekt (im Sinne einer Reduzierung normverletzenden Verhaltens) von Strafdrohungen einer bestimmten Höhe ausgeht. Die bisherigen Untersuchungen auf diesem Gebiet haben jedoch bekanntlich keinen überzeugenden Beleg für die These erbracht, daß höhere Strafdrohungen auch zu höherer Normkonformität führen, jedenfalls solange sich die Strafdrohung nicht in exorbitante (und damit gegen das Angemessenheitserfordernis und den Schuldgrundsatz verstoßende) Höhen bewegt 80 . Daraus wird man den Schluß zu ziehen haben, daß erhöhte Mindeststrafdrohungen oder gar absolute Strafdrohungen wie bei § 211 StGB in der Regel nicht „erforderlich" zur Durchsetzung von Verhaltensnormen sind — es sei denn, schon die Möglichkeit, daß ein bestimmtes Delikt etwa nur mit Geldstrafe oder einer Bewährungsstrafe geahndet werden kann, würde das Rechtsgefühl der Bevölkerung so massiv verletzen, daß ernsthaft mit dem Eintritt partieller Anomie gerechnet werden müßte 81 . c) Das Kriterium der Angemessenheit spielt bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzgebungsakten durch das Bundesverfassungs-
Lagodnj (Anm. 2), S. 1 7 9 f , 365 f, scheint die Argumentationslast hier denjenigen aufbürden zu wollen, die die Erforderlichkeit einer Strafandrohung in Zweifel ziehen. D e m ultima-ratio-Prinzip entspräche jedoch eher das Gegenteil: Die Unabdingbarkeit des Einsatzes von Strafrecht muß begründet werden, nicht die Verwendung eines „milderen Mittels". 7 8 B V e r f G E 90, 145, 173. 7 9 Vom Bundesverfassungsgericht wurde dieser Punkt vor allem in der Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe (BVerfGE 45, 187, 2 5 4 - 2 6 0 ) diskutiert. 8 0 Siehe etwa Kaiser (Anm. 72), S. 259 f; Kun%, Kriminologie, 1994, S. 2 7 4 - 2 7 7 . 8 1 Das Bundesverfassungsgericht hat die absolute Strafdrohung bei Mord nur unter der Bedingung akzeptiert, daß dem Richter dennoch ermöglicht wird, eine Strafe zu verhängen, „die mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist"; B V e r f G E 45, 187, 261; siehe auch (im gleichen Sinne) BVerfGE 90, 145, 189. Kritisch zu gesetzlichen Mindeststrafdrohungen auch Hassemer; Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 2 9 2 - 2 9 4 . 77
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gericht kaum eine Rolle. Dies muß schon deshalb erstaunen, weil sich dieses Kriterium als Maßstab für die nicht unwichtige Frage anbietet, bei welcher Schwere von Verstößen der (an sich zu deren Bekämpfung effiziente) Einsatz des Strafrechts verfassungsrechtlich zulässig ist. Es besteht im Grundsatz weitgehend Einigkeit darüber, daß die scharfe Waffe des Kriminalstrafrechts, da die Strafe Ausdruck eines gewichtigen sozial-ethischen Vorwurfs ist, nur gegenüber objektiv und subjektiv schwerwiegenden Beeinträchtigungen des sozialen Friedens verwendet werden darf 8 2 . Verfassungsrechtlich läßt sich das hiermit angesprochene Verbot, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, in dem Erfordernis lozieren, daß ein Grundrechtseingriff nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten (und im günstigsten Fall erreichbaren) Zweck stehen darf. Strafrechtliche Verbote, insbesondere solche außerhalb des Strafgesetzbuchs, an diesem Maßstab zu messen, kann durchaus zu einer vernünftigen Reduktion des Bereichs des Strafbaren beitragen 83 . Unverhältnismäßig weit ist eine Strafnorm aber auch dann, wenn sie sich zwar im Kern gegen Handlungen von erheblicher Sozialschädlichkeit richtet, gleichzeitig aber auch Verhaltensweisen erfaßt, die unterhalb der Schwelle dessen liegen, wofür eine (bzw. die in dem betreffenden Tatbestand angedrohte) Kriminalstrafe die „angemessene" Reaktion ist. Auch diese Überlegung spricht gegen die gesetzliche Androhung von erhöhten Mindeststrafen oder absolut bestimmten Sanktionen. Sie führt jedenfalls zu der — in Einzelfällen auch vom Bundesverfassungsgericht vertretenen 84 — Forderung, die gesetzlichen Strafrahmen generell nach unten zu öffnen. Wenn — was kaum ganz auszuschließen ist — ein Tatbestand nach seinem Wortlaut auch Verhaltensweisen erfaßt, die im Bereich des Geringfügigen oder bloß Lästigen liegen, dann ist das Gebot der Verhältnismäßigkeit nur gewahrt, wenn dem Rechtsanwender durch Vorschriften des materiellen Strafrechts 85 die Möglichkeit eröff82
Siehe hierzu im einzelnen Frisch (Anm. 54), S. 8 5 - 8 7 , 96; Vogel, StV 1996, 110,
111. 8 1 Beispiele bei Frisch (Anm. 54), S. 96. Sinnvoll wäre ein Durchmustern von Straftatbeständen unter diesem Aspekt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes selbst dann, wenn man, wie Lagodny (Anm. 2), S. 218 f, annimmt, daß hier nur ein abstrakt-genereller Maßstab anzulegen, d. h. der typische von der Norm geregelte Fall zu betrachten sei. 8 4 BVerfGE 50, 205, 216; 90, 145, 189, 207; siehe aber auch BVerfGE 54, 100, l l l f ; 95, 96, 141 (gegen einen außerpositiven Schuldausschließungsgrund im Fall der „Verstrickung in ein Unrechtssystem"). 8 5 Daß diese Option nicht einfach ins Prozeßrecht — gar über die Kreation unmittelbar aus dem Grundgesetz abgeleiteter „Verfahrenshindernisse" — verlagert werden kann, wurde oben bereits dargetan. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne) gilt für jeden Akt des Gesetzgebers; daher ist es unzulässig, im materiellen Strafrecht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf die leichte Schulter zu nehmen und sich darauf
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net wird, mit einer Bagatellsanktion oder mit dem Absehen von jeder Bestrafung zu reagieren86. Es ist eher eine Frage der Praktikabilität, ob diese Möglichkeit durch Einzelregelungen im Besonderen Teil, durch eine entsprechende Ausgestaltung der Strafrahmen, durch das weitreichende Zulassen von Strafmilderung „gegen Null" im Allgemeinen Teil oder über eine materielle Definition der Straftat87 geschaffen wird. Spezialregelungen im Besonderen Teil hätten den Vorteil, daß sie präziser auf die jeweils erfaßten Tatbestände zugeschnitten und sachgerecht limitiert werden könnten88; eine Lösung des Problems im Allgemeinen Teil wäre zwar gesetzestechnisch wesentlich einfacher zu verwirklichen, würde jedoch aufgrund ihres „flächendeckenden" Charakters gewisse Möglichkeiten des Mißbrauchs eröffnen. 2. Durch eine Gesetzgebung, die den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der geschilderten Weise gerecht wird, würde die Rechtsanwendung wesentlich erleichtert. a) Daß die Bestrafung eines Täters, der schuldhaft einen Straftatbestand erfüllt hat, geeignet ist, die künftige Beachtung der übertretenen Verhaltensnorm (durch den Täter und andere) zu fördern, muß man nicht mehr für jeden Einzelfall dartun. Wenn die gesetzliche Androhung von Strafe zur Zweckerreichung geeignet (und erforderlich) ist, dann ist es grundsätzlich auch ihre Anwendung, da „ein Straftatbestand seinen Zweck nur erfüllen kann, wenn er auch durchgesetzt wird" 89 . b) Ähnliches gilt für die Frage der Erforderlichkeit der Verhängung von Strafe im Einzelfall. Unter dem Blickwinkel der „positiven" ebenso wie zu verlassen, daß sich schon jemand finden werde, der den Fehler im Verfahrensrecht wieder ausbügelt. Für eine Lösung im materiellen Recht auch dezidiert Frisch (Anm. 54), S. 105 f; Nelles/Velten, NStZ 1994, 366, 367. 86 Lagodny (Anm. 2), S. 458 f, weist auf verschiedene - ihrer Rechtsnatur nach heterogene - „Härtefall-Klauseln" des geltenden materiellen Strafrechts hin, wie z. B. §§ 184c, 193, 240 Abs. 2 StGB. Solche punktuellen Regelungen reichen allerdings nicht aus, um das Problem der (potentiell) übermäßigen Reichweite von Straftatbeständen generell zu lösen. 8 7 Wie etwa in Art. 1 § 2 des polnischen Strafgesetzbuchs: „Keine Straftat bildet eine verbotene Tat, deren Gesellschaftsschädlichkeit geringfügig ist." Fine ähnliche Regelung wird für das deutsche Recht vorgeschlagen in Ρ.-Λ. Albrecht u. a., Strafrecht — ultima ratio, 1992, S. 15 — 17. Eher skeptisch zu einem materiellen Begriff der Straftat Kuhlen, Strafrechtsbegrenzung durch einen materiellen Straftatbegriff ?, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 77. 8 8 Für eine solche Lösung daher Frisch (Anm. 54), S. 105 f. Bedenken gegen eine allgemeine Bagatellformel (für den Bereich der Drogendelikte) wegen deren Unbestimmtheit bei Kreuzer, NJW 1994, 2400, 2401. 89 BVerfGE 92, 277, 326.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Grenze staatlicher Strafgewalt
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der „negativen" Generalprävention läßt sich zwar nicht beweisen, daß die Bestrafung gerade eines bestimmten Straftäters für die Normstabilisierung bzw. die wirksame Abschreckung Dritter unverzichtbar sei — in der Regel ist dies gerade nicht der Fall - ; da aber Generalprävention nicht funktioniert, wenn man auf die Verhängung und Vollstreckung der angedrohten Strafen insgesamt verzichtet, kann niemand, der sich strafbar gemacht hat, den Einwand erheben, gerade auf seine Bestrafung komme es für die Zwecke der Generalprävention nicht an. Die Frage, welcher von mehreren Straftätern sanktioniert wird, ist vielmehr ausschließlich eine Frage der Gleichbehandlung. Erwägungen der Erforderlichkeit stellen sich allein auf der der Strafrechtsanwendung vorgelagerten Stufe der Verfolgungspolidk: Hier ist zu prüfen, welches Quantum und welche Intensität an Strafverfolgung zur Gewährleistung der Normtreue notwendig ist und nach welchen (mit dem Gleichheitssatz vereinbaren) Kriterien die Auswahl der verfolgungsbedürftigen Fälle vorzunehmen ist. Bereits auf dieser Ebene kann sich auch zeigen, daß zur Bekämpfung bestimmter Ausprägungen eines Straftatbestandes alternative Instrumente der Sozialkontrolle vorhanden sind, die den Einsatz des Strafrechts generell oder häufiger als in anderen Fällen verzichtbar machen — mit der Folge, daß eine Strafverfolgung in diesen Fällen gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen würde 90 . c) Die Frage der Angemessenheit einer Bestrafung im Einzelfall kann, wenn die Strafnormen entsprechend den obigen Darlegungen (unter IV.l.c) „offen" ausgestaltet sind, auf der Ebene des Strafrechts ohne unmittelbaren Rückgriff auf die Verfassung gestellt und beantwortet werden. Bleibt der Unrechtsgehalt der Tat und/oder die Schuld des Täters deutlich unter dem von dem jeweiligen Tatbestand vorausgesetzten Normalmaß, so braucht das Gericht nur von den flexiblen Möglichkeiten der Strafmilderung oder des Absehens von Strafe Gebrauch zu machen, um eine unverhältnismäßige Sanktionierung zu vermeiden. Wenn es allerdings an entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen fehlt, bleiben dem Rechtsanwender nur zwei Möglichkeiten: Er kann (auf dem dafür in Art. 100 GG vorgesehenen Weg) die Verfassungswidrigkeit der anzuwendenden Strafvorschrift mit der Begründung geltend 9 0 Denkbar ist dies beispielsweise für bestimmte Fälle der Beförderungerschleichung (§ 265a StGB), falls diese durch Zugangskontrollen oder durch das Finfordern eines vertraglich ausbedungenen „erhöhten Beförderungsentgelts" (mindestens) ebenso wirksam bekämpft werden können wie durch den Einsatz der Kriminalstrafe; siehe hierzu Schall, JR 1992, 1, 7 f. Fine Streichung von § 265a StGB insgesamt wird vorgeschlagen von P.-A. Albrecht u. a. (Anm. 87), S. 33 f.
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machen, daß sie für bestimmte Fälle eine unangemessen strenge und damit verfassungswidrige Bestrafung zwingend vorsehe; oder er kann eine nach „einfachem" Gesetzesrecht nicht mögliche Strafmilderung oder auch einen Verzicht auf Strafe unmittelbar auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stützen 91 . Der Hauptanwendungsfall eines solchen verfassungskonformen Unterbietens von Straf(zumessungs)normen dürfte derjenige sein, daß auch die mildeste im positiven Recht vorgesehene Strafe über das Maß der Schuld des Täters hinausginge; da der Angemessenheitsaspekt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aber weiter reicht als das Schuldprinzip, kommen auch andere Umstände in Betracht, die die Verhängung einer (bestimmten) Strafe unverhältnismäßig machen würden 92 . 3. Als Ergebnis unserer Untersuchung können wir festhalten, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der Verfassung die zulässige Reichweite des Strafrechts tatsächlich nicht unerheblich einschränkt, und zwar nicht nur auf der Ebene der Gesetzgebung. Potentiell ist jede strafgerichtliche Verurteilung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, speziell am Kriterium der Angemessenheit zu messen, und potentiell kann jede Strafmaßentscheidung mit der Begründung angefochten werden, sie stehe — ungeachtet der Einhaltung des gesetzlichen Strafrahmens — außer Verhältnis zum Maß der Schuld oder sie sei aus anderen Gründen im Einzelfall unangemessen. Dieser Konsequenz, die sich nicht zuletzt aus der hier erörterten jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt, wird man schwerlich ausweichen können. Sie sollte jedoch zu der Überlegung Anlaß geben, ob nicht auch den „einfachen" Strafgerichten hinsichtlich der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein gewisser Beurteilungsspielraum zugestanden werden sollte, wie ihn das Bundesverfassungsgericht für den Gesetzgeber in überaus großzügiger Weise anerkennt93.
9 1 Siehe zu dieser Möglichkeit eingehend Lagodny (Anm. 2), S. 466 — 470, mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 9 2 Siehe oben III.4. 9 3 In diesem Sinne auch Classen, N S t Z 1995, 371, 374.
VI. Strafverfahren und Strafvollzug
Anfechtung der Verurteilung: Garantie für den Angeklagten oder Entscheidungskontrolle? JULIO Β . J . MAIER
I. Einleitung Eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Angeklagten ist, wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe, aus rechtsstaadichen Gründen nicht erlaubt1. Dies folgt aus der Maxime „ne bis in idem", die nicht nur im nationalen Recht, sondern auch mit internationaler Verbindlichkeit als Verbot einer erneuten Strafverfolgung wegen derselben Straftat auszulegen ist 2 . Im anglo-amerikanischen Recht ist es sogar schon verboten, den Beschuldigten ein zweites Mal dem Risiko einer Verurteilung auszusetzen (Verbot der double jeopardy), so daß auch dort nur die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten zulässig ist. Bei meinen früheren Überlegungen, die auf die Frage der Wiederaufnahme beschränkt waren, habe ich jedoch das Prinzip „ne bis in idem" noch nicht zu Ende gedacht. Durch die Novellierung der argentinischen Verfassung im Jahre 1994 haben die universellen und regionalen Menschenrechtskonventionen Verfassungsrang erhalten. Dadurch kam auch die Diskussion über die Bedeutung des Rechts des Angeklagten, die Verurteilung anzufechten, wieder in Gang. Ich habe mich seither mit entsprechenden Fragen des positiven argentinischen Strafprozeßrechts beschäftigt, insbesondere mit der Reichweite von Berufungs- und Revisionsgründen sowie mit der Frage, ob milde Verurteilungen überhaupt anfechtbar sind3. An dieser Stelle möchte ich mich auf den Kern der Problematik beschränken, nämlich auf das Recht des Angeklagten auf Anfechtung der Verurteilung. II. Rechtsmittel im Inquisitionsverfahren Typisch für das inquisitorische Verfahrensrecht ist nicht nur der Umstand, daß die Strafe als Aufgabe des Staates angesehen wird, sondern Maier, Gedächtnisschrift für Armin K a u f m a n n , 1989, S. 789. Siehe Art. 14 Nr. 7 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; Art. 8 Nr. 4 Amerikanische Menschenrechtskonvention. 3 Hinweisen möchte ich auf die ausgezeichnete Arbeit des damaligen Studenten Marcelo Ferrante, L a garantía de impugnabilidad de la sentencia penal condenatoria, in: Límites del recurso de casación según la gravedad de la sentencia penal condenatoria, 1
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auch die Konzentratdon der politischen Macht beim Staat. Die Entscheidung über die Anwendung des Strafrechts liegt in der Hand des Machtträgers (Papst, Kaiser, König usw.), und dieser übt das Recht mit Hilfe einer hierarchisch und vertikal organisierten Bürokratie aus. Innerhalb dieser Bürokratie kann das Recht zu strafen an untergeordnete Instanzen delegiert werden, andererseits können übergeordnete Instanzen das Verfahren und die Entscheidung im Wege der Devolution an sich ziehen und kontrollieren. Die Rechtsmittel sind die Mechanismen, die diese Kontrolle ermöglichen. Diese Rolle des Rechtsmittelrechts im alten Inquisitionsverfahren zeigte sich daran, daß viele Entscheidungen von Amts wegen angefochten werden konnten, also ohne daß sich ein Prozeßsubjekt gegen sie gewandt hätte4. Im französischen Recht sprach man in diesem Zusammenhang von justice retenue5. Die Möglichkeit einer Urteilskontrolle durch Rechtsmittel bedeutete eine Neuerung auf dem Gebiet des Strafverfahrens. Im früheren gemeinen Recht waren Rechtsmittel gegen Entscheidungen nicht vorgesehen, da die Entscheidung über einen sozialen Konflikt die Aufgabe aller nicht konfliktbeteiligten Rechtssubjekte innerhalb einer „nachbarlichen Gesellschaft" war und da deshalb ein „übergeordnetes" Gericht nicht existierte. Dieser Zustand läßt sich als Konsequenz des Fehlens eines Staates im heutigen Sinne bezeichnen. Mit der Konzentration politischer Macht (zunächst im wörtlichen Sinne) in einer Hand und der Gründung von Nationalstaaten ging eine vollständige Umwandlung des Rechts einher; das Konzept der Lösung sozialer Konflikte wurde nunmehr völlig anders verstanden als früher. Nicht nur die staatliche Strafe und die Erforschung der materiellen Wahrheit als Voraussetzung einer Bestrafung waren neue Erscheinungen, sondern die Justiz und ihre Spruchkörper wurden auch nach ganz neuen Prinzipien gebildet. Die Konzentration politischer Macht brachte eine hierarchisch und bürokratisch organisierte Beamtenschaft hervor, die die notwendigen Entscheidungen traf und auf der Grundlage eines Systems von Delegation und Devolution operierte. Rechtsmittel wurden geschaffen, um die Ausübung der Macht — im Bereich des Strafrechts: Schuldspruch und Strafzumessung — kontrollieren zu können. Buenos Aires 1995, die für meine eigenen Überlegungen zu den hier anwendbaren rechtsstaatlichen Prinzipien eine unverzichtbare Grundlage geliefert hat. 4 Vgl. Esmein, Histoire de la procédure criminelle en France, 1882, S. 24 ff, 253 ff; Faustin Hélie, Traité de l'instruction criminelle, 1866, Bd. I, S. 356 ff, 428. Einzelheiten zur rechtlichen Funktion der Rechtsmittel im früheren Recht auch bei Montesquieu, De l'esprit des lois, Buch XXVIII, Kap. XXVII ff. Zur selben Frage in Deutschland siehe Henkel\ Strafverfahrensrecht, 1953, S. 40. 5 Esmein (Anm. 4).
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III. Was hat sich im Rechtsstaat geändert? Das 19. Jahrhundert brachte wesentliche Reformen der Staatsorganisation und in deren Gefolge auch des Strafprozeßrechts. Auf dem Gebiet der Rechtsmittel gab es jedoch keine wesentlichen Änderungen. Das frühere Organisationsmodell der Gesellschaft, d. h. die Konzentration politischer Macht in der Hand der Regierung, und damit auch das hergebrachte Inquisitionsverfahren wurden durch die Reformen nicht berührt. Es ist daher richtig, unser heutiges Modell des Strafverfahrens als „reformiertes Inquisitionsverfahren" zu bezeichnen 6 . Auch heute noch ist die Erforschung der Wahrheit das wesentliche Ziel des Strafverfahrens, und für die Gerichtsverfassung ist die vertikale Organisation staatlicher Amtsträger — ungeachtet zahlreicher Änderungen im einzelnen — unverändert charakteristisch. Auch durch die Einführung der öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung als Grundlage des Urteils sowie durch die Mitwirkung von Laien in richterlichen Spruchkörpern ist das Kernkonzept des Rechtsmittelrechts nicht wesentlich verändert worden. Ungeachtet dieser Neuerungen, die einer Anfechtung des Urteils eigentlich entgegenstehen sollten, bleibt es im kontinentalen Recht bei der Möglichkeit sowohl für den Verurteilten als auch für den Ankläger, das Urteil nicht nur im Wege der Revision, sondern — in den meisten kontinentalen Rechtsordnungen — auch durch Berufung anzufechten 7 . Die Möglichkeit der Berufung sowie die Ausdehnung der Revision haben zu einer Entwertung sowohl der Hauptverhandlung als auch der Laienbeteiligung geführt. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß unsere heutige Gesetzgebung im Bereich des Rechtsmittelrechts nach wie vor auf dem System des alten inquisitorischen Verfahrens beruht. Die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, stellt nicht in erster Linie eine Prozeßgarantie für den Angeklagten dar, sondern hauptsächlich ein Mittel der Kontrolle über die Tätigkeit der untergeordneten Gerichte; durch das Rechtsmittelrecht soll deren Konformität mit dem materiellen Strafgesetz sowie mit dem Verfahrensrecht sichergestellt, insbesondere die Korrektheit der Urteilsgründe und der Beweiswürdigung überprüft werden. Es gibt mehrere Indizien für die Richtigkeit dieser Annahme. Erstens ist auf die vertikale Gerichtsverfassung hinzuweisen, die konsequent in Richtung auf eine 6 Ebenso Henkel (Anm. 4), S. 44; Gössel, in: Depalma (Hrsg.), Doctrina penal, Buenos Aires 1980, S. 221. Diese Bezeichnung ist besser als der in den romanischen Ländern übliche Ausdruck „gemischtes Verfahren"; Garraud, Traité théorique et pratique d'instruction criminelle et de procédure pénale, Bd. I, 1907, S. 20 ff. 7 Kritisch hierzu schon Binding, Grundriß des deutschen Strafprozeßrechts, 4. Aufl. 1900, zitiert bei Castillo Gon^ále^ Revista de Ciencias Jurídicas 1980, Nr. 41.
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Möglichkeit der Kontrolle hin organisiert ist. Zweitens können Rechtsmittel, insbesondere gegen Urteile, sowohl vom Angeklagten als auch vom Ankläger eingelegt werden, und auf diese Weise kann der Ankläger eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung zu Lasten des Verurteilten bewirken. Drittens ist das Schwurgericht in fast allen kontinentalen Rechtsordnungen abgeschafft worden, wodurch sich die Bedeutung der Anfechtung einer Verurteilung durch den Angeklagten wesendich verändert hat. IV. Rechtsmittel als prozessualer Schutz des Verurteilten /. Art. 14 Nr. 5 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte lautet: „Jeder, der wegen einer Straftat verurteilt worden ist, hat ein Recht darauf, daß die Verurteilung und die verhängte Strafe nach dem Gesetz von einem übergeordneten Gericht überprüft wird." 8 Nach meiner Auffassung hat dieser Satz drei wesentliche Konsequenzen: a) Rechtsmittel gegen Urteile des erkennenden Gerichts dienen dem Schutz des Angeklagten und nicht der Kontrolle von Entscheidungen durch übergeordnete Instanzen. b) Die Befugnis zur Einlegung von Rechtsmitteln steht nicht allen Verfahrensbeteiligten zu, insbesondere nicht dem staatlichen Ankläger. Rechtsmittel können nicht das Ziel haben, rechtlich unzulässige Freisprüche oder zu milde Verurteilungen zu beseitigen. Es geht vielmehr darum, daß der Angeklagte einen Anspruch darauf hat, daß seine Verurteilung von zwei Instanzen geprüft wird; eine staatliche Strafe (oder eine Maßnahme der Sicherung und Besserung) darf rechtskräftig nur verhängt werden, wenn sie — auf Wunsch des Angeklagten — doppelte Zustimmung voneinander unabhängiger gerichtlicher Instanzen findet. Dagegen wird ein Freispruch sowie eine vom Angeklagten nicht angefochtene Verurteilung unmittelbar mit der Verkündung des Urteils rechtskräftig; eine erneute Verfolgung wegen derselben Tat gegenüber demselben Angeklagten stellt daher eine Verletzung des Grundsatzes „ne bis in idem" dar. ή Das gewöhnliche Rechtsmittel gegen Urteile soll die Revision sein. Durch sie ist dem Angeklagten die reelle Chance zu geben, Verfahrens8 Ähnlich Art. 4 Nr. 2 lit. h Amerikanische Menschenrechtskonvention; Nr. 35 der Grundsätze von Mallorca (Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für das Strafverfahren) von 1992.
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fehler oder rechtliche Fehler im Urteil aufzuzeigen, die die Wahrscheinlichkeit eines Freispruchs oder eines milderen Urteils und damit die Notwendigkeit einer erneuten Hauptverhandlung begründen. 2. Zur Begründung dieser These möchte ich mich auf wenige Argumente beschränken. Das Recht des Angeklagten, die Verurteilung oder die Auferlegung einer strafrechtlichen Rechtsfolge (einschließlich einer Maßregel) anzufechten, hat die Aufgabe, die Stellung des Angeklagten im Verfahren zu sichern. Dies ergibt sich nicht nur aus dem allgemeinen Ziel der Menschenrechtskonventionen, sondern auch aus dem Titel „Prozeßgarantien", unter dem sich das Recht auf Einlegung von Rechtsmitteln im Internationalen Pakt findet. Wenn man dies berücksichtigt, so kann man nicht annehmen, daß die Anfechtung des Urteils allgemein der Sicherung der Gerechtigkeit dienen und daher auch dem Ankläger möglich gemacht werden soll 9 . Die Auslegung des Rechtsmittelrechts als Garantie zugunsten des Angeklagten führt zu der Forderung, daß der erstinstanzlich Verurteilte unter bestimmten Umständen eine zweite Chance erhalten soll. Dies bedeutet, daß eine Strafe oder Maßregel nur vollzogen werden darf, wenn der Tenor eines vom Angeklagten angefochtenen erstinstanzlichen Urteils richterliche Bestätigung gefunden hat. Diese Voraussetzung des Vollzugs staatlicher Strafen ist zutreffend mit einer Analogie zur Erhöhung der Treffgenauigkeit mathematischer Operationen durch Wiederholung der Rechnung begründet worden. Danach ist das Rechtsmittelrecht die Befugnis des Verurteilten, eine zweite Instanz anzurufen; erst deren vollständige Zustimmung zur Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts begründet eine juristisch gerechte Verurteilung. Selbstverständlich darf bei dieser Auffassung des Rechtsmittelrechts das erste Urteil nach Art und Höhe der Rechtsfolgen der Tat nicht zum Nachteil des Angeklagten abgeändert werden (Verbot der reformatio in peius). 3. Es bleibt zu überlegen, welche Struktur das Verfahren haben soll, wenn man einerseits dem Angeklagten, entsprechend den Menschenrechtskonventionen, das Recht zugestehen will, die erste Verurteilung anzufechten, und andererseits auch den staatlichen Ankläger zur Anfechtung eines Freispruchs oder einer milden Strafe für befugt hält. 9 Ebenso Sagüés, La Ley 1988-E, III, S. 160. Allerdings hat auch der argentinische Bundesgerichtshof der Staatsanwaltschaft die Rechtsgaranden im Strafverfahren ebenso wie dem Angeklagten zuerkannt (im Gegensatz zu § 339 d.StPO, zu dem sich in der argentinischen Strafprozeßordnung keine Entsprechung findet); vgl. die Entscheidung Jofré, Nilda M. y otra vom 24. 3. 1994, Doctrina Judicial, La Ley, Buenos Aires, 14. 9. 1994, S. 465.
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Dies soll hier am Beispiel des Freispruchs erörtert werden. Ficht der Staatsanwalt einen Freispruch an und kommt es daraufhin zur Verurteilung des Angeklagten, so stellt dies eine „erste" Verurteilung dar. Diese Verurteilung kann wiederum der Angeklagte anfechten, da er einen Anspruch auf doppelte richterliche Überprüfung besitzt. Es kann hinzukommen, daß noch eine dritte Instanz vorgesehen ist, die die Verurteilung wiederum aufheben kann. So wird ein regressus ad infinitum begründet, da der Staatsanwalt einen Freispruch erneut vor dem obersten Gericht anfechten könnte. Es bedarf keiner näheren Erläuterung, daß ein solches Verfahren nicht in Frage kommt. 4. Es stellt eine historische Besonderheit des Schwurgerichts dar, daß dem staatlichen Ankläger gegen einen Freispruch der Geschworenen, zu dem diese aufgrund einer Hauptverhandlung gelangt sind, kein Rechtsmittel zusteht. Der Ankläger hat also nur einmal die Möglichkeit, den Angeklagten einer Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht auszusetzen. So wird das Prinzip der double jeopardy noch heute im angloamerikanischen Recht interpretiert. Die Mitwirkung von Laien an der Strafrechtspflege wird dort politisch so verstanden, daß der Berufsrichter der Ermächtigung durch die Geschworenen für die Verhängung der staatlichen Strafe bedarf; wird diese Ermächtigung nicht erteilt, so stellt der Freispruch den Schlußpunkt der Strafverfolgung dar. Dem entspricht es, nur dem Verurteilten ein Rechtsmittel gegen das Urteil zu gewähren. Diese Idee des Rechtsmittelrechts als Garantie für den Angeklagten sollte auch in einem modernen, rechtsstaatlich strukturierten Verfahren aufrechterhalten werden. Dies entspricht der Rechtsauffassung in den USA 1 0 und in England 11 . 1 0 In den USA weiß der Staatsanwalt von vornherein, daß er im Geschworenenverfahren nur einmal die Möglichkeit hat, zu einer Verurteilung zu gelangen; er weiß auch, daß selbst ein ungerecht erscheinender Freispruch durch die Geschworenen jede Möglichkeit einer weiteren Verfolgung des Angeklagten wegen derselben Tat ausschließt; vgl. Green v. U. S., 355 U. S. 1 8 4 (1957), w o der U. S. Supreme Court ausführt: „... es ist eines der grundlegendsten Prinzipien unseres Strafrechts, daß der Staat nicht mittels einer Anfechtung {appeal) eine erneute Aburteilung erzielen kann, selbst wenn der Freispruch als irrig erscheint"; vgl. ferner North Carolina v. Pearce, 395 U. S. 7 1 1 (1969); Smalis v. Pennsylvania, 476 U. S. 140 (1986). Dagegen hat der Angeklagte selbstverständlich das Recht, eine Verurteilung mit dem Ziel anzufechten, die materielle oder formelle Unrechtmäßigkeit des Spruchs der Geschworenen feststellen zu lassen und auf diese Weise eine neue Hauptverhandlung zu erreichen. Nur im Staat Massachusetts ist es möglich, daß zunächst die erstinstanzliche Verhandlung vor einem Berufsrichter stattfindet und eine zweite Hauptverhandlung (nach Anfechtung durch den Angeklagten) vor dem Schwurgericht. A b e r auch in diesem Fall steht der Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel zu; Ludwig v. Massachusetts, 427 U. S. 6 1 8 (1976). 11
Vgl. Roxrn, Strafverfahrensrecht, 24. Aufl. 1995, § 73 III 4 (S. 499 f).
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5. Es ist nach allem davon auszugehen, daß eine Befugnis des Anklägers, gegen einen Freispruch oder eine seiner Meinung nach zu milde Verurteilung Rechtsmittel einzulegen, sowohl das rechtsstaatliche Prinzip „ne bis in idem" verletzt als auch dem Charakter des Geschworenengerichts widerspricht. Hinzu kommt, daß die Prinzipien der öffendichen und mündlichen Hauptverhandlung in gewisser Weise einer Uberprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung entgegenstehen.
V. Wie sollte das Recht des Verurteilten ausgestaltet werden? Eine vollständige Verwirklichung des Anspruchs des Angeklagten auf „doppelte" Feststellung seiner Schuld könnte an sich zu der Forderung führen, dem Angeklagten ohne weiteres ein Recht auf eine zweite Hauptverhandlung zuzubilligen, wenn die erste mit seiner Verurteilung geendet hat. Eine solche Lösung wäre jedoch sowohl im Hinblick auf die Gerichtsverfassung als auch auf das Verfahrensrecht übertrieben. Das Recht kann verlangen, daß der Verurteilte zunächst glaubhaft macht, daß der erstinstanzliche Urteilsspruch fehlerhaft ist (iudiäum rescindent). Gelingt ihm dies nicht, so wird die Verurteilung rechtskräftig 1 2 . Jeder Verurteilte sollte allerdings die Chance haben, die Fehlerhaftigkeit des erstinstanzlichen Urteils glaubhaft zu machen. Im Hinblick auf die Revision, die das klassische Rechtsmittel darstellt, ist auf zwei Probleme hinzuweisen. Zunächst ist die Revision in der Praxis ein außerordentliches und sehr formelles Rechtsmittel geworden, da die Revisionsgerichte den Antrag häufig wegen Unzulässigkeit, wegen Nichtbeachtung formeller Voraussetzungen oder als offensichtlich unbegründet verwerfen 1 3 . Eine Lösung des Problems könnte vielleicht darin bestehen, daß das Revisionsgericht dem Antragsteller, falls der Antrag nicht offensichtlich unzulässig ist, dadurch Hilfe leistet, daß es ihm zunächst die Gründe der Verwerfung mitteilt und ihm so die Chance gibt, seinen Antrag erneut einzureichen, bevor er endgültig verworfen wird.
1 2 Die Feststellungslast sollte, wie im Wiederaufnahmeverfahren, beim Verurteilten liegen; vgl. Roxin (Anm. 11), § 55 C II (S. 427). 1 3 Vgl. Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozeß, 5. Aufl. 1993, S. 3. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission, das Organ des interamerikanischen Systems zur Sicherung der Menschenrechte in Amerika, hat erklärt, daß die Revision nur dann geeignet ist, die Anforderungen von Art. 8 Nr. 2h Amerikanische Menschenrechtskonvention zu erfüllen, wenn ihre Einlegung ohne übertriebene Formalitäten für den Antragsteller möglich ist (Mitteilung 24/92).
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Ein zweites Problem liegt im Umfang der Revisionsgründe. Nach meiner Auffassung sind sie zu eng gefaßt und geben daher dem Verurteilten keine ausreichende Möglichkeit, die Ungerechtigkeit der Verurteilung darzutun. Man sollte erwägen, die Gründe für eine Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten auch als Revisionsgründe anzusehen. Es spricht nichts dagegen, daß ein noch nicht rechtskräftig gewordenes Urteil aus denselben Gründen angefochten werden kann, die nach seiner Rechtskraft zu seiner Aufhebung führen. Zu fragen ist auch, ob ζ. B. die fehlerhafte Auffassung des Gerichts vom Inhalt eines Beweismittels, auf das sich die Verurteilung stützt, zur Anfechtung berechtigen soll. Zur Lösung dieser Frage bedürfte es allerdings einer gesonderten Untersuchung. Damit komme ich zum Ende. Ich bin mir darüber im klaren, daß die Grundthese dieses Beitrags, daß der Ankläger kein Anfechtungsrecht gegenüber einem Urteil haben soll, der üblichen Auffassung des kontinentalen Rechts widerspricht. Mein Beitrag soll keine Beschreibung und auch keine Kritik des positiven Rechts darstellen, sondern den Versuch, einen Grundsatz der internationalen Menschenrechtskonventionen 14 im Hinblick auf andere strafprozessuale Garantien auszulegen. Er ist darüber hinaus der Versuch, Rechtsfragen mit Hilfe der rechtsvergleichenden Methode zu lösen. Auf diesem Gebiet hat der verehrte Jubilar vieles geleistet, das als Vorbild einer fruchtbaren Zusammenarbeit dienen kann.
14 In der Europäischen Menschenrechtskonvention waren die beiden Rechte, um die es in diesem Beitrag geht, ursprünglich nicht enthalten. Erst durch das Zusatzprotokoll Nr. 7, das 1988 in Kraft getreten ist, wurden der Grundsatz „ne bis in idem" sowie das Recht des Verurteilten, den Schuldspruch von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen, eingeführt (Art. 2 und 4 Zusatzprotokoll Nr. 7). Das Protokoll erkennt jedoch für beide Grundrechte Ausnahmen an. Diese Ausnahmen zeigen, daß die hier besprochenen Fragen erkannt und im Sinne der positiven Regelungen der verschiedenen nationalen europäischen Rechte gelöst worden sind. So ist es nach Art. 2 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls möglich, ein Rechtsmittel des Verurteilten auszuschließen, wenn dieser in erster Instanz freigesprochen und in zweiter Instanz (aufgrund eines Rechtsmittels des Anklägers) verurteilt worden ist. Nach Art. 4 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls ist offensichtlich die Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Es stellt sich die Frage, ob eine derart konservative Regelung den Menschenrechten nützlich ist; möglicherweise wäre es besser gewesen, zu diesen Fragen gar keine Aussagen zu machen. Auch Chiavano, in: Delmas-Marty, Procédures pénales d'Europe, 1995, S. 488 ff, weist darauf hin, daß der Grundsatz „ne bis in idem" und das Verbot der double jeopardy.; die eigentlich dem Individuum dieselbe Garantie gewähren sollen, im kontinentaleuropäischen und im anglo-amerikanischen Rechtssystem jeweils unterschiedliche Bedeutungen haben. Man fragt sich, ob eine universell geltende Garande tatsächlich je nach der positivrechdichen Ausgestaltung unterschiedlich interpretiert werden darf.
Gefängnisarbeit in Japan* KOICHI MIYAZAWA
I. Strafvollzugsrecht in Japan 1. Das zur Zeit geltende japanische Strafvollzugsgesetz stammt aus dem Jahre 19081. Das japanische Strafvollzugsrecht steht stark unter dem Einfluß des entsprechenden deutschen Rechts 2 . Die Vorschriften des japanischen Strafvollzugsgesetzes sind seit 1908 weitgehend unverändert geblieben 3 . Wesentliche Änderungen im Hinblick auf soziale Entwicklungen wurden dagegen in der Durchführungsverordnung zum Strafvollzugsgesetz (gleichfalls aus dem Jahre 1908) vorgenommen 4 . Eine wichtige Veränderung brachte auch die Verordnung über die stufenweise fortschreitende Behandlung von Gefangenen aus dem Jahre 1933 mit sich, die auf dem preußischen Progressivsystem der Gefangenenbehandlung beruhte 5 . 2. Nach mehr als 80 Jahren ist das gegenwärtige Strafvollzugsgesetz nicht nur formell veraltet, sondern entspricht auch nicht den derzeitigen sozialen Umständen und der Entwicklung des Strafrechtspflegesystems. Deshalb versucht das japanische Justizministerium schon seit 1966, das Der Text basiert auf einem Vortrag, den der Verfasser im Januar 1998 in Fuchu/ Tokio anläßlich der Tagung der IPPF gehalten hat. Die Vortragsform ist beibehalten, und es wurden nur einige wenige Literaturhinweise hinzugefügt. Ich hoffe, daß der Jubilar an der provisorischen Form des Beitrags keinen Anstoß nimmt. Die Ubersetzung aus dem Englischen hat dankenswerterweise Herr Kollege Thomas Weigend vorgenommen. 1 Grundlegend zum japanischen Strafvollzug Bind^us/Ishii, Strafvollzug in Japan, 1977; ergänzend dies., Strafvollzug, in: Eubel (Hrsg.), Das japanische Rechtssystem, 1979, S. 279. Neuere Daten bei Miyazawa, in: Eser/Nishihara (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung IV (Ostasiatisch-deutsches Strafrechtskolloquium Tokio 1993), 1995, S. 285. Siehe ferner die Beiträge zum Strafvollzug und zur Kriminalitätskontroüe in Japan in ZfStrVo 1988, Heft 1 sowie Uwe Schmitt, „Niemand weiß, wo die Verbrecher sind", FAZ vom 25. 7. 1992. 2 Zur Geschichte des japanischen Strafrechts siehe Miyazawa, ZStW 88 (1976), S. 821; Miyazawa/Schneider, in: Sieverts/Schneider (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Aufl., Ergänzungsband, 1977, S. 5. Zu den geistigen Hintergründen des japanischen Strafvollzugs sowie der Vollzugspraxis vgl. auch Miyazawa, in: Jung/Kroeber-Riel/Wadle (Hrsg.), Entwicklungslinien in Recht und Wirtschaft, 1990, S. 169. 3 Bind^us/Ishii, Strafvollzug in Japan, 1977, S. 91 - 1 0 7 . 4 Bind^us/Ishii (Anm. 3), S. 1 0 8 - 1 4 1 . 5 Bind^us/Ishii (Anm. 3), S. 1 4 1 - 1 5 3 .
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geltende Strafvollzugsgesetz durch ein neues Gesetz über Strafvollzugseinrichtungen zu ersetzen. Die wesentlichen Prinzipien dieses Gesetzentwurfs sind Modernisierung, Internationalisierung und Verrechtlichung. Modernisierung bezieht sich auf die Notwendigkeit, den Strafvollzug den gegenwärtigen Erkenntnissen über die Behandlung von Gefangenen anzupassen; Internationalisierung bedeutet die aktive Beteiligung an internationaler Zusammenarbeit zur Förderung der Behandlungseffizienz; durch den Prozeß der Verrechtlichung sollen die Menschenrechte der Gefangenen deutlich in Gesetzesform festgelegt werden 6 . 3. Folgende Änderungen werden im einzelnen vorgeschlagen: Die Menschenrechte der Gefangenen sollen eindeutig festgelegt werden; dies bezieht sich etwa auf die Vornahme religiöser Handlungen, das Lesen von Zeitungen sowie das Zusammentreffen und die Korrespondenz mit Familienangehörigen. Die Lebensbedingungen in der Vollzugsanstalt, ζ. B. Kleidung, Unterbringung und Verpflegung, sollen verbessert und dem gegenwärtigen Lebensstandard der japanischen Bevölkerung angepaßt werden. Die Anzahl der Gegenstände und Nahrungsmittel, die sich ein Gefangener selbst verschaffen darf, soll wesentlich erweitert werden. Außerdem sollen, in Ubereinstimmung mit internationalen Standards, die Bedingungen der Körperpflege, der medizinischen Versorgung und der sportlichen Betätigung weiter verbessert werden. Schließlich werden neue Formen der Behandlung vorgeschlagen, wie ζ. B. Freigang (Gefangene können ohne Begleitung durch Vollzugspersonal in einem privaten Unternehmen arbeiten), Ausgang und Urlaub bis zu sieben Tagen, um die effektive und reibungslose Resozialisierung der Gefangenen in Ubereinstimmung mit ihren individuellen Bedingungen zu fördern. 4. Trotz der nachdrücklichen Bemühungen der Strafvollzugsabteilung des Justizministeriums hat das japanische Parlament den Gesetzentwurf über die Strafvollzugseinrichtungen bisher nicht verabschiedet. Der Grund dafür ist hauptsächlich die verbreitete Ablehnung einer Legalisierung der bestehenden Praxis, wonach Polizeigewahrsamsanstalten als Ersatzgefängnisse für den Strafvollzug verwendet werden 7 .
6 Vgl. hierzu Ministry of Justice, Correction Bureau (Hrsg.), Correctional Institutions in Japan 1995, Tokio 1995. 7 National Police Agency (Hrsg.), Police Detention Administration in Japan, Tokio 1997; siehe auch ZStW 102 (1990), S. 962.
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II. Die gegenwärtige Situation des Strafvollzugs in Japan 1. Im Jahre 1996 befanden sich an einem Stichtag 48 395 Personen in japanischen Vollzugsanstalten; davon waren 39 522 (82 %) Strafgefangene 8 . Darüber hinaus werden täglich 6 900 Personen in Polizeigewahrsam genommen. Die Gefangenenrate (Anteil der Gefangenen pro 100 000 Einwohner) beträgt in Japan unter Berücksichtigung der Strafgefangenen und der Polizeihäftlinge 46 9 . Wenn man die Gefangenenraten auf internationaler Ebene vergleicht, zeigt sich, daß Japan im Vergleich zu Europa und den USA eine der niedrigsten Gefangenenraten aufweist. Die Rate betrug für 1994/95 in den Niederlanden 55, in Irland 59, in Schweden 66, in Deutschland 83, in Frankreich 90, in England 96 und in den USA 600 10 . Der Grund für die niedrige Gefangenenrate in Japan liegt darin, daß dort zahlreiche Straftäter außerhalb der Vollzugsanstalten behandelt werden 11 . So wurden etwa im Jahre 1996 4 5 % aller Straftaten im summarischen Verfahren oder als Bagatelldelikte auf der Ebene der Polizei erledigt, und bei weiteren 36% der Straftaten wurde die Strafverfolgung durch den Staatsanwalt ausgesetzt. Durch die Gerichte wurde bei 61 % der Verurteilungen die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt 12 . Deshalb ist die Anzahl der Gefangenen in Japan während der letzten Jahre relativ stabil geblieben, und es gibt keine Überfüllung der Gefängnisse. 2. Hinsichtlich der Altersstruktur der Gefangenen zum Zeitpunkt ihres Eintritts in den Vollzug liegen folgende Zahlen vor: Von den 21 838 neuen Gefangenen des Jahres 1995 waren 2 6 % zwischen 20 und 29 Jahren alt, 25 % zwischen 30 und 39 Jahren, 27 % zwischen 40 und 49 Jahren und 23 % zwischen 50 und 59 Jahren. Die Mehrheit der neu aufgenommenen Strafgefangenen war also über 40 Jahre alt. Unter den 8 Ministry of Justice, Research and Training Institute (Hrsg.), Government of Japan, Summary of the White Paper on Crime 1997, Tokio 1998, S. 16 f. 9 Zahlenangaben im einzelnen: 48 395 Personen im Strafvollzug, davon 39 522 Strafgefangene und 53 zum Tode Verurteilte; ferner 8 638 Angeklagte und Tatverdächtige in Untersuchungshaft, 177 Personen mit Ersatzfreiheitsstrafe und 5 Gefangene aus anderen Gründen; ferner 6 901 Insassen in Polizeihaftanstalten. Quelle: Ministry of Justice, Annual Report of Statistics on Corrections for 1996, Bd. 1, Tokio 1997, S. 10 f (japanisch). 1 0 Council of Europe, Penological Information Bulletin 19/20, December 1994/ 1995. 11 Ministry of Justice, Rehabilitation Bureau (Hrsg.), The Community-Based Treatment of Offenders System in Japan, Tokio 1995. Vgl. auch Tjong, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, 1983, S. 1 4 1 9 - 1 4 2 1 . 12 Vgl. White Paper on Crime (Anm. 8), S. 3 - 1 3 .
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1004 weiblichen Gefangenen betrug der Anteil der Personen unter 30 Jahren 2 8 % . Die häufigsten Straftaten der Personen, die sich im Strafvollzug befinden, sind Verstöße gegen das Verbot stimulierender Drogen; die meisten der Drogentäter haben Verbindungen zur Bandenkriminalität13. 3. Die durchschnittliche Dauer des Vollzugs ist kürzer als in europäischen Staaten. Von den 21 619 Strafgefangenen, die im Jahre 1995 zu Freiheitsstrafen (mit Arbeitsverpflichtung) verurteilt wurden, erhielten 7 , 2 % Strafen von weniger als 6 Monaten, 18,5% Strafen zwischen 6 Monaten und einem Jahr und 41,7% Strafen zwischen einem Jahr und zwei Jahren. Der Anteil der Strafgefangenen mit Strafen unter zwei Jahren beträgt also insgesamt 67,5%. Dies ist vor allem dadurch zu erklären, daß die Strafrahmen in Japan weiter als in vielen europäischen Staaten sind. Dies ist auf die Übernahme der Ansichten der Modernen Schule zurückzuführen, deren Vertreter — wie etwa Fran^ von Lis^t — dem Richter einen weiten Ermessensspielraum bei der Festsetzung der Strafe einräumen wollten. 4. In Japan unterscheidet man zwei Arten der Freiheitsstrafe, nämlich Freiheitsstrafe mit und ohne Arbeitsverpflichtung. Die große Mehrheit (1995: 99,2%) der Strafgefangenen ist zur Arbeit verpflichtet. Die japanische Vollzugsverwaltung hat deshalb die Aufgabe, entsprechende Arbeitsmöglichkeiten für die Strafgefangenen bereitzustellen. Hierin unterscheidet sich das japanische Vollzugssystem von demjenigen vieler europäischer Staaten. III. Gefangenenarbeit in Japan 1 4 /. Die wichtigste Aufgabe der Gefangenenarbeit ist die Resozialisierung der Gefangenen und die Erleichterung ihrer Rückkehr in die Gesellschaft. Da die meisten Gefangenen früher keiner regelmäßigen Arbeit nachgegangen sind, soll die Arbeit im Strafvollzug ihren Arbeitswillen stärken sowie ihren Lebensstil durch die Regelmäßigkeit des täglichen Lebens und durch die Zusammenarbeit mit anderen Menschen verbessern. Die japanische Gefängnisindustrie beschäftigt zur Zeit unge1 3 Diese und die folgenden Angaben sind leider in der englischen Ausgabe des White Paper on Crime (Anm. 8) nicht enthalten; die Zahlenangaben im Text sind der japanischen Originalausgabe von 1997 entnommen. 1 4 Vgl. Müller-Diet^ ZfStrVo 1992, 239.
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fähr 38 000 Gefangene in 74 Vollzugsanstalten in allen Teilen des Landes 15 . 2. Es gibt fünf Hauptkategorien der Gefangenenarbeit: Tischlerei, Druckerei, Schneiderei, Metallbearbeitung und Lederbearbeitung. Außerdem gibt es noch mehr als zehn weitere Bereiche der Gefangenenarbeit. Jedem Gefangenen wird Arbeit nach seinen Fähigkeiten zugewiesen. 3. Die Gefängnisindustrie ist in drei Kategorien unterteilt: Herstellung, handwerkliche Ausbildung und Unterhaltung der Vollzugsanstalt. Herstellung und handwerkliche Ausbildung werden in zwei Formen durchgeführt. Die erste besteht darin, daß der Staat alle Rohmaterialien und Einrichtungen für die Arbeit bereitstellt und die Produkte auf dem freien Markt verkauft; die andere Variante besteht darin, daß ein Unternehmer die Rohmaterialien und Einrichtungen bereitstellt und dem Staat den Arbeitslohn für die Gefangenen erstattet. Die obengenannte dritte Kategorie der Gefängnisindustrie umfaßt Tätigkeiten in der Küche, in der Wäscherei und Reinigung sowie beim Bau und bei der Renovierung von Vollzugsanstalten. Ende November 1996 waren 7 8 % der Gefangenen in der Produktion tätig, 3 % in der handwerklichen Ausbildung, 17,4 % in Küche oder Wäscherei und 2,2 % beim Gefängnisbau oder der Gebäuderenovierung. 4. Ursprünglich bestand der Zweck der Gefangenenarbeit in Japan darin, die Kosten des Strafvollzugs so weit wie möglich aufzubringen. Deshalb stand die Produktion stärker als individuell zugeschnittene Arbeitsaufträge oder Ausbildung im Vordergrund. Heute wird jedoch eine verstärkte Berücksichtigung der Ausbildung im Hinblick auf die Resozialisierung der Gefangenen gefordert. Dementsprechend werden die Anstrengungen im Bereich der handwerklichen Ausbildung verstärkt. Man unterscheidet hier drei Formen: intensive handwerkliche Ausbildung, spezielle handwerkliche Ausbildung und handwerkliche Ausbildung im Rahmen der Vollzugsanstalt. a) Intensive handwerkliche Ausbildung. In sieben Vollzugsanstalten wird für Gefangene eine intensive handwerkliche Ausbildung angeboten. Die Ausbildung dauert, je nach dem Bereich, sechs Monate, achtzehn Monate oder zwei Jahre. Die Vollzugsanstalten sind durch das Arbeitsministerium ermächtigt, den Gefangenen offizielle Ausbildungsbescheini15
Siehe
Miya^awa
(Anm. 1), S. 294 f.
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gungen zu erteilen, etwa als Friseur, Elektroingenieur, Automechaniker, Navigator oder Maschinenbauer. Im Jahre 1995 erlangten 527 Gefangene eine derartige Bescheinigung. b) Spezielle handwerkliche Ausbildung. In 31 Vollzugsanstalten wird spezielle handwerkliche Ausbildung für Gefangene angeboten, die im wesentlichen aus der jeweiligen Region kommen. Die Dauer der Ausbildung hängt von der Qualifikation ab; sie reicht von drei Monaten über 18 Monate bis zu zwei Jahren. Im Jahre 1995 erlangten 430 Gefangene Zertifikate, ζ. B. als Schweißer, Bauhandwerker, Friseur, Kosmetiker, Heizungsmonteur und Datenverarbeitungsspezialist. c) Handwerkliche Ausbildung im Bereich der Voll^ugsanstalt. In 38 Vollzugsanstalten wird für Gefangene, die aus der Population der jeweiligen Anstalt ausgewählt werden, handwerkliche Ausbildung angeboten. Hier reicht die Dauer der Ausbildung von drei Monaten über sechs Monate bis zu einem Jahr. Im Jahre 1995 erlangten 527 Gefangene Zertifikate, ζ. B. als Schweißer, Heizungsbauer oder Spezialist für gefährliche Materialien. 5. Gefangene, die eine Nebenarbeit verrichten wollen, können dies für zwei Stunden pro Tag im Anschluß an ihren regulären Arbeitstag tun. Ende März 1997 übernahmen 233 Gefangene Nebenarbeiten; durchschnittlich erhielt ein Gefangener dafür 4800 Yen pro Monat. 6. Es wird 40 Stunden pro Woche gearbeitet, d. h. acht Stunden pro Werktag. Die Samstage und Sonntage sind arbeitsfrei. Die Gewinne aus der Gefängnisindustrie werden nicht als Arbeitslohn an die Gefangenen weitergegeben, sondern gehen an die Staatskasse. Die Beschäftigten in der Gefängnisindustrie erhalten jedoch eine Arbeitsbelohnung (d. h. ein Geschenk, keinen Arbeitslohn), um ihren Arbeitswillen zu fördern und ihnen einen finanziellen Grundstock für die Zeit nach ihrer Entlassung zu verschaffen. Die Arbeitsbelohnung wird angespart und dem Gefangenen bei seiner Endassung ausgezahlt. Zum Teil kann die Arbeitsbelohnung auch dazu benutzt werden, schon während der Vollzugszeit Gegenstände zu kaufen oder die Familie zu unterstützen. Für 1996 wird die durchschnittliche monatliche Arbeitsbelohnung pro Gefangenem 1 6 Wegen der Wirtschaftskrise in Japan mußte das Sonderprogramm für Gefangene verändert werden; es gibt zur Zeit 29 Vollzugsanstalten, die die spezielle handwerkliche Ausbildung anbieten, und 3 4 Vollzugsanstalten, in denen die unter c) beschriebene Ausbildung durchgeführt wird.
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auf 3773 Yen geschätzt 17 . Einige ältere Gefangene (über 65 Jahre) verdienen nur etwa 500 Yen pro Monat, während andere, die über ihre volle Arbeitskraft und über besondere Fähigkeiten verfügen, mehr als 10000 Yen pro Monat erhalten. Die durchschnittliche Arbeitsbelohnung ist Jahr für Jahr angestiegen; im internationalen Vergleich liegt sie jedoch relativ niedrig. Dies dürfte auf die geringen Mittel, die dem Strafjustizsystem zur Verfügung stehen, zurückzuführen sein. Leider werden Aufgabe und Funktion des Strafrechtspflegesystems, insbesondere des Strafvollzugs, von vielen mißverstanden. Daher erhält die Vollzugsverwaltung in Japan, ebenso wie in anderen Staaten, keine ausreichenden Geldmittel. Es ist daher schwierig, die durchschnittliche Arbeitsbelohnung zu erhöhen. 7. Hinsichtlich der Arbeitsbedingungen in japanischen Vollzugsanstalten kann gesagt werden, daß es ordentlich und ruhig zugeht. Die Aufsichtsbeamten in den Gefängnisbetrieben tragen keine Waffen. Die Zahl der gewaltsamen Angriffe gegen Vollzugsbeamte oder gegen andere Gefangene ist in Japan sehr niedrig. In den letzten fünf Jahren gab es insgesamt nur zwei solcher Vorfälle mit tödlichem Ausgang, und die durchschnittliche Anzahl der Gewalttaten unter Gefangenen pro Jahr ist 2,4.
IV. Ergebnisse der Untersuchung über die Einstellung gegenüber den Vollzugsanstalten 1. Im Jahre 1996 hat das japanische Justizministerium eine Untersuchung über die Einstellung zum Strafvollzug durchgeführt 18 . Bei dieser Untersuchung wurden 761 Gefangene, die kurz vor ihrer Endassung standen, 607 japanische Besucher sowie 55 Besucher aus anderen Ländern gebeten, anonym einen Fragebogen auszufüllen. 2. Auf die Frage „Ist Arbeit im Gefängnis notwendig?" antworteten 77,5% der Gefangenen mit Ja und 3,8% mit Nein. Als Begründung für die Notwendigkeit von Gefangenenarbeit wurde angegeben: „Die Zeit vergeht schneller" (45,9 %); „Sie trägt zu guter körperlicher Verfassung bei" (15,8%); „Sie trägt zur Resozialisierung und zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft bei" (14,7%). Die japanischen Besucher der Für 1 9 9 7 beträgt die Summe 3905 Yen, das sind weniger als D M 50. Siehe Nakajima/Yasuda/Yoshida, Impressions of Prison Life by Shortly-to-be-released Inmates (Ministry o f Justice, Research and Training Institute Research Department, Hrsg.), Executive Summary No. 1, 1997. 17 18
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Vollzugsanstalten gaben u. a. folgende Antworten: „Die Einstellung der Gefangenen zur Arbeit ist sehr sorgfältig" (56,4%); „Es fehlt an Freiheit" (4,4%); „Sinnlos für Resozialisierung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft" (0,3 %). Von den ausländischen Besuchern der Vollzugsanstalten antworteten 34,5 % „Sinnvoll für Resozialisierung", 2 1 , 8 % „Gefangenenarbeit verhindert Langeweile im Gefängnis" und 9,1 % „Die Regeln sind streng". 3. Auf die Frage nach ihrer Einstellung zu den Gefangnisvorschriften antworteten 75,2 % der Gefangenen „Kein Ä n d e r u n g s b e d a r f , während 2 1 , 6 % weniger strenge Vorschriften verlangten. Auf die Frage „Was würde Ihrer Meinung nach geschehen, wenn die Vorschriften im Gefängnis milder würden?" antworteten 7 8 , 8 % der Gefangenen „Viele Gefangene würden sich so verhalten, wie es ihnen gefällt", 4 6 , 9 % schrieben „Viele Gefangene würden die schwächeren Gefangenen schikanieren", und 26,5 % meinten „Gefängnisarbeit würde gefährlicher werden". Nur 2 0 % der Gefangenen gaben an „Man würde die Vollzugszeit ohne Streß verbringen können". 4. Besonderheiten wiesen die Resultate bei denjenigen Gefangenen auf, die Banden angehörten. Hinsichtlich der Einstellung zu den strengen Gefängisvorschriften antworteten 68,1 % der Bandenmitglieder „Kein Änderungsbedarf und 2 1 , 6 % „Wünschen mildere Vorschriften". 4 4 , 2 % der Bandenmitglieder sprachen sich für weniger strikte Vorschriften aus und schrieben, daß sie dann die Vollzugszeit ohne Streß verbringen, effizient arbeiten und die zwischenmenschlichen Beziehungen verbessern könnten. 5. Die Vorschrift, die das Sprechen und Herumschauen während der Gefangenenarbeit verbietet, sahen 7 0 % der japanischen Besucher als vernünftig an. Nur 6,8 % wandten sich gegen das Gesprächsverbot und 10,3% gegen das Verbot, während der Arbeit herumzuschauen. Von den ausländischen Besuchern unterstützten 78,2 % das Gesprächsverbot und 56,4 % das Verbot des Herumschauens. 32,7 % dieser Gruppe sprachen sich gegen das Verbot des Herumschauens aus. 6. Insgesamt antworteten 80,7 % der Gefangenen, daß ihnen die Zeit im Gefängnis nützlich gewesen sei 19 . 19 Zum Erfolg des japanischen Systems siehe auch Braitbwaite, Crime, Shame and Reintegration, New York 1989, S. 62; Jescheck, in: tliraba u. a. (Hrsg.), Contemporary Problems in Criminal Justice. Essays in Honour of Professor Shigemitsu Dando, Tokio 1983, S. 83.
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V. Zusammenarbeit innerhalb der Gefangnisindustrie 20 Abschließend möchte ich die Abteilung für die Zusammenarbeit der Gefängnisindustrie innerhalb der japanischen Vollzugsvereinigung erwähnen. In den achtziger Jahren reduzierte die Regierung aufgrund der ungünstigen finanziellen Situation das Budget der Vollzugsverwaltung. Als Gegenmaßnahme wurde im Juli 1983 innerhalb der japanischen Vollzugsvereinigung die Abteilung für die Zusammenarbeit der Gefängnisindustrie (Prison Industry Cooperation Division, PICD) mit Unterstützung der Regierung ins Leben gerufen. Die PICD beschafft die Rohmaterialien für die Gefangenenarbeit sowie das notwendige Kapital in der gleichen Weise wie im privaten Sektor. Zwar arbeiten fast alle Strafgefangenen, doch ist es nicht immer einfach, eine gleichmäßige Versorgung mit Arbeit zu gewährleisten. Der Großteil der Gefangenenarbeit beruht auf Verträgen mit kleinen Unternehmen, und diese Unternehmen werden durch soziale oder ökonomische Veränderungen stark beeinflußt. Dieser Instabilität der Versorgung mit Arbeit sollte die Gründung der PICD entgegenwirken. Die PICD hat diese Aufgabe sehr erfolgreich in Angriff genommen; insbesondere hat sie die Marke „CAPIC" geschaffen und auf diese Weise das Image der Gefängnisproduktion verbessert und zu einer guten „corporate identity" beigetragen 21 . Außerdem ist es der PICD gelungen, ein gutgeplantes Produktionssystem zu schaffen, das Verkaufsnetzwerk zu diversifizieren, Forschung und Entwicklung voranzutreiben sowie das Verteilungs- und Transportsystem zu verbessern. VI. Schluß /. Der wesentliche Zweck des internationalen Austausche von Information ist die Verbesserung des gegenseitigen Verständnisses auf der Grundlage zutreffender Tatsachen. Die japanische Vollzugsverwaltung hat stets versucht, das Strafrechtspflegesystem in Zusammenarbeit mit den übrigen Staaten zu verbessern. Im Zusammenhang mit diesen Anstrengungen hat UNAFEI mehr als 100 internationale Trainingskurse und Seminare veranstaltet, um auf diese Weise das weltweite gegensei2 0 Ministry of Justice, Correction Bureau (Hrsg.), Prison Industry in Japan, Tokio o. J. 21 „CAPIC" steht für „Correctional Association for Prison Industry Corporation"; Japanese Correctional Association, Prison Industry Cooperation Division (Hrsg.), A Guide to CAPIC, Tokio o. J.; vgl. auch Müller-Dieti^ ZfStrVo 1992, 239.
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tige Verständnis mit Hilfe der Absolventen aus 80 Staaten zu verbessern. 2. Das Strafvollzugssystem findet hier kaum innovative Japan besitzt vielmehr ein system, das sich in gleicher
in Japan ist ein zentralisiertes System. Man Experimente oder schnelle Veränderungen. stabiles und festgefügtes StrafrechtspflegeWeise auf das ganze Land erstreckt.
3. Wichtig ist auch der Hinweis auf die japanische Mentalität, in der Konformität betont und Individualität unterdrückt wird. Auch das Gefängnissystem ist ein Teil der japanischen Gesellschaft. Arbeit ohne Gespräche wirkt für ausländische Besucher oft seltsam; eine ähnliche Atmosphäre findet man jedoch in Japan häufig auch an Arbeitsplätzen außerhalb des Vollzugs. Verständnis für diesen sozialen und kulturellen Hintergrund ist notwendig, wenn man konstruktive Vorschläge für ein bestimmtes Land machen möchte.
Rechtsfragen der „deutschen Magna Charta" HINRICH
RÜPING
Unter den Justizgrundrechten spielt das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen (Art. 104 G G ) neben den Maximen des gesetzlichen Richters, dem Recht auf Gehör, dem Bestimmtheitsgebot und dem Verbot doppelter Strafverfolgung (Art. 101, 103 G G ) eine vergleichsweise geringere Rolle. Während die Grundsätze des gesetzlichen Richters und des Rechts auf Gehör als allgemeine Verfahrensprinzipien etabliert und die Maximen des Art. 103 Abs. 2 und Abs. 3 in ihrer Bedeutung für das Strafrecht bzw. Strafverfahrensrecht anerkannt sind, hat Art. 104 keine derart klaren Konturen gewonnen. Sein Verständnis wird dadurch erschwert, daß er den Freiheitsentzug nach Maßgabe der StPO, damit den klassischen Bereich der Verhaftung, ebenso betrifft wie den Freiheitsentzug nach Polizeirecht zum eigenen Schutz des Betroffenen und die Unterbringung nach bürgerlichem Recht. Im folgenden sollen einige Rechtsfragen aus dem strafprozessualen Anwendungsbereich erörtert werden, um die Aktualität der Verfassungsgarantie zu belegen.
1. Historischer Hintergrund Der historische Hintergrund spielt bei der Verfassungsgarantie des Art. 104 G G eine doppelte Rolle. Er verweist einmal auf die Tradition vergleichbarer Bestimmungen, die in einer allgemeinen Form vor willkürlichem Freiheitsentzug schützen wollen. Dabei stellt sich bereits das erste Problem: das der Vergleichbarkeit von Regelungen. Wenn die Auseinandersetzungen unter dem Absolutismus in England 1679 im Habeas-Corpus-Akt den Freiheitsentzug an bestimmte Kautelen binden 1 und die konstitutionelle Bewegung seit dem frühen 19. Jahrhundert entsprechende Garantien proklamiert 2 , sprechen die insoweit einschlägigen Einzelbefunde für eine bestimmte Traditionslinie. 1 Zur B e d e u t u n g Düker; A Constitutional History o f H a b e a s C o r p u s , 1980, S. 52 ff; Riedel.; E u G R Z 1980, 193 f. 2 Z u den Unabhängigkeitserklärungen in Amerika Duker (Anm. 1), S. 93 ff, zu Verfassungsurkunden der Länder im 19. J h . Hantel\ D e r B e g r i f f der Freiheitsentziehung in Art. 104 Abs. 2 G G , Diss. Berlin (FU) 1988, S. 220 ff, und zur Paulskirchenverfassung ders., aaO, S. 152 ff, sowie grundsätzlich zur Grundrechtsdiskussion Kühne, D i e Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Aufl. 1998, S. 330 ff.
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Hinrich Rüping
Anderes gilt für Texte aus dem europäischen Hochmittelalter. Chronologisch sind die ersten Freiheitsverbriefungen (Fueros) für einzelne spanische Städte im 11. Jahrhundert zu nennen. Aussagen wie die, ein Bürger dürfe nur unter vorher festgelegten Voraussetzungen in Haft genommen werden 3 , schaffen eine Brücke zu zeitlich konformen Garantien in Rechten Flanderns, Frankreichs und Deutschlands 4 sowie vor allem in England zur Magna Charta von 1215. Ihre zentrale Aussage, ein freier Mann dürfe nur aufgrund des Spruchs einer Jury oder nach dem Gesetz des Landes seiner Freiheit beraubt werden 5 , legt intern gemeinsame Wurzeln der Aufzeichnungen nahe und hat zu der Frage geführt, inwieweit Fueros das mittelalterliche Common Law beeinflußt haben 6 . Erscheinen Aufzeichnungen aus dem Hochmittelalter damit untereinander vergleichbar, stellen sie doch keine Verfassungsgarantien im modernen Verständnis dar und scheiden damit als direkter Bezugspunkt moderner Bestimmungen aus 7 . Der historische Hintergrund spielt abgesehen von einer allgemeinen rechtsstaatlichen Tradition jedoch noch in einem weiteren, spezifisch zeitgeschichtlichen Sinn eine Rolle für das Verständnis des Art. 104 GG. Die Vorläufer-Bestimmung des Art. 114 WRV beschränkt sich darauf, die Reichweite der allgemeinen Freiheitsgarantie unter Gesetzesvorbehalt zu stellen, statuiert jedoch für Verhaftungen keinen Richtervorbehalt. Sie wird bereits seinerzeit als weitgehend entbehrlich angesehen, da sie nur das Gesetzmäßigkeitsprinzip ausdrücke8. Die Regelung des Grundgesetzes geht sichtbar über die der Weimarer Verfassung hinaus. Sie macht Freiheitsentziehungen von einem förmlichen Gesetz abhängig (Abs. 1 S. 1), untersagt jede Mißhandlung Festgenommener (Abs. 1 S. 2), stellt Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung unter Richtervorbehalt (Abs. 2), bindet Festnahmen aufgrund Polizeirechts und Strafprozeßrechts an absolute zeitliche Grenzen (Abs. 2 S. 3, Abs. 3) und verpflichtet den Richter von Verfassungs wegen, einen Haftbefehl schriftlich zu begründen sowie Dritte 3 Ein Freiheitsbrief für Vizcaya von 1452 garantiert den Bürgern, im Regelfall nur durch richterlichen Befehl und nach eigener Verteidigung verhaftet zu werden (vgl. Drapkin, Crime and Punishment in the Ancient World, 1989, S. 320). 4 Nachweise bei Olliger.; Die Entwicklung des Richtervorbehalts im Verhaftungsrecht, 1997, S. 41 ff. 5 Art. 39 bei H. Wagner, Magna Carta Libertatum von 1215, 2. Aufl. 1973. 6 Drapkin (Anm. 3), S. 314 f. 7 Aus der Literatur nur Hattenhauer; Europäische Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 1994, S. 298. 8 AnschiitDie Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Nachdr. 1968, Art. 114 WRV Anm. 7; zur Entstehung Hantel (Anm. 2), S. 161 ff.
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über die Verhaftung zu informieren (Abs. 3 S. 2, Abs. 4). Wenn der Verfassungsgeber derart detaillierte Anforderungen aufstellt, hat er, wie sich aus den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates ergibt, das Beispiel der Gestapo-Methoden im Dritten Reich vor Augen. Gegenüber grundsätzlichen Bedenken, derartige Verfahrensregeln in die Verfassung aufzunehmen, setzt sich die Richtung durch, über entsprechende Regeln einer Wiederkehr der Schutzhaftpraxis vorzubeugen, über den qualifizierten Gesetzesvorbehalt polizeiliches Gewohnheitsrecht als Ermächtigungsgrundlage auszuschließen und über das Mißhandlungsverbot jede Art von Folterung zu verhindern9. Der Parlamentarische Rat konnte sich dabei auf ähnlich motivierte Gewährleistungen in Verfassungen der Länder stützen. Er fand vergleichbare Regelungen in den bereits 1946 in Kraft gesetzten Verfassungen für Württemberg-Baden, Hessen und Bayern und in den seit 1947 geltenden Verfassungen für Rheinland-Pfalz, Baden, Württemberg-Hohenzollern, Bremen und dem Saarland vor 1 0 . In Anordnung und Formulierung ist die detailliert ausgearbeitete Verfassung für RheinlandPfalz direktes Vorbild für das Grundgesetz geworden. Zwar faßt die Landesverfassung, wie es zunächst auch noch für das Grundgesetz vorgeschlagen war 11 , in Art. 5 das materielle Freiheitsrecht mit den für Eingriffe geltenden Verfahrensregeln zusammen; im übrigen stimmen Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 5 mit Art. 104 Abs. 1 G G sachlich und Art. 5 Abs. 2 bis Abs. 4 wortgleich mit Art. 104 Abs. 2 bis Abs. 4 G G überein 12 . Doch kann Art. 104 G G nicht ausschließlich vor seinem historischen Hintergrund gedeutet und die dem Parlamentarischen Rat bewußte zeitgeschichtliche Erfahrung zum Maßstab gemacht werden 13 . Eine solche Sicht würde den Anwendungsbereich verengen. Das betrifft als Einzel9 Aus den Beratungen im Sinne der späteren Fassung Abg. Greve (SPD) in der 7. Sitzung v. 06. 12. 1948 (Sten. Prot. S. 166 f), Abg. Zinn (SPD) in der 42. Sitzung des Hauptausschusses v. 1 8 . 0 1 . 1 9 4 9 (Sten. Prot. S. 536) und Abg. Schmid (SPD) in der 4. Sitzung des Grundsatzausschusses v. 23. 09. 1948 (Sten. Prot. S. 33) gegen den Abg. de Chapeaurouge (CDU) in der 7. Sitzung (Sten. Prot. S. 159) und Abg. Laforet (CSU) in der 8. Sitzung v. 07. 12. 1948 (Sten. Prot. S. 48). 1 0 Württemberg-Baden Art. 5, Hessen Art. 19, Bayern Art. 102, Rheinland-Pfalz Art. 5, Baden Art. 5, Württemberg-Hohenzollern Art. 18, Bremen Art. 5, Saarland Art. 13 (Texte bei Wegener.; Die neuen deutschen Verfassungen, 1947). 1 1 Vgl. Anlage zum Kurzprotokoll der 4. Sitzung v. 23. 09. 1948, Drucks. Pr 9.48-79. 1 2 In den neuen Bundesländern enthalten entsprechende Garantien die Verfassungen für Brandenburg (Art. 9), Sachsen (Art. 16, 17), Thüringen (Art. 4) und — als wörtliche Übernahme von Art. 104 G G - Sachsen-Anhalt (Art. 23). 1 3 BVerfGE 10, 302, 320.
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fragen ζ. Β. den Begriff der Freiheitsentziehung (unter 2) oder die Pflicht des Richters zur Benachrichtigung Dritter (unter 4), damit den „klassischen" Anwendungsbereich der Verhaftung, während etwa für die Gegenwart die polizeilich-präventive freiheitsentziehende Unterbrindung Gefährdeter von keineswegs geringerer Bedeutung ist 14 . Zudem kann Art. 104 aufgrund der späteren Geschichte der Bundesrepublik nicht mehr ausschließlich auf die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen System bezogen werden. Die Wiedervereinigung macht eine Auseinandersetzung mit dem System der DDR erforderlich. Sie betrifft den klassischen Anwendungsbereich im Haftrecht wie den modernen im Unterbringungsrecht. Die Praxis psychiatrischer Einweisung ließ die Frage gewohnheitsrechtlicher Eingriffsgrundlagen von einem bisher eher theoretischen zu einem aktuell verfassungsrechtlichen Problem avancieren 15 . Im Haftrecht wurde die Diskrepanz zwischen formal vergleichbaren Normen und ihrer fehlenden Durchsetzung unter politischem Vorzeichen 16 zum lehrreichen Beispiel der Problematik eines jeden Systemvergleichs. Mit ihm hat sich der Jubilar erst vor kurzem kritisch auseinandergesetzt und sich insbesondere im Gegensatz zu Jakobs und Isensee17 dagegen gewandt, für die „juristische Vergangenheitsbewältigung" auf eine in der DDR „gelebte Rechtsordnung" und auf die tatsächliche Handhabung von Rechtsnormen abzustellen. Entscheidend ist für ihn in Ubereinstimmung mit vergleichbaren Ansätzen etwa bei Lüderssen und H.-L. Schreiber die Norm selbst, die im Unterschied zu einem Geheimbefehl ordnungsgemäß verkündet sein und zudem gewissen inhaltlichen Mindestanforderungen genügen muß, um „Recht" zu sein 18 . 14 Als Beispiel aus dem ausländischen Recht ist instruktiv auch der Bericht des Jusrizausschusses zum österreichischen Unterbringungsgesetz von 1990 (bei Hopf/Aigner; Unterbringungsgesetz, 1993, § 1 UbG Anm. 11); zum Rechtsschutz in einzelnen europäischen Rechten Douraki, La convention européenne des droits de l'homme et le droit à la liberté de certains malades et margineaux, Thèse pour doctorat Strasbourg, 1986, S. 275 ff. 15 BVerfG (Vpr.) NStZ 1995, 399. 16 Als Seismograph für die Wirklichkeit dient die wiederholt vom Obersten Gericht eingeschärfte Beachtung der normativen Voraussetzungen; vgl. zum Erlaß von Haftbefehlen die Richtlinien von 1962 und nach Aufhebung 1968 ihre Neufassung von 1969 (GB1.DDR II 1962, 711 ff; 1968, 535; 1969, 399 ff); dazu Mampel\ Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, 3. Aufl. 1972, Anm. I 2 und II 2 zu Art. 100 der Verfassung von 1968. 17 Zum Meinungsstand Hirsch, Rechtsstaatliches Strafrecht und staatlich gesteuertes Unrecht, 1996, S. 10 Fn. 13. 1 8 Rechtsstaatliches Strafrecht (Anm. 17), S. 10 ff; vgl. Lüderssen, ZStW 104 (1992), 735, 745 ff, Schreiber, ZStW 107 (1995), 157, 170 ff.
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Diese Auffassung trennt deutlich zwischen der offiziell verlautbarten, damit entsprechend den eigenen Vorgaben „geltenden" Rechtsordnung und der davon abweichenden tatsächlichen Handhabung, die sich nach - zunächst noch offenen — inhaltlichen Kriterien als Machtmißbrauch durch das Regime darstellen kann. Doch wird diese Sicht kaum den historischen Prämissen gerecht, um deren Bewertung es geht. Die postulierte Grenze wird im Nationalsozialismus fließend durch die Rechtsanwendung im System des Dezisionismus, den Funktionswandel des Gesetzes und den Primat des Politischen, um nur einige Faktoren zu nennen 19 . Und wenn sich die DDR eine Verfassung gegeben und formell dem westdeutschen Recht vergleichbare Kodifikationen erlassen hat, ändert das nichts daran, daß sie in diesem System eine „Steuerung" der Rechtspflege ermöglicht, gerade durch ein formell publiziertes Gesetz der Staatssicherheit umfassenden Einfluß gesichert und mit der Orientierung an der „sozialistischen Gesetzlichkeit" den Primat der ideologischen Leitung verwirklicht hat 20 . Die künftige Auseinandersetzung um den Systemvergleich 21 wird an dem sinnfälligen Beispiel, wie im Haftrecht Theorie und Praxis auseinanderfallen, nicht vorbeigehen können.
2. Freiheitsentziehung und Freiheitsbeschränkung a. Begriffliche Vorklärung Art. 104 GG differenziert nach der Art des Eingriffs in die persönliche Freiheit. Abs. 1 gilt für jeden Eingriff, den S. 1 allgemein als Freiheitsbeschränkung qualifiziert. Innerhalb dieser Freiheitsbeschränkung im umfassenden Sinn betreffen Abs. 2 bis Abs 4 nur Freiheitsentziehungen, die in Abs. 2 S. 1 und S. 2 sowie Abs. 4 ausdrücklich als solche bezeichnet, dagegen ihrem jeweiligen Bezug entsprechend in Abs. 2 S. 3 als Ingewahrsamhalten nach Polizeirecht und in Abs. 3 S. 1 als Festnahme nach Strafverfahrensrecht umschrieben werden. Als Umkehr19 Zu Einzelaspekten Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 1998, Rz. 339, 362 ff und insbesondere zur Historisierung Rz. 367 ff, sowie Kleßmanti/Sabrow, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 39/96, S. 3, 12 f. 2 0 Zur Einzeldiskussion Rottleuthner (Hrsg.), Steuerung der Justiz in der DDR, 1994; Mendel, Die Bedeutung des Rechts in der DDR, Diss. Mainz 1990; Kraut, Rechtsbeugung? Die Justiz der DDR auf dem Prüfstand des Rechtsstaates, Diss. München 1997; zur Haftpraxis des MfS Fricht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 40/94, S. 24, 27 f. 21 Suhl (Hrsg.), 1945 - 1 9 8 9 : Ein unmöglicher Vergleich, 1994, und Kühnhardt/Leutenekker/Rupps (Hrsg.), Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung, 2. Aufl. 1996; zur zeitgeschichtlichen Sicht Hockerts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 29 - 30/93, S. 3, 15 ff.
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schluß gelten Abs. 2 bis Abs. 4 nicht für weniger weitreichende Eingriffe, die terminologisch als Freiheitsbeschränkungen im engeren Sinn zu bezeichnen wären. Die Interpretation des Art. 104 G G kann demnach auf eine auch terminologische Abgrenzung von Freiheitsentziehung und Freiheitsbeschränkung im eigentlichen Sinn nicht verzichten. Die Abgrenzung gehört zu den am meisten streitigen und bis heute nicht abschließend geklärten Fragen. Eine Klärung erscheint kaum möglich, da Begriffe aus einzelnen Anwendungsbereichen, vor allem des Haft- und des Unterbringungsrechts, aufeinanderstoßen, Begriffe der Ausführungsgesetze im Sinne des Abs. 2 S. 4 und des spezifischen Verfassungsrechts, Begriffe des nationalen Rechts und übergreifende Garantien, wie der E M R K 2 2 und des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Trotz dieses verwirrenden Hintergrundes kann die Abgrenzung nicht einfach kasuistischer Einzelfallentscheidung oder von vornherein einer wertenden Gesamtabwägung im konkreten Fall 2 3 überlassen bleiben. Für den Versuch einer auch terminologischen Abgrenzung liegt als Ausgangspunkt nahe, die Abgrenzung auf das hinter Art. 104 G G stehende materielle Grundrecht des Art. 2 G G zu beziehen, damit die körperliche Bewegungsfreiheit 24 . Es liegt dann nahe, nach der Intensität des Eingriffs zu unterscheiden und eine Freiheitsentziehung bei Maßnahmen anzunehmen, die ihre völlige Aufhebung bewirken, eine Freiheitsbeschränkung dagegen bei nur partieller Auswirkung auf die Bewegungsfreiheit. Wie sich im folgenden zeigen wird, reicht ein derartiger Ansatz jedoch noch nicht aus, um zahlreiche Grenzfälle befriedigend zu klären. b) Aufhebung der Bewegungsfreiheit Gehen wir zunächst aus vom problemlosen Fall einer Freiheitsentziehung, wie er sich bereits in der Terminologie des Art. 104 G G ausdrückt. Art. 104 G G enthält einen festen Begriffskern der Freiheitsentziehung, soweit er darunter Festnahme und Verhaftung nach StPO (Abs. 3) sowie das Ingewahrsamhalten durch die Polizei (Abs. 2 S. 3) 2 2 Zu Unterschieden in der Einzelinterpretation des Art. 5 E M R K Golhvit^er, in: Löwe/Rosenberg, Art. 5 M R K / 9 , 1 1 IPBR Rz. 18, 27, sowie speziell zu den in eine Gesamtwertung der Freiheitsentziehung eingehenden Kriterien Kopet^kt, Unterbringungsrecht, Bd. 1,1995, S. 255 ff, 269 f. 2 3 Aus der Literatur Hantel (Anm. 2), S. 201. 2 4 Zu diesem Gesichtspunkt Düng, in: Maun^/Dürig, GG, 7. Aufl. (Stand: 1996), Art. 104 Rz. 5.
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versteht. Das Verbringen in einen eigenen Haft- oder Arrestraum ist demnach stets Freiheitsentziehung, da die Bewegungsfreiheit auf den zur Verfügung gestellten Raum beschränkt und außerhalb seiner aufgehoben ist. Auch das aufgrund des Abs. 2 S. 4 ergangene Ausführungsgesetz des Bundes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen orientiert sich mit den in § 2 Abs. 1 aufgeführten Einzelfällen an einem Einschließen und Einsperren, auch wenn es diese Systembegriffe nicht ausdrücklich erwähnt 25 . In diesem Zusammenhang findet sich häufig die Bemerkung, der Erfolg, die körperliche Bewegungsfreiheit aufzuheben, sei entscheidend, das Motiv für die Maßnahme dagegen unerheblich 26 . Die Bemerkung bezieht sich auf die im Parlamentarischen Rat streitige Forderung, auch polizeilich angeordnete Freiheitsentziehungen einzubeziehen 27 , und stellt, wie die abschließende Fassung in Abs. 2 S. 2 und S. 3 ergibt, eine Maßnahme zur Gefahrenabwehr dem Eingriff aufgrund der StPO in Abs. 3 gleich. Diese für die Gegenwart unstreitige Sichtweise schließt dagegen nicht aus, in Grenzfällen nach Nah- und Fernziel einer Maßnahme zu differenzieren und insoweit auf das „Motiv", den Zweck oder besser die Funktion eines Eingriffs abzustellen. Wenn nach dem eben Gesagten der Erfolg entscheidet, kommt es auf den Aufenthaltsort oder -räum selbst nicht an, sofern die Verbringung nur dem Betroffenen die Möglichkeit nimmt, den Raum oder Ort nach Belieben zu verlassen. Als Raum oder Ort in diesem Verständnis genügt daher ζ. B. das Festhalten an beiden Armen 2 8 , ein Pkw, in den der Betroffene verbracht, ein Baum, an den er gefesselt 29 , ein Lager 30 oder selbst der abgegrenzte Teil einer Insel, der ihm zugewiesen wird 31 . Gleichgültig sind auch die Mittel, um den Betroffenen am Verlassen zu hindern. Sie können mechanisch wirken wie beim Einschließen und Einsperren, chemisch als Folge einer Medikamentierung, oder auch psychisch, wenn sie den Betroffenen durch vis compulsiva an der Entfernung hindern. Dabei muß der Betroffene nach objektiven Kriterien, 2 5 Vgl. die Begründung des F E V G in: BT-Drucks. 2/169, 8 zu § 1; unter der Voraussetzung, daß der Betroffene in einen eigenen Arrestraum verbracht wird, nimmt BVerwGE 62, 317, 318 zutr. stets eine Freiheitsentziehung an. 2 6 Vgl. BayVerfGHE 20, 1, 5; Därig (Anm. 24), Rz. 7. 2 7 Vgl. die Belege in Anm. 9. 2 8 ÖsterrVerfGH bei Κορβφ (Anm. 22), S. 255. 2 9 ÖsterrVerfGH bei Kopet^ki (Anm. 22), S. 255. 30 Därig (Anm. 24), Rz. 7. 3 1 Vgl. EuKMR im Fall Guzzardi bei Trechsei\ E u G R Z 1980, 516; zu Internierung und Konfinierung (Verbannung) nach österreichischem Recht Kopet^ki (Anm. 22), S. 527.
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die seine alters- oder krankheitsbedingt beschränkte Einsichtsfähigkeit berücksichtigen, den Eindruck gewinnen können, bei Weigerung, einem „Wunsch" oder einer Aufforderung nachzukommen, drohe ihm Freiheitsentzug durch unmittelbaren Zwang 32 . Als weitere Fallgruppe bleibt auch eine irrtümlich veranlaßte Maßnahme, ζ. B. eine auf Personenverwechslung beruhende Verhaftung, eine Freiheitsentziehung, da es insoweit auf die subjektiven Vorstellungen des staatlichen Organs nicht ankommt 33 . c) Eintel- und Grenyfdlle Uber die Qualifizierung eines Eingriffs als Freiheitsentziehung entscheiden Funktion und Wirkung der Maßnahme, nicht isoliert ihre Dauer mit der Folge, daß jedes Festhalten über das Ende des folgenden Tages hinaus (vgl. Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 1) als Freiheitsentziehung zu werten wäre34. Dagegen ist der Begriff der Unterbringung, wie er sich in landesrechtlichen Gesetzen zur Unterbringung Gefährdeter oder bei der Unterbringung nach §§ 1631b, 1906 B G B findet, auf eine gewisse Dauer angelegt35. Auch ein nur kurzfristiges Festhalten stellt sich begrifflich als Freiheitsentziehung dar, wenn die Maßnahme dem Betroffenen für die Zeit ihrer Anwendung die Fortbewegung unmöglich macht. Dauert die Maßnahme jedoch nur kurze Zeit — ein Verdächtiger wird ζ. B. im Verlauf einer Razzia eine halbe Stunde festgehalten —, greifen u. U. die Verfahrensregeln der Verfassung aus dem Gesichtspunkt prozessualer Überholung nicht ein. Der Sinn der Garantie würde in sein Gegenteil verkehrt, wollte man ihm die Pflicht entnehmen, den Freiheitsentzug auch nach Fortfall des Anlasses um die Dauer der richterlichen Entscheidung zu verlängern36. Ein besonderes Problem stellt sich, wenn die bereits auf einen bestimmten Ort beschränkte Bewegungsfreiheit nachträglich weiter verengt wird. Ζ. B. wird ein Strafgefangener, der sich in der Anstalt beweZu Einzelheiten nach der österreichischen Praxis Kopet^ki (Anm. 22), S. 260 ff. Zutr. Kope/φ (Anm. 22), S. 267. 3 4 Entsprechende Ansätze bei Degenhart, in: Sachs, GG, 1996, Art. 104 Rz. 5, sowie Assola, in: A K GG, Bd. 2, 1989, Rz. 2 2 - 2 4 . 3 5 Überblick über die landesrechtlichen Unterbringungsgesetze bei Wagner, in: Saage/ Göppinger, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 3. Aufl. 1994, Kap. 4 Rz. 20 ff, sowie Texte Anh. S. 481 ff; für § 1906 B G B z. B. Schwab, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 8, 3. Aufl. 1992, Rz. 5. 3 6 Für die allgemeine Auffassung KG O L G Z 1968, 193, 198; Hantel (Anm. 2), S. 182; Gusy, NJW 1992, 457, 462. 32
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gen kann, als Disziplinarmaßnahme „in unausgesetzter Absonderung" (§§ 89 Abs. 1, 103 Abs. 1 Nr. 9, 104 Abs. 5 S. 1 StVollzG) gehalten, dabei nicht notwendig in einen eigenen Arrestraum gebracht. Eine derartig „aufgesattelte" Maßnahme stellt sich als selbständige Freiheitsentziehung dar und bedarf selbständiger richterlicher Genehmigung 37 . Entsprechendes gilt im Bereich polizeilicher Maßnahmen, wenn ein bereits freiheitsentziehend Untergebrachter durch mechanische Fixierung, medikamentöse Sedierung und erst recht mit Hilfe einer Orwellsche Dimensionen erreichenden „Personenortungsanlage" 38 zusätzlichen unterbringungsähnlichen Maßnahmen im Sinne des § 1906 Abs. 4 BGB unterworfen wird 39 . In diesen Fällen für die Wertung als Freiheitsentziehung anders zu entscheiden, liefe auf die Legitimation zusätzlicher Maßnahmen aufgrund einer „Anstaltsgewalt" hinaus, die das BVerfG für den Strafvollzug bereits 1972 verabschiedet hat 40 . Problematisch bleibt die Einordnung von Maßnahmen, die ungeachtet ihrer nur kurzen Dauer zwar während dieses Zeitraums die Bewegungsfreiheit aufheben, jedoch diese Wirkung nur einsetzen, um weitere Zwecke zu verfolgen. Zu denken ist insbesondere an Vorführungen, deren freiheitsentziehende Wirkung ebenso unbestreitbar erscheint wie ihre Funktion, mit Hilfe des unmittelbaren Zwangs erst weitere Ziele zu verwirklichen, wie die Anwesenheit von Verfahrensbeteiligten sicherzustellen (zur Vorführung von Zeugen, Sachverständigen und des Beschuldigten §§ 51 Abs. 1 S. 3, 134, 161a Abs. 2 S. 1, 230 Abs. 2, 236 StPO) 41 oder im Bereich der Gefahrenabwehr ein bestimmtes Verwaltungshandeln durchzusetzen. Nach einer verbreiteten Auffassung, wie sie der deutschen Gerichtspraxis zugrundeliegt 42 und etwa auch der Praxis des österreichischen 37 So bereits Düng (Anm. 24), Rz. 8; anders dagegen, weil es sich nur um den von Art. 104 GG nicht erfaßten Vollzug handele, BVerfG (Vpr.) NJW 1994, 1339. 38 AG Hannover BtPrax 1992, 113, 114 nimmt einen Verstoß gegen Art. 1, 2 G G an, während AG Bielefeld BtPrax 1996, 232, 233 auf die „Realitätsferne" von Alternativen verweist. 39 OLG Schleswig Recht und Psychiatrie 1991, 37, 40; AG Hannover BtPrax 1992, 113, 114; Schuhmacher, FamRZ 1991, 280, 281; weiter OLG Hamm JMB1 NW 1962, 220; AG Frankfurt FamRZ 1988, 1209, 1210; LG Berlin FamRZ 1991, 365, 368. 4 0 BVerfGE 33, 1, 9 ff. 41 Abweichend, bezogen auf § 161a StPO, Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 1996, Rz. 20 („Staatsanwaltschaft"); Μοή% NJW 1977, 796. 4 2 Grundlegend BVerwGE 62, 325, 327 f; BGHZ 82, 261, 263, 270; zust. Hantel, JuS 1990, 865, 870; Jarass/Pieroth, GG, 3. Aufl. 1995, Art. 104 Rz. 8; Unck/Jut^i/HopJe, Die Verfassung des Freistaats Thüringen, 1994, zur vergleichbaren Bestimmung des Art. 4; a. A. insbesondere Koschmfy Die kurzfristige polizeiliche Freiheitsentziehung, Diss. Göttingen 1969, S. 136.
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Verfassungsgerichtshofes entspricht 43 , soll in diesem Zusammenhang der „Zweck" der Maßnahme entscheiden, ihre Finalität oder Intention. Entscheidet damit aber der Sache nach ihre Funktion, kann nicht eingewandt werden, die Deklarierung eines bestimmten Ziels durch die Behörde eröffne die Möglichkeit, eine Maßnahme willkürlich richterlicher Kontrolle zu entziehen 44 . Zu ermitteln ist nicht die subjektive Intention beim Einsatz, sondern der objektive Gehalt. Liegt dieser darin, weitere Maßnahmen zu ermöglichen, kann der freiheitsentziehende Effekt des Zwangsmittels nur als sekundäre Folge im Einzelfall erscheinen. Wegen ihres unselbständigen Charakters fallen daher die Vorführung, das Anhalten, die Sistierung nicht unter Art. 104 GG. Das Kriterium des instrumentalen Charakters eines Eingriffs vermag daher in Grenzfällen, vor allem bei Maßnahmen von kurzer Dauer, die Qualifizerung als Freiheitsentziehung zu hindern; das Kriterium kann jedoch nicht dazu führen, eine nach ihrer Wirkung allseitige Aufhebung der Bewegungsfreiheit als bloße Freiheitsbeschränkung zu werten. Wird der Betroffene ζ. B. festgehalten und an jeder Fortbewegung gehindert, so bleibt der Eingriff eine Freiheitsentziehung, selbst wenn er im konkreten Fall nur bestimmte weitere Ermittlungsmaßnahmen ermöglichen sollte 45 .
d) Anordnung und Vollzug Fallen Anordnung und Vollzug der Freiheitsentziehung nicht zusammen, so ist nicht nur wegen des sachlichen Zusammenhangs zwischen beiden Entscheidungen, sondern vor allem deshalb bereits die Entscheidung über die Anordnung als Freiheitsentziehung zu werten, um bereits in diesem Stadium eine richterliche Kontrolle zu erreichen 46 .
3. Fristen a) Frist %ur Vorführung Für Freiheitsentziehungen aufgrund der StPO bildet Abs. 3 im Rahmen des Art. 104 G G eine Sonderregelung. Mit der Frist zur Anrufung des Richters sowie den Anforderungen an seine Entscheidung modifiziert Abs. 3 die Bestimmungen des Abs. 2 über das Verfahren bei vorKritisch dazu Kopet^ki (Anm. 22), S. 265 ff. Für einen „materiellen" Verhaftungsbegriff im österreichischen Recht Kopet^ki (Anm. 22), S. 252. 4 5 Die Diskussion an diesem Punkt ist, wie die Darstellung von Kopet^ki (Anm. 22), S. 267, zeigt, noch nicht abgeschlossen. 4 6 Im Ergebnis übereinstimmend BVerfGE 14, 174, 186; O L G Bremen NJW 1975, 43
44
1524, 1525; Kopet^ki (Anm. 22), S. 264 f.
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läufiger Freiheitsentziehung durch die Polizei. Durch den Bezug zur Grundregel des Abs. 2 gilt auch die dort in S. 1 angesprochene grundsätzliche Kompetenzverteilung. Der Systematik des Art. 104 GG entsprechend erscheint der präventive Rechtsschutz durch den Richter nach Abs. 2 S. 1 als Grundsatz, nachträglicher Rechtsschutz nach Abs. 2 S. 2 als Ausnahme und nur zulässig, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte Zweck anders nicht erreicht werden kann 47 . Im Strafverfahren stellen sich daher eine Festnahme durch Staatsanwaltschaft und Polizei, wenn die Voraussetzungen eines Haft- oder Unterbringungsbefehls bzw. der Hauptverhandlungshaft vorliegen (§§ 127 Abs. 2, 127 b StPO), sowie eine Festnahme durch Private als vorläufige Maßnahme dar, unter dem Vorbehalt unverzüglicher richterlicher Entscheidung (Abs. 2 S. 2). So nachvollziehbar die Regelung der Verfassung erscheint, daß der Festgenommene spätestens am Tag nach der Festnahme dem Richter vorzuführen ist und dieser unverzüglich über den Freiheitsentzug entscheidet, erscheint doch ihre Umsetzung in das einfache Verfahrensrecht unter verschiedenen Gesichtspunkten problematisch. Das betrifft zunächst die in der Verfassung erwähnten Festnahmevoraussetzungen. Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG verlangt als Grund der Festnahme den „Verdacht einer strafbaren Handlung". Das zielt auf den klassischen Anwendungsbereich einer Verhaftung, die den dringenden Verdacht einer rechtswidrig und schuldhaft, wenn auch nur vermindert schuldfähig begangenen Tat voraussetzt. Eine einstweilige Unterbringung (§ 126a Abs. 1 StPO) zur Sicherung einer freiheitsentziehenden Maßregel nach §§ 63, 64 StGB kommt bei einer vermindert schuldfähig begangenen und statt einer Strafe bei einer schuldunfähig begangenen Tat in Betracht. Die StPO gewährt konsequent in beiden Fällen nachträglich Rechtsschutz, wie sich für die vorläufige Festnahme aus §§ 128, 129 und für die vorläufige Unterbringung aus §§ 126a Abs. 2, 115, 115a StPO ergibt. Obwohl das Rechtsinstitut der vorläufigen Unterbringung bereits seit 1933 existiert, hat der Verfassungsgeber darauf verzichtet, den Wortlaut der Verfassungsgarantie ausdrücklich auch auf die von ihr erfaßten Taten zu erstrecken. Die Pflicht geht zunächst dahin, den Festgenommenen spätestens am Tag nach der Festnahme, das heißt bis 23 Uhr 59 des folgenden Tages, auch an Sonn- und Feiertagen, dem Richter vorzuführen. Wenn dieser als Ergebnis der Vernehmung einen mit Gründen versehenen schriftlichen Haftbefehl erlassen oder den Festgenommenen freilassen muß (Abs. 3 S. 2), meint die Vorführung in diesem Zusammenhang nicht die 47
Im Ansatz entsprechend BVerfGE 22, 311, 317; Gusy, NJW 1992, 462.
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bloße Einlieferung in das Gerichtsgebäude oder das zuständige Amtsgerichtsgefängnis; erst die persönliche Gegenüberstellung mit dem Richter zur Vernehmung genügt zur Fristwahrung 48 . Eine andere Interpretation wäre mit dem Zweck der Verfassungsgarantie nicht zu vereinbaren.
b) Frist %ur Entscheidung Zwar wiederholt Abs. 3 nicht für seinen Zusammenhang das allgemeine Gebot des Abs. 2 S. 2, auch unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen; doch gilt der Grundsatz der Sache nach und kehrt ζ. B. auch in § 128 Abs. 1 S. 1 StPO wieder. Abs. 3 S. 1 stellt eine Maximalfrist auf, bis zu der jemand im Strafverfahren ohne richterliche Anordnung festgehalten werden kann; er dehnt damit jedoch nicht die Kompetenzen nicht-richterlicher Organe aus und befreit sie nicht von der Pflicht, eine richterliche Entscheidung unverzüglich zu ermöglichen 49 . Bis zum Ende des der Festnahme folgenden Tages hat der Richter auch über die Freiheitsentziehung zu entscheiden; denn er entscheidet im Anschluß an die Vernehmung und aufgrund ihres Ergebnisses. Ist gegen einen vorläufig Festgenommenen bereits öffentliche Klage erhoben, bestimmt § 129 HS. 2 StPO dies ausdrücklich; diese Regelung gilt entsprechend in den Fällen des § 128 StPO 50 .
c) Unverzügliches Handeln Schließlich bedarf das noch offene Kriterium der Unverzüglichkeit der Klärung. Im Ausgangspunkt besteht Einigkeit, daß es für die verfassungsrechtliche Gewährleistung als Schutz vor willkürlicher Freiheitsentziehung durch staatliche Organe nicht wie im Privatrechtsverkehr auf subjektiv schuldhafte Säumnis ankommt (so § 121 Abs. 1 S. 1 BGB), sondern auf eine objeküv vermeidbare Verzögerung 51 . 48 Dürig (Anm. 24), Rz. 42 Anm. 1 zu 4bbb; anders die noch herrschende Auffassung im Strafprozeßrecht (vgl. Hilger, in: Löwe/Rosenberg, 25. Aufl., § 115 Rz. 5, 6; Kleinknecht/Mger-Goßner, StPO, 43. Aufl. 1997, § 115 Rz. 3; Boujong, in: KK StPO, 3. Aufl. 1993, § 115 Rz. 2; im Ergebnis offenbar auch BayVerfGHE 34, 162, 172) mit Kritik von Baumann, FS Eb. Schmidt, 1961, Neudr. 1971, S. 525, 534. 49 Ais Grundsatz OLG Frankfurt HESt 2, 350. 50 Hilger, in: Lowe/Rosenberg, § 128 Rz. 11, Kleinknecht/Meyer-Goßner {Anm. 48), Rz. 13. 51 BVerwGE 45, 51, 63; Dürig (Anm. 24), Rz. 38; Kunig (Anm. 41), Rz. 23; Jarass/ Pieroth (Anm. 42), Rz. 13; Baumann (Anm. 48), S. 533; für die entsprechenden Garantien in Art. 23 der Verfassung für Sachsen-Anhalt Reich, Verfassung des Landes SachsenAnhalt, 1994, Rz. 4, und Art. 4 Abs. 3 S. 2 der thüringischen Verfassung Linck/Jut^i/ Hopfe (Anm. 42), Rz. 17; a. A. noch Pfennig/Neumann, Verfassung von Berlin, 2. Aufl. 1987, Art. 9 Rz. 8.
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Vermeidbar sind bereits Verzögerungen, die auf der Erfüllung legitimer, jedoch nicht der richterlichen Entscheidung über die Freiheitsentziehung dienender Zwecke beruhen. Eine Vorführung zu verzögern, um den Festgenommenen vorher polizeilich vernehmen zu können, stellt in diesem Verständnis bereits ein vermeidbares Handeln dar. Dieses Ergebnis ist anerkannt, sofern Amtsträger allgemein den Beschuldigten aufgrund des Haftbefehls ergriffen und nach § 115 StPO vorzuführen haben 52 ; es muß entsprechend für § 128 StPO gelten, auch wenn dort die zur Aufklärung zuständigen Amtsträger tätig werden 53 . Ebenso entspricht es der Bedeutung der freiheitssichernden Garantie, einen der strafprozessualen Festnahme vorangegangenen Freiheitsentzug, etwa auf der Grundlage polizeilichen Gewahrsams, in die Vorführungsfrist einzurechnen 54 . Die Verfassung setzt, wie sich aus Abs. 2 S. 2 und aus Abs. 3 ergibt, die Möglichkeit vorläufiger Freiheitsentziehung durch nicht-richterliche Organe voraus, wertet sie jedoch, wie aus Abs. 2 S. 1 folgt, nur als Ausnahme. Als Folge muß richterlicher Rechtsschutz nicht nur unverzüglich ermöglicht, sondern über den Wordaut hinaus auch unverzüglich gewährt werden 55 . Problematisch ist dabei weniger die geschäftsplanmäßige Zuweisung von Sachen als die Erreichbarkeit des Richters und gegebenenfalls des Protokollführers (vgl. § 168 StPO) bei zunehmend kürzer werdenden Dienststunden. Die Höchstfrist des Abs. 3 S. 1 kann ebenso wie im Fall des Abs. 2 S. 3 nicht bedeuten, daß ein nicht-richterliches Organ den Betroffenen am Tag der Festnahme nur deshalb weiter in Gewahrsam hält, weil die Dienststunden des zuständigen Gerichts erst am folgenden Tag eine richterliche Entscheidung zulassen. So wie die Justizverwaltung für ausreichend Protokollführer zu sorgen hat 56 , bedarf es daher auch mit Rücksicht auf den Rang der durch Art. 2 und 104 GG geschützten persönlichen Freiheit der Einrichtung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes 57 . Die entgegenstehende Auffassung der Praxis 58 trägt den InBoujong, in: KK StPO, § 115 Rz. 4; Düng (Anm. 24), Art. 104 Rz. 38. Deckers, NJW 1991, 1151, 1155; Paeffgen, NStZ 1992, 530, 533; a. A. BGH NJW 1990, 1188; Kleinkecht/Meyer-Goßner, § 128 Rz. 6. 54 BGHSt. 34, 365, 369. 55 Grabitz in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 1989, S. 109 ff (§ 130 Rz. 25). 50 Wache, in: KK StPO, § 168 Rz. 4; Kurth, NJW 1978, 2481, 2484. 57 Wie hier Pfennig/Neumann (Anm. 51), Art. 9 Rz. 8; Linck/Juty/Hopfi (Anm. 42), Art. 4 Rz. 17; Fran¡ζ, NJW 1966, 240; Coeppicus, BtPrax 1994, 126, 127. 58 BVerwGE 45, 51, 64; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 163c Rz. 4; auch LG Düsseldorf als Richterdienstgericht DRiZ 1967, 306, 308. 52 53
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tentionen des Art. 104 G G und dem Rang der Gewährleistung nicht ausreichend Rechnung. Belehrt der Richter den Beschuldigten bei der Vernehmung entsprechend § 136 Abs. 1 S. 2 StPO über die Aussagefreiheit und gleichzeitig über das Recht, einen Verteidiger zu konsultieren, so muß die Vernehmung unterbrochen und neuer Termin bestimmt werden 5 9 , wenn der Beschuldigte die Zuziehung eines Verteidigers wünscht. In diesem Fall kann der Richter erst nach angemessener Frist, in der Regel nach einigen Tagen, im neuen Termin über die Freiheitsentziehung entscheiden. 4. Die Pflicht %ur Benachrichtigung Dritter Die als Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts in Art. 2 G G zu wertenden Kautelen einer Freiheitsentziehung nach Art. 104 G G verleihen diesem formelle Natur. Dagegen enthält Abs. 4 eine selbständige materielle Garantie. Die Verfassung behandelt nur die Amtspflicht des Richters, einen Angehörigen oder eine Vertrauensperson des Festgehaltenen über den Freiheitsentzug zu informieren; das Recht des Verhafteten, selbständig von sich aus tätig zu werden, ist Bestandteil des einfachen Rechts (§ 114b Abs. 2 StPO), nicht des Grundgesetzes 6 0 . Die Aufnahme der Benachrichtigungspflicht für den Richter in die Verfassung, ebenso die Übernahme in die StPO durch das Vereinheitlichungsgesetz von 1950 61 , erhält ihren Stellenwert vor der Folie geschichtlicher Erfahrung, daß der unbeschränkte Zugriff der politischen Polizei im Dritten Reich Betroffene in Nacht- und Nebel-Aktionen spurlos verschwinden lassen konnte 6 2 . Doch wäre es auch in diesem Zusammenhang verfehlt, daraus Folgerungen für die Interpretation zu ziehen und zu schließen, der Festgehaltene könne nicht auf eine Benachrichtigung durch den Richter verzichten. Wie die Ausgestaltung im einfachen Verfahrensrecht (§ 114b Abs. 1, 2 StPO) und in Verfassungen einzelner Länder 6 3 zeigt, treffen 59
BGHSt. 38, 372, 373; zum weiteren Verfahren Boujong, in: K K StPO, § 136 Rz. 14. Nach den Verfassungen für Bremen (Art. 5 Abs. 4 S. 4) und Hessen (Art. 19 Abs. 2 S. 2) ist der Grund auch auf Verlangen des Festgenommenen Angehörigen mitzuteilen; nach Art. 9 Abs. 2 S. 2 der Berliner Verfassung haben Angehörige selbständig ein Recht auf Auskunft. 61 Zum Vereinheitlichungsgesetz von 1950 (BGBl. 1950, 455 ff) Begr. zu Art. 3 Nr. 3 8 - 4 4 in BT-Drucks. 1/530, 37 ff. 62 Dürig (Anm. 24), Rz. 43 unter VI 1. 63 Vgl. Anm. 60; gemäß Art. 4 Abs. 7 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes von 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit kann der Festgenommene verlangen, daß nach seiner Wahl ein Angehöriger und ein Rechtsbeistand von der Festnahme verständigt werden (bei Hopf/Aigner [Anm. 14], S. 119 ff). 60
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sich in der Benachrichtigung Dritter eine Pflicht des Richters und ein Recht des Betroffenen. Der Richter hat einen Angehörigen oder eine Vertrauensperson zu benachrichtigen, selbst wenn die Mitteilung den Zweck der Untersuchung gefährden kann; eine derartige Rücksicht kann gemäß § 114b Abs. 2 StPO nur dazu berechtigen, dem Verhafteten die eigene Benachrichtigung zu versagen. Ebenso sind Personensorgeberechtigte, ζ. B. Eltern festgenommener Jugendlicher, stets zu benachrichtigen. Dagegen kann der Verhaftete legitime Gründe haben, seine Verhaftung nicht publik werden zu lassen. So wie er bereits einzubeziehen ist, soweit es um die konkrete Bestimmung des Angehörigen oder der Vertrauensperson geht, und sein Vorschlag im Rahmen des § 114b Abs. 2 StPO den Richter bindet 64 , kann er auch über das Ob entscheiden und auf eine Benachrichtigung verzichten. Die Intention des Art. 104 Abs. 4 GG kommt nur insoweit zum Tragen, als der Richter unter Begrenzung auf Ausnahmefälle im konkreten Fall überzeugt sein muß, mit einer Information verbundene persönliche oder berufliche Nachteile hätten größeres Gewicht als die grundsätzliche Pflicht zur Information; zudem muß ein Verzicht nachprüfbar dokumentiert sein 65 . Eine derartige Verbindung sachlicher und formeller Kautelen erscheint erforderlich, um die Benachrichtigungspflicht in der Praxis nicht leerlaufen zu lassen. 5. Garantien im
Landesverfassungsrecht
Die Konkurrenz von Gewährleistungen im Grundgesetz und in Verfassungen der Länder wird gerade im Bereich der Freiheitsentziehung praktisch. Da die Bestimmungen mit Art. 104 GG gleichgerichtet sind, jedoch in Einzelheiten zugunsten des Festgenommenen vom Gehalt der Bundesverfassung abweichen, erscheint die Konkurrenz zwischen Bundes- und Landesverfassungsrecht nicht nur von theoretischem Interesse. 6 4 Übereinstimmend Linck/Jut^i/Hopfe (Anm. 42), Art. 4 Rz. 22; Hilger, in: Lörn/Rosenberg, § 114b Rz. 22; abw. Paefjgen, in: SK StPO (Stand: 1997), § 114b Rz. 4. Anderes muß gelten - mit der Folge einer Pflicht zur Benachrichtigung —, wenn der Komplize zugleich Angehöriger ist. 6 5 Ähnlich Dürig (Anm. 24), Rz. 43; Grabitç (Anm. 55), § 130 Rz. 29; Jarass/ Pieroth (Anm. 42), Rz. 12; Kunig (Anm. 41), Rz. 39; Reich (Anm. 51), Art. 23 Rz. 9; Linck/Juty/ Hopfe (Anm. 42), Art. 4 Rz. 23; Wagner, JZ 1963, 689, 691; Raping, Das Strafverfahren, 3. Aufl. 1997, Rz. 222; beschränkt auf Notstandsfalle Paefjgen, in: SK StPO, § 114b Rz. 4; grds. ablehnend noch LG Frankfurt NJW 1959, 61; Degenhart, in: Sachs (Anm. 30), Rz. 26; Hantel, JuS 1990, 871; Kleinknecht/Meyer-Coßner (Anm. 44), § 114b Rz. 6; Dünnebier, J Z 1963, 693, 694; Wilde, Der Verzicht Privater auf subjektive öffentliche Rechte, Diss. Hamburg 1966, S. 168.
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In ihrer Struktur stimmen die meisten Regelungen überein. Sie lassen Festnahmen nur aufgrund von Gesetzen und in gesetzlichen Formen zu, stellen den Entzug der Freiheit unter Richtervorbehalt, verpflichten zur Vorführung spätestens am Tag nach der Festnahme und zur Information über den Gründe der Verhaftung 66 . Einzelne Verfassungen gehen jedoch über dieses Programm hinaus und verpflichten dazu, den Betroffenen innerhalb kürzerer Fristen vorzuführen 67 , über die Gründe der Verhaftung zu informieren 68 oder von Amts wegen in bestimmten Fristen über die Fortdauer der Haft zu entscheiden69. Ob derartige Regelungen weitergelten 70 oder nicht 71 , ist bis in die Gegenwart völlig streitig und beruht auf fehlendem Konsens bezüglich der Prämissen. Weitgehende Konvergenz besteht allein in dem Ausgangspunkt, daß Art. 142 G G dem Grundsatz nach Anwendung findet. Das Landesverfassungsrecht muß demnach in Ubereinstimmung mit Art. 1 bis 18 G G Grundrechte gewährleisten. Da sich Art. 104 G G jedoch der Sache nach auf Art. 2 G G bezieht 72 und ursprünglich, wie heute noch in Verfassungen der Länder, zusammen mit dem materiellen Grundrecht der persönlichen Freiheit in einer Bestimmung enthalten war 73 , ist Art. 142 GG, bezogen auf Verfahrensregeln zum Schutz der Vgl. die Verfassungen für Bayern (Art. 102), Baden (Art. 5), Berlin (Art. 9), Bremen (Art. 5), Hessen (Art. 19), Rheinland-Pfalz (Art. 5) und das Saarland (Art. 13). 67 Nach Hessen Art. 19 Abs. 2 S. 1, Thüringen Art. 4 Abs. 3 S. 2 innerhalb von 24 Stunden. 68 Nach Bremen Art. 5 Abs. 4 S. 4 und Hessen Art. 19 Abs. 2 S. 2 sofort, nach Sachsen Art. 17 Abs. 1 S. 2 unverzüglich, nach Berlin Art. 9 Abs. 2 S. 1 innerhalb von 24 Stunden, nach Rheinland-Pfalz Art. 5 Abs. 3 für jede festnehmende Behörde, auch die Polizei. 69 Nach Hessen Art. 19 Abs. 2 S. 1, Rheinland-Pfalz Art. 5 Abs. 2 S. 2 (dazu Süsterhenn/Schäfer, Kommentar der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1950, Anm. 4 b) und Saarland Art. 13 Abs. 2 S. 3 jeden Monat, nach Bremen Art. 5 Abs. 4 S. 3 alle zwei Monate; allgemein bereits LG Hamburg MDR 1954, 114 und 308. 70 Allgemein Düng (Anm. 24), Rz. 42; Küttig (Anm. 41), Rz. 33; Baumann (Anm. 48), S. 534; Paeffgen, in: SK StPO, § 128 Rz. 5; für Bayern BayVerfGHE 34, 162, 172; BayObLGZ 1956, 425, 431; Meder, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 4. Aufl. 1992, Art. 102 Rz. 8; für Rheinland-Pfalz OVG Koblenz AS 2, 29, 34 f. 71 Für Hessen Zinn/Stein, Verfassung des Landes Hessen (Stand: 1990), Art. 19 Anm. 2; für Bremen Neumann, Die Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, 1996, Art. 5 Rz. 9; allgemein Hilger, in: Löwe/Rosenberg, vor § 112 StPO Rz. 42; unklar Kaufmann, Der polizeiliche Eingriff in Freiheiten und Rechte, 1951, S. 20. 72 BVerfGE 10, 302, 322 f; 14, 174, 186; 58, 208, 220; BVerfG (Vpr.) NJW 1995, 3047. 73 Art. 3 in der Fassung des Grundsatzausschusses entspricht in Abs. 1 dem heutigen Art. 2 GG und in den Abs. 2 bis 5 Art. 104 GG; vgl. die Verfassungen für Bayern (Art. 102), Berlin (Art. 9), Bremen (Art. 5 Abs. 2 - 5 ) , Rheinland-Pfalz (Art. 5). 66
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persönlichen Freiheit, anwendbar. Die Normierungen im Landesverfassungsrecht erscheinen auch als „übereinstimmend" im Sinne des Art. 142 GG, da sie auf derselben Zielsetzung beruhen, staatliche Eingriffe in die persönliche Freiheit berechenbar und kontrollierbar zu machen 74 , und diese Tendenz in ihrer weitergehenden Ausgestaltung noch verstärken 75 . Schließlich steht auch Art. 31 GG, dessen Geltung Art. 142 GG zufolge „unbeschadet" bleibt, einer Weitergeltung des Landesverfassungsrechts nicht entgegen. Soweit einfaches Bundesrecht gemäß Art. 31 GG Landesverfassungsrecht vorgeht, muß es eine besdmmte Materie abschließend regeln. Da das Verfassungsrecht auf Bundes- wie auf Landesebene nicht nur Freiheitsentziehungen aufgrund der StPO, sondern auch aufgrund Polizeirechts erfaßt, geht insbesondere nicht die zwar bundesgesetzliche, aber auf das Strafverfahrensrecht beschränkte Regelung des § 128 StPO dem Landesverfassungsrecht vor. Als Ergebnis der notwendig nur sporadischen Bemerkungen zur Reichweite der „deutschen Magna Charta" bleibt festzuhalten, daß eine derart pathetische Umschreibung die in der gegenwärtigen Diskussion problematischen Felder der Anwendung eher verdeckt als erhellt. Die Reichweite auch in der Zukunft entfaltet sich erst in der Durchsetzung „vor Ort", wie die inzwischen mehrfachen Bemühungen zeigen, Bestimmungen der StPO verfassungskonform zu handhaben 76 und unter diesem Gesichtspunkt etwa auch verfassungsrechdichen Rechtsschutz gegen bereits erledigte Eingriffe zu gewähren 77 .
Für Art. 104 ζ. B. BVerfGE 29, 183, 196. Zur Vergleichbarkeit der Regelungen vgl. BVerfGE 1, 264, 280 f. einerseits, das „Meistbegünstigungsprinzip" bei Paeffgen, in: SK StPO, § 115 Rz. 6 mit weiteren Nachweisen, andererseits. 7 6 Ζ. B. für die Reichweite des § 304 StPO BGHSt. 36, 192, 195 f.; BGH NJW 1998, 467, und für die des § 310 StPO OLG Braunschweig NStZ 1993, 604. 77 BVerfGE 42, 1, 6; 58, 208, 219; 65, 317, 321; 76, 363, 381; für Art. 102 der bayerischen Verfassung BayVerfGHE 34, 162, 166; 48, 50, 52 f; bezogen auf den Rechtsweg nach §§ 23ff EGGVG auch Lisken, NJW 1979, 1993; für das FGG-Verfahren neuerdings OLG Köln NJW 1998, 462. 74
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Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung J Ü R G E N SEIER
I.
Seit jeher ist anerkannt, daß über die gesetzlich geregelten Fälle der §§ 143, 145 StPO hinaus die Beiordnung des Pflichtverteidigers auch aus wichtigem Grund widerrufen werden kann. Gestützt wird dieser Befund auf eine analoge Anwendung der §§ 141, 143 StPO. Der zuständige Vorsitzende, der den Offizialverteidiger verpflichte, habe bei Vorliegen besonderer Umstände auch die Macht, diesen wieder zu entpflichten. Die wichtigen Gründe gewinnt man allenthalben aus dem Leitbild, das das Bundesverfassungsgericht1 für den Pflichtverteidiger aufgestellt hat: Der Widerruf soll zulässig sein, wenn der „Zweck der Pflichtverteidigung, dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernstlich gefährdet" ist. Schon bei flüchtiger Betrachtung wird klar, daß dieser vielzitierte2 Satz mehr Fragen aufwirft, als er Antworten gibt. So läßt er erstens nicht erkennen, wie sich die Beistandsfunktion und die von der Rechtsprechung entwickelte Mitwirkungsfunktion3 zueinander verhalten. Haben beide Aufgaben eigenständige Bedeutung, oder ist mit pflichtgemäßer Beistandsleistung zugleich das Ziel der Verfahrenssicherung erreicht? Geht man von unabhängigen Zielvorgaben aus, bleibt \weitens offen, ob beide Funktionen kumulativ gestört sein müssen oder ob es beispielsweise hinreicht, daß der Verteidiger durch eine als überzogen empfundene Konfliktverteidigung den geordneten Verfahrensgang beeinträchtigt4. Sollte eine nur einseitige Vernachlässigung von Pflichten genügen, fragt sich drittens, ob dann nicht zumindest eine Gesamtabwägung stattzufinden hat. Mißbraucht der Pflichtverteidiger seine prozessualen BeBVerfGE 39, 238, 245. BGH NJW 1990, 1373; BGHR, StPO § 143 Rücknahme 3; K G JR 1982, 349; O L G Stuttgart MDR 1979, 780; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl. 1997, § 143 Rdn. 3; Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 1, 1988, Rdn. 721; Laußütte, in: K K StPO, 3. Aufl. 1993, § 143 Rdn. 4; lVelp, ZStW 90 (1978), 101, 112. 3 Vgl. etwa BGHSt. 29, 99, 106; 38, 1 1 1 , 1 1 4 f ; in diese Richtung schon RGSt. 77, 153, 155. 4 Dazu neuerdings O L G Hamburg N J W 1998, 621; sowie L G Ansbach StV 1995, 287; L G Wiesbaden NJW 1994, 409. 1
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fugnisse — wie immer man sich das auch vorzustellen hat 5 —, wäre zu überlegen, ob nicht die Erfüllung der anderen Aufgabe, nämlich die Interessen des Beschuldigten zu wahren, gewissermaßen kompensierend wirken kann. Die These des Bundesverfassungsgerichts erlaubt also — wenn überhaupt — nicht mehr als eine erste Groborientierung. Im Praktischen bedarf sie in hohem Maße der Konkretisierung. Diese wird auch nicht dadurch erreicht, daß man den wichtigen Grund allein von einer groben Pflichtverletzung des Verteidigers abhängig macht 6 . Das ist zu kurz und allzu pauschal gedacht. Denn unberücksichtigt bleibt dabei, daß es, um ganz bewußt arbeitsrechtliche termini aufzugreifen, neben „verhaltensbedingten Kündigungen" auch „Kündigungen personenbedingter Art" gibt. Unter diese Rubrik wären etwa Krankheit oder eine sonstige längerfristige Abwesenheit des Verteidigers zu zählen 7 . Darüber hinaus ist anerkannt, daß bei nachhaltiger Zerrüttung der Vertrauensbeziehung zum Beschuldigten der Pflichtverteidiger abberufen werden kann, ohne daß es insoweit auf ein schuldhaftes Fehlverhalten ankäme 8 . In Anbetracht der wenig konturierten Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts und vor allem wegen der daraus von der Praxis abgeleiteten Doppelfunktionalität der Pflichtverteidigung kommt es nicht von ungefähr, daß die Kasuistik vielschichtig und unübersichtlich ist. Eine rechte Ordnung ist nicht erkennbar 9 . Zum Ausdruck kommt dies ganz deutlich in der Kommentarliteratur. Hier reiht man zumeist die Widerrufsgründe unterschiedlichster Provenienz aneinander, ohne sich zu bemühen, sie in ihrer Gesamtheit zu systematisieren 10 . Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, durch Bildung von Fallgruppen die Widerrufsproblematik aufzufächern und sie auf diese Weise zu klassifizieren. Das soll vorerst ohne Rücksicht darauf geschehen, ob die einzelnen Sachverhalte zum festen Bestand wichtiger Gründe gehören, ob das kontrovers diskutiert oder nur in Erwägung Zum Mißbrauchsverbot allgemein vgl. Kröpil, JuS 1997, 354. Vgl. Eisenberg, NJW 1991, 1257, 1262; Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, 5. Aufl. 1992, Rdn. 71; Ulsenheimer, GA 1975, 103, 110. 7 OLG Frankfurt NJW 1972, 1964; StV 1995, 11; Müller., in: KMR StPO, 8. Aufl. 1990, § 141 Rdn. 20; Pfeiffer/Fischer, StPO, 1995, § 143 Rdn. 1. 8 BGHSt. 39, 310, 314 ff; Fester, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. 1995, S. 46 m.w. Nachw.; zusammenfassend Julius, in: Heidelberger Kommentar zur StPO, 1997, § 143 Rdn. 4. 9 Das beklagt auch Hilgendorf, NStZ 1996, 1 f. 10 Etwa Kleinknecht/Meyer-Goßner, §143 Rdn. 3 ff; Laufhütte, in: K K StPO, §143 Rdn. 4 f; Müller; in: KMR, §§ 137 — 149 Rdn. 20; vgl. demgegenüber Lüderssen, in: Löwe/ Rosenberg, 24. Aufl. 1989, §143 Rdn. 7 ff, der eine Einteilung nach „Initiativen" (von Staatsanwalt und Gericht, des Beschuldigten sowie des Verteidigers) vornimmt. 5
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gezogen, letztlich aber einhellig verworfen wird. Danach wird aufzuzeigen sein, daß in das Gefüge Bewegung geraten ist. Viele Befunde sind heute längst nicht mehr so gesichert, wie das noch vor Jahren der Fall war. Abschließend gilt es, die Entwicklung, die sich abzuzeichnen beginnt, zu Ende zu denken. II. Durchmustert man den Katalog denkbarer Widerrufsgründe und lenkt man den Blick auf ihren Ursprung, so lassen sich durchaus Parallelen zu den Kündigungsarten des § 1 II 1 KSchG ziehen. In Anlehnung daran kann man zunächst differenzieren zwischen Gründen, die in der Person des Pflichtverteidigers oder in seinem Verhalten liegen. Man kann sogar noch weitergehen und ein Pendant zur betriebsbedingten Kündigung aufzeigen. Allein die Richtung, die das gerichtliche Verfahren genommen hat, könnte eine Rücknahme der Bestellung rechtfertigen. Nicht in dieses Schema einzupassen und deshalb als Fallgruppe ergänzend hinzuzufügen wären freilich Defizite in der Beziehung Beschuldigter/ Pflichtverteidiger: Aufgrund unüberwindlicher Gegensätze ist eine sachgerechte Zusammenarbeit nicht oder nicht mehr möglich. Man mag an dieser Stelle einwenden, der Vergleich mit den arbeitsrechtlichen Kündigungsregeln wirke gequält, sei erkünstelt und vor allem nur eine Arabeske ohne praktischen Ertrag. Dem ersten Bedenken wäre entgegenzuhalten, daß in der Widerrufslehre auffällig häufig genuin arbeitsrechtliche Fachbegriffe auftauchen. Da ist, um nur einige wenige Beispiele anzuführen, die Rede von der „UnZuverlässigkeit" oder der „Unfähigkeit" des Verteidigers11, von „hochgradiger Ungeeignetheit" 12 , von „fehlender Leistungsfähigkeit oder -bereitschaft" 13 , von „einem besonders gewichtigen Fehlverhalten"14 oder von der „Unzumutbarkeit" der Fortsetzung der Pflichtverteidigung15. Ganz deutlich zutage tritt die Übernahme arbeitsrechtlicher Kategorien in einem Beschluß des OLG Hamburg 16 . In dieser Entscheidung wird ausgeführt, daß bei Müller, in: KMR, § 141 Rdn. 15. Rieß, JR 1979, 37, 39; vgl. dazu auch Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, Diss. Köln 1992, S. 133 ff, 139. 13 Hilgendorf, NStZ 1996, 1, 4 m.w. Nachw.; Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S. 211. 14 BGH JR 1996, 124 m. Anm. A. Müller, OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 236; StV 1985, 450; KG JR 1982, 349; StV 1993, 236; OLG Köln StV 1991, 9; OlG Nürnberg StV 1995, 287, 289 m. Anm. Barton. 15 Hilgendorf, NStZ 1996, 1, 3, 5. 1 6 NJW 1998, 621. 11 12
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mißbräuchlicher Rechtsausübung der Pflichtverteidiger nicht ohne weiteres abberufen werden könne. Erforderlich sei vielmehr, daß der renitente Verteidiger zunächst „abgemahnt" werde. Erst wenn die „Abmahnungen — gegebenenfalls mit der Androhung der Entpflichtung im Wiederholungsfalle — erfolglos geblieben" seien, könne die Beiordnung aufgehoben werden 17 . Übrig bleibt demnach die Frage, ob sich die Anleihe bei § 1 II 1 KSchG überhaupt lohnt. Darüber hinaus fragt sich natürlich, ob nicht durch die Verwertung arbeitsrechtlicher Kategorien ein falsches Bild vermittelt wird; ein Bild, das den Eindruck erweckt, als sei der Pflichtverteidiger — einem Arbeitnehmer ähnlich — mehr oder weniger unselbständig, an Weisungen gebunden und der Direktion des Gerichts unterworfen. Die Antworten darauf seien zurückgestellt.
/. Personenbe^ogene Gründe a) Den extremsten (Unter-) Fall persönlichen Leistungsunvermögens markiert § 7 Nr. 7 BRAO: Der Verteidiger ist aufgrund körperlicher oder geistiger Mängel oder wegen Alkohol- oder Rauschmittelsucht nicht fähig, seinen Beruf ordnungsgemäß auszuüben. Er ist also außerstande, seine Verteidigungsaufgaben wahrzunehmen; oder — mit anderen Worten — er ist prozeß- oder verhandlungsunfähig 18 . b) Faktische subjektive Unmöglichkeit ist überdies im Spiel bei längerwährender Erkrankung, bei sonstigen unausräumbaren Verhinderungen oder bei anderweitiger beruflicher Überlastung 19 . c) Dieser Rubrik sind des weiteren die Fälle zuzurechnen, in denen der Verteidiger den Anspruch des Beschuldigten auf effektive Verteidigung nur schlecht erfüllen kann. Ihm unterlaufen schwere und offenkundige Fehler, weil er völlig unerfahren ist, weil er sich seit Jahren nicht mehr mit dem Straf- und Strafprozeßrecht beschäftigt hat oder weil er nicht über das notwendige spezifische Fachwissen verfügt 20 . Ein besonders anschauliches Beispiel für eine solche notleidende VerOLG Hamburg NJW 1998, 621, 623. Dazu BGH bei Kusch, NStZ 1996, 21; Hanack, JZ 1971, 218 f; Lüderssen, in: Uwe/ Rosenberg, § 145 Rdn. 14; zur Trunkenheit des Angeklagten vgl. auch BGHSt. 23, 331, 334. 1 9 Siehe oben Fn. 7 sowie Jessnit^er/Blumberg, BRAO, 7. Aufl. 1995, § 49 Rdn. 2. 20 Vgl. dazu Waller, DRiZ 1974, 177, 180, der von einem „advocatus inhabilis" spricht. Zur zivilrechdichen Haftung auch des Pflichtverteidigers vgl. Barton, in: Reform oder Roll-Back? Weichenstellung für das Straf- und Strafprozeßrecht, 21. Strafverteidigertag 1997, S. 193 ff. 17 18
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teidigung liefert die Entscheidung KG JR 1987, 524: Im Zuge der Hauptverhandlung räumte der augenfällig inkompetente Pflichtverteidiger selbst ein, daß er Schwierigkeiten habe, dem Verfahrensgang zu folgen, daß er die Strafprozeßordnung nicht so genau kenne und nicht wisse, welchen Antrag er zu stellen habe. Aufgewertet wird diese Fallgruppe dadurch, daß die Rechtsprechung dem Verteidiger mehr und mehr aktive Verantwortung zuschreibt. Erinnert sei nur an die sog. Widerspruchslösung im Zusammenhang mit Beweisverwertungsverboten. Wie gut vorstellbar ist vor diesem Hintergrund ein zur Pflichtverteidigung gedrängter Rechtsanwalt, der die neueste Entwicklung im Strafverfahrensrecht verschlafen hat und der infolgedessen in der Hauptverhandlung nach der Beweiserhebung schweigt. d) Den Abschluß bilden Sachlagen, bei denen sich der Verteidiger in einer Doppelrolle befindet, die seine Unabhängigkeit und Neutralität in Frage stellt oder - anders ausgedrückt - die Besorgnis der Befangenheit begründet. Diese Rollenkonflikte werden zum Teil vom Gesetz selbst erfaßt: Der Verteidiger steht im Verdacht, an der angeklagten Tat beteiligt (§ 138a I Nr. 1 StPO) oder sog. Anschlußstraftäter (§ 138a I Nr. 3 StPO) zu sein. Oder man denke an den Pflichtverteidiger, der als Wahlverteidiger in das Lager eines Mitbeschuldigten überwechselt (§ 146 StPO). Interessenkollisionen können sich zum anderen Teil aber auch aus der Natur der Sache ergeben 21 . So, wenn der Vorwurf des Parteiverrats (§ 356 StGB) im Räume steht 22 oder wenn der Verteidiger als Zeuge vernommen worden ist 23 . Die Unparteilichkeit und Objektivität des Verteidigers sind darüber hinaus berührt, wenn er zum Kreis der Opfer gehört oder mit dem Verletzten oder anderen Prozeßbeteiligten verwandt ist 24 .
21 Zur Abhängigkeit des Verteidigers von politischen Regimen und Bindungen vgl. BGHSt. 8, 194; 15, 326. Der zweite Beschluß ist durch das BVerfG (NJW 1967, 2051) aufgehoben worden. Zum Unabhängigkeitsbegriff allgemein Quack, NJW 1975, 1337 f. 2 2 Grundlegend dazu die Entscheidung OLG Oldenburg GA 1956, 189, die die langjährige Diskussion über den Parteiverrat als Ausschlußgrund ausgelöst hat. Vgl. des weiteren Groß, ZRP 1974, 25, 31, sowie BGH NStZ 1992, 292, zur Bestellung eines Pflichtverteidigers bei möglichem Parteiverrat. 2 3 Zur Identität von Verteidiger und Zeugen siehe BVerfGE 16, 214, 218 f; Anschiit% Die Entziehung der Verteidigungsbefugnis, Diss. Heidelberg 1959, S. 65 ff; Gallas, ZStW 53 (1934), 256, 266; Ulsenheimer, GA 1975, 103, 115 ff; Waller, DRiZ 1974, 177, 181. 24 Peters, Strafprozeß, S. 211, unter Hinweis auf die in §§ 22, 23 StPO enthaltenen Gesichtspunkte; vgl. auch OLG Düsseldorf NJW 1990, 528: kein Interessengegensatz, wenn der Verteidiger zugleich der Vormund des Angeklagten ist.
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2. Verhaltensbedingte Gründe Geht man in der Auflistung weiter, diesmal mit Blick auf das Verteidigungsverhalten, so stößt man in der Literatur vielerorts auf die Schlagworte „Prozeßsabotage" oder „Institutsmißbrauch" 25 : Statt sich auf seine ihm zugedachte Rolle als Teilhaber einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege 26 zu verlegen und mit der Prozeßführung des Gerichts zu korrespondieren, erweist sich der Verteidiger als Störfaktor, der es darauf anlegt, durch Einsatz unzulässiger Mittel die Durchführung des Verfahrens zu verzögern, zu erschweren oder gar zu verhindern. Obwohl es gerade in den letzten Jahren wieder umfängliche Bestrebungen gegeben hat, das Phänomen (oder besser: das Phantom?) der Prozeßsabotage zu ergründen und ihm schärfere Konturen zu verleihen, ist man — von Extremfällen abgesehen — nach wie vor weit davon entfernt, zulässige Verteidigertätigkeit von rechtswidrig-sabotierender abzuschichten. Lösen wir uns also von diesem schillernden und wenig aussagekräftigen Begriff, der ohnehin nur Berechtigung hat, wenn man den theoretischen Überbau (der Verteidiger als „Rechtspflegeorgan" 27 ) akzeptiert. Gehen wir stattdessen auf die konkreten Einzelfälle ein, die Anlaß für die Rechtsprechung waren, über die Rücknahme der Bestellung zu entscheiden. Abermals lassen sich mehrere qualitativ unterschiedlich beschaffene Untergruppen anführen. a) Zu beginnen ist mit Verhaltensweisen, die eindeutig jenseits einer Verteidigung liegen, weil sie mit Prozeßhandlungen keinerlei Berührungspunkte aufweisen. Darunter fallen etwa die Nötigung 28 oder Beleidigung des Gerichts, tätliche oder verbale Attacken auf Zeugen, Einschüchterungsversuche 29 , sachfremdes Dauerreden, anhaltendes Schreien. Auf einen Nenner gebracht: Es geht um Entgleisungen, die vom Begriff der „Ungebühr" i. S. v. § 178 I GVG erfaßt werden. Auch die beharrliche Weigerung des Anwalts, in der Hauptverhandlung die 25 Dazu KG JW 1933, 484; Dahs, NJW 1959, 1158, 1162; Kühne, Strafprozeßlehre, 4. Aufl. 1993, Rdn. 113; Lampe, JZ 1974, 636, 698; Waller, DRiZ 1974, 177, 179; zum Verhältnis von Konfliktverteidigung und Strafvereitelung vgl. Jahn, ZRP 1998, 103. 26 Vgl. Hamm, NJW 1993, 289, 291, 293, der aus Verteidigersicht treffend darauf hinweist, daß dieser Begriff eher „Uberführungstüchtigkeit" heißen müsse. 27 Dazu Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 183 ff; ders., Strafprozeßrecht, 2. Aufl. 1996, Rdn. 150 f, der sich selbst für eine eingeschränkte Organtheorie ausspricht. 28 Dazu BGHSt. 9, 20; aufgehoben von BVerfGE 15, 226 (die Wahlverteidigung betr.). 29 So in der Entscheidung OLG Hamburg NJW 1998, 621: „Destabilisierung junger Zeugen".
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vorgeschriebene Amtstracht zu tragen30, dürfte noch zu dieser Fallgruppe, die eher die äußere Ordnung in der Sitzung betrifft, zu zählen sein. b) Davon zu trennen sind Verhaltens formen, die durchaus im Zusammenhang mit der Verteidigungsführung stehen und die — anders als die vorbezeichnete Rubrik — das Verfahren gleichsam von innen her belasten. So liegt es etwa, wenn der Verteidiger mit der möglicherweise unwahren Behauptung, anderweitig verpflichtet zu sein, die Aussetzung des Verfahrens beantragt31 oder wenn er die Fortsetzung seiner Verteidigertätigkeit von der Beiordnung eines zweiten Verteidigers abhängig macht32. Insbesondere sind hier solche Strategien aufzuführen, die sich als exzessive Konfliktverteidigung bezeichnen lassen: wiederholte Befangenheitsanträge, Beweisanträge zur Unzeit, im Ubermaß oder aufs Geratewohl, aufsässige Beanstandungen von Fragen und Vernehmungstechniken, ständiges Fordern von Pausen, unentschuldigtes Sichentfernen aus der Hauptverhandlung mit der Folge des Abbruchs und der Aussetzung33. Diese Aufzählung einseitiger Interessenverteidigung „über Gebühr" könnte unschwer (theoretisch) noch um ein Vielfaches verlängert werden. Darauf soll jedoch verzichtet werden, weil sonst leicht der Eindruck entsteht, als sei mißbräuchliches Gebaren bei (Pflicht-) Verteidigern in der Rechtswirklichkeit weit verbreitet. c) Deutlich mehr beschäftigt haben die Rechtsprechung jedenfalls die Fälle eines Fehlverhaltens im Innenverhältnis: Der Pflichtverteidiger genügt — aus der Perspektive des Gerichts — seiner Beistandsp flicht dem Beschuldigten gegenüber nicht. Aus Gleichgültigkeit, aus Protest gegen seine Bestellung, zum Zwecke, den Widerruf zu provozieren, oder schlimmstenfalls, um dem Beschuldigten zu schaden, betreibt er die Verteidigung erkennbar nachlässig34. Das kann dadurch geschehen, daß 30 Dazu BGH NStZ 1988, 510; OLG Zweibrücken NStZ 1988, 144; den Wahlverteidiger betreffend: BGH NJW 1977, 437; KG JR 1977, 178; OLG Karlsruhe NJW 1977, 309. 31 OLG Karlsruhe Justiz 1980, 338; OLG Frankfurt StV 1985, 225, 405 m. abl. Anm. Sieg,; zur schuldhaften Verspätung auch LG Bremen StV 1989, 475; allg. dazu Julius, in: Heidelberger Kommentar zur StPO, § 143 Rdn. 8. 32 OLG Frankfurt NJW 1972, 1964; Hilgendorf, NStZ 1996, 1, 5; Kleinknecht/MeyerGoßner, StPO, § 143 Rdn. 4. 33 Vgl. BGH NJW 1990, 1373; OLG Hamburg NJW 1998, 621; s. auch LG Wiesbaden NJW 1995, 409, von Schäfer, NJW 1995,1723 f, als „Alarmzeichen für die Strafverteidiger" bezeichnet; ferner Schroeder.; Strafjprozeßrecht, 2. Aufl. 1997, Rdn. 156. 34 BGH bei Dallinger, MDR 1967, 727; BGH GA 1968, 85; Hilgendorf, NStZ 1996, 1,4.
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er den Beschuldigten nicht oder unzureichend auf die Hauptverhandlung vorbereitet 35 , daß er in der Hauptverhandlung untätig bleibt, sich etwa weigert, einen gewünschten Beweisantrag zu stellen 36 oder den Schlußvortrag zu halten 37 . Weitere Beispiele: Der Pflichtverteidiger lehnt es ab, Revision einzulegen 38 oder ein vom Angeklagten eingelegtes Rechtsmittel zu begründen 3 9 . Es ist an dieser Stelle einzuräumen, daß Fälle dieser Art oftmals mit einem gestörten Vertrauensverhältnis verbunden sein werden. Gleichwohl lassen sich beide Fallkonstellationen kategorial voneinander abschichten. Z u m einen kann der Beschuldigte trotz allem noch mit „sein e m " Anwalt zufrieden sein 40 ; zum anderen werden Vertrauenskrisen keineswegs stets durch einen Pflichtenverstoß des Verteidigers ausgelöst, zumal dieser nach h. A. den Weisungen des Beschuldigten nicht unterliegt 41 . 3. Verfahrensbedingte Gründe Eine Entbindung des Pflichtverteidigers kommt darüber hinaus auch aus rein verfahrenstechnischen Gründen in Betracht. Das gilt etwa für den Fall, daß die „Geschäftsgrundlage" für die Bestellung, d. h. die Voraussetzungen für die notwendige Verteidigung, nachträglich wegfällt. So wird — über die gesetzliche Regel des § 140 III 1 StPO hinaus — der Widerruf für zulässig erachtet, wenn sich die Umstände wesentlich geändert haben und der durch den Bestellungsakt begründete Vertrauensschutz nicht entgegensteht 4 2 . Es kann ferner die Gerichtszuständigkeit wechseln, mit der Folge, daß dem Pflichtverteidiger die lange Anfahrt nicht zugemutet werden kann 4 3 . Hierher gehört schließlich auch die Abberufung eines zusätzlich zu dem Wahlverteidiger bestellten sog. Sicherungsverteidigers bei Beendigung der Hauptverhandlung 4 4 . 35
BGH bei Kusch, NStZ 1996, 21. » BGHSt. 39, 310; vgl. auch BGH NJW 1958, 1736. 37 BGH NStZ 1992, 503; anders noch BGH NStZ 1981, 95: kein Revisionsgrund. 38 OLG Frankfurt StV 1985, 225. 39 Dazu OLG Bremen AnwBl. 1964, 288; OLG Düsseldorf StV 1984, 327; OLG Stuttgart MDR 1979, 780. 40 Welp, ZStW 90 (1978), 101, 112. 41 Vgl. BGHSt. 9, 356; 13, 337, 343; 38, 111, 114; 39, 310, 313; Kleinknecht/MeyerGoßner, StPO, vor § 137 Rdn. 1; Laußütte, in: KK StPO, vor § 137 Rdn. 4. 42 BGHSt. 7, 69; OLG Düsseldorf StV 1995, 117; OLG Schleswig SchlHA 1996, 93; OLG Stuttgart StV 1985, 140; Hilgendorf, NStZ 1996, 1, 3; Stern, in: AK StPO, 1992, § 143 Rdn. 5. 43 LG Freiburg StV 1988, 57. 44 OLG Düsseldorf StV 1990, 34; Vogelsang (Fn. 12), S. 136.
Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung
4. Gestörtes
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Vertrauensverhältnis
Die vierte und letzte Fallgruppe, die Vertrauenskrise zwischen Beschuldigtem und Verteidiger, ist wohl die heikelste. Bei ihr ist grundsätzlich die Frage zu stellen, ob ein Gericht überhaupt in der Lage ist, darüber zu befinden, wann eine nachhaltige und nicht behebbare Erschütterung des Vertrauensverhältnisses vorliegt, aufgrund derer zu besorgen ist, daß die Verteidigung objektiv nicht (mehr) sachgerecht geführt werden kann 45 . Verläßlich über diesen persönlich-individuellen Befund zu entscheiden vermögen doch im Grunde nur die an der Beziehung unmittelbar Beteiligten. Ihre Einschätzung ausschlaggebend sein zu lassen hieße auf der anderen Seite, daß das Gericht sich ihrem Diktat beugen müßte. Man befürchtet, daß das mißbräuchlich ausgenutzt werden könnte: Angeklagter und Pflichtverteidiger hätten es dann in der Hand, zum Zwecke der Verfahrensverzögerung gezielt auf die Entpflichtung hinzuarbeiten 46 . Die Rechtsprechung behilft sich deshalb damit, daß der Vertrauensschwund substantiiert vorgetragen und notfalls bewiesen werden muß 47 . Die bloßen Erklärungen, nicht sinnvoll verteidigen zu können bzw. verteidigt zu werden, reichen, selbst wenn übereinstimmend von beiden Seiten abgegeben, im Regelfall nicht aus, es sei denn, daß die Auswechslung ohne Mehrkosten und Verfahrensverzögerung bewerkstelligt werden könnte 48 . Aber nicht nur an die Darlegungslast, sondern auch an die konkreten Tatsachen, auf die der Entpflichtungsantrag gestützt wird, werden sehr strenge — mitunter überzogene — Anforderungen gestellt. So sollen selbst Beschimpfungen, Beleidigungen und tätliche Angriffe des Beschuldigten auf den Verteidiger nicht unbedingt Ausdruck eines Vertrauensverlustes sein 49 . Die Grenze wird nach BGHSt. 39, 310, 314 ff erst dann eindeutig überschritten, wenn der Pflichtverteidiger Strafan-
45 So die Umschreibung in der st. Rspr.; vgl. BGHR StPO § 142 Abs. 1 Auswahl 2; BGH bei Hol% MDR 1979, 108; BGH NStZ 1992, 292; OLG Stuttgart NStZ-RR 1996, 207. 46 S. Hilgendorf, NStZ 1996, 1, 5; vgl. auch BGHSt. 39, 310, 316. 47 BGH StV 1988, 470; 1990, 347; BGH MDR 1979, 108; BGH JR 1996, 124 m. Anm. Λ. Müller, OLG Düsseldorf AnwBl. 1987, 495; OLG Köln StV 1994, 234 m. Anm. Münchhalffen-, OLG Köln StraFo. 1996, 22 m. Anm. Gatvpeiler, OLG Karlsruhe NStZ 1988, 239 m. Anm. Molketin, NStZ 1989, 87. 48 Zu dieser Ausnahme KG NStZ 1993, 201. 49 KG AnwBl. 1978, 241; OLG Köln StV 1994, 234; OLG Schleswig SchlHA 1983,
111.
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zeige erstattet und sich damit gewissermaßen offiziell in ein feindliches Lager begeben hat. Ohne in weitere Einzelheiten zu gehen, läßt sich unter dem Strich festhalten, daß die Rechtsprechung nur wenig Rücksicht auf den Willen und die Interessen des notwendig Verteidigten und des Pflichtverteidigers nimmt. Sie schreibt die Definitionsmacht über noch oder nicht mehr ausreichendes Vertrauen allein dem Gericht zu, ohne den Verteidiger (als sachnäheres Rechtspflegeorgan!) in den eigentlichen Entscheidungsprozeß einzubeziehen. Der Verfahrens Sicherung und -beschleunigung, der Kontinuität der Verteidigung sowie Kostenerwägungen wird selbst dann der Vorrang eingeräumt, wenn die Fortsetzung der „Zwangsgemeinschaft" für beide „Pflichtmitglieder" unzumutbar erscheint. Hinzu kommt, daß ihnen abverlangt wird, Tatsachen aus der Tabuzone der Innenbeziehung preiszugeben. Das läßt sich mit dem Schweigerecht des Beschuldigten und der Schweigepflicht des Verteidigers nicht vereinbaren. III. In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 50 wird vielerorts gelehrt, daß Pflicht- und Wahlverteidiger rechtlich gleichzustellen seien 51 . Sie sollen sich nur in der Art ihrer Einsetzung unterscheiden, nicht aber in ihrer verfahrensrechtlichen Stellung und prozessualen Funktion. Gerade was die Widerrufspraxis angeht, stand diese These freilich lange Zeit hindurch mehr oder weniger auf dem Papier; die Forderung nach einer Gleichstellung wurde — wenn überhaupt — nur halbherzig eingelöst. Erst in jüngster Zeit sind Tendenzen zu registrieren, die sich erkennbar um eine Annäherung bemühen. 1. Das Strafverfahrensänderungsgeset^
v. 27. 1. 1987
Ein deutliches Signal ist durch das StVÄG 1987 gesetzt worden, das § 142 I StPO durch die Sätze 2 und 3 ergänzt hat. Durch diese Neuregelung sollte erklärtermaßen der Anspruch des Beschuldigten auf Beiordnung eines Anwalts seines Vertrauens als Verteidiger abgesichert wer50 BVerfGE 1, 109, 114; 9, 36, 38; 39, 238, 243; 46, 202, 210; 63, 380, 390; BVerfG NJW 1986, 767, 771. 51 OLG Düsseldorf NJW 1990, 527; Fe^er, Strafprozeßrecht, S. 49; Liiderssen, in: IJiwe/Rosenberg, § 143 Rdn. 9; Rieß, JR 1979, 37; Weigend, NStZ 1997, 47.
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den 52 . Der Beschuldigte, der sich keinen Wahlverteidiger leisten könne, müsse weitestgehend den gleichen Rechtsschutz erhalten wie derjenige, der die Möglichkeit dazu habe. Was liegt näher, als diese die Anfangsphase betreffende Bestimmung auch für die Widerrufsdogmatik fruchtbar zu machen und sie dort symmetrisch einzusetzen? Der Beschuldigte kann bei der Beiordnung entscheidenden Einfluß auf die Person des Verteidigers nehmen; seine Entschließung kann nur bei „wichtigen Gründen" übergangen werden. Entsprechendes muß konsequenterweise für die Entpflichtung gelten. Auch hier kommt es in erster Linie auf das Selbstbestimmungsrecht des Beschuldigten an, das nur ausnahmsweise bei „wichtigen Gründen" hintangesetzt werden darf 53 .
2. Der Beschluß BGH NStZ 1997, 46 Einen weiteren Meilenstein auf dem Weg in Richtung „Gleichstellung" hat die Entscheidung des BGH v. 20. 3. 1996 aufgestellt. Mit ihr hat der BGH erstmals Stellung bezogen zu der Streitfrage, ob die §§ 138a ff StPO auch auf den Pflichtverteidiger anwendbar sind. Die früher h. A. 5 4 stellte das in Abrede und berief sich maßgeblich auf den systematischen Standort und die Entstehungsgeschichte 55 der Vorschriften. Maßgeblich für diese Sicht waren aber wohl letzdich Praktikabilitätserwägungen. Man wollte es bei dem einfachen Widerruf der Bestellung belassen und dem schwerfälligen, an strenge materielle und formelle Voraussetzungen geknüpften Ausschlußverfahren ausweichen. Die damit einhergehende offenkundige Ungleichbehandlung des Pflichtverteidigers nahm man in Kauf. Kritischen Stimmen und gründlichen Analysen in der Literatur 56 war es sodann zu verdanken, daß es zu einem Umdenken kam und sich
BT-Drucks. 10/1313, S. 20. So Lüderssen, in: Löwe/Rosenberg, § 143 Rdn. 7 ff; dazu, daß ein Verteidigerwechsel grundsätzlich der Zustimmung des Beschuldigten bedarf, vgl. auch Remagen-Kemmerling, Der Ausschluß des Verteidigers in Theorie und Praxis, 1992, S. 104; Weigend, NStZ 1997, 47 f. 5 4 OLG Koblenz JR 1979, 36; OLG Köln NStZ 1982, 129; Beulke, Strafprozeßrecht, Rdn. 169; Ranft, Strafprozeßrecht, Rdn. 443; Ulsenheimer, GA 1975, 103, 109. 55 Die §§ 138a ff StPO gehen zurück auf die Entscheidung BVerfGE 34, 283. Darin ist der Gesetzgeber aufgefordert worden, die Ausschließung des „Wahlverteidigers" positivrechdich zu regeln. 56 Dencher, NJW 1979, 2176; Krekeler, AnwBl. 1978, 322; Rieß, JR 1979, 37. 52
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schließlich ein Wandel in der obergerichtlichen Rechtsprechung 57 vollzog. Man entlarvte die Gesetzeshistorie als Scheinargument und setzte der systematischen Stellung den Wortiaut der §§ 138a ff StPO entgegen. Vor allem wurde zu Recht betont, daß der Pflichtverteidiger keinen anderen Einschränkungen als der Wahlverteidiger unterliegen dürfe und daß es nicht angehe, ihm bei den diskriminierenden Vorwürfen, die Gegenstand des § 138a StPO sind, das aufwendige Prüfungsverfahren nach §§ 138c, 138d StPO zu versagen. Der BGH ist dem gefolgt und hat in das Zentrum seiner Entscheidung den Satz gestellt, daß die rechdiche Posiüon des Pflichtverteidigers der des Wahlverteidigers so weit angeglichen sei, daß kein sachlicher Grund mehr für eine andere (= schlechtere) Behandlung bestehe. Weil nicht entscheidungserheblich, hat der BGH allerdings ausdrücklich offengelassen, ob und ggfs. unter welchen Voraussetzungen daneben § 143 StPO anwendbar bleibt, wenn Ausschlußgründe nach §§ 138a, 138b StPO vorliegen könnten 58 . Obwohl die Entscheidung in ihrer Argumentation eher auf eine „Nur-Lösung" hinausläuft, läßt der BGH noch Raum für eine „Sowohl-als-auch-Lösung", wie sie teilweise in der Lehre vertreten wird 59 . Danach soll es dem Gericht unbenommen sein, entweder das komplizierte Ausschlußverfahren einzuleiten oder aber die Bestellung unter Hinweis auf § 138a StPO kurzerhand zurückzunehmen. Es ist zu vermuten, daß der BGH sich nur allzu gern dem Konkurrenzproblem entzogen hat. Würden nämlich die §§ 138a ff StPO den einfachen Widerruf verdrängen, so wäre die weitere — schwierige — Frage, wie weit diese Sperrwirkung reicht und was sie vom herkömmlichen Widerrufsrecht übrig läßt 60 . In der Sache selbst kommt man nicht darum herum, den §§ 138a ff StPO ausschließlichen Charakter zuzusprechen. Dem Richter beide Möglichkeiten zu geben hieße, vom Gleichstellungsprinzip wieder abzurücken. Wenn man so will: Was mit der rechten Hand gegeben, würde mit der linken wieder genommen. 57 OLG Braunschweig StV 1984, 500; OLG Düsseldorf JR 1989, 250 m. Anm. Rogali-, s. auch OLG Nürnberg StV 1995, 287 m. Anm. Barton\ dem folgend: Kkinknecht/MeyerGoßner, StPO, § 138a Rdn. 3 a; Roxin, Strafverfahrensrecht, 24. Aufl. 1995, S. 127 f; Schweiler, Strafprozeßrecht, Rdn. 155; Stern, in: AK StPO, § 138a Rdn. 8. 58 BGH NStZ 1997, 46, und dazu lVeigend, NStZ 1997, 48, der das als „halben Schritt" bezeichnet. 55 iMufliütte, in: K K StPO, 2. Aufl. 1987, § 138a Rdn. 2 (aufgegeben in der 3. Aufl. 1993, § 138a Rdn. 2); Müller, in: KMR, § 138a Rdn. 1. 60 Vgl. Welp, ZStW 90 (1978), 101, 112, der in diesem Zusammenhang von der „limitativen Funktion" der §§ 138a ff StPO für die Pflichtverteidigung spricht.
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Sähe man das anders, wäre der Widerruf auch bei Verdachtsgraden unterhalb der von § 138a I StPO vorausgeset2ten Schwelle möglich 61 . Hinzu kommt, daß § 138a IV und V StPO spezielle Ausschlußfolgen fixieren, die sich durch eine bloße Entpflichtung nicht erreichen lassen. Kurz gesagt: Die §§ 138a ff StPO würden ausgehöhlt und in ihrem Sinn verdreht, ließe man daneben einen Widerruf nach § 143 StPO zu 62 .
3. Der „Abmahn"-Beschluß des OLG Hamburg NJW 1998, 621 Geht es um die Geeignetheit des Pflichtverteidigers und um verhaltensbezogene Widerrufsgründe, hat sich die Judikatur bemerkenswerterweise stets um Zurückhaltung bemüht 63 . Immer wieder wird für diesen Bereich betont, daß es nicht Aufgabe des Gerichts sein könne, die Tätigkeit des Verteidigers zu kontrollieren und zu bewerten. Nicht jedes objektiv unzweckmäßige oder prozeßordnungswidrige Verhalten, das den Fortgang des Strafverfahrens zeitweise hemme, sei geeignet, die Aufhebung der Pflichtverteidigung zu rechtfertigen. Zu verlangen seien vielmehr schwerwiegende Kunstfehler oder grobe Pflichtverletzungen. Die ohnehin schon hohen Anforderungen hat das OLG Hamburg kürzlich dahingehend verschärft, daß der Entpflichtung grundsätzlich Abmahnungen vorauszugehen haben. Man mag diese weitere Voraussetzung auf den ersten Blick begrüßen. Nur muß die Frage erlaubt sein, ob der von der Rechtsprechung eingeschlagene Weg der richtige ist. Denn alle Restriktionen vermögen den Bruch mit dem Prinzip der Unabhängigkeit des Verteidigers und der freien Advokatur nur weniger auffällig zu machen. Im übrigen birgt das Erfordernis der Abmahnung die Gefahr der „Disziplinierung" des Pflichtverteidigers. Nur allzu leicht könnte das Gericht von der Abmahnung (sachfremd) Gebrauch machen, „um eine ihm genehme Art der Verteidigung zu erreichen und jeden Widerstand des Verteidigers zu brechen" 64 . Der Verteidiger wäre so vor die Alternative gestellt, sich der Verhandlungsführung anzupassen oder seine — für ihn nicht anfechtbare 65 - Entpflichtung zu riskieren. 61
S. abermals Welp, ZStW 90 (1978), 101, 112 f. So Lüderssen, in: Löwe/Rosenberg, § 143 Rdn. 7; ebenso Remagen-Kemmerling
(Fn. 53), S. 63. f>3 Yg) hierzu und zum folgenden die Angaben unter Fn. 14. 6 4 Dazu bereits Gallas, ZStW 53 (1934), 256, der diese Befürchtung freilich in anderem Zusammenhang äußert. 6 5 So jedenfalls die Rspr., die dem Verteidiger kein eigenes Beschwerderecht einräumt; vgl. die Nachweise bei Kleinknecht/Mejer-Goßner, StPO, § 143 Rdn. 7, sowie OLG Hamburg NJW 1998, 621. 62
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IV. Kehren wir zum Abschluß zu den Fallgruppen zurück. Zu klären ist zunächst, in welchem Umfang sie dadurch beeinflußt werden, daß die Ausschließungsregelungen der §§ 138a ff StPO sich auch auf den Pflichtverteidiger erstrecken und das Abberufungsrecht des Vorsitzenden präkludieren. 1. Die Reichweite der Sperrwirkung Es wäre fraglos verfehlt, den Verdrängungseffekt auf die Widerrufsgründe in ihrer Gesamtheit auszudehnen. Schon aus Gründen der Logik kann er vielmehr nur solche Tatbestände erfassen, die mit denen der §§ 138a ff StPO auf gleicher rechtlicher Stufe stehen 66 . Dazu zählen aus der Gruppe der personenbezogenen Gründe die Fälle eines durch eine Doppelrolle begründeten Interessenzwiespalts 67 . Das bedeutet konkret, daß dem Vorsitzenden selbst bei befürchtetem Parteiverrat ein einseitiger Widerruf versagt ist. Ob die Sperrwirkung sich auch auf verhaltensbedingte Gründe, namentlich die exzessive Konfliktverteidigung bezieht, hängt davon ab, ob „Strafjustizvereitelung" eine Strafvereitelung i. S. v. §§ 138a I Nr. 3 StPO, 258 I StGB bedeutet. Im Ergebnis ist das nicht zuletzt mit Blick darauf abzulehnen, daß der Gesetzgeber die „Verfahrenssabotage" bewußt nicht mit in den Katalog der §§ 138a ff StPO aufgenommen hat 68 . Diese Entscheidung darf man nicht einfach dadurch unterlaufen, daß man die Lücke mit Hilfe von § 258 StGB zu schließen versucht. Auf der anderen Seite ist zu beachten, daß die Ausschlußvorschriften nicht nur Interessenkollisionen in der Person des Verteidigers aufgreifen, sondern in § 138a I Nr. 2 StPO auch an Handlungen des Verteidigers anknüpfen. Diese eng umrissene Spezialvorschrift stellt jedoch ersichtlich ein reines „Maßnahmegesetz" dar, geboren unter dem Eindruck terroristischer Gewalttaten 69 . Allgemeine Schlüsse sind daraus nicht ableitbar. Damit kann festgehalten werden, daß die von §§ 138a ff StPO ausgehende Sperrwirkung auf die Fälle eines Interessenwiderstreits begrenzt 6 6 Ebenso Dencker, NJW 1979, 2176, 2179 ff; Fe^er, Strafprozeßrecht, S. 49; Rieß, JR 1979, 37, 39 f. 6 7 Vgl. oben im Text unter II. 1. d). 6 8 BT-Drucks. 7/2526, S. 11, 31. 6 9 Dazu Parigger, Festgabe für Koch, 1989, S. 199, 206; Seelmann, NJW 1979, 1128, 1130: „Ad-hoc-Gesetze". Gleiches gilt im übrigen für die §§ 138a II 2. Alt, 138 b StPO, die künftige mutmaßliche Verhaltensweisen des Verteidigers betreffen.
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ist. Aber auch insoweit bleibt noch Raum für eine Abberufung, und zwar dann, wenn der Beschuldigte und/oder der Pflichtverteidiger der Auswechslung zustimmen 70 . Die §§ 138a ff StPO sind nämlich auf den Fall zugeschnitten, daß Beschuldigter und Verteidiger an dem Mandat festhalten wollen. Bei der Wahlverteidigung steht es ihnen aber jederzeit frei, den Interessenkonflikt durch Kündigung des Mandatsverhältnisses auszuräumen 71 . Nimmt man die Gleichstellungsthese ernst, muß bei der Pflichtverteidigung eine entsprechende Möglichkeit eröffnet sein. 2. Der mittelbare Einfluß auf die allgemeine
Widerrufspraxis
Nach allem scheint es so, als bedeute die Erkenntnis, daß die §§ 138a ff StPO auch für den Pflichtverteidiger gelten, nur einen kleinen Einschnitt in die Widerrufslehre. Dem ist jedoch zu widersprechen. Wenn nämlich die Ausschlußtatbestände nicht mehr als bloßer Unterfall des Bestellungswiderrufs angesehen werden können, dann verstärkt das eine Forderung, die an sich selbstverständlich sein sollte: Statt mit der ungeschriebenen Generalklausel „Widerruf aus wichtigem Grunde" zu arbeiten, sollte man sich an das Gesetz und die gesetzlichen Wertungen halten. a) So lassen sich insbesondere die personenbezogenen Gründe weitgehend auf § 145 StPO zurückführen. Ist der Verteidiger prozeßunfähig, steht er einem in der Hauptverhandlung Ausgebliebenen gleich 72 . Auch der Fall dauernder Verhinderung (Erkrankung) kann zwanglos über §145 StPO, erweiternd gelesen, bewältigt werden. Steht ein Fehlverhalten gegenüber dem Gericht oder dem Angeklagten in Rede, ist zu prüfen, ob darin nicht eine Verweigerung der Verteidigungsführung i. S. v. § 145 StPO liegt. Das ist zu bejahen, wenn der Verteidiger, obwohl zum Handeln verpflichtet, untätig verharrt 73 . b) Nicht mit § 145 StPO einfangen läßt sich allerdings die Schlechdeistung, sei sie nun personenbezogen, weil der Verteidiger der Sache nicht gewachsen ist, oder sei es, daß ihr Böswilligkeit zugrunde liegt. Aber auch insoweit läßt uns das Gesetz nicht im Stich. In Anlehnung an §142 I 3 StPO kann die Abberufung nur dann erfolgen, wenn der Beschuldigte damit einverstanden ist. Einen einseitigen Widerruf von Vgl. oben Fn. 53 sowie Dencker, NJW 1979, 2176, 2179 f; Rieß, 1979, 37, 39. Ggfs. kann es dann freilich noch zu einem sog. Feststellungsverfahren nach § 138c V StPO kommen. 72 Lüderssen, in: IJwe/Rosenberg, § 145 Rdn. 14. 7 3 BGH StV 1993, 566; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 145 Rdn. 7. 70 71
992
Jürgen Seier
Amts wegen zuzulassen wäre mit der Gleichstellungsfunktion nicht zu vereinbaren: Bei der Wahlverteidigung bleibt es ja auch dem Beschuldigten überlassen, ob er an dem „mangelhaften" Verteidiger festhält oder diesem das Mandat entzieht. Eine Abberufung gegen den Willen des Beschuldigten läßt sich auch nicht mit der Überlegung rechtfertigen, daß das Gericht mit dem Bestellungsakt eine besondere Verantwortung für die Qualität der Verteidigung übernommen habe 74 und es dementsprechend zumindest in Extremfällen gehalten sei, den Angeklagten nicht „ins offene Messer laufen" zu lassen. Selbst wenn man eine solche über die Beiordnung hinausgehende Fürsorgepflicht des Gerichts anerkennt, bleibt noch ein anderer Weg, der die Entscheidung des Beschuldigten respektiert. Gemeint ist die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers 75 , der die Defizite des ersten auszugleichen verspricht. Richtet sich das Fehlverhalten des Verteidigers an die Adresse des Gerichts (Störung der äußeren Ordnung, Konfliktverteidigung), gibt § 142 I StPO ebenfalls die Lösung vor. Der Widerruf ist dem Votum des Beschuldigten vorbehalten. Im übrigen kann das Gericht nur mit den dafür in der StPO explizit vorgesehenen Mitteln reagieren oder auf eine anwaltsgerichdiche Ahndung hinwirken. Übrig bleibt die Fallgruppe der Vertrauenskrise. Einem darauf gestützten Entpflichtungsantrag des Beschuldigten begegnet die Rechtsprechung generell mit unverhohlener Skepsis 76 . Dem Antrag gibt sie nur ausnahmsweise statt 77 . Das stellt die Wertung des § 142 I StPO auf den Kopf. Erklärt der Beschuldigte, er habe sein Vertrauen in den Pflichtverteidiger verloren, muß die Abberufung die Regel sein. Das Verlangen kann nur aus wichtigen Gründen zurückgewiesen werden, ζ. B. wenn sich abzeichnet, daß der Beschuldigte jedweden Beistand ablehnt und auch eine Kooperation mit einem anderen Verteidiger verweigern würde. Geht umgekehrt die Initiadve allein vom Pflichtverteidiger aus, während sich der Beschuldigte gegen eine Trennung sperrt, ist der Verteidiger grundsätzlich in dem Verfahren zu belassen. Ein wichtiger Grund, der die Entlassung dennoch erlaubt, wäre nur dann gegeben, wenn die Weiterführung des Pflichtmandats für den Verteidiger jenseits des Zumutbaren läge. In diese Richtung aber Vogelsang (Fn. 12), S. 135 f. Zu dieser Möglichkeit Kleinknecht/'Meyer-Goßner, § 141 Rdn. 1 a; vgl. ferner OLG Düsseldorf J Z 1986, 137; OLG Frankfurt NJW 1972, 1964. 7 6 Besonders deudich wird das in der Entscheidung BGHSt. 39, 310, 315 f. 7 7 Vgl. oben im Text unter II. 4. 74
75
Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung
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V. Ziehen wir ein knappes Fallit. Lange Zeit hindurch hat die Rechtsprechung daran festgehalten, daß der Widerruf aus wichtigem Grund gleichberechtigt neben den gesetzlichen Aufhebungsgründen steht. Die Widerrufslehre führte gewissermaßen ein Eigenleben, d. h. sie war eigenständigen Regeln unterworfen, die losgelöst und weitgehend unbeeinflußt von gesetzlichen Vorgaben waren. Erst der Durchbruch zu der Erkenntnis, daß die §§ 138a ff StPO für den Pflichtverteidiger gleichermaßen gelten, hat gezeigt, daß sich die Praxis, den Widerruf gänzlich vom Gesetz abzukoppeln, nicht aufrechterhalten läßt. Verfolgt man diesen Weg konsequent weiter, stünde am Ende eine Lösung, die das Widerrufsrecht insgesamt am Gesetz oder an gesetzlichen Wertungen festmacht. Das hätte zur Folge, daß dem Beschuldigten — in entsprechender Anwendung der §§ 142 I, 143 StPO — ein maßgebliches Mitspracherecht einzuräumen wäre. Seine Stellung als autonomes Prozeßsubjekt wäre damit auch bei der Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung gewährleistet.
Die neue polnische Strafprozeßordnung im Vergleich mit dem deutschen Strafprozeßrecht STANISLAW WALTOS
I. Es ist kein leichtes Unterfangen, verbindliche Aussagen über die aktuelle Entwicklungstendenz des Strafprozeßrechts in Europa zu machen — allzu disharmonisch sind die gesetzgeberischen Akdvitäten in den verschiedenen europäischen Staaten sowie die Entwicklungen der Rechtswissenschaft und der Rechtssysteme allgemein, und allzu vielfältig sind die Empfehlungen und Resolutionen, die auf den unterschiedlichen Kongressen und Symposien zum Thema des Strafprozeßrechts verabschiedet worden sind, von den Aktivitäten des Europarates, die voller Überraschungen und Inkonsequenzen sind, ganz zu schweigen. Trotzdem soll hier der Versuch unternommen werden, zunächst eine Skizze der wichtigsten Entwicklungstrends in Europa zu zeichnen und vor diesem Hintergrund die wesentlichen Merkmale der 1997 verabschiedeten neuen polnischen Strafprozeßordnung darzustellen. Folgende Tendenzen des Strafprozeßrechts lassen sich in Europa ausmachen: 1. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte ist ein ausgebautes internationales System des Menschenrechtsschutzes entstanden, angeführt von der Rechtsprechung der Straßburger und Genfer Organe. In diesem Sinne kann also von einer „Europäisierung" des materiellen und formellen Strafrechts sowie von gemeinsamen europäischen Standards gesprochen werden 1 . 2. Das Strafverfahren wird zunehmend konstitutionalisiert. Die früher teilweise als schockierend empfundene amerikanische Theorie und Praxis, die das Strafprozeßrecht als eine Sammlung detaillierter verfassungsrechtlicher Normen versteht, ist heute auch in Europa weit verbreitet; ebenso wie in Deutschland das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen der Gerichte aufgrund individueller Beschwerden von Bürgern auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung überprüft, untersucht das polniWeigend, ZStW 104 (1992), S. 486; Waltos, in: Problemy reformy prawa karnego (Probleme der Strafrechtsreform), Lublin 1993, S. 247. 1
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Stanislaw Waltos
sehe Verfassungsgericht die Übereinstimmung von Gesetzen und anderen normativen Akten mit der Verfassung. 3. Erweitert worden ist der Schutz der Rechte des Verletzten im Strafverfahren. Diese Entwicklung ist nicht nur auf den Einfluß der Viktimologie zurückzuführen, sondern auch auf die stärker werdende Uberzeugung, daß auch das Opfer einer Straftat seine Menschenrechte geltend machen kann. 4. Geringer geworden ist der Einfluß der Bewegung der „défense sociale nouvelle", wenn auch die Untersuchung der Persönlichkeit des Angeklagten nach wie vor ein wesentliches Element jedes modernen Strafprozeßsystems darstellt. 5. Zu beobachten ist eine „Selbstreduzierung" der Strafrechtspflege. Angesichts des raschen Anstiegs der Kriminalität und der damit einhergehenden Verlängerung der Strafverfahren sucht man nach Maßnahmen zur Vereinfachung und Beschleunigung des Prozesses. Vereinfachte und beschleunigte Arten des Verfahrens werden entwickelt, und man strebt eine konsensuale Erledigung von Strafverfahren an, mit der Folge einer „Reprivatisierung" des Strafprozesses 2 . Unter dem Einfluß des amerikanischen plea bargaining enwickeln sich auch in Europa verschiedene Formen von Absprachen, patteggiamento und ähnlichen konsensualen Erledigungsformen bei Delikten, die an sich durch öffentliche Anklage verfolgt werden 3 . 6. Zu den Formen der „Selbstreduzierung" der Strafjustiz gehört auch die Ausbreitung des Opportunitätsprinzips bzw. die Anerkennung immer neuer Ausnahmen vom Legalitätsgrundsatz 4 . 7. Zur besseren Bekämpfung der Organisierten Kriminalität werden neue, unkonventionelle Mittel eingeführt: Kronzeuge, anonymer Zeuge, Lauschangriff, Rasterfahndung 5 . 8. Die Institution des Untersuchungsrichters ist auf dem Rückzug, und sie wird in den Rechtsordnungen, die sie abgeschafft haben, nicht wiederbelebt. Eser, ZStW 104 (1992), S. 361. Weigend, Absprachen in ausländischen Strafverfahren, 1990; Herrmann, University of Pittsburgh Law Review 53 (1992), Heft 3; Lüdemann, EuroCriminology 1994, Bd. 7. 4 Tak, The Legal Scope of Non-Prosecution in Europe, Helsinki 1986, S. 43 ff. 5 Näher hierzu die Beiträge in: Hirsch/ Hofmanski/ Pfyivac^emki/Roxin, Neue Erscheinungsformen der Kriminalität in ihrer Auswirkung auf das Straf- und Strafprozeßrecht, Bialystok 1996. 2 3
Die neue polnische Strafprozeßordnung
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9. Auf dem europäischen Kontinent läßt sich eine „Hybridisierung" des Verfahrensmodells feststellen: Für das Ermittlungsverfahren bleibt das inquisitorische Modell erhalten, während das Hauptverfahren adversatorische Züge und verstärkt auch konsensuale Elemente erhält. 10. Die auch vom Europarat empfohlene Vereinfachung des Strafverfahrens, d. h. dessen radikale Beschleunigung und Ökonomisierung, schreitet voran; der Anwendungsbereich beschleunigter und vereinfachter Formen des Verfahrens dehnt sich aus. 11. Deutlich wird schließlich der Prozeß einer „Internationalisierung" von Strafrecht und Strafverfahren. Aufgrund immer neuer internationaler Übereinkünfte dringen völkerrechtliche Instrumente in diesen Bereich ein, und es kommt zu einer internationalen Standardisierung des Strafrechts. Darin liegt auch in gewisser Weise eine Antwort auf die Internationalisierung der Kriminalität. II. Der „Völkerherbst" in Mittel- und Osteuropa hat nicht nur die Ordnung von Jaita beendet und den früher zum sowjetischen Block gehörenden Staaten die Unabhängigkeit gebracht, sondern er hat auch zu einem grundlegenden Umbau der Rechtssysteme in diesen Ländern geführt. In Polen haben die Arbeiten an einer Reform des Straf- und Strafverfahrensrechts früher als in den übrigen Ländern des Sowjetblocks eingesetzt. Schon 1985 zeigte das politische System deutliche Spuren des Niedergangs. Um zu retten, was noch zu retten war, mußte das Regime immer weitere politische Konzessionen an die Bevölkerung machen. Aus einer Gesellschaft des Monologs sollte eine Gesellschaft des beschränkten Dialogs werden. Im Zuge dieser Veränderungen wurde bereits im Jahre 1987, also zwei Jahre vor dem Sturz des kommunistischen Systems, ein Ausschuß für die Reform des Strafrechts gegründet, der das Anliegen einer Rationalisierung und Humanisierung von Strafrecht, Strafverfahrensrecht und Strafvollzugsrecht verfolgen sollte. Im Zuge der politischen Wende veränderte sich die Zusammensetzung des Ausschusses: Einige Personen, die eng mit der bisherigen politischen Ordnung verbunden waren, verließen den Ausschuß, und es setzte sich eine „bilderstürmerische" Denkweise durch. Im Jahre 1989 beschloß man, das bisherige Strafgesetzbuch durch einen völlig neuen Kodex zu ersetzen. Von dem bisher geltenden Modell des Strafrechts und des Strafverfahrens vermochte man sich jedoch
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kaum zu lösen. Dies lag nicht nur daran, daß die meisten Mitglieder des Ausschusses ihre juristische Ausbildung unter dem früheren Regime absolviert hatten, sondern auch daran, daß sie sich persönlich und professionell bei dessen Verwirklichung und Verbreitung engagiert hatten. Wie kritisch wir unserer Umwelt auch gegenüberstehen mögen, dem prägenden Einfluß seiner Epoche kann sich kaum jemand entziehen. Erst im Jahre 1995 lagen die Gesetzentwürfe fertig vor. Es bedurfte dann noch zweier weiterer Jahre, bis der Sejm am 6. Juni 1997 die drei neuen Gesetzbücher (Strafgesetzbuch, Strafprozeßordnung und Strafvollzugsgesetzbuch) verabschiedete. Die Gesetzbücher sollten ursprünglich am 1. Januar 1998 in Kraft treten; später wurde als endgültiger Termin der 1. September 1998 festgesetzt. Schon auf den ersten Blick ist zu erkennen, daß die Struktur der neuen polnischen Strafprozeßordnung von 1997 derjenigen der ersten polnischen Strafprozeßordnung von 1928 sehr ähnlich ist. Dies kann nicht überraschen, da auch sämtliche Reformen des Strafverfahrensrechts nach 1945 und insbesondere die Schaffung der Strafprozeßordnung von 1969 vor dem Hintergrund der StPO von 1928 stattfanden und sich an diese anlehnten. Es wurden also verschiedene Vorschriften bis auf den heutigen Tag „weitervererbt" — sei es, daß sie sich bewährt hatten und deshalb unumstritten waren; sei es, daß sie nur gelegentlich zur Anwendung kamen und deswegen nicht zum Gegenstand von Kritik werden konnten. Es ist also ein Grundstock an Vorschriften über die Zuständigkeit der Gerichte, die Ausschließung und Ablehnung von Richtern und Staatsanwälten, den öffentlichen Ankläger, den Verletzten, den Privatkläger, den Zivilkläger (Adhäsionskläger), ferner über Fristen, Zustellungen und Wiederherstellung von Akten erhalten geblieben. Darüber hinaus finden sich auch weitere Vorschriften, die auf die StPO von 1928 zurückgehen, inhaltlich jedoch wesentlich geändert wurden 6 . Derselbe Traditionalismus zeichnet auch das deutsche Strafverfahrensrecht aus — die StPO von 1877 hat in ihrer Struktur kaum Veränderungen erfahren. Geändert hat sich lediglich der Inhalt einzelner Bücher, und das deutsche Strafprozeßrecht ist um zusätzliche Gesetze sowie aufgrund internationaler Ubereinkommen erweitert worden. Auch die deutsche Strafprozeßordnung enthält viele Vorschriften, die ihre ursprüngliche Gestalt erhalten haben; es überwiegen allerdings neue oder stark umgestaltete Regelungen.
6 Näher dazu Waltos, in: Nowy kodeks postçpowania karnego — zagadnienia wçztowe (Die neue Strafprozeßordnung - Schlüsselprobleme), Krakau 1998, S. 7 ff.
Die neue polnische Strafprozeßordnung
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Die Ursprünge beider Gesetze liegen weit in der Vergangenheit, in ihrem Inhalt spiegelt sich jedoch die Gegenwart. Dies gilt trotz der scheinbar ununterbrochenen Kontinuität der deutschen Strafprozeßordnung seit 1877 und trotz ihrer heute schon etwas archaisch anmutenden Struktur. Im Ersten Buch formuliert die deutsche StPO nämlich nicht allgemeine Strafprozeßmaximen, sondern sie enthält dort lediglich Bestimmungen über Gerichte, Entscheidungen, Fristen, Beweise und Sicherungsmaßregeln. Die entsprechenden Regelungen sind in der polnischen Strafprozeßordnung auf mehrere Kapitel verteilt. In der deutschen StPO fehlt es auch an Vorschriften über das Verfahren in Strafsachen mit internationalem Charakter. Während das deutsche Gesetz in seiner heutigen Gestalt das Ergebnis zahlreicher Reformen und Veränderungen innerhalb der letzten 120 Jahre seiner Geltung darstellt, ist die neue polnische Strafprozeßordnung die Frucht des Versuches, einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise der Strafjustiz zu finden7. Hinsichtlich vieler sachlicher Fragen werden die Akzente im deutschen und polnischen Strafverfahrensrecht unterschiedlich gesetzt, und auch die Gesetzgebungstechnik ist verschieden (die Regelungen der polnischen StPO sind allgemeiner gehalten, während sich die deutschen durch eine detailreiche Fassung auszeichnen). An dieser Stelle ist daran zu erinnern, daß die deutsche Strafprozeßordnung in ihrer Fassung nach der Emminger-Reform eines der wichtigsten Vorbilder für die polnische StPO von 1928 dargestellt hat 8 . Daher lassen sich in der polnischen StPO auch viele Prozeßinstitute deutscher Herkunft finden, wie ζ. B. die Vorschriften über die Zeugenvernehmung, die Zeugnisverweigerungsrechte sowie die Ausschließung und Ablehnung von Richtern. Aber auch hier liegt keineswegs eine Identität der Rechtsnormen vor. Die politisch unterschiedliche Entwicklung in beiden Ländern hat notwendigerweise zu gravierenden Unterschieden geführt, und dies trotz der gemeinsamen Zugehörigkeit zum kontinentalen Modell des Strafverfahrens. III. Bei der Darstellung der neuen polnischen Strafprozeßordnung ist von den Prozeßgrundsätzen auszugehen. In der deutschen StPO werden nur 7 Kennzeichnend für diese Krise ist in erste Linie die Hilflosigkeit von Staatsanwaltschaft und Justiz gegenüber der steigenden Kriminalität und ihren komplizierteren und bedrohlicheren Formen; vgl. Siemas:(ko (Hrsg.), Quo vadis Warschau 1996. 8 In der Begründung zum Entwurf der polnischen StPO von 1926 wird wieder auf die deutsche StPO verwiesen.
Polizei, immer iustitia, immer
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vier Prozeßgrundsätze ausdrücklich angesprochen, nämlich der Anklagegrundsatz (§§ 151, 155, 264 d.StPO), das Offizialprinzip (§ 152 I d.StPO), das Legalitätsprinzip (§ 152 II d.StPO) und die Instruktionsmaxime (§§ 155, 244 II d.StPO) 9 . Die übrigen Prinzipien werden entweder unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet oder sind im Gerichtsverfassungsgesetz, in der Europäischen Menschenrechtskonvention oder in anderen Einzelvorschriften enthalten. Ganz anders ist insoweit die Rechtslage in Polen. Die Mehrheit der Verfahrensgrundsätze ist parallel in der Verfassung von 1997 und in der StPO enthalten. Dies gilt für die Instruktionsmaxime (Art. 2 § 1, 2 p.StPO; Art. 45 Verf.), den fair /^/-Grundsatz (Art. 16 p.StPO; Art. 45 Verf.), das Prinzip der Objektivität (Art. 4 p.StPO; Art. 45 Verf.), die Unschuldsvermutung (Art. 5 § 1 p.StPO; Art. 42 Verf.), das Recht auf Verteidigung (Art. 6 p.StPO; Art. 42 Verf.), den Öffentlichkeitsgrundsatz (Art. 355 p.StPO; Art. 45 Verf.) und den Grundsatz des Parteiverfahrens (Art. 14 § 1 p.StPO; Art. 77 II Verf.). Hinzu kommen die strafprozessualen Grundsätze, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthalten sind. Manche Prozeßgrundsätze finden sich ausschließlich in der StPO, wie etwa der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 7 p.StPO), das Prinzip „in dubio pro reo" (Art. 5 § 2 p.StPO) und das Legalitätsprinzip (Art. 10 p.StPO). Nur zwei wichtige Prozeßgrundsätze werden nicht ausdrücklich erwähnt, sondern aus anderen Vorschriften abgeleitet, nämlich das Unmittelbarkeitsprinzip und das Recht auf den gesetzlichen Richter. IV. Die neue polnische Strafprozeßordnung ist nicht nur von der Tradition geprägt, sondern stellt auch einen Kompromiß zwischen Postulaten der Lehre und den bitteren Notwendigkeiten der Praxis dar. So findet sich etwa in Art. 2 § 1 p.StPO das auf Art. 6 I E M R K beruhende Gebot, das Verfahren so zu führen, daß es innerhalb einer angemessenen Frist abgewickelt und entschieden werden kann. Die Erreichung dieses Ziels dürfte allerdings alles andere als einfach sein, denn die neue Strafprozeßordnung hat die Befugnisse der Prozeßparteien stark erweitert, und deren Realisierung kann viel Zeit in Anspruch nehmen. Zwar hält die neue polnische Strafprozeßordnung ausdrücklich am Legalitätsprinzip fest, es wurden aber einige nicht unwesentliche Ausnahmen eingeführt. Deren Ziel besteht darin, Polizei, Staatsanwaltschaft 9
Roxin, Strafverfahrensrecht, 21. Aufl. 1989, S. 59.
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und Gerichte von der Pflicht zur Verfolgung solcher Straftaten zu befreien, deren Gesellschaftsschädlichkeit unerheblich ist, und ihnen so mehr Zeit für die Verfolgung schwererer Straftaten zu geben. In erster Linie ist auf Art. 1 § 2 p.StGB hinzuweisen, nach dem eine verbotene Tat, deren Gesellschaftsschädlichkeit geringfügig ist, keine Straftat darstellt. Diese Vorschrift enthält die sog. materielle Definition der Straftat, die aus dem Rechtssystem des „real existierenden" Sozialismus übernommen wurde. Der Begriff der materiellen Rechtswidrigkeit 10 stammt zwar aus Deutschland, das deutsche Strafrecht enthält jedoch keine entsprechende Regelung. In Polen wurde der bisher geltende Begriff der „Gesellschaftsgefährlichkeit" durch denjenigen der „Gesellschaftsschädlichkeit" ersetzt. Die Änderung der Terminologie soll, wie der Begründung des StGB-Entwurfs zu entnehmen ist, in erster Linie darauf hinweisen, daß sich das polnische Strafrecht verändert hat, und nicht eine neue inhaltliche Bestimmung bedeuten 11 . Der Begriff der Gesellschaftsschädlichkeit ermöglicht ebenso wie sein Vorgänger das Aussondern von leichteren Fällen aus dem Strafverfahren. Die Geringfügigkeit der Gesellschaftsschädlichkeit stellt eine negative Prozeßvoraussetzung dar (Art. 17 § 1 Nr. 3 p.StPO). Der Begriff der geringfügigen Gesellschaftsschädlichkeit erlaubt faktisch eine weitgehende Anwendung des Opportunitätsgrundsatzes, was durchaus als bedenklich erscheinen kann. In der Sache steht die polnische Konzeption der deutschen Regelung des § 153 d.StPO nahe. Entsprechungen zu §§ 153c, 153d und 154 a d.StPO finden sich im polnischen Strafprozeßrecht nicht. Die in § 153a d.StPO geregelte bedingte Verfahrenseinstellung ist dem polnischen Strafprozeßrecht bereits seit 1969 vertraut. Bisher wurde sie im Ermittlungsverfahren vom Staatsanwalt und im Hauptverfahren vom Gericht angewandt (Art. 27 p. StGB 1969). Die neue polnische Strafprozeßordnung begründet eine ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts. Anders als in Deutschland ist das Gericht in Polen auch nicht an die Zustimmung der Staatsanwaltschaft gebunden. Eine Neuerung, die auf § 154 d.StPO zurückgeht, ist die sog. Absorptionseinstellung nach Art. 11 §§ 1, 2 p.StPO. Nach dieser Vorschrift Roxin, Strafrecht, Allg. Teil, Bd. I, 3. Aufl. 1997, S. 507. In der Begründung zum StGB-Entwurf 1995 hieß es, daß der Begriff der Gesellschaftsgefáhrlichkeit mit ideologischen und politischen Inhalten belastet sei; außerdem sei er bisher so ausgelegt worden, daß in ihn auch die bisherige Lebensführung des Täters sowie seine strafrechdiche Vorbelastung einbezogen wurden; vgl. Nowe kodeksy karne ζ 1997 ζ uzasadnieniem (Neue Strafgesetze von 1997 mit Begründung), 1997, S. 117 f; Bttchaia/Zoll, Kodeks karny. Czçsc ogólna (Strafgesetzbuch, Allgemeiner Teil), Krakau 1998, S. 13. 10 11
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kann das Verfahren wegen eines mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedrohten Vergehens eingestellt werden, wenn der Täter bereits wegen einer anderen Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist, die hierfür verhängte Strafe die Verhängung einer weiteren Strafe als unzweckmäßig erscheinen läßt und das Interesse des Verletzten nicht entgegensteht. Wenn die Strafzwecke durch die bereits verhängte Strafe erfüllt werden, wird also ein einziges Verfahren als ausreichend angesehen. Ist das Verfahren wegen der ersten Tat noch nicht rechtskräftig abgeschlossen, so kann das neue Verfahren vorläufig eingestellt werden, bis die Entscheidung aus dem früheren Verfahren rechtskräftig geworden ist. Das Konzept der „Absorptionseinstellung" ist erst im Laufe der Beratungen im parlamentarischen Unterausschuß aufgetaucht. V.
Wesentlich erweitert worden sind die Befugnisse des Angeklagten. Vor allem wurde die an die französische loi Constans von 1897 und an die US-amerikanische Miranda-Entscheidung anknüpfende Regelung eingeführt, wonach jeder Beschuldigte vor seiner Vernehmung über das ihm zustehende Recht auf die Verweigerung einer Erklärung oder Aussage hinzuweisen ist (Art. 175 § 1 p.StPO). Vor der ersten Vernehmung ist der Beschuldigte außerdem darüber zu belehren, daß er Beweisanträge stellen und die Hilfe eines Verteidigers in Anspruch nehmen kann, ferner darüber, daß er die Anwesenheit des bestellten Verteidigers bei seiner Vernehmung beanspruchen kann. Diese Belehrung ist dem Beschuldigten schriftlich gegen Empfangsbescheinigung zu überreichen (Art. 300 p.StPO). Während der Umfang der vorgeschriebenen Belehrung in Polen weitgehend dem deutschen § 136 d.StPO entspricht, sind die Folgen einer unzureichenden oder fehlenden Belehrung in Polen anders geregelt, wenngleich sie sich im Ergebnis nicht wesentlich von der deutschen Rechtslage unterscheiden. In Polen sieht das Gesetz ausdrücklich die Nichtigkeit der Vernehmung vor, wenn der Beschuldigte nicht hinreichend belehrt worden ist; in Deutschland folgt die Unverwertbarkeit einer Vernehmung in diesem Fall im wesentlichen aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 12 . Befindet sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft, so kann im Ermitdungsverfahren und im Untersuchungsverfahren der Staatsanwalt während der ersten 14 Tage der Haft in besonders begründeten Fällen anordnen, daß der Beschul1 2 Siehe Hatchard/Huber/Vogler (Hrsg.), Comparative Criminal Procedure, London 1996, S. 118.
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digte nur im Beisein eines Dritten mit seinem Verteidiger sprechen kann und daß auch seine Korrespondenz mit ihm kontrolliert wird (Art. 73 § § 2 — 4 p.StPO). Darin liegt ein bedeutender Unterschied gegenüber der bisherigen Rechtslage, nach der der unüberwachte Kontakt des Beschuldigten mit seinem Verteidiger bis zum Ende des Ermittlungsverfahrens von der Zustimmung des Staatsanwalts abhängig war. Eine ähnliche Regelung gilt in Deutschland für Fälle von terroristischen Straftaten (§ 148 II d.StPO i.V. m. § 129a d.StGB). Der Katalog der Fälle notwendiger Anwesenheit eines Verteidigers wurde erweitert: Ein Verteidiger muß anwesend sein, wenn der Beschuldigte der polnischen Sprache nicht mächtig ist oder wenn das Gericht die Mitwirkung eines Verteidigers im Hinblick auf Umstände, die die Verteidigung erschweren können, als unentbehrlich ansieht (Art. 78 §§ 1, 2 p.StPO). Andererseits wurde die notwendige Verteidigung in Verfahren wegen Verbrechen oder mit Untersuchungshaft vor dem Wojewodschaftsgericht (das dem deutschen Landgericht entspricht) wesentlich eingeschränkt. Ein deutlicher Unterschied zwischen dem deutschen und dem polnischen Recht besteht für den Fall, daß die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten zweifelhaft ist. Nach Art. 79 § 1 Nr. 3 p.StPO ist die Mitwirkung eines Verteidigers schon dann notwendig, wenn begründete Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten bestehen; die Notwendigkeit besteht selbst dann bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens fort, wenn ein Sachverständiger festgestellt hat, daß der Angeklagte zurechnungsfähig ist (Art. 79 § 4 p.StPO). Diese Vorschrift nimmt die Rechtsprechung des Obersten Gerichts auf 13 . Danach ist sehr häufig von Amts wegen ein Verteidiger zu bestellen, auch wenn die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten später nicht mehr in Frage gestellt wird. In diesen Fällen werden die Kosten der Verteidigung von der Staatskasse getragen, wenn sie nicht der Angeklagte übernimmt (Art. 29 Gesetz über die Rechtsanwaltschaft, Dz.U. 16, Pos. 187). Die deutsche StPO ist in diesem Punkt weit zurückhaltender; nach § 140 I Nr. 6 d.StPO ist die Mitwirkung eines Verteidigers lediglich dann notwendig, wenn die Unterbringung des Beschuldigten in einer psychiatrischen Anstalt zur Vorbereitung eines Gutachtens über seinen psychischen Zustand in Frage kommt.
13 Vgl. Doda/Gaberle, Dowody w procesie karnym. Orzecznictwo S?du Najwyzszego. Komentarz, t. I (Beweise im Strafprozeß. Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs. Kommentar, Bd. I), Warschau 1995, S. 128.
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VI. Die neue polnische Strafprozeßordnung hat auch die Rechte des Verletzten ausgebaut. Neben der bereits früher bestehenden Berechtigung zur Subsidiärklage wird ihm nun auch das Recht zur Nebenklage in allen Strafsachen gewährt. Außerdem sind zahlreiche für den Beschuldigten günstige Entscheidungen (ζ. B. die bedingte Einstellung des Strafverfahrens und die Verurteilung ohne Verfahren) nur nach vorheriger Anhörung des Verletzten zulässig. In manchen Fällen ist sogar eine Zustimmung des Verletzten erforderlich; dies gilt etwa für die Verurteilung des Angeklagten in einem stark abgekürzten Verfahren (Art. 387 § 2 p.StPO). Im Ermittlungsverfahren kann der Verletzte an den Ermittlungsmaßnahmen beteiligt werden. Über die Anklageerhebung ist er zu informieren. In der Hauptverhandlung hat der Verletzte auch dann ein Anwesenheitsrecht, wenn er später als Zeuge vernommen werden soll 14 . Die wichtigsten Änderungen betreffen den Bereich der Wiedergutmachung des durch die Straftat verursachten Schadens. Das neue polnische Strafgesetzbuch verpflichtet das Gericht dazu, auf — auch ganz informellen — Antrag des Verletzten die Wiedergutmachung des Schadens durch den Täter anzuordnen, wenn eine Verurteilung wegen Tötung oder schwerer Gesundheitsschädigung oder wegen einer Straftat gegen das Vermögen, gegen die Umwelt, gegen den Wirtschaftsverkehr oder gegen die Sicherheit des Straßenverkehrs erfolgt (Art. 46 § 1 p.StGB). Falls sich die Höhe des Schadens nicht sicher feststellen läßt, hat das Gericht eine Buße zugunsten des Verletzten zu verhängen, um diesem eine finanzielle Wiedergutmachung für einen erlittenen Gesundheitsschaden und das sonstige ihm zugefügte Unrecht zu gewähren (Art. 46 § 2 p.StGB). Auch zwei in der Praxis häufig angewandte Sanktionsformen sind nunmehr eng an die Wiedergutmachung des Schadens gebunden: Bei der bedingten Einstellung des Strafverfahrens (Art. 67 § 3 p.StGB) muß, bei der Strafaussetzung zur Bewährung (Art. 72 § 2 p.StGB) kann das Gericht dem Täter die Wiedergutmachung des Schadens auferlegen. Wenn der Täter den Schaden wiedergutgemacht hat, kann er die bedingte Verfahrenseinstellung auch in solchen Fällen erreichen, in denen sie sonst nicht zulässig ist, nämlich dann, wenn die begangene Tat mit Freiheitsstrafe zwischen drei und fünf Jahren bedroht ist (die „normale" Obergrenze für die bedingte Verfahrenseinstellung liegt bei Strafdrohungen von drei Jahren). Ebenso wie bestimmten Re14 Nähet dazu Skrçtowiaç/Nowikomki/Dutka/Kruk,, S. 63 ff.
in: Nowy kodeks (Anm. 6),
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gelungen des deutschen Rechts (§ 46a d.StGB, § 153a d.StPO) liegt dem neuen polnischen Recht die Maxime „Wiedergutmachung statt Strafe" zugrunde 15 . Freilich ist diese Maxime in den beiden Rechtsordnungen in unterschiedlicher Weise verwirklicht worden. Auch die Geltendmachung seiner Rechte im Adhäsionsverfahren ist dem Verletzten durch die neue polnische Gesetzgebung erleichtert worden. Insbesondere ist er zeitweise von der Zahlung der Kosten des erstund zweitinstanzlichen Verfahrens befreit (Art. 642 p.StPO), und sein Recht zur Einlegung eines Rechtsmittels (Appellation) ist nicht mehr davon abhängig, daß auch eine andere Verfahrenspartei Rechtsmittel einlegt. Ferner verfügt das Gericht über die Möglichkeit, auch ohne Antrag des Verletzten dessen Entschädigung anzuordnen (Art. 415 § 5 p.StPO). Es ist jedoch nicht anzunehmen, daß von dieser Möglichkeit sehr häufig Gebrauch gemacht wird. Eine weitere Verbesserung der Position des Verletzten ist für den Fall zu erwarten, daß die — unten zu besprechenden — Möglichkeiten eines konsensualen Verfahrensabschlusses in der polnischen Praxis Wurzeln schlagen.
VII. Zahlreiche Neuerungen finden sich im Beweisrecht. Das bisher geltende, sehr allgemein formulierte Verbot der Verwertung von Erklärungen, die unter Verhältnissen abgegeben wurden, unter denen eine freie Äußerung nicht gewährleistet war (Art. 157 § 2 p.StPO 1969, auf dessen Inhalt § 136a d.StPO nicht ohne Einfluß war 16 ), wurde ausgebaut und verschärft. Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, legt die neue Strafprozeßordnung nunmehr fest, daß nicht nur die Beeinflussung der Aussage durch Gewalt oder rechtswidrige Nötigung unzulässig ist, sondern auch der Einsatz von Hypnose sowie von chemischen oder technischen Mitteln, die geeignet sind, die psychischen Prozesse bei der vernommenen Person zu beeinflussen oder die unbewußten, mit der Vernehmung zusammenhängenden Reaktionen des Körpers zu kontrollieren (Art. 117 § 4 p.StPO). Mit dieser Formulierung hat der Gesetzgeber den Streit um die Zulässigkeit des Lügendetektors endgültig entschie-
15 Vgl. Jung, Die Stellung des Verletzten im Strafprozeß, in: Recht und Gesetz im deutsch-französischen Dialog, 1996, S. 218. 16 Waltos, Pañstwo i Prawo 1975, Nr. 10, S. 63.
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den 17 . Das in Art. 117 § 4 p.StPO enthaltene Verbot bedeutet jedoch nicht, daß Lügendetektoren im Strafverfahren überhaupt nicht verwendet werden dürften; zulässig ist ihr Einsatz bei der Untersuchung durch Sachverständige. Die neue Strafprozeßordnung enthält nicht den Grundsatz, daß die Verwendung einer „fruit of the poisoned tree" verboten sei. Daraus ist zu schließen, daß in Polen ebenso wie in Deutschland ein mittelbar durch Rechtsverletzung erlangtes Beweismittel verwertbar ist. Ob die Tatsache, daß der deutsche Bundesgerichtshof gelegentlich auf die Doktrin der „fruit of the poisoned tree" Bezug nimmt, eine neue Linie der Rechtsprechung einleitet, vermag ich nicht zu beurteilen 18 . Nach Art. 176 § 1 p.StPO ist dem Beschuldigten auf Verlangen die Möglichkeit einzuräumen, Erklärungen in schriftlicher Form abzugeben, es sei denn, wichtige Gründe sprechen dagegen. Weitere Neuerungen sind die Einführung des anonymen Zeugen (Art. 148 § § 1 - 6 p.StPO), die Möglichkeit, die Wohnanschrift eines Zeugen auf dessen Verlangen geheimzuhalten (Art. 191 § 3 p.StPO), die Einführung von „Spezialisten" (dies sind keine Sachverständigen, sondern Augenscheinsgehilfen, die bei der Vornahme von Augenschein, Experimenten, Durchsuchungen oder Beschlagnahmen Gegenstände messen, Rechnungen durchführen, Lichtbilder machen usw.; Art. 205 f. p.StPO) 19 sowie die Möglichkeit, aus dem Lebenskreis des Beschuldigten Erkundigungen einzuholen (Art. 2 1 3 - 2 1 5 p.StPO). Die Kontrolle von Telefongesprächen ist nunmehr auch mit Hilfe von Radio-Abhörgeräten zulässig. Andererseits können Telefonüberwachungen jetzt grundsätzlich nur noch vom Gericht genehmigt werden und sind auf bestimmte, in der StPO enumerativ aufgeführte Straftaten sowie auf bestimmte Fristen beschränkt (Art. 2 3 7 - 2 4 2 p.StPO). Außerhalb der Strafprozeßordnung bleiben dagegen Ermitdungsmaßnahmen wie der Datenabgleich zur Aufklärung von Straftaten, die verdeckte Ermittlung, der Schein-Ankauf (der im Grunde eine polizeiliche Provokation darstellt) sowie das Abhören von Gesprächen, die nicht mit dem Strafverfahren verbunden sind. All diese Maßnahmen sind in Art. 19 — 20 Polizeigesetz von 1990 oder in Art. 10 — 11 Gesetz über das Amt für den Staatsschutz geregelt und bedürfen der Anordnung des 1 7 Für einen beschränkten Einsatz des Lügendetektors hatten sich neben dem Obersten Gerichtshof Waltos, Widacki und W. Das^kiemcs^ ausgesprochen; anderer Ansicht waren Cieslak, Doda, Krussgnski und Skr^towic^. Näher hierzu Doda/Gaberle (Anm. 13), S. 201. 1 8 Vgl. Hatchard/Huber/Vogler (Anm. 12), S. 156. 19 Dem „Spezialisten" steht im deutschen Recht wohl der „sachverständige Zeuge" (§ 85 d.StPO) am nächsten.
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Innenministers im Einvernehmen mit dem Justizminister (der gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist). Obwohl in den angeführten Gesetzen von der Vornahme dieser Handlungen zur Feststellung und Sicherung von Beweisen die Rede ist, dürfen ihre Ergebnisse im Strafverfahren nicht als strikte Beweise verwertet werden. Zulässig ist jedoch die Vernehmung der Beamten, die die Maßnahmen durchgeführt haben, als Zeugen. Die entsprechende Praxis ist auch in Deutschland bekannt, wird jedoch dort von der Wissenschaft kritisiert. Endgültig entschieden hat der Gesetzgeber den heftigen Streit um die Grenzen des Berufsgeheimnisses 20 . Es werden nunmehr drei Stufen von Berufsgeheimnissen unterschieden. Auf der ersten Stufe steht das allgemeine Berufsgeheimnis, ζ. B. von Psychologen und Apothekern. Hier entscheiden Gericht oder Staatsanwaltschaft über die Befreiung von der Geheimhaltungspflicht (Art. 180 § 1 p.StPO). Auf der zweiten Stufe stehen die Berufsgeheimnisse des Rechtsanwalts und des Arztes. Hier kann nur das Gericht von der Geheimhaltungspflicht befreien, wenn dies für die Zwecke der Justiz unentbehrlich ist und der fragliche Umstand nicht durch anderer Beweise festgestellt werden kann (Art. 180 § 2 p.StPO). Auf der dritten Stufe steht das Berufsgeheimnis der Journalisten. Hier gelten dieselben Voraussetzungen wie bei der zweiten Stufe, doch erstreckt sich eine Befreiung von der Geheimhaltungspflicht nicht auf solche Informationen, mit deren Hilfe der Informant oder die Informationsquelle identifiziert werden kann, es sei denn, die Information betrifft eine meldepflichtige Straftat, ζ. B. eine Tötung (Art. 180 § 3 - 5 p.StPO). VIII. Hinsichtlich des Vorverfahrens unterscheidet das polnische Recht traditionell zwischen dem Untersuchungs- und dem Ermitdungsverfahren. Daran wurde festgehalten. Schon seit 1949 ist allerdings die Institution des Untersuchungsrichters aufgehoben. Im Falle von Verbrechen und anderen schwerwiegenden Straftaten wird die Untersuchung durch den Staatsanwalt geleitet, wobei allerdings die Beweisaufnahme überwiegend (d. h. in 85 % der Fälle) von Polizeibeamten durchgeführt wird. Dem Gericht stehen im Untersuchungsverfahren dieselben Befugnisse zu, wie sie der Ermitdungsrichter in Deutschland besitzt. 2 0 Siehe hierzu Doda/Gaberle (Anm. 13), S. 236 ff; Goslyñski, Tajemnica dziennikarska a obowijzek skladania zeznañ w procesie karnym (Das Zeugnisverweigerungsrecht der Journalisten im Strafprozeß), Supplement, 1997, S. 3 - 6 .
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Das Ermittlungsverfahren ist Sache der Polizei, die dabei jedoch unter staatsanwaltschaftlicher Aufsicht steht. Ein Relikt des alten Systems ist die Befugnis von Staatsanwaltschaft und Polizei, über Ergebnisse der Ermitüungen im Untersuchungs- und Ermitdungsverfahren Protokolle aufzunehmen. Unter bestimmten Voraussetzungen können diese Protokolle im Hauptverfahren verlesen und damit zur Grundlage des Urteils werden. Da sich Ermitdung und Untersuchung formal und in ihrer Beweiskraft nicht unterscheiden, hätte sich die Beseidgung der Zweiteilung des Vorverfahrens, wie sie in Deutschland und Italien längst durchgeführt wurde, angeboten. Die neue Strafprozeßordnung läßt es zu, das Ermittlungsverfahren auf die Feststellung zu beschränken, ob eine hinreichende Grundlage für die Erhebung der Anklage vorhanden ist, und befugt darüber hinaus die Polizei zum Verzicht auf die Protokollierung der meisten Ermittlungshandlungen (Art. 139 § 1 StPO); es ist jedoch zu bezweifeln, ob die Polizei von diesen Vereinfachungsmöglichkeiten Gebrauch machen wird. In der Hauptverhandlung ist nämlich die Verlesung bloßer Notizen nicht zulässig - nur das Protokoll zählt. Daher wird wohl jeder Polizist, der sich die gerichtliche Vernehmung als Zeuge ersparen will, weiterhin über jede Ermitdungshandlung ein Protokoll aufnehmen. Das Gericht verfügt im Vorverfahren über weitreichende Befugnisse. Zuständig ist der Einzelrichter beim Kreis- oder Wojewodschaftsgericht, je nachdem, welches Gericht im ersten Rechtszug für die Aburteilung des Falles zuständig ist. In Deutschland ist dagegen der Ermitdungsrichter stets ein Richter am Amtsgericht, auch wenn die Sache zur Zuständigkeit des Landgerichts gehört. Die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters beim Oberlandesgericht oder beim Bundesgerichtshof (§ 169 d.StPO) ist lediglich eine (fakultative) Ausnahme von dieser Regel. Nach der polnischen Strafprozeßordnung ist das Gericht u. a. zuständig für die Anordnung von Untersuchungshaft, für die Entscheidung über Beschwerden gegen den Beschluß über die Einstellung des Vorverfahrens, für die Befreiung von der ärztlichen, journalistischen und anwaltlichen Geheimhaltungspflicht, für die Anordnung von Telefonüberwachung sowie für den Beschluß über die bedingte Einstellung des Strafverfahrens. Anders als die deutsche Strafprozeßordnung (vgl. §§ 162, 168a, 168c, 168d d.StPO) sieht das polnische Gesetz keine richterlichen Untersuchungshandlungen vor, bis auf zwei Ausnahmen: Vor der Anordnung von Untersuchungshaft muß das Kreisgericht den Beschuldigten vernehmen (Art. 249 § 3 p.StPO); ist zu befürchten, daß ein Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann, so kann ein am Vorverfahren beteiligtes Organ (ζ. B. auch die Polizei) die gerichtliche Vernehmung des Zeugen beantragen (Art. 316 § 3 p.StPO).
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IX. Die Hauptverhandlung vor dem Gericht des ersten Rechtszuges unterscheidet sich in Polen und Deutschland hinsichtlich ihrer Struktur nur geringfügig. Die dominierende Position des Vorsitzenden bei der Beweisaufnahme hat nach bisherigem Recht die dynamische Rolle der Verfahrensparteien stark eingeschränkt. In diesem Punkt führt das neue polnische Recht eine geradezu revolutionäre Änderung nach ausländischem (schwedischem, italienischem und japanischem) Vorbild ein: Nachdem ein Zeuge oder Sachverständiger seine Angaben gemacht hat, können ihm durch die Prozeßparteien Fragen gestellt werden, und zwar zuerst durch den öffendichen Ankläger, dann durch den Nebenkläger, den Privatkläger, den Zivilkläger und seinen Bevollmächtigten, den Sachverständigen, den Verteidiger und den Angeklagten. Stets stellt diejenige Prozeßpartei, die die Vernehmung des Zeugen beantragt hatte, ihre Fragen zuerst. Zuletzt sind die Mitglieder des Gerichts an der Reihe; diese dürfen jedoch jederzeit Zusatzfragen stellen (Art. 370 § 3 p.StPO). Auf diese Weise will der polnische Gesetzgeber der Forderung nach einem kontradiktorischen Charakter der Hauptverhandlung entsprechen 21 . Von der deutschen Lehre sind ähnliche Forderungen erhoben worden 22 ; sie warten jedoch noch auf ihre Verwirklichung. Zwar sieht auch die deutsche Strafprozeßordnung die Möglichkeit vor, daß den Parteien auf deren übereinstimmenden Antrag die Vernehmung von Zeugen überlassen wird (§§ 239, 241 d.StPO), in der Praxis kommt diese Vorschrift jedoch nicht häufig zur Anwendung. Es scheint also nach wie vor die Meinung vorzuherrschen, daß ein System der Vernehmung, „in dem die gesamte Zeugenvernehmung von der Staatsanwaltschaft und dem Verteidiger erledigt wird, nicht in die Struktur des deutschen Strafprozesses paßt, weil es den Vorsitzenden aus der Verhandlungsleitung verdrängt" 23 . Eine fundamentale Neuerung liegt in der Einführung konsensualer Erledigungsformen. Im vorliegenden Rahmen kann ich auf die in Polen vorgetragenen Argumente für und gegen urteilsbezogene Absprachen, wie sie erstmals bei einer Konferenz in Poznan im Jahre 1992 vorgetragen wurden, nicht näher eingehen. Bei dieser Konferenz wurden Ergebnisse von empirischen Untersuchungen vorgelegt, die zeigten, daß die 21
Siehe Waltos, Pañstwo i Prawo 1981, Nr. 3, S. 37; Kaftal, Studia Iuridica 13 (1985),
S. 17. 22 So etwa von Herrmann, Roxin, Dahs, Henrich und Dötting, näher dazu Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 271. 23 Rexin, Strafverfahrensrecht, S. 272.
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Praxis der Absprachen auch polnischen Gerichten nicht fremd ist. Die meisten Teilnehmer der Konferenz sprachen sich für eine gesetzliche Regelung der einvernehmlichen Verfahrenserledigung aus 24 . In dem StPO-Entwurf von 1995 war erstmals die Möglichkeit enthalten, Absprachen hinsichtlich der Erledigung von Straftaten zu treffen, die durch öffentliche Anklage verfolgt werden. Im Laufe der parlamentarischen Arbeiten wurde diese Möglichkeit noch ausgebaut. Auf die Entscheidung des Gesetzgebers waren zwei Umstände sicher nicht ohne Einfluß: Absprachen können wesentlich zu einer Beschleunigung des Verfahrens und zur Endastung der derzeit überforderten Gerichte beitragen 25 ; und Absprachen können den Interessen des Verletzten dienen, soweit sie mit der Verpflichtung zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens verbunden werden. Eine Sonderform der Absprache ist das Mediationsverfahren, das im Zuge des Vorverfahrens stattfindet. Nach Art. 320 § 1 p.StPO kann der Staatsanwalt auf Verlangen oder mit Zustimmung der Prozeßparteien den Fall an eine vertrauenswürdige Institution oder Person zur Durchführung einer Mediation zwischen dem Beschuldigten und dem Verletzten überweisen. Falls allerdings keine Aussicht auf eine erfolgreiche Erledigung besteht, kann der Staatsanwalt auf ein von den Parteien vorgeschlagenes Mediationsverfahren auch verzichten. Im gerichtlichen Verfahren können sich die Parteien auf eine Verurteilung ohne Verhandlung einigen, die dem Vorbild des italienischen „patteggiamento" folgt. Nach Art. 335 und 343 p.StPO kann der Staatsanwalt mit Zustimmung des Angeklagten beantragen, diesen ohne Verhandlung abzuurteilen, wenn hinsichtlich der Tatumstände keine Zweifel bestehen und die Haltung des Angeklagten erkennen läßt, daß die Zwecke der Strafe auch ohne Gerichtsverhandlung erreicht werden. In diesem Fall ist die Strafe außerordentlich zu mildern oder von Strafe abzusehen. Diese Verfahrens form ist bei Vergehen möglich, die mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht sind. Wenn der Verletzte dies beantragt, ist das Gericht verpflichtet, den Angeklagten zur Wiedergutmachung des Schadens zu verurteilen oder ihm eine entsprechende 24
Stachomak, in: Stivare (Hrsg.), Porozumiewanie siç i uzgadnianie rozstrzygniçc przez unczestników postçpowania karnego (Absprachen und Vereinbarungen von Entscheidungen durch Teilnehmer des Strafverfahrens), 1993, S. 109 f. 2 5 Die Zahl der bei polnischen Gerichten anhängigen Zivil- und Strafsachen ist seit 1989 von 2 Millionen auf knapp 5 Millionen, d. h. um 150%, angestiegen. Über 2 0 % der 1998 anhängigen Verfahren dauerten bereits länger als ein Jahr. Siehe Rzeczpospolita 1998, Nr. 37.
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Buße zugunsten des Verletzten aufzuerlegen. Das Gericht kann die Schadenswiedergutmachung auch ohne Antrag des Verletzten anordnen. Die zweite Form konsensualer Erledigung ist das sog. abgekürzte Verfahren. Bis zum Abschluß seiner ersten Vernehmung in der Hauptverhandlung kann ein Angeklagter, dem ein mit Freiheitsstrafe bis zu acht Jahren bedrohtes Vergehen zur Last gelegt wird, beantragen, daß er ohne Durchführung einer Beweisaufnahme verurteilt wird (Art. 387 p.StPO). Das Gericht darf dem Antrag nur dann stattgeben, wenn hinsichtlich der Tatumstände keine Zweifel bestehen, der Verletzte einverstanden ist und die Strafzwecke trotz unvollständiger Verhandlung erreicht werden. Auch in diesem Fall ist außerordentliche Strafmilderung zulässig, obwohl Art. 387 p.StPO dies nicht erwähnt, denn Art. 60 § 2 p.StGB sieht eine außerordentliche Strafmilderung unter anderem für den Fall vor, daß sich der Verletzte mit dem Täter ausgesöhnt hat, daß der Schaden ersetzt wurde oder daß sich die Beteiligten über die Art der Schadenswiedergutmachung geeinigt haben 26 . Die neue polnische Strafprozeßordnung sieht auch viele weitere Situationen vor, in denen der Staatsanwalt oder das Gericht Vereinbarungen zwischen dem Angeklagten und dem Verletzten herbeiführen kann, etwa im Zusammenhang mit der bedingten Verfahrenseinstellung oder der „Absorptionseinstellung". Das Gericht kann sogar die Urteilsberatung unterbrechen und in diesem Stadium des Verfahrens versuchen, eine Vereinbarung zwischen den Beteiligten herbeizuführen (Art. 415 § 5 p.StPO). Diese Bestimmungen machen deutlich, daß das polnische Strafprozeßrecht wesentlich stärker als das deutsche den Gedanken der einvernehmlichen Erledigung verwirklicht hat. X.
Gegen Entscheidungen eines erstinstanzlichen Gerichts ist das Appellationsverfahren statthaft, das sich von dem bisherigen Revisionsverfahren kaum unterscheidet. Im deutschen Recht entspricht ihm das Berufungsverfahren (nicht etwa das Revisionsverfahren). Das charakteristische Merkmal der Appellation im polnischen Recht liegt allerdings darin, daß das Appellationsgericht zur Sache keine Beweise erheben kann. In Ausnahmefallen ist eine Beweisaufnahme jedoch möglich, wenn dies der Beschleunigung des Verfahrens dient und eine erneute Durchführung 2 6 Näher dazu Waltos., Pañstwo i Prawo 1997, Nr. 8, S. 36; W. Das^kietvic^ in: Nowa kodyfikacja kama, Heft 8, 1998, S. 57 ff.
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der Beweisaufnahme (oder ihres größten Teils) nicht notwendig ist (Art. 452 p.StPO). Der Gesetzgeber war darum bemüht, den Angeklagten davor zu bewahren, daß er im Appellationsverfahren (d. h. nur auf Grundlage der Akten) ungünstiger beurteilt wird als im erstinstanzlichen Verfahren. Es gilt daher die Regel, daß das Appellationsgericht den Angeklagten nicht verurteilen kann, wenn dieser in erster Instanz freigesprochen oder das Verfahren gegen ihn eingestellt worden war (Art. 454 § 1 p.StPO). Außerdem darf das Appellationsgericht nur dann eine strengere Freiheitsstrafe verhängen, wenn es die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen nicht ändert (Art. 454 § 2 p.StPO). Und schließlich ist es dem Appellationsgericht verwehrt, anstelle einer in erster Instanz verhängten milderen Strafe die lebenslange oder die 25jährige Freiheitsstrafe zu verhängen (Art. 454 § 3 p.StPO). An die Stelle der außerordentlichen Revision ist bereits am 1. Januar 1996 das Rechtsmittel der Kassation getreten. Im Gegensatz zur Revision des deutschen Rechts richtet sich die Kassadon des polnischen Rechts nur gegen rechtskräftige Urteile. Sie führt lediglich zu einer Uberprüfung des Urteils auf dessen Vereinbarkeit mit dem Gesetz. Insoweit stimmt sie mit der deutschen Revision überein. Das polnische Recht unterscheidet zwischen „einfacher" und „außerordentlicher" Kassation. Die einfache Kassation steht den Prozeßparteien gegen ein rechtskräftiges Urteil des Rechtsmittelgerichts zu (Art. 519 p.StPO). Mit der Kassation kann nicht jede Verletzung eines Gesetzes gerügt werden, sondern nur grobe Verletzungen des geltenden Rechts oder einer der besonders krassen, in Art. 439 p.StPO enumerierten Verstöße. Das Kassationsgericht hat vier Möglichkeiten der Entscheidung: Es kann das angefochtene Urteil aufrechterhalten, es kann dieses aufheben, es kann den Angeklagten, falls die Verurteilung offensichtlich unbillig war, freisprechen, oder es kann das Verfahren einstellen. Die außerordentliche Kassation ist gegen jede rechtskräftige Entscheidung (d. h. auch gegen Beschlüsse) eines Gerichts statthaft; sie kann jedoch nur durch den Justizminister (Generalstaatsanwalt) oder den Bürgerrechtsbeauftragten erhoben werden. Hierbei handelt es sich um das Rudiment der früheren, für die Prozeßordnungen des ehemaligen Sowjetblocks charakteristischen „außerordentlichen Revision". Es ergeben sich die beiden folgenden Rechtszüge: a) Kreisgericht — (Appellation) (Kassation) — Oberstes Gericht;
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b) Wojewodschaftsgericht — (Appellation) — Appellationsgericht (Kassation) — Oberstes Gericht.
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Im Vergleich zum deutschen Rechtsmittelsystem fallen zwei Unterschiede auf: Erstens gibt es in Polen keine „Sprungkassation", sondern es können nur solche Urteile im Wege der einfachen Kassation überprüft werden, die vorher durch die Appellation angefochten wurden. Zweitens ist allein das Oberste Gericht in Warschau für Kassationsentscheidungen zuständig. Dies fördert ohne Zweifel die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung, führt jedoch andererseits unvermeidbar zu einer Überlastung des Obersten Gerichts, mit allen negativen Folgen dieses Phänomens. Eine wichtige Ergänzung des Systems der Kontrolle von Gerichtsentscheidungen bildet die Nichtigkeit ipso iure, die nach 30 Jahren wieder in das polnische Prozeßrecht eingeführt worden ist. In sieben enumerativ aufgeführten Fällen sowie dann, wenn „eine andere, mindestens gleich schwere Mißachtung des Gesetzes vorliegt" (Art. 101 § 1 p.StPO), sieht die StPO die Nichtigkeit einer Entscheidung ex tunc vor. Es ist zu befürchten, daß sich in der Praxis — entgegen Art. 4 des 7. ZP zur EMRK — eine ausdehnende Interpretation dieser Vorschrift durchsetzt. Wesentlich umgestaltet wurde die Wiederaufnahme des Verfahrens. Die Möglichkeit einer Wiederaufnahme von Amts wegen wurde gestrichen; es bedarf also stets des Antrags einer Prozeßpartei. Neben den klassischen Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens finden sich in der neuen Regelung zwei weitere, bisher in Polen nicht vorgesehene Wiederaufnahmegründe: Zum einen ist das Verfahren dann wieder aufzunehmen, wenn die Vorschrift, aufgrund derer das Urteil ergangen oder das Verfahren bedingt eingestellt worden ist, infolge einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs außer Kraft gesetzt oder geändert wurde (Art. 540 § 2 p.StPO). (Anders als das deutsche Bundesverfassungsgericht kann der polnische Verfassungsgerichtshof keine Gerichtsentscheidungen, sondern lediglich Normativakte wegen Verfassungswidrigkeit aufheben.) Zum anderen ist ein Wiederaufnahmegrund gegeben, wenn sich diese Notwendigkeit aus der Entscheidung eines internationalen Organs ergibt, das auf der Grundlage einer völkerrechtlichen, von Polen ratifizierten Konvention entschieden hat (Art. 540 § 3 p.StPO). Auf diese Weise werden die Entscheidungen der polnischen Gerichte am Maßstab der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg überprüfbar. XI. Viele Änderungen gibt es im Bereich der besonderen Verfahren. So wurden etwa neue Vorschriften über die Übernahme des Strafverfah-
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tens und die Dutchlieferung von Verurteilten im internationalen Rechtshilfeverkehr eingeführt. Als eine Ergänzung der neuen Strafprozeßordnung ist die Kronzeugenregelung vom 25. Juni 1997 anzusehen, die gleichfalls am 1. September 1998 in Kraft tritt. Sie ist — wie ihr deutsches Pendant - auf drei Jahre befristet. Für eine grundsätzliche Bewertung der neuen Strafprozeßordnung ist es noch zu früh. Sobald die ersten Erfahrungen mit ihrer praktischen Anwendung vorliegen, werden sicher neben den bereits jetzt offensichtlichen Mängeln noch weitere zum Vorschein kommen. Erst auf der Grundlage der praktischen Erprobung wird sich zeigen, ob es den Schöpfern der neuen Gesetzgebung gelungen ist, ein Instrument zur Verwirklichung ihrer Ziele zu schaffen.
Bibliographie
Verzeichnis der Schriften von Hans Joachim Hirsch Bücher und selbständige Schriften Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen. Der Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund. 357 S. Bonn 1960 (Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen Bd. 48). Ehre und Beleidigung. Grundfragen des strafrechtlichen Ehrenschutzes. 269, XII S. Karlsruhe 1967. Aktuelle Entwicklungen und Probleme im deutschen Strafrecht. 266 S. Tokio 1987 (japanisch). Die Frage der Straffähigkeit von Personenverbänden. 28 S. Opladen 1993. Spanische Ubersetzung in: Anuario de derecho penal y ciencias penales 46 (1995), S. 1099-1124. Japanische Übersetzung in: Hosei Riron (Niigata) (1996), Heft 4, S. 150-189. Rechtsstaadiches Strafrecht und staatlich gesteuertes Unrecht. 42 S. Opladen 1996. Strafrecht und Uberzeugungstäter. 35 S. Berlin 1996. Japanische Übersetzung in: Gakuen Ronshu 96/97 (1998), S. 171-193. Kommentierungen §§ 2 2 3 - 2 3 3 StGB (Körperverletzung). In: Leipziger Kommentar zum StGB, 9. Aufl. Berlin 1972 (104 S.); 10. Aufl. 1981 (164 S.). Vorbemerkungen zu §§ 51 ff StGB (Unrechts- und Schuldlehre). In: Leipziger Kommentar, 9. Aufl. 1974 (109 S.). § 340 StGB (Körperverletzung im Amt). In: Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1981 (9 S.). §§ 34 und 35 StGB (Rechtfertigender und Entschuldigender Notstand). In: Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1984 (115 S.); 11. Aufl. 1994 (116 S.). Vorbemerkungen zu §§ 32 ff StGB (Unrechts- und Schuldlehre). In: Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1984 (118 S.); 11. Aufl. 1994 (152 S.)
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Schriftenverzeichnis
Abhandlungen, Literaturbericbte, Rezensionen, Entscheidungsanmerkungen, Glückwünsche, Nachrufe Ist die versuchte falsche eidesstattliche Versicherung noch strafbar? Juristenzeitung 1955, S. 234-235. Besprechung: Schönke/Sehrade, Einführung in die Rechtswissenschaft. 6. Auflage. Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht 1956, S. 106-107. Soziale Adäquanz und Unrechtslehre. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 74 (1962), S. 78-135. Eigenmächtige Zueignung geschuldeter Sachen, Rechtswidrigkeit und Irrtum bei den Zueignungsstrafbestimmungen. Juristenzeitung 1963, S. 149-156. Richterrecht und Gesetzesrecht. Juristische Rundschau 1966, S. 334-342. Zur Abgrenzung von Strafrecht und Zivilrecht. In: Festschrift für Karl Engisch, Frankfurt a. M. 1969, S. 304-327. Literaturbericht Strafrecht, Besonderer Teil. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 81 (1969), S. 917-953. Besprechung: Gedächtnisschrift für Franz von Liszt. Juristische Rundschau 1970, S. 277-278. Literaturbericht Strafrecht, Besonderer Teil. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 82 (1970), S. 411-438. Hauptprobleme einer Reform der Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 83 (1971), S. 140-176. Zur Problematik des erfolgsqualifizierten Delikts. Goltdammers Archiv 1972, S. 65-78. Literaturbericht Strafrecht, Besonderer Teil. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 84 (1972), S. 380-408. Anmerkung zum Beschluß des OLG Frankfurt v. 2.2.1972. Juristische Rundschau 1972, S. 516-518.
Schriftenverzeichnis
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Besprechung: Lüttger u. a. (Hrsg.), Festschrift für Ernst Heinitz. Neue Juristische Wochenschrift 1973, S. 1488-1489. Literaturbericht Strafrecht, Besonderer Teil. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 85 (1973), S. 696-734. Einwilligung und Selbstbestimmung. In: Festschrift für Hans Welzel, Berlin 1974, S. 7 7 5 - 8 0 0 . Übersetzung ins Japanische: Kobe-Gakuen Hogaku 14 (1984), Nr. 2 (31 S.). Hans Welzel zum 70. Geburtstag. Juristische Rundschau 1974, S. 102-103. Gegenwart und Zukunft des Privatklageverfahrens. In: Festschrift für Richard Lange, Berlin 1976, S. 8 1 5 - 8 3 6 . Richard Lange zum 70. Geburtstag. Juristische Rundschau 1976, S. 150-151. Literaturbericht Strafrecht, Besonderer Teil. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 88 (1976), S. 752-782. Die Notwehrvoraussetzung der Rechtswidrigkeit des Angriffs. In: Festschrift für Eduard Dreher, Berlin 1977, S. 2 1 1 - 2 3 3 . Ubersetzung ins Spanische: Nuevo Pensamiento Penal (Buenos Aires) 1977, S. 1 5 - 3 9 . Literaturbericht Strafrecht, Besonderer Teil. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 89 (1977), S. 930-959. Zur Rechtsnatur der falschen Verdächtigung. In: Gedächtnisschrift für Horst Schröder, München 1978, S. 307-329. Literaturbericht Strafrecht, Besonderer Teil. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 90 (1978), S. 965-986. Strafrecht und rechtsfreier Raum. In: Festschrift für Paul Bockelmann, München 1979, S. 8 9 - 1 1 5 . Übersetzung ins Spanische: Doctrina Penal (Buenos Aires) 1987, S. 397-424. Anmerkung zum Urteil des BGH v. 15. 8.1978. Juristenzeitung 1979, S. 109-110.
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Laudatio zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Otto Wolff von Amerongen. Osteuropa (Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens) 1979, S. 415-418. Anmerkung zum Urteil des BGH v. 18.7.1978. Juristische Rundschau 1979, S. 429-432. Zur Behandlung der Bagatellkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland (unter besonderer Berücksichtigung der Stellung der Staatsanwaltschaft). Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 92 (1980), S. 218-254. Anmerkung zum Urteil des BGH v. 15. 5.1979. Juristische Rundschau 1980, S. 113-118. Alkoholdelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland. In: Beiträge zum VI. Deutsch-jugoslawischen Juristentreffen 1980, Beiheft zur Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 1981, S. 2 - 3 8 . Der Streit um Handlungs- und Unrechtslehre, insbesondere im Spiegel der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (Teil I). In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 93 (1981), S. 831-863. Schlußbemerkungen aus deutscher Sicht zur Arbeitstagung deutscher und italienischer Strafrechtslehrer 1980 in Turin. In: Jescheck (Hrsg.), Strafrechtsreform in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, Baden-Baden 1981, S. 153-163. La reforma de los preceptos sobre la interrupción del embarazo en la República Federal Alemana. In: Barbero Santos u. a. (Hrsg.), La Reforma Penal, Madrid 1982, S. 3 7 - 5 7 . Der Streit um Handlungs- und Unrechtslehre, insbesondere im Spiegel der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (Teil II). Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 94 (1982), S. 239-278. Anmerkung zu BGHSt. 31, 96. Juristische Rundschau 1983, S. 7 8 - 8 3 . Literaturbericht Strafrecht, Allgemeiner Teil. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 95 (1983), S. 643-668. Zur Reform der Reform des Widerstandsparagraphen (§ 113 StGB). In: Festschrift für Ulrich Klug, Köln 1983, S. 235-255.
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Die Diskussion über den Unrechtsbegriff in der deutschen Strafrechtswissenschaft und das Strafrechtssystem Delitalas. In: Studi in memoria di Giacomo Delitala, Milano 1984, S. 1931-1968. Gegenwärtige Tendenzen zur Reform des Strafprozeßrechts in der Bundesrepublik Deutschland. Zeszyty Naukowe Wydziaiu Prawa i Administracji Uniwersytetu Gdañskiego, Band 12, Danzig 1984, S. 8 0 - 1 0 2 . Rechtfertigungsgründe und Analogieverbot. In: Gedächtnisschrift für Zong Uk Tjong, Tokio 1985, S. 50 — 68. Die strafrechtliche Behandlung der Betäubungsmitteldelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Drogensituation. Hokkaigakuen Law Journal (Sapporo) X X (1985), S. 574-592. Der Stand der Diskussion über den Unrechtsbegriff. Jurist (Tokio) 1985, S. 8 3 - 8 8 (japanisch). Der unmittelbare Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt. In: Festschrift für Dietrich Oehler, Köln 1985, S. 111-133. Anmerkung zu BGHSt. 31, 348 und 32, 194. Juristische Rundschau 1985, S. 336-340. Strafrecht und rechts freier Raum. Kansai Daigaku Hogaku Ronshu 35 (1985), S. 4 1 0 - 4 3 0 (japanisch). Nowe uregulowanie stanu wyzszej konieeznosei w zachodnioniemieckim prawie karnym. Annales Universitatis Mariae Curie-Sklodowska Lublin, Band X X X I I / X X X I I I , 5, 1985/86, S. 8 9 - 1 0 9 . Bilanz der Strafrechtsreform in der Bundesrepublik Deutschland (Vortrag auf der Japanischen Strafrechtslehrertagung in Nagoya 1984). Keiho Zasshi (Journal of Criminal Law) (Tokio) 27 (1986), S. 1—20 (japanisch). Die strafrechtliche Behandlung der Alkoholdelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland. Comparative Law Review (Tokio) 20 (1986) (24 S.; japanisch). Tendencias evolutivas de la reforma de la Parte Especial (desde la específica perspectiva del derecho penal de la República Federal Alemana). In: Libro homenaje al Jimenez de Asúa, Madrid 1986, S. 381—396.
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Schriftenverzeichnis
Bilanz der Strafrechtsreform. In: Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, Berlin 1986, S. 133 — 165. Ubersetzung ins Koreanische: Recht in Deutschland und Korea, Seoul 1986, S. 110-147. Handlungsbegriff und Unrechtslehre. Poinika Chronika (Athen) 1986, S. 225-243 (griechisch). Hauptprobleme des dogmatischen Teils der deutschen Strafrechtsreform. In: Hirsch (Hrsg.), Deutsch-Spanisches Strafrechtskolloquium, BadenBaden 1986, S. 4 7 - 7 9 . Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag. In: Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft (Hrsg.), Vorträge auf der Akademischen Feier zum 70. Geburtstag von Dietrich Oehler, Köln 1986, S. 9 - 1 9 . Stand und Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in der Bundesrepublik Deutschland. In: Gedächtnisschrift für Wladyslaw Wolter, Krakau 1987, S. 87-103. Besprechung: Lüttger, Vorträge und Abhandlungen. Juristische Rundschau 1987, S. 481. Behandlungsabbruch und Sterbehilfe. In: Festschrift für Karl Lackner, Berlin 1987, S. 597-620. 20 Jahre Forschung und Lehre an der Universität Regensburg. Regensburger Universitätszeitung 1987, Heft 6, S. 15 — 16. Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach Welzel. Festschrift zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, Köln 1988, S. 399-427. Übersetzung ins Japanische: Jurist 1989, Nr. 934/5; Teilübersetzung ins Spanische in: Polaino Navarrete (Hrsg.), Estudios jurídicos sobre la reforma penal, Córdoba 1987, S. 17 — 45. Refleksje na tie reformy prawa karnego RFN. Pañstwo i Prawo XLIII (1988), S. 3 7 - 4 6 . Probleme der Körperverletzungsdelikte nach deutschem und japanischem Strafrecht im Vergleich. In: Festschrift des Instituts für Rechtsvergleichung der Waseda Universität, Tokio 1988, S. 853-872. Besprechung: Miya^awa/lda, Aufsätzesammlung zum Strafrechtsvergleich, Band 3. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 100 (1988), S. 184-196.
Schriftenverzeichnis
Paul Bockelmann f Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 100 S. 2 8 1 - 2 8 9 .
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(1988),
Die Stellung des Verletzten im Strafrechtssystem. In: Griechische Gesellschaft für Strafrecht, Vorträge der Tagung in Athen 1987, Athen 1989, S. 1 9 3 - 2 1 4 (griechisch). Z u m Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis im Strafrecht. In: Festschrift für Herbert Tröndle, Berlin 1989, S. 1 9 - 4 0 . Zur Stellung des Verletzten im Straf- und Strafverfahrensrecht. Über die Grenzen strafrechtlicher Aufgaben. Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, Köln 1989, S. 6 9 9 - 7 2 1 . Japanische Ubersetzung in: Hokkaigakuen Law Journal XXVII (1991), S. 1 0 1 - 1 2 7 . Spanische Übersetzung in: Eser u. a. (Hrsg.), D e los delitos y de las víctimas, Buenos Aires 1992, S. 9 1 - 1 2 8 . Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik in der Bundesrepublik Deutschland in grundsätzlicher Sicht. In: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, Berlin 1989, S. 6 5 - 7 9 . Koreanische Teilübersetzung in: Sung Kyun Kwan Law Review (Seoul) 3 (1990), S. 3 0 7 - 3 2 0 . La posición del ofendido en el derecho penal y en el derecho procesal penal. Cuadernos de Política Criminal 42 (1990), S. 5 6 1 - 5 7 5 . Zusammenfassung der Ergebnisse des Kolloquiums und Frage weiterer Forschungen. In: Eser/Kaiser/Madiener (Hrsg.), Neue Wege der Wiedergutmachung im Strafrecht, 1990, S. 3 7 7 - 3 9 3 . Wiedergutmachung des Schadens im Rahmen des materiellen Strafrechts. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 102 (1990), S. 5 3 4 - 5 6 2 . Italienische Übersetzung in: Studi in memoria di Pietro Nuvolone, Milano 1991, S. 2 7 5 - 3 0 4 . Spanische Übersetzungen in: Revista Guatemalteca de Ciencias Penales, 1991, S. 2 3 - 4 8 , und in: Eser u. a. (Hrsg.), D e los delitos y de las víctimas, Buenos Aires 1992, S. 53 - 90. Japanische Übersetzung in: Hokkaigakuen Law Journal X X V I I (1991), S. 1 3 3 - 1 6 0 . Koreanische Teilübersetzung in: Korean Criminological Review 1990, S. 1 7 7 - 1 9 0 .
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Stan i rozwój dogmatyki prawa karnego w RFN. Panstwo i Prawo XLV (1990), S. 4 1 - 5 2 . Wilhelm Gallas f Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 102 (1990), S. 4 9 3 - 5 0 3 . Auch abgedruckt in: Küper (Hrsg.), In memoriam Wilhelm Gallas, Heidelberg 1991, S. 3 9 - 5 2 . Die Stellung von Rechtfertigung und Entschuldigung im Verbrechenssystem. In: Eser/Perron (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung III, Freiburg 1991, S. 2 7 - 5 4 . Italienische Ubersetzung in: Rivista Italiana di Diritto e Procedura Penale 1991, S. 7 5 8 - 7 8 6 . Japanische Ubersetzung in: Hokkaigakuen Law Journal XXVIII (1992), S. 153-182. Spanische Übersetzungen in: Eser/Gimbernat/Perron (Hrsg.), Justificación y exculpación en derecho penal, Madrid 1995, S. 33 — 60, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal (Buenos Aires) II (1996), Nr. 3; und in: La posición de la justificación y de la exculpación en la teoría del delito desde la perspectiva alemana, Bogotá 1996, 46 S. Karl Engisch f Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 103 (1991), S. 6 2 3 - 6 3 5 . Probleme der Wiedervereinigung Deutschlands. Nomos (Osaka) 2 (1991), S. 2 0 7 - 2 2 1 (japanisch). Juristenausbildung in Deutschland. Hogaku Ronshu (Osaka) XLI (1991), Heft 4, S. 1 7 8 - 2 0 4 (japanisch). Dankesrede anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Posen. In: Uniwersytet Poznan, Seria Doktorzy Honoris causa 14, 1991, S. 2 8 - 3 1 (deutsch), 3 2 - 3 5 (polnisch). Rechtsstaat und Strafrecht. In: Uniwersytet Poznan, Seria Doktorzy Honoris causa 14, 1991, S. 3 6 - 5 0 (deutsch), 5 1 - 6 5 (polnisch). Sterbehilfe als juristisches Problem. In: von Amelen u. a. (Hrsg.), Schutz 1991, S. 3 9 - 4 7 .
des Lebens,
Düsseldorf
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La regulación del estado de necesidad. Cuadernos del Consejo General del Poder Judicial, Madrid 1991, S. 5 9 - 7 6 . Gibt es eine national unabhängige Strafrechtswissenschaft? In: Festschrift für Günter Spendel, Berlin 1992, S. 4 3 - 5 8 . Japanische Teilübersetzung in: Hogaku Kenkyo (Tokio) 64 (1991), S. 1 - 1 9 . Rede anläßlich der Aufnahme in die Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. In: Jahrbuch 1991 der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, 1992, S. 91 - 9 4 . Acerca de los limites de la autoría mediata. In: Centro de Estudios Criminológicos, Presupuestos para la Reforma Penal, Bd. I, La Laguna 1992, S. 105-120. Hauptprobleme des dogmatischen Teils einer Strafrechtsreform. Hogaku Kenkyu 65 (1992), S. 9 1 - 1 0 8 (japanisch). Können strafgesetzliche Rechtfertigungsgründe, insbesondere der rechtfertigende Notstand, als Ermächtigungsgrundlage für hoheitliche Eingriffe dienen? In: Festschrift für Marian Cieslak, Krakau 1993, S. 111-130. Gefahr und Gefährlichkeit. In: Festschrift für Arthur Kaufmann, Köln 1993, S. 545-563. 25 Jahre Entwicklung des Strafrechts. In: 25 Jahre Juristische Fakultät Regensburg, 1993, S. 35 - 56. Konkrete und abstrakte „Gefährdungsdelikte". In: Festschrift für Kazimierz Buchala, Krakau 1994, S. 2 2 3 - 2 3 5 . Das Schuldprinzip und seine Funktion im Strafrecht. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 106 (1994), S. 746-765. Auch abgedruckt in: Pfywac^emki (Hrsg.), Aktualne Problemy Prawa Karnego i Kriminologii, Bialystok 1998, S. 179 — 203, mit polnischer Zusammenfassung S. 203—210; Koreanische Übersetzung, Seoul 1995; Japanische Ubersetzung in: Hokkaigakuen Law Journal 1996, S. 7 5 - 9 5 ; Spanische Übersetzungen in: Nueva Doctrina Penal A/1996, Buenos Aires, und in: Revista Peruana de Ciencias Penales 5 (1997), S. 1 7 9 202; Türkische Übersetzung in: Türk Ceza Kanunu Tasarisi lein Müzakereler, Konya 1998, S. 277-296.
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Hans-Heinrich Jescheck zum 80. Geburtstag. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 107 (1995), S. 1 - 9 . Strafrecht als Mittel zur Bekämpfung neuer Kriminalitätsformen? In: Kühne/Miya^awa (Hrsg.), Neue Strafrechtsentwicklungen im deutsch-japanischen Vergleich, Köln 1995, S. 11 — 31. Koreanische Ubersetzung in: Journal of Criminal Law, Seoul 1995. Der Wiederaufbau der Juristischen Fakultäten in den neuen Bundesländern. In: Festschrift für Koichi Miyazawa, Baden-Baden 1995, S. 345-361. Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 107 (1995), S. 285-323. Französische Übersetzung in: De Doelder/Tiedemann (Hrsg.), Liability of Corporations, Den Haag 1995, S. 3 1 - 6 9 . Teilübersetzung ins Estnische in: Jurídica (Tallinn) 1996, S. 17-24. Das Schuldprinzip. Poinika Chronika (Athen) 1995, S. 129-146 (griechisch). Probleme einer Strafrechtsreform hinsichtlich der allgemeinen Straftatvoraussetzungen. Jurídica (Tallinn) 1995, S. 402 ff (estnisch). Anmerkung zum Urteil des BGH v. 30. 3. 1995. Neue Zeitschrift für Strafrecht 1996, S. 37. Straf- und Strafprozeßrecht gegenüber neuen Formen und Techniken der Kriminalität. In: Hirsch u. a. (Hrsg.), Neue Erscheinungsformen der Kriminalität in ihrer Auswirkung auf das Straf- und Strafprozeßrecht, Bialystok 1996, S. 3 3 - 5 3 . Anmerkung zum Urteil des BGH v. 22.8.1996. Neue Zeitschrift für Strafrecht 1997, S. 233. Besprechung: J. Otto, Die Bibliothek des Bundesgerichtshofs, 1996. Juristische Rundschau 1997, S. 305-306. Anmerkung zum Beschluß des BGH v. 19.2.1997. Juristische Rundschau 1997, S. 391-393. Theo Vogler f Neue Juristische Wochenschrift 1998, S. 3 9 - 4 0 . Zur actio libera in causa. In: Festschrift für Haruo Nishihara, Baden-Baden 1997, S. 88-104. Zur Lehre von der objektiven Zurechnung. In: Festschrift für Theodor Lenckner, München 1998, S. 119-142.
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Japanische Übersetzung in: Hogaku Kenkyu (Tokio) 71 (1998), Heft 7, S. 8 1 - 9 6 (Teil I), Heft 9, S. 1 0 7 - 1 2 2 (Teil II). Spanische Ubersetzung in: Nueva Doctrina Penal, Buenos Aires, 1998, Band A, S. 8 7 - 1 1 0 . Zur Systematik und Angemessenheit von „Gefährdungs"-Tatbeständen im Kriminalstrafrecht. In: Festschrift für Hyung Kook Lee, Seoul 1998, S. 939-957. Die deutsch-japanisch-polnischen Strafrechtsbeziehungen. In: S^warc/Wqsek (Hrsg.), Das erste deutsch-japanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von HumboldtStiftung, Posen 1998, S. 2 1 - 2 4 . Grundfragen von Ehre und Beleidigung. In: Festschrift für E. A. Wolff, Berlin 1998, S. 125-151. Herausgebertätigkeit (mit Günter Stratenwerth u. a.:) Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag (956 S.), Berlin 1974. (mit Manfred Burgstaller u. a.:) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (seit Band 87, 1975). (mit Günther Kaiser u. a.), Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann (1000 S.), Berlin 1986. Deutsch-Spanisches Strafrechtskolloquium 1986 (301 S.), Baden-Baden 1987. (mit Thomas Weigend:) Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland (212 S.), Berlin 1989. (mit Albin Eser u. a.:) De los delitos y de las víctimas (316 S.), Buenos Aires 1992. (mit Klaus Bernsmann u. a.:) Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften, Berlin (seit 1989). (mit Piotr Hofmanski u. a.:) Neue Erscheinungsformen der Kriminalität in ihrer Auswirkung auf das Straf- und Strafprozeßrecht (607 S.), Bialystok 1996.