Festschrift für Hans Joachim Schneider zum 70. Geburtstag am 14. November 1998 / Essay in Honor of Hans Joachim Schneider: Kriminologie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert / Criminology on the Threshold of the 21st Century 9783110901542, 9783110150025


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German Pages 1092 [1100] Year 1998

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Table of contents :
Hans Joachim Schneider zum 70. Geburtstag
I. Grundlagen der Kriminologie
Das Paradigma der inneren Sicherheit: Polizeiliche Möglichkeiten – Rechtsstaatliche Grenzen
Kriminologische Forschung im Schnittpunkt von Praxis und Theorie
Wertewandel und Normbruch – Eigenartige Resultate einer gesellschaftlichen Transformation
Kriminologie im System der anderen Wissenschaften
Social Control-Theorie
Was mit Kriminalstatistiken nicht passieren sollte
Über subjektive Kriminalität – Am Beispiel des Kriminalitätsanstiegs
Changement social, criminalité et justice pénale: Quelques réflexions en cette fin de siècle
Criminological Approach for the XXI. Century – The Integrative Nature of Criminology and the Work of Hans Joachim Schneider
II. Spezielle kriminologische Probleme
The Criminology of Disasters
The Police and the Public
Institutional Conditioning of Police Criminality
Über Todesfälle im Zusammenhang mit Betäubungsmittelmißbrauch
Theorie und Praxis polizeilicher Kriminalstatistiken – Dargestellt am Beispiel der Datei über Rauschgifttote
Korruption: Vive La Repression! – Oder was sonst? – Zur Blindheit der Kriminalpolitik für Ursachen und Nuancen
Die kriminologische und arztrechtliche Problematik unwissenschaftlicher Heilmethoden
Einige Daten zur endlosen Geschichte des Züchtigungsrechts
Organisierte Kriminalität und die Organisation der staatlichen Strafverfolgung
III. Verbrechensopfer und Verbrechensfurcht
Crime Victims: From the Wings to Center Stage
Victimology and the Victims of White-Collar Crime
The Internationalization of Victimology
Victim Costs and Consequences: A Revised Look
Gewalt gegen alte Menschen in Familien und Heimen
Kriminalitätseinstellungen: Von der Furcht zur Angst?
The Elderly’s High Fear/Low Victimization Paradox: An Unconventional View
The Status of Victims in Criminal Justice System in Japan
Zeugenschutz im Strafprozeß
IV. Vergleichende und internationale Kriminologie
Comparative Criminology Done Well
Recht als Produkt der kulturellen Evolution
Kriminalität, Strafverfolgung und Strafrechtspflege im europäischen Vergleich
Investigating Youth-Crime and Justice Around the World
Was heißt „Amerikanische Kriminologie“? – Inhalte, Wandlungen und Bedeutung im Selbst- und Fremdverständnis der Kriminologie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika
Kriminalitätslage in Ungarn
Foreign Laborers in Israel: A Case of „Moral Panic“?
The Nexus Between Crime and Politics in India
Die kriminalwissenschaftlichen Probleme der Fälle der AUM-Sekte in Japan
Organisierte Wirtschaftskriminalität in Polen
Rechtspsychologie in Europa: gegenwärtiger Stand und Zukunftsperspektiven
V. Kriminologie und Kriminalistik
Kriminologie und Kriminalistik an der Polizei-Führungsakademie
Entwicklungen in der Kriminaltechnik und erforderliche Reaktion
VI. Jugendkriminologie und Jugendkriminalrecht
Jugendliche und Heranwachsende als Täter und Opfer von Gewalt – Gewaltkriminalität in Mecklenburg-Vorpommern im Zerrbild einer täterzentrierten Blickweise
A Birth Cohort Study of Juvenile Delinquency in the People’s Republic of China
Die Sicherungsverwahrung – ein Nekrolog?
VII. Kriminalpolitik
Strafrechtspflegestatistiken und Kriminalpolitik – Zuverlässige und inhaltsreiche Strafrechtspflegestatistiken als Alternative zu einer „Kriminalpolitik im Blindflug“
Zu Akzeptanz und Umsetzungsstand der Vorschläge der (Anti-)Gewaltkommission der Bundesregierung – Ein Überblick auf dem exemplarischen Wege
Harnessing Crime Prevention Best Practice Globally
Die Universalität des Wiedergutmachungsgedankens im Strafrecht
Die Entdeckung des Opfers häuslicher Gewalt
Mediation: Paradigmawechsel in der Konfliktregelung?
„Verminderte Einsichtsfähigkeit allein genügt nicht“
Incarceration for non-payment of a fine
Das neue Strafgesetzbuch – Ursprung und Grundgedanken
Krise der japanischen Gesellschaft – Krise der japanischen Kriminalpolitik?
VIII. Strafvollzug
Ein weltweites Informationssystem für den Strafvollzug – eine Utopie?
Hat der Strafvollzug noch eine Zukunft?
Zur Diskussion um die gesetzliche Regelung und die tatsächliche Entwicklung des Jugendstrafvollzuges
IX. Bibliographie
Verzeichnis der Schriften von Hans Joachim Schneider
X. Einige Daten zum bisherigen Lebensweg von Hans Joachim Schneider
XI. Autorenverzeichnis
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Festschrift für Hans Joachim Schneider zum 70. Geburtstag am 14. November 1998 / Essay in Honor of Hans Joachim Schneider: Kriminologie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert / Criminology on the Threshold of the 21st Century
 9783110901542, 9783110150025

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Festschrift für Hans Joachim Schneider zum 70. Geburtstag

Festschrift für

HANS JOACHIM SCHNEIDER zum 70. Geburtstag am 14. November 1998 Essays in Honor of

Hans Joachim Schneider Kriminologie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert Criminology on the Threshold of the 21st Century herausgegeben von

Hans-Dieter Schwind Edwin Kube Hans-Heiner Kühne in Zusammenarbeit mit

Brunon Holyst (Polen) Koichi Miyazawa (Japan) Denis Szabo (Kanada)

w DE

1998

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Redaktionelle Mitarbeit: Assessorin Regina Ruhr-Universität Bochum

Stuchlik,

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Festschrift f ü r Hans Joachim Schneider zum 70. Geburtstag am 14. November 1998 = Essays in honor of Hans Joachim Schneider : Kriminologie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert / hrsg. von HansDieter Schwind ... In Zusammenarbeit mit Brunon Holyst (Polen) Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1998 ISBN 3-11-015002-6

© Copyright 1998 by Walter de Gruyter G m b H & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck GmbH, D-10997 Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer GmbH, D-10963 Berlin

Inhalt Hans Joachim Schneider zum 70. Geburtstag

XI

I. Grundlagen der Kriminologie HANS-HEINER K Ü H N E

Das Paradigma der inneren Sicherheit: Polizeiliche Möglichkeiten - Rechtsstaatliche Grenzen

3

HANS-LUDWIG ZACHERT

Kriminologische Forschung im Schnittpunkt von Praxis und Theorie

17

GÜNTHER KRÄUPL u n d HEIKE LUDWIG

Wertewandel und Normbruch - Eigenartige Resultate einer gesellschaftlichen Transformation BRUNON HOLYST

Kriminologie im System der anderen Wissenschaften

37 57

PAUL C . FRIDAY u n d GERD FERDINAND KIRCHHOFF

Social Control-Theorie

77

FRANZ CSÄSZÄR

Was mit Kriminalstatistiken nicht passieren sollte

105

MICHAEL WALTER

Über subjektive Kriminalität - Am Beispiel des Kriminalitätsanstiegs

119

DENIS SZABO

Changement social, criminalite et justice penale: Quelques reflexions en cette fin de siecle

137

PEDRO RUBENS DAVID

A Criminological Approach for the X X I . Century - The Integrative Nature of Criminology and the Work of Hans Joachim Schneider

145

VI

Inhalt

II. Spezielle kriminologische Probleme GERHARD O . W . MUELLER a n d FREDA ADLER

The Criminology of Disasters

161

WESLEY G . S K O G A N

The Police and the Public

183

EUGENIO R A U L ZAFFARONI

Institutional Conditioning of Police Criminality

197

DIETER D Ö L L I N G

Uber Todesfälle im Zusammenhang mit Betäubungsmittelmißbrauch 209 ARTHUR KREUZER

Theorie und Praxis polizeilicher Kriminalstatistiken - Dargestellt am Beispiel der Datei über Rauschgifttote 223 MARTIN KILLIAS

Korruption: Vive La Repression! - Oder was sonst? - Zur Blindheit der Kriminalpolitik für Ursachen und Nuancen 239 PETER J . SCHICK

Die kriminologische und arztrechtliche Problematik unwissenschaftlicher Heilmethoden 255 DETLEV FREHSEE

Einige Daten zur endlosen Geschichte des Züchtigungsrechts . .

277

KLAUS MARXEN

Organisierte Kriminalität und die Organisation der staatlichen Strafverfolgung 297

III. Verbrechensopfer und Verbrechensfurcht GILBERT GEIS

Crime Victims: From the Wings to Center Stage

315

D A V I D SHICHOR

Victimology and the Victims of White-Collar Crime

331

Inhalt

VII

M A T T I JOUTSEN

The Internationalization of Victimology

353

U L L A V . BONDESON

Victim Costs and Consequences: A Revised Look

367

U R S U L A SCHNEIDER

Gewalt gegen alte Menschen in Familien und Heimen

379

K L A U S SESSAR

Kriminalitätseinstellungen: Von der Furcht zur Angst?

399

EZZAT A . FATTAH

The Elderly's High Fear/Low Victimization Paradox: An Unconventional View 415 TETSUYA FUJIMOTO

The Status of Victims in Criminal Justice System in Japan

431

ELLEN SCHLÜCHTER

Zeugenschutz im Strafprozeß

445

IV. Vergleichende und internationale Kriminologie THEODORE N . FERDINAND

Comparative Criminology Done Well

469

WALTER HAUPTMANN

Recht als Produkt der kulturellen Evolution

483

J Ö R G - M A R T I N JEHLE

Kriminalität, Strafverfolgung und Strafrechtspflege im europäischen Vergleich

509

CLAYTON Α . HARTJEN

Investigating Youth-Crime and Justice Around the World

523

GÜNTHER KAISER

Was heißt „Amerikanische Kriminologie" ? - Inhalte, Wandlungen und Bedeutung im Selbst- und Fremdverständnis der Kriminologie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika

539

VIII

Inhalt

LÄSZLO KORINEK

Kriminalitätslage in Ungarn

565

MENACHEM A M I R

Foreign Laborers in Israel: A Case of „Moral Panic" ?

581

KUMARAVU CHOCKALINGAM

The Nexus Between Crime and Politics in India

607

H A R U O NISHIHARA

Die kriminalwissenschaftlichen Probleme der Fälle der AUMSekte in Japan 621 EMIL W . PLYWACZEWSKI

Organisierte Wirtschaftskriminalität in Polen

639

HELMUT K U R Y

Rechtspsychologie in Europa: gegenwärtiger Stand und Zukunftsperspektiven 655

V. Kriminologie und Kriminalistik RAINER SCHULTE u n d K L A U S NEIDHARDT

Kriminologie und Kriminalistik an der akademie

Polizei-Führungs681

EDWIN K U B E

Entwicklungen Reaktion

in der Kriminaltechnik

und

erforderliche 693

VI. Jugendkriminologie und Jugendkriminalrecht FRIEDER D Ü N K E L u n d M A R C U S SKEPENAT

Jugendliche und Heranwachsende als Täter und Opfer von Gewalt - Gewaltkriminalität in Mecklenburg-Vorpommern im Zerrbild einer täterzentrierten Blickweise 713 MARVIN Ε. W O L F G A N G

Α Birth Cohort Study of Juvenile Delinquency in the People's Republic of China 745

Inhalt

IX

GÜNTER B L A U

Die Sicherungsverwahrung - ein Nekrolog?

759

VII. Kriminalpolitik W O L F G A N G HEINZ

Strafrechtspflegestatistiken und Kriminalpolitik - Zuverlässige und inhaltsreiche Strafrechtspflegestatistiken als Alternative zu einer „Kriminalpolitik im Blindflug" 779 HANS-DIETER SCHWIND

Zu Akzeptanz und Umsetzungsstand der Vorschläge der (Anti-) Gewaltkommission der Bundesregierung - Ein Überblick auf dem exemplarischen Wege 813 IRVIN W A L L E R a n d B R A N D O N C . WELSH

Harnessing Crime Prevention Best Practice Globally

847

DIETER RÖSSNER

Die Universalität des Wiedergutmachungsgedankens im Strafrecht 877 U D O JESIONEK

Die Entdeckung des Opfers häuslicher Gewalt

897

HEIKE J U N G

Mediation: Paradigmawechsel in der Konfliktregelung?

913

HORST SCHÜLER-SPRINGORUM

„Verminderte Einsichtsfähigkeit allein genügt nicht"

927

K N U T SVERI

Incarceration for non-payment of a fine

943

ANDRZEJ E . M A R E K

Das neue Strafgesetzbuch - Ursprung und Grundgedanken . . . .

953

KOICHI M I Y A Z A W A

Krise der japanischen Gesellschaft - Krise der japanischen Kriminalpolitik? 965

χ

Inhalt

VIII. Strafvollzug KLAUS KOEPSEL

Ein weltweites Informationssystem für den Strafvollzug - eine Utopie? 985 HEINZ MÜLLER-DIETZ

Hat der Strafvollzug noch eine Zukunft?

995

ALEXANDER BÖHM

Zur Diskussion um die gesetzliche Regelung und die tatsächliche Entwicklung des Jugendstrafvollzuges 1013

IX. Bibliographie Verzeichnis der Schriften von H a n s Joachim Schneider

1039

X. Einige Daten zum bisherigen Lebensweg von Hans Joachim Schneider

1069

XI. Autorenverzeichnis

1075

Hans Joachim Schneider zum 70. Geburtstag Am 14. November 1998 wird Professor Dr. jur. Dr. h. c. (PL) Dipl.Psych. Hans Joachim Schneider siebzig Jahre. Aus diesem Anlaß haben sich aus seinem weltweiten Freundeskreis Kolleginnen und Kollegen zusammengefunden, um einen der international renommiertesten Kriminologen und Viktimologen durch eine Festschrift zu ehren. Das wissenschaftliche Werk des Jubilars ist höchst eindrucksvoll. Es belegt, daß er sich unermüdlich mit den vielfältigsten kriminologischen und viktimologischen Problemen auseinandersetzt und dabei stets auch - wie kaum jemand sonst - die wissenschaftliche Diskussion im Ausland in seine Betrachtungen einbezieht. So ist seine Arbeit immer auch auf das Weiterliegende und das Übergreifende, jenseits der Enge des eigenen Sprachkreises ausgerichtet. Schon seine Ausbildung legt die breit gefächerte, integrative Betrachtungsweise nahe. Nach dem Abitur (1949) in Arolsen/Waldeck, studierte der Geehrte Rechtswissenschaften an den Universitäten Marburg, Frankfurt und Köln sowie („um sich auf die Kriminologie vorzubereiten") Psychologie an den Universitäten Freiburg/Br. und Basel (Schweiz). Die beiden juristischen Staatsexamen legte er in Köln bzw. in Düsseldorf ab, die Prüfung zum Diplom-Psychologen in Freiburg/Br. Promoviert wurde Schneider bei Prof. Dr. jur. Gotthold Bohne (1957) an der Universität zu Köln. Nach dem Assessorexamen (1961) in Düsseldorf, folgten Assistententätigkeiten an den Universitäten Freiburg und Hamburg. In Hamburg habilitierte sich der Jubilar dann unter Leitung von Prof. Dr. jur. Rudolf Sieverts 1971 und erhielt dort die venia legendi für die Fächer Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug. Noch im selben Jahr bekam er einen Ruf an die Westfälische-Wilhelms-Universität in Münster auf den Lehrstuhl für Kriminologie, Strafrecht und Rechtspsychologie, den er annahm. Einen Ruf an die Freie Universität Berlin (1974) hat Schneider hingegen ebenso abgelehnt, wie einen Ruf (1982) an die Universität zu Köln. Das komplexe Fundament für sein wissenschaftliches Wirken nutzte der Jubilar nicht nur als hervorragender akademischer Lehrer, sondern auch als Autor und Herausgeber einer Vielzahl, auch international weithin beachteter Standardwerke und Einzelbeiträge. Sein weit über Deutschlands Grenzen hinaus bekanntes Kriminologie-Lehrbuch wurde in die chinesische und russische Sprache übersetzt.

XII

Hans Joachim Schneider zum 70. Geburtstag

Die internationale Zusammenarbeit hat Schneider immer besonders am Herzen gelegen, eine Aufgabe, die er unter anderem als Berater von internationalen Gremien nachhaltig wahrnehmen konnte. So war er mehrfach für die Vereinten Nationen und den Europarat tätig. Eine Vielzahl von Gastprofessuren, Vorträgen und Hospitationen an wissenschaftlichen Instituten im Ausland - etwa in China oder in Japan an der Keio-, Chuo-, Waseda-Universität und am United Nations Asia and Far East Institute for the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders - boten ihm die Gelegenheit, diesem Ziel zu dienen. Darüber hinaus ermöglichte ihm die Organisation des Dritten Internationalen Symposiums für Viktimologie 1979 in Münster, seine langjährige Funktion (bis 1985) als Präsident der World Society of Victimology (WSV), sein Wirken als Mitglied des Direktoriums der Internationalen Gesellschaft für Kriminologie (Paris) sowie Ehrenmitgliedschaften in ausländischen kriminologischen Gesellschaften (etwa in Japan), den internationalen Erfahrungsaustausch auf den Gebieten der Kriminologie und Viktimologie zu fördern und zu bereichern sowie eine demokratisch und humanistisch geprägte Kriminalpolitik weltweit auch dort zu vertreten, wo solche Sichtweisen und solches Denken dem politischen Alltag bisher eher fernlagen. V o n 1981 bis 1987 hat Schneider als Kriminologie-Experte auch in einem Sachverständigen-Sonderausschuß des Europarates an den „Empfehlungen des Ministerrates zur Stellung des Opfers im Strafrecht und Strafverfahren" mitwirken können. 1984 erarbeitete er ein Gutachten über „Frauen als Verbrechensopfer" für die Abteilung „Kriminalitätsvorbeugung und Kriminaljustiz" der Vereinten Nationen. Die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Lodz (Polen) und die weltweite Resonanz, die der Gedanke, dem Jubilar eine Festschrift zu widmen, ausgelöst hat, unterstreichen die hohe internationale Anerkennung, die die Person und das Werk des Jubilars finden. Neben der bewundernswerten integrierenden Kraft, die Hans J o a chim Schneider für die Vermittlung und Pflege internationaler Beziehungen aufgebracht hat, hat er sich (fast ein Viertel Jahrhundert) mit gleicher Sorgfalt und Hingabe der (interdisziplinär orientierten) Lehre und Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an der Universität Münster gewidmet. Nicht zuletzt kommt das besondere Engagement für die Lehre dadurch zum Ausdruck, daß der Jubilar nicht nur über seine Emeritierung hinaus den Lehrstuhl längere Zeit weiterbetreute; er fand auch noch die Zeit, an der Humboldt-Universität zu Berlin eine Lehrtätigkeit und an der Universität Lodz eine Gastprofessur wahrzunehmen. Vor diesem Hintergrund scheint es eigentlich überflüssig zu betonen, daß der Jubilar auch in Deutschland immer wieder zu den gesuchten Experten gehört: etwa bei Landtagsanhörungen oder im Justizministerium

Hans Joachim Schneider zum 70. Geburtstag

XIII

in Bonn. 1989 wurde er von der Bundesregierung in die „Unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission)" berufen. Schon 1977 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Weißen Ringes. Für Schneiders wissenschaftliches Wirken in Wort und Schrift und seinen Einsatz für die Völkerverständigung und die humanitären Ziele von Kriminologie und Viktimologie wird der siebzigste Geburtstag keinen Einschnitt zur Folge haben. Den Autorinnen und Autoren dieser Festschrift ist es jedoch ein besonderes Anliegen, den Jubilar an diesem Festtage zur Rückschau zu veranlassen und ihm zu diesem Ehrentage in Freude und Dankbarkeit die besten Glückwünsche auszusprechen. Mögen ihm noch viele Jahre aktiver Zukunftsgestaltung und wissenschaftlicher Kreativität und Schaffenskraft vergönnt sein, aber auch viele Stunden der Beschaulichkeit und der Zufriedenheit mit dem Erreichten. Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren für die spontane Bereitschaft, mit der sie der Einladung zur Mitwirkung an dieser Festschrift gefolgt sind. Für die redaktionelle Unterstützung sei besonders Frau Assessorin Regina Stuchlik (Ruhr-Universität Bochum) gedankt. Nicht zuletzt sind wir dem de Gruyter Verlag verbunden, der sich beim Zustandekommen dieses Werkes als besonders entgegenkommend erwiesen hat. Bochum, Trier, Wiesbaden, im November 1998

Die Herausgeber

I. Grundlagen der Kriminologie

Das Paradigma der inneren Sicherheit: Polizeiliche Möglichkeiten Rechtsstaatliche Grenzen HANS-HEINER KÜHNE

I. Einführung Die augenblickliche Diskussion um staatliche Befugnisse bei der Strafverfolgung wird durch zwei Positionen gekennzeichnet: Einerseits wird unter Hinweis auf das Steigen von Ausmaß und Schwere der Kriminalität mehr staatliche Kompetenz für präventive wie repressive Maßnahmen gefordert 1 . Andererseits wird unter Berufung auf die grundgesetzlich garantierten Individualfreiheiten mehr Distance des Staates zur individuellen Freiheitssphäre seiner Bürger angemahnt 2 . Da beide Positionen sich zumindest grundsätzlich auf zutreffende Argumente stützen, gehen die miteinander streitenden Diskussionsbeiträge meistens aneinander vorbei. Dabei ist es doch mehr als offensichtlich, daß niemand Kriminalität fördern oder aber das grundgesetzliche Freiheitsverständnis einem allmächtigen Staat opfern möchte. Vielmehr liegt das Problem wie so häufig in der Bestimmung des erforderlichen Maßes. Kriminalitätsbekämpfung auf präventiver wie repressiver Ebene beschränkt notwendig Individualrechte - und es sind immer die Rechte von Unschuldigen, die betroffen werden, wie sich aus Art. 6 II E M R K (Unschuldsvermutung) klar ergibt. Insofern ist der zum Teil eingerissene Sprachgebrauch, daß bestimmte Maßnahmen gegen organisierte Verbrecher doch wohl erlaubt sein müßten, ebenso falsch wie rechtspolitisch unverantwortlich. Darüber darf jedoch nicht vergessen werden, daß die Verminderung bzw. Verhinderung von Kriminalität ja gerade dem Schutz von Individualrechten dient.

1 Vgl. etwa: Krüger, Das VerbrBekGes - Hilfe bei der Problembewältigung?, Krim 1995, 41 (45 f); Zachert, Organisierte Kriminalität, in: F S für Koichi Miyazawa, 1995, S. 283 (298 ff). 2 Vgl. Hamm, Der Standort des Verteidigers im heutigen Strafprozeß, N J W 1993, 289; Welp, Der SPD-Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, StV 1994, 161.

4

Hans-Heiner Kühne

Es geht demnach um ein Optimierungsproblem: Der Staat soll die Rechtssphäre seiner Bürger so weit als möglich vor Kriminalität schützen, ohne dabei selbst durch seine diesbezüglichen schützenden Aktivitäten eben diese Rechtssphäre allzusehr zu beeinträchtigen. Diese Frage ist übrigens alles andere als neu3. Schon die klassischen griechischen und römischen Denker haben die Grenzen staatlicher Gewalt zu beschreiben versucht; in den staatsphilosophischen Konzepten von Locke4 und Hobbes 5 zeigt sich die Janusköpfigkeit staatlicher Macht am deutlichsten, indem einmal die notwendige Fürsorge für den Einzelnen durch den Staat (Locke) und demgegenüber die alles verschlingende Gewalt des staatlichen Leviathans beschrieben wird. Bei allen Staatstheoretikern von Aristoteles und Cicero über Montesquieu bis hin zu Kelsen und den modernen Denkern ist der Schutz des Einzelnen, vor allem des Schwachen, zentraler telos des Staatsgründungsgedankens. Staat und Kriminalität stehen daher in einem ursprünglichen Spannungsverhältnis wechselseitiger Bedrohung. Es ist daher bestenfalls banal davon zu sprechen, daß Kriminalität den Staat bedrohe. Wenn denn durch solche Formulierung angedeutet werde soll, daß der Staat diesen Kampf verlieren könnte, so fehlt es dafür zumindest an historischen Belegen. Die Geschichte, vor allem die neuere, kennt nur Staaten, die unter dem Vorwand der Kriminalitätsbekämpfung selbst zu kompletten Unrechtssystemen mit staatlichem Kriminalitätsmonopol geworden sind. Der moderne demokratische Rechtsstaat bemüht sich, einen Weg zwischen der Scylla überbordender Kriminalität und der Charybdis des leviathanischen Staatsapparates zu finden. Wie denn die beiden Strudel und soweit mag das Bild tragen - dem Boot nur eine schmale, ungefährdete Passage lassen, die nach Wetter und Jahreszeit unterschiedlich verläuft, so muß jeder Rechtsstaat unter seinen konkreten Bedingungen von Zeit und Raum den Einsatz von staatlicher Macht und die Respektierung von Individualrechten immer wieder neu definieren und gegeneinander ausgleichen. Wegen dieser Dynamik haben Vergleiche zwischen Systemen verschiedener Rechtsstaaten oder des Systemzustands in einem Rechtsstaat zu unterschiedlichen Zeiten nur einen begrenzten, eher heuristischen Wert.

3 Vgl. dazu ausführlich: Kühne, Kriminalitätsbekämpfung durch innereuropäische Grenzkontrollen?, 1991, Teil 1 passim. 4 Locke, T w o Treatises of Government (1690). A Critical Edition with an Introduction and Apparatus Criticus by Peter Laslett, 1960. 5 Hobbes, De Cive or the Citizen (1642). Edited with an Introduction b y Sterling P. Lamprecht, 1949 und ebenfalls: Leviathan (1651). Introduction by A . D. Lindsay, 1914.

Das Paradigma der inneren Sicherheit

5

II. Die Entwicklung von staatlichen £ingriffsbefugnissen zur Kriminalitätsbekämpfung

1. Die Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert Eben diesem Zweck soll das erste Schaubild dienen, welches die Trends in der historischen Entwicklung seit der Schaffung der StPO in analoger, nicht mathematisierender Bewertung darzustellen versucht. Nimmt man für die StPO von 1877 einen gedachten mittleren Liberalitätswert an, verstanden als Ausmaß der Berücksichtigung individueller Interessen gegenüber dem Ziel der staatlichen Strafverfolgung, so ergibt sich für die Jahre bis zum Niedergang im 3. Reich eine Entwicklung, die nach kurzen Bewegungen zugunsten von Individualrechten deutlich die staatliche Machtposition stärken. Ahnlich sieht die Entwicklung nach Ende des 2. Weltkrieges aus. Die Errungenschaften der 60er Jahre erweisen sich als Resultate einer relativ kurzen euphorischen Phase. Seither haben alle Änderungen die Macht staatlicher Verfolgungsorgane zu Lasten der Individualrechte von durch Strafverfolgung betroffenen Personen verstärkt. Wollte man dies mit der Kriminalitätsentwicklung begründen, so zeigt ein Vergleich mit der seit Ende des letzten Jahrhunderts verfügbaren Verurteilungsstatistik rasch, daß eine solche Annahme fehlgeht. Verschärfungen des repressiven Systems sind bei sinkender Kriminalität ebenso zu beobachten wie Liberalisierungen bei steigender Kriminalität. Gleiches gilt für die PKS-Daten qua Häufigkeitszahl nach dem 2. Weltkrieg, vgl. Schaubild 2. Betrachtet man lediglich die rechtspolitisch sicherlich besonders bedeutsame Schwerkriminalität, so ergeben sich auch hier keine Zusammenhänge. Gerade die sinkende Schwerkriminalität in den 80er Jahren hat keinerlei Entspannung im prozessualen Bereich gebracht, vgl. Schaubild 3. Schließlich geben auch die Aufklärungsquoten, die ebenfalls als ein Indikator für rechtspolitische Aktivitäten dienen könnten, keine weiteren Anhaltspunkte, vgl. Schaubild 4. Es ist wohl eher die statistisch nicht nachvollziehbare selektive Aufmerksamkeit für bestimmte Phänomene der Kriminalität gewesen, die den Gesetzgeber jeweils zum Handeln veranlaßt hat.

2. Die jüngste Entwicklung der

Gegenwart

Die jüngste Entwicklung ist deutlich gekennzeichnet durch eine weitere Betonung der staatlichen Macht zu Lasten von Individualrechten: - mehr Eingriffsrechte mit eher fragwürdigen Begrenzungsmechanismen: Zum Beispiel verdeckte Ermittler mit kleinem Lauschangriff, demnächst der große Lauschangriff, der von einigen Polizeigeset-

6

Hans-Heiner Kühne

zen der Länder bereits vorweggenommen wurde. Die hier vorgesehenen Entscheidungsvorbehalte der Staatsanwaltschaft bzw. des Richters sind grundsätzlich wenig wert, da die zu kontrollierende Polizei Herrin über die Informationen ist und damit die erforderliche Sachverhaltseinschätzung durch Staatsanwaltschaft oder Richter steuern kann 6 . Im übrigen hat hier die Praxis der sogenannten richterlichen Formularbeschlüsse die vom Gesetzgeber intendierte Überprüfungsfunktion selbst dort, wo sie noch möglich wäre, gegen null reduziert 7 . - Verteidigungsrechte werden unter Berufung auf Verfahrensbeschleunigung - ein Argument, welches fast immer zugleich den Vorwurf der Verfahrensverschleppung durch Rechtsanwälte impliziert - reduziert, präkludiert oder abgeschafft 8 . Gegenwärtig steht eine weitere Beschränkung des Beweisantragsrechts durch die Bundestagsdrucksache 633/95 ins Haus. - Eingriffe gegen Unverdächtige und Unbeteiligte, einst der StPO völlig fremd, werden vermehrt eingeführt. 1978 wurde mit § 111 StPO eine Regelung eingeführt, die die Identifizierung und Durchsuchung bei jedermann, also bei unverdächtigen Personen, ermöglichte, die eine Kontrollstelle passierten. 1986 gab es die Schleppnetzfahndung des § 163d und 1992 mit §§ 98a ff die Rasterfahndung, Maßnahmen, die das frühere Paradigma von der Ermittlung gegen Verdächtige umgekehrt haben und nunmehr durch Ermittlungen gegen eine Vielzahl von Unverdächtigen Verdächtige herausfiltern bzw. dieses versuchen. - Schließlich und letztlich die neuen Vorschriften moderner Polizeigesetze, die von der Vorfeldermittlung 9 - einer Zwitterfigur zwischen Prozeß- und Polizeirecht 10 , jedoch frei von Beschränkungen, die gemeinhin in diesen Gesetzen vorgesehen sind (Gefahr und Verdacht) - über den großen Lauschangriff bis hin zur polizeilichen Vorbeugehaft reichen. Letztere Vorschrift des sächsischen Polizeigesetzes wurde vom sächsischen Verfassungsgerichtshof allerdings mit Entscheidung vom 14. 5.1996 kassiert. 6

Näher dazu Kühne, in: Kühne/Miyazawa, Neue Strafrechtsentwicklungen im deutsch-japanischen Vergleich, 1995, S. 157 £ m. w. N . 7 Vgl. Köster, Der Rechtsschutz gegen die vom Ermittlungsrichter angeordneten und erledigten strafprozessualen Grundrechtseingriffe, 1992. 8 Vgl. Scheffler, Kurzer Prozeß mit rechtsstaalichen Grundsätzen?, N J W 1994, 2191 ff. 9 Vgl. zur Problematik der Vorfeldermittlungen: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 1992, D 10 f; ausführlich: Wesslau, Vorfeldermittlungen, 1989. 10 Vgl. Kühne, Grenzen staatlicher Eingriffsbefugnisse in Individualrechte bei der Kriminalitätsbekämpfung, in: Kühne/Miyazawa (Fn. 6); S. 162 ff; besonders kritisch aus verfassungsrechtlicher Sicht auch Oswin Müller, Der Abschied von der konkreten Gefahr als polizeiliche Eingriffsbefugnis, ebenfalls in Kühne/Miyazawa, S. 209 (210 ff).

D a s Paradigma der inneren Sicherheit

3.

7

Zwischenergebnis

Diesen kurzen Uberblick zusammenfassend können wir festhalten, daß in den letzten Jahren die Position staatlicher Macht bei der Strafverfolgung deutlich gegenüber dem Individualrechtsschutz bevorzugt worden ist. Für die Entscheidung der Frage, ob dadurch eine inadäquate Betonung der Seite des Leviathans verwirklicht, mithin die Grenzen möglicher Eingriffbefugnisse erreicht oder überschritten worden sind, ist damit freilich noch nichts gewonnen. Das wissenschaftliche Schrifttum im Streit mit den Instanzgerichten und dem Bundesverfassungsgericht werden im einzelnen zu klären haben, wie die durch Grundgesetz und E M R K gezogenen Linien des Beschuldigten- und Individualrechtschutzes verlaufen. Ich werde hierzu jedoch keinen Beitrag leisten, um mich nicht im Gewirr von dogmatisch vorgetragenen subjektiven Wertungen und hierarchischen Systemen unterschiedlicher Definitionsgewalt zu verlieren. Hingegen möchte ich hinter diese Diskussion greifen und Kritik an den unausgesprochenen Denkvoraussetzungen üben, auf denen die Argumentation von der staatlichen Rolle in der Kriminalitätsbekämpfung beruht. Vielleicht kann damit ein Beitrag zur Versachlichung der Behandlung des Themas geleistet werden. III. Naive Kontrollmodelle als Verstärker kriminalpolitischer Probleme Das, was es im Folgenden zu kritisieren gilt, will ich „naive Kontrollmodelle" nennen. Die Hauptannahmen dieser naiven Kontrollmodelle, die bislang unsere kriminalpolitische Diskussion beherrschen, sollen zunächst schlagwortartig vorgestellt werden, bevor sie im einzelnen zu erläutern sind. 1. Jedes menschliche Handeln ist grundsätzlich durch staatliche Kontrolle zu verhindern. 2. Die Vermehrung staatlicher Kontrollbefugnisse führt zur Verbesserung von Kontrolleffektivität. 3. Staatliche Kontrollmacht ist grundsätzlich immer auf der Seite des Guten. ad. 1 Hier handelt sich um einen Irrtum über die Möglichkeiten des materiellen Strafrechts mit Folgen für Prozeß- und Polizeirecht. Strafrecht ist die schärfste Waffe des Staates, jedoch weit davon entfernt allmächtig zu sein. Ohne einen grundsätzlichen Wertekonsens, der von adäquaten sozialen Strukturen getragen wird, bleibt alles Recht, vor allem aber Straf-

8

Hans-Heiner Kühne

recht, wirkungslos. Durch Strafrecht allein turen, noch verfestigte Wertvorstellungen ist lediglich das wirksamste flankierende Kontrolle. An Beispielen offensichtlichen demonstriert werden:

können keine sozialen Strukgeändert werden. Strafrecht Instrument bei der sozialen Strafrechtversagens soll dies

- Die undifferenzierte, breite Kriminalisierung der Abtreibung, wie sie bis 1974 bestand 11 , hat das ungeborene Leben nicht wirklich schützen können. 1972 standen 154 Verurteilungen seriös geschätzten 300 000 Taten gegenüber 12 . - Weder konnte in den U S A zur Prohibitionszeit der Alkoholkonsum noch in der heutigen Zeit der Drogenkonsum durch Strafgesetze und Strafverfolgung eingedämmt werden. - Weder zentrale Prostitutionsverbote noch flankierende Kriminalisierungen des Umfeldes haben diesem Erwerbszweig in irgendeiner Weise schaden können. Die Beispiele zeigen, trotz ihrer Verschiedenheit, drei gleiche Merkmale: 1. Persönliche Werte in gleichbleibenden sozialen Strukturen trotzen auch dem Versuch, mit Hilfe des Strafrechts Änderungen zu erzwingen. 2. Die Wahl des Mittels Strafrecht führt zur Versagung oder Verkürzung von Hilfe in den Situationen, die durch ihre tatbestandsmäßige Formulierung Hilfsbedürftigkeit eher als Sanktionsnotwendigkeit indizieren. 3. Das Abdrängen in die Illegalität schafft schwarze Märkte mit kriminologischen Schadensfolgen, die weit über die im ursprünglichen Strafrechtstatbestand angesprochenen hinausgehen. Während es in diesen Beispielen um das überwiegende soziale Wollen strafrechtlich relevanten Verhaltens geht, zeigt etwa das Beispiel der vietnamesischen Zigarettenmafia in Berlin, daß es auch am sozialen Können, sich gesetzeskonform zu verhalten, fehlen kann. Weder als Asylbewerber noch als Illegaler besteht die Möglichkeit, den Lebensunterhalt innerhalb der geltenden Rechtsordnung zu verdienen. Dies bedeutet umgekehrt, daß alle dann notwendig illegalen Erwerbstätigkeiten ohne staatliche Ordnungsstrukturen leben und damit dem archaischen Faustrecht ausgesetzt sind. Wie auch bei der Kriminalität des Rotlichtmilieus

11 Mit der die gesetzliche Neuregelung verwerfenden Entscheidung B V e r f G 39, 1 begann die nicht enden wollende Geschichte der R e f o r m des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs. 12 Protokolle VI/2218; Bundestagsdrucksache 7/1981 (neu).

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bedeutet hier die Verweigerung allgemeinen Rechtsschutzes die Schaffung meist krimineller Ersatzstrukturen, gegen die das Strafrecht ohne wirkliche Erfolgschancen ist. Die eher vermuteten als bekannten Schutzgelderpressungen in italienischen, türkischen, jugoslawischen und chinesischen Kreisen sind zwar keine Folge verweigerten Rechtsschutzes, wohl aber Folge mangelnder Integration in allgemeine deutsche Rechts- und Sozialstrukturen. Deshalb kann der strafrechtliche Ansatz allein auch hier nicht wirksam greifen. Schließlich und letztlich in diesem Zusammenhang zeigen die Beispiele der nicht durchsetzungsfähigen Kontakt- und Informationsverbote, wie wir sie aus dem NS-Staat und der ehemaligen D D R kennen (Stichwort: Rundfunk- und Fernsehverbot für Westsender), daß auch absolute, durch keine rechtsstaatlichen Grenzen beschränkte Polizeigewalt, keineswegs jedes Verhalten zu kontrollieren in der Lage ist, wenn kein Wertekonsens zwischen rechtlichem Sollen und bürgerlichem Wollen besteht. Aus alledem folgt, daß verfehlt eingesetztes Strafrecht nicht nur unnötig die Probleme kreiert, die es zu bekämpfen vorgibt, sondern auch notwendig auf der Ebene der Bekämpfung zu massiven Defiziten führt. Diese Defizite sind bekämpfungstechnisch nicht zu kompensieren; die polizeirechtlichen und strafprozessualen Vorschriften sind gleichsam unschuldig an ihrem in diesen Bereichen mangelndem Erfolg. Eine Änderung dieser Vorschriften wäre insofern verfehlt. ad. 2 Auch die Annahme der Proportionalität zwischen Kontrollbefugnissen und Kontrollerfolgen ist in der heute typischen Diskussion um Fragen der inneren Sicherheit allzu naiv. Zunächst ist der Ausgangspunkt falsch, die Polizei müsse mehr Befugnisse haben, um erfolgreicher ermitteln zu können. Zwischen 95 % und 98 % aller relevanten Informationen über die Begehung von Straftaten werden der Polizei von der Bevölkerung angetragen". Um diese Informationen erfolgreich zu benutzen, bedarf es zunächst einmal nur personeller und sachlicher Ressourcen sowie einer hinlänglichen Professionalität, nicht aber irgendwelcher weiterer Eingriffsbefugnisse. Im Gegenteil, mit steigender Macht der Polizei gegen Unschuldige im Rahmen von Ermittlungen vorzugehen und deren Individualrechte einzuschränken, wächst die Gefahr, daß Bürger die Polizei eher als bedrohliche Macht denn als helfende Instanz empfinden. Dieses wiederum hätte eine Minderung der Kooperationsbereit-

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Vgl. Schwind, Kriminologie, 5. Aufl. 1993, § 2 Rdn. 24 m. w. N.

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schaft zur Folge. In Anbetracht des überwältigenden Ausmaßes der von Bürgerseite zur Kriminalitätsbekämpfung gelieferten Informationen, wäre eine solche Entfremdung des Bürgers von seinem Staat in der Tat eine dramatische Gefahr für die Effizienz der Strafverfolgung. Darüber hinaus erscheint es absurd, für die 2-5 %ige eigenständig ermittelten Tatinformationen, das ermittlungstechnische Instrumentarium grundsätzlich umzugestalten oder auch nur entscheidend zu erweitern. Nun wird aber in neuerer Zeit die Notwendigkeit sogenannter proaktiver polizeilicher Tätigkeit, vor allem zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität betont, auf die im ersten Teil bereits hingewiesen worden ist. Eine Tätigkeit, die die überkommenen Eingriffsschwellen präventiven und repressiven staatlichen Handelns - die polizeiliche Gefahr bzw. der Tatverdacht im Strafprozeß - zugunsten einer schrankenfreien Ermittlungsbefugnis gegenüber jedermann hinter sich läßt. Wir bewegen uns hier kriminalpolitisch auf einer Ebene, die nur durch die Schwere der Tat, nicht aber ihrer Häufigkeit wegen Bedeutung erlangt. Zudem ist der Streit um das quantitative Ausmaß dieses Bruchteils der Gesamtkriminalität sattsam bekannt. Die überwiegend als v.s. behandelten polizeilichen Informationen halten empirischen oder auch nur statistischen Kriterien nicht stand, weil die Definition der organisierten Kriminalität zuviel normative Freiräume bei der Subsumtion offen läßt. Dies ist ein Grund, weshalb Daten über o.K. bislang in der PKS nicht erschienen sind. Die Zahlen sind dennoch bescheiden und haben in den letzten 3 Jahren trotz vermehrter Bekämpfungsintensität kurz vor 800 Fällen stagniert14. Gleichwohl bestehen Polizeipraktiker und Politiker auf der Einschätzung, die o.K. sei eine zentrale Herausforderung und konkrete Bedrohung auch für unseren Staat15. Die vor allem aus der Wissenschaft vertretenen Gegenpositionen bestreiten wegen der Wagheit der Daten selbst diese geringen Zahlen16 und sehen im Begriff der o.K. nicht vielmehr als ein künstliches,

14 Vgl. auch Wittkämper, Europa und die innere Sicherheit, BKA-Forschungsreihe 1996, S. 58 ff. 15 Dies vor allem unter Berufung auf Studien, die statt empirischer Daten nur sogenannte Expertenschätzungen zur O.K. bieten, wie dies bei Rebscher/Vahlenkamp, Organisierte Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, BKA Forschungsreihe Sonderband 1988, Dörrmann u. a., Organisierte Kriminalität - Wie groß ist die Gefahr, BKA Forschungsreihe Sonderband 1990, Sieber/Bogel, Logistik der organisierten Kriminalität, BKA Forschungsreihe 1993 und Wittkämper, Europa und die innere Sicherheit, BKA Forschungsreihe 1996 der Fall ist. So insbesondere Europäisches Parlament 1994, Bericht des Ausschusses für Grundfreiheiten und innere Angelegenheiten über die Kriminalität in Europa, PE 207.498 S. 2; BT - Drucksache 12/4948 S. 2. " Vgl. Diskussionsbeitrag von Schaefer, in: Hassemer (Hrsg.), Organisierte Kriminalität - geschützt vom Datenschutz?, 1993, S. 80 f.

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überwiegend irreales Phänomen, welches als Vehikel für überbordende Law- und Orderstrategien benutzt wird17; der Rechtsstaat könne nicht durch Abbau aufgebaut werden (H. J. Albrecht). Überdies sei die Abgrenzung sowohl zur Wirtschaftskriminalität wie auch zum faktischen Verhalten von Wirtschaftsunternehmen kaum möglich18. Die emotional vom Terminus o.K. mitgetragene Konnotation von Mafia, Auftragsmord und Knochenbrechen, die den Gebrauch des Begriffs o.K. rechtspolitisch so erfolgreich macht, ist nicht übertragungsfähig auf die meisten Formen der Wirtschafts- und Umweltkriminalität. Gleichwohl machen letztere einen nicht unerheblichen Teil der als o.K. registrierten Fälle aus. Zudem wird darauf hingewiesen, daß das Merkmal der Organisiertheit keineswegs auf besondere kriminelle Energie schließen lasse, sondern als Ausdruck allgemeiner moderner Lebensform, die in allen beruflichen Bereichen vermehrt eine elektronisch organisierte Kooperation verlangt, im legalen gleichermaßen wie im illegalen Leben, vorzufinden ist19. Insgesamt betrachtet ist all dies keine besonders geeignete Basis, um lang tradierte und bewährte Rechtspositionen des Beschuldigten und unbeteiligter Bürger zu reduzieren. Darüber hinaus scheint mir in dieser Diskussion ein wesentliches Argument zu fehlen, welches auf die oben erwähnte Kontraproduktivität von übermäßiger Kontrolle zurückführt: Gerade organisiertes Verbrechen verdankt seine Entstehung und Existenz dem Fehlen hinreichender staatlicher Ordnungsfunktionen20. Die sizilianische Mafia21 konnte nur entstehen, weil sie im 19. Jahrhundert nicht existente oder total korrupte staatliche Ordnungsfunktionen ersetzte. Nach Ende des 2. Weltkrieges ermöglichten dann die Amerikaner die weitgehende Besetzung öffentlicher Amter auf Gemeinde- wie auf Landesebene durch rechtzeitig aus dem faschistischen Italien emigrierte Mafiosi. Dadurch konnte der italienische Staat vom organisierten Verbrechen gleichsam übernommen werden. Ein historisch bemerkenswerter Vorgang.

Vgl. Welp (Fn. 2), S. 161. " Wittkämper, aaO, S. 20 ff; die kaum trennbare Beziehung zwischen Unternehmertum und o.K. wird besonders hervorgehoben von D. L. Smith, The Mafia Mystique, Lanham, N e w Y o r k , L o n d o n 1975; ders. in International Journal of Criminology and Penology, 6 (1978), S. 1 6 1 - 1 7 7 ; P. A. Adler, Wheeling and Dealing, N e w Y o r k 1985; P. Reuter, Disorganized Crime, Cambridge Mass., London 1983. 17

" Vgl. Kühne, in: Müller-Graff, Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneren, 1996, S. 85. 20 So der auf J o h n Landesco zurückzuführende strukturtheoretische Ansatz. Siehe hierzu auch: Schneider, Kriminologie, 1987, S. 53 ff. 21 So auch Schneider, Festschrift für Stree und Wessels, Beiträge zur Rechtswissenschaft, 1993, S. 813 (826 ff).

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Die amerikanische Mafia22 wurde aufgrund des durch die Prohibition bewirkten anomischen Zustands der amerikanischen Gesellschaft möglich: Strafgesetze, die schlicht von der großen Mehrheit der Bevölkerung nicht akzeptiert wurden, schufen einen die gesamte Nation überziehenden Schwarzen Markt, bei dessen Organisation die zuständigen Akteure des Rechtsstaates ausgeschlossen waren. Die sogenannte „Russenmafia"2} schließlich ist - wie andere Organisationen aus den neuen östlichen Demokratien auch - nichts anderes als eine Ersatzstruktur für in weiten Bereichen nicht mehr existente Staatsmacht. Die Medellin und Cali Syndikate haben in weiten Teilen von Bolivien, Panama und Kolumbien der armen Landbevölkerung Uberlebensmöglichkeiten geschaffen und haben mit Hilfe ihrer Gewinne gleichsam Parallel-Staaten geschaffen, die einerseits Strukturen der offiziellen Staaten ersetzen, andererseits aber auch letztere direkt und indirekt mitfinanzieren24. Auf diese Weise ist die Grenze zwischen Legalität und Illegalität dort besonders stark verwischt - was weniger über die Gefährlichkeit der o.K. als über die Problematik ihrer Beschreibung aussagt. Die yakuza/boryokudan Japans 25 konnte ihre mindestens 150jährige Tradition dadurch erlangen, daß ihr die staatliche Gewalt bestimmte Lebens-und Wirtschaftsbereiche zur eigenständigen Organisation überlassen hat. Die chinesischen Triaden schließlich wurden bereits vor der christlichen Zeitrechnung als Schutzbünde für soziale Gerechtigkeit gegen Korruption und Staatswillkür von Bauern und anderen Unterprivilegierten gegründet. Im 17. Jahrhundert kam das politische Programm der Vertreibung der Mandschu Herrscher zugunsten der Ming Dynastie hinzu. Insofern gibt es Parallelen zur Yakuza, die sich für das Wiedererstarken des Kaisertums gegenüber dem Shogunat eingesetzt hat und bis heute in der Politik nationalistischer Kreise eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Organisierte Kriminalität ist also Folge staatlicher Desorganisation, nicht ihr Grund. Überlebensfähig ist o.K. deshalb auch nur dort, wo der Staat auf einer allgemeinen Rechtsebene keine akzeptierten Ordnungsstrukturen bereithält. Das hat mit Strafrecht zunächst einmal nichts zu tun. Strafrecht bestärkt nur einige besonders schützenswert gehaltene

22 Vgl. Schwind (Fn. 13), § 24 Rdn. 16 ff; Kefauver (Hrsg.), The Kefauver Committee Report on Organized Crime, 1951. 23 Vgl. A. Gurow, in: B K A (Hrsg.), Organisierte Kriminalität in einem Europa offener Grenzen, 1990, S. 131 ff. 24 Vgl. Schneider, aaO. (Fn. 21), S. 824. 25 Ausführlich dazu Kühne/'Miyazawa, Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung in Japan, 2. Aufl. 1991, S. 157 ff.

Das Paradigma der inneren Sicherheit

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Rechtspositionen zusätzlich zu den Regelungen des zivilen und öffentlichen Rechts. Die allgemeinen Ordnungsstrukturen entspringen daher einer funktionierenden Zivil- und öffentlich-rechtlichen Ordnung. D o r t ist Staatsgewalt und ihre Akzeptanz zu implementieren. Geschieht das nicht, hilft auch das Strafrecht nicht weiter. Insofern erscheint mir der strafrechtliche und strafprozessuale wie polizeirechtliche Ansatz zur Bekämpfung von o.K. als allzusehr verkürzt. Eine drastische Umstrukturierung dieser Rechtsgebiete ist zu diesem Zweck daher zumindest voreilig. ad. 3 Die Akkumulation staatlicher Macht zu guten Zwecken garantiert weder den legalen noch den legitimen Gebrauch dieser Macht. In Anknüpfung an die Philosophie der Aufklärung soll hier unter Legitimität das inhaltliche Richtige und Gerechte verstanden werden. Legalität als Gesetzeskonformität und Legitimität können also, müssen aber nicht, zusammenfallen. Gerade die jüngsten deutschen Erfahrungen mit dem NS-Staat und der D D R haben gezeigt, wie leicht und weit sich die Legalität staatlicher Machtausübung von der Legitimität entfernen kann. Hier soll nun auf keinen Fall ein Vergleich unseres Rechtsstaates mit den beiden unrühmlichen Vorgängern betrieben werden. Dafür fehlt jegliche Basis. Es soll jedoch aufgezeigt werden, daß ein bloß formales Rechtsverständnis Gefahr läuft, Einbußen an Legitimität zu erleiden, selbst wenn diese unterhalb der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten grundrechtlichen Wesensgehaltgarantien oder der vom E u G H M nach E M R K verstandenen prozessualen minima moralia liegen. Aber selbst bei Deckungsgleichheit von Legitimität und Legalität staatlicher Eingriffsbefugnisse birgt jede Akkumulation von Macht ein Mißbrauchspotential, welches nicht nur proportional sondern eher progressiv mit dem Ausmaß der konkreten Macht steigt. Auch hier gibt es einen - allerdings noch nicht operational beschriebenen - Schnittpunkt, in dem sich Macht- und Machtkontrolle optimal zueinander verhalten. Kurzum eine unreflektierte bloße Steigerung von Kontrollmacht verschärft das Problem, daß Staatsdiener gegenüber den Bürgern als Störer ihrer Rechte auftreten und erfordert seinerseits zusätzlichen Kontrollaufwand. Damit wäre dann eine unheilvolle Spiralentwicklung in Gang gesetzt, die das Kontrollparadigma ad absurdum führen würde. Allein dies läßt es dringend angebracht erscheinen, anstatt immer mehr staatliche Macht einzufordern, der Optimierung von Macht und Machtkontrolle mehr Aufmerksamkeit zu schenken und damit einen Beitrag zur Verbesserung der inneren Sicherheit zu leisten.

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Hans-Heiner Kühne

IV. Zusammenfassung Aus alledem möchte ich die Schlußfolgerung ziehen, daß es allzu naiv und unbedacht ist, gegenüber dem Phänomen einer sich wandelnden und deshalb bedrohlich erscheinenden Kriminalität allein auf das Instrumentarium des Strafrechts zu starren und sich vom bloßen „more of the same" Erleichterung zu erhoffen, in der Erwartung, das Bundesverfassungsgericht werde letztendlich schon auf die Einhaltung der Grenzen staatlicher Gewalt achten. Die kriminalistische und kriminalpolitische Effizienz eines solchen Verhaltens ist nicht nur gering. Überdies werden Grundfreiheiten der Bürger ohne Not abgebaut, was in einem fatalen Kreislauf, wie dargestellt, zu einer Schwächung der Kriminalitätsbekämpfung führen kann.

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Beschuldigtenrechte im Strafprozeß 1877-1993 Liberalitätstendenzen

Schaubild 1

Liberalitätstendenzen Β Liberalität

Schaubild 2

Mio. Delikte aufgeklärt • Delikte gesamt

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Hans-Heiner Kühne

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Schaubild 4

Kriminologische Forschung im Schnittpunkt von Praxis und Theorie HANS-LUDWIG ZACHERT

Bedeutende kriminalpolitische Vorhaben stehen auch in der laufenden Legislaturperiode auf der Tagesordnung. Lassen Sie mich nur zwei Komplexe hervorheben. Das sind zum einen weitere Verbesserungen des gesetzlichen Instrumentariums zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Das ist zum anderen die seit langem anstehende Neufassung des BKA-Gesetzes : ; ". Bei der Kodifizierung dieser Vorhaben sind neben den rechtspolitischen Grundüberlegungen im parlamentarischen Raum auch die polizeilichen und justitiellen Erkenntnisse und Erfahrungen aus der praktischen Verbrechensbekämpfung von Bedeutung. Damit sind allerdings nicht subjektive Uberzeugungen gemeint, sondern mit Daten und Fakten unterlegte Analysen, die dem Gesetzgeber eine verläßliche Entscheidungsgrundlage in die Hand geben. Ahnlich gelagert sind die Bedürfnisse der Führungsverantwortlichen in den Strafverfolgungsbehörden, die eine Optimierung des Einsatzes der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen anstreben. Die dabei anstehenden Planungs- und Entscheidungsaufgaben setzen ein detailliertes und differenziertes Wissen über Kriminalität, ihre Entstehungsbedingungen und die Wirkungsweise von Gegenmaßnahmen voraus. Mit anderen Worten gesagt: Moderne Kriminalitätsbekämpfung erzeugt einen erheblichen Bedarf an empirisch belegten, überprüfbaren Informationen. Wirksamer Schutz vor Verbrechen und eine effektive Strafverfolgung die Forderungen der Bürger - setzen voraus, daß hinreichende und valide Erkenntnisse über die Kriminalität und über die zu ihrer Bekämpfung eingesetzten Maßnahmen vorliegen. Diese unverzichtbaren Planungsund Entscheidungsgrundlagen erstrecken sich nicht allein auf Informationen über den Ist-Zustand, sondern schließen auch die Bildung und Prüfung von Hypothesen über Wirkungszusammenhänge ein. Erwünscht sind darüber hinaus prognostische Angaben über anstehende Entwicklungen bzw. Veränderungen in der Zukunft und deren Wahrscheinlichkeit. Damit gerät die Kriminologie in den Mittelpunkt des Interesses. Denn sie ist es, die mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und Metho·· A m 1. 8. 1997 in Kraft getreten (BGBl. I S. 1650).

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Hans-Ludwig Zachert

den diesen Informationsbedarf zu decken vermag. Sie kann dazu beitragen, neue, zusätzliche Erkenntnisquellen zu erschließen und verbesserte, erweiterte Datenzugangsmöglichkeiten zu schaffen. Kriminologische Forschung bildet eine Ergänzung der praktischen Polizeiarbeit, wenn es um die Gewinnung weitergehender, vertiefter und polizeiexterner Erkenntnisse über Verbrechensphänomene und deren Bekämpfung geht. Uber den Einzelfall oder die Auswertung einer größeren Zahl von Fällen hinaus kann so das Wissen über Erscheinungsformen der Kriminalität, ihre Entstehungsbedingungen, den Tathergang, die Tatbeteiligten usw. qualitativ verbessert und quantitativ ausgeweitet werden. Ziel ist es, auf diese Weise Hinweise und Erkenntnisse (vor allem empirischer Natur) zu gewinnen, die - die Entdeckung und Aufklärung von Straftaten erleichtern - die Vorbeugung verbessern - ein möglichst umfassendes Lagebild ermöglichen. Kriminalistisch-kriminologische Forschung hat darüber hinaus die Aufgabe, Erkenntnisse über Kriminalitätsphänomene, insbesondere über neuartige Erscheinungsformen, zu gewinnen, bei denen aus der polizeilichen Ermittlungs- und Auswertungstätigkeit noch keine oder keine als quantitativ ausreichend betrachteten Fallinformationen vorliegen. Dazu gehört es auch, die Auswirkungen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Wandels auf das Kriminalitätsgeschehen zu analysieren. Zum Teil geht es dabei auch um prognostische Elemente, die eine Abschätzung bevorstehender Entwicklungen ermöglichen sollen. Zu den Zielen kriminalistisch-kriminologischer Forschung gehört es schließlich auch, - die Instanzen der Verbrechenskontrolle und ihre Verfahrens- bzw. Arbeitsweisen (effizienz-) kritisch zu untersuchen - geltende Rechtsvorschriften auf ihre Praxisbewährung hin empirisch zu analysieren - neue Verfahrensweisen und Arbeitsmethoden für Gefahrenabwehr und Strafverfolgung zu entwickeln. Den Bedarfsträgern in Strafverfolgung und Kriminalpolitik als Nachfragern steht also ein umfassendes Angebot des (potentiellen) Bedarfsdeckers Kriminologie gegenüber. Alles ganz einfach - so mag es auf den ersten Blick erscheinen. Wenn dem so wäre, dann wäre mein Vortrag an dieser Stelle mit einem kurzen Fazit zur erfreulichen und fruchtbaren Kooperation von Theorie und Praxis beendet. Doch ganz so unkompliziert liegen die Dinge nicht. Angebot und Nachfrage entsprechen in der Lebenswirklichkeit selten den Prämissen wirtschaftswissenschaftlicher Modelle. Insbesondere fehlt es meist an der vollständigen Infor-

Kriminologische Forschung im Schnittpunkt von Praxis und Theorie

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mation der Akteure (die im übrigen die Nachfrage nach wissenschaftlichen Leistungen auf Null bringen würde). Tatsächlich liegen über Angebot und Nachfrage kriminologischer Forschung nur sehr unvollkommene Informationen vor. Hinzu kommen Schwierigkeiten, den Bedarf angemessen zu beschreiben und die richtigen Produkte nachzufragen. Anbieter und Nachfrager sind einander vielfach nicht bekannt. Der Markt ist also ausgesprochen unvollkommen. Für die Polizei stellt sich also die Frage, wie sie ihren - zum Teil latenten - Forschungsbedarf artikulieren und sich die benötigten kriminologischen Informationen verschaffen kann. Standen zunächst kriminaltechnische Bedürfnisse im Vordergrund, so wuchs mit der Zeit das Interesse an Erkenntnissen der empirischen Kriminologie, dem allerdings in der Nachkriegszeit ein nur geringes Angebot fachwissenschaftlicher Literatur gegenüberstand. U m diesem Mangel abzuhelfen und die polizeiliche, namentlich die kriminalistische Praxis mit Grundlagenwissen und Spezialkenntnissen zu versorgen, wurde das neugeschaffene Bundeskriminalamt aktiv. Anfangs der fünfziger Jahren wurden erste Publikationsreihen begründet (BKA-Schriftenreihe und die später so benannte BKA-Vortragsreihe) und Fachtagungen ins Leben gerufen. Die Beiträge zu diesen Veröffentlichungen und Veranstaltungen dokumentieren das lebhafte Interesse am Dialog mit der Wissenschaft bei der Suche nach Antworten auf Fragen der Kriminalitätsbekämpfung. Aus heutiger Sicht können wir diese Aktivitäten des Bundeskriminalamts als Keimzelle der späteren Forschungstätigkeit ansehen. In den sechziger Jahren wurden im Zusammenhang mit dem wachsenden Interesse an der Bekämpfung der steigenden Kriminalität, besonders bei der Ausarbeitung eines Plans zur Erhöhung der Effektivität des B K A , über die notwendigen Maßnahmen diskutiert. Dabei tauchte immer wieder die Anregung auf, durch Erforschung der Ursachen von Kriminalität neue Strategien zur Verhinderung und Verfolgung zu entwickeln. Konkrete Realisierungsmöglichkeiten für eine solche Forschungstätigkeit eröffnete das Sofortprogramm von 1970. Die Bundesregierung beschloß, eine zentrale Stelle für praxisbezogene kriminalpolizeiliche Forschung im B K A aufzubauen. Im gleichen Sinne stellten die Innenminister im Programm für die Innere Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland von 1972 fest: „Eine schnelle und ständige Anpassung der polizeilichen Arbeit in der Verbrechensbekämpfung an die jeweiligen Gegebenheiten gebietet eine sorgfältige und umfassende kriminalistisch-kriminologische Forschung. In diesem Bereich obliegen dem Kriminalistischen Institut des B K A die praxisbezogene Methoden- und Zweckforschung für die kriminalpolizeilichen Arbeitsweisen sowie die Analysen statistischer Aussagen über die Veränderungen und Entwicklungen der Kriminalität". Diese Zielvorstellungen fanden Eingang in die

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Neufassung des BKA-Gesetzes im Jahr 1973, mit der dem Amt die Zentralstellenaufgabe zugewiesen wurde, „Forschung zur Entwicklung polizeilicher Methoden und Arbeitsweisen der Verbrechensbekämpfung zu betreiben". Das war die Geburtsstunde der eigenständigen kriminologischen Forschung im Bundeskriminalamt. Eine Vielzahl von triftigen Gründen sprachen und sprechen dafür, an zentraler Stelle innerhalb der Polizei eine Einrichtung zu schaffen bzw. zu unterhalten, die sich um den kriminologischen Forschungsbedarf kümmert. Das ist sicherlich zunächst einmal die von uns als wichtige Rahmenbedingung angesehene enge Verzahnung von Praxis und Wissenschaft anzuführen. N u r ein ständiger Dialog beider Seiten stellt sicher, daß die Bedürfnisse der Anwenderseite bei der Konzeption von Forschungsvorhaben angemessene Berücksichtigung finden. Einen wesentlichen Vorzug der Forschung im BKA sehe ich in der personell-fachlichen Zusammensetzung. Es ist wohl an anderer Stelle kaum möglich, ein derartiges Maß an Interdisziplinarität der beteiligten Wissenschaftler und zugleich die Verbindung von Wissenschaftlern und Praktikern unter einem Dach zu realisieren. Darin sehen wir eine der Leitlinien unserer Arbeit. Universitäre Forschung hat - von wenigen Ausnahmen abgesehen spezifisch kriminalistische Anliegen kaum aufgegriffen. Unabhängig davon, ob man Kriminalistik als Teilbereich der Kriminologie betrachtet oder als eigenständige Disziplin ansieht, muß man auch heute noch feststellen, daß sie im universitären Lehr- und Forschungsbetrieb keinen allzu hohen Stellenwert erringen konnte. Eine polizeiinterne Forschungsstätte hat die Möglichkeit, den kriminalistischen Aspekt ungleich stärker zu betonen und zur Fortentwicklung der Kriminalistik als Wissenschaft beizutragen. Dabei haben wir zusätzlich zu berücksichtigen, daß kriminalistischkriminologische Forschungserträge einen wesentlichen Grundstein für die Aus- und Fortbildung im Polizeibereich bilden. Sie beschränken sich schon lange nicht mehr auf die Vermittlung alltäglicher Fertigkeiten im Sinne einer praktischen Handlungslehre, sondern sind auf Professionalisierung im Sinne des Erwerbs einer Langzeitqualifikation ausgerichtet. Forschung auf der einen Seite sowie Aus- und Fortbildung auf der anderen Seite müssen deshalb - ähnlich dem universitären Bereich - eine enge Verbindung miteinander eingehen. Das läßt sich aber nur gewährleisten, wenn neben den lehrenden auch die forschenden Kapazitäten zur Verfügung stehen. Schließlich bringt es die ausgeprägte föderale Struktur, mit der wir es bei der Polizei in Deutschland zu tun haben, mit sich, daß eine zentrale Stelle besteht, die allen Ansprechpartnern und Fragestellern als Mittlern und gegebenenfalls Koordinator zur Verfügung steht.

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Auch die Frage, ob eine solche Stelle lediglich koordinieren soll, die Forschungsarbeit aber an Außenstehende, insbesondere Universitäten vergibt, war zu beantworten. Hier gibt es gute Gründe, auf eigene Forschungsaktivitäten zu verzichten. Zum einen werden die dort tätigen Mitarbeiter nur dann auf Dauer ihre Kompetenz wahren können, wenn sie selbst als Wissenschaftler tätig sind. Zum anderen kann es der Forschungsgegenstand mit sich bringen, daß nur eine polizeiinterne Erhebung möglich ist oder die Arbeit wesentlich erleichtert. So lassen sich beispielsweise auch Polizeibeamte nur ungern über die Schulter schauen, wenn es darum geht, Arbeitsweisen mit wissenschaftlichen Methoden zu analysieren, um Stärken und Schwächen festzustellen. Nach unseren Erfahrungen findet der polizeiinterne Forscher hier noch am ehesten adäquate Zugangsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite besteht allerdings auch nicht die Gefahr, daß die universitäre Forschung durch unsere Eigenprojekte ausgehungert wird. Denn seit jeher hat es sich bewährt, bei der Bearbeitung von Projekten auf eine Mischung aus selbst bearbeiteten Vorhaben und Vergabeaufträge an externe Wissenschaftler zu setzen. Das hat sowohl Kapazitätsgründe als auch inhaltliche und methodische. Bei bestimmten Formen der umfassenden Datenerhebung durch Befragung oder Aktenauswertung sind wir nicht einmal in der Lage, sie mit eigenem Personal durchzuführen. Auch erheben wir nicht den Anspruch, alle relevanten Fragestellungen mit eigenen Mitteln angehen zu können, sind auf die Zusammenarbeit mit anderen Forschungsstätten angewiesen. Kooperation ist eine weitere Leitlinie unserer Forschungsarbeit. Wenn ich soeben auf die Notwendigkeit von Eigenprojekten für Einzelbereiche hingewiesen habe, so ist auf anderen Untersuchungsfeldern unzweifelhaft das Gegenteil festzustellen. Bei Befragungen von Tätern oder von Opfern wie auch bei der Auswertung polizeiexterner Akten ist es im wissenschaftlichen Interesse häufig angebracht, nicht BKA-Bedienstete, sondern externe Wissenschaftler mit diesen Erhebungen zu betrauen. Ich bin überzeugt, daß wir den richtigen Weg eingeschlagen haben, indem wir der kriminologischen Forschung einen Platz innerhalb der Polizei verschafft haben. Die Tatsache, daß mittlerweile weitere Forschungsstellen in Polizei und Justiz hinzugekommen sind, bestätigt mich in dieser Einschätzung. Zugleich dokumentiert die Existenz dieser Institute, daß sich die Polizei gegenüber der Wissenschaft geöffnet hat und den verstärkten Dialog mit ihr sucht, weil sie den Wert (zumindest einzelner) der gelegentlich als „Theorie" abqualifizierten Forschungsergebnisse erkannt hat. Sicherlich begegnen wir auch heute noch dem sog. Praktikermißverständnis, welches - mit den Worten von Herrn Kollegen Kühne gesprochen - „in dem Glauben besteht, daß Berufserfahrung ohne weiteres all-

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gemein gültige, also verallgemeinerungsfähige Informationen ... vermittelt". Doch in weiten Bereichen wird kriminologische Information längst im Alltag gezielt eingesetzt und genutzt - mitunter allerdings vielleicht unbewußt und deshalb nicht als solche qualifiziert. Modifizierte Ausbildungsinhalte haben sicherlich einen wichtigen Grundstein für das sich wandelnde Bewußtsein gelegt. Aber auch die erhöhten Anforderungen, die die Alltagspraxis und das gesellschaftliche Umfeld an die Professionalität der in der Polizei Tätigen stellt, haben dazu beigetragen. Nach dieser Standortbestimmung kriminalistisch-kriminologischer Forschung im Schnittpunkt von Praxis und Theorie widerstehe ich ganz bewußt der durchaus naheliegenden Versuchung, nunmehr auf das Begriffe-Dreieck Kriminologie - Kriminalistik - Angewandte Kriminologie näher einzugehen. Auch liegt es mir fern, an dieser Stelle den Standort der Teildisziplinen Kriminalistik und Angewandte Kriminologie im wissenschaftlichen Gefüge näher lokalisieren zu wollen. Schließlich will ich heute auch nicht der Frage nachgehen, ob die Kriminalistik bereits das Stadium einer eigenständigen wissenschaftlichen Handlungslehre erreicht hat oder nicht. All das wäre mehr als ein Exkurs. Es wäre ein eigener, längerer Vortrag. Ich will mich statt dessen auf den im Titel meiner Vorlesung benannten Schnittpunkt konzentrieren. Lassen Sie mich anhand einiger ausgewählter Beispiele auf inhaltliche Schwerpunkte, methodische Schwierigkeiten und offene Fragen kriminologischer Forschung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis eingehen. Ein geradezu explosives Wachstum des Wissens, eine ständig fortschreitende Spezialisierung und immer aufwendigere Gerätschaften lassen uns in der Alltagsarbeit an Kapazitätsgrenzen stoßen. Die in der Vergangenheit entwickelten vielfältigen und richtungsweisenden Methoden und Verfahren sind Indikator dafür, was heute und zukünftig im Bereich der Kriminalistik machbar ist. Kriminalistik ist kein schlichtes Handwerk, sondern setzt hochkomplexe gedankliche Überlegungen voraus, bevor beispielsweise einer bestimmten Spur die richtige Bedeutung zugemessen werden kann. Dazu gehört es auch, bislang Praktiziertes immer wieder infrage zu stellen und alternative Lösungen zu suchen, um die Aufgabenerfüllung effektiver zu gestalten. Angesichts der fortschreitenden Professionalisierung bestimmter Täterkreise und der Globalisierungstendenzen von Bereichen der Organisierten Kriminalität reicht das kriminalistische Know-how aus der Konserve nicht mehr aus. Was wir brauchen, sind beschleunigte Innovationszyklen in der Kriminalistik. Innovatoren müssen in der Lage sein, sozusagen „taufrische" Technologieschübe sowie geistes- und sozialwissenschaftliche Informationssprünge umgehend aufzugreifen und für polizeiliche Zwecke nutzbar zu machen.

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Es gibt eine Vielzahl von Überlegungen auf verschiedenen Ebenen, wie zukünftig mit neuen oder erweiterten Denkansätzen und Handlungsweisen den Herausforderungen durch Kriminalität zu begegnen ist. Ein wichtiger Einzelaspekt ist zweifellos der Bereich der Kriminaltechnik. Im Hinblick auf die Bedeutung des Sachbeweises muß die Kriminaltechnik kontinuierlich weiterentwickelt werden. Dennoch kann die Polizei auf die Verfeinerung des hergebrachten kriminalistischen Handwerkszeugs wie kriminalistische Denkmethoden und Handlungsweisen keinesfalls verzichten. Gerade unter diesem letztgenannten Gesichtspunkt sind die Planungen im Zusammenhang mit der Einführung des neuen Informationssystems der Polizei (INPOL-neu) relevant. Sie weisen einen engen Bezug zur Forschung auf und beruhen nicht unwesentlich auf Untersuchungsergebnissen zu Möglichkeiten der Tat-Tatund Tat-Täter-Zusammenführung. Andererseits ist die Entwicklung des Systems für die Forschung von Interesse, weil ihr mit seiner Hilfe eine Reihe von kriminalitätsbezogenen Daten zur Verfügung gestellt werden können, auf die bei der Durchführung von Projekten zurückgegriffen werden muß. In den vergangenen Jahren haben Praktiker immer wieder auf das Bedürfnis hingewiesen, das Konzept der polizeilicher Informationssammlung und -auswertung, insbesondere der Kriminalpolizeilichen Meldedienste, zu überdenken und den modernen Erfordernissen anzupassen. Ziel des Vorhabens INPOL-neu ist es, eine gemeinsame, anwendungsunabhängige Datenbasis zu schaffen, derer sich alle denkbaren Anwendungsfunktionen gemeinsam bedienen können. Eine solche „Anwendung" stellt der geplante Polizeiliche Informations- und Auswertungsdienst (PIAD) dar. Nach Vorstellung der Projektgruppe, die sich mit fachlichen Inhalten von PIAD beschäftigt hat, sollen die Datenbestände bedarfsorientiert zur Abdeckung der unterschiedlichsten (polizeilichen) Bedürfnisse - dazu zählt auch die Erstellung von Lagebildern und Statistiken - regional und überregional für Verknüpfungen und Recherchen bereitgehalten werden. Um Möglichkeiten der Datenzusammenführung voll ausnutzen zu können, müssen fallbezogene Informationen nach einem Vertextungsmodell erfaßt werden, das auf der Basis der Forschungsergebnisse von Oevermann und Mitarbeitern zur kriminalistischen Datenerschließung von der Fachkommission Kriminalpolizeilicher Meldedienst vorgeschlagen worden ist. Sowohl das auswertungsorientierte Vertextungsmodell als auch die erfolgreiche weitere Arbeit mit den Datenbeständen bedingen eine spezifische Ausbildung, der sich alle polizeilichen Sachbearbeiter in Bund und Ländern unterziehen müssen. Die Zeit bis zur Einführung von INPOL-neu und damit auch bis zur Verfügung über die Möglichkeiten von PIAD wird dazu genutzt, die

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Anwender - und das sind nach den grundlegenden Vorstellungen von I N P O L - n e u prinzipiell alle Polizeivollzugsbeamten - intensiv auf die neuen Aufgaben und Möglichkeiten vorzubereiten. Insbesondere liegen bisher nur in geringem Umfang Erfahrungen mit dem Vertextungsmodell vor. Dieser Aspekt erscheint deshalb besonders wichtig, weil die Qualität der vom Anwender selbst einzugebenden Daten letztlich über die Auswertungsrelevanz entscheidet. Bemühungen der Aus- und Fortbildung erstrecken sich zur Zeit vorzugsweise auf die Vermittlung von (wissenschaftsbasierten) Spezialkenntnissen zur (kriminal-)polizeilichen Analyse und Auswertung vorhandener bzw. noch erst nach neuen Gesichtspunkten aktiv zu erschließender Informationssammlungen und Fallschilderungen. Ziel eines derartigen Pilotvorhabens im B K A ist es, sowohl die theoretischen Grundlagen für ein Analysekonzept zu vermitteln als auch die Aneignung entsprechender Fähigkeiten durch praktische Übungen zu ermöglichen. Auswerter und Ermittler sollen aus den angeführten Quellen nutzbare Daten extrahieren, sie bewerten, Beziehungen herstellen folgerichtige Schlüsse ziehen und Ergebnisse aussagekräftig deskriptiv und visuell darstellen können. Auch kann in diesem Zusammenhang die Fähigkeit vermittelt werden, aus den auszuwertenden Fällen Rechtssachen herauszufiltern, die Anlaß für kriminalpolitische Initiativen bieten. Parallel zu den Pilotlehrgängen, die die Sachbearbeiter zu professioneller Auswertungsarbeit befähigen sollen, wird beim B K A in einem Eigenprojekt derzeit untersucht, wie Auswertung und Kriminalitätsanalyse auch inhaltlich, organisatorisch und hinsichtlich der Umsetzung der Erkenntnisse optimiert werden können. So soll beispielsweise auch festgestellt werden, ob die gegenwärtig erstellten Auswertungs- und Lageberichte den unterschiedlichen Erkenntnisinteressen der vielfältigen Zielgruppen entsprechen und wie sie ggf. den Erfordernissen angepaßt werden können. Ich habe bereits kurz angedeutet, daß es uns wichtig erscheint, neue Daten- und Erkenntnisquellen zu erschließen. Nicht allein massenstatistische Daten sind für unsere Arbeit von Bedeutung. Sie vermitteln uns zwar Aufschlüsse über die Makrosituation. Doch ebenso bedeutsam sind Erkenntnisse aus dem Mikrobereich, über die einzelne Straftat oder spezifische Phänomenbereiche wie über die Wirkungsweise konkreter Bekämpfungsinstrumente. In der Vergangenheit haben wir deshalb immer wieder Anregungen der kriminologischen Forschung aufgegriffen und für unsere Zwecke nutzbar gemacht, bei denen es um eine Erweiterung herkömmlicher Erhebungs- und Analysemethoden ging. Zu den polizeiexternen „Experten", deren Wissen für unsere Arbeit von Nutzen sein kann, müssen auch die Straftäter gezählt werden. Konsequenterweise wurde dieser Gedanke im Rahmen von Forschungspro-

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jekten umgesetzt, deren Ziel es war, das Täterwissen in spezifischen Deliktsbereichen abzufragen. Uberspitzt formuliert läuft dieser Ansatz auf die Frage hinaus „Wer könnte uns bessere Hinweise zur Auswahl lohnenswerter Objekte und der Taxierung von Schwachstellen beim Einbruchsdiebstahl liefern als diejenigen, die es praktiziert haben?". Entsprechende Untersuchungen haben wir in der Vergangenheit für mehrere Kriminalitätsbereiche durchgeführt: Bankraub, Wohnungseinbruch, Anlagenbetrug. Hinsichtlich der Schnittstellenproblematik von Praxis und Theorie ergibt sich hier die interessante Perspektive, daß es beide Seiten mit dem gleichen „Probandenmaterial" zu tun haben. Sicherlich läßt sich dieser Ansatz nicht auf alle Deliktsfelder übertragen. Zudem werden hier gewisse methodische Probleme und Grenzen offenbar, die sich nicht allein auf die Mitwirkungsbereitschaft und Ehrlichkeit der Probanden beschränkt. So sind derartige Befragungen von Straftätern stets von externen Wissenschaftlern durchgeführt worden schon um Mißverständnissen über den Charakter der Befragung (Interview zu Forschungszwecken oder Vernehmung) aus dem Weg zu gehen. Zum anderen ist diese Methode mit einem nicht abschließend kontrollierbaren und quantifizierbaren Selektionsproblem verbunden. Befragen kann man auf diesem Wege nur Straftäter, die im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens überführt worden sind. Möglicherweise bleiben damit allerdings die „erfolgreichsten" Täter, die nämlich nicht als solche ermittelt werden konnten, außerhalb unserer Zugriffsmöglichkeiten. Auch Verbrechensopfer zählen zu den „Experten", die befragt werden, befragt werden müssen. Polizei, aber auch Staatsanwaltschaften und Gerichte tun sich erfahrungsgemäß schwer im Umgang mit Opfern, weil sie ihren auftragsgemäßen Schwerpunkt in der Aufklärung der Delikte oder in der Verhinderung weiterer Straftaten sehen, weniger aber in der emotionalen Zuwendung zum Opfer. Dabei wird offensichtlich verkannt, daß man sich auf diese Weise viele Chancen entgehen läßt, den Gang des Verfahrens zu fördern. Auch muß man sich bewußt sein, daß an dieser Nahtstelle permanent die Frage des Vertrauens in den Rechtsstaat, die Frage auch nach dem Sinn des staatlichen Gewaltmonopols aufgeworfen wird. Selbstverständlich wird das Opfer als Zeuge, als personifiziertes Hilfsmittel für die Fallaufklärung, als sprechendes Beweismittel zur Überführung des Täters, nicht zuletzt auch als Ausgangspunkt für Überlegungen zur Vermeidung weiterer Viktimisierung benötigt. Verständnis für polizeiliche Maßnahmen und eine unmittelbare, aktive Mitarbeit des Opfers ist aber nur zu erwarten, wenn dem Opfer ein Mindestmaß an Zuwendung zuteil und nicht das Gefühl der Instrumentalisierung vermittelt wird. Gerade unter dem Gesichtspunkt der Prävention, des Opferschutzes und der Opferhilfe müssen wir uns

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fragen, ob wir genug wissen über Art und Umfang der Viktimisierung in unserer Gesellschaft. Angesichts des in manchen Deliktsbereichen sehr großen Dunkelfeldes erscheint es sinnvoll, weitere Daten zur Viktimisierung beispielsweise über eine verstärkte Dunkelfeldforschung zu erlangen. Insbesonders die Polizei, als erste formelle Instanz, an die sich ein Opfer nach der Tat wendet, ist aufgerufen, ihre Rolle im viktimologischen Kontext zu überdenken. Auslöser für derartige Überlegungen sind nicht zuletzt Warnzeichen wie nachlassende Bereitschaft zur Strafanzeige, zur Förderung des Verfahrensfortgangs oder zum Engagement, wenn andere Mitbürger in Gefahr geraten, Opfer einer Straftat zu werden. Allzu oft wird deutlich, daß wir den Opfererwartungen und -ansprächen nicht gewachsen sind. Wenn wir uns allerdings die Bedeutung der Opfer für unsere eigene Arbeit - beispielsweise in der Funktion des Zeugen - vor Augen führen, muß uns daran gelegen sein, deren Bereitschaft zur Zusammenarbeit so weit wie möglich zu fördern. Funktioniert die Interaktion zwischen Geschädigten und Polizeibeamten nicht, gerät im äußersten Fall, wenn nämlich die Bürger zur Selbsthilfe greifen, das unverzichtbare staatliche Gewaltmonopol in Gefahr. In der kriminalistisch-kriminologischen Forschungsgruppe des Bundeskriminalamts besteht bereits seit 1976 ein Forschungsschwerpunkt „Viktimologie", und die Forschungsgruppe hat seit Mitte der 70er Jahre wegweisende Opferbefragungen zur nicht angezeigten Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland in Auftrag gegeben oder selbst durchgeführt. Diese Dunkelbefragungen sind u. a. besonders wichtig für die Erstellung differenzierter Kriminalitätslagebilder, haben wir doch mittlerweile durch solche Untersuchungen erfahren, daß die Polizei beispielsweise im Bereich der Gewaltkriminalität nur jede siebte bis achte Tat erfährt. Das im Verhältnis zum Hellfeld viel größere Dunkelield der Gewaltkriminalität prägt die Kriminalitätslage und die Kriminalitätsangst in der Bevölkerung sehr viel stärker als die kleinere Anzahl der Fälle im Hellfeld. Das Dunkelfeld ist aber für die polizeiliche Lageanalyse zunächst einmal nicht zugänglich. Mit Hilfe von sorgfältig geplanten Dunkelfeldbefragungen wäre jedoch eine differenziertere und realitätsgerechte Erstellung von Kriminalitätslagebildern möglich. Vom BKA wurden mittlerweile weitere zwanzig Studien zu verschiedenen viktimologischen Fragestellungen veröffentlicht. In der aktuellsten wird die Lage von „Alteren Menschen als Kriminalitätsopfer" aus der Sicht der Polizeipraxis dargestellt. In einer der viktimologischen Untersuchungen waren Kriminalitätsopfer, kurz nachdem sie bei der Polizei ihre Anzeige aufgegeben hatten, zum Thema befragt worden, welches ihre Anzeigemotive, ihre aktuellen Bedürfnisse, Wünsche und Ängste sind. Bemerkenswert ist, daß diese Untersuchung die Erste mit dieser Fragestellung in Deutschland war. In der Vergangenheit hatte man in

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Deutschland zwar viel über die vermutlichen Befindlichkeiten von Kriminalitätsopfern geredet und geschrieben, aber niemand hatte sich zuvor die Mühe gemacht, die Betroffenen selbst nach ihren Erwartungen an das Strafverfolgungssytem, ihren Befürchtungen und Wünschen zu fragen. Erkenntnisse aus diesem Projekt wurden in Form eines Lehrfilms umgesetzt. Darin wird exemplarisch dargestellt, welche Fehler im Umgang mit Opfern häufig gemacht werden. Dem wird in anderen Filmsequenzen ein opferschonendes Verhalten gegenübergestellt. Unser Ziel ist es, mit Hilfe dieses Mediums die viktimologischen Befunde in eine Sensibilisierung für berechtigte Anliegen der Opfer umzusetzen. Das soll dort geschehen, wohin sich Verbrechensopfer erfahrungsgemäß als erstes wenden, also Polizeidienststellen. Gelegentlich haben wir es mit schwerwiegenden und komplizierten Fällen der Viktimisierung zu tun, wenn etwa deutsche Geschäftsleute oder Touristen im Ausland entführt oder in anderer Weise von einem schwerwiegenden Kriminalfall betroffen werden. Denken Sie nur an die aktuellen Entführungsfälle in Nicaragua und Indonesien. Wegen der sehr komplizierten Zuständigkeitsregelungen in solchen Lagen haben wir bisher keine angemessene Nachbetreuung dieser Opfer, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren. Oft ist es allerdings zu schweren, möglicherweise lang anhaltenden Traumatisierungen gekommen. Das zeigt beispielsweise die Flugzeugentführung nach Mogadishu vor nunmehr über achtzehn Jahren. Die betroffenen Passagiere der Maschine sind zum Teil noch heute traumatisiert von den damaligen Ereignissen. Auch zu diesem Themenfeld hat die Forschungsgruppe des BKA Untersuchungen gefördert. Uns geht es aber auch darum, neue Ermittlungsansätze für Fälle der Schwerstkriminalität zu entwickeln. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Kriminalistisch-kriminologische Fallanalyse (KKF). Bei ihr handelt es sich um ein kriminalistisches Werkzeug-System, in das umfangreiches kriminologisches und polizei-organisatorisches Wissen sowie systematisch aufgearbeitete kriminalistische Erfahrungen zu einer ganzheitlichen Analyse von Kriminalfällen integriert werden. Sie vereinigt Erkenntnisse aus einer Vielzahl von Teilbereichen in sich. Dazu gehören beispielsweise Organisationsstrukturen ermittelnder Einheiten, kriminologische und viktimologische Erkenntnisse, präventive Aspekte, kriminalistische Schlußprozesse, Vernehmungstechniken, Nutzung von Täterwissen, Expertenwissen über sozialwissenschaftliche Methodik und DV-technische Umsetzung, kriminalistisches und kriminaltechnisches Expertenwissen aus den unterschiedlichsten Bereichen, Kriminalitätsanalyse sowie Fachwissen über den zu bearbeitenden Deliktsbereich. Ausgangspunkt der Bestrebungen sind gleichgelagerte ausländische Aktivitäten, die sich bisher vorzugsweise mit dem relativ eng begrenzten Aspekt der Erstellung von Täterprofilen befaßt haben. Aus einer de-

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liktsbezogenen Datenbasis - in der Forschungsphase sind das Fälle der Erpressung und des erpresserischen Menschenraubs - werden derzeit Grundregeln und Muster sowie typische Täterpersönlichkeitsstrukturen extrahiert. Ziel ist es, charakteristische Schemata und Verlaufsstrukturen zu isolieren und nach bestimmten Gesichtspunkten zu systematisieren. Die erkannten Charakteristika sollen in der Anwendungsphase als eine Art Maßstab an den aktuellen Fall angelegt werden, um ζ. B. Prognosen über den weiteren Verlauf des Falles und darauf abgestimmte polizeiliche Maßnahmen zu ermöglichen. Auf diese Weise können - so die Theorie - Unsischerheiten und Fehleinschätzungen reduziert und die Risiken für die Opferseite minimiert werden. Das in der Kriminalistisch-kriminologischen Forschungsgruppe des B K A in der Entwicklung befindliche Verfahren soll zu einem Beratungssystem in geeigneten Fällen ausgebaut werden, das der sachbearbeitenden Dienststelle auf Abruf schnell zur Verfügung steht. Erweist sich der Einsatz im zunächst vorgesehenen Deliktsbereich als erfolgreich, kann die gleiche Methodik auch auf andere Kriminalitätsbereiche übertragen werden. Erkennbar ist bereits jetzt, daß auch dieses neue Werkzeug nur voll greifen kann, wenn seinem Einsatz eine profunde Ausbildung der Beamten vorausgeht und alle relevanten Entscheidungsträger über Fortbildungsmaßnahmen mit den generellen Möglichkeiten vertraut gemacht worden sind. Wie kaum ein anderer Bereich stellt die Kriminalistisch-kriminologische Fallanalyse ein Musterbeispiel für Möglichkeiten, zugleich aber auch für die Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Forschung, Lehre und Praxis dar. Ausgangspunkt waren Überlegungen, wie man bei schwerwiegenden Straftaten neben dem kriminalistischen auch das vorhandene, möglicherweise aber nicht vor O r t verfügbare kriminologische Wissen aus verschiedenen Fachgebieten im Einzelfall schnell und zuverlässig an die kriminalistische Praxis herantragen kann. Die Entwicklung der K K F setzt zunächst die retrograde Aufarbeitung einschlägiger Fälle voraus. Besondere Bedeutung kommt dabei der sequenzanalytischen Vorgehensweise im Sinne der von Oevermann u. a. erarbeiteten Vorschläge zu. Das im Rahmen der Vertextungen gewonnene Datenmaterial wird zur Entwicklung eines Deliktsmusters im Hinblick auf Merkmale, Schemata und Verlaufsstrukturen ausgewertet. Entsprechende Items werden mit qualitativen Verfahren herausgearbeitet, die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge mittels quantitativer Methoden bestimmt. Zur Bewertung von Hypothesen muß das aktuelle kriminologische Wissen über den relevanten Kriminalitätsbereich herangezogen werden. Aus diesem sowie aus den entsprechenden Umsetzungsarbeiten für die Kriminalpraxis lassen sich ggf. Lösungen konkreter Handlungsprobleme extrahieren. Ein weiteres wesentliches Modul

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der KKF stellt ein Expertenpool dar, in den für die Mitarbeit gewonnene Spezialisten für bestimmte Fachgebiete und das durch sie repräsentierte Fachwissen eingehen und auf den bei entsprechendem Informationsbedürfnis zurückgegriffen werden kann. Abgerundet werden soll die KKF durch die Möglichkeit, auf ein DV-gestütztes „Beratungssystem" zurückgreifen zu können, für das eine Machbarkeitsstudie erstellt wird. Auf diese Weise fließen sowohl die verfügbaren Erkenntnisse aus dem wissenschaftlichen wie aus dem praktischen Bereich in eine ganzheitliche Fallbearbeitung ein. Das Modell nähert sich, insbesondere dann, wenn das angedachte Modell des EDV-„Beratungssystems" realisierbar ist, der Idealvorstellung des polizeilichen Praktikers: der Extraktion von Handlungsanleitungen, zumindest von Entscheidungshilfen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen. Angesichts der Komplexität eines solchen Vorhabens ist es nicht verwunderlich, daß das hochgesteckte Ziel nur durch eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit von Forschern und Praktikern - in diesem Falle aus den Fachbereichen der kriminalistisch-kriminologischen Forschungsgruppe des BKA - und durch enge Kooperation mit externen Wissenschaftlern erreicht werden kann; das Projekt wurde von vornherein entsprechend angelegt. Auch sollen die theoretischen Grundlagen und die Zwischenergebnisse im Rahmen von auch internationalen Expertentreffen zur Diskussion gestellt werden. Auf diese Weise können Arbeitsergebnisse anderer Institutionen in die eigene Projektarbeit integriert werden. Davon profitiert wiederum die Praxis. Bereits während der Forschungsphase können die bis dahin erzielten Ergebnisse im Einzelfall, wenn auch mit zunächst nur „personen" - und nicht edv-gestützter Beratung, für die Bearbeitung von Ermittlungsverfahren angeboten werden. Eine solche stetige Rückkoppelung zeigt, ob wir uns auf dem richtigen Weg befinden, aber auch, wo durch zusätzliche Informationserhebungsbedarf noch Schwachstellen zu beseitigen sind. Bis zur endgültigen, uneingeschränkten Anwendungsreife der Kriminalistisch-kriminologischen Fallanalyse wird noch einige Zeit vergehen. Funktioniert das Modell, dürfte sich damit auch generell die Akzeptanz von Forschung bei der Praxis erhöhen. Technik breitet sich in allen gesellschaftlichen Bereichen immer schneller und weiter aus. Von dieser Entwicklung ist die Polizei in gleicher Weise betroffen. Das gilt sowohl für die Nutzung von Technik durch die Polizei als auch für die Nutzung von Technik durch Straftäter. Wir müssen uns der Tatsache stellen, daß die technologische Entwicklung auch Kriminalität fördert, Tatbegehungsweisen ändert und neue Kriminalitätsformen erzeugt. Ich erinnere hier nur an: - die Nutzung moderner Informations- und Kommunikationsdienste durch Straftäter

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- den Mißbrauch neuer Druck- und Farbkopiertechniken für die Falschgeldherstellung - die illegale Herstellung synthetischer Drogen. Darauf müssen wir uns einstellen. Das setzt voraus, daß wir uns möglichst frühzeitig mit derartigen Mißbräuchen der Technik auseinandersetzen, um geeignete Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Auf der anderen Seite bildet vor allem die Informationstechnologie schon seit langem ein unverzichtbares Instrument bei der polizeilichen Aufgabenbewältigung. Moderne Methoden der Kriminalistik und der Kriminaltechnik sind ohne elektronische Unterstützung nicht denkbar. Umfangreiche Sammlungen von Fahndungsdaten oder von Spuren- und Vergleichsmaterial sind nur noch mit EDV-Einsatz handhabbar. Automatisierte Verfahren zur Klassifikation von Fingerabdrücken haben Einzug in den kriminalpolizeilichen Alltag gehalten. Auch die Detektion von beispielsweise Rauschgift oder Sprengstoff ist durch Computerunterstützung schneller und sicherer geworden. Moderne kriminaltechnische Untersuchungsmethoden wie die Forensische Sprechererkennung oder das Forensische Identifizierungssystem Handschriften sind nur mit EDV-Unterstützung durchführbar. „Mustererkennung" und „Künstliche Intelligenz" werden auch für kriminalistische und kriminaltechnische Zwecke nutzbar gemacht. Gegenwärtig laufen etwa Entwicklungsarbeiten, um Schriften auf kontrastreichen Hintergründen (beispielsweise Scheckformularen) besser lesbar zu machen. Ziel ist es, den für die Schriftanalyse störenden Hintergrund zu extrahieren und allein die Schriftzüge sichtbar zu machen. Ähnliche Verfahren für Schreibmaschinen- und Druckerschriften sind in Vorbereitung bzw. Planung. Der Wunsch, das Erfahrungswissen von Fachleuten elektronisch verfügbar zu machen, kennzeichnet die Entwicklung von Expertensystemen. Sie sollen die Diagnose von Sachverhalten erleichtern und Handlungsvorschläge liefern. In der Kriminalistik eignen sie sich beispielsweise für die Auswertung komplexer Beziehungsgeflechte von Informationen in umfangreichen Datenbanken, beispielsweise über Organisierte Kriminalität. Wir müssen darüber hinaus auch die Chancen erkennen und nutzen, die Technik uns eröffnet, um neben der Strafverfolgung auch die Prävention zu effektivieren. In Betracht kommen technische Vorkehrungen, die etwa Eigentumsdelikte erschweren oder den Betrug mit unbaren Zahlungsmitteln bzw. die Geld- und Wertzeichenfälschung verhindern. Der Ubergang von normativer auf technische oder organisatorische Prävention kann dazu beitragen - wie Hassemer es ausgedrückt hat - , Grundrechte zu schonen und die Kriminalpolitik zu entlasten. Möglichkeiten, die jenseits des häufig einseitig favorisierten kriminalpolitischen Weges der verschärften Repression liegen, können also helfen,

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das bestehende Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsrechten und Sicherheit zu lockern. Repression mit den Mitteln der Strafverfolgung allein wird zudem - das zeigt die erkennbare Entwicklung - Kriminalität nicht aufhalten können. Kriminalitätsbekämpfung ist unwidersprochen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Diese Feststellung darf nicht länger primär eine plakative Aussage sein, sondern muß als Handlungskonzept aufgefaßt und umgesetzt werden. Das gilt insbesondere für die Prävention. Noch fehlt es indessen an einer interdisziplinär angelegten, systematischen Prävention. Schon relativ früh wurde in der kriminalistisch-kriminologischen Forschungsgruppe beispielsweise das Thema Städtebau und Kriminalität aufgegriffen. Es galt, die Architektur als ein Element der Tatgelegenheitssituation begreifen zu lernen, um es durch entsprechende Gestaltung für die Kriminalitätsabwehr instrumentalisieren zu können. Auch in anderen Projekten wurde Fragen der Tatgelegenheitssituation, etwa beim Wohnungseinbruch, nachgegangen. Denn eine detaillierte Analyse der situativen Faktoren, die die Begehung von Straftaten auslösen oder begünstigen, liefert Aufschlüsse, die sich in konkrete Präventionsmaßnahmen umsetzen lassen. Auf der letztjährigen Arbeitstagung des BKA haben wir jüngst feststellen können, daß der situative Ansatz in der polizeilichen Praxis auf fruchtbaren Boden gefallen ist und eine Grundlage für umfangreiche Vorbeugungskonzepte bildet. Ein wesentlicher Mangel empirischer Erkenntnisse liegt darin begründet, daß sie stets Vergangenes widerspiegeln. Schon mit der Erfassung des „Hier und Jetzt" tun wir uns sehr schwer. Dennoch verspüren wir einen unwiderstehlichen Drang, mehr über das in Erfahrung bringen zu können, was morgen sein wird. Schlichte Extrapolation der Vergangenheitsdaten in die Zukunft haben eine Trefferquote, die im Bereich des Zufälligen liegt; das haben wir immer wieder erfahren. An einem schlichten Beispiel wird klar, wie nützlich es für die Strafverfolgungsbehörden wäre, sich proaktiv auf künftige Herausforderungen durch die Kriminalitäts(-entwicklung) einzustellen, statt lediglich auf eingetretene Veränderungen zu reagieren. So sollten wir unser Augenmerk auf die demographische Entwicklung in unserem Lande richten. Die wachsende Zahl älterer Menschen verschafft Straftätern veränderte Aktionsmöglichkeiten, vergrößert den Kreis potentieller Opfer in einzelnen Deliktsbereichen. Es gilt, die spezifischen Opferrisiken dieses Personenkreises einer intensiven Betrachtung zu unterziehen und sich antizipativ auf präventive Maßnahmen einzustellen. Zugleich sollten wir uns um angemessene Formen des Eingehens auf die Belange dieses besonders sensiblen Opferpotentials kümmern. Ähnliche Fragestellungen tauchen auf, wenn es um Opfer von Anlagenbetrug geht. Ein wachsender Teil der Bevölkerung verfügt über Vermögen. Ein größerer Kreis

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von Mitbürgern kommt gegenwärtig und in naher Zukunft in den Genuß von Erbschaften. Diese Menschen sind in der Gefahr, bei der Suche nach rentablen Anlagemöglichkeiten an Betrüger zu geraten. Auch hier sind mit Sicherheit noch nicht alle Möglichkeiten zur Verhinderung von Viktimisierungen ausgeschöpft. 1982 wurde ein Gremium von Sachverständigen beim Bundeskriminalamt eingerichtet, das sich mit Fragen der Kriminalitätsprognose befassen sollte. Die Projektgruppe setzte sich unter dem Vorsitz des B K A Präsidenten aus drei Wissenschaftlern (Soziologe, Kriminologe, Sozialpsychologe) und drei Polizeipraktikern (zwei LKA-Leiter, Polizeipräsident Großstadt) zusammen. Diese Zusammensetzung sollte gewährleisten, daß sowohl wissenschaftliche als auch polizeipraktische Aspekte gleichermaßen Berücksichtigung finden. Mit dieser Projektgruppe wurden mehrere Ziele verfolgt: - die Entwicklung neuer Wege der Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis - die Entwicklung von Methoden für die Kriminalitätsprognose (Kollektivprognose) - die Erarbeitung kurz- bis mittelfristiger Prognosen der Entwicklung der Kriminalität bzw. einzelner Kriminalitätsbereiche - die Erarbeitung lageangepaßter zukunftsorientierter Strategien für die Kriminalpolitik, insbesondere für die präventive Kriminalitätsbekämpfung. Die Beschäftigung mit derartigen Kriminalitätsprognosen stellte Neuland dar; der Schwerpunkt kriminologischer Forschung auf diesem Sektor lag zuvor auf der Individualprognose. Deshalb hat die Projektgruppe zunächst selbst mehrere Forschungsaufträge vergeben, um verschiedene - mathematisch-statistische (Zeitreihenverlängerung) wie auch mehr qualitative (Szenario-Ansatz) - Prognosemethoden auf ihre praktische Anwendbarkeit hin zu überprüfen. Die Umsetzbarkeit der so gewonnenen Erkenntnisse wurde anhand einer Prognose zur Entwicklung der Jugenddelinquenz bei Deutschen und Ausländern überprüft. Aufgrund der Erkenntnisse aus den Projekten und der intensiven Diskussion über die Machbarkeit von Kriminalitätsprognosen, die der hochgesteckten Erwartung von Polizeipraxis und Kriminalpolitik gerecht werden, kam die Projektgruppe zu dem Ergebnis, daß derartige Prognosen nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht mehr sein konnten als eine Reduktion von Spekulation, Wahrscheinlichkeitsurteile, die sich auf Erfahrungen (Daten, Fakten) und gewisse mathematische Modelle stützen. Prognosen seien aber keinesfalls beliebige subjektive Einschätzungen, sondern rational vertretbar, wenn eine „an der regulativen Idee des ,Diskurses' orientierte Projektgruppe von erfahrenen und sachkundigen Projekt-Mitgliedern die Prognose in dem

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Sinne faktisch anzunehmen bereit ist, daß kein Projekt-Mitglied gegen diese Prognose einen Einspruch erhebt und jedes Projekt-Mitglied bekundet, daß alle sonstigen Bedenken bei der endgültigen Formulierung der Prognose berücksichtigt worden sind". Nach Abschluß ihrer grundlegenden Arbeiten zur Kriminalitätsprognose hat die Projektgruppe 1985 ihre Arbeit beendet. Die Beschäftigung mit Kriminalitätsprognosen wurde in der Kriminalistisch-kriminologischen Forschungsgruppe des B K A fortgeführt. Als prognosebezogene Projekte, die in der Folgezeit auf direkte Anregung und Vorarbeit der Projektgruppe hin durchgeführt wurden, sind Arbeiten zur Umweltkriminalität, zur Phänomenologie der Organisierten Kriminalität in Deutschland und zur Erstellung von Kriminalitätslagebildern zu nennen. Weitere Forschungsprojekte, die auf den von der Projektgruppe „Prognose-Gremium" erarbeiteten Prinzipien und Methoden aufbauten, erbrachten praxisrelevante Erkenntnisse zur zukünftigen Entwicklung der Organisierten Kriminalität sowie jüngst zu den Auswirkungen des EU-Binnenmarktes auf Kriminalitätsentwicklung und polizeiliche Kriminalitätsbekämpfung [Veröffentlichung steht unmittelbar bevor]. Insbesondere die Methode der Expertenbefragung in Form eines modifizierten Delphi-Verfahrens, das sich an die Arbeitsprinzipien des „Prognose-Gremiums" anlehnt und an dem Polizeipraktiker, Wissenschaftler und weitere Experten aus relevanten Gebieten teilnehmen, hat sich bewährt, wenn es um die Untersuchung von Themenbereichen geht, zu denen bisher nur wenig Erkenntnisse vorliegen oder die sonst schwer zugänglich sind. Die Praxisrelevanz von Ergebnissen prognosebezogener Forschung, aber auch die hohen Erwartungen, die Praktiker derartigen Projekten entgegenbringen, wird beispielhaft daran deutlich, daß in mehreren Bundesländern die geplante Einrichtung von Spezialdienststellen zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens zurückgestellt wurde, bis relevante Ergebnisse aus der BKA-Studie zur O K in Deutschland vorlagen. Auch die Kriminalpolitik, die Kriminalitätsprognosen - wegen der „Allgemeinheit" der Aussagen - zunächst eher skeptisch gegenüberstand, bezieht heute Informationen aus Prognoseprojekten des B K A in ihre Arbeit ein. In den einzelnen prognosebezogenen Projekten ist erkennbar geworden, daß auf absehbare Zeit - entgegen den ursprünglich eher hochgesteckten Erwartungen - das bisherige Nichtwissen lediglich durch ein „aufgeklärtes Nichtwissen" ersetzt werden kann und daß Planungen unter diesem Gesichtspunkt erfolgen müssen. Ein vorrangiges Ziel weiterer Bemühungen sollte es sein, Kriterien zu erarbeiten, mit denen ex ante die „Güte" von Prognosen beurteilt werden kann. Umgekehrt müs-

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sen wir ständig an der Erhöhung des Grades der Verläßlichkeit von Kriminalitätsprognosen arbeiten. Neben einer Verbesserung der Theoriebildung zu den wichtigen kriminologischen Erkenntnisgegenständen (Straftat, Täter, Kriminalitätskontrolle, Opfer) gehört dazu eine systematische Analyse von Fehlerursachen. Auch weiterhin müssen zu prognoserelevanten Themenbereichen essentielle Informationen über H y pothesen, Anfangsbedingungen, Indikatoren und Prädikatoren gesammelt und ausgewertet werden. N u r durch das Erstellen und Uberprüfen neuer Prognosen können wir lernen, bessere Prognosen zu machen. Mittelfristig wäre zur systematischen Kriminalitätsanalyse und im Interesse eines verantwortungsvollen Umgangs mit kriminalistischen Daten in der Öffentlichkeit, aber auch innerhalb der Polizei, ein Expertensystem für die Bewertung kriminalistischer Daten zu entwickeln. Als Ziel ist eine computergestützte Kriminalitätsanalyse auf der Grundlage des verfügbaren Hintergrundwissens denkbar, die natürlich ständig im Fluß bliebe, also als Daueraufgabe zu aktualisieren und zu optimieren wäre. Kriminalistisch-kriminologische Forschung im Bundeskriminalamt hat nicht allein dienende Funktion, ist nicht reine Zweckforschung. Der Forschungsgegenstand wird von polizeilichen Bedürfnissen beeinflußt, die Genese von Forschungsthemen ist in besonderem Maße von dem (ständigen) Dialog mit der polizeilichen Praxis geprägt, das ist so gewollt. Die von mir angesprochenen Projekte zeigen allerdings, daß dabei nicht allein Anliegen der praktischen Alltagsarbeit Berücksichtigung finden, sondern weit darüber hinaus grundsätzliche Fragestellungen der Strafverfolgung und der Kriminalpolitik aufgegriffen werden. Grundlagenforschung wie anwendungsorientierte Forschung haben ihren Platz. Darüber hinaus belegen die von der BKA-Forschungsgruppe aufgegriffenen methodischen Aspekte den (hohen) wissenschaftlichen Anspruch, den wir an unsere Arbeit stellen. So zählt es zu den Aufgaben kriminalistisch-kriminologischer Forschung im B K A , an der Fortentwicklung wissenschaftlicher Methoden mitzuwirken. Qualitative Erhebungsverfahren wie die Expertenbefragung oder die Erforschung des Täterwissens sowie die Uberprüfung des Instruments der telefonischen Opferbefragung sind Beispiele dafür. So wenig es richtig ist, der Universitätsforschung undifferenziert den Vorwurf der Praxisferne zu machen, so falsch ist, die behördeninterne Forschung in Bausch und Bogen als abhängige, willfährige und interessengeleitete Instanz abzuqualifizieren. Bei solchen Angriffen auf einzelne Träger der Forschung tritt an die Stelle der Rationalität nur zu leicht eine völlig unangebrachte Emotionalität. Doch Polemik kann H y pothesenbildung und empirische Erhebung nicht ersetzen. Der Platz des Kriminologen ist weder an der Seite des Täters, noch an der des Opfers, noch auf Seiten der Kontrollinstanzen. Er muß Distanz zum Objekt sei-

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ner Arbeit wahren. Er ist der Unabhängigkeit und der Rationalität verpflichtet - unabhängig davon, wer sein Gehalt zahlt. Das Bundeskriminalamt als Forschungsstätte ist Träger, Finanzier von Forschung, die Institution stellt einen Rahmen bereit. Innerhalb dieses Rahmens aber werden einzelne Wissenschaftler tätig, die für ihre Arbeit verantwortlich sind. Forschungsergebnisse werden - innerhalb der Publikationsreihen des Amtes - unter dem Namen des oder der Verfasser veröffentlicht. Wissenschaftliche Einrichtungen, die eilfertig auf Meinungsäußerungen oder gar Vorgaben Dritter reagieren, verlieren Glaubwürdigkeit und Seriosität, weil sie wissenschaftlich blind werden. Denn wo ein wissenschaftlicher, methodisch-systematischer Anspruch zur Erkenntnisgewinnung aufgegeben wird, wird alles beliebig. Dessen waren und sind wir uns im Bundeskriminalamt stets bewußt. Unsere kriminalistischkriminologische Forschung ist deshalb geprägt von Schwerpunktthemen, deren Bearbeitung konsequent und langfristig angelegt ist. N u r so lassen sich auch komplexe Phänomene der Erkenntnisgewinnung zugänglich machen. Entgegen anderslautenden Polemiken hat es behördeninterne Forschung auch nicht zum Ziel, „Geheimprojekte" durchzuführen oder Ergebnisse von Untersuchungen in die sprichwörtliche Schublade zu verbannen [Aktuelles Beispiel: Vorwürfe der Medien zum PFA-Projekt zu Übergriffen von Polizeibeamten gegen Ausländer], Das Bundeskriminalamt hat seine kriminologischen Forschungsergebnisse, seien es Eigenprojekte, seien es Vergabeaufträge, deshalb von jeher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Unserem Verständnis von der Rolle der Kriminologie als Wissenschaft entsprechend verbietet es sich, Methoden und Ergebnisse der Wissenschaft einer Zensur zu unterwerfen. Forschung im Schnittstellenbereich von Praxis und Theorie endet nicht mit dem Druck von Ergebnisberichten. Erkenntnisse der Forschung sind latent wirkungslos, wenn sie den Adressaten oder potentiellen Anwender nicht erreichen. Ich will nun nicht unterstellen, daß ganze Bibliotheken voller Forschungsergebnisse ihrer Entdeckung harren. Doch selbst im Zeitalter elektronischer Informations- und Dokumentationssysteme ist nicht sichergestellt, daß sich Angebot und Nachfrage von Erkenntnissen treffen. Es entspricht zudem möglicherweise noch immer dem Selbstverständnis von Wissenschaftlern, sich nicht für die Umsetzung und Nutzung ihrer Forschungsergebnisse verantwortlich zu fühlen. Wissenschaftliche Informationsgewinnung und Wissenstransfer sind jedoch eng miteinander verbunden. Einen hohen Stellenwert messen wir deshalb dem gezielten Transfer von Forschungsergebnissen zu den Bedarfsträgern und Anwendern bei. Dabei gilt es mehrere Hindernisse und (potentielle) Mißverständnisse zu überwinden. Damit meine ich nicht allein die wechselseitigen Bekundungen der Beteiligten zur

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Realitätsferne der Wissenschaft respektive zur Theoriefeindlichkeit der Praxis. Uber diese mehr plakativen Standpunktklärungen hinaus ist die Kommunikation gestört. Da ist zunächst einmal häufig eine sprachliche Barriere. Die Sprache der Wissenschaft ist nicht immer die Sprache der Praxis und umgekehrt, das macht „Ubersetzungsarbeiten" nötig. Auch die „Aufmachung" und das Medium des Transfers tragen dazu bei, Inhalte tatsächlich zu transportieren und die Adressaten zu erreichen. Die Erfahrungen zeigen zudem, daß eine wichtige Voraussetzung für die Akzeptanz in einer möglichst frühzeitigen Einbindung der Anwenderseite in die Projektplanung und -durchführung liegt. Die Rückkopplung zur Praxis muß deshalb in die Entstehungs- und Planungsphase konkreter Projekte vorverlagert werden und darf sich nicht auf einen Feedback zu fertigen Resultaten beschränken. Doch selbst unter günstigen Randbedingungen enttäuscht der Wissenschaftler mit seinem Abschlußbericht oft die Erwartungen des Praktikers (wenn der denn solche hegt). Da ist zunächst einmal das Grunddilemma anwendungsorientierter Forschung: Bestätigen die Forschungsergebnisse die Erfahrungen, Erkenntnisse und Erwartungen der Praxis, wird ihnen nur zu leicht der Neuigkeits- und Erkenntniswert abgesprochen; widersprechen sie allerdings den in der Praxis vorherrschenden Einstellungen und Standpunkten, werden Kompetenz und Relevanz der Forschung in Zweifel gezogen. Darüber hinaus erwartet der Anwender als Resultat der Forschung nur zu gerne rezeptartige Handlungsanleitungen. Diesen Anspruch kann die Wissenschaft regelmäßig nicht einlösen. Nur selten wird es möglich sein, daß Handlungsanleitungen im Sinne von „Wenn-dann-Informationen" produziert werden. In der sozialwissenschaftlichen Forschung gelangt man im allgemeinen nicht zu Erkenntnissen, die wie naturwissenschaftliche Gesetze das soziale Leben und das menschliche Handeln durchwirken. Bei der Umsetzung von Forschungsresultaten sind deshalb eigenständige Implementations- und Modifikationsleistungen der Praxis erforderlich. Kriminologen können die eingangs bezeichneten Planungs- und Entscheidungsgrundlagen liefern. Aber weder werden die Kriminologen damit zu den Entscheidungsträgern, noch können die von ihnen gelieferten Informationen die anstehenden Entscheidungen und Maßnahmen vorwegnehmen oder gar ersetzen. Der Schnittpunkt von kriminologischer Praxis und Theorie liegt in einem Spannungsfeld recht unterschiedlicher Erwartungen, Interessen und Einflüsse. Dieses Spannungsfeld hat sich als Initialzündung fruchtbarer Arbeit erwiesen, wann immer kriminologische Wissenschaft und kriminalistische Praxis als Partner zueinander gefunden haben. Ich bin sicher, daß der Dialog und die Kooperation auch in Zukunft reichen Ertrag bringen werden.

Wertewandel und Normbruch Eigenartige Resultate einer gesellschaftlichen Transformation

GÜNTHER KRÄUPL u n d H E I K E LUDWIG

I. Werte - erneut ein kriminologisches Thema Ziemlich genau vor einem Jahrhundert hat Dürkheim (im Werk über den Selbstmord - 1897) seinen und damit für die Kriminologie bis heute einen Zentralbegriff ausgearbeitet - den der „Anomie". Diese Theorie wird immer wieder hergenommen, um Makro-Erklärungen von Kriminalität und Prävention abzustützen. Momentan tritt dafür ein gewichtiger Grund hinzu. Entgegen der ursprünglichen Erwartung mußte erfahren werden, daß für die kriminologische Begleitforschung der gesellschaftlichen Transformation in Mittel- und Osteuropa keine hinreichenden Erklärungsansätze auf dieser Höhe des Historischen und der komplexen Logik des Vorgangs zur Verfügung standen und sich die (modifizierte) Extrapolation von Untersuchungskonzepten, die unter stabilen westlichen Verhältnissen entwickelt worden waren, als zu kurz erwies. Die Dimension des Vorgangs sprengte deren Erklärungskraft. Geht man dann erneut von den (immer noch) tragenden Säulen des Theorienmosaiks der Kriminologie aus (wie sie etwa Kaiser jüngst benennt, um die „gegenwärtig unverkennbare Stagnation in der „Theorieentwicklung zu überwinden" durch „Rückbesinnung und Konzentration auf die wichtigsten Theorietraditionen": „Anomie- oder Spannungstheorien, Lernund Kontrolltheorien sowie der labeling approach" - 1996, 197), so verbleibt für solch ganzheitliche Erklärung der Anomieansatz neben dem der Etikettierung. Beide sind nicht als Alternativen, sondern als jeweils unverzichtbare Näherungen an eine gemeinsame Wirklichkeit anzusehen. Das soll jedoch hier nicht im Vordergrund stehen. Vielmehr soll etwas aufgenommen sein, was Haferkamp bereits Ende der 80er Jahre mit dem Blick auf ein problematisches „Abrücken von allgemeiner Disziplin, von Standards zivilisierten Verhaltens" in modernisierten Gesellschaften (die nun und nur als Transformationsvorgabe zur Verfügung stehen) begründet sah: die kriminologische Forschung neu zu orientieren, indem der Wandel von Werten in die multikausale Erklärung hereingenommen wird, wobei er ausdrücklich davon ausgeht, daß weder materielle Mängellagen noch Etikettierungsprozesse, geschweige denn

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Günther Kräupl und Heike Ludwig

wachsende Tatgelegenheiten solcher Erklärung genügen (vgl. 1989, 48). Das Ganze hat nun - wie gesagt - ein noch höheres Ausmaß erreicht. Insofern wird die klassische Anomietheorie, deren empirische Umsetzung schon bisher immer wieder hinter den Erwartungen zurückblieb, wohl eher, aber vielleicht deutlicher Grenzen offenbaren. Auf ihre heuristische Wirkung bleibt zu hoffen. Ein Zurück zum klassischen Ausgangspunkt verspricht sogar mehr als die Konkretisierungsvariante Mertons, die gerade die herrschende Dynamik des Wertewandels vernachlässigt. Im folgenden sollen jedoch nicht diese Differenzen aufgenommen, sondern es soll versucht werden, die Situation der Werte und ihres Wandels mit kriminologischen Bezügen in den sehr dichten Umbruchsvorgängen der 90er Jahre aufzunehmen. Dabei wird sich bestätigen, daß Werte schwierig zu begreifen und empirisch aufzugreifen sind. Das haben Kulturphänomene dieser Allgemeinheit so an sich. Trotzdem drängen sie sich gerade in solchen Vorgängen historischer Dimension besonders auf, entfalten offenbar eine besondere Wirkung. Wertewandel ist eine der Hauptsichten auf sozialen Wandel heute. Die Soziologie hat dieses Feld erheblich besetzt. „Der Wertewandel gilt als ein Allheilmittel für soziale Gebrechen; er scheint einer Öffentlichkeit, die sich ihrer selbst unsicher ist, das erlösende Wort zu versprechen" (Meulemann 1996, 62). Dieses Wort wird mit solcher Wirkung nicht kommen. Immerhin aber deutet solche Erwartung darauf, daß hier übergreifende Prozesse im Gang sind, die sich nicht auf eine Himmelsrichtung beschränken. Sinn-Suche ist gemeinsam angesagt auf dem Weg in eine „zweite Moderne". Orientierungsverlust und Sehnsucht nach anderer Geborgenheit sind universell. Daß „Struktur und Dynamik der Werte, ihre Funktion zwischen Individuum und Gesellschaft" vernachlässigt scheinen, die „Werteforschung ... sich (also) merkwürdig wenig um die Werte gekümmert" habe (Schmidtchen 1997, 18), mag unser schlichteres Anliegen und manche Darstellungslücke verständlich machen. Aus dem Ertrag eines halben Jahrzehnts kriminologischer Begleitung des Transformationsvorganges (vergleichende Kriminalitätsbefragung in Freiburg (Baden-Württemberg) und Jena (Thüringen) 1991/92 sowie deren Wiederholung 1995/96 - vgl. die Ergebnisse der Erstbefragung in Jena bei Kräupl/Ludwig 1993) soll der um „Werte" zentrierte Ausschnitt betrachtet werden. Die Resultate sind in einem produktiven Sinn eigenartig, weil weniger dramatisch, oft anders als erwartet und mit einer einfachen Vorstellung von Angleichung einer Gesellschaft an eine andere, wobei von erheblicher Wertedivergenz, also von Werteumbruch mit anomischen Wirkungen in der zu ändernden Gesellschaft ausgegangen wurde, nicht genügend greifbar. Auf dieser Höhe ließe sich zuerst einmal fragen und streiten, ob etwa mehr oder weniger intensiv auch in Ostdeutschland schon in den 80er

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Jahren ein „Wertewandel" (ähnlich dem im Westen) stärker hin zur I n dividualität eingesetzt hatte (was Schmidtchen 1997, 342 erwägt, jedoch Meulemann 1996, 242 f, 395 bezweifelt). D i e „überraschende" Ähnlichkeit ( S c h m i d t c h e n 1997, 341) läßt auf jeden Fall vermuten, daß die fortfallenden Machtstrukturen mit ihren Wertegeboten eher nicht mehr übereinstimmten mit der tatsächlichen Werteproduktion auf der E b e n e des Alltagslebens in Familie, Bildung und Beruf, die sehr verselbständigte sowie unvermutet „normal" stattfand (vgl. aaO, 342). Individuelle Sozialisation und Systemintegration fielen zunehmend auseinander. Dies verweist auf zweierlei: zum ersten, daß selbst erheblich dominierende und kontrollierende Gruppen über ihre Konstruktionsmächte nur begrenzten Zugriff auf Wertebildung haben, weil nämlich zweitens Werte primär in der unmittelbaren praktischen Alltagsbewältigung p r o duziert werden. Auf diese praktisch-tätige Sinnerfahrung ist eher zu blicken als auf einen hehren Wertehimmel, gestützt von allmächtig erscheinenden Instanzen. Eine anomische Situation war in Ostdeutschland nach 1990 nicht erheblich eingetreten. Auch nicht in der Zeit etwa von 1990 bis 1993, als alle gesetzten N o r m e n in Frage standen, selbst für die ü b e r k o m m e n e n Institutionen, so daß es in dieser Zeit gleichsam ein Kontrollvakuum gab. Bereits erste Vergleichsuntersuchungen deuteten die G r ü n d e an, etwa wenn für die ostdeutsche Jugend entgegen den Vermutungen allgemeiner Orientierungslosigkeit, zerbrechender Familien, besonderer Anfälligkeit für Gewalt, Sekten, für passive Erwartungs- und materielle Haltungen festgestellt werden mußte: „ U m so größer ist das Erstaunen, wenn in . . . Vergleichsstudien die großen und dramatischen U n t e r schiede zwischen den jüngeren Generationen in den neuen und den alten Bundesländern schlichtweg ausbleiben" ( Z i n n e c k e r , Shell-Studie 1992, Bd. I, 26). Das betraf insbesondere den Wertevergleich (vgl. auch Zinnecker/Silbereisen/Vaskovics 1997, 18 f), sah jedoch ziemlich anders, also auffällig unterschiedlich bei den Lebenslagen aus (vgl. aaO, 2 8 - 3 1 ) . Darin deutet sich bereits die Frage an, inwieweit gleiche W e r t e mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt sein können bzw. sich über ungleiche Lebenslagen erheben. Auch die jüngste Shell-Studie 1997 konnte für die ostdeutsche Jugend keine besondere Anomiesituation ausmachen (vgl. Fischer 1997, 318). In der Jenaer Wiederholungsbefragung antwortet die vergleichbare Altersgruppe ( 1 4 - 2 1 Jahre, allerdings ohne 12-13jährige) auf einen der identischen Indikatoren sogar noch deutlich schwächer im Sinne des A n o mie-Konzepts. Zweifellos wird Anomie unterschiedlich verstanden, und es ist fraglich, ob die bisher gängigen Indikatoren für die H ö h e der hier anvisierten Vorgänge hinreichen. Sie scheinen zu unspezifisch und müßten

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schärfer auf Normauflösung und Kontrollverluste gerichtet sein. Unabhängig davon jedoch dürfte der Anomieeindruck ein allgemeiner, moderne und modernisierte Gesellschaften eher ähnlich als ungleich charakterisierender sein. Nimmt man die bei der Mehrheit ostdeutscher Jugendlicher verbleibende oder gar ansteigende generelle Akzeptanz des neuen Gesellschaftssystems hinsichtlich der im Grunde als besser gesehenen Optionen hinzu (vgl. Schmidtchen 1997, 81-83, 343 f; Zinnecker/Silbereisen/ Vaskovics 1997, 8 f), so indiziert auch dies keine auffällig verschärfte Anomiesituation im traditionellen Verständnis. Solche generelle Akzeptanz erstreckt sich erst einmal im Grunde auch auf die gesetzten Normen, bevor sie eventuell in der eigenen Lebenspraxis ihren Sinn bestätigen oder nicht. Dann entsteht der Konflikt jedoch auf einer anderen Ebene. Bereits hier wird ein tragender Widerspruch deutlich, der an verschiedenen Punkten konkreter aufscheint und dort aufzunehmen wäre: Der generelle Rahmen einer Existenz in dieser Gesellschaft wird anders wahrgenommen als die Konkretheit der unmittelbaren individuellen Lebenslage. Diese zwei relativ verselbständigten, aber zweifellos langfristig wechselwirkenden Wahrnehmungsebenen äußern sich etwa auch in der Akzeptanz von Organen der Strafrechtskontrolle (Polizei, Gericht) auf der einen und der Toleranz gegenüber Verletzungen bestimmter (der unmittelbaren Lebenslage näherer) Normen auf der anderen Seite (vgl. unten). Genau umgekehrt jedoch werden diese Ebenen aus der Kriminalitätserfahrung besetzt, wie etwa in Jena die Vorstellung von einem Anstieg der Kriminalität als Ganzes anhält, jedoch in der unmittelbaren eigenen Lebenswelt das Unsicherheitsgefühl sowie die Opferrisikovermutung in bezug auf Alltagsdelikte abnehmen. Uber die eigentliche Kriminalitätserwartung hinausgehend werden stärkere Bewältigungsmöglichkeiten im unmittelbaren Lebensfeld gesehen. Die im allgemeinen Kriminalitätsbild verborgenen Bewertungen und Sicherheitserwartungen reichen offenbar weiter als nur bis zu kriminalpolitischen Konsequenzen. Die eigenen Ressourcen werden günstiger eingeschätzt, was zweifellos durch Möglichkeiten entsprechender Partizipation abgestützt sein müßte. Sicherheit gewinnt als allgemeiner Wert an Gewicht, wie die individuellen Lebensrisiken zunehmen, die durchaus auch einen Zugewinn an Selbstentfaltung bergen können. Sicherheitsgewähr ist dann nicht in erster Linie im Ausbau oder in der Effektivierung herkömmlicher Außenkontrolle oder abstrakter Sanktionsmechanismen zu suchen, sondern als selbstaktive und solidarische Risikobewältigung. Im eigentlichen - wenn schon von Anomie in Ostdeutschland die Rede ist - war sie bereits vorher, in den 80er Jahren, bis zu dem klassischen desintegrativen Punkt gereift, der die friedliche Wende möglich

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machte. Dann aber verunsicherten weniger die „neuen" Werte, Normen und Verhaltenserwartungen selbst, als vielmehr der Status ihnen gegenüber durch existentielle Verunsicherung sowie Fähigkeits- und Biographieentwertung (auf letzteres verweist Schmidtchen 1997, 74, übereinstimmend mit der internationalen Transitionsforschung). Nicht zuletzt und (gleichsam körperlich nachfühlbar) eröffnet sich die so schwer faßliche, aber aufdringliche Relevanz von Werten in dem momentan als ganz erheblich erlebten Phänomen der Gewalt. Hans Joachim Schneider hat sich ihm besonders zugewandt (insbesondere in seiner „Kriminologie der Gewalt", 1994, aber im Schwerpunkt auch in nachfolgenden Publikationen). Er setzt folgenden Akzent: „Bedeutsamer noch für die Gewaltverursachung als die(se) persönlichkeitsbildenden indirekten Einflüsse sind die gesellschaftlichen oder auch subkulturellen Wertvorstellungen, Verhaltensstile, Leitbilder und Gewohnheiten, die aggressives Verhalten unmittelbar steuern" (aaO, 50). Darin wird neben der generellen verhaltensorientierenden Kraft der Werte eine Unmittelbarkeit ihrer Wirkung betont, wie sie im Verhältnis zu äußeren Lebensumständen nicht selbstverständlich angenommen wird, jedoch gerade in den Transformationsprozessen prononciert aufkommt. So ergab der kriminologische Vergleich osteuropäischer Metropolen, daß Befindlichkeit (Identität) relativ verselbständigt in den Vordergrund tritt und verhaltenssteuernd eingreift (vgl. Ewald 1997, 26).

II. Der heuristische Nutzen von Werte-Diskussionen für die Kriminologie Wohl steht es nicht zuerst der Kriminologie an, sich mit dem hochkomplexen Phänomen „Werte" zu beschäftigen. Jedoch kann sie sich dem offensichtlich auch nicht entziehen, zumal in diesem Moment der Geschichte. Aber die Probleme bleiben: Wie sind Werte zu begreifen? Wie werden sie produziert? Welche Werte(-strukturen) sind bedeutsam? Wie sind deren Inhalte einzubeziehen? Erörterungen auf dieser Ebene sollen hier weniger diskutiert, aber aufgenommen werden, um sie für die Kriminologie heuristisch zu wenden. Das soll in zwei Schritten geschehen: zum ersten als Nachdenken über das Werteverständnis und zum zweiten als Skizze soziologischer Werteforschung im Transformationskontext, genauer: des Wertevergleichs und -wandels in den alten und neuen Bundesländern. Dann können - in einem abschließenden Kapitel - kriminologische Bezüge und Untersuchungsergebnisse behandelt werden.

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1. Stets noch einmal: Was sind Werte? Allgemein und im Verständnis recht stabil werden Werte als generelle, situationsübergreifende Verhaltensorientierungen verstanden. Meulemann definiert sie als „allgemeine Ziele, die das Handeln in den verschiedensten Lebensbereichen regieren" (aaO, 25 f). Schmidtchen bezeichnet sie „aus der Perspektive des Individuums (als) Lebensziele", die über existentielle Investitionen von Ressourcen angestrebt werden (aaO, 18 f). Der Begriff der Ziele läßt weitergehend unterschiedliche Akzentuierungen zu: Ziele als von der Objektseite der Gesellschaft (Voraus-) Gesetztes (als Kultur, Recht, Instanzen) oder/und vom Subjekt (Mit-) Produziertes, also auch zu Veränderndes, und zwar nicht nur als quantitative bzw. als Strukturverschiebung, sondern in ihrer qualitativen Substanz. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Werte als überindividuelle, zur Makroebene der Gesellschaft aufgestiegene Verhaltensorientierungen integrieren das Gemeinwesen im Maße von Ubereinstimmung und Stabilität. Das ist seit Dürkheim unbestritten, ist aber auch nur ein funktionaler Zusammenhang, der zu hinterfragen ist, woher Werte kommen, also auch gewandelt werden. Schaut man näher, praktischer hin, so offenbaren sich Werte als soziokulturell ausgebildete Verdichtungen individueller Sinnerfahrungen einer alltagspraktisch-produktiven Gestaltung übergreifender Lebenszusammenhänge. Deshalb werden sie für empirische Untersuchungen hauptsächlich als Fragen nach den individuellen Lebenszielen zu operationalisieren versucht, so auch in unserer Untersuchung. Ein anderer Zugang (mit Gewinn und anderen Grenzen) liegt in der Frage, inwieweit solche Verallgemeinerung der Macht herrschender Gesellschaftsgruppen und bereits installierter Institutionen unterworfen bleibt und nur diskursiv beeinflußbar ist bzw. ob hinter solchem machtdominierten Ausstreiten nicht Wertbildungspotentiale eingreifen, die in den praktischen Lebensvorgängen der Menschen vor sich gehen, in denen sie eigenaktiv ihre Existenz sichern, produktive Beziehungen und soziale Bindungen eingehen, Selbstwert erleben und Konflikte zu bewältigen vermögen. Soweit hierin eine übergreifende, selbstbewegende Voraussetzung für Konstruktion und Ausstreiten von Wertung und Normierung zu sehen und nicht zu übersehen ist, dürfte dies eine fruchtbare Verständnisbrücke auch für kriminologische Erklärungsund Interpretationsansätze von den Polen der Konstruktion und der Ätiologie her eröffnen. Mit anderen Worten: Werte sind nicht axiomatisch (aber relativ stabil), nicht allein im Diskurs oder in der Macht von Makrosubjekten und Institutionen produziert (aber darin bewußt) und kaum moralisierend beizubringen, geschweige denn durch Sanktionsbewehrung (aber darin

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bekräftigt). Sie werden individuell in dem Maße bedeutsam, wie sie in der oben charakterisierten eigenen Tätigkeit, in einer so verstandenen „Sozialisation" (re-)produziert, modifiziert oder auch ignoriert werden. So gesehen sind Werte gesellschaftlich mühsam erarbeitete Bedeutungen, die in der individuellen Tätigkeit ontogenetisch mehr oder weniger als persönlicher Sinn erfahren bzw. verändert werden (vgl. Leontjew 1982, 144-152). „Persönlicher Sinn" meint eine bewußt werdende Vermittlung zwischen Bedürfnis und dessen äußeren, dinglichen oder sozialen Gegenstand in einem Zweck, einem angestrebten Zustand, der so „Wert" gewinnt. Hier wird erst einmal ursprünglich-praktisch, informell und für unmittelbare, abgegrenzte Lebensvorgänge „Normsubstanz" geschöpft. Daraus verdichten sich verallgemeinernd in einem gesellschaftlichen Vorgang überindividuelle, objektivierte „Werte" als gesellschaftliche Bedeutungen. Aus ihnen werden dann selektiv und nunmehr formell Normierungen und deren Durchsetzungsprozeduren abgeleitet, die auf die ursprüngliche Normsubstanz treffen. Solches Verständnis begreift Werte nicht als „grundsätzlich subjektive Sachverhalte" (wie Meulemann, aaO, 61), sondern eröffnet ihren Vermittlungscharakter zwischen Objektivem und Subjektivem über Sinnerfahrung, Stabilisierung oder Wandlung in der praktischen menschlichen Tätigkeit in einem bestimmten sozialen Lebenskontext, der stets zugleich (und kriminologisch traditionell) mit in den Blick gerät. Der persönliche Sinn kann somit von gesellschaftlichen Bedeutungen (Werten) abweichen. Dann ist nicht nur nach der Abweichung im Verhalten zu fragen, sondern auch nach der Produktion, auch Konstruktion dieser Werte und nach dem Warum dieser andersartigen persönlichen Sinngebung. Massenhaftes Abweichen birgt schließlich auch Ansätze veränderter Bedeutungen, zumindest für beachtlich große Menschengruppen, denen nicht einfach durch Berufung auf „traditionelle" Werte begegnet werden kann.

2. Skizze der herangezogenen

Werteforschung und

Wertestruktur

In einem weiteren Schritt sollen Studien der Werteforschung im Transformationskontext skizziert sein, um eine Ubersicht zu bieten, auf Verständnisdifferenzen zu verweisen und relevante Wertestrukturen herauszufiltern. Heiner Meulemann (vgl. 1996) nimmt den seit Ende der 60er Jahre in der alten Bundesrepublik festgestellten Wandel von Werten der Leistungspflicht und Institutionenakzeptanz zu solchen der Selbstentfaltung und Mitbestimmung auf, um gravierende Unterschiede zur Wertesituation in den neuen Ländern festzustellen. Mit Blick auf „nationale Identität" wählt er dafür die Werte „Gleichheit", „Leistung", „Selbstbe-

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Stimmung", „Mitbestimmung" und „Akzeptanz" (von Institutionen). E r mißt am gewachsenen westdeutschen Verständnis und möchte herausfinden, wo eine Anpassung der einen Region an die andere vor sich gehen werde bzw. sollte. Das Ergebnis: „Bis auf einen historischen Einschuß wird die Identität der neuen die Identität der alten Bundesrepublik sein" (aaO, 419). Dieses Ergebnis ist Konsequenz aus seinem Ansatz, Wertewandel als Veränderung der strukturellen Beziehungen (des Gleichgewichts, der Alternative oder Konflikthaftigkeit) zwischen „gesetzten" (Werte-)Elementen zu begreifen, so daß Wandlungen als „Mehr oder Weniger" interpretierbar werden (vgl. aaO, 32). Es stellt sich doch aber die Frage, inwieweit beide Regionen, gleichsam nur katalysatorisch beschleunigt durch den Vereinigungsprozeß, in einen qualitativ veränderten Wertekontext geraten, etwa durch globale Vorgänge und Zivilisationsschübe. Hans-Joachim Veen und Jutta Graf entnehmen der Entwicklung zwischen 1982-1996 eine Wiederverstärkung von „traditionellen" Pflichtund Akzeptanzwerten, wobei auch Entfaltungswerte stärker mit ökonomischer Sicherheit verbunden werden. Ist dies eine einfache „Rückkehr" ? Unter den sechsbändigen Berichten der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern finden sich innerhalb der Beiträge von Christine Wagner und Hu-

bert Sydow zur Jugend sowie von Stefan E. Hormuth und Peter Heller zu den Erwachsenen auch Abschnitte zu „Werthaltungen", wobei Werte nicht theoretisch hergeleitet, sondern eher pragmatisch angenommen und empirisch festgehalten wurden, wie Arbeit, Leistung, Familie, Achtung anderer, Solidarität, Anerkennung durch andere, Gruppeneinbindung (vgl. 1996). Die Ergebnisse sind vor allem für vertiefte Interpretationen einzelner Wertezustände und -Veränderungen hilfreich. Gerhard Schmidtchen (vgl. 1997) zielt auf Werte der existentiellen Sicherheit, menschlichen Einbindung, des Ansehens und Selbstwertstrebens. Er bestätigt eine überwiegende Werteähnlichkeit, wobei er die qualitative Dynamik im Werteverständnis sowohl im Osten als auch im Westen betont. Damit sind einfache Anpassungsvorgänge in Frage gestellt, vielmehr die Widersprüchlichkeiten in beiden Wertesituationen als Antrieb hin zu einer gemeinsamen, noch zu produzierenden Wertewelt begriffen, in deren Zentrum wohlverstandene Selbst- und Mitbestimmung bleibt, jedoch in einer veränderten Qualität des Zusammenhangs mit Pflichten und Akzeptanzen. Schließlich enthält die Jugendstudie „Shell ' 9 7 " eine wichtige theoretisch-methodologische Einsicht, die mit gutem Grund die Erörterung von Regionenunterschieden im Schatten läßt: Die meist verbreitete Werteeinteilung und -erfragung der letzten zwei Jahrzehnte unterschied zwischen materiellen und postmateriellen Werten, die als Gegensatz ge-

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handhabt, denen also ein „Entweder-Oder" unterstellt wurde, was die Empirie jedoch nicht bestätigte (vgl. Münchmeier 1997, 299). Die Vermutung scheint begründet, daß die Befragten kein „Entweder-Oder" sehen, weil postmaterielle Werte befriedigende und hinreichend stabile materielle Bedingungen voraussetzen (vgl. aaO, 300). Hier wird noch nicht die Frage aufgenommen, inwieweit es um einen produktiven inneren Zusammenhang von materieller Lebensbewältigung und Selbstverwirklichung geht, der sich nicht nur neu einrichtet, wenn sich das Materielle schwieriger gestalten sollte, sondern der erheblich Konflikte auch dann aufbauen kann, wenn die materiellen Bedingungen sicher erscheinen, Selbstverwirklichung aber seine Abhängigkeit davon aufgeben zu können glaubt. Insgesamt bietet sich für kriminologische Bezüge folgende Strukturierung und Gruppierung (nach besonders engen Zusammenhängen) von Werten an: - existentielle Sicherheit, Arbeit und Leistung, - Familie, andere Bezugsgruppen und Regeln des Alltagsverhaltens, - Selbstentfaltung und Mitbestimmung, - Instanzenakzeptanz in Bezug auf Kontrollorgane, strafgeschützte Rechtsgüter und Sanktionen. Es wird weder möglich noch nötig sein, jeden Aspekt der einzelnen Gruppe zu behandeln. Wesentlicher ist der jeweilige innere Zusammenhang, der sich von jedem Aspekt her vertiefen läßt. Wie diese Vertiefung versucht wird, hängt jedoch ganz entscheidend von der übergreifenden Frage ab, wie Werte verstanden und ihre Bewegung begriffen werden. III. Wertebezüge einiger Untersuchungsergebnisse kriminologischer Transformationsforschung Wenn im folgenden „Wertebezüge" einiger kriminologischer Feststellungen abzutasten versucht werden, so genau in diesem vorsichtigen, der Schwierigkeit der Sache bewußten Sinn: Die allgemeine Wertesituation soll aus dieser Zusammenschau heraus befragt, eventuell vertieft oder anders interpretiert werden. Dabei erweisen sich der quantitative Vergleich und Prognosen eines Mehr oder Weniger als nicht so ertragreich. Ähnlich liegt es mit Abwägungsformeln wie „Konformität vor/nach Autonomie", „Selbst- oder Kollektivorientierung" (so bei Meulemann 1996, 414). Es geht um intensive innere Wechselwirkungen, wie Werte ineinander übergehen und sich nur in diesem Ubergang stabilisieren können. Andernfalls bleibt es bei der Konsequenz, daß Wertedivergenzen solcher Art keinen „Kompromiß" anböten, sondern nur „Kapitulation einer Seite" (Meulemann 1996,417). Solches Verständnis wägt wohl beide Seiten ab, jedoch nur als Entweder-Oder-Zusammenhang, prüft

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nicht die verborgenen Vermittlungen und stellt sie nicht in die neue historische Anforderungssituation, in der es nicht schlechthin um K o m promiß oder Kapitulation geht, sondern um eine Neuformierung gemeinsamer Potentiale. Ansätze und Resultate der Werteforschung sollen mit kriminologischen Ergebnissen vorwiegend der eigenen Untersuchung konfrontiert werden. Bei der vorgeführten Unscharfe des Werteverständnisses und Differenz in der Werteauswahl wird die Entsprechung der Indikatoren für gleich bezeichnete Werte nur näherungsweise möglich sein. Darauf wird es schließlich nicht in erster Linie ankommen. Vielmehr soll allgemeiner etwas gewonnen werden für das Verständnis von Werten und Wertewandel als ein Hintergrund von Kriminalisierung sowie Kontrolle und Prävention von Kriminalität, insbesondere im Osten, jedoch auch und möglicherweise mehr als ursprünglich angenommen - für einen gemeinsamen Vorgang der Werteveränderung, der sich nicht auf eine Region beschränkt.

1. Existentielle Sicherheit, Arbeit und Leistung Die von der „Shell-Studie '97" mitgeteilte „Anpassungsbereitschaft" als ein „soziales Orientierungsmuster" hat bei Jugendlichen in den letzten Jahren deutlich zugenommen (Fischer 1997, 321). Insofern scheint Systemintegration überwiegend angestrebt zu sein. Auch Zukunftsvertrauen und Lebensfreude sind gleich verbreitet (vgl. Schmidtchen 1997, 88, 105); allerdings ist das Vertrauen in die Zukunft bei Jugendlichen insgesamt zurückgegangen, so daß sich Zuversicht und Skepsis die Waage halten (vgl. Münchmeier 1997, 291 f). Aber die unmittelbare persönliche Lebenssituation, die davon abgehoben wird, gestaltet sich zunehmend und 1995 dann für deutlich mehr als die Hälfte der Jugendlichen im Osten schwieriger, weil in einem ungünstigeren BelastungsRessourcen-Verhältnis (vgl. Schmidtchen 1997, 87, 105). Diese Riskanz der Lebenssituation führt jedoch nicht kurzschlüssig zu riskanten Lebensstilen. Im Vordergrund bleibt eine Statussäule, die sich erheblich um Arbeit, Leistung, berufliche Entwicklung zentriert. Ostdeutsche J u gendliche streben mehrheitlich und häufiger Leistung, berufliches Fortkommen und finanzielle Sicherung an (vgl. Schmidtchen 1997, 49, 122, 342; bzgl. Leistung auch Meulemann 1996, 303). Dabei mag sein, daß in diesem Verständnis auch eine biographisch mitgewachsene Uberbetonung hier gesuchter Kollektivität schwingt (wie Meulemann interpretiert, vgl. 1997, 305). Wichtiger jedoch scheint, daß dies auf eine produktive Bewältigung der vor allem auf diesem Feld aufkommenden Risiken gerichtet ist. Damit wird zugleich die Verhaltensorientierung gebunden an Normen, die für produktive Arbeit unverzichtbar sind (Regelmäßig-

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keit, gegenständliche Kooperation, Rationalität). Diese sozialintegrative Orientierung wird ergänzt durch den stärkeren Wunsch nach einer eigenen Familie, die der Arbeit zusätzlichen Sinn gibt. Dabei dürfte zutreffen, daß Arbeit hier herkömmlich noch zu wenig auf das Produkt gerichtet war, sondern überwiegend auf den kollektiven Vollzug (wie Meulemann es sieht, vgl. aaO, 194). Dieser kollektive Vollzug behält aber doch einen beachtlichen Sinn für zweckmäßige menschliche Kooperation und Kommunikation, also auch für Moralbildung, für Normen des Alltags Verhaltens. Umgekehrt kann eine strikte Ergebnisorientierung Verfremdungen und Moraleinbußen anderer Art herbeiführen, so etwa, wenn Heitmeyer bei gewaltbereiten Jugendlichen feststellt, daß sie Arbeit und Einkommen nur noch instrumentalistisch werten (vgl. 1994, 389). Schließlich zeigt sich auch im westlichen Arbeitsverständnis die kommunikative Seite der Arbeit im Verhältnis zum reinen Sachergebnis seit Anfang der 80er Jahre wieder aufgewertet (vgl. Schmidtchen 1997,29). Im übrigen ergab die Jenaer Wiederholungsbefragung 1995/96 einen deutlichen Anstieg der Arbeitszufriedenheit, die sich unter heutigen Bedingungen nun zweifellos nicht mehr auf Kollektiverlebnisse reduziert. Arbeit wird heute angespannter, aber interessanter eingeschätzt; Möglichkeiten der Kooperation mit anderen sind gleichgeblieben. Der erörterte Zusammenhang spricht für sich als sozialintegrative Strategie, die geeignet und entwicklungsfähig erscheint, die aktuelle Berufsund Lebenssituation zu meistern und veränderten ökonomischen Erfordernissen entgegenzukommen. Hier (wie mit dem Blick auf die Gesamtheit einer herkömmlichen Wertestruktursicht in den Koordinaten „Pflicht- und Akzeptanzwerte" sowie „Selbst- und Mitbestimmungswerte") kann nicht einfach von „Verharren in" oder „Rückkehr zu" gesprochen werden. Maß sind die veränderten Alltagserfordernisse, die einer einfachen Extrapolation von Selbst- und Mitbestimmung „Grenzen" derart setzen, daß ζ. B. Arbeit und Selbstentfaltung in neuartige qualitative Zusammenhänge und Abhängigkeiten geraten, in ihrer wechselseitigen Produktivität verändert abzuwägen sind. Dafür reflektiert Meulemann ein sehr illustratives Ergebnis einer Befragung zu Zielwerten der Schule (von Strzelewicz/Raapke/Schulenberg 1973, 78-79), wonach Selbständige weit höher „Ordnung und Disziplin" betonen als Beamte, und zwar aus dem existentiellen sozialen Erfordernis eines solchen Wertes für den Selbständigen als ein „verinnerlichtes Prinzip der Lebensführung" (Meulemann 1996, 52), genauer: seiner produktiven Tätigkeit. 2. Familie, andere Bezugsgruppen

und Regeln des

Alltagsverhaltens

Familien (familiale Formen in einem weiteren Sinne) werden im Osten mehrheitlich und stärker angestrebt (vgl. Schmidtchen 1997, 342;

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ähnlich Meulemann 1996, 358). Sie führen in der Lebenszielerfragung, bilden also einen zentralen Wert, aus dem tangierte Werte beachtlich gespeist werden. Das wird nicht zuletzt der eigengesetzlichen (weil nicht zu verordnenden) Qualität, dem Inhalt und Klima, zugeschrieben. Zum einen steht dafür die Partnerschaftlichkeit (Meulemann vermerkt „Egalitarismus", abnehmende Konformitäts- und mehr Autonomie-Werte, wobei allein der Egalitarismus der Geschlechter bis zu einem „Wert" aufsteigt, der dem im Westen gleich gesehen wird. - Vgl. 1996, 226 f). Zum zweiten wird im Erziehungsstil eine höhere Striktheit der Forderungen und zugleich emotionale Zuwendung erkannt (vgl. Schmidtchen 1997, 112 f, 345). Nach unserer Wiederholungsbefragung behielt die Familie die höchste Lebenszielbedeutung. An dieser Stelle sei die Unterschiedlichkeit von Wertevorstellungen angesichts unterschiedlicher sozialer Situationen und Statuserwartungen bis hinein in die Konstruktion von psychologischen Erhebungsinstrumentarien vermerkt. Dies illustrieren Ergebnisse des Freiburger Persönlichkeitsinventars (FPI-R), der im Rahmen der Jenaer Untersuchung 1991/92 mit eingesetzt worden war. Darunter befand sich das auf den ersten Blick erstaunliche Resultat, daß die über 60 Jahre alten Frauen in Jena im Vergleich der Alters- und Geschlechtergruppen die höchsten Aggressivitätswerte im Rahmen der so benannten Skala aufwiesen. Beim Hinterfragen dieses Befundes wurde deutlich, daß für die älteren Frauen die aus den Testnormierungen in der alten Bundesrepublik gewonnenen Normwerte am wenigsten adäquat waren. Die Skala hat zudem eher selbstdurchsetzendes Verhalten erfaßt als Aggressivität im Sinne der Schädigung anderer. Für solche Durchsetzung hat die Sozialisation bei den Frauen aus den neuen Bundesländern zu anderen Fähigkeitsstrukturen geführt. Allgemeiner folgt daraus, soziologische und psychologische Instrumentarien daraufhin zu überprüfen, wie die Operationalisierung gemeinter Inhalte mit dem Bedeutungswandel von Begriffen, Werten und Lebenslagen in Übereinstimmung zu bringen ist. Es geht nicht schlechthin um ein Zurückrufen etwa des traditionellen Wertes „Familie", weder in der Form (Trauscheine werden nicht vorausgesetzt - vgl. Meulemann 1996, 352) noch im Inhalt (vorherrschend ist eine kooperative Erziehung), aber eben in einer stabilen, berechenbaren, emotional geladenen, Konfliktbelastung aushaltenden und Konflikthilfe bietenden Lebensgruppe, die vor allem deshalb auch als ein Fixpunkt in der allgemein zunehmenden Bezugsgruppen- und Normenflexibilisierung wirken kann. Diese Familienbeziehungen haben offenbar und besonders erstaunlich die Transformationsspannungen am sichersten ausgehalten (vgl. Trommsdorff/Chakkarath 1996, 74 f sowie Wagner/Sydow 1996,141 f).

Wertewandel und Normbruch

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Dabei wird wohl die „postfamiliale Familie" ( B e c k - G e r n s h e i m 1994) eine Wahlgemeinschaft verschiedener Formen mit der stärkeren Funktion, individuelle Lebensentwürfe einbringen und abgestimmt durchbringen zu können. Diese Individualisierung wird jedoch auf andere Weise Intimität, Geborgenheit, auch (pflichtenproduzierende) Einbindung suchen (vgl. aaO, 134 f). Zinnecker/Silbereisen/Vaskovics stellen jüngst bei westdeutschen Jugendlichen eine Aufwertung familiärer Sicherheit fest (vgl. 1997,19). Sowohl mit der Haltung zur Arbeit als auch mit dieser Familienwirkung korrespondiert eine striktere Orientierung an Alltagsregeln des Verhaltens und menschlichen Umgangs, wie etwa beim Umgang mit Zeit (Sparsamkeit), in der Selbstdarstellung (Bescheidenheit) und Höflichkeit, während im Westen stärker Autonomieziele, wie Toleranz, Menschenkenntnis, Wissensdurst, betont werden (vgl. Schmidtchen 1997, 62, 342; Meulemann 1996, 325-327). Mag sein, daß sich darin in Ostdeutschland historisch näher angesiedelte puritanische Traditionen erhalten (wie Schmidtchen vermutet - vgl. 1997, 59 f). Entscheidend bleibt die Sinnerfahrung solcher Erwartungen im Alltag und die Frage, inwieweit produktiver und kultureller Fortschritt auf solcherart Verhalten angewiesen ist. Meulemann stellt an diesem Punkt fest, die geringere moralische Rigidität der Westdeutschen werde nicht durch eine größere moralische, auf Werte zielende Autonomie ausgeglichen, was zwar angesichts der beschränkten Meßbarkeit ein gewagter Schluß sei, „aber auch beunruhigend genug, um wenigstens mit einem Fragezeichen stehen zu bleiben" (vgl. 1996, 364).

3. Selbstentfaltung

und

Mitbestimmung

Wertewandel - hin zu Selbstentfaltungs- und Mitbestimmungswerten verstanden - ist ganz zweifellos ein kulturell bedeutsamer Vorgang. So zeigte auch der Städtevergleich 1991/92 für Freiburg deutlich Selbstentfaltungs- und Erlebensziele im Vordergrund, dagegen für Jena Arbeit, materielle Sicherheit, Familie. Das spiegelt sich interessanterweise auch in der Sicht auf Kriminalitätsursachen, die von den Freiburgern eher im Individuellen gesucht werden, von den Jenaern dagegen stärker in sozialen Verhältnissen und Institutionen. Die Jenaer Wiederholungsbefragung zeigt jedoch Veränderungen im Zielnetz: Arbeit verliert, Freunde/Lebensgenuß/Durchsetzung persönlicher Wünsche gewinnen an Wert. Insgesamt gewinnen bei ostdeutschen jungen Leuten zugleich Werte der Selbstverwirklichung (innere Harmonie, Kreativität) und sozialer Ordnung sowie nationaler Sicherheit an Kraft (vgl. Zinnecker/Silber eisen/Vaskovics 1997, 19) - ein widersprüchlicher Zusammenhang, der aber bedenkenswerte Wechselwirkungen enthält. Auch in den alten

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Bundesländern werden seit Beginn der 90er Jahre wieder stärker Pflichtund Akzeptanzwerte betont im Zusammenhang mit einem gewachsenen Bedürfnis nach ökonomischer Sicherheit (vgl. Veen/Graf 1997, 40 f) und familiärer Sicherheit (vgl. Zinnecker/Silbereisen/Vaskovics 1997, 19). Handelt es sich hier lediglich um eine „Rückkehr zu traditionellen Werten" bzw. eine „Umkehr des Wertewandels" (wie Veen/Graf diskutieren) oder kommt etwas qualitativ Verändertes auf? Mit Haferkamps Worten: Wann „verdünnt sich Selbstverwirklichung in Genuß des Lebens für sich selbst" (1989, 62)? Das Leben eher für die unmittelbare E r lebnissituation, für wechselnde Teilgruppen mit wechselnden Verhaltenserwartungen birgt Tendenzen verkürzter Handlungsperspektiven und Bindungen, erschwert also eine integrationsstiftende Wirkung von Normen. Außerrechtliche bzw. vorrechtliche Formen von Konfliktbewältigung entsprechend den jeweiligen partikularen Gruppenerwartungen nehmen zu - ein durchaus nicht nur negativer, sondern eben widersprüchlicher Prozeß, der konstruktiv zu gestalten ist. So ist auch die Differenz zu begreifen, daß „Ichlichkeit" im Westen eher abstrakt ethisch, im Osten sozial altruistisch gebunden ist (vgl. Schmidtchen 1997, 63-65). In Selbstvertrauen, Verletzbarkeit und aktivem Coping gleicht sich die Jugend, wobei den Ostdeutschen ein gering niedrigeres, aber etwas kritischeres Selbstvertrauen, ein etwas höheres Bedrohtheitsgefühl und gering stärkere Aktivierung bescheinigt werden (vgl. Schmidtchen 1997, 323-331). Im Selbstverständnis ostdeutscher Jugendlicher zeigt sich ein Widerspruch zwischen betonten Werten sozialer Beziehungen und andererseits einer höheren allgemeinen Durchsetzungsbereitschaft sowie im besonderen sogar instrumentellen Gewaltbereitschaft (zum Schutze oder um jugendpolitisch etwas durchzusetzen, auch illegale Selbstschutzformen, Vergeltungsmotive, unspezifischer Vandalismus) (vgl. Schmidtchen 1997, 276-278, 349 f). Ebenso im Widerspruch zur Durchsetzungsbereitschaft scheint die von Meulemann festgestellte höhere Erwartung an eine staatlich zu sichernde Angleichung von Existenzbedingungen unabhängig von Arbeitsleistung zu stehen (vgl. 1996, 286-288). Dieses widersprüchliche Werte-Syndrom in bezug auf Durchsetzung bis Gewalt läßt sich zum einen aus der schwereren Risikolast erklären, der geringere Ressourcen gegenüberstehen. Die Lösungsstrategie schwankt zwischen höherer (konstruktiver) Aktivitätsbereitschaft (die Schmidtchen der ostdeutschen Jugend zuschreibt - vgl. aaO, 329), höheren Risikoausgleichserwartungen an den Staat (zweifellos zwischen DDR-Erfahrung und sozialstaatlich diskutablem Ausgleich liegend) und einer höheren Gewaltoption, die Schmidtchen als „subjektive Gewalt-Doktrin" (deutlich abgehoben von biographischen Verletzungen, sozialer Desintegration, wirtschaftlichen und politischen Frustrationen, auffällig oft sogar trotz

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guter Ressourcen) sieht, in der die geistige Komponente ein höheres Gewicht als bisher erreicht (vgl. 1997, 289-293, 350). Biographische Belastungen (wie Schule schwänzen / Ausbildung abbrechen, verfrühte Schwangerschaft, Delinquenz, hohe Gewaltbereitschaft, Selbstmordtendenz, Ausscheren aus rationalem Weltbild) bei geringer sozialer Integration stellt er sogar noch etwas schärfer und der Situation in den USA ähnlicher im Westen fest (vgl. aaO, 28, 337, 354). Danach scheint die stärkere „subjektive Gewalt-Doktrin" im Osten erheblich ein bewältigungsmentaler Vorgang zu sein, der noch spürbar von produktiven Bereitschaften und sozialer Orientierung gezügelt wird. Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich schließlich in der Tatsache, daß von ostdeutschen Jugendlichen sowohl stärker für als auch gegen Gewalt geantwortet wird, also noch Polarisierungen vorherrschen, Vermittlungsvorgänge (als mittlere Antwortausprägungen) noch schwächer besetzt sind (vgl. Kräupl 1995, 53). Nach der Shell-Studie wird hier das Problem „Gewalt/Banden/Kriminalität" deutlich stärker als eines der „Hauptprobleme" empfunden (vgl. Münchmeier 1997, 282). Nach unserer Wiederholungsbefragung hat die Akzeptanz von Gewalt zur Durchsetzung politischer Interessen in Jena abgenommen. Insgesamt scheint sich zu bestätigen, daß angesichts hinreichender Subsistenzgarantien das Mentale der Identität (oder wie immer man das „Selbst" begreift; der Identitätsbegriff hat zumindest einen deutlicheren Bezug auf das „Außen") an Gewicht gewinnt. Und umgekehrt: Rücksichtslosigkeit gegen andere (als geeigneter Indikator für Werteverlust relativ unabhängig von normativer Konstruktion) kommt erheblicher als je in der Geschichte aus Beschädigungen des Selbst, dient veräußerlichtem, flüchtigem Identitätsgewinn. Dieser Zusammenhang erscheint besonders deutlich in rücksichtsloser Verkehrsdelinquenz (vgl. Kölbel 1997, 223-230, mit den dortigen Nachweisen). Weniger verschärft, aber indizierend: Junge Ostdeutsche (in Thüringen) verbinden mit dem Fahren stärker expressive Orientierungen als die westdeutsche Vergleichsgruppe (vgl. Krüger 1996). Zugleich eben orientieren sie sich stärker auf soziale Bezugsgruppen und Sicherheiten. Diese Widersprüchlichkeit enthält ein produktives Potential dort, wo es nicht schlechthin um Rückzüge in Bindungen geht, die - wie in früheren Gesellschaften - auch solche der Abhängigkeit sein könnten, sondern in kooperative Bindungen, wie sie in ostdeutschen Familien offenbar recht gut angelegt sind. Was nun die Mitbestimmung angeht, so stellt Meulemann bei den Ostdeutschen eine gleich hohe Interessiertheit an politischen Vorgängen und Instanzen, jedoch eine geringere und sinkende praktische Mitwirkungsbereitschaft fest (vgl. 1996, 322), die Shell-Studie eine höhere kritische Distanz zu Instanzen (vgl. Münchmeier 1997, 297). Die Jenaer Wiederholungsbefragung konnte zwar allgemein eine Zunahme kritischer Haltungen zu po-

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litischen Personen feststellen, jedoch anhaltendes Interesse, an kommunalen Entscheidungsvorgängen mitzuwirken. Es geht also nicht um Distanz zur Politik an sich, sondern um einen Rückzug auf weniger verfremdete Aktionsfelder in Lebens- und Alltagsnähe. Das ist für kommunale Prävention bedeutsam. Insgesamt läßt wohl die massive Konfrontation mit Individualisierungsbedingungen und -erwartungen im Osten sprunghaft die gestiegene Bedeutung des „Selbst" {Heitmeyer 1994, 386) erleben. Die sittliche Qualität von Autonomie ist jedoch - das wissen wir seit Kant - abhängig vom Maß der Achtung anderer. Nur so bleibt Autonomie moralisch beherrscht und produktiv.

4. Instanzenakzeptanz in Bezug auf Kontrollorgane, Rechtsgüter und Sanktionen

strafgeschützte

Die hohe (bei ostdeutschen Jugendlichen noch etwas stärkere) Distanz zu politischen Institutionen erstreckt sich weniger als erwartet auf Gerichte und Polizei, was die Shell-Studie aus dem Eindruck erklärt, daß diese Institutionen „von bestimmten Wertmaßstäben und ethischen Prinzipien geleitet werden" ( M ü n c h m e i e r 1997, 296). Ließ sich die überwiegende Ordnungserwartung an die Polizei 1991/ 92 in Jena noch aus der Kontrollgewohnheit und besonderer Verunsicherung erklären, so ist die Zunahme der Akzeptanz sicher ein Vorgang, der von der oben zitierten Einschätzung nicht völlig abgedeckt ist und auch problematische Striktheitserwartungen enthalten kann. Immerhin wird von Westdeutschen eine Zurückhaltung der Polizei in öffentlichen Konfrontationen eher akzeptiert (vgl. Μ eulemann 1996, 363, bezugnehmend auf Institut für Demoskopie). Die Jenaer Wiederholungsbefragung deutet jedoch mehr auf eine andere Differenzierung der Erwartungen an die Polizei, worin Aufgaben des unmittelbaren Schutzes vor sowie die Verfolgung von Straftaten ebenso betont werden wie die Bürgerberatung. Auch die Veränderung der Motivstruktur für einen Anzeigeverzicht zeigt in eine solche Richtung: Während sich am deutlichsten der Nichtanzeigegrund „nicht schwerwiegend" verringerte (was im eigentlichen eine Anzeige näher gelegt hätte), stieg der Grund „Polizei hätte nichts getan" um deutlich mehr als das Doppelte, worin sich gleichermaßen sachliches Hinnehmen wie verbleibende Erwartungen ausdrücken können. Bemerkenswert kontinuierlich wurde das Strafrecht der alten Bundesrepublik übernommen. Umstellungen äußerten sich in der prozeduralen Aktionsverzögerung und der Anwendung nichtrepressiver Sanktionsalternativen auch bei mittelschweren Straftaten. Uber diese Liberalisierung hinaus blieben altes und neues Strafrecht in einem weit höheren

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Maße als erwartet als „Normalität" im Bewußtsein (vgl. dazu Eser 1996, 813-815). Die Umstellung scheint sich jedoch im geringeren Vertrauen ostdeutscher Jugendlicher in die Gerichte zu reflektieren (vgl. Münchmeier 1997, 297), anhaltend auch in der Jenaer Wiederholungsbefragung, wobei allerdings die mittleren Ausprägungen zunehmen, was Versachlichung signalisiert. Dagegen scheint die Akzeptanz der Polizei auch die Möglichkeit zu eröffnen, ihren traditionellen Status als „kontrollierende" Sicherheitsinstanz anzureichern mit Momenten von Bürgernähe und Konfliktprävention. Devianztoleranzen werden bei genereller Fragestellung etwa nach Vertragsverletzungen, Unterschlagungs- und Betrugsvorgängen gegen Kaufhäuser und Versicherungen bei Westdeutschen großzügiger festgestellt (vgl. Meulemann 1996, 363 mit den dortigen Quellen dieser Ergebnisse); so gilt dies jedoch nicht im Bagatellbereich. Unsere Städtebefragung ergab für 1991/92 bei den Jenaern eine moderatere Haltung gegenüber Schwarzfahrern, Graffiti und kleinem Ladendiebstahl mit der häufigen Beschränkung auf Wiedergutmachungssanktionen als bei den Freiburgern, die jedoch insgesamt im Durchschnitt der gesamten Deliktspalette liberalere Sanktionen vertraten. 1991/92 lag (trotz der bekanntermaßen deutlich höheren Kriminalitätsfurcht) die Opferbelastung in Jena noch unter der von Freiburg. Vom „Betrug" fühlten sich die Jenaer am deutlichsten stärker betroffen (erfragt als Situation einer durchgemachten Täuschung über den Wert eines angebotenen Gegenstandes, um für den Anbieter mehr Geld einzubringen). Hier spielen offensichtlich bemerkenswerte „ursprüngliche" Beurteilungsmaßstäbe eine Rolle, die substantiell aus einer anderen Alltagserfahrung des Kaufgebarens und der Berechenbarkeit kommen. Meulemann referiert diese Veränderungen im Rechtsgutverständnis seit Ende der 50er Jahre am relativ sinkenden Wert von Kleinmengen fremden Eigentums (nach einer Untersuchung von Noelle-Neumann 1978, 44—47), an der Vermassung und Verfremdung des Warenangebotes als strukturelle Gründe dafür, daß „die Grenze vom ,Diebstahl' zur Ordnungswidrigkeit' überschritten" wurde (1996, 54). Das Strafrecht kann dies im doppelten Sinne nicht ausgleichen: zum einen kann es die strukturellen Gründe nicht ersetzen und zum anderen ist es für eine tatsächliche Strafverfolgung nicht rüstbar. Situative Prävention und (kontrollierbare) Formen zügiger, der Normverletzung adäquater, nicht schwerer, aber spürbarer Reaktion nach dem Modell des Ordnungswidrigkeitenrechts (oder eventuell des Verfehlungsrechts der D D R ) wären hilfreicher als das Beschwören alten und nicht durchsetzbaren Normverständnisses. Solche Neuakzentuierung stimmt dann auch besser mit der Notwendigkeit zusammen, die per se nur selektiv mögliche Sanktionierung konzentrierter auf andere (schwerere) Strukturelemente der

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Kriminalität zu richten, um das Gesamtphänomen unter Kontrolle zu halten. In den abstrakten (d. h. nicht deliktsbezogenen) Sanktionserwartungen zeigt sich gleichermaßen ein differenziertes Bild. Im Städtevergleich betonten 1991/92 die Jenaer stärker formelle Justizreaktionen und -Sanktionen (Ermittlung, Verurteilung, Bestrafung) zugleich aber in größerem Umfang auch Wiedergutmachung und Opferhilfe. Diese Widersprüchlichkeit hat in Jena sogar noch zugenommen. Sie reflektiert auf dieser abstrakten Ebene die Erwartung einer deutlicheren Normbekräftigung und Verletzungsächtung durch die Justiz, was jedoch nicht einfach mit mehr Repression gleichzusetzen ist. Denn andererseits öffnen sich differenziertere Sichten auf nichtrepressive Ausgleichsformen. In den konkreten (deliktsbezogenen) Sanktionserwartungen zeigt die Jenaer Wiederholungsbefragung dagegen eine überwiegende Zurücknahme von Straferwartungen, so auch, allerdings weniger, bei Gewaltdelikten. Wiedergutmachungsbereitschaften nehmen bei bestimmten Alltagsdelikten (weiter) zu (wie Schwarzfahren, Ladendiebstahl, Hausbesetzung). Nimmt man den sehr groben Indikator der Haltung zur Todesstrafe, so stimmten in Jena 1991/92 in der schriftlichen Befragung noch 61 % dafür (allerdings erheblich konzentriert auf schwerste Gewaltverbrechen), dagegen nur 37 % der Freiburger. 1995/96 vertraten lediglich noch 50 % der Jenaer diese Position. Ergänzt sei, daß im Rechtsverständnis der Ostdeutschen die kooperative Konfliktverarbeitung eine beachtliche Rolle spielte (etwa in der informellen Konfliktberatung durch alle Justizorgane oder in der vorjustitiellen Konfliktschlichtung durch „gesellschaftliche Gerichte", die zwar zu sehr „geleitend" und damit kontrollierbar gestaltet waren, aber andererseits auch praktische Kooperation herausforderten. Momentan sind diese Ubergänge von der Justiz zu den „Schiedsstellen", wie sie für die neuen Bundesländer bestimmte dieser Erfahrungen bewahren, noch zu wenig von formellen Instanzen in Anspruch genommen - vgl. Schubel 1996,170 ff). In der Widersprüchlichkeit der Sanktionserwartungen lagert sowohl der Wunsch nach strikterer Strafverfolgung als auch eine deutliche Vermittlungsbereitschaft, die mit der eigenen Betroffenheit wächst. Die Erwartung strikterer Verfolgung ist nicht abzutun als hypertrophierter Kontrollwunsch, sondern auch eine Reaktion aus gestiegener Kriminalitätsfurcht und dem Eindruck nachlassender Kontrollfähigkeit der Instanzen dort, wo es nicht um Verschärfung, sondern schlechthin um die Durchsetzung fixierten Rechts angesichts existentiell empfundener Gefährdung und der Grenzen individueller Realitätskontrolle geht. Vermittlungsbereitschaft kann nur in solchen Rahmenbedingungen praktisch werden. Sie ist nicht nur Alternative, sondern behält die genannte

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Abhängigkeit, die man ausstreiten muß. Die Kreation von Alternativen allein kann sowohl ihre nicht gewollte Einpassung in das herrschende Kontrollsystem übersehen als auch ihre Wirkungsvoraussetzungen in einer hinreichend funktionierenden „Voraus"-Kontrolle schwerer Straftaten. Zum ostdeutschen Kontext gehört außerdem die Tatsache, daß ausgleichende Sanktionsalternativen erst in einer relativ stabilen O r ganisation kommunalen Lebens und strafrechtlicher Kontrolle möglich werden, weil es sonst der unverzichtbaren Ressourcen und Prozeduren ermangelt. Haltungen zu solcher A r t Konfliktlösung bleiben um so gröber und strikter justitieller Reaktion verhaftet, wie dieser Kontext instabil erscheint, die eigene Lebenssituation eingeschlossen. Unsicherheit drängt zu Verkürzungen. Gerade dann, w e n n längerfristige Entwürfe nötig sind, verstärken sich kurzschlüssige Reaktionen. A u s anderer Sicht formuliert: Nach Dürkheims Vorstellungen über den Zusammenhang von sozialer Differenzierung und Erwartung von (elementarer) Integration durch das Strafrecht darf angenommen werden: Je größer die soziale Differenz, desto höher die Integrationserwartung. U n d umgekehrt: Überzogene Erwartungen an das Strafrecht reflektieren (zumindest auch) die Wahrnahme einer unberechenbaren sozialen Differenzierung.

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Kriminologie im System der anderen Wissenschaften BRUNON HOLYST

I. Die stürmische Entwicklung der Kriminologie in den letzten Jahren des 20. Jh. liefert u. a. eine Antwort auf die gewaltsam zunehmende Kriminalität. Von der Entwicklung der Kriminologie zeugen nicht nur die entsprechenden Institute, Forschungszentren und internationalen Kongresse, sondern vor allem die ständig anwachsende Literatur. Allein nach dem zweiten Weltkrieg erschienen über 100 000 der Kriminologie gewidmete Veröffentlichungen. In den Vereinigten Staaten von Amerika wurden in den Jahren 1918-1993 rund 157 Lehrbücher der Kriminologie veröffentlicht 1 . Zu verweisen ist auch auf die kriminologischen Zeitschriften, die viele wertvolle Arbeiten herausgeben. Gegenwärtig sollte man sich auf der Suche nach neuen Wegen der weiteren Entwicklung der Kriminologie in der Welt nicht nur auf die Durchführung empirischer Forschungen über bisher nicht in Angriff genommene Themen konzentrieren, sondern auch einen Versuch unternehmen, den Platz dieser Wissenschaft unter anderen Disziplinen zu bestimmen. In den letzten Jahren machte sich ein deutlicher Anstieg der Forschungen über die negativen gesellschaftlichen Erscheinungen bemerkbar. Zahlreiche Kongresse und wissenschaftliche Symposien bringen viele interessante Materialien aus dem Bereich der Symptomatologie und Ätiologie dieser Erscheinungen. Zu beobachten ist eine aktive Teilnahme der Vertreter verschiedener Wissenschaftsbereiche an der Aufnahme der Problematik der individuellen und sozialen Pathologie. Auf diese Weise wurde die Kriminologie zu einer interdisziplinären Wissenschaft, sowohl mit Rücksicht auf die Forschungsmethoden, als auch hinsichtlich ihrer Reichweite. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der „kriminologischen Literatur" immer breiter aufgefaßt. Das Betreiben der Kriminologie ohne Kenntnis des grundlegenden Begriffsapparats u. a. aus dem Bereich der Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Psy-

' R. A. Wright, A Criminology textbooks, 1918 to 1993; A comprehensive bibliography. „Journal of Criminal Justice Education" 1994, 5 (2), S. 251-256.

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chiatrie, Neurologie, Genetik ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Diese Aufzählung hat natürlich den Charakter eines Beispiels. Mit Rücksicht auf die Notwendigkeit einer breitangelegten Berücksichtigung von Arbeiten aus dem Bereich vieler Disziplinen taucht die Reflexion auf, daß die Kriminologie weit über die Grenzen der Rechtswissenschaft hinausgegangen ist. Die kriminologischen Forschungen werden immer häufiger von spezialistischen Teams unter Teilnahme von Ärzten, Psychologen, Pädagogen, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern, Biologen, Anthropologen u. dgl. m. geführt. Die Anwendungsbereiche der Ergebnisse der kriminologischen Forschungen überschreiten den Rahmen des Ermittlungsverfahrens, des Urteilens und des Strafvollzugs. Die Straftat zieht als Massenerscheinung in fast alle Bereiche der heutigen Welt ein. Daher kann das Entgegenwirken dieser Erscheinung keine Domäne nur der Organe sein, die sich professionell mit der Problematik der Kriminalität befassen (Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte). Die Vorbeugung der Kriminalität und anderer negativer Erscheinungen ist gegenwärtig eine Sache der ganzen Gesellschaft, der staatlichen Institutionen und der einzelnen Bürger des Staates. Die Ergebnisse der kriminologischen Forschungen müssen also in hohem Grade verwertet werden bei der Bearbeitung von Programmen der Vorbeugung der Kriminalität, von Rechtsakten, beim Treffen von Entscheidungen, die eine Einschränkung des Bereichs der kriminogenen Faktoren anstreben u. dgl. m. Der Reichtum von Problemen, welche die Ursachen und Veräußerungsformen der Kriminalität ergeben, macht die Anwendung vieler Forschungstechniken mit interdisziplinärem Charakter erforderlich.

II. Etwa 50 Jahre seines schöpferischen Lebens widmete unser Jubilar Hans Joachim Schneider der Entwicklung der Kriminologie. Seine denkwürdigen Werke bilden einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung der Weltkriminologie. Professor Thorsten Sellin versah die Veröffentlichung des Lehrbuches der Kriminologie im Jahre 1987 mit folgendem Kommentar: „It is a very impressive work, testifying to Professor Schneider's intimate knowledge of his subject and his skill in presenting it in all its aspects and with characteristic German Gründlichkeit. Of textbooks on criminology that have come to my attention over the years, it is one of the best (...) Professor Schneider's analyses are thorough, cogent and persuasive" 2 . 2 T. Sellin, Η. J. Schneider: Kriminologie/Criminology, Berlin, N e w York 1987. „The Journal of Criminal Law and Criminology" 1989, Vol. 79, S. 1377-1381.

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Auch Professor Denis Szabo drückte seine große Anerkennung für dieses deutsche Lehrbuch aus. Er stellte u. a. fest: „La Kriminologie de H. J. Schneider merite l'attention de la communaute scientifique internationale. Ii a gagne son pari en face de defis multiples, ceux de la multidisciplinarite, de la multi-nationalite, de la theorie et de la practique. Sa science comme la clarite de son analyse ne se trouvent point en defaut. Nous formulons de voeu que ces memes hauts standarts d'oecumenismes culturels se retrouvent dans manuels (de langue frangaise) et de textbook (de langue anglaise) dans l'avenir" 3 . Diese zwei angeführten enthusiastischen Einschätzungen verdienen besondere Aufmerksamkeit, da sie von weltberühmten Kriminologen formuliert wurden. Die über 25-jährige Zusammenarbeit mit Professor H. J. Schneider, wie auch die Freundschaft seitens des Jubilaten, mit der er mich geehrt hat, berechtigen mich festzustellen, daß Professor Schneider sein ganzes Leben in den Dienst der Kriminologie, der Viktimologie und der Gerichtspsychologie gestellt hat. Aus dieser Lebenspassion ergeben sich bestimmte Implikationen. Der Jubilar wurde für viele Generationen ein Meister in der präzisen wissenschaftlichen Arbeit und in den musterhaften Veröffentlichungen, von denen ζ. B. das „Handbuch der Kriminologie" oder „Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Auswirkungen auf die Kriminologie" (Band 15) auch das Ausmaß von weltberühmten Editionen haben. III. Die Kriminologie als multidisziplinäre Wissenschaft konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf den Menschen und seine Umwelt. Gegenstand, ihres Interesses sind Probleme im individuellen und sozialen Ausmaß. Im Mikromaßstab befaßt sie sich mit der individuellen kriminellen Verhaltensweise, im Makromaßstab wiederum mit der Kriminalität als gesellschaftlicher Erscheinung. Die holistische Auffassung der komplizierten Problematik der sozialen Pathologie (darunter besonders der Kriminalität) verleiht der Kriminologie den Rang einer Wissenschaft, die in der Wahrnehmung der Bereiche der Bedrohung eine dominierende Rolle spielt. Und diese Bedrohungen nehmen ständig zu. So vergrößert sich in den letzten Jahren in der ganzen Welt die organisierte Kriminalität. In einer Konferenz in Washington stellte man fest, daß die organisierte Kriminalität eine größere Bedrohung für die westlichen Demokratien darstellt, als in der

3 „Revue Internationale de Criminologie et de Police Technique" 1988, 3 Bd. X L I , S. 635-637.

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Vergangenheit die Bedrohung durch den „kalten Krieg" (cold war) 4 . Die weltweiten kriminellen Verbindungen existieren in jedem Bereich der kriminellen Aktivität: vom Waschen schmutzigen Geldes und Fälschungen von Zahlungsmitteln bis zum illegalen Handel mit Rauschgiftmitteln und Kernspaltungsprodukten. Die italienische Mafia wird modernisiert, die feudale Hierarchie der kriminellen Strukturen nimmt einen modernen Charakter an. Die Mafia entscheidet über die Richtungen der Tätigkeit der Verbrecher und nimmt sie in Schutz 5 . Uber 5700 russische Gangs kontrollieren die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion, etwa 200 große kriminelle Gruppen unterhalten ständige Kontakte mit den Gangs in 29 Staaten, wobei die Bildung einer neuen Polizei mit Rücksicht auf die Kultur des alten Regimes auf beachtliche Schwierigkeiten stößt 6 . Die asiatischen Kartelle (die japanischen Yakuza und die chinesischen Triaden) bilden neue Bedrohungen für die Rechtsordnung in der Welt. In Polen entwickeln gegenwärtig ihre Tätigkeit 35—40 große, gut organisierte Gangs. Die Gruppe der gefährlichsten polnischen Gangchefs, O r ganisatoren der größten kriminellen Aktionen umfaßt über 400 Personen. Dazuzurechnen sind etwa 60 Gruppen, die aus Rußland, der Ukraine und Litauen stammen, sowie einige internationale Gruppen, vor allem aus dem ehemaligen Jugoslawien 7 . Angesichts der neuen Erscheinungen in der Sphäre der organisierten Kriminalität ist die Kriminologie ratlos. Man begann sich verhältnismäßig spät für die organisierte Kriminalität und deren mehrdimensionale Implikationen zu interessieren. Mit der Zeit begann die organisierte Kriminalität in vielen Fällen einen politischen Charakter anzunehmen. Man kann auch mit großer Wahrscheinlichkeit feststellen, daß die ökonomische Transformation in den Ländern Osteuropas sich dank der finanziellen Mittel entwickelt, die den Straftaten entstammen. Die anglo-amerikanische Kriminologie hat große Schwierigkeiten mit der Erklärung der Änderungen in den Ländern Mittel- und Osteu-

4 R. Godson / W. J. Olson, International Organized Crime; Emerging Threat to US Security. Washington DC 1993. 5 D. Cambetta, The Sicilian Mafia: The Business of Private Protection. Cambridge, MA 1993. 6 W. A. Clark, Crime and Punishment in Soviet Official Combating Corruption in the Political Elite. Armonk N Y 1993; siehe auch: F. Varese, Is Sicily the future of Russia? Private protection and the rise of the Russian mafia. „Archives of European Sociology" 1994, 35, S. 224-258. 7 B. Hofyst, Die Kriminalitätsentwicklung in Polen und die polizeiliche Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland, in: R. Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa. München, Berlin 1996, S. 105-142; siehe auch: R. Schulte / B. Holyst (Hrsg.): Organisierte Kriminalität, Münster 1997.

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ropas sowie ihres Einflusses auf die Kriminalisierung des öffentlichen Lebens8. Daher wird es zu einer dringenden Notwendigkeit, interdisziplinäre Forschungen zu führen, um die faktische Sachlage und die Reichweite der politischen, ökonomischen und sozialen Einflüsse auf die Gestaltung der neuen Kriminalität zu bestimmen. Deshalb kann man sich gegenwärtig nicht mehr auf die Registrierung von Fragen aus dem Bereich der kriminellen Symptomatologie beschränken. Es wird höchste Zeit, sich mit der Ätiologie der Kriminalität zu befassen. Eine nähere Einsicht in die Literatur verweist darauf, daß die Kriminologie im Bereich der Erforschung der kausalen Ursachen nicht nur der neuen kriminellen Erscheinungen, sondern auch der traditionellen (klassischen) Kriminalität keinen allzu großen Fortschritt zu notieren hat. Immer noch wartet auf eine eingehendere wissenschaftliche Beleuchtung die Ätiologie der kriminellen Verhaltensweisen des Einzelwesens. Oft ist die Schwäche der Kriminologie das Ergebnis eines mangelnden holistischen Blickes auf den komplizierten Mechanismus der menschlichen Reaktionen. Eine der schwierigsten Aufgaben in der Analyse der in den empirischen kriminologischen Forschungen erzielten Daten ist die Festlegung der kausalen und konsekutiven Verknüpfungen. Schwierigkeiten treten besonders bei dem Versuch einer Bestimmung der psychosozialen Determinanten der kriminellen Erscheinungen auf. Die meisten Veräußerungen der menschlichen Verhaltensweisen haben nämlich ihre Ursache nicht in einem Faktor oder in einer bestimmten Gruppe von Faktoren, sondern sind durch einen praktisch unbegrenzten Komplex von parallelen Faktorsequenzen determiniert. Die gesellschaftliche Praxis hat als das einzige objektive Kriterium des Wertes der wissenschaftlichen Überlegungen restlos die Gefahren bloßgelegt, die sich aus dem Verfolgen nur „auf einer Spur" der Interpretation der Ätiologie der Kriminalität ergeben. Der Erkenntniswert aller kriminologischen monokausalen Theorien wird allgemein angezweifelt. Die Kriminalität läßt sich nicht auf eine, oder sogar zwei bzw. drei Ursachen zurückführen. Die kriminellen Erscheinungen sind das Ergebnis der Einwirkung einer gewaltigen Menge von alternativ konvergenten Determinanten, deren Charakter und Kombinationen deutlich das eine Individuum von einem anderen unterscheiden können. Die Urheber von Straftaten sind also keine homogene Klasse von Individuen, deren Beob8 B. Hebenton / J. Spencer, The contribution and limitations of Anglo-American criminology to understanding crime in Central-Eastern Europe. „European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice" 1994, 2 (1), S. 50-61.

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achtung den Kriminologen leicht eine Generalisierung mit kausalem Charakter ablesen lassen würden. Die ätiologischen Faktoren lassen sich auf drei verschiedenen Ebenen darstellen: der Kriminalität, des Urhebers der Straftat und der exogenen Faktoren, die die Tendenz der kriminellen Verhaltensweisen gestalten. Man kann leicht bemerken, daß die auf einer Ebene durchgeführte Klassifizierung der Faktoren praktisch eine geringe Aussagekraft für den Wert der einzelnen Elemente hat, die auf den übrigen Ebenen klassifiziert wurden. Das Erkenntnisproblem läßt sich also auf die Aussonderung bestimmter Konfigurationen von Faktoren zurückführen, deren Einfluß auf die Gestaltung von Tendenzen der kriminellen Verhaltensweisen von wesentlicher Bedeutung ist. Es handelt sich also nicht um eine einfache Konjunktion von Eigenschaften, sondern um ein Zusammentreffen nach einer bestimmten Relation. Deshalb wird der Komplex solcher Eigenschaften in der Wissenschaft Syndrom genannt. Die Definierung einer kriminogenen Situation oder eines kriminogenen Objekts kann sich nicht auf die Aufzählung der diesen Begriff bestimmenden Eigenschaften beschränken, sondern sie muß außerdem die Relationen zwischen diesen Eigenschaften präzisieren. Jeder syndromatische Begriff von stochastischem Charakter, also auch die Kriminogenität, muß immer als eine veränderliche Größe betrachtet werden. Denn die Kriminogenität einer bestimmten Situation oder eines Individuums kann größer oder kleiner sein. Es wird daher vorgeschlagen, die Wahrscheinlichkeit krimineller Handlungen in einem bestimmten Situationssyndrom als allgemeines kriminogenes Potential dieses Syndroms zu bezeichnen. Weiterhin wird vorgeschlagen, ein Syndrom, das sowohl die Situations· als auch die die Subjekteigenschaften umfaßt, allgemeines Kriminalitätssyndrom zu nennen, und die Wahrscheinlichkeit krimineller Handlungen, wenn alle in dem Syndrom vorausgesetzten Bedingungen erfüllt werden, allgemeines Kriminalitätspotential. Neben dem allgemeinen kriminogenen Potential sollen noch Teilpotentiale ausgesondert werden. Ein Teilpotential des Syndroms ist die Wahrscheinlichkeit der kriminellen Handlungen, wenn nur einige Bedingungen dieses Syndroms erfüllt sind9. Viele kriminologische Theorien erfassen auf spezifische Weise die Problematik der ätiologischen Konzeptionen der kriminellen Verhaltensweisen. Mit Recht stellt Günther Kaiser fest: „Daher verwundert es nicht, daß offenbar keine Theorie besteht, welche von der Mehrheit der ' B. Hoiyst, The concept of the criminality syndroms and potential in criminological research, in: H. Göppinger (Hrsg.), Angewandte Kriminologie - International. Bonn 1988, S. 328-335.

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Kriminologen als die ,beste' anerkannt wird" 10 . Ein anderer Autor spricht sogar von einer Stagnation in der Entwicklung der kriminologischen Theorien". Sich ihrer Schwäche bewußt, suchen die Kriminologen auf der Suche nach der Wahrheit ihre Zuflucht sogar in Interviews mit Verbrechern 12 . Die zunehmende Rolle der Kriminologie in der heutigen Welt, insbesondere ihre Verbindungen mit der Sozialpolitik, beeinflussen die Gestaltung neuer Relationen mit vielen anderen Wissenschaften. Diese Verbindungen ζ. B. mit den sozialen, juristischen und medizinischen Wissenschaften entscheiden über den Rang der Kriminologie im System anderer Wissenschaften13. IV. Die Kriminalität ist eine so komplizierte gesellschaftliche Erscheinung, daß in ihrer Bekämpfung die Errungenschaften vieler anderer Wissenschaftszweige Anwendung finden müssen. Aber die Kriminologie ist gerade ein Wissensbereich, der nicht auf mechanische Weise die Forschungsmethoden rezipiert, die von anderen Wissenschaften erarbeitet worden sind, sondern sie für seine Zwecke adaptiert. Überdies erarbeitet die Kriminologie eigene Methoden, ζ. B. der Typologie der Straftaten, prognostische Methoden; sie initiiert auch die Aufnahme von Forschungen über die Verwertung der Ergebnisse verschiedener Wissenschaften zum besseren Kennenlernen der Ursachen der Kriminalität, der Erarbeitung von Voraussetzungen der kriminologischen Prophylaxe u. dgl. m. Ein Beispiel liefert u. a. die kriminologische Pädagogik oder die Gerichtspsychologie. Die erwähnten Wissenschaften haben eine viel breitere Reichweite der Einwirkung als die Kriminologie, die sich traditionell im Prinzip mit Fakten befaßt, die von dem Strafrecht als Straftaten angesehen werden. In Übereinstimmung mit den neueren Tendenzen umfassen die kriminologischen Forschungen auch einige andere negative gesellschaftliche Erscheinungen, die in hohem Grade kriminogen sind. Der Forschungsbereich ζ. B. der allgemeinen Psychologie umfaßt Fragen, die sich auf den Verlauf der psychischen Prozesse des Menschen, deren Arten und Klassi10 G. Kaiser, Kriminologie. 10. Auf. Heidelberg 1997, S. 24; vgl. auch: H.-D. Schwind, Kriminologie - Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen. Heidelberg 1996. 11 Meier (Hrsg.), Theoretical Methods in Criminology. Beverly Hills u. a. 1997, S. 14. 12 P. Cromwell (Hrsg.), In their own Words: Criminals on Crime. An Anthology. Los Angeles, CA 1996. 13 L. Radzinowicz verweist darauf, daß die Forschungen über die Kriminalität sich auf enge Verbindungen mit der Psychiatrie, Psychologie und Soziologie stützen müssen / In Search of Criminology. London, Melbourne, Toronto 1961, S. 181.

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fizierung, die Analyse ihrer Strukturen, die elementaren Prozesse beziehen, die sich in ihnen aussondern lassen, u. dgl. m. Die Entwicklungspsychologie befaßt sich mit den allgemeinen Gesetzen der psychischen Entwicklung, mit den Faktoren, welche diese Entwicklung bedingen, mit den einzelnen Phasen der Entwicklung u. dgl. m. Forschungsgegenstand der Sozialpsychologie sind Prozesse, die in menschlichen Kollektiven vor sich gehen (Gestaltung der öffentlichen Meinung, Umlauf von Informationen in Gruppen u. dgl. m.). Die physiologische Psychologie untersucht die Abhängigkeiten des Verlaufs der psychischen Prozesse von den anatomisch-physiologischen Grundlagen. Zu nennen sind hier beispielsweise die Probleme der phylogenetischen und ontogenetischen Entwicklung der Psyche in Zusammenhang mit der Entwicklung des Nervensystems oder die physiologischen Grundlagen verschiedener psychischer Prozesse, ζ. B. des Wahrnehmens, des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit, der Gefühle u. dgl. m. Die Psychologie findet Anwendung in verschiedenen Bereichen der praktischen Tätigkeit des Menschen. Ein Beispiel ist die Arbeitspsychologie, die Erziehungspsychologie, die klinische Psychologie, die Psychologie der Wissenschaft u. dgl. m. V o n der psychologischen Problematik verdient besondere Aufmerksamkeit die Motivforschung der Straftat 14 . Die psychischen ätiologischen Faktoren (Motiv, Anregung) spielen eine grundlegende Rolle im Prozeß des Planens und der Realisierung einer Straftatabsicht. Im Laufe der Gerichtsverhandlung beeinflußt die Festlegung der Anregung und des M o tivs das Ausmaß der Strafe. In dem Vollzugsverfahren schließlich muß sich die Individualisierung im Bereich der Methoden und Mittel der pönitentialen Einwirkung ebenfalls auf eine genaue Analyse des Motivationsprozesses des Täters stützen. Die Problematik der zeitgenössischen Soziologie umfaßt spezialisierte Disziplinen, die sich mit verschiedenen Bereichen der gesellschaftlichen Erscheinungen und Prozesse befassen. Gegenwärtig werden einige Einzelbereiche der Soziologie ausgesondert, u. a. die Forschungssoziologie: der gesellschaftlichen Institutionen (der Familie, den Industrie und Arbeit, des Rechtes und der Rechtspflege), der devianten Verhaltensweisen, der gesellschaftlichen Gruppen, der sozialen Prozesse (Migration, Erscheinungen des sozialen Aufstiegs oder der Degradation). Die allgemeine Soziologie ist auch keine einheitliche Disziplin. Sie repräsentiert

14 D. P. Farrington (Hrsg.), Psychological Explanations of Crime. Aldershot 1994; D. A. Andrews / J. Bonta, The Psychology of Criminal Conduct. Cincinnati, OH 1994; R. Davies / S. Lloyd-Bostock / M. Murrain u. a. (Hrsg. ), Psychology, Law and Criminal Justice: International Developments in Research and Practice. Berlin 1996; Ν. K. Clark / G. M. Stephenson (Hrsg.), Rights and Risks: The Application of Forensic Psychology. Leicester 1994.

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einige Teile, ζ. B. einen Teilbereich, der sich mit der Theorie der gesellschaftlichen Strukturen oder der Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung befaßt 15 . Ein anderes Beispiel ist die Soziotechnik, die sich mit der Erarbeitung von Methoden der Realisierung von Forschungsergebnissen der einzelnen Teile der Soziologie und anderer Gesellschaftswissenschaften befaßt. In der Kriminologie rücken in den Vordergrund Fragen aus dem Bereich der Soziopathie. Zu nennen sind hier: die Desorganisation des Familienlebens 16 , der kriminogene Einfluß der Kreise außerhalb der Familie, die negative Rolle der Massenmedien 17 , die ungünstigen Folgen der Migration 18 , Arbeitslosigkeit, Alkoholismus u. dgl. m. Die Gesellschaft ist eine stark variierte Ganzheit, die aus vielen, mitunter entgegengesetzten Faktoren besteht. Die Identität und die K o n tinuität der Gesellschaft sowie deren Entwicklung erfolgen über gegenseitige Interaktionen unterschiedlicher Formen der Aktivität der Einzelwesen und der Gemeinschaft. Stark vereinfacht kann man diese A k tivitäten in drei Kategorien einteilen: Aktivitäten, die neue Elemente der Wirklichkeit herstellen und sie bereichern, Aktivitäten, die die bestehende Sachlage aufrechterhalten sowie Aktivitäten, welche die bestehenden Elemente der Gesellschaft zerstören und diese zurückschlagen. Derartige Aktivitäten treten ständig auf, beschränken sich nicht auf Zeiten der Gesellschaftskrisen, aber die Krisen, die einen Regreß der Gesellschaft verursachen, werden fast immer durch die Intensivierung dieser dritten Art der Aktivitäten hervorgerufen. Die Ursachen der Krisen sind unterschiedlich. Allgemein kann man sie in innere und äußere Ursachen einteilen. Die ersteren verursachen entweder bestimmte Folgen in der Psyche und der Mentalität der Mitglieder der Gesellschaft, oder rufen Interessenkonflikte innerhalb der einzelnen Gruppen hervor, wie auch Erscheinungen der gesellschaftlichen Desorganisation. Zu den äußeren Ursachen sind u. a. zu rechnen:

15 A. Kuper / J. Kuper (Hrsg.), The Social Science. Encyklopedia. London 1989; N. Stehr, Practital Knowledge. Applying the Social Sciences. London 1992. 16 W. H. Quinn / R. Sutphen, M. Michaels u. a., Juvenile first offenders: characteristics of at-risk families and strategies for intervention. „Journal of Addictions and Offender Counseling" 1994, 1 (15), S. 2-23. 17 H. J. Schneider, Das Geschäft mit dem Verbrechen. Massenmedien und Kriminalität. München 1980; M. O'Connor / A. Whelan, The public perception of crime prevalence, newspaper readership and „mean world" attitudes. „Legal and Criminological Psychology" 1996, 1 (2), S. 179-195; L. Danson / K. Soothill, Multiply murder and the media: a study of the reporting of multiply murders in The Times (1887-1990). „Journal of Forensic Psychiatry" 1996, 1 (7), S. 114-129. 18 M. G. Yeager, Immigrants and criminality: A cross-national review. „Criminal Justice Abstracts" 1997, Bd. 29, Nr. 1, S. 143-171.

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Konflikte zwischen den Gruppen, mangelnde Anpassungsfähigkeit an die sich verändernden Bedingungen. Die Entwicklung der zeitgenössischen Pädagogik vollzieht sich schnell und ist vielseitig. Die zunehmende Rolle der Erziehung in der Gesellschaft und die unterschiedlichen Formen der Erziehungstätigkeit verursachten eine Ausdehnung der Reichweite der pädagogischen Forschungen. Zur Zeit befaßt sich die allgemeine Pädagogik u. a. mit den Grundlagen, der Struktur und den Zielen der Erziehung, der Didaktik; eine Verselbständigung erlebt auch die Theorie der moralischen, ästhetischen Erziehung u. dgl. m. Von einem anderen Standpunkt aus unterscheidet man die Sozialpädagogik, die vergleichende Pädagogik, die Theorie der Ausbildungsplanung und die Volksbildungsökonomik. Unter Berücksichtigung der einzelnen Entwicklungsphasen des Menschen kann man die Vorschulpädagogik, die Pädagogik der allgemeinbildenden Schule, der Berufsschule, der Erwachsenenbildung u. dgl. m. aussondern. Schließlich erfordern verschiedene Bereiche der menschlichen Tätigkeit eine Durchführung pädagogischer Forschungen. Daher entstanden auch solche Wissensbereiche, wie die Industriepädagogik, die landwirtschaftliche, militärische, Heilpädagogik u. dgl. m. Besondere Aufmerksamkeit verdient dieser letzte Teil der Pädagogik, der auch Orthopädagogik genannt wird, und der sich mit der erzieherischen Tätigkeit unter Kindern befaßt, die von der Norm abweichen. Im Bereich der kriminologischen Prophylaxe ist eine große Bedeutung den Methoden der Resozialisationspädagogik zuzuschreiben. Es geht hier um erzieherische Einwirkungen auf Individuen, die an das gesellschaftliche Leben schlecht angepaßt sind. Das Hauptziel der Maßnahmen, die in den Strafanstalten ergriffen werden, ist die Erzielung einer sozialen Adaptation von Personen nach dem Abbüßen der Strafe des Freiheitsentzugs19. Diese Fragen verbleiben an der Grenze der Pädagogik und der Sozialpsychologie. Das Problem der sozialen Anpassung ist Gegenstand zahlreicher Studien in den Vereinigten Staaten, es entstand sogar ein besonderer Bereich der Psychologie - adjustment psychology. Da das Ziel der kriminologischen Forschungen u. a. das Kennenlernen der Persönlichkeit des Verbrechers ist, taucht die Notwendigkeit auf, in ihren Kreis die Wissenschaften über den Menschen und seine " R. Matthews / P. Francis (Hrsg.), Prisons 2000: An International Perspective on the Current State and Future of Imprisonment. London 1996; R. Enos / S. Southern, Correctional Case Management. Cincinnati, OH 1996; C. R. Hollin (Hrsg.), Working with Offenders: Psychological Practice in Offender Rehabilitation. Chichester 1996; M. Welch, Rehabilitation: holding its ground in corrections. „Federal Probation" 1995, 4 (59), S. 3-8.

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psycho-physische Struktur einzubeziehen, unter denen die medizinischen Wissenschaften eine wichtige Rolle spielen. Unter den medizinischen Wissenschaften weisen besondere Verknüpfungen mit der Kriminologie die Psychiatrie, die Neurologie und die Endokrinologie auf. Die Entwicklung der Psychiatrie führte zur Entstehung vieler spezialistischer Bereiche, ζ. B. der Gerichtspsychiatrie, der Sozialpsychiatrie (die sich mit der Rolle der Umwelt in der Entstehung psychischer Störungen und mit der Frage der sozialen Readaptation von Personen mit psychischen Störungen befaßt), der Kinderpsychiatrie u. dgl. m. Verschiedene pathologische Veräußerungen, wie ζ. B. Störungen des Beobachtungssinns, der Aufmerksamkeit, des Denkens, des emotionalen Lebens u. dgl. m. können in kausalem Zusammenhang mit der Straftat stehen20. Diese Veräußerungen sind wichtig nicht nur vom Standpunkt der Kriminologie, sondern auch der strafrechtlichen Einschätzung der Tat. W. Luniewski stellte bei der Erörterung der Verbindungen zwischen der Psychopathologie und der Kriminologie u. a. fest: „Wenn die zeitgenössische Psychopathologie der Kriminologie große Dienste erwiesen hat dadurch, daß sie ein Licht warf auf die biologischen Quellen der Kriminalität, so hat auch vice versa die Kriminologie mit ihren präzisen, objektiven Forschungsmethoden der Straftaten selbst bereits beachtlich beigetragen - und wird weiterhin beitragen - zur gründlicheren und allseitigeren Kenntnis der intimen Erkrankungen und psychischen Anomalien, die in den bisherigen Klassifikationssystemen der Pathologie der menschlichen Psyche noch keinen geeigneten Ausdruck fanden21. Die neurologische Diagnostik wird ständig bereichert durch zahlreiche ergänzende Forschungen, ζ. B. die Analyse der Zerebrospinalflüssigkeit, besondere Methoden der Röntgenuntersuchung (wie Myelographie, Angiographie des Gehirns, Schädelpneumatose), elektroenzephalographische, elektromyographische Untersuchungen und andere. Neben der allgemeinen Neurologie entwickelt sich auch die Kinderneurologie. Krankheiten des Nervensystems, ζ. B. Schädeltraumen, Zustände 20 L. B. Schlesinger (Hrsg.), Explorations in Criminal Psychopathology: Clinical Syndromes with Forensic Implications. Springfield IL. 1996; R. Loeber / D. P. Farrington, Problems and solutions in longitudinal and experimental treatment studies of child psychopathology and delinquency. „Journal of Consulting and Clinical Psychology" 1994, 5 (62), S. 887-900; S. Hodgins, Mental Disorder and Crime in a Metropolitan Cohort. Stockholm 1995; M. Swinton / A. Maden / J. Gunn, Psychiatric disorder in lifesentenced prisoners. „Criminal Behavior and Mental Health" 1994, 1 (4), S. 10-20. 21 W. Luniewski, Kryminologia a psychopatologia [Kriminologie und Psychopathologie]. „Archiwum Kryminologii" 1960, Bd. I, S. 23.

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nach Entzündungen der Gehirnhaut und Rückenmarkshaut, Gehirnentzündungen, Degenerationsveränderungen des zentralen Nervensystems (ζ. B. auf der Basis chronischen Alkoholismus) u. dgl. m. spielen eine wichtige Rolle in der Ätiologie der Kriminalität. Die Endokrinologie (Lehre von den Drüsen der inneren Sekretion) befaßt sich mit Forschungen aus dem Bereich der normalen und pathologischen Morphologie, Physiologie und Biochemie der Drüsen der inneren Sekretion. Sie steht in engem Zusammenhang mit der Pharmakologie und der klinischen Medizin. Die anomale (geschwächte oder gesteigerte) Funktion der Drüsen der inneren Sekretion kann sich in gewissem Grade auf die straffällige Verhaltensweise auswirken. Aufmerksamkeit verdienen die Verbindungen der Kriminologie mit der Kybernetik. In den letzten Jahren zeichneten sich ganz neue Möglichkeiten der Verwertung der Kybernetik in der Kriminologie ab (ζ. B. im Bereich der Bildung von prognostischen und ätiologischen Modellen). Äußerst nützlich ist auch der Begriff der Rückkopplung, dessen Anwendung in der Kriminologie die traditionellen Anschauungen über die Kausalität der Erscheinung der Straffälligkeit verändert. Bisher wurde ein linearer Charakter der Verbindungen zwischen den unterschiedlichen sozialen Erscheinungen und der Kriminalität angenommen nach dem Prinzip: Faktor Α (Ursache) - Faktor Β (Folge). Auf dem Boden der Kybernetik sind derartige einseitige Abhängigkeiten unhaltbar. In Ubereinstimmung mit dem kybernetischen Prinzip der Rückkopplung kann es auch so sein (besonders, wenn wir mit einer so vielflächigen und komplizierten Erscheinung zu tun haben, wie es die Kriminalität ist), daß die Folge wiederum auf die Ursache einwirken wird. Die „Folge" und die „Ursache" werden also in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander verbleiben, und eben das wird als „Rückkopplung" bezeichnet. Ein klassisches Beispiel der Rückkopplung ist die Relation Persönlichkeit Umwelt, die ein dynamisches, vielflächiges Abhängigkeitssystem darstellt; wir haben hier mit gegenseitigen Einwirkungen endogener und exogener Faktoren zu tun. Zu erwähnen sind auch gewisse Verknüpfungen der Kriminologie mit der Pharmazie, verstanden als Komplex der Wissenschaften, die sich mit der Arzneikunde befassen und deren Bestandteil die angewandte Pharmazie, die Pharmakognosie, die pharmazeutische Chemie, die Toxikologie, die Pharmakodynamik bilden. Außer der Verwertung verschiedener toxischer Mittel zum Erreichen des straffälligen Zieles widerspiegeln sich diese Verbindungen in Fällen akuter Vergiftungen infolge des Mißbrauchs von Arzneien, des Narkotismus besonders der Jugendlichen, sowie der industriellen Vergiftungen mit Rücksicht auf die Arbeitsbedingungen (industrielle Toxikologie).

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Die Statistik dient dem Kennenlernen der Wirklichkeit. Keine mathematischen Methoden bilden ein Ziel an sich. Die Statistik ist eine Forschungsmethode in den verschiedensten Bereichen der Wissenschaft und kann daher von dem Forschungsgegenstand nicht getrennt werden. In bezug auf die Kriminologie ist sie behilflich beim Sammeln von Material, bei dessen Beschreibung und Klassifikation (Kriminographie). Das neueste Beispiel ist die Anwendung der mathematischen Statistik zu Forschungen über die Effektivität der Strafe, die Optimierung der Ausmaße der Strafanstalten und der Zahl des Personals sowie zu kriminologischen Prognosen, wie auch zur Bearbeitung theoretischer Modelle der Erklärung der Straffälligkeit. Das Problem der Konsequenzen der Kriminalität für die Qualität des Lebens der Bürger wurde verhältnismäßig unlängst zu einem Forschungsgegenstand. Die Lehrbücher der Kriminologie betrachten in der Regel die Frage der Kosten der Kriminalität als eine Randerscheinung. Aber schon seit einigen zig Jahren machte man auf die Bedeutung dieser Problematik aufmerksam. Die Problematik der ökonomischen und sozialen Konsequenzen der Kriminalität war Gegenstand der Beratungen der fünften Sektion des Kongresses der Vereinten Nationen über die Vorbeugung der Kriminalität und das Vorgehen mit Straffälligen (Genf 1975). Man machte damals auf drei Fragen aufmerksam: erstens - es geht um die Einschätzung dieser negativen Konsequenzen auch auf der ökonomischen Ebene; zweitens - ein wichtiges Problem ist die Erarbeitung geeigneter Methoden der Vermessung der schädlichen Folgen der kriminellen Erscheinungen; drittens - die Suche nach Wegen, die zu einer Reduzierung der negativen Effekte der Kriminalität führen sowie zu einer gerechteren Redistribution der Lasten der „Straffälligkeitskosten". Und in diesem Kontext sind die Verbindungen der Kriminologie mit der Nationalökonomie zu sehen. Man kann noch hinzufügen, daß im untersuchten Bereich auch ökonomische Faktoren Aufmerksamkeit verdienen, die die Kriminalität gestalten, sowie die Rolle der ökonomischen Motive in der Ätiologie der Straftat. Aber am engsten ist die Kriminologie mit dem materiellen und exekutiven Strafrecht, mit der Kriminalistik, mit dem Strafprozeßrecht und der Kriminalpolitik verbunden. Das materielle Strafrecht macht auf die Hauptrichtung der kriminologischen Forschungen aufmerksam über die Festlegung, welche Taten Verbrechen sind. Es erteilt also eine Antwort auf die Frage, wo die Methoden der kriminologischen Forschungen vor allem angewandt werden sollten. Zu beachten sind hier die ungünstigen Wandlungen in den sozialen oder wirtschaftlichen Verhältnissen, die strafrechtlich geregelt werden sollten; das wiederum muß natürlich durch kriminologische Untersuchungen der sozialen Erscheinungen antizipiert werden.

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Die Ergebnisse der kriminologischen Forschungen bereichern das Wissen über die Erscheinungen der Kriminalität, ermöglichen der Strafrechtswissenschaft das Formulieren neuer Konzepte über die faktische Sachlage der Straftaten, die Festlegung der Größe strafrechtlicher Sanktionen, die der Bedeutung der Straftat besser angepaßt wären, das Ausfüllen der Vorschriften mit Formularcharakter mit konkreten Inhalten, die Entwicklung des allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches u. dgl. m. Die Zeiten sind schon vorbei, als die Straftat lediglich vom Standpunkt der Verletzung der Vorschriften des Strafgesetzbuches erörtert wurde und als der Jurist - Theoretiker oder Praktiker - der „ausschließliche Herrscher im Bereich der antisozialen Erscheinungen" war. Gegenwärtig ist die Ausschließlichkeit des juristischen Gesichtspunktes im Bereich der Straftat und der Reaktion auf die Straftat beachtlich verringert worden. Die kriminologischen genetischen Untersuchungen der Straftat beeinflussen oft die normative Wissenschaft des Strafrechts. Die Festlegung der Umstände, der Motive und Beweggründe der Straftat beeinflussen nicht nur die Strafbemessung, sondern liefern auch wichtiges prognostisches Material im Bereich der Wahl des richtigen Systems ihrer Vollstreckung. Schon in diesem Aspekt kann man die Existenz einer Verbindung zwischen den Funktionen der Kriminologie und den Aufgaben des exekutiven Strafrechts annehmen. Das Pönitentiarrecht ist identisch mit den Zielen und dem Gegenstand der Kriminologie, die sich mit der Untersuchung der Kriminalität, der Straftat und dem Straftäter befaßt, wie auch mit der Strafe und deren Funktionen. Die kriminologischen Forschungen über die Erscheinung des Rückfalls, die beweisen, daß der Verurteilte nach dem Abbüßen der Strafe des Freiheitsentzugs auf den Weg der Kriminalität zurückkehrt, müssen die Strafrechtler zur Suche nach optimalen Bedingungen der Resozialisierung anregen. Je vollkommener das System des Strafvollzugs ist, desto besser sind die Prognosen hinsichtlich der Einschränkung der Erscheinung des Rückfalls. Ziel der Kriminologie ist die Maximalisierung der strafrechtlich-normativen Leistungsfähigkeit des gesellschaftlichen Systems (Minimalisierung der Kriminalität) über die Verwertung der Festlegungen der Einzelwissenschaften über den Aufbau eines Operationsmodells der Kriminalität. Das Operationsmodell, das die Realisierung einer so bestimmten Funktion des Zieles ermöglicht, muß als Komponente des allgemeinen Modells der Kriminalität angesehen werden, wie es von der Kriminologie bearbeitet worden ist. Eine ergänzende Komponente dieses Modells muß auch eine Konstruktion sein, die eine von der Strafvollzugslehre realisierte Maximalisierung der strafrechtlichen Resozialisierung absichert. Die Verbindungen zwischen der Kriminologie und der Strafvollzugslehre können (und müssen sogar) in dynamischer Auffassung erörtert

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werden, in ständiger Bewegung zwischen den Populationen. Die Kriminologie erfüllt nicht das ganze Forschungsprogramm der Strafvollzugslehre, was mit gewissen Forschungsschwierigkeiten in diesem Bereich verbunden ist. Erst die Annäherung des empirischen Materials und das Offnen der Gefängnisse für wissenschaftliche Forschungen können eine breite Berücksichtigung und Anpassung der kriminologischen Arbeiten ermöglichen. Es scheint, daß sehr behilflich und vorteilhaft das Führen von experimentellen Strafanstalten sein könnte, in denen Versuche der Gestaltung eines neuen Resozialisierungssystems unternommen würden. Die praktischen, leider negativen Erfahrungen haben bewiesen, daß jede neue Methode der Behandlung von Straftätern durch wissenschaftliche Forschungen antizipiert werden sollte, und eben dem sollte die Phase des Experiments dienen, denn widrigenfalls treten bei ihrer Realisierung Fehler an den Tag. Notwendig ist also der Blick auf die Strafvollzugslehre von der Seite des Reichtums der kriminologischen Probleme. Es scheint, daß durchaus die Notwendigkeit der Durchführung einer Revision der theoretischen und der empirischen Ergebnisse in bezug auf die Einschätzung der Anwendung und der Vollstreckung der Strafe des Freiheitsentzugs im Aspekt ihrer Wirksamkeit und der erzieherischen Einwirkung anzuerkennen ist. Die Kriminologie ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, aber denselben Charakter beginnt auch schon die Strafvollzugslehre anzunehmen. Betrieben wird sie schließlich sowohl von Psychologen, Soziologen, Pädagogen, als auch von Psychiatern. Überlegungen über das gegenseitige Verhältnis der Kriminologie und der Kriminalistik sind stets aktuell mit Rücksicht auf die in wissenschaftlichen Bearbeitungen oft auftretenden Unterschiede in bezug auf ihre Reichweite. In den Veröffentlichungen wird meistens die Besprechung der Prinzipien der Aufteilung nicht entsprechend gewürdigt. Daher die gewaltigen Diskrepanzen in der Auffassung der Problematik und das Ausbleiben einer konkreten Diskussionsebene, was sich aus der Annahme als Grundlage der Überlegungen unterschiedlicher und nicht immer treffsicherer Kriterien ergibt. Wenn schon die Kriminalistik und die Kriminologie sich als selbständige wissenschaftliche Disziplinen herausgebildet haben, ist es unumgänglich, bei der Erörterung ihrer gegenseitigen Relation grundlegende Prinzipien einzuführen, wie: Ziel, Gegenstand und Methode der Forschungen sowie die Einstellung zu anderen, verwandten Wissenschaften 22 .

22 B. Hoiyst, D i e V e r b i n d u n g der K r i m i n a l i s t i k mit a n d e r e n W i s s e n s c h a f t e n , in: E . Schlüchter ( H r s g . ) , K r i m i n a l i s t i k u n d Strafrecht. F e s t s c h r i f t f ü r F r i e d r i c h G e e r d s . L ü b e c k 1995, S. 3 5 3 - 3 5 6 .

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Ziel der Kriminologie ist die Vorbeugung der Kriminalität über die Beseitigung der Ursachen mit allgemeinem Charakter. Die Kriminologie befaßt sich mit dem Verbrechen als einer sozialen Erscheinung. Die Kriminalistik dagegen bekämpft und beugt den Straftaten in extenso vor, indem sie die Verbrechen bloßlegt, den Straftäter aufdeckt und das Beweismaterial für die Justiz absichert. Die Ziele der Vorbeugung der Straffälligkeit ergeben sich aus der grundlegenden Aufgabe der Kriminalistik, das ist aus dem Kampf gegen konkrete Veräußerungen der kriminellen Tätigkeit23. Die Aspekte der kriminologischen und kriminalistischen Forschungen gestalten sich also unterschiedlich. Als Beispiel kann man hier Fragen anführen, die sich auf die Bedingungen der Durchführung von Verbrechen, auf die Motive oder die Viktimologie beziehen. In bezug auf die Bedingungen der Durchführung ζ. B. von Geldscheinfälschungen interessiert sich die Kriminalistik für die Technik der Verbrechen, um den Kreis der Verdächtigen festzulegen. Der Kriminologe muß seine Aufmerksamkeit u. a. auf die Leichtigkeit der Durchführung dieses Verbrechens lenken, auf die Umstände, die dessen Verbreitung fördern. Die psychischen ätiologischen Faktoren („Anregung", „Motiv") bilden wichtige Elemente der kriminologischen und kriminalistischen Forschungen, aber auf unterschiedlichen Ebenen. Für den Kriminologen ist es wichtig, den Gehalt und den Ablauf der psychischen Erlebnisse des Täters festzulegen, der Kriminalist dagegen untersucht den Motivationsprozeß hinsichtlich seines Einflusses auf die Anwahl der Methoden des straffälligen Vorgehens sowie die richtige Bestimmung des Täters. Die pönale Viktimologie befaßt sich mit der Problematik des Opfers der Straftat24. Zum Verteidigen (Aufrechterhalten) irgendeines Wertes muß immer etwas geopfert, etwas angeboten werden. Die Offensichtlichkeit dieser Wahrheit springt vor allem dadurch in die Augen, daß sie vollkommen übersehen wird. Die traditionelle Viktimologie befindet sich mit ihrem Aufruf zum Kampf gegen die menschlichen „Räuber" in der malthusianistisch-darwinistischen Tradition. Sie sucht naiv nach einer Lösung in der Festigung antagonistischer Einwirkungen (Verbindungen). Die neue Vik23 E. Kube / H. U Störzer / Κ Timm (Hrsg.), Kriminalistik. Handbuch für Praxis und Wissenschaft. Bd. 2, Stuttgart 1994; E. Kube, Forensic science amidst current problems and future orientation, in: H. J. Schneider / B. Holyst (Hrsg.), Eurocriminology. Special issue: German Criminology, 1995, Bd. 8-9, S. 77-94. 24 H. J. Schneider (Hrsg.), Das Verbrechensopfer in der Strafrechtspflege. Berlin, New York 1981; H. J. Schneider (Hrsg.), The Victim in International Perspective. Berlin, New York 1982; G. Kaiser / H. Kury / H. J. Albrecht (Hrsg.), Victims and Criminal Justice. Freiburg i. Br. 1991; P. Rock (Hrsg.), Victimology. Adlershot 1994; Β. Holyst, Wiktymologia [Viktimologie], Warszawa 1997.

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timologie soll eine veränderte gesellschaftliche Mentalität herbeiführen. Wir leisten, geben für alles Opfer. Warum sollten wir es nicht in bezug auf die Reduzierung der Kriminalität tun - nicht über den Kampf mit den Menschen, sondern auf dem Wege der Veränderung der ökologischen und sozialen Umwelt. Die Viktimologie des 21 Jh. wird eben eine Reflexion über die Notwendigkeit darstellen, im Lichte vieler Wissenschaften unentbehrliche und optimale Opfer zu leisten, um die ursprünglichen menschlichen Werte zu retten. Im Rahmen der Kriminologie gebührt besondere Aufmerksamkeit der Rolle des Opfers in der Genese der Straftat. Die Problematik des Opfers befindet sich ebenfalls im Zentrum des Interesses der Kriminalistik. In Zusammenhang mit den Forschungen über die Problematik der Morde kann man feststellen, daß ζ. B. die Kenntnis der Lebensweise des Opfers, seiner Kontakte mit der Umwelt, der Einkommensquellen die Festlegung des Urhebers des Mordes erleichtert oder erschwert. Anders gestaltet sich auch der kriminologische Sinn der sieben goldenen Fragen, die in der Kriminalistik allgemein bekannt sind: wer? was? wo? womit? warum? wie? wann? Auf die Frage „warum?" antwortet die Kriminologie mit Überlegungen über die allgemeinen Quellen des straftätigen Vorgehens und in der Perspektive der Eliminierung von dessen Ursachen. Für die Kriminalistik aber bildet die Antwort auf die Frage „warum?" die Voraussetzung der Selektion der Verdächtigen. Es geht nämlich um die Festlegung, wer oder welche Kreise von Personen an der Durchführung des konkreten Verbrechens interessiert waren. Durchaus unterschiedlich gestalten sich auch die Forschungsmethoden der Kriminalistik und der Kriminologie. Die Forschungsmethodik in diesen beiden Disziplinen ist determiniert durch die unterschiedlichen Aufgaben und die Sicht der Problematik der Straftat. In der Kriminalistik sind von maßgebender Bedeutung die Forschungsmethoden, die für die technischen und Naturwissenschaften charakteristisch sind, in der Kriminologie dagegen dominieren Methoden der statistischen, soziologischen und psychologischen Forschungen. Damit hängt auch die Einstellung der Kriminologie und der Kriminalistik zu anderen Wissenschaften zusammen. So verknüpfen zum Beispiel die Kriminologie enge Bande mit dem Strafrecht oder der Soziologie, die Kriminalistik dagegen ist enger verbunden mit dem Prozeßrecht und der breiten Palette der Natur-, der physikalischen und der chemischen Wissenschaften. Trotz der Festlegung einer ziemlich präzisen Trennungslinie zwischen diesen Disziplinen sollte man das gegenseitige Durchdringen der Interessenbereiche der Kriminologie und der Kriminalistik nicht verges-

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sen. Die Kenntnis der Kriminologie trägt zur Vertiefung der Prozesse bei, die den Bereich der Kriminalistik ausmachen und zur wirksameren Realisierung der vor ihr stehenden Aufgaben. So kann man beispielsweise die Ergebnisse der kriminologischen Forschungen in bezug auf die Persönlichkeit der Täter, die Sitten der kriminellen Kreise, die Motivationsprozesse der kriminellen Aktivitäten nennen, wobei diese Ergebnisse in beachtlichem Grade die Bildung richtiger Varianten der Ermittlung erleichtern. Anderseits liefert die Kriminalistik der Kriminologie zahlreiche Informationen über die Straftat und deren Urheber. Daher bereichert der hohe Prozentsatz der Erfassung der Straftäter das zu kriminologischen Analysen unentbehrliche Material. Die Verbindungen der Kriminologie mit dem Strafprozeßrecht ergeben sich daraus, daß die Kriminologie Material über die Person des Täters liefert. Das Sammeln von Informationen über die Familienverhältnisse, die Vermögenslage, die Ausbildung, den Beruf, die Beschäftigung, die Straffälligkeit, und bei Bedarf das Erzielen von Daten über die Charaktereigenschaften des Angeklagten, seine persönlichen Bedingungen und seine Lebensart gehören zu den wichtigen Aufgaben des Strafverfahrens, die in hohem Grade auf dem Wege von Tätigkeiten realisiert werden, welche zu den Aufgaben der Kriminologie und Kriminalistik gehören. Zur Bearbeitung von Programmen der Vorbeugung der Kriminalität muß die Kriminologie auch über Informationen verfügen, die sich auf das Funktionieren der Justiz in Strafsachen beziehen. Auch auf dieser Ebene stößt man auf Verknüpfungen zwischen der Kriminologie und dem Strafprozeßrecht. A. Krukowski stellt bei der Besprechung des Verhältnisses zwischen der Kriminalpolitik und anderen Wissenschaftsdisziplinen fest, daß besonders charakteristisch die Relation von drei Disziplinen ist, nämlich der Kriminologie, der Kriminalpolitik und des Strafrechts. Bei dieser Anordnung schreibt er der Kriminologie diagnostische Funktionen zu, der Kriminalpolitik - die Rolle eines „Zentrums der therapeutischen Planung", und dem Strafrecht - die Funktion eines Verwirklichers der Voraussetzungen der Kriminalpolitik. Solche Wissenschaften dagegen, wie ζ. B. die Soziologie, die Pädagogik, die Psychiatrie, spielen nach der Meinung dieses Autors eine Dienstleistungsrolle. Der Autor bemerkt jedoch, daß „die Relationen zwischen der Kriminologie, der Kriminalpolitik und dem Strafrecht oder anderen Disziplinen weder einseitig (...) noch einfach oder eindeutig sind"; „nicht selten kommt es auch zu einer mangelnden Komplementarität zwischen der Sphäre der Diagnostik und der Sphäre der Therapie" 25 . 25 A. Krukowski·, Wybrane zagadnienia polityki kryminalnej [Ausgewählte Probleme der Kriminalpolitik], Warszawa 1977.

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Die weitere Entwicklung der Kriminologie muß die enge Verbindung mit vielen anderen Wissenschaften berücksichtigen. Im Anstreben der Erkenntnis der Wahrheit ist in der Kriminologie der Reichtum aller Wissenschaften in Anspruch zu nehmen.

Social Control-Theorie P A U L C . FRIDAY u n d G E R D F E R D I N A N D K I R C H H O F F

I. Einleitung: Theoretische Kriminologie Theorien und Tatsachen sind Gegensätze. Das nimmt man oft an. Vieles, was unter der Flagge von kriminologischer Theorie segelt, ist oft sehr weit weg von Tatsachen. Theorien gibt es, die erscheinen als hochgeistige mentale Turnübungen, die wenig zu tun haben mit der „realen Welt". In Wahrheit handeln Theorien von realen Situationen, von Gefühlen, von Erfahrungen und von menschlichem Verhalten 1 . Laien haben überzogene Ansprüche an Theorien: sie erwarten, daß Theorien miteinander wetteifern, welche denn am besten das Phänomen, um das es geht, erkläre. Sie meinen, es gehe darum, wer Recht habe und wer Unrecht. In Wahrheit kann keines der Gebilde, die wir heute Theorien nennen, beanspruchen, abschließend Verhalten zu erklären. Menschliches Verhalten ist sehr komplex. Unsere Erklärungsversuche dagegen sind notwendigerweise begrenzt 2 . Zwar können wir grundsätzlich nur unter Verschweigen3 und unter Vereinfachung kommunizieren. Dennoch: Trotz Verschweigung und Vereinfachung müssen wir Kriminalität mehrdimensional betrachten. Kriminologen müssen versuchen, das Phänomen Kriminalität so zu verstehen, daß man auf Entstehen und Konsequenzen Einfluß nehmen kann. Dabei sind für die verschiedenen Theoretiker die Ausgangspunkte ihrer Überlegungen verschieden. Es sollte dann nicht wundern, wenn sie bei ganz unterschiedlichen Ergebnissen landen. Auch sind die Erklärungsinteressen der Theoretiker selbst verschieden. So wundert es den Betrachter gar nicht, daß absolut keine Einigkeit herrscht und daß diese auch wohl nicht herzustellen ist. Ein theoretischer Ansatz sieht, daß Kriminalität für eine Gesellschaft durchaus

' Akers 1977. Berger und Luckmann S. 140-143. 3 Luhmann 1989 S. 10. 2

1967; Maus 1975; statt aller anderen, vergleiche Kirchhoff

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nützlich sein kann 4 . Ein anderer erkennt in Kriminalität das Endprodukt von ökonomischen und politischen Prozessen 5 . Andere Kriminologen betonen, daß Täter mit Straftaten Opfern schaden. Daraus ergibt sich die moralische Verpflichtung zum Minimalisieren des Schadens - des Schadens, der den menschlichen Potentialen zugefügt wird auf beiden Seiten, sowohl auf Seiten des Opfers als auch auf Seiten des Täters. Durch soziale Interventionsprozesse will man in erster Linie die Wahrscheinlichkeit, mit der jemand Straftaten begeht, reduzieren (Intervention zur Prävention). Effektive Intervention verlangt, daß man den Prozeß, der diese Wahrscheinlichkeit produziert, versteht. Gerade weil die kontrolltheoretische Perspektive präventionsorientiert ist, halten wir sie für die produktivste theoretische Perspektive. Der Name dieser Theorie-Familie ist zweideutig. Er leuchtet nur dem, der sich mit dem Wesen der Sozialisation und ihrer gesellschaftlichen Funktion auskennt, unmittelbar ein6. Wenn auch der Name „Integrationstheorien" für die meisten Ausprägungen vielleicht schöner wäre - er hat sich nicht eingebürgert. II. Die Grundfrage der Social Control-Theorie Kontroll-Theorien interessieren sich nicht - im Gegensatz zu anderen kriminologischen Theorien - für die Frage „Warum begehen Menschen Straftaten?" Sie fragen das Gegenteil: „Warum begehen die meisten Menschen keine Straftaten?" Hinter beiden Fragen stehen auf der ideologischen Ebene Menschenbilder, die man identifizieren kann. Für die meisten Theoretiker 7 ist die Kriminalität das erklärungsbedürftige Rätsel. Sie gehen von einem Menschen aus, der - allein gelassen - eben keine Straftaten begehen und konform sein würde. Im wesentlichen haben sie das Menschenbild des guten Menschen. Kontrolltheoretiker finden das erklärungsbedürftige Rätsel in der Konformität. Sie gehen von einem Menschen aus, der allein gelassen - eben nicht konform ist, sondern viel eher Straftaten begehen und von Konformität abweichen wird. (Ist das nicht auch ein

Dürkheim 1933. Marx 1904. 6 Wer nicht so gründlich nachdenkt, verwechselt diese Theorien leicht mit Theorien zur Beteiligung des Kontroll-Apparates (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht, Vollzug, Sozialarbeit) an der Entstehung von Kriminalität. Solche Mißverständnisse drängen sich ja auf. Klassisch schön deswegen das Mißverständnis von Malinowski und Münch, die Hirschi's Kontroll-Theorie 1975 in Deutschland vorzustellen meinten (vgl. Kirchhoff 1981, 1981a). 7 Die sich dadurch eben gerade als Nicht-Kontrolltheoretiker erweisen. 4

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christliches Menschenbild?) Dieses Menschenbild ist wohl das, was nahe oder hinter dem Begriff Sozialisation steht. Hirschi (1969) sieht kriminalsoziologische Theorien im wesentlichen zwischen zwei Gegensätzen angesiedelt, zwischen strain und control theories. Unter strain theories versteht er alle Ansätze, die von Menschen ausgehen, die sich eigentlich konform verhalten wollen und auch würden, wenn man sie nur ließe. Der Strain-Theoretiker baut in sein System Druck (strain) ein, der Menschen in Kriminalität treibt (ζ. B. anomischer Druck, wohl auch Etikettierung und Stigma). Konformität ist vorausgesetzt, Kriminalität ist das zu erklärende Problem. Social Control-Theorien nehmen Devianz für selbstverständlich. „Warum tun sie es?", wird nicht gefragt, sondern „Warum tun sie es nicht?" 8 Tatsächlich geht Hirschi davon aus, daß besondere, für Nichtkriminelle nicht vorliegende Impulse für Delinquenz nicht unterstellt werden müssen 9 . Bedenken begegnen auf dieser ideologischen Ebene denn auch Behauptungen, die viele aus Kontrolltheorien heraushören: daß jeder inhärent kriminell sei und daß jeder Mensch gleich motiviert sei, Straftaten zu begehen. Das sind unzutreffende Unterstellungen, wie ein genaues Studium des Originaltextes uns zeigt. Dennoch: Es ist sinnvoll anzunehmen, daß Menschen sich manche Handlungen regelrecht verbieten. Solche Handlungen begehen sie dann auch nicht (oder jedenfalls sehr selten). Menschen begehen diejenigen Handlungen eher und häufiger, zu denen sie sich selbst die Erlaubnis geben 10 . Die Quelle dieser Erlaubnis ist das „Selbst" der Person, die persönliche Identität. Deswegen legen wir besondere Betonung auf den Sozialisationsprozeß, der für den einzelnen definiert, welche Verhaltensweisen sozial und legal akzeptabel sind, den Prozeß, durch den Menschen diese Definitionen eingeschärft, eingeimpft werden und in dem sie lernen, sich diesen Verhalten gegenüber entsprechend verpflichtet zu fühlen - kurz: der Prozeß, der das Selbst entwickelt.

Wir würden nämlich, wenn wir uns nur trauten! Hirschi 1969, 34. ' Das meinen auch Tannenbaum 1938, 17 und H. S. Becker 1963, 26. Hirschi sagt: (motives) do not differentiate delinquents from nondelinquents; Hirschi 1969, 34. 10 Das war wohl die wirklich geniale Entdeckung von Sykes und Matza, die sie in ihrem Aufsatz „Techniques of Neutralization" 1957 mehr en passant mitteilten, obschon sie im Anliegen mehr im Zuge von antianalytischer Anti-Cohn-Argumentation dem soziologischen labeling-Ansatz zu dienen scheinen. Vgl. Kirchhoff 1981 S. 147/148 zu diesem „Wendepunkt", der eine Neuorientierung der soziologischen Theorie darstellt. 8

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III. Geschichtliche Entwicklung der Social Control-Theorie Kontrolltheorie basiert auf wichtigen historischen Vorläufern. Erste Erwähnungen dieses Ansatzes verwenden ein generelles Konzept von sozialer Kontrolle, das beides inkorporiert: die Sozialisation in Normen als ein Mittel von Selbstkontrolle und die externe Anwendung von Sanktionen bei Verletzung dieser Normen als Mechanismus externer Kontrolle11. Walter Recklessu formulierte die Containment-Theorie. Für ihn sind interne und externe Kontrollkräfte diejenigen Mittel, mit denen kriminelles Verhalten eingedämmt wird. Zugleich kennt er „Stöße" oder „Zugkräfte", Faktoren, welche die Fähigkeit, die von den Eltern, der Schule oder anderen externen Institutionen ausgeht, beeinträchtigen, nämlich: den einzelnen „in Schach" zu halten, Faktoren, die auch die internen moralischen Kontrollen schwächen. Er gab zu bedenken, daß zwei Wege zur Straftat führen: einmal werde der Täter zur Straftat „gedrückt", ζ. B. durch schlechte Familienbeziehungen, durch Unzufriedenheit, Feindseligkeit oder Aggressivität). Zum zweiten: Der Täter werde von der Attraktivität der Kriminalität angezogen, von einer Attraktivität, die auf Grund des Einflusses von Cliquen-, Banden- oder Peer-Gruppen-Beziehungen besteht. Der sprachliche Begriff „Kontrolle", der sich entwickelt hat, ist mehr als schlicht Sozialisation oder Furcht vor Bestrafung. Es bezeichnet einen dynamischen Prozeß, der komplexe Beziehungen enthält. Vergleichende Kriminologie leidet oft darunter, daß amerikanische Worte selten genau mit einem entsprechenden Ausdruck im deutschen Sprachgebrauch übereinstimmen. Das deutsche Wort bezeichnet im Endeffekt ein komplexes theoretisches Konzept. Das ist bei der Containment-Theorie nicht anders. Es gibt einen direkten treffenden deutschen Begriff für „Containment" nicht. Deswegen ist es so wichtig, die Originaltexte genau zu studieren. Containment ist das, was eindämmt, was in Schach hält, was zügelt, was bändigt, was bindet. Entsprechende Kräfte können interner oder externer Art sein. Reckless lehrte: eine Person mit schwachen innerem Halt, mit schwach entwickelten inneren Kontrollen, die sich starken Motivationen, Zugkräften zur Kriminalität gegenübersieht, kann durch stärkere äußere Zügel kontrolliert werden. Wenn aber die äußeren Zügel schwach sind, dann muß Kontrolle von den inneren Kräften her komReiss 1951. Reckless et al. 1956; es verdient die Bemerkung, daß Reckless als Gastprofessor für ein Semester an der Universität Münster im Institut für Kriminalwissenschaften, an dem der Jubilar dieser Festschrift Direktor war, lehrte und so seine Theorie in Deutschland verbreiten konnte. 11 12

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men. Diese inneren Kräfte sah Reckless in erster Linie in einem positiven Selbstbild. Kornhauser (1978) hält Trasher für den ersten Theoretiker dieser Familie13. Nach Thrasher führt soziale Desorganisation zu einem Mangel an Kontrolle, damit zu Delinquenz, wobei der kontrolltheoretische Ansatz wohl im Fehlen irgendwelcher besonderer Motivation zu finden ist. Shaw und McKay 14 betonen, das Versagen der Familie als wichtiger Instanz sozialer Kontrolle führe zu sozialer Desorganisation und Desintegration. Sie nehmen an, allein im Kontakt mit kriminellen Subkulturen entstehe Delinquenz. Das ist allerdings nicht konsequent. Denn sie behaupten auch, Delinquenz beruhe auf schwacher Kontrolle. Den naheliegenden Schluß, daß solche Kontakte eben nur dann in Straftaten resultieren, wenn soziale Kontrollen schwach sind, ziehen sie aber nicht. Dadurch versäumen sie die Entwicklung von Kontrolltheorien. Ahnlich läßt sich auch Tannenbaum (1938) interpretieren15. Nach Reiss (1951) waren persönliche und soziale Kontrollen für konformes Verhalten wesentlich - eine Idee, die Reckless und Mitarbeiter16 aufgenommen haben und die in der Halttheorie 17 ihren Niederschlag fand. Die Halt- oder Containment-Theorie wurde von Schwartz und Tangri18 weiterentwickelt. Beiden Autoren fielen die „good boys" in „bad neighborhoods" auf. Wenn selbst in schlechten äußeren multiproblematischen Umgebungen doch „gute Jungen" heranwuchsen, war das Begehen von Straftaten eben nicht selbstverständlich19. Nye 20 berücksichtigte auch indirekte Kontrollen. Solche indirekten Kontrollen seien die wahrgenommenen Erwartungen von wichtigen Menschen (ζ. B. Eltern), von Menschen, zu denen enge Beziehungen bestehen. In diesem Sinne stammen die Kontrollen 21 von einer Kombination externer (sozialer, legaler), interner (Selbst, Moral) und indirekter (Erwartungen von Familie, Schule) Faktoren. Für Nye ist die zentrale Frage: „Ist Delinquenz verursacht oder verhindert?" Diese Frage gewissermaßen öffnet die Szene für die Entwicklung von Kontrolltheorien. Nye unterscheidet neben direkter Überwachung die indirekte Kontrolle durch Identifikation mit anderen, die inTrasher 1927, 1963 ed. 33, 66. Shaw/McKay 1942,117; vgl. Kornhauser 1978, 72. 15 Dessen spielende Kinder um den Dorfsee brauchen auch keine besondere Motivation, die Delinquente von Nicht-Delinquenten unterscheidet. 16 Reckless/Dinitz/Kay 1957; Reckless/Dinitz/Murray 1956. 17 Reckless 1961. Schwartz/Tangri 1965; Tangri/Schwartz 1967. " Reckless et al. 1956; Schwarz und Tangri 1965. 20 Nye 1958, 46. 21 Das sind Kräfte, die definieren, warum Menschen keine Straftaten begehen. 13 14

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ternalisierten Kontrollen und die Verankerung in einem Netz von Mitgliedschaften in formellen und informellen Gruppen in Nachbarschaft, Schule und Kirche. Es weist darauf hin, daß Delinquenz durch Verbesserung der Qualität von Beziehungen der Heranwachsenden zu Eltern, Lehrer, Pfarrer und Polizist 22 verhindert werden könnte, wobei das Schwergewicht auf den indirekten Kontrollen liegt. Ansätze finden sich auch bei T o b y , der von einer Verankerung in Konformität (stake in conformity) spricht, die er als Variable betrachtet, mit der Delinquenz erklärt werden könnte 23 . Briar und Piliavin unter Berufung auf H. S. Becker (1960) und Goode (1960) setzen „stake in conformity" mit „commitment to conformity" gleich und weisen darauf hin, daß commitment to conformity die Haltung Jugendlicher zu Autoritätsfiguren ebenso beeinflußt wie deren Freundeswahl. Als Basis für ein solches commitment erklären sie ausführlich die Bedeutung der Beziehungen der Jugendlichen zu ihren Eltern. Sie interpretieren Beiträge von Bronfenbrenner (1958), N y e (1958), Psathas (1957), Sykes und Matza (1957) und finden sie konsistent mit ihrer Meinung. Ihr Modell könne erklären, daß Jugendkriminalität häufig episodischen Charakter habe, daß fast alle Jungen aus allen Schichten sich in rechtsbrechender Weise betätigt hätten und daß mit dem Heranwachsen das Verhalten konformer werde. Es erkläre die ablehnende Haltung bereits krimineller Jugendlicher gegenüber Autoritätspersonen wie Lehrer, Polizisten oder Sozialarbeitern. Schließlich könne ihr Modell besser als das von H . S. Becker sekundäre Devianz erklären. Auch könne besser beantwortet werden, warum die meisten Jugendlichen höchstens einmal und nicht immer wieder bei Gericht erscheinen 24 . Matza 25 ging einen Schritt weiter, als er den Faktor „Drift" in die theoretische Gleichung einführte. Jugendliche, so lehrte er, verschaffen sich „periodische Entspannung" von den Zügeln konventioneller Vorschriften, wenn sie je nach Lage Techniken der Neutralisierung und Rationalisierung anwenden 26 . Einzelne antworten auf Situationsbedingungen und machen dann ihre Entscheidung (Rational Choice) je nachdem, wie gut sie in der Lage sind, ihre sozialisierten Normen und Erwartungen zu neutralisieren. Diese Techniken werden, ganz genau so wie andere Normen und Verhalten auch, im Prozeß differentieller Kontakte 27 gelernt.

22 23 24 25 26 27

Nye 1958, 159. Toby 1 9 5 7 , 1 7 . Briar, Piliavin 1965, 40. Matza 1964. Vgl. Sykes/Matza Fn. 6. Sutherland 1939.

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IV. Die Social-Control-Theorie von Hirschi 1969 Diese Vorläufer lieferten zwar in ihren theoretischen Beiträgen grundlegende Begriffe und Denkarten. Heute jedoch identifiziert man mit „Control Theory" generell das frühe Werk von Travis Hirschi 28 . Hirschi definierte die unterschiedlichen Konzepte wie „Containment" und „Control" zu „social bonds", zu sozialen Bindungen. Für Hirschi waren Straftaten ein Zeichen schwacher oder zerbrochener sozialer Bindungen. Menschen müssen im Verlauf des Aufwachsens die Freiheit „verlieren", Straftaten zu begehen. Das geschieht im Sozialisationsprozeß. Sozialisation ist die Veranstaltung der Gesellschaft, die sicherstellen soll, daß jedes Mitglied der Gesellschaft sich an die grundlegenden Normen des Zusammenlebens hält. Der junge Mensch muß lernen, strafrechtliche Normen als Begrenzungslinien oder -pfosten zu erkennen, die seine Freiheit einschränken29. Das bildliche Schaf auf der ungezäunten Weide braucht einen Pflock mit einem Strick um den Hals, an dem es angepflockt ist, damit es seinen Aktionskreis nicht verläßt. Uberträgt man dieses Bild auf die Situation, die Hirschi meint, dann stellt sich die Frage, aus welchen Bestandteilen denn das Seil ist, das uns Menschen an Konformität30 - wie die Schafe an den Pflock - bindet. Für Hirschi bestehen die Elemente des Bandes an Konformität aus diesen vier Faktoren: 1. die Abhängigkeit von der Meinung anderer (Attachment) 2. das Verpflichtungsgefühl (Commitment) 3. die Involviertheit in konventionelle Aktivitäten (Involvement) und 4. der Glaube an die Verbindlichkeit moralischer Wertvorstellungen (Belief). Diese Konzepte sind nun schon fast dreißig Jahre alt. Es lohnt sich aber doch, sie noch einmal zu überdenken, zumal sie ja aus dem Amerikanischen übersetzt 31 sind. 2S

Travis Hirschi, Causes of Delinquency. Berkely (University of California Press)

1969. 29 Auch in diesem Sinne sind Normen Zeichen der Unfreiheit, vgl. Karl Ferdinand Schumann, Zeichen der Unfreiheit. Zur Theorie und Messung sozialer Sanktionen. Freiburg im Breisgau (Verlag Rombach) 1968. J° Theoretiker sprechen denn auch vom stake into conformity (Toby), vom bond to conformity (Hirschi). Im übrigen: diese Konformität ist keinesfalls als langweilig und eintönig zu erleben: so wie das Schaf an der Leine schlafen, essen, brüllen, die Sonne genießen, ja sogar versuchen kann, mit gekreuzten Vorderbeinen zu laufen, so müssen die jungen Leute lernen, daß das Leben gebunden an Konformität vielseitig, erfreulich, belohnend und interessant, ausfüllend sein kann. Dazu Kirchhoff 1996. 31 Auch hier erweist es sich als irreführend, die amerikanischen Ausdrücke zu übersetzen - in die Ubersetzung fließen doch immer wieder Assoziationen ein, die eben typisch deutsch - und nicht amerikanisch sind. Als Beleg mag der Begriff Commitment dienen,

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Unter Attachment (1) versteht Hirschi die Eigenschaft, abhängig von der Meinung anderer zu sein. Das jeweilige Strafrecht in einer Gesellschaft definiert solche Verhaltenserwartungen der meisten anderen, und wo viel Attachment herrscht, werden wenig Straftaten zu erwarten sein. Commitment (2) ist ein Lebensgefühl, das daraus entspringt, daß der einzelne ganz im Sinne existentialistischer Philosophie sich durch Entscheidungen in eine Position gebracht hat. Wenn man nun in den Status quo investiert hat, so ist man bedacht, durch richtige Entscheidungen das Investment in den status quo zu wahren, während Fehlentscheidungen das Investment in Gefahr bringen. Commitment hat, wer glaubt, er selbst sei der Akteur, er sei der Ort der Kontrolle. Wer sich als hilflose Billardkugel umhergestoßen fühlt und wem immer alles passiert, der hat kein Commitment. Commitment symbolisiert das rationale Element bei der Entscheidung, eine Straftat zu begehen. Je mehr man davon hat, desto weniger wahrscheinlich ist es, daß man sich für Straftaten entscheidet. Involvement (3) ist die Verwickelung in konventionelle Aktivitäten, ein in Deutschland plausibles Konzept 32 . Das Element „belief" bezeichnet den Glauben an die Verbindlichkeit moralischer Normen. Dieser Glaube bindet an Konformität. Wie man am deutschen Wort „Seitensprung" demonstrieren kann, bindet der Glaube an die Verbindlichkeit der moralischen N o r m Treue in Zweierbeziehungen, so daß bei Vorhandensein eines solchen Glaubens ein Seitensprung unwahrscheinlicher ist als bei Fehlen des Glaubens an die Verbindlichkeit einer solchen Norm. Je stärker alle vier Elemente ausgebildet sind, desto schwächer ist die Wahrscheinlichkeit von Straftaten. V. Forschungsarbeiten in der Nachfolge Hirschi's 1969-1990 Es gibt nun eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten, die meistens expressis verbis von Hirschi's Theorie angeregt wurden und die versuchen, sie auszubauen und sie so erneut zu bestätigen. Die Suche nach empirischer Bestätigung war vorher so nicht üblich. Viele angesehene Theorien stellten sich vor, ohne sich um empirischen Beleg zu sorgen.

der mit Verpflichtung oder Bindung wohl nur zu undeutlich übersetzt wird (vgl. dazu „Der Große Muret-Sanders", der in 1.1. als Ubersetzungsmöglichkeiten für c. Übertragung, Uberantwortung, Uberweisung, Ubergabe, Einlieferung, Uberstellung, Verhaftung, schriftlicher Haftbefehl, Uberweisung an einen Ausschuß, Begehung, VerÜbung, Verpflichtung, Festlegung, Bindung anbietet. Vgl. Muet-Sanders, Springer 1983 S. 276). 32 Müßiggang ist aller Laster Anfang, weiß das Sprichwort.

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Hirschi gebührt das Verdienst, mit Lehnstuhl-Kriminologie in diesem Feld aufgeräumt zu haben33. Im einzelnen wird auf den vom Jubilar dieser Festschrift herausgegebenen Band 14 der Enzyklopädie der Psychologie des Zwanzigsten Jahrhunderts verwiesen, wo bereits 1981 eine Darstellung des empirischen Belegs der Kontrolltheorie und ihrer Vorläufer geliefert wird34. Im wesentlichen wird dort dieser Uberblick gegeben: Nachdem Hirschi 1969 bereits ausführlich und replikabel über seine Befragung eines Zufallssamples von 5000 Schülern berichtet hat, lobt Hindelang (1973) die Vorteile dieses empirisch-theoretischen Vorgehens: Seither wird verlangt, die Operationalisierungen der theoretischen Konzepte müsse der Theoretiker selbst vornehmen. Dadurch kommen Dunkelheit und Zweideutigkeit besser zum Vorschein. Die Fortpflanzung von Theorien, die für Dekaden ohne systematische empirische Examinierung existieren, wird unterbunden. Hindelang (1973) hat selbst die (in einem städtischen Bezirk an der Westküste durchgeführte) Untersuchung Hirschi's in einem ländlichen Gebiet in New York State repliziert und auf Mädchen erweitert. Andere Replikationen liegen von Tieman (1976), Linden (1974), Biron (1974), Thibault (1974), Junger-Tas (1976) und Caplan (1978) vor. Im wesentlichen werden Hirschi's Befunde bestätigt. Die Theorie liegt in formalisiertem Statement vor (Caplan 1978, 67-92) und ist modifiziert worden. Der Bereich der Arbeit ist von Junger-Tas (1976) darin aufgenommen worden. Kornhauser hat die Theorie gründlich analysiert und ihre Verbindungen zum bisherigen Wissen zum Thema geleistet - etwas, das Hirschi in der Originalfassung mit verkürzenden großen Gedanken tat. Im wesentlichen deuten die vorliegenden Studien darauf hin, daß Hirschi sich auf einem richtigen Pfad befand, wenn auch im einzelnen hier nicht zu besprechende Widersprüche zu seinen Ergebnissen auftraten. So kann Caplan 12 von 14 hypothetisierten bivariaten Beziehungen in Hirschis Richtung bestätigen. Aus Caplan kann man im übrigen vorsichtig herauslesen, daß es nicht nötig ist, auf attachment im Sinne von emotionaler Identifikation mit den Eltern zu rekurrieren, vielmehr sind der Kommunikationsfluß zwischen Eltern und Jugendlichen und Supervision durch die Eltern wichtiger als emotionale Identifikation (alle drei korrelieren hoch mit-

35 Nach dem ersten Auftritt von Travis Hirschi zusammen mit Hanau Selvin war von diesem Forscher nichts anderes zu erwarten, wollte er vom beißenden Ton und dem hohen Niveau seines ersten Werkes nicht deutlich herabsteigen. Vgl. Travis Hirschi / Hanan C. Selvin, Delinquency Research. An Appraisal of Analytic Methods. New York (The Free Press) 1967; Travis Hirschi / Hanan C. Selvin, False Criteria of Causality; in: The Sociology of Crime and Delinquency, ed. by Marvin E. Wolfgang, Leonard Savitz/ Norman Johnston, New York (Wiley) 1970, 127-141. " Vgl. Kirchhoff, Kriminalsoziologie, 1981.

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einander in Biron, 1974, alle drei stehen in negativer Beziehung zu Delinquenz). Junger-Tas 35 macht darauf aufmerksam, daß die Kontrolltheorien auf durchschnittliche Jugendkriminalität, nicht auf psychopathologische oder professionelle Kriminalität gerichtet sind. Gerade in diesem Bereich liegt ihre Praxisrelevanz. Junger-Tas macht deutlich, daß es sich im Kern um Integrationstheorien im Sinne Dürkheims handelt und daß diese Theorien präventionsorientiert sind. Unsere eigenen Erfahrungen bestätigen Junger-Tas 36 . Nach Caplan 37 erklärt die Theorie von Hirschi nicht, was Delinquenz verursacht, sondern was sie verhindert. Alles in allem hat die Theorie genügend empirischen Beleg bekommen. VI. Die generelle Social Control-Theorie 1990 Während die erste Version von Kontrolltheorien in Deutschland immer mehr akzeptiert wurde und inzwischen mehr als ein Drittel der deutschsprachigen Kriminologen in Kontrolltheorien den erfolgversprechendsten Beitrag modernen Kriminologie sehen38, ist die Weiterentwicklung, die Hirschi und Gottfredson seit 1990 vorlegen, doch bestritten - ihre „Generelle Theorie der Kriminalität" ist heute vielen zu generell. Gottfredson und Hirschi bewegen sich seit 1990 weg von Hirschi's klassischer Kontroll-Theorie. Sie stellen ihren Begriff „Selbstkontrolle" in das Zentrum ihrer Erklärung, ein Begriff, der seinerseits wieder die Situation, in der das Individuum sich dazu entschließt, deviant oder strafbar zu handeln, in den Brennpunkt der Theorie brachte. Die Theorie nimmt an, daß Individuen mit hoher „Selbstkontrolle" weniger leicht sich kriminell betätigen und daß diejenigen mit geringer „Selbstkontrolle" mehr Straftaten begehen, abhängig von den Umständen. Die Junger-Tas (1976, 23 f). Wir haben in den siebziger und achtziger Jahren in Mönchengladbach teilweise gemeinsam die Verhandlungen vor dem Jugendschöffengericht mit Studenten beobachtet und dort mit den Vorsitzenden Richtern Dr. Friedo Ribbert und Hans Servos ausgewertet, wobei eine Kombination von Hirschi's Theorie mit der Role Relationship Theory regelmäßig sehr gute Dienste leistete. An dieser Stelle danken wir den beteiligten Richtern für ihr Engagement und ihren Mut - schließlich ist es nicht jedermanns Sache, tatsächliche Prozesse der „Kontrolle" und Analyse von Kontrolltheoretikern auszusetzen. 37 Caplan (1978, 377). 38 Wenn wir auch in und nach der zweiten Hälfte der siebziger Jahre begannen, als erste in Deutschland bewußt kontrolltheoretisch zu argumentieren, ist 1992 nach einer Umfrage von Niggli (1992) bereits ein Drittel der befragten Lehrstuhlinhaber und ihrer Mitarbeiter im Gebiet der Kriminologie in Deutschland und der Schweiz positiv gegenüber dem Kontrolltheoretischen Ansatz eingestellt. 35 36

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Quelle von geringer Selbstkontrolle ist ineffektive oder unzureichende Sozialisation, insbesondere ineffektive Kindererziehung. Gottfredson und Hirschi beobachten: Kriminelles Verhalten ist leicht zu beschreiben: es eröffnet schnelle, leichte, kurzfristige Gratifikationen bei wenig Planung 39 . Ihre Täter beschreiben sie als impulsiv, nicht sensitiv, körperbetont im Gegensatz zu „kopflastig", risikofreudig, kurzsichtig im Gegensatz zu weitplanend, nicht verbal im Gegensatz zu argumentativ 40 . Sie glauben, daß Menschen mit hoher Selbstkontrolle unter allen Umständen im ganzen Leben weniger wahrscheinlich Straftaten begehen werden 41 . Selbstkontrolle hat soziale Konsequenzen, indem sie die Fähigkeit zu sozialen Bindungen und zum Erfolg in sozialen Institutionen formt eine Beobachtung, die schon in der ersten Fassung der Hirschi'schen Kontrolltheorie deutbar war. Mangelnde Selbstkontrolle im Sinne dieser Theoretiker bewirkt Versagen in sozialen Institutionen, in Aktivitäten und persönlichen Beziehungen, die längeren Aufschub von Gratifikationen bewirken, Planungen erfordern, bei denen es auf die Präferenz von kognitiven und verbalen Aktivitäten ankommt. Menschen mit mangelnder Selbstkontrolle können schlechter Freundschaften schließen. Sie neigen dazu, sich mit denen zusammenzutun, die ebenfalls diese Mängel haben und deswegen ähnlich deviant sind. Sie können weniger den Anforderungen schulischer Umgebung entsprechen. Sie wechseln häufiger die Arbeitsstellen. Sie sind seltener bei denen zu finden, die in Weiße-Kragen-Berufe aufsteigen. Sie tendieren dazu, Ehe einzugehen, die ein Fehlschlag werden. Sie ziehen es vor, auf der Straße herumzuhängen 42 . Zur Zeit liegt eine Aufgabe der Kontrolltheoretiker darin, die verschiedenen kontrolltheoretischen Beiträge dahingehend zu prüfen, wie sie denn in die allumfassende General Theory of Crime einzubauen sind. Diese allumfassende Theorie ist notwendigerweise sehr abstrakt, während wir in diesem Beitrag uns bemühen, näher an der Praxis zu bleiben.

39 Wie Aufregung, Spannung, kleine Geldbeträge, und Entspannung von momentanem Arger. 40 Gottfredson/Hirschi 1990 S. 90. 41 Gottfredson/Hirschi 1990 S. 118. 42 Diese Eigenschafte erinnern an die ohne theoretische zusammenhängende Erklärungen beschreibenden Darstellungen der deutschen Kriminologie der fünfziger Jahre zum Unterschied von Einmaltätern und Rückfalltätern, die in den deutschen Prognosetafeln, die der Jubilar dieser Festschrift im Handwörterbuch der Kriminologie Stichwort „Prognosestudien" behandelte, ihren Niederschlag fanden. Zu einer detaillierten Beschreibung mit ausführlichen Literaturangaben vgl. Evans 1997 S. 475, dem diese Darstellung im wesentlichen folgte.

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VII. Grundlagen zur Rollen-Beziehung Kombiniert man nun die Konzepte der verschiedenen Versionen, dann stellt sich Soziale Kontroll-Theorie so vor: 1. Drei Quellen der sozialen Kontrolle werden betrachtet: interne, indirekte und externe. 2. Ihre Stärke hängt ab von der Stärke von Attachment, Involvement, Commitment und Belief. 3. Attachment, Involvement, Commitment und Belief sind ihrerseits wieder Produkte sozialer Interaktionen und sozialer Beziehungen. Auf diese Beziehungen haben Variablen von Druck und sozialem Lernen Einfluß. 4. Die Stärke der Kontrollen sind abhängig vom Selbstkonzept, das seinerseits wieder von sozialen Interaktionen abhängt. 5. Die Begehung einer Straftat ist situationsspezifisch. In einer spezifischen Situation entschließt sich ein Individuum mit schlechter Selbstkontrolle (ein Produkt inadäquater Sozialisation), eine Straftat zu begehen (Rational Choice). Deutlich wird in der Social Control-Perspektive die Rolle, die soziale Interaktionen, soziale Beziehungen, bei der Erklärung von Straftaten spielen. Normalerweise haben wir bei kriminologischen Theorien eine unbefriedigende Situation vor uns: Denn gewöhnlich sind Theorien zur Erklärung von Kriminalität auf drei voneinander getrennten Niveaus angelagert: auf makrosoziologischer, institutioneller oder auf situativer Ebene. Sie bemühen entweder die sozialstrukturellen, makrosoziologischen Variablen, die das Individuum vorfindet und nicht beeinflussen kann. Oder sie behandeln das differentielle Versagen von Institutionen, die dazu da sind, soziale Kontrolle im weiteren Sinne auszuüben. Oder sie wenden die Variablen an, die sich auf der Ebene des Aktes selbst, der unmittelbaren Handlung, bewegen. Diese generell unbefriedigende Situation wird durch die Betonung der sozialen Beziehungen gebessert: Soziale Beziehungen43 sind die Vehikel, die alle drei Ebenen miteinander verbinden. Deswegen spielen sie in einer integrativen Theorie eine große Rolle. Im kontrolltheoretischen Denken sind die sozialstrukturellen Variablen nur in dem Ausmaß relevant, in dem sie die Fähigkeiten der Institutionen wie Familie, Schule oder Arbeitswelt beeinflussen, das Indivi-

43 Seien sie vertikal zu integrierenden älteren Erwachsenen, seien sie die bivalenten horizontalen Beziehungen zur Gleichaltrigen-Gruppe oder seien es Beziehungen zu sozialen Institutionen oder zu Räumen (vgl. Dussich 1991, Spaceground Integration).

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duum effektiv in die Welt der Erwachsenen zu integrieren und Einzelne zu sozialisieren. Die Interaktionen, die jemand mit Familie, Peers und anderen hat, ist entscheidend für den Sozialisationsprozeß und für die Entwicklung vom eigenen Selbstbild und von Selbstkontrolle. Es scheint daher logisch zu untersuchen, welcher Aspekt des Sozialisationsprozesses für die Entstehung von Kriminalität besonders wichtig ist. Eine Anzahl von Faktoren haben eine besondere Beziehung zu Jungendkriminalität, wie sich besonders aus vergleichender beschreibender Perspektive ergibt44. Jugendkriminalität 45 , bei der sich kontrolltheoretisches Denken besonders lohnt, ist ein soziales Phänomen, das Kultur und Recht transzendiert. Ihr liegt anscheinend ein gemeinsamer Nenner zugrunde: Emotional ungebundene Kinder mit schwachen indirekten Kontrollen von Familie, Schule und anderen institutionellen Beziehungen, schlechten Selbstkonzepten, mit feindseligen und oft mindestens negativ geladenen Einstellungen, ohne Erwartungshorizont für die Zukunft.

VIII. Rollenbeziehungen und Jugendkriminalität Nun existieren menschliche Identitäten und Selbstkonzepte nicht mit der Geburt. Sie entstehen und entwickeln sich durch Interaktionen. Wichtig sind die Interaktionen mit Alteren, in vertikalen Beziehungen zu Familienmitgliedern (Eltern, Großeltern, Onkel, Tante etc.). Wichtig sind auch die Interaktionen mit gleichaltrigen Kameraden. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen Interaktionen mit all denen, die mithelfen,

44 Die folgenden Überlegungen sind eine Zusammenschau von Beiträgen von Friday (1980), Kirchhoff (1981, 1981a), Rutter und Giller (1984), Farnngton (1992). Familienvariablen: speziell Erziehung, aber auch kindliche Viktimisationen. Solche Faktoren beeinflussen das Selbstkonzept des Jugendlichen und beziehen sich direkt auf die Befriedigung seiner grundlegenden körperlichen, sozialen und emotionalen Bedürfnisse. Familien- und Gemeinwesen-Variablen: wirtschaftliche Größen, Armut, geringes Einkommen, untere soziale Schicht, schlechter Schulerfolg, schlechtes Attachement zur Schule, Reduktion der informellem und formellen sozialen Kontrollen, größere Gelegenheit zur Begehung von Straftaten. Lebensstil und Involviertheit in sozial alienierten Peergruppen. Gemeinsame soziale Faktoren schließen ein: Inadäquate und ineffektive Disziplin in der Familie; Schlechte Eltern-Kind Beziehung; Frühe Kinderproduktion (Väter und Mütter unter 20); Feindseliges emotionales Klima; Mißhandlungen körperlicher oder seelischer Art; Vater als Alkoholiker; Wohnen in Mehrfamilien-Wohnblocks; Multi-Problem-Familien; Schlechte soziale und berufliche Fähigkeiten; Delinquente Freunde; Unstrukturierte Freizeit. Kriminologische Theorie wird diese isolierten Beobachtungen integrieren müssen. Darum bemühen wir uns im Rest des Aufsatzes. 45 Klar ist, daß wir hier von Einfachtätern nicht sprechen, sondern von Jugendlichen, die in Gefahr sind, vor dem Richter wieder zu erscheinen. Vgl. Kirchhoff 1975.

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das Gefühl der eigenen Existenz zu konditionieren, zu bestätigen oder zu negieren. Als soziales Tier setzt sich der Mensch damit auseinander, eine Balance zu finden zwischen einerseits Individualismus und Selbstverwirklichung und andererseits dem Bedürfnis und der Abhängigkeit davon, Glied einer Allgemeinheit zu sein. Dieser Kampf wird verschärft oder wird überhaupt erst möglich durch die unmittelbaren und die weiter entfernt liegenden Konditionen, innerhalb derer die Auseinandersetzung stattfindet: Die Gesellschaft transzendiert das Individuum. Sie hat existiert, bevor der Mensch geboren wurde, und wird existieren, auch wenn der Mensch tot ist. Jeder ist in eine fortlaufende soziale Welt geboren. Jeder muß lernen, wie er sich darin bewegt, ohne dramatisch anzustoßen. In diesem Sinn ist Ziel der Erziehung, der Sozialisation, uns zu vermitteln, wie wir als Erwachsene zu funktionieren haben. Die Gesellschaft hat ihre eigenen Eigenarten, die ihre unabhängigen Einflüsse ausüben durch strukturelle Faktoren (wie wirtschaftliche Zustände, politische Ordnung, Kultur und Wertvorstellungen). Diese Faktoren sind wieder verantwortlich für die Gelegenheitsstrukturen, den Wohlstand und das Wohlbefinden von Individuen. Sie sind ebenfalls mit verantwortlich für die Bandbreite und den divergenten Inhalt von Gedanken, denen die Mitglieder ausgesetzt sind. Gesellschaft ist nicht statisch. Sie gleicht einem Fluß, der fließen muß andernfalls herrscht Stagnation. Individuen sind so gesehen zweifach eingefangen, einmal im Fluß der eigenen personalen Entwicklung, dann im konstanten Fluß der gesellschaftlichen Umgebung. Die Prozesse von Selbstaktualisierung einerseits und gesellschaftlicher Entwicklung andererseits müssen nicht synchron verlaufen. O f t produziert die mangelnde Synchronizität Generationskonflikte, konfligierende soziale Normen und Werte. Dieser Prozeß erschwert es momentan, Kriminalität zu verhindern - und das ist nicht ein Prozeß von schlichter individueller Besonderheit, sondern ein Prozeß, in dem individuelle psycho-soziale Entwicklung zusammenprallt mit sozialer Entwicklung und sozialem Wandel. Das Resultat des Zusammenpralls kann Konformität oder Kriminalität sein. Kriminalität jedenfalls ist nicht ein Phänomen, das entweder existiert oder fehlt. Sie ist - so gesehen - als Chance permanent vorhanden. Sie wird gezähmt und eingebunden in einen Interaktionsprozeß (oder eben nicht) von Zeit, Ort und Umständen. Diese Interdependenz zwischen Individuum und Gesellschaft fordert, daß man auf die sozialen Prozesse achtet. Diese sozialen Prozesse fassen wir so zusammen: 1. Individuelle Handlungen sind kontextuell: sie sind sehr stark davon abhängig, welches Investment man hat, Definitionen der Situation so und nicht anders vorzunehmen.

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2. Diese Definitionen sind wieder verbunden mit denen der eigenen Referenzgruppe, d. h. ihrer Isolierung von oder ihrer Integration mit den weiteren kollektiven sozialen Normen. 3. Die Möglichkeiten und Optionen, die jemand bei der Definition der Situation als vorhanden erkennt oder nicht, hängen ab von der politischen, wirtschaftlichen und strukturellen Eigenschaft der gegebenen Gesellschaft46. Konformität signalisiert, daß Jugend in das System integriert wird. Das geschieht, weil junge Leute akzeptable Rollen bereitgestellt finden und diese auch spielen. Ein Versagen darin - aus welchen Gründen auch immer - ist ein Zeichen dafür, daß der Integrationsprozeß zusammengebrochen ist. Kommt es in großem Umfang zu Straftaten junger Menschen, liegt es nahe, darin ein Versagen der Gesellschaft zu sehen, diese jungen Leute zu integrieren. Es liegt nahe, daß die Gesellschaft es nicht schafft, diese jungen Leute zu kooptieren. Es gelingt nicht, sie in gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweisen zu sozialisieren. Andererseits kann Jugendkriminalität auch ein Indikator dafür sein, daß die Jugendlichen versagen darin, den idealisierten Vorstellungen der Gesellschaft von Jugend nachzuleben. Jung sein heißt oft, Hoffnungsträger zu sein, Hoffnungssymbol, eine Assoziation mit Zukunft. Dieser Hoffnung entspricht oft ein starker Paternalismus, der den Jugendlichen helfen soll, Hindernisse, die die Alten sehen, für Erfolg, Fortschritt und Glücklichsein zu vermeiden. Deswegen werden jungen Leuten oft Dinge verboten und vorenthalten, die Erwachsene klaglos tun dürfen47. Delinquenz im US-amerikanischen Sinne beinhaltet deswegen zwei unterschiedliche Konzepte - Verletzung von Normen, die für alle gelten, also Straftaten; und Verletzung von Normen, die nur für junge Leute gelten, die status offences, die im deutschen Sprachraum wohl eher Verwahrlosungszeichen entsprechen. Jugend ist eine soziale Rolle mit Erwartungen und Verantwortlichkeit. Es ist die Periode des Lebens, in der die jungen Leute ihre Identität entwickeln und eine Art von Rollenexperiment durchführen, eine Art Experiment zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Schule und Arbeitswelt, zwischen Amüsement und Verantwortlichkeit, zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Die Zeitspanne, in der sich das abspielt, ist im Laufe der Zeit immer länger geworden. Dabei sind die Optionen für die Jugendlichen immer größer geworden. In einer Zeit wachsender Motorisierung Jugendlicher hat sich ihr Aktionsradius vergrößert. Elterliche externe Kontrolle ist im gleichen Umfang 44 47

Friday 1983b p. 39. Rauchen, Trinken in der Öffentlichkeit, beispielsweise.

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schwächer geworden. In einer Zeit von leicht zugänglichen Videotheken können Jugendliche viel mehr Videos konsumieren, elterliche Führung oder Auswahlhilfe ist gar nicht mehr möglich. Noch ist sie gefragt. In einer Zeit, in der Jugendliche Anspruch auf Sozialhilfe haben, können sie sich leichter eigene Wohnungen leisten (lassen) und ziehen entsprechend leicht in die eigenen vier Wände. Das sind Beispiele, wie strukturelle Bedingungen in der Gesellschaft Parameter schaffen, die letztlich die Rollen definieren, die in einer Gesellschaft - für Jugendliche und für Eltern - vorhanden sind. IX. Die Bedeutung vertikaler und horizontaler Rollenbeziehung Das Band an Konformität besteht aus Elementen, die - bis auf das involvement - gewissermaßen „innen" eine Rolle spielen. Wir finden es nötig, daß diese Betrachtung ergänzt wird durch eine Beachtung der integrierenden vertikalen Beziehungen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen. Darauf konzentrieren wir uns im folgenden Abschnitt. Wir beobachten: Junge Leute begehen zwar Straftaten, aber doch meist nicht auf Dauer, sondern in der Regel nur temporär. Sobald Jugendliche für sich selbst stabile Rollen in der Gesellschaft finden, wachsen sie gewöhnlich aus dem Engagement in kriminellen Handlungen heraus. Der temporären Natur der meisten Jugendkriminalität entspricht die Fähigkeit der Gesellschaftsstruktur, die Jugendlichen doch an irgendeinem Punkt zu integrieren48. Wenn positive oder konforme Rollen durch Arbeit, Familie oder Schule für die Jugendlichen erfüllbar werden, wenn Jugendliche positive vertikale Beziehungen zu den Erwachsenen in den entsprechenden Institutionen wie Familie, Schule, Arbeitswelt und Gemeinwesen entwickeln, dann hören sie gewöhnlich damit auf, sich durch Straftaten das Leben interessant, ereignisreich zu machen und sich selbst bedeutungsvoll. Dabei bleiben sie nur, wenn sie keine integrierenden, positiven vertikalen Beziehungen zu den Erwachsenen haben, sondern auf horizontale Beziehungen untereinander angewiesen sind. Darauf beruht gerade die unterschiedliche Wirkung der Peer-Gruppe. Besteht diese im wesentlichen aus Gleichaltrigen, die ihrerseits wieder integrierende vertikale Beziehungen haben, dann sind diese Beziehungen positiv weil integrierend. Wenn die Jugendlichen aber ihrerseits nur horizontale Bindungen haben und sozusagen in diesen horizontalen Beziehungen ihre „gesellschaftliche Rolle" finden müssen, dann ist die Gefahr, daß diese Beziehungen nicht integrieren, groß - dann ist die Wirkung der Beziehungen zu Gleichaltrigen negativ. Andernfalls kann man sich Beziehungen zu Gleichaltri48

Friday/Hage

1976.

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gen vorstellen wie Treibriemen, die über Rollen Richtungsänderungen transportieren. Längst weiß man, daß die meisten Jugendlichen, die wegen kleinerer Straftaten auffallen, nicht in schweren Straftaten landen. Das geht aus den Kohortenstudien hervor49. Desistenz kommt in verschiedenen Abschnitten der Entwicklung vor. Wenn auch die Erfahrungen von früher Kindheit und Jugend deutlich das spätere Verhalten, spätere Wahlen und Entscheidungen beeinflussen, so sind diese Vorerfahrungen doch nicht bindend in dem Sinne, daß nun nicht mehr anders entschieden werden kann: Menschen ändern sich, wenn Situationen und Alternativen sich ändern, mit den Rollen des Individuums und mit seinen Rollenbeziehungen. Wenn Gelegenheiten sich als lebensfähig für Integration erweisen und für eine Verpflichtungshaltung zur Konformität, dann wählen viele, die vorher isoliert und entfremdet gelebt haben, Integration. Mit jeder sozialen Rolle gehen Verhaltenserwartungen einher. Durch diese Rollen wird das Individuum integriert. Es entwickelt durch ihre Wahrnehmung ein Band an die konventionelle Gesellschaft - oder aber der Einzelne wird entfremdet und isoliert, ohne Bindungen zu integrierenden Menschen. Grundsätzlich geschieht die Integration von Jugendlichen auf dem Vehikel von Beziehungen und Interaktionen in Familie, Schule, Arbeit und Gemeinwesen. Kontroll-Theorien haben in ihrem Brennpunkt das Band zwischen Individuum und konventioneller gesellschaftlicher Ordnung. Besteht das Band nicht, werden die Erwachsenenrollen abgelehnt, wird das gesamte Leben als Erwachsener abgelehnt, dann ist der Boden für Straftaten gelegt. Das haben Karacki und Toby schon 196250 bewiesen. Sie untersuchten männliche Bandenmitglieder und konzentrierten sich auf die, die den Wechsel von Kriminalität zu Gesetzestreue vorführten. Das waren diejenigen, die sich aus der Beteiligung von Jugendkulturen herauslösten und sich in erwachsene Rollen hineinbewegten, ζ. B. den Schulbesuch wieder aufnahmen oder wieder arbeiteten. In diesem Zusammenhang wird deutlich: Jeder spielt eine Rolle, die meisten sicher mehrere, von Sohn und Tochter bis Mann und Frau. Rollen sind mit dem verbunden, was wir tun, und mit dem, was wir glauben, wer wir sind. Wir spielen diese Rollen in der Art und Weise, wie wir uns anziehen, welche Haar- oder Barttracht wir tragen, in der Art und Weise, wie wir handeln. Wie die Rollen gespielt werden, hängt zusammen mit der Art und Weise, wie wir die Situation, in der wir handeln, definieren und welche Rollenrepertoirs wir für uns sehen. Wir 19 Wolf gang 1980, Wolf gang et al. 1987; West/Farrington Weitekamp 1995 mit weiteren Nachweisen. 50 Karacki/Toby 1962.

1977, Loeber/Dishion

1983,

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wählen diese Rollen und das zugehörige Verhalten, wobei wir die Wahl gründen auf die Definition der Situation, auf die Erwartungen der Menschen um uns, die wir wahrnehmen, auf unsere Definition von den Möglichkeiten, die wir für unser Handeln in dieser Situation sehen. Die Rolle, die wir spielen, hat zu tun mit dem, was wir denken, wer wir sind, und dem, was wir meinen, andere denken von uns, was wir seien. Festhalten können wir, daß jedes Verhalten konsistent ist mit unserem Selbstkonzept und unserer eigenen, internalisierten Erwartung der Referenzgruppe an unser Verhalten. Verhalten ist also bedeutsame Aktion, konsistent mit der Rollendefinition, die in einer bestimmten Situation erwartet wird. George Herbert Mead 51 war wohl der erste, der zu bedenken gab, daß wir die Objekte unserer eigenen Erfahrungen sind: wir sind, was unsere Interaktionen, unsere Beziehungen mit anderen uns definieren, was wir sind. Antoine de Saint Exupery sagt als Dichter, wir Menschen seien nichts als ein Bündel Beziehungen 52 . Aufwachsen in einer nicht funktionierenden Familie oder Aufwachsen unter konstanter vernichtender Kritik über das, was wir sind - das hat seine Folgen, das produziert ein schwaches E g o oder wenig Selbstbewußtsein. Gut, intelligent und schön zu sein, das trägt Verhaltenserwartungen mit sich, genau so wie übel, dumm und häßlich. Herbert Blumer 53 weist darauf hin, daß das Selbst lediglich bedeutet, daß ein Mensch das Objekt der eigenen Handlungen sein kann. In all diesen Fällen ist er ein Objekt für sich selbst, und er handelt sich selbst gegenüber, und er führt sich selbst in seinen Handlungen gegenüber anderen auf der Basis des Objekts, das er zu sich selbst ist. Menschen sind soziale Wesen, die kreativ sind. Sie können wählen, frei mit anderen zu interagieren. Aber im gleichen Moment sind sie auch Objekt dieser Interaktionen. Während sie aktiv an ihrer eigenen Rolle arbeiten, sind sie zur gleichen Zeit Objekt von Erwartungen von anderen54. In diesem Sinn ist menschliches Handeln nicht festgelegt. Es ändert sich, wie sich die Interaktionen mit anderen ändern, wie andere Gruppen die Rolle von Referenzgruppen einnehmen. So wie der Einfluß einer Gruppe stärker wird als der einer anderen (beispielsweise der Peergruppeneinfluß größer wird als elterlicher Einfluß), so kann sich Verhalten ändern - so wie sich das Selbstkonzept des Individuums ändert innerhalb der Gruppe, so wird auch entsprechende Rollenverhalten fol-

George Herbert Mead 1934. Antoine de Saint Exupery, Flug nach Arras, 1942, übersetzt von Fritz Montfort, München (dtv) 1985 S. 397/398; und wieder anders S. 451. 53 Blumer 1969 S. 12. 54 Loffland 1969. 51

52

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gen. Entsprechend variieren Verhaltensoptionen. Damit öffnen sich Verhaltensalternativen, die in bestimmten Situationen gelebt werden können. Ein Jugendlicher, der das Selbstkonzept hat, männlich, stark und mächtig zu sein, kann nicht einfach einer Konfrontation ausweichen: das wäre mit seinem Selbstkonzept nicht zu vereinbaren, nicht mit seiner Definition der Situation noch mit der Rolle, die wieder mit seinem Selbstkonzept zusammenhängt. Noch aus einem weiteren Grund ist es wichtig, Rollen zu verstehen. Je mehr Möglichkeiten jemand hat, in einer bestimmten Situation zu reagieren, je mehr Wahlmöglichkeiten oder Alternativen ihm offenstehen, desto mehr Selbstkontrolle kann er ausüben, desto mehr Macht hat er. Mehr Wahlmöglichkeiten bieten mehr Macht oder mehr Kontrolle über eine gegebenen Situation. Wie viele Rollenmöglichkeiten einem offenstehen, hängt davon ab, wie viele Rollen man in der sozialen Entwicklung gelernt hat. Je isolierter jemand ist, desto weniger Rollen sind erreichbar. Mitglieder von jugendlichen Cliquen sind oft sehr begrenzt in der Anzahl von Rollen, die sie spielen können, weil ihre Identitäten und die Rollen, die sie einnehmen können, nie mit anderen sozialen Möglichkeiten ernsthaft verglichen und getestet wurden. Soziale Isolation führt zu einer begrenzten Wahlmöglichkeit - breitere soziale Interaktionen erweitern das Rollenrepertoire. In der Rollenbeziehungstheorie, die Friday und Hage aufgestellt haben und die weiter entwickelt wurde55, sieht man auf die klassischen Rollenbeziehungssets Familie, Kindergarten, Schule, Arbeit und Gemeinwesen. In jeder Referenzgruppe gibt es nicht nur integrierende vertikale Beziehungen, sondern auch Rollen, die man in diesen Gruppen spielt. Die verschiedenen Typen von Aktivitäten in den einzelnen Gruppen verstärken Normen der Konformität, und durch Beständigkeit des Einübens entstehen informelle Kontrollmechanismen. Bedeutsam werden solche integrierenden Beziehungen im Fall der Überlappung, die dann besteht, wenn die erwachsenen Rollenpartner ihrerseits wieder Beziehungen unter sich haben56. Kontrolltheorien haben einen ganzheitlichen Ansatz. Sie befassen sich mit der Gesamtheit der Rollenbeziehungen, mit den institutionellen und sozialen Beziehungen des einzelnen. Prävention von Straftaten verlangt Friday/Hage 1976, vgl. Kirchhoff 1981,1981a, Friday 1995 und Kirchhoff 1996. Fast jeder Schüler spürt ein gewisses Unbehagen, wenn die Eltern zu Elternsprechtagen „zitiert" werden, denn der Zweck der Ü b u n g kann nur darin liegen, daß die Erwachsenen dafür sorgen, daß das Geflecht der Beziehungen zu den Erwachsenen in den diversen Rollensets Schule, Elternhaus und Gemeinwesen als Freizeitort, dichter und kontrollierender und hoffentlich integrierender wird. D a s geschieht am besten, wenn eben Ü b e r lappung herrscht, und der zitierende Lehrer wird einen Mangel an dieser Überlappung festgestellt haben! 55 56

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Bedingungen, die ein positives Selbstkonzept unterstützen. Das ist ein Gefühl von Selbstwert und von bedeutsamer und verantwortlicher Partizipation. Das Grundmuster, das mit Straftaten zusammenhängt, wird beschrieben mit Entfremdung von der Familie, Entfremdung von Schule, mit einem Mangel von Arbeitsbeziehungen oder Beziehungen im Gemeinwesen. Wenn man das weiß, dann weiß man auch, gegen welche Muster man angehen muß. Das Problem ist weniger der individuelle Straftäter als die Strukturen, in denen er sich findet. Zusammengebrochene Beziehungen in einem institutionellen Beziehungsset - wie zum Beispiel in der Familie - kann Probleme im Selbstwertgefühl oder für sonstiges positives Rollenverhalten mit sich bringen. Diese können aber kompensiert werden durch positive Rollenbeziehungen in anderen Rollensets oder Institutionen. Ernsthaft kriminelle Jugendliche zeigen denn auch gewöhnlich solche Zusammenbrüche in mehreren Beziehungssets - in der Familie, in der Schule, in den Institutionen des Gemeinwesens wie Jugendheime, Jugendclubs, in anderen von Erwachsenen strukturierten Räumen sozialer Beziehungsentwicklung. Ihnen bleibt häufig nur eine dominante Referenzgruppe, ζ. B. die Gleichaltrigenclique. Dann wird die Art und Weise dominant, in der diese Clique Situationen definiert und Rollenerwartungen formuliert. Das Rollenrepertoire wird dadurch reduziert. Alternative Wahlmöglichkeiten in einer gegebenen Situation sind sehr eingeschränkt. Damit ist die Macht, eine Situation zu kontrollieren, eingeschränkt. Selbstkontrolle wird weniger. Deutliche Beispiele solcher Gruppen sind die sich selbst bezeichnenderweise autonom nennenden revolutionären Zellen. In Gruppen, in denen Interaktionen von großer Bandbreite mit wenigen Rollenpartnern auf horizontaler Ebene, bei wenig Wahlmöglichkeiten und hoher Interaktionsfrequenz typisch sind, ist die Chance, daß Integriertes und Konformes entsteht, sehr gering. Dieses Interaktionsmuster ist typisch für sehr gefährdete Jugendliche57. X. Zur Prävention Eine ganzheitliche Betrachtungsweise verlangt eine Konzentration darauf, wie denn die Isolierung oder die Abtrennung der Jugendlichen verkleinert und soziale Integration vergrößert wird. Das heißt im wesentlichen, daß für mehr Möglichkeiten gesorgt wird, Interaktionen zwischen den verschiedenen Rollensets herzustellen, zum Beispiel zwischen Familie und Schule. Findet man Wege, die Entfremdung von den Interaktionspartnern in vertikaler Weise zu neutralisieren, hat man den Weg offen für die Prävention von Straftaten, den Weg zu größerer sozia57

Vgl. Kirchhoff 1981, 1981a.

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ler Konformität. Gleichzeitig damit wird die Wichtigkeit der Gleichaltrigenclique abnehmen. Das passiert oft dadurch, daß Leute einfach älter werden und mit größerem Alter andere Rollen und Verantwortlichkeiten übernehmen. Die grundlegende Annahme ist, daß Bindung an Konformität und Bindung an Devianz denselben Gesetzen gehorcht: Je größer die Isolation von herrschenden normativen Definitionen, desto größer die Dominanz der einzelnen Referenzgruppe, die dann erwartetes Rollenverhalten definiert. Je größer die Zahl der Rollenbeziehungen, desto größer die Bandbreite der Verhaltensoptionen in jeder gegebenen Situation. Prävention bedeutet, daß alle Mitglieder der Gesellschaft sich in einen Prozeß begeben, in dem Bindungen an Konvention verstärkt werden. Der Präventionsprozeß ist dann ein Weg, in dem jeder deviante Pfad eine Rückverbindung zum Zentrum oder eine lebensfähige soziale konforme Rolle findet. In diesem Sinne wird es kein einzelnes erfolgreiches Präventionsprogramm geben. Nötig ist eine Sozialpolitik, die die Risikofaktoren für erfolgreiche Integration identifiziert und die schützende und integrative Faktoren in der Gesellschaft schützt. In jedem sozialen System finden wir eine Kombination von schützenden und gefährdenden Faktoren. Risikofaktoren sind diejenigen individuellen, institutionellen und gesellschaftlichen Faktoren, die Einzelne entfremden und isolieren und ihre vertikalen Rollenbeziehungen gefährden. Schützende Faktoren sind diejenigen Bedingungen von Einzelnen, Institutionen und Gemeinwesen, die bedeutsame soziale Integration fördern und konforme Rollenerwartungen. XI. Ausblick: Die praktische Bedeutung der Social Control-Theorie im Jugendgericht Absteigend von dieser theoretischen Ebene fragen wir abschließend, was denn dies mit der Praxis der Jugendgerichte zu tun haben soll. Im deutschen Jugendstrafrecht kommt es nicht darauf an, nach hinten in die Vergangenheit hinein gewendet zu strafen, sondern nach vorn gerichtet Integration zu fördern und Isolierung, Entfremdung und Aversion gegen Konformität zu bekämpfen. Die Maßnahmen des Jugendrichters sind demnach danach zu bestimmen, wie wahrscheinlich es ist, daß dieser Jugendliche oder Heranwachsende „wiederkommt", wie wahrscheinlich es ist, daß er künftig Straftaten begeht. Die hier behandelten Kontrolltheorien geben dem Jugendgerichtshelfer, der ja dem Richter einen Sanktionsvorschlag machen soll, konkrete Hinweise, auf was zu achten ist bei der Auswahl der Sanktionen. Dem Jugendgerichtshelfer - und damit ganz sicher auch dem Jugendrichter -

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gibt die Social Control-Theorie ein oft entscheidendes Werkzeug in die Hand. In einer Kombination von Hirschi's Ansatz und dem Rollenbeziehungsansatz muß eine Prognose gemacht werden. Kommt der Jugendliche wahrscheinlich wieder vor den Jugendrichter? Dann ist wahrscheinlich das Band an Konformität nicht fest genug. Dann liegen wahrscheinlich auch nicht genügend vertikale Rollenbeziehungen vor. Beide Aspekte lassen sich in Verhandlungen gegen einen Jugendlichen relativ überzeugend beobachten. Ein erfahrener Sozialarbeiter kann im Gespräch mit dem Jugendlichen leicht herausfinden, wie stark der Jugendliche von der Meinung anderer abhängig ist. Das wird deutlich, wenn in einem solchen Gespräch der Jugendliche erfährt, daß er ja wahrscheinlich das, was er tut, auch für andere und vor anderen macht. Ganz ähnlich kann der Jugendgerichtshelfer herausfinden, wie der Jugendliche zeitlich involviert ist und in welche konventionellen Aktivitäten. Dabei kommt es darauf an, ob und wie der Jugendliche in von Erwachsenen bereitgestellten Räumen seine Zeit verbringt, ob sein Rollenrepertoire dort erweitert wird und er Gelegenheit hat, Involvement Attachment und Commitment zu betätigen und zu entwickeln 58 . Schwieriger scheint es, in einem solchen Gespräch an „belief" heranzukommen. Jugendliche wenden aber oft Neutralisationstechniken im Sinne von Matza und Sykes an. Solche Techniken setzen immer ein Glaubenssystem voraus. Daher bieten häufig Jugendliche selbst die Ansätze zur Uberprüfung der Entwicklung von belief an. Abgerundet wird das Bild, wenn der Jugendgerichtshelfer sich auf die Rollenbeziehungen konzentriert, die der Jugendliche in vertikaler Richtung in Familie, Kindergarten, Schule, Arbeit, Nachbarschaft und Gemeinwesen findet und aktiviert. Welche Erwachsenen gibt es in jedem Rollenset, die eine integrierende Rolle spielen? Ist er in diesen Beziehungen integriert? und kann er dort genügend lernen, was er zum Leben als Erwachsener braucht? Welche Wahlmöglichkeiten bestehen? Welche Aktivitäts-Bandbreiten bedecken diese Interaktionen? Welche Interaktionen kennzeichnen die vertikalen Beziehungen? Der Jugendgerichtshelfer wird die (horizontalen) Beziehungen des Jugendlichen zu seinen Peers betrachten. Handelt es sich um isolierte, entfremdete Peers, die die Werte der konventionellen „Anständigen" ablehnen? oder sind auch hier integrierende Beziehungen zu finden, die darauf schließen lassen, daß die gleichaltrigen Peers ihrerseits vertikale inte58 Der Jugendgerichtshelfer, der mitteilt, daß der Jugendliche gern Fußball spielt, dem Richter aber nicht mitteilt, daß dieses Fußballspielen in einem Verein, in einer Mannschaft stattfindet (mit den notwendigen Auswikrungen auf Attachment, Commitment, Involvement und Belief (Fairness), gleicht Merton's Ritualist! Es ist erstaunlich zu beobachten, wie oft Ritualismus im Gerichtssaal auftaucht!

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grative Bindungen haben? Von da aus läßt sich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens neuer Straftaten recht zuverlässig beurteilen. Was nun die Aktionen des Jugendrichters angeht, so ist zuerst zu prüfen, ob mit den Reaktionsmöglichkeiten des Jugendgerichts denn Integration und Beziehungen gefördert werden können. Dabei ist Vorsicht angebracht - wir wissen zwar, daß vertikale integrierende Beziehungen positiv und präventiv wirken, aber wie man diese Beziehungen über ein Urteil „per Gewalt" herstellt oder fördert, ist fraglich. Deutlich wird schnell, daß der Täter-Opfer-Ausgleich ein sehr geeignetes Vehikel ist, auf dem die vier Elemente des Bandes an Konformität eingeübt und betätigt werden können 59 . Hier treffen sich dann Kriminologie und Viktimologie. Persönlicher Ausblick Der Jubilar hat selbst regelmäßig den Gedanken der Restoration, des Täter-Opfer-Ausgleichs, vertreten, nicht zuletzt bei den vielen internationalen Post Graduate Courses on Victimology, Victim Assistance and Criminal Justice, die die Verfasser seit 1984 in Dubrovnik im Inter University Center gemeinsam leiteten und bei denen der Jubilar regelmäßig als Lehrender teilnahm. Er hat unseren Weg in Kriminologie und in Viktimologie, der uns beide in das Executive Committee der World Society of Victimology führte, begleitet als kritischer und fördernder Freund. Wir hatten uns - und ihn - zuerst in Belgrad 1973 auf einem ISC-Congress getroffen. Der Jubilar lud Paul C. Friday zu einer Gastprofessur nach Münster 1974 ein. Im Gegenzug lud die Western Michigan University Gerd Ferdinand Kirchhoff 1975 in die U S A für ein Jahr als Visiting Professor in das Criminal Justice Program des Department of Sociology ein. Beide Einladungen haben entscheidend dazu beigetragen, daß wir nunmehr seit mehr als einem Vierteljahrhundert regelmäßig und intensiv zusammen arbeiten. Aus dieser Zusammenarbeit, an deren Wiege der Jubilar sozusagen Pate steht, überreichen wir hier ein Geschenk, das das Zentrum unserer gemeinsamen jugendkriminologischen Überlegungen darstellt, die wir in Lehre, Forschung und gemeinsamen Seminaren mit zu entwickeln das Privileg und die Freude hatten. Bibliographie Agnew, R., The interactive effect of peer variables on criminology. 29, 1991, 47-72 Agnew, R., Why do they do it? An examination of the intervening mechanisms between social control variables and delinquency. Journal of Research in Crime and Delinquency 30, 1993, 245-266

59

Vgl. Kirchhoff

1995.

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Paul C. Friday und Gerd Ferdinand Kirchhoff

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Was mit Kriminalstatistiken nicht passieren sollte F R A N Z CSÄSZÄR

Statistiken stoßen bekanntlich nicht selten auf Unverständnis, das sich fallweise mit Mißtrauen paart. Man weiß zwar nur wenig über die Voraussetzungen einer zuverlässigen Statistik. N u r zu bekannt ist aber die Möglichkeit, mit allerlei Tricks das Ergebnis und damit auch den Benutzer zu manipulieren 1 . Im Gegensatz zu dieser Skepsis, das unerfreuliche Bild jedoch perfekt ergänzend, stehen der ebenfalls nicht seltene naive Glaube an die besondere Aussagekraft „exakter" Berechnungen und ein im Zeitalter der Taschenrechner und P C s besonders unbeschwerter Umgang mit Zahlen. All dies trifft natürlich auch auf Kriminalstatistiken zu. Sie beziehen sich zudem auf eine gesellschaftlich hochsensible Materie. Statistiken über Stand und Entwicklung von Straftaten dienen je nach Bedarf zur Begründung oder Widerlegung der verschiedensten Befunde und kriminalpolitischen Forderungen. Zu Recht weisen daher Kriminologen stets auf die Grenzen einer zahlenmäßigen Erfaßbarkeit von Kriminalität hin und warnen vor dem Mißbrauch statistischer Daten. Gerade der Jubilar greift in seinem monumentalen Lehrbuch der Kriminologie (1987) diesen Problembereich in allen seinen Aspekten wiederholt auf. Unter diesen Umständen bedürfen weitere Gedanken über die Aussagekraft und die Gefahren einer Fehlinterpretation von Kriminalstatistiken einer besonderen Begründung. Als solche sehe ich die Möglichkeit, die Probleme anhand von Beispielen deutlich zu machen, die ich in langjähriger praktischer Arbeit an und mit Kriminalstatistiken erlebt habe. Diese Erfahrungen wurden mir zum Teil unfreiwillig geliefert. Ein schönes Beispiel verdanke ich einer Diskussion zwischen Gerichtspraktikern und Wissenschaftlern. Ein Universitätsangehöriger hatte auf statistischer Basis eine regional unterschiedliche Rechtsanwendung konstatiert. Gegen die Zahlen als solche war nichts Rechtes einzuwenden. Daher verblieb einem sich offenbar persönlich angegriffen fühlenden Angehörigen der Richterschaft nur die vernichtende Bemerkung, von 1 Sehr anschaulich dazu ganz allgemein: Walter Krämer, 7. Auflage, Campus 1997.

So lügt man mit Statistik.

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Franz Csäszär

der ganzen Untersuchung sei nichts zu halten, weil sie auf einer „Zufallsstichprobe" beruhe. Zum Teil wurde ich aber gerade von Praktikern gezielt auf manche Probleme aufmerksam gemacht. In dieser Hinsicht bin ich besonders den Teilnehmern mehrerer Ausbildungskurse für leitende Exekutivbeamte dankbar. Sie haben mir ihre (oft leidvollen) praktischen Erfahrungen bei der Datenerfassung für die Polizeiliche Kriminalstatistik mitgeteilt und mich anhand konkreter Beispiele davor gewarnt, ohne ausreichendes Insiderwissen eine Veränderung in den statistischen Zahlen als „Kriminalitätsänderung" zu deuten. Meine Überlegungen beziehen sich fast ausschließlich auf die beiden jährlich veröffentlichten Kriminalstatistiken. Es ist dies zum einen die von der Exekutive (in Österreich Polizei und Gendarmerie) anläßlich einer Anzeige an die Staatsanwaltschaft erstellte „Polizeiliche Kriminalstatistik", im folgenden „Anzeigenstatistik". Zum anderen ist es die auf der Grundlage rechtskräftiger gerichtlicher Verurteilungen erstellte „Gerichtliche Kriminalstatistik", im folgenden „Verurteiltenstatistik". Einer Vorbemerkung bedarf noch die Qualität meiner Beobachtungen. Nur in wenigen Fällen handelt es sich um „harte Daten" aus methodisch einwandfreien Untersuchungen. Viel öfter sind es auf persönlichem Erleben beruhende Hinweise auf Einflußgrößen, deren Vorhandensein und grundsätzliche Bedeutung unbestreitbar sind, ohne daß ihr Ausmaß exakt erfaßt werden könnte. Sie sind deshalb nicht weniger aussagekräftig. Vielmehr lenken sie den Blick auf die zahlreichen und oft unerwarteten Schwierigkeiten bei dem Versuch, das soziale Phänomen „Kriminalität" mit Hilfe von Zahlen greifbar zu machen. I. Fehlerhafte Datenerfassung Zu einer fehlerhaften Datenerfassung kommt es erstens, wenn die Zählvorschriften gezielt umgangen werden. Grund dafür kann zum einen das Bestreben sein, unmittelbar die Statistik zu „frisieren". Zum anderen kann ein vorschriftswidriges aber als zweckmäßig angesehenes Vorgehen bei der Strafverfolgung eingeschlagen werden, und die Verfälschung der Statistik ist bloß ein unausweichliches Nebenprodukt. Beide Fälle bezeichne ich im folgenden als Manipulationen. Eine zweite Fehlergruppe ist die Folge eines irrtümlich falsch erfolgten Erfassungsvorganges. 1.

Manipulationen

a) Für die Anzeigenstatistik ist ein nachträglich geklärtes Delikt bei der Dienststelle des Tatortes zu registrieren. Wird durch Aufgreifen eines

Was mit Kriminalstatistiken nicht passieren sollte

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Mehrfachtäters eine große Zahl regional verstreuter Delikte von einer Dienststelle geklärt, dann hat sie infolge dieser Regelung zwar die „Arbeit gehabt", nicht aber den „Erfolg" in Form zahlreicher geklärter Straftaten. Mir wurde berichtet, daß in solchen Fällen manchmal die aufklärende Dienststelle alle geklärten Delikte statistisch in Anspruch nimmt, um die kriminalistische Bilanz zu verbessern. b) Gemäß § 42 öStGB ist unter bestimmten Voraussetzungen eine Tat wegen „mangelnder Strafwürdigkeit" nicht strafbar. Die Entscheidung darüber ist der Staatsanwaltschaft und dem Gericht vorbehalten, die Exekutive hat jedenfalls Anzeige zu erstatten. Auf einer Richtertagung im Jahr 1996 kam zur Sprache, daß einzelne Sicherheitsdienststellen regelwidrig den §42 durch Nichtanzeige des Vorfalls „vorwegnehmen". Sie sehen im Aufwand einer „großen" Anzeige keinen Sinn, wenn klar ist, daß sowieso „nichts daraus wird". c) Die Exekutive hat auch strafunmündige Täter2 anzuzeigen (womit sie in der Täterstatistik aufscheinen), obwohl diese nicht strafrechtlich verfolgt werden können. Von Exekutivangehörigen wurde mir mitgeteilt, daß es Dienststellen gibt, die in solchen Fällen nur speziell mit Jugendangelegenheiten befaßte Behörden der örtlichen Verwaltung in Kenntnis setzen. d) Vergleichsweise einfach war der in einem Wiener Stadtbezirk plötzlich eingetretene Kriminalitätsanstieg in der Größenordnung von 10 bis 15 % zu erklären: Ein neu zugeteilter Beamter hatte die von seinem Vorgänger unerledigt gelassenen Anzeigen zügig aufgearbeitet 3 . 2. Irrtum a) Für die österreichische Anzeigenstatistik wurde Anfang der 80er Jahre durch eine Zentralstelle während eines Berichtsjahres der Code zur Bezeichnung der Nationalität ausländischer Tatverdächtiger geändert. Bei der Auswertung der danach vorgelegten Zählblätter zeigte sich, daß die Umstellung in der Praxis nicht funktioniert hatte. Unter Zugrundelegen der bisherigen Verteilung konnten zwar die Daten in bezug auf häufig anfallende Nationalitäten plausibel bereinigt werden. Bei den selten in Erscheinung tretenden Nationalitäten war dies jedoch nicht möglich 4 .

2 „Kinder" als kriminologisch eingebürgerte Bezeichnung, obwohl nach bürgerlichem Recht diese Bezeichnung den bis unter 7jährigen vorbehalten ist; 7- bis unter 14jährige sind zivilrechtlich „unmündige Minderjährige". ' Ich danke Herrn Rat Dr. Walter Dillinger für diese Mitteilung. 4 Ich danke Herrn Ministerialrat i. R. Dr. Wolfgang Zeiner für diese Mitteilung.

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Franz Csäszär

b) Einen Anhaltspunkt für die Häufigkeit von Fehlern beim Erfassen statistischer Rohdaten liefern Beobachtungen über die vom Gericht nach rechtskräftiger Verurteilung auszufüllenden Strafkarten. In diesen ist bei einer Verurteilung wegen mehrerer verschiedener Straftaten das für den Strafsatz maßgebende Delikt (i. d. R. das mit der höchsten Strafdrohung) an erster Stelle anzuführen. Nach langjährigen Erfahrungen des Osterreichischen Statistischen Zentralamts steht aber in rund 1/4 der Fälle das führende Delikt in der Strafkarte nicht an erster Stelle5. Weiters ist in der Strafkarte auch die Begehung einer Tat unter Alkoholeinwirkung zu vermerken. Die auf Grund dieser Meldungen vom Osterreichischen Statistischen Zentralamt erstellten, nicht publizierten Arbeitstabellen sind jedoch nach Überzeugung aller Fachleute unbrauchbar, weil die Meldungen nicht verläßlich erfolgen. c) Ebenfalls nur in Form unveröffentlichter Arbeitstabellen erstellt das Statistische Zentralamt eine „Rückfallsstatistik", in der unter anderem die Bestellung eines Bewährungshelfers bei bedingter Entlassung aus Strafhaft ausgewiesen wird. Grundlage hierfür sind die Eintragungen in einem gerichtlichen Formblatt. Interne Zählungen des Vereins für Bewährungshilfe und Soziale Arbeit haben ergeben, daß dort die Zahl der einschlägigen Neuzugänge um etwa 60 % über den in der Rückfallsstatistik ausgewiesenen Häufigkeiten gelegen ist6. II. Verfälschende Datenverarbeitung In den zuvor behandelten Fällen ist ein an sich zweckmäßiges Erfassungssystem im Einzelfall nicht richtig angewandt worden. Die Kriminalstatistik kann aber auch dann ein fehlerhaftes Bild liefern, wenn regelkonform erhobene und aussagekräftige Daten infolge konzeptueller Mängel unzweckmäßig verarbeitet werden. Ein derartiger prinzipieller Systemfehler der österreichischen Anzeigen- und Verurteiltenstatistik ist die mehrfache Erfassung von Personen, die innerhalb eines Berichtsjahres mehrmals voneinander unabhängig angezeigt oder verurteilt worden sind. 1. Überhöhung der

Täterzahlen

Solche Mehrfacherfassungen führen jedenfalls dazu, daß nicht nur eine zu hohe Zahl angezeigter oder verurteilter Personen, sondern auch 5 Ich danke Herrn Wolfgang Chudy vom Osterreichischen Statistischen Zentralamt für diese Mitteilung. 6 Herr Universitätsdozent Dr. Arno Pilgram hat mir liebenswürdigerweise dieses Ergebnis einer nicht veröffentlichten Untersuchung mitgeteilt.

Was mit Kriminalstatistiken nicht passieren sollte

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entsprechend überhöhte Häufigkeiten in den erfaßten Merkmalsausprägungen dieser Personen ausgewiesen werden. Ein männlicher 25jähriger Inländer, der in einem Berichtsjahr nach Anzeigen von drei regional verschiedenen Sicherheitsdienststellen durch drei verschiedene Gerichte rechtskräftig schuldig gesprochen worden ist, scheint jeweils dreimal unter den Tatverdächtigen der Anzeigenstatistik und den Verurteilten der Verurteiltenstatistik auf. Auch die entsprechenden Ausprägungen der Merkmale Geschlecht, Alter und Nationalität sind damit dreifach überhöht ausgewiesen. Die deutsche Anzeigenstatistik vermeidet diesen Fehler durch eine „Echttäterzählung". Nach einem von Hans-Jürgen Kerner 1986 in Wien gehaltenen Vortrag hat sich in Deutschland durch die Umstellung auf dieses System die statistisch ausgewiesene Zahl der männlichen tatverdächtigen 8-13jährigen um rund 14 %, die den Höchstwert darstellende Zahl der 18-20jährigen sogar um rund 38 % verringert. Die Gesamtzahl aller männlichen Tatverdächtigen war durch Mehrfachzählungen um rund 25 % zu hoch ausgewiesen worden 7 . Bei den ununterbrochen auffällig werdenden Suchtgiftkonsumenten wirken sich derartige Mehrfachzählungen naturgemäß besonders stark aus. Im Jahr 1992 sind in Osterreich laut Suchtgiftbericht 7.805 Personen angezeigt worden. Eine Sonderuntersuchung des Gesundheitsministeriums hat jedoch ergeben, daß es sich dabei nur um 5.469 Individuen gehandelt hat. Die Zahl des Suchtgiftberichts ist daher um 43 % überhöht. In Wien mit seiner ausgeprägten Suchtgiftszene ist die Verfälschung möglicherweise noch stärker. Eine geänderte statistische Erfassung im Zusammenhang mit dem seit 1998 geltenden Suchtmittelgesetz soll hier geordnete Verhältnisse schaffen8. 2.

Merkmalsverfälschungen

In der österreichischen Verurteiltenstatistik führen derartige Mehrfachzählungen nicht nur zu überhöhten Häufigkeiten an sich zutreffender Eigenschaften der erfaßten Personen, sondern auch zum Entstehen unzutreffender Merkmalsausprägungen. Ein Hauptunterscheidungskriterium der Verurteiltenstatistik ist das Fehlen oder Vorliegen von Vorstrafen. Wird in einem Berichtsjahr ein

7 Hans-Jürgen Kerner, Erfahrungen mit neuen Formen der Tätererfassung durch die deutsche Polizei. Folgerungen fur die Kriminalpolitik. Vortrag vor der Osterreichischen Gesellschaft für Strafrecht und Kriminologie, Wien, am 24. 4. 1986. ' Bundesministerium für Inneres, Abteilung II/8, Jahresbericht 1992 über die Suchtgiftkriminalität in Osterreich. 1993, 15. Ich danke meinem Dissertanten Mag. Mario Petutschnig für dieses Beispiel und die Zahl aus der Studie des Gesundheitsministeriums.

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Franz Csäszär

bisher Unbescholtener rechtskräftig schuldig gesprochen und danach neuerlich verurteilt, dann ist er bei der zweiten Verurteilung bereits vorbestraft. Infolge des Erstellungsvorganges der Verurteiltenstatistik wird diese Person für das Berichtsjahr jedoch als „zwei Unbescholtene" (mit allen zugehörigen Merkmalsausprägungen) ausgewiesen 9 . III. Grenzen der Erfaßbarkeit realer Sachverhalte Straftaten und die an ihnen beteiligten Personen stellen fallweise ein sehr merkmalsreiches Beziehungsgeflecht dar. Es kann in den Kriminalstatistiken nur vereinfacht dargestellt werden. Daraus ergeben sich auch bei vollständigem Einhalten der statistischen Zählregeln systemimmanente Defizite oder Verfälschungen der Wirklichkeit. 1. Begehung verschiedenartiger

Straftaten

Eine in den Zählregeln angelegte, bedeutsame Grenze der Aussagekraft ist die im Interesse der Übersichtlichkeit von Kriminalstatistiken an sich sinnvolle Art der Registrierung von Personen, gegen die ein Verfahren wegen mehrerer verschiedenartiger Straftaten geführt wird. Sie werden nur einmal, und zwar bei dem mit der höchsten Strafdrohung versehenen, statistisch „führenden" Delikt, registriert. Nur auf diese Weise ist sichergestellt, daß die Summe der bei den einzelnen Tatbeständen registrierten Personen mit der Gesamtzahl der in der Anzeigenoder Verurteiltenstatistik erfaßten Personen übereinstimmt. Die damit verbundene Fehlinformation wäre zwar durch entsprechende Tabellengestaltung zu vermeiden, würde aber jedenfalls eine grundlegende und sehr aufwendige Änderung der Statistik erfordern. a) Infolge der Erfassung eines Mehrfachtäters bloß beim „führenden Delikt" ist etwa schon die in der Osterreichischen Anzeigenstatistik in der Grundtabelle und in der Folge noch detailliert ausgewiesene „Altersstruktur der Tatverdächtigen" zum Teil mit Vorsicht zu genießen. In dieser Zählung wird bei jedem Delikt für die einzelnen Altersklassen sowohl die Zahl der ermittelten Tatverdächtigen als auch, bezogen auf die jeweilige Bevölkerungsgruppe, eine „Besondere Kriminalitätsbelastungszahl" (BKBZ) angegeben. Diese Zahlen sind nur bei schweren Delikten, wie etwa Raub, verläßlich. Weil diese Delikte eine hohe Strafdrohung aufweisen, sind sie in der Regel auch „statistisch führend". Daher wird bei ihnen ein Tatverdächtiger immer auch dann erfaßt, wenn er noch andere, leichtere Straftaten begangen hat. Bei leichten

' Mein Dank gilt wiederum Herrn Wolfgang

Chudy (Fn. 4).

Was mit Kriminalstatistiken nicht passieren sollte

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Straftaten, die häufig „mitlaufen" (wie etwa dem „unbefugten Gebrauch von Kraftfahrzeugen", § 136 öStGB), sind die statistisch ausgewiesene Verteilung der Tatverdächtigen nach dem Alter und die darauf beruhende B K B Z hingegen nicht mehr zuverlässig. D o r t sind infolge Ausfalls der bei einem schweren, „führenden Delikt" registrierten Personen die Täterzahlen schon an sich zu niedrig. Darüber hinaus ist dieser Schwund nicht gleichmäßig über alle Altersklassen verteilt. E r fällt erfahrungsgemäß bei jüngeren Populationen höher aus. Daher wird bei leichteren Delikten naturgemäß auch die Altersstruktur der Tatverdächtigen häufig verzerrt ausgewiesen. Für die Verurteiltenstatistik gilt das gleiche. b) Im soeben behandelten Fall ist die nach Tatbeständen gegliederte Kriminalstatistik sozusagen „horizontal", nämlich innerhalb der ein Delikt betreffenden Zeile, über die einzelnen Altersklassen gelesen worden. Der Aufbau der Kriminalstatistiken eröffnet aber auch die Möglichkeit, sie „vertikal", nämlich innerhalb der eine bestimmte Altersklasse betreffenden Spalte, über alle Arten von Straftaten zu lesen. Dabei handelt es sich um den Versuch, für eine Teilpopulation, ζ. B. jugendliche Täter, von der statistisch ausgewiesenen Verteilung dieser Personen auf die einzelnen Tatbestände einen Rückschluß auf die von dieser Personengruppe gelieferte Kriminalität zu ziehen. Mehrfache Begehungen eines Deliktes scheinen jedoch nicht auf. Durch Gleichsetzen der bei den einzelnen Tatbeständen registrierten Personen mit der Zahl der von ihnen verübten Straftaten dieser Art wird daher schon das Ausmaß der Kriminalität der Altersklasse zwangsläufig zu gering geschätzt. Zusätzlich begangene leichtere Straftaten sind durch Registrierung des Täters beim „führenden", schwersten Delikt ebenfalls nicht erkennbar. Auch die Struktur der von dieser Altersklasse gelieferten Kriminalität wird daher zwangsläufig in Richtung auf schwerere Straftaten verfälscht. In Wahrheit hat die betrachtete Personengruppe eine zwar umfangreichere, insgesamt aber leichtere Kriminalität geliefert, als die ausgewiesene Verteilung dieser Personen auf die Tatbestände nahelegt. Das Ausmaß dieser Verfälschungen zeigt eine Untersuchung am Jugendgerichtshof Wien. Für die Klasse der männlichen 14- bis unter 18jährigen ist an Hand der in den Akten registrierten Straftaten zum einen eine Zuordnung der Personen zu den Straftatbeständen entsprechend den Zählregeln der Anzeigenstatistik erfolgt. Zum anderen wurden alle tatsächlich begangenen Straftaten aufgeschlüsselt. Die Zahl der Straftaten war rund dreimal höher als die Zahl der Personen. Die tatsächliche Struktur der Kriminalität der Jugendlichen ist der folgenden Tabelle zu entnehmen.

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F r a n z Csäszär

Deliktsrichtung

Aggression Vermögen, allg. unbefugter Gebrauch von Kraftfahrzeugen sonstige zusammen

Verteilung der Personen nach „führendem Delikt"

Verteilung der Delikte

29 % 49 %

15 % 67 %

5 % 17%

11 % 7%

100 %

100 %

Die Kriminalität der männlichen Jugendlichen war in Wahrheit von (größtenteils leichten) Vermögensdelikten geprägt, wobei der unbefugte Gebrauch von Kraftfahrzeugen als typisches „Mitläuferdelikt" merklich ins Gewicht fiel. Aggressionsdelikte spielten hingegen eine im Vergleich ganz erheblich geringere Rolle10. 2. Spezielle juristische

Bewertungen

Das österreichische Strafrecht kennt „gewerbsmäßig" begangene Delikte, ζ. B. den „gewerbsmäßigen Diebstahl" gemäß § 130 öStGB. In diesem Fall wird eine Mehrzahl real isolierter Straftaten rechtlich zu einer Einheit zusammengefaßt. Das kann natürlich nur bei Kenntnis des Täters geschehen. Werden daher zunächst bloß mehrere gleichartige Delikte bekannt, dann ist prinzipiell nicht festzustellen, ob es sich um die Taten verschiedener oder nur einer einzigen Person handelt. Kann im nachhinein ein gemeinsamer Urheber ermittelt werden, dann ist es schon erfassungstechnisch unmöglich, in der Anzeigenstatistik rückwirkend etwa eine 50 oder 100 Fälle umfassende Diebstahlsserie von Scheckkarten auf eine einzige Deliktsverwirklichung zu reduzieren. Das wäre im Hinblick auf die Wichtigkeit der Erfassung aller tatsächlich begangenen Straftaten im übrigen auch sachlich verfehlt. Jedenfalls tritt eine systemimmanente Grenze in der statistischen Erfaßbarkeit strafrechtlicher Begriffe zutage. An diesem Beispiel ist aber noch eine Ergänzung zu dem zuvor erörterten, gezielten Umgehen der Zählvorschriften zu erwähnen. Die Exekutive ist an die strafrechtliche Regelung über die gemeinsame Behandlung wiederholter gleichartiger Delikte gebunden. Das hat allerdings für die Polizei den „Nachteil", daß sich die Aufklärung einer großen Zahl 10 Franz Csäszär, Kinder- und Jugendkriminalität in Wien. Osterreichische Juristenzeitung, Jahrgang 33, Heft 3 (1978); berechnet nach Tabelle 3, Seite 67.

W a s mit Kriminalstatistiken nicht passieren sollte

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von Straftaten durch Aufgreifen eines Serientäters statistisch nur als ein einziger geklärter Fall von „gewerbsmäßigem Diebstahl" niederschlägt. Es ist daher verlockend, in dieser Situation eine Einzelzählung vorzunehmen: An einem Abend sind in einer Gasse 15 Autoeinbrüche begangen und ebenso viele unmittelbar danach auch geklärt worden. Die notorisch niedrige Aufklärungsquote gerade der Diebstähle kann durch getrennte Zählung aufgebessert werden. Mir wurde mitgeteilt, daß manchmal so vorgegangen wird. IV. Fehlinterpretation einwandfreier Daten Der Bogen für Fehlinterpretationen richtig erfaßter und für sich auch aussagekräftiger kriminalstatistischer Zahlen ist weitgespannt. Er reicht von trivialen Fehlern im Umgang mit absoluten und relativen Häufigkeiten bis zum Sturz über raffiniert getarnte Fallstricke in verborgene Fallgruben auf speziell kriminologischem Terrain. Eine Auswahl von Beispielen soll dies illustrieren.

1. Zu kleine absolute

Zahlen

Eine als seriös bekannte Tageszeitung hat ihren Lesern unter Hinweis auf die neuesten Zahlen des österreichischen Innenministeriums unter anderem mitgeteilt, daß die Zahl der 1995 bekannt gewordenen Fälle von Körperverletzung mit tödlichem Ausgang (§ 86 öStGB) gegenüber dem Vorjahr um 14,3 % gesunken sei, was den „markantesten Rückgang" der neuesten Kriminalitätsentwicklung darstelle. Dankenswerterweise ist in einer begleitenden Grafik auch die absolute Zahl der bekannt gewordenen Fälle angegeben: 1211. Es läßt sich leicht feststellen, daß 1994 ganze 14 Fälle bekannt geworden sind. Gerade zu diesem Delikt warnt zwar das österreichische Innenministerium stets im jährlichen Sicherheitsbericht anhand einer fünfjährigen Beobachtungsreihe vor einer Überinterpretation der ausgewiesenen Zahlen, weil es sich „um kleine Werte handelt, wobei Zufallsschwankungen eine erhebliche Rolle spielen"12. Diese grundlegende Einsicht scheint jedenfalls im Zeitungsbericht nicht auf. Ich weiß leider nicht, ob ein entsprechender Hinweis in den amtlichen Unterlagen vorliegt, die die Zeitung wiedergegeben hat.

11 12

Salzburger Nachrichten vom 10. 2. 1996, 8. ζ. B. Bericht der Bundesregierung über die innere Sicherheit in Osterreich. 1994, 40 f.

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Franz Csäszär 2. Unzureichende

Vergleichsdaten

Ein letztlich unlösbares Problem ist das vielfache Fehlen verläßlicher und aussagekräftiger demographischer Vergleichsdaten für die Bewertung von Kriminalitätszahlen. a) Zur Ermittlung der auf 100.000 Einwohner entfallenden Delikte („Häufigkeitszahl") wird die offizielle Einwohnerzahl herangezogen. Ganz besonders seit dem Fall des „Eisernen Vorhanges" gibt es jedoch neben der „Wohnbevölkerung" eine jedenfalls enorm gestiegene, aber nicht näher faßbare Zahl lang- und kurzfristig, legal und illegal anwesender „Fremder". Die österreichische Anzeigenstatistik unterscheidet bei nicht-österreichischen Tatverdächtigen zwischen „Gastarbeitern" und „sonstigen Fremden". Die Bezugsgröße der jeweils anwesenden NichtGastarbeiter ist praktisch eine unbekannte Größe. Was immer unter diesen Umständen eine auf 100.000 Einwohner bezogene Häufigkeitszahl bekannt gewordener Straftaten aussagen mag, ein Gradmesser für die Rechtstreue (oder deren Gegenteil) der Wohnbevölkerung ist sie nicht mehr. b) Als Meßzahl für die Jugendkriminalität wird allgemein die auf 100.000 Personen der gleichaltrigen Wohnbevölkerung bezogene Rate ermittelter tatverdächtiger Jugendlicher verwendet. Wird nicht einmal dieser Bezug hergestellt (das gerade erwähnte Problem der zuverlässigen Ermittlung von Vergleichspopulationen sei hier und im folgenden außer acht gelassen), dann sind von Haus aus keine sinnvollen Aussagen möglich. In Abhängigkeit von den Geburtenzahlen schwankt nämlich die nur wenige Altersjahrgänge umfassende jugendliche Wohnbevölkerung stark. Die österreichische Anzeigenstatistik geht etwa 1983 von rund 261.000 männlichen Personen im Alter von 14 bis unter 18 Jahren in der Wohnbevölkerung aus, 1993 hingegen nur von rund 193.000. Die Bezugspopulation hat sich somit innerhalb von 10 Jahren um ein Viertel verringert. Unter diesen Umständen sind die absoluten Zahlen der in den beiden Jahren ermittelten Tatverdächtigen des genannten Alters nicht aussagekräftig. Demographische Entwicklungen bringen jedoch fallweise noch wesentlich subtilere Probleme mit sich. Im Ubergang von der Kindheit zum Erwachsensein steigt die Neigung zur Begehung von Straftaten ganz allgemein von Lebensjahr zu Lebensjahr stark an. Daher hat die Besetzungsstärke jedes einzelnen Jahrganges entscheidende Bedeutung für die aggregierte Kriminalitätsrate der gesamten Altersklasse der Jugendlichen. Unter der Annahme einer unveränderten jahrgangsspezifischen Neigung zur Begehung von Straftaten wird die Kriminalität der „Jugendlichen" daher dann fälschlicherweise zu niedrig ausgewiesen, wenn geburten-

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starke Jahrgänge in die Strafmündigkeit eingetreten sind. In diesem Fall überwiegen nämlich jüngere, „kriminalitätsschwache" Personen. Umgekehrt wird die Gesamtrate dann fälschlicherweise zu hoch ausgewiesen, wenn von unten geburtenschwache Jahrgänge nachgerückt sind und daher ältere, „kriminalitätsstarke" Jahrgänge überwiegen. Die jährlichen Geburtenzahlen schwanken fallweise innerhalb weniger Jahre recht kräftig. Sie sind etwa in Osterreich bei männlichen Personen von 1958 auf 1961 um 10 % gestiegen, von 1972 auf 1975 dagegen um 10 % gesunken. Rund 15 bis 20 Jahre später konnte daher zusammen mit den als Multiplikator wirkenden altersspezifischen Kriminalitätsunterschieden der Eindruck merklicher Kriminalitätsänderungen der „Jugendlichen" entstehen, denen keine realen Verhaltensänderungen entsprechen. Das bedeutet, daß auch aggregierte Kriminalitätsraten für aus wenigen Jahrgängen zusammengesetzte Populationen verfälscht sein können. 3. Nichtberücksichtigung

von

Rechtsänderungen

Ein beliebter Fehler bei der Interpretation von Kriminalstatistiken ist das Ignorieren von Rechtsänderungen. In Osterreich ist 1989 ein neues Jugendgerichtsgesetz in Kraft getreten. Die Kommentierung der Kriminalitätsentwicklung im zeitlichen Umfeld dieser Veränderung hat anschauliche Beispiele einschlägiger Irrtümer geliefert. Ich bedaure, damals keine sorgfältigere Dokumentation durchgeführt zu haben. Die Fehlleistungen waren keinesfalls bloß auf Fachfremde beschränkt, sondern auch von hochrangigen Angehörigen einschlägiger Ressorts und Institutionen zu hören. a) Durch das neue Gesetz sind ab 1989 auch 18- bis unter 19jährige dem Jugendrecht unterstellt worden. Die Altersklasse der Jugendlichen umfaßt nunmehr fünf Jahrgänge. Damit ist nicht nur schlagartig die Zahl der als potentielle Täter bzw. als Vergleichspopulation in Frage kommenden Personen gegenüber den früheren Jahren um rund ein Viertel angestiegen. Zudem ist auch ein im Höchstmaß kriminell aktiver Altersjahrgang in die Gruppe der „Jugendlichen" einbezogen worden. Zunächst wurde der einem längeren Trend folgende Rückgang der absoluten Zahl tatverdächtiger Jugendlicher von 1987 auf 1988 erfreut (fallweise auch stolz) als weiterer Rückgang der Jugendkriminalität gefeiert, obwohl die aggregierte Täterrate bereits anstieg, weil die gleichaltrige Wohnbevölkerung noch stärker gesunken war. Das böse Erwachen folgte bei Bekanntwerden der Zahlen von 1989. In diesem Jahr war offenbar die Jugendkriminalität „explodiert", weil um gut 40 % mehr jugendliche Tatverdächtige als noch ein Jahr zuvor registriert worden waren. 1989 waren aber erstmals auch die 18- bis unter 19jährigen als

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„Jugendliche" zu werten. Dementsprechend lag auch die aggregierte Täterrate für die nun erweiterte Altersklasse der Jugendlichen nur um 16 % über der des Vorjahrs. Im übrigen hatte der neu hinzugekommene Altersjahrgang rund ein Drittel aller nunmehr als Jugendliche klassifizierten Tatverdächtigen geliefert. Die (unter Beibehaltung der früher geltenden Altersgrenzen fortgeschriebene) Täterrate der 14- bis unter 18jährigen ist hingegen von 1988 auf 1989 um nicht einmal 2 % gestiegen. b) Durch das neue Jugendrecht ist das strafrechtliche Reaktionssystem in Bezug auf diese Altersgruppe grundlegend geändert worden. Hauptziel ist nunmehr das Vermeiden förmlicher gerichtlicher Sanktionen. Wo immer möglich sollen diese durch diversionelle Maßnahmen ersetzt werden, wie zum Beispiel einen „Außergerichtlichen Tatausgleich". Als Folge dieses radikalen Kurswechsels werden derzeit nur mehr 10 bis 20 % aller angezeigten Jugendlichen auch gerichtlich verurteilt, während es Anfang der 80er Jahre noch zwischen 40 und 50 % waren. Diese Veränderung ist nicht selten als auffallend starker Rückgang der Jugendkriminalität begrüßt worden. 4. Nichtberücksichtigung

wechselnder

Verfolgungsintensität

Die Aussagekraft kriminalstatistischer Daten steht unter dem generellen Vorbehalt, daß sich an ihrem Verhältnis zum sogenannten Dunkelfeld nichts Wesentliches geändert hat. Von den zahlreichen Einflußgrößen auf das Dunkelfeld greife ich abschließend bloß einige Beispiele für eine nachweisbar geänderte Verfolgungsintensität auf, was bei der Interpretation der publizierten Daten konkret zu berücksichtigen wäre. Tatsächlich geschieht dies aber fast nie. a) Ganz besonders von der Verfolgungsintensität abhängig ist bekanntlich das Erscheinungsbild der Suchtgiftkriminalität. 1993 wurde für das Bundesland Tirol eine Zunahme der angezeigten Personen um 76 % des Vorjahreswertes festgestellt. Dies wurde im wesentlichen darauf zurückgeführt, „daß im Zuge der Neuordnung des Kriminaldienstes im Gendarmeriebereich der Bekämpfung der Suchtgiftkriminalität vermehrt personelle Ressourcen zur Verfügung stehen"". Bei der BPD Wien ist im Jahr 1993 die Zahl der bei einer Zentraldienststelle („Sicherheitsbüro") mit SG-Sachen befaßten Beamten von 17 auf 29 aufgestockt worden14. Das kann nicht ohne Auswirkungen auf die Fallzahlen geblieben sein. 13 BM für Inneres, Abt. II/8, Zentralstelle für die Bekämpfung der Suchtgiftkriminalität: Jahresbericht 1993 über die Suchtgiftkriminalität in Osterreich. 1994, 12. 14 Ich danke Herrn Hofrat Dr. Leo Lauber von der BPD Wien für diese Zahlen. Sie umfassen im übrigen nicht die bei den 23 Wiener Bezirkspolizeikommissariaten mit SGSachen beschäftigten Beamten.

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b) In den letzten Jahren ist ein allgemeiner starker Anstieg der polizeilich ermittelten jungen Tatverdächtigen festzustellen. In Wien war in den Jahren 1994 und 1995 die Zahl der 10- bis unter 14jährigen (strafunmündigen) Angezeigten mehr als doppelt so hoch, die der 14- bis unter 16jährigen um rund die Hälfte höher als in den Vorjahren. Bei der Wiener Polizei ist jedoch 1991 ein Referat zur Bekämpfung der Jugendkriminalität eingerichtet worden15. Nach Mitteilung von Exekutivangehörigen sind die dort arbeitenden Beamten in einem sehr intensiven Kontakt mit der Szene und können durch großes Engagement weit überdurchschnittliche Aufklärungserfolge erzielen. Häufig ist mit der Uberführung einiger weniger Haupttäter eine sehr große Zahl von - oft strafunmündigen - Mitläufern bekannt geworden. Sie waren meist nur am Rand des verbotenen Geschehens beteiligt, etwa durch Entgegennahme von Waren oder Bargeld aus einem aufgebrochenen Automaten, Ankauf von Beute aus Ladendiebstählen oder Mitfahren auf einem Moped, das ein älterer Täter soeben gestohlen hatte. Ein ins Gewicht fallender Teil der gestiegenen Täterzahlen muß daher auf eine erhöhte Verfolgungsintensität zurückzuführen sein. c) Das österreichische Lebensmittelrecht kennt gerichtlich und verwaltungsbehördlich strafbare Tatbestände. Die in Wien zwischen 1976 und 1995 zwischen rund 2.000 und 3.000 Fällen schwankenden Anzeigen wegen gerichtlich strafbarer Verstöße sind im wesentlichen durch wechselnde Schwerpunktaktionen des Marktamtes bedingt. Es konzentriert sich manchmal verstärkt auf Verwaltungsdelikte, dann wieder (ζ. B. nach einem sogenannten „Fleischskandal") verstärkt auf gerichtlich strafbare Verstöße. Derartige Änderungen in der Verfolgungspraxis müssen naturgemäß auf die gesamtösterreichischen Verurteilungszahlen durchschlagen, weil im Schnitt rund 40 % aller einschlägigen Anzeigen in Wien erstattet werden16. Hans Joachim Schneider nennt vier Schwerpunkte unter den Aufgaben der Kriminalstatistik: Sie ist Tätigkeitsbericht der Instanzen staatlicher Sozialkontrolle. Sie ist Forschungsinstrument der Wissenschaft. Sie dient der Information der Bevölkerung über Risiken und Kosten von Kriminalität. Und sie ist ein Instrument zur Kontrolle, Lenkung und Planung für die Kriminalpolitik17. Ich danke wiederum Herrn Lauber (Fn. 14) für diese Mitteilung. Katbarina Beclin, Das Lebensmittelstrafrecht in der Praxis. Unveröffentlichte kriminologische Dissertation an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. 1997,22. " Hans Joachim Schneider, Kriminologie. 1987, 162 f. 15

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Mit gutem Grund wird der Kriminalstatistik jedoch nicht die Aufgabe zugewiesen, die „Wirklichkeit" abzubilden. Eine vom Menschen abgelöste, „objektive" Wirklichkeit gibt es im sozialen Bereich nicht. Die soziale Welt des Menschen ist zugleich ein von ihm geschaffenes, wie auch ein ihm „passiertes" Gebilde. Um uns in der stets wechselnden sozialen Welt orientieren zu können, sind wir auf Landmarken angewiesen, von denen wir wissen, daß sie nicht dauerhaft verankert sind. Für kurze Zeit können sie uns dennoch im Strom der Ereignisse leiten, selbst wenn sie uns nur zu neuen Horizonten der Ungewißheit führen. Vor diesem allgemeinen Hintergrund verlieren die vielfachen Schwächen von Kriminalstatistiken an Bedeutung. In Kenntnis ihrer prinzipiellen Beschränktheit sollen wir diese Zahlen weiter erstellen und benützen. Im Detail hingegen wären sie durchaus zu verbessern, wie man sie auch vorsichtiger lesen und interpretieren könnte. Einige Anregungen dazu hoffe ich mit meinen Bemerkungen geleistet zu haben.

Über subjektive Kriminalität Am Beispiel des Kriminalitätsanstiegs"'

MICHAEL WALTER

I. Meine Begegnungen mit Hans Joachim Schneider reichen zurück bis in seine Hamburger Zeit bei Rudolf Sieverts, unserem gemeinsamen Lehrer. Schneider beeindruckte schon damals durch seine große Belesenheit und die Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem. Von manchen Reisen, vor allem in den anglo-amerikanischen Raum, war er so beeindruckt und gedanklich bereichert, daß ihm das deutsche Nachkriegsterrain gelegentlich als sehr klein erschien. Selbst mit doppelter Kompetenz als Jurist und Diplom-Psychologe ausgestattet, interessierten ihn insbesondere die Beiträge der Psycho-Wissenschaften zur Kriminologie. Kriminalität sah er seit jeher als eine sehr komplexe Erscheinung an, die man nicht durch einen Blick nur auf den Täter erfassen könne. Zu seinen wohl größten Verdiensten gehört die Förderung der Viktimologie, die er durch sein Werk „Viktimologie; Wissenschaft vom Verbrechensopfer" aus dem Jahre 1975 dem deutschen Leser in einer umfassenden Darstellung nahegebracht hat. Wenig später konnte er viktimologische Forscher aus aller Welt zu einem großen Kongreß an der Universität Münster, seiner Wirkungsstätte, versammeln. Vor diesem Hintergrund möchte ich mich einer Fragestellung zuwenden, die einerseits die Komplexität von Kriminalität auszuleuchten versucht und andererseits die Psychologie der Wahrnehmung (von Kriminalität) betrifft. Es geht um subjektive Kriminalität. Damit meine ich die Bedeutung, die Kriminalität in unserem Denken und Handeln hat. Zugleich wird ein Gegensatz zur amtlichen Kriminalität der Kriminalstatistiken gebildet, ja generell zu objektiven Befunden jedweder Art. Wie die jüngst entstandene Forschung zur Kriminalitätsfurcht gezeigt hat, hängen die subjektive Befindlichkeit, das (Un-)Sicherheitsgefühl, die Einschätzung krimineller Risiken, die Zufriedenheit mit der Polizei und den Strafverfolgungsbehörden, die Auffassungen, wie man mit Straf* Die Datenaufbereitungen und statistischen Berechnungen hat mein Mitarbeiter Dipl. Psych. Thomas Brand vorgenommen, dem ich dafür auch an dieser Stelle herzlich danke.

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tätern verfahren sollte, die Beurteilung der Wirksamkeit von Strafen und anderen Sanktionen, ja sogar das eigene Verhalten (ob man abends allein noch auf die Straße geht - bis hin zum Wahlverhalten) in erheblichem Maße von intellektuellen Verarbeitungsprozessen in den Köpfen der Menschen ab.1 Die genannten Einstellungen, Haltungen oder Verhaltensmuster sind nicht etwa reflexartig die Folge äußerer Entwicklungen, entscheidend ist vielmehr, welche Ereignisse überhaupt wahrgenommen und wie sie gegebenenfalls in den innerseelischen Fundus eingepaßt werden. Es gibt mithin nicht lediglich kriminalisierbare Akte, die teilweise als Kriminalität begriffen werden und eine entsprechende rechtliche Rahmung erfahren. Sondern darüber hinaus muß die Kriminalitätsbotschaft erst auf kompiziertem Wege in unser Bewußtsein gelangen. Die Medien nehmen eine Aufbereitung von Nachrichten vor, die von den Menschen nach bestimmten Vorverständnissen und Vorlieben zur Kenntnis genommen und sodann noch subjektiv für die eigene Welt weiter eingeformt werden. 2 Uns sind diese Geschehnisse sämtlich vertraut, dennoch berücksichtigen wir sie im Kontext kriminologischer und kriminalpolitischer Auseinandersetzung kaum. Wir tun meist so, als würden uns die objektive Befunde „steuern". In Wirklichkeit aber lösen die gleichen Tatsachen je nach persönlichen Dispositionen der Nachrichtenproduzenten wie der Nachrichtenempfänger durchaus unterschiedliche Vorstellungen, Bedürfnisse und Reaktionen aus. Ein besonders beredtes Beispiel liefert die alljährliche Präsentation der Polizeilichen Kriminalstatistik. Sie geht nie ohne Kommentierung ab, obgleich kurzfristige Vergleiche, vor allem zum Vorjahr, nur sehr begrenzte Aussagen gestatten. Die polizeilichen Datensammlung(en) können verschieden aufbereitet werden. Regelmäßig lassen sich günstigere und ungünstigere Rechnungen aufmachen. Die behördlichen Interpretatoren (Innenministerien) verschweigen diese ursprüngliche Pluralität und Ungerichtetheit inzwischen auch nicht mehr, betonen sogar, daß auch gewisse entlastende Entwicklungen zu verzeichnen seien. 3 Die Gesamtdarstellung ist indessen schon auf die Neugier-Struktur der Medien hin ausgerichtet. Und hier interessieren in erster Linie und ganz vorrangig die negativen Botschaften, die bad news, am meisten die „besonders besorgniserregenden Entwicklungen", wie es oft in der bewußt dezent

Zusammenfassend H. ]. Schneider, Kriminologie, 1987, S. 767 f. Zur Problematik s. S. Lamnek / J. Luedtke, Kriminalpolitik im Sog von Öffentlichkeit und Massenmedien, in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Das Jugendkriminalrecht als Erfüllungsgehilfe gesellschaftlicher Erwartungen? (Drittes Kölner Symposium), 1995, S. 45 f. 3 S. jüngst etwa Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Jugendkriminalität und Jugendgefährdung in Nordrhein-Westfalen - 1996, 1997, S. 7 f. 1

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gehaltenen Redeweise staatlicher Einrichtungen lautet.4 Die Medienvertreter stellen ihrerseits diese ungünstigen Momente möglichst kraß und marktschreierisch heraus. Datenentwicklungen, die positiv gedeutet werden könnten, werden nicht selten in den Cocktail mit eingemischt, prägen aber nie den Geschmack. 5 So entsteht letztlich ein Kontinuum des Immer-schlimmer-Werdens, mit dem die Nachrichtenempfänger vorab schon gerechnet haben, das sie bestärkt, ihre Überzeugungen festigt und ihr sachliches Informationsbedürfnis begrenzt, und zwar je nach politischer Couleur. So betont ein konservatives Blatt zusammen mit einem Kriminalitätsanstieg die Individualschuld der Delinquenten und die Berufstätigkeit der Frauen, die sich nicht mehr wie früher um ihre Kinder kümmerten, sowie die mangelnde Genügsamkeit der einfachen Menschen, während eine andere politische Richtung die unzureichende Sozialpolitik für die - einvernehmlich unterstellte - Kriminalmisere verantwortlich machen mag. Die objektiven Daten weisen aber bei weitem nicht die Inhalte und Gedanken auf, die mit ihnen solchermaßen verbunden und verquickt werden. Daß sich aus den Tabellen verschiedene Daten auswählen lassen, diese unterschiedlich aufbereitet und vor einem verschiedenartigen Erwartungshorizont betrachtet und mit unterschiedlichen Deutungsmustern belegt werden können, bleibt verdeckt. II.

„Der" Kriminalitätsanstieg, über den heute und früher gestritten wird beziehungsweise wurde 6 und der in letzter Zeit vor allem für Verschärfungen des Strafrechts herhalten soll,7 ist ein Konstrukt aus Angaben in den amtlichen Statistiken. Im folgenden möchte ich zwei Gesichtspunkte herausstellen: (a) Die Wege, Kriminalitätsentwicklungen zu erfassen und darzustellen, sind zahlreich und - um beim Bild des Anstiegs zu bleiben unterschiedlich flach oder steil.

4 Exemplarisch: die Verlautbarungen zur Kriminalitätsentwicklung in den vom Bundesinnenministerium herausgegebenen Informations-Broschüren „Innenpolitik". 5 Vgl. H. Geiter, Kriminalität und Strafvollzug - Öffentlichkeit und Justiz zwischen Mut, Unmut und Übermut, ZfStrVo 40 (1991), S. 323 f; sowie ders., Die Einstellung von Staatsanwälten und Haftrichtern zu kriminalpolitischen Aussagen, insbesondere zur Untersuchungshaft, in: H. Müller-Dietz / M. Walter (Hrsg.): Strafvollzug in den 90er Jahren (Festgabe für Karl Peter Rotthaus), 1995, S. 228 f. 6 Zusammenfassend M. Walter, Jugendkriminalität, 1995, S. 175 f. 7 Gefordert wird u. a. eine Herabsetzung der Strafmündigkeit auf 12 Jahre und eine stärkere oder vollständige Einbeziehung der Heranwachsenden in das allgemeine Strafrecht, dazu s. die Darstellungen im DVJJ-Journal 7 (1996), Heft 4, S. 316 f.

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(b) Mit einer Änderung der Zahlenauswahl ändert sich nicht lediglich das Material der Darstellung, sondern zugleich auch die theoretische Perspektive, so daß Anstiegsbesorgnisse auf unterschiedliche Probleme bezogen sein können. Daher hat - vom anderen Ende her betrachtet - bereits die Wahl der Perspektive Auswirkungen auf die Wahl der relevanten Daten. Und die unterschiedlichen Datenaufbereitungen führen zu unterschiedlicher Dramatik. Zunächst kann man die Kriminalitätsentwicklung in absoluten Zahlen erfassen. Diese betreffen zum einen Taten, zum anderen Personen (Tatverdächtige oder später Abgeurteilte oder Verurteilte). Die absoluten Zahlen berücksichtigen nicht die Bevölkerungsentwicklung. Soll etwa der Geburtenrückgang infolge der „Pille" kontrolliert werden, braucht man Verhältniszahlen, die die Relation der Täter zu der betreffenden Bevölkerungsgruppe erfassen. Ein Vergleich von Relationszahlen, also die Orientierung an der Bevölkerungsentwicklung, beinhaltet aber nicht notwendigerweise die „bessere" Messung. Die betreffende Aussage ist nur unter der theoretischen Prämisse valider, daß die Kriminalitätsbelastung der Bevölkerung interessiert, etwa die Frage, ob bestimmte Bevölkerungsgruppen „immer krimineller" werden. Zur Einschätzung des Risikos, konkret Opfer eines Delikts zu werden, kann demgegenüber die absolute Zahl der „Gefährlichen" durchaus aussagekräftiger sein. So lag beispielsweise die absolute Zahl der wegen gefährlicher Körperverletzung und Raub verurteilten Jungtäter zu Beginn der 90er Jahre niedriger als zu Beginn der 80er Jahre. 8 Vergleiche können auf „die" Kriminalität insgesamt oder aber auf bestimmte Delikte bezogen werden. Beide Betrachtungsweisen haben ihre Berechtigung. Will man Gefährdungen der Bevölkerung messen, kommt es auf Gewichtungen an. So ergeben sich teilweise große Zuwächse und auch Schwankungen allein durch die Praxis der Überwachung und Anzeige von Ladendiebstählen. Wenn sehr schwere Straftaten, etwa bestimmte Formen des Raubes und der räuberischen Erpressung erheblich zunehmen, braucht das dennoch die (Un-)Sicherheitslage der Bevölkerung nicht oder nur marginal zu berühren. Eine Verdopplung der Fälle in einer Region von 40 auf 80 bedingt eine Steigerung um 100 %, das Risiko

8 S. M. Walter, Die Vorstellung von einem Anstieg der Jugendkriminalität als (kriminal)politisch dienstbare Denkform, DVJJ-Journal 7 (1996), Heft 4, S. 335 f (342).

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kann aber dennoch kaum verändert worden sein9 und weit unter 1 % und erheblich unter dem der Verletzung durch ein Kraftfahrzeug liegen.10 Die theoretische Ausrichtung mancher Datenaufbereitungen bleibt unklar. Häufig werden Anstiege speziell für „Ausländer" angegeben." Die Frage, ob sie krimineller als Deutsche sind, läßt sich aus den verfügbaren Daten kaum beantworten, da einigermaßen zuverlässige Angaben zur betreffenden Wohnbevölkerung nicht vorhanden oder höchstens kühn abschätztbar sind.12 Doch hier wäre schon vorher zu klären, welcher Art eigentlich das jeweilige theoretische Interesse ist.13 Sollen neobiologistische Kriminalitätstheorien belebt werden? Die am ehesten verständliche Überlegung, Gefährdungen der Gesamtbevölkerung durch den Zuzug von Ausländern zu überprüfen und gegebenenfalls zu begrenzen, ist freilich mit Anstiegsdaten nicht zu einem Abschluß zu bringen. Zum einen müßte erhoben werden, wer des näheren gefährdet werden könnte (etwa überwiegend Landsleute oder Angehörige einer Gleichaltrigengruppe), und des weiteren wäre zu bedenken, daß Gefährdungen nie allein an einem Menschen haften, sondern stets sehr stark kontextabhängig sind. In der ehemaligen D D R sehr gefährliche Menschen sind beispielsweise in der Bundesrepublik ganz ungefährlich geworden, obwohl sie sich persönlich schwerlich verändert haben. Zur theoretischen Sichtweise gehört auch die rechtliche. Danach darf von Kriminalität erst gesprochen werden, wenn diese in einem rechtsstaatlichen Verfahren verbindlich festgestellt worden ist. Dazu vermag indessen die Polizeiliche Kriminalstatistik, die am häufigsten zur Kriminalitätsmessung herangezogen wird, nichts beizutragen. Ein Vergleich der Entwicklung der absoluten wie auch der relativen Zahlen in den Polizeistatistiken und in den Strafverfolgungsstatistiken läßt für die Justiz keine annähernde Dramatik des Anstiegs erkennen.14 Ein strikt rechtsstaatlicher Standpunkt wäre mithin geeignet, zu einer Dämpfung von Sorgen beizutragen. Doch demgegenüber würden die „Realisten" wohl einwenden, die anschwellende Kriminalität werde zunehmend durch

' S. im einzelnen P.-A. Albrecht / S. Lamnek, Jugendkriminalität im Zerrbild der Statistik, 1979, S. 34 f. 10 S. jüngst H.-J. Albrecht, Kriminalitätsumfang, Opferrisiken und Kriminalitätsfurcht in der Schweiz, in: K.-L. Kunz / R. Moser (Hrsg.): Innere Sicherheit und Lebensängste, 1997, S. 37 f (84). 11 Ζ. B. L K A von N R W - wie Anm. 3 - S. 86 f. 12 Vgl. M. Walter / A. Pitsela, Ausländerkriminalität in der statistischen (Re-)Konstruktion, KrimPäd 21 (1993), S. 6 f. 13 Zur Problematik s. M. Kubink, Verständnis und Bedeutung von Ausländerkriminalität, 1993. 14 Detailliert W. Heinz, Anstieg der Jugendkriminalität? DVJJ-Journal 7 (1996), Heft 4, S. 344 f.

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Verfahrenseinstellungen bewältigt, weshalb sich hinter konstanten Zahlen teilweise eine Art Erledigungs-Notlage verberge.15 Wird schließlich über die zunehmende Kinderkriminalität geklagt, so stehen dafür lediglich sehr selektive Polizeidaten zur Verfügung, die eine entsprechende Anzeigenentwicklung stützen. Von der rechtlichen Theorie her gibt es keine Kriminalität von Kindern unter 14 Jahren, weil auf ihre Verhaltensweisen die Definitionen des allgemeinen Strafrechts nicht angewendet werden sollen (§§ 19 StGB, 3 JGG). Die „Sorge um die Kinder" meint wohl überwiegend deren „Verdorbenheit" und Bereitschaft, im Jugendlichenalter weiterhin Delikte - vielleicht noch schwerere - zu begehen. Doch derartige Überlegungen sind sehr stark theorieabhängig. Die Vorstellung, die Kinder würden umso mehr zu weiteren Straftaten neigen, je früher sie auffielen, ist in dieser Form nicht mehr haltbar.' 6 Ein ganz anderes Problem bestünde allerdings im Falle einer Vorverlagerung des Kriminalitätspensums eines Jahrgangs auf immer jüngere Jahrgänge. 17 Dann nämlich lägen Akzelerationserscheinungen, hingegen keine Gefahrsteigerungen vor. Hinter Anstiegssorgen können sich also recht verschiedene theoretische Problemverständnisse verbergen. Sie reichen von der Annahme einer immer schlechter werdenden Menschheit über zunehmende Viktimisierungsrisiken bis hin zu Veränderungen des Aufwachsens und der Adoleszenz. III. Von der Art der Befürchtungen, die an die Annahme eines Kriminalitätsanstiegs geknüpft sind, ist die Bedeutung zu unterscheiden, die dem Anstieg beigemessen wird. Auch wenn man darin übereinstimmt, daß ein Anstieg vorliegt, besteht noch lange keine Ubereinkunft über die Gewichtung, den „sozialen Stellenwert" - und erst recht nicht über die „richtigen" kriminalpolitischen Folgerungen. Schneider weist zu Recht auf die lange Dauer des Anstiegs - bei uns und den anderen Industrieländern - hin.18 Es macht einen großen Unterschied, ob die Dinge in der Vergangenheit im Lot waren und von einem bestimmten Zeitpunkt an eskalieren, oder ob langfristige Prozesse vorliegen, die mit einer Reihe gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen einhergehen. Der Anstieg der 15 So C. Pfeiffer in seinem Gutachten zur Erledigung der Jugendkriminalität in burg: Jugenddelinquenz und jugendstrafrechtliche Praxis in Hamburg (zus. mit K. feld u. /. Delzer), K F N - Forschungsbericht Nr. 67, Hannover 1997; vgl. auch den.. die Jugendkriminalität? DVJJ-Journal 7 (1996), Heft 3, S. 2 1 5 f (218 f). 16 S. L. Pongratz / P. Jürgensen, Kinderdelinquenz und kriminelle Karriere, S. 136 f. 17 Vgl. H. Kaufmann, Steigt die Jugendkriminalität wirklich? 1965. " H. J. Schneider, Einführung in die Kriminologie, 3. Aufl. 1993, S. 61.

HamBrettSteigt 1990,

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Jugendkriminalität, der gegenwärtig vorrangig erörtert wird, hat eine lange Geschichte. Er verläuft auf die Dauer wellenförmig, Phasen eines stärkeren Anstiegs folgen wieder solche relativer Entspannung. Je nachdem, welche Zeitspanne man auswählt und an welchem Punkt man beginnt, ergeben sich - je kurzfristiger desto mehr - unterschiedliche Verläufe. So führen im Ergebnis unterschiedliche zeitliche Ausschnitte zu unterschiedlichen Eindrücken.19 Es gibt ebenso dramatische wie weniger dramatische Bilder. Der Hinweis auf diese Strukturen wird in Zeiten hitziger Debatten von den „Falken" oft als Verharmlosung bedrohlicher Phänomene bezeichnet. Doch erscheint eine derartige Disqualifizierung nicht gerechtfertigt, weil sie den Horizont, vor dem das Phänomen betrachtet wird, erweitert, aber nicht rosa-rot färbt. Im Gegenteil erwecken Darstellungen, die so tun, als liege nunmehr ein grundsätzlich neues eigenartiges Problem vor, einen unzutreffenden Eindruck. Die längere Geschichte wird vermutlich gerade deshalb abgeschnitten, um mit dem Hinweis auf eine „neue Qualität" einen Bedeutungszuwachs und eine größere Dringlichkeit zu erzeugen.20 Ein Kriminalitätsanstieg kann auf unterschiedliche Bedingungen zurückgeführt werden. Für gegenwärtig zunehmende Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik werden unterschiedliche Ursachen benannt. Aus theoretischer Sicht liegt es nahe, auf verschiede Formen sozialen Umbruchs zu verweisen, die die Wahrscheinlichkeit von Normbrüchen und auch von Strafanzeigen erhöhen. Wer aber in der praktischen Politik tätig ist, blickt oft weniger auf solche allgemeineren, punktuell kaum behebbaren Strukturmerkmale, sondern vorrangig auf das Sanktionsverhalten der Strafverfolgungseinrichtungen. Aus dieser Perspektive ist sodann zu hören, die strafrechtlichen Sanktionen seien nicht ausreichend, man müsse einen Wandel herbeiführen. Der Wandel soll hauptsächlich in einer Verschärfung der Strafen bestehen: Die Strafübel müßten vergrößert werden. Eine frühere, angeblich zu „liberale" Politik habe „versagt". Bei diesen oder ähnlichen Argumentationen 21 beruhen die dramatisierenden und zum „beherzten Eingreifen" drängenden Aspekte teils auf einer gedanklichen Beschränkung auf staatliche Strafreaktionen, teils auf übertriebenen Phantasien von der Wirksamkeit eben dieser strafrechtlichen Eingriffe. Das Strafrecht spielt zwar bei der sozia-

" Zusammenfassend G. Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, S. 577 f. Vgl. C. P f e i f f e r , wie Anm. 15. 21 Vgl. Anm. 7 sowie verschiedene neuere (Frühjahr/Sommer 1997) Gesetzesentwürfe und Positionspapiere zur Kriminalpolitik aus den Reihen der CSU, die auf die genannten Änderungen des J G G sowie insgesamt auf längere Freiheitsstrafen, Einschränkungen der Strafaussetzung und die Beschränkung von Vollzugslockerungen abzielen, s. insbes. den Gesetzesantrag des Freistaates Bayern BR-Drucks. 562/97. 20

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len Erfassung, Ächtung und Verfolgung von Straftaten eine wesentliche Rolle. Jedoch vermag es das Handeln der Menschen keineswegs allein zu determinieren. Ob weitere Delikte begangen werden, hängt von sehr vielen Umständen ab, von Freunden, von Tatgelegenheiten, von Risikoeinschätzungen, von Gewinnhoffnungen, von Prestigeerwägungen u. s. w. Der gesamte Einfluß der Justiz ist ein nur begrenzter. Die materiellen Lebensbedingungen, antizipierte Reaktionen der Lebensgefährtin, das spannende Gefühl bei der Verwirklichung von Verbotenem, das Kribbeln, die Verlockung des Augenblicks, der Tatrausch mit Gleichaltrigen - all das kann sehr mächtig sein und ein Bestrafungskalkül gänzlich in den Hintergrund drängen. Diese Einsicht sollte dazu führen, die Illusion aufzugeben, wir könnten durch Steigerungen der Strenge oder Härte die Kriminalitätsentwicklung in einer Weise steuern, daß die polizeilichen Daten fürderhin gleichblieben oder gar rückläugig würden. In Wahrheit besteht eine viel größere Abhängigkeit von makrosozialen Entwicklungen. Sie zu erkennen, senkt den strafrechtlichen Handlungsdruck und stärkt die Notwendigkeit, die sozialen Rahmenbedingungen günstig zu beeinflussen. Die Bedeutung, die einem Kriminalitätsanstieg beigemessen wird, hängt schließlich entscheidend von dem jeweiligen Risikobewußtsein und der mehr emotionalen Kriminalitätsfurcht ab. Unser Leben wird bekanntlich von einer Vielzahl von Gefahren bedroht. Kollektiven Gefährdungen durch Klimawechsel, Umweltkatastrophen, Epidemien u. a. m. stehen eher als individuelles Schicksal erlebte Risiken gegenüber wie Arbeitslosigkeit, Unfälle - und wie eben auch das Risiko einer Viktimisierung. Dieses Bündel möglicher Beschädigungen ist uns in unterschiedlicher Intensität bewußt. Die Notwendigkeiten alltäglichen Handelns begünstigen Verdrängungen, auch können wir kaum unser Augenmerk auf mehrere Gefahrenmomente gleichzeitig richten. Der Grad des Bewußtseins tritt durch eine unterschiedliche und sich wandelnde Wahrnehmungssensibilität hervor. Diese Wahrnehmungssensibilität wird von Zeitströmungen ebenso beeinflußt wie von aktuellen - regelmäßig negativen - Nachrichten. Zeitbedingte Steigerungen der Wahrnehmungssensibilität dürften beispielsweise gegenüber Erscheinungen des sexuellen Mißbrauchs von Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen sein.22 Aktuelle oder beinahe punktuelle Sensibilitätssteigerungen rufen Meldungen von Tankerunglücken oder von einzelnen spektakulären Verbrechen hervor.

22 S. M. Walter / A. Wolke, Zur Funktion des Strafrechts bei „akuten sozialen Problemen" - einige rechtssoziologische Überlegungen am Beispiel des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen, MschKrim 80 (1997), S. 93 f.

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Das Ausmaß der Empfänglichkeit für Risikobotschaften vermag die Risikobereitschaft oder die Risikotoleranz zu beeinflussen. Die Grenzen für das hinnehmbare, noch akzeptable Risiko liegen in einer Gesellschaft - und ferner in der Psyche eines einzelnen Menschen - ja keineswegs konstant und unabänderlich fest. Es gibt insoweit tolerantere und weniger duldsame historische Phasen. Außerdem lassen sich erhebliche sektorale Unterschiede feststellen: So ist zu Recht immer wieder darauf hingewiesen worden, daß in Deutschland die Bereitschaft, Tote und Verletzte im Straßenverkehr hinzunehmen, erstaunlich hoch liegt.23 Für eine gewisse Geschwindigkeitsfreiheit24 und wohl auch eine begrenzte Alkoholfreiheit sind wir offenbar bereit, große Opfer zu erbringen. Diese Toleranz ist mit sozialen und individuellen Bestrebungen gepaart, die betreffenden Gefahren an den Rand zu drängen, durch eine sehr zurückhaltende Berichterstattung in den Medien und seltene Darstellung der Opfer bereits die Risikowahrnehmung zu verringern oder ganz auszuschalten. Im Hinblick auf den Kriminalitätsanstieg ist indessen das genaue Gegenteil der Fall. Selbst äußerst geringe Risiken, wie etwa die Gefährdung der Allgemeinheit durch einen entwichenen Gefangenen, werden überaus stark betont. Öffentliche oder veröffentlichte Erörterungen von Kriminalitätsgefahren richten sich gegen bestehende Toleranzen. Der Strafvollzug soll, um beim genannten Beispiel zu bleiben, weniger wagen, langfristig „wegschließen" und dabei möglichst jegliche Mißbrauchsmöglichkeiten bei der Vollzugsgestaltung ausschließen.25 Gleichsam flankiert wird diese Risikobekämpfung durch erhebliche Emotionalisierungen, insbesondere offene oder mehr unterschwellige Angebote zur Empörung über „skandalöse Zustände". Die kriminologische Forschung steht derartigen Prozessen nicht beziehungs- oder teilnahmslos gegenüber. Sie hat die Kriminalitätsfurcht als ein neues Terrain entdeckt.26 Der Viktimologie als der Lehre vom Verbrechensopfer ist die Furchtforschung gefolgt, die nicht mehr nur die Schädigungen und die Geschädigten thematisiert, sondern an alle gewendet ist und fragt, wie (un-)sicher sie sich fühlen. Furchtmomente können sich von einer verstandesmäßigen Gefahrwahrnehmung und -Verarbeitung lösen und emotional verselbständigen.27

Zur vergleichsweise geringen Unfallfurcht s. G. Kaiser, wie Anm. 19, S. 902. Gemäß dem Slogan: „Freie Fahrt für freie Bürger". 25 Zur Problematik s. die Beiträge von H.-G. Mey / H.-D. Schwind sowie von G. Wagner in Festgabe für Karl Peter Rotthaus, wie Anm. 5,1995, S. 203 f; 216 f u. 183 f. 26 S. Anm. 1. 27 Vgl. K. Boen / P. Kurz, in: K. Boers / G. Gutsche / K. Sessar (Hrsg.): Sozialer Umbruch und Kriminalität in Deutschland, 1997, S. 188 f. 23 24

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Kriminalitätsberichte enthalten neben den Datenübermittlungen Botschaften, die die Stimmungslage(n) der Adressaten betreffen und beeinflussen. Das gilt für Berichte über Kriminalitätsanstiege erst recht. Die emotionalisierenden Momente brauchen zwar beim Adressaten den Sachbezug keineswegs aufzulösen, erweitern aber den Fächer der Eindrücke. Die rein intellektuelle Aufnahme von Sachbotschaften wird von Gestimmtheiten überlagert, die pauschal als „subjektiver Einschlag" benennbar sind. Die große Bedeutung, die den subjektiven Komponenten bei der Bildung kriminalitätsbezogener Meinungen innewohnt, ist bisher am deutlichsten von den Polizeibehörden erkannt worden. Im Rahmen allerorts entstehender kommunaler Präventionsaktivitäten wird auf eine „Gefühlspflege" besonderer Wert gelegt. Den Unsicherheitsgefühlen soll durch mehr Polizeipräsenz, vor allem eine erhöhte Streifentätigkeit, begegnet werden, und zwar unabhängig davon, ob die neuen Maßnahmen die Risikolage faktisch mindern oder nicht.28 Emotionale Furchtkomponenten bieten vermutlich mehr noch als Sachstrukturen Ansatzpunkte, um erfolgreich eine „neue" Kriminalpolitik zu fordern und dabei ein eigenes politisches Profil gegenüber Mitbewerbern zu gewinnen. Eine Mischung aus kriminalstatistischen Aufbereitungen, persönlichen Vorprägungen und wachgerufenen Emotionen bildet das Fahrwasser für kriminalpolitische Strömungen, die sich von ihrem Selbstverständnis her als „Antwort auf den Kriminalitätsanstieg" betrachten. IV. Fassen wir zusammen: Gegenstand kriminalpolitischer Erörterungen ist nicht „der" Kriminalitätsanstieg, vielmehr ein Konstrukt, das sowohl auf Seiten des Nachrichtensenders als auch auf Seiten des Nachrichtenempfängers geschaffen wird. Der Herstellungsprozeß beim Sender betrifft zunächst die jeweilige Datenauswahl und Datenaufbereitung, der - notwendigerweise - bestimmte theoretische Sichtweisen zugrunde liegen. Die Zahlen werden nicht isoliert veröffentlicht, ihnen sind Verständnisangebote und emotionale Botschaften beigegeben. Dementsprechend unterschiedlich können Aussagen zum Kriminalitätsanstieg ausfallen. In der Praxis dominieren die polizeilichen Angaben, die die größten Steigerungen und das größte Dramatisierungspo-

2! Zum Ansatz der „Community Policing" s. den gleichnamigen von D. Delling T. Feltes hrsg. Band, 1993.

/

Ü b e r subjektive Kriminalität

129

tential ausweisen. Präsentationen, die für einzelne Kriminalitätsbereiche, etwa bestimmte Gewaltdelikte, relativ kurze Phasen herausgreifen, versuchen zumeist, eine „neue Qualität" des Noch-nie-Dagewesenen zu begründen. 29 Daneben sind allgemeinere Hinweise oder auch nur Anspielungen auf den Kriminalitätsanstieg anzutreffen, die an verbreitete Vorverständnisse appellieren und implizit einen schon bestehenden Anstiegskonsens zugrunde legen. Derartige Darstellungen leiten zumeist Vorschläge für Sanktionsverschärfungen ein.30 Des weiteren trifft man auf Veröffentlichungen, die eine Verbindungslinie zwischen dem Kriminalitätsanstieg, der Kriminalitätsfurcht und der Einführung neuer Formen der Prävention herstellen.31 Wie auch immer: Der Kriminalitätsanstieg kommt sozusagen nie allein, sondern in Versionen, die in unterschiedlicher Weise dienstbar gemacht werden. Die Wirkungen für den Empfänger der Botschaften gehen nicht unmittelbar von den Zahlen aus. Diese allein bedingen noch keine Besorgniserregung. Vielmehr hängen die Wahrnehmung der Situation, die Einschätzung des sozialen Stellenwerts und die kriminalpolitische Verwertung - abgesehen von den mitgegebenen Interpretationsangeboten des Senders - von subjektiven Komponenten des Empfängers ab, insbesondere von persönlichen Dispositionen, Vorerfahrungen, Vorverständnissen und Ängsten.

V. Vor diesem Hintergrund möchte ich einige Befunde aus einer Befragung von Rechtsanwälten vorstellen, mithin einer Expertengruppe im weiteren Sinne, mit unterschiedlicher Nähe zur Problematik. Uber diese Erhebung, die im Auftrag des Bundesjustizministeriums und mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Anwaltsvereins von der Kriminologischen Forschungsstelle der Kölner Universität durchgeführt worden ist und gegenwärtig ausgewertet wird, ist schon berichtet worden.32 Doch zu diesem Zeitpunkt waren hauptsächlich nur Häufigkeitsauszählungen bezüglich einer kleineren Stichprobe möglich. Ergänzend dazu konnten wir nunmehr einige Berechnungen für die Gesamtheit der Befragten durchführen. Entsprechende Zusammenhänge sind im HinS. C. Pfeiffer, wie Anm. 15, S. 215 f. Vgl. Anm. 21. 31 So insbes. C. Pfeiffer, s. bereits: Rückblick auf den 23.Deutschen Jugendgerichtstag, in: DVJJ: Sozialer Wandel und Jugendkriminalität, 1997, S. 741 f (751 f); wohl noch deutlicher in dem Beitrag im DVJJ-Journal - wie Anm. 15, S. 227. 32 S. D. Delling (Hrsg.), Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland - Bestandsaufnahme und Perspektiven, 1997, S. 441 f; M.Walter, Kriminalität, Kriminalpolitik und TäterOpfer-Ausgleich i. StraFo 1998, S. 83 f. 29 30

130

Michael Walter

blick auf kriminalpolitische Beurteilungen, insbesondere hinsichtlich der Akzeptanz neuerer Reaktionsformen (Täter-Opfer-Ausgleich), relevant. Diese weitergehende Fragestellung kann - und soll - hier (noch) nicht aufgegriffen werden. Es geht vielmehr darum, in einem ersten empirischen Schritt zu ermitteln, in wieweit die Aufnahme externer Botschaften zur Kriminalitätsentwicklung von Bedingungen in der Person des Nachrichtenempfängers bestimmt wird, um auf diese Weise die Richtigkeit der vorherigen theoretischen Annahmen zur „subjektiven Kriminalität" zu überprüfen. Die folgenden Daten sind durch eine im Februar 1997 erfolgte schriftliche Befragung aller am Landgericht Köln zugelassenen Rechtsanwälte gewonnen worden. Von den insgesamt 3786 versendeten Fragebögen erhielten wir 1029 zurück (Rücklaufquote von 27,2 % ) . Die einschlägige Frage lautete: Wie schätzen Sie die Kriminalitätsentwicklung in den letzten fünf Jahren ein? Die Antworten folgen aus Tabelle 1. Tabelle 1: Einschätzung der Kriminalitätsentwicklung in den letzten 5 Jahren durch Kölner Rechtsanwälte

stark steigend

steigend

gleichbleibend

abnehmend

Wie kaum anders zu erwarten, wurde überwiegend von einem Anstieg der Delikte ausgegangen. Innerhalb dieses noch sehr breiten Rahmens sind indessen durchaus verschiedene Einschätzungen festzustellen. Im Bereich der personenbezogenen Variablen kann man generelle Haltungen, Einstellungen und Dispositionen von spezifischen Ansichten zur Kriminalität und zum Umgang mit Kriminalität unterscheiden. Als erstes haben wir einige allgemeine Merkmale zu den Angaben zur Kriminalitätsentwicklung in Beziehung gesetzt. Beachtlich erscheint hier insbesondere, daß die Selbsteinschätzung der Befragten, für wie konservativ sie sich halten (mittels einer Rating-Skala von „0" bis „6"), deutlich mit der Wahrnehmung des Kriminalitätsanstiegs korreliert, wie Tabelle 2 zeigt.

131

Über subjektive Kriminalität Tabelle 2: Einschätzung der Kriminalitätsentwicklung durch Rechtsanwälte in Abhängigkeit von persönlichen Merkmalen Platz

Frage

Signifikanz"

Stärke des Zusammenhangs: 0 - 1 0 0 %2)

Aussagerichtung

1

Für wie konservativ halten Sie sich selbst?

ρ = .00000

21 %

je konservativer, desto stärker steigend

2

Konfession: (römisch katholisch, evangelisch versus keine Konfession)

ρ < .001

12 %

römisch-katholisch und evangelisch, stärker steigend

3

Alter

ρ 11

Chi 2 nach Pearson. Berechnungen mittels des Korrelationskoeffizienten Pearson's R.

Es besteht ein hochsignifikanter und erheblicher Zusammenhang zwischen der Selbsteinschätzung als konservativ und der Wahrnehmung des Kriminalitätsanstiegs in dem Sinne, daß mit zunehmender Konservativität der Anstieg für stärker gehalten wird. Die Zugehörigkeit zu einer der großen christlichen Konfessionen und die Höhe des Alters weisen zwar jeweils mit der Selbsteinschätzung als konservativ einen klaren positiven Zusammenhang auf. Doch fällt die direkte Korrelation zwischen der Konfession oder dem Alter einerseits und der Kriminalitätseinschätzung andererseits wesentlich schwächer aus. Zur besseren Absicherung des Befundes bildeten wir Extremgruppen. Wie Tabelle 3 erkennen läßt, nimmt die Stärke des Zusammenhangs bei einer Konzentration auf Extremgruppen zu, insbesondere wird die Wahrnehmung des Kriminalitätsanstiegs vom Lebensalter beeinflußt. Die Bedeutung von Ansichten und Meinungen zur Kriminalität wird aus der folgenden Tabelle 4 ersichtlich.

132

Michael Walter

Tabelle 3: Einschätzung der Kriminalitätsentwicklung durch Rechtsanwälte: Angaben von Extremgruppen. Platz

Frage

Signifikanz

Stärke des Zusammenhangs:

Aussagerichtung

0-100%

(Zuwachs zur Tabelle 2) Für wie konservativ halten Sie sich selbst? (0, +1 versus +5, +6) 3 ) Alter (bis 30 Jahre versus über 61 Jahre) 11

ρ < .001

26 % (+5 % )

je konservativer, desto stärker steigend

ρ < .05

24 % (+13 %)

je älter, desto stärker steigend

Bei der Skala von 0 bis 6 wurden die Werte 0 und 1 und die Werte 5 und 6 zu Extremgruppen zusammengefaßt. Die übrigen Werte blieben bei dieser Rechnung unberücksichtigt.

Es ergeben sich hochsignifikante Zusammenhänge zwischen einer eher rigiden kriminalpolitischen Grundhaltung und der Wahrnehmung eines starken Kriminalitätsanstiegs. Wer mit der gegenwärtigen Kriminalpolitik nicht zufrieden ist, weil sie ihr oder ihm als zu nachgiebig erscheint, sieht die Kriminalität stärker ansteigen. Offenbar bestehen Wahrnehmungskoinzidenzen, bei denen Beobachtungen der Außenwelt mit bestimmten Sichtweisen und Meinungen zu größeren Gedankenkomplexen verschmelzen, ohne daß die objektive Realität und die persönliche Einstellung klar voneinander getrennt werden könnten. Vordergründig ließen sich manche der aufgeführten Statements - in gedanklicher U m kehrung - als Schlußfolgerung aus dem Erleben eines stärkeren Kriminalitätsanstiegs deuten. Doch bliebe bei einer derartigen Umkehr des Zusammenhangs unerfindlich, warum gerade die Vertreter einer „härteren Linie" eine andere Realität beobachtet haben sollten als diejenigen, die sich moderater geäußert haben. Eine Untergliederung der Anwälte nach der Befassung mit strafrechtlichen Fragen ergab, was hier aus Platzgründen nicht näher aufgeführt werden kann, zurückhaltendere Einschätzungen der mit dem Strafrecht vertrauten Anwälte, so daß jedenfalls die Wahrnehmung eines stärkeren Kriminalitätsanstiegs schwerlich auf einer genaueren Beobachtung beruht. Für einige Statements scheidet eine Deutung der betreffenden Aussage als Folge gestiegener Kriminalität auch inhaltlich aus. So kann die positive Beurteilung der Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft kaum als Konsequenz besonders ansteigender Kriminalität angesehen werden! Naheliegend ist vielmehr die Annahme eines subjektiven Settings, das einerseits über bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, andererseits über verschiedene Ansichten erfaßbar ist. Die Einzel-

133

Über subjektive Kriminalität

Tabelle 4: Einschätzung der Kriminalitätsentwicklung durch Rechtsanwälte in Abhängigkeit von kriminalpolitischen Meinungen Platz

Frage

Signifikanz

Stärke des Aussagerichtung Zusammenhangs: 0 -100 %

1

Der Kampf gegen das Verbrechen wird in Deutschland vielfach nicht energisch genug betrieben.

Ρ = .00000

41 %

je stärker zutreffend, desto stärker steigend

2

Viele Untersuchungshäftlinge kommen zu schnell wieder in Freiheit.

Ρ = .00000

33 %

je stärker zutreffend, desto stärker steigend

3

Die rechtlichen Vorschriften erlauben oft nicht die notwendige Inhaftierung des Täters.

Ρ = .00000

32 %

je stärker zutreffend, desto stärker steigend

4

Es liegt an den Ausländern selbst, wenn sie häufiger mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten.

Ρ = .00000

32 %

je stärker zutreffend, desto stärker steigend

5

Straftäter werden in Deutschland von den Gerichten im allgemeinen wie bestraft?

Ρ = .00000

31 %

je milder, desto stärker steigend

6

Heutzutage ist ein Werteverlust eingetreten.

Ρ = .00000

29 %

je stärker zutreffend, desto stärker steigend

7

Gibt es bestimmte Straftaten, die zu milde bestraft werden?

Ρ 4 uco.S \ 2

1u>

J3

"

S w"

•pi
Normal

> Anomie

1. Preconditions 2. Warning Period

Pre-disaster Stage I.

Predatory crimes, including embezzlement and fraud, violations of regulatory laws, and crimes of criminal negligence, contribute to the creation of a dissaster, or of disastrous consequences.

3. Imminence

Virtually no perstmaf ι or property-Crime. ι All^tirtie lows, except ι rpossibly for price-gouging. 1 1 1 _ 1 | Virtually j | no personal j | or property j ι crime. ι ι t

4. Impact 5. Survival Stage

Occurrence of Disaster II.

! Virtually no personal or! | property crime. Rarely aj ] dereliction of duty (e. g.j | abandonment of posts). \ ' Virtually no personal on ι property crime within ι ι victimized group; some ι »property crime among ι marginalized youths ancj outsiders. \

6. Recovery stage 7. Cleanup/ claim stage 8. Responsibility assessment/ scapegoating

Post-disaster and Claim Stage III.

Virtually no personal orjproperty crime within victirrtized group, outsiders "impact" [fraud and other] property crime; some insiders violate regulatoryjaws, curfew laws, price laws. 1 \ _ Property crirt^e increase^ significantly; \ | so does fraud crime [ (insurance, subsides, etc!.). \ | Return to "normal" (;rime rates, except for an inflated Vatie of "scapegoating" (negligVijce) criminality. \\

180

Gerhard Ο . W. Mueller and Freda Adler

significantly, as do fraud crimes committed by insiders and outsiders. Synnomic conditions no longer exist. Conflict competes with synnomie. (See Table 2.) We have here, then, a microscopic demonstration of the synnomie to anomie paradigm, at the end of which crime rates return to the same level from which the impending disaster had reduced them to synnomic lows. All this is premised on the assumption, evidenced by all but one of the events discussed herein, that the disaster strikes a community which is somewhere within the normal range of deviant behavior. As we have noted, no disaster can turn a society into synnomic conditions which is already in a stage of anomie or near-anomie, as was New York City in 1977. In fine,

there is a criminology of disasters.

Deutsche Zusammenfassung Die Verfasser führen den Begriff der Katastrophenkriminologie ein und meinen damit nicht so sehr die in der Katastrophe u. U. auch enthaltenen kriminellen Handlungen, sondern diejenigen kriminellen Verhaltensweisen, die aus Anlaß von Katastrophen begangen werden. Es werden acht Stufen zeitlich um die Katastrophe herumgelegt und voneinander unterschieden. Dies sind: -

Vorbedingungen Periode der Warnungen das unmittelbare Bevorstehen der Katastrophe die Katastrophe selbst die Uberlebensphase Erholungsphase Phase des Aufräumens und des Stellens von Forderungen Schuldzuweisung.

Während in den ersten sechs Phasen die Kriminalität weit unter dem normalen Durchschnitt, oft sogar gegen Null tendierend ist, beginnt sie in den beiden letzten Phasen wieder zu steigen und sich auf das Normalmaß einzupendeln. Die Verfasser versuchen dieses Phänomen mit dem Begriff der Synnomie zu erklären, den sie als Gegenbegriff zu dem Durkheimschen Terminus der Anomie verwenden. Synnomie ist demnach durch einen Zustand der Normkonformität des Zusammenhangs

The Criminology of Disasters

181

der Menschen in der Gesellschaft, der starken informellen Kontrolle sowie der Normintegration gekennzeichnet. In der Gefahrensituation vor und nach der Katastrophe finden sich die betroffenen Menschen, unabhängig von ihrem früheren Zustand, durch die gemeine Not in einen Zustand der Synnomie gedrängt, der bei Normalisierung wieder die herkömmliche Qualität annimmt, und damit auch anomische Züge tragen kann. Die Verfasser deuten an, daß das Konzept der Synnomie einen theoretischen Rahmen für fast alle soziologischen Kriminalitätstheorien zu geben in der Lage ist.

The Police and the Public W E S L E Y G . SKOGAN

Viewed from across the Atlantic Ocean, one of Hans Joachim Schneider's most significant contributions has been his encouragement and support for survey-based studies of victimization and the role of the public in criminal justice matters. His 1982 book The Victim in International Perspective included a major section on each of these topics, and featured chapters on community involvement in crime prevention, fear of crime, the impact of crime on the general public, and the role of the victim in the criminal justice system. This report from an International Symposium in Muenster helped expand the scope of criminological research by highlighting the importance of the attitudes and experiences of ordinary citizens. My own interest in these topics has evolved over time, shifting from victimization research to community crime prevention, and then to evaluations of the criminal justice system. For the last decade I have focused on the agency in that system that plays a central role in linking both victims and the general public to the state, the police. Police, more than any other public service agency, must have the support of the community if they hope to perform their roles as service providers and crime fighters effectively. Police work is mostly reactive; the bulk of their work is derived from citizen initiated calls for service or assistance. In a landmark study, Black and Reiss found that over three-quarters of police activity in three US cities was initiated by calls from citizens.1 Since there are not enough police to patrol every street corner, they must rely on citizens to report crimes and emergencies, and to provide them with information helpful to their investigations. I have suggested that two of the most important roles for the public in combating crime are reporting their own experiences as victims to the police and cooperating as witnesses when they have seen a crime being committed.2 With-

1 Donald J. Black and Albert J. Reiss, Jr., Patterns of Behavior in Police and Citizen Transactions. Studies in Crime and Law Enforcement in Major Metropolitan Areas, Field Surveys III, submitted to The President's Commission on Law Enforcement and the Administration of Justice. Washington, DC: US Government Printing Office, 1967. 2 Wesley G. Skogan, The Police and the Public in England and Wales. Home Office Research Series No. 117. London: Her Majesty's Stationary Office, 1990.

184

Wesley G. Skogan

out the support of citizens and their willingness to come forward with information, the police would be incapable of doing their jobs on a day to day basis. And the same is true from the point of view of the public, victims and non-victims alike. The police are the primary representative of the criminal justice system. Surveys in the U S and Britain indicate that between 50 and 65 percent of the adult public comes in contact with police over the course of a year 3 . Many fewer have any contact with prosecutors, courts or victim services. For example, Maguire estimates that only about one percent of victims in the U K come into contact with victim support schemes. 4 The public is also interested in the work of the police. Many believe police work is important and that it can make a difference in their lives. Furthermore, they are inundated with coverage of police issues in the mass media. While the impact of this coverage on citizen's attitudes toward the police is not yet known, it probably helps place crime-fighting and the police high on the public agenda. Opinion surveys reveal that a majority of people are satisfied with the job that the police are doing. In these surveys, support for the police is fairly high, and the police rank higher in public confidence than legislatures, judges, lawyers and many other occupational groups. However, research on the effects of contact with the police on public attitudes has not been optimistic. Research suggests that, on balance, contacts have negative consequences. They are somewhat less negative for contacts that are voluntary and initiated by the public, including calling the police for information or to report an accident. They are worst for involuntary contacts, ones that are initiated by the police when they stop people while they are driving or on foot. Victims who contact the police fall somewhere between these two poles, but are on the unhappy side. With some exceptions, the more sustained contact people later have with the institutions of justice and security, the more unhappy they are about it. A number of studies in the United States and Great Britain have looked into this, and they document a long list of factors that contribute to public satisfaction or dissatisfaction with the police. This chapter examines the public's assessments of the police, and how they are formed. It examines the impact of victimization, actual experiences with

Wesley G. Skogan, Contacts Between Police and the Public: A British Crime Survey Report. H o m e O f f i c e Research Series N o . 134. London: Her Majesty's Stationary Office, 1994. 4 Mike Maguire, " T h e Needs and Rights of Victims of C r i m e " . In: M. T o n r y (Ed.), Crime and Justice: A Review of Research, Vol. 14. Chicago: University of Chicago Press, 1990, pp. 363-433. 3

The Police and the Public

185

the police, and factors such as race, class, and gender Each of these has an important effect on how people evaluate police performance and activities. Together, they can provide us with a better understanding of the determinants of the relationship between citizens and the state. Experience with the Police

There are many sources of citizens's attitudes and opinions toward government and police. One of the most important may be the actual experiences that they have with the police over the telephone or personally. Scaglion and Condon examined the importance of experience as a determinant of attitudes toward the police. They found that how people perceive they were treated by the police during an encounter was more significant than socioeconomic variables in determining attitudes toward the police.5 Jacob found that differences in encounters with the police account for a large portion of the disparity in racial differences in attitudes toward the police.6 Winfree and Griffiths partitioned the variance in ratings of police performance and found that most of the explained variation in attitudes toward the police could be attributed to citizen's direct experiences with the police.7 Of course, people's predispositions toward police - the attitudes that they hold before-hand - are also important determinants of how they interpret specific encounters. In an important study, Brandl et. al. examined the relationship between "global" attitudes toward police (indicators of how people generally thought about them) and "specific" attitudes (assessments of the quality of recent encounters they actually had had with police officers). They found that people's general views of police were surprisingly resistant to any influence by their recent experiences, even when those were negative. They conclude that "stereotyping and selective perception" play an important role in how the public evaluates police performance, and note that this may reduce the effectiveness of programs intended to increase people's support for the police.8

5 Robert Scaglion and R. G. Condon, "Determinants of Attitudes Toward City Police", Criminology, Vol. 17, 1980, pp. 485^94. 6 Jacob, Herbert, "Black and White Perceptions of Justice in the City". Law and Society Review, Vol. 6, 1971, pp. 69-90; Herbert Jacob, "Contact With Government Agencies: A Preliminary Analysis of the Distribution of Government Services". Midwest Journal of Political Science, Vol. 16, 1971, pp. 123-146. 7 Thomas L. Winfree and Curt T. Griffiths, "Adolescent Attitudes Toward the Police". In: T. Ferdinand (Ed.), Juvenile Delinquency: Little Brother Grows Up. Newbury Park, CA: Sage Publications, 1971, pp. 1119-1124. ' Steven Brandl, James Frank, Robert Worden and Timothy Bynum, "Global and Specific Attitudes Toward the Police". Justice Quarterly, Vol. 11, 1994, pp. 119-134.

186

Wesley G. Skogan

Past research has shown that direct experience with the police is generally related to lower levels of satisfaction with police performance and more negative assessments of the quality of service received, and that this is linked in part to the nature of the contacts. Contacts between the police and citizens can occur two ways. They can be initiated by the citizens, as calls for protection, service or assistance; or they can be initiated by the police. Decker noted that these are voluntary and involuntary contacts, and reports that voluntary contacts, those initiated by citizens, are more positive in substance than involuntary, police initiated contacts. He reasoned that police play a supportive role in citizen initiated contacts, while police initiated contacts are likely to be of a more suspicious and inquisitorial nature.9 Police initiate contacts with citizens for a variety of reasons. Two important ways that the police initiate contact with the public are by stopping individuals on the street while out walking and pulling them over while driving. The numbers involved can be quite large: in Chicago, my own research indicates that about 23 percent of residents 18 years of age and older are stopped by police every year while they are driving, and 8 percent are stopped while on foot.10 These encounters are imposed on the public and imply some degree of suspicion on the part of police. Police initiated stops can lead to potentially violent confrontations and therefore, police must be handle them in a professional manner. Past studies have noted that police are not likely to randomly stop citizens: young males, the poor and racial minorities are by far the most likely to be stopped by police. In Britain, I also found that young adults, single persons, males, Afro-Caribbeans, the unemployed and upper-income residents were more likely to be stopped by the police. The relationship between upper income status and being stopped was due to the higher level of automobile ownership among this group". Citizens contact the police for a variety of reasons. They call or visit police stations to report crimes, emergencies, suspicious persons, odd noises and events. They also contact the police in order to receive or give information about community concerns or other non-crime emergencies. Many people see the police as a vital community resource, one whom they can contact to discuss community problems. Past studies have shown that a large majority of citizen initiated contacts with the

' Scott Decker, "Citizen Attitudes Toward the Police: A Review of Past Findings and Suggestions for Future Policy". Journal of Police Science and Administration, Vol. 9,1981, pp. 80-87. 10 Wesley G. Skogan et. al., Community Policing in Chicago: Year Four. Chicago: Illinois Criminal Justice Information Authority, 1997. 11 See No. 2 above.

The Police and the Public

187

police are made by telephone and concern largely non-crime and nonemergency problems. Personal familiarity with an officer is likely to have positive consequences. People may chat with an officer while on patrol, eating lunch, or off duty. They can also hear an officers name from a friend or by attending a community meeting. Regardless of how this familiarity develops, it can help to contribute to greater confidence in the police and more positive assessments of their relations with the community. In a study based on the 1988 British Crime Survey, I found that 56 percent of respondents had initiated at least one contact with the police during the previous year. They were three times as likely to have initiated contacts with the police then be involved in a police initiated stops.12 While studies in the United States are less conclusive, results from national surveys indicate that about the same proportion of Americans come into contact with the police; in Chicago the figure is 52 percent 13 . In Britain, higher income, occupational and educational groups are more likely to contact the police, but persons over 60, females and Asians are less likely to engage in any form of contact with the police. Whites and older persons are more likely to contact the police about disturbances. Victimization is strongly related with contact of the police. Over 70 percent of crime victims reported contacting the police compared to 47 percent of non-victims. Police seem to be judged by how much effort they apparently put into an encounter, by questioning witnesses and gathering evidence. One consistent finding of research is that victims are less "outcome" oriented than they are "process" oriented; that is, they are less concerned about someone being caught or (in many instances) getting their stolen property back than they are in how promptly and responsibly they are treated by the authorities. They are judged more by what physicians would call their "bedside manner." Factors such has how willing they are to listen to people's stories and show concern for their plight are very important, as are their politeness, helpfulness, and fairness. Information sharing is also important: police willingness to give advice and to notify victims of progress in their case have a great effect on victim satisfaction. In my Chicago study, persons who contacted the police to get or give information were more positive in their assessments of the police than those who contacted the police to report an emergency. Contacting the police to report a crime or to report a suspicious person, event or noise were related to the most negative attitudes toward the police.

12 13

Ibid. See No. 10 above.

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Wesley G. Skogan

Victimization Among the members of the community most likely to initiate contact with the police are crime victims. They are prime consumers of police services, and should be valued participants in the criminal justice process. Police rely on them to report criminal incidents and serve as witnesses in court proceedings. M y examination of the rates at which victims and non-victims initiate contact with police in England and Wales found that 70 percent of victims and 47 percent of non-victims had contact with the police. 14 While there have been contradictory findings on the relationship between victimization and citizen's attitudes toward the police, we would expect victims of crime to have less positive images of police. Studies find that victims experience an increase in fear after their experience 15 . They are also likely to feel frustrated following encounters with police. Parks found that victims who were satisfied with the treatment that they received from the police were more likely to hold attitudes toward the police similar to those held by noncrime victims. Otherwise, victims were generally more negative about police performance. 16 Many victims report feeling that they are not taken seriously by the police and complain about the lack of knowledge and support that they receive from police. Research on citizen-initiated contacts with police have found that of all citizen contacts, those who contact the police because they have been victimized are less satisfied than others as a result 17 . The relationship between past victimization and attitudes toward the police is to some extent dependent upon the quality of treatment that victims receive from police 18 . Studies of victim attitudes that use survey data can only indirectly test this assertion because there is no real w a y to link a particular victimization with some specific police activity or follow-up contact. Smith and Hawkins found that perceptions of possible

See No. 2 above. Wesley G. Skogan, "Some Unexpected Effects of a Police Service for Victims". Crime and Delinquency, Vol. 33, 1987, pp. 490-501. 16 Roger Parks, "Police Response: Effects on Citizen Attitudes and Perceptions". In: W. Skogan (Ed.), Sample Surveys of the Victims of Crime. Cambridge, MA: Ballinger, 1976, pp. 89-104. 17 David J. Smith, Police and People in London I: A Survey of Londoners. London: Policy Studies Institute,1983; Darlene Walker, "Contact and Support: An Empirical Assessment of Public Attitudes Toward the Police and the Courts". North Carolina Law Review, Vol. 51, 1972, pp. 43-79; David Bordua and Larry L. T i f f t , "Citizen Interviews, Organizational Feedback, and Police-Community Relations Decisions". Law and Society Review, Vol. 6,1971, pp. 155-182. I! Wesley G. Skogan, "The Impact of Police on Victims". In: E. Viano (Ed.), Crime and Its Victims. Washington, DC: Hemisphere Publishing Co, 1989, pp. 71-78. 14

15

The Police and the Public

189

victimization did not affect attitudes toward the police, but those who had actually been victims of violent crimes were more negative.19 Southgate and Ekblom found that British citizens who had been victims of crimes were less inclined than non-victims to indicate that the police were generally helpful or pleasant.20 Crime victims in the United States and Great Britain identify the same reasons for their dissatisfaction with police. They cite lack of communication between the police and victims, in particular, victim frustration over the lack of feedback; and feelings that the police provided inadequate protection as reasons for their more negative attitudes. Another important reason for negative views of police among victims is that they are particularly likely to have run across them as offenders as well. In a study based on the British Crime Survey, Maxfield found that more than half of both personal and property crime victims had also been stopped by police for motoring or other offenses within the past year.21 Criminologists have long been aware of the high overlap between victimization and offending; in fact, Singer concludes from a review of the literature that being a violent crime victim is the best predictor of offending.22 This and this affects the position of a large number of victims in relation to the police. Fear of Crime Research on the relationship between fear of crime and attitudes toward the police has mixed findings. Correlational studies in the United States have found that police presence on the streets is associated with feelings of safety. In a quasi-experimental study of foot patrol in Newark, New Jersey, Pate et. al. found that an increase in the number of foot patrols resulted in residents feeling less fearful.23 Trojanowicz24 and " Paul E. Smith and Richard O. Hawkins, "Victimization, Types of Citizen-Police Contacts, and Attitudes Toward the Police". Law and Society Review, Vol. 8, 1973, pp. 135-152. 20 Peter Southgate and Paul Ekblom, Contacts Between Police and Public. Home Office Research Study No. 77. London: Her Majesty's Stationary Office, 1984. 21 Michael J. Maxfield, "The London Metropolitan Police and Their Clients: Victim and Suspect Attitudes". Journal of Research in Crime and Delinquency, Vol. 25, 1988, pp. 188-206. 22 Simon Singer, "Homogeneous Victim-Offender Populations: A Review and Some Research Implications". Journal of Criminal Law and Criminology, Vol. 72, 1981, pp. 779-788. 23 Antony M. Pate, Mary Ann Wycoff, Wesley G. Skogan and Lawrence Sherman, Reducing Fear of Crime in Houston and Newark: A Summary Report. Washington, DC: National Institute of Justice and The Police Foundation, 1986. 24 Robert C. Trojanowicz, "An Evaluation of a Neighborhood Foot Patrol Program". Journal of Police Science and Administration, Vol. 11, 1983, pp. 410^19.

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Bennett25 drew the same conclusion in their studies of police and levels of fear. Box, Hale and Andrews found that fear of crime was related to public confidence in the police in England and Wales, even when the effects of other variables were controlled.26 Tabulation of individual-level data in the United States also suggests that a relationship between the two may exist. Baker et. al. found that residents who are less fearful also have a higher level of confidence in the police.27 Police visibility can also help to increase citizens' levels of satisfaction with their communities and the police. Recent sightings of the police give citizens the impression that the police are routinely engaged in their protection and crime prevention functions. Like contacts with police, the number of people involved are large: in Chicago, over 80 percent of survey respondents recall seeing the police within the last week. Most important, the results of the Kansas City Preventive Patrol Experiment have been widely interpreted as evidence that "policing doesn't make any difference" with regard to fear of crime or attitudes toward police. This conclusion came from an experiment in which police were selectively withdrawn from some experimental areas and increased in others, to gauge the effects of this change on crime and fear. The researchers found that residents did not notice these changes in levels of policing, and that their fear and attitudes did not change.28 However, a mounting body of evidence points in another direction. In a recent book, I report an analysis of surveys that were conducted at two points in time, and examine the impact of the visibility of the police and contacts with them during the period between the interviews. I found that residents of experimental areas in Chicago clearly noticed increased levels of community-oriented policing. The more visible the police were, the more satisfied they were with the quality of police service. Visibility increased their satisfaction with how the police dealt with crime and neighborhood concerns, and reduced their fear of crime. The experimental program also increased their satisfaction with police, and had a positive impact on a broad range of crime and disorder problems.29

25 Trevor Bennett, Contact Patrols in Birmingham and London: An Evaluation of a Fear Reducing Strategy. Cambridge: Institute of Criminology, 1989. 26 Steven Box, Chris Hale and Glen Andrews, "Explaining Fear of Crime". British Journal of Criminology, Vol. 28, 1988, pp. 340-356. 27 Mary Baker, Barbara Nienstedt, Ronald Everett and Richard McCleary, "The Impact of a Crime Wave: Perceptions, Fear and Confidence in the Police". Law and Society Review, Vol. 17, 1983, pp. 319-337. 28 George L. Meiling, et. al., The Kansas City Preventive Patrol Experiment: Technical Report. Washington, DC: The Police Foundation, 1974. 29 Wesley G. Skogan and Susan M. Hartnett, Community Policing, Chicago Style. New York: Oxford University Press, 1997.

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Personal Factors Past research has identified several personal factors that are related to attitudes toward police. The most widely studied are race, age, income and gender. While a majority of Americans maintain satisfactory images of the police, African-Americans are generally less satisfied than are whites, and they are more likely to express negative attitudes regarding police conduct, effectiveness and courtesy. Black Americans are two to three times as likely to report that the police rough people up, are disrespectful, searching them without good reason, and respond to incidents more slowly30. In America, the attitudes of other racial minorities have not been studied as extensively as those of African-Americans. This is mostly due to the small number of respondents in these groups that appear in national or regional sample surveys. Bayley and Mendelsohn studied the relationships between the police and minority groups in Denver, in a study that included large samples of African-American and Hispanic respondents. They found that the attitudes of Hispanics toward the police most closely resemble the attitudes held by blacks. Both minority groups were overwhelmingly more likely than whites to complain about police harassment. Hispanics were also just as likely as blacks to believe that the treatment they receive from police is definitely prejudiced and unfriendly.31 The attitudes of non-whites in Britain parallel attitudes of non-whites in the United States. In England and Wales, 44 percent of whites thought the police were doing a good job, only 27 percent of Afro-Caribbeans and 36 percent of Asians expressed such a sentiment. In Britain, as in the US, non-whites are more likely to indicate that they were stopped by the police, and when they initiated the contacts with the police, they were more likely to have a negative evaluation of these contacts.32 The most frequently cited complaint waged against the police by minorities is their failure to provide adequate services and protection in neighborhoods that are predominantly non-white. Apple and O'Brien found that as the percentage of black persons residing in a neighborhood

50 President's Commission on Law Enforcement and the Administration of Justice, The Challenge of Crime in a Free Society. Washington, DC: US Government Printing Office, 1967; Angus Campbell and Howard Schuman, "Racial Attitudes in Fifteen American Cities." Supplemental Studies for The National Advisory Commission on Civil Disorders. Washington, DC: US Government Printing Office, 1968, pp. 1-67. 31 David H. Bayley and Harold Mendelsohn, Minorities and the Police. New York: The Free Press, 1968. 32 See No. 2 above.

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increases, so does the level of negative attitudes toward the police.33 In a study of race and attitudes toward police, I plotted data for 35 neighborhoods in seven different cities, and found that residents of non-white neighborhoods expressed much more negative views of police than residents of predominantly white neighborhoods. 34 Recent studies of attitudes toward police tend to confirm these findings and have led many scholars to conclude that, by far, race is the most important individual level social correlate of attitudes toward police. One of the few exceptions is a study in Detroit, which found that African-Americans were more positive about the police than were white residents of that city. The authors speculate that this is due to the long political domination of Detroit - and its police department - by the city's large African-American population. They note, "In Detroit, the people who perform the police function are not alien to African-Americans; instead they represent an indigeneous force." 35 This suggests that the political climate and composition of the police force may exercise an independent influence on citizen attitudes toward police, one that interacts with their race to produce different outcomes in different contexts. Several studies have noted the importance of age in determining attitudes toward the police. Generally, they have found that as age increases, attitudes toward the police become more positive. It is likely that the attitudes of young adults are more negative because they are most likely to be involved in contacts with the police that are adversarial in nature. This age group is not only responsible for a disproportionate share of the crimes committed each year, they are also more likely to be the targets of police-initiated encounters. Furthermore, even though persons in this age group are among the most frequent consumers of police services, they are less likely to report having a compensatory encounter with police. There is only a limited amount of research on the effects of socioeconomic status on attitudes toward the police. Many presume that lower income and less educated people rely heavily on police services, but surveys often find that those further up on the socio-economic scale

33 Nancy Apple and David J. O'Brien, "Neighborhood Racial Composition and Residents' Evaluation of Police Performance". Journal of Police Science and Administration, Vol. 11,1983, pp. 76-84. 54 Wesley G. Skogan, "Problem Solving Policing and Racial Conflict in the United States". In: K. Miyazawa and S. Miyazawa (Eds.), Crime Prevention in the Urban Community. Deventer and Boston: Kluwer, 1995, pp. 75-86. 35 James Frank, Steven Brandl, Francis Gullen and Amy Stichman, "Reassessing the Impact of Race on Citizen's Attitudes Toward the Police". Justice Quarterly, Vol. 13, 1996, pp.332.

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contact the police more often than those at the bottom.36 In the 1992 British Crime Survey, 50 percent of high income respondents had contacted the police about some matter during the past year, but only 31 percent of those in low income groupings. This difference persisted even when many other factors were taken into account statistically. 37 Researchers have found that high-status occupationals, more formal education and higher incomes are significantly related to positive images of the police. These findings are not surprising, given the fact that many police officers and their families reside in predominantly middle-income neighborhoods. The police identify more closely with middle and upper-class citizens because they are the ones from whom police seek positive evaluations and support. Researchers have cautioned that social status is strongly correlated with other factors that are important in determining an individuals attitudes toward the police, including race. While low status groups are less likely to contact the police and more likely to express disapproval of police actions, they are also more prone to have had negative encounters with the police38. Jacob 39 and Schuman and Gruenberg40 also found that social class is strongly associated with neighborhood culture, and this contextual variable may be as important as individual level measures of social and economic status in determining attitudes toward police. Studies of the effects of gender on attitudes toward the police have found little relationship between sex and attitudes about police Generally, however, men express more negative opinions of the police then do women. This may be due to the fact that males have more contacts with the police, both as victims and perpetrators of crimes. Southgate and Ekblom found that, in Britain, an overwhelming majority of these contacts are adversarial.41 Research in the United States supports these findings, and suggests that most of the disparity in attitudes toward the police can be attributed to differences in the experiences that people have with the police. In turn, these differences in experience are dominated by race and gender.

See No. 20 above. See No. 3 above. 38 See Walker, "Contact and S u p p o r t N o . 17 above. 35 See Jacob, "Black and White Perceptions ...", No. 6 above. 40 See Howard Schuman and Barry Gruenberg, "Dissatisfaction with City Services: Is Race an Important Factor?" In: H. Hahn (Ed.), People and Politics in Urban Society"". Beverly Hills, CA: Sage Publications, 1972, pp. 369-392. 41 See No. 20 above. 56

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Conclusion

Surveys in the United States and Great Britain find widespread support for the police. Even in surveys of cities, a majority typically express positive attitudes regarding the police. However, these opinions are influenced by a variety of factors. In general, people who come into contact with the police are less satisfied than those who do not. In part this is due to the nature of the contact, but Smith and Hawkins found that while non-confrontational contacts resulted in fewer consequences than adversarial ones, any form of contact with the police resulted in attitudinal consequences that were quite negative.42 Victims are among those who are unhappy with the quality of service that they receive, principally because they do not think that police pay adequate attention to their needs and fears. Race and class factors are also important, with views of policing divided among the haves and have-nots of society. In a study published in 1996, I examined the impact of most of the factors reviewed here on attitudes toward the police in Chicago. A survey of 2,573 residents included measures of contact with police (both police and citizen initiated), victimization by property and personal crime, and social and economic factors. Multivariate statistics were used to examine their independent effects on a ten-question index measuring assessments of the quality of police service in the respondents' immediate neighborhoods. Even when considered jointly, the effects of contact with police, victimization, and race remained significant. This was true even with when the influence of a number of other important demographic factors were accounted for, including home ownership, age, income, education and marital status. Statistically, race was the most important determinant of attitudes, and both African-Americans and Hispanics were disaffected. The impacts of police and citizen-initiated contacts with the police were about equal, and both were negative. Property crime victimization had more effect that violent crime in respondent's views of the police, but both were significant and negative.43 Race is the most salient division in attitudes toward the police not only empirically, but politically. Even after the effects of neighborhood problems, past experiences with the police and victimization have been controlled statistically, African-Americans and Britain's Afro-Caribbeans continue to hold negative views of the police. Blacks (and in the United States, Hispanics) perceive deep inequities in the way the police 42 Paul E. Smith and Richard O. Hawkins, "Victimization, Types of Citizen-Police Contacts, and Attitudes Toward the Police". Law and Society Review, Vol. 8, 1973, pp. 135-152. " Wesley G. Skogan, "Partners for Prevention? Some Obstacles to Police-Community Cooperation". In: T. Bennett (Ed.), Preventing Crime and Disorder. Cambridge Cropwood Series 1996. Cambridge: Institute of Criminology, 1996, pp. 225-252.

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distribute services. In part this is because of factors that seem to affect everyone in those countries, including victimization, contact with the police, and perceptions of crime. Blacks are among those most likely to be swept up in police initiated contacts. We have seen that these experiences result in more negative attitudes toward the police. They are also much more likely to be the victims of crime, another factor that seems to erode confidence in the police. They are also the most likely to live in decaying and disorderly neighborhoods and be fearful of crime. In both the United States and Britain, new initiatives have been taken to deal with public dissatisfaction with the quality of police service, and with how police relate to crime victims. This is part of a new "customer orientation" among public agencies in both countries. In Britain, police have opened themselves to public inspection as never before. Her Majesty's Inspectorate of Constabulary proclaimed a list of workload and performance indicators that it collects and publishes. The Audit Commission (which holds sway over many different public sector organizations) developed performance guidelines of its own for the police, and the results are published yearly for every police force. Many police forces in Britain publish their performance ratings on the World Wide Web. In 1990, the Home Office announced a Victims's Charter that describes how victims can expect to be treated by the police, and what kinds of service they are entitled to receive from the criminal justice system. It encourages victims to complain if they do not believe they have received the standard of service they are entitled to'*4. In the United States, this response has been in the form of adopting community policing strategies that promise to restore the confidence of the public in their police. These programs typically seek to involve the public in setting police priorities, adopting a prevention approach to crime rather than responding to it after it occurs, and giving the police responsibility for solving a broader range of community problems. Evaluations of how well these programs actually work find that (a) they often work well if they are implemented well, and (b) they are very hard to implement. In part the implementation problem is linked to resistance by police officers, but it is also surprisingly difficult to get the public involved as well45. Especially in poor and high-crime areas, dissatisfaction with police and a legacy of both abuse and neglect by the criminal justice system makes it difficult to convince residents that their new community orientation actually reflects a change in police practices. 44 Wesley G. Skogan, "The Police and Public Opinion in Britain", American Behavioral Scientist, Vol. 39, 1996, pp. 421^32. 45 Wesley G. Skogan, "The Impact of Community Policing on Neighborhood Residents: A Cross-Site Analysis". In: D. Rosenbaum (Ed.), The Challenge of Community Policing: Testing the Hypotheses. Newbury Park, CA: Sage Publications, 1994, pp. 167-181.

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Deutsche Zusammenfassung Die Polizei ist mehr als jeder andere öffentliche Dienst auf die Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen, wenn sie ihre Aufgabe wirksam erfüllen will. Befragungen in den USA und in Großbritannien zeigen, daß die Polizei die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung besitzt. Die meiste Polizeiarbeit ist reaktiv; sie wird vom Bürger eingeleitet. In den USA und Großbritannien haben zwischen 50 Prozent und 65 Prozent der Erwachsenen während eines Jahres Kontakt mit der Polizei. Nach Meinungsbefragungen ist die Bevölkerungsmehrheit mit der Polizeiarbeit zufrieden. Polizeikontakte, insbesondere unfreiwillige Kontakte, haben freilich auch negative Konsequenzen, obgleich die Bewertung der Polizeiarbeit zum größten Teil auf Stereotypen und selektiven Wahrnehmungen beruht. In Chikago werden 23 Prozent der Bewohner, die 18 Jahre und älter sind, von der Polizei während eines Jahres angehalten, während sie Auto fahren; 8 Prozent der Fußgänger werden polizeilich kontrolliert. Ein beständiges Forschungsergebnis besteht darin, daß Verbrechensopfer die Polizeiarbeit weniger am Ergebnis der Kontakte als am Kontaktprozeß messen. Es kommt nicht so sehr darauf an, ob jemand festgenommen wird oder ob das Opfer sein gestohlenes Eigentum zurückerhält. Entscheidend ist, ob die Autoritäten den Bürger pünktlich und verantwortlich behandeln. Wichtig sind Höflichkeit, Hilfsbereitschaft und Fairness der Polizei. Die Bereitschaft der Polizei, Rat zu erteilen und das Opfer über den Fortgang seines Falles zu unterrichten, hat große Bedeutung für die Zufriedenheit des Opfers. Verbrechensopfer in den USA und Großbritannien haben indessen häufig das Gefühl, daß die Polizei ihren Bedürfnissen und Befürchtungen keine angemessene Aufmerksamkeit entgegenbringt. Sie fühlen sich nicht ernstgenommen und beschweren sich häufig über einen Mangel an Kommunikation. PolizeiSichtbarkeit, ihre Präsenz auf den Straßen, ist mit dem Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und mit ihrer Polizeizufriedenheit eng verbunden. Rassische Minderheiten sind in den USA und Großbritannien mit der Polizeiarbeit weniger zufrieden. Frauen bringen der Polizei größeres Vertrauen entgegen als Männer. Der Respekt vor der Polizei wächst mit dem höheren Alter, mit der besseren Bildung und dem höheren Einkommen. Durch eine „Kundenorientierung" versucht man in den USA und Großbritannien die Qualität der Polizeiarbeit zu verbessern. Hierbei spielt ein Vorbeugungsansatz, speziell die gemeinschaftsorientierte Polizeiarbeit, eine hervorragende Rolle, um das teilweise verlorengegangene Vertrauen in die Polizei wiederherzustellen.

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I. Hypothesis Police criminality constitutes a question mark for criminology, over which very little has been theorized. Based on Argentina's data, valid for other Latinamerican countries, it is possible to sustain the following "hypothesis about the institutional structures of police forces": a) they are functional to political and penal systems; b) they deteriorate preventive efficiency; c) they condition police criminality; d) they violate human rights: they are discriminatory, authoritarian, and deteriorating.

II. Political functionality Argentina's population is concentrated in Buenos Aires City and in the province of Buenos Aires. The total population of both is nearly half the population of the whole country. The city and neighbouring municipiums constitute an urban conglomerate known as "Greater Buenos Aires", where the greatest concentration of inhabitants is found. The police role in Buenos Aires City is performed by the Federal Police, whereas in the rest of Greater Buenos Aires (like in the whole province) it is performed by the provincial police. The Greater Buenos Aires municipalities are the area with greater social conflicts: high income groups cohabitate with others living in precarious conditions; residential neighbourhoods and shanty towns; the highest rates of unemployment are found there; health care and education are deficient; urban security is the main concern of the population. The provincial police originates from an empirical police force known as practically the only authority in the X I X century, whose aim was to repressively control a cattle raising society, settled on the richest lands of the Republic and organized into a hierarchy according to the landownership in the hands of a few individuals (who used these lands to fatten the cattle they bought from breeders, who were poor middle-range producers with less land).

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In the X I X century and first half of the X X century, the police force had the mission to repress rustlers, vagrancy and political dissent, with little or no judicial intervention. In the second half of the X X century, the force developed, but successive governments preferred to mantain its vertical, militarized and centralized structure which allowed them to control it directly. At the same time they were able to cut their budgets permitting the personnel to increase their salaries and operating expenses by participating in the benefits of prostitution, gambling and other illegal activities. The Federal Police force and the province force have a common beginning, the former, after the federalization of the City of Buenos Aires, in 1880, became its local police, and finally, in 1943, the "Federal Police". The successive governments took much more care of the federal force instruction and its equipments, due to the fact that the centralist model of the country required better social control of the capital city. In the 50s, an attempt was made to create police courts (for the police personnel) similar to the military justice (Police justice). Both Federal and Provincial police forces participated actively in the repression during the years of dictatorship (1976-1983), specially the provincial force participated of the kidnapping groups that profited by taking their victims' belongings. Throughout history, it can be confirmed that political power has not only sustained, but also promoted an autonomous police power, based on mutual services: governments accepted and increased the autonomy and income sources of the police forces, while these obeyed the political interests of the moment and guaranteed order and governing conditions. During the last years, various facts pushed this relationship of functional cooperation into crisis: a) the force entered drugs dealing, which increased the amount of illegal income; b) the local political bosses increased their power by participating in this benefit, imposing their weight in the destinations and promotions of personnel; c) the lack of security in the Greater Buenos Aires reached unusual levels (an inquest of victimization reveals that 50 % of the population has been victimized in a year); d) it was evident that police personnel had participation in crimes against properties, and administrated it; e) media society spreads all this information without the political power being able to prevent it (a good part of the data contained in this work was obtained thanks to this phenomenon which made them public and forced governmental recognition); f) in spite of deviations and covering ups, it was proved that police personnel had participation in the terrorist attack to the A.M.I.A. (an explosion that demolished a building killing 86 people in 1994) and the murder of the journalist Jose Luis Cabezas in January 1997; g) public reaction conditions the future of political operators in

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the province, and forces them to adopt sensationalist measures against the police personnel. III. Functionality to the penal system Police structures are not isolated phenomena but they integrate penal systems which correspond with them. In Buenos Aires province, police power has substituted the judicial power in such ways that the number of instruction judges per inhabitant is very low compared to the city of Buenos Aires. A municipium in Greater Buenos Aires ("La Matanza") with a population equivalent to almost half the population of Buenos Aires City and with higher levels of social conflicts, has only six instruction judges, while Buenos Aires City has about fifty (instruction courts; federal courts; correction courts and economic-penal courts). This means that in the province of Buenos Aires the instruction of all penal processes is delegated on the police force and judicial power keeps a mere legitimating function originated in the last century. Therefore, it is not surprising that corruption levels in the province police force be actually higher than those of the Federal police. This characteristic is functional to a very selective penal system with a judicial power reduced to impotence by its lack of operative capacity, that, on one hand, tends to criminalize only particularly vulnerable people of poor areas, and, on the other hand, rapidly places security on private hands, and so promotes a great victimizing selectivity. The latter determines that most victimized social segments claim for police power and agree on the application of the death penalty; arguments used by leaders of the police forces and government members taking advantage of the inquests results.

IV. Deterioration of preventive efficiency There is no reliable data on crime frequency in Argentina. The judicial figures suffer the distortion of all filters of the penal system and consequently they are not indicative. According to the figures coming from the police force, it is fair to say that these agencies follow a tradition that annuls the reliability of all data they provide: in the police jargon, to " d o statistics" refers to producing detentions and procedures of diverse nature, its only goal being that of registration with statistical purposes. For many years, police force has adopted this procedure to show their apparent competitiveness and efficiency before political power and public opinion. For this purpose they use two unconstitutional attributions: a) Detentions in order to investigate criminal records: This consists of depriving any person of his/her freedom and placing him/her in a police

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station for some hours or one day in order to verify if she/he registers a criminal record. The only relevant penal record would be a capture order coming from a competent judge, which is possible to find out in a few seconds by a simple computerized program. The number of people deprived of their freedom in this way in 1995 was of 150,000. b) Detentions because of contraventions; includes deprivation of freedom in such cases as drinking or "scandal". The first case implies detention of people suffering from an illness "alcoholism"; and the second case, because of its undefinition, implies an arbitrary detention used to persecute prostitution and sexual minorities. The police force has the judicial functions of judging the contraventions, consequently, arbitrariness is almost absolute. The number of detentions based on this pretexts in 1992 was of 33,350, but in 1994, the number increased to 106,451. Both faculties mean deprivement of freedom equivalent to 10 % of the total population of Buenos Aires City per year (250,000 over 2,800,000) These faculties are maintained and supported by the police forces due to the fact that their suppression would mean lower salaries: the arbitrarian management of these detentions is a source of minor collection aiming to complete salaries of the police personnel working in the streets. It also allows extortions with the purpose of obtaining contributions from shop owners, in order that the police abstains from carrying out procedures, which would cause fear among the clientele and might lead to bankruptcy. These facts given, it is impossible to trust the police data. Universities and Academies do not carry out empirical investigations of these kind because they lack the financial sources, and no funds are provided for this type of investigation, due to the lack of official interest. Moreover, it is not possible to carry them out for free, through unpayed work performed by students because they are not given access to the official sources of data, alleging secrets, security reasons, or no reason at all. The Legal and Social Studies Centre recently had to act judicially appealing on the grounds of unconstitutionality (judicial action that protects all rights appart from ambulatory freedom) in order to obtain data about the number of wounded and murdered policemen during the past year. Under these conditions, it is impossible to formulate scientifically valid judgements on the dynamics of penalized conflicts. Nevertheless, it is easy to prove that people's feelings about unsecurity have increased considerably, and taking an average of the recent surveys, 85 % of people consider themselves unprotected and have a negative image of police forces. As a hypothesis to verify, given compared experience, we can assume that conflicts related to property have increased, considering

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the rates of unemployment in our country, which oscillate between 17 % and 20 %. This index escalates between ages of adolescence and young adults. The media, in charge of promoting the official success profile, project the winner's image of rich, unscrupulous people, enjoying exquisite luxuries, in a society that concentrates wealth in increasing levels. It is not necessary to share the mertonian framework to perceive that this causes anomia as an individual phenomenon (in a sense closer to the original concept), with its consequence of unexplainable behaviour about apparently gratuitous use of violence. V. The conditioning of police criminality Police agencies suffer from structures that, for the sake of arising illicit founts, and with the support of political agencies and the indifference of judicial power, cause delictive behaviour among its members, although this may be of relative seriousness. This is a direct form of criminal conditioning, but together with this form, secondary ones should be considered, which altogether allows to establish the following "type graphic". a) Illicit acts of primary conditioning (minor crimes). b) Anomic crimes (product of values crisis: participation in crimes of different kinds). c) Crimes commited to invent efficiency (faked documents and testimonies, "easy trigger" homicides, faked confrontations). d) Crimes committed because of precarious training (homicides involving arms-handling). e) Misbehaviour due to stressing working conditions and negative values introduction (homicides, domestic and neighbourhood violence). a) Behaviours which are directly conditioned, have the effect to protect the agency from alien looks and generate discourses of ethical neutralization (in psychological terms, we would call this "rationalization"). Deterioration of public image causes an interactive phenomenon that ends in the devaluation of the own personnel activity, and seriously harms its self-esteem. From the social point of view, arbitrariness is translated into an attempt to hamper people's freedom which seriously affects the development of any free community. Some of fund raisings contribute to complete the salaries of low ranked personnel, but in other cases, they are distributed higher in the police rank scale; this meaning that some chiefs and high ranked policemen will enjoy a higher living standard that has no relation with the official salaries they preceive. b) The neutralizing discourses or rationalizations have the effect of wearing out the sense of values and create grave confusion between licit

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and illicit behaviours which leads to even more serious misbehaviour, translated in crimes against property, liberation of some areas to thieves that operate in combination with police chiefs, organising assaults and kidnappings, etc. Among these types of crimes we should consider policemen participation in the terrorist attack to A.M.I.A. (where 86 people were killed in 1994) and murder of press photographer J. L. Cabezas. There is little doubt that these are anomias, conditioned by institutional structures that, far from reinforcing the values of licit limits, work on weakening and confusing them. c) Anxiety to prove efficiency leads officers to impute crimes falsely to a suspect, or to charge the author of a crime with other offences: this allows them to manipulate their statistics, considering the case solved. Another effect of this anxiety of statistical efficiency is to encourage torture to obtain information and the use of other illegal means (payment of information with prohibited toxics, impunity, etc). Nevertheless, the most negative effect of this clarifying anxiety is the phenomenon known as "easy trigger", that is to say, faked armed confrontations to slaughter minor thieves and marginal people, which are really true executions, sentences to death penalty without a trial. This is one of the most serious examples of police violence, that has reached a total amount of 1205 dead and wounded in four years (1993-1996) in Buenos Aires City and Greater Buenos Aires municipiums, with yet escalating tendency. This phenomenon characteristics in the last decade were: preference for the younger individuals; sensitivity to political events; its growth in direct relation to discourses that questioned police arbitrarial attributions; its appearence in districts and its assumption by leaders of the force (it was proved by a map of dead people); the necessity to show them to the media as a proof of efficiency (which allows to study the phenomenon). When the number of dead people during pretended confrontations increases, the number of wounded usually decreases, what reveals the clear will to kill. There is a very marked disparity between the number of victimized civilians and the number of policemen killed or injured; in this last case, policemen are not generally murdered or injured during a confrontation, but when they are out of duty and because of common crimes against properties. d) Precarious conditions in police training, particularly for low-ranking personnel, added to fear generated by the job itself and the true risks that a policeman usually runs; the draconian sanctions to which they are subjected internally in the agency; the impossibility of defending themselves against high ranking personnel and their arbitrary decisions; all this generates very negative working conditions that are usually trans-

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lated into offenses due to negligence, and some with conditioned "mens rea". Persecutions through crowded places, firing arms; shooting on buses and public transportation, wrong arm usage, a mistaken evaluation of a particular situation, are the causes of homicides which take the lives of many people. Usually, the agency tries to cover up these errors with the same procedure they use for extraprocedural executions, that is, to pretend armed confrontations. e) Finally, agencies do not condition fully positive values, as they force rationalization on illicit acts, but on the other hand, it is not uncommon that the same personnel share other values which are not apt for social coexistence, such as machism, sexism, authoritarianism, antidemocratic disposition, distrust and rejection of any behaviour that is not normal and regular, extreme conservatism, etc. These, added to the working conditions described before, and to inefficient psychiatric attention of the personnel (it is assumed that policemen can go through traumatic experiences without any suffering, when they have no special training in these cases), gives as a result an unhealthy condition that favours misbehaviours, usually expressed by family and neighbourhood conflicts. The high involvement of security personnel in cases of family homicides is a proof of this. VI. H u m a n rights violations It is alarming to see how these structures cause alienation of the personnel subjected to them. Generally, the discourse about human rights from non-governmental organizations, and sometimes from governmental and international ones, fixes on police forces the role of active parties in the violation of human rights, which is assumed with satisfaction by the same police personnel, who, in different ways, essay a discourse of resistence against human rights, or merely formal acceptance of them, or frank opposition and frequent "lapsus linguae" that reveal antidemocratical ideologies. This discursive game, that passes on to the mass media, covers up a huge violation of human rights, the same that is unconsciously suffered by the personnel itself, and the more so by public opinion. Police personnel have no right to unionization in Argentina or in most Latinamerican countries. Lacking the possibility of discussing their working conditions on a horizontal level, as it is subjected to a military discipline, the personnel have no chance to develop their professional consciousness. Consequently, they repeat their bosses discourses, or on the contrary, they are excluded from the agency by arbitrarial summaries, unfounded resolutions, or by means of false imputation of crimes (endorsed by complacent judges).

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The police personnel work under internal terror conditions, military subjected to arbitrarial bosses who impose rules that no one can discuss. The police service is eminently a civil service, but its personnel does not enjoy any common civil servant or private employees rights. Their salaries are extremely deficient, and they have no legal means to claim a rise, because of their lack of unionization. Working conditions cannot be questioned, neither are orders. Rules impose intervention in any crime they may witness, even when out of service, being threatened with severe punishment in case of failure to comply with them. This is the cause of suicidal interventions with lethal consequences for other people. The right to defense inside the agencies does not exist; any report or accusation against a superior is considered a grave fault, charged with suspension, even if the crime were confirmed and the superior found guilty. The agency considers that the personnel must follow the hierarchical scale and the accusation must be effected by the leadership: of course, this is coaction to commit the crime of failure to comply with the duties of public servant. The fact that personnel are constantly in life danger, situation which is not under discussion, the subjection to an order that forces illegal exertion, the damage caused to self esteem by the facts mentioned before, the suffering from stereotyped generalization that conditions the profession to the mentioned behaviours, the obligation to cover colleagues and superiors; the risk of suffering penal consequences when situations become progressively unavoidable; the lack of proper training for risky situations, and service responsabilities, are all aspects of the same enormous violation of human rights suffered by the personnel and which clearly conditions very grave misbehaviours, at which public feeling of unsecurity reaches levels of true impotence. It is adequate to mention that police personnel, specially low-ranked, have a low class origin, and so, completing functionality underlined on other paragraphs, it is possible to conclude that this is a third type of selectivity practised by the legal system: the first, on which criminology has focused for a long time, is the "criminalizing selectivity"; the second, whose study completes the area of victimology is "victimizing selectivity"; the third, on which nobody seems to take notice, is the "police selectivity". N o great intelligence is needed, neither theoretical elaboration, to realize that this triple selectivity results in a very grave contradiction and antagonism among poor social groups, in such ways that the punishing intervention constitutes an obstacle for its coalliance and political protagonism.

Institutional Conditioning of Police Criminality

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VII. How to revert this phenomenon? The description given is only a reduced summary aiming to demonstrate the hypothesis enunciated at the beginning, referred particularly to Argentina, but valid for other countries in the continent or outside. The verification of this hypothesis points out the necessity of answers, considering the great paradox that the state apparatus, which has the function to prevent, is actually fulfilling a latent criminal function, conditioned by the own structures of the preventive agencies, that also includes very grave violation of human rights to their personnel. From this point of view, nothing could be more aberrant: the personnel's rights are violated in such a way that it is not noticed by them, and they carry out other violations on the population. This situation seems to stand with few chances of change as long as it keeps a political functionality. A firm political will of change is conceivable only when, because of power dynamics, police structures and those of other agencies in the penal system become unfunctional, as it occurs in Argentina, in a process that will probably be repeated in other countries. These are the new data that give the possibility of change. There is another important fact that should not be disregarded, that is the eruption of the society of communication, and consequently, the amount of information available to the public. It is not the goal of this work to provide the measures that should be taken in this case, but actually, to point them out in order to have them in mind and compare them with other countries and draw the consequences that correspond to each case. Anyway, we could enunciate, very briefly, the main measures that could be taken in case that the political decision moves forward driven by the increasing dysfunctionality of the police structures in Latinamerican countries: a) Creation of a necessary number of courts' and prosecutors' offices to recover for the judicial power all activities of this nature delegated on the police. b) Creation of a police force for judicial investigation that should depend on the judicial power or a public ministry. c) Reorganization of security police force with better working conditions, replacement of the militarized rank by a serious hierarchical organization, professional dignification, recognition of labour rights, mainly unionization, better level of instruction, adequate professional instruction, possibly at Universities. d) Establishment of community and state control over security policemen, preferably placing them under municipal jurisdiction.

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Eugenio Raul Zaffaroni

e) Transparent administration, with access to information and public discussion of any problems. f) Last but not least, the creation of autarchic organisms for criminological investigation of the field with unrestricted access to the agencies' information. Participation of the representatives of these organizations, together with academics and social scientists, that will plan security strategies and general criminal policy, giving advice on budget investments and optimization of use of resources. Investments in security in Latinamerican countries are not small, but results are disastrous. Nothing can be done while these investments are determined according to the lobbies of the bosses of the penal systems' agencies, without rational criteria, within a penal scheme divided in uncommunicated compartments, and each of them responding to corporative interests; with political operators approving budgets without knowing their implications or the problems they deal with, and supporting other political operators (in the executive power) or opposing to them, always expecting to take advantage in a struggle that does not allow any concessions, but also with no clear idea about the real problems. The security problem has become a central political problem in every country and cannot be handled with speeches based on juridical fiction; it cannot be confronted reasonably and hopefully if the great budgets are distributed according to lobbies and the pressures of political figures; and among police bosses that seek arm equipment and preservation of delective areas; or judicial leaderships that hope to reinforce bureaucratical mechanisms and receive higher salaries, better offices and personnel; among penitentiary chiefs whose only goal it is to have no mutinies and to get a greater number of cells; or academical agencies that seek funds to finance clever investigations but far from real necessity; international cooperatives that try not to annoy any government; all this highlighted by a propaganda apparatus (the social mass media), that pursue only a higher rating. It becomes quite clear that an organism independent of these sectorial interests is needed, capable of planning and of maintaining a dialogue with legislators and the executive power, as a new element in the system of weight and counterweight of democracy. Main data sources: Francisco L. Romay, "Historia de la Policia Federal Argentina", Bs. As. Editorial Policial, 1980; E. R. Zaffaroni, "Muertes anunciadas", Instituto Interamericano de derechos humanos-Temis, Bogota, 1993; Centro de Estudios Legales y Sociales, "Informe anual sobre la situacion de los derechos humanos en la Argentina", 1996, Bs. As., 1997; Autores varios, "Justicia en la calle, ensayo sobre la policia en America Latina", Editor Peter Waldmann, Conrad Adenauer Stiftung-

Institutional Conditioning of Police Criminality

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C I E D L A - I S L A , Medellin, 1996; Instituto Interamericano de Derechos Humanos, "Sistemas penales y derechos humanos en America Latina (informe final)", Bs. As., Depalma, 1986; E. R. Zaffaroni, "The right to life and Latinamerican penal systems", en "The Annals of the American Academy of Political Social Seiendes", Sage Publications, Vol. 506, Nov. 1989. Noticias periodisticas de matutinos de la ciudad de Buenos Aires: " L a Nacion", "Clarin", "Pägina 12".

Deutsche Zusammenfassung In Argentinien und Lateinamerika sind institutionelle Strukturen der Polizei funktional für das politische und das strafrechtliche System. Sie beeinträchtigen seine präventive Wirksamkeit. Sie bestimmen die Polizei-Kriminalität; sie verletzen Menschenrechte; sie sind diskriminierend, autoritär, und sie verschlechtern sich ständig. In der Stadt Buenos Aires gibt es die Bundespolizei, in der sie umgebenden Provinz Buenos Aires die Provinzpolizei. Beide beteiligten sich an der Repression während der Diktatur (1976 bis 1983). Die Regierungen vergrößern das Einkommen der Polizei, und die Polizei garantiert die Ordnung und das Regierungssystem. In den letzten Jahren gerät diese Beziehung funktionaler Zusammenarbeit in die Krise: Polizei und Lokalpolitiker beteiligen sich am Drogenhandel. Der Grad an Unsicherheit erreicht in GroßBuenos-Aires ungeahnte Höhen. Eine Viktimisierungs-Studie deckte auf, daß 50 Prozent der Bevölkerung Verbrechensopfer wurden. Die Massenmedien verbreiteten Informationen über die Beteiligung der Polizei am Verbrechen, ohne daß die politische Macht das verhindern konnte. In der Provinz Buenos Aires hat die Polizeimacht das Gerichtssystem ersetzt. Im Vergleich zur Stadt Buenos Aires ist die Zahl der Richter in der Provinz Buenos Aires völlig unzureichend. Hierdurch wird die Korruption der Polizei begünstigt. Die Gerichte erfüllen nur noch eine rechtfertigende Funktion. Speziell verwundbare Menschen in Armenvierteln werden kriminalisiert. Die Sicherheit in privaten Händen vermehrt sich schnell. U m der Politik und der öffentlichen Meinung ihre Wirksamkeit zu demonstrieren, „produziert" die Polizei Kriminalstatistik: Sie verhaftet willkürlich Menschen. Sie nimmt sie wegen kleinerer Übertretungen, ζ. B. Alkoholismus, und minderer Zuwiderhandlungen, ζ. B. Prostitution, sexuelle Deviation, fest. Geschäftsleute werden von der Polizei erpreßt; sie ersparen sich auf diese Weise polizeiliche Unannehmlichkeiten. 85 Prozent der Bevölkerung fühlen sich unsicher und haben ein negatives Image von der Polizei. Es gibt fünf Formen der Polizei-Kriminalität:

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Eugenio Raul Zaffaroni

- Straftaten, die die Unregelmäßigkeiten der Polizei nach außen verdecken, - anomische Rechtsbrüche, die aus der Neutralisation und Rationalisation der Polizei-Kriminalität entstehen, ζ. B. organisierte Uberfälle und Entführungen, - Straftaten, die die Polizei-Effizienz beweisen sollen, ζ. B. Folter, um Aussagen zu erzwingen, falsche Konfrontationen, um kleine Diebe und Angehörige von Randgruppen ohne Todesurteile zu exekutieren, - Kriminalität aufgrund mangelhafter Polizeiausbildung, ζ. B. unberechtigter Waffengebrauch, falsche Beurteilung einer Situation (fälschlich angenommene Notwehrlage), - Rechtsbrüche, die auf die schlechten Arbeitsbedingungen der Polizei zurückzuführen sind, ζ. B. zu niedrige Löhne, keine Beschwerdemöglichkeit, keine Organisation in einer Polizeigewerkschaft. Militär-Disziplin ohne Beschwerde- oder Anklagemöglichkeit gegenüber Vorgesetzten läßt eine antidemokratische Ideologie und einen Mangel an professionellem Bewußtsein entstehen. Das Paradox, daß der Staatsapparat, der Kriminalität verhindern soll, selbst eine latente kriminelle Funktion erfüllt, kann auf folgende Weise beseitigt werden: - bessere Information der Öffentlichkeit über Polizei-Kriminalität, - Schaffung ausreichender Richter- und Staatsanwaltsstellen, - Herstellung besserer Arbeitsbedingungen für die Polizei, bessere Ausbildung, die Möglichkeit, eine Polizei-Gewerkschaft zu gründen, - unabhängige kriminologische Erforschung der Polizei; weitgehende Mitbestimmung der Kriminalpolitik durch Kriminologen.

Über Todesfälle im Zusammenhang mit Betäubungsmittelmißbrauch DIETER DÖLLING

I. Einleitung Zu den schwerwiegenden Problemen unserer Zeit gehört der Drogenmißbrauch. Dieser kann gravierende Folgen für den einzelnen und die Allgemeinheit haben. Die Problematik zeigt sich besonders kraß in Drogentodesfällen. Von 1973 bis 1996 wurden in der Polizeilichen Kriminalstatistik für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt 19 428 D r o gentote registriert.1 Als Drogentodesfall sieht die Polizeiliche Kriminalstatistik alle Todesfälle an, die in einem kausalen Zusammenhang mit dem mißbräuchlichen Konsum von Betäubungsmitteln oder als Ausweichmittel verwendeter Ersatzstoffe stehen, insbesondere Todesfälle infolge beabsichtigter oder unbeabsichtigter Uberdosierung, Todesfälle infolge langzeitigen Mißbrauchs, Selbsttötungen aus Verzweiflung über die Lebensumstände oder unter Einwirkung von Entzugserscheinungen und tödliche Unfälle unter Drogeneinfluß stehender Personen. 2 Während die Zahl der jährlich registrierten Drogentodesfälle von der Mitte der achtziger Jahre bis 1991 stark angestiegen war (von 324 im Jahr 1985 auf 2125 im Jahr 1991), ging sie bis 1995 auf 1565 zurück. 1996 ist wiederum ein Anstieg auf 1712 Drogentodesfälle zu verzeichnen. Bei diesen Zahlen ist zu berücksichtigen, daß von einem erheblichen Dunkelfeld ausgegangen werden muß 3 und die zuverlässige Erfassung von Drogentodesfällen erhebliche Probleme aufwirft. 4 Das Bemühen muß darauf gerichtet sein, Drogenmißbrauch und Drogentodesfälle möglichst zu verhindern. Damit ist zunächst die allge-

1 Siehe Bundeskriminalamt (Hg.), Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland Berichtsjahr 1996. Wiesbaden 1997, S. 241. 2 Vgl. Bundeskriminalamt (o. Fn. 1). 3 Bundeskriminalamt (o. Fn. 1); Kreuzer/Wille, Drogen - Kriminologie und Therapie. Heidelberg 1988, S. 19. 4 Vgl. Kreuzer/Gebhardt/Maassen/Stein-Hilbers, Drogenabhängigkeit und Kontrolle. Wiesbaden 1981, S. 66 f, 72 ff.

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Dieter Dölling

meine Drogenprävention angesprochen. 5 Für die Verhinderung gerade von Drogentodesfällen sind Kenntnisse über die Umstände bisheriger Drogentodesfälle und über Person und Entwicklung der Verstorbenen wichtig, denn hieraus können sich möglicherweise Ansatzpunkte für Maßnahmen ergeben, die einem tödlichen Verlauf von Drogenmißbrauch und Drogenabhängigkeit entgegenwirken können. Im folgenden wird über eine Untersuchung über Drogentodesfälle in Bayern in den Jahren 1988 bis 1990 berichtet.6 Ziel dieser Untersuchung war neben der Erhebung von Daten zur Person und zum Umfeld der Verstorbenen sowie zu den Todesfällen insbesondere die Klärung der Frage, inwieweit die später Verstorbenen bei der Strafjustiz auffällig geworden waren und wie die Strafjustiz auf die Auffälligkeit reagiert hatte.7 Gegenstand der Untersuchung sind 254 Drogentodesfälle, die in den Jahren 1988 bis 1990 in Bayern registriert wurden. 8 Ausgewertet wurden die Akten der bayerischen Staatsanwaltschaften über diese Todesfälle. Durch Vergleich mit den Unterlagen der Polizei wurde eine vollständige Erfassung der im Untersuchungszeitraum in Bayern registrierten Todesfälle im Zusammenhang mit Betäubungsmittelmißbrauch ermöglicht. Neben den Akten des aufgrund des Todesfalles eingeleiteten Verfahrens wurden die Akten des letzten gegen den Probanden geführten Strafverfahrens sowie der früheren Verfahren ausgewertet, die wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz geführt worden waren. 9 Aufgrund des methodischen Vorgehens ist der Zugang zum Forschungsfeld begrenzt. Es können nur Daten erhoben werden, die der Justiz bekanntgeworden sind und die in die Akten aufgenommen worden sind. Da es sich aber um ein schwer zugängliches Forschungsfeld handelt, das kaum in einem einzigen Zugriff vollständig erschlossen werden kann, erscheint es sachgerecht, sich der Problematik auf verschiedenen Wegen zu nähern und sich um eine Erschließung des Feldes durch einander ergänzende Untersuchungen zu bemühen. Wegen der schmalen

s Siehe dazu KUnzel-Böhmer/Bühringer/Jamk-Konecny, Expertise zur Primärprävention des Substanzmißbrauchs. Baden-Baden 1993; Dölling, Drogenprävention und Polizei. Wiesbaden 1996. 6 Die Untersuchung wurde im Auftrag und mit finanzieller Unterstützung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz durchgeführt. 7 Vgl. dazu bereits für die Drogentodesfälle der Jahre 1988 und 1989 im Landgerichtsbezirk Nürnberg-Fürth Stockei, Monatsschrift für deutsches Recht 1990, S. 1063 ff. 8 Zu den Drogentodesfällen in Bayern in den Jahren 1988 bis 1991 siehe auch Bayerisches Landeskriminalamt, Untersuchung der Todes- und Selbsttötungsfälle im Zusammenhang mit Drogenmißbrauch für die Jahre 1988-1991. München 1992. ' Siehe zum Datenmaterial im einzelnen die von mir veranlaßte Dissertation von Böhmer, Todesfälle im Zusammenhang mit Betäubungsmittelmißbrauch in Bayern in den Jahren 1988-1990. Erlangen 1996, S. 4 ff.

Über Todesfälle im Zusammenhang mit Betäubungsmittelmißbrauch

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und mit Unsicherheiten behafteten Datenbasis der vorliegenden Untersuchung müssen die Befunde allerdings äußerst vorsichtig interpretiert werden. Im folgenden werden einige Daten zu den Drogentodesfällen in Bayern in den Jahren 1988 bis 1990 dargestellt.10 Hieran werden einige Überlegungen über mögliche Schlußfolgerungen angeknüpft.

II. Untersuchungsbefunde Im Untersuchungszeitraum war in Bayern ebenso wie in der übrigen Bundesrepublik Deutschland ein Anstieg der Drogentodesfälle zu verzeichnen. Während 1988 in Bayern 52 Personen im Zusammenhang mit Betäubungsmittelmißbrauch verstarben, waren es 1989 76 und 1990 126 Personen. Werden die Verstorbenen der drei Jahre zusammengefaßt, ergibt sich zu ihrer Person folgendes Bild: 82 % der Verstorbenen waren männlich, 18 % weiblich. Der Altersschwerpunkt lag im dritten Lebensjahrzehnt. 60 % waren 20 bis 29 Jahre alt. Weitere 25 % verstarben im Alter von 30 bis 35 Jahren. Unter 20 Jahre waren lediglich 4 % der Verstorbenen, über 35 Jahre 11 % . " Der verhältnismäßig geringe Anteil von Verstorbenen unter 20 Jahren hängt damit zusammen, daß dem Drogentod in der Regel ein langjähriger Drogenkonsum vorausging. Bei η =152 Verstorbenen konnten Daten über die Dauer des Konsums illegaler Drogen erhoben werden. Von diesen hatten 66 % während eines Zeitraums von mehr als 5 Jahren vor ihrem Tod Rauschgift konsumiert, weitere 25 % länger als 2 Jahre. Bei den Verstorbenen handelte es sich überwiegend um deutsche Staatsangehörige mit verhältnismäßig starker örtlicher Bindung. 88 % hatten die deutsche, 12 % eine ausländische Staatsangehörigkeit.12 90 % wohnten in dem Landgerichtsbezirk des Auffindeortes. Bei 62 % lag der Geburtsort in dem Landgerichtsbezirk des Auffindeortes oder in einem angrenzenden Bezirk. Im Hinblick auf die soziale Herkunft der Verstorbenen konnten bei η = 116 Personen Daten über die berufliche Stellung des Vaters erhoben werden. Danach waren 7 % der Väter Hilfsarbeiter, 22 % Facharbeiter, 19 % einfache oder mittlere Angestellte oder

10

Der Erhebungsbogen ist abgedruckt bei Böhmer (o. Fn. 9), S. 125 ff. " Ahnliche Befunde zur Geschlechts- und Altersverteilung von Drogentoten bei Heckmann u. a., Drogennot- und -todesfälle. Baden-Baden 1993, S. 60 ff, und Legge, Sozialer und medizinischer Hintergrund des Drogentodes. Hamburg 1992, S. 65 f. Dazu, daß von Daten über Drogentote nicht ohne weiteres Rückschlüsse auf die Gesamtheit der Drogenabhängigen gezogen werden können, vgl. Kreuzer/Gebhardt/Maassen/Stein-Hilbers (o. Fn. 4), S. 70, 84. 12 Ein solches Ergebnis war auch in der Untersuchung von Legge (o. Fn. 11), S. 67, zu verzeichnen.

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Dieter Dölling

Beamte, 9 % leitende Angestellte oder höhere Beamte und 22 % Selbständige oder in freien Berufen Tätige. 13 Dies deutet darauf hin, daß die Verstorbenen aus allen sozialen Schichten kamen. 14 Zur sozialen Stellung der Verstorbenen selbst liefern zunächst Daten über den Schulabschluß einen Anhaltspunkt (n = 211). 69 % hatten nach dem Akteninhalt einen Hauptschulabschluß 15 , 13 % verfügten über einen Realschulabschluß und 6 % über das Abitur. Bei 11 % lauteten die Angaben: kein Schulabschluß, Sonderschule oder Schulabbruch. Der schulische Bildungsstand fällt damit niedriger aus als bei der „Normalbevölkerung". 16 Ungünstig stellt sich auch die berufliche Ausbildungssituation dar (n = 227). 54 % hatten keinen beruflichen Ausbildungsabschluß, 45 % einen Berufsschulabschluß und 1 % einen Hochschulabschluß. Diese ungünstige Ausbildungssituation schlägt sich in den folgenden Daten zur beruflichen Stellung der Verstorbenen nieder (n = 242): 37 % waren arbeitslos, 15 % Gelegenheitsarbeiter und 19 % Hilfsarbeiter. 12 % waren Facharbeiter, 8 % einfache oder mittlere Angestellte und 2 % waren als Selbständige oder in freien Berufen tätig.17 Werden diese Daten mit den Angaben über die berufliche Stellung der Väter verglichen, könnte das auf soziale Abstiegsprozesse der Verstorbenen hindeuten. 18 Andererseits scheint eine Minderheit der Verstorbenen beruflich integriert gewesen zu sein. - Von den Verstorbenen (n = 247) hatten 49 % eine eigene Wohnung, 23 % lebten bei den Eltern, 8 % bei Bekannten, 6 % in einer Wohngemeinschaft und 5 % in einem Heim; 5 % waren obdachlos. 19 Von 146 anläßlich des Todesfalls aufgesuchten Wohnungen konnten 71 als „normal gepflegt", 60 als „vernachlässigt" und 15 als „verwahrlost" eingestuft werden. Zu den sozialen Beziehungen der Verstorbenen kann zunächst festgestellt werden, daß 55 % der Verstorbenen ledig waren und 10 % geschieden waren oder getrennt lebten. 29 % lebten in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft oder hatten einen festen Partner, 6 % waren verheiDie übrigen Angaben betrafen insbesondere Rentner und Pensionäre. Vgl. auch Kreuzer/Römer-Klees/Schneider, Beschaffungskriminalität Drogenabhängiger. Wiesbaden 1991, S. 81, die für Drogenabhängige ermittelten, daß diese sich in ihrer Schichtherkunft auf alle sozialen Schichten verteilten. 15 Hierunter dürften sich allerdings auch Personen befinden, die zwar eine Hauptschule besuchten, diese aber ohne Abschluß verließen. " Ubereinstimmend Heckmann u. a. (o. Fn. 11), S. 64. 17 Die restlichen Angaben entfallen auf die Kategorien Schüler, Auszubildender, Student, Hausfrau, Rentner/Pensionär und arbeitsunfähig. 18 Vgl. aber auch Dobbertin, Multifaktorielle Untersuchung von 154 Rauschmitteltodesfällen der Jahre 1987/88 im Großraum Frankfurt am Main. Aachen 1995, S. 42, der einen leichten Trend zur Höherqualifikation annimmt. 19 Es muß jedoch mit kaschierter Obdachlosigkeit gerechnet werden, vgl. Heckmann u. a. (o. Fn. 11), S. 68. 13

14

Über Todesfälle im Zusammenhang mit Betäubungsmittelmißbrauch

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ratet. Hinsichtlich der Beziehungen zur Herkunftsfamilie (einschließlich Geschwister) ergab sich (n = 191), daß 5 9 % der Verstorbenen regelmäßig und 27 % gelegentlich Kontakte zur Herkunftsfamilie hatten. Den Herkunftsfamilien war der Drogenkonsum ganz überwiegend bekannt. Von η = 132 Verstorbenen, bei denen Angaben über Beziehungen zur Freunden und Bekannten außerhalb der Drogenszene vorlagen, hatten 37 % regelmäßig und 27 % gelegentlich Kontakte zu solchen Personen. Bei 36 % bestanden solche Kontakte anscheinend nicht in erheblichem Umfang. Zu anderen Drogenkonsumenten unterhielten nach den in den Akten aufzufindenden Informationen 79 % der Verstorbenen regelmäßige und 16 % gelegentliche Kontakte (η = 153).20 Die Verstorbenen waren somit überwiegend in die Drogenszene involviert. Andererseits bestanden aber anscheinend bei vielen von ihnen soziale Beziehungen zu Personen, die nicht der Drogenszene angehörten. Hinsichtlich der Entwicklung des Drogenmißbrauchs konnten zum Beginn des Rauschgiftkonsums Daten über η = 140 Verstorbene erhoben werden. Davon hatten 76 % zwischen dem 14. und dem 20. Lebensjahr mit dem Konsum illegaler Drogen begonnen. 4 % waren beim Konsumbeginn jünger als 14 Jahre, 17 % zwischen 21 und 24 Jahre alt und lediglich 3 % 25 Jahre und älter. Der Einstieg in die Drogenkarriere erfolgte bei den Verstorbenen somit ganz überwiegend in der Jugendphase. Soweit den Akten Erkenntnisse über die Art der zuerst konsumierten Drogen entnommen werden konnten (η = 102), erfolgte der Einstieg zu 93 % mit „weichen" Drogen wie Haschisch, zu 2 % mit „harten" Drogen wie Heroin oder Kokain und zu 5 % im Wege von Tablettenmißbrauch. 21 Wie bereits oben ausgeführt, erstreckte sich der Drogenmißbrauch in der Regel über mehrere Jahre, bis es zu dem Todesfall kam. Die Drogenkarriere war von zahlreichen Krankheiten, psychischen Störungen und persönlichen Konflikten begleitet. Für 21 % der Verstorbenen ließ sich den Akten entnehmen, daß sie an schwerwiegenden körperlichen Krankheiten litten, 12 % waren HIV-infiziert, bei 5 % wurden Psychosen und bei 13 % Depressivität festgestellt. Bei 15 % war bekannt, daß sie einen oder mehrere Selbstmordversuche unternommen hatten.22 Alkoholabhängigkeit oder häufige Alkoholexzesse waren bei 32 % der Verstorbenen aus den Akten ersichtlich, Medikamentenabhängigkeit bei 35 %. Für 25 % der Verstorbenen ging aus den Akten hervor, daß sie

20 Siehe auch Heckmann u. a. (o. Fn. 11) S. 120, die für 77 % der von ihnen untersuchten Drogentoten eine Zugehörigkeit zur Drogenszene ermittelten. 21 Andere Befunde bei Dobbertin (ο. Fn. 18), S. 50, der annimmt, daß 48 % der Drogentoten als Einstiegsdroge Heroin wählten. 22 Auch hier ist mit einem nicht unerheblichen Dunkelfeld zu rechnen.

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eine oder mehrere - ambulante oder stationäre - Drogentherapien absolviert hatten. Eine Reihe von Therapien dürfte freilich in den Akten nicht erfaßt worden sein.23 25 % der Verstorbenen wurden nach den Akten einmal oder mehrmals im Zusammenhang mit ihrer Drogenabhängigkeit in einem Krankenhaus behandelt (ζ. B. körperliche Entgiftung oder Behandlung von Gelbsucht). Über die in den Akten genannten Todesursachen gibt Tabelle 1 Auskunft.24 Danach stellte Heroinkonsum die Hauptursache dar, in 47 % der Todesfälle wurde die Einnahme von Heroin als alleinige Todesursache angesehen, in weiteren 12 % der Todesfälle wurde als Ursache die Einnahme von Heroin und anderen Substanzen angenommen. Eine erhebliche Rolle spielte weiterhin mit einem Anteil von 23 % der Konsum von Medikamenten. Häufig führte die Kombination mehrerer Suchtmittel zum Tod. Bei 161 Drogentoten fand eine Blutentnahme statt. Bei Tabelle 1: Todesursachen Todesursache Heroin Heroin, Kokain Heroin, Amphetamin Heroin, Amphetamin, Haschisch Heroin, Haschisch Heroin, Haschisch, Medinox, Remedazen, Vesperax Heroin, Medinox, Remedazen, Vesperax Heroin, sonstige Tabletten Kokain Amphetamin Synthetische Drogen Polamidon Medinox, Remedazen, Vesperax Medinox, Remedazen, Vesperax, Polamidon Medinox, Remedazen, Vesperax, Rohypnol Medinox, Remedazen, Vesperax, sonstige Tabl. Rohypnol Rohypnol, sonstige Tabletten Sonstige Tabletten Suizid Unfall, ungeklärte Ursache

(

Anzahl

%

115 9 1 1 1 1 10 6 7 1 1 1 15 1 4 17 2 1 14 16 19

47,3 3,7 0,4 0,4 0,4 0,4 4,1 2,5 2,9 0,4 0,4 0,4 6,2 0,4 1,6 7,0 0,8 0,4 5,8 6,6 7,8

243*

100,0

11 Fälle ohne Angabe

23 Vgl. Heckmann u. a. (o. Fn. 11), S. 115, wonach 43 % der Verstorbenen eine Therapie durchgeführt hatten. 24 Zu den Todesursachen bei Drogentodesfällen vgl. auch Dobbertin (o. Fn. 18), S. 34 f; Heckmann u. a. (o. Fn. 11), S. 122 ff; Legge (o. Fn. 11), S. 81 ff; Wessel, Suchtgefahren 1987, S. 54.

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Über Todesfälle im Zusammenhang mit Betäubungsmittelmißbrauch

30 % von ihnen lag nach der Analyse des Blutes im Todeszeitpunkt eine leichte bis starke Alkoholisierung vor. Bei 7 % der Todesfälle handelte es sich mit Sicherheit um einen Suizid. In weiteren 9 % der Todesfälle bestanden Anzeichen dafür, daß ein Suizid vorgelegen haben könnte. 58 % der Verstorbenen wurden in eigenen Räumlichkeiten aufgefunden, 34 % in fremden Räumlichkeiten und 8 % im Freien. 25 U m zu ermitteln, inwieweit die Verstorbenen strafrechtlich auffällig geworden waren, wurden zunächst die Eintragungen in der Datenverarbeitung der Staatsanwaltschaft des Auffindeortes erhoben. Die Eintragungen wurden unabhängig vom Ausgang des Verfahrens erfaßt, so daß zum Beispiel auch Verfahren mitgezählt wurden, die mit einer Einstellung nach § 170 Abs. 2 S t P O endeten. Wie Tabelle 2 zeigt, waren 21 % der später Verstorbenen bei der Staatsanwaltschaft nicht in Erscheinung getreten. 26 14 % wiesen 1 oder 2 Eintragungen auf, 16 % 3 bis 5 Eintragungen. 49 % hatten 6 und mehr Eintragungen. In Tabelle 2 sind außerdem die Eintragungen wegen eines Betäubungsmitteldelikts dargestellt. Danach wurden 41 % der später Verstorbenen nicht wegen eines Betäubungsmitteldelikts auffällig. 32 % hatten 1 oder 2 Eintragungen, 20 % 3 bis 5 Eintragungen und 8 % 6 und mehr Eintragungen. Während es somit einem erheblichen Teil der später Verstorbenen gelungen ist, nicht wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz in Erscheinung zu treten, sind andere vor ihrem Tod mehrfach wegen eines Betäubungsmitteldelikts erfaßt worden. Bei den anderen Delikten dominierten die Eigentums- und Vermögensstraftaten, Tabelle 2: Eintragungen in der Datenverarbeitung der Staatsanwaltschaft des Auffindeortes Zahl der Eintragungen η 0 1 2 3-5 6-10 10

Alle Delikte %

54 18 18 40 66 57

21,3 7,1 7,1 15,8 26,1 22,5

253*

100,0

BtM-Delikte η % 103 42 38 50 17 2 252**

40,9 16,7 15,1 19,8 6,7 0,8 100,0

* 1 Fall ohne Angabe ** 2 Fälle ohne Angabe

Näher zu den Auffindeorten bei Drogentodesfällen Legge (o. Fn. 11), S. 84 ff. Ahnlich Heckmann u. a. (o. Fn. 11), S. 107, nach deren Feststellungen 26 % der Drogentoten regional nicht polizeibekannt waren, und Legge (o. Fn. 11), S. 75, nach der gegen 23 % der Verstorbenen bis zum Todeszeitpunkt noch kein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war. 25 26

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Dieter Dölling

insbesondere der Diebstahl, sowie die Straßenverkehrsdelikte. Es waren aber auch eine Reihe von Eintragungen wegen Aggressionsdelikten zu verzeichnen.27 Bei 1336 Ermittlungsverfahren konnte die Art der Erledigung durch die Staatsanwaltschaft festgestellt werden. Danach führten 58 % der Verfahren zu einer Anklage und 11 % zu einem Strafbefehlsantrag. Die übrigen Verfahren endeten durch Einstellung oder Verbindung mit einem anderen Verfahren. § 37 BtMG, der im Fall einer Drogentherapie ein Absehen von der Anklageerhebung ermöglicht, wurde in keinem Verfahren angewendet. Im Hinblick auf Verurteilungen durch die Strafgerichte konnten bei 42 % der später Verstorbenen Verurteilungen nach Jugendstrafrecht festgestellt werden (einschließlich zweier Verfahren, die nach § 4 7 J G G erledigt wurden). 11 % wurden einmal und 31 % zweimal und mehr nach Jugendstrafrecht verurteilt. Bei 22 % der später Verstorbenen war ein Betäubungsmitteldelikt Gegenstand der Verurteilung nach Jugendstrafrecht (14 % eine Verurteilung, 8 % 2 und mehr Verurteilungen). Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht konnten bei 52 % der später Verstorbenen erhoben werden (11 % eine Verurteilung, 41 % zwei und mehr Verurteilungen). 34 % waren wegen einer Betäubungsmittelstraftat nach allgemeinem Strafrecht verurteilt worden (16 % einmal und 18 % zweimal und mehr). Die Urteile ergingen in der Regel ohne Heranziehung eines psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen. Die Einholung eines psychiatrischen oder psychologischen Gutachtens konnte lediglich bei 11 Verurteilten festgestellt werden. Werden die 82 gerichtlichen Sanktionierungen wegen eines Betäubungsmitteldelikts nach Jugendstrafrecht und die 170 Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht näher betrachtet, so zeigt sich, daß die Entscheidungen nach Jugendstrafrecht zu 56 % die Tathandlungen des Besitzes, des Sichverschaffens und des Erwerbs von Betäubungsmitteln betrafen, sich zu 7 % auf Handel, Anbau, Herstellung, Ein- und Ausfuhr sowie Abgabe und Veräußerung bezogen und zu 33 % Tathandlungen aus beiden Deliktsgruppen zum Gegenstand hatten.28 Von den Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht betrafen 52 % Besitz, Sichverschaffen und Erwerb von Betäubungsmitteln, 23 % den Handel und andere Tathandlungen auf der „Hersteller- und Verteilerseite" und 22 % Kombinationen der beiden Deliktsgruppen. Hinsichtlich der Drogen, die Gegenstand der Verurteilungen waren, liegen zu 50 Verurteilungen nach

27 Zu der durch Selbstberichte erfaßten Delinquenz Drogenabhängiger vgl. Römer-Klees/Schneider (o. Fn. 14), S. 208 ff. 28 Zu drei Fällen liegen keine Angaben vor.

Kreuzer/

Über Todesfälle im Zusammenhang mit Betäubungsmittelmißbrauch

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Jugendstrafrecht und zu 110 Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht Angaben vor. Danach bezogen sich 54 % der Verurteilungen nach Jugendstrafrecht auf Heroin (auch in Kombination mit anderen Stoffen), je 4 % auf Kokain und Amphetamin und 34 % auf Haschisch. Von den Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht hatten 60 % Betäubungsmitteldelikte im Zusammenhang mit Heroin zum Gegenstand, 2 % betrafen Kokain, 5 % Amphetamin, 4 % synthetische Drogen und 26 % Haschisch. Die von den Gerichten wegen Betäubungsmitteldelikten verhängten Sanktionen sind in Tabelle 3 dargestellt. Unter den nach Jugendstrafrecht verhängten Rechtsfolgen überwiegt die Jugendstrafe mit einem Anteil von 57 % . Sie wurde überwiegend zur Bewährung ausgesetzt. Bei 39 % der Sanktionen handelt es sich um Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel oder eine Kombination dieser beiden Sanktionsarten. In 3 Urteilen wurde zusätzlich zu einer der genannten Sanktionen die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 S t G B angeordnet. Bei den Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht dominiert mit einem Anteil von 72 % die Freiheitsstrafe, die ebenfalls überwiegend zur Bewährung ausgesetzt wurde. 27 % der Verurteilten erhielten Geldstrafen. In 2 Urteilen wurde lediglich die Unterbringung in einer Erziehungsanstalt angeordnet. Hinzu kommen 2 weitere Fälle, in denen die Unterbringung neben einer Freiheitsstrafe angeordnet wurde.

Tabelle 3: V o n den Gerichten wegen Betäubungsmitteldelikten verhängte Sanktionen Sanktionen

η

%

N a c h Jugendstrafrecht § 47 J G G Erziehungsmaßregeln Zuchtmittel Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel §27 J G G Jugendstrafe mit Bewährung Jugendstrafe ohne Bewährung

2 10 15 7 1 29 18 82

1,2 35,3 22,0 100,0

45 72 51 2

26,4 42,4 30,0 1,2

170

100,0

2,4 12,2 18,3 8,5

N a c h allgemeinem Strafrecht Geldstrafe Freiheitsstrafe mit Bewährung Freiheitsstrafe ohne Bewährung § 64 S t G B

218

Dieter Dölling

Die Jugendstrafen hatten zu 72 % eine Länge bis zu 18 Monaten. Bei den zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafen endete die Bewährungszeit in 33 % der Fälle mit dem Erlaß der Strafe, in 44 % mit dem Widerruf der Strafaussetzung und in 23 % mit dem Tod des Probanden. Eine Zurückstellung der Vollstreckung der Jugendstrafe nach den §§ 35, 38 BtMG erfolgte in 5 Fällen. 3 Zurückstellungen endeten mit der Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung, 2 mit dem Widerruf der Zurückstellung. Die nach allgemeinem Strafrecht verhängten Freiheitsstrafen hatten zu 87 % eine Länge bis zu 18 Monaten. Bei den zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen wurden 20 % der Bewährungen mit dem Erlaß der Strafe und 31 % mit dem Widerruf der Strafaussetzung beendet. 48 % endeten mit dem Tod des Probanden. Eine Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG konnte in 9 Fällen festgestellt werden. 2 Zurückstellungen endeten mit der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung, 3 mit dem Widerruf der Zurückstellung und 4 mit dem Tod des Probanden.

III. Mögliche Schlußfolgerungen Die vorgetragenen Daten berühren nur Teilaspekte der vielschichtigen Problematik der Drogentodesfälle und sind mit manchen Unsicherheiten behaftet. Bei möglichen Schlußfolgerungen aus den Daten ist daher Zurückhaltung geboten. Immerhin erscheinen einige Überlegungen vertretbar. Zunächst deutet die Herkunft der Verstorbenen aus nahezu allen gesellschaftlichen Schichten darauf hin, daß zur Verhinderung von Drogenmißbrauch und Drogenabhängigkeit ein breit angelegter präventiver Ansatz erforderlich ist. Da „Drogenkarrieren" in der Regel in der Jugendphase einsetzen, muß Drogenprävention möglichst früh beginnen, um junge Menschen so zu festigen und zu stärken, daß für sie Drogen als vermeintliche Problemloser nicht in Betracht kommen und sie in der Lage sind, Angeboten zum Drogenkonsum zu widerstehen.29 Da nach den Untersuchungsbefunden ein hoher Anteil der später Verstorbenen die Hauptschule besucht hat, sind bei der Drogenprävention die Haupt- und Berufsschulen besonders zu beachten.30 Neben die Primärprävention, die verhindern will, daß es überhaupt zu Drogenmißbrauch kommt, müssen Hilfs- und Therapieangebote für diejenigen Menschen treten, die Drogen mißbrauchen oder von ihnen abhängig sind. Ebenso wie bei der Primärprävention ist auch in diesem

29 Zur Notwendigkeit des frühen Beginns von Drogenprävention siehe Böhmer/Bühringer/Janik-Konecny (o. Fn. 5), S. 113. 30 Vgl. Böhmer (o. Fn. 9), S. 115.

Kiinzel-

Über Todesfälle im Zusammenhang mit Betäubungsmittelmißbrauch

219

Bereich nicht nur der Staat, sondern die gesamte Gesellschaft gefordert. Erforderlich ist ein differenziertes Hilfs- und Therapiesystem, das es ermöglicht, Drogenabhängigen schnell und unbürokratisch Hilfe in Notlagen, Entgiftung, Entwöhnung und Wiedereingliederungsmaßnahmen anzubieten. Zwischen dem Beginn des Drogenkonsums und den Todesfällen liegen in der Regel mehrere Jahre. Die sich damit eröffnenden Möglichkeiten, auf einen Abbruch der „Drogenkarriere" hinzuwirken, müssen genutzt werden. Nach den Untersuchungsergebnissen hatten die später Verstorbenen vielfach Kontakte zu ihrer Herkunftsfamilie und zu anderen Personen außerhalb des Drogenmilieus. Diese Kontakte sollten dazu genutzt werden, den Abhängigen Wege aus der Sucht aufzuzeigen. Die Öffentlichkeit sollte deshalb über die bestehenden Hilfsmöglichkeiten informiert werden, damit diese den Bezugspersonen, die sich um die Abhängigen bemühen, bekannt sind, und die Bezugspersonen versuchen können, Hilfen zu vermitteln. Auch die im Zusammenhang mit der Drogenabhängigkeit stehenden verhältnismäßig häufigen Behandlungen in Krankenhäusern könnten einen Ansatzpunkt für die Vermittlung von Hilfs- und Therapiemaßnahmen darstellen. Im Hinblick auf die Rolle der Strafrechtspflege beim Umgang mit Drogenabhängigen ist festzustellen, daß es einem beträchtlichen Anteil der später Verstorbenen gelungen ist, trotz ihres Drogenkonsums entweder überhaupt nicht oder doch nicht mit einem Betäubungsmitteldelikt bei der Strafjustiz auffällig zu werden. 31 Insoweit könnte von einem verhältnismäßig geschickten „Management" des Drogenkonsums gesprochen werden. Wie die analysierten Todesfälle zeigen, war freilich auch bei diesem Personenkreis der Drogenkonsum mit einem tödlichen Risiko behaftet. Andererseits sind zahlreiche später verstorbene Drogenkonsumenten bei der Justiz wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz in Erscheinung getreten. Insoweit ist zu prüfen, ob die Justiz die Möglichkeiten einer therapeutischen Einwirkung auf die Drogenabhängigen hinreichend nutzt. Die Anwendung dieser Möglichkeiten ist spezialpräventiv von großer Bedeutung, da mit einer erfolgreichen Therapie der Sucht eine wichtige Ursache weiterer Straftaten beseitigt wird. Therapie von Drogenabhängigen ist zwar schwierig, hat aber durchaus reelle Erfolgschancen und ist auch im Rahmen des Strafrechtssystems möglich.32 Nach den Untersuchungsbefunden haben die Gerichte von den therapeutischen Einwirkungsmöglichkeiten des geltenden Strafrechts eher zurückhaltend Gebrauch gemacht. 55 der später Verstorbenen wurden Siehe dazu bereits Stockei (o. Fn. 7), S. 1065. Vgl. Dölling, Eindämmung des Drogenmißbrauchs zwischen Repression und Prävention, 1995, S. 20 ff m. w. N. J1

52

220

Dieter Dölling

wegen eines Betäubungsmitteldelikts einmal oder mehrfach nach Jugendstrafrecht verurteilt, 86 nach allgemeinem Strafrecht. Es konnten 82 Verurteilungen nach Jugendstrafrecht und 170 Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz erhoben werden. N u r in 7 Urteilen wurde eine Unterbringung nach § 6 4 StGB angeordnet 33 und nur bei 13 Verurteilten erging eine Therapieweisung nach §§10 Abs. 2, 23 Abs. 1 J G G oder § 56c Abs. 3 N r . 1 StGB. Auch der Umstand, daß lediglich über 11 Verurteilte ein psychiatrisches oder psychologisches Gutachten eingeholt wurde, spricht dafür, daß die Suchtproblematik in den Verfahren verhältnismäßig selten eingehend behandelt wurde. Hierbei kann freilich eine Rolle gespielt haben, daß die Beschuldigten aus Furcht vor eingriffsintensiveren Sanktionen bestrebt waren, ihre persönliche Drogenproblematik nicht in Erscheinung treten zu lassen. Von der Möglichkeit zur Zurückstellung der Strafvollstreckung nach §§ 35, 38 B t M G wurde nur in einer Minderheit der Verfahren Gebrauch gemacht, die zu einer freiheitsentziehenden Strafe führten. 34 Es wurden 68 Verurteilungen zu einer Jugendstrafe oder Freiheitsstrafe ohne Bewährung erfaßt. Hinzu kommen 47 Verfahren, in denen die Aussetzung der Vollstreckung einer Jugendstrafe oder Freiheitsstrafe zur Bewährung widerrufen wurde. Zu einer Zurückstellung der Strafvollstreckung kam es nur in 14 Verfahren. Eine Anwendung von § 37 B t M G konnte in keinem Fall festgestellt werden. Bei der Bewertung der Daten ist zu berücksichtigen, daß die Fälle sich im Zeitpunkt der Entscheidung der Gerichte wesentlich weniger „dramatisch" dargestellt haben können als sie in retrospektiver Perspektive im Wissen um das tödliche Ende der „Drogenkarriere" erscheinen. Angezeigt erscheint jedoch die Überlegung, daß die Justiz in Betäubungsmittelverfahren sorgfältig prüfen sollte, inwieweit bei den Beschuldigten eine persönliche Drogenproblematik vorliegt, und gegebenenfalls die vom geltenden Recht zur Verfügung gestellten therapeutischen Einwirkungsmöglichkeiten unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nutzen sollte. Insoweit kommen auch der Jugendgerichtshilfe, der Gerichtshilfe und der Bewährungshilfe wichtige Funktionen zu. Der Verteidiger sollte sorgfältig abwägen, wie er Mandanten mit einer Drogenproblematik berät. 33 Im gesaraten Bundesgebiet erfolgte 1989 bei 631 Abgeurteilten eine Anordnung nach § 64 S t G B ; 1996 waren es - ebenfalls bezogen auf die alten Bundesländer - 874 Anordnungen, vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Fachserie 10 Rechtspflege Reihe 3 Strafverfolgung 1989, S. 70, 1996, S. 72. Die Anordnungen betreffen überwiegend alkoholabhängige Täter, vgl. Dessecker, Suchtbehandlung als strafrechtliche Sanktion, 1996, S. 75. 5< Zur Anwendung der §§ 35, 38 B t M G vgl. eingehend Kurze, Strafrechtspraxis und Drogentherapie, 1993.

Ü b e r Todesfälle im Zusammenhang mit Betäubungsmittelmißbrauch

221

Um Drogenmißbrauch, Drogenabhängigkeit und Drogentodesfälle zu verhindern, sind Anstrengungen von allen Seiten erforderlich. Trotz großer Schwierigkeiten bestehen - wie auch die vorliegende Untersuchung zeigt - Ansatzpunkte für Einwirkungsmöglichkeiten. Es kommt darauf an, diese Chancen zu nutzen.

Theorie und Praxis polizeilicher Kriminalstatistiken Dargestellt am Beispiel der Datei über Rauschgifttote""

ARTHUR KREUZER

I. Die Untersuchung In den letzten Jahren wurde von uns eine Reihe empirischer Untersuchungen durchgeführt zur Gesamtthematik der Bearbeitung von Drogensachen durch Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte. Grundlegende Forschungshypothese war, daß für das Entscheidungsverhalten der beteiligten Institutionen und Personen bei der Umsetzung des Betäubungsmittelstrafrechts rechtlich begrenztes, tatsächlich aber erhebliches Beurteilungsermessen besteht; dieses wird von den Entscheidungsträgern wesentlich nach deren individuellem Wissen, den Erfahrungen und Einstellungen ausgeübt; dabei führen die beobachtbaren konträren drogenpolitischen Grundpositionen in der Gesellschaft zu unsicherer, schwankender, ambivalenter, ungleicher Rechtsanwendung. Zwei Untersuchungen wurden zur polizeilichen Drogenarbeit durchgeführt, darunter die hier darzustellende Arbeit (Stock/Kreuzer 1996; König/Kreuzer 1997). Das Forschungsprojekt wurde 1992-1996 für das Bundeskriminalamt erstellt unter dem Arbeitstitel „Rauschgifttodesfälle - Definition, Strukturen, Erfassung, Aussagekraft und Verwertung polizeilichen Datenmaterials" von Wolfgang König unter der Leitung des Verfassers. Es sollte eine atypische polizeiliche Statistik, nämlich eine nur mittelbar als kriminalstatistische Datenquelle verstehbare Mortalitätsstatistik exemplarisch untersucht werden. Dazu wurden in einem Methodenverbund folgende Teilstudien zusammengefügt: - Der gesamte Datensatz der „Falldatei Rauschgift" des Bundeskriminalamts im Erfassungsjahr 1992 wurde analysiert. Außerdem wurde eine Monatsstichprobe von 1993 auf spätere Korrekturen hin 1994 geprüft.

* Erweiterte Fassung eines Vortrages, den der Verf. in englischer Sprache auf der 7th European Conference on Psychology and Law im Sept. 1997 in Stockholm gehalten hat.

224

Arthur Kreuzer

- Alle Landeskriminalämter wurden schriftlich nach unterschiedlichen Meldepraktiken befragt. - 62 Interviews wurden geführt mit Experten der Landeskriminalämter und von örtlichen Dienststellen in fünf Bundesländern, ferner im Bundeskriminalamt, im Statistischen Bundesamt, welches für die zusätzlichen gesundheitsamtlichen Mortalitätsstatistiken verantwortlich ist, außerdem mit Rechtsmedizinern, schließlich vergleichend mit Experten in den Niederlanden. - Schließlich fand eine schriftliche Befragung bei polizeilichen Sachbearbeitern in vier Flächenstaaten statt: eine Totalerhebung in Hessen, Stichprobenerhebungen in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen. II. Theoretische Aspekte 1. Auf dem Wege zu einer Theorie der Kriminalstatistik Polizeiliche Rauschgifttoten-Statistiken sind im Rahmen der Aufgaben und Inhalte polizeilicher Kriminalstatistiken zu würdigen. Eine umfassende, konsistente Theorie der Kriminalstatistik findet sich meines Wissens bislang in keinem der bekannten Lehrbücher über Kriminologie oder Criminal Justice. Lediglich einzelne Theorie-Elemente sind auszumachen: etwa zur Geschichte, zum Zustandekommen, zu Zielen und Inhalten, zur Aussagekraft und zu international-komparativen Aspekten von Kriminalstatistiken (ζ. B. Eisenberg 1995 S. 170 ff; Göppinger et. al. 1997 S. 467 ff; Hagan 1994 S. 30 ff; Heinz 1989, 1990; Inciardi 1996 S. 107 ff; Jehle/Lewis 1995; Kaiser 1996 S. 385 ff; Kerner 1993 S. 294 ff; Kube 1982; Schneider 1987 S. 162 ff; Sutherland/Cressey/Luckenbill 1992 S. 48 ff; United Nations 1996). Der Jubilar Hans Joachim Schneider hat in seinem umfassenden Lehrbuch der Kriminologie verdienstvoll für die Aufgaben der Kriminalstatistik vier Schwerpunkte herausgearbeitet: Selbstdarstellung; Forschungsinstrument; Information der Öffentlichkeit; schließlich Kontroll-, Lenkungs- und Planungsaufgabe. Bei dem Zweck der Selbstdarstellung hebt er u. a. hervor, diese Statistik diene „als Entscheidungsgrundlage zur Verteilung staatlicher Personal- und Sachmittel. Sie ist ein Rechtfertigungs- und Beeinflussungsinstrument der Öffentlichkeit durch die Strafrechtspflege". Damit berührt Schneider einige Aspekte, die im allgemeinen wenig beachtet werden. Vernachlässigt werden in der theoretischen Auseinandersetzung mit Kriminalstatistiken Fragen nach Adressaten, Nutzern, organisatorischen Bedingungen, Strategien, Verwertungsinteressen und -Interessenten sowie Rückwirkungen von Interessen und Interessenten auf die Statistikführung; erörterungsbedürftig sind ferner politische, rechtliche und

Theorie und Praxis polizeilicher Kriminalstatistiken

225

namentlich finanzielle und datenschutzrechtliche Legitimation; weiterhin geht es um Wirkungen der Kriminalstatistiken, insbesondere um ihren Stellenwert in der Konstruktion sozialer Probleme, bei der Entwicklung von Ängsten und Sicherheitsgefühl der Bevölkerung (Brownstein 1995). Solche Aspekte stehen im Vordergrund der hier dargestellten exemplarischen Untersuchung einer atypischen polizeilichen Mortalitätsstatistik. Kriminalstatistiken sind zu verstehen als amtliche, regelmäßige, systematische, von Strafverfolgungsbehörden erstellte, meist veröffentlichte Datenaufbereitungen über staatliche Verbrechenskontrolle. Auf ihre Inhalte und Interpretation kann sich schon auswirken, ob Behörden selbständig über eigene Arbeit Statistik führen oder ob sich politische Behördenleitungen die Publikation vorbehalten. Völlig unklar sind diverse Zielsetzungen, woraus sich Diskrepanzen bei Meßkriterien und Meldeintensität ergeben. Im Vordergrund stehen bei Polizeistatistiken unmittelbare polizeiliche Ziele und Eigeninteressen: Arbeitsnachweise über Ermittlungstätigkeit, aber auch Wirkungs- und Erfolgskontrolle der Arbeit, außerdem Erkenntnis- und Entscheidungsmaterial für die Haushaltsplanung und Ressourcensteuerung, schließlich sogar Darstellung des Problems Kriminalität und eigener Arbeit in Politik und Öffentlichkeit. Mittelbar können weitere Behörden kriminalstatistisches Material für ihre Zwecke verwerten. Politik und Massenmedien betrachten Kriminalstatistiken weitgehend als Abbild tatsächlicher Kriminalitätsentwicklung; sie interpretieren üblicherweise die Daten ambivalent jeweils als Erfolg, Mißerfolg oder Defizit von Politikgestaltung, als Legitimation für kriminalisierende oder entkriminalisierende Instrumente; sie benutzen Daten sogar als Wahlkampfmaterial. Just aus solchen Verwertungsinteressen können Manipulationen oder apokryphe Zielsetzungen und Erfassungstechniken für die Statistikführung folgen. Interessen der Wissenschaft sind ambivalent; je nach theoretischem Standort in der Kriminologie wird man in den Kriminalstatistiken einerseits allenfalls ein verzerrtes Abbild verfolgter Kriminalität oder des Kriminalisierungsprozesses sehen (ζ. B. Sack 1978) oder andererseits bedingt einen Indikator für tatsächliche Kriminalitätsentwicklungen, sogar Grundlagen für Kriminalitätstheorien und Feststellungen zu Kriminalitätsursachen (ζ. B. Schneider 1987 S. 162). Zumindest im Vergleich von unterschiedlichen Erkenntnisinstrumenten - Kriminal- und Sozialstatistiken, Dunkelfeldforschung, Einzelfallauswertung und Expertenbefragungen - könnten sich Anhaltspunkte für die Beurteilung von Struktur, Umfang und Entwicklung der Kriminalität ergeben. Dabei treten markante Paradoxien zutage. Beispielsweise ergab sich aus eigenen Untersuchungen, daß dort, wo die polizeiliche Aufklärungsquote nahe 100 % liegt, die tatsächliche Aufklärung in dem Deliktsbereich Richtung

226

Arthur Kreuzer

Ο % tendiert (etwa bei Ladendiebstahl oder Drogenumgang dringt nur um 1 % der Delikte in das Hellfeld, während polizeiliche Kriminalstatistiken Aufklärungsquoten von über 95 % ausweisen). In den USA wird derzeit folgendes Paradox diskutiert: Die Uniform Crime Reports deuten einen erheblichen Anstieg von Gewaltkriminalität an, während die National Crime Victimization Surveys (repräsentative Opferbefragungen) auf Rückläufigkeit hinweisen; Wissenschaftler schließen eher auf Veränderungen in der Strafverfolgung und Statistikführung als auf Veränderungen in der Kriminalitätsentwicklung (O'Brien 1996). Schon früher waren dort sog. „paper increases" - kriminalstatistische scheinbare Kriminalitätsanstiege infolge zunehmender Bereitschaft zu statistischer Registrierung - bekannt. 2. Polizeiliche

und gesundheitsamtliche

Mortalitätsstatistiken

In Deutschland gibt es zwei parallele Zählungen von Drogentodesfällen: die gesundheitsamtliche und die polizeiliche. Sie haben unterschiedliche Strukturen, Rechtsgrundlagen, Definitionsvorgaben, Meldeverfahren, Zielgruppen und öffentliche Beachtung. Die gesundheitsamtliche Zählung (grundlegend: Müller/Bocter 1990; Schwerd 1986) knüpft an der ärztlichen Leichenschau und Todesbescheinigung an. Der Meldeweg geht vom Leichenschauer über das Standesamt und das Statistische Landesamt zum Statistischen Bundesamt. Grundlage ist das Gesetz über die Statistik der Bevölkerungsbewegung. Definitionskriterien sind von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgegeben. Es ist eine Todesursachenstatistik. Nur das Grundleiden „underlying cause of death" - wird eingetragen und gemeldet. Es ist also eine unikausale und bereits deswegen anfechtbare Erfassung. Legalität oder Illegalität von Drogen sind dabei irrelevant. Polizeilich erfaßte Rauschgifttodesfälle können hier in ganz unterschiedlichen Kategorien von Drogen- und Medikamentenabhängigkeit und deren Untergruppen (jeweils nach vorherrschendem Suchtstofftypus) auftreten oder bei Vergiftungen durch bestimmte Stoffe oder bei Krankheiten wie DrogenPsychose, Hepatitis oder einfach „Herz-Kreislauf-Versagen". Zudem sind die Leichenschauen uneinheitlich und unzuverlässig, das Definitionsverhalten des Arztes kaum überprüfbar, die unikausale Betrachtung fragwürdig und offen für nahezu beliebige Zuordnungen. Die Erfassungsgrundlagen und Zielgruppen beider Statistiken sind daher nicht kongruent. Die polizeiliche Zählung ist vergleichsweise schwächer rechtlich fundiert, andererseits systematischer und vollständiger, jedoch stärker im Kontext von Kriminalität und Illegalität zu orten. Markante Befunde der Untersuchung unterstreichen dies beispielhaft: Zur Zuständigkeit und Kriminalitätsnähe meinte ein Polizist: „Der

Theorie und Praxis polizeilicher Kriminalstatistiken

227

- Rauschgifttote - muß ja Betäubungsmittel besessen haben, war also Täter." Und in den Formblättern für Sofort-Meldungen findet sich die Kategorie „Tatort"; darunter verstehen manche den Ort des Sterbens, andere den Ort des Auffindens des Toten; das können die Bahnhofstoilette sein oder der Ort, wo der Unfallwagen den Versterbenden abgeholt hat, oder die Klinik, in der er letztlich verstorben ist. Eine konkrete gesetzliche Grundlage für die polizeiliche Datei fehlt. Es kommt allenfalls eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs in Betracht; Rauschgifttote hatten nämlich überwiegend mit Rauschgiftkriminalität zu tun; außerdem sind nach dem Bundeskriminalamtsgesetz bei Landes- und Bundeskriminalamt Kompetenzen für Ermittlungen in bedeutsameren Rauschgiftkriminalitätsbereichen und für Kriminalstatistikführung angesiedelt. Eine sachliche Legitimation könnte sich ansonsten lediglich aus der Begrenzung polizeilicher Drogentodesfalldateien auf illegale Drogen, aus der Sachnähe der Polizei und ihrem systematischeren Erstellen der Datei ergeben. Soweit ein Vergleich der Daten beider Statistiken überhaupt möglich ist, zeigen sich ansatzweise gleiche Verläufe der Zahlen über Drogentote. Die Daten des Statistischen Bundesamts sind indes geringer, die erfaßten Personen durchschnittlich etwas älter; die Zielgruppen überschneiden sich. Deutlich wird, daß sich öffentliche, politische und massenmediale Interessen fast ausschließlich auf polizeiliche Daten richten, deren Zustandekommen also umgekehrt auch stärker beeinflussen. Über Sinn oder Unsinn, Nutzen und Schaden sowie Kosten doppelter, inkongruenter Statistikführung braucht hier nicht entschieden zu werden; die Frage stellt sich aber den politischen Entscheidungsträgern. 3. Bedeutung der Rauschgif ttotenzählungfür des „ Drogen-Problems

die soziale "

Konstruktion

Mit dem Wort „drug problem problem" hat frühzeitig der Amerikaner Brotman auf die Schwierigkeit hingewiesen, zu definieren, was eigentlich das Drogenproblem sei. In einem soziologisch-politologischen Sinn ist dieses Problem ein Konstrukt in der Meinungsbildung und Politikgestaltung. Soziale Probleme haben Konjunkturen, und zwar unabhängig von ihrer realen Bedeutung. Drogentote sind Symbole für das wie immer definierte Drogenproblem. Steigen die ausgewiesenen Zahlen, werden auch die Drogenproblematik insgesamt und der politische Handlungsbedarf höher eingestuft. Bei Nachlassen der Todesdaten oder bei Gewöhnung an sie schwindet das Interesse am Drogenproblem. Auch kann das eine Problem durch ein anderes in der Konjunktur öffentlicher Beachtung überlagert oder verdrängt werden; man denke an

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Arthur Kreuzer

Probleme wie Irak- und Bosnien-Krieg, AIDS, Arbeitslosigkeit, Gewalt gegen Frauen, Kinder und Alte, Lungenkrebs durch Nikotin. Polizeiliche Daten über Rauschgifttote beeinflussen unmittelbar oder mittelbar die Polizeiarbeit selbst, Medien, Politik, Rechtsprechung und Wissenschaft. Die Instrumentalisierung der Todesdaten für polizeiliche Ressourcen wird noch darzustellen sein. Die massenmediale Verwertung kann in regionalen und überregionalen Print-Medien gut verfolgt werden. Regionale Zeitungen berichten über jeden Rauschgifttoten, über den ersten des Jahres, die Viertel-, Halb- und Jahresbilanz, die daraus ableitbaren Folgerungen für Gesamttendenzen usw. Man stelle sich vor, es würde gleichermaßen über Alkohol-, Medikament- und Nikotin-Tote berichtet: Schon quantitativ wäre das unmöglich; abgesehen davon fehlten entsprechende Informationsquellen; die Bedeutung eines Skandalon würde gerade wegen hoher Zahlen schwinden. Weil aber Rauschgifttote einen hohen Stellenwert in der veröffentlichten Meinung haben und mit dem Nimbus des Illegalen, Unmoralischen verbunden sind, fordern sie wiederum politische Bewertungen und Reaktionen heraus (Kreuzer 1992). Diese gehen in unterschiedliche Richtungen je nach eigenem Standort: Forderungen nach Strafrechtsverschärfungen einerseits, nach Entkriminalisierung und verstärkter Strategie der „harm reduction" andererseits, mitunter auch nach Verbesserung der medizinischen Notfallversorgung (vgl. auch Heckmann et al. 1993 S. 10). Veränderungen der Todesfalltrends werden je nachdem als Erfolg oder Mißerfolg der eigenen oder der Politik der Gegenseite interpretiert. So wurde, als die polizeiliche Drogentotenstatistik um 1990 in Deutschland kulminierte, der „Nationale Rauschgiftbekämpfungsplan" mit seinen primär verstärkten repressiven, ansatzweise aber auch gesundheitspolitisch-therapeutisch-präventiven Maßnahmen geschaffen (Bundesministerium für Jugend usw. 1990 S. 3, 12, 31 ff). Selbst die Rechtsprechung mißt den Todesfallzahlen Bedeutung bei, wenn es etwa darum geht, Mengen für einzelne „Betäubungsmittel" nach den Stufungen in den Straftatbeständen festzulegen und die Strafen generalpräventiv zu bemessen, sogar im Zusammenhang mit der Verfassungsmäßigkeit der Cannabisprohibition (ζ. B. Bundesgerichtshof: BGHSt 38, 339; im Zusammenhang mit Ecstasy: B G H NJW 1997 S. 810, 812; Kaiser 1993 S. 376 f). Epidemiologen in der Wissenschaft messen beispielsweise der Rauschgifttotenstatistik einen Stellenwert zu bei der Schätzung der Gesamtzahl Drogenabhängiger; dies geschieht sogar im internationalen Vergleich (vgl. Heckmann et al. 1993 S. 24 ff; IFT 1993 S. 5 ff, 14 ff; früher schon Kreuzer et al. 1981 S. 79 f; für die USA NIDA 1992; Rouse 1995).

229

Theorie u n d Praxis polizeilicher Kriminalstatistiken

III. Ausgewählte Ergebnisse der empirischen Untersuchung 1. Einflüsse auf die Intensität der Datensammlung und politische Interessen

durch

polizeiliche

Anläßlich früherer Untersuchungen hatte ich plakativ darauf hingewiesen, daß mit Drogentoten Politik gemacht werde (Kreuzer 1992). Ein von uns Befragter hatte ähnlich geäußert, man sei sich klar darüber, daß „Drogentote ein Politikum" seien. Und unabhängig von unserer Untersuchung hatte ein Landeskriminalamtsmitarbeiter geschrieben: „Es ist schon pervers, wenn Rauschgiftsachbearbeiter ihre klammheimliche Freude über jeden Drogentoten kaum verbergen können, weil eben diese in Wahrheit so unbedeutende Zahl drogenpolitische Bewegung bringt" (Koriath 1992). Die These wurde von führenden Polizeibeamten kritisiert und dementiert. Sie beruhte aber auf plausiblen Einzelerfahrungen und ökonomischen Grundregeln jeder Institution, deren Ressourcen auch von öffentlichen oder privaten Geldgebern abhängen, welche ihrerseits auf vermeintlichen oder tatsächlichen Problemdruck reagieren (ähnlich Albrecht 1990). In beiden Polizeiuntersuchungen (Stock/Kreuzer 1996 S. 400 ff; König/Kreuzer 1997) gaben vor allem qualitative Befunde zahlreiche Hinweise auf die Richtigkeit der Annahme. Beispielhaft seien entsprechende Äußerungen von Polizeipraktikern eingeführt zum Beleg. Freilich indizieren sie immer nur mögliche Einflußfaktoren und individuelle Erfahrungen. Sie sind nicht generalisierbar oder quantifizierbar. Gerade weil kriminalstatistisch oder durch repräsentative Befragungen solche Erkenntnisse nicht sicher zu gewinnen sind, kommt Bestätigungen aus Experteninterviews „an der Basis" hoher Erkenntniswert zu. Damit werden grundsätzliche Einflüsse auf die Problem- und Datenverarbeitung exemplarisch sichtbar. Überwiegend gingen Äußerungen tendenziell dahin, verstärkt Daten über Rauschgifttodesfälle zu gewinnen, dramatisierend Datenerhebungen zu beeinflussen. So äußerten mehrere Praktiker, mit den Rauschgifttodesfällen könne man das Problem der Rauschgiftkriminalität gegenüber Politik und Öffentlichkeit mit Nachdruck zum Ausdruck bringen. Ein Dienststellenleiter: „ Tote machen unruhig, die Öffentlichkeit und die Politiker... Wie will man den Politikern die Situation sonst klarmachen als durch Tote." Es wurde mehrfach betont, man habe Todesfälle „massiv" in die Presse gebracht, „um Problembewußtsein zu schaffen". Davon habe man sich auch eine Verstärkung der Ressourcen in der Drogenarbeit erhofft; angesichts steigender Rauschgifttodesfallzahlen Ende der achtziger Jahre sei seine Abteilung deswegen aufgestockt worden. Für sich sprechen weitere Interview-Sequenzen:

230

Arthur Kreuzer

„ Ich bin der Meinung, wenn die Drogentodesfallzahl wieder ansteigen würde, würden wir wieder mehr Bedeutung finden. Das würde Eindruck auf die Politik machen und den Dienststellen helfen." „ Es wird immer dann Geld in die Drogenbekämpfung gesteckt, wenn wir viele Drogentote haben. Wenn wir einen Rückgang haben, wird immer Entwarnung gegeben. Wir stellen das auch fest: Da wird ζ. B. Personal abgezogen." „ Wenn man viele Tote hat, und es wird thematisiert, dann ist der Druck da. Die Macht der Medien für die Personalverteilung ist schon manchmal enorm." „ Wenn wir vermuten, es könnte ein Drogentoter sein, dann arbeiten wir schon darauf hin, daß es am Ende auch einer ist. So ein Toter ist immer ganz gut, um das Rauschgiftproblem hier gegenüber der übergeordneten Führung darzustellen ... Die Toten sind die Waffe des kleinen Mannes." Gelegentlich w e r d e n indes e n t d r a m a t i s i e r e n d e T e n d e n z e n

sichtbar,

die i n s o w e i t beruhigen k ö n n t e n , als sich in gewissem A u s m a ß - w e n n gleich unkalkulierbar - Fehlerquellen in der G e s a m t s t a t i s t i k ausgleichen: „Früher war es schick, viele Tote zu haben. Die Rauschgifttoten hatten höchste Priorität. Jetzt sieht das Land das anders. Jetzt haben andere Sachen höhere Priorität ... Drogentote sind im Moment nicht gefragt, weil die Drogenpolitik nicht in die politische Landschaft paßt." „ Man hat gesehen, daß man mit den Zahlen unheimlich heraufschießt, da hat man gesagt, jetzt muß man bremsen." (Womit engeres Definieren und geringeres Recherchieren gemeint waren). Auf einer Dienststelle wurde berichtet, man habe sich entschlossen, diejenigen Junkies nicht mehr als Rauschgifttodesfälle zu melden, die an AIDS verstorben seien; man schneide sonst schlechter als vergleichbare Dienststellen im Lande ab, da im eigenen Bezirk eine Therapieeinrichtung sei, die konzentriert HIV-positive Drogenabhängige betreue. Anderenorts wurde erwähnt, daß die Polizeiführung Rauschgifttodesfälle und Rauschgiftkriminalität nicht gern sehe, weil es ein Fremdenverkehrsgebiet sei; man habe indirekt zu verstehen gegeben, die Definition meldepflichtiger Fälle könne enger ausgelegt werden. D e r a r t i g e E i n f l u ß f a k t o r e n k ö n n e n sich i m Q u e r s c h n i t t u n d i m L ä n g s schnitt der D a t e n v e r z e r r e n d a u s w i r k e n . 2. Diskrepanzen

aufgrund

der polizeilichen

Definitionsvorgaben

I n einer bundeseinheitlichen polizeilichen D i e n s t v o r s c h r i f t die Todesfälle definiert, w e l c h e in einer

werden

„Rauschgift-Sofortmeldung"

u n v e r z ü g l i c h v o n der Polizeidienststelle an das L a n d e s k r i m i n a l a m t z u m e l d e n sind: „Todesfälle, die in einem kausalen Zusammenhang mit dem mißbräuchlichen Konsum von Betäubungs- oder Ausweichmitteln stehen. Darunter fallen insbesondere - Todesfälle infolge beabsichtigter oder unbeabsichtigter Überdosierung - Todesfälle infolge langzeitigen Mißbrauchs - Selbsttötung aus Verzweiflung über die Lebensumstände oder unter Einwirkung von Entzugserscheinungen - tödliche Unfälle von unter Drogeneinfluß stehenden Personen" (Polizeidienstvorschrift 386).

Theorie und Praxis polizeilicher Kriminalstatistiken

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Schon mit dieser Definitionsvorgabe sind entscheidende Weichen gestellt. Die Richtung lautet: Möglichst viele der mit Betäubungsmitteln, die vom Betäubungsmittelgesetz erfaßt sind, in Zusammenhang zu bringenden Todesfälle sind zu erfassen. D a beispielsweise auch mittelbare Zusammenhänge genügen, öffnet sich ein weites, recht unbestimmtes Feld (ζ. B. Langzeitfolgen, Selbstmorde, Unfälle unter Drogeneinfluß). Hinzu kommen die noch darzustellenden Definitionsunsicherheiten. Bereits wegen dieser Ausdehnung muß die deutsche Statistik höhere Zahlen ausweisen als die Statistiken einiger anderer europäischer Länder, in denen nur Todesfälle in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Betäubungsmittelintoxikation gezählt werden - wie ζ. B. in Schweden oder gar nur Heroin-Intoxikations-Todesfälle (IREP 1991; Heckmann etal. 1993; Ingold 1986). Die „Pompidou-Group" (Pompidou-Group 1992; dies./Hartnoll 1987) empfiehlt allerdings, die deutsche Ausweitung zu übernehmen. Sind internationale Vergleiche bereits dadurch kaum möglich, werden sie noch zusätzlich erschwert, weil Erfassungsstellen ganz unterschiedlich angesiedelt sind: bei der Polizei, der Justiz oder bei Gesundheitsverwaltungen, oder weil - wie in den Niederlanden - unterschiedliche Behörden, teils sogar ohne Definitionsvorgaben ermitteln. Die Definitionsvorgabe bringt außerdem Diskrepanzen in der politischen Bewertung und Verwertung des Drogenproblems („drug problem problem") mit sich. Die Übersicht 1 versucht, diese Definitionsdiskrepanzen im Gesamtspektrum von Substanzen oder Drogen aufzuzeigen: - Entsprechend der vom bloßen Suchtgefährdungspotential nicht verstehbaren prinzipiellen Unterscheidung legaler (strafrechtsfreier) und illegaler (strafrechtlicher Prohibition unterliegender) Drogen werden Todesfälle grundsätzlich nur bezüglich illegaler Drogen - „Betäubungsmitteln" - erfaßt. Die bis zu hundert mal so hohen Zahlen für Alkohol-, Nikotin- und Medikament-Todesfälle werden dadurch verdrängt, die Betäubungsmitteltodesfälle überdimensional hervorgehoben. Das unterstützt eine Art doppelter Moral in der Drogenpolitik, die suggeriert, illegale Drogen seien eo ipso gefährlicher oder der Umgang mit ihnen moralisch verwerflich (Kreuzer 1992). - Diese Diskrepanz wird durch eine weitere verstärkt. Der Regelfall eines gemeldeten Drogentoten hat nämlich mit einer Mischintoxikation zu tun. Und die oft vielfältigen, bei genauerer Obduktion feststellbaren zuletzt genommenen Stoffe reichen über die gesamte Palette legaler und illegaler Drogen. Bei der Todesfallmeldung wird nicht etwa die dominierende Droge als für einen eventuellen Zusammenhang mit Betäubungsmitteln ausschlaggebend angesehen. Vielmehr genügt es meist, wenn überhaupt auch eine illegale

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Arthur Kreuzer

Übersicht 1: Reichweite der Definition des Rauschgifttodes im Spektrum von Substanzgebrauch mit Todesfolge

Droge festgestellt wird, um den Todesfall mit dieser in der Polizeimeldung kausal zu verknüpfen. Gäbe es also eine entsprechende Alkohol-Todesfall-Statistik, müßte ein Großteil der „Rauschgifttodesfälle" zu dieser „umgebucht" oder in beiden Statistiken gezählt werden. Ganz abgesehen davon beruht die Annahme eines Zusammenhangs von jeweiliger illegaler Droge und Tod meist auf vagen Alltagstheorien. - Diese Diskrepanz wird nochmals verstärkt dadurch, daß bei den Mischintoxikationen oftmals Medikamente mit ursächlich sind. Diese wiederum können legal oder illegal bezogen worden sein. Unter ihnen finden sich zudem zahlreiche Ausweichmittel, die u. a. von Ärzten bezogen werden oder im illegalen Markt. Drogenabhängige nehmen sie, wenn ihnen bevorzugte Drogen vorenthalten sind, wenn sie kein Geld mehr haben oder wenn sie umsteigen wollen auf vermeintlich weniger riskante Suchtmittel. Erst recht kompliziert wird die Todesursachenbewertung, wenn auch Substitutionsdrogen wie Methadon oder Codein im Spiel sind. Sie

T h e o r i e und Praxis polizeilicher Kriminalstatistiken

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können wiederum legal oder illegal bezogen worden sein: Methadon über entsprechende Maintenance-Programme, Codein über verschreibende Arzte, die dadurch stärker kontrollierte „Betäubungsmittel-Verschreibungen" umgehen (eingehend: Kreuzer/Römer-Klees/Schneider 1991, S. 187 ff; vgl. zuletzt B a y O b L G , N S t Z 1997 S. 341 f).

3. Definitionsdiskrepanzen

und Definitions-unsichere

Todesfallagen

Die Ubersicht 2 greift 6 Beispielsfälle für Definitions-unsichere T o desfälle heraus, die in den beiden schriftlichen Befragungen polizeilicher Rauschgiftsachbearbeiter vorgegeben waren. Ein ambivalentes Definitionsverhalten wird erkennbar, welches sich in beiden Befragungen einheitlich zeigt. Besondere Definitionsunsicherheit besteht, wenn - der Nachweis für die Kausalität zwischen Drogeneinnahme und Tod fraglich ist - Drogen mit geringerem Gefährdungspotential (ζ. B. Cannabis) oder Schnüffelstoffe oder Medikamente, Substitutionsdrogen und Ausweichmittel genommen sind - Dritte am Todesgeschehen beteiligt waren (ζ. B. bei Straßenverkehrsunfällen) - der Todesfall erst nach längerer Zeit dem Rauschgiftdezernat bekannt wird - Selbstmorde mit ungewissen Motiven vorliegen ohne unmittelbare Intoxikation - Todesfälle nur mittelbar mit dem Drogenleben zu tun haben (AIDS, Sekundärerkrankungen, Langzeitwirkungen) - es sich um Ausländer handelt. Auf das jeweilige Definitions- und Meldeverhalten wirken sich - die Ausgangshypothese bestätigend - u. a. folgende Einflußfaktoren aus: - Wissen und Erfahrung zu Wirkungen von einzelnen Drogen, Kausalitäten und Meldevorgaben - Einstellungen zu Drogenkonsum und drogenpolitischen Strategien - Verwertungsinteressen im Blick auf die eigene Dienststelle, die Vorgesetzten oder die Behördenleitung und politische Führung. Dabei kommt es gelegentlich zu klärenden und auf Vereinheitlichung zielenden Interventionen des Landeskriminalamts, die durchaus nicht bundeseinheitlich ausfallen. Auch haben Jahresergebnisse und Vergleiche mit anderen Dienstbezirken und Bundesländern feed-back-Effekte. Insbesondere in Definitions-unsicheren Lagen wirken sich grundsätzliche Strategien aus, ob man etwa im Zweifel vollständiger oder zurückhaltender sein, größere oder kleinere Zahlen insgesamt bewirken will. Beispielhaft ist ein Interview-Zitat:

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Arthur Kreuzer

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