Emas non quod opus est, sed quod necesse est: Beiträge zur Wirtschafts-, Sozial-, Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte der Antike. Festschrift für Hans-Joachim Drexhage zum 70. Geburtstag 3447110872, 9783447110877

Am 5. September 2018 vollendet Hans-Joachim Drexhage sein 70. Lebensjahr. Zu diesem Anlass haben ihm Autorinnen und Auto

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German Pages 708 [719] Year 2018

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Vorwort der Herausgeber
Handelsgeschichte
Ulrike Ehmig: Wurzeln im Wandtresor? Der Umgang mit Risiken in der antiken Seefahrt
Heinrich Konen: Augustus und die alexandrinischen Seeleute in Puteoli. Einige Überlegungen zu den Anfängen der kaiserzeitlichen Annona-Flotte
Björn Onken: Ein Seehändler unter den sieben Weisen? Anmerkungen zur Biographie des Solon
Patrick Reinard – Christoph Schäfer: Ex provincia Britannia. Untersuchungen zu negotiatores und Handelswegen in Atlantik- und Nordsee-Raum sowie im gallisch-germanischen Binnenraum während der römischen Kaiserzeit
Stefanie Schmidt: „(...) und schicke mir 10 Körner Pfeffer“. Der Binnenhandel mit Pfeffer im römischen, byzantinischen und frühislamischen Ägypten
Wirtschaftsgeschichte
Matthias Bode: Straußenhaltung in der römischen Antike.
Kerstin Droß-Krüpe: Kleinkariert, großkariert, feinkariert? Überlegungen zu einer Neuinterpretation der ἐπικάρσια
Sebastian Fink: Assurbanipal, der Wirtschaftsweise. Einige Überlegungen zur mesopotamischen Preistheorie
Sabine Föllinger – Oliver Stoll: Die wirtschaftliche Effizienz von Ordnung und personalen Beziehungen. Ein neuer Blick auf Xenophons Oikonomikos
Monika Frass: ‚Individuelles‘ Kaufverhalten in den Komödien des Aristophanes. Ausgewählte Aspekte
Herbert Graßl: Römische Kleingeldrechnungen in Vindolanda und im Westen des Imperiums
Peter Herz: Die Rotfärber von Antiochia
Torsten Mattern: Norm und Toleranz. Überlegungen zur Standardisierung des pes monetalis
Patrick Reinard: Konfrontation und Kooperation jenseits des Niltals. Rom und die Wüstenstämme von Baratit, dem Hypotyrannos der Barbaren, bis zu Diokletian
Sozialgeschichte
Sven Günther: Breakfast at Xenophon’s. Die erste Mahlzeit des Tages als Spiegel idealer Führungsgrundsätze in der Kyrupädie
Lucrețiu Mihailescu-Bîrliba: ‚Mixed‘ Thraco-Roman Names in the Rural Milieu of Moesia Inferior
Wolfgang Spickermann: Die Überlieferung der religiösen Verhältnisse im nordwestlichen Germanien in der Zeit der römischen Eroberung
Beate Wagner-Hasel: Hektemoroi. Kontraktbauern, Schuldknechte oder abgabenpflichtige Bauern?
Ingomar Weiler: Überlegungen zum opsonion bei den Sebasta in Neapel
Numismatisches
Linda-Marie Günther: Korinthische Pegasi auf sikulopunischen Bronzemünzen. Spiegel ökonomischer Vernetzung?
Ireneusz Milewski: Nomismaton eikones. Theodoret of Cyrus on Iconography of Money
Reinhold Walburg: Die Legionsmünzen des Marcus Antonius. Ketzerische Gedanken zu einem vermeintlich erledigten Thema
Der Osten der antiken Welt
Karin Mosig-Walburg: Ma‘nu paṣgribā, Vater des Königs Aelius Septimius Abgar X. Ein ,king in waiting‘?
Marek Jan Olbrycht: Augustus versus Phraates IV. Some Remarks on the Parthian-Roman Relations
Louisa Thomas: „Cursed be the one who invented the gold for the human race“. Ktesias und die ‚Zwangsfeminisierung‘ des Parsondes
Literarisches
Sabine Müller: Wie man vor Publikum untergeht. Rezeptionsblüten und rhetorisches Kentern in Lukians De Domo
Robert Rollinger – Jack W. G. Schropp: Exercitus Romanus ad Thermopylas? Zu f. 194r Z. 1–16 im neuen Dexipp
Helmuth Schneider: „(...) ut suum quisque teneat“.
Verteilungspolitik und Verteilungskonflikte in Ciceros de officiis
Yvonne Wagner: Zur ‚privaten‘ Kleiderpflege in der naturalis historia
Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte
Reinold Bichler: Ein unverwüstliches Werk? Über Vor- und Nachworte zu Neuauflagen und Übersetzungen von Droysens Alexander
Claudia Deglau: „Hat man den Germanen dafür gedankt?“ Wilhelm Webers Verbindungen zum Sicherheitsdienst des Reichsführers SS und sein „wissenschaftlicher Kriegseinsatz“ im Zweiten Weltkrieg
Helmut Halfmann: Die Griechen unter fremden Herren. Die Suche nach Identität von der Antike bis in die Gegenwart
Peter Kehne: ‚Germania magna‘ statt ‚Germania libera‘ und Germania omnis oder doch eher barbaricum? Eine Nachbardisziplin tut sich schwer in einer aus althistorischer Sicht unnötigen Kontroverse
Hans Kloft: Sozialismus in der Antike? Nicht nur eine wissenschaftsgeschichtliche Frage
Florian Krüpe: Hans-Wilhelm Stein. Ein (fast) vergessenes Stück „Caesarenwahn“ von 1930
Ulrich Niggemann: Referenzierungen von Antike auf frühneuzeitlichen Medaillen. Das Beispiel Englands zur Zeit der ‚Glorious Revolution‘
Kai Ruffing: Römer – Slawen – Germanen. Anton von Premerstein und die Geschichte als Argument für die aktuelle Politik
Josef Wiesehöfer: „Gegen den Willen des Fachvertreters (...)". Eine althistorische Habilitation in Kiel im Jahre 1924
Indices
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Emas non quod opus est, sed quod necesse est: Beiträge zur Wirtschafts-, Sozial-, Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte der Antike. Festschrift für Hans-Joachim Drexhage zum 70. Geburtstag
 3447110872, 9783447110877

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© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

P H I L I P P I K A

Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures

Herausgegeben von /Edited by Joachim Hengstl, Elizabeth Irwin, Andrea Jördens, Torsten Mattern, Robert Rollinger, Kai Ruffing, Orell Witthuhn 125

2018

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Emas non quod opus est, sed quod necesse est Beiträge zur Wirtschafts-, Sozial-, Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte der Antike Festschrift für Hans-Joachim Drexhage zum 70. Geburtstag Herausgegeben von Kai Ruffing und Kerstin Droß-Krüpe

2018

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Bis Band 60: Philippika. Marburger altertumskundliche Abhandlungen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the internet at http://dnb.dnb.de.

For further information about our publishing program consult our website http://www.harrassowitz-verlag.de © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2018 This work, including all of its parts, is protected by copyright. Any use beyond the limits of copyright law without the permission of the publisher is forbidden and subject to penalty. This applies particularly to reproductions, translations, microfilms and storage and processing in electronic systems. Printed on permanent/durable paper. Printing and binding: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 1613-5628 ISBN 978-3-447-11087-7 e-ISBN 978-3-447-19783-0

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Inhalt Vorwort der Herausgeber.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Handelsgeschichte Ulrike Ehmig Wurzeln im Wandtresor? Der Umgang mit Risiken in der antiken Seefahrt. . . . . . . . . . . . . 5 Heinrich Konen Augustus und die alexandrinischen Seeleute in Puteoli. Einige Überlegungen zu den Anfängen der kaiserzeitlichen Annona-Flotte. . . . . . . . . . . . . . 19 Björn Onken Ein Seehändler unter den sieben Weisen? Anmerkungen zur Biographie des Solon. . . . . . . . 37 Patrick Reinard – Christoph Schäfer Ex provincia Britannia. Untersuchungen zu negotiatores und Handelswegen in Atlantik- und Nordsee-Raum sowie im gallisch-germanischen Binnenraum während der römischen Kaiserzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Stefanie Schmidt „(...) und schicke mir 10 Körner Pfeffer“. Der Binnenhandel mit Pfeffer im römischen, byzantinischen und frühislamischen Ägypten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Wirtschaftsgeschichte Matthias Bode Straußenhaltung in der römischen Antike. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Kerstin Droß-Krüpe Kleinkariert, großkariert, feinkariert? Überlegungen zu einer Neuinterpretation der ἐπικάρσια. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Sebastian Fink Assurbanipal, der Wirtschaftsweise. Einige Überlegungen zur mesopotamischen Preistheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Sabine Föllinger – Oliver Stoll Die wirtschaftliche Effizienz von Ordnung und personalen Beziehungen. Ein neuer Blick auf Xenophons Oikonomikos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Monika Frass ‚Individuelles‘ Kaufverhalten in den Komödien des Aristophanes. Ausgewählte Aspekte.. . . . . 159 Herbert Graßl Römische Kleingeldrechnungen in Vindolanda und im Westen des Imperiums. . . . . . . . . . 169

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Inhalt

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Peter Herz Die Rotfärber von Antiochia.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Torsten Mattern Norm und Toleranz. Überlegungen zur Standardisierung des pes monetalis. . . . . . . . . . . . . . 189 Patrick Reinard Konfrontation und Kooperation jenseits des Niltals. Rom und die Wüstenstämme von Baratit, dem Hypotyrannos der Barbaren, bis zu Diokletian. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Sozialgeschichte Sven Günther Breakfast at Xenophon’s. Die erste Mahlzeit des Tages als Spiegel idealer Führungsgrundsätze in der Kyrupädie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Lucrețiu Mihailescu-Bîrliba ‚Mixed‘ Thraco-Roman Names in the Rural Milieu of Moesia Inferior.. . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Wolfgang Spickermann Die Überlieferung der religiösen Verhältnisse im nordwestlichen Germanien in der Zeit der römischen Eroberung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Beate Wagner-Hasel Hektemoroi. Kontraktbauern, Schuldknechte oder abgabenpflichtige Bauern?. . . . . . . . . . . . 295 Ingomar Weiler Überlegungen zum opsonion bei den Sebasta in Neapel.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Numismatisches Linda-Marie Günther Korinthische Pegasi auf sikulopunischen Bronzemünzen. Spiegel ökonomischer Vernetzung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Ireneusz Milewski Nomismaton eikones. Theodoret of Cyrus on Iconography of Money. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Reinhold Walburg Die Legionsmünzen des Marcus Antonius. Ketzerische Gedanken zu einem vermeintlich erledigten Thema. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Der Osten der antiken Welt Karin Mosig-Walburg Ma‘nu pa ṣgribā, Vater des Königs Aelius Septimius Abgar X. Ein ,king in waiting‘?.. . . . . . 371 Marek Jan Olbrycht Augustus versus Phraates IV. Some Remarks on the Parthian-Roman Relations. . . . . . . . . . 389

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Inhalt

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Louisa Thomas „Cursed be the one who invented the gold for the human race“. Ktesias und die ‚Zwangsfeminisierung‘ des Parsondes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Literarisches Sabine Müller Wie man vor Publikum untergeht. Rezeptionsblüten und rhetorisches Kentern in Lukians De Domo. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Robert Rollinger – Jack W. G. Schropp Exercitus Romanus ad Thermopylas? Zu f. 194r Z. 1–16 im neuen Dexipp. . . . . . . . . . . . . . . . 429 Helmuth Schneider „(...) ut suum quisque teneat“. Verteilungspolitik und Verteilungskonflikte in Ciceros de officiis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Yvonne Wagner Zur ‚privaten‘ Kleiderpflege in der naturalis historia. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte Reinold Bichler Ein unverwüstliches Werk? Über Vor- und Nachworte zu Neuauflagen und Übersetzungen von Droysens Alexander. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Claudia Deglau „Hat man den Germanen dafür gedankt?“ Wilhelm Webers Verbindungen zum Sicherheitsdienst des Reichsführers SS und sein „wissenschaftlicher Kriegseinsatz“ im Zweiten Weltkrieg.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Helmut Halfmann Die Griechen unter fremden Herren. Die Suche nach Identität von der Antike bis in die Gegenwart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Peter Kehne ‚Germania magna‘ statt ‚Germania libera‘ und Germania omnis oder doch eher barbaricum? Eine Nachbardisziplin tut sich schwer in einer aus althistorischer Sicht unnötigen Kontroverse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Hans Kloft Sozialismus in der Antike? Nicht nur eine wissenschaftsgeschichtliche Frage.. . . . . . . . . . . . 587 Florian Krüpe Hans-Wilhelm Stein. Ein (fast) vergessenes Stück „Caesarenwahn“ von 1930. . . . . . . . . . . . 599 Ulrich Niggemann Referenzierungen von Antike auf frühneuzeitlichen Medaillen. Das Beispiel Englands zur Zeit der ‚Glorious Revolution‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633

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VIII

Inhalt

Kai Ruffing Römer – Slawen – Germanen. Anton von Premerstein und die Geschichte als Argument für die aktuelle Politik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 Josef Wiesehöfer „Gegen den Willen des Fachvertreters (...)“. Eine althistorische Habilitation in Kiel im Jahre 1924. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 Indices. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681

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Vorwort der Herausgeber Am 05. September 2018 vollendet Hans-Joachim Drexhage sein 70. Lebensjahr. Zu diesem Anlass haben ihm die Verfasserinnen und Verfasser, mit denen Hans Drexhage im Laufe seines akademischen Wirkens in Verbindung stand und steht, als Zeichen ihrer Verbundenheit diese Festgabe zugeeignet, die in ihren Themensetzungen den Feldern der Alten Geschichte gewidmet ist, die im Fokus des Interesses des Jubilars in Forschung und Lehre stehen. Der Titel der Festschrift – Emas non quod opus est, sed quod necesse est ... – ist ein CatoFragment, das Seneca in seinen Briefen an Lucilius überliefert hat (Sen. epist. 94,27) und führt auf das Gebiet, das Hans Drexhage seit seiner Dissertation stets besonders interessiert hat und dem er sich sowohl monographisch als auch in einer Vielzahl von Aufsätzen gewidmet hat: der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Antike. Darüber hinaus greift er einen Lieblingssatz des Jubilars auf, hörte man im Marburger Seminar für Alte Geschichte doch öfters: „Vom Ausgeben haben wir es ja nicht.“ Dass solcherlei Einlassungen eher schmalen universitären Etats als seinem eigenen Verhalten galten, weiß jeder, der Hans Drexhage persönlich kennengelernt hat und seine Großzügigkeit, seine Liebenswürdigkeit im persönlichen Umgang und sein humorvolles Auftreten erlebt hat und erlebt. Hans-Joachim Drexhage wurde am 05. September 1948 in Unna geboren und besuchte nach seiner Grundschulzeit das Humanistische Gymnasium in Hamm, wo er auch das Zeugnis der Reife ablegte. Hernach nahm er das Studium an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster auf. Hier kam er mit Thomas Pekáry in Kontakt, der bei ihm das Interesse für die antike Wirtschaftsgeschichte weckte. Folgerichtigerweise promovierte er bei Pekáry mit einer Dissertations­schrift, die sich dem Spannungsfeld Wirtschaft und frühes Christentum widmete und im Jahr 1981 in gekürzter Form in den Römischen Quartalsschriften erschien.1 Schon früh dokumentierte er außerdem seine Neigungen auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte, namentlich mit einem von ihm erstellten Verzeichnis deutschsprachiger Dissertationen in der Alten Geschichte.2 Zu der von Alfred Kneppe und Josef Wiesehöfer verfassten Biographie des von den Nationalsozialisten aus der Universität Münster entfernten und schließlich im Kon­zen­ trations­­lager Theresienstadt ermordeten Münsteraner Althistorikers Friedrich Münzer steuerte er ein kommentiertes Verzeichnis der Schriften Münzers bei.3 In seiner Habilititationsschrift, die im Sommersemester 1986 vom Fachbereich Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität angenommen wurde, widmete sich Hans Drexhage erneut der Wirtschaftsgeschichte, diesmal auf einem Feld, dem er fürderhin treu blieb: Den wirtschaftlichen Verhältnissen der Provinz Aegyptus und ihrer reichen papyrologischen Überlieferung. Mit dieser Habilitationsschrift, die im Jahr 1991 veröffentlicht wurde,4 legte er nicht nur eine Basis für die Beschäftigung mit der Wirtschaftsgeschichte der Nilprovinz, sondern er entwickelte erstmals dezidierte Vorstellungen über Lebenshaltungskosten im römischen Ägypten, die wiederum eine Grundlage für weitere Studien der ökonomischen Gegebenheiten dieser Provinz bildeten. Nach Vertretungen von Geza Alföldy in Heidelberg (WS 1986/1987) und R. Malcolm Erring­

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Drexhage 1981. Drexhage 1980. Drexhage 1983. Drexhage 1991. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Vorwort der Herausgeber

ton in Marburg (WS 1988/1989) nahm er im Jahr 1994 einen Ruf an die Philipps-Uni­versität Marburg an, an der bis zum Wintersemester 2013/2014 lehrte. In einer Zeit, in der die primitivistische Sicht auf die Wirtschaft der Antike von ihren eigenen Vertretern als Orthodoxie verstanden und die Rolle des Handels in den Ökonomien der Antike mithin marginalisiert wurde, gründete Hans Drexhage zusammen mit Wolfgang Haber­mann die Münsterschen Beiträge zur Antiken Handelsgeschichte, deren erstes Heft im Jahr 1982 erschien. Wie im Vorwort ausgeführt, beurteilten die beiden Heraus­geber weder die Rostovtzeffsche These, der Handel sei in der Kaiserzeit die eigentliche Quelle des Reichtums gewesen, noch die Finleysche Gegenthese als überzeugend.5 Die MBAH, die mit dem Band 26 (2008) in Marburger Beiträge zur Antiken Handels-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte umbenannt und mit der gleichfalls von ihm und Julia Sünskes Thompson im Jahr 1990 begründeten Zeitschrift Laverna. Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Alten Welt vereint wurden, prägte Hans Drexhage als Herausgeber wesentlich, bis er sich nach 33 Jahrgängen aus dem Herausgebergremium zurückzog. Mit Peter Herz und Christoph Schäfer begründete er darüber hinaus die Schriftenreihe Pharos. Studien zur griechisch-römischen Antike, deren erster Band im Jahr 1992 erschien.6 Als akademischer Lehrer ist Hans Drexhage unvergleichlich. Seine oben bereits erwähnte liebenswürdige, humorvolle Art legte er auch in der Förderung des wissenschaftlichen Nach­ wuchses an den Tag, die ihm während seiner aktiven Dienstzeit immer am Herzen lag. Diese Förderung bestand auch und vor allem in seiner steten Ansprechbarkeit und Hilfs­bereitschaft, der Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit im Umgang miteinander sowie nicht zuletzt auch in der ihm eigenen Großzügigkeit. Unvergessen bleiben auch allen, die jemals teilgenommen haben, die Sommerfeste und Weihnachtsfeiern im Hause Drexhage. Manchen Irrungen und Wirrungen der Zeitläufte in der Universität begegnete er mit ironischer Distanz und löckte des Öfteren, nicht immer zur ungeteilten Freude von Funktions­ trägern, wider den Stachel des universitären Zeitgeistes. Im Namen aller Beitragenden verbinden wir die herzlichsten Glückwünsche zu seinem runden Ge­burtstag mit dem weiland im Marburger Seminar für Alte Geschichte üblichen Wunsch für Jubilare: AD MULTOS ANNOS! Kassel, im August 2018

Kai Ruffing



Kerstin Droß-Krüpe

Bibliographie Drexhage 1980 = H.-J. Drexhage, Deutschsprachige Dissertationen zur Alten Geschichte 1844–1978, Wies­baden 1980. Drexhage 1981 = H.-J. Drexhage, Wirtschaft und Handel in den frühchristlichen Gemeinden (1.–3. Jh. n.Chr.), RQS 76 (1981), 1–72. Drexhage 1983 = H.-J. Drexhage, Schriftenverzeichnis F. Münzers, in: A. Kneppe – J. Wiesehöfer, Fried­ rich Münzer. Ein Althistoriker zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Bonn 1983, 159–279. Drexhage 1991 = H.-J. Drexhage, Preise, Mieten/Pachten, Kosten und Löhne im römischen Ägypten bis zum Regierungsantritt Diokletians, St. Katharinen 1991. Stoll 1992 = O. Stoll, Die Skulpturenausstattung römischer Militäranlagen an Rhein und Donau. Der Obergermanisch-Rätische Limes, St. Katharinen 1992 (Pharos 1). 5 6

Vgl. MBAH 1/1 (1982), 1. Stoll 1992. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Handelsgeschichte

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Wurzeln im Wandtresor? Der Umgang mit Risiken in der antiken Seefahrt* Ulrike Ehmig Unter dem Titel Die Geburt des Risikos bekräftigte Benjamin Scheller im April-Heft 2017 der Historischen Zeitschrift seine ähnlich bereits im Jahr zuvor publizierten Überlegungen, wonach der Begriff „Risiko“ in Unterscheidung von „Gefahr“ in der Commenda gründe, einer bestimmten Form mittelalterlicher Seeverträge. Das Charakteristikum dieser Vereinbarungen, die seit dem fortgeschrittenen 12. Jahrhundert aus Italien, Frankreich und Spanien bezeugt sind, sei der Zusammenschluss ortsgebundener Investoren und reisender Händler mit einer spezifischen Aufteilung von Kapitaleinsatz, Gewinn und Verlusthaftung. In diesem Zusammenhang trete in der Imbreviatur des Genueser Notars Giovanni Scriba erstmals das Wort resicum, meist in der Wendung ad tuum resicum, auf.1 Für die Antike lässt sich kein eigenständiger Terminus für Risiko in Differenzierung von Ge­ fahr, dem griechischen κίνδυνος2 und dem lateinischen periculum3, benennen. Gleichwohl aber zeigt sich gerade aber auch im Hinblick auf die antike Seefahrt, dass die in ihre Abläufe involvierten Akteure sehr genau um die Risiko charakterisierende Möglichkeit und aus Erfahrung auch um die Wahrscheinlichkeit von Schäden und Verlusten wussten und in entsprechender Vielfalt gezielt präventive Maßnahmen ergriffen. Die Bandbreite der einschlägigen Handlungsweisen und Schutzmechanismen wird außer in literarischen Texten insbesondere in dokumentarischen und archäologischen Zeugnissen evident. Einzeln betrachtet, sind die betreffenden Quellen allesamt seit langem gut bekannt. Der Versuch einer systematischen Zusammen­stellung aber fehlt bislang. Ein erster Anlauf wird im Folgenden unternommen. Zur besseren Übersicht werden die – keineswegs mit Anspruch auf Vollständigkeit – zusammen­getragenen Quellen in drei Kategorien zusammengefasst. Diese spiegeln mit zweifellos fließenden Übergängen unterschied-

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Dem Beitrag liegen zwei an den Universitäten Bamberg und Osnabrück gehaltene Vorträge zugrunde. Struktur und Stil wurden für die schriftliche Ausarbeitung weitgehend beibehalten. Diese erfolgte im Rahmen von TP A03 „Materialität und Präsenz magischer Zeichen zwischen Antike und Mittelalter“ am Heidelberger Sonderforschungsbereich 933 „Materiale Textkulturen“. Der SFB wird durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert. Scheller 2017; Scheller 2016. Bei Giovanni Scriba tritt der Begriff in folgenden Fällen auf: LXIX (26.4.1156): ad tuum resicum, LXXXIX (30.6.1156): ad tuum resicum, CV (8.8.1156): ad tuum resicum, CXI (19.8.1156): ad tuum resicum, CCL (21.6.1157): ad resicum meum, CCLXXXVII (10.9.1157): ad tuum resicum, DCCXXXIX (26.8.1160): ad resicum et fortunam societatis, DCCCXII (16.4.1161): ad resicum et fortunam ipsius, DCCCXIV (29.3.1161): ad resicum et fortunam eorum, DCCCLVII (18.7.1161): ad resicum societatis, DCCCXCII (26.8.1161): ad resicum memorati Conradi, DCCCXCIII (27.8.1161): ad resicum eius, CMX (20.9.1161): ad resicum et fortunam Ugonis Lupi, MCCXVIII (19.6.1164): ad fortunam et resicum ipsius Ogerii, MCCXLV (22.7.1164): ad resicum Xeche; vgl. dazu Chiaudano – Moresco 1935 u. Chiaudano 1935. Vgl. hierzu die Abfrage-Ergebnisse des Thesaurus Linguae Graecae-Projektes, das seit 1972 an der Uni­ versity of California, Irvine, verfolgt wird, unter http://stephanus.tlg.uci.edu/index.php (Lemma κίνδυνος und Wortsuche κινδυν-; abgerufen am 20.12.2017). ThLL X 1, s.v. periculum (Berlin 1997), 1457–1471. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Ulrike Ehmig

liche Praktiken wider, mit möglichen Bedrohungen und Negativereignissen im Zusammenhang der antiken Seefahrt umzugehen. Sakralhandlungen In einer ersten Kategorie sind magisch-religiöse Maßnahmen präventiver Schadensabwehr erfasst. Mit der weiten Thematik der Sakralhandlungen bei antiken Seereisen hat sich Dieter Wachsmuth in einer auch 50 Jahre nach ihrem Erscheinen noch immer grundlegenden Studie auseinandergesetzt.4 Während Wachsmuths Untersuchung maßgeblich auf den literarischen Quellen basiert, die archäologischen dabei allerdings auch nicht außer Acht lässt, fokussiert Carrie E. Atkins in einer 2009 abgeschlossenen Arbeit auf die Frage nach dem sakralen Raum an Bord antiker Schiffe und den darin in religiös-magischen Handlungen gebrauchten Artefakten.5 Potentielle Gefahren auf See wurden mit der Ausgestaltung des Schiffsrumpfes mit verschiedenen, Übel abwehrenden Attributen regelrecht anvisiert. Die Animalisierung des Schiffsbugs, insbesondere des Schiffssporns bei Kriegsschiffen, für den man bevorzugt die Gestalt eines Eberkopfes wählte, ist in plastischer Ausarbeitung wie auch in bildlichen Darstellungen zu fassen.6 Sie ist, ebenso wie die vielfach antik bezeugten und noch heute mancherorts üblichen Schiffsaugen, die sogenannten ὀφθαλμοί, zentrales Element der Tendenz, den Schiffsbug als Tierkopf zu gestalten.7 Dessen vorausblickender Charakter hilft dem Schiff auf seinem Weg durch das lebensfeindliche Gewässer. Daher kommen insbesondere Bug und Vordersteven, also die vordere nach oben gezogene Verlängerung des Kiels, eine offensiver und gleichzeitig verteidigender Charakter zu. Archäologisch weniger dicht bezeugt sind in diesem Zusammenhang die am Vordersteven befestigten Hörner. Während es auch für sie moderne Parallelen gibt, waren bis zum Jahr 2006 erst acht Belege für Hörner aus Blei aus antiken Wracks bekannt, darunter als prominentes Beispiel das 26 cm lange Horn aus dem großen Wrack von Albenga aus dem frühen 1. Jahr­ hundert v.Chr.8 Dass gerade religiös-magische Praktiken lange Kontinuitäten aufweisen, beziehungsweise über einen langen Zeitraum kulturell spezifisch adaptiert wiederholt aufscheinen, zeigt insbesondere das Phänomen der sogenannten Mastmünzen. Für die Antike wurde erstmals Anfang der 1960er Jahre bei einem römischen Schiff aus der Themse in London eine entsprechende Beobachtung gemacht. In der Mastspur, der Aussparung und Halterung für den Mastfuß, des um 150 n.Chr. datierten Schiffes Blackfriars I kam ein As des Domitian aus dem Jahr 88/89 n.Chr­. zu Tage.9 Einmal darauf aufmerksam geworden, gibt es mittlerweile mehr als ein dut4 5 6 7 8

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Wachsmuth 1967. Atkins 2009; zu magischen Steinen im Sinne maritimer Amulette Perea Yébenes 2010. Lolling 1880; Wachsmuth 1967, 245–251; zum bronzenen Eberkopf aus den Unterwassergrabungen bei Fos Benoît 1962, 147–148. Nowak 2006; Carlson 2009; Eckert 2011, 104; zu neuzeitlichen Beispielen Hornell 1925. Wachsmuth 1965, 238–239; Gianfrotta et al. 1997, 112; Nowak 2006, 160–167 mit entsprechender Literatur; zu phönizischen Exemplaren Woolmer 2012; zu neuzeitlichen Beispielen Hornell 1923. Das Horn aus dem Wrack von Albenga ist im Museo Navale Romano ausgestellt. Ein Bild ist einsehbar im Inventario Catalogo dei Beni Culturali della Regione Liguria ICBC (http://catalogobeniculturali. regione.liguria.it/icbc/home.action) unter catalogo „reperti archeologici“ und oggetto „amuleto“. Zum Schiffsfund von Albenga grundlegend Lamboglia 1952 u. Pallarés 1997/1998, 45–53. Zum römischen Schiff von Blackfriars Marsden 1967 sowie Marsden 1994, 33–95, speziell 49 u. 53–55 Fig. 42–45 zum Fund der Mastmünze. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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zend weiterer solcher Funde aus römischer Zeit.10 Gleich ob man sie im Sinne eines Bauopfers oder als glückbringendes Amulett versteht, ihre Funktion ist unstrittig: Sie sollten eine erfolgreiche Fertigstellung des Schiffs und gute Fahrt garantieren.11 In Darstellungen auf Vasen oder Reliefs haben aber auch jene literarisch bezeugten Sakral­ handlungen materialen Niederschlag gefunden, die Schiffahrten regelmäßig begleiteten.12 Die vielfach in diesem Kontext zitierte schwarzfigurige Oinochoe des 5. Jh. v.Chr. aus Mykalessos etwa zeigt das euploia-Gebet am Beginn der Reise.13 Mit der salutatio deorum litoralium, der literarisch wiederholt beschriebenen Ehrbezeugung beim Passieren von Küstenheiligtümern, wird ein in Piräus gefundenes Weiherelief hellenistischer Zeit in Verbindung gebracht, das offensichtlich den Dioskuren galt.14 Das Opfer am Ende der Fahrt illustriert das bekannte Torlonia-Relief aus severischer Zeit, bei dem es sich vermutlich um eine Votivgabe für den Deus Liber handelte.15 Weihe- und Votivgaben, die aufgrund ihrer Form ebenfalls zweifellos mit den Gefahren der Seefahrt in Verbindung stehen, sind miniaturisierte Nachbildungen von Schiffen oder neuralgischer Schiffsteile wie insbesondere von Ankern.16 Literarisch ist die Stiftung von vielen weiteren Schiffsteilen und Artefakten, die mit der Seereise in Beziehung stehen, bezeugt.17 Archäol­ogisch sind diese in einer entsprechenden Funktion aus verständlichen Gründen kaum zu identifizieren. Ein besonders expliziter Beleg für Sakralhandlungen angesichts nautischer Gefahren stellen Votivinschriften dar, die berichten, dass in Seenot Götter um Hilfe angerufen wurden und die betreffenden Personen für ihre Rettung eine Gegengabe gelobten hatten.18 So bedankte sich beispielsweise der negotiator Lucius Licinius Divixtus in Marbach am Neckar bei den Boni Casus, den guten Zufällen, für sein Wohlergeben nach einer Havarie vermutlich wohl auf dem Neckar.19 Ebenfalls im Kontext eines naufragium entstand der Graffito auf dem Rand einer Terra Nigra Schüssel, die in Heidenheim zutage kam. Ein Amaranthus stiftete sie der Göttin Erucina, einer lokalen Ausprägung der Venus, die im Heiligtum auf dem Mons Eryx auf Sizilien 10 Marsden 1965; Rieth 1981, 54–55; insbesondere bei Carlson 2007 mit der Zusammenstellung der antiken Fälle sowie die Ergänzungen bei Thüry 2016, 57 Anm. 107; zu neuzeitlichen Exemplaren Henningsen 1965. 11 Zusammenfassend zur Interpretation der Funde Thüry 2016, 58. 12 Zu den literarischen Zeugnissen Wachsmuth 1967, 113–176; Eckert 2011, 105–108. 13 Archäologisches Museum Theben Inv. 17077. Vgl. Wachsmuth 1967, 150–154; Eckert 2011, 106–107, 110 Abb. 12; zur Aphrodite Euploia Demetriou 2010; Eckert 2016; zur epigraphischen Evidenz von Euploia Sandberg 1954. 14 Archäologisches Nationalmuseum Athen Inv. 1409. Vgl. Wachsmuth 1967, 156; Eckert 2011, 107, 111 Abb. 13. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die, soweit die Inschriften bislang bekannt sind, insbesondere mit den Dioskuren in Verbindung gebrachten Felsinschriften in der Bucht von Grammata in Albanien, dazu Hajdari et al. 2007, v.a. 360–370. 15 Musei di Villa Torlonia Rom, Inv. 430. Vgl. Wachsmuth 1965, 143–150; Eckert 2011, 108, 112 Abb. 15; zum Relief u.a. Fasciato 1947; ausführliche Beschreibung und Literaturliste in der Arachne Objektdatenbank unter http://arachne.uni-koeln.de/drupal/ unter Nr. 27295 (abgerufen am 21.12.2017). 16 Exemplarisch für die Antike Rieth 1981, 36–57; Eckert 2011, 104–107 mit Abb. 4–9. 17 Wachsmuth 1967, 133–142. 18 Vgl. Di Stefano Manzella 1997, v.a. 226–229; ferner Kajava 1997. 19 AE 1969/1970, 436 = Schillinger 1977, 36; vgl. Paret 1968. Weitere, in Seenot begründete lateinische Votiv­ inschriften: CIL XI 276 = ILS 818 = ILCV 20 = AE 2000, 574 = AE 2001, 971 = AE 2007, 560 (Ravenna); CIL V 3106 = ILS 3859 (Vicetia); AE 1976, 454 = AE 1978, 498 (Thésée); ILNovae 4 = IGLNovae 8 = AE 1989, 635 (Novae); CIL VIII 26491 = 26492 = ILTun 1398 = CLE 2036 = ILS 3293 (p. 181) (Thugga). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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beheimatet war.20 Am ehesten ist zu vermuten, dass Amaranthus aus Sizilien stammte und sich daher an die ihm aus der Heimat vertraute Gottheit wandte.21 Eventuell hielt er sich aber etwa auch aus geschäftlichen Gründen häufig dort auf und hatte nahe dem Mons Eryx Schiffbruch erlitten, wobei er der Göttin nach seiner Rückkehr nach Obergermanien für ihre Hilfe dankte. Handwerklich-technische Maßnahmen In einer zweiten Kategorie, die den Umgang mit Risiken in der antiken Seefahrt charakterisiert, sind handwerklich-technische Maßnahmen zur Optimierung der Schiffssicherheit zusammengefasst. Auf Beobachtungen und Erfahrungen von Schäden am Schiff reagierte man mit technischen Neuerungen. Hierzu zählen unter anderem komplexe Verbindungen, wenn der Kiel aus mehreren Balkenstücken zusammengesetzt wurde,22 Bleibeschichtungen des Rumpfes vom Kiel bis über die Wasserlinie zum Schutz des Holzes,23 Nüstergatts und Wasserablauföffnungen in den Bodenwrangen, die von durchlaufenden Seilen freigehalten werden konnten,24 oder der Einsatz von Bilgepumpen, um eingedrungenes Wasser aus dem Schiff zu pumpen.25 Manche dieser Maßnahmen sind bislang vornehmlich im Sinne ökonomischer Effizienz verstanden worden, weisen aber auch – oder vielmehr eher – einen ausgeprägt präventiven Charakter auf.26 Primär zählt hierzu die Beobachtung, dass die Kapazität antiker Schiffe in aller Regel unter 100 t lag, gerade aber in römischer Zeit eine Reihe deutlich größerer Frachter zum Einsatz kam.27 Wiederholt wurden in jüngerer Zeit die Auswirkungen größerer Schiffe auf Transport- und Handelskosten erörtert. Nur ganz beiläufig fand dabei Erwähnung, dass größere Schiffe gerade bei widrigen Gegebenheiten in aller Regel eine höhere Seetauglichkeit aufweisen. Das Verlustrisiko für Ladung und Schiff sank damit. In diesem Zusammenhang ist ein Befund zu erörtern, den die Unterwasserarchäologie wiederholt beschrieben hat, der aber bisher noch nie mit Risikoerwägungen in Verbindung gebracht worden ist: Aus dem Seegebiet zwischen der östlichen Tarraconensis, der Narbonensis und der nördlichen tyrrhenischen Küste sind die Wracks von einem dutzend sogenannter Dolienschiffe bekannt.28 Ihr Charakteristikum waren fest in ihnen installierte dolia mit einem Fassungsvermögen von 2.000 bis 2.500 l, also einem Äquivalent von jeweils bis zu 100 Amphoren. Für antike Verhältnisse waren dies gewaltige Transporttanks. Zur räumlichen Konzentration der Wracks kommt eine zeitliche: Die Schiffe datieren alle grosso modo von der Zeitenwende bis ins frühe 2. Jh. n.Chr. Die Frage, weshalb die Dolienschiffe eine derart enge 20 Hahn – Mratschek 1985. 21 Der Name ist zwar reichsweit verbreitet, aber gerade in Rom und Italien besonders häufig. 22 Vgl. Pomey et al. 2012, 246–248 mit Fig. 14 u. 15 zum Wrack Monaco A aus dem späten 2./frühen 3. Jh. n.Chr. Zum Wrack Mouchot 1968/1969; Parker 1995, 279–280 mit weiterer Literatur. 23 Vgl. die Beschreibung der 2 mm starken und im Abstand von 5,5 cm genagelten Bleiplatten beim Wrack Madrague de Giens bei Tchernia et al. 1978, 85 mit Pl. XXXIV 1; ferner etwa auch die Funde von Villa Nova in der Bucht von Grado, wo Reste einer Beplankung samt aufgenagelten Bleiplatten beobachtet werden konnten, dazu Gaddi 1999, 21–22 mit Fig. 3 24 Besonders eindrucksvoll ist der Befund des Wracks Saint-Gervais 3, vgl. Liou – Gassend 1990, 229 u.233 Fig. 94 u. 95. 25 Vgl. Carre – Jézégou 1984. 26 Zum folgenden exemplarisch zuletzt Warnking 2015. 27 Zur Größenordnung römischer Transportschiffe Pomey – Tchernia 1978. 28 Zusammenfassend Marlier 2008; zur Rekonstruktion eines Doliumschiffs Carre – Roman 2008. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Befundgruppe darstellen, also bereits kurz nach ihrer Entwicklung offenbar wieder aufgegeben wurden, ist bislang nicht gestellt worden. Folgendes Szenario könnte verantwortlich gewesen sein: In augusteischer Zeit entwickelte man zwischen Rom und Neapel, vermutlich in der Umgebung von Minturnae – dort wird die Herkunft der Dolien aufgrund ihrer Stempel verortet 29 –, die Idee, Produkte, allem voran Wein, in deutlich größeren Mengen, als es in Amphoren möglich war, nach Norden zu transportieren. Mit den Dolienschiffen erzielte man zwar mehr Gewinn, zugleich aber war ihr Einsatz wegen der Belastung der Schiffsmitte womöglich risikoreicher; der Verlust war höher als bei einem kleineren Frachter.30 Die Risiken könnten den am Seehandel Beteiligten zu groß geworden sein, so dass man Bau und Nutzung der Miniaturtanker spätestens im frühen 2. Jh. n.Chr. bereits wieder einstellte. Als weiteres Instrumentarium in der Kategorie technischer Risikoprävention sind bleierne Lote zu nennen, mit deren Hilfe die Wassertiefe ermittelt werden konnte.31 Für antike wie frühneuzeitliche Bleilote typisch ist die Höhlung an der Unterseite, die dazu diente, Bodenproben zu gewinnen. Mit entsprechender Erfahrung waren auf diese Weise zum einen Ortsbestimmungen möglich, zu anderen ließ sich geeigneter Grund zum Ankern finden. Die frühesten der bis heute bekannten 200 antiken Exemplare stammen aus dem Wrack von Gela im Süden Siziliens aus dem frühen 5. Jh. v.Chr. Chronologisch konzentrieren sich die Funde dieser Instrumente, die wie Küstenbeschreibungen32 und Leuchttürme33 einer optimalen Orientierung dienten, jedoch erneut in der Blütezeit der römischen Seefahrt zwischen der Mitte des 2. Jh. v.Chr. und dem 2. Jh. n.Chr. Erprobte Verhaltensweisen Der Einsatz von Bleiloten leitet über zur dritten Kategorie des Umgangs mit Risiken in der antiken Schiffahrt. Hierunter erfasst sind erprobte Verhaltensweisen der an der Seefahrt beteiligten Personen angesichts spezifischer Situationen und Gefahrenlagen. Das betrifft beispielsweise Umfang und Handhabung der Schiffahrt im Winter. Ausgehend von Vegetius’ im späten 4. Jahrhundert n.Chr. formulierten Ratschlägen für die Seekriegsführung34 hat die Forschung lange die Ansicht vertreten, zwischen Mitte November und Mitte März sei die antike Schiffahrt ein­gestellt worden. Gegen das Verdikt des mare clausum aber sind in jüngerer Zeit vielfach Stimmen laut geworden.35 Die zusammengetragenen Zeugnisse zeigen, dass man sich der Risiken von Seefahrtsunternehmen im Winter sehr wohl bewusst war, sie aber bei entsprechender Kalkulation fallweise durchaus bewusst in Kauf nahm. Nach einer Schilderung Suetons for­cierte etwa Claudius angesichts von Missernten und Getreideknappheit Kornlieferungen im W­inter.36 Hierzu garantierte er den Händlern, eventuelle Verluste zu übernehmen, wenn jemand in dieser Zeit der Stürme Schiffbruch erleiden sollte. 29 30 31 32 33

Gianfrotta – Hesnard 1987 sowie kurz Hesnard et al. 1988, 143. Zum Verstauen der Ladung Gianfrotta et al. 1997, 126. Grundlegend zusammenfassend Oleson 2008. Exemplarisch Güngerich 1950; Frézouls 1984; Casson 1989; Marek 1993; zuletzt De Romanis 2016. Zu den Leuchttürmen in Dover Wheeler 1929; zum jüngst entdeckten Leuchtturm von Patara İşkan-Işik et al. 2008; İşkan et al. 2016, 83–91. 34 Veg. mil. 4,39: Praecepta belli navalis: Quibus mensibus tutius navigetur. 35 Zusammenfassend Tammuz 2005; Beresford 2013. 36 Suet. Claud. 18,2. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Der Fall eines Seedarlehens, das an das jahreszeitlich bedingt erhöhte Risiko angepasst wurde, ist bereits aus einer Demosthenes zugeschriebenen Rede aus dem Athen des 4. Jahrhunderts v.Chr. bezeugt.37 Gegenstand war ein Darlehen von 3.000 Drachmen für den Transport von 3.000 Weinamphoren zu einem Zinssatz von 22,5 %. Festgeschrieben wurde, dass der Satz auf 30 % steigen sollte, wenn die Händler noch nach Mitte September mit der Ware unterwegs wären. Gleichfalls zur Kategorie erprobter Verhaltensregeln ist der Umgang mit der Piratengefahr zu zählen.38 Das Piratenunwesen hatte sich seit dem 2. Jahrhundert v.Chr. vom östlichen Mittelmeerraum aus stark ausbreitet, um erst durch die konzertierten Aktionen Roms unter Leitung des Pompeius im Jahr 67 v.Chr. ein weitgehendes Ende zu finden. Einzelne Überfälle dürften freilich auch danach immer wieder stattgefunden haben. So gut Piraten literarisch oder auch bildlich in Form von Darstellungen der mythologischen Gefangennahme des Dionysos bezeugt sind, so gering sind, gerade auch aus der Unterwasserwelt, dem Phänomen klar zuweisbare archäologische Hinweise. Ein archäologischer Befund aber kongruiert mit dem skizzierten Risiko von Piratenüberfällen auf hoher See: Von einer Reihe antiker Wracks, die sich in bemerkenswerter Weise in der literarisch bezeugten Hochzeit der Piraterie konzentrieren, sind Waffen bezeugt, bei denen es sich angesichts ihrer geringen Zahl sicher nicht um Transportgut handelte. Vielmehr hat man den Eindruck, sie gehörten zur Bordausstattung und dienten der Besatzung zum Schutz des Schiffes.39 In diesem Zusammenhang ist auch an die von Plinius überlieferten sagittarii zu erinnern, Bogenschützen, die regelmäßig die Transportschiffe von Arabien nach Indien begleiteten.40 Das letzte Themenfeld in der dritten Kategorie zum Umgang mit Risiken bei der antiken Seefahrt umfasst die unterschiedlichen Vertragsmodelle, die zur Finanzierung und zur Risikoverteilung im Zusammenhang von Schiffstransporten abgeschlossen werden konnten. Es schließt die Miete oder Pacht ganzer Schiffe, teils samt Besatzung, ebenso ein, wie jene von Partien des Laderaums oder die Regelungen zum Transport von Waren gegen Entgelt in Form von Frachtverträgen. Ausgehend von einem Papyrus augusteischer Zeit, der eine Schiffsmiete dokumentiert, hat Eva Jakab die den Verträgen inhärenten Risikodifferenzierungen skizziert.41 Um Transport- und Schiffsrisiko möglichst gering zu halten, schlossen Händler üblicherweise einen Darlehensvertrag, das fenus nauticum.42 Reiche Privatleute oder Bankiers übernahmen als Gläubiger gegen hohe Zinsen die Seegefahr, das heißt alle Risiken, aufgrund derer die Händler einen Vertrag unverschuldet nicht erfüllen konnten. Diese Risiken gründeten in vis maior, in schwerer See oder Feuer, die zu Untergang und Verlust von Schiff und Ladung führen konnten, ferner in Kriegshandlungen und Seeräuberei. Über derartige Vereinbarungen informieren vor allem auf Papyri oder in den Vesuvstädten auf wachsbeschichteten Holztafeln erhaltene Verträge. Zudem diskutieren antike juristische Quellen reale wie konstruierte Schadensfälle. In archäologischen Zeugnissen dagegen schien diese zentrale Form antiker Risikoprävention trotz ihrer Bedeutung in der alltäglichen Realität der Seetransporte nicht fassbar zu sein. 37 Demosth. or. 35,10; vgl. Thalheim 1888. 38 Zuletzt De Souza 1999; De Souza 2012; Álvarez-Ossorio Rivas et al. 2013; Sintès 2016. 39 Vgl. die Zusammenstellung bei Cavazzuti 1997; ferner auch Cavazzuti 2004; Beltrame 2002, 33–36; Gianfrotta et al. 1997, 55. 40 Plin. nat. hist. 6,101. 41 Jakab 2009 ausgehend von P.Köln III 147. 42 Zusammenfassend Schuster 2005. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Mit der Neubewertung der Funktion der Aufschriften auf römischen Amphoren, dem antiken Seetransportgut schlechthin43, scheint diese Diskrepanz überbrückt44: Charakteristikum der Aufschriften aller kaiserzeitlicher Amphoren der lateinischsprachigen Reichshälfte ist die Nennung jener Personen, die für ihren Seetransport verantwortlich waren. Die Information war aber kaum für den Abnehmer oder Konsumenten von Interesse, wohl dagegen im Zusammenhang der Seeverträge. In der Antike wie generell der Vormoderne, aber auch heute noch bei Containerschiffen, war und ist es Usus, dass mehrere Händler ihre Waren auf ein und demselben Schiff transportierten. Für die Antike bezeugen dies Ladungslisten45, ferner die Bemerkungen des Juristen Paulus zur Lex Rhodia de iactu46 und schließlich auch die Tituli auf den Amphoren aus kaiserzeitlichen Schiffswracks im westlichen Mittelmeer. Diese tragen nämlich in einem Schiff nicht ein- und dieselben Namen, sondern man findet stets verschiedene, jeweils auf Gruppen von Amphoren. Eine namentliche Kennzeichnung war notwendig für eine regelhafte Abwicklung des Transports, um am Ende der Reise die Waren eindeutig denen, die das Schiff bestückt hatten, wieder zuweisen zu können. Ein entsprechendes Interesse hatten aber nicht nur die Händler. Mit den Darlehensverträgen übertrugen sie das Seerisiko auf die Geldgeber ihrer Unternehmungen. Im vermutlich häufigsten Schadensfall, bei schwerer See, galt die Lex Rhodia de iactu, eine im klassischen oder hellenistischen Rhodos entstandene Gewohnheitspraxis, die in Rom übernommen und tradiert wurde. Die Regelung, bekannt zuerst aus Quellen des 3. nachchristlichen Jahrhunderts, dann aus zahlreichen spätantiken bis mittelalterlichen Rechtssammlungen, sah vor, bei Seenot Ladung in einem Maße über Bord zu werfen, wie es für die Rettung des Schiffs notwendig war. Gelang dies, wurde der Schaden unter denen, die das Schiff bestückt hatten, aufgeteilt, und zwar entsprechend ihrem Anteil an der Ladung.47 Zu diesem Zweck war es notwendig, verlorene und gerettete Fracht den jeweiligen Transporteuren eindeutig zuweisen zu können. Das gelang unter anderem, indem ihre Namen fester Bestandteil der Tituli waren. Aber auch die übrigen Bestandteile der Aufschriften auf den Amphoren passen zu den juristischen Vereinbarungen im Rahmen der Seeverträge. Das zeigen etwa die einfachen Namen, die zusätzlich zu denen der Transporteure regelmäßig in den Formularen auftreten: Wenn Schiff und Ware ohne Schaden bis zum Zielort gebracht waren, schuldete der Händler dem Gläubiger das Darlehen. Die Geldgeber ergriffen dabei offensichtlich eigene Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen, indem sie die Fahrt in aller Regel von einem ihrer Sklaven, für die derart einfache Namen typisch waren, begleiten ließen. Die Spuren solcher Warenbegleiter finden sich in einer Reihe von Quellen: Zu nennen sind die in den in Papyri überlieferten ἐ̉πίπλοοι, die in staatlichem Auftrag den Transport von ägyptischem Getreide nach Rom begleiteten.48 Nach 43 Den Anteil der mit Amphoren beladenen Schiffe exakt abzuschätzen, ist schwierig, da die publizierten Zusammenstellungen und Datenbanken von Wracks auch solche aus vor- und nachantiker Zeit erfassen. Gleichwohl dürfte weit mehr als jedes dritte antike Transportschiff im westlichen Mittelmeer (auch) Amphoren geladen haben, vgl. so die Schiffsdatenbank des „The Oxford Roman Economy Project“, wo für 565 der erfassten 1784 Wracks Amphoren ausgewiesen werden, http://oxrep.classics.ox.ac.uk/databases/shipwrecks_database/ (abgerufen am 27.12.2017). 44 Zum folgenden Ehmig 2014a u. 2014b. 45 Beispielsweise P.Lugd. Bat. XIII 6 aus dem 1. Jh. n.Chr. 46 Paul. Dig. 14,2,2,2. 47 Exemplarisch zur Lex Rhodia de iactu in jüngerer Zeit Letsios 1996; Wagner 1997; Krampe 2009. 48 P.Lond. II 378 aus dem 2. Jh. n.Chr., dazu Sijpestejn 1993; vgl. auch Frösen 1978. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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den Angaben in einer unter der Überschrift Ius navale Rhodiorum überlieferten byzantinischen Rechtssammlung durften weiterhin zwei παῖδες, also zwei Diener, Sklaven, mit den Waren an Bord eines Schiffes entsandt werden.49 Schließlich ist eine in Beirut erworbene, partiell durch Umarbeitung zerstörte Bronzetafel mit der Abschrift eines Briefes eines praefectus annonae aus dem Jahr 201 n.Chr. zu nennen50: Die Kollegien der navicularii aus Arles, die womöglich für Weinlieferungen im Rahmen der sogenannten annona tätig waren, hatten in ihrer Eingabe beim Präfekten gedroht, ihre Arbeit einzustellen. Hintergrund war, dass zum Be- oder Entladen ihrer Ladungen offenbar andere Maße verwendet worden waren als üblich, so dass sie als Transporteure mit angeblichen Verlusten konfrontiert waren. Um diese Situation abzustellen, sollten, so das Antwortschreiben, die verwendeten Maße gekennzeichnet und prosecutores, offizielles Begleitpersonal, auf den Schiffen eingesetzt werden. Offenbar war die Entsendung von Vertrauenspersonen, die die Transaktionen begleiteten, ein probates Mittel, Missbräuchen vorzubeugen. Den entsprechenden archäologischen Hinweis liefern die Tituli auf den Amphoren als dem häufigsten Seetransportgut der Antike. Die Wurzeln des Risikos Blickt man an diesem Punkt zurück, war bisher die Geburtsstunde des Risikos im CommendaVertrag des 12. Jahrhunderts mit seiner typischen Risikoaufteilung und dem Gebrauch des Begriffs resicum festgemacht worden. Mit dem Überblick über den Umgang mit Risiken in der antiken Seefahrt wird deutlich, dass das Erkennen möglicher, in der Zukunft liegender Schadenssituationen und ein präventives Agieren tatsächlich aber bereits in der Antike ausgeprägt und in den verschiedensten Quellen zu fassen sind. Der Maßnahmenkatalog reicht von einer Absicherung mithilfe der Götter über technische Entwicklungen bis hin zu juristisch-ökonomischen Vereinbarungen, die sich von denen des Mittelalters allenfalls in Nuancen unterscheiden. Die Forschung ist sich auch keineswegs darüber einig, dass die Commenda eine wirklich neue und eigenständige Vertragsform darstellte. Vielmehr werden unter Rechtshistorikern, sofern sie den Blick bis zur Antike zurück öffnen, eine Entwicklung aus dem antiken Seevertrag respektive Unterschiede zwischen fenus nauticum und Commenda diskutiert.51 Die weitere Sprachentwicklung des mittellateinischen resicum, das in etwas mehr als einem Dutzend der Commenda-Verträge des 12. Jahrhunderts gebraucht wird, ist seit langem umstritten.52 In aller Regel findet man eine Verknüpfung mit arabisch rizq.53 Rizq aber beschreibt den Lebensunterhalt, der von Gottes Gnaden oder dem Geschick abhängt. Gerade diese Bedeutung jedoch lässt an einer entsprechenden Herleitung zweifeln: Resicum ist in den Verträgen häufig Bestandteil der Wendung ad tuum resicum debeo portare54, was so viel meint wie „auf Dein Risiko hin verpflichte ich mich zum Transport der genannten Waren an einen bestimmten Ort“. Die Wendung hat dabei aber gerade nichts mit göttlichem Wohlwollen zu tun, sondern 49 Compilation appelée droit maritime des Rhodiens. Fragmenta ad rem nauticam pertinentia quae vulgo vocantur Ius navale Rhodiorum, vgl. Pardessus 1847, 231–260. 50 CIL III 14165, 8; vgl. Eich 2004, 65–68; insbesondere Corbier 1996, 233–256 sowie jetzt Cuvigny 2017, 106–110. 51 Vgl. etwa Silberschmidt 1884; Condanari-Michler 1937, 24–38; Perdikas 1966; Pryor 1977; Ceccarelli 2001; Ceccarelli 2010; Zwierlein 2013. 52 Tazi 1998, 232 mit Anm. 39. 53 Kedar 1969; Piron 2004; Osman 2010, 102; Aven 2014, 20–22; Doron 2016, 18. 54 Vgl. Anm. 2. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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mit der konkreten finanziellen Verpflichtung einer der beiden Vertragsparteien. Vor diesem Hintergrund soll eine andere und bisher noch nie diskutierte Ableitung des Begriffs favorisiert werden: Vorgeschlagen wird, die Wurzeln des Risikos im griechischen ῥίσκος, beziehungsweise im lateinischen Lehnwort riscus zu suchen. Mit ῥίσκος und riscus wurde in hellenistischer wie auch in römischer Zeit ein Behältnis beschrieben, einerseits allgemein in der Verwendung für Bekleidung, speziell als Reisetruhe55, andererseits spezifisch gebraucht für Schmuck und Wertsachen56. Der spätrömische Grammatiker und Lexikograph Nonius beschreibt riscus als eine Art von Wandtresor, als loca in parietibus angusta.57 Über den riscus wurden, nach dem folgenden Zeugnis zu urteilen, auch Finanzgeschäfte abgewickelt: 1959 kamen nahe Pompeji 120 Wachstafeln zutage, die Bankgeschäfte der in Puteoli tätigen Sulpicii dokumentieren.58 Ein Set dieser Tafeln enthält das Hausbuch einer Titinia Antracis.59 Sie zahlte im März 43 n.Chr. einer Euplia 1.600 Sesterzen aus. Für diesen Be­trag bürgte der Vormund der Euplia. Der einschlägige Terminus für die Kasse, aus der die be­treffenden Gelder entnommen beziehungsweise wieder zurückgelegt wurde, lautet domo ex risco – im Haus aus dem Tresor, dem riscus.60 Von der Schmuckschatulle und dem Wandtresor, über den, wie das Beispiel der Titinia Antracis zeigt, schon im 1. Jh. n.Chr. Handelsgeschäfte liefen, hin zur Kasse der Gläubiger, die im 12. Jahrhundert die Seerisiken trugen, ist es nur ein kleiner und inhaltlich sehr naheliegender Schritt. Vor diesem Hintergrund wird hier vorgeschlagen, die Geburt des Risikos nicht nur faktisch, sondern auch terminologisch in der Antike zu verorten. Bibliographie Álvarez-Ossorio Rivas et al. 2013 = A. Álvarez-Ossorio Rivas et al. (eds.), Piratería y seguridad marítima en el Mediterráneo antiguo, Sevilla 2013. Atkins 2009 = C. E. Atkins, More than a Hull. Religious Ritual and Sacred Space on Board the Ancient Ship, Master’s thesis, Texas A&M University 2009, http://oaktrust.library.tamu.edu/handle/1969.1/ ETD-TAMU-2009-12-7485 (abgerufen am 19.12.2017). Aven 2014 = T. Aven, Risk, Surprises and Black Swans. Fundamental ideas and concepts in risk assessment and risk management, London – New York 2014. Beltrame 2002 = C. Beltrame, Vita di bordo in età romana, Roma 2002. Benoît 1962 = F. Benoît, Nouvelles épaves de Provence (III), Gallia 20/1 (1962), 147–176. Beresford 2013 = J. Beresford, The Ancient Sailing Season, Leiden 2013 (Mnemosyne Suppl. 351). Broekaert 2017 = W. Broekaert, Conflicts, Contract Enforcement, and Business Communities in the Archive of the Sulpicii, in: M. Flohr – A. Wilson (eds.), The Economy of Pompeii, Oxford 2017 (Ox­ ford Studies on the Roman Economy), 387–415. Camodeca 2000 = G. Camodeca, Per un primo aggiornamento all’edizione dell’archivio dei Sulpicii (TPSulp.), Cahiers du Centre Gustave Glotz 11 (2000), 173–191. Carlson 2007 = D. N. Carlson, Mast-Step Coins among the Romans, The International Journal of Nauti­ cal Archaeology 36/2 (2007), 317–324. Carlson 2009 = D. N. Carlson, Seeing the Sea. Ships’ Eyes in Classical Greece, Hesperia 78/3 (2009), 347–365. 55 Zum Beispiel P.Cair. Zen. I 59054 u. 59092; vgl. auch allgemeiner PSI IV 428; P.Lond. VII 1941 u. 2141. 56 Vgl. Ulp. Dig. 34,2,25,10; eventuell auch P.Coll. Youtie II 71. 57 Non. 195; vgl. Hug 1914. 58 Zuletzt vor allem Camodeca 2000; Wolf 2001; Wolf 2010; Broekaert 2017. 59 TPSulp 60 = TPN 49 = AE 1982, 186 = AE 1990, 169a. 60 Zum riscus-Begriff in den Tabulae Pompeianae Sulpiciorum Gröschler 1997, 80–81 u. 90–91. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Augustus und die alexandrinischen Seeleute in Puteoli. Einige Überlegungen zu den Anfängen der kaiserzeitlichen Annona-Flotte Heinrich Konen Als er gerade an der Bucht von Puteoli vorbeisegelte, haben ihn Passagiere und Seeleute von einem Schiff aus Alexandria, das eben eingelaufen war, in weißen Gewändern mit Kränzen auf den Häuptern und Weihrauch opfernd mit Glückwünschen und besonderen Lobliedern überschüttet: durch ihn lebten sie, durch ihn führen sie zur See, durch ihn genössen sie Freiheit und Wohlstand!1

Diese berühmte Episode aus der Augustus-Biographie des Sueton, die eine sich wohl eher zufällig ergebende, dann aber sehr emotional werdende Begegnung des kurz vor seinem Tode stehenden Kaisers mit den Passagieren und Seeleuten aus der damals größten Handelsmetropole des Imperiums thematisiert, soll der Ausgangspunkt unserer Betrachtungen sein. Aus dem Vorgang wird erkennbar – und das war sicher auch die Absicht des Autors –, welche positive Veränderung die nunmehr über 40 Jahre währende Kaiserherrschaft gerade jenen Bewohnern aus den östlichen Provinzen des römischen Reiches brachte, die in irgendeiner Weise im Seeverkehr verwickelt waren, d.h. als Schiffseigner, Händler, Matrosen und Geldgeber. (Ökonomische) Freiheit und das Glück den Frieden zu genießen, und dabei zugleich die Möglichkeit zu haben, unbehindert zur See zu fahren, all’ diese Dinge waren bis dahin keine Selbstverständlichkeit gewesen. Noch nicht aus der Erinnerung gestrichen waren die Zeiten, in denen die Seeräuber, die von den Küsten Kilikiens und Kretas aus ihr Handwerk betrieben, „nicht nur das östliche, sondern auch das gesamte Mittelmeer bis zu den Säulen des Herkules beherrschten“. Sie überfielen in Ostia die konsularische Flotte und setzten bei weiteren Raubzügen entlang der Gestade Latiums und Kampaniens sogar römische Prätoren sowie hochrangige Senatorenfrauen in Geiselhaft.2 Noch nicht vergessen war auch die Zeit, in der die Flottenführer des Bürgerkrieges (49–31 v.Chr.) ihre Blockaden über die Meere hinweg errichteten,3 in der für die Überführung von großen Armeen quasi der zur Verfügung stehende Transportraum ganzer Regionen beschlagnahmt und verschlissen wurde.4 Mit dem nun einkehrenden, fast 250 Jahre währenden und nur episodisch von 1

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Vgl. Suet. Aug. 98,2: (…) Forte Puteolanum sinum praetervehenti vectores nautaeque de navi Alexandrina, quae tantum quod appulerat, candidati coronatique et tura libantes fausta omina et eximias laudes congesserant, per illum se vivere, per illum navigare, libertate atque fortunis per illum frui. Ob die hier erwähnte Opferhandlung bereits im Gange war und für die Lobpreisung des Augustus unterbrochen wurde, oder Augustus selbst das Objekt der religiösen Handlung war, muss offenbleiben. Ersteres ist m.E. eher möglich, da die Seeleute schon alle Vorbereitungen zum Opfer getroffen hatten und kaum über die Vorbeifahrt des Princeps unterrichtet gewesen sein dürften. Vgl. Jaschke 2010, 135 mit Anm. 657. Vgl. App. Mithr. 93: ὥστε πολλαὶ τάχιστα αὐτῶν μυριάδες ἦσαν, καὶ οὐ μόνης ἔτι τῆς ἑῴας θα­λάσσης ἐκράτουν, ἀλλὰ καὶ τῆς ἐντὸς Ἡρακλείων στηλῶν ἁπάσης (…); Cic., pro lege Manilia 29–35; Cic., pro L. Valerio Flacco 29; Cass. Dio 36,20–37; Plut. Pomp. 24,6; App. Mithr. 93. So z.B. Sextus Pompeius zw. 42 u. 39 v.Chr.; vgl. Cass. Dio 48,18–19, Liv. per. 123 und App. civ. 5,69 f., 72 u. 100. Pompeius z.B. setzte im Jahre 81 v.Chr. von Sizilien mit einem Heer von sechs Legionen nach Afrika über und bewerkstelligte dies u.a. mit 800 Lastkähnen; vgl. Plut. Pomp. 11. Lepidus führte im Jahr 36 v.Chr. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Bürgerkriegen unterbrochenen Frieden im Imperium Romanum durchlebte die Schifffahrt auf dem Mediterraneum dann eine neue, in ihren Rahmenbedingungen äußerst günstige Phase.5 Allein schon in dem Umstand, dass ein von Kriegsereignissen unbeeinträchtigter Warenverkehr zum Regelfall wurde, lag ein entscheidender Vorteil gegenüber den früheren Tagen. Dies verminderte abrupte Schwankungen in der Intensität des Geschäfts und der Preis­entwicklung. Zugleich war es besser möglich, für sich Gewinnchancen auf entfernteren Märkten zu kalkulieren und entsprechend ein lohnendes Geschäft im Direkthandel einzurichten, anstatt mit kleiner und wechselnder Ware die Küstenorte abzufahren.6 Parallel dazu entwickelten sich im römischen Herrschaftsraum umfassende Institutionen, einschließlich eines Handelsrechts und einer (mit Ausnahme Ägyptens) einheitlichen Währung. Dies erleichterte das Prozedere des Handels und Güteraustauschs enorm und verringerte erheblich die damit verbundenen ‚Trans­ aktionskosten‘.7 Ein anderer Punkt, der allgemein zur Verbesserung der Situation beitrug, war der sich jetzt dem Seeverkehr noch weiter öffnende Kreditmarkt.8 Es lohnte sich angesichts der sicheren rechtlichen und staatlichen Rahmenbedingungen, massiv in Gewinn versprechende Unternehmungen zu investieren und neue Risiken auf sich zu nehmen.9 Abgerundet wurde das Paket an hilfreichen Faktoren für einen sich verstärkenden Warenaustausch schließlich durch technische Innovationen im Bereich der Schifffahrt bzw. im Schiffbau, die in dieser Phase voll durchschlugen, und infrastrukturelle Verbesserungen, die sich unter anderem in der Er­richtung und dem Ausbau von Häfen äußerten.10 Eine Frage, der an dieser Stelle nachgegangen werden soll, ist, ob es für die in der anfangs an­geführten Quelle gegenüber dem ersten Princeps sichtbar werdende Dankbarkeit und Be­ geisterung der alexandrinischen „Seeleute und Passagiere“, die nach meiner Ansicht sinnbildlich auch für die aus dieser Stadt kommenden Handels­kapitäne (naukleroi) und Kaufleute stehen, über die skizzierten günstigen Rahmen­bedingungen hinaus noch weitere Beweggründe gegeben hat. Sie auszumachen und präzise zu beschreiben, wird nicht eben leichtfallen, da direkte kaiserliche Erlasse, den im Gütertransport involvierten Alexandrinern in finanzieller, technischer und infrastruktureller Hinsicht besondere Fürsorge angedeihen zu lassen, bislang nicht überliefert sind.11 Aber es könnte sich lohnen, und dies ist der eigentliche Zweck dieses Bei­trages, Indizien und Phänomene zusammenzutragen und in einen Kontext zueinander

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ein Heer von 12 Legionen mit 12.000 numidischen Reitern und „bedeutender“ Ausrüstung auf u.a. 1.000 schweren Lastschiffen von Afrika nach Sizilien; vgl. App. civ. 5,98. Weitere umfangreiche Belege für diese Zeit bei: Kromayer 1897, 432–480. Sinnbildlich für die Gunst der Zeit steht vielleicht die berühmte Rom-Rede des Aelius Aristides aus dem Jahr 155 n.Chr., in der recht schön in §§ 11–13 (ed. Klein 1981) auch die in jener Zeit sich zeigende Blüte der Schifffahrt beschrieben wird. Vgl. zu den nun dominierenden Handelsstrategien Arnaud 2011a, 61–80. Vgl. zur Transaktionskostentheorie Scheidel 2011, 30 f. Vgl. Rathbone 2003, 179–229. Exemplarisch dafür steht das Geschäftsgebaren des Freigelassenen Trimalchio im Satyricon, in dem der Verfasser, höchstwahrscheinlich Petronius Arbiter, offenbar das Milieu und Niveau der neureichen Liberti in Puteoli überspitzt karikiert; vgl. dazu die Quellen und Literatur in Anm. 24. Vgl. Wilson 2011a, 224–229. Zum allg. Verhältnis des Augustus gegenüber den Alexandrinern nach der Eroberung Ägyptens vgl. Pfeiffer 2010, 32 f. (mit den Quellen). Dieser nahm ihnen einerseits mit dem Stadtrat das zentrale Gre­ mium ihrer Selbstverwaltung und Außenrepräsentation, privilegierte sie aber andererseits, indem er sie von den einheimischen Ägyptern rechtlich unterschied und von der Kopfsteuer befreite. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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zu stellen, aus dem sich gerade jenes Bild eines für die Großreeder und Geschäftsleute aus der Handels­metropole am Nil überaus fürsorglichen Mentors ergibt. Zunächst sollte man sich klar darüber sein, welche besonderen Interessen und Zwänge Augustus dazu bewegten, sich eingehend und aktiv mit den Obliegenheiten der Frachtschifffahrt zu beschäftigen und hinsichtlich ihrer Entwicklung positive, den Alexandrinern zu Gute kommende Akzente zu setzen. Die Antwort darauf und auf die Frage, warum gerade jene in der von Sueton sicher bewusst gewählten und in den Kontext der letzten Wochen des Princeps gestellten Episode Erwähnung fanden, ist schnell gefunden. Man muss sich nur die mit der Ausübung der Herrschaft über Rom als Zentrum der Macht verbundenen Probleme und Verpflichtungen im Bereich der Lebensmittelversorgung vergegenwärtigen. Die nicht unerheblichen Störungen in der Getreideversorgung der antiken Riesenmetropole in der Frühzeit seiner Alleinherrschaft und die damit verbundenen Hungerrevolten der plebs urbana hatten ihn, nachdem bereits im Jahr zuvor zur Besserung der Lage zwölf Getreidespenden aus seinem Privatvermögen verteilt worden waren (Res Gest. 15), im Jahre 22 v.Chr. dazu gezwungen, offiziell die cura annonae für die Stadt mit allen damit verbundenen Problemen und Kosten zu übernehmen.12 Damit einher ging nicht nur die Notwendigkeit, die plebs frumentaria – seit dem recensus von 2 v.Chr. eingeschränkt von 320.000 auf 200.000 männliche Personen (Cass. Dio 55,10,1)13 – ständig, zuverlässig und kostenlos mit Korn (monatlich 5 modii pro Kopf) zu beliefern,14 sondern darüber hinaus auch hinreichende Getreidemengen für eine allgemeine und reibungslose Versorgung der Millionenstadt am Tiber bereitzustellen. Der Gesamtbedarf wird in der Forschung verschieden hoch zwischen über 250.000 und 400.000 t per anno angesetzt.15 Hält man sich an die epitome de Caesaribus aus der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts, dann dürften für die augusteische Zeit allein von Ägypten aus jährlich 20.000.000 modii oder umgerechnet 134.600 t (an Steuergetreide und privat erworbenem Getreide) über einen weit über 2.000 km langen Seeweg zum damals bedeutendsten und wichtigsten Umschlaghafen Italiens, Puteoli, gebracht und von dort aus mit kleineren Schiffen (naves codicarii) weiter nach Rom geleitet worden sein.16 Dies war ein gewaltiger Anteil, der sich dann in den nächsten Jahrzehnten bis hin zur flavischen Zeit durch die verstärkten Ausfuhrmöglichkeiten aus Nordafrika vielleicht etwas reduzierte.17 Tatsächlich gelang es dem Princeps durch den Einsatz seiner enormen finanziellen Mittel aus der ägyptischen Beute und auch wegen seiner umfassenden Zugriffsmöglichkeiten auf das im 12 Vgl. Cass. Dio 53,33,4–5 u. 54,1,4; R.Gest.div.Aug. 5,1–2. Zur cura annonae als seither dezidierte kaiserliche Aufgabe vgl. auch Tac. ann. 3,54,6–8. 13 Vorher waren es mehr, wie aus der oben genannten Stelle bei Cassius Dio hervorgeht und v.a. aus den in den Res Gestae erwähnten Congiarien zu eruieren ist. Vgl. Res gest. 15: (…) et tribunicia potestate duodecimum quadringenos nummos tertium viritim dedi. Quae mea congiaria pervenerunt ad hominum millia nunquam minus quinquaginta et ducenta. Tribuniciae potestatis duodevicensimum, consul XII, trecentis et viginti millibus plebis urbanae sexagenos denarios viritim dedi. (…) Consul tertium decimum sexagenos denarios plebei, quae tum frumentum publicum accipiebat, dedi; ea millia hominum paullo plura quam ducenta fuerunt. 14 Vgl. Drexhage et al. 2002, 211. 15 Vgl. zur ersten Zahl Rickman 1980a, 263 f. u. 1980b, 231, zur zweiten Casson 1980, 21. Andere Be­ rechnungen haben Erdkamp 2007, 226 f. u. de Salvo 1992, 85–90 zusammengefasst. 16 Vgl. Epit. de Caes. 1,6: Huius tempore ex Aegypto urbi annua ducenties centena milia frumenti inferebantur. Zur Verlässlichkeit der Quelle Erdkamp 2007, 227. 17 Ein Indiz hierfür ist nach G. Rickman (vgl. die Literatur in Anm. 11) eine Bemerkung bei Flavius Jose­ phus, wonach in den siebziger Jahren des 1. Jahrhunderts n.Chr. die Provinz Africa Rom für acht Monate © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Jahre 30 v.Chr. als kaiserliche Provinz annektierte, kornreiche Nilland, die problematische Lage in kürzester Zeit zu bereinigen.18 Diese Fürsorge gipfelte im Jahre 7 n.Chr. in der Errichtung der praefectura annonae mit dafür geeigneten, weil fachlich versierten Führungskräften, so dass das schwierige Feld der Getreideversorgung fortan einer effizienten und leistungsfähigen staatlichen Behörde anvertraut war.19 Ein wichtiger Garant dieses Erfolges wird, um auf die mutmaßlich enge Kooperation des Kaisers mit den Puteoli ansteuernden Alexandrinern zu sprechen zu kommen, gewesen sein, dass durch von ihm angewiesene staatliche Funktionäre seit den 20er Jahren längerfristige Getreide­ lieferverträge mit ihnen, die über den ständigen Kontakt zur Heimat faktisch an der Quelle saßen, abgeschlossen wurden. Diese implizierten, dass die Transporteure angemessene Frachtsätze (vecturae) in Geld und/oder Naturalien für die Überführung des Steuergetreides erhielten.20 Ihre Höhe ist unbekannt. Sie lagen aber wohl höher, als die in der Spätantike überlieferten, die – was etwa die Beförderung von Korn von Alexandria nach Konstantinopel betraf – auf 4% der Ladung und 1 Solidus pro 1.000 modii Getreide festgelegt waren.21 Doch dürfte dies allein nicht ausgereicht haben, um ad hoc die notwendigen Kapazitäten an Schiffsraum zu erhalten. Um 22 v.Chr. gab es zwar einen regen Handel von Ägypten nach Kampanien mit Luxuswaren aus Arabien und Indien sowie hochwertigen Gebrauchsgütern, und es existierte mit dem 12 km nördlich von Neapel gelegenen Großhafen Puteoli und seiner damals vermutlich in der Entstehung begriffenen Mole (s.u. Anm. 67), die Schutz vor den für die Häfen Kampaniens gefährlichen Südwinden bot, auch schon ein geeigneter Zivilhafen für den Verkehr nach Osten,22 aber keinesfalls dürfte die für einen großdimensionierten und langfristigen Getreidetransport geeignete Tonnage zur Verfügung gestanden haben.23 Es fehlten hunderte von schweren Frachtseglern für die jährlich zu spedierenden Getreidemengen. Damit das Geschäft schnell auf Touren kam, wird es gewisser Hilfestellungen bedurft haben, etwa indem durch die Bereitstellung von Fachleuten technische Innovationen gefördert bzw. begünstigt wurden, oder indem man durch substantielle materielle und finanzielle Zuwendungen Schiffbau im großen Rahmen erst ermöglichte. Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt konnte schließlich sein, dass man speziell den alexandrinischen Reedern Möglichkeiten gewährte, ihr bisheriges Geschäftsfeld mit dem reinen Transfer von staatlichen Getreide in eine sinnvolle Verbindung zu bringen. Über die Rolle des Princeps im Bereich der Innovationen, dies sei auch eingestanden, können keine direkten Nachweise geliefert werden. Denkbar wäre aber eine vom ihm veranlasste

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des Jahres mit Getreide versorge, Ägypten für vier Monate (Iud. 2,383 u. 386). Überzeugende Kritik an der Reduktion bei Erdkamp 2005, 225–234. Vgl. Res gest. 15: (...) (et) consul undecimum duodecim frumentationes frumento privatim coempto emensus sum. Zu seinem Reichtum v.a. bedingt durch die ägyptische Beute Bringmann – Schäfer 2002, 57 f.; zur nachhaltigen Getreideproduktionssteigerung in Ägypten unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Römer Suet. Aug. 18,2; Epit. de Caes. 1,3 u. 1,5; Bonneau 1993 (mit weiteren Quellen). Vgl. Herz 1988, 66 f.; Sirks 1991; Rickman 1980b. Vgl. Herz 1988, 62 u. 65 f. Vgl. Cod. Theod. 13,5,7 (1.12.334); dazu Herz 1988, 241. Vgl. Jaschke 2010, 43–50 (mit weiteren Quellen). Vgl. Jaschke 2010, 133. Erste Ansätze eines voluminöseren Getreideexportes zeigen sich in P.Bingen 45 (= TUAT NF 2, 383), wo für das Jahr 33 v.Chr. die Privilegierung eines Römers durch Kleopatra VII. zum Export von künftig jährlich 10.000 Artaben pro Jahr belegt ist. Für die These von Casson 1984, 81–85, dass schon vor 30 v.Chr. massenweise Korn aus Ägypten nach Italien gelangte, fehlen aber weitere Belege; vgl. Erdkamp 2007, 232. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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technische und materielle Unterstützung beim Bau von Schiffen. Dabei ist insbesondere an die Bereitstellung von geeignetem Bauholz und an eine Unterstützung durch die vom Kaiser mit eigenen Mitteln geschaffene und bereits einige Jahre vor 22 v.Chr. am Südwestende des Golfs von Baiae stationierte classis Misenensis zu denken, deren Techniker und Pioniere herausragende Erfahrung im Schiffbau besaßen.24 Es steht ferner zu erwarten, dass – vielleicht auf Drängen des Kaisers – reiche Investoren aus Italien und aus Alexandria, als Geld- und Kreditgeber ganz erhebliche Mittel in den Ausbau und die Verbesserung der bald regelmäßig zwischen Alexandria und Puteoli verkehrenden Annona-Flotte gesteckt haben.25 Feststellen lässt sich jedenfalls aus einer Reihe von Quellen, die die Mitte des 1. Jahrhunderts n.Chr. spiegeln, dass sich seit jener Zeit die Fahreigenschaften und die Frachtkapazitäten der zwischen Puteoli und Alexandria verkehrenden naves annonariae bzw. onerariae bedeutend verbessert bzw. vergrößert hatten. Diese standen im Ranking der Handelsflotten der bedeutenden Seestädte im Mittelmeerraum nun ganz oben. Besonders die Aussagen von Plinius dem Älteren, Philon von Alexandria und Seneca dem Jüngerem verdienen in dieser Hinsicht Beachtung. Der erstgenannte verweist, als er in seiner Naturgeschichte auf den Flachs zu sprechen kommt, mit Blick gerade auf die von Puteoli nach Ägypten segelnden Frachter z.B. auf die in seiner Zeit vorherrschende Tendenz, die aus jenem Material gewobenen Tuche in immer mehr Segelfläche zu verwandeln und in komplexere Beseglungssysteme zu integrieren: Was gibt es für ein größeres Wunder als eine Pflanze (aus der Leinensegel gefertigt werden), die Ägyp­ ten so nahe an Italien heranrückt, dass [der unter Tiberius amtierende praefectus Aegypti] Galerius von der Sizilischen Meerenge in sieben Tagen, [T. Claudius] Balbillus, ebenfalls ein Statthalter [unter Nero], in sechs nach Alexandrien gelangte, im anschließenden Sommer aber Valerius Marianus (…) die Strecke von Puteoli aus trotz äußerst schwachen Windes in neun Tagen schaffte? (…). Man sät etwas, um Wind und Stürme einzufangen, und es genügt (heute) nicht, allein mit der Strömung zu fahren; ja auch Segel, größer als die Schiffe, genügen nicht, und obgleich man für die großen Segelstangen ganze Bäume braucht, fügt man über die Segel noch weitere Segel hinzu, weitere noch an Bug und am Heck (…).26 24 Vgl. zur Stationierung der Flotte Saddington 2007, 209; Reddé 1986, 186–197 (mit einem etwas späteren Gründungsansatz kurz vor 12 v.Chr.); Philipp 1932, 2043–2048. Die im Nemi-See nachweisbaren riesigen Zeremonienschiffe des Caligula und die Beifunde bezeugen übrigens, dass sich hier für einige Jahre eine Art Versuchsanstalt der Marine befunden hat, in der die Ingenieure der Flotte stromlinienförmige Bug- und Heckflächen, wirkungsvolle Rumpfbeschichtungen, Bilgen- und Druckpumpensysteme, neuartige Ankerformen und Heckrudersysteme und vor allem den Bau von Großschiffen von 70 m Länge er­probten; vgl. Ucelli 1940; Carlson 2002. 25 Rathbone (2002, 202) beziffert z.B. die Baukosten für ein Schiff von 300 t auf zwischen 227.000–273.000 HS. Reiche Geldgeber, wie einst Cato Maior, der in Schiffsunternehmungen investierte (vgl. Plut. Cato 21), gab es in Puteoli genügend. Erwähnt seien die beiden Calpurnii, die von den mercatores qui Alexandr(iai) Asiai Syriae negotiantur geehrt wurden (vgl. CIL X 1797). Zu ihrem hohen Status vgl. Jaschke 2010, 129. Die Calpurnii hatten zahlreiche Freigelassene in ihrer familia (CIL X 1613, 1631, 1784, 1797, 1943, 1950, 2007–2018, 2336, 2404). Zu reichen Alexandrinern vgl. Rathbone 2003, 221–223. Liberti als Investoren, Kreditgeber und Schiffseigner sind eine weitere Option, wie das Beispiel des Trimalchio in Petrons’ Satyri­ con zeigt. Er ist – emporgekommen – zuerst direkt und en gros im Handel tätig, geht dann aber in den Grundbesitz und beginnt mit Geldverleih; vgl. Petron. sat. 76 f.; Erdkamp 2005, 126 f. Der Kaiser selbst konnte durch seine Freigelassenen und Sklaven Geld investieren, wie aus den Kreditverträgen hervorgeht (vgl. z.B. TPSulp 51 o. TSulp. 52 [ed. Camodeca 2010]). Vgl. hierzu Jaschke 2010, 194 f. u. 198 f. 26 Vgl. Plin. nat. hist. 19,3–5: quodve miraculum maius, herbam esse quae admoveat Aegyptum Italiae in tantum, ut Galerius a freto Siciliae Alexandriam septimo die pervenerit, Balbillus sexto, ambo praefecti, aestate © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Seine Beschreibung, die eindeutig nicht auf Kriegsschiffe, sondern auf große Frachtsegler gemünzt ist,27 findet eine Bestätigung bei Philon von Alexandria. Dieser verweist auf eine Be­ merkung des Kaisers Caligula gegenüber dem jüdischen Prinzen Agrippa I., der von Rom aus zurück in die Heimat zu reisen beabsichtigte. Er solle lieber direkt von Puteoli aus nach Alex­andria reisen, denn die dortigen Frachter seien „schnelle Segler, ihre Steuerleute hätten große Erfahrung“ und lenkten ihre Schiffe „wie Rennpferde“, indem „sie den geraden Kurs, ohne abzuschweifen, einhalten“ würden.28 Einen weiteren Beleg ihrer Ausnahmestellung liefert schließlich ein Brief Senecas, in dem dieser konkret über die besondere Wirkung des Marssegels (siparum) berichtet, welches über dem mittschiffs platzierten großen Rahsegel aufgedockt war: Dies [die Ankunft der im Frühjahr geschlossen nach Puteloli hinüberfahrenden Alexandrinischen Getreideschiffe] ist für Campanien ein erfreulicher Anblick. Man steht scharenweise auf der Mole von Puteoli und erkennt unter noch so vielen Schiffen die Alexandrinischen an ihren Segeln. Denn sie allein dürfen das sog. Siparum aufziehen, welches (mittlerweile) auf der hohen See alle Schiffe führen. Denn nichts beschleunigt so sehr die Fahrt, als das oberste Segel, durch welches das Schiff am stärksten fortgetrieben wird (…).29

Und kurz darauf lässt uns der Philosoph noch einmal wissen, dass die alexandrinischen Segel­ frachter gegenüber den anderen einen Vorrang genießen, denn „wenn man bis Capri und an das Vorgebirge gekommen ist, wo ‚hoch Pallas (Athene) von ihrem stürmischen Gipfel herabschaut‘, so müssen sich die übrigen Schiffe mit dem unteren Segel begnügen; das Siparum ist das Wahrzeichen der Alexandriner.“30 Dass mit dem schon in der frühen Kaiserzeit fassbar werdenden Verbesserungen in der Segeltechnik 31 zwingend auch eine Vergrößerung der Schiffstonnage einherging, ergibt sich, wenn es um konkrete Zahlenangaben geht, erst aus Zeugnissen des 2. Jahrhunderts. Sie gilt es zunächst einmal in Erinnerung zu rufen. Stets bemüht wird z.B. eine Rechtsverordnung aus der Zeit Kaiser Mark Aurels, wonach Schiffseigner ein Fahrzeug mit einer Ladekapazität von mindestens 50.000 modii (ca. 340 t) oder mehrere von mindestens 10.000 modii (67 t) mit wenigstens der gleichen Tonnage für die Stadt Rom zur Verfügung stellen konnten, um in den Genuss der vacatio muneris publici („Freiheit von der Pflicht öffentliche Dienste zu leisten“) zu vero proxima Valerius Marianus ex praetoriis senatoribus a Puteolis nono die lenissumo flatu? (…) aliquid seri, ut ventos procellasque capiat, et parum esse fluctibus solis vehi, iam vero nec vela satis esse maiora navigiis, sed, quamvis amplitudini antemnarum singulae arbores sufficiant, super eas tamen addi velorum alia vela, praeterque in proris et alia in puppibus pandi (…). 27 Sehr stark bemannte Kriegsschiffe besaßen kein Ober- und Hecksegel. Sie verfügten für die meist zwei Wochen währende Direktfahrt auch nicht über den notwendigen Stauraum für Wasser und Nahrungs­ mittel; vgl. Saddington 2011, 204. Bekannt ist aber, dass ägyptische Statthalter bei ihrer Ankunft feierlich von einer kleinen Flotte eingeholt wurden; vgl. SB XIV 11906, 2.–3. Jh. n.Chr. 28 Vgl. Philon, in Flacc. 26: (…) τάς τε γὰρ ἐκεῖθεν ὁλκάδας ταχυναυτεῖν ἔφασκε καὶ ἐμπειροτάτοuς εἶναι κυβερνήτας, οἳ καθάπερ ἀθλητὰς ἴππους ἡνιοχοῦσιν ἀπλανῇ παρέχοντες τὸν ἐπ᾽ εὐθείας δρόμον.

29 Sen. epist. 77,1 f.: (…) Gratus illarum Campaniae aspectus est: omnis in pilis Puteolorum turba constitit et ex ipso genere velorum Alexandrinas quamvis in magna turba navium intellegit; solis enim licet siparum intendere, quod in alto omnes habent naves. Nulla enim res aeque adiuvat cursum quam summa pars veli; illinc maxime navis urgetur. 30 Vgl. ebd.: (…) Cum intravere Capreas et promunturium ex quo ‚alta procelloso speculatur vertice Pallas‘, ceterae velo iubentur esse contentae: siparum Alexandrinarum insigne [indicium] est. 31 Vgl. dazu ausführlich Arnaud 2011b, 147–160; Wilson 2011b, 44 f.; Wilson 2011a, 220 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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gelangen.32 Noch beeindruckender ist der recht ausführliche Bericht Lukians von Samosata über die Isis, ein von Alexandria kommendes, durch mehrere Stürme in den Piräus verschlagenes Getreideschiff der Annona-Flotte. Es hat nach den Berechnungen von Lionel Casson eine Länge von 55 m, eine Breite von 13 m und eine Deckhöhe (über den Kiel) von 13,25 m besessen und insgesamt eine Ladekapazität von 1.228 t aufgewiesen.33 Dieser Text wird in der Forschung bisweilen als rein erdacht und aus literarischen Topoi und Klischees zusammengewebt angesehen.34 Er gewinnt aber zweifellos an Glaubwürdigkeit, wenn man auf den vor einigen Jahren veröffentlichten Papyrus Bingen 77, einen zwischen 117 und 212 n.Chr. anzusiedelnden Aus­zug aus dem Amtstagebuch eines nicht näher genannten, sich aber sehr wahrscheinlich auf Alex­ an­dria in Ägypten beziehenden Hafens schaut.35 In den hier listenartig aufgeführten und im Hin­blick auf ihr Fassungsvermögen, ihre Ladung, Besitzer und Betreiber sowie die absolvierte Handels­tour näher beschriebenen Schiffen, die wohl an zwei Tagen im Herbst einliefen, ist auch ein aus Ostia gekommener Frachter, der Eigentum des Lucius Pompeius Metrodorus war, auf­geführt. Dessen Ladevermögen wird, falls die Lesung des Ersteditors Paul Heilporn richtig ist, auf 22.500 Artaben (d.h. ca. 900 m3, oder – in Gewicht umgerechnet – rd. 675 t Getreide) beziffert!36 Er scheint im Sommer im Verband der alexandrinischen Getreideflotte nach Italien gefahren zu sein und kam, nach Löschung der Ladung und Erledigung aller Formalitäten, jetzt offenkundig leer in seine Heimat zurück. Betrachtet man also diese Zeugnisse aus verschiedenen Quellengruppen, kommt man kaum umhin, die Frachtkapazitäten der regelmäßig verkehrenden alexandrinischen naves annonariae als im Regelfall enorm, ja teilweise sogar überragend einzuschätzen. Dass dies auch in den Augen der Zeitgenossen eine feste Vorstellung war, geht aus einer eher beiläufigen Bemerkung Arrians zu den speziellen Fahrzeugen, die Trajan auf dem Euphrat im Zuge seines großen Partherfeldzuges einsetzte, recht deutlich hervor. Er beschreibt d­iese, um die besondere Größe herauszustellen, in der Tiefe und Breite als gleichrangig zu den größten nikomedischen und ägyptischen (= alexandrinischen) Handelsfrachtern seiner Tage.37 32 Vgl. Scaev. 3 reg. Dig. 50,5,3: His qui naves marinas fabricaverunt et ad annonam populi Romani non minores quinquagenia milium modiorum aut plures singulas non minores decem miliium modiorum, donec hac naves navigant aut aliae in earum locum, muneris publici vacatio praestatur ob navem. Dazu Sirks 1991, 71 ff.; Herz 1988, 90–92 u. 122 f. sieht erst seit Claudius einen Trend zu immer größeren Schiffen, da unter diesem für wohlhabende, aber in ihrem gesellschaftlichen Status oder ihrer Geschäftsfähigkeit eingeschränkte Bevölkerungsgruppen Italiens eine abgestufte Privilegierung erfolgte, wenn sie ein Schiff mit mindestens 10.000 modii Traglast bauten und sechs Jahre lang im Korntransport nach Rom einsetzten; vgl. Suet. Claud. 18,4–19 u. die Präzisierung bei Gai. inst. 1,32c. Patrice Pomey und André Tchernia hingegen sehen dessen Privilegierungen nur auf die zwischen Puteoli und Rom verkehrenden naves caudicariae bezogen, für die weiten Fahrten über das Mittelmeer bedürfe es weitaus größerer Schiffe; vgl. Pomey – Tchernia 1980/1981, 29 ff.; (zustimmend auch) Virlouvet 1985, 101 Anm. 43; Erdkamp 2007, 177. 33 Vgl. Luk. navig. 5 f. u. Casson 21995, 186–189; Casson 1950, 43–56. 34 Vgl. Houston 1987, 144–150. Anders (und überzeugend) Husson 1975, 12–25. 35 Vgl. Heilporn 2000, 339–359. 36 Vgl. P.Bingen 77, Z. 9 f.: χρ( ) Ὠστείων α̣ [ ] Λ̣ουκίου Πομπεΐου Μητροδῴρου ̣[ – ca.? – ] Α α ̣ λ ̣  ̣( ) [(ἀρτάβαι) (μυριάδων)] β̣ ἐφ’ ἅρματο(ς) (Übers.: „Aus Ostia, [das Schiff ] des Lucius Pompeius Metrodoros, [Name: N.N.]; 22.500 Artaben. Kehrt leer zurück“). Die Kapazitätsangabe ist schwer lesbar, sie könnte nach D. Rathbone (2003, 223) auch als 12.500 Artaben beziffert sein! Für eine Datierung des fragmentarischen Auszugs in den Sept. bzw. Okt. vgl. Herz 2011, 14; zum Füllvolumen und Gewicht der Artabe (ca. 39 l bzw. 30 kg) vgl. Konen 2007, 31 Anm. 31 (mit weiterer Literatur). 37 Vgl. Parth. Fr. 67 = Jacoby, FGH Nr. 156, fr. 154, vol. II B, p. 876. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Für die Zeit des frühen 1. Jahrhunderts fehlen wie gesagt präzise Tonnageangaben oder Bau­ beschreibungen.38 Aber es spricht doch Bände, dass man in Berichten, die sich auf die neronische Zeit beziehen, bemerkenswerte Passagierzahlen auf den von Ägypten nach Italien fahrenden Annona-Frachtern in Erfahrung bringen kann. Die in der Apostelgeschichte festgehaltene Paulus­reise nach Rom im Jahre 59/60 n.Chr. z.B. erfolgte von Myra in Lykien aus u.a. auf einem alexandrinischen Getreideschiff, auf welchem sich zum Zeitpunkt des Scheiterns vor Malta 278 Passagiere befanden!39 Dieses war im fortgeschrittenen Herbst unterwegs gewesen, als die Seefahrt auf dem Mittelmeer bereits gefährlich war und kurz davor stand, (wie alljährlich üblich) für einige Monate gänzlich eingestellt zu werden (mare clausum).40 Dass in der günstigeren Sommerzeit noch wesentlich mehr Menschen an Bord solcher Schiffe sein konnten, verdeutlicht der Bericht von Flavius Josephus über die Umstände seines Seeunglücks in der Adria. Er hatte ebenfalls einen sich auf dem Weg nach Puteoli befindlichen Getreidefrachter für seine Reise ausgewählt, und schließlich das Glück mit 80 weiteren Passagieren nach dem Sturm und dem Untergang des Schiffs gerettet zu werden, während zeitgleich fast 520 den Tod fanden.41 Mit solchen Ziffern, die der Kapazität größerer Passagierfähren in heutiger Zeit nahekommen, ist eine allgemein bedeutende Größe der alexandrinischen Getreidefrachter, schon in der frühen Kaiserzeit als wahrscheinlich einzustufen. Man darf sogar vermuten, dass vor dem Hintergrund der bevorstehenden Aufgaben ein ausgesprochener Wille seitens der sich nun in der annona engagierenden Reeder und der mit ihnen kooperierenden staatlichen Funktionäre vorherrschte, diese von Beginn an großdimensioniert zu gestalten, um die massenhafte Über­führung von Getreide aus Ägypten auf möglichst wirtschaftliche Weise zu ermöglichen.42 Schiffe mit einer Kapazität von 10.000 modii (= rd. 67 t), deren Bau und anschließender Betrieb für die annona später von Claudius gegen Gewährung rechtlicher Vergünstigungen angestoßen wurde (vgl. Anm. 11), mochten für die Getreidelieferungen aus den Provinzen Africa, Sardinien und Sizilien oder für den Pendelverkehr der caudicariae naves zwischen Puteoli und Rom praktikabel sein, sicher aber nicht für die Langstreckentour von und nach Ägypten. Deren eher bescheidene Größe wird auch sichtbar, wenn man den Blick noch einmal auf P.Bingen 77 richtet und verfolgt, welche anderen Schiffe aus überseeischen Gebieten in Alexandria an dem Tag einfuhren, als auch der AnnonaFrachter des Metrodorus festmachte. Es waren überwiegend Rudersegler vom Typ ἄκατος, die aus den Hafenplätzen des Ostens z.B. Aigai, Laodikeia und Libyssa kamen und deren Tonnage sich bei meist 2.000 Artaben (= 60 t) bewegte.43 Diese standen in ihren Dimensionen (Schiffslänge, 38 Die in Anm. 32 angeführten, auf die Zeit des Claudius bezugnehmenden Nachrichten liefern, was die in Richtung Alexandria segelnden Frachter angeht, keinesfalls sichere Richtwerte, zumal sie in den Kontext einer Notfallmaßnahme gehören. Zu einem mutmaßlichen Getreideschiff wohl hellenisch-östlicher Pro­ venienz, das im Jahre 57 n.Chr. aus Sidon nach Puteoli gekommen war und eine Ladung von ca. 120 t führte, vgl. TPSulp 106 [ed. Camodeca 1999] und dazu Jaschke 2010, 313–215. 39 Vgl. Apg. 27,37: eramus vero universae animae in navi ducentae septuaginta sex. 40 Vgl. Veg. de rei milit. 4,39; weitere Quellen und Details bei Pomey 1997, 25–26. 41 Vgl. Ios. Vita 3,15: βαπτισθέντος γὰρ ἡμῶν τοῦ πλοίου κατὰ μέσον τὸν Ἀδρίαν περὶ ἑξακοσίους τὸν ἀριθμὸν ὄντες δι᾽ ὅλης τῆς νυκτὸς ἐνηξάμεθα, καὶ περὶ ἀρχομένην ἡμέραν ἐπιφανέντος ἡμῖν κατὰ θεοῦ πρόνοιαν Κυρηναϊκοῦ πλοίου φθάσαντες τοὺς ἄλλους ἐγώ τε καί τινες ἕτεροι περὶ ὀγδοήκοντα σύμπαντες ἀνελήφθημεν εἰς τὸ πλοῖον.

42 Vgl. etwa die Einschätzung von Herz 1988, 62: Der „Transport über See mit hohen Betriebsrisiken konnte am besten mit großen Schiffen versehen werden“. Ähnlich Hopkins 1984, 98. 43 Vgl. P.Bingen 77, Z. 5, 11, 13, 17, 21 u. 24. Anzumerken ist, dass der in Z. 21 erwähnte ἄκατος aus Side in Pamphylien sogar 7.000 Artaben (= 218 t) aufweist. Der in Z. 13 erwähnte Frachter mit nur 1.000 © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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-breite u. -höhe) den Schiffen mit 10.000 modii Tragkraft sicher keinesfalls nach, weil bei ihnen der Laderaum im Rumpf durch die längs an beiden Bordseiten integrierten Ruderbänke stark beschnitten war. Wenn also die in den Quellen suggerierte Vorstellung richtig ist, dass die Annona-Frachter aus Alexandria in Gestalt und Größe gegenüber den Handelsseglern jener Zeit herausragten, dann spricht auch das sich im dortigen Hafen laut P.Bingen 77 präsentierende Ambiente eher dafür, dass das Schiff des Metrodorus von seiner Kapazität her eher die Regel als die Ausnahme darstellte. Technisch gesehen wird dem Ansinnen großdimensioniert zu bauen in der Zeit des frühen Prinzipats nicht viel im Weg gestanden haben. Archäologisch untersuchte Schiffe von über 100 t Ladekapazität sind für die Zeit ab 100 v.Chr. leicht nachzuweisen,44 und zwei der größten römischen Wracks, die im Kontext des florierenden Weinhandels zwischen Italien (Puteoli) und Südgallien vor dem Gallischen Krieg Caesars zu sehen sind, die von Albenga und Madrague de Giens, datieren bereits in die spätrepublikanische Zeit.45 Das Albenga-Schiff sank um 100–80 v.Chr. mit einer auf 11.500 bzw. 13.000 Dressel 1B-Weinamphoren geschätzten Hauptladung sowie großen Mengen an Haselnüssen und Getreide (wohl abgepackt in Säcken und auf den Amphoren liegend). Es hatte nach der Schätzung von Anthony J. Parker eine totale Last von 500–600 t, während jenes bei Madrague de Giens (Südfrankreich), welches auf 75–60 v.Chr. datiert und ca. 6.000–7.000 italische Weinamphoren trug, in dieser Hinsicht nach Ansicht von Patrice Pomey auf immerhin 375–400 t hinaufreicht! Für den letztgenannten Frachter lässt sich auch nachweisen, dass man das Problem der Wasserhebung aus dem unteren Schiffsrumpf durch den Einsatz von leistungsfähigen Hebesystemen und Bilgenpumpen mittlerweile in den Griff bekommen hatte und die Fahreigenschaften und die Stabilität des Rumpfes durch eine entsprechende Linienführung (Weinglasform, „scharfe Rümpfe“, konkav ausgeführte Rümpfe mit Bugspitze) sowie Sicherungsmaßnahmen (etwa Konzeption des Doppelhautschiffs) zu opti­ mieren vermochte.46 Abgesehen von der Möglichkeit, Gewinn aus den Frachtraten im staatlichen Getreidetransport zu erzielen, muss es für die alexandrinischen Reeder und Handelskapitäne aber noch weitere Anreize gegeben haben, die Erträge abzurunden und möglichst große und moderne Schiffe auf Artaben Ladekapazität war hingegen mit Ölamphoren an Bord „vom Kanal her“ in den „Großen Hafen“ gekommen, d.h. als Binnen- oder Küstenschiff vermutlich entweder vom Mareotis-Binnensee und seiner Anbindung an den Hafen oder vom Kaiserkanal, der die Verbindung hin zum östlich verlaufenden kanopischen Nilmündungsarm darstellte, herangefahren. 44 Vgl. etwa die Hinweise auf Myriophoroi bzw. Myriogogoi bei Strab. 3,3,1 (ὁ δὲ Τάγος καὶ τὸ πλάτος ἔχει τοῦ στόματος εἴκοσί που σταδίων καὶ τὸ βάθος μέγα, ὥστε μυριαγωγοῖς ἀναπλεῖσθαι) u. 17,1,26 (πλάτος δ᾽ ἔχει πηχῶν ἑκατὸν ἡ διῶρυξ, βάθος δ᾽ ὅσον ἀρκεῖν μυριοφόρῳ νηί). Wenn sich hier 10.000 auf ein Talent bezieht, wären diese Schiffe mit einer Ladung von 260 t versehen, wenn dagegen entsprechend viele Amphoren oder Medimnen gemeint sind, mit etwas über 400 t! Vgl. dazu Casson 21995, 172 Anm. 25 (mit weiteren, zeitlich meist später anzusetzenden Belegen); Tchernia 2011, 83–88. 45 Vgl. Wilson 2011b, 39 f.; Wilson 2011a, 213 f.; ferner (zum Wrack von Albenga) Wilson 2009, 249; (zum Wrack von Madrague Giens) Parker 1992, 249 f.; Liou – Pomey 1985, 559–567; Pomey 1982, 133–154, Tchernia et al. 1978. 46 Vgl. zur Entwicklung der Pumpentechnik Wilson 2011b, 42 (mit weiterer Literatur); Wilson 2011a, 41 f.; speziell zur Rumpfgestaltung, insbesondere der Einführung der Weinglasform mit ausgeprägtem Kiel Pomey 2011a, 40; Pomey 1982, 140–151; Pomey 2011b, 48 f.; Wilson 2011a, 217–221; zur verstärkten Bord­wandung Steffy 1994, 62–65. Dieser Fortschritt darf aber nicht nur graduell gesehen werden, er war eher ein komplizierter und regional unterschiedlich verlaufender Prozess (siehe Steffy 1994; Hocker – Ward 2004; Pomey – Rieth 2005, 156–183). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Kiel zu legen. Die sich nicht zuletzt aus dem in Puteoli entdeckten Sulpicier-Archiv erschließende Möglichkeit, nach entsprechender Lizenzierung des Kaisers oder des praefectus Aegypti bzw. (seit 7 n.Chr.) des praefectus annonae auch auf dem freien Markt Ägyptens erworbenes Getreide in Massen zu spedieren, war hier sicher von erheblicher Bedeutung.47 Aus dem Hinweis von Aurelius Victor einerseits, dass 20.000.000 modii jährlich von Ägypten nach Italien gelangten, und dem Umstand andererseits, dass die monatlichen frumentationes in Rom mit 12–15.000.000 modii per anno zu veranschlagen sind, sich dieses Getreide aber auch aus bedeutenden Importen aus Africa zusammensetzte48, können wir hier leicht ein Potential von über 10.000.000 modii (= 67.000 t) verschlagen. Die mit dieser Liefermenge verbundenen Gewinnmöglichen waren für die alexandrinischen Reeder und Großhändler v.a. in Jahren eklatanter Getreideknappheit in Italien sicherlich ganz enorm.49 Zu erinnern wäre nur an die Notjahre 23/22 v.Chr., als Augustus umfangreiche Getreidekäufe tätigen musste, um über zahlreiche frumentationes die sehr angespannte Lage in Rom zu verbessern (Res gest. 15). Um das Jahr 6 n.Chr. herum war die Situation bedingt durch die Delegation zahlreicher Getreideschiffe zum Hafen von Aqui­ leia ganz in der Nähe zum illyrischen Kriegsschauplatz, wo nahezu die Hälfte des römischen Heeres dringend auf Zufuhren über See angewiesen war, ähnlich kritisch. Ein modius soll in Rom zeitweise über 5 Denare gekostet haben.50 Tiberius schließlich musste im Jahre 19 n.Chr. den Händlern einen Ausgleich von 2 HS pro modius versprechen, damit sie das Korn zu einem akzeptablen Preis an das Volk verkauften.51 Das frühkaiserzeitliche Sulpicier-Archiv legt im Übrigen nahe, dass man hinsichtlich der Cerealien neben dem Getreide auch in größeren Mengen Hülsenfrüchte in Ägypten aufgekauft und nach Italien transferiert hat.52 Zudem konnten die mit Getreide beladenen Fahrzeuge wohl ohne Weiteres auf eigene Rech­ nung des Eigners oder für mitfahrende private Händler Luxuswaren wie Papyrus, Ge­w ürze, Parfüme und Aromastoffe aus Ägypten und dem Osten mit sich führen.53 Sie fielen vom be47 Vgl. Herz 1988, 73–77; zur Verteilerrolle des Kaisers Inschr. Ephes. 2,211; zur diesbzgl. Kompetenz des praefectus Aegypti vgl. Ios. ant. 15,299–315, bes. 307. Die Zuweisung von Marktgetreide war später nach strengen Kriterien gestaffelt und konnte bei geringen Ernteresultaten in Ägypten oder eklatanter Not in zentralen Regionen des Ostens auch ausgeschlagen werden; vgl. dazu Wörrle 1971, 325–340; Erdkamp 2007, 233. 48 Vgl. Herz 1988, 86; Jaschke 2010, 127. 49 Vgl. Herz 1988, 88 f. Gute Geschäfte versprach im Übrigen der Verkauf von Getreide im März/April, wenn die Vorjahresvorräte zu Ende gingen und die neuen Zufuhren aus Alexandria noch nicht in Puteoli eingetroffen waren; vgl. Jaschke 2010, 205. In Puteoli lag der Preis des alexandrinischen Getreides meist bei 2–4 HS (Duncan Jones 1974, 145 f., 345 ff.; Rickman 1980b, 147 ff.). 50 Vgl. Schoene 1866, 146 u. 152 f.; zu der Notlage des Jahres 6 n.Chr. und ihren Hintergründen Herz 1988, 68 f. 51 Vgl. Tac. ann. 2,87,1 u. dazu Herz 1988, 88 f.; Erdkamp 2007, 248 f. Auch 32 n.Chr. führte der hohe Ge­treide­preis zu Unruhen (Tac. ann. 6,13,1). Im Jahre 39/40 n.Chr. gab es ebenfalls eine starke Teuerung (vgl. Cass. Dio 59,17,2; Suet. Cai. 16,3; Sen. Brev. vit. 18,5). Aus früheren Zeiten sind sogar Korn­preise bis zu 22 HS pro modius für Rom überliefert; vgl. dazu und allg. Duncan Jones 1974, 146, 252 f. 52 Vgl. z.B. TPSulp. 45 pag. 5, Z. 10–13 [ed. Camodeca 1999]. Magazineinlagerung von 200 Säcken Kicher­ erbsen, Emmer, Linsen und monocopos), insg. 4.000 modii. Siehe TPSulp 51 u. 52: Kauf und Lagerung von ciceris, fa[r]is monocopi (et) lentis. Bei einem Obeliskentransport unter Caligula wurden als Ballast für den extra konzipierten Frachter 120.000 modii Linsen von Ägypten nach Italien überführt; vgl. Plin. nat. hist. 16,201 f. 53 Vgl. Pavis d’Escurac 1976, 220, wonach die in der annona engagierten Reeder und Schiffshalter auch privat Waren mittransportierten. Zum Aufschwung des Indienhandels unter Augustus vgl. Strab. 2,5,12. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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nötigten Stauraum her nicht besonders ins Gewicht, versprachen aber wegen der steigenden Nachfrage in Rom und Italien große Gewinne beim Weiterverkauf.54 Eine weitere Vermutung geht dahin, dass unterwegs bei einem notwendigen Zwischenstopp zusätzlich noch Beifracht in kleinen Mengen aufgenommen wurde, etwa hochwertiger kretischer Wein, um mit diesem zusätzlichen Segment an Bord in Puteoli zu weiterem Einkommen zu gelangen.55 Des Weiteren dürfte sich für die Schiffseigner bzw. -führer aus dem bereits beschriebenen Passagiertransport ein bedeutender Verdienst ergeben haben, zumal man nicht nur Fahrgäste aus den Verweilhäfen des Ostens nach Italien mitnahm, sondern – wie die Bemerkung Caligulas gegenüber dem Prinzen Agrippa verdeutlicht – auch von Italien aus eine äußerst brauchbare und auch relativ komfortable Verkehrsverbindung für gut betuchte Reiselustige und hochrangige Persönlichkeiten nach Ägypten und in die Levante anbieten konnte.56 Letzteres dürfte den weiteren Vorteil gebracht haben, die Gewinnbilanz der nach Ägypten in direkter Linie zurücksegelnden Frachter wesentlich aufzubessern. Denn genau hier ergaben sich, wenn man nach der Motivation der alexandrinischen Schiffseigner Ausschau hält, den Schiffsraum zu vergrößern und ihn in großen Teilen für die annona urbis zur Verfügung zu stellen, Bilanzprobleme, die es zu überbrücken galt. Wir hören z.B. bei Strabon in seiner Geo­graphie: Die Exporte von Alexandria sind viel größer als die Importe. Wenn einer nach Alexandria und Puteoli geht, wird er dessen Gewahr, denn er sieht, wenn er die Schiffe bei der Ankunft und Abfahrt betrachtet, wie viel schwerer bzw. leichter sie sind, wenn sie abgehen oder einfahren.57

Ganz ohne Ladung wie im Falle des oben erwähnten Großfrachters des Metrodorus aus Ostia scheinen aber, wie Strabon hier selbst andeutet, die von Puteoli abgehenden Segler seiner Zeit nicht unterwegs gewesen zu sein. Ein gewisser Grundballast musste ohnehin zur erfolg­ reichen Bewältigung der Reise in den Rumpf eingelagert sein, damit das Schiff nicht wegen einer Toplastigkeit in Schieflage geriet und sank.58 Wenn wir allerdings nach möglichen Handelsprodukten für Alexandria Ausschau halten, ist die Palette vordergründig gesehen nicht besonders breit und exklusiv. In Erwägung zu ziehen sind (gefärbte) Textilien und Farben und vor allem Wein, bei dem das Nilland in jenen Tagen noch sehr stark auf Importe angewiesen war. Letzterer, insbesondere als hochwertige Sorte aus Kampanien, scheint tatsächlich in der Rückfracht eine gewisse Rolle gespielt zu haben, wie der archäologische Befund in Alexandria und Ägypten und die allgemeine Funktion Alexandrias als Relais für den gerade unter Augustus aufblühenden römischen Süd- und Ostaußenhandel nahelegen. Dies gilt auch, wenn die absolute Zahl der in Alexandria gefundenen und ausgewerteten italischen und kampanischen 54 Vgl. zu Papyrus Jaschke 2010, 133 f.; zu Parfümen und Aromastoffen Faure 1987, 232; zu Gewürzen Sidebotham 2011. 55 Vgl. Tchernia 2007, 57–64. 56 Vgl. Luk. navig. 5 (in Bezug auf die Ausstattung der Isis): (…) ὁ μὲν γὰρ ἄλλος κόσμος, αἱ γραφαὶ καὶ τοῦ ἱστίου τὸ παράσειον πυραυγές, πρὸ τούτων αἱ ἄγκυραι καὶ στροφεῖα καὶ περιαγωγεῖς καὶ αἱ κατὰ τὴν πρύμναν οἰκήσεις θαυμάσια πάντα μοι ἔδοξε. Fahrpreise sind allerdings nicht überliefert, siehe zum

allgemeinen Prozedere der kaiserzeitlichen Passagierschifffahrt Casson 1974, 177–187. 57 Vgl. Strab. 17,1,7: ταύτῃ δὲ καὶ τὰ ἐκκομιζόμενα ἐξ Ἀλεξανδρείας πλείω τῶν εἰσκομιζομένων ἐστί: γνοίη

δ᾽ ἄν τις ἔν τε τῇ Ἀλεξανδρείᾳ καὶ τῇ Δικαιαρχείᾳ γενόμενος, ὁρῶν τὰς ὁλκάδας ἔν τε τῷ κατάπλῳ καὶ ἐν ταῖς ἀναγωγαῖς ὅσον βαρύτεραί τε καὶ κουφότεραι δεῦρο κἀκεῖσε πλέοιεν. Zur Bedeutung der

Rückfracht bei der Disposition von Handelsfahrten vgl. Erdkamp 2007, 192 f. 58 Entsprechend gab es in Ostia seit dem 2. Jahrhundert n.Chr. sogar ein eigenes corpus der mit der Belast­ beschaffung betrauten saburrarii; vgl. CIL XIV 102 u. 448; AE 1977, 171. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Amphoren derzeit noch recht niedrig ist.59 Hier nämlich wissen wir, dass das gleiche auch für jene Weinbehälter gilt, die auf eine Exporttätigkeit der anderen nach der literarischen Überlieferung wichtigen Liefergebiete in Richtung Alexandria hindeuten (Asia Minor, Zypern, Syrien und Kreta). Zudem fanden sich italische und kampanische Amphoren in der östlichen Wüste und man kann auf den Periplus Maris Erythraei aus dem 1. Jahrhundert n.Chr. verweisen, der namentlich von Wein aus Italien und Laodikeia in Syrien als wichtiges Handelsgut nach Indien, Afrika und Arabien berichtet.60 Ein weiteres Handelsgut, das gerade in der Startphase der staatlichen Getreideexporte von Ägypten nach Rom zu erheblicher Bedeutung gelangte und sich als Rückfracht nach Alex­ andria sehr gut eignete, war die in der Umgebung von Puteoli und des Vesuv massenhaft abgebaute Vulkanasche (Puteolanus pulvis).61 Sie bildete das wichtigste Grundmaterial zur Er­ stellung von hydraulischem Zement, der sogar unter Wasser aushärten konnte und daher für den Bau von Molen und Piers in den Häfen dringend benötigt wurde.62 Genau hierfür gab es scheinbar auch in Alexandria einen enormen Bedarf, wo im Laufe der Jahrhunderte vor allem der „Große Hafen“ im Osten durch massive Molen weiter abgesichert und intern durch verschiedene Pier- und Kaianlagen in durchdachter Weise in Einzelbecken (vielleicht für verschiedene Schiffskategorien wie Ruderfrachter, Frachtsegler und Kriegs- bzw. Militärschiffe) p­arzelliert wurde.63 Gemäß den Ergebnissen des von John Oleson, Christopher Brandon und 59 Vgl. Ruffing 1999, 60–80; Empereur 1998, 395–398. In augusteischer Zeit war Alexandria wie auch Ägyp­ten noch weitgehend auf Weinimporte angewiesen. Generell scheinen im 1. u. 2. Jahrhundert n.Chr. Italien und der östliche Mittelmeerraum, bes. Asia Minor, Zypern, Knidos und Kreta, Liefergebiete gewesen zu sein, ohne das ein klares Bild über Entwicklung, Struktur und Umfang des Handels besteht. Empereur z.B. konnte in seiner Studie nur 255 komplette Amphoren zwischen 333 v.Chr. ins 6. Jh. auswerten! 60 Vgl. Tomber 1998, 313. Zum Periplus Maris Erythraei vgl. PME 6 [Reich des Königs Zòskalês, dazu Casson PME, S. 109 f.] u. PME 49 [Barygaza]. Vgl. auch Hinweise auf Wein als Handelsware in PME 7, 17, 24, 28, 39 u. 56. Zu Weinamphoren in Indien vgl. Tschernia 1986, 153 f. mit Karte 9; Will 1991, 151–156, bes. 151; Slane 1991, 204–215, bes. 204 f.; Begley 1993, 93–107, bes. 102. In den Transportquittungen des Nikanor-Archivs aus den 1. Jahrhundert n.Chr. wird im Kontext der zwischen Koptos und dem Roten Meer kursierenden Waren Amminäischer Wein (O.Tait 1 Petr. 224 [6 n.Chr.; Berenike]: 4 Keramien; O.Tait 1 Petr. 240 [34 n.Chr.; Berenike]: 6 Keramien) und solcher aus Laodikea genannt (O.Tait 1 Petr 289 [60–61 n.Chr.]; O.Tait 1 Petr. 290 [62 n.Chr.; Myos Hormos]). Dass die Waren, insbesondere italische Weine, auch Handelsgut sein konnten, zeigen die Ostraka aus Berenike aus julisch-claudischer Zeit (O.Ber. 1, 7 u. die Tabellen auf 15 u. 16–21). 61 Vgl. Vitr. 2,5,1 u. Strab. 5,4,6. Weitere Quellen bei Oleson 2014, 11–36. 62 Vitruv (2,5,1). liefert eine Beschreibung dieses hydraulischen Mörtels und seiner Ingredienzen: „Es gibt auch eine Art Staub (pulvis Puteolanus), welcher auf eine natürliche Weise höchst bewundernswürdige Leistungen hervorbringt. Man findet es in der Gegend von Baiae und bei den Städten, welche in der Nachbarschaft des Berges Vesuv liegen. Mit Kalk und Bruchsteinen vermischt, gibt sie nicht allein überhaupt jedem Gebäude große Festigkeit, sondern die daraus im Meere ausgeführten Dämme erhärten selbst auch unter Wasser.“ An anderer Stelle spezifiziert Vitruv das Mischverhältnis im Wasser zw. Pozzolan und Kalk auf 2 zu 1 (5,12,2), doch konnte dem auch Schutt und Steinsplitt hinzugefügt werden (opus caementitium). 63 Vgl. Hohlfelder – Brandon 2014, 85–89. In Bezug auf P.Bingen 77 sollte in Erwägung gezogen werden, dass es sich hier lediglich um eine Auflistung der Einfahrten in einen bestimmten Hafensektor des Großen Hafens, und zwar jenen der Ruderfrachter handelte. Die in den anderen Hafenbecken des Großen Hafens einlaufenden Segelfrachter wurden vielleicht getrennt geführt. Dies würde auch besser die Diskrepanz zwischen den lediglich zehn an einem Tag verzeichneten Ankünften (überwiegend von © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Robert Hohlfelder ins Leben gerufenen ROMACONS-Projekts, welches sich in systematischer naturwissenschaftlicher Untersuchung rund um das Mittelmeerbecken mit dem seit Augustus massenhaft einsetzenden Gebrauch dieser Erde in verschiedenen römischen Häfen befasst, steht die Handelsmetropole als Belieferungsgebiet sogar mit an führender Stelle.64 Zugleich ziehen die genannten Forscher aus Bohrkernuntersuchungen in drei verschiedenen Sektoren des Hafens, 14C-Proben der für den Molenbau verwenden Verschalungen und der Größe der damals eingesetzten Senkkästen den Schluss, dass die Ausbauarbeiten mit hydraulischem Zement in Alexandria in etwa zur gleichen Zeit und offenbar von den gleichen (römischen?) Hafenbauexperten wie jene in Caesarea, vorangetrieben wurden.65 Während wir aber über den Umfang der Liefermengen von Vulkanasche nach Alexandria nichts Genaues wissen und nur vermuten können, dass er beträchtlich war, haben wir für Caesarea, dessen bemerkenswerten und bedeutenden Kunsthafen Herodes der Große von Judäa mit ausdrücklicher Unterstützung und Billigung des Kaisers zwischen 23 und 15 v.Chr. errichten ließ,66 ein umso klareres Bild: Der Kern der beiden hier das äußere Becken markierenden mächtigen Wellenbrecher wurde aus 35.000 m3 hydraulischem Zement erstellt, wofür allein rd. 20.000 metrische Tonnen an vulkanischer Asche aus Kampanien herangeführt wurden!67 Die Beförderung ging nach der Auffassung von Robert Hohlfelder und John Oleson wohl so vonstatten, dass leere Annonafrachter aus dem italischen Ausfuhrhafen Puteoli, der in dieser Zeit übrigens ebenfalls mit seiner vor südlichen Winden schützenden 372 m langen Bogenmole ausgestattet wurde,68 zunächst mit Puteolanus pulvis als Ballast und Ladung an Bord nach Caesarea fuhren, diesen dort entluden und dann (mit anderer Fracht) 500 km weiter nach Alexandria in Ägypten strebten.69 Aus dem überschwänglichen Lob des Flavius Josephus (bell. Iud. 1,409–414) für ein Bauwerk mit dem „der König die Natur überwand und einen Hafen zustande brachte, der sogar den P­iräus an Größe übertraf“70 und den oben genannten Bedarfsziffern an pulvis Puteolanus lässt sich herauslesen, dass das Transportgeschäft der alexandrinischen Schiffer zumindest in diesen

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typen­mäßig der Ruderfrachter-Kategorie zugehörigen ἄκατοι mit größeren Quantitäten Wein an Bord; vgl. Heilporn 2000; Konen 2007; Drexhage – Ruffing 2008) und den in der Forschung kursierenden Schätzungen zu den in römischer Zeit jährlich einlaufenden Getreideschiffen erklären (nach Clauss 2005, 323–327 könnten es per anno 2.520–3.390 Getreideschiffe zu 60 t und 144/194 zu 200 t gewesen sein!). Vgl. Hohlfelder – Brandon 2014, 87–89; Hohlfelder – Oleson 2014, 225. Vgl. ebd.; ferner Oleson et al. 2007: „Although the analysis is not yet complete, these cores closely resemble those taken at Caesarea in 2005 (Hohlfelder et al. 2007). The mortar is a distinctive bluish-green colour with a rich pozzolanic additive; the aggregate consists mostly of the local kurkar aeolianite sandstone. Given the design of the formwork and the visual appearance of the mortar, it seems likely that all these samples are Roman in date.“ Vgl. Holum – Hohlfelder 1988; Raban – Oleson 1989; Oleson 1992; Oleson 1996, 217–302. Vgl. Hohlfelder – Oleson 2014, 225; Hohlfelder – Brandon 2014, 76. Vgl. Jaschke 2010, 43–46, die die dort errichtete Mole nach genauer Analyse der Quellen (z.B. Strab. 5,4,6; Anth. Gr. 7,379 u. 9,708) überzeugend in die augusteische Zeit datiert und diese als aus hydraulischem Beton erbaut ansieht (vgl. ebd. 46 u. 65). Vgl. Gianfrotta 1996, 75; Gianfrotta 2007, 17; Gianfrotta 2009; Hohlfelder – Oleson 2014, 225 f. Vgl. Ios. bell. Iud. 1,409 f.: μεταξὺ γὰρ Δώρων καὶ Ἰόππης, ὧν ἡ πόλις μέση κεῖται, πᾶσαν εἶναι συμ­ βέβηκεν τὴν παράλιον ἀλίμενον, ὡς πάντα τὸν τὴν Φοινίκην ἐπ‘ Αἰγύπτου παραπλέοντα σαλεύειν ἐν πελάγει διὰ τὴν ἐκ λιβὸς ἀπειλήν, ᾧ καὶ μετρίως ἐπαυρίζοντι τηλικοῦτον ἐπεγείρεται κῦμα πρὸς ταῖς πέτραις, ὥστε τὴν ὑποστροφὴν τοῦ κύματος ἐπὶ πλεῖστον ἐξαγριοῦν τὴν θάλασσαν. ἀλλ‘ ὁ βασιλεὺς τοῖς ἀναλώμασιν καὶ τῇ φιλοτιμίᾳ νικήσας τὴν φύσιν μείζονα μὲν τοῦ Πειραιῶς λιμένα κατεσκεύασεν, ἐν δὲ τοῖς μυχοῖς αὐτοῦ βαθεῖς ὅρμους ἑτέρους. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Jahren auch im Bereich der Rückfracht in den Osten durchaus seine lukrativen Seiten hatte und Züge eines ausgesprochenen Massenguttransportes aufwies. Wir dürfen also zu Recht erwarten, dass Dutzende von alexandrinischen Kapitänen und Reedern in der besagten Zeit in diese Extrafuhren eingebunden waren und durch großzügige Frachtgeldzahlung etwa von Seiten des Königs Herodes entsprechend profitierten. Zudem wurde entlang der sonst hafenlosen Küste zwischen Dora und Ioppe mit dem Hafen von Caesarea eine überaus nützliche und Schutz gewährende Zwischenstation geschaffen, wenn es galt, mit den schwer beladenen Getreideschiffen aus Alexandria über die sog. Levante-Route (über Zypern, Kreta, Korfu und Rhegion) gegen die vorherrschenden Nordund Nord­westwinde wieder in Richtung Italien zurück zu segeln.71 Das Beispiel machte dann auch Schule. Wir wissen aus den weiteren Forschungsergebnissen des ROMACONS-Projektes, dass entlang der Getreiderouten zwischen Alexandria und Rom im Laufe der nächsten beiden Jahrhunderte nachweislich mit Leptis Magna in Libyen, Soloi-Pompeiopolis in Kilikien, Chersonesos auf Kreta, Rhegion, Ostia-Portus und Antium zusätzliche, vorwiegend durch hydraulischen Zement ermöglichte Kunsthäfen errichtet wurden. Sie sollten z.T. wichtige oder sogar zentrale Bedeutung als schützende Relaisstationen und infrastrukturell hervorragend ausgestattete Zielorte der annona urbis erlangen.72 Somit kann man im Ergebnis festhalten, dass das Verhältnis zwischen den alexandrinischen Seeleuten und Reedern und dem ersten römischen Kaiser nicht zuletzt durch ihre überaus starke Einbindung in die annona urbis ein durch und durch Enges und für Erstgenannte wohl auch überaus Lukratives gewesen ist. Nur durch diese Anreize wird es Augustus wohl möglich gewesen sein, die von ihm übernommene schwere Bürde der stadtrömischen annona aus dem Stand heraus zu bewältigen. Im Gegenzug steigerten die im Ägyptenhandel tätigen Großreeder ihre Schiffstonnage und die Qualität ihrer Segelfrachter, wohlwissend, dass sich mit der Beifracht, gerade auch aus Alexandria, dem Endpunkt des Luxusgüterverkehrs aus Arabien und Indien, und der Beförderung von Passagieren ein interessantes Zusatzgeschäft machen ließ. Gerade an diesen Aspekt der beiderseits so lohnenden Beziehung dürfte der greise Kaiser auch gedacht haben, als er nach den ihm entgegengebrachten Ovationen der Alexandriner jedem seiner Begleiter 40 aurei mit der Auflage aushändigte, sie nur für den Kauf von alexandrinischer Ware zu nutzen.73 Bibliographie Arnaud 2011a = P. Arnaud, Ancient Sailing-Routes and Trade Patterns. The Impact of Human Factors, in: D. Robinson – A. Wilson (eds.), Maritime Archaeology and Ancient Trade in the Mediterranean, Oxford 2011 (Oxford Centre for Maritime Archaeology, Monograph 6), 61–80. Arnaud 2011b = P. Arnaud, Sailing 90° from the Wind. Norm or Exception?, in: W. V. Harris – K. Iara (eds.), Maritime Technology in the Ancient Economy. Ship Design and Navigation, Portsmouth – Rhode Island 2011 (JRA Suppl. Series 84), 147–160. Begley 1993 = V. Begley, New Investigations at the Port of Arikamedu, JRA 6 (1993), 93–107. 71 Vgl. Hohlfelder – Brandon 2014, 74; zur Levante-Route Casson 21995, 297–299. 72 Vgl. Hohlfelder – Brandon 2014, 55–69, 89–93, 94–101; Brandon 2014, 138; zum Hafen von Leptis Magna Wilson 2010b, 47; zum Hafen von Rhegion siehe Ios. ant. 19,205–207. 73 Vgl. Suet. Aug. 98,2: (…) Qua re admodum exhilaratus quadragenos auros comitibus dividit iusque iurandum et cautionem exegit a singulis, non alio datam summam quam in emptionem Alexandriarum mercium adsumiturus. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Ein Seehändler unter den sieben Weisen? Anmerkungen zur Biographie des Solon Björn Onken Auf den ersten Blick erscheint es ganz unwahrscheinlich, dass mit dem angesehenen Archon und Gesetzgeber Solon unter den berühmten sieben Weisen1 in der griechischen Welt ein See­ händler gewesen sein könnte, denn von den griechisch-römischen Intellektuellen und Eliten wurden Händler eher verachtet als geschätzt. Schon Homer stellte den phönizischen Händlern kein gutes Zeugnis aus2 und steht damit am Beginn eines in der Antike weit verbreiteten Topos.3 In Platons Utopien erfuhren die Händler eine negative Bewertung, obwohl der Philosoph die Notwendigkeit ihrer Tätigkeit durchaus gesehen hat.4 Für Aristoteles war der Bürgerstatus mit einer Tätigkeit als Kaufmann nicht vereinbar.5 In Rom gab es für die Senatoren rechtliche Vorgaben, die ihre Handelstätigkeit einschränken sollten.6 Cicero differenzierte zwar zwischen unwürdigen Kleinhändlern und den beachtlichen Leistungen der Fernhändler,7 aber noch im 3.  Jh. formulierte Philostrat in einer Biographie, dass es eigentlich keine „unglückseligeren Leute als Händler oder Schiffseigner“ gäbe.8 Auch wenn sich diese Verachtung oftmals nicht nachhaltig auf die Lebenswirklichkeiten in den antiken Gesellschaften auswirkte,9 und die Eliten sich möglichen Renditen mit Handelsgeschäften keineswegs verschlossen,10 passt es doch in den literarischen Diskurs der Antike, wenn Plutarch in seiner Biographie des Solon andeutet, dass in seiner eigenen Epoche Handel und Gewerbe kein großes Ansehen genießen. Bemerkenswert ist allerdings, dass der kaiserzeitliche Autor in diesem Zusammenhang darauf verweist, dass dies zur Zeit Solons anders gewesen sei:11 Zu jener Zeit war nach Hesiod ‚Arbeit keine Schande‘, ein Gewerbe drückte den Ausübenden nicht auf eine tiefere Stufe, und Handel hatte sogar besonderes Ansehen, weil er die Erzeugnisse der Fremde ins Land brachte, Freundschaften mit Königen vermittelte und reiche Erfahrungen ein­ brachte. (Plut. Solon 2)12

In Plutarchs Biographie von Solon erfüllt dieser Gedanke eine wichtige Funktion, denn der Biograph muss sich damit auseinandersetzen, dass ihm Quellen vorliegen, nach denen Solon vor seiner politischen Tätigkeit den eigentlich wenig geachteten Seehandel betrieben hat. Da Plutarch seinen Lesern Solon als vorbildlichen Staatsmann präsentieren möchte,13 muss er den 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Engels 2010. Hom. Od. 8,159–164 u.15,415–484. Ruffing 2012, 51. Drexhage 1985, 562. Arist. Ath. pol. 1328b37–1329a2; vgl. auch Blösel 2014, 80. Liv. 21,63. Cic. off. 1,151. Philostr. Ap. 4,32; vgl. Drexhage – Konen – Ruffing 2002, 263. Drexhage 1985, 562 f.; Stanley 1998. Plut. Cato maior 21. Vgl. auch Drexhage 1985, 562. Alle Übersetzungen aus Plutarch: Konrat Ziegler. de Blois 2006, 438. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Makel, den die Handelstätigkeit Solon anzuhängen drohte, einhegen. Zu diesem Zweck wendet Plutarch noch weitere Mühe auf, indem er fortfährt: Manche Kaufleute sind auch Gründer großer Städte geworden, so Protis von Massalia, der dann bei den Galliern um die Rhône große Beliebtheit gewann. Auch Thales soll Handel betrieben haben, ebenso der Mathematiker Hippokrates, und Platon soll sich die Kosten für seine Reisen durch Ölverkauf in Ägypten verdient haben. (Plut. Solon 2)

Plutarchs Bemerkungen werden in der Forschung zwar mitunter als Hinweise auf Strukturen in Handel und Seefahrt ausgewertet, aber anders als bei Plutarch erfährt im Rahmen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Solon dessen Engagement im Handel keine große Aufmerksamkeit. Nur am Rande werden Handelstätigkeiten Solons14 oder zumindest diesbezügliche Quellenaussagen erwähnt.15 In einigen Fällen wird Solon ausschließlich als Angehöriger einer Oberschicht, Elite oder Aristokratie charakterisiert.16 Bei näherer Betrachtung ergeben sich allerdings gute Gründe für die Annahme, dass in der Überlieferung zu der Handelstätigkeit Solons ein historischer Kern steckt, der sich dafür eignet, die Tätigkeit Solons als Schlichter und Gesetzgeber besser zu verstehen. Im Folgenden soll daher untersucht werden, welche Verbindungen Solons zum Seehandel in der Überlieferung sichtbar werden. Die Zurückhaltung der Forschung mit biographischen Angaben zu Solon ist nicht überraschend, da sich Legende und zuverlässige Informationen hier oft nicht mehr zweifelsfrei trennen lassen, so dass dem Versuch, Solon nicht nur als Projektionsfläche, sondern als historische Persönlichkeit zu fassen, Grenzen gesetzt sind.17 Einige Forscherinnen und Forscher bezweifeln inzwischen auch die Authentizität vieler Passagen in den unter Solons Namen überlieferten Gedichten.18 Deshalb wird bei der Erforschung der Reformen biographisches Material zu Solon in der Regel wenig berücksichtigt, sondern vor allem das Reformwerk selbst im Kontext der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Athens analysiert, zumal bei einigen Maßnahmen eben nicht klar ist, ob sie überhaupt von Solon initiiert wurden oder ihm nur im Überlieferungsprozess zugeschrieben wurden.19 Plutarch allerdings liegen offenbar mehrere Quellen vor, die davon berichten, dass Solon in der Zeit vor seiner politischen Karriere Seereisen unternommen hat, die auch Handelszwecken dienten: Da Solons Vater sein Vermögen, wie Hermippos berichtet, durch Gefälligkeit und allzu große Freigebigkeit sehr vermindert hatte, so hätte es dem Sohne zwar nicht an Freunden gefehlt, die ihm auszuhelfen bereit waren, aber als Sprößling eines Hauses, das gewöhnt war, anderen zu helfen, schämte er sich, von anderen etwas zu nehmen, und wandte sich als noch junger Mann dem Handel zu. Andere sagen freilich, er sei mehr um Erfahrungen und Kenntnisse zu sammeln, als um Geld zu erwerben, auf Reisen gegangen. (Plut. Solon 2) 14 Davies 1971, 334; Lavery 1973/1974, 375; Brandt 1999, 85; Schlange-Schöningen 2002, 23; Tsigarida 2006, 9. 15 Almeida 2003, 7; Schulz 2005, 214; Schubert 2012, 10. 16 Mülke 2002, 18; Onken 2015, 26. 17 Ruschenbusch 1958, 429; Hölkeskamp 1999, 45; Almeida 2003, 1–69; Blois 2006, 431; Schubert 2012, 1–17. 18 Lardinois 2006, 15–35; dagegen: Bagordo 2011, 169–175. 19 Ruschenbusch 1994, 363–373; Hansen 1995, 30; Welwei 2011, 152; Davis 2012, 157; Schmitz 2014, 68; Onken 2015, 106–109; Leao – Rhodes 2015, 1–9. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Ein Seehändler unter den sieben Weisen?

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Für die Handelstätigkeit Solons beruft sich Plutarch zunächst auf Hermippos von Smyrna, den Kallimacheer, einen Biographen aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., dessen Glaubwürdigkeit von der Forschung jedoch kritisch gesehen wird.20 Auch Plutarch distanziert sich von dessen Darstellung durch die Berufung auf andere Autoren. Diese bestreiten allerdings ein Engagement Solons im Handel nicht grundsätzlich, sondern mildern den dadurch auf Solon fallenden Makel, indem sie bei den Reisen den Bildungsaspekt in den Vordergrund stellen. Es scheint, dass die Autoren von Plutarchs Quellen Schwierigkeiten hatten, die Handelsgeschäfte mit der Persönlichkeit des Weisen Solon in Einklang zu bringen, so dass sie diese Problematik durch die Betonung der Bildungsfunktion der Reisen aufzulösen versuchten. Mit der Kenntnis fremder Städte und weitreichenden persönlichen Kontakten ließ sich Solon gut in das übliche Schema einer als Nomothet geeigneten Person einfügen,21 aber mit der Verbindung zum Handel steht er weitgehend allein unter den legendären Gesetzgebern. Plutarch ist der fehlende Reichtum Solons sichtlich unangenehm,22 aber er nutzt die Be­ schreibung der Handelsaktivitäten, um der Persönlichkeit seines Solon mehr Tiefe zu geben. Die aristotelischen Kategorien der genussorientierten, politischen und philosophischen Lebens­ weise23 werden von Plutarch sehr geschätzt24 und in der Solonvita in der Person des Prota­go­ nisten schon im Bericht über dessen Handelstätigkeit miteinander verbunden.25 So wird hier die für Plutarch charakteristische Freude an vielschichtigen Situationen deutlich.26 Dass es Plutarch gelingt, den Händler Solon in sein Konzept der Biographie einzubetten, spricht nicht gegen die Glaubwürdigkeit seiner Angaben. Plutarch gestaltet seine Biographien zwar nach moralischen, literarischen und philosophischen Kriterien, was unter anderem zu Ab­weichungen in der Chronologie oder in der Bedeutung von Personen führen kann,27 aber im Kern bleibt Plutarch inhaltlich an seinen Quellen und füllt eventuelle Lücken nicht mit Pro­­dukten seiner Phantasie.28 Die genannte Handelstätigkeit Solons ist daher wohl keine Er­ findung Plutarchs, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit seinen Quellen entnommen. Auf eine Verbindung Solons zum Seehandel wird von Plutarch überdies noch an weiteren Stellen seiner Biographie verwiesen. So meint Plutarch, dass sprachliche Auffälligkeiten in Ge­ dichten Solons aus dem Händlermilieu stammen könnten: So glaubt man denn, dass die großzügige und lockere Lebensart und der wenig feine, recht unphilosophische Ton, wie er in seinen Gedichten vom Liebesgenuss redet, bei Solon von dem Kauf­ mannsleben herrühre, welches zum Ausgleich für die vielen, großen Gefahren, die es mit sich bringt, wiederum Wohlleben und Genüsse verlange. (Plut. Solon 3)

Das Orakel von Delphi soll nach Plutarch mit einer Seefahrtsmetapher Solon zur Übernahme der politischen Verantwortung ermutigt haben, indem es ihm folgenden Rat gab:

20 21 22 23 24 25 26 27 28

Schorn 2014, 717. Lavery 1973/1974, 375; Hölkeskamp 1999, 45. de Blois 2006, 432. Aristot. eth. Nic. 1,3. Schorn 2014, 691. Vgl. auch Manfredini – Piccirilli 1986, 118. Dihle 1970, 73. Binder 2008, 22 f. de Blois 2006, 429. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Björn Onken Setze dich mitten in das Schiff und nimm das Steuer zu Händen! Viele der Bürger Athens sind dir zur Hilfe erbötig. (Plut. Solon 14)

Schließlich kommt Plutarch bei der Beschreibung von Solons Verhalten nach dessen Amtszeit in Athen auf den Seehandel zurück: So nahm er seinen Seehandel zum Vorwand, um zu verreisen und segelte davon, nachdem er von den Athenern einen zehnjährigen Urlaub erbeten hatte. Denn er hoffte, dass sie sich in dieser Zeit an die Gesetze gewöhnen würden. (Plut. Solon 25)

Abgesehen von der Biographie Plutarchs liegen uns nur wenige weitere Quellen vor, die Angaben zur Lebensführung Solons machen. In den unter seinem Namen überlieferten Gedichten finden sich zwar Bezüge zu Seefahrt und Seehandel, die auf persönliche Erfahrungen des Autors zurückgehen können, aber keinesfalls müssen.29 Die Athenaion Politeia, die auch Plutarch bekannt war,30 beschäftigt sich eingehender mit dem politischen Wirken Solons und beschreibt dabei dessen sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund: Solon zählte nach Geburt und Ansehen zu den Ersten, nach Besitz und Tätigkeit aber zu den mittleren Bürgern, darin stimmen alle Zeugnisse überein. (...) Nachdem er den Staat in der besagten Weise geordnet hatte, trat man an ihn heran und beschwerte sich über seine Gesetze. Als man die einen Bestimmungen ablehnte, nach den anderen genau fragte, wollte er weder diese Dinge ändern noch durch seine Anwesenheit Haß auf sich ziehen, und unternahm daher eine Handels- und Bildungsreise nach Ägypten, nachdem er erklärt hatte, er werde innerhalb von zehn Jahren nicht zurückkehren. (Ath. pol. 5 und 11).

Der Autor der Athenaion Politeia grenzt Solon demnach von der Schicht der Landbesitzer ab und schreibt ihm mindestens eine Reise zu, die auch dem Handel diente. Allerdings erwähnt der früheste Text mit längeren Abschnitten zu Solon aus der Feder des Vaters der Geschichtsschreibung, Herodot, keine Handelsgeschäfte Solons, obwohl er von Reisen Solons weiß. Das Hauptmotiv für Solons Reise nach seiner Amtszeit ist nach Herodot wie bei Plutarch und der Athenaion Politeia das Vorhaben, den Athenern keine Möglichkeit zu geben, die gegebenen Gesetze mit seiner Zustimmung wieder zu ändern. Darüber hinaus sieht Herodot bei Solon den bei den obigen Autoren ebenfalls erkennbaren „Wunsch die Welt zu sehen.“31 Auf den ersten Blick erscheint nun der Verweis auf den Handel bei Plutarch wie eine spätere Ergänzung zu einem bei Herodot vorhandenen Kern der Geschichte ohne Bezüge zum Handel. Diese Ergänzung würde aber das Prestige Solons auf jeden Fall mindern. Dies ist bei der Überlieferung zu einem angesehenen Weisen eigentlich nicht zu erwarten, aber insofern denkbar, als sowohl die Athenaion Politeia als auch Plutarch von Vorwürfen gegen Solon wissen, die ihn offensichtlich verunglimpfen sollten. So verteidigen beide Schriften Solon gegen den Verdacht, dass sich Freunde von ihm oder sogar er selbst bei der Seisachteia persönlich bereicher­t

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Solon 1,41–44 u. 15. Schettino 2014, 430. Hdt. 1,29 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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h­ätten.32 Außerdem nimmt die Athenaion Politeia Solon gegen den Vorwurf in Schutz, mit seinen Maßnahmen wissentlich die bei den Intellektuellen unbeliebte radikale Volksherrschaft auf den Weg gebracht zu haben. Nach der Athenaion Politeia haben seine Reformen zwar tatsächlich in dieser Weise gewirkt, man dürfe sie aber gerade nicht aus der Retrospektive beurteilen und müsse die zeitgenössischen Kontexte berücksichtigen.33 Von der Forschung wurden der demokratiekritische Kritiaskreis oder der Demagogenexkurs des Theopomp als mögliche Ursprünge dieser Vorwürfe gegen Solon genannt. Dies könnte damit zusammenhängen, dass im 4. Jahrhundert Solon für den Verfassungsdiskurs in Athen an Bedeutung gewonnen hat, was ihn auch zum lohnenden Ziel von Kritik gemacht haben könnte.34 Es ist allerdings bemerkenswert, dass alle uns erhaltenen Autoren die Kritik an Solon zurückweisen, selbst wenn sie keine Freunde der Demokratie waren. So hat Platon Solon als den weisesten der sieben Weisen bezeichnet35 und in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts maßgeblich daran mitgewirkt, den Kreis der Sieben Weisen mit Solon zu etablieren.36 Isokrates nutzte Solon, um das Idealbild einer gemäßigten Demokratie zu entwerfen.37 Insofern hatten die Kritiker Solons im 4. Jahrhundert offenbar nur eine geringe Wirkmacht, so dass es wenig wahrscheinlich ist, dass sie es gegen die Aussagen der keineswegs demokratiefreundlichen Platon, Aristoteles und Isokrates bewerkstelligten, Solon eine schlecht beleumundete Aktivität im Handel anzuhängen. Zum Verständnis der Darstellung Solons bei Herodot ist es daher plausibler anzunehmen, dass Herodot die ihm vermutlich bekannte Handelstätigkeit überging, da er an der genannten Stelle in seinem Werk die Erzählung der Anekdote von dem Weisen Solon und König Kroisos vorbereitet,38 indem er erklärt, wie Solon an den Hof des Lyderkönigs kam. Hier wäre es ganz unpassend gewesen zu erzählen, dass die weisen Ratschläge an den König von einem Kaufmann stammten. Eine alternative Grundlage für den Lebensunterhalt Solons erwähnt Herodot nicht, so dass sein Zeugnis kein zwingender Beleg gegen Handelsgeschäfte Solons ist. Den übrigen antiken Aussagen zu Solon sind auch keine anderen Hinweise zur Einkommenssituation Solons zu entnehmen.39 Die Quellenaussagen bezüglich der Verbindung Solons zum Handel bleiben daher ohne Gegenrede in der antiken Überlieferung. Dennoch scheint fraglich, ob die Aristokraten Athens bereit gewesen sein können, sich dem Urteil eines sozial gering geachteten Seehändlers zu unterwerfen. Plutarch sieht selbst dieses Problem und verweist deswegen auf Hesiod als Beleg dafür, dass zu Solons Zeiten Arbeit keine Schande gewesen sei.40 Allerdings ist diese Argumentation für uns heute nicht vollständig nachvollziehbar. ‚Arbeit‘ (ergon41) ist nicht unbedingt Handel und in den uns bekannten Texten rät Hesiod wegen der Gefahren auf See vom Handel in großen Umfang eher ab, auch wenn er die

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Plut. Solon 15; Ath. pol. 6,2. Ath. pol. 9. Ruschenbusch 1958, 425–429 u. 1994, 367–373. Tim. 20e. Engels 2010, 13–15. Isokr. or. 7,16. Hdt. 1,30–34. Diod. 9; Diog Laert. 1,45–62. Plut. Solon 2. Hes. erg. 311. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Verlockung der Chance auf große Gewinne nicht verkennt.42 Dennoch hat Plutarch vermutlich mit seiner Annahme Recht, dass Seehändler in der archaischen Zeit angesehene Mitglieder der Gesellschaft sein konnten. Ob im Übergang zur archaischen Zeit die Mehrheit der griechischen Seehändler aristoi gewesen sind,43 ist fraglich, aber es gibt durchaus Hinweise auf ein Engagement von Aristokraten im Seehandel dieser Zeit. Zur Pflege von Gastfreundschaften waren Reisen unerlässlich, wobei der aristokratisch akzeptierte Austausch von Geschenken durchaus den Charakter von Handel annehmen konnte. Auch bei den von Homer als ehrenhaft angesehenen Raubzügen konnten die Übergänge zum Handel fließend sein, so dass gewinnbringende Reisen für Aristokraten nicht rufschädigend sein musste.44 Eine Seereise eignete sich angesichts der Gefahren auf den Meeren auch als Mutprobe und Beweis von Männlichkeit, zumal viele mythische Helden zur See unterwegs waren. Längere Handels- und Bildungsreisen konnten in der Archaik nicht zuletzt aus diesen Gründen zu aristokratischen Lebenswelten gehören,45 auch wenn vermutlich die Mehrheit der Seehändler im archaischen Griechenland keine Aristokraten waren.46 Handel und aristokratische Lebenswelt schlossen sich in der archaischen Zeit aber nicht aus. Eine ehrenwerte Abstammung war in der frühen archaischen Zeit kein entscheidendes Kriterium für die Zugehörigkeit zur Elite, denn der aristokratische Status musste durch persönliche Über­legenheitsmerkmale wie athletische Fähigkeiten, Kriegsruhm, Redekunst und Reich­ tum erworben werden.47 Dennoch konnte die Abstammung aus einer angesehenen Familie dabei helfen und sowohl Plutarch als auch die Athenaion Politeia 48 verweisen auf einen ehren­ werten familiären Hintergrund Solons. In den solonischen Gedichten wird deutlich, dass der Autor mit der aristokratischen Lebensführung vertraut war, was ebenfalls auf einen aristokratischen Kontext verweist.49 Solon könnte also einer jener Seehändler gewesen sein, die mit aristokratischen Kreisen verbunden waren. Die These, dass Solon Seehändler gewesen ist, lässt sich noch erhärten, wenn man vor diesem Hintergrund auf seine Ernennung zum Archonten und Schlichter sowie die ihm zugeschriebenen Reformen blickt. Für die Rolle des Schlichters würde sich ein Seehändler Solon in besonderer Weise eignen, denn als Handelsreisender hätte er wenig Gelegenheit gehabt, sich in Streitigkeiten in Athen zu verwickeln. Außerdem hätte er weitgehend außerhalb der sozialen Konfliktlinien gestanden, da diese vor allem Landbesitzer und Landarbeiter betrafen. Nach Plutarch wählten ihn die Athener, „da sie sahen, dass Solon allein oder doch am ehesten außerhalb des Streites stand.“50 Zudem konnte Solon als erfolgreicher Händler durchaus vermögend sein, also der Notwendigkeit sich selbst zu bereichern, weitgehend enthoben sein. Plutarch nennt als ein Motiv der Aristokraten, Solon zu akzeptieren, dass dieser wohlhabend (eúporos) gewesen sei.51 Schließlich ist auffällig, wie sehr sich die von Plutarch und der Athenaion 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Hes. erg. 617–693; Rohde – Sommer 2016, 65. Tandy 1997, 4. Welwei 2011, 99 u. 204 f.; Stein-Hölkeskamp 2016, 214 f. Schulz 2005, 214. Kudlien 1999, 68. Stein-Hölkeskamp 2016, 188. Plut. Solon 1; Ath. pol. 5. Stahl – Walter 2009, 143. Plut. Solon 14. Plut. Solon 14. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Politeia erwähnten Maßnahmen Solons mit Fragen des Handels beschäftigen.52 Solon soll den Export landwirtschaftlicher Güter geregelt und Gewerbetreibende mit dem Bürgerrecht gelockt haben.53 Außerdem soll er eine Reform der Maße und Gewichte vorgenommen54 haben. Das Handwerk soll sich insgesamt seiner Förderung erfreut haben, um so die Produktion von Gütern zu steigern, die für Seehändler attraktiv sind.55 Schließlich passt es in die Lebenswelt eines Kaufmanns, wenn bei der Vermögensschätzung für die Zensusklassen nicht nur der Ernte­ ertrag, sondern auch Viehbestand oder Besitz an Silber eingebracht werden können.56 Wie oben erwähnt, muss bei antiken Angaben zur politischen Tätigkeit wie bei der Über­ lieferung zur Biographie Solons bedacht werden, dass sie neben empirisch triftigen Informationen auch fragwürdige Aussagen und Legenden enthalten, ohne dass sich das heute in jedem Fall klar trennen lässt (siehe oben). Insgesamt zeigen sich aber gute Gründe dafür, in der antiken Auffassung, dass Solon im Seehandel aktiv gewesen sei, einen historischen Kern zu vermuten, der auch geeignet ist, neues Licht auf den Politiker Solon zu werfen. Bibliographie Almeida 2003 = J. A. Almeida, Justice as an Aspect of the Polis Idea in Solon’s Political Poems, Leiden – Boston 2003. Bagordo 2011 = A. Bagordo, Lyrik, in: B. Zimmermann (Hrsg.), Handbuch der griechischen Literatur­ geschichte 1, München 2011 (Handbuch der Altertumswissenschaften 7,1), 124–249. Binder 2008 = C. Binder, Plutarchs Vita des Artaxerxes. Ein historischer Kommentar, Berlin et al. 2008. de Blois 2006 = L. de Blois, Plutarch’s Solon. A Tissue of Commonplaces or a Historical Account? in: J. Blok – A. Lardinois (eds.), Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches, Leiden – Boston 2006, 429–440. Blösel 2014 = W. Blösel, Zensusgrenzen für die Ämterbekleidung im klassischen Griechenland. Wie groß war der verfassungsrechtliche Abstand gemäßigter Oligarchien von der Demokratie? in: W. Blösel et al. (Hrsg.), Grenzen politischer Partizipation im klassischen Griechenland, Stuttgart 2014, 71–94. Blok – Lardinois 2006 = J. Blok – A. Lardinois (eds.), Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches, Leiden – Boston 2006. Brandt 1999 = H. Brandt, Solon, in: K. Brodersen (Hrsg.), Große Gestalten der griechischen Geschichte, München 1999, 84–90. Davies 1971 = J. K. Davies, Athenian Propertied Families 60–300 B.C., Oxford 1971. Davis 2012 = G. Davis, Dating the Drachmas in Solon’s Laws, Historia 61 (2012), 127–158. Dihle 1970 = A. Dihle, Studien zur griechischen Biographie, Heidelberg 1970. Drexhage 1985 = H.-J. Drexhage, s.v. Handel II (ethisch), RAC 13 (1985), 561–574. Drexhage – Konen – Ruffing 2002 = H.-J. Drexhage – H. Konen – K. Ruffing, Die Wirtschaft des Römischen Reiches (1.–3. Jahrhundert). Eine Einführung, Berlin 2002. Engels 2010 = J. Engels, Die sieben Weisen, München 2010. Hansen 1995 = M. H. Hansen, Die athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien, Selbstverständnis, Berlin 1995. Hölkeskamp 1999 = K.-J. Hölkeskamp, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im archaischen Griechen­land, Stuttgart 1999. Lardinois 2006 = A. Lardinois, Have we Solon’s Verses?, in: A. Lardinois – J. Blok (eds.), Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches, Leiden – Boston 2006, 15–35. 52 53 54 55 56

Stanley 1999, 234–252; Tausend 1989, 1–9. Solon 24. Solon 15; Ath. pol. 10. Solon 22. Plut. Solon 23. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Ex provincia Britannia . Untersuchungen zu negotiatores und Handelswegen in Atlantikund Nordsee-Raum sowie im gallisch-germanischen Binnenraum während der römischen Kaiserzeit* Patrick Reinard – Christoph Schäfer Kaufkraft weckt Bedürfnisse, Produzenten und Händler suchen ihren Vorteil bei der Erfüllung dieser Bedürfnisse. H.-J. Drexhage

Eine Geschichte des interprovinziellen Handels zwischen Britannien, Germanien und Gallien stellt bisher ein Desiderat dar. Diese Lücke kann und soll auch dieser Beitrag nicht schließen. Sein Ziel ist es aber, die zwischen den besagten Provinzen fassbaren wirtschaftlichen Ver­ bindungen und die Akteure, die selbige herstellten, zu untersuchen. Dabei sollen zunächst die epigraphisch fassbaren Händler bearbeitet werden, bevor der Befund der amphorologischen Quellen in Britannien sowie punktuell in Nijmegen betrachtet wird. Dies kann aufgrund der Materialfülle lediglich überblicksartig erfolgen. In einem weiteren Schritt sollen die verschiedenen Warentypen, die nach Britannien importiert bzw. von dort exportiert wurden, aufgearbeitet werden. Diese Analyseschritte verfolgen das Ziel, die ökonomische Betätigung der zwischen Ger­ manien, Gallien und Britannien agierenden Händler besser verstehen zu können. Welche Han­ dels­wege können nachgewiesen werden? Welche Güter wurden verhandelt und wie ist das Han­ dels­volumen einzelner Warengruppen zu bewerten? Welchen Einfluss hatte der Fern­handel mit Oliven­öl auf den Transfer anderer Güter? Dabei soll besonders für die unterschiedlichen Trans­fer­ richtungen von Händlern und ihren Waren sensibilisiert werden: Was wurde auf dem ‚Hinweg‘, was auf dem ‚Rückweg‘ transferiert? Britannien-Händler und andere negotiatores in Colijnsplaat Negotiatores, die sich als ‚Britannien-Händler‘ bezeichnen, sind auffällig oft in den Weih­in­ schriften für die Dea Nehalennia aus Colijnsplaat nachweisbar.1 Die Weihung CIL XIII 8793 = ILS 4751 hat M. Secundinius Silvanus, ein negotiator cretarius Britannicianus, gestiftet. Dieser hat mit AE 1973, 370 in Domburg auch noch eine zweite identische Weihinschrift hinter­lassen.2 *

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Hans-Joachim Drexhage, dem wir in freundschaftlicher Verbundenheit für viele gemeinsame Fachge­ spräche – „nicht nur über Details, sondern auch über Ergebnisse“ – danken möchten, hat grundlegende Beiträge zur kaiserzeitlichen Wirtschaftsgeschichte und insbesondere auch zur Erforschung der Wirt­ schaft der britannischen Provinz vorgelegt. Mit diesem Aufsatz möchten wir in vieler Hinsicht an seine Studien anknüpfen. Der Titel Ex provincia Britannia ist dem Wortlaut der Mainzer Inschrift CIL XIII 7300 entnommen, die nachfolgend noch mehrmals behandelt werden wird. Schmidts 2011, 97, Tab. 18; zu den negotiatores in Colijnsplaat: Mócsy 1984; allg. auch Schlippschuh 1974, 146 ff. u. Jacobsen 1995, 157 ff. Broekaert 2013, 97, Nr. 154. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Patrick Reinard – Christoph Schäfer

Bemerkenswert ist die Begründung ob merces recte conservatas. Die gleiche Formulierung steht auch in der für Nehalennia gesetzten Weihinschrift des P. Arisenius Marius (AE 1983, 721: ob merces bene conservatas). Dieser war der Freigelassene eines negotiator Britannicianus namens P. Arisenus V[…].3 Ebenfalls eine Stiftung für die Göttin Nehalennia erfolgte in Colijnsplaat von Placidius, einem negotiator Britannicianus und civis Veliocassinius (AE 1975, 651).4 Er ist zudem auch durch eine Inschrift aus York bekannt: AE 1977, 512 informiert über eine Weihung für Merkur/ Neptun? und das kaiserliche numen, welche von einem L. Viducius Placidius, der angibt civis Veliocassinius und negotiator Britannicianus zu sein, gestiftet wurde; in beiden Fällen stimmt auch die Filiation überein. Für die Dea Nehelennia hat auch der negotiator Britannicianus C. Aurelius Verus in Colijns­ plaat eine Weihinschrift gestiftet (AE 1983, 722). Er könnte identisch sein mit einem in Köln bezeugten Stifter:5 Die häufig zitierte Weihinschrift CIL XIII 8164a = ILS 7522, die Apollon gewidmet ist, wurde von einem negotiator Britannicianus moritex namens C. Aurelius Verus gestiftet.6 Verus war ein Freigelassener. Die Bezeichnung moritex ist keltischen Ursprungs: ‚mori-‘ bedeutet ‚Meer‘.7 Sprachgeschichtlich besteht eine Verwandtschaft mit dem kymrischen ‚mordwyo‘, das mit ‚zur See fahren‘ bzw. ‚Seefahrer‘ übersetzt werden kann.8 Auch im lateinischen Aremorica, das sich aus keltisch ‚are‘ (‚vor‘) und ‚mori‘ zusammensetzt und ursprünglich die Region an der Küste des Atlantiks bezeichnete, ist das Wort nachweisbar.9 Die Verwendung des Begriffs moritex darf dahingehend interpretiert werden, dass Aurelius wohl indigener Herkunft war, also aus dem gallischen oder britannischen Kulturkreis stammte. Dass er Apollon eine Inschrift weihte, muss dem nicht entgegenstehen.10 Sicherlich bezeugen AE 1983, 722 in Colijnsplaat und CIL XIII 8164a = ILS 7522 in Köln die gleiche Person. Die Verwendung des Terminus moritex dürfte anzeigen, dass C. Aurelius Verus als Britannien-Händler auch über die Nordsee gefahren ist. Er handelte demnach also nicht nur mit Waren, die aus oder nach Britannien kamen bzw. gingen, sondern fuhr auch selbst in die Inselprovinz. Seine durch das Wort moritex angedeutete indigene Herkunft könnte für ihn in Handelsgeschäften von Vorteil gewesen sein, da anzunehmen ist, dass er die keltischen Sprachen gesprochen hat. Neben Köln erreichten Händler, die zwischen der Provinz Britannia und den germanischen sowie gallischen Gebieten Handel trieben, auch das römische Mainz: CIL XIII 7300 ist eine Grabinschrift für einen Mann namens Fufidius, der als negotiator [ ]arius ex [provinc]ia Bri/[tan-

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Broekaert 2013, 32, Nr. 14. Kakoschke 2002, Nr. 1.7; Broekaert 2013, 120 f., Nr. 203. Kakoschke 2002, Nr. 4.7. Galsterer – Galsterer 1975, Nr. 4; AE 1893, 31; AE 1953, 269; AE 2004, 967; Walser 21993, 74 f., Nr. 25; Kakoschke 2002, Nr. 4.7; Schmidts 2011, 12 u. 143, Nr. 58; Broekaert 2013, 41 f., Nr. 35. Maier 22004, 92; Broekaert 2013, 42; Schmidts 2011, 11–13; Rothenhöfer 2005, 233; Adams 2003; Walser 21993, 74 jeweils mit weiterer Literatur; cf. auch unten die Ausführungen zu AE 2002, 882 und CIL VII 248 = ILS 7062. Frühere Überlegungen, die das Wort moritex auf die Purpurschnecke beziehen wollten (cf. Eck 2004, 470), sind weniger wahrscheinlich. Maier 22004, 93. Maier 22004, 92. Cf. zur Verbreitung des Apollon-Kultes in Gallien etwa Religio Romana 1996, 166–171, Nr. 23a–23g sowie Schipp 2016, 96. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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nia] bezeichnet wird.11 Der Grabstein wurde von einem [ ]inus gemeinsam mit liberti gestiftet. Offensichtlich weilte Fufidius also mit Familienmitgliedern in Mainz. Die Formulierung ex provincia Britannia deutet an, dass Fufidius und seine Mitstreiter aus der Inselprovinz stammten. Ebenso wie C. Aurelius Verus, der negotiator Britannicianus moritex, darf man für die Per­sonengruppe um Fufidius sicher eine indigene, wahrscheinlich eine indigen-britannische Her­kunft vermuten. Aus dem Dea Nehalennia-Heiligtum in Colijnsplaat sind auch zahlreiche Inschriften bekannt, die negotiatores ohne den Zusatz Britannicianus nennen: Die fragmentarische Weihung AE 1983, 72012 wurde von Valerius Mar[ gestiftet. Er wird als negotiator bezeichnet. Der weitere Text lautet: negot(iator) Can[tianus] / [et] Gesercan[us - - -] / [o]b merces bene c[onser(vatas). In der Forschung wurde diskutiert, ob in der Lücke hinter Gesercanus mit C(oloniae C(laudiae) A(rae) A(grippinensis) zu ergänzen sein könnte.13 Auch wenn sich Valerius Mar[ nicht als BritannienHändler bezeichnet, zeigen die lateinischen Ortsnamen für Kent und Boulogne-sur-Mer doch zweifellos an, dass er zwischen dem gallisch-germanischen Raum und der Inselprovinz Handel trieb. Wim Broekaert hat darauf hingewiesen, dass aus London ein Valerius Marcellus inschriftlich bekannt ist (CIL VII 33), der eventuell mit dem hier in Rede stehenden Händler identisch sein könnte; in der Lücke nach Mar[ ist Raum für ca. fünf bis sechs Buchstaben. Ganz sicher kann man also sagen, dass Valerius Mar[ in Boulogne-sur-Mer und in Kent, vielleicht aber auch in London und in Köln geschäftlich aktiv war. Es ist anzumerken, dass Boulogne-surMer ein Stützpunkt der classis Britannica gewesen ist,14 was auf das von Valerius Mar[ anvisierte Kundenspektrum verweisen dürfte.15 Besonders die Verbindungen zwischen Köln und Colijnsplaat sind deutlich im Quellen­ material dokumentiert. Einen negotiator salarius namens C. Iulius Florentinus, der als Her­ kunfts­­angabe Agripp(inensis) angibt, bezeugt die Weihung AE 1973, 364.16 Ein zweiter Salz­ händler, der aus Köln (Agrip[pinensis]) stammte, wird durch AE 2001, 1464 überliefert.17 Neben C. Aurelius Verus und eventuell Valerius Mar[ fasst man hier also zwei weitere Händler, 11 Kakoschke 2002, Nr. 1.76. Die Lücke im Inschriftentext ist am ehesten mit [sal]arius oder [cret]arius zu schließen. In der Forschung wurden auch [frument]arius oder [vesti]arius diskutiert; cf. Broekaert 2013, 64, Nr. 80; Rothenhöfer 2005, 234. Aufgrund der auffällig vielen negotiatores salarii u. cretarii, die mit dem Britannien-Handel in Verbindung gebracht werden können (s.u.), scheint die Annahme eines salarius oder cretarius hier naheliegend zu sein. Inhaltliche Argumente, die weiter unten noch erarbeitet und diskutiert werden, sprechen am ehesten dafür, Fufidius als Keramikhändler zu interpretieren. 12 AE 1973, 380; Kakoschke 2002, Nr. 1.11. 13 Broekaert 2013, 115, Nr. 191. 14 Hier sei exemplarisch nur auf folgende Quellen aus Gesoriacum verwiesen: AE 1976, 459; AE 1981, 654; CIL XIII 3542–3544 u. CIL XIII 3540 = ILS 2910; cf. Viereck 1975, 254. 15 Anmerken darf man auch, dass die infrastrukturelle Situation in Boulogne-sur-Mer zweifellos förderlich für den Seehandel gewesen sein muss. Die Hafensituation war aufgrund des Stützpunktes der römischen Flotte sicher sehr gut. Zudem machten der bekannte Leuchtturm in Boulogne-sur-Mer (cf. Suet. Cal. 46; Winterling 32004, 112) sowie derjenige am gegenüberliegenden Dover die Überfahrt sicher; cf. Schmidts 2011, 103; hinweisen darf man an dieser Stelle auf die bemerkenswerte Ritzzeichnung eines Leuchtturms auf einer römischen Kachel, welche gelegentlich als Darstellung des Dover-Leuchtturms interpretiert wird; cf. Hobbs – Jackson 2011, 103, Abb. 79. Dass die Ritzzeichnung zweifellos einen Leuchtturm darstellen soll, beweisen Vergleichsbefunde aus Ostia: Langner 2001, Nr. 2284 f., Taf. 148. 16 Kakoschke 2002, Nr. 1.5; Broekaert 2013, 70, Nr. 91. 17 Kakoschke 2002, Nr. 1.15; Broekaert 2013, 71, Nr. 94. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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die zwischen Colijnsplaat und Köln aktiv waren.18 Ein weiterer negotiator salarius, der jedoch keine Herkunftsbezeichnung angibt, ist durch AE 1973, 378 für Colijnsplaat bekannt.19 Ein negotiator ohne nähere Konkretisierung des Handelsgutes ist durch AE 2001, 1475 belegt.20 Ferner überliefert die fragmentarische Inschrift AE 2001, 1460 eine Nehalennia-Weihung eines als nego[tiator sive -tiat(or) all]ecar(ius) bezeichneten Gratus.21 In AE 1973, 36522 werden zwei weitere negotiatores allecarii greifbar, die gemeinsam eine Weihung durchführen. Zweifellos auch ohne Berufsbezeichnung als Handeltreibende zu identifizieren sind Q. Phoeb(ius?) Hilarius, der eine ara für die Göttin Nehalennia sowie eine weitere Weihinschrift stiftete und jeweils als Begründung ob merce[s] / suas bene cons/[er]vatas bzw. p[ro] mercibu[s] / be[ne c]o[nser]/va[ndis] angab (AE 1975, 630 u. 646),23 und C. Crescentius Florus, dessen Weih­ inschrift AE 1975, 647 folgenden Text bietet: Deae Nehala/enniae pro me/rcibus conse/rvandis.24 Ferner dürften auch die Fragmente AE 2001, 1462 und AE 2001, 1468 mit großer Sicherheit auf Stifter zurückgehen, die im Handel aktiv waren; rekonstruierbar ist auch in diesen Fällen jeweils die Wendung ob merc]/es r[e]c[te] cons/[ervatas bzw. pro / mercib[us ca. 3]ctor( ) / bene c[ons(ervandis). Schließlich ist AE 1975, 650, die Weihung des aus Lyon stammenden Weinhändlers Commo­dus, zu nennen.25 Aus der Inschrift selbst geht zwar nicht hervor, dass Commodus ein nego­tiator vinarius gewesen ist, allerdings zeigt ein schmales Relieffeld unterhalb des Textes den Transport von Weinfässern auf einem Flussschiff; auf der Schmalseite des Denkmals sind Wein­reben dargestellt.26 Einen weiteren Beleg für einen negotiator bietet das Fragment AE 2001, 1466, auf welches nur aus Gründen der Vollständigkeit verwiesen sei. 18 Auf Mobilität zwischen Colijnsplaat und Köln verweist auch die Weihinschrift AE 1997, 1162, die M. Ottinius Freques gestiftet hat, ein [sevir] Aug(ustalis) c(oloniae) A(rae) A(grippinensium). Zudem bezeugen die aus Köln und Colijnsplaat bekannten Weihinschriften des Veteranen C. Iulius Aprilis dessen Mobilität zwischen beiden Orten: CIL XIII 8204 u. AE 1975, 652; cf. Kakoschke 2002, 591, Nr. 4.6, der Aprilis als Händler deutet und auch weitere Vergleichsbeispiele für die Kontakte zwischen Colijnsplaat und Köln bietet. 19 Kakoschke 2002, Nr. 9.3 nimmt eine Herkunft aus Köln an. 20 Broekaert 2013, 103, Nr. 163. 21 Broekaert 2013, 43, Nr. 37. 22 Broekaert 2013, 48 u. 98, Nr. 48 u. 157; Kakoschke 2002, Nr. 2.4, der von einer Herkunft aus Köln ausgeht; cf. auch Kakoschke 2002, 591. 23 Kakoschke 2002, Nr. 1.9A–B. 24 Kakoschke 2002, Nr. 9.2; Broekaert 2013, 469, Nr. 1246. 25 Kakoschke 2002, Nr. 11.2. Bemerkenswert ist die epigraphisch gut fassbare Mobilität von Personen aus Lyon, die nach Colijnsplaat gereist sind. Neben dem genannten Commodus kann noch auf AE 1975, 654 = Kakoschke 2002, Nr. 9.1, AE 1973, 367 = Kakoschke 2002, Nr. 4.3 (cf. CIL XIII 2259) und CIL XIII 2182 u. 8789 = Kakoschke 2002, Nr. 4.2 verwiesen werden. Bei diesen Personen wird nicht deutlich, ob sie als Händler tätig waren, allerdings liegt diese Vermutung sehr nahe; cf. Kakoschke 2002, 590, der auch weitere Belege für die Präsenz von Personen aus Gallien in Colijnsplaat bietet. 26 Kritisch ist Schmidts 2011, 26, der Commodus aufgrund der Reliefdarstellungen nicht als Weinhändler ansprechen möchte, sondern mahnt, ihn lediglich als Schiffer zu interpretieren. Dem darf man entgegenhalten, dass ein nautae oder Schiffseigner sein Fahrzeug – wie etwa im Falle des berühmten Mainzer Blussus-Steins (cf. Selzer 1988, 168 f., Nr. 110) – nicht so spezifisch hätte beladen darstellen lassen. Die Kombination der Transportszene und des Seitenreliefs machen eine Ansprache des Commodus als ne­ gotiator vinarius sehr wahrscheinlich. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Einen agens rem adiutor Cai namens M. Cupitius Victor bezeugt die an Dea Nehalennia gerichtete Weihung AE 2001, 1458. Man muss sich Broekaerts Interpretation anschließen, nach welcher der Stifter ein Agent oder ein Geschäftspartner eines gewissen Gaius gewesen sein dürfte.27 Die Bedeutung der Warenströme, die über die Atlantik-Route zu den Rheinlegionen kamen, sowie der ökonomische Austausch mit Britannien, erklären die Präsenz von Kaufleuten im Heiligtum der Dea Nehalennia in Colijnsplaat. Diese kamen nicht nur vom Rhein an die Nordseeküste, sondern auch von der Mosel, insbesondere aus Trier. Die Weihinschrift AE 1973, 362 bezeugt einen M. Exgingius Agricola, der aus der civitas der Treverer stammte und als negotiator salarius Handelsbeziehungen nach Köln unterhielt.28 Zwischen Colijnsplaat und der Rheinmetropole hat sich dieser Treverer also im Salzhandel betätigt. Dass seine Handelsbeziehungen auch noch bis an die Mosel nach Trier reichten, darf angenommen werden. Ein zweiter Treverer namens C. Catullinius Secco, der sich als negotiator allecarius betitelt, stiftete der Dea Nehalennia in Colijnsplaat die Weihinschrift AE 1973, 375.29 Als dritter Beleg für einen Treverer in dem besagten Heiligtum ist AE 1975, 653 anzusprechen.30 Die Inschrift ist fragmentarisch erhalten, eine Berufsbezeichnung fehlt. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass auch dieser Stifter aus wirtschaftlicher Motivation auf Reisen war. Wohin verhandelten der treverische negotiator allecarius C. Catullinus Secco und der treverische negotiator salarius M. Exgingius Agricola ihre Waren? Salz und allec 31 wurden sicher nach Germanien zu den Rheintruppen vertrieben. Eine Mobilität der beiden Kaufleute zwischen Colijnsplaat und Xanten, Köln oder Mainz ist anzunehmen. Wichtig ist, dass die Salz­gewinnung in der Gallia Belgica gut dokumentiert ist: Für Tongeren ist dank ILB2 159 = AE 1994, 1279 ein Cat(ius) Drousus belegt, der sich als sal(inator) Men(apius) bezeichnet. Ferner sind durch CIL XI 390 u. 391 salinatores civitatis Menapiorum sowie salinatores civitatis Morinorum bekannt. Dass es zwischen diesen salinatores sowie den bezeugten negotiatores salarii geschäftliche Kontakte gegeben hat, ist sehr naheliegend. Aber auch die Hersteller von allec müssen Salz in großer Menge verbraucht haben und dürften deshalb mit den salinatores, aber auch mit Salzhändlern Wirtschaftskontakte unterhalten haben. Jean Krier und Heinz Heinen haben sich – aufgrund der genannten Produkte, welche in der Inselprovinz ohnehin verfügbar gewesen seien – gegen einen Handel von allec und Salz nach Britannien ausgesprochen.32 Diese These soll hier nochmals eindringlich überprüft und hinsichtlich der Frage möglicher Handelsrouten untersucht werden. Dabei soll zunächst der Salzhandel betrachtet werden. Der Handel mit allec wird im Zuge der Ausführung zu den amphorologischen Quellen in den Blick genommen (s. unten). Die These von Krier und Heinen würde einerseits dafür sprechen, dass die beiden negotiatores von Colijnsplaat die Transportwege von der Nordsee über den Rhein bis zu den Soldaten nutzten, sie also ihre Waren aus Gallien und Germanien an die Rheinlinie brachten. Andererseits wäre es auch denkbar, dass diese Händler Waren an der Nordseeküste aufnahmen und sie dann 27 Broekaert 2013, 469, Nr. 1248. 28 Krier 1981, 115, Nr. 41; Kakoschke 2002, Nr. 1.6, Broekaert 2013, 61, Nr. 74. 29 Krier 1981, 116, Nr. 42; Kakoschke 2002, Nr. 1.3; Broekaert 2013, 49, Nr. 50. 30 Krier 1981, 117, Nr. 43. 31 Bei allec handelt es sich um eine Paste aus fermentierten Fischen; cf. Cech 2013, 97; Thüry – Walter 2001, 45. 32 Krier 1981, 118 u. Heinen 52002, 95. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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zu den Rheintruppen transferierten. Der ohnehin starke Transfer von Öl über die AtlantikRoute33 und den Rhenus könnte für den Binnenbereich auch für Salz und Fischsuppe genutzt worden sein. Welche dieser beiden Möglichkeiten ist naheliegender? Während sich für die erste Warentransferrichtung (aus Gallien/Germanien an den Rhein) aus den Quellen keine plausiblen Argumente stark machen lassen – warum hätte man in diesem Fall gerade im Dea NehalenniaHeiligtum eine so starke Konzentration von Händlern? –, ist der Transport von Salz und allec von der Nordseeküste zu den Rheintruppen leicht verständlich. Von den besagten salinatores der Menapier und Moriner – beide Stämme siedelten bekanntlich unweit der Küste – dürfte Salz mit Sicherheit auf dem Seeweg bis zum Rhein und von dort zu den Truppenlangen transportiert worden sein. Die hohe Anzahl der Nachweise für negotiatores salarii aus Colijnsplaat ist somit wenig überraschend. Salz wurde ein kurzes Stück entlang der Seeküste transportiert, vermutlich profitierte der Salzhandel von dem ohnehin sehr starken und konstanten Transport von Olivenöl auf der Atlantik-Route. Colijnsplaat war natürlich eine Schnittstelle von See- und Binnenhandel, an welcher nicht nur oleum, sondern auch Salz umgeladen wurde; von hier verhandelten die negotiatores Salz dann weiter nach Xanten, Köln oder Mainz. Salz war somit sehr wahrscheinlich kein Exportgut aus Britannien. Die Anwesenheit des Fufi­dius, der ein negotiator [sal]arius (?) ex [provinc]ia Bri[tannia] gewesen sein könnte und ge­meinsam mit weiteren ihm zugeordneten Personen in Mainz weilte (CIL XIII 7300), stellt wegen des fragmentarischen Zustands keinen belastbaren Beleg für den Handel mit Salz aus Bri­tannien dar. Zwar haben Fufidius und seine Leute zweifellos Waren aus der Inselprovinz an den Rhein verhandelt, ob sie aber auf Salz spezialisiert waren, muss fraglich bleiben. Ein weiteres Indiz spricht wahrscheinlich gegen einen ökonomischen Salztransfer von Bri­ tannien nach Gallien und Germanien: Salz war einerseits ein omnipräsentes Gut, das nicht nur als Gewürz und Speisemittel, sondern auch in der Herstellung von Nahrungsmitteln sowie in der Konservierung nicht zu überschätzende Bedeutung hatte.34 Andererseits erzielte Salz auf dem Markt nur sehr geringe Preise, was sicherlich an seiner allgemein sehr breiten Verfügbarkeit lag. Durch Tab. Vindol. 186 ist eine Preisangabe für Salz vom Hadrianswall belegt, aus welcher ableitbar ist, dass man für 1 As mehr als zwei Kilo Salz erhalten konnte.35 Bedenkt man nun, dass aus dem Gebiet der Menapier und Moriner Salz in großer Menge auf den Markt kam und dieses über den Seehandel bis zur Rheinmündung einfach und effizient transportiert werden konnte, erscheint ein Salzexport aus Britannien sehr unwahrscheinlich. Gilt der für die negotiatores salarii aufgezeigte Befund nun auch für andere Händler in Colijns­plaat? Nahmen die negotiatores die Waren in der Region um Nijmegen nur in Empfang und verhandelten die sie dann auf den Flusswegen weiter? Ist dies auch für Händler anzunehmen, die sich als negotiatores Britanniciani bezeichneten? Sind die Salzhändler vielleicht eine Ausnahme und könnte die insgesamt beachtliche Präsenz von negotiatores im Dea Neha­lenniaHeiligtum durch ökonomische Interessen nach Britannien zu erklären sein? Die Nach­weise für negotiatores Britanniciani zeigen unzweifelhaft auf, dass auch die Inselprovinz aus wirt33 Schäfer 2016a; Schäfer 2016b; Schäfer 2017, 98 ff.; Remesal Rodríguez 1997, 50 f. Kritische Stimmen in der Forschung wie etwa Onken 2003, 82 f., die die ökonomische Effizienz der Atlantik-Route für den Ölhandel in Abrede stellen, können aufgrund der nautischen Argumente und des archäologischen Befundes inzwischen als widerlegt angesehen werden. 34 Cf. Reinard 2016, I 342 f. mit den Quellen. 35 Drexhage 1997a, 22. Die wenigen bekannten Preisangaben für Salz aus Ägypten stützen diesen Befund. Salz war, gemessen an anderen Nahrungsmitteln, sehr billig; cf. Drexhage 1991, 39 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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schaftlichen Gründen rege besucht worden sein muss.36 Die Rheinlinie war durch das Nach­ fragepotenzial der Soldaten von enormer ökonomischer Bedeutung. Allerdings eröffnete sich nach der Provinzeinrichtung Britanniens auch jenseits der Nordsee ein konstant bleibender Markt.37 Die seit Ende des 1. Jh. n.Chr. ca. 50.000 stationierten Soldaten in der Inselprovinz generierten ein starkes und gleichbleibendes Nachfragepotenzial;38 oder um die dem Aufsatz vorangestellte Formulierung von Hans-Joachim Drexhage nochmals zu zitieren Kaufkraft weckt Bedürfnisse, Produzenten und Händler suchen ihren Vorteil bei der Erfüllung dieser Bedürfnisse.39

Lockte dieses Potenzial auch Händler aus Germanien und Gallien an? Die Verbindungen von „Britannien-Händlern“ reichten – wie die bisherigen Belege für die Händler aus Augusta Treverorum bereits zeigen – bis weit in den gallischen Raum. Bekannt ist auch CIL XIII 634 = ILS 7523, die Grabinschrift des L. Solimarius Secundinus, der ebenfalls aus Trier stammte, aber in Bordeaux einen Grabstein erhielt.40 Auch er war als negotiator Britannicianus tätig. Neben CIL XIII 634 ist auch auf die aus Bordeaux stammende Inschrift AE 1922, 116 = ILTG 141 zu verweisen.41 Diese Weihinschrift wurde von M. Aurelius Lunaris, einem IIIIIIvir Augustalis coloniarum Eboraci et Lindi provinicae Britanniae Inferioris, gestiftet. Dass sich M. Aurelius Lunaris aufgrund von ökonomischen Interessen aus Britannien nach Bordeaux begeben hat, darf angenommen werden.42 Neben C. Aurelius Verus, dem negotiator Britannicianus moritex (CIL XIII 8164a), sowie der Personengruppe um Fufidius in Mainz (CIL XIII 7300), dem civis Veliocassinius L. Viducius Placidius (AE 1975, 651 u. AE 1977, 512), den moritices Tiberinus Celerianus und M. Verecundius Diogenes (AE 2002, 882 u. CIL VII 248; s.unten) und dem nach Kent und vielleicht nach London handeltreibenden Valerius Mar[ (AE 1983, 720) fasst man mit L. Solimarius Secundinus und M. Aurelius Lunaris eine siebte und achte Person namentlich, die nach expliziter Aussage des Inschriftentextes zweifellos nicht nur an dem Handel mit Britannien als negotiator partizipiert hat, sondern auch persönlich nach Britannien gefahren sein muss. Dabei ist für L. Solimarius Secundinus und M. Aurelius Lunaris, die beide in Bordeaux ansässig waren, zwingend davon auszugehen, dass sie über die Atlantik-Route nach Britannien gelangt sind. Zweifellos nutzen beide Händler 36 Man könnte hier auch anmerken, dass aus Britannien Belege für die Anwesenheit von Treverern anzuführen sind: Neben Quellen aus dem militärischen Umfeld (CIL VII 288 = RIB 606 u. CIL XVI 82 = AE 1919, 97) dokumentiert CIL VII 36 = RIB 140 = ILS 4586a aus Bath einen Zivilisten aus Augusta Treverorum, der vielleicht zwecks Handelsinteressen in Britannien weilte; cf. Krier 1981, 119, Nr. 44. Weithin bekannt ist auch das große Grabdenkmal des Iulius Alpinus Classicianus, der als Finanzprokurator im Dienste des Kaisers Nero nach Britannien kam und wohl über familiäre Verbindungen in das Trevererland verfügte; cf. CIL VII 30 = RIB 12 = AE 1936, 3; Brodersen 1998, 111–115; Hobbs – Jackson 2011, 38, Abb. 26. 37 Allg. zur inhaltlichen Bedeutung des Terminus „konstanter Markt“: Reinard 2017, 62 ff. 38 Birley 1990, 539; Drexhage 1997a, 16; Schmidts 2011, 100; Verboven 2007; Schäfer 2016b, 10. Das Nach­ frage­potenzial der Soldaten kann auch anhand der Fundmünzen aufgezeigt werden. Nach der Ver­legung der legio II Augusta von Straßburg nach Britannien brach in dem vormaligen Stützpunkt der Münz­ umlauf nachweislich ein. Gleiche Effekte lassen sich auch für die Standorte in Britannien skizzieren; cf. Wierschowski 1984, 141 ff. mit der Literatur. 39 Drexhage 1997a, 15. 40 Krier 1981, 23–25, Nr. 4; Riese 1914, Nr. 2478. 41 Broekaert 2013, 463, Nr. 1234; Schmidts 2011, 102; Courteault 1921. 42 Krier 1981, 24 spricht M. Aurelius Lunaris als Händler aus Britannien an. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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auch den Flussbinnenweg Garonne, dessen Bedeutung durch die archäologisch nachgewiesenen Hafenanlagen in Bordeaux verdeutlicht wird.43 M. Aurelius Lunaris sowie der für Colijnsplaat bekannte L. Viducius Placidius unterhielten beide Verbindung nach Lindum und Eburacum, was als epigraphisches Indiz für eine See­ handelsroute entlang der östlichen Küste Britanniens zu werten ist; es ist hier auch zu betonen, dass der moritex-Händler M. Verecundius Diogenes in York ansässig war (CIL VII 248; s.u.).44 Es ist davon auszugehen, dass Händler wie M. Aurelius Lunaris auf dem Seeweg bis Petuaria gereist sind. Von hier führten römische Straßen in das nördliche Eburacum und weiter zu den nördlichen Grenzlagern45 sowie in das südliche Lindum, welches Endpunkt des sogenannten „Fosse Way“ war, einer bis an den Severn nach Exeter in den Südwesten reichenden Straße. An­ knüpfungen an den innerprovinziellen Landtransport / -handel, der in den Schreibtafeln mehr­ fach bezeugt wird, waren aus Eburacum und Lindum möglich.46 Außerdem ist der Binnen­ hafen am Fluss Witham zu nennen, der bis Lindum schiffbar gewesen ist.47 Auch für York ist am Zu­sammen­fluss von Ouse und Foss ein römischer Binnenhafen nachgewiesen.48 Dass Lindum mit dem über die Atlantik-Route ankommenden Fernhandel verbunden war, wird durch den dokumentarischen Nachweis von Oliven (RIB 2492, 31) aufgezeigt. Vermutlich kamen diese Waren über den Seeweg entlang der Ostküste und wurden dann auf dem Landweg oder – was wahrscheinlicher ist – via Schiff über den Binnenweg nach Lindum gebracht.49 Sehr wahrscheinlich fuhren die Händler aber auch auf dem Seeweg weiter in den Norden und steuerten das Kastell Arbeia, das moderne South Shield, sowie Pons Aelius, das moderne Newcastle upon Tyne, an. Diese Militärstützpunkte dienten als wichtige östliche Versorgungs­ plätze des Hadrianwalls. Nach South Shield gelangten Ölimporte aus Hispanien, was die dort in beachtlicher Anzahl nachgewiesenen Dressel 20-Amphoren belegen,50 aber zweifellos auch Waren aus der Germania inferior: Auf zwei Keramikfundstücken steht jeweils Servan/dus c(oloniae) C(laudiae) A(rae) A(grippinensium) / fecit (RIB 522 u. 2456, 6). Ein indirekter archäo­ logischer Zeuge der über den Seeweg transferierten Lieferungen sind auch die Horrea-Bauten in Arbeia. Sie sind seit hadrianischer Zeit als Doppelhorreum fassbar und wurden später sehr wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Britannienfeldzug des Septimius Severus noch43 Wawrzinek 2014, 230 ff., Nr. A10. 44 Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Anwesenheit des Gelehrten Demetrios von Tarsos, der nach Angabe des Plutarch (mor. 419e) im Auftrag Domitians die Inseln rund um Britannien erkunden sollte, durch zwei griechische Inschriften aus York dokumentiert wird (RIB 662 f.); cf. Reinard 2013, 15; Drexhage 1998, 201; Dessau 1911. Sehr wahrscheinlich nutzte Demetrios während seines kaiserlichen Auftrags Fahr­zeuge der römischen Flotte. Von östlichen Hafenstädten wie Petuaria oder Arbeia ausgehend, muss er schließlich auch Eburacum besucht haben. 45 Wagenverkehr zwecks ökonomischer Betätigung aus der Region von York gen Norden zum Hadrianswall lässt sich in Tab. Vindol. 343 explizit nachweisen. Allerdings wird in diesem im Winter oder Frühjahr abgefassten Brief auch explizit die Problematik des Wagenverkehrs angesprochen, denn die Beschaffenheit der Straßen verhinderte einen Transport zwischen Catterick und Chesterholm. 46 Tab. Vindol. 185, 309, 314, 316, 343, 642 u. 649; cf. Drexhage 1997a, 23; Reinard 2016, II 966. 47 Wawrzinek 2014, 283, Nr. A44. 48 Wawrzinek 2014, 396 ff., Nr. A89. 49 Es ist kein Zufall, dass in den Vindolanda-Tafeln besonders die Orte Coria, Vinovia, Cataractonium, Isurium, Eburacum und Lindum erwähnt werden; cf. Grønlund Evers 2011, 46. Dies betont die Bedeutung der Seeroute entlang der östlichen Inselküste. Aus dem Westen werden hingegen nur Luguvallium und Bremetenacum genannt. 50 Onken 2003, 72. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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mals deutlich erweitert.51 Zweifellos ist es kein Zufall, dass South Shield spätestens seit der festen Etablierung der Grenzlinie durch den Hadrianswall über große Speicherbauten verfügte. Auf Handelslieferungen nach South Shield verweist auch der auf einem Keramikfragment angebrachte Graffito [m]odii VII[, der wahrscheinlich auf Getreidetransporte zu beziehen ist (AE 2003, 1055c). Für den Handel mit Getreide gibt es aus der Region von Nijmegen allerdings kaum epigraphische Hinweise. Nur CIL XIII 8725 = ILS 4811 belegt einen negotiator frumentarius. Ein weiterer Beleg liegt dank der fragmentarischen Inschrift CIL XIII 7836 aus Aachen vor.52 Der bereits mehrfach angesprochene ex provincia Britannia stammende Fufidius, der in Mainz belegt ist, wurde in der Forschung gelegentlich als negotiator [frument]arius gedeutet, was jedoch unsicher bleiben muss. Die sehr geringe Belegdichte für Getreidehändler macht die Ergänzung zudem eher unwahrscheinlich. Außerdem wurde in der aktuellen Forschung aufgezeigt, dass die Versorgung mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen in Niedergermanien sehr wahrscheinlich regional bewerkstelligt wurde.53 In relativer geographischer Nähe zu Militärlagern und Zivilsiedlungen konnte in hinreichender Menge Getreide produziert werden, wodurch ein Fernhandel durch negotiatores frumentarii nicht lohnend erscheint. Die relativ niedrige Anzahl epigraphischer Belege für den Getreidehandel kann dadurch erklärt werden. Colijnsplaat bzw. die Region um Kops Plateau und Nijmegen muss – wie bereits gesagt – als eine Schnittstelle zwischen dem Seetransport, der aus Spanien über die Atlantik-Route in die Nordsee sowie dem Binnentransport, der über die Flüsse in die germanischen und gallischen Provinzen kam, angesehen werden. Es verwundert deshalb auch nicht, dass es im Dea Nehalennia-Heiligtum auch epigraphische Nachweise für Schiffer gibt: AE 1973, 372 ist die Weihung eines Vegisonius Martinus, der sich als civis Sequanus und nauta bezeichnet. Eine Weihung an die Göttin pro navibus ist durch AE 1975, 655 erhalten. Die Weihinschrift AE 2001, 1489 wurde von Bosiconius Quartus gestiftet, der actor navis Flori Severi gewesen ist.54 Broekaert interpretiert die Bezeichnung actor navis als „most likely a synonym of the more frequently attested magister navis“.55 Hinweisen darf man an dieser Stelle auch auf das oben genannte Fragment AE 2001, 1468, in welchem man die Lücke in Z. 3 eventuell zu a]ctor(is) ergänzen könnte; eine weiterführende syntaktisch annehmbare Ergänzung des verlorenen Textes kann jedoch nicht erfolgen.56

51 Johnson 1987, 172; Wilson 31988, 273 f. u. 396; Brodersen 1998, 201. 52 Broekaert 2013, 123, Nr. 206. 53 Rothenhöfer 2005, 56 f. u. 73 f. Dieser Interpretation folgt Seiler 2015, 64 f., der für die Villen im Tre­ verer­gebiet keine Partizipation an der Getreideversorgung der Rheintruppen annimmt. Eine Ver­bindung der landwirtschaftlichen Betriebe in der Belgica mit den soldatischen Abnehmern am Rhein wird in der Forschung aber auch betont; cf. für die Diskussion mit exemplarischen Verweisen: Reinard 2017, 71 Anm. 103. Zweifellos gab es bestimmte Situationen, in welchen sich die Marktlage durch externe Faktoren (Kriege, Feldzüge, Missernten etc.) verändern konnte, was dann dazu führte, dass Getreide in den gallisch-germanischen Provinzen auch über weite Strecken an den Rhein verhandelt wurde. Dies deutet eine Episode aus dem Jahr 69/70 n.Chr. an: Tac. hist. 4,26 mit der Interpretation bei Reinard 2017, 80 f. Allerdings scheint dies eher die Ausnahme, nicht die Regel gewesen zu sein. 54 Schmidts 2011, 8 u. 143, Nr. 57. 55 Broekaert 2013, 465, Nr. 1237. 56 In der Forschung wurde auch [ve]ctor(um) diskutiert; cf. Stuart – Bogaers 2001, Nr. 42A. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Bemerkenswert ist an dieser Stelle noch, dass die für den Britannien-Handel epigraphisch fassbaren Personen häufig Freigelassene sind oder liberti im Zuge der Handelstätigkeit nutzen (z.B. AE 1983, 721; CIL XIII 8164a; CIL XIII 7300). Negotiatores in London Neben den negotiatores, die sich explizit im Britannienhandel beschäftigt haben, sowie den ohne entsprechenden Zusatz epigraphisch greifbaren negotiatores in Colijnsplaat muss man den Blick auch auf Händler in der Provinz Britannien richten. Allerdings ist der Befund hier sehr bescheiden. Aus Southwark ist die bereits oben kurz angesprochene Weihinschrift AE 2002, 882 bekannt.57 Gestiftet wurde sie von Tiberinius Celerianus, einem moritix Londiniensium. Hier liegt das gleiche keltische Wort ‚mori-‘ zugrunde, welches auch C. Aurelius Verus in seiner Kölner Weihinschrift als Berufsbezeichnung verwendet. Tiberinus Celerianus ist ebenfalls als seefahrender Händler anzusprechen, der neben Southwark und London sicherlich auch über den Kanal Handel trieb; gebürtig war er ein civis Bellovacus, was auf eine Verbindung zu seiner Heimat-civitas, den Bellovakern an der Nordseeküste, schließen lässt. Ein dritter Beleg für einen moritix- bzw. moritex-Händler ist CIL VII 248 = ILS 7062, eine Grabinschrift aus York, deren Überlieferung und Lesung allerdings problematisch sind. Man darf sich Broekaert anschließen, der einen umsichtigen Kommentar liefert, und in M. Vere­ cundius Diogenes einen authentischen Beleg für einen moritex sehen möchte.58 In Diogenes’ Inschrift steht als Herkunftsangabe civis Biturix Cubus, d.h. er stammte gebürtig aus Avaricum/ Bourges in Aquitanien.59 Sehr wahrscheinlich agierte er ebenso wie die aus Bordeaux bekannten Händler, die nach Britannien fuhren (s.o.), auf der Atlantik-Route.60 Insgesamt ist der epigraphische Befund bescheiden. Eindringliche Weih- oder Grab­in­ schriften, die explizit negotiatores in den küstennahen Regionen bezeugen, fehlen in Britannien. Die jüngst von Roger S. O. Tomlin publizierten Schreibtafeln aus London bieten hier allerdings neues Quellenmaterial.61 Die Schreibtafel Nr. WT7 überliefert eine Adresse, die Nachricht war an einen negotiator namens Optatus gerichtet. Der erhaltene Text lautet: Optato neg(otiatori) / nut(…). Im Zeilenkommentar erwägt Tomlin folgende mögliche Textrekonstruktion: nut(rimen­ torum) oder *nut(rimentario). Folgt man dieser Ergänzung, wäre Optatus ein Händler, der allgemein auf Nahrungsmittel konzentriert gewesen ist. Vielleicht handelte er also mit Oliven, Oliven­öl, Früchten oder Wein, d.h. mit Handelsgütern, die in großem Umfang über den See­ handel in die Provinz importiert wurden. Freilich könnte man ebenso gut an Handels­güter wie Getreide, Käse oder Fleisch denken, was dann eher auf lokalen Handel verweisen dürfte. Neben den unmittelbaren Zeugnissen der Inschriften und Schreibtafeln kann auch auf Tacitus verwiesen werden, der commercia et negotiatores für die Westküste Britanniens nennt (Agr. 24,1). Diese sollen Handelsgeschäfte zwischen Britannien und Hibernia betrieben haben, was sich jedoch nicht durch Parallelüberlieferung verifizieren lässt. 57 58 59 60

Broekaert 2013, 488 f., Nr. 1279; Schmidts 2011, 11 f. u. 131, Nr. 1. Broekaert 2013, 490 f., Nr. 1284; Schmidts 2011, 13 u. 131, Nr. 2. Schmidts 2011, 13. Ebenso wie für die besagten Händler aus Bordeaux ist auch für M. Verecundius Diogenes anzunehmen, dass er in Avaricum auch die Transportmöglichkeiten der Binnenschifffahrt nutzte. Am Fluss Auron ist in der Nähe von Bourges ein römischer Binnenhafen nachgewiesen; cf. Wawrzinek 2014, 234 f., Nr. A11. 61 Tomlin 2016. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Weitere direkte Zeugnisse für negotiatores aus den Küstenregionen der britannischen Pro­ vinzen fehlen, allerdings liegt mit der Schreibtafel Nr. WT44 ein Dokument vor, dass einen ge­schäftlichen Vorgang festhält; in Z. 5 f. liest man: ex{s} pretio / mercis quae vendita et tradita. Dieses unmittelbare Quellenzeugnis bietet einen direkten Einblick in die Abwicklung eines Handels­geschäftes von Personen, die man durchaus als „Kaufleute“ oder dergleichen ansprechen darf. Darüber hinaus dokumentieren zahlreiche Schreibtafeln aus London die Abwicklung von Geld- und Kreditgeschäften, was ebenfalls auf geschäftliche Unternehmen verweisen könnte.62 Die indirekten Hinweise auf Handelsgeschäfte müssen natürlich nicht nur auf interprovinzialen Handel zu beziehen sein, sondern können ebenso mit regionalen ökonomischen Betätigungen erklärt werden.63 Zwei neue Tafeln aus London sind an dieser Stelle interessant: In Nr. WT45 geht es um den Landtransport von Speisen bzw. Nahrungsmittelvorräten (penus). Die Lieferung soll nach London gebracht werden (Z. 8). In Nr. WT38 geht es um eine Lieferung von fussum, was als Getreide zu interpretieren ist.64 Der Fundort legt auch in diesem Fall eine Lieferung nach Londinium nahe. Diese beiden Quellen deuten an, dass hier Produkte regional verhandelt werden, die nicht mit den großen Importströmen (Öl, Oliven, Wein, teilweise Fischsauce) in die Provinz gelangten, sondern im Umland größerer Siedlungen und Städte produzierbar waren. Solche Produkte, man darf an Getreide oder Erzeugnisse wie Käse, Fleisch etc. denken, waren sicher kein Bestandteil des Warensortiments, das im Fernhandel über See transferiert wurde. Die Differenzierung regionaler und überregionaler Märkte, auf letzteren agierten zweifellos die negotiatores Britanniciani, wird hier ansatzweise greifbar. Auf Mobilität und Handelskontakte zwischen dem Kontinent und der Inselprovinz, die in den Schreibtafeln von Vindolanda explizit fassbar werden, kann hier ergänzend hingewiesen werden.65 Tab. Vindol. 154, ein Report über die Truppenstärke, bezeugt, dass von der in Vin­do­­landa stationierten Einheit neun Soldaten, darunter ein Centurio, nach Gallien gereist sind (Z. 12 f.: G]allia viiii / in is (centurio) i).66 Kontakte wirtschaftlicher Art werden durch die Belege für „g­a llische Schuhe (galliculli; z.B. Tab. Vindol. 197) sowie Kleidung aus Gallien 62 So z.B. Nr. WT50, Nr. WT53, Nr. WT55, Nr. WT56 oder Nr. WT76. 63 Für solche lassen sich in den Schreibtafeln aus Vindolanda zahlreiche Hinweise finden: z.B. Tab. Vindol. 301, 302 oder 343; cf. zu Tab. Vindol. 343 die Interpretationen bei Drexhage 1997a, 23 f., Drexhage et al. 2002, 214 f., Broekaert 2013, 48 f. u. Reinard 2017, 52–55. 64 Cf. jeweils den Zeilenkommentar in Nr. WT45 u. Nr. WT38. 65 Epigraphisch sind Reisen von in Britannien beheimateten oder zumindest dort dauerhaft lebenden Händlern nach Germanien und Gallien durch die Belege für die Fufidius-Gruppe in Mainz (CIL XIII 7300) sowie für M. Aurelius Lunaris in Bordeaux (AE 1922, 116) eindeutig dokumentiert. Die in der Folge behandelten Schreibtafeln zeigen ein vergleichbares Verhalten, jedoch aus einer etwas anderen Perspektive, welche durch die Quellengattung verändert ist. Zweifellos wurde nach Aussage der Inschriften der Handel über die Nordsee vornehmlich von negotiatores gallischer und germanischer Herkunft betrieben. Dass es, wie etwa Rothenhöfer 2005, 234 Anm. 326 („Britannische Händler, die sich auf den Handel mit den Rheinprovinzen spezialisiert haben, sind nicht bekannt.“) andeutet, keine britannischen Händler gegeben hätte, kann nicht erhärtet werden. 66 Birley 2002, 79. Es stellt sich die Frage, auf welchem Weg diese Soldaten nach Gallien reisten. Verschiedene Reiserouten sind vorstellbar: 1) Man begab sich auf dem Landweg nach Osten und schiffte sich in South Shield, am Ende des Hadrianwalls ein; 2) Man reiste auf dem Landweg über York nach Petraia und bestieg dort ein Schiff. Nach Auskunft der verfügbaren Quellen dürften diese beiden Möglichkeit am wahrscheinlichsten sein. Denkbar wäre aber auch, dass man sich 3) auf dem Landweg nach Westen bis Carlisle bewegte, um dort auf ein Schiff zu steigen, sowie 4) eine Reise durch die Provinz nach Süden, um von London, Dover oder anderen Orten ausgehend die Überfahrt zu absolvieren. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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auf­gezeigt.67 In dem Brief Tab. Vindol. 255 wird ausgeführt, dass ein gewisser Valentinus nach seiner Rückreise aus Gallien Kleidung „genehmigt“ habe: [V]alentinum n(ostrum) a Gallia reuer/ sum commode uestem adprobas (Z. 3 f.). Ob diese Kleidung – es werden dann in den weiteren Zeilen saga, palliola und Tuniken genannt – aus Gallien stammt, ist allerdings nicht sicher. Zweifels­frei kann der Brief aber dem Rapport-Dokument Tab. Vindol. 154 an die Seite gestellt werden, da er die Reise von Soldaten nach Gallien bezeugt. Reisebewegungen in eine andere Pro­vinz, vermutlich nach Gallien, zeigt Tab. Vindol. 659. Von großer Bedeutung ist weiter die Tatsache, dass in Vindolanda Personen in den Schreib­ tafeln greifbar werden, die sich als „Menschen“ bezeichnen, die „über die See gekommen sind“ und sich in Vindolanda „nicht auskennen“ würden bzw. „unbekannt seien“ (Tab. Vindol. 344: hominem transmarinum et innocentem). Wie der weitere Text der Schreibtafel aufzeigt, ist dieser Mann in Handelsangelegenheiten am Hadrianswall unterwegs; eine Herkunft aus Germanien oder Gallien wäre naheliegend. Es sei hier nur kurz ausgeführt, dass die in den Schreibtafeln fassbare Praxis mittels schrift­ licher Verträge Handels- und Geldgeschäfte abzuwickeln, zweifellos auch von über­regional agierenden negotiatores genutzt worden sein muss. Zwar fehlen hierfür explizit positive Quellen­ funde, aber deren Existenz muss dennoch zwingend vorausgesetzt werden. Auf einer Außen­ seite einer aus Köln bekannten Schreibtafel hat sich die Aufschrift chir(ographum) Saturnini erhalten, was als „eigenhändiger Vertrag des Saturninus“ übersetzt wird.68 Schriftlich und letztlich auch juristisch fixierte Handelsverträge waren folglich auch im Wirtschaftsleben an der Rheingrenze völlig üblich. Indirekt zeigen auch ikonographische Quellen den Gebrauch schriftlicher Dokumente im Geschäftsleben auf, welches sich entlang der innergallischen und innergermanischen Binnenwege etabliert hat. Sehr häufig zeigen die „Alltagsszenen“ auf den Grabdenkmälern wirtschaftliche Transaktionen, wobei das Studieren von Dokumenten und Urkunden – in der Regel werden Schreibtafeln dargestellt – präsentiert wird.69 Diese ikonographischen Quellen zeigen neben der omnipräsenten Darstellung von Handels- und Warenverkehr somit indirekt auch die völlig übliche Verwendung von schriftlicher Kommunikation sowie von Vertragsdokumenten in Gallien und Germanien.70 Als Zwischenbilanz zu den negotiatores, die in Colijnsplaat, an den innergallisch-germanischen Binnenstrecken sowie in Britannien nachweisbar sind, kann festgestellt werden, dass der Handel mit der Inselprovinz in erster Linie in der Hand gallischer und germanischer Akteure lag. Nur vereinzelt sind auch Belege für Händler existent, die aus Britannien stammten. Deutlich wird anhand des epigraphischen Materials, dass der Salzhandel aus dem Gebiet der Moriner und Menapier über den Seeweg bis zur Rheinmündung gelangte und dort von den zahlreich nachgewiesenen Salzhändlern aufgegriffen wurde. Ferner wird anhand inschriftlicher Hinweise ersichtlich, dass die Handelsschifffahrt entlang der östlichen britannischen Provinzküste eine sehr übliche Transferstrecke gewesen sein muss.71 67 68 69 70 71

Birley 2002, 94, 101 u. 104; Bowman 1994, 71. Tegtmeier 2016, 59 u. 250 f., Nr. T225, Taf. 19,7, Abb. 29. Beispielsweise Baltzer 1983, 125 u. 128 f., Nr. 20, 31; 33 f., 37 u. 41; Heinen 52002, 169, Abb. 59. Reinard 2016, II 997 ff. Hier seien noch kurze Anmerkungen zu den Inschriften aus Colijnsplaat gestattet, die die Formeln ob merces bene conservatas, ob merces suas bene conservatas oder pro mercibus bene conservandis aufweisen (AE 1973, 370; AE 1975, 630 u. 646 f.; AE 1983, 720 f.; AE 2001, 1462 u. 1468). Der in diesen Denkmälern ausgedrückte Dank an die Dea Nehalennia für die Bewahrung der Waren ist sicherlich dadurch zu erklä© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Handelskontakte und Warenstörungen: amphorologische Quellen Um sich den oben gestellten Fragen weiter annähern zu können, ist eine Betrachtung der amphorologischen Quellen erforderlich. Diese können hier natürlich nicht ausführlich, sondern lediglich im Überblick behandelt werden. Dabei soll zunächst der Blick nach Britannien gerichtet werden, um die hohe Bedeutung des über den Seehandel in die Provinz kommenden Imports aufzuzeigen. Diese konstante Marktstruktur entstand, wie bereits gesagt, durch das dauerhafte Nachfragepotenzial der in Britannien stationierten Soldaten. War aber dieses Potenzial, um eine der gestellten Fragen nochmals zu explizieren, nicht auch für Händler aus den germanischen und gallischen Provinzen verlockend? Für die Untersuchung der ökonomischen Betätigung der negotiatores Britanniciani sowie der Schnittstelle zwischen dem Transfer über die Atlantik-Route und dem interprovinziellen Austausch zwischen Britannien und den Kontinentalprovinzen müssen auch die AmphorenBefunde aus Colijnsplaat in den Blick genommen werden. Ein Abgleich der amphorologischen Quellen aus Britannien und Colijnsplaat, auch wenn er – dies sei ausdrücklich gesagt – hier nur oberflächlich erfolgen kann, erlaubt eine weiterführende Interpretation zur ökonomischen Betätigung der Britannien-Händler und des Austausches zwischen Gallien, Germanien und Britannien. Die Bedeutung der Atlantik-Route für den Handel nach Britannien schlägt sich deutlich in Amphoren-Befunden auf der Insel nieder. Wein aus der hispanischen Tarraconensis wurde ganz offensichtlich in die Provinz Britannia importiert.72 Ferner wurden auch Amphoren aus Nordafrika nach Britannien verhandelt.73 Insgesamt wird der Befund aber klar von den berühmten Dressel 20-Amphoren bestimmt.74 Ordnet man den Gesamtbefund chronologisch, so fällt auf, dass die Dressel 20-Amphoren ab flavischer Zeit dominieren. In neronischer Zeit scheint das Spektrum insgesamt ausgewogener gewesen zu sein.75 Eine weitere Zäsur deutet sich für die Zeit um 100 n.Chr. an, verschiedene Amphorentypen wie Camulodunum 185 u. 186 (für Fischsauce), Camulodunum 189 (für Früchte) und Dressel 2–4 sowie Camulodunum 184 (für Wein) verschwinden aus dem Befund, während Dressel 20-Amphoren aus Hispanien weiterhin dominieren.76 In der Generation zwischen flavischer und frühtrajanischer Zeit erfolgt die Entwicklung, die schließlich zur Dominanz der hispanischen Produkte in Britannien führte. Darf man daraus folgern, dass der Handel aus Gallien und Germanien nach Britannien abnahm und von dem über die Atlantik-Route einfacher – und damit billiger – zu transportierendem Import aus Hispanien überflügelt wurde? Weitestgehend dürfte diese Frage sicher

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ren, dass die Stifter Geschäfte im Seehandel durchgeführt haben. In zwei Fällen – bei M. Secundinius Silvanus (AE 1973, 370; mit CIL XIII 8793) und Valerius Mar[ (AE 1983, 720) – ist aus dem Wortlaut der Inschrift gesichert, dass die Stifter im Britannien-Handel aktiv waren. Daraus darf aber nicht abgeleitet werden, dass alle Belege für diese in Colijnsplaat übliche Inschriftenformel auf Stifter zurückgehen, die nach Britannien gefahren sind. Es könnte sich ebenso gut um Händler gehandelt haben, die über die Atlantik-Route aus der Baetica, aus Bordeaux oder aus Boulogne-sur-Mer an die nördliche Provinzküste gekommen sind. Revilla Calvo – Carreras Monfort 1993. Wein ist neben Bier in den Schreibtafeln gut bezeugt: Tab. Vindol. 190, 203, 208 u. 302; cf. Onken 2003, 122 f. Tab. Vindol. 190 Z. 17 könnte trotz des fragmentarischen Zustands als expliziter Beleg für auswärtigen Wein gewertet werden; cf. Drexhage 1997a, 24. Carreras – Williams 1995; cf. auch allg. Drexhage 1998, 192; Fulford 1991. Onken 2003, 72 f. u. 77 f. bietet eine Auflistung der Belegorte mit der archäologischen Literatur. Onken 2003, 73. Onken 2003, 73. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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zu bejahen sein, was durch die zweifellos enorme Bedeutung der Handelsschifffahrt auf der Atlantik-Route nach Britannien und Germanien verständlich wird. Gänzlich zum Erliegen kam der Handel aus den nördlichen Kontinentgebieten in die Inselprovinz allerdings auch nach 100 n.Chr. sicher nicht. Der für Wein bestimmte Amphorentyp Gauloise 4 bleibt in Britannien bis in die antoninische Zeit präsent.77 Insgesamt war der Import von Olivenöl aus Hispanien von herausragender wirtschaftlicher Bedeutung.78 Oliven konnten in Britannien nicht angebaut werden.79 César Carreras Mon­ fort hat in einer ausführlichen Studie die Amphorentypen in Britannien untersucht, in denen sehr wahrscheinlich Wein, Fischsaucen verschiedener Art (garum/allec/muria), Früchte und Oliven­öl in die Provinz kamen.80 Dabei wird nach seiner Untersuchung folgendes Bild ersichtlich: Die Amphoren mit Olivenöl waren in den Militärlagern des Provinznorden im Vergleich zu solchen für Wein, Fischsauce und Früchten quantitativ stärker präsent. In den zivilen Siedlungen der Inselprovinz war das skizzierte Verhältnis ausgewogener, dort gab es also im Verhältnis zu Olivenöl mehr Wein, Fischsauce und Früchte (bzw. mehr entsprechend typische Amphoren) als in den nördlichen Truppenstützpunkten.81 Pedro P. A. Funari hat in einer Untersuchung der Dressel 20-Inschriften aus Britannien aufgezeigt, dass sich hinsichtlich der Verbreitung der Ölamphoren drei unterschiedliche Schwerpunktregionen ausmachen lassen: die Militärlager am Hadrianswall, die westliche Provinzregion in Wales sowie der dank größerer Stadtsiedlungen wichtige Südwesten der Insel.82 Als Erklärungsansatz zieht er neben der Annahme, dass unterschiedliche Händler und verschiedene „purchasing contracts“ für die greifbare Schwerpunktbildung verantwortlich sein könnten, in Erwägung, es sei „more likely that there were three different trade routes“.83 Die Anlieferung der Dressel 20-Amphoren in den Südwesten erfolgte sicherlich über den direkten Zugang der küstennahen Siedlungen in diesem Teil der Provinz. Lieferungen in den Norden in die Lager an der Provinzgrenze könnten über den Landweg, einfacher aber sicherlich über die Seeroute an der Ostküste bis nach Eburacum und South Shield erfolgt sein. Für das Agieren von Händlern auf dieser Seeroute liegen die oben bereits angeführten epigraphischen Hinweise vor: Man darf hier an Händler wie Tiberinius Celerianus, Valerius Mar[, M. Aurelius Lunaris oder L. Viducius Placidius erinnern, die ausdrücklich nach Kent, Southwark oder entlang der britannischen Ostküste Handel trieben. Auch der Transport des Olivenöls nach Wales könnte auf dem Seeweg erfolgt sein, eventuell

77 Onken 2003, 73 f. mit weiterer Literatur; Tyers 1996, 86. 78 Peacock – Williams 1983, 263–280; Funari 1996. In der Forschung beziffert man beruhend auf einer statistischen Hochrechnung den jährlichen Bedarf des römischen Heeres in Britannien mit ca. 11.500 Amphoren; cf. Kissel 1995, 218; Schäfer 2106b, 10 mit weiterer Literatur. 79 Tac. Agr. 12,5. 80 Carreras Monfort 2000; Onken 2003, 68 u. 75; cf. auch Carreras Monfort – Funari 1998. 81 Cf. zur problematischen Methodik von Carreras Monfort: Onken 2003, 67–71. Das von Carreras Mon­ fort 2000, 54 f. vorgeschlagene Modell, nach welchem Olivenöl über staatliche Distribution bzw. ReDistribution zu den Truppen gelangte, während Wein, Fischsauce und Früchte über den freien Markt verhandelt worden seien, muss man mit Onken kritisch sehen. 82 Funari 1996, 76 ff. Auf die chronologische Entwicklung des Fundaufkommens der drei Schwerpunkt­ regionen kann hier nicht eingegangen werden. Dass ab dem Zeitraum flavisch bis frühhadrianisch die Dressel 20-Amphoren dominieren, wird aber auch durch Funaris Studie klar gezeigt. 83 Funari 1996, 86. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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w­ar das antike Deva hier ein naheliegendes Anlaufziel.84 Allerdings lassen sich für diesen Teil der Provinz epigraphisch keine Akteure fassen. Für den Transport der Dressel 20-Amphoren in die nördlichen Grenzlager hat Carreras Mon­fort ein Modell vorgeschlagen, nach welchem Olivenöl über staatliche Distribution bzw. Re­distribution zu den Truppen gelangte, während Wein, Fischsauce und Früchte eher über den freien Markt verhandelt worden seien.85 In den Schreibtafeln wird Olivenöl nur sehr selten belegt (Tab. Vindol. 203; s. unten), was konträr zu dem archäologischen Nachweis von Dressel 20-Amphoren steht. Die Überlegung, dass in den Schreibtafeln nur private Transaktionen dokumentiert seien und man Öl und Oliven nicht kaufte, da diese mittels staatlicher Distribution zugänglich gemacht worden seien, bleibt letztlich eine kritikwürdige Hypothese. Ein staatlicher Dirigismus, der den Öltransfer an die Nordgrenze regelte, lässt sich in den antiken Quellen nicht sicher fassen. Alan K. Bowman kommt beruhend auf einer Analyse der Schreibtafeln zu dem Schluss, dass die „needs of a military personnel were not simply met by an official system of requisition or compulsory purchase“.86 Ob der Olivenölhandel über staatliche Verteilung oder über den freien Markt in Britannien abgewickelt worden ist, wird weiter Gegenstand der Diskussion bleiben, obwohl bei dem aktuellen Quellenstand die zweitgenannte Inter­pretations­ möglichkeit naheliegender ist.87

84 Tacitus bezeugt, dass es zwischen der Westküste Britanniens und Irlands Handelsverkehr gab. Agricola dienten Kaufleute als Informationsquelle für die Lage von Häfen an der irischen Ostküste: melius aditus portusque per commercia et negotiatores cogniti (Agr. 24,1); cf. Remesal Rodríguez 1997, 51; Reinard 2013, 6 f. Es gab also sehr wahrscheinlich auch regen Handelsverkehr entlang der westlichen Küste Britanniens. Über diesen könnten Dressel 20-Amphoren, die u.a. in Chester oder Exeter nachweisbar sind (cf. Onken 2003, 73 f.), in walisische Gebiete gekommen sein. 85 Carreras Monfort 2000, 54 f.; cf. auch Carreras Monfort – Funari 1998, 47 ff. Berechtigte methodische Kritik an diesem Modell hat Onken 2003, 67 ff. u. 83 ff. angeführt. 86 Bowman 1994, 70. Ein Nebeneinander von Marktwirtschaft und Redistribution erkennt Grønlund Evers 2011. 87 Man sollte an dieser Stelle auch hinsichtlich der Auswertung der Schreibtafeln zwei methodische Aspekte bedenken: Zum einen gehören die meisten für das hier verfolgte Thema aussagekräftigen Schreibtafeln zum „Haushalt“ des Präfekten Flavius Cerialis und es muss problematisiert werden, ob die kulinarische Situation im praetorium als authentisches Bild verallgemeinert werden darf; cf. hier Bowman 1994, 67. Zum anderen bieten insbesondere die Briefe aus Vindolanda einen guten Eindruck von dem wirtschaftlichen Agieren der Kohortensoldaten als Individuen. Man sollte nun aber bedenken, dass ein in Briefen thematisierter Wunsch nach bestimmten Produkten auch immer als ein Spiegel des am Ort des Absenders existenten Marktes gewertet werden muss. Dabei war die Kommunikation über Warenangebote, wie Vergleichsbeispiele aus den privaten Papyrusbriefen umfänglich aufzeigen, in den meisten Fällen durch Nichtexistenz eines verfügbaren Angebots oder – noch häufiger – aufgrund von preislichen Unterschieden motiviert; cf. Reinard 2016, II 773 ff. u. 960 ff. (zu Vindolanda). Der in den Vindolanda-Briefen greifbare Befund entspricht exakt dem ökonomischen Verhalten, welches auch in Ägypten zu beobachten ist. Die wenigen Nachfragen nach Oliven oder Öl sind in den Schreibtafeln nicht als Beleg für eine konstante staatliche (Re)Distribution zu bewerten, sondern lediglich das Resultat einer Marktsättigung. Öl war dank der Seeimporte, welche auf das Nachfragepotenzial der Soldaten reagierten, in Britannien relativ flächendeckend vorhanden, woraus sich ein konstanter und kaum variierender Marktpreis ergeben haben dürfte. Die wenigen (aber immerhin existenten) Belege für Oliven und Öl in den Schreibtafeln können daher auch die Folge eines freien Marktes gewesen sein, ohne dass man einen staatlichen Dirigismus – für den es, dies sei nochmals betont, kein direktes Quellenzeugnis gibt – bemühen müsste. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Weiterführend zeigen die amphorologischen Befunde, dass typische Behältnisse für Fisch­ sauce aus Südhispanien lediglich im Zeitraum von ca. 50–125/130 n.Chr. in die Provinz ge­ langten;88 auf diese Auffälligkeit wird weiter unten nochmals einzugehen sein. Im Amphora-Befund sind zudem die sog. „Karotten-Amphoren“ („carrot-shaped“) bzw. Camu­lo­dunum 189 genannten Amphoren auffällig.89 Diesen zumeist zwischen 40 und 50 cm hohen Amphoren­t yp hat Hans-Joachim Drexhage wie folgt beschrieben: Sie ist spitz zulaufend, hat oft nur einen angedeuteten zylindrischen Hals; fast halbkreisförmige Ösenhenkel setzen in der Regel knapp unter dem Rand an. Auffällig sind zudem die horizontal oder spiralig umlaufenden Rillen auf der Wandung. Insgesamt haben alle Variationen dieses Typs ein möhrenförmiges Aussehen.90

Wichtige Fundorte dieses speziellen, besonders im 1. Jh. n.Chr. häufigen Amphorentyps in Britannien sind Colchester und Fishbourne, deutlich weniger Belege stammen aus London, Canterbury, St. Albans, Birrens, Exeter, Richborough oder Caerleon sowie aus dem Legions­ lager von Inchtuthil.91 Seltener werden die Karotten-Amphoren in anderen Teilen des Reiches gefunden, hauptsächlich sind Funde aus Gallien und Germanien bekannt (s. unten), weshalb Drexhage zutreffend von einer „Nordausrichtung“ spricht.92 Ein Herstellungszentrum der „carrot shaped“-Behältnisse ist bisher nicht mit letzter Sicherheit lokalisierbar. Der Nachweis, dass der Ton Wüstensand enthält, stellt lediglich ein Indiz dar.93 Als wichtiger ist ein Fund aus Carlisle anzusehen. Auf der Karottenamphore steht der Dipinto KOYK, welcher von Roger S. O. Tomlin auf κούκιον, die Frucht der Dumpalme bezogen wird.94 Diese spezielle Palmenart, deren Früchte in der griechisch-römischen Antike als Delikatesse galten, war lediglich im Niltal in Oberägypten sowie südlich der ägyptischen Provinz verbreitet.95 Tomlins Studie legt somit nahe, dass die Karottenamphoren mit einiger Wahrscheinlichkeit aus Ägypten stammen könnten. Allerdings bleibt offen, ob dies für sämtliche Amphoren dieses Typs anzunehmen ist. Allgemein wurde in der Amphoren-Forschung vermutet, die „carrot shaped“-Behälter seien für den Transport von Datteln, Feigen oder Oliven gebraucht worden.96 Ob letztlich aber in sämt88 Onken 2003, 69 f.; Tyers 1996, 99. In den Schreibtafeln ist muria nachweisbar: Tab. Vindol. 202 u. 302; Bowman 1994, 69. Bei muria handelt es sich um die Salzlake bzw. die salzige Flüssigkeit, die im Zuge der Fermentierung von Fischen in der garum- und allec-Produktion entsteht; cf. Cech 2013, 97. 89 Peacock – Williams 1986, 109 f.; Vipard 1995; Drexhage et al. 2002, 244 f. 90 Drexhage 1998, 192. 91 Drexhage 1998, 192 f. mit der Literatur. 92 Drexhage 1998, 192; cf. auch Drexhage et al. 2002, 130 u. 245; Reusch 1970. 93 Martin-Kilcher 1994, 434 u. 436. 94 Tomlin 1992; Drexhage 1998, 194. 95 Die κούκιον-Frucht hat interessanterweise in ägyptischen Privatbriefen der Kaiserzeit, in welchen ansonsten eine ausgesprochen breite Palette unterschiedlicher Nahrungsmittel greifbar wird, keine Bedeutung. Dies spricht sehr dafür, dass diese Frucht als Luxusgut in die Mittelmeerwelt exportiert wurde, da sehr teure und exotische Produkte sowie Exportwaren unterschiedlicher Art in der innerägyptischen Kommuni­k ation über wirtschaftliche Entwicklungen und Warentransfers kaum behandelt werden. Cf. Reinard 2016, I 334 ff. 96 Martin-Kilcher 1994, 65–67; Peacock – Williams 1986, 109; Reusch 1970, 61; cf. Drexhage 1998, 193. Die im Vergleich zu den Befunden in Gallien und Germanien starke Verbreitung der Karottenamphoren in Britannien wurde dadurch erklärt, dass Feigen, Datteln und Oliven in den Festlandprovinzen üblicher und gemeiner waren und deshalb nicht in besonderen Gefäßen importiert wurden. Inwieweit man dieser These folgen darf, bleibt fraglich. Der Handel mit Oliven und anderen Früchten kann zumindest in den © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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lichen dieser Amphoren κούκια transportiert wurden, ist ungewiss. Allerdings darf man davon ausgehen, dass die Karottenamphoren in großer Zahl über den Schiffsverkehr auf der AtlantikRoute nach Britannien und – was interessant ist – seltener in die gallischen und germanischen Provinzen gekommen sind. Es ist kein Zufall, dass die Karottenamphoren auch im Bataverland nachweisbar sind: Vom Kops Plateau sowie aus dem oppidum Batavorum und aus Nijmegen, Vechten, Arras und Nistelrode sind Befunde bekannt.97 Kopien dieser Amphorenform stellen die sog. Stuart 24-Behälter dar, die in Xanten, Köln oder im Bataverraum vertreten sind.98 Warum die „Karottenamphoren“ hier nachgeahmt worden sind, ist nicht zu klären. Nimmt man an, dass die kopierte Gefäßform auch für den gleichen Inhalt, also vermutlich Früchte, bestimmt war, könnte man die Entwicklung mit ökonomischer Konkurrenz erklären; auch eine Reaktion auf Veränderungen des Bedarfs in Britannien wäre theoretisch vorstellbar. Denn es ist an dieser Stelle bemerkenswert, dass Hans-Joachim Drexhage mit einem prosopographischen Ansatz aufzeigen konnte, dass erstaunlich viele Soldaten der classis Britannica und der legio II Adiutrix, die in flavischer Zeit in Britannien stationiert war, aus Ägypten stammten.99 Wurde durch die Lieferungen aus Ägypten die spezielle Nachfrage dieser Soldaten gestillt oder wurde die κούκιον-Frucht durch die Militärangehörigen ägyptischer Herkunft auf dem britannischen Markt eingeführt? Die Hauptphase der Belege für Karottenamphoren ist die Zeit der Flavier, im 2. Jh. n.Chr. dünnen die Belege aus. Unter Domitian wurde die legio II Adiutrix aus Britannien abgezogen – ein Zufall? Eine kausale Verbindung sollte man aufgrund von methodischen Bedenken nicht voreilig ziehen. Es wäre etwa auch vorstellbar, dass die ägyptischen Datteln weiter nach Britannien kamen, allerdings nun in anderen, gewöhnlicheren Amphorentypen.100 Mit einem bestimmten Nahrungsmittel zu verbinden sind auch die in Hispanien produzierten Amphoren vom Typ London 555. In diesen wurden wahrscheinlich in defrutum eingelegte Oliven nach Britannien verschifft.101 Der Import von London 555-Amphoren kam im 1. Jh. n.Chr. auf und hielt bis ca. 125/150 n.Chr. an.102 Sollte die Vermutung zutreffen, dass in Karottenamphoren auch Oliven auf die Insel kamen, wäre es vorstellbar, dass ab trajanisch-hadrianischer Zeit diese Waren statt in den „carrot shaped“ – nun teilweise in London 555-Amphoren importiert worden sein könnten. Allerdings muss gesagt werden, dass für diese These die Befunddichte recht gering ist. Vereinzelt wurden Oliven auch in Dressel 20-Amphoren nach Britannien verschifft, wie Belege aus Colchester zeigen.103

Schreibtafeln gefasst werden: Tab. Vindol. 208, 302 u. 679 sowie AE 2003, 1046; cf. Bowman 1994, 69. In Tab. Vindol. 203 kann in Fragment B Z. 2 f. vielleicht mitt]e oli[vas] / [scu]tul[a ergänzt werden; cf. den Zeilenkommentar u. Onken 2003, 77. Einige Quellen belegen auch den Handel mit Oliven für Londinium und Lindum: AE 1991, 1132a; AE 2009, 693; AE 2013, 952; RIB 2492, 28 (Londinium) sowie RIB 2492, 31 (Lindum). Nachweisbar sind in Britannien auch Olivenkerne aus römischer Zeit: Sealey – Tyers 1989, 57. Bei all diesen Waren muss es sich um Importe gehandelt haben. 97 Carreras – van den Berg 2017b, 365 mit der Literatur. 98 Carreras – van den Berg 2017b, 365. 99 Drexhage 1998, 185–191 u. 194. 100 Vor der Überlegung, dass man aus dem Verschwinden eines besonderen Amphorentyps auf ein Ver­ schwinden eines speziellen Produktes schließen kann, muss angesichts des angesprochenen Befundes zu den Stuart 24-Amphoren in Germanien gewarnt werden. 101 Onken 2003, 76. 102 Sealey – Tyers 1989; Onken 2003, 76 mit weiterer Literatur. 103 Sealey 1985, 74 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Die Dominanz hispanischen Olivenöls wird nicht nur durch die Dressel 20- und die London 555-Amphoren, sondern ferner durch Dressel 23-Amphoren belegt, die chronologisch später einsetzen. Bereits kurz angesprochen wurde, dass auch Amphoren aus Nordafrika nach Britannien kamen. Dabei handelt es sich ebenfalls um Öltransportbehältnisse, die ab der Spätzeit Hadrians langsam aufkommen, in wirklich umfänglichem Maß aber erst im 3. Jh. n.Chr. in Britannien nachweisbar sind.104 Wie stellt sich nach Aussage des amphorologischen Materials die Situation in der Region um Nijmegen dar? Ganz eindeutig dominiert auch hier Olivenöl aus Spanien, nur wenige Amphoren aus Nordafrika oder Süditalien sind nachweisbar.105 Dabei bilden sich hinsichtlich der Befundlage von Dressel 20-Amphoren zwei Hauptorte heraus: die Region um das Kops Plateau sowie das Gebiet um die weiter im Süden gelegene Siedlung Arras.106 Fischsauce (garum / allec / muria) gelangte nach Auskunft der Amphoren aus Südspanien sowie aus Gallien, seltener aus Nordafrika nach Colijnsplaat, aber auch nach Arras.107 Zudem gibt es archäozoologische Hinweise auf die Produktion von Fischsuppe an der flämischen Küste.108 Wim Broekaert hat darauf hingewiesen, dass für die Herstellung von allec in den nördlichen Provinzen sehr gute Bedingungen vorherrschten.109 Das notwendige Salz konnte man sich in der Gallia Belgica bei den salinatores, die bei den Menapiern und Morinern bezeugt sind, beschaffen (CIL XI 390 f.; ILB 159). Die vielfach bezeugten negotiatores salarii könnten auch in den lokalen allec-Produzenten Abnehmer gefunden haben.110 Die in Colijnsplaat epigraphisch fassbaren negotiatores allecarii (AE 1973, 365 u. 375) könnten in der Region um Nijmegen also einerseits die über die Atlantik-Route herangeführten Waren aus Südspanien und Südgallien, andererseits auch die lokal produzierte Fischsuppe verhandelt haben. Damit ergibt sich für die allecarii ein ganz ähnlicher Befund wie für die salarii: Beide griffen an der Nordseeküste die Waren auf, die über den Seehandel aus dem Gebiet der Moriner und Menapier (Salz) oder aus Südspanien und Südgallien (Fischsauce) an den Rand der Germania inferior gelangten. Für die allecarii dürften darüber hinaus die lokalen Produzenten, die auch von dem günstigen Salztransfer gefördert wurden, willkommene Geschäftspartner gewesen sein. Sowohl der Salz- als auch der allec-Handel profitierten hinsichtlich der Transportmöglichkeiten von dem sehr konstanten Fernhandel mit hispanischem Olivenöl. 104 105 106 107 108 109

Carreras Monfort – Funari 1998, 64; Carreras – Williams 1995; Onken 2003, 82. Carreras – van den Berg 2017b, 355 f.; Remesal Rodríguez 1997, 32. Carreras – van den Berg 2017b, 370 f. Carreras – van den Berg 2017b, 357 f. Van Neer et al. 2005; Carreras – van den Berg 2017b, 358 mit weiterer Literatur. Broekaert 2013, 43. Ob man Broekaert aber bei der Interpretation folgen darf, dass allec ein „by-product“ und „certainly of inferior quality and much cheaper than garum and other Mediterranean fish sauces“ gewesen sei und sich deshalb ein Verhandeln von allec-Waren über den Seeweg nicht gelohnt hätte, darf bezweifelt werden. Für die Annahme, allec sei lediglich im regionalen Handel vertrieben worden, fehlen belastbare Quellen. Über die Preisniveaus von Fischsauce informieren die Quellen kaum. Immerhin wird aber von Plinius maior expliziert, dass es allec und muria in ganz unterschiedlichen Güte- und damit auch Preiskategorien gegeben hat (nat. hist. 31,94 f.); cf. Cech 2013, 97; zu Garumpreisen in den papyrologischen Quellen: Drexhage 1991, 53; allg. Drexhage 1993. Entschieden gegen einen lediglich regionalen Vertrieb von allec sprechen die vielfach bezeugten Nachweise spezialisierter negotiatores. 110 Salz wurde für eine Vielzahl verschiedener aus Fisch hergestellte Nahrungsmittel benötigt. Eine knappe Übersicht bietet Moinier 2012, 223. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Über den Binnenweg wurden die allec-Waren dann zu den Rheintruppen, vielleicht aber auch von Händlern wie dem treverischen negotiator allecarius C. Catullinius Secco bis an die Mosel verhandelt. Eine andere Interpretationsmöglichkeit wird allerdings durch den Befund der Lyon 3B/Dressel 9 similis-Amphoren aufgezeigt: Diese waren für den Transport von Fisch­ saucenprodukten gedacht und stammen aus Gallien. Sie finden sich vermehrt in Colijnsplaat, deutlich seltener jedoch in Arras.111 Dort wiederum überwiegen die aus der Baetica stammenden Dressel 7–11. Wie ist dieser Befund zu erklären? Während die Region um Colijnsplaat dank des Rheins sehr gut mit dem innergallischen Binnenhandel verbunden war, dort aber auch der Warentransport über den Seehandel ankam, war Arras letztlich nur über die Seeimporte angebunden. Die gallischen Amphoren für Fischsauce wurden über Mosel und Rhein von den negotiatores allecarii transferiert, gelangten auf diesem Weg aber nicht in bedeutsamer Zahl nach Arras. Im Einzelfall lässt sich ein Warenverkehr zwischen den Hauptorten am Rhein und Arras aber immerhin nachweisen: AE 2010, 975 überliefert folgenden Text: P(ondo) / X[ ca. 3 ] // P(ondo) XX[ ca. 1 ] / X[ ca. 1 ]II // Vestes / c(oloniae) C(laudiae) A(rae) A(grippinensium). Allerdings besteht aufgrund der Amphorenfunde kein Zweifel daran, dass Arras für die Händler aus Gallien und Germanien weniger interessant gewesen sein dürfte. Dies lag sicherlich nicht nur an der infrastrukturellen Situation, sondern auch an der Truppenpräsenz und dem damit einhergehenden Kauf- und Nachfragepotenzial. Dieses war am Rhein ungleich höher. An dieser Stelle ist nochmals auf die oben angesprochene Auffälligkeit im amphorologischen Befund hinzuweisen, nach welcher typische Gefäße für Fischsauce aus Südhispanien lediglich im Zeitraum von ca. 50–125/130 n.Chr. in die britannische Provinz gelangten. Gleichzeitig mit diesem Befund überwiegen in der Region um Nijmegen die für Fischsauce verwendeten Lyon 3B/Dressel 9 similis-Amphoren, die bis in die Mitte des 2. Jh. n.Chr. laufen; bis in die zweite Hälfte des 2. Jh. n.Chr. sind die ebenfalls für Fischsuppe gebräuchlichen gallischen Augst 17/ Lyon 4-Amphoren auf dem Kops Plateau in wenigen Fragmenten nachweisbar.112 Der Befund in Britannien und in der Region um Nijmegen erlaubt die Frage, ob die in Colijnsplaat nachgewiesenen negotiatores allecarii nicht eventuell auch Fischsauce über die Nordsee in die Inselprovinz verhandelt haben könnten. Allerdings kann dies vorerst nur eine Hypothese bleiben. Der innergallische Handel mit Fischsauce, der über die Flusswege bis zu den Militärlagern kam, lässt sich auch in Lyon fassen: dort gab es – wie CIL XIII 1966 = ILS 7028 lehrt – negotiatores muriarii, die mit Korporationen von Schiffern verbunden waren. Für diese Binnenhändler und -schiffer müssen, dies steht außer Frage, die Rheintruppen ein wichtiger ökonomischer Bezugspunkt gewesen sein. Neben Olivenöl und Fischsauce ist Wein im amphorologischen Befund auf dem Kops Plateau gut fassbar. Dieser kam aus unterschiedlichen Regionen der Mittelmeerwelt – aus Italien, Spanien, der Ägäis –, aber auch aus Gallien in das Bataverland.113 In der ersten Hälfte des 1. Jh. n.Chr. überragen die Importe aus der Ägäis.114 Im Laufe des 1. Jh. n.Chr. setzt sich nach Aussage der Amphoren der gallische Wein durch, die Amphore Gauloise 4 dominiert dann den Befund.115 Gauloise 4-Amphoren sind ab dieser Zeit quasi monopolartig in der Germania inferior prä111 112 113 114 115

Carreras – van den Berg 2017b, 373; Schimmer 2017, 111. Schimmer 2017, 111. Carreras – van den Berg 2017b, 360 ff. van den Berg 2017; Carreras – van den Berg 2017b, 362. Carreras – van den Berg 2017b, 362 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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sent.116 Diese Warenlieferungen kamen über den Binnenbereich, d.h. die Weinlieferungen wurden aufgrund der geographischen Nähe über die Flusswege transportiert. Für das Verhandeln von vinum aus Gallien in die Germania inferior stellt auch der bereits angesprochene Weihestein des aus Bordeaux stammenden Weinhändlers Commodus eine gute Parallelquelle dar (AE 1975, 650). Weitere negotiatores vinarii, die mit großer Wahrscheinlichkeit an diesem Weinhandel partizipierten, sind epigraphisch fassbar:117 CIL XIII 5005 (Nyon), CIL XIII 1911 u. 11179, CIL XIII 1954 = ILS 7030 (alle Lyon), CIL XIII 8105 (Bonn); anzuführen ist auch CIL XIII 2033, wonach ein in Lyon ansässiger Treverer bezeugt wird, der nicht nur mit Wein, sondern auch mit creta Handel trieb. Dass diese gallischen negotiatores an dem Weinmarkt der Germania inferior partizipierten und wesentlich für den Transport von Gauloise 4-Amphoren verantwortlich gewesen sein dürften, wird auch dadurch angezeigt, dass diese Händler nach Aussage ihrer Inschriften häufig auch als nautae agierten oder mit solchen verbunden waren (CIL XIII 1911 u. 11179; CIL XIII 1954 = ILS 7030); dies gilt auch für Commodus aus Bordeaux, für den diese Information dank des Relieffeldes (s.o.) überliefert wird. Was bedeutet der Befund für den Weinhandel in der Germania inferior für die Interpretation der Atlantik-Route und den Handel mit Britannien? In der 1. Hälfte des 1. Jh. n.Chr. wurde Wein aus der Mittelmeerwelt über Atlantik und Nordsee nach Germanien transportiert. Weinlieferungen aus der Ägäis, aus Spanien oder aus Italien kamen sicherlich über den Seehandel in den Norden. Ab der Mitte des 1. Jh. n.Chr. veränderte sich diese Marktstruktur: Wein kam nun aus Gallien und wurde wahrscheinlich über Lyon, Trier und Mainz – d.h. über Rhône, Saône, Mosel und Rhein – in den Norden transportiert. Bedenkt man, dass ab 43 n.Chr. auch in Britannien eine neue starke und konstante Nachfrage entstanden ist, erscheint die anhand der amphorologischen Befunde zu erkennende Entwicklung des Weinmarktes bemerkenswert. Vielleicht war die Nachfrage nach Wein in Germanien und Britannien inzwischen derart angestiegen, dass die Produktion in Gallien aus ökonomischem Interesse verbessert wurde und schließlich die Hoheit auf dem Markt in Germanien erringen konnte. Die Dominanz der Gauloise 4-Amphoren ab der Mitte des 1. Jh. n.Chr. stellt zweifellos eine bemerkenswerte Zäsur dar.118 Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass L. Antistius Vetus, der Statthalter der Germania superior, in den fünfziger Jahren n.Chr. einen Kanal zwischen Mosel und Saône bauen wollte (Tac. ann. 13,53,2 f.).119 In einer Phase, in welcher der Weinexport aus Gallien zu den Truppen am Rhein deutlich anstieg, d.h. der Weinmarkt sich nachhaltig veränderte, wollte man die Infrastruktur verbessern. Dieser Plan scheiterte jedoch an Aelius Gracilis, dem Statthalter der Gallia Belgica, der aus Neid auf seinen Statthalterkollegen das Unternehmen hintertrieb. Es sei hier eine Hypothese erlaubt: Liest man die häufig zitierte Tacitus-Stelle über den Plan eines Kanalbaus zwischen Mosel und Saône, so drängt sich die Frage auf, warum der Plan nicht später – d.h. nach dem Ende der Statthalterschaft des nicht zur Kooperation bereiten Aelius Gracilis – nochmals in Angriff genommen worden ist. Dass der gallische Wein in den germa116 Carreras – van den Berg 2017b, 363. 117 Cf. Broekaert 2013, 28 f., 31, 68 f., 83, 84 f. u. 179, Nr. 8, 13, 87, 12, 127 u. 317. 118 Auch Kneissl 1988, 242 kam in seiner Untersuchung der innergallischen Wirtschaftsstruktur, die er be­ sonders anhand eines Vergleichs des epigraphischen Materials aus der Gallia Narbonensis mit dem aus den mittleren und nördlichen Gebieten anstellte, zu dem Schluss, dass es an Rhône, Saône und Mosel zu einer prosperierenden Entwicklung gekommen ist. Auch diese hinsichtlich ihrer Fragestellung komparativ einzelne Gebiete analysierende Studie zeigt die hier benannte Zäsur auf. 119 Schäfer 2016b, 16 mit der weiteren Literatur. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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nischen Provinzen dominant war, macht der Amphorenbefund, wie Carreras – van den Berg 2017 ausführen, deutlich. Wäre es deshalb nicht naheliegend gewesen, den Plan des L. Vetus Antistius wieder aufzugreifen und die Infrastruktur für Handel und Versorgung durch einen Kanalbau zu verbessern? Offensichtlich war der Umfang des Weinhandels, der ja – wie gesagt – in großer Menge aus Gallien in die germanischen Provinzen floss, hierfür nicht ausreichend. Schließlich wurden andere wesentliche Handelsgüter wie Olivenöl über die kostengünstigere Atlantik-Route transportiert oder wie im Fall von Salz und Fischsauce auch vor Ort, d.h. relativ nahe an den Lagern bzw. unmittelbar am Verlauf der Atlantik-Route, produziert. Trotz der dauerhaften Veränderung des Weinmarktes in der Germania inferior war der hiervon ausgehende ökonomische Anreiz offensichtlich nicht stark genug, um existierende Pläne der infrastrukturellen Verbesserung für den innergallisch-germanischen Handel von staatlicher Seite anzugehen. Der Grund hierfür liegt in der günstigen Transportkostenrelation der Atlantik-Route. Was bedeutet diese Überlegung nun aber für den Handel mit Britannien? Es ist sehr naheliegend, dass aus der Germania inferior ab der zweiten Hälfte des 1. Jh. n.Chr. auch gallischer Wein in größerem Stil in die Inselprovinz exportiert worden ist. Einen Beleg dafür stellen die oben bereits angesprochenen Gauloise 4-Amphoren dar, die in Britannien bis in die antoninische Zeit präsent bleiben.120 Hier eröffnet sich somit ein Betätigungsfeld für die negotiatores Britanniciani, für die es ab flavischer Zeit durchaus lukrativ gewesen sein dürfte, gallischen Wein aus Germanien nach Britannien zu verhandeln. Man könnte also folgende Marktentwicklung konstatieren: 1. Wein wurde bis in die Mitte des 1. Jh. n.Chr. aus der ganzen Mittelmeerwelt in die Germania inferior verhandelt. 2. Ab (spät)neronischer Zeit übernimmt der gallische Wein zunehmend die Oberhand auf dem Markt in der Germania inferior. 3. Gallischer Wein ist im Norden der Kontinentalprovinzen, besonders am Rhein, quantitativ stark vertreten, was dazu führt, dass er sich auch in Britannien – wie die Gauloise 4-Amphoren zeigen – bis in die Mitte des 2. Jh. n.Chr. hält. 4. Man darf daraus folgern, dass gallischer Wein über die Flusswege in solcher Menge auf den Markt der Germania inferior gelangte, dass dort das Angebot die Nachfrage überboten hat. Weitere Abnehmer konnten aber in Britannien erreicht werden. Die Akteure, die den interprovinziellen Handel betrieben, darf man in den negotiatores Britanniciani sowie den moritexHändlern sehen. Diese Händler traten mit der Ware ‚Wein‘ sicherlich in Konkurrenz zu den Mittelmeerimporten, die über die Atlantik-Route in den Norden kamen. Im Amphorenbefund aus Colijnsplaat sind auch Gefäße aus dem germanischen Raum sowie aus der Gallia Belgica nachweisbar. Carreras – van den Berg sprechen zutreffend von einem „import of regional amphora“.121 Die nachweisbaren negotiatores und ihre Verbindungen nach Köln, Mainz, Trier oder auch nach Lyon können als Parallelbefund gedeutet werden: Die „regional amphora“ sind vermutlich neben den Gauloise 4-Amphoren als Transportgüter solcher Händler, vielleicht insbesondere der cretrarii, anzusehen, die aus dem Binnenbereich der Provinzen an die Nordsee kamen. Ein weiterer Gedanke drängt sich auf, wenn man die bisherigen Ergebnisse zu den negotiatores salarii und allecarii mit dem Befund zum Weinmarkt in der Germania inferior sowie dem kon120 Onken 2003, 73 f. mit weiterer Literatur; Tyers 1996, 86. 121 Carreras – van den Berg 2017b, 366. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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stanten Olivenöl-Markt zusammenzieht und sich für die verschiedenen Transportrichtungen sensibilisiert: Salz und allec und ganz besonders natürlich Olivenöl wurde von der Nordseeküste in den Binnenbereich ‚hinauf‘, Wein aus dem Binnenbereich in die Germania inferior ‚hinab‘ transportiert. Für die nautae, actores und die sonstigen Schiffer, die in Colijnsplaat (s. oben), aber auch generell entlang von Rhein und Mosel in epigraphischen122 oder ikonographischen123 Quellen fassbar sind, könnte Wein ein Transportgut für die ‚Talfahrt‘ gewesen sein, während sie auf dem Rückweg Olivenöl und in geringerem Umfang Fischsauce und Salz geladen hatten; ein weiteres Transportgut in der ‚Talfahrt‘ war zweifellos auch Bier, das allerdings im amphorologischen Befund nicht fassbar ist.124 Man kann an dieser Stelle folgende These formulieren: Indirekt hat die enorme Bedeutung des über den Seeweg herangeführten Olivenöls auch die Entwicklung des Weinmarktes in der Germania inferior beeinflusst, vermutlich sogar zwangsläufig bestimmt. Drei Entwicklungsstufen können erkannt werden: 1. Es gab eine große und dauerhafte Nachfrage nach Olivenöl an der Rheinlinie. 2. Die Akteure in Binnenschifffahrt und -handel griffen dieses Potenzial weitgehend an der Nordseeküste auf. 3. Dadurch ergab sich aber auch, dass bei der „Talfahrt“ an die Nordseeküste zwangsläufig Transportkapazitäten generiert worden sind, welche durch die später einsetzende Dominanz des gallischen Weins in der Germania inferior ausgefüllt wurden. Der Handel mit Olivenöl ‚stromauf‘125 der Binnenwege ermöglichte in der Folge das Verhandeln des Weins ‚stromab‘ in die Germania inferior. Olivenöl konnte im Norden nicht lokal hergestellt werden, die Baetica war der wichtigste Produktionsort und der Transfer über Atlantik und Nordsee war ausgesprochen effizient. In­ direkt beeinflusste der Ölhandel bzw. die durch ihn bedingte Mobilität von Schiffern und Händlern auch andere Marktstrukturen in Germanien. Neben der Überlegung zur Entwicklung des Weinmarktes ist auch zu bemerken, dass der Warenverkehr im Salz- und allec-Handel, der im Vergleich zum Olivenhandel geringeren Volumens war, hinsichtlich der Handelswege von dem steten Transfer auf der Atlantik- und Nordsee-Route profitiert haben dürfte. Dass Salz und allec zeitweise als parasitäre Beifracht bis zur Rheinmündung und dann auf den Binnenstrecken verschifft worden sind, ist denkbar.

122 CIL XIII 4335; CIL XIII 7067; CIL XIII 8815 = ILS 4757; AE 1946, 256. 123 Cf. z.B. Schmidts 2011, 13 ff., 21, 24 u. 100 f.; Heinen 52002, 146. 124 Belege für den Handel mit Bier stammen von der Mosel sowie vom Rhein: Aus Trier sind durch AE 1998, 954 und CIL XIII 11319 = AE 1913, 242 die Berufsbezeichungen cervesarius („Bierbrauer“) sowie – allerdings in der Rekonstruktion unsicher – n[egotiator] artis ce[rvesariae] („Bierhändler“) bekannt. Dokumentiert ist in Trier auch ein Flottensoldat, der nebenberuflich als negotiator cervesarius tätig war: AE 1929, 183; cf. Wierschowski 1984, 126. Graffiti auf Keramikfragmenten aus z.B. Utrecht/Vechten oder Paris bezeugen ebenfalls den Bierkonsum; cf. Bridger 2017, 200 f., Abb. 2 f., der auch weitere inschriftliche Quellen bietet. Archäologisch lässt sich die Bierproduktion ebenfalls nachweisen. Bridger 2017, 204 u. 206 ff. hat entsprechende Grabungsergebnisse aus Xanten vorgelegt und verweist auch auf ein Dolium mit Resten von Honigbier aus Alzey (Abb. 6). In den Schreibtafeln aus Vindolanda und London ist Bier ebenfalls gut dokumentiert: Tab. Vindol. 186, 482, 581 o. 628; Nr. WT72. Ein cervesarius ist durch Tab. Vindol. 182 belegt. 125 Die Effizienz des gegen die Flussrichtung erfolgten Warenverkehrs, welcher in zahlreichen Relief­dar­ stellungen (cf. z.B. Hägermann – Schneider 1997, 258) vorgeführt wird, wurde jüngst durch experimental­ archäologische Studien aufgezeigt; cf. Schäfer – Hofmann-von Kap-herr 2017. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Ebenfalls auf die große Bedeutung der Atlantik-Route für den Warentransport verweist die Verbreitung von Haltern 70-Amphoren. In diesen als „multi-purpose container“126 anzusprechenden Amphoren wurden defrutum/sapa, Oliven und muria transportiert.127 Hergestellt wurden sie in Spanien und dann über die Atlantik-Route, auf welcher in Schiffswracks Haltern 70-Amphoren nachgewiesen sind,128 nach Colijnsplaat und allgemein in den Raum der germanischen Provinzen transportiert.129 Die Verteilung der Haltern 70-Befunde ähnelt derjenigen der Dressel 20-Amphoren, das Kops Plateau und Arras sind die Hauptorte.130 Importe und Exporte: Was wurde zwischen Britannien und dem Kontinent verhandelt? Die ökonomische Leistungsfähigkeit Britanniens wurde in römischer Zeit verschiedentlich diskutiert und in der Regel negativ bewertet.131 Zur Zeit der beiden Britannien-Expeditionen Caesars schreibt Cicero z.B.: In Britannia nihil esse audio neque auri neque argenti (fam. 7,7,1); ganz ähnlich klagt er in dem Brief Att. 4,16,7, es gäbe auf der Insel kein Silber und auch sonst keine lohnende Beute außer Sklaven, die jedoch kaum gut ausgebildet seien. Diese Einschätzung Ciceros entstammt nicht ausschließlich seiner Intention, Caesar zu kritisieren, sondern wurde durch Informationen aus erster Hand gespeist. In einem Brief an seinen Bruder Quintus, der mit Caesar gezogen war, schreibt Cicero: de Britannicis rebus cognovi ex tuis litteris nihil esse nec quod metuamus nec quod gaudeamus (ad Q. fr. 3,1,10). In Britannien gab es also nichts, worüber man aus römischer Sicht hätte jubeln können. Ökonomischen Gewinn schien die Insel nicht zu versprechen. Wichtig ist, dass Cicero sich für diese Aussage auf einen Brief von Quintus bezieht (tuis litteris). Dieser hatte als Augenzeuge die ökonomischen Aussichten in Britannien offensichtlich negativ eingeschätzt und entsprechend beschrieben. Diese schlechte Einschätzung des in Britannien zu erreichenden ökonomischen Ertrags blieb auch in augusteischer Zeit vorherrschend, wie die Ausführungen Strabons sehr deutlich zeigen (2,5,8,115 f.; 4,5,3,200). Auch nach der Eroberung der Insel durch Claudius im Jahr 43 n.Chr., welche nicht aus ökonomischer Überlegung, sondern aus Gründen des innenpolitischen Prestiges erfolgte,132 blieb die Einschätzung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Britanniens negativ. Plutarch schreibt, die Insel habe nichts besessen, was des Mitnehmens wert gewesen sei (Caes. 23,3). Dabei darf man annehmen, dass sich Plutarchs Aussage nicht nur auf die Zeit Caesars, sondern auch auf seine eigene Gegenwart beziehen dürfte. Ähnlich wie Cicero waren ihm dank des Kontakts zu Demetrios von Tarsos Informationen eines Augenzeugens über Britannien und die umliegenden Inseln zugänglich (s. oben). Deutlich teilt auch Appian die Kritik an der ökonomischen Leistungsfähigkeit Britanniens. Im seinem Proömium schreibt er, Rom beherrsche den besten Teil der Insel durch direkte Kontrolle, d.h. als Provinz. Die jenseitigen Gebiete würde 126 127 128 129 130 131 132

Carreras – van den Berg 2017b, 363. Carreras Monfort 2017, 68 f. mit der Literatur. Carreras Monfort 2017, 71. Carreras – van den Berg 2017b, 363 f. Carreras – van den Berg 2017b, 372. Cf. Reinard 2013, 27 ff. Sueton führt aus, dass Claudius vom Senat die ornamenta triumphalia erhalten habe, er dies ohne wirklichen Triumph bzw. richtigen militärischen Erfolg aber nicht habe akzeptieren wollen. Die Invasion Britanniens erfolgte schließlich, um den Kaiser als starken und siegreichen Feldherrn zu etablieren; cf. Suet. Caes. 17,1. Ökonomische Vorteile oder Ziele werden in den Quellen über die Eroberung von 43 n.Chr. nicht greifbar; zur Invasion cf. Christ 42002, 218–220. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Rom nicht besitzen wollen, weil bereits das Provinzterritorium kaum etwas einbringen würde (civ. pr. 5). In die gleiche Richtung verweist auch eine Aussage des Pausanias. In kurzen exkursiven Bemerkungen über die Kelten heißt es, deren Land sei teilweise nutzlos wegen der Kälte und der Armut des Bodens. Landwirtschaftlich sind diese Gebiete in den Augen des Pausanias wenig ertragreich, weshalb Rom auch kein Interesse an ihnen hätte. Der Perieget konkretisiert seine Aussage dann dahingehend, dass jene keltischen Gebiete, die wertvoll wären, von Rom erobert worden seien (1,9,6). Trotz dieser allgemein negativen Einschätzung gab es dennoch einen wirtschaftlichen Aus­ tausch zwischen Britannien und dem germanisch-gallischen Raum, an welchem auch der römische Staat bereits seit augusteischer Zeit mittels Zollgebühren auf Im- und Export mitverdient hat (Strab. 2,5,8,115 f. u. 4,5,3,200).133 Im Zuge seines Berichts über die BritannienExpeditionen nennt auch Caesar Kaufleute, die zwischen Gallien und Britannien aktiv waren (bell. Gall. 4,20). Zudem werden in den literarischen Quellen wenige Güter genannt, die im Import- und Export-Handel mit Britannien transferiert wurden. Strabon führt zu entsprechenden Exportgütern aus: ταῦτα δ’ ἐστὶν ἐλεφάντινα ψάλια καὶ περιαυχένια καὶ λυγγούρινα καὶ ὑαλᾶ σκεύη καὶ ἄλλος ῥῶπος τοιοῦτος (4,5,3,200). Armbänder aus Elfenbein, Halsketten, Gefäße aus lyngurium, Glas und andere Krämerwaren wurden also laut Strabon nach Britannien ausgeführt.134 Für den augusteischen Geographen sind diese Exportgüter – wie das abfällige, die Auflistung beschließende ῥῶπος („nutzlose Waren“; „petty wares“)135 anzeigt – wenig beeindruckend. Dies entspricht ganz der bereits angesprochenen Intention des Autors, der eine Eroberung Britanniens als unwirtschaftlich darstellen möchte. Als Träger des Britannienhandels vor 43 n.Chr. ist namentlich der Stamm der Veneter bekannt (Caes. bell. Gall. 3,8,1; Strab. 4,4,1,194). Ein spezieller Exportartikel aus Britannien sind, wie ebenfalls Strabon überliefert, Hunde (4,5,2,200). Diese canes wurden gezielt für die Jagd abgerichtet.136 In der Spätantike importiert der bekannte Senator Symmachus Hunde aus Irland, die in Rom vorgeführt wurden (epist. 2,77). Die Treibjagd mit Hunden war im römischen Gallien üblich. Eine berühmte Darstellung eines Jagdhundes bietet z.B. die Nebenseite des sog. Neumagener Elternpaarpfeilers.137 Der Grabinhaber wird auf einem Pferd sitzend dargestellt, mit seiner rechten Hand präsentiert er einen erlegten Hasen. Ein Diener führt vor ihm einen Jagdhund. Der Besitz eines solchen vermutlich sehr teuren Tieres dürfte als Ausdruck des Sozialprestiges zu werten sein, welches der Grabinhaber in seinem Denkmal bewusst inszenieren wollte. Diese ikonographische Quelle sowie Strabon und Symmachus deuten an, dass der Handel mit speziellen Jagdhunden durchaus üblich gewesen sein dürfte. Dabei sind importierte Tiere aber nur als Spezialware für höhere Gesellschaftsschichten anzusehen. Inwieweit die private Jagd ein wirklich wichtiger

133 Cf. allg. Kritzinger 2015, 22. Wie hoch die Abgaben waren und inwieweit Ein- und Ausfuhrgeschäfte durch die Zollpolitik des Staates beeinflusst wurden, kann – zumindest für den Britannien-Handel – nicht gesagt werden. Verschiedentlich geht man in der Forschung jedoch von einer geringen Beeinflussung des regionalen Handels durch Zollabgaben aus: Rothenhöfer 2005, 233; Drexhage 1994. 134 Reinard 2013, 27 f. 135 LSJ 1579. 136 Birley 1990, 551. 137 Heinen 52002, 169, Abb. 59; Baltzer 1983, 139. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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ökonomische­r Faktor gewesen ist, kann nur schwer eingeschätzt werden.138 Wildknochenfunde sind in römischen Villen nur selten bezeugt.139 Dies spricht doch eher für eine lediglich randständige ökonomische Bedeutung, weshalb britannisch-hibernische Hunde als ein besonderes, aber auch begrenztes Handelsgut anzusprechen sein dürften. Eine weitere Spezialware, die aus Britannien auf den Kontinent gelangte, war Gagat. Es findet sich im Rheinland ab ca. 200 n.Chr. und wurde im Kunsthandwerk verwendet.140 Ein Massengut von größerer ökonomischer Bedeutung dürfte aber auch Gagat kaum gewesen sein. Glasprodukte gelangten im 2./3. Jh. n.Chr. vom Rhein nach Britannien.141 Eventuell darf man die Ausfuhr von Glaswaren, die ja Strabon bereits bezeugt, als einen über Jahrhunderte hinweg konstanten Warenverkehr auffassen, wobei das Volumen dieses Handels insgesamt eher als gering einzustufen ist. Porphyr aus der östlichen Wüste Ägyptens wurde in die Provinz Britannia eingeführt.142 Er wurde z.B. in Colchester verbaut; auch für die Verwendung von Diorit und Dolerit ägyptischer Provenienz gibt es Hinweise.143 Allerdings ist die Bedeutung dieses Importguts ebenfalls als gering anzusehen, da es nur in sehr wenigen Fällen in die Provinz gekommen sein dürfte. Nachweisen lässt sich auch der Import von Marmor.144 Aus den Schreibtafeln lassen sich als explizite Importwaren unter Umständen gallische Schuhe (Tab. Vindol. 197) sowie Textilien fassen (Tab. Vindol. 255?). Im Falle der galliculli ist allerdings zu problematisieren, dass es sich hierbei auch lediglich um Schuhe nach gallischer Machart, nicht aber um wirkliche Importe handeln könnte. Schuhmacher sind für Vindolanda selbst belegt (Tab. Vindol. 155). Dies wirft die Frage auf, ob Soldaten ihr Schuhwerk wirklich aus dem fernen Gallien bezogen oder nicht viel eher ortsansässige sutores beauftragt haben. Ein negotiator vestiarius importator, der im niedergermanischen Stockum durch die Grabinschrift CIL XIII 8568 belegt ist, wurde in der Forschung gelegentlich mit dem Handel britannischer Kleider in Verbindung gebracht.145 Allerdings sollte man den Zusatz importator nicht unkritisch auf Britannien beziehen.146 Der Textilhandel in der Gallia Belgica, Gallia Lugdunensis, Germania superior und Aquitania ist in ikonographischen147 und epigraphischen148 Quellen sehr gut fassbar. Auf britannische Kleiderexporte verweisen lediglich zwei Stellen im 138 Auch im quellenreichen, aber hinsichtlich seiner Fauna nicht vergleichbaren Ägypten, lässt sich eine ökonomische Bedeutung der privaten Jagd nur schwer fassen: Drexhage 1997b. 139 Rothenhöfer 2005, 253. Einen positiveren Eindruck vermitteln auf den ersten Blick die literarischen Quellen, die André 1998, 96 ff. gesammelt hat. Abgesehen von der Beschaffung von Tieren für venationes bezeugen diese Belege allerdings keinen umfänglichen professionellen Jagdbetrieb, der zur Generierung ökonomischer Gewinne durch Veräußerung von Fleisch, Häuten, Knochen etc. geführt hätte. Die Jagd war vielmehr für die meisten landwirtschaftlich aktiven Menschen eine Nebentätigkeit. 140 Rothenhöfer 2003, 192 u. 234; Frere 1987, 279. 141 Broekaert 2013, 42; Drexhage 1998, 195. 142 Crummy – Crummy 1983, 29; Drexhage et al. 2002, 132. 143 Drexhage 1998, 194 f. mit weiterer Literatur. 144 Milne 1985, 106. 145 Schmidts 2011, 104; Rothenhöfer 2005, 189. 146 Eck 2004, 470. 147 Baltzer 1983, 94, Nr. 1–4, Abb. 113 f.; Heinen 52002, 150; ausführlich zur Igeler Säule: Dragendorff – Krüger 1924. 148 CIL XIII 542; CIL XIII 3037; CIL XIII 3168; CIL XIII 3705; CIL XIII 4564; CIL XIII 5705; CAG 57,2,193; cf. ausführlich zum Textilhandel im Untersuchungsraum: Drinkwater 1977/1978 u. Schwinden 1989. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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diokletianischen Preisedikt, in welchen von burrus Britannicus sowie tapete Britannicus die Rede ist.149 Ein burrus ist ein Kapuzenmantel, unter tapete bzw. einem tapetum, abgeleitet vom griechischen τάπης/ταπήτιον,150 sind Decken zu verstehen. Ob diese Belege für einen aktiven britannischen Kleiderexport am Ende des 3. Jh. n.Chr. stehen, ist allerdings nicht sicher zu sagen. Es könnte sich auch um spezielle Macharten von Kapuzenmänteln und Decken handeln und die Bezeichnung „britannisch“ könnte dann lediglich als besonderer Produktname anzusehen sein. Ableitungen hinsichtlich des Kleiderhandels in der frühen und hohen Kaiserzeit sind auf dieser Grundlage nicht möglich. Ein Exportgut aus Britannien war Zinn, gleichwohl insgesamt nur wenige explizite Quellen für den Import dieser Ressource vorliegen. Bemerkenswert ist P.Köln 2/101, ein 274 oder 280 n.Chr. entstandener Gesellschaftsvertrag aus Oxyrhynchos.151 In diesem wird festgelegt, dass die Vertragspartner „im Zinn-Handwerk / Zinnerarbeitung (?) auf ein Jahr und sechs Monate vom gegenwärtigen 1. Tag des augenblicklichen Monats Phaophi [8. Sept.] des gegenwärtigen 6. Jahres an Geschäftspartner“ sein wollen (ὁμολογοῦμεν / ἐπικοινωνήσιν (l. ἐπικοινωνήσειν) ἀλλήλοις / εἰς ἐργασίαν βρυτανικῆς τέ/χνης ἐπ’ ἐνιαυτὸν ἕνα καὶ μῆ/νας ἓξ ἀπὸ τῆς ἐνεστώσ[η] ς / ἡμέρας α̣ τοῦ ὄντος μηνὸς / Φαῶφι τοῦ ἐνεστῶτος ϛ (ἔτους); Z. 7–13). Das Wort βρυτανικός ist, wie im Zeilenkommentar ausgeführt wird, nicht bezeugt und muss sehr wahrscheinlich als βρεταννικός aufgefasst werden.152 Man darf sich den Editoren von P.Köln 2/101 anschließen, die in βρεταννικὴ τέχνη bzw. βρυτανικὴ τέχνη „möglicherweise das Handwerk der Zinnverarbeitung“ erkennen wollen; allgemein war in der Antike auch die Bezeichnung ἡ Βρεταννικὴ μέταλλος als feststehender Ausdruck für Zinn bekannt.153 Wie umfangreich der Export britannischen Zinns in der Kaiserzeit gewesen ist, lässt sich nicht sicher abschätzen. In den Papyri ist Zinn insgesamt nur selten bezeugt. Dokumentiert wird es z.B. in dem Privatbrief PSI 13/1331 = SB 5/7994 (3. Jh. n.Chr.) sowie gemeinsam mit Blei in den Quittungen P.Oxy. 6/915 und P.Turner 50–53 (alle 6. Jh. n.Chr.) bzw. dem Inventar CPR 19/54 (4.–6. Jh. n.Chr.). Den frühesten Beleg für Zinn stellt O.Petr.Mus. 191 = O.Bodl. 2/1968, eine in das Jahr 18 v.Chr. datierende Quittung aus dem Nikanor-Archiv, dar. Ein Bezug dieser Quellen zu britannischem Zinn ist allerdings hypothetisch. Der sehr geringe, über sechs Jahrhunderte verstreute Befund in den papyrologischen Quellen zeigt aber wahrscheinlich allgemein an, dass ein Fernhandel mit diesem Rohstoff eher von geringer Bedeutung gewesen sein dürfte. Das Fehlen spezieller Berufsbezeichnungen für den Handel mit Zinn ist ein weiteres Indiz für diese Annahme. Über das Preisniveau von Zinn kann ebenfalls nichts ausgesagt werden. Aus dem 1. Jh. n.Chr. liegt mit SB 16/12515 eine Abrechnung vor, die ποτή(ρια) κασσιτέρ̣ι(̣ να) nennt. Diese erzielten einen Preis von 12 Dr. Im Vergleich mit tönernen Trinkbechern scheint der Preis der Zinkbecher relativ teuer gewesen zu sein.154 Allerdings reicht das Quellenmaterial nicht aus, um halbwegs sichere Schätzungen und Interpretationen zu wagen. Am ehesten darf man bei aller Vorsicht festhalten, dass der Zinnhandel aus Britannien eher überschaubare Ausmaße hatte. 149 150 151 152 153 154

Lauffer 1971, Ed. Diocl. XIX 28 f. u. 48; Wild 1963; Drexhage 1998, 199. LSJ 1747; Georges II 3024. Drexhage 1998, 199. Cf. WL 212. Cf. die Literatur- und Quellenangaben in P.Köln 2/101 Zeilenkommentar. Drexhage 1991, 381 u. 397. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Wichtiger war ganz offensichtlich der Export von britannischem Blei. Plinius maior teilt mit, Blei hätte man in Hispanien und Gallien, besonders einfach aber in Britannien gewonnen. Dort lägen die Erzlager unmittelbar an der Erdoberfläche. Der Abbau sei so einfach, dass angeblich per Gesetz eine Höchstabbaumenge festgeschrieben worden sei (nat. hist. 34,164). Wollte der Staat den Bleimarkt auf dem Kontinent schützen? Weitergehende Überlegungen müssen hier unterbleiben, es sei nur ausgeführt, dass der Abbau von Blei in Britannien unmittelbar nach der Provinzeinrichtung begonnen haben dürfte. Ein erster epigraphischer Hinweis, der jedoch in seiner Deutung nicht ganz zweifelsfrei ist, verweist in das Jahr 49 n.Chr. (RIB 2404,2), sicher datierte Quellen liegen dann für die neronische Zeit vor (RIB 2404, 3 u. 24).155 Britannische Bleibarren wurden an der Nordseeküste, aber auch an der Mittelmeerküste und auf Korsika sowie im gallischen Binnenbereich gefunden;156 eventuell spielte die Rhône als Verkehrsweg im Bleihandel eine Rolle. Allerdings ist die Fundanzahl sehr gering, Interpretationen zu Handels­ wegen sollten unterbleiben. Gesichert ist lediglich, dass der britannische Bleiexport bis in severische Zeit nachweisbar ist (RIB 2404, 72a = CIL XIII 2612a; CIL XIII 3222), sein Umfang aber nicht abgeschätzt werden kann. Ein besonderes britannisches Exportgut waren Austern, die nach Aussage des älteren Plinius in Rom konsumiert worden sind (nat. hist. 9,169 u. 32,62).157 Nordseeaustern aus Rutupiae kennt auch Juvenal (sat. 4,140–143). Der Verzehr von Austern in Britannien wird durch die Schreibtafeln aus Vindolanda (Tab. Vindol. 299) sowie durch archäologische Befunde bestätigt.158 Eine Austernzucht wird für die Region an der Themsemündung angenommen.159 Es ver­w undert deshalb nicht, dass im niederländischen Alphen in einer römischen Latrine, die offen­sichtlich auch zur Müllentsorgung verwendet wurde, neben anderen Speiseresten auch Austern­schalen nachgewiesen sind.160 Diese Meeresfrüchte könnten aus Britannien, vielleicht aber auch über die Atlantik-Route aus Bordeaux – die von dort verhandelten Austern rühmt Ausonius (epist. 7 u. 9)161 – gekommen sein. Als singulärer Fund ist auch ein Gefäß aus Haltern bekannt, das die Aufschrift ex radice Britan(n)ica trägt (AE 1929, 102).162 Vermutlich besteht ein Bezug zu einer bestimmten Arznei, die aus Wurzeln (oder Kräutern?) hergestellt wurde. Der Fundort legt nahe, dass man hier von einem Handelsgut ausgehen darf, welches aus der Zeit vor der Provinzeinrichtung stammen dürfte. Das Gefäß gelangte über den Seehandel an den Rhein und kam dann über die Lippe nach Haltern. Neben den oben schon angeführten Venetern, die als Handelsfahrende nach Britannien vor 43 n.Chr. belegt sind, darf man hier beruhend auf einer von Plinius maior überlieferten Episode auch in Erwägung ziehen, dass der Stamm der Friesen britannische Heilmittel importiert haben könnte (nat. hist. 25,20 f.): Angeblich machte in der Zeit der Statthalterschaft des Germanicus der an der Nordseeküste siedelnde Stamm römische Soldaten, die durch den Genuss schlechten Wassers erkrankt waren, mit einer herba Britannica vertraut. Ein Bezug zu einer radix Britannica, die in Gefäßen zu den Truppen in Germanien verhandelt wurde, ist 155 156 157 158 159 160 161 162

Rothenhöfer 2011, 57. Cf. die Verbreitungskarte bei Rothenhöfer 2011, 60. André 1998, 89. Onken 2003, 141 f. Winder 1985; Onken 2003, 142. Drexhage et al. 2002, 191; Kuijper – Turner 1992, 188 f. u. 200–202. André 1998, 89. Drexel 1928. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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möglich. Obwohl eine herba Britannica in der antiken Fachliteratur verschiedentlich belegt wird,163 dürfte der Handel mit Arzneimitteln aus Britannien eher randständig gewesen sein.164 Vorstellbar ist auch, dass die Pflanze in Germanien kultiviert wurde und sich lediglich der Herkunftsname als Produktbezeichnung gehalten hat. Zu erwähnen ist auch der Handel mit Sklaven, der bereits von Cicero polemisch als einziges wirkliches ökonomisches Potenzial Britanniens bezeichnet wurde (s.o.). Seine Ausführungen finden eventuell durch den bereits angesprochenen Brief Tab. Vindol. 255 Bestätigung, in welchem der Absender neben der Beschaffung von Kleidung auch von „seinen Jungen“ bzw. „seinen Sklaven“ spricht.165 In der Nachricht geht es um die Zusendung von Gegenständen, die der Absender für den „Gebrauch“ seiner pueri benötigt (ussibus puerorum meorum). Der weitere Text ist inhaltlich nicht mit letzter Sicherheit zu verstehen, es scheint allerdings um den Transport der pueri zu gehen, was in den Kontext des Sklavenhandels verweisen könnte. Einen eindeutigen Beleg für den Sklavenhandel liefert die Schreibtafel RIB 2443, 7 = AE 1954, 16 aus London, die als Einzelfund bereits vor den „Bloomberg excavations“ bekannt wurde. Es handelt sich um einen Brief, in welchem der Absender den Adressaten darum bittet, ein Sklavenmädchen in Bargeld zu verwandeln: cura agas ut illam puel/lam ad nummum redigas (Z. 5 f.).166 Diese bildlich-metaphorische Sprache ist in unmittelbar überlieferten Briefen römischer Zeit selten,167 der thematische Kontext aber dennoch zweifelsfrei ersichtlich. Bemerkenswert sind etwa auch die aus Britannien stammenden und in das 2./3. Jh. n.Chr. datierten kleinen Bronzefiguren, die wie besiegte Gegner am Boden kauernd dargestellt sind, wobei ihre Arme an den Handgelenken gefesselt und mit einem Strick oder einer Kette am Hals fixiert sind.168 Assoziationen zum Sklavenhandel drängen sich bei solchen Darstellungen auf. Es ist nicht möglich, die überlieferten Quellen zu Sklaven und zum Sklavenhandel hier ausführlich zu bearbeiten, doch darf man zumindest darauf hinweisen, dass es am Rhein nachweislich Sklavenhändler gegeben hat, die ihre „Ware“ sicher auch über die vielbefahrenen Binnenstrecken in Germanien verschifften und damit auch an den Britannienhandel angebunden gewesen sein könnten; verwiesen sei hier nur auf die Grabinschrift des C. Asiacius aus Köln, der als mango tätig war (CIL XIII 8348).169 Ein weiteres Handelsgut wird durch die oben bereits angesprochenen Inschriften CIL XIII 8793 = ILS 4751 und AE 1973, 370 benannt, die den negotiator cretarius Britannicianus M. Secundinius Silvanus in Colijnsplaat und Domburg dokumentieren. Zwei Fragen drängen sich auf: Einerseits ist die genaue Bedeutung von creta zu problematisieren; es könnte sich theoretisch nach der Wortbedeutung um Kreide oder um bestimmte Tonsorten, vermutlich aber am ehesten um Keramik handeln.170 Wahrscheinlich war M. Secundinius Silvanus auf den Handel mit Geschirr und Keramikgefäßen spezialisiert.171 Anzumerken ist, dass dank der 163 Drexel 1928, 172. 164 In den Schreibtafeln aus Vindolanda wird ebenfalls der Handel mit radices bezeugt (Tab. Vindol. 301). Ob es sich dabei aber um die nach Germanien exportierte Heilwurzel handelt, bleibt hypothetisch. 165 Zu Sklaven in Vindolanda cf. Bowman 1994, 67. 166 Drexhage 1997a, 17 f.; Painter 1967; Adams 2002. 167 Cf. Reinard 2018. 168 Die beste bildliche Darstellung bieten Hobbs – Jackson 2011 34, Abb. 22. 169 Schumacher 2001, 61 f.; Galsterer – Galsterer 1975, Nr. 321. 170 Jaschke 2010, 64. 171 Rothenhöfer 2005, 233 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Grabinschrift CIL XIII 8350 aus Köln ein weiterer negotiator cretarius bekannt ist, der den Namen [ ] Secundinius Severus trug.172 Eine Verbindung zu M. Secundinius Silvanus ist durchaus denkbar. Im Text der Grabinschrift des Severus fehlt jedoch der Zusatz Britannicianus. Man darf wohl sicher annehmen, dass es negotiatores gab, die die Ware creta im Binnenbereich entlang der Rhein-, Mosel- und Rhône-Linie verhandelt haben. In Bonn setzte eine negotiator cretarius dem Merkur Gebrinius einen Stein (AE 1931, 27) und aus Wiesbaden ist die Grabinschrift eines ebensolchen Händlers bekannt (CIL XIII 7588); auch der aus Lorch dank eines Inschriftenfragments bekannte cretarius agierte offenbar über den Rhein (CIL XIII 6524). Ferner wird der Handel mit creta entlang der Flusswege zweifellos durch den dank CIL XIII 2033 bekannten Treverer bezeugt, der in Lyon ansässig war. In Metz ist durch CIL XIII 4336 ebenfalls ein Keramikhändler nachgewiesen. Aus Lyon ist durch die Grabinschrift CIL XIII 1906 = ILS 7531 auch ein Veteran namens Vitalinius bekannt, der als creta-Händler aktiv gewesen ist. In Colijnsplaat hat ein gewisser C. Vitalinius Genialis eine nur fragmentarisch erhaltene Weihung hinterlassen (AE 2001, 1505). In ihm möchte Broekaert einen Verwandten des Lyoner Veteranen sehen, was dann ein Indiz für entsprechende Handelsunternehmungen dieser Familie sein könnte.173 Es ist aber auch zu fragen, ob der Britannien-Händler M. Secundinius Silvanus creta aus Britannien nach Gallien und Germanien verhandelte oder ob sein Handel mit dieser speziellen Ware in umgedrehter Richtung erfolgte. Reichte der entlang der Flüsse greifbare Binnen­ handel mit creta auch über die Nordsee? Lohnte der Import oder Export von creta nach / aus Britannien? Die von Silvanus in den Inschriften gewählte Berufsbezeichnung deutet einen solchen interprovinziellen Handel an, gleichwohl es hierfür – gerade in Britannien – keine vergleichbaren Quellen gibt. Eventuell könnte man den Wortlaut des Inschriftentextes aber auch als negotiator cretarius (et) Britannicianus interpretieren.174 So oder so wäre auch darüber nachzudenken, ob M. Secundinius Silvanus auf der jeweils „leeren“ Rückreise nicht auch an anderen Handelsgütern partizipierte. Denkbar wäre etwa, dass er – so wie auch die anderen an den Flusswegen bezeugten cretarii – in Gallien und Germanien mit creta Handel trieb, zugleich aber auch aus Britannien Handelsgüter nach Germanien zu Stützpunkten und Siedlungen am Rhein importierte. Auf der neuerlichen Fahrt gen Norden könnte er dann wiederum mit creta gehandelt haben. Gurli Jacobsen hat beruhend auf archäologischen Studien die Überlegung aufgeworfen, ob eine „steigende Anzahl der Funde von terra sigillata [sc. aus ostgallischer Produktion] im niederländischen Küstengebiet“ mit dem Britannienhandel in Verbindung stehen könnte.175 Wie oben bereits angeführt, sind auch Amphoren aus Germanien und Gallien in der Region von Nijmegen fassbar.176 Verweisen kann man hier bspw. auch auf die Verbreitung von ScheldtValley-Amphoren, die aus Gallien nach Niedergermanien verhandelt wurden.177 Bekannt 172 Galsterer – Galsterer 1975, Nr. 323; Broekaert 2013, 96 f., Nr. 153. Aus Wiesbaden ist die Grabinschrift CIL XIII 7588 des negotiator artis cretariae namens Secundius Agricola bekannt. Das gleiche Berufsfeld sowie das verwandte Gentiliz haben in der Forschung die Überlegung aufgeworfen, hier ein drittes Familienmitglied zu sehen; cf. Schmidts 2011, 101 u. Chastagnol 1981, 65. 173 Broekaert 2013, 122 f., Nr. 204. 174 Schmidts 2011, 101. 175 Jacobsen 1995, 156 mit weiterer Literatur. 176 Carreras – van den Berg 2017a, 151 ff. 177 Schmitz 2013. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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ist ferner, dass der sog. Kölner Jagdbecher nach Britannien exportiert wurde, er findet sich aber auch an der Scheldemündung sowie in Boulogne-sur-Mer.178 Dies gibt Hinweise auf die Handelswege von am Rhein ansässigen cretarii; der Fundort Boulogne-sur-Mer sowie die Belege aus Britannien legen nahe, dass diese Keramikprodukte an Soldaten verkauft wurden. Darüber hinaus lassen sich als weitere archäologisch verifizierte Handelsgüter auch Keramikprodukte und Mühlsteine aus Mayen sowie schwarzer Kohlenkalk in Britannien anführen, die als Importe auf die britannische Insel kamen.179 Auch ohne den hier nur kursorisch skizzierten Keramik- und Amphorenbefund zu bemühen, muss man beruhend auf den Inschriften annehmen, dass Töpferwaren über den Binnenbereich an die Nordseeküste kamen und – die Quellen für den negotiator cretarius Britannicianus M. Secundinius Silvanus eröffnen diese Möglichkeit – auch im interprovinziellen Handel mit Britannien eine Rolle gespielt haben. Eine epigraphische Bestätigung für das Verhandeln von Keramikprodukten aus der Germania inferior nach Britannien stellen die bereits angesprochenen Herstellerangaben RIB 522 und 2456, 6 aus South Shield dar, die jeweils den in Köln ansässigen Produzenten Servandus dokumentieren. Die von Servandus hergestellten Waren gelangten auch nach Camulodunum (RIB 2456, 7). Mit ihm fasst man eventuell einen Hersteller, der seine Waren an die nachgewiesenen negotiatores cretarii verkauft hat. Die große Bedeutung des Imports von Dressel 20-Amphoren, in welchen vornehmlich Oliven­öl nach Britannien transportiert wurde, sowie die Tatsache, dass keine Oliven in der Insel­provinz angebaut worden sind (Tac. Agr. 12,5), wurden bereits angesprochen. Wie sehr das Oliven­öl in der Provinz präsent war, deutet indirekt auch die von Cassius Dio der Boudicca in den Mund gelegt Rede an. Hier heißt es, die Römer könnten nicht ohne Wein und Öl auskommen.180 Cassius Dio spiegelt hier vermutlich sein Wissen über die für römische Truppen so essentiellen Grundbedürfnisse, zu welchen Wein und Olivenöl zweifellos gehörten. Der amphorologische Befund bestätigt Dios Einschätzung. Es überrascht allerdings, dass Olivenöl (Tab. Vindol 203) und Oliven (Tab. Vindol. 208, 302 u. 679 sowie AE 2003, 1046) in den Schreibtafeln aus Chesterholm doch eher spärlich bezeugt werden. Demgegenüber existieren – wie bereits Björn Onken betont hat181 – einige Nachweise für Produkte, die eventuell als Ersatzfette verwendet worden sein könnten: sebum / „Rindertalg/-fett“ (Tab. Vindol. 84 u. 319), lardum / „Speck“ (Tab. Vindol. 182), axungia / „Schweinefett“ (Tab. Vindol. 182 u. 190) und callum / „Schweineschwarte“ (Tab. Vindol. 233).182 An dieser Stelle ist auch nochmals auf die bereits zitierte Cassius Dio-Stelle zu verweisen, in welcher er Boudicca nach der Aussage über die römische Abhängigkeit von Wein und Olivenöl sagen lässt: „Uns ist jedes Kraut, jede Wurzel Nahrungsmittel; unser Öl jeder Saft“.183 Eventuell darf man diese Stelle neben die SchreibtafelBelege für Ersatzfette bzw. -öle stellen. Spielte Olivenöl also an einzelnen Stützpunkten vielleicht doch nur eine weniger wichtige Rolle im täglichen Küchengebrauch? Der Befund der Amphorenscherben scheint dem doku178 179 180 181 182

Eck 2004, 471. Rothenhöfer 2003, 234 mit weiterer Literatur. Cass. Dio 62,5,4. Onken 2003, 79. Anführen darf man auch die unsichere Lesung bzw. Ergänzung von sebum in Tab. Vindol. 186 Z. 18 sowie von buturum / „Butter“ in der ersten Zeile von Fragment b von Tab. Vindol. 204; cf. allg. zu diesen ‚Er­satz­­fetten‘: Cech 2013, 97; Junkelmann ³2006, 150; André 1998, 162. 183 Cass. Dio 62,5,4. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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mentarischen Befund der Schreibtafeln zu widersprechen: 95,2% aller Amphorenfunde aus Vindolanda gehören zu Dressel 20-Amphoren.184 Allerdings sagt der prozentuale Anteil noch nichts über eine quantitative Verteilung aus und es wäre methodisch sehr fragwürdig, auf dieser Grundlage interpretative Schlüsse zu ziehen. Auch sollte man den Befund aus Vindolanda nicht verallgemeinern. In Militärstützpunkten im Süden der Provinzen oder an den via Schiff leichter zugänglichen Küstenregionen könnte sich die Situation gänzlich anders dargestellt haben. Es wäre z.B. naheliegend, dass im Vergleich zu einem Truppenstützpunkt in der Mitte des Hadrianswalls in einem küstennahen Lager wie Chester oder in Carlisle im täglichen Verbrauch Olivenöl deutlich stärker präsent gewesen sein könnte; in Chester sind 87,5% der Scherben zu Dressel 20-Amphoren zugehörig,185 aber auch dieser Befund erlaubt keine weitergehende interpretative Aussage. Vielleicht spricht der im Vergleich zur Nennung von Oliven und Öl zahlmäßig stärkere Nachweis möglicher Ersatzfette in den Vindolanda tablets auch schlicht dafür, dass die Waren hier über einen freien Marktmechanismus verteilt wurden. Vermutlich gab es in einem regionalen Umfeld ein starkes Angebot der tierischen Ersatzprodukte, die im Zuge des in Vindolanda vielfach nachgewiesenen Fleischkonsums186 ohnehin auf dem Markt verfügbar waren. Es drängt sich schließlich auch die Frage auf, ob die in Niedergermanien und Gallien fass­baren negotiatores Britanniciani an dem Handel mit Olivenöl direkt partizipiert haben. Handelten diese Britannienhändler mit Öl, dem mit Abstand größten Massenprodukt, welches auf dem Seeweg transferiert wurde? Für in Bordeaux ansässige Händler wie Lucius Solimarius Secun­dinus (CIL XIII 634 = ILS 7523) oder M. Aurelius Lunaris (AE 1922, 116) und wahrscheinlich auch für den u.a. in Boulogne-sur-Mer und Kent agierenden Valerius Mar[ (AE 1983, 720) darf man dies annehmen. Wahrscheinlich ist dies auch für die in Britannien bezeugten moritices Tiberinus Celerianus und M. Verecundius Diogenes, die beide gebürtig aus der Küstenregion Galliens stammten (AE 2002, 882 u. CIL VII 248). Anders liegt der Fall jedoch bei den in Colijnsplaat und am Rhein nachgewiesenen negotiatores Britanniciani. Dass diese auch im Ölhandel tätig waren, ist eher unwahrscheinlich. Ihre quantitativ starke Präsenz im Dea Nehalennia-Heiligtum weist auf eine direkte Nutzung des Binnenwegs nach Germanien, was in Kombination mit ihrer spezialisierten Berufsbezeichnung gegen ein Engagement im Handel mit baetischem Olivenöl spricht. In diesen Britannien-Händlern müssen eher Akteure gesehen werden, die andere Güter wie Keramik, Wein, Blei, Zinn, Glas etc. zwischen Britannien und Niedergermanien transferierten. Schlussbetrachtungen und Zusammenfassung: Individuelle Wirtschaftsräume und Warentransfers In der Forschung wurden Britannien, die Gallia Belgica, Niedergermanien sowie die nördliche Germania superior bis etwa zum Main häufig als ein Wirtschaftsraum betrachtet, was anhand archäologischer und epigraphischer Quellen nachvollziehbar ist.187 Es ist allerdings aufschlussreich, den Terminus „Wirtschaftsraum“ nicht als formal geographisch zu verste-

184 185 186 187

Onken 2003, 72. Onken 2003, 72. Tab. Vindol. 86, 190, 191, 203 o. 233. Wierschowski 1991; Rothenhöfer 2003, 235. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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hen, sondern ihn zu personalisieren, d.h. ihn als individuellen Handlungsraum eines Akteurs aufzufassen. Betrachtet man die in diesem Aufsatz untersuchten negotiatores, die zwischen Britannien und dem gallisch-germanischen Gebiet aktiv waren, ergeben sich folgende „individuelle Wirtschaftsräume“: Name

Individueller Wirtschaftsraum

Quelle

1. Anonyme negotiatores

Britannische Westküste – Irland

Tac. Agr. 24,1

2. M. Aurelius Lunaris

Bordeaux – York – Lindum

AE 1922, 116

3. C. Aurelius Verus

Köln – Colijnsplaat/Nijmegen – Britannien

CIL XIII 8164a; AE 1983, 722

4. C. Catullinius Secco

Trier – Colijnsplaat/Nijmegen

AE 1973, 375

5. Commodus

Lyon – Colijnsplaat/Nijmegen

AE 1975, 650

6. M. Exgingius Agricola

Trier – Köln – Colijnsplaat/Nijmegen

AE 1973, 362

7. Fufidius

Britannien – Mainz

CIL XIII 7300

8. C. Iulius Florentinus

Köln – Colijnsplaat/Nijmegen

AE 1973, 364

9. C. Iulius Ianuarius

Köln – Colijnsplaat/Nijmegen

AE 2001, 1464

10. M. Secundinius Silvanus

Köln – Colijnsplaat/Nijmegen

CIL XIII 8793; AE 1973, 370

11. L. Solimarius Secundinus

Bordeaux – Trier – Britannien

CIL XIII 634

12. Tiberinius Celerianus

Southwark/London – Bellovaker-Gebiet

AE 2002, 882

13. Valerius Mar[

Boulogne-sur-Mer – London? – Kent – Köln?

AE 1983, 720

14. Vegisonius Martinus

Sequaner-Gebiet – Colijnsplaat/ Nijmegen

AE 1973, 372

15. M. Verecundius Diogenes

York – Avaricum

CIL VII 248

16. L. Viducius Placidius

Veliocasses-Gebiet – Colijnsplaat/Nijmegen – York

AE 1975, 651; AE 1977, 512

Es ist aufschlussreich, sich die Frage zu stellen, in welchen Bereichen sich die individuellen Wirtschaftsräume überlappen. Auf der Binnenstrecke Rhein-Nordsee agierten zweifellos die Akteure Nr. 3–4, 6–10 und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch Nr. 5, 11 und 13. Weniger stark fassbar ist die Verbindung Mosel-Rhein, auf welcher Nr. 4 und 6 sowie wahrscheinlich Nr. 5 und 11 agiert haben.188 Entlang der Nordseeküste waren nachweislich Nr. 2–3 und 11–16 aktiv. Interprovinziell zwischen Britannien und dem Kontinent agierten Nr. 2–3, 7, 11–13 und 15–16. In Britannien selbst lassen sich besonders Akteure nachweisen, die entlang der Ostküste Handel trieben: Nr. 2, 13 und 15–16. Die Ostküste scheint nach Aussage der epigraphischen 188 Es sei nochmals betont, dass hier nur die negotiatores erfasst sind, für die auch eine direkte oder indirekte Partizipation am Britannienhandel wahrscheinlich ist. Dadurch erklärt sich die niedrige Zahl. Würde man ganz allgemein nach Kaufleuten und Handeltreibenden suchen, wäre zweifellos an allen Binnenstrecken aussagekräftiges Quellenmaterial greifbar: z.B. CIL XIII 8353 f., AE 2010, 1005 (alle Köln), CIL XIII 3666, 3703 f., 4157, AE 1998, 954 (alle Trier), AE 1976, 585, AE 2000, 980 (alle Metz), CIL XIII 4481 (Herapel). Da hier aber die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Britannien, Gallien und Germanien im Fokus stehen, ist die Reduzierung auf negotiatores, für die entsprechende Quellenhinweise vorliegen, notwendig. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Quellen wichtiger zu sein als der Handelskontakt nach London, der explizit lediglich für Nr. 12 und eventuell 13 bezeugt ist. Allerdings sollte man davon ausgehen, dass die Akteure, deren individueller Wirtschaftsraum vom Kontinent ausgehend bis nach York oder Lindum reichte, sehr wahrscheinlich auch wichtige Orte im Süden der Inselprovinz aufgesucht haben. Man darf vermuten, dass sich die Britannien-Händler in einem collegium organisiert haben, wie dies z.B. für die negotiatores Cisalpini et Transalpini in Avenches, Augst oder Lyon bezeugt ist (CIL XIII 2029, 5303 u. 5116; AE 1999, 1121).189 Allerdings bietet lediglich AE 2002, 882 einen unsicheren Hinweis. Diese Inschrift hat der moritex Tiberinus Celeianus (Nr. 12) für das kaiserliche numen und Mars Camulus gesetzt. In der neunten Zeile bricht der Text der Inschrift ab, allerdings ist [pr]imus noch sicher zu erkennen. Es könnte sich hierbei um einen Namensbestandteil oder aber um eine Angabe „Erster“ bzw. „Erster Rang in einem Verein/ Kollegium“ handeln. Würde diese Vermutung zutreffen, dürfte man aufgrund des Fundortes annehmen, dass in Southwark und London moritices dauerhaft präsent und als Gemeinschaft organisiert waren. Dies würde dann verdeutlichen, dass London trotz der wenigen expliziten Belege ein stark frequentierter Anlaufpunkt für den Seehandel gewesen ist, was aufgrund der archäologischen Befunde gewiss völlig außer Frage steht!190 Interessant ist schließlich auch eine Zusammenstellung der Akteure, die nur entlang der Nord-See und nach Britannien agierten, für die aber keine Aktivität auf den innergermanischgallischen Binnenstrecken, namentlich besonders auf dem Rhein, nachweisbar ist. Dies darf man für Nr. 2, 12, 14 und 16 sowie vermutlich für 13 annehmen. Mit Nr. 11 und 15 liegen nur zwei Akteure vor, die sicherlich im Seehandel aktiv waren und zugleich nachweislich Verbindungen bis in den innergallischen Raum nach Trier und Avaricum (Bourges) unterhielten. Stärker bezeugt sind für im Seehandel operierende Akteure Kontakte zu küstennahen Regionen in der Belgica bzw. zu Regionen, die über Flüsse leicht zugänglich waren, z.B. Nr. 12 u. 14. Hier eröffnet sich eine aufgrund der schmalen Quellenbasis zunächst allerdings nur mit Vorsicht wahrzunehmende Differenzierung zwischen gallischen Händlern, die auf den Transfer über die Seeroute, und solchen, die auf den Binnenhandel spezialisiert waren. Beide Händlergruppen waren letztlich ökonomisch auf das gleiche Nachfragepotenzial orientiert, wählten aber gemäß ihres individuellen Wirtschaftsraums, der in diesem Fall durch unterschiedliche geographische Gegebenheiten bzw. Ausgangspunkte determiniert wird, verschiedene Verkehrswege. Zu betonen ist auch, dass die in der Forschung vorgebrachte Ansicht eines sich aus Britannien, der Gallia Belgica, Niedergermanien und dem nördlichen Obergermanien zusammensetzenden Wirtschaftsraums zu modifizieren ist. Dank des ausgesprochen umfänglichen Öltransfers, der über die Atlantik-Route nach Germanien kam, entwickelte sich ein dichter Seeverkehr, an welchem auch Akteure wie Nr. 2 und 11 aus Bordeaux partizipieren konnten. Dies zeigt auf, dass es rege Handelstätigkeit von Personen aus den Küstengebieten der Aquitania bis nach Niedergermanien und Britannien gegeben haben dürfte und auch die Anwesenheit von hispanischen Geschäftsleuten, die im Ölhandel tätig waren, anzunehmen ist. Zugleich sieht man, dass innerhalb dieses geographischen definierten Wirtschaftsraums ganz unterschiedliche individuelle Aktionsräume zu erwarten sind.

189 Schmidts 2011, 103; Rothenhöfer 2003, 233; Kneissl 1988, 248; Krier 1981, Nr. 15. 190 Der exemplarische Verweis auf Milne 1985 mag hier genügen. Die archäologische Befundlage zu den Hafenanlagen Londons hat ferner Wawrzinek 2014, 191 u. 284 ff., Nr. A45 zusammengestellt. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Neben Öl, das zu den britannischen und germanischen Truppen transferiert wurde, sind Salz, Fischsauce und Keramik wichtige Handelsgüter im Untersuchungsraum. Archäologisches Material sowie in einem Fall auch eine epigraphische Quelle bezeugen, dass der Handel mit Keramikerzeugnissen aus Gallien und Germanien über den Seeweg nach Britannien lukrativ war. Für den Salzhandel sieht dies jedoch anders aus. Es hat sich gezeigt, dass negotiatores salarii ihre Ware sicherlich von den salinatores an der Küste der Belgica erhielten, vermutlich profitierte der Salztransport von dem starken Schiffsverkehr, der durch den Ölhandel motiviert war. Salz wurde dann entlang der Binnenwege nach Germanien und Gallien verhandelt, allerdings nicht über den Kanal nach Britannien verschifft; hierfür fehlt jeder Beleg. Dass an der Küste teilweise unter sehr günstigen Bedingungen Fischsauce-Produkte hergestellt werden konnten, erklärt die starke Präsenz von allecarii. Allerdings lassen sich für negotiatores allecarii inschriftlich ebenfalls keine geschäftlichen Unternehmungen von der Nordseeküste ausgehend nach Britannia fassen. Lediglich dank amphorologischer Quellen wird ersichtlich, dass Fischsauce in die Inselprovinz importiert wurde, wobei man diese mehrheitlich auf dem Seeweg über die Atlantik-Route heranführte. Eine Partizipation der in Colijnsplaat bezeugten allecarii bleibt deshalb unsicher. Die Betrachtung der Amphorenbefunde aus Britannien und der Region um Nijmegen muss im Rahmen eines Aufsatzes kursorisch bleiben. Basierend auf den Untersuchungen der nach­weisbaren Händler konnte im Abgleich mit dem amphorologischen Material aber folgende Entwicklung nachgezeichnet werden: Die Rolle der Rheinmündung als Drehscheibe für den ankommenden Öltransfer hat direkt oder indirekt (Salz- und allec-Händler) die Präsenz zahl­reicher negotiatores an der niedergermanischen Küste motiviert. Betrachtet man, was diese Händler auf der Hinfahrt entlang der Binnenstrecken verhandelt haben, wird eine im amphoro­ logischen Befund fassbare Entwicklung auf dem niedergermanischen Weinmarkt klar verständlich: Gallischer Wein erreichte ab der zweiten Hälfte des 1. Jh. n.Chr. eine dominante Stellung in der Germania inferior. Sehr wahrscheinlich wurde er ‚stromab‘ von den Kaufleuten und Schiffern verhandelt, die anschließend ‚stromauf‘ Öl zu den Truppen der Rheinlinie brachten. Hinsichtlich der Öllieferungen nach Britannien wurde anhand der diskutierten Quellen deut­lich, dass angesichts der zahlreichen Dressel 20-Befunde die These einer staatlichen (Re) Distri­bution von Öl in den nördlichen Lagern, nicht aufrecht erhalten werden sollte. Vielmehr können die Befunde auch durch freien Markthandel nachvollziehbar erklärt werden. Händler, die offenbar die Truppen im Norden aufsuchten, sind in Nr. 2, 13 und 15–16 greifbar. Auch Auf­fälligkeiten in den Schreibtafeln wie die überraschend vielen Belege für „Ersatzfette“ weisen eher auf ein freies Marktsystem hin. Dabei ist zu bemerken, dass die hier eruierten individuellen Wirtschaftsräume alle durch die bekannten Nachfragepotenziale (Soldatenstützpunkte) bzw. anhand bekannter infrastruktureller Verbindung zu Nachfragepotenzialen (Binnenstraßen, South Shield etc.) oder aber durch günstige Produktionsstandorte (salinatores und allec-Produktion an der Nordseeküste) verständlich und nachvollziehbar werden. Das ökonomische Handeln der Kaufleute innerhalb ihrer individuellen Wirtschaftsräume wird anhand der epigraphisch und archäologisch fassbaren ökonomischen Konstanten erklärlich. Dies gilt natürlich insbesondere für den wirtschaftlichen Einfluss, den die römische Armee in ihrem lokalen Umfeld – hiervon zeugen ausführlich die Schreibtafeln aus Vindolanda –, aber ganz besonders auch auf den Fernhandel ausgeübt hat. In Britannien hat sich die wirtschaftliche Lage dabei ganz ähnlich der Situation am Rhein entwickelt. Im regionalen Umfeld wurden Getreide, Fleisch und andere Nahrungsmittel verhandelt, während Olivenöl und Wein importiert wer-

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den mussten. Eine Ausdifferenzierung von regionalem und überregionalem Gütertransfer wird deutlich. Die Armee schuf in Britannien genauso wie in Germanien eine dauerhaft gleichbleibende Wirtschaftslage, die als konstante Marktstruktur191 zu begreifen ist bzw. als ein „Wirts­ chaftsgefüge, das sich auf ihre Bedürfnisse und ihre Kaufkraft konzentrierte“.192 Vergleicht man das ökonomische Potenzial der Rheinlinie mit dem Britanniens, muss man zweifellos zu dem Resultat kommen, dass die wirtschaftliche Situation an der germanischen Grenze besser gewesen ist. Neben dem Nachfragepotenzial der Soldaten muss auch an den Güteraustausch mit dem Barbaricum gedacht werden.193 Insbesondere die Siedlungen am Rhein haben sicher davon profitiert, dass die Germanen nur diese für ihre Handelsgeschäfte aufsuchen durften (Tac. Germ. 41).194 Britannien hatte keine vergleichbaren Absatzmöglichkeiten, die zusätzlich zu dem soldatischen Nachfragepotenzial interessant gewesen wären. Auch der hier vorgelegte Überblick zu den als Exporte und Importe anzunehmenden Waren zeigt auf, dass Britannien aus ökonomischer Sicht keine besonders leistungsstarke Provinz gewesen ist. Die Wirtschaft Britanniens und ganz besonders das Interesse des Fernhandels wurden maßgeblich durch die römische Armee und die durch sie etablierte konstante Marktstruktur gefördert. Die negotiatores Britanniciani und moritices partizipierten in erster Linie am Gütertransfer zu den Soldaten, der vom Massengut Olivenöl sowie von Wein und in deutlich geringerem Umfang von Keramik bestimmt war. Auf der ‚leeren‘ Rückfahrt nach Gallien und Germanien handelten sie dann wahrscheinlich mit britannischen Erzeugnissen wie Blei, Zinn und Austern oder mit Sklaven und Hunden. Man darf vermuten, dass diese Britannien-Exporte ohne den Anreiz, auf der ‚Hinfahrt‘ an dem Geschäft mit den Massengütern zu verdienen, in noch geringerem Maße verhandelt worden wären. Bibliographie Adams 2002 = J. N. Adams, An Unusual Epistolary Formula and the Text at RIB II.4.2443.7, ZPE 140 (2002), 262. Adams 2003 = J. Adams, The Word moritix in a New Inscription from London, ZPE 143 (2003), 275–276. André 1998 = J. André, Essen und Trinken im alten Rom, Stuttgart 1998 (ND 2013). Baltzer 1983 = M. Baltzer, Die Alltagsdarstellungen der treverischen Grabdenkmäler. Untersuchungen zur Chronologie, Typologie und Komposition, TZ 46 (1983), 7–151. Birley 1990 = A. R. Birley, Britannien, in: F. Vittinghoff (Hrsg.), Europäische Wirtschafts- und Sozial­ geschichte in der römischen Kaiserzeit, Stuttgart 1990, 537–555. Birley 2002 = A. R. Birley, Garrison Life at Vindolanda. A Band of Brothers, London 2002. Bowman 1994 = A. K. Bowman, Life and Letters on the Roman Frontier, London 1994. Bridger 2017 = C. Bridger, Befand sich Deutschlands älteste kommerzielle Brauerei in Xanten? Ein Beitrag zur Bierproduktion im römischen Germanien und Nordgallien, Xantener Berichte 30 (2017), 197–219. Brodersen 1998 = K. Brodersen, Das römische Britannien. Spuren seiner Geschichte, Darmstadt 1998. Carreras – van den Berg 2017a = C. Carreras – J. van den Berg (eds.), Amphorae from the Kops Plateau (Nijmegen). Trade and Supply to the Lower-Rhineland from the Augustan Period to AD 69/70, Oxford 2017. 191 Reinard 2017. 192 Drexhage et al. 2002, 190. 193 Auf die wirtschaftlichen Kontakte zwischen den römischen Provinzen und den rechtsrheinischen Ge­ bieten kann hier nicht eingegangen werden; verwiesen sei auf: Wolters 1990 u. 1991; Ruffing 2008 mit der weiteren Literatur. 194 Rothenhöfer 2003, 232. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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„(...) und schicke mir 10 Körner Pfeffer“. Der Binnenhandel mit Pfeffer im römischen, byzantinischen und frühislamischen Ägypten* Stefanie Schmidt

Würze verleiht dem Essen seinen Geschmack und dem Leben einen Sinn. Oft genügen ein paar Körner und das fade Gericht wird zum feurigen Geschmackserlebnis. Unser Jubilar gehört zu jenen Glücklichen, die es verstehen, das Leben zu würzen. Seine Studenten profitierten hiervon insbesondere dadurch, dass die vermeintlich spröde Wirtschaftsgeschichte immer mit einer gehörigen Portion Pfeffer serviert wurde. Aus diesem Grund sei Ihnen, lieber Herr Drexhage, dieser Artikel über eins der feurigsten und wertvollsten Gewürze der Antike gewidmet – Pfeffer. Genießen Sie ihn am besten in der Sonne bei einer Flasche guten Rotweins. Die Weg der Pfefferkörner. Von Indien über Koptos nach Alexandria Im Anfang war das Gewürz.1 Durch diese Anspielung auf das Johannes-Evangelium wird dem Gewürz in Stefan Zweigs Magellan-Biographie schöpferische Kraft verliehen.2 Das Streben nach kulinarischen Ober- und Zwischentönen war der Antrieb, größte Distanzen per Schiff zu überwinden – navigare necesse est! Selbst Plinius wusste im 1. Jh. nicht mehr, wer der Erste war, der die Idee hatte, seinem Gericht Pfeffer hinzuzufügen.3 Strabon wollte zu seiner Zeit zumindest bereits 120 Schiffe gezählt haben, die jährlich den Weg von Ägypten nach Indien antraten.4 Für die augusteische Zeit bezifferte Plinius den Einkaufswert der Waren aus dem Indien­handel auf über 50 Millionen Sesterzen pro Jahr. Der Verkaufspreis sei jedoch um ein Hundertfaches höher gewesen.5 Ungeachtet der Authentizität der numerischen Angabe bei Plinius dürfte der Verkaufspreis in der Tat deutlich vom Einkaufspreis abgewichen sein. Ursache hierfür waren die hohen Transportkosten sowie die Steuer- und Zollgebühren an der Grenze des Römischen Reiches.6 Die Auswirkungen von Zollgebühren auf Importprodukte lassen sich gut an dem berühmten Muziris-Papyrus aus der Mitte des 2. Jhs. ablesen.7 Dieser überliefert auf dem Verso die Kostenkalkulation einer Warenladung aus Indien, die nach Abzug des 25-prozentigen Ein­ * 1 2 3 4

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Ich danke E. Garosi und M. Stern für ihre hilfreichen Anmerkungen zu einer ersten Version des Manu­ skripts. Zudem gebührt mein Dank M. Hense und St. E. Sidebotham für die Nutzung des Kartenmaterials. Zweig 1994. Joh. 1,1–3. Nat. hist. 12,14,29: „Allein seine Schärfe gefällt und weil man ihn von den Indern herbeischafft! Wer war der Erste, der ihn in Speisen erproben wollte, oder wem genügte nicht der Hunger, um den Appetit anzuregen?“ Strabon (2,5,12) nennt an dieser Stelle Myos Hormos als Ausgangshafen für die Indienfahrten und an anderer Stelle (17,1,45), dass Myos Hormos unweit von Berenike läge, welches zudem keinen Hafen besäße. Strabons schlechte Informiertheit über die beiden Häfen habe der Grund für eine Verwechslung und einer Aufwertung Myos Hormos gegenüber Berenike sein können, wie Ruffing 2012 darlegt. Nat. hist. 6,101–102. Der 25-prozentige Einfuhrzoll (tetartē) wird z.B. für Leuke Kome im PME 19 genannt. Über Nutzungs­ gebühren von Straßen zwischen Berenike und Koptos informiert der sogenannte ‚Tarif von Koptos‘ aus dem Jahr 90 n.Chr., s. OGIS II 674 und die Besprechung bei Burkhalter 2002. SB XVIII 13167 (Mitte II, unbekannt). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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fuhr­zolls in das Römische Reich (tetartē) und weiteren Abgaben für die arabarchai noch einen Gesamtwert von 1.151 Talenten und 5.852 Drachmen verzeichnete.8 Pfeffer wird in dem Dokument nicht explizit erwähnt, ist aber mit einiger Wahrscheinlichkeit die auf dem fragmentarischen Papyrus verlorene Ware, die mit einem Wert von etwa 772 Talenten zu Buche schlug.9 Der Endpreis der Ware wurde neben Abgaben und Transaktionskosten auch von der Quali­ tät des Pfeffers bestimmt. Plinius und Dioskurides nennen drei Pfeffersorten: schwarzen (piper nigrum), langen (piper longum) und weißen (piper album) Pfeffer, wobei der weiße Pfeffer nur einen anderen Reifegrad des schwarzen Pfeffers darstellt.10 Für langen Pfeffer zahlte man Plinius zufolge (vermutlich im augusteischen Rom) 15 Denare das Pfund, für weißen 7 Denare und für schwarzen Pfeffer 4 Denare pro Pfund.11 Langer Pfeffer wird neben dem schwarzen Pfeffer auch im Periplus Maris Erythraei (PME), einem Navigationsbuch für den Indien­handel, dessen Autor vermutlich im 1. Jh schrieb, als Importware genannt.12 Bei archäo­­logischen Untersuchungen in den Rotmeerhäfen Berenike und Myos Hormos wurde bislang jedoch nur schwarzer Pfeffer gefunden.13 Hatte sich das Importgeschäft nach Ägypten nur auf den schwarzen Pfeffer konzentriert? Dann ist es jedoch erstaunlich, dasss dieser in juristischen Quellen nicht genannt wird. Im alexandrinischen Zolltarif, der zu versteuernde Ware aus dem Osthandel zur Zeit Mark Aurels auflistet, erscheinen nur langer (longum) und weißer (album) Pfeffer, schwarzer Pfeffer findet dort keine Erwähnung.14

Abb. 1: Routen im Ost­handel (Sidebotham 2011, fig. 11.1) 8 Für die Lesung der Gesamtsumme Morelli 2011, 13 zu Z. 57. Der Text ist zudem publiziert und/oder besprochen bei De Romanis 2012; Rathbone 2000; Casson 1990 u. 1986; Thür 1987; Harrauer – Sijpesteijn 1985. 9 De Romanis 2012, bes. 85–86 u. 88 mit einer Kalkulation von 625 t für den importierten Pfeffer. S. zudem die Berechnungen von Morelli 2011, 20, die sich vor allem im Preis pro mina Pfeffer von denen De Romanis’ unterscheiden. Während De Romanis auf 6 Drachmen pro mina Pfeffer kommt, schlägt Morelli 24 Drachmen vor. 10 Plin. nat. hist. 12,14,26–28; Diosk., De materia medica 2,188. Zur Ernte des Pfeffers s. Cappers 1996, 311. Theophrast (hist. plant. 9,20) kannte nur zwei Sorten Pfeffer, einen runden bitteren, mit rötlichen Früchten, die denen des Lorbeers glichen, und einen langen schwarzen, dessen Früchte dem Mohn ähneln würden. 11 Nat. hist 12,14,28. 12 PME 48. 13 Sidebotham 2011, 224; Van der Veen et al. 2011, 228. 14 Dig. 39,4,16,7. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Langer Pfeffer stammte laut PME aus dem Hinterland von Barygaza im Nordwesten Indiens, schwarzer Pfeffer hingegen aus Kottonariké nahe der Malabarküste.15 Von dort wurde er zu den west­lichen Häfen Barygaza, Muziris und Nelkynda verbracht und anschließend verschifft (Abb. 1).16 Ein tamilisches Liebesgedicht über ‚mismatched love‘ gibt einen flüchtigen Blick auf die Handels­beziehung mit dem Westen. Dort heißt es für Muziris „the sacks of pepper rose up be­side them [i.e. the houses] make the houses look the same as the tumultuous shore and the golden wares brought by the ships are carried to the land in the servicing boats“.17 „The golden wares“, vor allem aber römische Münzen, die die Fremden (hier yavanars)18 nach Muziris importierten, finden sich ebenfalls im PME, das Angebot und Nachfrage für jeden Handelsort detailliert auflistet.19

Abb. 2: Handelsrouten in Ägypten (Sidebotham 2001, fig. 8.1) 15 PME 48–49; 55–56. 16 Hierzu Seland 2010, 51–61. Nelkynda wurde in der Vergangenheit mit dem modernen Kottayam identifiziert, s. ebd. 58 m. Verweis auf Schoff 1995, 208. Eine südlichere Verortung wurde aber ebenfalls nicht ausgeschlossen, s. Schoff 1995, 58 m. Verweis auf Casson 1989, 297 ff. Plinius gibt drei Wege für den Indien­handel an: die Strecke Syagron (heutiges Ras Fartak, Yemen) – Patale (nat. hist. 6,100), Syagron – Zigeros (nat. hist. 6,101), einem Ort an oder vor der Westküste Indiens, sowie ein dritte Strecke, die vom ägyptischen Berenike über Okelis oder Kane nach Muziris führte (nat. hist. 6,104). Syagron und Zigeros finden sich auch im PME 30; 53 (Melizeigara). 17 Das kāñci Gedicht findet sich ohne Referenz und Zeitangabe zitiert bei Selby 2008, 86. 18 Yavanar ist die tamilische Variante von sanskr. yavana für „Ionier“, womit nicht nur Griechen, sondern auch Römer und Fremde im Generellen bezeichnet werden konnten, s. hierfür Selby 2008, 82. 19 PME 6; 8; 10; 24; 28; 39; 49. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Nach Ägypten gelangte Pfeffer über die Rotmeerhäfen Myos Hormos und Berenike, von wo aus die Ware über die Karawanenrouten durch die östliche Wüste nach Koptos verbracht wurde (Abb. 2).20 Jüngste Ausgrabungen in Quṣayr al-Qadīm, das in römischer Zeit (1. Jh. bis Mitte 3. Jh.) als Myos Hormos bekannt war, belegten dessen Bedeutung im Gewürzhandel.21 Allerdings dürfte Myos Hormos aufgrund der starken Nordwinde im Roten Meer stets hinter dem südlicher gelegenen Hafen Berenike zurückgestanden haben.22 So findet sich zwar sowohl in Myos Hormos als auch in Berenike (sowie in Shenshef, einer Art Satellitensiedlung von Berenike) schwarzer Pfeffer (piper nigrum), doch nur in Berenike fand man ihn mit 3.000 Körnern auch in großen Mengen.23 Das Bild, Pfeffer sei vor allem über die Berenike-Route nach Koptos gelangt, sieht sich zu einem gewissen Grad auch durch die schriftlichen Quellen bestätigt. Ostraka aus Myos Hormos und Didymoi vermitteln den Eindruck, in Myos Hormos habe kein Markt für den individuellen Erwerb von Pfeffer bestanden. In einem Brief, verfasst im 1. oder 2. Jh., bat Maximos von Myos Hormos aus, man möge ihm verschiedene Waren, u.a. auch Pfeffer senden.24 Den Wunsch nach der Sendung von etwas Pfeffer lesen wir auch Anfang des 2. Jhs. in einem Ostrakon, das in Didymoi gefunden wurde.25 Der Brief wurde mit einiger Wahrscheinlichkeit in Krokodilo (al-Muwayh)26 abgeschickt, das sich auf der Route zwischen Myos Hormos und Koptos befand.27 Scheinbar war es einfacher, auf der Strecke zwischen Berenike und Koptos Pfeffer zu erwerben, wobei allerdings unklar bleibt, wo genau der Pfeffer erstanden werden sollte. Gab es in Didymoi einen Markt für Waren aus dem Fernhandel, die die Stadt passierten? Wie im Folgenden dargelegt wird, ist es wahr­scheinlicher, dass Pfeffer im 2. Jh. in Koptos gekauft wurde. Von einem Darlehensvertrag auf dem recto des Muziris-Papyrus wissen wir, dass Ware, die für Alexandria bestimmt war, als Ganzes am Rotmeerhafen auf Kamele verladen und durch Trans­porteure des Kreditgebers nach Koptos gebracht wurde.28 Der emporos verpflichtete sich gegenüber seinem Kreditgeber, die Ladung unter Bewachung und Schutz (Z. 3 meta para­ phylakēs kai asphaleias) durch die Wüste bis zu den Warenhäusern in Koptos zu transpor­tieren. Die Sicherheit der Karawanen gewährleisteten in der östlichen Wüste auch Soldaten, die in den praesidia entlang der Route stationiert waren.29 Der staatliche Schutz diente zum einen 20 Für Wege durch die östliche Wüste, s. die Besprechungen bei Bülow-Jacobsen 2013; Ruffing 2012. 21 Van der Veen – Morales 2015. Die Identifikation von Myos Hormos mit Quṣayr al-Qadīm ergab sich erst durch die Untersuchungen von Peacock 1993 und Bülow-Jacobsen et al. 1994. In älteren Studien und Karten wurde Quṣayr mit dem fiktiven Leukos Limen identifiziert und Myos Hormos weiter nördlich verortet. 22 Bülow-Jacobsen 2013, 557. Für die Windberechnungen im Roten Meer, s. Cooper 2014, 173–183. 23 Van der Veen et al. 2011, 228 (Myos Hormos); Cappers 2006, 111–119 (Berenike und Shenshef): In einer indischen Dolie am Sarapis Tempel wurden allein 7,5 kg Pfeffer gefunden, s. ebd., fig. 4.58. Für einen Pfefferfund von zwei Körnern am Mons Claudianus, s. van der Veen 2001, 199. 24 P.Quseir 28 (= SB XX 14263). 25 O.Didymoi II 399. 26 Trismegistos ID 3655. 27 Für die Lokalisierung des Absenders s. O.Didymoi II 399, S. 328. 28 SB XVIII 13167r, 1–2 kai stēsas dōsō tō sō kamēleitēi alla (talanta) eikosi pros epithesin tēs eis Kopton anodou. – und wie vereinbart werde ich deinem Karawanenführer weitere 170 Talente 50 Drachmen (als Frachtlohn) geben für die Verladung (der Ware) in der Karawane nach Koptos (...) (Übers. Thür 1987, 231. 29 Speidel 2016, 160–161 u. Anm. 27 m. weiterer Literatur sowie Rathbone 2002, 182–183. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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dazu, Transporte vor Räubern zu bewahren. Doch bestand hierüber hinaus auch ein fiskalisches Interesse daran, dass auf dem Weg in die Magazine von Koptos keine Ware verloren ging. Wenn dies nicht schon an den Rotmeerhäfen erfolgt war, wurde die Ware in Koptos registriert und mit dem Viertel (tetartē), das der Staat vereinnahmte, durch den Arabarchen taxiert.30 Die eigentliche Abgabe dieses Teils erfolgte, wie der Darlehensvertrag besagt, jedoch erst in Alexandria, im Magazin für die entsprechenden Waren aus dem Fernhandel (Z. 8 en Alexandria tēs tetartēs paralēmptikēn apothēkēn).31 Mit dieser Informationen ergeben sich jedoch einige Fragen: Wo und wie wurde Ware für den Binnenmarkt besteuert, die nicht nach Alexandria weiter­transportiert wurde und von der folglich auch der 25-prozentige Zoll in Natura nicht ab­geliefert wurde? Koptos war nicht nur Verladestelle der Waren aus dem Fernhandel. Es wird bei Strabon als emporion bezeichnet, was in diesem Fall wohl als port of trade zu verstehen ist.32 Die Bedeutung von Koptos als Binnenumschlagsplatz für Waren aus dem Fernhandel spiegelt sich in einem Brief aus dem Archiv des Apollonios, des Strategen des Apollonopolites Heptakomias, wider.33 Aus ca. 200 km Entfernung gab Apollonios eine Bestellung bei dem Schreiber des Textes auf, die jener auf dem Markt in Koptos besorgen sollte. Neben Ausrüstungsgegenständen, wie einem Italischen Schwert und einem Panzer, ließ Apollonios sich zudem ein halbes Pfund Purpurstoff (252 Drachmen) und zwei matia34 Gewürze (artymata) für 80 Drachmen kommen.35 Hier wurde nun ein Markt angesteuert, der in beträchtlicher Entfernung lag, was darauf schließen lässt, dass die gewünschte Ware, die offensichtlich aus dem Fernhandel kam, nicht überall erworben werden konnte. Heptakomia lag an der Route von Koptos nach Alexandria. Waren vom Mittelmeer oder dem Roten Meer kommend hätten die Stadt passieren müssen.36 Zumindest für Ware mit der Destination Alexandria wird eine Veräußerung unterwegs jedoch nicht möglich gewesen sein. Denn der Staat dürfte ein reges Interesse daran gehabt haben, dass 30 Für eine Registrierung der in Alexandria zu zahlenden tetartē in Koptos, s. Morelli 2011, 27; Jördens 2009, 358, Anm. 10 f. hält hingegen eine Registrierung der Ware bereits an den Rotmeerhäfen für wahr­scheinlich. 31 SB XVIII 13167r, 8; Morelli 2011, 27–28; Jördens 2009, 357–358; 367; Thür 1988; 1987. 32 Strab. 17,1,45. Für die Bedeutung von Koptos als Markt, s. Burkhalter 2002, 203 u. 207 (Lokalisierung von Hafen und Lagerhäusern) sowie Ruffing 1995. Rathbone 2002, 186 m. Anm. 28 verweist auch auf den gleichnamigen Destrikt in Alexandria nahe des Großen Hafens sowie die großen Warenhäuser (apostaseis) in dessen Nähe. Sowohl in Koptos als auch in Alexandria ließe sich ihm zufolge vermuten, dass die Waren, nachdem sie verzollt worden waren, auf angrenzenden Märkten veräußert wurden. Eine Reiseabrechnung aus dem 4. Jh. zeigt sodann, dass Ware aus dem Fernhandel, hier Pfeffer, in Alexandria erworben werden konnte, s. P.Lips. I 102, 11 (IV, unbekannt). Vom Preis, der mit nomismata angegeben wurde, ist nur die letzte Ziffer ‚3‘ lesbar. Folgt man den Bestimmungen des Muziris-Vertrags, ließe sich annehmen, dass auf dem Markt in Alexandria (auch) Ware veräußert wurde, die mit der tetartē belastet war. Für den Fall, dass der Kreditnehmer den Schuldbetrag nicht zurückzahlen konnte, war der Gläubiger befugt, die Ware, die sich in den Zollhäusern befand, zu verkaufen, s. SB XVIII 13167r, 12–22. Allerdings ist für Ware, die in Alexandria verkauft wurde, auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass nur ein Binnenzoll für die Einfuhr bezahlt wurde. Ein solcher hätte zum Beispiel an der Zollstation in Iuliopolis entrichtet worden sein können, s. hierfür Jördens 2009, 368. 33 P.Giss. Apoll. 6 (115, Apollinopolites Heptakomias). 34 Nach WO I 751 f. war ein mation = 1∕12 Artabe, so auch in der ed. pr. P.Giss. II 47, Komm. zu Zeile 14. 35 Unklar bleibt allerdings, um was für Gewürze es sich hierbei gehandelt haben könnte. Pfeffer wurde zum Beispiel in Oxyrhynchos nicht von Gewürzhändlern (artymatopōlai), sondern von Salbenhändlern (myro­ pōlai) vertrieben, hierzu mehr im Folgenden. 36 Trismegistos ID 3017 (Kōm Isfa ḥt). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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die gesamte für Alexandria bestimmte Warenladung, die in den Rotmeerhäfen eintraf, auch besteuert werden konnte. Für Ware, die mit der tetartē belastet werden sollte, dürfte man folglich davon ausgehen, dass diese bereits in den Einfuhrhäfen am Roten Meer als solche registriert und verplombt worden war.37 Hier schon dürfte also Ware für Alexandria von solcher für den Binnenhandel geschieden worden sein. Ware für den Binnenmarkt müsste also auch in den Rotmeerhäfen schon als solche registriert worden sein. Lässt sich erkennen, wo diese erstmals verzollt wurde? Aus den Ostraka aus Berenike (O.Berenike I–III), die überwiegend aus dem 1. Jh. stammen, wissen wir von einer Zollstation in der Hafenstadt. Die erhaltenen Texte vermitteln jedoch den Eindruck, dass hier hauptsächlich Ware passierte, die von Ägypten aus exportiert wurde.38 Die Zollwächter (quintanenses oder hoi epi tēi pylēi) in Berenike erhielten, vermutlich von einem Absender in Koptos, nur noch die Anweisung zur freien Passage der Güter, die in Art und Menge spezifiziert waren.39 Die Informationen aus den Ostraka aus Berenike eröffnen zudem die Mög­lichkeit, dass die Stadt auch über einen Markt verfügte. Dies schließen die Herausgeber aus der Tatsache, dass sich dort quintanenses befanden, Soldaten „in charge of a (via) quintana or the market held there.“40 Ein solcher Markt wäre eine erste Möglichkeit gewesen, Waren aus dem eingehenden Fernhandel auf dem Binnen­­markt zu veräußern. Eine vorherige Verzollung wäre jedoch in diesem Fall anzunehmen. Mögliche Orte für die Verzollung importierter Waren für den Binnenhandel wären demnach die Rot­meer­häfen und Koptos. Dieses Bild wird jedoch komplexer wenn man einen Papyrus hin­zuzieht, der als nomos telōnikos bekannt ist.41 Dieser fragmentarische Text aus dem 2. oder 3. Jh. verzeichnet in der ersten Spalte die Reste von Zollsätzen für arōmata, die aus Ostafrika, Arabia und Indien stammten.42 In der zweiten und dritten Spalte sind Bestimmungen für den emporos und den telōnēs überliefert: Wenn der Zolleintreiber es wünschte, hatte der emporos das Schiff zu entladen. Fand der telōnēs hierbei irgendetwas, das der emporos nicht angegeben (apografesthai) hatte, hatte der telōnēs es zu konfiszieren.43 Waren die Informationen des emporos hingegen korrekt, musste der telōnēs ihm die Mehrkosten für die Entladung des Schiffs 37 Der Muziris-Vertrag gibt erst Koptos als den Ort an, wo die Ware unter das Siegel des Kreditgebers gestellt wurde, was eine frühere Registration und Verplombung aber nicht ausschließen würde, s. SB XVIII 13167, 4–5. 38 O.Ber. II, S. 5–7. Die Hauptexportware war Wein, der aus der Mittelmeerregion nach Ägypten eingeführt und am Roten Meer exportiert wurde. Wie die Herausgeber annehmen, wurde dieser vermutlich nach Ostafrika oder Indien verhandelt, da diese auch im PME als Märkte für Wein angegeben sind, s. O.Ber. I, S. 16–21. 39 O.Ber. 1, S. 11. In Koptos zahlte man zudem das apostolion, eine Gebühr, um einen Passierschein (apostolos) zu erlangen, sowie das pittakion, eine Wegegebühr für die Strecke zum Roten Meer, s. der ,Tarif von Koptos‘ (OGIS II 674 besprochen bei Burkhalter 2002, bes. 222). 40 O.Ber. 1, S. 12. In O.Ber. II, S. 6 überlegen die Herausgeber, ob nicht auch eine Verbindung zu quinta, einer Steuer zu einem Fünftel, denkbar wäre, kommen jedoch zu ihrer anfänglichen Deutung zurück: „The association with markets still seems to make sense as the source of a tax bearing on those exercising any commercial profession“. 41 P.Oxy. I 36 = W.Chr. 273 (II/III). 42 S. die Besprechung bei Wilcken 1906; für myron im Sinne von Myrrhe, s. Benaissa 2016, 385. 43 Das entsprechende Verb apografesthai findet sich im Sinne einer eigenhändigen ‚Vermeldung‘ (Preisigke I, 171–73) auch in einer Zollinschrift der Provinz Asia aus dem 1. Jh. n.Chr. Hier war der Vorgang Teil einer zweistufigen Zolldeklaration: Im ersten Schritt erklärte der Händler gegenüber dem Zollbeamten mündlich (prosfōnein) die Beschaffenheit seiner Ladung. Wenn nötig, musste er hiernach auch eine schriftliche © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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erstatten. Auf welche Zoll­station hier Bezug genommen wird, ist nicht bekannt. Da der emporos jedoch die Möglich­­keit hatte, Zoll zu entrichten, ohne seine Ware zu entladen, können die Rotmeerhäfen, Koptos und Alexandria wohl ausgeschlossen werden.44 Hier war jeweils die Endstation einer Reise, was die Entladung der Ware vom Schiff oder Kamel zur Folge hatte. Man würde wohl eher an eine Zollstation auf dem Nil denken, was auch eine Erklärung für den Fund des nomos telōnikos in Oxyrhnchos bieten würde. Dass es sich nicht um Ladungen handeln kann, die bereits in Koptos mit der tetartē belastet worden waren, wird zudem in Spalte 3 deutlich: Sollte die Ware entladen worden sein, habe der emporos eine schrift­liche Bestätigung zu erhalten, damit er künftig vor falschen Anschuldigungen bewahrt blieb. Diese Bestim­mung würde jedoch bedeuten, dass der emporos bis zur Zollstation kein schriftliches Zeugnis über den Bestand seiner Waren mit sich führen musste. Ware aus dem Fernhandel wäre so bis zur Verschiffung auf dem Nil unregistriert geblieben. Dies erscheint recht unwahrscheinlich angesichts des detaillierten Registrierungs- und Abrechnungs­proze­deres des Arabarchen-Büros für die tetartē, den wir aus dem Muziris-Papyrus kennen. Viel eher dürften sich die Tarifbe­stim­­ mungen auf Händler im Binnenhandel bezogen haben, die Ware aus dem Fernhandel weiterverkauften. Bei Einfuhr in einen anderen Zolldistrikt (Epistrategie, nomos oder Stadt) mussten diese einen Transitzoll zahlen, wofür offenbar keine vorher ausgestellte amtliche Bescheinigung über die Beschaffenheit der Ladung nötig war.45 Man könnte sich folgendes Szenario vorstellen: Ware für den lokalen ägyptischen Markt wurde in den Rotmeerhäfen als solche registriert und vielleicht auch bereits mit einem ersten Zoll, belegt.46 Auf Märkten am Roten Meer oder in Koptos wurde die Ware an Binnenhändler verkauft, die sie weiterverkauften. Transpor­tierten diese ihre Ware dann von einem Zollbereich in den nächsten, fielen Zölle an, wie sie im nomos telōnikos überliefert sind. Im Folgenden soll nun eruiert werden, wo Pfeffer nach seiner Ankunft (und Verzollung) im Binnenland weiterverkauft werden konnte. Wo in Ägypten befanden sich organisierte und nicht-organisierte Märkte für Pfeffer? Wer handelte mit der Ware und welche Aussagen lassen sich über Distributionsmuster und die Komplexität von Handelsnetzwerken anstellen? Pfeffer für Ägypten. Händler, Zwischenhändler, Konsumenten Beschickung des lokalen Marktes Angesichts der großen kommerziellen Bedeutung von Pfeffer und einer allgemein hohen Aus­ prägung an beruflicher Spezialisierung in der Antike ist es erstaunlich, dass sich keine gesonderte Berufsbezeichnung für den Pfefferhändler findet.47 Die Papyri und Inschriften der römi-

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Erklärung (apografesthai) abliefern, s. Engelmann – Knibbe 1989, Z. 13–15 und Komm. 47 f.; Philostr. Apoll. I 20. Anders noch Rostowtzew 1908, 311. Für Zollgrenzen am Übergang der Epistrategien oder in den Gauen, s. Jördens 2009, 372–383. Die Höhe des Zolls für Binnenware ist nicht bekannt. Innerhalb der Zollgrenzen im Römischen Reich wurde ein 2,5-prozentiger Zoll (quadragesima) entrichtet. Wie Warnking 2015, 114–115 mit Quellen ausführt, ist sie bislang für Gallien, Hispania, Asia, Bithynia, Pontus und Paphlagonia belegt. Ob dies auch für die Einfuhr auf den ägyptischen Markt gilt, muss dahingestellt bleiben. Ruffing 2016 u. 2008; Drexhage 1991a. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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schen Kaiserzeit nennen den Safranhändler (krokopōlēs), den Kümmel- (kyminopōlēs) und den Natron­händler (nitropōlēs), doch fehlen Zeugnisse für einen piperidopōlēs oder -pratēs.48 Man würde vermuten, Pfeffer gelangte durch artymatopōlai, Gewürzhändler, auf den Markt, wie sie zum Beispiel für den Oxyrhynchites, den Arsinoites, Memphis oder für Elephantine belegt sind.49 Interessanterweise waren es in Oxyrhynchos aber nicht die dort ebenfalls nach­ gewie­senen artymatopōlai, sondern Salbenhändler (myropōlai), die den Pfeffer verkauften.50 Das ist insbesondere unter kulturhistorischen Gesichtspunkten interessant, deutet dies doch darauf hin, dass die teure Importware in erster Linie nicht als Nahrungsmittel verstanden wurde, sondern medizinischen Zwecken oder der Körperpflege diente.51 Für den Anfang des 4. Jhs. sind uns drei Monatsdeklarationen des Berufsvereins (koinon) der myropōlai überliefert, in denen sie dem logistēs der Stadt den Preis mitteilen, zu welchem sie unter anderem Pfeffer vertrieben.52 Die Deklarationen sind jeweils am 30. eines Monats verfasst; einer der drei Texte gibt an, dass es sich um die Preise aus dem laufenden Monat handelte.53 Sollten sich die Preisangaben in der Tat nur auf die Vergangenheit beziehen, ist es unwahrscheinlich, dass es sich hierbei um eine Selbstverpflichtung der Händler zum Vertrieb der Importware für einen fixen Preis handelte.54 Es dürften echte Marktpreise gewesen sein, was auch die Fluktuation der Preise untereinander verdeutlicht: In den Jahren 310 bis 312 kostete das Pfund Pfeffer ein Talent, in 329 war eine Preissteigerung eingetreten, die zur Folge hatte, dass ein Pfund Pfeffer in jenem Monat 12 Talente kostete.55 Die Ursache hierfür dürfte inflations­bedingt und in der unsteten Münzpolitik des frühen 4. Jhs. zu suchen sein.56 Doch zeigen Vergleiche mit Preisen aus dem Jahr 327, dass nicht alle Waren der Gruppe ,Aromata/Gewürze‘ von einem Preisanstieg betroffen waren: Während Storax im Jahr 327 noch 4 Talente das Pfund kostete, zahlte man 329 für das Pfund 10 Talente.57 Ebenfalls von der Preissteigerung betroffen waren Mastix (von 48 Ruffing 2008, 612 (krokopōlēs); 614 (kyminopōlēs); 647 (nitropōlēs). Zu den Komposita auf -pōlēs und -pratēs, s. Drexhage 1991a. 49 Ruffing 2008, 443 f.; P.Mich. VIII 466, 47 107 (Karanis); P.Ross. Georg. II 30, 5 (151–152 / 174–175 / 130–131 (?), Memphis od. Delta); BGU IX 1898, 209 (172, Thead.); P.Princ. III 132, 15 (II, unbekannt); BGU IV 1087v Kol. II, 9–14 (276, Arsin.); P.Oxy. XII 1517, 14 (272 od. 278, Oxy.); P.Oxy. LIV 3739 (312, Oxy.); P.Oxy. LXIV 4441, Kol. VI, 11 (316, Oxy.); O.Eleph. DAIK 171 (III–IV (?), Eleph.). 50 Für die artymatopōlai P.Oxy. LIV 3739, 7–8 (312). 51 In der Tat findet sich Pfeffer als Bestandteil von medizinischen Rezepten (P.Harr. I 98 [IV, unbekannt]; PSI Congr. XVII 19 [V, Oxyrhynchos]), z.B. gegen Augenleiden (P.Princ. III 155 [II/III, unbekannt]; P.Köln X 410 [IV/V, unbekannt]; SB XIV 11964 [VI/VI, unbekannt]; P.Horak 14 [V, unbekannt]) oder gegen Bettnässe und Heiserkeit (SB XXVI 16458 [IV, Hermopolis]). Zu den Salbenhändlern allgemein, s. Sudhoff 1909, 44 f. 52 P.Oxy. LIV 3731 (310–311, Oxyrhynchos); 3733 (312, Oxyrhynchos); 3766 (329, Oxyrhynchos). 53 P.Oxy. LIV 3766, 12–13 (329: toude tou mēnos. 54 Pfeffer ist im diokletianischen Maximalpreisedikt von 301 nicht enthalten, doch würde man einen Ein­ trag unter der Rubrik für Aromata/Gewürze (36,52–62) vermuten, der nur fragmentarisch erhalten ist, s. Lauffer 1971. 55 P.Oxy. LIV 3731, 9 (310–311); 3733, 8 (312); 3766, 84 (329). 56 Unter den Tetrarchen verlor die Billonmünze sukzessive an Gewicht und Feingehalt, während ihr Wert unverändert blieb. Um 312–315 hatte der nummus mehr als 50% seines Metallgehalts verloren, um 318– 321 verzeichnet man ein Standardgewicht von 3,30g mit nur 3% Silbergehalt, was einem Verlust von etwa 75% entspricht. Preise fluktuierten um diese Zeit enorm und stiegen teils bis um ein Zehnfaches an, s. Bagnall – Bransbourg 2015, 4–5; Bagnall 1985. 57 P.Oxy. LIV 3765, 32 (327); 3766, 88 (329). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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4 auf 10 Talente) und Bdellion (von 5 auf 7 Talente) sowie Malabathron, das 312 noch 2 Talente kostete, 329 hingegen 50 Talente.58 Amomum hingegen sank von 8 Talenten das Pfund auf 6 Talente.59 Neben den inflationären Entwicklungen könnte man also eventuell auch temporäre Lieferengpässe, höhere Trans­a ktions­kosten, Steuererhöhungen oder saisonbedingte Preis­ steigerungen vermuten, die die Preisbildung beeinflussten.60 Weitere Vergleichspreise für Pfeffer sind für das 4. Jh. nicht bekannt. Für das 5. Jh. ist uns eine Lebensmittelliste überliefert, die einen Preis von 100 Denaren für eine Unze Pfeffer angibt.61 Neben den Deklarationen der Berufsvereine finden sich in Oxyrhynchos auch detaillierte Listen zu Preisen von Grundnahrungsmitteln sowie von Gold und Silber.62 Angefertigt wurden Deklarationen und Preislisten im Büro des logistēs der Stadt, was zeigt, dass die Entschei­­dungs­ träger höchstmögliche Transparenz über die Handelsaktivitäten der Markt­teilnehmer der Stadt besaßen.63 Oxyrhynchos, das sich ebenfalls an der Handelsroute Koptos – Alexandria befand, verfügte im 4. Jh. folglich über einen organisierten Markt für Pfeffer, der neben einem Preisbildungs­ mechanismus auch entsprechende Aufsichtsorgane über das Marktgeschehen ausgebildet hatte. Was wir nicht wissen ist, wie der Pfeffer nach Oxyrhynchos gelangte. Ganz offensichtlich wurde er nicht von externen Händlern, also Importeuren, verkauft. Solche finden sich zum Beispiel im Tarif des Sarapeion-Markts im Oxyrhynchos des 2. Jhs. als solche, die ihre Ware verkauften, nachdem sie sie vorher eingeführt hatten (kai para tōn eisagontōn kai pōlountōn).64 Es ließe sich überlegen, ob Binnenhändler, wie sie oben für P.Oxy. I 36 identifiziert wurden, Städte entlang des Nils anfuhren und bei dieser Gelegenheit auch die tariflich festgelegten Zölle zahlen mussten. Die Berufsvereine besaßen die notwendigen Barmittel, um auch größere Mengen zu kaufen, und trugen durch ihre Mitglieder ein eventuelles Ausfallrisiko kollektiv.65 Unbeantwortet muss die Frage bleiben, wie oft neue Ware bezogen wurde. Die Deklarationen wurden zwar monatlich ausgestellt, doch können hieraus noch keine Aussagen zu Konsumptionsverhalten und Nachfrage getroffen werden. Pfeffer hatte die Eigenschaft, dass er sich gut lagern ließ, so hätte man ihn in größeren Mengen aufkaufen können, um ihn dann Unze für Unze zu verkaufen.

58 P.Oxy. LIV 3765, 34; 36 (327); 3733, 10 (312); 3766, 90; 92; 86 (329). 59 P.Oxy. LIV 3765, 35 (327); 3766, 91 (329). 60 P.Oxy. LIV 3766 wurde im Oktober verfasst, während die Deklaration 3733 im Mai eingegangen war. Transport auf den schiffbaren Flüssen in Ägypten war immer vom jährlichen Stand der Flut und den Winden abhängig. Für Berechnungen zur Schiffbarkeit und den Auswirkungen der Nilflut auf die Schifffahrt, s. Cooper 2015, 117–123; 125–142. Analog entwickelt Seland 2016, 57–61 hieraus Über­ legungen zur Organi­sation des palmyrenischen Handels, den sie in einem „annual cycle of Palmy­rene trade“ (fig. 10) visualisiert. 61 CPR VII 42 (V, unbekannt). 62 P.Oxy. LIV 3773 (340). 63 Für die Funktion des hypographeus beim Aufsetzen der Dokumente im Büro des logistēs s. z. B. P.Oxy. LIV 3733, Einleitung; 3766, Einleitung u. 92. 64 SB XVI 12695v, 20–21 (143, Oxyrhynchos). 65 Ein solches Beispiel wäre etwa die Bürgschaft des Aurelius Paulus für Aurelia Apollonia, Salbenhändlerin. Aurelius verpflichtete sich gegenüber dem Gildenvorstand im Falle ihres Verzugs der monatlichen Zahlungen in die Kasse des Vereins diese selbst zu tragen, P.Oxy. LV 5064 (392). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Potentielle Käufer und ihre Transaktionskosten Die Seite der Nachfrage an Pfeffer fassen wir vor allem in Privat- und Geschäftsbriefen. Ende des 4. Jhs. bittet Markianos Isak in seinem Brief, in Memphis 3 Unzen Pfeffer entgegen­nehmen zu lassen. Dies sei die Menge, die derzeit zu finden war, woraus allerdings nicht hervorgeht, ob der Pfeffer auch auf einem Markt in Memphis erworben worden war.66 Ein Geschäftsbrief zweier Handelspartner im Weingeschäft, der in Oxyrhynchos gefunden, doch vermutlich in einer der Oasen verfasst wurde, schließt mit der Bitte, man möge der nächsten Warensendung, wenn möglich, 2 Unzen Pfeffer beilegen.67 Der Absender fügt hinzu, der Preis werde dem Empfänger des Briefes vergütet werden. Man kann sich gut vorstellen, dass der Empfänger den Pfeffer für seinen Geschäftspartner auf dem Markt in Oxyrhynchos erwarb, vielleicht für ein Talent das Pfund, wie aus der Preisdeklaration der Salbenhändler für das Jahr 312 überliefert ist. Das eigene soziale Netzwerk diente jenen, die sich nicht in der Nähe eines Marktes befanden, dazu, Ware zu beziehen, bzw. sich über aktuelle Preise und vorhandene Mengen an Ware zu informieren. Das beste ‚institutional arrangement‘ für einen sparsamen Einsatz von Ressourcen wäre sicherlich der direkte Austausch zwischen Händler und Endverbraucher gewesen, doch ist dieser in den Papyri kaum belegt. Noch in frühislamischer Zeit nutzten Konsumenten ihr soziales Netzwerk, um über Dritte auf entsprechende Märkte zuzugreifen. So ist uns auf einem Ostrakon aus Theben von dem Eremiten Frange die Bitte überliefert, man möge ihm 10 Körner Pfeffer schicken.68 Da Pfeffer nicht überall und jederzeit verfügbar war, hatte der Käufer höhere Transaktions­ kosten auf sich zu nehmen, um das erwünschte Gut zu erlangen. Hierzu zählt u.a. der Auf­wand des Käufers, die für eine Kaufentscheidung nötigen Informationen zu beschaffen (Informations­ kosten), aber auch Verhandlungs- und Vertragskosten sowie schließlich Kosten der Kontrolle und Durchsetzung, die zum Austausch des Gutes führten.69 Aus dem erwähnten Beispiel des Strategen Apollonios wird etwa ersichtlich, dass falsche Vorstellungen des aktuellen PreisLeistungsverhältnisses dazu führen konnten, dass ein Vertragsabschluss nicht zustande kam. Apollonios, der sich 200 km vom Markt in Koptos entfernt befand, hatte seiner Bestellung klare Preisvorgaben mitgeliefert, die jedoch dem aktuellen Marktpreis – der den Angaben des Schreibers zufolge täglich wechselte – nicht mehr entsprachen.70 Der Kauf durch den Unterhändler kam aufgrund der Diskrepanz nicht zustande. Es wäre interessant zu wissen, warum Apollonios sich für den Markt in Koptos entschieden hatte. Möglich wäre einerseits, dass zu seiner Zeit (2. Jh.) Koptos der einzige Markt für Fernhandelsware in Mittel­ägypten war. Andererseits, dass er nach Preisvergleichen diesen als den günstigsten ausgemacht hatte. Unbekannt ist zum Beispiel, wie sich die Entrichtung von Zöllen an der Zollgrenze zwi-

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P.Ross. Georg III 9 (375–399, unbekannt). P.Oxy. XXXIV 2728 (312–318, Oxyrhynchos), zum Ort BL XI, S. 164. O.Frange 101 (VIII, Theben). Zu Transaktionskosten Richter – Furobotn 2010, 55–86 sowie zu den Transaktionsaktivitäten vor, während und nach Vertragsabschluss s. ebd., 344–389. 70 P.Giss. Apoll. 6,17–21 (115): „Das kupferne Kännchen hätte ich Dir inzwischen geschickt, wenn es für 24 Drachmen zu haben gewesen wäre; willst Du es aber für 40 Drachmen kaufen lassen – dafür sagt der Künstler auf Zureden zu, es zu geben – teile es mir mit. Die 24 Drachmen aber, die Du hierfür gegeben hattest, habe ich Dir geschickt“ und Z. 29 „wie Du weißt, wechseln die Preise in Koptos täglich“ (Übers. Kortus). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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schen Heptakomia und dem Delta, wo u.a. die Abgabe ,für den Hafen von Memphis‘ (limenos Mempheōs) entrichtet wurde, auf die Preise ausgewirkt hatte.71 Das Bestreben der antiken Zeitgenossen, über Preise auf dem Laufenden zu bleiben, lässt sich anhand von Papyri und Inschriften ablesen.72 Lange Informationsketten bedingten jedoch immer wieder Informationsengpässe, wie das Beispiel des Soldaten Albucius aus Phoinikon zeigt. Albucius bat seine Kontaktpersonen in Didymoi mehrfach um Informationen darüber, wie Pfeffer derzeit gehandelt wurde, erhielt diese aber offenbar nicht.73 Konflikte konnten sich nicht nur bei der Anbahnung eines Geschäfts ergeben, sondern auch bei der Durchführung. Dies lässt sich gut an einem Beispiel aus der frühislamischen Zeit aufzeigen, wo es in einem Privatbrief heißt ouk edexametha de to piperin – „wir haben den Pfeffer nicht erhalten.“74 Hinzu konnten zudem hierarchische Indifferenzen kommen, die sich zwischen dem Auftraggeber und dem Durchführenden ergaben (Prinzipal-Agent-Konflikt) und die letztlich zu einer Nutzenmaximierung des Agents führen konnten (Opportunismus).75 So etwa überliefert in einem koptischen Brief aus der Mitte des 4. Jhs, der vom südägyp­ tischen Philae nach Qaṣr Ibrīm in Unternubien gesandt wurde.76 Hierin erkundigte sich Mouses bei seinem Herrn und Bruder Tentani, der aus anderen Briefen als Phylarch77 der Nouba bekannt ist, ob die Purpurfarbe (kopt. tšēke), die er durch Apa Hapi gesandt hatte, angekom­men sei.78 Zugleich berichtet Mouses, dass der Pfeffer, den Tentani nach Philae hat senden lassen, sowie weitere Güter, die er durch Apa Hapi nach Asyūṭ (Lykopolis) schicken ließ, von Bruder Pap­noute an sich genommen worden seien, bevor Mouses sie hatte verkaufen können.79 Dies brachte Mouses entschuldigend für das Versäumnis vor, noch keine Art der Anerken­nung zu Ten­tani geschickt zu haben. 71 In Memphis grenzte eine Zollstation den Zollbereich der Heptanomia von dem des Delta ab. Zahlreiche Torzollquittungen zeugen von der Abgabe, die man ,für den Hafen von Memphis‘ zahlte, s. P.Custom und Jördens 2009, 373–377. 72 Gerade um die Mitte des 4. Jh., das von instabilen Preisen beherrscht war, spiegelt sich die Unsicherheit über Preise in den Papyri etwa durch die Weitergabe von exakten Preisbewegungen wider, so z.B. in P.Oxy. XXXIV 2729 (Mitte IV, Oxyrhynchos) oder XLVIII 3401 (ca. 355, Oxyrhynchos). Marktpreise wurden aber auch schon früher beobachtet, wie zum Beispiel die Ehrung eines Gymnasiarchen zeigt, der in hadrianischer Zeit Getreide oft günstiger als der Marktpreis verkauft habe, Tod 1918/1919, Nr. 7 (Hadrianisch, Lete [Makedonia]). Für Preise im römischen Ägypten Drexhage 1991b. 73 O.Did. 327 (77–92, Didymoi); 328 (77–92, Didymoi). Die Herausgeberin der Briefe vermutet, dass sich die Adressaten in Didymoi befunden haben, wo die Ostraka gefunden wurden, s. Didymoi 327, Einleitung. 74 CPR XIV 53,14 (frühes VIII, unbekannt). 75 Zur Prinzipal-Agent-Theorie s. Richter – Furubotn 2010, 173–181. Zu Prinzipal-Agent-Problemen im Fern­handel, s. Warnking 2015, 98–111 und speziell für den Handel im Roten Meer, s. Ruffing 2013. 76 FHN III 322 (ca. 450, Qa ṣr Ibrīm). Der folgenden Besprechung liegt die Neuedition des Briefes von Joost Hagen zugrunde, die in seiner Dissertation publiziert werden wird. Ich danke J. Hagen an dieser Stelle dafür, dass er mir seine vorläufige Übersetzung zur Verfügung gestellt hat. 77 Die Titel phylarchos, basiliskos und basileus sind schwierig voneinander abzugrenzen, s. FHN III 317, 10–12; 339, 10; 14; 1150, Anm. 777 und die Besprechungen bei Dijkstra 2014, 317–319 u. 2008, 154; 167–169. Vermutlich war der phylarchos hierarchisch unter dem König angesiedelt und als Stammesanführer eher auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt. In römischer Terminologie konnte der Titel zudem seinen Träger als Stammesführer einer Gruppe von foederati kennzeichnen, s. Mayerson 1991. 78 Crum 1939, 801a: ϫⲏϭⲉ = purple; für Belege in den Papyri zu Purpurhändlern, s. Drexhage 1998. Zum Staatsmonopol in byzantinischer Zeit, s. Reinhold 1970. 79 So nach der vorläufigen Neuedition von J. Hagen, s. Anm. 76. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Die Frage, wie der Pfeffer nach Qaṣr Ibrīm kam, ist schwer zu beurteilen. Pfeffer gelangte über die Rotmeerhäfen nach Ägypten, wobei sich ab dem 3. Jh. strukturelle Veränderungen ergeben hatten. Myos Hormos war aufgegeben und Berenike erlitt einen temporären Einbruch ab der Mitte des 2. Jhs. Mitte des 4. Jhs. war Berenike jedoch wieder zu neuer Bedeutung gelangt und dortige Pfefferfunde aus dem 5. und 6. Jh. zeigen, dass weiter mit aktivem Pfefferhandel über Berenike gerechnet werden kann.80 Wäre der Pfeffer, den Tentani versandt hatte, jedoch über Berenike und die östlichen Wüstenrouten nach Qaṣr Ibrīm gelangt, hätte die Ware auf ihrem Weg in den Süden auch Philae passiert. Es könnte überlegt werden, ob der Pfeffer über einen Hafen südlich von Berenike nach Qaṣr Ibrīm gelangte. Doch aufgrund der Größe der Schiffe, in denen Pfeffer transportiert wurde, käme nur Adulis an der eritreischen Küste in Frage, was zu weit entfernt lag.81 Die Möglichkeit, dass der Pfeffer als Teil eines diplomatischen Geschenks zur Stärkung der politischen Beziehungen zwischen Ägypten und Nubiern gesandt wurde, ist somit sicher zu favorisieren.82 Dieser hätte Tentani wiederum zur Stärkung von Kontakten innerhalb seines persönlichen Netzwerkes dienen können, was an der durch Un­ ruhen und Stammes­kämpfen geprägten Grenze nicht unwichtig gewesen sein dürfte.83 Dieser grenzübergreifende Güteraustausch am limiton Ägyptens ist in vielerlei Hinsicht be­ merkens­wert. Internationale Handelskontakte waren für die nubischen Eliten zur Stabi­lisierung ihrer machtpolitischen Position von essentieller Bedeutung. In beein­druckender Weise lässt sich dies an den diplomatischen Geschenken nachvollziehen, die man in den königlichen Gräbern in Qustul und Ballaña gefunden hat.84 Ob der Austausch zwischen Tentani und Mouses politisch konnotiert war, ist jedoch nicht einfach zu beurteilen. Mouses grüßte Tentani nicht in dessen Funktion als Phylarch, sondern als Bruder (kopt. son). Und auch die Grußformel „Greetings in the Lord“ sowie bis zu einem gewissen Grad die Titel und Namen der Beteiligten (Api Hapi

80 Cappers 2006, 161, Tab. 6.2. Zu Kontexten aus dem 5.–6. Jh. sind zudem die Funde aus dem nahen Shen­ shef mitgerechnet. Zu Handel im 3. Jh. und Berenike in byzantinischer Zeit, s. Sidebotham 2011, 161; 221; 259. 81 Pfeffertransporte erfolgten in „großen“ Schiffen, so wie es die Hermapollon gewesen ist, die im 2. Jh. etwa 625 t Frachtgut von Muziris nach Ägypten transportierte; für die Kalkulation des Frachtgewichts, s. De Romanis 2012, 89 und die Besprechung auf 75–77. Kosmas Indikopleustes 1897, II 51 (139) nennt Adulis im 6. Jh. einen der bedeutendsten Häfen im Roten Meer, über den u.a. auch Gewürze aus Indien importiert wurden. Adulis verband Aksum, die Hauptstadt des aksumitischen Königreiches, mit dem Roten Meer und dem Indischen Ozean. Wie weitreichend die aksumitischen Handelskontakte waren, zeigt sich an der Keramik, die in Aksum gefunden wurde: importierte Ware aus der Zeit zwischen 50 v.Chr. und 350 n.Chr. stammt größtenteils aus dem mediterranen Raum und umfasst neben African Red Slip auch Amphoren gallischen Typs. Für die Zeit zwischen 350 und 800 n.Chr. dominieren Amphoren aus Ayla (Aqaba), wobei zudem post-meroitisches und blau-grünes, sassanidisches Material gefunden wurde. Aksumitische Münzen, dipinti und Keramik lassen sich wiederum in den Rotmeerhäfen und bis in die Levant belegen. Christliche Symbole auf Amphorendeckeln sowie Fragmente von Menas-Ampullen legen Handels- und Pilgernetzwerke zu den Klöstern in Ägypten nahe, hierfür sowie für Funde aus Adulis, die sich in Museumssammlungen befinden, s. Zazzaro 2013, 9; 31–98; 100 und Power 2012, 49. 82 Ich danke P. Rose für diese Anmerkungen und die hilfreichen Erklärungen zur Grabungssituation in Qa ṣr Ibrīm. 83 Für die politisch instabile Lage bedingt durch die Spannungen zwischen Byzanz, den blemmyschen und nubischen Stämmen, s. Obłuski 2013 u. 2008; Dijkstra 2008, 139–146 u. 2012. 84 Obłuski 2008, 608 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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u­nd Bruder Papnoute) lassen eher ein religiöses Umfeld vermuten.85 Die in Kürze erscheinende Neuedition des Briefes von J. Hagen zeigt zudem, dass der Kontakt nicht nur die sozialen Verbindungen stärken sollte, sondern auch deutlich kom­merzielle Züge besaß. So sollte der Pfeffer, den Tentani nach Philae gesandt hatte, verkauft werden. Ob es in Philae einen organisierten Markt für die Abnahme gab, wie etwa im Falle von Oxyrhynchos, geht aus dem Schreiben nicht hervor; auch nicht, ob die Ware an der Grenze verzollt werden musste. Die Funde von Pfeffer in Qaṣr Ibrīm lassen – mit bislang nur einem Korn – jedoch schlecht an ein organisiertes Handelsnetzwerk denken.86 Viel eher steht zu vermuten, dass auch in diesem Fall soziale Kontakte dazu dienten, sich dort, wo es keinen organi­sierten Markt gab, mit Ware zu versorgen. Wie weitreichend dieses Netzwerk in der Mitte des 5. Jhs. war, ist beeindruckend, denn Mouses spricht von Verbindungen von Qa ṣr Ibrīm bis Asyūṭ (Lykopolis). Derartige engmaschige Verbindungen dürften sicher durch die rasche Aus­brei­tung des Christentums in dieser Region gefördert worden sein. Aus den dokumentarischen und literarischen Quellen geht hervor, dass sich bereits früh um Philae und Syene eine christliche Gemeinde ausgebildeten hatte. So berichtet etwa schon die Historia Monachorum in Aegypto, eine monastische Hagiographie aus dem späten 4. Jh., von einer Vielzahl von Mönchen in der Umgebung von Syene.87 Die beiden ersten namentlich bekannten Bischöfe, Neilammon von Syene und Macedonius von Philae, sind als Teilnehmer für das Konzil von Serdica im Jahr 343 belegt, doch könnten Bischofssitze in Philae und Syene vermutlich schon in den späten 330er Jahren existiert haben.88 Welchen macht­politischen Einfluss die Kirche bereits in der ersten Hälfte des 5. Jhs. (425–450) in der Gegend an der ägyptischen Grenze ausübte, wird aus einem Brief des Bischofs Appion von Syene deutlich.89 Appion bat die Kaiser Theodosius II und Valentinian III (425–450) um den Schutz seiner Kirchen in der Region, die in der Vergangenheit Opfer von Plünderungen durch die Nubades und Blemmyer geworden seien. Er fordert zudem, dass die Soldaten in der Gegend unter seine Aufsicht gestellt werden sollten, so wie es auch für die Kirchen in Philae der Fall sei.90 Die Rolle von Kirche und Staat beim Handel mit Pfeffer Die Kirche spielte auch im Fernhandel eine nicht unwesentliche Rolle. Ihre physische Präsenz lässt sich in den Rotmeerhäfen bereits seit dem frühen 4. Jh. nachweisen. So ist für das frühe 4. Jh. eine Kirche für Ayla belegt, für das späte 4 Jh. in Abū Sha‘ar und für das 5. Jh. eine Basilika in Berenike.91 Die kommerzielle Rolle der alexandrinischen Kirche im Mittelmeerhandel lässt sich auch aus einer Passage in Life of John the Almsgiver ersehen, des Patriarchen von Alex­ andria von 610–620 n.Chr. In Kapitel 28 heisst es, dass die Kirche über ein Dutzend Schiffe 85 Der Titel Apa musste jedoch nicht immer von einem Mönch geführt werden, s. Derda, Wipszycka 1994. Für einen christlichen Charakter des Briefes spricht sich zudem Dijkstra 2008, 60 m. Anm. 55 aus. 86 Der Fund eines Pfefferkorns (piper nigrum) in Qaṣr Ibrīm datiert in post-meroitische Zeit (300–550 n.Chr.), s. Clapham – Rowley-Conwy 2007, 160, Tab. 3 u. 162. Ich danke A. Clapham für seine hilfreichen Ausführungen. 87 Hist Mon. Ep. 1; Dijkstra 2008, 61. 88 Dijkstra 2008, 55 u. 359, App. 4; Ath. apol. sec. 49,3. 89 FHN III 314 (425–450, Syene). 90 Über militärische Autorität eines Bischofs in einer Stadt, die der eines vicarius gleichkommen konnte, s. Schmelz 2002, 292. 91 Tomber 2007, 220; Parker 1999 u. 2000; Sidebotham 1994, 136–146; Side­botham – Wendrich 2001/2002, 32–34, besprochen bei Power 2012, 26–27. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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mit einer Ladekapazität von 10.000 modii verfügt habe, sowie über solche mit doppeltem Fassungs­vermögen (Kapitel 11).92 Der Überlieferung zufolge, habe die Kirche hierdurch sowohl Handel mit Getreide (Kapitel 8) als auch mit Kleidung, Silber und anderen hochwertigen Gegen­ständen (Kapitel 28) betrieben. Vom Pfefferhandel profitierte nun nach Angaben des Liber Pontificalis, einer Sammlung von Papstbiographien, auch St. Peter in Rom. In der Biographie Papst Silvesters (314–335), die vermutlich in der ersten Hälfte des 6. Jhs. verfasst wurde, wird von Schenkungen berichtet, die Konstantin u.a. der Peterskirche in Rom hatte zukommen lassen.93 Hierzu zählten Ländereien, die Abgaben in Naturalien zahlten, in einem Fall 50 medimni (= 2.620 Liter) Pfeffer (Kapitel 20).94 Die Identifizierung jener Besitzung, die Pfeffer zahlte, bereitet allerdings Schwierigkeiten. Laut Liber Pontificalis handelte es sich hierbei um den Besitz eines gewissen Passinopolimse. Der Name findet sich weder in der PLRE noch in der prosopographischen Datenbank von Trismegistos.95 Der Besitz soll sich (Kapitel 20) per Aegyptum, sub civitatem Armenia befunden haben. Für Ägypten lässt sich keine Stadt Armenia nachweisen, wohl aber ein Armant (= Hermonthis), das bereits um 325 Bischofssitz gewesen war.96 Pfeffer wurde, vermutlich als steuerliche Abgabe, auch von nomoi der Thebais eingefordert. In einer Auflistung aus dem 4. Jh., die eine Lieferung von Naturalien nach Alexandria verzeichnet, erscheint Pfeffer ohne Preisangabe neben Textilien, Aromata und Gewürzen.97 Der Antaio­polites stellte 146 Pfund Pfeffer, der Lykopolites ist mit 70 Pfund Pfeffer verzeichnet. Auch hier bleibt unklar, wie der Pfeffer in den Besitz der nomoi gelangte, bzw. welche Personen, Familien oder Gruppierungen abgabepflichtig waren. Der Herausgeber des Textes sieht hier eine Verbindung zu einem Monopol auf Pfeffer und Aromata, das in der Kaiserzeit existiert habe. Die Rolle des Staates ist beim Handel mit Pfeffer in der Tat schwierig gesamt­heitlich zu eruieren. Wie dargelegt, bezog er einen beträchtlichen Teil aus Zöllen und tariflichen Abgaben auf Pfeffer. Zusätzlich sicherte er sich Abgaben in Natura, wozu neben dem gerade genannten Beispiel auch eine Abgabenliste aus dem Hermopolites des 4. Jhs. und eventuell eine fragmentarische Abrechnung aus dem Elephantine des 4./5. Jhs. zu zählen ist.98 Ein Verkaufs- oder Nachfragemonopol auf Pfeffer ist in den Quellen so zwar nicht belegt, doch wird mit M. Rostowtzeff für das 2. Jh. ein Verkaufsmonopol auf Salben und Aromata angenommen, das s­ich in einer Afterpacht des Verkaufsgeschäfts äußerte.99 Der von ihm genannte

92 The Life of John the Almsgiver zitiert nach Mango 2001, 26–28. 93 Liber Pontificalis (Duchesne 1886, XXXIV 19–20 [Latein]; Davis 2010, 19–20 [Englisch]). Für das Datum bzw. die Daten der Abfassung s. Davis 2010, xlv–xlvii; Duchesne 1877, 1–5. 94 Vgl. aber auch die Besprechung bei Seland 2012, 119, Anm. 16, die eine Quantität von über 2.600 Litern für zu hoch hält und mit Verweis auf Geertman, H., Hic fecit basilicam. Studi sul „Liber Pontificalis“ e gli edifici ecclesiastici di Roma da Silvestro Silverio, Leuven 2004, 180 statt 50 medimni 50 modii lesen möchte. 95 Duchesne 1886, 178 gibt im Kommentar zu Z. 21 folgende Möglichkeiten für die Lesung des Eigennamens: Passinapolimse; Passinopolimre; Passinopolimsemper; Passinopolimpse. Nicht auszuschließen ist jedoch auch der Name einer Stadt. Panopolis käme als ägyptische Stadt vielleicht in Frage, wobei in diesem Fall jedoch das Argument für Hermonthis als übergeordnetem Verwaltungsbereich nicht mehr zutreffen kann. 96 Timm 1984, I 153 f. 97 PSI XII 1264 (IV, unbekannt). 98 P.Turner 47 (IV, Hermopolites); O.Eleph.DAIK 317 (IV/V, Elephantine). 99 Rostowtzew 1908; P.Fay 93 (161, Arsinoites). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Beleg stammt aus dem arsinoitischen Themistesbezirk und ist die einzige Quelle dieser Art.100 In Oxyrhynchos waren es im 4. Jh. die Salbenhändler, die den Pfeffer verkauften, so dass man geneigt wäre, eine allgemein geltende Regelung zu formulieren, die ein Verkaufsmonopol auch für Pfeffer annimmt. Aus einem unlängst von A. Benaissa veröffentlichten Papyrus wissen wir jedoch, dass im Oxyrhynchos des 2. Jhs. nicht das Verkaufsgeschäft der Salbenhändler ver­ pachtet wurde, sondern das Recht, den vierten Teil aus dem Verkauf von Salben (myrou tetartē) zu erheben.101 Auch wenn also in Oxyrhynchos schon im 2. Jh. der Verkauf von Pfeffer in den Verantwortungsbereich der Salbenhändler gefallen wäre, läge in diesem Fall kein Verkaufs­ monopol seitens des Staates vor, Für die frühislamische Periode Ägyptens, genauer das frühe 8. Jh., wird auf Basis der literarischen Quellen eine erneute Monopolisierung des Pfefferhandels seitens der Zentralgewalt angenommen. Unsere Hauptquelle hierfür, ‛Abd al-Ḥakam (9. Jh.), berichtet, Usāma b. Zayd habe als Schatzmeister (714–717) für 20.000 Denare Pfeffer von Mūsa b. Wardān angekauft und im Haus des Pfeffers (dār al-filfil) in Fusṭ āṭ gelagert.102 Zweck dieser Investition sei es gewesen, den Pfeffer dem ṣā ḥib al-Rūm zu offerieren, dem Kaiser in Konstantinopel. Eine Geste, die, wenn sie Historizität beansprucht, den Muslimen eine Monopolstellung im Handel mit Pfeffer eingeräumt hätte. Sie erinnert zudem an das, was Prokopius (ca. 500–562) über die exponierte Stellung der Perser im Seidehandel berichtet. Persische Händler hätten im 6. Jh. in den Häfen entlang der Indienroute ganze Schiffs­ladungen an Seide aufgekauft, um sie an die Byzantiner mit Gewinn weiterzuverkaufen.103 100 Zur Unterstützung des Arguments für ein staatliches Verkaufsmonopol auf Aromata zog Rostowtzeff 1908, 314 einen Tonstempel mit der Aufschrift arōmatikēs tōn kyriōn Kaisarōn heran. Dieser sollte dem Käufer zeigen, „daß die in den mit dem Stempel versehenen Krügen verpackte Ware die kaiserliche Monopolware war, daß also jeder das Produkt, ohne Angst verhaftet zu werden, kaufen konnte.“ Wenn die Ware nun aber explizit als die des kaiserlichen Anbieters gekennzeichnet worden wäre, müsste man davon ausgehen, dass es auch andere Anbieter gab. Zudem dürfte man in diesem Fall vermuten, dass die kaiserliche Ware die marktbeherrschende gewesen wäre, was sich auch in einer angemessenen Quantität dieser Art von Stempelinschriften hätte niederschlagen müssen. Zu Rostowtzeffs Zeit waren allerdings gerade einmal zwei dieser Aufschriften bekannt, beschrieben in Wilcken 1906, 192. 101 Benaissa 2016. Die Lesung Z. 19 f. [tēs poleōs] trapezan ist jedoch eher abzulehnen wie A. Benaissa in persönlicher Kommunikation (Email vom 3.2.18) mitteilte. In der Tat existierte in Oxyrhynchos im 2. Jh. keine städtische Bank dem Namen nach. Für die Stadtkasse finden sich in den Papyri die Begriffe politikos logos, bzw. ho tēs poleōs logos, der von einem tamias administriert wurde, s. Schmidt 2014, bes. 60–64. Eine politika trapeza ist für das späte 3. / frühe 4. Jh. belegt, doch wird allgemein davon ausgegangen, dass der betreffende politikos trapezitēs den staatlichen dēmosios trapezitēs in seiner Funktion ersetzte, s. P.Oxy. XLIV 3189, 1–2 (sp. III, fr. IV). Die staatlich verwaltete dēmosia trapeza ist in Oxyrhynchos schon im 1. Jh. belegt, s. P.Oxy. IV 835 (13 n.Chr.). Zudem existierte dort eine vom Staat an Privatleute verpachtete trapeza, die nahe des Serapeions gelegen war, s. etwa SB VI 9296 (153–161 n.Chr.) und SB VI 9372 (2. Hälfte II), hierzu Kießling 1957, 347. Die Bezeichnung für letztere wäre jedoch zu lang für die Lücke in Z. 19 (vgl. SB VI 9296, 9 ff.: trapezitōn tēs epi tou pros Oxyrygchōn polei Sarapeiou trapezēs), so dass dort wohl [dēmosian] zu ergänzen sein dürfte, was auch besser zur Überweisung einer Steuerkonzession passt. Ich danke A. Benaissa für den fruchtbaren Austausch über die Thematik. 102 Ibn ‛Abd al-Ḥakam (Torrey), 98 f.; Hilloowala 1998, 88. 103 Prokopius (Dewing) 1,20,1; 9–12: „At that time, when Hellestheaeus was reigning over the Aethiopians, and Esimiphaeus over the Homeritae, the Emperor Justinian sent an ambassador, Julianus, demanding that both nations on account of their community of religion should make common cause with the Romans in the war against the Persians; for he purposed that the Aethiopians, by purchasing silk from India and selling it among the Romans, might themselves gain much money, while causing the Romans to profit © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Für die Monopolisierung von Pfeffer durch die Muslime ließen sich einigen Forschern zufolge erste Tendenzen bereits kurz nach der arabischen Eroberung erkennen. Eine koptische Anerkennung (homologia), die vermutlich in das Jahr 649 datiert, zeigt eine diesbezüglich interessante Funktion der Berufsvereine von Apollinopolis Magna (Edfou) bei einem Zwangsankauf von Pfeffer.104 Kurze Zeit nach der arabischen Eroberung Ägyptens 642 n.Chr. bestätigten die Berufsvereine der Stadt dem Pagarchen Liberius, dass sie den Pfeffer, den man ihnen zugewiesen hatte, erhalten hätten. Es heisst dort zudem, dass der Bischof der Stadt bei der Verteilung eine nicht näher ausgeführte Rolle gespielt habe.105 Die Vereine verpflichteten sich dazu, den Pfeffer nur an die Wohlhabenden ihres Berufsstandes zu verteilen und den Preis (timē) entsprechend dessen, was jedem zufällt und des jeweiligen Vermögens zu zahlen. Auf diese Weise wurden insgesamt 600 Pfund Pfeffer an die Berufsvereine verteilt, wobei der fragmentarische Text nur 156 Pfund, also etwa ein Viertel, an die erhaltenen Zünfte wiedergibt. Die Vereine, hierunter Töpfer, Walker, ...-arbeiter(?), Steinhauer(?), Schiffer, Schuster, Maurer, Flickenschneider, Ärzte, Ölhändler, Sticker und Schmiede, zahlten pro Pfund 1∕6 nomisma, wobei die Schiffer mit 36 Pfund den höchsten Anteil trugen. Gleich mehrere Fragen stellen sich bei der Lektüre des Texts: Warum ließen die neuen Macht­haber – im Dokument vertreten durch den arabischen Statthalter (symboulos) ‛Abd Allāh – Pfeffer unter den Berufsvereinen von Edfou verteilen? Und wie war der Pfeffer in den Besitz der Muslime gelangt? Berenike hatte im 7. Jh., in der Zeit, in die das Dokument letztlich datiert wird, seine Akti­ vität bereits eingestellt. Der muslimische Hafen ‛Aydhab, der südlich von Berenike lag, könnte bereits im 7. Jh., infolge der arabischen Eroberung Ägyptens gegründet worden sein.106 Es ist jedoch zweifelhaft, ob Waren hierüber b­ereits Ende der 640er Jahre aus dem Indienhandel importiert wurden.107 In die 640er Jahre fällt gemäß der literarischen Tradition zudem die muslimische Invasion des Hafens Adulis, die sich Einigen zufolge auch archäologisch widerspiegele. Die vollständige Zerstörung des Hafens wird aufgrund von Münzfunden, die um das in only one way, namely, that they be no longer compelled to pay over their money to their enemy. (...) For it was impossible for the Aethiopians to buy silk from the Indians, for the Persian merchants always locate themselves at the very harbours where the Indian ships first put in, (since they inhabit, the adjoining country), and are accustomed to buy the whole cargoes“. 104 KSB I 242. Für die Datierung und die Person des dux der Thebais, Damianus, s. CPR XXX 16, S. 199. 105 KSB I 242, 10–20: „Da man uns Pfeifer (peperin) auferlegt hat, bis (zum Betrag von) 6 Zentnern kentēnarion), auf daß du sie unter uns verteilest (dianemein); dieselben also (oun) hast du (bereits) unter uns verteilt (dian.), in der Furcht Gottes, und hast uns den Anteil (meros) eines jeden von uns auferlegt, an der Hand Apa Theodors, des frommen Bischofs (theotimētos episkopos). Eben diese nun (oun) erklären wir (homologein) erhalten zu haben, und sind wir bereit (etoimos), dieselben unter uns zu verteilen. (Und wir erklären), daß wir (sie) einem Armen auf (kata) keinen Fall auferlegen werden und (daß) wir ihren Preis (timē), gemäß (pros) dem was einem jeden von uns zufällt, nach (pros) dem Vermögen (euporia) eines jeden, zahlen werden.“ (Übers. Crum 1925, 106). 106 Power 2012, 97 f. 107 Der erste Hinweis auf Pfeffer, der über den Hafen ‛Aydhab importiert wurde, ist ein arabischer Papyrus aus dem 13. Jh., s. P.Heid. Arab. II 69 (unbekannt). Dort heisst es (Z. 10–12): „Was ich Dir dringend rate, ist, Deine Angelegenheiten entschlossen in die Hand zu nehmen und Dich nicht auf freundliches Zureden zu verlassen. Bemühe Dich ernsthaft! Ich fürchte nämlich, daß dieser Abū l-Karam es darauf anlegt, Dich immer wieder zu vertrösten, denn wenn er Dir eine Anweisung auf den in ’Aydāb liegenden Pfeffer gibt, dann bedeutet dies einen Aufschub.“ Neben Aydāb erscheint im 13. Jh. auch Quṣayr, nahe des ehemaligen Berenikes, als Einfuhrhafen für Pfeffer, s. P.QuseirArab I 60 (Quseir). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Jahr 700 datieren, mittlerweile ausgeschlossen; die Historizität der muslimischen Invasion wird jedoch aufrechterhalten.108 Doch selbst wenn wir annähmen, dass die Lager in Adulis bei dieser Gelegenheit hätten geplündert werden können, ist es unwahrscheinlich, dass die Muslime Pfeffer, den sie Jahre zuvor in Adulis erbeutet hatten, nach Edfou transportierten, um ihn dort zu verteilen. Die naheliegendere Möglichkeit für die Herkunft des Pfeffers ist wohl, dass sich dieser bereits in oder um Edfou befunden hatte. Wie erwähnt, zahlten verschiedene nomoi Abgaben an Staat und Kirche in Pfeffer. In der Anerkennung der Berufsvereine fällt nun besonders die Beteiligung des Bischofs ins Auge, durch dessen Hilfe die Verteilung des Pfeffers vonstatten ging. Möglich wäre, dass der Pfeffer Bestandteil von Naturalabgaben jetzt enteigneter kirchlicher Ländereien Edfous war.109 Die homologia stellt also nicht zwingend einen Beleg für ein Pfeffermonopol in früh­islamischer Zeit dar; es könnte sich dabei schlicht um eine Requisitionsleistung seitens der Kirche gehandelt haben. Der Pfeffer sollte zu Geld gemacht werden und die Berufsvereine verfügten sowohl über die nötigen Barmittel, als auch über umfangreiche soziale oder kommerzielle Netzwerke, um durch den Verkauf wieder Profit zu erzielen. Zusammenfassung Märkte für Pfeffer gab es nicht überall in Ägypten. Koptos scheint zumindest für das 2. Jh. ein bevorzugter Markt gewesen zu sein, da Apollonios ihn aus 200 km Entfernung dem in Alex­ andria vorzog. Für das 4. Jh. sind lokale Märkte für Pfeffer in Oxyrhynchos und Alexandria belegt, wobei eventuell auch Memphis hinzugezählt werden kann. Potentielle Käufer von Pfeffer nutzten ihre sozialen Netzwerke, um sich über aktuelle Preise und Mengen der Ware zu informieren und verschafften sich über Dritte Zugriff auf für sie nicht, oder nur schwer zugängliche Märkte. Zur Benutzung des Marktes entstanden ihnen Transaktionskosten (Such- und Informations­kosten; Verhandlungs- und Entscheidungskosten; Überwachungs- und Durch­ setzungskosten; Investitionen in Sozialkapital), zu denen aufgrund langer Informations­ketten auch Informationsprobleme hinzutreten konnten, die den Vertragsabschluss beeinflussten. Diese Netzwerke, die durch Nachfrage formiert wurden, waren jedoch insofern flexibel, als Akteure für die Anbahnung oder den Abschluss eines Vertrags zwischen mehreren institutional arrangements wählen konnten. Zeigen ließ sich dies etwa an Albukius, der Informationen auch von anderen Personen seines Netzwerkes bezog, oder an Apollonios, der statt Koptos auch Alexandria als Bezugsort hätte wählen können. Pfeffer konnte zudem als diplomatisches Geschenk in nicht formalem Marktaustausch identifiziert werden, wie etwa das Beispiel des Tentani zeigte. Der Güteraustausch diente dort in erster Linie nicht kommerziellen Zwecken, sondern der Stärkung des eigenen Netzwerkes und der Machtposition. Charakteristika dieser Prestigenetzwerke sind hohe Investitionskosten in Sozialkapital und eingeschränkte Mög­ lichkeit bei der Wahl des jeweiligen institutional arrangements. Zuletzt ließen sich vertikale Netzwerke ausmachen, in denen Staat und Kirche durch die Erhebung von Steuern und Pachten auf Ressourcen aus dem Importgeschäft zugriffen und in großem Umfang eine Nach­ frage auf entsprechende Produkte generierten. Da Steuern und Abgaben in Natura wieder li108 S. die Besprechung bei Power 2012, 93 m. Verweis auf Anfray 1974, 753; Tomber 2008, 161; Peacock – Blue 2007, 37; 56–64; Peacock 2007, 95–102; Munro-Hay 1982; al-Balādhurī 1924, 431–432; al-Ṭabarī 1879–1901, I 2546–2548; 2595. 109 Eine Requisition von Pfeffer unter den neuen Machthabern ist vermutlich auch in P.Apoll. 94 (2. Hälfte VII, Edfou) dokumentiert. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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quide gemacht werden mussten, dürften sie zudem auch zu den größten Anbietern von Import­ produkten gezählt haben. Kommerzielle Anbieter von Pfeffer waren tariflichen Regelungen unterworfen, die, soweit sich dies nachvollziehen lässt, Steuern für die Einfuhr, Transportkosten und eventuell Lagerkosten in den öffentlichen Magazinen umfassten. Im Binnenhandel kamen noch Zollgebühren für die Überführung der Ware von einem Zolldistrikt zum nächsten hinzu sowie Zölle bei Import in eine Stadt oder einen nomos. Von diesen Händlern im Binnenverkehr dürften sich jene unterschieden haben, die die Ware auf einem Markt vertrieben. In Oxyrhynchos waren dies die Salbenhändler, die wiederum der Marktaufsicht des logistēs der Stadt unterworfen waren. Auch beim Verkauf des Pfeffers dürften dem Anbieter noch zusätzliche Kosten entstanden sein. Dies jedoch nur unter der Prämisse, dass für den Verkauf von Pfeffer dieselben Bestimmungen galten wie für den von Salben oder Aromata. Für das 2. Jh. ist für Oxyrhynchos eine 25-prozentige Steuer auf den Salbenverkauf überliefert; für den Arsinoites dürfte die Konzession auf den gesamten Handel mit Salben und Aromata gezahlt worden sein. Auch die neuen, muslimischen Machthaber wussten die Ressource Pfeffer für sich zu nutzen, wie der Zwangsankauf der Ware durch die Berufsvereine von Edfou zeigt. Die Erfolgsgeschichte des Pfeffers endete jedoch nicht mit der arabischen Eroberung oder einem vermeintlichen Zusammenbruch des Handels im Mittelmeer. Das Be­dürfnis nach Pfeffer war weiterhin treibende Kraft jenes kommerziellen Austauschs, in den sich ab dem 10./11. Jh. Venedig, ab dem 16. Jh. auch Portugal als Globalplayer einschalteten. Aber das ist eine andere Geschichte. Von der Antike bis zur frühen Neuzeit war der Besitz von Pfeffer ein Zeichen großen Reich­ tums. In diesem Sinne wünsche ich dem Jubilar, dass der häusliche Bestand dieser kleinen Kost­barkeit nie versiegen möge und sende die besten Grüße zum Geburtstag. Bibliographie al-Balādhurī 1924 = al-Balādhurī, Futuh. The Origins of the Islamic State, F. Murgotten (hrsg. u. übers.), 2 Bde., New York 1924. Ibn ‛Abd al-‛akam 1922= Ibn ‛Abd al-‛akam, Futuh Misrwa-akhbaraha, C. C. Torrey (ed.), Leiden 1922. al-‛abarī 1879–1901 = al-‛abarī, Tārkh al-rusul wa-l-mulūk, 15 Bde., M. J. de Goeje (ed.), ND Leiden 1964. Anfray 1974 = F. Anfray, Deux villes Axoumites. Adoulis et Matara, VI Cong. Int. di Studi Etiopici, Roma 1972, Rome 1974, 74–65. Bagnall 1985 = R. S. Bagnall, Currency and Inflation in Fourth Century Egypt, Atlanta 1985 (BASP Suppl. 5). Bagnall – Bransbourg 2015 = R. S. Bagnall – G. Bransbourg, The Constantian Monetary Revolutio. Talk Presented at the Conference „Money Rules! The Monetary Economy of Egypt, from Persians until the Beginning of Islam“, Orleans, October 29th–31st 2015. Bagnall – Helms – Verhoogt 1999 = R. S. Bagnall – C. C. Helms – A. M. F. W. Verhoogt, The Ostraka, in: S. E. Sidebotham – W. Z. Wendrich (eds.), Berenike 1997. Report of the 1997 Excavations at Berenike and the Survey of the Egyptian Eastern Desert, including Excavations at Shenshef, Leiden 1999, 201–205. Benaissa 2016 = A. Benaissa, Perfume, Frankincense, and Papyrus. Collecting the State Revenues, ZPE 200 (2016), 379–388. Bülow-Jacobsen 2013 = A. Bülow-Jacobsen, Communication, Travel, and Transportation in Egypt’s Eastern Desert During Roman Times (1st to 3rd Century AD), in: F. Förster – H. Riemer (eds.), Desert Road Archaeology in Ancient Egypt and Beyond, Köln 2013, 557–574. Bulow-Jacobsen – Cuvigny – Fournet 1994 = A. Bulow-Jacobsen – H. Cuvigny – J.-L. Fournet, The Identification of Myos Hormos. New Papyrological Evidence, BIFAO 94 (1994), 27–42.

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Straußenhaltung in der römischen Antike Matthias Bode In der griechisch-römischen Antike gehörten Strauße (Struthio camelus) zu den grundsätzlich bekannten Tieren. Der griechische Name „Spatzkamel“ (ὁ στρουθός / στρουθκάμηλος) ist ein Witz, der seine Pointe aus dem Größengegensatz und dem langen Hals der Tiere bekommt.1 Ihr Lebensraum war bekannt, ihre Biologie wie auch Produkte wie Straußenfedern, -eier und -fett werden in der antiken Literatur erwähnt. Strauße sind auf ägyptischen Wandgemälden ebenso vertreten wie auf römischen Mosaiken. Strauße fanden ihren Weg auch in Beleidigungen und Witze, ihre Eierschalen wurden bemalt, ihr Bildnis erscheint auf Münzen und Gemmen, ihre Federn dienten als Helmschmuck. Auch in die Kochtöpfe der Römer scheinen sie gelangt zu sein. Ein besonderes Schauspiel boten die Strauße bei den Tierhetzen in der Arena.2 Da Strauße jedoch von Natur aus nicht nördlich des Mittelmeeres vorkamen, besteht Anlass, über die Herkunft dieser Tiere nachzudenken. Wurden sie in der Wildnis Nordafrikas gefangen? Oder gab es Straußenfarmen in der römischen Antike? Verbreitung Die bis zu 2,50 m großen und bis zu 170 kg schweren Strauße kommen heute nur noch im subsaharischen Afrika vor, waren jedoch bis in das 20. Jh. hinein auch in Nordafrika, in Ägypten und im Nahen Osten bis nach Persien hinein verbreitet. Man unterscheidet verschiedene Unterarten: den mittlerweile ausgerotteten arabischen oder syrischen Strauß (Struthio camelus syriacus) auf der Arabischen Halbinsel und im Nahen Osten, den heute nur noch am Südrand der Sahara vorkommenden nordafrikanischen Strauß (Struthio camelus rothschildi) sowie weitere Unterarten in Ostafrika und dem südlichen Afrika. Der Somalistrauß (Struthio molybdophanes) wird als eigene Art klassifiziert. Für das gesamte antike Verbreitungsgebiet lassen sich von West nach Ost und über die Jahr­ hunderte hinweg Nachweise finden: Herodian berichtet über Strauße in Mauretanien, Herodot an der nordafrikanischen Küste, Synesios in der Cyrenaika, Theophrast in der Oase Shiwa, Plinius in Nordafrika und Äthiopien, Diodor und Jeremia in der syrischen Wüste, Strabo in Äthiopien und Arabien, Xenophon am Euphrat.3 Medizin Teile des Vogels wurden medizinisch verwendet. Aelian berichtet, die Steine aus dem Magen, das Fett der Tiere und auch die Sehnen des Vogels hätten eine medizinische Wirkung. Dieses Fett der Strauße, das neben dem Magen von Galen als verdauungsfördernd eingestuft wurde, wird 1 2 3

Diese Begrifflichkeit macht einige antike Textstellen unsicher, weil nicht immer ganz klar ist, von welchem Vogel die Rede ist. In den meisten Fällen, vor allem den hier relevanten, ist die Identifizierung gesichert. Ein Problemaufriss in Hughes 2003. Grundsätzlich zum Strauß: Potts 2001; Manlius 2001. Als Beispiel für die Möglichkeiten der Archäologie: Wilburn 2015. Vgl. an älteren Werken: Keller 1913; Steier 1931; Toynbee 1973. Dort auch alle relevanten antiken Quellennachweise. Siehe auch Kinzelbach (2013). Herod. 1,15,5; Hdt. 4,165 u. 192; Synes. epist. 134; Theophr. hist. plant. 4,35 ff.; Plin. nat. hist. 10,1 u. 10,56; 10,143; 11,130; 11,155; Diod. 2,50,4 ff.; Jer. 50,39; Strab. 16,4,11; Xen. an. 1,5,2 f. Vgl. für eine umfangreiche Darstellung s. die Werke aus Anm. 2. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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auch in einer Notiz bei Plinius erwähnt, in der er schreibt, Cato Uticensis habe in Nord­afrika Straußenfett für 30.000 Sesterze verkauft.4 Auch die Eier der Strauße erfahren ihre Würdigung in der medizinischen Literatur. So weiß Plinius etwa von Straußeneiweiß in einer Salbe gegen Sonnenbrand.5 Es drängt sich hier der Eindruck auf, als seien Fett und Eier als Handelswaren auch nördlich des Mittelmeers verfügbar gewesen. Verzehr Einige wenige Hinweise auf den Verzehr der Strauße stammen aus dem natürlichen Ver­breitungs­ gebiet südlich und östlich des Mittelmeeres.6 Dabei sind sie spärlich, auch unter den Papyri werden Strauße nur an wenigen Stellen erwähnt: Der Papyrus P.Oxy. 6/920 aus dem späten 2. Jh., eine Abrechnung von Lebensmitteln, enthält in Zeile 8 irgendetwas „eines großen στρουθός“ für 8 Drachmen und vier Zeilen weiter irgendetwas eines Straußes für 12 Drachmen. Die angegebenen Preise erscheinen eher niedrig, keinesfalls genug für einen Strauß. Es können nur Teile des Straußes gemeint sein. Nördlich des Mittelmeeres, also außerhalb des natürlichen Verbreitungsgebietes und damit erklärungsbedürftig, lassen sich eine Reihe Hinweise auf Verzehr von Straußenfleisch finden: Das Kochbuch des Apicius enthält zwei Rezepte für gekochten Strauß.7 Es handelt sich um zwei der für Apicius so typischen Saucenrezepte nach dem Schema: ‚Für X bereite eine Sauce mit den Zutaten Y zu und gebe sie dazu‘. Zwar wird noch erklärt, es seien Teile des Tieres vorher auf einer Platte anzurichten, aber welche Teile dies sind, sagt der lakonische Autor des Kochbuches nicht.8 Elisabeth Alföldi-Rosenbaum hat in einer Untersuchung des Kochbuches geschlossen, die Rezepte mit Strauß seien von einem späteren Bearbeiter in das Kochbuch aufgenommen worden, zeitlich nach den – und in Kenntnis der – Erwähnungen von Straußengerichten in der Historia Augusta. Die Erwähnungen dort allerdings wirkten fabelhaft und stammten aus letztlich dubiosen Quellen, so dass sie diese Textbelege als letztlich unglaubwürdig beschreibt.9 Dennoch lohnt es sich, diese Anekdoten auf ihre Prämissen zu untersuchen. Inmitten einer Schilderung von Ägyptomanie auf Seiten des Kaisers Elagabal wird berichtet, er habe Strauß servieren lassen.10 An anderer Stelle habe er die Köpfe von 600 Straußen auf den Tisch gebracht, damit die Hirne gegessen werden sollten.11 An einer weiteren Stelle ist die Rede davon, Kaiser Elagabal habe Glücksspiele mit Losen veranstalten lassen, bei denen als Preise u.a. zehn Strauße zu gewinnen gewesen seien.12 Es drängt sich der Eindruck auf, dass es sich um lebende Strauße gehandelt hat. Wenn auch den tendenziösen Anekdoten der Historia Augusta gemeinhin wenig faktische Beweiskraft zugestanden wird, sei doch darauf hingewiesen, dass lebende Strauße nördlich des Mittelmeeres die Grundlage dieser Geschichten bilden mussten. Auch dann, wenn man den Mengenangaben nicht folgen mag. 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Ael. NA. 14,7; Gal., de alim. fac. 3,20,8; Plin. nat. hist. 29,96. Plin. nat. 28,66. Vgl. Opp. kyn. 502 ff. u. Plin. nat. hist. 10,2. Speiseverbote in Lev. 11,16 u. Deut. 14,15. Verzehr bei Athen. deipn. 4,145e. Apic. 6,1,1 u. 6,1,2. Zum Kochbuch grundsätzlich Bode 1999. Alföldi-Rosenbaum 1970a. HA Heliog. 28,4. HA Heliog. 30,2. Ein anderes Mahl mit Strauß in HA Heliog. 32,4 u. HA quatt. tyr. 4,2. HA Heliog. 22,1. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Als Reit- und Zugtier Darüber hinaus gibt es eine Reihe Schilderungen über das Vorhandensein lebender Strauße. So gibt es über die antike Literatur verstreut einige Hinweise auf die Nutzung der Strauße als Zug- oder Reittiere.13 Hier darf mit einiger Wahrscheinlichkeit von wohl auf den Menschen geprägten, d.h. von klein auf an ihn gewöhnten Tieren ausgegangen werden. Im Zirkus Auch im Zirkus treten lebende Tiere auf. Bereits bei Plautus ist von Straußen im Zirkus die Rede.14 Commodus soll mauretanischen Straußen in der Arena mit sichelförmigen Pfeilspitzen die Köpfe angeschossen haben. Bemerkenswerterweise ist eine bildliche Darstellung eben dieses Vorgehens erhalten.15 Ähnlich geschmacklos zeigte sich Commodus, als er den Kopf eines frisch enthaupteten Straußes mit in den Senat brachte als Zeichen der Warnung an seine Gegner.16 Anlässlich der Heirat von Caracalla und Plautilla berichtet Cassius Dio, der anwesend war und detailliert die Vorbereitungen beschreibt, über die stattfindenden Tierspiele, bei denen Strauße hingeschlachtet wurden.17 Ähnliche Vorführungen sind in der Vita Gordiani und in der Vita Probi enthalten.18 Diese enthalten nun ein interessantes Details: In der Vita Gordiani ist von dreihundert maurischen Straußen die Rede, die miniati – zinnoberrot – gefärbt seien. Auf diese Formulierung wird nochmals einzugehen sein, wenn Abbildungen diskutiert werden. In der Vita Probi werden gar tausend Strauße erwähnt. Selbst wenn man mit einer gewissen – der Historia Augusta gegenüber dringend gebotenen – Vorsicht die Mengenangaben bloß mit „sehr viele“ übersetzt, stellt sich die Frage, wo diese „sehr vielen“ Tiere auf einmal denn hergekommen sind. Denn auch diese Tiere müssen ja erst einmal lebend in den Zirkus gelangt sein. Straußenjagd Eine Quelle für die Straußenprodukte könnten Jagden in Nordafrika oder im Nahen Osten gewesen sein. Beispiele, wie eine Straußenjagd aussehen konnte, liefern Oppian und Aelian. Übereinstimmend ist davon die Rede, dass die Strauße zu Pferd mit Lanzen oder Pfeilen gejagt wurden oder dass ihnen in der Nähe ihrer Nester aufgelauert wurde. Diodor berichtet ähnliches aus der syrischen Wüste, bemerkt aber noch bisweilen schwere Verletzungen der Reiter, wenn sie denn die Tiere schließlich überholten und umzingelten.19 Xenophon kann von Hetzjagden zu Pferde im Euphratgebiet berichten, wobei die Strauße schneller gewesen seien als die griechische Kavallerie.20

13 Als Zugtiere bei Athen. deipn. 5,200 f. in Ägypten, als Reittiere Opp. kyn. 3,482–503; Paus. 9,31,1; Catull. 66,54; HA quatt. tyr. 6,2,6. Dies ist keine Erfindung: Fotobelege sind mühelos im Internet zu finden. 14 Plaut. Persa 199. 15 Herod. 1,15,5. Das zeitgenössische Relief auf einem Sarg bei Hohl 1954. 16 Cass. Dio 73,21,1. Er benutzte dafür ein Schwert: Es handelt sich damit definitiv nicht um einen Spatz. 17 Cass. Dio 77,1,3–5. 18 HA Gord. 3,7,4; HA Probus 19,4. 19 Ael. NA 14,7; Diod. 2,50,4 ff.; Opp. kyn. 3,482–503. 20 Xen. an. 1,5,2 f. Ähnlich auch Plin., nat. hist. 10,2 u. Hiob 39,18. So auch bei Brehm 1882. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Lebendfang Ein Beleg für den Lebendfang von Straußen findet sich in den Briefen des Synesios von Kyrene. Dieser war ein gebildeter Großgrundbesitzer aus der Cyrenaika. Er widmete sich zu Beginn des 5. Jh. dem Landbau und der Jagd: In Brief 134 schreibt er seinem Freund Pylemenes, einen Juristen in Konstantinopel, die Kriegsumstände ließen es nicht zu, die in Friedenszeiten gefangenen Strauße zum Meer zu schicken und zu verladen. Zwischen Fang und der Gegenwart des Briefes scheint eine gewisse Zeit vergangen, in der die Strauße irgendwo gehalten worden sein müssen.21

Abb. 1: Mosaik, Villa Romana del Casale

Zu Beginn des 5. Jh. konnten also gefangene Strauße grundsätzlich im Seeverkehr verhandelt werden. Auch gab es eine Nachfrage nach diesen Tieren in Konstantinopel, wobei ihre letzt­ endliche Verwendung leider im Dunkeln bleibt. Tiertransport Auf einem Mosaik in der Villa Casale auf Sizilien sind Männer zu sehen, die Strauße umgreifen und auf das Schiff bringen. Der Hamburger Zoodirektor Carl Hagenbeck beschreibt 1908, wie er in Ägypten gefangene Strauße zum Bahnhof führen lässt, nämlich so „daß immer ein Vogel von zwei Arabern an den Flügeln gepackt und zum Mitgehen gezwungen werden sollte.“22 Diese Vorgehensweise wird hier abgebildet, allerdings sind die Männer jeweils allein.

21 Synes. epist. 134. 22 Hagenbeck 1908. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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An dieser Stelle muss auf die Farbgebung eingegangen werden: Die braunen Tiere erinnern zunächst an die zinnoberroten strutiones Mauri miniati in der Vita Gordiani. Es könnte sich also um die nordwestafrikanische Unterart handeln. Andererseits sind die weiblichen Tiere aller Rassen bzw. Unterarten grau-braun. Wenn hier also zwei der dunkleren und kleineren Weibchen verladen werden und keine Männchen, könnte jeweils ein Mann ausreichen, sie festzuhalten. Straußenhaltung Das Erscheinen hunderter von Strauße pünktlich bei irgendwelchen Spielen benötigt zwingend eine Art Gehege, ein Zwischenlager, in dem die Tiere einige Zeit bis zu ihrem Einsatz lebten. Andeutungsweise erwähnt Plinius diese Zwischenstation im Hafenbereich bei den Schiffswerften, offenkundig in Ostia: Zumindest sind dort die Löwen und die Panther untergebracht.23 Die von Cassius Dio beschriebene Hochzeit Caracallas war im April. Anlässlich der bei Synesios ja sichtbaren Widrigkeiten des Seeverkehrs stellt sich die Frage, ob die Strauße schon den Winter über in Rom oder in Italien waren. Falls ja, muss von einem relativ großen Freigehege ausgegangen werden. Wenn sie nicht in Rom waren, hätten sie kurz nach Beginn des Frühlingsverkehrs24 aus Nordafrika geholt werden müssen. Auch hier wäre es erheblich einfacher, sie dort aus Gehegen abzuholen und nach Rom zu bringen, als sie im Frühjahr noch kurzfristig zu jagen und einzufangen. Das Vorhandensein lebender Strauße in Italien und die Mosaike zum Lebendtransport sind Indizien für die Erklärungsmöglichkeit, wie sie auch bei Synesios anklang: Strauße wurden in Nordafrika gefangen, länger vor Ort gehalten und dann verschifft. Ein Teil ging in die Arena, ein Teil wurde für Luxus-Ernährung und Medizin bearbeitet. Wenn man aber die Zahlenangaben zumindest tendenziell ernst nimmt oder basierend auf dem Apicius-Rezept und den medizinischen Verwendungen gar eine konstante – wenn auch geringe – Versorgung mit Straußenfleisch vermuten möchte, dann müsste ein Wildfang dieser Tiere einen Aufwand verursacht haben, der in keinem Verhältnis zum Nutzen steht. Angesichts der Probleme bei der Jagd muss sich der Gedanke aufdrängen, einfach die Eier einzusammeln und sie auszubrüten. Dies führt zu der mit Sicherheit profitabelsten Variante: dem Betreiben von Straußenfarmen, die eine Belieferung des Marktes mit lebenden Straußen, Straußenfleisch, -federn, -eiern und -leder bieten konnten. Wenn in dem Mosaik in der Villa Casale tatsächlich Weibchen verladen werden, dann könnte dies nicht nur in Nordafrika, sondern auch in Italien stattfinden. Für dieses Modell lassen sich einige Hinweise anführen, die zumindest eine Haltung der Tiere in menschlicher Obhut beweisen: Zunächst können als Reit- und Zugtiere nur in Gefangenschaft aufgewachsene und an den Menschen gewöhnte Tiere eingesetzt werden. Der bei Athenaios zitierte griechische Komödiendichter Eubolus erwähnt die Haltung eines στρου­ θός in Athen. Ob dies ein Strauß ist oder tatsächlich ein Spatz, kann hier nicht entschieden werden, denn beide Tiere böten an dieser Stelle eine Pointe.25 Auch die zehn Losgewinne des Elagabal und der frisch geköpfte Strauß, den Commodus in den Senat mitbrachte, waren lebend in Rom gehalten worden. Auch der Satz „dann gebe ich dir einen Strauß für deine Gans“ bei Petronius deutet zwar auf eine Verfügbarkeit – und auch wie 23 Plin., nat. hist. 36,40. 24 Nach Veg. mil. 4,39 begann der Seeverkehr erst im Mai. 25 Eubolus frag. 115 = Athen. deipn. 12,519a. Vgl. Hunter 1983. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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immer geartete Vergleichbarkeit – der Tiere hin, doch kann sich in dieser Aussage auch eine Pointe verstecken. Insofern kann dies kein sicheres Argument sein.26 Der Papyrus P.Lips. 1/97 ist eine Abrechnung über Naturalien aus Hermonthis aus dem Jahre 338 n.Chr., die vermutlich zu einem sehr großen, vielleicht gar staatlichen Landgut gehört.27 Sie enthält u.a. zweimal eine Artabe28 Platterbsen „für die Strauße“: ι εἰς τὰ στρούθων δι(ὰ) Ωρί(ωνος) (ἀρτάβη) α. Dies wirft die Frage nach der Natur dieses Rechnungspostens auf. Angesichts der anderen Punkte auf der Liste – Ferkel und ein Taubenhaus – liegt die Annahme nahe, dass hier Futter für in Gefangenschaft gehaltene Tiere abgerechnet wird. In Brief 129 an Pylemenes berichtet Synesios von einer Reise, die Konstantinopel wegen widriger Winde nicht erreicht hatte, sondern stattdessen in Alexandria angekommen war. Er fügt hinzu: „Außerdem: Was hat dich daran gehindert, zu handeln wie mit den Hühnern und deine Strauße zu (…)“ – das nun folgende griechische Verb τρέφω bedeutet füttern, mästen oder aufziehen. Ob dies dieselben Strauße wie jene aus Brief 134 sind, muss offenbleiben.29 Der Vergleich der Straußen- mit der Hühnerhaltung zeigt, dass Synesios das Konzept der Haltung in Gefangenschaft nicht fremd war. Wenn wir hier gar die Bedeutung „mästen“ ansetzen, müssen wir auf den Verkauf des Straußenfetts durch Cato Uticensis zurückkommen: Wir wissen nicht, wie viel Fett es war, dass für 30.000 Sesterzen verkauft hat. Wir dürfen angesichts dieser Summe jedoch annehmen, dass es eine größere Menge einer teuren Substanz gewesen ist. Eine billige Substanz würde eine noch größere Menge bedeuten, eine kleine Menge einen noch höheren Preis, was wiederum einen noch größeren ökonomischen Anreiz ausmachen würde.30 Es stellt sich deshalb die Frage, wie viel Fett von wilden Straußen zu bekommen ist. Sehr viel sinnvoller ließe sich das Vorhandensein von Straußenfett in dieser Menge mit einem Betrieb erklären, der die Tiere gut im Futter hält. Theophrast macht deutlich, dass die aus der regenlosen Wüste Libyens stammenden Strauße, auch wenn sie domestiziert sind, nur jeden zweiten Tag trinken – ein klarer Beleg für die Haltung der Tiere.31 Diese Bemerkung setzt eine gewisse Vertrautheit mit der Praxis der Zucht voraus. Es ist gleichgültig, ob sie bei Theophrast selbst oder bei seiner Quelle anzusetzen ist: Jemand war mit dem Wasserbedarf in Gefangenschaft lebender Strauße vertraut. Angesichts der Tatsache, dass Theophrast 287 v.Chr. starb, deutet dies auf einen sehr frühen Umgang mit diesen Tieren hin. In einem Kapitel seines Werkes bespricht Aelian das besondere Verhalten von Geflügel in Gefangenschaft. Gänse, Schwäne und Strauße lebten mit Geflügel einträchtig zusammen. Dieser ganze Absatz ergibt nur dann einen Sinn, wenn die Haltung von Straußen zusammen mit anderem Federvieh angenommen wird.32 Leider sagt Aelian hier weder etwas über seine Quelle noch über den Ort des Geschehens. 26 27 28 29 30

Petron. sat. 137,4. P.Lips. 1/97 XXVIII, 18 u. 20. Vgl. Colomo – Scholl 2005. Vgl. Duncan-Jones 1976; Jahn 1980. Synes. epist. 129,5. Im lateinischen Text steht HS XXX. Steier hatte deshalb im RE-Artikel noch 30 Sesterze angenommen. Die überlieferten Preisangaben, die zu diesen Werten in Relation gesetzt werden können, zeigen, dass 30 Sesterzen kaum der Erwähnung des Plinius wert gewesen wären. Vgl. Drexhage – Konen – Ruffing 2002, 282 f. u. Drexhage 1991. 31 Theophr. hist. plant. 4,3,5. 32 Ael. NA 5,50. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Zusammenfassend ist festzuhalten: Es hat auf jeden Fall lebende, in Gefangenschaft gehaltene Strauße südlich und nördlich des Mittelmeeres gegeben. Sie wurden, wie es nach Aelian und Theophrast, P.Lips. 1/97 und nach Synesios aussieht, in einer mit der Haustierhaltung ver­gleichbaren Weise gehalten. Eine Zucht im engeren Sinne nördlich des Mittelmeeres lässt sich mit dem vorliegenden Material hingegen nicht zwingend belegen. Sie ist aber eine sich aus der Haltung ergebende einfachste Erklärung für die Versorgung Italiens mit Straußenprodukten, wenn wir auch nur ansatzweise den in der Literatur genannten Größenordnungen folgen. Abbildungsnachweis Abb. 1: Mosaik, Villa Romana del Casale (https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Villa_Romana_ del_Casale_-_Big_Game_Hunt_mosaic#/media/File:Ostriches_-_Big_Game_Hunt_mosaic_-_Villa_ Romana_del_Casale_-_Italy_ 2015.JPG [Lizenz: CC BY-SA 4.0])

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Kleinkariert, großkariert, feinkariert? Überlegungen zu einer Neuinterpretation der ἐπικάρσια* Kerstin Droß-Krüpe Untersuchungen zur antiken Terminologie haben immer Konjunktur. Dies mag zum einen daran liegen, dass ein möglichst exaktes Verständnis dessen, was die Begrifflichkeiten antiker Texte genau meinen, den Zugang zum Inhalt erst eröffnet – die ständige Arbeit an der Verbesserung unseres Verständnisses der antiken Begriffe ermöglicht auf Grundlage eines verbesserten Textverständnisses neue Einsichten. Zum anderen mag die Beschäftigung mit den antiken Termini auch aus der Erkenntnis heraus genährt werden, dass die vorhandenen Lexika uns oftmals in einer trügerischen Sicherheit wiegen, indem die dort abgedruckten Übersetzungen und Wortbedeutungen uns vorgaukeln, die Bedeutung(en) eines Terminus’ sei(en) bereits vollständig und zweifelsfrei erschlossen. Darüber hinaus gaukeln uns gerade die großen Wörterbücher, die Sprachperioden von mehreren hundert Jahren abdecken, eine Uniformität vor, die so mit großer Sicherheit nicht gegeben war. Oft hält ein solcher Wörterbucheintrag einer kritischen Über­prüfung nicht stand. Genau eine solche soll im Rahmen dieses Beitrag für den Begriff ἐπικάρσιος vorgenommen werden, der in den griechischen Papyrusurkunden aus der römischen Kaiserzeit auftaucht. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet der Papyrus P.Dura 30 aus dem Jahr 232 n.Chr., eine Mitgiftvereinbarung zwischen Aurelius Alexander, einem Soldaten der Cohors Duodecima Paleastinorium, der an einem Ort namens Qatna stationiert war, und der ver­ witweten Aurelia Marcellina.1 Die Mitgift der Aurelia, die hier gelistet wird, ist vergleichsweise *

1

An der Genese dieses kleinen Beitrages hatten viele Personen Anteil. Zuallererst der Jubilar selbst, von dem ich in den vergangenen Jahren vieles – nicht nur Akademisches – lernen durfte und der mir gezeigt hat, wie spannend und lohnend der genaue Blick in den papyrologischen Befund sein kann. Dank schulde ich auch Ines Bogensperger (Wien), die die Entwicklung und Verschriftlichung meiner Ideen nicht nur aufmerksam verfolgt hat, sondern mir außerdem mit ihrer Expertise der archäologisch erhaltenen Textilien stets geduldig weitergeholfen und mein Verständnis der technischen Vorgänge des Webens entscheidend erweitert hat. Für fruchtbare Diskussionen danke ich herzlich Florian Krüpe, sowie Boris Dunsch und Sabine Föllinger (alle Marburg); auch Sebastian Fink (Helsinki) und Falk Ruttloh (Kassel) haben frühere Versionen des Textes gelesen und durch Hinweise zu seiner Verbesserung beigetragen. Susanne Börner (Heidelberg) hat wertvolle Hilfe bei der Beschaffung von in Kassel nicht vorhandener Literatur geleistet. Für die Unterstützung bei der Beschaffung der Abbildungen schulde ich Cäcilia Fluck (Berlin), Karina Grömer (Wien), Barbara Köstner (Bonn), Martin Maisch­berger (Berlin) und Michael Peter (Riggisberg) herzlichen Dank. Dieser Papyrus verdient in mehrfacher Hinsicht besondere Aufmerksamkeit. Zum einen handelt es sich um ein Papyrusdokument, welches außerhalb Ägyptens gefunden wurde, und somit geeignet ist, die in den ägyptischen Papyri aufscheinenden Verhältnisse in Hinblick auf ihre Übertragbarkeit in andere Regionen des Imperium Romanum zu überprüfen. Dass der hier überlieferte Mitgiftvertrag im Grundsatz denselben Aufbau und Inhalt aufweist, wie seine Pendants aus dem römischen Ägypten, zeigt deutlich, dass das Prinzip der Mitgift und das Formular der Mitgiftvereinbarungen nicht als regionale Phänomene zu begreifen sind. Zur Dokumentengattung vgl. umfassend Yvtach-Firanko 2003. Innerhalb der Vielzahl der auf Papyrus überlieferten Mitgiftarrangements nimmt P.Dura 30 dennoch eine gewisse Sonderstellung ein, denn nur in diesem Dokument wird der Wert der Mitgift der Braut nicht mit Drachmen, sondern mit Denaren beziffert. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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umfangreich, unter den Gegenständen befinden sich neben Bargeld auch mehrere detailliert beschriebene Kleidungsstücke sowie Schmuck.2 Der Eintrag in Zeile 20 ist dabei einer genaueren Betrachtung Wert. Hier heißt es nämlich: Μ̣ηδ̣ ίσκ[ια] καὶ ἐπικάρ[σ]ι̣[α] [κενά] (lies καινά), [δ]η̣[ν]α̣ρίων πεντήκον̣[τα]. Aurelia Marcellina bringt also unter anderem neue (neuwertige) Μ̣ηδ ̣ ίσκ[ια] und ἐπικάρσι̣α im Wert von zusammen 50 Denaren in diese Ehe mit ein. In der Edition lautet die Übersetzung „silken and striped stuffs, new, worth 50 denarii“.3 Gleichzeitig findet sich im Zeilenkommentar folgender Eintrag: The meaning of ἐπικάρσιον ist really unknown, and the assumption made in Rep. IV, p. 141 [gemeint ist Welles 1933, Anm. d.Verf.], that it was a striped garment has no substantial basis. In the Egyptian papyri, the word appears as an adjective, ‚with diagonal stripes‘, and may be used of stuffs as well as of garments.4

Die Übersetzung und Deutung der ἐπικάρσια war also offensichtlich für die Herausgeber mit einigen Schwierigkeiten behaftet. Es ist nicht das einzige Mal, dass in Dura Europos ἐπικάρσια begegnen. Im sogenannten ‚Haus der Archive‘ fand sich eine Vielzahl von Graffiti, die Einblicke in die geschäftlichen Aktivitäten eines gewissen Aurelius Nebuchelos in der Zeit zwischen 235 und 240 n.Chr. bieten.5 Die Texte sind mehrheitlich in der ich-Form verfasst und finden sich an den Wänden zweier um einen Hof gruppierten Innenräume eines zentral gelegenen größeren Hauses. Die Graffiti demonstrieren, dass Nebuchelos u.a. mit dem Handel von Textilien befasst war; es finden sich Notizen zu Gewandbezeichnungen, Preisen und Mengenangaben. Unter den verhandelten Textilien sind dabei auch vier ἐπικάρσια, die insgesamt für 107 Denare ge- oder verkauft wurden.6 Der Preis pro ἐπι­κάρσιον beträgt also 26 ¾ Denare und liegt damit deutlich unter der Wertangabe in der etwa zeitgleichen Mitgiftvereinbarung der Aurelia Marcellina. Interessant ist, dass C. Bradford Welles, der diese Graffitti erstmals vorlegte, gerade n i c h t, wie von den Editoren von P.Dura 30 postuliert, eine Übersetzung des Begriffs als „striped garment“ anbietet, vielmehr heißt es schlicht, es handelte sich um ein „unknown garment“7. Anders gestaltet sich die Lage erst in einer etwas späteren Publikation einer auf Pergament überlieferten Preisliste aus Dura Europos.8 Wiederum handelt es sich um eine Liste mit Preisangaben, in der für ein ἐπικάρσιν 50 Denare angegeben werden. Im Kommentar heißt es dazu:9 It is defined as a striped coat or robe, and the glosses commonly give the meaning amiculum. 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. zur Kleidung in den Mitgiftvereinbarungen aus dem kaiserzeitlichen Ägypten Droß-Krüpe – Wagner 2013, 153–173. Eine leicht veränderte, aber ohne Zweifel auf der Edition basierende, Übersetzung findet sich übrigens in Judith E. Grubbs’ Quellensammlung Women and the Law in the Roman Empire. Hier lautet die Formu­ lierung: „silken garments with diagonal stripes, new, valued at fifty denarii“ (Grubbs 2002, 134). P.Dura 30, S. 158. Hier heißt es außerdem: „The first term, Μ̣η̣δίσκια, is otherwise unknown, to my know­ ledge, but is a characteristic form in late Greek, with its love for diminutives, from Μ̣ῆδος; Procopius, Bellum persicum, I, 20, speaks of Μηδικὸς ἐσθὴς, a ‚silken garment‘. Diese Graffiti wurden publiziert in: Welles 1933, 79–178 und in den 7. Band des SEG unter den Nummern 381–430 aufgenommen. Vgl. zu Nebuchelos und den Graffiti Ruffing 2000, 71–105. SEG 7, 417. Welles 1933, 141. P.Dura 33; Pfister – Bellinger 1945, 13. P.Dura 33, S. 13. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Kleinkariert, großkariert, feinkariert?

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Verwiesen wird auf das entsprechende Lemma in Friedrich Preisigkes Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden mit Einschluß der Griechischen Inschriften, Aufschriften usw. aus Ägypten und in Georg Goetz’ Corpus Glossariorum Latinorum. Ein genauerer Blick scheint lohnend, trägt aber auch zur weiteren Verwirrung bei. Der erste Band von Preisigkes Wörterbuch, der das Lemma ἐπικάρσιος enthält, wurde bereits kurz nach Preisigkes Tod, nämlich im Jahr 1925 publiziert.10 Hier wird als Bedeutung angegeben: „schräg gemustert; mit schräglaufenden Steifen verziert; ein mit Querstreifen gemustertes Tuch“. Basis für diese Deutung sind die fünf zu diesem Zeitpunkt bereits veröffentlichten Papyri, die den Terminus beinhalten, und die als Übersetzungen sehr unterschiedliche Lesarten präsentierten: ‚schräg- (diagonal-) gemustert‘ bzw. ‚schräg‘ und ‚Kreuzband‘ (vgl. unten sowie die Tabelle im Anhang). Etwas älter als Preisigkes Wörterbuch ist die Sammlung lateinischer Glossen durch Georg Goetz, die von 1888 bis 1923 in sieben Bänden erschienen war. Goetz führt den Terminus ἐπικάρσιος nur einmal und deutet ihn als amiclum.11 Welche Wortbedeutung führen nun aber andere Lexika und Nachschlagewerke für ἐπικάρσιος? Bei Theodor Reil ist die Rede von einem „Grossband“.12 Liddell – Scott – Jones geben in der neunten Ausgabe zwei Wortbedeutungen: Einmal, unter Verweis auf Homer, Hesiod und Polybios, „cross-wise, at an angle, esp. at a right angle“ und dann, mit Hinweis auf den papyrologischen Befund, „striped“.13 Liza Cleland, Glenys Davies und Lloyd Llewellyn-Jones führen den Begriff in ihrem Nachschlagewerk über griechische und römische Kleidung dagegen überhaupt nicht. Auch hier also ein eher disparates Bild. Grund genug, der Wortbedeutung einmal dezidiert auf die Spur zu gehen und einen neuen Deutungsvorschlag zu präsentieren. Dies soll zunächst auf der Basis des papyrologischen Befundes versucht werden, wo der Begriff – so viel sei vorweg genommen – ausnahmslos zur Bezeichnung von Kleidungsstücken auftaucht. In einem zweiten Schritt werden dann literarische Texte hinzugezogen werden, die ein gänzlich anderes Bild zeigen. Aus dem Zusammenspiel beider Quellengattungen ergibt sich dann ein neuer Deutungsvorschlag. Die Termini ἐπικάρσιος/ἐπικάρσιον und davon abgeleitete Formen begegnen als Adjektiv oder Substantiv in insgesamt 17 weiteren Papyrusdokumenten vom 1. bis zum 7. Jahrhundert n.Chr. Wie bereits erwähnt bezieht er sich auf immer Kleidungsstücke – entweder bezeichnet er offenbar einen bestimmten Typus von Kleidung oder er wird verwendet, um ein Kleidungsstück, wie beispielsweise einen Chiton genauer zu beschreiben. Die Tabelle in der Appendix bietet einen Überblick über alle Dokumente, wobei diese nach dem Jahr der jeweiligen editio princeps geordnet sind, um die Deutungen des Begriff und deren Abhängigkeiten voneinander klarer darstellen zu können. Die oben bereits genannten Lexika und Nachschlagewerke sind dabei, soweit sie den Begriff enthalten, chronologisch eingegliedert. Im weiteren Verlauf dieses Beitrages werden die Belege aber chronologisch nach ihrer Abfassungszeit besprochen. 10 Preisigke konnte sein Wörterbuch nicht mehr selbst vollenden, die einzelnen Bände erschienen alle erst posthum, teilweise wurden sie von seinem Schüler Emil Kießling fertig gestellt. 11 Goetz, Bd. 3, 1892, 272. In diesem Kontext interessant ist der Hinweis im Thessaurus Graecae Linguae: „adjice amiculum. Sed parva vel potius nulla illius libelli esse debet auctorias.“ (s.v. ἐπικάρσιον, 1618). 12 Reil 1913, 117, mit Verweis auf P.Oxy. 6/921 u. BGU 3/816. 13 LSJ 91940, s.v. ἐπικάρσιος, 636. Verwiesen wird hier auf CPR 1/21, WO 64 u. P.Oxy. 6/921. Das der letzt­genannte Text einbezogen wird, ist besonders interessant, da man sich in der Edition für eine andere Über­setzung, nämlich „cross-band“ entschieden hat (s. u.). In der ersten Ausgabe waren die an­ge­gebenen Bedeutungen: headwards; cross wise at an angle, at a right angle; cross planks (Liddell – Scott 1843, 508). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Kerstin Droß-Krüpe

Der früheste papyrologische Beleg für ἐπικάρσιος ist P.Oxy. 42/3062 aus dem 1. Jh. n.Chr. In diesem Brief an einen gewissen Archelaus ist die Rede von τὸν ἱστὸν τῶν ἐπικαρσίων. Während Louise Youtie diesen Ausdruck als einen Webstuhl für ἐπικάρσια deutet („the loom for the ἐπικάρσια“),14 war P. J. Parsons, der Herausgeber der editio princeps, der Ansicht, τὸν ἱστὸν meine hier nicht den Webstuhl, sondern vielmehr die Länge der als ἐπικάρσια bezeichneten Gewänder. In der Tat wird ἱστός in den Papyri häufiger auch als ‚Webstück‘ aufgefasst15 und kann in diesem Sinne auch die Maße eines solchen bezeichnen. Zwar wissen wir von speziellen Webstühlen für die Herstellung bestimmter Kleidungsstücke,16 da der unbekannte Ab­sender des Briefes das besagte Objekt aber in das Dorf Zmis im Panopolites gebracht hat, wo er hoffte, den Adressaten, Archelaos, anzutreffen, dürfte es sich hier kaum um einen Webstuhl ge­handelt haben. Parsons führt im Zeilenkommentar aber weiter aus: (...) the noun ἐπικάρσιον is glossed amiculum in the CGL. The basic meaning of the adjective is ‚sideways‘, i.e. striped, according to the dictionaries (...).17

Als nächstes erscheint ein ἐπικάρσιον auf einem Ostrakon aus Elephantine, das in das 1. oder 2. Jh. n.Chr. zu datieren ist. Es handelt sich um einen Brief des Petesouchos an Neilas. Neben der Einladung zu einem Fest wird hier auch um schönes (i.e. vermutlich feines) Leinen gebeten, das gemeinsam mit einem ἐπικάρσιον gebracht werden soll.18 Wiederum bezieht sich der Aus­druck eindeutig auf etwas Textiles. Die Herausgeber sprechen im Zeilenkommentar von „une pièce de vêtement, que nous ne savons pas définir“. Man könnte aus der Formulierung im Dokument schlussfolgern, dass das gewünschte ἐπικάρσιον eben gerade nicht aus Leinen, sondern aus Wolle oder einem Mischgewebe bestand. Auf diese Überlegung wird später noch einmal zurückzukommen sein. Chronologisch reihen sich zwei Steuerquittungen einer sonst unbekannten Abgabe ὑπὲρ ἐπικαρσίου aus eben dieser Region ein. Weder Otto Wilcken, der die Dokumente im Rahmen seines Opus Griechische Ostraka aus Aegypten und Nubien publizierte,19 noch Sherman LeRoy Wallace in seiner nach wie vor grundlegenden Behandlung des Steuerwesens im griechisch-römischen Ägypten können für diese Quittungen und die hier verzeichnete Abgabe eine Deutung bieten.20 Die Besteuerung der Herstellung einzelnen Gewandtypen ist sonst nicht bekannt, ob der Begriff sich hier evtl. auf etwas gänzlich anderes bezieht, muss offen bleiben.

14 Youtie 1983, 234, Anm. 11 (= BL 8, S. 265). 15 So beispielsweise auch PSI 4/387 aus dem Zenon-Archiv (Philadelpheia, 244 v.Chr.). Auch Reinard 2016, 181 entscheidet sich für die Deutung als ‚Webstück‘. 16 Etwa ein Webstuhl für die Fertigung von tarsikaria genannten Kleidungsstücken, ein ἱστὸς ταρσι­κοϋ­ φικός. Dieser taucht auf in P.Oxy. 15/1705 (= Sel.Pap. 1/36; Oxyrhynchos, 298 n.Chr.), P.Oxy. 66/4534 (Oxyrhynchos, 335 n.Chr.) u. CPR 10/63 (Arsinoites?, 7. Jh.). Vgl. Wild 1969, 815–817 sowie Drex­hage 2004, 67–69. 17 P.Oxy. 42/3062, S. 152. Wie oben bereits erwähnt, deutet das CGL den Terminus nicht als amiculum, sondern als amiclum, vgl. o. Anm. 12. 18 κάλον λινοῦν σὺν τῷ ἐπικαρσίωι. Zu Qualitätsbezeichnungen bei Textilien vgl. Drexhage – Reinard 2014, 1–71 u. Reinard 2017, 207–243. 19 WO 64 u. 67. 20 Wallace listet die Abgabe in einem Appendix, zu dem er schreibt, er enthalte „the taxes and abbreviations for taxes concerning which it has been impossible to make any very helpful suggestions“ (Wallace 1938, 353–354). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Kleinkariert, großkariert, feinkariert?

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In CPR 1/27, einer Mitgiftvereinbarung, aus dem späten 2. Jh. n.Chr., taucht der Begriff in einer anderen Kombination auf. Hier ist in der editio princeps die Rede von einem παλλί­ ολον γλοι[ον ἐπ]ικαρσιον, laut Carl Wesselys Übersetzung handelt es sich hier um „einen dicken schrägen Mantel“. Vielleicht dachte Wessely hierbei an die Schrägmäntelchen archaischer Koren? Die Lesart γλοιον wurde von Louise C. Youtie später in γλορον (für χλῶρον) korrigiert. Gleichzeitig schlug sie vor, ἐπικ]αρσιον hier eben nicht als Adjektiv, sondern als nicht durch καὶ angeschlossenes Substantiv aufzufassen21 – es würde sich demnach also um einen grünen Mantel und ein ἐπικάρσιον genanntes Kleidungsstück handeln. Vier weitere Papyri aus dem 2. Jh. enthalten den Begriff, näher datieren lässt sich keiner dieser Texte. P.Oslo 2/56 ist ein Brief von Justus an Ploution, in dem um die Beschaffung ver­schiedener Waren in Bousiris (heute Abusir) gebeten wird – darunter zwei leinene Chitone und nicht näher spezifizierte ἐπικάρσια aus Diospolis (heute Tell el-Balamun) in Unterägypten: ἐπι­καρσίω(ν) Διοσπόλεως ζεῦγος καλών. Samson Eitrem und Leiv Amundsen deuten diese als „nice cross-bands from Diopolis“, weisen aber auch auf die Möglichkeit hin, dass es sich um „cross-woven clothes“ handeln könne, ohne näher zu erklären, was sie damit meinen.22 P.Oxy. 42/3060, wiederum ein Brief, enthält im Rahmen einer Aufzählung von Kleidungs­stücken und Hausrat auch ein ἐπικάρσιον ἡμι̣τ̣ρ̣[ιβη]ν. Bei SB 20/14178 handelt es sich um ein frag­ mentarisches Inventar der Besitzgegenstände des Julius P... aus dem Arsinoites, seines Zeichens duplicarius und Kurator eines nicht genannten Aufgabenbereichs. Unbekannt bleiben Zweck der Aufstellung sowie der Ort und die Art der Aufbewahrung. Hier ist die Rede von einem ἐπικάρσιον aus Leinen (λ̣ι̣ν̣ο̣ῦ̣[ν] ἐπικάρσιν), einem weiteren neuen anderthalbfachen ἐπι­ κάρσιον (ἐπι[κάρ]σιν καινὸν ζήστουπλο\μ/)23 sowie einer mit dem Adektiv ἐπικάρσιος näher beschriebenen Bettdecke (ἐ̣π̣ι̣κ̣ά̣ρ̣σιν τ̣[απ]ή̣τ̣ιν). P.Bodl. 1/61(d) schließlich ist das Fragment einer Mitgiftvereinbarung aus dem arsinoitischen Gau. Die Braut erhält als Bestandteil ihrer Mitgift verschiedene Kleidungsstücke, darunter κιτῶνας ἐπικαρσί[ους. Hier dient ἐπικάρσιος also zur näheren Beschreibung der Chitone. Wenige Zeilen darüber ist, wohl im Gegensatz dazu, von κιτῶνα̣ς̣ ζώνα[ς die Rede (Z. 3). Auch in P.Oxy. 12/1583, einem Brief von Diogenes an seinen Freund Dioskoras erscheinen ἐπι­κάρσια, die allerdings nicht näher spezifiziert werden, gemeinsam mit einem Mantel (φαινόλη). In SB 24/15922 aus Hermopolis Magna, einer Auflistung von Textilien samt Wertangaben, begegnen über 60 solcher Kleidungsstücke,24 ihr Gesamtwert beläuft sich auf 59.059 Drachmen. Die Wert­angaben für einzelne ἐπικάρσια schwanken zwischen 81 und 2.448 Drachmen. Neben den ἐπικάρσια enthält die umfangreiche Liste auch noch πάλλια, δαλματικαὶ, καμίσια und χιτῶνες – die Mengen schwanken zwischen 30 und 1. Welchen Zweck diese Liste erfüllte, die neben den Kleidungstypen und den Werten auch noch 10% der jeweiligen Wertangabe ausweist, ist unklar. 21 Youtie 1983, 232–234. 22 „(...) the weavers were supposed to make the best ἐπικάρσια, ‚crossbands‘, as the English editors [of P.Oxy. 921, Erg. d.Verf.] translated it – perhaps better ‚cross-woven clothes‘ (...)“; P.Oslo 2/56, S. 135. 23 Von lat. sescuplum, vgl. Gundel 1988, 232. Das zweite ἐπικάρσιον besitzt also offenbar im Vergleich zum erstgenannten die anderthalbfache Größe. 24 Insgesamt kommen laut der Summen im Papyrus 66 ἐπικάρσια vor, addiert man die Einzelsummen kommt man allerdings nur auf 64. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Kerstin Droß-Krüpe

Ins 3. Jahrhundert gehört, neben den bereits oben erwähnten Dokumenten aus Dura Euro­ pos, CPR 1/21, der auf den 13. August des Jahres 230 datiert und aus Ptolemais Euergetis stammt. Es handelt es sich erneut um eine Mitgiftvereinbarung, die die Eheschließung zwischen Aurelios Markos und seiner uns namentlich nicht bekannten Braut betrifft. In deren Mitgift befindet sich ein σουδαριον [ἐπικ]αρσιον, ein, so übersetzt Carl Wessely in der editio princeps, „schräg (diagonal) gemustertes Schweißtuch“. Hier sei kurz daran erinnert, dass ein weiteres Dokument aus der selben Papyrusedition ein ἐπικάρσιον enthält, nämlich CPR 1/27. Bei diesen beiden Dokumenten fällt Wesseleys Übersetzung überraschend unterschiedlich aus, ohne dass er eine Erklärung für seine abweichenden Deutungen des Begriffs beifügen würde. Während ἐπικάρσιος von ihm einmal als Spezifizierung des textilen Dekors verstanden wird – schräg diagonal gemustert (CPR 1/27) –, bezeichnet es im anderen Text eine bestimmte Mantelform, mit der evtl. die Schrägmäntelchen der archaischen Koren assoziiert werden (CPR 1/21). Im dritten Band der Aegyptischen Urkunden aus den Königlichen Museen zu Berlin, taucht ein ἐπικάρσιον wieder gemeinsam mit anderen Textilien auf. BGU 3/816, ein Brief aus dem Arsi­ noites, listet in den Zeilen 18f.: χιθῶνα ἐριοῦν (lies χιτῶνα ἐρεοῦν) καὶ λινοῦν καὶ ἐπικάρσιν. Wieder ist der Terminus also eindeutig auf Textilien bezogen, um deren Zusendung der Verfasser des Briefes bittet. Im Zeilenkommentar wird durch Grigol Zereteli ohne weitere Erklärung die Deutung von ἐπικάρσιν als Verschreiber für ἐπικαρσιν vorgeschlagen – ein Begriff, den allerdings weder Preisigke noch Liddell – Scott – Jones als Eintrag führen und für den es, soweit ich sehe, keine Parallelen gibt. Bemerkenswert erscheint mir die Differenzierung nach Materialien, die der Verfasser des Briefes hier vornimmt – Chitone aus Wolle und aus Leinen werden hier geordert. Ἐπικάρσιος dürfte hier wohl als dritte Variante einer Spezifizierung von Chitonen aufgefasst werden, wie diese bereits in P.Bodl. 1/61(d) für diese Kleidertypus begegnet ist. Es stellt sich die Frage, ob dies umgekehrt bedeuten könnte, dass Chitone, die als ἐπικάρσιος bezeichnet werden, also nicht aus Wolle und nicht aus Leinen bestanden. Auch darauf wird noch zurückzukommen sein. In P.Oxy. 6/921, einem Inventar aus dem 3. Jh. n.Chr., wird neben verschiedenen anderen Kleidungsstücken ein ἐπικάρσιον καινὸν gelistet, welches die Editoren, Bernard P. Grenfell und Arthur S. Hunt, als Kreuzband, „cross-band“, interpretieren und entsprechend übersetzen. Man könnte mutmaßen, ob für diese gänzlich neue Interpretationsidee vielleicht klassische Statuen, insbesondere vielleicht die 1880 in Pergamon entdeckte Athena mit der Kreuzbandägis, Pate gestanden haben (Abb. 1).25 Diese Deutung des Begriffs wird wohl Grundlage für die Edition von P.Oslo 2/56 fünfzehn Jahre später gewesen sein. In einem Papyrus aus dem 4. Jh. n.Chr. aus Philadelpheia, der als SB 8/9834b 1967 in das Sammelbuch aufgenommen wurde, sind vier nicht näher spezifizierte ἐπικάρσια in der Liste eines Pfandleihers enthalten. Für diesen Text legte Elinor M. Husselman bereits 1961 in der editio princeps eine Übersetzung vor, in der sie von „striped garments“ spricht.26 Der späteste Beleg für ἐπικάρσια stammt aus dem 7. Jh. n.Chr. Es handelt sich um SB 16/12942, eine stark fragmentarische Liste von Textilien unbekannter Herkunft.27 Die Lesung ist hier allerdings sehr unsicher, wie auch der Zeilenkommentar in der editio princeps betont.28 25 Vgl. dazu Grassinger 2008, 217. 26 Husselman 1961, 264–265. 27 Der unten abgebrochene Papyrus ist aus einem älteren, vorher koptisch beschriebenen Dokument herausgeschnitten worden; Diethart 1983, 13. 28 Diethart 1983, 14. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Kleinkariert, großkariert, feinkariert?

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Abb. 1: Sog. Athena mit der Kreuzbandägis

Nach Durchsicht der papyrologischen Belege bleibt also festzuhalten, dass ἐπικάρσιος/ἐπι­κάρ­ σιον stets im Kontext von Kleidungsstücken auftauchen. Als Adjektiv beschreibt ἐπι­κάρσιος unterschiedliche Textilien – Chitone, ein Taschen- bzw. Schweißtuch (σου­δά­ριον) und eine Bett­decke (τάπης), evtl. auch einen Mantel (παλλίολον) – näher, es wird mal als Gegensatz zu den Adjektiven ἐρεοῦς und λίνεος/λινοῦς verwendet, mal wird als Material Leinen explizit

angegeben. In der Folge gilt es nun, den Blick kurz auf die – nicht sehr umfangreiche – literarische Über­ lieferung zu richten, aus der die Verfasser der Lexikoneinträge ja in der Regel ihre Vorschläge zur Wortbedeutung ableiten.29 Zu nennen ist hier zuerst Herodots Beschreibung Babylons. Im ersten Buch (1,180) wird mit diesem Begriff das Straßennetz der Stadt beschrieben, das offenbar aus rechtwinklig angeordneten Straßen­zügen besteht. Das Wort taucht noch zwei weitere Male in den Historien auf: In 4,101 bezeichnet es die Position bzw. Fahrtrichtung der Schiffe, während es in 7,36 verwendet wird, um Schiffsplanken näher zu beschreiben. Die Editoren stimmen darin überein, hierin rechtwinklige bzw. überkreuzte verlegte Planken zu sehen.30 Außerdem taucht es in der Odyssee (9,70) im Kontext von Schiffen auf. Hier bereitet die Deutung einige Probleme, vermutlich ist es von ἐπί und κάρη herzuleiten. William B. Stanford deutet es als „head-foremost, plunging“ und kommentiert weiter:

29 Vgl. etwa Liddell – Scott 1843, s.v. ἐπικάρσιος mit der Bedeutungserweiterung in Liddell – Scott – Jones 9 1940, s.v. ἐπικάρσιος. 30 How – Wells 1949, 143. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Kerstin Droß-Krüpe Later it means ‚cross-wise, at an angle‘, and some (including a Scholiast) take it = ‚drifting, making lee­way‘ here.31

Auch bei Polybius taucht es mehrfach auf, es bezeichnet dabei stets Rechtwinkliges.32 Auch in der literarischen Überlieferung fehlen somit Belege für eine Deutung des Begriffs als ‚gestreift‘. Versucht man nun, beide Befunde in Einklang zu bringen, ergibt sich daraus eine neue Deutung von ἐπικάρσιος/ἐπικάρσιον – nämlich nicht als schräge bzw. gestreifte, sondern vielmehr als karierte Kleidungsstücke! Und in der Tat zeigen archäologische Funde, dass solche Textilien in der Antike verbreitet waren. Dabei ist nicht etwa sofort an die hallstattzeitlichen Textilfunde zu denken, die vielfach karierte Dekors aufweisen33 – auch aus dem römischen Ägypten haben sich karierte Stoffe erhalten. So zeigt ein heute im Louvre befindliches spätantikes Textilfragment aus Wolle und Leinen, neben anderen Dekors, auch farbige Karomuster.34 Aber auch frühere Belege lassen sich finden, so z.B. in den Textilresten vom Mons Claudianus aus dem 2. Jh. n.Chr.35 Außerhalb von Ägypten finden sich karierte Stoffe auch in Palmyra, hier sind aber alle Exempla aus Baumwolle gefertigt, also mit einiger Wahrscheinlichkeit importiert.36 Weiterhin finden sich karierte Textilien in mehreren spätantiken syrischen Fundstellen, so z.B. in Halabiya, und auch in Israel und Palästina.37 Im entwickelten Webvorgang lassen sich relativ unkompliziert karierte Stoffe herstellen, der Aufwand ist allerdings ein wenig höher als für die Fertigung unifarbener Textilien, umfasst er doch ein beständiges Zählen. Die schematische Darstellung verdeutlicht das Prinzip – beim Einrichten des Webstuhls werden in regelmäßigen Abständen andersfarbige Kettfäden verwendet (Abb. 2). Durch die Verwendung von Schussfäden gleicher Farbe ergibt sich ein Karomuster. Die Karos können dabei vollflächig sein (Vichy- oder Blockkaro) oder nur als Umrisse bzw. Rahmen gestaltet werden – je nach dem wie viele Kett- bzw. Schussfäden in der Kontrastfarbe zum Einsatz kommen. Dies passt besonders gut zu den Belegen, die ἐπικάρσια explizit von leinenen Gewändern separieren, ist doch Leinen deutlich schwieriger einzufärben als Wolle, die zweifelsohne als das dominierende textile Rohmaterial der Antike zu gelten hat.

31 Stanford 21959, 351 (Komm. zu 9,70). 32 Mauersberger 1956, 929; 6,30,6 quer, d.h. rechtwinklig zu etwas; 21,28,9: quer durch ein Gelände laufender Fluß. Spätere Autoren verwenden das Wort im Kontext mit Schiffen. So z.B. Quintus von Smyrna, als er – vielleicht im 3. Jh. n.Chr. – schildert, wie Diomedes und Odysseus nach Skyros segeln, um Neoptolemos zu holen; Posthomerica 5,80–82: Νῆες δὲ στονόεσσαι ὐπὲρ πόντοιο φέροντο, αἳ μὲν ἄρ’ ἐσσύμεναι, αἳ δὲ κατ’ ἰθὺ νισόμεναι (Quintus von Smyrna, Der Untergang Trojas, 2 Bde., hrsg., übers. u. komm. v. U. Gärtner, Darmstadt 2010). Gelegentlich erscheint es bei Medizinschriftstellern: Orib. Ecl. 97,15; Aret. p. 69. Vgl. die spärlichen Einzelbelege im TLG, s.v. ἐπικάρσιος, 1618. 33 Beispiele für verschiedene Karomuster vom 8. Jh. v.Chr. an auch bei Grömer 2010, 168–170. 34 du Bourguet 1964, 232 Nr. E117. 35 Beispielsweise MC1105 oder AS960, s. Bender Jørgensen 2007, 27–35. 36 Für die Textilien aus Palmyra s. Schmidt-Colinet 1995, 47–51 u. Schmidt-Colinet – Stauffer – al-As’ad 2000. Zu den Belegen für Baumwolle im römischen Ägypten vgl. Wild 1997, 287–298 u. Droß-Krüpe 2013, 150–151. 37 Pfister 1934, Taf. VI–XII u. Sheffer – Tidhar 1991, Kat.Nr. 14. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Kleinkariert, großkariert, feinkariert?

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Abb. 2: Leinwandbindung mit Farbwechsel in Kette und Schuss (Blockkaros)

Die explizite Erwähnung von leinenen ἐπικάρσια in SB 20/14178 widerspricht dieser Deutung nicht, auch Karostoffe aus Leinen sind denkbar und machbar. Dies zeigt beispielsweise ein spät­ antikes Textilfragment unbekannter Provenienz, das sich heute in Berlin befindet (Abb. 3). Es handelt sich um ein Leinengewebe in Leinwandbindung; auch die farbigen Fäden, die in graublau und weiß die Karos auf dem in zwischen leicht gelblichen Grundstoff bilden, sind aus gefärbtem Leinen. Ebenfalls rein aus Leinen besteht ein blau-weiß kariertes Gewebefragment in der Sammlung der Abegg-Stiftung, das ebenfalls in die Spätantike (4.–7. Jh. n.Chr.) datiert wird (Abb. 4). Aber auch beim Einsatz monochromer Fäden in Kette und Schuss lassen sich Karomuster erzeugen – durch das Spinnrichtungsmuster. Verschieden gesponnene Garne (man spricht hier je nach Drehrichtung der Spindel von s- oder z-gedrehten Garnen) erzeugen nämlich gewisse optische Effekte. Werden Gruppen von s- und z- gesponnen Garnen nun in einem Gewebe nach dem selben Schema angeordnet, das bei unterschiedlich gefärbten Garnen ein Blockkaro entstehen lässt, ergibt sich ein Ton-in-Ton gehaltenes feines Karomuster. Dieses textile Dekor ist v.a. für die Hallstattzeit häufig belegt.38

Abb. 3: Zwei Fragmente eines karierten Gewebes, Leinen und Wolle, Ägypten, 5.–7. Jh., Museum für Byzantinische Kunst Inv. 9028 u. 9029 38 Grömer 2010, 164–165 mit Abb. 83. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

126

Kerstin Droß-Krüpe

Abb. 4: Kariertes Leinengewebe mit Blüte, Ägypten (?), 4.–7. Jh., Abegg-Stiftung CH–3132 Riggisberg Inv. Nr. 480

Karomuster aller Art sind dabei im Vergleich zu ungemusterten oder gestreiften Textilien die qualitätsvolleren und in der Herstellung durch das ständige Zählen der Fäden aufwändigeren Produkte – dies könnte den relativ hohen Preis erzielen, wie er für ἐπικάρσια in SB 24/15922, P.Dura 30 und P.Dura 33 dokumentiert ist.39 Nicht unterschlagen werden soll, dass an den antiken Webstuhltypen durchaus auch schräg gemusterte Gewebe hergestellt werden konnten. Die Fertigung von Gleichgrat-, Fischgrät- oder Spitz­grat­köperbildungen, die alle ein charakterischers Diagonalmuster bilden, ist aber webtechnisch enorm aufwändig, da für deren Fertigung drei oder vier Litzenstäbe sowie eine relativ komplizierte Zuordnung der einzelnen Fäden zu diesen Litzenstäben notwendig ist. Während es aus Mitteleuropa zahlreiche hallstattzeitliche Textilfunde gibt, die diese Bindungs­arten aufweisen, werden sie in der Latènezeit selten. Aus dem römischen und byzantinischen Ägypten sind sie nur selten belegt.40 Alle erhaltenen Beispiele für Köperbindungen sind dabei in der gesamten antiken Welt ausschließlich aus Wolle gefertigt – dies ist angesichts von P.Oxy. 42/3060 das vielleicht stärkste Argument gegen die Deutung der ἐπικάρσια als schräggemusterte Köperstoffe. Am Ende dieser Überlegungen steht also ein neuer Deutungvorschlag für die ἐπικάρσια – nämlich als karierte Stoffe bzw. Kleidungsstücke.

39 So entstehen die Karos in dem bereits erwähnten Textilfragment in der Abegg-Stiftung in Riggisberg (vgl. Abb. 4) durch die folgende Schärfolge: 4 blaue, 4 weiße, 10 blaue, 4 weiße und 4 blaue Kettfäden, ge­trennt durch einmal 44, einmal 50 und einmal 51 Kettfäden; sowie Schussstreifen in Gruppen von 4 blauen, 4 weißen, 16/22/24 blauen, 4 weißen und 4 blauen Einträgen; Schrenk 2004, 393. 40 So hat Dominique Cardon mehrere Textilfragmente aus einigen der kleinen Garnisonen in der ägyptischen Wüste publiziert, die in 2/1 Fischgrätköper gefertigt sind; Cardon 2003, 631 u. 645. Auch vom Mons Claudianus stammen verschiedene Köpervarianten, darunter Diamant-Köper. Diese sind aber sehr selten, eventuell handelt es sich um Importe; Bender Jørgensen 2000. Eine gute Zusammenschau bietet Bender Jørgensen 2017, insb. 239–240 mit Abb. 9.3. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Kleinkariert, großkariert, feinkariert?

127

Anhang Beleg

Datierung

Ort

Terminus

LIDDELL – SCOTT

Jahr der ed. princ.

Übersetzung

1

1843

headwards; cross wise at an angle, at a right angle; cross planks

CPR 1/27, 9 (= SPP 20/15), mit BL 8, S. 265

vor 189

Ptolemais Euergetis

παλλίολον γλορ̣ὸ̣ν̣ // ἐ̣π̣ικάρσιον

1895

dicker schräger Mantel

WO 64, 4

101–102

Elephantine oder Syene

ὑπ(ὲρ) ἐπικαρσίου

1899



WO 67, 6

101–102

Elephantine oder Syene

ὑπ(ὲρ) ἐπικαρσίου

1899



BGU 3/816, 19

3. Jh.

Arsinoites

καὶ λινοῦν καὶ ἐπικάρσιν

1903



P.Oxy. 6/921r, 14

3. Jh.

Oxyrhynchos

ἐπικάρσιον καινόν

1908

cross-band

1913

Grossband

1916



1924

schräg ge­mustert, mit schräglaufenden Streifen verziert, ein mit Quer­streifen ge­ mustertes Tuch

REIL P.Oxy. 12/1583, 6

Ende 2. / Anfang 3. Jh.

Oxyrhynchos

τοῦ [φαι]νόλου καὶ τοῦ ἐπικαρσίου

PREISIGKE

P.Oslo 2/56, 5 SB 5/7575, 3–4 (zuerst: Jouguet – Guéraud 1933, 443–454)

2. Jh.

1.–2. Jh.

?

ἐπικαρσίω(ν) Διοσπόλεως ζεῦγος καλών

1931

cross-bands / cross-woven clothes

Elephantine

κάλον λινοῦν σὺν τῷ ἐπικαρσίωι

1933 (SB 1934– 1955)

une pièce de vêtement, que nous ne savons pas définir

9

1940

cross-wise, at an angle; striped

LIDDELL – SCOTT – JONES P.Dura 30, 20

232

Qatna (nahe Dura Europos)

Μ̣η̣δίσκ[ια] καὶ ἐπικάρ[σ]ι̣[α

1959

silken and striped stuffs

P.Dura 33, 9

240–250

Dura Europos

ἐπικάρσιν ἑπτακ̣οσίων

1959

striped garment

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Kerstin Droß-Krüpe

Beleg

Datierung

Ort

Terminus

Jahr der ed. princ.

Übersetzung

SB 8/9834b, 41 (zuerst Husselman, 1961, 251–266)

Anfang 4. Jh.

Philadelpheia

ἐπικάρσια

1961 (SB 1965– 1967)

striped garments

P.Oxy. 42/3062, 3–4

1. Jh.

Oxyrhynchos

τὸν ἱστὸν τῶν ἐπικαρσίων

1974

striped

P.Oxy. 42/3060, 4

2. Jh.

Oxyrhynchos

ἐπικ[ά]ρσιον ὁμοίως̣ ἡμι̣τ̣ρ̣[ιβη]ν

1974

striped (?) garment

SB 16/12942, 11 (zuerst Diethart 1983, 7–14)

7. Jh.

?

ἐ̣π̣ι̣κ̣[άρσι

1983 (SB 1985– 1988)

Tücher gemustert (?)

SB 20/14178, I, 21, 22 u. 25 (zuerst. Gundel 1988, 226–233)

2. Jh.?

Arsinoites

λ̣ι̣ν̣ο̣ῦ̣[ν] ἐπικάρσιν // ἐπι[κάρ]σιν καινὸν ζήστουπλο\μ/ // ἐ̣π̣ι̣κ̣ά̣ρ̣σιν τ̣[απ]ή̣τ̣ιν

1988

ein mit Quer­streifen ge­mustertes Tuch / mit Quer­streifen ge­musterte Bettdecke

P.Bodl. 1/61(d), 5

2. Jh.

Arsinoites ?

κιτῶνας ἐπικαρσί[ους

1996



SB 24/15922, III, 5 u. 8; VI, 3 u. 6 (zuerst Pintaudi – Sijpesteijn 1996/1997, 183–187)

Ende 2. / Anfang 3. Jh.

Hermupolis Magna

ἐπι̣κ(άρσια) θαλ(άσσια) (δί)λ(ασσα) // ἐπικ(άρσια) Ἀθριδ( )

1997 (SB 2003)



Abbildungsnachweis Abb. 1: Athena mit der Kreuzbandägis, Pergamon, Antikensammlung Berlin Inv. AvP VII 22. © Antiken­ sammlung, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: G. Geng. Abb. 2: Leinwandbindung mit Farbwechsel in Kette und Schuss, der zu Blockkaros führt. © Karina Grömer (Wien). Abb. 3: Zwei Fragmente eines karierten Gewebes, Leinen und Wolle, Ägypten, 5.–7. Jh., Museum für By­ zan­tinische Kunst Inv. 9028 u. 9029. © Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Reinhard Saczewski. Abb. 4: Kariertes Leinengewebe mit Blüte, Ägypten (?), 4.–7. Jh., Abegg-Stiftung CH–3132 Riggisberg Inv. Nr. 480. ©Abegg-Stiftung, CH–3132 Riggisberg, Foto: Christoph von Viràg.

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© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Kleinkariert, großkariert, feinkariert?

129

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Kerstin Droß-Krüpe

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Assurbanipal, der Wirtschaftsweise. Einige Überlegungen zur mesopotamischen Preistheorie* Sebastian Fink Während Adam Smith und David Ricardo weithin als die Väter der Preistheorie gelten1, soll hier ein Blick auf die wahren Ursprünge derselben gelenkt werden, die – wie sollte es anders sein – im antiken Mesopotamien zu finden sind. Da uns aus Mesopotamien kaum Texte theoretischer Natur überliefert sind, können wir die mesopotamische Preistheorie allerdings nicht anhand einer zusammenhängenden Abhandlung über die Bildung von Preisen studieren, sondern müssen einen Blick in verschiedene Textgattungen wagen, um aus den dort vorliegenden Informationen eine mesopotamische Preistheorie abzuleiten. Kurz zusammengefasst kann man sagen, dass im alten Mesopotamien ein grundlegendes Verständnis dafür vorhanden war, dass ein Überangebot eines gewissen Gutes die Preise sinken lässt, während eine Verknappung die Preise steigen lässt. Da Zeit ebenfalls ein knappes und damit wertvolles Gut ist, will ich den Jubilar und alle weiteren potentiellen Leser/innen dieses Textes nicht mit einer Aufstellung aller in Frage kommender Quellenstellen ermüden,2 sondern mich auf eine Diskussion einiger besonders prägnanter Passagen konzentrieren, die ausreichen, um klar zu beweisen, dass Assurbanipal, der im 7. Jh. v.Chr. das assyrische Reich als König regierte, postum der Rang eines Wirtschaftsweisen verliehen werden sollte, auch wenn er, wie sogleich gezeigt werden wird, auf Erkenntnisse zurückgreifen konnte, die bereits in Texten des dritten Jahrtausend v.Chr. niedergeschrieben worden waren und mit deren Kenntnis sich dieser König in seinen Inschriften brüstete.3 Erkenntnis 1: Verknappung führt zu hohen Preisen Dass Kriege im Allgemeinen und Belagerungen von Städten im Speziellen zu einer Ver­ knappung von Lebensmitteln in denselben führen, ist selbsterklärend und muss nicht weiter aus­geführt werden.4 Städtebelagerungen sind sowohl im Altertum als auch in der Moderne ein häufiges Phänomen der Kriegsführung und so verwundert es nicht, dass der erste detaillierte Bericht über die wirtschaftlichen Folgen der Belagerung von Städten bereits im dritten Jahr­ tausend vor Christus verfasst wurde. Hierbei handelt es sich um den sogenannten Fluch auf Akkad,5 der uns vom Untergang des Reiches von Akkad berichtet, das gemeinhin als das erste Imperium der Weltgeschichte bezeichnet wird.6 Imperien, soviel können wir an dieser Stelle zur * 1 2 3 4 5 6

Ich danke Kerstin Droß-Krüpe für zahlreiche Hinweise und Korrekturen. Vgl. einführend beispielsweise Korn 2016 oder Engelkamp – Sell 72017, 116–151. Dennoch soll hier der Hinweis auf Fales 1996 nicht fehlen, der eine große Anzahl von Quellen mit Infor­ mationen zu den neuassyrischen Preisen zusammengestellt und analysiert hat. Siehe nun auch Gaspa 2014. Siehe zuletzt Novotny 2014, xvi–xvii. Zur Darstellung von Kriegsfolgen in Quellen des dritten Jahrtausends siehe Fink 2016a. Die grundlegende Edition erfolgte durch Cooper 1983. Die in der Folge verwendete deutsche Übersetzung stammt von Cavigneaux 2015. So zumindest der Titel eines von Mario Liverani 1993 herausgegebenen Sammelbandes Akkad. The First World Empire. Auch das 2016 herausgegebene Buch von Benjamin Foster über das Reich von Akkad © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Sebastian Fink

Imperiendiskussion beitragen, sind in erster Linie kriegsführende politische Gebilde, die sich – über kurz oder lang– den Zorn ihrer Nachbarn, die in regelmäßigen Abständen mit Krieg überzogen und ausgeplündert werden, zuziehen. Diese, sich wiederholende Tatsache der mesoptamischen Imperiengeschichte, ist zum ersten Mal für das Reich von Akkad dokumentiert. Nach der Auskunft des bereits erwähnten Fluch auf Akkad, eines klar literarischen Textes, fallen wilde Horden aus dem zuvor wiederholt von den Akkadern heimgesuchten, ressourcenreichen iranischen Hochland nach Mesopotamien ein und vernichten das Reich von Akkad.7 Ihr gewalttätige Offensive hatte naturgemäß negative Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben von Akkad und diese werden im Keilschrifttext im Detail beschrieben.8 lu 2-kiĝ2-gi4-a har-ra-an-na nu-mu-un-ĝen 163ĝišma 2 ra-gaba id 2-da nu-mu-un-dib-be2 (…) 167harra-an-na lu 2-sa-gaz ba-e-tuš (1 ms. has instead ba-e-sig3) 168abul kalam-ma-ka ĝišig im-ma ba-e-gub 169 kur-kur-ra bad3 iriki-ne-ne-ka gu3 gig mi-ni-ib-be2-ne 170iriki šag4 edin bar daĝal nu-me-a mu 2-sar mu-un-de3-ĝal2 162

Die Boten trauen sich nicht mehr auf die Wege, die Kurierboote wagen sich nicht mehr auf die Kanäle. (...) an den Wegen lauern die Räuber. An den Stadttoren im Lande stehen die Türflügel tief in die Erde eingeklemmt. Alle Nationen, (eingeschlossen) in ihren befestigten Städten, klagen bitterlich. Die Innenstadt, als wäre sie der weite Steppenrand, wird mit Beeten bepflanzt (Z. 162–170)9

Die geschilderte Situation ist hinreichend klar: Das Umland der Städte ist vom Feind besetzt und jeder, der sich hinauswagt, begibt sich in Gefahr, dem Feind zum Opfer zu fallen. Handel und Landwirtschaft kommen zum Erliegen, die Bevölkerung flüchtet in die Städte. Natürlich führt solch eine Situation zu einem Mangel an Nahrung, dem versucht wird durch die Kultivierung von Freiflächen innerhalb der Stadt entgegenzutreten. Der feindliche Angriff führt also zu einer Verknappung des Lebensmittelangebotes. Was geschieht aber nun mit den Preisen für Lebensmittel und andere Waren? Der Text führt weiter aus: ud-ba i3 1 gin2-e ½ sila 3-am3 177še 1 gin2-e ½ sila 3-am3 178siki 1 gin2-e ½ ma-na-am3 179ku6 1 gin2-e ba-an-e ib2-si

176 ĝiš

In jenen Tagen kaufte man Öl zum Preis von einem Schekel (Silber) für einen halben Liter, Gerste zum Preis von einem Schekel für einen halben Liter, Wolle zum Preis von einem Schekel für eine halbe Mine, Fisch zum Preis von einem Schekel für einen Korb (...) (Z. 176–179)10

Antoine Cavigneaux weist darauf hin, dass hier der Preis für Gerste in etwa das 300-fache des, aus zeitgleichen administrativen Dokumenten bekannten, üblichen Preises beträgt.11 In diesem

7 8 9 10 11

betont die Rolle Akkads bei der Herausbildung des Konzepts eines Imperiums und trägt den folgenden Titel: The Age of Agade. Inventing Empire in Ancient Mesopotamia. Zur Frage der Beschaffung von Ressourcen im ressourcenarmen Mesopotamien siehe Fink 2016b. Die Umschrift stammt aus der Onlinepublikation ETCSL: http://etcsl.orinst.ox.ac.uk/section2/c215. htm#line1.1 Cavigneaux 2015, 329. Cavigneaux 2015, 330. Eine Untersuchung der Preisschwankungen im hellenistischen Babylonien bietet Van der Spek 2000. Eine Tabelle auf S. 294 bietet eine Übersicht über die Getreidepreise von Artaxerxes I bis in die parthische Zeit. Van der Spek kann aufzeigen, dass die Ankunft Alexanders in Babylon zu steigenden Getreide­ © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Assurbanipal, der Wirtschaftsweise

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Text fließen geschichtsphilosophische und wirtschaftstheoretische Überlegungen mesopotamischer Gelehrter zusammen und es wird aufgezeigt, dass eine Verknappung von Lebensmitteln zu einer Preissteigerung führt. Der Fall des Reiches wurde zwar durch den Ratschluss der Götter verursacht, der akute Auslöser für den Untergang ist jedoch ein massives Fehlverhalten des Königs von Akkad. Ob das Schwanken der Preise mit Überlegungen zum Aufstieg und Fall von Imperien verbunden wurde, lässt sich aus dem Text nicht ablesen. Klar ist jedoch: Wenn ein Imperium zerfällt, ist das schlecht für die Wirtschaft des Imperiums und die Preise steigen. Fassen wir kurz zusammen: nach Auskunft des Textes führt ein Krieg im Land – also in der Kernregion des Imperiums12 – unweigerlich zu wirtschaftlichen Verwerfungen. Der Handel und die Landwirtschaft kommen zum Erliegen, die Produktion bricht ein und die Bevölkerung kann sich nur noch innerhalb der Stadtmauern sicher fühlen. Während dies für kurze Zeit praktikabel ist, führt die fehlende Versorgung der Stadt, deren wesentliches Kennzeichen und wohl überhaupt die Voraussetzung ihrer Existenz, die Abkehr von der Subsistenzwirtschaft ist, längerfristig zu großen Problemen, namentlich zu einer Lebensmittelverknappung und schlussendlich zu einer Hungersnot. Diese wesentlichen Motive sind alle im Fluch auf Akkad vorhanden und daher verzichte ich darauf, weiter Beispiele zu geben, da die Darstellung von Hungersnöten in Mesopotamien von anderen Autoren ausführlich behandelt wurden und entsprechende Parallelen somit leicht auffindbar sind.13 Allerdings sei darauf verwiesen, dass auf den Fluch auf Akkad mehrere Texte folgen, die sogenannten Städteklagen, die sich mit dem Ende des nächsten mesopotamischen Imperiums, des Reiches von Ur III (ca. 2110–2000) auseinandersetzen. Viele Themen des Fluchs von Akkad werden hier aufgegriffen und teilweise weiterentwickelt – so auch die Schilderung einer Hungersnot im Gefolge der kriegerischen Handlungen.14 Hohe Preise wurden jedoch bereits vor dem Fluch auf Akkad als Übel erkannt, und so beschäftigt sich der sogenannte Reformtext der Urukagina (ca. 2350) mit der Regulierung der Auswüchse des freien Marktes, unter anderem durch die Festsetzung der Preise für Begräbnisse.15 Doch zurück zu den steigenden Preisen. Die enge Verknüpfung von steigenden Preisen und Hungersnöten zeigt sich – man könnte ja den Einwand vorbringen, dass der kausale Zu­ sammen­hang zwischen Verknappung des Angebotes und steigenden Preisen nicht erkannt, sondern nur ihr gleichzeitiges Auftreten geschildert wurde – im Rahmen von Fluchformeln, die in erster Linie zur Besiegelung und Bekräftigung von Verträgen dienen. Hier werden dem Vertrags­partner die drastischen Konsequenzen eines etwaigen Vertragsbruches mit großer Liebe zum Detail vor Augen geführt und im Rahmen des Schwurs auf den Vertrag werden die Götter, die als Zeugen des Vertrages auftreten, angerufen die vertragsbrüchige Partei aufs Schlimmste zu bestrafen. Während diese Gattung bereits seit frühester Zeit bekannt ist – man denke hier etwa an die berühmte Geierstele des Eanatum (ca. 2450)16 – finden sich die detail-

12 13 14 15 16

preisen führte, was sicherlich nicht zu einer allgemeinen Zufriedenheit der Bevölkerung mit ihrem selbsterwählten Befreier beitrug. Im Sumerischen existiert hierfür das Wort kalam, in etwa „Heimatland“, das die zivilisierte Kernregion Mesopotamiens bezeichnet und nie für Fremdländer (kur) verwendet wird. Zuletzt bei Kottsieper 2017 mit zahlreichen Hinweisen auf ältere Literatur. Siehe auch Groneberg 1991. Drei der insgesamt fünf bekannten Städteklagen sind fast vollständig erhalten und liegen in modernen Editionen vor. Dies sind Michalowski 1989, Tinney 1996 sowie Samet 2014. Eine Übersetzung des Textes findet sich in Frayne 2008, 259–265 (RIME 1.9.9.1). Der Text wird dem sogenannten „Umma-Lagaš-border-conflict“ zugeordnet, der von Cooper 1983 ausführlich analysiert wurde. Ziel der hier ausführlich geschilderten Zeremonie war es die Einhaltung eines © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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liertesten und phantasievollsten Flüche in neuassyrischer Zeit – somit gelangen wir nun in die Zeit Assurbanipals. Die neuassyrische Zeit (911–605 v.Chr.) ist durch einen beispielslosen Erfolg mesopotamischer imperialer Politik gekennzeichnet. Große Gebiete außerhalb Mesopotamiens wurden dem Reich eingegliedert und die zahlreichen neuassyrischen Texte – sowie die Bibel – berichten uns von einer aggressiven imperialen Politik der Assyrer.17 In den bereits erwähnten Fluchformeln wird also eine hypothetische Situation beschrieben, die die gegnerische Partei im Falle von Vertragsbruch ereilen soll und – zumindest gemäß der Darstellung in den neuassyrischen Texten – auch immer ereilt (siehe dazu weiter unten). In dem sogenannten Nachfolge­vertrag des Asarhaddon (680–669 v.Chr.; SAA 2, 6) finden wir folgende Fluchformel, die auf Zeile 513 beginnt und erst mit Zeile 663 endet. Ziel des Vertrages ist es, den – wie Asarhaddon am eigenen Leib erleben musste18 – gefährlichen Übergang des Thrones von einem Herrscher auf seinen Nachfolger zu regeln und Probleme, wie Thronstreitigkeiten und Bürgerkriege, zu vermeiden. Aufgrund der Länge des Textes sehe ich davon ab, all die detaillierten Flüche wiederzugeben, die die verschiedensten Lebensbereiche des Vertragspartners betreffen und die ihm vor allem mit der physischen Auslöschung seiner selbst und seiner gesamten Nachkommenschaft drohen. Im Zentrum der Drohungen steht der Hunger, der, zumindest auf der Ebene des Fluches, durch die Götter ausgelöst werden soll. In der Realität (oder vielleicht besser: in der assyrischen Propaganda) wird diese Aufgabe dann durch den Assyrerkönig wahrgenommen, der im Auftrag des Reichsgottes Assur einen Rachefeldzug gegen die Vertragsbrüchigen unternimmt.19 Aus der folgenden Passage wird deutlich, dass die Götter den Vertragsbrüchigen ihre Lebensgrundlage entziehen sollen – die Erde hart wie Eisen machen und dem Land keinen Regen mehr schicken – und in der Folge sollen sie die Preise steigen lassen:20 šum-ma at-tú-nu ina ŠÀ a-de-e an-nu-te ˹šá˺ maš-šur—PAB—AŠ MAN KUR—aš-šur EN[ku-nu] 514[ina] UGU maš-šur—DÙ—A DUMU—MAN GAL-u šá É—UŠ-˹te˺ 515EŠ]-MEŠ-šú DUMU [AMA-šú ša maš]-˹šur—DÙ˺—[A] DUMU—MAN GAL-u šá É—UŠ-te 516u re-˹eḫ˺-[ti DUMU-MEŠ] ṣi-it—ŠÀ-bi šá maš-šur—[PAB—AŠ MAN] KUR—aš-šur 517EN-ku-nu is-si-ku-nu [iš-kun-u]-ni ta-˹a-˺a-[a]-˹ni˺ (…) 526KI.MIN KI.MIN DINGIR-MEŠ ma-la ina ṭup-pi a-˹de˺-e an[ni-e MU-šú-nu zak-ru] 527am—mar SIG₄ kaq-qu-ru lu-si-qu-ni-ku-nu 528qar-ku-nu ki-i AN.BAR le-pu-šu me-me-ni 529ina ŠÀ-bi lu la i-par-ru-’a (…) 532(…) lu la ˹il˺-lak ku-um zu-un-nu 533pe’-na-a-ti ina KUR-ku-nu li-iz-nun (…) 567KI.MIN KI.MIN NINDA-MEŠ ina pi-it-ti KUG.GI ina KURku-nu lu-šá-li-ku 513

Wenn Ihr gegen diesen Vertrag des Asarhaddon, des Königs von Assyrien, bezüglich des Assurbanipal, den (von mir) bestimmten, großen Kronprinzen, sowie bezüglich seiner Brüder, Kinder derselben Mutter wie Assurbanipal, des (von mir) bestimmten, großen Kronprinzen, sowie bezüglich des Rests der Nachkommen Assarhadons, König von Assyrien, sündigen solltet, (dann) (…) mögen die Götter, Vertrages sicherzustellen, was – wie die Fortsetzung des Konfliktes zeigt – jedoch nicht gelang. 17 Einen guten Überblick über das neuassyrischen Reiches bieten die Beiträge in dem von Frahm 2017 herausgegebenen Sammelband. 18 Zu diesem König und seinen körperlichen wie psychischen Problemen siehe Radner 2003. 19 Siehe Kottsieper 2017 für eine detaillierte Analyse der Hungersnotschilderungen in neuassyrischen, bib­ lischen und aramäischen Texten, die ihre höchste Zuspitzung in einer Schilderung des Kannibalismus finden. 20 Die Transkription folgt der teilweise aktualisierten Onlineversion: http://oracc.museum.upenn.edu/saao/ saa02/pager. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Assurbanipal, der Wirtschaftsweise

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die in dieser Vertrags-Tafel namentlich genannt wurden, den Boden eng wie einen Ziegel und die Erde hart wie Eisen machen, (damit) nichts aus ihr wachsen kann. (…) Anstelle von Tau mögen brennende Kohlen auf Euer Land regnen. (…) mögen sie Brot gleich (teuer) wie Gold machen.21

Wenn sich die Vertragspartner nicht an die hier getroffenen Regelungen halten sollten, soll sie der Zorn der Götter treffen, die in dem Text als Zeugen angerufen werden und für seine Einhaltung sorgen sollen. In der oben zitierten Passage ist es ihre Aufgabe den Boden „eng“ wie einen Ziegel und die Erde hart wie Eisen zu machen, was einem Erliegen der landwirtschaftlichen Produktion gleichkommt. Der Fluch, der augenscheinlich auf ein Ausbleiben des Regens und ein Versagen der Bewässerung setzt, wird in der Folge noch mythisch überhöht, wenn die Götter anstelle von Tau brennende Kohlen auf das Land regnen lassen sollen. Nach einem längeren Exkurs über Kannibalismus, gegenseitiges Halsabschneiden und herausfallende Gedärme von Söhnen und Töchtern, kommen wir zum Thema zurück. Zunächst (Zeilen 563–566) wird das Wasserthema wieder aufgegriffen und der Wunsch dargebracht, dass die Flüsse und Brunnen rückwärts fließen mögen, was wohl heißt, dass dem Land das Wasser entzogen werden soll. Darauf folgt die Passage, die klar herausstellt, dass Teuerung auch hier als eine Begleiterscheinung des Mangels erkannt wurde: „Mögen sie Brot gleich (teuer) wie Gold machen.“ Auch wenn hier die Götter angerufen werden um die Preise steigen zu lassen, können wir doch davon ausgehen, dass der Zusammenhang zwischen Angebot, Nachfrage und Preis erkannt wurde. Was an dieser Stelle als bloße Behauptung erscheint, soll im nächsten Abschnitt klar aufgezeigt werden, wenn wir uns den Inschriften des nunmehrigen Königs Assurbanipal (669–627? v.Chr.) zuwenden, die uns einen Beleg für die Erkenntnis, bieten dass auch der gegenteilige Fall bekannt war, namentlich dass ein Überangebot die Preise sinken lässt. Erkenntnis 2: Überangebot lässt die Preise sinken Es ist in der Forschung mehrfach betont worden, dass es sich bei Assurbanipal um einen außergewöhnlichen König handelte – einen Gelehrten auf dem Königsthron, der, trotz aller nötigen Demut gegenüber den Göttern, gelegentlich auch nicht davor zurückscheute seine Vorzüge und besonderen Gaben klar zum Ausdruck zu bringen:22 1.) a-na-ku Ian-šár-dù-a lugal gal lugal dan-nu 2.) lugal šú lugal kur an-šárki lugal kib-rat límmu-tim 3.) ṣi-it šà-bi Ian-šár-pap-AŠ lugal kur an-šárki 4.) GÌR-ARAD lugal kur eme-gi7 u uriki 5.) šà-bal-bal I-dingir sin-pap-meš-su lugal šú lugal kur an-šárki 6.) dingir-meš gal-meš ina ukkin-šu ši-mat sig5-tim i-šim-mu šim-ti 7.) uz-nu ra-pa-áš-tum iš-ru-ku-u-ni 8.) kul-lat ṭup-šar-ru-ti ú-šá-ḫi-zu ka-ra-ši Ich Assurbanipal, großer König, mächtiger König, König der Welt, König von Assyrien, König der vier Weltsektoren, Spross des Asarhaddon, König von Assyrien, Gouverneur von Babel, König von Sumer und Akkad, Nachkomme des Sanherib, König der Welt, König von Assyrien – die großen Götter haben mir in ihrer Versammlung ein gutes Geschick bestimmt. Sie haben mir ein weites Ohr geschenkt und mein Inneres die gesamte Tafelschreibkunst erfassen lassen. (I 1–8)23

21 Parpola – Watanabe 1988, 50–52. 22 Zu diesem Herrscher siehe Ito 2015 mit weiterführender Literatur. Die Umschrift folgt Borger 1996, 92–93 unter weitgehender Auslassung der Varianten. 23 Borger 1996, 205 (Einleitung Prisma B/D). Die Übersetzung ist jene von Borger und wurde teilweise leicht adaptiert beziehungsweise an die heute übliche Orthographie angepasst. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Doch Assurbanipal wurde von den Göttern nicht nur mit großer Weisheit ausgestattet, seine gottgefälligen Taten führten auch dazu, dass die Götter dem Land Überfluss schenkten: 27.) dingiriškur šèg-meš-šú ú-maš-še 28.) dingiré-a ú-paṭ-ṭi-ra idim-meš-šú 29.) 5(iá) diš še-am iš-qu ina ab-sín-ni-šú 30.) e-ri-ik šu-bul kingusilli (5∕6) (Var. šanabi (⅔)) diš 31.) si-sá(ešēr) buru14 na-pa-áš dingir nisaba 32.) ka-a-a-an ú-šaḫ-na-bu gi-pa-ru 33.) maš-anše šu-te-šur ina ta-lit-ti 34.) ṣip-pa-a-ti šu-um-mu-ḫa in-bu 35.) ina bala ḫé-nun ṭuḫ-du ina mu-an-na-meš-ia ku-um-mu-ru ḫé!-gál-lum 36.) 10 (u) (Var. 12 (u-min)) anše ŠE-PAD-meš 1 (diš) (Var. 3 (eš5)) anše geštin-meš 37.) banimin ì-meš 1 (diš) gun síg-meš 38.) ina nap-ḫar kur-ia KI.LAM nap-šú i-šam-mu ina 1 (diš) gín kas-pi Adad ließ seine Regengüsse los, Ea öffnete seine Quellen. Das Getreide wurde 5 Ellen hoch in seiner Saatfurche, die Ähre wurde 5∕6 (Var. ⅔) Ellen lang. Gedeihen der Ernte und großer Umfang der Nisaba (d.h. des Getreides) lassen ständig die Äcker üppig sprießen, die Obstgärten lassen Früchte gedeihen, das Vieh hat beim Werfen Gelingen. Während meiner Regierung (gibt es) Hülle und Fülle, während meiner Jahre (gibt es) Aufhäufung und Überfluss. 10 (Var. 12) Eselslasten Gerste, 1 (Var. 3) Eselslasten Wein, 2 Sea Öl und 1 Talent Wolle kaufte man in meinem ganzen Land, bei großem Umsatz, für einen Sekel. (I, 27–38)24

Der Text schildert uns also, was man unter Assurbanipals Herrschaft alles für einen Sekel Silber kaufen konnte – und die hier beschriebenen Mengen sind gewaltig. Für etwa 8,5 Gramm Silber hätte man unter Assurbanipal also 1840 Liter Gerste, 184 Liter Wein, 36,8 Liter Öl oder 30,4 Kilogramm Wolle kaufen können.25 Hier zeigt sich deutlich die Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen einer gottgefälligen Herrschaft, dem Blühen des Landes in landwirtschaftlicher Hinsicht und den dadurch sinkenden Preisen. Zudem betont Assurbanipal, dass es sich hier nicht etwa um Ausnahmen handelte, nein, diese Preise waren auch bei großer Nachfrage gültig.26 Doch sticht dem quellenkritisch geschulten Leser gleich ins Auge, dass bei der Erfassung der Daten wohl Probleme bestanden haben, da gerade bei den Zahlenangaben fast durchwegs Varianten bekannt sind. Waren die Ähren 5∕6 oder ⅔ Ellen lang? Konnte man nun 10 oder 12 Eselslasten Getreide für einen Sekel Silber kaufen? Und schlussendlich – und das gerade bei so einem beliebten Gut wie Wein – wird uns eine massive Abweichung präsentiert. Für einen Sekel bekommt man laut Auskunft einer Variante eine, nach der Auskunft der anderen drei Eselslasten Wein. Wurden die Angaben hier frei erfunden und sind deshalb so variabel? Mario Fales hat darauf hingewiesen, dass die Preise in den neuassyrischen Quellen extrem 24 Borger 1996, 205 (Einleitung Prisma B/D). 25 Zu den Maßen in neuassyrischer Zeit siehe Powell 1987–1990 u. Fales 1996, 12–20. 26 Zumindest wenn wir der Borgerschen Übersetzung folgen. Was Borger hier als „großen Umsatz“ übersetzt, ist die Phrase KI.LAM (mā ḫiru) nap-šú. Nach Auskunft des Chicago Assyrian Dictionary bezeichnet māḫiru sowohl den Markt(platz), die Geschäftstätigkeit, den Kaufpreis als auch die Menge einer Ware, die man für einen Sekel Silber bekommt. Der Kontext – namentlich die Erwähnung der überreichen Ernte – legt nahe, dass Borgers Übersetzung zutreffend ist und die hohe Produktion als direkte Ursache der niedrigen Preise angesehen werden und nicht etwa als Resultat eines ‚regen Handels‘. Fales 1996 bespricht mā ḫiru im Detail (siehe besonders die Zusammenfassung seiner Überlegungen auf S. 25) und gibt auf S. 23 folgende, abweichende Übersetzung der Passage: „In my reign there was prosperity aplenty, in my years there was fullness to overflowing: 12 homers of barley, 2 homers of wine, 2 sāti of oil, 1 talent of wool: throughout my land the rate of exchange was excellent, (these items) were brought for one shekel of silver.“ Simo Parpola (mündliche Mitteilung) schlägt vor, die Phrase als „lebhafter Markt“ zu übersetzen, was im Grunde der Übersetzung Borgers entspricht, aber etwas näher am Original ist. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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variabel erschienen – wie im Fluch auf Akkad findet er in neuassyrischen Quellen Preise, die das 300-fache des üblichen Preises betragen und weist darauf hin, dass in den Texten extreme Preise durch den Hinweis auf ein „schlechtes Jahr“ gerechtfertigt und abgesichert werden.27 Im Rahmen unserer Diskussion würde das bedeuten, dass das Wissen um Nachfrage, Angebot und Preise weit verbreitet war und die hohen Preise durch niedriges Angebot bei guter Nachfrage auf eine Art und Weise gerechtfertigt werden konnten, die sogar vor Gericht Bestand hätte, wenn der Käufer oder Verkäufer in Zeiten sich ändernder Preise auf die Idee kommen würde, den Vertrag anzufechten. Trotz all dieser Variabilität, hält Fales Assurbanipals Preisangaben jedoch für unglaubwürdig:28 (…) taking into account the possibility that not 12, but only 10 homers of barley were obtained for a shekel of silver, we find ourselves in a range of offer 5 times more favorable than the one recorded for the „steppe“ in the above-mentioned letter.29 It is thus difficult not to view the entire statement more to the domain of hyperbole, than to that of economic history.

Geht es einfach darum das Bild des Überflusses anhand von niedrigen Preisen zu evozieren? Hatte der Schreiber die dichterische Freiheit die Zahlen nach ihrem Wohlklang recht frei zu wählen, da eine akkurate Wiedergabe der Preissituation weniger wichtig erschien, als der Eindruck auf das Publikum? Angaben über die wirtschaftliche Situation wurden also allem Anschein nach bereits in neuassyrischer Zeit adaptiert (um nicht zu sagen manipuliert), um Eindruck auf das Publikum zu machen.30 Leider gibt uns Assurbanipal in seinen Inschriften keine Auskunft über Inflations- oder Deflationsraten, was den Vergleich mit Varianten in den Angaben aus den (Regierungs-)Palästen unserer Zeit einfacher machen würde.31 Doch nicht nur hier wird ein Zusammenhang zwischen Angebot, Nachfrage und Preisen hergestellt. An anderer Stelle – der Text sei, da er den oben angedeuteten Zusammenhang von Fluchformeln und Inschriften deutlich vor Augen stellt, etwas ausführlicher zitiert – werden niedrige Preise mit einem Überangebot in Zusammenhang gebracht: VII 93.) Iia-u-ta-a’ dumu Iḫa-za-a 94.) lugal kur qa-ad-ri e-piš arad-ti-ia 95.) áš-šú dingir-meš-šú imḫur-a-ni-ma 96.) ú-ṣal-la-a lugal-ú-ti 97.) mu(nīš) dingir-meš gal-meš ú-šá-az-kír-šú-u 98.) dingiratar-sa-ma-in ú-tir-ma a-din-šú 99.) ar-ka-nu ina a-de-ia iḫ-ṭe-e VIII 1.) mun (lies ṭābtī) la iṣ-ṣur-ma iṣ-la-a giššudun be-lu-ti-ia 2.) a-na šá-’a-al šul-mì-ia gìr-min-šú ip-ru-us-ma 3.) ik-la-a ta-mar-ti 4.) un-meš kur a-ri-bi it-ti-šú ú-šá-bal-kit-ma 5.) iḫ-ta-nab-ba-tu ḫu-bu-ut kur mar-tu ki 6.) erim-ḫi-a-ia 27 Fales 1996, 22–25. 28 Fales 1996, 24. 29 Hier handelt es sich um den Krönungshymnus des Assurbanipal (SAA 3, 11), den Fales als mögliche Quelle für die hier besprochenen Preisangaben identifiziert hat. Es handelt sich hier also auch um einen literarischen Text und nicht um eine Geschäftsurkunde, der wir mit geringerer quellenkritischen Vor­ sicht begegnen müssten. Zudem finden die Preise auch in einem Brief eines Prinzen an Assurbanipal Erwähnung (SAA 3, 25). 30 Dies ist nicht der richtige Ort, um auf die vieldiskutierte Frage nach dem Publikum der neuassyrischen Königsinschriften einzugehen. Allerdings werfen die hier diskutierten Preise einige Fragen auf, vor allem wenn die Angaben tatsächlich falsch sind, die im Rahmen einer Beantwortung derselben herangezogen werden sollten. Zu den Adressaten der Königsinschriften siehe jüngst Sano 2016 mit zahlreichen Hinweisen auf ältere Literatur. 31 Dass die Bewohner Mesopotamiens den Informationen aus dem Palast und den Bewohnern desselben teilweise durchaus kritisch gegenüberstanden, zeigt eine Reihe von sumerischen Sprichwörtern, die von Gebhard Selz zusammengestellt und besprochen wurden. Vgl. Selz 2004, 175. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Sebastian Fink šá ina mi-ṣir kur-šú áš-bu 7.) ú-ma-’e-e-ra ṣe-ru-uš-šu 8.) bad5-bad5-šú-nu iš-ku-nu un-meš kur a-ribi 9.) ma-la it-bu-u-ni ú-ra-si-bu ina gištukul-meš 10.) é edin kul-ta-re mu-šá-bi-šú 11.) izi ú-šá-ḫi-zu ip-qí-du a-na dingirgiš-bar(gíra) 12.) gu4-meš ṣe-e-ni anše-meš anšegam-mal-meš 13.) a-melu-tu iš-lu-lu-u-ni ina la me-ni 14.) si-ḫi-ip kur ka-la-mu a-na si-ḫir-ti-šú 15.) um-da-al-lu-u a-na paṭ gim-ri-šá 16.) anšegam-mal-meš ki-ma ṣe-e-ni ú-par-ri-is 17.) ú-za-’ i-iz a-na un-meš kur aš-šur ki 18.) qa-bal-ti kur-ia anšegam-mal-meš ina 1 (diš) gín ina MAŠ (½) gín kas-pi 19.) i-šam-mu i-na ká maḫi-ri 20.) munus áš-tam-mu ina ni-di-ni lúlúnga ina dugḫa-bé-e 21.) lúnu-giškiri6 ina ki-i-ši im-da-na-ḫa-ru 22.) anšegam-mal-meš ù a-me-lu-tu 23.) si-it-ti lúa-ri-bi ša la-pa-an gištukul-meš-ia 24.) ip-par-šid-u ú-šam-qit dingirèr-ra qar-du 25.) su-un-qu ina bi-ri-šú-un iš-šá-kin-ma 26.) a-na bu-ri-šú-nu e-ku-lu uzu-meš dumu-meš-šú-un 27.) a-ra-a-ti ma-la ina a-de-šú-un ša-ru ina pi-it-ti 28.) i-iš-mu-šu-nu-ti an-šár dingirsin dingirutu dingir+en u dingir+AG 29.) dingirXV šá nina ki dingirXV ša urulímmu-dingir 30.) dingir-meš gal-meš en-meš-ia Jauta’, Sohn des Hasael, König von Kedar, der mir huldigte, wandte sich wegen seiner Götter an mich und flehte meine Majestät an. Ich ließ ihn bei den großen Göttern schwören und gab ihm die Atarsamājin zurück. Nachher sündigte er gegen den mit mir geschlossenen Vertrag, meine Wohltaten missachtete er und warf das Joch meiner Herrschaft ab. Er lehnte es ab, sich nach meinem Wohlergehen zu erkundigen und hielt das Begrüßunggeschenk für mich zurück. Die Einwohner von Arabien veranlasst er, zusammen mit ihm sich zu empören, und sie plünderten ständig Amurru (i.e. das Westland). Meine Truppen, die an der Grenze des Landes stationiert waren, schickte ich gegen ihn. Sie brachten ihm eine Niederlage bei. Die Einwohner von Arabien, so viele sich erhoben hatten, erschlugen sie mit den Waffen. Die Steppenhäuser, die Zelte, in denen sie wohnten, zündeten sie (i.e. die Truppen) an und übergaben sie dem Gira (i.e. Feuer). Rinder Kleinvieh, Esel, Kamel und Menschen erbeuteten sie ohne Zahl. Die Fläche des Landes (i.e. Assyrien) insgesamt füllten sie vollständig in vollem Umfang. Kamele gleich Kleinvieh sonderte ich ab und verteilte sie an die Einwohner Assyriens. Inmitten meines Landes kaufte man am Markttor Kamele für einen (oder) einen halben Sekel Silber. Die Gastwirtin für eine Gabe, der Bauer für einen Vorratskrug, der Gärtner für ein Bündel (Gemüse) akzeptierten ständig Kamele und Menschen. Die übrigen Araber, die vor meinen Waffen geflohen waren, streckt der kriegerische Erra (i.e. die Pest) nieder. Mangel entstand unter ihnen, und gegen ihren Hunger aßen sie das Fleisch ihrer Kinder. Die Flüche, alles was in ihrem Vertrag geschrieben war, verhängten dementsprechend über sie Assur, Šamaš, Bēl, Nabû, Ištar-von-Ninive und Ištra-von-Arbela, die großen Götter, meine Herren. (VII 93–VIII 30)32

Während Assurbanipal in diesem Text die Macht seiner Götter deutlich aufzeigt, zeigt sich hier ebenso deutlich das tiefe Verständnis dieses Herrschers für den Zusammenhang von Angebot, Nachfrage und Preis. Die enorme Beute führt zu einem Verfall des Preises für Kamele und die exotischen Tiere werden für lächerlich geringe Summen gehandelt. Zugleich teilt er uns auch mit, wie er mit der übermäßigen Beute aus diesem Feldzug umgegangen ist. Anders als Gold und Silber lassen sich große Vieherden und Menschen kaum in den Schatzkammern der Tempel einlagern und so erschien es Assurbanipal sinnvoll, diesen Teil der Beute an das Volk zu verteilen, was zu einem regen Handel mit Kamelen und Menschen führte, wobei diese gleichsam zu einem gängigen Zahlungsmittel wurden. Anders als im Fall des vieldiskutierten negativen Einflusses des südamerikanischen Goldes auf die spanische Wirtschaft im Zeitalter der Konquistadoren,33 bestand so keine Gefahr, durch die Beute die einheimische Wirtschaft 32 Borger 1996, 243–244 (Araber, Prismen B, C u. G). 33 Siehe etwa de Vries 1976, bes. 49. De Vries schildert wie die reiche Beute aus Südamerika zu einer Ver­ nachlässigung der Landwirtschaft in Spanien führte, die Spanien in hohem Masse von Getreide­importen © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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zu zerstören. Ganz im Gegenteil müssen die zahlreichen Gefangenen für ein Ankurbeln der Nachfrage nach den grundlegenden Gütern des täglichen Lebens – Gerste, Wein, Öl und Wolle – gesorgt haben. In starkem Kontrast zu diesem Überfluss steht das Schicksal der vertragsbrüchigen Araber, die – ihrer Tiere beraubt – nun anstelle von Schafen ihre eigenen Kinder verzehren mussten. Fazit und Ausblick Ich hoffe die eingangs aufgestellte Behauptung, hinsichtlich der Existenz einer Preistheorie des Assurbanipal anhand der hier besprochenen Textbeispiele hinreichend plausibel gemacht zu haben. Von einer Theorie wird allgemein gesprochen, wenn bestimmte Grundannahmen über die Realität getroffen werden, Einflussgrößen bestimmt werden und die Möglichkeit besteht Vorhersagen aus der Theorie abzuleiten und dieselbe somit zu überprüfen. All dies trifft hier zu. Noch einmal zusammengefasst: ein Mangel an Gütern (d.h. weniger Angebot als Nachfrage) führt zu einem Steigen der Preise. Belege hierfür bieten Textpassagen, wie sie uns im Rahmen der Schilderungen von Hungernöten überliefert sind, die Fluchformeln, die ein Steigen der Preise im Falle von Missernten voraussagen, sowie die von Fales erwähnten Hungersnotklauseln.34 Ein Überangebot (d.h. mehr Angebot als Nachfrage), so wie es uns in den Inschriften des Assurbanipal dargestellt wird, führt zu einem Sinken der Preise, was gerade im Bereich der Güter des alltäglichen Lebens als ein Gunsterweis der Götter angesehen wird. Günstige Preise bei Gerste, Wein, Öl und Wolle kamen sicherlich auch – wenn wir hier einen entsprechenden Realitätsgehalt der königlichen Selbstdarstellung voraussetzen dürfen – den meisten Untertanen Assurbanipals zugute. Die beiden Beispiele aus den Inschriften Assurbanipals schildern einmal, wie die segensreiche Herrschaft Assurbanipals die Götter veranlasst, dem Land unglaubliche Fruchtbarkeit zu schenken, die zu außergewöhnlichen Erträgen und in der Folge zu sinkenden Preisen führt. Das andere Beispiel schildert uns, wie eine plötzliche Steigerung des Angebots, in diesem Fall von Kamelen, zu einem Preisverfall führt. Diese Preisschwankungen waren jedoch nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich beschränkt und so konnte ein Wissen um dieselben geschickten Kaufleuten reichen Gewinn bescheren. Hier werden klar die Faktoren erkannt, die den Preis bestimmen. Die Nachfrage nach einem bestimmten Gut und das vorhandene Angebot legen den Preis fest. Zudem werden in den Inschriften die Güter des alltäglichen Lebens, mit denen jeder zivilisierte Mesopotamier etwas anzufangen weiß, von Luxusgütern wie Kamelen und Sklaven unterschieden, für die in gewissen Kreisen keine Nachfrage besteht. Dies führt dazu, dass der plötzlich mit einem Kamel ausgestattete Durchschnitts-Assyrer nichts mit demselben anzufangen weiß und es – gleich Hans im Glück – vorzieht sein luxuriöses Kamel, das bei Connaisseuren möglicherweise phantastische Preise erzielen würde, gegen ein paar Zwiebeln oder einen Krug Bier einzutauschen. Bei einem Stadtbewohner besteht einfach keine Nachfrage nach einem großen Tier, das vielleicht ganz nett aussieht, aber dennoch viel frisst und in erster Linie der Wüstendurchquerung dient. Wieder spielen Nachfrage und Angebot eine große Rolle bei der Preisbildung. Ob diese Überlegungen zu Angebot und Nachfrage und der Bildung von Preisen auch Assur­banipals politischen Entscheidungen beeinflusste, lässt sich aus den erhalten Dokumenten aus dem Ausland abhängig machte. Spanien wurde seiner Meinung nach von einer Produzenten- zu einer Konsumentengesellschaft. 34 Fales 1996, 22–25. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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nicht ablesen. Allerdings scheint seine ganze Politik vom Wunsch getrieben zu sein, die Preise im assyrischen Kernland durch erfolgreiche Kriegsführung – und erfolgreich meint immer auch lukrativ – an allen Enden seines Imperiums niedrig zu halten und die vertragsbrüchigen Gegner durch eine Verknappung des Angebotes und die darauf folgenden steigenden Preise zu bestrafen. Ob Assurbanipals aggressive Preispolitik letzten Endes für den bald auf Assurbanipals Tod folgenden Niedergang und Zerfall des Assyrerreiches verantwortlich war, lässt sich nur schwer klären. Inwieweit diese Selbstdarstellung Assurbanipals Herodots Ideen (Hdt. 1,182–200) über die extreme Fruchtbarkeit Babyloniens befördert hat, oder ob er hier aus anderen Quellen schöpfte, muss offen bleiben.35 Die Beantwortung der Frage, ob etwa auch Assurbanipals Preistheorie zu den Griechen gelangte und ihnen dabei half, ihre simplifizierende, um nicht zu sagen primitive Auffassung der Wirtschaft zu überwinden, möchte ich jedoch dem Jubilar überlassen. Abkürzungen RIMA = The Royal Inscriptions of Mesopotamia, Assyrian Period, Toronto 1987 ff. SAA 2 = S. Parpola – K. Watanabe, Neo-Assyrian Treaties and Loyality Oaths, Helsinki 1988 (State Archives of Assyria 2). SAA 3 = A. Livingstone, Court Poetry and Literary Miscellanea, Helsinki 1989 (State Archives of Assyria 3).

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© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Die wirtschaftliche Effizienz von Ordnung und personalen Beziehungen. Ein neuer Blick auf Xenophons Oikonomikos Sabine Föllinger – Oliver Stoll Einleitung Die Gestalt des ‚Landwirts‘ Ischomachos bzw. dessen Darstellung im Oikonomikos des Xenophon wird in dem 1896 erschienenen Klassiker von I. Bruns zur Literaturgeschichte des 5. und 4. Jh. v.Chr. mit einer psychologischen Begründung versehen: Der Autor und dessen Phantasie „ergehe sich gern darin, breite, glänzende, wohlgeordnete Verhältnisse auszumalen“, so R. Nickel, der Bruns hier zur Gänze folgt. Und er fährt mit Bruns fort, dass Xenophon gewissermaßen ein Gegenbild zu sich selbst bzw. seinen Erfahrungen habe entwerfen wollen: Weil es ihm persönlich so schlecht gegangen sei, weil sich seine Träume von Wohlstand und Einfluß (…) nicht erfüllt hätten, (…) weil er nirgends Gelegenheit gehabt habe, auf seine Umgebung positiv zu wirken, habe er sich mit der Ausmalung von Zuständen getröstet, die mit seiner eigenen kümmerlichen Lage merkwürdig kontrastierten.1

Dass das Denken und Können des Autors Xenophon in dieser Weise reduziert und psychologisierend ausgedeutet wird, vermag für die Gelehrtenwelt des späten 19. Jh., in der der Sokrates­ schüler gemeinhin eher gering geschätzt und belächelt wurde – bis hin zu U. von WilamowitzMoellendorf, dem Xenophon als redlicher, „aber herzlich beschränkter Mensch“2 galt – noch hinreichend gewesen sein, angemessen war sie sicher nicht. Die fällige ‚Ehrenrettung‘ ist denn im Laufe der Zeit und im Rahmen gründlicherer Forschung bereits erfolgt.3 Darum geht es in unserem Beitrag zur Festschrift für Hans-Joachim Drexhage nicht um eine grundsätzliche weitere Apologie des Xenophon. Vielmehr soll an den Gedanken über „breite, glänzende, wohlgeordnete Verhältnisse“ angeknüpft und gezeigt werden, wie wenig „beschränkt“ Xenophon als Denker gewesen ist, dass ganz im Gegenteil seine Überlegungen über die wirtschaftliche Bedeutung von ‚Ordnung‘ und über die Regelung der personalen Beziehungen aus einer modernen Perspektive als zentrale Maßnahmen für eine wirtschaftliche Effizienz aufgefasst werden können. Denn es ist dringend an der Zeit, Xenophons wirtschaftstheoretisches Wissen – und seine didaktisch-pädagogische Absicht im Zusammenhang mit seinen entsprechenden Fachschriften – an eine neue Sichtweise auf die griechische Wirtschaft zu koppeln,4 um seinem Denken gerecht zu werden. Dazu werden wir uns zum einen mit seinem Ordnungsgedanken im Oikonomikos befassen und diesen im Kontext seines umfassenderen Ordnungsdenkens betrachten. Zum anderen werden wir die Beziehungen der für die Aufrechterhaltung der ‚Ordnung‘ 1 2 3 4

I. Bruns, Das literarische Porträt der Griechen im fünften und vierten Jahrhundert vor Christi Geburt (Berlin 1896) 416, hier zitiert bzw. paraphrasiert nach Nickel 2016, 18–19. U. von Wilamowitz-Moellendorf, Platon. Sein Leben und seine Werke (Berlin 51959), 68. Ein ähnlich unsachliches Urteil von Wilamowitz-Moellendorf über Xenophon als „halbschlächtigen Literaten“ findet sich bei Stoll 2010, 9 mit Anm. 2. Vgl. etwa zuletzt en detail den das Œuvre des Xenophon insgesamt facettenreich würdigenden Forschungs­ überblick von Nickel 2016. Ähnlich fordert das zu Recht in einem anderen Zusammenhang auch Günther 2011, 83. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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verantwortlichen Personen aus der Perspektive der in den Forschungen zur Antiken Wirtschaft mittlerweile gut etablierten Neuen Institutionenökonomik (NIÖ)5 untersuchen. Der Oikonomikos Logos Mit dem wohl um 370/60 v.Chr. verfassten Oikonomikos6 hat Xenophon von Athen im 4. Jahr­ hundert v.Chr. die oikonomiké téchne,7 die Kunst der Haushaltsführung, begründet.8 Denn bei Xenophon ist die Ökonomik als vermittel- und erlernbare téchne konzipiert, mit der ein wichtiger Teilbereich des Lebens, der Haushalt, theoretisch und auch praktisch geregelt werden kann.9 Aber dies ist nicht seine einzige Schrift, die sich wirtschaftlichen Überlegungen widmet: Mit den Poroi10 hat er sich – wie in anderen seiner Schriften auch, etwa seinem Hipparchikos Logos11 – mit dem Wohl seiner Heimatpolis befasst und innovative Vorschläge zur Verbesserung des ‚Ist-Zustandes‘, in diesem Fall der mit dem Bundesgenossenkrieg 357–355 v.Chr. verbundenen Krise, gemacht. So behandelt er in den Poroi die Frage, wie man den athenischen Staats­ haushalt, die öffentlichen Einnahmen, insgesamt fördern und steigern könne. Auch im Oikonomikos geht es um ein profitorientiertes Vorgehen,12 allerdings in einem privaten Haushalt und damit im Bereich der Mikroökonomie. Dies wird in der neueren Forschung allmählich erkannt.13 Dagegen hat man die Schrift lange Zeit vorwiegend als ethisches bzw. philosophisch orientiertes Werk gelesen,14 und Wirtschaftswissenschaft bzw. Wirtschafts­ge­ schichte haben den Oikonomikos kaum beachtet, obwohl er der Disziplin ‚Ökonomie‘ den Namen gab und zum Referenztext der späteren Haushaltsökonomik wurde.15 Diese un­berechtigte Marginalisierung ist darauf zurückzuführen, dass der Oikonomikos keine Überlegungen bietet, die man aus moderner volkswirtschaftlicher, auf die Analyse von Markt­mechanismen ausge 5 Zu aktuellen Forschungen zur Wirtschaftgeschichte der Antike und der NIÖ vgl. die Bemerkungen bei Ruffing 2012, 12–13; von Reden 2015, 102–104, 118–119 sowie Ruffing 2016a, 11–22; von wirtschaftswissenschaftlicher Seite vgl. Korn 2016, 1–10. Zur ‚Anwendung‘ vgl. Föllinger 2016, 20–23 u. 81–87 sowie den guten allgemeinen Überblick bei Bresson 2016, 15–27. 6 Man muss wohl λόγος (lógos) ergänzen, so dass der Titel lautet: „Gespräch über die Haushaltsführung“. 7 Zur Zeit Xenophons waren Rhetorik und Medizin als téchnai etabliert. 8 Zur Vorgeschichte der Ökonomischen Literatur vgl. Zoepffel 2006, 67–117 u. Audring – Brodersen 2008, 11–18. Zum Oikonomikos vgl. Föllinger 2014, 584–588; Nickel 2016, 132–142. Zu Leben und Werk (v.a. zu Xenophon als Historiker) vgl. prägnant auch Scardino 2014, 623–631. 9 Föllinger 2014, 587–588. 10 Föllinger 2014, 588–589; vgl. auch Schorn 2011, 65–93; Nickel 2016, 103–106. Zu beiden Werken s. auch Ruffing 2012, 17–18 u. von Reden 2015, 178–179 mit weiteren Hinweisen zu Problemen und Ten­ denzen der Forschung im Zusammenhang mit den Poroi. 11 Stoll 2010, etwa 36–52. 12 Zu Xenophons Überlegungen zum richtigen Erwerb und Gebrauch von Geld und Reichtum und zu einer positiv bewerteten Ökonomik siehe Föllinger 2014, 584–585, 586. Vgl. auch Ruffing 2016b, 189–190. Dem Ziel Xenophons, im Oikonomikos Ratschläge für eine profitable Haushaltsführung zu geben, widerspricht nicht, dass er seinen Sokrates selbst ‚zwischen den Zeilen‘ auch eine mögliche Kritik an einem rein auf traditionelle Werte wie Reichtum und politischen Einfluss ausgerichteten Leben üben lässt; vgl. dazu Föllinger 2006b, 19–23. Zur Bedeutung des ‚Nutzens‘ beim Xenophontischen Sokrates vgl. Chernya­ khovskaya 2014, 94–166. 13 Zur Bedeutung des Profits vgl. Pomeroy 1994, 55–57 u. 61–65 und s.a. Ruffing 2016b, 189–190. Vgl. da­gegen Audring 1992, 23–24 mit der falschen Beurteilung, es gehe nicht um größtmögliche Boden­ ertrags­steigerung und Gewinnmaximierung. 14 Vgl. Föllinger 2006b, 5–7. 15 Vgl. Föllinger 2010, 1142–1145. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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richteter Perspektive für eine wirtschaftstheoretische Schrift erwarten würde.16 Als repräsentativ für diese Auffassung kann M. I. Finleys Ansicht gelten, Xenophon habe sich im Oikonomikos nicht um ökonomische Ziele im eigentlichen Sinne gekümmert.17 Doch sein Urteil zeugt von einer oberflächlichen Lektüre und fehlenden Durchdringung des Werks. Denn ein zentraler Aspekt dieser Schrift ist die Frage, wie ein wohlhabender athenischer Haushalt so geführt werden kann, dass er Profit erbringt. Dass das Ziel Gewinn ist, wird bereits in der Semantik der Formulierung „das Haus vermehren“ (αὐγεῖν τὸν οἶκον) deutlich, die vielfach als Beschreibung des Ziels der Haushaltsführung genannt wird.18 Die traditionelle Sichtweise, es handele sich beim Oikonomikos um eine primär ethische bzw. philosophisch orientierte Schrift, basiert auch auf dem Umstand, dass nicht nur die Ver­mittlung von Fachwissen, sondern vor allem Vorschläge zur Optimierung der personalen Beziehungen in ihm eine Rolle spielen. Dabei ist der Fokus auf eine Problematik gerichtet, die Xenophon eigentlich in allen seinen Schriften beschäftigt hat, nämlich die Optimierung von Führungs­ persönlichkeiten und Führungsrollen.19 Der Oikonomikos besteht aus zwei dialogisch gestalteten Teilen: Kapitel 1–6 ist ein Gespräch zwischen Sokrates und Kritobulos. Dieser ist ein Angehöriger der Athener Oberschicht, der es nicht versteht, sein Vermögen zu bewahren und zu vermehren. Darum kann er seinen sozialen und politischen Aufgaben nicht nachkommen. Er bittet Sokrates, ihm Unterricht in einer optimalen und profitablen Haushaltsführung zu erteilen. Im Gespräch bestimmt man den Gegenstand der ‚Oikonomie‘ und stellt Überlegungen an, welche Eigenschaften einen guten Hausherrn (oikonómos), der seiner Verantwortung gerecht wird, kennzeichnen. Es wird deutlich gemacht, dass das Versagen eines oikonómos nicht nur ihn privat ruiniert, sondern auch für den Staat schädlich ist. Denn fehlender Profit führt dazu, dass er nicht imstande ist, die finanziellen Aufgaben, die er als Angehöriger der Athener Oberschicht für die pólis Athen leisten muss, zu übernehmen. Ist er nicht fähig, souverän seine Betriebseinheit zu managen, verfügt er außerdem nicht über die nötige Zeit, um sich politisch zu betätigen. Den zweiten Teil des Werks (Kapitel 7–21) bildet Sokrates’ Unterredung mit Ischomachos. In ihr kommen die für das wirtschaftliche Wohlergehen eines Haushalts optimale Rollenverteilung zwischen Mann und Frau (7–9) und die Bedeutung der Heranbildung eines guten Verwalters (12–14) zur Sprache. Auch die Landwirtschaft wird behandelt (15–19), wobei weniger technische Gesichtspunkte leitend sind, sondern gezeigt werden soll, dass Landwirtschaft leicht zu erlernen sei. Am Schluss wird hervorgehoben, welche Bedeutung der Persönlichkeit des oiko­nómos selbst für die Produktivität zukomme und welche Voraussetzungen eine gute Führungs­persönlichkeit 16 Dass diese Erwartungshaltung ahistorisch ist, hat die Forschung der jüngeren Zeit zu Recht kritisch vermerkt: Zoepffel 2006, 55–65; Audring – Brodersen 2008, 7–10. Vgl. auch Schefold 1998, 5–14. 17 Finley 1999, 19. Siehe hierzu unten, S. 147. Im Großen und Ganzen stimmt Figueira 2012, 665–688 Finley zu. Er setzt sich aber teilweise auch kritisch mit ihm auseinander, so dass sich die Lektüre seines Beitrags in jedem Fall lohnt. 18 Xen. Oec. 1,4; 1,16; 2,1; 3,10; 3,15; 5,1; 6,4; 7,16; 9,12; 11,12; vgl. Xen. Oec. 11,9. 19 Zu diesem grundsätzlichen Aspekt vgl. Stoll 2010, 14; Stoll 2012, 250–257; Stevenson 2000, 2–5. Ein Klassiker in dieser Hinsicht sind Anderson 1974, v.a. 120–133 (vgl. ebd. 152: „his writings are largely concerned with patterns of leadership […]“) u. Wood 1964, 33–66, v.a. 48–62. Vgl. auch Gray 1989, 1–9, 73–78, 141–145 und vor allem Gray 2011 sowie Hutchinson 2000 passim, außerdem jetzt verschiedene Beiträge zu „Aspects of Leadership in Xenophon“ in Buxton 2016. Die hier formulierten Prinzipien machen ein Stück weit die klassische ‚Modernität‘ des Autors aus, vgl. etwa Dillery 2016, 243: „(…) Xenophon is a popular author for students of leadership, both in the business and in the military“. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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aufweisen müsse. Ein Leitbegriff des gesamten Werks ist die ἐπιμέλεια (epi­méleia). Sie bezeichnet die Fähigkeit, vorausschauend zu planen und konsequent und kon­tinuier­lich das für wichtig Erkannte umzusetzen. Damit entspricht sie in etwa dem, was man als ‚Verantwortungs­ bewusstsein‘ bezeichnen könnte. Der Oikonomikos ist also eine Fachschrift in Form eines sokratischen Dialoges: Xenophon ging es um die Vermittlung von Wissen, und die Dialogform diente ihm darüberhinaus zur Illustration, wie die richtige Vermittlung einer téchne überhaupt zu geschehen habe.20 Genau das wird am Ende (21,1–12) prägnant zusammengefasst: Die téchne der Landwirtschaft ist einfach zu erlernen, und alles steht und fällt mit guter Leitungstätigkeit (τὸ ἀρχικόν), die auf Fachwissen beruht, ob in der Landwirtschaft, der Staatsleitung, der oikonomía oder dem Kriegswesen. Die Parallelisierung mit dem Kriegswesen ist dabei kein Zufall, sondern wird im gesamten Oikonomikos durchgeführt. Denn in beiden technai, der militärischen wie der wirtschaftlichen, sind Ordnung (τάξις) und eine in idealem Umgang mit Personen sich ausdrückende Führungs­ kompetenz maßgeblich. In beidem zeigt sich die besagte epiméleia.21 Die Bedeutung der ‚Ordnung‘ Der Gedanke der ‚Ordnung‘22, um den es uns hier geht, spielt vor allem in den Kapiteln 8 und 9 eine Rolle, also im zweiten Teil des Oikonomikos, dem über die gute Haushaltsführung informierenden Gespräch des Sokrates mit dem Athener Ischomachos (Xen. Oec. 7–21). Die zusammengehörenden Kapitel 7–9 behandeln unter anderem die für den wirtschaftlichen Profit des Haushaltes angemessene und richtige Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Beide zeichnen sich durch Verantwortungsbewußtsein, ἐπιμέλεια, aus. Denn sie muss bei allen vorhanden sein, die den Haushalt leiten – selbst bei dem Aufseher und anderen Verantwortlichen (Oec. 12–14)23 –, damit Profit und Effizienz erreicht werden können.24 Zu ihr gehört die Sorge für Ordnung. Viele der vor allem im Kapitel 8 verwendeten Beispiele stammen aus dem militärischen Bereich, wie wir gleich sehen werden, und das ist bei dem praktisch in militärischer Führung und dem Durchdenken und Anwenden einer (eigenen) militärfachwissenschaftlichen Theorie erfahrenen Mann wie Xenophon, der zu den Gründervätern der diesbezüglichen Fachliteratur gehört, nicht weiter verwunderlich.25 In vielen seiner Schriften vergleicht er die Fähigkeiten 20 Föllinger 2005, 221–234; v. a. Föllinger 2006a, 455–470 u. 2006b, 5–23. Siehe auch von Reden 2015, 177. 21 Zu diesem Begriff vgl. auch unten, S. 148–149. 22 Vgl. hier auch die Verwendung des Begriffes oikonomía in abstrakter Bedeutung für „richtige Anordnung“ bei der Ausweitung der privaten Hausverwaltung auf die städtischen Finanzverwaltungen: von Reden 2015, 177 unter Verweis auf Burkhardt – Oexle – Spahn 1992, 513–516: oikonomía wird damit zur „Ordnungsund Verwaltungslehre“. 23 Vgl. hierzu unten, S. 149 24 Föllinger 2002, 49–63; Föllinger 2014, 587. Zum „Kümmern und Sorgen“ als Grundlage des wirtschaft­ lichen Erfolges und zu dem quasi unternehmerischen Interesse an Gewinn bzw. an einer Gewinn­ orientierung s. auch Unholtz 2012, 49–60: Der Haushaltsvorstand als Entrepreneur! Zur Gewinn­ steigerung als Ziel s. auch Audring – Brodersen 2008, 22 sowie Pomeroy 1994, 51–52 u. Eich 2006, 354 mit dem Verweis auf einige charakteristische Passagen, etwa auf Xen. Oec. 1,4–5. S. auch ebd. 353–358 zur Markt­orientierung der Haushalte allgemein. 25 Praktische Erfahrung und Theorie der Führung (Anabasis): vgl. Stoll 2002, 123–183 oder auch Stoll 2013, 277–345. Fachwissenschaftliche Werke im engeren Sinne (Hipparchikos Logos): vgl. etwa Stoll 2010 u. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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eines guten Feldherren mit der eines ‚Ökonomen‘. Zur Klugheit des idealen Feldherren nach seiner Vorstellung gehört die Sicherstellung der Logistik,26 denn sie sichert die ‚Moral‘ der Truppen. Genaue Planung ist überhaupt die Essenz der militärischen Wissenschaften.27 Nicht umsonst also wird in den Memorabilien und in der Kyrupädie 28, ebenso wie im Hipparchikos29, der Feldherr mit dem „Ökonomen“ verglichen und ein nur auf Taktik reduziertes Wissen als wertlos verworfen.30 Und einen entsprechenden, ausführlich gestalteten Vergleich findet man auch im Oikonomikos selbst (21,4–8): Wer gut vorsorge, generiere Loyalität zum Feldherrn; deshalb zeige der gute Kommandeur Freundlichkeit gegenüber den Männern durch Sorge um die Logistik; seine Voraussicht sichere im Feld Futter, Zelte, Wasser, Feuerholz (was Xen. hipp. 6,2–3 zusätzlich ergänzt) – Leben und Überleben der Männer durch die Fürsorge des Kommandeurs sollen gesichert sein. Wenn die Soldaten alles, was sie brauchen, haben (wenn sie dazu noch gesund sind und sich anstrengen können, in den Künsten des Krieges geübt sind und voller Ehrgeiz ihre Tüchtigkeit beweisen wollen), dann sind sie bereit zum Krieg, so steht es in Xen. Kyr. 1,6,26, wo Betrachtungen zur Rolle der Motivation für eine gute Menschenführung angestellt werden. Hier wie dort – in der Oikonomía und dem Militär – steigern Fachwissen und Ordnung, das heißt: taktische Gliederungen und geordnete Hierarchien, dazu Disziplin sowie Gehorsam und die zu schaffende und zu bewahrende ‚Moral‘ die Effizienz, ermöglichen das Erreichen eines bestimmten Zieles! Das wird noch einmal in der ganz stark auf die militärische Führungspersönlichkeit zugespitzten Metaphorik des Schlusskapitels deutlich (Xen. Oec. 21,3 – die Triere und das Können des Kapitäns; Xen. Oec. 21,4–8 – das Können der Strategen und Befehlshaber). In „eigenen Dingen“ (ἐν τοῖς ἰδίοις ἔργοις), also in Privatangelegenheiten, der Oikonomía, sei es genauso: der Vorgesetzte, Verwalter oder Aufseher (ἐπίτροπος, ἐφεστηκώς, ἐπιστάτης) erreiche eben als gute Führungsperson, dass er es zu Vermögen bringe und Über­ schuss erziele (Xen. Oec. 21, 9: [...] οὗτοι δὴ οἱ ἁνύτοντές εἰσιν ἐπὶ τἀγαθὰ καὶ πολλὴν τὴν περιουσίαν ποιοῦντες)! Das Konzept der Ordnung und deren Bedeutung für die effektive Haushaltsführung ist knapp schon einmal in Xen. Oec. 3,2–3 angesprochen. Ordnung bedeutet, zu wissen, was man

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Stoll 2013, 250–257. Xenophon als „Militärpädagoge“ und „Militärpsychologe“: vgl. Breitenbach 1950, 87, 98, 144; Breitenbach 1966, 1700, 1701, 1727; Wood 1964, 39–40; Nickel 1979, 47, 117; Nickel 2016, 76. Zur Übertragung der Ratschläge zur Menschenführung vom Militär auf die Oikonomía vgl. Audring – Brodersen 2008, 22 sowie Pomeroy 1994, 3, 286: „Interest in orderliness may be attributable, in part, to Xenophon’s military background“. Vgl. etwa Xen. Kyr. 1,6,9–10 (Zusammenhang von Führung und Verpflegung des Heeres, wenn diese nicht gewährleistet ist, geht die Führung verloren). Zu Kyros als Ökonom vgl. auch Günther 2011, 83–96. Wood 1964, 58; vgl. auch Waterfield 2006, 102–106. Xen. Kyr. 1,6,9–18, Xen. mem. 3,4,1–12; vgl. allgemein dazu Wood 1964, 49–50, 53. Vgl. z.B. Xen. mem. 3,4,8: Aufgabe beider, des Feldherrn und des Oikonómos, sei es, sich die Untergebenen gehorsam und dienstwillig zu machen, Belohnung und Strafe zu verteilen, jedem die richtigen Aufgaben zuzuteilen und Bundesgenossen und Freunde zu gewinnen. Xen. hipp. 4,6; 5,9–15; 6,3; 9,2. Siehe etwa Kyr. 1,6,12: Kambyses betont, dass die Kenntnisse des Feldherrn auch etwas mit Ökonomie zu tun haben: Soldaten sind ebenso wie Angehörige des Hauses auf Versorgung mit Lebensmitteln angewiesen. Außerdem muss der Feldherr nach Meinung des Kambyses über Gesundheit und körperliche Kraft Bescheid wissen, denn er muss sich um diese Dinge ebenso kümmern wie um die Führung des Heeres. Den Zusammenhang zwischen Logistik, Gesundheit, ‚Moral‘ und Gehorsam/Disziplin verdeutlicht besonders Kyr. 6,1,24. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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hat, und das, was man besitzt, sofort zum Gebrauch bereit zu haben, wenn man es benötigt. Also auch die Ordnung des Aufbewahrens ist Voraussetzung einer guten Haushaltsführung. In Kapitel 8 wird dieser Grundgedanke weiter ausgeführt: Man benötigt Kenntnis über die Dinge, die man braucht, und auch über die, die man hat; man muss wissen, wo sie zu finden sind (8,1–2). Nichts sei für die Menschen so schön und brauchbar wie Ordnung. Dieser Schlüsselsatz (8,3: ἔστι δ’ οὐδὲν οὕτως, ὦ γύναι, οὔτ’ εὔχρηστον οὔτε καλὸν ἀνθρώποις ὡς τάξις) wird dann mit Beispielen erläutert, die zeigen, wie schädlich Unordnung und wie gut und zielführend Ordnung ist. Zunächst wählt Xenophon die Metapher eines Chores (8,3) – nur geordnet auftretend und singend seien die Teile des Chores (die Menschen) sehens- und hörenswert.31 Dann wird in 8,4–7 umfangreich auf die Bedeutung der Ordnung im militärischen Bereich abgehoben. Dabei ist zuerst vom Landheer die Rede. Diese Passage ist für Xenophon eine Gelegenheit, sein Fachwissen auf diesem Gebiet, aber auch seine eigenen innovativen Vorstellungen, die er dazu in anderen Schriften niedergelegt hat (Ordnung bzw. Hierarchien/Befehlsstrukturen; Disziplin und Gehorsam, verbundene Waffengattungen etc.),32 griffig zum Einsatz zu bringen und in einem weiteren Merksatz münden zu lassen: Ein Heer ohne Ordnung ([...] στρατιά [...] ἄτακτος) sei für den Feind leicht zu besiegen, für den Freund aber sei es unrühmlich und unbrauchbar (Xen. Oec. 8,4: [...] ἀκλεέστατον ὁρᾶν καὶ ἀχρηστότατον [...]).33 Denn weder seien auf diese Weise Bewegung noch gar ein Kampf möglich (Xen. Oec. 8,5). Dann folgt die Antithese und mit ihr der Merksatz: Ein geordnetes Heer aber sei der schönste Anblick für die Freunde, der beklemmendste für die Feinde ([...]τεταγμένη δὲ στρατιὰ κάλλιστον μὲν ἰδεῖν τοῖς φίλοις, δυσχερέστατον δὲ τοῖς πολεμίοις, Xen. Oec. 8,6). Der Gedanke wird im folgenden weiter ausgeführt (6–7): Schwerbewaffnete, also Hopliten, „in Ordnung“ (ἐν τάξει) marschierend, Reiter „in Abteilungen“ (κατὰ τάξεις) – das sei den Freunden eine Freude; Schwerbewaffnete, Reiter, Peltasten, Bogenschützen und Schleuderer, geordnet und klar voneinander geschieden den Kommandeuren folgend, – das versetze die Feinde in Furcht. Wenn diese „in gehöriger Ordnung“ (ἐν τάξει) marschierten, dann gingen alle wie ein Mann vorwärts, ohne Lücken. Abschließend wird in Xen. Oec. 8,8 der Vorteil der Ordnung durch die Seemacht und ihr Symbol par excellence, die schnellfahrende Triere, verbildlicht. Auch sie ist für den Feind furchtbar und für den Freund ein Grund zu Stolz und Freude. All dies ist aber nur möglich, weil auch hier an Bord alles in fester Ordnung funktioniert. Um diese zum Aus­druck zu 31 Der Vergleich mit Chor und Theater, ebenfalls im Zusammenhang mit „Ordnung“ und Disziplin, taucht umgekehrt auch in den „militärwissenschaftlichen Schriften“ des Xenophon auf: etwa Xen. hipp. 3,2, vgl. auch Xen. Kyr. 1,6,18. Vgl. Stoll 2002, 174 u. 2010, 38 mit Anm. 79, s.a. ebd., 76; Wood 1964, 48–49, 55. In Xen. hipp. 2,7 wird eine eingeübte Formation gepriesen: Ordnung ist der Effekt, und Theaterbesucher bilden in diesem Fall eine ‚Negativfolie‘ zur eingeübten militärischen Ordnung: „Wenn diese Befehle gegeben sind, wird eine viel bessere Ordnung vorherrschen, als wenn eine Menschenmenge sich gegeneinander beim Verlassen des Theaters behindert ([...] ὥσπερ ἐκ θεάτρου ὡς ἂν τύχωσιν ἀπιόντες λυποῦσιν ἀλλήλους)“! 32 S. etwa Stoll 2002, 123–183, bes. 153 ff. zu Hierarchien und Befehlsstrukturen u. 170 ff. zu Ordnung/ ‚Hoplitenethos‘ (Einhalten von Ordnungen oder Formationen), Moral, Gehorsam, Disziplin oder Stoll 2010, 63–70, 73–76. 33 Dass ein gut geübtes und geordnetes Heer ‚Ruhm‘ (und natürlich auch Nutzen) bedeutet und zugleich ‚glanzvoll‘ und wichtig für die Repräsentation einer Gemeinschaft ist, zeigt sich als Gedanke am besten im Hipparchikos Logos. Zu den entsprechenden Überlegungen Xenophons zum Beitrag der Reiterei für den Ruhm der Polis Athen: Stoll 2010, etwa ebd. 36–52; Stoll 2012, 250–257. Ein guter General muss alle ‚Gattungen‘ von Truppen koordinieren können: s. etwa auch Xen. mem. 3,1,6–7 u. Pomeroy 1994, 286. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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bringen, verwendet Xenophon eine fast schon rhythmisch anmutende und sich wieder­holende Auf­zählung, die geradezu die schnelle Ruderbewegung suggeriert: Die Ruderer behindern sich nicht, weil sie „in gehöriger Ordnung“ sitzen; sie beugen sich „in gehöriger Ordnung“ vor; sie lehnen sich „in gehöriger Ordnung“ zurück, sie steigen „in gehöriger Ordnung“ ein und aus – vier­mal also das „in gehöriger Ordnung“ (ἐν τάξει). Mit Xen. Oec. 8,9 folgt sehr kurz das Gegenbild zur Ordnung, die ἀταξία. Ihre Ineffizienz wird durch ein Beispiel aus der Landwirtschaft und der Speicherung von Ernteerträgen erläutert: Wenn man Gerste, Weizen, Hülsenfrüchte vermischt in einen Vorratsbehälter einbringt, dann müsste man erst mühsam sortieren, wenn man die Produkte, etwa zu Brot oder Gemüse, weiterverarbeiten wollte. Einfacher wäre es doch, einfach zugreifen zu können, weil alles klar voneinander geschieden, also „in Ordnung“ gelagert ist. Nun wird die Frau wieder in den Überlegungsprozess eingebunden, die eine wesentliche Rolle für das Schaffen und die Aufrechterhaltung der Ordnung spielt.34 Nachdem insgesamt die Vorteile guter Ordnung aufgezeigt sind, zu denen auch gehört, dass das so geschaffene „System“ sich geradezu selbst perpetuiert, wenn es einmal eingeführt ist (8,10), kommt die räumliche Dimension ins Spiel: Die genaue Verwaltung des Vorhandenen und der bequeme Gebrauch des Bestandes benötigen einen ausgewählten und ganz bestimmten, festgelegten Platz für alle Dinge: dort werden sie gelagert, dort werden sie entnommen, dorthin werden sie aber auch zurückgelegt. Auf diese Weise wird ein Überblick über den Bestand ermöglicht und gegebenenfalls ein bestehender Bedarf ‚entdeckt‘, weil – so Xenophon – der leere Platz geradezu danach verlange, wieder gefüllt zu werden. Weil man weiß, wo alles ist, lässt sich alles finden und man kommt nicht in Schwierigkeiten. An sich ist das einleuchtend genug, aber zum zweiten Mal verwendet Xenophon eine ‚Schiffsmetapher‘, die dieses Mal aber nicht aus dem militärischen Bereich, sondern aus der ‚Handelsschiffahrt‘ stammt. Mit ihr illustriert er nicht nur die Rolle des Raumes für die Effektivität einer ‚Wirtschaftseinheit‘, sondern leitet zum Kapitel 9 über, in dem es um ‚Räume‘ im Haus geht, die der Einhaltung der Ordnung dienen.35 Das „große phönikische Schiff“ (τὸ μέγα πλοῖον τὸ Φοινικικόν), ein bauchiger Frachter, dient dazu, die „schönste und sorgfältigste Ordnung von Gerätschaften“ (καλλίστην δέ ποτε καὶ ἀκριβεστάτην ἔδοξα σκευῶν τάξιν ἰδεῖν […], Xen. Oec. 8,11–16), die gute Ausnutzung von vorhandenem Raum, zu zeigen und darüber hinaus die Effektivität der Ordnung zu demonstrieren, die die schnelle Verfügbarkeit eines jeden Gegenstandes bewirke (8,16). Sehr viel Gerät sei dort nämlich auf sehr engem Raum gut sortiert untergebracht gewesen (Xen. Oec. 8,11). Dieser Vorteil wird en detail weiter erläutert (hölzerne Geräte, Taue, Takelage, Waffen, Werkzeuge und Geräte werden erwähnt; dazu sei der verfügbare Raum mit für den Schiffseigentümer gewinnbringender Fracht vollgestopft gewesen: […] γέμει δὲ παρὰ πάντα φορτίων ὅσα ναύκληρος κέρδους ἕνεκα ἄγεται. […]). Platz und Ordnung haben also auch 34 Natürlich gehören die Anleitung durch Fachwissen, das Überzeugen und damit auch die Basis dafür, dass der eigene Wille durchgeführt wird, zu den Aspekten einer guten und erfolgreichen Führungspersönlichkeit, die Xenophon in all seinen Werken immer wieder vorführt. Für den militärischen Bereich sei hier erneut auf den Hipparchikos Logos verwiesen: vgl. etwa Stoll 2010, 63–70, dort auch zum Zusammenhang von πειρῶ und πειρῶμαι, „Überreden“ bzw. „Überzeugen“ und „Gehorchen“. 35 Hierbei handelt es sich um ein Kapitel zur Geschichte griechischer Gebäude, das u.W. in der archäologischen Literatur zur Wohn- und Wirtschaftsarchitektur des spätklassischen Griechenland bislang kaum Berücksichtigung erfahren hat (vgl. aber den recht ausführlichen Kommentar von Pomeroy 1994, 291– 303). Doch dies kann hier nicht weiter ausgeführt werden. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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hier deutlich etwas mit Effektivität und Gewinnorientierung zu tun. Typisch für Xenophon ist, dass er auch die Religion mit ins Spiel bringt.36 Denn wie in anderen seiner Werke geht nichts ohne den Willen der Götter, und in diesem Falle gewähren sie denen den Schutz, die nicht nachlässig sind und ihren Dienst ordentlich versehen (8,16). Aber Ordnung hat auch einen ästhetischen Aspekt. Denn zum Nutzen einer sorgfältigen Einrichtung und planvollen Ordnung komme die schöne Optik (ὡς δὲ καλὸν φαίνεται, Xen. Oec. 8,19), wenn Teppiche, Geschirr, Schuhe und anderes harmonisch aufgereiht seien. Ordnung und (8,20: κατὰ κόσμον) Ästhetik gehören zusammen, was ein nochmaliger Vergleich mit einem Chor verdeutlicht: Wie ein Chor erscheine jede Art von Gerät, und der Raum in der Mitte aller Geräte sei schön und klar (Xen. Oec. 8,20). Auch die Beschaffenheit der Räume ist für die richtige Ordnung von Bedeutung (9,2: τῆς γε οἰκίας τὴν δύναμιν). Diese sind zweckmäßig gebaut und müssen dementsprechend benutzt werden. So lagert in trockenen Räumen am besten das Getreide, in kühlen der Wein; offene Räume dienen Arbeiten, die Licht brauchen. Das Hausgerät wird nach Arten (und Gebrauch) geordnet (κατὰ φυλὰς διεκρίνομεν τὰ ἔπιπλα […], Xen. Oec. 9,6–10); Opfergerätschaften, Frauen- und Männertracht, Decken, Schuhe, Waffen etc. werde auf die geeigneten Räume verteilt (Xen. Oec. 9,8). Aber ein wesentlicher Faktor für Funktionieren und Effizienz ist, dass die im Haushalt tätigen Personen die Ordnung einhalten. Dies gilt für die Sklaven und insbesondere für die Verwalterin (ἡ ταμία) (9,9–10). Aber Ischomachos macht besonders seiner Frau klar, dass alle Maßnahmen nicht von Nutzen wären, wenn sie sich nicht auch selbst darum kümmere, dass die einmal geschaffene Ordnung bewahrt bleibt (9,14–15: […] εἰ μὴ αὐτὴ ἐπιμελήσεται ὅπως διαμένῃ ἑκάστῳ ἡ τάξις […]). Sie sei in ihrer Fürsorgepflicht eine Art Gesetzeswächterin (νομοφύλακα) und genauso verantwortlich wie ein Kommandant/Phrourarch, der Wachen kontrolliere, wenn sie den Zustand der Hausgeräte prüfe, so, wie auch die Boulé Reiter und Pferde überprüfe.37 Mit diesen Metaphern, die aus dem militärischen Bereich und der Staatsverwaltung stammen, lässt Xenophon Ischomachos insbesondere die Rolle seiner Frau, aber auch der anderen Personen für das Ziel der Haushaltsführung, den Profit, ins Licht rücken (Xen. Oec. 9,17). Der Absicherung ihres zielgerichteten Verhaltens dienen dann Ischomachos’ Ratschläge für die Interaktion der am Oikos beteiligten Personen, die wir im folgenden aus der Perspektive der NIÖ beleuchten wollen. Xenophons Oikonomikos im Licht der Prinzipal-Agent-Theorie Finley kann, wie oben erwähnt,38 als Repräsentant der Meinung gelten, Xenophon habe sich im Oikonomikós nicht um ökonomische Ziele im eigentlichen Sinne gekümmert. Seine Meinung begründete Finley unter anderem folgendermaßen: 36 Allgemein zur Rolle der Religion und deren genauer Beachtung im Führungsideal des Xenophon vgl. Stoll 2010, 52–54 (s. etwa nur Xen. hipp. 1,1; 9,8–9) u. Stoll 2002, 166–170; Stoll 2012, 252; vor allem aber auch Hutchinson 2000, 45–51, 187–189. Zu Religion und Religiosität im Werk Xenophons vgl. auch Flower 2010, 203–216 und jetzt Flower 2016, 85–119, der allerdings zu Unrecht für sich in Anspruch nimmt, hier auf einen bislang eher unbekannten, wichtigen Aspekt der Führung bei Xenophon hinzuweisen. 37 Zur Musterung der Reiter und der Pferde durch den Rat, die sogenannte Dokimasie: s. Stoll 2010, 48–52. Zu den ‚Bildern‘ in Xen. Oec. 9,14–15 s. auch Pomeroy 1994, 302–303. 38 Vgl. S. 141. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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(...) the head manages and controls both the personnel and the property of the group, without distinction as to economic or personal or social behaviour, distinctions which could be drawn as an abstract intellectual exercise but not in actual practice. (…) In Xenophon, however, there is not one sentence that expresses an economic principle or offers any economic analysis, nothing on efficiency of production, ‘rational’ choice, the marketing of crops.39

Untersucht man den Oikonomikos näher, lässt sich aber erkennen, dass Xenophon sehr wohl zwischen „economic behaviour“ und „personal or social behaviour“ differenziert, gerade indem er herausarbeitet, dass die Optimierung der menschlichen Beziehungen im Haushalt zur Gewinnsteigerung beiträgt. Nach Xenophons Ansicht ist es Sache eines, modern gesprochen, ökonomisch ‚rational handelnden‘ Hausherrn, das Verhalten der für ihn arbeitenden Personen durch eine geschickte Steuerung im eigenen Sinn zu beeinflussen. Zu den Steuerungs­maß­ nahmen und dem begleitenden Regelwerk des guten und auf Effizienz aus­gerichteten Ver­ haltens gehören u.E. auch die deutlich ausformulierten Gedanken zur Ordnung und deren Rolle bei der Haushaltsführung sowie die entsprechende Aufgabenzuteilung an die Ehefrau und die anderen Personen im Haushalt, die wir oben zusammengefasst haben. Denn die Anweisungen zur Ordnung bzw. die durch vielfache Metaphern und wirksame Argumente didaktisch begleitete Einführung der Ordnung ist als interne Institution oder ‚Spielregel‘ im Sinne der NIÖ anzusehen,40 da sie als von den Mitgliedern des Haushaltes anerkannter oder angewiesener Werte- und Normenbestand Unsicherheit reduziert und eine adäquate Ver­haltens­ norm einführt. Die dementsprechende Steuerung der im Haushalt arbeitenden Personen – einer ‚Transaktion‘ im Sinne der Neuen Institutionenökonomik, nämlich einer menschlichen bzw. sozialen Interaktion, für deren Gelingen ein Informationsaustausch nötig ist,41 – kann anhand der Prinzipal-Agent-Theorie beleuchtet werden. Denn so wird deutlich, dass der Wert, der dem guten Umgang der Personen im Haushalt miteinander beigemessen wird, nicht einfach einer ‚moralischen‘ Ausrichtung des Oikonomikos geschuldet ist, sondern eine strategische Maßnahme darstellt, die absichern soll, dass sich die Personen des Haushalts richtig, nämlich am Ziel der Profits orientiert, verhalten. Dies soll im folgenden am Beispiel des Verwalters (ἐπίτροπος/epítropos) dargestellt werden.42 Ihm kommt neben der Ehefrau43 und der Wirtschafterin (ταμία/ tamía) eine herausgehobene Position zu. Darum beschäftigt sich der Oikonomikos mit der Frage, auf welche Weise der Hausherr sicherstellen kann, dass beide nicht ihren Eigennutz verfolgen, sondern ganz im Interesse der Herrschaft handeln. Der Aufseher ist deshalb so wichtig, weil es nur der Existenz eines guten und vertrauenswürdigen Aufsehers zu verdanken ist, wenn der Hausherr Zeit hat, seinen politischen und sozialen Aufgaben nachzugehen.44 Die Wirtschafterin ist dafür zuständig, die für das Haus notwendigen Gerätschaften zu verwalten 39 Finley 1999, 19. 40 Zum Begriff vgl. Voigt 22009, 25–33. Zu Institutionen als „Regeln menschlichen Verhaltens“ und Regel­ werk für das wirtschaftliche Leben s. Ruffing 2012, 12; Föllinger 2016, 21. 41 Föllinger 2016, 20; Bresson 2016, 19. 42 Ein Beitrag, der dies ausführlicher und unter Einbezug auch der Wirtschafterin (tamía) darstellt, wird an anderer Stelle erscheinen. 43 Zur wirtschaftlichen Bedeutung der Ehefrau vgl. Föllinger 2002, 49–63. 44 Harris 2002, 88 Anm. 27 erwähnt zwar, dass Ischomachos wichtige Aufgaben an den Aufseher delegieren könne, misst diesem Umstand aber nicht genug Bedeutung bei (84–85), wenn er die Figur des Ischomachos als Beweis (gegen die moderne Alternative homo politicus – homo oeconomicus) dafür anführt, dass ein Mitglied der athenischen Oberschicht durchaus genug Zeit hatte, als homo politicus u n d homo oeconomicus tätig zu sein. Den Konflikt, den Xenophons Oikonomikos zeichnet, kann man aber tatsäch© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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und auszugeben (9,10). Wie auch der Verwalter ist sie eine Sklavin, die schon im Hause lebt, das heißt: Herr und Herrin haben die Möglichkeit, den Charakter beider und ihr Verhalten zu kennen, bevor sie sie auswählen. Die wichtigsten Kriterien sind Selbstbeherrschung und ein gutes Gedächtnis. Diesem weist Xenophon bei Führungsaufgaben allgemein eine wichtige Rolle zu, und entsprechend sind auch Hausherr und Hausherrin durch ein solches charakterisiert. Die Forderung der epiméleia – dazu gehört eben auch das Einhalten der „Ordnung“ – kommt ex negativo in der Formulierung zum Ausdruck, die auszusuchende Person solle dadurch gekennzeichnet sein, dass sie nicht aus Nachlässigkeit Herr und Herrin Schaden zufüge. Vor allem aber ist Ehrgeiz ein wichtiges Kriterium. Denn Ischomachos hält es für ein gutes Zeichen, wenn jemand danach strebt, nicht nur nicht bestraft, sondern von Herr und Herrin gelobt und respektiert zu werden. Dazu kommt die Erziehung (διδάσκειν), die im Oikonomikos allgemein eine zentrale Rolle spielt.45 Zweck ist es, ein einvernehmliches Verhältnis herzustellen (9,12: [...] εὐνοϊκῶς ἔχειν [...]) und zu bewirken, dass die für sie arbeitenden Personen dieselben Ziele wie ihre Herrschaft verfolgen. Der Verwalter vertritt seinen Herrn in dessen Abwesenheit und steht damit, auch wenn Xenophon dies nicht eigens ausführt, über der tamía. In der Forschung wird diskutiert, ob es sich bei dem epítropos um einen freien Mann, der vom Herrn bezahlt wird,46 oder um einen Sklaven handelt. Für den bei Xenophon genannten epitrópos kann man allerdings davon ausgehen, dass er ein Sklave ist. Die Semantik ist zwar nicht eindeutig, was den Begriff selbst (Xen. Oec. 12,9; 14,1; 15,1,5) betrifft. Aber im Gespräch wird die Alternative, als epítropos entweder einen im Haus Erzogenen oder einen Gekauften (oneísthai) zu verwenden, genannt. Damit haben wir ein Indiz dafür, dass es sich um einen Sklaven handelt. Dass dies der Regelfall gewesen sein dürfte, wird dadurch bestätigt, dass die Aufgabe eines epítropos in Xenophons Memorabilien (Xen. mem. 2,8,3) als douleia betrachtet und in Ps.-Aristoteles, Oikonomikos als Funktion eines Sklaven der des ergástes (Arbeiter) gegenübergestellt wird (1344a27–29).47 Aristoteles sieht in der Politik (I 6. 1255b30–37) die Funktion eines Verwalters darin, den Herrn zu entlasten, damit dieser von der Oberaufsicht über die Sklaven befreit sei und so Zeit für Politik und Philosophie habe. Die Fähigkeit, die Sklaven anzuleiten, schätzt er aber gleichzeitig gering ein. Dem widerspricht die Xenophontische Auffassung, denn der Oikonomikos betrachtet die Aufgabe des epítropos als zentral und widmet seiner Auswahl und dem Umgang mit ihm viel Aufmerksamkeit. Die Voraussetzungen, die ein guter Verwalter haben muss, lässt Xenophon Ischomachos in Kapitel 12–14 ausführlich beschreiben. Seine Qualität ist ausschlaggebend dafür, ob der Herr – ganz im Sinne der Aristotelischen Beschreibung – seinen sozialen und politischen Aufgaben nachgehen kann,48 ohne dass die Produktivität seines ‚Betriebes‘ gemindert wird. Genau dazu ist Kritobulus ja nicht in der Lage. Wie für Herr und Herrin ist auch für den epítropos das Ver­antwortungsbewusstsein (epiméleia) die zentrale Eigenschaft. Aber er muss ebenfalls über Führungs­fähigkeit (archikós) verfügen. Dass Ischomachos weiß, wie man Führungskompetenz

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lich in diesen Termini fassen: Wie kann ein Mitglied der athenischen Oberschicht gewinnmaximierend arbeiten und gleichzeitig seinen Aufgaben als Mitglied der ‚politischen Klasse‘ gerecht werden? Vgl. hierzu Föllinger 2006b, 5–23. Zur Forschungsdiskussion vgl. Pomeroy 1994, 315–317. Vgl. hierzu Pomeroy 1994, 316–317. Es geht damit also nicht nur um Kritobulos’ bzw. Ischomachos’ Privatbelange, sondern auch um sie als Politen. Vgl. dazu Pomeroy 1994, 51–55 u. Zoepffel 2006, 163. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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ver­mitteln kann, erregt die Aufmerksamkeit seines Gesprächspartners in besonderer Weise. Denn, so Sokrates, jemand, der andere Menschen zur Führung von Menschen anleiten könne, sei auch fähig, diese zur Herrschaft über Menschen zu erziehen. Ischomachos’ Vorgehensweise, die auch der Verwalter befolgen soll, besteht in einem Anreizsystem, das auf der Verbindung von Bestrafung und Belohnung beruht. Dabei ist das Belohnungssystem differenziert (13,6–12): Je nach Charakter des zu erziehenden Sklaven muss man mit materiellen Anreizen, wie Essen oder qualitätvollerer Kleidung, oder aber mit immateriellen Reizen, wie Anerkennung, arbeiten. Ein wichtiges Mittel, um das gewünschte Verhalten zu erreichen, ist die eigene Vorbild­ haftigkeit. Sie ist für die Erziehung von Wirtschafterin und Verwalter zentral. Darüber hinaus sollen Herr und Herrin überhaupt den Eindruck vermitteln, dass ihr Interesse ganz den von ihnen abhängigen Personen des Haushalts gilt. Diesen Aspekt lässt Xenophon Ischomachos in die Formulierung „das Auge des Herrn“ (δεσπότου ὀφθαλμός, 12,20), das über alles wacht, fassen. Dieses sorge dafür, dass gut gearbeitet wird (12,20: τὰ καλά τε κἀγαθὰ μάλιστα ἐργάζεσθαι). An diesem Punkt wird die umfassende Bedeutung des Verwalters offensichtlich. Er muss die Präsenz des Herrn ersetzen und dafür sorgen, dass auch in seiner Abwesenheit die Untergebenen so motiviert sind zu arbeiten, als ob sie „freiwillig“ ihren Tätigkeiten nachgingen.49 Die geschilderten Strategien machen deutlich, dass im Zentrum des Oikonomikos ein Problem steht, das man aus institutionenökonomischer Perspektive als ‚Informationsasymmetrie‘ bezeichnen kann. Denn die Herausforderung, vor der Kritobulos versagt und die Ischomachos glänzend meistert, ist die Vereinbarkeit von wirtschaftlichem Erfolg und politischer Tätigkeit. Sie ist davon abhängig, dass auch in Abwesenheit des Hausherrn sein ‚Betrieb‘ weiterhin gut funktioniert. So ist der Ausgangspunkt für das zweite Gespräch Sokrates’ Verwunderung, dass Ischomachos Zeit auf der agorá verbringen könne. In dessen Antwort, er sei dazu in der Lage, weil während seiner Abwesenheit aufgrund seiner Strategien die anderen Haushaltsmitglieder eigenverantwortlich und zielorientiert handelten, lässt die Problematik erkennen, mit der sich die Prinzipal-Agent-Theorie befasst:50 Dem Prinzipal ist es nicht möglich, den von ihm beauftragten Agenten, der in seinem, des Prinzipals, Interesse handeln soll, ständig zu kontrollieren bzw. der Agent handelt „in Situationen (…), die so komplex sind, dass eine eindeutige Bewertung seiner Handlungen in Bezug auf das jeweilige Ziel unmöglich ist“.51 Dies birgt die Gefahr, dass der Agent sein eigenes Interesse verfolgt, nicht aber die des Prinzipals als prioritär ansieht. Damit ergibt sich ein Zielkonflikt. Für den Prinzipal besteht also ein gewisses Risiko, wenn er den Agenten, der in seinem Interesse handeln soll, nicht genügend kennt, nicht dauernd beobachten und damit nicht ausreichend beurteilen kann. Er wird diesem Risiko zu steuern versuchen, indem er ein potentiell eigennütziges Verhalten des Agenten in seine Planungen mit einbezieht, um so ein Verhalten hervorzurufen, dass seinem – des Prinzipals – Ziel förderlich ist. Möglichkeiten im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses sind etwa ständige Kontrolle, leistungsorientierte Entlohnung, Kündigung. In Xenophons Oikonomikos haben wir es mit einer vergleichbaren Problemlage zu tun. Der Prinzipal, in Gestalt des Hausherrn, muss für die Implementierung von Regeln sorgen, um sicherzustellen, dass der Hausverwalter, von dessen Qualität das Wohlergehen des Betriebs zu

49 Vgl. die Formulierung in Xen. Oec. 21,12: τὸ ἐθελόντων ἄρχειν. 50 Furubotn – Richter 22005, 206–222. 51 Voigt 22009, 84. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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g­roßem Teil abhängt,52 in seinem, des Prinzipals, Interesse arbeitet. Auch für die Wirtschafterin gilt dies zu einem gewissen Grad. Bei beiden handelt es sich offensichtlich um Sklaven, so dass die bei Arbeitsverträgen möglichen Anreize wegfallen. An deren Stelle tritt aber ein ausgeklügeltes System unterschiedlicher Motivierungen und Regeln, wobei sich als besonders wichtiges Moment das Ideal einer ‚Zielkonfliktvermeidung‘ herausstellt. Die Bedeutung der Präsenz des Prinzipals für das Arbeitsverhalten der anderen kennt und benennt der Oikonomikos. So wird etwa immer wieder hervorgehoben, wie wichtig die Nähe und die eigene Vorbildhaftigkeit für die Vermittlung eines richtigen Verhaltens sind. Auch die Formulierung, dass das ‚Auge des Herrn‘ der wesentliche Faktor für die Qualität der Arbeit ist, rekurriert darauf. Damit ist u.E. nicht nur gemeint, dass die Untergebenen ständig kontrolliert werden müssen, sondern dass das stete Interesse des Herrn an seinem Herrschaftsbereich und den ihm zugehörigen Personen (und Tieren53) zu Lernen und Sorgfalt – dies sind die Leitthemen des Oikonomikos – motivieren. Man kann also die Forderungen, die der Xenophontische Ischomachos an die Auswahl und Erziehung eines Verwalters stellt,54 als Maßnahmen betrachten, die genau den Folgen eines Informationsdefizits vorbeugen und damit sichern sollen, dass der Agent ein dem ökonomischen Wohlergehen des Prinzipals dienliches Verhalten entwickelt. Es geht in dem, was Xenophon vorschlägt, nicht um ein ‚idealisierendes Bild’ des Verhältnisses von Hausherrn und Verwalter, sondern um Regeln, deren Implementierung der Gewinnsteigerung dienen soll. Sie sind vielfältig und sollen alle ein eigennütziges Verhalten von Wirtschafterin und Verwalter, das nicht dem Interesse des Prinzipals dient, verhindern. Sie lassen sich folgendermaßen beschreiben: 1) Eine Voraussetzung, die Personen überhaupt für eine Führungsfunktion innerhalb des Haushalts vielversprechend sein lässt, ist die charakterliche Disposition. Dabei steht im Mittel­ punkt die epiméleia (Verantwortungsbewusstsein: Xen. Oec. 12,14). Eine weitere wichtige mentale Disposition ist die Fähigkeit, die eigenen Ziele zu verfolgen. Xenophon rechnet also mit einem eigennützigen Verhalten, lässt aber Anreize vorschlagen, die genau dieses im Sinne des Prinzipals nutzen. Wenn jemand fähig ist, im Voraus zu bedenken, welches Verhalten den eigenen persönlichen Zielen dient, so ist er bzw. sie für eine leitende Funktion gut geeignet. Denn er bzw. sie wird im Sinne des Prinzipals handeln in der – berechtigten – Erwartung, dass dieser im Gegenzug für seinen bzw. ihren Vorteil sorgen wird. Deutlich wird, dass es für den Herrn von Vorteil ist, wenn er die charakterliche Disposition seiner Führungspersonen kennt. 2) Eine besonders wichtige Strategie, die an die genannten Voraussetzungen anknüpft, aber über sie hinausgeht, besteht darin, dem Agenten zu vermitteln, dass das Interesse des Prinzipals auch seines ist. Hier setzt Xenophon an und lässt Ischomachos erklären, auf welche Weise er dafür sorgt, dass die Verantwortlichen in seinem Betrieb sein Ziel zu ihrem machen. So soll im Blick auf den Verwalter ein Zielkonflikt dadurch vermieden werden, dass der Verwalter dieselbe Freude wie Ischomachos empfindet (Xen. Oec. 15,1: ἥδηται), wenn er als Resultat seiner erworbenen Kompetenzen dem Herrn möglichst hohe Bodenerträge vorweisen kann. Denn damit ist die aktive und selbstverantwortliche Einbindung des Verwalters in das Gedeihen 52 Zur Abhängigkeit des Prinzipal vom Agenten vgl. Pratt et al. 1985, 2. 53 Der Vergleich, den Ischomachos anführt, bezieht sich auf die Erziehung von Pferden. 54 Sie korrespondieren grundsätzlich vollständig mit allen anderen Werken Xenophons, in denen es dezidiert ja immer wieder um Führungspersönlichkeiten und Führungsstrategien geht. Siehe oben, S. 142 mit Anm. 25. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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des oíkos erreicht. Die Schilderung dieser Intention ist also nicht dem „idyllischen Ausklang“55 geschuldet, sondern in ihr äußert sich die handfeste Erkenntnis, dass ein geschickt gesteuertes Eigeninteresse dem Gesamtinteresse und die Identifikation von beidem der Vermeidung von Zielkonflikten dient. Denn ist es dem Prinzipal gelungen, eine solche Verhaltensweise zu bewirken, kann er mit einem optimal handelnden Agenten rechnen, weil dieser aus eigener Motivation und deshalb mit größtmöglichem Ehrgeiz seine Funktion ausübt. Im Ehrgeiz erkennt Xenophon bzw. sein Ischomachos die bessere, da nachhaltigere Motivation als im materiellen Gewinn (14,3–10). Zu der Identifikation des Agenten mit dem Ziel des Prinzipals dürfte es beitragen, dass der Agent auf gleiche Weise wie der Prinzipal ‚Führungsqualität‘ lernt (archikós), indem der Prinzipal ihm vermittelt, die aus Bestrafung und positiver Motivation bestehenden Lenkungsstrategien selbst anzuwenden. Zusammenfassung: Xenophon – biederer Ordnungsfanatiker oder progressiver Denker? Ausgangspunkt für die obigen Überlegungen war die auffällige Rolle der Ordnung im Oiko­ nomikos. Ein Hinweis auf den „militärischen Geist“ des Autors und seine Biederkeit, was den Wert auch dieser Fachschrift angeht, reichen allerdings bei weitem weder zur Deutung des Ordnungs­gedankens noch zur Bewertung der Schrift insgesamt aus. Insbesondere die Aus­führungen in der zweiten Hälfte des Beitrages haben u.E. andeuten können, dass eine institutionen­ökonomische Analyse zu einem besseren Verständnis und der entsprechenden Wertschätzung von Xenophons Oikonomikos beitragen kann. Die Maßnahmen, die Ischo­ machos anwendet, lassen sich in diesem Rahmen und besonders im Zusammenhang mit der Prinzipal-Agent-Theorie treffender als ein umfassender Entwurf von Strategien interpretieren, die der Prinzipal festlegt, um sicherzustellen, dass der Agent (bzw. die Agenten) ganz in seinem Interesse handelt, auch wenn er selbst abwesend ist. Die Züge des Oikonomikos, die als ‚moralisch/ethisch‘ gesehen wurden und deshalb zu einer Marginalisierung der Schrift in der Geschichte der Ökonomie führten, erweisen sich sämtlich als wirtschaftlich motivierte, kluge Strategien. Auch das Ordnung-Halten gehört zu den vorgeschlagenen, scheinbar banalen, im Gesamtzusammenhang aber eben überaus klugen Strategien und Regeln des auf Effizienz und Profit sowie gegenseitigen Nutzen ausgerichteten Haushaltes als ökonomischer Einheit. Bibliographie Anderson 1974 = J. K. Anderson, Xenophon, London 1974. Audring 1992 = G. Audring, Xenophon. Ökonomische Schriften. Griechisch und Deutsch, Berlin 1992. Audring – Brodersen 2008 = G. Audring – K. Brodersen (Hrsg.), OIKONOMIKA. Quellen zur Wirt­ schafts­theorie der griechischen Antike. Eingeleitet, herausgegeben und übersetzt, Darmstadt 2008.­ Audring 2012 = G. Audring, Wie kann man Xenophons Schrift über die Staatseinkünfte (Poroi) gerecht werden? in: P. Seele (Hrsg.), Ökonomie, Politik und Ethik in der praktischen Philosophie der Antike, Berlin 2012, 15–28. Breitenbach 1950 = H. R. Breitenbach, Historiographische Anschauungsformen Xenophons, Diss. Basel, Freiburg 1950. Breitenbach 1966 = H. R. Breitenbach, Xenophon von Athen, Sonderdruck aus RE IX A2, Stuttgart 1966. Bresson 2016 = A. Bresson, The Making of the Ancient Greek Economy. Institutions, Markets, and Growth in the City-States, Princeton – Oxford 2016. 55 Audring 1992, 23. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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‚Individuelles‘ Kaufverhalten in den Komödien des Aristophanes. Ausgewählte Aspekte Monika Frass Untersuchungen zum Thema Kauf und Verkauf1 sind in den inzwischen nahezu unüberschaubaren Abhandlungen zur antiken Wirtschaft vor allem unter den Sachgebieten Märkte, Handel und Konsum fassbar. Dabei werden in produktorientierten Studien bevorzugt Fragen der Logistik des Warenaustausches – besonders im römischen Reich – diskutiert, wobei der Weg der Ware zum Verbraucher im Mittelpunkt steht.2 Im Folgenden soll jedoch der umgekehrte Weg, der individuelle Zugang des Verbrauchers zum ‚Markt‘ im Vordergrund stehen, das Verhalten des Käufers in Verbindung mit Fragen des Klein- bzw. Zwischenhandels. Dass entsprechende Abhandlungen in der bisherigen Forschung durchaus noch ein Desiderat darstellen, darauf hat bereits Davidson verwiesen: The ancient Greek consumer per se, in the restricted sense of a purchaser/user of goods and services, has not hitherto been the subject of much concern or debate amongst classicists, certainly at the micro-economic level, and has (therefore) had little or no presence in recent debates (…).3

Ausschließlich die Komödien des Aristophanes dienen als Basis dieser Alltagsstudie, die Einblick in ausgewählte Aspekte des Kaufverhaltens der Athener im 5. Jh. v.Chr. geben soll.4 Neben den zahlreichen philologischen Arbeiten zu Aristophanes,5 dem bekanntesten Ver­ treter der Alten Komödie sind sozialökonomische Themen außer in den Standardwerken von Ehrenberg und Spielvogel nur vereinzelte Randerscheinungen geblieben.6 Motivations- und mentalitätsgeschicht­liche Studien scheinen jedoch gerade anhand dieses Autors weiterhin lohnend, da Aristophanes Beschreibungen menschlicher Gewohnheiten und Verhaltensweisen bietet, die in dieser Detailfülle für die Zeit des 5. Jh. v.Chr. einzigartig geblieben sind, Infor­ 1 2 3 4

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Hinweise auf die differenzierte Begrifflichkeit von Kauf und Verkauf und mögliche Definitionen im griechisch-römischen Altertum (lat. emptio/venditio; griech. one, onesis/prasis) bisher vor allem in rechtshistorischen Untersuchungen; zum Kaufvertrag im römischen Recht, vgl. Mattiangeli 2013, 88. Zu umfassenden Biographien siehe Bresson 2000 u. 2007; Scheidel – von Reden 2002; Scheidel – Morris – Saller 2007; Demetriou 2001. Davidson 2012, 23; vgl. auch Holleran 2012, 4 zum Desiderat entsprechender Untersuchungen für das kai­ser­zeitliche Rom; Holleran 2016. In Publikationsvorbereitung M. Harlow – R. Laurence (eds.), The Cul­tural History of Shopping, Vol. 1: Antiquity, London. Um im Sinne der nunmehrigen Pluralität des Zugangs zur antiken Wirtschaft, Basisinformationen zu Institutionen und Individuen zu gewinnen und damit weitere Bausteine für theoretische Denkmodelle (vgl. die neue Institutionenökonomik, et al.) zu schaffen; vgl. Jones 2014; Morley 2013, 103–122; Bresson 2007, 7–26; Eich 2006, 7–98; Korn 2016, 1–10; Paulas 2010; Föllinger 2016. Mit weiterführender Literatur Newiger 1975; Zimmermann 1998; Holzberg 2010; Möllendorff 2002. Neben Victor Ehrenbergs (31968) soziologischer Studie Aristophanes und das Volk von Athen ist hier v. a. auf die umfassende Monographie von Jörg Spielvogel zu Wirtschaft und Geld bei Aristophanes (2001) zu verweisen, der sich dieser Thematik anhand der Kategorien Privathaushalt, Staatshaushalt und Handelsgeschehen in Athen nähert. Zu ökonomischen Aspekten in bestimmten Komödien, vgl. z.B. Olson 1991, 200, der am Beispiel der Figur des Dikaiopolis in den Acharnern konstatiert: „What seems never to have been appreciated is the extent to which the hero’s motivations are specifically economic in character“, vgl. auch Olson 1990; zu Dikaiopolis s. a. Parker 1991, 203–208. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Monika Frass

mationen, die trotz Einbindung in das spezielle literarische Genre durchaus Einblick in das soziale und wirtschaftliche Leben Athens gewähren können.7 Gerade der zwischenmenschliche Faktor sowie das andernorts schwer fassbare ‚Atmosphärische‘ im täglichen Gesellschaftsleben des ‚einfachen‘ Bürgers werden hier in besonders anschaulicher Form in Alltagsthemen greifbar.8 Reich sind bei Aristophanes vor allem Informationen zur Bedeutung des Geldes, zum Waren­ angebot für alltägliche Bedürfnisse wie Lebensmittel und Gebrauchsgüter, aber auch zu den diversen Vertreibern dieser Waren. Eingebettet in diese Aspekte und darüber hinaus finden sich Nachrichten über das individuelle Kaufverhalten. Das interpersonelle Agieren von Kunden und Verkäufern bietet soziologische Charakterstudien von Angehörigen bestimmter Gesellschaftsund Berufsgruppen sowie Hinweise auf andernorts oft verborgene ‚merkantile‘ Strategien zwischen dem Anbieter und dem Verbraucher aus ‚marktpsychologischer‘ Sicht. Zudem kann aus den Informationen des Komödienschreibers der Ablauf des möglichen individuellen Einkaufes nachgezeichnet werden. Der Weg zum bzw. vom Markt, mit den für den Einkauf benötigten Utensilien (u.a. Transportbehälter),9 über das verfügbare ‚Einkaufsgeld‘ des Käufers, hin zu Preisen, Einkaufszeiten, sowie die mögliche Kaufsmotivation und das Kauf­er­lebnis selbst in seinen verschiedensten Facetten. Hier sollen nur abrissartig, um die Viel­fältigkeit der Thematik aufzuzeigen, einige ‚verhaltensökonomisch‘ relevante Aspekte zur Finanzierung des Einkaufs (‚finanzielle Ressourcen für Einkäufe‘) und damit verbundenen Varianten des ‚Kauf­erlebnisses‘ vorgestellt werden.10 7 Vgl. Ehrenberg 31968, 47 f.; Spielvogel 2001, 26, mit Hinweis auf den ‚generellen Quellenwert der Komödie‘: „(...) auf den in eine fiktive Umwelt eingearbeiteten Realien, die durch funktionale Integration in den komischen Kontext eine eingeschränkte Bestandsaufnahme der sozioökonomischen Gegebenheiten in Athen gegen Ende des perikleischen Zeitalters bis in die erste Hälfte des 4. Jahrhunderts ermöglichen“; vgl. Frass 2016, 139–141; zur möglichen Erwartungshaltung des Aristophanischen Publikums, siehe Fischer 1993, 32: „His plays, very probably like those poets, present ‚views‘ which are often old-fashioned which reflect the complex and varied prejudices when in holiday mood, traditionally hostile to all those their wealth and power. The plays also cater for people for a release from day-to-day struggles assertion in the areas of power, food, drink, and this view to put considerable emphasis on the comic ideas whither they lead, while staying within comic and subversive expectations of the genre“. 8 Ehrenberg 31968, 13 f.: „Fragen der Geschichte sind, soweit sie das menschliche Verhalten betreffen, letzt­lich Fragen der Psychologie, und dieser Gesichtspunkt gewinnt an Wichtigkeit, sobald wir Tatsachen deuten wollen, die wir nur aus einer unzulänglichen und bruchstückhaften Überlieferung kennen. Will man den Charakter der griechischen Wirtschaft und der griechischen Gesellschaft erkennen, so gilt es, nicht nur die Tatsachen des äußeren Lebens aufzudecken, sondern auch die Art und Weise, in der ebenso das Individuum wie die Gesellschaft psychologisch darauf reagierten. Wir müssen ausfindig machen, wie ein Einzelner oder die Allgemeinheit oder auch die Menschen einer bestimmten Gruppe in Bezug auf ihre wirtschaftliche Lage denken und handeln. Erst dann wird diese für uns wirklich lebendig werden (…) es geht nicht um dokumentarisch zu belegende Genauigkeit (die ist nicht zu erreichen), sondern um Wahrheit und Wirklichkeit (…) die „Atmosphäre“ herauszuarbeiten (…) und die Menschen – in ihre Vielfalt und in ihrer Einheitlichkeit – zu charakterisieren (…) natürlich ist das ein Idealziel (…)“. Zur ‚Motivationsforschung‘ in historischen Disziplinen, zu möglichen irrationalen, emotionalen Faktoren bei Entscheidungen des ‚homo oeconomicus‘; vgl. MacMullen 2014, 57–64. 9 Improvisierte Behälter und Standardmaterialien für den Transport wie Tonware, mit Hinweis auf eine mögliche ‚Secondhandverwendung‘ als (politisch konnotiertes) Allzweckgefäß (Ach. 929–958); zudem werden Stroh als Verpackungsmaterial (Ach. 928), sowie Töpfe für den Fischkauf (Equ. 650), Säcke für den Mehlkauf (Eccl. 819–820) u.a.m. genannt. 10 Ausführlichere Abhandlungen zum individuellem ‚Kaufverhalten‘ im antiken Schrifttum, nicht nur bei Aristophanes, stellen durchaus ein Forschungsdesiderat dar. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

‚Individuelles‘ Kaufverhalten in den Komödien des Aristophanes

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1. Finanzielle Ressourcen für Einkäufe Wiederholt wird von Aristophanes der Umgang attischer Bürger mit Geld thematisiert. Dabei reicht der Radius von Klagen über Geldmangel am Rande existentieller Bedrohung bis zum Wunsch­traum nach Geld für Luxusgüter und Prasserei sowie den damit einhergehenden Folgen, nicht zuletzt die Verschuldung durch ‚Kredite‘. Wir hören vom Elend des Vaters, zweifelnd am Sinne seines Dasein, das ihm kaum ermöglicht, seine Familie zu ernähren und vom tief betroffen Vater, der mit seinem kärglichen Tag­ geld11 seine Familie erhalten muss. Wünsche der Kinder verhallen ungehört, vielmehr wird die Sorge um die nahe Zukunft deutlich,12 da die zur Verfügung stehende Summe von vermutlich drei Obolen nur für dringlich benötige Produkte wie (Gersten-)Mehl (alphiton), Brennholz und Zukost (xylon) Verwendung findet.13 Ähnlich verweist Trygaios, der Held der Komödie Frieden auf die kriegsbedingte trostlose finanzielle Situation im Haus, wenn für den Erwerb von Brot „kein Krümelchen ([Silber-]Geld) zu finden“ ist und somit das Bitten der Kinder um Nahrung ungehört verhallen müssen.14 Der Höhepunkt der individuellen Not ist wohl in den Acharnern, im erwogenen karikierten Verkauf zweier megarischer Mädchen, in Verkleidung als Ferkel am neu etablierten Markt des Dikaiopolis in Athen15 zu sehen, ein humoristischer, sexuell konnotierter Täuschungsvorgang, der dem armen, aber durchaus geschäftsaffinen einfallsreichen Vater der Mädchen, einem megarischen Händler/Bauern aufgrund der aktuellen, vom einschlägigen Handelsboykott verursachten Marktsituation – nach Angebot und der Nachfrage – am ehesten gewinnträchtig scheint: Megarer: Markt in Athän, sei mia gegrüßt, den Megarern liab! / Ersehnt hab i, beim Freund­schafts­ gott, wia die Mutta dich. / Doch arme Maidle oines armen Vaters, ihr, / Gaht nauf zum Brot do, ob ihr’sch finde könnt. / So hört nu mol und schperrt mia eire – Bäuche auf: / Wollt ihr verkouft oder liaber bitter hungrig soin? // Mädchen: Verkouft, soin, verkouft soin! // Megarer: Das main ich och. Wer aber ischt so narrisch denn, / Dass er eich kouft, oin offenbar Verluschtgeschäft? /Jedoch i hab jo oinen Ousweg, typisch Megara; / Denn ich verkloid eich und sag, i bring Säule mit.16

Dass der Tageslohn, jedoch auch anderweitig Verwendung finden konnte, ist ebenso in den Be­schreibungen des Komödienschreibers fassbar. Umso glücklicher scheint derjenige attische Bürger, der sein Taggeld nach Hause bringt, und somit kurzfristig den Lebensunterhalt, das Einkaufs­geld der Familie sichert oder aber dieses Geld den schmeichlerischen Damen des Hauses zu spenden vermag: erweisen sich doch Töchter und Frauen dem finanzkräftigen H­eimkehrer gegenüber durch spezielle Gesten und Worte, nicht ganz uneigennützig, als besonders dankbar.17 11 Zur Entstehung und Entwicklung dieser Entlohnungsform mit Schwerpunkt auf Aristophanes, siehe Ehren­berg 31968, 234–235; vgl. auch Spielvogel 2001, 65–77. 12 Vgl. Vesp. 304–305: „Also, Vater, wenn der Archon / Das Gericht nicht heute einsetzt, / Wovon werden wir da kaufen / Uns ein Frühstück? Hast du / Gute Hoffnung oder bleibt uns / Nur der heil’ge Hellespont?“ 13 Vesp. 300–302, der Sold wird zur Enttäuschung des Sohnes, der auf den Kauf von Feigen hofft, für die Beschaffung entsprechender lebensnotwendiger Waren verwendet. 14 Pax 119–123; vgl. Vesp. 304–305. 15 Zum wirtschaftlichen Aspekt des Marktes von Dikaiopolis, vgl. zur Spielvogel 2001, 77–82; 135–139. Zur Agora in Athen, u.a. Camp 1989 u. Camp – Mauzy 2009. 16 Ach. 734–735, 812–814. 17 Vesp. 606–612; vgl. Ehrenberg 31968, 233, der hier das Verhalten Reicher sehen will, die ihren Tagessold Kindern als ‚Taschengeld‘ spendeten; vgl. auch Nub. 862–864. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Geldwechsel konnte während des Einkaufs am Markt erfolgen. Wir hören von Ly­si­stra­tos, der das erworbene Taggeld, das in Summe für zwei Personen eine Drachme ergab, am „Fisch­ markt“ (en tois ichtysin) wechseln lässt. Wir erfahren auch, dass er seinen Kollegen Philo­k leon betrügerisch um seinen Anteil brachte, indem er diesem anstelle seiner drei Obolen, Fisch­ schuppen aushändigte.18 Wenn Philokleon von seinem Kollegen Lysistratos auf humoristische Weise hintergangen wird, so hat dies eine Klage zur Folge, ein Hinweis auf die Prozesssucht der damaligen Zeit, speziell am Beispiel von Philokleon, dem Protagonisten der Komödie Wespen. Nicht nur der Entfall des Taggeldes konnte den Geldbeutel des armen Mannes schmerzlich treffen, sondern wohl auch ein überraschender ‚Währungswechsel‘, der den Bürger mit der plötzlichen Wertlosigkeit seiner Barschaft konfrontierte: Kupfermünzen (kollyboi) wurden als ungültig deklariert, wie der Kunde beim Einkauf von Mehl am Markt (agora) mit Verblüffung feststellen muss, Informationen, die zeitpolitisch relevante Entwicklungen – auch in Hinblick auf die Geldwirtschaft des 4. Jh. – in komödienhafter Überzeichnung spiegeln.19 Geldmangel begegnet bei Aristophanes in verschiedenen Facetten. Während wirtschaftliche Gründe oder politische für den pekuniären Engpass und die verminderte ‚Kaufkraft‘ des Einzelnen wiederholt greifbar werden, können individuelle Finanzkrisen auch durch Selbst­ verschulden verursacht sein. Sparsames Haushalten mit dem Einkommen zählte, wie die Be­ deutung des Taggeldes zeigt, wohl zur Überlebensfrage des einfachen Mannes, der auch zum Publikum des Aristophanischen Theaters gehörte. Der Kauf bzw. der Genuss von Luxusgütern wurde deshalb auch bewusst – wenngleich versinnbildlicht in unterschiedlichstem gesellschafts­ politischen Kontext – angeprangert. Unmäßiger Besuch von Bädern20 wird ebenso dazugezählt, wie der Kauf von teurem Fisch (Barsche) anstelle von Alltagsware wie Sprotten.21 Auch der Verbrauch des ersten Richtersoldes von Strepsiades für ein ‚Spielzeug‘ seines Sohnes, w­ird

18 Vesp. 785–795. 19 Eccl. 816–822, zum Unmut der Bürger über das Kupfergelddekret und weitere Volksbeschlüsse: „Mann: Als sähe man nicht täglich, / Wie’s mit dergleichen Volksbeschlüssen geht! / Denkst du denn nicht mehr an den Salzbeschluß? Chremes: Ich weiß. / Mann und an das Kupfergelddekret, / Das man erließ? Chremes: / Mir hat sich das Gepräge / fest eingeprägt. Denn von verkauften Trauben / Bracht ich das Maul voll Kupfer­ münzen heim; / Nun ging ich auf den Markt, um Mehl zu kaufen, / Und wie ich schon den Mehlsack unterhielt, / Da rief der Herold aus: ‚Die Kupfermünzen / Sind abgesetzt, es gilt nur Silbergeld‘“. Zur kriegs­be­dingten geldwirtschaftlichen Entwicklung Athens im 4. Jh., s. Ehrenberg 31968, 226 f.: „Später, im vierten Jahr­hundert, nahm der bronzene chalkous die Stelle des ⅛-Obolen-Stückes ein, das wegen seiner Winzigkeit fast unverwendbar war. Es gibt noch eine andere kleine Münze, die gelegentlich in den Komödien erwähnt wird, der sogenannte kollybos, vermutlich eine Kupfermünze, doch hat man bezweifelt, ob er überhaupt eine wirkliche Münze war. In der Umgangssprache bedeutet kollybos ‚nichts‘, sein Geldwert war vermutlich nur ein Bruchteil des chalkous“. Zur ungeliebten Kupferwährung, vgl. auch Ran. 722; dazu auch Schmitz 1986, 66. 20 Nub. 835: „(…) du jedoch, / Als wär ich tot, verbadest mir mein Hab und Gut“ [Strepsiades zu seinem luxus­liebenden Sohn Pheidippides]. 21 Vesp. 488–500: „Wenn mal einer Barsche einkauft, aber keine Sprotten will, / Sagt sogleich der Sprotten­ händler von dem Markstand nebenan: ‚Dieser Mann scheint üppig einzukaufen, als würd er Tyrann.‘ / Und wenn er für die Sardellen Lauch dazu wünscht als Gewürz, / Sieht ihn die Gemüsehökerin schief von seit­ wärts an und sagt: ‚Sag mir, Lauch verlangst du: in Erwartung der Tyrannis wohl, / Oder glaubst du, dass Athen Gewürze als Tribut dir bringt?‘“; zum symbolischen Gehalt des Fischkonsums, s. Davidson 1993, 53–61. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

‚Individuelles‘ Kaufverhalten in den Komödien des Aristophanes

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dem Bereich von unüberlegten Ausgaben zugewiesen.22 Liegen diese ‚Luxusgüter‘ im vorstell­ baren Bereich der ‚kleinbürgerlichen‘ städtischen Gesellschaftsschicht der Zeugiten, aber auch Theten – insbesondere von Handwerkern, Kaufleuten, Händlern etc. – so mag der folgenschwere Ankauf eines Rennpferdes durch Strepsiades für seinen luxusliebenden Sohn, wohl von besonders humoristischem Beigeschmack für die Normalbürger gewesen sein. Das reumütige Be­ dauern über den unüberlegten Ankauf, verbunden mit dem drohenden Bankrott des zu leicht­ sinnigen Strepsiades, des Helden der Komödie Wolken, und dessen Zahlungsunfähigkeit zum nahenden Rückzahlungstermin am Monatsbeginn, trägt zudem zur ‚schadenfrohen‘ Er­heiterung der Zuseher bei.23 Bescheiden erweist sich dazu im Vergleich die Ausleihe von drei Drachmen von Trygaios für den Ankauf eines Ferkels für Opferzwecke bei Hermes.24 Das Bedauern über die (gestiegene) Wichtigkeit von Geld für das Überleben im städtischen Getriebe wird jedoch ebenso formuliert wie die Notwendigkeit für den (ungewohnten) Kauf spezieller Produkte, wenn Dikaiopolis vereinsamt in der noch leeren Volksversammlung sinnierend konstatiert: Aufs Land ausblickend und vom Friedenswunsch erfüllt, / Die Stadt so leid und voll Verlangen nach meinem Dorf, / Das nie und nimmer lärmend rief: ‚Kauft Kohlen ein‘, Nicht ‚Essig‘, ‚Öl‘ nicht, und nicht dauernd tönt’ es ‚kauf‘ / Vielmehr selbst trug es alles, und „Herrn Kauf“ gab’s nicht.25

2. Kauferlebnis Besonders facettenreich sind Informationen, die das Kauferlebnis selbst betreffen, die an unterschiedlichen Lokalitäten der Stadt – nicht nur der zentralen Agora – verortet werden.26 Dabei sind verschiedene Details aus der Sicht des Käufers fassbar: Nachrichten dazu reichen vom ungezwungenen Marktbummel über die Kaufsanimation durch ‚Marktschreier‘27 bis zum 22 Nub. 860–864: Strepsiades zu seinem Sohn Pheidippides: „(…) mach dem Vater dann / Zuliebe etwas Dummes; auch ich hab ja einst, / Ich weiß, dem plappernden Sechsjährigen zulieb / Für meinen ersten Obolos an Richtersold / Dir am Diasienfest ein Wägelchen gekauft“. 23 Nub. 12–24: „Allein, ich Armer kann nicht schlafen, so gezwickt / Von Aufwand und von Futtertrog und Schuldenberg / Durch diesen meinen Sohn. Der trägt die Haare lang / Und hat im Kopf nur Reiten und Kutschiererei / Und träumt von Pferden gar; ich aber bin des Tods, / Wenn ich denn seh, dass es zum Monatsende geht; / Denn da sind die Zinsen fällig. – Bursche, Licht zünd an / Und bring mir mein Notiz­ buch, dass ich es lesen kann, / Wie vielen ich schulde, und die Zinsen kalkulier. / Lass sehen, was schulde ich? Zwölf Minen Pasias. / Wofür zwölf Minen Pasias? Was lieh ich die? / Beim Kauf des Hengstes mit dem K-Brandmal. O weh, / Hätt eh’r ich ’s Aug mir ausgeschlagen mit ’nem Stein!“ 24 Pax 373 f. 25 Ach. 34–36; vgl. Spielvogel 2001, 78 f. zum ungewohnten Zwang des Warenkaufs für die ländliche Be­ völkerung; Olson 1991, 203 zur vordergründig ökonomischen Motivation des Dikaiopolis für seinen ‚Separat­frieden‘: „The hero had enough of this pointless war, created and perpetuated by a small group of insiders for their own selfish purposes. In the end, his is a double success, as he escapes not only the fighting, but also the cash economy which the city of Athens has come to represent. In fact, the two ideas almost seem to be treated as one, as peace and a return to the ideal (and idealized) countryside bring with them the recovery of a simple pre-monetary existence, in which all wants are freely satisfied“. Vgl. auch die Marktgepflogenheiten der ‚neuen‘ Agora des Dikaiopolis (Ach. 719–958); dazu auch Spielvogel 2001, 137–139. 26 Zur Frage der diversen kommerziellen Lokalitäten Athens, siehe Spielvogel 2001, 132–143; Karvonis 2016, 37–41. 27 Ach. 34–36. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Verhalten bzw. Fehlverhalten von Kunden; die ‚Mündigkeit‘ des Einkäufers wiederum wird deutlich am Beispiel sorgfältiger Qualitätskontrolle, in der Frage nach dem persönlichen Bedarf angebotener Produkte, aber auch im kritischen Preisvergleich. Damit verbunden ist auch das intensive Feilschen um den Preis.28 So tummelten sich wohl neben unterschiedlichen Werktreibenden attische Bürger bereits am frühen Morgen im ‚Dienste‘ der Demokratie im Bereiche der Agora. Man versuchte sich mitunter den Pflichten der Volksversammlung so lange wie möglich zu entziehen und flanierte – zum Leidwesen bereits wartender Teilnehmer (Dikaiopolis) – plaudernd auf dem Markt.29 Aristo­ phanes gibt im Sinne der politisch gefärbten Komödie detailreich Einblick in die Sehnsucht der kriegsgeplagten Bevölkerung Athens und ihre Hoffnung auf friedliche Zeiten; auf Alltagsleben, geprägt durch Gedränge und Geschrei um Verkäufer verschiedenster Produkte – Lebensmittel und Kleidung – vor allem aus dem durch das bekannte Megarische Psephisma vom attischen Markt ausgeschlossenen Böotien: Und möge der Markt uns mit Segnungen / Gefüllt sein, mit Zwiebeln von Megara her, / Mit Äpfeln, Granatäpfeln, Gurken noch früh, / Für Sklaven mit feinen Wollmäntelchen; / Und lass uns Böoter mit Gänsen sehn / Und mit Enten, Tauben und Schnepfen zum Kauf; / Und kopaïsche Aale schick, Körbe voll, / Und um diese herum lass uns gedrängt / Umeinander uns schieben im Ein­k aufs­gewühl / Mit Morychos, Teleas, Glauketes und / Sonst vielen Gourmets; (…)30

Der Ärger über Mitkäufer, die erfolgreich in den Besitz der begehrten Ware kamen,31 wird eben­so fassbar, wie die Bestürzung eines Kunden (Melanthios), der im Gegensatz zu anderen Schlemmern zu spät am Markt erscheint, und im Stile antiker Tragödie, zum Gaudium der um­stehenden Kunden pathetisch über den Ausverkauf der Waren klagt: (…) und Melanthios /Lass kommen danach zu spät auf dem Markt, / Die Aale verkauft, sein, ihn jammern und aus / Der ‚Medea‘ dann stimmen die Arien an: / ‚Verloren, verloren bin ich, bin beraubt / Der in Mangoldblätter Gebetteten einst!‘ / Und die Leute lass freu’n sich darüber.32

Die Information über Markttermine – spezifische Markttage33 – war für den Einkäufer ebenso wichtig, wie das rechtzeitige Erscheinen bei den Anbietern der Waren, die, wie das Beispiel der Fischverkäufer zeigt, nur solange vor Ort waren, solange der (frische) Vorrat reichte. Nicht 28 Zum möglichen Kaufwert von Drachme und Obolos, vgl. Ehrenberg 31968, 227–235. 29 Ach. 20–21: „Dikaiopolis: Sie plaudern auf dem Markt, und auf und ab / Spazierend fliehn sie das Markierungs­seil“; zu den Disziplinierungsmaßnahmen mit einem gefärbten Seil, siehe Holzberg 2010, 27. Zur möglichen räumlichen Ausdehnung der zentralen Agora Athens, vgl. Spielvogel 2001, 132–133; zur Terminologie Karvonis 2016, 37–47, mit weiterführender Literatur und Quellenverweisen. In den frühen Morgenstunden wird man auch den Aufbau von mobilen Marktständen an Straßen und Plätzen der von nah und fern eintreffenden Händler annehmen können, bzw. eine etwaige Öffnung von Geschäften in marktnahen Zonen. 30 Pax 987–1015; vgl. Ach. 719–958, zur Öffnung der ‚neuen‘ Agora des Dikaiopolis für alle vom Handel kriegsbedingt Ausgeschlossenen. 31 Ach. 842–843 als positive Begleiterscheinung der ‚neuen‘ Agora des Dikaiopolis: „Es wird kein Andrer dich, indem / Er dir was wegkauft, ärgern“; vgl. Pax 1009–1010. 32 Pax 1009–1010; vgl. Ach. 842–843. 33 Zum Termin des Markttages für den Verkauf von Tieren am Neumondtag, siehe Vesp. 169–181; ebenso für Sklaven; vgl. Ehrenberg 31968, 175; Lewis 2016, 324; Spielvogel 2001, 134 f., mit Hinweis auf die Agora als Schauplatz dieses Treibens nach Schol. Vesp. 169. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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nur das Geschrei der Käufer, sondern auch das Geschrei der Händler war für die alltägliche Marktatmosphäre kennzeichnend, zählte doch das Anpreisen der Ware zu den am Markt gelernten Fertigkeiten der Händler, ebenso wie Frechheit, Trotzigkeit und Zungenfertigkeit.34 Beim Suchen der geeigneten Ware zeigte man sich durchaus preisbewusst, wie beispielsweise die Fragen nach den Kosten von Käse in Boiotien oder Hinweise auf die Preisunterschiede und Qualitäten bei Honig zeigen.35 In humoristischer Weise wird auch die nicht immer deutlich fassbare betrügerische Dreistigkeit von Händlern/Verkäufern unterschiedlicher Waren (Mehl, Schuhe, Wolle, Vögel) thematisiert, das Verhalten von diversen ‚Krämern‘, die terminologisch keineswegs nur an den Begriff kapelos gebunden sind.36 Vorsicht scheint beim Kauf für den Kunden geboten, der sich übervorteilt fühlt, nicht nur beim Preis, sondern auch bei der Menge und Qualität der erworbenen Ware. So finden sich konkrete Beschwerden über bestimmte negative Erlebnisse beim Kauf. In der humoristischen Gegenüberstellung von Fruchtmaßen und Versmaßen – während der sophistischen Ausbildung des ungebildeten Strepsiades durch Sokrates – ist auch die Lebens- und Erfahrungswelt des Marktbesuchers, Wissen um Falsch­ maße erkennbar:37 So berichtet Strepsiades seinem entnervten Lehrer empört vom betrügerischen Verhalten beim Einkauf von Mehl: (…) denn jüngst wurde ich geprellt / vom Mehlverkäufer (alphitamoibos) um ein Doppellitermaß.38

Mangelnde Produktqualität wiederum ist das Problem, das in einem tagespolitisch gefärbten Dialog zwischen dem ‚Wursthändler‘ und dem Paphlagonier in der Komödie Ritter, thematisiert wird. Der unschwer als Demagoge Kleon charakterisierte Paphlagonier wird mit dem Vorwurf des Vertriebs schlechten Leders konfrontiert. Die dadurch bedingte Herstellung schlechter Schuhe wird in den Beschreibungen der Produktmängel – wenngleich in überzeichnetem Kontext – deutlich: Das viel zu dicke Leder erwies sich für Bauern beim Tragen als ungeeignet: Eh sie’s einen Tag getragen, war der Schuh zwei Hände breit (…).39

Auch ein Sklave bezeichnet sich in humoristischem Kontext als Opfer entsprechender Machen­ schaften, der durch schadhaftes Schuhwerk, das schlapfte, zum Gespött der Leute wurde.40 Das Wissen um die aktuelle Preisgestaltung war für den Käufer von Interesse, wie einschlägige Beispiele zeigen, aber auch die Kenntnis unterschiedlicher Preise in anderen Regionen (Boiotien),41 die sich ‚marktpolitisch‘ wohl nicht zuletzt aus dem zeitspezifisch aktuellen Wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage ergab. Besonders eindrucksvoll wird dies in der Komödie Frieden thematisiert, in der Zwischenhändler unterschiedlicher Warenressorts – 34 Vgl. Ehrenberg 31968, 123–124; dazu auch Ach. 32–36 u.a.m. 35 Equ. 480: „Was kostet denn der Käse in Böotien?“; zum ökonomischen Aussagewert dieser Passage, Olson 1991, 200–203. 36 Spielvogel 2001, 130–181; Ehrenberg 31968, 122–133; zur kritischen Deutung des Begriffs kapelos, in diversen Quellen, vgl. Drexhage 2002, 64–68. 37 Nub. 638–640; vgl. Equ. 1006–1009. 38 Nub. 639–640; vgl. Equ. 1006–1009: Zur Aussage spezieller Orakelsprüche: „Wursthändler: Von Athen, von Linsenbrei, / Von den Spartanern, von Makrelen frisch verkauft / Von den betrügerischen Mehl­ver­ käufern auf dem Markt“; vgl. auch Eccl. 424: zum Begriff alphitamoibos; dazu auch Ehrenberg 31968, 420 Anm. 54. 39 Equ. 314–318. 40 Equ. 319–321. 41 Equ. 480 (Käse in Boiotien); Pax 252–254 (Honig aus Athen). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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offenbar als umherziehende Kleinhändler direkt beim Kunden – mit dem Kunden Trygaios um den aktuellen Wert der Produkte feilschen, der sich nicht mehr am Kriegsgeschehen, sondern am Bedarf der Bevölkerung im Frieden orientierte. Dabei wird der gestiegene Wert von Sicheln und Krügen, den ins Bodenlose abgestürzten Preisen von Kriegsgerät (Brustpanzer, Lanzen, Kriegstrompeten oder Helme) gegenübergestellt.42 Von Bedeutung für das individuelle Kaufverhalten bei Aristophanes sind auch erkennbare Interaktionen zwischen Kunden und Verkäufern. Wir hören vom Versuch des Kunden, Profit aus der wirtschaftlichen Notsituation des Händlers zu ziehen, und das Geschäft mit ‚Ladenhütern‘ gewinnbringend für eigene Zwecke zu nutzen. Das Feilschen um mögliche Niedrigstpreise ist damit ebenso verbunden, wie eine Verhöhnung der Produktvertreiber und ihrer Waren.43 Besonders deutlich wird dies an den ‚wohlgemeinten‘ Ratschlägen des Kunden, un­attraktives wertvermindertes Kriegsgerät neuem Konsumentenbedarf im Frieden anzupassen. Empfohlen wird vom provokanten Kunden die Adaptierung des Helmbusches als Tischfeger, der Kriegs­ trompete als Zielobjekt beim Kottabos, des Brustpanzers als Nachttopf, des Helms als Messgerät für ägyptische Abführtränke sowie der Lanzenschäfte als Weinpfähle.44 Dass die gewünschte Adaptierung eines edlen Brustpanzers (thorax) als Nachttopf, die beim empörten Zwischenhändler (thorakopoles) auf wenig Gegenliebe stößt, außerordentlich zur Unterhaltung des antiken Theaterpublikum beigetragen hat, davon darf wohl ausgegangen werden: Der humoristische Aspekt wird zudem unterstrichen durch die vorgetäuschte Bereitschaft des potentiellen Käufers Trygaios für das Nachtgeschirr an den krisengeschüttelten Händler den Einkaufspreis (isonia) – womit auch dieser sich als Einkäufer, somit als ebenso abhängig von Produzenten bzw. weiteren nicht näher bekannten Zwischenhändlern45 outet – von 10 Minen zu bezahlen.46 Gerade dieses Beispiel, am Ende des Beitrags lässt ein Detailwissen um den Ablauf von Klein­handel in unterschiedlichen Varianten in den Komödien erkennen, aber auch ein und Neben­einander von Natural- und Geldwirtschaft, wenn als Tausch- bzw. Zahlungsmittel von Try­gaios einerseits Feigen (für den Helmbusch), andererseits eine hohe Geldsumme (für den Brust­panzer) angedacht werden. Diverse marktwirtschaftliche Prinzipien werden greifbar: Sie zeigen ein Bewusstsein um die wirtschaftliche Abhängigkeit des einzelnen von aktuellen politischen Situationen und bieten psychologisch gelungene Porträts möglicher ‚Marktgewinner‘, vor allem aber der ‚-verlierer‘.47

Trotz humoristischer Überzeichnung werden somit Züge des wirklichen Alltagslebens fassbar: Emotionen, Sorgen und Ängste der unterschiedlichsten in den Kauf und Verkauf involvierten 42 43 44 45

Equ. 1196–1264. Equ. 1196–1264. Equ. 1196–1264. Dass hiermit wirklich der „Einkaufspreis“ eines Zwischenhändlers angesprochen wird, nicht der Produkt­ kostenpreis des Herstellers, das wird vor allem deutlich aus nachfolgendem Kontext. Der Vertreiber der Kriegstrompete (salpigopoios) spricht selbst von seinem Kauf der Ware (Pax 1241); zum hier vorliegenden Hinweis auf Zwischenhandel, vgl. Spielvogel 2001, 161–163. Zu Klein- und Zwischenhändler und Berufsbezeichungen, siehe Drexhage 2002, 120–126; umfassend zu Gruppe -poles und -prates in griechischen Inschriften Ruffing 2002, 16–35; Karvonis 2007, 35 f. 46 Pax 1227–1239; vgl. Frass 2016, 155 f. 47 Frass 2016, 156. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Personengruppen im Athen des 5. Jh. v.Chr., die nicht zuletzt aufgrund der vielschichtigen Intertextualität der zahlreichen Komödien des Aristophanes durchaus noch weiterer interpretatorisch-historischer Forschung bedürfen. Bibliographie Aristophanes Editionen Aristophanes, Komödien I und II. Griechisch – deutsch. Übers., eingel. u. komm. v. P. Rau, Darmstadt 2016. Aristophanes, Antike Komödien. Neubearbeitung der Übersetzung von Ludwig Seeger, Anmerkungen v. H.-J. Newiger u. P. Rau, Darmstadt 1968.

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Römische Kleingeldrechnungen in Vindolanda und im Westen des Imperiums Herbert Graßl Mit dem Studium der römischen Wirtschaftsgeschichte ist die genaue Kenntnis der Preise für Waren und Dienstleistungen, Zölle und Abgaben eng verbunden. Schon zu Beginn der intensiveren Erfassung dieser Daten an der Wende vom 19. zum 20. Jh. wurden neben den literarischen Quellen vor allem Inschriften und Papyri als sich stets ergänzendes Reservoir erkannt und der Forschung zur Verfügung gestellt. In den letzten Jahrzehnten haben sich diese Quellen sprunghaft vermehrt. Der Jubilar hat dazu eine bis heute nicht überholte Monographie vorgelegt, die das Material aus Ägypten in vorbildlicher Weise auswertet.1 Es kann daher nicht verwundern, dass seit der Entdeckung und Publikation der Schreibtäfelchen aus Vindolanda auch die darin erwähnten Preise gebührende Aufmerksamkeit fanden, und auch dazu hat Hans-Joachim Drexhage eine erhellende Studie vorgelegt, die sich den Preisen im römischen Britannien widmet.2 Spätere Textfunde in Vindolanda und ihre intensivere Bearbeitung aus der Perspektive der Wirtschaftgeschichte machen den Fortschritt auch für die Preisgeschichte mehr als deutlich.3 Dabei hat sich gezeigt, dass mit dem größeren Materialumfang auch die Deutung der Währungssymbole und diverser Abkürzungen für Bruchzahlen verfeinert werden konnte. Trotzdem bleiben erhebliche Unsicherheiten in der Interpretation der Geldwerte einiger Täfelchen, was umso schwerer ins Gewicht fällt, da auch neue Textfunde nach dem Modell von Vindolanda interpretiert werden. Folgt man nämlich mancher bisheriger Deutung der Herausgeber, so würden im römischen Reich unterschiedliche Rechenmodelle und Notierungen zur Anwendung kommen, was aber bei der personellen Vernetzung der Anwender (Soldaten, Kaufleute, Händler, Produzenten) und deren hoher Mobilität sehr unwahrscheinlich ist. Der Verfasser dieser Zeilen hat vor kurzem die römischen Kleingeldrechnungen vor allem auf Bleitäfelchen einer kritischen Prüfung unterzogen und konnte bei dieser Gelegenheit eine Reihe von Verbesserungen und Richtigstellungen vornehmen.4 Dabei wurde eine große Unsicherheit hinsichtlich der Rechenmethoden und der Deutung oft kursivschriftlicher Siglen deutlich, und das sowohl in älteren Materialeditionen wie auch jüngeren Bearbeitungen. Die folgende Studie möchte daran anknüpfen. Vorausgeschickt seien einige fundamentale Eigenheiten des Rechnungs- und Buchungswesens der römischen Kaiserzeit.5 Je nach geographischer Region, dem Anwenderkreis und persönlichen Bedürfnissen kam dabei entweder die Rechnung in Denaren oder Sesterzen zur Anwendung: in Denaren wurde vornehmlich in den militärisch geprägten Provinzen oder für private Zwecke gerechnet, in Sesterzen in Rom und Italien, in Afrika, weiten Teilen Spaniens, Südgalliens oder in Dalmatien,6 was natürlich nur Trends wie1 2 3 4 5 6

Drexhage 1991. Drexhage 1997. Detaillierte Analysen auch zu den Preisen in Vindolanda haben Grønlund Evers 2011 u. Groslambert 2012 vorgelegt; auf die Bedeutung als wirtschaftsgeschichtliche Quelle wies auch Strobel 1999 hin. Graßl 2015. Eine jüngere Studie zum römischen Rechnungswesen mit Einbindung aller epigraphischen Neufunde bleibt ein Desiderat, ebenso eine Edition und Übersetzung des Volusius Maecianus. Mrozek 2000. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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dergibt und Abweichungen in beide Richtungen in nicht geringer Zahl bekannt sind.7 So sind etwa in den res gestae divi Augusti die kaiserlichen Ausgaben in Sesterzen angegeben, in der für die Provinzialen gedachten Zusammenfassung wird aber in Denaren gezählt.8 Kaiserzeitliche römische Autoren wie Columella, Petronius, Seneca, der Ältere und Jüngere Plinius, Martial, Juvenal, Tacitus, Sueton oder Apuleius rechnen vorzugsweise in Sesterzen, verwenden aber auch mit Ausnahme von Juvenal die Denarrechnung: diese eher für kleinere Geldbeträge, z.B. Löhne und Preise, im Zusammenhang des Heeres oder Angelegenheiten in den Provinzen. Diese Autoren sind es auch, die in bestimmten Fällen Geldsummen in aurei ausdrücken,9 was bei Privatleuten sonst so gut wie nie vorkommt. In Assen, und das manchmal auch für höhere Werte10, wurde nur dann gezählt, wenn diese auch als Zahlungsmittel zum Einsatz kamen.11 Dupondien (im Wert von zwei Assen) wurden nur äußerst selten verbucht.12 Im griechisch geprägten Ostmittelmeerraum wurde die Sesterzrechnung nicht verwendet.13 Die in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit feste Wertrelation von aureus – denarius – sestertius – dupondius – as (mit weiteren Unterteilungen in semis und quadrans) im Verhältnis 1 : 25 : 100 : 200 : 400 (: 800 : 1600) war das stabile Fundament der Reichswährung, wobei auch Gewichtskorrekturen und schwankende Metallanteile diesem System nichts anhaben konnten. Die in verschiedenen Metallen ausgebrachten Geldsorten wurden von professionellen Geldwechslern bei Bedarf gegen ein Agio umgetauscht. Geldsummen wurden je nach Geldkreislauf meist in nur einem Nominal ausgewiesen (entweder in Denaren, Sesterzen oder z.T. auch in Assen), es gibt aber epigraphisch auch eine gar nicht so kleine Anzahl von Dokumenten, wo ein Geldbetrag in verschiedenen Geldsorten ausgedrückt wird:14 in Denaren und Assen, Sesterzen und Assen, selten in Sesterzen und Dupondien15 oder Assen und Dupondien.16 Dies setzt aber voraus, dass die Rechnungseinheit jeweils hinzuzusetzen war. Dabei bediente man sich in der Regel be7 Es ist auch damit zu rechnen, dass zwischen Rechnungswährung und Zahlungswährung zu differenzieren ist. Die tatsächlich gezahlten Münzen werden wohl nie zu ermitteln sein, Untersuchungen zum Geldumlauf können aber Tendenzen offen­legen. Angesichts des materiellen Umfanges und auch Ge­ wichts antiker Münzen ging der Trend sicherlich in Richtung der Verringerung dieser Parameter, genauere Studien dazu fehlen allerdings. 8 Dazu Mrozek 1999, 201. 9 Mrozek 1976. 10 Vgl. dazu etwa AE 2006, 796: a(sses) LXL; Henrich 2009, 102: a(sses) XXX; vgl. Plin. nat. hist. 12,135: pretium (sc. comaci) in libras asses XXXX. 11 Zur Kleingeldversorgung van Heesch 2009. 12 In den pompejanischen Quittungstafeln des L. Caecilius Iucundus etwa in der Tafel Nr. 40; in Tafel 58 wurde der Geldbetrag einmal nur in Sesterzen, ein andermal in Sesterzen und einem Dupondius aus­gewiesen; dazu Hüttemann 2017, 113 f. Die in einem Neufund in Volsinii neben einem Betrag von 100 Denaren angenommenen 150 dupondii sind nicht korrekt gelesen; die nur fragmentarisch erhaltene Währungs­­bezeichnung ist zu X zu ergänzen: EDCS-58900562 (mit Umzeichnung). 13 Im Zolltarif von Palmyra aus dem Jahr 137 n.Chr. wird nur in Denaren, Assaria (das sind italische Asse) und in palmyrenischem Kleingeld (kerma) gerechnet. Die Erwähnung von Sesterzen in Übersetzungen der palmyrenischen Textversion in IGRR III 1056 p. 397 und bei Brodersen 1987, 155 ist deshalb zu hinterfragen; die bei Brodersen ebenfalls genannten 16 Sesterzen stehen irrtümlich für 16 sextarii. 14 Anders noch Mrozek 1976, 117; danach Pfahl 2012, 89. 15 Wie Anm. 6. 16 In Pompei wird ein Geldkredit wie folgt angepriesen (CIL IV 5123): Somene dupu(n)diu a(sses) L loc(at). 50 Asse werden zum Zins von einem Dupondius verliehen, d.h. zu einem Zinssatz von 4%; im CIL werden die Asse irrtümlich als Denare gelesen, der Zins in korrektem Ablativ des Preises (klassisch: dupondio) zu einrm Akkusativ ergänzt. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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kannter Abkürzungen (notae), die schon im römischen Unterricht vom Rechenlehrer (calculator) trainiert wurden und allen Benutzern in Fleisch und Blut übergingen.17 Die Verwendung mehrerer Rechnungseinheiten für einen Geldbetrag hat auch damit zu tun, dass die ausgewiesenen Kleingeldbeträge oft nicht anders auszudrücken waren, die Nutzer im Besitz mehrerer Geldsorten waren und die realen Zahlungsvorgänge auch im Rechnungswesen abgebildet wurden. Die verwendeten Abkürzungen stellen kein Problem dar, sieht man von graphischen Varianten in kursiven Texten einmal ab. Bliebe da nicht eine Eigenheit der Römer, die für größere Verwirrung in der Forschung und zur Quelle mancher Irrtümer wurde: damit ist die verbreitete Usance gemeint, sich nur einer Rechnungsweise (in Denaren oder Sesterzen) zu bedienen und Beträge unterhalb der gewählten Einheit in Bruchzahlen dieser Einheit auszudrücken, das römische aes excurrens. Römische Bruchrechnungen erfolgten wie in den anderen Lebensbereichen so auch beim Geld im Duodezimalsystem, was mit den oben genannten römischen Geldsorten und deren Wertrelationen nur auf umständlichen Wegen ausgedrückt werden kann.18 Man kann davon ausgehen, dass sich die geplagten Anwender eines Rechenbrettes (calculus19) bedient haben, um diese Hürden zu meistern. Doch jetzt sollen die einzelnen Rechenoperationen im dokumentierten Zahlungsverkehr unter die Lupe genommen werden. Die Täfelchen von Vindolanda Die sukzessive Publikation der Schreibtäfelchen aus Vindolanda hat die Rechen- und Buchungs­ praxis der römischen Kaiserzeit außerhalb von Italien auf eine neue breite Material­grund­ lage gestellt.20 Trotz aller wissenschaftlichen Fort­schritte vor allem auch in der Deutung der Währungs­bezeichnungen und der Bruchzahlen mit ihren Ab­kürzungen sind hier weitere Ver­ besserungen anzubringen. Nr. 179 Die Lesung des Geldbetrages XCCLXXIIIIS- als XCCLXXIIII s(emis) (octans) von Bowman – Thomas 2003, 156 ist ebenso fehlerhaft wie die Deutung als 274 ½ Denare und ein As; die richtige Lesung lautet XCCLXXIIII septunx, das sind 274 Denare und 9 ⅓ Asse. Da ein Drittel eines As nicht ausgeprägt wurde, stellt es einen reinen Buchwert dar. Bei der Auflistung mehrerer derartiger Buchwerte kann die Summe einen Betrag ergeben, der auch in Münzgeld zu bezahlen war. Nr. 182 Zeile 3 wird gelesen als XII (asses II); richtig ist der Betrag von XII= zu lesen als XII sextans, das sind zwei Denare und 2 ⅔ As für Kleinigkeiten (rebus minutis). 17 Bei Juvenal (6,40 f.) operieren pueri (Sklaven) mit dem calculus; bei Petronius (58,8) rühmt ein Gast seine Fertigkeiten im Umgang mit Bruchrechnungen: partes centum dico ad aes, ad pondus, ad nummum. Unter den römischen Rekruten wurden litterati milites ausgesondert, die über notarum peritia, calculandi computandique usus verfügten: Veget. mil. 2,19. 18 Eine Anleitung dazu verfasste für den künftigen Kaiser Marcus Aurelius wahrscheinlich 146 n.Chr. Volusius Maecianus; dazu Cuomo 2007. Römische Poeten mit einem didaktischen Hintergrund versuchten diese trockene Materie in Versform lebendig zu halten, etwa Horaz (ars poet. 325–330) oder Ausonius (ecl. 6; technopaegnion 12). 19 Dazu Fellmann 1983. 20 Bowman – Thomas 1994 u. 2003. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Zeile 4 wird von Bowman – Thomas 2003, 156 gelesen als XXXIIX asses II; der Text XXXIIXS= ist zu lesen XXXIIX bes, das sind 28 Denare und 10 ⅔ Asse. Zeile 5 wird gelesen als XXIII (semissem); geschrieben steht XXIIIS=, also XXIII bes, das sind 13 Denare und 10 ⅔ Asse für Schinken (lardum). Zeile 8 wird gelesen als XVIII (asses II); richtig ist der Betrag von XVIII= als XVIII sextans zu lesen, das sind 8 Denare und 2 ⅔ Asse. Zeile 16 wird XXI asses II gelesen; der Text lautet XXI=, zu lesen als XXI sextans oder 11 Denare und 2 ⅔ Asse für Schweinefett (exungia). Nr. 184: Zeile 20 wird gelesen als XV asses III; auf der Tafel steht XV≡, zu lesen XV quadrans, 5 Denare und 4 Asse, die für einen Soldatenmantel (sagacia) zu bezahlen waren. Nr. 186: Zeile 8 wird asses II gelesen; auf der Tafel steht ┤I= Ͻ, zu lesen als as I sextans sicilicus, das heißt 1 ¼ As. Das Symbol ┤ für den As begegnet auch in den Tafeln 182 und 301, die eckige Form des Symbols für den sicilicus ist auch sonst in Britannien bekannt.21 Einhundert Schuhnägel kosten also einen As und einen Quadrans. Nr. 582 Zeile 5 wird gelesen als X (quadrans) (octans) (as) I; der Text ist besser zu deuten als X ≡ -L, gelesen als X quadrans uncia semuncia (= sescuncia), das sind sechs Asse, die bei einem Kauf von Hühnern (pulli) übrigblieben. Nr. 596 Zeile 14 wird gelesen Xs(emissem) (octantem) (assem) I f(iunt) XVI s(emis) (octans); der Text bietet aber die Lesung Xs(emissem) ┤II f(iunt) XVIƒ, zu lesen als Xsemissem asses duos, fiunt XVI quadrans. 10 Gepäckstücke zu je 10 Assen ergeben 6 Denare und 4 Asse. Das Symbol ƒ für den Quadrans wurde auch in handschriftlichen Texten verwendet.22 Zeile 16 wird gelesen XIII s(emissem) (quadrantem) (octantem) (assem) I f(iunt) XXV s(emis) (quadrans); die richtige Lesung lautet XIII S ≡ ┤ (= asses) III f(iunt) XXV s(emis) (quadrans); semis und quadrans zusammen werden auch als dodrans gelesen. Vier Schöpfer (trullae) zu je 3 Denaren und 15 Assen kosteten 15 Denare und 12 Asse. Zeile 17 wird gelesen XII s(emissem) (octantem) (assem) I f(iunt) XX s(emis) (quadrans); richtig lautet die Rechnung XII s(emissem) (quadrantem) ┤ I f(iunt) XXI (quadrans); vier Schöpfer (trullae) zu je zwei Denaren und 13 Assen ergeben elf Denare und 4 Asse. Nr. 764 In Zeile 5 und 6 ist der Betrag X = genannt und wird von den Herausgebern als X octantem gelesen; richtig hat es zu lauten X sextans (2 ⅔ Asse).

21 RIB 2,2 Nr. 2412, 48 aus Brockley Hill. 22 Etwa im Calculus des Victorius von Aquitanien (5. Jh. n.Chr.). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Nr. 861 (Bowman – Thomas – Tomlin 2010) Zeile 17 ist für Speere eine Summe von XI= genannt, was als XI sextans (ein Denar und 2 ⅔ Asse) gelesen werden muss. Mit diesen Verbesserungen kann auch die Deutung des Symbols – als octans, das im römischen Rechnungswesen sonst überhaupt nicht auftaucht und auch lexikalisch nie in Zusammenhang mit dem Münzwesen Erwähnung findet, ins Reich der Phantasie verbannt werden. Die neuen Schreibtäfelchen von Londinium Die Neufunde aus London (Tomlin 2016) bieten eine willkommene Bereicherung auch für die Praxis des römischen Rechnungs- und Zahlungsverkehrs. So wird etwa in WT45 Zeile 6 der Betrag X quadrans (entspricht einem Sesterz oder 4 Assen) für eine Fracht von Verulamium nicht wie sonst üblich abgekürzt, sodass man auch die gesprochene Variante erkennen kann. Auf derselben Tafel wird in Zeile 8 auch der Betrag von ┤ I (ein As) mit der schon aus Vindolanda bekannten Sigle für den As markiert. In Tafel WT70 ist in Zeile 3 eine Summe von X XVI – Ͻ genannt, zu lesen als XXVI quadrans (16 Denare, ein Sesterz oder 4 Asse). In WT72 begegnen wir in Zeile 3 wohl für Bier (cervesa) einem Betrag X ---, der entgegen dem Herausgeber als X quadrans (das sind ein Sesterz oder 4 Asse) zu lesen ist. In Zeile 4 scheint ein Betrag von X =, zu lesen als X sextans (das sind 2 ⅔ Asse) auf. In Zeile 5 lese ich den Bierpreis abweichend vom Herausgeber als X LI, zu lesen als X sescuncia (2 Asse). Eine Rechnung in Alburnus Maior Die Wachstafel Nr. XV in der Zählung des CIL III p. 95323 enthält auf der pagina posterior eine Liste von Verbrauchsgütern, deren Wert in Denaren angegeben wird. Dabei werden einzelne Posten, die unter einem Denar zu liegen kommen, durch Bruchzahlen markiert. So begegnet in Zeile 22 peganinum (Rucolasalat) mit einem Betrag von X IL, gesprochen X unus semuncia, das sind ein Denar und ⅔ As. In Zeile 23 schlägt der Posten impensam (ungenannte Ingredienzen für Speisen) mit X SL zu Buche, gesprochen X semis semuncia, das sind 8 ⅔ Asse. Für salem et cep(am), also Salz und Zwiebel, sind in Zeile 25 X S-L, zu lesen X semis uncia semuncia (= sescuncia)24, das sind 10 Asse, berechnet worden. Epigraphische Neufunde Kleingeldrechnungen mit Brüchen von Denaren sind in den letzten Jahren in reicher Zahl gefunden und publiziert worden. Leider unterliefen den Herausgebern dabei so manche Irrtümer. Auf einem Vorratsgefäß in Vindolanda 25 aus der 2. Hälfte des 2. Jh. n.Chr. steht ein Geldbetrag von XS ≡, gelesen als X s(emis) asses III. Der richtige Wert ist X s(emis) quadrans, das entspricht 12 Assen oder 3 Sesterzen. Damit steht am Gefäß in Vindolanda der gleiche Preis wie auf einem aus derselben Zeit stammenden Teller in Iuvavum (Salzburg).26 Auf einem Bleietikett aus 23 In der Ausgabe der Inscriptiones Daciae Romanae Vol. I (ed. I. I. Russu, Bukarest 1975, 243–246) Nr. XVI. 24 Der Bruch –L konnte getrennt als uncia semuncia (CIL XI 978) oder ligiert L als sescuncia geschrieben werden. 25 AE 2005, 946; Britannia 36 (2005), 494. 26 Pfahl 2012, 89. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Tasgetium (Eschenz, Schweiz) ist ein Betrag von X I = verzeichnet,27 der als X unus sextans, das sind ein Denar und 2 ⅔ Asse, zu lesen ist. Ein Bleietikett aus einem größeren Fundkomplex in Carnuntum28 aus der 2. Hälfte des 2. Jh. n.Chr. nennt den Geldbetrag von X IL, zu lesen X unus sescuncia, also ein Denar und 2 Asse (oder ein dupondius) für die Reinigung oder Färbung eines pal(lium) c(a)er(uleum), eines roten Mantels. Der Kataster von Arausio Auf dem in der colonia Firma Iulia Secundanorum Arausio (Orange) inschriftlich festgehaltenen Katasterplan sind die jährlichen Abgaben (annuum vectigal) in Denaren und Assen ausgewiesen. Dabei kam das bekannte Symbol für den Denar X und die Abkürzung A für den As zur Anwendung. Sowohl der Denar wie auch der As konnten durch Bruchzahlen weiter unterteilt werden, wobei die Forschung bislang davon ausgeht, dass entgegen der seit dem 1. Jh. v.Chr. praktizierten Rechnung eines Denars zu 16 Assen in diesem Dokument weiterhin die Dezimalrechnung (ein Denar zu 10 Assen) vorherrscht.29 Dies wird daraus erschlossen, dass in den Denarbrüchen auch der ter(r)uncius, abgekürzt T verwendet wird. Der ter(r)uncius war auch in der Kaiserzeit ein fester Bestandteil der Sesterzrechnung im Wert von einem Vierzigstel eines Sesterzes oder einem Zehntel eines As.30 In der Denarrechnung kam diese Bruchzahl mit Ausnahme des Katasters von Arausio nie zum Einsatz. Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, dass in der Formelsprache der römischen Agrimensoren, die ja zur Zeit der römischen Republik mit ihren laufenden Koloniegründungen entwickelt wurde, dieser Bruchwert weiter tradiert wurde.31 Der ter(r)uncius macht in der Denarrechnung die Hälfte einer semuncia aus, umgerechnet ein Drittel eines As, wofür üblicherweise der sicilicus, abgekürzt Ͻ genutzt wurde.32 Im Kataster von Arausio ist ein Betrag von X ≡L T, ausgesprochen X quadrans semuncia ter(r)uncius sehr häufig verbucht,33 was 5 Assen entspricht. Ebenso häufig begegnet ein Betrag von =L, ausgesprochen sextans semuncia, das sind 3 ⅓ Asse.34 Selten wird –T, gesprochen uncia terruncius mit einem Wert von 1 ⅔ As erwähnt.35 Zu den Denarbeträgen einschließlich der Denarbrüche können auch Beträge in As hinzugesetzt werden, die durch ein A deutlich markiert sind. Diese Beträge überschreiten niemals einen As, verzeichnen aber auch Bruchwerte des As. So bedeutet AI==, gelesen als as unus triens, den Wert von 1 ⅓ As.36 Eine wechselnde

27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Hartmann 2014, 172 f. Petznek 2012, 32; AE 2013, 1241. Piganiol 1962, 72–74. CIL VIII 17408 = ILS 5474 = AE 1955, 146. Vgl. auch die Bruchrechnungen im Bronzefragment des Katasters von Verona: AE 2000, 620. Auch auf dem römischen Abacus wurde der ter(r)uncius mit dem sicilicus gleichgesetzt: RE XI 1 (1921), 613. Piganiol 1962, 111; 174; 210; 213; 223; 224; 243; 245; 286; 305; 338; 368; 371; 382. Piganiol 1962, 111; 149; 157; 203; 209; 210; 222; 223; 233; 243; 244; 261; 276; 305; 333; 338; 359; 382. Piganiol 1962, 368. Kaiserzeitliche Autoren, wie Varro l.l. 5,172 oder Plinius nat. hist. 33,45, erklären den ter(r)uncius als quadrans, d.h. als ein Viertel einer Einheit. Nimmt man die uncia als Einheit, die ja so wie auch die libra durch 12 geteilt wurde, so entspricht der ter(r)uncius einem Viertel einer uncia. Piganiol 1962, 104 u. 107. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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A­nwendung der Denar- und Sesterzrechnung, wie das auch angenommen wird,37 kann ausgeschlossen werden38, zumal dafür keine Hinweise vorliegen. Der Zolltarif von Zarai Die im Jahre 202 n.Chr. in Zarai in der Provinz Numidia erlassene lex portus sieht im erhaltenen Text39 Abgaben für Sklaven, Vieh, Kleidung, Lederwaren und Lebensmittel vor.40 Die Abgabenhöhe ist in Denaren bzw. dessen Brüchen ausgewiesen. Die bisherige Forschung geht davon aus, dass neben Denaren auch Sesterzen und Dupondien genannt werden, eine Ansicht, die auf zwei Heroen der lateinischen Epigraphik, René Cagnat und Theodor Mommsen zurückgeht. Diese autoritative Lehrmeinung wurde nicht hinterfragt von allen späteren Bearbeitern übernommen.41 Die Sigle L wurde für einen Sesterz, die Sigle ϟ für einen Dupondius gehalten. Diese Deutung ist aber völlig ausgeschlossen, da nicht davon auszugehen ist, dass just in einem einzigen Ort des Imperiums L nicht als sescuncia, das sind 2 Asse (oder ein Dupondius) gelesen werden sollte. Die Sigle ϟ kann als semuncia sicilicus im Wert von einem As gelesen werden. Auch der Vergleich mit anderen Zolltarifen in diversen römischen Provinzen zeigt, dass bei Zöllen ausschließlich die Denarrechnung verwendet wurde. Eine parallele und stets wechselnde Rechnung nach Denaren, Sesterzen und Dupondien, die im Rechnungswesen kaum Verwendung fanden, ist also zu verwerfen. Die im Zolltarif einzig verwendete Währungsbezeichnung ist X, also der Denar, dazu kommen die Symbole für Brüche des Denars: S für den semis (ein halber Denar), L für ⅛ Denar (= 2 Asse) und ϟ für 1∕16 des Denars, also ein As. Die hier vorgestellte neue Lesung bedeutet, dass für einen Sklaven, ein Pferd, eine Stute oder ein Maultier 1 ½ Denare Zollgebühren anfielen, für einen Esel oder ein Rind 8 Asse (oder 2 Sesterzen), für ein Schwein, Schaf oder einen Ziegenbock 2 Asse und für ein Ferkel, Böckchen oder Lamm ein As. Die unter­ schiedlichen Güter entsprechen somit einem Tarifverhältnis von 24 : 8 : 2 : 1. Damit spiegelt sich der reale Warenwert wesentlich besser ab als in der herkömmlichen Deutung von 12 : 4 : 2 : 1. Für das 4. Jh. v.Chr. kann man in Athen von einem Wertverhältnis von Sklave oder Pferd : Rind : Schaf von ca. 20 : 5 : 1 ausgehen.42 In Arkadien wurden im 4. Jh. v.Chr. bei Übertretung eines Weideverbotes Schwein und Schafbock gegenüber Lamm oder Zicklein im Verhältnis von 6 : 1 behandelt.43 Im republikanischen Lusitanien war das Wertverhältnis von Ochse : Kalb oder Schwein : Lamm : Schaf : Böckchen wie 60 : 30 : 4 : 2 : 1.44 In Rom galten Ochse zu Schaf wie 10 : 145, Sklaven zu Rindern standen oft im Verhältnis 4 : 1.46 Im Talmud lautet das Wertverhältnis von Stier : Kalb : Widder : Lamm 50 : 5 : 2 : 1.47 Zu den Sklaven- und Viehpreisen in Ägypten 37 So Piganiol 1962, 72–74. 38 Entgegen Piganiol 1962, 231 Nr. 194 ist am Stein zu lesen X XSAI, X decem semis as unus, das sind 10 Denare und 9 Asse; damit entfallen alle weiteren Spekulationen zu einer uneinheitlichen Rechnungsweise im Kataster. 39 CIL VIII 4508; Suppl. 2, 18643. 40 Trousset 2002, 355–373; France 2015, 111–140. 41 Drexhage 1994, 9; Trousset 2002, 363; France 2015. 42 Zimmermann 1974, 102 f. 43 Barbagallo 1908/1909, 318. 44 Polyb. 34,8,8 f.; auch in Sizilien war im 5./4. Jh. v.Chr. das Wertverhältnis von Rind zu Kalb ca. 2 : 1 (Barbagallo 1908/1909, 322). 45 Plut. Pobl. 11,4; Gell. 11,1,2 zur lex Aternia. 46 App. Mithr. 78,344; Plut. Luc. 14,1. 47 Sperber 1974, 104 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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gibt es für das 2. Jh. n.Chr. eine Fülle von Daten.48 Daraus ergibt sich eine grobe Wertrelation von Sklave : Pferd : Esel : Rind : Schwein oder Schaf : Lamm von ca. 450 : 300 : 150 : 60 : 10 : 1. In Alburnus Maior war das Ferkel 1,4 mal teurer als das Lamm, im Preisedikt Diokletians gut 1,3 mal teurer.49 Im Zolltarif von Lambaesis wurden wie auch in Zarai Böckchen und Lämmer gleich tarifiert.50 Ein kurzer Ausblick auf Dura Europos In der römischen Grenzfestung am Euphrat wurden von Soldaten Zahlungen für Güter des kultischen Bedarfs im Dienst des Gottes Mithras im Wandverputz festgehalten. Auch diese Abrechnungen bedienen sich der Denarrechnung, kleinere Beträge werden in Assaria (= Assen) angegeben. Eine Sesterzrechnung darf man hier nicht erwarten.51 Kurioserweise ist den Herausgebern dabei ein Fehler unterlaufen, der bisher nicht korrigiert wurde.52 Der im Original leider nicht mehr vorhandene, sondern rekonstruierte Betrag von 19 Denaren und 17 Assen für Fleisch ist fehlerhaft53, richtig muss es lauten 19 Denare und 15 Asse. Nur dann kann eine Gesamtrechnung von 51 Denaren und 11 Assen für Fleisch (19 Denare und 15 Asse), eine Sauce (ein Denar), Papyrus (ein As), Wasser (ein Denar), Holz (ein Denar) und Wein (28 Denare und 11 Asse) zustande kommen. Auch in diesem Fall werden für eine Ware unterschiedliche Geldsorten verbucht, was auch der täglichen Zahlungspraxis entsprochen haben wird. Diese Zusammenschau konnte zeigen, dass im römischen Reich ein einheitliches Rechnungs­ wesen mit Verwendung derselben Symbole zur Anwendung kam. Scheinbare Abweichungen davon, wie sie etwa für Vindolanda postuliert werden, lassen sich problemlos in das gemeingültige Modell integrieren. Mit diesem Rechnungs- und Buchungswesen war auch die Voraussetzung für den reichsweiten Austausch von Gütern, die Abwicklung geschäftlicher Transaktionen und die Mobilität der Akteure des Geschäftslebens gegeben. Glückliche Textfunde in der Zukunft werden dieses Ergebnis auf den Prüfstand heben. Bibliographie Barbagallo 1908/1909 = C. Barbagallo, I prezzi del bestiame da macello, dei volatili e delle carni a minuto nell’antichità classica, Rivista di storia antica e scienze affini XII (1908/1909), 3–9 u. 306–325. Bowman – Thomas 1994 = A. K. Bowman – J. D. Thomas, The Vindolanda Writing Tablets, London 1994 (Tabulae Vindolandenses 2). Bowman – Thomas 2003 = A. K. Bowman – J. D. Thomas, The Vindolanda Writing Tablets, London 2003 (Tabulae Vindolandenses 3). Bowman – Thomas – Tomlin 2010 = A. K. Bowman – J. D. Thomas – R. S. O. Tomlin, The Vindolanda Writing Tablets, Britannia 41 (2010), 204–208. Brodersen 1987 = K. Brodersen, Das Steuergesetz von Palmyra, in: E. M. Ruprechtsberger (Hrsg.), Palmyra. Geschichte, Kunst und Kultur der syrischen Oasenstadt, Linz 1987 (Linzer Archäologische Forschungen 16), 153–162. Cuomo 2007 = S. Cuomo, Measures for an Emperor. Volusius Maecianus’ Monetary Pamphlet for Marcus Aurelius, in: J. König – T. Whitmarsh (eds.), Ordering Knowledge in the Roman Empire, Cambridge 2007, 206–228. 48 49 50 51 52 53

Drexhage 1991, 249–308. CIL III Nr. XV p. 933; Edict. Diocl. 4,46–47: 16 zu 12 Denare. AE 1914, 234. Unentschieden Rostovtzeff – Brown – Welles 1939, 125. Ruffing 2002, 36. Ein Betrag in dieser Höhe wäre als 20 Denare und 1 As verbucht worden. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Römische Kleingeldrechnungen in Vindolanda

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Die Rotfärber von Antiochia Peter Herz Als im Jahre 1964 A. H. M. Jones die Einleitung zu seinem großen Werk The Later Roman Empire verfaßte, schrieb er auch, er habe sich bemüht, möglichst jede für seine Thematik relevante Quelle zu lesen.1 Lediglich bei den theologischen Quellen machte er aus durchaus nachvollziehbaren Gründen eine gewisse Ausnahme. Aber trotz dieser berechtigten Zweifel am Wert solcher Quellen lassen sich zuweilen selbst in solchen etwas nervtötenden Traktaten wertvolle Hinweise auf das alltägliche Leben und die Wirtschaft der damaligen Zeit finden. Zu diesen wichtigen Stellen gehört sicherlich auch ein Kapitel (56) aus der von einem unbekannten Autor verfaßten syrischen Vita des heiligen Symeon Stylites des Älteren.2 Neben vielen anderen farbigen Details aus dem alltäglichen Leben in der syrischen Provinz des frühen 5. Jh. findet sich dort auch die folgende Episode geschildert. Angeblich hatte ein anonym bleibender Ratsherr aus der syrischen Metropole Antiochia am Orontes in dem Jahr, in dem er die Funktion eines Bürgermeisters in dieser Stadt bekleidete, die jährlichen Abgaben verdreifacht, die eine ausgewählte Gruppe von Handwerkern an die Gemeinde zu entrichten hatte. Die Tätigkeit dieser Personen wird in der englischen Übersetzung der Vita mit den Worten „(…) who dyed skins red (…)“ umschrieben. Es muß sich bei diesen Leuten um eine durchaus substantielle Gruppe von Personen gehandelt haben, denn als sich anschließend dieser Leute in ihrer Not unter den Schutz des Styliten flüchteten, wird ihre Zahl mit dreihundert angegeben. Ihr Verhalten in dieser Situation ist durchaus mit dem aus Ägypten besser bekannten Phäno­ men der ἀναχώρεσις zu vergleichen. Bei einer ἀναχώρεσις entzog man sich den nicht gerechtfertigten oder zu hohen Forderungen des Staates durch das Verlassen seiner bisherigen Heimat, um so für die Behörden nicht mehr greifbar zu sein.3 Die Flucht zu einem bereits zu seinen Lebzeiten als heilig verehrten Mann entspricht dabei funktional der aus früheren Epochen gut bekannten Flucht in den Asylbezirk eines großen Tempels.4 Die zunehmende Christianisierung des spätantiken Imperium Romanum hat vielleicht dazu geführt, daß sich das Ziel der Flucht geändert hat, denn man flüchte jetzt nicht mehr in einen Tempel, sondern in eine Kirche oder zu einem Heiligen. Es hat aber sicherlich nichts an dem Phänomen der Flucht und den Gründen für ein solches Verhalten geändert.5 Der weitere Fortgang dieser Episode folgt dem bekannten Schema einer mehrstufigen Inter­ aktion zwischen dem heiligen Mann und dem anonym bleibenden Bürgermeister. Dieser weigerte sich hartnäckig, dem Ersuchen des Heiligen Folge zu leisten und wurde daher durch einen grausamen und in aller Ausführlichkeit geschilderten Tod bestraft. Mit dem Ableben dieses Bürgermeisters war nicht nur die soziale Ordnung, die durch sein Verhalten empfindlich gestört 1 2 3 4 5

Jones 1964, vi f. Vgl. Doran 1992, 45–66 für die Textgestaltung. Vgl. Jördens 2009, 304–330 mit dem entsprechenden Material. Vgl. das Material bei Rigsby 1996. Vergleichbar ist die fuga ad statuam (imperatoris), durch die sich u.a. Sklaven, die von ihren Herren schlecht behandelt worden waren, zumindest vorübergehend in Sicherheit bringen konnten. Vgl. Gamauf 1999. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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worden war, wieder in Ordnung gebracht worden, sondern auch die Macht des heiligen Mannes war für die Öffentlichkeit wirkungsvoll unter Beweis gestellt worden.6 Es handelte sich bei diesen Leuten um Handwerker, die bereits vorgegerbte Lederhäute von Lämmern, jungen Ziegen und möglicherweise auch Kälbern mit einem roten Farbstoff einfärbten, damit diese Häute anschließend von anderen Handwerkern etwa zu Schuhen oder Gürteln weiterverarbeitet werden konnten.7 Ob diese Färber auch die für ihre Tätigkeit notwendigen Vorarbeiten wie das Aufbereiten und Gerben der Tierfelle in eigener Regie erledigt hatten oder ob dieser Arbeitsschritt von einer darauf spezialisierten Gruppe von Gerbern durchgeführt werden mußte, entzieht sich unserer Kenntnis. In der technischen Terminologie des Mittelalters wären dieses dann die Weiß- oder Sämischgerber gewesen.8 Wenn man allerdings den hohen Grad der internen Differenzierung im antiken und auch im mittelalterlichen Handwerk berücksichtigt, wäre eine organisatorische Trennung dieser beiden Arbeitsschritte sehr wahrscheinlich.9 Aus der hier vorgestellten Problemlage ergeben sich für einen Historiker der antiken Wirt­schaft zwei Fragen, zu deren Beantwortung die folgenden Ausführungen etwas beitragen möchten: 1. Welcher Farbstoff wurde von diesen Handwerkern wahrscheinlich bei ihrer Arbeit verwendet? 2. Für was mußte die Abgabe an die Gemeinde von Antiochia gezahlt werden? Die Technologie der Lederfärbung Rotfärbende Farbstoffe gab es selbst damals in größerer Zahl. Dabei ist es für unsere Fragestellung nicht notwendig, zwischen mineralischen, tierischen oder vegetabilischen Farbstoffen zu unterscheiden. Am häufigsten wurde sicherlich das Alizarinrot verwendet, das aus der Wurzel der Krapp­pflabnze (Rubia tinctorum) extrahiert wurde.10 Ein ebenso wichtiger Farblieferant war die Färbende Ochsenzunge (Alkanna tinctoria). Aus deren Rinde ließ sich das rotfärbende Alkannin 33 gewinnen, dessen Verwendung durch die Vor­arbeiten von Huttner hinreichend gesichert ist.11 Beide Farbstoffe dürften auch für die Leder­färber von Antiochia jederzeit zugänglich gewesen sein. Ähnliches gilt auch den Kermes. Kermes, der Lieferant des Kermesin oder Scharlachrot (Natural Red 3), dem späteren Rot der Kardinäle und Bischöfe, wurde aus den getrockneten Körpern der weiblichen Kermesschildläuse (Kermes vermilio) gewonnen.12 Dieses Insekt lebte üblicherweise auf einer mediterranen Eichenart (Quercus cocifera) und starb nach Ablage seiner Eier. Ergänzt wurde diese spezielle Kermes-Variante auch noch durch den armenischen Cochenille oder Ararat-Kermes, wobei die farbliefernden Insekten (Porphyrophora hameli), nicht auf Bäumen, sondern auf Gräsern lebten, wo man sie problemlos einsammeln konnte.13

6 Weitere Belege für den Widerstand des Styliten gegen staatliche Maßnahmen finden sich bei Downey 1961, 459–461 aufgelistet. 7 Diese Endprodukte sind durch das diokletianischen Höchstpreisedikt gesichert. Vgl. auch Herz 1985. 8 Vgl. Herz 2011. 9 Vgl. das Material bei Ruffing 2008. 10 Schweppe 1993, 229–234. 11 Schweppe 1993, 195–197. Vgl. auch Huttner 2008, der sich allerdings mehr für die Färbung von Textilien interessiert. 12 Schweppe 1993, 254–259. Vgl. auch Donkin 1977, 1990 u. 2003. 13 Schweppe 1993, 254. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Beide Varianten des Kermes dürften ebenfalls für die in Antiochia tätigen Färber ohne Pro­ bleme erhältlich gewesen sein. Das Einsammeln und Trocknen dieser Insekten wahr wahrscheinlich eine einträgliche Neben­beschäftigung, mit der sich Hirten oder andere Angehörige der ländlichen Bevölkerung ein Zu­brot verdienen konnten. Wie ein solches System wahrscheinlich in der Praxis funktionieren konnte, wird in der syrischen Vita geschildert. Diese berichtet in ihrem 1. Kapitel, der Stylit Symeon habe in seinen jungen Jahren, während er seine Herde beaufsichtigte, auch Storax, ein wohl­riechendes Baumharz, gesammelt.14 Das rechtliche Umfeld Hier gilt es zunächst festzuhalten, daß die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der von den Hand­ werkern eingeforderten Abgabe auch von dem unbekannten Autor der syrischen Vita nicht in Frage gestellt wurde, sondern lediglich die unangemessene Erhöhung dieser Abgabe. Denn der Stylit hatte in seiner Botschaft an den dafür verantwortlichen Bouleuten bzw. Bürgermeister diesen lediglich gebeten, von den Rotfärbern nur den früher üblichen Satz einzufordern. Dabei scheint es von Bedeutung zu sein, daß diese unbekannte Abgabe nicht von der römischen Zentralregierung eingefordert wurde. Vielmehr handelte es sich um eine Leistung, die lediglich von der Gemeinde erhoben wurde. Würde es sich anders verhalten, dann wäre auch ein Bürgermeister von Antiochia ein denkbar ungeeigneter Ansprechpartner für den Protest des Styliten gewesen. Die Frage nach dem möglichen Charakter dieser Abgabe läßt sich m.E. am ehesten beantworten, wenn man die technologischen Besonderheiten des Lederfärbens berücksichtigt. Für diese Technologie wissen wir, daß sowohl beim Gerben als auch beim anschließenden Färben von Leder gewaltige Mengen an Wasser benötigt wurden. Wasser wurde bei der Säuberung und Vorbereitung der Rohhäute für den eigentlichen Gerbvorgang eingesetzt, es wurde aber auch für den Prozeß der Färbung benötigt. Die Beschaffung, aber auch die Entsorgung dieses Brauchwassers war stets sehr problematisch, da dabei in vielen Gemeinden die Interessen der Färber bzw. Gerber mit den Interessen der Bevölkerung kollidieren mußten, der vor allem an einer ungehinderten Versorgung mit sauberem Trinkwasser gelegen war. Wie war aber das Problem mit der Wasserversorgung in Antiochia gelöst worden?15 In diesem Zusammenhang trifft es sich gut, daß wir seit 1985 durch zwei Inschriften aus Antiochia von der Existenz eines großen Kanals wissen. Dieser war während der Regierungszeit von Kaiser Vespasianus im Jahre 73/74 n.Chr. angelegt worden, um Wasser aus dem Orontes abzuleiten. Der damals zuständige Provinzstatthalter war M. Ulpius Traianus, der Vater des späteren Kaisers, gewesen.16 SEG 35, 1985, 1483 = AE 1986, 694: Ἐπὶ αὐτοκράτορος Τίτου Φλαουίου Καίσαρος Σεβαστοῦ καὶ καὶ Δομεττιανοῦ Καίσαρος Σεβαστοῦ ὑιῶν. ἔργον διώρυγος ἀποστραφέτων τοῦ αὐτοῦ ποταμοῦ. ὅ προνοησαμένου Μάρκου Καίσαρος Σεβαστοῦ ἠργάσατο Ἀντιοχέων ἡ μητρόπολις κατᾶ

Αὐτοκράτορος Τίτου Καίσαρος γναφικοῦ καὶ πραγμάτων τῶν Οὐλπίου Τραιανοῦ πρεσβεθτοῦ πλινθειᾶ τῷ βκρ ἔτει. ἀπὸ τοῦ

14 Doran 1992, 103. 15 Zur Wasserwirtschaft in Antiochia vgl. Leblanc – Poccardi 2004. 16 Feissel 1985. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Peter Herz Ὀρόντου μέχρι τοῦ ὑπὸ τὸν Ἀμανὸν ἀνοίγματός ἐστιν μήκους σταδίων ιδ, στερεῶν δὲ ποδῶν μα κτλ.

Unter dem Imperator Titus Flavius (Vespasianus) Caesar Augustus und dem Imperator Titus (Flavius) Caesar und Domitianus Caesar, den Söhnen des Augustus. Das Werk eines Walkerkanals und die Arbeit für die Anlage, um den Wasserstrom abzuleiten, hat unter der Autorität des Marcus Ulpius Traianus, des legatus Augusti Caesaris, die Metropole der Antiochener im 122. Jahr geschaffen. Vom Orontes bis zum Ausfluß am Fuße des Amanus hat der Kanal eine Länge von 14 Stadien und einen Querschnitt von 41 Quadratfuß.

Es handelt sich demnach um einen Kanal mit einer Gesamtlänge von 14 Stadien (= ca. 2,5 km) und einem Querschnitt von 41 Quadratfuß (= ca. 2,5 m2), durch den Wasser für die Walker vom Fluß abgeleitet werden sollte, also ein sogenannter διῶρυξ γναφικός, der sich quer durch die gesamte Stadt zog. Dies ist ein insgesamt interessantes Indiz für die Vermutung, daß die Walker in Antiochia wahrscheinlich nicht in einem bestimmten Stadtbezirk konzentriert waren, sondern sich mit ihren Arbeitsstätten über die gesamte Stadt verteilten. Die Walker gehörten zu den antiken Berufsgruppen, die einen besonders großen Bedarf an Brauchwasser für ihre Tätigkeit aufweisen.17 Im Gegensatz zu anderen aus dieser Weltgegend bekannten Kanalbauten dieser Zeit, die unter der direkten Autorität des römischen Staates und unter dem Einsatz von Soldaten durchgeführt wurden, wurden in diesem Fall die notwendigen Arbeitsleistungen allerdings eindeutig von der Stadtgemeinde Antiochia aufgebracht.18 Diese konnte diese Arbeit dank des liturgischen, d.h. weitgehend kostenfreien, Arbeits­ einsatzes ihrer Bürger bewältigen. Dabei wurden die anfallenden Arbeitsleistungen entsprechend der jeweiligen Bevölkerungszahl auf die einzelnen Wohnbezirke (κατὰ πλινθεῖα) der Stadt aufgeteilt.19 Dieses hatte aber dann auch zur Folge, daß die anschließende Verwaltung dieses Bauwerkes und damit auch die mögliche Erhebung von Nutzungsgebühren wahrscheinlich ausschließlich in der Verantwortung der Gemeinde lag. Dies bedeutet damit aber auch die grundsätzliche Legalität einer solchen Aktion, wie sie in der Vita des Styliten beschrieben wird.20 Obwohl Antiochia zum Zeitpunkt des Kanalbaus noch keine nach römischer Methode organisierte Gemeinde war, sondern lediglich eine griechische polis, kann man für einen Vergleich einer solchen Baumaßnahme problemlos auf die römischen Gemeindeordnungen zurückgreifen, um den rechtlichen Hintergrund abzuklären. So erlaubte es etwa die lex Irnitana, die Gemeindeordnung der spanischen Gemeinde von Irni, den Stadtoberen jedes Jahr von den Bürgern und Einwohnern der Gemeinde bis zu fünf Tage unentgeltliche Arbeitsleistung für die Belange der Gemeinde einzufordern.21 17 Vgl. das Material bei Flohr 2013. 18 Vgl. die zur gleichen Zeit durchgeführten Bauarbeiten im Hafen von Seleukeia in Pierien, die vom römischen Militär erbracht wurde. Dazu van Berchem 1985. 19 Interessant für die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in Antiochia in der Zeit der Flavier ist der Umstand, daß drei dieser Wohnbezirke nach Personen benannt worden waren, die wahrscheinlich iranischer Herkunft waren (Bagadates, Pharnakes, Damasphernes). Obwohl wir durch die beiden Inschriften nur einen Bruchteil der Wohnbezirke in Antiochia kennen, spricht dies für einen substantiellen iranisch-stämmigen Anteil an der Bevölkerung. 20 Für die städtischen Finanzen und ihre möglichen Einnahmequellen vgl. Schmidt-Hofner 2006. 21 González 1986, 195 zu caput 83 der lex Irnitana. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Wesentlich besser dokumentiert sind die entsprechenden kostenfreien Arbeitsleistungen aus dem ägyptischen Bereich, wo man die Arbeitskraft der Untertanen besonders gerne für die Instandhaltung des Bewässerungssystems heranzog.22 Ob allerdings im Falle von Antiochia ähnliche Ausnahmen wie im ägyptischen System zur Anwendung kamen, läßt sich auf Grund der defizitären Quellensituation für Antiochia nicht mehr entscheiden. Wie aber haben wir die Nennung des damals für die provincia Syria zuständigen legatus Augusti pro praetore Ulpius Traianus in diesem Kontext zu verstehen? Bedeutet seine Nennung etwa, daß diese Baumaßnahme unter seiner direkten Aufsicht und auch auf seinen Befehl durchgeführt worden war, was für die anschließende Verwaltung dieses Kanals durchaus von Bedeutung sein könnte. Der Befund spricht m.E. eher gegen eine direkte Involvierung der römischen Provinzial­ verwaltung, denn der Grad der Involvierung des Traianus wird mit προνοησαμένου umschrieben, was man eher als ‚auf Anregung von (…)‘ verstehen sollte.23 Hätte Traianus bei diesem Bauvorhaben eine direkte Aufsichtsfunktion ausgeübt, dann hätte man diesen Umstand wahrscheinlich durch die Verwendung von ἐπιμελεία verdeutlicht. Warum aber haben sich nur die Lederfärber von Antiochia gegen die Erhöhung dieser Abgabe gewehrt und nicht die anderen Berufsgruppen wie etwa die Walker, die ebenfalls für ihre Arbeit dringend auf den ungehinderten Gebrauch von Wasser angewiesen waren? Die Tatsache, daß auch die organisierten Walker (fullones) bei passender Gelegenheit durchaus in der Lage waren, vor Gericht energisch für die Durchsetzung ihrer Rechte zu streiten, ist uns durch die inschriftlich überlieferten Auszüge aus den Akten der lis fullonum de pensione non solvenda aus dem Rom des 3. Jh. bestens bekannt.24 Aber so naheliegend diese beiden Fälle vielleicht auf den ersten Blick auch sein mögen, so verbietet es sich m.E., an dieser Stelle eine Analogie erkennen zu wollen. Die Walker in Rom verwendeten für ihre Arbeit das sogenannte Überflußwasser. Dieses kam von öffentlichen Brunnen, die allgemein zugänglich waren und deren Nutzung für die Bevölkerung unengeltlich war. Für dieses Wasser hatten die Walker bisher überhaupt keine Abgabe gezahlt, wohl weil es praktisch ungenutzt von der Schöpfstelle auf die Straße floß. Im Fall der Lederfärber von Antiochia, vorausgesetzt die hier von mir angenommene Situation ist zutreffend, griffen diese auf Wasser zurück, das aus einem eigens zu diesem Zweck gebauten Kanal entnommen wurde, und für das sie auch bereits zuvor eine festgelegte Geld­ summe hatten entrichten müssen. Die Lederfärber von Antiochia stellten daher auch nicht grundsätzlich die Berechtigung der Gemeinde in Frage, von ihnen eine Nutzungsgebühr zu fordern, sondern ihr Protest richtete sich lediglich gegen die Höhe dieser Forderung. Warum leisteten sie aber überhaupt Widerstand? Es bieten sich zwei Erklärungsmodelle an. Das erste und mir zugleich weniger wahrscheinlich erscheinende Modell würde vermuten, daß die Lederfärber besonders mutige Zeitgenossen waren und es deshalb wagten, sich offen gegen die Anordnungen der Gemeinde zu stellen. Das andere Modell würde vermuten, daß nur diese spezielle Gruppe von Handwerkern von der Erhöhung getroffen worden war, denn trotz der natürlich sehr einseitigen Darstellung in der Vita Symeons dürfte es sich bei ihnen wahrscheinlich nicht um eine Gruppe von armen 22 Vgl. etwa Bonneau 1993, 152–153. 23 Für das Umfeld von πρόνοια bzw. providentia vgl. u.a. Martin 1982. 24 FIRA III Nr. 165 = CIL VI 266. Vgl. auch Flohr 2013, 236 mit Anm. 146 mit weiterer Literatur. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Handwerkern gehandelt haben. Immerhin stellten sie ein wichtiges Vorprodukt für Güter her, die mindestens in den Bereich des gehobenen Konsums gehörten. Denn um überhaupt die vorgegerbten Häute und auch die für ihre Arbeit notwendigen Farbstoffe ankaufen zu können, müssen die Lederfärber natürlich auch über eine gewisse Menge an Betriebskapital verfügt haben. Daher gehörten sie auch sicherlich nicht zur Gruppe der einfachen Handwerker, die etwa als anhängige Arbeiter im Tageslohn arbeiten mußten, sondern man sollte sie eher zu den lokalen Kleinunternehmern zählen. Natürlich ist es durchaus möglich, daß sich unter der Zahl der dreihundert geflüchteten Leder­färber auch einige abhängige Arbeitskräfte verbergen könnten, doch bei der Masse der Leder­färber handelte es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Kleinunternehmer. Die Tatsache, daß sie sich in dieser Zahl gerade in Antiochia konzentrierten, war sicherlich nicht dem Umstand geschuldet, daß sie dort besonders günstige Produktionsbedingungen für ihre Arbeit vorfanden, sondern es dürfte eher die Nähe zu den weiterverarbeitenden Handwerkern, aber auch zum Endverbraucher gewesen sein. Dazu müssen wir uns etwas die wirtschaftliche Bedeutung vor Augen führen, die Antiochia im frühen 5. Jh. besaß. Wir haben da zunächst die reiche Oberschicht der Antiochener, die in der Stadt residierten und dort die Erträge verzehrte, die sie vor allem aus ihrem Landbesitz schöpfen konnte, der sich wahrscheinlich über die gesamte vordiokletianisch provincia Syria verteilte.25 Zusätzlich zu dieser wichtigen Konsumentengruppe haben wir auch noch mit der An­wesen­ heit einer ganzen Reihe von wichtigen staatlichen Institutionen zu rechnen, die natürlich mit ihren entsprechend bestückten officia ebenfalls vor Ort präsent waren.26 ND Or. 7 ND Or. 22 ND Or. 61

Magister militum per Orientem.27 Comes Orientis Consularis Syriae

Hinzu kommen zwei staatliche fabricae, die dem Kommando des östlichen magister officiorum unterstanden (ND Or. 11). Eine dieser fabricae war für die Produktion von scutaria et arma vorgesehen (ND Or. 11.21), die zweite sollte clibanaria herstellen (ND Or. 11.22). Zumindest bei der Produktion von clibanaria dürfte ein großer Bedarf an Leder bestanden haben, wobei man nicht sagen kann, wie groß der Beitrag unserer Lederfärber bzw. der Gerber von Feinleder gewesen sein könnte. Ich vermute hier eher eine Dominanz der Gerber, die mit den Häuten von Rindern arbeiteten.

25 Zur antiochenischen Oberschicht während der Spätantike vgl. immer noch Downey 1961, 373–379, der vor allem aus den Schriften des Libanios geschöpft hat. Vgl. daneben auch Kauffmann 2004. Wie sich diese Oberschicht im christlichen Schrifttum (z.B. den Heiligenviten) präsentiert, ist m.W. noch nicht umfassend untersucht worden. 26 Ich habe hier nur die staatlichen Institutionen berücksichtigt, die in der Notitia Dignitatum (ND) ausdrücklich mit einem Dienstsitz in Antiochia aufgeführt werden. Wo sich die vielen Einheiten befanden, die dem Kommando des magister militum per Orientem unterstellt waren, läßt sich der Notitia nicht mehr entnehmen. Einige Einheiten waren sicherlich im Großraum von Antiochia konzentriert, die Masse dürfte sich aber über den gesamten Amtsbereich dieses magister verteilt haben. 27 Für den dux Syriae et Euphratensis Syriae (ND Or. 35) vermute ich wegen der Disposition seiner Einheiten einen anderen Dienstort als Antiochia. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Welche Produkte konkret aus dem von den Lederfärbern hergestellten gefärbten Leder produziert werden konnten, ist noch weitgehend unbekannt. Einen gewissen Ansatzpunkt kann das Zeugnis des diokletianischen Höchstpreisediktes liefern. In ihm finden wir eine Reihe von Artikeln, die wahrscheinlich aus gefärbtem Feinleder gefertigt worden waren.28 Dieser Bestand erhöht sich noch deutlich, wenn wir zusätzlich auch noch die lediglich mit einer AlaunFettgerbung behandelten Gegenstände mit in unsere Überlegungen einbeziehen.29 8.1 De pellibus Babulonicis seu Trallianis vel Foenicis.30 1a Pellis Babulonica primae formae X quingentis 2 Formae secundae X quadrgnt Pellis Tralliana X ducentis 3 4 Pellis Foenicea X centum 5 Pellis Laccna X trecentis31 ….. 11 Pell[is ca]prina [maxim]a infecta [X quadraginta]32 Eadem [con]fecta X [quinquaginta] 12 9.17 [De so]leis Babylonicis et purpureis et foenicis et alvis 17a C[a]lcei Babylonici par X centum biginti 18 [Ca]lcei purpurei sive Foenicei par X sexaginta 19 Calcei alb[i] par X --------] …. par] X octoginta 23 Socci Babylonici purp[urei 10.8 De zonis militaribus33 8a Zona Babulonica 9 item lata [------] 10 Subalare Ba[bulonicum] 11 Zona alba [dig]itorum quattuor 12 item digi[torum se]x 1­3 De utribus34 13a Utrem primae formae

X centum X ducentis X centum X sexaginta X septuaginta quinque X centum viginti

28 Die Textgrundlage wird durch die Edition von Giacchero 1974 geliefert. 29 Solche Gegenstände dürften gemeint sein, wenn das Preisedikt von albus redet. 30 Die hier verwendete Terminologie ist alles andere als eindeutig. Daher können wir nicht sagen, ob hiermit eine Herkunft (Tralliana), ein Farbton oder das verwendete Färbemittel (Lacchena) bezeichnet werden sollte. 31 Der hier verwendete Begriff Lacchena bezieht sich wahrscheinlich auf den Farbstoff ‚Lac‘ oder ‚Färberlack‘ (Laccifera lacca Kerr). Zur Chemie vgl. Schweppe 1993, 272–276. Inzwischen ist die Verwendung von Färberlack in antiken Kontexten naturwissenschaftlich nachgewiesen worden, vgl. Dyer – Tamburini – Sotiropoulou 2017. 32 Die Preisangaben wurden nach dem griechischen Paralleltext ergänzt. 33 Hier ist davon auszugehen, daß eine solche zona militaris auch von den Angehörigen der zivilen Verwaltung als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Verwaltung getragen wurden. 34 Die Verwendung von Schläuchen zum Transport nicht nur von flüssigen Gütern (Wein, Olivenöl usw.) dürfte in der Antike sehr weit verbreitet gewesen sein, während der archäologische Nachweis naturgemäß fast gegen Null geht. Vgl. u.a. Deman 2002; Kneissl 1981. Daneben hat Goitein 1967, 111–112 herausgestellt, daß Schutzbehältnisse aus Leder auch für den Transport anderer Güter verwendet wurden. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Peter Herz 14 Utrem olearium primae formae 15 [in] utrem mercedem diurnam

X centum X duobus

Besonders der Bedarf an Feinleder, der durch das römische Militär generiert wurde, dürfte beachtlich gewesen sein, wobei es unerheblich ist, ob es sich um gefärbtes oder ungefärbtes Leder handelte. Solches Leder wurde z.B. benötigt, um die Feldflaschen und die vielen Transport­ schläuche anzufertigen, die von den Soldaten verwendet wurden. Feinleder kam sicherlich auch zum Einsatz, wenn es um die Herstellung von Pfeilköchern oder von Schutzhüllen für die Bögen ging.35 Was kann man vielleicht aus diesen Ausführungen lernen? Zunächst zeigt es sich entgegen der Meinung von A. H. M. Jones, daß auch theologische Texte durchaus wertvolle Information zur zeitgenössischen Wirtschafts- oder Sozialgeschichte liefern können. Um aber diese In­ formationen in den zutreffenden Kontext einordnen zu können, muß man von einer möglichst breiten Kenntnisbasis ausgehen. Oder um die Worte des epigraphischen Altmeisters Louis Robert zu zitieren: „Il faut lire“. Bibliographie Bonneau 1993 = D. Bonneau, Le régime administrative de l’eau dans l’Égypte grecque, romaine et byzantine, Leiden 1993 (Probleme der Ägyptologie). Cabouret 2004 = B. Cabouret, Pouvoir municipal, pouvoir imperial au IVe siècle, Antioche de Syrie. Histoire, images et traces de la ville antique, Lyon 2004 (Topoi Suppl. 5), 117–142. Cardon 1990 = D. Cardon, Les ‚vers‘ du rouge. Insects tinctoriaux dans l’Ancien Monde au Moyen Age, Cahiers d’histoire et de philosophie des sciences 28 (1990), 1–175. Cardon 2003 = D. Cardon, Le monde des teintures naturelles, Paris 2003. Deman 2002 = A. Deman, Avec les utriculaires sur les sentiers muletiers de la Gaule romaine, Cahiers Glotz 13 (2002), 233–246. Donkin 1977 = R. A. Donkin, Insect Dyes of Western and Western-Central Asia, Anthropos 72 (1977), 847–880. Doran 1992 = R. Doran, The Lives of Symeon Stylites, Translated with an Introduction, Kalamazoo, Mich. – Spencer, Mass. 1992. Downey 1961 = G. Downey, A History of Antioch in Syria from Seleucus to the Arab Conquest, Princeton – New Jersey 1961. Dyer – Tamburini – Sotiropoulou 2017 = J. Dyer – D. Tamburini – S. Sotiropoulou, The Identification of Lac as a Pigment in Ancient Greek Polychromy. The Case of a Hellenistic Oenochoe from Canosa di Puglia, Dyes and Pigments 201 B (149), 122–132. Feissel 1985 = D. Feissel, Deux listes des quartiers d’Antioch astreints au creusement d’un canal (73–74 après J.-C.), Syria 62 (1985), 77–103. Flohr 2013 = M. Flohr, The World of the Fullo. Work, Economy, and Society in Roman Italy, Oxford 2013 (Oxford Studies in the Roman Economy). Gamauf 1999 = R. Gamauf, Ad statuam licet confugere. Untersuchungen zum Asylrecht im römischen Prinzipat, Frankfurt a.M. 1999. Giacchero 1974 = M. Giacchero, Edictum Diocletiani et collegarum de pretiis rerum venalium I. Edictum, Genova 1974.

35 Nach meinem Kenntnisstand gibt es bisher noch keine zusammenfassende Studie zum Lederbedarf des römischen Heeres. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Die Rotfärber von Antiochia

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Norm und Toleranz . Überlegungen zur Standardisierung des pes monetalis Torsten Mattern Maßkonventionen Die vereinheitlichten metrischen Längenmaße der Neuzeit gehen auf das am 7.4.1795 von der französischen Nationalversammlung beschlossene ‚Urmeter‘ zurück. Diese Längeneinheit wurde als der zehnmillionste Teil des durch die Pariser Sternwarte verlaufenden Erdquadranten definiert. Auf der Grundlage geographischer Vermessungen von Jean-Baptiste Joseph Delambre und Pierre Méchain1 wurde dann 1799 von Jean Fortin ein von Temperaturschwankungen weitgehend unabhängiger Maßstab aus Platinschwamm gefertigt, der im französischen Staatsarchiv aufbewahrt wird. Diesem objektiven, aus Naturgegebenheiten und nicht von Körpermaßen abgeleiteten Längenmaß2 schlossen sich in der Pariser Meterkonvention am 20.5.1875 die meisten europäischen Staaten an. Über die internationale Einheitlichkeit der Maßeinheiten wacht und berät seitdem das Bureau International des Poids et Mesures in Sèvres und die nationalen Institutionen der Signatarstaaten, in Deutschland ist dies die Physikalisch-Technische Bundes­ anstalt in Braunschweig. Vereinheitlichte Längenmaße sind heute in weiten Teilen der Welt eine Selbstverständlichkeit. Dies ist eine der Voraussetzungen für Normung und damit auch ein Pfeiler des wirtschaftlichen Austauschs.3 Normierte Maßsysteme existierten auch in der Antike, wenn auch auf unterschiedlichen regionalen Ebenen. So ist der auf einem Gewichtsstandard beruhende Münzfuß stets auch mit dem Macht- und Einflussbereich des emittierenden (Stadt)Staates verbunden. Dies wird besonders an dem athenischen Münzedikt von 440/420 deutlich, welches im Gebiet des attisch-delischen Seebundes eine Zone normierter Münz-, Maß-, und Gewichtseinheiten schuf.4 Neben der solchermaßen dekreditierten Verbreitung konnte die Durchsetzung von Maßeinheiten aber auch evolutionär erfolgen. In diesen Fällen war der Verbreitungskreis einer Maßeinheit von ihrer Akzeptanz abhängig. Akzeptanz und Verbreitung beeinflussen einander und konnten aufgrund der Praktikabilität im täglichen Umgang der Benutzer mit den Einheiten in einen sich selbst verstärkenden Kreislauf überleiten, der im günstigsten Falle zur weiteren Ausdehnung des Verbreitungskreises führt. 1 2 3

4

Vgl. die gelungene Darstellung bei Alder 2003. Nachdem die Länge eines Meters zunächst durch das Vielfache der Vakuumwellenlänge orangefarbenen Lichtes beschrieben wurde, wird heute die Strecke als 1 Meter definiert, die das Licht im Vakuum während einer festgelegten Zeiteinheit durchläuft. Wirtschaftliches Handeln in der Antike bildete bekanntlich den wissenschaftlichen Schwerpunkt von Hans Drexhage. Dies gab Anlass, sich erneut mit Grundfragen antiker Metrologie zu befassen. Ich freue mich, dass ich in Verbundenheit mit dem Jubilar an diesem Band mitwirken darf! Es handelt sich im Folgenden nur um erste Überlegungen, welche in jeder beliebigen Weise weiter ausgebaut und vertieft werden müssen. Vollständigkeit ist deswegen weder bei dem Katalog noch bei der Literatur angestrebt worden. Wenn das Folgende Anlass zu weiteren Forschungen oder auch zum Widerspruch bieten würden, wäre viel erreicht. Ed.: Meiggs – Lewis 1969, Nr. 45. Lit.: Erxleben 1969; Finley 1973, 168–169; Mattingly 1977; Austin – Vidal-Naquet 1984, Nr. 101; Brodersen et al. 2011, Nr. 68. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Der zuletzt beschriebene Weg ist vor allem für die Verbreitung von Währungen oder Münz­ standards einsichtig: Je weiter eine Währung verbreitet war, also akzeptiert wurde, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch an anderer Stelle angenommen werden würde. Die Verbreitung von Längenmaßen ist auf dem evolutionären Wege dagegen nicht zu erklären. Maß­angaben bei Stückgut, zum Beispiel Tuche, können jederzeit und ohne Benachteiligung für einen der Partner in das jeweilige lokale Maßsystem überführt werde. Da sie kein Tausch­ medium bilden, verbreiten sich Längenmaße also nicht in gleicher Weise evolutionär wie Münz­ stand­ards, wenngleich Normierungen natürlich eine Erleichterung darstellen. Diese Er­leichter­ ung tritt vor allem dann ein, wenn Ware bestellt wurde und daher im Voraus abgesprochene Maße eingehalten werden mussten. Dies wird nur in bestimmten Fällen zugetroffen haben. Standardisierungs­ab­kommen, entsprechend der Pariser Meterkonvention, sind zwischen den griechischen Poleis aber nicht überliefert und auch das athenische Dekret wird weniger dem Wunsch nach Vereinheitlichung aus wirtschaftlichen Interessen, als vielmehr dem Ausdruck athenischen Suprematieanspruchs entsprungen sein. In den Poleis überwachte die Marktaufsicht der Agora­ nomen immer nur die Einhaltung der jeweiligen lokalen Standards. Eine normierende über­ städtische Instanz mit Durchsetzungsgewalt könnte sich, sieht man von den abhängigen Orten in der chora einer Polis ab, erst in Bündnissystemen, Bundesstaaten oder Königreichen ausbilden, doch ist ihre Existenz nicht belegt. Bei der Untersuchung der Vereinheitlichung antiker Fußmaßsysteme gibt es allerdings noch ein anderes, viel grundlegenderes und methodisches Problem, als die angesprochenen historischen Fragen: Der Grad der Vereinheitlichung der antiken Fußmaße ist nämlich wesentlich von der methodischen Prämisse des modernen Forschers abhängig. Hier stehen sich zwei grundlegende Positionen objektiv unentschieden gegenüber:5 Der reduktionistische Ansatz vereinheitlicht alle durch metrologische Untersuchungen erschließbaren Einzelmaße auf die drei Toleranzbereiche des attischen Fußes mit etwa 29,3–29,5 cm,6 des dorisch-pheidonischen Fußes mit etwa 32,5–32,8 cm7 und des ionisch-samischen Fußes mit etwa 34,7–34,9 cm.8 Im Gegensatz zu dem reduktionistischen Ansatz geht der permissive Ansatz von der Existenz beliebig vieler unterschiedlicher Lokalmaße aus, die untereinander zwar durchaus eine gewisse Ähnlichkeit besaßen, aber eben doch variieren konnten und sogar ‚Tempelmaße‘, das heißt Maße, die nur an einem spezifischen Bau Gültigkeit hatten, einschließen.9 Allerdings geht die Forschung derzeit nicht ernsthaft von der Existenz eines ‚spartanischen‘, ‚korinthischen‘, ‚athenischen‘, ‚ephesischen‘ oder gar ‚pheneotischen‘ Fußmaßes aus. Aufgrund der Praktikabilität im Warenaustausch scheint nämlich die im reduktionistischen Ansatz geforderte Vereinheitlichung 5 6 7 8 9

Grundsätzliches zu reduktionistischen und permissiven Ansätzen in der Metrologie vgl. Wesenberg 2001, 370. Attischer Fuß: 29,4192 cm (Gerkan 1940, 140; Wesenberg 1983, 19); 29,3–29,5 cm (Koenigs 1990, 126; Wesen­berg 1975/1976, 16 Anm. 4); 29,3876 cm (Büsing 1982, 9). Dorischer/pheidonischer Fuß: 32,6–32,7 cm (Wesenberg 1983, 19); 32,5–32,8 cm (Koenigs 1990, 126); 32,572–32,7778  cm (Wesenberg 1975/1976, 16 Anm. 4) mit einem Mittel von 32,648–32,6578 cm; 32,65289 cm (Büsing 1982, 9). Ionischer Fuß: 34,8–34,9  cm (Wesenberg 1983, 19); 34,7–34,9  cm (Koenigs 1990, 126); 34,7435– 34,9630 cm (Wesenberg 1975/1976, 16 Anm. 4); 34,82975 cm (Büsing 1982, 9). Vgl. die Diskussion um den sogenannten ‚metrologiefreien Modulus‘ beim Parthenon (Wesenberg 1995, 199 f.). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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der Maßsysteme eine größere Wahrscheinlichkeit zu besitzen, eine Vermutung, die auch durch die weitgehende Ähnlichkeit metrologischer Analyseergebnisse gestützt wird, die Clusterbildungen zulässt und keine Gleichverteilung von lokalen Fußmaße über den Bereich von 29 bis 35 cm zeigt. Allerdings stellt sich dann in der Tat die Frage nach dem Mechanismus, der in der Lage gewesen ist, eine solche Vereinheitlichung durchzusetzen, wenn eine dazu befähigte Instanz nicht existierte. Da nur wenige antike Festlegungen von Maßeinheiten bekannt sind, vor allem die in ihrer Interpretation umstrittenen metrologischen Reliefs von Salamis und Oxford10, so würde man den Zeitpunkt der Vereinheitlichung mit einer gewissen Berechtigung grundsätzlich eher früh ansetzen wollen, andernfalls hätten sich sicherlich Zeugnisse von Konventionen erhalten. Eventuell kann man hierbei sogar bis in die Zeit der griechischen Kolonisation zurückgehen: Die Kolonisten könnten dann an den jeweiligen Maßeinheiten ihrer Mutterstädte festgehalten haben, doch fehlen vergleichende Analysen, eine Kartierung der bekannten Fußmaßsysteme nach Mutter- und Tochtersiedlungen wäre aber sicher ein Gewinn. Auch bei den Händlern und den wandernden Handwerkern kann ein Interesse an Einheitlichkeit von Maßen vorausgesetzt werden, so dass der Warenaustausch zwar nicht de iure, wohl aber de facto Vereinheitlichungen begünstigte. Der Sinn einer derartigen Vereinheitlichung für die Wirtschaft und den Handel braucht nicht betont zu werden.11 Das athenische Münzdekret zeigt zudem, dass man sich auch dem Mittel der Einflussnahme über die Verbindlichkeit eigener Maße für in einem Wirtschafts­ raum durchaus bewusst war. Neben ihrer wirtschaftsgeschichtlichen Relevanz stellt die Beschäftigung mit den antiken Fußmaßen auch für die Bauforschung eine besondere Herausforderung dar, da die Kenntnis antiker Maßeinheiten Einblicke in die Konstruktions- und Entwurfsprinzipien der Architekten gibt. Durch eine Analyse werden die der Planung und Bauausführung zugrundeliegenden inneren Gesetzmäßigkeiten von Architekturen, Interdependenzen zwischen Bauten und Entwicklungen sowie Entwurfssysteme sichtbar. Die metrologische Forschung verknüpft damit wesentliche historisch-politische, wirtschaftsgeschichtliche und bauhistorische Themenkomplexe der Alten Geschichte und der Klassischen Archäologie, weswegen die Literatur zu diesem Gesamtthema unübersehbar ist.12 Gleichzeitig bilden metrologische Analysen und Entwurfsanalysen eine An­ forderung für jede neuere Bauaufnahme. Einheitlichkeit von Fußmaßen in Rom? Im Vergleich mit den aufgezeigten Forschungsdesideraten in der griechischen Metrologie scheint die Situation in der römischen Metrologie einfacher zu sein, da im römischen Reich ein­heitliche Maße durch eine zentrale Beschlussfassung gegenüber den traditionellen regionalen Ein­ heiten durchgesetzt worden sein könnten. In der Tat existiert ein Hinweis auf einen der­artigen Normierungsbeschluss, der allerdings erst gut 230 Jahre nach seiner vermeintlichen Fassung 10 Wie die Forschung gezeigt hat, sind die metrologischen Reliefs nicht zum Abgreifen exakter Längenmaße geeignet, es handelt sich vielmehr um Kunstwerke, bestenfalls um terminologische Festlegungen, aber nicht um Eichtafeln. 11 Vielleicht kommt hierfür insbesondere der Handel mit Baumaterialien in Frage. Anders nämlich als bei der Abmessung von Tuchen oder anderen Handelsgütern, werden Bauten in ihren absoluten Maßen vorgeplant und bedürfen deswegen der exakten Lieferung von Baumaterialen. 12 Zwarte 1994. Mehr als fragwürdig dagegen Rottländers Ansicht, alle antiken Maße gingen auf die „Nippur-Elle“ zurück (Rottländer 1990, 629). Dazu u.a. Witthöft 1995. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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überl­iefert wurde. Für das Jahr 29 v.Chr. schildert Cassius Dio13 nämlich ein fiktives Gespräch zwischen Octavian, Agrippa und Maecenas, in dem über die zukünftige Staatsform in Rom und über Octavians Position beraten wurde. Maecenas, der für eine starke, informelle Position des Princeps innerhalb der bestehenden ‚republikanischen‘ Ordnung plädierte, schlug unter den Maßnahmen und Reformen, die zur Ordnung und Finanzierung des Staates sowie zur Sicherung des Principats dienen sollten, auch vor: Keiner Stadt sollte ferner erlaubt sein, ihre besondere Münze oder ihr eigenes Gewichts- und Maßsystem zu besitzen, sie sollen sich vielmehr alle unserer Maße bedienen!14

Dieser Vorschlag steht in unmittelbaren Kontext weiterer Einschränkung städtischer Autonomien. Hier wird also von einer Maßnahme berichtet, die in ihrer Aussage dem athenischen Dekret von 440/420 entspricht und deren von Cassius Dio überliefertes Ziel die Einschränkung der städtischen Autonomie war.15 Wenngleich natürlich die überlieferte Diskussion kaum so stattgefunden haben wird, konnte in der Forschung doch die literarische Überlieferung und der numismatischer Befund prüfend einander gegenübergestellt. Dabei zeigte Trillmich für die städtischen Münzprägungen der Frühkaiserzeit in Spanien eine überzeugende Entsprechung auf.16 Es darf also die Frage gestellt werden, ob eine entsprechende, von Cassius Dio in literarische Form verpackte Anweisung authentisch war, wenigstens aber dem täglichen Erleben entsprach. Hier ergeben sich nun auch Ansätze, die Möglichkeiten der Eichung und Verbindlichkeit von Fußmaßen in der römischen Antike zu beleuchten. Allerdings war die Verbindlichkeit eines einzelnen Längenmaßes auch in Rom selber ursprünglich nicht gegeben gewesen. Noch am Anfang des 1. Jhs. v.Chr. waren unterschiedliche Maßeinheiten zur Längenmessung denkbar: Die bekannteste Maßeinheit, der pes monetalis, bekam seinen Namen von der Aufbewahrung des Urmaßes im Tempel der Iuno Moneta auf der Arx.17 Neben dem pes monetalis können in Rom aber auch der möglicherweise dem Grundriss des Rundtempels am Tiber zugrunde liegende Fuß von 33,04 cm, der an die Bandbreite des dorisch-pheidonischen Fußes nahe heranreicht oder der italische/oskische Fuß mit ca. 27,5 cm18 nachgewiesen werden. Eventuell seit diesem 13 Cass. Dio 52,30,9. 14 Übersetzung Veh 2009. 15 Natürlich schrieb Dio mit den Erfahrungen der städtischen Selbstdarstellung seiner Zeit, wie an dem Vorschlag zur Einschränkung der Ausstattung mit öffentlichen Gebäuden zum Schutz der städtischen Finanzen hervorgeht (Cass. Dio 52,30,3). Ob die Einschränkung der städtischen Souveränität in jedem Fall Ziel oder Wirkung war, sei dahingestellt. 16 Trillmich 2003. 17 Marbach 1933. 18 Nissen 1877, 85; Lugli 1957, 189; Peterse 1984. Zum Nachweis in Rom: Gjerstad 1960, 41 f. u. 209; Gjer­ stad 1966, 354. Die Verwendung dieses Fußmaßes bei dem ersten Castor-Tempel wurde nicht geprüft, obgleich sich hier möglicherweise bessere Ergebnisse erzielen lassen (Nielsen – Poulsen 1992, 75): bei einer Breite von 27,5 m statt 93 pes monetalis (29,56 cm) sind auch 100 ital. Fuß möglich, bei einer Länge von 38,5 m ergäben sich entsprechend 140 ital. Fuß. Auch die anderen ermittelbaren Maße lassen sich im ital. Fuß ausdrücken. Beim dem Weihgeschenk des M. Fulvius Flaccus in der Area Sacra di S. Omobono wurde lt. Ioppolo (vgl. Anhang 4 Nr. 21) ein Fuß von 29,6 cm verwendet. Falls dies stimmt, ist dieses Fußmaß schon im 3. Jh. v.Chr. im Gebrauch. Es muss daher mit einer Gleichzeitigkeit gerechnet werden. Wie dieses Problem praktisch gelöst wurde, wäre interessant. Bracker-Wester 1980, 505 rechnet mit einer Verdrängung des italischen Fußmaßes bei Einführung der archaischen Tempelarchitektur (vgl. die Situation in Athen des 5. Jhs. v.Chr.: Bankel 1984, 37 f. mit dem ‚Parthenonfuß‘ und dem ‚Erechtheion­ © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Beschluss der reichsweiten Standardisierung ist der pes monetalis in Rom das einzige Maß zur Längenmessung, jedenfalls sind dort später keine anderen Maße mehr nachweisbar. Der pes monetalis und sein Toleranzbereich Bevor nun überhaupt Rückschlüsse auf eine weitreichende Normierung gezogen werden können, müssen die metrischen Äquivalenzwerte für die Toleranzbreite des pes monetalis ermittelt werden. Zwar kann eine Bestim­mung des pes monetalis durch neue Funde oder Bauuntersuchungen hier nicht geleistet werden, dennoch seien einige grundsätzliche Überlegungen erlaubt, welche die Methodik solch einer Determinierung relativieren können: In der Regel geht man von einem einzigen, festen metrischen Maßäquivalent aus. Diese Annahme scheint aber im Wesentlichen durch die Forschung bedingt zu sein und muss nicht notwendigerweise der antiken Realität entsprechen. Der Befund lässt auch die Möglichkeit zu, einen metrischen Toleranzbereich für das römische Fußmaß anzunehmen. Bei Heranziehung möglichst vieler unabhängig ermittelter Ma­ ße sollte es daher möglich sein, unter Berücksichtigung von zeitlicher und örtlicher Entfernung zu dem Urmaß das Fußmaß innerhalb eines Toleranzbereiches zu ermitteln. Die Diskussion um das exakte metrische Äquivalent des Urmaßes im Iuno Moneta-Tempel ist davon insoweit nicht berührt, da die ermittelten Einzelmaße die Wiederspiegelung der täglich benutzten Maße sind und durchaus von einem geforderten Soll-Maß abweichen können. Bevor man sich der Frage nach der Eichgenauigkeit römischer Längenmaße zuwenden kann, ist es also notwendig, zunächst den im Bestand greifbaren Toleranzbereich des pes monetalis zu ermitteln. Zu diesem Zwecke wurden exemplarisch Befunde aus fünf verschiedenen Quellengruppen geprüft, aus denen sich Angaben zu dem pes monetalis ablesen lassen. Dabei wurde, sofern möglich, zwischen stadtrömischen Belegen und solchen aus anderen Regionen des Reiches, schwerpunktmäßig im Westen, unterschieden. Grabinschriften mit Maßangaben19 sind für diese Zwecke jedoch zu ungenau und finden daher keine Berücksichtigung. Die wichtigsten und unmittelbarsten Zeugnisse sind die Funde metallener antiker Maßstäbe (Anhang 1). Ihre Bandbreite reicht allgemein von 29,2–30 cm, mit einem Durchschnittswert von 29,514 cm. Die stadtrömischen Exemplare bewegen sich zwischen 29,46–29,61 cm, ihr Mittelwert liegt bei 29,535 cm. Maßstäbe sind aber nicht nur im Original überliefert, sondern sie wurden auch auf Grabsteinen von Vermessern dargestellt (Anhang 2). Dabei wurde offenbar einem erstaunlich hohen Genauigkeitsanspruch Rechnung getragen, der a priori gar nicht zu erwarten wäre. Tatsächlich bewegen sich die stadtrömischen Darstellungen zwischen 29,5 und 29,6 cm, der Schnitt bei den stadtrömischen Exemplaren liegt bei 29,578 cm. Das Mittel aller sechs Darstellungen von Maßstäben liegt, kaum abweichend, bei 29,582 cm. Als nächste Quellengruppe mit hohem Genauigkeitsanspruch sind Eichtische (Anhang 3) zu nennen. Diese sind aus Rom, eventuell aufgrund der räumlichen Nähe zu dem Urmaß, das eine direkte Überprüfung ermöglichte, nicht bekannt; in den Provinzen liegt das arithmetische Mittel bei 29,7 cm, legt man bei dem Stück aus Thiblisi den kleineren Wert zugrunde. fuß‘). Nach Cass. Dio 52,30,9 müsste der oskische Fuß 29 v.Chr. abgeschafft worden sein, dies sagt natürlich nichts da­rüber aus, wie lange er in Rom schon außer Gebrauch war. 19 Zu Grabinschriften mit Angabe der Größe in pedes vgl. Eck 1987, 63–65. Zwei Beispiele außerhalb des Herkulaner Tores in Pompeji: Süd 3 (Kockel 1983, 53–57). Die Rekonstruktion des Grabmals des M. Porcius M. F. ist nicht gesichert, inschriftlich genannt werden 25 Fuß Breite. Aus der Breite des Grabmals des N. Istacidius Helenus (Süd 21; Kockel 1983, 98–100) und der Angabe von in agro pedes XV in fronte [pe]des XV ergibt sich 1 Fuß = 29,5 cm (Ohr 1991, Anm. 285). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Bei der Bestimmung des metrischen Fußmaßäquivalenzwertes durch metrologische Unter­ suchungen von Architektur ergeben sich methodische Probleme, die kurze Erwähnung finden müssen: Normalerweise werden Baumaße oder, soweit ermittelbar, Moduli benutzt und auf signifikante Brüche des Fußmaßes überprüft. Dazu werden in der Regel entweder das von Hecht eingeführte Näherungs­verfahren mit Mittelwertbildung20 oder die vergleichende Skalierung21 verwendet.22 Bei objektiver Vorgehensweise sind aber a priori weder die Größe des Bau­maßes, seine Brechung, die Länge des Modulus noch die verwendete Baumaßzahl inner­halb des Modulus bekannt. Zur Verdeutlichung: Die antiken Fußmaße bewegen sich, generalisiert, zwischen 23 und 35 cm. Sie können sowohl unterteilt (palma, uncia, daktylos/digitus) als auch vergrößert (z.B. Elle = 1,5 Fuß) werden. Der dem Entwurf zugrundeliegende Modulus ist unbekannt (unterer Säulendurchmesser, Interkolumnium, Jochweite o.ä.?), ebenso die Anzahl der Fußmaßeinheiten innerhalb des Modulus. Damit ist keine einzige der zur Lösung der Gleichung benötigten Variablen bekannt.23 Es wird also selten gelingen, alle am Bau abzugreifenden Maße in die antiken Maßsysteme umzurechnen, zumal stets auch mit geometrischen Entwürfen von Teilstrecken zu rechnen ist, wie etwa antike Ritzlinien mit dem Entwurf von Architekturabschnitten wie Giebeln, Bögen oder Säulen zeigen. Auch proportionale Entwurfssysteme oder Veränderungen des ursprünglichen Entwurfs während des Bauablaufs24 tragen dazu bei, dass antike Maßsysteme nicht widerspruchsfrei an Bauten wiedergefunden werden können; stets bleibt ein Rest an Unsicherheit, der nur der Plausibilität unterliegt. Ein weiteres Problem liegt in der Auswahl der untersuchten Strecken, an denen eine Fußmaßteilung geprüft werden soll. Hier sind, entgegen Bankel,25 grundsätzlich lange Strecken vorzuziehen, wie schon Hecht vorschlug.26 Diese sind nämlich in der Lage, primäre Toleranzen, wie Ungenauigkeiten in der Bauausführung, als auch sekundä­re Toleran­zen, z.B. moderne Messtoleranzen27 oder die Erhaltung durch Verwitterung oder Beschädigung, auszugleichen. Schlussendlich müssen die so ermittelten Werte der Praktikabilität antiker Maßeinheiten ent­sprechen, damit sie plausibel werden. Dies bedeutet, dass die bei der Analyse erhaltenen Werte in den antiken Maßsystemen mit ihren Teilungen ausdrückbar sein müssen, um nicht be­liebig zu werden.28 Aus diesen Gründen muss auch bei jeder metrologischen Untersuchung der­ 20 Hecht 1979, 110. 21 Bankel 1983, 69 f. u. 1984. 22 Die von de Waele 1980 u. 1995 vorgeschlagene Methode der Baumaßermittlung über die verwendeten Quader­größen (lt. de Waele 1980, 241 „Gesetze für die dorische Tempel-Architektur“) wird zu Recht u.a. von Hueber 1989, 276 abgelehnt. Eine allgemein kritische Übersicht zur Baumaßanalyse, besonders zu den frag­w ürdigen Thesen Rottländers, bei Wesenberg 1995. 23 Dazu ein Beispiel bei Coulton 1975, 88–89. 24 Vgl. dazu Mattern 2001. 25 Bankel 1983, 68: „Dies bedeutet, daß die Wahrschein­lichkeit, das richtige Fußmaß zu finden, bei kleinen Maßen größer ist, oder umgekehrt, daß sich längere Strecken eher in ein ‚passendes‘ Konzept bringen lassen.“ 26 Hecht 1979, 109: „Der relative Einfluß der Bau­ungenauigkeiten ist demnach umso geringer, je länger das Baumaß ist“. 27 Eine Zusammenstellung der verschiedenen Einflüsse bei Koenigs 2015, 51–53. Verschiedene Auf­messungen von Bauwerken ergeben manchmal unterschiedliche Werte, etwa die Vermessungen des Parthenon durch Penrose und Orlandos (zur Kritik: Mertens 1984, 58). Zur Problematik der Genauigkeit moderner Messungen vgl. auch Pakkanen 1994 am Beispiel der Bauaufnahme des Tempels von Segesta durch Dins­ moor und Mertens und ihre Auswirkungen auf moderne Proportionierungstheorien. 28 Den Begriff der Praktikabilität führte Wesenberg 1983, 18 ein: „Im folgenden werden Maße, die sich im Rahmen der daktylischen Einteilung des Fußes halten, als praktikabel bezeichnet; solche, die die dakty© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Norm und Toleranz

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Versuchung, Maße in ein vorgegebenes Kon­zept bringen zu wollen29, widerstanden werden.30 Weiterhin ist vorauszuschicken, dass ein durch die Analyse einer Bauaufnahme gewonnenes Fußmaß zunächst nur für das unter­suchte Bau­werk selbst gilt. Im Prinzip kann auf der Grund­ lage einer Einzeluntersuchung sogar nur die Maßeinteilung des zur Planung verwendeten Maß­ stockes ermittelt werden.31 Derartige metrische Äquivalenzwerte ermöglichen also noch keine generellen Aussagen, sondern sie sind bauwerkspezifisch, weswegen sie auch als Baumaß bezeichnet werden. Die an stadtrömischen Bauwerken ermittelten Baumaße (Anhang 4) bewegen sich zwischen 29,28–29,8 cm; sie liegen im Schnitt32 bei 29,49 cm. Außerhalb Stadtroms (Anhang 5) schwanken sie dagegen zwischen 29,2 und 29,77 cm, ihr Durchschnitt liegt bei 29,473 cm. Werden jetzt die beobachteten Fußmaße aus sämtlichen Gattungen zusammengefasst, so schwanken sie allgemein zwischen 29,2 cm und 30 cm. Das arithmetische Mittel aller Maße liegt bei 29,545 cm. Will man den sich möglicherweise in Abhängigkeit von der örtlichen Entfernung zum Urmaß ergebenen Übertragungsfehler in Rechnung stellen, ergibt sich für Stadtrom ein Toleranzbereich von 29,33 cm bis 29,8 cm, d.h. er liegt nur wenig innerhalb der reichsweiten Toleranz33. Der Durchschnitt der stadtrömischen Maße ergibt 29,542 cm, d.h. er entspricht auf 3∕₁₀₀ mm genau dem reichsweiten Mittel. Sich in zeitlicher Distanz vergrößernde Abweichungen von einem früheren Wert können aufgrund der zu geringen Datendichte nicht verfolgt werden, sind aber keinesfalls signifikant.34 Geht man nun davon aus, dass sich die Toleranzen aller ermittelten Werte gleichmäßig von dem Eichmaß entfernen35, könnte dies bedeuten, dass es bei etwa 29,54 cm gelegen hat. Die festgestellten Toleranzen von unter ± 3mm36 (stadtrömisch) und ±4mm (reichsweit) entsprächen also einer Abweichung von 1,01% bzw. 1,35% und liegen damit nur etwa fünf- bis siebenmal höher als die bei modernen Zweimeter-

lische Einteilung verfehlen, als impraktikabel.“ 29 So z.B. Gasparri 1979, der Fußmaße von 26,6 bis 46,4 cm dehnt, um glatte Entwurfsmaße zu bekommen. Leider wird sein Werk damit für die metrologische Untersuchung des Tempels unbrauchbar. Ähn­lich verfährt leider auch Pensabene 1984, 145 der einerseits genaue unciale Brechungen angibt, andererseits 2‘ mal mit 60 cm und mal mit 61 cm gleichsetzt. 30 Nicht davon berührt ist die häufige Kritik gegenüber metrologischen Analysen, die teilweise sehr genaue scheinende Angabe antiker Baumaße, manchmal bis auf einen tausendstel Millimeter, sei angesichts von Erhaltungszufällen und Ausführungstoleranzen völlig unrealistisch (z.B. Rakob 1984, 220). Tatsächlich handelt es sich ihnen aber um rein rechnerische Ergebnisse, die sich aus der Skalierung ergeben, bei der gemeinsame Teiler gesucht werden müssen. Sie sind also bloß mathematisch begründet und nicht mit der tatsächlichen Festlegung des metrischen Äquivalentes des antiken Fußmaßes zu verwechseln! 31 Ein Beispiel für ein derartiges, zunächst nur für das Bauwerk verbindliche Maß ist das am Athener Turm der Winde eingemeißelte dorische Fußmaß (Kienast 2014, 113). 32 Die in Klammern gesetzten Maße wurden bei der Ermittlung des arithmetischen Mittels nicht berücksichtigt. 33 Dies umso deutlicher, wenn man die beiden Maßstäbe Anhang 1 Nr. 24/25 als deutliche Abweichungen versteht. 34 Vgl. dazu die Behauptung von Nowotny 1931, 256  f., der pes monetalis nehme von vor 80 n.Chr. mit einer Länge von 29,6–62 cm auf 29,4 cm um 300 n.Chr. ab. Von einem Längenverlust des römischen Fußes von 29,57 auf 29,42cm bis Ende des 2. Jhs. n.Chr. geht auch Hultsch 1882, 97 aus. Die oben fest­gestellten Toleranzen bei der Ermittlung metrischer Äquivalenzen des pes monetalis lassen derartig feine Beobachtungen aber nicht zu. Insbesondere bei Hultsch wäre es interessant zu klären, inwieweit die Wahr­nehmung der Meterkonvention von 1875 Einfluss auf seine Thesen hatte. 35 Dies beruht auf Plausibilität und ist natürlich nicht nachweisbar. 36 Vgl. auch Rakob 1984, 220. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Torsten Mattern

Zollstöcken in Deutschland er­laubten Toleranzen von 0,2%!37 Diese minimalen Toleranzen bedeuten eine erhebliche Leistung bei der Normierung38 des pes monetalis, die wohl nur aufgrund der Abhängigkeiten der meisten antiken Fußmaße untereinander möglich war.39 Da die herangezogenen Beispiele keinen An­spruch auf Vollständigkeit erheben, wird man zukünftig von leichten Verschiebungen auszu­gehen haben, jedoch dürften diese kaum den Gesamteindruck beeinflussen. Die Fähigkeit der Zentralverwaltung in Rom, innerhalb des Reiches einheitliche Standards zu etablieren, besitzt für den Handel mit Stückgut, besonders mit Baumaterialien, eine erhebliche Bedeutung. Erst auf dieser Grundlage war es möglich, einen sinnvollen Handel mit Baumaterial auf Bestellung ohne allzu viel Ausschuss und eine normierte Architektur mit standardisierten Maßen zu entwickeln.40 Bestellungen von Baumaterialien, auch von Werkstücken, erfolgten auf der Grundlage der Übermittlung von Fußmaßen, wie einige antike Quellen belegen.41 Strabo berichtet zum Beispiel, dass der Steinbruch von Dokimeia Säulen exportierte.42 In Rom und Ostia bzw. Portus wurden zahlreiche angelandete und zwischengelagerte Halbfabrikate gefunden, die innerhalb gewisser Spielräume, die die Werkzölle vorgeben, maßgenau gearbeitet worden sein müssen und von deren Anlandung bis zum Verbau teilweise eine längere Zeit verging. Hier können also Absprachen über das verwendete Fußmaß bei dem Bestellvorgang nicht mehr bekannt gewesen sein, sondern es muss grundsätzliches Einvernehmen darüber geherrscht haben, welches Maß verwendet werden soll. Dies gilt auch dann, wenn reichsweit teilweise lokale Maße weiterbestanden oder es, wie die Leuge in den Nordwestprovinzen, lokale Sondermaße gab. Als Träger der Vereinheitlichung von Maßen wurde bisher auch das Militär angenommen, da die originalen Maßstäbe vor allem in Lagern gefunden worden sind. Allerdings zeigen die Existenz von Eichtischen sowie die erwähnten Möglichkeiten des Baugliedhandels, dass das Militär nicht allein für die Vereinheitlichung der Maße gesorgt haben kann. Da die Stein­ brüche vielfach in kaiserlichem Besitz waren, ist hier vielleicht ein weiterer Ausgangspunkt für die Vereinheitlichung zu erkennen. Allerdings zeigen die von Trillmich im Kontext des fiktiven Gespräches zwischen Octavian, Agrippa und Maecenas glaubhaft gemacht Intervention Roms bei der Prägung von Münzen sehr deutlich, wie stark auch in den zivilen Orten die Herrschaftsdurchdringung Roms gewesen ist.43 Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass entsprechende Dekrete oder Musterstücke in den Provinzen bekannt gemacht und durchgesetzt worden sind. Das Weiterleben einheimischer Maße, bzw. deren Wiederaufleben im Zuge einer einheimischen Selbstbesinnung widersprechen dem nicht, sondern trennen wohl nur die offizielle Sphäre von derjenigen der Alltagswelt, wie dies auch in der Gegenwart durch umgangssprachlich verbreitete Maßeinheiten bekannt ist.44 37 Schwandner 1984, 24. Auch Strocka 1981, 41–45 geht von einem Durchschnittsmaß (29,42 cm) mit Toleranzen aus. 38 Zu Spielräumen bei der Übermittlung von Maßen vgl. Hecht 1979, 132–135. 39 Vgl. u.a. Büsing 1982; Zwarte 1994. 40 Mattern 2000. 41 Mattern 2000, Anm. 51 u. 52. 42 Strabo 12,8,14. 43 Hier ist auch der Hinweis auf ein ähnlich umfassendes Ausmaß an Standardisierung bei der Herstellung von typologisch einheitlichen Kaiserporträts erlaubt. Soweit bekannt, ist hier von der Versendung von Muster­stücken auszugehen. 44 Verwiesen sei nur auf die Nutzung von ‚PS‘ für die Motorleistung oder das ‚Pfund‘ als Gewichtsangabe. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Norm und Toleranz

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Anhänge Die folgenden Listen sind nicht vollständig und erheben auch keinen Anspruch auf Re­präsen­ tativi­tät, sondern bilden nur einen Ausgangspunkt für weitere Zusammenstellungen von Maßen, sie sind als erste Vorarbeiten zu verstehen. Maßstäbe im Original 4546 Nr.

cm

Herkunft/Aufbewahrung

Literatur

1

29,2

London, Britisches Museum

Bracker-Wester 1980, Anm. 26

2

29,25

Rouen, Mus. des ant.

Bracker-Wester 1980, Anm. 26

3

29,28

Brugg

Bracker-Wester 1980, Anm. 26

4

>29,3

Kassel, Staatliche Kunstsammlung (Br. 323)

Büsing 1981, 275

5

29,35

Bonn, Rheinisches Landesmuseum (Inv. 8598)

Bracker-Wester 1980, Anm. 26; Büsing 1981, 279 (29,4 cm)46

6

29,4

London, Britisches Museum

Bracker-Wester 1980, Anm. 26

7

29,4

Mainz, RGZM, Inv. O. 17941 Büsing 1981, 280

8

29,4

Nijmegen (Leiden, Rijksm. I.D.B.B.1)

Büsing 1981, 281

9

29,4

St. Rémy, Depôt arch.

Bracker-Wester 1980, Anm. 26 (nach Rolland 1969, 20)

10

29,4

aus Mirebeau-sur-Béze

Bracker-Wester 1980, Anm. 26; Büsing 1981, 282

11

29,4–29,5

Lyon, Mus. arch.

Bracker-Wester 1980, Anm. 26

12

29,4–29,5

Kastell Weißenburg

Fabricius 1927, Nr. 72 S. 38 Nr. 88

13

29,45–29,47

aus Tarent, heute Dresden, Albertinum (ZV 59)

Büsing 1981, 273

45 Weitere Maßstäbe sind bei Feugère 1983 leider ohne Maße aufgeführt. Die Angaben für die Exemplare aus Pompeji im Neapler Nationalmuseum (Bracker-Wester 1980, Anm. 26) sind für die Auswertung un­ brauchbar, de Waele 1984, 1 lässt nur den Maßstab mit 29,25 cm gelten. 46 Bei Büsing scheint eine Tendenz zu bestehen, Skalenlängen 29,4 cm anzugleichen. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

198

Torsten Mattern

Nr.

cm

Herkunft/Aufbewahrung

Literatur

14

29,46

Rom, Vatikan, Bibl.

Bracker-Wester 1980, Anm. 26

15

29,48

Brugg

Bracker-Wester 1980, Anm. 26

16

29,5

Köln, Römisch-Germanisches Bracker-Wester 1980, 500; Büsing Museum (Inv. 23,475) 1981, 276 ff.

17

29,5

Köln, Römisch-Germanisches Bracker-Wester 1980, 501 Museum (Metallinv. 1031)

18

29,5–29,63

Paris, Louvre (ED 3015)

19

29,6

Köln, Römisch-Germanisches Bracker-Wester 1980, 500; Büsing Museum, (Inv. 1405) 1981, 278

20

29,6

aus Ostia

L. Borsari, NSc 1897, 524

21

29,6

Kastell Köngen

Mettler 1907, Nr. 60 S. 36 Nr. 33

22

29,6–29,63

Paris, Louvre (ED 3014)

Bracker-Wester 1980, Anm. 26

23

29,61

Rom, ehem. Mus. Kirch.

Bracker-Wester 1980, Anm. 26

24

30,00

Köln , Sammlung Füngling

Bracker-Wester 1980, 501

25

30,00

aus Trier

Hussong 1938, 150

Bracker-Wester 1980, Anm. 26

2. Maßstäbe auf Grabsteinen Nr.

cm

Name

Aufbewahrung

Literatur

1

29,5

P. Celerius Amandus

Ostia, Museum

Zimmer 1984, 266

2

29,59

Anonymus

Praetetatkatakombe

Zimmer 1984, 271

3

29,6

Aebutii

Rom, Museo Capitolino

Zimmer 1984, 266

4

29,6

Lapis Capponianus Rom, Museo Capitolino

Zimmer 1984, 266

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Norm und Toleranz

199

Nr.

cm

Name

Aufbewahrung

Literatur

5

29,6

T. Statilius Aper

Rom, Museo Capitolino

Zimmer 1984, 266

6

29,6

L. Alfusius Statius

Aquileia

Zimmer 1984, 270

3. Eichtische Nr. cm

Ort

Literatur

1

29,6

Leptis Magna

deWaele, BABesch 59 (1984), 1

2

29,8–30,0

Thibilis-Announa

deWaele, BABesch 59 (1984), 1; F. Rakob, RM 81 (1974), 77 mit Anm. 53

4. Baumaße in Stadtrom 47 Nr. cm

Bauwerk

Literatur

(1)

29,28–29,41

Hecht 1979, 132

(2)

29,28–29,41

Saturn-Tempel

Pensabene 1984, 145 (folgt Hecht)

3

29,33

Amphitheatrum Flavium

Hecht 1979, 124 (auf der Grundlage von Desgodetz)

4

29,33

Domus Flavia, Aula

Hecht 1979, 126

5

29,38–29,40

Forum Traiani

Packer 1997, 471

6

29,394

Rundtempel a. Tiber

deZwarte, BABesch 69 (1994), 117

7

29,421

Maxentius Mausoleum

Rasch 1984a, 59; Rasch 1984b, 250

8

29,421

M. bei Tor de’Schiavi

Rasch 1993, 41

9

29,421

Grabrotunde, Via Appia

Sydow 1977, 266

(10) 29,421 (11) 29,42–29,6

Rakob 1984, Anm. 3 Sonnenuhr des Augustus

Buchner 1984, 218 (nicht genau bestimmbar, aber näher an 29,42)

47 Außerdem, aber fragwürdig: 29,64 cm; Tempel B, Largo Argentina (H. Geertman, in: H. Geertman – J. J. de Jong [eds.] Munus non ingratum, Leiden 1989 [BABesch Suppl. 2] ,171). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

200

Torsten Mattern

Nr. cm

Bauwerk

Literatur

12

29,464

Titus-Bogen

Pfanner 1983, 22

13

29,4715

Cestius Pyramide

Bauer 1983, 136 Anm. 33

14

29,479

Mars-Ultor-Tempel

Ganzert 1996, 226

15

29,5

Mausoleum Augusti

Hesberg 1994, 37

16

29,5–29,58

Vespasians-Tempel

17

29,54

Rundtempel am Tiber

Angeli 1992, 84 (umgerechnet, ohne Begründung) Rakob – Heilmeyer 1973, 16 Anm. 2 (Verweis auf v. Gerkan)48 Becher, s.v. pes, RE XIX 1 (1937) 1085 f.

(18) 29,56 19

29,57

Portunus-Tempel

Adam 1994, 89

20

29,58

Pantheon

Fine Licht 1966, 19549

21

29,6

S. Omobono, Weihgeschenk des M. Fulvius Flaccus

Ioppolo, BCom 79 (1963/1964), 78

22

29,63

Stadium Domitiani

Colini 1998, 104 (ohne Begründung)

23

29,8

Hadrianeum

Cozza 1982, 23 (umgerechnet, ohne Begründung)

5. Baumaße außerhalb Stadtroms4849 Nr. cm

Bauwerk

Literatur

1

29,2

Glanum, Juliermonument

Rolland 1969, 19 f.

2

29,28

Aosta, Gewölbebau

Hecht 1979, 122

3

29,31

Aosta, Porta Praetoria

Hecht 1979, 122

4

29,35

Pompeji, Basilica

Hecht 1979, 121

48 Alternativ 29,74 cm; Rundtempel a. Tiber (H. Geertman, in: H. Geertman – J. J. de Jong [eds.], Munus non ingratum, Leiden 1989 [BABesch Suppl. 2], 161). 49 Dagegen Hecht 1979, 128 mit 29,37 cm. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Norm und Toleranz

Nr. cm

Bauwerk

Literatur

5

29,36

Nimes, Quellheiligtum

Hecht 1979, 128

6

29,37

Spalato, Jupiter-Tempel

Hecht 1979, 131

7

29,41

Trier, Kaiserthemen

Hecht 1979, 130

8

29,41

Baiae, sog. Venus-Tempel

Rakob 1961, 132

9

29,41

Zaghouan, Quellheiligtum

Rakob 1974, 77

10

29,41

Praeneste, Fortuna Heiligtum

Gullini 1983, 154 Anm. 54

11

29,5

Tivoli (Stadt), Tholos50

Riemann 1952, 34

12

29,55 ±1,8 mm Gabii, Iuno-Tempel

Almagro-Gorbea 1984, 164

13

29,57

Glanum, Bogen

Rolland 1977, 47

14

29,57

Villa Hadriana, Gartenst.

Hoffmann 1980, 58

15

29,57

Praeneste, Forumskomplex

Gullini 1984, 529 Anm. 19

16

29,6

Spalato, Porta Aurea

Hecht 1979, 131

17

29,67

Nimes, Maison Carrée

Amy – Gros 1979, 85 f.

18

29,68

Spalato, Mausoleum

Hecht 1979, 132

19

29,77

Pompeji, Juppiter-Tempel

de Waele 1984, 4

201

Bibliographie50 Adam 1994 = J.-P. Adam, Le temple de Portunus au Forum Boarium, Collection de L’École Française de Rome 199, Rom 1994. Alder 2003 = K. Alder, Das Maß der Welt, München 2003. Almagro-Gorbea 1984 = M. Almagro-Gorbea, Der Juno-Tempel in Gabii und Vitruv, in: H. Knell – B. Wesenberg (Hrsg.), Vitruv-Kolloquium des Deutschen Archäologen-Verbandes e.V. Darmstadt, 17.–18. Juni 1982, Darmstadt 1984, 163–183. Amy – Gros 1979 = R. Amy – P. Gros, La Maison Carrée de Nîmes, Paris 1979 (Gallia Suppl. 38). 50 29,6834 cm lt. H. Geertman, in: H. Geertman – J. J. de Jong (eds.), Munus non ingratum, Leiden 1989 (BABesch Suppl. 2), 165. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

202

Torsten Mattern

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Norm und Toleranz

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Rasch 1984b = J. J. Rasch, Metrologie und Planung des Maxentius-Mausoleums, in: Deutsches Archäo­ logisches Institut – Architekturreferat (Hrsg.), Bauplanung und Bautheorie der Antike, Berlin 1984 (DiskAB 4), 250–262. Rasch 1993 = J. J. Rasch, Das Mausoleum bei Tor’de Schiavi in Rom, Mainz 1993 (Spätantike Zentral­ bauten in Rom und Latium 2). Riemann 1952 = H. Riemann, Vitruv und der griechische Tempel, AA 1952, 1–38. Rolland 1969= H. Rolland, Le mausolée des Glanum, Paris 1969 (Gallia Suppl. 21). Rolland 1977 = H. Rolland, L’arc de Glanum, Paris 1977 (Gallia Suppl. 31). Rottländer 1990 = R. C. A. Rottländer, Zur Genauigkeit antiker Längenmaße, in: Deutsches Archäo­ logisches Institut (Hrsg.), Akten des XIII. Internationalen Kongresses für Klassische Archäo­logie. Berlin 1988, Mainz 1990, 629–630. Schwandner 1984 = E.-L. Schwandner, Zur Entschlüsselung antiker Baumaße, in: Deutsches Archäo­ logisches Institut – Architekturreferat (Hrsg.), Bauplanung und Bautheorie der Antike, Berlin 1984 (DiskAB 4), 24–25. Strocka 1981 = V. M. Strocka, Das Markttor von Milet, Berlin 1981 (Winckelmannsprogramm der Archäo­­logischen Gesellschaft zu Berlin 128). Sydow 1977 = W. v. Sydow, Eine Grabrotunde an der via Appia antica, JdI 92 (1977), 241–321 Trillmich 2003 = W. Trillmich, Überfremdung einheimischer Thematik durch römisch-imperiale Ikono­ graphie in der Münzprägung hispanischer Städte, in: P. Noelke (Hrsg.), Romanisation und Resistenz in Plastik, Architektur und Inschriften des Imperium Romanum. Neue Funde und Forschungen. Akten des 7. Internationalen Kolloquiums über Probleme des provinzialrömischen Kunstschaffens Köln 2001, Köln 2003, 619–633. Veh (Hrsg.) 2009 = O. Veh (Hrsg.), Cassius Dio. Römische Geschichte, Düsseldorf 2009. de Waele 1980 = J. de Waele, Der Entwurf der dorischen Tempel von Akragas, AA 1980, 180–241. de Waele 1984 = J. de Waele, Der römische Fuß in Pompeji. Der Tempel des Iupiter Capitolinus, BABesch 59 (1984), 1–8. de Waele 1995 = J. de Waele, Maßeinheit und Entwurf des Alten Heratempels (‚Basilica‘) in Paestum, RM 102 (1995), 503–522. Wesenberg 1975/1976 = B. Wesenberg, Zum metrologischen Relief in Oxford, MarWPr 1975/1976, 15–22. Wesenberg 1983 = B. Wesenberg, Beiträge zur Rekonstruktion griechischer Architektur nach literarischen Quellen, Berlin 1983 (AM Beih. 9). Wesenberg 1995 = B. Wesenberg, Die Metrologie der griechischen Architektur. Probleme interdisziplinärer Forschung, in: D. Ahrens – R. C. A. Rottländer (Hrsg.), Ordo et Mensura III. III. internationaler interdisziplinärer Kongreß für Historische Metrologie vom 17. bis 21. November, St. Katharinen 1995, 199–222. Wesenberg 2001 = B. Wesenberg, Vitruv und Leonardo in Salamis. ‚Vitruvs Proportionsfigur‘ und die metrologischen Reliefs, JdI 116 (2001), 357–380. Witthöft 1995 = H. Witthöft, Zur Feststellung der Maße seit der Antike, in: D. Ahrens – R.C.A. Rott­ länder (Hrsg.), Ordo et Mensura III. III. internationaler interdisziplinärer Kongreß für Histo­rische Metrologie vom 17. bis 21. November, St. Katharinen 1995, 24–32. Zimmer 1984 = G. Zimmer, Maßstäbe römischer Architekten, in: Deutsches Archäologisches Institut – Architekturreferat (Hrsg.), Bauplanung und Bautheorie der Antike, Berlin 1984 (DiskAB 4), 265–276. Zwarte 1994 = R. de Zwarte, Der ionische Fuß und das Verhältnis des römischen, ionischen und attischen Fußmaße zueinander, BABesch 69 (1994), 115–143.

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Konfrontation und Kooperation jenseits des Niltals . Rom und die Wüstenstämme von Baratit, dem Hypotyrannos der Barbaren, bis zu Diokletian* Patrick Reinard

In diesem Aufsatz soll der Umgang Roms mit nomadischen Stämmen in der östlichen Wüste Ägyptens untersucht werden. Ausgangspunkt sind dabei in jüngerer Vergangenheit vorgelegte Ostraka aus den Siedlungen der östlichen Wüste (Krokodilo, Didymoi, Mons Claudianus, Berenike etc.). Insbesondere das sog. Baratit-Dossier, welches von Hélène Cuvigny hervorragend publiziert und ausgewertet wurde, bietet sehr bemerkenswerte Informationen. Der neue Quellenstand gibt nicht nur Anlass, sich eindringlich mit den dokumentarischen Texten, die über nomadische Stämme informieren, zu beschäftigen, sondern erlaubt es, auch die literarischen Quellen, die für die zweite Hälfte des 3. Jh. n.Chr. von einer eindringlichen BlemmyerGefahr berichten, nochmals neu zu interpretieren. Der Vergleich zwischen dokumentarischer und literarischer Überlieferung hinsichtlich Inhalt und chronologischer Verteilung ermöglicht es, ein differenzierteres Verständnis der Situation ab ca. 260 n.Chr. zu entwickeln. Außerdem soll auf die generelle römische Taktik im Umgang mit nomadischen Gruppen in Ägypten sowie die synchrone Entwicklung geachtet werden, um die Zustände im 2. und 3. Jh. n.Chr. abschließend vergleichen zu können. Auf Fragen der geographischen Verteilung der ‚barbarischen‘ Gruppen, die – dies zeigen die Inhalte der Texte sowie die topographische Situation in der Wüste an – nomadisch und tribal lebten, soll in diesem Aufsatz nicht eingegangen werden. Baratit Die Baratit-Ostraka können nur stratigraphisch grob in die Zeitspanne vom Ende des 2. Jh. bis in die 1. Hälfte des 3. Jh. n.Chr. datiert werden.1 Die Texte stammen aus Didymoi und Dios, was auf eine Bewegung der nomadischen Gruppe zwischen Koptos und Berenike hinweist. Der komplett erhaltene Text von O.Did. 41, den man als eine Art Bericht oder Vermerk ansprechen darf, stammt von einem Anonymus. Er hat am 1. Tag des Monats Phaophi folgendes festgehalten (Z. 1–9): ἦλθέν μοι Μαγ̣ειρην2 / δεκανὸν (l. δεκανὸς) καὶ τοὺ̣ς (l. οἱ) σὺν / αὐτῷ Bαρβάρους (l. Bάρβαροι) ε / πεμφθέντα (l. πεμφθέντες) ὑπὸ / Βαρα̣τιτ ὑποτυράν/νου βάρβαρο̣ς̣ (l. βαρβάρων) / καὶ ἔδωκα αὐτοῖς / κολ̣(οφώνιον) α κ̣α̣ὶ̣ ζεύγη / ψομίον (l. ψωμίων) ιβ

*

1 2

Hans-Joachim Drexhage bin ich nicht nur für eine stets umsichtige und diskussionsbereite Betreuung meiner Dissertation, nicht nur für die Gestaltung eines hervorragenden Arbeitsklimas während meiner Zeit im althistorischen Seminar der Philipps-Universität, nicht nur für die von ihm geweckte und immer geförderte Begeisterung für antike Wirtschaft und papyrologische Quellen, sondern auch für zahllose schöne Erinnerungen und Erlebnisse im hessischen barbaricum dankbar! O.Did. S. 106; Cuvigny 2014, 187. Cf. zur Namensform O.Did. 41 Zeilenkommentar. Die vermeintliche Nominativform Μαγείρης muss nicht korrekt sein. Eventuell handelt es sich um einen nicht deklinierbaren Barbarennamen? © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Patrick Reinard

Zu dem Anonymus ist ein Dekanós namens Μαγείρης (?) gemeinsam mit fünf Barbaren ge­ kommen. Sie wurden von einem Hypotyrannos der Barbaren, der den Namen Baratit trägt, geschickt. Der anonyme Schreiber von O.Did. 41 kann anscheinend voraussetzen, dass spätere Rezipienten seines Textes Baratit kennen. Den fünf Barbaren sowie Μαγείρης (?) werden von dem Anonymus zwölf Paar Brot sowie ein Kolophonion Wein ausgegeben. Der Text hat anscheinend als Notiz oder Bericht den Zweck, die Ausgabe dieser Waren an die Barbaren des Baratit zu dokumentieren. Der ganze Vorgang scheint nicht ungewöhnlich zu sein, sondern er­weckt den Eindruck einer gewissen Routine. Man darf danach fragen, ob wirklich sechs Personen notwendig waren, um 24 Brote sowie ein Kolophonion Wein zu transportieren? Die Ver­wendung von Lasttieren ist vorauszusetzen (s.u.). Mit O.Did. 42 liegt ein weiterer Beleg für Baratit vor, der allerdings sehr fragmentarisch ist. Der Text nach der Erstedition lautet: Βαρατιτ Β̣[ ] κουράτορι π̣[ραισιδίου ] ̣ ̣μο ̣χε ̣[ ] τροφο ̣[ ] κα̣θὼ̣ς̣ [ ] vac. [ ] ε -1-2- [

Im Zeilenkommentar wurde für Z. 2 f. die sinnvolle Ergänzung Δι]/δ̣ύμ̣ ου̣ χέρ̣[ειν] (l. χαίρ[ειν]) vorgeschlagen. Der Fundort des Ostrakons stützt diese Ergänzung. Man könnte darauf aufbauend für Z. 1–3 folgende Rekonstruktion annehmen: Βαρατιτ Β̣[? + Name des Kurators] / κουράτορι π̣[ραισιδίου Δι]/δ̣ύ̣μου̣ χέρ̣[ειν]. Aus dem Datierungszeitraum (Ende 2.–Anfang 3. Jh. n.Chr.) von O.Did. 42 sind verschiedene Kuratoren aus Didymoi namentlich durch Inschriften und Ostraka überliefert: Ischuras (I.Did. 6; ca. 176/177 n.Chr.), Iulius Clemens (I.Did. 9; ca. 190 n.Chr.), Isidoros (O.Did. 40; ca. 219 n.Chr.), Diogenes (O.Did. 35), Horigenes Leon (O.Did. 46) oder Ἱερ.[ (O.Did. 233; alle ca. 220–250 n.Chr.) kämen theoretisch in Frage. Mit Angelegenheiten bzgl. Barbaren, die man mit der Gruppe um Baratit in Verbindung bringen kann, hatte von den angeführten curatores nachweislich Horigenes Leon zu tun (s.u.). Bei dem Fragment dürfte es sich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit um einen Brief handeln, den Baratit an einen curator in Didymoi geschickt hat. Das erhaltene Beta vor der Lücke in Z. 1 dürfte der Beginn einer Selbstbezeichnung des Baratit gewesen sein. O.Did. 42 ist somit neben dem Brief des Blemmyer-Königs Phonen – SB 14/119573 aus der zweiten Hälfte des 5. Jh. n.Chr. – sowie dem Dekret des Blemmyer-Königs Charachen – SB 3/6257 = SPP 3/132 = W.Chr. 7 aus dem 5./6. Jh. n.Chr. – das dritte unmittelbare Selbstzeugnis eines nomadischen Barbaren in der griechischen papyrologischen Überlieferung. Das erhaltene Beta ist groß­geschrieben,4 was einerseits daraufhin deuten könnte, dass hier ein zweiter Name oder viel­leicht der Vatername folgte. Andererseits fällt auf, dass in den Ostraka aus Didymoi, die Bar­baren nennen, das entsprechende Wort häufig mit einem großen Beta geschrieben wird; so auch in den Texten, die sich auf Baratit beziehen (O.Did. 41 Z. 3, O.Did. 43 Z. 1 u. O.Did. 46 Z. 5), aber auch bei anderen Erwähnungen von Barbaren (O.Did. 27 Z. 3, O.Did. 44 Z. 13 u. 3 4

Grundlegend zu dem Brief: Skeat 1977; Rea 1979. Cf. die gute Abbildung in der Datenbank: http://www.ifao.egnet.net/bases/publications/fifao67/?os=44 (abgerufen am 01.11.2017). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Konfrontation und Kooperation jenseits des Niltals

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O.Did. 40 Z. 9). Folgt in der Lücke vielleicht der bezeugte Titel „Hypotyrannos der Barbaren“ nur jedoch in verdrehter Reihenfolge: Βαρατιτ Β̣[αρβάρων ὑποτύραννος? Neben der ungelenken Verdrehung der Reihenfolge scheint diese Ergänzung aus einem Grund wenig wahrscheinlich zu sein: Die erste Zeile, in welcher zweifellos auch noch der Name des Kurators gestanden haben muss, würde zu lang geraten. Sie wäre hinsichtlich der Buchstabenanzahl mehr als doppelt so lang wie die relativ sichere Ergänzung der Folgezeile! Außerdem drängt sich die Frage auf, ob sich ein Nomadenanführer selbst als „Barbar“ bezeichnen würde. Diesen Einwand scheint allerdings O.Did. 43 Z. 1 zu entkräften (s.u.). Zudem darf man einwenden, dass in der östlichen Wüste Ägyptens die Landschaftsbezeichnung βαρβαρικὴ χώρα5 südlich von Berenike als Namensgeber für nomadische Gruppen gedient haben könnte. Man darf durchaus an ethnische Bezeichnungen denken, die in dem geographischen Begriff ihren Ursprung gehabt haben können.6 Ein Vergleich der Transkription mit den verfügbaren Abbildungen7 der Ostraka zeigt bei O.Did. 41, dass sich das anlautende Beta in Bαρβάρους (Z. 3) in der Schreibweise meiner Meinung nach nicht von dem Beta in der Wortmitte unterscheidet. Zudem können hier Ver­ gleiche mit dem Beta im Namen Baratit (Z. 5), das im oberen Bereich des Schriftzeichens deutlich größer und bauchiger erscheint, sowie mit der Datumsangabe ιβ (Z. 9) angestellt werden, die dazu anraten, die große Schreibweise der Transkription in Z. 3 zu problematisieren. Außerdem ist das Beta im Titel „Hypotyrannos der Barbaren“ (Z. 5 f.) klein. Ob das Wort in O.Did. 41 Z. 3 wirklich mit einem Großbuchstaben beginnt, erscheint also fraglich. Auch bei O.Did. 27 und O.Did. 46 ist der Unterschied zwischen beiden Buchstaben minimal und die Transkription erscheint nicht zwingend. Sehr deutlich ist hingegen O.Did. 44, hier besteht in Z. 13 kein Zweifel, das anlautende Beta ist eindeutig großgeschrieben und weicht klar von dem zweiten ab. Ebenfalls groß erscheint das Beta in O.Did. 43 Z. 1, der Unterschied zu dem Beta in der Wortmitte ist ersichtlich. Bei O.Did. 40 könnte die große Schreibweise da­ durch zu erklären sein, dass „Barbar“ hier als Apposition steht: ὁ Πετρώνιος ὁ / Βάρβαρο[ς (Z. 8 f.).8 Die kurzen Bemerkungen zeigen, dass man die Großschreibweise des B nicht überbewerten sollte. Es könnte im Fall von O.Did. 42 eventuell auch auf den Titel „König“ zu beziehen sein, den man für Nomaden durchaus annehmen kann: Βαρατιτ Β̣[ασιλεύς sive -ασιλίσκος? Charachen bezeichnet sich in SB 3/6257 als βασιλείκος (l. βασιλίσκος) τῶν Βλεμύων (Z. 1) und Phonen nennt sich in SB 14/11957 βασιλεὺς Βλεμμύων (Z. 1).9 Würde man einen ähnlichen Titel für Baratit annehmen und auch die Großschreibung des B berücksichtigen, könnte man vielleicht an Βαρατιτ Β̣[λεμμύων βασιλεὺς oder dergleichen denken. Allerdings wäre 5 6 7 8

9

Periplus Maris Erythraei 2; cf. Cuvigny 2014, 194. Hierzu schon Schoff 1912, 56, der mit „country of the Berber“ übersetzt. Von O.Did. 41, O.Did. 44 u. O.Did. 46 bietet die Edition sehr gute Abbildungen. Für O.Did. 27, O.Did. 42 u. O.Did. 43 sind gute Abbildungen über http://www.ifao.egnet.net/bases/publications/fifao67 verfügbar (abgerufen am 01.11.2017). Man darf hier auch darauf verweisen, dass das Cognomen „Barbarus“ in der römischen Welt durchaus häufig verbreitet war: z.B. Tab. Vindon. 4; AE 1957, 126; AE 1980, 218; AE 1990, 819; CIL III 4418; CIL III 8134; CIL VIII 5775; CIL VIII 6244; CIL VIII 8310; CIL VIII 12152 = ILTun. 594; ILTun. 601. Ferner liegen auch in der papyrologischen Überlieferung Belege für diesen Personennamen vor; cf. WL 49. Cf. Dijkstra 2014, 318. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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es hypothetisch die Gruppe um Baratit als Blemmyer anzusprechen.10 Außerdem würde auch bei diesem Rekonstruktionsversuch die Länge der Zeile – denkt man an den einzusetzenden Namen des Kurators – den vermeintlich zur Verfügung stehenden Platz überfordern. Gegen diese Rekonstruktion spricht natürlich auch, dass Baratit ansonsten als hypotyrannos bezeichnet wird und dieser Titel anscheinend eher eine untergeordnete Position angibt (s.u.). Am wahrscheinlichsten ist somit, in Z. 1 einen mit Beta anlautenden Name anzunehmen. Über den Briefinhalt lässt sich nur sagen, dass es wohl um τροφή gegangen sein könnte. In Z. 4 könnte τροφο[ vielleicht zu τροφῶν verbessert bzw. ergänzt werden. Im Zeilenkommentar wird ohne weitere Bemerkungen eine Wendung wie εἰς λόγον τροφῶν in Erwägung gezogen. Weitere mögliche Überlegungen stützen diesen Vorschlag: Nach λόγον müsste der Zeilenumbruch erfolgen. Die sehr wahrscheinliche Ergänzung der zweiten Zeile (κουράτορι π̣[ραισιδίου Δι]/ δ̣ύ̣μου̣)11 deutet an, dass ca. zehn Buchstaben am rechten Rand verloren sind. Auch wenn bei einer Scherbe die Bruchkante natürlich nicht senkrecht verlaufen muss, deutet sich doch an, dass auch in der dritten Zeile ca. zehn Buchstaben verloren sind. Die Ergänzung zu Δι]/δ̣ύ̣μου̣ χέρ̣[ειν. εἰς λόγον] / τροφῶν könnte vom verfügbaren Platz her passen. In dem Brief, den Baratit an den curator geschrieben hat, scheint es also um Tierfutter gegangen zu sein. Ein weiterer fragmentarischer Text, der sich auf Baratit bezieht, ist O.Did. 43: ὑπο]τύρανος Βαρβάρων ]ναρίῳ. καλῶς ποιήσις (l. ποιήσεις) ]ς̣ ὄνοις μου ἐπιμελ{λ}οῦ ] ̣ι̣ (l. εἰ?) οὖν ἔχῃς κριθὴν ] ̣ποιησας ἔπ]ενψα (l. [ἔπ]εμψα) πρὸς

] vac.?

In Z. 3 f. ist, wie im Zeilenkommentar angemerkt wird, die Ergänzung ἐπιμελ{λ}ού/[μενος möglich. Der in Z. 1 genannte „Hypotyrannos der Barbaren“ ist mit sehr großer Wahr­schein­ lichkeit mit Baratit zu identifizieren, was durch Zeitstellung, Fundort und die Parallel­funde nahegelegt wird. Bei dem Dokument handelt es sich vielleicht wieder um einen Brief, in welchem die Beschaffung von Gerste für Esel thematisiert wird (Z. 2 f.). Dass Güter transferiert werden, bezeugt ἔπ]ενψα in Z. 6. In O.Did. 43 Einl. werden Möglichkeiten für die Ergänzung der Dativendung ]ναρίῳ in Z. 2 diskutiert, Sicherheit ist hier jedoch nicht zu gewinnen. Der Nominativ ὑπο]τύραννος in Z. 1 macht es wahrscheinlich, dass der Brief von Baratit stammt. Dies würde dann aber auch bedeuten, dass er sich und seinen Stamm als Barbaren angesprochen hätte. Damit würde dann sicher, dass der Terminus „Barbar“ hier gar nicht per se negativ konnotiert war, sondern – was auch die gelegentliche Großschreibung erklären würde – als Stammes- oder ethnische Gruppenbezeichnung zu deuten ist, die sich, wie bereits angemerkt, von βαρβαρικὴ χώρα abgeleitet haben kann.12 Aufgrund des fragmentarischen Zustands ist es 10 Die Argumente, die für eine Identifikation der Baratit-Gruppe als Blemmyer angeführt werden können, hat sämtlich Cuvigny 2014, 194–197 gesammelt. Ihr positives Urteil bzgl. einer Ansprache als Blemmyer möchte ich nicht teilen, da dokumentarische Quellen für Blemmyer in antoninischer und severischer Zeit fehlen. 11 Cf. die gleiche Wendung in O.Did. 32 Z. 1  f., O.Did. 39 Z. 7, O.Did. 46 Z. 1  f., O.Did. 62 Z. 3, O.Did. 187 Z. 2 f. und O.Did. 346 Z. 4 f. sowie auch in I.Did. 9 Z. 5. Belegt ist die Wendung auch im Lateinischen: O.Did. 36 descr. Z. 2. 12 Cf. Cuvigny 2014, 194. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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letztlich nicht auszuschließen, dass auch eine andere Person der Verfasser des Textes sein könnte, doch spricht sehr viel dafür, in O.Did. 43 ein zweites Selbstzeugnis des Baratit zu sehen. Des Weiteren wird die bei der Diskussion von O.Did. 41 aufgeworfene Frage nach der möglichen Existenz von Lasttieren, mittels welcher die 24 Brote sowie das Kolophonion Wein abtransportiert wurden, durch O.Did. 43 beantwortet; indiziell verweist auch die wahrscheinliche Erwähnung von Tierfutter in O.Did. 42 in diese Richtung. Ein vierter Text, der auf Baratit zurückgeht, ist ein fragmentarischer Brief, der mir nur dank kurzer Ausführungen von Hélène Cuvigny zugänglich ist.13 Es handelt sich um O.Dios. inv. 481. Baratit schreibt an Soldaten, die er auf irgendetwas aufmerksam macht.14 Mit O.Did. 46 liegt ein fünfter Text vor, der mit den Nomaden um Baratit verbunden werden kann. Allerdings wird in diesem Text weder ein Hypotyrannos noch namentlich Baratit genannt. O.Did. 46 könnte somit auch eine zweite Nomadengruppe in Didymoi bezeugen, die enge Kontakte zur römischen Verwaltung besessen hat. Der weitestgehend gut erhaltene Text lautet: Ὡριγένῃ Λέων (l. Λέοντι) κουράτ̣[ορι] / π̣ρ̣(αισιδίου(?)) Διδύμων Ἀντώνις Α[ – ca. 2–3 – / κουράτωρ Φ[οι]νικῶνος χέρ(ειν) (l. χαί(ρειν)). / μηνύω σ̣[οι κ]α̣τελθόντ̣ες̣ (l. [κ]ατελθόντας) / Bάρβαροι (l. Bαρβάρους) δ καὶ πε̣δ̣ία (l. παιδία) / τρία καὶ κάμηλοι (l. καμήλους) θ / καὶ ὄνοι (l. ὄνους) δ ἵνα μ̣η̣/νύσ̣ῃ̣ς̣ τῷ ἐπάρχῳ ι̣ ̣ ̣ ̣ ̣ / νυκτ̣ὸ̣ς̣ τ̣[ – ca. 9 – / καὶ̣ τ̣ῇ̣ [ὀ]κτω̣[κ]ε̣δ̣ε̣κ̣ά̣τ̣ῃ̣ (l. [ὀ]κτω[κ]αιδεκάτῃ) / ἕκτη̣ς̣ ὥρας ἡμέρας / ̣ ̣ῆλθον.

Es handelt sich um einen amtlichen Brief. Der Kurator von Phoinikion, Antonius, informiert Horigenes Leon, Kurator in Didymoi, über die Ankunft von vier Barbaren, die drei Kinder, neun Kamele und vier Esel mit sich geführt haben (Z. 5–7). Unter παιδία sind hier nicht Sklaven­k inder, die von den Barbaren durch die Wüste transportiert wurden, sondern vielmehr drei Kinder der Barbarengruppe zu verstehen. Zwischen Didymoi und Phoinikion ist eine Weg­ strecke von ca. einer Tages- bzw. einer Nachtreise (cf. Z. 9) anzunehmen. Außerdem wird in dem nur fragmentarisch erhaltenen Schlussabschnitt über weitere Bewegungen der Gruppe informiert. Für den Adressaten Horigenes Leon, den curator von Didymoi, war die Information über die Gruppe offensichtlich wichtig. Vermutlich waren die Barbaren aus Didymoi aufgebrochen, um nach Phonikion zu gehen. In der Folge soll auch ein Präfekt über die Bewegung der Gruppe informiert werden (Z. 7 f.). Da die Gruppe in Phonikion offensichtlich friedlich und problemlos aufgenommen wurde, ergibt sich – unter Berücksichtigung der verfügbaren Informationen über Baratit – das Bild einer vielleicht im staatlichen Auftrag operierenden, zumindest aber ganz sicher staatlich geduldeten Nomadengruppe. Hélène Cuvigny hat zu Recht angemerkt: It is highly probable that, contrary to Egyptian donkey drivers, the nomads did not have to ask for a pass.15

13 Cuvigny 2014, 188. 14 Zu erwähnen ist auch, dass der Name Baratit neben anderen ‚barbarischen‘ Namen in den Ostraka aus Xeron zu lesen ist. In diesen Texten, die 232 oder 264 n.Chr. entstanden sind, geht es um die Lieferung von Getreide; cf. Satzinger 2014, 205 u. 212; Cuvigny 2014, 188–194. Dass es sich um dieselbe Person handelt, wäre theoretisch möglich. 15 Cuvigny 2014, 186. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Die Praxis der schriftlichen Reiseerlaubnis ist aus zahlreichen Ostraka aus Didymoi und vom Mons Claudianus bekannt.16 Für die hier greifbare Nomaden-Gruppe scheint diese Regel nicht angewendet zu werden. Erlaubt dies vielleicht, hier an einen staatlichen Auftrag zu denken, der von den Nomaden durchgeführt wurde? Die Anwesenheit von Kindern muss dem nicht zwingend widersprechen. O.Did. 46 ist als Zeugnis der Kommunikation zwischen den einzelnen römischen Wüstensiedlungen anzusehen und hat die Funktion eines Kontrollmechanismus über Reisebewegungen. Interessant ist, dass keine Waren oder Güter genannt werden, die mit den Kamelen und Eseln transportiert werden. Über das Ziel der Gruppe (Koptos? Myos Hormos? Steinbrüche?) kann ebenfalls keine Aussage getätigt werden. Man darf nur annehmen, dass sie keine Lieferung von Didymoi nach Phonikion transportiert haben, da eine entsprechende Zustellung in O.Did. 46 sicherlich erwähnt worden wäre. Das Verhältnis von vier Erwachsenen und drei Kindern zu neun Kamelen und vier Eseln ist realistisch. Kamele wurden in Karawanenzügen mit einer Leine verbunden und liefen dann sehr selbstständig den einmal eingeschlagenen Weg. Der Personalaufwand war gering. Bildquellen aus der Antike, aber auch komparativ einsetzbare Fotographien aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigen sehr häufig vier verbundene Kamele, die von einem Menschen geführt werden.17 Die neun κάμηλοι konnten also sehr wahrscheinlich von zwei Personen geführt werden. Zwei weitere Erwachsene sowie drei Kinder hätten sich dann um die vier Esel kümmern müssen, was ebenfalls realistisch ist. Probleme mit Barbaren in der östlichen Wüste: Die Ostraka aus Krokodilo, Didymoi und vom Mons Claudianus Die Ostraka aus Krokodilo, die in einer hervorragenden Edition von Hélène Cuvigny vorgelegt sowie 2014 in einem Aufsatz ausgewertet wurden, bieten zahlreiche Belege für Rundbriefe, die in die einzelnen praesidia geschickt worden sind. Von diesen wurden häufig Kopien angefertigt, wodurch sich die gute Erhaltungszahl erklärt. Für die hier verfolgte Frage stellen sie eine ausgesprochen faszinierende Quelle dar. Die wichtigsten Texte werden in der Folge chronologisch abgehandelt, bevor anschließend eine Interpretation des Gesamtbefundes erfolgt. Der praefectus montis Cassius Taurinus berichtet in O.Krok. 1/60 über einen Überfall sowie von drei toten monomachoi (Z. 5); wohl eine Folge des Überfalls. Die curatores der Wüsten­ siedlungen werden anschließend zur Wachsamkeit ermahnt. Das Ostrakon kann nur grob auf den Zeitraum 98 bis 125 n.Chr. datiert werden. In O.Krok. 1/61 (102/103 od. 121/122 n.Chr.) werden curatores in den Stützpunkten an der Straße nach Myos Hormos (Z. 2) zur Wachsamkeit ermahnt, da es zu einem Überfall durch Barbaren (?) gekommen ist; die Deutung der fragmentarischen Z. 4 (… ]κατὰ Φάλακρον β̣αρ[ …) ist nicht ganz sicher.18 Am Beginn von Z. 5 folgte eine Lacuna: [1–2].ς. Am Ende von Z. 4

16 O.Did. 47–51; O.Claud. 1/48–82. 17 Dies belegt etwa eine Graffitozeichnung aus Dura-Europos (House of the Ravine) sowie eine Mosaik­ darstellung aus Deir al-Adas; cf. Langner 2001, Nr. 1357, Taf. 89; Olbrycht 2013, 80, Abb. 6; Seland 2016, 33 u. 66, Fig. 5 u. 12; Seland 2016, 67 bietet auch eine Fotographie von 1918, die die gleiche Technik dokumentiert (Fig. 13); cf. ferner Rostovtzeff 1932, 16, Fig. 1–3. 18 Zu Phalakron cf. O.Krok. 1/61 Zeilenkommentar. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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dürften ebenfalls maximal zwei Buchstaben verloren sein. Eine Ergänzung zu β̣αρ[β̣ά]/[ρο]υς wäre denkbar, doch ist der weitere Sinne der Stelle nicht zu fassen. Aufschlussreich ist O.Krok. 1/6, ein am 10. Dez. 108 n.Chr. verfasster Brief.19 Dieser berichtet über einen Barbarenüberfall (Z. 5), der auch durch die Präsenz von Soldaten nicht verhindert wurde (Z. 7 u. 11). Anscheinend wurden Kamele geraubt (?). Es kam zu Verwundungen und der Reiter Lucretius Priscus (Z. 9) wurde tot gefunden. Die Erwähnung von Klaudianon in Z. 6 verweist auf die Region, die im Dez. 108 n.Chr. von Barbaren bedroht war. Trotz des fragmentarischen Zustands liefert O.Krok. 1/10 (ca. 108 n.Chr.) einen weiteren Beleg für Barbaren in der östlichen Wüste (βαρβα[…; Z. 10). In Z. 9 (cf. auch Z. 32) steht τύρμ̣[ης, was auf militärische Präsenz hinweist, die mit den Barbaren zusammenhängen dürfte. Zudem werden in dem Fragment Eseltreiber belegt: ὀνηλάται (Z. 5) und ὀνηλατ[… (Z. 8). Vielleicht fasst man in ihnen die potenziellen Opfer der Barbaren. Nach dem 28. März 108 n.Chr. ist O.Krok. 1/8, ein Teil eines Journal de poste, entstanden. Der Text beinhaltet ein Verzeichnis über Eingang und Ausgang von Sendungen, Namen von Boten etc. Diachron wird hier das alltägliche Funktionieren des militärischen Verwaltungs­ apparates dokumentiert. Interessant ist aber, dass auch Begleitschutz für die Transport- und Ver­sand­bewegungen durch die Wüste festgehalten wird.20 Die Texte O.Krok. 1/26, O.Krok. 1/41, O.Krok. 1/42, O.Krok. 1/47, O.Krok. 1/49, O.Krok. 1/50 und O.Krok. 1/51 sind alle ca. oder nach 109 n.Chr. entstanden. In O.Krok. 1/26 werden Räuber (λῃσταί / latrones; Z. 4) erwähnt, die für Probleme sorgen. O.Krok. 1/41 und O.Krok. 1/42 thematisieren u.a. die Anweisung, für eine Karawane Wasser bereitzustellen und für Geleitschutz zu sorgen. O.Krok. 1/47, entstanden an einem 11. Okt. nach (?) 109 n.Chr., bietet über drei Kolumnen Abschriften von Nachrichten, in denen es u.a. um Auseinandersetzungen mit Barbaren (?) geht, bei welchen es zu Verletzten und Toten gekommen ist (Col. I).21 Der zweite Textteil beinhaltet u.a. eine Ermahnung der curatores, die durch Geleitschutz den Versandtransport in der Wüste schützen sollen (Col. II). Am interessantesten ist der dritte Abschnitt, in welchem an curatores und duplicarii berichtet wird, dass 61 Barbaren getötet worden seien (βαρ]βάρους ξα ἀνῃ̣ρῆσθαι; Col. III Z. 49). Dies ist neben O.Krok. 1/87 die einzige Quelleninformation, die ansatzweise einen Eindruck von der Größe einer Rom feindlich gesinnten Barbarengruppen bietet. Die Anzahl von 61 gefallenen Barbaren deutet wahrscheinlich darauf hin, dass O.Krok. 1/47 Col. III das Ergebnis einer konzentrierten militärischen Aktion gegen die nomadischen Barbaren darstellt. Es ist eher unwahrscheinlich, dass während eines Überfalls so viele Angreifer durch Verteidigungsmaßnahmen getötet worden sind. In O.Krok. 1/49, ebenfalls als Rundschreiben zu interpretieren, wird vor Angriffen (von Barbaren?) gewarnt. Zudem geht es aber auch um den Transfer von Fisch durch einen Mann aus dem Stamm der Alabiten (Z. 2),22 was zweierlei zeigt: Die Bedrohung auf den Wegen durch die Wüste hat den Versandverkehr nicht zum Erliegen gebracht und – ich folge hier der 19 Cuvigny 2014, 173. 20 Diese Aufgabe wurde u.a. von Reitereinheiten übernommen, welche durch die Belege für turmae in den Ostraka greifbar werden: O.Did. 63, O.Did. 103, O.Did. 148, O.Did. 210, O.Krok. 1/6, O.Krok. 1/10, O.Krok. 1/14, O.Krok. 1/24–26, O.Krok. 1/28–31, O.Krok. 1/33, O.Krok. 1/40, O.Krok. 1/47, O.Krok. 1/74, O.Krok. 1/102. 21 Cuvigny 2014, 174. 22 Cf. O.Krok. 1/49 Zeilenkommentar. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Interpretation der fragmentarischen Z. 2 von Hélène Cuvigny – Indigene übernahmen Liefer­ aufträge in der östlichen Wüste.23 Es gab also zeitgleich feindliche, aber auch friedlich wirt­ schaftliche Beziehungen zu Wüstenstämmen. O.Krok. 1/50 ist sehr fragmentarisch, aber gewiss als weiteres Rundschreiben aufzufassen, in dem in Z. 5 Barbaren (βαρβα[…) erwähnt werden; Μ̣υὸς̣ Ὅ̣ρ̣μ( ) in Z. 2 verweist erneut auf Probleme auf dem Weg nach Myos Hormos (cf. Z. 7 f.). Auf O.Krok. 1/51 wird schließlich neben anderen Angelegenheiten auch ein Bericht festgehalten über einen Kampf mit Barbaren (Z. 33) und einmal mehr wird zur Wachsamkeit ermahnt.24 Informationen bieten auch die Ostraka der sog. L’amphore des Barbares (= O.Krok. 1/87), die nach 118 n.Chr. datiert werden.25 Mehrere Texte, die als Rundschreiben zu interpretieren sind, können unterschieden werden. Col. I Z. 14–50 ist ein Schreiben vom 15. März. Es wird zur Wachsamkeit ermahnt und über einen Überfall durch 60 Barbaren auf das praesidium informiert (Z. 31). Der Text belegt eindrucksvoll, dass die Nomaden auch die römischen Stützpunkte angegriffen haben. Einige Soldaten sind gefallen, eine Frau und Kinder wurden entführt bzw. getötet (Z. 37). Auf den 26. März datiert der Text Col. II Z. 89–106. In ihm wird u.a. angemahnt, man solle die Transporte, die von Koptos kommen, vor Barbarenübergriffen (Z. 101 f.) schützen. Nicht auf ein Tagesdatum, sondern nur allgemein in den März zu datieren ist Col. I Z. 51–62.26 Dieses Rundschreiben bietet einen weiteren Aufruf zur Wachsamkeit. Der vierte Text Col. II Z. 76–88 ist eine Abschrift eines Briefes vom 28. März, in welchem erneut zur Wachsamkeit aufgerufen wird. Col. II Z. 107–122 überliefert ein Rundschreiben vom 2. Apr. an curatores, in dem es auch um Maßnahmen (?) gegen die Barbaren zu gehen scheint (Z. 121). Die fünf Texte der L’amphore des Barbares stammen aus einem Zeitraum von 19 Tagen (15. März bis 2. Apr.) und zeigen exemplarisch, wie dicht und stetig die Kommunikation über die Barbarengefahr gewesen ist.27 Festzuhalten ist allerdings auch, dass nur ein Text – Col. I Z. 14–50 – über einen tatsächlichen Angriff bzw. Überfall informiert. Aus der 1. Hälfte des 2. Jh. n.Chr. stammt das Fragment O.Did. 27. Es handelt sich, ganz ähnlich den Ostraka aus Krokodilo, wohl um eine Kopie eines Rundbriefes an die curatores der einzelnen Siedlungen.28 Aus dem Fragment ist nur wenig Inhaltliches zu gewinnen. In Z. 2 geht es um Barbaren und Z. 3 verweist auf ein Vorkommnis nahe Myos Hormos (…] περὶ Βαρβάρω[ν … / …] ἐν τῇ Μυὸς Ὅρμ[ου ὁδῷ?). 23 Cuvigny 2014, 174 f. 24 Cf. O.Krok. 1/51 Einl. u. Zeilenkommentar. 25 Cuvigny 2014, 176 f. Zu der L’amphore des Barbares ist allg. auf die Einleitung in O.Krok. S. 135–145 zu verweisen. 26 Vermutlich ist der Text aufgrund der Zeilenabfolge zwischen dem 15. und dem 26. Tag entstanden, kann also relativ chronologisch zwischen die beiden Texte Col. I Z. 14–50 und Col. II Z. 89–106 eingeordnet werden. 27 Der Eindruck wird auch durch die bereits behandelten Texte O.Krok. 1/47–51 verstärkt. Es soll zwar hier nicht ausführlich auf die Chronologie der in Abschriften auf den besagten Ostraka erhaltenen Nachrichten eingegangen werden, – und es muss auch bemerkt werden, dass eine Zeitstellung in das gleiche Jahr nicht ganz sicher ist – aber die Datierungen der Kopieanfertigungen deutet doch eine relativ dichte Abfolge an: 11. Okt. (O.Krok. 1/47), 23. Okt. (O.Krok. 1/48), Sept.–Dez. (O.Krok. 1/49), Dez.? (O.Krok. 1/50) und Nov./Dez. (O.Krok. 51). 28 Cf. O.Did. 27 Einl. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Probleme werden auch in O.Claud. inv. 4888 (ca. 145 n.Chr.) ersichtlich.29 Der Absender dieses Briefes klagt über ausbleibende Lieferungen, die wegen der Barbarengefahr nicht erfolgen können. Aus dem Folgejahr stammt O.Ka.La. inv. 31, in welchem mitgeteilt wird, dass die Arbeit ausgesetzt werde. Als Grund wird die Bedrohung durch Barbaren genannt.30 Die nun folgenden Quellen datieren in die Zeit, in welcher auch Baratit und seine Nomaden­ gruppe aktiv gewesen sein könnten (ca. 176–250 n.Chr.). Aus dem Brieffragment O.Claud. inv. 7226 (150–190 n.Chr.) geht die Freude des Absenders darüber hervor, dass niemand verletzt wurde. Erhalten ist – nach der Angabe von Cuvigny 2014, 180 – auch eine Erwähnung von Barbaren, wodurch das Fragment wahrscheinlich einen weiteren Beleg für einen Überfall bietet. Ein vom Mons Claudianus stammendes Ostrakon, das als P.Bagnall 8 (186/187 n.Chr.) publiziert wurde, handelt von der Verurteilung zweier Soldaten, die während eines Überfalls durch Barbaren ihre kämpfenden Kameraden im Stich ließen und geflüchtet sind. Der Text ist die griechische Übersetzung eines lateinischen Berichts, der auf den Statthalter Pomponius Faustianus zurückgeht. Er soll in der Siedlung am Mons Claudianus als Warnung an andere Soldaten publiziert werden. Dies zeigt, dass man mit weiteren Überfällen durch Barbaren rechnete und künftigem Fehlverhalten der Soldaten vorbeugen wollte. Dass auch Gruppen überfallen wurden, die mit militärischer Begleitung reisten, ist in bereits behandelten Quellen (O.Krok. 1/60, O.Krok. 1/47 oder O.Krok. 1/87 Col I Z. 14–50) ersichtlich geworden und findet zudem in einer Episode in der Kirchengeschichte des Eusebios Bestätigung (s.u.). Auf ca. 189 n.Chr. wird O.Claud. inv. 7255 datiert, in welchem eine Anweisung zur Wach­ samkeit aufgrund von Barbaren überliefert ist.31 Allgemein in das 2. Jh. n.Chr. datiert der Brief O.Dios. inv. 687, in welchem die Anweisung steht, man möge die auswärtigen Arbeiten für zwei Tage ruhen lassen, bis man Nachricht über die Barbaren, die anscheinend im Umland präsent sind, erhalten hat.32 Aus dem späten 2. Jh. n.Chr. stammt der Brief O.Claud. 4/851, der wahrscheinlich von Steinbrucharbeitern aufgesetzt wurde. Es ergeht die Bitte, Werkzeuge zu schicken und für Schutz vor übergriffigen Barbaren zu sorgen. Auf Fragment A der Scherbe ist in Z. 12 f. zu lesen: ] διὰ τὸν φόβο̣ν̣ / [ – ca.? – τῶ]ν βαρβάρων. Auf Fragment B wird nochmals die Angst erwähnt (] τὸν φόβο[ν). Trotz des fragmentarischen Zustands ist zu erkennen, dass die hier genannten Barbaren wohl ein Problem darstellten, dass aber trotzdem der Versand von Werkzeugen und auch die Arbeiten im Steinbruch am Mons Claudianus weitergingen. An den Beginn des 3. Jh. n.Chr. datiert O.Did. 44: Ein monomachos teilt in einem Brief an einen tesserarius mit, dass er von Koptos kommend auf dem Weg in das praesidium überfallen worden sei (Z. 9–11).33 Ein Iekoun (?) sei mit Barbaren erschienen (Z. 11–13). Wie in der Erst­edition im Zeilenkommentar erwogen, könnte es sich bei Iekoun (?) um einen „barbarischen“ Namen oder um eine Form von Iucund(us) / Ἰούκουν(δος) handeln. Ein römischer Name für einen Barbaren muss vielleicht nicht abwegig sein. Im Zeilenkommentar wird auf den als „Barbar“ bezeichneten Petronius in O.Did. 40 verwiesen (s.u.). Ebenfalls bemerkenswert an O.Did. 44 ist die Tatsache, dass der Absender offensichtlich voraussetzt, dass die Person 29 30 31 32 33

Cuvigny 2014, 179. Cuvigny 2014, 180. Cuvigny 2014, 180. Cuvigny 2014, 178. In welcher Siedlung das praesidium lag, kann nicht entschieden werden; cf. O.Did. 44 Einl. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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namens Iekoun allgemein bekannt ist. Der Adressat weiß anscheinend, um wen es sich handelt. Woher kommt dieses Wissen? Würde für einen Bericht die Angabe „Wir wurden von Barbaren überfallen“ nicht ausreichen? Der monomachos konnte offensichtlich Iekoun identifizieren und dieser war als Anführer einer Barbarenbande anscheinend bereits im regionalen Umfeld zwischen Koptos und den Siedlungen der östlichen Wüste bekannt. Rührt diese Bekanntheit (und der möglicherweise lateinische Name) vielleicht von vormaligen friedlichen Verbindungen zwischen römischer Administration und der Gruppe des Iekoun, die man mit dem Befund zur Baratit-Gruppe vergleichen kann? Abschließend muss man nach dem chronologischen Überblick auch O.Krok. 1/93 erwähnen, einen Brief aus der Zeit von ca. 108–115 n.Chr. Der Absender Bassos ist wegen eines Auf­ stands oder einer Unruhe (ταραχή; Z. 5) besorgt. Ob sich dies auf die Barbarengefahr oder vielleicht doch auf den ab spätestens Oktober 115 n.Chr. in Ägypten existenten Jüdischen Aufstand bezieht, kann nicht sicher entschieden werden. Mit O.Krok. 1/94 (ca. 118 n.Chr.) liegt ein vergleichbarer Fall vor, in dem es um Militaria geht, die für einen Krieg benötigt werden (ἐν τῷ πολέμῳ; Z. 6). Ein Bezug zur Niederschlagung des Jüdischen Aufstands wäre denkbar, wobei dieser sehr wahrscheinlich bis zum September 117 n.Chr. in Ägypten beendet war.34 Es ist aber fraglich, ob das Vorgehen gegen nomadische Barbaren in Ägypten von Soldaten als polemos bezeichnet worden wäre. Nimmt man hier einen Bezug zur Barbarengefahr an, welcher aufgrund der Zeitstellung sowie des Fundortes naheliegend ist, dürfte man den Terminus polemos vielleicht dahingehend deuten, dass es zu einer größeren konzentrierten Aktion gegen die Nomaden in der östlichen Wüste im Gebiet zwischen Krokodilo, Koptos, Myos Hormos, den Steinbrüchen und Berenike gekommen sein könnte. Für die Frühzeit Hadrians wird allerdings in keiner literarischen Quelle dergleichen berichtet. Jedoch bietet eine lateinisch-griechische Inschrift aus Luxor einen vergleichbaren Befund. I.Pan. 87 = ILS 8908 dokumentiert in hadrianischer Zeit einen Sieg des Sulpicius Serenus, der als Präfekt von Berenike amtierte,35 gegen den Wüstenstamm der Agriophages.36 Pro salute des Kaisers hat Serenus einen Altar für Jupiter errichtet, über den Anlass wird ausgeführt: biduo / secutus Agriophagos nequ/issimos, quorum fere pars mai/or in pugna perit, neque vulnera / [n]eque crim[ina subiit?] ille, praedam / que totam cum camelis apstulit (Z. 4–9).37

Zwei Tage bekämpften die Römer die Agriophagen,38 von denen ein großer Teil im Kampf gefallen sein soll. Erbeutet wurden u.a. Kamele. Die Agriophagen werden als besonders nichtsnutzig (nequissimus) bzw. furchtbar (δει[νοτάτος; Z. 13) bezeichnet. I.Pan. 87 datiert in die Zeit von ca. 122–123 n.Chr. Eine chronologische Verbindung mit dem polemos in O.Krok. 1/94 (ca. 118 n.Chr.) dürfte eher unwahrscheinlich sein. Es ist von zwei unterschiedlichen Ereignissen auszugehen. Auf eine größere militärische Aktion deuten auch die 61 toten Barbaren in O.Krok. 1/47 hin. Da dieser Text aber wahrscheinlich früher datiert (nach (?) 109 n.Chr.), ist ein Bezug 34 Cf. zu O.Krok. 1/93 und O.Krok. 1/94 und der Frage einer Bezugnahme auf den Jüdischen Aufstand: Reinard 2016a, II 761 f. 35 Bülow-Jacobsen – Cuvigny 2007, 31, Nr. 11; Cuvigny 2014, 177. Eine Amtsbezeichnung fehlt in I.Pan. 87, ist aber aus I.Memmon 20 zu erschließen. 36 O.Did. S. 107; Casson 1989, 98. 37 Der erhaltene Teil der griechischen Inschrift (Z. 10–13) entspricht der lateinischen Fassung. 38 Überlegungen zur geographischen Verortung der Agriophagen werden in der Kommentierung in I.Pan. 87 geboten. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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zum polemos in O.Krok. 1/94 und zum Sieg des Sulpicius Serenus in I.Pan. 87 jeweils auszuschließen. Somit liegt es nahe, für einen Zeitraum von ca. 10–15 Jahren (ab 109 bis 123 n.Chr.) mindestens drei größere militärische Aktionen gegen Barbaren in der dokumentarischen Überlieferung zu erkennen. Auffallend sind archäologische Befunde, die darauf hinweisen, dass in verschiedenen Stütz­ punkten der östlichen Wüste die Toranlagen ab dem Ende des 2. Jh. n.Chr. verstärkt worden sind. Am Mons Claudianus geschah dies in spätseverischer Zeit, weitere Vergleichsbefunde sind aus Umm Balad, Semna, el-Saqiya, aber auch auf dem Weg nach Berenike in Didymoi oder Dios nachweisbar.39 Während der Text Col. I Z. 14–50 der L’amphore des Barbares explizit über einen Angriff auf ein praesidium durch Barbaren berichtet, sind die archäologisch nachweis­baren Verstärkungen der Toranlagen ein indirekter Beleg für solche Angriffe. Es gab also Über­fälle auf Reisende sowie auf Siedlungen. Dabei darf man wahrscheinlich annehmen, dass einzelne Personen in der Regel kein lohnendes Ziel in der Wüste gewesen sind. Die zahlreich überlieferten Briefe und Nachrichten zeigen sehr deutlich, dass die schriftliche Kommunikation zwischen den praesidia nicht spürbar unterbrochen wurde. Sehr wahrscheinlich wurden nur Kara­wanen oder anderweitiger Transportverkehr überfallen. Zwischenfazit Die Inhalte der eingangs bearbeiteten Ostraka des Baratit-Dossiers erlauben einen interessanten Einblick in Roms Umgang mit einer regional aktiven Nomadengruppe in der östlichen Wüste am Ende des 2. oder in der 1. Hälfte des 3. Jh. n.Chr. O.Did. 41, O.Did. 42 und O.Did. 4340 zeigen, dass die Nomadengruppe des Baratit Waren von der römischen Administration erhalten hat: Wein, Brot, Tierfutter sowie Gerste für Esel. Es handelt sich jeweils um Güter, die in der östlichen Wüste nur schwerlich zu produzieren waren und deshalb aus dem Niltal transferiert werden mussten. In Briefen sind diese Güter als Versandgut in der östlichen Wüste gut bezeugt.41 Als auffällig ist lediglich ψωμίων (O.Did. 41 Z. 9) anzusehen, dass in den Briefen der Ostwüste keine Rolle spielt;42 über andere Dokumentgattungen und Schriftzeugnisse lässt es sich für Didymoi aber dennoch sattsam nachweisen.43 Die Nomaden erhielten also von der römischen Obrigkeit Erzeugnisse, die sie auf anderem Weg nur umständlich erlangen konnten, die aber durch den Gütertransfer aus dem Niltal in den römischen Stützpunkten präsent waren. Wie ist die Ausgabe dieser Güter an die Nomaden zu erklären? Letztlich sind nur zwei Er­k lärungsansätze plausibel. Einerseits könnten die Baratit-„Barbaren“ diese Güter von den Römern erworben haben, worauf es jedoch in keinem Quellenzeugnis einen Hinweis gibt. Der anonyme Schreiber von O.Did. 41 hätte doch wahrscheinlich den Preis oder den Erhalt von Geld oder Naturalzahlungen festgehalten. Andererseits könnte die Ausgabe der besagten Nahrungs- und Futtermittel als Bezahlung für Dienstleistungen erfolgt sein, die Baratit und seine Leute für die Römer leisteten. Was könnten dies für Dienste gewesen sein? Zu denken wäre an Transportaufgaben in der östlichen Wüste. Der Befund von O.Did. 46 zeigt diesen Kontext am deutlichsten auf. Selbst wenn man die Nomaden, die von Didymoi nach Phoinikion gezogen sind, nicht mit Baratit in Verbindung bringen möchte, sondern hier von einer zweiten 39 40 41 42 43

Cf. Cuvigny 2014, 181 f. mit der Literatur. Cf. auch die kurze Bemerkung bei Bülow-Jacobsen – Cuvigny 2007, 27. Cf. für Wein: Reinard 2016a, I 234, 239–241, 243 u. 337; für Gerste: Reinard 2016a, I 208–210. Cf. Reinard 2016a, I 321. So z.B. O.Did. 33, O.Did. 34, O.Did. 85, O.Did. 87, O.Did. 91, O.Did. 95, O.Did. 96 u. O.Did. 119. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Gruppe ausgeht, wären Transportleistungen durch die Nennung von Eseln und Tierfutter in O.Did. 42 und O.Did. 43 auch für die Gruppe des Hypotyrannos sehr naheliegend. Vergleichbar mit dem Befund zu Baratit könnten die durch Ἄραβες geleisteten Lieferungen von Fisch in die Siedlung des Mons Claudianus gewesen sein. Diese werden in zwei Briefen eines Epagathos – O.Claud. inv. 529 u. 830 (frühes 2. Jh. n.Chr.) – dokumentiert. Wie Hélène Cuvigny in ihrer hervorragenden Studie festhält, meint Araber hier „not an ethnic designation, but rather refers to a nomadic way of life in an arid landscape.“44 Komparativ ist zudem auf den Alabiten (?) in O.Krok. 1/49 zu verweisen, der ebenfalls Fisch befördert (s.o.). Zum Vergleich dient auch O.Xer. inv. 620 (217 n.Chr.). Das Dokument beinhaltete die Aufforderung, die Tiere von Barbaren zu autorisieren.45 Die römische Administration kontrolliert also den Transport­ verkehr zwischen den praesida, was auch für die Baratit-Gruppe ersichtlich wird. Ganz ähnlich ist auch das Schreiben O.Xer. inv. 601 (219 n.Chr.), welches darüber informiert, dass eine Gruppe von drei Barbaren und zwei weiteren Männern ausgeschickt wurde.46 In den gleichen Gesamtkontext gehört auch der Brief O.Xer. inv. 570 aus dem Zeitraum ca. 217–219 n.Chr. Der Adressat soll ein Bett an Barbaren für Transportzwecke übergeben.47 Die Baratit-Texte können mit anderen Einzelzeugnissen abgeglichen werden, die jeweils aufzeigen, dass Barbaren als Reisende und Transporteure auf Wüstenwegen vom römischen Staat akzeptiert und auch genutzt worden sind. Hier gilt es nun die Befunde der Ostraka zu bedenken, die Probleme mit Barbaren überliefern. Insbesondere die Unsicherheiten des Gütertransfers in der östlichen Wüste, die durch nicht kontrollierbare Nomadengruppen entstanden sind, ließen den Einsatz befreundeter und vertraglich gebundener Nomaden als sehr sinnvoll erscheinen. Einerseits konnte man auf römischer Seite hoffen, dass befreundete Gruppen selbst keine Überfälle durchführten. Andererseits waren Überfälle auf diese mit Rom verbundenen Nomaden wahrscheinlich in den Augen der römischen Administration weniger schlimm. Es ist vermutlich auch kein Zufall, dass in O.Did. 46 nur die Ankunft der Barbaren und ihrer Tiere gemeldet wird. Wie die anderen Ostraka zeigen, war Begleitschutz durch Soldaten eine ständige Aufgabe in der östlichen Wüste. Wären mit der in O.Did. 46 dokumentierten Gruppe auch römische Soldaten zu Schutzzwecken gereist, hätte man zweifellos auch deren wohlbehaltene Ankunft in Phonikion gemeldet. Man darf also vermuten, dass der Einsatz von Nomaden für Transportzwecke für die Römer weniger Personalaufwand bedeutete und damit auch weniger personelle Risiken, da man in diesen Fällen keine Soldaten mitschicken musste. Somit ist zu bilanzieren, dass die römische Administration aus mehreren Gründen sehr großes Interesse daran hatte, einzelne Nomadengruppen an sich zu binden und diese für Transportzwecke zu nutzen. Ein Detail in O.Did. 46 ist noch als bemerkenswert herauszustreichen: Die Gruppe reiste mit Kamelen und Eseln, was – soweit ich sehe – in keinem anderen Ostrakon aus Didymoi oder Krokodilo bezeugt ist.48 Man verwendete anscheinend entweder Esel oder Kamele, wobei die

44 45 46 47 48

Cuvigny 2014, 170. Cuvigny 2014, 185. Cuvigny 2014, 185. Cuvigny 2014, 186. Eine Ausnahme stellt lediglich O.Krok. 1/88 dar. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Belege für οἶνος und οἰνηλάτης49 gegenüber den Nachweisen für Kamel und Kameltreiber50 in Didymoi und Krokodilo deutlich überwiegen; dies entspricht auch dem allgemeinen quantitativen Befund der papyrologischen Überlieferung.51 Zweifellos zeigt sich die höhere Verbreitung von Eseln im Verhältnis zu Kamelen auch in den erhaltenen Preisen. Drexhage führt nach einer Analyse des Quellenmaterials aus, dass Kamele „in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. rund 3mal und in der 2. Hälfte mehr als 4mal so teuer wie Esel“ gewesen sind.52 Die neun Kamele, die die Nomadengruppe in O.Did. 46 besitzt, müssen einen enormen ökonomischen Wert dargestellt haben: Drexhage ermittelt für Kamelpreise für die Zeitspanne 147 bis 182 n.Chr. den Mittelwert 652,8 + x dr.53 Es bleibt zwar aufgrund der Quellenlage ungewiss, wie sich das Preisniveau für Kamele im frühen 3. Jh. n.Chr. entwickelt hat, dennoch ermöglicht der eruierte Mittelwert einen Eindruck von dem ökonomischen Wert der neun Tiere (> 5.800 dr.); dem würden umgerechnet ca. 38 Esel entsprechen (Mittelwert ca. 154 dr.).54 Dass man Esel und Kamele nicht gemeinsam in einer Karawane nutzte, erklärt sich durch die unterschiedlichen Eigenschaften was Geschwindigkeit und Ausdauer, Futter- und Wasser­ bedarf, Belastbarkeit und Transportkapazität55 etc. betrifft. Da die in O.Did. 46 genannten Nomaden allerdings über beide Tierarten verfügen, darf man wohl annehmen, dass sie sowohl kürzere als auch längere Transportstrecken absolviert sowie unterschiedliche Güterkapazitäten transportiert haben. Das könnte sie für die römische Obrigkeit als Partner für Aufgaben im Wüstentransport ebenfalls sehr interessant gemacht haben. Eine andere Aufgabe, die vielleicht von Nomaden für die Römer erledigt wurde, könnte im Bereich der Führung von Gruppen und Karawanen in der Wüste, also eine Art von ‚Guide‘Tätigkeit, gelegen haben. Für die vorrömische Zeit bezeugen Papyri aus dem sog. HauswaldtArchiv diese Arbeit für Nomaden.56 Die Ostraka informieren auch über eine hierarchische Gliederung innerhalb der „Barbaren“Gruppe des Baratit. Der Titel „Hypotyrannos der Barbaren“ sowie die Bezeichnung Dekanós für Μαγείρης (?) in O.Did. 41 zeigen, dass es bestimmte Abstufungen innerhalb der Gruppe gegeben haben muss. Als δεκανός – das Wort leitete sich ursprünglich vom lat. decurio ab57 – wird in der östlichen Wüste der Chef oder Aufseher einer Arbeitergruppe oder eine Gruppe

49 Esel: O.Did. 43, O.Did. 46, O.Did. 48, O.Did. 51, O.Did. 55, O.Did. 60, O.Did. 361, O.Did. 400, O.Did. 462, O.Krok. 1/3, O.Krok. 1/13, O.Krok. 1/27, O.Krok. 1/41, O.Krok. 1/42, O.Krok. 1/44, O.Krok. 1/88, O.Krok. 1/97; Eseltreiber: O.Did. 49; O.Did. 55, O.Did. 62; O.Did. 361; O.Did. 372; O.Did. 391, O.Did. 400, O.Did. 416, O.Did. 428, O.Did. 442, O.Did. 444, O.Did. 447, O.Did. 453, O.Did. 461, O.Krok. 1/10, O.Krok. 1/41, O.Krok. 1/42. 50 Kamel: O.Did. 18, O.Did. 396, O.Did. 416, O.Krok. 1/1, O.Krok. 1/5, O.Krok. 1/6, O.Krok. 1/30, O.Krok. 1/47, O.Krok. 1/86, O.Krok. 1/88; Kameltreiber: O.Did. 53, O.Did. 83, O.Did. 240, O.Did. 343; cf. auch WL 404 u. 466 f. 51 Drexhage 1991, 280–296. 52 Drexhage 1991, 296. 53 Drexhage 1991, 296. 54 Zum Eselpreis cf. Drexhage 1991, 280–286; ausführlich: Drexhage 1986. 55 Cf. hierzu exemplarisch den Inhalt des Briefes O.Did. 416, in welchem mitgeteilt wird, dass eine Sendung aufgrund von Größe und Gewicht nicht mit den Eseln, sondern nach zeitlicher Verzögerung mit Kamelen geschickt werden wird. 56 Bagnall – Rathbone 2004, 231 f. 57 LSJ 376. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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von Esel- und Kameltreibern bezeichnet.58 Von nomadischen Gruppen wurde die Bezeichnung offensichtlich auch übernommen, wobei es nicht auszuschließen ist, dass der Begriff nicht als Eigenbezeichnung, sondern nur von dem anonymen Schreiber von O.Did. 41 – also aus Sicht der römischen Administration – verwendet wurde. Dennoch würde in diesem Fall eine Hierarchie innerhalb der Nomadengruppe gespiegelt. In der Erstedition der Didymoi-Ostraka heißt es mit Recht: Le title hypotyrannos est une rareté et nous en avons ici la plus ancienne mention.59

Vor der Publikation von O.Did. 41 war der Terminus lediglich durch Priskos sowie durch die griechischen Papyri SB 14/11957 (2. Hälfte 5. Jh.) und SB 3/6257 = SPP 3/132 = W.Chr. 7 (5./6. Jh. n.Chr.), einem Text der sog. Gebelein-Dokumente, bekannt. Diese Belege stehen im direkten Zusammenhang mit Blemmyern. Priskos (Frg. 21) schildert den Abschluss eines Friedensvertrages zwischen den Römern, die von dem Gesandten Maximinos vertreten werden, und den Blemmyern und Nobaten (s.u.). Im Zuge des Vertragsabschlusses werden von den Barbaren Geiseln gestellt, über die gesagt wird: ἦσαν δὲ τῶν τε τυραννησάντων καὶ ὑπὸ τυράννων γεγονότων παῖδες. Für Ernst Doblhofer sind in seiner Übersetzung die Geiseln „führende Männer oder deren Söhne“, während John Given „the hostages were children and grandchildren of the rulers“ und R. C. Blockley „these were children of the rulers and of the sons of the rulers“ angeben.60 Die getrennte Wiedergabe von ὑπὸ τυράννων im Priskos-Text könnte auf einer fehlerhaften Überlieferung basieren.61 Geht man hingegen von der Lesung τυραννησάντων καὶ ὑποτυράννων aus, könnte die Formulierung eher so zu verstehen sein, dass es um Kinder geht, die von „Herrschern“ und „Unterherrschern“ abstammen. Priskos’ Angabe könnte nahelegen, in einem Hypotyrannos einen Anführer oder einen Höherstehenden zu erkennen, der aber auch selbst anderen Personen unterstellt war. Bei SB 3/625762 handelt es sich um eine Urkunde, in welcher Charachen, König der Blemmyer, seinen Kindern die Aufsicht oder Verweserschaft über eine Insel namens Tanare überträgt (Z. 3–5). Im weiteren Text werden dann auch ein ὑποτύραννος sowie ein φύλαρχος erwähnt (Z. 7). Sollten die Ῥωμεῖς (= Römer?) Zahlungen nicht leisten, sollen die beiden genannten „Beamten“ (?), der Hypotyrannos und der Phylarchos, nicht an einer Eintreibung der Zahlungen gehindert werden (Z. 6–8). Der Inhalt des Textes braucht hier nicht weiter zu interessieren, wichtig ist jedoch, dass es unterhalb des Königs sowie seiner Kinder hierarchisch zwei Amtsbezeichnungen gibt, die anscheinend u.a. mit der Erhebung von (steuerlichen?) Abgaben oder diplomatischen Aufgaben beschäftigt waren. 58 Cuvigny 2014, 187. 59 O.Did. S. 106; cf. auch WL 559. 60 Byzantinische Diplomaten und östliche Barbaren. Aus den Excerpta de legationibus des Konstantinos Por­ phygennetos ausgewählte Abschnitte des Priskos und Menander Protektor, übersetzt, eingeleitet u. erklärt v. E. Doblhofer, Graz 1955; The Fragmentary History of Priscus. Attila, the Huns and the Roman Empire AD 430–476, translated by J. Given, Merchantville 2014; R. C. Blockley, The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire II. Eunapios, Olympiodorus, Priscus and Malchus, Liverpool 1983. Auf die Priskos-Stelle geht auch die Angabe „princeling“ im LSJ 1900 zurück. 61 Die Wiedergabe des griechischen Textes beruht auf der Edition Priscus Panita. Excerpta et Fragmenta edidit P. Carolla, Berlin 2008 sowie der Textwiedergabe bei Blockley. Nach Aussage des kritischen Apparates von Pia Carolla ist die Stelle nicht verderbt. 62 Die Ausführungen zum Inhalt des Textes basieren auf der Interpretation von Wilcken; cf. W.Chr. 7. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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In Z. 15 von SB 14/11957, einem diplomatischen Brief des Blemmyer-Königs Phonen, werden ebenfalls die beiden Amtsbezeichnungen φυλαρχος καὶ ὑποτύραννος gemeinsam genannt. Natürlich ist der enorme zeitliche Abstand zwischen Baratit und den Königen Charachen sowie Phonen zu beachten. Doch darf man bei aller Vorsicht wohl annehmen, dass auch Baratit vermutlich einem basileus oder Stammeshäuptling diente. Somit wäre zumindest eine dreigliedrige hierarchische Struktur innerhalb des Nomadenstammes annehmbar, wobei der Dekanós wohl unter dem Hypotyrannos einzuordnen sein dürfte.63 Ob es in der Zeit des Baratit auch schon einen Phylarchen innerhalb der Nomadengruppe gab oder ob ein φυλαρχος und ein ὑποτυραννος vielleicht sogar Anführer von Untergruppen eines nomadischen Stammes waren, bleibt fraglich.64 Am ehesten darf man in einem Hypotyrannos wohl – um mit Hélène Cuvigny zu sprechen – einen „rang inférieur de l’organisation politique“ innerhalb einer Nomadengruppe sehen.65 Ein dritter Beleg für die Bezeichnung Hypotyrannos könnte in einem neuen Papyrus aus Berenike, publiziert als O.Ber. 3/266, zu sehen sein. Der fragmentarische Text, welcher aus der 2. Hälfte des 1. Jh. n.Chr. stammt, hat für die hier verfolgte Fragestellung einen ausgesprochen hohen Quellenwert! Erkenntlich wird, dass Personen, die als Barbaren angesprochen werden, Güter erhalten. Genannt werden namentlich auf dem Recto ein Tisas (Z. 6) und ein Aeiambtok (Z. 7) – beide werden als „Barbaren“ (βαρβ(άρῳ); Z. 6 u. 7) bezeichnet –, dann ferner ein Ageirti (Z. 9) und ein D]osarion (Z. 11) – bei beiden fehlt die Barbarenbezeichnung – und schließlich noch ein weiterer Barbar (?) (εἰς βάρβ(αρον); Z. 12). Auf dem Verso steht in der ersten Zeile ein ebenfalls als „Barbar“ angesprochener Chotiate (βαρβάρωι) sowie ein Mann namens Agabassi in Z. 4; der fragmentarische Zustand dieser Zeile lässt noch βα[ρβάρωι erkennen. Ageirti und Dosarion gehören, auch wenn der Zusatz fehlt, sicher ebenfalls zu derselben Barbarengruppe. Weitere Namen der Gruppe sind auf dem Recto nur fragmentarisch erhalten: Pham- (Z. 3) und Mato- (Z. 4). Erwähnt werden auf dem Verso auch Frauen: γυναικ(ὶ) in Z. 5 und ταῖς ἄλλαις γυναιξ(ὶ) καὶ [ in Z. 2; hierzu passt auch die fragmentarische Z. 4 auf dem Recto, in der man noch γυναικ( )[ lesen kann. Folgte vielleicht auf dem Verso auf das καὶ in Z. 2 noch die Nennung von Kindern? Insgesamt dokumentiert O.Ber. 3/266 mindestens acht Barbaren sowie eine unbestimmbare Anzahl von Frauen. Die Gruppengröße ist also durchaus mit der aus O.Did. 46 vergleichbar. Die Barbaren erhalten etwas von den Römern, wobei nicht sicher ist, was genau ausgegeben wird. Z. 4 auf dem Verso ([…] αρτω?) könnte als unsicherer Beleg für Brot dienen, wobei der Text- und Kontextverlust66 hier eine genaue Erkenntnis verhindert. Auf dem Recto ist in Z. 10 ὑπο( ) zu lesen. Im Zeilenkommentar wird in Erwägung gezogen, dass es sich hierbei um eine Abkürzung von ὑποτύραννος handeln könnte. Der mit dem Befund der Quellen zu Baratit sehr gut vergleichbare Kontext legt diese Interpretation nahe. Wer die63 Neben den drei griechischen Belegen ist auch noch auf zwei weitere Urkunden der sog. GebeleinDokumente zu verweisen, die in koptischer Sprache ebenfalls die Bezeichnung Hypotyrannos im Zu­ sammen­hang mit Blemmyern überliefern: BKU 3/350 u. P.Köln Ägypt. 13 = SB 18/13633; cf. Dijkstra 2014, 317 f.; Cuvigny 2014, 195. 64 Für die erste Hälfte des 5. Jh. n.Chr. bezeugt auch der Gesandtschaftsbericht des Olympiodoros (Frg. 35) das Phylarchen-Amt bei den Blemmyern. Aus dem 5. Jh. n.Chr. können weitere epigraphische (SB 5/8697) sowie papyrologische Zeugnisse – die koptischen Tantani-Texte – angeführt werden; cf. Dijkstra 2014, 306–309 mit den Belegen. 65 O.Did. S. 106. 66 Cf. O.Ber. 3/266 Zeilenkommentar. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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ser Hypotyrannos in O.Ber. 3/266 gewesen ist, bleibt allerdings offen. Vielleicht gehören die Buchstaben -λαι, die vor ὑπο( ) stehen, zu einem Namen? Die zwei Datumsangaben auf dem Verso – 26. und 29. Tag eines Monats (Z. 3 u. 4) – zeigen an, dass durch den Papyrus vermutlich Ausgaben über einen längeren Zeitraum festgehalten worden sind. Interessant sind unterschiedliche Angaben auf Recto und Verso: βαρβ(άρῳ) bzw. βάρβ(αρον) und βαρβάρωι. Dass es möglich war, die Bezeichnung abgekürzt anzugeben, zeugt zweifel­los von einer gewissen Routine des Dokumentationsvorgangs. Ganz offensichtlich war die Aus­gabe von Gütern an Barbaren kein besonderes Ereignis. Hierzu würde auch die mögliche Ab­breviation von ὑπο(τύραννος) passen. Der Fundort Berenike spricht dafür, dass auch die hier fassbare Barbarengruppe Transport­ leistungen für die römische Administration durchgeführt haben könnte. Ein Operieren zwischen Koptos und Berenike ist naheliegend. Als Gegenleistung wurden wahrscheinlich Güter wie Brot (?) oder anderes ausgegeben. O.Ber. 3/266 ist von sehr großer Bedeutung, da er eine Konstante der römischen Interaktion mit nomadischen Gruppen aufzeigt. Über ca. ein Jahrhundert wird die gleiche Strategie im Umgang mit „Barbaren“ in der östlichen Wüste ersichtlich. O.Did. 41–43 und O.Did. 46 sowie O.Ber. 2/266 belegen, dass es zwischen flavischer und severischer Zeit bzw. früher Soldaten­ kaiserzeit friedliche Beziehungen67 zu einzelnen Nomadengruppen gegeben hat und beide Seiten in einer Art von Vertragsverhältnis gestanden haben müssen. Dabei könnte sich auch die Be­zeichnung ὑποτύραννος für Anführer oder Verhandlungspartner der Barbaren, der allerdings wohl unter einem Stammesoberhaupt stand, etabliert haben. Eine Parallele zu O.Ber. 3/266 liefert indirekt der Periplus Maris Erythraei. In ihm wird im 1. Jh. n.Chr. berichtet, dass sich die Stämme südlich von Berenike in τυραννίδες organisiert hätten.68 Der Ursprung der ὑποτύραννος-Bezeichnung ist vielleicht in augusteischer Zeit zu suchen. Der erste praefectus Aegypti C. Cornelius Gallus ließ am 16. April 29 v.Chr. die berühmte nach ihm benannte Stele in Philae errichten.69 Die in Hieroglyphen sowie in lateinischer und griechischer Sprache verfassten Inschriften berichten von einem Aufstand in der Thebais, der von fünf Städten ausgegangen ist. Im Zuge dieser Maßnahmen drang Gallus auch in die Region südlich des 1. Kataraktes vor (Z. 5 u. 15). Angeblich kam es zu einem Treffen mit Ge­ sandten der Äthiopier, deren König sich den Römer unterwarf (Z. 7 u. 16 f.). Außerdem wird dann ausgeführt: tyranno Tr[iacontas]choen[i] inde Aethiopiae constituto (Z. 7); die griechische Übersetzung in Z. 17 weicht hiervon nicht ab. In dem Hieroglyphentext wird, basierend auf der von Pfeiffer angegebenen Übersetzung, noch ausgeführt: „Er befriedete die Großen von Kusch, [er], stör[te ? die Pläne ? der] des Bogen(volkes) der Beduinen.“ Mit Äthiopier und den „Großen von Kusch“ ist das meroitische Reich gemeint.70 Wer sich hinter den mit Bogen kämpfenden (?) Beduinen versteckt, bleibt offen. Dass Gallus im Zuge seines Heereszuges in das Gebiet jenseits des Nilkataraktes auch gegen Nomadenvölker vorging, dürfte wahrscheinlich sein. Der Wort­ 67 Cf. O.Ber. 3/266 Einl.: „There is no hint of the hostile relations commonly alluded to early Roman Docu­ ments from other parts of the Eastern Desert“. 68 Periplus Maris Erythraei 2. Der Autor meint damit vermutlich die auch als Trogodytike bekannte Region; cf. Casson 1989, 98. 69 I.Philae II 128 = OGIS II 654 = ILS III 8995 = HGIÜ III 512; cf. grundlegend Pfeiffer 2015, 208–215, Nr. 44; Hoffmann – Minas-Nerpel – Pfeiffer 2009. 70 Pfeiffer 2015, 213. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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laut der lateinischen und griechischen Inschriften legt nahe, dass durch Gallus eine römische Herrschaft, ausgeübt durch einen tyrannos, im Dreißigmeilenland etabliert wurde.71 In diesem tyrannos wird in der Forschung ein Verwalter gesehen.72 Dessen weitere Geschichte verliert sich allerdings im Dunkel der Überlieferung.73 Liegt vielleicht hier der Ursprung der Hypotyrannos-Bezeichnung, die – bei aller Vorsicht ob der spärlichen und über Jahrhunderte hinweg verteilten Zeugnisse – einen Verwalter / Beamten / Gesandten etc. innerhalb einer Nomadengruppe bezeichnet hat?74 Eventuell leitete sich der Hypot­yrannos-Titel von dem im obernubischen Dreißigmeilenland eingesetzten Tyrannen ab. Auf diesen geht auch die Benennung der Herrschaftsorganisation bei den Wüstenstämmen zurück (Periplus Maris Erythraei 2). Von flavischer Zeit (O.Ber. 3/266) bis in die Zeit des Baratit könnte die Bezeichnung sich dann als innerhalb der Hierarchie nomadischer Gruppen ge­bräuchlicher Titel etabliert haben. Als regelrechte Amtsbezeichnung ist er dann im 5./6. Jh. im Blemmyerreich bezeugt (SB 3/6257 u. SB 14/11957) und wurde dadurch auch Priskos bei seinem Gesandt­schaftsaufenthalt in der Mitte des 5. Jh. n.Chr. bekannt. barbarorum gentes – Blemmyer und andere „Barbaren“ im 3. Jh. Von den nomadischen Völkern in den ägyptischen Randgebieten ist in den literarischen Quellen am meisten über die Blemmyer bekannt, gleichwohl die Quellenlage insgesamt de­saströs ist. Bereits aus dem 12. Jh. v.Chr. ist ein afrikanisches Land namens Brh’ nachgewiesen.75 In einem demotischen Text ist der Volksname Brhm/Blhm in der Zeit des Dareios I. erstmalig bezeugt; ab dem 3. Jh. v.Chr. sind dann vereinzelte dokumentarische Belege greifbar.76 In der literarischen Überlieferung sind Blemmyer ebenfalls ab dem 3. Jh. v.Chr. durch Theokrit und – dank Strabon – durch Eratosthenes bekannt.77 Weitere griechisch-römische Autoren aus den Folgejahrhunderten sind anzuführen, von denen hier exemplarisch der ältere Plinius genannt sei. Seine Ausführung, nach welcher die Blemmyer keinen Kopf hätten, sondern Augen und Mund auf der Brust tragen würden, hat – vermittelt durch Isidor von Sevilla – eine beachtliche Langzeitwirkung bis in das Mittelalter gezeitigt.78 Deutlich wird anhand dieser fabulösen Darstellung, dass dem belesenen Gelehrten in flavischer Zeit offensichtlich keine inhaltsschweren Informationen über den Nomadenstamm zugänglich waren. Bis in die Spätantike sollte sich an diesem Befund nichts ändern, die Blemmyer werden erst dank der Historia Augusta wieder zu einem ‚Thema‘ der antiken Literatur.

71 Pfeiffer 2015, 213. 72 Pfeiffer 2015, 213. Vermutlich wurde ein Indigener als tyrannos installiert. Lohwasser 2008, 574 geht von einem Meroiten aus. 73 Gesichert ist, dass das Dreißigmeilenland in der Mitte des 3. Jh. n.Chr. fest zum meroitischen Reich gehörte (s.u.). Von einer langen Herrschaft eines römischen tyrannos oder eines von Roms Gnade eingesetzten „barbarischen“ tyrannos kann auf der Grundlage der aktuellen Quellenlage nicht ausgegangen werden. Bereits unter dem zweiten Statthalter Aelius Gallus kam es zu neuerlichen Einfällen der Äthiopier; cf. Strab. 17,54,820. 74 O.Did. S. 107. 75 Updegraff 1988, 55; Satzinger 1985, 327; Zibelius 1972, 108. 76 Satzinger 1985, 327 mit den Quellennachweisen. 77 Updegraff 1988, 62 f. 78 Plin. nat. hist. 5,46; Isid. 11,3,17; cf. auch Updegraff 1988, 64 mit weiteren kaiserzeitlichen Quellen. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Das Gebiet, in welchem sich die Blemmyer in der Kaiserzeit bewegt haben könnten, wird in der Forschung – ohne gesicherte Kenntnis über die Nord- und Südgrenze79 – allgemein mit der Ostwüste zwischen dem Roten Meer und dem Niltal gleichgesetzt.80 In augusteischer Zeit berichtet Strabon, beruhend auf Eratosthenes, in dem Gebiet unterhalb Meroes bis zum Roten Meer seien Megabarer und Blemmyer wohnhaft, die aber den Äthiopiern gehorchen würden.81 Nach Claudius Ptolemaios lebten die Blemmyer im 2. Jh. n.Chr. wahrscheinlich weiter im Süden.82 An anderer Stelle schreibt Strabon, dass Blemmyer, Nubier, Megabarer und Äthiopier Wanderhirten (= Nomaden) seien, die eigentlich nicht kriegerisch gesinnt wären, aber doch gelegentlich Überfälle durchführen würden.83 Aufgrund der Abhängigkeit Strabons von seiner Vorlage ist nicht sicher, ob sich diese Auskünfte auf die augusteische oder doch eher auf die vorrömische Zeit beziehen. Aus den literarischen Quellen84 sind für die östliche Wüste auch die Stammesnamen der Agriophagen, der Ichthyophagen, der Megabarer, der Moschophagen und der Troglodyten bekannt. Dokumentarische Quellen liegen für die Agriophagen, die Ichthyopahgen, Troglodyten sowie die Alabiten vor.85 Wie bereits in der Einleitung angemerkt, sollen hier keine Überlegungen über die geographische Verortung bestimmter Stämme angestellt werden, da aufgrund des Nomadendaseins ohnehin von steten Verschiebungen auszugehen ist. Zudem ist zwingend anzunehmen, dass unter einem Oberbegriff wie z.B. Blemmyer oder Megabarer eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen subsumiert worden sind. Inwieweit die frühen Belege für das Land Brh’ und das Volk Brhm/Blhm mit den Blemmyern der römischen Kaiserzeit zu verbinden sind, muss deshalb völlig offenbleiben. Außerdem ist die Frage, in welchem Verhältnis die Blemmyer zur römischen Obrigkeit standen, mittels der spärlichen Quellennachrichten nicht zu beantworten. Erst ab der Mitte des 3. Jh. n.Chr. ergibt sich ein vermeintlich deutlicheres Bild, das aber weitestgehend nur auf kurzen literarischen Berichten basiert, welche teilweise „nur legendäre Hinweise“ bieten.86 Die Blemmyer sollen damals anscheinend zu einer problematischen Bedrohung für die Nilprovinz geworden sein. Eine Stelle im Chronicon Paschale deutet an, dass es unter Decius 249/250 n.Chr. zu Aus­ einandersetzungen mit den Blemmyern gekommen sein soll.87 Die Quelle ist aber wenig zu­ verlässig,88 das vermeintliche Problem mit den Nomaden muss vielmehr aus einer retrospektiven Sicht ohne Bezug zu den real fassbaren Ereignissen entstanden sein.89 79 Letztlich nicht sicher sind die Angaben, die Blemmyer wären hauptsächlich in der Region des 1. Kataraktes präsent gewesen; cf. Kreucher 2003, 156. Diese Annahme dürfte am ehesten nur dem Zustand in der Zeit nach Diokletian entsprechen (s.u.). 80 Lohwasser 2008, 577; Updegraff 1988, 50–68; allg. auch Demicheli 1976, 128–134. 81 Strab. 17,2,786. 82 Updegraff 1988, 65 mit den Quellenstellen und der Diskussion über die abweichenden geographischen Angaben; cf. auch Török 1988a, 101. 83 Strab. 17,53,819. Diese Äußerungen entsprechen ganz allgemein dem in der Antike vorherrschenden Nomaden-Bild; allgemein zum antiken Nomadendiskurs: Gutsfeld 1989, 15–24. 84 Diod. 3,31–33; Strab. 17,1  f.; 17,14; 17,52–54; Plin. nat. hist. 5,43; Periplus Maris Erythraei 2; Isid. 11,2,129–131; cf. auch Casson 1989, 97 f. mit weiteren Quellen. 85 I.Pan. 87; O.MyMo. in. 512 u. 543; O.Krok. 1/49. 86 Hölbl 2005, 329. 87 Chron. pasch. 504,20–505,2; cf. Ruffing 2006, 235; Lohwasser 2008, 577; Brecht 1999, 197 f. 88 Ruffing 2006, 235; Updegraff 1988, 69. 89 Besonders der Arbeit von Hofmann 1981 ist es zu verdanken, dass die Ereignisse in Ägypten in der Zeit des Decius in einen überzeugenden Kontext eingeordnet worden sind. Ein Blemmyer-Problem ist für © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Aemilianus Eine zweite Erwähnung der Blemmyer wird in der Forschung gelegentlich im Zuge der Über­ lieferung zur Usurpation des L. Mussius Aemilianus90 gesehen. Dessen Karriere ist dank einer epigraphischen Quelle91 aus Ostia92 bis in das 247 n.Chr. sehr gut bekannt: Er war ritter­licher Herkunft,93 Mitglied in der italischen Priesterschaft der Laurentes Lavinates,94 absolvierte die quattuor militae, diente als praefectus vehiculorum trium provinciarum Galliarum, war procurator Alexandreae Pelusi Paraet(oni) 95 und procurator portus utriusque Ostiae und stand zudem mit Korporationen von codicarii navicularii und navigantes in engem Kontakt.96 Für diese, die ihn mit einer Statue ehrten, war er wahrscheinlich aufgrund seiner Prokurator-Funktion in den Häfen von Ostia und Ägypten eine sehr nützliche Kontaktperson.97 Für die Zeit nach 247 n.Chr. informieren die papyrologischen Zeugnisse:98 Aemilianus war von 257 bis 259 n.Chr. Stellvertreter des praefectus Aegypti bzw. kommissarischer Präfekt (διέπων τὴν ἡγεμονίαν) für die correctores Ulpius Pasio und Claudius Theodorus99 und wurde schließlich von 258 bis 261 n.Chr. selbst Statthalter des Nillandes. Er unterstützte 260 n.Chr. die Usur­pation der Marciani, die jedoch im Herbst 261 auf dem Balkan von dem – damals noch – Gallienus treuen Aureolus besiegt wurden.100 Da Aemilianus, der die Getreideausfuhr aus Ägypten gesperrt hatte,101 nach seiner Unterstützung der Marciani von Gallienus kaum Gnade zu erwarten hatte, ließ er sich 261 n.Chr. selbst zum Kaiser ausrufen.102 Die Annahme des Augustus-Titels ist allerdings in numismatischen, papyrologischen oder epigraphischen Quellen entgegen den Andeutungen der literarischen Überlieferung103 nicht bezeugt.104 Gallienus schickte seinen dux

249/250 n.Chr. auszuschließen. 90 PIR² M 757; PLRE I 23, Nr. 6; Körner 2002, 379 f., Nr. P39; Gerhardt – Hartmann 2008, 1084, Nr. Aeg. 11. 91 CIL VI 1624 = CIL XIV 170 = ILS 1433; cf. auch Puk, 2010, 90 u. Thylander 1952, 402 f., Nr. B 338. 92 Zum Fundort cf. CIL VI 1624; Puk 2010, 89. 93 Pflaum 1960/1961, 925–927, Nr. 349. 94 Körner 2002, 201 u. 380. 95 Für die Lesung und Etablierung von Paraet(oni) cf. Puk 2010, 90–92; Pflaum 1960/1961, 926. Die ältere, bereits von Hirschfeld 1905, 366, zurückgewiesene Ergänzung P[hari], ist – wie Puks Untersuchung gezeigt hat – zweifelsfrei auszuschließen. 96 Rohde 2012, 136 f. 97 Zu den Aufgaben und Tätigkeiten eines procurator Alexandreae Pelusi Paraetoni cf. Puk 2010, 92–98. 98 P.Oxy. 9/1201 = ChLA 4/233 (258 n.Chr.); P.Oxy. 12/1468 (256–258 n.Chr.); P.Oxy. 14/1637 (257–259 n.Chr.); P.Oxy. 34/2710 (261 n.Chr.); P.Oxy. 43/3112 (258 n.Chr.), P.Oxy. 46/3290 = Mitthof 2001, 358 f., Nr. 43 (258–260 n.Chr.); P.Ryl. 2/110 (259 n.Chr.); P.Strasb. 5/392 (256/257 n.Chr.); P.Strasb. 5/393 (256–259 n.Chr.); P.David 7 = SB 20/14229 (258/259 n.Chr.); P.Dub. 18 (257–259 n.Chr.?); P.Wisc. 3 (ca. 257–259 n.Chr.); P.Köln 10/417 (ca. 256–258 n.Chr.); eventuell auch SB 5/8945 (275–299 n.Chr.; Z. 12: Αἰ]μ̣ιλιανοῦ); cf. die Liste bei Körner 2002, 379 sowie die Liste bei Gerhardt – Hartmann 2008, 1084, in der P.Oxy. 40/2938 (268/269 n.Chr. mit BL VIII 263) jedoch getilgt werden muss. 99 Jördens 2009, 58, Anm. 163 u. 530. 100 Zu den Marciani cf. Geiger 2015, 120–125; Sommer 2004, 52. 101 HA, Gall. 4,1; cf. Geiger 2015, 125; zu Aemilianus cf. auch Alföldi 1967, 187. 102 HA, trig. tyr. 22,4 u. 26,4. In der Forschung wurde aus numismatischen Gründen in Erwägung gezogen, dass sich Aemilianus nach dem Ende der Marciani nochmals kurzzeitig für Gallienus ausgesprochen haben könnte; cf. Herklotz 2008, 807 mit weiterer Literatur. 103 Epit. de Caes. 32,4; HA, trig. tyr. 22; Gall. 4. 104 Herklotz 2008, 807. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Aurelius Theodotos105 nach Ägypten, der die Erhebung des Aemi­lianus niederschlagen konnte;106 angeblich soll Aemilianus damals einen Feldzug nach Indien vorbereitet und den Ehrennamen Alexander/Alexandrinus angenommen haben, was beides mehr als zweifelhaft und letztlich der haltlosen Phantasie des scriptor Historiae Augustae entsprungen sein dürfte.107 Aurelius Theodotos, der nach der Angabe der Historia Augusta selbst aus dem Nilland stammte,108 wurde sodann der neue Statthalter von Ägypten.109 In der Historia Augusta wird außerdem berichtet, L. Mussius Aemilianus habe gentes barbarorum aus der Thebais und aus ganz Ägypten ferngehalten: nec eius ad regendam rem publicam vigor defuit, nam Thebaidem totamque Aegyptum peragravit et, quatenus potuit, barbarorum gentes forti auctoritate summovit.110

Zu Recht wurde in der Forschung ausgeführt, dass auctoritas „wohl kaum auf militärische Unternehmungen, die – wenn überhaupt – über demonstrative militärische Präsenz hinausgingen“, hindeuten kann.111 Auch fortis sowie das Verbum peragrare erlauben nicht, hier an eine tatsächliche militärische Maßnahme zu denken.112 In diese Richtung könnte submovere/summovere verweisen, das in der Historia Augusta im Kontext mit Germanen, Parthern, Thrakern, Persern oder auch Barbaren bezeugt ist.113 Allerdings hält Aemilianus die Barbaren lediglich mit seiner auctoritas ab, ein militärischer Einsatz kann also auch aus submovere/summovere kaum erschlossen werden. Bemerkenswert ist, dass der Autor der Historia Augusta von gentes barbarorum spricht; ähnlich ist der Befund in der Firmus-Vita, in welcher ebenfalls allgemein von Barbaren die Rede ist (s.u.). Wenn der anonyme Verfasser einfallende Barbaren in Ägypten namentlich nennt, handelt es sich immer um Blemmyer.114 Wie ist diese Besonderheit, dass für die Zeit des Aemilianus keine namentliche Nennung erfolgt, zu erklären? Aemilianus soll in der Thebais sowie in ganz Ägypten gegen die Barbaren vorgegangen sein. Während die erste Ortsangabe aufgrund späterer Vorfälle zu einem Blemmyer-Einfall passen könnte, klingt eine Bedrohung der ganzen Provinz sehr wunderlich und ist gewiss übertrieben. Allerdings bieten eine Angabe in der Kirchengeschichte des Eusebios sowie papyrologische Quellen eine Erklärungsmöglichkeit.115 Der Gelehrte aus Caesarea berichtet – beruhend auf Briefen des Dionysius, die Eusebios als Quelle gedient haben sollen116 – von Christen, die angeklagt wurden und vor den Statthalter L. 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116

PIR² A 1617; PLRE I 906, Nr. 4; Gerhardt – Hartmann 2008, 1085, Nr. Aeg. 14. HA, trig. tyr. 22,8; Gall. 4,2. HA, trig. tyr. 22,7 f. HA, Gall. 26,4. HA, Gall. 4,2; cf. Geiger 2015, 126; Jördens 2009, 530; Alföldi 1967, 188. HA, trig. tyr. 22,6. Ruffing 2006, 236. Vergleicht man die anderen Belege für auctoritas, fortis und peragrare in der Historia Augusta wird ebenfalls ersichtlich, dass ein militärischer Kontext kaum anzunehmen ist; für die Belege cf. Lessing 1964, 40 f., 214 f. u. 437. HA, Prob. 12,3; trig. tyr. 3,6; Sept. 15,2; Gord. 26,4 u. 26,5; Ant. 5,4; cf. Lessing 1964, 643. HA, Prob. 17 u. 19. Euseb., hist. eccl. 7,11. Dionysius d. Gr. von Alexandria leitete seit 231/232 n.Chr. die Katechetenschule in Alexandria und wurde ab 247/248 n.Chr. der dortige Bischof. Den früheren Verfolgungen unter Decius konnte er durch Flucht entkommen; cf. C. Andresen, LAW 1, 1965 [ND 1994], Sp. 753. Auf die Fragmente des Dionysios © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Mussius Aemilianus kamen. Dieser verbot den Christen das Abhalten von Versammlungen und wollte sie vom Christentum abbringen. Auf die verschiedenen Argumente, die von Eusebios unter Verwendung der Zeugnisse des Dionysios in einem Dialog zwischen Aemilianus, der die Anordnung des Kaisers Valerian umsetzte, und den Christen entwickelt werden, braucht hier nicht eingegangen zu werden. Wichtig ist aber, dass man die Angeklagten schließlich als Bestrafung in das libysche Kephro ins Exil schickte.117 Von dort wurden die Christen, die auch in Kephro eine Gemeinde gründeten,118 einzeln in der Landschaft Mareotis angesiedelt. Dionysius, der Anführer der Christen, wurde verpflichtet, in Kolluthion zu leben.119 Diesen Ort beschreibt Dionysius im Bericht des Eusebios als Ort, in welchem keine christlichen Brüder und rechtschaffene Menschen leben würden; außerdem wären Probleme mit Landstreichern und Raubüberfälle die Regel.120 Als später einige der Christen von römischen Soldaten gefasst worden sind, heißt es: (…) dass uns (…), als wir von einem Hauptmann und von Beamten und ihren Soldaten und Dienern gefangen abgeführt wurden, herzugekommene Mareoter gegen unseren Willen und ohne dass wir folgen wollten, mit Gewalt abfingen und wegschleppten. Ich, Gaius und Petrus sind nun­mehr, von den anderen Brüdern verwaist, allein an einem einsamen und öden Orte Libyens ein­geschlossen, drei Tagereisen von Parätonium entfernt.121

Die Textstelle überliefert einen Raubüberfall von Mareotern auf römische Soldaten und Beamte im Umland von Parätonium. Ein terminus post quem für das Ereignis ist die Statthalterschaft, ein terminus ante quem die Usurpation des Aemilianus. Parätonium122 als wichtiger Hafenort lag direkt an der Mittelmeerküste, westlich schloss die Marmarica genannte Landschaft an, die im Zuge der diokletianischen Reformen zu einer von der Libya superior (= Kyrenaika) losgelösten eigenständigen Provinz wurde. Parätonium fungierte anfangs als Hauptort dieser Provinz. L. Mussius Aemilianus kannte den Ort zweifellos aus eigener Anschauung, da er ihn in seiner Funktion als procurator Alexandreae Pelusi Paraetoni sicher besucht haben muss. Da die Mareoter die Gefangenen an einen drei Tage von Parätonium entfernten Ort verschleppt haben, ist wohl sicher davon auszugehen, dass dieser ungenannte Ort westlich oder südwestlich von Parätonium, sicher außerhalb des direkten römischen Einflussbereiches, liegen dürfte. Sehr wahrscheinlich wurde Aemilianus als Prokurator bereits in den späten 250er Jahren mit der Bedrohungssituation, die von regionalen Überfällen durch Libyer/Mareoter ausging, vertraut. Ging er vielleicht bereits als Statthalter gegen die „Barbaren“ vor, wobei diese Maßnahmen in der Darstellung der Historia Augusta in die Zeit der Usurpation verlegt worden sind? Oder reichte kann und muss hier nicht ausführlich eingegangen werden. Eine grundlegende Analyse bietet Strobel 1993, 195–210; zur Aufhebung der Verfolgungen durch Gallienus cf. Molthagen 1970, 98–100. 117 Euseb., hist. eccl. 7,11,10; cf. Glas 2014, 280. Offensichtlich wurde eine recht milde Form der Verbannung umgesetzt – cf. Glas 2014, 284 –, die zum Ziel hatte, die Christen in einer bevölkerungsarmen Gegend zu isolieren. 118 Euseb., hist. eccl. 7,11,12. 119 Euseb., hist. eccl. 7,11,14; cf. Glas 2014, 283. 120 Euseb., hist. eccl. 7,11,16. 121 Euseb., hist. eccl. 7,11,22 f.; Übers. n. Haeuser – Gärtner 1967 (Eusebios von Caesarea, Kirchengeschichte, herausgegeben u. eingeleitet v. H. Kraft, übersetzt v. Ph. Haeuser – H. A. Gärtner, München 1967). 122 Belege für den Ort sind gesammelt im Dizionario dei nomi geografici e topografici dell’Egitto grecoromano von A. Calderini (1935–1987) sowie in den von S. Daris besorgten Supplementen (1988–2010): Bd. 4, 52 f.; Suppl. 1, 219; Suppl. 2, 151; cf. auch Strab. 17,14,799; Plin. nat. hist. 5,33. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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seine auctoritas für eine positive Einflussnahme aus, da er aus der Zeit als procurator Alexandreae Pelusi Paraetoni noch über Kontakte zu den mareotischen Stämmen nahe Parätonium verfügte; Kontakte, die man vielleicht mit den Verbindungen zwischen der römischen Administration und dem Stamm des Baratit vergleichen könnte? Antworten auf diese Fragen sind aufgrund der Quellenlage nicht möglich. Die Überlegungen bleiben hypothetisch. Ein Vergleich der Angaben in Eusebios’ Kirchengeschichte und in der Historia Augusta erlaubt aber zumindest eine Schlussfolgerung: Die Formulierung Thebaidem totamque Aegyptum könnte daraufhin weisen, dass Aemilianus sowohl in Oberägypten (gegen Blemmyer?) als auch im Norden der Provinz gegen Mareoter vorging oder vorgehen wollte. Jeweils handelte es sich aber sicherlich nur um regionale Ereignisse, wie der Bericht des Dionysios zeigt. Die Tatsache, dass solche Übergriffe an verschiedenen Orten der Provinz stattfanden, könnte die übertriebene Angabe „ganz Ägypten“ verständlich machen. Wenn auch sichere Quellenbelege für militärische Maßnahmen – wie gesehen – fehlen, wird doch zumindest deutlich, dass auch in Unterägypten gelegentliche regionale Überfälle anzunehmen sind. Hinter den gentes barbarorum darf man wohl auch mareotische Banden, die aus der Marmarica nach Ägypten kamen, vermuten. Die Völker der Marmarica wurden in der Kaiserzeit als libysche Nomaden und „Barbaren“ angesehen.123 Neben den Mareotern sind namentlich auch Mar­mariden und Adyrmachiden bekannt, die in der sog. libyschen Mareotis wohnhaft gewesen sein sollen.124 Weitere libysche Gruppen, die in Ägypten in der Mitte des 3. Jh. n.Chr. im Arsinoites, Hera­k leopolites (?) und Oxyrhynchites für Unruhe sorgten, sind durch papyrologische Zeug­ nisse belegt: Libyer in Philadelphia (P.Princ. 2/29; 258 n.Chr.); Gonioten und Mastiten im Hera ­k leo­polites/Arsinoites125 (BGU 3/935; 259–264 n.Chr.; mit BL VII 16); Gonioten im Oxy­rhynchites (P.Oxy. 46/3292; 259–264 n.Chr.); Gonioten und Mastiten im Oxyrhynchites (P.Oxy. 33/2681; 259–264 n.Chr. ? mit BL VII 151 u. BL VIII 147).126 In den literarischen Quellen gibt es weder Belege für diese Einfälle noch eine Erwähnung der Stammesnamen. Betrachtet man diese Quellenzeugnisse einzeln, wird deutlich, dass es sich nicht um eine groß angelegte Invasion oder dergleichen gehandelt hat, sondern – sehr gut vergleichbar mit dem Befund aus dem Dionysius-Fragment – um regionale Überfälle. In der Eingabe P.Princ. 2/29 beklagt ein Mann, dass sein Bruder während eines Libyerüberfalls in Philadelphia oder Kaminou vom Dach gestürzt sei und zahlreiche Verletzungen erlitten habe.127 Von der Not­ wendigkeit militärischer Gegenmaßnahmen ist nicht die Rede. Der ganze Text vermittelt eher den Eindruck, dass es sich lediglich um einen ‚normalen‘ Raubüberfall, nicht aber um ein besonders eindringliches Ereignis gehandelt hat.128 Ganz ähnlich ist der Befund der Eingabe BGU 3/935, in welcher das Umherstreifen von Mastiten in der Chora beklagt wird (Z. 4).129 Anscheinend gibt es unterschiedliche Gruppen, 123 Paus. 1,7,2; Strab. 17,14,798; 17,22,838. 124 Plin. nat. hist. 5,33 u. 5,39. 125 Der Papyrus wurde zwar im Herakleopolites gefunden, der fragmentarische Befund der ersten Zeile ([ ca. ? ] Ἀρσινοίτου [ ca.? ]) könnte aber darauf verweisen, dass die Eingabe an den Strategen des Arsinoites gerichtet war. Ruffing 2006, 234, Anm. 64 ergänzt überzeugend: [… στρατηγῷ] Ἀρσινοίτου [± 10 μερίδος …]. 126 Cf. Ruffing 2006, 234; Sünskes-Thompson 1990, 180, Anm. 134. 127 Ruffing 2006, 234. 128 Ruffing 2006, 234. 129 Ruffing 2006, 234. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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die ihr Unwesen treiben. Dergleichen wird in Eingaben allgemein auch über graeko-ägyptische Banden ausgeführt, der Unterschied scheint nur in der auswärtigen Herkunft der Verbrecher zu liegen. Auch bei dem dritten Papyrus, P.Oxy. 46/3292, handelt es sich um eine Eingabe, die den Überfall libyscher Gonioten auf das oxyrhynchitische Dorf Nemesianos dokumentiert. Eine Invasion oder ein anderweitig militärischer Konflikt wird allerdings auch hier nicht greifbar.130 Ausgesprochen bemerkenswert ist schließlich P.Oxy. 33/2681, ein nur grob datierbarer Brief, der in Z. 5–13 folgenden Text bietet: .

ἴσθι / ὅτι οἱ Γωνιῶται ἐσχή/κασι στρατιώτας παρὰ / τοῦ ἡγεμόνος ἐπὶ ζή/τησιν τῶν Μαστιτῶν. / εἴτε οὖν κριθὴν εἴτε / φακῆν εἴτε χ̣ό̣ρ̣τ̣ο̣ν̣ / σύνλεξον καὶ πάτησον / πρν (l. πρν) θόρυβον γενέσθαι.

Die Gonioten haben Soldaten vom römischen Präfekten erhalten, um den Mastiten nachzuspüren oder sie zu überwachen etc. Es gab also eine Kooperation zwischen römischer Obrigkeit und den libyschen Gonioten, die sich gegen die Mastiten stellten. Die bereits angeführten Eingaben zeigen, dass die Gonioten im Oxyrhynchites auch als Unruhestifter auftraten. Allerdings ist zu bedenken, dass die Petitionssteller vielleicht die unterschiedlichen libyschen Stämme nicht exakt auseinanderhalten konnten. Ebenfalls denkbar wäre, dass es verschiedene goniotische Gruppen gab. Ein Hinweis darauf könnte P.Oxy. 46/3292 geben, der die Gonioten nicht nur namentlich nennt, sondern durch den – allerdings zugegebenermaßen recht allgemeinen – Zusatz „libysch“ noch näher beschreibt. Mögliche Auseinandersetzungen zwischen Gonioten und Mastiten werden auch durch eine Aussage in BGU 3/935 Z. 7 angedeutet: ] ..ς ἀντιδικίαν μεταξὺ Γωνιωτῶν ἢ Μαστειτῶν κτλ.131 Denkbar wäre aber auch, dass hier ein Entwicklungsprozess durch unterschiedliche diachrone Einschnitte greifbar wird: Anfangs führten die Gonioten vielleicht Überfälle durch, konnten dann allerdings von den Römer angeworben werden. Wie dem auch gewesen sein mag, sicher festhalten kann man, dass es gegen Ende der 250er Jahre Überfälle durch libysche Stämme gab, und dass sich zumindest eine libysche Gruppe ge­meinsam mit den Römern auch gegen die Räuberbanden stellte. Dass es zu den Gonioten nicht nur friedliche, sondern in Einzelfällen auch geschäftliche Beziehungen gegeben hat, deutet der Darlehensvertrag SPP 20/45 (237 n.Chr.) an, der einen Gonioten als Vertragspartner zeigt (Z. 2).132 Die Bezeichnung gentes barbarorum könnte sich in der Zeit des L. Mussius Aemilianus also nicht nur auf Mareoter und in der Thebais auf vermeintliche Blemmyer, sondern auch auf libysche Stämme wie die Gonioten und Mastiten beziehen. Dass man gegen Letztgenannte in der Zeit des Aemilianus militärisch vorging, geht zwar explizit nur aus dem Brief P.Oxy. 33/2681 hervor, lässt sich aber für den Oxyrhynchites anhand von Truppenbewegungen zwischen 257 und ca. 260 n.Chr. wahrscheinlich erahnen;133 ein Bezug dieser Papyri zur Usurpation der Mar­ ciani, die Aemilianus ja unterstützt hat, oder zu seiner eigenen Erhebung scheidet jeweils aus chronologischen Gründen aus. Auf militärische Präsenz, die durch libysche Einfälle motiviert war, kann auch ein archäologischer Befund verweisen: Eventuell wurde bereits in dieser Zeit 130 131 132 133

Ruffing 2006, 234 f. Ruffing 2006, 235. Ruffing 2006, 235. P.Oxy. 43/3111 = Mitthof 2001, 357 f., Nr. 41 (257 n.Chr.); P.Oxy. 43/3112 (258 n.Chr.); P.Oxy. 46/3290 (258–260 n.Chr.); cf. P.Oxy. 46/3292 Einl. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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im arsinoitischen Dionysias, gelegen am westlichen Rand des Fayum, ein Militärstützpunkt eingerichtet.134 Auch der Befund zu den Mastiten und Gonioten macht verständlich, was der Autor der Historia Augusta gemeint haben könnte, wenn er von Aemilianus’ Aktionen gegen barbarische Stämme in der Thebais und in ganz Ägypten spricht (Thebaidem totamque Aegyptum). Wie die papyrologischen Belege, aber auch das Dionysius-Fragment zeigen, dürfte es sich bei den überlieferten Übergriffen um regionale Probleme gehandelt haben, die im Umland von Parätonium, im Arsinoites und Oxyrhynchites sowie in der Thebais auftraten. Wobei letzteres nur durch die Historia Augusta überliefert wird; gerade für die „berühmten“ Blemmyer gibt es keine unmittelbaren dokumentarischen Belege aus dem 3. Jh. n.Chr. Ein weitreichender Barbareneinfall ist insgesamt nicht ersichtlich, vielmehr ist von Störungen durch Briganten und Banditen auszugehen, wie sie zu allen Zeiten der Provinzgeschichte in den Quellen fassbar sind.135 Im Zuge der Schutzmaßnahmen kooperierte man auch mit „Barbaren“, doch sind größere Militärmanöver nicht dokumentiert und selbst – wie oben gesehen – im Wortlaut der Historia Augusta nicht ersichtlich. Steckt vielleicht die Anwerbung der Gonioten hinter der Aussage, Aemilianus haben die Barbaren mittels seiner auctoritas abgewehrt? Bemerkenswert ist noch eine Aussage in der Historia Augusta. In Gall. 4,2 wird neben dem kurzen Bericht über den Tod des Aemilianus bemerkt, dass Aurelius Theodotus der neue Statt­halter in Ägypten geworden ist. Darauf folgt dann die leider nur durch Emendation hergestellte Aussage: in Thebaitanos milites quoque saevitum est interfectis compluribus. Wohlgemerkt, der Text ist in dieser Lesung nicht zweifelsfrei überliefert. Zu fragen ist dennoch, warum mit äußerster Härte gegen römische Soldaten vorgegangen worden sein soll. Konnte man es sich leisten, die Truppen, die die Marciani und Aemilianus unterstützt haben, völlig zu vernichten? Vermutlich liegt hier eine Übertreibung des Autors vor. Ferner ist zu fragen, warum sich die letzten Marciani- bzw. Aemilianus-Anhänger in die Thebais zurückgezogen haben sollen? Eine Flucht vor Theodotus gen Süden ist zweifellos verständlich, jedoch könnte eine Konzentration im thebaitischen Raum auch damit zu tun haben, dass man hier möglicherweise am ehesten Nomadengruppen anwerben konnte oder dies vielleicht schont getan hatte, wodurch die bedingungslose Härte erklärlich sein könnte.136 Eine Verbindung mit Nomaden während eines 134 Bagnall 1993, 174 mit der weiteren Literatur. 135 Cf. jeweils mit Quellenbeispielen: Reinard 2017a, 168; Reinard 2016a, I 402–407; grundlegend zur Thematik: Drexhage 1988a u. 1988b; cf. auch die bei Ruffing 2006, 234, Anm. 66 gebotene Literatur. 136 Die angebliche Härte überrascht umso mehr, wenn man die Ereignisse des Aufstands des Memor (PIR² M 490; PLRE I 594) im Jahr 262 n.Chr. betrachtet. Dieser war in Ägypten mit Aufgaben in der Getreide­ beschaffung betraut, vermutlich eine Folge der Sperrung der Getreideausfuhr, die Aemilianus betrieben hatte (HA, Gall. 4,1); cf. Geiger 2015, 127. Petros Patrikios, der vermutlich mit dem Anonymus post Dionem (= Continuator Dionis; cf. Geiger 2015, 56 f.) identisch ist, berichtet, dass Memor einen Umsturz plante, aber von Soldaten getötet worden sei (Petr. Patr., Frg. 160; exc. de sentent. 264; Cont. Dio. Frg. 4). Lediglich kurz erwähnt wird die Erhebung bei Zosimos (1,38,1). Aurelius Theodotos hatte die Situation anscheinend sehr schnell wieder unter Kontrolle. Memor wurde von führenden Männern (ἄρχοντες) unterstützt, die nach seinem Ende auch Kritik an Theodotus und damit auch an Gallienus übten. In der Forschung wird diskutiert, wer hinter der Bezeichnung ἄρχοντες – Ratsmitglieder aus Alexandria oder Senatoren? – stecken könnte; cf. Herklotz 2008, 808; Goltz – Hartmann 2008, 268 f.; Geiger 2016, 127. Geiger ist sicher zuzustimmen, dass der wiederholte Versuch eines Umsturzes innerhalb weniger Jahre in Ägypten (259/260–262 n.Chr.) „die Unzufriedenheit einflussreicher lokaler Kreise, die es im Jahr 270 den palmyrenischen Truppen ermöglichen sollte, die Provinz an sich zu bringen“, zeigt; cf. Geiger 2015, 128. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Aufstands oder zum Zweck eines solchen wäre ein Vorgehen, das in der Überlieferung zu dem Usurpator Firmus sowie zu dem Aufstand von 279 n.Chr. ebenfalls ersichtlich wird (s.u.). In Zusammenhang mit der Usurpation des L. Mussius Aemilianus und dem Aufstand des Memor könnte eine Urkunde stehen, die für 266 n.Chr. Zerstörungen an einem Haus bzw. einem Anwesen sowie zudem einen Aufstand in Hermopolis bezeugt.137 Der Beleg eines Aufstands oder einer Unruhe könnte eventuell mit den behandelten Vorgängen rund um Aemilianus zu tun haben. Ob es dadurch allerdings wirklich zu größeren Zerstörungen gekommen ist, wird durch SPP 5/119 nicht belegt. Zustandsbeschreibungen von Häusern oder Gebäuden, wie sie auch in dem hier in Rede stehenden Papyrusdokument ersichtlich sind, lassen sich in ähnlicher Weise auch in Urkunden anderer Zeitstellung greifen.138 Gleiches gilt auch für Papyri, die für 263 n.Chr. Wiederaufbau- oder Restaurationsmaßnahmen in Antinoopolis bezeugen.139 Auch eine papyrologisch bezeugte, aber nicht exakt datierbare Hungersnot in der Zeit des Gallienus muss nicht zwingend die Folge der Ereignisse um Aemilianus und Memor gewesen sein.140 Firmus Eine explizite Erwähnung der Blemmyer in der Historia Augusta bietet die freilich wenig vertrauensselige Firmus-Vita. Firmus, der als Freund der Zenobia bezeichnet wird, soll nach dem Ende der palmyrenischen Herrschaft141 in Ägypten gemeinsam mit Barbaren einen Aufstand gegen Rom durchgeführt haben:142 Firmum etiam latronem Aegyptium, barbaricis motibus aestuantem et feminei propudii reliquias colligentem, ne plurimum loquar, fugavimus, obsedimus, cruciavimus et occidimus.

Dieser Aufstand wird, ebenso wie die Person des Firmus, in keiner weiteren Quelle belegt.143 Lediglich Zosimos berichtet ohne die Nennung eines Usurpators, dass sich die Alexandriner gegen Aurelian erhoben hätten.144 Der von der Historia Augusta gebotene Text soll aus einer Verlautbarung Aurelians aus der Zeit nach der Niederwerfung des Firmus stammen. Dieser war angeblich ein ägyptischer latro, der die Reste einer pro-palmyrenischen Partei oder palmyrenischer Soldaten gemeinsam mit

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Sehr bemerkenswert ist aber, dass Gallienus niemanden wegen des Memor-Aufstandes bestrafen lassen wollte (ὑπὲρ Μέμορος μηδένα φεύξεσθαι). Der drastische Unterschied zur Niederschlagung der Reste des Marciani- und Aemilianus-Aufstands in der Thebais ist überraschend. Eventuell bezieht sich die Angabe auf eine Untersuchung des Verhaltens des Theodotus, der sich wegen der Klagen der ἄρχοντες rechtfertigen musste; cf. Goltz – Hartmann 2008, 268 f. SPP 5/119 = Sel.Pap. 2/357 (266 n.Chr.): συμβεβηκόσι; τὰ πάντα ὄντα ἐν συμπτώσει; ἐν ἀχρησίμῳ νῦν. Belege bieten Drexhage – Sünskes 1982; Drexhage 1991, 79–89; Reinard 2017b. P.Köln 1/52 u. P.Köln 1/53 (263 n.Chr.). SPP 5/5 u. SPP 5/6; zu den angeführten Papyri der 260er Jahre cf. die Analyse von Schaub 2014, 194 f. Zur palmyrenischen Eroberung Ägyptens: Sommer 2017, 172 f.; Hartmann 2008, 360–363. HA, quatt. tyr. 5,3. Papyrologisch ist ein Claudius Firmus für 264/265 n.Chr. als praefectus Aegypti bezeugt (P.Oxy. 9/1194; P.Oxy. 31/2568; P.Oxy. 43/3113; P.Strasb. 4/590). Zudem ist ein ἐπανορθωτής / corrector gleichen Namens für 274 n.Chr. belegt (P.Mert. 1/26); cf. Jördens 2009, 530. Eine Verbindung mit dem Usurpator, für den die Historia Augusta keine Statthalterschaft erwähnt, ist neben chronologischen Gründen auch wegen der Häufigkeit des Namens (cf. WL 192 u. 582) unwahrscheinlich; cf. Bowman 1976, 158; Jördens 2009, 58, Anm. 163 sowie Kreucher 2003, 156 f. mit weiterer Literatur; unkritisch: White 2015, 103. Zos. 1,61,1; cf. Schaub 2014, 197. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Barbaren angeführt haben soll. Angeblich wurde durch den Aufstand die Getreideversorgung unterbrochen. Die Bedrohung durch „barbarische“ Gruppen, die bewaffnet regional begrenzte Überfälle unternahmen, dürfte assoziativ die Wortwahl der durchgehend verwendeten Bezeichnung latro für Firmus beeinflusst haben.145 Stellt man sich Firmus als ägyptischen latro vor, der mit seiner Bande Verbrechen und Überfälle begeht, ist die Assoziation von nomadischen Überfällen naheliegend.146 Eine zweite Stelle deutet an, mit welchen „Barbaren“ Firmus verbunden gewesen sein könnte:147 idem et cum Blemmyis societatem maximam tenuit et cum Saracenis. naves quoque ad Indos negotiatorias saepe misit.

Beachtet man jedoch den Kontext der Stelle, wird deutlich, dass Firmus wahrscheinlich Handels­ beziehungen zu den besagten Stämmen unterhielt, denn die Erwähnung von Blem­myern und Sarazenen erfolgt „im Rahmen der Beschreibung seines Reichtums, was der Formulierung der Historia Augusta eine ganz andere Nuance dergestalt gibt, daß es sich hier um geschäftliche Beziehungen handelte“.148 Die Barbaren, die den Aufstand des Firmus unterstützten, müssen keineswegs mit den „Geschäftspartnern“ identisch sein.149 In der Forschung wurde erwogen, von den Angaben über Aurelians Triumphzug aus dem Jahr 273/274 n.Chr. Rückschlüsse auf die Frage abzuleiten, welche Barbaren sich gemeinsa­m mit Firmus erhoben hätten.150 In der Aurelian-Vita werden Blemmyer, Axomiter, Araber, Sarazenen, Perser, Palmyrener, aber auch Aegyptii ob rebellionem genannt.151 Die Auflistung der Historia Augusta wirkt stereotyp und erweckt – mit Ausnahme der Palmyrener und Ägypter – den Eindruck von fiktiver Beliebigkeit.152 Rückschlüsse auf die Identität der Barbaren, die Firmus unterstützten, können nicht gezogen werden. Als besonders ist aber anzusehen, dass die Ägypter hier in einer Reihe mit nomadischen Barbarenstämmen bzw. mit auswärtigen Völkern genannt werden. Wer könnten diese Aegyptii gewesen sein? Vermutlich bezieht sich dies auf die pro-palmyrenische Partei in Alexandria und im Nilland. 145 Cf. auch HA, quatt. tyr. 2,3: Firmum non inter purpuratos habui sed quasi quendam latronem; 5,4: canon Aegypti, qui suspensus per latronem improbum fuerat, integer veniet; cf. zum latro-Begriff ausführlich Grünewald 1999, 22–39, der hinsichtlich der juristischen Semantik festhält: „Latrones sind als eine besondere Gruppe der Räuber hervorgehoben durch die Anwendung von Waffengewalt (vis armata), durch die Bildung von Banden ( factiones, homines armati coactive) und durch das mit Vorsatz (dolus malus) verfolgte Ziel des Beutemachens (spoliare)“ (24). Zum latrocinium hält Grünewald fest, dass es „nach juristischem Verständnis schwere Bandenkriminalität in der Dimension von irregulären Kriegshandlungen bezeichnet“ (25). 146 Als ägyptischen latro hätte man sicher auch Iekoun(dus?) und seine kleine Barbarengruppe bezeichnen können (O.Did. 44). Zudem wird der Terminus latrones explizit im Zusammenhang mit nomadischen Überfällen in O.Krok. 1/26 (s.o.) dokumentiert. 147 HA, quatt. tyr. 3,3. 148 Ruffing 2006, 236. 149 Lohwasser 2008, 578. 150 Updegraff 1988, 70 f.; Lohwasser 2008, 578. 151 HA, Aur. 33,4  f.; cf. Kreucher 2003, 156 mit weiterer Literatur. Hier wurden nur die Gruppenbe­ zeichnungen der langen Auflistung angegeben, die rein theoretisch in der Zeit nach 270 n.Chr., also ab dem Beginn der palmyrenischen Herrschaft am Nil, an einer Erhebung in Ägypten beteiligt gewesen sein könnten. 152 Watson 1999, 178 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Bemerkenswert ist auch der Befund einer demotischen Inschrift, die für das vierte Jahr (= 272/273 n.Chr.) des Aurelian Kämpfe und den Einsatz einer Flotte bezeugt.153 Da Firmus anscheinend kurz nach dem Ende der palmyrenischen Herrschaft über Ägypten den Aufstand geprobt haben muss und dieser wahrscheinlich bis Mitte Juli 273 n.Chr.154 niedergeschlagen wurde, könnten die Aussagen von Inschrift und Historia Augusta aus chronologischen Gründen durchaus aufeinander zu beziehen sein. Allerdings werden weder Firmus noch die Blemmyer in diesem demotischen Quellenzeugnis genannt. Die epigraphische Quelle belegt somit wahrscheinlich eher eine separate regional begrenzte Unruhe. Es ist nicht auszuschließen, dass ein Zusammenhang zwischen der Inschrift und den im Triumphzug ob rebellionem mitgeführten Ägyptern besteht. Insgesamt ist der Wortlaut der Firmus-Vita mehr als kritisch zu sehen. Als historischer Kern darf am ehesten eine kurzzeitige regionale Aufstandsbewegung angesehen werden;155 ein Nachspiel zur palmyrenischen Herrschaft am Nil. Doch wird unabhängig von Fragen nach der Identität der Barbaren und nach der Authentizität der Erhebung sowie der Person des Firmus156 allgemein zweierlei greifbar: Für den Autor der Historia Augusta und sicher auch für sein Leserpublikum war es einerseits naheliegend Barbaren für einen Aufstand gegen Rom zu motivieren. Andererseits dürften geschäftliche Beziehungen zwischen graeko-römischen Ägyptern und nomadischen Gruppen durchaus nicht ungewöhnlich gewesen sein. Letzteres wird durch die neuen Informationen über Baratit nahegelegt, die man hier allgemein vergleichend heranziehen kann. Wirtschaftliche Verbindungen zwischen Graeko-Römern und Barbaren dokumentiert auch der bereits angeführte Darlehensvertrag SPP 20/45. Anzuführen ist zudem der um ca. 219 n.Chr. entstandene Brief O.Did. 40. Es geht auch hier um eine Reise nach Koptos und um die Beschaffung von Eimern. Erwähnt wird ein Handwerker namens Πετρώνιος ὁ / βάρβαρο[ς (Z. 8 f.), zu dem die Briefpartner ökonomische Beziehungen pflegen. Der Barbar Petronius lebte und arbeitete anscheinend in einem der römischen Stützpunkte.157 Konflikte oder Feindschaften werden in diesem Text ebenfalls nicht ersichtlich. Wirtschaftliche Beziehungen zwischen Mitgliedern von Wüstenstämmen und den römischen Stützpunkten bezeugt auch ein Dipinto auf einer Amphore aus Myos Hormos. Es wird ein Mann genannt, dessen Name mit Πετ- anlautet und der als Trogodyte bezeichnet wird (oder sich selbst so bezeichnet?).158 Ferner werden wirtschaftliche Beziehungen durch O.Xer. inv. 465 erwiesen.159 In dem Text geht es um einen Preis für Öl, welches zu 24 Drachmen an Barbaren verkauft werden soll. Militärische Kooperation bezeugt zudem die papyrologische Überlieferung zu den Gonioten. Beide Inhalte der Firmus-Vita (Geschäftskontakte, militärischer Einsatz von Barbaren für römische Zwecke) scheinen – unabhängig davon, ob sie nun für Firmus historisch zutreffend sind – generell denkbar zu sein.

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Cf. Desanges 1988, 35 mit einer Übersetzung in Anm. 184; Kreucher 2003, 157. White 2015, 108. Watson 1999, 82. Cf. für eine kurze Diskussion mit weiterer Literatur: Schaub 2014, 197–199. Es ist nicht auszuschließen, dass die Apposition ὁ βάρβαρος als Spitzname gemeint ist. Doch zeigen die anderen hier zusammengestellten Quellen auch, dass eine Ansiedlung von Indigenen in den römischen Stütz­punkten sehr naheliegend ist. 158 O.MyHo. inv. 543 (Ende 2./Anfang 3. Jh. n.Chr.); cf. Cuvigny 2014, 171. 159 Cuvigny 2014, 178. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Probus In den literarischen Quellen wird für die Zeit des Kaisers Probus ein Blemmyer-Einfall über­ liefert,160 der in das Jahr 279 n.Chr. datiert.161 In der Probus-Vita der Historia Augusta wird mit­geteilt:162 Blemmyas etiam subegit, quorum captivos Romam transmisit qui mirabilem sui visum stupente populo Romano praebuerunt. Copten praeterea et Ptolemaidem urbis ereptas barbarico servitio Romano reddidit iuri.

Probus hat also die Blemmyer besiegt und die von den Barbaren besetzten Städte Koptos und Ptolemais befreit. Die Parallelüberlieferung bei Zosimos weicht von dieser Version ab: Als sich das thebanische Ptolemais vom Kaiser lossagte und gegen die Einwohner von Koptos einen kurz dauernden Krieg führte, unterwarf Probus das Gebiet und die mit ihm verbündeten Blemmyer, wobei er sich seiner damaligen Generäle bediente.163

Bei Zosimos sind es nicht die Blemmyer, von denen die Initiative ausgeht. Die Stadt Ptolemais ist hier nicht das Opfer, sondern Ausgangspunkt der Erhebung. Zu diesem Zweck ist sie mit den Blemmyern verbunden, was sehr an die Situation zwischen Firmus und „seinen“ Barbaren erinnert. In der Forschung wurde die Überlegung aufgeworfen, ob Zosimos vielleicht die anfängliche Situation beschreiben könnte, welche zu einem Eingreifen Roms führte, während in der Probus-Vita ein späterer Zustand ersichtlich sei.164 Dies würde dann allerdings bedeuten, dass die Blemmyer im Laufe der Erhebung ihren „Partner“ ebenso wie die Stadt Koptos besetzt hätten – wurde man die Geister, die man rief, nicht mehr los? Insbesondere die Angaben der Historia Augusta sind mit großer Vorsicht zu rezipieren, da die Rolle der Blemmyer in der Probus-Vita mit einer klaren Intention versehen ist:165 his acceptis litteris Narseus maxime territus, et eo praecipue quod Copten et Ptolemaidem comperit a Blemmyis, qui eas tenuerant, vindicatas caesosque ad internecionem eos qui gentibus fuerant ante terrori.

Kein Volk soll also damals mehr Angst und Schrecken verbreitet haben. Und der sasanidische König soll sich auch dementsprechend tief beeindruckt gezeigt haben!166 Vielleicht liegt in dieser klaren Intention der Grund für die widersprüchliche Darstellung der Quellen: Machte der Autor der Vita aus der Stadt Ptolemais vielleicht ein Opfer statt eines Initiators des Aufstands, um so bewusst die Gefahr der Blemmyer zu überhöhen? Dazu passt auch, dass man mit Zosi­

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HA, Prob. 17,2 f., 17,6 u. 19,2; Zos. 1,71,1; cf. Schwartz 1970. Kreucher 2003, 155 f. HA, Prob. 17,2 f. Zos. 1,71,1. Übers. n. Veh 1990 (Zosimos, Neue Geschichte, übersetzt u. eingeleitet v. O. Veh, durchgesehen und erläutert v. St. Rebenich, Stuttgart 1990). 164 Vitucci 1952, 57; Kreucher 2003, 155. 165 HA, Prob. 17,6; cf. Ruffing 2006, 236. Eine mögliche Quellenvorlage, von welcher der Autor von den Ereignissen in Ägypten erfahren habe könnte, ist nicht ersichtlich; cf. Alföldy 1989, 439. 166 Hier ist zudem zu bemerken, dass der Bericht der Historia Augusta an Ereignisse aus der Zeit Diokletians erinnert. Vielleicht wurden, bedingt durch die aufgezeigte Intention, Geschehnisse aus den 270er und 290er Jahren in der Probus-Vita bewusst vermischt; cf. Bleckmann 1992, 141. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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mos wohl davon ausgehen muss, dass Probus selbst nicht in Ägypten anwesend war;167 seine Feld­herren (διὰ τῶν στρατηγησάντων) schlugen die Erhebung nieder. Aus dem Wortlaut der Vita ist dies nicht ersichtlich.168 Letztlich bleiben alle Synchronisierungsversuche169 der widersprüchlichen Quellen zum Blemmyer-Einfall in der Zeit des Probus hypothetisch. Bemerkenswert erscheint aber doch, dass es bei Zosimos ein Zusammenspiel einer graeko-ägyptischen Stadt mit dem „Terror-Stamm“ der Blemmyer gibt. Ein historischer Kern könnte vergleichbar dem Befund für Firmus in wirtschaftlichen Verbindungen zwischen einzelnen Stadtbewohnern und nomadischen Stämmen zu suchen sein. Ferner stellt auch in diesem Fall der Befund zu der Gruppe des Baratit wieder eine plausible Vergleichsfolie dar. Erhard Schaub hat in Erwägung gezogen, Ptolemais „habe sich in der wirtschaftlich schwierigen Zeit auf Kosten einer anderen Stadt bereichern wollen“.170 Inwieweit kann man die Situation im Jahr 279 n.Chr. damals als wirtschaftlich schwierig beschreiben? Für Ägypten lassen sich für die meiste Zeit des 3. Jh. keine ökonomischen Krisenanzeichen erkennen.171 Erst ab ca. 270 n.Chr. kam es zu einer Preisinflation,172 die durch die papyrologischen Quellen doku­mentiert wird; besonders die palmyrenische Eroberung Ägyptens wirkte initiativ.173 Dass diese wirt­schaftliche Problemzeit auch in Ptolemais spürbar wurde, darf man annehmen. Ob dies dann aber zu dem Versuch führte, die eigene Situation durch einen Überfall auf Koptos zu verbessern, ist kritisch zu sehen. Die drohenden Konsequenzen dürften in Ptolemais bekannt gewesen sein. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass nicht die ganze Stadt Ptolemais von langer Hand geplant einen Überfall auf Koptos mit Hilfe der Blemmyer durchführte, sondern dass vielmehr im Zuge eines dynamischen Prozesses einzelne Personen aus Ptolemais, die – ähnlich wie Firmus – mit nomadischen Stämmen verbunden waren, in die Aktionen gegen Koptos hineingerieten, wobei – folgt man hier der Historia Augusta – schließlich auch ihre eigene Stadt von den Blemmyern besetzt wurde. Zosimos könnte dann in der Tat die anfängliche Situation beschreiben, wobei natürlich nur eine kleine Gruppe von Personen gemeinsam mit den Blemmyern einen Überfall auf Koptos geplanten haben könnte. Dabei geriet dieses Unterfangen dann aber außer Kontrolle und endete mit einer Besetzung beider Städte durch die Nomaden. Beide Städte wurden dann von Rom befreit und Probus triumphierte über die Blemmyer: triumphavit de Germanis et Blemmyis.174 Über irgendwelche Konsequenzen für die Stadt Ptolemais hört man in den Quellen nichts, was vielleicht darauf hindeuten könnte, dass es lediglich eine kleine Personengruppe war, die gemeinsam mit den Blemmyern agierte; was aufsässigen Städten drohte, zeigt das jeweilige Schicksal von Koptos und Busiris (= Boresis), die beide nach der Erhebung von 293/294 n.Chr. bestraft wurden (s.u.). 167 Updegraff 1988, 71 f.; Kreucher 2003, 157; Brandt 2006, 19. Die Münzen der alexandrinischen Prägestätte bestätigen dies: Vogt 1924, 219. 168 Truppenbewegungen, die in P.Oxy. 8/1115 (281 n.Chr.) und P.Oxy. 12/1412 (279–284 n.Chr.) ersichtlich werden, könnten mit dem Aufstand in Verbindungen stehen; cf. Cuvigny 2014, 195. 169 Auf die Forschungsdiskussion über die Widersprüchlichkeit der beiden Quellen kann hier nicht ausführlich eingegangen werden; cf. Schaub 2014, 200; Updegraff 1988, 72 mit weiterer Literatur. 170 Schaub 2014, 200. 171 Ruffing 2006; Ruffing 2008; Drexhage – Konen – Ruffing 2002, 198–201; Rathbone 1991. 172 Drexhage 1987; Drexhage 1991; Strobel 1993, 270–279. 173 Drexhage – Konen – Ruffing 2002, 201. 174 HA, Prob. 19,2. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Sehr wahrscheinlich war auch die kurzzeitige Episode des Jahres 279 n.Chr. ein geographisch eher begrenzter Vorfall, der in dem Gebiet zwischen Ptolemais und Koptos, also vielleicht noch in Kanepolis, Diospolis Mikra oder Abydos, keineswegs aber in weiten Teilen der Provinz, spür­bar gewesen ist.175 Die von Zosimos betonte Kürze des Vorfalls sowie die Abwesenheit des Kaisers zeigen dies an. Diokletian Ein Hinweis auf eine Bedrohung durch auswärtige Völker im Zuge von Aufständen findet sich in der Zeit Diokletians. Unter ihm gab es eine Erhebung der Städte Koptos und Boresis176 in der Thebais im Jahr 293/294 n.Chr., die beide nach der Angabe des Hieronymus zerstört wurden.177 Allerdings scheint dies eine klare Übertreibung zu sein, da Koptos in der Folge als Stadt weiter existierte und auch Bischofssitz wurde.178 Durch das Steuerdokument P.Erl. 52 Verso = P.Erl.Diop. 3 (nach 314 n.Chr.) ist auch die Existenz von Boresis im 4. Jh. gesichert (Z. 21). Die Aussage der Quellen sollte somit dahingehend gedeutet werden, dass es lediglich Bestrafungen, aber keineswegs grundsätzliche Zerstörungen der Orte gegeben haben kann. Niedergeworfen wurde diese Empörung, die in den Papyri keine Erwähnung findet, durch Galerius, den Caesar des Diokletian im Osten.179 Eusebios nennt Galerius den „Besieger der Ägypter, Besieger der Thebais“.180 Diokletian selbst weilte 293/294 n.Chr. nicht im Nilland und kann den Aufstand, auch wenn dies die literarischen Quellen nicht zu erkennen geben, nicht persönlich niedergedrückt haben. Eine Folge des Aufstands könnte die Einrichtung der Thebais als eigenständige Provinz gewesen sein, was um ca. 295 n.Chr. erfolgt ist.181 Eventuell reflektiert die aufgegliederte Ansprache des Galerius als Sieger über Ägypten und die Thebais bei Eusebios bereits diese Provinzteilung.

175 Vitucci 1952, 57–59; Kreucher 2003, 157. 176 Die literarischen Quellen nennen sämtlich Busiris als Hort des Aufstands neben Koptos, sagen aber auch, die Revolte habe in der Thebais stattgefunden. Bowman 1984, 34 f. hat darauf hingewiesen, dass den antiken Autoren vermutlich ein Fehler unterlaufen ist. Ein Ort Busiris in der Region um Theben ist nicht bekannt, sehr wohl aber Boresis, das bereits unter Cornelius Gallus gemeinsam mit Koptos und anderen Siedlungen einen Aufstand durchgeführt hatte (cf. I.Phil. II 128 = OGIS II 654 = ILS III 8995 = HGIÜ III 512); cf. zur Inschrift auch Pfeiffer 2015, 208–215, Nr. 44. Ich folge deshalb hier Bowmans These, dass die antiken Autoren den Namen Boresis mit dem ungleich berühmteren Busiris verwechselt haben; zu Boresis cf. A. Calderini, Dizionario dei nomi geografici e topografici dell’Egitto greco-romano (1935–187) sowie die von S. Daris besorgten Supplemente (1988–2010): Bd. 2, 55; Suppl. 1, 82; Suppl. 4, 47. 177 Hier., chron. ad an. 292; cf. Theophan., AM 5782; Zon. 12,31; cf. Schaub 2014, 201. Zwischen Theo­ phanes und Zonaras können als weitere, dieser Traditionslinie angehörige Überlieferungsstufen noch Cedrenus und Johannes von Antiochia genannt werden; cf. den Kommentar von Thomas M. Banchich in der Edition The History of Zonaras. From Alexander Severus to the Death of Theodosius the Great. Translation by Th. M. Banchich and E. N. Lane, Introduction and Commentary by Th. N. Banchich, London – New York 2012, 136 mit den Quellenstellen; cf. auch Bowman 1984, 33, Anm. 2. 178 Bowman 1984, 35; Bagnall – Rathbone 2004, 281. 179 Ein lateinischer Papyrus bezeugt die Anwesenheit des Galerius in Ägypten in dieser Zeit; cf. Rea – Salo­ mon – Worp 1985. 180 Euseb., hist. eccl. 8,17,3; Hölbl 2005, 329; Barnes 1976, 181. 181 Bowman 1984, 33; Bagnall – Rathbone 2004, 185. Ein wesentlicher Militärstützpunkt wurde Luxor, wo der Amun-Tempel zu einem beachtlichen Lager umgebaut wurde; cf. Bagnall – Rathbone 2004, 186–191. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Im Sommer 297 n.Chr. kam es dann zu einer Usurpation, die ganz Ägypten erfasst hat: L. Domitius Domitianus182 erhob sich zum Augustus, was lediglich durch numismatische183 und papyrologische184 Quellen bezeugt ist. Er scheint gegen Ende des Jahres bereits verstorben zu sein. Aurelius Achilleus,185 der als corrector unter L. Domitius Domitianus gedient hatte, setzte die Usurpation fort und ließ sich nach Aurelius Victor186 auch zum Kaiser ausrufen; die literarischen Quellen sehen ihn als alleinigen Anführer des Aufstands und kennen den Vorgänger Domitianus nicht.187 Ein Ende fand die ganze Erhebung im späten Frühjahr (?) 298 n.Chr. Diokletian kam nach Ägypten und soll Aurelius Achilleus nach Orosius acht Monate in Alexandria belagert haben.188 Eine andere Überlieferungstradition, die sich etwa bei Aurelius Victor und Zonaras findet, gibt an, die Empörung des Aurelius Achilleus sei schnell besiegt worden.189 Höchstwahrscheinlich gab es im Zuge der Erhebungen von 293/294 und 297/298 n.Chr. auch Probleme mit nomadischen Stämmen. In einer Lobrede, die im März 297 n.Chr. gehalten wurde, wird auf äthiopische Nomaden (?) verwiesen:190 Dent veniam trophaea Niliaca sub quibus Aethiops et Indus intremuit.

Ferner führt Zonaras aus, Diokletian sei gegen Äthiopier gezogen, wobei es sich bei „Äthiopier“ – so Bleckmann – um eine klassizistische Bezeichnung für Blemmyer handeln könnte.191 Möchte man die Siegeszeichen am Nil, vor denen Äthiopier und Inder192 erzittern, mit einem historischen Aufstandsereignis verbinden und nicht als bloßen symbolischen Ausdruck der kaiserlichen Sieghaftigkeit verstehen, ist aus chronologischen Gründen ein Bezug auf Geschehnisse im Zuge der Erhebung von Koptos und Boresis denkbar.193 Ob nomadische Stämme damals die Schwäche des Reiches ausnutzten oder vielleicht sogar integraler Teil der Aufstandsbewegung waren, d.h. in irgendeiner Verbindung mit den Orten des Aufstands agierten, bleibt allerdings offen. Dass sich die Aussage des Panegyricus auf reale Sachverhalte beziehen könnte, wird neben der späten Zonaras-Überlieferung durch eine Angabe Prokops, der Einfälle von Nobaten er­ wähnt,194 sowie durch Maßnahmen des Jahres 298 n.Chr. angedeutet, die man als Zäsur in der Provinz­geschichte auffassen muss: Diokletian nahm die Grenze 298 n.Chr. bis auf die Höhe des 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194

PLRE 263, Nr. 6; cf. zur Datierung auch Kolb 1988. Geissen – Weiser 1983, 126, Nr. 3367–3370. Die papyrologischen Belege bietet Thomas 1976, 264. PLRE 9, Nr. 1. Aur. Vict. 39,23: dominationis insigna induerat. Aur. Vict. 39,23 u. 28; Eutr. 9,22 f.; Oros. 7,25,4–8; Zon. 12,31; weitere Quellen, auf denen Zonaras basiert, bietet Banchich in seinem Kommentar (136); die papyrologischen Quellen bietet Schaub 2014, 206, Anm. 1049. Oros. 7,25,8; cf. Eutr. 9,23. Aur. Vict. 39,38; Zon. 12,31. Paneg. Lat. 8[5],5,2; cf. Barnes 1976, 180. Zon. 12,31; Bleckmann 1992, 140. In der Forschung wird auch erwogen, die Inder als Blemmyer zu identifizieren; cf. Török 1988a, 102 und Updegraff 1988, 72 mit der Literatur. Hingegen könnte sich Paneg. Lat. 9[4],21,2 (sub tua, Diocletiane Auguste, clementia Aegyptum furore posito quiescentem) auf die Zeit nach dem Ende des Aurelius Achilleus beziehen. Prok., PB 1,19,29. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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1. Kataraktes zurück.195 Die Südgrenze war nun besonders in der Region um Syene und Assuan verstärkt.196 Auf der Nilinsel bei Elephantine wurde ein starker Stützpunkt eingerichtet.197 Gleichzeitig sah sich Diokletian veranlasst, Zahlungen an Blemmyer und Nobaten zu leisten (s.u.).198 Dies macht es wahrscheinlich, dass die trophaea Niliaca des Panegyricus durchaus einen historischen Kern haben, der darin liegen dürfte, dass es in den 290er Jahren im Süden der Provinz zu Problemen mit nomadischen Gruppen gekommen ist; allerdings dürften die militärischen Erfolge, die der Lobredner impliziert, relativ bedeutungslos gewesen sein. Es lohnt sich, die Aussage Prokops über die Verlegung der Grenze an dieser Stelle en détail zu betrachten: Der römische Kaiser Diokletian stellte jedoch bei einem Besuch fest, daß die dortigen Gebiete [i.e. im aufgegebenen Zwölfmeilenland] nur geringfügige Steuererträgnisse lieferten; denn da sich schon in Flußnähe sehr hohe Felsen erheben und das übrige Land einnehmen, wird der fruchtbare Landstreifen dort äußerst schmal. Außerdem hatte von alters her eine bedeutende Streitmacht hier ihren Standort und belastete die Staatskasse schwer mit Unkosten, während zugleich die Nobaten um die Stadt Oasis fortwährend alle Ländereien ausplünderten. Angesichts dieser Schwierigkeiten veranlaßte der Kaiser die Barbaren, ihre bisherigen Wohnsitze aufzugeben und sich am Nil anzusiedeln, auch versprach er, sie mit großen Städten und viel Land, erheblich besserem, als sie bisher besessen hatten, beschenken zu wollen. So, glaubte er, würden sie nicht mehr die Gegend um Oasis heimsuchen, sondern das ihnen übergebene Land in Besitz nehmen und als Eigentum dementsprechend vor den Blemmyern wie auch den anderen Barbaren schützen.199

Die Entscheidung, die Grenze zu verlegen, erfolgt aus drei Gründen: Die steuerlichen Ein­ nahmen waren aufgrund der Beschaffenheit des Landes gering und die Stationierung militärischer Einheiten kostete viel Geld. Durch die Ansiedlung der Nobaten gelang es Diokletian, einen Verbündeten in dem nun aufgegebenen Raum zu etablieren, der ein Puffer gegen Blemmyer und andere Barbaren sein sollte. Zudem sollten auch die störenden Züge der Nobaten durch die Maßnahme enden. Es ist nicht klar, welcher Ort mit Oasis gemeint ist. Vielleicht bezieht sich Prokop bzw. dessen Vorlage auf die weiter im Nordwesten, außerhalb des Niltals befindliche Region Oasis Megale; man könnte theoretisch an Siedlungen wie Kysis oder Hibis in der westlichen Wüste denken. Die Nobaten wären dann 298 n.Chr. in Absprache mit Diokletian nach Süden in das Zwölfmeilenland (Dodekaschoinos) gezogen. Damit hätte man auch eine größere Distanz zwischen den Nobaten und den ökonomisch besseren Gebieten innerhalb der Provinz geschaffen. Aus einem im römischen Hoheitsgebiet operierenden Störenfried wird ein befreundeter Nachbar. Diokletians Neuordnung der ägyptischen Südgrenze ist als Versuch zu bewerten, mehrere Probleme gleichzeitig zu beheben. Es wird deutlich, dass es vertragliche Beziehungen zwischen Rom und den Nobaten, aber auch zu den Blemmyern oder einem Teil von diesen, gegeben haben muss. Prokop führt weiter aus: Damals bestimmte dieser Kaiser auch, daß ihnen [i.e. den Nobaten] ebenso wie den Blemmyern Jahr für Jahr eine feste Summe Gold gezahlt werde; sie mußten sich aber verpflichten, keine Raubzüge mehr in römisches Gebiet zu unternehmen. Doch obschon sie bis auf meine Zeit die erwähnte Zahlung erhalten, überfallen sie nichtsdestoweniger die dortigen Landstriche. 195 196 197 198 199

Kreucher 2003, 157; Bagnall – Rathbone 2004, 18. Lohwasser 2008, 578. Prok., PB 1,19,34. Prok., PB 1,19,29–32. Prok., PB 1,19,29 f. Übers. n. Veh 1970 (Prokop, Perserkriege, griechisch-deutsch hrsg. v. O. Veh, Mün­ chen 1970). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Prokops Aussage, dass es trotz vertraglicher Regelungen und entsprechender Zahlungen seitens Rom, zu Einfällen durch Nobaten und Blemmyer kam, ist vermutlich lediglich als Aussage über die Zustände in der Zeit des Autors, also über die Situation in der Regierungszeit Justinians I., zu bewerten.200 Die Angabe, Rom habe weiterhin an die beiden Stämme Zahlungen geleistet, obwohl es zu permanenten oder auch nur häufigen Übergriffen durch Nobaten und Blemmyern kam, ist wenig glaubwürdig. Man hätte die Zahlungen zweifelsfrei gestoppt. Eine Kontinuität vertraglicher Zahlungen wird auch durch Ereignisse aus der Regierungszeit des Marcian, die in Fragmenten des Priskos überliefert sind, negiert. Zum Jahr 453 n.Chr. führt Priskos aus: Nach dem Sieg der Rhomäer über die Blemmyer und Nubier schickten beide Völker Gesandte zu Maximinos, die um Frieden bitten sollten. Diesen versprachen sie zu halten, solange Maximinos in der Gegend von Theben weile. Der aber lehnte die vorgeschlagene Frist ab; darauf ließen sie sich zu dem Versprechen herbei, auf Lebenszeit des Maximinos die Waffen ruhen zu lassen. Auch dieser Vorschlag wurde zurückgewiesen; dafür kam ein auf hundert Jahre befristeter Friedensvertrag zustande. Er sah vor, dass die rhomäischen Gefangenen aus diesem und dem früheren Krieg ohne Lösegeld freigelassen, das weggetriebene Vieh zurückerstattet und die entstandenen Kosten ersetzt sowie zur Sicherung und Festigung des Abkommens vornehme Geiseln gestellt würden. (…); da erkrankte Maximinos und starb. Als die Barbaren jedoch von seinem Tode hörten, entführten sie die Geiseln mit Gewalt und verheerten in Raubzügen das Land.201

Priskos dient durchaus als verlässliche Quelle, die Detailinformationen des Vertrages – Stellung von Geiseln, Befreiung der Kriegsgefangenen ohne Lösegeld, Rückgabe geraubten Viehs202 – scheinen authentisch und glaubwürdig zu sein; durch ein weiteres Fragment, welches durch die Kirchengeschichte des Eugarius bewahrt wurde, wird nahegelegt, dass Priskos gemeinsam mit Maximinos nach Südägypten gereist ist.203 Priskos’ Ausführungen über Gesandtschaften beruhten sehr wahrscheinlich auf authentischen Augenzeugenberichten, weshalb sein Geschichtswerk für die Exzerptoren wichtig war, die unter Konstantin VII. Porphyrogennetos im 10. Jh. eine Zusammenstellung von Gesandtschaftsberichten (de legationibus gentium ad Romanos) anfertigten. Es spricht viel dafür, die zitierte Stelle als sehr glaubwürdig einzustufen. Neben Priskos ist auch Josua Stylites anzuführen, der Anastasios I. sagen lässt, dass er mit Germanen und Blemmyern Krieg führen würde.204 Eventuelle Zahlungen gab es damals definitiv nicht. Prokop wird somit durch Priskos und Josua Stylites widerlegt. Es gab im 5. Jh. innerhalb kurzer Zeit zwei „Kriege“ gegen Blemmyer und Nubier (= Nobaten), wie Priskos’ Bemerkungen zur Rückgabe der Gefangenen zeigen. Von einer Kontinuität der diokletianischen Regelungen bis in das 6. Jh. n.Chr. kann also keine Rede sein. Wenn Prokop nun aber schreibt, man habe 200 Cf. Prok., PB 1,19,35 f.: Inhaltlich ist der Text widersprüchlich, denn die Tempel von Philae sind angeblich in der Hand der Blemmyer. Justinian I. beschließt dann allerdings die Heiligtümer zu zerstören, was durch den Feldherrn Narses umgesetzt wird. Dieser nimmt die Priester gefangen und schickt die Kultbilder nach Konstantinopel. Narses muss also die Blemmyer zunächst aus Philae vertrieben haben, bevor die Zerstörung der Kultstätten erfolgen konnte; cf. zur Zeit Justinians I. allgemein Mazal 2001, 127. 201 Prisk., Frg. 21; Übers. n. Doblhofer 1955; cf. auch Given 2014, Frg. 21. 202 Auch Priskos’ oben bereits behandelte Kenntnis von dem Terminus Hypotyrannos zeigt an, dass er über verlässliche Informationen verfügt haben dürfte. 203 Prisk., Frg. 22 (J. Given); cf. zu Maximinos auch allgemein Nechaeva 2014, 18 u. 128. 204 Josua Stylites 20; cf. Luther 1997, 45; Meier 2009, 188. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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auch in der Zeit Justinians I. Zahlungen an die Blemmyer geleistet, so kann dies nur bedeuten, dass es damals nochmals zu einer entsprechenden vertraglichen Regelung gekommen ist. Justinian I. zahlte erneut, nicht immer noch.205 Die mittels Parallelüberlieferung zu erbringende Kritik an Prokops Aussage über die Lang­ zeit­wirkung der diokletianischen Regelungen beweist jedoch nicht, dass die Äußerungen über die Maßnahmen im Jahr 298 n.Chr. grundsätzlich unglaubwürdig sind. Die damalige Rück­ nahme der Grenze ist unbestreitbar und eine Ansiedlung der Nobaten als „Lückenfüller“ sehr wahrscheinlich.206 Vermutlich haben Diokletians tiefgehende, die Provinzgrenze neu definierende Veränderungen im Jahr 298 n.Chr. für eine Stabilisierung der Verhältnisse gesorgt. Kon­flikte mit den Barbaren-Nachbaren im Süden finden in den Quellen erst wieder im 5. Jh. Erwähnung.207 Allerdings muss auch bedacht werden, dass Prokops Inkonsistenz der Aussagen über die Blemmyer, die einerseits durch die Nobaten abgewehrt, andererseits auch von Rom durch Zahlungen abgehalten werden sollen, auf eine Mehrzahl von nomadischen Gruppen hindeuten könnte, die man unter dem Namen „Blemmyer“ subsummiert hat. Stellt man sich an dieser Stelle die Blemmyer nicht als einen Stamm, sondern als Vielzahl von nomadischen Gruppen vor, wäre die Aussage des Prokop verständlich. Der papyrologisch überlieferte Befund zu den Gonioten, die Einfälle verübten, aber auch Rom gegen die Mastiten zur Seite standen, ist ver­ gleichbar. Ebenfalls vergleichbar ist der Befund, der durch die Ostraka aus der östlichen Wüste ersichtlich wird: Es gab mit Rom verbundene nomadische Gruppen, wie den Stamm des Baratit, und zeitgleich auch solche, die Überfälle und Raubzüge durchführten. Ein weiteres Detail des Prokop-Textes ist noch bemerkenswert: Die Nobaten sollen das Zwölf­meilenland vor Blemmyern und anderen Barbaren schützen.208 Wer diese anderen Bar­ baren sind, kann nicht sicher gesagt werden. Einerseits könnte es sich um weitere noma­dische Gruppen handeln. Vermutlich gab es – ähnlich der Situation mit Gonioten und Mastiten in der Mitte des 3. Jh. n.Chr. – viele regionale Nomadengruppen mit denen sich Rom auseinandersetzen musste. Komparativ sei ein Verweis auf Strabon gestattet, der für die an Oberägypten grenzenden Regionen neben Blemmyern und Nubiern (= Nobaten) auch Megabarer oder Tro­ 205 Eventuell könnte man diese Zahlungen mit den von Ῥωμεῖς zu leistenden συνήθεια in SB 3/6257 = SPP 3/132 = W.Chr. 7 in Verbindung bringen, wie dies Wilcken – allerdings ohne Problematisierung der von Prokop behaupteten Kontinuität der Zahlung von Diokletian bis Justinian I. – in der Chrestomathie in Erwägung zog. 206 Updegraff 1988, 74–79 u. 90 u. Dijkstra 2014, 305 kritisierten den Prokop-Bericht, in welchem sie die Nennung der Nobaten als anachronistisch ansehen. Dieser Stamm sei erst in der späteren Zeit wichtig geworden und hätte in der Zeit Diokletians keine Rolle gespielt. Dem ist dahingehend zu zustimmen, dass dokumentarische Belege für Nobaten im 3. Jh. fehlen. Allerdings kennen Strabon (17,2,786; 17,52,819) und Plinius maior (nat. hist. 6,192) Nubier bzw. Nobaten (?), die – ebenso wie die Nobaten in Prokops Text – westlich des Nils leben. Dass die Nobaten im 5. Jh. als angesiedelte Gruppe im Umfeld der Blemmyer eine größere Rolle spielten, beweist zudem der Brief des Phonen (SB 14/11957). In diesem geht es u.a. um einen Friedensvertrag zwischen Blemmyern und Νουβάδες (Z. 2). Außerdem belegt Priskos die Nobaten auch schon für das 5. Jh. Prokops Äußerung muss also nicht anachronistisch aus seiner eigenen Zeit geschöpft sein, denn das Fehlen von Quellenzeugnissen aus dem 4. Jh. ist nicht zwingend als Argument gegen den Autor auszulegen. Zudem muss auch hier wieder bedacht werden, dass der gleiche Stammesname nicht für eine gleiche indigene Gruppe stehen muss. 207 Wenn etwa Eusebios (vita Const. 1,8,3) schreibt, Konstantin der Große habe seine Herrschaft bis zu den Blemmyern und Äthiopiern gefestigt, kann sich dies nun auf die Grenze bei Assuan beziehen. 208 Prok., PB 1,19,30. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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glodyten nennt (s.o.).209 Auch für die Spätantike ist eine Vielzahl regionaler Stämme oder Stammes­gruppen anzunehmen, wodurch Prokops Formulierung verständlich wird. Die Mög­ lichkeit von zwei unterschiedlichen Blemmyer-Gruppen, die auf der Grundlage von Prokops Aussage greifbar werden, weist ebenfalls in diese Richtung. Andererseits wäre es auch denkbar, hinter dem Barbarenbegriff das meroitische Reich (s.u.) zu sehen, das nun der südliche Nachbar der Nobaten wurde. Prokop gibt auch an, dass die Heiligtümer in Philae für die „Barbaren“, die er in der Folge als Blemmyer und Nobaten identifiziert, zugänglich gewesen sind, was vermutlich ebenfalls Teil der vertraglichen Regelung gewesen sein muss.210 Diokletian hoffte, der gemeinsame Zugang zu den grenznahen Kultstätten würde eine Freundschaft zwischen Rom und den beiden nomadischen Völkern wachsen lassen.211 Nach Priskos spielte das Heiligtum von Philae als Verhandlungs- und Unterzeichnungsort des 100jährigen Friedensvertrags eine wichtige Rolle.212 Epigraphische Quellen zeigen, dass auch meroitische Beamte in Philae präsent waren (s.u.). Sie könnten ebenfalls hinter Prokops „Barbaren“ stecken. In Zusammenhang mit den beiden Aufstandsbewegungen der 290er Jahre oder mit Ein­ fällen von Nomaden stehen wahrscheinlich Truppenbewegungen, die durch P.Oxy. 1/43 recto = P.Lond. 3/748 descr. aufgezeigt werden.213 Die Urkunde dokumentiert Lieferungen an römische Militäreinheiten in Oxyrhynchos im Februar 295 n.Chr. Genannt werden die legio IV Flavia, die legio VII Claudia und die legio XI Claudia, die ursprünglich in der Provinz Moesia superior bzw. Moesia inferior stationiert waren.214 Eventuell waren die eigentlich in Dakien stehenden legio V Macedonia und legio XIII Gemina ebenfalls in Ägypten anwesend.215 Die Präsenz dieser Truppen in Mittelägypten kann aus chronologischen Gründen nicht mit der Usurpation des L. Domitius Domitians und des Aurelius Achilleus in Verbindung stehen.216 Für die Niederwerfung eines regionalen Aufstands, als welchen man die Erhebung von Koptos und Boresis deuten muss, scheint ein solches Truppenaufgebot überzogen zu sein. Vielleicht kam es in den Jahren 295 und 296 n.Chr., also in dem Zeitraum zwischen den beiden Provinzaufständen, zu Bedrohungen durch Nomaden. Eventuell zeigen die Truppenverlegungen, die durch P.Oxy. 1/43 für 295 n.Chr. ersichtlich werden, an, welche militärischen Anstrengungen notwendig gewesen wären, um nomadische Übergriffe dauerhaft abwehren zu können. Eine solche ständige Massierung von Truppen am Nil führte andernorts zu Problemen.217 Vielleicht war dies der Grund für Diokletian, die Grenze 209 Strab. 17,2,786; 17,52,819. 210 Prok., PB 1,19,34. Priskos (Frg. 21) bestätigt dies. Er führt u.a. aus, dass die Blemmyer zu bestimmten Zeiten die hölzerne Statue der Isis von Philae in ihr eigenes Land bringen würden, um dort Orakelsprüche zu empfangen. Danach würden sie das Kultbild wieder nach Philae überführen. 211 Prok., PB 1,19,34. 212 Prisk., Frg. 21. Offensichtlich befanden sich auch die gestellten Geiseln unweit der Provinzgrenze. Ver­ mutlich lebten sie in Philae und konnten von dort nach dem Tod des Maximinos und dem Bruch des 100jährigen Friedens binnen kurzer Zeit von den Blemmyern wieder „befreit“ werden. 213 Ausführlich zu P.Oxy. 1/43: Ensslin 1952. 214 P.Oxy. 1/43 recto Col. II Z. 22 u. Col. V Z. 13, 23 u. 26; cf. Barnes 1976, 180 f.; Schaub 2014, 202 mit der weiteren Literatur. 215 Schaub 2014, 202 mit Verweis auf den grundlegenden RE-Artikel von Emil Ritterling. 216 Ensslin 1952, 177. 217 Es ist zweifellos kein Zufall, dass für 294 und 295 n.Chr. Einfälle in die Provinzen in Dakien und Mösien verzeichnet sind. Die Abwesenheit der Truppen dürfte hiermit in Verbindung stehen; cf. Demandt 2007, © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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nach Norden zu verlegen und mit den Nobaten und Teilen der Blemmyern durch Ansiedlung bzw. Geldzahlungen eine Übereinkunft zu finden. Die Kosten der dauerhaften Stationierung von römischen Militäreinheiten im äußersten Süden der Provinz werden von Prokop explizit betont. Gelegentlich wird in der Forschung angenommen, dass durch die neue Grenzziehung ein Status quo offiziell anerkannt worden sei, der eigentlich seit der Mitte des 3. Jh. vorgeherrscht habe.218 Lässt sich aber ein u.a. durch Blemmyer-Einfälle entstandener römischer Kontroll­ verlust in Oberägypten, insbesondere im Dodekaschoinos, ab den 250er Jahre in den Quellen nachweisen? Ein Brief eines römischen Präfekten aus Primis (heute Qasr Ibrim), der vor 247 n.Chr. geschrieben wurde, belegt die Anwesenheit des Militärs in der ersten Hälfte des 3. Jh. n.Chr. im Do­de­kaschoinos.219 Ob es schon vor 298 n.Chr. zu einem Abzug der Soldaten aus Primis, das als Militärstützpunkt seit augusteischer Zeit bekannt ist, kam, bleibt offen. Bis 251 n.Chr. ist römische Präsenz im Steinbruch von Kertassi gesichert.220 Zudem dokumentiert ein römischer Meilenstein221 aus Talmis (h. Kalabscha), der aufgrund des Formulars zwischen 295 und 305 n.Chr. entstanden sein kann, die römische Präsenz im Dodekaschoinos am Ende des 3. Jh. n.Chr.; aus der Rücknahme der Grenze im Jahr 298 n.Chr. ergibt sich ein terminus ante quem für den Meilenstein. Auch P.Oxy. 1/43 muss nochmals angeführt werden. Der Papyrus bezeugt nicht nur die Anwesenheit von Truppen in Oxyrhynchos im Jahr 295 n.Chr., sondern dokumentiert auch die Präsenz einer Kameleinheit der römischen Armee in Elephantine.222 Dies erfolgt zweifellos als Maßnahme zur Sicherung der Südgrenze.223 War die römische Herrschaft im Zwölfmeilenland also wirklich schon ab der Mitte des 3. Jh. n.Chr. instabil? Die angeführten Zeugnisse sprechen eher dagegen. Allerdings eröffnet eine griechische Inschrift einen interessanten Einblick. Es handelt sich um ein in das Jahr 247/248 n.Chr. datierendes Dekret des Strategen Aurelios Besarion, welches aus dem Mandulis-Tempel in Talmis stammt.224 Die Inschrift zeigt zunächst eindeutig, dass das Zwölfmeilenland kein eigener Gau war, denn Aurelios Besarion war Stratege des Ombites sowie von Elephantine.225 Wichtiger ist aber, dass man einen indirekten Einblick in den Zustand des Heiligtums erhält: Dieses wurde von Schweinen heimgesucht, die in den Tempel vorgedrungen waren. Ihre Besitzer werden per Dekret angewiesen, die Tiere binnen 15 Tagen aus dem Dorf Talmis zu entfernen, damit die üblichen Bräuche wieder im Heiligtum vollzogen werden können.226 Die Situation wirkt sehr chaotisch, woraus man auf eine instabile Lage der öffentlichen Ordnung 63 mit den Quellen. So etwa Hölbl 2005, 329. P.Oxy. 12/1511 descr. = ChLA 4/265; cf. Desanges 1988, 32; Lohwasser 2008, 573. Lohwasser 2008, 575. CIL III 14148³. P.Oxy. 1/43 Col. II Z. 1–5. Ensslin 1952, 178. OGIS I 210 = CIG III 5069; cf. Pfeiffer 2015, 325–328, Nr. 78; Bingen 1997; Bagnall – Rathbone 2004, 246 f. 225 Pfeiffer 2015, 327. 226 Z. 4–10: κελεύσαντος πάντας τοὺς χοίρους ἐξελασθῆναι / ἀπὸ ἱεροῦ κώμης Τάλμεως τῆς ιβʹ σχοί(νου), 218 219 220 221 222 223 224

παραγγέλλε/ ται πᾶσι τοῖς κεκτημένοις χοίρους τούτ ἐξε/λάσαι ἐντὸς πεντε­καίδεκα ἡμερῶν ἀπὸ τῆς προ/κειμένης κώμης, πρὸ ὀφθαλμῶν ἔχουσι τὰ περὶ τούτου / κελευσθέντα πρὸς τὸ δύνασθαι τὰ περὶ τὰ ἱερὰ θρήσ/κια κατὰ τὰ νενομισμένα γείνεσθαι. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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schließen könnte. Aber handelt es sich bei dem Einblick, der durch das Dekret eröffnet wird, um einen dauerhaften Zustand oder lediglich um eine Momentaufnahme? War die missliche Lage nach kurzer Zeit wieder behoben? Immerhin dokumentiert die Inschrift zweifelsfrei, dass die staatliche und religiöse Obrigkeit die Situation wieder ordnen wollte. Neben Aurelios Besarion wird in der Inschrift auch ein Myron genannt, der als Vertreter des höchsten Priesters der Provinz den Missstand in Talmis an den Strategen gemeldet hatte (τοῦ κρατ(ίστου) Μύρωνος δια / δεχομέν(ου) τὴν ἀρχιερωσύνην δι’ ὧν μοι ἔγραψ(ε); Z. 2 f.).227 Ob man basierend auf OGIS I 210 also wirklich von einem Verlust staatlicher Kontrolle in der Region um Talmis ausgehen darf, ist aufgrund des diachronen Charakters der Quelle nicht sicher anzunehmen. Weitere griechische und demotische Inschriften bieten Einblicke in die Situation in der zweiten Hälfte des 3. Jh. n.Chr. Ein meroitischer Gesandter namens Tami ließ um 260 n.Chr., also in der Zeit des L. Mussius Aemilianus, eine griechische Inschrift 228 in Philae anbringen. In dieser wird mitgeteilt, dass er, Tami, nach einer siebenjährigen Kriegsphase Frieden geschlossen und einen Priester in Philae eingesetzt habe.229 Bezieht sich dies auf einen Friedensschluss zwischen Rom und Meroe? Gehörten vielleicht sogar die Meroer zu den gentes barbarorum, die 260 n.Chr. von Aemilianus mittels seiner auctoritas abgewehrt wurden? Diese Fragen können nicht sicher beantwortet werden. Durch ein weiteres inschriftliches Zeugnis, einen Graffito aus dem Jahr 253 n.Chr.,230 wird über den Beamten Tami mitgeteilt, dass er 13 Jahre lang für die Tempelverwaltung in Philae gearbeitet hat. Ferner wird mitgeteilt, dass es in dieser Zeit eine militärische Zusammenarbeit zwischen Rom und Meroe gegen einen gemeinsamen Feind gegeben hat.231 Tami selbst konnte deshalb, nach Aussage des Graffito, nicht von Philae nach Meroe bzw. in den Süden reisen. Drei Jahre lang leistete er weiterhin Dienst in Philae, wodurch man für die Kampfhandlungen einen terminus ante quem 250 bis 253 n.Chr. eruieren kann. In einem weiteren demotischen Graffito aus dem Jahr 255/256 n.Chr. wird beklagt, dass das ganze Land in Aufruhr sei.232 Kann man diese Quellenzeugnisse in einen chronologischen und kausalen Zusammenhang bringen? Beschloss der belegte Frieden (260 n.Chr.) die Kampfhandlungen, die Rom und Meroe in den 250er Jahren gegen einen auswärtigen Feind führten? Oder wurden die gemeinsamen Kämpfe bis in die Mitte des Jahrzehnts abgeschlossen und es kam dann am Ende der 250er Jahren zu einem Konflikt zwischen den früheren Partnern, welcher 260 n.Chr. in einem Frieden beigelegt wurde? Weitere demotische Texte aus Philae überliefern die Gesandtschaftsreisen eines meroitischen Beamten namens Pasan um 251/252 n.Chr. sowie von Familienmitgliedern der WayekiyeFamilie in etwa der gleichen Zeit.233 Der zweite Text bestätigt zudem auch, dass Meroe über das 227 Pfeiffer 2015, 327; zu dem Priesteramt allgemein: Pfeiffer 2010, 270–278. 228 SB 1/4101 = I.Phil. II 181: Τὸ προσκύνημα τοῦ ἀξιολογωτάτου πρεσβευτ[οῦ] / Τᾶμις παρὰ τῇ μυριω­νύμῳ Ἴσιδι Φιλῶν καὶ Ἀβάτου / μετὰ ἑπταετίας χρόνον ἐλθὼν εἰρήνην πεποίηκε / καὶ ἐπ’αὐτοῦ τὸν προφήτην ἐστεφάνωτε, ἔτους η Τῦβι α; weitere Literatur bietet Lohwasser 2008, 573.

229 Cuvigny 2014, 190; Török 1988b, 284. 230 Graff. Phil. 417; Lohwasser 2008, 574; Török 1988a, 101. Nach Hoffmann 2000, 240 stammt dieser Text „wohl vom Ende des dritten Jahrhunderts oder noch etwas später“. Ich folge hier jedoch der Angabe von Angelika Lohwasser. 231 Lohwasser 2008, 574. 232 Graff. Phil. 301; Übers. nach Hoffmann 2000, 240. 233 Graff. Phil. 410 u. 416; Übers. nach Hoffmann 2000, 234–239. Pasan befand sich auf einer Reise nach Rom, womit durchaus die Tiberstadt bzw. der Kaiserhof gemeint sein könnte. Eusebios überliefert die Anwesenheit von Gesandten der Blemmyer und Äthiopier (= Meroiten?) am Hof Konstantins (vita Const. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Dreißigmeilenland direkt geherrscht hat. Die beiden Gesandten führen u.a. den Titel „Prinzen des Triakontaschoinos“;234 beide „Prinzen“ gehören der Wayekiye-Familie an, die von der Mitte 2. Jh. bis in das 3. Jh. n.Chr. im meroitischen Königreich einigen Einfluss besessen haben muss und auch in Philae präsent war.235 Diese epigraphischen Quellen, die teilweise sehr detaillierte Berichte über die Tätigkeiten der meroitischen Gesandten und ihre diplomatischen Aufgaben geben, zeigen keinerlei Anzeichen von Spannungen oder Krieg zwischen Rom und Meroe. Vielleicht muss dem für 260 n.Chr. durch die griechische Inschrift des Tami bezeugten Friedenschluss nicht zwingend ein militärischer Konflikt vorausgegangen sein. Könnte nicht auch die Erneuerung vertraglicher Einigungen wie sie für die Kämpfe gegen gemeinsame Feinde in den frühen 250er Jahren ersichtlich sind, als Friedensvertrag gedeutet werden? Eine namentliche Identifizierung des gemeinsamen Gegners bleibt hypothetisch, aber es dürfte sich wohl um nomadische Stämme gehandelt haben; wahrscheinlich waren damals bereits Nobaten und Blemmyer, mit denen Diokletian dann 298 n.Chr. Übereinkünfte aushandelte, von einiger Bedeutung. Das Schweigen der literarischen Quellen über Einfälle in den 250er Jahren zeigt an, dass die Situation im Zwölfmeilenland wahrscheinlich nicht wirklich bedrohlich gewesen sein dürfte. In etwa zeitgleich kam es gegen Ende der 250er Jahren zu Einfällen im Oxyrhynchites und Arsinoites durch libysche Nomaden (s.o.). Ein Zusammenhang ist jedoch aufgrund der enormen geographischen Entfernung auszuschließen. Die römische Strategie ist aber in beiden Fällen identisch: Man verbündete sich mit Gonioten und Meroiten gegen nomadische Ein­ dringlinge. Später versuchte man dies unter Diokletian auch mit den Nobaten, die – wie ge­ sehen – Teile der Blemmyer und andere Barbaren abhalten sollten. Wichtig erscheint auch, dass Diokletian das aufgegebene Gebiet des Zwölfmeilenlandes 298 n.Chr. offensichtlich nicht dem meroitischen Reich überlassen wollte, was vielleicht auf Konflikte zwischen beiden früheren Partnern in dieser Zeit hinweisen könnte. Diese hätten sich dann aber erst über 30 Jahre nach dem Friedensvertrag von 260 n.Chr. ergeben. Richtete sich die Ansiedlung der Nobaten sowie die Zahlungen an diese und an Teile der Blemmyer vielleicht indirekt gegen das meroitische Reich, zu dem Rom in den 290er Jahren auf Distanz ging? Schluss und Ausblick Synchrone Perspektive: Konfrontation und Kooperation Dank der Ostraka aus der östlichen Wüste ist es möglich, die Entwicklung der Beziehungen zwischen Rom und den Nomaden von trajanischer Zeit bis zu Diokletian vergleichend zu betrachten. Wie insbesondere die Ostraka aus Krokodilo zeigen, gab es in der ersten Hälfte des 2. Jh. vermehrt Probleme mit Barbaren, die Überfälle auf den Wüstenstraßen durchgeführt sowie Angriffe auf einzelne Stützpunkte unternommen haben. Unter Trajan und Hadrian kam es nach 109 bis ca. 123 n.Chr. zu mindestens drei größeren militärischen Aktionen gegen einzelne Stämme, wie dies O.Krok. 1/47, O.Krok. 1/94 und I.Pan. 87 dokumentieren. Gegen Ende 4,7,1). Dies findet eine papyrologische Bestätigung durch die Überlieferung zu Flavius Abinnaeus, der zwischen ca. 336–339 n.Chr. Blemmyer zum Kaiserhof begleitet hat; cf. Nechaeva 2014, 150; Barnes 1985, 369. 234 Hoffmann 2000, 239; Lohwasser 2008, 575 gibt „Fürsten des Triakontaschoinos“ an. 235 Cf. z.B. Vlemming 2015, 398, Nr. 2108 (Mitte 3. Jh.) u. 1 f., Nr. 1201 (1. Hälfte 3. Jh.) mit weiteren Quellenbelegen; Hoffmann 2000, 238–240. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Konfrontation und Kooperation jenseits des Niltals

243

des 2. Jh. scheinen die Hinweise auf Probleme durch Barbaren abzunehmen und aus der ersten Hälfte des 3. Jh. ist mit O.Did. 44, der am Beginn des Jahrhunderts entstanden ist, nur ein entsprechender Beleg überliefert. Die dokumentarischen Quellen schweigen dann bis in die zweite Hälfte der 250er Jahre, als es im Oxyrhynchites und Arsinoites zu Einfällen von libyschen Gruppen, den Gonioten und Mastiten, gekommen ist. Bei diesen handelte es sich aber sehr wahrscheinlich nicht um die Barbaren, die Jahrzehnte zuvor zwischen Koptos, Myos Hormos und Berenike in der östlichen Wüste aktiv waren. Die Ansprache als Libyer verweist auf Stämme, die aus dem Westen nach Ägypten eingedrungen sind. Diese Einfälle blieben eine Episode, es handelte sich sicherlich nur um regionale Übergriffe, wie sie auch durch das von Eusebios tradierte Dionysios-Fragment für die Mareoter nahe von Parätonium bezeugt sind. Zudem bezeugen wenige inschriftliche Belege für die Zeit um ca. 260 n.Chr., dass Rom und Meroe gegen gemeinsame Feinde, vermutlich nomadische Gruppen, vorgegangen sind. Danach fehlen erneut dokumentarische, insbesondere papyrologische Quellen, die für die zweite Hälfte des 3. Jh. n.Chr. Probleme mit Barbaren anzeigen könnten. Die weiteren Hinweise beruhen ausschließlich auf den literarischen Zeugnissen. In der Zeit des L. Mussius Aemilianus war die Thebais angeblich von Barbaren bedroht. 272 n.Chr. soll Firmus Barbaren im Zuge seiner Erhebung eingesetzt haben. Unter Probus spielten die Blemmyer 279 n.Chr. bei dem Aufstand der Städte Koptos und Ptolemais eine Rolle. Neuerliche Probleme muss es in den 290er Jahren unter Diokletian gegeben haben, der schließlich Nobaten und Blemmyer angesiedelt bzw. an sie Geldzahlungen geleistet hat. Sichere dokumentarische Parallelquellen gibt es für diese Vorfälle nicht. Insbesondere die Blemmyer werden in Papyri und Inschriften nicht fassbar. Insgesamt zeigt sich eine deutliche Entwicklung: Es gab Konflikte und Konfrontationen in der ersten Hälfte des 2. Jh., die ab antoninischer Zeit langsam abnehmen und in severischer Zeit enden. In der Mitte des 3. Jh. erfolgt dann die libysche Episode, und ab ca. 260 n.Chr. ist in der Thebais und im weiteren Süden der Provinz wieder eine Bedrohung vorhanden, die aber vorrangig nur durch literarische Quellen überliefert ist. Wie ist die Abnahme der Konflikte im späten 2. Jh. und im frühen 3. Jh. n.Chr. zu erklären? Zum einen ging Rom, neben Maßnahmen wie Geleitschutz etc., militärisch gegen störende Barbarengruppen vor, was aber vermutlich nur zu punktuellen Veränderungen geführt haben dürfte. Zum anderen sind auch archäologisch nachweisbare fortifikatorische Maßnahmen anzuführen, die in der Phase abnehmender Bedrohungsbelege fassbar sind. Wesentlicher dürfte aber die Strategie gewesen sein, einzelne nomadische Gruppen an die römische Obrigkeit zu binden. Dafür stellen die Texte des Baratit-Dossiers die beste, aber nicht die einzige Quelle dar. Diese Strategie wurde, wie dies O.Ber. 3/266 sowie O.Claud. inv. 529 und O.Claud. inv. 830 belegen, seit mindestens flavischer Zeit betrieben. In die Phase, in welcher die Belege für Konflikte und Bedrohung abnehmen, datiert schließlich das Baratit-Dossier sowie auch O.Did. 43 und O.Xer. inv. 570. Diese Quellen belegen nicht nur eindringlich ein friedliches Miteinander, sondern zeigen auch, dass die nomadischen Gruppen gezielt für Transportaufgaben von der römischen Administration integriert wurden. Neben der Baratit-Gruppe können vermutlich zwei weitere Gruppen – Araber (O.Claud. inv. 529 u. 830) sowie Alabiten (O.Krok. 1/49) – nachgewiesen werden, die in der östlichen Wüste mit Rom kooperierten; wobei anzumerken ist, dass von einer Pluralform in Einzelzeugnissen gewiss nicht immer sicher auf eine ganze Stammesgruppe zu

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folgern ist. Vermutlich war aber die Zahl von mit Rom verbundenen Gruppen insgesamt deutlich größer, wie der Nachweis von Einzelpersonen in O.Did. 40 oder O.Xer. inv. 465 andeutet. Die Strategie der römischen Administration war erfolgreich und wurde in den späten 250er Jahren, als es episodenhaft zu Einfällen von libyschen Mastiten und Gonioten kam, ebenfalls erfolgreich eingesetzt. Damals gelang es, einen Stamm oder Teile eines Stammes zur Kooperation mit Rom zu bewegen. P.Oxy. 33/2681 dokumentiert zweifelsfrei ein gemeinsames militärisches Agieren mit Goniotoi. Die Barbaren als Helfer bei Usurpationen und Aufständen? Wie ist der Anstieg von Konflikten im Süden der Provinz ab den 260er Jahren zu erklären? Sind die Auseinandersetzungen überhaupt mit der Situation des 2. Jh. vergleichbar? Warum es in der zweiten Hälfte des 3. Jh. n.Chr. wieder zu Konflikten mit nomadischen Stämmen, insbesondere mit den ab jetzt so wirkmächtigen Blemmyern, gekommen ist, lässt sich aufgrund des Fehlens dokumentarischer Quellen nicht sicher sagen. Bedenkt man aber die römische Strategie, die erfolgreich einzelne Gruppen zur Kooperation bewegt hat, ergibt sich eine neue Interpretationsmöglichkeit und es erscheinen meiner Meinung nach einige Angaben der literarischen Quellen in einem anderen Licht. Die Ausführungen über den Usurpator Firmus, der wohl über wirtschaftliche Beziehungen zu nomadischen Gruppen verfügt haben dürfte, sind vielleicht dahingehend zu interpretieren, dass hier ein einflussreicher und wohlsituierter Parteigänger der Palmyrener im Jahr 272 n.Chr. versuchte, die Macht zu ergreifen. Zu diesem Zwecke sucht er, der die Bestrafung durch Aurelians Truppen zu befürchten hatte, militärisch einsetzbare Verbündete. Die nomadischen Barbaren, mit welchen er wirtschaftliche Beziehungen pflegte, könnten hier ein willkommener Partner gewesen sein. Ganz ähnlich kann man die Situation rund um den Aufstand von Koptos und Ptolemais im Jahr 279 n.Chr. deuten, sofern man dem Bericht des Zosimos folgt. Wie muss man sich die Erhebung einer Stadt gegen Rom vorstellen? Vermutlich waren es einzelne einflussreiche und sicherlich auch monetär gut gestellte Personen, die den Aufstand organisiert und entfacht haben. Zu diesem Zweck bedarf es militärischen Potenzials und einer gewissen Mannstärke, damit ein solches Unterfangen überhaupt in Bewegung geraten kann. Die Rolle, die die Blemmyer in dieser Situation spielten, könnte wiederum darin bestanden haben, dass sie oder Teile von ihnen mit einzelnen Einwohnern der Städte wirtschaftliche Kontakte pflegten. Über diese Verbundenheit generierte sich vielleicht die Möglichkeit, die Nomaden als militärische Helfer zu engagieren. Die Dank der Ostraka ersichtliche römische Strategie, nomadische Gruppen an die staatlichen Strukturen zu binden, friedliche Beziehungen aufzubauen und die Barbaren für bestimmte Aufgabenbereiche zu nutzen, hat nicht nur dazu geführt, dass bis in die erste Hälfte des 3. Jh. n.Chr. die Konflikt- und Bedrohungsszenarien in der östlichen Wüste abnahmen, sondern führte schließlich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch dazu, dass Nomaden inzwischen so eng mit einzelnen Personen oder Städten verbunden waren, dass man sie für Usurpationen und Aufstände anwerben oder gewinnen konnte. Die Episoden zu Firmus 272 n.Chr. und dem Städteaufstand 279 n.Chr. können vor dem Hintergrund der durch die Ostraka greifbaren Informationen neu interpretiert werden. In den ca. 50 Jahren zwischen dem Rückgang der Belege für Konflikte und Bedrohungen in der östlichen Wüste und dem Beginn der Blemmyerprobleme hat sich die von Rom gewünschte Integration nomadischer Gruppen

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Konfrontation und Kooperation jenseits des Niltals

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fortgesetzt. Die Beziehungen waren inzwischen so eng geworden, dass es für Einzelne auch möglich war, Nomaden gezielt gegen die römische Herrschaft einzusetzen. Zwischen der Barbarengefahr, die durch die Ostraka für das 2. Jh. greifbar wird, und der Bedrohung durch die Blemmyer ab ca. 260 n.Chr. besteht schließlich ein gravierender struktureller Unterschied: Die Barbaren des 2. Jh. behinderten phasenweise den Gütertransport in der östlichen Wüste, waren eine Bedrohung für Karawanen und einzelne praesidia. Aber von ihnen ging keine allgemeine Gefahr für die Provinz oder gar für die römische Herrschaft aus. Im 3. Jh. hatte sich dieses Problem zwischen Nil und Roten Meer dank der römischen Strategie der Anbindung einzelner Stämme abgeschwächt. Die gewachsene Nähe einzelner Personen oder Gemeinwesen zu nomadischen Gruppen wurde nun aber zu einer anderen Gefahr: Barbaren konnten im Zuge von Usurpationen und Aufständen instrumentalisiert und ihr militärisches Potenzial gezielt gegen Rom eingesetzt werden. Dies war zwar in keinem einzigen Fall dauerhaft erfolgreich und zeugte allgemein auch von einer geringen Weitsicht der Protagonisten, dürfte aber letztlich indirekt die Folge des Bemühens gewesen sein, Stämme dauerhaft an die römische Herrschaft und Administration zu binden. Die Tatsache, dass die Blemmyer und andere Barbaren in der zweiten Hälfte des 3. Jh. in den literarischen Quellen erwähnt werden, liegt wahrscheinlich nur daran, dass sie an Aufständen partizipierten, die sich gegen die römische Herrschaft wendeten. Die vielfache Bedrohung des Verkehrs auf den Wüstenstraßen sowie einzelne militärische Maßnahmen gegen die barbaroi im 2. Jh. fanden keinen Eingang in die antike Literatur – der Grund dafür ist der hier skizzierte strukturelle Unterschied. Zäsur unter Diokletian Die Rücknahme der Grenze 298 n.Chr. war zweifellos eine tiefe Zäsur in der Provinzgeschichte. Dass es bereits seit der Mitte des Jahrhunderts aufgrund von Nomadeneinfällen zu einem spürbaren Kontrollverlust Roms südlich von Assuan gekommen sein soll, lässt sich meiner Meinung nach anhand der Quellen nicht belegen. Diokletians Entscheidung dürfte dadurch zu erklären sein, dass der Aufwand für eine militärische Kontrolle im Süden zu groß geworden war. Dies könnte auch daran liegen, dass die bisherige Strategie, Nomadengruppe durch Kooperationen an Rom zu binden, inzwischen auch zu den skizzierten Problemen führen konnte. Zudem dürfte die Partizipation der Blemmyer und anderer Barbaren an missglückten Usurpationen und Aufständen (272 und 279 n.Chr.) vermutlich zu einer neuen Verhärtung oder allgemein neuem Misstrauen zwischen römischer Administration und nomadischen Gruppen geführt haben; wobei zu sagen ist, dass die dokumentarischen Quellen hierfür keine Evidenz bieten! Ein Strategiewechsel ist 298 n.Chr. ersichtlich: Man zog die Südgrenze zurück und einigte sich mit Nobaten und Blemmyern, die nun jenseits der neuen Grenzen leben sollten. Aus einer sich in der Provinz bewegenden Gefahr – die Barbaren konnten nicht nur selbst Überfälle durchführen, sondern stellten inzwischen eben auch einen Rekrutierungspool für mögliche Auf­standsbewegungen dar – wurde so ein auswärtiger Partner. Dass hier der Versuch unternommen wurde, nomadische Gruppen fest anzusiedeln und als verlässliche Vertragspartner anzuerkennen – man denke etwa an die Regelung des Zugangs zum Heiligtum in Philae –, ist bemerkenswert und ein Novum in der Geschichte der römisch-nomadischen Beziehungen in Ägypten. Dies ist als Folge der seit ca. zweieinhalb Jahrhunderten praktizierten Strategie, die Barbaren für Kooperationen zu gewinnen, zu verstehen. So wie man etwa mit Meroe um 260 n.Chr. gemeinsam gegen Nomaden Krieg führte (Tami-Inschrift), so sollten nun auch die

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Patrick Reinard

nomadischen Nobaten/Blemmyer an der Südgrenze zu einem Partner – wahrscheinlich gegen Meroe gerichtet – werden. Ausblick: Das 2. Jh. und das 3. Jh. n.Chr. im Vergleich In den meisten Überblicksdarstellungen und Handbüchern wurde und wird stets die Gefahr, die von Blemmyern ab der Mitte des 3. Jh. n.Chr. ausging, betont.236 Nicht selten wird die vermeintliche Blemmyergefahr auch mit der sog. Krise des 3. Jh. kombiniert. Allzu oft zeigt sich hier die starke Wirkmacht der literarischen Quellen, während der papyrologische Befund nur selten rezipiert wird. Kai Ruffing hat mit Blick auf die Quellennachrichten über die Blemmyergefahr ab Decius mit Recht die Frage aufgeworfen, „inwieweit sich die Zustände im 3. Jahrhundert n.Chr. von denen in den beiden Jahrhunderten zuvor unterschieden“. Wie hier gezeigt werden konnte, war die Gefahr im 2. Jh. n.Chr. anscheinend höher, die dokumentarischen Quellen verdeutlichen dies. Die Blemmyer und andere gentes barbarorum sind im 3. Jh. n.Chr. in den literarischen Quellen nur deshalb so prominent, weil sie im Zusammenhang mit politischen Erhebungen oder Usurpationen auftraten und man sie – so die hier vorgelegte Interpretation – instrumentalisieren konnte. Es sei außerdem betont, dass in der östlichen Wüste sehr wahrscheinlich zu allen Zeiten eine gewisse Gefahr von nomadischen Wüstenstämmen ausging. In arabischer Zeit blieben Über­ griffe von nomadischen Gruppen in der östlichen Wüste ein strukturelles Problem. Der Geo­ graph al-Mas’udi berichtet exemplarisch im 10. Jh. über den Beduinenstamm der Bedscha, diese würden nördlich von Äthiopien zwischen Nil und Rotem Meer in mehrere einzelne Stämme aufgeteilt leben und auf Kamelen häufig Raubzüge unternehmen, auf welchen sie Gefangene verschleppen würden.237 Überfälle der Trogodyten/Troglodyten sind bereits in ptolemäischer Zeit in epigraphischen Quellen238 greifbar und im Periplus Maris Erythraei 4 wird betont, dass Adulis, der wichtige Hafenort jenseits der Provinzgrenzen im Süden, im 1. Jh. n.Chr. von Überfällen bedroht war. Zugleich zeigen Papyri, dass einzelne Trogodyten in vorrömischer Zeit durchaus in der Gesellschaft des Niltals integriert waren und etwa wirtschaftliche Beziehungen pflegten. Es gab also immer das Nebeneinander von Problemen und Konflikten einerseits sowie fried­lich-integrativen Annäherungen andererseits. Für die Bedrohungen, die von Nomaden in der hohen Kaiserzeit ausging, konnte hier aber eine synchrone Entwicklung aufgezeigt werden, die eine Zunahme der Gefahr im 3. Jh. als sehr zweifelhaft erscheinen lässt. Dabei ist es durchaus interessant, in einer geweiteten Perspektive der Frage nachzugehen, inwieweit das Leben im 3. Jh. im Vergleich zur früheren Zeit unsicherer oder bedrohter war. Eine ausführliche Aufarbeitung dieses Themas müsste in einer eigenen Studie erfolgen, wobei neben den Problemen mit Barbaren auch weitere allgemeinere Inhalte wie Überfälle und Unruhen, 236 So z.B. in der sehr lesenswerten Darstellung der nachantiken Geschichte Ägyptens von Pink 2014, 18: „Die Schwäche der römischen Herrschaft zeigte sich unter anderem darin, dass von Süden her der nubische Stamm der Blemmyer begann, Überfälle auf Oberägypten durchzuführen, die zu einem über Jahrhunderte anhaltenden Problem werden sollten“. Auch in seinem unersetzlichen Standardwerk zum spätantiken Ägypten lässt Bagnall 1993, 146 die nomadische Bedrohung in der Mitte des 3. Jh. n.Chr. beginnen: „Nubien desert tribes, generally referred to by the sources as Blemmyes, moved north and began to menace Upper Egypt with their raids.“ 237 Den arabischen Text in deutscher Übersetzung bietet: Rotter 1978, 192. 238 Casson 1989, 99 mit der Literatur. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Konfrontation und Kooperation jenseits des Niltals

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Erhebungen und Aufstände, Einbrüche und Diebstähle, Gewalttaten und Morddelikte etc. zu berücksichtigen wären. Dies kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht geleistet werden. Hier soll aber lediglich, aufbauend auf der bereits geleisteten Untersuchung der synchronen Entwicklung der Barbarengefahr ein kursorischer Vergleich der Quellenbelege für Unruhen, Kriege, Aufstände, Überfälle, Raubdelikte, Gewalttaten, Einbrüche etc. geboten werden, der letztlich nicht vollständig, aber repräsentativ ist. Die Quellenbelege sind tabellarisch zusammengestellt, wobei auf mehrfache Nennungen verzichtet wurde. Eingaben liefern häufige Be­ lege für Gewalttaten und Diebstähle, da beides oft untrennbar ist. Solche Quellen wurden aber nur unter einem Schlagwort in der Tabelle verzeichnet.239 Quellenbeleg

Datierung

„Schlagwort“

2. Jahrhundert O.Krok. 1/60

98–125 n.Chr.

Barbarengefahr

P.Louvre. 2/102

Ende 1./Anfang 2. Jh. n.Chr.

Diebstahl

SB 16/12470

Ende 1./Anfang 2. Jh. n.Chr.

Gewalt

P.Mich. 8/473

frühes 2. Jh. n.Chr.

Mord

P.Mich. 8/478

frühes 2. Jh. n.Chr.

Unruhe (Judenaufstand?)

O.Krok. 1/61

102/103 od. 121/122 n.Chr.

Barbarengefahr

P.Oxy. 38/2852

104/105 n.Chr.

Raub

SB 10/10218

104/105 n.Chr.

Gewalt

Dion. Chrys. 32

ca. 105–112 n.Chr.

Unruhen in Alexandria

BGU 4/1036

107 n.Chr.

Raub

O.Krok. 1/6

108 n.Chr.

Barbarengefahr

O.Krok. 1/10

108 n.Chr.

Barbarengefahr

O.Krok. 1/8

108 n.Chr.

Barbarengefahr

O.Krok. 1/93

108–115 n.Chr.

Unruhe

O.Krok. 1/26

ca. 109 od. später

Barbarengefahr

O.Krok. 1/41

ca. 109 od. später

Barbarengefahr

O.Krok. 1/42

ca. 109 od. später

Barbarengefahr

O.Krok. 1/47

ca. 109 od. später

Barbarengefahr

O.Krok. 1/49

ca. 109 od. später

Barbarengefahr

O.Krok. 1/50

ca. 109 od. später

Barbarengefahr

P.Oxy. 36/2758

ca. 110–112 n.Chr.

Gewalt

P.Brem. 28 V

113–120 n.Chr.

Mord

P.Brem. 40

113–120 n.Chr.

Diebstahl

BGU 1/22

114 n.Chr.

Raub

239 Die Auflistung beruht auf einer Datenbankrecherche sowie der von Bryen 2013 gebotenen Textsammlung. Aufgenommen wurden lediglich griechische Zeugnisse. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Patrick Reinard

Quellenbeleg

Datierung

„Schlagwort“

P.Brem. 26

114–116 n.Chr.

Mord

P.Mil.Vogl. 2/47; P.Giss. 1/27; P.Brem. 1; P.Brem. 11; P.Oxy. 3/500 etc. (cf. CPJ II); App. civ. 2,90; Cass. Dio 68,32,1 f.; Oros. 7,12,6 f.; Euseb., hist. eccl. 4,2

ca. 115–117 n.Chr.

Jüdischer Aufstand

P.Giss. 1/82

117 n.Chr.

Überfall

P.Brem. 37

117–120 n.Chr.

Mord

P.Mert. 2/65

118 n.Chr.

Überfall

O.Krok. 1/94

ca. 118 n.Chr.

Krieg

O.Krok. 1/87 Col. I Z. 14–50

nach 118 n.Chr.

Barbarengefahr

O.Krok. 1/87 Col. II Z. 98–106

nach 118 n.Chr.

Barbarengefahr

O.Krok. 1/87 Col. I Z. 51–62

nach 118 n.Chr.

Barbarengefahr

O.Krok. 1/87 Col. II Z. 76–88

nach 118 n.Chr.

Barbarengefahr

O.Krok. 1/87 Col. II Z. 107–122

nach 118 n.Chr.

Barbarengefahr

P.Hamb. 4/240

119/120 n.Chr.

Gewalt

P.Mich. 9/525

119–124 n.Chr.

Einbruch

Cass. Dio 69,8,1a; HA, Hadr. 12,1

121/122 n.Chr.

Unruhe in Alexandria

I.Pan. 87

ca. 122/123 n.Chr.

Sieg gegen Agriophagen

P.Strasb. 5/401bis = P.Strasb. 4/242

123 n.Chr.

Gewalt

P.Amh. 2/66 Col. II; P.Münch. 3/66

nach 124 n.Chr.

Mord

P.Sarap. 1 = BGU 3/759

125 n.Chr.

Raub

P.Strasb. 6/216

126/127 n.Chr.

Diebstahl

P.Mich. 10/581

ca. 126–128 n.Chr.

Diebstahl

P.Tebt. 2/331

126–132 n.Chr.

Überfall

P.Oslo 2/22 = P.Choix. 5

127 n.Chr.

Gewalt

P.Ryl. 2/122

127 n.Chr.

Diebstahl

P.Hamb. 1/95

ca. 128 n.Chr.

Diebstahl

P.Fay. 107

133 n.Chr.

Diebstahl

P.Louvre 1/2

133 n.Chr.

Raub

P.Brook. 3

137 n.Chr.

Diebstahl

PSI 8/883

137 n.Chr.

Diebstahl

BGU 1/256

137–142 n.Chr.

Gewalt

BGU 13/2240

138–142 n.Chr.

Diebstahl

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Konfrontation und Kooperation jenseits des Niltals

Quellenbeleg

Datierung

249

„Schlagwort“

P.Oslo 3/84

138–161 n.Chr.

Diebstahl

P.Amh. 2/77

139 n.Chr.

Gewalt

P.Athen. 38

141 n.Chr.

Diebstahl

P.Oxy. 10/1272

144 n.Chr.

Diebstahl

BGU 2/589

ca. 144 n.Chr.

Überfall

P.Kron. 6

ca. 144 n.Chr.

Diebstahl?

O.Claud. inv. 488

ca. 145 n.Chr.

Barbarengefahr

P.Ross.Georg. 2/20

146 n.Chr.

Gewalt

P.Mich. 3/174

146/147 n.Chr.

Gewalt

SB 20/14401

147 n.Chr.

Gewalt

P.Wisc. 1/33

nach 147 n.Chr.

Gewalt

PSI 13/1323

147/148 n.Chr.

Gewalt

P.Grenf. 1/47

148 n.Chr.

Diebstahl

SB 14/11650

Mitte 2. Jh. n.Chr.

Unruhe

SB 12/11256

Mitte – Ende 2. Jh. n.Chr.

Diebstahl?

P.Münch. 3/73

150 n.Chr.

Diebstahl

O.Did. 27

zweite Hälfte 2. Jh. n.Chr.

Barbarengefahr

P.Thomas 14

zweite Hälfte 2. Jh. n.Chr.

Einbruch

P.Lond. 2/358

150–154 n.Chr.

Gewalt

O.Claud. inv. 7226

150–190 n.Chr.

Barbarengefahr

Aristeid., or. 26,70; HA, Pius 5,4 f. u. 7,11; Joh. Mal. 11,23

154/154 n.Chr.

Unruhe in Alexandria

P.Sijp. 16

155 n.Chr.

Raub

SB 14/12199

155 n.Chr.

Gewalt

P.Cair.Mich. 2/17

156–159 n.Chr.

Einbruch

BGU 2/388

ca. 157–159 n.Chr.

Mord

P.Mil.Vogl. 4/222

nach 157–159 n.Chr.

Raub

P.Fouad 1/26

158/159 n.Chr.

Gewalt

SB 22/15781

158/159 n.Chr.

Diebstahl

P.Berl.Leihg. 2/40

158–160 n.Chr.

Einbruch

PSI 16/1626

162 n.Chr.

Raub

SB 24/16252

163 n.Chr.

Gewalt

P.Gen. 2/107

164 n.Chr.

Raub

P.Oxy. 50/3561

165 n.Chr.

Gewalt

P.Harr. 2/192

167 n.Chr.

Gewalt

P.Tebt. 2/304

167/168 n.Chr.

Gewalt

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250

Patrick Reinard

Quellenbeleg

Datierung

„Schlagwort“

P.Fay. 108

169/170 n.Chr.

Überfall

BGU 11/2068

ca. 170 n.Chr.

Diebstahl

P.Oxy. 31/2563

ca. 170 n.Chr.

Diebstahl

BGU 3/769

172 n.Chr.

Raub

Cass. Dio 72,4; HA, Aur. 21,2; P.Thmouis 1

ca. 172/173 n.Chr.

Bukolenaufstand

BGU 15/2461

ca. 174 n.Chr.

Einbruch

P.Lond. 2/363

ca. 175 n.Chr.

Diebstahl?

P.Tebt. 2/332

176 n.Chr.

Raub

P.Gen.² 1/3

178/179 n.Chr.

Gewalt

SB 12/12678

179 n.Chr.

Gewalt

P.Col. 10/266

179–181 n.Chr.

Gewalt

BGU 3/731 Col. II

180 n.Chr.

Diebstahl

P.Prag. 3/220

nach 180/181 n.Chr.

Raub

SB 8/9853

182–187 n.Chr.?

Mord

P.Prag. 3/209

184 n.Chr.

Gewalt

SB 14/11904

ca. 184 n.Chr.

Gewalt

P.Lond. 2/342

185 n.Chr.

Gewalt

P.Cair.Mich. 2/18

186 n.Chr.

Überfall

P.Bagnall 8

186/187 n.Chr.

Barbarengefahr

P.Gen. 3/141

186/187 n.Chr.

Einbruch

BGU 1/242

187/188 n.Chr.

Raub

P.Mich. 9/527

187–189 n.Chr.

Diebstahl

P.Lips. 2/147

189 n.Chr.

Gewalt

O.Claud. inv. 7255

ca. 189 n.Chr.

Barbarengefahr

P.Coles 22

nach 189 n.Chr.

Gewalt

P.Köln 3/143

190 n.Chr.

Diebstahl

P.Oxy. 1/69

190 n.Chr.

Diebstahl

BGU 1/46

193 n.Chr.

Diebstahl

BGU 2/454

193 n.Chr.

Diebstahl

BGU 2/515

193 n.Chr.

Gewalt

P.Mich. 3/175

193 n.Chr.

Gewalt

SB 4/7469

193 n.Chr.

Diebstahl

P.Ryl. 2/116

194 n.Chr.

Gewalt

SB 3/6952

195 n.Chr.

Diebstahl

SB 12/11008

196 n.Chr.

Einbruch

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Konfrontation und Kooperation jenseits des Niltals

Quellenbeleg

Datierung

251

„Schlagwort“

P.Tebt. 2/330

196–198 n.Chr.

Einbruch

P.Mich. 6/423

197 n.Chr.

Diebstahl

P.Mich. 6/425

198 n.Chr.

Gewalt

BGU 1/75

2. Jh. n.Chr.

Mord

BGU 3/871

2. Jh. n.Chr.

Raub

BGU 13/2242

2. Jh. n.Chr.

Einbruch

O.Dios. inv. 687

2. Jh. n.Chr.

Barbarengefahr

P.Aberd. 177

2. Jh. n.Chr.

Gewalt

P.Amh. 1/34

2. Jh. n.Chr.

Einbruch

P.Erl. 27

2. Jh. n.Chr.

Raub

P.Hamb. 1/10

2. Jh. n.Chr.

Raub

P.Lond. 2/157a

2. Jh. n.Chr.?

Raub

P.Ryl. 2/394 V

2. Jh. n.Chr.

Überfall

P.Strasb. 4/222

2. Jh. n.Chr.

Diebstahl

P.Strasb. 4/241

2. Jh. n.Chr.

Gewalt

P.Strasb. 7/633

2. Jh. n.Chr.

Diebstahl

SB 6/9458

2. Jh. n.Chr.

Gewalt

SB 12/10928

2. Jh. n.Chr.

Raub

SB 16/12589

2. Jh. n.Chr.

Unruhe

SB 20/14975

2. Jh. n.Chr.

Gewalt

O.Claud. 4/851

spätes 2. Jh. n.Chr.

Barbarengefahr

P.Mert. 2/83

spätes 2. Jh. n.Chr.

Diebstahl

SB 16/12579

spätes 2. Jh. n.Chr.

Unruhe

SB 12/11113

ca. 180–210 n.Chr.

Diebstahl

P.Dub. 14

2./3. Jh. n.Chr.

Diebstahl?

BGU 1/157

2./3. Jh. n.Chr.

Überfall

SB 14/11391

2./3. Jh. n.Chr.

Raub

SB 20/15036

2./3. Jh. n.Chr.

Diebstahl

2./3. Jh. n.Chr.

3. Jh. n.Chr. O.Did. 44

Anfang 3. Jh. n.Chr.

Barbarengefahr

P.Strasb. 4/285

ca. 200 n.Chr.

Gewalt

SB 6/9238

200–211 n.Chr.

Überfall

BGU 1/45

203 n.Chr.

Überfall

SB 20/14679

205–214 n.Chr.

Einbruch

P.Gen. 1²/16

207 n.Chr.

Raub

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252

Patrick Reinard

Quellenbeleg

Datierung

„Schlagwort“

SB 16/12949

207 (od. 268) n.Chr.

Raub

BGU 11/2061

210 n.Chr.

Gewalt

SPP 22/54

210 n.Chr.

Überfall

P.Oxy. 12/1408

212–214 n.Chr.

Raub

BGU 2/389

ca. 212–220 n.Chr.?

Diebstahl

Cass. Dio 78,8,4, 78,22 u. 78,23; Herod. 4,4,6, 4,6,4 f., 4,8,6–8 u. 4,9,2–9; Euseb., hist. eccl. 6,19,16; HA, Carac. 6,2 f.; P.Giss. 1/40

215/216 n.Chr.

Unruhen während des Besuchs Caracallas

BGU 1/321

216 n.Chr.

Diebstahl

P.Louvre 1/3

216 n.Chr.

Diebstahl

Cass. Dio 79,35

218 n. Chr

Unruhe nach dem Ende des Macrinus

P.Oxy. 33/2672

218 n.Chr.

Überfall

P.Mich. 7/455 V

222–235 n.Chr.

Aufstand eines Präfekten

P.Sijp. 12

222–235 n.Chr.

Diebstahl

P.Vet.Aelii 10

222–255 n.Chr.

Überfall

P.Vet.Aelii 11

222–255 n.Chr.

Überfall?

P.Flor. 1/59

225–279 n.Chr.

Gewalt

P.Flor. 1/58

nach 234 n.Chr.

Überfall

P.Oxy. 60/4071

241–244 n.Chr.

Gewalt

P.Oxy. 38/2853

245/246 n.Chr.

Gewalt

P.Oxy. 58/3926

246 n.Chr.

Überfall

P.Oxy. 12/1556

247 n.Chr.

Gewalt

SB 4/7464

248 n.Chr.

Gewalt

P.Heid. 3/237

Mitte 3. Jh. n.Chr.

Diebstahl

P.Lund. 4/13

zweite Hälfte 3. Jh. n.Chr.

Diebstahl

P.Strasb. 4/233

zweite Hälfte 3. Jh. n.Chr.

Überfall

P.Flor. 1/9

255 n.Chr.

Raub

P.Oxy. 12/1557

255 n.Chr.

Raub

SB 24/16297

255/256 n.Chr.

Diebstahl?

P.Dub. 18

257–259 n.Chr.

Gewalt

P.Princ. 2/29

258 n.Chr.

Barbarengefahr

P.Oxy. 46/3289

258/259 n.Chr.

Diebstahl

SB 12/10925

258/259/260 n.Chr.

Gewalt

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Konfrontation und Kooperation jenseits des Niltals

Quellenbeleg

Datierung

253

„Schlagwort“

BGU 3/935

259–264 n.Chr.

Barbarengefahr

P.Oxy. 33/2681

259–264 n.Chr.?

Barbarengefahr

P.Oxy. 46/3292

259–264 n.Chr.

Barbarengefahr

Euseb., hist. eccl. 7,11,22 f.

späte 250er Jahre

Überfall durch Mareoter

SB 20/14229

nach 258/259 n.Chr.

Mord

SB 1/4101 (Tami-Inschrift)

um 260 n.Chr.

Friedensschluss

HA, trig. tyr. 22; Gall. 4,1 f. u. 5,6 (s.o.)

260–261/262 n.Chr.

Usurpation der Marciani und des L. Mussius Aemilianus

P.Strasb. 1/5

262 n.Chr.

Raub

Petr. Patr., Frg. 160; exc. de sentent. 264; Cont. Dio. Frg. 4

262 n.Chr.

Aufstand des Memor

Zos. 1,44; HA, Claud. 11,1 f. u.a.

270 n.Chr.

Palmyrenische Eroberung

HA, Aur. 32,2 f. (s.o.)

272 n.Chr.

Usurpation des Firmus

P.Lond. 2/214

272–275 n.Chr.

Diebstahl

HA, Prob. 17,2 f.; Zos. 1,71,1 (s.o.)

279 n.Chr.

Aufstand von Koptos und Ptolemais

P.Sakaon 36

280 n.Chr.

Gewalt

PSI 7/807

280 n.Chr.

Gewalt

P.Sakaon 31

280/281 n.Chr.

Diebstahl

BGU 11/2069

292 n.Chr.

Gewalt

PSI 4/298

292/293 n.Chr.

Gewalt

Hier., chron. ad an. 293 (s.o.)

293/294 n.Chr.

Aufstand von Koptos und Boresis

P.Oxy. 8/1121

295 n.Chr.

Diebstahl

P.Cair.Isid. 63

296 n.Chr.

Gewalt

Eutr. 9,22,1; Oros. 7,25,4–8; Hier., chron. ad an. 298 (s.o.)

298 n.Chr.

Usurpation des Domitius Domitianus und des Aurelius Achilleus

BGU 15/2459

3. Jh. n.Chr.

Einbruch

P.Oxy. 8/1120

3. Jh. n.Chr.

Gewalt

P.Oxy. 20/2274

3. Jh. n.Chr.

Diebstahl

PSI 4/292

3. Jh. n.Chr.

Gewalt

PSI 10/1128

3. Jh. n.Chr.

Diebstahl

SB 6/9421

3. Jh. n.Chr.

Gewalt

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254

Patrick Reinard

Bevor kurze interpretative Ausführungen zu der Auflistung erfolgen, müssen knappe einschränkende Bemerkungen zur Methodik eines solchen Vergleiches ausgeführt werden. Die hier gebotene Auflistung ist nicht vollständig, da dies im Rahmen eines Ausblickes in einem Aufsatz, der sich mit den römisch-nomadischen Beziehungen befasst, unmöglich geleistet werden kann. Die Auflistung ist aber dennoch in ihrer Tendenz repräsentativ. Ferner ist zu bemerken, dass es methodisch eigentlich nicht zulässig ist, die Belege für Diebstahl, Raub, Aufstand, Mord etc. kommentarlos und ohne detaillierte Betrachtung der jeweiligen Textinhalte und auch ohne Berücksichtigung der verschiedenen Dokumentgattungen nebeneinander zu stellen. Jeder Überfall, jeder Diebstahl, jede Gewalttat ist per se unterschiedlich und auch die Schilderung eines solchen Vorfalls ist abhängig von der Urkundenart. Es müssten inhaltlich verschiedene qualitative Bewertungen angelegt werden. Darüber hinaus wäre eine exakte terminologische und definitorische Abgrenzung notwendig. All dies kann hier nicht erfolgen. Die aufgelisteten Quellen dienen hier lediglich ganz allgemein als unmittelbarer oder mittelbarer Beleg für eine Bedrohungs- und Unsicherheitssituation für Einzelindividuen oder mehrere Personen. Durch einen Aufstand oder eine Unruhe wurden Menschen bedroht und verunsichert, durch Einbrüche wurden Menschen geschädigt und verunsichert etc. Zudem haben solche Ereignisse auch mittelbar auf die Mitmenschen der Opfer eingewirkt. Die aufgelisteten Quellenbelege sollen jeweils nur als ein Indiz für eine situative Verunsicherung, welche durch ein Verbrechen oder eine Unruhe bzw. einen Aufstand erzeugt wurde, verstanden werden. Der kleinste gemeinsame „Nenner“ der gelisteten Quellen ist – bei aller methodischen Problematik – jeweils die Information, dass das Wohlbefinden von Menschen durch die dokumentierten Ereignisse „gestört“ wurde. Betrachtet man die Quellen ganz allgemein nur als Belege für die „Störung“ des alltäglichen Lebens, ist ein kursorischer Vergleich durchaus möglich und zulässig. Es geht dabei nicht qualitativ um das Einzelereignis, sondern lediglich um die quantitative Verteilung von „Störungen“ des Alltagslebens. Ein Vergleich zeigt auf, dass die Anzahl der Quellenbelege für das 2. Jh. n.Chr. deutlich überwiegt. Das allgemeine Wohlbefinden wurde nach Aussage der Quellen in der Soldatenkaiserzeit seltener „gestört“. Für die Oberbegriffe „Gewalt“ und „Mord“ liegen aus dem 2. Jh. 44 und dem 3. Jh. 14 Belege vor. Das Themenfeld „Raub“, „Diebstahl“, „Einbruch“ und „Überfall“ gestaltet sich nur ein wenig ausgewogener: 65 Belegen aus dem 2. Jh. stehen 32 aus dem 3. Jh. gegenüber. Bereits mehrmals angesprochen wurden die dokumentarischen Belege, die auf eine Bedrohung durch Barbaren hinweisen. Hier können 24 dokumentarische Belege aus dem 2. Jh. gezählt werden, während für das 3. Jh. lediglich vier dokumentarische Zeugnisse vorliegen. Ein ausgeglichener Befund liegt lediglich im Themenbereich „Aufstand“, „Unruhe“, „Usurpation“ und „Krieg“ vor: Aus dem 2. Jh. liegen elf Belege vor, wobei die verschiedenen Unruhen in Alexandria im Zeitraum von 105–112 n.Chr., von 121/122 n.Chr. und von 154/155 n.Chr. ebenso wie der Bukolenaufstand um 172/173 n.Chr. lediglich literarisch überliefert sind. Hinzu kommen sechs dokumentarische Belege sowie der in Papyri und antiker Literatur ausführlich bezeugte Jüdische Aufstand. Aus dem 3. Jh. liegen zehn Belege vor, die aber bis auf eine Ausnahme – einen Aufstand eines Präfekten in der Zeit des Severus Alexander – nur literarisch überliefert sind, gleichwohl vereinzelt papyrologische Quellen – so etwa auf die palmyrenische Invasion oder auf die Unruhen unter Caracalla 240 – bezogen werden können. Zählt man in der obigen Tabelle alle Ereignisse, die hauptsächlich durch literarische Evidenz 240 Cf. Strobel 1993, 264 und Reinard 2016b mit Quellenbeispielen. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Konfrontation und Kooperation jenseits des Niltals

255

überliefert sind, ergibt sich ein deutlicher Unterschied: Aus dem 2. Jh. sind nur drei entsprechende Ereignisse in die Überlieferung eingegangen, während für das Folgejahrhundert zehn Belege angeführt werden können. Klammert man die literarischen Quellen aus und vergleicht lediglich die dokumentarischen Zeugnisse, erscheint die Soldatenkaiserzeit in einem noch besseren, d.h. „störungsfreieren“ Licht. Krisenhafter erscheint die Situation ab spätseverischer Zeit hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit keineswegs gewesen zu sein. Trotz der angesprochenen methodischen Probleme, die der hier erfolgte Vergleich aufwirft, ergibt sich doch der Eindruck, dass die Lebenssituation im Ägypen des 3. Jh. lediglich aufgrund der literarischen Überlieferung als „bedrohlicher“ erscheint. Die dokumentarischen Quellen sprechen deutlich dafür, dass es im 2. Jh. mehr „Störungen“ gab. Hier könnte man exemplarisch weitere Quelleninhalte heranziehen. Indirekt sind etwa die Quellen für „Wüstenwächter“ interessant. Diese sind z.B. in BGU 11/2057 (91/92 n.Chr.; Alexan­dria), P.Alex.Giss. 9 = SB 10/10625 (172 n.Chr.), P.Yale 1/76 (176 n.Chr.), P.Merton 2/89 (300 n.Chr.), P.Alex.Giss. 10 (3. Jh. n.Chr.; alle Arsinoites) bezeugt. Anführen kann man auch Belege für Wachttürme – z.B. SB 16/12379 (2. Hälfte 2. Jh. n.Chr.; Theben?; Ostrakon) – oder die für das 2. Jh. n.Chr. gut nachweisbare Wachtturmsteuer. Diese Wachttürme dienten wohl auch der Sicherung der Regionen um einzelne Siedlungen. Insbesondere für die Region um Theben ist die steuerliche Abgabe gut bezeugt: z.B. O.Heid. 178 (98 n.Chr., Theben), O.Petr.Mus. 311 (98 n.Chr., Apollonopolis), O.Heid. 181 (106 n.Chr.), O.Heid. 182 (107 n. Chr.), O.Strasb. 2/826 (109 n.Chr.), P.Coll.Youtie 2/123 (114 n.Chr., Ostrakon), O.Heid. 199 (128/129 n.Chr.?), O.Strasb. 2/836 (130 n.Chr.), O.Strasb. 2/840 (133 n.Chr.), O.Heid. 133 (137 n.Chr.), O.Heid. 134 (137 n.Chr.), O.Heid. 213 (138 n.Chr.), O.Heid. 139 (138 n.Chr.), O.Heid. 215 (138/139 n.Chr., alle Theben), SB 16/12293 (139 n.Chr., Arsinoites), O.Strasb. 2/850 (141 n.Chr., Theben), O.Petr.Mus. 267 (146 n.Chr., Arsinoites), SB 16/12327 = SPP 22/117 (149 n.Chr., Arsinoites). Wächter und Wachttürme dienten generell als Schutzmaßnahme gegen Überfälle und Ver­ brechen. Ihre Existenz steigerte das Gefühl der Sicherheit und des Wohlbefindens. Be­merkens­ wert ist, dass die chronologische Verteilung dieser entsprechenden Quellen­zeugnisse auch nicht dafür spricht, dass ab der Mitte des 3. Jh. n.Chr. eine besondere Bedrohung aufgekommen ist. Bibliographie Alföldi 1967 = A. Alföldi, Studien zur Geschichte der Weltkrise des 3. Jahrhunderts nach Christus, Darm­ stadt 1967. Alföldy 1989 = G. Alföldy, Die Krise des Römischen Reiches. Geschichte, Geschichtsschreibung und Geschichts­betrachtung. Ausgewählte Beiträge, Stuttgart 1989. Bagnall 1993 = R. S. Bagnall, Egypt in Late Antiquity, New Jersey 1993. Bagnall – Rathbone 2004 = R. S. Bagnall – D. Rathbone, Egypt from Alexander to the Copts. An Archaeo­logical and Historical Guide, London 2004. Barnes 1976 = T. D. Barnes, Imperial Campaigns, A.D. 285–311, Phoenix 30/2 (1976), 174–193. Barnes 1985 = T. D. Barnes, The Career of Abinnaeus, Phoenix 39/4 (1985), 368–374. Bingen 1997 = J. Bingen, Date et genèse d’OGIS I 210 (Talmis – Kalabchah), CE 72 (1997), 348–354. Bleckmann 1992 = B. Bleckmann, Die Reichskrise des III. Jahrhunderts in der spätantiken und byzantinischen Geschichts­schreibung. Untersuchungen zu den nachdionischen Quellen der Chronik des Johannes Zonaras, München 1992. Bowman 1976 = A. K. Bowman, Papyri and Roman Imperial History 1960–1975, JRS 66 (1976), 153–173. Bowman 1984 = A. K. Bowman, Two Notes, BASP 21 (1984), 33–38.

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256

Patrick Reinard

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Sozialgeschichte

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Breakfast at Xenophon’s . Die erste Mahlzeit des Tages als Spiegel idealer Führungsgrundsätze in der Kyrupädie Sven Günther

Dem Jubilar ist es in seinen Arbeiten stets darum gegangen, an die Basisdinge (nicht nur) des antiken Lebens zu gelangen. Ein solches stellt ohne Zweifel die erste Mahlzeit des Tages dar. Man darf sich daher nur wundern, warum noch keine übergreifende Untersuchung hierzu vorgelegt wurde, obschon „Essen“ und „Speisen“ als Spiegel kultureller, habitueller, ökonomischer, politischer und sogar technischer Gegebenheiten durchaus Beachtung gefunden haben.1 Dabei geben die griechischen wie lateinischen Äquivalente für „Frühstück“ und „frühstücken“ bzw. „Frühstück zubereiten“ als Suchbegriffe in den einschlägigen Datenbanken, etwa dem „Thesaurus Linguae Graecae“ respektive den „PHI Latin Texts“, doch schon beim unspezifischen Abfragen einiges her.2 Wichtiger als eine bloße quantitative Abfrage ist jedoch die Kontextualisierung von Passagen zum Themenbereich „Frühstück“, da erst dadurch Aussagen darüber getroffen werden können, ob diese Mahlzeit eine Rolle bei den vom jeweiligen Autor geschaffenen, präsentierten und intendierten Ordnungsrahmen gespielt hat und auch von den entsprechenden Zielgruppen mit ganz eigenen Erfahrungsrahmen wahrgenommen zu werden vermochte.3 Ein diesbezüglich hochinteressantes Werk stellt dabei Xenophons Kyrupädie dar. Diese ob ihres speziellen Charakters außergewöhnliche Schrift hat der Forschung schon so manches Kopfzerbrechen bereitet, da sich hier historiographische, politisch-philosophische, idealisierendutopische, romanhafte und auch didaktische Elemente zu einer ganz eigenen, neuen Gattung irgendwo zwischen Handbuch, Fürstenspiegel, Enkomion sowie Erziehungs- bzw. Unterhaltungsliteratur verbinden.4 Diese Schrift, so nicht nur meine Überzeugung, ist dabei weniger als eine 1 2

3

4

Siehe z.B. Garnsey 1999; Alcock 2006; Thurmond 2006; Wilkins – Hill 2006; Oliver 2007; Wilkins – Nadeau 2015. Keine der Arbeiten unterzieht das Frühstück einer näheren Untersuchung, wie aus dem Fehlen entsprechender Stichworte in den Indizes leicht hervorgeht. Im „Thesaurus Linguae Graecae“ in der „abridged version“ allein für τό ἄριστον mehr als 650 Treffer. In der „PHI Latin Texts“-Datenbank allein für prandēre, prandium, pransor, (im)pransus,a,um, pransitāre mehr als 250 Treffer; eine Suchabfrage für ienctaculum, ientāre oder auch ieiunus,a,um etc. erfolgte nicht. Speziell zu Xenophon siehe auch Sturz 1801, 397, s.v. ἀριστᾷν; 399 f., s.v. ἄριστον; 400, s.v. ἀριστοποιεῖσθαι. Speziell für die Kyropädie: Crusius 21860, 22, s.v. ἀριστάω, ἄριστον, ἀριστοποιέω. Das vom Autor in Anlehnung an Goffman 1974 entwickelte Modell der Ordnungsrahmen geht davon aus, daß bei den in einem (nicht nur) literarischen Werk kreierten Ordnungsrahmen sich die Er­ fahrungsrahmen des Autors sowie der jeweiligen Rezipienten treffen. Inwieweit der Autor an vorhandene und vorhersagbare Rahmen der Rezipienten andockt, mit diesen spielt oder diese sogar verändert bzw. bricht, hängt dabei von seiner jeweiligen Intention und dem „Verständnis“ der Leser ab. Es entsteht jedenfalls ein mehrdimensionaler kommunikativer Prozeß aus dem Werk an und für sich. Vgl. dazu Günther 2014a. Vgl. nur die wichtigste Literatur: Due 1989; Tatum 1989; Zimmermann 1989; Gera 1993; MüllerGoldingen 1995; s.a. die Aufsätze in der Sektion „Cyropaedia“ bei Gray 2010 (Nr. 11–15). Zum Forschungs­ stand und den wichtigsten Themen, aber auch offenen Fragen vgl. Tamiolaki 2017. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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konkrete Materialisierung einer bestimmten Werkgattung zu verstehen, sondern er­k lärt sich, wie auch die anderen Schriften Xenophons, aus seiner Konzeption einer idealen (griechischen) Gesellschaft, die an moralischen Prinzipien und theoretischer wie praktischer Durch­dringung des jeweiligen Bereichs (epistēmē) ausgerichtet die oder den „Besten“ an der Spitze jeglicher Teil­ systeme (Politik, Militär, Ökonomie etc.) bringt, wobei die untergeordneten Personen, sofern willig und dann auch integrierbar, je nach ihren Möglichkeiten folgen und durch beständigen Wettbewerb das ganze System besser machen und auf eine höhere Ebene heben.5 Die ideale Verbindung von ethischen wie moralischen Prinzipien und universalen Kenntnissen in jedem relevanten Bereich stellt dabei in der Kyrupädie natürlich die Hauptfigur Kyros d.Ä. dar. Ob als Herrscher, Diplomat, Militär, Organisator, Ökonom, Richter, Durchführer von rituellen Akten, Berater in emotionalen Angelegenheiten usw. – stets sind es seine Eigenkontrolle (sōphrosynē) und Fachkenntnis (epistēmē), darauf sich gründende Flexibilität gepaart mit vorausschauender Planung (pronoia) und seine Tugendhaftigkeit (aretē), die ihn und die Seinen zum Erfolg führen. Kann man derlei nun auch im profanen „Frühstück“ entdecken, d.h., inwieweit kann man auch diesen scheinbar nebensächlichen Bereich auf die xenophontische Gesamtkonzeption beziehen?6 Der ‚normale‘ Tagesablauf und das Frühstück als Annex des Opferrituals Den physischen ‚Normalfall‘ stellt für uns moderne Menschen natürlich das Einnehmen des Frühstücks vor einer entsprechenden Tätigkeit dar. Darauf scheinen nun auch lapidar einige Passagen in der Kyrupädie hinzuweisen. So heißt es im sechsten Buch, wo sich Kyros der großen Schlacht gegen Kroisos in dramaturgischer Retardation Schritt für Schritt nähert, daß folgendes nach der Erkenntnis über die Nähe des Gegner und der Aussendung von Reitern zur Ge­fangennahme von Feinden geschah: οἱ μὲν δὴ ταχθέντες τοῦτο ἔπραττον. αὐτὸς δὲ τὸ ἄλλο στράτευμα αὐτοῦ κατεχώριζεν, ὅπως παρασκευάσαιντο ὅσα ᾤετο χρῆναι πρὶν πάνυ ὁμοῦ εἶναι. καὶ πρῶτον μὲν ἀριστᾶν παρηγγύησεν, ἔπειτα δὲ μένοντας ἐν ταῖς τάξεσι τὸ παραγγελλόμενον προνοεῖν· (8) ἐπεὶ δὲ ἠρίστησαν, συνεκάλεσε καὶ ἱππέων καὶ πεζῶν καὶ ἁρμάτων ἡγεμόνας, καὶ τῶν μηχανῶν δὲ καὶ τῶν σκευοφόρων τοὺς ἄρχοντας καὶ τῶν ἁρμαμαξῶν· καὶ οὗτοι μὲν συνῇσαν.

Während sie die Ausführung dieses Befehls in Angriff nahmen, ließ Kyros das übrige Heer auf der Stelle haltmachen, um alle Vorkehrungen zu treffen, die er für notwendig hielt, bevor es zu einer direkten Feindberührung kam. Zuerst ließ er sie ihr Frühstück einnehmen und dann in ihren kampfbereiten Abteilungen auf weitere Befehle warten. (8) Nach dem Frühstück rief er die Befehlshaber d­er Reiter, der Fußsoldaten und der Kampfwagen und die Kommandanten der Kriegsmaschinen, der Last- und der Reisewagen zusammen. Sie fanden sich dann auch ein. (Xen. cyr. 6,3,7–8)7 5 6

7

Zum moralischen Erziehungsanspruch Xenophons vgl. speziell Lu 2015. Zum Führungsideal, in konsequenter Auseinandersetzung mit den von den Straussianern postulierten „two voices“ Xenophons zur Dauerhaftigkeit von Führung, vgl. Gray 2011. Due 1989, 234 sieht in der zahlreichen Erwähnung von Essen und Trinken eine Ausrichtung an Interessen der potentiellen (auch weiblichen) Leserschaft; Gera 1993, 132–191 nimmt allein die Symposia in ihrer literarischen Gestaltung samt intertextuellen Referenzen in den Blick. Zu entsprechenden Überlegungen im pseudo-caesarischen Bellum Africum (42; 69,5) mit Verweisen auf Livius (21,54,4–8; Schlacht an der Trebia 218 v.Chr.) vgl. Günther 2014b, 39–40. Die Übersetzungen der einzelnen Passagen entstammen der Tusculum-Ausgabe von Nickel 1992. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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So sehr wie das Frühstücken hier zur den „normalen“ planbaren Vorbereitungen (paraskeuē) für eine eventuelle Feindberührung gehört, so sehr wird es in der Folge im sechsten und zu Beginn des siebten Buchs Schritt für Schritt mit dem rituellen Akt des Opferns verknüpft. So gibt Kyros kurz darauf, nachdem er durch seinen früher zu den Feinden als angeblichen Überläufer geschickten und nun zurückgekehrten Vertrauten Araspas genau über die gegnerische Heeresaufstellung instruiert worden ist, die folgende Anweisung für die Vorbereitung zu einer möglichen Schlacht: ἀλλ’ ἃ μὲν παρὰ σοῦ καιρὸς μαθεῖν, ἀκηκόαμεν· ὑμᾶς δὲ χρή, ὦ ἄνδρες, οὕτω ποιεῖν· νῦν μὲν ἐπειδὰν ἐνθένδε ἀπέλθητε, ἐπισκέψασθε καὶ τὰ τῶν ἵππων καὶ τὰ ὑμῶν αὐτῶν ὅπλα· πολλάκις γὰρ μικροῦ ἐνδείᾳ καὶ ἀνὴρ καὶ ἵππος καὶ ἅρμα ἀχρεῖον γίγνεται· αὔριον δὲ πρῴ, ἕως ἂν ἐγὼ θύωμαι, πρῶτον μὲν χρὴ ἀριστῆσαι καὶ ἄνδρας καὶ ἵππους, ὅπως ὅ τι ἂν πράττειν ἀεὶ καιρὸς ᾖ μὴ τούτου ἡμῖν ἐνδέῃ· ἔπειτα δὲ σύ, ἔφη, ὦ Ἀρσάμα, (...), τὸ δεξιὸν κέρας ἔχε ὥσπερ καὶ ἔχεις, καὶ οἱ ἄλλοι μυρίαρχοι ᾗπερ νῦν ἔχετε· ὁμοῦ δὲ τοῦ ἀγῶνος ὄντος οὐδενὶ ἅρματι καιρὸς ἵππους μεταζευγνύναι. παραγγείλατε δὲ τοῖς ταξιάρχοις καὶ λοχαγοῖς ἐπὶ φάλαγγος καθίστασθαι εἰς δύο ἔχοντας ἕκαστον τὸν λόχον. ὁ δὲ λόχος ἦν ἕκαστος εἴκοσι τέτταρες.

„Doch was wir von dir [i.e. Araspas; S.G.] im Augenblick erfahren sollten, haben wir nun gehört. Ihr aber, meine Herren, habt folgendes zu tun: Sobald ihr jetzt von hier abmarschiert, überprüft die Ausrüstung eurer Pferde und eure eigenen Ausrüstungsgegenstände. Denn oft genug werden ein Mann, ein Pferd und ein Wagen aufgrund eines kleinen Mangels unbrauchbar. Morgen früh müssen, während ich die Opferhandlungen vollziehe, zuerst die Männer frühstücken und die Pferde gefüttert werden, damit keine unserer Handlungen, die aufgrund der jeweiligen Umstände erforderlich sind, dadurch beeinträchtigt wird, daß wir nichts gegessen haben. Dann aber übernimmst du, Arsamas, den linken, du, Chrysantas, [Hinzufügung des Übersetzers zur Lacuna im gr. Text; S.G.] den rechten Flügel, den du auch jetzt schon kommandierst, und ihr, die anderen Myriarchen, ihr bleibt auf euren bisherigen Posten. Denn wenn das Rennen erst einmal angefangen hat, ist es nicht mehr ratsam, die Pferde umzuspannen. Fordert die Taxiarchen und Lochagen auf, daß sie sich in Schlachtordnung aufstellen, und zwar in zwei Reihen je Abteilung.“ Jede Abteilung aber bestand aus vierundzwanzig Mann. (Xen. cyr. 6,3,21)

Die Sorge des Feldherrn um die Gunst der Götter, die er als erster zu befriedigen hat, wird hier, unter Bezugnahme auf das Notwendige, auch mit der Anweisung des Frühstückens als wichtiger Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf verknüpft.8 Nachdem die genaue taktische Aufstellung erfolgt und von Kyros eingehend begründet worden ist, erfolgt dann tatsächlich das Angekündigte: Τῇ δ’ ὑστεραίᾳ πρῲ Κῦρος μὲν ἐθύετο, ὁ δ’ ἄλλος στρατὸς ἀριστήσας καὶ σπονδὰς ποιησάμενος ἐξωπλίζετο πολλοῖς μὲν καὶ καλοῖς χιτῶσι, πολλοῖς δὲ καὶ καλοῖς θώραξι καὶ κράνεσιν· ὥπλιζον δὲ καὶ ἵππους προμετωπιδίοις καὶ προστερνιδίοις· καὶ τοὺς μὲν μονίππους παραμηριδίοις, τοὺς δ’ ὑπὸ τοῖς ἅρμασιν ὄντας παραπλευριδίοις· ὥστε ἤστραπτε μὲν χαλκῷ, ἤνθει δὲ φοινικίσι πᾶσα ἡ στρατιά.

Am frühen Morgen des folgenden Tages opferte Kyros. Das übrige Heer nahm das Frühstück ein und brachte ein Trankopfer dar. Darauf legten sie viele schöne Gewänder an und rüsteten sich mit herrlichen Panzern und Helmen in großer Zahl. Sie wappneten auch ihre Pferde mit Stirnplatten und Brustpanzern. Die Reitpferde schützten sie dazu noch mit Hüftpanzern, die Wagenpferde mit 8

Zur Verkörperung des griechischen Opferrituals in Kyros vgl. Gera 1993, 54–59. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Sven Günther Seitenharnischen. Da funkelte das ganze Heer im Glanz des Erzes und erstrahlte in der Farbe des Purpurs. (Xen. cyr. 6,4,1)

Doch auch Kyros bekommt sein Frühstück. Nach der eingeschobenen Pantheia-Episode mit dem Abschied von ihrem Mann Abradatas (Xen. cyr. 6,4,2–11) hält Kyros nach erfolgter Opferhandlung (Xen. cyr. 6,4,12) zunächst noch eine exhortative Feldherrenrede (Xen. cyr. 6,4,13–19). Sodann, so heißt es zu Beginn des siebten Buches: Οἱ μὲν δὴ εὐξάμενοι τοῖς θεοῖς ἀπῇσαν πρὸς τὰς τάξεις· τῷ δὲ Κύρῳ καὶ τοῖς ἀμφ’ αὐτὸν προσήνεγκαν οἱ θεράποντες ἐμφαγεῖν καὶ πιεῖν ἔτι οὖσιν ἀμφὶ τὰ ἱερά. ὁ δὲ Κῦρος ὥσπερ εἶχεν ἑστηκὼς ἀπαρξάμενος ἠρίστα καὶ μετεδίδου ἀεὶ τῷ μάλιστα δεομένῳ· καὶ σπείσας καὶ εὐξάμενος ἔπιε, καὶ οἱ ἄλλοι δὲ οἱ περὶ αὐτὸν οὕτως ἐποίουν. μετὰ δὲ ταῦτα αἰτησάμενος Δία πατρῷον ἡγεμόνα εἶναι καὶ σύμμαχον ἀνέβαινεν ἐπὶ τὸν ἵππον καὶ τοὺς ἀμφ’ αὑτὸν ἐκέλευεν.

Nachdem sie zu den Göttern gebetet hatten, kehrten sie zu ihren Einheiten zurück. Kyros und seinen Begleitern brachten die Diener etwas zu essen und zu trinken, während sie noch mit den Opferhandlungen beschäftigt waren. Als Kyros dort, wo er stand, ein Erstlingsopfer dargebracht hatte, frühstückte er und gab jeweils dem, der den größten Hunger hatte, etwas davon ab. Nachdem er die Trankspende entrichtet und ein Gebet gesprochen hatte, trank er etwas, und seine Begleitung tat dasselbe. Dann bat er den seit alters her verehrten Zeus, Führer und Helfer zu sein, bestieg sein Pferd und befahl seinen Begleitern, dasselbe zu tun. (Xen. cyr. 7,1,1)

Beides, die Durchführung der Opfer wie das Gebet zu den Göttern und das Frühstück als Teil der notwendigen menschlichen Vorbereitung auf die Anstrengungen, sind hier in perfekter Weise ausgeführt, so daß die Schlacht letztlich ein Erfolg werden muß, wie der Kampf gegen den älteren Assyrerkönig, der zum Ende des dritten Buchs in erstaunlicher Parallele, unter Einschluß des Aufzeigens von Frömmigkeit und vorbereitender erster Mahlzeit(!), vorbereitet wird.9 Dieses doppelte Erfolgsrezept, daß den xenophontischen Kyros später die Pflichten ge9

Die entscheidende Passage hierfür lautet (Xen. cyr. 3,3,40–43): τέλος εἶπεν ἀπιόντας ἀριστᾶν ἐστε­ φανωμένους καὶ σπονδὰς ποιησαμένους ἥκειν εἰς τὰς τάξεις αὐτοῖς στεφάνοις. ἐπεὶ δ’ ἀπῆλθον, αὖθις τοὺς οὐραγοὺς προσεκάλεσε, καὶ τούτοις τοιάδε ἐνετέλλετο. (41) Ἄνδρες Πέρσαι, ὑμεῖς καὶ τῶν ὁμοτίμων γεγόνατε καὶ ἐπιλελεγμένοι ἐστέ, οἳ δοκεῖτε τὰ μὲν ἄλλα τοῖς κρατίστοις ὅμοιοι εἶναι, τῇ δ’ ἡλικίᾳ καὶ φρονιμώτεροι. καὶ τοίνυν χώραν ἔχετε οὐδὲν ἧττον ἔντιμον τῶν πρωτοστατῶν· ὑμεῖς γὰρ ὄπισθεν ὄντες τούς τ’ ἀγαθοὺς ἂν ἐφορῶντες καὶ ἐπικελεύοντες αὐτοῖς ἔτι κρείττους ποιοῖτε, καὶ εἴ τις μαλακίζοιτο, καὶ τοῦτον ὁρῶντες οὐκ ἂν ἐπιτρέποιτε αὐτῷ. (42) συμφέρει δ’ ὑμῖν, εἴπερ τῳ καὶ ἄλλῳ, τὸ νικᾶν καὶ διὰ τὴν ἡλικίαν καὶ διὰ τὸ βάρος τῆς στολῆς. ἢν δ’ ἄρα ὑμᾶς καὶ οἱ ἔμπροσθεν ἀνακαλοῦντες ἕπεσθαι παρεγγυῶσιν, ὑπακούετε αὐτοῖς, καὶ ὅπως μηδ’ ἐν τούτῳ αὐτῶν ἡττηθήσεσθε, ἀντιπαρακελευόμενοι αὐτοῖς θᾶττον ἡγεῖσθαι ἐπὶ τοὺς πολεμίους. καὶ ἀπιόντες, ἔφη, ἀριστήσαντες καὶ ὑμεῖς ἥκετε σὺν τοῖς ἄλλοις ἐστεφανωμένοι ἐς τὰς τάξεις. (43) οἱ μὲν δὴ ἀμφὶ Κῦρον ἐν τούτοις ἦσαν· οἱ δὲ Ἀσσύριοι καὶ δὴ ἠριστηκότες ἐξῇσάν τε θρασέως καὶ παρετάττοντο ἐρρωμένως. παρέταττε δὲ αὐτοὺς αὐτὸς ὁ βασιλεὺς ἐφ’ ἅρματος παρελαύνων καὶ τοιάδε παρεκελεύετο. – Schließlich sagte er,

sie sollten fortgehen, mit Kränzen auf dem Kopf frühstücken, Trankopfer spenden und dann mit ihren Kränzen zu ihren Einheiten zurückkehren. Als sie gegangen waren, rief Kyros die Führer der Nachhut zu sich und gab ihnen folgende Befehle: (41) „Perser, ihr seid Angehörige des Adels und besonders ausgesuchte Männer, weil man davon überzeugt ist, daß ihr in jeder Hinsicht den Besten gleich, aufgrund eures Alters aber auch noch besonnener seid als andere. Deshalb habt ihr eine nicht weniger ehrenvolle Aufgabe als die Männer, die ganz vorn kämpfen. Denn wenn ihr hinten steht und die Tapferen im Auge behaltet und ermuntert, dann könnt ihr sie zu noch größerer Tapferkeit anspornen, und falls jemand verzagen sollte, so könnt ihr ihn sehen und ihm sein Verhalten nicht durchgehen lassen. (42) Wenn es für jemanden von Bedeutung ist, daß wir siegen, dann vor allem für euch, weil ihr schon so alt seid und an © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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genüber den Göttern aufgrund seines durch genaue Beachtung der Kulthandlungen vergrößerten Glücks (eudaimonia) sogar institutionalisieren läßt,10 erscheint so schon als Lehranweisung im Zwiegespräch von Kyros mit seinem Vater Kambyses: Τί γάρ, ἔφη, ὦ παῖ, μέμνησαι ἐκεῖνα ἅ ποτε ἐδόκει ἡμῖν, ὡς ἅπερ δεδώκασιν οἱ θεοὶ μαθόντας ἀνθρώπους βέλτιον πράττειν ἢ ἀνεπιστήμονας αὐτῶν ὄντας καὶ ἐργαζομένους μᾶλλον ἁνύτειν ἢ ἀργοῦντας καὶ ἐπιμελουμένους ἀσφαλέστερον [ἂν] διάγειν ἢ ἀφυλακτοῦντας τούτων, – παρέχοντας οὖν τοιούτους ἑαυτοὺς οἵους δεῖ, οὕτως ἡμῖν ἐδόκει δεῖν καὶ αἰτεῖσθαι τἀγαθὰ παρὰ τῶν θεῶν; (6) Ναὶ μὰ Δί’, ἔφη ὁ Κῦρος, μέμνημαι μέντοι τοιαῦτα ἀκούσας σου· καὶ γὰρ ἀνάγκη με πείθεσθαι τῷ λόγῳ· καὶ γὰρ οἶδά σε λέγοντα ἀεὶ ὡς οὐδὲ θέμις εἴη αἰτεῖσθαι παρὰ τῶν θεῶν οὔτε ἱππεύειν μὴ μαθόντας ἱππομαχοῦντας νικᾶν, οὔτε μὴ ἐπισταμένους τοξεύειν τοξεύοντας κρατεῖν τῶν ἐπισταμένων, οὔτε μὴ ἐπισταμένους κυβερνᾶν σῴζειν εὔχεσθαι ναῦς κυβερνῶντας, οὐδὲ μὴ σπείροντάς γε σῖτον εὔχεσθαι καλὸν αὐτοῖς φύεσθαι, οὐδὲ μὴ φυλαττομένους γε ἐν πολέμῳ σωτηρίαν αἰτεῖσθαι· παρὰ γὰρ τοὺς τῶν θεῶν θεσμοὺς πάντα τὰ τοιαῦτα εἶναι· τοὺς δὲ ἀθέμιτα εὐχομένους ὁμοίως ἔφησθα εἰκὸς εἶναι παρὰ θεῶν ἀτυχεῖν ὥσπερ καὶ παρὰ ἀνθρώπων ἀπρακτεῖν τοὺς παράνομα δεομένους.

Inwieweit erinnerst du dich, mein Sohn“, fragte Kambyses, „an unsere gemeinsame Überzeugung, daß es den Menschen, die wissen, was ihnen die Götter gegeben haben, besser geht als denen, die es nicht wissen, daß diejenigen, die handeln, mehr erreichen als die Untätigen, daß die Aufmerksamen sicherer leben als die Unvorsichtigen und daß schließlich – so schien es uns – erst diejenigen, die die von ihnen erwarteten Leistungen erbringen, auch die Götter um ihr Glück bitten dürfen?“ (6) „Ja, beim Zeus“, sagte Kyros, „ich erinnere mich tatsächlich daran, derartiges von dir gehört zu haben, und es war für mich unumgänglich, deinen Ausführungen zuzustimmen. Ich weiß auch noch, daß du hinzufügtest, es sei nicht richtig, die Götter um den Sieg in einem Reitergefecht zu bitten, ohne reiten zu können, oder sie zu bitten, daß man als Bogenschütze die Fachleute übertreffe, ohne das Bogenschießen zu beherrschen, oder daß man als Steuermann Schiffe mit glücklicher Hand lenke, ohne steuern zu können, oder sie zu bitten, daß man reichlich ernte, wenn man gar kein Korn gesät habe, oder Hilfe im Krieg zu verlangen, wenn man sich nicht selbst schütze. Das alles stehe nämlich nicht im Einklang mit den göttlichen Gesetzen. Wenn man aber Götter um etwas Ungebührliches bitte, dann müsse man selbstverständlich – so hast du gesagt – ebenso scheitern, wie man erfolglos bleibe, wenn man von Menschen etwas Gesetzwidriges verlange.

Diese wechselseitige Verbindung von menschlicher theoretischer wie praktischer Durchdringung einer fachlichen Kunst (epistēmē) und des göttlichen Zuspruchs von Erfolg bei Vorliegen des eurer Ausrüstung so schwer zu tragen habt. Wenn euch aber nun die Vorderen ansprechen und auffordern aufzuschließen, dann gehorcht ihnen, und damit ihr ihnen auch darin nicht nachsteht, sollt ihr sie auffordern, noch schneller gegen die Feinde voranzugehen. Geht nun hin und frühstückt und kehrt danach zusammen mit den anderen auf eure Posten zurück, nachdem ihr euch Kränze aufgesetzt habt.“ Während Kyros’ Leute damit beschäftigt waren, verließen die Assyrer nach dem Frühstück beherzt ihr Lager und bildeten voller Entschlossenheit eine Schlachtordnung. Der König selbst leitete die Aufstellung von seinem Wagen aus und sprach folgende Worte zu ihnen: (…). Die Rede des Assyrerkönig im Anschluß (Xen. cyr. 3,3,43–45) enthält bezeichnenderweise sodann weder Bezüge zu den Göttern noch spricht sie von vorausschauenden Vorkehrungen oder gar Planungen. Gera 1993, 109–115 sieht in der kurz danach stattfindenden Weigerung des Kyros, eine erneute Ansprache an das gesamte Heer zu halten (Xen. cyr. 3,3,50–55), eine Reaktion auf diese „leere“ Rede des Assyrerkönigs. Verstärkend zu diesem Argument sollte man die bei der Assyrerkönigrede fehlenden Planungselemente und Götterverehrung hinzuziehen. M.E. spiegelt die Gesamtstruktur der Reden in ihrer Abstufung der Adressaten auch die für das xenophontische System notwendige Hierarchie wider. 10 Vgl. Xen. cyr. 8,1,23–24. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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ersteren, vermittelt über Frömmigkeit und rituelle Handlungen, ist für Xenophon insgesamt eine condicio sine qua non für jeglichen Erfolg und durchzieht seine Werke wie ein roter Faden.11 Dabei kümmert er sich vor allem um den menschlichen Könnens- und Wissensbereich, für den er detaillierte Anweisungen gibt, in der Kyrupädie vornehmlich für den militärischen Bereich. Das Frühstück als Spiegel der (Heeres-)Ordnung und Disziplin Schon die Jagd wird beim xenophontischen Kyros zur paramilitärischen Übung, und die Einnahme eines reichlicheren Frühstücks vor Beginn des Treibens bereitet nicht nur auf die Strapazen des Anstehenden, sondern auch auf spätere Kriegshandlungen vor: ἐξέρχονται δὲ ἐπὶ τὴν θήραν ἄριστον ἔχοντες πλέον μέν, ὡς τὸ εἰκός, τῶν παίδων, τἆλλα δὲ ὅμοιον. καὶ θηρῶντες μὲν οὐκ ἂν ἀριστήσαιεν, ἢν δέ τι δεήσῃ ἢ θηρίου ἕνεκα ἐπικαταμεῖναι ἢ ἄλλως ἐθελήσωσι διατρῖψαι περὶ τὴν θήραν, τὸ οὖν ἄριστον τοῦτο δειπνήσαντες τὴν ὑστεραίαν αὖ θηρῶσι μέχρι δείπνου, καὶ μίαν ἄμφω τούτω τὼ ἡμέρα λογίζονται, ὅτι μιᾶς ἡμέρας σῖτον δαπανῶσι. τοῦτο δὲ ποιοῦσι τοῦ ἐθίζεσθαι ἕνεκα, ἵν’ ἐάν τι καὶ ἐν πολέμῳ δεήσῃ, δύνωνται ταὐτὸ ποιεῖν. καὶ ὄψον δὲ τοῦτο ἔχουσιν οἱ τηλικοῦτοι ὅ τι ἂν θηράσωσιν· εἰ δὲ μή, τὸ κάρδαμον. εἰ δέ τις αὐτοὺς οἴεται ἢ ἐσθίειν ἀηδῶς, ὅταν κάρδαμον μόνον ἔχωσιν ἐπὶ τῷ σίτῳ, ἢ πίνειν ἀηδῶς, ὅταν ὕδωρ πίνωσιν, ἀναμνησθήτω πῶς μὲν ἡδὺ μᾶζα καὶ ἄρτος πεινῶντι φαγεῖν, πῶς δὲ ἡδὺ ὕδωρ πιεῖν διψῶντι.

Die Knaben gehen aber mit einem reichlicheren Frühstück auf die Jagd, als es ihnen sonst zusteht; ansonsten aber besteht kein Unterschied. Auf der Jagd kann es vorkommen, daß sie nicht frühstücken können. Wenn sie wegen eines Tieres ihren Platz nicht verlassen dürfen oder aus einem anderen Grund die Jagd verlängern wollen, dann nehmen sie das Frühstück als Hauptmahlzeit ein und jagen am nächsten Tag erneut bis zum Abendessen. Sie betrachten dann diese beiden Tage als einen einzigen Tag, weil sie in dieser Zeit ja nur die Nahrung für einen einzigen Tag zu sich nehmen. Sie tun dies, um sich daran zu gewöhnen, damit sie es auch dann können, wenn es einmal im Krieg unumgänglich sein sollte. Als Nahrung zum Brot verzehren die jungen Leute, was sie jeweils erlegt haben. Wenn sie aber nichts erlegen, dann essen sie die Kresse zum Brot. Sollte aber jemand glauben, daß sie lustlos essen, wenn sie nur Kresse auf dem Speisezettel haben, oder lustlos trinken, wenn sie nur Wasser trinken, so muß er bedenken, wie gut Gerstenbrot und Weizenbrot dem Hungrigen schmecken und was für ein köstliches Getränk das Wasser für den Durstigen ist. (Xen. cyr. 1,2,11)

Allerdings gilt derlei nur für diese besonderen Umstände unmittelbar vor einer Anstrengung wie der Jagd oder einem bevorstehenden Kampf.12 Denn eigentlich handelt Kyros gemäß der folgenden Maxime, die er wiederum seinen Vater gegenüber formuliert: καὶ ὁ Κῦρος εἶπε· Πρῶτον μὲν νὴ Δία πειρῶμαι μηδέποτε ὑπερπίμπλασθαι· δύσφορον γάρ· ἔπειτα δὲ ἐκπονῶ τὰ εἰσιόντα· οὕτω γάρ μοι δοκεῖ ἥ τε ὑγίεια μᾶλλον παραμένειν καὶ ἰσχὺς προσγενέσθαι. Οὕτω τοίνυν, ἔφη, ὦ παῖ, καὶ τῶν ἄλλων δεῖ ἐπιμελεῖσθαι. Ἦ καὶ σχολή, ἔφη, ὦ πάτερ, ἔσται, σωμασκεῖν τοῖς στρατιώταις; Οὐ μὰ Δι’, ἔφη ὁ πατήρ, οὐ μόνον γε, ἀλλὰ καὶ ἀνάγκη. δεῖ γὰρ δήπου στρατιάν, εἰ μέλλει πράξειν τὰ δέοντα, μηδέποτε παύεσθαι ἢ τοῖς πολεμίοις κακὰ πορσύνουσαν ἢ ἑαυτῇ ἀγαθά· ὡς χαλεπὸν μὲν καὶ ἕνα ἄνθρωπον ἀργὸν τρέφεσθαι, πολὺ δ’ ἔτι χαλεπώτερον, ὦ παῖ, οἶκον ὅλον, πάντων δὲ χαλεπώτατον στρατιὰν ἀργὸν τρέφειν. πλεῖστά τε γὰρ 11 Vgl. bspw. Xen. vect. 6,1–3; oec. 5,11–20. 12 Zur Jagd als Vorübung des Militärischen sowie zum Aspekt der Wertschätzung der einfachen, natürlichen Dinge als Erziehungsziel in dieser Stelle vgl. Due 1989, 105–107; Müller-Goldingen 1995, 80–82. Zum Konterpart, dem (viel zu) reichhaltigen Essen beim medischen Großvater Astyages (vgl. Xen. cyr. 1,3,4–5), vgl. Gera 1993, 155. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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τὰ ἐσθίοντα ἐν στρατιᾷ καὶ ἀπ’ ἐλαχίστων ὁρμώμενα καὶ οἷς ἂν λάβῃ δαψιλέστατα χρώμενα, ὥστε οὔποτε ἀργεῖν δεήσει στρατιάν.

Darauf sagte Kyros: (17) „Zuerst, beim Zeus, achte ich darauf, daß ich mir niemals den Magen überfülle. Denn das ist unerträglich. Dann aber arbeite ich alles, was ich gegessen und getrunken habe, durch körperliche Anstrengung wieder ab. Denn ich meine, daß ich auf diese Weise meine Gesundheit stärke und zugleich an Kraft zunehme.“ Der Vater erwiderte: „Darauf mußt du aber auch bei den anderen achten, mein Sohn.“ – „Werden aber die Soldaten genug Zeit für körperliches Training haben, Vater?“ – „Sie werden sie, beim Zeus, nicht nur haben; sie müssen sie einfach haben. Denn ein Heer, das seine Pflichten erfüllen soll, darf doch wohl niemals damit aufhören, den Feinden Nachteile oder sich selbst Vorteile zu verschaffen. Denn es ist schon schwierig, auch nur einen einzigen untätigen Menschen zu ernähren. Noch viel schwerer aber ist ein ganzer Haushalt und am allerschwersten ein Heer zu unterhalten, das untätig ist, mein Sohn. Denn in einem Heer gibt es sehr viele Esser, die zunächst mit sehr wenig auskommen. dann aber alles, was ihnen in die Hände gerät, sehr reichlich genießen. Folglich darf ein Heer niemals untätig sein.“ (Xen. cyr. 1,6,16–17)

Dieses Motiv des beständigen Trainings, um vom reichlichen Essen nicht träge zu werden, wird noch gesteigert, indem er derlei Anstrengungen, die mit Schwitzen verbunden sind, bereits vor den Mahlzeiten empfiehlt.13 Hier zeigt sich auch das ebenfalls als xenophontisches Paradigma seine Werke durchziehende aemulatio-Prinzip, da derlei natürlich für Kyros als dem idealen Anführer (in besonderem Maße) gilt,14 dem seine Getreuen auf Empfehlung, wie bei der Einsetzung der Satrapen,15 oder auf Anordnung, wie bei den Soldaten, folgen. So heißt es bezüglich seiner feldherrlichen Ordnungskunst: 13 Zu diesem Motiv und weiteren Stellen, allerdings ohne Betonung des Frühstückens, vgl. Due 1989, 108 f. 14 Xen. cyr. 8,1,37–39: ὅτι μὲν οὖν οὐκ ᾤετο προσήκειν οὐδενὶ ἀρχῆς ὅστις μὴ βελτίων εἴη τῶν ἀρχομένων

καὶ τοῖς προειρημένοις πᾶσι δῆλον, καὶ ὅτι οὕτως ἀσκῶν τοὺς περὶ αὐτὸν πολὺ μάλιστα αὐτὸς ἐξεπόνει καὶ τὴν ἐγκράτειαν καὶ τὰς πολεμικὰς τέχνας καὶ [τὰς] μελέτας. (38) καὶ γὰρ ἐπὶ θήραν τοὺς μὲν ἄλλους ἐξῆγεν, ὁπότε μὴ μένειν ἀνάγκη τις εἴη· αὐτὸς δὲ καὶ ὁπότε ἀνάγκη εἴη, οἴκοι ἐθήρα τὰ ἐν τοῖς παραδείσοις θηρία τρεφόμενα· καὶ οὔτ’ αὐτός ποτε πρὶν ἱδρῶσαι δεῖπνον ᾑρεῖτο οὔτε ἵπποις ἀγυμνάστοις σῖτον ἐνέβαλλε·συμπαρεκάλει δὲ καὶ εἰς ταύτην τὴν θήραν τοὺς περὶ αὐτὸν σκηπτούχους. (39) τοιγαροῦν πολὺ μὲν αὐτὸς διέφερεν ἐν πᾶσι τοῖς καλοῖς ἔργοις, πολὺ δὲ οἱ περὶ ἐκεῖνον, διὰ τὴν ἀεὶ μελέτην. παράδειγμα μὲν δὴ τοιοῦτον ἑαυτὸν παρείχετο. (…) – Daß seiner Ansicht nach niemandem eine

führende Stellung zustand, der nicht tüchtiger war als seine Untergebenen, ergibt sich aus allem, was ich bisher ausgeführt habe, und es ist ebenso erwiesen, daß er, während er seine Umgebung auf diese Weise abhärtete, vor allem sich selbst in der Enthaltsamkeit und in den Künsten und Tätigkeiten des Krieges übte. (38) Denn er führte die anderen zwar nur dann auf die Jagd, wenn es nicht erforderlich war, daß sie zu Hause blieben. Wenn es aber erforderlich war, jagte er auch bei sich die Tiere, die in den Tierparks gehalten wurden; dabei nahm er keine Mahlzeit ein, bevor er nicht ins Schwitzen gekommen war, und warf auch den Pferden kein Futter vor, ehe sie sich nicht angestrengt hatten. Auf diese Jagd ließ er sich auch von den Würdenträgern in seiner Umgebung begleiten. (39) Das hatte zur Folge, daß sowohl er selbst als auch seine Begleiter sich in allen edlen Tätigkeiten besonders auszeichneten, weil sie sich ständig darin übten. So wirksam war sein Vorbild. 15 Xen. cyr. 8,6,12: κτᾶσθε δὲ καὶ παραδείσους καὶ θηρία τρέφετε, καὶ μήτε αὐτοί ποτε ἄνευ πόνου σῖτον

παραθῆσθε μήτε ἵπποις ἀγυμνάστοις χόρτον ἐμβάλλετε· οὐ γὰρ ἂν δυναίμην ἐγὼ εἷς ὢν ἀνθρωπίνῃ ἀρετῇ τὰ πάντων ὑμῶν ἀγαθὰ διασῴζειν, ἀλλὰ δεῖ ἐμὲ μὲν ἀγαθὸν ὄντα σὺν ἀγαθοῖς τοῖς παρ’ ἐμοῦ ὑμῖν ἐπίκουρον εἶναι, ὑμᾶς δὲ ὁμοίως αὐτοὺς ἀγαθοὺς ὄντας σὺν ἀγαθοῖς τοῖς μεθ’ ὑμῶν ἐμοὶ συμμάχους εἶναι. – Legt euch dann Tiergärten an und haltet euch wilde Tiere. Nehmt niemals Nahrung zu euch,

ohne euch vorher angestrengt zu haben, und werft den Pferden kein Futter hin, wenn sie vorher nicht bewegt worden sind. Denn ich wäre als Einzelmensch nicht imstande, mit meiner begrenzten menschlichen Leistungsfähigkeit den Schutz eurer Güter für euch alle zu übernehmen, sondern es ist unerläßlich, daß © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Sven Günther ἐπεμέλετο δὲ καὶ τούτου ὁ Κῦρος ὅπως μήποτε ἀνίδρωτοι γενόμενοι ἐπὶ τὸ ἄριστον καὶ τὸ δεῖπνον εἰσίοιεν. ἢ γὰρ ἐπὶ θήραν ἐξάγων ἱδρῶτα αὐτοῖς παρεῖχεν, ἢ παιδιὰς τοιαύτας ἐξηύρισκεν αἳ ἱδρῶτα ἔμελλον παρέχειν, ἢ καὶ πρᾶξαι εἴ τι δεόμενος τύχοι, οὕτως ἐξηγεῖτο τῆς πράξεως ὡς μὴ ἐπανίοιεν ἀνιδρωτί. τοῦτο γὰρ ἡγεῖτο καὶ πρὸς τὸ ἡδέως ἐσθίειν ἀγαθὸν εἶναι καὶ πρὸς τὸ ὑγιαίνειν καὶ πρὸς τὸ δύνασθαι πονεῖν, καὶ πρὸς τὸ ἀλλήλοις δὲ πρᾳοτέρους εἶναι ἀγαθὸν ἡγεῖτο τοὺς πόνους εἶναι, ὅτι καὶ οἱ ἵπποι συμπονοῦντες ἀλλήλοις πρᾳότεροι συνεστήκασι. πρός γε μὴν τοὺς πολεμίους μεγαλοφρονέστεροι γίγνονται οἳ ἂν συνειδῶσιν ἑαυτοῖς εὖ ἠσκηκότες.

Kyros kümmerte sich aber auch darum, daß die Soldaten niemals zum Frühstück und zur Hauptmahlzeit kamen, ohne geschwitzt zu haben. Denn entweder schickte er sie auf die Jagd und ließ sie schwitzen, oder er erfand solche Spiele, die sie ins Schwitzen bringen sollten, oder wenn er irgendeine Aktion durchführen ließ, leitete er die Aktion so, daß niemand zurückkam, ohne geschwitzt zu haben. Er meinte nämlich, daß dies eine gute Voraussetzung dafür sei, mit Appetit zu essen, gesund zu bleiben und Anstrengungen ertragen zu können. Außerdem war er der Ansicht, daß die Anstrengungen die Verträglichkeit der Soldaten untereinander förderten, weil sich ja auch die Pferde, die sich gemeinsam anstrengen, besser vertragen. Schließlich bekommen diejenigen, die wissen, daß sie gut trainiert sind, den Feinden gegenüber mehr Mut und Kampfbereitschaft. (Xen. cyr. 2,1,29)

Dies steigert sich sogar derart, daß sich nach einer Rede des Kyros, die er gegenüber scheinbar ängstlichen Anführern der verbündeten Armeen und anderen Soldaten aufgrund der sich anbahnenden Schlacht gegen Kroisos hält, der Perser Chrysantas wie folgt äußert: Ἐπεὶ δὲ ταῦτα εἶπεν ὁ Κῦρος, ἀνέστη Χρυσάντας ὁ Πέρσης καὶ ἔλεξεν ὧδε. Ὦ Κῦρε, μὴ θαύμαζε εἴ τινες ἐσκυθρώπασαν ἀκούσαντες τῶν ἀγγελλομένων· οὐ γὰρ φοβηθέντες οὕτω διετέθησαν, ἀλλ’ ἀχθεσθέντες· ὥσπερ γε, ἔφη, εἴ τινων βουλομένων τε καὶ οἰομένων ἤδη ἀριστήσειν ἐξαγγελθείη τι ἔργον ὃ ἀνάγκη εἴη πρὸ τοῦ ἀρίστου ἐξεργάσασθαι, οὐδεὶς ἂν οἶμαι ἡσθείη ἀκούσας· οὕτω τοίνυν καὶ ἡμεῖς ἤδη οἰόμενοι πλουτήσειν, ἐπεὶ ἠκούσαμεν ὅτι ἐστὶ περίλοιπον ἔργον ὃ δεῖ ἐξεργάσασθαι, συνεσκυθρωπάσαμεν, οὐ φοβούμενοι, ἀλλὰ πεποιῆσθαι ἂν ἤδη καὶ τοῦτο βουλόμενοι.

Nachdem Kvros diese Worte gesprochen hatte, stand der Perser Chrysantas auf und sagte folgendes: „Mein Kyros, wundere dich nicht, daß sich bei einigen hier die Mienen verfinsterten. als sie die neuesten Nachrichten hörten. Der Grund dafür ist aber nicht Furcht, sondern Unzufriedenheit. Stell dir folgende Situation vor: Wenn man essen wollte und der Meinung wäre, es sei schon Zeit dazu, und wenn dann eine Arbeit angekündigt würde, die man vor dem Essen unbedingt zu erledigen hätte, dann würde man sich wohl kaum über diese Nachricht freuen. So glaubten auch wir, schon jetzt unser Glück machen zu können. Als wir aber hörten, daß zuvor noch eine Leistung zu vollbringen ist. verfinsterten sich unsere Mienen, nicht aus Angst, sondern weil wir wünschten, daß diese Arbeit schon getan sei.“ (Xen. cyr. 6,2,21)

Daß hier im Griechischen das Wort für „frühstücken“ findet (ἀριστήσειν), dürfte beim vorher aufgezeigten Konnex „Erledigung der Arbeit – Essen“ wohl kaum ein Zufall sein. Diese internalisierte militärische Disziplin wird allerdings nicht jedem zuteil. So heißt es bezüglich seines Verhaltens gegenüber den Sklaven:

ich selbst zwar leistungsfähig bin und euch mit den tüchtigen Leuten in meiner Umgebung unterstütze, ihr selbst aber ebenso leistungsfähig seid und mir mit den tüchtigen Leuten in eurer Gesellschaft als Verbündete zur Seite steht. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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καὶ γὰρ ὁπότε ἐλαύνοιεν τὰ θηρία τοῖς ἱππεῦσιν εἰς τὰ πεδία, φέρεσθαι σῖτον εἰς θήραν τούτοις ἐπέτρεπε, τῶν δὲ ἐλευθέρων οὐδενί· καὶ ὁπότε πορεία εἴη, ἦγεν αὐτοὺς πρὸς τὰ ὕδατα ὥσπερ τὰ ὑποζύγια. καὶ ὁπότε δὲ ὥρα εἴη ἀρίστου, ἀνέμενεν αὐτοὺς ἔστ’ ἐμφάγοιέν τι, ὡς μὴ βουλιμιῷεν· ὥστε καὶ οὗτοι αὐτὸν ὥσπερ οἱ ἄριστοι πατέρα ἐκάλουν, ὅτι ἐπεμέλετο αὐτῶν ὅπως ἀναμφιλόγως ἀεὶ ἀνδράποδα διατελοῖεν.

Denn wenn sie den Reitern die Tiere über das Gelände trieben, gestattete er ihnen, Proviant auf die Jagd mitzunehmen, während er es einem freien Mann nicht erlaubte. Wenn man unterwegs war. führte er sie wie die Zugtiere an die Wasserstellen. Wenn es Zeit war, das Frühstück einzunehmen, wartete er, bis sie alles aufgegessen hatten, damit sie nicht unter Hunger zu leiden hatten. Daher nannten ihn auch die Sklaven ebenso wie die Edlen einen Vater, weil er sich so um sie kümmerte, daß sie ihr Sklavenlos ohne Widerspruch als unveränderlich hinnahmen. (Xen. cyr. 8,1,44)

Da diesen Untergebenen offensichtlich die Fähigkeit, derlei Strapazen zu ertragen und disziplinarische Mäßigung walten zu lassen, nicht zugesprochen wird, greift hier die moralische Fürsorgepflicht des idealen Anführers. Diese wiegt in diesem Falle nicht nur höher als Erwartungen an die Entwicklungsfähigkeit des dazu befähigten Menschen, sondern mündet sogar in höherem Lob des so sozial Handelnden wie in einer Stabilisierung des gesamten Ordnungssystems.16 Dieser Ordnungsgedanke in allen Bereichen des Lebens, also nicht nur in der Sozialstruktur einer vom xenophontischen Kyros geführten idealen Gesellschaft, dominiert ebenfalls als dauernd wiederkehrender Topos das gesamte Werk, und darüber hinaus die Konzeption Xenophons. Symptomatisch in Bezug auf das Frühstücken ist dabei eine Passage aus dem zweiten Buch der Kyrupädie, indem vornehmlich in Redenform mit anschließender Bestätigung des Gesagten aus der Narratorperspektive über die richtige Ordnung, Disziplin und Belohnungsregeln im Heer reflektiert wird. Hier heißt es: Ἄλλον δέ ποτε ἰδὼν ταξίαρχον ἄγοντα τὴν τάξιν ἀπὸ τοῦ ποταμοῦ ἐπὶ τὸ ἄριστον ἐφ’ ἑνός, καὶ ὁπότε δοκοίη αὐτῷ καιρὸς εἶναι, παραγγέλλοντα τὸν ὕστερον λόχον παράγειν, καὶ τὸν τρίτον καὶ τὸν τέταρτον, εἰς μέτωπον, ἐπεὶ δ’ ἐν μετώπῳ οἱ λοχαγοὶ ἐγένοντο, παρηγγύησεν εἰς δύο ἄγειν τὸν λόχον· ἐκ τούτου δὴ παρῆγον οἱ δεκάδαρχοι εἰς μέτωπον· ὁπότε δ’ αὖ ἐδόκει αὐτῷ καιρὸς εἶναι, παρήγγειλεν εἰς τέτταρας τὸν λόχον· οὕτω δὴ οἱ πεμπάδαρχοι αὖ παρῆγον εἰς τέτταρας· ἐπεὶ δ’ ἐπὶ θύραις τῆς σκηνῆς ἐγένοντο, παραγγείλας αὖ εἰς ἕνα [ἰόντων] εἰσῆγε τὸν πρῶτον λόχον, καὶ τὸν δεύτερον τούτου κατ’ οὐρὰν ἐκέλευσεν ἕπεσθαι, καὶ τὸν τρίτον καὶ τὸν τέταρτον ὡσαύτως παραγγείλας ἡγεῖτο ἔσω· οὕτω δ’ εἰσαγαγὼν κατέκλινεν ἐπὶ τὸ δεῖπνον ὥσπερ εἰσεπορεύοντο· τοῦτον οὖν ὁ Κῦρος ἀγασθεὶς τῆς τε πρᾳότητος τῆς διδασκαλίας καὶ τῆς ἐπιμελείας ἐκάλεσε ταύτην τὴν τάξιν ἐπὶ τὸ δεῖπνον σὺν τῷ ταξιάρχῳ.

Einmal sah Kyros einen anderen Taxiarchen, der seine Taxis einen Mann hinter dem anderen vom Fluß her zum Essen führte und, als es ihm günstig erschien, den zweiten, dann den dritten und den vierten neben den ersten vorrücken und eine Linie bilden ließ. Als aber die Lochagen in Linie standen, ließ er jeden Lochos eine Zweierreihe bilden. Dadurch kamen die Dekadarchen in die Linie. Als es ihm wiederum angebracht erschien, ließ er jeden Lochos eine Viererreihe bilden. So traten dann die Pempadarchen zu je vier Mann in die Linie. Als sie aber am Eingang des Zeltes angelangt waren, ließ er sie wieder zu einem hintereinander marschieren und den ersten Lochos in das Zelt gehen. Den zweiten ließ er dann folgen und dem dritten und vierten gab er denselben Befehl. So führte er 16 Gray 2011, 283, 326 betont die Ironie Xenophons an dieser Stelle, da hier die Vater-Rolle einen anderen Zweck als gegenüber den Persern zeitige. M.E. spiegelt dies die, wenn auch für uns ambivalente, Gesellschaftsordnung (nicht nur) der griechischen Antike. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Sven Günther seine Leute in das Zelt. Nachdem er sie auf diese Weise hineingeführt hatte, ließ er sie so zum Essen Platz nehmen, wie sie hereingekommen waren. Kyros bewunderte diesen Taxiarchen wegen seiner Geduld und Sorgfalt bei der Ausbildung seiner Leute und lud die Taxis mit ihrem Taxiarchen zum Essen ein. (Xen. cyr. 2,3,21)

Dieses Üben von taktischen Operationen wird nun nicht nur von Kyros sofort mit einer Einladung zum Essen (deipnon)17 honoriert, sondern führt im folgenden auch zum Wettbewerb, da sofort ein anderer Taxiarch ebenfalls derlei Operationen in noch ausgefeilterer Weise für seine Einheit bei allen Mahlzeiten reklamiert und hierfür sogar „doppelt“ eingeladen wird, was dieser allerdings mit Hinweis auf die schwer verdauliche doppelte Magenfüllung auf verschiedene Gelegenheiten verteilen möchte; dies wird von Kyros auch gewährt, und die entsprechenden Essen werden sodann an zwei aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführt.18 Letztlich heißt es dann: αἰσθόμενοι δὲ ταῦτα καὶ οἱ ἄλλοι τὸ λοιπὸν πάντες αὐτοὺς ἐμιμοῦντο.

Als das bekannt wurde, versuchten auch alle anderen, es diesen künftig gleichzutun. (Xen. cyr. 2,3,24)

Damit ist nun das Ziel der Belohnung, die eifernde Nachfolge hin zum Besseren für die Gesamt­ organisation „Heer“ mit Kyros als Bestem, als Anführer, erreicht.19 Ein ‚spätes‘ Frühstück als taktische Variante Das gerade aufgezeigte Geflecht aus Führungsqualitäten, Fürsorge und militärischer Disziplin und Ordnung, das auf allen Hierarchieebenen je nach Möglichkeit der dortigen Akteure nachgeahmt wird, erscheint nun als ziemlich starr und unflexibel. Denn insbesondere bezüglich militärischer Operationen sind derlei Organisationsstrukturen von Gegner vorherseh- und damit leicht bekämpfbar.20 Derlei bekommt der junge Kyros von seinem Vater Kambyses bereits durch den langen Erziehungsdialog im ersten Buch beigebracht: Νὴ Δί’, ἔφη· ὡς τοίνυν ὀψιμαθῆ ὄντα ἐμὲ τούτων τῶν πλεονεξιῶν, ὦ πάτερ, μὴ φείδου εἴ τι ἔχεις διδάσκειν ὅπως πλεονεκτήσω ἐγὼ τῶν πολεμίων. Μηχανῶ τοίνυν, ἔφη, ὅπως ἐς τὴν δύναμιν τεταγμένοις τε τοῖς σαυτοῦ ἀτάκτους λαμβάνῃς τοὺς πολεμίους καὶ ὡπλισμένοις ἀόπλους καὶ ἐγρηγορόσι καθεύδοντας, καὶ φανερούς σοι ὄντας ἀφανὴς αὐτὸς ὢν ἐκείνοις καὶ ἐν δυσχωρίᾳ αὐτοὺς γιγνομένους ἐν ἐρυμνῷ αὐτὸς ὢν ὑποδέξῃ. (36) Καὶ πῶς ἄν, ἔφη, τις τοιαῦτα, ὦ πάτερ, ἁμαρτάνοντας δύναιτ’ ἂν τοὺς πολεμίους λαμβάνειν; Ὅτι, ἔφη, ὦ παῖ, πολλὰ μὲν τούτων ἀνάγκη ἐστὶ καὶ ὑμᾶς καὶ τοὺς πολεμίους παρασχεῖν· σιτοποιεῖσθαί τε γὰρ ἀνάγκη ἀμφοτέρους, κοιμᾶσθαί τε ἀνάγκη ἀμφοτέρους καὶ ἕωθεν ἐπὶ τὰ ἀναγκαῖα σχεδὸν ἅμα πάντας ἵεσθαι, καὶ ταῖς ὁδοῖς ὁποῖαι ἂν ὦσι τοιαύταις ἀνάγκη χρῆσθαι. ἃ χρή σε πάντα κατανοοῦντα, ἐν ᾧ μὲν ἂν ὑμᾶς γιγνώσκῃς ἀσθενεστάτους γιγνομένους, ἐν τούτῳ μάλιστα φυλάττεσθαι· ἐν ᾧ δ’ ἂν τοὺς πολεμίους αἰσθάνῃ εὐχειρωτοτάτους γιγνομένους, ἐν τούτῳ μάλιστα ἐπιτίθεσθαι. 17 Sturz 1801, 400, s.v. ἄριστον diskutiert und verwirft mit Recht eine Emendation des vorher (Xen. cyr. 2,3,22) verwendeten ἐπὶ τὸ ἄριστον zu ἐπὶ τὸ δεῖπνον aufgrund der nachmaligen dauernden Nennung von deipnon. 18 Vgl. Xen. cyr. 2,3,22–24. 19 Zur schrittweisen Etablierung eines Belohnungssystems vgl. Due 1989, 46. 20 Zur Ausnutzung von diesbezüglichen starren Strukturen für erfolgreiche Attacken und Ratschläge zur Verhinderung vgl. die Studie von Wu 2017 zu Aeneas Tacticus. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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„Ja, beim Zeus“, sagte Kyros. „Da ich nun schon diese Techniken der Übervorteilung erst spät lerne, mein Vater, verzichte nicht darauf, mir beizubringen, wenn du es kannst, wie ich die Feinde übervorteilen kann.“ Kambyses entgegnete: „Sorge dafür, daß du die Feinde nach Möglichkeit überraschst, solange sie ihre Kampfstellung noch nicht bezogen haben, während dein eigenes Heer in Schlachtordnung aufmarschiert ist solange sie noch unbewaffnet sind, während deine Leute bereits bewaffnet sind, und solange sie noch schlafen, während deine Männer schon ausgeschlafen sind, und setze alles daran, daß du sie angreifst, wenn du sie genau siehst, ohne selbst von ihnen gesehen zu werden, und wenn sie sich auf ungünstigem Gelände befinden, während du selbst auf sicherem Boden stehst.“ (36) „Aber wie könnte man wohl die Feinde bei derartigen Fehlern überraschen?“ – „Mein Sohn, es ist unumgänglich, daß sich die Feinde ebenso wie ihr selbst immer wieder in dieser Lage befinden: Denn beide müßt ihr essen, beide müßt ihr schlafen, beide müßt ihr am frühen Morgen fast alle zu gleicher Zeit austreten gehen und beide müßt ihr die Wege so benutzen, wie sie gerade sind. Du mußt dies alles bedenken und dann besonders vorsichtig sein, wenn du siehst, daß ihr euch am wenigsten wehren könnt. Wenn du aber die Feinde in einer Situation siehst, wo sie sich besonders leicht überwältigen lassen, darfst du dir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, sie anzugreifen.“ (Xen. cyr. 1,6,35 f.)

Diese Überraschungsmanöver21 werden nun an verschiedenen Stellen in der Kyrupädie umgesetzt. So läßt Kyros nach günstig ausgefallenem Götteropfer und Sammlung der Truppen sein Heer zunächst die Gipfel im Besitz der gegnerischen Chaldäer stürmen. Ob die Mahlzeit die erste des Tages war, ist dabei nicht klar ausgedrückt; dennoch wird das Verb ἀριστοποιεῖσθαι verwendet, was auf eine derartige taktische Variante hindeuten könnte: ὁ δὲ Κῦρος, ὡς πάντες οἱ στρατιῶται ὁμοῦ ἐγένοντο, ἀριστοποιεῖσθαι παρήγγειλεν. ἐπεὶ δὲ ἠριστήκεσαν, καταμαθὼν ἔνθα αἱ σκοπαὶ ἦσαν αἱ τῶν Χαλδαίων ἐρυμνόν τε ὂν καὶ ἔνυδρον, εὐθὺς ἐτείχιζε φρούριον· καὶ τὸν Τιγράνην ἐκέλευε πέμπειν ἐπὶ τὸν πατέρα καὶ κελεύειν παραγενέσθαι ἔχοντα ὁπόσοι εἶεν τέκτονές τε καὶ λιθοτόμοι. ἐπὶ μὲν δὴ τὸν Ἀρμένιον ᾤχετο ἄγγελος· ὁ δὲ Κῦρος τοῖς παροῦσιν ἐτείχιζεν.

Nachdem alle Soldaten oben angekommen waren, wies Kyros sie an, eine Mahlzeit einzunehmen. Nach dem Essen ließ er sie sofort an dem, wie er festgestellt hatte, sicheren und mit Wasser versorgten Platz, wo sich die Beobachtungsposten der Chaldäer befunden hatten, mit dem Bau einer Befestigungsanlage beginnen. Er befahl Tigranes, einen Boten zu seinem Vater zu schicken und ihn aufzufordern, mit allen Bauleuten und Steinmetzen, die vorhanden seien, herzukommen. Der Bote begab sich daraufhin zum Armenierkönig. Kyros aber begann mit Hilfe aller verfügbaren Kräfte, die Festung zu errichten. (Xen. cyr. 3,2,11)

Deutlicher wird ein solches Vorgehen entgegen dem normalen Ablauf bei der Einnahme von Sardes nach erfolgreicher Schlacht gegen Kroisos im siebten Buch. Hier zieht Kyros bei Tagesanbruch direkt mit seinem Heer in die bereits in seiner Hand befindliche Stadt ein, und nach der dringenden Ermahnung der Chaldäer, mit dem Plündern aufzuhören, läßt er seine Soldaten ein Lager in der Stadt aufschlagen, um dort ein Frühstück, weiterhin in W­a ffenbereitschaft, einzunehmen.22 Ebendieses Vorgehen findet sich auch nach der ersten 21 Zu diesen Manövern als Teil des angeeigneten und anwendbaren Wissens vgl. Müller-Goldingen 1995, 129 f. 22 Zur Einnahme vgl. Xen. cyr. 7,2,1–7. In § 8 heißt es sodann: οἱ μὲν δὴ Χαλδαῖοι οὕτως ἐποίησαν ὡς ἐκέλευσεν ὁ Κῦρος· καὶ ἔλαβον οἱ πειθόμενοι πολλὰ καὶ παντοῖα χρήματα. ὁ δὲ Κῦρος καταστρατοπεδεύσας τοὺς ἑαυτοῦ, ὅπου ἐδόκει ἐπιτηδειότατον εἶναι τῆς πόλεως, μένειν ἐπὶ τοῖς ὅπλοις παρήγγειλε καὶ ἀριστοποιεῖσθαι. – Die Chaldäer führten alles so aus, wie Kyros es befohlen hatte, und © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Schlacht gegen den älteren Assyrerkönig; nach dessen Fall im Kampf macht sich allgemeine Verzweiflung und daraus folgende Flucht aus dem Lager breit, so daß es für Kyros ein Leichtes ist, dieses am nächsten Tag sofort einzunehmen und dann erst zu frühstücken.23 Ähnliches geschieht wieder nach dem Überlaufen der mit Reitertruppen ausgestatteten Hyrkanier, so daß das Marschlager des Kroisos letztlich schon in der Frühe eingenommen werden kann, und die Meder wie Hyrkanier die weitere Verfolgung der Geflohenen aufnehmen.24 Sodann läßt Kyros jedoch nicht das nun notwendige und überfällige Frühstück zu, obschon er um den Hunger und Durst der Soldaten weiß und auch die enormen Verpflegungsmengen im Lager sicherstellt,25 sondern gibt folgenden Ratschlag: ὁ δὲ συγκαλέσας τοὺς ταξιάρχους ἔλεξε τοιάδε· Ἄνδρες φίλοι, γιγνώσκομεν ὅτι νῦν ἔξεστιν ἡμῖν προτέροις τῶν ἀπόντων συμμάχων ἀρίστου τυχεῖν καὶ τοῖς μάλιστα ἐσπουδασμένοις σίτοις καὶ ποτοῖς χρῆσθαι· ἀλλ’ οὔ μοι δοκεῖ τοῦτ’ ἂν τὸ ἄριστον πλέον ὠφελῆσαι ἡμᾶς ἢ τὸ τῶν συμμάχων ἐπιμελεῖς φανῆναι, οὐδ’ ἂν αὕτη ἡ εὐωχία ἰσχυροτέρους τοσοῦτον ποιῆσαι ὅσον εἰ δυναίμεθα τοὺς συμμάχους προθύμους ποιεῖσθαι. (39) εἰ δὲ τῶν νυνὶ διωκόντων καὶ κατακαινόντων τοὺς ἡμετέρους πολεμίους καὶ μαχομένων, εἴ τις ἐναντιοῦται, τούτων δόξομεν οὕτως ἀμελεῖν ὥστε καὶ πρὶν εἰδέναι πῶς πράττουσιν ἠριστηκότες φαίνεσθαι, ὅπως μὴ αἰσχροὶ μὲν φανούμεθα, ἀσθενεῖς δ’ ἐσόμεθα συμμάχων ἀποροῦντες. τὸ δὲ τῶν κινδυνευόντων καὶ πονούντων ἐπιμεληθῆναι ὅπως εἰσιόντες τὰ ἐπιτήδεια ἕξουσιν, αὕτη ἂν ἡμᾶς ἡ θοίνη πλείω εὐφράνειεν, ὡς ἐγώ φημι, ἢ τὸ παραχρῆμα τῇ γαστρὶ χαρίσασθαι. (40) ἐννοήσατε δ’, ἔφη, ὡς εἰ μηδ’ ἐκείνους αἰσχυντέον ἦν, οὐδ’ ὣς ἡμῖν νῦν προσῆκεν οὔτε πλησμονῆς πω οὔτε μέθης· οὐ γάρ πω διαπέπρακται ἡμῖν ἃ βουλόμεθα, ἀλλ’ αὐτὰ πάντα νῦν ἀκμάζει ἐπιμελείας δεόμενα. ἔχομεν γὰρ ἐν τῷ στρατοπέδῳ πολεμίους πολλαπλασίους ἡμῶν αὐτῶν, καὶ τούτους λελυμένους·οὓς καὶ φυλάττεσθαι ἔτι προσήκει καὶ φυλάττειν, ὅπως ὦσι καὶ οἱ ποιήσοντες ἡμῖν τὰ ἐπιτήδεια· ἔτι δ’ οἱ ἱππεῖς ἡμῖν ἄπεισι, φροντίδα παρέχοντες ποῦ εἰσι· κἂν ἔλθωσιν, εἰ παραμενοῦσιν. (41) ὥστ’, ὦ ἄνδρες, νῦν μοι δοκεῖ τοιοῦτον σῖτον ἡμᾶς προσφέρεσθαι δεῖν καὶ τοιοῦτον ποτὸν ὁποῖον ἄν τις οἴεται μάλιστα σύμφορον εἶναι πρὸς τὸ μήτε ὕπνου μήτε ἀφροσύνης ἐμπίμπλασθαι.

Kyros rief dann wiederum seine Taxiarchen zusammen und sagte folgendes zu ihnen: „Meine Freunde, ich sehe, daß es uns jetzt möglich ist, als erste unser Essen zu bekommen, solange unsere Verbündeten noch nicht zurück sind, und die sorgfältig zubereiteten Speisen und Getränke zu genießen. Aber ich glaube nicht, daß es uns mehr nützen würde, diese Mahlzeit einzunehmen, als unseren Verbündeten zu zeigen, daß wir uns um sie kümmern. Ich sehe auch nicht, daß dieses Essen unsere Kraft in demselben Maße stärken würde wie unsere Bemühung um die Sympathie unserer Verbündeten. (39) Wenn wir aber, während die Verbündeten unsere Feinde verfolgen und die gehorsamen Soldaten erhielten eine große Menge von Gegenständen vielfältiger Art. Nachdem Kyros seine eigenen Leute auf dem Platz in der Stadt, wo es ihm am günstigsten erschien, ihr Lager hatte aufschlagen lassen, befahl er ihnen, ihre Waffen nicht abzulegen und ihr Frühstück einzunehmen. 23 Xen. cyr. 4,1,9: ὡς δ’ ἡμέρα ἐγένετο καὶ ἔρημον ἀνδρῶν ἐφάνη τὸ τῶν πολεμίων στρατόπεδον, εὐθὺς διαβιβάζει ὁ Κῦρος τοὺς Πέρσας πρώτους· κατελέλειπτο δὲ ὑπὸ τῶν πολεμίων πολλὰ μὲν πρόβατα, πολλοὶ δὲ βόες, πολλαὶ δὲ ἅμαξαι πολλῶν ἀγαθῶν μεσταί·ἐκ δὲ τούτου διέβαινον ἤδη καὶ οἱ ἀμφὶ Κυαξάρην Μῆδοι πάντες καὶ ἠριστοποιοῦντο ἐνταῦθα. – Als es Tag wurde und die Feinde ihr Lager

offensichtlich verlassen hatten, ließ Kyros sofort die Perser als erste hineinmarschieren. Die Feinde hatten viele Schafe, Rinder und Wagen mit zahlreichen Gütern zurückgelassen. Darauf zogen auch alle Meder mit Kyaxares in das Lager ein und nahmen dort ihr Frühstück zu sich. Hernach beklagt sich Kyros über die verpaßte Gelegenheit, den Feinden nachzusetzen, was in dieser Situation noch, wieder als retardierendes Element, vom Meder Kyaxeres und dessen Rede ‚blockiert‘ wird; vgl. Xen. cyr. 4,1,10–24. 24 Vgl. Xen. cyr. 4,2,28–33. 25 Vgl. Xen. cyr. 4,2,34–38a. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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erschlagen und den Kampf fortsetzen, falls jemand Widerstand leistet, den Anschein erwecken, wir kümmerten uns so wenig um sie, daß wir, bevor wir erfahren hätten, wie es ihnen ergehe, zu Tisch gingen, dann fürchte ich, daß wir uns nicht nur schämen müßten, sondern auch empfindlich geschwächt würden, weil wir unsere Verbündeten verlören. Wenn wir uns jedoch darum kümmern, daß die Männer, die sich in Gefahr begeben und Anstrengungen auf sich nehmen, die erforderliche Fürsorge erhalten, sobald sie zurückkommen, dann dürfte uns dieses Festmahl wohl mehr erfreuen, wie ich meine, als die augenblickliche Befriedigung des Magens. (40) Bedenkt bitte auch, daß es uns selbst dann, wenn wir keine Rücksicht auf jene zu nehmen hätten, noch nicht zustände, der Eß- und Trinklust nachzugeben. Denn noch haben wir nicht erreicht, was wir wollen, sondern alles steht noch auf des Messers Schneide und bedarf größter Sorgfalt. Wir haben nämlich im Lager noch Feinde, die uns zahlenmäßig weit überlegen sind und noch dazu frei herumlaufen. Es ist noch angebracht, sich vor ihnen in acht zu nehmen und zugleich dafür zu sorgen, daß wir auch Leute haben, die die für uns notwendigen Arbeiten verrichten. Ferner sind auch unsere Reiter noch nicht eingetroffen, und wir fragen uns voll Sorge, wo sie sind, und wenn sie eintreffen, ob sie dann auch wirklich bei uns bleiben. (41) Darum, meine Freunde, scheint es mir im Augenblick notwendig zu sein, nur so viel zu essen und zu trinken, wie wir für gerade erforderlich halten, um wach und aufmerksam zu bleiben. (Xen. cyr. 4,2,38b–41)

Beim xenophontischen Kyros und den ihm nachfolgenden getreuen Persern zeigt sich hier also Eigenkontrolle (sōphrosynē) sowie Mäßigung (kolāsis), und zwar nicht um der Mäßigung willen, sondern um ein höheres, moralisches Ziel zu erreichen: sich dadurch der Freundschaft u­nd Treue der Meder und vor allem der neu gewonnenen Hyrkanier zu versichern.26 Insofern sind auch die moralischen Qualitäten, die Kyros als Vorbild hier wieder als erster an den Tag legt und dem es zu folgen gilt, wieder ziel- und zweckgerichtet. Fazit: Das Frühstück und die moralischen Qualitäten von Führungspersönlichkeiten Die Überlegenheit, Tugendhaftigkeit und Voraussicht des xenophontischen Kyros in der Kyru­ pädie zeigt sich also nicht allein in den großen Taten, sondern auch in den kleinen, alltäglichen Dingen. Das häufig vorkommende „Frühstück(en)“ hat also seine Funktion innerhalb des Werkes, vornehmlich, um die Qualitäten des Kyros als Führungspersönlichkeit zu bestätigen und um anderen je nach dem Grad ihrer eigenen Möglichkeit daran teilhaben zu lassen. Die literarische Überhöhung des Protagonisten wird durch Xenophon noch dadurch gesteigert, daß es auch Negativfolien gibt, gegenüber denen er seinen Kyros absetzt. Da ist zunächst einmal der Mundschenk des Großvaters Astyages namens Sakas zu nennen, der als Zugangsregler zum medischen König fungiert.27 Diese von ihm ausgeführte Restriktion mißfällt dem jungen Kyros, so daß er im Spaß, beim Essen (deipnon) mit seiner Mutter Mandane und Astyages, seinen Großvater um die Übernahme von dessen Stellung bittet, und zwar mit der folgenden Absicht: καὶ ὁ Ἀστυάγης λέγει· Ὁ δὲ σὸς πατήρ, ὦ παῖ, πίνων οὐ μεθύσκεται; Οὐ μὰ Δί’, ἔφη. Ἀλλὰ πῶς ποιεῖ; Διψῶν παύεται, ἄλλο δὲ κακὸν οὐδὲν πάσχει· οὐ γάρ, οἶμαι, ὦ πάππε, Σάκας αὐτῷ οἰνοχοεῖ. καὶ ἡ μήτηρ εἶπεν· Ἀλλὰ τί ποτε σύ, ὦ παῖ, τῷ Σάκᾳ οὕτω πολεμεῖς; τὸν δὲ Κῦρον εἰπεῖν· Ὅτι νὴ 26 Dieses Ziel erscheint wie ein Doppelgebot ganz prominent bei den letzten Worten des Kyros, in Xen. cyr. 8,7,28: καὶ τοῦτο, ἔφη, μέμνησθέ μου τελευταῖον, τοὺς φίλους εὐεργετοῦντες καὶ τοὺς ἐχθροὺς δυνήσεσθε κολάζειν. – Behaltet mein letztes Wort im Gedächtnis: Wenn ihr euren Freunden Gutes tut, werdet ihr auch eure Feinde in Schranken halten können. Zur Freundschaftsschaffung und -bewahrung als Herrschaftsaufgabe und -herausforderung vgl. ausführlich Gray 2011, 291–329. 27 Vgl. Xen. cyr. 1,3,8. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Sven Günther Δία, φάναι, μισῶ αὐτόν· πολλάκις γάρ με πρὸς τὸν πάππον ἐπιθυμοῦντα προσδραμεῖν οὗτος ὁ μιαρώτατος ἀποκωλύει. ἀλλ’ ἱκετεύω, φάναι, ὦ πάππε, δός μοι τρεῖς ἡμέρας ἄρξαι αὐτοῦ. καὶ τὸν Ἀστυάγην εἰπεῖν· Καὶ πῶς ἂν ἄρξαις αὐτοῦ; καὶ τὸν Κῦρον φάναι· Στὰς ἂν ὥσπερ οὗτος ἐπὶ τῇ εἰσόδῳ, ἔπειτα ὁπότε βούλοιτο παριέναι ἐπ’ ἄριστον, λέγοιμ’ ἂν ὅτι οὔπω δυνατὸν τῷ ἀρίστῳ ἐντυχεῖν·σπουδάζει γὰρ πρός τινας· εἶθ’ ὁπότε ἥκοι ἐπὶ τὸ δεῖπνον, λέγοιμ’ ἂν ὅτι λοῦται· εἰ δὲ πάνυ σπουδάζοι φαγεῖν, εἴποιμ’ ἂν ὅτι παρὰ ταῖς γυναιξίν ἐστιν· ἕως παρατείναιμι τοῦτον ὥσπερ οὗτος ἐμὲ παρατείνει ἀπὸ σοῦ κωλύων.

Darauf fragte Astyages: „Wenn dein Vater, mein Junge, trinkt, wird er dann nicht betrunken?“ – „Nein, beim Zeus“, war die Antwort. „Aber wie schafft er das?“ – „Er hat ganz einfach keinen Durst mehr; aber sonst geht es ihm nicht weiter schlecht. Denn, soweit ich sehe, schenkt ihm ja auch kein Sakas ein, Großvater.“ Da fragte die Mutter: „Aber wie kommt es eigentlich, daß du Sakas so böse bist?“ Kyros antwortete: „Weil ich ihn hasse, beim Zeus. Wenn ich nämlich zu meinem Großvater will, läßt mich dieser schreckliche Kerl oft nicht zu ihm hinein. Aber ich bitte dich, Großvater, laß mich einmal drei Tage lang sein Herr sein.“ Darauf fragte Astyages: „Und was würdest du dann mit ihm anfangen?“ – „Ich würde mich wie er an den Eingang stellen, dann würde ich ihm sagen, wenn er zum Frühstücken gehen wollte, daß man noch kein Frühstück bekommen könne, weil der König noch mit einigen Leuten zu tun habe. Wenn er aber wiederkäme, um zu essen, würde ich ihm sagen, der König sei im Bad. Hätte er aber ganz großen Hunger, so würde ich ihm sagen, der König sei bei den Frauen. Ich würde ihn genauso lange hinhalten, wie er mich hinhält, wenn er mich von dir fernhält.“ (Xen. cyr. 1,3,11)

Das Hin- und Abhalten vom Essen und vom König, von morgens bis abends, ist hier nicht als von Kyros später selbst vertretene Mäßigung zu verstehen, sondern als Eingriff in die „Freiheit“, den geliebten Großvater und Herrscher(!) als Vorbild, dem es nachzueifern und zu folgen gilt, sehen und von ihm profitieren zu können.28 Besonders negativ werden von Xenophon die zeitgenössischen Perser dargestellt, und zwar vor allem im letzten Kapitel des letzten, achten Buches, das trotz vielerlei Forschungsdiskussion wohl als authentisch und xenophontisch zu gelten hat.29 Wie in einem konzentrischen Kreis, der auf das erste Buch und die positive Verfassung der Perser rekurriert, werden dort die angeblichen Negativentwicklungen in der Zeit des Verfassers aufgelistet. Dabei wird auch noch einmal auf die Verhaltenweise bezüglich des Essens Bezug genommen. Während es im ersten Buch noch heißt, daß es von der bereits oben beschriebenen, bei der Jagd eingeübten Enthaltsamkeit30 auch heute noch Beispiele gebe,31 heißt es diesbezüglich im letzten Buch: καὶ μὴν πρόσθεν μὲν ἦν αὐτοῖς μονοσιτεῖν νόμιμον, ὅπως ὅλῃ τῇ ἡμέρᾳ χρῷντο εἰς τὰς πράξεις καὶ εἰς τὸ διαπονεῖσθαι. νῦν γε μὴν τὸ μὲν μονοσιτεῖν ἔτι διαμένει, ἀρχόμενοι δὲ τοῦ σίτου ἡνίκαπερ οἱ πρῳαίτατα ἀριστῶντες μέχρι τούτου ἐσθίοντες καὶ πίνοντες διάγουσιν ἔστεπερ οἱ ὀψιαίτατα κοιμώμενοι.

28 Zum Motiv der Abscheidung des Königs, das Xenophon schrittweise einführt und später auch für Kyros verwendet, vgl. Gray 2011, 281 f. 29 Vgl. dazu besonders eindringlich Müller-Goldingen 1995, 262–271. 30 Vgl. Xen. cyr. 1,2,11; Text s. o. S. 262. 31 Xen. cyr. 1,2,16: καὶ νῦν δὲ ἔτι ἐμμένει μαρτύρια καὶ τῆς μετρίας διαίτης αὐτῶν καὶ τοῦ ἐκπονεῖσθαι τὴν δίαιταν. (…) – Es gibt auch heute noch Beweise für ihre maßvolle Lebensweise und eine gesunde Verarbeitung und Verdauung der Nahrung. (…). Vgl. ob dieses vermeintlichen Widerspruchs zu Xen. cyr. 8,8,9 die Erklärung von Müller-Goldingen 1995, 266, um die Verfechter eines angeblich unxenophontischen achten Kapitels zu widerlegen. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Früher war es üblich bei ihnen, nur einmal am Tag zu essen, damit sie den ganzen Tag für ihre Tätigkeiten und Anstrengungen zur Verfügung hatten. Heute ist es zwar auch noch Sitte, nur eine einzige Mahlzeit einzunehmen. Aber sie beginnen mit dem Essen, wenn die ersten frühstücken, und essen und trinken so lange, bis die letzten zu Bett gehen. (Xen. cyr. 8,8,9)

Hier dient also das Essen vom Frühstück bis zum Schlafengehen als ein andauernder Akt, der vom eigentlich Notwendigen, den Arbeiten (πράξεις) und dem sich Mühen (τὸ διαπονεῖσθαι) abhält. Beides sind nun, auf allen Ebenen, die Grundvoraussetzungen für jeglichen Erfolg, auch und gerade für Kyros. Insoweit werden sogar diese Basiselemente für den Aufbau von Führungs­ anspruch von Xenophon, hier in der Gegenüberstellung von seinem „Helden“ Kyros und den von den Griechen verhaßten zeitgenössischen Persern, seinem griechischen Leserkreis mitgeteilt. Das Frühstück als das Alltägliche und bis heuten selten Reflektierte derart funktionell aufzuladen, zeigt, wie eindringlich und mahnend Xenophon sein auserkorenes Erfolgsrezept konzipierte und in sein Werk einflocht. Inwieweit dies von den Rezipienten auch verstanden, diskutiert oder gar umgesetzt wurde, dürfte nicht zuletzt beim obligatorischen Gespräch während des Essens oder noch eher beim Symposion zur Sprache gekommen sein. Bibliographie Alcock 2006 = J. P. Alcock. Food in the Ancient World, Westport, CT 2006. Crusius 21860 = G. Ch. Crusius, Vollständiges Wörterbuch zu Xenophons Kyropädie, mit besonderer Rücksicht auf die Erklärung der persönlichen und geographischen Eigennamen nebst Erläuterung der schwierigen Stellen. Für den Schulgebrauch ausgearbeitet, Leipzig 21860. Due 1989 = B. Due, The Cyropaedia. Xenophon’s Aims and Methods, Aarhus – Kopenhagen 1989. Garnsey 1999 = P. Garnsey, Food and Society in Classical Antiquity, Cambridge et al. 1999 (Key Themes in Ancient History). Goffmann 1974 = E. Goffman, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, New York 1974. Gera 1993 = D. L. Gera, Xenophon’s Cyropaedia. Style, Genre and Literary Technique, Oxford 1993 (Oxford Classical Monographs). Gray 2010 = V. J. Gray (ed.), Xenophon. Oxford Readings in Classical Studies, Oxford 2010. Gray 2011 = V. J. Gray, Xenophon’s Mirror of Princes. Reading the Reflections, Oxford 2011. Günther 2014a = S. Günther, Framing the Financial Thoughts of Aeneas Tacticus. New Approaches of Theory to Economic Discourses in Antiquity, Journal of Ancient Civilizations 29 (2014), 77–86. Günther 2014b = S. Günther, Kulturgeschichtliche Dimensionen antiker Schlachten – eine Bestands­ aufnahme, in: M. Füssel – M. Sikora (Hrsg.), Kulturgeschichte der Schlacht, Paderborn et al. 2014 (Krieg in der Geschichte 78), 27–52. Lu 2015 = H. Lu, Xenophon’s Theory of Moral Education, Newcastle upon Tyne. Müller-Goldingen 1995 = Chr. Müller-Goldingen, Untersuchungen zu Xenophons Kyrupädie, Stuttgart – Leipzig 1995 (Beiträge zur Altertumskunde 42). Nickel 1992 = R. Nickel (Hrsg.), Xenophon: Kyrupädie. Griechisch – deutsch. Sammlung Tusculum, München – Zürich 1992. Oliver 2007 = G. J. Oliver, War, Food, and Politics in Early Hellenistic Athens, Oxford 2007. Sturz 1801 = Fr. W. Sturz, Lexicon Xenophonteum, Vol. I, Leipzig 1801. Tamiolaki 2017 = M. Tamiolaki, Xenophon’s Cyropaedia. Tentative Answers to an Enigma, in: M. A. Flower (ed.), The Cambridge Companion to Xenophon, Cambridge 2017, 174–194. Tatum 1989 = J. Tatum, Xenophon’s Imperial Fiction. The Education of Cyrus, Princeton, NJ 1989. Thurmond 2006 = D. L. Thurmond, A Handbook of Food Processing in Classical Rome. For Her Bounty No Winter, Leiden – Boston 2006 (Technology and Change in History 9). Wilkins – Hill 2006 = J. W. Wilkins – S. Hill, Food in the Ancient World, Malden, MA 2006.

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Wilkins – Nadeau 2015 = J. Wilkins – R. Nadeau, A Companion to Food in the Ancient World, Malden, MA – Oxford 2015. Wu 2017 = T. Wu, Public Festivals, Political Manipulations and Civil Strife. Aeneas Tacticus on Rituals and City Defenses, MBAH 34 (2017), 41–51. Zimmermann 1989 = B. Zimmermann, Roman und Enkomion – Xenophons ‚Erziehung des Kyros‘, Würzburger Jahr­bücher für die Altertumswissenschaft NF 15, 97–105.

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‚Mixed‘ Thraco-Roman Names in the Rural Milieu of Moesia Inferior* Lucrețiu Mihailescu-Bîrliba Introduction This paper is not meant to be an onomastic study per se. The epigraphic records of ‚mixed‘ Thraco-Roman names – namely one component has a Thracian origin, and the other a Latin origin – will be followed and analyzed only for the rural milieu. The main purpose of my endeavour is to determine to what extent the phenomenon is remarkable for this space. On one hand, I discuss the names of the peregrines; on the other, this process can also be analyzed for the indigenous people who obtained Roman citizenship. The bibliography on the Thracian population in Moesia Inferior is very rich, even concerning onomastic research.1 D. Dana proposed the identification of four groups of Thracian onomastics, divided by geographic criteria: the onomastics specific of the Thrace province, the DacoMoesian province (specific to the provinces of Dacia, Moesia Inferior and to a part of Moesia Superior), the onomastics characterizing oriental Macedonia, the rest of Moesia Superior and the west of Thrace and the onomastics specific to Bithynia. For Moesia Inferior, R. Curcă reprised the analysis of Thracian names and divided them into six groups (by the combinations between the name, the surname, the cognomen and the agnomen).2 I will also take into account the onomastics of the peregrines, but also of the citizens with Thracian cognomina. There are texts where the Roman citizens have Roman nomen gentile and cognomen, but a Thracian surname. I will discuss these cases too. The most interesting situations are those of the peregrines, who have a Roman name and a Thracian surname or a Thracian name and a Roman surname. The second situation is explicable by the mixed marriages, but I believe that a more common possibility is for the grandfather to have had a Roman name, the son a Roman name, while the grandson a Thracian name again, often the one of his grandfather.3 The epigraphic file The rural territory of Histria provides several examples in this respect. I refer to the villages where the communities of Bessi and Lai lived; they also have a representative among the magistri uici and the quaestores. Some persons bear a Roman name and Thracian surname, Geni­ cius Brini4, Valerius Cutiunis5 (magistri in uicus Quintionis), Fronto Burtsitsinis (quaestor in the same village)6, Antonius Dolentis (mere peregrine in uicus Quintionis). Valerius Cosenis, a * 1 2 3 4 5 6

This paper was realized with the financial support of CNCS (Romanian Council for Scientific Research), under the project number PN III-ID-PCE-0271, code 0550. Besides the older works (Casson 1927, 97–101; Detschew 1976; Mihailov 1977), I also mention more recent ones, such as Minkova 2000; Stoev 2012, 199–212; Alexandrov 2012, 219–234; Curcă 2012, 51–58. Curcă 2012, 51–58. Curcă 2012, 53. The second situation was not taken into account. ISM I, 328. ISM I, 331. ISM I, 332. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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magister in uicus Secundini was granted citizenship in 212 or little after (the text mentioning it dates to 220). Another character who, in my opinion, acquired citizenship in 212 or soon after is Aurelius Herculanus, who mentions his father’s name, Seuthes. His mother is also ciuis Romana, but she bears a Thracian cognomen (Aurelia Dusia). Married to a female citizen who also has a Thracian surname, Claudia Dusia, Herculanus has four children, all of them citizens with Roman names (Aurelius Cocceius, Aurelius Genialis, Aurelius Claudius and Aurelius Vindix). It is worth mentioning the forms of gentilicia, such as Cocceius and Claudius, used as surnames, but this no longer a rarity in the 3rd century. It may be stated, by the grandfather called Seuthes, that the two subsequent generations bore the Roman cognomina, after their representatives acquired citizenship. An interesting situation is the one of uicus Secundini. Besides an inscription of 220 that mentions a certain Valerius Cosenis7, three other texts attest Iustinus Valeri8, Aelius Herculanus9 and Iustus Iustini.10 All of them are magistri uici. D. M. Pippidi believes that these last characters have a Thracian origin, if we take into account the duality of Roman-Thracian citizenship in the rural collegial magistracy of the magistri.11 I share the opinion of D. M. Pippidi and I add that the peregrine manner of writing their names, even after acquiring citizenship (three texts are dated after 212, and in two texts the names are written on the stone, as mentioned previously) represents another argument for believing that these persons have a Thracian origin. Furthermore, Iustinus Valeri is the son of a certain Valerius, the son of an unkown person, as noticed on the previous inscriptions (Valerius Cutiunis, for instance). Iustus Iustini may be, in his turn, a descendent of Iustinus Valeri, taking into consideration that the chronological difference between the texts mentioning these characters is 36 years. Aelius Herculanus is the only citizen of the three whose transcribed name is exactly like the one of a ciuis Romanus. It is apparent that these persons tended to „Romanize“ their names. This is the case of Valerius Cosenis, but mostly of Iustinus Valeri, Aelius Herculanus and Iustus Iustini; only the aforementioned circumstances allow us to identify these characters as having Thracian origins.12 The territory of the city of Tomis presents two families of Thracians where not only the father bears a Roman name and a Thracian surname, but all his other descendants bear Roman names. I refer to Castus, the son of Mucaporus, a peregrine of uicus Clementianenses; his children are named Longinus, Martia and Valerius13. Saturninus, the son of Bitus, has two daughters named Sabina and Valeria.14 In the rural milieu of Ibida, the name Macedo borne by the son of Tarsa15 (a sailor in the fleet of Ravenna, discharged in 71) shows that as early as during the dynasty of Iulia-Claudia, the indigenous population started choosing Latin names for their children. Another Thracian who became a citizen, Aelius Aulusenus, has a son whose cognomen is Marcus (Aelius Marcus).16 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

ISM I, 345. ISM I, 344. ISM I, 346. ISM I, 347. ISM I, 344, 346, 347, sub numero. See also Mihailescu-Bîrliba – Dumitrache 2016, 333. ISM II, 191. ISM II, 303. Chiriac – Mihailescu-Bîrliba – Matei 2004, 265–269. Baumann 1984, 229–230. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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In the rural milieu of the city of Durostorum, at Abrit (Bulgaria), a text written in Greek attests the cult of the Thracian counterpart of Hephaistus, namely Dabatopeios.17 Among those who dedicate the inscription, there is also a certain Prokilios, the son of Aulupor. The name is Latin (Procilius), but its transcription is Greek. Our character is indigenous, alongside other Thracians, such as Mucianus and Rhoemetalkes, the sons of Doulos. The cases where the father bears a Latin name and the son a Thracian name are encountered in the rural milieu of the city of Marcianopolis. Three texts mention Darzalas the son of Turbo18, Dizatralis the son of Iulius19, and Auluzenis the son of Pius.20 The Latin names of the fathers do not necessarily indicate that they were in a mixed marriage, but only that they had Latinized names and that they had decided to adopt the old family onomastics for their children. The same territory provides the case of two brothers, born in a village called [---]dianus.21 In my opinion, this ending may come from a Thracian toponym and these two brothers – Aurelius Clarianus and Aurelius Maximianus, militaries in legio I Adiutrix at Aquilea – may have been Thracians who acquired citizenship during the reign of Caracalla or a little later. Numerous inscriptions in the rural milieu of the city of Nicopolis ad Istrum present similar situations. There are also persons with Latin names and Thracian surnames or with Thracian names and Latin surnames. The first category comprises Severus, son of Pistinis22, Maximus the son of Baradus23, Silvanus, son of Dentusucus24 and Florus the son of Gerulo.25 It is worth noting that the son of the last one, Florus, also has a Roman name, Festivus. The second category includes the sailor Quirinalis the son of [---]ura.26 A particular case is represented by the soldiers from the rural territory of the city, who Latinize their name after obtaining citizenship upon military discharge. I discussed, on other occasions, M. Aurelius Victor called Drubio (whose son M. Aurelius Valerius already bears all the Roman names)27, or M. Aurelius S­­tatianus, also called Apta.28 Thus, I note that the acquisition of citizenship determines the adoption of Latin names by certain militaries. It cannot be said that this is a generalized situation, but in the 3rd century, it seems a rather common practice among the indigenous soldiers returning after discharge. In the rural milieu of the city of Abrittus, sources attest two examples of „Romanization“ of Thracian names. The first is represented by a family of peregrines, where the father is called Drei..uzedies, son of Bourtheitos, while the son has the name Maximus.29 The second case is the one of the veteran Aurelius Victor, who fought in legio XI Claudia: his son bears the name Drizuparus.30 In this case, the father bears the Latin name, but it is also possible – taking into 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

IGB II, 868. IGB II, 768. IGB II, 856. IGB V, 4368. CIL V, 892. ILB 417. ILB 421. ILB 378. ILB 382. RMD III, 201a. RMD V, 463. RMD IV, 311. GB II, 744. AE 1919, 78. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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account that he obtained citizenship most probably during the reign of Caracalla – for him to have had a Thracian name before this event. The rural territory of the city of Montana also provides examples of mixed Thraco-Roman names. In this respect, I mention the peregrines Maximus Bazitenos31, Severus the son of Mucus32, Mucatralis the son of Crispus33, Quintus the son of Geru[---]34 or Aurelius Maxi­ mus the son of Daezerus, who definitely became a ciuis in 212 or little afterwards. Aurelius Valerianus, his brother, was a military in cohors Bracarorum.35 Dizas, son of Attius36 represents a reversed example, the one of an indigenous person with a ‚Romanized‘ name, who adopted a Thracian name for his son.37 I discussed on other occasions, too, the case of Valerius Rufus, a veteran, from uicus Vorouum Minor, who put up an epitaph for himself and for his wife, Aurelia Zuraturme.38 Considering that the name of the wife is Thracian39, and the toponym is also indigenous, it is highly likely for Valerius Rufus to have been a local inhabitant. He may have also served in an auxiliary unit as a peregrine, acquiring citizenship after discharge. In the mine district of Montana, a text mentions a ciuis Romana with a Thracian cognomen, Annia Detustaina, while the husband is called Iustus, son of Rescuporis.40 The rural milieu of the city of Halmyris provides the example of Valerius Valens, a military in legio I Italica, even though a mixed marriage cannot be excluded in his case (the parents bear the names Valerius Ponticus and Valeria Nene).41 The region of Durostorum-Sacidava-Axiopolis presents another interesting case. The soldier Valerius Marcus, who served in legio XI Claudia, is evoked in an epitaph by his wife, Aurelia Faustina, and by the children.42 They bear indigenous names: Decebalus, Seiciper, Mamutzis. The military was definitely born in Moesia Inferior, but he adopted a Roman cognomen (we do not know whether this was also his name before obtaining citizenship). However, his children bear Dacian names. A fourth child is called Macaria. In the same region, the former praetorian Aurelius Marcus married a woman who has an indigenous name (Aurelia Sisipiris).43 This makes me believe that the soldier was also born in the area, obtaining citizenship during the reign of Caracalla or later. It may be noted that Marcus, as a given name, is often used as a cognomen by the locals in the 3rd century (Aelius Marcus44 and Valerius Marcus). The daughter of Aurelius Marcus and of Aurelia Sisipiris has, in her turn, a Latin cognomen (Aurelia Marcia). Another example of the „Romanization“ of Thracian names is the one of the peregrine 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44

IGB II, 524. IGB II, 543. IGB II, 556. IGB V, 5163. IGB V, 5180. IGB II, 560. IGB II, 560. Conrad 2004, 260, no. 503. Bâltâc (2011, 258) reproduces Aurelia, the daughter of Zuraturmenus. Zura­ turmeni is a form of dativ; Aurelia Zuraturmeni is a Thracian woman to whom was granted the citizen­ship in 212. Dana 2008, 100. ILB 406. Zahariade 1990, 261 ff.; Zahariade – Alexandrescu 2011, no 26. ISM IV, 116. ISM IV, 188. Baumann 1984, 229–230. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Valerius, the son of Diocatus.45 Priscus is the son of the Dacian Diurdanos, in his turn the son of Decebalos.46 The name of the Dacian king, used as a name with historical resonance, has exactly 25 occurrences in the province.47 The case of Piasus, the son of Pius48, shows us another type of situation: the father, an indigenous person with a ‚Romanized‘ name adopts for his child a name revealing his origin. In the rural milieu of the city of Novae, it is worth mentioning the epitaph put up by Aelia Dionysia and by Aurelius Victor for their late daughter Aelia Publia.49 The important aspect for our discussion is represented by the place of origin of his father, a uicus named Perburidava, also called Buricodava. According to F. Matei-Popescu, Aurelius Victor is a solider.50 Anyway, this is an indigenous person with a Latin name, probably also used as a peregrine. Unlike what the editors of IGL Novae believe, dating the text in the period 140–200, considering the gentilicia Aelius and Aurelius51, my opinion is that dating must be placed after the Antoninus constitution. Finally, in Oescus a text mentions the case of the family of Aurelius Drigissa.52 The character is a veteran of Dacian origin, whose son is called Aelius Valentinus (who probably had his mother’s gentilicium before the father obtained Roman citizenship). Conclusions The use of Roman names in the indigenous population is related to several situations. 1) The most frequently evoked one in inscriptions is where the characters bear a Roman name and an indigenous surname (Thracian and Dacian). 2) Another example is the one where an indigenous peregrine obtains citizenship, the cognomen being his former indigenous name. The children bear, in their capacity of Roman citizens, Latin cognomina. 3) In case of citizens, some adopt a Roman cognomen, but they also mention a Thracian surname. This is the case of Aelius Herculanus, the son of Seuthes in the territory of Histria.53 4) Another situation is the one where the Thracian and Dacian names are accompanied by a Latin surname among peregrines. This may mean either a mixed marriage, according to R. Curcă54, or the fact that they adopted again Thracian names for children by the parents who have a Latin name. 5) There are also cases where indigenous peregrine children have a Latin name, and their children also have a Latin name. Iustinus Valeri55 and Iustinus Iustini56 of uicus Secundinus represent examples in this respect. 45 ISM IV, 127. 46 ISM IV, 189. 47 See Dana 2006, 114–116, 121–124; Dana 2007, 43–45; Dana 2011, 79–82; Dana 2014, 115–117; Dana 2016, 100. 48 ISM IV, 179. 49 IGLNovae 91. 50 Matei-Popescu 2017, 143. 51 IGLNovae 91, sub numero. 52 ILB 133. 53 ISM I, 337. 54 Curcă 2012, 53. 55 ISM I, 344. 56 ISM I, 347. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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6) Finally, I also note the situation of the peregrines with indigenous names, and their children and grandchildren are citizens and they have Latin names. The aforementioned texts show that the rural milieu experienced a rather intense ,Romani­ zation‘ from an onomastic perspective. However, as D. Dana justly remarked, „comme dans d’autres régions et provinces, on constate la coexistence, le mélange et l’alternance, dans les mêmes familles et dans les mêmes milieux sociaux, de noms grecs, latins et thraces.“57 An issue debated before is the chronology of the ,Romanization‘ of Thracian names. For the Histrian territory, O. Bounegru believes that the Romanization of Thracians knew a first phase reflected by the texts within uicus Quintionis; during a second phase, illustrated mostly by the inscriptions of uicus Secundini, Thracians were featured as profoundly Romanized.58 I believe that this is more of a ,Romanization‘ of the names, because in terms of acculturation it is difficult to establish at this point, to what extent the Bessi and the Lai were truly romanized. In Moesia Inferior, in the urban milieu, I can mention, for instance, Iulius Dizzace, who erects an epitaph for his son, Valerius Valens, soldier of legio V Macedonica, fallen during the Parthian expedition of Lucius Verus.59 The father is already a citizen; it is a clear indication that the ,Romanization‘ of names had started early, but the cases encountered before the reign of Marcus Aurelius are rare. The son has Latin gentilicium and cognomen, which no longer represent indicators of his origin.60 At Tomis, a certain Cornelia Fortunata, freed woman, bears the agnomen of Doutouros, also indicating a Thracian origin.61 After liberation, she preferred a Latin cognomen. Also at Tomis, 2nd-century inscriptions attest two Claudii Mucasii.62 Returning to the rural milieu, the texts in the Histrian territory are dated accurately, the most recent one within my small repertory dating to 169 and the latest one to 238. This does not mean that earlier examples do not exist, taking into account the period when the communities of ciues Romani and Bessi consistentes started cohabitating. The rest of the texts, except for one, are situated in the range of 2nd–3rd centuries. The name Macedo borne by the son of the former sailor Tarsa in 71 shows that the phenomenon of name Latinization had begun earlier and that it is related to obtaining citizenship. This process is manifested more often in relation to the end of military service in case of Thracians or Dacians. This why name Latinization began in this context, but it was used on a larger scale in the 2nd–3rd centuries, when it became more common for this segment of the population to acquire citizenship. Bibliography Alexandrov 2012 = O. Alexandrov, Ethnic and Social Composition of the Roman Army in Lower Moesia. Soldiers from the Danubian Provinces of the Roman Empire, in: D. Boteva-Boyanova – L. MihailescuBîrliba – O. Bounegru (Hrsg.), Pax Romana. Kulturaustausch und Wirtschaftsbeziehungen in den Donauprovinzen des römischen Kaiserreichs, Akten der Tagung in Varna und Tulcea 1.–7. September 2008, Kaiserslautern 2012, 219–234. Bâltâc 2011 = A. Bâltâc, Lumea rurală în provinciile Moesia Inferior şi Thracia (sec. I–III p. Chr.), Bucha­ rest 2011. 57 58 59 60 61 62

Dana 2014, CXI. Bounegru 2011, 241–242. ISM V, 185. Valerius Valens is part of the category of common names evoked by Dana 2011, 56–57. ISM II, 195. ISM II, 138 and 237. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

‚Mixed‘ Thraco-Roman Names

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Die Überlieferung der religiösen Verhältnisse im nordwestlichen Germanien in der Zeit der römischen Eroberung Wolfgang Spickermann In diesem kurzen Abriss der religiösen Verhältnisse im nördlichen Germanien soll es weniger um die archäologisch überlieferten Zeugnisse germanischer Religion im norddeutschen Raum gehen, dessen rechtsrheinischer Teil sich bekanntermaßen nur sehr kurz und nur teilweise unter römischer Kontrolle befand. Vielmehr soll versucht werden, auf der Grundlage der schriftlichen Quellen einige Aussagen über die Religion der Nordwestgermanen zu treffen. Dass hierfür hauptsächlich Beispiele aus dem linksrheinischen Germanien herangezogen werden, liegt an der Über­lieferung der Zeugnisse.1 Germanien war um die Zeitenwende kein kulturell einheitlich geprägtes Gebilde. Neben zahlreichen Einzelstämmen mit oft unterschiedlichen Sprachen und Brauchtum, lassen sich vor allem Differenzen zwischen kulturell mehr keltisch und eher germanisch beeinflussten Regionen ausmachen. Diejenigen Teile Germaniens, die nachher zu römischen Provinzen wurden, waren stark von der keltischen Kultur geprägt, und das Beispiel der von den Römern links des Rheins neuangesiedelten ursprünglich rechtsrheinischen Ubier zeigt, dass sich dieser Einfluss auch über den Rhein hinaus erstreckte. Der keltische Kultureinfluss auf die südgermanischen Gebiete ist schon seit dem 6. Jh. v.Chr. nachweisbar, seine Bedeutung in Bezug auf die Religion wird von der Forschung der letzten Jahre deutlicher herausgearbeitet.2 Im gesamten germanischen Kulturraum muss ab Beginn der Eisenzeit zwischen den durch die Kelten und später durch die Römer beeinflussten Südgermanen und den nordgermanischen Skandinaviern unterschieden werden. Die kulturellen Verhältnisse und Religionsformen in Skandinavien gestalteten sich anders als im mitteleuropäischen Raum.3 Insbesondere an durch ihre Lage herausgehobenen Orten (z. B. Quellen, besondere Bäume und Bergrücken) gab es germanische Opferplätze, die sich durch die Art der Opfergaben voneinander unterschieden. Kennzeichnend für Kriegergefolgschaften sind Waffenopfer, die man auch im linksrheinischen Germanien findet (z. B. Empel bei s’Hertogenbosch)4, daneben wurden aber auch oft aus dem römischen Machtbereich mitgebrachte Münzen, Götterfiguren, Fibeln und andere Metallfunde oder Dinge des täglichen Lebens wie Tongefäße und Holzgeräte sowie Tierknochen gefunden.5 Das Fleisch der Opfertiere wurde offenbar – ähnlich wie im Mittelmeerraum – bei einem rituellen Mahl von den Opferteilnehmern verzehrt, die Knochen danach ins Moor geworfen.6 Auch menschliche Gebeine wurden teilweise zusammen mit anderen Gegenständen an solchen Opferplätzen gefunden, oft sind darunter auch Frauen und 1 2 3 4 5 6

Zu den archäologischen Zeugnissen germanischer Religion in Norddeutschland vgl. den Katalog von Busch – Capelle – Laux 2000; den kurzen Überblick bei Spickermann 1995 u. Ellmers 1992. Zur germanischen Religion allgemein: Maier 2003 u. Rubel 2016. De Vries 21956 I, 137 ff. hält ihn noch für gering, vgl. aber Egeler 2013, bes. 4 f. u. 16 ff. De Vries 21956 I, 133; vgl. dazu auch Carstens 2016. Haynes 1997; vgl. auch Egeler 2013, 22 ff., der Parallelen zu den keltischen Funden sieht. Zu solchen Opferfunden gehören auch Schmuckgegenstände wie die Wendelringe, die u.a. auch im Osna­ brücker Land verbreitet waren, vgl. Häßler 1991, 221 ff.; vgl. auch Hilgers 1976, 17. Polomé 1986, 276. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Kinder. Dabei wird meist nicht deutlich, ob es sich um Menschenopfer oder um rituelle (?) Hinrichtungen gehandelt hat, jedenfalls scheint es menschliche Opfer gegeben zu haben.7 Zelle schließt durch entsprechende Funde aus einer germanischen Siedlung beim nordostthüringischen Gorsleben auf einen Schädelkult ähnlich dem für die Kelten überlieferten, es kann sich jedoch – wie auch dort – um Bestattungsreste handeln.8 Im Bereich von Siedlungen und besonders in der Nähe von eisenzeitlichen Hallen sind in Skandinavien auch kleinere Gebäude gefunden worden, die man als Kultgebäude interpretieren kann, während die Hallen selbst wohl eher repräsentativen Zwecken dienten.9 Ähnliches wäre auch für das südliche Germanien anzunehmen, doch geben archäologische Quellen kaum Rückschlüsse auf Kultgebäude oder Kultplätze der Germanen.10 Mit der dauernden römischen Besetzung der linksrheinischen Gebiete, die dann gegen Ende des 1. Jh. durch die Einrichtung der beiden germanischen Provinzen institutionalisiert wurde, verläuft die „Kulturgrenze“ endgültig entlang des Limes und zwar zwischen der romanisierten keltisch-germanischen Bevölkerung auf der römi­schen Seite und dem „freien Ger­manien“ jenseits des Limes. Dass diese Grenze nicht unüberwindlich war, zeigen die regen Handels­be­ ziehungen auf beiden Seiten.11 Von einem kurzen Bericht Strabos über Menschenopfer bei Kimbern und Teutonen ab­ge­ sehen,12 stammen unsere wichtigsten Zeugnisse über die germanische Religion von Caesar und Tacitus. Caesar behauptet, dass die Germanen nur an diejenigen Götter glaubten, die sie mit den Augen sehen und deren Wirksamkeit sie unmittelbar erfahren könnten, so Sol, Vulcan und Luna, die anderen seien ihnen unbekannt.13 Dies widerspricht der späteren Aussage des Tacitus, der über die Germanen berichtet, dass sie Mercurius als höchsten Gott verehrten und ihm an bestimmten Tagen auch Menschen opferten. Er sagt weiter, dass sie den Hercules und den Mars mit Tieropfern versöhnten und ein Teil der Sueben auch Isis opfere. Auch würden es die Germanen mit der Größe der Himmlischen nicht für vereinbar halten, Götter in Hauswände einzuschließen oder ihnen ein menschliches Antlitz zu geben. Sie weihten ihnen Wälder und Haine und bezeichneten (nur) jenes numinose Geheimnis mit Namen von Göttern, das ihre Ehrfurcht sie erschaudern lässt.14 7 Polomé 1986, 276; vgl. Simek 1984, 259 f. s. v. Menschenopfer u. ferner ausführlich de Vries 21956 I, 408 ff. Zu den Opferplätzen vgl. auch Ellmers 1992, 95 ff. u. bes. 100 ff. Die bei Oberdorla in Thüringen, auf einem Opferplatz, der fast 1000 Jahre in Benutzung war, gefundenen Skelettteile scheinen Menschenopfer zu belegen, doch sind über den langen Zeitraum der Frequentierung des Kultplatzes nur ca. 22 Individuen nachweisbar; vgl. Dušek 2002, 473. Vgl. dazu auch Capelle in Busch – Capelle – Laux 2000, 185–194 u. Simek 2004, 22 f. 8 Zelle 2009, 102; vgl. ebd. 101 Abb. 3. 9 Carstens 2016, bes. 133 ff. 10 Egeler 2015, 3; vgl. Simek 2004, 11 f. u. 29. 11 Vgl. auch zum Folgenden Spickermann 2001b, 95 f. u. 2008, 24 ff. 12 Strab. 7,294. 13 Caes. Gall. 6,21: Deorum numero eos solos ducunt, quos cernunt et quorum aperte opibus iuvantur, Solem et Vulcanum et Lunam, reliquos ne fama quidem acceperunt. 14 Tac. Germ. 9: Deorum maxime Mercurium colunt, cui certis diebus humanis quoque hostiis litare fas habent. Martem concessis animalibus pla­cant [et Hercu­lem]. Pars Sueborum et Isidi sacrificat. Unde causa et origo peregrino sacro, parum comperi, nisi quod signum ipsum in modum libur­nae figuratum docet advectam religionem. Ceterum nec cohibere parietibus deos neque in ullam humani oris spe­ciem assimulare ex magnitudine caelestium arbitrantur. Lucos ac nemora con­secrant deorumque nominibus appelant secretum illud, quod sola reverentia vi­dent. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Dass auch die linksrheinischen Germanen zumindestens bis zum Bataveraufstand (68–70 n.Chr.) an ihren religiösen Traditionen festhielten, lassen die Berichte des Tacitus zumindestens erahnen. So ruft der Bataver Iulius Civilis die führenden Männer seines Stammes zu einem nächtlichen Kultmahl in einem heiligen Hain zusammen, um sie bei dieser Gelegenheit zum Aufruhr gegen die Römer zu gewinnen.15 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der heilige Hain im Batavergebiet lag, also links des Rheins. Der gemeinschaftliche Schwur erfolgte nach Tacitus dann barbaro ritu et patriis execrationibus universos,16 also nach einer den Römern fremden kultischen Zeremonie. Danach zogen die Teilnehmer unmittelbar in den Kampf.17 Leider ist der Gott, dem der heilige Hain geweiht war, nicht erwähnt, wie Tacitus dies an anderen Stellen tut, wenn er etwa einen heiligen Hain des Hercules an der Weser, einen Hain der Baduhenna bei den Friesen, den Hain (nemus und templum) der Nerthus oder der Alken oder den Semnonenhain des regnator omnium deus erwähnt.18 Wir wissen ferner von Festmählern der Germanen, die zu regelmäßigen Zeiten abgehalten wurden. Tacitus berichtet über ein solches kultisches Mahl im Marsergebiet am Heiligtum der Tamfana, das in einer Vollmondnacht des Jahres 14 am 28. September oder 27. Oktober stattfand.19 Obwohl die heiligen Haine sicherlich zur römischen Barbarentopik gehören,20 kann ihnen nicht jeder Realitätsgehalt abgesprochen werden, auch wenn sie mitunter als Versammlungsplatz, Festwiese (?) oder Schlachtort dienten,21 waren sie in erster Linie Kultstätten. So betont auch der römische Philosoph Seneca die Heiligkeit von Hainen durch die Gegenwart des göttlichen Numens.22 Für die kultische Nutzung solcher Haine sprechen einerseits in neuerer Zeit in der Gegend der heutigen Nieder­ lande archäologisch erschlossene offene Kultplätze, wie derjenige von Empel23 aber auch etymologische Indizien wie das keltische Wort nemetom, das ursprünglich einen Hain bezeichnete (vgl. lat. nemus) und dann allgemein für ‚Heiligtum‘ verwendet wurde.24

15 16 17 18

19 20 21

22 23 24

Tac. hist. 4,14,2; vgl. Spickermann 2001a, 166. Much 1937, 218 spricht von einem Opferschmaus. Tac. hist. 4,15,1. Much 1937, 218. Tac. ann. 2,12 (heiliger Hain des Hercules an der Weser); 4, 73 (Hain der Baduhenna bei den Friesen); Germ. 39 (Semnonenhain: regnator omnium deus); 40 (Hain der Nerthus); 43 (Hain der Alken). Vgl. auch die Altäre der Cherusker in Hainen (Tac. ann 1,61). Auch die Kelten kannten angeblich heilige Haine, vgl. Lucan. 1,453–454 (Teutates, Esus, Taranis); Plin. nat. hist. 16,249 f. (Mistelkult der Druiden) u. Tac. ann. 14,30 heilige Haine auf der Insel Mona; vgl. dazu Hofeneder 2008, 305–311; 365–379 u. 493–502, der scharf­sinnig die literarischen Konstruktionen und Barbarentopik bei diesen römischen Autoren herausarbeitet; zu Nerthus auch Zelle 2009, 100 u. Egeler 2015, 10 f. Tac. ann. 1,50–51; vgl. de Vries 21957 II, 323, der den 27. Oktober favorisiert, u. Teegen 1999, 339. Vgl. hierzu bes. Timpe 1995, 104, der darauf hinweist, dass die sog. Haine terminologisch nicht einmal einheitlich gefasst worden seien und ihre ausschließliche Reduktion auf Weihebezirke als tendenziöse Stilisierung wertet. Zusammenfassend Spickermann 2001b, 97 f. Timpe 1995, 104 führt hierfür als Belege das besprochene Mahl des Civilis auf einer Festwiese (sic!); die Schlachtung der römischen Soldaten im Hain der Baduhenna bei den Friesen (Tac. ann. 4,73) und die Versammlung der germanischen Stämme unter Arminius im heiligen Hain des Hercules an der Weser (ann. 2,12) an; vgl. auch Teegen 1999, 340. Sen. epist. 41,3; vgl. Teegen 1999, 337 f. Vgl. hierzu Roymans – Derks 1993. Birkhan 1997, 751; vgl. Derks 1998, 142. Abgeleitet von nemeton scheint die Göttin Nemetona und die Matres Nemetiales zu sein. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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In den heiligen Hainen bewahrten die Germanen nach Tacitus ihre Heereszeichen auf, die im Kriegsfalle von dort geholt wurden.25 Diese bestanden offenbar aus den Bildern wilder Tiere; wir kennen z.B. Eber- und Schlangenstandarten aus Darstellungen auf der Trajanssäule in Rom.26 Auch die bei der Varusschlacht erbeuteten römischen Feldzeichen wurden in heiligen Hainen den Göttern geweiht,27 bei den Marsern wurde einer der Legionsadler in einem heiligen Hain vergraben, den Germanicus dann zurückerobern konnte.28 Der Überlieferung zufolge muss das Gebiet zwischen Rhein, Lippe und Weser Kultplätze von überregionaler Bedeutung beherbergt haben. Auch die berühmte Seherin Veleda vom Stamm der Brukterer hatte hier ihren Wohnsitz, offenbar in einem hohen Turm an der Lippe.29 Aufgrund der antiken Zeugnisse dienten die Haine also als Kultplätze aber auch als Ver­ sammlungsstätten, als Eidstätten oder Festplätze, ohne das sich diese Funktionen gegenseitig ausschlossen. Wir dürfen hier ferner Götterbilder (z.B. sogenannte Pfahlgötzen) wie etwa in Ober­dorla , wo auch bauliche Befunde bezeugt sind,30 Altäre, an denen Opfer dargebracht wurden, sowie weiteres Sakralgerät (Orakelpferde31; Kultwagen der Nerthus32) vermuten. Ferner werden sich hier heilige Bäume sowie Gruben für die Aufnahme von Opfern befunden haben.33 Eine Vielzahl von heiligen Plätzen auch ohne Bebauung oder deutlich sichtbarer Abgrenzung von der Umgebung ist heute erst durch die Interpretation der dort gemachten Funde zu erschließen.34 Es muss sich dabei nicht um Waldlichtungen gehandelt haben, Kultplätze findet man ebenso an Flüssen oder auf Bergen.35 Plätze mit besonderen Naturschauspielen waren natürlich besonders bevorzugt, vor allem in Verbindung mit Quellen wie z.B. der jüngst veröffentlichte Quellopferfund am berühmten Brodelbrunnen in Bad Pyrmont verdeutlicht.36 Selbst Schlachtfelder waren Ort ritueller Handlungen, wie die Vorgänge nach der Varusschlacht oder bei der Auseinandersetzung zwischen Chatten und Hermunduren 58 n.Chr. zeigen.37 T. Derks bringt den Kultplatz von Lith-Kessel am Zusammenfluss von Maas und Waal aus der späten Latène- bzw. frühen Kaiserzeit mit dem bei Tacitus erwähnten Ort Vada zusammen.38 Man darf also davon ausgehen, dass es auch nach der römischen Eroberung im norddeutschen Bereich links und rechts des Rheins noch offene Kultplätze gab, die nach wie vor in Benutzung waren. 25 Tac. Germ. 7,2. 26 Tac. hist. 4,22,2: inde depromptae silvis lucisque ferarum imagines, ut cuique genti inire proelium mos est. Vgl. dazu Teegen 1999, 340 f. 27 Tac. ann. 1,59. 28 Tac. ann. 2,25. 29 Tac. hist. 4,61,2; 5,22,3; vgl. Teegen 1999, 341 u. 347. Zu den germanischen Seherinnen S. Tausend in Tausend 2009, 155–174. 30 Vgl. die Zusammenstellung bei Simek 2004, 42–48; ferner Zelle 2009, 102 u. Egeler 2015, 9. 31 Tac. Germ. 10. 32 Tac. Germ. 40,2; vgl. Spickermann, 2000, 855 f. 33 Teegen 1999, 341; vgl. Zelle 2009, 103. 34 Vgl. dazu ausführlich Derks 1998, 131 ff.; ferner Ellmers 1992, 100 ff. 35 Derks 1998, 134 ff. 36 Teegen 1999. Zu nennen ist für Nordwestdeutschland auch der kaiserzeitliche Opferteich von Soest-Ardey: zuletzt Egeler 2015, 5 37 Tac. ann. 1,61 u. 13,57 (Chatten und Hermunduren hatten vor der Schlacht für den Fall des Sieges die Gegner dem Mars und Merkur geweiht). Egeler 2015, 4 sieht durch diese Stelle die Heiligkeit des Wassers betont. 38 Tac. hist. 5,20 u. 21, vgl. Derks 1998, 139 f. u. Anm. 44. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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So hebt der Gesandte der Tenkterer anlässlich seiner Rede in Köln 69 n.Chr. den Glauben an die gemeinsamen Götter hervor. Ihnen und besonders dem obersten Gott, Mars, sei es zu danken, dass die Ubier nunmehr zur Gemeinschaft und dem Namen der Germanen zurückgekehrt seien und als Freie unter Freien leben könnten.39 Gerade hier wird der religiöse Unterschied zu den Römern deutlich: Die Art und Weise der Götterverehrung dient der Identifikation der verehrenden Gruppen. Als Symbol der Abgrenzung der städtischen römischen Welt und ihrer Normen und Werte von denjenigen der Germanen gelten den Tenkteren die Stadtmauern der Colonia, die munimenta servitii, die folgerichtig niedergerissen werden müssen.40 Alle Römer im Land sollten umgebracht werden. Die Antwort der Agrippinenser ist bezeichnend: Die Mauern dienten ihnen als Schutz gegen die römische Herrschaft, und man habe sich mittlerweile mit den Siedlern (i.e. römischen Kolonisten) schon so vermischt, dass man kaum von ihnen verlangen könne, Eltern, Geschwister und Kinder zu töten. Als Schiedsrichter zwischen Ubiern und Tenkteren wurden Civilis und die bei den Germanen in göttlichen Ehren stehende Seherin Veleda angerufen.41 Gerade diese Stelle macht den Unterschied zwischen Stadt und Land besonders deutlich: Während in den römisch geprägten Städten sich die verschiedenen Bevölkerungsteile schnell vermischten und nach römischen Werten und Normen richteten, regierten auf dem Lande deutlich vorrömische Traditionen. Vor der Schlacht bei Vetera/ Xanten gegen die Truppen des Cerialis lässt Tacitus den Civilis eine Rede halten, in der er u. a. die gemeinsamen Götter Germaniens hervorhebt.42 Tacitus konstruiert hier einen Gegensatz zu den di paterni Roms, dennoch ist bezeichnend, dass der Bataverfürst vor seinem Heer aus links- und rechtsrheinischen Stämmen die gemeinsame Religion betont. Der Erfolg seiner Worte zeigt sich in einem anschließenden Waffengeklirr und einem Kriegstanz, „wie es bei ihnen Brauch ist“. Tacitus sagt nicht, ob dieser kultische Tanz bei links- oder/und rechtsrheinischen Germanen üblich ist, er setzt vielmehr die allgemeine Akzeptanz dieser Handlung voraus. Die Aufständischen, ob links oder rechts des Rheins lebend, betonen ihre religiösen Gemeinsamkeiten gegen den römischen Gegner. Die gemeinsame Religion hatte eine unmittelbar identitätsstiftende Funktion. Zu den bei Tacitus erwähnten wichtigsten Göttern des nördlichen Germaniens zählt besonders Nerthus, eine Muttergottheit, die von den suebischen Völkern rechts der Elbe verehrt worden sein soll. Bei ihrem mehrtägigen Fest wurde ein Wagen mit dem Kultbild der Göttin durch das Gebiet der verehrenden Stämme gezogen.43 Die an der Scheldeküste wohnenden Frisiavonen verehrten Nehalennia, die zu römischer Zeit für die Britannienfahrer als Schutz­ gottheit so wichtig wurde, dass sie gleich in mehreren großen Heiligtümern durch zahlreiche wertvolle Inschriftenaltäre verehrt wurde. Zu den rein germanischen Gottheiten gehören beispielsweise auch die Kriegsgöttinnen Hariasa, Harimella, Vihansa und Vagdavercustis, die Stammesgöttin Sunuxal und die Schutzgöttin (?) Hludana.44 Die Weihung eines germanischen Soldaten an Mars Thingsus, aus dem 3. Jh. n.Chr., die am Hadrianswall in Schottland gefunden wurde, könnte sich auf den germanischen Tiwaz beziehen45 und mit Mars Halamardus, 39 40 41 42 43 44 45

Tac. hist. 4,64. Vgl. Derks 1998, 107. Tac. hist. 4,65. Tac. hist. 5,17. Tac. Germ. 40. Stolte 1986, 652 ff. u. 658 ff. RIB 1593 = ILS 4760. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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dem ein Soldat im 1. Jh. n.Chr. in Horn (Niederlande, Provinz Limburg) weihte, ist wohl eine lokale Variante des Tiwaz ge­meint.46 Zur Religion der rechtsrheinischen Germanen lassen sich – wie gezeigt – nur auf der Grund­lage weniger Quellenzeugnissen und Parallelen im linksrheinischen Gebiet spärliche Er­kenntnisse gelangen. Weitaus mehr vermag die Archäologie über Siedlungs- und Kult­platz­forschung beizutragen, wobei rein materielle Zeugnisse angesichts einer schriftlosen Kultur über Glaubens­inhalte naturgemäß schweigen.47 Demnach baut auch eine neopagane Rezeption vermeintlich germanischer Kultplätze eher auf moderne Zuschreibungen als auf nachgewiesene Kult­kontinuitäten auf.48 Bibliographie Birkhan 1997 = H. Birkhan, Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur, Wien 1997. Busch – Capelle – Laux 2000 = R. Busch – T. Capelle – F. Laux (Hrsg.), Opferplatz und Heiligtum. Kult der Vorzeit in Norddeutschland, Neumünster 2000 (Veröff. d. Helms-Museums Hamburger Museum für Archäologie u. d. Geschichte Harburgs 68). Cancik 2001 = H. Cancik, Religionsgeschichtsschreibung bei Tacitus. Zur Darstellung der germanischen und jüdischen Religion in Tacitus’ Germania und Historiae, in: W. Spickermann (Hrsg.), Religion in den germanischen Provinzen Roms, Tübingen 2001, 49–69. Carstens 2006 = L. Carstens, Die eisenzeitlichen Hallen Skandinaviens als Ort vorchristlicher Kultaus­ übung, in: M. Egeler (Hrsg.), Germanische Kultorte. Vergleichende, historische und rezeptionsge­ schichtliche Zugänge, München 2006 (Münchner nordistische Studien 24), 109–168. De Vries 21956/1957 = De Vries, J., Altgermanische Religionsgeschichte, 2 Bde., Berlin 21956/1957. Derks 1998 = T. Derks, Gods Temples and Ritual Practices. The Transformation of Religious Ideas and Values in Roman Gaul, Amsterdam 1998 (Amsterdam Archeological Studies 2). Dippel 2016 = J. Dippel, Ritualplatz, Ahnenstätte, Kraftort. Neopagane Rezeption germanischer Kult­ plätze, in: M. Egeler (Hrsg.), Germanische Kultorte. Vergleichende, historische und rezeptionsgeschichtliche Zugänge, München 2006 (Münchner nordistische Studien 24), 315–346. Dušek 2002 = S. Dušek, s.v. Oberdorla, RGA 2 21 (2002), 466–476. Egeler 2013 = M. Egeler, Celtic Influences in Germanic Religion. A Survey, München 2013 (Münchner nordistische Studien 15). Egeler 2015 = M. Egeler, Germanische Kultorte in Deutschland, in: M. Klöcker – U. Tworuschka (Hrsg.), Handbuch der Religionen München, Bd. 2, 1–23. Ellmers 1992 = D. Ellmers, Die archäologischen Quellen zur germanischen Religionsgeschichte, in: H. Beck – D. Ellmers – K. Schier (Hrsg.), Germanische Religionsgeschichte. Quellen und Quellen­ probleme, Berlin – New York 1992 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertums­ kunde 5), 95–117. Häßler 1991 = H.-J. Häßler (Hrsg.), Ur- und Frühgeschichte in Niedersachsen, Stuttgart 1991. Haynes 1997 = I. Haynes, Religion in the Roman Army. Unifying Aspects and Regional Trends, in: H. Cancik – J. Rüpke (Hrsg.), Römische Reichsreligion und Provinzialreligion, Tübingen 1997, 113–128. Hilgers 1976 = W. Hilgers, Deutsche Frühzeit, Frankfurt a.M. – Berlin – Wien 1976 (Geschichte des römi­schen Germanien. Deutsche Geschichte. Ereignisse und Probleme 19). Hofeneder 2008 = A. Hofeneder,Die Religion der Kelten in den antiken literarischen Zeugnissen Sammlung, Übersetzung, Kommentar. II. Von Cicero bis Florus, Wien 2008 (Mitt. d. Prähistorischen Kommission der ÖAW 66). Maier 2003 = B. Maier, Die Religion der Germanen. Götter, Mythen, Weltbild, München 2003. Much 1937 = R. Much, Die Germania des Tacitus. Germanische Bibliothek, 1. Abt. Sammlung germanischer Lehr- und Handbücher. V. Reihe: Altertumskunde, Heidelberg 1937. 46 CIL XIII 8707; vgl. Spickermann 1995, 137. 47 Zur diesbezüglichen Problematik vgl. zuletzt Carstens 2016. 48 Vgl. dazu Dippel 2016. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Die Überlieferung der religiösen Verhältnisse

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Hektemoroi. Kontraktbauern, Schuldknechte oder abgabenpflichtige Bauern? Beate Wagner-Hasel

Einführung In keiner Wirtschaftsgeschichte Athens fehlt der Rekurs auf die soziale Krise zur Zeit der So­ lonischen Reformen, so auch nicht in der jüngsten Studie des amerikanischen Althistorikers Josiah Ober zur ökonomischen und politischen Entwicklung des antiken Griechenlands. Das athenische Bevölkerungswachstum zusammen mit einer Intensivierung der Landwirtschaft in Attika im Kontext der neuen Möglichkeiten im Expansionszeitalter führte zu einer wachsenden Kluft zwischen relativ wohlhabenden und verarmten Athenern.1

Durch den Bevölkerungsüberschuss, so Ober, sei der Wert athenischer Arbeit gesunken; Selbst­ verkauf in die Sklaverei sei die Folge gewesen.2 Den demographischen Druck, von dem auch in der älteren Forschung als ursächlich für eine soziale Krisensituation ausgegangen wird,3 schließt Ober entweder aus der Tatsache der Gründung von griechischen Siedlungen in Unteritalien oder – im Verweis auf die Forschungen von Ian Morris (1987) – aus dem Zuwachs von Gräbern seit dem 8. Jh. v.Chr. Allerdings hat gerade die moderne Migrationsforschung darauf aufmerksam gemacht, dass Auswanderung auf ganz anderen Faktoren beruht als auf Bevölkerungswachstum.4 Einen Mangel an Ackerland, der die Bevölkerung Attikas im 7. Jh. v.Chr. zur Migration veranlasst haben soll, konnten archäologische Forschungen zudem nicht bestätigen.5 Auch nähren gegenwärtige demographische Forschungen grundsätzliche Zweifel an einem nennenswerten Anstieg der Bevölkerung im archaischen Griechenland.6 Einen Mangel an Ackerland für die einzelne Familie aufgrund von Erbteilung lässt sich ebenfalls nicht nachweisen. Viele bäuerliche Familien hatten eher mit dem Problem fehlender Erben zu kämpfen, als dass sie eine Aufteilung des Landbesitzes unter einer zu großen Anzahl von Erben hätten befürchten müssen.7 Hinter dem Erklärungsmodell von Ober steht ein Modernisierungs­paradigma, das mit einem an der Neuen Institutionenökonomik orientierten Vokabular einhergeht: Arbeitskraft, Arbeitskosten, Mobilität der freien Arbeiter sind nur einige der von Ober benutzten Begriffe, die eine universelle ökonomische Logik suggerieren, die unabhängig von Zeit und Raum existiert. Ich möchte im Folgenden eine Erklärung der Solonischen Reformen anbieten, die auf einer umgekehrten Entwicklungslogik basiert, wie sie Josiah Ober voraussetzt. Ich gehe nicht vom freien Bauern aus, der in eine Notlage geraten ist, sondern von der Existenz einer abgabenpflichtigen ländlichen Bevölkerung in Attika – vergleichbar den spartanischen Heloten oder den kretischen Klaroten –, die Hektemoroi („Sechstelanteiler“) genannt wurde und die im Zuge der 1 2 3 4 5 6 7

Ober 2016, 215. Ober 2016, 216. Woodhouse 1938, 4; Will 1977, 101; Gallant 1982, 115; Link 1991, 15–34. Ehmer 1998; Walter 2004. So Lohmann 1993, dem Welwei 2005, 32; Meier 2012, 13 und Zurbach 2017, 332 folgen. Scheidel 2003, 126–131. Wagner-Hasel 2012, 96. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Solonischen Reformen in den Bürgerstatus gelangt ist. Diese Position ist nicht neu. Sie wurde bereits im 19. Jahrhundert von August Boeckh und Heinrich Swoboda vertreten und ist vor einiger Zeit von Hiromu Ando, John Bintliff und György Nemeth wieder aufgegriffen worden.8 In jüngsten Einlassungen zum Thema von Mischa Meier und Julien Zurbach ist genau dieser Zusammenhang mit anderen bekannten Abhängigkeitsformen im antiken Griechenland wieder negiert worden.9 Daher möchte ich noch einmal die Argumente für die traditionelle Sicht zusammentragen und mich dabei auf die Diskussion der von den antiken Autoren benutzten Begrifflichkeit konzentrieren. Quellen Sowohl Aristoteles als auch der kaiserzeitliche Biograph Plutarch, von dem die meisten Infor­ mationen über die Solonischen Reformen stammen, gehen von einer Zweiteilung der Be­ völkerung in Reiche und Arme bzw. einer Minderheit und einer Mehrheit aus. Dies entspricht der sozialen Realität ihrer Zeit und wird den Verhältnissen zur Zeit Solons, wie Mischa Meier10 mit Recht betont, nicht gerecht.11 Die Armen heißen bei Aristoteles und Plutarch hektēmoroi bzw. hektēmórioi und Theten wie die unterste Vermögensklasse in Athen sowie pelátai, wobei die Bedeutung des Begriffs pelátēs ebenso umstritten ist wie die der Hektemoroi. Gemeinsam ist diesen Gruppierungen, dass sie alle den dēmos bilden. Für beide Gewährsmänner gilt die Verschuldung dieses dēmos als Auslöser der Krise, deren Be­sonder­heit die Leibhaftung ist, der Solon ein Ende bereitet haben soll. Plutarch, der sein Wissen aus Chroniken der Atthidographen schöpfte, evoziert eine allgemeine Unterdrückung des dēmos durch die Reichen (plousíoi): ἅπας μὲν γὰρ ὁ δῆμος ἦν ὑπόχρεως τῶν πλουσίων. ἢ γὰρ ἐγεώργουν, ἐκείνοις ἕκτα τῶν γινομένων τελοῦντες, ἑκτημόριοι προσαγορευόμενοι καὶ θῆτες, ἢ χρέα λαμβάνοντες ἐπὶ τοῖς σώμασιν, ἀγώγιμοι τοῖς δανείζουσιν ἦσαν, οἱ μὲν αὐτοῦ δουλεύοντες, οἱ δ’ ἐπὶ τὴν ξένην πιπρασκόμενοι. πολλοὶ δὲ καὶ παῖδας ἰδίους ἠναγκάζοντο πωλεῖν – οὐδεὶς γὰρ νόμος ἐκώλυε – καὶ τὴν πόλιν φεύγειν διὰ τὴν χαλεπότητα τῶν δανειστῶν.

das ganze niedere Volk (dēmos) war den Reichen (plousíoi) verschuldet. Entweder bearbeiteten sie das Land für sie und lieferten den Sechsten ihrer Erträge ab, wonach sie Hektemorier oder Fronbauern (thētes) hießen, oder wenn sie unter Verpfändung ihres Leibes Schulden aufgenommen hatten, so wurden sie von den Gläubigern abgeführt und dienten teils im Lande als Sklaven (douleúontes), teils wurden sie in die Fremde verkauft (pipraskómenoi). Viele waren auch genötigt, ihre eigenen Kinder zu verkaufen (pōlein) – denn kein Gesetz (nómos) verbot das – und vor der Hartherzigkeit der Gläubiger das Land zu verlassen (Plut., Solon 13; Übers. K. Ziegler).

Ähnlich heißt es in der Athenaion Politeia: ἐδούλευον οἱ πένητες τοῖς πλουσίοις καὶ αὐτοὶ καὶ τὰ τέκνα καὶ αἱ γυναῖκες· καὶ ἐκαλοῦντο πελάται καὶ ἑκτήμοροι·κατὰ ταύτην γὰρ τὴν μίσθωσιν [ἠ]ργάζοντο τῶν πλουσίων (5) τοὺς ἀγρούς (ἡ δὲ πᾶσα γῆ δι’ ὀλίγων ἦν), καὶ εἰ μὴ τὰς μισθώσεις ἀποδιδοῖεν, ἀγώγιμοι καὶ αὐτοὶ καὶ οἱ παῖδες ἐγίγνοντο·καὶ οἱ δανεισμοὶ πᾶσιν ἐπὶ τοῖς σώμασιν ἦσαν μέχρι Σόλωνος·

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Boeckh 1817, I 578; Swoboda 1905, 250; Ando 1988, Bintliff 2006; Nemeth 2005. Meier 2012; Zurbach 2017, 348 f. Meier 2012, 2. Zum Diskurs über Armut vgl. jetzt Taylor 2017. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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(...) waren die Armen den Reichen untertan (edoúleuon), sie selbst, ihre Kinder und Frauen; sie hießen Pelaten (pelátai) und Sechstellöhner (hektēmoroi); denn für diese Pacht bestellten sie die Felder (místhōsin ergázonto tōn plousíōn toùs agroús) der Reichen – das ganze Land war in den Händen weniger –, und wenn sie nicht ihre Pachtgelder ablieferten (misthōseis apodidoîen), gerieten sie selbst und ihre Kinder in Schuldknechtschaft (agōgimoi […] egígonto). Die Kredite (daneismoì) wurden allen mit leiblicher Haftung (epì toîs sōmasin) gegeben, bis zur Zeit Solons (Ath. Pol. 2,2; Übers. P. Dams).

Eben dies sollte sich mit Solon ändern: Κύριος δὲ γενόμενος τῶν πραγμάτων Σόλων τόν τε δῆμον ἠλευθέρωσε καὶ ἐν τῷ π[α]ρόντι καὶ εἰς τὸ μέλλον, κωλύσας δ[ανε]ίζειν ἐπὶ τοῖς σώμασιν, καὶ νόμους ἔθηκε καὶ χρεῶν ἀπ[ο]κοπὰς ἐποίησε, καὶ τῶν ἰδίων καὶ τῶν δ[η]μοσίων, ἃς σεισάχθειαν καλοῦσιν, ὡς ἀποσεισάμενοι (5) τὸ βάρος.

Nachdem Solon Herr (kýrios) über die Angelegenheiten (tōn pragmátōn) (der Polis) geworden war, befreite er das Volk (dēmon ēleuthérōse) für die Gegenwart und die Zukunft, indem er verbot, Darlehen gegen leibliche Haftung zu gewähren (daneízein epí toîs sōmasin). Er erließ auch Gesetze und veranlasste, dass Schulden (chreōn apokopàs) aufgehoben wurden, sowohl diejenigen, die Einzelnen als auch diejenigen, die der Gemeinschaft gebührten, was man Lastenabschüttelung (seisáchtheian kaloûsin) nennt, da man buchstäblich seine Schuldenlast abschüttelte (aposeisámenoi tò báros) (Aristot. Ath. Pol. 6,1; Übers. in Anlehnung an M. Chambers).

Das Selbstzeugnis des Solon, das Aristoteles zitiert, kennt eine solche Differenzierung zwischen Arm und Reich nicht, sondern zwischen denjenigen, die in Athen leben und denen, die in Fremde verkauft wurden oder im Land in unwürdiger Knechtschaft lebten. Auch tauchen bei ihm die Bezeichnungen hektēmoroi, pelátai und thētes nicht auf. συμμαρτυροίη ταῦτ’ ἂν ἐν δίκηι Χρόνου μήτηρ μεγίστη δαιμόνων Ὀλυμπίων ἄριστα, Γῆ μέλαινα, τῆς ἐγώ ποτε  ὅρους ἀνεῖλον πολλαχῆι πεπηγότας, πρόσθεν δὲ δουλεύουσα, νῦν ἐλευθέρη. πολλοὺς δ’ Ἀθήνας πατρίδ’ ἐς θεόκτιτον ἀνήγαγον πραθέντας, ἄλλον ἐκδίκως, ἄλλον δικαίως, τοὺς δ’ ἀναγκαίης ὑπ χρειοῦς φυγόντας, γλῶσσαν οὐκέτ’ Ἀττικὴν ἱέντας, ὡς δὴ πολλαχῆι πλανωμένους· τοὺς δ’ ἐνθάδ’ αὐτοῦ δουλίην ἀεικέα ἔχοντας, ἤθη δεσποτέων τρομεομένους, ἐλευθέρους ἔθηκα.

Dagegen zeugt mir wohl vor dem Gericht der Zeit Die Mutter (keine größre gibt’s) der Götter vom Olymp Am besten: sie, die schwarze Erde (Gē mélaina), die ich einst Enthob der (Schulden)male (hóroi), vielfach eingerammt: Zuvor ins Sklavenjoch gebeugt (douleúousa), sie ist jetzt frei (eleuthéra)! Und viele (polloùs) hab’ ich nach Athen, ins Land der Väter gottgeschenkt, zurückgeführt, die man verkauft (prathéntes), den einen wider’s Recht, den andern rechtens, ferner die, die – unter hartem Zwang der Schuldenlast geflüchtet (hypò chreioûs phygóntas) – gar nicht attisch mehr beherrschten, weil sie vielerorts weit weg umhergeirrt.

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Beate Wagner-Hasel Und die, die hier am Ort schmachvoll Sklaverei (doulíēn aeikéa) Ertrugen, zitternd vor den Launen ihrer Herren (despótai), die hab ich freigemacht (eleuthérous étheka).“ (Solon, F 36 West = Aristot. Ath. Pol. 12,4; Übers. J. Latacz)

Solon befreit nach seinen eigenen Aussagen (1) nicht Personen, sondern ein Abstraktum, die schwarze Erde, indem er Steine, hóroi genannt, verrückt oder wegnimmt. Weiterhin führt er (2) prathéntes in die Stadt zurück; das sind ‚Verkaufte‘, wobei er unterscheidet, ob sie zu Recht oder Unrecht verkauft worden waren. Und er holt (3) auch diejenigen zurück, die wegen Schulden (chreía) geflohen waren und schließlich befreit er diejenigen (4), die in unwürdiger Knechtschaft unter ihren Herren (despótai) litten. Seine Sprache ist an Handlungsweisen orientiert: pernēmi, Wegführen, Verkaufen; pheugō, Flüchten, unter Knechtschaft (doulía) leiden, frei machen (eleuthéros tithēmi), nicht an Statusgruppen oder sozialen Gruppierungen. Einzig Herren, despótai, treten auf sowie – in dem hier nicht zitierten Teil der Elegie – der dēmos, dem Solon nichts weggenommen (mèn oúneka synégagon/dēmon) haben will. Auch erwähnt er Edle und Niedrige, agathoí/esthloí und kakoí, wie sie auch Theognis kennt.12 Plutarch bezeichnet diese esthloí bzw. agathoí an anderer Stelle als Eupatriden, Söhne guter Väter, die sich von den anderen Statusgruppen, den Geomoren und Demiourgen, abheben.13 Diese Ausrichtung auf Handlungen ist vermutlich der mündlichen Form der Überlieferung geschuldet, die das Tun vor Augen führt und nicht abstrakte Prinzipien als handlungsleitend bemüht.14 Deshalb ziehe ich es vor, zunächst von Solons Aussagen auszugehen, bevor ich – vor dem Hintergrund der hier gewonnenen Ergebnisse – die Begriffe, die Plutarch und Aristoteles sowie die von ihnen benutzen Gewährsmänner verwenden, näher in Augenschein nehme. Begriffe Die hóroi: Die hóroi werden meist als Schuldsteine angesehen, auf denen die Lasten der Schuldner ver­zeichnet gewesen waren15 bzw. die das mit Abgaben belastete Land markierten.16 Allerdings stammt der erste nachgewiesene Schuldstein aus dem Jahr 363/62 v.Chr.; auch der erste literarische Beleg für Schuldsteine ist nicht älter; der Redner Isaios (6,36) erwähnt ihn um 364 v.Chr. in Zusammenhang mit Mitgiftland, d.h. mit Land, das als Sicherheit für Mitgiften ausgewiesen wurde.17 Es gibt zwar ältere Funde von hóroi; diese stellen allerdings Grenzsteine dar.18 Deshalb argumentiert Julien Zurbach wie bereits Louis Gernet, dass die hóroi Landbesitz markierten. N­a hm Gernet an, dass es um das Land der Eupatriden handelte,19 vermutet Zurbach, dass die Steine das von den Hektemoroi zu bearbeitende Land der Reichen markierten, an dem sie allerdings auch Rechte besaßen. Das Umstoßen der hóroi, so Zurbach, zeige das Ende der Rechte des Patrons an.20 Daneben ist das mit hóroi versehene Land als okkupiertes Gemeindeland

12 13 14 15 16 17 18 19 20

Welwei 2005, 34. Plut. Thes. 25. Havelock 1992. Belege bei Meier 2012, 11, Anm. 39. Welwei 2005, 36; Rihll 1991. Cox 1998, 64–67. Harris 2002, 112; Welwei 2005, 35; Mülcke 2002, 376–379. Gernet 1955/1976, 364. Zurbach 2017, 362 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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angesehen worden, das wieder in Gemeinbesitz überführt worden sei.21 Alle diese Vorschläge basieren auf Plausibilitätserwägungen, nicht auf Quellenaussagen. Ich möchte daher auf eine wenig beachtete Deutung der Solonischen hóroi hinweisen, die der Konzentration auf die räumliche Dimension gerecht wird, die bei Solon im Vordergrund steht. Henri van Effenterre (1977) hat die Vermutung geäußert, dass mit der schwarzen Erde, auf der die hóroi standen, das Fruchtland um das Heiligtum Eleusis gemeint ist, das unter Solon von Megara zurückerobert worden sei. Er nimmt die Charakterisierung der Erde als mélaina (schwarz) ernst und argumentiert, dass es sich bei dem Boden bei Eleusis tatsächlich um Schwarzerde, um fruchtbares Schwemmland handele, während im übrigen Land terra rossa, Roterde, dominiere, die typisch für Kalksteingebiete sei.22 Diese Deutung entbindet von weitreichenden Spekulationen und passt zur Wertekanon der Elite, die sich durch kriegerische Leistung legitimiert. Die prathéntes: Wenn wir van Effenterre Glauben schenken und die hóroi kein verpfändetes oder zu bearbeitendes Ackerland markierten, handelt es sich dann bei den prathéntes überhaupt um verschuldete Bauern, die aufgrund der Unfähigkeit, ihre Schulden zu bezahlen, verkauft wurden? Der Vergleich mit den Befunden des Epos lässt daran zweifeln. Die Überführung in die Fremde – das ist die Kernbedeutung des Begriffs prathéntes (von pérnēmi = wegführen, verkaufen)23 – ist eine im Epos häufig beschriebene Praxis. Sie geht hier meist mit Raub einher und betrifft vor allem Viehhirten bzw. Kinder, die genau dieser Aufgabe zugeführt werden wie der Schweinehirte des Odysseus, Eumaios, der als Kind von der Insel Syria weggeführt und gegen einen Gegenwert, ōnos genannt, erworben wurde. Aber auch webkundige Frauen, die in den Haushalten der basilēes eingesetzt werden wie die tamiē Eurykleia, die im Hause des Odysseus zusammen mit Penelope die Mägde in die Textilarbeit eingeführt haben will, werden zum Teil aus der Fremde rekrutiert.24 Hinzu kommt der Rückkauf bzw. die Auslösung von geraubten Personen gegen einen Wertgegenstand, ápoina genannt. Niemals aber begegnen uns im Epos solche aus der Fremde erworbenen Personen im Ackerbau. Dort und bei Hesiod25 finden wir vielmehr den Typus des gedungenen Knechts, des thēs (von theteúō – ich verdinge mich), der für einem begrenzten Zeitraum seines Arbeitskraft verdingt, etwa um Dornenhecken zu bearbeiten oder gegen ein Rundbrot und einen Mantel den Pflug zu führen. Auch die Schnitter, die während ihrer Tätigkeit auf dem Landgut eines basileús beköstigt werden,26 scheinen dieser Tätigkeit nicht dauerhaft nachzugehen, sondern einem Arbeitsdienst nachzukommen. Selbst für die klassische Zeit, als Kaufsklaverei sehr verbreitet war, sind inzwischen Zweifel am dauerhaften Einsatz von Sklaven in Ackerbau angemeldet worden, von dem noch Michael Jameson aufgrund einer von ihm postulierten Intensivierung in der Landwirtschaft ausging.27 Die Befunde sprechen eher dafür, dass Sklaven vor allem im Bergbau und in der Verwaltung eingesetzt wurden.28 Die Maßnahme, für die sich Solon preist, könnte im Rückkauf bzw. in der Auslösung solcher versklavter Kriegsgefangener gegen Sachwerte bestanden haben, wie er 21 22 23 24 25 26 27 28

Stanley 1999, 42 u. 195. Vgl. auch Lienau 1989, 114–117. Wagner-Hasel 2000, 244; Mülke 2002, 381. Wagner-Hasel 2000, 235–246. Hom. Od. 4,644; Hes. erg. 602. Hom. Il. 18,550. Jameson 1977, 129; dagegen Wood 1989, 42–125; Fisher 22001, 37–46. Herrmann-Otto 2017, 106; Ismard 2015, 179. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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auch in späteren Zeiten belegt ist.29 Ein solches Vorgehen fügt sich gut in das Bild des dem Allgemeinwohl verpflichteten Schiedsrichters, wie es von Solon selbst evoziert wird. Die chreía/das chreîos: Solon kennt ohne Zweifel drückende Schulden, chreía, die zur Flucht geführt haben. Moses I. Finley hat darauf aufmerksam gemacht, dass Reiche einen solchen Zustand der Verschuldung auch bewusst herbeiführen können, um sich der Arbeitsdienste der Ärmeren zu versichern. Er hält diese bewusst herbeigeführte Verschuldung für die entscheidende Quelle der Sklaverei.30 Solche Praktiken sind heute noch in Ländern wie Bangladesch, Nepal oder Indien üblich. Saatgut wird zu überhöhten Zinsen verliehen, damit es nicht zurück bezahlt werden kann.31 Wenn wir wiederum das Epos zu Rate ziehen, dann stoßen wir erneut auf die Viehwirtschaft, nicht aber auf den Ackerbau, in dessen Kontext die Schuldenproblematik auftaucht. Auf ihren Reisen werden die Helden gefragt, ob sie wegen eines chreîos in eigener oder gemeinschaftlicher Sache gekommen seien.32 Diese Schuld lässt sich in einigen Fällen als Viehschuld konkretisieren. Der Raub von Vieh, das auf fremdem Gebiet weidet, ist ein im Epos viel­fach genannter Kriegsgrund, der in späteren Quellen als Auslöser des Messenischen Krieges ima­giniert wird.33 Auch kann eine Schuld durch ein Fehlverhalten entstanden sein und zur Flucht geführt haben. Ein prominentes Beispiel stellt Phoinix dar, der Erzieher des Achilleus, der aufgrund eines Loyalitätskonflikts zwischen Mutter und Vater seine angestammte Heimat ver­lässt, weil er eben keine Blutschuld auf sich nehmen will.34 Da Schuldknechte auch in späteren Jahrhunderten überliefert sind, die ihre Schulden über Arbeitsdienste abtrugen, vertritt Ed­ward Harris die Meinung, dass Solon auf keinen Fall die Schuldknechtschaft abgeschafft habe, sondern nur den Verkauf der Schuldknechte in die Sklaverei.35 Douleía: Bleiben noch diejenigen, die vor Ort Knechtschaft, douleía, ertragen und unter den Launen der despótai leiden. Sie will Solon ebenso wie die schwarze Erde frei, eleútheros, gemacht haben. Von der Wortbedeutung her meint eleútheros „zugehörig“; frei ist, wer dazu gehört, einen Ort hat, einer Gemeinschaft angehört, an Rechten teilhat.36 Eine andere Bedeutung ist „abgabenfrei“.37 Eben darin, in der Gewährung von Teilhabe trotz Abgabenlasten sehe ich den eigentlichen Kern der Solonischen Maßnahmen. Diese Gruppe scheint mir am ehesten den Hektemoroi zu entsprechen, von denen bei Plutarch und Aristoteles die Rede ist. Die hektēmoroi/hektēmórioi: Sowohl Plutarch als auch Aristoteles setzen die Hektemoroi mit den pelátai, gleich, was durch die Aussagen antiker Lexikographen gestützt wird.38 Allerdings löst das das Problem der Identifizierung der Hektemoroi nicht, da der Status der Pelaten auch nicht klar ist. Meistens werden sie für Pächter gehalten, wobei keine Einigkeit besteht, ob die Pacht ein Sechstel des Ertrags39 oder fünf Sechstel40 betrug. Da die Verpachtung in klassischer Zeit gut belegt ist, ist eine solche Gleichsetzung von Hektemoroi und Pelatai im Sinne 29 Harris 2002, 428. 30 Finley 1965/1977; so auch Lotze 1958, 9 im Verweis auf Praktiken im Vorderen Orient, z.B. in Nuzi. 31 Gaborieau 1991. 32 Wagner-Hasel 2000, 226–234. 33 Ebd. 34 Il. 9,458–483. 35 Harris 2002, 420–425. 36 Beringer 1985. 37 Beringer 1982, 29. 38 Belege bei Swoboda 1905, 248 u. Zurbach 2017, 339–341. 39 So Plut. Sol. 13,2. 40 Poll. 7,151; vgl. Woodhouse 1938, 43, Anm. 2. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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von Pächtern durch die antiken Autoren naheliegend; nur warum sollte eine derartige Gruppe befreit werden? Deshalb neigen viele Autoren dazu, von einer Verwandlung der Pächter in Schuldknechte auszugehen, weil die Pachtlasten zu hoch gewesen seien, was aber durch die Aussagen Solons nicht gedeckt ist und in der Forschung zu endlosen Spekulationen geführt hat. Tom Gallant wiederum hält die Hektemoroi für Saisonarbeiter, die für ein Sechstel der Ernte ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellten, sich also verdingten. Für ihn liegt das Problem in der Abwertung der Arbeit für andere, gegen die sich die Hektemoroi gewehrt hätten.41 Damit geht er von der Bewertung von Arbeit durch die Philosophen des 4. Jahrhunderts aus, die allerdings eher das Handwerk, niemals aber die Landwirtschaft negativ bewerteten.42 Henri van Effenterre nimmt an, dass es sich bei den hektēmoroi um Kontraktbauern handele, deren Verträge sechs Jahre dauerten,43 wofür es auch keine Belege gibt. Von einem share-cropping-System geht Geoffrey Kirk im Verweis auf Praktiken im modernen Iran aus, wo fünf Elemente in Rechnung gestellt werden, um die Erträge untereinander aufzuteilen: Land, Wasser, Zugvieh, Saatgut, Arbeitsleistung.44 Von der Wortbedeutung der Pelaten als Nahestehende (von pélas – nahe sein bzw. ho pélas = Nachbar, Nächster)45 ausgehend, definiert Julien Zurbach wie auch Hiromu Ando46 die Pelaten/Hektemoroi im Rückgriff auf Praktiken im heutigen Syrien bzw. im vormodernen Japan als Klienten.47 Zurbach vermutet, dass sie sich in Abhängigkeit von einem reichen Nachbarn begeben hätten, um ihr aus dem Gemeindebesitz angeeignetes Land nicht zu verlieren,48 d.h. er kombiniert zwei Hypothesen. Von klientelartigen Verhältnissen gehen auch Michael Stahl und Uwe Walter aus. Sie verstehen die Leistungen der hektēmoroi jedoch nicht als Pacht, sondern als Gaben, die sich unter dem Druck der herrschenden Aristokratie in Schulden verwandelt hätten.49 Eine Auflösung der Aporien bietet sich an, wenn man die Argumentation umdreht und davon ausgeht, dass die Arbeitsdienste und Abgaben in Athen ebenso wie in anderen Teilen Griechenland, so in Sparta oder auf Kreta,50 und wie im mykenischen Griechenland üblich waren und erst von Solon abgeschafft wurden. Denn überall dort, wo das mykenische ‚Palast‘-System existiert hatte, in Thessalien, auf der Peloponnes und auf Kreta, gab es auch zur Zeit der Poliskultur eine abhängige Bevölkerungs­ schicht, die zu Abgaben an eine Herrenschicht verpflichtet war. In Thessalien hießen die Ab­ hängigen Penesten, in Lakonien war ihr Name Heloten, auf Kreta nannte man sie Klaroten (von kláros – Landlos) und in der Argolis im Westen der Peloponnes Gymneten („die Nackten“, d.h. „die ohne Waffen“). Der antike Historiker Theopompos, der im 4. Jh. v.Chr. lebte, erklärte sich diese Abgabenpflicht mit Eroberung und meinte, dass sich Spartaner und Thessalier ihre Sklaven aus den Hellenen beschafft hätten, die das Land vorher bewohnten, „die einen aus d­en Achaiern, die Thessalier aus den Perraibiern und Magnesiern“.51 Es handelt sich bei dieser 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Gallant 1982, 124. Vernant 1973, 251. van Effenterre 1977. Kirk 1977; ähnlich Andrewes 21982; Schils 1991; kritisch: Meier 2012, 9–13; 17. Vgl. Plat., Euthyphr. 4c. Ando 1988, 325. Zurbach 2017, 346–348. Zurbach 2017, 327. Stahl – Walter 2009, 144 f. Ando 1988; Bintliff 2006; Nemeth 2005. Theop., Phil. 17, zitiert von Athen., deipn. 6,265b–c = FGrHist 115 F 122. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Er­k lärung vermutlich um eine Projektion der Praktiken seiner Zeit in die Vergangenheit. Die Er­oberung fremder Gebiete war in dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. Die Spartaner hatten bereits im 7. Jahrhundert v.Chr. von Lakonien ausgehend die Nachbarregion Messenien erobert und die dortige Bevölkerung „helotisiert“. Die Hälfte der Ernte, so überliefert es ein Gedicht des Tyrtaios aus dem 7. Jahrhundert, landete fortan in den Vorratskammern der Eroberer.52 Die amerikanische Althistorikerin Ellen M. Wood hat daher die These aufgestellt, dass das minoischmykenischen Arbeitsdienstsystems im Heloten- und Klarotenwesen weiterlebte.53 Nur in Athen lagen die Verhältnisse anders. Die Athener hielten sich im 5. Jahrhundert v.Chr. für autochthon, für erdgeboren, d.h. für alteingesessen und nicht für Eroberer.54 Diese Wahrnehmung korrespondiert mit der Abwesenheit von einer abhängigen Bevölkerungsschicht in eben dieser Zeit. Hier gab es den Typus des Heloten nicht. Oder besser gesagt, es gab ihn seit den Solonischen Reformen von 594 v.Chr. nicht mehr. Damit will ich nicht der Existenz eines Hörigen-Standes oder eines mykenischen Feudal­ systems das Wort reden, wie noch Swoboda meinte,55 wogegen mit Recht Einwände erhoben worden sind,56 zumal auch in der Mediävistik, der diese Vorstellungen entlehnt sind, inzwischen von höchst differenzierten Abgabenpraktiken ausgegangen wird.57 Die homerischen Be­funde, die Mischa Meier anführt, sprechen nicht gegen eine solche Kontinuitätsthese. Er meint, dass es sich beim Hektemorat und dem homerischen Gabentausch um zwei unterschiedliche Systeme handele, die einander ausschlössen.58 Auch wenn in den Epen Homers naturale und dingliche Abgaben tendenziell einer Gegenseitigkeitsmoral unterliegen und zum Teil an rituelle Anlässe gebunden sind, wie dies im Übrigen auch für das mykenische Griechenland gilt, so kann man die homerischen Praktiken nicht mit dem Begriff des Gabentauschs erfassen. Es handelt sich um ein modernes Konstrukt, das aus dem Geist der Modernitätskritik entstanden ist und unter dem ganz unterschiedliche Praktiken subsumiert worden sind.59 Zu differenzieren ist im Epos zwischen Arbeitsdiensten, die vor allem im Textilbereich zum Teil von einheimischen, zum Teil von erbeuteten Frauen erbracht werden,60 und Abgaben, die im Gegenzug für Rechtsprechung geleistet werden und die Bezeichnung dotínai tragen.61 Eben dieses Anrecht auf Arbeitsleistungen und Abgaben ist im Epos an die timē, d.h. an Ehrenstellung der basilēes und einer basíleia gebunden. Nur die basilēes verfügen über temenéa, über die aus dem Gemeinschaftsbesitz herausgeschnittenen Landgüter, auf denen Reben und Getreide gedeihen. In diesem Bereich ist am ehesten mit landwirtschaftlichen Arbeitsdiensten zu rechnen, ohne dass dies im Epos explizit gesagt wird. Werden Abgaben konkretisiert, handelt es sich um dingliche Güter, Metalle und Textilien.62 Das Interesse, das Band zwischen dem vermeintlich feudalen System in mykenischer Zeit und den Gabentauschpraktiken des Homerischen Epos zu zerschneiden, hat dazu beigetragen, solche 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62

Tyrtaios fr. 6. Wood 1989, 81–98. Loraux 1981. Swoboda 1905, 254 ff. Finley 1979/2005; Welwei 2005, 30. Kuchenbuch 2012. Meier 2012, 15. Wagner-Hasel 2000, 42. Wagner-Hasel 2000, 141–152. Wagner-Hasel 2000, 179. Wagner-Hasel 2000, 177–186. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Kontinuitäten nicht in Erwägung zu ziehen. Beide Zuschreibungen treffen nicht den Charakter des frühgriechischen Abgabenwesens, das differenzierter war als es solche Etikettierungen suggerieren. Seitdem auch das Konzept der indogermanischen Einwanderung verworfen worden ist,63 das die Idee eines totalen Neuanfangs zu Beginn des 1. Jhts. v.Chr. genährt hat, wird es Zeit, nach den Kontinuitäten zwischen auf den mykenischen und archaischen Strukturen nicht nur im Bereich des Siedlungswesens, sondern auch im Bereich der sozialen und ökonomischen Strukturen zu fragen. Nach Jan Crielaard64 sprechen Siegel auf Vorratsgefäßen und Gewichtsfunde für ein Weiter­leben bürokratischer Strukturen und eines Arbeitsdienstsystems, auch wenn direkte Schrift­zeugnisse dafür fehlen. Gerade die großen Grabanlagen, die in Lef­ kandi und anderen Orten im 11. und 10. Jahrhundert errichtet wurden, verlangten die Ko­ ordination einer großen Anzahl von Arbeitern, meint Crielaard.65 Für diese Deutung der Hektemoroi als abgabenpflichtige Bevölkerung spricht auch der Wort­gebrauch. Denn moîra ist ein traditioneller Begriff aus dem Abgabenwesen. Der Anteil, den die abhängige Bauernschaft in Sparta, die Heloten, abzuliefern hatte, nannte man archaía moîra, althergebrachter Anteil.66 Im Epos begegnet uns der Begriff moîra personifiziert in den Schicksals­göttinnen, die den Menschen das Lebenslos zuspinnen.67 Jesper Svenbro hat darauf auf­merksam gemacht, dass dort, wo Produkte und nicht Produzenten vergöttlicht werden, dies auf die Abhängigkeit der Produzenten verweist, die nicht über ihre eigenen Produkte verfügen.68 Eben dies gilt für die vielen dienenden Frauen, die im Epos Arbeitsdienste an Spindel und Webstuhl für ihre Herrin erbringen. In diesem Kontext taucht neben charízomai auch der Begriff ergázomai auf, der nach Aristoteles das Tun der Hektemoroi bezeichnet. Mit ihm ist stets die Arbeit für andere gemeint, während charízomai einen Dienst im Rahmen eines Gegen­ seitig­keitsverhältnisses bezeichnet.69 Deshalb ist es auch wenig wahrscheinlich, dass Aristoteles den Begriff Hektemoroi erfunden hat, weil er die verloren gegangenen Gedichte Solons, die in scripta continua überliefert waren und keine Worttrennung kannten, einfach falsch abgeschrieben habe, wie unlängst Mischa Meier vorgeschlagen hat,70 zumal er selbst darauf verweist, dass die Bezeichnung hektēmoroi noch in späterer Zeit als Maßeinheit benutzt wurde. In den Mimiamben des Herondas heißt es: Threissa, wisch die Schale aus; gieß drei hektemoroi ungemischten Weines ein und laß Wasser darüber tröpfeln; dann gib ihr zu trinken.71

Hinter der in Knechtschaft (douleía) lebenden Bevölkerung, die Solon befreit haben will, ver­ mute ich also die von Aristoteles und Plutarch erwähnte Gruppierung der Hektemoroi. Dies ­entspricht auch der Auffassung der antiken Lexikographen.72 Diese „Befreiung“ der abhängigen Bauern­schaft kann zu Beginn des 6. Jahrhunderts unter Solon, aber auch erst sukzessive nach 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72

Hall 1997; Wagner-Hasel 2017, 39–50. Crielaard 2011, 99–103. Crielaard 2011, 98 f. Lazenby 1995. Wagner-Hasel 2000, 200. Svenbro 1976. Wagner-Hasel 2000, 141–152. Meier 2012, 24. Herod. Mim. 1,79–81 (Übers. Meier 2012, 26). Belege bei Zurbach 2017, 339. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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dem Sturz der Tyrannis erfolgt sein. Wir wissen von Peisistratos, der eine Generation nach Solon in Athen eine Tyrannis errichtete, dass er von den Bauern den Zehnten eingesammelt, wie es auch für das mykenische Griechenland belegt ist73 und armen Bauern Darlehen in Gestalt von Pflug­ochsen gewährt haben soll.74 Das spricht für ein Weiterleben eines Abgabensystems.75 Nach dem Sturz der Tyrannis ist von solchen kollektiven Abgaben in den Werken der Historiker nicht mehr die Rede; allerdings wissen wir aus Inschriften, dass für gemeinschaftliche Opfermähler der Zehnte eingezogen wurde.76 Die Abgabenpraxis verschwand nicht, wohl aber der abhängige Status derjenigen, die diese Abgaben leisteten. Partizipation trat an die Stelle von Abhängigkeit, die nicht mit Sklaverei gleichgesetzt werden kann, wie auch Julien Zurbach mit Recht betont.77 Die seisachtheía: Diese Rückführung der vorsolonischen Praktiken auf eine lange zurückreichende Tradition von Diensten und Abgaben erklärt auch, warum Aristoteles von Leib­haftung spricht, woraus die Folgerung abgeleitet worden ist, dass Land unverkäuflich und im Gemein­ besitz bzw. Familienbesitz gewesen sei und deshalb die Bauern mit ihrem Leib hätten haften müssen.78 Es geht jedoch nicht um die Herrschaft über Land, sondern um die Herrschaft über arbeitende Körper. Was die Bauern abschütteln, ist keine durch eigene Säumigkeit entstandene Schuld, ein chreîos, sondern eine Last bzw. Bürde, ein báros. Nicht von materiellen Schulden, das ist meine These, sondern von den mit den Abgabenverpflichtungen einhergehenden Fesseln wurden die arbeitenden Körper befreit. Sie wurden zu Bürgern. Resümee Für eine solche Deutung der Entschuldungsmaßnahmen Solons als Integration der attischen Bauern­schaft in den Bürgerverband sprechen auch die politischen Reformen, die Solon zuge­ schrieben wurden. Solon formierte die Bürgerschaft neu, d.h. er erstellte Kriterien der Zu­ ge­hörigkeit.79 Kriterium schlechthin wurde nicht etwa Abkunft oder – wie in Sparta – die Teil­­nahme an Tischgemeinschaften, sondern der landwirtschaftliche Ertrag.80 Solon richtete in Athen vier Schätzungsklassen ein: Die Fünfhundertscheffler (Pentakosiomédimnoi), die das Mono­pol auf das Archontenamt hatten, die Dreihundertscheffler und Pferde­besitzer (Hippeis), sowie die Zwei­hundert­scheffler oder Ochsengespannbesitzer (Zeugiten) repräsentierten zusammen die so­genannte liturgische Klasse. Das Schlusslicht bildeten die Theten, die bei Aristoteles und Plutarch identisch mit den Hektemoroi sind, die kaum oder keine landwirtschaftlichen Er­ träge aufbrachten. Das waren nach jüngeren Schätzungen etwa 85% der Be­völkerung Attikas, die in der Folge an politischen Entscheidungen und an Rechtsprechungs­funktionen par­tizi­ pierten,81 wobei umstritten ist, ob sie auch Ämter übernehmen durften.82 Ob man innerhalb dieser fünfzehn Prozent noch differenzieren und eine Unterscheidung zwischen Reichen und 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82

Zurbach 2017, 211. Ael., Poikilia 9,25; Arist., Ath. Pol. 16,2–4. Wagner-Hasel 2018. Jim 2014. Zurbach 2017, 350–357. Woodhouse 1938, 74; Lotze 1958, 7; Gernet 1955/1976; dagegen: Hammond 1961; Finley 1968; Gallant 1982, 113; Link 1991. Ober 2016. Foxhall 1997. van Wees 2006, 376. Blösel 2014, 70–93. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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einer Mittelklasse treffen will, wie Ober es tut,83 halte ich für zweitrangig. Möglicherweise hat sich die Aufteilung der Vermögensklasse erst sukzessive entwickelt und wurde erst später Solon als einmalige Tat zugewiesen. Hans van Wees nimmt an, dass auf jeden Fall die Zeugitenklasse nachsolonisch ist.84 Kurt Raaflaub hält die Pentakosiomedimnoi für eine Entwicklung des 5. Jahrhunderts und ordnet ihre Einrichtung in den Kontext der politischen Reformen nach den Perserkriegen ein.85 Auch das ist möglich. Denn die Herrschaftspraktiken der Tyrannis bergen noch viele Elemente der persönlichen Herrschaft, wie sie im Epos greifbar ist, und weisen nur einen geringen Institutionalisierungsgrad auf. Vollendet wurde dieser Vorgang mit der Kleisthenischen Phylenreform, die eine Integration der attischen Bevölkerung in die bestehenden Strukturen von Phyle, Phratrie und Demos beinhaltete, wie schon Friedrich Wüst in den 1950er Jahren meinte und neuerdings von Paulin Ismard bestätigt wurde.86 In Sparta blieben die Heloten aus den Tischgenossenschaften, in denen die Herrenschicht, die Spartiaten, organisiert waren, ausgeschlossen. Eben dies war in Athen anders. Die bäuerliche Bevölkerung Attikas wurde einbezogen in das, was in neueren kulturgeschichtlichen Betrachtungen des Politischen das Soziale genannt wird und eben in der Teilhabe an den Geselligkeitsformen der Elite bestand.87 Solons Maßnahmen sind als soziale, nicht als ökonomische Reformen zu verstehen. Eine Beschreibung seiner Reformen mit Kategorien der Neuen Institutionenökonomik trifft meines Erachtens nicht den Kern. Bibliographie Ando 1988 = H. Ando, A Study of Servile Peasantry of Ancient Greece: centering around Hectemoroi of Athens, in: T. Yuge – M. Doi (eds.), Forms of Control and Subordination in Antiquity, Leiden et al. 1988, 322–330. Andrewes 21982 = A. Andrewes, The Growth of the Athenian State, in: J. Boardman – N. G. L. Hammond (eds.), The Cambridge Ancient History, vol. 3/3, Cambridge 21982, 360–391. Audring 1989 = G. Audring, Zur Struktur des Territoriums griechischer Poleis in Archaischer Zeit, Berlin 1989. Beringer 1985 = W. Beringer, Freedom, Family, and Citizenship in Early Greece, in: J. W. Eadie – J. Ober (eds.), The Craft of the Ancient Historian. Essays in Honor of Chester G. Starr, London – New York 1985, 41–56. Beringer 1982 = W. Beringer, ‚Servile Status‘ and the Sources for Early Greek History, Historia 20/1 (1982), 13–32. Bintliff 2006 = J. Bintliff, Solon’s Reforms. An Archaeological Perspective, in: J. H. Blok – A. P. M. H. Lardinois (eds.), Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches, Leiden 2006, 321–331. Blösel 2014 = W. Blösel, Zensusgrenzen für die Ämterbekleidung im klassischen Griechenland. Wie groß war der verfassungsrechtliche Abstand gemäßigter Oligarchien von der athenischen Demokratie?, in: W. Blösel et al., Grenzen politischer Partizipation im klassischen Griechenland, Stutt­gart 2014, 71–94. Boeckh 1817 = A. Boeckh, Der Staatshaushalt der Athener, Berlin 1817. Cox 1998 = B. A. Cox, Household Interests. Property, Marriage Strategies, and Family Dynamics in An­ cient Athens, Princeton 1998.

83 84 85 86 87

Ober 2016, 222. van Wees 2006, 362. Raaflaub 2006. Wüst 1959; Ismard 2010, 117–121. Schmitt Pantel 2012. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Welwei 2005 = K.-W. Welwei, Ursachen und Ausmaß der Verschuldung attischer Bauern um 600 v.Chr., Hermes 133/1 (2005), 29–43. Welwei 2006 = K.-W. Welwei, Überlegungen zur frühen Helotie in Lakonien, in: A. Luther – M. Meier – L. Thommen (Hrsg.), Das Frühe Sparta, Stuttgart 2006, 29–41. Will 1969 = E. Will, Soloniana. Notes critiques sur des hypothèses récentes, REG 82 (1969), 104–116. Wood 1989 = E. M. Wood, Peasant-Citizen and Slave. The Foundations of Athenaean Democracy, London – New York 1989. Woodhouse 1938 = W. J. Woodhouse, Solon the Liberator. A Study of the Agrarian Problem in Attica in the Seventh Century, London 1938 [ND 1965]. Wüst 1959 = Fr. R. Wüst, Gedanken über die attischen Stände. Ein Versuch, Historia 8/1 (1959), 1–11. Zurbach 2017 = J. Zurbach, Les hommes, la terre et la dette en Grèce c. 1400–c. 500 a.C., 2 vols., Bordeaux 2017.

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Überlegungen zum opsonion bei den Sebasta in Neapel * Ingomar Weiler Zur Gründung der augusteischen Sebasta in Neapel In den Jahren 1876, 1879 und 1880 wurden in Olympia im Bereich des Zeustempels, in der Südosthalle, im Eingang zum Stadion und in der Echohalle mehrere Fragmente einer Inschrift ge­funden,1 die sich auf organisatorische Aspekte der Σεβαστά von Neapel in Campanien beziehen. Die vollständige Bezeichnung dieses griechischen Agons lautete später ᾽Ιταλικὰ Ῥωμαῖα Σεβαστὰ ἰσολύμπια.2 Über die Gründung dieses Sportfestes im Jahr 2 n.Chr. (jeweils im August) kursieren im antiken Schrifttum verschiedene Versionen. Der damals schreibende Geo­ graph Strabon verweist, was den Anfang der Σεβαστά betrifft, auf einen Orakelspruch (κατὰ μαντείαν),3 Cassius Dio nennt als Ursache die Wiederherstellung der Stadt durch Augustus. Die campanische Stadt war von Erdbeben und Feuer (ὑπὸ σεισμοῦ καὶ ὑπὸ πυρὸς ἀνέλαβεν) zerstört worden. In Wahrheit (τὸ δ᾽ἀληθές) hätte man allerdings versucht, griechische Traditionen (τὰ τῶν Ἑλλήνων) wieder aufleben zu lassen.4 Strabon hatte dahingehend argumentiert, dass in dieser Region der Magna Graecia das Bewusstsein für eine immer noch existierende Hellenisierung durchaus vorhanden war. Zum Beweis wird auf die Titel der Magistrate (τὰ τῶν δημάρχων ὀνόματα) aufmerksam gemacht, vor allem aber auf die hellenische Lebensweise und auf die vor­ handenen Gymnasien, Epheben, Phratrien sowie die hellenischen Namen. Vor diesem ideellen Hintergrund sei auch der augusteische πεντετηρικὸς ἱερὸς ἀγών zu verstehen, der offenbar schon zur Gründungszeit ebenbürtig mit den prominentesten musischen und gymnischen Wettkämpfen in Hellas Schritt halten konnte.5 Obwohl schon dreißig Jahre zuvor die Ἄκτια und in der Folge weitere lokale Aὐγούστεια, Καισάρεια und Σεβαστά als sogenannte certamina Graeca veranstaltet werden und obwohl in Dichtung und Kunst markante Züge eines griechischen Klassizismus im saeculum Augustum erkennbar sind, erweist sich die Einstellung des Augustus zur hellenistischen Athletik und Gymnastik zumindest als ambivalent. Nach einer umsichtigen Analyse kommt Hans Langenfeld sogar zu dem Schluss, dass „Augustus’ politisches und persönliches Verhältnis zur Agonistik schwerlich von philhellenische­m Geiste

* 1 2 3 4 5

Für kritische Anregungen danke ich Nigel B. Crowther, Werner Petermandl und H. W. Pleket, die eine erste Fassung meines Beitrages gelesen haben. Zur Auffindung der Fragmente von IvO 56 vgl. Dittenberger-Purgold 1896, 122. IG XIV 748 (= IGR I 448, 449); Moretti 1953, 175. Strab. 5,4,7. Cass. Dio 55,10,9 f.: τῷ μὲν οὖν Ἄρει ταῦτ᾽ ἐγένετο, αὐτῷ δὲ δὴ τῷ Αὐγούστῳ ἀγών τε ἱερὸς ἐν Νέᾳ πόλει

τῇ Καμπανίδι, λόγῳ μὲν ὅτι κακωθεῖσαν αὐτὴν καὶ ὑπὸ σεισμοῦ καὶ ὑπὸ πυρὸς ἀνέλαβεν, τὸ δ᾽ ἀληθὲς ἐπειδὴ τὰ τῶν Ἑλλήνων μόνοι τῶν προσχώρων τρόπον τινὰ ἐζήλουν, ἐψηφίσθη. Strab. 5,4,7: μηνύει δὲ τὰ τῶν δημάρχων ὀνόματα τὰ μὲν πρῶτα Ἑλληνικὰ ὄντα, τὰ δ᾽ ὕστερα τοῖς Ἑλληνικοῖς ἀναμὶξ τὰ Καμπανικά. πλεῖστα δ᾽ ἴχνη τῆς Ἑλληνικῆς ἀγωγῆς ἐνταῦθα σώζεται, γυμνάσιά τε καὶ ἐφηβεῖα καὶ φρατρίαι καὶ ὀνόματα Ἑλληνικὰ καίπερ ὄντων Ῥωμαίων. νυνὶ δὲ πεντετηρικὸς ἱερὸς ἀγὼν συντελεῖται παρ᾽ αὐτοῖς μουσικός τε καὶ γυμνικὸς ἐπὶ πλείους ἡμέρας, ἐνάμιλλος τοῖς ἐπιφανεστάτοις τῶν κατὰ τὴν Ἑλλάδα. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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geprägt war, sondern (…) viel eher der Konzeption der meisten republikanischen Politiker, aber auch Caesars und Antonius’ Haltung ähnelte.“6 Die dreißigtägige Trainingsperiode und das ὀψώνιον Dieser ideengeschichtliche Kontext ist zwar bemerkenswert, er tangiert aber in der Folge meine Überlegungen nur am Rande. Die eingangs genannten Inschriftenfragmente aus Olympia erwähnen eine Reihe von sporthistorischen Details, für die es in der griechischen Welt nur mit Vorbehalt Parallelen gibt. Auf eine solche Ausnahmeerscheinung in diesem epigraphischen Dokument soll die Aufmerksamkeit gelenkt werden. In den Zeilen 12 bis 15 heißt es: [12] (…) ἆθλα διδόσθω το[ῖς νικῶσι desunt fere 30 litt. ὀ]ψώνιον δὲ χορηγ(ε)ίσθω [13] [τ]οῖς ἀθληταῖς [πρ]ὸ ἡμερῶν [τ]ῆς πανη[γύρεως λ´, ὥστε πᾶσι μὲν τοῖς ἀγωνιουμένοις δοθῆ]

ναι πρὸ ἡμερῶν λ´ τῆς [14] [πανη]γύρεως [δραχ]μ[ὴ]ν ἑκάστης ἡμέ[ρας, πρὸ δὲ ἡμερῶν ιέ τοῖς μὲν παισὶ καὶ ἀγενείοις] δρ(αχμὰς) β´ (ἥμισυ), τοῖς δὲ ἀνδρά[15] [σι]ν γ

Harry W. Pleket hat folgende Übertragung des Textes vorgeschlagen:7 (…) Tagesgeld (obsonion) soll den Athleten 30 Tage vor Anfang der Feier gegeben werden, und zwar so, dass alle Teilnehmer 1 Drachme pro Tag erhalten, beginnend 30 Tage vor der Feier und dass den Knaben (paides) und den Bartlosen 2½ Drachmen pro Tag und den Männern 3 Drachmen pro Tag gegeben werden, beginnend 15 Tage vor der Feier.

Der hier zur Diskussion gestellte Begriff ὀψώνιον (obsonion) wird bei allen Autoren in der Regel mit Diäten per diem, Tagesgeld, im Englischen mit allowance übersetzt.8 Das Stammwort ὄψον bedeutet so viel wie gekochte oder anders präparierte Nahrung. ὀψώνιον, zumindest seit dem Zenon-Archiv (1. Hälfte des 3. Jh. v.Chr.) bezeugt, erweist sich als mehrdeutiger, etwas diffuser Begriff. Inhaltlich steht er für Gehalt, Einkommen in monetärer Form oder für „nahr­ hafte“ Vergütung (z.B. Getreide, Öl), ferner für unbezahlte Dienstleistung, Bezahlung eines Polizisten, finanzielle Unterstützung (Stipendium) eines Studenten, für Arbeitslohn, Steuer­ vergünstigung, Honorar für einen Zauberer, schließlich auch für Pension eines siegreichen

6 7

8

Langenfeld 1975, 256; von einer vorsichtigen „Sportpolitik“ des Augustus, die römische und griechische Elemente zusammenführt, spricht auch Fortuin 1996, 260. Pleket 2012, 65 [zitiert nach der Edition von Mauritsch et al. 2012: Q28]. Ähnlich übersetzt auch Langen­ feld 1980, 30 (3/16). Crowther 2004b, 93: „(…) let an allowance be provided for the athletes [thirty] days before the fest[ival so that to all the contestants there be giv]en a [drach]m[a] each day thirty days before the [fest]ival, [and from the fifteenth day for the boys] two and a half drachmas, and for the men three drachmas.“ Geer 1935, 210: „They were each allowed one drachma a day for the thirty days preceding the games, but for a shorter period just before the games this was increased to two and a half drachmae for the boys and three for the men.“ Geer kommentiert diesen Passus dahingehend, dass die Erhöhung des ὀψώνιον nach fünfzehn Tagen, wie sie die Herausgeber Dittenberger – Purgold annehmen, epigraphisch nicht dokumentiert ist. In diesem epigrapischen Dokument werden neben dem ὀψώνιον der Kranz (στέφανος), die ἄθλα sowie die ἔπαθλα genannt, deren Bedeutung nach Pleket 1975, 63 unklar bleibt. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Athleten.9 Das lateinisch­e Pendant obsonium impliziert ein ähnliches Wortfeld, so eine Provision für Lebensmittel, für Wein und Zukost zum Brot.10 In der kaiserzeitlichen Agonistik dominiert bei erfolgreichen Athleten zweifellos ein An­ spruch auf eine ‚Pension‘ (ὀψώνιον, obsonium).11 Dass Sieger sich berechtigt fühlen, im Falle eines sportlichen Erfolgs in einem ἱερὸς εἰσελαστικὸς ἀγών ein solches Einkommen zu verlangen, bestätigen literarische, epigraphische und papyrologische Dokumente. Über diese Anwartschaft auf ein obsonium informiert beispielsweise der Briefwechsel zwischen Plinius, den hier Zweifel plagen, wie zu verfahren sei, und seinem Kaiser Traian.12 Der Statthalter sieht sich mit zwei Forderungen siegreicher Athleten konfrontiert. Zum einen wollen sie eine Berechnungsgrundlage für das obsonium ab dem Tag der Bekränzung im Rahmen der Siegesfeier, anderseits erwarten sie, dass die Summe auch für jene Agone bereitgestellt wird, die der Kaiser noch nicht als certamina iselastica anerkannt habe. Die kaiserliche Antwort lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig und sollte den etwas konsternierten Plinius von seinen Gewissensbissen befreien. Ein Anspruch auf das iselasticum (obsonium) bestehe nämlich erst dann, wenn der siegreiche Athlet triumphierend in seine Heimatstadt eingezogen ist (cum quis in civitatem suam ipse εἰσήλασεν). Und das obsonium sei nur für die vom Kaiser deklarierten certamina iselastica auszuzahlen, einen Regress für dieses Privileg bei Wettkämpfen, denen dieser Rang zuvor nicht gewährt worden war, gäbe es nicht (si ante iselastica non fuerunt, retro non debentur).13 Dieser restriktiven Sportpolitik entspricht auch das etwas despektierliche Diktum Traians, dass die Graeculi eine Schwäche für die Gymnasien hätten (gymnasiis indulgent Graeculi), oder wie Jean-Paul Thuillier pointiert übersetzt: „ces Grécaillons (…) qui sont fous de leurs gymnases“.14 9 Liddell – Scott 1990, 1283 s.v. ὄψον und ὀψώνιον. Gutsfeld 2000, 1268. 10 Oxford Latin-English Dictionary 1980, 1224. 11 Die Frage, ob diese Pension zeitlich limitiert oder ein Leben lang bezahlt wird, bleibt in unserem Zu­ sammen­hang insofern belanglos, als es sich beim ὀψώνιον der Sebasta um Zahlungen (oder eine Ver­ pflegung) vor dem Wettkampf handelt. Zur Limitierung der Pensionen siehe Pleket 2010, 193 und zuletzt Wallner 2014, 317. – In anderem Zusammenhang betont Pleket 2001, 187 f., dass das Privileg der σίτησις auf ein jährliches oder monatliches σιτηρέσιον (Verpflegung, Verpflegungsgeld) transferiert wurde und siegreiche Athleten dieses auch „für teures Geld an ihre Mitbürger“ verkauft haben. In dem von Petzl – Schwertheim 2006 edierten Brief Kaiser Hadrians (SEG 56, 1359) ist anstelle des ὀψώνιον der Begriff σύνταξις (Jahrgeld, Sold) getreten. Bei allen fünf Belegen (Zeilen 10, 19, 25, 27, 46) handelt es sich um Siegerprämien, also um Gelder, die nach dem Sieg ausgegeben wurden. 12 Vgl. Pleket 1975, 62; Plin. epist. 10,118,1–3: Athletae, domine, ea, quae pro iselasticis certaminibus constituisti, deberi sibi putant statim ex eo die, quo sunt coronati; nihil enim referre, quando sint patriam invecti, sed quando certamine vicerint, ex quo invehi possint. ego contra scribo ‚iselastici nomine‘; itaque eorum vehementer addubitem an sit potius id tempus, quo εἰσήλασαν, intuendum. Idem obsonia petunt pro eo agone, qui a te iselasticus factus est, quamvis vicerint, antequam fieret, aiunt enim congruens esse, sicut non detur sibi pro iis certaminibus, quae esse iselastica, postquam vicerunt, desierunt, ita pro iis dari, quae esse coeperunt. hic quoque non mediocriter haereo, ne cuiusquam retro habeatur ratio dandumque, quod tunc cum vincerent, non debebatur. Rogo ergo, ut dubitationem meam regere, id est beneficia tua interpretari ipse digneris. 13 Plin. epist. 10,119: Iselasticum tum primum mihi videtur incipere deberi, cum quis in civitatem suam ipse εἰσήλασεν, obsonia eorum certaminum, quae iselastica esse placuit mihi, si ante iselastica non fuerunt, retro non debentur. nec proficere pro desiderio athletarum potest, quod eorum quae postea iselastica non esse constitui, quam quierant, accipere desierunt, mutata enim condicione certaminum nihilo minus, quae ante perceperant, non revocatur. 14 Plin. epist. 10,40,2; dazu Thuillier 1996, 85; vgl. auch Orth 2015, 19 u. Mann 2015, 25. – Immerhin hat man Traian in Olympia ein Standbild errichtet; so Drees 1967, 137. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Das terminologische Verständnis von ὀψώνιον, obsonium, auf dessen Mehrdeutigkeit soeben hinzuweisen war, steht im agonistischen Kontext in der Regel primär für eine Prämie, die der Sieger bei einem ἱερὸς εἰσελαστικὸς ἀγών von seiner Stadt erwarten durfte. Dass die Auszahlung an bestimmte Bedingungen geknüpft war, dokumentiert der bei Plinius überlieferte Briefwechsel. Auf die Inschrift von Neapel kann diese begriffliche Deutungsmöglichkeit keinesfalls zutreffen. Monatliche oder jährliche Zahlungen, Pensionen und materielle Vergütungen wie das ὀψώνιον, die σύνταξις, die σίτησις und das σιτηρέσιον (Verpflegung, Verpflegungsgeld), also Privilegien für erfolgreiche Athleten, haben mit den Tagesgeldern der Σεβαστά so gut wie nichts gemeinsam. IvO 56 erinnert vielmehr an Diäten, wie sie für Richter, Prytanen und Beamte im klassischen Athen ausbezahlt worden sind oder an das ἐκκλησιαστικόν und das θεωρικόν. Ganz abgesehen von dem Hinweis, dass das ὀ]ψώνιον für die dreißigtägige Trainingseinheit vor Beginn des Wettkampfs ausgezahlt wird, beziehen alle Athleten, mit Sicherheit jedenfalls die παῖδες und ἄνδρες, wohl auch die ἀγένειοι, Diäten zumindest in der ersten Hälfte dieser Vorbereitungsphase.15 Über den Kreis der Bezieher des ὀψώνιον besteht insofern eine Unklarheit, als zu Beginn der Trainingseinheit jeder Teilnehmer mit einer Drachme rechnen kann, während die Athleten zu einem späteren Zeitpunkt, wohl in der zweiten Hälfte dieser vorgeschriebenen Trainingszeit, nach einem differenzierten Schlüssel entschädigt werden, und zwar die ἄνδρες mit täglich 3 Drachmen, die παῖδες (und ἀγένειοι) mit 2½ Drachmen. Eine wohl unerhebliche Konfusion über die Details der Ausschüttungen erklärt sich aus der von Dittenberger vorgeschlagenen Ergänzung der Lacuna in Zeile 14: ἡμέ[ρας, ἀπὸ δὲ πεντεκαιδεκάτης ἡμέρας τοῖς μὲν παισίν].16 Die leichte Modifikation von Nigel B. Crowther, der vor allem an der Frage der Alterskategorien interessiert ist, und Harry W. Pleket – beide berücksichtigen auch die ἀγένειοι – lautet: ἡμέ[ρας, πρὸ δὲ ἡμερῶν ιέ τοῖς μὲν παισὶ καὶ ἀγενείοις]. Diese zwei Versionen implizieren eine Halbierung der Trainingszeit, die aus der Erhöhung und Differenzierung des ὀψώνιον hypothetisch abgeleitet wird.17 Zum rechtzeitigen Eintreffen der Athleten am Wettkampfort Der Olympische Eid, den Pausanias überliefert, nennt in diesem Zusammenhang nur eine zehnmonatige äußerst gewissenhafte Vorbereitungszeit (ἀπηκριβῶσθαί).18 In einem weiteren das Training betreffenden Detail stimmen die Hellanodiken in Elis und die Agonotheten der Sebasta Italika überein: Auf pünktliches Eintreffen einen Monat vor Wettkampfbeginn wird an beiden Orten großer Wert gelegt. Das bezeugt für Elis die Episode des korrupt agierenden Boxers aus Alexandria, der zwar nicht wie andere Athleten Bestechungsgeld kassierte (οὐ δοῦναι χρήματα ἢ λαβεῖν), sondern sein zu spätes Eintreffen im Trainingscamp mit einer falschen Behauptung begründen möchte.19 Er sei, so sein Argument, 15 Auf die Diskussion der drei Alterskategorien wird hier verzichtet; vgl. dazu SEG 37 (1987) 110 f.; Frisch 1988, 181; Petermandl 1997, 141; Ebert 1997, 196; Crowther 2004b, 93–96. 16 Dittenberger 1896, 121. 17 Crowther 2004b, 95 Anm. 10 folgt zwar dem Vorschlag Dittenbergers bei der Teilung der Trainingseinheit in je zwei gleiche Hälften, er hält aber eine Variante mit einer Zehn-Tage-Frist für möglich („The number of days may possibly have been ten.“). Die neue Lesart wäre dann: ἐν δὲ τῷ ἀγῶνι τοῖς μὴν παισί (…). 18 Paus. 5,24,9: οἱ δὲ ἄνδρες οἱ ἀθληταὶ καὶ τόδε ἔτι προσκατόμνυνται, δέκα ἐφεξῆς μηνῶν ἀπη­κριβῶσθαί σφισι τὰ πάντα ἐς ἄσκησιν. 19 Vgl. Paus. 5,21,12–14. Vgl. dazu Maróti 1998, 211 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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wegen stürmischer Winde bei den Kykladen festgehalten worden. Diese Begründung falsifiziert der ebenfalls aus Alexandria nach Elis anreisende Herakleides. Er weiß den Grund für das Zuspätkommen seines Konkurrenten: Apollonios habe bei Agonen in Ionien Geld gesammelt (ὑστερῆσαι γὰρ χρήματα ἐκ τῶν ἀγώνων αὐτὸν ἐκλέγοντα τῶν ἐν Ἰωνίᾳ), worauf den Eleern nichts anderes übrig geblieben sei als ihre Gesetze zu befolgen und den Boxer auszuschließen (καὶ αὐτὸν ὑπὸ Ἠλείων πειθομένων τῷ νόμῳ ἐλείπετο τοῦ ἀγῶνος εἴργεσθαι). Diese Affäre zur Zeit der 218. Olympiade (93 n.Chr.) hatte übrigens noch ein Nachspiel. Der frustrierte ausgeschlossene Faustkämpfer stürzte sich auf den als Sieger ausgerufenen Informanten, der bei den Hellanodiken Schutz suchte. Das Strafausmaß für den aggressiven Boxer wird nicht erwähnt; bei Pausanias heißt es bloß: Es entstand großer Schaden (βλάβος μέγα). Dazu passt eine Passage in IvO 56, in der termingerechtes Eintreffen am Wettkampfort ausdrücklich gefordert wird und die Agonotheten nur Sonderfälle wie Krankheit des Athleten, Überfall durch Räuber oder Schiffbruch als legitime Ursachen für ein Zuspätkommen akzeptieren:20 ἔστωσαν δ[ὲ νό]σος ἢ λῃσατ[ὶ ἢ ναυαγία.

Harry W. Pleket und die Demokratisierung der Athletik Alle diese Einblicke, die aus einer komparativen Betrachtung des Regelwerkes von Elis/ Olympia und Neapel resultieren, lassen einen wesentlichen Aspekt unbeachtet, der in seiner Eindeutigkeit nur aus den Σεβαστά erschlossen werden kann. Damit gemeint ist die Tatsache, dass das ὀψώνιον ein klares Indiz dafür ist, dass jeder freie Bürger als Athlet an den Start gehen könne, vorausgesetzt, er wird im Rahmen des dreißigtägigen Trainings zugelassen. Mit anderen Worten: Aristokratische Herkunft und Reichtum sind allein keine ausreichende Voraussetzung für das Antreten bei den Wettkämpfen. Harry W. Pleket hat diese Erkenntnis mit seiner These von der Demokratisierung der Agonistik und von mass sport in mehreren Abhandlungen, vor allem in seiner Studie Zur Soziologie des antiken Sports, überzeugend dargelegt.21 Für Argos sind schon um 500–480 δαμόσια ἄεθλα bezeugt, bei denen ein gewisser Aischyllos viermal als Stadionläufer und dreimal als Hoplite gesiegt hat.22 Diese Wettkämpfe mögen bereits als Indiz für einen Demokratisierungsprozess interpretiert werden, weitere Argumente kommen bei Pleket hinzu. Wesentlichen Anteil daran dürfte die Institution des öffentlichen Gymnasions gehabt haben, wenngleich die chronologische Fixierung dieser Entwicklung nicht verbindlich möglich ist. Deutlicher wird da schon Isokrates, wenn dieser in der Rede Περὶ τοῦ ζεύγους berichtet,23 Alkibiades habe sich darüber mokiert, dass manche Athleten auch von geringer Herkunft seien, aus unbedeutenden Städten kämen und in niedrigen Verhältnissen aufgewachsen wären. Deshalb wollte sich der athenische Aristokrat ausschließlich dem Pferdesport widmen, denn diesen könnten sich nur die Begütertsten im Unterschied zu Menschen niedriger Herkunft leisten. Es entspricht zwar nicht diesem sozialkritischen Verdikt, scheint aber dennoch bemerkenswert, wenn epigraphische Dokumente hellenistischer Provenienz darüber referieren, 20 IvO 56, 25 f. 21 Pleket 2001, 157–212; vgl. auch Kyle 1997, 53–75; Crowther 2004a, 5–7; Golden 2008, 32–34. 22 Moretti 1953, 21–23: Αἴσχυλλο[ς] Θίοπος τoῖς δαμοσίοις ἐν ἀέθλοις τετράκι τε σπάδιον νίκε κα[ὶ] τρὶς τὸν ὁπλίτα[ν]. 23 Isokr. or. 16,33 (Üs. Ch. Ley-Hutton): εἰδὼς ἐνίους τῶν ἀθλητῶν καὶ κακῶς γεγονότας καὶ μικρὰς πόλεις οἰκοῦντας καὶ ταπεινῶς πεπαιδευμένους; vgl. dazu Pleket 1975, 72 f. u. 2001, 182–184. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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dass beispielsweise ein paidotribes aus Milet, der seinen „Athleten zu einem der Kranzspiele ins Ausland führen“ möchte, für die Zeit seiner Abwesenheit vom Gymnasion einen Ersatz finanzieren müsse oder wenn sich in einem anderen Fall ein Trainer um einen Reisekostenzuschuss für einen talentierten jungen Athleten bemüht.24 In diesem hier nur dürftig kommentierten historischen Kontext zur Demokratisierung und Professionalisierung in der Agonistik erschließt sich auch das Sebasta-Dokument, das neben mehreren anderen Themen auch die schon zitierte Passage über die Vorbereitungszeit vor Ort enthält. Der Umstand, dass Athleten in Neapel für die dreißigtägige Trainingsperiode Diäten kassieren, ermöglicht jedenfalls auch sozialökonomisch schlechter Gestellten eine Teilnahme an den Agonen. Peter Siewert sieht in dieser finanziellen Unterstützung, die für die Olympischen Spiele in Elis nicht bezeugt ist, eine Maßnahme, die Spiele von Neapel für die Athleten attraktiver zu gestalten.25 Eine Notiz in Philostrats vita Apollonii, die über den neupythagoreischen Philosophen Apollonius von Tyana berichtet, bestätigt die auch inschriftlich bezeugte Trainingsphase von dreißig Tagen, die sowohl für Olympia wie auch für Neapel gilt. Sie legt auch die Annahme nahe, dass eine solche Trainingsperiode vor Beginn der Agone bei den Pythien und den Isthmien zu absolvieren war:26 Ὀλυμπικὴ δὲ πρόρρησις ἡ τοιάδε εἴη ἄν: Ἠλεῖοι τοὺς ἀθλητάς, ἐπειδὰν ἥκῃ Ὀλύμπια, γυμνά­ ζουσιν ἡμερῶν τριάκοντα ἐν αὐτῇ Ἤλιδι, καὶ ξυναγαγόντες αὐτοὺς ὁ μὲν Δελφός, ὅτε Πύθια, ὁ δὲ Κορίνθιος, ὅτε Ἴσθμια,

Dann erst sei es für die Athleten erlaubt gewesen, das Stadion zu betreten und zu beweisen, dass man eines Sieges wert war:27 ‘ἴτε’ φασὶν ‘ἐς τὸ στάδιον, καὶ γίγνεσθε ἄνδρες οἷοι νικᾶν’.

Wenn in der Inschrift von Olympia die Interpolationen der Zeile 14 zutreffen (woran ich nicht zweifle), dann entscheiden die Agonotheten, wer zu den Wettkämpfen zugelassen wird. Ver­ mutlich fällt die Entscheidung nach der Hälfte der Trainingszeit. Die tarifmäßige Anhebung des ὀψώνιον sowohl für andres und paides (ageneioi) bestätigt auf indirektem Weg, dass eine Selektion vorgenommen wurde.28 Dass dem Demokratisierungsprozess für Athleten damit ein weiteres Argument hinzugefügt werden kann, gilt als sehr wahrscheinlich. Ob das in Elis in gleicher oder ähnlicher Form geschehen ist, darüber existieren keine Nachrichten. Aber die Tatsache der Absolvierung einer dreißigtägigen Trainingsphase unter Aufsicht der Eleer stützt die Vermutung, dass auch in Olympia nicht alle Athleten an den Start gehen durften und deren ökonomische Lage für die Teilnahme allein nicht ausschlaggebend war.

24 25 26 27 28

Belege bei Pleket 2001, 186. Siewert 1992, 113: „to make them more attractive.“ Philostr. Ap. 5,43: τριάκοντα; IvO 56, 14 f.: λ´. Philostr. Ap. 5,43. Der erwähnte Ergänzungsvorschlag von Pleket 2012, 65 [Q28], die ἀγένειοι dabei auch zu berücksichtigen, ist überzeugend, zumal die ziffernmäßige Zählung ἡμερῶν ιέ anstatt der Formulierung πεντε­ καιδεκάτης ἡμέρας durchaus unproblematisch ist. Zu den παῖδες Ὀλυμπικοί vgl. auch Crowther 2004b, 94, der wie Pleket auch davon ausgeht, dass die ἀγένειοι zu berücksichtigen sind. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Einige Hypothesen zur Umrechnung der Taggelder Was die Diäten per diem, also das ὀψώνιον betrifft, so ist Harry W. Pleket der Ansicht, dass die tägliche Drachme in der ersten Hälfte der Trainingsperiode „wahrscheinlich für die Verpflegung bestimmt“ war.29 Denkbar erscheint auch die Variante, dass hier mit Bargeld abgerechnet wurde, weil die Prämien im weiteren Verlauf des Trainings (2½ und 3 Drachmen pro Tag) offensichtlich über den Tagesbedarf hinausweisen. Welchen Gegenwert stellte eine Drachme dar? Umrechnungen sind in der Regel ein schwieriges Unterfangen. Man darf wohl von der Prämisse ausgehen, dass eine Drachme in der Magna Graecia etwa einem römischen Denar oder vier Sesterzen und 16 Assen entspricht.30 Die Drachmen-Währung dürfte sich nicht nur auf den Fundort der Inschrift in Olympia beziehen, sondern wahrscheinlich auch auf die gesamte Magna Graecia und somit auch auf die Sebasta. Immerhin galt Neapel noch zu Neros Zeiten als eine urbs Graeca.31 Die Schwierigkeiten, den exakten Wert einer Drachme zur Gründerzeit des Agons im Jahr 2 n.Chr. zu bestimmen, sind vielfältig und vertrackt.32 Das gilt sowohl für Kalkulationen, die die Jahre der augusteischen Periode betreffen, und mehr noch für Versuche, dabei einen Gegenwartsbezug herzustellen. Beides soll probiert werden. Zuvor sei jedoch an die grundsätzlichen Überlegungen erinnert, die solche „Rekonstruktionen der Lebensverhältnisse“ implizieren, zumal sie „den Aussagewert vieler Daten schmälern“.33 Ein Versuch, das ὀψώνιον der drei Altersgruppen bei den Sebasta zu berechnen und dabei die Gleichung eine Drachme = ein Denar zugrunde zu legen, ergibt am Ende der ersten fünfzehn Tage eine Summe von fünfzehn Drachmen für jeden Athleten. In der zweiten Hälfte der Trainingseinheit ändern sich die Konditionen wie folgt: παῖδες

37,5 Drachmen

37,5 Denare

150 Sesterzen

600 Asse

ἀγένειοι

37,5 Drachmen

37,5 Denare

150 Sesterzen

600 Asse

ἄνδρες

45 Drachmen

45 Drachmen

180 Sesterzen

720 Asse

Für jene Athleten, die also das gesamte Training mitmachen konnten, ergab sich somit für die παῖδες (und ἀγένειοι) eine Summe von 52,5, für die ἄνδρες 60 Drachmen/Denare. Diese Beträge in Relation zum Konsum der Grundnahrungsmittel im Alltag zu setzen, fällt, wie gesagt, nicht leicht, zumal für die augusteische Epoche kaum vergleichbare Daten existieren. Viel mehr als eine grobe Orientierungshilfe kann dabei nicht geboten werden. Der in den Digesten 29 Pleket 2001, 188 Anm. 129. 30 Szaivert – Wolters 2005, 22; vgl. auch Kloft 1992, 185. In Ägypten gleicht allerdings die Drachme nur einem sestertius, also bloß einem Viertel des genannten Wertes; so Drexhage – Konen – Ruffing 2002, 207 (für die Kaiserzeit). 31 Tac. ann. 15,33; vgl. auch Cic. Tusc. 1,86. 32 Zur Datierung vgl. Cass. Dio 55,10,9; 56,29,2; Vell. 2,123,1 u. Suet. Aug. 98,5. Näheres bei Geer 1935, 216. 33 Drexhage – Konen – Ruffing 2002, 177. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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notierte Hinweis auf existenzminimale Lebensbedingungen (cibaria et vestitus et habitatio), den Richard Duncan-Jones erwähnt, ist zu allgemein gehalten, um aussagekräftig zu sein.34 Die wenigen Beispiele, die für die Zeit ab Cato Maior bis in die frühe Prinzipatsepoche zur Verfügung stehen, sind rasch aufgezählt. Cato, der sein Werk gegen 160 v.Chr. geschrieben hat,35 gibt Anweisungen für das arbeitende Gesinde (familia): Pro Kopf sind im Winter monatlich 4, im Sommer 4,5 modii Getreide vorgesehen, für den vilicus und die vilica reichen 3 modii, für die gefesselten Sklaven (compediti) im Winter 4 Pfund Brot (pondus à 323g) und sobald die Arbeit im Weingarten beginnt, 5 Pfund Brot bis sie Feigen zu essen anfangen, dann genügen 4 Pfund.36 In seinem Spätwerk Historiae, verfasst etwa eine Generation vor den Sebasta, behauptet Sallust, dass 5 modii ein sehr knapp bemessenes Monatsquantum ergeben, nicht viel mehr als eine Gefängnisration.37 Im kaiserzeitlichen Rom scheint sich die ökonomische Grundausstattung für einen Sklaven auf monatlich 5 modii Getreide und einen Geldbetrag von 5 denarii zu belaufen. So sieht es jedenfalls Seneca.38 In seiner Abhandlung Earnings and Costs. Living Standards and the Roman Economy (First to Third Centuries AD) kommt Dominic Rathbone zu der Schlussfolgerung, dass der durchschnittliche monatliche Getreidekonsum zwischen 4 und 5 modii anzusetzen sei.39 Dafür sprechen zahlreiche Indizien. Wenn allerdings gleichzeitig die Meinung vertreten wird: „The alimenta are not much help; at best they may indicate what Romans thought the average food costs of pre-adults were“,40 so scheint hier doch ein nicht unwesentlicher Erkenntnisgewinn vorzuliegen. Die Alimentationen dürften jedenfalls, sofern es um staatliche Stiftungen geht, mit den Getreidepreisen korrelieren. In Italien – so die Annahme von Richard Duncan-Jones – wird der modius Getreide mit nicht mehr als HS 4, in Afrika mit HS 2 oder noch weniger berechnet.41 Noch schwieriger sind Nachweise über Einkommens- und Verdienstmöglichkeiten vorzulegen, um sie mit den opsonia der Athleten vergleichen zu können. Zwar existieren Nachrichten aus dem Altertum über Honorare von Anwälten, Ärzten und Gehälter in anderen Berufen, doch handelt es sich in den meisten Fällen um exorbitant hohe Summen, die nur in seltenen Fällen eine Rekonstruktion von regelmäßigen Löhnen erlauben.42 Eines der wenigen Beispiele, das in der späten Republik durchschnittliche Jahresgehälter ausweist, liefert die lex Ursonensis aus dem Jahr 44 v.Chr. Hier finden sich Angaben für städtische Beamte unterschiedlicher Kategorien wie die scribae HS 1200, lictores HS 600, haruspices HS 500, viatores HS 400, librarii und praecones HS 300.43 Auf die komplette dreißigtägige Trainingsperiode der erwachsenen Athleten umgerechnet, würden diese Löhne folgende Tarife ergeben: der in dieser Kategorie bestbezahlte Beamte, der scriba, verdient monatlich um HS 100 = 25 denarii (= Drachmen), eine Summe, 34 Dig. 34,1,6; Duncan-Jones 21982, 145. 35 Cato agr. 65; vgl. Duncan-Jones 21982, 146. 36 Ein modius entspricht 8,73 l. 37 Sall. hist. 3,48,19: non amplius possunt alimentis carceris. 38 Sen. epist. 80,7: servus est, quinque modios accipit et quinque denarios. 39 Rathbone 2009, 314. 40 Rathbone 2009, 314. 41 Duncan-Jones 21982, 145. 42 Finley 1977, 89 konstatiert: „Die Löhne blieben in der Antike im allgemeinen bemerkenswert stabil“; anders Burford 1985, 165 f., der sich skeptisch zur Lohn- und Preisfrage äußert: „Griechische und römische Preise und Löhne können nicht zielführend diskutiert werden, da das Belegmaterial nicht ausreicht.“ Das bestätigt m. E. auch die Liste der Löhne bei Szaivert – Wolters 2005, 315–329. 43 ILS3 6087; vgl. Rathbone 2009, 312. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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die deutlich unter der der andres und paides bei den Sebasta liegt; deutlich bescheidener fallen die Gehälter der anderen Angestellten aus. Im Vergleich zum erwachsenen Athleten kassiert ein lictor 12,5, ein haruspex 10,42, viator 8,33 und librarius bzw. praeco 6,25 denarii. Mehr als eine sehr grobe Kalkulation ist das nicht. Ein zweites Exempel: Mit der augusteischen Heeresreform wird für einfache Legionäre und in Auxiliarformationen dienende Soldaten ein Sold fixiert, der bis in die Zeit Domitians als Jahresgehalt 225 denarii beträgt (davon werden 60 denarii für Verpflegung berechnet).44 Wird der gesamte Sold wieder als Monatsbezug veranschlagt, so ergibt das 18,75 denarii.45 Auch diese Summe erreicht nicht die opsonia der Athleten. Schließlich kann man noch auf zwei seltene Notizen hinweisen, die aus dem Osten des Imperium Romanum stammen. Aufgrund einer Nachricht, die sich auf die Hebräer bezieht und die Wolfgang Szaivert und Reinhard Wolters in das erste vorchristliche Jahrhundert datieren, wird mit einigem rhetorischen Aufwand behauptet, dass viele Menschen, weil sie nur einen nummus täglich verdient hätten,46 ihre Schulden nicht hätten begleichen können. Der zweite, wohl bekanntere Text aus dem Neuen Testament schildert im Gleichnis vom Weinberg einen Tagelöhner, der per diem einen denarius kassiert; auf den Monat umgerechnet hätte der Arbeiter ein Verdienst von dreißig denarii, vorausgesetzt er arbeitet ohne Unterbrechung.47 Über Verdienstmöglichkeiten und Konsumverhalten von Normalverbrauchern ist in augusteischer Zeit, wie bereits erwähnt, kaum Näheres bekannt. Schon Michael Rostowzew war der Meinung, die Wissenschaft sei, was die Getreidepreise betrifft, vor eine „unlösbare Aufgabe“ gestellt. Daran hat sich in den letzten hundert Jahren wenig geändert, sieht man von der Papyrusforschung einmal ab. Ernteausfälle, Hungersnöte, regionale und allgemeine Preis­ schwankungen, Getreidespekulationen, die Vergabe von subventioniertem Getreide – das alles verursacht die Instabilität bei der Rekonstruktion der Preissituation. Trotzdem seien zwei spekulative Überlegungen hier vorgestellt. Erstens: Ein Erwachsener konsumiert monatlich neben anderen Nahrungsmitteln fünf modii Weizengetreide, die in Campanien im Schnitt mit vier Sesterzen veranschlagt werden können. Drei Jahre vor Beginn der Spiele in Neapel berichtet Augustus, er habe anlässlich seines 13. Konsulats den Empfängern von Getreide je 60 Denare zukommen lassen, was wohl einer Monatsrate mit 5 modii entsprechen dürfte. Zuvor habe er schon einmal zwölf Getreidespenden an 200.000 austeilen lassen.48 Rostowzew ist (mit Otto Hirschfeld) davon überzeugt, dass die 60 Denare „ein Äquivalent für 60 Modii“ Getreide ergeben. Das entspräche dem „Durchschnittspreis von 1 Denar“.49 44 Vgl. Rathbone 2009, 311. 45 Hier geht es primär um Durchschnittsgehälter und nicht um die Einkommen der Finanzprokuratoren, die seit dem frühen Prinzipat Gehälter in einer Höhe von HS 60.000, HS 100.000 und HS 200.000 beziehen. 46 Tert. Adversus Marcionem 2,20,2 f.: Et tamen vasis iustitia renuntiaverunt ibi Aegyptii. Hodie adversus Marcionitas amplius allegant Hebraei, negantes compensationi satis esse quantumvis illud auri et argenti, si sexcentorum milium operae per tot annos vel singulis nummis diurnis aestimentur. – nummus lässt sich in diesem Fall wohl kaum spezifizieren und bedeutet wohl eine belanglose Kleinigkeit. 47 Mt 20,2: συμφωνήσας δὲ μετὰ τῶν ἐργατῶν ἐκ δηναρίου τὴν ἡμέραν ἀπέστειλεν αὐτοὺς εἰς τὸν ἀμπελῶνα αὐτοῦ. 48 R.Gest.div.Aug. 15. 49 Rostowzew 1910, 148 f. – Die Kalkulation ein denarius = ein modius erwähnt auch CIL XI 6117 (Forum Sempronii in Umbrien). Etwas niedrigere Getreidepreise berechnet De Martino 1985, 140–142 u. 204 f. – Die Graffiti im benachbarten Pompeii erlauben keine verbindlichen Preisangaben; dazu Étienne 21971, 194 u. Weeber 1998, 282. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Aber der Mensch lebt bekanntlich nicht vom Brot allein. Insbesondere Herodikos von Selym­ bria (5. Jh. v.Chr.) und einige Pythagoreer, aber auch Platon und Aristoteles, später auch noch Galenos, entwickeln umfangreiche diätetische Ernährungsprogramme, die zumindest von den besonders spezionalisierten Athleten mehr oder weniger streng eingehalten werden. Gersten­ brot, Weizenbrot, Hülsenfrüchte, Öl, Fisch- und Fleischkost, Früchte bis hin zur ἀναγκοφαγία sollten als Kraftspender dienen.50 Zweitens: Der Lebensmittelbedarf des Menschen wird bekanntlich durch den Energiewert der Nahrungsmittel berechnet. „In der Forschung“, so die Herausgeber der Einführung: Die Wirtschaft des Römischen Reiches (1.–3. Jahrhundert), wird vielfach zu Recht „versucht, den Kalorienbedarf mit dem Nährwert bestimmter Grundnahrungsmittel (vor allem Weizen) und den entsprechenden Preisangaben in Beziehung zu setzen.51 Dabei geht man von Mittelwerten aus, die für den Mann mit 3.600 kcal (= 15.072 Joule), für ein Kind mit 2000 kcal (= 8376 Joule) angegeben werden. Für den nicht sportlich aktiven Erwachsenen hat man eine tägliche Weizenmenge von 1,2 kg berechnet, deren Wert auf 0,9 Sesterzen geschätzt wird, was der von mir vorgeschlagenen Kalkulation durchaus nahekommt. Was lässt sich aus diesen dürftigen Angaben zu den Monatsgehältern angesichts der Athleten­ prämien über Kaufkraft und Konsumverhalten der Normalverbraucher in augusteischer Zeit ablesen? Von den zwei Möglichkeiten, sich die existenzminimalen Lebensbedingungen zu vergegenwärtigen oder von den vorhandenen Preisangaben für das Grundnahrungsmittel Getreide auszugehen, bietet sich mangels Quellenlage nur der zweite Weg an. Freilich kann auch diese Methode nur zu einer spekulativen Erkenntnis führen. Dennoch sei dieser Versuch im nächsten Abschnitt gewagt. Vorauszuschicken ist, dass Neapel zum ager Campanus, einer im Altertum besonders fruchtbaren Region gehört, in der, wie der zeitgenössische Autor Dionysios aus Halikarnassos weiß, drei Ernten im Jahr möglich waren.52 Diese Nachricht darf wohl dahingehend interpretiert werden, dass Weizen und Roggen in Zeiten ohne Hungersnot zumindest keine extrem hohen Preise erzielten. Zum Abschluss dieser zugegebenermaßen spekulativen Assoziationen sei noch ein Vorschlag aufgegriffen, das ὀψώνιον mit einem Gegenwartsbezug zu versehen. Um die Aussagekraft der Geld­beträge, wie sie die Tagesdiäten von IvO 56 vorschreiben, in eine Relation zur heutigen Zeit zu setzen, schlägt der auch für Didaktikthemen kompetente Stephen G. Miller vor, eine Antwort auf die nicht unberechtigte Studentenfrage anzubieten: „How much is that worth today?“53 Als Ausgangspunkt und Basis für seine komparative Betrachtung in Vergangenheit und Gegenwart wählt der Emeritus-Professor vom Classics-Department in Berkeley den Preis für Olivenöl. Das antike Beispiel: Miller verweist auf die Panathenäischen Preis­amphoren, die ca. 40 Liter Olivenöl enthalten und deren Inhalt zum damaligen Zeitpunkt einen Durch­ schnitts­preis von 18 Drachmen erzielt, also pro Liter 0,45 Drachmen, etwas weniger a­ls drei

50 Vgl. dazu Jüthner 1909, 30–60. Besonders ausführlich Philostr. Peri gymnastikes 43–44. Vgl. auch De Martino 1985, 215. 51 Drexhage – Konen – Ruffing 2002, 178. 52 Dion. Hal. ant. 1,37,2: ποίας μὲν γὰρ λείπεται σιτοφόρου μὴ ποταμοῖς, ἀλλὰ τοῖς οὐρανίοις ὕδασιν

ἀρδομένης τὰ καλούμενα Καμπανῶν πεδία, ἐν οἷς ἐγὼ καὶ τρικάρπους ἐθεασάμην ἀρούρας θερινὸν ἐπὶ χειμερινῷ καὶ μετοπωρινὸν ἐπὶ θερινῷ σπόρον ἐκφερούσας. Bekannt war auch das far Campanum, auf

das Varro, rust. 1,2,6 hinweist: Quod far conferam Campano? 53 Miller 2004, XII f. Dieser Umrechnung kann sich Young 1985, 115 nicht anschließen. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Obolen.54 Diesen Ölpreis vergleicht Miller mit dem Kalifornischen Marktwert, wobei zwei Preis­kategorien zur Disposition stehen. Im Jahr 1989 kostet ein Liter Olivenöl US $ 9,88, während dreizehn Jahre später der Literpreis zwischen US $ 6,99 und US $ 16,49 schwankt. Die beiden letztgenannten Tarife würde im Schnitt eine Teuerung von etwa US $ 2,00 bedeuten. Auf­grund der Schwankungsbreite bevorzugt Miller den Listenpreis des Jahres 1989. Dabei ergibt sich nach Millers Berechnungen, denen David Young mit großer Skepsis begegnet und die bestenfalls eine grobe Orientierungshilfe bieten, folgende Äquivalenz:55 1 Drachme = US $ 11,00 2½ Drachmen = US $ 27,50 3 Drachmen = US $ 33,00

Zusammenfassung In der Einstellung des Augustus zur griechischen Athletik und Gymnastik sind ambivalente Züge nicht zu leugnen. Traditionelle altrömische Konzepte der Freizeitgestaltung und die certamina Graeca, vor allem die Aktia und Sebasta, stehen nebeneinander, ohne dass es zu einem intensiven akkulturellen Austausch kommt. Das epigraphische Dokument (IvO 56), das in Olympia gefunden wurde und das sich auf die Sebasta in Neapel bezieht, entspricht zur Gänze griechisch-hellenistischem Herkommen. Auf eine Besonderheit dieser Inschrift ist das Haupt­ augenmerk gerichtet: Die Athleten, auf deren Pünktlichkeit beim Eintreffen am Wett­kampfort großer Wert gelegt wird, kassieren für das dreißigtägige Training, sofern sie bis zum Ende dabei sind, ein ὀψώνιον, Diäten per diem. Im Unterschied zu den „Pensions­an­sprüchen“ erfolgreicher Athleten geht es bei diesen Taggeldern um Beträge, die im klassischen Hellas für Richter, Prytanen, Beamte und für die Besucher der Volksversammlung (μισθός, ἐκκλησιαστικόν) oder des Theaters (θεωρικόν) ausbezahlt worden sind. Zwei Aspekte erscheinen dabei besonders beachtenswert: (1) Im Zuge der Demokratisierung, wie sie Harry W. Pleket versteht, eröffnet die Diäten­ regelung auch minderbemittelten Athleten eine Teilnahme an den Agonen. (2) Es wird der Versuch unternommen, die Gelder (1, 2½ und 3 Drachmen) in eine Wert­ relation zum Alltag umzurechnen. Bibliographie Burford 1985 = A. Burford, Künstler und Handwerker in Griechenland und Rom, Mainz 1985. Crowther 2004a = N. B. Crowther, The Ancient Olympic Games through the Centuries, in: W. Decker – I. Weiler (eds.), Athletika. Studies on the Olympic Games and Greek Athletics, Hildesheim 2004, 1–10. Crowther 2004b = N. B. Crowther, The Sebastan Games in Naples (IvO 56), in: W. Decker – I. Weiler (eds.), Athletika. Studies on the Olympic Games and Greek Athletics, Hildesheim 2004, 93–96. De Martino 1985 = F. De Martino, Wirtschaftsgeschichte des Alten Rom, München 1985. Dittenberger – Purgold 1896 = W. Dittenberger – K. Purgold, Die Inschriften von Olympia, Berlin 1896 (Olympia. Die Ergebnisse der von dem Deutschen Reich veranstalteten Ausgrabungen. Textband 5: Die Inschriften). Drees 1967 = L. Drees, Olympia. Götter, Künstler und Athleten, Stuttgart et al. 1967. 54 IG II2 2311 (aus der ersten Hälfte des 4. Jh. v.Chr.). Young 1985, 119 geht von einem Ölpreis von 12 Drachmen pro Amphora aus und vergleicht den Siegespreis beispielsweise eines Stadioniken mit dem Verdienst eines Handwerker, der 1.417 Tage arbeiten müsste, um den gleichen Gewinn zu erzielen. 55 Miller 2004, 158 f. Nr. 199; Young 1985, 115: „Miller’s conservatism is misleading but forgivable.“ © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Numismatisches

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Korinthische Pegasi auf sikulopunischen Bronzemünzen. Spiegel ökonomischer Vernetzung? Linda-Marie Günther Zu den wirtschaftshistorischen Quellenmaterialien der hellenischen Antike zählt nicht zuletzt die vielfältige griechische bzw. auch die griechisch beeinflusste Münzprägung. Freilich lässt die Auswertung eines solchen Materials trotz zumal neuerer Forschungsbemühungen noch sehr viele Wünsche offen. Griechische Münzen interessieren immer noch vornehmlich unter ikonographischen Aspekten, wobei die kunsthistorisch-stilistischen bzw. auch motivgeschichtlichen Analysen in den letzten Jahren um die Fragestellung der ‚Identität‘ der jeweils prägenden Gemeinde erweitert worden sind. Auch hat sich das Material selbst massiv vervielfältigt dank forcierter Publikationen von öffentlichen Sammlungen sowie von Neufunden. Dass sich die quantitativ keineswegs unterrepräsentierten Bronzemünzen im Vergleich zu den Silber- und (seltener) Gold-Emissionen aber einer eher kümmerlichen Aufmerksamkeit erfreuen,1 muss gerade der an Fragen ökonomischer Vernetzung Interessierte bedauern, geben doch Bronzemünzen – im Gegensatz zu den Edelmetallprägungen mit ihren zumeist ‚großen‘ Nominalen – Einblicke in den eher lokalen und daher alltäglichen Zahlungsverkehr. Zugegebenermaßen entziehen sich Bronzemünzen allzu oft einer intensiven ikonographischen und metrologischen Auswertung aufgrund ihres schlechten Erhaltungszustandes, der sowohl durch Korrosion als auch durch dunkle Patinierung üblicherweise die fotografische Dokumentation erschwert. Ungeachtet der genannten Schwierigkeiten wird im Folgenden versucht, anhand einiger weniger sikulopunischer Bronzemünzen, die ikonographische Adaptionen bei griechischen Silber- und Bronzemünzen des so genannten korinthischen Typs2 zeigen, mögliche ökonomische Beweggründe für die neuartigen Münzbilder herauszufinden. Dass hier nur eine notwendig hypothetische Antwort möglich ist, liegt nicht zuletzt darin begründet, dass eine ganz ähnliche Diskussion auch zu den Silberprägungen im griechischen Sizilien (und Unteritalien) erst noch geführt werden müsste: Die imitierende Übernahme der korinthischen Ikonographie auf Stateren (und anderen Nominalen) von Syrakus seit ca. 345 v.Chr. erklärt sich dabei nur teilweise aus der ‚Neugründung‘ der korinthischen Tochterstadt durch den ‚Befreiungsfeldzug‘ unter dem Korinther Timoleon (ca. 345–338),3 denn auch in zahlreichen Poleis des ostadriati-

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Vgl. aber Gabrici 1927; Consolo Langher 1964. ‚Korinthischer Typ‘ meint zum einen die Ikonographie der in Korinth selber geprägten Münzen sowie diejenige auf Münzen korinthischer Tochterstädte wie Leukas, Ambrakia, Anaktorion usw., die das Bild­ programm der Mutterstadt bis auf den die Prägeautorität nennenden Buchstaben unverändert übernommen hatten, zum anderen auch diejenigen Abbildungen auf Münzen kleinerer Orte im Einzugsbereich sicher bezeugter korinthischer Tochterstädte, vornehmlich in Akarnanien und Amphilochien, die für ihre vor allem in der 2. Hälfte des 4. Jhs. v.Chr. beginnende Münzprägung das dortige, am ‚echten‘ korinthischen Bildprogramm orientierte Ikonographie imitierend übernahmen. Vgl. Schmarczyk 2003; Günther 2012. Den numismatischen Aspekten der Timoleon-Zeit hat Talbert 1974, 179–191 zwei eigene Kapitel gewidmet. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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schen Küstenraumes und ihres Hinterlandes4 sind die gleichen Übernahmen – teilweise schon lange vor der Mitte des 4. Jh. v.Chr. – zu beobachten.5 Zur Klärung des Hintergrundes der Verbreitung korinthischer Münzbilder in Sizilien sei hier in gebotener Kürze die Situation seit etwa der Mitte des 4. Jh. v.Chr. skizziert: In Syrakus, der um 730 v.Chr. und dann um 345 unter Timoleon erneut gegründeten Tochterstadt Korinths, spielte im dem breiten münzikonographischen Repertoire bisher allein das geflügelte Seepferd (dazu s.u.) auf den Pegasos der Mutterstadt an; dann aber wurde auf Silber- und Bronzeprägungen das Flügelross der Korinther nahezu unverändert aufgenommen. Da allem Anschein nach damals zahlreiche Neusiedler aus den adriatischen Tochterstädten Korinths, in denen z.T. seit Generationen Silberstatere nach dem korinthischen Vorbild – d.h. den Pegasos auf der Vorder- und den behelmten Göttinnen-Kopf auf der Rückseite – geprägt wurden, nach Syrakus zuwanderten, ist nicht verwunderlich, dass seither auch Münzen aus dem östlichen Adriaraum verstärkt auf die Märkte Siziliens kamen.6 Dass parallel dazu selbst Poleis in Unteritalien, namentlich Lokroi und Medma, Silber­ münzen korinthischen Typs prägten,7 lässt für diese Adaptionen auf andere Motive als engste politische Bindungen schließen: Es ist mit der Existenz eines weitreichenden korinthischen Währungsraumes zu rechnen, der sich an der adriatischen Ostküste im Laufe des 5. Jh. etabliert hatte und bis ins spätere 4. Jh. sogar in das akarnanische Hinterland ausgedehnt wurde.

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Den dichtesten Befund liefert – neben Leukas und Ambrakia – Akarnanien mit Amphilochien, wie Lanz 2007 mit der damals auktionierten Sammlung BCD („Akarnanien und Aetolien“) augenfällig macht: ent­sprechende ‚Pferdchen‘ prägten zumindest im späteren 4. Jahrhundert v.Chr. Alyzeia, Anaktorion, Argos Amphi­lo­chikon, Astakos, Echinos, Koronta, Medion, Metropolis, Stratos und Thyrrheion. Die Er­ läuterungen zum jeweiligen historischen Hintergrund gehen von zwei problematischen Prämissen aus: erstens dass die Übernahme korinthischer Ikonographie auf eine ursprüngliche korinthische Stadt­gründung verweise, zweitens dass Orte mit ‚sehr ephemärer Münzprägung‘ niemals bedeutsame Handelsplätze gewesen sein könnten, mithin dass sich Handelsaktivitäten in der Quantität von Emissionen spiegelten. Hierzu liegt als hervorragendes Arbeitsinstrument das in limitierter Auflage erschienene Werk von Cal­ ciati 1990 vor, das in angestrebter Vollständigkeit die ‚Pferdchen‘-Emissionen in Silber gesammelt und systematisierend aufbereitet hat. Davon abgesehen, dass die beiden Bände aufgrund ihren aufwendigen Ausstattung nur selten in öffentlichen bzw. Universitäts- oder Seminarbibliotheken vorhanden sind, widmet der Autor historischen oder gar wirtschaftsgeschichtlichen Fragen so gut wie keine Aufmerksamkeit. Aufschlussreich sind hier die Münzhortfundanalysen: vgl. Calciati 1990 Bd. 2, 679–705, bes. zu den sizilischen Horten 687–694: Von der Mitte des 6. bis zur Mitte des 3. Jh. v.Chr. sind 17.316 Pegasoi in Sizilien zu verzeichnen, davon rund 22% in der 2. Hälfte des 4. Jhs. und erstaunlicherweise rund 74% in der ersten Hälfte des 3. Jhs.; für alle Zeiträume ist zu konstatieren, dass sich die größten Mengen an Pegasoi in Horten in Sizilien (74%), die zweitgrößte Menge in solchen in Unteritalien (21%) fanden. Bemerkenswert ist für unseren Fokus auf die Region Westsizilien, dass hier in einem Münzhort offenbar im Hinterland von Panormos (vgl. Karte 58 auf 692), der 1984 entdeckt und in die Zeit um 289 datiert wurde, unter den insgesamt 391 – Calciati 1990, 698 addiert zu „393“! – Pegasoi folgende Präge­stätten vertreten sind: Korinth (131 Ex.), Argos Amphilochikon (64 Ex.), Anaktorion (62 Ex.), Thyrrheion (59 Ex.), Leukas (51 Ex.), Ambrakia (11 Ex.), Metropolis (4 Ex.), Dyrrhachium/Epidamnos (3 Ex.), Syrakus (2 Ex.), Alyzeia (2 Ex.), Kerkyra (1 Ex.), Lokroi (1 Ex.). Diese Zahlen, die notabene nicht prinzipiell zu verallgemeinern sind (dazu vgl. Calciati 1990, 679 f.), zeigen immerhin, dass die große Mehrzahl, nämlich mit 257 Exemplaren fast das Doppelte der aus Korinth selber stammenden Münzen, in Städten des akarnanisch-amphilochischen Raumes geprägt worden waren. Vgl. Calciati 1990, 573–577 (Lokroi) u. 581–583 (Medma). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Unteritalien und Sizilien wurde in direktem Zusammenhang mit der ‚Rettung‘ von Syrakus vor Tyrannis und Anarchie in jenes dichte ökonomische Netzwerk einbezogen.8 Die ältere numismatische Forschung zu diesem Thema hat Talbert 1974 referiert:9 Seiner Ansicht nach bezeugt die Vorherrschaft korinthischer Münzen in der zweiten Hälfte des 4. Jh. v.Chr. „the revival of Sicilian prosperity“, die durch das Timoleon-Unternehmen hervorgerufen wurde; dabei argumentiert er ebenso wie frühere Autoren10 mit der Auswertung von Münzhortfunden. Er betont, „that the flood of Pegasi should have begun before (sc. the battle of the R. Crimisus) is almost impossible to believe“ und hält den großen Ausstoß der korinthischen Prägestätte für die Folge eines erheblichen Zuflusses an Silber aus der Beute, die Timoleon bei seinem Sieg über das Karthagerheer am Fluss Krimissos gemacht hatte.11 Dass dann eine große Menge (dieser) Pegasi nach Sizilien kam, erklärt er als „result of enormously increased exports from the island to mainland Greece and elsewhere“ und vermutet, dass es sich bei den aus Sizilien exportierten Waren hauptsächlich um Agrargüter wie insbesondere Getreide gehandelt haben dürfte.12 Dieses Argument verwendet Talbert dann auch für das in unserem Zusammenhang relevante Phänomen, dass in der zweiten Hälfte des 4. Jhs. so viele Städte in Nordwestgriechenland – die er als „Corinth’s Western dependencies“ bezeichnet – die ‚korinthischen Pferdchen‘ prägten,13 denn er lehnt die ältere Meinung ab, nach der es sich um eine Art Bundesemissionen im Rahmen des vom Makedonenkönig Philipp II. gegründeten Korinthischen Bundes handelte,14 und glaubt vielmehr, „all these places decides to take advantage of the new prosperity of trade between Sicily and Greece.“15 Zu dem Phänomen sizilischer, in erster Linie freilich syrakusanischer Bronzemünzen der timoleontischen Zeit bzw. des ganzen weiteren 4. Jahrhunderts referiert Talbert die älteren Ansichten über Datierung und Motivation dieser Emissionen.16 Die Forschungsdiskussion drehte sich vor allem um die Frage, ob die zwischen 38 g und ca. 24 g schweren Litren mit Athena-Kopf auf der Vorderseite und einem Stern zwischen zwei Delphinen auf der Rückseite erst Prägungen unter Timoleon waren, oder ob sie in die Zeit Dionysios’ I., also in die ersten Jahrzehnte des 4. Jh. v.Chr. zurückreichen;17 außerdem war unklar, ob Bronzemünzen mit 8 Vgl. oben Anm. 4. 9 Talbert 1974, 161–178 unter dem Titel Corinthian silver coinage and the Sicilian economy, c. 340 to c. 290 B.C. 10 Beispielsweise Kraay 1969; Ravel 1948. 11 Talbert 1974, 163 f. 12 Talbert 1974, 165. 13 Vgl. die Liste der Pegasi prägenden „western dependencies of Corinth“ bei Talbert 1974, 171 f. 14 So Kraay 1969, 60. 15 Talbert 1974, 169 mit der weiteren Annahme, dass die Stempel für die Prägetätigkeit dieser Städte von Korinth zur Verfügung gestellt worden seien. Wollte man sich dieser These anschließen, müsste man auch die zweifelsfrei schon im 5. und frühen 4. Jh. von Leukas und Ambrakia geprägten Pegasi auf ko­ rinthische Stempel in diesen Tochterstädten zurückführen! – Einen ganz anderen methodischen Weg schlägt Schoch 1997 ein, der die Prosperität akarnanischer Poleis auf deren politische Stabilität infolge der Allianz des Akarnanischen Bundes mit Athen (sowohl im späteren 5. wie dann wieder im 4. Jh. v.Chr.) zurückführt: z.B. ebd., 20 f. (zu Alyzeia), 34 ff. (zu Argos Amphilochikon) und 64 ff. (zu Thyrrheion), wo einer gewissen Verwunderung darüber Ausdruck gegeben wird, dass diese Städte des athenfreundlichen Akarnanenbundes dennoch Münzen vom korinthischen Typ prägten; als Grund für dieses Phänomen wird dann die einstige Gründung durch Korinth genannt! 16 Talbert 1974, 180–188. 17 Vgl. Calciati 1986, 111 ff., mit der Datierung „ab 395“. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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einem Kopf mit korinthischem Helm auf dem Avers, dem Pegasos auf dem Revers und solche mit dem Kopf des Zeus Eleutherios auf der Vorder – und einem laufenden Pferd auf der Rückseite ein- und derselben Gewichtsklasse zuzurechnen seien, da die erstgenannten Stücke zwischen ca. 23 g und 20 g wiegen, die anderen zwischen ca. 22 g und 17,5 g.18 Wichtiger in unserem Zusammenhang ist freilich seine Ansicht, dass die große Zahl kleiner kommunaler Bronzeemissionen im griechischen Sizilien keine Rückschlüsse auf eine ökonomische Motivation für diese Prägungen erlauben, zumal diese häufig auf älteren Schrötlingen anderer Prägestätten erfolgten. Der Autor erklärt das Phänomen vielmehr damit, dass sich hierin das Bedürfnis auch kleiner Gemeinden, möglicherweise nach der Ankunft von Neusiedlern aus Griechenland, spiegelt, die Unabhängigkeit der Gemeinde zu demonstrieren.19 Unter Verweis auf die Münzfunde bei den Ausgrabungen in Morgantina und Megara Hyblaia hebt Talbert die erstaunlich große Anzahl von sikulopunischen Münzen und besonders Bronzemünzen hervor, die offenbar in Ostsizilien umgelaufen sind.20 Als Talbert sein Buch über Timoleon und Sizilien schrieb, existierte noch nicht das dreibändige Werk von R. Calciati über die sizilischen Bronzemünzen,21 das im ersten Band für die Städte Entella, Nakone und Kelphaloidion Bronzemünzen auflistet, die auf der Rückseite den Pegasos zeigen. Der dort genannten Datierung nach wären diejenigen aus Nakone die ältesten, geprägt im Zeitraum „357–317“,22 gefolgt von denjenigen aus Kephaloidion („344–336“).23 Die Emissionen aus Entella datieren nach den dortigen Angaben in die Jahre 342/1 bis 339 v.Chr. und wären somit die kurzlebigsten.24 Die erste Reihe der Bronzemünzen aus Entella ist über den bärtigen Herakles-Kopf der Vorderseite mit den Prägungen aus Kephaloidion verbunden, die zweite Reihe steht mit dem Persephone-Kopf auf ihrer Vorderseite den Emissionen von Nakone, die einen Kore-Kopf zeigen, nahe. Die dritte hier genannte Reihe bildet auf der Vorderseite einen kampanischen Helm ab, was sie insofern mit der voraufgehenden Reihe verbindet, als dort auf der Rückseite die Legende ΚΑΜΠΑΝΩΝ lautet, während die Vorderseiten beider Reihen den Stadtnamen ΕΝΤΕΛΛΑ wiedergeben.25 Ebenfalls als Prägeherren figurieren Kampaner, die für das 4. Jh. v.Chr. in Sizilien als Söldner der Karthager respektive auch der Syrakusaner bezeugt sind, in Nakone: Zwar weist die Serie mit dem Pegasos auf der Rückseite die Legende ΝΑΚΟΝΗΣ auf beiden Münzseiten auf, doch gibt es eine zugehörige, etwas frühere Serie, die anstelle des Pegasos ein Pferd über einem (kampanischen) Helm abbildet mit der Legende ΝΑΚΟΝΑΙΩΝ,

18 Talbert 1974, 182–188; er verwirft dabei die Ansichten von Consolo Langher 1964 und lehnt eine Datierung der Prägungen mit dem Kopf des Zeus Eleutherios als differenzierendes Datierungskriterium ab. 19 Talbert 1974, 180–181. 20 Talbert 1974, 182 mit Anm. 3–5. – Hier ist zu betonen, dass die Bronzemünzen aus Morgantina, die auf dem Avers einen weiblichen Kopf mit Ährenkranz (‚Demeter‘), auf dem Revers ein Pferd zeigen, vom Ausgräber R. Ross Holloway für Prägungen eines griechischen Städtebundes gehalten wurden, jedoch von Jenkins 1960–1965 als sikulopunische Münzen erkannt wurden, da ähnliche Stücke in Nordafrika gefunden wurden; dieser Ansicht schließt sich Talbert an. 21 Calciati 1982, 1986 u. 1987. 22 Calciati 1983, 325, Nr. 4; das Gewicht beträgt ca. 7,8 g. 23 Calciati 1983, 371–373, Nr. 2–5; die Kleinmünzen wiegen zwischen 1,84 und 3,0 g. 24 Calciati 1983, 317, Nr. 3, 4 u. 10; die drei aufgeführten Exemplare von Nr. 3 wiegen zwischen 9,2 und 10,05 g, die zwei Exemplar von Nr. 4 zwischen 6,5 und 8,16 g, während die vier Exemplare von Nr. 10 von 6,15 bis 7,79 g variieren. 25 Die Legende der ersten Reihe mit dem bärtigen Herakles-Kopf lautet ΕΝΤΕΛΛΑΣ. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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auf der Vorderseite den Kore-Kopf und die Legende ΚΑΜΠΑΝΩΝ.26 Es liegt auf der Hand, dass in den Städten Entella und Nakone in der Zeit, in der sie den Pegasos auf den Rückseiten ihrer Bronzemünzen abbildeten, ein beachtlicher – möglicherweise dominanter – Teil der Bürgerschaft aus Kampanern bestand; auch für Kephaloidion ist dies sehr wohl denkbar, auch wenn sich die Kampaner nicht in der Münzlegende zeigen.27 Calciati führt auch Bronzemünzen aus dem punischen Panormos (ZIZ) auf, nämlich zwei ikonographisch unterschiedliche Serien: Die erste zeigt auf der Vorderseite Kore, auf der Rück­ seite ein galoppierenden Pferd mit Sonnenscheibe und soll in dem längeren Zeitraum ‚2. H. 4. Jh. – ca. 260‘ geprägt sein,28 die zweite kombiniert einen kurzhaarigen Apollon-Kopf auf der Vorderseite mit einem Pegasos auf der Rückseite und soll nur zwischen 336 und 330 emittiert worden sein (s. Abb. 3).29 Im dritten Band der sizilischen Bronzeprägungen stellt Calciati eine weitere Bronzemünzserie mit einem Pegasos auf der Rückseite vor, hier kombiniert mit einer Palme; es soll sich um eine karthagische – d.h. von der karthagischen Epikratieverwaltung veranlasste – Prägung handeln, die in die zwei Jahrzehnte zwischen 340 und 320 datiert wird.30 Die Palme auf der Vorderseite begegnet auch auf anderen Prägeserien desselben Zeitraums, die auf der Rückseite eine Pferdeprotome abbilden.31 Die vorstehenden Ausführungen über sizilische Bronzemünzen mit der Abbildung eines Pegasos im Sinne der Übernahme eines wesentlichen ikonographischen Elementes der außersizilischen Münzprägung ‚korinthischen Typs‘ sind noch um eine Beobachtung zu ergänzen, dass die akarnanischen Städte (Alyzeia, Anaktorion, Astakos, Medion, Stratos, Thyrrheion) keinerlei korinthische Bildtypen für ihre Bronzemünzen verwenden. Die bedeutende Inselpolis Leukas, eine der älteren korinthischen Tochterstädte im ostadriatischen Raum, bildet hierbei eine Ausnahme, denn sie prägt – offenbar seit der Mitte des 4. Jh. – in diesem Metall den Bellero­ phon auf dem Flügelross auf der Vorderseite, die von dem korinthischen Helden bekämpfte Chimaira auf der Rückseite, dann auf Kleinbronzen des 3. Jahrhunderts anstelle des Bellero­ phon den Pegasos kombiniert mit dem Dreizack des Poseidon auf der Rückseite sowie anstelle des geflügelten Pferdes nur einen Pferdekopf und anstelle des Dreizack einen Delphin.32 Dieser Befund ist insofern von Interesse für die folgenden Überlegungen, als er darauf verweist, dass die ikonographische Übernahme des Pegasos in einer Bronzeprägung gerade keine selbstverständliche Folge einer Verwendung desselben Motivs bei den Silberemissionen ist. Andererseits zeigt die so ausdrücklich am korinthischen Bellerophon-Mythos orientierte Ikonographie der leukadischen Bronzemünzen, dass die Verwendung des Pegasos für Prägungen, die primär dem 26 Calciati 1983, S. 325, Nr. 3. 27 Vgl. Tusa-Cutroni 1970. – In jüngerer Zeit hat sich Consolo Langher 1996, 129–132, in einem Unter­ kapitel („Il koinon elimo“) mit den numismatischen Zeugnissen aus Entella und Nakona beschäftigt (vgl. auch dort Taf. CII); dort werden diese Emissionen, die enge politische Beziehungen eines ‚elymischen Bundes‘ zu Agathokles als dem Befreier von karthagischer Fremdherrschaft spiegeln sollen, in die Zeit zwischen 309 und 305 v.Chr. datiert; zu dem Phänomen, dass auf den Reversen Pegasi abgebildet sind, äußert sich die Autorin nicht weiter. 28 Calciati 1983, 270 f., Nr. 7; das Gewicht der drei Exemplare variiert von 7,2 bis 8,27 g. 29 Calciati 1983, 271 f., Nr. 8 (ein Exemplar: 2,33 g) und 9 (zwei Exemplare: 1,88 u. 1,6 g). 30 Calciati 1987, 386, Serien 18–19; auf einigen Stücken der Serie 18 sind einzelne punische Buchstaben unter dem Pegasos zu erkennen. 31 Calciati 1987, 381–385, Serien 9–14. 32 Vgl. Lanz 2007, 77–82, Nr. 242–260; 86 f., Nr. 282–284; 87, Nr. 285–286. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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lokalen Warenaustausch dienen, nicht beliebig erfolgten, sondern einen dezidierten Willen zur Verwendung dieses Motivs voraussetzen.

Abb. 1: Bronzemünze aus Panormos/SYS

Abb. 2: Bronzemünze vermutlich aus Panormos

Die folgenden Überlegungen zu Bronzemünzen mit dem korinthischen Bildmotiv des Pegasos aus dem sikulopunischen Raum, der seit dem Ende des 5. Jahrhunderts eine Art überseeisches Herrschaftsgebiet der Karthager war, gehen von zwei kleinen Exemplaren aus, deren Prägung in die Mitte des 4. Jh. bzw. in dessen zweite Hälfte gehören sollen: Das eine Stück ist durch die punische Legende als Münze von SYS = Panormos gesichert und zeigt einen springenden Pegasos im korinthischen Stil auf der Vorderseite, eine stilisierte Dattelpalme auf der Rückseite; es wiegt 1,91 g (Abb. 1).33 Das andere Stück (Abb. 2), das 2,38 g schwer und dessen Erhaltungszustand deutlich besser ist, zeigt dasselbe Bildprogramm;34 es soll aus einer ‚unbekannten Münzstätte‘ kommen, dürfte aber wohl ebenfalls Panormos zuzuweisen sein. Das Hauptargument hierfür ist, dass auf den Kleinmünzen in Silber bzw. Bronze der Pegasos nur in Panormos begegnet,35 nicht auf den Prägungen von Solunt, Motye und Eryx36; das Fehlen einer Legende auf dem hier zur Diskussion stehenden Stück ist kein ‚Beweis‘ für die Herkunft aus einer anderen Münzprägestätte als Panormos. Evident ist die Ähnlichkeit des Pegasos dieser beiden sikulopunischen Bronzemünzen mit demjenigen auf zwei syrakusanischen Bronzemünzen: Deren eine ist mit rund 4,8 g doppelt so 33 Vgl. Calciati 1987, Nr. 386. 34 Vgl. auch Viola 2010, Nr. 355. – Die Vorderseite soll – m. E. fälschlicherweise – die mit der Dattelpalme sein; demnach wäre dieses punische ‚Piktogramm‘ hier also auf die Vorderseite gerückt, während es ansonsten auf sikulopunischen Münzen vornehmlich auf der Rückseite zu finden ist: Die erste MHNT-Serie aus dem letzten Jahrzehnt des 5. Jh. v.Chr. zeigt auf dem Avers eine Pferdeprotome nebst der punischen Legende QRTHDST, auf dem Revers die Dattelpalme mit der punischen Legende MHNT (Jenkins 1974, 27–31 und Taf. 1–5). Die Stadt Motye prägte auf ihrem Kleinsilber Münzen (à ca. 0,7 g) mit einer Gorgonenfratze auf dem Avers und der Palme auf dem Revers sowie eine Bronzemünze (6,22 g) mit den gleichen Bildern (Jenkins 1971, 74 mit Taf. 23 Nr. 4a u. b sowie Nr. 8); eine weitere Kleinbronze aus Motye zeigt gleichsam eine Miniatur-Ikonographie der o.g. ersten MHNT-Serie(n): Jenkins 1971, 74 mit Taf. 23 Nr. 9. 35 Auch eine weitere Bronzemünze, deren Herkunft aus Panormos durch die Legende SYS gesichert ist, bildet den Pegasos auf der Rückseite ab, während auf der Vorderseite ein Apollon-Kopf zu sehen ist: Jenkins 1971, 75 und Taf. 24 Nr. 22 (ohne Gewichts- und Datierungsangabe). 36 Bei Jenkins 1971, S. 75 zu Taf. 24 Nr. 25 ist – allerdings ohne Nominalbezeichnung – ein Silberstater (7,99 g) aus Eryx aufgeführt, der sich im Ashmolean Museum Oxford befindet (SNG Oxford 1969, Nr. 1718): Auf der Vorderseite ist der Pegasos zu sehen, dazu die Legende ’rk, auf der Rückseite der behelmte Göttinnen-Kopf. Dieses Exemplar findet sich bei Calciati 1990, 625 unter der Überschrift „Zecca punica“ mit einem zweiten, dessen Rückseite aus demselben Stempel stammt und 1989 im Münzhandel aufgetaucht ist; die zugehörige Kartenskizze (ebd., 623) lässt indessen den Eintrag von Eryx vermissen. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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schwer ist wie das größere sikulopunische Stück und wird der Zeit ca. 345 bis 317 zugewiesen (Abb. 4),37 während das andere mit ca. 9,5 g das Doppelte der eben genannten Münze wiegt und in die Zeit zwischen 336 und 317 datiert wird (Abb. 5).38

Abb. 3: Bronzemünze aus Panormos/SYS

Abb. 4: Bronzemünze aus Syrakus

Abb. 5: Bronzemünze aus Syrakus

Während beide Stücke auf der Rückseite den Pegasos zeigen, bildet das kleinere Nominal auf der Vorderseite einen Apollon-Kopf mit langem Haar und Lorbeerkranz ab (Abb. 4), das größere Nominal einen Frauenkopf im Stil der so genannten Arethusa (Abb. 5). Die Ähnlichkeit der Flügelpferde auf den panormitanischen und den syrakusanischen Bronzemünzen wird noch durch den – auf dem nur vermutlich in Panormos geprägten Stück besser zu erkennenden – Linienkreis unterstrichen, in welchen das Tier ebenso wie auf den beiden syrakusanischen Stücken platziert ist. Sofern tatsächlich das größere und nur vermutlich panormitanische Stück den Pegasos auf der Rückseite hatte (Abb. 2),39 läge hier eine weitere Parallele zu der syrakusanischen Bronzemünze40 sowie generell zu syrakusanischen Silberstateren (Abb. 6) vor.

37 Vgl. SNG Copenhagen 1942, Nr. 737 (m. Abb.) bzw. Nr. 738 (o. Abb.). 38 Vgl. SNG München 1977, Nr. 1163 ff. 39 Vgl. die oben Anm. 29 genannte Bronzemünze aus Panormos (Abb. 3), die evidenterweise die syrakusanische Bronzemünze (Abb. 4) zum Vorbild hat, auch wenn jene offenbar mit ca. 5 g Gewicht wesentlich schwerer ist. 40 Dieses Schema (Pegasos auf der Rückseite) findet sich auch bei den syrakusanischen Silberstateren, während in Korinth und den ikonographisch wie metrologisch von Korinth abhängigen Städten – etwa an der adriatischen Ostküste, aber auch in den unteritalischen Städten Lokroi und Medma – das Flügelross stets auf der Vorderseite dargestellt wird. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Abb. 6: Silberstater aus Syrakus

Abb. 7: Silberstater aus Korinth

Abb. 8: Silberstater aus Leukas

Abb. 9: Silberstater aus Argos Amphilochikon

Für eine skizzenhafte stilistische Betrachtung seien hier wegen des besseren Erhaltungs­ zustandes die Pegasos-Darstellungen auf den gleichzeitigen Silberstateren aus Korinth (vgl. Abb. 7), Leukas (Abb. 8) und Argos Amphilochikon (Abb. 9) herangezogen. Die Pegasoi lassen sich hinsichtlich der Flügel zwei Grundtypen zuordnen, erstens einem ‚breiten‘ Typ, bei dem der Ansatz der Schwingen bereits am tieferen Bauch des Tieres deutlich markiert ist, zweitens einem ‚schmalen‘ Typ, bei dem die Flügel eher aus dem Rist hervortreten. Vergleicht man diese Darstellungen mit denjenigen syrakusanischer Münzen (in Silber und Bronze), so sind auch hier beide Varianten präsent, es überwiegt m. E. eher der ‚schmale‘ Flügel, dem man auf den hier diskutierten sikulopunischen Bronzemünzen begegnet.41 Hier schließt sich die Frage an, ob aus diesen Details der Darstellungen Rückschlüsse auf direkte Vorbilder der sikulopunischen Bronzen möglich sind. Konkreter gesagt: Haben sich die Verantwortlichen für die Münzprägung in Panormos vornehmlich an syrakusanischen Silberund Bronzeemissionen orientiert oder könnte der Pegasos eher angeregt sein durch umlaufende Münzen aus dem griechischen Mutterland bzw. Adriaraum?42 Wenngleich in dieses ‚Netzwerk‘ Syrakus seit dem Timoleon-Unternehmen gleichsam integriert worden war, ist hier doch zu41 Dass es sich nicht primär um eine stilistische Entwicklung im Laufe des 4. Jh. handelt, erweist sich beim Blick auf die jeweiligen Datierungen: Für Korinth vgl. z.B. die beiden Exemplare im Auktionskatalog Gorny – Mosch 2015, Nr. 1476 mit schmalen Flügel und Nr. 1487 mit breitem Flügel, die beide dem Zeitraum „345–317“ zugeordnet sind; dieselbe Datierung „345“ haben die Münzen aus Leukas, l.c. Nr. 1396: mit schmalem und Nr. 1394 mit breitem Flügel. Dazu vgl. beispielsweise die Exemplare aus Leukas bei Calciati 1990, 415 Nr. 91 (breite Flügel) und 415 f. Nr. 92, 94, 96 (schmale Flügel). 42 Vgl. oben Anm. 6; in dem einzigen von Calciati 1990 aufgelisteten Münzhort in Westsizilien liegt ja der Anteil syrakusanischer Pegasoi mit 2 Stück bei 0,5%, doch ist hier zu bedenken, dass es sich erstens um einen relativen späten Hort aus der Zeit um 289 v.Chr. handelt und dass zweitens die Aussagekraft bei Auswertung nur eines einzigen Hortfundes sehr schwach ist; schon ein weiterer Fund – sei es aus derselben späten Zeit oder aus dem letzten Drittel des 4. Jhs. könnte ein ganz anders Bild ergeben. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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nächst die Situation vor ca. 350 v.Chr. zu berücksichtigen: Damals war die syrakusanische Münzprägung unabhängig von denjenigen der Mutterstadt Korinth bzw. der Schwesterstädte im östlichen Adriaraum; zu bedenken ist hier sodann, dass die syrakusanische Ikonographie eine generell überragenden Rolle spielte für die Übernahmen griechischer Bildmotive auf den sikulopunische (und elymischen) Münzen.43 Auf syrakusanischen Bronzemünzen44 des späten 5. und frühen 4. Jahrhunderts findet sich ein geflügelter Ketos (Abb. 10, 11), der sich stilistisch an den ‚Pferdchen‘ der korinthischen Münzen orientiert.45 Dabei sind die Flügel ganz dem archaischen Bildschema einer volutenartigen Rundung hin zum Tierkopf verpflichtet, wie insbesondere Statere und Drachmen aus dem späten 6. Jh. und der 1. Hälfte des 5. Jh. augenfällig machen.46 Noch um die Mitte des 4. Jahrhundert wird diese archaisierende Schwinge auf mittelgroßen syrakusanischen Bronzen (ca. 5 g) bei der Abbildung einer Pegasos-Protome verwendet (Abb. 12).47 Sie ‚wandert‘ in den folgenden Jahren von dort zu den Phöniziern von Solunt, die sie auf ihrem recht kleinen Bronzenominal (ca. 1,8 g) bei der Darstellung eines geflügelten Ketos übernommen haben; die zugehörige Münzvorderseite zeigt übrigens einen Herakles-Kopf im Löwenfell (Abb. 13).48 Aus diesem Befund möchte ich den Schluss ziehen, dass es auch für das westlich benachbarte Panormos/SYS eine Option gewesen wäre, sich traditionelle Emissionen der Syrakusaner für die eigenen Bronzeprägungen zu eigen zu machen – doch stattdessen verwendete man für ähnlich kleine Nominale (1,9 g) das ‚neuartige‘ Flügelpferdchen (Abb. 1 u. 2).

Abb. 10–12: Bronzemünzen aus Syrakus 43 Hier sei nur kurz darauf verwiesen, dass die karthagische Großsilberprägung in Westsizilien grundsätzlich den syrakusanischen Göttinnen-Kopf, die so genannte Arethusa, übernahm. Doch auch schon vor der Etablierung der karthagischen Epikratie hatte sich die lokale Münzprägung von Motye, Panormos und Solunt an dem griechischen bzw. dem gräzisierten elymischen Bildrepertoire ausgerichtet, für das die im Laufe des 5. Jh. v.Chr. zur Regionalmacht herangewachsene Metropole Syrakus sowohl quantitativ als auch qualitativ tonangebend war. 44 Der Ketos befindet sich ebenfalls auf kleinen Silbernominalen; vgl. dazu Gorny – Mosch 2015, Nr. 1166. 45 Zur Münze Abb. 10, deren Gewicht 7,77 g beträgt und der Zeit Dionysios’ I. (405–367) zugeschrieben wird, vgl. Calciati 1986, Nr. 45; das in Abb. 11 gezeigte Exemplar wiegt 6,03 g und wird „um 400“ datiert. 46 Vgl. dazu die Abbildungen Lanz 2007, Nr. 3 u. Nr. 8 ‚Stater bzw. Hemidrachme aus dem 6. Jh.‘; Gorny – Mosch 2015, Nr. 1474 und Nr. 1491 ‚Stater und Drachme aus der 1. Hälfte des 5. Jhs.‘. 47 Vgl. SNG München 1977, Nr. 1167. 48 Vgl. SNG München 1977, Nr. 908; Jenkins 1971, 74 (ohne Gewichtsangabe) und Taf. 23 Nr. 19. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Abb. 13: Bronzemünze aus Solunt

Der hiermit vorgestellte numismatische und ikonographisch-stilistischen Befund bezeugt m.E. den Willen der für die lokalen Prägungen in Panormos zuständigen Instanz, sich den neuen Trends der in Sizilien umlaufenden korinthischen Emissionen anzuschließen, ohne auf das punische Signum (Legende SYS; Palme) zu verzichten. Dabei ist davon auszugehen, dass die hier diskutierten, in zwei Nominalen emittierten kleinen Bronzemünzen kaum für einen weiträumigen Warenaustausch konzipiert waren. Großsilber im Nominal des Tetradrachmon prägten indessen in der karthagischen Epikratie neben Panormos (Abb. 14)49 auch RSMLQRT (Abb. 15),50 das m. E. mit Lilybaion zu identifizieren ist,51 sowie Thermai Himeraiai.52 Dabei verband ein einheitliches ikonographisches Programm (Vs. Quadriga mit Nike; Rs. Göttinnen-Kopf) diese Emissionen und nur die Legende verwies auf die einzelne Prägeautorität. Der Kopf derselben Göttin prangte auf den Tetradrachmen der MHNT- bzw. Militärgeldserien Nr. 2 und 3, auf deren Rückseiten ein stehendes oder bewegtes Pferd mit bzw. vor einer Dattelpalme abgebildet war (Abb. 16).53 Während ohne Zweifel die punische Administration für die städtischen Silberprägungen die Ikonographie vorgab, war man auf lokaler Ebene bei der Gestaltung der Bronzemünzen offenbar relativ frei, wie die beiden Beispiele Panormos und Solunt nahe legen.

Abb. 14: Tetradrachmon aus Panormos/SYS

Abb. 15: Tetradrachmon aus RSMLQRT

49 Vgl. Jenkins 1971, 40–44 (mit Taf. 8–14, nebst Katalog dazu 46–52). 50 Vgl. Jenkins 1971, 55–60 (mit Taf. 15–21, nebst Katalog dazu 61–69). 51 Zu dieser Frage meinte Jenkins 1971, 55, dass Lilybaion als höchstwahrscheinlicher Prägeort bereits der MHNT-Münzen nicht auch noch als Prägestätte der RSMLQRT-Münzen in Frage kommen könne; anders Hans 1983, 131 mit dem Argument, dass einer so strategisch bedeutenden Stadt auch eine der panormitanischen ebenbürtige lokale Münzprägung zuzutrauen ist. 52 Vgl. Jenkins 1971, 70 f. (mit Taf. 22, nebst Katalog dazu 72). 53 Vgl. Jenkins 1977, 5–24 (mit Taf. 1–21, nebst Katalog dazu 32–60). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Korinthische Pegasi auf sikulopunischen Bronzemünzen

335

Abb. 16: Tetradrachmon der MHNT-Serie 2

Gerade dieser Entscheidungsspielraum wirft die Frage auf, warum in Panormos das ‚korinthische‘ Flügelross gewählt und nicht etwa der ‚konservative‘ – syrakusanisch inspirierte – geflügelte Hippokamp aus dem benachbarten Solunt übernommen wurde. Wie schon dargelegt verweisen ikonographische und stilistische Details nach Syrakus bzw. generell in den ostadriatischen Raum, doch sind angesichts einer evidenten Bildübernahme zwei weitere Faktoren zu bedenken: Zum einen ist die chronologische Spanne, die als Prägezeit der hier diskutierten sikulopunischen Münzen angegeben wird, nämlich „370 bis 340“ für das unzweifelhaft sowie für das sehr wahrscheinlich panormitanische Stück „350 bis 300“, sehr weit und teilweise problematisch. Wollte man die Argumente Calciatis, die dem Benutzer seines Werkes nicht hinreichend erläutert werden, für die frühe Datierung des kleineren Bronzenominals beibehalten, würde dies voraussetzen, dass bereits eine knappe Generation vor dem Timoleon-Unternehmen, mit dem Korinths nicht zuletzt auch machtpolitisch motivierte Ambitionen in Südostsizilien eine militärische Realisierung erfuhren, Münzen aus einer als ‚korinthischer Währungsraum‘ zu bezeichnenden Großregion an der östlichen Adriaküste auch in Nordwestsizilien so geläufig waren, dass sie in Panormos schon Anklang und Nachahmung in den Bronzeprägungen fanden, bevor noch in Korinths Tochterstadt Syrakus der Pegasos adaptiert wurde. Eine solche Interpretation erscheint eher unwahrscheinlich angesichts der generellen Vorbildfunktion syrakusanischer Bildsprache für die Münzen im Westen der Insel. Zum anderen ist auf die politisch-militärische Dynamik in den diskutierten Zeiträumen zu verweisen,54 denn gerade die Jahrzehnte zwischen 370 und 350 waren relativ frei von kriegerischen Konflikten zwischen Syrakus und der karthagischen Epikratie, während mit dem (letztlich siegreichen) Feldzug des Korinthers Timoleon in der zweiten Hälfte der 340er Jahre, der sich zunächst gegen die Anarchie in Syrakus richtete, ein neuer Krieg um die und in der Epikratie begann. Die verbreitete Grundannahme, dass gerade von Kriegsgegnern keine Münzbilder freiwillig übernommen werden, würde hier also nicht gelten, wenn zwischen 350 und 340 die beiden diskutierten Bronzemünzen mit Pegasos und Palme initiiert worden wären. Eine Alternative böte die Vermutung, dass selbst harte militärische Auseinandersetzungen die Persistenz ökonomischer Vernetzung nicht beeinträchtigt, sondern geradezu im Gegenteil deren Visibilität gefördert hätten. Wir stehen also vor dem Dilemma, einerseits die kleinen Bronzenominale numismatisch nicht präzise datieren zu können, andererseits die Wahl des neuartigen Münzbildes in seinem historischen Kontext interpretieren zu wollen, und zwar als ein wirtschaftsgeschichtliches Zeugnis. Als Ausweg empfiehlt sich eine Argumentation aus einer historischen Perspektive, auch wenn 54 Dazu Hans 1983, 72 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Linda-Marie Günther

über Plausibilitäten nicht hinauszukommen ist. In diesem Sinne sei hier die Annahme bevorzugt, dass militärische Konfrontation keine freiwillige Übernahme von Münzbildern begünstigt. Der Sachverhalt, dass die Pegasoi in Ost- wie in Westsizilien über einen längeren Zeitraum hin emittiert wurden und demnach kein punktuelles, durch einen aktuellen Konflikt motiviertes Phänomen sind, favorisiert die Annahme, dass erst seit ca. 340 die in Frage stehenden sikulopunischen Bronzemünzen geprägt wurden, und zwar sehr bald nach den entsprechenden ‚korinthischen‘ Vorbildern aus Syrakus. Dass sich in Ostsizilien während der korinthischen Militärintervention unter Timoleon die ikonographisch uniformen Münzen Korinths und seiner Verbündeten massenhaft verbreiteten, ist dem hohen Bedarf an Münzgeld geschuldet, den Syrakus selbst nicht bedienen konnte, da es allem Anschein nach schon seit einigen Jahren der Anarchie an Edelmetallen verarmt war.55 Alle literarischen Zeugnisse sprechen – ungeachtet eines unverkennbar panegyrischen Tenors – von der führenden Rolle Timoleons bei der schnellen Wiederbelebung der sikeliotischen Wirtschaft.56 Zur Schaffung ‚blühender Landschaften‘ dürfte auch die Einbeziehung der nunmehr befriedeten Region in den korinthischen Währungsraum nicht unwesentlich beigetragen haben. Dass diese Erholung zumindest teilweise durch erbeutete Ressourcen aus dem karthagischen Westsizilien ermöglicht wurde, darf nicht unerwähnt bleiben,57 zumal nach dem Ende des so genannten Timoleon-Krieges die wirtschaftliche Ver­ netzung beider Herrschaftszonen fortgesetzt und vermutlich intensiviert wurde. Es ist wohl kein Zufall, dass die oben genannten kommunalen Großsilberemissionen mit ihren uniformen Tetra­drachmen überhaupt erst „um 350“ einsetzten und dass gleichzeitig MHNT-Emissionen quantitativ anschwollen. Dass sich in diesen Phänomenen nicht nur ein stringenterer politischer Zu­griff der karthagischen Politik auf seine ‚Provinz‘, sondern auch eine dynamische ökonomische Potenz Westsiziliens spiegelt, darf ebenso angenommen werden wie eine Wechselwirkung des sikulopunischen und des sikeliotischen Raumes. Im Rahmen eines solchen allgemeinen Aufschwungs erklärt sich m.E. eine SchmelztiegelFunktion von Panormos, das – anders als das östlich benachbarte Solunt – mit einer fruchtbaren Küsten­ebene und einem hervorragenden Naturhafen gesegnet war. Die Stadt, in der nicht erst jetzt auch zahlreiche Griechen lebten, war ein allem Anschein nach dynamischer Handels­platz, wo korinthische Münzen jedweder Provenienz verfügbar waren. Aus einem derartigen Szenario ist m.E. die Entscheidung in Panormos, auf ihren kleinen Bronzenominalen den Pegasos abzubilden, ebenso abzuleiten wie die Beibehaltung des auch stilistisch älteren ge­flügelten Hippokamps in der Bronzeprägung Solunts. 55 Vgl. Talbert 1974, 179 f.; vgl. Westlake 1942, 95; Dreher 2008, 60. 56 Vgl. Diod. 16,9: „Timoleon hat (...) die Angelegenheiten Siziliens glücklich und nutzbringend geordnet. Denn er (...) versetzte die von den Barbaren verwüsteten griechischen Städte wieder in ihren ursprünglichen Zustand (...); entvölkert übernahm er Syrakus und die anderen griechischen Städte und brachte es fertig, sie in volkreiche Ansiedlungen zu verwandeln.“; Diod. 16,83,1: „Indem Timoleon überall auf Sizilien friedliche Zustände herzustellen vermochte, bewirkte er in den Städten rasch eine bedeutende Steigerung des Wohlstands (...) Es folgte ein langwährender Friede, die Feldarbeit wurde wiederaufgenommen und man brachte reiche Ernten von allerlei Früchten ein. Diese verkauften die Sikelioten zu vorteilhaften Preisen an die Händler und vermehrten so in Kürze ihr Vermögen.“; vgl. Plut. Timoleon 24; vgl. Smarczyk 2003, 142–146. 57 Vgl. Diod. 16,73,1 f.: „Da es Timoleon an Geldmitteln fehlte, um seine Söldner auszuzahlen, schickte er 1000 Soldaten (...) in den Herrschaftsbereich der Karthager. Sie plünderten ein weites Gebiet aus, nahmen reiche Beute mit sich und über gaben sie dem Timoleon (...) Auch eroberte er Entella (...).“; Plutarch, Timoleon 30: die Söldner Timoleons bleiben nach dem Sieg am Krimissos in der Epikratie zum plündern. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Korinthische Pegasi auf sikulopunischen Bronzemünzen

337

Eine letzte Überlegung zielt auf eine mögliche punische interpretatio des korinthischen Pegasos ab. Der begrenzte Umlauf kleiner Bronzemünzen lässt erwarten, dass nicht nur die Dattelpalme auf der Rück- bzw. Vorderseite eine auch den phönizischen Betrachtern zugängliche Aussage enthält, sondern ebenso das Flügelross. Es dürfte als eine Variante des ubiquitären Pferdes aufgefasst worden sein, das schon im 5. Jh. auf panormitanischen Münzen und auf den ersten MHNT-Serien begegnet und als Symbol für den Himmelsgott Baal werden kann; die nach oben geöffneten Schwingen des springenden oder galoppierenden, gleichsam zum Flug ansetzenden Tieres weisen einmal mehr auf den Himmel und damit den Herrschaftsraum des phönizisch-punischen Gottes hin.58 Zusammenfassend lässt sich aus den Bronzemünzen der westsizilischen Küsten- und Handels­ stadt Panormos/SYS, die den ‚korinthischen‘ Pegasos mit der sikulopunischen Dattel­palme kombinieren, ablesen, dass der ökonomische Aufschwung Ostsiziliens infolge der korinthischen Intervention unter Timoleon in direkter Wechselwirkung auch die Wirtschaft der kartha­gischen Epikratie dynamisierte. Ohne ein anzunehmendes massenhaftes Aufkommen ‚korinthischer‘ Silber- und Bronze­ münzen sowohl aus dem mutterländisch-adriatischen Raum als auch aus Syrakus, mithin aus einem weit­gespannten Währungsraum, unter der Ägide Korinths, in dem prosperierenden Umschlag­platz Panormos lässt sich die Übernahme der Bildvorlage samt ihrer aktuellen Stil­ elemente m. E. nicht erklären. Gewonnen sind damit für die Geschichte sowohl Siziliens als auch jenes expandierenden Währungsraumes der ‚Pferdchen‘ neue Argumente nicht nur für eine Verifizierung der literarischen Überlieferung über die Revitalisierung des griechischen Inselteils, sondern auch für eine Differenzierung unserer Kenntnisse über die griechisch-karthagischen Beziehungen: Im Rahmen überall vorauszusetzender Interdependenzen zwischen Ökonomie und Politik erweisen sich auch die Ereigniszusammenhänge in Sizilien als von wirtschaftlichen Interessen verschiedener Seiten bis in den Alltag der Bevölkerung hinein durchdrungen. Abbildungsverzeichnis Abb.

Prägeautorität

Metall/Nominal

Sammlung

Foto

1

Panormos/SYS

AE

privat

L.-M. Günther

2

Panormos/SYS (?)

AE

privat

L.-M. Günther

3

Panormos/SYS

AE

privat

Jenkins 1971 Taf. 24 Nr. 22

4

Syrakus

AE

privat

L.-M. Günther

5

Syrakus

AE

privat

L.-M. Günther

6

Syrakus

AR-Stater

privat

L.-M. Günther

7

Korinth

AR-Stater

privat

L.-M. Günther

8

Leukas

AR-Stater

privat

L.-M. Günther

9

Argos Amphilochikon

AR-Stater

AKS Bochum

L.-M. Günther

10

Syrakus

AE

privat

L.-M. Günther

11

Syrakus

AE

privat

L.-M. Günther

12

Syrakus

AE

privat

L.-M. Günther

58 Vgl. dazu Günther 2015, 137–153, bes. 143. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

338 Abb.

Linda-Marie Günther Prägeautorität

Metall/Nominal

Sammlung

Foto

13

Solunt

AE

privat

L.-M. Günther

14

Panormos/SYS

AR-Tetradrachmon

L.-M. Günther

15

Rsmlqrt

AR-Tetradrachmon

16

MHNT

AR-Tetradrachmon

privat KUSA Bochum privat

L.-M. Günther L.-M. Günther

AKS = Alfried-Krupp Schülerlabor für Geisteswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum KUSA = Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum

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Nomismaton eikones. Theodoret of Cyrus on Iconography of Money Ireneusz Milewski Coins constitute a valuable source of historical knowledge due to their inscriptions and iconography. This is no different in the case of ancient coins. Frequently it is sufficient to merely read the inscription in order to understand the meaning conveyed. However, more often than not the inscription is stereotypical and provides a mere repetition of previously propagated images and values, such as piety, religious sympathies of the ruler or moral and civic virtues. It is frequently noted that this repetitive imagery, often comprehensilbe and bordering on propaganda, consists not only in inscriptions, but also iconographic depictions located on the tails of the coin. It is necessary for the latter to be interpreted with caution and an analysis needs to include the comparison of numerous graphic elements preceding and following the specimen analyzed. The iconography of late Roman coins, especially when compared to the early Empire period does not indicate in many aspects the affluence of graphic forms and is relatively stereotypical in its basic core of symbols and depictions. A prerequisite of its comprehension and proper interpretation is at least a minimum knowledge of ancient arts and canons imposed in late antiquity by the new religion, Christianity. Scientific knowledge of money iconography can be developed most vividly through an examination of specific ancient coins. Customarily, coin iconography did not serve the purpose of falsifying information or provoking discord among ancient authors, yet some exceptions to this rule may be established. Emperor Iulian, who triggered extremely negative emotions in Christian writers, may serve as an example; his program of a new political order and moral restitution of society in the spirit of polytheism was promoted in various ways, also on coins.1 Since such accounts are scarce, those by Theodoret of Cyrus (died c. 458/466) are even more valuable to analyze, due to the fact that while describing the lives of Syrian monks (Historia religiosa) active at the turn of the 4th and 5th centuries, he often digressed on the subject of money iconography. References to the iconography of money discussed below are the only ones we find in Theodoret’s works. The account at the centre of our interest is found in The Life of Simeon. The text reads: Just as those who have obtained kingship over men alter periodically the images on their coins (κατά τινα χρόνου περίοδον τὰς τῶν νομισμάτων εἰκόνας), at one time striking representations of lions, at another of stars and angels (ποτὲ μὲν λεόντων ἐκτυποῦντες ἰνδάλματα, ποτὲ δὲ ἀστέρων καὶ ἀγγέλων), and at another try to make the gold piece more valuable by the strangeness of the type (ἄλλοτε τῷ ξένῳ χαρακτῆρι τιμιώτερον ἀποφαίνειν πειρώμενοι τὸν χρυσόν).2

How to assess Theodoret’s account? Should his remarks concerning coin iconography be regarded as credible? One should assume that they are, after all, he is telling from his times. His * 1 2

This article was written with financial support of the Poland’s National Science Centre (UMO- 2015/17/B/ HS3/00135). Ehling 2005/2006, 111 ff.; Szidat 1981, 22 ff.; Thormann 2005, 25 ff.; Thormann 2014, 179–186. Theod. hist. rel. 26,12, SCh 468, 188; translated by R. M. Price. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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account surely deserves a profound scientific analysis, starting with the iconographic elements of a coin mentioned by Syrian Cyrus. Let us begin with the ‚angels‘ mentioned by him. Those are of course images of the winged goddess Victoria (Nike), still shown on the reverses of coins of Christian emperors in late Antiquity.3 Theodoret refers to money coined in gold, apparently, yet also to small bronze coins (conventionally called follis, whereas in numismatic literature known as aes) that were ornamented on their revers with an image of one or sometimes even two Victoriae, often crowning an emperor presented in all his splendor on the coin’s obverse.4 Another symbol mentioned by Theodoret were stars. A star or stars often appeared on ancient coins, however the meaning of this symbol is not entirely clear. As far as this element is concerned, in reference to the Hellenic period,5 ancient Jewish coins6 or to the early Roman Empire,7 to the minting of the Constantine era and to the time of Julian the Apostate, it may still be defined as a solar symbol;8 the issue is far more debatable in the case of minting by the subsequent emperors (and certainly it was not a mint mark). The star still appears on coins from the middle-Byzantine period or later, yet it is difficult to link it to a solar symbol.9 The star appearing on the coin in Principate does not seem to raise any controversies. It is commonly identified as a symbol of eternity (aeternitas),10 but also of the sun,11 as it often appears with Sol depicted with his right hand raised in a gesture not of greeting as such (as some historians claim) but of healing (gods do not greet, they heal).12 Finally, the third element of coin iconography mentioned by Theodoret, namely the lion. To my best knowledge, few late Roman coins preserved today bear the image of a lion.13 For example, it can be seen on a solidus of Emperor Licinius (minted in Arelate in 313)14 or on a solidus Constantine the Great minted after 315 AD in Augusta Treverorum.15 The lion also appears on the bronze follis minted in 307 in Italian Ticinum, depicting Hercules fighting with this animal.16 It constitutes a common motif in Roman coinage in the Principate. The lion or, more precisely, the lion’s head, also appears on a solidus of Emperor Arcadius. On the reverse of this coin we see the personification of Constantinople with the head of a lion exposed from behind the throne, as if guarding the stability and security of the city.17 The lion can also be observed 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Strack 1937, 89. Aust 1894, 694–696. Cf. Instinsky 1942, 312 ff.; Schmidt-Dick 2002, 17–22. Mørkholm 1963, 45 ff (Plate XI). Cf. also Deppert – Lippitz 1984, 223; Kyrieleis 1986, 58. Meshorer 1982, 250–256; Jacobson 1986, 145 ff. Boyce 1965, 1 ff. (Plate I). Turcan 1983, 28. Grierson 1973, 73 ff., 189–191 and 1999, 94; Hendy 1999, 138 ff.; Boehringer 2003, Nr. 482 ff. Instinsky 1942, 312 ff.; Schmidt-Dick 2002, 17–22. Turcan 1983, 28. Strack 1937, 100–101. Demougeot 1986, 94–118. On the reverse side we see the lion walking to the right, above a sledgehammer (as reference to Hercules) and inscription: VIRTVS AVGVSTI, cf. RIC VII Arles 5. 15 On the reverse side see the personification of Securitas can be seen, holding a scepter in the left hand, whereas the right hand holds a Victoria standing on a globe, which it is giving to Sol. Below there are images of two lions with their heads pointing to each other. The whole imagery was decorated with the inscription SECVRITAS, cf. RIC VII, 2 (Trevir). 16 RIC VI Ticinum 87. 17 RIC IX Constantinople 46 and 49 c. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Nomismaton eikones

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on a bronze coin of Emperor Leo I (457–474 AD). The lion crouches left and turns its head back to the right to roar, with a star above and without a legend.18 Obviously, the lion is shown in reverse side of coins minted by Persian satraps,19 by Hellenic20 and Armenian kings21 or on silver coins minted in the Roman Republic or in the Principate: on denarii,22 Antoniniani23 and on provincial issues, just to mention the bronze coins minted in the 3rd century AD in Viminacium24, but also in other cities of Moesia Inferior and Thrace (Marcianopolis, Nikopolis, Pautalia, Philippopolis, Hadrianopolis, Serdica 25 and Anchialus). In this case we see the walking lion, turned mostly to the right (but also to the left, for example in Philippopolis).26 The same iconographic representation (the lion walking to the right) is also seen on provincial issues of Lydia (Philadelphia),27 Isauria (Anamourion)28 or even in Hierapolis, the city in Kyrrhestike (the northern part of Syria).29 The lion appears in minting of the Principate as an attribute of gods (or their companion), but also as a symbol of clemency and magnanimity. A walking lion on the coins is also a symbol of bravery and strength, and as such becomes a guardian of order as well as an apotropaic protection against all evil.30 18 Constantinople: RIC X 667 var, 668, 672–674, 677 (lion within wreath); Sear 21457. 19 For example see the tetradrachme of Hekatomnos, satrap of Caria (BC 395–377), cf. SNG Aulock (vol. 2) 2354. 20 See for example the drachme of Miletus (259–246 BC), cf. Deppert – Lippitz 167 (Plate 18, 515) or the didrachme of Velia in Lucania (305–290 BC), cf. SNG COP 1585. 21 For example see the drachme of King Antiochos I Theos (BC 69–34), cf. Gorny – Mosch Auktion 219 (2014), Nr. 262. 22 See the sestertius of Septimius Severus minted in Rome 194–195 AD: on reverse side Africa in an elephant’s skin headdress, standing right, holding grain ears in fold of robe, with a lion at her feet turned right, cf. Cohen 29; RIC IV 676 (Rome). See also the denarius of the same emperor issued 204 AD in Rome, on reverse side Dea Celestis holding a thunderbolt and scepter, seated in a frontal position, a lion galloping to the right over rushing waters (RIC IV, 266). 23 See for example the Antoniniani issued by Philip the Arab, his son (Philip II) and his wife (Otacilla Severa). These coins were issued to commemorate the 1000th anniversary of the founding of Rome in 248 AD. On this occasion selected animals from all over the country, identified with individual provinces of the Empire, were brought in to be slaughtered at the games sponsored by the emperor. See also denarius of Galienus, minted in Antioch 226–257 AD: a lion standing with its paws on a bull’s head, cf. RIC V/1, 184, 602 var. 24 See the bronze issues of the mint in Viminacium: on reverse side personification of province Moesia, standing in frontal position, head turned left, arms outstretched over a lion and a bull. Viminacium was the base camp of Legio VII Claudia, and hosted for some time the Legio IIII Flavia Felix. The bull and the lion depicted on the coins of this city were the symbols of the two legions, see: AMNG 71–73 (Gordianus III); AMNG 104 (Philip I the Arab); AMNG 110, 112 (Otacilla Severa); AMNG 124, 128, 132 (Trajanus Decius); SGI 4220 cf, v (Herennia Etruscilla); AMNG 141 (Herennius Etruscus); AMNG 150v (Hosti­ lianus); AMNG 163, 165, 168 (Trebonnianus Gallus); AMNG 172, 175, SGI 4361 (Volusianus); AMNG 180 (Aemilianus); AMNG 190 (Valerianus I). 25 Varbanov 57. 26 Varbanov 1305. 27 BMC 42; Mionnet IV 547. 28 Triassarion minted in Anamourion during the reign of Maximinus Trax (issued in 235 AD). On the reverse side there is a lion with its tail raised, turned to the right, a star above; see BMC Roman Empire 6. 29 Assarion of Philip I the Arab: on reverse side Atargatis, goddess from northern Syria, with a scepter en face, on a lion walking left, cf. SNG München 485. 30 Weckwerth 2010, 257 ff. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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It follows that the interpretation of Theodoret’s account of rulers applying the symbol of a lion on minted coins poses some difficulties, as the symbol seems ambivalent. Probably, the account must also refer to the coins minted in the early Empire, first of all to denarii, minted in silver (often of better quality than the silver money minted in the 5th century), that still played an essential economic role in late Antiquity. It was not due to its nominal value but rather the value of its precious metal. Therefore, it was of secondary importance whether denarii, let us say, from the Antonine dynasty (at least to the reign of Marcus Aurelius) were in a purse containing a pound of silver, or siliquae minted by the Emperors Arcadius and Theodosius II (the account analysed by Theodoret is dated to the period of the reign of the latter). Another issue raised in Theodoret’s account quoted above concerns the statement that rulers would increase the value of a piece of gold by marking it with a proper symbol. The statement does not seem to be relevant to gold coins mentioned by Theodoret. Apart from these, occasionally multipla were minted and brought onto the market. Usually they did not serve monetary means, but were commemorative coins of rewarding or memorial character. To the best of my knowledge, the multipla are not marked with any symbol (or symbols) that would define or, as Theodoret claims, increase their value. In this matter, the account of the bishop of Cyrus seems to confuse some facts, even more so due to the fact that at the end of antiquty the value of monetarised gold was not defined nominally, but depended on the weight and the quality of the metal from which the coin was minted. Judging by the cognitive value of the account described above, attention should be directed towards two further issues. First of all, it is not entirely clear why the author of the account, Theodoret, abandons the main plot of his narration for the sake of digression on coin iconography. It does not appear to be consistent with the main theme of his work, which is to describe the history of Syrian monks living at the turn of the 4th and 5th centuries. Another point worth noting is that in his account, Theodoret refers to a commonly recognised example. People were well acquainted with the iconographic ornament decorating the money they used on daily basis as well as when conducting larger financial transactions. Christian authors of late Antiquity often recall the example of money and mechanisms operating in the economy, yet they very rarely refer to coin iconography. The above points may be briefly summarized. First of all, the iconographic elements ornamenting money as described by Theodoret refer mainly to coins minted in his time, but coins minted by earlier rulers (by Hellenic kings and by Roman emperors) are also included. Secondly, iconographic elements described by the bishop of Cyrus do not appear on silver or on cooper coins in late antiquity. Regarding the account analyzed above, graphic elements of coin ornamentation mentioned by the author seem to confirm that on the monetary market in the later Roman Empire, gold and silver money minted in early Empire (or even earlier) still functioned. When it comes to coins produced at that time, iconographic elements described by Theodoret (stars, angel/Victoria, and the lion) were commonly exhibited. As the money minted in gold or silver was not valued nominally in the later Roman Empire, high quality monetarized precious metals (gold and silver) minted earlier, were also used. The value of gold or silver coins was determined by the weight and quality of precious metal from which they were produced, and not on the basis of their nominal value. Taking all this into consideration, as the discourse of authors of antiquity becomes more comprehensive, they most often recall accounts of ‘paying’ with silver or with gold, or even use the old money terminology to define the conducted

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Nomismaton eikones

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payments. After a careful analysis of the content and credibility of the passus evoked from Historia religiosa, the account appears to be too general to determine if the coins with which it is concerned were minted only in late antiquity. The remarks formulated by Theodoret may also refer to money minted in earlier times, as the iconographic elements he mentioned were often incorporated on coins then. Abbreviations AMNG = B. Pick, Die Antiken Münzen Nord-Griechenlands, Bd. I: Die antiken Münzen von Dacien und Moesien, Berlin 1898. Aulock = Sylloge Nummorum Graecorum. Sammlung von Aulock. Collection of Greek Coins From Asia Minor, West Milford 1987. BMC = B. V. Head, A Catalogue of the Greek Coins in the British Museum. The Coins of Ionia, London 1892. BMC Roman Empire = R. A. G. Carson, Coins of the Roman Empire in the British Museum, vol. 6, Severus Alexander to Balbinus and Pupienus, London 1962. Cohen = H. Cohen, La Description historique des monnaies frappées sous l’Empire Romain, Paris 1892. Mionnet = T. E. Mionnet, Description de medailles antiques grecques et romaines, Paris 1807–1813; Supplement, Paris 1819–1837. SGI = D. R. Sear, The Greek Coins and their Values, vol. 1, London 1982. Sear = D. R. Sear, Roman Coins and Their Values, vol. 4: The Tetrarchies and the Rise of the House of Constantine, London 2011. SNG COP = The Royal Collection of Coins and Medals, Danish National Museum, Copenhagen 1944. SNG München = Sylloge Nummorum Graecorum. München Staatlische Münzsammlung, Berlin 1968. Verbanov = I. Verbanov, Greek Imperial Coins and their Values (The Local Coinage of the Roman Em­ pire), Bourgas 2005.

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Die Legionsmünzen des Marcus Antonius . Ketzerische Gedanken zu einem vermeintlich erledigten Thema Reinhold Walburg Ich brauche Informationen. Eine Meinung bilde ich mir selbst. Charles Dickens

Jeder, der sich mit der Historie und damit auch dem Geld der letzten Jahrzehnte der römischen Republik beschäftigt, trifft neben den numismatischen Ikonen dieser Zeit, wie etwa diejenigen eines Caesar, Brutus oder Labienus, unausweichlich auch auf die sogenannten Legionsmünzen des Marcus Antonius. Die prägnante, da so unglaublich stupide Prägeserie zählt in grandioser Eintönigkeit bildgleich die Legionen und zwei Sondereinheiten des Antonius auf, geprägt in den Jahren c. 35 bis 31 v.Chr. und damit nicht weit vor Actium (Abb. 1–3). Mit Blick auf die historischen Ereignisse sowie auf den numismatischen Befund möchte ich die mit 33–31 v.Chr. weiter gefasste Datierung bei Newman1 auf c. 35–31 v.Chr. ausdehnen,2 d. h. gegen die gängige, jedoch ohne Quellengrundlage vorgenommenen Scharfdatierung, z. B. auf „autumn 32–spring 31 BC“ durch Sear3 opponieren. Aus numismatischer Sicht sei angemerkt, dass bei aller Uniformität des Grundtyps sich doch eine beträchtliche Variantenvielfalt feststellen lässt, die deutlich für einen längeren Prägezeitraum spricht. Hollstein dagegen setzt 32/31 v.Chr. als „allgemein akzeptiert“4; allein Newman 1990 wird als abweichend benannt.

Abb. 1: Denar des M. Antonius (Sear 1998, 363)

Abb. 2: Denar des M. Antonius (Sear 1998, 371)

Hier zwei typische Vertreter der Denarserie, deren Exemplare nach allgemeiner Ansicht für die Legionen I bis XXIII in Patrai und/oder Ephesus5 zur Kriegsfinanzierung in gigantischen 1 2

3 4 5

Newmann 1990, 51 Anm. 31. Siehe dazu auch Woytek 2007, 505. Warum Calicó 2003 die aurei der beiden Sondereinheiten zeitlich von denen des Legionsgoldes trennt, bleibt sein Geheimnis: Die Prägungen der praetoriani und speculatores (seine Katalognummern 80a–81) werden kommentarlos 32–31 v.Chr. datiert, die für die Legionen (seine Katalognummern 92–101) auf 31–30 v.Chr., also noch bis in die Zeit n a c h Actium. Sear 1998, 348. Hollstein 2016, 269 Anm. 186. Für beide Orte kann sich Hollstein 2016, 269 aufgrund der bei den Legionsmünzen festgestellten Stempel­ stellungen nicht so recht begeistern: Patrai sei „nicht unproblematisch“, Ephesus „sehr unwahrscheinlich“. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Mengen gemünzt worden sein sollen. Daneben sind einige wenige aurei aus dieser Emission bekannt. Die Stücke für die Legionen sind alle bildgleich (Abb. 1–2), die Ausgaben für die zwei Sondereinheiten der praetoriani und, wie hier, der speculatores (Abb. 3) weichen in der Rückseitengestaltung ab.

Abb. 3: Aureus des M. Antonius (Calicó 2003, 80a)

Ein schlüssiger Beweis für die Behauptung, dass „the issue is by far the largest of the Trium­ viral period“6 wurde m.W. bisher noch nicht erbracht. Und noch eine zweite, apodiktische, Be­ hauptung steht im Raum: Bei allen bekannt gewordenen Denaren mit Legionszahlen über 23 handelt es sich mit Sicherheit um moderne Falsa.7

Thors Hammer könnte nicht gründlicher arbeiten. Sehen wir, ob das Verdikt am Ende dieser Epistel noch Bestand hat. Die bis hierher wenigen Zeilen zur Sachlage beinhalten bereits die drei zu diskutierenden Grundfragen: 1) Waren es wirklich nur 23 Legionen, für die geprägt wurde? 2) Waren es wirklich gigantische Mengen von denarii? 3) Wie sind die aurei zu werten? Waren es wirklich nur 23 Legionen, für die geprägt wurde? Die Befürworter der nur-23-Legionen-Theorie scheinen auf unerschütterlichem Grund zu stehen, denn offensichtlich bestätigen die antiken Schriftquellen und das Münzmaterial sich gegenseitig. Neunzehn Legionen des Antonius sind für Actium belegt, weitere vier stehen in der Cyrenaika,8 macht in der Summe 23. Das passt deckungsgleich zu der Masse der heute bekannten Stücke, denn in der Tat sind Exemplare ab 24 sehr selten, gleichwohl existieren sie, und das nicht erst seit jüngster Zeit. Bisweilen ist es hilfreich, auch einmal über die Schulter und nicht immer nur nach vorne zu blicken. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts tritt Hubertus Goltzius9 mit einem Werk an 6 7 8 9

Crawford 1974, 671 Anm. 13. Woytek 2007, 503 Anm. 105, mit Hinweis auf das Zitierwerk Crawford 1974 zur Münzprägung der römischen Republik. Plut. Ant. 68; Oros. 6,19,15 (quattuor legiones, quas Antonius apud Cyrenas praesidii loco constituerat). Goltzius 1563. Die Philippica des F. Schlichtegroll 1804, 12–13 gegen Goltzius ist zumindest für den hier behandelten Kontext ungerechtfertigt. Was Goltzius an anderer Stelle ‚verbrochen‘ haben mag, muss © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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die Öffentlichkeit, das u. a. auch M. ANTONII NVMISMATA enthält. Und darin finden wir, zu unserem nicht geringen Erstaunen, diese beiden Abbildungen (Abb. 4–5), die Wiederholung macht einen einmaligen Irrtum unwahrscheinlich.

Abb. 4: Goltzius 1563 Taf. XXIII (Ausschnitt)

Abb. 5: Goltzius 1563 Taf. XLIX (Ausschnitt)

Goltzius hatte also Kenntnis von der Prägung CHORTIS SPECVLATORVM in Gold und in Silber, abgebildet ist der Denar und nicht der in der Zeichnung der signa leicht abweichende aureus. Dass er das Stück CHORTIVM PRAETORIARVM nur in Silber gibt, ist zu diesem Zeitpunkt (1563) korrekt; die erste Erwähnung eines goldenen Exemplars findet sich bei Pellerin.10 Dass Goltzius genau das zeichnet, was er sieht und nicht etwa für die standardisierten Stücke der Legionen eine Abbildung für alle nimmt, wie etwa später Morell und Orsini, wird sehr schnell bei einem Vergleich der unterschiedlich gestalteten aquila und signa deutlich. Der dingliche Beleg für die Existenz eines aureus CHORTIS SPECVLATORVM – unsere Abbildung Nr. 3 – kam erst 1975 als bisheriges Einzelstück ans Licht, gut 400 Jahre nach der Erwähnung durch Goltzius. Zu wenig, um die Zuverlässigkeit des Altvorderen zu akzeptieren? Gut, nächstes Beispiel: Ein aureus der legio XIII tauchte nach seiner Ersterwähnung bei Goltzius erst wieder 1952 als ‚unique‘ in der einschlägigen Fachliteratur auf.11 Mehr? Eine Goldmünze der 9. Legion gibt nach Goltzius erst wieder Riccio im Jahr 1843 als größte Rarität uns hier nicht interessieren, wie etwa die Erfindungen von Münztypen zur Illustration in seinen Fasti (dazu Hollstein 2013). Heute wird sein Verdienst wesentlich positiver gesehen, besonders die Tatsache, dass Goltzius die Originale der von ihm abgebildeten Stücke in vielen europäischen Sammlungen selbst gesehen hatte (Kroha 1997, 181). Für eine zusammenfassende Würdigung siehe Wrede 2013. 10 Pellerin 1765, 165 Nr. 5 und Taf. V. 11 Sydenham 1952, 196, 1232. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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unter Hinweis auf Mionnet (nicht verifizierbar), danach niemand mehr.12 Die von Goltzius angegebenen aurei der LEG XII ANTIQVAE, XVI und XXX sind bisher noch nicht aufgetaucht – aber bei unserem speculatores-Stück hat es ja auch gut 400 Jahre bis zu seiner Bestätigung gedauert. Und die 2. Legion hatte bis 1990, die 22. bis 2009 niemand auf seiner Goldliste. Will sagen: Das, was wir bei den Alten vom 16. bis 19. Jahrhundert finden, muss nicht zwangs­läufig in das Land der Phantasie zu verbannen sein. Wenden wir diese Erkenntnis auf die Beantwortung der Frage nach der tatsächlich auf den denarii aufgezählten Legionen an, dann kommen wir, contra Crawford und seiner Epigonen, sehr wohl über die dort akzeptierten 23 Legionen hinaus. Als jüngstes Beispiel ist die im Frühjahr 2017 erstmals aufgetauchte Silber­prägung13 mit LEG XXXIII anzuführen, deren einzige Ersterwähnung zurückgeht auf Span­heim im Jahr 1671.14 Das ist jetzt die Spitze des Eisbergs, in den etwas tieferen Regionen ging es jahrhundertelang immer um die Frage, ist LEG XXX als bis dahin höchste bekannte Nummer echt, oder nicht.

Abb. 6: LEG XXX auf dem Frontispiz des Paciaudus 1757

Das erste Exemplar brachte, wieder einmal, Goltzius15 zur Kenntnis, der nächste war Occo16; der zwischen beiden liegende Orsini17 kam nur bis zu der in neuerer Zeit ebenfalls verdammten LEG XXIV.18 Und unser aller numismatischer Stammvater, Abbé Joseph Hilarius Eckhel, hatte mit den Nummern 24 und 30 nicht die geringsten Probleme, bei 25–29 war er unsicher19; das Stück der LEG XXX war für ihn ein numus insignis, et fidei indubitatae.20 Ebenfalls zustim-

12 Riccio 21843, 23. 13 Roma Numismatic Ltd, Auction XIII, 2027, Lot 696. Der Zuschlag bei GBP 4.400 bei geschätzten GBP 1.000 scheint darauf hinzudeuten, dass es nach diesem Bietergefecht noch andere Verdikt-Bezweifler geben muss. Weitere kämpften dann um zwei angeblich „re-engraved and altered“ denarii der leg. 25 und 30, so dass der Sieger schlussendlich das 17-fache des Schätzpreises zu bezahlen hatte (Numismatica Ars Classica Auction 72, 2013, Lot 1317). 14 Spanheim 21671, 583, in der Ausgabe von 1717, 231–232 u. 633. 15 Goltzius 1563, Taf. XLIX–LIII. 16 Occo 1601, 34. 17 Orsini 1577, 24–27. 18 Laut Morell 1734, 28 hatte Patinus (Charles Patin, 1633–1693) 1663 als erster einen Denar der LEG XXIV veröffentlicht, was nicht zutreffend ist. 19 Eckhel 1796, 50–55. 20 Ebd. 52. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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mend hatte sich vierzig Jahre zuvor bereits Paciaudus21 geäußert, darin unterstützt ein Jahr später in einer Besprechung seines Werkes.22 Nehmen wir – wie es in unserer Zunft so üblich ist – Eckhels Doctrina als Demarkationslinie zwischen antiquarischer und wissenschaftlicher Numismatik, dann stellen wir fest, dass die jüngeren zusammenfassenden Studien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zur Münzkunde der römischen Republik von Cohen 1857 und 1880 über Mommsen23 und Babelon 1885 bis hin zu der Bestandspublikation der Stücke des British Museum durch Grueber 1910 und den Nachträgen und Berichtigungen zu Babelon durch Bahrfeldt24 in den LEG XXX-Stücken keine Bedrohung sahen. Und als 1933 in Frankfurt am Main durch die Auktionshäuser Cahn und Hess die Gold- und Silbermünzen der römischen Republik der Sammlung Haeberlin versteigert wurden, hatte an der Echtheit der beiden LEG XXV und LEG XXX 25 Stücke keines der beiden beteiligten Auktionshäuser wie auch der beratende Bahrfeldt den geringsten Zweifel an der Echtheit der Stücke; wie natürlich auch Haeberlin selbst an ihnen keinen Makel gesehen hatte. Interessanterweise schlingert die Argumentation in der neueren Literatur – bis zum end­ gültigen Verdikt 2007 – überwiegend elegant um die Festlegung auf ein hartes und beweis­bares ‚echt‘ oder ‚falsch‘ herum, Begriffe wie „very questionable“ und „very dubious“ charakterisieren die Unsicherheit, fortgetragen als „extremely suspect“ bis in die jüngere Ver­gangen­heit26; ein deutsches Pendant wäre etwa ‚ein entschiedenes vielleicht‘. Dazwischen, wie ein Licht in dunkler Nacht, die Akzeptanz ohne wenn und aber von „insgesamt 39 verschiedenen Truppen­ formationen“ auf den Legionsdenaren.27 Die zwei jenseits der 23 im Berliner Münzkabinett verwahrten Stücke LEG XXV und LEG XXX scheinen anhand der guten Fotos des interaktiven Münzkatalogs zunächst unverdächtig, sind gleichwohl der Einordnung Craw­fords folgend unter die modernen Fälschungen eingereiht; hier kommen zumindest Zweifel auf.28 Gekoppelt an die 30er-Frage war die nach der Authentizität der Stücke mit den Nummern 24–29; auch hier herrschte keine Einigkeit. Mit der Spekulation allein über das Material ist nichts zu gewinnen. Wir sollten jetzt schauen, was den Schriftquellen durch die Militärhistoriker an Hilfreichem zu entlocken ist. Das ist eigentlich mit Kromayer 1898, 1899 und 1933 sowie Tarn 1932 recht zügig zu erledigen. Unstrittig dürfte wohl sein, dass die 19 + 4 Legionen nicht alles gewesen sein können, was Antonius zu Gebote stand, denn ansonsten wären seine Herrschaftsgebiete Ägypten, Syrien und Makedonien ohne jeglichen militärischen Schutz gewesen. Ob wir jetzt auf die durch die Münzen belegten 30 auffüllen und damit noch sieben weitere Legionen erschließen, oder ob wir gar bis 35 gehen, wie es der neuerlich aufgetauchte Denar nahelegt, das ist in unserem Zusammenhang nicht weiter wichtig. Von Bedeutung ist lediglich, dass wir den Münzen jenseits der 23 nicht mit der heute zementierten rigorosen Ablehnung begegnen müssen. 21 22 23 24 25

Paciaudus 1757, 6–7 mit Anm. 14. Nova acta 1758, 393. 1883, 75 Anm. 1. Bahrfeldt 1919, 91. Cahn – Heß 1933, Nrn. 3122 u. 3123 u. Taf. 25. Beide Stücke sind mit der in dieser Auktion höchsten Seltenheitsstufe RRRR versehen und für sie wurde kein Schätzpreis festgelegt. 26 Sydenham 1952, 196; Sear 1998, 235–236. 27 Kent et al. 1973, 92 Nr. 112. 28 Objektnr. 18215275 u. 18215279, erworben bei Otto Helbing Nachfolger 1934 bzw. Rollin – Feuardent 1883. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Waren es wirklich gigantische Mengen von denarii? Beschäftigen wir uns etwa näher mit der eingangs bereits zitierten, scheinbar in Stein ge­ meißelten Wahrheit: Taken as a whole, the issue is by far the largest of the Triumviral period; (...) 864 obverse dies would produce about 25,920,000 denarii, enough for only one-third of a year’s pay for 23 legions at postCaesarian rates.29

Aha. Fangen wir mit den 864 Vorderseitenstempeln an: Es braucht einen Moment, bis man weiß, wie diese Zahl zustande kommt.30 Dazu sind die angeblich für die einzelnen Truppenteile ermittelten Stempelzahlen zu addieren – dann kommt man auf 288 – und diese Endsumme dann, aus welchen Gründen auch immer, mit drei zu multiplizieren. Dann wird, warum auch immer, mit 30.000 produzierten Münzen je Stempel multipliziert – et voilà, da sind unsere 25.920.000 Legionsdenare. Es tut mir furchtbar leid – aber wir sind noch nicht fertig: Die für 23 Legionen benötigte Jahresmenge ist, nach Crawford, mit dieser Summe erst zu einem Drittel erreicht, also 25.920.000 × 3 = 77.760.000, was, bei einem Jahressold für Legionäre von 150 denarii31 auf eine Mannstärke von über 22.000 hinauslaufen würde – jeder der beiden Triumvirn wäre bei dieser Zahl kampftaktisch in Verzückung geraten – und versorgungstechnisch verzweifelt (zum Nachrechnen: 77.760.000 denarii je Jahr für insgesamt 23 Legionen ./. 23 = 3.380.870 je Jahr je Legion ./. 150 Jahressold je Jahr je Legionär = 22.539 Mann je Legion).32 Jetzt dürfen wir aufhören, wissend, dass die Sollstärke der Legion zu dieser Zeit bei 6.000 lag, die faktisch weder auf Octavius’ noch auf Antonius’ Seite erreicht worden sein dürfte; die Schätzungen liegen bei ¾, d. h. 3.750, gehen aber herab bis auf die Hälfte.33 Im Fall des Brutus (s. u.) liegt die Zahl bei 4.210. Und irgendwie möchte diese krude Rechnung mit einer ermittelten Gesamtmannstärke von 418.000 in 19 Legionen (22.000 × 19) auch nicht zu den Angaben bei Plutarch passen (s. u.). Zum Vergleich: Für die Legionen des Caesar wird eine Sollstärke von 5.000 Mann angenommen, die herabgehen kann bis auf 3.600 bis 3.000.34 Die nächste Stufe der Imagination erklimmt ein Autor, der ohne jedwede Begründung von „1 million aurei and 35 million denarii“ weiß, und die Fragen, deren Beantwortung uns hier umtreibt stellen sich ihm erst gar nicht:

29 Crawford 1974, 671 Anm. 13. Nach Woytek 2007, 518 eine „schier unfaßbare von Antonius produzierte Masse dieser Münzen“, und für Dillon 2007, 35 „one of the largest issues of coinage in Roman history.“ 30 Zur gesamten Vorgehensweise der Emissionsermittlung, bei der eine Vermutung auf der anderen aufbaut siehe Crawford 1974, 640–641, 693. 31 Suet. Iul. 26: Verdoppelung des bestehenden Soldsatzes auf 150 denarii, den Denar gerechnet zu 10 asses (Plin. nat. hist. 38,45); eine Erhöhung auf 225 denarii erfolgt unter Augustus (Lammert 1929, 2536– 2537). Wir können mit dieser vollen Summe rechnen, da die Gesamtkosten der Dienstherr zu tragen hatte, denn was den Legionären für Verpflegung, Kleidung und Waffen vom Sold abgezogen wurde, musste er zur Erhaltung der Einsatzfähigkeit der Truppen das Einbehaltene wieder aufwenden (vgl. Liebenam 1909, 1672). 32 Crawfords Zahlen stürzten schon Dillon 2007, 38 Anm. 25 in Verwirrung, der fälschlich mit 225 denarii Jahressold rechnend (s. u.) auf die ebenfalls noch absurde Zahl von 15.000 Mann je Legion kam Zur gesamten Vorgehensweise der Emissionsermittlung, bei der eine Vermutung auf der anderen aufbaut siehe Crawford 1974, 640–641, 693. 33 Kromayer 1898, 27–28; Tarn 1932: 78–79; Liebenam 1909, 1600. 34 Marquardt 1876, 424. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Each of twenty-three legions was individually honored on aurei and denarii (...).35

Dazu müssen keine weiteren Zeilen verschwendet werden. Doch wie steht es nun wirklich um die angeblich riesigen Prägemengen? Lassen wir uns hier vielleicht von der eintönigen langen Reihe bildgleicher Prägungen zu der Annahme dahinterliegender Geld- und Menschenmassen verführen – wie es von Antonius ja wohl als strategische Maßnahme beabsichtigt war? Machen wir eine sehr grobe überschlägige Rechnung auf: Nehmen wir als Maximalgröße die 33 durch die Münzen belegten Legionen mit einer Stärke von je etwa 5.200 Mann36 bei einem Jahressold von je 150 Denaren an, dann kommen wir auf eine Endsumme von 25,7 Mio. denarii. Die Größe x für evtl. höhere Mannstärken und die Zahlungen an die Offizieren sollte mit weiteren ca. 5 Mio. ausreichend bemessen sein, so dass wir auf letztlich 30 Mio. denarii / Jahr kämen, d. h. insgesamt 90 Mio. für die Jahre 33–31 v.Chr. Hört sich gewaltig an, relativiert sich aber bei der Betrachtung der ‚Einkünfte‘ des Antonius auf die Größe von peanuts. Die Provinz Asia ist ihm für 200.000 τάλαντα bzw. 1,2 Mrd. denarii gut;37 später dann steuert Kleopatra noch 20.000 τάλαντα, umgerechnet 120 Mio denarii, aus ihrer Haushaltskasse bei.38 Damit stehen ihm 1,32 Mrd. zur Verfügung – die sich wie zusammensetzen? Wissen wir nicht. Aus Gründen der Praktikabilität müssen wir jedoch annehmen, dass der größte Teil aus sofort wieder verwendbarem Bargeld bestand, so wie es Antonius z. B. nach Philippi ja auch von Ephesus zwar penetrant süß verpackt aber nichts desto Trotz knallhart eingefordert hatte.39 Damit muss dann den Legionsdenaren nicht mehr unbedingt die allseits angenommene prominente Rolle in der Kriegsfinanzierung des Antonius zufallen. Natürlich werden sie in größeren Stückzahlen aus dem der Provinz Asia abgepressten Edelmetall geprägt worden sein,40 aber wohl eher zur Motivation der eigenen Männer und Einschüchterung des Gegners als zur Füllung der Kriegskasse in riesigen Mengen.41Und müssen wir nicht annehmen, dass die Prägung einer angeblich so riesige und bildlich außergewöhnlichen Münzserie, durchgeführt im Feldlager des Antonius in Patrai42 nicht zumindest eine marginale Erwähnung in den zu dem Themenkreis ‚Actium‘ doch sehr detailreichen Schriftquellen gefunden hätte? Leider wissen wir nur, dass viel gemünztes Geld (νόμισμα), Gold, Silber und

35 Harl 1996, 60. Dillon 2007, 38 Anm. 25 weist zu Recht auf Harls falsche Referenzen in dessen Anm. 64 (S. 402) hin. 36 Nach Plut. Ant. 61, beläuft sich die Kampfstärke des Antonius bei Actium auf 100.000 Mann, verteilt auf 19 Legionen. Für die Stärke der übrigen Legionen sagt uns das natürlich überhaupt nichts. 37 Plut. Ant. 24. 38 Plut. Ant. 56. Allein damit hätte Antonius sein ganzes Heer die gesamten drei Jahre lang bezahlen können. 39 App. civ. 5,1,3–5; Plut. Ant. 24. Und App. civ. 5,1,6 gibt uns eine ungefähre Größenordnung, wird doch s e h r viel Geld gebraucht für die Zahlung von donativa an 28 Legionen, Appian denkt sogar an 43 Legionen z. Zt. des Vertrags von Mutina. 40 App. civ. 5,1,6 beschreibt sehr anschaulich den Jammergesang der ‚Griechen‘ vor Antonius bei der Erinnerung an die Zeit, als Brutus zur Kollekte bei ihnen vorstellig wurde: Erst wurde alles Geld abgegeben, dann kamen Tafelgeschirr und Schmuck dran, aus denen in ihrem Beisein [von den unsensiblen Roh­lingen] Münzen geprägt wurden. 41 Kent et al. 1973, 92 Nr. 112 sehen den einzigen Sinn dieser Prägungen ebenfalls als „Demonstration militärischer Stärke“; das Wort ‚Kriegsfinanzierung‘ fällt hier nicht. 42 Vgl. Woytek 2007, 507. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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andere Schätze auf den Transportschiffen des noch während der Schlacht nach Ägypten entschwindenden Anführers waren, über die Art des Geldes erfahren wir nichts.43 Dank der Auskunftsfreudigkeit der Quellen in einem ähnlich gelagerten Fall, der von Actium aus gesehen zeitlich nur zehn Jahre zurückliegt, können wir die soeben ermittelten Zahlen einordnen. Sowohl bei Philippi als auch jetzt bei Actium stehen sich zwei riesige Gefechtsverbände gegenüber, deren Angehörige, vom gemeinen Fußsoldaten bis hin zum höchsten Offizier, bezahlt werden müssen. Cash oder Gutschrift? Im Fall der Caesarmörder haben Appian und Plutarch das Procedere wie folgt überliefert: Nahe Kardia, am Golf von Saros, wird Mitte 42 v.Chr. eine gewaltige Heerschau von 19 Legionen mit insgesamt 80.000 Mann (rein rechnerisch 4.210 je Legion) und starken Hilfsverbänden abgehalten. Hier fließt außerhalb des normalen Jahressolds in Höhe von 12 Mio. denarii allein für die 80.000 Fußsoldaten zusätzliches Geld in Strömen: Der gemeine Legionär erhält 1.500 denarii – nur für die 80.000 sind das allein schon 120 Mio. Stück. Der Centurio (60 je Legion) erhält das Fünffache (= 19 × 60 × 7.500 = 8,55 Mio.), der Kriegstribun (6 je Legion)44 das Zehnfache (19 × 6 × 15.000 = 1,71 Mio.); das Geld wird auf der Stelle ausgezahlt und die Tapfersten erhalten noch einen (in der Höhe ungenannten) Bonus.45 Und es geht weiter. Anlässlich einer Opferzeremonie bekommt jeder noch einmal 50 denarii, das macht, wiederum nur auf die 80.000 gerechnet, vier Millionen Stücke.46 Und Appian verlängert die Liste der Zahlungsempfänger noch einmal empfindlich:47 13.000 Reiter, 4.000 berittene Bogenschützen. Da wir deren Marktwert nicht kennen, ordnen wir sie rechnungstechnisch bescheiden unter die Legionäre ein, d.h. 17.000 × 1.500 = 25,5 Mio. denarii. Die minimale Endsumme beläuft sich damit auf (in Mio. denarii): 120 für 80.000 Legionäre 8,55 für 1.140 Centurionen 1,71 für 114 Kriegstribune 25,5 für 17.000 Reiter

Damit kommen wir auf 155,76 Millionen denarii + eine Größe x für die vagen Angaben. Hinzu treten die bereits erwähnten vier Millionen (auch hier mit x-Faktor) und 1.000 bzw. 2.000 denarii je Mann – die Quellen sind sich da nicht einig48 –, die Brutus während der Schlacht auszahlen ließ; die lassen wir jetzt einfach unter den Tisch fallen. Nehmen wir nur die sicheren Zahlen, können wir mit 160 Mio. denarii weiterrechnen. Für sich genommen ist das eine gewaltige Menge, geprägt aus 624 t Metall, verglichen mit den ‚Einnahmen‘ der Republikaner in Höhe von umgerechnet mindestens 1,12 Mrd. denarii fällt sie aber kaum ins Gewicht.49 Und die Truppen schwimmen im Geld. Da stehen die Beglückten mit ihren Schätzen: Bezogen nur auf das ‚Grunddonativum‘ trägt der Legionär etwas ratlos 5,85 kg Metall mit sich herum, der Centurio keucht unter 29,25 kg und der Tribun verzweifelt an seinen 58,5 kg; selbst bei 43 Plut. Ant. 67. 44 Die angegeben Zahlen der centuriones und tribuni bezieht sich auf volle Legionen zu 6.000 Mann, sind also in unserem Fall Maximalsummen, die unterschritten worden sein dürften. 45 App. civ. 4,12,100–101. 46 Plut. Brutus 39. 47 App. civ. 4,11,88. 48 Plut. Brutus 44 hat 2.000, App. civ. 4,16,118 gibt 1.000 und ‚den Offizieren im Verhältnis‘ und Cass. Dio 47,47,2 spricht nur vage von ‚Geldgeschenk‘. 49 App. civ. 4,8,64; 4,10,75; 5,1,5; Plut. Brutus 25 u. 32. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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zwangsweiser Deponierung der Hälfte des donativums apud signa50 ist der Rest noch belastend genug. Zwei Szenarien sind jetzt denkbar: Irgendjemand befreit die Armen von ihrer Last, oder wir vermuten für die beiden höheren Summen/Gewichte eine äquivalente Zahlung in Gold. Dann sähe die physische Belastung für die Offiziersränge schon wesentlich kommoder aus – nur noch 1,25 kg bzw. 2,5 kg, d.h. lediglich knapp 1∕20 des ursprünglichen Gewichts; anders ausgedrückt 150 statt 3.750 Münzen bzw. 300 statt 7.500. Zur Bezahlung aller Offizieren ausschließlich in Gold wären dann 410.400 aurei × 8,19 g = 3,36 t des Edelmetalls nötig gewesen. Denkbar für die höheren Chargen wäre auch eine kombinierte Auszahlung in bildgleichem Gold und Silber. Und der gemeine Legionär hätte vielleicht einen Teil seines Silbers bei professionellen Geldwechslern gegen eine Gebühr in Gold umtauschen können. Ein Teil des Geldes floss offensichtlich in die Taschen der omnipräsenten Geschäftsleute, regte sich doch Brutus darüber auf, dass die Tribunen goldene Spangen trugen.51 Und die Krieger der Triumvirn hätte eigentlich blind werden müssen, so sehr schimmerten Gold und Silber auf Rüstungen und Waffen des republikanischen Heeres. Zwar knurrte Brutus, dachte aber noch um eine Ecke weiter: Wer Reichtum an und mit sich trägt, kämpft in der Verteidigung seines eigenen Besitzes noch besser52 – als etwa nur um sein Leben oder eines Ideals willen. Ein weiterer Teil wird bei Wein, Weib und Gesang durchgebracht worden sein, so dass sich wahrscheinlich nur noch überschaubare Bargeldmengen bei einem Teil der Soldaten gefunden haben dürften. Aristoteles als Verfechter der Theorie des ‚fließenden Geldes‘ hätte seine helle Freude gehabt. Wie Brutus, so hätte auch Antonius die jährlichen Soldzahlungen und beachtliche donativa ohne Probleme an seine Krieger auszahlen können; wie und in welcher Höhe er es tat – darüber schweigen die Quellen. Bei seiner bekannten Knauserigkeit – seine Schmerzgrenze für Sonderzahlungen lag anscheinend bei 100 denarii resp. 400 sestertii je Legionär53 – hatten seine Männer nicht viel zu erwarten. Die lachten Antonius wegen seiner ‚Großzügigkeit‘ aus, doch wer besonders laut maulte, dem wurde sehr schnell die Gelegenheit gegeben, mit Pluton lange Gespräche über die Unzulänglichkeiten des Führungspersonals führen zu können. Der Chef forderte Gehorsam und wollte kein Geschrei nach Geld hören. Da außerdem das klassische donativum normalerweise erst nach dem siegreichen Waffengang ausgezahlt wurde, konnte Antonius – wie bereits oben angemerkt – ein nettes Sümmchen in Richtung Ägypten in Sicherheit bringen, das er zur Auszahlung an die 19 bei Actium zurückgelassenen Legionen nicht mehr benötigte.54 Um die konnte sich Octavius kümmern, dem sie sich ja schließlich auch ergeben hatten, nachdem sie es endlich glauben konnten, dass ihr Anführer andere Pläne hatte – in denen sie nicht mehr vorkamen. Wie sind die aurei zu werten? In der Beantwortung der Frage nach der Existenz von Goldmünzen für alle Truppenteile des Antoniusheeres bestand schon unter den Altvorderen keine Einigkeit: Wir kennen nur von sehr wenigen Legionen auf ihren Namen geprägte Goldstücke. Daß für alle Legionen Gold geprägt worden sei, wie A. v. Sallet ‚Die Münzen Caesars mit seinem Bildnis‘ S. 11 50 51 52 53 54

Liebenam 1909, 1674. Plin. nat. hist. 33,39. Plut. Brutus 38. App. civ. 3,7,43 u. 44; Cass. Dio 45,13,1–3 u. 49,31,4. Zu den Absichten des Antonius bei Actium siehe Laspe 2007, gestützt auf Kromayer 1898, 1899 u.1933. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Reinhold Walburg Anm. 30 annehmen möchte, und daß, wo die Stücke fehlen, wir sie nur noch nicht kennen, will mir doch zweifelhaft erscheinen, auch J. Friedlaender, ZfN Bd. V (1878) S. 9 ist nicht jener Meinung. Allerdings fehlt zur Zeit noch jede Erklärung dafür, weshalb wir von einigen Legionen Goldstücke besitzen und von anderen wieder nicht.55

Für v. Sallet spricht, dass sich allmählich die Lücken schließen. Für eine beabsichtigte Auswahl bestimmter Legionen bei der Goldprägung – deren Beweggründe wir nicht kennen – könnte die nicht gerade atemberaubende Zuwachsgeschwindigkeit an Belegstücken ein Indiz sein. Gold kennen wir von 11 Truppenteilen in Einzelexemplaren bzw. in verschwindend geringen Stückzahlen, drei weitere kommen bisher nur in der älteren Literatur vor; das wurde weiter oben schon näher ausgeführt. Das ist unsere Interpretationsgrundlage; ein Stückkorpus des Goldes und eine Stempeluntersuchung im Verbund mit dem Silber wären jetzt hochwillkommen. Bereits vorliegende Einzelerkenntnisse lassen noch keine endgültigen Schlüsse zu, weisen jedoch die Richtung. So mag man aus der Beobachtung, dass drei aurei der Praetorianer56 mit jeweils zwei Vorder- und Rückseitenstempeln geprägt wurden auf eine vielleicht doch nicht ganz unbedeutende Goldprägung schließen. Schon aufschlussreicher ist die Feststellung, dass Gold und Silber der speculatores mit unterschiedlichen Stempeln angefertigt wurden.57 Das kann vorsichtig ebenfalls als Indiz für eine doch umfangreichere Goldprägung genommen werden, die separat von der Silberprägung ablief. Anders kennen wir es von den nur zehn Jahre älteren berühmten EID MAR-Prägungen des Brutus, bei denen Stempelkopplungen zwischen Gold und bildgleichem Silber feststellbar sind, d. h. hier wurden in beiden Metallen mit denselben Stempeln geprägt. Vergleichbar der heutigen Seltenheit der Legionsaurei kennen wir die geschichtsträchtige Brutusprägung in Gold heute ebenfalls nur noch in zwei Exemplaren. Dazu als Randnotiz: Auch diesen Münztyp kannte Goltzius 1563 in Gold (Abb. 7)58; physisch tauchten die beiden aurei aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf (Abb. 8); der erste der beiden wurde – man möchte fast sagen ‚selbstverständlich‘ – von Crawford59 o h n e A u t o p s i e d e s S t ü c k e s für falsch erklärt. Knapp 30 Jahre später hatte Crawford, jetzt mit dem Original in Händen, zu diesem „keine Meinung“.60 Als drittes und letztes zeitgenössisches Beispiel für bildgleiches Gold und Silber soll uns der in Kleinasien herumirrlichternde Labienus dienen. Parteigänger der Caesarmörder, ist Labienus auf Krawall gegen die Caesarianer gebürstet – was in Bild und Schrift seiner Münzen unmissverständlich zum Ausdruck kommt: Der geführte Titel ‚Parthicus‘ zusammen mit dem parthi55 Bahrfeldt 1923, 99. 56 Bahrfeldt 1923, Taf. IX, 19–21. 57 Es lassen sich keine Stempelgleichheiten zwischen den sieben bei Banti – Simonetti 1972, II.39 abgebildeten Silbermünzen und unserem goldenen Exemplar feststellen. Dasselbe gilt für die unter www. coinarchives.com aufrufbaren im Handel befindlichen Denare dieses Typs. 58 Bei der bildlichen Wiedergabe schwächelt Goltzius in den Details; völlig daneben ist die Ligatur von MA auf der Rückseite. 59 Crawford 1974, 552 Anm. 107. 60 NAC 27, 2004, 282: „(...) During research carried out on this specimen, we found a cast in the drawers of the original coins of the BM with a label reading: ‚Shown by O. Ravel, 27.5.32‘. We then met with professor Crawford and personally submitted the coin to him; after he finally had the chance to examine the coin we asked for his opinion, he replied that he had „no view“, and suggested we try to figure out who wrote the label and why. Could it only be a personal opinion or based on facts? (...) In conclusion we believe that, in spite of the great respect we have for professor Crawford, there are no objective elements to consider this coin a forgery.“ © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Die Legionsmünzen des Marcus Antonius

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sche Schlachtross – das ist Provokation pur (Abb. 9). Und wie in den beiden vorhergehenden Fällen, so ist auch hier die Belegdichte beim Gold dünn; anscheinend sind nur fünf Exemplare bekannt.61 Der bisherige Stempelbefund ergibt – wie bei den Praetorianeraurei – je zwei Vorderund Rückseitenstempel bei drei Exemplaren62 und – wie bei den aurei der speculatores – keine Stempelverbindung zum Silber. Drei untereinander zeitnahe Fälle, drei ähnliche Befunde.

Abb. 7: Goltzius 1563 Taf. XXI (Ausschnitt)

Abb. 8: Aureus des Brutus (Sear 1998, 215)

Abb. 9: Denar des Labienus (Sear 1998, 341)

Fassen wir zusammen. Die heutige Seltenheit bzw. das Fehlen der Legionsaurei ist erklärbar: Das prominente Gold des Verlierers verschwindet durch Einziehung aus der öffentlichen Wahrnehmung und das so gewonnene Edelmetall dient gleichzeitig als Rohstoffquelle für die Prägungen des Siegers; es dürfte wesentlich konsequenter als das entsprechende Silber eingezogen worden sein, das nach Ausweis späterer Münzfunde noch für längere Zeit in Umlauf blieb. Dasselbe gilt für das Brutus- und das Labienusgold, nur musste in diesen beiden Fällen auch das Silber aufgrund der unerhörten und provokanten Bildsprach zielstrebiger als die vergleichsweise harmlosen Legionsdenare verfolgt und aus dem Umlauf eliminiert werden. Das Laufenlassen der Legionsdenarii war sowohl fiskalisch als auch psychologisch geschickt. Hier war die Bargeldversorgung gesichert, dort hielt der Anblick der letzten Reste einer im Grund cleveren aber letztlich nutzlosen Propagandakampagne stets die Erinnerung an den ruhmlosen Untergang des Antonius wach. Für die Legionsaurei steht zu erwarten, dass im Laufe der Zeit noch das eine oder andere Exemplar auftauchen, die zu vermutende ehemalige lückenlose Reihe aber wohl nicht erreicht wird. Abschließend sei ein kurzer Blick auf die Besonderheiten bei den aurei der beiden Spezial­ einheiten im Heer des Antonius erlaubt. Rein äußerlich fällt zunächst auf, dass unsere bisher einmalige Goldmünze CHORTIS SPECVLATORVM wie auch diejenigen der CHORTIVM

61 NAC 70 (2013), 192. Bahrfeldt 1923, Nr. 69 hat drei Stücke. 62 Bahrfeldt 1923, 71. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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PRAETORIARVM sorgfältiger geprägt sind als die aurei der übrigen genannten Legionen.63 Bei den Stücken der beiden Eliteeinheiten sitzen Vorder- und Rückseitenbilder vollflächig auf großen Schrötlingen, bei den Stücken der Legionen kann dagegen hier und da aufgrund eines zu knappen Schrötlings ein kleiner Bildteil ausfallen. Hinsichtlich der Bildsprache sind die Prägungen für die speculatores nicht gerade der Aufreger. Mit der Vorderseitengestaltung brauchen wir uns nicht aufzuhalten – alle Legionsaurei und -denarii haben dieselbe und uns bei der gegenwärtigen Thematik nicht viel zu sagen. Näher anschauen müssen wir die Rückseiten. Statt der Standarddarstellung aller anderen Legionsmünzen – aquila zwischen zwei signa – erscheinen bei den speculatores lediglich drei signa. Dass diese für die eine Kohorte bildenden drei Manipeln stehen, dürfte unstrittig sein.64 Die zahlenmäßige Stärke der speculatores des Antonius war im Vergleich zu ihrer Anzahl im späteren kaiserzeitlichen Heer enorm. Nach der marianischen Heeresreform hatte die Kohorte eine Sollstärke von 600 Mann. Selbst wenn diese nicht erreicht wurde, lag sie doch noch um ein Vielfaches höher als die zehn Kundschafter, die in der Kaiserzeit jeder Legion (= 10 Kohorten) zugeordnet waren. Rein rechnerisch ergab dies nur einen Kundschafter je Kohorte. Alle drei signa sind in der gleichen Weise dekoriert (von unten nach oben): Zwei kurze Querhölzer – prora – aufrecht stehender Kranz – phalerae – Querholz65 – aufrecht stehender Kranz. Die typologisch gleichen Silberstücke haben zusätzlich zu der runden über dieser noch eine ovale Scheibe und die zwei kurzen Querhölzer im unteren Teil fehlen bisweilen.66 Zwei Besonderheiten unterscheiden diese signa von denen aller übrigen Legionsmünzen, einschließlich derer der cohortes praetoriae. Ungewöhnlich und nur auf den Stücken der Kundschafterkohorte anzutreffen sind die Kränze an den signa. Unter den zahlreichen bei Domaszewski aufgeführten Feldzeichen findet sich nur ein einziger weiterer Beleg für einen aufrecht stehenden Kranz.67 Als Bildumrahmung ist der geschlossene Kranz an den Feldzeichen dagegen häufiger anzutreffen. Die Kränze auf den Münzen unterscheiden sich von denen der anderen bildlichen Zeugnisse dadurch, dass die Blätter nicht dem Rund des Kranzes folgen sondern von diesem abstehen wie bei nur lose zusammengebundenen Zweigen. Diese Art von Kränzen scheint eine nur auf die Kundschafterkohorte beschränkte Besonderheit darzustellen. Sie als Auszeichnungen für ihre besondere und die Kriegführung wichtige Tätigkeit anzusehen, dürfte nicht verfehlt sein. Etwas mutiger in der Interpretation könnte man das struppige Gebilde botanisch als corona laurea identifizieren und darin den auch von den Soldaten im Triumph getragenen Lorbeer sehen.68 Und ganz weit aus dem Fenster gelehnt stehen die beiden Kränze an jedem der drei signa für die Triumphe des Antonius 40 v.Chr. in Rom und 34 v.Chr. in Alexandria. Doch das ist pure Spekulation – obwohl: Zeitlich käme der zweite Triumph genau passend an den Anfang der vermuteten Prägezeit des Stückes zu stehen.

63 Vgl. die Abb. bei Bahrfeldt 1923, Taf. IX, 19–24; BMCRR 1910, Pl. CXVI, 1, 4, 5; Sydenham 1952, Pl. 29, 1212 u. Göbl 1978, Taf. 150, 3207. 64 Dazu ausführlich Domaszewski 1885, 20–24. 65 Nach Domaszewski 1885, 76, handelt es sich bei den Gebilden am Querholz der signa cohortis speculatorum um Bänder mit Efeublättern. 66 Mit Querhölzern Göbl 1978, Taf. 150, 3208, ohne Crawford 1974, 544/12 u. BMCRR 1910, Pl. CXVI, 3. 67 Domaszewski 1885, 59 Fig. 61. 68 Wie etwa bei Liv. 45,38,12 u. 39,4. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Die zweite Besonderheit stellen die prorae dar. Dass die speculatores auch zur See tätig waren, belegen die zu diesem Thema bei Eckhel angeführten Quellen.69 Man darf sogar annehmen, dass das Hauptbetätigungsfeld der speculatores im Heer des Antonius’ der maritime Bereich war. Hinsichtlich der prorae fiel bereits Eckhel die Diskrepanz zwischen der Münzdarstellung und der schriftlichen Überlieferung auf.70 Danach waren die speculatoriae naves von besonderer Art, nämlich sine rostris – ohne Rammsporne. Die auf den Münzen an den signa cohortis speculatorum befestigten prorae sind aber alle drei mit einem solchen rostrum versehen. Man wird diese prorae somit nicht als Hinweis auf die ausschließliche Tätigkeit der speculatores zur See werten dürfen, sondern wird sie, wie die Kränze, als der Kohorte verliehene Auszeichnungen betrachten müssen. Das dritte Element, die phalerae, mit denen übrigens die signa auf allen anderen Legions­ münzen des Antonius ausschließlich dekoriert sind, zählen zu den gewöhnlichen dona militaria. Die Ehrung einer kleinen Eliteeinheit durch eine derart gestaltete Goldprägung zeugt von dem hohen Ansehen, das die speculatores in den Augen des Antonius besaßen und von ihrer alle anderen Truppenteile überragenden Bedeutung. Schlussendlich noch kurz zu den Prätorianern: Die marianische Heeresreform hatte den Adler als Zeichen der Legion festgeschrieben und die flankierenden signa sind ebenfalls eindeutig diejenigen der Legion und nicht etwa die der Prätorianer. Nach Ausweis der Münzen gab es im Heer des Antonius mehrere cohortes praetoriae; aus dem Partherfeldzug des Antonius 36 v.Chr. sind derer drei bekannt (τρεῖς στρατηγίδας σπείρας ὁπλιτῶν).71 Bei der Suche nach einer Erklärung für die Legionszeichen auf den Prätorianermünzen des Antonius erscheint ein Hinweis bei Eckhel hilfreich.72 Dieser verweist hinsichtlich der Prätorianer auf Caesar, der sich aus seinem Heer die 10. Legion als Prätorianerkohorte ausgewählt habe. Die Vermutung erscheint nicht zu gewagt, dass Caesar der neugeschaffenen Prätorianerkohorte als ehemaliger Legion das Recht zugestand, ihre angestammten Legionszeichen, aquila und signa, weiterhin zu führen. Ausgehend von dieser Hypothese könnte man, aufgrund der Besonderheit auf den Münzen des Antonius, folgern, dass eben dieses (verbriefte oder ungeschriebene?) Recht der Prätorianerkohorte Caesars auch für die Prätorianer des Antonius Geltung besessen hat. Die Münzen der cohortes praetoriae widerlegen im übrigen Durrys Behauptung: (...) bei den Praetorianern gibt es k e i n e A d l e r (...).73

Bei den Legionsdenarii wären noch einige offene Fragen zu beantworten, etwa die nach der doch sehr unterschiedlichen Form des Buchstabens G in LEG.74 Oder warum es bei den Nummerierungen doppelte Schreibweisen, wie etwa IIII / IV, VIIII / IX und XIIII /XIV gibt – und nur bei einigen Definitionszusätze wie ANTIQVA, CLASSICA oder LYBICA. Und wie verhält es sich mit den sogenannten barbarischen Nachprägungen, die im Bild vorzüglich sind, aber eine verballhornte Legende aufweisen, bzw. einwandfreie Stücke mit falscher 69 70 71 72 73

Eckhel 1796, 54–55. Eckhel 1796, 55 mit Hinweis auf Liv. 36,42,8. Plut. Ant. 39. Eckhel 1796, 52–53. Durry 1954, 1624 u. 1626. Das ist verwirrend, weist Durry dort doch selbst (1613) auf die Prätorianer­ prägung hin. 74 Allein drei Varianten sind bei Cahn – Heß 1933, Nrn. 3095–3123 aufgeführt. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Gravierung einzelner Buchstaben?75 Wie sind Anomalien wie LEGIO XII ANTIQVA anstatt des üblichen LEG XII ANTIQVAE zu erklären?76 Wurden bei der Stempelherstellung Bildund Schriftpunzen verwendet, wofür unser aureus für die speculatores recht deutliche Merkmale aufweist, und wozu die stereotypen und in ihrem Grundaufbau immer gleichen Münzbilder r­egelrecht herausfordern? Wie sähe das Ergebnis einer breit angelegten Stempeluntersuchung aus?77 Und wohin führt uns diese Aussage: Die Massenprägung der ‚Legionsdenare‘ geschah nach allgemeiner Annahme i. J. 32 bei der Vor­ bereitung des Antonius zum Entscheidungskrieg gegen Octavian. Es ist nicht wahrscheinlich, daß alle diese Legionen unter dem Kommando des Antonius standen, die Prägung sollte auch bei den anderen Legionen für seine Sache werben.78

Ein geduldiger, nicht von der Publikationspeitsche bedrohter und getriebener Numismatiker und Geldhistoriker sollte sich des vermeintlich wohlbestellten Ackers noch einmal annehmen. Technischer Anhang Abb. 1

Marcus Antonius, † 30 v.Chr. Denar c. 35–31 v.Chr. LEG XII ANTIQVAE Griechische und/oder kleinasiatische Münzstätte Ag 3,55 g Sear 1998, 363 Inv. Slg. Bundesbank 363/79 RFA-Analyse (4 Messungen) Ag 83,12 Cu 19,06 Au 0,49 Pb 0,32 Ag 85,27 Cu 13,89 Au  0,61 Pb 0,23 Ag 85,16 Cu  13,76 Au  0,53 Pb 0,56 Ag 88,34 Cu 10,72 Au  0,56 Pb 0,39 Vergleichsmessung an Denar Sear 243 des Antonius aus 41 v.Chr. (Inv. 215/68) Ag 98,80 Cu 0,50 Au 0,50 Pb 0,19 Ag 99,07 Cu  0,34 Au  0,49 Pb 0,10 Ag 98,83 Cu  0,47 Au  0,52 Pb 0,17 Ag 98,94 Cu  0,38 Au  0,56 Pb  0,12 Vergleichsmessung an Cistophor Sear 262 des Antonius aus 39 v.Chr. (Inv. 2469) Ag  84,23 Cu 15,12 Au 0,42 Pb 0,13 Ag 90,08 Cu  9,21 Au  0,48 Pb 0,24 Ag 82,13 Cu 17,32 Au  0,42 Pb 0,13 Ag 87,47 Cu 11,86 Au  0,46 Pb 0,21

75 Cahn – Heß 1933, Nrn. 3124 [= Bahrfeldt 1896, Nr. 38] (barbarisch) u. 3101 (seitenverkehrtes N auf der Vorderseite). 76 Bahrfeldt 1896, 45. 77 Die Neubearbeitung des Fundes von Delos (Delos 1905) wäre eine gute Gelegenheit gewesen, 604 Legions­­denare beidseitig – und nicht wie Crawford nur einseitig – auf Stempelkopplungen hin zu untersuchen. Stattdessen kennen wir jetzt die Gewichte aller Stücke auf drei Stellen hinter dem Komma. 78 Cahn – Heß 1933, 170. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Die Legionsmünzen des Marcus Antonius Abb. 2

Marcus Antonius, † 30 v.Chr. Denar c. 35–31 v.Chr. LEG XV Griechische und/oder kleinasiatische Münzstätte Ag 3,57 g Sear 1998, 371 Inv. Slg. Bundesbank 14/62 RFA-Analyse (4 Messungen) Ag 91,87 Cu 7,18 Au 0,46 Ag 95,58 Cu  3,74 Au  0,50 Ag 91,68 Cu  7,39 Au  0,46 Ag 93,08 Cu 6,20 Au  0,47

Pb 0,48 Pb 0,18 Pb 0,48 Pb 0,26

Abb. 3

Marcus Antonius, † 30 v.Chr. Aureus c. 35–31 v.Chr. CHORTIS SPECVLATORVM Griechische und/oder kleinasiatische Münzstätte Au 8,13 g Calicó 2003, 80a (Unikum; dieses Stück) Inv. Slg. Bundesbank 229/90 RFA-Analyse (4 Messungen) Au 99,78 Ag 0,22 Au 99,77 Ag 0,23 Au 99,83 Ag 0,17 Au 99,82 Ag 0,18 Vergleichsmessung an aureus Sear 245a des Antonius aus 41 v.Chr. (Inv. 44/62) Au 99,82 Ag 0,18 Au 99,81 Ag 0,19 Au  100 Ag – Au  100 Ag – Vergleichsmessung an aureus Sear 268 des Antonius aus 38 v.Chr. (Inv. 45/62) Au 99,74 Ag 0,26 Au 99,79 Ag  0,21 Au 99,80 Ag 0,20 Au 99,79 Ag 0,21

Abb. 8

Marcus Iunius Brutus, † 42 v.Chr. Aureus 43–42 v.Chr. Griechische und/oder kleinasiatische Münzstätte Au 8,04 g Sear 1998, 215 Inv. Slg. Bundesbank 292/93

Abb. 9

Quintus Labienus, † 39 v.Chr. Denar 40 v.Chr. Kleinasiatische Münzstätte Ag 3,56 g Sear 1998, 341 Inv. Slg. Bundesbank 447/14 RFA-Analyse (2 Messungen) Ag 98,63 Au 0,75 Ag 98,82 Au  0,71

Cu 0,20 Cu  0,19

359

Fe 0,25 Fe  0,11

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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79 Auktion Leu 13, 1975, 365. 80 Auktion Sotheby’s New York 6044, 1990, 663. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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wann was?

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Wer erwähnt

1896

Die Legionsmünzen des Marcus Antonius

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Wer erwähnt

Reinhold Walburg

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XXIII PRIMIGENIAE XXIIII XXIV

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81 Auktion Numismatica Ars Classica 51 (2009), 130. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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wann was?

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Wer erwähnt

1827

Die Legionsmünzen des Marcus Antonius

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1563 Goltzius 1577 Orsini 1601 Occo 1607 Gorlaeus 1663 Patin Spanheim 1671/1717 Vaillant 1703 1709 Hardouin 1730 Occo 1734 Morell 1754 Froelich 1765 Pellerin 1767 Khell 1775/1776 Gússeme

1785/1786 Rasche 1796 Eckhel8382 1827 Mionnet 1843 Riccio 1857 Cohen 1880 Cohen 1885 Babelon 1896 Bahrfeldt 1900/1923 Bahrfeldt 1905 „Delos hoard“ 1910 BMCRR 1952 Sydenham 1972/1973 Banti – Simonetti 1974 Crawford

Abkürzungen NAC = Auktionskataloge der Firma Numismatica Ars Classica.

Bibliographie Babelon 1885 = E. Babelon, Description historique et chronologique des monnaies de la République Ro­ maine, vulgairement appelées monnaies consulaires, Paris 1885. Bahrfeldt 1896 = M. Bahrfeldt, Nachträge und Berichtigungen zur Münzkunde der römischen Republik, Numismatische Zeitschrift 28 (1896), 1–170. Bahrfeldt 1900 = M. Bahrfeldt, Nachträge und Berichtigungen zur Münzkunde der römischen Republik, Numismatische Zeitschrift 32 (1900), 1–116. Bahrfeldt 1919 = M. v. Bahrfeldt, Nachträge und Berichtigungen zur Münzkunde der Römischen Re­ publik, Numismatische Zeitschrift NF 11 (1919), 73–180. Bahrfeldt 1923 = M. v. Bahrfeldt, Die Römische Goldmünzenprägung während der Republik und unter Augustus. Eine chronologische und metrologische Studie, Halle, Saale 1923. Banti – Simonetti 1972/1973= A. Banti – L. Simonetti, Corpus Nummorum Romanorum, Vol. 1: Da Cneo Pompeo a Marco Antonio, Vol. 2: Da Marco Antonio alla Famiglia Licinia (dei Magistrati monetari al nome di Augusto), Firenze 1972/1973. BMCRR 1910 = H. A. Grueber, Coins of the Roman Republic in the British Museum, Vol. 2, London 1910 [ND 1970]. 81 Auktion Numismatica Ars Classica 51 (2009), 130. 82 Auktion Roma Numismatics 13 (2017), 696. 83 Als Grenze zwischen antiquarischer und wissenschaftlicher Numismatik. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

366

Reinhold Walburg

Cahn – Heß 1933 = A. E. Cahn – A. Heß Nachf., Die Gold- und Silbermünzen der römischen Republik bis 15 v.Chr. Sammlung Justizrat Dr. jur. et phil. h. c. Ernst Justus Haeberlin. Auktion am 17. Juli 1933 in Frankfurt a.M. Calicó 2003 = X. Calicó, The Roman aurei, Vol. 1: From the Republic to Pertinax, 196 BC–193 AD, Barcelona 2003. Cohen 1857 = H. Cohen, Description générale des monnaies de la République Romaine, communément appelées médailles consulaires, Paris 1857. Cohen 1880 = H. Cohen, Description historique des monnaies frappées sous l’Empire Romain, communément appelées médailles impériales, Vol. 1, Paris 1880 (ND Graz 1955). Crawford 1974 = M. H. Crawford, Roman Republican Coinage, Cambridge 1974. Delos 1905 = C. Papageorgiadou-Bani, Le trésor de „Délos 1905“ (RRCH 465), Revue Numis­matique 6 (2003), 291–306. Dillon 2007 = J. N. Dillon, Octavian’s Finances after Actium, before Egypt. The CAESAR DIVI F / IMP CAESAR Coinage and Antony’s Legionary Issue, Chiron 37 (2007), 35–48. Domaszewski 1885 = A. Domaszewski, Die Fahnen im römischen Heere, Wien 1885. Durry 1954 = M. Durry, s.v. Praetoriae cohortes, RE XXII 2 (1954), 1607–1634. Eckhel 1796 = J. Eckhel, Doctrina numorum veterum. Pars II. Volumen VI, Wien 1796 [Wien 21828]. Friedlaender 1878 = J. Friedlaender, Die Erwerbungen des Königlichen Münzkabinets im Jahre 1876, Zeitschrift für Numismatik 5 (1878), 1–16. Froelich 1754 = E. Froelich et al., Numismata cimelii Caesarei Regii Austriaci Vindobonensis, quorum rariora iconismis cetera catalogis exhibita iussu Mariae Theresiae Imperatricis et Reginae Augustae. Pars prior, Wien 1754. Göbl 1978 = R. Göbl, Antike Numismatik, München 1978. Goltzius 1563 = H. Goltzius, C. Ivlivs Caesar Sive Historiae Imperatorvm Caesarvmqve Romanorvm Ex Antiqvis Nvmismatibvs Restitvtae Liber Primvs, Brügge 1563. Gorlaeus 1607 = Abrahami Gorlaei Antverpiani Thesaurus Numismatum Romanorum sive Numi Aurei, Argentei, Aerei ad Familias Romanas spectantes usque ad obitum Augusti. Accesserunt typi eorundem numorum quos Fulvius Ursinus omisit, aut aliter edidit, Leiden 1607. Gússeme 1775/1776 = Th. A. de Gússeme, Diccionario numismatico general, para la perfecta inteligencia de las medallas antiguas, Vol. 2 (C) & 3 (H-I-L), Madrid 1775/1776. Hardouin 1709 = Historia Augusta ex nummis antiquis Graecis Latinisque restituta. Collecta ex epistolis R. P. Joannis Harduini, in: Joannis Harduini opera selecta, Amsterdam 1709. Harl 1996 = K. W. Harl, Coinage in the Roman Economy, 300 BC to AD 700, Baltimore 1996. Hollstein 2013 = W. Hollstein, Die Fasti Magistratuum et Triumphorum Romanorum des Hubert Goltzius. Eine Analyse der Münzbilder, in: U. Peter – B. Weisser (Hrsg.), Translatio Nummorum. Römische Kaiser in der Renaissance. Akten des internationalen Symposiums Berlin 16.–18. November 2011, Mainz 2013, 71–90. Hollstein 2016 = W. Hollstein, Zwischen Brundisium und Actium. Zur Lokalisierung und Datierung der Münzen des M. Antonius, in: F. Haymann – W. Hollstein – M. Jehne (Hrsg.), Neue Forschungen zur Münzprägung der römischen Republik. Beiträge zum internationalen Kolloquium im Residenzschloß Dresden 19.–21. Juni 2014, Bonn 2016 (Nomismata 8), 245–278. Kent et al. 1973 = J. P. C. Kent et al., Die römische Münze, München 1973. Khell 1767 = J. Khell von Khellburg, Ad numismata Imperatorum Romanorum aurea et argentea a Vaillantio edita, Supplementum, Wien 1767. Kroha 1997 = T. Kroha, Großes Lexikon der Numismatik, Gütersloh 1997. Kromayer 1898 = J. Kromayer, Kleine Forschungen zur Geschichte des zweiten Triumvirats, Hermes 33 (1898), 1–70. Kromayer 1899 = J. Kromayer, Der Feldzug von Actium und der sogenannte Verrath der Cleopatra, Hermes 34 (1899), 1–54. Kromayer 1933 = J. Kromayer, Actium. Ein Epilog, Hermes 68 (1933), 361–383. Lammert 1929 = L. Lammert, s.v. Stipendium, RE III A/2 (1929), 2536–2538. Laspe 2007 = D. Laspe, Actium. Die Anatomie einer Schlacht, Gymnasium 114 (2007), 509–522. Liebenam 1909 = W. Liebenam, s.v. Exercitus, RE VI (1909), 1589–1679. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Die Legionsmünzen des Marcus Antonius

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Marquardt 1876 = J. Marquardt, Römische Staatsverwaltung. Zweiter Band, Leipzig 1876 (Handbuch der römischen Alterthümer 5). Mionnet 1827 = Th. E. Mionnet, De la rareté et du prix des médailles romaines, Vol. 1, Paris 1827. Mommsen 1883 = Th. Mommsen (Hrsg.), Res Gestae Divi Augusti. Ex monumentis Ancyrano et Apollo­ niensi iterum edidit, Berlin 1883. Morell 1734 = Thesaurus Morellianus, Sive Familiarum Romanarum Numismata Omnia, Amsterdam 1734. Newman 1990 = R. Newman, A Dialogue of Power in the Coinage of Antony and Octavian (44–30 BC), American Journal of Numismatics, second series 2 (1990), 37–63. Nova acta 1758 = Nova acta eruditorum, anno MDCCLVIII (Calendis Iulii) publicata, Leipzig 1758. Occo 1601 = Impp. Romanorum Numismata, a Pompeio Magno ad Heraclium. Editio altera, multis num­morum millibus aucta, per Adolphum Occonem, Medicum Augustanum, Augsburg 1601. Occo 1730 = Imperatorum Romanorum Numismata, a Pompejo Magno ad Herculium, ab Adolfo Occone olim congesta, Mailand 1730. Orsini 1577 = F. Orsini, Familiae romanae quae reperiuntur in antiquis numismatibus, ab urbe condita ad tempora divi Augusti ex bibliotheca Fulvi Ursini, Rom 1577. Paciaudus 1757 = P. Paciaudus, Ad nummos consulares IIIviri Marci Antonii, Rom 1757. Patin 1663 = Familiae Romanae in antiquis numismatibus, ab urbe condita, ad tempora divi Augusti. Ex Bibliotheka Fulvii Ursini, Carolus Patin, Doctor medicus parisiensis, estituit, recognovit, auxit, Paris 1663. Pellerin 1765 = J. Pellerin, Mélanges de diverses médailles, pour servir de supplément aux recueils des médailles de rois et de villes, qui ont été imprimés en M.DCC.LXII & M.DCC.LXIII, Tome premier, Paris 1765. Rasche 1785/1786 = Chr. Rasche (Hrsg.), Lexicon universae rei numariae veterum et praecipue Graecorum ac Romanorum edidit Io., Vol. 1 (C) & 2 (H–L), Leipzig 1785/1786. Riccio 21843 = G. Riccio, Le monete delle antiche famiglie di Roma fino allo imperadore Augusto, Neapel 21843. Schlichtegroll 1804 = F. Schlichtegroll (Hrsg.), Annalen der gesammten Numismatik, Bd. 1, Leipzig 1804. Sear 1998 = D. R. Sear, The History and Coinage of the Roman Imperators 49–27 BC, London 1998. Spanheim 21671 = Ezechielis Spanhemii dissertationes de praestantia et usu numismatum antiquorum, Amsterdam 21671. Spanheim 1717 = Ezechielis Spanhemii dissertationum de praestantia et usu numismatum antiquorum, Bd. 2, Amsterdam 1717. Sydenham 1952 = E. A. Sydenham, The Coinage of the Roman Republic, London 1952. Tarn 1932 = W. W. Tarn, Antony’s Legions, ClQ 26/2, 1932, 75–81. Vaillant 1703 = J. F. Vaillant, Nummi antiqui familiarum Romanarum perpetuis interpretationibus illustrati, Amsterdam 1703. Woytek 2007 = B. Woytek, Die Legionsprägungen des Marcus Antonius, in: M. Alram – F. SchmidtDick (Hrsg.), Numismatica Carnuntia. Forschungen und Material, Bd. 2, Wien 2007, 503–518. Wrede 2013 = Der Nutzen der Numismatik bei Hubert Goltzius, in: U. Peter – B. Weisser (Hrsg.), Translatio Nummorum. Römische Kaiser in der Renaissance, Akten des internationalen Symposiums Berlin 16.–18. November 2011, Mainz 2013, 91–100.

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Der Osten der antiken Welt

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Ma‘nu paṣgribā, Vater des Königs Aelius Septimius Abgar X. Ein ,king in waiting‘?* Karin Mosig-Walburg Die Rekonstruktion der Geschichte des osrhoenischen Königreichs der Abgariden ist bis zu dessen Ende im 3. Jahrhundert in weiten Teilen unsicher.1 Lange Zeit dem parthischen Macht­bereich zugehörig, geriet es im Verlauf des 2. Jahrhunderts immer stärker unter römischen Einfluß. Seit der Rückführung des von den Parthern vom Thron vertriebenen Königs Ma‘nu VIII. durch die Römer im Jahr 165/662, im Verlauf des Orientfeldzugs (162–166) des Lucius Verus3, erkannten die osrhoenischen Könige die römische Oberhoheit an. Davon zeugen eindrücklich die Silbermünzen (Denare), welche König Ma‘nu VIII. für Marcus Aurelius, Faustina Junior, Lucilla und Lucius Verus prägen durfte. Die Vorderseiten dieser Typen zeigen die Büste des Kaisers bzw. seiner Gattin, seiner Tochter oder seines Kollegen Lucius Verus. Die Rückseiten der Münzen für den Kaiser, Faustina Iunior und Lucilla zeigen die Gottheiten Mars (Münzen für Marcus Aurelius), Juno (Münzen für Faustina Junior), Juno bzw. Ceres (Münzen für Lucilla), umgeben von der Legende ΒΑCΙΛΕΥC ΜΑΝΝΟC ΦΙΛΟΡΩΜΑΙΟC4, welche den König Ma‘nu ausdrücklich als Römerfreund kennzeichnet; die Münzen für Lucius Verus dagegen tragen auf der Rückseite nur diese Legende, angeordnet in vier Zeilen.5 Auf Ma‘nu VIII. folgte sein Sohn Abgar bar Ma‘nu (Abgar VIII., 179–212 n.Chr.), der sich auf Münzen aus severischer Zeit auch als „Lucius Aelius Septimius Abgar“ oder „Aelius Aurelius Septimius Abgar“ bezeichnete. Als Septimius Severus im Jahr 195 die römische Provinz Osrhoene einrichtete, soll er, wie ein Teil der Forschung vermutet, Abgar bar Ma‘nu den größeren Teil seines Herrschaftsgebietes genommen haben, weil dieser sich angeblich im Kampf des Kaisers gegen seinen Rivalen Pes­ cennius Niger (194 n.Chr.) zunächst auf die falsche Seite gestellt hatte.6 Sicher ist das freilich nicht, denn die Überlieferung, auf die man sich für das Fehlverhalten des Abgar bar Ma‘nu stützt, ist nicht eindeutig. So mag Gawlikowski nicht ausschließen, daß die Annexion des Gebietes, aus dem Septimius Severus die Provinz Osrhoene schuf, zu Lasten anderer Dynasten * 1 2 3 4

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Das Manuskript wurde abgeschlossen im Februar 2017. Für einen knappen Überblick bis zur Vereinnahmung durch Caracalla siehe Gawlikowski 1998, 221–224. Datierung: Luther 1999, 188. Ma‘nu VIII. war durch den Parther Vologaises IV. vertrieben worden. Auf diesen Münzen ist König Ma‘nu folglich keineswegs „mit Angehörigen des antoninischen Kaiserhauses (M. Aurelius, L. Verus, der jüngeren Faustina) dargestellt“, wie Sommer 2005, 238 fälschlich behauptet, wobei er auch noch als Beleg auf eine Münze hinweist (ebd., 236, Taf. 6), deren Vorderseite die Büste Lucillas (!) trägt, während auf der Rückseite nicht Abgar, sondern die Göttin Juno mit Szepter und Patera dargestellt ist. Sie findet sich allerdings nur mehr oder weniger vollständig ausgeschrieben. Hill 1922, 92 f., Nr. 5, Pl. XIII 10 (für Marcus Aurelius); Nr. 6, Pl. XIII 11 (für Faustina Junior); Nr. 7, Pl. XIII 12 u. Pl. XIII 13 (für Lucilla). Zu Lucius Verus: Hill 1922, xcviii u. Pl. L 8. Siehe etwa Sommer 2005, 240 f. u. 2010, 222 (größter Teil des Königreichs); Ross 2001, 51 (substantieller Teil des Königreichs, ungefähr die westliche Hälfte); Vivancos 2005, 76 (behielt nur Stadt­gebiet von Edessa); Patterson 2013, 191 (Reduktion des Königreichs auf Edessa und Umgebung). Vor­sichtiger im Hinblick auf die Gebietsverluste: Luther 1999, 189 („Teile des Gebietes“); Luther 2008, 504 („offenbar auf Kosten königlicher Gebiete“). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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und Städte erfolgt war; Abgar, so Gawlikowski, habe möglicherweise nichts verloren.7 Jedenfalls umfaßte sein Herrschaftsgebiet die Stadt Edessa und ein darüber hinausgehendes Territorium, dessen genaue Ausdehnung uns nicht bekannt ist. Die Grenze zum römischen Gebiet läßt sich anhand eines zeitgenössischen Zeugnisses aus dem Jahr 195 n.Chr. an nur einem Punkt bestimmen; dieser lag ca. 40 km westlich Edessas.8 Die neue Provinz Osrhoene wurde, wie Speidel vor einigen Jahren mit guten Argumenten dargelegt hat, nicht als selbständige Provinz geführt, sondern verwaltungsmäßig der Provinz Syria Coele zugeschlagen und der Aufsicht eines Procurators unterstellt.9 Abgar VIII. (177/178–212) erwies sich als ein dem römischen Reich gegenüber loyaler Klientel­könig, der sogar dem Kaiser in Rom einen Besuch abstattete.10 Er durfte Bronzemünzen für den Kaiser prägen, auf deren Rückseite die Büste des Königs mit diademierter Tiara dargestellt ist; häufig findet sich vor der Büste ein Szepter als weiteres Symbol (neben dem Diadem) seiner Königsherrschaft.11 Abgar prägte zudem Münzen mit seiner Büste auf der Vorderseite und der Büste seines Sohnes Ma‘nu auf der Rückseite. Zur Bereitschaft Abgars VIII. zu Loyalität gegenüber Rom dürfte neben der Furcht vor Verkleinerung seines Herrschaftsgebietes oder gar gänzlichem Verlust gewiß auch die Gestellung von Geiseln beigetragen haben, deren Aufenthalt in Rom sich über Inschriften greifen läßt.12 Doch schon bald nach seinem Ende in der frühen Regierungszeit des Caracalla, seit 211 Nachfolger des Septimius Severus, kam es zur Beendigung der Herrschaft osrhoenischer Könige in der Stadt Edessa. Der Kaiser ließ den Nachfolger des Abgar VIII., Abgar (IX.) Severus, der zusammen mit seinem Sohn Ma‘nu über ein Jahr und sieben Monate regiert haben soll, im Jahr 213 gefangensetzen, verwandelte Edessa in eine colonia und annektierte osrhoenische Gebiete. Erst Ende der 30er Jahre ist dann erneut die Herrschaft eines Königs aus dem osrhoenischen 7 Gawlikowski 1998, 423. 8 Vgl. Speidel 2007, 415, mit Anm. 62: Hinweis auf eine Inschrift aus dem heutigen Kizilburç (zwischen Zeugma und Edessa) aus dem Jahr 195. Aus dieser Inschrift geht hervor, daß der Procurator Iulius Pa­ catianus zwischen dem römischen Gebiet und dem „regnum Abgari“ Grenzen gezogen hat (AE 1984, 919). Auf einen weiteren Meilenstein aus dem Jahr 205 verweist Teixidor 1990, 159 f. 9 Speidel 2007, 419–421. 10 Zu Abgar VIII. und Septimius Severus siehe Ross 2001, 45 ff. Das Bemühen des Königs, durch Adu­lation dem Kaiser gegenüber Loyalität zu dokumentieren, dokumentiert sich in der Annahme von Namens­ bestandteilen seiner kaiserlichen Oberherren. So findet sich auf seltenen Münzen die Vorderseitenlegende BACIΛΕΥC. ΑΙΛ. ΑΥΡΗΛ. CΕΠ. ΑΒΓΑΡΟC, bzw. ΒΑC. Λ. ΑΙΛ. CΕΠ. ΑΒΓΑΡΟC. Dazu bemerkte schon Bayer 1734, 174: „Ego (...) censeo, totum isthuc nomen adulationi in Antoninum Commodum esse tribuendum.“; siehe die Umzeichnung des fraglichen Stückes ebd., Tab. V, III. Es handelt sich nicht nur, wie Bayer meint, um Adulation im Hinblick auf Commodus, sondern zugleich um Adulation im Hinblick auf das severische Kaiserhaus. Eckhel 21828, 514 möchte die Übernahme des Namens „Septimius“ auf das kaiserliche Wohlwollen gegenüber Abgar VIII. zurückführen, der vom Kaiser in Rom prachtvoll empfangen worden war. Insgesamt drei Stücke zu den beiden vorgenannten Rückseitenlegenden werden aufgeführt bei Babelon 1892, 514, Nr. 22–24, Pl. XI, figs. 10–12. Siehe auch Hill 1922, ci, Pl. L 10; 11. Ein weiteres Stück trägt die Legende ΒΑCΙΛ (...) CΕΠ. ΑΒΓΑΡΟC: Babelon ebd., Pl. XI, fig. 9; Beschreibung ebd., 514, Nr. 21. Die Annahme des Namens „Septimius“ ist zudem bezeugt durch einen Meilenstein aus dem Jahr 205 n.Chr. (AE 1984, 920), in welchem von der erneuten Befestigung eines Weges vom Euphrat bis zu den Grenzen des Herrschaftsgebietes des Septimius Abgar die Rede ist. 11 Hill 1922, 94 ff., Nr. 14–30 (mit Szepter), Pl. XIII 15 u. 16; Pl. XIV 1, 3 u. 5; 95 f., Nr. 30–35 (ohne Szepter), Pl. XIV 6 u. 7. 12 Quellen zur Geiselgestellung: Luther 2008, 505, Anm. 35. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Ma‘nu pa ṣgribā, Vater des Königs Aelius Septimius Abgar X

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Königshaus durch Primärquellen belegt, Aelius Septimius Abgar (X.), Sohn des Ma‘nu pa ṣgribā, Sohn des Königs Abgar, dessen Herrschaftsgebiet allerdings nicht definiert wird. Forschungsproblem und Quellenbasis Die Vorschläge der Forschung zur Rekonstruktion der Geschichte des Königtums ab der späten Regierung des Abgar VIII. sind recht unterschiedlich und überwiegend rein hypothetisch. Zumeist geht man davon aus, daß nach der Absetzung des Abgar (IX.) Severus die Königs­ herrschaft für einige Jahre endete, um, nach vermuteter kurzfristiger Erneuerung und erneutem Ende unter Elagabal (218/219–220/221), schließlich im Jahr 238 oder 239 mit Aelius Septimius Abgar (X.) kurzfristig (für ca. 3 Jahre) wieder aufzuleben. Sie soll in den späten 40er Jahren ihr endgültiges Ende gefunden haben. Die differierenden Rekonstruktionsversuche der Forschung basieren auf der Auswertung von Primärquellen (numismatische Zeugnisse, einige wenige Inschriften und Schriftdokumente), welche in der einen oder anderen Weise mit den Aussagen spärlicher zeitgenössischer und mit der im wesentlichen späten syrischen literarischen Überlieferung verbunden werden.13 Da ist zunächst das numismatische Material zu nennen, das uns für Abgar VIII. (Münzen des Abgar VIII. mit Septimius Severus/mit seinem Sohn Ma‘nu/mit Caracalla) und für zwei seiner Nachfolger (Münzen des Abgar Severus mit Caracalla und Münzen des Aelius Septimius Abgar mit Gordian III.) vorliegt. Zudem verfügen wir über ein syrisches Dokument aus dem Euphratgebiet (im folgenden Dokument A), ausgefertigt Ende des Jahres 240 in der Stadt ,Neu-Hayklā-Karkā d-Ṣaydā des Königs Abgar‘, welches Auskunft gibt über die Abstammung des letzten uns bekannten Königs, Aelius Septimius Abgar (er wird darin bezeichnet als „Sohn des Ma‘nu pa ṣgribā, Sohn des Königs Abgar“) und das es uns erlaubt, den Zeitpunkt seines Regierungsbeginns einzugrenzen. Aus zwei Notizen aus dem Geschichtswerk Cassius Dios, erhalten nur in Exzerpten späterer Autoren, erfahren wir von der Politik eines Königs Abgar gegenüber den Fürsten von ihm unterworfener Stämme und von der Absetzung eines Königs Abgar durch Caracalla. Es dürfte sich in beiden Fällen um Abgar (IX.) Severus handeln. Daneben stehen die Angaben von drei syrischen Chroniken zur Verfügung, auf deren Basis die Forschung die Chronologie der edessenischen Könige rekonstruiert hat. Die erste Chronik, die lange Zeit allein zur Rekonstruktion der Reihe der Könige herangezogen wurde, ist die Weltchronik des Pseudo-Dionysius von Tell-Ma ḥre aus dem Jahr 775. Es wird vermutet, daß der Autor eine edessenische Königsliste benutzt hat.14 Die Chronologie ist fehlerhaft, indem der Herrschaftsbeginn der Könige sechsundzwanzig Jahre zu früh datiert ist15; bei den hier verwendeten Jahresangaben (nach der Ära Adams) wird, bis auf eine Ausnahme, nicht mehr eigens darauf hingewiesen, sondern die Angaben in den richtigen chronologischen Zusammenhang gestellt. Die zweite syrische Chronik wurde von Elias von Nisibis im frühen 11. Jahrhundert verfaßt; sie ist nur fragmentarisch erhalten. Der Autor behauptet, eine edessenische Königsliste benutzt zu haben. Es ist das Verdienst von Luther, diese Chronik als Quelle für die Rekonstruktion der edessenischen Königsliste zusätzlich zur Chronik des Pseudo-Dionysius in die Forschungsdiskussion einbezogen zu haben. Luther hat die beiden Listen miteinander vergliche­n und versucht, daraus Erkenntnisse im Hinblick auf

13 Zu den im folgenden aufgeführten Quellen siehe unten. 14 Luther 1999, 182. 15 Vgl. Millar 1993, 560. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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die Herrscherabfolge zu gewinnen.16 Hinzu tritt die Chronik des Jakob von Edessa17 aus dem 7. Jahrhundert, mit Informationen zur Abschaffung des Königtums zur Zeit des Abgar Severus (dies angeblich weil die Römer seinen Abfall fürchteten), zur Übertragung der Verwaltung an einen Hegemon anstelle des Königs sowie zum endgültigen Ende der Königtums im fünften Jahr des Kaisers Philippus (Arabs), als es keinen König mehr gab.18 Ziel der Untersuchung Eine ausführliche Behandlung des Gesamtproblems der Rekonstruktion der späten Geschichte des osrhoenischen Königshauses ist aufgrund des zur Verfügung stehenden Raumes nicht möglich. Hier sollen zwei wichtige, eng miteinander verbundene Fragen im Mittelpunkt stehen, die sich aus der Forschungsdiskussion um die Identität und Stellung des Ma‘nu, Vater des Aelius Septimius Abgar (X.), des letzten uns bekannten Königs, ergeben. Dieser wird in dem bereits erwähnten Dokument aus dem Jahr 240 (Dokument A) als „paṣgribā“/„Thronfolger“ bezeichnet. Während ein Teil der Forschung ihn als Sohn des Abgar bar Ma‘nu/Lucius Aelius Septimius Abgar (Abgar VIII.) betrachtet, möchte der andere in ihm den Sohn des Abgar Severus (Abgar IX.) erkennen. In dem einen wie in dem anderen Fall ist die Forschung seit der Entdeckung des Dokumentes A davon überzeugt, daß er nach der Gefangennahme des Abgar Severus (im Jahr 213) über 26 Jahre hinweg, d.h. bis zu seinem Tod, den Titel „pa ṣgribā“ getragen hat. Daher wird er auch als „König in Wartestellung“ bezeichnet, als „King in waiting“.19 Der Umstand, daß schließlich Ende der 30er Jahre mit Aelius Septimus Abgar erneut ein Mitglied des Königshauses den Titel „König“ führte – das ist belegt durch Münzen, die ihn zusammen mit Gordian III. zeigen, sowie durch das bereits erwähnte Dokument A aus ,NeuHayklā-Karkā d-Ṣaydā des Königs Abgar‘ in welchem unter anderem nach seinen Regierungs­ jahren datiert wird –, wird von der Forschung als Beweis für die Ernennung und Inthronisation eines Königs aus dem osrhoenischen Königshaus durch den Kaiser Gordian III. betrachtet, welcher entweder über die römische Provinz Osrhoene und/oder über Edessa gesetzt worden wäre. Daran wiederum knüpfen sich unterschiedliche Vermutungen zu den Umständen und Gründen seiner Einsetzung, wie auch zu den Umständen und Gründen seines Endes. Im folgenden soll zum einen die Frage nach Funktion und Stellung des Ma‘nu, Sohn des von Caracalla abgesetzten Königs Abgar Severus, behandelt werden, dem Pseudo-Dionysios 26 Regierungsjahre zuweist, zum anderen die Frage, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis dieser Man‘nu zu Aelius Septimius Abgar gestanden hat.

16 Luther 1999. 17 Jakob von Edessa (Chronicon Iacobi Edesseni, hrsg. von E.-W. Brooks, Chronica Minora III, Louvain 1905), 282. 18 Die Chronik des Jakob von Edessa wurde benutzt von Michael Syrus für seine Weltgeschichte. 19 Millar 1993, 477. Schon bei Babelon 1892, 507 findet sich die Behauptung, daß Ma‘nu nominell auf seinen Vater, Abgar IX. Severus, folgte; er soll für sechsundzwanzig Jahre als „roi titulaire de l’Osrhoène“ betrachtet worden sein. Wie sich an anderer Stelle (ebd., 524) zeigt, stützt sich Babelon für diese Behauptung auf Pseudo-Dionysius: „(...) Denys enregistre après Abgar IX Sévère, le règne purement nominal de Ma‘nou IX, fils d’Abgar“. Doch dem Wortlaut der fraglichen Überlieferung ist das nicht zu entnehmen. Pseudo-Dionysius zum Jahr 2203: „And over Orhai Abgar Severus (SWRWS) reigned with his son for 1 year and 7 months. And after him Ma‘nou his son reigned for 26 years“. Zitiert nach Millar 1993, 561 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Ma‘nu pa ṣgribā, Vater des Königs Aelius Septimius Abgar X

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Man‘nu, Sohn des Abgar (VIII.) bar Ma‘nu/Lucius Aelius Septimius Abgar Dazu haben wir zunächst zurückzukehren in die Regierungszeit Abgars VIII., um uns mit zwei außergewöhnlichen Prägungen zu befassen. Neben den bereits erwähnten Münzen, die ihn zusammen mit dem Kaiser Septimius Severus bzw. mit Caracalla zeigen, gibt es einige seltene Stücke, welche die Büste Abgars VIII.20 auf der Vorderseite und seines Sohnes Ma‘nu auf der Rückseite tragen. Abgar ist, wie üblich, bärtig und mit diademierter Tiara dargestellt, sein Sohn teils unbärtig, teils mit leichtem Bart 21; er trägt eine Tiara ohne Diadem. Die Legende der Vorderseite nennt (zumindest ist dies intendiert) ΑΒΓΑΡΟC ΒΑCΙΛΕΥC22, die Rückseitenlegende variiert. Wenn die Büste unbärtig ist, lautet sie ΜΑΝΝΟC, wenn sie bärtig ist, ΜΑΝΝΟC ΠΑΙC.23 Durch den Zusatz ΠΑΙC/„Kind“ bzw. „Sohn“ wird eigens das Verhältnis des Mannos zu Abgar VIII. definiert. Der für Münzlegenden ungewöhnliche Begriff „ΠΑΙC “ hat schon den Numismatikern des 19. Jahrhunderts zu denken gegeben. So wies bereits Eckhel darauf hin, daß es dafür kein anderes Beispiel auf Münzen gebe, denn zur Bezeichnung eines Sohnes werde gewöhnlich der Begriff ΥΙΟΣ verwendet.24 Der Umstand, daß der Zusatz „ΠΑΙC “ auf allen bekannten Stücken nur mit bärtigen Büsten einhergeht, wurde versuchsweise mit der Notwendigkeit erklärt, den bärtigen Ma‘nu gegenüber dem bärtigen Abgar VIII. als den Jüngeren zu kennzeichnen.25 Die Rangordnung, nicht jedoch die altersmäßige Ordnung, wird bereits durch das Nichtvorhandensein eines Diadems an der Tiara des Ma‘nu hinreichend kenntlich gemacht, was im übrigen zugleich zeigt, daß Ma‘nu keinesfalls als Mitregent seines Vaters fungierte. Doch zumindest für einen gewissen Zeitraum, der allerdings nicht lang gewesen sein muß, war er der vorgesehene Thronfolger.26 Es läßt sich nicht sagen, wann diese Münzen geprägt wurden. Freilich liegt es nahe, sie in die späte Regierungszeit 20 Es ist ausgeschlossen, daß es sich bei diesem Abgar um Abgar IX. Severus handelt, denn dieser ist auf den seltenen Münzen, die seine Büste auf Münzen mit der Büste Caracallas auf der Vorderseite zeigen, unbärtig, worauf Hill 1922, ci zu Recht nachdrücklich hinweist. 21 Eckhel 21828, 515: „modeste barbatum“. 22 Das Sigma wird in allen Legenden stets wie der Großbuchstabe „C“ geschrieben. 23 Die Legenden sind zumeist nicht vollständig bzw. fehlerhaft. So findet sich statt ΜΑΝΝΟC (Hill 1922, 96, Nr. 36, Pl. XIV 8) die Schreibung ΛΛΛΝΝΟC (Hill 1922, 96, Nr. 37, Pl. XIV 9) und ΑΛΑΝΝΟC (Eckhel 21828, 515; das betreffende Stück aus der Sammlung Pembrock wurde von Bayer 1734, 130, mit Tab. I 1, noch Abgar VI. bar Ma‘nu zugewiesen) und statt ΜΑΝΝΟC ΠΑΙC (Babelon 1892, 520, Nr. 34, Pl. XII, fig. 8) die Schreibung ΛΛΑΝΝΟC ΠΑΙC (Eckhel 21828, 515; Mionnet 1811, 621 f. Nr. 152). Die Stücke wurden nur im kleinsten Nominal geprägt. 24 Eckhel 21828, 515. 25 Hill 1922, ci. Babelon 1892, 520 vermutet in der Ernennung eines Thronfolgers eine Nachahmung des Septi­mius Severus, der Caracalla zum Mitkaiser ernannt hatte. Doch wie das Fehlen eines Diadembandes an der Tiara des Ma‘nu zeigt, war er keineswegs Mitregent seines Vaters. 26 Duval 1891, 220 stellte fest: „Ma‘nou (...) avait été associé au trône par son père“. Das ist eine noch akzeptable Formulierung der Herrschaftsverhältnisse, wenn man die Bindung an den Thron allein auf die zukünftige Nachfolge verstehen möchte. Irrtümlich identifizierte Eckhel 21828, 515 den auf den Münzen Abgars VIII. dargestellten Man‘u mit Ma‘nu, dem Sohn des Abgar IX. Severus, dessen Regentschaft zusammen mit dem Vater von Pseudo-Dionysius überliefert wird. Ob es sich bei Ma‘nu, Sohn Abgars VIII., um dessen ältesten Sohn handelte, wie Babelon 1892, 507 als gegeben voraussetzt, können wir nicht entscheiden, da wir über die Zahl seiner Söhne nicht informiert sind. Auch dürfen wir aus dem Umstand, daß der Nachfolger Abgars VIII., Abgar IX. Severus, auf den wenigen Münzen, die ihn zusammen mit Caracalla zeigen, unbärtig dargestellt ist, nicht eo ipso schließen, daß er jünger gewesen sein muß als Ma‘nu oder überhaupt, daß er sein Bruder war. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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des Abgar VIII. zu datieren, doch das bleibt eine Vermutung. In jedem Fall dürfen wir annehmen, daß der König gewichtige Gründe hatte für die Prägung dieser Münzen, mit denen er allen Untertanen den künftigen Nachfolger präsentierte. Die Vermutung liegt nahe, daß es am Königshof zu Diskussionen und vielleicht sogar zu offenem Streit in der Nachfolgefrage gekommen war, welchen der König mit der Dokumentation der Thronfolgerwahl beenden wollte. Auf Probleme innerhalb des Königshauses aufgrund rivalisierender Ansprüche mag auch der Umstand hindeuten, daß der Nachfolger des Abgar VIII. seinen Sohn Ma‘nu zum Mitregenten ernannte (dazu unten). Die Forschung möchte den Legendenzusatz „ΠΑΙC “ nicht als Mittel zur Kennzeichnung des Ma‘nu als Sohn des Abgar VIII. auffassen, sondern vermutet oder behauptet sogar, das Wort stehe für den iranischen Begriff PṢGRYB’ (paṣgribā)27, der wörtlich „der Zweite im Staate“ bedeutet28 und dann im übertragenen Sinn durchaus als „Thronfolger“ verstanden werden kann. Die Deutung des Begriffs ΠΑΙC als Abkürzung für PṢGRYB’ wurde, worauf Ross hingewiesen hat, zuerst von Burkitt im Jahr 1906 vorgeschlagen. Ross stellt fest, diese Deutung sei seitdem allgemein akzeptiert worden.29 Tatsächlich findet sie sich allenthalben in der einschlägigen Literatur. Doch diese Deutung überzeugt keineswegs. Denn es ist nicht ersichtlich, wieso man, hätte man tatsächlich Ma‘nu durch den iranischen Titel PṢGRYB’ ausdrücklich als Thronfolger kennzeichnen wollen, nicht versucht haben sollte, die Lautung des iranischen Wortes vollständig in griechischer Schreibung wiederzugeben, was ein Leichtes gewesen wäre, oder es zumindest in einer Weise abzukürzen, die das intendierte Wort erkennen ließ. Das ist bei „ΠΑΙC “ jedenfalls nicht der Fall.30 Zudem sei an das nicht unwesentliche Faktum erinnert, daß Ma‘nu nicht auf allen Münzen ausdrücklich als ΠΑΙC bezeichnet wird, sondern nur auf denjenigen, auf denen er einen leichten Bart trägt. Wenn es tatsächlich darum gegangen wäre, ihn durch einen entsprechenden Titel zweifelsfrei als Thronfolger zu benennen, bliebe zu erklären, warum dann erst der bärtige Ma‘nu mit dem Titel versehen wurde. Denkbar wäre vielmehr, daß aufgrund der Namensgleichheit mit einem anderen erwachsenen Mitglied des Königshauses, dem Sohn des Abgar (IX.) Severus (der nach dem Tod Abgars VIII. Mitregent des Abgar (IX.) Severus werden sollte), die ausdrückliche Kennzeichnung des bärtigen Ma‘nu auf der Rückseite der Münzen Abgars VIII. als dessen Sohn notwendig geworden war. An der Ablehnung der Deutung des Begriffs ΠΑΙC als Abkürzung für „pa ṣgribā“ ändert auch die Tatsache nichts, daß wir zwei Belege für die Verwendung des Begriffs PṢGRYB’ im edessenischen Raum/Umfeld haben. In einer undatierten Inschrift aus der Zitadelle von Edessa wird „Šalmath, die Königin, Tochter des Ma‘nu PṢGRYB’“ genannt31, und das bereits erwähnte syrische Dokument vom Euphrat (Dokument A), datiert auf den 28. Dezember 240, nennt den 27 Vgl. etwa Luther 2008, 505, Anm. 38: „ΜΑΝNΟC ΠΑΙC, das letzte Wort steht wohl für PṢGRYB’ ,Thron­folger‘“. Luther 1998, 350 f., Anm. 18. hatte dies noch als Frage formuliert: „ΠΑΙC für pa ṣgribā?“. 28 Zum Titel „pa ṣgribā“ und seiner Deutung siehe Luther 1998, 348–352. 29 Ross 1993, 193, mit Anm. 42 (Hinweis auf F. C. Burkitt, The ,Throne of Nimrod‘, Proceedings of the Society of Biblical Archaeology 28 [1906], 149–155; hier 153). Anders als Ross 1993, 193 es darstellt, war Hill 1922 bezüglich der Münzen, die Abgar VIII. mit Mannos zeigen, nicht „puzzled by the apparent identification of this mature individual as παῖϛ“, sondern von dem Umstand, daß nur die Darstellungen des Mannos mit leichtem Bart den Zusatz ΠΑΙC tragen. Vgl. Hill 1922, ci. 30 Irreführend ist daher die Behauptung von Teixidor 1990, 161, Ma‘nu werde auf den fraglichen Münzen als „pa ṣ[gribā]“ bezeichnet. 31 Vgl. Millar 1993, 477 mit Anm. 18. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Ma‘nu pa ṣgribā, Vater des Königs Aelius Septimius Abgar X

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König Aelius Septimius Abgar, „Sohn des Ma‘nu PṢGRYB’, Sohn des König Abgar“.32 Diese Belege für die Verwendung des iranischen Titels erlauben uns nicht, darin eine Bestätigung der Deutung des Wortes „ΠΑΙC “ auf den fraglichen Münzen als Abkürzung für PṢGRYB’ zu sehen, was sich, wie zuvor dargelegt, bereits aufgrund der Buchstabenfolge verbietet. Das ändert selbstverständlich nichts an der Tatsache, daß Abgar VIII. mittels der Prägungen mit der Büste seines Sohnes Ma‘nu diesen als seinen Thronfolger präsentieren wollte. Bliebe zu fragen, ob Abgar VIII. zunächst die Erlaubnis der Römer eingeholt hatte, war er selbst doch römischer Klientelkönig und somit ein König von Roms Gnaden. Im Falle seines Todes hätte die Herrschaftsübernahme des Mannos (Ma‘nu) vom römischen Kaiser erst bestätigt werden müssen. Diese Frage wird sich in Anbetracht des Fehlens entsprechender Informationen nicht beantworten lassen. Höchst seltene Münzen, die Abgar VIII. mit dem Nachfolger des Septimius Severus zeigen33, bezeugen, daß der König auch noch in der frühen Regierungszeit des Caracalla als Klientelkönig der Römer agierte. Wir können nicht einmal sagen, welcher der beiden Kaiser seine Erlaubnis für die Thronfolge des Ma‘nu hätte erteilen müssen, da, wie bereits erwähnt, uns der Zeitpunkt der Prägung der fraglichen Münzen nicht bekannt ist.34 Über Spannungen zwischen Abgar VIII. und dem römischen Kaiser (sei es Septimius Severus, sei es Caracalla) im Verlauf seiner späten Regierungsjahre sind wir nicht unterrichtet, was uns jedoch nicht erlaubt, diese Möglichkeit gänzlich auszuschließen. Doch angesichts der prekären Situation, in welcher sich Abgar VIII. gegenüber Rom befand – zum einen hatte er Geiseln stellen müssen, welche die Römer als Druckmittel für Wohl­ verhalten benutzen konnten, zum anderen war der Besitz seines Reiches und seiner Stellung allein vom Willen Roms/des Kaisers abhängig –, dürfte es Abgar daran gelegen gewesen sein, den Römern keinen Anlaß zu bieten, ihm diese zu nehmen. Sollte die Einrichtung der Pro­ vinz Osrhoene im Jahr 195 einhergegangen sein mit dem Verlust eines größeren Teils seines Herrschafts­gebietes, wie es vom größten Teil der Forschung angenommen wird, so hätte ihm das zweifellos eine Mahnung zu Wohlverhalten sein müssen. Sollte die Provinz Osrhoene zu Lasten anderer Dynasten geschaffen worden sein, so wäre er sich der Gefahr eines möglichen Verlustes wohl gleichermaßen bewußt gewesen. Daher ist die Annahme berechtigt, daß er die fraglichen Münzen mit Erlaubnis der Römer geprägt hat. Schon bald nach dem Tod des Abgar VIII. (vermutlich im Verlauf des Jahres 212)35 sollte es mit der Herrschaft der Abgariden in Edessa vorbei sein, wobei sich die Gründe nicht sicher benennen lassen. Wir dürfen aber vermuten, daß die Partherfeldzugspläne Caracallas eine wichtige Rolle gespielt haben.36

32 P. Euphrates Syr. A, Drijvers – Healey 1999, P2, 237 ff. 33 Babelon 1892 lag nur ein Stück in der Sammlung des „Cabinet de France“ (heute „Bibliothèque Nationale de France“) vor: siehe ebd., 519 f., Nr. 33, Pl. XII, fig. 7. 34 Die Münzen mit dem Thronfolger Ma‘nu könnten entweder in der Regierungszeit des Septimius Severus oder in der frühen Regierungszeit des Caracalla oder unter beiden Kaisern geprägt worden sein. 35 Mit der Feststellung: „Abgar bar Ma‘nu scheint im Laufe des Jahres 212 seinen Thron verloren zu haben“, erweckt Luther 1999, 193 den Eindruck eines gewaltsamen Thronverlustes. Es gibt keine Indizien, die dies rechtfertigen. 36 Patterson 2013, 193 vermutet, es sei Caracalla (der auch den armenischen König absetzte) um die Schaffung einer stabilen Grenze gegangen. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Abgar (IX.) Severus und sein Sohn Ma‘nu Die Regierungszeit seines Nachfolgers Abgar (IX.) Severus, dessen verwandtschaftliches Ver­ hältnis zu Abgar VIII. wir nicht kennen37, war kurz. Pseudo-Dionysius weist ihm eine Re­ gierungs­dauer von einem Jahr und sieben Monaten zu.38 Auf den seltenen Münzen, die seine Büste und diejenige Caracallas zeigen, ist er stets unbärtig dargestellt.39 Die Bartlosigkeit kann zwei Gründe gehabt haben. Entweder war er noch sehr jung oder er pflegte sich zu rasieren. Wenn wir der Überlieferung des Pseudo-Dionysius folgen wollen, so regierte Abgar IX. Severus gemeinsam mit seinem Sohn, und da Pseudo-Dionysius anschließend feststellt, auf Abgar sei dann sein Sohn Ma‘nu gefolgt, dürfen wir wohl davon ausgehen, daß der Sohn, mit dem er regiert hatte, eben dieser Ma‘nu war. Nun wäre die Existenz eines Sohnes des Abgar IX., der als Mitregent fungierte und sei es auch nur nominell, bei erstgenannter Erklärung für die Bartlosigkeit Abgars IX. grundsätzlich abzulehnen. Somit käme nur die zweite Möglichkeit in Betracht. Tatsächlich ist sie nicht von der Hand zu weisen, ist doch der Überlieferung des Cassius Dio (im Exzerpt des Valesius) zu entnehmen, daß der König, nachdem er „die Herrschaft über die verwandten Stämme errungen hatte“ deren Fürsten zwingen wollte, römische Sitten anzunehmen.40 Das legt – unter der Prämisse, daß mit dem genannten Abgar tat­sächlich Abgar Severus gemeint ist – die Vermutung nahe, bei ihm habe es sich um einen romanisierten Herrscher gehandelt. Von daher wäre es nicht weiter verwunderlich, wenn er von der Sitte seiner Vorfahren, einen Bart zu tragen, abgewichen wäre. Es gibt daher keinen Grund, an einer Regierung gemeinsam mit seinem Sohn zu zweifeln. Der erstaunliche Umstand, daß auf Abgar VIII. nicht sein bereits als Thronfolger vorgestellter Sohn Ma‘nu gefolgt war, sondern Abgar IX. Severus, ist in der Forschung unterschiedlich erklärt worden. Babelon zufolge wäre entweder Ma‘nu vor dem Vater gestorben oder Caracalla hätte Gründe gehabt, anstelle des Ma‘nu Abgar (IX.) Severus auf den Thron der Osrhoene zu setzen.41 Ein Ableben des Ma‘nu vor dem Jahr 212, d.h. vor dem Tod des Abgar VIII., vermutete zunächst auch Luther42, der in jüngerer Zeit jedoch davon ausgehen möchte, daß Ma‘nu bei der Thronfolge übergangen wurde.43 Sollte die Thronfolge des Ma‘nu auf seinen Vater Abgar VIII. mit den Römern vereinbart bzw. von ihnen abgesegnet worden sein, so wäre es erstaunlich, 37 Wenn Segal 1982/2011 ihn als Sohn des Abgar VIII. bezeichnet, so ist das eine Vermutung. Denn das verwandtschaftliche Verhältnis wird weder von Pseudo-Dionysius noch von Jakob von Edessa bzw. Michael Syrus überliefert. 38 Pseudo-Dionysius von Tell-Maḥre zum Jahr 2203: „And over Orhai Abgar Severus (SWRWS) reigned with his son for 1 year and 7 months“. Zitiert nach Millar 1993, 561. 39 Nur ein einziges Stück konnte Hill 1922, 96, Nr. 38 aus der Sammlung des British Museum aufführen; die Rückseitenlegende läßt zumindest den Namen CΕΟΥΗ (ροϛ) erkennen: Pl. XIV 10. Bei Babelon finden sich zwei Exemplare mit völlig verwilderter Legende: Babelon 1892, 522 f., Nr. 36–37, Pl. XII, figs. 10 u. 11. 40 Cass. Dio, im Exzerpt des Valesius (Exc. Val. 369), nach der Übers. von O. Veh, Bd. 5, S. 396 (Cass. Dio 78,12,1). Cassius Dio stellt es allerdings so dar, als habe er dies nur zum Schein getan: „In Wirklichkeit aber mißbrauchte er in maß­loser Weise seine Macht über sie.“ Hierbei dürfte es sich um eine Interpretation des Autors handeln, da sich der König selbst kaum entsprechend geäußert haben dürfte. 41 Babelon 1892, 521. Ebd., 507: hier nur Tod des Ma‘nu vor seinem Vater. Vom „Thron der Osrhoene“ könnte freilich für diese Zeit nur dann gesprochen werden, wenn das Königreich im Jahr 195 im Rahmen der Schaffung der römischen Provinz Osrhoene nicht, wie zumeist angenommen, stark verkleinert und auf das Gebiet von Edessa und Umland gegrenzt worden wäre. 42 Luther 1998, 351, Anm. 18. 43 Luther 2008, 505. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Ma‘nu pa ṣgribā, Vater des Königs Aelius Septimius Abgar X

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wenn sich dann ein anderer Kandidat gegen den Willen der Römer des Thrones bemächtigt hätte. Pseudo-Dionysius gibt, wie schon erwähnt, für die gemeinsame Herrschaft von Abgar Severus und seinem Sohn (Ma‘nu) ein Jahr und sieben Monate an und für Ma‘nu eine Regierungszeit von 26 Jahren an. Dem Bericht des Cassius Dio im Exzerpt des Xiphilinos ist zu entnehmen, daß sich Caracalla des Königs „Abgaros“, bei dem es sich nur um Abgar IX. handeln kann, in hinterlistiger Weise bemächtigte, indem er ihn zu sich einlud und ihn dann gefangennahm. Anschließend soll er die Osrhoene unterworfen haben, die keinen König mehr besaß.44 Hier kann Cassius Dio allerdings nur Gebiete der Osrhoene gemeint haben, welche noch nicht Teil der römischen Provinz waren. Wenn Dio feststellt, daß die Osrhoene keinen König mehr besaß, so berechtigt das freilich nicht zu der Annahme, daß Caracalla das Königtum gänzlich abschaffte. Das sagt der Text nicht aus. Darauf ist später noch zurückzukommen. Die Identität des Ma‘nu pa ṣgribā und sein Titel in der Forschungsdiskussion In der Forschung herrscht keine Einigkeit darüber, ob Abgar IX. Severus tatsächlich entweder für ein Jahr und sieben Monate45 oder auch nur für sieben Monate46 gemeinsam mit seinem Sohn Ma‘nu regiert hat. Von einigen wird dieser Ma‘nu als der „Ma‘nu pa ṣgribā“ identifiziert, der als Vater des Aelius Septimius Abgar (X.) in Dokument A genannt wird.47 Nach der Absetzung des Vaters soll er nicht den Königstitel getragen haben, sondern den Titel „Thronfolger“ oder „Kronprinz“.48 Von anderen wird die Ansicht vertreten, bei Ma‘nu, Vater des Aelius Septimius Abgar, habe es sich um den Sohn des Abgar (VIII.) bar Ma‘nu gehandelt, welcher entweder als Nachfolger des Abgar VIII.49 oder des Abgar (IX.) Severus50 gesehen wird. Die Aussagen Luthers sind widersprüchlich. Während er zunächst die Ansicht vertrat, bei Ma‘nu handele es sich „mit aller Wahrscheinlichkeit“ um den Sohn des Abgar (IX.) Severus51, stellt er in einer jüngeren Publikation bezüglich des Aelius Septimius Abgar (X.) fest: „(...) die44 Cass. Dio im Exzerpt des Xiphilinos 332,1 nach der Übers. v. O. Veh, Bd. 5, S. 396 (Cass. Dio 78,12,1). 45 Ross 2001, 61: Herrschaft zusammen mit dem Sohn Ma‘nu. Er lehnt zu Recht Bemühungen in der Forschung ab, die entsprechende Nachricht des Pseudo-Dionysius (Ross spricht, statt von PseudoDionysius, von der ,Chronik von Zuqnin‘) als unzuverlässig zu diskreditieren: „The reason for the youthful coin portrait of ,Severus Abgar‘ may remain a mystery, but is is better to let that mystery stand than to contradict the written sources unnecessarily or to rearrange them arbitrarily, as if the coins were a photographic record of the contemporary ruler’s age and appearance.“ 46 Luther 1999, 193 (Vermutung). Gnoli 2000, 76 („per pochi mesi nel 212–213“) und Sommer 2005, 242, Anm. 65, schließen sich Luther an. 47 So stellt Gnoli 2000, 82 ausdrücklich fest, daß mit der Übertragung der hypateia an Aelius Septimius Abgar die Erblinie unangetastet blieb: „(...) lasciando però intatto l’asse ereditario: Ma‘nu rimase pa ṣgribā (e non assunse quindi il nomen regale di Abgar) in quanto non ebbe mai la hypateia“. 48 Luther 1998, 351 („Titel eines Königssohnes“); Sommer 2005, 242 mit Anm. 67 („Kronprinz“). 49 Teixidor 1989, 221 u. 1990, 161 (es wird eine Verwechslung des Abgar Severus mit Aelius Septimius Severus angenommen). Eine Identifizierung des Großvaters des Aelius Septimius Abgar mit Abgar VIII. ver­treten auch Drijvers – Healey 1999, 242. 50 Segal 1982/2011. Nicht entscheiden mag sich im Hinblick auf den Vater Millar 1993, 562, der Ma‘nu aber als Nachfolger des Abgar Severus sieht. 51 Luther 1998, 351; Luther 1999, 193 f. („Der bei PD erwähnte Ma‘nu, der 26 Jahre regiert haben soll, scheint kein anderer zu sein als der in Dokument A erwähnte Vater des Aelius Septimius Abgar, der Ma‘nu pa ṣgribā genannt wird.“). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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ser war Sohn des ,Kronprinzen‘ (PṢGRYB’) Ma‘nu und Enkel des Königs Abgar (offenbar des bis 212/21352 regierenden)“, womit hier eindeutig Abgar VIII. gemeint ist.53 Luther behauptet, Pseudo-Dionysius vermerke, der Vater des Aelius Septimius Abgar, „der ,Kronprinz‘ Ma‘nu“ habe 26 Jahre lang (also von 213/14 bis 239/40) geherrscht“54, doch das entspricht keineswegs dem Wortlaut der Quelle. Denn dort wird Ma‘nu weder als Vater des Aelius Septimius Abgar bezeichnet, den Pseudo-Dionysius ja nicht einmal kennt, noch gar als ,Kronprinz‘. Widersprüchlich äußert sich auch Sommer im Hinblick auf den Vater des Man‘nu paṣgribā, und das in ein und derselben Publikation. Nachdem er zunächst festgestellt hat: „Sicher ist, daß ein Ma‘nū, Vater des späteren Königs Abgar X., und vermutlich Sohn des von Caracalla abgesetzten Abgar IX. Severus, für sich den Titel pa ṣgribā („Kronprinz“) behielt“55, behauptet er nur zwei Seiten später: Ma‘nū, der Sohn Abgars VIII. (sic!), hielt – gleichsam als ,king-in-waiting‘ – an dem Prestigetitel pa ṣgribā („Kronprinz“) fest und so (...) den Anspruch der Dynastie auf fortgesetzte Herrschaft wenigstens symbolisch aufrecht.56

Wie es zur Nachfolge des Ma‘nu, Sohn des Abgar VIII., auf Abgar (IX.) Severus gekommen sein soll, wird, wie schon bei Luther, nicht thematisiert. Während, wie dargelegt, für die Zuweisung des Titels „pa ṣgribā“ an Ma‘nu, Sohn des Abgar VIII., numismatische Zeugnisse angeführt werden können, wird doch seine Büste auf den Rückseiten sehr seltener Münzen seines Vaters dargestellt, was eine Stellung als Thronfolger nahelegt, vermissen wir für die Identifizierung des Ma‘nu paṣgribā als Sohn des Abgar (IX.) Severus – es hätte in diesem Fall zwei pa ṣgribā innerhalb kürzester Zeit gegeben – eine plausible Begründung. Nicht nur dies: Es bliebe zu erklären, warum der von Pseudo-Dionysius ausdrücklich als Mit­regent dargestellte Sohn des Abgar (IX.) Severus sich nach der Gefangennahme seines Vaters den Thronfolgertitel zugelegt haben sollte. Denjenigen, die diese Ansicht vertreten, dient als alleinige Basis das bereits erwähnte Doku­ ment vom Euphrat, datiert vom 28. Dezember 24057 (Dokument A), in welchem der letzte uns bekannte König aus dem osrhoenischen Königshaus, Aelius Septimius Abgar, als „Sohn des Ma‘nu PṢGRYB’, Sohn des König Abgar“ bezeichnet wird.58 Auf der Basis dieser Genealogie hat man einfach vorausgesetzt, daß der Vater des Aelius Septimius Abgar mit dem Ma‘nu, dem Pseudo-Dionysius 26 Jahre zuweist, identisch ist.59 Dabei wurde darauf hingewiesen, daß sich 52 Luther 1999, 195 vertrat noch andere Datierungen: Für das Ende der Herrschaft des Abgar bar Ma‘nu (Abgar VIII.) das Jahr 212, für die Herrschaft des Abgar Severus mit seinem Sohn die Jahre 212–213. 53 Luther 2008, 506 mit Anm. 43 (Hinweis auf P. Euphrates Syr. A , Drijvers – Healey 1999, P 2). 54 Luther 2008, 506, Anm. 42. 55 Sommer 2005, 242, Anm. 67. 56 Sommer 2005, 244 mit Anm. 71. 57 P. Euphrates Syr. A, Drijvers – Healey 1999, P 2, 237 ff. 58 Siehe u.a. Millar 1993, 562, der neben die Nachricht des Pseudo-Dionysius von der 26-jährigen Herrschaft des Ma‘nu, Sohn des Abgar Severus, als „contemporary evidence“ (und somit als Bestätigung) die syrische Pergamenturkunde (= Dokument A) setzt. Gnoli 2007, 50 behauptet sogar unter Hinweis auf Dokument A: „It is actually certain that Ma’nu (sic!) never reigned, because that way he is defined in P2, a Syriac act (...)“. 59 Siehe etwa Gnoli 2007, 50, der eigens einen Irrtum des Pseudo-Dionysius postuliert, um Ma‘nus Herr­ schaft als König ablehnen zu können: „During all this long period the royal family was represented by a © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Ma‘nu pa ṣgribā, Vater des Königs Aelius Septimius Abgar X

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die 26 Jahre in die Lücke zwischen dem Ende der Herrschaft des Abgar Severus (213) und dem Beginn der Herrschaft des Aelius Septimius Abgar (238/39) fügen. Als Bei­spiel soll Luthers Argumentation dienen, die bezeichnenderweise auf Vermutungen basiert: Der bei PD erwähnte Ma‘nu, der 26 Jahre regiert haben soll, scheint kein anderer zu sein als der in Dokument A erwähnte Vater des Aelius Septimius Abgar, der Ma‘nu paṣgribā genannt wird.60

Dieser scheine, so Luther, den Titel paṣgribā („etwa“ in der Bedeutung „Kronprinz“) „in der Zeit geführt zu haben, als der Königsthron vakant war“ (gemeint ist die Zeit nach der Ab­ setzung des Abgar Severus durch Caracalla). Luther stellt schließlich fest: Der Zeitabschnitt zwischen der ,Befreiung der Stadt‘ [gemeint ist die Verwandlung Edessas in eine colonia] und dem Beginn der Herrschaft seines Sohnes Aelius Septimius Abgar (213–239) ergibt aber exakt die Anzahl von Jahren, die Ma‘nu nach PD geherrscht haben soll.61

Doch auch wenn sich die 26 Jahre in die Lücke zwischen dem Ende des Abgar Severus und dem Beginn der Herrschaft des Abgar X. fügen, so bedeutet das nicht zugleich, daß der von Pseudo-Dionysius genannte Ma‘nu, ob er von der Forschung nun als Sohn und Nachfolger des Abgar Severus oder als Sohn des Abgar VIII. gesehen wird, über den Zeitraum von 26 Jahren den Titel paṣgribā trug. Als Beweis dafür, daß Ma‘nu (IX.) niemals als König herrschte, führte Babelon den Umstand an, daß es von ihm keine Münzen gibt.62 Das ist kein gültiges Argument, denn da sich Edessa mit der Münzstätte seit dem Jahr 213 in römischer Hand befand und Teil der römischen Provinz Osrhoene war, welche einem vom Kaiser eingesetzten Amtsträger unterstand und zusammen mit Syria Coele verwaltet wurde, ist es nicht weiter erstaunlich, daß dort keine Münzen für Ma‘nu geprägt wurden. Es kann nicht stark genug betont werden: Wenn die Forschung Ma‘nu pa ṣgribā, dem durch das Dokument A bezeugten Vater des Aelius Septimius Abgar, eine „semi-official position“63 zuweist und ihn als „kind of king-in waiting“64 oder ausdrücklich als „king-in waiting“65 bezeichnet, so beruht das allein auf der unbewiesenen und zudem der Überlieferung des PseudoDionysius widersprechenden Annahme, der Nachfolger des Abgar Severus habe 26 Jahre lang den Thronfolgertitel getragen. Behauptungen wie diejenige von Gawlikowski (auf der Basis

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certain Ma’nu (sic!) pa ṣgribā, ,crown prince‘, and it is very interesting that the Ps. Dionysus (sic!) of Tell Maḥre made a mistake, attributing this person a reign lasting twenty-six years.“ Vgl. hierzu auch Teixidor 1990, 161: „Le Maanū pa ṣgribā de notre premier document doit être probablement identifié au Maanū qui, selon pseudo-Denys de Tellmahrê, régna 26 ans (...)“. Luther 1999, 193 f. Noch etwas dezidierter stellte Luther 1998, 351 zur Identität des Ma‘nu fest: „Der hier genannte pa ṣgribā Ma‘nu ist mit aller Wahrscheinlichkeit identisch mit dem in der syrischen Uni­versal­ chronik des Pseudo-Dionysius (...) erwähnten Sohn des Königs Abgar IX. Severus, Ma‘nu, der zwischen 213 und 239 in Edessa ‚geherrscht‘ haben soll, nachdem Caracalla 213 König Abgar Severus festnehmen ließ und das Königtum zeitweilig abschaffte.“ Es sei betont, daß Pseudo-Dionysius keineswegs behauptet, Ma‘nu habe in Edessa geherrscht. Babelon 1892, 525; er betrachtet Ma‘nu als Sohn des Abgar Severus. Drijvers – Healey 1999, 35. Drijvers – Healey 1999, 35. Millar 1993, 477; Sommer 2005, 244 mit Anm. 71 schließt sich Millar an. Siehe schon Babelon 1892, 507: „roi titulaire“. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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von Dokument A): „It is now clear that Ma‘nu was merely the heir apparent, never to rule“66, täuschen eine Sicherheit vor, die tatsächlich nicht gegeben ist. Es ist befremdlich, daß man zwar die 26 Jahre, die Pseudo-Dionysius dem Ma‘nu, Sohn des Abgar (IX.) Severus als Herrschaftsjahre zuweist, übernommen hat, nicht aber seine An­ gabe, Ma‘nu habe als König geherrscht. Noch befremdlicher ist angesichts der offenkundigen Unsicherheiten der Forschung im Hinblick auf die Identifizierung des in Dokument A genannten Vaters des Aelius Septimius Abgar der Umstand, daß man aus seinem Titel so weit­reichende Schluß­folgerungen hat ziehen wollen, wie u. a. Sommer, der darin zunächst ein Zeichen für Realitäts­ferne und einen entsprechenden Thronanspruch sehen wollte: (...) die Abgariden­dynastie war noch nicht vollständig in den neuen Realitäten angekommen und fand sich nicht mit der von Rom verordneten Provinzialisierung ab.67

Andernorts wird daraus eine Hoffnung auf Restitution des Königtums; Sommer stellt bezüglich Ma‘nus als ein Faktum fest: In the long run, he was not to be disappointed. His son Aelius Septimius Abgar (...) became Orhoene’s last short-ruling king (...)68

Auch Gawlikowski schließt aus dem Titel „pa ṣgribā“ auf die innere Verfaßtheit des Trägers, der aber letztendlich in seinen Hoffnungen enttäuscht worden wäre: The prince Ma‘nu waited for his chance in vain for 26 years, until he disappeared in 239.69

Aelius Septimius Abgar, Sohn des Ma‘nu pa ṣgribā, des designierten Thronfolgers des Abgar VIII. Da für Abgar (IX.) Severus keine Münzen mit seinem Sohn Ma‘nu bekannt sind und wir nur einen einzigen Ma‘nu kennen, der als Thronfolger auf Münzen des Vaters dargestellt ist, und das ist der Sohn des Abgar VIII., ist es mehr als wahrscheinlich, daß Aelius Septimius Abgar der Sohn eben dieses MANNOC/MANNOC ΠΑΙC und der Enkel Abgars VIII. war. Die einfachste Lösung des Problems, warum der Vaters des Aelius Septimius Abgar in der Genealogie des Königs in Dokument A mit dem Thronfolgertitel versehen ist, eine Lösung, die sich mit dem Quellenmaterial ohne Widersprüche vereinbaren läßt, ist die, in Ma‘nu einen ephemeren Thronfolger zu sehen, der noch vor dem Tod des Abgar VIII. starb oder wider Erwarten nicht auf den Vater folgte. Vielmehr folgte an seiner statt Abgar Severus und nach diesem dessen Sohn Ma‘nu. Da wir Ma‘nu paṣgribā, Sohn des Abgar VIII., nicht mit dem von PseudoDionysius genannten Ma‘nu, zunächst Mitregent des Abgar Severus, anschließend für 26 Jahre König, gleichsetzen dürfen, können wir ihm auch nicht diese 26 Jahre zuweisen.

66 Gawlikowsi 1998, 425. 67 Sommer 2005, 244. Siehe auch ebd., 242, Anm. 67: „Das Festhalten am Kronprinzen-Titel (...) ist wohl so zu deuten, daß sich die Abgariden nicht mit dem Thronverlust abfinden mochten“. 68 Sommer 2010, 223. In diesem Fall hätte Ma‘nu die Königserhebung des Aelius Septimius Abgar noch erlebt. Damit formuliert Sommer, vermutlich ohne sich dessen bewußt zu sein, nur eine weitere nicht zu beweisende Hypothese, durch die das historische Konstrukt des Schicksals des über mehr als zweieinhalb Jahrzehnte auf den Thron hoffenden Ma‘nu mit einem glücklichen Abschluß versehen wird. 69 Gawlikowski 1998, 426. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Ma‘nu pa ṣgribā, Vater des Königs Aelius Septimius Abgar X

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Aelius Septimius Abgar war nicht der Sohn eines „Königs in Wartestellung“, sondern lediglich der Sohn des Thronfolgers des Abgar VIII. Die Genealogie, die für Aelius Septimius Abgar in Dokument A angegeben wird, dient dazu, seine Abstammung aus königlichem Haus zu bezeugen. Der König konnte sich nur über den Großvater als Nachkomme eine Königs bezeichnen, doch zumindest rückte die Stellung, die sein Vater besessen hatte, ihn in die unmittelbare Nähe des Thrones. Eine andere Person aus dem osrhoenischen Königshaus führte sich gleichfalls auf den Thron­ folger Ma‘nu zurück. Die in der eingangs erwähnten undatierten Inschrift aus der Zita­delle von Edessa genannte „Šalmath, die Königin, Tochter des Ma‘nu PṢGRYB’“. Bei ihr könnte es sich entweder um die Frau des Abgar (IX.) Severus, oder um die Frau seines Nach­folgers Ma‘nu70 gehandelt haben. Auch die Möglichkeit, daß sie ihren Bruder Aelius Septimius Abgar geehelicht hat, ist nicht mit Sicherheit auszuschließen. Zur Frage einer Herrschaft des Abgar Šapirā Im Hinblick auf die Rekonstruktion der Königsabfolge im frühen 3. Jahrhundert tritt noch ein weiteres Problem hinzu, das hier nur kurz angesprochen werden soll. Der Überlieferung des Elias von Nisibis folgend, der für das Jahr 218/219 einen Abgar Šapirā erwähnt, hat Luther diesen als König in die Liste der Könige aufgenommen. Pseudo-Dionysius, der Abgar Šapirā nicht kennt, läßt das Königreich der Edessener unter Elagabal enden. Er berichtet (zum Jahr 2233) vom Tod des Caracalla und Macrinus und fährt fort: Und nach ihm herrschte Antoninus Elagabal. Hier endete auch das Königreich der Edessener, die 352 Jahre lang die Regierung ihres Königreichs innehatten, und sie standen nun unter der Gewalt der Römer.71

Daher möchte Luther davon ausgehen, daß Abgar Šapirā „während der ,Herrschaftsjahre‘ des paṣgribā Ma‘nu von 218/219 bis 220/221“ regierte; eine Verwechslung mit Abgar Severus lehnt er ausdrücklich ab.72 Gnoli ist dieser Ansicht gefolgt.73 In einer jüngeren Publikation stellt Luther jedoch fest, es sei unklar, ob Abgar Šapirā mit Abgar Severus zu identifizieren sei oder von ihm zu trennen.74 Erstere Möglichkeit würde aber implizieren, daß der im Jahr 213 von Caracalla gefangengenommene König wieder auf den Thron zurückgekehrt wäre. Er hätte für wenige Jahre die von Luther und anderen als rein nominell betrachtete Herrschaft des Ma‘nu (dem Pseudo-Dionysius 26 Jahre der Herrschaft zuweist) unterbrochen. Diese Unterbrechung der „Herrschaft“ des Ma‘nu durch Abgar Šapirā wird von Luther ausdrücklich als Faktum formuliert.75 Als „nachweisbar“ bezeichnet er sie zuletzt.76 Die Einsetzung des Abgar Šapirā als 70 In diesem Fall würde ihr Titel „Königin“ beweisen, daß Ma‘nu offiziell den Königstitel führte, wie bereits die Überlieferung des Pseudo-Dionysius belegt. Doch da die Inschrift undatiert ist, bleibt das Spekulation. 71 Zitiert nach Luther 1999, 185. 72 Luther 1999, 194 f. 73 Gnoli 2000, 76–77. Er weist Abgar Šapirā zwei bis drei Jahre zu: ebd., 79. Die Nachricht des PseudoDionysius vom Ende des Königreichs der Edessener zur Zeit des Elagabal hält er für unglaubwürdig. 74 Luther 2008, 506 mit Anm. 41. 75 Luther 1999, 196: „Entgegen der herrschenden Auffassung ist (...) die als Königsherrschaft gezählte „Re­ gent­schaft“ des pa ṣgribā Ma‘nu durch Abgar Šapirā unterbrochen worden“. 76 Luther 2008, 506, Anm. 41. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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König durch den Kaiser, in welcher Luther eine Maßnahme des Elagabal „zur Stabilisierung der östlichen Reichsteile zu B­eginn seiner Regierung“ sehen möchte77, läßt sich allerdings nicht mit seiner Ansicht vereinbaren, Ma‘nu sei „sicher der potentielle Träger der Königswürde, der Inhaber der dynastischen Legitimation im Falle der Wiederherstellung des Königreiches, der Thronprätendent“ gewesen.78 In diesem Fall hätte der Kaiser im Jahr 218/219 doch wohl Ma‘nu paṣgribā als den „potentiellen Träger der Königswürde“ eingesetzt und nicht den im Jahr 213 abgesetzten Abgar Severus oder einen anderen Mann. Grundsätzlich ist zu fragen, ob es methodisch gerechtfertigt ist, die Angabe des PseudoDiony­sius zu den 26 Jahren der Herrschaft des Ma‘nu (von Luther gedeutet als Ma‘nu pa ṣgribā) ebenso zu übernehmen, wie seine dieser Nachricht widersprechende Angabe zum Ende des Königreichs der Edessener in der Zeit des Elagabal und diese dann mit der Nachricht des Elis a von Nisibis von der Herrschaft eines Abgar Šapirā zu verbinden. Wie bereits die Unsicherheit der Forschung im Hinblick auf die Identität des Abgar Šapirā zeigt, scheinen wir bezüglich seiner Historizität vor einem unlösbaren Problem zu stehen, zumal er nur von Elias von Nisibis erwähnt wird. Es sei noch einmal daran erinnert, daß die Forschung lange Zeit ausschließlich auf der Basis der Münzen aus Edessa, welche die Büste Gordians III. auf der Vorderseite und auf der Rückseite ein Bildnis des Königs Aelius Septimius Abgar (X.) zeigen, die Einsetzung Abgars X. durch den Kaiser postuliert hat. Auch die jüngere Forschung, nun zusätzlich gestützt auf Dokument A, das freilich für eine solche Einsetzung des Königs durch den Kaiser im Sinne einer Restitution des Königtums keinen Beleg bietet, möchte die Münzen in diesem Sinne deuten. Doch die Frage, warum von der Existenz des Abgar Šapirā keine Münzen zeugen, obwohl vorausgesetzt wird, daß ihm von Elagabal eigens „der Königstitel übertragen“ wurde und er als Klientelkönig fungierte,79 wurde meines Wissens noch nicht gestellt. Die Herrschaft des Ma‘nu (IX.), Sohn des Abgar Severus Die Frage, welche politische Rolle Ma‘nu, Sohn des Abgar Severus, in den 26 Jahren seiner Herrs­chaft gespielt hat, ist auf das engste verbunden mit der Frage nach dem Schicksal des König­reichs ab dem Jahr 212/213. Wie Cassius Dio berichtet, unterwarf Caracalla nach der Ge­fangen­nahme des Königs Abgar (IX.) die Osrhoene, welche „keinen König mehr besaß“.80 Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß von einer Unterwerfung „der“ Osrhoene nicht gesprochen werden kann, da sich bereits zuvor Teile der Osrhoene als gleichnamige Provinz in römischer Hand befunden hatten. Mit den fraglichen Gebieten können folglich nur solche gemeint sein,

77 L­uther 2008, 507. Luther 1999, 194, mit Anm. 50 wollte noch in der Einsetzung eine Fortsetzung der Politik vermuten, welche Macrinus mit der Einsetzung des Tiridates von Armenien betrieben habe. Tatsächlich wurde Tiridates nur nachträglich als Klientelkönig bestätigt. Siehe Mosig-Walburg 2009, 66 f. Grundsätzlich bliebe zu fragen, ob die Politik einer willkürlichen Absetzung (213) und erneuten Einsetzung eines Königs (218/219), entsprechend den aktuellen Bedürfnissen des Kaisers (noch unter Elagabal soll das Königtum dann wieder abgeschafft worden sein) tatsächlich dazu hätte beitragen können, die Region der Osrhoene zu stabilisieren. Sie dürfte eher das Gegenteil bewirkt haben, eine De­ stabilisierung, denn man wird diese Politik wohl nicht als loyalitätsfördernd bezeichnen wollen. 78 Luther 1998, 352. 79 Luther 1999, 194, mit Anm. 50. 80 Cass. Dio im Exzerpt des Xiphilinos (332,1) nach der Übers. v. O. Veh, Bd. 5, S. 396 (Cass. Dio 78,12,1). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Ma‘nu pa ṣgribā, Vater des Königs Aelius Septimius Abgar X

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welche Abgar Severus b­­is zum Zeitpunkt der Gefangennahme unterstanden81, was jedoch nicht ausschließt, daß einige Gebiete dem Königreich erhalten blieben. Wir sind über den Charakter der Mitregentschaft des Sohnes des Abgar Severus nicht informiert. Er wird von Dio nicht erwähnt, doch das besagt gar nichts, da Dios Überlieferung nur in Exzerpten erhalten ist. Wie schon eingangs betont, besitzen wir – bis auf eine Ausnahme (punktueller Grenzverlauf ca. 40 km westlich Edessas82) – keine Kenntnis über die Ausdehnung des osrhoenischen Königreiches mit der Hauptstadt Edessa vom Zeitpunkt der Gründung der Provinz Osrhoene (195) bis zum Ende der Herrschaft des Abgar Severus. Aufschlußreich scheint in dieser Frage die Nachricht des Cassius Dio (im Exzerpt des Valesius) zu sein, ein nicht näher bezeichneter Abgar (der von der Forschung zumeist mit Abgar Severus gleichgesetzt wird) habe „die Herrschaft über die verwandten Stämme errungen“.83 Ganz gleich, ob Cassius Dio hier von Abgar Severus oder von Abgar VIII. berichtet: Seine Nachricht bezeugt eine gewaltsame Ausdehnung des Königreichs auf Initiative des Königs selbst in der Zeit der Unterstellung unter römische Oberhoheit. Die dabei gewonnenen Gebiete müssen notwendigerweise zu einer Vergrößerung des Königreichs über die ursprünglichen Grenzen des von den Königen regierten Teils der Osrhoene hinaus geführt haben, und daher wäre anzunehmen, daß Caracalla, als er den König gefangensetzte, nur osrhoenisches Gebiet, das seit Septimius Severus der römischen Oberhoheit unterstanden hatte, vereinnahmte. Doch selbst auf dem ehemaligen Gebiet des Klientelkönigtums dürften die Mitglieder des Königshauses auch weiterhin Landbesitz ihr eigen genannt haben.84 Der letzte der Könige, Aelius Septimius Abgar, residierte wohl in einer Stadt südwestlich Edessas: in ‚HayklāNeu-Karkā d-Ṣaydā des Königs Abgar‘.85 Die Ansichten der Forschung im Hinblick auf das Weiterbestehen eines Königreichs gehen allerdings weit auseinander. Während eine Mehrheit das Ende des Königreichs mit der Gefangennahme des Abgar Severus im Jahr 213 vertritt86, vermutet Luther ein Weiter­bestehen: Das bisherige Königreich Osrhoene behielt offenbar einen autonomen Status.87

Das widerspricht jedoch der Nachricht des Cassius Dio von der Vereinnahmung „der Osrhoene“, welche zumindest eine Reduktion des Königreiches nahelegt. Da Luther seine ursprüngliche Datierung der Verwandlung Edessas in eine colonia im Gefolge der Absetzung des Abgar Severus jüngst geändert hat und zwar zugunsten einer Datierung in die Zeit nach dem Tod des Abgar VIII., aber noch vor der Absetzung des Abgar Severus, läßt sich aus seiner Feststellung, Edessa sei „offenbar permanent vom Gebiet des Königreichs abgetrennt“88 worden, nicht sicher ableiten, ob er dies nur für den Zeitraum bis zur Absetzung des Abgar Severus vermu81 Folgen wir der bereits erwähnten Überlieferung des Jakob von Edessa (ed. Brooks, 282), so setzte der Kaiser anstelle des Königs als Hegemon einen gewissen Aurelianus, Sohn des Ḥabsāy ein. 82 Vgl. Speidel 2007, 415, mit Anm. 62. 83 Cass. Dio, im Exzerpt des Valesius (369), nach der Übers. von O. Veh, Bd. 5, S. 396 (Cass. Dio 78,12,1). 84 Es sei in diesem Zusammenhang an den armenischen König erinnert, den Caracalla gleichfalls hatte gefangennehmen lassen. Wir erfahren von Cass. Dio 79,27,4, daß er über Besitzungen auf römischem Reichs­boden in Cappadocia verfügte. 85 Dokument A = P. Euphrates Syr. A, Drijvers – Healey 1999, P 2, 238, Z. 6. 86 Segal 1982/2011: „Later rulers of the dynasty must have governed in name.“ Drijvers – Healey 1999, 39: Annexion des Königreichs. Ross 2001, 58: „interruption of royal rule“. Sommer 2010, 222: „The autonomy of a client kingdom was converted into that of a ,free‘ polis“. 87 Luther 1999, 192. 88 Luther 2008, 505. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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tet. Doch da er für die Folgezeit von einer Vakanz des Thrones89 sowie von der Osrhoene als „Provinz und Rumpfkönigreich“ spricht90, geht er offensichtlich von kontinuierlicher Existenz eines Königreichs auf osrhoenischem Boden aus. Hier bliebe zu fragen, warum die Römer ein König­reich ohne König erhalten haben sollten, in dem zudem, wie Luther meint, ein Mitglied des Königshauses 26 Jahre lang darauf wartete, auf den Thron gesetzt zu werden. Eine solche Situation hätte immerhin das Risiko politischer Instabilität an der Ostgrenze mit sich gebracht, welche die Römer spätestens angesichts der von den Sasaniden seit den späten 20er Jahren ausgehenden Gefährdung zweifellos zu vermeiden getrachtet hätten. Die Vakanz des Thrones leitet Luther aus der Nachricht des Jakob von Edessa von der Ein­ setzung des Aurelianus, Sohn des Ḥabsāy, als Hegemon anstelle des abgesetzten Königs (Abgar Severus) ab.91 Diese Nachricht ist nicht notwendigerweise in dem Sinne zu verstehen, daß Aure­ lianus über das Königreich gesetzt wurde. Zu beachten ist die sich anschließende Information, daß eine Zwangsabgabe auferlegt wurde92, was eher dafür spricht, daß Aurelianus für die annektierten Gebiete verantwortlich war, in denen die Untertanen des Königs nun zu steuerpflichtigen Bürgern des römischen Reiches geworden waren. Die unterschiedlichen Nachrichten, welche eine mehrfache Abschaffung des Königtums, bzw. eine ununterbrochene Fortsetzung der Königsreihe über Ma‘nu, Sohn des Abgar (IX.) Severus, bis hin zu Aelius Septimius Abgar nahelegen, sprechen nicht gegen ein Weiterbestehen des Königtums nach der Gefangennahme des Abgar Severus. Denn die vermeintlichen Widersprüche lösen sich problemlos auf, wenn wir für die Zeit nach der Absetzung des Abgar Severus und der Verwandlung Edessas in eine colonia, d.h. für die Zeit nach dem Ende des in der Hauptstadt Edessa angesiedelten Königtums, von einem kontinuierlichen Weiterbestehen eines Königtums an einem anderen Ort ausgehen, und nicht nur von einem Weiterbestehen der königlichen Linie.93 Nach dem Ende der Herrschaft in Edessa (und Umland) dürfte sich die Königsherrschaft auf ein Territorium innerhalb (als Enklave) und außerhalb der Grenzen der römischen Provinz Osrhoene erstreckt haben. Es ist bemerkenswert, daß Pseudo-Dionysius, im Gegensatz zu seinen Angaben zu den vorangehenden Königen bis hin zu Abgar Severus, bezeichnenderweise für Ma‘nu, Sohn des Abgar Severus, nicht von einer Herrschaft in Orhai/Edessa spricht. Folglich muß ihm – oder besser seiner Quelle – bekannt gewesen sein, daß sich die Hauptstadt in römischer Hand befand. Der Annahme, daß Ma‘nu tatsächlich als König 26 Jahre lang über ein eigenes Reich regiert hat, steht nichts mehr im Wege, nachdem wir ihn von dem vermeintlichen Titel paṣgribā befreit haben. Diesen Titel dürfen wir ausschließlich Ma‘nu, dem Sohn und ephemeren Thronfolger des Abgar bar Ma‘nu (Abgar VIII.) zuweisen, dem Vater des Aelius Septimius Abgar (X.), der offensichtlich schon vor dem Tod des Abgar VIII. von der politischen Bildfläche verschwunden war, dessen Sohn Aelius Septimius Abgar jedoch Ma‘nu, dem Sohn des Abgar (IX.) Severus, in der Herrschaft folgte.

89 Luther 2008, 505 f. 90 Luther 2008, 507. 91 Luther 2008, 506 mit Anm. 44. Gawlikowski 1998, 427 dagegen möchte diese Nachricht auf das Ende der Herrschaft des Aelius Septimius Abgar beziehen. 92 Jakob von Edessa (ed. Brooks), 282. Michael Syrus 78, Übers.: Chronique de Michel le Syrien, Patriarche jacobite d’Antioche (1166–1199). Éditée par J.-B. Chabot, Paris 1899, 120. 93 So Gnoli 2000, 79: „La monarchia edessena continuò ad esistere, quanto meno in linea di principio (...)“. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Ma‘nu pa ṣgribā, Vater des Königs Aelius Septimius Abgar X

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Augustus versus Phraates IV . Some Remarks on the Parthian-Roman Relations* Marek Jan Olbrycht Under Augustus Rome achieved political and economic stabilisation and exerted considerable diplomatic pressure on the Parthian empire. The Arsakid King of Kings Phraates IV (c. 37–3 BC) kept his ground in the rivalry with the Roman Empire1 and Augustus deliberately avoided open military confrontation with Parthia. This is a key point to note for the understanding of relations between the Arsakid state and Rome in this period.2 The aim of this paper is to provide a framework for understanding two aspects in the Parthian-Roman relations under Augustus and Phraates IV. The first seeks to explain the role of the queen of Parthia Musa. This in turn provides the basis for the second aspect, dealing with Phraates IV’s despatch of his sons into the care of Augustus. More and more historians are devoting research to Musa (Ios. ant. 18,39–43), the concubine and later wife of Phraates IV, called Thea Musa after his death.3 Musa was a slave given to Phraates by the Emperor Augustus. Flavius Josephus (ant. 18,40) writes that she was the gift of Julius Caesar, but this an obvious error, since we have no information of any contact between Caesar and Phraates.4 Musa probably arrived in Parthia around 23 BC, when Augustus entered an agreement with Phraates IV for the return of the latter’s son (cf. Cass. Dio 53,33,1–2).5 It was a good opportunity for other conciliatory gestures on the part of Rome. It is less likely that Musa’s arrival in Parthia occurred in connection with the negotiations of 20 BC, since we have no knowledge of any Roman gifts offered to the Parthians at that time.6 Moreover, the atmosphere of these talks must certainly have been tenser, as the Romans had just occupied Armenia and Augustus was in no mood for magnanimity towards Phraates. Some scholars see Musa as a spy operating in the interests of Rome.7 Parthia’s offensive policy with respect to Rome in the last decade of Phraates IV and the reign of Phraatakes (Phraates *

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The present article was written thanks to funding from the Institute for Advanced Study at Princeton (USA) and the Gerda Henkel Stiftung (Germany). I have great memories from all the discussions, symposia and meetings with Hans-Joachim Drexhage in Münster’s libraries and restaurants in the Schloßgarten, and in the Kuhviertel, with their unique Westphalian atmosphere. On Phraates IV and his relations with Rome, see: Debevoise 1938, 121–147; Ziegler 1964, 44–57; Timpe 1975; Bigwood 2004; Gaslain – Maleuvre 2007; Wiesehöfer 2010; Olbrycht 1998, 117–119 u. 2013; Schlude 2015. As Sherwin-White (1984, 334–335) rightly notes. For Parthian military power, see Olbrycht 2016a. Roman offensive moves under Augustus were restricted to Armenia that remained a bone of contention for both powers for centuries. On Musa, see: Karras-Klapproth 1988, 95–96; Schottky 1991, 61; Gaslain 2003; Bigwood 2004; Huber – Hartmann 2006, 492–495; Strugnell 2008. In Flavius Josephus Musa, whose name was in widespread use in Italy for female slaves (details in Bigwood 2004, 38), is referred to as Thesmusa (Θεσμοῦσα) or Thermusa (Θερμοῦσα), a corruption of Thea Musa (Θεὰ Μοῦσα). Ziegler 1964, 150. Cf. Bigwood 2004, 39. Debevoise 1938, 143; Schottky 1991, 61. This is, e.g., the position of the British Orientalist A. D. H. Bivar, who claims that Augustus pursued „his Parthian policy by the gentler method of bestowing upon Phraates an Italian slave-girl.“ Bivar 1983, 67. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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V),8 when Musa played a role of singular importance, suggests that she acted in the interests of the Arsakid empire, which contradicts an image of her as an idiosyncratic Mata Hari. There is no evidence, nor are there any hints as to her alleged political association with Rome. At first Phraates IV treated Musa as a concubine, but after she had borne a son, named Phraates (or Phraatakes),9 the king made her his lawful wife. Flavius Josephus (ant. 18,41–42) paints a picture of Phraates IV succumbing more and more to the influence of his ambitious spouse, who was probably recognised as his official consort and queen. Musa’s rising position was connected with the acknowledgement of her son Phraatakes as heir to the throne. Phraatakes (Phraates V) assumed power about 3 BC, by which time he must have reached the age of majority, in other words he must have been at least 15, the age ancient Iranian societies considered adulthood.10 Hence he must have been born in 19–18 BC at the latest. Following the death of Phraates IV, Phraatakes and Musa reigned jointly. The Avroman II parchment of 22/21 BC (year 291 of the Seleukid Era), discovered in the mountains of western Iran, gives us a unique insight into the composition of Phraates IV’s harem:11 βασιλεύοντος βασιλέων Ἀρσάκου Εὐεργέτου Δικαίου Ἐπιφανοῦς καὶ Φιλέλληνος, καὶ βασι­ λισσῶν Ὀλεννειείρης, Κλ[εο]πάτρας, Βασείρτ[α]ς καὶ Βισθειβάναπος.

It names four queen consorts of Phraates IV: Olennieire, Kleopatra, Baseirta, and Bistheibanaps.12 Only Kleopatra had a Greek name. The other queens are not mentioned in other sources and are unidentifiable.13 Most probably they were princesses from diverse principalities in the borderlands of Parthia. Musa is not recorded in this document – apparently she did not rise in the hierarchy until the birth of Phraatakes. Significantly, Phraates IV’s royal title in the Avroman II text, βασιλεύοντος βασιλέων Ἀρσάκου Εὐεργέτου Δικαίου Ἐπιφανοῦς καὶ Φιλέλληνος, contains the epithets which appear on his coinage: ΒΑΣΙΛΕΩΣ ΒΑΣΙΛΕΩΝ ΑΡΣΑΚΟΥ ΕΥΕΡΓΕΤΟΥ ΔΙΚΑΙΟΥ ΕΠΙΦΑΝΟΥΣ ΦΙΛΕΛΛΗΝΟΣ.14

One of the most spectacular events in the history of Roman-Parthian relations was Phraates IV’s voluntary despatch of four of his sons into the care of his Roman rival. Numerous controversies have arisen over the circumstances attending this act and Phraates’ motives.15 It is certain that he sent his sons to Titius, the governor of Syria, who forwarded them to Rome.16 The older Cf. also Debevoise 1938, 143. 8 Luther 2010; Olbrycht 2013, 20, 26–27. 9 For Phraates V (Phraatakes), see Karras-Klapproth 1998, 145–147. 10 According to Avestan traditions, a child was perceived to attain maturity when it turned 15 years old. See Yasna 9,5; Yasht 5,64; 8,13; 14,17. Cf. Schwartz 1985, 655. 11 Cf. Debevoise 1938, 139–140; Thommen 2010, 472–476. 12 Avroman II B (2) (Minns 1915, 30; Thommen 2010, 473): βασιλισσῶν ᾿Ολεννιείρης (in A (2): ᾿Ολεννειείρης), Κ[λ]εοπάτρας, Βασείρτας, Βισθειβάναπος. On the wives of Phraates, see: Debevoise 1938, 139–140; Olbrycht 1998, 143; Huber – Hartmann 2006, 486–487. 13 On the queens’ names, see Unvala 1920, 131–133; Mayrhofer 1974, 211. Alongside the royal consorts, most of the persons mentioned in this document bear Iranian names like Aspomakes, Gaakes, or Aramasdes. 14 Sellwood 21980, type 50.3. 15 On the sons of Phraates IV in Rome, see: Anderson 1934, 264–265; Debevoise 1938, 143–144; Ziegler 1964, 51–52; Dabrowa 1987; Nedergaard 1988; Bigwood 2004, 41; Luther 2010, 106; Wheeler 2002, 289, n. 5. 16 Sources: Strab. 16,1,28; 6,4,2; R.Gest.Div.Aug. 32,2; Tac. ann. 2,1; Liv. Per. 141; Iust. 42,5,12; Vell. 2,94; Ios. ant. 18,42; Eutr. 7,5; Ruf. Festus 19. See PIR 2 6 (1998) P no. 395. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Augustus versus Phraates IV

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two, Phraates the Younger and Vonones, arrived in Italy with their wives and four sons. The younger two, Seraspadanes and Rhodaspes, did not play a part in the political developments and died in Rome.17 Much later two sons of Phraates IV, Vonones and Phraates (VI), were candidates to the throne of Parthia supported by Augustus and Tiberius. The princes were handed over to the Romans around 10 BC.18 The chronology for this event is delimited by M. Titius’ term of office as governor of Syria, from about 13 to the middle of 10 BC.19 These dates seem to be endorsed in Livy’s Periochae. The Periocha of Book CXLI mentions the restoration of military standards by the Parthians in 10 BC. But this fact certainly belongs to 20 BC. The editor of the Periochae confused a reference to the Parthian surrender of the four sons of Phraates to Rome and that of the signa in 20 BC.20 The same error, linking the sending of the princes to Rome with the negotiations of 20 BC, is implied in Suetonius (Aug. 21,3). The fact that Phraates IV sent his sons to Rome was diversely received by ancient writers. Today’s historians, too, represent widely different views on the matter. Many assessments see Phraates’ act as a sign of Parthian weakness and submission to Roman domination. But at the very outset we can observe that in view of the lack of pressure from Rome after 20 BC, the motives for Phraates’ decision must be recognised as connected chiefly with Parthian domestic policy and not relations with Rome. We need to go back to the roots and political background of this event. In his official enunciations in Res gestae 32, Augustus puts the matter in the following way: Ad me rex Parthorum Phrates Orodis filius filios suos nepotesque omnes misit in Italiam, non bello superatus, sed amicitiam nostram per liberorum suorum pignora petens. [Πρὸ]ς ἐμὲ βασιλεὶς Πάρθων Φρα[άτης, Ὠρώδο]υ υἱό[ς, υ]ἱοὺς [αὑτοῦ] υἱωνούς τε πάντας ἔπεμψεν εἰς Ἰταλίαν, οὐ πολέμωι λειφθείς, ἀλλὰ τὴν ἡμ[ε]τέραν φιλίαν ἀξιῶν ἐπὶ τέκνων ἐνεχύροις.

Phraates, son of Orodes, king of the Parthians, sent all his sons and grandsons to me in Italy, not because he had been conquered in war, but rather seeking our friendship by means of his own children as pledges.

Thus, in his official document, in which all the Roman military and diplomatic victories are scrupulously enumerated, Augustus stresses that the Parthian princes were sent to Rome not in outcome of a victorious Roman war, but as a result of a decision taken by Phraates. Naturally the Arsacid King of Kings is presented as a party eager to establish amicitia, which was to emphasise Roman ascendancy – an understandable device in a propaganda document. But Augustus did not overdo it in self-aggrandisement: otherwise he would have made himself liable to ridicule as every Roman knew that he had not won a war against the Parthians. Strabo 16,1,28 C748–9 gives a persuasive account of Phraates IV’s motives. According to his information the despatch of Phraates IV’s sons to Rome must be interpreted only in the context of the internal power struggles in Parthia.

17 18 19 20

CIL VI 1799; ILS 842. Cf. Ricci 1996, 567–569. Anderson 1934, 264 and Ziegler 1964, 51 give the date 10/9 BC. See Ios. ant. 16,270; Strab. 16,1,28. Cf. Syme 1959, 77; Dabrowa 1998, 18–20. Syme 1959, 29. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Marek Jan Olbrycht ὁδ᾽ ἐκεῖνον διαδεξάμενος Φραάτης τοσοῦτον ἐσπούδασε περὶ τὴν φιλίαν τὴν πρὸς Καίσαρα τὸν Σεβαστὸν ὥστε καὶ τὰ τρόπαια ἔπεμψεν ἃ κατὰ Ῥωμαίων ἀνέστησαν Παρθυαῖοι, καὶ καλέσας εἰς σύλλογον Τίτιον τὸν ἐπιστατοῦντα τότετῆς Συρίας, τέτταρας παῖδας γνησίους ἐνεχείρισεν ὅμηρα αὐτῷ, Σερασπαδάνην καὶ Ῥωδάσπην καὶ Φραάτην καὶ Βονώνην, καὶ γυναῖκας τούτωνδύο καὶ υἱεῖς τέτταρας, δεδιὼς τὰς στάσεις καὶ τοὺς ἐπιτιθεμένους αὐτῷ: ᾔδει γὰρμηδένα ἰσχύσοντα καθ᾽ ἑαυτόν, ἂν μή τινα ἐπιλάβῃ τοῦ Ἀρσακίου γένους διὰ τὸεἶναι σφόδρα φιλαρσάκας τοὺς Παρθυαίους: ἐκποδὼν οὖν ἐποίησε τοὺς παῖδας, ἀφελέσθαι ζητῶν τὴν ἐλπίδα ταύτην τοὺς κακουργοῦντας. τῶν μὲν οὖν παίδωνὅσοι περίεισιν ἐν Ῥώμῃ δημοσίᾳ βασιλικῶς τημελοῦνται.

Phraates, his [Orodes’] successor, was so eager for friendship with Caesar Augustus that he even sent him the trophies which the Parthians had set up as memorials of their defeat of the Romans. And, having called Titius to a conference, who was at that time praefect of Syria, he put in his hands as hostages four of his legitimate sons, Seraspadanes and Rhodaspes and Phraates and Vonones, and two wives and four sons of these, for fear of seditions and attempts upon his life; for he knew that no person could prevail against him unless that person supported some member of the house of Arsakes, because of the fact that the Parthians were extremely fond of his house. Accordingly, he got rid of his children, seeking thus to deprive evil-doers of that hope. Now all his surviving children are cared for in royal style, at public expense, in Rome, and the remaining kings have also continued to send ambassadors and to go into conferences.21

Strabo wrote this account most probably in the very beginning of the first century AD, directly after the meeting of Gaius Caesar with Phraatakes (Phraates V). Apparently the mention of Parthian envoys and conferences refers to the activities of Phraates V. Parthia appears as a united power in contrast to the image of the Arsakid state in Strab. 6,4,2 (see below). Like Strabo in the above passage, Tacitus deftly sketches in the context to the situation, writing impartially and in a matter-of-fact manner that it was Phraates who had vanquished the Romans on the battlefield, not vice-versa. This is a point that needs to be borne in mind in the assessment of Parthian and Augustus’ respective policies. In ann. 2,1 Tacitus draws attention to Phraates’ fear of rebellions in Parthia: Is fuit Vonones, obses Augusto datus a Phraate. nam Phraates quamquam depulisset exercitus ducesque Romanos, cuncta venerantium officia ad Augustum vertera partemque prolis firmandae amicitiae miserat, haud perinde nostri metu quam fidei popularium diffisus. This was Vonones, who had been given to Augustus as a hostage by Phraates. For although Phraates had defeated Roman armies and commanders, he had shown Augustus every mark of respect and, to cement their friendship, had sent him some of his children, not from fear of us but from lack of confidence in his countrymen’s loyalty.

According to Josephus it was Musa who persuaded Phraates IV to send his legitimate children (Ios. ant. 18,40–42) away to Rome, clearing the way for her son Phraatakes to ascend the throne: Φραάτης παίδων αὐτῷ γενομένων γνησίων Ἰταλικῆς παιδίσκης ὄνομα αὐτῇ Θεσμοῦσα. ταύτῃ ὑπὸ Ἰουλίου Καίσαρος μετ’ ἄλλων δωρεῶν ἀπεσταλμένῃ τὸ μὲν πρῶτον παλλακίδι ἐχρῆτο, καταπλαγεὶς δὲ τῷ πολλῷ τῆς εὐμορφίας προϊόντος τοῦ χρόνου καὶ παιδὸς αὐτῇ τοῦ Φραα­τάκου γενομένου γαμετήν τε τὴν ἄνθρωπον ἀποφαίνεται καὶ τιμίαν ἦγεν. ἐπὶ πᾶσιν οἷς εἴποι πιθανὴ τῷ βασιλεῖ γεγονυῖα καὶ σπεύδουσα τῷ παιδὶ τῷ αὐτῆς γενέσθαι τὴν Πάρθων

21 Translation after H. L. Jones (Loeb Classical Library) with modifications. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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ἡγεμονίαν ἑώρα μὴ ἄλλως γενησομένην μὴ ἀποσκευῆς αὐτῇ μηχανηθείσης τῶν γνησίων τοῦ Φρασομένην μὴ ἀποσκευῆς αὐτῇ μηχανηθείσης τῶν γνησίων τοῦ Φραάτου παίδων. πείθει οὖν αὐτὸν ἐκπέμπειν εἰς Ῥώμην ἐφ’ ὁμηρείᾳ τοὺς γνησίους παῖδας. καὶ οὗτοι μέν, οὐ γὰρ ἀντειπεῖν εὔπορον Φραάτῃ τοῖς Θεσμούσης ἐπιτάγμασιν, ἐπὶ τῆς Ῥώμης ἐξεπέμποντο.

When Phraates had had legitimate sons of his own, he had also an Italian slave girl, whose name was Thesmusa; who had been formerly sent to him by Julius Caesar, among other presents. He first made her his concubine: but he being a great admirer of her beauty, in process of time having a son by her, whose name was Phraatakes, he made her his legitimate wife, and held her in honour. Now, she was able to persuade him to do anything that she said; and was earnest in procuring the rule over the Parthians for her son. But still she saw that her endeavours would not succeed, unless she could contrive how to get rid of Phraates’s legitimate sons. So she persuaded him to send those his sons, as pledges of his fidelity to Rome. And they were sent to Rome accordingly: because it was not easy for him to contradict her commands.

Josephus’ account (ant. 18,40–42) is based on a well-informed source, but is chiefly restricted to palace and harem intrigues. In this respect the role of Musa grew in the last decade of Phraates’ reign. Justin (epit. 42,5,11–12) gives a sober assessment of the developments. First he recalls Augustus’ pressure on Phraates in 20 BC and the return of the standards and hostages. Next he goes on to the matter of Phraates’ descendants: Itaque tota Parthia captivi ex Crassiano sive Antoni exercitu recollecti signaque cum his militaria Augusto remissa. Sed et filii nepotesque Phrahatis obsides Augusto dati, plusque Caesar magnitudine nominis sui fecit, quam armis facere alius imperator potuisset. Whatever prisoners, accordingly, remained of the army of Crassus or Antony throughout Parthia, were collected together, and sent, with the military standards that had been taken, to Augustus. In addition to this, the sons and grandsons of Phraates were delivered to Augustus as hostages; and thus Caesar effected more by the power of his name, than any other general could have done by his arms.

Justin does not overestimate the role of Rome, although he does put the restoration of the standards and the despatch of Phraates’ sons next to each other, which was not the case in fact. Only in some of the later sources were these two events connected. Some of the Roman accounts, especially Vell. 2,94,422 and Suet. Aug. 21,323, stress „fear“ as the motive for Phraates’ decision to dispatch his sons to Rome. Contrary to the above-quoted relations in the well-informed sources (Tacitus, Strabo, Justin and Josephus), such claims were unfounded and echoed the Roman propaganda. In the decade from 20 to 10 BC Rome did not exert any serious pressure on Parthia and did not actively pursue a Parthian policy in Asia. Augustus considered the Parthian threat as an issue that had been resolved since Armenia was in Roman hands. Furthermore, we cannot forget that it was Phraates who had vanquished the Romans on the field 22 Nec multo post missus ab eodem vitrico cum exercitu ad visendas ordinandasque, quae sub Oriente sunt, provincias, praecipuis omnium virtutum experimentis in eo tractu editis, cum legionibus ingressus Armeniam, redacta ea in potestatem populi Romani regnum eius Artavasdi dedit. Quin rex quaque Parthorum tanti nominis fama territus liberos suos ad Caesarem misit obsides. 23 Parthi quoque et Armeniam vindicanti facile cesserunt et signa militaria, quae M. Crasso et M. Antonio ademerant, reposcenti reddiderunt obsidesque insuper optulerunt, denique, pluribus quondam de regno concertantibus, nonnisi ab ipso electum probaverunt. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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of battle: he had repelled Antony’s massive invasion army in 36 BC and subsequently driven the Romans out of Armenia in the late 30s. Afterwards Phraates had to withstand rebellions led by Tiridates and was forced to accept a Roman appointee in Armenia in 20 BC, but generally he was able to retain his rule over his powerful empire and after 20 BC he strengthened his position. Hence the remarks on Phraates’ fear of Rome as the reason why he sent his sons to Syria should be read as yet another contribution to the panegyrics written at the time in honour of Augustus. In Book VI of his Geography Strabo gives a different assessment of Phraates’ despatch of his sons to Rome from what he writes in his discourse on Parthia in Book XVI. In 6,4,2 C288 he judges the king’s move as evidence of Parthian weakness: Παρθυαῖοι δὲὅμοροί τε ὄντες καὶ μέγιστον δυνάμενοι τοσοῦτον ὅμως ἐνέδοσαν πρὸς τὴν Ῥωμαίων καὶ τῶν καθ᾽ ἡμᾶς ἡγεμόνων ὑπεροχὴν ὥστ᾽ οὐ μόνον τὰ τρόπαιαἔπεμψαν εἰς Ῥώμην ἃ κατὰ Ῥωμαίων ἀνέστησάν ποτε, ἀλλὰ καὶ παῖδας Φραάτης τῷ Σεβαστῷ Καί­σαρι καὶ παίδων παῖδας ἐξομηρευσάμενος θεραπευτικῶς τὴν φιλίαν: οἱ δὲ νῦν μετίασιν ἐνθένδε πολλάκις τὸν βασι­ λεύσοντα, καὶ σχεδόν τι πλησίον εἰσὶ τοῦ ἐπὶ Ῥωμαίοις ποιῆ­­σαι τὴνσύμπασαν ἐξουσίαν.

Phraates has entrusted to Augustus Caesar his children and also his children‘s children, thus obsequiously making sure of Caesar’s friendship by giving hostages; and the Parthians of today have often gone to Rome in quest of a man to be their king, and are now about ready to put their entire authority into the hands of the Romans.24

This passage comes in the middle of a lengthy deliberation on the power of Rome. Strabo must have been using a different source here that what he had for 16,1,28. Moreover this account echoes certain current events, namely Vonones I’s usurpation in Parthia, attempted with Roman support ca. AD 9. The Roman support for Vonones ended only in AD 18. In 6,4,2, Strabo makes Augustus the pattern of Tiberius’ policy and administration and adds: (...) and Germanicus and Drusus, the sons of Tiberius, who are now serving in the government of their father, also make Augustus their pattern.

Furthermore, Strabo names the demise of the Kappadokian dynasty that took place in AD 17 (6,4,2). Hence it seems that Strabo’s account of Roman rise to power (6,4,2) was written in AD 17–18,25 on the eve of a Roman intervention in Armenia, when Germanicus was still alive and Parthia’s power seemed to have been dampened by internal struggles.26 For Augustus the arrival of ambassadors from Parthia (about AD 8) with a request for one of the sons of Phraates IV to be sent to reign over them (Tac. ann. 2,1–4) was a boon gift from the gods.27 Now, at the close of his life Augustus could publicly announce the triumph of his Parthian policy in his RGDA, continued by Tiberius in his initial years of the reign, and it is to this moment of euphoria Strabo’s section 6,4,2 refers. Viewed from this perspective Phraates IV’s decision proved fatal for the Parthians, but this did not become apparent until after the deposition of Phraatakes (about AD 4) and subsequently of Orodes III (about AD 6/7).

24 Translation after H. L. Jones (Loeb Classical Library) with modifications. 25 Lasserre 1967, 25 dates section 6,4,2 to the third year of Tiberius, i.e. about AD 17. Archelaos, king of Kappadokia, died in Rome in AD 17, see Tac. ann. 2,42,3 with Olbrycht 2013, 96–97. 26 See Olbrycht 2016c. 27 See Debevoise 1938, 151–152. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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The principal accounts describe the status of the Parthian princes as ὅμηρος „one who joins“ (Strabo), or obses “one who remains” (Justin, Tacitus, Velleius, Suetonius). In legal terms, the princes were certainly not hostages,28 but the Emperor’s guests of honour.29 In 16,1,28 Strabo stresses the endurance of the custom of the Arsakid prerogative to the throne of Parthia. We know of this right from other sources as well (Ios. ant. 18,44; Amm. 23,6,6).30 Strabo’s text suggests that when he sent his sons to Rome Phraates IV was facing the threat of rebellion. He wanted to prevent his sons being used as hostages in any prospective domestic fighting in Parthia itself. Worse still, his sons could have been set up as pretenders to the throne and rivals to Phraates, who was familiar with this ploy, having (most probably) murdered his own father and eliminated his brothers, and perhaps even one of his sons. Treachery within the family and parricide was common among the Sinatrukids and most of the kings of this line – Orodes II, Mithradates III, Phraates IV, and Phraatakes – were implicated.31 The declaration of Phraatakes as heir to the throne seems to have incited some of the Parthian clans which hitherto had supported the succession of Vonones, Phraates’ eldest son, to rise in rebellion. Alternatively we may suppose that in view of an ongoing rebellion Phraates IV sent his sons away to deprive the rebels of the chance to win over an Arsakid prince from the Sinatrukid branch. In the event the rival to Phraates IV active in Parthia around 11–9 BC was one Mithradates (Ios. ant. 16,253).32 Phraates IV did not want to find himself in the same situation again as he had been during a rebellion of a pretender called Tiridates (in the 20s BC), when he ordered the execution of his concubines to stop them from falling into the hands of his enemy (Isid. Char. Mans. 1), and when Tiridates carried his son off to Rome (Iust. 42,5,6– 9). Phraates IV demanded the return of his son and “his slave Tiridates.” Augustus granted Tiridates asylum and sent Phraates’ son back to him, probably in 23 BC (Cass. Dio 53,33,1–2). With a new rebellion led by Mithradates and the activities of his opponents going on, what Phraates had to fear was not so much the threat to the lives of his progeny as the risk of their disloyalty. He thought that he would be able to provide for the security of Phraatakes, since he did not send him away. He did not have Vonones and his other sons killed, preferring a compromise with the opposition. The Suren and Karin clans, which later eagerly supported Vonones I and the other Phraatids after Phraatakes was exiled (AD 4) appear to have been in opposition to Phraates IV’s new dynastic policy. Vonones and Phraates the Younger had reached the age of maturity by 10 BC, and the former, who in all likelihood had been envisaged as heir to the throne, must have had enough time to build up a coalition of clans in his support. In his domestic policy Phraates IV was extremely cruel to his relatives and made sudden changes of policy, such as the appointment of Phraatakes as his heir, causing commotion in the Parthian empire. The reign of Phraates IV was troubled several times by serious uprisings. Under the Mithradates’ rebellion’s impact Phraates sent his sons to Rome. But despite all these disturbances Phraates managed to stay in power for about 35 years. Notwithstanding the domestic strife the Arsakid empire remained a power to be respected and reckoned with even by the Romans. Phraates IV’s reign came to an end in a coup d’état carried out by his son Phraatakes and his mother and protector Musa (Ios. ant. 18,39–42). 28 29 30 31 32

Contrary to Sonnabend 1986, 258. Braund 1984, 12–13. More on this in Olbrycht 2016b, 101–103. See Olbrycht 1998, 110–130. On Mithradates’ rebellion, see Olbrycht 2013, 21–25. Some coins may be attributed to this pretender (ibid.). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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In the reign of Phraates IV the conflict within the Parthian elite was already firmly established and in the opening decades of the 1st century AD led to the crystallising out of three main factions: the legitimists along with the Suren and part of the Karin clan, who supported the descendants of Phraates IV; the Median-Atropatenian faction; and the Dahian-Hyrcanian faction. The two latter groups were united for a time, rallying in their support of Artabanos II against the Phraatids including Vonones and Phraates VI, both supported by Rome.33 Phraates IV’s bold measure concerning the dispatch of his son to Rome raises doubts of another nature. In Armenia, which was of key importance for him, the Romans had used the rivalry between two brothers for the throne to their own advantage, installing Tigranes III on the deposition of the pro-Parthian Artaxias II in 20 BC.34 Was Phraates counting on Augustus not resorting to the same ruse with the princes of Parthia? Surely he could not have been so naïve. Probably he was counting on Rome’s neutrality, but effectively he could not have cared much for what happened to his sons. Phraates’ decision would have been salutary for Parthia if he and his son Phraatakes had managed to crush the opposition party which was supporting Vonones and those clans which did not want a Sinatrukid at all. This they failed to achieve – Phraates IV was succeded by Phraatakes (Phraates V), and the latter, after a reign of several years, was banished from the country. If he had had descendants capable of assuming power Parthia would have been a more stable state. But his incestuous union with his mother offered no such prospects and we hear nothing of any sons of Phraatakes. The Sinatrukid line became extinct in Parthia and the Arsakid empire was engrossed in the turmoil of civil war. The Romans were given tremendous leverage through the sons of Phraates IV, who were used to disintegrate the Parthian empire in the final years of Augustus and under Tiberius.35 Bibliography Anderson 1934 = J. G. C. Anderson, The Eastern Frontier under Augustus, in: S. A. Cook et al. (eds.), Cambridge Ancient History 10, Cambridge 1934, 239–283. Bigwood 2004 = J. Bigwood, Queen Mousa, Mother and Wife (?) of King Phraataces of Parthia. A Re­ evaluation of the Evidence, Mouseion 4 (2004), 35–70. Bivar 1983 = A. D. H. Bivar, The Political History of Iran under the Arsacids, in: E. Yarshater (ed.), Cambridge History of Iran 3/1, Cambridge 1983, 21–99. Braund 1984 = D. Braund, Rome and the Friendly King. The Character of the Client Kingship, London 1984. Dąbrowa 1987 = E. Dąbrowa, Les premiers „otages“ parthes à Rome, Folia Orientalia 24 (1987), 63–71. Dąbrowa 1998 = E. Dąbrowa, The Governors of Roman Syria from Augustus to Septimius Severus, Bonn 1998. Debevoise 1938 = N. C. Debevoise, A Political History of Parthia, Chicago 1938. Gaslain 2003 = J. Gaslain, De l’esclave à la reine. Remarques sur la présence féminine dans le monde parthe, De Kêmi à Birīt Nāri. Revue Internationale de l’Orient Ancien 1 (2003), 100–111. Gaslain – Maleuvre 2007 = J. Gaslain – J.-Y. Maleuvre, Auguste et les Arsacides, ou le prix des enseignes, Parthica 8 (2007), 169–194. Hackl 2010 = U. Hackl et al. (eds.), Quellen zur Geschichte des Partherreiches. Textsammlung mit Über­ setzungen und Kommentaren. Bd. 1–3, Göttingen 2010.

33 See Olbrycht 1997; 2013; 2014. 34 Roman intervention in Armenia in 20 BC: R.Gest.div.Aug. 27; Strab. 17,1,54; Cass. Dio 54,9; Ios. ant. 15,105; Tac. ann. 2,3; Vell. 2,94,4, 2,122,1; Suet. Aug. 21,3; Suet. Tib. 9,1. 35 Dąbrowa 2002; Olbrycht 2013. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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„Cursed be the one who invented the gold for the human race“. Ktesias und die ‚Zwangsfeminisierung‘ des Parsondes Louisa Thomas Die Persika des Ktesias von Knidos zeichnen sich bekanntermaßen, neben ihrer großen Wirk­ macht und ihrem Einfluss auf bis heute vorherrschende Orient-Stereotype, besonders durch eine große Vielfalt an spektakulären, reißerischen und unglaublichen Geschichten aus.1 Mit einer dieser Erzählungen des Knidiers hoffe ich in diesem Beitrag auch den Geschmack des Jubilars zu treffen: Der Episode über die ‚Zwangsfeminisierung‘ des Parsondes. Wenngleich sich die Geister seit der Antike an Ktesias und seinem Werk scheiden, wurde er häufig als Kronzeuge besonders für die Zustände am achaimenidischen Königshof herangezogen, sodass Peter Högemann ihn in seinem DNP-Beitrag noch guten Gewissens als „erstklassig“ für die Überlieferung von Haremsintrigen bezeichnet.2 Geschuldet ist dies Ktesias’ vollmundiger Behauptung, er selbst habe unter der Regentschaft des Artaxerxes II. am persischen Hof gelebt und sei Augenzeuge für viele der von ihm berichteten Vorgänge gewesen.3 Alles andere sei ihm von persischer Seite zugetragen worden. Auch Felix Jacoby und Dominique Lenfant weichen in ihren Editionen der Persika nicht von der traditionellen Auffassung ab, dass der Knidier am persischen Hof verkehrte und seine Beziehungen in die höchsten Kreise bis hin zur Königinmutter Parysatis reichten.4 Marco Dorati hingegen brachte berechtigte Zweifel am Realitätsgehalt der biographischen Angaben des Ktesias vor5 und Alan Griffiths6 führte schon 1987 erstaunliche Parallelen zur Biographie des bei Herodot vorgestellten griechischen Arztes Demokedes von Kroton ins Feld, die hellhörig machen sollten.7 Leider fanden die Forschungen Beider lange Zeit nicht die erwünschte Beachtung, weshalb Ktesias’ biographische Daten bis heute häufig schlicht als gegeben hingenommen werden.8 Die Frage nach der Biographie des Knidiers und dem Gehalt seiner Quellen geht mit Problemen der Kategorisierung der Persika einher, die immer wieder Gegenstand des Nachdenkens über Ktesias sind und den Umgang mit seinem Werk erschweren.9 Seine Geschichte des Alten Orients, beginnend mit dem sagenhaften assyrischen König Ninos bis zu den vermeintlich letzten Jahren seines persönlichen Aufenthaltes in Persien, umfasste 23 Bücher, in denen er die 1 2 3 4 5 6 7 8

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So schon Sancisi-Weerdenburg 1983, 43–44; vgl. Bichler 2004, 105; Bichler 2011, 22; Lenfant 2004, CXXVII–CXXXVII; Gera 2007, 77. Högemann 1999. Hierzu etwa T3b (Lenfant 2004) = FGrH 688 F45, T5b (Lenfant 2004) = FGrH 688 T5b, T7a (Lenfant 2004) = FGrH 688 T7a. Rollinger 2011, 343. Dorati 1995; s. a. Dorati 2011. Tuplin 2004 konnte Ktesias zwar medizinische Kenntnisse nachweisen, räumt aber auch Eigentümlichkeiten ein. Hierzu Rollinger 2011, 343. Griffiths 1987, 48. Vgl. Madreiter 2012, 36–37. Bichler 2011, 24. Gera 2007, 91, etwa versuchte Ktesias’ Vorliebe für Geschichten über Mannweiber, Eunuchen und Effeminati mit seinen am persischen Hof gewonnenen Eindrücken zu erklären, welche die Ansichten und Konventionen der griechischen Gesellschaft, dessen Kind er war, ins Wanken gebracht hätten. Auch Abe 2014, 44–45 nimmt Ktesias’ Aufenthalt am Hof anstandslos als gegeben hin. Hierzu etwa Bichler 2004 u. 2011; Madreiter 2012, 118–124. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Abfolge der drei ‚Weltreiche‘ der Assyrer, Meder und Perser beschrieb.10 Angesichts der schon im neunten Jahrhundert von Photios angestellten Beobachtung, dass Ktesias im Verlauf der Persika besonders daran gelegen war, seinem literarischen Vorgänger Herodot zu widersprechen, ja seinem Publikum womöglich gar einen schalkhaften Verriss der Historien aufzutischen11, soll im Folgenden in erster Linie die literarische Gestaltungskraft des Knidiers gewürdigt werden. Dies scheint umso angebrachter, da man sich in der Forschung darüber einig ist, dass wir uns bei der Beschäftigung mit der Parsondes-Episode größtenteils im Reich der Fiktion bewegen.12 Das hindert Ktesias freilich nicht daran, sie fest in das von ihm entwickelte historische Gebäude einzubetten, was mit besonderem literarischen Geschick und vermutlich nicht ohne humoristischen Seitenhieb auf die Historien geschieht, wie den bei Nikolaos und Diodor überlieferten Fragmenten zu entnehmen ist. Zunächst aber sei eine kurze Zusammenfassung der Geschichte gegeben:13 Der Perser Parsondes14 tritt als Freund und enger Berater des Mederkönigs Artaios15 in Erscheinung. Von Medern wie Persern wird er besonders aufgrund seiner Tugendhaftigkeit, Schönheit und Stärke gelobt. Dieser paradigmatische Held stößt sich an der Person des babylonischen ‚Satrapen‘ Nanaros, der sich auffällig kleidet, schmückt und durch und durch effeminiert (γυναικώδης) erscheint. Daher bittet Parsondes den König darum, Nanaros seiner Position zu entheben und diese ihm zu übertragen. Artaios zögert jedoch16 und nach der dritten Zurückweisung lässt Parsondes sein Anliegen fallen. Unterdessen bekommt Nanaros Wind von der Sache und verspricht einigen Händlern (κάπηλοι), die dem Heer des Königs folgen, eine großzügige Belohnung, wenn sie ihm Parsondes bringen. Der Perser frönt derweil nichtsahnend männlichen Tugenden, und begibt sich in großer Gesell­schaft auf die Jagd im Umland Babylons. Dabei entfernt er sich immer weiter von seinen Ge­fährten und gelangt schließlich, erschöpft und durstig von den Strapazen, in die Stadt. Dort trifft er just auf die schurkischen Händler, die ihn der Abmachung entsprechend mithilfe einer List überwältigen und in Fesseln dem Nanaros übergeben. Auf die Frage des Babyloniers hin, warum er ihn um seine Stellung bringen wollte, erwidert Parsondes, dass er sich für würdiger und dem König nützlicher halte als ein effeminierter Mann es sein könnte. Nanaros übergibt ihn daraufhin dem für seine Musikerinnen zuständigen Eunuchen mit folgender Anweisung: 10 Zur Bedeutung der Abfolge der ‚Weltreiche‘ für das Werk des Ktesias, vgl. Rollinger 2011, 314; Wiesehöfer – Rollinger – Lanfranchi 2011, 8; Bichler 2011, 26. 11 Grundlegend hierzu Bichler 2004 u. 2011. 12 Lenfant 2004, LI; Nichols 2008, 155. 13 Ktes. Pers. F 5 §33 (Lenfant 2004) = FGrH 688 F5; F6 (Lenfant 2004) = FGrH 688 F6; F6b* (Lenfant 2004) = FGrH 90 F4; F6c* u. F6d*(Lenfant 2004). 14 Die Deutung des Namens ist unsicher, er könnte sich jedoch vom Altpersischen *Pršá(t)-vant-a- herleiten, was so viel wie „mit scheckigen (Rossen) versehen“ bedeutet; s. Rollinger 2011, 329 mit Verweis auf Schmitt 2006, 268. 15 Ein Mederkönig Artaios findet sich bei Herodot nicht. Überhaupt stimmt die Darstellung des Hali­ karnassiers mit der des Ktesias, welcher den Medern eine ausufernd lange Herrschaftszeit von 1.300 Jahren zugesteht, an nur einer einzigen Stelle überein: nämlich dem letzten Mederkönig Astyages/ Astyigas. Hierzu Rollinger 2011, der zudem darauf hinweist, dass der Name Artaios sowohl auf elamischen Urkunden als auch bei Herodot (7,22,2 und 7,66,2) bezeugt ist (331 mit Anm. 158). 16 Artaios’ Zögern beruht darauf, dass er nicht an einer Vereinbarung zu rütteln wagt, die der erste medische König Arbakes mit dem Babylonier Belesys traf. Dieser scheint ein Vorfahr des Nanaros zu sein. Vgl. Lenfant 2004, 84 mit Anm. 356; Rollinger 2011, 319 mit Anm. 45 sowie 324. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Take this man with you, shave his whole body, pumice him, except for his head, bathe him twice a day and rub him with egg yolk and let his eyes be made-up and his hairs plaited, like a woman. Let him be taught to sing, play the cither, and play a stringed instrument with his fingers, in order that he, looking like a woman, serves me together with the singing girls (...).17

Die Transformation gelingt und Parsondes scheint auch in seiner neuen Rolle der Ehrgeiz zu packen, sodass er bald alle Frauen an weiblichen Tugenden übertrifft. Wie paralysiert lebt er sieben Jahre lang unter ihnen. Dann erst gelingt es ihm, einen misshandelten Eunuchen dazu zu überreden, Artaios über seinen Verbleib in Kenntnis zu setzen. Schließlich entsendet der Mederkönig Boten nach Babylon. Der zweite Bote wird von Nanaros empfangen und großzügig bewirtet, wobei seine Musikerinnen – inklusive Parsondes – eine Kostprobe ihres Könnens bieten. Gefragt, welche der anwesenden Damen die Schönste sei und mit welcher er gerne die Nacht verbringen würde, fällt die Wahl des Boten ausgerechnet auf den verweiblichten Perser. Als Nanaros den Mann über die wahre Identität der Dame aufklärt, ist er schockiert: I am amazed that he persevered to remain living, while being treated as a woman, he being a warrior, and that he did not kill himself, even if he could not kill others.18

Gemeinsam mit dem Boten gelangt Parsondes nach Susa, wo er auf den König trifft und Satisfaktion für die erduldete Schmach einfordert. Während der Perser sich schnell erholt und zu seiner Mannhaftigkeit zurückfindet, reist Artaios nach Babylon, um den hinterhältigen Nanaros seiner Strafe zuzuführen. Der Babylonier gerät in Panik und wendet sich in seiner Verzweiflung an den mächtigen Eunuchen Mitraphernes, dem er ein gewaltiges Bestechungsgeld verspricht, wenn er sich beim König für ihn einsetzt. Auch Parsondes und Artaios sollen mit Gold und Silber entschädigt werden. Für den König scheint das das ausschlaggebende Argument zu sein, Nanaros zu begnadigen. Parsondes hingegen ist mit dieser Entscheidung mehr als unzufrieden. Auf Rache sinnend, gelingt es dem Perser schließlich, den betrunkenen Nanaros bei einem Gastmahl zu überwältigen.19 Doch damit nicht genug, wendet sich Parsondes auch gegen seinen einstigen Freund und König Artaios. Wie dem von Diodor überlieferten Teil der Geschichte zu entnehmen ist, zettelt er – „aggrieved by the king in a certain decision“ – mithilfe des Volkes der Kadusier eine Revolte gegen die Meder an.20 Aufgrund seines Erfolges machen die Kadusier Parsondes letzten Endes sogar zu ihrem König. Die Episode bietet reichlich Anknüpfungspunkte für eine eingehende Betrachtung, doch der Fokus soll hier zunächst auf einem für Ktesias’ Werk besonders kennzeichnendem Aspekt liegen: dem Interesse des Autors an der Umkehr üblicher Geschlechterrollen. Gerade das Beispiel des Parsondes scheint dafür geeignet, denn hier treibt Ktesias das Spiel wahrhaft auf die Spitze. 17 Ktes. Pers. F6b* 3 (Stronk 2010): (...) τοῦτον, ἔφη, ἄπαγε καὶ ξυρήσας τὸ ὅλον σῶμα καὶ κισηρίσας πλὴν

κεφαλῆς δὶς τῆς ἡμέρας λοῦε καὶ σμῆχε ἀπὸ λεκίθου καὶ τοὺς ὀφθαλμοὺς ὐπογραφέσθω καὶ τὰς κόμας ἐμπλεκέσθω, ὥσπερ αἱ γυναῖκες· μανθανέτω δὲ ᾄδειν καὶ κιθαρίζειν καὶ ψάλλειν, ἵνα μοι μετὰ τῶν μουσουργῶν λειτουργῇ γυναικὶ ὡμοιωμένος (...). 18 Ktes. Pers. F6b* 5 (Stronk 2010): θαῦμα μ᾽ ἔχει, ἔφη, ὅπως ζὴν ὑπέμεινε γυναικιζόμενος ἀνὴρ ἄλ­κιμος καὶ οὐ διεχρήσατο ἑαυτόν, εἰ μὴ καὶ ἄλλους ἐδύνατο·

19 Zu entnehmen ist dies den Fragmenten F 6c*–d* (Lenfant 2004). 20 Ktes. Pers. F5 (Stronk 2010): τοῦτον δ᾽ ὑπὸ τοῦ βασιλέως ἔν τινι κρίσει λυπηθέντα (...). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Der von ihm gewählte Protagonist, ein Perser, wird zunächst anhand seiner männlichen Tugenden beschrieben. Er ist intelligent, mutig, gutaussehend und ein geschickter Jäger21 und Kämpfer22, sowohl zu Pferd als auch vom Streitwagen aus.23 Seine edle Gesinnung und Intelligenz haben ihm zu einer Position als Berater und Freund des Königs verholfen.24 Es überrascht kaum, dass dieser hypervirile Held sich besonders vom effeminierten Nanaros abgestoßen fühlt, der sein ganzes Gegenteil zu verkörpern scheint. Eine ähnliche Konstellation bietet Ktesias bereits in seiner Beschreibung des Endes der assyrischen Herrschaft. Hier ist es der mutige, tugendhafte Meder Arbakes, der die weibische Lebensweise des Sardanapal nicht weiter tolerieren will und daher beschließt, dessen Thron zu erobern.25 Dass ihm dabei gerade der Babylonier Belesys assistiert, dem nach der Machtergreifung des Arbakes Babylon als von Steuern befreite ‚Satrapie‘26 zugesprochen wird und dessen Nachfahre offenbar gerade jener ‚weibische‘ Nanaros ist, knüpft beide Exkurse noch enger aneinander.27 Ähnlich wie Arbakes strebt in diesem Fall Parsondes danach, den vom Luxus verwöhnten Nanaros seiner Stellung zu entheben. Doch hier enden die Parallelen, denn Parsondes soll es nicht gelingen, sein Ziel zu erreichen. Stattdessen gerät er in die Fänge seines Gegners, und zwar auf eine Art und Weise, die in ihrer erzählerischen Komposition besonders findig erscheint. Ganz gemäß ihrem schlechten Ruf in der griechischen Literatur, lässt Ktesias eine Gruppe von Krämern für Nanaros aktiv 21 Ktes. Pers. F6b* 2 (Stronk 2010). 22 Selbst nach den sieben Jahren als Frau erweist er sich noch als fähiger Krieger und ‚Stratege‘. Ktes. Pers. F5 3–5 (Stronk 2010). 23 Matt Waters (2017, 86–87) verweist in seiner jüngst erschienenen Monographie über den altorientalischen Kontext der Persika auf die frappante Ähnlichkeit der von Ktesias geschilderten Tugenden mit dem achaimenidischen Königsideal. Besonders deutlich werden die Parallelen anhand der Grabinschrift des Dareios I. in Naqš-i Rostam (DNb §§8–9): „Das (ist) ferner meine Tüchtigkeit, daß mein Körper kraftvoll ist (und) daß ich als Schlachtenkämpfer ein guter Schlachtenkämpfer bin. (...) Sowohl durch Auffassungsvermögen wie auch durch Entschlußkraft fühle ich mich gerade dann panischer Angst überlegen, wenn ich einen Feind (vor mir) sehe, wie wenn ich keinen (vor mir) sehe. (...) Von überschäumender Rückschlagkraft bin ich sowohl mit (beiden) Händen wie auch mit (beiden) Füßen; als Reiter bin ich ein guter Reiter; als Bogenschütze bin ich ein guter Bogenschütze, sowohl zu Fuß wie auch zu Pferd (...).“ Die Bedeutung der Jagd für die königliche Selbstdarstellung erschließt sich unter anderem aus Siegelabdrücken, die den Herrscher bei der Löwenjagd oder im Kampf mit Fabelwesen zeigen und ist fest in der Herrscherideologie des Vorderen Orients verhaftet; hierzu Briant 2002, 297–299; Madreiter 2012, 85. Allerdings sind diese Tugenden nicht notwendigerweise als Phänomen zu betrachten, dessen Ktesias als Beobachter am Achaimenidenhof gewahr wurde. Auch Xenophon betont etwa in seiner Kyrupädie die Bedeutung der Jagd als Vorbereitung für den Krieg sowie als körperliche Abhärtung für den idealen Monarchen (Xen. Kyr. 1,4,5; 8,1,34–39 ähnlich auch Xen. an. 1,2,7) und schon Herodot glaubte zu wissen, dass sich die Ausbildung der jungen Perser auf das Reiten, das Bogenschießen und das Sprechen der Wahrheit beschränke (Hdt. 1,136,2). Auch das gute Aussehen, welches Parsondes unterstellt wird, ist in der griechischen Historiographie ein übliches Motiv in Bezug auf die persischen Großkönige, wie sich etwa am Beispiel des Xerxes bei Herodot (7,187,2) zeigt. Hierzu Briant 2002, 225–227. 24 Ktes. Pers. F5 1 (Stronk 2010). 25 Ktes. Pers. F1b §24 (Lenfant 2004) = FGrH 688 F1b (24). Lenfant 2004, XLIX verweist darauf, dass Ktesias im Gegensatz zu Herodot keine unabhängige medische Ära vor der Unterwerfung durch die Assyrer kennt. Für ihn sind die Meder den Assyrern bis zur Revolte des Arbakes Untertan. Zum Meder-Logos des Ktesias, siehe besonders Rollinger 2011. Zur Frage nach einem historischen Mederreich, bzw. medischen Königtum, äußerte sich schon Sancisi-Weerdenburg 1988; s. besonders Rollinger 2005 sowie 2010. 26 Ktesias modelliert sowohl die assyrische als auch die medische Herrschaft nach dem Beispiel des Achai­ meniden­reiches. Hierzu s. Rollinger 2011, 333–334 mit Anm. 177; Lenfant 2004, XXVII, XLIII, XLVIII. 27 S. oben Anm. 16. Zum Vergleich beider Episoden etwa Lenfant 2000, 299 sowie 301. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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werden.28 Ihre List ist es, die Parsondes in die Knie zwingt und den Helden alles andere als gut dastehen lässt: Die Händler tischen ihm ein umfangreiches Mahl auf, bieten ihm reichlich Wein an und führen ihm zur Krönung des Ganzen eine Reihe schöner Frauen zu. Da kann selbst ein Held wie Parsondes nicht widerstehen. Ermattet vom Rausch und seinen erotischen Ausschweifungen übermannen ihn erst der Schlaf und dann die Schurken, die nun ein leichtes Spiel mit ihm haben. Tatsächlich scheint Parsondes erst in seinem Gespräch mit Nanaros wieder klar genug, um zu begreifen, dass er in Schwierigkeiten steckt.29 Diese Art des Vorgehens erweist sich in den Persika öfter als probates Mittel, um einen Mann zu überwinden, denn auch Sekyndianos wartet bis sein Halbbruder Xerxes II. trunken und schutzlos im Palast liegt, um ihn heimtückisch zu ermorden30 und Parsondes selbst scheint Nanaros schließlich auf demselben Wege zu schlagen.31 Umso ironischer wirkt es daher, dass der Babylonier seinen Gefangenen damit aufzieht, von seinem Magen und seinen Geschlechtsteilen bezwungen worden zu sein.32 Von großem Einfallsreichtum zeugt auch die Art der Bestrafung, die Nanaros ersinnt. Er will aus dem Perser genau das machen, was er am meisten verachtet: Einen weichlichen, ‚weibischen‘ Mann. Nun könnte man erwarten, dass es bei einem so durch und durch maskulinen Protagonisten wie Parsondes einiges an Aufwand bedarf, um dieses Ziel umzusetzen. Jedoch ist das Gegenteil der Fall, wie Ktesias zeigt, indem er die Marker hervorhebt, die seiner Ansicht nach einen effeminierten Mann ausmachen:33 Es scheint ausreichend, den Gefangenen zu rasieren, überdurchschnittlich häufig zu baden, zu schminken und ihn von den aus griechischer Sicht idealen Aufgabenbereichen eines Mannes, die außerhalb des Hauses liegen, fernzuhalten.34 Zudem wird er in weiblichen Fertigkeiten wie dem Leier- und Harfe-Spiel sowie dem Singen ausgebildet. Besonders zentral scheint für Ktesias die Rasur zu sein.35 Der Bart gehört seit dem 5. Jahr­ hundert v.Chr. zum festen Repertoire der Perserdarstellungen in der Literatur und Kunst der Griechen.36 Die Bartlosigkeit steht im Gegensatz dazu häufig als Synonym für Jugend, W­eichlichkeit oder auch Kastratentum37 – auch wenn Ktesias nicht erwähnt, dass Parsondes’ 28 Zu den Krämern sowie der bei Platon (Rep. 371d) zu findenden Unterscheidung zwischen κάπηλοι (Kleinoder Lokalhändlern/Krämern) und ἔμποροι (Übersee- und/oder Großhändlern) äußert sich knapp Nichols 2008, 156; zu κάπηλοι und ἔμποροι im papyrologischen Befund aus dem römischen Ägypten s. Drexhage 1991 u. 2002; Ruffing 2012, 51 verweist auf den seit Homer bestehenden Topos des listigen, betrügerischen Händlers. 29 Ktes. Pers. F6b* 3 (Stronk 2010): When the latter [i.e. Nanarus] saw him, he asked Parsondes (for he was sober again and realized himself in what trouble he was): (...) ὀ δ᾽ ὡς εἶδεν αὐτὸν (ἤδη δὲ ἀνένηψεν ἐκ τοῦ οἴνου καὶ ἔγνω, ἵωα ἦν κακοῦ) ἤρετο· 30 Ktes. Pers. F15 (48) (Lenfant 2004). 31 Ktes. Pers. F6d* (Lenfant 2004); Lenfant 2004, 252 mit Anm. 362; Nichols 2008, 157. 32 Ktes. Pers. F6b* 3 (Lenfant 2004). 33 Hierzu ausführlich Truschnegg 2011, 428; Herter 1959, 629–635. 34 Frass 2002 beschäftigt sich besonders mit der Bedeutung der Körperpflege für die Darstellung idealer Geschlechterrollen. Zur Frage der idealen Rollenverteilung, siehe Frass 2002, 476; vgl. auch Truschnegg 2011, 428. 35 So auch Ktes. Pers. F1pα (Lenfant 2004) = FGrH 688 F1p. 36 Madreiter 2012, 79; zur Rolle des Bartes in der stereotypen Darstellung von Persern in der Tragödie, siehe Hutzfeld 1999, 36–37. 37 Hierzu Herter 1959, 633; Gera 2007, 81–82; Madreiter 2012, 80. Zu Eunuchen bei Ktesias s. etwa Lenfant 2012 sowie Pirngruber 2011. Für die Diskussion über die Stellung und Funktion der bartlosen Männer in der assyrischen und achaimenidischen Reliefkunst, s. etwa Madreiter 2012, 80 mit Anm. 301; Pirngruber © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Bestrafung derart drastische Maßnahmen einschloss.38 Mit seinem Bart und der restlichen Körperbehaarung legt Parsondes also gleichsam seine Männlichkeit ab. Im umgekehrten Fall findet sich dieser Zusammenhang in Ktesias’ Geschichte über den Usurpationsversuch des Eunuchen Artoxares. Dieser soll seiner Frau39 aufgetragen haben, ihm einen Bart anzufertigen, um wie ein Mann auszusehen40 und seine Thronansprüche rechtfertigen zu können. Auch die Betonung der kosmetischen Maßnahmen, denen Parsondes unterzogen wird, sowie der Hinweis auf die weiße Haut des Sardanapal41 und des Nanaros42 evozieren bestimmte Bilder beim griechischen Publikum. Zum einen ist die helle Haut natürliches Resultat übertriebener ‚unmännlicher‘ Körperpflege43, zu der auch das Schminken und Salben mit duftenden Substanzen zählt – beides übliche Topoi, die im 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. besonders für die Darstellung der Völker des alten Orients Anwendung finden und die Andersartigkeit und Genusssucht der dort lebenden ‚Barbaren‘ betonen.44 Zum anderen steht sie sinnbildlich für den ‚weibischen‘ Lebensstil. Die effeminierten Männer bei Ktesias zeichnen sich besonders durch ihre Zurückgezogenheit aus. Kaum jemand außer ihren Konkubinen und Eunuchen bekommt sie je zu Gesicht, da ihr Lebensmittelpunkt im Inneren des Palastes liegt.45 Nicht umsonst betont Ktesias, dass Sardanapal niemals auf die Jagd ging oder in den Krieg zog, sondern lieber mit den Frauen Wolle krempelte.46 Demnach vermittelt die Betonung der weißen Haut sowohl das Bild von Luxus und Dekadenz als auch von Degeneration, Kriegsuntüchtigkeit und Schlaffheit. Ein Motiv, das im Falle der Transformation des Parsondes in eine Frau auf die Spitze getrieben wird. Doch nicht nur bei Ktesias manifestiert sich die Dekadenz der ‚Orientalen‘ in ihrer körperlichen Erscheinung.47 Schon Herodot mokierte sich über die ‚schwachen Schädel‘ der Perser, die angeblich von einem einzigen Stein durchschlagen werden könnten, und erklärt dieses Phänomen folgendermaßen: Sie tragen von früh auf ihre Tiaren-Hüte, und so im Schatten verweichlichen sie.48

38 39 40 41 42 43 44 45 46

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2011, 288, 297–298, 300, 305–306. Briant 2002, 226 spricht die Bedeutung von Haar, Haarteilen und (künstlichen) Bärten bei den Achaimeniden an, nimmt dabei aber primär Bezug auf griechische Quellen. Waters 2017, 89 stellt sich daher nicht grundlos die Frage, wie Parsondes, der ja zuvor der Damenwelt alles andere als ablehnend gegenüberstand, seine Gefangenschaft allein unter Nanaros’ Frauen verbrachte. Zu dieser vermeintlichen Crux, siehe Madreiter 2012, 63; Pirngruber 2011, 283. Ktes. Pers. F15 (54) (Lenfant 2004) = FGrH 688 F15. Ktes. Pers. F1pα; F1b §23,1 (Lenfant 2004). Ktes. Pers. F6b* 3 (Lenfant 2004). Hierzu Frass 472; Herter 1959, 633–635. Gera 2007, 75–78; Herter 1959, 621; Frass 2002, 474. Frass 2002, 476; Truschnegg 2011, 428 u. 430. Ktes. Pers. F1pδ* (Lenfant 2004) = FGrH 90 F2; hierzu Lenfant 2000, 299. Allerdings nur so lang, bis Ar­ba­ kes ihn zum Krieg zwingt. Dabei erweist Sardanapal sich dann überraschend als nicht zu unterschätzender Gegner. Seine Niederlage erfolgt nicht aufgrund seiner militärischen Unfähigkeit, sondern ist das Er­gebnis eines ‚Götter­spruchs‘, der sein Ende verheißt. Die Herrschaft über das Reich der Assyrer erlangen die Me­der unter Arbakes folglich nicht aufgrund eines militärischen Sieges. Hierzu Rollinger 2011, 319; Waters 2017, 84. Widersprüchlich zum Tod des Sardanapal: Ktes. Pers. F1oβ; F1pα (Lenfant 2004) = FGrH 688 F1ob; F1p. Hierzu ausführlich Müller 2008, 25–27. Hdt. 3,12,4: (...) τοῖσι δὲ Πέρσῃσι ὅτι ἀσθενέας φορέουσι τὰς κεφαλὰς αἴτιον τόδε: σκιητροφέουσι ἐξ ἀρχῆς πίλους τιάρας φορέοντες. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Auch bei Xenophon findet sich die Verbindung zwischen Schlaffheit und der Vorstellung, dass die Perser ihren Körper nicht der Sonne aussetzen, wie es der ideale griechische Mann beim Sport in der Palästra tun würde.49 So präsentiert der Spartanerkönig Agesilaos seinen Männern eine Gruppe persischer Gefangener nackt und diese ziehen schnell einen für sie offenbar logischen Schluss: Als die Soldaten nun sahen, daß ihre Haut weiß war, weil sie sich niemals auszogen, und ihr Körper weichlich und schlaff, weil sie immer im Wagen fuhren, kamen sie zu der Ansicht, der Krieg werde für sie nicht mehr bedeuten, als wenn sie mit Weibern zu kämpfen hätten.50

Bei seiner Beschreibung der Feminisierung des Parsondes greift Ktesias folglich auf übliche literarische Motive zurück. Besonders ironisch wirkt die Episode jedoch, da die Metamorphose selbst im Falle des hypervirilen Persers mit eher simplen Mitteln gelingt51, sodass Artaios den Verlust des so „männlichen“ (ἀνδρειότατος) Freundes beklagt.52 Da sich Ktesias’ Persika besonders durch das in ihnen zutage tretende literarische Spiel mit Herodot auszeichnen53, mag es wenig überraschen, dass sich auch in den Historien ein Beispiel für eine Zwangsverweiblichung findet. Hier trifft es allerdings keine Einzelperson, sondern eine ganze Volksgruppe. Kurz nach dem Ausbruch einer von dem Lyder Paktyes angestifteten Revolte gegen die persische Oberhoheit und der Eroberung von Sardes, berät sich Kyros II. mit dem abgesetzten Lyderkönig Kroisos darüber, wie mit der Bevölkerung zu verfahren sei. Kroisos, der fürchtet, die Perser könnten seine Landsleute versklaven und Sardes zerstören, gibt dem Kyros folgenden Rat: Mit den Lydern aber habe Nachsicht und lege ihnen folgendes auf, damit sie nicht noch einmal abfallen noch dir sonst gefährlich sind. Sende zu ihnen und verbiete ihnen, Kriegswaffen zu besitzen, und trage ihnen auf, daß sie unter ihren Kleidern feine Wäsche tragen und hohe Schuhe an den Füßen, und gebiete ihnen, ihre Knaben zu Leier- und Harfenspielern zu erziehen und zu Krämern. Und bald, hoher König, wirst du sehen, daß sie Weiber geworden sind statt Männer (...).54

Der Vorschlag des Lyderkönigs gemahnt stark an Nanaros’ Auftrag zur Feminisierung des Par­ sondes. Selbst die symptomatischen Händler sind mit von der Partie, wenngleich der Fokus bei 49 Müller 2008, 25. 50 Xen. Hell. 3,4,19: ὁρῶντες οὖν οἱ στρατιῶται λευκοὺς μὲν διὰ τὸ μηδέποτε ἐκδύεσθαι, μαλακοὺς δὲ καὶ ἀπόνους διὰ τὸ ἀεὶ ἐπ᾽ ὀχημάτων εἶναι, ἐνόμισαν οὐδὲν διοίσειν τὸν πόλεμον ἢ εἰ γυναιξὶ δέοι μάχεσθαι. Zur generellen Verweiblichung des Orients in der griechischen Literatur, besonders der Tragödie, siehe Hall 1996; Sancisi-Weerdenburg 1983, 43. Im Symposium verurteilt Xenophon zudem Parfüms und duftende Salben, deren Verwendung einen freien Mann nicht vom Sklaven unterscheide. Stattdessen lässt er seinen Sokrates den Ölgeruch der Palästra loben und die in ‚vornehmer Mühsal‘ erworbenen Gerüche (Xen. Symp. 2,4). Hierzu Frass 2002, 474. 51 Jedoch ist sie nicht ohne Parallele im griechischen Mythos: Man denke etwa an die Verweichlichung des Herakles im Dienste der Omphale oder Achilleus’ Verkleidung unter den Mädchen auf Skyros. Hierzu Herter 1959, 624–625; Waters 2017, 89. 52 Ktes. Pers. F6b* 4 (Stronk 2010); hierzu Nichols 2008, 157. 53 Diese Erkenntnis verdankt sich besonders Bichler 2004 u. 2011. 54 Hdt. 1,155,4: Λυδοῖσι δὲ συγγνώμην ἔχων τάδε αὐτοῖσι ἐπίταξον, ὡς μήτε ἀποστέωσι μήτε δεινοί τοι ἔωσι: ἄπειπε μέν σφι πέμψας ὅπλα ἀρήια μὴ ἐκτῆσθαι, κέλευε δὲ σφέας κιθῶνάς τε ὑποδύνειν τοῖσι εἵμασι καὶ κοθόρνους ὑποδέεσθαι, πρόειπε δ᾽ αὐτοῖσι κιθαρίζειν τε καὶ ψάλλειν καὶ καπηλεύειν παιδεύειν τοὺς παῖδας. καὶ ταχέως σφέας ὦ βασιλεῦ γυναῖκας ἀντ᾽ ἀνδρῶν ὄψεαι γεγονότας (...). Zu dieser Passage, s.

etwa Bichler 22001, 217, 254–255.

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Herodot auf dem Zusammenspiel zwischen Handel Treiben und Effeminierung liegt.55 In Bezug auf die Ausbildung im Leier und Harfenspiel stimmen die Passagen nahezu wörtlich überein56 – wobei freilich eine mögliche Verformung des ursprünglichen Textes durch Nikolaos nicht aus den Augen verloren werden darf. Ebenso wie bei Ktesias scheint der Effekt jedoch nur vorübergehend, denn so wie Parsondes seine männliche Gesinnung nach seiner Freilassung zurückgewinnt, tauchen auch die Lyder im weiteren Verlauf der Historien erneut als Kampfgefährten der Perser auf.57 Zu Frauen scheinen sie also durch die neue Kleidung und die Ausbildung zu Krämern und Musikanten nicht geworden zu sein. So stellt sich unweigerlich die Frage, ob sich hier wirklich nur „Ctesias’ interest in inversion“, verkehrten Geschlechterrollen oder unterschiedlichen Facetten von Männlichkeit äußert,58 oder ob der Knidier mit seiner Darstellung des Schicksals des Parsondes möglicherweise gezielt Herodot auf die Schippe nehmen wollte. Tatsächlich erscheint seine Erzählung wie eine satirische Übersteigerung des herodoteischen Stoffes. Dessen ungeachtet erstaunt es, dass Parsondes das einzige Fallbeispiel eines derart verweiblichten Persers ist, das die Fragmente des Ktesias bieten. Effeminati vom Schlage des Nanaros und des Sardanapal sind Babylonier und Assyrer.59 Die Verweiblichung der Perser und besonders ihrer Könige scheint sich etwas subtiler zu äußern, etwa über die Einflussnahme von Frauen und Eunuchen, starke Zurückgezogenheit oder übersteigerte Emotionalität.60 Die Parsondes-Episode zieht eine Ereigniskette nach sich, die es ebenfalls zu beachten gilt. Nachdem er wie eine Frau im geschlossenen Wagen nach Susa verbracht worden ist61, gewinnt er seine männliche Konstitution zurück, aber die Schmach sitzt tief und lässt ihn auf Vergeltung sinnen. Die Rache tritt bei Ktesias sehr häufig als weibliche Domäne in Erscheinung, was den Bestrebungen des Parsondes möglicherweise einen gewissen Beigeschmack verleiht.62 Allerdings wird ihm diese Rache verwehrt, da es Nanaros gelingt, den König mit seinen immensen Reichtümern zu bestechen und sich der Strafe zu entziehen. Ktesias/Nikolaos schreibt hier nicht ohne einen gewissen Witz: „(...) The man will give you, his lord, much gold and silver and to Parsondes one hundred talents of silver as a fine for what he has done.“ By this the king was persuaded (...).63

Interessant ist diese Entscheidung des Artaios nicht zuletzt, da er sich noch kurz zuvor verständnislos dafür gezeigt hatte, dass Parsondes sich nicht lieber das Leben genommen hatte als die Schmach zu ertragen als effeminierter Mann unter Frauen leben zu müssen.64 Doch anstatt seinem Freund – dessen Abfindung, nebenbei bemerkt, deutlich geringer ausfällt als 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

Ruffing 2009, 329. Ktes. Pers. F6b* 3 (Stronk 2010): κιθαρίζειν καὶ ψάλλειν; Hdt. 1,155,4: κιθαρίζειν τε καὶ ψάλλειν. Hdt. 5,101–102; 7,74; vgl. Bichler 22001, 255. Waters 2017, 88 u. 89; ähnlich auch Madreiter 2012, 107; Gera 2007, 83 u. 91; Truschnegg 2011, 432. Etwa Rollinger 2011, 334 mit Anm. 177. Truschnegg 2011, 430; auch tauchen keine persischen Frauen als Herrscherinnen vom Schlag einer Semiramis auf. Hierzu Madreiter 2012. Truschnegg 2011, 430. Zu Frauen als Rächerinnen, siehe Madreiter 2012, 102; Truschnegg 2011, 433 sieht hierin jedoch ein Beispiel dafür, dass Rache keine rein weibliche Domäne ist. Ktes. Pers. F6b* 6 (Stronk 2010): δώσει δ᾽ ὁ ἀνὴρ σοὶ μὲν τῷ δεσπότῃ πολὺν μὲν χρυσὸν καὶ ἄργυρον, Παρσώνδῃ δὲ ποινήν ὧν ἔδρασεν ρ´τάλαντα ἀργθρίου. Πείθεται τούτοις ὁ βασιλεὺς (...). Hierzu etwa Truschnegg 2011, 430; Gera 2007, 80; Waters 2017, 90. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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die Bestechungssumme für Artaios – Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, zieht der König ihm das Gold vor. Seine Strafe folgt freilich auf dem Fuß, denn Parsondes erweist sich als überaus unversöhnlich: Cursed be the one who invented the gold for the human race; for because of that, I have become the joke in the eyes of a Babylonian.65

Demnach macht Parsondes das Gold für seine Schande und die ausbleibende Vergeltung verantwortlich. Erneut ist man überrascht, da ausgerechnet ein Perser diese Feststellung trifft – anstatt eines Griechen66 – wo es doch besonders die Achaimeniden sind, an deren Beispiel sich seit dem 5. Jahrhundert v.Chr. das Stereotyp des „Reichtums Asiens“ verfestigt.67 Ungeachtet der Entscheidung seines Königs, nimmt Parsondes im Folgenden seine Rache an Nanaros, doch damit nicht genug. Er flieht mit 3000 Infanteristen und 1000 Kavalleristen zu den Kadusiern und gibt seine Schwester dem Einflussreichsten unter ihnen zur Frau. Ktesias/Diodor beschreibt sein weiteres Vorgehen wie folgt: Now that he had become a rebel, he persuaded the entire people to vindicate their freedom and was chosen general because of his valour. Next, having learned that a great force had been gathered against him, he armed the whole nation of the Cadusii and pitched his camp (...) with no less than two hundred thousand men in total. Though the king Artaeus advanced against him with eight hundred thousand soldiers, Parsondes defeated the king in battle and slew more than fifty thousand of his followers and drove the rest of the army out of the country of the Cadusii. For this exploit, he was so much admired by the people of the land, that he was chosen king (...).68

Parsondes gewinnt also nicht nur seine Männlichkeit, sondern auch seine Tugenden zurück und erweist sich trotz sieben Jahren als Musikerin des Nanaros noch immer als fähiger Krieger. So fähig, dass Artaios die Gefahr als groß genug einschätzt, um ihm ein beeindruckendes Heer entgegen zu stellen. Und damit liegt er keineswegs falsch, da Parsondes die Meder, trotz deren gewaltiger Überzahl, scheinbar mit Leichtigkeit bezwingt. Aber sein Unmut ist noch immer ungebrochen und verfolgt ihn bis aufs Totenbett, wo Parsondes als König der Kadusier seinem Nachfolger den Schwur abnimmt, niemals die Feindschaft mit den Medern beizulegen.69 Das Ganze erinnert wohl nicht zufällig an die Sterbeszene des Kambyses bei Herodot, in wel65 Ktes. Pers. F6b* 6 (Stronk 2010): ὄλοιτο, ἔφη, ὁ πρῶτος χρυσὸν ἐξευρὼν εἰς ἀνθρώπων γένος· 66 Man denke etwa an den Zorn des Kallikratidas, der laut Xenophon die Hellenen dafür verfluchte, dass sie den Barbaren „um des Geldes Willen den Hof machten“ (Xen. Hell. 1,6,7; ähnlich auch 5,1,17). Isokrates äußert vergleichbare Vorwürfe im Panegyrikos (Isokr. Or. 4,85). 67 Sehr schön ersichtlich aus der von Irene Madreiter zusammengestellten Merkmal-Liste zur Darstellung des Perser-Imagotyps in der Persika-Literatur (Madreiter 2012, 174). 68 Ktes. Pers. F5 3–4 (Stronk 2010): Γενόμενον δ᾽ ἀποστάτην καὶ πείσαντα τὸ σύμπαν ἔθνος ἀντέχεσθαι τῆς ἐλευθερίας, αἱπεθῆναι στρατηγὸν διὰ τὴν ἀνδρείαν. Ἔπειτα πυνθανόμενον ἀθροιζομένην ἐπ᾽ ἀυτὸν μεγάλην δύναμιν, καθοπλίσαι τοὺς Καδουσίους πανδημεὶ καὶ καταστρατοπεδεῦσαι πρὸς ταῖς εἰς τὴν χώραν εἰσβολαῖς ἔχοντα τοὺς σύμπαντας οὐκ ἐλάττους εἴκοσι μυριάδων. Τοῦ δὲ βασιλέως Ἀρταίου στρατεύσαντος ἐπ᾽ αὐτὸν μυριάσιν ὀγδόηκοντα, μάχῃ κρατῆσαι καὶ πλείους μὲν τῶν πεντακισμυρίων ἀνελεὶν, τὴν δ᾽ ἄλλην δύναμιν ἐκβαλεῖν ἐκ τῆς Καδουσίων χώρας. Διὸ καὶ παρὰ τοῖς ἐγχωρίοις θαυμαζόμενον αἰρεθῆναί τε βασιλέα (...).

69 Ktes. Pers. F5 5 (Stronk 2010). Für mögliche Einflüsse iranischer Traditionen auf diese Episode, s. Gil­more 1888, 100–101, der die Geschichte des Parsondes mit der des Siawush aus Ferdousis Shahnameh ver­glich. Hierzu auch Lenfant 2004, LI. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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cher der persische König seinen Landsleuten aufträgt, sich niemals wieder unter die medische Herrschaft zwingen zu lassen.70 Mit Blick auf die weitere Entwicklung erscheint die Bestechlichkeit des Artaios und dessen Gier nach Gold als Auslöser für den Krieg gegen die Kadusier unter der Führung des Parsondes. Und nicht nur das. Das Zerwürfnis zwischen dem Perser und dem König der Meder deutet zudem auf die später erfolgende Herrschaftsübernahme des Kyros II. Auch hierbei spielt das Volk der Kadusier71 eine nicht unbedeutende Rolle. Zur Regierungszeit des Astyages befinden sie sich laut Persika im Krieg mit den Medern. Doch Onaphernes, ihr König und vermutlich ein Nachkomme des Parsondes72, zeigt sich zu Verhandlungen mit Astyages bereit, weshalb Kyros entsandt wird, um mit ihm zu verhandeln.73 Dort angekommen, macht Kyros die Bekanntschaft eines Persers namens Oibaras74, der ihm dazu rät, die Kadusier für seine Sache zu gewinnen, was keine Schwierigkeit sei, da sie die Perser mögen, die Meder aber verachten würden.75 So werden die Pläne für die Revolte gegen Astyages konkret und bestätigen Kyros in seinem später erfolgreichen Vorhaben. Wenngleich der Krieg des Parsondes gegen die Meder als ahistorisch gelten kann und antike Berichte über das Volk der Kadusier in der Forschung bisweilen in den Bereich einer auf Ktesias zurückgehenden ‚fiktionalen Geschichte‘ verschoben wurde76, könnte der Knidier durchaus von dem auch bei Xenophon überlieferten Krieg zwischen Dareios II. und den Kadusiern (um 405 v.Chr.) inspiriert worden sein.77 Dies würde dem starken Einfluss zeitgenössischen Materials auf Ktesias’ Werk entsprechen, das sich etwa auch in der Gestaltung der Mederherrschaft spiegelt, die mit seiner Darstellung des Achaimenidenhofes nahezu identisch ist.78 Abschließend lässt sich festhalten, dass sich Ktesias’ ‚Spiel‘ mit Herodot nicht nur auf die großen Handlungsstränge rund um die persischen Könige Kyros, Kambyses, Dareios und Xerxes konzentriert, sondern womöglich bis in seine eher kuriosen Exkurse drang. Dafür müsste ihm und seinem Publikum freilich eine dezidierte Kenntnis der Historien zugestanden werden. Es bleibt die Frage offen, wie groß der Einfluss des Nikolaos auf die Ausgestaltung der Episode über Parsondes’ Zwangsfeminisierung war. Doch auch wenn wir Nikolaos’ persönlicher Darstellungskunst Raum geben, bleibt die frappante Ähnlichkeit zu Herodots LyderGeschichte79, die der literarischen Verspieltheit der Persika keineswegs widersprechen würde. Auch im Hinblick auf die Einbindung der Parsondes-Episode in die Gesamtkomposition des Werkes zeigt sich durchaus noch Ktesias’ literarisches Geschick. So bildet die Geschichte 70 Hdt. 3,65,6. 71 Zu den literarischen Zeugnissen über die Kadusier, s. Syme 1988; Gilmore 1888, 100–101 beschreibt die Kadusier mit Strabon als „half-savage Turanian tribe“. 72 Gilmore 1888, 101. 73 Ktes. Pers. 8d* 11= FGrH 90 F66 (11). Kyros ist in Begleitung eines Babyloniers, der ihm voraussagt, dass er Astyages vom Thron stürzen werde. Das lässt den Leser erneut an Arbakes, den ktesianischen Gründer des Mederreiches denken, der vom Babylonier Belesys eine ähnliche Weissagung erhielt. Hierzu Rollinger 2011, 338. 74 Womöglich ein Rückgriff auf den listigen Stallknecht, der Dareios I. laut Herodot auf den Thron verhilft (Hdt. 3,85–86). 75 Ktes. Pers. F8d* 15 (Lenfant 2004). 76 Syme 1988; hierzu auch Nichols 2008, 155; Bichler 2011, 36. 77 Rollinger 2011, 334. Xen. hell. 2,1,13. 78 Rollinger 2011, 333–334. 79 Für die Annahme, dass Nikolaos ebenfalls auf Herodot zurückgriff, siehe Jacoby 1926, 234. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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eines der Bindeglieder zwischen der Herrschaft der Meder und der der Perser mit inhärenten Rückgriffen auf die letzte Phase des assyrischen Reiches.80 Bibliographie Abe 2014 = T. Abe, Ctesias’ Persica. Persian Decadence in Greek Historiography, in: Y. Nakai – P. Carafa (eds.), Memory of the Past and its Utility. Nation, State, Society and Identity, Rom 2014, 35–54. Bichler 22001 = R. Bichler, Herodots Welt. Der Aufbau der Historie am Bild der fremden Länder und Völker, ihrer Zivilisation und ihrer Geschichte, Berlin 22001. Bichler 2004 = R. Bichler, Ktesias „korrigiert“ Herodot. Zur literarischen Einschätzung der Persika, in: H. Heftner – K. Tomaschitz (Hrsg.), Ad Fontes. Festschrift für Gerhard Dobesch zum 65. Geburtstag am 15. September 2004, Wien 2004, 105–116. Bichler 2011 = R. Bichler, Ktesias spielt mit Herodot, in: J. Wiesehöfer et al. (Hrsg.), Ktesias’ Welt – Ctesias’ World, Wiesbaden 2011 (CleO 1), 21–52. Briant 2002 = P. Briant, From Cyrus to Alexander. A History of the Persian Empire, Winona Lake 2002. Dorati 1995 = M. Dorati, Ctesia falsario?, Quaderni di storia 21 (1995), 33–52. Dorati 2011 = M. Dorati, Lo storico nel suo testo. Ctesia e la sua ‚biografia‘, in: J. Wiesehöfer et al. (Hrsg.), Ktesias’ Welt – Ctesias’ World, Wiesbaden 2011 (CleO 1), 81–110. Drexhage 1991 = H.-J. Drexhage, Einige Bemerkungen zu den ἔμποροι und den κάπηλοι im römischen Ägypten (1.–3. Jh. n.), MBAH 10/2 (1991), 28–46. Drexhage 2002 = H.-J. Drexhage, Einige Bemerkungen zu den κάπηλοι, MBAH 21/1 (2002), 64–68. Frass 2002 = M. Frass, Körperpflege als Ausdrucksmittel für Geschlechterrollen, in: Chr. Ulf – R. Rollin­ ger (Hrsg.), Geschlechter – Frauen – Fremde Ethnien. In antiker Ethnographie, Theorie und Realität, Innsbruck 2002. Gera 2007 = D. L. Gera, Viragos, Eunuchs, Dogheads, and Parrots in Ctesias, in: G. Herman – I. Shatz­ man (eds.), Greeks between East and West. Essays in Greek Literature and History in Memory of David Asheri, Jerusalem 2007, 75–92. Gilmore 1888 = J. Gilmore, The Fragments of the Persika of Ktesias, London 1888. Griffiths 1987 = A. Griffiths, Democedes of Croton. A Greek Doctor at the Court of Darius, Achaemenid History 2 (1987), 37–51. Hall 1996 = E. Hall, Asia Unmaned. Images of Victory in Classical Athens, in: J. Rich – G. Shipley (eds.), War and Society in the Greek World, London 1996, 108–133. Herter 1959 = H. Herter, s.v. Effeminatus, RAC 4 (1959), 620–650. Högemann 1999 = P. Högemann, s.v. Ktesias, DNP 6 (1999), 874–875. Jacoby 1926 = F. Jacoby, FGrHist IIC. Kommentar zu Nr. 64–105, Leiden 1926. Lenfant 2000 = D. Lenfant, Nicolas de Damas et le corpus des Fragments de Ctésias, Ancient Society 30 (2000), 293–318. 80 Dieses Gesamtbild verdankt sich nicht zuletzt der Aufnahme der Excerpta des Nikolaos unter die Frag­ mente des Ktesias, für die sich Dominique Lenfant im Jahre 2000 vehement aussprach und die sie in logischer Konsequenz in ihrer Edition von 2004 umsetzte. Jacoby zitierte die Passagen des Nikolaos nicht unter seinen Ktesias-Fragmenten. Gilmore 1888 nahm nur jene Excerpta auf, für die sich ParallelPassagen nachweisen ließen. So auch die Geschichte des Parsondes. Hierzu Lenfant 2000, 294 mit Anm. 3. Zur Frage ob Nikolaos trotz fehlender Verweise auf Ktesias unter die Fragmente aufzunehmen sei, siehe etwa Stronk 2010, 73–82 sowie 167; speziell zur Parsondes-Episode: Lefant 2000, 301–303; Lenfant 2004, CLXXIX–CLXXXI; Jacoby 1926, 235 sah die Parallelen zu der auf Ktesias zurückgehenden Diodor-Stelle (F5) sowie der Beschreibung des Nanaros bei Ktesias/Athenaios (12,40). „Der Geschichte um Parsondes und Nanaros kommt durchaus eine gewisse Bedeutung im Verständnis des Aufbaus von Ktesias’ Medischem Logos zu.“ Resümierte Robert Rollinger im Jahr 2011 (324), und derselbe weiter: „Sie offenbart nicht nur dessen auf Einzelepisoden ausgerichteten Erzählstil (...) sondern zeigt auch, dass bei aller literarischen Verspieltheit die Gesamtstruktur gewahrt bleibt und sich die Geschichtchen in den Haupterzählstrang und dessen Eckpunkte einordnen lassen.“ © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Literarisches

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Wie man vor Publikum untergeht . Rezeptionsblüten und rhetorisches Kentern in Lukians De Domo Sabine Müller Lukian von Samosata war Teil des Bildungsbetriebs im Imperium Romanum des 2. Jhs. n.Chr., der von einem oft mit harten Bandagen ausgetragenen Konkurrenzkampf um sozio-politischen Rang und zahlende Schüler geprägt war.1 Unter dem Einfluss der kulturellen Strömung der Zweiten Sophistik wurde die paideia – die intensive Kenntnis des griechischen literarischen Erbes,2 bis hin zur wörtlichen Nachahmung „alter Meister“ in attizistischer Kunstsprache –3 symbolisches Kapital und Statussymbol der Intellektuellen.4 Zugleich geriet die paideia zum Zankapfel, da der Vorwurf mangelnder Bildung zum Standardargument gegen Rivalen wurde.5 Lukian, in dessen Oeuvre es um die spöttische Distanzierung von Wahrheitspostulaten und Gefolgschaftsforderungen aller Art (im sozialen, kulturellen, religiösen wie politischen Bereich) geht,6 warf satirische Schlaglichter auf die Auswüchse und Missstände des zeitgenössischen Lehrgeschäfts.7 Das Thema Schein und Sein in Philosophie, Rhetorik und Geschichtsschreibung nimmt eine zentrale Rolle ein.8 Lukian kontrastiert das Ideal der Verinnerlichung und Ver­ mittlung der paideia zur pädagogisch-moralischen Verbesserung von Lehrer wie Schüler mit Negativ­beispielen der Scheinbildung. Im Fokus seines Spotts stehen Pseudointellektuelle, die schnellen Ruhm und Reichtum mit einem Schmalspurstudium erlangen wollen und ihre faktischen Wissensmängel durch einen plakativen Gelehrtenhabitus – Mimik, Gestik, Kleidung, langer Bart, prätentiöse Worthülsen, anmaßendes Auftreten – zu kaschieren suchen.9 Solche Scheingebildeten charakterisiert Lukian oft mittels Theatermetaphorik: Statt Bildungsinhalte zu verinnerlichen, tragen sie eine bloße Maske der Gelehrsamkeit und haben sich mit „Philo­ sophenbärten“ und buschigen Augenbrauen als Weise kostümiert.10 Dabei entlarvt Lukian auch ihre Art der Rezeption von Geschichte und historischen Personen (Intellektuelle wie poli­ 1 Alle Passagen aus Lukians De Domo folgen der Übersetzung von P. v. Möllendorff. Vgl. Hopkinson 2008, 3; Marrou 1957, 311. 2 Vgl. Zweimüller 2008, 107; Galli 2007, 10–14; Conolly 2003, 341–342, 349; v. Möllendorff 2000, 3; Schmitz 1997, 44–67, 83–90, 101–109; Anderson 1993, 101–114; Jones 1986, 149. 3 Vgl. Swain 2007, 21; Karavas 2005, 10; Bracht Branham 1989, 4. 4 Vgl. Galli 2007, 10–14; v. Möllendorff 2000, 3; Schmitz 1997, 44–63, 83–90, 101–109; Anderson 1993, 101–114; Jones 1986, 149. 5 Vgl. v. Möllendorff 2006a, 275. 6 Vgl. Müller 2013b, 189; Swain 2007, 23. Berdozzo 2011, 194–195 diagnostiziert bei Lukian einen stetigen „Argwohn“ gegenüber ikonischen Figuren. 7 Zur Definition von Satire bei Lukian vgl. Rütten 1997, 42–43. 8 Vgl. Müller 2014b, 152; Porod 2013, 94; Müller 2013b, 27–29, 35; Berdozzo 2011, 194–195; PetsalisDiomidis 2010, 55–56, 65; Schlapbach 2010, 253; Zweimüller 2008, 44–45, 130, 138; Gunderson 2007, 479, 482–483; Koulakiotis 2006, 184; Swain 2007, 23; Georgiadou – Larmour 1998, 2–3; Rütten 1997, 35–37. 9 So z.B. Luk. DM 10,9; Hist. Conscr. 17; Symp. 11–47. Vgl. Porod 2013, 98; Müller 2013b, 32–34; Schlap­bach 2010, 253. 10 Beispielsweise Luk. Ikarom. 30; Pisc. 11, 31, 37, 41, 42; DM 10,8–9; Nec. 16; Peregrin. 15. Vgl. Müller 2014b, 157; Zweimüller 2008, 131–134, 138; v. Möllendorff 2006a, 297, 311. Zu den Augenbrauen als Attribut von Philosophen (vgl. zu Platon bei Diog. Laert. 3,28) siehe Papachrysostomou 2008, 54. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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tische Akteure), von ihnen als Legitimation für ihre Behauptungen herangezogen, als arti­fizielle Konstrukte: nichts als Projektionsfiguren ihrer eigenen Ambitionen.11 Lukian selbst bleibt in seiner Paraderolle des spöttischen Beobachters am Rand hinter seinen Erzählermasken – niemals Heldengestalten, sondern selbstironisch gestaltete ambivalente Figuren12 –­ konsequent unfassbar.13 In Abgrenzung gegen die These, sein ironischer Blick auf den Lehrbetrieb seiner Zeit sei lediglich unterhaltsamer Gelehrtenspaß und verspielte Literaturkritik,14 wird im Folgenden von der Gegenmeinung ausgegangen, dass Lukians Ansätze kritisch waren und, obgleich augenzwinkernd, die Aufmerksamkeit seiner Rezipienten auf zentrale Missstände seiner Lebenswelt lenken oder diese zumindest ansprechen wollte.15 De Domo ist eine der in der Forschung stiefkindlich behandelten Schriften Lukians. Als Vorrede kategorisiert und damit im Geruch der rhetorischen Fingerübung, hat sie bislang nicht die verdiente Beachtung erfahren. Dabei zielt De Domo auf eins von Lukians zentralen Themen: die Diskrepanz zwischen Autoritätsanspruch mittels selbsterklärter Gelehrsamkeit und faktischer Bildungslücken. Ein Hauptmotiv in De Domo ist die (unbewusste) Selbstentlarvung Schein­gebildeter durch ihren kruden Umgang mit historischen und literarischen exempla, ihre kontra­produktiv gewählten Verweise auf das kulturelle Erbe, in summa die Blüten der Rezeption von Bildungsgut, die sie mit ihren schlecht oder falsch gewählten Beispielen produzieren. De Domo kreist um die Stehgreifrede, in der Zweiten Sophistik Königsdisziplin und Bewährungsprobe der Gelehrsamkeit, die (eigentlich) ein langes intensives Studium erforderte.16 Lukians Protagonisten legen eindrücklich dar, dass sie ein solches entweder nicht genossen oder zu wenig daraus mitgenommen hatten. Ein Redner, der in einen prachtvoll gestalteten, mit Kunstwerken ausgeschmückten Prunkraum kommt, ist von der Kulisse so hingerissen, dass er spontan mit einer Rede beginnt, um durch die Beigabe seiner Stimme und Worte ein Teil dieser Schönheit zu werden und die Beachtung und Bewunderung der anderen Anwesenden zu erlangen. Seine Rede besteht ausschließlich aus der Argumentation, dass ein prächtiges Setting einem Redner zugutekomme. Ein Gegenredner unterbricht ihn und führt aus, dass eine schöne Kulisse im Gegenteil die schlechteste Wahl für einen Redner sei, da die visuellen Reize überwiegen und die Zuhörer ablenken würden. Im Folgenden wird analysiert, in welcher Weise Lukian mit diesem Disput um ein traditionelles Streitfragenmotiv – inwiefern Visuelles oder Auditives überwiegt, eine der Grundfragen in den theoretischen Diskursen der Zweiten Sophistik –17 im übertragenen Sinn einen Schiff­ 11 Vgl. Müller 2013a, 188–189; Jouanno 2008, 220; Georgiadou – Larmour 1998, 2–3. Bei der Rezeption von historischen Personen deckt Lukians Überzeichnung den trügerischen Charakter der Rezeptionsbilder auf: Es sind eikones, keine realen Menschen; die zeitgenössischen Intellektuellen, die sich auf sie berufen, werden damit zu Schöpfern literarischer personae. 12 So tritt er als scheiternde Figur in Alexander oder der Lügenprophet auf, als wenig konstruktive Gestalt, die nur spottet anstatt wegführende Ratschläge zu geben, in Das Schiff oder die Wünsche und als bloßer amüsierter Beobachter eines ausbrechenden Chaos, der in keiner Weise irgendeine Hilfeleistung anbietet, im Symposion. 13 Vgl. Baumbach – v. Möllendorff 2017, 13; Sidwell 2009, 117; Karavas 2005, 13; Sidwell 2004, ix–xxiv; v. Möllendorff 2000, 9; Swain 1996, 311–314; Branham 1989, 32. 14 So vertreten etwa von: Ogden 2007, 2; Jouan 1994, 27, 30–31; Hall 1981, 221–228, 310–312. 15 So Rütten 1997, 42–43. Diese Prämisse sehe ich ebenso bei Lukians Spott über Autoritätsansprüche im politischen und religiösen Bereich gegeben. 16 Vgl. Zweimüller 2008, 60; v. Möllendorff 2006a, 278, 319. 17 Vgl. Webb 2009, 172–173; v. Möllendorff 2006b, 230; Newby 2002. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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bruch Pseudo-Gelehrter darstellt, die ihre unzureichende Bildung mit ihren kontraproduktiv gewählten Argumenten aus der (Literatur-)Geschichte und dem Mangel an Substanz ihrer Reden entlarven. Zu Beginn von (Stehgreif-)Reden in der Zweiten Sophistik stand zumeist ein weithin be­ kanntes historisches Exempel, das als Leitmotiv den weiteren Inhalt prägte. Dies ist auch bei Lukians Redner so, der sich gleich unbescheiden in Bezug zu einer der prominentesten, iko­ nischen Figuren in der Zweiten Sophistik setzt,18 Alexander:19 εἶτα Ἀλέξανδρος μὲν ἐπεθύμησεν ἐν τῷ Κύδνῳ λούσασθαι καλόν τε καὶ διαυγῆ τὸν ποταμὸν ἰδὼν καὶ ἀσφαλῶς βαθὺν καὶ προσηνῶς ὀξὺν καὶ νήξασθαι ἡδὺν καὶ θέρους ὥρᾳ ψυχρόν, ὥστε καὶ ἐπὶ προδήλῳ τῇ νόσῳ ἣν ἐνόσησεν ἀπ᾽ αὐτοῦ, δοκεῖ μοι οὐκ ἂν τοῦ λουτροῦ ἀποσχέσθαι. οἶκον δέ τις ἰδὼν μεγέθει μέγιστον καὶ κάλλει κάλλιστον καὶ φωτὶ φαιδρότατον καὶ χρυσῷ στιλπνότατον καὶ γραφαῖς ἀνθηρότατον οὐκ ἂν ἐπιθυμήσειε λόγους ἐν αὐτῷ διαθέσθαι, εἰ τύχοι περὶ τούτους διατρίβων, καὶ ἐνευδοκιμῆσαι καὶ ἐλλαμπρύνασθαι καὶ βοῆς ἐμπλῆσαι καὶ ὡς ἔνι μάλιστα καὶ αὐτὸς μέρος τοῦ κάλλους αὐτοῦ γενέσθαι;

Als Alexander den Kydnos erblickte, diesen schönen und klaren Fluss mit seiner zuverlässigen Tiefe, seiner leichten Strömung, zum Schwimmen verlockend und kühl in der Sommerhitze, da packte ihn so sehr das Verlangen, darin zu baden, dass er, meine ich, nicht einmal dann, wenn sich die Krankheit, die danach ausbrechen sollte, bereits angekündigt hätte, von diesem Bad Abstand genommen hätte. Wer aber einen Saal erblickt, den allergrößten, den wunderschönsten, von strahlendem Licht und funkelndem Goldglanz erfüllt und mit einer Blütenpracht von Malereien ausgestattet, würde den denn etwa nicht das Verlangen packen, in ihm eine Rede zu halten – wenn dies sein Betätigungsfeld wäre – Ruhm und Ansehen in ihm zu ernten, ihn mit dem Klang seiner Stimme zu füllen, ja nach Möglichkeit sogar selbst ein Teil seiner Schönheit zu werden?20

Anstatt auf einen der kriegerischen Erfolge Alexanders zu verweisen, wählt der Redner ausgerechnet eine Episode, bei der Alexander alles andere als gut aussieht: Unüberlegt soll er im erhitzten Zustand nach langem Marsch im Sommer 333 v.Chr. in den Kydnos gesprungen sein, der eisig war, weil er durch das Taurus-Gebirge lief. Daraufhin ging Alexander wortwörtlich unter und erkrankte so schwer, dass schon mit seinem Ableben gerechnet wurde.21 In der nachantiken Rezeption verschwamm die Episode häufig mit dem finalen Bad Friedrich Barbarossas im Sommer 1190 im anatolischen Fluss Saleph Göksu. Als Rezeptionskuriosität ist zu verzeichnen, dass sogar teilweise behauptet wurde, Alexander sei nicht weiter als bis zum Kydnos gekomme­n, weil er darin gestorben sei.22 Die Erklärung, wer danach unter seinem Namen den Eroberungszug weitergeführt haben sollte, fehlt jedoch. 18 Zu dieser Strategie der Selbstprofilierung vgl. Gilhuly 2007, 63: „In a world where one’s public activity in the political, social and civic spheres was subject to fluctuating and capricious forces, the cultivation of the self became an increasing object of concern“. 19 Vgl. Whitmarsh 2005, 66, 68: „an iconic figure for second-century Hellenism“. Siehe auch Burliga 2013, 79; Billault 2010, 633–634; Asirvatham 2010, 99–124; Damaskos 2007, 117–121; Koulakiotis 2006, 179; Whitmarsh 2005, 66–68. 20 Luk. Dom. 1. 21 Curt. 3,5,1–4; Arr. an. 2,4,7–8; Just. 11,8,3–9; Val. Max. 3,8,ext. 6; Plut. Alex. 19,1–2. Diod. 17,31,4–6 erwähnt nur, dass Alexander erkrankte. Vgl. Bichler 2013, 303–306; Heckel 2006, 13; Hammond 1981, 92–93; Bosworth 1980, 55. 22 So heißt es bei Johann Christian August Bauer, einem Prediger aus Leipzig, in Alexander Selkirchs sonderbare Schicksale zu Wasser und zu Land. Zur Erleichterung des geographischen Unterrichts für die Jugend © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Selbst Arrian mit seinem positiven, vom zeitgenössischen Kaiserideal getönten Alexander­ bild –23 von dem er seinen eigenen Ruhm als dessen selbsternannter einzig wahrer Historiograph ableitet und dafür wohl prompt von Lukian verspottet wird –24 hat Mühe, diese hitzköpfige Torheit schönzureden. Er nennt zuerst die Version von Aristoboulos, Alexanders „blatant apologist“,25 der das unheilvolle Bad gar nicht erwähnt, sondern Alexander an Überanstrengung erkranken lässt.26 Während Arrian Aristoboulos als einen seiner verlässlichen Hauptzeugen wertschätzt,27 gibt Lukian (wenig überraschend) in Wie man Geschichte schreiben soll eine gegen­ sätzliche Meinung kund: Demnach war Aristoboulos ein fabulierender Schmeichler. Lukian macht dies an einer nur bei ihm bezeugten, sicherlich symbolischen und unhistorischen Anekdote fest, wonach Aristoboulos es mit seinen Lobhudeleien so übertrieben habe, dass es selbst Alexander – in antiker Tradition nicht gerade Sinnbild des Gegners von Schmeichelei –28 zu viel geworden sei.29 Dagegen betont Curtius mit genüsslicher Süffisanz, wie Alexander vor seinem gesamten Heer vorführen wollte, dass er sich mit bescheidenem, einfachem cultus corporis begnüge (statt

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der mittlern Stände und zum Selbstunterricht, gedruckt in Berlin 1806: „Wir (…) kamen nach der jetzt armseligen, sonst berühmten, Stadt Tarsus, am Flusse Karasu (Kydnus), in dessen außerordentlich kaltem Wasser der berühmte König Alexander, durch unvorsichtiges Baden auf große Erhitzung sein Leben verloren hatte“ (I, 321–322). Vergleichbar ist die Aussage bei Karl Julius Weber in Sämmtliche Werke: Das Papsthhum und die Päpste, I, erschienen in Stuttgart 1854: „(…) unserem größern Friedrich (…) der leider! 1190 sein Leben im Flusse Salef, wo er sich von den Mühseligkeiten seines Marsches stärken wollte, endete wie Alexander im Cydnus.“ Vgl. Wirth 1964, 212, 223. Abschwächend: Anderson 1993, 113–114. Arr. an. 1,12,4–5; 7,30,3. Vgl. Luk. Alex. 2. In Arrians angeblicher Räuberbiographie des Tilliboros, die von keiner anderen Quelle bezeugt ist und auch im Widerspruch zu Arrians Selbstanspruch als Literat stand, der sich über sein Sujet definierte, wird vielfach eine ironische Referenz Lukians auf Arrians Anabasis Alexandrou gesehen: Alexander galt in römischer Tradition teilweise auch als Räuber. Vgl. Müller 2013a, 186–187; Koulakiotis 2006, 177; Badian 1997; Tonnet 1988, 73, 83; Wirth 1964, 233. Angedeutet von Whitmarsh 2005, 68, Anm. 43. Der Umstand, dass der Name Tilloboros inschriftlich belegt ist (vgl. Victor 1997, 133), ist kein Gegenargument. Lukian wählte einen bekannten, plakativen Räubernamen für seinen Spott. Contra: Burliga 2013, 81; Billault 2010, 629; Grünewald 1999, 9, Anm. 19; Victor 1997, 133; Swain 1996, 326, Anm. 101; Bosworth 1972, 164, 166–167. Je nach Interpretation wird diese einzige explizite Referenz zu Arrian bei Lukian entweder als respektvolle Geste gedeutet (Carlsen 2014, 211; Porod 2013, 20; Burliga 2013, 82–83; Anderson 1980, 122; Bosworth 1980, 37) oder als sarkastischer Spott (Müller 2013a, 185–187; Koulakiotis 2006, 184–185; Macleod 1987, 258; Jones 1986, 134; Stadter 1980, 18). Heckel 2006, 46. Ebenso: Müller 2014a, 95–98; Berve 1926, 65. Arr. an. 2,4,7. Vgl, Bosworth 1980, 190–191: „He may have been attempting to exculpate Alexander from charges of folly in blindly diving into the Cydnus without testing the water temperature“. Siehe auch Bichler 2013, 303; Pearson 1960, 157. Zu einer medizinischen Analyse der antiken Evidenz mit dem Ziel, die Krankheit auszumachen, vgl. Macherei 2016, 219–226 (Unterkühlung, aber Krankheitsverlauf unrealistisch: zu schnell sei Alexander wieder zu fit gewesen). Lukian soll bei der Kydnos-Episode in De Domo auf Arrians diesbezügliche Version anspielen: Macleod 1987, 260–261. Arr. Per. 1,1. Vgl. Koulakiotis 2006, 184. Lukian macht sich über dieses Zerrbild von Alexander in der Rezeption selbst lustig: DM 14,1; 4; Cal. 17. Luk. Hist. Conscr. 12. Vgl. Heckel 2006, 294, n. 111; Wirth 1964, 239; Berve 1926, 64. Demnach habe Alexander Aristoboulos’ Ergüsse in den Hydaspes geworfen und gesagt, mit ihm müsse man dasselbe machen. Es handelt sich um eine Metapher für die Defizite auch der Geschichtsschreibung aus vergangenen Jahrhunderten. Lukian wollte damit sagen, dass eine Berufung auf sie nicht per se einen Wahr­ heitsanspruch legitimieren könne. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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warmer Bäder in persischem Luxus), sich vor aller Augen auszog, in den Fluss sprang – und p­rompt unterging, so dass seine Diener ihn herausziehen mussten.30 Curtius, der als Stilmittel bis zur Schlacht von Gaugamela den Luxus der Perser gegen die Schlichtheit der Makedonen kontrastiert, bis sich mit diesem Sieg das Blatt wendet und die rasch verdorbenen Sieger zu „neuen Persern“ werden, deutet mit dieser Szene bereits die Korruption Alexanders durch „östliche Laster“ an. Er ist schon der schlichten, harten Lebensweise der Makedonen entfremdet. Daher scheitert er in unmännlicher Weise an der Kälte des „barbarischen“ Flusses, so wie er später den persischen Sitten verfällt, die Curtius und seine Rezipienten mit Verweichlichung und Effeminierung assoziierten.31 Vor dem Hintergrund der antiken Traditionen über die Kydnos-Episode gestaltet Lukian die Einleitung der Rede als foreshadowing: Durch die Wahl seines einführenden Exempels sind die Leitthemen von Verführung, Impuls, Risiko und Scheitern vorgegeben. Wie die Pro­ jektionsfigur Alexander, welcher der Schönheit des Kydnos blindlings und unvorbereitet erliegt, stürzt sich auch der Redner, geblendet von der Pracht des Saals, spontan in seine Rede – in beiden Fällen verwendet Lukian ἐπιθυμῶ. In einer Art von self-fulfilling prophecy unterstellt der Redner dabei auch noch seinem Rollenmodell Alexander, er hätte dem glitzernden Fluss selbst dann nicht widerstanden, wenn er von dem bitteren Ausgang gewusst hätte. Das ist eine eigene Zugabe des Redners, von keiner anderen Quelle bestätigt, und zeigt, in welchem Ausmaß er die historische Figur Alexander für seine eigenen Belange zurechtbog. Überdies entlarvt sich Lukians Redner als völlig unverantwortlich, wenn er sich mit einem Feldherrn vergleicht, dem in völliger Pflichtvergessenheit mitten im Krieg angeblich sein Badevergnügen wichtiger gewesen sei als seine Gesundheit, Verpflichtung gegenüber Heer und Reich und Militärkampagne. Mit diesem denkbar unpassend gewählten einleitenden Beispiel sagt der Redner somit bereits unabsichtlich seinen eigenen Untergang voraus. Vollmundig begründet er, warum er als Bildungsträger prädestiniert ist, den schönen Saal mit seiner Rede zu schmücken: τῶν ἡδίστων αὑτὸν ἀπαξιοῦν καὶ τῶν καλλίστων ἀποξενοῦν (…) καὶ τὸ πρᾶγμα ὑπερήδιστον, οἶμαι, οἴκων ὁ κάλλιστος ἐς ὑποδοχὴν λόγων ἀναπεπταμένος καὶ ἐπαίνου καὶ εὐφημίας μεστὸς ὤν, ἠρέμα καὶ αὐτὸς ὥσπερ τὰ ἄντρα συνεπηχῶν καὶ τοῖς λεγομένοις παρακολουθῶν καὶ παρατείνων τὰ τελευταῖα τῆς φωνῆς (…) ἐμοὶ γοῦν δοκεῖ καὶ συνεξαίρεσθαι οἴκου πολυτελείᾳ ἡ τοῦ λέγοντος γνώμη καὶ πρὸς τοὺς λόγους ἐπεγείρεσθαι, καθάπερ τι καὶ ὑποβαλλούσης τῆς θέας: σχεδὸν γὰρ εἰσρεῖ .τι διὰ τῶν ὀφθαλμῶν ἐπὶ τὴν ψυχὴν καλόν, εἶτα πρὸς αὑτὸ κοσμῆσαν ἐκπέμπει τοὺς λόγους.

Banausentum wäre es, sich solcher Herrlichkeiten für unwert zu halten, sich solchen Schönheiten zu entfremden (…) Ich meine, etwas Herrlicheres kann es nicht geben: Der schönste aller Säle, aufgetan zum Empfang von Reden und voll des Lobes und des Preises, gibt wie eine Höhle seinen Widerhall 30 Curt. 3,5,1–4. Vgl. Baynham 1998, 141. Gemäß Atkinson 1980, 147–148 wollte Curtius Alexanders (noch) bescheidenen Lebensstil mit dem luxuriösen von Dareios III. kontrastieren. Dabei ging Alexander dann wortwörtlich baden. Zu Curtius’ Tyrannendarstellung Alexanders vgl. Müller 2014a, 135–144; Spencer 2002, 80–81. 31 Zur negativen Färbung der Szene bei Curtius siehe auch Holzberg 1988, 193–195: in teils wortwörtlichen Parallelen werde eine Brücke von den klagenden Soldaten am Kydnos zum trauernden Heer in Babylon geschlagen, als Alexander tatsächlich gestorben war (10,5,9–14). Dahinter stehe der Vorwurf der temeritas Alexanders am Kydnos (wie er zudem eine Parallele zur Mallerstadt-Episode darstelle). Dies entspreche Curtius’ Prämisse, Alexander habe mehr der fortuna als virtus zu verdanken; sogar seine temeritas sei ihm dank fortuna zum Ruhm ausgeschlagen (3,6,18). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Sabine Müller dazu, begleitet das Gesagte, lässt die Stimme länger ausklingen (…) Ich jedenfalls meine, dass die Pracht des Saales auch die geistigen Fähigkeiten des Redners erhebt und zum Reden erweckt, als ob das Schauen gleichsam etwas in Gang setze: Denn durch die Augen fließt geradezu etwas Schönes in die Seele, das dann die Worte in eine ihm entsprechende Ordnung bringt und hinausgehen lässt.32

Seine folgenden Ausführungen lassen jedoch stark daran zweifeln, dass es ein kluger Entschluss war, seine Stimme laut erklingen zu lassen, ebenso wie daran, dass die Pracht der Umgebung seine geistigen Fähigkeiten beflügelt. So bleibt er den in seiner Einleitungssequenz unglücklich gewählten Leitthemen – Erliegen der Versuchung mit üblem Ausgang, Impulsivität statt rationaler Effektkontrolle – treu. Überdies lässt seine Rede jeglichen Tiefgang missen: Es geht nur darum, seinen Entschluss zu rechtfertigen, warum er sich bemüßigt fühlt, in dem schönen Saal seine Rede anzustimmen. Selbst für eine Vorrede erscheint dieses Kreisen um sich selbst unter Beschwörung der eigenen (angeblichen) Gelehrtheit als Akt der selbstverliebten, prätentiösen Profilierung redundanter Art. Kein einziges seiner folgenden Argumente geht in irgendeiner Weise wegführend über den Dunstkreis seiner Selbstbespiegelung hinaus. Vielmehr dreht er sich konstant nur um sich selbst und erzeugt mit seinen kontraproduktiven Argumentationsbeispielen eine Abwärtsspirale, die seinen sinnbildlichen Untergang durch seine mangelnde Bildung beschreibt. Lukian verspottet somit diejenigen Vertreter des zeitgenössischen Lehrbetriebs, die aus karrierestrategischen Gründen ostentativ mit ihrer paideia hausieren gingen, um Ruhm und Ansehen zu erlangen – wie sein Redner ungeniert gleich zu Beginn zugibt –,33 anstatt auf die eigene moralische Verbesserung und die ihrer Schüler und Zuhörer abzuzielen. Dies wäre ihr Anliegen gewesen, wenn sie die Lehren aus ihrem Studium tatsächlich verinnerlicht hätten. Dass dies bei dem Redner nicht der Fall war, zeigen auch seine nächsten problematischen Vergleiche mit seiner Redefreudigkeit im schönen Saal: So parallelisiert er den Widerhall des Raums mit der Nymphe Echo, assoziiert sich selbst damit wenig geschickt mit Narkissos.34 Dies verstärkt den Eindruck, dass er durch Eitelkeit motiviert wird, nicht durch das Bestreben, einen pädagogischen Effekt auf die Zuhörer zu bewirken. Zudem ist dem Vergleich die Vorahnung implizit, dass er an seiner Selbstverliebtheit scheitern wird; die Parallele zu Narkissos verweist auf ein böses Ende. Untergang nach impulsiver Affekthandlung impliziert auch der nächste Vergleich, bei dem der Redner das strategische name dropping fortsetzt, wie es in seiner Zeit für einen Intellektuellen üblich war: Neben Alexander durfte auch ein Verweis auf die homerischen Epen nicht fehlen. So verstolpert sich der Redner, indem er seinen rhetorischen Eifer angesichts des Saals mit Achilles’ Wut auf die Phryger beim Anblick der Waffen parallelisiert.35 Mit diesem Bezug auf die Szene im 19. Gesang der Ilias, als Achilles’ neue Waffen sein Verlangen weckten, Patroklos zu rächen, entlarvt der Redner erneut seine Redemotivation als von Emotion geleitet. Achilles ging in Folge in den frühen Tod, was er gemäß der Odyssee im Hades, als Odysseus ihn im Zuge seiner katabasis traf, bitter bereute.36 Dies musste Lukians Rezipienten im Hinterkopf sein und die Schlussfolgerung erlauben, dass auch der Redner sein Vorpreschen später bereuen würde. Lukian bezieht sich in seinen Totengesprächen auf den untröstlichen Achilles im Hades und 32 33 34 35 36

Luk. Dom. 2–4. Luk. Dom. 1. Luk. Dom. 4. Vgl. Newby 2002, 128. Luk. Dom. 4. Od. 11,487–491. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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betont dessen finstere Gemütslage: Achilles klagt, er habe damals, als er noch nicht wusste, wie kostbar das Leben ist, das bisschen Ruhm vorgezogen. Nun wäre er aber lieber Thete als tot.37 Während er sich im Epos von Odysseus durch gute Kunde über die Entwicklung seines Sohns aufheitern lässt,38 ist er bei Lukian nur deprimiert und verbittert.39 Unglücklich wirkt auch die Rechtfertigung des Redners, er fühle sich veranlasst, im schönen Saal zu reden so wie ein Pferd angesichts eines weichen Grasbodens in den Lauf verfiele.40 Der Eindruck von affektgeladener Impulshandlung wird ungünstig verstärkt: Von Achilles geht es zu einem Pferd, eine ebenso holprige wie unpassende Überleitung, mit der sich der Redner nicht nur als schwachbrüstig bezüglich der Redestruktur erweist,41 sondern auch noch in Bezug zu einem nicht vernunftbegabten, von Instinkten getriebenen Tier setzt. Damit bescheinigt er sich ungeschickterweise selbst einen Mangel an logos, den er in seiner Rede auch durchgehend bestätigt.42 Statt erga und logos perfekt zusammenzubringen, fehlt es daran fundamental, ein Phänomen, das in klassischer griechischer Literatur, auf die in der Zweiten Sophistik stets abgehoben wurde, als charakteristisch für einen „Barbaren“ galt.43 Ironischerweise verweist der Redner jedoch nachdrücklich auf seine kulturelle und intellektuelle Überlegenheit gegenüber „Barbaren“, für die er – wenig überraschend – die schwierigen Gegners Roms im Osten heranzieht, die Herrscher über das Partherreich: οὐδὲ γὰρ ἔμελε τοῖς Ἀρσακίδαις τῶν καλῶν οὐδὲ πρὸς τὸ τερπνὸν ἐποιοῦντο τὰς ἐπιδείξεις οὐδ᾽ ἐφρόντιζον εἰ ἐπαινέσονται οἱ θεαταί, ἀλλ᾽ ὅπως ἐκπλαγήσονται. οὐ φιλόκαλοι γάρ, ἀλλὰ φιλόπλουτοὶ εἰσιν οἱ βάρβαροι. τούτου δὲ τοῦ οἴκου τὸ κάλλος οὐ κατὰ βαρβαρικούς τινας ὀφθαλμοὺς οὐδὲ κατὰ Περσικὴν ἀλαζονείαν ἢ βασιλικὴν μεγαλαυχίαν (…)

Denn den Arsakiden ging es nicht um Schönheit, ihre Zurschaustellungen zielten nicht auf Er­ götzen ab und es war ihnen nicht um das Lob der Betrachter zu tun, sondern um ihr sprachloses Staunen. Die Schönheit dieses Saales ist aber nicht auf Barbarenaugen berechnet, auch nicht für persische Angeberei oder großkönigliche Prahlerei bestimmt.44

Die Passage ist in vielfacher Weise beachtenswert. Erstens spielt Lukian auf die in der römischen Tradition übliche Gleichsetzung der Arsakiden und Parther mit den Teispiden, Achaimeniden und Persern an.45 Aufhänger des Redners ist das berühmte literarische Motiv der goldenen

37 Luk. DM 15,1. Er wird von seinem Kameraden Antilochos dafür getadelt: Achilles’ Worte zu Odysseus seien schändlich für einen so tapferen Mann mit weisen Lehrern gewesen. 38 Od. 11,538–540. 39 Luk. DM 15. 40 Luk. Dom. 10. 41 Zur Kritik an einer schlecht ausgearbeiteten Redestruktur vgl. etwa Dem. 9,111 gegen Aischines. 42 Eventuell mag Lukian dabei auch die Anekdote im Auge gehabt haben, wonach der skythische Herrscher Ateas, Zeitgenosse Philipps II., sich als Banause erwies, als er meinte, er höre lieber Pferdewiehern als Musik (Plut. mor. 334 B–C). 43 So beschreibt etwa Demosthenes, eine Ikone der Intellektuellen in Lukians Zeit (vgl. Luk. Par. 42 mit Bezug auf Dem. 9,31; J. Trag. 14–15 mit Rekurs auf den Anfang von Demosthenes’ erster Olynthischer Rede; weitere Erwähnungen in Luk. Merc. Cond. 25; Par. 56; Somn. 12; Ind. 4; Bis Acc. 31; Rh. Pr. 9; 10; 17; 21) die Unfähigkeit eines „Barbaren“, beim Boxkampf eigenständiges Denken an den Tag zu legen: Er könne nur stumpf auf den Gegner reagieren (Dem. 4,40–41). 44 Luk. Dom. 5–6. 45 Vgl. Ziegler 2007, 157; Shayegan 2004, 286–287; Sonnabend 1986, 198–199; Rosivach 1984, 3–4, 7. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Platane der persischen Großkönige, Symbol der prunkvollen Dekadenz des Achaimenidenhofs in griechisch-römischer Sicht.46 Lukians Redner versetzt die Platane, die einst Dareios I. vom reichen Lyder Pythios geschenkt bekommen und die Alexander nach der Eroberung der persischen Residenzen übernommen haben soll,47 an den Arsakidenhof: „βαρβαρικὸν τὸ θέαμα, πλοῦτος μόνον – barbarisch war ihr Anblick, bloßer Reichtum“.48 Ihm zufolge sei sie ein Beweis dafür, dass „Barbaren“ intellektuell unterlegene Sehgewohnheiten und -möglichkeiten gegenüber gebildeten „Nicht-Barbaren“ besaßen: „Barbaren“ wüssten Kunst und ihre Schönheit nicht zu erkennen. Sie seien nur mit Prunk und Protz zu beeindrucken. Wenig diplomatisch setzt der Redner zudem ungebildete „Laien“ mit den gescholtenen Barbaren gleich: Sie hätten auch dieses verfeinerte Sehvermögen des gebildeten Connaisseurs nicht und bräuchten daher Vermittler wie ihn.49 Lukians Spott über die traditionelle „Barbaren“-Topik, wie sie etwa auch von seinem Zeit­ genossen Arrian verwendet wurde,50 mag eine autobiographische Note enthalten. Der aus Kommagene stammende Schriftsteller hatte Griechisch wohl nicht als Muttersprache gelernt und bezeichnet sich in seinen Erzählerrollen teilweise selbst als „Barbar“ und „Syrer“.51 Nach der traditionellen Auffassung, wie sie der Redner vertritt, hätte demnach Lukian, der créateur kunst­vollster Ekphraseis, dies eigentlich seiner Herkunft wegen gar nicht können dürfen. Das Klischee wird somit spöttisch hinterfragt. Sein Redner führt seine eigene Überhebung als besonders vernunftbegabte Lichtgestalt zudem ad absurdum, indem er bereits bei der Überleitung zur goldenen Platane wieder sein eigenes Unverständnis griechischen Kulturguts darlegt, diesmal in Bezug auf eine von Platons Schriften, deren Lehren bei Lukian von zentraler Bedeutung sind.52 Es geht um Platons Phaidros: Er assoziiert die Goldene Platane ausgerechnet mit der Platane, unter der Sokrates mit Phaidros am Ilissos plaudert – und der verführerischen Schönheit des locus amoenus gerade nicht erliegt.53 Der Redner hingegen ist der Verführung des Saals erlegen. Statt wie Sokrates intellektuelle Gespräche mit pädagogischem Zweck zu führen, ergeht er sich in holprig aneinandergefügten Kaskaden des Eigenlobs, um Aufmerksamkeit und Bewunderung zu erregen. Während er mit 46 Luk. Dom. 5. Vgl. Plat. Phaidr. 230 B. Vgl. Laplace 1996, 162–163, 165. Zur Goldenen Platane siehe Kuhrt 2010, 540; Curtis 2010, 55; Briant 2002, 235–236. Meist wird sie zusammen mit dem Goldenen Weinstock genannt (Xen. Hell. 7,1,38). Zum griechischen Topos von Luxus und Protzsucht am Perserhof vgl. Jacobs 2010, 377–409. 47 Hdt. 7,27. Es ist nicht klar, ob die griechische Ansicht war, dass der Großkönig unter der Platane Audienz hielt oder sie nur als Raumdekoration benutzte. Vgl. Kuhrt 2010, 540, Anm. 3. Der moralisierende Schriftsteller Phylarchos spricht sogar in der Mehrzahl von Goldenen Platanen (Athen. 12,539 D) und beschuldigt Alexander in charakteristischer Dekadenztopik, selbst die Perser in ihrer Zurschaustellung von Luxus überboten zu haben. 48 Luk. Dom. 5. 49 Zu dieser Auffassung unter Intellektuellen im Imperium Romanum vgl. Goldhill 2001, 160–162; Thomas 2007, 230. 50 Arr. Per. 1,2–3. 51 Luk. Bis Acc. 14,27,34; Pisc. 19; Ind. 19. Vgl. Porod 2013, 10; Swain 2007, 30–34; Karavas 2005, 13; Swain 1996, 299; Bracht Branham 1989, 32. Es wird vermutet, dass seine Muttersprache Aramäisch gewesen sei, vgl. Hopkinson 2008, 1; Jones 1986, 7. Contra: Swain 2007, 34; Swain 1996, 302 (Syrisch). 52 Vgl. Berdozzo 2011, 191, 202–203; Schlapbach 2010, 274; Bracht Branham 1989, 67–80. 53 Plat. Phaidr. 230 B–C. Vgl. Görgemanns 2013, 140–142; Faden 2005, 197 (ein ironisches Lob des idyllischen Orts). Zum historischen Setting vgl. Lind 1987, 15–18. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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dem Finger abwertend auf „Barbaren“ und Ungebildete weist, verhält er sich selbst gemäß dieses Klischeebilds. Dies unterstreicht er mit einer ultimativen unbewussten Selbstdemontage: ὁ δὲ ταὼς ἦρος ἀρχομένου πρὸς λειμῶνὰ τινα ἐλθών (…) τότε καὶ οὗτος ἐκπετάσας τὰ πτερὰ καὶ ἀναδείξας τῷ ἡλίῳ καὶ τὴν οὐρὰν ἐπάρας καὶ πάντοθεν αὑτῷ περιστήσας ἐπιδείκνυται τὰ ἄνθη τὰ αὑτοῦ καὶ τὸ ἔαρ τῶν πτερῶν ὥσπερ αὐτὸν προκαλοῦντος τοῦ λειμῶνος ἐς τὴν ἅμιλλαν: ἐπιστρέφει γοῦν ἑαυτὸν καὶ περιάγει καὶ ἐμπομπεύει τῷ κάλλει: ἐπιστρέφει γοῦν ἑαυτὸν καὶ περιάγει καὶ ἐμπομπεύει τῷ κάλλει: ὅτε δὴ καὶ θαυμασιώτερος φαίνεται πρὸς τὴν αὐγὴν ἀλλαττομένων αὐτῷ τῶν χρωμάτων καὶ μεταβαινόντων ἠρέμα καὶ πρὸς ἕτερον εὐμορφίας εἶδος τρεπομένων. πάσχει δὲ αὐτὸ μάλιστα ἐπὶ τῶν κύκλων, οὓς ἐπ᾽ ἄκροις ἔχει τοῖς πτεροῖς, ἴριδός τινος ἕκαστον περιθεούσης: ὃ γὰρ τέως χαλκὸς ἦν, τοῦτο ἐγκλίναντος ὀλίγον χρυσὸς ὤφθη

Kommt ein Pfau zu Frühlingsbeginn auf eine Wiese (…), dann spreizt er auch seine Flügel, zeigt sie der Sonne, hebt seinen Schwanz, schlägt sein Rad und präsentiert auf diese Weise seine eigenen Blüten und seiner Flügel Frühling, gerade als ob ihn die Blumenwiese zum Wettstreit herausforderte: Dann dreht er sich und wendet sich und triumphiert in seiner Schönheit. „Ja, bisweilen erstrahlt seine Schönheit noch staunenswerter, wenn seine Farben sich im Sonnenlicht verändern, ohne scharfe Kontraste ineinander übergehen und sich in immer neue schöne Anblicke verwandeln. Am häufigsten geschieht das bei den Augen auf den Flügelspitzen, deren jedes einzelne eine Art Regenbogen umspielt: was eben noch bronzen schimmerte, sieht bei der leisesten Neigung golden aus54

Peter von Möllendorff kommentiert: Der Vergleich des Redners mit einem Pfau impliziert insofern ein gewisses Störpotential, als dieser Vogel z.B. in den antiken Fabeln grundsätzlich als Symbol für leere Prätention und hohle Eitelkeit steht.55

Genau das ist der Punkt: Der Redner entlarvt sich erneut als Scheingebildeter, indem er sich mit einem Pfau, Sinnbild von Eitelkeit, Frechheit, Oberflächlichkeit, Anmaßung, Seichtheit und Gespreiztheit,56 vergleicht. Der Pfau, der sein Rad schlägt, symbolisierte einen Kontrast zwischen äußerer, trügerisch korrupter Schönheit und innerer Leere und war zu allem Überfluss als μηδικὸς ὄρνις, medischer Vogel, mit Vorstellungen von östlicher Prunksucht, Luxussucht und Dekadenz assoziiert.57 Eine schlechtere Parallele konnte der Redner kaum wählen, um zu bestätigen, was seine Darbietung bislang ohnehin schon verriet: Als einer von Lukians typischen Pseudo-Intellektuellen, denen es um schnellen Ruhm geht, legt er nur Wert auf wirkungsvolle Worthülsen und name dropping – zuvor noch Sokrates als Must Have –, ohne sich um ein tieferes Verständnis der exempla und den pädadogischen Mehrwert seiner Rede zu sorgen. Der Pfauenvergleich wartet noch mit einem besonderen intellektuellen Tiefschlag auf: Mit dem Hinweis, dass die Flügelspitzen des Pfaus bei Sonnenlicht farblich von Bronze zu Gold übergehen, sind Assoziationen zu Platons Symposion geweckt: Als Alkibiades Sokrates seinen schönen Körper im Austausch für dessen Wissen anbot, wies ihn der Philosoph, dem es um das pädagogische eros-Ideal ging,58 mit der Bemerkung zurück, dass Alkibiades Gold (Wissen) 54 55 56 57

Luk. Dom. 11. v. Möllendorff 2006a, 298. Aristot. HA 488B; Ov. Met. 13,802: „frech wie ein gelobter Pfau“. Diod. 2,53,2; Suda s.v. μηδικὸς ὄρνις; Clem Alex. Paed. 3,4. Vgl. Wiesehöfer 2004, 303; Hünemörder 2000, 689. 58 Plat. Symp. 218 E–219 A; Alk. 135 E; Plut. Alk. 4,3. Siehe allgemein Plat. Phaidr. 253 C–256 E; Symp. 215 A–219 D. Vgl. Johnson 2012, 7, 11–14; Blyth 2012, 40; Wohl 1999, 352. Lukian parodiert oft die © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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gegen Bronze (sinnliche Genüsse) eintauschen wollte.59 Übertragen auf das Argument von Lukians Redner, gibt letzterer damit unabsichtlich zu, dass er mit seinem eitlen Vortrag vorgibt, mit Gold aufzuwarten, während es jedoch nur Bronze (oder bronzener Farbschein) ist: schön klingende Worten ohne Inhalt, die auf eine trügerische Pose eines am moralischen Effekt uninteressierten Selbstdarstellers im Streben nach Anerkennung hinweisen. Nach dieser unwissentlichen Selbstdemontage kehrt der Redner zu dem einleitenden Leit­ motiv zurück, dem Wasser als Element gefahrvoller Versuchung: ὅτι μὲν γὰρ καὶ ἡ θάλαττα ἱκανὴ προκαλέσασθαι καὶ εἰς ἐπιθυμίαν ἐπισπάσασθαι ἐν γαλήνῃ φανεῖσα, ἴστε, κἂν μὴ εἴπω: ὅτε, εἰ καὶ παντάπασιν ἠπειρώτης καὶ ἀπειρόπλους τις εἴη, πάντως ἂν ἐθελήσειε καὶ αὐτὸς ἐμβῆναι καὶ περιπλεῦσαι καὶ πολὺ ἀπὸ τῆς γῆς ἀποσπάσαι

Dass auch das Meer, wie es sich an einem heiteren und windstillen Tag zeigt, uns leicht herauszufordern und zu heftigem Begehren hinzureißen vermag, das wisst ihr; auch, ohne dass es meiner Worte bedürfte; wie sehr einer auch dem Festland verbunden und ohne jede Ahnung von der Seefahrt sein mag, es wird ihn doch sehr oft verlocken, sich auch selbst einzuschiffen und umherzukreuzen und sich weit von der Küste zu entfernen (…)60

Die Seefahrt galt in der Antike als gefährliche, unsichere und risikoreiche Transportmöglichkeit.61 Eine sichere Ankunft wurde eher als Ausnahme denn als die Regel angesehen, häufig wurde das Meer als bedrohliches Element wahrgenommen. Als umso sträflicher musste die Torheit unerfahrener „Landratten“ gelten, die sich ohne die nötige Erfahrung und das erforderliche Know-how weit aufs Meer hinausbegaben, wie der Redner beschreibt. Wie das unbedachte Bad im Kydnos als Referenzmodell ist auch diese Segelpartie als riskante Torheit und unbedachtes Wagnis eine fatale Assoziation mit der eigenen Rede; der Untergang ist vorauszusehen. Lukians Redner kündet ihn in seiner Verblendung auch um noch einen Grad plakativer an: Wie von einer Sirene herbeigelockt, sei er dazu gekommen, in dem schönen Saal zu reden.62 Impliziert ist, dass er demnach mit offenen Ohren dem Singen der Sirene erlegen ist, sich somit wie von Sinnen, mit vernebeltem Verstand, in die Rede gestürzt hat.63 Sein Zerschellen an den Klippen der Rhetorik ist vorprogrammiert. An dieser Stelle wird er von einem Gegenredner unterbrochen. Mit dessen Auftritt wird die Szenerie einer Gerichtsverhandlung angeglichen, eine bei Lukian häufig verwendete Darstellungsform.64 Lukian führt mit ihm einen zweiten Pseudo-Gelehrten ins Feld, der zwar in Opposition zum Vorredner geht, jedoch ebenso wenig Kenntnisse und Durchblick zeigt wie dieser. Zwar geht er auf die Metapher ein, der Vorgänger sei im schönen Saal ertrunken,65 doch

59 60 61 62 63 64 65

zeitgenössische, von grundlegenden Missverständnissen geprägte, Rezeption des sokratischen eros-Ideals: Luk. DM 20,6; VH 2/19; Peregrin. 43–44; Alex. 5; Symp. 39. Vgl. Müller 2015, 41; Berdozzo 2011, 194–196, 200; Gunderson 2007, 499–500. Plat. Symp. 218 E. Dies ist wiederum ein Rekurs auf Il. 6,232–236. Vgl. Gilhuly 2007, 75. Luk. Dom. 12–13. Vgl. generell Schulz 2005. Zum Seetransport beim römischen Handel der Kaiserzeit vgl. Drexhage et al. 2002, 141–145. Luk. Dom. 13. Vgl. Od. 12,39–46. Vgl. v. Möllendorff 2006a, 298. Luk. Dom. 16. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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scheint ihm nicht aufgefallen zu sein, wie kontraproduktiv und entlarvend dessen Argumente waren. In Verblendung greift er sie vielmehr allesamt auf und versucht wenig überzeugend, dagegen zu argumentieren. Dies erinnert an Lukians Rhetorum Praeceptor: Ein desillusionierter Rhetoriklehrer beschreibt zwei Wege der paideia, die er mit Bergsteigen vergleicht: den harten, steinigen Anstieg durch ein langes, intensives Studium und die Mogelpackung der Abkürzung durch ein auf Effekthascherei ausgelegtes Schmalspurstudium. Die Crux ist aber, dass beide Wege unausweichlich zum ethisch falschen Ziel führen: Am Gipfel des metaphorischen Bergs, den der Schüler zu erklimmen hat, verheißt eine korrupte Rhetorik Ruhm und Ansehen.66 In seiner Abrechnung mit der zeitgenössischen Rhetorik erklärt der verbitterte Rednerlehrer unter anderem, der wichtigste und notwendigste Aspekt sei es, grundsätzlich allen Argumenten des Konkurrenten zu widersprechen.67 Dies tut auch der Gegenredner in De Domo, ohne deren Stichhaltigkeit zu reflektieren. Lukian macht klar, woran es auch bei ihm liegt, dass er scheitert: Er hat die falsche Intention – Ruhmstreben statt Erzielung eines pädagogischen Effekts – und ist daher keinen Deut besser als sein Vorredner. Die Quittung für seine Leistung bekommt er von den Zuschauern, die prompt den Saal bewundern und ihm gar nicht zuhören.68 Der zweite Redner fährt daraufhin schwere Geschütze auf: Er lässt Herodot persönlich als Zeugen aufrufen, um seine These zu bestätigen, dass visuelle Effekte auditiv Wahrgenommenes überlagern. Die Szene ist erstens ein ironischer Tribut an ein beliebtes Motiv der alten Komödie: der Auftritt prominenter Zeugen aus dem Hades.69 Zweitens macht sich Lukian über die Gewohnheit zeitgenössischer Intellektueller lustig, ständig die griechischen literarischen Auto­ ritäten zu zitieren und nachzuahmen, um damit ihren eigenen Wahrheitsanspruch zu unter­ malen und ihre Argumente als hieb- und stichfest zu verkaufen.70 Gerade Herodot war – neben Thukydides und Xenophon, vielleicht sogar noch etwas mehr als sie – eine der Ikonen und damit Standardreferenzmodell in der Zweiten Sophistik.71 In der traditionellen Debatte, ob die Menschen dem Auge mehr vertrauen als dem Ohr,72 wie sie gerade in Lukians Zeit aktualisiert worden war,73 nimmt Herodot Stellung – selbstverständlich in ionischem Griechisch, ein Seitenhieb Lukians auf die Tendenz einiger Literaten, das Ionische des 5. Jhs. v.Chr. zu imitieren, um sich als besonders gelehrt zu gerieren: καί μοι σὺ ἤδη ὁ κῆρυξ προσκάλει αὐτὸν Ἡρόδοτον Λύξου Ἁλικαρνασόθεν: κἀπειδὴ καλῶς ποιῶν ὑπήκουσε, μαρτυρείτω παρελθών ἀναδέξασθε δὲ αὐτὸν Ἰαστὶ πρὸς ὑμᾶς λέγοντα ὥσπερ αὐτῷ ἔθος. ἀληθέα τάδε ὁ λόγος ὑμῖν, ἄνδρες δικασταί, μυθέεται καὶ οἱ πείθεσθε ὅσα ἂν λέγῃ τουτέων πέρι ὄψιν ἀκοῆς προτιμέων ὦτα γὰρ τυγχάνει ἐόντα ἀπιστότερα ὀφθαλμῶν. 66 Luk. Rh. Pr. 6. Vgl. Luk. Bis Acc. 30–31. Siehe Müller 2013b, 30–32; Zweimüller 2008, 47–67. Die Figur der korrupten Rhetorik ist vergleichbar mit der personifizierten Paideia in Lukians Somnium, welcher der jugendliche Lukian in Parodie auf Herakles am Scheideweg mit fliegenden Fahnen folgt, um Ruhm, Ansehen, Ämter und schöne Kleider zu bekommen – abermals eine zutiefst selbstironische Erzählerrolle Lukians. 67 Luk. Rh. Pr. 22. 68 Luk. Dom. 18–19. 69 So etwa Achilles in Cheiron, als die personifizierte Musik Klage führt, was ihr durch die zeitgenössischen Künstler angetan wird: Athen. 9,388 F (= Pherekrates F 150). 70 Prompt lässt der Redner im Folgenden auch noch die Namen Euripides und Sophokles fallen (Luk. Dom. 23). 71 Luk. Hist. Conscr. 2. 72 Zu früheren Stellungnahmen siehe etwa Sen. Ep. 6,5; Hor. ars 180–182. 73 Vgl. Webb 2009, 172–173; v. Möllendorff 2006b, 230; Newby 2002. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Sabine Müller Du, Gerichtsdiener, ruf mir Herodot selbst herauf, den Sohn des Lyxos, aus Halikarnassos. Und nachdem er so freundlich war und meiner Aufforderung gefolgt ist, soll er vortreten und sein Zeugnis ablegen; bitte habe Verständnis dafür, dass er mit euch Ionisch spricht, wie er es gewohnt ist. ‚Wahr kündet euch dies der Logos, ihr Herren Richter, und glaubet ihm das, was er über diese Dinge sagt, das Sehen vor dem Hören bevorzugend, trifft es sich doch, dass die Ohren weniger vertrauenswürdig sind als die Augen‘.74

Im Hinblick auf die vorangegangene Verspottung der Ideologie geistiger Unterschiede zwischen „Barbaren“ und Nicht-„Barbaren“ mag es ein weiterer augenzwinkernder Seitenhieb sein, dass der Autor von De Domo, der „Syrer“ und „Barbar“ Lukian, sehr wohl auch die Imitation des Ionischen beherrschte. Darüber hinaus ist das Zitat zweifach ironisch: Ausgerechnet Herodot, der sich für seine Historien so stark auf oral tradition stützte, bezeugt, dass das Visuelle das Mündliche überlagert.75 Blickt man genauer hin, scheint Herodot dem ahnungslosen Redner jedoch vielmehr ein Schnippchen geschlagen und ihm keineswegs nach dem Mund geredet zu haben. Sein letzter Satz spielt auf ein Zitat aus den Historien an, dessen Kontext aufhorchen lässt: Kandaules will Gyges mit folgenden Worten überreden, seine Frau nackt zu sehen: „ὦτα γὰρ τυγχάνει ἀνθρώποισι ἐόντα ἀπιστότερα ὀφθαλμῶν – denn des Menschen Ohren sind eben ungläubiger als seine Augen“.76 Am Ende steht Kandaules’ Untergang,77 was ihn zu einem schlechten Gewährsmann für diese Weisheit macht. Der Umstand, dass der Redner nicht einmal merkt, was für eine problematische Zeugenaussage Herodot abliefert, belegt wiederum seine mangelnden Literaturkenntnisse. Lukian legt damit erneut den Finger auf die Wunde: Scheingebildete führen zwar Herodots Namen großspurig im Mund, kennen aber die Historien gar nicht genau. Auch mit dem Epos sieht es nicht viel besser aus: Der zweite Redner unterstreicht sein Argument mit dem Sinnbild der geflügelten Worte, die davonfliegen: eine homerische Phrase.78 Erneut ist der Verweis kontraproduktiv: Während er einen gebildeten Zuhörer daran erinnern musste, dass die Epen zuerst durch die Vortragskunst der Rhapsoden bewahrt wurden, behauptet der Redner, das gesprochene Wort sei nicht von Dauer.79 Der angesprochenen Jury ist es ohnehin gleichgültig; niemand hört den beiden pseudointellektuellen Selbstdarstellern zu. Der zweite Redner versucht sogar verzweifelt, sich den Anwesenden anzubiedern und ihre Aufmerksamkeit zu erheischen, indem er die von ihnen betrachteten Kunstwerke – wenig inspiriert und nicht substantiell – zu beschreiben beginnt.80 So endet für die beiden Redner der rhetorische Schiffbruch an den Klippen ihrer eigenen Unbildung noch gnädig, da niemand mehr von ihnen Notiz nimmt.

74 Luk. Dom. 20. 75 Vgl. Goldhill 2001, 164. Siehe auch Lukians ironischen Rekurs auf ihn in VH 2,31: Er lässt ihn wegen Lügens auf der Insel der Verdammten landen. Damit verspottet er nicht Herodot oder dessen Werk (zumal er am Anfang schreibt, alles, was folge, sei erlogen): Er macht sich über die Intellektuellen seiner Zeit lustig, die ihre Berufungen auf Herodot und andere ikonenhafte griechische Autoren als Beweis für ihren eigenen Wahrheitsanspruch sehen. 76 Hdt. 1,8,2. Übers. W. Marg. 77 Hdt. 1,12,2. 78 Od. 1,122. Vgl. v. Möllendorff 2006a, 299. 79 Luk. Dom. 20. 80 Luk. Dom. 22–31. Zur Gemäldegalerie, die er beschreibt: v. Möllendorff 2006b, 241–242. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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In summa geht es bei Lukians De Domo um Kentern im übertragenen Sinne. Das historische Exempel zur Einleitung, Alexander am Kydnos, gibt dieses Leitmotiv vor und verweist auf Wasser als eins der Schlüsselelemente. Ebenso wie die anderen Leitmotive – Verführung durch trügerische Schönheit (Goldene Platane), Eitelkeit (Narkissos; Pfau), Impulsivität (Achilles), Affekthandlung (galoppierendes Pferd), Unbedachtheit (Seefahrt) und Verblendung (Sirenen) – steht Wasser für das Risiko des Scheiterns und wird erneut in der Seefahrt- und Sirenenmetapher aufgegriffen. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass Lukians Zeitgenosse Athenaios in seinen Deipno­sophistes die Wortwendung (ἐξ)οκέλλειν εἰς τρυφήν, „to shipwreck onto luxury“,81 verwendet. Er meint damit einen metaphorischen Schiffbruch, den Untergang aufgrund moralischer Defizite. Vergleichbares widerfährt Lukians beiden Rednern: Den Pseudo-Gelehrten geht es nicht um Inhalte, moralische Lehren und pädagogischen Effekt. Sie heischen nur in ruhmgieriger Oberflächlichkeit um Aufmerksamkeit, indem sie mit Schlagworten des griechischen kulturellen Erbes um sich werfen, durch die Lücken ihrer Kenntnis die Exempel und Metaphern jedoch falsch anwenden und damit in self-fulfilling prophecy den eigenen „Untergang“ heraufbeschwören. Dies erscheint als umso signifikanter, als es in jener Zeit zentrale Aufgabe der rhetorischen Erziehung war, die Schüler für ihre politische Partizipation zu schulen.82 Der erste Redner lässt sich in seiner Eitelkeit von der Schönheit der Halle verführen. Der zweite springt sozusagen auf das sinkende Schiff auf und kentert gleich mit, da er die windigen Argumente seines Vorredners aufgreift und damit zeigt, dass er auch nicht mehr verstanden hat. Am Ende überwiegt tatsächlich die Macht der Bilder – die Anwesenden konzentrieren sich lieber auf die Betrachtung der Hallendekoration anstatt den beiden zuzuhören. Indes ist fraglich, ob Lukian damit ausdrücken wollte, dass der zweite Redner Recht behielt und der Reiz des Visuellen grundsätzlich überwiegt. Man muss sich vielmehr fragen, ob diese Ablenkung nicht an der Qualität der gehaltenen Reden lag. Bibliographie Anderson 1980 = G. Anderson, Arrian’s Anabasis Alexandri and Lucian’s Historia, Historia 29 (1980), 119–124. Anderson 1993 = G. Anderson, The Second Sophistic, London 1993. Asirvatham, S. (2010), Perspectives on the Macedonians from Greece, Rome and Beyond, in: J. Roisman – I. Worthington (eds.), Blackwell’s Companion to Ancient Macedonia, Oxford – Malden, 99–124. Atkinson 1980 = J. E. Atkinson, A Commentary on Q. Curtius Rufus’ Historiae Alexandri Magni. Books 3 and 4, Amsterdam. 1980 Badian 1997 = E. Badian, s.v. Arrianos von Nikomedeia, DNP 2 (1997), 28–29. Baumbach – von Möllendorff 2017 = M. Baumbach – P. von Möllendorff, Ein literarischer Prometheus. Lukian aus Samosata und die Zweite Sophistik, Heidelberg 2017. Baynham 1998 = E. Baynham, Alexander the Great. The Unique History of Quintus Curtius, Ann Arbor 1998. Berdozzo 2011 = F. Berdozzo, Götter, Mythen und Philosophie. Lukian und die paganen Götter­vor­ stellungen, Berlin 2011. Berve 1926 = H. Berve, Das Alexanderreich auf prosopographischer Grundlage, Bd. II, München 1926. Bichler 2013 = R. Bichler, Konnte Alexander wirklich nicht schwimmen? Überlegungen zu Plutarch, Alex. 58,4, in: P. Mauritsch – Chr. Ulf (Hrsg.), Kultur(en). Formen des Alltäglichen in der Antike. Festschrift für Ingomar Weiler, Bd. I, Graz 2013, 301–314. 81 Vgl. Wilkins 2008; Gorman – Gorman 2007, 41–42. 82 Vgl. Conolly 2003, 342. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Wie man vor Publikum untergeht

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Exercitus Romanus ad Thermopylas? Zu f. 194r Z. 1–16 im neuen Dexipp Robert Rollinger – Jack W. G. Schropp Die im Nachfolgenden im Zentrum der Betrachtung stehende Passage gehört zu den neu in Wien entdeckten Fragmenten, die mit großer Wahrscheinlichkeit den Skythika des im dritten Jahrhundert schreibenden Dexipps von Athen zugerechnet werden können.1 Es ist der verdienstvollen Leistung der beiden Erstherausgeber J. Grusková und G. Martin zu verdanken, den Text der palimpsestierten Blätter entziffert und einem wissenschaftlichen Publikum zugänglich gemacht zu haben. Zwei Fragmentabschnitten wurde bisher besondere Aufmerksamkeit geschenkt: Zum einen ist es der in den ff. 192v+193r beschriebene Zug der ‚Goten‘2 von der erfolglosen Belagerung Thessalonikis zu den Thermopylen. Ihre Verteidigung oblag einem vom Kaiser eingesetzten Gesandten namens Marianus, der von griechischen Truppen unter Führung des Atheners Philostratos und des Böotarchen Dexipp unterstützt wurde. Dieser Angriff bei den Thermopylen erfolgte entweder 253/4 oder 262 n.Chr., die exakte Datierung bedarf allerdings weiterer Dis­ kussion.3 Auf der anderen Seite widmete man sich den ff. 195r+195v, wo die Eroberung einer thrakischen Stadt durch den Gotenführer Kniva an der Spitze eines 500 Mann starken Trupps beschrieben ist. Die Stadt kann mittlerweile mit der im Herbst des Jahres 250 n.Chr. durch Verrat gefallenen thrakischen Provinzhauptstadt Philippopolis identifiziert werden.4 Geringeres Interesse wurde einem anderen Fragmentabschnitt zuteil. Es handelt sich dabei um die erste Texthälfte des f. 194r, in dem ebenfalls von einer Verteidigungsstellung bei den 1

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Zur Autorenfrage siehe Martin – Grusková 2014a, 113–116; Grusková – Martin 2015, 48–50; Mallan – Davenport 2015, 207–210; zu Dexipp und seinen Werken grundlegend Martin 2006; McInerney 2008 u. Mecella 2013; die Fragmentzählung Jacobys wird beibehalten. Unser Dank bei der Durchsicht des griechischen Textes gilt A. Plattner. Bei dem im gesamten Text als ‚Skythen‘ und gemeinhin als ‚Goten‘ verstandenen ‚Barbaren‘ wird es sich mit Sicherheit nicht um einen geschlossenen ethnischen Verband, sondern um ein Konglomerat unter­ schiedlicher Gruppen gehandelt haben. Vgl. zum Kontext dieser Einfälle Bleckmann 2016, 7–16; Stein­ acher 2017, 51–54. Die von Martin – Grusková 2014a ursprünglich vorgeschlagene Identifizierung der im Palimpsest beschriebenen Ereignisse mit dem Herulereinfall des Jahres 267/268 n.Chr. ist mittlerweile obsolet; denn in der Historia Augusta (Gall. 5,6–6,1) und bei Synkellos 466,1–7 (vgl. noch Zosimos 1,29,2–3 u. Zonaras 1,2,23) werden ebenfalls eine gescheiterte Belagerung Thessalonikis und die Besetzung der Thermopylen erwähnt, die mit dem Inhalt des Fragments übereinstimmen: Allerdings datiert die Historia Augusta den Goteneinfall ins Jahr 262 n.Chr., während die bei Synkellos und Zosimos geschilderten Ereignisse in die frühen Fünfziger fallen und in das Jahr 253/254 n.Chr. angesetzt werden. Für das Jahr 253/254 n.Chr. optieren: Jones o.J.a, 4–5; o.J.b, 4–5; Lucarini 2016, 45; Martin 2017, 106; Bleckmann 2016, 9–10; für 262 n.Chr. hingegen: Mallan – Davenport 2015, 203, 219–220 u. Piso 2015, 206, 214–215; unentschieden: Grusková – Martin 2015, 46; Grusková – Martin 2017a, 270. Zu Marianus, Philostratos von Athen und den Böotarchen Dexipp siehe: Mallan – Davenport 2015, 210–214; Piso 2015, 209–214. Die Entzifferung der ff. 192r+193v ist noch nicht gelungen (vgl. Martin – Grusková 2014a, 104), befindet sich aber in Vor­bereitung, so Grusková – Martin 2015, 52. Zum palimpsestieren Text Martin – Grusková 2014b; Grusková – Martin 2015 u, 2017b; zur Identifizierung der thrakischen Stadt mit Philippopolis siehe: Martin – Grusková 2014b, 747–748, 749; Grusková – Martin 2015, 48–52 u. 2017b, 41, 45; Martin 2017, 100; Jones o.J.a, 1, 2, 5 u. o.J.b, 1. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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‚Pylai‘ die Rede ist5, an der man einen möglichen Angriff gotischer Kräfte abwehren sollte, den man nach dem Fall Philippopolis um 250 n.Chr. erwartete.6 Die inhaltlichen Ähnlichkeiten mit den ff. 192v+193r sind prima facies frappant7 und werden im Nachfolgenden dazu beitragen, die Frage zu beantworten, ob bei den Thermopylen 250 n.Chr. andere außer den ausdrücklich angeführten Streitkräften anwesend waren. Der Klarheit halber werden zunächst die ersten sechzehn Zeilen des f. 194r in der Transkription von Grusková – Martin, jedoch ohne unterpunktierte Buchstaben und mit normaler Orthographie, wiedergegeben, gefolgt von ihrer Über­setzung. Die ganze Passage lautet wie folgt (Cod. Vind. hist. gr. 73, f. 194r Z. 1–16): ἀγγελίαν καὶ τοῖς παροῦσι βαρέως φέροντες καὶ π******* αὐτῶν ὠρρώδουν. ἐδόκει δὲ καὶ ἐκ τῶν παρόντων, ὅπη ἕκαστοι δυνάμει τῇ οἰκείᾳ καὶ συμμαχικῷ ἔρρωντο, φυλακ(ῆς) πέρι τῆς σφετέρας ἔχειν φροντίδα. καὶ Πτολεμαῖος ὁ Ἀθηναῖος, ὃς δὴ καταπεμφθεὶς ὑπὸ βασιλέως Θετταλῶν ἐξηγεῖτο, τὰ μεθόρια Μακεδόνων και Θετταλῶν φρουρᾷ κατελάμβανεν, ἁ δὴ στενῇ καὶ δυσπόρῳ διείληπται φύσει. ἀπήντων δὲ εἰς Πύλας καὶ Ἀθηναῖοι καὶ Βοιωτοὶ στρατίᾳ καὶ Λακεδαιμονίων ἄνδρες ἀπόλεκτοι. ἥ τε γὰρ κώλυσις τῆς παρόδου καλῶς αὐτοῖς ἐδόκει ἐνταῦθα καθίστασθαι καὶ μὴ ἂν ἕτοιμον γενέσθαι τοῖς βαρβάροις ἐπὶ τὴν εἴσω Πυλῶν Ἑλλάδα παρελθεῖν. καὶ οἵδε μὲν ἐν τούτοις ἦσαν.

(…) Meldung, und, über die Situation bestürzt, fürchteten sie sogar um sich/ihr(e)***. Sie beschlossen, den gegenwärtigen Umständen entsprechend, dass jede Gruppe dort, wo sie mit eigenen und verbündeten Truppen (militärische) Stärke besaß, selbst für die Bewachung sorgen solle. Und Ptolemaios aus Athen, der, vom Kaiser entsandt, die Thessalier anführte, besetzte mit Posten das Grenzland zwischen den Makedonen und den Thessaliern, das von engem und schwer zu passierendem Terrain durchzogen wird. Bei den Thermopylen wiederum trafen sich die Athener und die Böotier mit einem Heer sowie ausgewählte Männer der Spartaner, denn sie fanden, dass sie einerseits dort gut den Durchzug blockieren könnten und es andererseits den Barbaren so nicht leicht möglich wäre, in den Teil Griechenlands innerhalb der Thermopylen einzudringen. Und bei ihnen verhielt es sich so.

Die im Fragment am Anfang erwähnte Nachricht (ἀγγελία) bezieht sich wohl auf den Fall von Philippo­polis,8 was wahrscheinlich nicht erwartet wurde und worauf man in den südlich gelegenen Provinzen Verteidigungsmaßnahmen ergriff, indem man begann, die Grenzposten zu sichern. Mit ἐδόκει setzt der nächste Satz ein, allerdings wird nicht klar, wer hinter dem handelnden Subjekt steht. Die Herausgeber meinen „[a]us dem danach Folgenden lässt sich schließen, dass es sich hier um die Griechen handeln dürfte.“9 So eindeutig ist die Sache aber nicht, wie sich zeigen wird. Jedenfalls begann man, für die Sicherung des zuständigen Gebietes zu sorgen. Dazu sollten eigene und verbündete Kräfte mobilisiert werden (οἰκεῖος καὶ συμμαχικός). Wer mit den Verbündeten gemeint ist, bleibt dunkel. Dafür wird das Aufgebot der Truppen 5 6 7

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Die Thermopylen werden nicht nur hier (f. 194r Z. 10, 15), sondern in allen erhaltenen Fragmentteilen einfach als Πύλαι bezeichnet, so auch f. 192v Z. 14, 23–24, 193r Z. 3: Martin – Grusková 2014a, 107–108. Grusková – Martin 2014; vgl. auch Grusková – Martin 2017a, 271 Anm. 22; Jones o.J.a, 2–3 u. o.J.b, 2; Bleckmann 2016, 8 Anm. 20. Auf die Parallelen haben bereits Grusková – Martin 2014, 38 hingewiesen, die ferner darauf aufmerksam machten, dass sich hinter der Formulierung ἐπὶ τὴν εἴσω Πυλῶν Ἑλλάδα (f. 194r Z. 15) eine intratextuelle Anspielung auf ἡ ἐντὸς τῶν πυλῶν Ἑλλάς (f. 193r Z. 2–3) verbergen könnte (Grusková – Martin 2014, 38 Anm. 27). Zu den Thermopylen als erinnerungsträchtigem Schlachtort im dritten Jahrhundert und ihrer literarischen Verarbeitung bei Dexipp siehe die Aufsätze von Grusková – Martin 2017a u. Rollinger 2019. Grusková – Martin 2014, 37–38, u. Jones o.J.b, 2; vgl. noch Martin 2017, 102–103. Grusková – Martin 2014, 34. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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sowie ihr Aufmarschgebiet ausführlich behandelt. Zum einen sind es die Thessalier unter der Führung eines Gesandten des Kaisers, Ptolemaios aus Athen, an der thessalisch-makedonischen Provinzgrenze, die wegen ihres unwegsamen Geländes schwer für Feinde zu passieren sei. Dass mit τὰ μεθόρια an dieser Stelle tatsächlich die Grenze einer Provinz gemeint ist, wie die Herausgeber annehmen,10 zeigt ein Vergleich mit FGrH 100 F 27,1: τὴν Φιλιππούπολιν – ἔστι δὲ ἡ πόλις αὕτη μεθόριος μὲν τῆς Θραικῶν καὶ Μακεδόνων γῆς, κεῖται δὲ ἐπὶ τῶι ῞Εβρωι ποταμῶι. Zum anderen sicherten athenische, böotische und spartanische Truppen den Teil Griechenlands innerhalb der Thermopylen, indem sie beabsichtigten, den Engpass zu blockieren, um dort den Goteneinfall zu stoppen. Ob auch in diesem Zusammenhang eine Sperrmauer bei den Thermopylen errichtet wurde, wie dies einige Jahre später unter Marianus der Fall war (f. 192v Z.19–20: διατείχισμα ἐξετείχισαν), wissen wir nicht. Ist eine bei Synkellos erhaltene Notiz, dass die Athener bei den Thermopylen jene Mauer wiedererrichtet hätten, die seit Sulla zerstört gewesen sei (διὰ τοῦτο ταραχθέντες Ἕλληνες τὰς Θερμοπύλας ἐφρούρησαν τό τε τεῖχος Ἀθηναῖοι ἀνῳκοδόμησαν καθαιρεθὲν ἀπὸ τῶν Σύλλου χρόνων)11, auf Marianus zu beziehen, wird man sich im ersteren Fall wohl nicht die Errichtung größerer Sperranlagen vorzustellen haben. Auf den ersten Blick scheint es so, dass die Thessalier und Griechen aus der Furcht heraus, sie ereilte dasselbe Schicksal wie die Bewohner von Philippopolis, eigenmächtig Maßnahmen ergriffen und die Verteidigung ihrer Gebiete organisierten.12 Dies passte auch zu jenem für Dexipp gemeinhin postulierten Bild eines für die Zeit des Kaisers Decius schwachen Rom, das wegen innerer Bürgerkriege und äußerer Einfälle seiner Schutzfunktion gegenüber der provinzialen Bevölkerung nicht mehr hätte nachkommen können.13 Bei näherem Hinsehen scheint der hier besprochene Fragmentabschnitt diesem skeptischen Bild auf die römische Reichsführung aber nicht ganz gerecht zu werden. Erste Zweifel ergeben sich durch die Anwesenheit von Ptolemaios aus Athen,14 der vom Kaiser vermutlich per kaiserlicher Order ausgesandt worden war (καταπεμφθεὶς ὑπὸ βασιλέως), um die Verteidigung Thessaliens in die Wege zu leiten.15 Ähnliches mag auch für die Truppen bei den Thermopylen gelten. Zwei Begebenheiten scheinen dieser Interpretation jedoch im Wege zu stehen: einerseits die zuvor erfolgte Beschlussfassung, andererseits das vermeintlich ausschließlich aus griechischen Kräften bestehende Aufgebot bei den Thermopylen. Beides lässt sich aber im Sinn der hier vorgeschlagenen These erklären. Übersetzt man ἐδόκει mit „er beschloss“, so könnte man dahinter nämlich durchaus Kaiser Decius erkennen.16 Dieser konnte nach dem Fall von Philippopolis jedenfalls nicht in den 10 11 12 13

Grusková – Martin 2014, 38 mit Anm. 25. Synkellos 466,1–7. So Grusková – Martin 2014, 38, sowie Jones o.J.a, 3 u. o.J.b, 2. Besonders prononciert Mecella 2006, 24–26 u. 2009, 123–128, die unter anderem schreibt: „Dexippo non sembra concedere più alcuna fiducia ai rappresentanti del potere imperiale“ (128). Vgl. noch Millar 1969, 25; Bleckmann 1992, 207–209; Martin 2006, 203–207, Piso 2015, 208–209 mit Anm. 42; Martin 2017, 109; insbesondere das negative Deciusbild Dexipps, das im Brief an die Philippopolitaner durchscheint (FGrH 100 F 26,3–10), hat diese Einschätzung beeinflusst; zur modernen Bewertung des Briefes jetzt auch Davenport – Mallan 2013, 60–61. 14 Zur Person siehe: Grusková – Martin 2014, 38 Anm. 24 sowie Jones o.J.a, 3 Anm. 3 u. o.J.b, 2 Anm. 3. 15 So auch Piso 2015, 208 Anm. 40. 16 Anderenorts in den Fragmenten Dexipps impersonal aufzufassen z.B. f. 192v Z. 20–21: ἐδόκει δὲ τὸ χωρίον καὶ ἄλλως ἀσφαλέστατον εἶναι (…); f. 193r Z. 6–7: ἐδόκει τὸ συμφορώτατον εἶναι (…) Eindeutig mit pluralischer Bedeutung etwa FGrH 100 F 27,11: ὡς δὲ πάντῃ ἄποροι τῇ γνώμῃ ἐγίνοντο οἱ βάρβαροι, ἐδόκει ἀναχωρεῖν. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Süden marschieren, da er nördlich der thrakischen Provinzhauptstadt in der Nähe des mösischen Oescus an der Donau lagerte, um sich nach der Schlacht von Beroea (Augusta Traiana), wo er gegen Kniva eine Niederlage erlitten hatte, neu zu sammeln – dies dauerte bis zum Frühjahr 251 n.Chr.17 Die Goten standen also zwischen den Truppen des Decius und den ungeschützten Provinzen im Süden. In den Süden vorzustoßen, war somit für Decius nicht möglich und wäre auch taktisch unklug gewesen: Zum einen scheint die Truppenmobilisierung nicht reibungslos abgelaufen zu sein, und zum anderen bestand die Gefahr, selbst bei voller Truppenstärke – immerhin sollen 80.000 Mann (μυριάδες ὀκτώ) versammelt worden sein – vom Feind wie bei Beroea erneut in einen Hinterhalt gelockt zu werden.18 Darum entschied sich Decius, im Norden zu warten und einen Graben ausheben zu lassen (τάφρος βαλλόμενος), um die Goten bei ihrem Rückzug in die Heimat abzufangen (ἐπιφυλάττων τοὺς πολεμίους, ὁπότε διαβαίνοιεν).19 Dennoch ließ er den Süden nicht ungeschützt – Decius konnte ja nicht wissen, dass Kniva mit seinen Truppen in Philippopolis überwintern sollte.20 Nimmt man also an, dass Decius hinter der Beschlussfassung steht, so erklärt sich auch die Angabe, man solle mit eigenen und verbündeten Streitkräften die Sicherung vornehmen. In seinem von Dexipp zitierten Brief an die eingeschlossenen Bewohner von Philippopolis steht, die Belagerten sollten nicht 17 Zum historischen Kontext allgemein: Wittig 1932, 1270–1276; Gerov 1980a, 99–107 u. 1980b, 382–391; Bleckmann 1992, 161; Wolfram 42001, 55–57; Drinkwater 2005, 37–39; Hutter 2008, 208–211; Heather 2009, 107–134; sowie unter Berücksichtigung der neuen Fragmente Dexipps die jüngsten Arbeiten von Bleck­mann 2016, 7–8 u. Steinacher 2017, 52; zu den Problemen mit der Chronologie des Decius-Feld­ zuges: Boteva 2001; zur Belagerung von Philippopolis: Mecella 2012; zu den archäologischen Spuren: Gerov 1980b, 388; zu Decius: Wittig 1932 sowie Birley 1998. 18 f. 194v Z. 4–5 betont, Decius habe es nicht geschafft, obgleich der stattlichen Anzahl an Soldaten, weitere Hilfstruppen zu erhalten (τῆς ἐπικουρίας διημαρτήκει), vgl. Martin – Grusková 2014b, 738. Die Truppen­zahl von 80.000 erachten Grusková – Martin 2014, 40 Anm. 33 als übertrieben. Die Gefahr eines erneuten Überfalles durch die Goten bestand grundsätzlich und verschärfte sich dadurch, dass der zweite Gotenführer, Ostrogotha, sich nach der Eroberung von Philippopolis durch Kniva dazu entschloss, mit seinen 50.000 Mann dem Decius entgegenzuziehen (vgl. f. 194r Z. 17–29 u. f. 194v Z. 11–13); es kann durchaus sein, dass Decius vor der Schlacht von Abrittus gegen das Heer des Ostrogotha einen Sieg ein­ fuhr: dazu Grusková – Martin 2014, 40–43. 19 Siehe f. 194v Z. 7–11; zur Stelle Martin – Grusková 2014b, 739–740, 746. Das Abfangen von plündernden Invasoren auf ihrem Rückmarsch war eine im dritten Jahrhundert oft angewandte Strategie (Bleckmann 1992, 166 mit Anm. 39). Ein berühmtes Beispiel dafür bietet der Juthungeneinfall nach Oberitalien im Jahre 260, wo es den römischen Truppen erfolgreich gelang, die heimwärts ziehenden Barbarenscharen bei Augsburg vernichtend zu schlagen: Bakker 1993. 20 Eine Überwinterung in und um Philippopolis nimmt auch Gerov 1980a, 105 u. 1980b, 389, an. Dass die Situation für die südlich von Philippopolis gelegenen Gebiete durchaus gefährlich war, zeigen zum einen die Hortfunde, die bis Nicopolis ad Nestrum und weiter südlich reichen (Gerov 1980a, 103, 104 u. 1980b, 388) und zum anderen Amm. Marc. 31,5,16–17, wo vom Tod des Decius und vom Fall von Philippopolis die Rede ist sowie eine Verwüstung Makedoniens, Thessaliens und Griechenlands erwähnt wird (vgl. Gerov 1980a, 103 Anm. 64 u. 1980b, 388); allerdings ist die Chronologie in dieser Passage heillos verworren, wodurch kaum Sicheres für die Zeit des Goteneinfalls unter Decius gesagt werden kann. Vermutlich bereitete sich Kniva selbst auf die bevorstehende Begegnung mit Decius vor; dies lässt zumindest Jordanes vermuten (Get. 18,103), dem zufolge sich Kniva mit L. Priscus gegen Decius verbündete. Priscus war wohl Statthalter Thrakiens und für die Verteidigung von Philippopolis verantwortlich; vor der Eroberung wurde er als Kaiser ausgerufen; er soll bald nach der hostis-Erklärung des Senats gestorben sein (vgl. Aur. Vict. 92,2–3: zu Priscus: Mecella 2012, 308–311, die ihn als ein Opfer der misslichen Umstände sieht, das nicht freiwillig nach der Kaiserwürde griff; zu ihm siehe auch Davenport – Mallan 2013, 64 Anm. 42, 66 mit Anm. 53). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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nur auf die eigenen Kräfte vertrauen, sondern auf die Hilfe Verbündeter warten (FGrH 100 F 26,7–8).21 Damit ist natürlich Decius und sein Entsatzheer gemeint; im größeren Kontext die übergeordnete kaiserliche Gewalt, die als Verbündeter den Provinzialen zur Seite steht. Es ist also davon auszugehen, dass Decius nach dem Fall von Philippopolis beschloss, dass die im Süden ohne Hilfe des Kaisers ausharrenden Provinzbewohner ihre Verteidigung im Verbund mit den bereits anwesenden Verbänden bzw. mit jenen römischen Truppen selbst vornehmen sollten, die sich in einer gewissen räumlichen Nähe befanden. Ähnliches lässt sich auch bei den Thermopylen beobachten. Dem Text nach trafen sich Athener, Böotier und ausgewählte Männer der Spartaner mit einem Heer bei den Thermopylen: ἀπήντων δὲ εἰς Πύλας καὶ Ἀθηναῖοι καὶ Βοιωτοὶ στρατίᾳ καὶ Λακεδαιμονίων ἄνδρες ἀπόλεκτοι. Das genaue Verständnis der Textzeile bereitet allerdings gewisse Probleme. So ist nicht ganz klar, in welchem Verhältnis die syntaktischen Elemente Ἀθηναῖοι καὶ Βοιωτοὶ, στρατίᾳ und Λακεδαιμονίων ἄνδρες ἀπόλεκτοι zueinander stehen. Vor allem macht das korrekte Verständnis von στρατίᾳ Schwierigkeiten. Dies hat wohl auch C. P. Jones erkannt, der die Stelle wie folgt wiedergibt: (…) while the Athenians and Boeotians with an army, and a select band of Spartans, advanced to Pylae [Thermopylae] (…)22

In diesem Fall würde man sich wohl aber ein σύν vor στρατίᾳ erwarten. Außerdem ist es nicht unproblematisch, das Imperfekt von ἀπαντάω mit „vorrücken“ zu übersetzten, wird dies doch dem Wortsinn des Verbums kaum gerecht (LSJ s.v. ἀπαντάω). Dieser deutet gemeinsam mit dem Dativus sociativus στρατίᾳ am ehesten darauf hin, dass Athener und Böotier – sowie ausgewählte Männer der Spartaner – bei den Thermopylen auf ein (bereits dort auf sie wartendes) Heer stießen. Damit trifft die von Grusková und Martin vorgelegte und oben angeführte Übersetzung das Richtige: Bei den Thermopylen wiederum trafen sich die Athener und die Böotier mit einem Heer sowie ausgewählte Männer der Spartaner.

Es stellt sich nun die Frage, was für ein Heer hier gemeint ist. Dabei muss es sich nicht zwangs­ läufig, um römische Streitkräfte gehandelt haben, jedoch liegt ein solcher Schluss aus mehreren Gründen nahe. Erstens wird diese Annahme durch die späteren Ereignisse bei den Thermo­ pylen unter Marianus bekräftigt. Wie C. Piso und Ch. Mallan – C. Davenport annehmen, wird der vom Kaiser eingesetzte Marianus wohl eigene ihm unterstehende Truppen befehligt haben, die durch unzureichend bewaffnete Einheiten aus Athen und Böotien verstärkt wurden.23 21 Davenport – Mallan 2013, 71. 22 Jones o.J.b, 8; in einer früheren Version hat Jones o.J.a, 7, die Stelle ähnlich übersetzt, aber unvollständig: „(…) while the Athenians and Boeotians advanced to Pylae [Thermopylae] (…)“. 23 Piso 2015, 208 u. Mallan – Davenport 2015, 212. Die Zahl der von Marianus Befehligten mag allerdings gering ausgefallen sein, wie Piso 2015, 211 zu Recht behauptet. In Bezug darauf meint Piso 2015, 214, dass Marianus ein agens vice praesidis provinciae Achaiae gewesen sei, wohingegen Mallan – Davenport 2015, 212, in ihm einen Senator von prätorischem Rang sehen, der als Prokonsul Achaias fungiert habe. Die griechischen Verbände scheinen in jedem Fall nur dürftig bewaffnet gewesen zu sein (f. 192v Z. 16–19):

ἔφερον δε οἱ μὲν δοράτια, οἱ δὲ πελέκας, οἱ δὲ ξύλα κατακεχαλκωμένα καὶ σεσιδηρωμένα ἄκρα, καὶ ὅπως ἑκάστω ὁπλίσασθαι δυνατὰ ᾖν. – Manche brachten Speere mit sich, andere Äxte, wieder andere erzbe-

schlagene und an der Spitze eisenbewehrte Spieße, und das, was ein jeder an Bewaffnung zur Verfügung hatte. (Übers. Martin – Grusková 2014a). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Zweitens ließ Decius im Vorfeld seines Feldzuges Befestigungen und Straßen in Mösien und Thrakien ausbessern, vermutlich mit der Absicht, die absehbaren Einfälle der Goten rasch und effizient eindämmen zu können.24 Schließlich finden wir in der Vita des Claudius der Historia Augusta eine Parallelstelle, die sich bestens in dieses Szenario einfügt, wonach sich unter Decius ein römisches Heer bei den Thermopylen befand (HA Claud. 16): Item epistula Decii de eodem Claudio: „Decius Messallae praesidi Achaiae salutem.“ inter cetera: „Tribunum vero nostrum Claudium, optimum iuvenem, fortissimum militem, constantissimum civem, castris, senatui et rei publicae necessarium, in Thermopylas ire praecipimus mandata eidem cura Peloponnensium, scientes neminem melius omnia quae iniungimus esse curaturum. huic ex regione Dardanica dabis milites ducentos, ex cataphractariis centum, ex equitibus sexaginta, ex sagittariis Creticis sexaginta, ex tironibus bene armatos mille. nam bene illi novi creduntur exercitus; neque enim illo quisquam devotior, fortior, gravior invenitur.“ Des weiteren heißt es in einem Brief des Decius in betreff desselben Claudius: ‚Decius entbietet dem Messala, dem Statthalter von Achaia, seinen Gruß.‘ Unter anderem: ‚Unserem Tribunen Claudius, diesem trefflichen jungen Mann, diesem tapferen Soldaten und zuverlässigen Bürger, wie ihn Heer, Senat und Staat gleichermaßen nötig haben, erteilen wir den Befehl, sich nach den Thermopylen zu verfügen, und übertragen ihm die Aufsicht über die Peloponnesier in der Überzeugung, daß niemand alle gestellten Aufgaben besser erledigen wird. Du wirst ihm aus dem dardanischen Bezirk zweihundert Soldaten stellen, von den Panzerreitern hundert, von den Kavalleristen sechzig, von den kretischen Bogenschützen sechzig, von den Rekruten tausend gut bewaffnet. Denn füglich werden ihm neue Truppen anvertraut; läßt sich doch niemand finden, der loyaler, tapferer und würdiger wäre als er.‘ (Übers. E. Hohl 1985)

Bisher hat die Forschung die Notiz im Brief als eine Erfindung des Autors der Historia Augusta abgetan, die darauf abgezielt habe, das Vorleben des späteren Kaisers Claudius II. Gothicus mit Decius in Verbindung zu bringen, um ihn in Jugendjahren als herrschaftsfähig auszuweisen.25 Nun zeigt aber der Vergleich mit f. 194r Z. 1–16, dass die von Decius befohlene Sicherung der Thermopylen durch den tribunus militum Claudius mit Truppen ex regione Dardanica (zweihundert Fußsoldaten, hundert Catafractarii, sechzig Reiter, sechzig kretische Bogenschützen und tausend gut gerüstete Rekruten) durchaus erfolgt sein kann.26 Das hier beschriebene fast tausend­fünfhundert Mann starke Kontingent kann höchstwahrscheinlich mit dem bei Dexipp nicht näher behandelten und bei den Thermopylen bereits anwesenden Heer identifiziert werden, auf das die Athener, Böotier und die ausgewählten Männer der Spartaner nach dem Fall

24 Gerov 1980b, 382–383. 25 Besonders Wittig 1932, 1270; Cherf 1993; vgl. auch Hartmann 2008, 298 Anm. 5. Der lobende Ton im Brief mag nicht nur auf eine Idealisierung des Claudius abzielen, sondern mit Nachdruck dem Brief­ empfänger vor Augen führen, dass in dieser schwierigen Situation ein dem Kaiser loyaler und militärisch verlässlicher Tribun mit dem Auftrag der Verteidigung der Thermopylen betraut werden sollte. Da es sich zudem nur um einen Ausschnitt des Briefes handelt (inter cetera), kann es durchaus sein, dass die Ge­ fahren­situation an früherer Stelle im Brief erwähnt worden war. 26 Gerade der Verweis auf die Thermopylen ließ in der Forschung große Skepsis aufkommen und die ganze Episode als Erfindung erscheinen, siehe dazu vor allem Cherf 1993, 233, der die Literatur zusammenfasst und folgert: „The simplest answer is that there were no imperial troops at Thermopylae (…) and no physical evidence supports the military occupation of that land frontier during the mid-third century.“ Zeugnisse der einzelnen militärischen Einheiten finden sich bei Cherf 1993, 232 mit Anm. 7–9. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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von Philippo­polis stießen.27 Die Zusammenarbeit mit den lokalen Kräften aus Achaia impliziert auch die Formulierung, Claudius sei mit der cura Peloponnensium betraut worden; die Stellung eines praeses Achaiae namens Messala ist wohl ein Anachronismus und gibt eher einen Hinweis auf die Abfassungszeit der Vita Claudii.28 Resümierend erfahren wir aus diesem Fragmentabschnitt folgendes: Nach dem Fall von Philippo­polis 250 n.Chr. erging an die Thessalier und an jene Griechen, die den Teil Griechen­ lands innerhalb der Thermopylen bewohnten, die kaiserliche Anordnung, zusammen mit den vor Ort stehenden und abkommandierten Truppen Roms die Verteidigung ihrer Ge­biete zu bewerkstelligen. Daraufhin wurden unter der Leitung des kaiserlichen Ge­sandten Ptole­maios das thessalisch-makedonische Grenzland und unter Beteiligung eines römischen Heeres die Thermopylen besetzt. In beiden Fällen musste man in dieser Notsituation auf direkte Hilfe des Kaisers verzichten, da dessen Hauptstreitmacht geschwächt und, was schwerer wog, vom Süden abgeschnitten war. Obwohl es vermutlich im Süden zu keinen Kampfhandlungen kam, da die Goten unter Kniva von Philippopolis wieder Richtung Norden zogen und dessen Konkurrent, der Gotenführer Ostrogotha, gegen Decius mobil machte,29 übergeht Dexipp die bei den Thermopylen getroffenen Verteidigungsmaßnahmen nicht, sondern führt sie ausdrücklich an. Vielmehr lässt er erkennen, dass sich der Widerstand gegenüber dem Goteneinfall in den südlich von Philippopolis gelegenen Provinzen unter römischer Führung formierte und den kaiserlichen Weisungen folgte, auch wenn Dexipp die Rolle der römischen Kräfte nicht sonderlich betonte.30 Dies zeigt eindrücklich das in der Historia Augusta überlieferte Detachement von römischen Einheiten unter dem Kommando des damaligen Militärtribunen und späteren Kaisers Claudius II. Gothicus zur Sicherung der Thermopylen. Offenbar saß Decius nach dem Fall von Philippopolis nicht untätig in seiner Wartestellung an der Donau, sondern rekrutierte und koordinierte, soweit es ihm möglich war, südliche Streitkräfte zur Eindämmung der gotischen Gefahr. 27 Gerov 1980a, 103 Anm. 64 u. 1980b 382, 389, datiert diesen Befehl des Decius vor den Fall von Philippo­ polis, der allerdings wegen der hier vorgeschlagenen Interpretation erst nach dem Fall der thrakischen Pro­ vinz­hauptstadt ergangen sein kann. 28 So Lippold 1992, 383 Anm. 24; vgl. Wittig 1932, 1277; Cherf 1993, 231 Anm. 4; siehe auch den Datierungs­ versuch Cherfs 1993, 234–236. 29 Zur Teilung des bei Jordanes erwähnten gotischen Heeres (Get. 18,101: exercitum dividens in duas partes) und zur Rolle des Ostrogotha als möglicher Konkurrent Knivas Grusková – Martin 2014, 40–43. Im weiteren Verlauf sollte es zur Katastrophe von Abrittus kommen, wo Decius fallen sollte: ausführlich zur Schlacht, ihrer Vorgeschichte und den Quellen Bleckmann 1992, 157–173. Zum Todesdatum des Decius und somit zum Zeitpunkt der Schlacht von Abrittus siehe aktuell: Kovács 2015, bei dem sich die ältere Literatur findet. 30 Diese vom Kaiser gegenüber einfallenden Truppen gewählte Strategie ist keineswegs unüblich für das 3. Jh. gewesen. Denn bevor der Kaiser selbst mit einem Heer eingreifen konnte, fiel den örtlich bewaffneten Bewohnern bzw. den nächstliegenden militärischen Kontingenten die Aufgabe zu, das betroffene Gebiet oder die belagerte Stadt zu verteidigen (vgl. Piso 2015, 214; Gerov 1980c, bringt diese autarke Verteidigung­sorganisation mit der seit Caesar bestehenden Verfügung der lex Ursonensis in Verbindung; zu einzelnen Fällen siehe auch Millar 1969, 28–29). Man denke z.B. an den Brief des Decius an das belagerte Philippo­polis, der den Eingeschlossenen – ungeachtet seiner verborgenen Motive – Rat erteilt und Entsatz verspricht: siehe dazu Davenport – Mallan 2013, 68–70. Ein anderes Beispiel sind die Verhältnisse der Jahre 263 bis 267 n.Chr., als Südosteuropa von Angriffen verschont blieb, was sich auf den persönlichen Einsatz des Kaisers Gallienus, der sich eine gewisse Zeit selbst in Athen aufhielt, zurückführen lässt: vgl. mit Literatur Bleckmann 2016, 11 mit Anm. 34. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Diese Beobachtung verdient aus zweierlei Gründen besondere Aufmerksamkeit. Einerseits ist damit die faktische Ebene angesprochen, die sowohl Aufschluss über die vom Kaiser getroffenen weiträumigen Verteidigungs- und Organisationsaufgaben gibt, als auch Einblicke in die damit einhergehenden strategischen Konzepte gewährt. Andererseits bekommt damit aber auch das von Dexipp entworfene Geschichtsbild schärfere Konturen. Bisher ging die Forschung davon aus, dass Dexipp in seinen auf drei Bücher angelegten Skythika zunächst das völlige Scheitern der römischen Zentralgewalt schildere und dafür Decius als ebenso unfähiger wie hilfloser Kaiser die geeignete Projektionsfolie biete. Darauf folge in den letzten beiden Büchern eine ständig an Schwung gewinnende Erholungsphase, die von römischen Siegen und zusehends kompetenter agierenden Kaisern bestimmt sei und die bis in die Regierungszeit Aurelians reiche.31 Wie die Analyse von f. 194r Z. 1–16 offenbart, ist dieses Bild jedoch leicht zu revidieren. So wird auf einmal deutlich, dass Dexipp auch dem hilflos tragisch agierenden Decius durchaus umsichtige Entscheidungen zugesteht, die bereits in die Zukunft weisen. Damit tritt uns Dexipp einmal mehr als ein differenziert argumentierender Autor entgegen, dessen Geschichtskonzept sich nicht einfach in ein schablonenhaftes Schwarz-Weiß-Denken einordnen lässt. Darauf hat freilich auch die jüngere Forschung aufmerksam gemacht, die darauf hinwies, dass Dexipps Werk „nicht hellenozentrisch (sei) und schon gar nicht primär eine Glorifizierung des allein wirksamen Widerstands der (vornehmlich griechischen) Poleis gegen die Barbaren“ im Sinn habe. Vielmehr handle es sich um „die Geschichte, wie sich die östliche Reichshälfte nach einer katastrophalen Niederlage langsam wieder erholt hat, dank des Einsatzes aller Teile der Bevölkerung und der Reichsführung, teilweise separat, teilweise in Kooperation.“32 Dabei scheint Dexipp im Besonderen die Kooperation zwischen römischer Reichsführung und lokalen Kontingenten als historisch bestimmende Kräfte und Garanten des Erfolgs im Auge gehabt zu haben. Dies zeigt sich besonders deutlich bei jener bereits oben kurz angesprochenen Episode der erhaltenen Fragmente, in der erneut die Thermopylen den Schauplatz des Geschehens darstellen (ff. 192v+193r). Bei diesem entweder in das Jahr 253/254 oder 262 n.Chr. zu datierenden Ereignis33 versammelt sich bei den Thermopylen ein von der Provinz Achaea gestelltes Volksaufgebot unter dem römischen Statthalter Marianus, um einem erwarteten Angriff der Goten durch die Errichtung einer Verteidigungsstellung wirksam entgegen treten zu können.34 In diesem Zusammenhang hält Marianus eine packende Rede, in der der römische Kommandeur durch einen Blick in die Geschichte auf zwei wesentliche Elemente des vergangenen und wohl auch künftigen Erfolgs hinweist. Gemeint ist dabei nicht nur die Kooperation zwischen lokalen und regulären römischen Streitkräften, sondern auch die Notwendigkeit der römischen Führung dieser Verbände. Dieses auch in anderen Quellen fassbare Konzept scheint nicht so weit von der Geschichtsauffassung des Dexipp entfernt gewesen zu sein.35 In diesen Rahmen ließe sich auch das an dieser Stelle diskutierte Fragment bestens einfügen. Zwar bleibt Decius eine tragische Figur – dies war allein schon durch seinen Schlachtentod ein ebenso unverrückbarer wie vorgegebener Darstellungsmodus –, doch setzt er durchaus bereits Handlungen, die in eine rosigere Zukunft weisen. Dexipps Skythika entfernen sich damit noch weiter von dem gän31 32 33 34

Vgl. zuletzt Martin 2017, 108–114. Martin 2017, 113; ähnlich bereits Martin 2006, 206, was Mecella 2006, 26, vehement zurückwies. Vgl. dazu oben Anm. 3. Zur umstrittenen Funktion des Marianus sowie zur möglichen Beteiligung von regulären römischen Truppen an den Verteidigungsmaßnahmen vgl. oben Anm. 23. 35 Rollinger 2019. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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gigen Deutungsmuster einer vermeintlich versteckten Kritik an der römischen Schutzmacht. Vielmehr scheint eine Aufforderung an die Reichsbewohner Südosteuropas erkennbar zu werden, die Zusammenarbeit mit der römischen Zentralgewalt zu suchen und sich unter römischer Führung aktiv in die umfassenden Verteidigungsbemühungen einzubringen.36 Zumindest legt der Inhalt des f. 194r Z. 1–16 diese Interpretation nahe. Bibliographie Bakker 1993 = L. Bakker, Raetien unter Postumus. Das Siegesdenkmal einer Juthungenschlacht im Jahre 260 n.Chr. aus Augsburg, Germania 71 (1993), 369–386. Birley 1998 = A. R. Birley, Decius reconsidered, in: E. Frézouls – H. Jouffroy (ed.) Les empereurs illyriens. Actes du colloque de Strasbourg (11–13 octobre 1990), Strasbourg 1998, 57–80. Bleckmann 1992 = B. Bleckmann, Die Reichskrise des III. Jahrhunderts in der spätantiken und byzantinischen Geschichtsschreibung. Untersuchungen zu den nachdionischen Quellen der Chronik des Johannes Zonaras, München 1992. Bleckmann 2016 = B. Bleckmann, Südosteuropa im III. und IV. Jahrhundert. Ereignisgeschichtlicher Teil, in: Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (Hrsg.), Online-Handbuch zur Geschichte Süd­ ost­europas I. Herrschaft und Politik in Südosteuropa bis 1800, http://www.hgsoe.ios-regensburg.de/ themen/herrschaft-politik-und-staatlichkeit.html (abgerufen am 29.01.2018). Boteva 2001 = D. Boteva, On the Chronology of the Gothic Invasions under Philippus and Decius (AD 248–251), Archaeologia Bulgarica 5 (2001), 37–44. Brandt 1999 = H. Brandt, Dexipp und die Geschichtsschreibung des 3. Jhs. n.Chr., in: M. Zimmermann (Hrsg.), Geschichtsschreibung und politischer Wandel im 3. Jh. n.Chr. München 1999, 169–181. Cherf 1993 = W. J. Cherf, The Thermopylae Garrison of Vita Claudii 16, CPh 88 (1993), 230–236. Davenport – Mallan 2013 = C. Davenport – Ch. Mallan, Dexippus’ Letter of Decius. Context and Inter­ pretation, MH 70 (2013), 57–73. Drinkwater 2005 = J. Drinkwater, Maximinus to Diocletian and the „Crisis“, CAH 12 (2005), 28–66. Gerov 1980a = B. Gerov, Die gotische Invasion in Mösien und Thrakien unter Decius im Lichte der Hort­ funde, in: B. Gerov (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der römischen Provinzen Moesien und Thrakien. Gesammelte Aufsätze, Amsterdam 1980, 93–112. Gerov 1980b = B. Gerov, Die Einfälle der Nordvölker in den Ostbalkanraum im Lichte der Münzschatz­ funde: I. Das II. und III. Jahrhundert (101–284), in: B. Gerov (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der römischen Provinzen Moesien und Thrakien. Gesammelte Aufsätze, Amsterdam 1980, 361–432. Gerov 1980c = B. Gerov, Zur Verteidigung der Städte in Balkanraum während der Nordvölkerinvasion vom 2. bis 4. Jh., in: B. Gerov (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der römischen Provinzen Moesien und Thrakien. Gesammelte Aufsätze, Amsterdam 1980, 385–388. Grusková – Martin 2014 = J. Grusková – G. Martin, Ein neues Textstück aus den ‚Scythica Vindo­ bonensia‘ zu den Ereignissen nach der Eroberung von Philippopolis, Tyche 29 (2014), 29–43. Grusková – Martin 2015 = J. Grusková – G. Martin, Zum Angriff der Goten unter Kniva auf eine thrakische Stadt (Scythica Vindobonensia, f. 195v), Tyche 30 (2015), 35–53. Grusková – Martin 2017a = J. Grusková – G. Martin, Rückkehr zu den Thermopylen. Die Fortsetzung einer Erfolgsgeschichte in den neuen Fragmenten Dexipps von Athen, in: A. Eich et al. (Hrsg.), Das dritte Jahrhundert. Kontinuitäten, Brüche, Übergänge, Wiesbaden 2017, 267–281. 36 Dafür spricht auch eine Passage aus der Rede Dexipps, die er nach dem Angriff der Heruler auf Athen vor zweitausend Landsleuten im Jahr 267 n.Chr. hielt (FGrH 100 F 28a,4): πυνθάνομαι δὲ καὶ τὴν βασιλέως δύναμιν τὴν ναυτικὴν οὐχ ἑκὰς εἶναι ἀρήξουσαν ἡμῖν, ἧι συνταχθέντας συνεισβαλεῖν κράτιστα. καὶ ἐπὶ τῶιδε ἡγοῦμαι ὡς καὶ τοὺς ῞Ελληνας ἐς τὸ αὐτὸ τοῦτο πρόθυμον ἐπαξόμεθα. – Ich habe erfahren, daß auch

die Flotte des Kaisers nicht fern ist und uns zu Hilfe kommen will. Am besten ist es, wenn wir uns mit ihr vereinigen und gemeinsam angreifen. Zudem glaube ich, daß wir auch die Griechen dazu bringen werden, dieselbe Kampfbereitschaft zu zeigen. (Übers. Martin 2006). Vgl. zur Rede und zum Angriff: Millar 1969, 26–28; Steinacher 2017, 59–60; anders Brandt 1999, 177. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Robert Rollinger – Jack W. G. Schropp

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„(...) ut suum quisque teneat“. Verteilungspolitik und Verteilungskonflikte in Ciceros de officiis Helmuth Schneider Ciceros de officiis1 gehört sicherlich zu den bemerkenswertesten Schriften der römischen Literatur: Der Senator und Consular M. Tullius Cicero wendet sich direkt an seinen gleichnamigen Sohn,2 um diesem in der politischen Krise nach der Ermordung Caesars die Wertvorstellungen und Normen der römischen Nobilität zu vermitteln, in der Hoffnung, dass der Sohn ebenfalls die Ämterlaufbahn einschlagen und die Politik der Optimaten unterstützen werde.3 Damit kann de officiis als das politische Testament Ciceros angesehen werden. Da Cicero in zwei umfangreichen Texten bereits das politische System der römischen Republik beschrieben hatte, kann er sich in de officiis auf die Frage beschränken, welchen ethischen Anforderungen das Verhalten eines Senators zu entsprechen habe. Dabei richtet sich der Blick über den engeren Raum der Politik hinaus auf die Gesellschaft, und Cicero unternimmt es, die Fragen einer sozialen Ethik umfassend zu erörtern. Er vermeidet dabei die für seine philosophischen Schriften charakteristische Form des Dialogs,4 lehnt sich aber wie in früheren Texten eng an die griechische Literatur an und entfaltet seine eigene Position in einer Diskussion griechischer Philosophie. Bei der Vorlage von de officiis handelt es sich um die Schrift Über das richtige Handeln (περὶ τοῦ καθήκοντος) des Stoikers Panaitios, der im späten 2. Jahrhundert v.Chr. in Athen Philosophie gelehrt hat.5 Die Abhängigkeit von Panaitios wird nicht verschwiegen; Cicero erwähnt den Stoiker in der Einleitung seiner Schrift und an zentralen Stellen seiner Argumentation.6 Obgleich längere Abschnitte von de officiis durchaus als eine Paraphrase stoischer Ethik aufgefasst werden können und die Ausführungen Ciceros zentrale Argumente der verlorenen Schrift des Panaitios wiedergeben, muss auch gesehen werden, dass Cicero über die Wiedergabe der stoischen Positionen weit hinausgeht, indem er wiederholt auf exempla der römischen Geschichte verweist, an vielen Stellen seine Sicht der politischen Situation in Rom nach dem Ausbruch der inneren Konflikte in der Zeit der Gracchen und darüber hinaus in allgemeiner Form seine eigenen Vorstellungen zu den Aufgaben der Politik formuliert. Cicero bietet in 1 2

Gelzer 1969, 357–363; Bringmann 1971, 229–250; Fuhrmann 21990, 257–262. M. Tullius Cicero war 65 v.Chr. geboren; er hielt sich 45 v.Chr. in Athen, wo er Philosophie studierte, und vom Sommer 44 bis 43 bei M. Brutus in Macedonia auf. 39 v.Chr. wurde er begnadigt, danach war er als Politiker erfolgreich, nach dem Suffekt-Consulat Ende 30 v.Chr. war er Legat in Syrien und schließlich Proconsul von Asia. Vgl. Elvers 2002, 902–903. 3 Cic. off. 1,1; 1,15; 1,78; 2,1; 2,44; 3,1; 3,6; 3,33; 3,121. Gelzer 1969, 357; Fuhrmann 21990, 258. 4 Fuhrmann 21990, 258. 5 Zu Panaitios vgl. Inwood 2000, 226–228. 6 Cic. Att. 16,11,4; Cic. off. 1,7; 1,9; 1,90; 1,152; 1,161; 2,16; 2,51; 2,60: Panaetius,quem multum in his libris secutus sum non interpretatus. 2,76; 2,86; 2,88; 3,7: Panaetius igitur, qui sine controversia de officiis accuratissime disputavit quemque nos correctione quadam adhibita potissimum secuti sumus 3,8; 3,9; 3,10; 3,12; 3,18; 3,33. Vgl. off. 1,6: Sequimur igitur hoc quidem tempore et hac in quaestione potissimum Stoicos, non ut interpretes, sed, ut solemus, e fontibus eorum iudicio arbitrioque nostro quantum quoque modo videbitur, hauriemus. Gelzer 1969, 357. Bringmann 1971, 229–250, nimmt an, dass Cicero auch dort der Argumentation des Panaitios weitgehend folgt, wo er römische Beispiele zur Illustration der philosophischen Thesen bietet. Fuhrmann 21990, 258. Vgl. Cic. off. 2,76, Panaitios über Scipio. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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de officiis eine zwar von der Stoa beeinflusste, aber doch genuin römische Sozialphilosophie, wobei neben dem sozialen Verhalten von Menschen im allgemeinen und von Angehörigen der Führungsschichten im besonderen auch die Aufgaben der Politik und gerade auch die Probleme sozialpolitischer Maßnahmen erörtert werden. Dabei geht Cicero in einem längeren Abschnitt des zweiten Buches von de officiis auf die Verteilungskonflikte in der späten Republik und auf eine politische Position ein, die auf eine Umverteilung von Besitz und Vermögen abzielt. Es ist sinnvoll, bei einer Untersuchung der Auffassungen Ciceros zur römischen Politik von seinem Urteil über die politische Lage nach 49 v.Chr. auszugehen, denn seine politische Philosophie und die Entschiedenheit der Argumentation sind in hohem Maße von den politischen Kontexten bedingt. In der Einleitung des zweiten Buches stellt Cicero eine klare Beziehung zwischen dem Regime Caesars und dem Schreiben seiner philosophischen Werke her: Ich aber habe immer, solange das Gemeinwesen durch die Männer geleitet wurde, denen es sich selbst anvertraut hatte, alle meine Sorgen und Gedanken daran gewendet. Als aber alles durch die Herrschaft eines einzigen gelenkt wurde und nirgends Raum für Beratung oder Autorität blieb, ich endlich die bedeutendsten Männer als Verbündete bei der Verteidigung der res publica verloren hatte, da habe ich mich nicht der Melancholie hingegeben, von der ich aufgezehrt worden wäre, wenn ich ihr nicht widerstanden hätte, und auch nicht den Vergnügungen, die eines gebildeten Mannes unwürdig sind. Wenn doch das Gemeinwesen in dem Zustand geblieben wäre wie anfangs und nicht in die Hände von Menschen geraten wäre, die nicht auf Änderung, sondern auf völligen Umsturz der Verhältnisse begierig sind! Erstens würden wir dann nämlich, wie wir es zu tun pflegten, als das Gemeinwesen noch existierte, mehr Mühe für das Handeln als für das Schreiben aufwenden, dann würden wir in diesen Schriften nicht solche Themen wie jetzt, sondern unsere eigenen Taten behandeln, wie wir dies oft getan haben. Da aber ein Gemeinwesen, auf das ich mein Fürsorge, meine Überlegungen und meine Arbeitskraft zu richten pflegte, in keiner Weise mehr bestand, sind die forensischen und senatorischen Schriften verstummt. Nichts zu tun war mein Geist aber unfähig, und deswegen habe ich geglaubt, in solchen Studien, die ich von meiner Jugend an betrieben habe, auf ehrenvollste Weise meine Unlust loswerden zu können, wenn ich zur Philosophie zurückkehrte.7

Ciceros Begründung dafür, dass er begonnen hat, philosophische Werke zu verfassen, enthält eine Reihe von Aussagen zu politischen Situation: An die Stelle der res publica ist ein dominatus getreten, eine Willkürherrschaft, in der weder eine Beratung möglich war noch die auctoritas geachtet wurde, die bedeutendsten Politiker, die sich für die res publica eingesetzt hatten, waren nicht mehr am Leben, und Politiker, die nicht einzelne Veränderungen, sondern einen generellen Umsturz bewirken wollen, beherrschten die res publica. Als Fazit kann Cicero konstatieren, dass eine res publica überhaupt nicht mehr bestehe. Diese Beschreibung bezieht sich auf die Lage seit 7

Cic. off. 2,2–4: Ego autem quam diu res publica per eos gerebatur, quibus se ipsa commiserat, omnes meas curas cogitationesque in eam conferebam. Cum autem dominatu unius omnia tenerentur neque esset usquam consilio aut auctoritati locus, socios denique tuendae rei publicae summos viros amisissem, nec me angoribus dedidi, quibus essem confectus, nisi iis restitissem, nec rursum indignis homine docto voluptatibus. Atque utinam res publica stetisset quo coeperat statu nec in homines non tam commutandarum quam evertendarum rerum cupidos incidisset! Primum enim, ut stante re publica facere solebamus, in agendo plus quam in scribendo operae poneremus, deinde ipsis scriptis non ea, quae nunc, sed actiones nostras mandaremus, ut saepe fecimus. Cum autem res publica, in qua omnis mea cura, cogitatio, opera poni solebat, nulla esset omnino, illae scilicet litterae conticuerunt forenses et senatoriae. Nihil agere autem cum animus non posset, in his studiis ab initio versatus aetatis existimavi honestissime molestias posse deponi, si me ad philosophiam retulissem. (Übersetzung im Text nach K. Büchner, mit Veränderungen). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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dem Beginn des Bürgerkrieges im Januar 49 v.Chr. und dem Sieg Caesars über die Republikaner bei Pharsalos am 9. August 48 v.Chr.; die als dominatus bezeichnete Herrschaft Caesars war mit der Ermordung des Diktators keineswegs beendet, denn in Rom und Italien hatten der Consul Marcus Antonius und die übrigen Anhänger Caesars im Jahr 44 v.Chr. zunächst nahezu unangefochten die Macht inne. Ohne dass Cicero hier Namen nennt, macht er doch deutlich, wer seiner Meinung nach für den Untergang der Republik verantwortlich ist: Caesar und seine Anhänger, die das Ziel eines allgemeinen Umsturzes verfolgten.8 Mit der res publica ist auch die Rechtskultur untergegangen; während früher die Kenntnis und die Auslegung des Zivilrechtes hoch geachtet waren, ist der Glanz dieses Wissens zusammen mit den politischen Ämtern und den Abstufungen der Würde vernichtet worden.9 Bereits mit Sulla und der mit seinem Sieg verbundenen Grausamkeit gegenüber römischen Bürgern war eine Zäsur verbunden, die nach Cicero zum Verlust der alten Ordnung und der Selbstdisziplin führte.10 In der Einleitung zum dritten Buch greift Cicero das Thema der herrschenden politischen Zustände wieder auf und stellt den Bezug zu seiner eigenen Lebensführung wieder her, indem er schreibt, er werde durch Waffengewalt an jeder Tätigkeit in der Politik und vor den Gerichten gehindert; er habe die Stadt verlassen und sei häufig allein.11 Er stellt die rhetorische Frage, was er nach Auslöschung des Senates und Aufhebung der Gerichte in der Kurie oder auf dem Forum noch seiner Würde entsprechendes tun könne.12 Cicero blieb nur die Flucht vor dem Anblick der Frevler, die nun überall zu finden seien,13 und das Schreiben, wobei er, wie er selbst sagt, in der kurzen Zeit seit dem politischen Umsturz mehr geschrieben habe als in den vielen Jahren zuvor.14 Schließlich spricht Cicero von dem Ende der Gesetze und der Freiheit.15 Die kritischen Bemerkungen Ciceros gelten aber nicht allein den politischen Zuständen, sondern gerade auch den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Herrschaft Caesars und der Caesarianer; so spricht Cicero, neben Caesar auch L. Sulla erwähnend, von einer pecuniarum translatio, einer Umverteilung der Geldvermögen.16 An anderer Stelle wird Sulla vorgeworfen, nach einem ehrenvollen Sieg auf dem Forum den Besitz vermögender Bürger verkauft zu haben und dazu noch geäußert zu haben, er verkaufe seine Beute. Von Caesar, der hier nicht namentlich genannt wird, heißt es, er habe nach einem schimpflicheren Sieg die Güter einzelner Bürger konfisziert und ganze Provinzen und Gebiete dem Kriegsrecht unterstellt.17 Die Einziehung 8 Zu Caesar vgl. auch das negative Urteil bei Cic. off. 1,26; hier führt Cicero die Politik Caesars allein auf ein jegliches Recht verletzendes Machtsteben zurück: Declaravit id modo temeritas C. Caesaris, qui omnia iura divina et humana pervertit propter eum, quem sibi ipse opinionis errore finxerat principatum. Zum Machtstreben als tieferer Ursache einer Politik der Zuwendungen vgl. Cic. off. 1,64. 9 Cic. off. 2,65. 10 Cic. off. 2,27: Sensim hanc consuetudinem et disciplinam iam antea minuebamus, post vero Sullae victoriam penitus amisimus. 11 Cic. off. 3,1: Nam et a re publica forensibusque negotiis armis impiis vique prohibiti otium persequimur et ob eam causam urbe relicta rura peragrantes saepe soli sumus. 12 Cic. off. 3,2: Extincto enim senatu deletisque iudiciis quid est, quod dignum nobis aut in curia aut in foro agere possumus? 13 Cic. off. 3,3: nunc fugientes conspectum sceleratorum, quibus omnia redundant. 14 Cic. off. 3,4. 15 Cic. off. 3,83: legum et libertatis interitum. 16 Cic. off. 1,43. 17 Cic. off. 2,27: Secutus est, qui in causa impia, victoria etiam foediore, non singulorum civium bona publicaret, sed universas provincias regionesque uno calamitatis iure comprehenderet. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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und der öffentliche Verkauf der Vermögen reicher Bürger ist nach Cicero deswegen so problematisch, weil damit ein bleibender Anreiz für Bürgerkriege gegeben ist.18 Unter den exempla, die Cicero aus der römischen Geschichte anführt, um seine philosophische Argumentation zu begründen, erscheint mehrmals Ti. Gracchus; so vergleicht Cicero die Taten für die res publica im Kriege mit den Taten im zivilen Bereich und stellt Scipio Africanus (cos. 147. 134) und Scipio Nasica (cos. 138) wertend gegenüber: Und Africanus, ein einzigartiger Mann und Feldherr, hat mit der Zerstörung von Numantia der res publica nicht mehr genützt als zu derselben Zeit Publius Nasica als Privatmann dadurch, dass er Tiberius Gracchus beseitigte.19

Die Meinung, Scipio Nasica sei gegen die verderblichen Pläne des Ti. Gracchus eingeschritten,20 bekräftigt Cicero, indem er den Gracchen einen Platz unter denen zuweist, die zu Recht getötet wurden.21 Für Cicero war Ti. Gracchus, zusammen mit seinem Bruder Gaius, der Politiker, dessen Politik entscheidend zum Niedergang der Republik beigetragen hat. In de officiis bleibt allerdings unklar, ob das negative Urteil über die Politik der Gracchen sich primär auf ihre Gesetzgebung oder auf ihren Versuch bezieht, eine vom Senat unabhängige, auf den Tribunat gestützte Politik zu betreiben. Wie aus anderen Schriften hervorgeht, lehnte Cicero die Gesetzgebung der Gracchen entschieden ab; er bezeichnete die lex agraria des Ti. Gracchus 63 v.Chr. im Senat als largitio22 und in der 56 v.Chr. gehaltenen Rede für Sestius betont Cicero, dass das Agrargesetz des Ti. Gracchus ebenso wie das Frumentargesetz des C. Gracchus auf den Widerstand der Optimaten stieß.23 Wie der Kontext dieser Äußerung zeigt, teilte Cicero die Sicht der Optimaten, die glaubten, das Agrargesetz führe zur Spaltung der Gesellschaft und beseitige die politische Klasse, indem die Reichen ihrer Besitzungen beraubt würden.24 Ein anderes Argument spielt im Fall des Frumentargesetzes eine Rolle; die boni bekämpften das Gesetz, weil es die plebs zum Müßiggang verleite und überdies das aerarium, die öffentliche Kasse, erschöpfe.25 Während die Verteilung von Ländereien, die zwar rechtlich gesehen eindeutig als ager publicus, als Eigentum der res publica, anzusehen waren, aber in der Sicht der Großgrundbesitzer ihnen von alters her gehörten, wegen ihrer sozialen und politischen Folgen abgelehnt wird, beruht die Kritik an dem Frumentargesetz wesentlich auch auf finanzpolitischen Erwägungen. Dies kommt noch deutlicher in den Tusculanae disputationes aus dem Jahr 44 v.Chr. zum Ausdruck; Cicero stellt hier das Frumentargesetz, durch das seiner Meinung nach die Gelder der öffentlichen Kasse verschleudert wurden, den Reden des C. Gracchus gegenüber, in denen dieser mit Nachdruck das 18 Cic. off. 2,29: Ex quo debet intellegi talibus praemiis propositis numquam defutura bella civilia. 19 Cic. off. 1,76: Nec plus Africanus, singularis et vir et imperator, in exscindenda Numantia rei publicae profuit quam eodem tempore P. Nasica privatus, cum Ti. Graccchum interemit. (Übersetzung im Text nach K. Büchner). Eine ganz ähnliche Bemerkung über Scipio Nasica findet sich in Cic. Tusc. 4,5, einer Schrift, die Cicero im Jahr 45 v.Chr. verfasste, also kurze Zeit vor de officiis. 20 Cic. off. 1,109: (...) P. Scipione Nasica (…) illum qui Ti. Gracchi conatus perditos vindicavit. 21 Cic. off. 2,43: at eius filii nec vivi probabantur bonis et mortui numerum optinent iure caesorum. 22 Cic. leg. agr. 1,21. 23 Cic. Sest. 103. 24 Cic. Sest. 103: Nitebantur contra optimates, quod et discordiam excitari videbant et, cum locupletes possessionibus diurturnis moverentur, spoliari rem publicam propugnatoribus arbitrabantur. 25 Cic. Sest. 103: Iucunda res plebei; victus enim suppeditabatur large sine labore. Repugnabant boni, quod et ab industria plebem ad desidiam avocari putabant et aerarium exhauriri videbant. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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aerarium verteidigt und geradezu als patronus aerarii agiert.26 Beachtenswert ist die Tatsache, dass Cicero hier die mit öffentlichen Mitteln finanzierte Ausgabe verbilligten Getreides an die römischen Bürger als eine Form der Verteilungspolitik beschreibt, indem er eine Äußerung des L. Calpurnius Piso Frugi (cos. 133 v.Chr.) zitiert; als dieser seinen Anteil des verbilligten Getreides für sich verlangte und dafür von Gracchus kritisiert wurde, soll er nach Cicero gesagt haben: Ich wollte nicht, Gracchus, dass es Dir einfiele, meine Besitzungen unter die Bürger zu verteilen, aber wenn Du es tätest, so würde ich meinen Anteil verlangen.27

Wie die Bemerkungen über die Politik der Gracchen in früheren Schriften Ciceros zeigen, war der Aspekt der Verteilungspolitik für seine Kritik an den Gesetzen der Gracchen von entscheidender Bedeutung. Damit wird deutlich, dass die Aussage im ersten und zweiten Buch von de officiis, die Gracchen seien zu Recht getötet worden,28 bereits die Tendenz der grundsätzlichen Erörterung einer Politik, die auf eine Umverteilung der Vermögen abzielt,29 andeutet, ja geradezu vorwegnimmt. Verteilungspolitik und Verteilungskonflikte diskutiert Cicero im zweiten Buch von de officiis im Rahmen seiner Darstellung der beneficia, der Wohltaten, die anderen Menschen erwiesen werden. Es geht Cicero zunächst darum zu klären, auf welche Weise Ruhm (gloria) erworben werden könne. Ruhm wird bezogen auf das Ansehen bei der Menge (multitudo) und beruht auf Zuneigung, Loyalität (fides) und Bewunderung (admiratio).30 Die Liebe der Menge wird aber hervorgerufen durch den Ruf der Großzügigkeit, der Wohltätigkeit, der Gerechtigkeit und der Zuverlässigkeit.31 Wohltätigkeit findet ihren Ausdruck einerseits durch Bemühungen für die Bedürftigen, andererseits durch eine materielle Unterstützung, die von wohlhabenden Bürgern geleistet werden kann.32 Dabei ist nach Cicero generell darauf zu achten, dass Spenden und Schenkungen in einem angemessenen Verhältnis zum Vermögen gewährt werden sollen; keineswegs dürfe ein Vermögen durch Schenkungen verschwendet werden.33 Die private Freigebigkeit hat aber auch direkt eine politische Funktion, denn private Auf­ wendungen können dazu dienen, sich politisches Ansehen zu verschaffen. Cicero nennt in diesem Zusammenhang die Aufwendungen der Aedilen aus ihrem privaten Vermögen für die Ab­haltung glanzvoller Spiele während ihrer Amtszeit.34 Solche Ausgaben sollten aber maßvoll sein,35 und es sei nützlich für die res publica, wenn jemand in die Sklaverei geratene Bürger 26 Cic. Tusc. 3,48: C. Gracchus, cum largitiones maximas fecisset et effudisset aerarium, verbis tamen defendebat aerarium (...) lege orationes Gracchi, patronum aerarii esse dices. 27 Cic. Tusc. 3,48: „nolim“ inquit, „mea bona, Gracche, tibi viritim dividere libeat, sed si facias, partem petam.“ 28 Cic. off. 2,43. Vgl. off. 1,76; 1,109. 29 Cic. off. 2,72–85. 30 Cic. off. 2,31. 31 Cic. off. 2,32: vehementer autem amor multitudinis commovetur ipsa fama et opinione liberalitatis, beneficentiae, iustititiae, fidei omniumque earum virtutum, quae pertinent ad mansuetudinem morum ac facilitatem. 32 Cic. off. 2,52: Nam aut opera benigne fit indigentibus aut pecunia. 33 Cic. off. 2,53; 2,54; 2,64: Habenda autem ratio est rei familiaris, quam quidem dilabi sinere flagitiosum est, sed ita, ut inliberalitatis avaritiaeque absit suspicio. 34 Cic. off. 2,57: Quamquam intellego in nostra civitate inveterasse iam bonis temporibus, ut splendor aedilitatum ab optimis viris postuletur. 35 Cic. off. 2,59; 2,60. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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frei­kaufe oder aber ärmere Bürger zu einem Wohlstand verhelfe.36 Kurz geht Cicero auf die Wohltaten ein, die durch Bemühungen erwiesen werden, wobei er vor allem die Rechtsberatung und die Tätig­keit als Redner vor Gericht nennt.37 Der Abschnitt über Verteilungspolitik und Verteilungskämpfe in der späten Republik38 beginnt mit der Feststellung, dass neben den Formen der Wohltätigkeit, die jeweils auf einzelne Menschen gerichtet sind, jene beneficia zu erörtern sind, die sich auf die Gesamtheit der Bürger und auf die res publica beziehen.39 Für Cicero ist dabei die Forderung unabdingbar, dass alle beneficia, die sich entweder an einzelne Bürger oder an die Gesamtheit der Bürger richten, der res publica entweder nützen oder wenigstens keinen Schaden zufügen sollten.40 Cicero knüpft hier wiederum an eine in der Rede für Sestius formulierte Einsicht an, dass es soziale Maßnahmen gibt, die nicht dem Gemeinwohl dienen, sondern ihm geradezu widersprechen.41 Als Beispiel hierfür wird in de officiis das Frumentargesetz des C. Gracchus genannt, das nach Ciceros Auffassung das aerarium, die öffentliche Kasse entleert habe.42 Allerdings wird in de officiis nicht jedes Frumentargesetz grundsätzlich abgelehnt; so wird das maßvolle Gesetz des Octavius als erträglich für die res publica und notwendig für die plebs bezeichnet, folglich sei es sowohl für die Bürger als auch für die res publica vorteilhaft gewesen.43 Nach den Bemerkungen über die Getreideverteilung formuliert Cicero den politischen Grund­satz, es müsse darauf geachtet werden, dass jeder sein Eigentum behalten könne und es keine Minderung in den Vermögen der Privatleute durch öffentliche Maßnahmen geben solle. Die Forderung „ut suum quisque teneat“ kann als ein grundlegender Gedanke der Sozial­ philo­sophie Ciceros angesehen werden.44 Allein schon der Hinweis auf die ungleichen Ver­ mögens­verhältnisse in einer öffentlichen Rede stößt auf die Kritik Ciceros; wenn L. Marcius Philippus während seines Tribunates davon sprach, es gäbe in der Bürgerschaft nur zwei­tausend Menschen, die ein Vermögen besäßen,45 so zielt dies nach Cicero auf eine gleiche Verteilung der Ver­mögen ab, was als schlimmste Pest angesehen werden muss.46 Einen Eingriff in die Vermögensverhältnisse hält Cicero deswegen für unstatthaft, weil die Gemeinwesen und die Bürgerschaften sich vor allem aus dem Grund konstituiert haben, dass der Besitz bewahrt werden könnte.47 Die Menschen kamen zwar unter der Führung der Natur zusammen, suchten aber dennoch die Sicherheit der Städte in der Hoffnung auf einen

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Cic. off. 2,63. Cic. off. 2,65–66. Cic. off. 2,72–85. Cic. off. 2,72: Sed quoniam de eo genere beneficiorum dictum est, quae ad singulas spectant, deinceps de iis, quae ad universos quaeque ad rem publicam pertinent, disputandum est. Cic. off. 2,72. Cic. Sest. 103: Sed tamen haec via ac ratio rei publicae capessendae olim erat magis pertimescenda, cum multis in rebus multitudinis studium ac populi commodum ab utilitate rei publicae discrepabat. Vgl. Brunt 1988, 54. Cic. off. 2,72: C. Gracchi frumentaria magna largitio; exhauriebat igitur aerarium. Vgl. Cic. Sest. 103: Repugnabant boni, quod (…) aerarium exhauriri videbant. Cic. off. 2,72. Cic. off. 2,73: In primis autem videndum erit ei, qui rem publicam administrabit, ut suum quisque teneat neque de bonis privatorum publice deminutio fiat. Cic. off. 2,73: non esse in civitate duo milia hominum, qui rem haberent. Cic. off. 2,73: Capitalis oratio est ad aequationem bonorum pertinens, qua peste quae potest esse maior? Cic. off. 2,73: Hanc enim ob causam maxime, ut sua tenerentur, res publicae civitatesque constitutae sunt. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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S­chutz ihres Eigentums.48 Folgt man diesen prinzipiellen Aussagen, können die jeweiligen Ver­ mögensverhältnisse politisch nicht einmal mehr diskutiert, geschweige denn zur Disposition gestellt werden. Aber Cicero geht noch über diese Auffassung hinaus, indem er sich der Steuererhebung zuwendet und den Grundsatz formuliert, dass Abgaben – wie sie früher in Rom erhoben worden sind – nicht gefordert werden sollten;49 vielmehr sei es Aufgabe der Politik, Vorsorge zu treffen, dass ein solcher Fall nicht eintritt. Nur in einer Notsituation kann eine Abgabe gefordert werden, aber in einer solchen Situation soll erreicht werden, dass alle einsehen, dass sie, wenn sie ihr eigenes Wohlergehen sichern wollen, der Notwendigkeit gehorchen müssen.50 Es folgt ein Exkurs, in dem Cicero auf das Problem der Bereicherung im Amt eingeht;51 er betont, dass bei Ausübung eines politischen Amtes unbedingt jeder Anschein von Habsucht vermieden werden müsse, zugleich stellt er fest, dass es seit dem Repetundengesetz des Calpurnius Piso eine Tendenz gab, die Provinzen auszuplündern.52 Als Beispiele uneigennütziger Senatoren werden P. Scipio Africanus, L. Aemilius Paulus und L. Mummius genannt; Cicero stellt hier einen Bezug zu seiner Ablehnung einer Steuererhebung her, indem er darauf verweist, dass die Republik durch die Kriegsbeute des Aemilius Paulus im Dritten Makedonischen Krieg in die Lage versetzt wurde, auf Abgaben römischer Bürger zu verzichten. Abschließend wird jede Form der Bereicherung während der Ausübung eines Amtes als schändlich, frevelhaft und ruchlos kritisiert.53 Nach diesem Exkurs nimmt Cicero seinen ursprünglichen Gedankengang wieder auf, indem er auf die Politik der Popularen eingeht und sie einer grundsätzlichen Kritik unterzieht.54 Er nennt zwei Anliegen der popularen Politik, das Agrargesetz und den Schuldenerlass, und führt zugleich die aus seiner Sicht direkten negativen Auswirkungen solcher Maßnahmen an: Die Landbesitzer werden von ihrem Grund und Boden vertrieben, und geliehenes Geld wird den Schuldnern geradezu geschenkt. Dies habe auf der politischen Ebene wiederum zur Folge, dass die Popularen die Grundlagen der res publica zerstörten, nämlich die Eintracht (concordia) zuerst, die nicht bestehen könne, wenn den einen das Geld weggenommen, den anderen aber gegeben werde, und die Gerechtigkeit (aequitas), die gänzlich aufgehoben werde, wenn es nicht jedem erlaubt sei, das Seine zu bewahren, was aber die eigentliche Aufgabe einer civitas und einer urbs sei.55

48 Cic. off. 2,73: Nam, etsi duce natura congregabantur homines, tamen spe custodiae rerum suarum urbium praesidia quaerebant. Vgl. ferner Cic. off. 1,20–21. Brunt 1988, 54. 49 Cic. off. 2,74: Danda etiam opera est, ne, quod apud maiores nostros saepe fiebat propter aerarii tenuitatem assiduitatemque bellorum, tributum sit conferendum, idque ne eveniat multo ante erit providendum. 50 Cic. off. 2,74: danda erit opera, ut omnes intellegant, ut salvi esse velint, necessitati esse parendum. 51 Cic. off. 2,75–77. 52 Cic. off. 2,75: expilatio direptioque sociorum. 53 Cic. off. 2,77: Habere enim quaestui rem publicam non modo turpe est, sed sceleratum etiam et nefarium. 54 Cic. off. 2,78. Vgl. Brunt 1988, 62; Bernett 1995, 92–104. Bernett geht zwar auf die polemischen Äußerungen Ciceros über die „Gegner der bestehenden politischen Ordnung sowie der gegenwärtigen Eigen­tums­verhältnisse“ ein (vgl. auch die Tabelle auf S. 103), analysiert aber nicht seine Kritik an den politischen Vorstellungen der Popularen und an den Inhalten ihrer Gesetzgebung. 55 Cic. off. 2,78: labefactant fundamenta rei publicae, concordiam primum, quae esse non potest, cum aliis adimuntur, aliis condonantur pecuniae, deinde aequitatem, quae tollitur omnis, si habere suum cuique non licet. Id enim est proprium, ut supra dixi, civitatis atque urbis, ut sit libera et non sollicita suae rei cuiusque custodia. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Mit einer solchen Politik erreichen die Popularen nicht einmal ihre eigenen Ziele, denn ihnen wird nicht einmal Dankbarkeit entgegengebracht, während diejenigen, denen ihr Vermögen genommen worden ist, zu Feinden werden. Machtpolitisch ist das Vorgehen der Popularen also für sie selbst problematisch. In suggestiver Weise fasst Cicero hier seine Argumente zu den popularen Agrargesetzen in dem folgenden Satz zusammen: Was aber ist das für eine Gerechtigkeit (aeqitas), dass einen Acker, der viele Jahre oder auch Menschen­ alter vorher in Besitz war, der besitzt, der keinen gehabt hat, der ihn gehabt hat, aber verliert?56

Welche politische Folgen eine Landverteilung haben kann, demonstriert Cicero am Beispiel Griechenlands, wo aufgrund solcher Konflikte in Sparta Lysandros vertrieben und später Agis getötet worden ist; es folgten dann Auseinandersetzungen über die Landfrage in ganz Griechen­ land. In diesem Zusammenhang werden noch einmal die Gracchen erwähnt, die ebenfalls im Streit um die Landfrage umkamen.57 Dem Modell der popularen Politik stellt Cicero das Handeln des Aratos gegenüber, der seine Heimatstadt Sikyon vom Tyrannen befreite, die Verbannten zurückholte und diese für den Verlust ihrer Länderein entschädigen wollte, aber diejenigen, die den Besitz der Verbannten innehatten, nun nach fünfzig Jahren nicht wiederum enteignen wollte. Die Begründung für diese Politik ist deswegen bemerkenswert, weil es hier Parallelen zu der Kritik am Agrargesetz des Ti. Gracchus gibt: Aratos hielt es, so Cicero, nicht für gerecht, „dass Besitzrechte von fünfzig Jahren in Bewegung gebracht wurden, deswegen, weil in einem so langen Zeitraum vieles durch Erbschaft, vieles durch Käufe, vieles durch Mitgiften ohne Unrecht besessen wurde.“58 Für eine Lösung dieses Problems war Geld nötig, und dieses beschaffte Aratos sich bei Ptolemaios II., und er war so in der Lage, die alten Besitzer der Ländereien oder die neuen Besitzer bei einem Verzicht auf ihre jeweiligen Rechte durch Geld angemessen zu entschädigen.59 Cicero glaubt, dass hier ein fairer Interessenausgleich erreicht wurde und preist Aratos daher als einen großen Mann, der würdig gewesen sei, „in unserem Gemeinwesen geboren worden zu sein.“60 Einen scharfen Kontrast zur Politik des Aratos stellt Cicero durch den Hinweis auf die Versteigerung konfiszierter Güter politischer Gegner in Rom her.61 Cicero formuliert die politische Norm, dass in einem Gemeinwesen für alle gesorgt werden müsse, dass die Interessen der Bürger nicht missachtet werden dürfen und dass für alle dieselbe Gerechtigkeit zu gelten habe.62 Die Ausführungen über Aratos wirken auf den modernen Leser naiv; die Beschaffung von Geld bei einem befreundeten Herrscher stellt sicherlich kein Modell für eine adäquate Lösung sozialer Konflikte dar. Wenn man zugleich bedenkt, dass Cicero auch die Erhebung von Steuern

56 Cic. off. 2,79: Quam autem habet aequitatem, ut agrum multis annis aut etiam saeculis ante possessum qui nullum habuit habeat, qui autem habuit amittat? 57 Cic. off. 2,80: Quid? nostros Gracchos, Ti. Gracchi summi viri filios, Africani nepotes, none agrariae contentiones perdiderunt? 58 Cic. off. 2,81. Vgl. App. civ. 1,10. 59 Cic. off. 2,82. 60 Cic. off. 2,83. 61 Cic. off. 2,83: Sic par est, agere cum civibus, non, ut bis iam vidimus, hastam in foro ponere et bona civium voci subicere praeconis. 62 Cic. off. 2,83: At ille Graecus, id quod fuit sapientis et praestantis viri, omnibus consulendum putavit, eaque est summa ratio et sapientia boni civis, commoda civium non divellere atque omnis aequitate eadem continere. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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ablehnt,63 bleibt nur wenig Spielraum für die Bewältigung sozialer Probleme. Aber es ist auch zu beachten, dass Cicero mit seinen Bemerkungen in der Tradition römischer Politik steht. Da Rom auswärtige Herrscher nicht wie Aratos darum bitten konnte, finanziell zur Lösung sozialer Probleme beizutragen, war die römische Republik auf Expansion und Annexion angewiesen, um etwa die Verteilung von Land, die Versorgung Roms mit Getreide wie auch die Sicherung von Metallvorkommen für die Münzprägung realisieren zu können. Dies gilt schon für die Ansiedlung römischer Bürger auf dem Gebiet von Veii nach Eroberung der Stadt, später für die Einziehung des Getreides in Sizilien nach Einrichtung der Provinz, die Finanzierung der Agrarkommission des Ti. Gracchus durch Verkauf des pergamenischen Königschatzes oder die Finanzierung des Frumentargesetzes des Clodius durch die Annexion von Zypern. Die römische Gesellschaft bringt die notwendigen finanziellen Mittel zur Bezahlung sozialer Maßnahmen nicht selbst auf, sondern beschafft sich diese vielmehr durch außenpolitische Aggression. Diesem Modell entsprechen die Ausführungen Ciceros über Aratos insofern, als dieser ebenfalls der Stadt Sikyon nicht zumutet, den gewünschten Ausgleich zwischen den alten und neuen Besitzern der Ländereien selbst zu finanzieren, sondern sich Mittel durch einen Appell an einen auswärtigen Herrscher verschafft. Unvermittelt geht Cicero dann von dem Beispiel vorbildlicher Politik wiederum zu Fragen der popularen Politik über, indem er polemisch Landverteilungen und Schuldentilgung kritisiert. Landverteilungen bewirken nach Cicero letztlich, dass dem einen das Seinige entrissen wird und dem anderen etwas Fremdes gegeben wird,64 und Schuldentilgungen dienen dazu, dass „du mit meinem Geld ein Landgut kaufst, dass du es hast, ich aber das Geld nicht mehr habe.“65 Um aber eine Schuldentilgung zu verhindern, ist es nach Cicero notwendig, rechtzeitig dafür zu sorgen, dass keine dem Gemeinwesen abträgliche Verschuldung entsteht, und nicht erst im Verlauf einer Schuldenkrise Maßnahmen zu ergreifen. In diesem Zusammenhang geht Ciceros auf die Agitation für einen Schuldenerlass während seines Consulates und auf seine eigenen Maßnahmen gegen die Forderungen nach tabulae novae ein. Der Text ist nicht nur deswegen von Bedeutung, weil er noch einmal die Ablehnung jeglichen Schuldenerlasses deutlich macht, sondern auch, weil Cicero hier seine eigene Sicht der Ereignisse des Jahres 63 v.Chr. und die Motive seines eigenen Handelns offen legt. Es handelt sich ohne Zweifel um einen zentralen Text zum Verständnis der letzten Phase der späten Republik, den zu zitieren sich lohnt: Nie wurde heftiger als unter meinem Consulat dafür gekämpft, dass nicht gezahlt werden solle. Mit Waffen und Kriegslager wurde die Sache von jeder Art Menschen und jedem Stande in Angriff genommen. Denen habe ich so widerstanden, dass dieses ganze Übel aus dem Gemeinwesen beseitigt wurde. Nie gab es größere Schulden, und nie sind sie besser und leichter eingelöst worden. Da nämlich die Hoffnung auf Betrug beseitigt war, folgte die Notwendigkeit zu zahlen.66

63 Cic. off. 2,74. 64 Cic. off. 2,83: Quid est aliud aliis sua eripere, aliis dare aliena? 65 Cic. off. 2,84: Tabulae vero novae quid habent argumenti, nisi ut emas mea pecunia fundum, eum tu habeas, ego non habeam pecuniam? Vgl. die klassische Studie Frederiksen 1966. 66 Cic. off. 2,84: Numquam vehementius actum est quam me consule ne solveretur. Armis et castris temptata res est ab omni genere hominum et ordine; quibus ita restiti, ut hoc totum malum de re publica tolleretur. Numquam nec maius aes alienum fuit nec melius nec facilius dissolutum est; fraudandi enim spe sublata solvendi necessitas consecuta est. Vgl. Brunt 1988, 62. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Die Ereignisse des Jahres 63 v.Chr. werden hier wesentlich als Schuldenkrise gesehen, wobei Cicero seine Aufgabe darin sah, jeden Schuldenerlass zu vermeiden und die Zahlung der Schulden zu sichern. Der Konflikt war soweit eskaliert, dass Cicero von arma und castra sprechen kann, und das Problem der Verschuldung betraf Menschen aller Art und aller Stände. Cicero sieht in dieser Tatsache aber kein Argument für eine Kompromisslösung, sondern hält es für notwendig, dass die Interessen der Gläubiger in vollem Umfang gewahrt blieben. Die Forderung eines Schuldenerlasses ging im Jahr 63 v.Chr., so Cicero, auf Caesar zurück, den er an dieser Stelle zwar nicht namentlich nennt, aber ohne Zweifel gemeint hat, wie der nächste Satz klar macht, in dem Cicero die Maßnahmen Caesars im Herbst 49 v.Chr. schroff ablehnt. Um die Sicht Ciceros bewerten zu können, ist es notwendig, zunächst den Sachverhalt darzustellen, auf den Caesar selbst in seiner Schrift über den Bürgerkrieg eingeht: In der Situation nach Beginn des Bürgerkrieges, in der weder Kredite vergeben noch Darlehen zurückgezahlt wurden, der Geldmarkt in Rom also vor dem Zusammenbruch stand, verfügte Caesar, dass Schuldner ihre Ländereien zur Schuldentilgung verwenden könnten, wobei von ihrem Wert vor Kriegsbeginn ausgegangen werden sollte. Eine zweite Maßnahme sah vor, dass bereits gezahlte Zinsen von der Schuldsumme abgezogen werden.67 Es ist bemerkenswert, dass Caesar in seiner eigenen Darstellung hervorhebt, es sei ihm darum gegangen, die Furcht vor einer Schuldentilgung zu beseitigen.68 Dieses Vorgehen muss als eher maßvoll bezeichnet werden. Cicero stellt einen Zusammenhang zwischen Caesars vermeintliches Eintreten für einen Schuldenerlass im Jahr 63 v.Chr. und seinen Maßnahmen im Herbst 48 v.Chr. her und behauptet, Caesar habe das, was er 63 v.Chr. beabsichtigt habe, im Bürgerkrieg dann verwirklicht, als es für ihn eigentlich nicht mehr wichtig war. Und dann kommt der entscheidende Vorwurf: Caesar besaß eine solche Begierde zu freveln (peccandi libido), dass es ihm Freude machte zu freveln, auch wenn es dafür keinen Grund mehr gab.69 Hier folgt Cicero einer Argumentationsstruktur, die er in früheren politischen Texten immer wieder verwendet hat, nämlich die politische Einstellung der Popularen auf ihren schlechten Charakter und ihr aggressives Temperament zurückzuführen.70 Ein klassisches Beispiel hierfür ist der Abschnitt über die Popularen in der Rede pro Sestio; Cicero nennt hier in einer Auflistung verschiedene Gruppen von Menschen, die zu einer popularen Politik neigen; es handelt sich neben denen, die wegen ihrer Verbrechen Furcht vor einer Verurteilung haben, und denjenigen, deren Vermögensverhältnisse schwierig sind, eben um jene Menschen, die eine angeborene Aggressivität (insitum quendam animi furorem) besitzen.71 Hier wird die Position Ciceros klar erkennbar: Die populare Politik ebenso wie die Maßnahmen Caesar und 67 Caes. civ. 3,1,2–3; Suet. Iul. 42,2; Plut. Caesar 37; App. civ. 2,48; Cass. Dio 41,37; Meyer 1963, 366; Gelzer 61960, 203. 68 Caes. civ. 3,1,3: hoc et ad timorem novarum tabularum tollendum minuendumque, qui fere bella et civiles dissensiones sequi consuevit, et ad debitorum tuendam existimationem esse aptissimum existimavit. 69 Cic. off. 2,84: Tanta in eo peccandi libido fuit, ut hoc ipsum eum delectaret peccare, etiam si causa non esset. Vgl. dazu den Kommentar von Gelzer 1969, 363: „Ciceros Beschimpfung des toten Caesar ist wohl des Unedelste, was sein unermüdlicher Griffel hinterlassen hat.“ 70 Vgl. zu dieser Thematik Bernett 1995, 111–116. 71 Cic. Sest. 99: (...) qui aut propter metum poenae peccatorum suorum conscii novos motus conversionesque rei publicae quaerant, aut qui propter insitum quendam animi furorem discordiis civium ac seditione pascantur, aut qui propter implicationem rei familiaris communi incendio malint quam suo deflagrare. Dieser Formulierung entspricht auch die Beschreibung der Anhänger Catilinas Cic. Catil. 2,18–23. Vgl. Bernett 1995, 101–102; 111; 117–119. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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damit letztlich jegliche Verteilungspolitik resultieren auch aus dem schlechten Charakter ihrer Akteure. Damit wird einer solchen Politik jede sachliche Begründung abgesprochen. Nach der Bemerkung über Caesar fasst Cicero dann seine Argumentation noch einmal prägnant zusammen: Von dieser Art des Schenkens, dass den einen gegeben wird, den anderen genommen, werden die Abstand nehmen, die das Gemeinwesen schützen wollen, und vorzüglich werden sie sich Mühe geben, dass durch Gleichheit des Rechts und der Gerichte ein jeder das Seine behält und weder die Schwächeren wegen ihrer Niedrigkeit umgarnt werden, noch den Begüterten, das Ihre zu behalten oder wiederzubekommen, die Missgunst hinderlich ist.72

Wie der folgende Satz zeigt, sieht auch Cicero einen engen Zusammenhang zwischen einer Politik, die auf eine Umverteilung verzichtet, und der militärischen Expansion; nach Cicero gehört es nämlich zu den Aufgaben der Politiker, die das Gemeinwesen schützen wollen, dieses in Krieg und Frieden hinsichtlich seines Herrschaftsbereichs, seiner Ländereien und Steuereinnahmen zu vergrößern.73 Eine solche Politik bewirkt den höchsten Nutzen des Gemeinwesens,74 und diejenigen, die das erreichen, erlangen damit auch großen Einfluss und Ruhm.75 Eine aggressive Außenpolitik dient somit der Befriedung der Gesellschaft; ein Wachstum, das notwendig ist, um eine Umverteilung auszuschließen, kann hier nur als eine Vergrößerung des Herrschafts­ bereiches, der Ländereien und eine Zunahme der Steuereinnahmen aus den beherrschten Ge­ bieten gedacht werden. Im Denken Ciceros spielt der Schutz des Eigentums eine eminent wichtige Rolle, und in dieser Hinsicht decken sich seine politischen Auffassungen durchaus mit den Ansätzen der neuzeitlichen politischen Philosophie. Bei John Locke ist die Erhaltung des Eigentums geradezu ein Leitmotiv, wobei der Begriff des Eigentums jedoch weit gefasst ist und das Leben, die Freiheiten und das Vermögen einschließt.76 Unter dieser Voraussetzung kann Locke folgende, für seine Abhandlung grundlegende These formulieren: Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb die Menschen sich zu einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist also die Erhaltung ihres Eigentums.77

Allerdings konstatiert Locke im Unterschied zu Cicero, dass jeder, der den Schutz einer Regierung genießt, „aus seinem Vermögen auch seinen angemessenen Anteil zu ihrem Unterhalt beitragen muss.“ Dies setzt bei Locke aber die Zustimmung derer voraus, die diese Steuern zu

72 Cic. off. 2,85: Ab hoc igitur genere largitionis, ut aliis detur, aliis auferatur, aberunt ii, qui rem publicam tuebuntur, inprimisque operam dabunt, ut iuris et iudiciorum aequitate suum quisque teneat et neque tenuiores propter humilitatem circumveniantur neque locupletibus ad sua vel tenenda vel recuperanda obsit invidia. Vgl. Brunt 1988, 62. 73 Cic. off. 2,85: praeterea, quibuscumque rebus vel belli vel domi poterunt, rem publicam augeant imperio, agris, vectigalibus. Unter vectigales sind hier die in den Provinzen erhobenen Steuern zu verstehen, die in Italien bis 167 v.Chr. erhobenen Steuern werden als tributum bezeichnet. 74 Cic. off. 2,85: cum summa utilitate rei publicae. 75 Cic. off. 2,85: (...) haec genera officiorum qui persecuntur cum summa utilitate rei publicae magnam ipsi adipiscentur et gratiam et gloriam. 76 Locke 1977 II. § 123. 77 Locke 1977 II. § 124. Vgl. die §§ 124; 131; 134.; 138; 139; 222. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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zahlen haben.78 Als Ziele politischen Handelns in einem auf Gesetzen beruhenden Staatswesen nennt Locke Frieden, Sicherheit und öffentliches Wohl des Volkes.79 Cicero hat eine klare Vorstellung von einer Politik, die den Zusammenhalt der Gesellschaft stärkt und dem Gemeinwesen nützt. Jeglicher Versuch, soziale Probleme durch eine Um­ver­teilung in Form von Agrargesetzen, Frumentargesetzen oder eines Schuldenerlasses zu be­wältigen, trägt nach Cicero hingegen zu einer Spaltung der Gesellschaft80 und zu einer De­stabili­sierung des politischen Systems bei, das den Schutz des Eigentums zu garantieren hat. Dabei gilt die Kritik nicht allein einer direkten Umverteilung, wie sie etwa die Agrargesetze der Gracchen vorsahen, sondern auch der Finanzierung mit öffentlichen Mitteln, wie dies etwa bei den Frumentargesetzen der Fall war. Es ist deutlich, dass in der Sicht Ciceros die auf Umverteilung zielende populare Politik von den Gracchen bis zu Caesar gravierende innere Konflikte hervorgerufen hat. Die Ausführungen in Ciceros de officiis sind ein wichtiges Zeugnis dafür, dass die politischen Konflikte der späten römischen Republik wesentlich auch als Verteilungskämpfe wahrgenommen worden sind und eine Verteilungspolitik von optimatischer Seite entschieden abgelehnt worden ist. Schon allein die Feststellung, die Vermögen seien ungleich verteilt und nur wenige Römer hätten ein wirkliches Vermögen, wird von Cicero missbilligt. Wie die Rechtfertigung der Ermordung der Gracchen zeigt, hielt Cicero sogar die Anwendung von Gewalt für legitim, um eine Gesetzgebung zu verhindern, die eine Umverteilung intendierte. Die Sicherung des Eigen­tums und die Bekämpfung jeglicher Maßnahmen, die entweder auf eine Umverteilung von Land­besitz oder Vermögen abzielten oder aber wie die Frumentargesetze mit öffentlichen Mitteln finanziert werden sollten, auf der einen Seite und die Formulierung einer politischen Position, die gerade in Zuwendungen an bestimmte soziale Gruppen eine Lösung der sozialen und politischen Probleme suchte, auf der anderen Seite standen nach Auffassung von Cicero im Zentrum jener Konflikte, die wesentlich zum Scheitern der römischen Republik beigetragen haben. Bibliographie Bernett 1995 = M. Bernett, Causarum Cognitio. Ciceros Analysen zur politischen Krise der späten römischen Republik, Stuttgart 1995 (Palingenesia 51). Bringmann 1971 = K. Bringmann, Untersuchungen zum späten Cicero, Göttingen 1971 (Hypomnemata 29). Brunt 1988 = P. A. Brunt, The Fall of the Roman Republic and Related Essays, Oxford 1988. Elvers 2002 = K.-L. Elvers, s.v. T. Cicero, M. [I 10], DNP 12/1 (2002), 902–903. Frederiksen 1966 = M. W. Frederiksen, Caesar, Cicero and the Problem of Debt, JRS 56 (1966,) 128–141. Fuhrmann 21990 = M. Fuhrmann, Cicero und die römische Republik, München ²1990. Gelzer 61960 = M. Gelzer, Caesar. Der Politiker und Staatsmann, Wiesbaden 61960. Gelzer 1969 = M. Gelzer, Cicero. Ein biographischer Versuch, Wiesbaden 1969. Inwood 2000 = B. Inwood, s.v. Panaitios von Rhodos, DNP 9 (2000), 226–228. Locke 1977 = J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, hg. von W. Euchner, Frankfurt a.M. 1977. Meyer 1963 = E. Meyer, Caesars Monarchie und das Principat des Pompeius, Stuttgart – Berlin 31922 [ND 1963].

78 Locke 1977 II. § 140. 79 Locke 1977 II. § 131. 80 Vgl. etwa die Formulierung: Nam cui res erepta est, est inimicus: Cic. off. 2,79. Dieser Gedanke findet sich auch im ersten Buch, Cic. off. 1,85: Qui autem parti civium consulunt, partem neglegunt, rem perniciosissimam in civitatem inducunt, seditionem atque discordiam; ex quo evenit, ut alii populares, alii studiosi optimi cuiusque videantur, pauci universorum. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Zur ‚privaten‘ Kleiderpflege in der naturalis historia Yvonne Wagner Neben Form und Farbe von Gewändern, dienten auch in der Antike der Erhaltungszustand und die Sauberkeit der Kleidung dazu, die soziale Stellung des Trägers nach außen zu verdeutlichen.1 Um eine möglichst lange Tragezeit der Gewebe zu ermöglichen, ohne einen damit einhergehenden Verschleiß2 zur Schau tragen zu müssen, bedurfte es deshalb einer möglichst regelmäßig durchgeführten Kleiderpflege, die drei zentrale Aspekte umfasste: 1. Reinigung von Verschmutzungen 2. Verhinderung von Parasitenbefall 3. Entfernung/Vorbeugung übler Gerüche Es liegt dabei auf der Hand, dass die Realisierbarkeit dieser Punkte schlichtweg eine Frage des Geldes darstellte und das Gros der reichsrömischen Bevölkerung in erster Linie an schutzbietender Kleidung und einer möglichst langen Lebensdauer derselben interessiert war – die Außen­wahr­nehmung tritt naturgemäß hinter diesem existentiellen Schutzbedürfnis zurück. Die naturalis historia eignet sich aus zweierlei Gründen in besonderem Maße dazu, die Kleider­hygiene als (nahezu) alltägliches und schichtenübergreifendes Anliegen näher zu betrachten. Einerseits will Plinius sie – folgt man der praefatio ‒ für „das niedrige Volk“, „die Masse der Bauern, der Handwerker, sowie für solche, die sich für höhere Studien keine Zeit nehmen“3 geschrieben haben. Andererseits ist es das selbsterklärte Ziel der Naturkunde, „nützliche Hilfe zu bringen“4. In der althistorischen Forschung wird gemeinhin davon ausgegangen, dass die Reinigung – und damit der wichtigste Aspekt der Kleiderhygiene – in den fullonicae erfolgte;5 die Auslagerung der Kleiderpflege war jedoch mit Kosten verbunden,6 sodass nicht zuletzt in Hinblick auf die in der praefatio genannte intendierte Leserschaft zu fragen ist, ob und wenn ja welche Alternativen Plinius hierzu nennt. Das Hauptaugenmerk des vorliegenden Beitrags liegt deshalb auf den Informationen zur Kleiderpflege außerhalb der Walkereien. Auf der Basis einer Bestandsaufnahme aller greifbaren Rohstoffe zur ‚privaten‘ Kleiderhygiene soll betrachtet werden, welche Rolle Plinius dieser beimisst. Es ist deshalb zu untersuchen, welche Rückschlüsse im Spiegel des Gesamtwerks zum Verhältnis von professioneller Kleiderwäsche in den fullonicae und entsprechenden Bemühungen 1 2 3 4 5

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Zu Kleidung als Merkmal von armen und reichen Charakteren in der antiken Literatur s. beispielsweise Drexhage – Reinard 2014, 8‒10 mit weiterführender Literatur und Quellenbeispielen. Der Verschleiß von Textilien spielt im Gesamtwerk eine deutlich untergeordnete Rolle – vgl. dazu die wenigen Hinweise in Plin. nat. hist. 8,191; 8,219; 13,20 u. 35,150. Plin. nat. hist. praef. 6. Plin. nat. hist. praef. 16. Vgl. u.a. Droß-Krüpe 2011, 44. Der fullonia ars kommt in der naturalis historia – gemessen an anderen Bereichen des Textilhandwerks – zwar eine bedeutsame Stellung zu, sie soll hier aber nicht im Fokus der Untersuchung stehen. Die Darstellung des Walkerhandwerks im Spiegel der Naturkunde ist Teil der in Arbeit befindlichen Dissertation der Verf. Zur Verzichtbarkeit dieser zusätzlichen Ausgaben s. u.a. Frass 2016, 149 mit Verweis auf Arist. Vesp. 1125‒1132. Hinweise auf die Kosten professioneller Reinigung finden sich im Edictum Diocletiani (7,54‒63); vgl. dazu auch die Kommentare Mommsen – Blümner ND 2010, 115‒116 u. 160‒161. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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im Privaten gezogen werden können und wie sich die einzige, für diesen Themenbereich relevante Preisangabe deuten lässt. Belege zur Pflege getragener Kleidungsstücke – eine Bestandsaufnahme Reinigungsmittel Zum Reinigen fertiger Gewebe nennt Plinius die Weinhefe. Ihre Verwendung kann zwar nicht zwangsläufig ausschließlich, aber doch zumindest teilweise für erworbene Textilien angenommen werden. Die Nutzung von faex vini wird für das Waschen von Körper und Kleidungsstücken zusammengefasst, wodurch naheliegt, dass es sich bei Letzteren um getragene und nicht um im Fertigungsprozess befindliche vestes handelt. cum expiravit quoque, lavandis corporibus et vestibus utilis, tunc usum acaciae habet. Auch dann, wenn sie [scil. Weinhefe] ihren Geruch verloren hat, ist sie noch gut zum Waschen des Körpers und der Kleidung; sie wird dann wie Akaziensaft verwendet.7

Über die in Aussicht gestellte Anwendung des Akaziensaftes als ‚Waschmittel‘ schweigt sich Plinius indes an der fraglichen Stelle der naturalis historia (24,109‒110) aus, sodass keine weiteren Aussagen zur konkreten Verwendung getroffen werden können. Etwas aussagekräftiger ist hingegen ein Beleg zur Nutzung von Wurzeln einer nicht mit Sicherheit bestimmbaren weiteren Pflanze (beta silvestris)8 , die ebenfalls zur Reinigung von Kleidern diente. Est et beta silvestris, quam limonium vocant, alii neuroidem (…) aqua autem betae radice decocta maculas vestium elui dicunt, item membranarum. Es gibt auch eine wilde Beete, welche „Wiesenbeete“ [leimónion], andere „Sehnenkraut“ [neuroeidés] nennen (…). Mit dem Wasser aber, mit dem die Wurzel der Beete abgekocht worden ist, soll man Flecken auf Kleidern, auch auf Pergament tilgen können.9

Obgleich das Gewächs nicht sicher zu identifizieren ist, bezeugt diese Stelle als einzige in der Naturkunde, wie ein pflanzlicher Rohstoff zur Reinigung genutzt werden konnte; in diesem konkreten Fall impliziert die Darstellung, dass die reinigenden Inhaltsstoffe der radix sich durch das Kochen gelöst haben, wodurch das Wasser dann (besser?) Verschmutzungen entfernt. Neben diesen beiden pflanzlichen Materialien, führt Plinius in nat. hist. 28,84 aus, dass mit Menstruationsblut verunreinigte vestes nur durch den Urin derselben Frau gereinigt werden könnten. Obgleich abgestandener Harn in der Tat, als Walk-10 und Reinigungsmittel Anwendung fand, scheint die Wirksamkeit bzw. tatsächliche Umsetzung dieser Einlassung eher zweifelhaft; insbesondere deshalb, weil in der Naturkunde insgesamt eine stark mythenbehaftete Sicht auf die Menstruation vermittelt und aus ebendieser kaum auf vermutbare

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Plin. nat. hist. 23,65. Vgl. André 1956, s.v. beta siluestris, 53 sowie den entsprechenden Kommentar der Tusculum-Edition. Plin. nat. hist. 20,72. Als Walkmittel wird menschlicher und tierischer Urin in Plin. nat. hist. 28,66; 28,91 u. 28,174 erwähnt. S.a. Flohr 2013, 103‒104 mit weiterführender Literatur. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Alltagsrealitäten geschlossen werden kann.11 Die reinigende Wirkung von Urin ist bezugnehmen auf die Kleiderpflege als Kern dieser Aussage zu verstehen;12 eine Verwendung von Urin zur Reinigung von Gewändern außerhalb der fullonicae wäre demnach im Spiegel der naturalis historia möglich, aber nicht zwangsläufig ableitbar. Schutz vor Ungeziefer In urbanen Räumen scheint eine ausgeprägtere „Körper- und Kleiderhygiene ein ungehindertes Ausbreiten dieser Parasiten [scil. Kleiderläuse]“ verhindert zu haben;13 Selbiges kann in gewissem Maße wohl auch für Kleidermotten angenommen werden. Nichtsdestotrotz führt uns die antike Literatur vor Augen, dass Parasitenbefall wohl keine Ausnahmeerscheinung darstellte.14 Zum Schutz vor Ungeziefer sind im Spiegel der naturalis historia dann auch vier Pflanzen nützlich. Gegen Läuse hilft laut Plinius die Schmerwurz und zwar sowohl gegen die ‚Läusesucht‘ als auch gegen dieses Ungeziefer auf/in der Kleidung: Phthiriasi Sulla dictator consumptus est; nascunturque in sanguine ipso hominis animalia exesura corpus; resistitur uvae taminiae suco aut veratri cum oleo perunctis corporibus; taminia quidem in aceto decocta etiam vestes eo taedio liberat. An der Läusesucht ging der Diktator Sulla zugrunde; es bilden sich im Blute des Menschen selbst Lebewesen, die den Körper aufzehren; sie wird bekämpft durch Einreiben des Körpers mit dem Saft der Traube der Schmerwurz oder der Nieswurz mit Öl; die Schmerwurz, in Essig abgekocht, befreit auch die Kleider von diesem Ungeziefer.15

Plinus offeriert dem Leser hier ein einfach anmutendes Mittel gegen eine Krankheit, an der u.a. Sulla offenbar qualvoll16 verstarb.17 Taminia wird in der Forschung übereinstimmend mit Schmerwurz (Tamus communis L.) identifiziert,18 einer Pflanze deren Beeren giftige Saponine enthalten. Aller Wahrscheinlichkeit nach musste die Kleidung in dem Sud selbst gewaschen 11 Einen generellen Einstieg zum Thema Menstruation in der Antike bietet King 1999, passim mit weiterführender Literatur. Zu den verschiedenen Ausführungen zur Monatsblutung in der Naturkunde s. Hewera 2012, 46–56. 12 Die reinigende Wirkung entsteht bei der Umwandlung des Harnstoffs in Ammoniak durch einen bakteriellen Zersetzungsprozess; als Reinigungsmittel hat abgestandener Urin gegenüber anderen Rohstoffen – beispielsweise Soda oder Pottasche – den gewichtigen Vorteil, dass die Gewebe weniger spröde werden. Zur Umwandlung von Harnstoff in alkalischen Ammoniak s. Struckmeier 2011, 87–88. 13 Graßl im Druck mit einer kurzen Zusammenschau über Mittel gegen Kleiderläuse in der griechischen und lateinischen Literatur. 14 Vgl. u.a. Drexhage – Reinard 2014, 10 mit Verweis auf Mart. 2,46; außerdem Graßl im Druck. 15 Plin. nat. hist. 26,138. 16 Vgl. Plin. nat. hist. 7,138: age, non exitus vitae eius omnium proscriptorum ab illo calamitate crudelior fuit erodente se ipso corpore et suplicia sibi gignente? – Nun gut: war das Ende seines Lebens nicht grausamer als das Unglück aller von ihm Verbanntenm da sein Körper sich selbst aufzehrte und sich selbst die Todesqual zur Strafe schuf? – Auch Alkman starb lt. Plinius an Phthiriasis (Plin. nat. hist. 11,114). Als weiteres Heil­ mittel für diese Krankheit – allerdings ohne Bezugnahme auf Kleidung – wird in nat. hist. 20,24 noch raphanus angeführt. 17 S. die jüngsten Überlegungen zu Sullas Tod bei Eckert 2016, 73–75. Eine althistorische und dermatologische Betrachtung der Phthiriasis findet sich außerdem bei Bahmer – Eckert 2015, passim. 18 Vgl. André 1956, s.v. tamnus, 310–311. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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werden, da Läuse in den Gewändern Nissen hinterlassen und diese schwerlich durch die Wirkstoffe von in Essig abgekochter Schmerwurz abgetötet werden können. Auch gegen Kleidermotten führt Plinius zwei Repellents an. Bei ersterem handelt es sich um absinthium. Er widmet dem Wermut acht Paragraphen, wobei der Fokus auf der adstringierenden Wirkung, also der Verwendung desselben als Heilmittel liegt. In Bezug auf den Schutz vor Motten informiert er lediglich kurz: In die Kleider gesteckt, hält er die Motten ab.19

Aufgrund des intensiven Geruchs dieser Pflanze werden die Schädlinge in der Tat von den vestes ferngehalten, wodurch die Zerstörung der Gewänder verhindert wird. Das zweite Repellent ist anesum.20 Auch bei Anis ist festzuhalten, dass der Schutz vor Motten lediglich beiläufig erwähnt wird. Das letzte fassbare Mittel zum Schutz gegen – hier nicht näher bestimmte – Insekten ist eine Pflanze namens helíchrysos (Helichrysum orientale L.).21 Plinius gibt an, dass durch ihren Geruch die Kleider geschützt (tueor) würden.22 Pflanzen als ‚Textilerfrischer‘ Desweiteren finden zwei Pflanzen in der naturalis historia Erwähnung, die ebenfalls wegen ihres Geruchs bei der Kleiderpflege zum Einsatz kommen. Anders als die zuvor genannten Rohstoffe fungieren sie jedoch nicht (ausschließlich) als Repellents, sondern (auch) im Sinne von ‚Textilerfrischern‘, da sie den Geruch der getragenen Kleidung verbessern sollen. Für malóbathron merkt Plinius beispielsweise an, dass die Blätter u.a. dazu dienen, der Kleidung einen Wohlgeruch zu verleihen.23 Um welche Pflanze es sich dabei konkret handelt, ist nicht sicher,24 doch die Beschreibung des Gewächses an anderer Stelle in der Naturkunde legt zumindest nahe, dass es sich um ein verhältnismäßig teures Importgut handelt.25 Dass nicht nur Blätter als ‚Textilerfrischer‘ dienten, bezeugen die folgenden Ausführungen über báccar/perpressa: Baccar in medicinae usu aliqui ex nostris perpressam vocant. [133] tunditur et in diapasmata. vestibus odoris gratia inserintur. Báccar nennen einige von unseren beim Gebrauch in der Heilkunde perpressa. [133] Man zerstößt sie auch zu Streupulver. Dank ihres Geruchs streut man sie auch in die Kleider.26

19 20 21 22 23

Plin. nat. hist. 27,52: vestibus insertum tineas arcet. Plin. nat. hist. 20,195. André 1956, s.v. hēliochrísos, 158. Plin. nat. hist. 21,169: vestes tuetur odere non ineleganti. – Mit ihrem erlesenen Geruch schützt sie die Kleider. Plin. nat. hist. 23,93: oris et halitus suavitatem commendat linguae subditum folium, sicut et vestium odorem interpositum. – Unter die Zunge gelegt, macht das Blatt Mund und Atem wohlriechend, wie es auch der Wäsche einen Geruch verleiht, wenn man es dazwischen legt. 24 Einen Überblick mit weiterführender Literatur bietet der entsprechende Kommentar der Tusculum-Edition. Folgt man den Übersetzungen im Index-Band zur naturalis historia, so wäre in fast jeder Belegstelle für malobathrum/malobathron eine andere Pflanze gemeint (Bayer – Brodersen 2004, 397). Das kann nicht überzeugen; der Verzicht auf eine Übersetzung scheint hier die zielführendste Variante zu sein. 25 Zu Herkunft und Preis vgl. Plin. nat. hist. 12,129 sowie unten. 26 Plin. nat. hist. 21,132–133. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Welche Gewächse mit báccar bzw. perpressa gemeint sein könnten, muss offenbleiben,27 da weder das Aussehen der Pflanze noch andere Charakteristika näher bestimmt werden. Über die Kleiderhygiene erfahren wir hier aber zumindest, dass dafür auch pulverisierte Pflanzen­ bestandteile genutzt wurden. Eine weitere Belegstelle informiert darüber, dass im italischen Raum saliunca und in Griechenland polium ebenfalls zwischen Gewänder gelegt werden.28 Bei saliunca handelt es sich um echten Speick (Valeriana celtica L.).29 Für polium konstatieren die Herausgeber der Tusculum-Edition eine Vermischung zweier Pflanzen, nämlich Poleigamander (Teucrium polium L.) und Meerlavendel (Limonium Mill.), wobei der hier relevante Hinweis auf die Verwendung zur Kleiderhygiene auf Polei schließen ließe.30 Es ist unklar, ob bei der Verwendung dieser beiden Pflanzen die Abwehr von Ungeziefer im Vordergrund stand. In der naturalis historia wird kein Schutz vor Motten erwähnt, wohingegen Theophrast, auf dessen Ausführungen sich Plinius hier stützen könnte, ebendiesen betont.31 ‚Private‘ Kleiderhygiene – Grundlage, Ergänzung oder Alternative zur professionellen Reinigung in den fullonicae? Im Rahmen der drei Nennungen zu Reinigungsmitteln, die in keinen unmittelbaren Zu­ sammen­hang zu den Walkereien gestellt werden können, kann einzig der Einsatz gebrauchter Wein­hefe als Alternative zur Wäsche schmutziger Kleidung innerhalb der fullonicae betrachtet werden. Das Waschen von Körper und vestes mit einem Produkt, welches aufgrund seines Ge­ ruchs­verlustes auch für medizinische Anlässe unbrauchbar geworden ist, könnte auf eine günstige Möglichkeit zur Reinigung im eigenen Haushalt hinweisen. Der Einsatz der beta silvestris hingegen legt eher eine punktuelle Säuberung von Geweben nahe und kann als solche nicht als Alternative zu einer professionellen Kleiderwäsche in den Walkereien betrachtet werden. Gleiches gilt für den Einsatz von Harn bei der Entfernung von Menstruationsblutflecken. Da Plinius die Tatsache, dass getragene Gewebe in Walkereien gereinigt werden, generell aus­spart, aber auch keine/kaum Alternativen nennt, kann davon ausgegangen werden, dass die Aus­lagerung der Textilreinigung in diese Werkstätten für ihn wohl weitestgehend als gegeben an­gesehen wird – diese Annahme impliziert, dass die primär intendierte Leserschaft über einen entsprechenden finanziellen Spielraum für eine professionelle Textilreinigung verfügte. Die Hinzu kommt, dass sich alle Reinigungsmittel auf nicht näher konkretisierte vestes beziehen und unklar bleibt, um welche Art des Stoffes (Wolle, Leinen, Seide, ...) es sich handelt. Wollgeweben wird im Spiegel des Gesamtwerkes ganz deutlich der Vorzug gegeben,32 es ist deshalb denkbar, 27 Vgl. die unterschiedlichen Vorschläge bei André 1956, s.v. baccar, 49 sowie im Tusculum-Kommentar zu nat. hist. 21,132 u. 30. 28 Plin. nat. hist. 21,44: vestibus interponi eam gratissimum, sicut apud Graecos polium herbam (…). – Man legt sie besonders gern zwischen die Kleider, wie bei den Griechen den Meerlavendel (…). 29 André 1956, s.v. saliunca, 279 u. s.v. nardum [1], 217. 30 S. den Tusculum-Kommentar zu Plin. nat. hist. 21,44. Die Identifikation von polium mit Poleigamander basiert auf Theophr. hist. plant. 1,10,4. 31 Hort merkt in seiner Edition der historia plantarum (1,10,4) allerdings an, dass es sich bei diesem Einschub um eine Glosse handeln könnte – ob Theophrast (und mit ihm Plinius) also vermitteln wollten, dass πόλιον ein Mittel gegen Motten ist, muss offenbleiben. 32 Vgl. Plin. nat. hist. 19,5. Weitere Vorzüge von Wolle fassen u.a. Becker et al. 2016, 102‒103 zusammen: „As compared with flax wool has a number of advantages: it offers better thermal insulation properties than linnen and is water-repellent. Woolen threads can be spun in various thicknesses and qualities, and © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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dass sich auch die Passagen zu den Reinigungsmitteln auf wollene Kleidungsstücke beziehen, wodurch wiederum der Besitz höherwertiger Textilien angenommen werden muss.33 Dem Schutz vor Ungeziefer in der Kleidung räumt Plinius einen etwas größeren Raum ein und nennt insgesamt vier Pflanzen, die dafür dienlich sein sollen. Dieser Bereich der Kleider­ hygiene ist im wesentlichen im eigenen Haushalt anzusiedeln und verspricht nur dann anhaltenden Erfolg, wenn sowohl der Körper als auch die Kleidung selbst (regelmäßig) gereinigt werden.34 Es muss deshalb davon ausgegangen werden, dass die Verwendung der genannten Rohstoffe zumindest die Abwesenheit von absoluter Armut voraussetzt.35 Noch offenkundiger wird die Notwendigkeit von Wohlstand bei den ‚Textilerfrischer‘. Dieser dritte Aspekt der Kleiderpflege ist nur dann zielführend, wenn der Träger saubere und möglichst ungezieferfreie Gewänder besitzt. Auch hier nennt Plinius vier Rohstoffe. Ähnlich wie der Einsatz der Repellents, ist die Verwendung von ‚Textilerfrischern‘ (wohl auch) in Privathaushalten36 anzusiedeln und dient mehr noch als die vorangegangenen Aspekte dazu, die durch Form und Farbe der Gewänder gegebene Distinktionsfunktion zu unterstreichen.

Abb. 1: Rohstoffnennungen nach Bereichen der Kleiderhygiene (eigene Darstellung)

33

34 35 36

woven or knitted textiles made of wool are usually softer and can be dyed in a greater variety and intensity of colours. The process of wool harvesting and preparation is less time consuming than flax production.“ Als Rohstoff für die Veredelung von Leinengeweben ist in der naturalis historia lediglich eine wilde Mohn­ art greifbar (Plin. nat. hist. 8,195; 19,21 u. 20,207). Die entsprechenden Belege deuten allerdings darauf hin, dass dieser Mohn innerhalb des Fertigungsprozesses Verwendung fand und nicht zur Reinigung verschmutzter Leinengewänder genutzt wurde. Vgl. Graßl im Druck. Zu den verschiedenen Formen von Armut s. u.a. Prell 1997, 54‒55 u. 58 sowie Harris 2011, 33 u. 50‒51. Anders Graßl 2017, 253, der das parfümieren von Kleidung bei den fullones und/oder in Färbereien ansiedelt. Seine entsprechende Deutung der teils beachtlichen Mengenangaben auf römischen Bleitäfelchen ist überzeugend; die Belege in der naturalis historia legen es jedoch nahe, dass Plinius hier Mittel anführt, die während der Aufbewahrung von Gewändern – also in Privathaushalten – Anwendung fanden. Diese Beobachtung schließt eine Verwendung von ‚Textilerfrischern‘ im Rahmen einer professionellen Kleiderreinigung selbstredend nicht aus. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Folgt man der eingangs dargestellten aufbauenden Abfolge der verschiedenen Bereiche der Kleiderhygiene, so ist bereits die bloße Anzahl der in der Naturkunde greifbaren Rohstoffe zu den einzelnen Aspekten ein deutlicher Hinweis auf das plinianische Verständnis von ‚privater‘ Kleiderhygiene: Insgesamt 73% (8 von 11) der Belege entfallen auf jene Aspekte der Kleiderhygiene, die die Grundreinigung ergänzen sollen und keinesfalls ersetzen können. Und lediglich eine Nennung kann als basales Reinigungsmittel und somit als Grundlage oder Alternative für eine professionelle Reinigung in den fullonicae gedeutet werden. Letztlich handelt es sich also um Informationen, die die Leserschaft darüber informieren, wie die Dis­ tinktions­funktion von Kleidung durch anhaltende Ungezieferfreiheit sowie Wohlgerüche zusätzlich erhöht werden kann. Zur Singularität der Preisangabe für malóbathron Bereits eingangs wurde festgestellt, dass die naturalis historia lediglich eine37 Preisangabe überliefert, die in einen Zusammenhang zur Kleiderhygiene gestellt werden kann. Es stellt sich deshalb die Frage, wie diese Information gedeutet werden sollte. Zuvorderst ist dabei festzuhalten, dass die generell sehr selektive und intentionale Überlieferung von konkreten Preisen für einzelne Produkte, wie sie für die antike Literatur bereits mehrfach konstatiert wurde,38 zweifelsohne und in besonderem Maße auch auf eine derart kleine Gruppe von Produkten zutrifft. Hinzu kommt, dass die Naturkunde ohnehin ‒ in Anbetracht ihres Umfanges ‒ verhältnismäßig wenig konkrete (Markt-)Preise enthält;39 diese Feststellung gilt insbesondere auch für das Textilhandwerk inkl. des Verkaufs entsprechender Güter und der Produktpflege.40 Es ist hier nicht der Raum, um auf die Preisangaben in der naturalis historia umfänglich einzugehen;41 grundlegend für die Deutung der hier zu besprechenden Information ist jedoch eine Passage im 33. Buch, in welcher Plinius ausführt, dass er trotz aller Orts- und Zeitgebundenheit der pretia ebendiese anführt, um die auctoritas der Güter aufzuzeigen.42 Man wird nicht fehl in der Annahme gehen, dass diese Einlassung für alle Preisangaben der Naturkunde gültig ist und auctoritas hier im weiteren Sinne zu verstehen ist. Mit Kaufpreisen versehenen Produkten und Rohstoffen kann demnach ein besonderer Stellenwert innerhalb der Fülle der in der Naturkunde enthaltenen käuflichen Gegenstände zugesprochen werden; eine Konkretisierung des jeweiligen

37 Graßl 2017, 253 nimmt an, dass die Preisangaben für die nardi in Plin. nat. hist. 12,43 u. 45 auch für saliunca Gültigkeit besitzen. Folgt man dieser Annahme, so wären wir hier mit einer zweiten Preisangabe ‒ wiederum für die ‚Textilerfrischer‘ ‒ konfrontiert. Da es sich bei nardum um einen Sammelbegriff für verschiedene Pflanzen handelt, wird hier davon abgesehen, die diesbezüglichen Preisangaben zu diskutieren. 38 S. u.a. Drexhage et al. 2002, 177. Zusammenfassend auch Szaivert – Wolters 2005, 7: „[D]ie Notierung von Preisen, Löhnen und Wertangaben durch antike Autoren [ist] in der Regel nicht deren wirtschaftlichen oder gar statistischen Interessen sondern außerökonomischer Überlieferungsabsicht zu verdanken (…).“ 39 Vgl. beispielsweise die Sammlung bei Detlefsen 1900 oder Bayer – Brodersen 2004, 1125‒1127. 40 Insgesamt sind lediglich neun konkrete Preisangaben für Roh- und Farbstoffe sowie Produkte im Kontext des Textilhandwerks greifbar. 41 Eine genauere Betrachtung dieses facettenreichen Themengebiets unter spezieller Berücksichtigung des Textilhandwerks erfolgt im Rahmen der Dissertation der Verf. 42 Plin. nat. hist. 33,164. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Stellenwertes kann indes lediglich für einzelne Produkt(gruppen) erfolgen.43 Wendet man sich dem Preis von malóbathron zu, so gibt Plinius hierzu folgende Informationen: pretio quidem prodigio simile est, a denariis singulis ad X CCC pervenire libras; folium autem ipsum in libras X LX. Im Hinblick auf den Preis besteht freilich geradezu eine Ungeheuerlichkeit, indem ein Pfund von 1 bis 300 Denaren kostet; das Blatt selbst aber verkauft man zu sechzig Denaren das Pfund.44

Es handelt sich dabei um Marktpreise, die – folgt man Plin. nat. hist. 33,164 – in Rom für ver­schiedene Teile oder Verarbeitungsstufen dieser Pflanze verlangt wurden. Da Plinius keine Ein­schränkungen in Bezug auf die Zeitstellung der Preise macht, kann davon ausgegangen werden, dass es sich um eine zeitgenössische Angabe handelt.45 Darüber hinaus gehende Aussagen zur Beschaffenheit und Herkunft der Ware sind aus der Naturkunde allerdings nicht ableitbar: Einerseits wird nicht deutlich, ob es sich bei dem bis zu 300 Denaren teuren malóbathron um pulverisierte oder getrocknete Pflanzenbestandteile, oder gar um das ausgepresste Öl, welches zur Herstellung von Salben genutzt wurde, handelt. Andererseits thematisiert Plinius die drei zuvor genannten Herkunftsgebiete Syrien, Ägypten und Indien bei den Wertangaben nicht mehr, sodass nicht ersichtlich ist, ob die große Preisspanne den möglicherweise unterschiedlichen Ursprüngen des Rohstoffs geschuldet ist. Es bleibt nun zu Fragen, ob sich im Spiegel der Belegstellen zu malóbathron ein Hinweis auf die Überlieferungsabsichten dieser Preisangaben ableiten lässt. Die Nennung ebendieser im 12. Buch, welches den fremden Bäumen gewidmet ist, ist hierfür der gewichtigste Hinweis. In Anbetracht der Tatsache, dass Plinius zahlreiche Preise für Stoffe zur Salbenherstellung überliefert,46 liegt der Verdacht nahe, dass sich auch diese Angabe – und mit ihr die entsprechende auctoritas – auf ebendieses Handwerk bezieht. Dass die Blätter dieser Pflanze (auch) zur Kleiderhygiene genutzt wurden, scheint für den Autor hier nicht von Belang zu sein. Dass malóbathron-Blätter gezielt zum Zwecke privater ‚Textilerfrischung‘ (in großem Maße) importiert wurden, wird hier jedenfalls nicht ersichtlich; insbesondere dann nicht, wenn man bedenkt, dass ebendieses Blattwerk zur Herstellung des Salbenöls verwendet wird.47 Zusammenfassung Wie eingangs bereits festgestellt wurde, wird der Besitz sauberer – und wohlriechender – Ge­ wänder in der antiken Literatur übereinstimmend als erstrebenswertes Ziel und Indikator für Wohlstand dargestellt; gepflegte Kleidung sollte demnach ein Anliegen, zumindest jedoch ein Ideal, für alle sein, für die Plinius die Naturkunde nach eigener Aussage geschrieben haben will. 43 Zentrale Kriterien für eine Beurteilung sind beispielsweise die Art des Preises, die Zeitstufe sowie greifbare Hinweise auf die Überlieferungsabsicht. 44 Plin. nat. hist. 12,129. 45 Konkrete Hinweise auf die zeitliche Gültigkeit von Preisen finden sich beispielsweise in Plin. nat. hist. 9,137 u. 19,20. 46 Dass das 12. Buch eine besondere Fülle von Preisangaben enthält, hat bereits Detlefsen 1900, 593 zu Recht konstatiert. 47 Plin. nat. hist. 12,129: Dat et malobathrum Syria, arborem folio convoluto, colore aridi folii, ex quo premitur oleum ad unguenta; ‒ Syrien liefert auch das malóbathron, einen Baum mit eingerollten, welk aussehenden Blättern, woraus man ein Salbenöl preßt. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Sowohl die geringe Anzahl48 der in der naturalis historia genannten Rohstoffe (Tab. 1), als auch die bestenfalls beiläufigen Erklärungen zur Anwendung derselben lassen den Rückschluss zu, dass die Angaben für das Gros der in der praefatio genannten Leserschaft kaum einen Mehrwert haben. Wie bereits für andere Lebens- und Wissensbereiche konstatiert wurde,49 gilt folglich auch auf dem Gebiet der Kleiderpflege, dass die primären Nutznießer die Gruppe der studiorum otiosi waren.50 Lateinisch

Deutsch

Belege

anesum

Anis

20,195

absinthium/apsinthion

Wermut

27,52

báccar/perpressa

21,132–133

beta silvestris

20,72

faex vini

Weinhefe

14,86; 14,131; 23,63‒65*; 35,42

helíchrysos

(Orient-)Strohblume

21,169

malóbathron

12,129; 13,14; 13,18; 14,108; 23,93

polium

Poleigamander

21,44

saliunca

echter Speick

21,43–44

taminia

Frucht der Schmerwurz

26,138

urina

Harn

28,84

Tab. 1: Materialien zur Reinigung und zum Schutz (fertiger) Textilien51

Dieser Anschein wird durch die Beobachtung untermauert, dass die Zeugnisse zur ‚privaten‘ Kleiderpflege in der Naturkunde nahezu ausschließlich als Ergänzung zu einer professionellen Textilreinigung zu deuten sind; günstige oder gar gänzlich kostenlose Alternativen, wie die Reinigung in Flüssen52 oder Wannen, werden gänzlich ausgeblendet. Überdies entbehren die relevanten Textstellen jeglicher Luxuskritik.53 Eine zusätzliche Pflege getragener Kleidung im privaten Umfeld – so gewinnt man den Eindruck – ist für Plinius und seinesgleichen eine Alltäglichkeit, über die frei von moralisierenden Einlassung geschrieben werden kann.

48 Exemplarisch für die Auslassungen ist beispielsweise radicula (Seifenkraut) zu nennen, welches als Reinigungs­ mittel für verschmutzte Kleidung erwartbar wäre, aber nicht explizit aufscheint. Zwar nennt Plinius diesen Rohstoff zur Reinigung von Wolle an drei Stellen (nat. hist. 19,48; 24,96*; 25,52), bringt ihn aber mit dem Färbeprozess von Wolle in Verbindung und eben nicht mit der Reinigung getragener Gewänder. 49 Vgl. dazu u.a. Föllinger 2003, 81 mit Rückbezug auf Nikitinski 1998, 346‒348. 50 Eine hilfreiche Konkretisierung dieses nicht klar abgegrenzten Adressatenkreises bietet Sallmann 2001, 216 in seiner Rezension zu Citroni Marchetti 1991. 51 Mit * gekennzeichnete Belegstellen zeigen an, dass ebendiese im Gesamtregister (Bayer – Brodersen 2004) nicht für dieses Lemma/diesen Sachverhalt angeführt oder ebenda falsch verzeichnet wurden. 52 Vgl. dazu bereits Hom. Od. 6,85‒94. 53 Der als prodigium bezeichnete Preis für malóbathron bezieht sich auf diesen Rohstoff zur Salbenherstellung. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Prell 1997 = M. Prell, Sozialökonomische Untersuchungen zur Armut im antiken Rom. Von den Gracchen bis Kaiser Diokletian, Stuttgart 1997 (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 77). Sallmann 2001 = K. Sallmann, Rez. zu: S. Citroni Marchetti, Plinio il Vecchio e la tradizione del moralismo romano, Pisa 1991 (Biblioteca di „Materiali e discussioni per l’analisi dei testi classici“ 9), Gnomon 73/3 (2001), 214–220. Struckmeier 2011 = S. Struckmeier, Die Textilfärberei vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit (14.–16. Jahr­hundert). Eine naturwissenschaftlich-technische Analyse deutschsprachiger Quellen, Münster 2011 (Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 35). Szaivert – Wolters 2005 = W. Szaivert – R. Wolters, Löhne, Preise, Werte. Quellen zur römischen Geld­ wirtschaft, Darmstadt 2005.

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Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte

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Ein unverwüstliches Werk? Über Vor- und Nachworte zu Neuauflagen und Übersetzungen von Droysens Alexander Reinold Bichler Vorwort Ob es angesichts von Werk und Persönlichkeit des Jubilars wohl schicklich ist, ihm ausgerechnet eine Studie über Droysens ‚Klassiker‘ zu widmen? Diese Frage lässt sich kaum abweisen, denn die Heldenverehrung ist Hans Drexhages Sache nicht. Indes, gerade sein kritisch reflektiertes Interesse an der Geschichte unseres Fachs und seiner Vertreter könnte als Rechtfertigung dienen. Dazu kommt das ihm eigene Vergnügen am wissenschaftlich-akribischen Puzzle-Spiel, am Bemühen, die Stücke eines ‚Fitzelwerks‘ an fragmentierten Dokumenten in einen größeren historischen Kontext zu integrieren. So beginne ich mit dem Versuch, das Thema der folgenden Betrachtung zu erläutern. In einer großen Studie über die weit verzweigte, auch kuriose Blüten treibende AlexanderRezeption stellte Pierre Briant erst kürzlich mit leichtem Erstaunen fest, welch großer Beliebtheit sich immer noch Droysens Alexander-Buch erfreut. Davon künden die zahlreichen Neuauflage­n und Übersetzungen. Letztere hielt er gerade noch für überschaubar, aber „(…) quant aux ré­ éditions et réimpressions en allemand, on ne les compte plus“.1 Nur wenige Jahre zuvor hatte Ulrich Wiemer mit Blick auf die im deutschen Buchhandel erhältlichen Neuausgaben darauf hingewiesen, dass zu diesen häufig prominente Fachvertreter Vor- oder Nachworte verfassen „und dem Buch dadurch die Aura eines Klassikers verleihen“. Dieses Phänomen ist umso bemerkenswerter, als damals, als Droysen seinen mit so viel Enthusiasmus geschriebenen Alexander das erste Mal in die Welt schickte, dieses Werk nicht gerade auf lebhafte und wohlwollende Resonanz gestoßen war. „Ein glänzender Karrierestart sieht anders aus“, hielt Wiemer angesichts der zwiespältigen, meist negativen Reaktionen auf dieses Werk fest.2 In der Tat hatte der mit ungeheurer Arbeitskraft und Begeisterung in Berlin schaffende Forscher noch einen harten beruflichen Weg vor sich. Doch nachdem fast ein halbes Jahrhundert später „Alexander mit seiner Suite neu eingekleidet“ wurde, wie es Droysens Freund Alfred Dove elegant formulierte,3 eröffnete sich dem einst wenig erfolgreichen Werk über den großen Makedonen eine glänzende Zukunft.

1 2

3

Briant 2016, 379. Wiemer 2012, 95–157, bes. 95–96. – Vgl. zur reservierten Aufnahme von Droysens Alexander-Buch auch Nippel 2008, 29–34. Zur Vielfalt der damals verbreiteten Alexander-Bilder vgl. Comploi 1995; zur Ent­ wicklung der diversen Alexander-Bilder in der Zeit zwischen den beiden Auflagen von Droysens Werk vgl. Passegger 2005. Die umfassendste Behandlung der Alexander-Rezeption bis zu Droysens Zeit bietet Briant 2012. Alfred Dove, Schreiben vom 5. Juli 1878; Droysen 1929, Bd. II, Nr. 1264, 927. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Reinold Bichler

Späte Anerkennung und rascher postumer Ruhm für Droysens Alexander Bei Perthes in Gotha war in den Jahren 1877/78 Droysens Geschichte des Hellenismus in nunmehr drei Bänden in einer überarbeiteten Fassung erschienen. Der Neuauflage der beiden Hellenismus-Bände von 1836 und 1843 war die ebenfalls überarbeitete Geschichte Alexanders des Großen als Band I vorangestellt. Der rasche Erfolg, der diesem Alexander zu Teil wurde, zeigte sich allein schon darin, dass er auch unabhängig von den beiden Folgebänden in Umlauf kam und wiederholte Auflagen, darunter auch solche für den Unterrichtsgebrauch erfuhr.4 Doch auch das nunmehr fest mit Droysens Namen verbundene gesamte Hellenismus-Werk erfreute sich einer wachsenden Beachtung, nicht nur in Deutschland.5 Es zählte zu jenen Leistungen der Deutschen Altertumswissenschaft, die gerade auch in Frankreich nach der bitteren Erfahrung des letzten Kriegs auf erhöhte Aufmerksamkeit stießen. Diese Altertumswissenschaft wurde als prominente Disziplin einer modernen, leistungsstarken Universitätskultur mit Bewunderung wahrgenommen und ihre führenden Repräsentanten wurden vielfach als ‚chers ennemis‘ von Seiten ihrer französischen Kollegen respektiert.6 Vor diesem Hintergrund ist auch die Übersetzung von Droysens gesamtem Hellenismus-Werk ins Französische, organisiert durch den damals in Montpellier tätigen jungen Professor Auguste Bouché-Leclercq, zu bewerten. Der Autor, der 1887 nach Paris berufen wurde, sollte dann auch selbst mit bedeutenden Arbeiten zur hellenistischen Welt hervortreten.7 Der mit einem umfassenden Vorwort des Übersetzers eingeleitete erste Band von Droysens Werk erschien noch zu dessen Lebzeiten. Dieses Vorwort soll nun den ersten der hier zu besprechenden Texte bilden.8 * Auguste Bouché-Leclercq stellte zunächst Droysens Sicht auf die Griechische Geschichte derjenigen von Ernst Curtius gegenüber. Werden aus dessen klassizistischer Sicht der Niedergang der Stadtstaaten und der Verlust ihrer Freiheit in einer rückschauenden Sicht beklagt, so weist Droysens Blick in die Zukunft und beleuchtet Hellas‘ kulturelle Mission in Asien, der Alexanders den Weg bereitet hat. Selon que l’on tourne vers le passé ou l’avenir, on assiste à la décadence d’une civilisation ou à l’expansion victorieuse du génie hellénique. L’Histoire grecque s’arrête au moment de prendre le deuil; l’Histoire de l’Hellénisme transporte brusquement des sympathies du côté où se fait l’avenir (iv).

Bouché-Leclercq sah es nun als seine Aufgabe an, die Gedankenwelt Droysens dem französischen Publikum verständlich zu machen. Schon in Droysens Übersetzung des Aischylos von 1832 erkannte der französische Gelehrte die tiefe Affinität zwischen dem Autor und seinem Sujet und charakterisierte zugleich die Wesensmerkmale von dessen Persönlichkeit. 4 5 6 7 8

Nachweise: Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV) 1700–1910, Bd. 30 (1981), 277; Blanke 2008, Nr. 297, 320, 325. Freilich fehlte es dabei auch nicht an Kritik und wurde Droysens schillernder Hellenismus-Begriff auf recht unterschiedliche Weise adaptiert; vgl. dazu Bichler 2012 und Rebenich 2012 mit weiteren Verweisen. Die Verwendung dieses Begriffs bezieht sich auf das einschlägige Werk von Ungern-Sternberg 2017. Vgl. v. a. die großen Werke zur Geschichte der Ptolemaier und Seleukiden: Bouché-Leclercq 1903/1907; Bouché-Leclercq 1913/1914. Bouché-Leclercq 1883. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Fils d’un pasteur poméranien, c’est-à-dire d’une race qu’un ancien eût appelé durum genus et marqué dès l’enfance par le génie austère des traditions bibliques, M. Droysen s’est occupé tout d’abord du poète le plus mystique et le plus fataliste qu’ait produit l’antiquité (x).

Von daher betrachtet nimmt sich auch die 1833 folgende Geschichte Alexanders als eine Art ‚tragédie historique‘ aus, in der große Persönlichkeiten Ideen verkörpern, sich Katastrophen vollziehen und zugleich ein höherer Wille wirkt, „qui achemine vers un but marqué à l’avance le cours des événements“ (x). In seiner nun folgenden intensiven Auseinandersetzung mit den Einflüssen von Hegels Philosophie nicht nur auf Droysen, sondern auf die intellektuellen Strömungen jenseits des Rheins überhaupt, konnte der Autor ein tiefer sitzendes Unbehagen nicht ganz unterdrücken. L’histoire, qui suggère en effet d’elle-même l’idée d’un plan providentiel imposé à des acteurs inconscients, est restée la forteresse de l’hégélianisme: il est entré de cette façon dans les idées courantes de l’autre côté du Rhin (xv).

Das manifestiere sich auch in Droysens Überzeugung vom Fortschritt in der Geschichte. C’est donc, si l’on veut, L’Allemagne, autant que Hegel et que M. Droysen, qui, lasse de la vie bourgeoise des petits États (Kleinstaaterei), s’est prise d’enthousiasme pour les hommes énergiques et les grands ambitions, pour les épopées soldatesques et les triomphes de la force (xvi).

Da nun Droysen dazu neige, in seinem Helden die Inkarnation einer ‚Raison supérieure‘ zu sehen, habe das für die Beurteilung seiner Taten schwerwiegende Folgen gehabt. Es galt zu verhindern, dass diesbezüglich Schatten auf Alexanders Bild fallen: M. Droysen se donne une peine infinie pour supprimer ces ombres (xviii)

Mit gewisser Distanz, aber sehr bemüht, sich kritischer Worte zu enthalten, befasste sich Bouché-Leclercq auch mit der tief-religiösen Fundierung von Droysens teleologischer Sicht auf die Geschichte. Sie lasse bisweilen vielmehr an Bossuet als an Hegel denken (xxiii).9 Bemerkenswert ist jedenfalls die Sorgfalt, mit der sich der französische Gelehrte nicht nur mit dem Hellenismus-Werk in seiner Gesamtheit, sondern auch mit der Historik Droysens ausein­ an­dersetzte (vgl. dazu xxv–xxxi). Zuletzt würdigte der Autor, der selbst eine auf Eleganz und Präzision bedachte Sprache pflegte, Droysens literarischen Qualitäten, wohlbemerkt auf das Hellenismus-Werk in der Neubearbeitung bezogen. Dabei nahm er den eingangs gezogenen Vergleich mit Curtius wieder auf. Mit dessen elegantem Stil könne Droysen zwar nicht mithalten, aber ihm ging es um anderes: M. Droysen ne tient pas à captiver le lecteur; il luit suffit de l’instruire

Aber wenn Droysen auch nicht den Grazien huldige, habe sein Stil in seiner Eindringlichkeit doch eine eigene Qualität (xxxii). Vor allem habe es Droysen vermocht, durch die verschiedenen Quellen hindurch in die treibenden Gedanken und Kräfte der Akteure im historischen Drama zu blicken (xxxiii), und zwar dort, wo es sich wie bei den Protagonisten in den langen Kämpfen nach Alexanders Tod um Menschen von Fleisch und Blut handelt. Ces hommes-là, on les voit marcher à leur but d’un mouvement moins rectiligne et moins dominé par la poussée des causes finales: ce sont des acteurs de taille ordinaire, et – M. Droysen me permett9

Vgl. auch Briant 2016, 377. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Reinold Bichler ra de le constater – le lecteur s’intéresse plus à leur personne qu’à une Idée faite homme comme son Alexandre (xxxiv).

Droysens Alexander im Kriegseinsatz Im Rückblick auf diese noble, wenn auch nicht kritiklose Würdigung von Seiten des historischen ‚Erzfeinds‘ nimmt sich der Kontrast zum nächsten hier vorgestellten Text mit seiner nur notdürftig kaschierten, ins Grundsätzliche zielenden Kritik an Droysens Alexander-Bild aus deutscher Feder umso schärfer aus. An Popularität hatte der überarbeitete Alexander nach dem Tod seines Autors offensichtlich gewonnen. Die oben schon kurz angesprochenen weiteren Auflagen von 1892 und 1898 zeugen davon.10 So schien es durchaus schlüssig, dass Droysens Held im Jahr 1917 in den Dienst der militärisch-politischen Propaganda gestellt wurde, versehen mit einem Vorwort von Sven Hedin und einer Einleitung von Arthur Rosenberg. Der renommierte schwedische Asienforscher und Entdeckungsreisende, ein bekannter Bewunderer des Deutschen Reichs, steuerte denn auch seine Begleitzeilen zur patriotischen Ermutigung, datiert mit dem 28. März 1917, bei.11 Sein Lob über Droysens Buch klingt zwar etwas aufgesetzt,12 dafür nutzte er die Gelegenheit, seine eigene Expeditionstätigkeit in Asien in Beziehung zu den Forschungen über Alexanders Feldzug zu setzen (ix–xi). Dieser gehörte jedenfalls „zu den glänzendsten Taten der Kriegsgeschichte“ (viii). Und so zeigte sich Hedin denn auch vom erhofften Zweck dieser Neuauflage von Droysens Buch überzeugt: In Hindenburgs Vaterland, in diesem Deutschland, das mit unsterblichem Ruhm seinen Kampf fast gegen die übrige Welt auskämpft, wird Makedoniens König, Asiens Eroberer zahlreichere Freunde und Bewunderer finden, als jemals zuvor (xii).

Doch wieweit konnte eine uneingeschränkte Bewunderung von Alexanders Eroberungspolitik dem Zeitgeist noch entsprechen? Der althistorische Privatdozent Arthur Rosenberg, ein Schüler Eduard Meyers, war damals zum Dienst im Deutschen Kriegspresseamt in Berlin verpflichtet (und noch nicht, wie dann nach 1918, ein politisch engagierter Marxist).13 Die Tätigkeit bot ihm Gelegenheit auch zu kleineren Publikationen im Bereich seines Fachs, doch seine hauptamtliche Tätigkeit war der Pressepolitik des Militärs gewidmet. Dementsprechend bildet die Würdigung der militärischen Leistungen von Alexanders Heer einen wichtigen Aspekt in der Einleitung zu Droysens Werk.14 Aber die zentrale Frage zielte in eine andere Richtung. Nach einem unverbindlichen Lob für Droysens Alexander als einem klassischen Werk der „deutschen historischen Prosa“ warf Rosenberg die Frage auf, ob die Darstellung einer heroischen Persönlichkeit, in der sich die weltbewegenden Ideen der Zeit verkörpern und von dieser vorangetrieben werden, dem ‚heutigen‘ Geschichtsverständnis noch gerecht werde, und beantwortete

10 Vgl. oben Anm. 4; Wiemer 2012, 96 mit Anm. 5, erwähnt auch, ohne nähere Angaben, eine bei Blanke nicht verzeichnete Übersetzung ins Neugriechische (Athen 1899). 11 Hedin 1917. 12 „Droysens Arbeit über Alexander gehört zu den Büchern, die ich stetes nahe zur Hand habe und zu denen ich immer gerne zurückkehre“; Hedin 1917, xi. Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen bei Keßler 2003, 37. 13 Vgl. dazu Keßler 2003, bes. 32–42 zu Rosenbergs Tätigkeit während des Ersten Weltkriegs. Eine knappe Übersicht zu seinem althistorischen Werk bietet Ehling 2012. 14 Rosenberg 1917. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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sie mit einem eingeschränkten Ja. Eine solche Konstellation komme tatsächlich immer wieder vor, es genüge „an den Gedanken der deutschen Einheit und an Bismarck zu erinnern“. Doch Bismarck bedurfte des Monarchen, „der ihn und seine Ideen verstand und es ihm möglich machte, sein Werk zu schaffen“ (xiii). Damit ist der Maßstab gegeben, vor dem Alexanders Wirken beurteilt wird. Es ist die Frage der nationalen Einheit. Vor diesem Hintergrund ist der kühne Vergleich von Wilhelm I. mit Alexander zu verstehen: Da ist „der schlichte, durch und durch solide, seinen Mitarbeitern unbedingt treue norddeutsche Fürst“ und dort „der hochbegabte, aber theatralische Südländer, auf dessen Andenken es lastet, daß er seinen Moltke heimtückisch umbringen ließ“. Fest stehe allerdings, „daß die hellenische Welteroberung zugleich eine Tat des Königs Alexander gewesen ist, daß sich die Entwicklung der Nation und das Leben des einen Mannes nicht trennen läßt“ (xiv). Wie ist nun dieses Leben zu beurteilen? Er habe, schloss Rosenberg, nur „eine kleine Ergänzung zu Droysens trefflichem Werke“ geben wollen (xxvii). De facto entfernte sich Rosenberg weit von Droysen. Er ließ die Frage offen, ob man Alexander „für einen Genius ersten Ranges“ halten dürfe und brachte dabei Julius Beloch als ‚Antipoden‘ Droysens in Spiel (xiv). Das wirkte sich vor allem im Urteil über Alex­anders Qualitäten als Feldherr aus. Bezogen auf die Bedeutung von Droysens Werk „auch für den Leser von 1917“ sprach Rosenberg das enorme kriegsgeschichtliche Interesse an, das Alex­anders Feldzüge erwecken (xviii). Bei der Würdigung der bewundernswerten militärischen Leistungen von Alexanders Armee verzichtete er auf kräftigere chauvinistische Töne,15 konnte sich aber des aktualisierenden Vergleichs nicht enthalten. Alle diese erstaunlichen Leistungen [der makedonischen Armee] sind nicht denkbar ohne eine vorbedachte, mit fein verzweigtem Apparat arbeitende Heeresleitung (…) hier arbeitet ein General­stab, so gut wie in den Operationen des deutschen Heers 1870/71 oder 1914/17.

Droysen führte den König als den „geistigen Leiter des Krieges ein, während tatsächlich Alex­ ander in den meisten Fällen nach dem Rat seiner Adjutanten gehandelt haben wird“ (ix–xx). Entscheidender aber als die Frage, wem das hauptsächliche Verdienst an diesen Leistungen im Eroberungskrieg zukomme, galt die nach ihrem Nutzen für die Nation. Soweit Alexander an seines Vaters Philipp Eroberungspolitik anschloss, ließ Rosenberg keinen Zweifel: (…) sachlich bleibt die Auffassung Droysens unanfechtbar, daß nur der Sieg des makedonischen Königtums die griechische Nation von dem Fluch der Kleinstaaterei erlösen und die in ihr schlummernden Kräfte erwecken konnte (xvii).

Aber haben dann auch Alexanders gewaltige Eroberungen „den wahren Interessen des griechisch-makedonischen Volkes“ entsprochen? Das griechische Volk gewann nämlich „mit einem Schlage ein Riesenreich, dessen Hellenisierung so gut wie unmöglich war“. Damit habe Alexander – anders als sein Vater – für Rosenberg „der größte Staatsmann, den das griechische Volk hervorgebracht hat“ – „seinem Volk den Weg zur wirklichen nationalen Größe dauernd verbaut“ (xxv–xxvi).

15 Vgl. dagegen etwa Otto 1916 als Beispiel eines thematisch verwandten Kriegsvortrags mit aggressiver chauvinistischer Diktion. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Reinold Bichler

Die Renaissance von Droysens ‚Jungendwerk‘ am Vorabend des Zweiten Weltkriegs – nicht nur in Deutschland Nach dem Schock des verlorenen Kriegs und dem Wiedererstarken nationalistischer Hoffnungen in Deutschland sollte auch Droysens Alexander eine Renaissance erleben. Zunächst erschien i.J. 1925 bei Perthes der Alexander-Band aus Droysens Neubearbeitung der Geschichte des Hellenismus in nunmehr sechster Auflage. Bemerkenswerter Weise wurde dabei Droysens Vorwort zur „neue(n) Ausgabe der Geschichte Alexanders und der des Hellenismus“ vom 1. Mai 1877 nicht mehr abgedruckt. In diesem hatte er selbst ein gewisses Unbehagen an der Art seiner Geschichtsdarstellung ausgedrückt: Frei­lich das Bedenkliche und in gewissem Sinne Trügerische, das die erzählende Form der D­arlegung so unzulänglich überlieferten Ereignisse hat, vermochte die neue Bearbeitung nicht zu beseitigen, wenn sie nicht diese Form selbst aufgeben wollte.16

Statt dessen stellte man dem Band die Widmungsworte Droysens an Gottlieb Friedlaender und die ersten Seiten „Aus der Einleitung der 1833 erschienenen Erstausgabe“ voran. Es sind bewegte, von einem Ton messianischer Hoffnung getragene Betrachtungen über das Geschick des Menschengeschlechts von der Zeit weg, als „der erste Tag der Geschichte die Völker aus Abend und Morgen zum ersten Mal (…) zu ewiger Feindschaft und dem ewigen Verlangen nach Erlösung (geschieden hat)“.17 Alexanders historische Mission erscheint darin wie in der Miniatur eines Heiligenbilds gemalt.18 * Mit dem Herannahen des 100jährigen Jubiläums von Droysens Alexander schien dann auch die Zeit für eine erneute Zuwendung zu diesem seinem Jugendwerk reif. Den entscheidenden Schritt dazu, ihm eine Renaissance zu bescheren, setzte Helmut Berve mit einer bereits 1931 bei Kröner herausgebrachten Neuauflage, gekürzt nun freilich um die Fußnoten. Weitere Auflagen dieser Ausgabe sollten bald folgen. Berve selbst verfasste dazu eine stilistisch kongeniale Einführung.19 Eins hielt Berve von vornherein fest: B. G. Niebuhr begründete zwar die ‚historische Kritik‘, Droysen aber die ‚historische Betrachtung‘. Er ist es gewesen, der die alte Geschichte zum ersten Male losgerissen hat von Philologie und Alter­ tumskunde mit ihrer antiquarischen Blickrichtung und klassizistischen Wertung (vii).

In seiner Skizze von Droysens Werdegang stellte Berve zunächst zwei zentrale Aspekte von Droysens Persönlichkeit heraus: „seine Herkunft aus einem protestantischen Pfarrhaus und sein eingewurzeltes Preußentum“ (vii), damit verbunden die „sittliche Verbindung von Zucht und Freiheit“ (ix). Sein politisches Zeitempfinden war stark ausgeprägt. Schon als er sich mit der Dichtung, besonders mit Aischylos beschäftigte, vermisste Droysen in Berves Augen „schmerzlich die nationale Kraft und Freiheit“ in der zeitgenössischen deutschen Dichtung (xiv). 16 Droysen 2I 1877, ix–x. 17 Droysen 1925, ix–xi. 18 Vgl. dazu Nippel 2008, 27–28: „Diese messianische Gestalt wird in der gut dreißigseitigen Einführung [die auf die oben zitierte Einleitung folgt] nie mit Namen genannt. Sie ist der Vorläufer des endgültigen Erlösers“. 19 Hier zitiert nach Berve 31943 (1931). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Sehr wichtig war es für Berve, die Bedeutung von Droysens Empfänglichkeit für Poesie und Musik für die Gestaltung des Alexander herauszustellen. Nun war es aber das Haus der jüdischen Familie Mendelssohn-Bartholdy, in dessen Atmosphäre der junge Privatlehrer ganz ent­scheidende Impulse für sein eigenes Schaffen empfing: (…) jene überwältigende Fülle von Formen, Bildern und Rhythmen quoll auf, die bis auf den heutigen Tag an Droysens Schriften entzückt (xii).

Berve sah dies, nicht ohne sein Unbehagen zu verbergen: Wie so mancher Deutsche des Zeitalters der Romantik nahm er [Droysen] am engen persönlichen Verkehr mit Juden keinen Anstoß (xi).

Doch glaubte Berve, Droysen in Schutz nehmen zu können, freilich nicht ohne mahnende Töne: Mit Befremden wird man heute das enge Verhältnis betrachten, das sich zwischen ihm und dem jüdischen Komponisten bildete, wenn auch, soweit wir erkennen, die kerndeutsche, schwerblütige Art des Pommern in ihrer gesunden und selbstsicheren Kraft nicht gefährdet wurde (xii).

Vor allem aber bemühte sich Berve, in eigenen, emphatisch gestalteten Sprachbildern das musikalische Erleben, das die Lektüre des Alexander schenken kann, zu vermitteln. So braust mit einem bald jubelnden, bald donnernden Wirbel von Tönen, herrlichem Orgelspiel gleich, das hohe Lied von Alexander, dem Begründer einer neuen Menschheitsepoche, dahin. In seinen Akkorden lebt die sinnliche Fülle des heroischen Geschehens, das schon den Zeitgenossen wie ein Märchen erschien, die universalsten Planungen der Geschichte läßt die Kompositionen im Wirken des Genius zusammenklingen. Wir hören das weltbewegende Tun. In geballten Wortbildern, strotzenden Satzperioden, im großen Anstieg der Erzählung türmt sich seine unbändige, überschäumende Kraft ihre gigantischen Werke auf (xxiv).

Die enorme Schaffenskraft, die Droysen in dieser Zeit neben der Lehrtätigkeit im Schuldienst entfaltete, spiegelt sich auch in der Auffassung seines großen Sujets: Droysens jugendstrotzende Lebenskraft (…) ging in die Gestalt seines Helden ein (xxii).

Als Historiker habe Droysen seine Aufgabe darin gesehen, „in den Erscheinungen die göttliche Teleologie der Geschichte aufzuspüren“ (xvi). Diese Aufgabe leitete ihn bereits beim Alexander: Was seine geschichtsteleologische Konstruktion in ihrem kühnen Bogen von Griechentum zu Christentum eingeschlossen hatte, die Vermählung von Morgenland und Abendland, das zeigte da dem empirisch forschenden Blick Alexanders Wirken als bewußte Tat (xx).

In dieser großartigen Konzeption, in der „Orient und Okzident zur Verbindung reif waren“ und nur des Mannes bedurften, „der die Idee seiner Zeit erkannte und sie im eigenen Wirken Tat werden ließ“, sei die „welthistorische Bedeutung Alexanders“ erstmals erfaßt worden (xxi). Berve verzichtete hier bemerkenswerter Weise darauf, die damals vieldiskutierte Frage von Alexanders ‚Rassenpolitik‘ anzusprechen, deren Klärung zugunsten seines Helden ihm

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e­in große­s Anliegen war.20 Wohl aber wies er auf die problematische Seite der – Droysens Geschichts­teleologie geschuldeten – Überzeugung hin, „daß die Geschichte ganz mit dem König [Alexander] sei“. Sie führte nämlich Droysen „zu einer blinden Rechtfertigung aller seiner Taten, die im Grunde kaum weniger moralisierend ist als die von ihm bekämpfte moralische Verurteilung seines Helden“ (xxi). Und darin erkannte Berve einen charakteristischen Mangel: (…) es fehlt die historische Kritik, nachdem einmal im großen Partei genommen wurde (xxii)

In der Würdigung des dem Hellenismus gewidmeten Folgewerks setzte sich Berve dann mit Droysens Geschichtsteleologie weiter auseinander, in der „Niedergang und Hinsinken“ unter einem „großen Aspekt“ positiv gesehen und „Menschen, Geschehnisse, Lebensformen und Sitten“ nun „vorurteilsloser und besonnener“ bewertet werden (xxvi). Da zeigt sich im Vergleich mit der oben zitierten Einschätzung von Bouché-Leclercq ein nicht geringes Maß an Übereinstimmung, aber das Fazit daraus trennt die beiden Betrachter. Sah Ersterer gerade in den menschlicheren Zügen, die nun die Protagonisten des Geschehens tragen, einen Gewinn auch für das Lesepublikum, betonte Berve das Manko. Mit dem Fehlen eines „Genius, in den die Kraft der Geschichte selbst einging“, ermangelte Droysen auch der Möglichkeit einer so einheitlichen Gestaltung wie im Alexander. „An Großartigkeit, Schwung, an Farbenpracht und glühender Beseelung“ könne das Folgewerk nicht mithalten (xxv). Erst mit dem York, der Biographie des preußischen Generals in den Freiheitskriegen, habe Droysen dann sein vielleicht „reifste(s) und ausgeglichenste(s)“ Werk geschaffen (xxx).21 Schließlich konnte Berve trotz aller Würdigung der Versachlichung, die der Alexander in der Neubearbeitung durch den „demütigere(n) Greis“ erfuhr, sein Bedauern über die Abschwächung des jugendfrischen, stürmischen Stils nicht verhehlen. Mit der größeren Zurückhaltung in den „kühnen welthistorischen, ja religiösen Verknüpfungen von Alexanders Wirken mit dem göttlichen Plan des Weltgeschehens“ wandelte sich auch die Form des einstigen Jugendwerks: Sie wurde „sachlicher, härter und kälter“ (xxxii). Dieses Jugendwerk aber, zu dem wir voll Bewunderung aufblicken dürfen, „leuchtet (uns) über ein Jahrhundert hinweg als ein wegweisender Stern“ (xxxiv). – Für seine Verbreitung wurde gesorgt. Der mit Berves Einleitung versehene Alexander erfuhr nicht nur bei Kröner mehrere Auflagen, sondern wurde auch als Frontbuchhandelsausgabe für die Wehrmacht in den Kriegseinsatz geschickt.22 * In den Jahren, die dem Kriegsausbruch vorangegangen waren, hatte der von Berve herausgebrachte Alexander des jungen Droysen sogar im Land des ‚Erzfeinds‘ einen Leser gefunden, der sich der Mühe einer Übersetzung unterzog. Jacques Benoist-Méchin, ein deklarierter Be­ wunderer (Nazi-)Deutschlands und Experte seiner Heeresgeschichte betrachtete Alexander als einen Mann der Tat, an dem sich eine ermattete Nation ein Beispiel nehmen sollte, um wieder Größe zu erlangen. Gleich zu Beginn seines mit November 1934 datierten Vorworts 20 Vgl. dazu Bichler 2001/2010, 87–91, bezogen bes. auf Berve 1927/21966 und Berve 1938/1966. Zu Berves Position in der NS-Zeit vgl. etwa Rebenich 2001 u. Losemann 2012 mit weiterer Literatur. 21 Vgl. dazu Nippel 2008, bes. 177–186. 22 Ich danke Kai Ruffing, der mir ein entsprechendes Exemplar zugänglich gemacht hat: Oslo 1943 (Stran­ berg & Co.). Frontbuchhandelsausgabe für die Wehrmacht, mit Imprimatur „Im Auftrage des OKW her­gestellt von der Wehrmacht-Propagandagruppe beim Wehrmachtsbefehlshaber Norwegen“. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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zum 1935 publizierten Werk suchte Benoist-Méchin sein Publikum in eine hochgestimmte Er­ wartungshaltung zu versetzen.23 Imaginez (…) le plus jeune conquérant que le monde ait connu, entraînant tous les peuples de la Grèce vers les sources du soleil, vers l’Orient fabuleux où n’avait pénétré avant lui que le cortège des Bacchantes (9)

Und dazu müsse man sich gleichermaßen einen jungen, für die Antike begeisterten Mann vorstellen, der uns mit seinem Alexandre ein Meisterwerk geschenkt hat, „un chef-d’oeuvre de compréhension, de lucidité et de ferveur“. Vor ihm würden sich jetzt, 100 Jahre nach dem Erscheinen, die größten Gelehrten der Gegenwart in Respekt verneigen (10). In der Würdigung von Droysens Lebenslauf verwies Benoist-Méchin mit Nachdruck auf jene drei „maîtres véritables“, welche seines Erachtens die Gedankenwelt, in der der junge Mann reifte, entscheidend geprägt und seinen Blick geweitet haben: Winckelmann, Herder und Napoleon. Der Letztere hatte soeben der Welt bewiesen, „que la race des grands conquérants n’était pas encore éteinte“ (12–13). Große Bedeutung maß Benoist-Méchin auch der Zeit zu, in der der junge Droysen im Hause Medelssohn verkehrte und durch die Freundschaft mit Felix mit der künstlerischen und intellektuellen Elite Berlins bekannt wurde. Ces années marquèrent dans sa vie un période de détente et bonheur.

Anders Helmut Berve, auf dessen Einführung sich der Autor wiederholt bezog (bes. 18-19), findet sich in seiner Schilderung der „camaradérie touchante“ zwischen dem Hauslehrer und seinem um zwei Jahre jüngeren, genialen Eleven kein antisemitischer Vorbehalt (14). Hegels Einfluss auf Droysens Geschichtsverständnis bemaß er als formativ und abschreckend zugleich. Der doktrinäre Schematismus der Hegelianischen Dialektik habe in Droysens Augen zu einer Entpersönlichung der Geschichte – „dépersonnalisation de l’histoire“ – geführt. Vor allem habe er eine entscheidende Antwort auf die kardinale Frage, die ihn damals schon umtrieb, vermisst: „l’avènement du christianisme“ (16). Mit Alexander fand er die historische Gestalt, in der sein Glaube und seine Vaterlandsliebe ebenso Eingang fanden wie seine Liebe zur griechischen Kultur. Alexander hatte, anders als Achill, keinen Homer gefunden. Dieses Manko galt es für Droysen wettzumachen (17). Als das zentrale Thema von dessen Alexandre benannte Benoist-Méchin die Konzeption einer Verschmelzung von Morgenland und Abendland als eines historischen fundamentalen Prozesses, zu dem die Zeit reif war: Droysen ne se lasse jamais de souligner que l’Orient et l’Occident étaient mûrs pour la fusion (19)

Bemerkenswert ist die kritische Beschreibung der politischen und kulturellen Veränderungen, die Deutschland zwischen 1833 und der Zeit der Neubearbeitung des Hellenismus-Werks mitmachte: L’ère wilhelminienne s’ouvrait sous les auspices du matérialisme triomphant. Une civilisation de Galerie des Machines s’abattit sur l’Allemagne. Partout surgissaient des chantiers, des usines, des fonderies. Aux banquiers berlinois dilettantes et artistes de 1830 avait succédé une génération de féodaux réalistes, rapaces et hautains (22–23)

Droysen selbst sei in seinen preußisch-patriotischen Hoffnungen desillusioniert wurden: 23 Benoist-Méchin 1935. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Reinold Bichler Était-ce bien là l’empire auquel Droysen avait rêvé?

Zwar kehrte er zum Werk seiner Jugendzeit zurück, doch hatten ihn die Musen verlassen. Die Gelehrsamkeit, mit der er dieses Werk überarbeitete, konnte den Verlust an Schwung und Jugendfrische nicht mehr wettmachen (23). Zuletzt erklärte Benoist-Méchin, wie wichtig es sei, sich diesem Werk über Alexander heute (Nov. 1934) zuzuwenden: Wir könnten es als ein Beispiel dafür lesen, „de ce que peut accomplir une personnalité de génie, à une époque où l’histoire semble perdre souffle et attendre d’un individu qu’il lui fournisse une impulsion nouvelle“. In der Betrachtung der Geschichte Alexanders erkennen wir „‚un culte de la personne‘ dont nous avons, dans l’heure actuelle, le plus pressant besoin“. Nur Individuen können die Geschichte gestalten. Die Völker und Nationen, die mit Kraft und Entschlossenheit nach Größe streben, werden den ersehnten Führer finden: „le chef quelles espèrent“ (24). Lange Jahre später, nach seiner Verurteilung als Kollaborateur in der Vichy-Zeit und seiner Begnadigung sollte der Autor dann seine eigene romanhafte Geschichte Alexanders schreiben.24 Sie ist im Übrigen nach wie vor am Markt präsent, ebenso wie die Übersetzung von Droysens Werk, das doch recht zeitgeistige Vorwort eingeschlossen. Nach wie vor verbreitet ist auch eine erstmals 1940 in Mailand herausgebrachte italienische Übersetzung von Droysens Alexander in der Fassung von 1833 durch Luigi Alessio, der leider keine Einführung vorangestellt ist. Immerhin preist der Werbetext auf der Rückseite einer aktuellen Taschenbuchausgabe den zu erwartenden Lektüregenuss mit Superlativen an: Appasionante come un meraviglioso romanzo d’aventure, questa biografia è un lungo viaggio al seguito del re più leggendario, del conquistadore invincibile, el condottiere che aveva un ochio azzurro come il cielo e uno nero come la morte.25

Die Nachkriegszeit. Wachsendes Interesse für Droysens Alexander im Kontext des Hellenismus-Werks. Teil I: Neue Übersetzungen Schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollte Droysens Alexander, nunmehr wieder in der überarbeiteten Fassung, weiteren Kreisen eines interessierten Publikums zugänglich gemacht werden. Dazu zählt eine von Sitki Baykal geschaffene Übersetzung ins Türkische, publiziert in mehreren Teilen in den Jahren 1945, 1946 und 1949.26 Erstmals wurde i. J. 1946 Droysens Werk auch ins Niederländische übersetzt, und zwar auf Grundlage der Ausgabe von 24 Benoist-Méchin 1964/2009. Das von der Fachwelt ignorierte, aber populäre Werk erfreute sich sichtlich weiter Verbreitung. 1966 und 1967 erschienen Übersetzungen ins Englische und ins Deutsche. Die einem Roman gleichende, an Pathos und Imagination nicht eben arme Darstellung präsentiert Alexander als ersten in einer Reihe von Persönlichkeiten der Weltgeschichte, die einen grandiosen Traum zu verwirklichen suchten: die Verschmelzung von Orient und Okzident. Es ist ein Traum, den nach Ansicht des Autors die Geschichte selbst [l’histoire’ elle-même] über zwei Jahrtausende hinweg immer wieder geträumt haben soll; Zitat preface 11. Sein Wunsch, eine Universalmonarchie zu errichten, die Ost und West umschließt, sei Alexander erstmals klar geworden, als er die sterblichen Überreste seines königlichen Gegners Dareios erblickte. Fortan jagte er diesem Traum nach, der auch sein Vermächtnis wurde. Vgl. dazu Briant 2016, 297–312. 25 Droysen 1940/1998. 26 Nachweise zu diesem Büyük Iskender bei Blanke 2008, Nr. 363, 365 u. 366. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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1917.27 In seiner kurzen Einleitung bezog sich der Übersetzer, M. Vierhout, auch eingehender auf das seinerzeitige Vorwort durch den renommierten schwedischen Entdeckungsreisenden Sven Hedin, für den ja Alexander nicht nur ein bewunderter Eroberer, sondern ebenfalls ein Entdeckungsreisender war. Den Anlass für Hedins Ausführungen, die Grußadresse an Hindenburgs Vaterland, überging er taktvoller Weise (ii–iii). Auf die sprachliche Gestaltung des Alexander bezogen hielt der Übersetzer fest, dass Droysen sein Jugendwerk von ‚spekulativen Herzensergüssen‘ gereinigt und das ‚Unkraut des Übermaßes‘ jugendlichen Eifers [het onkruid van een overmaat van jeugdigen ijver] ausgemerzt habe (i). Droysens Werdegang und seine Konzeption von Alexander und dem Hellenismus werden knapp, aber auf wesentliche Aspekte konzentriert dargelegt. Unter den Geistesgrößen in Berlin, die gehört zu haben Droysen das Privileg hatte, firmieren – ohne nähere Erläuterungen – Hegel, Humboldt, Schadow und Zelter (ii). Als er dann im Alter von 25 Jahren seinen Alexander schrieb, sah er seinen Helden nicht nur als Werkzeug in Gottes Hand, der letztlich dem Christentum in Europa den Weg bereitete. Alexander habe auch die Hellenen aus der ‚Kleinstaaterei‘ erlösen und sie mittels des Korinthischen Bundes zu einer alle Hellenen vereinenden Nation zwingen wollen. Diesen Zustand der damaligen Hellenen habe Droysen in Parallele zum Zustand Deutschlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesetzt, in der Absicht, seinen Mitbürgern die Augen für die Folgen einer Kräfte verschwendenden Kleinstaaterei [vor de gevolgen van een krachten-versnipperende en verspillende kleinstaaterij] zu öffnen und sie zur Bildung einer nationalen Einheit aufzurufen (ii). Bemerkenswert, gerade auch für die unmittelbare Zeit ihres Erscheinens, ist die Begründung dafür, dass Droysens Alexander überhaupt ins Niederländische übersetzt wurde, was für ein Fachpublikum ja nicht von Nöten gewesen wäre. Droysen lasse uns nämlich in diesem Werk erkennen, wie Alexanders Eingreifen in die Weltgeschichte [Alexander’s ingrijpen in de wereldhistorie] zu Kulturentwicklungen führte, die sich bis in unsere Tage fortsetzen. So richte sich das Werk Droysens an alle, die danach trachten, sich darüber klar zu werden, wie wir in geistiger Hinsicht zu denjenigen wurden, die wir heute sind [die zich eenige rekenschap trachten te geven van de wijze waarop wij in geestelijk opzieht geworden zijn die wij thans zijn] (i). * Im selben Jahr, 1946, erschien auch erstmals eine spanische Übersetzung dieses Alexander. Weitere Auflagen in den Jahren 1988 und 2001 sollten folgen.28 Der Edition wurde eine kurze Einführung des Übersetzers, Wenceslao Roces, vorangestellt.29 Dieser wirkte damals im Exil an der Universidad Nacional Autónoma de México als Professor für Römisches Recht und Römische, dann auch Griechische Geschichte. Als politisch engagierter Marxist und Antifaschist hatte er nach dem Bürgerkrieg Spanien verlassen müssen. Die Übersetzung Droysens ist nur eine unter zahlreichen Übersetzungen deutscher Literatur, politisch-philosophischer, historischer wie belletristischer Natur.30 Er lobte Droysens brillante Übersetzungen des Aischylos und Aristophanes.31 Aus seinem genialen Jugendwerk als Historiker, dem Alexander, leuchtet Hegels 27 Vierhout 1946. – Ich danke Sabine Comploi, die den Text beschafft und mir eine Übersetzung des Vor­ worts aus dem Niederländischen zur Verfügung gestellt hat. 28 Vgl. Blanke 2008, Nr. 425. 29 Roces 1946/2001. 30 Angaben nach https://en.wikipedia.org/wiki/Wenceslao_Roces bzw. es.wikipedia.org/wiki/Wenceslao_Roces. 31 Zur Rezeption der Aristophanes-Übersetzung vgl. generell Kitzbichler 2012. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Geschichtsphilosophie durch. Sie fügt sich zu Droysens religiöser Überzeugung. Sein Held fungiert darin als „instrumento del motor central de la Providencia“. Mit diesem Alexander habe Droysen ein Meisterwerk der damaligen ‚idealistischen‘ Historiographie verfasst, die vor allem in Deutschland und England gedieh, „uno de los grandes dramas de la literatura históricomitológica“ (vii). Dieser Tradition gegenüber, in der Alexander glorifiziert wurde, verwies Roces auch auf Forscher, die wie Niebuhr oder Grote „blasfeman del dios Alejandro“ und in diesem nur einen Zerstörer sahen (viii). Doch nicht Droysens Heldenverehrung war das Entscheidende, sondern seine Konzeption des Verlaufs der Geschichte [de la trayectoria histórica]. Mit seiner Konzeption des Hellenismus als einer progressiven Epoche habe Droysen die Topik von der Verfallszeit der Griechischen Geschichte durchbrochen, so wie die heutigen Historiker die Topik von der ‚decadencia del imperio romano‘ revidiert hätten. So, wie dieser „tópico montesquieusano“ überwunden sei, so habe Droysen die Vorstellung von der ‚liquidación de Grecia‘ durch Alexander überwunden (viii). Damit leitete der Autor zur Würdigung von Droysens Hellenismus-Werk und dessen konzeptioneller Grundlage über. Dabei stellte er den romantisch-idealistischen Charakter von Droy­ sens Vorstellung von einem „héroe-conquistador“ heraus, der mit seinen Kriegstaten zugleich die grandiose Idee einer Verschmelzung griechischer und orientalischer Kultur verfolgend eine neue Welt begründete. Droysen habe aber nicht gesehen, dass dieser so bedeutende historische Prozess das Ergebnis objektiv wirksamer Faktoren war (viii). Die große Bedeutung der nationale Grenzen sprengenden, von der griechischen Kultur befruchteten Epoche des Hellenismus erfasst zu haben, wird gleichwohl als Droysens Verdienst gewürdigt. Wenceslao Roces selbst betonte sodann die befruchtende Wirkung, welche die hellenistische Kultur mit dem in ihr entwickelten Humanismus auf die Bildung des Römischen Universalreichs ausübte (ix). In Alexanders Gottkönigtum sah er eine Adaption orientalischer Theokratie und zog kurze­rhand von dieser eine Linie über den Kaiserkult Roms zur Konzeption des neuzeitlichen Gottesgnadentums: En el vaste imperio fundado por el Macedonio la realeza teocrático-militar era la reacción oriental al sentimiento de independencia republicana, civil, de las ciudades griegas y, lo mismo que más tarde bajo los romanos, la superstructura absorbente de un estado multinacional (ix–x)

Unter den späteren Arbeiten Droysens hob Roces die „brillantes conferencias sobre las Guerras de independencia contra Napoleón“ hervor. Die zumindest dem Umfang nach als großes Werk registrierte Geschichte der preußischen Politik zeigte ihm Droysen hingegen als „servidor ideológico“ der Interessen Preußens und der Hohenzollern. Ein emphatisches Schlusswort aber widmete er dem mit Leidenschaft und Idealismus verfassten Jugendwerk Droysens, dessen Ruhm die Geschichte selbst mit Recht befördert habe: La historia ha sido piadosa y a la vez justa con este historiador al llevarlo a la fama de la mano de su primero libro. Libro de juventud, de idealismo y de passión, que sigue siendo hoy, como cuando se escribiera, por encima de todas las rectificaciones de detalle, la gran obra sobre Alejandro Magno y su época (x)

Die Frage der Unterschiede der Neuauflage gegenüber der Fassung von 1833 war kein Thema.

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Die Nachkriegszeit. Wachsendes Interesse für Droysens Alexander im Kontext des Hellenismus-Werks. Teil II: Die deutschen Neuausgaben In den Jahren 1952/1953 erschien bei Schwabe in Tübingen und in der Folge auch in der Wissen­ schaftlichen Buchgesellschaft zu Darmstadt eine von Karl Bayer besorgte Neuausgabe des gesamten dreibändigen Hellenismus-Werks nach dem – durchgesehenen – Text von 1877/1878. Der Herausgeber, ein ehemaliger Schüler von Woldemar Graf Uxcull-Güllenband, dessen er später, im Vorwort zu seiner Griechischen Geschichte mit bewegten Worten gedachte,32 verfasste ein ausführliches, ohne Emphase, aber mir grundsätzlicher Bewunderung geschriebenes Nachwort zur Neuausgabe von Droysens Werk.33 Sein Text bietet reichlich Information zur Arbeit an dieser Edition, zur Genese des Hellenismus-Werks und seiner Neubearbeitung durch Droysen und den Umständen, dass es ein Torso geblieben ist. Deutlich bekundete Bayer seine „Bewunderung für Droysens sicheren künstlerischen Takt“, drückte aber auch sein Bedauern darüber aus, dass die späte Überarbeitung und Straffung zu einigen „schroffe(n) Stilbrüche(n)“ geführt habe. Dennoch lautet sein Gesamturteil, dass D.s Stil „scharf profiliert und faszinierend und wirkungsvoll wie eh und je“ war und dem Werk auf jeden Fall eine „Ehrenplatz“ unter den wissenschaftlichen Darstellungen gebühre (443–444). Die Frage, ob die Neubearbeitung „wirklich eine Besserung bedeutete“, sei kaum verbindlich zu beantworten. Doch sei es wohl berechtigt, „die 2. Auflage stärker, als es bisher vielleicht üblich gewesen war, nach den Voraussetzungen von 1877 zu bestimmen“ (453). Damit wies Bayer auf die Enttäuschung hin, die Droysen nach seiner erstrebten Rückkehr nach Berlin erfuhr. Das begann schon beim kulturellen Leben und der Atmosphäre an der Universität. Die stimulierende Welt der dreißiger Jahre war einer Welt des Karrierismus und der kollegialen Kälte gewichen. Und die politische Entwicklung war in andere Bahnen geraten als es der vormalige Politiker und bleibende Bewunderer und Erforscher des Alten Preußen erhofft hatte. Sch­a rfsinnig weist er [Droysen] auf den Mangel innerer Einheit in diesen Krisenjahren hin; Ver­ waltungstechnik scheint das Staatsgefühl verdrängt zu haben, der ‚subalterne Typus‘ drängt sich vor, der Staat droht seine Unantastbarkeit im Streit der Parteien zu verlieren (455)

Das Hellenismus-Werk und damit auch den Alexander stellte Bayer in eine engere Relation zu Droysens Historik und der darin getroffenen Unterscheidung von vier Formen der historischen Darstellung und speziell zu ihrer ‚katastrophischen‘ Form. Im Sinn­e dieser katastrophischen Betrachtung ist in doppeltem Bogen dargestellt, wie aus dem Titanen­k ampf Alexanders das Reich und die Grundlage des Hellenismus erwächst (…) und weiterhin, wie das Ringen der Nachfolger die hellenistische Welt konstituierte (461–462)

Jedenfalls wäre der Alexander als reine Biographie missverstanden und war als solche nie intendiert. Klar sei, „daß diese Biographie keine Charakteristik des Helden enthält, daß sie, zumindest in der 1. Auflage, ein Buch von der Mission Preußens ist, daß sie im Geiste des Aischylos als dritter Teil der Persertragödie empfunden ist“ (459). In seiner Würdigung von Droysens Werk gestand Bayer dem Autor vor allem auch das Ver­mögen zu, sich selbst zu einem höheren Standpunkt der historischen Betrachtung und Be­

32 Vgl. Bayer 31987 (1967), xi. 33 Bayer 1953/1998. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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ur­teilung, der dem seines Themas gemäß ist, erhoben zu haben: „sein [Droysens] Standpunkt ist nicht der der subjektiven Willkür, sondern ein geläuterter, der hineinragt in die eigentlich geschichtliche Sphäre und damit den gleichen Vorbedingungen unterworfen ist, wie der Gegenstand der Betrachtung“ (465). Das gilt natürlich auch für die Beurteilung des Prota­gonisten: Was die Versuche betrifft, die Persönlichkeit Alexanders zu erfassen, so wird man schwer jemand finden können, der Droysens Forderung, der Historiker müsse sich zur Höhe seines Gegenstandes erheben, besser gerecht geworden wäre, als er selbst (476).

Auch im „Stoffbereich des Alexanderbuches“ sah Bayer Droysens Darstellung keineswegs überholt, so dass etwa eine „Revision des Gesamtbildes“ notwendig geworden wäre (476). Das sei vor allem auch dem Umstand zu verdanken, dass Droysen klar am Vorzug Arrians festgehalten habe: So vermag seine Darstellung auch mit den modernsten Schritt zu halten (481)

Zwar gäbe es da und dort neue Erkenntnisse in Details und zudem immer wieder neue Inter­ pretationen, die Alexanders Persönlichkeit und seine Ziele betreffen. Doch bleibe es dabei, dass „seine Persönlichkeit nicht zu fassen ist, wenn die Betrachtung nicht auf dem Fundament eines universalen Geschichtsbildes gegründet ist“ (477). Verständnisvoll äußerte sich Bayer zur „Zurückhaltung“ Droysens in der Frage nach Alex­ anders Selbstbewusstsein angesichts des Gottkönigtums, „denn im Schatten der Theodizee der Geschichte verlieren die Entscheidungen in des Menschen Brust etwas von ihrer höchsten Bedeutung“ (479). Zugleich sah er Droysens Verständnis der „Religionspolitik“ Alexanders im unmittelbaren Kontext der Konzeption des Hellenismus. Die „Forderung der göttlichen Ehrungen (…) allein können Hellas der hellenistischen Welt zuführen“. Dementsprechend sah Droysen den „Alexanderkult als Menschheitsreligion“ und als ein „Exercitium“ zur Vor­ be­reitung des Christentums (481). Resümierend hielt Bayer zum Alexander-Buch nochmals fest, dass Alexander für seinen Autor „nicht als Mann und König und Held, sondern in seiner Ge­schicht­lichkeit eine ideale Gestalt“ war, und erläuterte dies mit dem prägnanten Zusatz: „mit der Freiheit seines Willen ist es bisweilen schlecht bestellt, doch die Folgewirkungen seiner Taten sind dafür umso größer“ (482). * Nur wenige Jahre nach dieser Neuausgabe des Hellenismus-Werks wurde auch der AlexanderBand allein wieder in Umlauf gebracht, diesmal durch die Droemersche Verlagsanstalt in München, versehen mit einer Einführung aus der Feder des in Marburg wirkenden Althistorikers Fritz Taeger.34 Dieser bezog sich dabei zunächst auf den Alexander von 1833 als eins jener „epo34 Taegers eigenes Alexander-Bild hat vor allem durch die erstmals 1939 erschienene und seitdem mehrfach aufgelegte Gesamtdarstellung Das Altertum größere Verbreitung gefunden. Taeger war davon überzeugt, „daß es seine [Alexanders] Absicht war, die Oikumene selbst in einem gewaltigen Reich zusammenzufassen“, und nannte dies einen Plan, „der unserem Weltbild allerdings mit Recht als utopisch erscheinen muß“. Doch Alexander wollte etwas Neues: „Die überlegene Kraft seiner Herrenvölker, der Makedonen und Griechen auf der einen Seite, der Perser und der anderen Iranier auf der anderen, sollte es gestaltend durchdringen und zusammenfassen, Friede, Wohlfahrt, Ordnung und Gerechtigkeit sollten herrschen“. Alexanders „grandiose(n) Verschmelzungsgedanken“ betrachtete er „aus heutiger Schau“ als Irrtum: Das © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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chalen Werke, in denen sich der Genius eines begnadeten Forschers mit der geheimnisvollen Größe seines Stoffes begegnet“, und sparte nicht mit Lob über dieses Werk. „Es ist bis auf den heutigen Tag die lebendigste und tiefsinnigste Deutung Alexanders geblieben“ (7). Zwar habe die Überarbeitung des Jugendwerks ihre Spuren hinterlassen, doch bleibe es immer noch faszinierend, auch in stilistischer Hinsicht: Das Wort entfaltet sich jetzt nicht mehr in jenen hymnischen Kaskaden, die Helmut Berve mit Recht gefeiert hat, aber es fließt noch immer in großartig dichten Perioden dahin, die sich bisweilen in monumentalen Einzelsätzen zu letzter Wirkung zusammenfassen.

Allerdings konnte Taeger sein Bedauern darüber, dass die von einer messianischen Hoffnung getragene Einleitungspassage des Alexander von 1833 der Neubearbeitung zum Opfer gefallen war,35 nicht verhehlen: Diese gestrichenen „ersten Seiten“ von 1833 waren seinem Urteil nach „vielleicht das Tiefste und Großartigste (…), was je ein deutscher Geschichtsschreiber ausgesprochen hat“ (8). Um die Tiefe der Gedanken ging es Taeger in seinen Einführungsworten vor allem. Man sieht ihn förmlich im Ringen mit Droysens Überzeugung vom höheren Recht des geschichtlichen Fortschritts, die dieser noch mit seinem festen religiösen Glauben verschmelzen konnte. Droysen war noch imstande, eine „Synthese von einem unmittelbar erlebten Protestantismus mit dem Gedankengut der deutschen idealistischen Philosophie in Hegels Prägung“ zu bilden (8–9). Doch angesichts der katastrophalen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit lasse sich eine solche Zuversicht nicht mehr halten: Die Einsicht in die Dämonie der Geschichte ist tiefer geworden.

Daraus gelte es, Konsequenzen zu ziehen: Wir fragen, ob nicht die Dämonie der Geschichte in Kategorien sich bewegt, die sinnvoll zu deuten menschlichem Bemühen versagt bleibt, wenn wir uns nicht in den umhegten Raum dogmatischer Geschichtsauffassungen zurückziehen (10)

Daher wird Droysens zuversichtliche Rechtfertigung des historischen Fortschritts, in dessen Dienst Alexanders Wirken stand und dementsprechend beurteilt wurde, zu einem zentralen Problem. Zwar sollten wir uns nach Taegers Apell davor hüten, „den großen sittlichen Ernst, der hinter alledem stand, zu vergessen und zu übersehen: er gehört zum kostbarsten geistigen Besitz unseres Volkes und kann unter Umständen auch heute noch Dämme gegen die nicht minder verhängnisvolle Relativierung politischer Entscheidungen (…) aufrichten“. Doch stehe uns Droysens Weg nicht mehr offen, „weil wir die geschichtliche Entscheidung nicht ohne weiteres mehr als gültiges Kriterium anerkennen – ein Umstand, der es uns freilich auch nicht zu leicht machen sollte, nun das Richteramt der Geschichte zu bestreiten und die Gloriole des Leidens an die Stelle des Siegerkranzes zu stellen“ (10). Vielmehr würden wir erschüttert am Beispiel Alexanders die „Schuldverstrickungen“ erkennen, „die zu tragen das Verhängnis des großen Täters ist, das niemand ihm abnehmen kann“, und würden so seinem „Weg in die letzte „Griechentum“ hatte sich über das Maß hinaus ausgebreitet. Das führte zur „Überfremdung durch fremdes Blut und fremde geistige Mächte“ und letztlich zu einer verhängnisvollen Niederlage des Hellenismus; Zitate nach Taeger 51953, 414, 426. – Vgl. generell zu Taegers Werk und Weltbild Wolf 1996, 204–236. 35 Vgl. dazu oben S. 456. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Einsamkeit“ folgen. Droysen indes hatte noch die Kraft, „die Tragik mit seiner Sicht zu überwölben und die Einsamkeit, nicht aber die erbarmungslose Härte des dämonischen Täters zu übersehen“ (11). Als ein Phänomen, das sich „unserer Vorstellungswelt“ fast ganz entziehe, sprach Taeger zu­letzt Alexanders Gottkönigtum an. Droysen habe „keinen ernsthaften Versuch“ zu dessen Ver­ständnis unternommen. Taeger selbst zeigte sich davon überzeugt, dass man dazu „die Spontaneität eines zwar von vielfachen Anregungen beeinflußten, aber in den geheimnisvollen Tiefenschichten ruhenden Selbstverständnisses als den entscheidenden Faktor“ ansehen müsse (12–13).36 Nach einem kurzen Überblick über einige neuere Arbeiten zu Alexander schloss Taeger mit einem „Dank der Wissenschaft an den Mann, in dem sie selbst heute noch ihren Meister verehrt“ (13). Eine Renaissance des ‚Jugendwerks‘ in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts Könnte man in Taegers Vorwort ein Stück ‚Vergangenheitsbewältigung‘ sehen, so träfe dies erst Recht, freilich von einem ganz andere Standpunkt aus betrachtet, auch für die Worte zu, mit denen rund dreißig Jahre später Jürgen Busche eine Neuausgabe des Alexander von 1833, verlegt jetzt bei Manesse, eingeleitet hat.37 Der journalistisch und als Schriftsteller tätige Autor, der mit einer Arbeit zum Hellenismus-Begriff promoviert worden war,38 setzte mit dem Blick auf den „verzögerten Triumph“ ein, der Droysens Alexander erst in einer Zeit zu Teil wurde, als der Gelehrte vor allem als ein bedeutender Vertreter der borussisch-kleindeutschen HistorikerSchule wahrgenommen wurde. Diese Schule verkörperte für seinen Blick, zu dem ihn „unser politisches Werten von heute“ die Richtung wies, die klägliche „Dürre des Historikergeschäfts“, zu der Droysens schwungvolles Jugendwerk noch im höchsten Gegensatz stand (584). In der anschließenden Betrachtung von Droysens Werdegang ging Busche auch auf das vieldiskutierte Verhältnis Droysens zu Hegel ein, zu dem seiner Ansicht nach „ein überzeugendes Bild (…) immer noch nicht gegeben worden“ sei (586). Er stellte Droysens Überzeugung von der „Herrschaft Gottes über die Geschichte“ heraus und bot dann sein eigenes Fazit zu Droysens Sicht in Bezug auf Hegels Fortschrittsdenken: Hegel sah wohl die Art des Geschehens der Geschichte richtig; aber er sah sie in der falschen Absicht und von den falschen Prämissen aus oder zum falschen Zweck, was das gleiche sein mochte (588).

Im Vergleich mit Barthold Georg Niebuhr und dessen Moralismus schnitt Droysens Beurteilung von Alexanders Person und Wirken bei Busche deutlich besser ab (589–590). Hingegen konnte er der Skepsis, mit der Jacob Burckhardt, Droysens ehemaliger Schüler, dessen unbedingtes Vertrauen in den Fortschritt der Geschichte und die damit einhergehenden Wertungen sah, mehr abgewinnen (593–595). Dabei hob Busche den politischen Gegenwartsbezug hervor, mit dem Droysen seine Gedanken über die den Fortschritt bestimmenden Kräfte in der Geschichte Alexanders und des Hellenismus zur „Richtschnur seiner Geschichtsschreibung“ machte. Es 36 Vgl. dagegen etwa die durchaus rationalistische Auffassung in Rosenbergs oben vorgestelltem Text. Alexa­ nder habe allein an die Griechen gedacht und sich – anders als es Droysen sah – rein rational verhalten: Der „bequeme Ausweg, daß der ehemalige Bundespräsident zum Staatsgott der einzelnen Gemeinden wurde“, sollte es Alexander ermöglichen, jederzeit in die „griechischen Angelegenheiten“ eingreifen zu können, ohne die „Selbständigkeit der griechischen Republiken“ ganz aufzuheben; Rosenberg 1917, xxiv. 37 Busche 1984. 38 Busche 1974. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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war „die politische, die machtstaatliche Einheit Deutschlands die Forderung der Zeit, der er [Droysen] sich verschrieb“ (596). In diesem Zeitgeist formte sich ein gefährliches Amalgam: „Mit Preußen wollte das gebildete Deutschland Athen und Sparta und Makedonien in eins sein. So sollte aus der Mitte Europas mit preußischen Waffen und deutschen Wissenschaftlern die Verwandlung des Deutschtums in eine Kulturpotenz geschehen“ (597). Aus der Retroperspektive auf die fatalen Folgen, zu denen das „Überlegenheitsgefühl, mit dem die Deutschen in das 20. Jahrhundert gingen“, geführt hat, fällt auf Droysens Werk ein schwerer Schatten, habe er doch als Autor in der „Geschichte dieser Hybris“ einen „wichtigen Part“ gespielt. Von daher gesehen erscheint auch die Geschichte Alexanders aus der Feder des jungen Gelehrten „unheilvoll, ohne daß damit das mindeste ihres historiographischen Rangs, ihrer belletristischen Schönheit und ihrer gedanklichen Kühnheit beeinträchtigt wäre“ (597). Die von Droysens wachsender Skepsis über das „Trügerische“ in der erzählenden Form der historischen Darstellung getragene Überarbeitung seines Jugendwerks fand in Busches Augen wenig Gnade, sei doch „das Erzählen (…) das Wirkliche in der Kunst des Historikers“ (599). Schließlich gab Busche zu bedenken, aus heutiger Sicht könne „eine Geschichte der deutschen historischen Forschung, soweit sie europäisches Interesse beanspruchen will, geschrieben werden, ohne den Namen Droysens auch nur zu erwähnen“ (600). Von diesem harten Verdikt nahm Busche nur den Alexander des jungen Gelehrten aus, dem er abschließend bescheinigte, „eine grundsätzliche Wende in der Einschätzung antiker, mithin europäischer und Weltgeschichte herbeigeführt“ zu haben (601). Droysens Alexander im Zeitalter zunehmender Globalisierung I: Die deutschsprachigen Ausgaben Inzwischen war es auch – sieht man auf den bisher zu beobachteten Rhythmus – Zeit für eine Neuauflage des gesamten Hellenismus-Werks.39 Zu diesem Reprint der Tübinger Ausgabe von 1952/1953, erschienen nunmehr im Deutschen Taschenbuchverlag, verfasste Erich Bayer 1980 einen Nachtrag zu seinem ebenfalls wieder abgedruckten Nachwort. Dazu bot er auf knappem Raum eine Übersicht über wichtige Neuerscheinungen und berücksichtigte dabei auch die Auseinandersetzung mit dem Hellenismus als Epochenbegriff. Er resümierte, dass der leitende Aspekt der ‚Durchdringen des abendländischem mit dem morgenländischen Wesen‘ noch immer sehr viele Arbeiten zum Hellenismus bestimme. Auch wenn Droysens Name dabei kaum mehr erwähnt werde, „seine wissenschaftliche Leistung ist längst in das Geschichtsbewußtsein unserer Zeit integriert“ (bes. 495). Der Ausgabe von 1980 folgte bereits 1998 ein Nachdruck, mit Registern und – zusätzlich zum Nachwort von Erich Bayer – mit einer Einleitung von Hans-Joachim Gehrke versehen. Diese beim Primus Verlag in Darmstadt erstellte Version des dreibändigen Hellenismus-Werk erschien dann auch 2008 in einer Taschenbuch-Ausgabe. Gehrke, selbst Verfasser einschlägiger Monographien,40 musste sich zu den Aspekten von Droysens Werdegang und Werk, die Bayers gründliches Nachwort beleuchtete, nicht nochmals näher äußern. Stattdessen nahm er der Frage nach dem cui bono einer abermaligen Neuauflage von Droysens Hellenismus-Werks von vornherein den Wind aus den Segeln. Dazu stellte er selbst die rhetorische Frage, ob ein 39 Vgl. Blanke 2008, Nr. 405. 40 Vgl. bes. Gehrke 1990 u. 32003. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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solches Werk mit seiner „idealistischen Hermeneutik“ als fundierender Methode und seiner Konzentration auf das Feld der Politik und die geschichtliche Rolle der großen Persönlichkeit nicht in der modernen Forschungslandschaft deplatziert wirken müsse. Dem stellte er die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung des Paradigmenwechsels gegenüber, der mit eben diesem Werk vollzogen war: Auf der einen Seite hatte sich Droysen den „seinerzeit noch vorherrschenden klassizistisch-humanistischen Konzepten“ entgegengestellt, auf der anderen Seite integrierte er in sein Werk eine Fülle von Details und Ergebnissen. Und diese verloren sich nicht in antiquarische Gelehrsamkeit, sondern wurden durch Ideen und Konzepte zusammengehalten, arrangiert und gedeutet (v–vi).

In der Folge bot Gehrke nun eine höchst instruktive, mit vielen Literaturverweisen in den Fuß­ noten ausgestatten Einführung in wesentliche Aspekte und Themen der jüngeren HellenismusForschung (vi–xiii). Auch wenn sein Werk ein Torso geblieben war, so sei gerade auch das, was Droysen bei seiner Konzeption des Hellenismus „wesentlich vorschwebte“ (viii), durch die neuere Forschung intensiver thematisiert worden, so die Vielfalt und die Interaktion der religiösen Vorstellungen und Praktiken oder das Verhältnis von König und Polis in der hellenistischen Staatenwelt. – Auf die Problematik von Droysens Alexanderbild, auf dessen „hegelianische Komponente“ und auf die Unterschiede zwischen den beiden Auflagen ging Gehrke nur mit knappen Literatur-Verweisen ein (xiii–xiv). Doch wies er explizit darauf hin, „daß auch spätere Alexanderbilder von impliziten oder expliziten Grundannahmen abhängen, die oft mehr über den Autor sagen als womöglich über seinen Gegenstand.“ Die „in schöner Regelmäßigkeit“ erscheinenden Alexanderbücher, „sicherlich mehr als eines pro Jahr“, seien zwar „teilweise beachtliche Leistungen, zeigen aber auch, wie schwer es ist, die historiographische Dichte und Greifbarkeit Droysens zu erreichen“ (xiv). * Droysens Werk sollte in der Flut dieser Alexander-Bücher nicht untergehen, im Gegenteil! So verzeichnet Blanke für 2000 einen in Leipzig erschienenen Reprint des Alexander nach der Gotha-Ausgabe von 1880.41 Im Jahr 2004 erschienen am deutschen Buchmarkt dann gleich zwei, an Ausstattung ungleiche und an und unterschiedliche Publikumsschichten gerichtete Neuausgaben dieses Alexander. Zunächst zur bibliophilen Edition! Auf der Basis der Über­ setzung des Alexander-Bands der überarbeiteten Geschichte des Hellenismus ins Neugriechische durch Renos, Herkos und Stantes Apostolides42 und ihren weitergehenden Recherchen zur Genese der Originalausgabe wurde eine mit zahlreichen Korrekturen und mit zusätzlichen Anmerkungen, Kommentaren und Beilagen versehene, komplette Wiedergabe des Originals vorgelegt. Der vormals in Mainz und München wirkende Byzantinist Armin Hohlweg, der auch bei Berve studiert hatte, übernahm die Herausgeberschaft und verfasste ein kurzes Vorwort zur Genese dieser ‚kritischen‘ Ausgabe.43 Darin griff er auch das oben schon zitierte Schlusswort von Berves Einführung in der Droysens Jugendwerk auf.44 Dieser ‚wegweisend Stern‘ war offensichtlich noch nicht erloschen. Nach wie vor gelte, dass „Droysens Geschichte 41 42 43 44

Blanke 2008, Nr. 423. Vgl. Blanke 2008, 415, 416; dazu im Folgenden mehr. Hohlweg 2004. Vgl. oben 456–457. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Alexanders des Großen (…) die lebendigste und tiefsinnigste Deutung dieses Herrschers (bleibt). Er hat (…) eine großartige – auch stilistisch großartige – Darstellung seines Helden geboten, wobei er sich bei allem Eintreten für das Recht des Siegers doch immer auch der Tragik eines solchen „Tatmenschen“bewußt ist. Über allem steht der Sinn des Ablaufs der Geschichte, der von Gott bestimmt ist“ (v–vi). Eine spezielle Würdigung wurde Droysens Werk durch eine ins Deutsche übersetzte Auswahl aus den von Renos H. Apostolides verfassten Einleitungen in die griechischen Ausgaben des Alexander-Buchs zu Teil.45 Der Philologe und Literaturkritiker stellte einleitend mit Alexander und Don Quichotte zwei „epische Stoffe, deren Helden über alle Grenzen hinaus reiten“, einander gegenüber, um damit das weltgeschichtlich Einmalige an der Erscheinung seines verehrten Helden deutlich zu machen: Durch die phantastische Heroenfigur des Don Quichotte, der alles, inklusive seiner eigenen Person, in tragischer Weise parodiert, stürmt das europäische Mittelalter, aus seiner Introvertiertheit hervorbrechend, in voller Rüstung in den Realismus der westlichen Neuzeit und der Neuen Welt hinein, der uns immer noch von jeglichem Traum, Mythos und Helden weit fernhält. Mit Alexander dagegen, als dem Ausdruck der stürmischen und faszinierenden Extrovertiertheit, haucht die griechische Antike ihr Leben aus, indem sie der Menschheit in ihrer Tragik eine schöpferische und inspirative Gewißheit hinterläßt: der Traum, der Mythos, der Held sowie die Verwirklichung auch des Idealen seien m ö g l i c h! (xii).

Droysens klassisches Werk würdigte Renos Apostolides als die „immer noch (…) am besten gepflasterte Hauptstraße“ zur Erschließung der Geschichte Alexanders und des Hellenismus. (xiii). Es stelle zugleich ein „kapitales Werk über die Ursprünge unserer Zivilisation“ dar. Denn Alexander habe „mit dem Hellenismus als Banner in seiner Hand“, das heißt mit seiner Verschmelzungspolitik und seiner Verbreitung griechischer Geistigkeit, die damalige Oikumene verwandelt und den Grund für „unsere geistige Kultur“ gelegt. Und um die Wende des 19./20. Jh, leuchtet uns Droysen mit der Geschichte dieser großen und welt­ bedeutenden Persönlichkeit als Fackel in der Hand (enthusiastisch, in seiner Romantik packend, aber auch realistisch im richtigen erfassen seines Helden, des großen Alexander) (xiv).

Doch hatte Renos Apostolides seiner Lobrede auch kritische Töne beigefügt. Er wies dabei auf Droysens Ungerechtigkeit im Blick auf all jene historischen Persönlichkeiten, die sich – wie Demosthenes – nicht dem Verlauf der Geschichte, den sein Held vorantreibt, willig einfügten, und auf Droysens negative Sicht all dessen, „was Volksmasse, Pöbel, Demos oder der gemeine Mensch schlechthin ist“. Mit seiner damit verbundenen Warnung an den Historiker davor, „sich nicht von dem Dämon der Einseitigkeit“ befreien zu können, ging Renos Apostolides tief ins Grundsätzliche (xv–xvi). Aus seinem Bedürfnis, „in ständigem Dialog mit dem DroysenText“ auch Denkanstöße und kritische Überlegungen entwickeln zu können, sollten daher auch die – eigens markierten – Anmerkungen in dieser Textausgabe verstanden werden (xvii). – Seine Einleitung abschließend interpretierte er – der „poetische(n) Natur Droysens“ entsprechend – die dramatische Disposition von dessen an das „Gerüst Arrians“ angelehnten Darstellung des Geschehens als eine in fünf Akte gegliederte grandiose historische Tragödie (xvii–xx). An

45 Apostolides 2004. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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deren jähes Ende, Alexanders Tod auf dem Höhepunkt seines Lebens, schloss der griechische Gelehrte noch seine eigene Schlussbetrachtung an: Das Große stirbt nicht, sondern wird abrupt durchschnitten. Nur die Volkserzählungen geben sich nicht damit zufrieden: Alexanders Schwester Gorgo versenkt die Schiffe, die sie auf dem unruhigen Meer trifft und stellt die Frage: Lebt Alexander, der König? Aus dem Meere hochspringend bis in den Himmel, wenn die klugen Kapitäne ihr nicht Folgendes zur Antwort geben: Er lebt und herrscht, Gorgo, und beherrscht die Welt weiterhin!, versenkt sie die Schiffe der Menschen, die nicht an diesen Mythos glauben (xx)

* Gegenüber dieser monumentalen Edition nimmt sich die im selben Jahr im Insel-Verlag erschienene Ausgabe des Alexander im Text der überarbeiteten Auflage natürlich bescheidener aus. Für sie hatte der damals noch in Heidelberg lehrende Spezialist für griechische Geschichte und Epigraphik Angelos Chaniotis ein Nachwort verfasst.46 Er richtete sich bewusst an eine Leserschaft, die am Thema interessiert, aber nicht primär fachkundig ist, und sprach gleich die Frage der Aktualität an: Nach dem 11. September und der amerikanischen Besetzung des Irak erscheinen die Überlegungen Droysens über den ewigen Kampf zwischen Morgenland und Abendland gewiß aktuell (715)

Dabei machte sich der Autor über die unterschiedlichen Reaktionen bzw. Rezeptionsweisen des Texts Gedanken: Werden die dem damaligen Zeitgeist entsprechenden ethnischen Stereotype entsetzt verurteilt oder dienen sie der Bestätigung eigener Vorurteile? Es gelte daher, Droysens Werk in seinen historischen Kontext zu stellen. Damit wird die generelle Frage nach der jeweiligen Zeitbedingtheit unser Bilder von der Persönlichkeit Alexanders relevant, und Chaniotis differenzierte sogleich: Heute wissen wir mehr über Alexanders Welt als Droysen. Bedeutet dies auch, dass wir mehr über Alexander wissen?

Letzteres nannte er eine „Illusion“ und wies auf die Problematik der Quellenlage und die „Mythisierung“ der Persönlichkeit Alexanders hin, die schon zu dessen Lebzeiten eingesetzt hatte (717). Und wie war es dabei um Droysen bestellt? Projizierte Droysen Aspekte seiner Persönlichkeit auf Alexander und umgekehrt, wird er von seinem Alexander beeinflußt?

Damit bezog sich Chaniotis auf den Enthusiasmus des jungen Autors. Beide – Droysens Alexander und Droysen in seinem Alexander (von 1833) verfolgten von Beginn an ihren großen Plan. Alexanders Eroberungszug veranschaulicht zugleich Droysens Geschichtsdeutung (718). Droysens Alexander ist Organ der Geschichte – ein Geschäftsführer des Weltgeists im Hegelschen Sinne. (719)

46 Chaniotis 2004. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Dazu kam aber noch eine weitere bedeutende Wechselwirkung: „der jugendliche Held (gab) seinem Schöpfer jene starken Emotionen, die das Werk Droysens lebhaft und lesenswert machen“ (720). Diese Würdigung orientierte sich primär am Alexander von 1833, der hier freilich nicht vorgelegt wurde. Ohne nun auf deren Unterschiede näher einzugehen, bot Chaniotis in seinem Nachwort eine Mischung prägnanter Zitate aus beiden Auflagen. Mit ihnen sollte die Faszination der bildreichen Sprache Droysens verdeutlicht werden, die Chaniotis immer wieder mit Beispielen aus dem populären Kino verglich, von Filmen von Cecil B. de Mille bis zu neueren Werken wie Braveheart, Lord of the Rings oder Saving Private Ryan (719; 723). In der Erzählkunst, vor allem auch bei der Beschreibung von Kampfbildern, komme nämlich die Rolle des Historikers derjenigen eines Filmregisseurs besonders nahe. Und dies gelte für einen Thukydides oder Polybios ebenso wie für Droysen oder Gibbon (720, 723). Nach dieser originellen Vergleichung von Historikern und Filmschaffenden aber wechselte Chaniotis das Thema und zog gewissermaßen einen cordon sanitaire zum Feld seines beruflichen Schaffens, der akribisch quellenkritische Forschung, besonders auch der Epigraphik, in deren Licht sich die großen Bilder anders ausnehmen, dafür aber deutliche Fortschritte in der Erkenntnis in strukturgeschichtlicher Hinsicht, fallweise auch im Bereich der Ereignisgeschichte gewonnen wurden (726–735). Nach seinem eindringlichen Plädoyer für die Bedeutung dieser Forschungen kehrte Chaniotis zuletzt nochmals zum Thema der so verbreiteten Bewunderung Alexanders zurück. Sie ließ ja nur allzu oft auch gute Historiker der Versuchung erliegen, „das Terrain der Geschichte zu verlassen und jenes des historischen Romans zu betreten“. Eines aber sei dabei zuzugestehen: Die anregendsten und lesenswertesten ‚Geschichten‘ Alexanders haben jene Alexanderforscher geschrieben, die keine Angst davor hatten, sich mit Alexanders Leben unter Einsatz ihrer Phantasie und ihrer Emotionen zu befassen. Unter ihnen nimmt Droysen sicher den ersten Platz ein (739).

Droysens Alexander im Zeitalter zunehmender Globalisierung II: Die Übersetzungen Für Neuauflagen von Droysens Alexander in der Überarbeitung von 1877 war eine Zeit der Hochkonjunktur angebrochen. Auch die alten Übersetzungen von Droysens Jugendwerk ins Französische durch Benoist-Méchin und ins Italienische durch Alessio wurden – wie schon oben festgehalten – immer wieder aufgelegt.47 2001 erschien auch erneut die Übersetzung des Alexander ins Spanische durch Wenceslao Roces samt dessen Einführung.48 Dazu waren die oben schon im Zusammenhang mit der bibliophilen Edition des Alexander von 1877 genannten Übersetzungen ins Neugriechische gekommen. – Rund 120 Jahre, nachdem die erste Übersetzung des gesamten Hellenismus-Werks erfolgte, wurde auch diese französische Pioniertat durch eine kritisch begleitete Neuausgabe, die 2005 in Grenoble erschien, wieder in Erinnerung gebracht. Pascal Payen, Professor für Griechische Geschichte in Toulouse, verfasste dazu ein ausführliches, wissenschaftsgeschichtlich fundiertes Vorwort.49 Anhand der Genese dieses Werks, vom Alexander des Jahres 1833 bis zur überarbeiteten Neuausgabe des Gesamtwerks durch 47 Vgl. Blanke 2008, Nr. 414, 419. 48 Dasselbe gilt auch für das von J. Benoist-Méchin geschriebene Vorwort, das sich – anders als die kurze Einführung von W. Roces oder auch das ausführliche Nachwort von E. Bayer – in seiner Zeitgebundenheit jedenfalls seltsam ausnimmt. Vgl. dazu Briant 2016, 17. 49 Payen 2005. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Droysen, betrachtete der Autor grundsätzliche Fragen der Geschichtswissenschaft. Es ging ihm dabei vor allem um die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Erfassen der Gegenwart im Wissen um die Vergangenheit und dem Erfassen der Vergangenheit im Wissen um die Gegenwart (vgl. bes. 6, 10, 25). Der Autor verfolgte dazu den gesamten Werdegang Droysens vor dem sich wandelnden politischen Hintergrund, von der Zeit der Napoleonischen Kriege bis zur Zeit der ersten Übersetzung des Hellenismus-Werks ins Französische am Lebensabend des Gelehrten. Dabei ging Payen auch auf den politischen Hintergrund der Übersetzung ein (6,42 f., vgl. 55–60). Es war eine Zeit, in der die Eliten Frankreichs die Niederlage von 1870 auf zwei Faktoren zurückführten: „à l’impréparation de l’armée et à l’infériorité de l’université face à sa rivale prussienne, dont la ‚science de l’Antiquité‘ (Altertumswissenschaft) est le fleuron“ (6). Es galt daher, sich intensiver mit dieser Altertumswissenschaft zu beschäftigen. Payen ging aber auch – und das unterscheidet ihn von allen anderen hier besprochenen Autoren – tiefer in die Geschichte der Erfassung und Bewertung der ‚hellenistischen Epoche‘ vor Droysen ein (15–21).50 Was die vieldiskutierte Rolle von Hegels Philosophie für Droysens Konzeption betrifft, zeigte sich Payen kritisch und betonte die relativ starke Unabhängigkeit Droysens (vgl. etwa 30). Auch sonst geht seine Betrachtung eigene Wege. Droysens Bild von Alexanders Persönlichkeit wird kaum thematisiert, die Frage der Beschönigungen seines Handelns – Konsequenzen des hegelianischen Verdikts gegen einen schulmeisterlichen Moralismus – auch nicht. Wohl aber analysierte er drei grundlegende, mit einander verflochtene ‚Ideen‘ in Droysens Konzeption: 1) die im Alexander von 1833 noch stärker artikulierte Idee seiner historischen Mission zur Versöhnung im ewigen Gegensatz von Ost und West; 2) die Idee einer Vereinigung der gegensätzlichen Welten als Ergebnis des Handelns eines Mannes; 3) die Idee einer fortschreitenden Verschmelzung von Orient und Abendland in der Epoche des Hellenismus (36–41). Ein zentrales Anliegen war Payen die Beleuchtung der wechselseitigen Beeinflussungen bei Droysens Beschäftigung mit der Antike und mit Preußen (bes. 24 ff.). Dabei geht es um zwei direkt aufeinander bezogene große Themen, „ce qui est permis d’appeler la querelle de l’unité et la question du ‚modernisme‘“ (25). Mit Payens Worten: D’un côté, le passage d’une pluralité de structures politiques et communautés humains à un ensemble unifié aussi bien dans ses institutions que dans ses composantes culturelles et religieuses est le problème historique qui permet de penser ensemble les temps hellénistiques ouverts par l’œuvre d’Alexandre et le XIXe siècle allemand (25).

Große Bedeutung schrieb Payen der Konzeption des Hellenismus als der modernen Zeit des Altertums zu, die daher in einer spezifischen Analogie, nämlich als „contre modèle“ zu Droysens Gegenwart erscheint (bes. 47). Den von Droysen konstruierten Hellenismus sah der Autor von einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen seiner politischen und seiner kulturellen Seite erfüllt, „par une constante tension entre politique et civilisation“ (48). Interessant wird daher die Frage, wie dieses Konzept nun angesichts der politischen Veränderungen in Deutschland seit der Erstauflage des Alexander und der beiden Hellenismus-Bände seine Aktualität bewahren kann. Mit Nachdruck verwies Payen, nicht nur auf Droysen, sondern auch auf Persönlichkeiten 50 Vgl. dazu jetzt bes. Briant 2012, 485–512. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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wie Mommsen bezogen, auf die politische Enttäuschung hin, die Bismarcks Militarismus bei den Liberalen hervorgerufen hat (35–36). Dadurch, dass Droysen nun sein Modell des Hellenismus in der Zeit nach der Begründung des Kaiserreichs und der von Bismarck forcierten Militarisierung der damit geschaffenen nationalen Einheit erneut zur Geltung brachte, habe er bewusst ein Gegenmodell zu seiner Gegenwart in den Raum gestellt. Es ist ein Modell, in dem der Faktor der Bildung auch nach dem Zerfall der politischen Einheit ganz wesentlich die kulturelle Einheit der hellenistischen Welt prägt, einer Einheit, die nicht an Rasse, Boden und Volksgeist gebunden ist (bes. 52–54). Mit dieser Würdigung unterläuft Payen in bemerkenswerter Weise die vorschnelle Ver­ ein­ nahmung Droysens als eines typischen Repräsentanten der preußisch-kleindeutschen Historiker-Zunft. * Sieht man neben dieser ersten Übersetzung des gesamten Hellenismus-Werks auf die bis dahin erschienenen diversen Übersetzungen, die speziell der Alexander erfuhr, sei es nach dem Text der Erstveröffentlichung von 1833, sei es nach der Fassung von 1877, so fällt sofort auf, dass in der imponierenden Liste der betroffenen Sprachen – Französisch, Italienisch, Niederländisch, Spanisch, Türkisch, Neugriechisch und Portugiesisch51 – bis in letzte Zeit das Englische fehlte. Das wurde nun i. J. 2012 nachgeholt.52 Hatten seinerzeit Auguste Bouché-Leclercq ebenso wie Jacques Benoist-Méchin und Wenceslao Roces Droysens Stil ausdrücklich ihre Reverenz erwiesen, so sah sich jetzt die Übersetzerin, Flora Kimmich, genötigt, Eingriffe in die Struktur des Texts zu rechtfertigen, die dem Bemühen um eine gut lesbare, flüssige Übersetzung geschuldet waren.53 Sie nannte zwar Droysen einen „master stilist“ und charakterisierte seine Sprache als „a sonorous prose“, sprach aber auch von vielen „inadvertent repetitions of entire words or stems that swarm through his paragraphs, undisturbed by an editor’s blue pencil“ und von „few passages of ambiguous or opaque German in the notes“ (xi–xii). – G. W. Bowersock, der ein kurzes Vorwort verfasste,54 lobte ihr Übersetzungswerk als „a rendering that catches all the complexity, subtlety, and literary panache of the original“. Den Alexander nannte er „an unambiguous paean to the power of a single great man to change the course of history“ (xiii). Als maßgebliche Forscher nach Droysen erwähnte er in kurzen kritischen Würdigungen H. Berve, W. W. Tarn und E. Badian, um dann den Platz für A. B. Bosworth freizugeben (xiv–xv). Nun konnte mit Bosworth ein Gelehrter für die einleitende Worte zu Droysens ‚Paean‘ auf Alexander gewonnen werden, der nicht nur durch sein opus magnum, den Arrian-Kommentar, und zahlreiche weitere Veröffentlichungen zu den Spezialisten der Alexander-Forschung zählt, sondern auch für seine kritischen Urteile über Alexanders Person und sein Wirken bekannt

51 Leider war mir diese bei Briant 2016, 379–380, erwähnte Übersetzung des Alexander von 1833 mit beigefügtem Vorwort von Benoist-Méchin von 1935 nicht zugänglich; Zitat nach Briant 2016, 589: Alexandre O Grande, traduction en portugais-brésilien par R. Schöpke et M. Baladi, avec une présentation de Jacques Benoist-Méchin [1935], História e poesia (p. 15–31), Contraponto Editore, Centro (Rio de Janeiro), 2010. 52 Johann Gustav Droysen, History of Alexander the Great, transl. by Flora Kimmich, preface by G. W. Bowersock, foreword by A. B. Bosworth, Philadelphia (Am. Philosophical Soc.) 2012. 53 Kimmich 2012. 54 Bowersock 2012. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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war.55 Seiner Aufgabe entledigte sich Bosworth aber mit bemerkenswerter Noblesse.56 Er berichtete mit Respekt und Verständnis über Droysens intellektuellen Werdegang im Hinblick auf seine politischen und religiösen Überzeugungen, sein Denken über die Geschichte und die Aufgaben der Geschichtswissenschaft und speziell seine Konzeption des Hellenismus. Dabei bezog er sich – gerade, was Droysens politisches Engagement betrifft – wiederholt auf Nippels einschlägige Monographie (vgl. xviii–xx).57 Uneingeschränkte Bewunderung zollte Bosworth der Leistung des jungen Droysen und dessen „titanic appetite for hard work“ (xv). In dieses Lob schloss er auch sein Übersetzungswerk ein. Droysens literarischen Stil beurteilte er als „brilliant prose“ (xvi). Über den Alexander fasste er sich sehr knapp. Er nannte das Werk des 25Jährigen unbefangen „one of the masterpieces of German prose, displaying a surprising rich texture“ (xx). Die Charakterisierung seiner geschichtstheologischen Essenz ist knapp und um Prägnanz bemüht: For him [Droysen] the term Hellenismus brought together different strains of religious thought, and the Hellenistic period ended not with Augustus but with Jesus. Alexander the Great was the central pre-Christian figure. His military victories were the culmination of the antithesis between East and West, and his absolute powers were the basis for the cultural change that he initiated (xviii–xix).

Die Neubearbeitung des Gesamtwerks, in das der Alexander integriert wurde, stellte Droysen vor das Problem, die an Hegel orientierte Rhetorik des Jugendwerks abzuschwächen. Dabei könne man Droysens Dilemma erkennen: „he [Droysen] can already be seen trying to find a way out of the historical straitjacket of Alexander and Hellenism“. Bosworth konstatierte als Folge dessen eine – positive bewertete – Entwicklung im Gebrauch des Hellenismus-Begriffs durch Droysen: His language is carefully chosen and draws a sharp distinction between Hellenic and Hellenistic (xvii).

Droysens Bemühen um eine begriffliche und konzeptionelle Fixierung der von Alexander ein­ geleiteten Epoche der Weltgeschichte als Wegbereitung für die Ankunft Christi stand für Bos­ worth in enger Beziehung zu dessen „Lutheran orthodoxy“. In deren Tradition stehend sah sich Droysen verpflichtet, die Anforderung, Geschichte als eine empirisch forschende Disziplin zu betreiben, mit seiner tiefen Religiosität in Einklang zu bringen. It was clearly necessary to link God with the world. That was why Droysen admired the Reformation so deeply and considered it to be the start of modern history (xvii–xviii).

Bosworth’s abschließende Würdigung von Droysens Alexander zielte klar auf dessen literarische Wirkung. Die Aufgabe, dieses Vorwort zu schreiben, bot dem Verfasser – kurz vor seinem Ableben – nach dessen eigenen Worten eine willkommene Gelegenheit, seine Bekanntschaft mit der deutschen Sprache und Literatur zu erneuern, „which I have always found seductive“. Und er zögerte nicht, diesen Alexander zu deren berühmten Werken zu zählen. Doch es bleibe dabei eins zu bedenken: 55 Vgl. etwa sein viel zitiertes Diktum „Alexander spent much of his time killing and directing killing, and, arguably, killing was what he did best.“; Bosworth 1996, v. Vgl. zu Bosworth und seinem Verhältnis zu Droysen Briant 2016, 406–414, bes. 409. 56 Bosworth 2012. 57 Nippel 2012. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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But we should always bear in mind that everything that Droysen wrote was rooted in his deep and devout Lutheran belief that Hellenismus led inexorably to the Christian revelation (xx–xxi).

Nachwort Was könnte am Ende dieses kleinen tour d’ horizon durch ein winziges Segment des weiten Felds der Alexander-Rezeption stehen? Die Reihe der hier kurz vorgestellten Texte beginnt und schließt mit den einleitenden Worten zu den ersten Übersetzungen von Droysens Alex­ ander ins Französische und ins Englische. Ihre Verfasser, Auguste Bouché-Leclercq und Al­bert B. Bosworth, zollten darin der literarischen Qualität dieses – anscheinend unverwüstlichen – Werks Respekt. Die allermeisten der anderen Verfasser von Vor- und Nachworten zu Über­ setzungen und Neuausgaben dieses Werks hielten es da – jeder auf seine Weise – auch nicht anders. Zumindest in dieser Hinsicht schließt sich hiermit ein Kreis und umschließt dabei ein Sujet, dessen Bespiegelung aus unterschiedlichsten Positionen in den hier durchmessenen Zeitläuften eine entsprechende Vielfalt an Facetten aufleuchten lässt. So wie Droysens Bild der Antike im Blick auf seine Gegenwart geformt war und sich im stetigen Wechselbezug entwickelte, so lassen sich auch die hier vorgestellten Vor- und Nachworte im Wechselbezug des Blicks ihrer Autoren auf ihr Sujet und auf ihre eigene Gegenwart betrachten. Fasst man diesen Wechselbezug ins Auge, wird ein zugegebenermaßen etwas holpriger, doch zeitgeschichtlich aufschlussreicher Parcours über eine Zeitstrecke von rund 130 Jahren sichtbar. Sollte nun der Versuch, diesem Parcours mit seinen Höhen und Tiefen zu folgen, zu einem nachdenklich stimmenden Leseabenteuer führen, wäre die Aufgabe dieser Studie erfüllt. Bibliographie Die besprochenen Texte in chronologischer Reihenfolge Bouché-Leclercq 1883 = A. Bouché-Leclercq, Avant-propos du traducteur, in: J.-G. Droysen, Histoire de l’Hellénisme. Traduit de l’allemand sous la direction de A. Bouché-Leclercq, Tome Premier: Histoire d’Alexandre le Grand, Paris 1883, iii–xxxvi. Hedin 1917 = S. Hedin, Vorwort, in: J. G. Droysen, Geschichte Alexanders des Großen. Mit einem Vorwort von Sven Hedin und einer Einleitung von Dr. Arthur Rosenberg, Berlin 1917, vii–xii. Rosenberg 1917 = A. Rosenberg, Einleitung, in: J. G. Droysen, Geschichte Alexanders des Großen. Mit einem Vorwort von Sven Hedin und einer Einleitung von Dr. Arthur Rosenberg, Berlin 1917, xiii–xvii. Berve 31943 = H. Berve, Einführung, in: J. G. Droysen, Geschichte Alexanders des Großen. Neu­druck der Uraus­gabe, hg. v. Helmut Berve, Stuttgart 31943 (11931), vii–xxxiv. Benoist-Méchin 1935 = J. Benoist-Méchin, Préface, in: J. G. Droysen, Histoire d’Alexandre le Grand. Traduit de l’Alle­mand et préfacé par Jacques Benoist-Méchin, Paris 1935, 9–25 [= repr. Bruxelles 1991]. Vierhout 1946 = M. Vierhout, Inleiding, in: J. G. Droysen, Alexander de Groote. Verlucht met dertig af­beel­dingen, Den Haag, 1946, i–iv. Roces 1946/2001 = W. Roces, Presentacion, in: J. G. Droysen, Alejandro Magno, traducción de Wen­ ceslao. Roces, repr. Madrid 2001 (11946), vii–x. Bayer 1953/1998 = E. Bayer, Nachwort, in: J. G. Droysen, Geschichte des Hellenismus III: Geschichte der Epigonen, hrsg. v. Erich Bayer, Basel 1953, 435–490 [= repr. in: J. G. Droysen, Geschichte des Hellenismus, hg. v. Erich Bayer, eingel. v. Hans-Joachim Gehrke, Bd. III: Geschichte der Epigonen, Darmstadt repr. 1998, 435–490; erw. um einen Nachtrag 1980, 491–495]. Taeger 1955 = F. Taeger, Einführung, in: J. G. Droysen, Geschichte Alexanders des Großen. Mit einer Einführung von Dr. Fritz Taeger, München 1955, 7–13.

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Reinold Bichler

Busche 1833 = J. Busche, Nachwort, in: J. G. Droysen, Geschichte Alexanders des Großen. Nach dem Text der Erstausgabe 1833. Mit einem Nachwort von Jürgen Busche, unter herausgeberischer Mit­ arbeit von Paul König, Zürich 1984, 583–601. Gehrke 1998 = H.-J. Gehrke, Einleitung, in: J. G. Droysen, Geschichte des Hellenismus, hg. v. Erich Bayer, eingel. v. Hans-Joachim Gehrke, Bd. I: Geschichte Alexanders des Großen, Darmstadt repr. 1998, v–xv [Nachdruck 1998 der Ausgabe Tübingen 1952–1953, herausgegeben und mit einem Nach­ wort versehen von Erich Bayer, mit Namen- und Sachregister sowie dem Nachtrag zur Ausgabe 1980. Er­weitert um die Einleitung von Hans-Joachim Gehrke, Darmstadt 1998 (Taschenbuch-Ausgabe 2008)]. Hohlweg 2004 = A. Hohlweg, Vorwort, in: J. G. Droysen, Geschichte Alexanders des Großen. Nachdruck der Ausgabe Gotha 1877, vermehrt um den Anmerkungsteil mit kritischen Kommentaren von Renos, Herkos und Stantes Apostolides, hg. v. Armin Hohlweg, Neuried 2004, v–ix. Apostolides 2004 = R. Apostolides, Einleitung, in: J. G. Droysen, Geschichte Alexanders des Großen. Nach­druck der Ausgabe Gotha 1877, vermehrt um den Anmerkungsteil mit kritischen Kommentaren von Renos, Herkos und Stantes Apostolides, hg. v. Armin Hohlweg, Neuried 2004, xi–xx. Chaniotis 2004 = A. Chaniotis, Nachwort, in: J. G. Droysen, Alexander der Große. Mit einem Nachwort von Angelos Chaniotis, Frankfurt a.M. – Leipzig 2004, 715–739. Payen 2005 = P. Payen, Johann Gustav Droysen et l’Histoire de l’Hellénisme, in: Johann Gustav Droy­ sen, Histoire de l’Hellénisme. Traduit par Auguste Bouché-Leclercq, édité par Pascal Payen, Vol. 1, Grenoble 2005, 5–54. Kimmich 2012 = F. Kimmich, Translator’s Note, in: J. G. Droysen, History of Alexander the Great, transl. by Flora Kimmich, preface by G. W. Bowersock, foreword by A. B. Bosworth, Philadelphia 2012, xi–xii. Bowersock 2012 = G. W. Bowersock, Preface, in: J. G. Droysen, History of Alexander the Great, transl. by Flora Kimmich, preface by G. W. Bowersock, foreword by A. B. Bosworth, Philadelphia 2012, xiii–xiv. Bosworth 20102= A. B. Bosworth, Foreword, in: J. G. Droysen, History of Alexander the Great, transl. by Flora Kimmich, preface by G. W. Bowersock, foreword by A. B. Bosworth, Philadelphia 2012, xv–xxi.

Sekundärliteratur Bayer 31987 = E. Bayer, Griechische Geschichte, Stuttgart 31987 (11968). Benoist-Méchin 1964/2009 = J. Benoist-Méchin, Alexandre le Grand ou le rêve dépassé (356–323 av. J.-C.), Lausanne 1964 [ND Paris 1976 & 2009]. Berve 1927/21966 = H. Berve, Alexander. Versuch einer Skizze seiner Entwicklung (1927), in: H. Berve, Gestaltende Kräfte der Antike, hrsg. v. E. Buchner – P. R. Franke, München 21966, 312–332. Berve 1938/1966 = H. Berve, Die Verschmelzungspolitik Alexanders des Großen, Klio 31 (1938), 135–168 = Alexander the Great. The Main Problems, hrsg. v. G. T. Griffith, Cambridge – New York 1966, 103–136. Bichler 2001/2010 = R. Bichler, Alexander der Große und das NS-Geschichtsbild. In: Antike und Alter­ tums­wissenschaft in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus (2001), in: R. Bichler, Historio­ graphie – Ethno­graphie – Utopie. Ges. Schriften Bd. 3, hrsg. v. R. Rollinger – B. Truschnegg, Mar­burg 2010 (Philippika 18.3), 77–109. Bichler 2012 = R. Bichler, Droysens Hellenismus-Konzept. Seine Problematik und seine faszinierende Wirkung, in: St. Rebenich – H.-U. Wiemer (Hrsg.), Johann Gustav Droysen. Philologie und Historie, Politik und Philosophie: Tagung auf Schloss Rauischholzhausen bei Gießen, 11.–13. Juli 2008, Frankfurt a.M. – New York 2012, 189–238. Blanke 2008 = H. W. Blanke (Hrsg.), Johann Gustav Droysen, Historik. Supplement: Droysen-Biblio­ graphie, Stuttgart – Bad Cannstatt 2008. Bosworth 1996 = A. B. Bosworth, Alexander and the East. The Tragedy of Triumph, Oxford 1996. Bouché-Leclercq 1903/1907 = A. Bouché-Leclercq, Histoire des Lagides, 4 Bde., Paris 1903–1907. Bouché-Leclercq 1913/1914 = A. Bouché-Leclercq, Histoire des Séleucides, 2 Bde., Paris 1913–1914. Briant 2012 = P. Briant, Alexandre des Lumières. Fragments d’histoire européenne, Paris 2012.

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Ein unverwüstliches Werk?

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Briant 2016 = P. Briant, Alexandre. Exégèse des lieux communs, Paris 2016. Busche 1974 = J. Busche. Der Begriff Hellenismus als Epochenname. Untersuchungen zur Oinoe-Schlacht des Pausanias, Frankfurt a.M. 1974. Comploi 1995 = S. Comploi, Die Rezeption Alexanders des Großen bei J. G. Droysen und seinen Vor­ läufern und Zeitgenossen, maschinschriftl. Diplomarbeit Innsbruck 1995. Droysen 1877 = J. G. Droysen, Geschichte des Hellenismus. Erster Theil: Geschichte Alexanders des Großen, zweite Auf­lage, Gotha 1877. Droysen 61925 = J. G. Droysen, Geschichte Alexanders des Großen, Gotha – Stuttgart 61925. Droysen 1940/1998 = J. G. Droysen, Alessandro il Grande. La vita e la legenda di una delle più grandi figure della storia, traduzione di Luigi Alessio (1940), Milano 1992 [ND 1998]. Droysen 1929 = J. G. Droysen, Briefwechsel Bd. II, hrsg. v. Rudolf Hübner, Berlin – Leipzig 1929 [ND Osna­brück 1967]. Ehling 2012 = K. Ehling, s.v. Arthur Rosenberg, DNP Suppl. 6 (2012), 1077–1078. Gehrke 1990 = H.-J. Gehrke, Geschichte des Hellenismus, München 1990 (Oldenbourg Grundriss der Ge­schichte 1a). Gehrke 32003 = H.-J. Gehrke, Alexander der Große, München 32003 (11996). Keßler 2003 = M. Keßler, Arthur Rosenberg. Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen (1889–1943), Köln – Weimar – Wien 2003, 37. Kitzbichler 2012 = J. Kitzbichler, „Minder philologisch als künstlerisch“. Johann Gustav Droysens Über­setzung des Aristo­phanes, in: St. Rebenich – H.-U. Wiemer (Hrsg.), Johann Gustav Droysen. Philologie und Historie, Politik und Philosophie: Tagung auf Schloss Rauischholzhausen bei Gießen, 11.–13. Juli 2008, Frankfurt a.M. – New York 2012, 63–92. Landfester 2012 = K. Landfester, Droysen als Übersetzer und Interpret des Aischylos, in: St. Rebenich – H.-U. Wiemer (Hrsg.), Jo­hann Gustav Droysen. Philologie und Historie, Politik und Philosophie: Tagung auf Schloss Rauisch­holzhausen bei Gießen, 11.–13. Juli 2008, Frankfurt a.M. – New York 2012, 29–61. Losemann 2012= V. Losemann, s.v. Helmut Berve, DNP Suppl. 6 (2012), 90–93. Nippel 2008 = W. Nippel, Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008. Otto 1916 = W. Otto, Alexander der Große. Ein Kriegsvortrag, Marburg 1916 (Marburger Akademische Reden 34). Passegger 2005 = M. Passegger, Die Rezeption Alexanders des Großen in der Zeit zwischen der ersten Auflage der Alexander­geschichte Johann Gustav Droysens 1833 und deren Neubearbeitung 1877, maschinschriftl. Diplom­a rbeit Innsbruck 2005. Rebenich 2001 = St. Rebenich, Alte Geschichte in Demokratie und Diktatur. Der Fall Helmut Berve, Chiron 31 (2001), 457–496. Rebenich 2012 = St. Rebenich, Zur Droysen-Rezeption in der Alten Geschichte, in: St. Rebenich – H.-U. Wiemer (Hrsg.), Johann Gustav Droysen: Philologie und Historie, Politik und Philosophie. Tagung auf Schloss Rauischholzhausen bei Gießen, 11.–13. Juli 2008, Frankfurt a.M. – New York 2012, 453–484. Taeger 51953 = F. Taeger, Das Altertum. Geschichte und Gestalt der Mittelmeerwelt, Stuttgart 51953 (11939). v. Ungern-Sternberg 2017 = J. v. Ungern-Sternberg, Les chers ennemis. Deutsche und französische Alter­ tumswissenschaftler in Rivalität und Zusammenarbeit, Stuttgart 2017. Wiemer 2012 = H.-U. Wiemer, Quellenkritik, historische Geographie und immanente Teleologie in Jo­­ hann Gustav Droysens „Geschichte Alexanders des Großen“, in: St. Rebenich – H.-U. Wiemer (Hrsg.), Jo­hann Gustav Droysen. Philologie und Historie, Politik und Philosophie: Tagung auf Schloss Rauisch­ holzhausen bei Gießen, 11.–13. Juli 2008, Frankfurt a.M. – New York 2012, 95–157. Wolf 1996 = U. Wolf, Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie, Stuttgart 1996.

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„Hat man den Germanen dafür gedankt?“ * Wilhelm Webers Verbindungen zum Sicherheitsdienst des Reichsführers SS und sein „wissenschaftlicher Kriegseinsatz“ im Zweiten Weltkrieg Claudia Deglau Ich weiss, dass ich so gerade als Historiker gegenwartsnahe, also irgendwie unentbehrlich bin.1

Wilhelm Weber war neben Helmut Berve der führende Althistoriker in der Zeit des National­ sozialismus. Er war ein überzeugter Anhänger Adolf Hitlers sowie der nationalsozialistischen Weltanschauung und engagierte sich in Wort und Schrift für den nationalsozialistischen Staat.2 Während Berves Schwerpunkt in der Erforschung der Griechischen Geschichte lag, wurde Weber während der NS-Ära der wichtigste Repräsentant der Römischen Geschichte in Deutschland.3 Dabei waren nicht nur „seine Begrifflichkeit, sondern auch sein Denken und seine Urteile (…) tief von nationalsozialistischen Elementen durchdrungen“.4 Die im Titel dieses Beitrags zitierte rhetorische Frage „Hat man den Germanen dafür gedankt?“ verdeutlicht paradigmatisch den Blickwinkel, aus dem er insbesondere in seinen Vorträgen und Artikeln im Rahmen seines „wissenschaftlichen Kriegseinsatzes“ auf die Geschichte der Antike blickte. In Webers Vorstellung war es nämlich das „germanische Blut“, „das überreich in alte Volkstümer“ (hier: Frankreich) „einströmte“, und so eine „Verjüngung des Abendlandes“ erreichte.5 In diesem Sinne hatte er bereits 1936 als Inhaber des Berliner Lehrstuhls für Alte Geschichte dem Dekan einen Antrag zur Weiterleitung an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) übergeben, in dem er darum bat, dass „die Historische Abteilung des Instituts fürs Altertumskunde der Universität möglichst bald aus diesem ausgelöst und als eine Abteilung in das Historische Seminar überführt werde“.6 In seiner ausführlichen Begründung postulierte er: Und nicht Rom, sondern die Germanen stehen für ihn [i.e. Weber, C.D.] im Vordergrund der Betrachtung.7

* 1 2 3 4 5 6 7

Weber 1943, 21. Weber 1942b, 70. Zu Weber vgl. Christ 1982, 225 u. 259; Rebenich 2001a, 213; Rebenich 2005, 46, Demandt 1992, 200, weitere Belege für diese Einschätzung nennt Jähne 2010, 147 m. Anm. 10. Christ 1982, 210. Christ 1982, 219. Weber 1943, 21. Wilhelm Weber an den Dekan der Philosophischen Fakultät am 16.2.1936; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 4. Wilhelm Weber an den Dekan der Philosophischen Fakultät am 16.2.1936; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 7. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Webers Forderungen wurden nicht verwirklicht, hier wurde den Germanen also nicht „ge­ dankt“.8 Und auch Weber selbst, der doch als „gerade als Historiker gegenwartsnahe, also irgend­wie unentbehrlich“ war, wie er selbstbewusst verkündete, erreichte zuweilen nicht die Geltung, die ihm seiner Ansicht nach gebührte. Nippel konstatiert, „Webers Bekenntnis zum Nationalsozialismus“ einerseits und sein vergleichsweise „eher unscharfes Profil als ‚brauner‘ Althistoriker“ andererseits ergäben ein „diffuses Bild“.9 Christ weist darauf hin, dass „der dynamische Althistoriker“ in sich „geradezu widerspruchsvolle Elemente“ verbunden habe: Weber habe sich ebenso durch eine intensive Quellenforschung wie auch durch ein rhetorisches Pathos ausgezeichnet.10 Seine „Unterwerfung unter die nationalsozialistische Terminologie“ sei „unbegreiflich“.11 An den großen Gemeinschaftsunternehmungen der Altertumswissenschaften, wie dem von Paul Ritterbusch geleiteten „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“, bei dem Berve die Sparte der Altertumswissenschaften verantwortete, war Weber jedoch nicht beteiligt.12 Wilhelm Weber wurde 1882 in Heidelberg geboren und starb 1948 in Berlin an einem Herz­ infarkt. Er studierte Klassische und Deutsche Philologie, Geschichte, Archäologie und Kunst­ geschichte in Heidelberg und wurde 1906 mit der Arbeit Untersuchungen zur Geschichte des Kaisers Hadrian bei Alfred von Domaszewski promoviert. 1911 habilitierte er sich in Heidel­berg und erhielt im selben Jahr einen Ruf an die Reichsuniversität Groningen. Seine weiteren Stationen waren Frankfurt am Main (1916), Tübingen (1918) und Halle (1925), bevor er 1932 nach einem nicht ganz friktionsfreien Berufungsverfahren13 schließlich einem Ruf nach Berlin folgte. Diesen Lehrstuhl hatte er bis 1945 inne. Nach Kriegsende erhielt er keine Lehrerlaubnis mehr.14 Sein Schüler Joseph Vogt charakterisierte Weber in seinem Nachruf als „politischen Historiker“: Er war aufgeschlossen für die Politik der Gegenwart und hat die Höhen und Tiefen des politischen Historikers durchmessen. Wie immer seine Wege erscheinen mögen, eines ist sicher: er trug das Va­ ter­land in seinem Herzen.15

Um das bisherige Bild von Webers Wirken im Nationalsozialismus zu schärfen, wird in diesem Beitrag untersucht, wie sich Weber selbst für die nationalsozialistische Politik mobilisierte und wie er gleichzeitig die nationalsozialistischen Akteure als Ressource für sich zu nutzen

8 Webers Antrag scheint auch aus seiner Konkurrenzstellung zur Klassischen Philologie zu resultieren, er wurde offenbar hinsichtlich der Assistentenstellen benachteiligt; Wilhelm Weber an den Dekan der Philosophischen Fakultät am 16.2.1936; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 8 f. Der Dekan leitete den Antrag mit Befürwortung weiter und erwähnte in seiner Stellungnahme die „ständigen persönlichen Schwierigkeiten zwischen den Direktoren des augenblicklichen Instituts für Altertumskunde, nämlich den Philologen auf der einen und den Vertretern der alten Geschichte auf der anderen Seite“; Der Dekan an den Reichs- und Preussischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, durch den Rektor der Universität, am 20.2.1936; Wilhelm Weber an den Dekan der Philosophischen Fakultät am 16.2.1936; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 11. 9 Nippel 2010, 343. 10 Christ 2006, 69. 11 Christ 2006, 72. 12 Vgl. Hausmann 32007, 116–129. 13 Dazu Jähne 2010, 160 f., Grüttner 2012, 101. 14 Baltrusch 2012, 1297 f. Zu Webers Biographie vgl. auch Vogt 1949. Zu Webers Entlassung vgl. knapp Bott 2009, 102 f. 15 Vogt 1949, 178. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

„Hat man den Germanen dafür gedankt?“

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v­ersuchte.16 In besonderem Maße geeignet ist dafür die Auswertung von Webers Personalakte aus dem Reichssicherheitshauptamt, die seine Verbindung zum Sicherheitsdienst (SD) des Reichs­führers SS belegt.17 Ergänzend wird punktuell die Überlieferung aus den Beständen des Uni­versitätsarchivs der Humboldt-Universität zu Berlin herangezogen.18 Zu klären ist zunächst, in welchem Verhältnis Weber zum SD stand. Anschließend wird seine Tätigkeit für den SD als „Zubringer“ dargestellt: Ausgehend von Webers im Zusammenhang mit seinem „literarischen Kriegseinsatz“ gemachten Erfahrungen mit der Zensur, die dem SD geschildert wurden, werden dabei auch seine Vorträge und Artikel selbst in den Blick genommen. Ebenfalls thematisiert werden Webers Reisen nach Rumänien und seine Vorschläge für die Südostforschung, die er dem SD unterbreitete. Für die Frage nach Webers Motivation, sich mit dem SD des Reichsführers SS einzulassen, aber auch nach seiner Stellung im Fach ist die Auseinandersetzung um seine Teilnahme am Fachlager der Altertumswissenschaften 1942 und die Intervention des SD erhellend. Abschließend soll beurteilt werden, ob sich Webers Motivation für seine „Selbstmobilisierung“ für den Nationalsozialismus aus der von ihm verinnerlichten NS-Ideologie speiste, oder ob sein Handeln eher von zweckrationalen persönlichen Interessen geleitet wurde. Wilhelm Weber und der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS Als der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD) 1931 von Reinhard Heydrich gegründet wurde, sollte er zunächst als Nachrichtendienst dem Zweck der Informations­gewinnung über den politischen Gegner, aber auch über innerparteiliche Konkurrenten dienen. Ab 1935/36 wurde laut Wildt die „Lebensgebietsarbeit“, also die systematische Beobachtung aller gesellschaftlichen Bereiche, immer bedeutender, bis sie schließlich bei der Gründung des Reichs­ sicherheitshauptamtes im September 1939 im Vordergrund stand.19 Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs begann dann die Phase, in der SD-Angehörige gemeinsam mit SS, Gestapo- und Kripobeamten zu Mördern wurden. Neben der Beschlagnahmung von Akten und Dokumenten gehörten die Verhaftung und Liquidation politischer und „weltanschaulicher“ Gegner, insbesondere der Juden, zu den Aufgaben der sogenannten Einsatzgruppen: ab 1939 in Österreich und dem Sudentenland, 1939 in Tschechien und Polen, 1940 in Norwegen, den Niederlanden und Frankreich, von 1941 an in Südosteuropa, der Sowjetunion und in anderen Gebieten Europas.20 Der SD radikalisierte sich somit zu einer der „aggressivsten Institutionen des 20. Jahrhunderts 16 Das Narrativ von den beiden Sphären „Wissenschaft“ und „Politik“ als zwei voneinander getrennte Hand­ lungs­bereiche wurde in der Wissenschaftsgeschichte von Ash in Frage gestellt. In der Folge wird zu­nehmend nicht mehr nach den „Verstrickungen“ einzelner Wissenschaftler bzw. ihrer „Indienstnahme“ durch den Nationalsozialismus gefragt, vielmehr werden Wissenschaft und Politik als Ressourcen für­einander begriffen und die „Selbstmobilisierung“ der Wissenschaftler in den Blick genommen. Ash 2002, 33 f. Vgl. auch Ash 2006, 19. 17 Die Akte stammt aus dem „NS-Archiv“ des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR und wird heute im Bundesarchiv verwahrt. Jähne zitiert aus ihr zwar einzelne Dokumente, thematisiert aber nicht Webers Verbindungen zum und seine Zuarbeit für den SD; Jähne 2010, 146, 148, 152, 157, 159. Hinweise auf die Akte bereits bei Kowalczuk 1997, 33 u. Rebenich 2005, 46, Anm. 20. 18 Eine vollständige Darstellung von Webers Berliner Zeit auf Grundlage einer gründlichen Auswertung der archivalischen Überlieferung fehlt bisher und kann im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden. Zu Weber in Berlin vgl. zuletzt Nippel 2010 u. Jähne 2010. 19 Wildt 2003, 7. 20 Wildt 2003, 7 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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(…), die ihren politische Einflußbereich weit über das geheimdienstliche Kerngeschäft von Über­ wachung und Verfolgung ausweitete und zum Wegbereiter der ‚Endlösung‘“ wurde.21 In der Zeit, in der die „lebensgebietsmäßige Auswertung“ mehr und mehr an Bedeutung ge­wann, interessierte sich der SD erstmals für Wilhelm Weber. Die in seiner Personalakte ent­ haltenen Dokumente stammen aus der Zeit zwischen 1935 und 1943. Für keinen anderen Alt­ historiker wurde – soweit bekannt – eine derartige Akte angelegt, jedenfalls ist keine überliefert. Gleich­wohl ist bekannt, dass Franz Miltner eine Denkschrift für den SD anfertigte,22 und dass Franz Altheim und Erika Trautmann auf ihren gemeinsamen, von der von Heinrich Himmler ge­gründeten Lehr- und Forschungsgemeinschaft Das Ahnenerbe der SS finanzierten Forschungs­ reisen Berichte für den SD anfertigten.23 Möglicherweise hatte Weber mit seinem Vortrag Vom neuen Reich der Deutschen24 bei einem Festakt in der Berliner Universität, mit dem am 30. Januar 1935 sowohl die Reichsgründung als auch die Machtübernahme der Nationalsozialisten gefeiert wurde, auf sich aufmerksam gemacht. Im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung wurde der Vortrag gut aufgenommen.25 Der publizierte Vortrag befindet sich auch in Webers Personalakte beim SD. In einem als geheim klassifizierten Brief bat der SD-Führer des SD-Oberabschnitts Ost (SSStandartenführer Behrends) im März 1935 den Leiter des SD, Reinhard Heydrich, um Aus­kunft über „Prof. Wilhelm Weber; Alte Geschichte, Universität Berlin“, für „eine evtl. Zusammen­arbeit mit dem SD“.26 Warum gerade Weber ausgewählt worden war, geht aus dem Brief nicht hervor – jedenfalls wollte der SD offenkundig einen Vertrauensmann in der Berliner Philosophischen Fakultät rekrutieren. Das Ziel des SD war es laut Browder, die Schlüssel­institutionen der Gesell­ schaft zu infiltrieren und diese „along proper NS lines toward the future Reich“ zu führen.27 Das SD-Netzwerk setzte sich aus V-Leuten, haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern sowie dem Führungskorps zusammen. Zu den V-Leuten, die nicht öffentlich in Erscheinung traten, aber zur Treue auf den SD verpflichtet wurden, zählten beispielsweise Land- und Schulräte, Ärzte, Richter, Opernsänger und auch Professoren.28 Bekanntermaßen waren beispielsweise der Historiker Erich Maschke und der Indogermanist Walther Wüst,29 der von 1941-1945 als Rektor der Universität München amtierte, V-Männer des SD.30 Der Klassische Philologe Hans Drexler wurde in Breslau vom dortigen Führer des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes angeworben, für den SD Berichte über die Stimmung an der Universität anzufertigen. Während 21 Schreiber 2008, 174. 22 Miltner war 1941 vom SD aufgefordert worden, ein „Geheimpapier“ zu verfassen, das „der Rechtfertigung des Fachs Alte Geschichte dienen sollte“. Pesditschek 2012, 185; vgl. Ulf 1985, 54; Losemann 2001, 743. 23 Pringle 2006, 112 u. 119 f.; zu den Berichten vgl. auch Losemann 1977, 126–132. 24 Wilhelm Weber, Vom Neuen Reich der Deutschen. Rede gehalten bei der Feier der Reichsgründung und der Erneuerung des Reiches durch den Führer am 30. Januar 1935, Berlin 1935. 25 Nagel 2012, 424. 26 Der Führer des SD-Oberabschnitts Ost (Decknr. 80 001 = SS-Standartenführer Behrends) an Reinhard Heydrich (Decknr. 1), SD-Hauptamt, 22.3.1935; BArch Berlin, ZB 7079, A.5. Der interne Schriftverkehr des SD wurde anonymisiert, der Briefkopf mit der genauen Bezeichnung der Dienststelle und dem Namen des Mitarbeiters wurde meist weggelassen und es wurde nur mit einem Decknummernsystem gearbeitet; Schreiber 2008, 62-66. Behrends Decknummer nach Schreiber 2008, 36. 27 Browder 1996, 233. 28 Schreiber 2008, 3. 29 Lerchenmueller 2003, 165. 30 Schreiber 2008, 340 m. Anm. 153; Schneider 2016, 179–181. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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er von 1943 bis 1945 Rektor der Universität Göttingen war, war er ebenfalls Vertrauensmann des SD.31 Vermutlich war Weber vom SD für eine ähnliche Tätigkeit an der Universität Berlin ins Auge gefasst worden. Auf die Frage nach Webers Eignung hin ersuchte das SD-Hauptamt einen weiteren Mit­ arbeiter, darüber zu berichten, ob Weber „für die Mitarbeit verwendet werden kann“32 und erinnerte im Mai 1935 noch einmal an die Erledigung des Auftrags.33 Doch dieser konnte nur wenig berichten: In einem beigelegten Schriftenverzeichnis wurden lediglich sieben von Webers Publikationen (erschienen zwischen 1917 und 1929) aufgeführt.34 In der Beurteilung des SDMitarbeiters heißt es knapp, Weber habe sich „nur in zwei Reden wirklich politisch geäussert. In beiden wendet er sich scharf gegen den Weimarer Volksstaat.“35 Über Webers politische Einstellung und seine „Verwendbarkeit“ weiß der Absender nichts zu berichten, diese müsste „durch eingehende Erörterungen durch den zuständigen Oa. (Oberabschnitt, C. D.) geklärt werden.“36 Das SD-Hauptamt antwortete daraufhin dem SD-Oberabschnitt Ost, dass man kein eindeutiges Urteil darüber abgeben könne, ob Weber geeignet sei, da man nur ein Gutachten über seine Schriften erhalten habe.37 Es scheint also zunächst zu keiner formalen Zusammenarbeit gekommen zu sein. In die Akte wurden dennoch fortan Dokumente zu Webers Person abgelegt.38 Dass Weber später als „Vertrauensmann“39 für den SD gearbeitet hat, ist mit hoher Wahr­ scheinlich­keit auszuschließen, denn seine Akte enthält keine Verpflichtungs­erklärung40 und auch keinen Personalbogen, der ab 1939 ein Pflicht­bestandteil der Personalakten von V-Leuten war.41 Er hatte also nicht den Status „im SD tätig“, geschweige denn war er SD-Angehöriger.42 31 Wegeler 1996, 246 m. Anm. 420; Thieler 22006, 28. 32 SD-Hauptamt an Mitarbeiter 65 001 am 12.4.1935; BArch Berlin, ZB 7079, A.5. Wem die Decknummer zuzuordnen ist, lässt sich nicht klären (vgl. die Übersicht bei Schreiber 2008, 35 f.). 33 SD-Hauptamt an Mitarbeiter 65 001 am 27.5.1935; BArch Berlin, ZB 7079, A.5. 34 Aufgeführt sind folgende Publikationen: Drei Jahre Weltkrieg, Frankfurt 1917; Zur Geschichte der Monarchie, Tübingen 1919 (Antrittsrede); Römische Kaisergeschichte und Kirchengeschichte, Stuttgart 1929; Josephus und Vespasian. Untersuchungen zu dem Jüdischen Krieg des Flavius Josephus, Berlin – Stuttgart – Leipzig 1921; Vom vergangenen und vom zukünftigen Deutschen: Eine Gedächtnisrede zur Reichs­gründung für die Stuttgarter und Hohenheimer Studenten, Tübingen 1923; Theodor Mommsen. Zum Gedächtnis seines 25. Todestages, Stuttgart 1929; Der Prophet und sein Gott. Eine Studie zur vierten Ekloge Vergils, Leipzig 1925. 35 SD-Mitarbeiter 65 001 an Reinhard Heydrich (SD-Hauptamt) am 14.6.1935; BArch Berlin, ZB 7079, A.5. 36 SD-Mitarbeiter 65 001 an Reinhard Heydrich (SD-Hauptamt) am 14.6.1935; BArch Berlin, ZB 7079, A.5. 37 Reinhard Heydrich (SD-Hauptamt) an 80 001 am 15.7.1935; BArch Berlin, ZB 7079, A.5. 38 Beispielsweise ein SD-interner Brief mit den Daten zu einem Antrag Webers bei der Deutschen KongressZentrale 1938, in Italien den Vortrag „Versuch einer Vergleichung: Vom römischen und germanischen Wesen“ zu halten. Mitarbeiter I/1111 (SD-Hauptamt) an I 131 (SD-Hauptamt) am 13.1.1938; BArch Berlin, ZB 7079, A.5. 39 Auf der sprachlichen Ebene handelt es sich bei dem Terminus „Vertrauensmann“ um einen Euphemismus für Spitzel/Agenten, innerhalb des SD ist der Agent aber durchaus als unterschiedlicher Funktionstyp vom „Vertrauensmann“ abzugrenzen, zumindest bis ab 1941 als Ergebnis des Funktionswandels des SD vom Gegnernachrichtendienst hin zum Lebensgebietsnachrichtendienst die Zusammenarbeit mit Agenten ganz an die Gestapo abgegeben wurde, dazu Schreiber 2008, 188 f. 40 Die „Verpflichtungsscheine“ wurden in den Personalakten der V-Männer abgeheftet; Schreiber 2008, 208. 41 Schreiber 2008, 205 m. Anm. 156. 42 Zu den Parametern „Status“ und „Funktion“, mit denen Schreiber die Stellung der Personen im SDNetzwerk beschreibt: Schreiber 2008, 67–91 u. 175. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Ebenso wenig handelt es sich aber um eine „Opfer-Akte“43. Doch wieso führte der SD dennoch eine Akte über Wilhelm Weber? Er war offenbar nicht ganz uninteressant für den SD, nur eben nicht als „Vertrauensmann“ geeignet. Franz Six, Amtschef im Reichssicherheitshauptamt, unterschied 1939 insgesamt fünf verschiedene „Nachrichtenträger“ innerhalb des SD: Zubringer, Agenten, Vertrauenspersonen, Mitarbeiter und Beobachter.44 Schreiber ordnet Weber in die Kategorie der „Zubringer“ ein.45 Als „Zubringer“ wurden zum einen diejenigen bezeichnet, bei denen die Absicht bestand, sie nach einer Probezeit als „Vertrauensmänner“ zu rekrutieren und zum anderen diejenigen, die eher auf Distanz gehalten wurden, an der äußersten Peripherie des Netzwerks standen und nur ab und zu „abgeschöpft“ wurden.46 Six beschrieb die Funktion der Zubringer 1938 folgendermaßen: Zubringer sind Personen, welche im Einzelfall Nachrichten beibringen. Sie bringen diese an Ver­ trauenspersonen oder an Beobachter. Sie werden weder auf Treue noch auf Verschwiegenheit verpflichtet, noch werden sie betreut.47

In der Praxis standen sie meist in einem Vertrauens- oder Freundschaftsverhältnis zum Be­ obachter oder verpflichteten Vertrauensmann.48 Laut Schreiber handelt es sich bei Webers Akte um die umfangreichste Akte eines Zubringers, die jemals entdeckt wurde.49 Vier Jahre später, im Mai 1939, holte das SD-Hauptamt offenbar erneut Erkundigungen über Weber ein. Aus dem Antwort-Fernschreiben geht hervor, dass sich ein SS-Oberscharführer Friedrich aus dem Referat II/214 (Kunst) telefonisch an den SD-Oberabschnitt Ost (Berlin) ge­wandt hatte. Schreiber interpretiert den Vorgang als ein weiteres Ausloten einer möglichen Mitarbeit,50 dies geht allerdings nicht explizit aus den Dokumenten hervor. Die Auskunft über Weber übermittelte der SS-Obersturmbannführer Otto-Ernst Prast51 vom SD-Oberabschnitt Ost: W. ist wissenschaftlich bekannt durch eine grosse Anzahl von Untersuchungen aus den verschiedensten Bereichen der Alten Geschichte, vor allem der spaetroemischen Zeit. Seine letzten Werke haben ihn unzweifelhaft an die Spitze der deutschen Alt-Historiker gestellt. Zumal er sich mit nachdruecklichem Erfolg um uns naheliegende Themen bemueht und seinen Schuelern aehnliche Wege zu weisen sucht. Weber ist ausserordentlich ehrgeizig und deshalb mit Vorsicht zu geniessen. P­olitisch ist er frueher in Vaterlands-Partei hervorgetreten. Er gehoert der NSDAP bis heute nicht an, fuehlt sich aber durchaus als Nationalsozialist.52

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Schreiber 2008, 184. Schreiber 2008, 175. Schreiber 2008, 183 f. Schreiber 2008, 184. Zitiert nach: Schreiber 2008, 180. Schreiber 2008, 180. Schreiber 2008, 184. Schreiber 2008, 184. Otto-Ernst Prast wurde nach dem Krieg 1958 Mitglied der Geschäftsführung der Zigaretten-Firma Reemtsma. Für seine Mittäterschaft am Mord an 2000 Juden in der Sowjetunion wurde er 1973 in München zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt; Sachser 1974/1975, 480. 52 SD-Führer des SD-Oberabschnitts Ost an das SD-Hauptamt (Fernschreiben, gez. Prast) am 11.5.1939; BArch Berlin, ZB 7079, A.5. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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In welchem Zusammenhang auch immer diese Beurteilung angefordert worden ist, spätestens nach der Charakterisierung Webers als „ausserordentlich ehrgeizig und mit Vorsicht zu geniessen“, dürfte der SD nicht mehr erwogen haben, Weber als „Vertrauensmann“ zu rekrutieren. Möglicherweise stand die Anfrage auch im Zusammenhang mit der „SD-mäßigen“ Bearbeitung der Geschichtswissenschaft,53 denn zu dem Zeitpunkt versuchte der SD zunehmend Einfluss auf die Wissenschaft zu nehmen. Allerdings vermag die offenkundige Dringlichkeit des Auskunftsersuchens (Telefonat, Fernschreiben) dazu nicht ganz zu passen. Abgelegt wurde auch ein Gutachten, das Weber 1941 im Rahmen der Besetzung des Jenaer Lehrstuhls für Alte Geschichte auf eine Anfrage des Dekans Erich Maschke54 verfasst hatte.55 Weber äußerte sich in dem Gutachten besonders kritisch über einige jüngere Althistoriker und zur grundsätzlichen Profilierung des Fachs Alte Geschichte im Nationalsozialismus: So ergibt sich, daß die Arbeiten Hampls, Hoffmanns, Bengtsons nicht gerade stark auf neuen Wegen gehen. Sie muten mich an, als sei seit 1933 nichts passiert; sie könnten auch 1923 oder 1903 geschrieben sein. Zukunftsträchtiges im Sinn einer erneuerten Geschichtswissenschaft kann ich nirgends finden. Von der neuen großen Problematik gar nicht zu reden.56

Warum das Gutachten in Webers Akte abgelegt wurde, muss offenbleiben. Maschkes SD-Mit­ arbeit begann – soweit bekannt – erst in seiner Leipziger Zeit ab 1942.57 Nicht ausgeschlossen werden kann, dass es Weber selbst war, der das Gutachten dem SD zukommen ließ, weil er sich vielleicht profilieren wollte, zudem hatte er in dem Gutachten seine eigenen Schüler besonders hervorgehoben.58 Festzuhalten ist, dass Weber als „Zubringer“ nur gelegentlich Informationen an den SD lieferte. Es kann davon ausgegangen werden, dass mehr Informationen übermittelt wurden, als sich anhand der archivalischen Überlieferung rekonstruieren lässt – wenn sie etwa im persönlichen Gespräch oder per Telefon überbracht wurden. Auch Berichte von „Vertrauensmännern“ wurden in der Regel nicht in deren Personalakten abgeheftet.59 Der Kontakt zwischen Weber und dem SD kam vermutlich über seinen Schüler Berthold Rubin zustande.60 53 Vgl. Lerchenmueller 2001; Lerchenmueller 2003. 54 Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Jena an Wilhelm Weber (Abschrift) am 29.8.1941; BArch Berlin, ZB 7079, A.5. 55 Wilhelm Weber an Erich Maschke (Abschrift) am 3.9.1941; BArch Berlin, ZB 7079, A.5. Vgl. Losemann 1977, 75–77; Deglau 2017, 270–274. 56 Wilhelm Weber an Erich Maschke (Abschrift) am 3.9.1941; BArch Berlin, ZB 7079, A.5. 57 Schneider 2016, 179. 58 Ebenfalls in der Akte enthalten sind die ursprüngliche Anfrage Maschkes vom 29.8.1941 sowie seine Antwort auf Webers Schreiben (5.9.1941). 59 Schreiber 2008, 21. 60 Berthold Rubin (1911–1990) hatte bei Weber in Berlin studiert und war 1938 mit der Arbeit Justinian I. Herrscher­tum und Ostpolitik in Berlin promoviert worden. Er habilitierte sich 1942 mit der Arbeit Justinian. Herrschertum und Reichspolitik. Kap. III, IV. Der Untergang der Wandalen und Goten. Die Habilitationsschrift und die Dissertation blieben ungedruckt, gingen aber ein in Rubins Werk Das Zeitalter Justinians, Bd. 1., Berlin 1960. Während des Krieges erhielt er 1942 die Dozentur in Berlin, hat aber nie dort gelehrt. Er wurde zunächst stellvertretender Ordinarius für byzantinische Philologie in Prag, dann planmäßiger Extraordinarius und Direktor des Instituts für Balkankunde an der Universität Wien. Beide Stellen konnte er aufgrund seines Militärdienstes nicht ausüben. 1957 wurde er Professor für Byzantinistik in Köln; Demandt 1992, 202 m. Anm. 153. – In der Bundesrepublik wurde er später nicht nur als Spezialist für die Spätantike und Justinian-Forscher bekannt, sondern vor allem auch als © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Webers „literarischer Kriegseinsatz“ und die Zensur Wilhelm Weber hielt nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mehrere Vorträge im Aus­ land und beteiligte sich somit am wissenschaftlichen bzw. literarischen „Kriegseinsatz“, wie es sein Schüler Berthold Rubin gegenüber dem SD formulierte.61 Er gehörte also zu den vielen Wissenschaftlern, die so einen Beitrag zur deutschen „Kulturpolitik“ leisteten. Allein zwischen März 1941 und März 1942 sollen laut dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung über 700 deutsche Wissenschaftler zu Vorträgen, Vorlesungsreihen oder Gastprofessuren ins Ausland gereist sein.62 Auch vor dem Krieg hatte Weber bereits Vorträge im Ausland gehalten, deren Themenstellungen offenkundig stark vom Zeitgeschehen beeinflusst waren, wie beispielsweise im Januar 1938 in Italien über Versuch einer Vergleichung: Vom römischen und germanischen Wesen.63 Einen bemerkenswerten Einblick in Webers politisches Engagement für den National­so­ zialismus im Zweiten Weltkrieg und auch für seine Verbindung zum SD bieten zwei in Webers Personalakte überlieferte Briefe aus dem Jahr 1941: ein Brief von Rubin an den Leiter der Abteilung Wissenschaft im SD-Hauptamt, SS-Standartenführer Ernst Turowski,64 und ein Brief von Weber an Rubin. In beiden Briefen geht es um Webers Erfahrungen mit der Zensur. Weber war Rubins akademischer Lehrer.65 Rubin hatte sich gerade erst im April 1941 zur Habilitation

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Propagandist eines „Vierten Reiches“. Wegen seiner diversen rechtsextremen Aktivitäten wurde er 1968 von der Universität Köln suspendiert. Den Höhepunkt seiner Aktivitäten stellt seine Anfang der 1970er Jahre gemeinsam mit dem rechtsextremen Anwalt Jürgen Rieger inszenierte eigene Entführung dar, die er linken Gruppierungen anlasten wollte. Wegen Vortäuschung einer Straftat wurde zu er sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt; Pfefferle – Pfefferle 2014, 130. Zu seinen politischen Aktivitäten s. a. [Anon.] 1968. Berthold Rubin an Ernst Turowski am 15.6.1941; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Tilitzki 1998, 193. Weber hatte bei der Deutschen Kongress-Zentrale einen Antrag auf Auslandsreisegenehmigung nach Italien zwecks des Vortrags gestellt, worüber offenbar der SD informiert wurde; I/1111 an I/131 (beide SD-Hauptamt), am 13.1.1938; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Ernst Turowski (1906–1986) studierte Geschichte und Staatswissenschaften in Bonn, Königsberg und Berlin, wo er 1937 mit einer Arbeit über die Entwicklung Polnisch-Preußens und dessen staatsrechtlicher Stellung zu Polen im 15./16. Jahrhundert promoviert wurde. Im selben Jahr begann seine hauptamtliche Tätigkeit im Sicherheitsdienst. Ab September 1937 leitete er das Referat Wissenschaft im SD-Hauptamt. Ab 1939 wurde er bei einer Einsatzgruppe in Polen eingesetzt. 1943 wurde er Abteilungsleiter beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD Verona. Nach dem Krieg wurde er Geschäftsstellenleiter einer Bausparkasse in Hannover; Grüttner 2004, 175 f.; Klee 32011, 633; Wildt 22008, 385, 390 f., 776; Lerchenmueller 2001, 30 f.; Lerchenmueller 2003, 179. In seinem Lebenslauf, den er anlässlich seiner Meldung zur Promotion einreichte, schrieb Rubin über Weber: „Seit dem sechsten Semester verbürgte Herr Professor Dr. Wilhelm Weber Ausrichtung und produktiven Einsatz meines Studiums. Er gab die Richtlinien für Reisen, Berufswettkampf und Dissertation. Ihm gebührt mein besonderer Dank.“; Lebenslauf Berthold Rubin [undatiert, ca. 1938]; HUB UA, Phil. Fak., Nr. 904, Bl. 201. – Weber bestätigt in der Meldung zur Promotion, Rubin habe das Thema der Dissertation von ihm erhalten „und im kameradschaftlichen Mitarbeiterverhältnis unter meiner Aufsicht bearbeitet“; Meldung zur Promotion vom 24.10.1938; HUB UA Phil. Fak., Nr. 904, Bl. 202. – 1943 schrieb Rubin anlässlich seiner Berufung an die Universität Wien an den Berliner Rektor, dass er sich seinem „verehrten“ akademischen Lehrer Weber „zutiefst verbunden“ fühle und ihm „stets die Treue bewahren“ werde; HUB UA, PA Berthold Rubin, Bl. 36. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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g­e­meldet und seine Habilitationsschrift vorgelegt. Weber war neben Übersberger einer der beiden Gutachter.66 In seinem Brief berichtete Rubin Turowski über eine Unterredung mit Weber. Rubin hielt sich nicht damit auf, Weber in seinem Brief näher vorzustellen, offenkundig kannte Turowski Weber ebenfalls. Turowski war nämlich 1937 – also etwa zur selben Zeit wie Rubin – in Berlin in Geschichte promoviert worden. Bei Weber studiert hatte Turowski jedoch nicht.67 Ob Rubin eine Funktion im SD hatte, lässt sich nicht mehr klären.68 Indem Rubin sich direkt an Turowski wandte, um ihm über vermeintliche Missstände zu berichten, verhielt er sich jedenfalls wie ein „Vertrauensmann“ des SD. Es ist davon auszugehen, dass er wusste, wo Turowski arbeitete. Für eine derartige Tätigkeit könnte auch die Anrede „Lieber Kamerad!“ sprechen; möglicherweise redeten sie sich aber auch als Kommilitonen oder als SA-Mitglieder so an.69 Sicher belegt werden kann eine Funktion als „Vertrauensmann“ nicht. Festzuhalten ist aber, dass Rubin wie einer agierte und Informationen von Weber an den SD weitergab. Webers „Kriegseinsatz“ werde, so klagte Rubin, „durch allerhand Amtsschimmelei“ sabotiert.70 Weber habe ihm nämlich von seinen „unerfreulichen Erlebnissen mit der Zensurbehörde“ berichtet: Während der Journalist, ob berühmt oder unberühmt, seine Erzeugnisse fast unkontrolliert in die Presse bringt, wandert die entsprechende Arbeit eines Professors derart langsam durch das Zensur­ labyrinth des Propagandaministeriums, daß sie schließlich überhaupt nicht mehr gedruckt werden kann oder wegen veränderter Lage der Tagespolitik in eine ganz andere Politik hereinkommt und womöglich der Lächerlichkeit verfällt.71

Rubin bezog sich in seinen Ausführungen auf „eine Unterredung mit Professor Weber“, machte aber sogleich deutlich, dass er es für ein allgemein relevantes Problem hält:

66 Der Dekan der Phil. Fak. (Grapow) an den Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin am 23.3.1942; HUB UA, ZD I/921, Bl. 10. 67 Aus Turowskis Lebenslauf in den Promotionsakten der Philosophischen Fakultät geht hervor, dass er keine Übungen bei Weber belegt hatte; Lebenslauf Ernst Turowski [undatiert, ca. 1936], HUB UA, Phil. Fak. Nr. 857, Bl. 226. Turowski wurde in seinem Doktorexamen auch nicht in Alter Geschichte geprüft; Ernst Turowski, Meldung zum Doktorexamen am 5.6.1936; HUB UA, Phil. Fak. Nr. 857, Bl. 216. 68 Im ehemaligen „NS-Archiv“ des MfS, das heute zu den Beständen des Bundesarchivs gehört, ist keine SD-Personalakte Rubins überliefert. Die Überlieferung des Reichssicherheitshauptamtes ist jedoch auch insgesamt sehr lückenhaft. 69 Turowski war laut eigener Aussage seit 1933 Mitglied in der SA, 1934 wurde er laut eigener Aussage in die SS überwiesen. In der NSDAP war er nicht.; Fragebogen Ernst Turowski, Juni 1936; HUB UA, Phil. Fak., Nr. 857, Bl. 220. – Rubin war seit dem 27.4.1933 ebenfalls Mitglied der SA, im Herbst 1938 im Rang eines Sturmmanns. In der NSDAP war er seit dem 1.5.1937; Berthold Rubin, Angaben für die Meldung zur Promotion, 24.10.1938; HUB UA, Phil. Fak., Nr. 904, Bl. 203. Aus seiner Akte bei der NS-Dozentenschaft der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin geht hervor, dass er 1941 die Dienststellung eines Rottenführers innehatte. SS-Mitglied war er nicht; Fragebogen der Dozentenschaft der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin Berthold Rubin am 7.4.1941; HUB UA, ZD I/921, Bl. 1. – Auch aus seinen Angaben in der parteistatistischen Erhebung 1939 geht keine SS-Mitgliedschaft hervor; Parteistatistische Erhebung 1939 des Reichsorganisationsleiters der NSDAP, Berthold Rubin am 1.12.1939; BArch Berlin, R 9361/I, 2958, Bl. 147192. 70 Berthold Rubin an Ernst Turowski am 15.6.1941; BArch Berlin, ZB 7079.A5. 71 Berthold Rubin an Ernst Turowski am 15.6.1941; BArch Berlin, ZB 7079.A5. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Claudia Deglau Da seine unerfreulichen Erlebnisse mit der Zensurbehörde nicht nur ihn persönlich, sondern sämtliche Professoren betreffen, die aktuelle Vorträge, Aufsätze oder Zeitungsartikel in den Druck geben, darf ich wohl mit Ihrem Interesse für diese peinlichen und für einen ganzen Berufsstand wenig schmeichelhaften Verhältnisse rechnen.72

Der Grund für diese Verhältnisse war seiner Meinung nach, dass Professoren laut einer Be­ stimmung nicht der Reichsschrifttumskammer angehören dürften, was erheblichen organisatorischen Aufwand bei der Zensur nach sich zöge. Über Weber schreibt Rubin, dieser sei ein „ausgezeichneter Kenner der Mittelmeerwelt“ und geradezu prädestiniert dazu, „jedes Ereignis in diesem Raum mit einem aktuellen Geschichtsabriß u­nd politischen Ausblick zu begleiten“.73 Dies werde allerdings durch die Zensur erschwert. Rubin nennt beispielhaft einen Artikel Webers über Mazedonien, den er auch beilegte.74 Dieser sei drei Wochen zu spät in die Presse gekommen, „womit ein beträchtlicher Teil seiner Wirkung verloren ging“. Viel schlimmer noch sei es Weber mit einem Vortrag über Italiens Orientpolitik ergangen, der „nach vielmonatigem Ablagern“ in dem Augenblick erschien, „als die Italiener in der Cyrenaika das Hasenpanier ergriffen“.75 So habe sich ein „Mißverhältnis zwischen dem Inhalt des auf Sieg gestimmten Vortrages und der Tagessituation“ ergeben, die Rubin als „mehr als peinlich“ bezeichnete. Weber habe noch ein Dutzend weiterer solcher Fälle erlebt, berichtet Rubin: Aufträge, über Kreta, Ägypten u. a. zu schreiben lehnt Professor Weber jetzt begreiflicherweise entrüstet ab und ist auch meinem Zureden unzugänglich.76

Rubin regte an, sich bei weiteren Wissenschaftlern, die auch „im literarischen Kriegseinsatz“ seien, nach ihren Erfahrungen mit der Zensur zu erkundigen und sich so „ein objektives Bild von der Lage zu machen“. Er riet Turowski, dem „Unglücksparagraphen“, der dafür verantwort­ lich sei, dass „die Professoren entgegen allen Forderungen nach politischer Wissenschaft praktisch zur Untätigkeit verurteilt seien“, einmal auf den Zahn zu fühlen.77 Offenbar war Rubin in der Folge vom SD dazu aufgefordert worden, über den „Fall Weber“ noch etwas konkreter zu berichten, denn in der Akte ist ebenfalls ein weitaus ausführlicherer Brief von Weber an Rubin überliefert. Aus Webers Brief geht hervor, dass er auf eine Anfrage Rubins ihm „in grosser Eile!“, „rasch die Tatsachen“ zusammenschrieb. Sein drei Seiten umfassender Brief gibt einen instruktiven Einblick in seine vielfältigen politischen Vortragstätigkeiten. Detailliert schildert Weber anhand von vier Beispielen seine Erfahrungen mit der Zensur. Im September 1940 sei er von Walter Frank, dem Präsidenten des Instituts für die Geschichte des neuen Deutschlands,78 gebeten worden, einen Aufsatz über Kleo Pleyers Landschaft in Frank­ reich79 für die Wochenzeitung Das Reich zu schreiben. Nachdem eine Veröffentlichung dort 72 73 74 75 76 77 78 79

Berthold Rubin an Ernst Turowski am 15.6.1941; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Berthold Rubin an Ernst Turowski am 15.6.1941; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Dieser Artikel befindet sich nicht mehr (?) in der Akte. Berthold Rubin an Ernst Turowski am 15.6.1941; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Berthold Rubin an Ernst Turowski am 15.6.1941; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Berthold Rubin an Ernst Turowski am 15.6.1941; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Vgl. Heiber 1966. Gemeint ist: Kleo Pleyer, Die Landschaft im neuen Frankreich. Stammes- und Volksgruppenbewegung im Frankreich des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1935. Bei der Arbeit handelt es sich um die Habilitations­schrift Pleyers, deren Auslieferung auf Veranlassung des deutschen Auswärtigen Amtes im Januar 1936 untersagt worden war. Pleyer gilt als „eine Galionsfigur nationalsozialistischer Geschichts­ wissenschaft“; Oberkrome 2005, 123. Pleyers Arbeit hatte in der französischen Öffentlichkeit große © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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nicht zustande kam, scheiterte auch eine Veröffentlichung in der Deutschen Allgemeinen, schließlich habe Frank – nachdem mehrere Monate vergangen waren – veranlasst, dass der Aufsatz Das Schicksal des französischen Volkes im Aprilheft der Monatsschrift für deutsches Geistesleben erschien.80 Laut dem Schriftleiter dieser Zeitschrift, Fritz Irwahn, hätten sowohl Pleyers Buch als auch Webers Aufsatz bis heute nicht an Wert und Interesse verloren, „im Gegenteil: erst in diesen Tagen erkennen wir die Bedeutung des erwähnten Buches, das erst jetzt den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat“.81 Webers Aufsatz ist eine Reaktion auf den nationalsozialistischen Sieg über Frankreich: Jetzt ist dieses Frankreich unter den schweren Schlägen des jungen Volkes und s e i n e s E i n e n zertrümmert.82

Er widmet sich zunächst der Frage, wer die „Schuld am Zusammenbruch der grande nation“ trage.83 Einen Grund für den „Zusammenbruch“ sieht er in der Staatsbürger­gesetzgebung der Franzosen, aufgrund derer es zu einer Mischung der „Rassen“ gekommen sei. Als die deutschen Soldaten „durch die Gaue Frankreichs marschierten“, so Weber, hätten sie gesehen, „woran Frank­reich krankt“: Sie entdeckten überall volksfremde Elemente aus der Welt diesseits und jenseits der Meere, dazu die gelben, braunen, schwarzen Franzosen, die das Blut der kaum drei Dutzend Millionen ‚echter‘ Franzosen stetig verderben, bastardisieren: War eine Bevölkerungspolitik, die angesichts des längst erkannten Geburtenunterschusses, des Sterbens des eigenen Volkes mit solchem Gift den Tod zu bekämpfen versucht, nicht Verbrechen ohne Ausmaß?84

Er vergleicht den „Zusammenbruch der grande nation“ mit dem „Untergang“ Roms: Paris ist den Weg des alten Rom, seines Vorbilds, gegangen und trägt am Unheil die schwerste Schuld.85

Über Pleyer weiß Weber zu berichten, dieser habe als Offizier den Feldzug mitgemacht, „an der Loire sich das EK I geholt“, und er hätte „die unerwartete, verdiente Freude“ gehabt, „auf dem Versailler Schloß selbst die Hakenkreuzflagge hissen lassen zu können“.86 Im Folgenden bezieht er sich zwar auf Pleyers Buch, der darin die „völkische“ Einheit der französischen Nation in Frage gestellt hatte, fügt aber auch „aus eigener Beobachtung und Anschauung“ eigene Gedanken hinzu. Ausgehend von dem Satz „Dieses Volk ist keine Einheit aus dem Blut“,87 skizziert Weber das Zusammentreffen verschiedener „Rassen“ im französischen Raum von der Altsteinzeit bis zur Gegenwart: Und Paris selbst wurde der ‚größte Rassen- und Völkermischmasch‘!88

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Auf­regung ausgelöst, da er „in Einklang mit einigen anderen deutschen ‚Westforschern‘ den völkischen Gehalt und die Einheitlichkeit der französischen Nation in Frage stellte“; Betker – Korb 22017, 603. Wilhelm Weber an Berthold Rubin (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. Irwahn 1941, 126. Weber 1941b, 104. Sperrung wie im Original. Weber 1941b, 104 Weber 1941b, 104. Weber 1941b, 105. Weber 1941b, 105. Weber 1941b, 106. Weber 1941b, 109. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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In diesem Zusammenhang äußert sich Weber auch antisemitisch: Die Juden in ihm [= im „Rassen- und Völkermischmasch“, C. D.] aber bestimmten, was französische Kultur war. Ihr Exponent Mandel bewies dann, wohin das Volk kam, wenn es so weiter sank.89

Diese gehässige Bemerkung bezieht sich auf den französischen Politiker Georges Mandel (18851944), Gegner des Nationalsozialismus und Mitglied der Résistance im Zweiten Weltkrieg. Mandel war nach Nordafrika gereist, um von dort gegen Deutschland weiterzukämpfen. Auf Befehl des Vichy-Regimes wurde er verhaftet und zunächst in Frankreich, dann in den Konzentrationslagern Oranienburg und Buchenwald interniert, schließlich nach Paris zurückgebracht und kurz darauf am 7. Juli 1944 von der Milice française im Wald von Fontainebleau ermordet.90 Im Übrigen reproduziert Weber hier die nationalsozialistische Ideologie, das „Weltjudentum“ stehe nicht nur hinter dem Bolschewismus, sondern auch hinter den politischen Ideen und Systemen des Westens.91 Positiv hebt Weber in seinem Aufsatz stets die Germanen hervor, z. B. in der Völker­wan­ derungs­zeit („Germanensturm“): Sie schießen dem alternden Volk aus ihrem Blut frische Kräfte ein, Frankreich wird germanisiert. Wo wäre dieses Frankreich, das diese ‚Barbaren‘ wie die Kelten so gerne verachtet und verhöhnt, ohne diesen mächtigen Blutstrom?92

Webers zentrale These ist, dass Frankreich immer wieder „degeneriert“ und nur durch den „Zu­ strom“ germanischen Blutes „verjüngt“ worden sei.93 Den nationalsozialistischen Sieg über Frank­reich sieht Weber daher als Rettung des französischen Volkes: Ist es Schicksal der ‚Franzosen‘, diesen inneren Kampf im ewigen Kreislauf zu führen, so ist es jetzt die Schicksals­frage an alle, die Europa wollen, ob die von jenem ‚Unsterblichen‘94 als ‚Celtomanie‘ abgelehnte Verjüngung und d a m i t d i e R e t t u n g F r a n k r e i c h s f ü r E u r o p a s i c h a u s e u r o p ä i s c h e r , a u s g e r m a n i s c h e r K r a f t v o l l z i e h t o d e r n i c h t .95

Den auch von Rubin erwähnten Vortrag Italien und der Nahe Orient hatte Weber am 18. Okt­ ober 1940 vor Offizieren des Wehrmachtslagers Jüterbog gehalten. Dass er für das Thema aufgrund seiner Mitgliedschaft in dem von Walter Frank geleiteten Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, in dem er für „Antike, Mittelmeerländer und Vorderer Orient, englische Welt­macht­politik“ zuständig sein sollte, ausgewählt wurde, erscheint naheliegend,96 geht aber aus seinem Brief nicht hervor. Da sein Vortrag bei den Offizieren „so starken Eindruck“ gemacht habe, rühmt sich Weber, habe er sich zur Drucklegung entschlossen. Aus „Gründen 89 Weber 1941b, 109. 90 [Anon.], s.v. Georges Mandel, Encyclopædia Britannica Online, online abrufbar unter: https://www.britannica.com/biography/Georges-Mandel (abgerufen am 11.12.2017). 91 Graml 2010, 109. 92 Weber 1941b, 106. 93 Der Gedanke einer „Verjüngung des Abendlandes“ durch das Blut der Germanen findet sich auch in seinem Vortrag Europäisches Schicksal, historisch gesehen (s. u.); Weber 1943, 21. 94 Weber bezieht sich hier auf eine am Anfang seines Aufsatzes geschilderte (fiktive?) Unterhaltung mit einem „Unsterblichen“, also einem Mitglied der Französischen Akademie. 95 Weber 1941b, 109. Sperrung wie im Original. 96 Nippel 2010, 339. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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der Vorsicht“ habe sich der Verleger (Hans von Hugo Verlag) entschlossen, das Manuskript dem Propaganda­ministerium vorzulegen. Dieses habe keine Entscheidung fällen können und es an das Auswärtige Amt weitergeleitet. Weber wandte sich, so berichtet er, selbst an den Leiter der Kultur­abteilung des Auswärtigen Amtes, um eine rasche Entscheidung herbeizuführen, was auf ein durchaus ausgeprägtes Selbstbewusstsein schließen lässt.97 Währenddessen habe Dr. Prinzing von der Dienststelle Ribbentrop ein Gutachten über den Vortrag verfasst, dass „in allem positiv“ gewesen sei. Dennoch kam es zu weiteren Verzögerungen und der Verleger habe, so berichtet Weber, das Manuskript erst nach 75 Tagen Mitte Januar 1941 zurückerhalten. Weber hatte den Vortrag kurz nach dem von Libyen aus erfolgtem Angriff der italienischen Armee auf das unter britischer Kolonialherrschaft stehende Ägypten gehalten. Aufgrund seiner zahlenmäßigen militärischen Überlegenheit war Mussolini sich eines schnellen Sieges sicher. Während Webers Manuskript in der Zensur war, waren die Briten Ende 1940 zum Gegenangriff übergegangen, und die italienischen Invasoren wurden zurückgedrängt. Auch Italiens Angriff auf Griechenland verlief desaströs.98 Webers hochgestimmter Vortrag war nun nicht mehr aktuell. Er beklagte sich bitterlich: Inzwischen waren völlig neue Verhältnisse eingetreten: Die schweren Niederlagen der Italiener in der Cyrenaica, auch in Albanien, vor allem die Erklärung der Reichsregierung über die von den Achsenmächten garantierte ‚Freiheit der arabischen Völker‘, über die vor meinem Vortrag kein Mensch geredet hatte! In diesem aber bildete er ein Hauptproblem. Ich musste natürlich zum Teil lächerliche ‚Besserungen‘ anbringen, auch einen auf diese Erklärung bezüglichen Zusatz machen. Da letztere sich durchaus mit meiner Ansicht deckte, war dies nicht schwer! Aber die Verkaufsmöglichkeit war in der neuen Situation minimal. Das Ganze wurde für den Verleger ein Reinfall! Wäre rasch gearbeitet worden, wie man verlangen kann, hätte er nach seiner Schätzung 10000 Exemplare99 abgesetzt, also dem Reich rund 5000 RM an Steuern aus der Drucklegung zuführen können, 6 Beamtenmonatsgehälter zu 800 RM aus einem kleinen Vortrag! – Das zeigt vielleicht am besten die Grösse des Reinfalls. Man sage nicht, dass ich viel davon gehabt hätte: Honorar 10% = rd. 500 RM (nach Abzug der Steuern).100

In seinem propagandistischen Vortrag schildert Weber die Geschichte Italiens und seiner Kolonien und richtet sich voller Verachtung vor allem gegen den Feind Großbritannien, welches seit dem Ersten Weltkrieg im Vorderen Orient „mit Mord und Massenterror bis zum Blutbad sich durchzusetzen oder zu behaupten“101 versucht habe, während Mussolini, „der Freund und Helfer, der gerechte Schützer der Mohammedaner und Feind der Briten“,102 den Islam umworben habe: Wie ehrlich, gerecht und mild regiert er Mohammeds Anhänger im Italienischen Imperium.103

97 So wurde er auch von seinen Studenten wahrgenommen. Willy Real erlebte ihn in seinem Studium in Halle: „Weber war ein stets sehr selbstbewußt auftretender Dozent.“ Real 1997, 38. 98 Schieder 2014, 97 f. 99 Handschriftlich eingefügt: (à …[unleserlich]). 100 Wilhelm Weber an Berthold Rubin (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. Hervorhebungen wie im Original. 101 Weber 1941a, 58 f. 102 Weber 1941a, 61. 103 Weber 1941a, 59. Zur deutschen Propaganda ab 1939, die Graml als „antibritisches Höllenkonzert“ bezeichnet, vgl. Graml 2010, 110–116, Zitat 116. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Dass Weber nach dem Sieg gegen den „Erbfeind“ Frankreich gegenüber dem „Führer“ besonders positiv gestimmt war, macht eine Passage über Hitler und Ägypten deutlich: Und neue völkische Ideale gewannen Raum: Hier wie überall im Orient wurde Adolf Hitlers Name und völkisches Programm seit 1933/34 eine Macht und wuchs sein Wirken bald in mythische Bereiche. Warum soll, wo all diese Länder und Völker so alt und so jung und zeugerisch sind, ihnen versagt sein, was Deutschland unter ihm sich gewann: Einheit völkischen Lebens aus der Urvergangenheit zu einer glückverheißenden Zukunft und zu gesunder Gegenwart aus eigener Kraft?104

Weber erwähnt in seinem Brief an Rubin nicht, dass der Vortrag bereits 1940 in Italien erschienen war.105 Während der noch 1940 in Italien publizierte Vortrag mit einem siegessicheren Satz endet,106 musste Weber in seiner deutschen Publikation das Ende seines Vortrags ändern und einen etwas zögerlicheren Ton anschlagen: Siegt dann das neue Rom, indem es Mussolinis Vision vom alten Römerreich verwirklicht, oder der junge arabische Nationalismus aus dem Glauben an seine alte orientalische Weltherrlichkeit? Wir wissen es nicht.107

Bei dem dritten von Weber geschilderten Fall handelte es sich um einen – in seinen eigenen Worten – „offiziell ‚wissenschaftlichen‘, insgeheim propagandistischen Vortrag“ über Euro­ päisches Schicksal historisch gesehen, den er am 28. November 1940 in Zürich laut seinen eigenen Angaben vor 400 Zuschauern gehalten hatte. Veranlasst worden sei dieser Vortrag vom Pro­ pagandaleiter des Zürcher Generalkonsulats, unterstützt von der Dienststelle Ribbentrop. Er sei „mit grösstem Beifall bedacht“ worden. Das Manuskript sollte zunächst in der Schweiz in den vom Propagandaleiter gegründeten Schriften der Gesellschaft zur Förderung kulturellen Lebens erscheinen. Laut Weber konnte dies nicht realisiert werden, da der Schweizer Armeestab die Drucklegung verboten hatte. In der Hinsicht war Weber richtig informiert. Sein Vortrag war verboten worden, weil er ein Europa unter nationalsozialistischer Führung propagierte.108 In seinem Vortrag gibt Weber einen Überblick über die Geschichte des „europäischen Menschen­tum“ vom Homo sapiens bis zur Gegenwart auf rassenkundlicher Grundlage. Alle un­ter­schiedlichen „Rassen“ („die Mittelländischen“, „Dinarier“, „die Fälischen“ usw.) gehören für ihn zum „Erscheinungsbild der europäischen Menschheit“, die mehr verbinde als trenne, d­a alle einer mitteleuropäischen Urgruppe angehörten.109 Weber hatte offenkundig die Kleine Rassen­kunde des deutschen Volkes von Hans F. K. Günther gründlich gelesen, jedenfalls nennt er als Eigenschaften der „Nordischen“ die von Günther definierten.110 Weber fasst die „Nordischen“ und die „bäuerlichen Fälischen“ unter dem Oberbegriff „Indogermanen“ zusammen, die die „Urgruppen der europäischen Geschichte“ bildeten. Diese Theorie stammt auch 104 Weber 1941a, 52. 105 Guglielmo Weber, L’Italia e il Vicino Oriente, Roma 1940 (Quaderni di politica e di economia contemporanea 27). 106 „Vincera allora la nuova Roma, ma non per opprimere il mondo arabo bensì per dargli la completa libertà dal secolare oppressore britannico.“ Weber 1940, 40. 107 Weber 1941a, 62. 108 Keller 2009, 141 f. 109 Weber 1943, 12. 110 „Willenskraft“, „Herrentum“ (bei Günther: „Führertum“); Weber 1943, 12; vgl. Günther 31933, 40. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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von dem Rassentheoretiker Günther,111 den Weber aber nicht explizit nennt oder zitiert. Weber betont die Wissenschaftlichkeit der Rassentheorie: Wer dies bezweifelt, bestreitet der Anthropologie, der mit kunstreichen Methoden arbeitenden Prähistorie, der Sprachwissenschaft, der gesamten Geschichte grundlos ihre klaren und sicheren Ergebnisse.112

In einem Schrifttumshinweis der Verbindungsstelle Deutsche Bücherei wurde Webers Vortrag folgendermaßen zusammengefasst: Auf knappem Raum entwirft der Historiker W. einen großangelegten Überblick über das europäische Schicksal, das er im Wesentlichen rassisch bestimmt sieht durch nordisches Blutserbe der europäischen Menschheit. Vom Griechentum gehe die Entwicklung über das römische Imperium, das schließlich von orientalisch-christlicher Religiosität ausgehöhlt wurde und dem Europa fremden universalen Imperium des ‚Herrn der Seelen‘ in einer theozentrisch gerichteten Welt wich, zur Verjüngung des Abendlandes durch die Kraft der Germanen. „Verkalkte Seelen haben sie bis heute mit Spott und Hohn übergossen, sie ‚Barbaren‘ gescholten die angeblich nichts taten als Morden und Brennen. Ein Großteil der Schuld daran trägt aber von Anfang an die nicht selten landfremde römische Geistlichkeit, die am Arianismus der germanischen Völker Anstoß nahm und nicht ruhte, bis er vernichtet war: Triumph der römischen Katholizität.“ (S. 21/22) Seit den Tagen Karls des Großen, der als Herrscher über christliche germanisch-romanische Völker die Kluft zwischen Germanitas und Romanitas schloß, zerwühlte der Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum die Mitte Europas. Später als die alte theozentrisch gebundene Einheit durch das europäische Staatensystem ersetzt wurde, stellte England (Kardinal Wolsey und Heinrich VIII) jeder Vereinheitlichung Europas den seinem eigenen Egoismus dienenden Gedanken des Gleichgewichtes der Staaten entgegen. Der gegenwärtige Krieg einige Europa endlich unter einer starken Mitte.113

Genuin nationalsozialistisch ist Webers Grundidee, die seinen ganzen Vortrag wie ein roter Faden durchzieht: dass ganz Europa letztendlich „nordisch“ sei. Er nennt das antike Griechentum „das neue Volk aus Nordischen und Mittelländischen“,114 und meint: „Griechische Form wird neben Blut und Sprache der Nordischen die dritte Grundlage europäischen Lebens.“115 In Webers Konzeption der Geschichte Europas war es auch nicht etwa – angelehnt an Droysen – Alex­ anders Traum, die Welt zu hellenisieren, nein: Er plant noch, den ganzen Westen bis zum Ozean mit seinem Weltreich zu vereinigen, das vom Indus bis zur Adria und zur Syrte reicht: So hätte er das ganze Streugebiet des Indogermanentums gewonnen. Eitler Traum des Grössten dieser Welt!116

111 Günther 31933, 68. 112 Weber 1943, 12. 113 Amt VII, Verbindungsstelle Deutsche Bücherei in Leipzig an III C 1, III C 4, VII A 1, VII B 5 S am 1.7.1943; BArch Berlin, ZB 7079.A5. 114 Weber 1943, 16. 115 Weber 1943, 17. 116 Weber 1943, 17. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Schließlich habe „das Germanentum seine Aufgabe zur Führung des Abendlands“ in der Hunnen­ schlacht erkannt,117 meint Weber, und er schlägt den Bogen bis in seine eigene Gegen­wart, in der das nationalsozialistische Deutschland Europa führen werde.118 Die Drucklegung dieses Vortrags sollte dann in Deutschland erfolgen, was bis zur Abfassung des Briefes (Juni 1941) nicht geschehen war, obwohl Weber sich beharrlich darum bemüht hatte: Ich habe mich wiederholt bei der Dienststelle R. [i.e. Ribbentrop, C.D.] um Förderung der An­ gelegenheit bemüht – auch so ist bis jetzt nichts erfolgt!!! Da war mein Gewinn = 0!

Aus dem oben zitierten Schrifttumshinweis geht hervor, dass der Vortrag schließlich erst 1943 erschien (der gedruckte Vortrag selbst enthält kein Erscheinungsjahr). Weber betont des Weiteren, dass ein Dr. Lutz119 vom Propagandaministerium ihn gebeten habe, für den Europäischen Wissenschafts-Dienst einen Artikel über Makedonien zu schreiben. Diesen habe er rechtzeitig eingereicht, woraufhin er in die Zensur gegeben worden sei, wo der Aufsatz für vier Wochen zurückgestellt worden sei. Da aber glücklicherweise schon am 6. Tag danach die Entscheidung über Bulgarien und Make­ donien120 bekannt wurde und am folgenden Tag der Völkische Beobachter einen Artikel über Make­ donien brachte, wurde auf mein Betreiben sofort die Genehmigung des Artikels von der Censur erreicht, so dass er acht Tage später erscheinen konnte. Immerhin vergingen bei solchem Gelegen­ heits­a rtikel wieder 14 Tage.121

Hier wird besonders deutlich, wie wichtig Weber offenbar seine politischen Artikel waren, die er möglichst aktuell auch publizieren wollte. In dem Artikel beschreibt Weber zunächst die geographischen Gegebenheiten Mazedoniens aus der Vogelperspektive, die er aus eigener Anschauung von einem Flug von Budapest nach Athen kannte,122 sowie „das bunte Bild des Menschentums, das in den Jahrtausenden in diesem Raum lebt und wirkt“.123 Er schildert die Geschichte des makedonischen Volkes bzw. der in Makedonien lebenden Volksgruppen bis in seine eigene Gegenwart. Die angebliche „Indogermanisierung“ stellt er besonders heraus und konstruiert eine Nähe zu den Germanen:

117 118 119 120

Weber 1943, 22. Weber 1943, 34 f. Zu Günther Lutz (1910–1948) vgl. Eberle 2015, 328–330. Bulgarien trat am 1. März 1941 dem Dreimächtepakt bei. Nach dem Sieg der Deutschen über Griechen­land und Jugoslawien besetzte Bulgarien einen Teil Mazedoniens; Stein 2011, 232. Wenn Weber von der „Ent­ scheidung über Bulgarien und Mazedonien“ schreibt, dann meint er vermutlich Hitlers Entscheidung, den jugoslawischen Teil Mazedoniens Bulgarien zu überlassen; vgl. zu diesem Kontext Tomasevich 2001, 160. 121 Wilhelm Weber an Berthold Rubin (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. Hervorhebungen wie im Original. 122 „Dankbar gedenke ich aber der von der Deutschen Gesandtschaft in Athen gewährten Möglichkeit des Flugs nach und von Athen, da ich so die für den Historiker unentbehrliche, langersehnte Schau über die Länder von oben gewann, um deren geschichtliches Leben ich mich Jahrzehnte lang bemüht hatte. Das Donaubecken, das südlich anschließende Gebirgsland Jugoslawiens und Bulgariens, vor allem Makedonien und Griechenland so zu sehen, wurde zum größten Gewinn und bleibt ein unvergesslicher Ein­druck.“ Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor in Ungarn vom 29. März bis 11. Mai 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 69. 123 Weber 1941c, 2. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Die Lebensverfassung des Volkes, das partikulare Herrentum des Adels, das Königtum, der Heer­ bann der Freien, der noch spät im Thing tagt, das Antlitz und goldblonde Haar, das Wesen des Großen A l e x a n d e r , alles verrät Fortdauer indogermanischen Blutes.124

Nun wiederum unterstellt Weber Alexander den Plan einer Europäisierung des Ostens: A l e x a n d e r v o l l e n d e t e d e s V a t e r s W e r k : Durch alle Peripherien des östlichen Weltreichs stürmend, vereinigte der Siegreiche in 12 Jahren alle Lande von Skutari und der Donau bis an den oberen Nil und den fernen Indus in seiner Gewalt. Die neue Europäisierung Asiens, die größte, die ein einzelner einleitete, begann.125

Webers Vortrag endet mit einem Lob der deutschen Heere: Sie haben auch dies Werk des Willkürfriedens von Versailles ausgelöscht. Epochal für die Geschichte des Landes und Volkes Makedoniens wird ihr Sieg sein, der gerechte Grenzen und die Eingliederung in ein neues Europa, die Entfaltung der Kräfte in ihm, Ausgleich zwischen Rückständigem und Neuem bringen wird.126

Abschließend macht Weber in seinem Brief an Rubin deutlich, dass er sich künftig unter den gegebenen Umständen nicht mehr engagieren möchte: Sie sehen die Miseren. Jeder Zeitungsschriftsteller hat die Möglichkeit, seine leeren Ergüsse innerhalb weniger Stunden gedruckt zu sehen. Unsereiner kann wie im Fall 3 sogar ebensoviele oder ein Mehrfaches davon an Monaten warten. Darum bleibe ich bei meinem Standpunkt: Wozu diese Mühe und obendrein der Ärger, wenn man doch in allem post festum kommt und für alle aufgewendete Arbeit doch nur veraltetes bieten kann. Dazu sind wir nicht da. Ich könnte noch manches Liedchen der Art singen, aber ich lasse es lieber.127

Rubins Bericht und Webers Brief bewirkten tatsächlich ein Handeln des SD, zumindest nahm sich das Amt Wissenschaft der Sache an. Ein Mitarbeiter des Referates III C1a erstellte eine Aktennotiz über seine Bemühungen. Er hatte den Zeitungswissenschaftler Emil Dovifat um eine Auskunft über den Geschäftsgang bei Zensurangelegenheiten gebeten. Dieser hatte ihm mitgeteilt, dass er selbst und andere Professoren ihre Artikel von einem auf den anderen Tag in die Presse bringen würden. Außerdem spiele die Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer bei der Zensur keine Rolle. Der SD-Mitarbeiter folgert daher: Es muß sich also bei den Schwierigkeiten, die Prof. Weber hat, doch um eine ganz spezielle Be­ nachteiligung handeln, denn inhaltlich ist z. B. der Macedonien-Aufsatz so harmlos, daß bestimmt keine außenpolitische Rücksichtnahme die Verzögerung rechtfertigen kann.128

Ob das tatsächlich so war, lässt sich nicht eruieren. Laut Dovifat war der Ablauf so, dass Bücher vom Verleger dem Propagandaministerium vorgelegt wurden, Artikel und Aufsätze von der Redaktion der „Zensurbehörde“. Der Verfasser der Aktennotiz resümiert:

124 125 126 127 128

Weber 1941c, 2. Sperrung wie im Original. Weber 1941c, 2. Sperrung wie im Original. Weber 1941c, 3. Wilhelm Weber an Berthold Rubin (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. III C 1 a, Aktennotiz (undatiert), BArch Berlin, ZB 7079.A5. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Claudia Deglau Die Dovifatsche Auskunft zeigt, daß dies gegebenenfalls auch bei Artikeln von Professoren ohne Zeitverlust geschieht. Interessant wäre also zu erfahren, warum da zweierlei Maß angelegt wird.129

Rubins und Webers Ausführungen über die Zensurangelegenheiten zeigen zweierlei. Rubin wollte den SD auf einen Missstand aufmerksam machen: die angebliche Benachteiligung Webers. Er lieferte dem SD Informationen und konnte sich gleichzeitig auch gegenüber Weber wichtigmachen, indem er sich bei höheren (politischen) Stellen für ihn einsetzte. Ob Weber zu dem Zeitpunkt schon wusste, dass seine Schilderungen an den SD weitergeleitet wurden, lässt sich nicht mit Gewissheit feststellen. Es gab sowohl Zubringer, die eingewiesen waren, als auch welche, die ohne ihr Wissen abgeschöpft wurden.130 Auf jeden Fall hatte der SD hier für Weber und Rubin die Funktion einer Art „Beschwerdestelle“. Gleichzeitig nutzte Weber auch die Gelegenheit, sich selbst als Werber für die nationalsozialistische Sache zu profilieren und ausführlich gegenüber offiziellen Stellen sein großes politisches Engagement herauszustellen. Sein großes Geltungsbedürfnis und die Überzeugung, als Historiker gerade in Kriegszeiten wichtig zu sein, wird aus den einleitenden Worten seines in Zürich gehaltenen Vortrags Europäisches Schicksal, historisch gesehen besonders deutlich: Historische Forschung und Darstellung erschöpft ihren Sinn nicht, wenn sie sich auf das Gewesene, das Tote beschränkt. Soll sie rückwärts blickend wie Lots Weib selber zur Salzsäule erstarren, damit andere mit diesem Salz ihr Tun würzen? Vergangenheit wirkt stetig in alles blühende Leben. Vergangenheit und Zukunft schliessen sich nur in der Gegenwart zum einheitlichen Lebenskreis.131

Wenngleich Weber vielleicht keinen direkten Nutzen davon hatte, dass Rubin seine Probleme mit der Zensur an den SD herangetragen hatte, sollten ihm selbige sowie seine ausgiebige Selbstdarstellung später von Seiten des SD zugutegehalten werden. In einem Brief vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Amt Wissenschaft, an den Leiter der Parteikanzlei wurde besonders hervorgehoben, dass Weber sich als „Kriegsteilnehmer 1914/18“ und auch als „Forschungsreisender“ im „steten Verkehr mit den Vertretern der Wissenschaft und der Politik einen offenen Blick für das Zeitgeschehen bewahrt“ habe. Er könne daher, so wird er gelobt, „wie in seinen Vorlesungen auch in vielen Vorträgen in Wehrmachtskreisen besonders aber im Ausland nachhaltig wirken.“132 Explizit erwähnt werden seine Vorträge Italien und der Nahe Orient sowie Europäisches Schicksal, historisch gesehen.133 Auf den Kontext dieses Briefes ist weiter unten noch genauer einzugehen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ebendiese Vorträge, von denen der eine bereits bei Erscheinen nicht mehr aktuell war, weil er in die langsam mahlenden Mühlen der umfassenden Zensur der nationalsozialistischen Diktatur geraten war und nur verspätet gedruckt werden konnte, und der andere bereits in der Schweiz verboten worden war, nach dem Krieg erneut in die Zensur gerieten. In der DDR wurden die Vorträge zur „imperialistischen Unkultur“

129 III C 1 a, Aktennotiz (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. 130 Schreiber 2008, 182. 131 Weber 1943, 6. 132 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, III C 1a, an den Leiter der Parteikanzlei (z. Hd. Ober­ regierungsrat Bechtold) (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. 133 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, III C 1a, an den Leiter der Parteikanzlei (z. Hd. Ober­ regierungs­rat Bechtold) (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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gezählt und in die vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands initiierte Liste der auszusondernden Literatur aufgenommen.134 „(…) den ganzen wissenschaftlichen Apparat der SS dafür einspannen (…)“:135 Webers Reisen nach Rumänien und seine Vorschläge für die Südostforschung Webers Ärger mit der Zensur hielt ihn nicht davon ab, sich weiterhin kulturpolitisch und propagandistisch im Ausland zu betätigen. Im Jahr 1942 reiste er auf Betreiben des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts (DWI) Bukarest nach Rumänien. Die Planungen hatten bereits einige Zeit früher begonnen,136 eine Reise im Jahr 1940 ließ sich jedoch nicht realisieren.137 Offizielle Gastgeberin war die Universität Bukarest, die Weber zu einer Gastvorlesung einlud. Da Weber „sich besonders mit der Kultur der rumänischen Randprovinzen beschäftigt hat“, teilte das DWI dem REM mit, könne Weber „den Fachwissenschaftlern in Rumänien wertvolle neue Erkenntnisse seiner Arbeiten vorbringen“.138 Das Königreich Rumänien hatte in den außenpolitischen Planungen des nationalsozialistischen Deutschlands in mehrfacher Hinsicht einen besonderen Stellenwert. Hier sollte ein deutscher „Brückenkopf“ in Südosteuropa errichtet werden.139 Es war in strategischer und wirtschaftlicher Hinsicht von großer Bedeutung, und wegen der in Rumänien lebenden deutschsprachigen Minderheiten hoffte das nationalsozialistische Deutschland, beständig Einfluss nehmen zu können.140 Nach der Abdankung König Carols und der Machtübernahme General Antonescus vertieften sich die rumänisch-deutschen Beziehungen. Im November 1940 trat Rumänien dem Dreimächtepakt bei.141 Die Einladung nach Rumänien hatte Weber dem Präsidenten des DWI Bukarest, Ernst Gamillscheg, zu verdanken. Diesen kannte Weber aus Berlin, denn der Romanist war von 1925 bis 1940 Professor an der Universität Berlin gewesen und hatte Berlin zum „Zentrum der deutschen Rumänienforschung“142 gemacht. Gamillscheg hatte sich damals u. a. mit der Frage nach der Herkunft des rumänischen Volkes auseinandergesetzt143 und gilt als der bedeutendste d­eutschsprachige Rumänist seiner Zeit.144 Als Präsident des DWI hatte er neben seinen wissenschaftliche­n Tätigkeiten auch gesellschaftliche Verpflichtungen, die darauf zielten,

134 Außerdem wurde Webers Vortrag Vom Neuen Reich der Deutschen (1935) gelistet. Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone (1946); Nr. 12478, 12479, 12480. 135 Wilhelm Weber an Ernst Turowski am 30.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. 136 Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an den Rektor der FriedrichWilhelms-Universität Berlin (Abschrift) am 7.10.1940; HUB UA; PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 85. 137 Aktennotiz vom 17.10.1940; HUB UA; PA Wilhelm Weber, Bd. 2. 138 Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an den Rektor der FriedrichWilhelms-Universität Berlin (Abschrift) am 19.11.1941; HUB UA; PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 98. 139 Zu den Beziehungen zwischen dem Königreich Rumänien und dem nationalsozialistischen Deutschland vgl. Hausmann 2001, 64 ff. Zu den deutsch-rumänischen Beziehungen vgl. grundlegend Hillgruber 1954. 140 Hausmann 2001, 65. 141 Hillgruber 1954, 89 ff. 142 Hausmann 2001, 74. 143 E. Gamillscheg, Über die Herkunft der Rumänen. (Festvortrag), Jahrbuch der Preußischen Aka­demie der Wissenschaften. Jahrgang 1940, Berlin 1941, 118–134. 144 Hausmann 2001, 71. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Rumäniens geistige und politische Eliten, die auf Hitler gesetzt hatten, dauerhaft an Deutschland zu binden.145 Die Ziele des 1940 als erste derartige Einrichtung überhaupt errichteten DWI Bukarest waren laut dem stellvertretenden Präsidenten und Direktor Günther Reichenkron „die geistigen Bande zwischen Deutschland und Rumänien zu verstärken“, den Rumänen die deutsche Sprache und Kultur zu vermitteln sowie Kontakte zu rumänischen Hochschulen aufzubauen.146 Zu diesem Zweck lud das DWI Bukarest deutsche Wissenschaftler aller Fachgebiete ein und vermittelte Vorträge inner- und außerhalb von Hochschulen in Rumänien.147 Viele bedeutende Wissenschaftler waren während des Zweiten Weltkriegs zu Vortragszwecken in Rumänien, beispielsweise der Mediävist Theodor Mayer,148 der Staatsrechtler Carl Schmitt149 sowie die Alt­historiker Rudolf Egger150 und Helmut Berve.151 Neben Weber wurden auch viele andere Wissen­schaftler aus Berlin eingeladen.152 Tatsächlich verfolgten die DWI „unter dem Deckmantel der Wissenschaft“ ganz konkrete Absichten. Ihre Aufgaben waren präzise umrissen: Sie dienten der Exploration der Nach­barländer, um deren Gleichschaltung vorzubereiten; sie widmeten sich der Raumforschung mit dem Ziel der Umvolkung und der Ausbeutung; sie warben für die Kollaboration, um fremde Eliten an Deutschland zu binden.153

Bisher hatten sich die führenden Kreise Rumäniens vor allem dem französischen Kulturkreis verbunden gefühlt.154 Das DWI organisierte für Weber mehrere Vorträge sowohl vor rumänischem als auch vor „volks­deutschem“ Publikum. Am 20. Februar 1942 bat Karl Supprian vom DWI den Zweig­ stellen­leiter des Instituts in Hermannstadt, Roth, festzustellen, ob Weber in der dortigen Uni­ versität seinen Vortrag Europäisches Schicksal, historisch gesehen halten könne. Roth besprach die Anfrage sogleich mit dem rumänischen Althistoriker Constantin Daicoviciu, der erfreut gewesen sein soll.155 Der Präsident des DWI Bukarest, Gamillscheg, wandte sich ebenfalls mit einem Schreiben an Daicoviciu und kündigte an, dass Weber in der Zeit zwischen dem 8. und 20. März 1942 nach Rumänien kommen und zunächst in Bukarest an der Universität, im 145 146 147 148 149 150 151

152 153 154 155

Hausmann 2001, 74. Hausmann 2001, 64. Hausmann 2001, 64. Hausmann 2001, 79–81. Schmitt war im Februar 1943 auf Vortragsreise in Rumänien; ausführlich Tilitzki 1998, 212–225. Der Wiener Althistoriker Egger war vom 4.–13. November 1940 in Rumänien, um Vorträge am DWI in Bukarest sowie an anderen Universitäten zu halten; Pesditschek 2010, 293 f. Aus dem Repertorium seines Nachlasses, der in der Bayerischen Staatsbibliothek München verwahrt wird (BSB Ana 468), geht hervor, dass Berve am 29. Februar 1944 den Vortrag „Rom und Karthago“ an der Universität Bukarest und am 7. März 1944 an der Universität Hermannstadt hielt. Den Vortrag hatte er zuvor bereits in sieben deutschen Städten gehalten. Ob er auch auf Einladung des DWI in Rumänien war, ist unklar. In der Zeitschrift Deutsche Forschung im Südosten wird außerdem erwähnt, dass Berve im Forschungsinstitut der Deutschen Volksgruppe in Rumänien (Hermannstadt) einen Vortrag über Den Weltreichsgedanken Alexanders des Großen gehalten hat; [Anon.] 1944, 396. Hausmann 2001, 92. Hausmann 2001, 9. Hillgruber 1954, V. Karl Supprian an Hermann Roth am 20.2.1942, abgedruckt in: Popa 2005, 318 [Dokument Nr. 313]. Das Original befindet sich im Rumänischen Nationalarchiv Kreisdirektion Sibiu, Institutul German. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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DWI und im Institut Iorga Vorträge halten werde. Anschließend trage er auch in Jassy und in Kronstadt vor. Gamillscheg fragte Daicoviciu, ob dieser bereit sei, seiner Fakultät vorzuschlagen, Weber zum Vortrag einzuladen und gab eine Auswahl an Themen vor: Die Vortragsthemen, die Prof. Weber mitbringt, sind: 1. Römische Reichspolitik an der unteren Donau. 2. Das dakisch-getische Volk. (In diesem Vortrag will er die wissenschaftliche Begründung für den allgemeiner gehaltenen ersten Vortrag geben.) 3. Europäisches Schicksal, historisch gesehen. (Darin soll namentlich die Rolle Rumäniens in der Vergangenheit und in der voraussichtlichen Zukunft behandelt werden.)156

Gamillscheg sandte eine Abschrift des Schreibens gleichzeitig an den Zweigstellenleiter Roth, der sich darüber mit Daicoviciu ins Benehmen setzen sollte. Er schlug noch vor, dass Weber das dritte Thema vor der deutschen Volksgruppe behandeln könne.157 Den Vortrag, den Weber bereits in Zürich gehalten hatte, dürfte er wohl nur leicht modifiziert und Rumänien in eine von Deutschland geführte europäische Ordnung eingeordnet haben. Mit dem zweiten Vortragsthema wagte sich Weber an ein politisch sehr aufgeladenes Thema, mit dem er bereits 1940 in Ungarn in Berührung gekommen war. Weber war nämlich vom 29. März bis zum 11. Mai als Gastprofessor in Ungarn gewesen und hatte nach seiner Rückkehr einen ausführlichen Bericht vorgelegt, der über den Dekan und den Rektor dem Reichs­ erziehungsminister vorgelegt wurde.158 In Ungarn hatte er u. a. den Althistoriker Andreas Alföldi kennengelernt, der zu der Zeit den Lehrstuhl Archaeologia terrae Hungaricae an der Universität Budapest innehatte.159 Das Verhältnis zwischen Rumänien und Ungarn war historisch vorbelastet, der Grund der Auseinandersetzungen war immer die Region Siebenbürgen gewesen. Alföldi leitete den Anspruch Ungarns auf Siebenbürgen historisch her. Weber schrieb über ihn, er sei „ein fanatischer Nationalist und unterbaut (…) die offizielle nationalistische Ideologie einschließlich der Thesen von der Zugehörigkeit der ‚besetzten‘, d. h. an die Nachbarn 1919 verlorenen Gebiete zu Ungarn durch seine Wissenschaft rückwärts bis zum N­eolithikum.160 Er berichtete weiter: Er übersteigert eine meiner Thesen über die Rolle des ‚Illyrertums‘ im Römischen Reich, weil er damit seinem ‚Pannonien‘ dient; er wagt auch Thesen und Kombinationen, die die ewig wiederholte Durchdringung der Völker im Donaubecken mit ‚nomadischem‘ Volkstum ‚beweisen‘, und damit 156 Ernst Gamillscheg an Constantin Daicoviciu am 27.2.1942, abgedruckt in: Popa 2005, 319 [Dokument Nr. 319]. Das Original befindet sich im Rumänischen Nationalarchiv Kreisdirektion Sibiu, Institutul German. 157 Ernst Gamillscheg an Hermann Roth am 27.2.1942, abgedruckt in: Popa 2005, 319 [Dokument Nr. 318]. Das Original befindet sich im Rumänischen Nationalarchiv Kreisdirektion Sibiu, Institutul German. 158 Auf Webers Gastprofessur in Ungarn kann in diesem Rahmen nicht weiter eingegangen werden, sie wäre in einem eigenen Beitrag zu thematisieren; Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor in Ungarn vom 29. März bis 11. Mai 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 55–83; Der Dekan der Philo­ sophischen Fakultät an den Reichserziehungsminister am 3.6.1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 54. – Dem SD hatte Weber über diese Reise – zumindest nach Ausweis der Akten – nicht berichtet. 159 Zu Andreas Alföldi (1895–1981) vgl. Christ 1990, 8–62; vgl. auch Szilágyi 2015; Richardson – Santangelo 2015. 160 Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor in Ungarn vom 29. März bis 11. Mai 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 75. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Claudia Deglau Vorstufen für das magyarische Element sind, auch andere, dank denen er in ständigem Kampf mit den rumänischen Forschern steht.161

Alföldi kümmere dies nicht und „er bedauert sogar, daß unser Gamillscheg, dieser ‚ausgezeichnete Forscher‘ bei der Eröffnung des Deutschen Kulturinstituts in Bukarest ‚versucht hat die Kontinuitätsfrage in Siebenbürgen zugunsten der Rumänen zu lösen‘ und versteigt sich dann erregt zu Äußerungen wie die: ‚Selbst wenn alles, was ich sage, widerlegt würde, für die letzten 1000 Jahre jedenfalls haben nur die Ungarn Transsylvanien staatliche Organisationen gebracht!‘“162 Weber selbst bezog in Ungarn in der Frage offenbar keinen Standpunkt, ihn interessierte, dies ist festzuhalten, vielmehr das „Germanenproblem“ in Ungarn. So bemängelte er beispielsweise gegenüber Alföldi, dass in einer kürzlich erschienenen Arbeit über keltische Münzen in Ungarn „die Herkunft der Kelten aus dem süddeutschen Raum nicht bedacht“, sondern „nur Beziehungen zu Frankreich festgestellt“ worden seien: „die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind klar“, so Weber in seinem Bericht. Er schlug vor, junge Forscher sollten „mit der Aufgabe der Sammlung und Bearbeitung sämtlicher Germanenrelikte auf ungarischem Boden“ beauftragt werden; „Freilich muss alles anders gewertet werden, als Alföldi es tut.“163 Das Bukarester Tageblatt berichtete, dass Weber am 10. März 1942 in der Philosophischen Fakultät der Universität Bukarest einen Vortrag über Römische Reichspolitik an der unteren Donau und am 11. März 1942 über Europäisches Schicksal, historisch gesehen im DWI in Bukarest hielt. An dem Vortrag im DWI nahmen außerdem teil: Prof. Mihai Antonescu (Vize­minister­ präsident), Prof. Petrovici (Minister für Volkskultur) und mehrere rumänische Gelehrte und Politiker.164 An Deutschen waren anwesend der Gesandtschaftsrat Dr. Stelzer von der Deutschen Gesandtschaft und der Chef der deutschen Wehrmachtsmission sowie Befehlshaber der deutschen Luftwaffenmission General der Flieger Wilhelm Speidel. Am 12. März sprach Weber dann im Institut für Weltgeschichte über Das dakisch-getische Volk.165 Weitere Vorträge hielt er auch an den Universitäten in Iași und Hermannstadt/Sibiu, am Institut für die Klassischen Studien in Sibiu,166 in Temeschburg sowie im Rahmen des Forschungsinstituts der Deutschen Volksgruppe in Rumänien (über Europäisches Schicksal, historisch gesehen) in Kronstadt (18. März) und Hermannstadt (19. März).167 Aus einem in Webers SD-Personalakte überlieferten Brief

161 Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor in Ungarn vom 29. März bis 11. Mai 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 75 f. 162 Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor in Ungarn vom 29. März bis 11. Mai 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 76. 163 Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor in Ungarn vom 29. März bis 11. Mai 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 81. 164 Sextil Pușcariu, Gheorghe I. Brătianu, Dumitru Caracostea, Ioan Lupaș, Mihail Manoilescu, Alexandru Otetelișanu, Constantin C. Giurescu, Ion Nistor und Ion Răducanu; [Anon.] 1942a. Hinweise auf die Zeitungsartikel, in denen über Weber berichtet wird, bei: K. Popa, s.v. Weber, Wilhelm, Völkisches Hand­buch Südosteuropa. Buchstabe W., 16, online abrufbar unter: http://www.geocities.ws/rausschmiss/ W.pdf (abgerufen am 28.11.2017). 165 [Anon.] 1942a. 166 Weber 1942c, 5. 167 [Anon.] 1942b. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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geht des Weiteren hervor, dass er auch an der Militärakademie in Bukarest einen Vortrag hielt und während seiner Reise außerdem auch über Caesar, Feldherr und Staatsmann sprach.168 Zwei seiner Vorträge wurden nach der Reise auf die Initiative von Gh. Brătianus vom Institut für Weltgeschichte N. Iorga unter dem Titel Aus Rumäniens Frühzeit 169 publiziert. Der Vortragsstil wurde beibehalten und auf Quellenbelege verzichtet er. In dem ersten Vortrag Römische Reichspolitik im unteren Donauraum schildert Weber zunächst, ausgehend von einem Satz aus der Londoner Times: „An den Karpathen wird Indien verteidigt“,170 (Mai 1939) die geostrategische Bedeutung Rumäniens insbesondere im Zweiten Weltkrieg, um dann die Geschichte des Raums des Karpathenmassivs von der Jungsteinzeit bis zur Aufgabe der römischen Provinz Dakien unter Aurelian darzustellen. Charakteristisch für Webers Geschichtskonzeption war zu der Zeit die Überbetonung der „Nordischen“, die seiner Meinung nach zuerst in den „Raum“ einwanderten: So war es seit dem dritten Jahrtausend v. Zr. Ich nenne jetzt nur die ‚Nordischen‘ der Frühzeit, die Kelten, Wandalen und deutschen Bauern, die Sarmaten und Magyaren, die Macht Habsburg, die von Westen und Nordwesten kamen; von Süden aber kamen die Griechen und die Kolonisten Traians aus der ganzen römischen Reichswelt, aber auch Byzantiner und Türken und wie zurückwandernde Rumänen so auch Bulgaren und Serben, Bastarnen und Slawen vom Norden; Skythen und Sarmaten, Goten und Gepiden, Awaren, Petschengen, Kumanen und Magyaren vom Nordosten (…).171

Weber charakterisiert auch den ersten Dakerkönig als nordisch: Mag Burebistas im Banat residiert haben, so bedeutet dies für die Entfaltung der Macht nicht viel: Oft haben Nordische von der Peripherie aus gehandelt und regiert.172

Weber betont aber auch wiederholt den „Partikularismus“, das Karpathenmassiv sei „ein Sammel­ becken für vielfältiges Menschentum mit sehr verschiedenartigen Erbkräften“.173 Ins­gesamt kommt es Weber auch darauf an, die Bedeutung der Region „im Gesamtsystem Europa“ hervorzuheben174 und die Zugehörigkeit des Raums zum Norden Europas zu betonen.175 So fügte sich sein Vortrag vorzüglich ein in die deutsche Kulturpolitik, denn zu der Zeit wurde es als bedrohlich empfunden, dass die italienische Kulturpropaganda aus deutscher Sicht daran arbeitete, „das Rumänentum durch Unterstreichung seiner Zusammengehörigkeit mit der europäischen Latinität für sich zu gewinnen“.176 Weber hebt des Weiteren die Einwanderung der Goten hervor: Seit etwa 180 n. Chr. habe sich „der germanische Lebensraum von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer“ erstreckt.177 168 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, III C 1a, an den Leiter der Parteikanzlei (z. Hd. Ober­ regierungsrat Bechtold), (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. 169 W. Weber, Aus Rumäniens Frühzeit. Zwei Vorträge, Bukarest 1942. 170 Weber 1942a, 9. 171 Weber 1942a, 15 f. 172 Weber 1942a, 38. 173 Weber 1942a, 16. 174 Weber 1942a, 19. 175 Weber 1942a, 20. 176 Hausmann 2001, 78. 177 Weber 1942a, 64. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Dieses Postulat entspricht der Propaganda des deutschen NS-Volksgruppenführers, der in einer Rundfunkansprache am 23. Oktober 1940 sagte: So trägt (…) das Gebiet von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer, vom Rhein bis zur Donau und den Karpaten heute die unverkennbaren Züge deutscher Kulturbeeinflussung. Die Kontinuität der deutschen Leistung, des deutschen Beispiels und Ansporns war in diesem Raum niemals unterbrochen.178

In seinem zweiten Vortrag Das dako-getische Volk, den er im Institut für Weltgeschichte hielt,179 widmet sich Weber dem „Kontinuitätsproblem“.180 Wie der Titel bereits vermuten lässt, setzte er einen anderen Akzent als die rumänische Forschung, indem er sich in seinem Vortrag nicht auf den Nachweis der Kontinuität eines dako-romanischen Volkes konzentriert (die er im Anschluss an Ernst Gamillscheg bejahte),181 sondern vor allem eine angebliche Kontinuität und Einheit von Daker und Geten in früherer Zeit herausarbeitet,182 sodass am Ende das Ergebnis steht, dass das Volk „nicht blos nach seinem Raum, sondern auch nach seinem Blut zu denen des Nordens“183 gehöre. Er betont eingangs seine eigene Relevanz als Historiker184 und hebt die gegenwärtige Bedeutung der „Volksgeschichte“ besonders hervor. Weltgeschichte versteht er als „die Synthese der Lebensprozesse aller Völker in den mannigfaltigen Räumen unserer Welt“.185 Seinen Vortrag über das dako-getische Volk sei ein Kapitel dieser Weltgeschichte. Für die „Nachfahren“ dieses Volkes habe das „Kontinuitätsproblem“ noch „Gegenwartswert und Zukunftshoffnung“.186 Als das wichtigste Kriterium für die „Kontinuität“ eines Volkes definiert Weber nicht Sprache, Glaube oder Brauchtum, sondern die „Gesetze der Vererbung“, von denen „Aussehen, Gestalt, seelisch-körperlich-geistiges Tun des Menschen wie des Volkes“ abhingen.187 Weber stellt diesen Ansatz als besonders innovativ heraus: Der Historiker gewöhnt sich nur ungern an solche Gedanken und Tatsachen, da ihm lange genug die Kultur in ihren verschiedenen Äusserungen die Macht über das Leben zu sein schien. Jene tieferen und mächtig wirkenden Kräfte sind wahre Lebensgesetze und lassen ihrer nicht spotten.188

Charakteristisch für Webers durchaus moderne methodische Herangehensweise ist die Aus­ wertung aller verfügbaren Quellen – nur so lasse sich das „Kontinuitätsproblem“ lösen. Jedoch handelt es sich bei seiner Methodik vor allem um eine Umdeutung der archäologischen Quellen, die teilweise absurde Züge annimmt. So argumentiert er beispielsweise, man könne aus Ornamenten auf Tonscherben, „auf Seele, Geist, Willen, Wesen ihrer Schöpfer schliessen“.189 178 Das Zitat ist als Motto dem ersten Jahrgang (1942) der Zeitschrift Deutsche Forschung im Südosten vorangestellt. Zu der Rundfunkansprache vgl. Böhm 2008, 189 f. 179 Weber 1942b, 69. 180 Zum Konstrukt einer sprachlichen, ethnischen und räumlichen Kontinuität der Rumänen unter Heraus­ stellung der behaupteten römisch-lateinischen Grundlage vgl. kritisch Strobel 2005/2007. 181 Weber 1942b, 74 f. 182 Zum Konstrukt der „Dako-Geten“ etc. vgl. Strobel 2005/2007, 90–105. 183 Weber 1942b, 134. 184 Weber 1942b, 70. 185 Weber 1942b, 70. 186 Weber 1942b, 74. 187 Weber 1942b, 71. 188 Weber 1942b, 71 f. 189 Weber 1942b, 73. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Weber geht in seinem Vortrag von Gamillschegs Thesen aus, der in seiner Studie über Die Herkunft der Rumänen eine Kontinuität des rumänischen Volkes bejaht hatte, aber diese weniger als „eine Kontinuität der Rasse als eine solche des Geistes“ charakterisiert habe.190 Weber ergänzt und erweitert Gamillschegs Thesen, indem er sie mit rassenkundlichen Annahmen kombiniert. So macht Gamillscheg drei Kerngruppen als Träger einer spätrömischen Vulgärsprache aus; die erste sitze „in den Munţii, in der alten D a c i a , im metallreichen Gebirge“.191 Weber meint nun, dass gerade in diesem Gebirge „die M o t z e n mit ihren hochgewachsenen, ranken und schlanken Gestalten, ihren scharfen Profilen, ihren langen und spitzen Nasen, ihren oft rötlich-blonden Haaren und ihren hellblauen Augen, die nach den Feststellungen Pittards 33% der dortigen Bevölkerung ausmachen, Mitträger des Romanischen“ seien.192 Die Motzen würden aber „in Wuchs und Aussehen“ den Kelten ähneln, die dort mit den Dakern gelebt hätten. Weber wirft die Frage auf, ob die Bevölkerung in dem Gebiet nicht auch Träger des „alten dakischen Volksblutes“ sei.193 Die zweite Kerngruppe identifiziert Weber als Daker und Geten, deren Einheit er postuliert: Eine Sprache verband sie; das Blut der Urgruppen muss dasselbe gewesen sein.194

Die dritte Kerngruppe bestehe aus den „Nachfahren der Bewohner der spätrömischen Dacia ripensis“.195 Für das „Kontinuitätsproblem“ am wichtigsten ist Webers Annahme, dass „Daker, Kelten und Geten in Resten im Gebirge und offenen Land erhalten sind“.196 Anschließend schildert Weber die Geschichte Rumäniens, beginnend bei der Auffaltung der Karpathen im Tertiär, wobei er sich bei der Darstellung der Menschen im Jungpaläolithikum auf die Erkenntnisse der Rassenkunde stützt: Söhne Nordwesteuropas, dazu Stämmlinge der Brünn-Rasse müssen mit osteuropäisch-westsibirischen Gruppen zur Blutseinheit geworden sein.197

Als „Geburtsland der dinarischen Rasse“ lokalisiert er Siebenbürgen.198 Seine Hypothese stütze, so Weber, dass einem diese Rasse in Rumänien „in solcher Häufigkeit und in so ausgeprägten Formen“ begegne: Mir scheint auch hier eine Aufgabe der anthropologischen Forschung im Lande zu liegen, die ausserordentliche Bedeutung hat, wie sich alsbald zeigen wird.199

Anhand der Kunst, beispielsweise anhand von Ornamenten auf Vasen, meint Weber nachweisen zu können, dass die „dinarische Rasse“ auch in Rumänien als „starkes Element der Bevölkerung“ angesehen werden müsse.200 Dieser Typus sei heute überall unter den Bauern zu 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200

Weber 1942b, 75. Weber 1942b, 77. Weber 1942b, 77. Weber 1942b, 78. Weber 1942b, 80. Weber 1942b, 80 f. Weber 1942b, 82. Weber 1942b, 84. Weber 1942b, 84 f. Weber 1942b, 85. Weber 1942b, 98. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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finden und auch während seines Vortrags entdeckte Weber im Publikum „Prachtexemplare“.201 Weber postuliert, es sei „wünschenswert, dass die anthropologische Wissenschaft Rumäniens sich dieses Problems annähme, nicht weil ich gerne meine Vermutung bestätigt sähe, sondern weil mit einem positiven Ergebnis sofort die uralte These in neuen und weiten Zusammenhang tritt, dass das d a k o - g e t i s c h e Volk vom grossen Volk der T h r a k e r den nördlichen Zweig bildet und, was für die Gegenwart bedeutsam ist, in gehörigem Umfang noch erhalten ist“.202 Webers Argumentation kann und muss hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden, nur einige für seine Geschichtskonzeption typische Elemente sollen erwähnt werden. Zum einen wieder die Überbetonung des „Nordischen“: So meint Weber, es habe eine „Vermischung der dinarischen Urthraker“ mit den „nordischen ‚Indogermanen‘“ gegeben, was er als „keine schlechte Mischung!“ bezeichnet.203 Das Resultat sei ein „verjüngtes Volk in europäischer Gemeinschaft“ gewesen. Für wie wichtig Weber diese „unwiderlegbare Tatsache“ hält, zeigt seine Beteuerung, er spreche nicht „pro domo“, denn dies habe er gar nicht nötig.204 Mit der Hochschätzung des „nordischen Blutes“ geht eine Geringschätzung des asiatischen einher, so ist die Rede von „Hunnen, Awaren, Kumanen, Magyaren und Petschengen, alles reine Asiaten, [die] das europäische Volk durchsäuerten“.205 Über die Bastarnen und Skiren, die im dritten Jahrhundert eingewandert seien, weiß Weber hingegen zu berichten: Erneut besetzten Nordische alte Böden des Südostens, sie umfassten mit jenen Kelten förmlich das Volk im Karpathenraum und verstärkten sein europäisches Blut.206

Instruktiv für Webers Europa-Konzept ist zum anderen auch sein wiederholtes Klagen, dass Rom nicht den Norden unterworfen habe: „Wäre Rom seiner europäischen Verantwortung sich bewusst geblieben, so hätte es zuerst diese überhebliche Anschauung vom Gegensatz zwischen Kulturwelt und Barbarei, zwischen Kosmos und Chaos in sich überwunden, hätte es mit aller Kraft den Norden unterworfen, den Nordosten dazu, jenen gewaltigen Tiefenraum, damit den Dualismus in Europa beseitigt und die Welt echter humanitas zugeführt.“207 Weber spricht es zwar nicht aus, aber die Parallele zum Ideal eines Europas unter nationalsozialistischer Führung liegt nahe. Weber beendet seinen Vortrag nicht, ehe er noch einige Aufgaben für die anthropologische Forschung in Rumänien definiert hat. So schlägt er vor, die Bildnisse von Dakern beispielsweise auf der Traianssäule mit dem heute in Rumänien lebenden „Volk der Bauern und der oberen Schichten“ zu vergleichen.208 Man müsse nur herausgehen und in die Gesichter der „Bauern der Ebene und Siebenbürgens“ schauen und könne so das Kontinuitätsproblem lösen: „Wer sich dagegen sperrt, die Anthropologie und ihre Bedeutung für die Geschichte, für das Leben, für die Vergangenheit und die Zukunft wie für die Gegenwart mit ihren brennenden Problemen und Sorgen weiter ablehnt, sperrt sich gegen vitale Interessen und verkennt die Macht der 201 202 203 204 205 206 207 208

Weber 1942b, 99. Weber 1942b, 99. Weber 1942b, 102 f. Weber 1942b, 102. Weber 1942b, 113. Weber 1942b, 116. Weber 1942b, 123. Weber 1942b, 129. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Wissenschaft über die Gegenwart. Ich kann mir und Ihnen nur wünschen, dass möglichst viele dieser Aufgabe sich widmen.“209 In die deutsche Ausgabe der Untersuchung La transylvanie dans l’Antiquité (1938) des Her­ mann­städter Althistorikers Daicoviciu, die dieser mit einigen Erweiterungen 1943 publizierte (und Franz Altheim widmete), gingen Webers Forderungen bezüglich der anthropologischen Forschung nicht ein. Lediglich in einer Fußnote bemerkt Daicoviciu knapp, „die rassischen und anthropologischen Gesichtspunkte“ dürften nicht unberücksichtigt bleiben und verweist auf Weber.210 Er vertritt die These, dass die Romanisierung Dakiens auch nach der Aufgabe der Provinz angedauert habe, wofür neben einer in Dakien verbliebenen römischen B­evölkerung und der lateinischen Sprache insbesondere „das in der Sprache Roms verbreitete Christentum“ verantwortlich zeichne.211 In der vom DWI herausgegebenen Zeitschrift Südost-Forschungen wurden Webers publizierte Vorträge positiv aufgenommen. Der erste Vortrag enthalte „eine geistvolle Betrachtung der römischen ‚Südostpolitik‘“, heißt es recht vage in der Rezension, der zweite Vortrag liefere „einen wichtigen Beitrag zur Frage der sog. Kontinuität der Ostromanen nördlich der Donau, die W. auch von seinem Arbeitsgebiet aus bejaht“. Wertvoll findet der Rezensent Valjavec, „dass der Verf. die Entwicklung seit den vorgeschichtlichen Anfängen des ausgehenden dritten Jahrtausends berücksichtigt und so die Zusammenhänge besser herausarbeiten kann. Hervorzuheben ist noch, daß der Verf. – im Gegensatz zur vor kurzem mit Schärfe geäußerten Ansicht Alföldis212 – daran festhält, daß die Dazier nach der Eroberung des Landes durch die Römer nicht ausgerottet worden wären“.213 Webers Vortragsreise scheint insgesamt sehr positiv verlaufen zu sein, denn ihm wurde bereits während seines Aufenthalts ein rumänischer Orden verliehen, wie er dem Reichsminister Rust nach seiner Rückkehr berichtete: Bei einem Frühstück in seinem Ministerium hat S. Excellenz, der Kgl. Stellvertretende Minister­ präsident, Professor Mihaj Antonescu, nach einem kurzen Trinkspruch auf den Führer und das Deutsche Volk mich mit dem Kommandeurkreuz des Sterns von Rumänien (…) überrascht.214

Später wurde Weber als Ehrenmitglied in die Königliche Akademie der Wissenschaften215 in Bukarest aufgenommen.216 In der Zeitungsnotiz stand keine nähere Begründung außer „Prof. Weber sprach in Bukarest und anderen rumänischen Städten vor zahlreichen Zuhörern.“217 Zur selben Zeit, als Weber als Ehrenmitglied in die Rumänische Akademie aufgenommen wurde, 209 210 211 212 213 214

Weber 1942b, 132 f. Daicoviciu 1943, 240 m. Anm. 2. Daicoviciu 1943, 241 f. Hervorhebungen wie im Original. Vgl. Alföldi 1940. Valjavec 1943, 349f. Wilhelm Weber an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung am 26.4.1942; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 2, Bl. 41. 215 Zu Ehrenmitgliedern ernannt wurden laut Sextil Pușcariu „hervorragende Persönlichkeiten des nationalen und kulturellen Lebens des rumänischen Volkes und hervorragende Gelehrte und Männer des Auslandes, die ein besonderes Interesse für das rumänische Volk an den Tag legten“. Pușcariu 1941, 6. Im Jahr 1941 zählte die Rumänische Akademie acht lebende Deutsche zu ihren Ehrenmitgliedern; ebd. 216 Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an den Rektor der FriedrichWilhelms-Universität Berlin am 25.7.1942 (Abschrift); HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 112. 217 [Anon.] 1942c. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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erhielt Gamillscheg die Ehrendoktorwürde der Universität Bukarest.218 Weber wurde außerdem 1943 vom König Michael mit dem Kulturverdienstkreuz im Offiziersrang ausgezeichnet. Mit ihm erhielten eine ganze Reihe deutscher Professoren (u. a. Walther Wüst, Ernst Gamillscheg, Heinrich Ritter von Srbik, Karl Alexander von Müller) diese Ehrung.219 Webers Bericht über seine Vortragsreise für das Reichsministerium für Wissenschaft, Er­ ziehung und Volksbildung ist nicht überliefert.220 Überliefert ist jedoch sein Bericht für den SD. Nach seiner Rückkehr aus Rumänien hatte Weber nämlich offenbar Turowski seinen Vortrag Europäisches Schicksal, historisch gesehen zugeschickt und außerdem seine Vorträge in Rumänien erwähnt. Dies lässt sich nur indirekt aus Turowskis Antwort vom 28. April 1942 erschließen, denn Webers Brief ist nicht in der Akte enthalten. Turowski dankte ihm und schrieb: Ich habe ihn mit sehr großem Interesse gelesen und finde ihn, wie auch den Vortrag über ‚Italien und der nahe Orient‘, ausgezeichnet. Inzwischen ist auch das Echo Ihrer Vortragsreise aus Rumänien zu uns herübergekommen, das ausgesprochen positiv ist.221

Webers Vorträge kamen beim Amt Wissenschaft des SD offenkundig sehr gut an, denn im selben Brief schlug Turowski Weber vor, auf dem vom Reichsdozentenbund organisierten und von dem Klassischen Philologen Hans Drexler geleiteten Fachlager der Altertumswissenschaften Ende Mai das Wort zu ergreifen, denn: Uns liegt sehr daran, daß die kulturpolitische Seite der Altertumswissenschaft stärker berücksichtigt und herausgearbeitet wird.222

Er ging davon aus, dass Weber „sicherlich ebenfalls als führender Althistoriker“ auf der Tagung sprechen werde. Tatsächlich war dies nicht der Fall, denn Weber war gar nicht eingeladen worden. Auf diesen Vorgang und die Intervention des SD zugunsten Webers wird weiter unten noch eingegangen. Nach Erhalt des Briefes jedenfalls müssen Weber und Turowski miteinander gesprochen haben – vermutlich am Telefon – denn in Webers postwendender Antwort vom 30. April 1942 geht er auf die Tagung überhaupt nicht ein. Weber wurde, so viel lässt sich rekonstruieren, in dem Gespräch offenbar auch aufgefordert – oder er hatte es angeboten – dem SD im Besonderen über die deutschen Volksgruppen in Rumänien zu berichten. Auf die rumänischen Politiker und Intellektuellen, die er getroffen hatte, sowie auch auf die rumänische Althistorie geht Weber in seinem Brief nicht ein. In seinem Brief berichtet Weber, er sei auf seiner Vortragsreise durch Rumänien auch in Kronstadt, Hermannstadt und Temeschburg, „im Bereich der Deutschen Volksgruppe“ gewesen, „die dem Reisenden dort stärker und eindringlicher entgegentritt als sonstwo in Rumänien“.223 In Kronstadt und Temeschburg hielt Weber jeweils einen Vortrag, in Hermannstadt sprach er 218 [Anon] 1942c. Vgl. auch: [Anon.] 1942d. 219 [Anon.] 1943. 220 Der Bericht ist weder im Universitätsarchiv noch im Bundesarchiv aufzufinden. Erwähnt wird er in Webers Personalakte: Der Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin an den Reichminister für Wissen­schaft, Erziehung und Volksbildung am 29.4.1942 (Abschrift); HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 105. 221 Ernst Turowski, III C 1, an Wilhelm Weber am 28.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. 222 Ernst Turowski, III C 1, an Wilhelm Weber am 28.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. 223 Wilhelm Weber an Ernst Turowski am 30.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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zweimal an der Universität und einmal vor der deutschen Volksgruppe. Webers Vorträge waren gut besucht, zumindest berichtet er, er habe in Kronstadt 350, in Hermannstadt bei einem Vortrag 700 Hörer und in Temeschburg 600 Hörer gehabt, 100 hätten wegen Überfüllung des Saales weggeschickt werden müssen. Weber betont ausführlich das starke Interesse der deutschen Volksgruppe an seinen Vorträgen: Ich kann dazu sagen, dass ich nicht oft ein so hingebend folgendes Publikum Auditorium gehabt habe wie in den drei Städten. Starker Beifall am Schluss bezeugte die Wirkung. Ich kenne sie auch aus vielen Gesprächen. Dort hungert man nach guten Vorträgen. Ich kann noch mehr sagen: Ich war in allen drei Städten infolge einer Anginainfektion, die ich in Bukarest bekommen hatte, stark heiser, bat darum zu Beginn die Hörer um möglichst weitgehende Ruhe. Der Erfolg war, dass z. B. in Temeschburg fast zwei Stunden lang kaum ein Geräusch im Saal war, so dass ich verhältnismässig leise sprechen konnte und dadurch eine ungeheure Spannung über dem Ganzen lag, die sich dementsprechend am Schluss entlud. So weit geht man dort!224

In Hermannstadt und Temeschburg lernte Weber auch „die jungen Führer der Volksgruppe“ kennen, die ihm sehr freundlich begegnet seien. Er habe mit ihnen viele Gespräche geführt, „ihre Sorgen und Mühen kennen gelernt“, ihr Forschungsinstitut der Deutschen Volksgruppe in Rumänien gesehen, sich mit den einzelnen Abteilungsleitern unterhalten und insgesamt „klare Eindrücke gewonnen“. Über diese möchte er Turowski berichten. Zunächst geht er auf die allgemeine Lage der deutschen Volksgruppe ein, dann auf das Forschungsinstitut in Hermannstadt. Abschließend gibt er Ratschläge, wie der SD bzw. die SS und das Ahnenerbe das Forschungsinstitut unterstützen sollten. Die Lage der deutschen Volksgruppen schätzt er als nicht so gut ein: Es ist natürlich im Ganzen nicht leicht. Denn alles hängt an der elementaren Frage: Was wird aus den Siebenbürger Sachsen? Sie haben jetzt eine gewisse Autonomie. Sie werden im Grossen und Ganzen offiziell in Ruhe gelassen, im Kleinen und Geheimen dafür umso mehr geschunden.225

Weber selbst habe dies spüren müssen: Der Präfekt von Hermannstadt, Oberst Radulescu, wollte meinen Vortrag bei der Volksgruppe verbieten, wenn die Genehmigung des Ministeriums nicht nachgewiesen würde! Ich liess ihm darauf durch einen rumänischen Kollegen bestellen, wenn er Schwierigkeiten mache, gehe eine telegraphische Beschwerde an Mihaj Antonescu, ich sei auch bereit, den Orden, den dieser mir einige Tage zuvor selbst überreicht habe, ihm umgehend zurückzuschicken! Das wirkte.226

Besonders niederträchtig erwähnt Weber auch noch nebenbei, dass der Präfekt mit einer Jüdin verheiratet sei. Offenbar fühlte sich Weber von dessen Verhalten zutiefst gekränkt, dieser hatte ihm wohl nicht den aus Webers Sicht angemessenen Respekt entgegengebracht:

224 Wilhelm Weber an Ernst Turowski am 30.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. 225 Wilhelm Weber an Ernst Turowski am 30.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. 226 Wilhelm Weber an Ernst Turowski am 30.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Hervorhebung wie im Original. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Claudia Deglau Der mit einer Jüdin verheiratete Präfekt 227 erschien am Abend, erst nach Beginn des Vortrags, setzte sich in eine der letzten Reihen und verschwand vor Schluss! Dies nur als kleines Beispiel.228

Ob Weber wusste, dass seit dem Beginn des Ostfeldzugs, nach der Rückeroberung Bessarabiens und der Nordbukowina, auch in Rumänien Terroraktionen gegen die jüdische Bevölkerung begonnen hatten?229 Zwar ist sich Weber dessen bewusst, „dass die grosse Politik augenblicklich allen Volkstums­ fragen gegenüber sehr zurückhaltend“230 sei, dennoch müsse dem deutschen Volkstum geholfen werden: Das ganze Völkchen macht den Eindruck einer gewissen Ermattung. Die Enge scheint grösser zu werden. Die Neigung, den Gegensatz zu den Rumänen dick zu unterstreichen als müsse das sein jetzt, wo man die Ungarn los ist, scheint besonders in der Jugend zu wachsen. Alles atmet den Geist kleinbürgerlichen Lebens. Nur wenige sind voll Eifers. Dazu gehören einwandfrei die jungen Führer und die Kameraden des Forschungsinstituts.231

Diese stellt Weber anschließend vor und unterbreitet Vorschläge, wie sie unterstützt werden könnten. Das Volksgruppeninstitut hatte am 1. September 1941 unter der Leitung von Misch Orend seine Tätigkeit aufgenommen.232 Misch Orend, der sich „mit volkskundlichen Problemen“ beschäftige, müsse nach Auffassung von Weber Gelegenheit bekommen, „einmal einige Monate im Reich ausgiebig zu reisen“, um sich mit den deutschen Volkskundlern auszutauschen. Auch Walter Scheiner, der Abteilungsleiter der Arbeitsstelle für Namensforschung, sollte sofort mit der deutschen Forschung in Kontakt treten, Weber verwies ihn außerdem an Gamillscheg. Besonders viel Kontakt hatte Weber zu Fritz Roth, dem Leiter der Abteilung Vorgeschichte: Er war in den Tagen beinahe mein Reisemarschall.

In ihm sah Weber viel Potenzial, jedoch: Er hat hier [in Berlin, C. D.] bei Reinerth Vorgeschichte studiert, ist damit natürlich in die ganze Vorstellungswelt R.’s hineingeraten. Ich habe manches wissenschaftliche Gespräch mit ihm gehabt, bei dem er spürte, dass es weitere und tiefere Auffassungen gibt, die dann gerade seine Aufgaben wesentlich fördern helfen. Da er auch ausgräbt, scheint es mir bedeutsam, dass man ihm ausgiebig Gelegenheit zur Weiterbildung gibt, damit er nicht zu früh verengt.233

227 228 229 230 231 232 233

Hervorhebung wie im Original. Wilhelm Weber an Ernst Turowski am 30.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Hillgruber 1954, 238. Hervorhebung wie im Original. Wilhelm Weber an Ernst Turowski am 30.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Roth 2004, 126. Wilhelm Weber an Ernst Turowski am 30.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Hervorhebungen wie im Original. – Der völkische Germanenideologe Reinerth hatte den „Kampf um die deutsche Vorgeschichte“ mit einer „Kampfansage gegen die römisch-germanische Forschung“ eröffnet; Losemann 2017a, 285 f. Vgl. Schöbel 2002. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Roth propagierte beispielsweise das ideologische Konstrukt, das steinzeitliche „nordische Recht­ eckhaus“ habe als „Grundlage der Entwicklung der ganzen europäischen Baukunst“ gedient,234 Schöpfer der Bauten des klassischen Athens seien „nordischer Geist und nordische Leistung“ gewesen.235 Webers Ratschlag an den Leiter der Abteilung für Rassenkunde, Eckhard Hügel,236 steht in direktem Zusammenhang mit den rassenkundlichen Thesen seines Vortrags. Weber legte ihm nämlich nicht nur nahe, „entschlossen Bestandsaufnahmen zu machen, das siebenbürgische ‚Volksgesicht‘ aus den vorhandenen Materialien (Kartotheken der Volksgruppe und ihrer Organisationen) und Neuaufnahmen zu erarbeiten“, sondern auch „auf die rumänischen Dörfer zu achten, besonders die ‚Motzendörfer‘, unter denen viel (33%!) Hellhaarige, Helläugige stecken, Reste altkeltischen oder altgermanischen Menschentums“.237 Tatsächlich erwähnte Hügel die „Motzen“ auch in einer Art Arbeitsplan für sein Institut in Deutsche Forschung im Südosten: Zu unseren Aufgaben gehört d i e r a s s i s c h e E r f o r s c h u n g d e r u m w o h n e n d e n V ö l k e r . Die Frage gewinnt für uns einen besonderen Reiz – und mehr als das –, wenn wir immer wieder auf kleinere oder größere Einsprengungen nordischen Blutes in verschiedenen Gegenden unserer Heimat stoßen. Da sind nicht nur die Sekler und andere Splitter in Nordsiebenbürgen, sondern z. B. auch die Motzen des Erzgebirges oder auffällige Erscheinungen im Flußgebiet der Tscherna.238

Weber berichtet dem SD, er habe Hügel „Lichtbildmaterial extremer Fälle“ geschickt, damit dieser „in Vorträgen aufklärend wirken“ könne. Weber habe Hügel gebeten, „ähnliches auch in seinem Bereich zu sammeln“ und hoffte, „dass eines Tages da besonders schöne Dinge zu Tage kommen und möchte darum wünschen, dass H. einmal ausgiebig Gelegenheit hat, mit der deutschen Rassenforschung engen Kontakt zu bekommen und zu halten“. Tatsächlich geht aus einem Arbeitsbericht des Forschungsinstituts hervor, dass die Abteilung Rassenforschung im Sommer 1942 zunächst rassenkundliche Untersuchungen nur an den Volksdeutschen durchführte, und beispielsweise auch Unterlagen ausarbeitete für „die Ermittlung an Schulkindern, durch die Leistung und Haltung in Beziehung zur völkischen Abstammung gesetzt werden“ sollten.239 Auf einer Forschungsfahrt des Instituts nach Deutsch-Weißkirch wurden 285 Erwachsene und Kinder von Hügel rassenkundlich untersucht.240 Zu einer Untersuchung der „Motzen“ scheint es hingegen nicht gekommen zu sein. 234 Roth 1942, 17. 235 Roth 1942, 28. 236 Harald Roths Annahme, eine ursprünglich geplante Abteilung für Rassenkunde sei nicht eingerichtet worden, ist zu widersprechen: Roth 2004, 126 f. 237 Dass die Kelten den „Motzen“ „Kräfte (…) zugeschossen haben“, hatte Weber auch in seinem Vortrag be­hauptet. Weber 1942b, 115. 238 Hügel 1942, 111. 239 Vierteljahresbericht über die Zeit Juli, August, September 1942 des Forschungsinstituts der Deutschen Volksgruppe in Rumänien (Abschrift), Misch Orend an das Stabsamt in Kronstadt am 2.10.1942, abgedruckt in: Popa 2005, 389–393, hier 391 [Dokument Nr. 395]. 240 „Dr. Eckhard Hügel, unterstützt von dem VDJ-Mann und abwechselnd von dem Ortspfarrer, dem Rektor und der Schreibkraft, untersuchte 285 Erwachsene und eine größere Anzahl von Kindern. Die Er­ wachsenen wurden gemessen, photographiert und dazu noch die weiteren nötigen Erhebungen gemacht, dazu auch gewertet, wobei sie immer in den Zusammenhang mit der Sippe gestellt wurden. Es mußte dabei leider das Eindringen, fremden, insbesondere zigeunerischen Blutes festgestellt werden, was nach Angaben von Einheimischen vor allen Dingen auf die ungarischen Zigeuner aus dem Seklerland, die als © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Die weiteren Abteilungen des Forschungsinstituts und die Museen habe Weber nur aus Zeitgründen nicht genauer kennenlernen können, er habe jedoch nur Erfreuliches gehört. Das wissenschaftliche Niveau der vom Institut herausgegebenen Zeitschrift Deutsche Forschung im Südosten findet Weber eher mittelmäßig: Sehr viel guter Wille, auch ernste Forschung. Aber auch noch allerlei Lokalforschung und Allerlei überhaupt! Das wird schwer zu ändern sein, solange der Mitarbeiterkreis sich auf die Gruppe und ihren Stab beschränkt. Hier wäre eine glänzende Gelegenheit, den Horizont zu lichten.

Nach Webers Vorstellungen sollte Turowski sich diesbezüglich engagieren: Mir käme es darauf an, dass Sie erreichen könnten, dass dies geschieht.241

Weber hatte sich drei Punkte überlegt; neben den „Studienreisen ins Reich“ für die „jungen Forscher“ schlug er eine intensive Förderung des Instituts durch die SS vor; man sollte „den ganzen wissenschaftlichen Apparat der SS dafür einspannen, dass die dort auf eine breitere Grundlage kommen, Zulauf aus dem Reich haben, Helfer bei der Arbeit, Anreger von besonderer Aufgaben, Patrone bei schwierigen Arbeiten usw. Vor allem Hilfe, wo es geht, in Form von Assistenten, die etwa vom Reichsführer als Stipendiaten dorthin geschickt werden, um dort beizuspringen usw.“ Er schlägt außerdem auch „Beistand des ‚Ahnenerbes‘ bei allen Buchunternehmungen, aber auch bei den grossen Forschungsaufgaben“ vor. Es werde künftig ohnehin soweit kommen, dass sich das Ahnenerbe „auch der Volksdeutschen in aller Welt annimmt“. Er mahnt, dass „Schätze für die Volksgeschichte von unschätzbarem Wert“ verloren gingen und die Arbeit der Historiker erschwere. Er geht auf die Umsiedlung der „Volksdeutschen“ ein, was man fast als Kritik an der nationalsozialistischen Rassen- und Siedlungspolitik verstehen könnte: Was bedeutet in diesem Zusammenhang allein der Abbruch der Siedlung der Volksdeutschen in Russland, in der Bukowina und Dobrudscha! Das wird noch weiter gehen, auf alle Volksdeutschen in der Fremde, aber sogar auf die Reichsdeutschen übergreifen – wer und wie und wo wird man später dann eine Geschichte des Deutschtums in der Welt schreiben? Wer kann dann die Forderung des Führers erfüllen, die ‚Geschichte des Ariertums‘ in der Welt, die doch nichts anderes ist als das vorher genannte Thema auf die Zeit von 5000 v. Zr. bis auf die Gegenwart ausgedehnt? Also das ‚Europäische Schicksal‘!242

Weber bittet Turowski, unter diesem Gesichtspunkt seinen Vorschlag zu bedenken. Er versichert, dass es ihm nicht darum gehe, seine eigenen Schüler zu fördern. Es gehe ihm nur darum, dass die SS in Rumänien fördern solle, „was einmal im ganzen bewältigt werden muss, die Vorbereitung der gesamtdeutschen Volksgeschichte im Sinne meines Vortrags“. Sinn und Zweck dieser „Geschichte des Ariertums in der Welt“ ist die Legitimation der nationalsozialistischen expansiven Außenpolitik, so postuliert Weber:

Erntearbeiter Sommer für Sommer nach Deutsch-Weißkirch kamen, zurückzuführen sein soll. Dabei haben die rassisch einwandfreien Familien weniger Kinder als die mit fremdem Bluteinschlag. Dr. Hügel hat es nicht unterlassen, im Zusammenhang mit den Parolen der Volksgruppenführung den rassisch besseren Elementen eine weitere Vermehrung zu empfehlen.“; [Anon.] 1942e, 700 f. 241 Wilhelm Weber an Ernst Turowski am 30.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. 242 Wilhelm Weber an Ernst Turowski am 30.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Eines Tages wird dann das Werk da sein, das nicht blos ein Ruhm für die SS wird, sondern jeder Deutschen Regierung das Recht zu allem in Europa gibt.243

Ob Turowski Webers Hoffnungen, dass „dieses Forschungsinstitut in Hermannstadt und seine Leiter die Hilfe der SS allerwege spüre und vorankommen“ erfüllen konnte, muss offen bleiben – bekannt ist jedenfalls nichts darüber. Aufgrund des weiteren Kriegsverlaufs dürfte das Institut seine Forschungen ohnehin bald eingestellt haben. Nachdem Rumänien Ende August 1944 die Seite gewechselt hatte, stellte das Forschungsinstitut seine Tätigkeit ein.244 Grundsätzlich hatte sich Weber aber mit seinem Anliegen an den richtigen Adressaten gewandt, denn Wissenschaft war ab Ende der 1930er Jahre auch zu einer sicherheitsdienstlichen Aufgabe geworden.245 Seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs arbeiteten der SD und das Ahnenerbe der SS auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft intensiv zusammen. Beispielsweise wurden wissenschaftliche Tagungen beobachtet, Fachliteratur begutachtet und gemeinsame hochschulpolitische Initiativen entwickelt.246 Als ein erstes Ergebnis war im Februar 1939 im SD-Hauptamt eine Denkschrift über „Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland“ von Hermann Löffler fertiggestellt worden, der vorher die Forschungsstätte für mittlere und neuere Geschichte beim Ahnenerbe aufgebaut hatte.247 Anhand der handschriftlichen Vermerke auf Webers Brief lässt sich zumindest rekonstruieren, an welche Abteilungen innerhalb des SD dieser „zur Auswertung“ weitergeleitet wurde: erstens an die Abteilung III C3c (Volkskultur und Kunst)248, zweitens an die Abteilung III B1 (Volkstumsarbeit)249. In seinem Brief erwähnt Weber nicht, dass sowohl Misch Orend als auch Fritz Roth sich selbst bereits mehrfach um eine Unterstützung durch das SS-Ahnenerbe bzw. um eine enge Zusammenarbeit bemüht hatten.250 Diese war zwar angestrebt, war aber bisher daran gescheitert, dass Orend beim Ahnenerbe offenbar in Ungnade gefallen war und für unfähig gehalten wurde.251 Vielleicht wusste Weber nichts davon, vielleicht war Weber aber auch von Orend und Roth gebeten worden, ein gutes Wort für sie einzulegen. Ob Webers Empfehlungen überhaupt an das Ahnenerbe weitergeleitet wurden, ist fraglich. Festzuhalten ist, dass er seine fachwissenschaftliche Expertise dem nationalsozialistischen Herrschaftsapparat andiente, sich mit seinen Ratschlägen geradezu aufdrängte und dabei die Grenzen seines eigenen Fachs weit überschritt.

243 Wilhelm Weber an Ernst Turowski am 30.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Hervorhebung wie im Original. 244 Roth 2004, 129. 245 Schreiber 2003, 165. 246 Lerchenmueller 2003, 166. 247 Lerchenmueller 2003, 166. 248 Vgl. Wildt 22008, 385. 249 Vgl. Wildt 22008, 381 f. 250 Aktenvermerk des Reichsgeschäftsführers des SS-Ahnenerbe (Sievers) vom 26.3.1941, abgedruckt in: Popa 2005, 197 [Dokument Nr. 198]. 251 Wolfram Sievers an Andreas Schmidt am 13.8.1942, abgedruckt in: Popa 2005, 353 f. [Dokument Nr. 369]. Das Ahnenerbe hatte bereits 1937 das zuvor von der Deutschen Forschungsgemeinschaft betreute Zentral­archiv der deutschen Volkserzählung in Hermannstadt, dessen Mitarbeiter Misch Orend war, übernommen und als Lehr- und Forschungsstätte für Volkserzählung, Märchen und Sagenkunde fortgeführt. Wolfram Sievers an Misch Orend am 20.5.1937, abgedruckt in: Popa 2005, 55 [Dokument Nr. 21]. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Sicher ist, dass ein Teil von Webers Bericht in die Meldungen aus dem Reich, die geheimen innenpolitischen Lageberichte des SD, einging. In dem Bericht vom 1. Juni 1942 (Nr. 288) wurden im Abschnitt „Zur Lage der deutschen Volksgruppen in Rumänien“, in dem hauptsächlich über „volksgruppenfeindliches Verhalten“ der Rumänen berichtet wird, auch Webers Informationen verarbeitet: Wie weit sich das volksgruppenfeindliche Verhalten gewisser untergeordneter rumänischer Be­ hörden bereits vorgewagt habe, zeige u. a. auch die Tatsache, dass der Hermannstädter Präfekt Oberst Radulescu versucht habe, einen Vortrag des Berliner Professors Wilhelm Weber vor der deutschen Volksgruppe in Hermannstadt zu verbieten, obwohl der deutsche Professor nach Rumänien eingeladen war und auch von Vizeministerpräsident Mihai Antonescu empfangen wurde.252

Noch im selben Jahr führte Weber auf Einladung der rumänischen Regierung eine vierwöchige Studienreise nach Rumänien durch. Vermittelt wurde die Reise erneut von Ernst Gamillschegg, finanziert teilweise von der rumänischen Regierung.253 Das Reichsministerium für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung bewilligte außerdem einen Reisekostenzuschuss.254 Als Zweck der Reise gab Weber gegenüber dem REM an: „erneutes, vertieftes Studium der in meinem Vortrag im Bukarester Weltgeschichtlichen Institut (12.3.42) behandelten Problematik über das ‚dako-getische Volk‘“.255 Instruktiv für die Stoßrichtung der Studien, die Weber in Rumänien betreiben wollte, ist sein Vorschlag, „dass auch Herrn Professor Fischer Gelegenheit geboten werde, sich an dieser Reise zu beteiligen“.256 Der Mediziner, Anthropologe und Rassenhygieniker Eugen Fischer war seit 1927 der erste Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem. Sein Institut lieferte die Legitimation für die NS-Rassenpolitik und war an zahlreichen nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt.257 1940 hatte Fischer das wissenschaftliche Profil seines Instituts postuliert; die Forschungen sollten „der Rassenpolitik [des Staates] unmittelbar“ dienen, Teil der Forschungen sollten auch „rassenkundliche Erhebungen“ an Juden in verschiedenen Teilen Deutschlands und auch an „Zigeunern“ in Rumänien sein.258 Webers Vorschlag zeigt auch, wie ernst es ihm mit seinen Plänen für die rassenkundliche Forschung in Rumänien war, die er gegenüber dem SD geäußert hatte. Weber und Fischer kannten einander – zumindest auf fachlicher Ebene – offenkundig schon länger. Die enge Vernetzung von Weber mit der Rasseforschung geht aus Gutachten hervor, die 1938 über den Antrag des Innsbrucker Althistorikers Franz Miltner zur Errichtung eines Rassenkundlich252 Meldungen aus dem Reich Nr. 288; Boberach 1984, 3776, auch abgedruckt in: Popa 2005, 336 [Doku­ ment Nr. 348]. 253 Wilhelm Weber an das Reichserziehungsministerium über den Rektor der Universität Berlin am 14.7.1942; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 2, Bl. 18. 254 Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an den Rektor der Universität Berlin am 4.9.1942; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 2, Bl. 23. 255 Wilhelm Weber an das Reichserziehungsministerium über den Rektor der Universität Berlin am 14.7.1942; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 2, Bl. 18. 256 Wilhelm Weber an das Reichserziehungsministerium über den Rektor der Universität Berlin am 14.7.1942; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 2, Bl. 18. – Es wäre für Fischer nicht die erste Forschungsreise nach Rumänien gewesen, 1941 hatte er sich bereits dort aufgehalten; Gausemeier 2005, 298 f. Vgl. Lammert, 1941, 290–295. 257 Zu Fischer und seinem Institut vgl. Schmuhl 2005; Lösch 1997. 258 Zitiert nach: Schleiermacher 2005, 85. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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historischen Instituts in Rom verfasst wurden. Dieser hatte den Antrag nicht nur beim Ahnenerbe der SS eingereicht,259 sondern vorher schon bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft – die eine Förderung jedoch ablehnte.260 Als Gutachter hatte die Deutsche Forschungsgemeinschaft Weber, Fischer, den Berliner Klassischen Archäologen Gerhart Rodenwaldt und den Rassenideologen Hans F. K. Günther hinzugezogen. Günther, der zu der Zeit Direktor der Anstalt für Rassenkunde, Völkerbiologie und ländliche Soziologie in Berlin-Dahlem war, fand den Vorschlag Miltners „sehr beachtenswert“, aber Rom als Ort aus politischen Gründen ungünstig. Er schlug vor, Weber als Gutachter hinzuzuziehen.261 Weber lehnte Miltners Vorschlag ab; vielleicht wollte er sich von ihm nicht den Rang ablaufen lassen.262 In seinem Gutachten verwies er mehrmals auf Fischer und Günther als Autoritäten. Über Fischer wusste er zu berichten, dass dieser vor etwa vier Wochen erst aus Italien zurückgekehrt sei, wo er „mit Unterstützung amtlicher Stellen dem Rassenproblem in allen Teilen Italiens seine ganze Kraft als Autorität ersten Ranges gewidmet hat“.263 Über Günther führt er „vertraulich“ an, dass dieser „auf Anregung des Reichsleiters A r . [sic!] R o s e n b e r g und nach Bewilligung eines e i n jährigen Urlaubs durch das Ministerium den zweiten Teil seiner ‚Rassenkunde des hellenischen und Römischen Volkes‘, also die Römer in der nächsten Zeit neubearbeiten und in einer umfassenderen Ausgabe vorlegen“264 werde. Weber meinte schließlich: Solange die neuen Untersuchungen von Fischer und Günther nicht vorgelegt sind, dürfte es ohnedies nicht leicht sein, mit einem breiten Aufbau rein organisatorischer Art zu beginnen.265

Einige Bemerkungen Fischers in seinem Gutachten über Miltners Antrag geben außerdem indirekt Hinweise darauf, was Weber und Fischer gemeinsam in Rumänien wollten. Er postulierte eingangs, die von Miltner umrissene wissenschaftliche Aufgabe sei „eine sehr lohnende und ebenso dringliche“ und betonte dann die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit: Die Zusammenarbeit eines Althistorikers mit archäologischer Schulung und eines für historische und kultur- u. kunsthistorische Fragen interessierte Anthropologen verspricht eine reiche Ausbeute (…).266 259 Dazu ausführlich Losemann 1977, 132–139; Losemann 2017b, 231. 260 Der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft an Franz Miltner am 20.2.1939; BArch Berlin, R 73, 11865. 261 Hans F. K. Günther an die Deutsche Forschungsgemeinschaft am 20.1.1939; BArch Berlin, R 73, 11865. 262 Weber argumentierte, Miltners Antrag biete nichts Neues, und war der Meinung, Miltner habe zu wenig Vorarbeiten geleistet. Er hob die Forschungen des Königsberger Archäologen Franz Messerschmidt, den er vermutlich aus Halle kannte, und des Berliner Dozenten Werner Peek sowie die seiner eigenen Schüler besonders hervor: Peter Julius Junge bearbeite die persisch-rassischen Fragen und Friedrich Vittinghoff sitze an einem „großen Werk“ über Volk und Rasse im Römischen Reich. „Auch da werden Gedanken von mir in voller Breite entwickelt“, so Weber. Er selbst hatte bereits 1936 eine Denkschrift „über die griechische Seite des ganzen Problems“ im Auftrag des Reichsinnenministeriums verfasst, die er anbot, der DFG zu schicken. Aus politischen Gründen sei damals der von Weber skizzierte Arbeitsplan als undurchführbar bezeichnet worden; Wilhelm Weber an die Deutsche Forschungsgemeinschaft am 2.7.1938; BArch Berlin, R 73, 11865. 263 Wilhelm Weber an die Deutsche Forschungsgemeinschaft am 2.7.1938; BArch Berlin, R 73, 11865. 264 Wilhelm Weber an die Deutsche Forschungsgemeinschaft am 2.7.1938; BArch Berlin, R 73, 11865. Hervorhebungen wie im Original. 265 Wilhelm Weber an die Deutsche Forschungsgemeinschaft am 2.7.1938; BArch Berlin, R 73, 11865. 266 Eugen Fischer an die Deutsche Forschungsgemeinschaft am 14.7.1938; BArch Berlin, R 73, 11865. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Er gab jedoch zu bedenken, dass der Plan in Italien wenig positiv aufgenommen würde: Im allgemeinen ist der ‚Rassismo‘ eine unverstandene und abzulehnende Erfindung der nordischen Bewegung Deutschlands. So denken viele National-Italiener, die nicht wünschen, dass Kultur auf italienischem Boden von Germanen stamme.267

Um zurück zu Webers Rumänien-Plänen zu kommen: Es liegt nahe, dass Fischer und er sich in Rumänien weniger der Erforschung der Herkunft des rumänischen Volkes (bzw. des Kon­ strukts der Kontinuität eines dako-getischen Volks), als vielmehr der Erforschung germanischer Hinterlassenschaften auf rumänischem Boden widmen wollten. Sicher ist, dass Weber in Berlin mit den führenden Autoritäten auf dem Gebiet der Rassenforschung vernetzt war, eine enge Zusammenarbeit anstrebte und seine eigene althistorische Forschung dementsprechend ausrichtete. Ob Fischer wirklich gemeinsam mit Weber diese Reise unternahm, geht aus den bisher eingesehenen Akten nicht hervor. Weber war auf jeden Fall ein zweites Mal in Rumänien.268 Nach der Reise war er nach eigenen Angaben noch mit „Arbeiten, die aus den wiederholten Reisen nach Rumänien entstanden sind“, beschäftigt.269 Publiziert hat er die Erträge der Reisen nicht mehr. Nach 1945 wurden die Reisen nach Rumänien als Beleg für Webers nationalsozialistische Gesinnung gewertet. Weber kämpfte gegen seine Entlassung, er sah sich als Opfer einer Intrige innerhalb der Universität. Seine Verteidigung entkräftet sicher nicht den Kern der ursprünglichen Vorwürfe: Wer verleumderisch behauptet, ich hätte in Rumänien ‚Nazipropaganda‘ getrieben, trete den Beweis dafür an: Was ich dort als meine wissenschaftliche Überzeugung gegen die amtliche deutsche Auffassung vertrat, hat die Sowjetregierung im August 44 buchstäblich verwirklicht. Denn sie hat Siebenbürgen den Rumänen wiedergegeben.270

Über Webers Verbindungen zum SD hat die Universität offenbar nichts gewusst, in den Akten gibt es keine Hinweise darauf. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Weber den rassenkundlichen Ansatz nicht nur auf einer theoretischen Ebene in seinen Forschungen anwandte, sondern sich auch dafür einsetzte, dass die Rassenkunde in Rumänien und deren praktische Feldforschung gefördert werden. Gegenüber dem SD trat er als Experte auf, wobei sich seine Ratschläge nicht auf sein eigenes Fach beschränkten. Offenbar hatte er ein ernsthaftes Interesse daran, dass das Ahnenerbe der SS insbesondere die rassenkundliche Forschung in Rumänien förderte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er – entgegen seinen eigenen Angaben – sehr wohl auch eigene Schüler als mögliche Stipendiaten im Blick hatte, denn um ihr Fortkommen hatte er sich immer bemüht. 267 Eugen Fischer an die Deutsche Forschungsgemeinschaft am 14.7.1938; BArch Berlin, R 73, 11865. 268 Der in Webers Personalakte explizit erwähnte Reisebericht (Der Dekan der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin an den Rektor am 20.11.1942; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 2, Bl. 26) ist weder in seinen Personalakten und im Bestand Rektorat und Senat des HUB UA noch im Bundesarchiv aufzufinden. 269 Wilhelm Weber an das Reichserziehungsministerium (Abschrift) am 24.11.1942; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 2, Bl. 53. 270 Wilhelm Weber an Theodor Brugsch am 22.7.1947; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 3. – Im selben Brief gab er an, er habe 1928 in der Volkshochschule in Halle einen Vortrag „über Lenin und Stalin und ihr Werk als Staatsschöpfer“ gehalten. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

„Hat man den Germanen dafür gedankt?“

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Die Auseinandersetzung um Wilhelm Webers Teilnahme am Fachlager der Altertumswissenschaften und die Intervention des SD Abgesehen davon, ob und inwiefern die Mitarbeiter des Forschungsinstituts der Deutschen Volksgruppe in Rumänien von Webers Bericht und seinen Empfehlungen an den SD profitierten, ist auch die Frage interessant, inwiefern Weber persönlich von seinem Kontakt zum SD profitierte. In seinem Brief vom 28. April 1942 hatte Turowski – wie bereits erwähnt – Weber vorge­ schlagen, auch auf dem vom Reichsdozentenbund organisierten und von dem Klassischen Philo­ logen Karl Drexler geleiteten Fachlager der Altertumswissenschaften Ende Mai einen Vor­trag zu halten.271 Die altertumswissenschaftlichen Fachlager waren nach Beginn des Zweiten Welt­ kriegs vom Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbund eingerichtet worden und sollten Tagungen alten Stils ersetzen. Später gerieten sie zunehmend unter den Einfluss des Amtes Rosen­berg. Die Zielgruppe war ein „weltanschaulich“ geschlossener Teilnehmerkreis, zu dem weder Weber noch Berve zählten.272 In dem Brief ging es um das Augsburger Lager, das im Juni 1942 stattfand.273 Im Vorfeld war um die Teilnahme Webers ein regelrechter „Gut­achterstreit“ entbrannt, schon bevor sich der SD einschaltete. Richard Harder hatte sich gegen Weber ausgesprochen und das Amt Rosenberg beanspruchte für sich, über dessen Teilnahme zu entscheiden.274 Dass Weber nicht eingeladen war, muss er Turowski in einem persönlichen Gespräch berichtet haben. Bereits einen Tag später nahm sich nämlich Turowski der Sache an. Er schickte ein Fernschreiben an den SD-Abschnitt in Braunschweig, der dafür sorgen sollte, dass auch Weber auf der Tagung einen Vortrag halten konnte: Wie hier bekannt wird, veranstaltet der NSD-Dozentenbund Ende Mai unter dem Vorsitz von Prof. Drexler, Göttingen, eine Tagung der Altertumswissenschaftler. Maßgeblich beteiligt ist an der Tagung Prof. Harder, München, der seinen Kreis stärker herausstellen möchte. Da es notwendig erscheint, die kulturpolitische Seite der Altertumswissenschaft stärker zu betonen, wird für zweckmäßig gehalten, wenn auch Prof. Weber, Berlin, der nicht zu dem Kreis um Harder gehört, zu der Tagung nicht nur eingeladen wird, sondern auch das Wort ergreift. Weber ist zwar nicht in der Partei, gehört aber zu den führenden positiven Kräften in der Altertumsforschung, der eine saubere kulturpolitische Linie verfolgt. Es wird daher ersucht, geeignete Schritte zu unternehmen, um Drexler zu veranlassen, Weber auf der geplanten Tagung sprechen zu lassen.275

Offenbar hatte Weber Turowski auch berichtet, dass Richard Harder an der Tagung teilnahm. Der Klassische Philologe, ein Schüler Werner Jaegers, war seit 1940 Professor in München und von dem Reichsleiter Alfred Rosenberg im Rahmen der Planungen der Hohen Schule mit dem Aufbau eines Instituts für Indogermanische Geistesgeschichte beauftragt worden.276 Die Intervention zugunsten Webers zeigt einerseits exemplarisch, wie der SD zu der Zeit ver­ suchte, seinen Einfluss auf die Wissenschaft auszuweiten. Andererseits wird auch deutlich, dass

271 272 273 274 275 276

Ernst Turowski, III C 1, an Wilhelm Weber am 28.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Losemann 2001, Sp. 742. Vgl. ausführlich zu den Fachlagern bereits Losemann 1977, 94–108. Vgl. auch Schott 2008, 439–441. Losemann 1977, 103. Ernst Turowski, III C 1, an den SD-Abschnitt Braunschweig am 29.4.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Dazu ausführlich Schott 2008. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Weber durchaus Erfolg damit hatte, Turowski seine Vorträge zu schicken und ihm Informationen zuzutragen. Dieser war offenkundig beeindruckt und versuchte im Gegenzug Weber zu fördern. Die Antwort des SD-Abschnitts traf bereits am nächsten Tag im Reichssicherheitshauptamt ein. Der zuständige Wissenschaftsreferent hatte direkt mit Drexler gesprochen, zu dem er aufgrund dessen Tätigkeit für den SD guten Kontakt gehabt haben dürfte. Ein SS-Sturmbannführer berichtete, dass das Lager zum Thema „Kultur und politische Geschichte“ in der ersten JuniWoche 1942 stattfinden sollte, das „Protektorat“ habe das Amt Rosenberg übernommen. Für die insgesamt sechs Vorträge waren folgende Referenten eingeplant: Konrad Glaser (Wien), Richard Harder (München), Reinhard Herbig (Heidelberg), Lothar Wickert (Köln), Franz Altheim (Halle), Fritz Hellmann (Berlin)277 und als Ersatz eventuell Hans Bogner (Straßburg).278 Weber hingegen sei „bisher nicht“ eingeladen und auch nicht als Redner vorgesehen worden: Prof. Drexler, dem Weber persönlich bekannt ist, bezeichnet Weber als einen politisch einwandfreien Menschen und als einen Althistoriker von gutem Ruf. Wenn auch sachlich nichts gegen eine Heranziehung des Prof. Weber spricht, so wurde doch davon Abstand genommen, da Weber als ein Mann von stark ausgeprägtem Geltungsbedürfnis gilt, der immer und überall eine große Rolle spielen will und sich dadurch mit vielen Fachkollegen überworfen hat. Prof. Harder, der selbst Mitarbeiter des Amtes Rosenberg ist, hat seine Teilnahme an der Tagung davon abhängig gemacht, dass Weber nicht erscheint.279

Bemerkenswert ist die Mitteilung des SD-Mitarbeiters, dass sich bereits sowohl die Reichs­ dozenten­bundführung als auch das Amt Rosenberg mit Drexler in Verbindung gesetzt hätten, um Webers Teilnahme an dem Lager zu erwirken. Die Entscheidung werde das Amt Rosenberg in Rücksprache mit Drexler treffen. Aber auch die Intervention des SD überzeugte diesen offenbar nicht, denn eine Teilnahme Webers kam nicht zustande.280 Offenbar entschloss sich daraufhin der SD, sich nun mit einer Intervention an eine höhere Stelle zu wenden. In Webers Akte ist ein Schreiben des Amtes Wissenschaft des SD an den Leiter der Parteikanzlei (Martin Bormann), z. Hd. Oberregierungsrat Bechtold, mit dem Betreff „Prof. Wilhelm Weber, Ordinarius für Alte Geschichte an der Universität Berlin“, enthalten. Ob der Brief so abgeschickt wurde oder es sich nur um einen Entwurf handelt, ist unklar, er ist undatiert und endet etwas abrupt ohne Grußformel, ohne dass ersichtlich wird, was der Verfasser genau bei dem Leiter der Parteikanzlei bewirken wollte.281 Das neunseitige Dokument zeigt jedoch eindrücklich, dass sich Webers Kontakt mit dem SD für ihn „gelohnt“ hatte und lässt gleichzeitig erschließen, über welche Informationen von und über Weber bzw. seine Stellung innerhalb der Altertumswissenschaft der SD noch verfügte. Ob diese Informationen von Weber selbst, von Rubin oder von anderer Stelle stammen, lässt sich nicht immer zuverlässig klären.

277 Im Original (wahrscheinlich von Turowski) mit einem „(!)“ markiert. – Hellmann war ein Schüler von Werner Jaeger; vgl. seine Dissertation: F. Hellmann, Herodots Kroisos-Logos, Berlin 1934 (Neue philologische Untersuchungen 9). 278 Die letztendliche Referentenliste wich etwas ab, vgl. zum Ablauf der Tagung Losemann 1977, 103–105. 279 SD-Abschnitt Braunschweig (gez. Dyroff (III C1)) an das Reichssicherheitshauptamt Amt III am 1.5.1942; BArch Berlin, ZB 7079.A5. Handschriftliche Unterstreichungen im Original. 280 Losemann 1977, 103. 281 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, III C 1a, an den Leiter der Partei-Kanzlei (z. Hd. Ober­ regierungsrat Bechtold) (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Größtenteils sind sie aber recht genau und so speziell, dass die Vermutung sehr nahe liegt, dass sie auf Webers eigene Erzählungen zurückgehen. Der Anlass des Briefs ist Webers verhinderte Teilnahme an dem Lager: Nach hier vorliegenden Meldungen wurde die Teilnahme des Prof. Weber an der vom Reichs­do­ zen­ten­bund geplanten, aber nicht verwirklichten282 Historiker-Tagung unmöglich. Ferner wird das Be­mühen festgestellt, Prof. Weber auch wissenschaftlich auszuschließen.283

Die treibende Kraft sei Harder: Zur Begründung verweist H. auf das hastende, unstete Wesen Webers. Außerdem wolle Weber immer nur seine eigene Meinung den anderen aufdrängen, so daß ein ersprießliches Arbeiten mit Weber auf einer Tagung unmöglich sei.

Harder habe seine Ablehnung Webers außerdem damit begründet, dass „die geistesgeschichtlichen Konsequenzen der Weber’schen Forschung (…) untragbar“ seien. Der Verfasser des Briefes räumt zwar ein, Weber weise „zweifellos Charakterschwächen“ auf, Harders Begründung lasse jedoch erkennen, dass „die Stammeseigentümlichkeiten des Badeners von dem Norddeutschen falsch verstanden“ worden seien. Ein Ausschluss von einer Tagung der Altertumswissenschaften sei nicht zu rechtfertigen, „da Weber nicht nur zu den hervorragendsten Vertretern dieser Wissenschaft gehört, sondern auch einer der wenigen Gelehrten ist, welche diese Wissenschaft im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung zu pflegen sich bemühen und Weber sie kulturpolitisch nutzbar zu machen versteht“. Weber besitze insbesondere „durch seine vielen erfolgreichen Vortragsreisen im Ausland einen Namen von Klang“, daher, so der Verfasser, „repräsentiert sich die nationalsozialistische Wissenschaft schlecht, wenn ein Forscher vom Format W. Webers auf vom Reichsdozentenbund veranstalteten Tagungen nicht erscheint“. Es folgen fünf Seiten, auf denen Webers wissenschaftlicher Werdegang skizziert wird, seine wichtigsten Publikationen zusammengefasst werden, seine Wirkung in der Lehre und seine Vorträge hervorgehoben und die Forschungen seiner Schüler herausgestellt werden. Über sein wissenschaftliches Werk heißt es: Wie dem Buch ‚Der Prophet und sein Gott‘ (Leipzig 1925) zu entnehmen ist, strebt er in seinen Fors­chungen ein doppeltes Ziel an. Er will die Wirkung der gegenseitigen Durchdringung und Ver­flechtung jener Kräfte verfolgen, die in der mannigfach gegliederten Bevölkerung des römischen Reichs bestimmenden Einfluß gewannen. Gleichzeitig will er den Drang der rassischen und völkischen Elemente zu eigenständiger Geltung deutlich werden lassen.

Tatsächlich aber zeigt diese Untersuchung viel mehr Webers damaliges Interesse an religiösen und geistesgeschichtlichen als an rassenkundlichen Fragen.284 Der Versuch des Verfassers, Weber als einen frühen Vertreter der rassengeschichtlichen Sichtweise darzustellen, erscheint stark übertrieben. Des Weiteren wird auch Webers Augustus-Darstellung285 besonders hervorgehoben: 282 Hierbei scheint es sich um eine Fehlinformation zu handeln. Das altertumswissenschaftliche Lager hat stattgefunden, wie die von Losemann ausgewerteten Berichte zeigen. Losemann 1977, 103–105. 283 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, III C 1a, an den Leiter der Partei-Kanzlei (z. Hd. Ober­ regierungsrat Bechtold) (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. 284 Zu der Untersuchung vgl. Christ 1982, 213–215. 285 Weber 1936. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Claudia Deglau Der ‚Princeps. Studien zur Geschichte des Augustus‘ (Stuttgart 1936) lehrt die Symptome autoritärer Führung im römischen Staat neu sehen und liefert sehr viele und neue Anregungen für die Beurteilung des römischen Prinzipates, der Terminologie des Imperialismus und der politischen Ideologie.286

Diese positive Einschätzung steht im Gegensatz zu den negativen Reaktionen in der Fachwelt.287 Verdächtig nach Webers eigener Sichtweise klingt eine Passage darüber, dass Weber „von vielen Forschern totgeschwiegen“ werde: So erwähnt Franz Altheim in seinem Buch ‚Die Soldatenkaiser‘ mit keinem Wort, daß bereits W. in seiner Römischen Kaisergeschichte (in Knaurs Weltgeschichte) Altheims ‚neue Sicht‘ für den ursächlichen Zusammenhang der umstürzenden Veränderungen im römischen Reich mit der Auswirkung vorweggenommen hatte, welche die Wanderungen der innerasiatischen Stämme und der germanischen Völker im Westen hatte.

Dass das Amt Wissenschaft des SD einen so genauen Überblick über die althistorische Literatur bzw. darüber hatte, wer wen zitiert hat oder eben nicht, ist doch sehr zu bezweifeln. Ebenfalls verdächtig nach Selbstaussage klingt der Hinweis, dass Weber in „engem Gedankenaustausch (…) mit vielen seiner Kollegen des In- und Auslandes steht, wobei er fast immer der Gebende ist“. Bemerkenswert auch der Hinweis auf „das ideale Familienleben (…), das Weber mit seinen acht Kindern und zwei Enkelkindern pflegt“.288 In Bezug auf Webers Lehrtätigkeit wird ihm eine starke Wirkung auch über die Kreise seines Faches hinaus bescheinigt. Außerdem wird noch einmal seine Vortragstätigkeit im Besonderen im Ausland herausgestellt: Als Kriegsteilnehmer 1914/18 wie auch als Forschungsreisender hat sich W. im steten Verkehr mit den Vertretern der Wissenschaft und der Politik einen offenen Blick für das Zeitgeschehen bewahrt. So kann er wie in seinen Vorlesungen auch in vielen Vorträgen in Wehrmachtskreisen besonders aber im Ausland nachhaltig wirken.

Ganz besonders werden die Vorträge in Rumänien hervorgehoben. Anschließend werden die wissenschaftliche Forschung und die Verdienste seiner Schüler dargestellt, mit denen Weber „in einem sehr herzlichen und persönlichen Verhältnis“ stehe. Vorgestellt werden zunächst Joseph Vogt, der bereits gefallene Paul L. Strack, Waldemar Wruck, Clemens Bosch und Fritz Taeger. Ausführlicher wird auf seine jüngeren Schüler eingegangen: In den Jahren vor Ausbruch dieses Krieges plante W. ein Werk, das sich mit einer grundlegenden Neubearbeitung der Quellen zur Geschichte der Auseinandersetzung der Germanen mit dem römischen Imperium befassen sollte. In Fühlungnahme mit der Reichsstudentenführung und der Zeitung des Reichsberufswettkampfes der deutschen Studenten sollten einer großen Zahl begabter Schüler Arbeitsgebiete zugewiesen werden.289

286 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, III C 1a, an den Leiter der Partei-Kanzlei (z. Hd. Oberr­ egierungs­rat Bechtold) (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. 287 Zu Webers Augustus-Darstellung vgl. Stahlmann 1988, 155–184. 288 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, III C 1a, an den Leiter der Partei-Kanzlei (z. Hd. Ober­ regierungsrat Bechtold) (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. 289 Zum Reichsberufswettkampf vgl. Kater 1974; Losemann 2017c, 66. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Aus dieser Gruppe von jüngeren Weber-Schülern nennt der Verfasser Heinz-Eberhard Giesecke, Alfred Küsters, Willi Wittmann und Gerhard Wais. Diese Gruppe war auch in der Rede Die Lage in der deutschen Geschichtswissenschaft des SD-Historikers Hermann Löffler, die dieser 1941 auf der Tagung des Kulturreferenten des Amtes III C des RSHA hielt, besonders hervorgehoben worden.290 Des Weiteren werden auch noch Berthold Rubin, Johannes Straub und Helmut Werner genannt. Über Werners Dissertation heißt es in dem Brief: ‚Der Untergang Roms‘ (Stuttgart 1939) lieferte einen auf gute Kenntnis der Literatur der letzten 100 Jahre zum Rassenproblem fußenden beachtenswerten Beitrag zum Dekadenzproblem im Altertum.291

Webers Schüler und deren Arbeiten ermöglichen, so der Verfasser, „einen guten Einblick in das um­fassende Können und Wissen W.s“. Er resümiert, Weber habe „neben seinen eigenen Arbeiten auch in denjenigen seiner Schüler der Gegenwart und ihrem weltanschaulichen Ringen wertvolle Dienste geleistet“.292 In dem Brief werden auch über noch nicht realisierte Pläne von Webers Schülern berichtet. Über Küsters schreibt der Verfasser: Nach der Heimkehr aus dem Felde wird sich K. mit kriegsgeschichtlichen Problemen der germanischen Frühzeit beschäftigen.293

Im Anschluss kommt der Verfasser auf den eigentlichen Anlass des Briefes zu sprechen, und zwar auf Richard Harder: Umso unverständlicher ist es, daß Prof. Harder seinen Einfluß so weitgehend geltend machen kann. Eine Reihe von Anhaltspunkten sprechen dafür, daß H. durch persönliche Beweggründe zu seinem Vorgehen gegen W. bewogen ist.

Der Verfasser referiert sodann einige angebliche Motive für Harders Einstellung gegenüber Weber: H. sieht in W. denjenigen, der seine Berufung nach Berlin unmöglich machte. Nach hiesigen Meldungen widersetzte sich W. zweimal einer Berufung Harders nach Berlin aus folgenden Gründen: W. traut dem Professor Harder wissenschaftlich nicht viel zu. W. weist darauf hin, daß Harder Schüler des Emigranten W.  Jäger ist. Dieser Schule ist H. heute noch so sehr verpflichtet, daß er auf Betreiben des heute noch sehr liberal ausgerichteten und arbeitenden, die Richtung W. Jägers besonders in der Herausgabe der Zeitschrift ‚Die Antike‘ weiter pflegenden Prof. Joh. Stroux (Berlin) am 4.5.1939 zum Mitglied in die Preußische Akademie der Wissenschaften gewählt wurde, daß er ebenfalls von Prof. Stroux der Berliner Philosophischen Fakultät erst als Nachfolger des emigrierten Lehrers, W. Jäger und dann später wieder als Nachfolger des verstorbenen Chr. Jensen vorgeschlagen wurde. Die Vorschläge des Prof. Stroux, der heute noch ein ausgesprochener Repräsentant des dritten Humanismus ist, werden durch Prof. Baeumler weitgehend unterstützt. Beiden Vorschlägen widersprach W. mit dem Erfolg, daß die Berliner Fakultät jedes Mal von einer Berufung Harders Abstand nehmen mußte. W. sieht in Harder nicht mit Unrecht einen getarnten Vertreter des Liberalismus. 290 Lerchenmueller 2001, 240 f. Zu der Gruppe von jüngeren Weber-Schülern: Deglau 2017, 201–204; Lose­ mann 2017b, 220 f. 291 Werner 1939. 292 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, III C 1a, an den Leiter der Partei-Kanzlei (z. Hd. Ober­ regierungsrat Bechtold) (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. 293 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, III C 1a, an den Leiter der Partei-Kanzlei (z. Hd. Ober­ regierungsrat Bechtold) (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Auch wenn die Formulierung „nach hiesigen Meldungen“ betont allgemein gehalten ist – dass die „Meldungen“ von jemand anderem als von Weber selbst stammen, erscheint doch sehr unwahrscheinlich. Gegenüber dem SD Harder als „getarnten Vertreter des Liberalismus“ zu bezeichnen grenzt schon an Denunziantentum. Harder wird in dem Brief außerdem denunziert, er habe, „wie er selbst zugibt, bis zum Jahre 1938 in der von ihm mit herausgegebenen wissenschaftlichen Zeitschrift ‚Gnomon‘ Juden mitarbeiten“ lassen. Die Literaturberichte des Gnomon wurden bis 1938 von Richard Harder betreut, ab dem Band 14/1938 von Walter Marg.294 Aus dem Brief geht hervor, dass Harder auf diesen Umstand angesprochen worden war – ob von Weber oder jemand anderem, wird nicht erwähnt: Dabei entscheidet nicht der im Vergleich zu den übrigen Beiträgen der Gnomon-Bände geringe Umfang der jüdischen Leistungen, sondern die Tatsache, daß in einer deutschen wissenschaftlichen Zeitschrift noch bis zum Jahre 1938 Juden mitarbeiten. Umso weniger Verständnis wird H.’s Hinweis auf den geringen Umfang der jüdischen Beiträge finden, als es sich bei den letzten jüdischen Mitarbeitern nicht um solche von Weltruf handelt und im Reich genug wissenschaftliche Kräfte vorhanden waren, die diese Besprechungen hätten machen können. Hinzu kommt, daß H. beim Hinweis auf jüdische und emigrierte Mitarbeiter des ‚Gnomon‘ sich nur gegen den Vorwurf der j ü d i s c h e n Mitarbeiter verteidigt. Nicht genug, daß er sich selbst nicht restlos frei von Schuld bekennen muß, bemerkt er, die Mitarbeiter von Fritz und Regenbogen u. a. würden vielfach fälschlich als Juden bezeichnet. Mit dieser Bemerkung führt H. über den anstößigen Punkt hinweg. Denn die beiden von ihm selbst genannten Gelehrten v. Fritz und Regenbogen haben heute nicht mehr ihre Lehrstühle inne, weil sie politisch nicht zuverlässig sind. V. Fritz verweigerte 1934 den Eid auf den Führer und emigrierte, als er seines Amtes enthoben wurde. Dieser Gelehrte lieferte noch im Jahre 1939 einen von New York geschriebenen Beitrag (Gnomon 15 (1939) 274-276). Regenbogen arbeitete noch 1940 mit (Gnomon 16 (1940) 97-105).295

Tatsächlich war Otto Regenbogen ebenso wenig Jude wie Kurt von Fritz.296 Richtig ist, dass beide auf Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ihrer Stellungen enthoben wurden.297 Bei Otto Regenbogen hatte sich Harder 1927 in Heidelberg habilitiert.298 Wie bereits erwähnt, geht aus dem Brief nicht hervor, ob Weber diese Vorwürfe gegen Harder dem SD berichtet hatte – neu waren sie jedenfalls nicht. Bereits 1941 hatte ihm die Münchener NS-Dozentenschaft vorgeworfen, er habe in den Jahren 1925 bis 1932 besonders viele Juden und ab 1933 Emigranten mitarbeiten lassen.299 In Auseinandersetzungen um Harders Berufung nach München 1941 wurden die Vorwürfe auch von dem Leiter der Parteikanzlei, Martin Bormann, aufgegriffen, der sich in das Verfahren eingeschaltet hatte.300

294 Wolf 2001, 429. 295 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD (III C 1a) an den Leiter der Parteikanzlei (z. Hd. v. Ober­ regierungsrat Bechtold) (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. Sperrung wie im Original. 296 Der Klassische Philologe Otto Regenbogen war Ordinarius in Heidelberg. Er wurde 1937 seines Amtes enthoben, weil seine Ehefrau jüdische Vorfahren hatte; Chaniotis – Thaler 2006, 398 f. 297 Zu Kurt von Fritz vgl. Obermayer 2014, 223–402; Bernard 2012; Hose 2005. 298 Schott 2008, 419. 299 Schott 2018, 418 f., 436 f. 300 Schott 2008, 439. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Denkbar ist es, dass Weber gegenüber dem SD die Vorwürfe gegen Harder noch einmal aufgewärmt hat. Zwar meint Jähne, Weber sei „kein Antisemit“ gewesen.301 Betrachtet man Webers Verhalten gegenüber seinen von den Nationalsozialisten verdrängten Kollegen und denjenigen, die Kontakte mit Juden weiterhin pflegten oder auch gegenüber internationalen Kollegen und die Art und Weise, wie Weber über diese an offizielle Stellen berichtete, dann passen die Vorwürfe gegen Harder bedrückend gut ins Bild. Ein kurzer Exkurs soll dies veranschaulichen. Bereits bekannt ist, dass Weber versucht hat, die Karriere von Hans-Ulrich Instinsky zu behindern, indem er Druck auf die Philosophische Fakultät ausübte, diesem die venia legendi zu verweigern. Instinsky hatte den Nationalsozialismus aus seiner katholischen Haltung heraus abgelehnt.302 Der Klassische Philologe Paul Friedländer, der ebenfalls wegen seiner jüdischen Herkunft in Halle seines Amtes enthoben worden war,303 berichtete 1936 Rudolf Bultmann in einem Brief, dass er Weber in Berlin gebeten habe, die Instituts-Bibliothek benutzen zu dürfen. Weber verweigerte ihm dies.304 In dem Bericht über seine Gastprofessur in Ungarn 1940 berichtete Weber dem Reichsministerium, er sei einmal in eine „peinliche Lage“ geraten, „als Prof. Kéreny [sic] auf der gemeinsamen Fahrt nach Fünfkirchen seinen Ansichten über das ‚andere Deutschland‘ und seine Abneigung gegen das nationalsozialistische etwas Luft machte – nicht wunderbar bei einem jüdisch Versippten: Er wurde entsprechend behandelt.“305 Unter der Überschrift „Allgemeine Beobachtungen“ berichtete Weber noch speziell über einige der „Persönlichkeiten“ und hielt fest: „Ich halte es für nötig, solche Beobachtungen und Erfahrungen hier mitzuteilen“. Er wolle aber nicht, dass der Inhalt des „vertraulich-dienstlichen“ Berichts den Ungarn bekannt werde.306 Über den ungarischen Gräzisten Gyula Moravcsik schrieb Weber: Er hat eine blonde, helläugige Frau, wie ich viel zu spät erfuhr als Tochter des verst. Börsenpräsidenten Ehrlich Volljüdin!307

Über Karl Kerényi legte er außerdem noch dar: Er liebt, wie bereits erwähnt (Abs. 6 d), nur das ‚andere Deutschland‘ der Goethe, Hölderlin, Nietz­ sche und George, das heutige einfach deswegen nicht, weil er intellektueller Ästhet und jüdisch schwer versippt (Frau Volljüdin) ist: Ja, nach den Erfahrungen mit Frau Moravcsik-Ehrlich wurde ich nachdenklich, als mir von einem sehr ernsten Ungarn in hoher Stellung glatt erklärt wurde, auch Kereny [sic] sei Jude: Beweise habe ich dafür nicht, aber die Äußerung wurde mir mehrfach von diesem Gewährsmann nachdrücklich wiederholt!308 301 Jähne 2010, 168. 302 Thiel 2012, 492; Rebenich 2001a, 221. 303 Friedländer konvertierte als 14-Jähriger vom Judentum zum evangelischen Glauben. Im Jahr 1932 war er von Marburg nach Halle berufen worden. Als Teilnehmer des Ersten Weltkriegs konnte er zunächst noch vom sog. „Frontkämpferparagraphen“ profitieren, wurde dann aber 1935 auch seines Amtes enthoben; Obermayer 2014, 602 f. 304 Obermayer 2014, 614. 305 Wilhelm Weber, Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor in Ungarn vom 29. März bis 11. Mai 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1., Bl. 68. 306 Wilhelm Weber, Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor in Ungarn vom 29. März bis 11. Mai 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 71. 307 Wilhelm Weber, Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor in Ungarn vom 29. März bis 11. Mai 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 72. 308 Wilhelm Weber, Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor in Ungarn vom 29. März bis 11. Mai 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 73. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Er kolportiert außerdem: Ernstliche Klagen wurden mir gegenüber in Budapest laut, daß Prof. Altheim-Halle, ‚sich nicht scheut, in dem Judenhaus zu wohnen und mit dem jüdisch versippten Kereny [sic] sogar als Redner dort aufzutreten.‘ Berichte über all dies sollen längst gemacht sein.309

Sicherlich ist es richtig, dass Altheim im Haus seines ungarischen Freundes Karl Kerényi gewohnt hat.310 Er hatte wie Weber ebenfalls gute Kontakte zu NS-Institutionen – doch nutzte er sie nicht wie Weber, um missliebige Kollegen zu diffamieren, sondern bekanntermaßen auch dazu, die Tochter seines ungarischen Freundes, Magda Kerényi, aus dem Vernichtungslager Auschwitz zu retten.311 Am ausführlichsten ließ sich Weber aber über Alföldi aus. Neben Ausführungen über dessen Geschichtsauffassung verstieg sich Weber auch zu Aussagen wie diesen: Wenn er aber unseren Abwehrkrieg [sic!] als ‚Weltbrand‘ bezeichnet, so enthüllt sich der kulturliberale Intellektuelle, der nach unseren Begriffen nichtarische (wenn auch in Ungarn arische) Ungar, der keine tiefe Zuneigung zu Deutschland hat, sondern mit den deutschen Fachgelehrten wie mit französischen und englischen Beziehungen pflegt, weil er sie alle braucht.312

Des Weiteren bemerkte er, Alföldis „,Ariertum‘“ sei „durch mögliche Entwicklungen (Pfeil­ kreuzler!)“ gefährdet.313 Dass Weber den faschistischen und antisemitischen Pfeilkreuzlern ohne Zweifel sehr positiv gegenüberstand, zeigt auch folgende Passage: Mannigfaltige Beobachtungen in Budapest, Unterhaltungen mit Pfeilkreuzlern, zu denen sich im Haus eines hohen Beamten Gelegenheit bot, und die oben angeführten Fälle Kereny [sic] und Frau Moravcsik bestimmen mich, auch hier das Augenmerk auf das Problem der Juden in Ungarn, ebenso entschieden aber auf das der Volksdeutschen zu lenken.“314

Er gab die Empfehlung ab, die deutsche anthropologische Wissenschaft solle „mit großer Energie sich um Materialien zur Erkenntnis des Aufbaus des Volkskörpers im Staat Ungarn (…) bemühen.“315 Nach Ausführungen über die Zusammensetzung des Volkes (magyarisch, deutschblütig, slawisch, jüdisch oder Mischlinge) und den deutschen „Anteil“, den Weber offenbar mit bloßen Augen erkennen konnte, postulierte er, es erwüchsen „Probleme, die auch für unsere praktische

309 Wilhelm Weber, Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 73. 310 Losemann 2017d, 140. 311 Losemann 2017d, 143–149. 312 Wilhelm Weber, Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 73. 313 Wilhelm Weber, Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 78. 314 Wilhelm Weber, Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 82. 315 Wilhelm Weber, Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 82.

in Ungarn vom 29. März bis 11. Mai

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Politik jäh von größter Bedeutung werden können“.316 Vier Jahre später wurden infolge der „praktischen Politik“ der Deutschen etwa 565.000 Juden in Ungarn ermordet.317 Als Ergebnis dieses Exkurses lässt sich also festhalten, dass Weber die akademische Karriere mindestens eines deutschen Althistorikers behindert hat, mindestens einem deutsch-jüdischen Kollegen die Unterstützung verweigert hat, in seinem Bericht über seinen Aufenthalt in Ungarn im Rahmen des deutsch-ungarischen Professorenaustauschs akribisch notiert hat, wer von den Ungarn alles „jüdisch versippt sei“. Er hat Gerüchte darüber weitergetragen, wer in Wirklichkeit Jude bzw. nach nationalsozialistischer Definition „nichtarisch“ sei und er hat einen deutschen Kollegen denunziert, der in Ungarn den Umgang mit „jüdisch Versippten“ aufrechterhielt. Von derartigen Informationen ist beispielsweise der Bericht des Rektors Willy Hoppe, der nur wenige Wochen zuvor an dem Professorenaustausch teilnahm, völlig frei!318 Es muss also davon ausgegangen werden, dass Weber diese Angaben aus freien Stücken machte und nicht etwa dazu aufgefordert wurde, worauf es auch sonst in den Akten keinen Hinweis gibt. Dass Weber die Informationen über Harder und die Publikation von Rezensionen angeblicher Juden an den SD weitergegeben hat, um möglicherweise seinem Konkurrenten Harder zu schaden, wäre ihm durchaus zuzutrauen. Daran ändert auch nichts, dass er nach 1945 in einem larmoyanten Verteidigungsschreiben im Zusammenhang mit seiner Absetzung als Professor ausführlich berichtete, dass er als Kind einen jüdischen Fabrikanten gekannt und mit jüdischen Mitschülern befreundet gewesen sei, dass in einer „wissenschaftlichen Studentenverbindung“ „der Jude Ulrich Bernays“ sein „Leibbursch“ und „der Jude Veit Valentin“ sein „Leibfux“ gewesen seien, dass er mit jüdischen Kollegen befreundet gewesen sei, oder seine Ausführungen über seine Schüler Viktor Ehrenberg und Clemens Bosch, über die ebenfalls in die Emigration getriebenen Kollegen Eduard Norden und Arthur Rosenberg sowie über jüdische Studenten. Dass Weber sich beispielsweise rühmte und damit entlasten wollte, er habe Hans Zucker beraten, „der als letzter Jude in unserer Fakultät sein Rigorosum ablegte“ ist blanker Hohn und an Dreistigkeit kaum zu überbieten.319 Denn Weber hatte 1936, darauf hat Tilitzki bereits hingewiesen, anlässlich von Zuckers Promotion beim Dekan darum gebeten, ihm künftig keine jüdischen Doktoranden mehr zuzumuten. Im selben Brief hob er hervor, er selbst habe die „Verjudung des Seminars“, die er nach seiner Berufung vorgefunden habe, beendet, nur sei er Zucker damals nicht losgeworden.320 Richard Harder hatte es dem Reichsleiter Alfred Rosenberg zu verdanken, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe keine Folgen hatten. Dieser hatte Harder 1941 in den Auseinandersetzungen 316 Wilhelm Weber, Bericht über meine Tätigkeit als Gastprofessor in Ungarn vom 29. März bis 11. Mai 1940; HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 1, Bl. 82. 317 Die Ermordung der ungarischen Juden, online abrufbar unter: http://www.yadvashem.org/de/holocaust/ about/fate-of-jews/hungary.html (abgerufen am 5.4.2018). 318 Vgl. seinen Bericht: Bericht des Prof. Dr. Hoppe über seine Vortragsreise nach Budapest und Debrecen vom 19. März 1940; HUB UA, Rektorat und Senat, Nr. 159. 319 Wilhelm Weber, Anlage zum Fragebogen betr. politische Zugehörigkeit zum NS (undatiert); HUB UA, PA Wilhelm Weber, Bd. 3. Vgl. H. Zucker, Studien zur jüdischen Selbstverwaltung im Altertum, Berlin 1936. 320 Tilitzki 2002, 998 m. Anm. 304. – Hans Zucker (1909–1981) hatte in Breslau und Berlin Geschichte und semitische Philologie studiert. Von 1931 bis 1936 war er Prediger an der liberalen Synagoge der jüdischen Gemeinde Berlin und der Hermann-Falkenberg Synagoge und arbeitete als Lehrer und Rabbiner, zu­ letzt in Heidelberg. Er emigrierte 1939 über England in die USA und nannte sich fortan „John Zucker“. [Anon.] 2009, 674. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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u­m seine Berufung nach München gegenüber Martin Bormann verteidigt und festgestellt, es sei Harders Verdienst, den Gnomon in die „neue Ordnung“ geführt zu haben.321 Über Weber heißt es in dem Brief abschließend: Gewiß ist Weber nicht Parteimitglied. Auch hier kommt eine seiner Charaktereigentümlichkeiten zum Ausdruck. Er möchte nicht um Aufnahme bitten, sondern um den Eintritt der Partei gebeten werden. Mehr als eine Schrulle kann darin jedoch nicht gesehen werden. W. hat bereits anläßlich einer 1919 in Tübingen gehaltenen Rede seine Gesinnung ausgesprochen und seitdem bis auf den heutigen Tag seinen Standpunkt beibehalten.322

Insgesamt wird eindrücklich deutlich, dass Webers Kontakt mit dem SD für ihn persönlich höchst ertragreich war. Er galt dem SD als der beste Althistoriker und über seinen politischen bzw. literarischen „Kriegseinsatz“ hatte er selbst den SD regelmäßig auf dem Laufenden gehalten, was seine Reputation nur stärkte. Im Gegenzug war der SD bereit, Weber zu protegieren und sich sogar bei der Parteikanzlei, also dem Stellvertreter des „Führers“ für ihn einzusetzen. Ob der Brief überhaupt abgeschickt wurde, ist nicht sicher. Dennoch erhellt er Webers Motivation, in Kontakt mit dem SD zu treten und diesem Informationen zukommen zu lassen: Weber versuchte, den SD zu seinen Zwecken als Unterstützung im Kampf gegen missliebige Kollegen – hier Harder – zu mobilisieren, weil er von einer Tagung ausgeschlossen worden war. Offenbar sah er Harder als Konkurrenten, den er ausschalten wollte. Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass erwähnt wird, dass Harder – im Gegensatz zu ihm selbst – korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften war (bestätigt am 4. Mai 1939). Warum Weber selbst nie in die Akademie aufgenommen wurde,323 ist nicht bekannt, geärgert haben wird es ihn sicherlich. Wenig begeistert dürfte er auch davon gewesen sein, dass Richard Harder im Rahmen der Planungen der „Hohen Schule“ von Alfred Rosenberg das Gebiet der Altertumswissenschaften vertrat und der Leiter einer Außenstelle der „Hohen Schule“ in München wurde: des Instituts für Indogermanische Geistesgeschichte. Ob dies – neben der Kränkung im Zusammenhang mit der Tagung – einer der Gründe für die offenkundige Abneigung war, lässt sich freilich nicht belegen. Fazit Wilhelm Weber hat sich insbesondere in der Zeit während des Zweiten Weltkriegs bereitwillig für die nationalsozialistische Politik „selbst mobilisiert“. Für den Sicherheitsdienst des Reichs­ führers SS hat er zwar nicht als Vertrauensmann, dafür aber als Zubringer gearbeitet. Er verstand sich als politischer Historiker, der prädestiniert dafür war, im Ausland propagandistische Vorträge zu halten. Ein besonderes Anliegen war ihm ein Europa unter deutscher (nationalsozialistischer) Führung. Wie seine Vorschläge für die Südostforschung in Rumänien zeigen, verstand er althistorische Forschung zunehmend als eine Art Legitimationswissenschaft. So wollte er insbesondere germanische Überreste erforschen, um die deutsche Expansionspolitik zu legitimieren. Charakteristisch für seine Forschungen im Nationalsozialismus war die angestrebte interdisziplinäre Zusammenarbeit, vor allem mit der Rassen-Anthropologie und der 321 Losemann 1977, 150; Wolf 2001, 428; Schott 2008, 437 u. 439. 322 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD (III C 1a) an den Leiter der Parteikanzlei (z. Hd. v. Ober­ regierungsrat Bechtold) (undatiert); BArch Berlin, ZB 7079.A5. 323 Nippel 2010, 341. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Archäo­logie. Über seinen Schüler Rubin wurden Webers „kulturpolitische“ Aktivitäten auch an den SD herangetragen. Es ist deutlich geworden, dass Rubin und Weber den SD zunächst als eine Art „Beschwerdestelle“ verstanden, die vermeintliche Missstände, wie etwa Webers Probleme mit der Zensur, beheben sollte. Nach seiner Reise nach Rumänien wandte er sich selbst an den SD, um einerseits Informationen über die deutsche Volksgruppe in Rumänien weiterzu­ geben, andererseits wollte er eine Förderung des Ahnenerbes der SS für das Hermannstädter Forschungsinstitut erreichen. Nicht unwahrscheinlich ist es, dass er hoffte, auch er selbst oder seine Schüler könnten von den finanziellen Ressourcen der SS profitieren. Bereitwillig stellte er dem SD seine fachwissenschaftliche Expertise zur Verfügung. Auch wenn der SD Weber charakterliche Schwächen attestierte, war er auf der fachlichen Ebene doch sehr angesehen. Dies wusste Weber auch für sich zu nutzen, indem er den SD mobilisierte, sich für ihn gegen seinen Konkurrenten Harder einzusetzen. Webers Bereitschaft für seine Selbstmobilisierung war einerseits aus seiner politischen Über­ zeugung heraus motiviert, andererseits konnte er aber auch seine egoistischen Interessen befördern, indem er versuchte, seine eigene Position zu stärken.324 Ein Aufstiegswille wird ihn dabei weniger getrieben haben, schließlich wurde er 1942 60 Jahre alt, und er befand sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Sicherlich hat aber sein offenbar ausgeprägtes Geltungsbedürfnis ebenso eine Rolle gespielt wie sein Wille, innerhalb seines Faches eine herausragende Position einzunehmen. Wiederholt hat Christ zu Recht auf Webers Ehrgeiz und Gestaltungswillen hingewiesen: Weber war stets von ungebändigtem Ehrgeiz und von dem Willen zur politischen, insbesondere fach- und hochschulpolitischen Einflußnahme erfüllt.325

Möglicherweise wurde Weber auch von dem elitären Ruf des SD angezogen. Die Mitarbeiter fühlten sich nicht nur selbst als „Elite der Elite“, als „inner circle der NS-Bewegung“ – sie wurden auch von Außenstehenden so wahrgenommen.326 Jähnes Urteil, Weber habe „in seiner Bedrängtheit die offensive Verteidigung nach vorn angetreten“,327 und er habe sich, „den Zeitumständen geschuldet, freiwillig und vielleicht nur äußerlich für ein systemnahes Mit­ läufertum entschieden“,328 vermag ebenso wenig zu überzeugen wie die Einschätzung, Weber sei kein Antisemit gewesen.329 Letztendlich hat Weber ohne Not, sondern viel mehr aus innerer Überzeugung und um eigene Interessen zu verfolgen, die Nähe der Macht gesucht und sich so in die Nähe des nationalsozialistischen Terrorapparats begeben. Indem er dem SD zugearbeitet hat, hat er die verbrecherische Ideologie des Nationalsozialismus unterstützt. Dabei hat er sich zuweilen auf die moralische Stufe von Denunzianten gestellt und bereitwillig seine eigene Biographie mit der SS verknüpft.

324 325 326 327 328 329

Zu den Motivlagen vgl. generell Schreiber 2008, 428–430. Christ 1982, 225; vgl. Christ 1982, 211; Christ 2006, 73. Steinbach 2015, 133. Jähne 2010, 165. Jähne 2010, 168. Jähne 2010, 168. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Bibliographie Archivalische Quellen Bundesarchiv Berlin (BArch Berlin) R 73, 11865 (Deutsche Forschungsgemeinschaft) ZB 7079, A.5 (Das ehemalige „NS-Archiv“ des MfS wird derzeit umsigniert, die zitierte Akte wird in den Bestand R 58 [Reichssicherheitshauptamt] aufgenommen.) R 9361/I, 2958 (Parteistatistische Erhebung 1939 des Reichsorganisationsleiters der NSDAP)

Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin (HUB UA) PA Wilhelm Weber, Bd. 1-3 PA Berthold Rubin Phil. Fak., Nr. 904 u. 857 (Philosophische Fakultät, Promotionen) ZD I/921 (Bestand NS-Dozentenschaft der Friedrich-Wilhelms-Universität)

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Claudia Deglau

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„Hat man den Germanen dafür gedankt?“

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Die Griechen unter fremden Herren . Die Suche nach Identität von der Antike bis in die Gegenwart* Helmut Halfmann Wann bietet sich der Alten Geschichte schon einmal die Gelegenheit, ihre Bedeutung für das heutige politische Geschehen so eindrucksvoll und relativ unproblematisch demonstrieren zu können wie angesichts der aktuellen Krise Griechenlands und den Problemen mit seinen euro­ päischen Partnern? Wir müssen nicht einmal umständlich nach Argumenten suchen, um diesen Bezug herstellen zu können, sondern sie werden uns von den Betroffenen, den Griechen, unmittelbar dargeboten: Aus dem Stolz auf die politische und intellektuelle Größe des klassischen Athen, welches stillschweigend mit Griechenland gleichgesetzt wird, bezieht die öffent­liche Meinung des Landes ihr Selbstbewußtsein gegenüber dem restlichen Europa. Dieses Europa wiederum ist hin- und hergerissen zwischen Hochachtung vor der Wiege europäischer Zivilisation einerseits und Verzweiflung und Unverständnis gegenüber dem Land der Hellenen, welches seine wirtschaftliche und politische Bonität zu verspielen drohte und droht. Der Kampf um die eigene Identität setzte allerdings schon vor über 2000 Jahren ein, wie der Titel eines Sammelbandes The Struggle for Identity verrät,1 der nicht dem neuzeitlichen oder gar zeitgenössischen Griechenland gewidmet ist, sondern der Situation des Griechentums im ersten Jahrhundert v.Chr. Es ist die Zeit, in der der Traum der Freiheit der Hellenen definitiv ausgeträumt war und man sich dem neuen Herren der Welt, dem Römischen Reich, zu beugen hatte. Der aktuelle „struggle for identity“ macht sich in einem Graffito aus dem Jahre 2015 Luft (Abb.  1). Es zeigt den in Griechenland allseits bekannten Freiheitskämpfer Theodoros Kolokotronis (1770–1843) in historischer Tracht der Kleften (Diebe), wie er eine „Eurobombe“ mit glimmender Zündschnur wohl in Richtung Brüssel schleudert. Wie hier sichtbar wird, geht die Findung oder Erfindung eigener Identität parallel mit dem Kampf gegen fremde Bevormundung, aktuell gegen das von der EU verpaßte enge Korsett strenger Sparauflagen. Die Beschwörung nationalen Stolzes, die Vertreibung der berüchtigten Troika zeigen überdeutlich, dass Griechenland die gegenwärtige Situation gefühlsmäßig aus der historischen Erfahrung einer im Grunde seit 2000 Jahren fast ununterbrochen Fremdherrschaft erlebt – denn: Nachdem der letzte Rest von Autonomie, die man als solche bezeichnen kann, von den Römern im 2. Jahrhundert v.Chr. beseitigt worden war, ist das Land formal bis zur Unabhängigkeitserklärung am 13. Januar 1822 von fremden Herren regiert worden. De facto sah sich Griechenland aber auch noch im späteren 19. Jahrhundert einer steten Bevormundung und Einmischung in die innere Politik ausgesetzt. Die europäischen Großmächte deklarierten Griechenland zum Königreich, die Könige wurden aber nicht unter den Griechen, sondern von und unter den europäischen Adelshäusern ausgesucht und ins Land geschickt: der bayerische Wittelsbacher Otto I., dann, nach seinem Sturz 1862, der Dänenprinz Georg.2 * 1 2

Der Text beruht auf einem Vortrag, der zuerst im Juli 2015 an der Universität Trier, dann auch an anderen Orten gehalten worden ist. Der Vortragscharakter wurde weitgehend beibehalten. Schmitz – Wiater 2011. Zu diesen und weiteren Ausführungen zur Geschichte des neuzeitlichen Griechenland verweise ich auf Clogg 1997, Tzermias 31999 u. Zelepos 22017. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Abb. 1: Graffito, Athen

Die Einsetzung von Herrschern aus deutschen bzw. dänischen Fürstenhäusern, die sich zwar Könige von Griechenland nannten, aber keine Griechen waren, begründete das noch heute sichtbare Spannungsverhältnis zwischen den Griechen und den Völkern vor allem West- und Nordeuropas: Es wurden europäische Ideen, Staatlichkeit, Gesetzgebung einem Land aufgepfropft, das infolge der fast 400-jährigen osmanischen Herrschaft von wesentlichen Ent­ wicklungen Europas des 16. bis 19. Jahrhunderts abgeschnitten worden ist: von der Renais­ sance, der Reformation, den Ideen der Aufklärung, der französischen Revolution und der in­dustriellen Revolution. Die orthodoxe Kirche mit ihrer noch strengeren Hierarchie und rigiderem Konservatismus, als ihn die katholische Kirche pflegte, tat ein übriges, Griechenland vom übrigen Europa abzuschotten. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein haben die Griechen, wenn sie nach Italien, Frankreich, Deutschland fuhren, gesagt: Wir fahren nach Europa, als wenn sie selbst nicht zu Europa gehörten. Das neu gegründete Königreich wollte möglichst schnell die Infrastruktur, das Militär, die Verwaltung und Außendarstellung dem Niveau der übrigen europäischen Staaten angleichen. Die Jahrhunderte der Fremdherrschaft hatten freilich eine Gesinnung erzeugt, die jeder modernen staatlichen Ordnung zuwider lief: Man traute nicht der Obrigkeit, sondern einem privaten mächtigen Patron oder Familienclan, hier suchte man Hilfe und Recht, nicht bei einer staatlichen Behörde und bei Gerichten. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die durchweg schwache Autorität und willkürliche Herrschaftspraxis der osmanischen Herrscher. Seit der Staatsgründung stand den finanziellen Bedürfnissen eine völlig unzureichend entwickelte staatliche Organisation gegenüber, um diese Bedürfnisse zu befriedigen, so dass am Ende des 19. Jahrhunderts die Probleme des Landes fast haargenau die gleichen waren wie die heutigen. Meyers Großes Konversationslexikon von 1909 schreibt unter dem Artikel Griechenland: Die griechischen Finanzen befanden sich stets in einem bedenklichen Chaos, dessen Ordnung nie gelungen ist und das 1893 durch die wiederholten Kriegsrüstungen (...) und die Unfähigkeit der meisten Finanzminister zum Staatsbankrott führte.3

Die Geldgeber, in erster Linie Großbritannien, hatte Griechenland jahrelang mit gefälschten Staatsbudgets getäuscht, bis das Land 1897, vor allem auf Betreiben des Deutschen Reiches, der Einsetzung einer sechsköpfigen ausländischen Finanzkommission zustimmen mußte, die mit 3 Meyers 61909, 310. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Sitz in Athen gegen harten Widerstand des Parlaments direkt in die Steuerautonomie eingriff und einen Fond aus Staatseinkünften zur Bedienung der Zins- und Rückzahlungslasten verwaltete. Großbritannien blieb bis zum Ende des 2. Weltkrieges eine Art Schutzmacht und bietet bis heute den ins Exil getriebenen griechischen Königen Asyl, seine Rolle als wirtschaftlich und politisch dominierende Macht übernahmen in den 1950er Jahren die USA. Der Unabhängigkeitserklärung von 1822 gingen jahrzehntelange Bemühungen und Kämpfe voraus, paradoxerweise einerseits getragen von einer europäischen Hellenenbegeisterung, andererseits begleitet von der Skepsis, ob die Griechen überhaupt zur Eigenstaatlichkeit taugten. Johann Wolfgang von Goethe, gestorben 1832, in dem Jahr, als der Bayer Otto I. den Hellenen­ thron bestieg, läßt im Faust Mephisto an seinen Diener Homunculus sagen, der den widerstrebenden Mephisto in die klassische Walpurgisnacht nach Thessalien mitziehen möchte: Das Griechenland, es taugte nie recht viel, doch blendet’s Euch mit freiem Sinnenspiel, verlockt des Menschen Brust zu heitern Sünden; die unsern wird man immer düster finden.4

An diesem Punkt kann man wieder die Brücke zur Antike bauen und einen ganzen Strauß von (Vor-)Urteilen binden, welche die Römer gegenüber den Griechen hegten; es sei hier nur ein kurzes, bündiges (Vor-)Urteil aus der Feder des Historikers Livius zitiert, das auf der überheblich zur Schau getragenen Geschwätzigkeit der Griechen gründet, der keine entsprechenden Taten folgten: (...) a Graecis, gente lingua magis strenua quam factis, ferox responsum (....)5. Die damals wie heute existierende „charakterliche“ Geringschätzung der Griechen diente als Erklärung für die politische Ohnmacht der Hellenen über alle Epochen hin, die der großen klassischen Zeit, also dem 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. folgten. Griechenlands Zustand im 19. Jahrhundert stand sicher Pate beim Urteil Theodor Mommsens über das Griechenland der römischen Kaiserzeit im fünften Band seiner Römischen Geschichte von 1885: Damit ist Hellas auch das Mutterland der heruntergekommenen inhaltlosen Ambition, unter den vielen schweren Schäden der sinkenden antiken Zivilisation vielleicht des am meisten allgemeinen und sicher eines der verderblichsten.6

Mommsen markiert damit drastisch das Vakuum, das Griechenland, seitdem es nicht mehr von den Griechen regiert wurde, also seit dem Beginn der römischen Herrschaft, hinterlassen hatte. Das haben auch genauso deutlich schon griechische Intellektuelle der römischen Kaiserzeit gesehen, worauf noch zu kommen sein wird. Alexander der Große ist die letzte und überragende Figur des klassischen Altertums, die noch heute das griechische Selbstbewußtsein speist; deshalb ist es für das heutige Griechenland so überaus wichtig, Alexanders Heimat Mazedonien als integralen Bestandteil des modernen Griechenlands zu betrachten und jeden Versuch abzuwehren, die Figur Alexanders der slawisch geprägten Republik Mazedonien in Konkurrenz zum griechischen Mazedonien als identitätsstiftende Größe einschließlich daraus resultierender Gebietsansprüche zu überlassen. Die auf Alexander folgenden Epochen werden auch heute noch von der offiziellen Kulturpolitik in künstlichem Dunkel gehalten. In dem im Jahre 2009 eröffneten neuen Akropolis-Museum wirkt der Saal im ersten Stock, der den Skulpturen und Portraits 4 J. W. v. Goethe, Faust (2. Teil), Verse 6972–6975. 5 Liv. 8,22,8 über die Bewohner von Neapel. Siehe allgemein Gruen 1992, bes. 258–271. 6 Mommsen 111933, 264. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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der Zeit von Alexander d. Gr. bis in das 5. Jh. n.Chr. gewidmet ist, also ein Zeitraum von 800 Jahren, merkwürdig leer; er wurde nur mit spärlichen 10 Objekten bestückt, obwohl mindestens 120 Stücke offiziell bekannt sind (Stand 2011). Dimitris Damaskos vermutet zu Recht dahinter ein Spiegelbild des offiziellen zeitgenössischen griechischen Geschichtsverständnisses, in welchem alles, was nach der perikleischen klassischen Bauperiode entstanden ist, als zweitklassig, da nicht mehr original ‚griechisch‘, angesehen wird. Dementsprechend werden die gleichen Epochen, also die hellenistische und römische Kaiserzeit mindestens bis auf Kaiser Konstantin d. Gr., in den aktuellen Geschichtslehrbüchern stiefmütterlich abgehandelt.7 Die vorbehaltlose Verklärung des klassischen Griechenland und das Konstrukt seiner Kon­tinuität bis in die Gegenwart sollen die 2000 Jahre Fremdherrschaft in den Hintergrund drängen, aber diese Sicht führt zu einer ideologischen Erstarrung, die einer Bewältigung der gegen­wärtigen Krise im Wege steht, und sie hält einer genauen Prüfung nicht stand. Die gerade heutzutage in Griechenland praktizierte Form der Demokratie, in der ein aufgeblähter Staats­apparat als Patron ein Heer von Beamten als Klienten versorgt, ohne dass letztere dem Staat aufgrund fehlender entsprechender Instrumentarien etwas zurückgeben, steht in krassem Gegensatz zu der viel beschworenen antiken Form griechischer Demokratie, als deren Erbe sich das moderne Griechenland sieht. In dieser zählten zu den Kernelementen das fast permanente Engagement des Bürgers für die Polis, das Gemeinwesen, die absolute Geltung von Gesetzen und dagegen eine schwache, aber mit Argusaugen kontrollierte Macht der exekutiven Gewalt. Ferner sind die heutigen Griechen aufgrund der im Laufe von zwei Jahrtausenden eingewanderten Volksgruppen (Slawen, Romanen, Türken, Albaner) von ihren antiken Vorfahren ethnisch noch stärker verschieden als die meisten europäischen Völker. Die neuzeitlichen Griechen als direkte Nachfahren der antiken Griechen wurden unter maßgeblichem Einfluß westeuropäischer Ideengeber erst beschworen mit dem Befreiungskampf von der osmanischen Fremdherrschaft und die Gründung des griechischen Staates im 19. Jahrhundert, eine für einen ‚kolonialen Habitus‘ unterworfener Völker typische Ideologie. Sie umfaßt sowohl wiederkehrende ideengeschichtliche Denkmuster wie die Erinnerungskultur an eine große Vergangenheit als auch praktische Verhaltensmuster wie das ambivalente Verhalten zwischen zumindest äußerlicher Anpassung an die Fremdherrschaft einerseits und andererseits aber innerer Emigration und passiver Resignation. Dies ist die Brücke, auf der ich mich jetzt in die Antike begebe und eben diese Situation aus Sicht der Griechen selbst zu beschreiben versuche. Der Versuch kann hier nur resümierend und damit vereinfachend stattfinden, indem ausgewählte Stimmern der intellektuellen und sozialen Eliten vorgeführt werden. Die methodischen Probleme sind mir dabei durchaus bewußt. Da Identität sich in allen Bereichen des täglichen Lebens widerspiegelt, wären sämtliche Zeugnisse dieses Lebens zu befragen, also nicht nur die literarische Hinterlassenschaft, sondern auch andere Quellengattungen vom Portrait bis zur Stadtanlage. Eine weitere, aus Platzgründen bewußt vorgenommene Einschränkung besteht darin, dass vornehmlich die Literaten des griechischen Mutterlandes und des westlichen Kleinasien berücksichtigt werden sollen, die sich selbst in einem engeren Sinn als Erben der klassischen Tradition Griechenlands sahen. Die althistorisch-altphilologische Forschung hat sich seit längerem dieser Thematik gewidmet, besonders intensiv der Phase der allmählichen Ausgestaltung der römischen Hegemonie über Griechenland im 2. Jahrhundert v.Chr. und der Phase der sogenannten Zweiten Sophistik, 7

Damaskos 2011. Weitere Informationen dank persönlicher Gespräche und Korrespondenz. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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also dem 2. Jahrhundert n.Chr., als Roms Weltreich bereits seit über 200 Jahren den griechischen Kulturkreis machtpolitisch vereinnahmt hatte. Die dazwischen liegende Zeit des 1. Jahr­ hunderts v.Chr., als den Griechen bewußt wurde, dass sie sich definitiv mit dem Verlust ihrer Autonomie auf unabsehbare Zeit abzufinden hatten, haben erst die Beiträge in dem schon angezeigten Sammelband von 2011 unter diesem Aspekt beleuchtet. Ich werde aus der keineswegs einhellig geführten Debatte ein Resümee präsentieren, eine Tendenz aufzeigen. Etwas anderes als eine solche Tendenz kann gar nicht herausgefiltert werden, denn: So viele Autoren uns erhalten sind, so viele unterschiedliche Stimmen gibt es. Aber alle spiegeln den Zwiespalt zwischen Ablehnung und Akzeptanz eines fremden Herrn mit allen seinen Zwischenstufen wieder, und der Zwiespalt mußte ganz besonders ein Volk wie die Griechen treffen, das sich durch Erziehung, Bildung und Staatsform eigentlich als allen anderen überlegen betrachtete. Wir erkennen dies bereits bei den allerersten Debatten, die in Griechenland Ende des 3. Jahrhunderts v.Chr. über die eigene Positionierung gegenüber der aufstrebenden Großmacht in Italien geführt wurden. Rom stellte für die Griechen anfangs nicht unbedingt eine Bedrohung dar, von der man auf kurz oder lang einverleibt zu werden erwartete, sondern eine neue, weitere Großmacht neben den bereits bestehenden hellenistischen Königreichen. Die Debatten, wie man sich gegenüber Rom, „der Wolke aus dem Westen, die bald Griechenland verdunkeln werde“, so der Historiker Polybios um 150 v.Chr. gegenüber zu verhalten habe, setzte schon im Jahre 217 v.Chr. ein; Polybios überliefert das Pro und Contra eines Zusammengehens mit Rom in Form wörtlicher Reden, die er den griechischen Politikern in den Mund legte.8 Wie sich bald herausstellte, führten die übermächtigen Römer ein solches Taktieren ad absurdum, da sie ihrerseits eine „exklusive Protektion“9 bereitstellten, eine Protektion ohne Möglichkeit für die Griechen, unter den Schutzschirm einer konkurrierenden Großmacht schlüpfen zu können, so wie es noch unter den hellenistischen Königen möglich gewesen war. Dies mußten die Griechen aber erst durch bittere Erfahrungen lernen: Zunächst hat die Mehrheit unter ihnen dann, wenn sich eine Alternative zu Rom auch in einer nur halbwegs realistischen Weise darbot, die Bandbreite des Widerstandes von unverhohlenen Sympathiebekundungen für eine solche Alternative bis hin zum offenen Abfall von Rom ausgelotet. Die Woge der Begeisterung, die dem Makedonenkönig Perseus durch ganz Griechenland bis hin nach Rhodos und Kleinasien entgegenschlug10, erklärt sich eben mit der allmählich sich verfestigenden Einsicht in eine drohende Alternativlosigkeit zur römischen Hegemonie. Die Hoffnung auf einen Sieg der Makedonen im dritten römisch-makedonischen Krieg gründete sich bei den meisten Sympathisanten, zu denen auch Polybios gehörte, nicht auf die Vorstellung, die makedonische gegen eine römische Vorherrschaft auszutauschen, sondern auf die Hoffnung auf ein erneutes politisches Gleichgewicht zwischen den Großmächten, zwischen dem sich ihnen die gewohnten Spielräume selbständigen Handelns wieder öffnen sollten. Der römische Sieg bei Pydna zerstörte diese Hoffnung. Der Achäische Bund versuchte es ein letztes Mal – und 8 Agelaos 217: Polyb. 5,14; Akarnanen-Ätoler 212 (9,28–39); Makedonen 209 gegenüber Ätolern (10,25). Ob der von Polybios überlieferte Wortlaut auch nur annäherungsweise authentisch ist, bleibt nach wie vor umstritten, jedoch wird die Aussagekraft der Zeugnisse im Kontext unserer Fragestellung kaum gemindert, auch wenn sie die vorherrschende Meinung der griechischen Öffentlichkeit um die Mitte des 2. Jahr­hunderts v.Chr. wiederspiegeln. 9 Giovannini 1984, 38. 10 Deininger 1971, 135–214 zu den einzelnen Staaten. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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er fand dafür immer noch Verbündete -, traditionelle unabhängige Politik zu betreiben, und bezahlte diesen Versuch teuer mit der Zerstörung Korinths und der Auflösung des Bundes. Griechischer Freiheitswille brach sich noch einmal Bahn, als sich Anfang des 1. Jahrhunderts v.Chr., zwei Generationen nach dem Fall Korinths, in dem pontischen König Mithridates eine machtpolitische Alternative zu Rom aufzubauen schien. Sein Erscheinen im westlichen Kleinasien und das seiner Generäle in Griechenland entfachte zwar in gewohnter Art die innere Zwietracht der Städte, auf welche Seite man treten solle, aber der Zusammenbruch der römischen Herrschaft in Kleinasien und der Abfall der Athener und anderer griechischer Staaten zeigen deutlich, welcher Seite die Mehrheit der Griechen zuneigte. Es glomm jedenfalls eine Glut, die das Erscheinen eines potentiellen Gegenspielers Roms zu einem offenen Feuer des Widerstandes entfachen konnte. Ebenso rasch fiel das Feuer in sich zusammen, sobald die römische Militärmaschinerie den Widerstand niedergewalzt hatte.11 Wie haben nun die griechischen Zeitgenossen solche Versuche der Auflehnung unter dem Motto der Freiheit beurteilt? Hier stoßen wir auf eine merkwürdige ‚Gemengelage‘: Die Berichte des Polybios über den achäischen Krieg, des Poseidonios und Plutarch über die Eroberung Athens durch Sulla enthalten eine harsche Kritik an den die Aufstände anführenden Politiker, sie seien selbstsüchtig, kurzsichtig, moralisch untauglich. Darin spiegeln sich höchst subjektive Urteilsparameter wieder, bei Polybios sein Parteistandpunkt als achäischer Politiker, bei Poseidonios seine Gegnerschaft zur peripathetischen Philosophenschule, welcher Athenion, der Kopf der antirömischen Bewegung in Athen, angehörte. Zugleich manifestiert sich in der Kritik die sicher bittere Einsicht, dass Rom nun einmal die Herrin der Mittelmeerwelt geworden war, jedes Aufbegehren dagegen hohe Menschenverluste, Verwüstung und eine erneute Enttäuschung über das definitive Ende der Freiheit mit sich brachte. Wer sich fortan als Grieche und Schriftsteller mit römischer Geschichte, konkret mit den Gründen für Roms Aufstieg zur Weltmacht beschäftigte, predigte nicht den aussichtslosen Widerstand, sondern suchte nach den tieferen Ursachen der Überlegenheit der Römer: Sie lagen einerseits in der Staatsverfassung, besseren Militärtechnik, den größeren Ressourcen, andererseits in der notorischen Zwietracht der griechischen Poleis und ihren kleingeistigen Lokalpolitikern. Diese Einsicht wies den Weg, der in Zukunft gegenüber der Weltmacht einzuschlagen war; er führte zu weitgehender, zumindest äußerlicher Akzeptanz der römischen Herrschaft. Dann aber boten sich zwei Alternativen an: einerseits ein persönliches Engagement in der römischen Herrschaftsund Gesellschaftsstruktur bis hin zum Aufstieg in den Senatorenstand; seit Augustus war dies eine zunächst noch eng begrenzte Möglichkeit, die Entbehrungen und Drangsalierungen unter Roms Herrschaft zu Zeiten der Republik endlich zu kompensieren, so wie es seinerzeit unter den hellenistischen Königen möglich gewesen war. Auf der anderen Seite bot sich ein eher passives, kontemplatives Leben an, das Roms Herrschaft zwar respektierte, aber eine öffentliche Tätigkeit allenfalls im Dienst der Heimatpolis gestattete. Allen gemeinsam war aber das Nachtrauern nach der großen Zeit des Griechentums und der verlorenen Freiheit. Deshalb war es in Zukunft nicht die Geschichte Roms, womit sich die griechischen Literaten unter römischer Herrschaft identifizierten und den größten Teil ihres Lebens beschäftigten, sondern das kulturelle Erbe der großen klassischen Zeit, ein Erbe, das auch einen politischen Standort gegenüber Rom hervorbrachte. 11 Habicht 1995, 297–303. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Träger dieses Erbes bildete die griechische Erziehung (paideia) und Sprache, beides galt als Distink­tions­merkmal gegenüber den ‚Barbaren‘, aber auch den Römern, die aus griechischer P­erspektive eine Art Mittelstellung einnahmen.12 Nicht zufällig um die Mitte des 1.  Jahr­ hunderts v.Chr. entstand eine klassizistische Bewegung im Kreis griechischer Gelehrter in Rom selbst, die angesichts des trostlosen Zustandes ihrer Heimat, damals Schauplatz von römischen Bürgerkriegen und damit einhergehenden Plünderungen und Repressalien, umso mehr sich flüchteten in eine Bewunderung der eigenen Geschichte und Zivilisation und deren Haupterrungenschaft, der Polis. Zu einem Distinktionsmerkmal entwickelte sich der Attizismus, ein am Griechischen der klassischen Zeit orientierter Schreibstil der Prosa.13 Diese Art der Identitätsfindung und Abgrenzung fand den Beifall auch vieler Römer, die die Rhetorik eines Demosthenes und Isokrates zum Ideal erhoben (Brutus, Calvus, Messalla Cor­ vinus, Asinius Pollio – nicht aber Cicero). Der Historiker Dionysios von Halikarnassos, ein Zeitgenosse des Kaisers Augustus, machte in seinem Geschichtswerk über das frühe Rom die Stadt zu einer griechischen Polis unter Verweis auf dessen trojanische Gründungslegende und Verfassung, in der er Prinzipien des Isokrates verwirklicht sah; mit dieser Konstruktion konnten die Griechen einerseits ihrem Selbstbewußtsein Genüge tun, andererseits eine Brüskierung der Römer vermeiden. Der sprachliche Purismus sollte im weiteren Verlauf der römischen Kaiserzeit der entscheidende Kristallisationspunkt einer eigenen griechischen Identität werden. Attizierendes Griechisch setzte sich von dem gesprochenen Griechisch ab und wurde Zeichen eines eigenen exklusiven Selbstverständnisses.14 Obwohl nicht von allen Literaten praktiziert, wurden aber unbestreitbar die Inhalte des klassischen Vorbildes übernommen und zum Eckpfeiler einer Tradition griechischer Literatur, die bis in die byzantinische Zeit eine unangefochtene Stellung einnehmen sollte. Träger dieser Bewegung war die ‚Zweite Sophistik‘, ein von Philostrat geprägter, aber in der modernen Forschung ein definitorisch höchst umstrittener Begriff; umstritten ist damit auch das ganze Phänomen an sich und dessen zeitliche Eingrenzung.15 Ich nehme die Bezeichnung als Synonym für die Positionierung und Auseinandersetzung der griechischen Intellektuellen gegenüber dem real existierenden und dauerhaften römischen Weltreich, also als Kennzeichnung einer markanten Gruppe auf der Suche nach ihrer Identität. Die Aussagen der wichtigen Autoren wie Dion von Prusa, Plutarch, Aelius Aristides, Pausanias, Galenos, Lukian lassen den Schluß zu, dass alle, der eine mehr, der andere weniger, ihre griechische Welt der römischen in kritischer Distanz gegenüberstellen, und das in dreierlei Hinsicht: einmal in der Betonung der Überlegenheit der griechischen Sprache und der Bildung, zum anderen in ihrem Bedauern über die erloschene Freiheit und Autonomie ihrer Poleis und drittens in der Fokussierung ihres Lebens und Wirkens auf die Heimat.16 Womit sie sich beschäftigten, waren die Zustände in ihren zeitgenössischen Städten, ferner die Erinnerung an die vergangene große Geschichte der 12 Bowersock 1995. 13 Dihle 2011. Nach Dihle (2011, 55) vielleicht zuerst von Grammatikern wie Philoxenos von Alexandria gelehrt, fand der Attizismus als Stilrichtung dank des intensiven Kontaktes mit römischen Senatoren Eingang in die Rhetorik. 14 Swain 1996, 34. 15 Aus der umfangreichen Literatur zur Zweiten Sophistik greife ich heraus: Brunt 1994; Swain 1996; Schmitz 1997; Borg 2004; Whitmarsh 2005 – hier bes. 6–10 mit einem Forschungsüberblick. 16 Erwähnt werden soll noch die scharf antirömische Haltung eines Artemidoros von Daldis in seinen Oneiro­ critica (Ende 2./Anfang 3. Jh.), die Bowersock 2004 herausgearbeitet hat. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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klassischen Epoche. Sie bedauerten ferner und redeten gegen die notorische innere Zwietracht der Bürger innerhalb einer Stadt und zwischen zwei Städten, ein Thema, das auch die Rhetoren der großen Zeit Athens im 4. Jh. v.Chr. beschäftigt hatte, jetzt aber angesichts der römischen Herrschaft besonders aktuell war. Dies soll an ein paar Beispielen demonstriert werden. Mit am schärfsten zeigen sich die Vorbehalte bei Plutarch aus Chaironeia in Mittel­griechen­ land in seiner Schrift Unterweisungen für einen Politiker (praecepta gerendae rei publicae), verfaßt Anfang des 2. Jahrhunderts.17 Plutarch bemühte sich darin, einem Freund, der die Lauf­ bahn eines Lokalpolitikers in einer kleinasiatischen Stadt anstrebte, Ratschläge für das richtige Verhalten zu erteilen. In diesem Zusammenhang schärft er seinem Schützling ein: Als Beherrschter herrschst Du, Deine Stadt ist den Prokonsuln und Prokuratoren des Caesar unterstellt; es gibt keine Schlachten mehr zu schlagen,18 es gibt weder mehr das alte Sardes, noch die sprichwörtliche Macht der Lyder. Man muß sich mit der bescheideneren Chlamys bekleiden, sich statt dem Feldherrnamt der Richtertätigkeit zuwenden, sich nichts auf seinen Ehrenkranz einbilden, wohl erblickend die Stiefel des Statthalters über dem Kopf. Man muß vielmehr einen Schauspieler nachahmen, der sich zwar mit Passion seiner Rolle hingibt, aber auf den Souffleur hört und nie die Grenzen des Rhythmus und Metrums überschreitet, die von den Herrschenden gesetzt sind.19

Die Grenzen des Engagements ziehen die Römer nach Plutarch eng um die jeweilige Heimat­ gemeinde, jedenfalls für einen ehrenhaften Politiker. Die hier zu erwerbende Macht sei kümmerlich, könne sie doch durch einen beiläufigen Befehl eines Prokonsuls entzogen und einem anderen übertragen werden. Nichtsdestoweniger verurteilte er jeden darüber hinaus gehenden Ehrgeiz seiner Landsleute, die auf eine lukrative Karriere im Ritter- oder Senatorenstand schielen, aufs schärfste als niedere Kriecherei und Verleugnung der Heimat, nur um vor fremden Türen alt und grau zu werden. Aber selbst innerhalb der Stadtmauern sei höchste Vorsicht geboten, muß der Lokalpolitiker doch zwischen persönlicher Profilierung, Rücksichten auf die Stimmung des Volkes und auf den Argwohn Roms einen Balanceakt des Taktierens, Redens und Handelns vollbringen. So müsse man, um die Erinnerung wach zu halten, zwar an die Großtaten aus der griechischen Geschichte erinnern, aber bitte nicht zu eloquent und zu feurig, weil die Zuhörer zu Übermut und gar Aufruhr angestachelt werden könnten.20 Roms Geschichte, seine Kaiser, seine Reichsordnung sind, von Aelius Aristides’ Romrede abgesehen, auf die noch zu kommen sein wird, kein Thema für die Autoren des 2. Jahrhunderts gewesen, und wenn, dann nur um die Ebenbürtigkeit der großen Griechen mit den Römern vor der Geschichte darzulegen oder negative Auswüchse der römischen Herrschaft zu benennen. Besonders eingebrannt hatte sich den Griechen das Bild des Diktators Sulla als Inbegriff römischer Barbarei, war er doch mit dem Odium eines äußerst brutalen Vorgehens gegen innere wie äußere Gegner behaftet, konkret dachte man an die Belagerung und Eroberung Athens im Jahre 87 v.Chr.21 Für den Reiseschriftsteller Pausanias zeigte Sulla in Griechenland eine solche 17 18 19 20

Halfmann 2002, dagegen Jones 2004, 13–14. Zitat aus Sophokles’ Trachinierinnen, 1058. Plut. mor. 813 e. Dion von Prusa hat in seiner Rede, in der er eine Niederlage der Griechen vor Troja nachweisen möchte, bei einem erregten, aber fiktiven Zuhörer die Angst geschürt, jetzt könne Asien wohl gegen Griechenland marschieren. Er beruhigte ihn mit dem Hinweis, beide Länder besäßen jetzt andere Herren – nämlich die Römer: Dion Chrys. or. 11,150. 21 Swain 1996, 156. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Grausamkeit, wie sie Römern normalerweise fremd sei; im Falle Athens sei die Wunde, die Sulla der Stadt geschlagen hatte, so tief gewesen, dass sie erst 200 Jahre später, also unter Kaiser Hadrian, wieder zu erblühen begonnen habe.22 Pausanias’ relativ eindeutige Wertungen erstaunen umso mehr, als er unter den dem Griechen­ tum sehr aufgeschlossenen antoninischen Kaisern lebte, nicht unter Domtian und Trajan, als griechische Intellektuelle noch sehr schnell verbannt, ihr Vermögen konfisziert und städtische Unruhen brutal unterdrückt wurden. Es herrschten vielmehr andere Verhältnisse, die sich auch in Literatur, daneben aber vor allem in Inschriften, Münzen und archäologischen Überresten widerspiegeln und deren Zeugnisse etwas ganz anderes auszusagen scheinen. Bekanntlich hat der Kaiser Hadrian (117–138) eine scharfe Wende in der Reichspolitik gegenüber seinen Vorgängern vollzogen, weg von Krieg und Eroberung hin zu einer auf das ganze Reich ausgerichteten Fürsorgepolitik, die er selbst in persona auf seinen vielen Reisen vor Ort beaufsichtigte. Er stammte zwar aus Spanien, war aber ein großer Verehrer griechischer Sprache, Mythologie, Geschichte und Religion. Gleichsam als habe er das schlechte Urteil eines Plutarch und Pausanias über Sulla als Symbol römischer Grausamkeit vernommen, hat er Städte und Heiligtümer der griechischen Welt in einer bis dahin einzigartigen Weise gefördert und namentlich Athen seine besondere Gunst erwiesen. Seine Nachfolger Antoninus Pius und Marc Aurel haben die Richtung dieser Politik beibehalten. Die Zeitgenossen dieser gut 60 Jahre andauernden Phase haben den Wandel durchaus registriert; wenn ein Kaiser überhaupt, so sind es Hadrian und Antoninus Pius, die Pausanias’ Lob erhalten, jedoch recht verhalten und relativierend: Die architektonischen Meister bleiben für Pausanias die Griechen des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr., die Römer können allenfalls noch verschönern oder erweitern, aber keine genuinen Neuschöpfungen hervorbringen. Er erwähnt aber auch griechische Zeitgenossen, die sich als Wohltäter ihrer Heimat hervortaten und auf die noch zu kommen sein wird, hoch angesehen, reich, oft römische Senatoren, sie werden ohne weitere Erläuterung nur mit ihrem Hauptnamen genannt: Herodes der Athener (für den reichen Herodes Atticus, Konsul im Jahre 143), Eurykles der Spartiate (für C. Iulius Eurycles, wie Herodes aus altem Geschlecht und Senator unter Trajan), Antoninus aus Nysa (für Sex. Iulius Maior Antoninus Pythodorus aus senatorischem Hause), der kommagenische Königssproß C. Iulius Antiochus Philopappus, römischer Konsul 109, Erbauer des noch heute weithin sichtbaren Grabmals auf dem Museionhügel in Athen, wird nur „der Syrer“ genannt.23 Es ist klar: Pausanias schätzte die Verdienste der Kaiser und zeitgenössischer Wohltäter gering im Vergleich zu denjenigen von Persönlichkeiten der klassischen Zeit, er erwähnt sie, weil ihre Denkmäler nun einmal sichtbar waren, aber nicht, weil sie in seinen Augen einen Wert für die Kultur Griechenlands darstellen würden. Dass dieser Personenkreis von Stiftern, Griechen in der höchsten Gesellschaftskreisen Roms, allerdings eine ganz andere Wirkung mit ihren Wohltaten erzielten, als es die dürftige Erwähnung bei Pausanias und die harsche Kritik eines Plutarch an den vom Ehrgeiz zerfressenen Zeitgenossen vermuten ließe, lehren uns andere Zeugnisse, vor allem die Inschriften, die ihnen zu Ehren von den Beschenkten oder von ihnen selbst gesetzt worden sind. Ihre zum Teil glanzvollen Karrieren im römischen Reichsdienst zeigen, dass die zitierte skeptische Meinung nicht diejenige aller Griechen ihrer Zeit gewesen sein kann, zumindest nicht mit Blick auf 22 Paus. 1,20,7; 11,36,6. Siehe Habicht 1985, 122–123, eine Abschwächung der dort vertretenen Meinung in Habicht 1998, XVI unter Bezug auf Bowie 1996, 218. 23 Paus. 1,25,8; Habicht 1985, 137–138; Bowie 1996, 227. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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die Konsequenzen für ein öffentliches Wirken. Denn sie betrieben entgegen den Warnungen Plutarchs und der beinahe verächtlichen Behandlung durch Pausanias große Politik im Dienste Roms, waren selbst als Statthalter und Generäle im Besitz wirklicher Macht. Sie genossen eine Spitzenstellung in ihrer Heimat, verfügten über Einfluß in Rom und übten eine Macht aus, die nicht wie bei den städtischen Honoratioren von Roms Gnaden eng beschnitten wurde, sondern sie verkörperten die Macht Roms selbst. Die tausenden Ehreninschriften, die ihnen dankbare Bürger gesetzt haben, die vielen Stiftungen von Bauwerken und anderen Wohltaten, die diese Herren wiederum den Städten zukommen ließen, geben zumindest äußerlich ein Bild vollkommenen Gleichklangs und der Harmonie, der gegenseitigen Akzeptanz von Herrschern und Beherrschten ab. Hinter der glänzenden Fassade lag freilich eine zweite Realität, die der wirklichen Gefühle, die den Grad bestimmten, wie fern oder wie nah jeder einzelne zu Roms Herrschaftssystem stand. Leider wissen wir nicht aus eigenen Zeugnissen, was jede einzelne dieser Persönlichkeiten bewog, eine Karriere in römischen Diensten anzutreten, wenn sie denn angeboten wurde. Simon Swain hat in zahlreichen Studien zu den griechischen Literaten der ersten drei Jahrhunderte n.Chr. d­iese Kehrseite der Medaille beleuchtet und nicht durchweg Zustimmung erfahren,24 aber ich möchte ihm in der Tendenz seines Urteils folgen. Er zog unter Verweis auf den kolonialen Habitus den Vergleich25 zwischen den griechischen Eliten und den Mitgliedern der nationalen Bewegung im britischen Kolonialreich Indien des 19. und 20. Jahrhunderts; letztere genossen englische Erziehung und besetzten Posten in der Zivilverwaltung als Angestellte des Empire, trotzdem engagierten sie sich in Organisationen, die auf die Unabhängigkeit ihrer Heimat hinarbeiteten. Swain warnt zu Recht davor, das Fehlen offener antirömischer Aktionen oder kritischer Schriften unbesehen als Beweis einer auch mentalen Identifikation mit dem römischen Herrschaftssystem zu nehmen. Die innere Einstellung dieser „Karrieristen“ ließe sich mit den genannten Vorbehalten der Sophisten am leichtesten in Einklang bringen, wenn wir ihnen einerseits eine ehrliche Hoch­ achtung vor dem alten Griechentum unterstellen, wir sie andererseits aber das Angebot der Kooperation seitens Roms akzeptieren lassen, um auf diese Art und Weise am effektivsten zum Wohle ihrer Heimat wirken zu können, eben mehr als jeder kleine Bürgermeister oder Kaiser­ priester einer einzelnen Stadt, die sich in den Streitereien der Mitbürger verzehrten, in jener einzigen Form der öffentlichen Betätigung, die Plutarch billigte. Auch wenn sie die Karriere nach Rom oder in weit entfernte Provinzen des Reiches führte, läßt sich in den allermeisten Fällen eine fortbestehende Bindung an die Heimat nachweisen. Nur die wenigsten dürften, wenn überhaupt, „Römer“ in dem Sinne geworden sein, dass sie ihren Lebensmittelpunkt nach Italien verlegt und die griechische Heimat verdrängt hätten. Eine der wenigen prominenten Familien des Mutterlandes, die in Rom Karriere machten, war diejenige des Herodes Atticus; von ihm haben sich eine von Philostrat verfaßte Biographie und weit über 100 Inschriften erhalten. Er stammte aus alter, steinreicher athenischer Familie, sein Großvater mußte unter Domitian noch die Konfiszierung seines Vermögens und die Verbannung aus Athen erleiden, die Kehrtwende kaiserlicher Politik unter Hadrian förderte die Karriere seines Vaters, der bereits römischer Konsul wurde, Atticus selbst war 143 Konsul 24 Siehe etwa die Rezensionen von P. Gordon, BMCRev 97,1997, 4.14; G.W. Bowersock, Intern. Journ. Class. Trad. (1998), 477–480. 25 Swain 1996, 411–412. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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und ein Freund des Kaisers Marc Aurel. Er heiratete keine Griechin, sondern eine Dame aus einem italischen Patriziergeschlecht, und obwohl er neben seinem athenischen auch das römische Bürgerrecht besaß, würde er sich nie als Römer bezeichnet haben. Seine großzügigen Stiftungen kamen fast ausschließlich seiner griechischen Heimat zugute, in Athen wollte er bestattet werden. In seinem Auftreten bis hinauf gegenüber dem Kaiser zeigte er eine grandezza bis hin zur Arroganz, die sich aus der tiefsten Überzeugung eigener Noblesse speiste, die es mit derjenigen der vornehmsten Römer allemal aufnehmen konnte. Er ist ein Musterbeispiel dafür, wie man im 2. Jh. zugleich Mitglied der römischen Reichsaristokratie sein und die enge Verbundenheit mit Griechenland aufrecht erhalten konnte und in Kombination beider Tätigkeitsfelder ein Höchstmaß an Wirkungsmöglichkeiten für die Heimat erzielte.26 Gerne würden wir wissen, wie Pausanias über die Rede des wie er aus Westkleinasien gebürtigen gleichaltrigen Aelius Aristides, die er vor dem Kaiser Antoninus Pius in Rom gehalten hat, geurteilt haben mag. Aristides’ stilistisches Vorbild war Isokrates, sein Attizismus wirkte so vorbildhaft, dass seine Werke in byzantinischer Zeit fleißig abgeschrieben wurden und uns so in großen Teilen erhalten geblieben sind. Aristides ist ein Beispiel dafür, wie weit die Anerkennung von Fremdherrschaft unter günstigen Rahmenbedingungen gehen und dennoch ein Kern kultureller Identität unverrückbar erhalten bleiben kann. Aristides’ Leben spielte sich nicht in Rom oder Italien ab, sondern in seiner westkleinasiatischen Heimat. Er hielt zahlreiche Reden im Auftrag der dortigen Städte, Festreden aus aktuellem Anlaß oder Mahnreden über die Eintracht. Aristides genoß als Bürger Roms alle Annehmlichkeiten, die das römische Weltreich bot: Er beklagte nicht, wie Plutarch, die engen Entscheidungsspielräume des Lokalpolitikers, weigerte sich andererseits aber konstant, städtische Ämter, zu deren Übernahme er mehrmals aufgefordert wurde, angesichts der damit verbundenen finanziellen Lasten zu übernehmen, geschweige denn die höhere Ebene einer ritterlichen Laufbahn anzustreben. Er genoß nichtsdestoweniger die Anerkennung als herausragende intellektuelle Persönlichkeit seitens der Landsleute, der römischen Statthalter und auch der Kaiser. Seine berühmte Romrede, ein Lob auf die Reichshauptstadt, gehalten vor dem Kaiser Antoninus Pius,27 zeigt den Grad der Anerkennung, den ein griechischer Zeitgenosse dem Garanten des gegenwärtigen Glückszustandes zu zollen bereit war: Aristides geht sogar so weit zu behaupten, Rom habe die Griechen an Weisheit und Mäßigung übertroffen angesichts der Rivalitäten unter den griechischen Poleis;28 wir vernehmen also ein Lob auf die reibungslos funktionierende Administration. Aristides spricht aufgrund persönlicher Erfahrungen, die er mit Roms Verwaltung in der Provinz Asia gemacht hat – keine Garnisonen, ein blühendes Städtewesen (namentlich mit Blick auf Ionien),29 die hervorragende Infrastruktur, die Förderung der lokalen Eliten, die Zufriedenstellung auch der unteren Schichten, da Rom ihren Schutz vor der Willkür der eigenen Oberschicht garantiere. Man kann darüber diskutieren, und es ist lebhaft diskutiert worden, was an dieser Rede wider besseren Wissens nur Schmeichelei, was tiefste eigene Überzeugung war – Ungereimtheiten mußte allein schon der Spagat provozieren, ein monarchisch-autokratisches Regime wie das Kaisertum als Demokratie anpreisen zu wollen. Sein Lob auf die reale Welt Roms war sicher aufrichtig, aber dennoch blieb Aristides im Herzen 26 Zu Herodes Atticus siehe zuletzt Kuhn 2012 u. Halfmann 2017 mit der älteren Literatur. 27 Arist. or. 26. Zur Rede (mit Text, Übersetzung und Kommentar) siehe Klein 1981 u. 1983, ferner Swain 1996, 274–284, Fontanella 2008 und im Sinne von Swain Pernot 2008. 28 Or. 26,40–50. 29 Or. 26,94–95. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Grieche. Nicht ansatzweise warf er einen Blick auf Roms Geschichte, auf verstorbene Kaiser oder Politiker. Seine Bewunderung der Vergangenheit galt allein der athenischen, wie seine Rede „Panathenaikos“ verdeutlicht: Dreimal so umfangreich wie die Romrede handelt sie ausführlich über kriegerische Großtaten Athens, welche in der Romrede auf Rom bezogen völlig fehlen.30 Aristides lobte das zeitgenössische Kaisertum als funktionierendes und, an den Maßstäben einer Monarchie gemessen, gerechtes Herrschaftssystem, aber die wirkliche historische Größe fand auch er nur im klassischen Zeitalter des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. Die wahre Macht Athens beruhte seiner Meinung nach nicht auf einem geographisch und auch zeitlich begrenzten großen Territorialreich (wie dem römischen), sondern auf dem zeitlich und örtlich unbegrenzt wirkenden Bündel charakterlicher Tugenden, einschließlich Sprache und Kultur.31 Hier soll die Darstellung abbrechen und einen großen Bogen schlagen, der noch einmal in der Gegenwart endet. Das beschriebene Grundmuster, ein Changieren zwischen äußerer Loyali­tät und innerer Distanz zu Rom, läßt sich noch wenigstens ein Jahrhundert weiter verfolgen – Distanz in dem Sinne, dass die Wertmaßstäbe, mit denen Geschichtsschreibung und Philosophie betrieben wurden, griechisch blieben und die Autoren in einem kosmopolitischen römischen Reich ihre Heimat in ihren Gemeinden Kleinasiens oder des Mutterlandes sahen. Ende des 3. Jahrhunderts schrieb der Athener Dexippos eine Lokalgeschichte, er schilderte die schweren Einfälle germanischer Völker über den Balkan und die Ägäis bis in den Süden Griechen­lands, Ereignisse, die Gelegenheit boten, an die Abwehr der Kelten im 3. Jahrhundert v.Chr. und die herausragende Rolle der Athener bei dieser Heldentat zu erinnern. Fergus Millar wagt sogar die These, dass es letztlich jene unerschütterliche Beziehung der Griechen zu ihrer Heimat gewesen sei, welche den oströmischen Reichsteil gegen den Sturm der Völkerwanderung hätte standhalten und im Gegensatz zum weströmischen Reich für fast 1000 Jahre überleben lassen.32 Die im 2. Jahrhundert n.Chr. noch spürbare Spannung zwischen Resignation und dem Enga­ gement für den römischen Staatsapparat verflachte zunehmend, bedingt durch die Reichskrise des 3. Jh. und das aufkommende Christentum. Griechische Gelehrsamkeit, die auch im 3. und 4. Jahrhundert namentlich in Athen blühte, und hellenische Kultur gingen eine eigene Symbiose mit dem Christentum ein, die keinen Antagonismus zum existierenden Kaiserreich mehr kannte.33 Die Griechen fanden zudem einen neuen Mittelpunkt kaiserlicher Macht, Konstantinopel als Pendant zu den westlichen Kaiserresidenzen. Die oströmisch-byzantinischen Kaiser stammten zwar nicht aus dem griechischen Mutterland, aber Griechisch war die Sprache des neu gebildeten Senates und der hohen Beamtenschaft, und seit dem 5. Jahrhundert existierte de facto ein griechischer Teil des römischen Reiches. Griechen wurden jetzt umgekehrt zu Trägern des (ost-)römischen Erbes, was sich bis ins 20. Jahrhundert in der Bezeichnung „Romaioi“ oder „Romioi“ für die griechisch sprechende Bevölkerung des osmanischen Reiches niederschlug. Es wäre äußerst lohnend, die hier nur angedeuteten Arrangements griechischer Kultur und ihrer Träger mit dem römischen Staat und seiner Gesellschaft mit ähnlichen Phänomenen unter der letzten Fremdherrschaft, dem Osmanischen Reich, zu verfolgen: Man denke etwa an die eigen30 Or. 1,75–321; vgl. or. 3 mit einem Lob auf Perikles, Kimon, Miltiades und Themistokles. 31 Oudot 2008. Auf oft übersehene kleine Nuancen in der Formulierung der Rompreisung, die dieselbe wieder einschränken, weist Pernot 2008, bes. 192–193 hin. 32 Millar 1969, 28–29. 33 Bowersock 1990. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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ständige Organisation der orthodoxen Kirche in einem „Millet“ (Nation) unter einem griechi­ schen Patriarchen in Konstantinopel, an die Integration griechischer Eliten in den osmanischen Machtapparat in Gestalt der „Phanarioten“, die zunächst als Dolmetscher fungierten, dann aber auch reale Macht ausüben konnten als Begleiter und Ratgeber des Außenministers, des Flottenbefehlshabers und Statthalters über die Agäisinseln und als Vizekönige über die Donau­ provinzen Moldavien und Walachei mit eigenen Herrscherresidenzen in Iaşi und Buka­rest. Insgesamt als korrupt verachtet, förderten sie griechische Kultur und westliche Ideen, standen aber bezeichnenderweise der griechischen Unabhängigkeitsbewegung gegenüber eher fern, da sie von der ungeschmälerten Einheit des Osmanischen Reiches mehr zu profitieren glaubten. Abschließend sei aus der Rede eines griechischen Gelehrten, des Archäologen Grigorios Paliuritis, aus dem Jahre 1815 über die Bedeutung der paideia zitiert: Es ist so oft gesagt worden, dass es das größte Unglück ist, welches eine früher sehr berühmte Nation befallen kann, nämlich ihre Urtugenden zu vergessen, ihre eigene Misere nicht wahrzunehmen, die Bildung ihrer Jugend zu vernachlässigen und zu verachten. Diese Verhaltensweisen haben wohl die Oberhand gewonnen, wie es scheint, nach dem bedauernswerten Fall Griechenlands in die Unterwerfung. Doch mit Hilfe der Göttlichen Vorsehung sind die Griechen aus eigener Initiative heraus bereits aus dem tiefsten Schlaf der Unbildung aufgewacht, so dass sie sich für die Aufklärung und ihre Wiedergeburt interessieren und Riesenschritte auf dem Weg schaffen, der sie eigens zur Erlangung ihrer Urtugenden und der Religion führen wird.34

Diese Worte könnte fast wörtlich auch ein Grieche der römischen Kaiserzeit gesprochen haben, aber eigentlich auch ein zeitgenössischer Grieche mit Blick auf die augenblickliche Situation seines Landes – auch eine Ermunterung, nach den Spuren auf dem Weg vom antiken zum neu­ zeitlichen Griechentum weiter zu forschen. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Graffito, Athen; © Reuters, Foto: Pascal Rossignol.

Bibliographie Borg 2004 = B. Borg (ed.), Paideia. The World of the Second Sophistic, Berlin – New York 2004. Bowersock 1990 = G. W. Bowersock, Hellenism in Late Antiquity, Cambridge 1990. Bowersock 1995 = G. W. Bowersock, The Barbarians of the Greeks, HSPh 97 (1995), 3–14. Bowersock 2004 = G. W. Bowersock, Artemidorus and the Second Sophistic, in: B. Borg (Hrsg.), Paideia. The World of the Second Sophistic, Berlin – New York 2004, 53–63. Bowie 1996 = E. L. Bowie, Past and Present in Pausanias, in: J. Bingen (ed.), Pausanias historien, Genf 1996 (Entretiens sur l’antiquité classique 41), 207–239. Brunt 1994= P. Brunt, The Bubble of the Second Sophistic, BICS 39 (1994), 25–52. Clogg 1997 = R. Clogg, Geschichte Griechenlands im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Abriss, Köln 1997. Damaskos 2011 = D. Damaskos, Archäologie und nationale Identität im modernen Griechenland, in: E. Kocziszky (Hrsg.), Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, 75–88. Deininger 1971 = J. Deininger, Der politische Widerstand gegen Rom in Griechenland 217–86 v.Chr. Berlin – New York 1971. Dihle 2011 = A. Dihle, Greek Classicism, in: T. Schmitz – N. Wiater (eds.), The Struggle for Identity. Greeks and their Past in the First Century BCE, Stuttgart 2011, 47–60. 34 Zitiert aus Clogg 1997, 46. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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‚Germania magna ‘ statt ‚Germania libera ‘ und Germania omnis oder doch eher barbaricum? Eine Nachbardisziplin tut sich schwer in einer aus althistorischer Sicht unnötigen Kontroverse Peter Kehne

Bis heute verwenden Teile der Archäologie, der europäischen Frühgeschichtsforschung und der Alten Geschichte zur kollektiven Erfassung der in der Antike überwiegend von Germanen bewohnten und nicht zum Imperium Romanum gehörigen kontinentaleuropäischen Gebiete mit ge­bührender terminologischer Vorsicht die zwar neuzeitliche, aber nützliche Bezeichnung „Freies Germanien“. Dieser schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebräuchliche1 und durch Hans Jürgen Eggers2 vollends in der Archäologie etablierte Sammelbegriff (entsprechend „Fria Germanien“, „Germanie libre“, „Free Germany“ etc.)3 war als Kategorie wegen ihres flexiblen Geltungs­bereiches und ihrer daher einfachen Handhabung schon immer hilfreich, wenn auch problematisch. Denn ihre gleichfalls moderne und ebenso häufig gebrauchte latinisierten Form *Germania libera suggeriert einerseits einen antiken terminus technicus, der als solcher (bislang) nicht nachgewiesen ist. Andererseits erschien er – ohne dass dieses jemals gründlich überprüft wurde – stets als eine unzulässige verfälschende Rückprojizierung4 des modernen Begriffs auf antike Verhältnisse, was die seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts anhaltende Kontroverse auslöste, die durch weitreichenden Opportunismus nur vermeintlich als beigelegt erscheint. I. In seinem 1992 abgegebenen Bericht über Das Projekt: Römische Funde im mitteleuropäischen Barbaricum hatte der damals führende Kopf der in Europa einst allmächtigen RömischGermanischen Kommission (RGK), Siegmar von Schnurbein5, zum einen methodisch korrekt 1

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Siehe u. a. St. Bolin, Fynden av romerska mynt i det fria Germanien, Lund 1926 (dt. Zus.: Die Funde röm. und byzantin. Münzen im freien Germanien, BerRGK 19 [1929], 86–145); G. Ekholm, Zur Geschichte des römisch-germanischen Handels, AArch 6 (1935), 49–98, hier 49; O. Brogan, Trade between the Roman Empire and the Free Germans, JRS 26 (1936), 195–222. H. J. Eggers, Der röm. Import im freien Germanien, 2 Bde., Hamburg 1951; H. J. Eggers., Zur absoluten Chronologie der röm. Kaiserzeit im freien Germanien, JbRGZM 2, 1955, 196–244 und H. J. Eggers., in: ANRW II 5,1, 1976, 3–64. Dieselbe Bezeichnung hatte er auch schon früher verwendet: Das römische Ein­f uhrgut im freien Germanien, in: Bericht über den VI. Internationalen Kongreß für Archäologie, Ber­ lin 1940, 569–574. Siehe u.a. die Verwendung bei J. Kunow, Negotiator et vectura. Händler und Transport im freien Ger­ manien, Marburg 1980; J. Kunow, Der röm. Import in der Germania libera bis zu den Markomannen­ kriegen. Studien zu Bronze- und Glasgefäßen, Neumünster 1983; J. Kunow, Röm. Import­geschirr in der Germania libera bis zu den Markomannenkriegen: Metall- und Glasgefäße, ANRW II 12.3 (1985), 229–279; J. Kunow, Zum Handel mit röm. Importen in der Germania libera, in: K. Düwel et al. (Hrsg.), Untersuchungen zu Handel und Verkehr I, Göttingen 1985, 430–450; U. Lund Hansen, Röm. Import im Norden. Warenaustausch zw. dem Römischen Reich und dem freien Germanien während der Kaiserzeit unter besonderer Berücksichtigung Nordeuropas, Kopenhagen 1987. Vgl. unten Anm. 11 u. 124. Siehe Anm. 6. S. von Schnurbein – M. Erdrich, Das Projekt. Römische Funde im mitteleuropäischen Barbaricum, dargestellt am Beispiel Niedersachsens, BerRGK 73 (1992), 5–27, hier speziell 7–11. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Ver­ständnis­barrieren aufgezeigt, die mit der neolatinisierten Form einer sog. Germania libera ein­her­gehen können, und zum anderen die partielle Untauglichkeit des Begriffs als historischgeo­graphische Kategorie betont.6 Letzteres ist in der Tat immer dann gegeben, wenn neben germanischen Siedlungsgebieten auch das von Sarmaten, insbesondere die Theißregion in die Fund­­corpora der RGK einbezogen werden sollte.7 Berechtigterweise warnte er ebenfalls davor, „eine ‚Germania libera‘ als scheinbar feste politische Größe dem Römischen Imperium gegenüberzustellen, wie dies gelegentlich sogar auf politisch gegliederten Karten geschieht“, zumal „‚Germanien‘ Rom gegenüber alles andere als eine geschlossene politische Einheit war.“8 Wenn es darum ginge, „den geographischen Raum zu umreißen, der während der römischen Kaiserzeit germanisch besiedelt war, so spricht man“, seines Erachtens, „mit Ptolemaios besser von ‚megale Germania‘, d. h. Germania magna.“9 Gleichwohl wählte Schnurbein für den Gegenstandsbereich des von ihm initiierten Corpus römischer Funde den ebensowenig eindeutigen Begriff „mitteleuropäisches Barbaricum“, dessen Adjektiv – nach gemeingültiger gegen­­ wärtiger geographisch-politischer Auffassung – allerdings östliche Gebiete Polens und die heute in Ungarn und Serbien liegende Theißebene ebenfalls ausschließt. Ganz abgesehen davon, dass dieser immerhin antiken Bezeichnung das hier nicht erneut ausführlich zu behandelnde Verständnisproblem des tendenziell immer abwertenden Barbarenbegriffs innewohnt,10 das nicht weniger gravierend ist als Schnurbeins Kritik an der Vorstellung eines „freien“ Germanien. 6 Laut Schnurbein 1992, 8 f. ist die Bezeichnung „untauglich zur pauschalen Umschreibung, weil sie den politischen Verhältnissen nicht gerecht wird, und sie ist ebenso untauglich als geographische Um­ schreibung, weil der Begriff ‚frei‘ die politische Wertung in sich trägt.“ 7 Schnurbein 1992, 8: Für eine Untersuchung des römischen Fundniederschlages in den europäischen Gebieten außerhalb der strikten Grenzen des Römischen Reiches sei der Begriff „Freies Germanien“ schon deshalb untauglich, da er definitiv von Sarmaten bewohnte Regionen ausschließt, das römische Fundgut dieser Gegenden aber denselben Bedingungen unterliege oder mit dem in germanischen Räumen in direktem Zusammenhang gestanden haben mochte. 8 Schnurbein 1992, 9; Neumaier 1997, 53 würdigt diese „stichhaltigen Bedenken“. 9 Schnurbein 1992, 10. Allerdings bleibt von Schnurbeins Verweis auf „Ptolemaios 221,8“ (ebd. Anm. 19) wohl für viele unverständlich. Gemeint ist Ptol. geogr. 2,9,2 (ed. Müller p. 221, Z. 8 = ed. Cuntz p. 52) = 2,8 (ed. Wilberg p. 140, Z. 9) = 2,9,5 (ed. Nobbe); vgl. 8,6,1 (ed. Nobbe) und 8,7,2 sowie die sehr wahr­ scheinlich spätere und daher mit Cuntz 1923 zu tilgende Erwähnung in der Kapitelüberschrift 2,11 (ed. Müller p. 247, Z. 8 und ed. Nobbe) bzw. 2,10 (ed. Wilberg), jedenfalls fehlt dort der Zusatz megale in allen bis auf eine Hs. und in allen Hss. vor allem in geogr. 9,11,1 (ed. Müller p. 247, Z. 10). Zu alledem siehe den textkritischen Kommentar bei Cuntz 1923, 59 ad loc. Vgl. Goetz – Welwei 1995, 172 u. 174 sowie Klaudios Ptolemaios, Handbuch der Geographie. Griech.–Deutsch, hrsg. von A. Stückelberger und G. Graßhoff, 3 Teile, Basel 2006, jeweils ad loc. 10 Am ausführlichsten dazu bislang Y. A. Dauge, Le Barbare. Recherches sur la conception romaine de la barbarie et de civilisation, Bruxelles 1981. – Demgegenüber werden diesbezüglich in den meisten der archäologisch und populärwissenschaftlich ausgerichteten Publikationen die Begriffe Barbaren und Barbaricum ohne (jegliche) terminologische Definition und Differenzierung verwendet. Siehe u. a. B. Cunliffe, Rome and the Barbarians, London 1975; M. Todd, The Northern Barbarians, 100 B.C.–A.D. 300, London ²1987; L. Hedeager, Empire, Frontier and the Barbarian Hinterland. Rome and Northern Europe from A.D. 1–400, in: M. Rowland et al. (eds.), Centre and Periphery, Cambridge 1987, 125–140; E. Chrysos – A. Schwarcz (Hrsg.), Das Reich und die Barbaren, Wien – Köln 1989; J. C. Barrett – A. P. Fitzpatrick – L. Macinnes (Hrsg.), Barbarians and Romans in North-West Europe from the Later Republic to Late Antiquity, Oxford 1989; D. Williams, Romans and Barbarians. Four Views from the Empire’s Edge 1st Century A.D., London 1998; G. Dobesch, Das 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. als Zeit einer politischen Krise im Barbaricum, in: J. Tejral (Hrsg.), Das mitteleuropäische Barbaricum und die Krise des römischen © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

‚Germania magna‘ statt ‚Germania libera‘ und Germania omnis

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In direkter Reaktion auf Schnurbeins neues und fortan für Publikationen der RGK gültiges Dogma brach Reinhard Stupperich in seinem ausführlichen Überblick über die Erforschung der römischen Funde „im sogenannten Freien Germanien“ 11 für diesen forschungsgeschichtlich etablierten Begriff bewusst eine Lanze,12 da dieser in seiner Bedeutung relativ klar und weit weniger missverständlich sei als Schnurbeins ersatzweise verwendeter Terminus „Germania magna“.13 Und überhaupt: Eine allgemein eingeführte in ihrer Bedeutung klare Terminologie sollte man nicht ändern, nur weil sie nicht in den antiken Quellen belegt ist.14

In diesem Zusammenhang rekapituliert Stupperich noch einmal die von Eggers gezogenen Gren­ zen für die geographischen Dimensionen der sog. Germania libera, verstanden als „das nicht zum Römischen Reich gehörige Mittel- und Nordeuropa.“15

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Weltreiches im 3. Jh., Brno 1999, 7–18; M. Erdrich, Rom und die Barbaren. Das Verhältnis zwischen dem Imperium Romanum und den germanischen Stämmen vor seiner Nordwestgrenze von der späten römischen Republik bis zum Gallischen Sonderreich (Diss. Amsterdam 1996), Mainz 2001 (zur methodisch meist schon grundsätzlich falschen Verwendung bestimmter Artikel siehe hierzu besonders die Rezension v. P. Kehne, Gnomon 75 [2003], 323–327); sowie die in großen Teilen oberflächliche populärwissenschaftliche Darstellung von P. J. Heather, Empires and Barbarians. Migration, Development and the Birth of Europe, London 2009 (²2010), die diesbezüglich keine tiefergehende Kenntnis eines früher sehr renommierten Autors offenbart und wohl primär aus pekuniärem Interesse resultierte. – Ausnahmen bilden u. a. A. Alföldi, Die ethische Grenzscheide am römischen Limes, Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 8 (1950), 37–50; B. Günnewig, Das Bild der Germanen und Britannier. Unters. zur Sichtweise von fremden Völkern in antiker Literatur und moderner Forschung (Diss. Hannover), Frankfurt a. M. 1998; Timpe 1996/2006. R. Stupperich, Bemerkungen zum römischen Import im sogenannten Freien Germanien, in: Franzius 1995, 45–98. Dasselbe gilt auch für den ebenfalls etablierten Begriff „Import“ (siehe Stupperich 1995, 46). Dieser war von Schnurbein 1992, 7 f. aufgrund der angeblich unabweislichen Assoziation mit Handel gleichfalls pro­ blematisiert und als für das RGK-Projekt „Römische Funde im mitteleuropäischen Barbaricum“ untaug­ lich zurückgewiesen worden. Der Begriff Germania libera ist für Stupperich 1995, 48 „auf jeden Fall weniger zu Mißverständnissen geeignet und insofern unbedenklich im Vergleich zu dem als Ersatz häufig verwendeten Germania magna.“ Näheres dazu weiter unten im Kontext der räumlichen Abmessungen der megale Germania des Ptolemaios. Aber schon an dieser Stelle sei angemerkt, dass die nur bei Ptolemaios greifbare, zudem un­ technische und keinesfalls offizielle Bezeichung *Germania magna verstanden als Germania barbara seit dem Humanismus und der Aufklärung zwar große Aufmerksamkeit fand (Neumaier 1997, 56 ff., 62 f.; zur Verbreitung ersterer vor allen in den auf Ptolemaios fußenden Kartenwerken: ebd., 59), in der gegenwärtigen Frühgeschichte, Archäologie und Alter Geschichte jedoch weit weniger Resonanz. Bisweilen wird die entscheidende Diskrepanz zw. den strittigen Ausdrücken gar nicht erkannt. Siehe u. a. R. Wolters, Römische Funde in der Germania magna und das Problem römisch-germanischer Handelsbeziehungen in der Zeit des Prinzipats, in: Franzius 1995, 99–117, hier 99, wo der durchgängig benutze Begriff Germania magna nirgendwo definiert, aber offenkundig mit dem Fundgebiet „östlich des Rheins und nördlich der Donau, noch über die Weisel hinaus und bis hoch in (sic!) Skandinavien“ gleichgesetzt wird. Stupperich 1995, 48. Ebd. 46. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Peter Kehne Die wichtigste Begrenzung dieses Gebietes ist dabei der Limes im Westen und Süden, nach Norden hin ist es offen, nach Osten hin ist der Einfachheit halber das Augenmerk auf das Areal bis etwa an die ehemalige russische Grenze gerichtet, wo das römische Fundaufkommen dann stark ausdünnt.16

Ausgerechnet die überwiegend als Numismatikerin tätige und philologisch wenig versierte Maria Radnoti-Alföldi übernahm daraufhin die Aufgabe, antike Textpassagen hinsichtlich der Ver­ wendung der Bezeichnung Germania zu überprüfen. Und sie präsentierte mit ihrer Auswahl das gewünschte Ergebnis. Grundsätzlich stimmt sie mit von Schnurbein darin überein, dass „für den Römer (...) ‚Germania‘, wenn es nicht um die Provinzen geht, lediglich jener Raum (ist), in dem Germanen leben, kein wie auch immer gearteter politischer Begriff.“17 Diese Bilanz ist allerdings nur mit Einschränkungen richtig, denn offenbar zählten für die Römer nicht alle von Germanen bewohnten Gebiete stets zur Germania. Bekanntlich offenbart sich schon in dem von Radnoti-Alföldi angeführten Bellum Gallicum Caesars eine andere und zudem ganz eindeutig politisch-ideologische Sichtweise, die die römische Nachwelt nachhaltig beeinflusste. Dort werden mit Germania eben nicht – wie Radnoti-Alföldi fälschlich meint18 – „d i e [d. h. a l l e (P.K.)] von Germanen bewohnten Gebiete bezeichnet.“ Der besondere politische Akzent in Caesars Darstellung liegt doch, wie Gerold Walser bereits 1956 eindrucksvoll demonstrierte, gerade darauf, entgegen den bekannten ethnischen Verhältnissen die politische Fiktion einer ausschließlich rechtsrheinischen Germania zu schaffen.19 Caesar kämpfte überwiegend westlich des Rheins gegen Germanen und unterschied prinzipiell Germani cisrhenani und Germani transrhenani.20 Jedoch benutzte er die Bezeichnung Germania – soweit überhaupt geographische Bezüge ersichtlich sind – ausschließlich für rechtsrheinisches Gebiet 21 und nie (auch – geschweige denn 16 Ebd. 46 u. 48. Basierend auf Eggers 1951, 13 f.: „Seine Grenzen fallen im Westen und Süden mit der Rhein-Limes-Donau-Grenze des römischen Imperiums zusammen. Im Osten halten wir uns an die alte Grenze der Sowjet-Union, da sie zugleich Forschungsgrenze ist, im Norden an das Eismeer.“ Zur Ost­ grenze vgl. noch ebd. 20. 17 M. Radnoti-Alföldi, Germania magna nicht libera. Notizen zum römischen Wortgebrauch, Germania 75 (1997), 45–52, hier 49. 18 Radnoti-Alföldi 1997, 46. 19 Dazu bes. G. Walser, Caesar und die Germanen, Wiesbaden 1956, bes. 37 ff. u. 86 ff. Bestätigt und vertieft von Timpe 2006/2008, 267 f. 20 Entsprechende Benennungen oder Verortungen finden sich Caes. Gall. 1,2,4; 2,3,4; 4,16,5; 5,2,4; 6,2,3; 6,5,5; 6,32,1. Weitere Quellen anderer Autoren nennt Scardigli 1998, 65. Zu Germani cisrhenani siehe u. a. Much ³1967, 62 ff.; Walser 1956, 39 f.; H. v. Petrikovits, Germani Cisrhenani, in: Beck 1986, 88–106; Lund 1991a, 1966–1968, vgl. 1974 ff., 1922 u. 1876; Lund 1990, 90 f.; Lund 1991b, 2104–2108 u. Timpe 1998, 4 f. – wobei es diesbezüglich irrelevant ist, dass die caesarische Zuweisung heute von der sprachwissenschaftlichen Disziplin der Deutschen Altertumskunde teilweise bestätigt, von Teilen der vergleichenden Archäologie aufgrund der archäologischen Zeugnisse der materiellen Kultur jedoch bestritten wird. 21 Germania ist in Caesars Bellum Gallicum daher nicht schlechthin das (= jedes) von Germanen bewohnte Land, sondern – soweit überhaupt spezifizierbar – nur das germanische Gebiet östlich des Rheins: Gall. 4,4,1 und 7,65,4, wo allein beide Komponenten, nämlich Germanen in einer Germania vorkommen. Eine grundsätzliche Differenzierung bringt der große Gallien-Germanien-Exkurs 6,11–28, wo Gallia und Germania hinsichtlich ihrer Bewohner vor allem ethnisch und sozial separiert werden (6,31,5 scheidet beide ebenfalls, hat aber hierfür keinen Aussagewert). Gall. 6,24,2 bezeichnet Caesar die rechtsrheinischen Gebiete um den Hercynischen Wald (dazu P. Kehne, s.v. Hercynia silva, RGA² 14 [2000], 398–401) als fertilissima Germaniae loca, die einstmals von Galliern eingenommen wurden (vgl. Tac. Germ. 28,2–3). Dieses sind die fünf einzigen Germania-Nennungen, die mit Sicherheit aus Caesars Feder stammen. Der bezüglich der Urheberschaft strittige Exkurs Gall. 6,25,4 hat mit der letzten Stelle gemein, dass Germania © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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ausschließlich) für die gleichfalls von Germanen besiedelten Gebiete westlich des Rheins. Somit ist laut Walser das, „was Caesar in seiner ethnographischen Konstruktion des Germanenbildes als politisches Tendenzbild entworfen hat, später durch seine eigene Grenzziehung wirklich entstanden.“22 Entsprechendes gilt auch für spätere Autoren. Zum Beispiel bezeichnen Strabo und Pomponius Mela in ihren Fachschriften zur Geo- bzw. Ethnographie nirgendwo linksrheinisches Gebiet als Germania,23 obwohl dort nach damaligem Wissensstand Germanen lebten. Dasselbe gilt für Ptolemaios und Cassius Dio.24 Auch Cornelius Tacitus verfährt in seiner Germania omnis nicht anders, wenn er diese konsequent östlich des Rheins verortet und die beiden germanischen Provinzen des Römischen Reiches nicht als deren Teile betrachtet.25 II. Gegen die von Schnurbein26 dekretierte, von Radnoti-Alföldi27 und Barbara Scardigli28 be­für­ wortete, und danach von vielen Opportunisten in der Archäologie und Althistorie übernommene29 Verwendung der aus Klaudios Ptolemaios griechischen Terminologie abgeleiteten geographische Größe einer *Germania magna, erheben sich gleich mehrere Einwände: Erstens der Umstand, dass für den bei Ptolemaios nur dreimal auftauchenden Ausdruck μεγάλη Γερμανία (megále Germanía) spätere Textredaktionen keineswegs auszuschließen sind.30

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auch hier rechtsrheinisch gesehen wird, während die Erwähnung im Exkurs über die Lage Britanniens (Gall. 5,13, 6) indifferent bleibt. Schließlich taucht der Begriff noch einmal im von Aulus Hirtius verfassten 8. Buch auf, wo Gall. 8,25,2 ebenfalls unspezifisch von der Nachbarschaft Germaniens (Germaniae vicinitas) die Rede ist. Somit widerspricht keine der Stellen einer Reservierung des Begriffs Germania allein für die Region östlich des Rheins. Walser 1956, 94. Zu diesem auf Caesar zurückgehenden Verständnis einer ausschließlich (!) linksrheinischen Germania siehe Pomponius Mela, Chronographia 3,25 ff., der den Rhein als Westgrenze ansieht. Speziell zu Melas Germanien siehe P. Kehne, s.v. Mela, RGA² 19 (2001), 516–520, hier 518 f. Zu Ptolemaios (s.o.). Bisweilen herrscht promisquer Begriffsgebrauch: So weiß Cassius Dio 53,12,6 zwar um die Existenz auch einer linksrheinischen Germania, verwendet diesen Ausdruck jedoch weit überwiegend für die (beiden) Provinz(en), während er die rechtsrheinischen Regionen durchgehend unspezifisch als Κελτική (Keltiké) bezeichnet. Dieselbe politisch-staatsrechtlichen Differenzierung diagnostiziert auch Timpe 1970, 84 zu Cass. Dio 56,18,1–3: „derjenige Teil der Κελτική, der unter römischer Herrschaft stand, ist [sc. für Dio] Γερμανία.“ Vgl. Lennartz 1969, 6 ff., 11 ff., 36 ff., 63 ff., 99 ff.; Goetz – Welwei 1995, 4 ff. sowie Radnoti-Alföldi 1997, 46 ff. Obwohl er in ihnen siedelnde Germanen durchaus erwähnte: Tac. Germ. 28–29. Dazu u. a. Perl 1990, 127 u. 23 f., der in Tacitus’ anachronistischen Festhalten am als einer Grenze (ebd. 127) einen „Topos“ sieht. Schnurbein 1992, 10; ferner S. von Schnurbein, Germanien in römischer Sicht. Germania magna und die römischen Provinzbezeichnungen, in: H. Beck et al. (Hrsg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch–deutsch“, Berlin – New York 2004, 25–36, hier 26 f. Radnoti-Alföldi 1997, 48 f. Scardigli 1998, 75 f. Fehlerhaft ist an ihren Ausführungen u. a. schon, dass der Ausdruck erstmals nicht Ptol. geogr. 2,11 auftaucht (wo er übrigens zu tilgen ist: siehe oben Anm. 9), sondern bereits geogr. 2,9,2 (siehe Anm. 30). Es spricht übrigens für die wissenschaftliche Integrität und den unbeirrbaren Verstand des hier zu ehrenden Jubilars, sich solchen opportunistischen Moden stets verweigert zu haben. (1.) Ptol. geogr. 2,9,2 (ed. Müller p. 221, Z. 8 = ed. Cuntz p. 52) = 2,8 (ed. Wilberg p. 140, Z. 9) = 2,9,5 (ed. Nobbe). (2.) Ptol. geogr. 8,6,1 und (3.) geogr. 8,7,2; beide finden sich erst am Ende des Werkes bei der Beschreibung der Karten und bleiben schon von daher dubios. Eine ähnliche (4.) Erwähnung in der Kapitelüberschrift 2,11 (ed. Müller p. 247, Z. 8 = ed. Nobbe p. 113, Z. 25) bzw. 2,10 (ed. Wilberg) wurde © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Zweitens, dass Klaudios Ptolemaios’ singuläre Begriffsschöpfung μεγάλη Γερμανία (megále Germanía) – wenn sie denn überhaupt originär ist – in seiner sog. Geographia nicht durchgängig Anwendung fand, sondern, dass dieser griechische Ausdruck bei Ptolemaios im eigentlichen beschreibenden Text nur einmal (geogr. 2,9,2 ed. Müller = 2,9,5 ed. Nobbe) für eine inoffizielle Unterscheidung eines „Großgermaniens“ von den beiden römischen Provinzen (geogr. 2,9,8–9 ed. Müller 226,1–2 u. 228,2–3 – s.u.) Verwendung fand.31 Drittens, dass in Ptolemaios’ Geographia das notwendige Pendant fehlt, etwa eine *μικρά Γερ­ μανία (mikrá Germanía) im Sinne einer *Germania parva.32 Wobei zu vermuten ist, dass Ptole­ maios vor eben demselben Abgrenzungsproblem stand, das uns angesichts steter Veränderung der äußeren Macht des kaiserzeitlichen Imperium Romanum heute noch beschäftigt, und hier daher womöglich zu einer individuellen Lösung Zuflucht nahm.33 Viertens, dass die gleichfalls problematische Rückübersetzung *Germania magna in der be­­ kannten lateinischen Literatur der Antike ebensowenig auftaucht, wie die Bezeichnung *Ger­ mania libera, was ja für Radnoti-Alföldi und Schnurbein ein Ausschlusskriterium ist. Fünftens und am entscheidensten steht Ptolemaios’ Ungenauigkeit hinsichtlich der politischen, geographischen und siedlungsgeschichtlichen Verhältnisse Germaniens der von Schnurbein verlangten bedenkenlosen Übernahme seiner *Germania magna entgegen. Abgesehen von krassen (anachronistischen und/oder geographischen) Irrtümern34 – wie z.B. die Provinz Belgica als von der μεγάλη Γερμανία (megále Germanía) direkt durch den Rhein getrennt zu verstehen (geogr. 2,9,2[5]; ebenso 8,6,1–2), obwohl zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Geographikè hyphégesi­

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sehr wahrscheinlich später hinzugefügt und ist daher mit Otto Cuntz zu tilgend, worin ihm alle späteren Editoren folgten. Denn der Zusatz megale fehlt in der Kapitelüberschrift 2,11 in allen bis auf eine Hs. Vor allem aber fehlt er signifikanter Weise im unmittelbar folgenden Text geogr. 9,11,1 (ed. Müller p. 247, Z. 10 = ed. Nobbe p. 113, Z. 27) gleich in allen (!) Hss. Siehe dazu bes. den textkritischen Kommentar von Cuntz 1923, 59 ad loc. Vgl. GLQFM 3 (1991), 212, 214 u. 234 nebst dem Kommentar von Hansen zu Ptol. geogr. 2,9, GLQFM 3 (1991) 557 ff.; Goetz – Welwei 1995, 172–174 sowie Klaudios Ptolemaios, Handbuch der Geographie. Griech.–Deutsch, hrsg. von A. Stückelberger und G. Graßhoff, 3 Teile, Basel 2006, jeweils ad loc. Siehe den Kommentar Cuntz 1923, 40, 52: „megálen ist klein zu schreiben. Es gehört nicht zur eigentlichen Bezeichnung des Landes, ist nur zur Unterscheidung von Γερμανία ἡ κάτω und Γερμανία ἡ άνω gesetzt“ (ebs. dann Much ³1967, 30 u. Hansen 1991, 557), 54 u. 59, der (ebd. 40 u. 59) als alleinige antike Rezeption des Ausdrucks den unselbständigen Markianos nennt: GGM 1, p. 554. Ähnl. Scardigli 1998, 76, die dabei an die beiden Provinzen denkt, für die ein kollektiver Singular sprachlich aber kaum in Betracht käme (daher meist provinciae Germaniae oder duae Germaniae). Einem Vergleich der Rheinprovinzen als dem „klein(er)en Germanien“ im Gegensatz zu dem „größeren Germanien“ (vgl. Radnoti-Alföldi 1997, 48 f.) steht entgegen, dass dieses auf Altgriechisch mit einem Komparativ präzise ausdrückbar gewesen wäre. Nicht weiter ausgelotet wurde im Hinblick auf ein alternatives (nichtprovinziales, also von Rom freies) Germanien die zweimalige handschriftliche Erwähnung einer Γερμανία β΄: Entweder als spätere Hinzufügung im Sinne von „das zweite Germanien“ – eine Germania secunda, was in der Spätantike eine offizielle Provinzbezeichnung war (Scardigli 1998, 73)? Oder zu verstehen als Γερμανία δευτέρα (Germanía deutéra), „das andere Germanien“ (*Germania altera)? Dazu Cuntz 1923, 58 u. 59 apparatus criticus ad geogr. 242,5 u. 248,2. Anachronistische Stammeslokalisierungen östlich des Rheins bietet u. a. Ptol. geogr. 2,11,6. Zur falschen Lokalisierung des Legionslagers Mogontiacum in die Germania inferior (geogr. 2,9,8) und zur falschen Reihenfolge der Rheinorte bei Ptolemaios siehe u. a. Hansen 1991, 558 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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s35 die duae Germaniae längst existierten, deren gemeinsame Grenze Ptolemaios an derselben Stelle (wenn auch falsch36) bestimmt und die er geogr. 2,9,8 und 2,9,9 terminologisch korrekt als Γερμανία ἡ κάτω (Germania inferior, d. h. Untergermanien) und Γερμανία ἡ άνω (Germania superior, d. h. Obergermanien) bezeichnet37 – übergeht Ptolemaios’ Beschreibung (geogr. 2,11,1–16; 8,6,2) völlig das rechtsrheinische Ausgreifen der Germania superior. Und damit impliziert die aus ihm gewonnene Bezeichnung *Germania magna formallogisch immer die römischen Limesgebiete Germaniens, was diesen Ausdruck als geographische Kategorie zur Bezeichnung eines Raumes archäologischer Fundaufnahmen, der provinzialrömisches Gebiet gerade bewußt ausklammern soll, folglich schon per se untauglich macht. – Freilich wurden solche Konsequenzen einer gründlicheren Quelleninterpretation weder von Radnoti-Alföldi noch von Schnurbein thematisiert. III. Des Weiteren wird von allen Befürworter(inne)n der Bezeichnung *Germania magna stets übersehen, dass die *Germania libera, das von Ptolemaios als megále Germanía und das von Tacitus als Germania omnis bezeichnete „ganze Germanien“38 nicht kongruent sind. Karl Müllenhoff und andere hielten Germania omnis für eine Entsprechung von Ptolemaios’ megále Germanía39 – aber eben das ist ein Irrtum. Zum einen, weil Tacitus die beiden römischen Provinzen konsequent ignoriert und nur eine Germania hat;40 zum anderen wegen ihrer abweichenden Dimensionen. Wie weit sich die Germania in römischen Vorstellungen räumlich erstreckte, hing 35 Gemeinhin, aber fälschlich Geographia genannt; in Wirklichkeit ist die Schrift Geographikè hyphégesis keine Länderkunde, sondern wie der Original-Titel ausdrückt eine „Geographische Anleitung (zum Zeichnen von Erd- und Länderkarten)“. 36 Siehe u. a. den Kommentar von Hansen 1991, 558 zu Ptol. geogr. 2,9. 37 Siehe dazu Radnoti-Alföldi 1997, 48 u. Hansen 1991, 557–559. 38 Germania omnis: Tac. Germ. 1,1. Laut Müllenhoff ²1920, 100 ist „am besten noch die übersetzung [sic!] ‚Germanien insgesamt‘“; ganz ähnl. die Kommentare von Lund 1988, 108: „Omnis, d. h. das Land in seiner Gesamtheit“ u. Rives 1999, 99: „Germania as a whole.“ Für Perl 1990, 24 entspricht sie der Ger­mania libera. Dagegen ist für Much ³1967, 29 das Adjektiv sachlich entbehrlich: „Das beigefügte omnis gibt dem Landesnamen, (...) ein größeres Gewicht, ohne an seiner Bedeutung viel zu ändern, denn Germania schlechtweg ist selbstverständlich auch das ganze Germanie.“ Zur Abgrenzung siehe – neben den nachfolgenden Ausführungen – die zutreffenden Auffassungen von Much ³1967, 30; Lund 1988, 108: „Germania omnis, d. h. das sogenannte freie Germanien, zu dem die zwischen 82 und 90 konstituierten römischen Provinzen Germania inferior und superior nicht gezählt wurden.“ Und Perl 1990, 23, wonach Tacitus „in bewußter Anlehnung an Caesars Gallia omnis geschrieben“ hat und „bei seinen Lesen voraus (setzt), daß ihnen gegenwärtig ist, was omnis bei Caesar bedeutet, nämlich Gallia ohne die Provincia.“ Die naheliegende Auffassung einer beabsichtigten Entsprechung bestätigt der empirische Befund zur Gallia omnis (so Caes. Gall. 1,1,1; 1,31,16; 1,33,4; 1,46,4; 6,13,1 etc. – synonym mit tota Gallia: 1,30,1; 1,31,3. 10; 1,43,7; 6,1,5; vgl. 6,16,1), die Caesar strikt von der gallischen Provinz Roms schied (vgl. Caes. Gall. 1,19,3; 1,28,4; 1,35; 1,44,7 ff. etc.), die er auch als Gallia ulterior oder Transalpina bezeichnete. Unklar bleibt die Beziehungen der taciteischen Germania omnis zu seinen Germaniae (Pl.!) im Agricola. Die Bedeutung entspricht Tac. Agr. 15,3 und 28,1 nicht den Germaniae duae, also den Provinzen, da beide Male eindeutig nur rechtsrheinisches Germanien gemeint ist. Oder fassen wir mit per Germanias eine Summenformel für die Germania omnis und die Provinzen Germania inferior und Germania superior? 39 Müllenhoff ²1920, 100; ebenso Timpe 2006/2008, 268 mit Anm. 12 und (im Prinzip) Schnurbein 2004, 26 f., der in Verkennung der Ostgrenzen-Divergenz irrigerweise meint, Tacitus’ geographische Aus­ führungen reichten nicht über die von Plinius hinaus. 40 So ausdrücklich und zu Recht auch Perl 1990, 24. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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nicht zuletzt vom geographischen Horizont der jeweiligen Generation ab. Gemeinhin bildete seit Caesar der Rhein eine Grenze, die vorgeblich Germanen von Galliern trennte und als Westgrenze Germaniens fungierte.41 Alle geographischen Beschreibungen von Caesar42 bis Tacitus43 und Ptolemaios stimmen darin überein, d i e Germania ausschließlich östlich des Rheins zu verorten. Im Norden war es der Ozean;44 im Süden die Donau bzw. die Gebiete der Räter, Noriker und Pannonier.45 Entscheidend für diese Erörterung sind die unterschiedlichen Grenzen im Osten: Strabon, der die Weichsel nicht erwähnt, legt sich geographisch überhaupt nicht fest und ist selbst hinsichtlich der östlichen Nachbarn unsicher.46 Bei Mela ist es einmal allgemein das Grenzgebiet der Sarmaten­stämme und dann präzise die Vistula, d. h. die Weichsel47 – eine Vorstellung, die er wahrscheinlich von Agrippa übernahm. Dasselbe nimmt man für Plinius’ Geographie an.48 Aller­dings ist nicht klar, welche Auffassung er wirklich vertrat. Denn Plinius nat. hist. 4,81 veranschlagt zwischen Sarmateneinöde und Weichsel 396 römische Meilen; in nat. 4,100 hat die Vistla (!) keine geographische Funktion; und nat. hist. 4,97 referiert nur die Auffassung ungenannter Autoren über die Vistla als Westgrenze der Sarmaten und anderer Völker. Eindeutig nennt Ptolemaios (geogr. 2,11,4) die Weichsel als Ostgrenze Germaniens, dem sich Sarmatien anschließt (geogr. 8,6,1–2). Somit ist dessen Angabe entgegen von Schnurbeins Behauptung49 also relativ eindeutig. Zweifelhaft bleibt, ob Ptolemaios insgesamt „mit seiner Germania Magna geographisch das Gebiet des germanisch besiedelten Raumes umreißen wollte“ wie von Schnurbein annimmt.50 Denn dieser übersah die seiner Identitätsthese eindeutig widersprechende Nennung der Weichsel als germanische Ostgrenze bei Ptolemaios.51 Für Tacitus52 reicht Germanien im Südosten bis zu den Gebirgszügen, die die Daker ausgrenzten; im Osten bis zu einer ‚Grenze‘, die er geographisch nicht präzisieren kann und daher 41 Siehe u. a. Caes. Gall. 1,1,3; 4,16,4 etc.; Dion. Hal. ant. 14,3; Strab. 2,5,30; 4,4,2; 7,1,2. 3 etc.; Mela 3,25; Plin. nat. hist. 4,105; vgl. 4,100. 106; 31,20; Tac. Germ. 1,1; Ptol. geogr. 2,9,2; 2,11,1; 8,6,2. 42 Entgegen Radnoti-Alföldis anderslautender Behauptung in diesem Sinne u. a. Goetz – Welwei 1995, 5. Zur Langzeitwirkung von Caesars Germanenbegriff siehe Walser 1956, bes. 86 ff. und oben Anm. 19, 22 u. 23. 43 Dazu bes. u. a. Much ³1967, 30 ff. u. Lund 1988, 21 f. Lund 1991a, 1870 f. ist auch hierzu nicht hilfreich. 44 Strab. 7,2,4; Mela 3,25; Plin. nat. hist. 2,167; 4,109; Tac. Germ. 1,1; Ptol. geogr. 2,11,1. 45 Strab. 7,1,1. 5; 7,3,1; Plin. nat. hist. 4,81, weiter im Osten sind es Gebirge nördlich der Donau: 4,80; bei Mela 3,25 sind es die Alpen; Tac. Germ. 1,1; Ptol. geogr. 2,11,3. 46 Strab. 7,2,4–3,1. 47 Mela 3,25; 3,33; vgl. 1,19. Vgl. oben Anm. 23. 48 Vergleiche zur Weichsel die jeweils auf Agrippa zurückgehende (so bereits D. Detlefsen, Ursprung, Ein­ richtung und Bedeutung der Erdkarte Agrippas, Berlin 1906, 9–18 und Dicuili liber de mensura orbis terrae, hrsg. v. J. J. Tierney, Dublin 1967, 22–26) Dimensuratio provinciarum 19 u. 8 und Divisio orbis terrae 11 u. 14 mit Plin. nat. 4,96 u. 4,81, wo Agrippa jeweils explizit genannt ist. Dazu bes. Klotz 1931, hier 414, 421 f.; Much ³1967, 29 und Lennartz 1969, 11–16. Schon Much 1918, 557 resümierte, dass von Agrippa an die Weichsel beinahe durchgängig als Ostgrenze Germaniens galt. 49 Schnurbein 1992, 26. 50 Schnurbein 1992, 27 u. 2004, 27. 51 Schnurbein 2004, 27. Für Scardigli 1998, 76 ist die Germania magna mit der sog. Germania libera kongruent, was aus demselben Grunde unhalthaltbar ist. 52 Dazu bes. Much ³1967, 33 ff. Lund 1988, 21 f. erfasst zwar noch einigermaßen korrekt die Abmessung von Tacitus’ Germania omnis. Aber, dass sich diese von der Germania bei Mela, Plinius (?) und Ptolemaios in dem wichtigen Punkt der Weichselgrenze unterscheidet, hat Lund weder registriert noch gedeutet. Sein © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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als politisch-psychologische (mutuo metu, „durch wechselseitige Furcht“) Trennscheide zu den Sarmaten angibt (Germ. 1,1). Die Stämme der Peukiner, Veneter und Fennen weiß Tacitus nicht mehr sicher Germanen oder Sarmaten zuzuweisen (Germ. 46,1).53 Jenseits kennt er nur noch Fabelwesen (Germ. 46,4). So „verschwimmen die Grenzen in den Randzonen der Oikumene aus mangelnder Kenntnis, und der Unbestimmtheit dieser Grenze entspricht der Übergang in märchenhafte Regionen“ – wobei Gerhard Perl54 auch Tacitus’ Stilistik und dichterische Ader einbezieht. Germanien lässt Tacitus also, um es mit den trefflichen Worten von Rudolf Much zu sagen, „im Osten, von den überlieferten geographischen Grenzen absehend und über sie hinausgreifend, bis an die wirklichen oder vermeintlichen Grenzen germanischen Volkstums reichen, ohne diese doch genau festlegen zu können. Germania omnis ist also bei ihm weder ganz ein historiographischer noch ganz ein ethnographischer Begriff.“55 Im Gegensatz zu seinen Vorgängern56 endet Tacitus’ Germanien im Osten eben nicht an der Weichsel, von der er zweifellos wusste, die er aber nirgendwo erwähnt. Seine Germania omnis erstreckt sich im Osten also maximal bis zur Linie St. Petersburg-Odessa, d. h. etwa bis zur russischen Grenze von 1938, die Eggers als östliche Begrenzung seines Untersuchungsraumes bestimmte.57 Somit bildet Tacitus’ Germania omnis eine einigermaßen klar umrissene, antike geographische Größe, die zur Markierung eines von der Archäologie ethnisch ohnehin nicht präzise definierbaren Untersuchungsgebietes völlig ausreicht, das exakt dem der *Germania libera entspricht.58 IV. Einig sind sich Reinhard Stupperich, Siegmar von Schnurbein, Maria Radnoti-Alföldi und Barbara Scardigli darin, dass die Bezeichnung *Germania libera59 für die Antike nicht bezeugt ist60 – zumindest nicht nach derzeitigem Kenntnisstand. Und dieser Umstand berechtigt kei-

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„Forschungsbericht“ (Lund 1991b, 1870 f.) und seine sog. „Gesamtinterpretation“ (Lund 1991a, 1994 f.) sind hierzu nicht nur stark defizitär, sondern geradezu kläglich. Dazu Much ³1967, 35 u. Lennartz 1969, 88; gar nicht hilfreich ist Lund 1991a, 1870 f. Perl 1990, 128. Much ³1967, 30. Bereits Much 1918, 557 verwies darauf, dass Tacitus in der von Agrippa ausgehenden Tradition der Weichsel als Ostgrenze Germaniens eine Ausnahme bildet, weil er u.a. „über die nationale Stellung der Aestii und Venedi nicht ins Reine gekommen war“. Zur „Unbestimmtheit der ethnischen Grenze im O(sten)“ als Folge der caesarischen Auffassung von Germanen als ein eigener Großverband mit ethnographisch neuer Raumzuweisung noch Timpe 1998, 8 f. Siehe oben Anm. 16. „Das Aufkommen eines neuen Germania-Begriffs“ in augusteischer Zeit, der nur das Land zw. Rhein und Elbe meine, wie R. Wolters, Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und das römische Germanien, München 22017, 72–75 erneut postuliert, bleibt angesichts dieser Grenz­ ziehungen Phantasie. Im Gegensatz zu Müllenhoff ²1920 und anderen (siehe oben Anm. 39) sehen Lund 1988, 108 und Perl 1990, 23 in Tacitus’ Germania omnis zu Recht eine exakte Entsprechung der Germania libera, eben jene rechtsrheinische Germania ohne die germanischen Provinzen des Imperium Romanum (siehe oben Anm. 38). Das * bedeutet auch im Folgenden jeweils, dass es sich hierbei nicht um für die Antike eindeutig belegte Komposita handelt! Dasselbe gilt für die ohnehin nicht komplementäre Bezeichnung *Germania Romana oder den eher technischen Ausdruck *Germania occupata. Stupperich 1995, 48 beschränkt seine Aussage korrekt darauf, dass der Ausdruck „nicht in den antiken Quellen belegt ist.“ Schnurbein 1992, 8 f. behauptet demgegenüber, dass der Ausdruck keine „antike © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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neswegs dazu, wie Radnoti-Alföldi in ihrer – entgegen anderslautender Beteuerung – keineswegs gründlichen Untersuchung geradezu apodiktisch („mit letzter Sicherheit“) als Tatsache zu postulieren: Zum Namen Germania hat man in der Antike niemals das Adjektiv libera, frei, hinzugefügt.61

Angesichts der unerfassbaren Masse verloren gegangener antiker Texte von schätzungsweise 98% ist derartige Apodiktik nicht nur vermessen, sondern geradezu unwissenschaftlich.62 Überhaupt bekunden die drei oben letztgenannten Personen mit ihren argumenta e silentio primär ihre mangelnde Kenntnis antiker Literatur – am deutlichsten Scardigli. Denn sie geht über die bisherige Argumentation noch hinaus, indem sie f ä l s c h l i c h sogar behauptet, von einer Britannia libera in einem späten Epigramm der Anthologia Latina (ed. Riese 422) abgesehen, „findet sich in der Ant(ike) (...) kein Beispiel für liber, das sich auf bestimmte Völkerschaften oder deren Gebiet bezieht.“63 Um ihr terminologisches argumentum e silentio zur Germania libera empirisch abzusichern, vertritt Radnoti-Alföldi auch noch auf anderem Gebiet einen ungerechtfertigten Absolutheits­ anspruch, wenn sie behauptet: Die Benennung der germanischen Gebiete links und rechts des Rheines ist in den Texten wie In­ schriften stets korrekt.64

Wer sich zu einer solchen Aussage hinreißen lässt, beweist nicht nur mangelnde Quellen­ kennt­nis, sondern auch Unkenntnis antiker Stilgesetze65 und hat niemals gründlich Tacitus gelesen. Denn wenn bei diesem Autor eines sicher ist, ist es die geradezu penible Ver­ meidung von Termini der römischen Amtssprache. Die korrekte Bezeichnung eines legatus

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Be­zeichnung ist“ – ohne für diese weitreichende, aber unbeweisbare Behauptung mehr als nur ein schwaches, auf den Thesaurus Linguae Latinae gestütztes argumentum e silentio vorzubringen. Zur unvertretbar rigorosen Äußerung von Radnoti-Alföldi 1997, 46. Radnoti-Alföldi 1997, 46: „Schon eine erste Durchsicht der Texte ergibt mit letzter Sicherheit eine vielleicht unerwartete Tatsache: zum Namen Germania hat man in der Antike niemals das Adjektiv libera, frei, zugefügt“ [Meine Unterstreichungen!]. Von einer „Durchsicht der Texte“ – was mit dem bestimmten Artikel Vollständigkeit beansprucht – kann bei Radnoti-Alföldi überhaupt keine Rede sein. Vielmehr deutet Ihre Wortwahl „erste Durchsicht“ auf Oberflächlichkeit und Selektion hin, die ihr Verdikt angesichts der Fülle lateinischer Texte von vornherein zweifelhaft erscheinen lassen. Zumal ihre Hinweise auf hilfreiche ältere Lexika keine Beweiskraft verbürgen noch Irrtümer ausschließen. Abgesehen davon, dass in der Geschichtswissenschaft jegliche Urteile wie „mit letzter Sicherheit“ methodisch schon per se im Höchstmaße bedenklich sind. Scardigli 1998, 76. Ebensowenig wie von Schnurbein und Radnoti-Alföldi kennt sie Caesars Schriften – näheres dazu weiter unten. Und dass es ihr mit Tacitus nicht anders geht, bezeugt (ebd., 76 f.) ihre völlig abwegige Überlegung: „Wahrscheinlich hätten die Römer, (...) ungern zugegeben, daß die vielen außerhalb ihres Kulturkreises lebenden nationes (...) ‚frei‘ waren.“ Radnoti-Alföldi 1997, 48. Siehe dazu u.a. E. Norden, Antike Kunstprosa, 2 Bde., Darmstadt 51958, 280 ff. (allg.), 329 ff. (Tac.); M. Schanz – C. Hosius, Geschichte der römischen Literatur, Teil 2 (HAW VIII 2), München 41935 (Ndr. 1980), 634 ff.; E. Löfstedt, Über den Stil bei Tacitus (dt.), in: Tacitus, hrsg. v. V. Pöschl, Darmstadt ²1986, 70–84; C. Mendell, Tacitus. The Man and His Work, New Haven 1957, 88 f., 91 ff., 94 f.; R. Syme, Tacitus, Oxford 1958 (ND 1997), bes. 340–363; R. Mellor, Tacitus, London 1993, 126–129 („The Historian as Literary Artist“); R. Martin, Tacitus, London ²1994, bes. 214–235. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Augusti pro praetore exercitus Germanici inferioris sucht man bei ihm ebenso vergebens66, wie den Gebrauch einheitlicher Begriffe für die verschiedenen Germanien/Germaniae, was er zwanghaft schon aus Gründen der von ihm stilistisch allem übergeordneten variatio mied. Zum Beispiel spricht Tacitus besonders in den Annalen vom linksrheinischen Gebiet häufiger inkorrekt und/oder anachronistisch als inferior oder superior Germania (z.B. ann. 12,27,2 z. J. 50; hist. 1,52,1), bezeichnet das dortige Heer z.B. als superioris Germaniae legiones (hist. 1,12,1; ann. 6,30,2 etc.) oder nennt das betreffende Gebiet ohne jeglichen eingrenzenden Zusatz sogar nur Germania (hist. 1,7,1; 1,37,3 etc.) bzw. Germaniae (hist. 1,49,4 etc.; vgl. 4,17,1 u. 4). Demgegenüber reserviert er diesen Plural in seinem Agricola für das „befreite“ und/oder rechtsrheinische Germanien: Tac. Agr. 15,3 (Germanias) und 28,1 (per Germanias)67 – Formulierungen die Radnoti-Alföldi68 in ihren Ausführungen zur Bezeichung duae Germaniae einfach überging. Dass auch andere Schriftsteller sich verwaltungsrechtlich unpräzise äußern (z.B. Suet. Galba 6,2: legatus Germaniae superioris oder Plut. Galba 18,7: περὶ Γερμανίαν) hängt wohl auch mit dem zeitgenössischen Sprachgebrauch zusammen, der für die Berichtszeit somit rechtliche Anachronismen produziert haben wird. Auf dem epigraphischen Sektor muss zu RadnotiAlföldi ungenügendem Urteil schon methodisch konstatiert werden, dass sich provinzialgermanische Grab-, Ehren- und Weihinschriften nicht immer und schon gar nicht zwingend, „s t e t s “ der korrekten administrativen Termino­logie bedienten oder bedienen mussten, die viele Militärdiplome und etliche offizielle Inschriften bieten – aber bei weitem nicht alle, so dass selbst diese beiden Quellentypen keine Einheitlichkeit in den Bezeichnungen kennen.69 Zu unscharfen Formulierungen in zeitgenössischen Ehren-Inschriften siehe z.B. ILS 997: exercitus, qu[i est in Germania super[iore]; in Militärdiplomen z.B. CIL XVI 20: sunt in Germania sub Cn. Pinario Cornelio Clemente [sc. Soldaten von Alen und Kohorten] vom 21. Mai 74 n.Chr.; die korrekte Amtsbezeichnung dieses leg. Aug. pr. pr. exercitus Germanici superioris zw. bietet hingegen ILS 5957.70 Cisrhenanisches Verwaltungsgebiet wird also schon vor den Provinzetablierungen schlicht als Germania ausgewiesen, wobei es sich wohl um ein gebräuchliches Kürzel für die Verwaltungsbereiche der beiden germanischen Heeresgruppen handelt. Daneben finden wir in Inschriften wie Prosatexten selbstverständlich für die Provinzen auch den richtigen Gebrauch 66 Dass Tacitus im Bedarfsfall etwas genauer sein konnte, zeigt u. a. (zum Jahr 58 n.Chr.) Tac. ann. 13,56,2: superioris exercitus legatum, wozu der Leser allerdings den geographischen Raum selbst ergänzen muss. 67 Siehe dazu oben Anm. 38. 68 Radnoti-Alföldi 1997, 48 mit Anm. 12. 69 Siehe hierzu u. a. nur die in dem von W. Eck, Die Statthalter der germanischen Provinzen vom 1.–3. Jh., Köln 1985 ausgebreiteten Material auftretenden Unterschiede zur Benennung der Administrationsbezirke des legatus Augusti pro praetore exercitus Germanici inferioris und superioris, der förmlichen Provinzen Germania inferior und superior und einer Germania allgemein, wobei letzteres für alles stehen konnte, sowohl eine linksrheinische Germania vor und eine rechtsrheinische Germania nach Einrichtung der domitianischen Provinzen; vgl. Ecks ebd. 259 verzeichneten epigraphischen Spezialwerke u. RadnotiAlföldi 1997, 48. Scardigli 1998, 69 demonstriert mit nur drei epigraphischen Beispielen hinreichend die Uneinheitlichkeit der Benennung. Vgl. das Material in A. Riese, Das rheinische Germanien in den antiken Inschriften, Leipzig – Berlin 1914 (ND Groningen 1968), bes. 42 ff., 59 ff. u. 218 ff.; P. P. Spranger, Untersuchungen zu den Namen der römischen Provinzen, Diss. Tübingen 1955 und das Material in A. Kakoschke, ‚Germanen‘ in der Fremde. Eine Untersuchung zur Mobilität aus den römischen Provinzen Germania inferior und Germania superior anhand der Inschriften des 1. bis 3. Jhs. n. Chr., Möhnesee 2004. 70 Zu einem ähnlichen Fall für die (inzwischen) etablierte provinc(ia) Germ(ania) superioris vgl. ILS 1998 u. 1015. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Germania superior und/oder inferior; duae Germaniae oder Germania utraque.71 Schon dieser kurze Einblick zeigt, dass das von Radnoti-Alföldi postulierte terminologische Ausschlusskriterium ihr argumentum e silentio nicht stützt und von einer einheitlichen Unterscheidung links- und rechtsrheinischer Germaniae keine Rede sein kann. V. Die Vermutung von von Schnurbein und Radnoti-Alföldi, das Kompositum *Germania libera sei eine Schöpfung des Humanismus,72 konnte eine spezielle Untersuchung von Helmut Neumaier nicht bestätigen.73 Den frühesten Beleg für *Germania libera fand dieser erst bei Jacob Grimm, d. h. für den Beginn des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts.74 Die somit neuzeitliche Bezeichnung ist schwerlich von den politischen und geistigen Strömungen ihrer Entstehungszeit zu trennen. Gleichwohl mag sie rein ‚materiell‘ der Absicht entsprungen sein, externe Germanen und deren Gebiete begrifflich von den zum Römischen Reich gehörigen Germanen zu unterscheiden (s. u.). So steht heute der *Germania libera die komplementäre, aber ebenso wenig antike *Germania Romana gegenüber; und beide Begriffe sind zur einfachen Unterscheidung politisch-kultureller Geltungsbereiche prinzipiell hilfreich. Letztlich bleibt Neumaiers Behauptung, die Bezeichung *Germania libera hätte sich durchgesetzt, weil ihre Benutzer von einem Aufkommen der Formulierung im Humanismus ausgingen,75 haltlos, da die oben genannten Archäolog(inn)en diese Auffassung gar nicht vertraten. Offensichtlich dachten sie weder an solcherlei Begründung noch hielten sie sie– nach Eggers – überhaupt für nötig. Eine weit plausiblere Erklärung bietet Neumaier dabei selbst: Weshalb diese Schöpfungen [i.e. ‚Freies Germanien‘ und ‚Germania libera‘] auf Resonanz stießen, dürfte nicht zuletzt an der semantischen Flexibilität liegen, wie man sie ihnen jedenfalls zusprach. Sie umreißen nämlich beides, eine bestimmte und zugleich unpräzise geographische Situation, und sie wahren eine gewisse Neutralität, als sie durch keinerlei nähere ethnische oder politische Differenzierung der germanischen Welt belastet werden.76

Ob wirklich erst der Rekurs auf Arminius, den Tacitus (ann. 2,88,2) als liberator Germaniae bezeichnet, zu dieser neuzeitlichen Begriffsbildung geführt hat, wie Radnoti-Alföldi77 ohne plausible Argumente in ihrer – entgegen anderslautender Beteuerung – keineswegs gründlichen Untersuchung behauptet, darf füglich bezweifelt werden. Dieses darf hier aber ebenso dahingestellt bleiben wie ihr oberflächlicher Exkurs zur von libertas-Vorstellungen geprägten politischen Ideologie der ausgehenden römischen Republik und des frühen Prinzipats. Dass libertas vornehmlich ein im innenpolitischen Kontext Roms verwendetes Schlagwort war, ist zudem hinlänglich bekannt.78 71 Zu Belegen und weiterer Literatur siehe Anm. 69. 72 So z.B. Schnurbein 1992, 8 u. Stupperich 1995, 48; vgl. Radnoti-Alföldi 1997, 51. 73 H. Neumaier, ,Freies Germanien‘/‚Germania libera‘ – Zur Genese eines historischen Begriffs, Germania 75 (1997), 53–67. 74 Neumaier 1997, 66 f. 75 Ebd. 53. 76 Ebd. 53. 77 Radnoti-Alföldi 1997, 49–51. 78 Zur innenpolitischen kaiserzeitlichen libertas-Ideologie, siehe u. a. die bei Timpe 1989, 110 Anm. 15 ver­zeichnete Standardliteratur, die aber, so Timpe treffend, „den Aspekt der Barbarenfreiheit als Teil der © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Viel wichtiger dürften in diesem Kontext die von Radnoti-Alföldi (bewusst?) übersehenen Erwähnungen der Germanorum libertas in Tacitus’ Germania (37,3), einer vetus Germanorum libertas in seinen Annalen (11,16,2) und der libertas bei der Germanorum gens der Gotones (Tac. Germ. 44,1) sein, um nur einige der übergangenen Stellen zu benennen.79 Tacitus und ethnographisch interessierten Römern galt diese libertas als genuin altgermanische Errungenschaft; und diese „germanische Kraftquelle“ zu bewahren, werteten sie als germanische Tugend (virtus).80 Entsprechende Auffassung bekunden jene Freiheits- und Unabhängigkeitsparolen, die Tacitus (wie Cassius Dio) einigen gegen Roms Herrschaft rebellierenden Stammesführern in den Mund legt.81 Die volle Übertragung römischer libertas-Ideologie auf den auswärtigen Bereich äußerte sich dann in der Vorstellung, „dass die den Bürgerkrieg fliehende Freiheit sich hinter Tigris und Rhein zurückgezogen habe“ (quod fugiens civile nefas [...] libertas ultra Tigrim Rhenumque recessit) und dort nun zum Nutzen von Germanen und Skythen umherschweife (Lucan. 7,432–433 u. 434–435).82 Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr. verschmolzen in der taciteischen Germania-Vorstellung tradiertes Barbarenbild und Prinzipatskritik.83 Für Tacitus und die durch Willkürherrschaft ihrer Freiheit beraubten senatorischen Kreise existierte die (einst römisch-republikanische) libertas nur noch außerhalb des von den despotischen Caesaren regierten Römischen Reiches. „Denn jetzt waren womöglich die Barbaren ‚frei‘, die Römer unter den Kaisern aber nicht“ mehr.84 Und „die Barbarenaußenwelt“ war nun zum einen „die Sphäre, die nicht unterworfen war und so dem herrschenden [i.e. kaiserlichen] System das Zeugnis seines Versagens vorhielt, zum anderen war sie die Sphäre, wo angeblich die Freiheit bestand, die die Caesaren den Senatoren genommen hatten.“85 Und von jener Inversion und der Germanorum libertas war es nur noch ein kleiner Schritt zu einer abstrahierten *Germania libera. kaiser­zeitlichen Freiheitsproblematik nur am Rande berührt.“ 79 Zu Germ. 37,2; 44,1 u. Tac. ann. 11,16,2 siehe ferner die unten in Anm. 82 genannten Stellen. 80 Zu „Germanendarstellung und Zeitverständnis bei Tacitus“ germanischer libertas und virtus siehe bes. Christ 1965/1983, 141 f. u. 143 f. Zur „germanische(n) libertas als Kraftquelle“ siehe Timpe 1989, 111 u. 116. „Die freiheitliche aber primitive Lebensordnung der nördlichen Barbaren“ wird laut Timpe 1989, 110, „insgesamt als stimmig und eindrucksvoll, aber auch als gänzlich unübertragbar dargestellt,“ womit er zu Recht sowohl verfehlte Auffassungen der taciteischen Germania als ‚Sittenspiegel‘ oder als „Vorbild“ bzw. „Muster für römische Leser“ zurückweist. 81 Dazu u. a. G. Walser, Rom, das Reich und die fremden Völker in der Geschichtsschreibung der frühen Kaiser­zeit. Studien zur Glaubwürdigkeit des Tacitus, Basel 1951, 103 ff. u. 154 ff. 82 Dazu Timpe 1989, 116; vgl. ebd. 125 u. Lund 1991a, 1956 – beide mit Verweis auf Lucan. 7,432–436, worauf auch Tac. Germ. 37,3 anspielt (vgl. zu libertas u. Freiheitssinn von Germanen u. a. noch Germ. 11,1; 44,1; 45,6; Tac. ann. 11,16,2; Sen. de ira 2,15,1. 4 sowie Lund 1991a, 1866, 1918–1920 u. 1931), was hier aus Platzgründen nicht näher erörtert werden kann. 83 Timpe 1989, 110; vgl. Timpe 1995, 226 u. Timpe 2006, 17 (siehe unten zu Anm. 97). Am prägnantesten formuliert bei Timpe 1995, 227: „Die oppositionelle Inversion der Freiheit und die kontrastiv-ideologische Verklärung vermeintlich stimmiger Lebensordnungen ließen aus den Barbaren eine Gegenwelt konstruieren, in der Erfahrung und Erfindung, Nachbarschaftsfeindschaft und Idealisierung eine nicht auflösbare Legierung eingingen.“ – Zur Bewunderung und Idealisierung von Zuständen in der als „fremde und kuriose Gegenwelt“ fungierenden Germania siehe auch Timpe 1996/2006, 47/59. Andere, wie z.B. Lund 1988, 42 u. 62, haben hierbei den Eindruck einer „verkehrten Welt (mundus inversus).“ 84 Timpe 1989, 125; ebd. auch zur hintersinnigen „Absicht der Germania des Tacitus“. Vgl. Timpe 1995, 227 u. 1996/2006, 48 u. 60. 85 Timpe 1995, 227; ähnl. Timpe 1996/2006, 48 u. 60. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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VI. Hilfreich für ein besseres Verständnis ist ein Blick auf römische Staatsrechtskategorien.86 Neben den civitates bzw. gentes foederatae, also den mit Rom durch ein foedus vertragförmlich verbündeten Staaten und Stämmen, gab es noch in der Kaiserzeit die reichsangehörigen, aber völkerrechtlich formal souveränen „Staatsgebilde“ der civitates immunes et liberae. Dass die politische Wirklichkeit des entwickelten Imperium Romanum der Kaiserzeit innerhalb seiner Militär- und Administrationsgrenzen über diese Relikte einer vormals gültigen völkerrechtlichen Ordnung längst hinweggegangen war, ist für eine terminologisch Betrachtung ebenso irrelevant wie die Tatsache, dass diese Freiheit in der Kaiserzeit vorwiegend nur noch eine titulare war und sich hauptsächlich in der Befreiung von direkten und kollektiven Abgaben wie Tributen erschöpfte.87 Bei einem populus liber bzw. einer natio libera galten, analog den civitates/gentes foederatae, die potestas und das imperium römischer Oberbeamten und Provinzstatthalter nicht, was der Alten Geschichte seit Ende des 19. Jahrhunderts, insbesondere seit Theodor Mommsens Staatsrecht und somit lange vor Radnoti-Alföldis Gedankengang bekannt war. Im auswärtigen Bereich war eine gens bzw. civitas libera für Rom prinzipiell eine solche, die frei von äußerer Herrschaft war und somit staatsrechtlich weder zum unmittelbaren Herrschaftsbereich Roms noch zu dem einer anderen auswärtigen Macht zählte. Die gängige juristische wie staatsrechtliche Definition der Römer lautete: liber autem populus est is, qui nullius alterius populi potestati est subiectus.88 Formal und völkerrechtlich waren diese Völkerrechtssubjekte also „frei“ (liber, -a, -um). Im auswärtigen Bereich zählten dazu die meisten Beziehungen zwischen dem Imperium Romanum und den externae gentes im transrhenanischen und transdanubischen Europa, wo noch echte ‚völkerrechtliche‘ Verhältnisse existierten. Bei germanischen Stämmen (Germanorum gentes) war dies unter anderem dadurch indiziert, dass sie keine kontinuierlichen finanziellen Abgaben an das Römische Reich entrichteten,89 sich Rom gegenüber nicht dauerhaft in einer Form politischer Unterordnung – geschweige denn Klientel – befanden90 und politisch überwiegend selbständig agierten.91 Letzteres manifestiert sich primär darin, dass alle germanischen Grenzanrainer zu irgendeinem Zeitpunkt der römischen Kaiserzeit Krieg gegen das Imperium Romanum führten. Denn nach römischem Kriegsvölkerrecht besaßen prinzipiell alle jene Völker (populi) Freiheit und Souveränität, die Feinde Roms (hostes) waren. Und 86 Sogar Radnoti-Alföldi erwähnte ja einige. An substantieller Literatur siehe dazu und zum Folgenden jedoch E. Osenbrueggen, De iure pacis et belli Romanorum, Leipzig 1836; M. Lemosse, Le régime des relations internationales dans le Haut-Empire romain, Paris 1967; K.-H. Ziegler, Das Völkerrecht der römischen Republik, ANRW I 2 (1972), 68–114; K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, München ²2007; Kehne 1989, 136 ff., 141 ff., 175 ff., 512; A. W. Lintott, Imperium Romanum, London 1993; R. Schulz, Die Entwicklung des römischen Völkerrechts im vierten und fünften Jh. n.Chr., Stuttgart 1993; D. J. Bederman, International Law in Antiquity, Cambridge 2001; Kehne 2000a, bes. 331; P. Kehne et al., s.v. Staatsvertrag, DNP 11 (2001), 879–884; P. Kehne, Die antiken Menschen in ihren Gemeinschaften: Internationale Beziehungen, in: E. Wirbelauer (Hrsg.), Oldenbourg Geschichte Lehrbuch Antike, Mün­ chen ³2010, 225–236. 87 R. Bernhardt, Rom und die Städte des hellenistischen Ostens (3.–1. Jh. v.Chr.). Literaturbericht 1965– 1995, München 1998, 15 ff., 30 ff. etc. 88 Procul. Dig. 49,15,7,1: „Ein freies Volk ist dasjenige, das keines anderen Volkes Gewalt unterworfen ist.“ 89 Kehne 1989, 12 ff., 136 ff., 257 ff.; Kehne 2000b, 324. 90 Kehne 1989, 506 ff.; Kehne 1994, 40; P. Kehne, s.v. Klientelrandstaaten, RGA² 17 (2001), 11–13; Kehne 2000b, 323 ff., 331 ff. 91 Kehne 1989, 532; Kehne 2000a, 333 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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zu diesen zählten in der Kaiserzeit – wie wir vom kaiserzeitlichen Juristen Ulpian sogar in offiziöser Form erfahren – in erster Linie Roms auswärtige Hauptantagonisten: Germani und Parthi.92 Dass diese beiden populi, zwingend populi liberi waren, war in der Kaiserzeit außenpolitisch wie völkerrechtlich so selbstverständlich, dass es keiner ausdrücklichen Nennung dieses Attributs mehr bedurfte. Demzufolge und entgegen den Auffassungen von Radnoti-Alföldi und Scardigli93 konnten germanische Stämme in der Antike nicht nur als ‚freie‘ Stämme/Völker (liberae gentes) bezeichnet werden, sondern wurden es auch, wie beispielsweise eine übersehene Stelle bei Seneca zeigt: liberas uidebis gentes, quae iracundissimae sunt, ut Germanos et Scythas.94 Somit war die Vorstellung einer *Germania libera für die Antike keineswegs so abwegig, wie Kritiker(inne)n uns glauben machen wollen. Die abschließende Argumentation, um eine für die Antike gebräuchliche Verbindung einer Landesbezeichnung (wie Germania) mit dem Attribut ‚frei‘ (libera) wahrscheinlich zu machen, geht wiederum von Tacitus’ Germania aus. Jede(r) literarisch Gebildete in Rom wusste, worauf die einleitende Bezeichnung Germania omnis (Tac. Germ. 1,1) abzielte und anspielte. Tacitus zitierte nicht nur den ersten Satz von Caesars Bellum Gallicum (Gall. 1,1,1), der Hinweis auf eine zu gliedernde Gallia omnis ist zugleich Programm. Und eine gründlichere, vorurteilsfreie Recherche hätte Radnoti-Alföldi, Scardigli und von Schnurbein von diesen bei ihnen vernachlässigten Begriffen schnell zu einer eindeutigen, beweisfähigen Formulierung Caesars gebracht, der diese Gallia Ariovist gegenüber als ein „Gallien, das frei sein muss“ (liberam debere esse Galliam) deklarierte (Gall. 1,45,3) – mithin als eine Gallia libera! Ein wenig Literaturkenntnis hätte somit das Trio derjenigen, die eine *Germania libera als antike Vorstellung und Begriff am vehementesten bestritten, einerseits die traditionelle Verbindung caesarischer und taciteischer Geographie-Begriffe, andererseits eine Übereinstimmung der völkerrechtlichen Kategorien von populi liberi bzw. gentes liberae mit der ideologischen Verlagerung noch vorhandener libertas in die Germania erkennen lassen, wonach das Fehlen einer literarischen Erwähnung der Germania libera eher als ein überlieferungsbedingter Zufall anzusehen ist. VII. Der Gebrauch des Begriffes *Germania libera unterliegt zweifellos Einschränkungen, bietet aber auch Vorteile. Warnungen vor verfehlten historisch-politischen Assoziationen haben in der Hinsicht ihre Berechtigung,95 dass (die) Römer Germanien zwar als geographische Einheit betrachteten, nicht aber als politische.96 Dem Imperium Romanum stand nie eine *Germania libera als Ganzes gegenüber; und die dortigen Verhältnisse konnte man in Rom schwerlich als einheitliche verstehen. Ebensowenig lassen sich natürlich Beweise dafür finden, dass (den/ allen) Germanen ein gemeinsames Freiheitsbewusstsein eigen gewesen wäre. Greifbar sind nur diesbezügliche Projektionen der römischen Vorstellungswelt. Nach der wohl zutreffenden 92 Ulp. Dig. 49,15,24; vgl. Lucan. 7,432–436; Tac. ann. 1,3,6; 15,13,2 u. Germ. 37 (dazu relativierend Timpe 2006, 13 u.17); vgl. Lund 1991a, 1955 f. zum jeweiligen Verweis auf die „historischen Erzfeinde des römischen Imperiums“ und die Unbesiegbarkeit der Germanen. 93 Siehe oben Anm. 60. 94 Senec. de ira 2,15,1; dazu Timpe 1996/2006, 45–56. 95 Dazu Schnurbein 1992, 9 f. u. Radnoti-Alföldi 1997, 49. 96 Daher ist es nur zur Hälfte zutreffend, wenn Radnoti-Alföldi 1997, 49 ebenso prägnant wie falsch behauptet: „für Rom gibt es kein einheitliches Germanien.“ © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Auffassung von Dieter Timpe sind in Tacitus’ Germania (die) Germanen historische nie bezwungene Gegenspieler des Römischen Reiches. Und „die prinzipatsoppositionelle senatorische Historiographie, die für uns Tacitus repräsentiert, (hat) die römische Sicht auf den germanischen Gegner und die ethnographische auf den zivilisatorisch unterlegenen Nachbarn vertieft zur Vorstellung einer Dauerkonfrontation, die angeblich in der Herausforderung des freiheitsfeindlichen monarchischen Imperiums durch die naturhafte Kraft eines freien Barbarenethnos ihren nicht aufhebbaren Grund hatte (Germ. 37).“97 Der Vorteil des pauschalisierenden politischen Begriffs *Germania libera ist seine Flexi­bilität. In den bereits erwähnten geographischen Grenzen meint er immer genau den Ge­gen­stands­be­ reich, auf den Althistoriker und Archäologen abzielen, wenn sie über römische Außen­politik, diverse Import-Vorgänge und den materiellen Nieder­schlag reichsrö­mischer Pro­dukte in den einst germanischen Regionen Europas schreiben, die eben nicht zum Im­perium Romanum gehören. Egal für welchen Zeitpunkt der Kaiserzeit dabei ver­all­ge­meinernde Aussagen gemacht werden sollen, Germania libera indiziert, ohne weitere geographische Definitionen zu benötigen, stets die romfreie Zone Germaniens. Pro­blematisch ist lediglich, dass die Verwendung der Bezeichnung Germania libera bei den Rezi­pienten eine kartographische Anschauung über den jeweiligen Stand der territorialen Aus­dehnung des Römischen Reiches in Europa voraussetzt. Wie für den Begriff barbaricum oder Germania omnis gilt nämlich auch für den der *Germania libera, dass er zu unterschiedlichen Zeiten unterschied­lich weite Räume meint, und jede Präzisierung des gemeinten geographischen Raumes der Kennt­lich­machung eines Geltungszeitraums bedarf. „Freies Germanien“ umfasst mal mehr, mal weniger der Germania omnis, d. h. des rechtsrheinischen Germaniens,98 phasenweise jedoch auch den gesamten Komplex vom Rhein bis zu Eggers (s. o.) altem russischen Grenzland. Nach marginalen Gebietskorrekturen ist die Kategorie „Freies Germanien“ selbst für die auf einheitliche Festlegungen ihres Untersuchungsgebietes angewiesene archäologische Forschung tauglich, was schon ihre häufige Anwendung für jede Untersuchung über den Zufluss99 reichsrömischer Produkte zeigt: 1. Wenn man im territorial weitestem Sinne (lato sensu) germanische Gebiete exakt immer für die Phasen betrachten möchte, in denen sie (gerade) nicht unter der direkten Herrschaft Roms standen. Dieses erfordert freilich viele kleinschrittige räumliche und zeitliche Differenzierungen, erfasst aber das Maximum des von Germanen besiedelten Raumes. 2. Wenn man *Germania libera im strengen Sinne (stricto sensu) als „stets freies Germanien“ fasst und „freies Germanien“ grundsätzlich nur für die germanisch besiedelten Gebiete verwendet, die in der Kaiserzeit niemals von Rom okkupiert oder römischer Provinzialverwaltung unterworfen waren. Dieses erfordert nur eine einmalige Reduzierung, erfasst aber – relativ gesehen – nur das Minimum germanisch besiedelter Gebiete Europas. 3. Wenn man *Germania libera weniger streng (medio sensu) als „meist freies Germanien“ fasst, indem man kurzfristige militärische Okkupationsvorgänge außer Acht lässt, meint „freies Germanien“ die germanischen Gebiete, die von Rom niemals förmlich provinzialisiert wurden. 97 Timpe 2006, 17. 98 Stupperich 1995, 47–48 mit Anm. 10 wies schon auf das Dekumatenland, die Wetterau, das Altmühltal und südwestdeutsche Limesrelikte nach dem Limesfall Mitte des 3. Jhs. hin. 99 H.-J. Drexhage – H. Konen – K. Ruffing, Die Wirtschaft des Römischen Reiches (1.–3. Jh.), Berlin 2002, hier 134 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Diese unscheinbaren Alternativen haben für die räumliche Erfassung von Akkulturations­ phänomenen bedeutende Konsequenzen. Im ersten Falle (lato sensu) wären folgende Gebiete lediglich für die Zeiträume ihrer transitorischen Okkupation oder Provinzialisierung ausgeklammert: Die kurzfristigen, nur punktuellen römischen Besetzungen Westgermaniens bis zur Mittelweser bzw. zum Mittelmain in den Zeitspannen 12–9/8 v.Chr. und 4–9/17 n.Chr.; die 12 v. bis 28 n.Chr. und dann kurz wieder unter Claudius okkupierten Teile Frieslands; vom 1.–2. Jahrhundert Territorien verschiedener römischer Brückenköpfe jenseits von Rhein (die Gebiete der Mattiaci und Batavi; Glacis rechts des Nieder-, Mittel- und Oberrheins) und Donau (seit tiberischer Zeit Teile der unteren Marchregion; die zeitweilig besetzten Markomannen- und Quadengebiete während der Markomannenkriege), die Limes-Gebiete im Rhein-Main-Gebiet, der Wetterau sowie in Süd- und Südwestdeutschland bis zum 3. oder 4. Jahrhundert. Ab Mitte des 3. Jahrhunderts wäre diese Feinabstufung wieder weitgehend zu revidieren, da Germania omnis und *Germania libera mit dem Limesfall wieder weitgehend kongruent waren. Soll diese kleinschrittige Betrachtungsweise zugunsten einer weit weniger komplizierten Erfassung gemieden werden, böte im zweiten Fall der *Germania libera (stricto sensu) deren dauerhafte Reduzierung um alle Gebiete, die irgendwann einmal von Rom okkupiert oder provinzialisiert wurden, eine erhebliche Vereinfachung: Damit fielen ganz Friesland, die augusteisch-frühtiberische Okkupation im westlichen Germanien zwischen 12 v. und 17 n.Chr., alle deutschen Limesgebiete und sämtlich anderen oben aufgelisteten Okkupationsvorgänge jenseits von Rhein und Donau weg. Der dritte Fall böte einen einfachen Mittelweg, das Untersuchungsgebiet wieder zu erweitern, in dem man für eine *Germania libera (medio sensu) sämtliche kurzfristigen Okkupationen jenseits von Rhein und Donau außer Betracht lässt und nur Territorien förmlich etablierter römischer Provinzen ausklammert. Historisch gesehen ist diese Reduzierung weniger kompliziert, da man viele transitorische Okkupationen in archäologischen und literarischen Quelle nicht sicher erfassen kann, abgeschlossene Provinzialisierungen dagegen schon. Problematisch wären geplante Provinzgründungen, die nicht zum förmlichen Abschluss kamen. Man spricht in solchen Fällen terminologisch unscharf von „Provinzen im Okkupationszustand“ was für unseren Gegenstandsbereich mindestens die *Marcommania occupata Mark Aurels bis 180 n.Chr.100 betrifft und die rheinübergreifende augusteische *Germania occupata wenigstens in der Minimalspanne zwischen 4 und 9 n.Chr. Denn in augusteischer Zeit war dieser Teil der okkupierten Germania – entgegen der Altersphantasie Werner Ecks101 im Zuge des publizistischen Varusschlachtrausches 100 P. Kehne – J. Tejral, Markomannenkriege, RGA² 19 (2001), 308–321, hier 313 u. 319; P. Kehne, Rom in Not. Zur Geschichte der Markomannenkriege, in: 2000 Jahre Varusschlacht – Konflikt, Stuttgart 2009, 98–108, 407–408 u. 426, hier 106 mit Anm. 105 sowie P. Kehne, Zur althistorischen Erforschung der Markomannenkriege. Eine Annäherung mit aktualisierter Chronik der Jahre 166 bis 180 n.Chr., Slovenská Archeológia 64 (2016), 193–260, hier 239–241 mit der jetzt maßgeblichen Literatur. 101 W. Eck, Augustus und die Großprovinz Germanien, Kölner Jb. Vor- u. Frühgesch. 37 (2004), 11–22; W. Eck, Eine röm. Provinz. Das augusteische Germanien links und rechts des Rheins, in: 2000 Jahre Varusschlacht – Imperium, Stuttgart 2009, 188–195, bes. 188, 190 ff., 195; W. Eck, Infrastruktur am Rhein. Römisches Militär und die provinziale Administration am Rhein, in: St. Burmeister – J. Rottmann (Hrsg.), Ich Germanicus, Stuttgart 2015, 24–28. Ecks verfehlter Auffassung, die sich u. a. auf zweifelhafte dendrochronologische Daten und falsche chronologische Zuweisungen des Kölner Ubiermonuments und Straßennetzes sowie eine fehlgedeuteten Inschrift (zu einem dispensator Augusti) gründet, folgt mit noch absurderen Argumenten F. Ausbüttel, Die Gründung und Teilung der Provinz Germanien, Klio 93 (2011), 392–410. Siehe dazu die Kritik bei Kehne 2012/2013, 156 Anm. 141. Unverständlicherweise © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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vor 2009 – niemals Teil einer von den Tres Galliae getrennten, im administrativ-territorialen Sinne förmlich konstituierten provincia Germania.102 Die über 9 n.Chr. hinaus bis mindestens 17 n.Chr. überdauernden Relikte dieser Okkupationsphase – wie z.B. das kontinuierlich besetzte Aliso/Haltern103 und ein Kastell im Chaukenland – sowie die unter Tiberius und Germanicus in den abermals kontrollierten Zonen neu befestigten Punkte, gehörten dann schon zum neuen Administrationsbereich des legatus Augusti pro praetore exercitus Germanici inferioris. Im Übrigen

und entgegen früherer Positionen neigt neuerdings auch R. Wolters, Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und das römische Germanien, München 22017, hier 71–74, sich aufgrund zweifel­hafter bzw. problematischer dendrochronolog. Daten und chronolog. Zuweisungen für das Kölner Ubier­ monument und Waldgirmes sowie oberflächlicher, staatsrechtliche Grundlagen missachtender Argu­ mente, einer Provinzialisierungsthese zu. Es ist schon peinlich, dass in diesen Zeiten des allgemeinen Nieder­ganges der Alten Geschichte eigens auf das Fehlen jeglichen Beweises in den antiken Quellen hingewiesen werden muss: Zu Germanien 9/8 v.Chr. heißt es nur, ut in formam paene stipendiariae redigeret provinciae (Vell. 2,97,4: „dass er [i.e. Tiberius] (Germanien) beinahe in die Form einer abgabenpflichtigen Provinz brachte“) – was, abgesehen von dem nur einen Versuch andeutenden Imperfekt, das Maximum der von Velleius Paterculus primär intendierten Schmeichelei war (P. Kehne, s.v. Velleius Paterculus, RGA² 32 [2006], 112–116, hier 114), aber eindeutig kein Faktum! Es existiert kein einziges epigraphisches Zeugnis (Provinzname, Statthaltertitel, lex provinciae o. ä.), keine ernst zu nehmende literarische Aussage (etwa bei Sueton oder den regestenartigen Wissensüberblicken der späten Kaiserzeit), keine GERMANIA CAPTA-Prägung, keine Prägungen zum Roma et Augustus-Altar in der civitas Ubiorum; keine Provinzeinweihungsprägungen etc. Entgegen Wolters (ebd., 71) ist Drusus’ Beiname Germanicus kein cognomen ex provincia, sondern ein Triumphaltitel (Kehne 1998, 207 ff. mit Anm. 94); entgegen Wolters (ebd., 71 f.) wären gerade unter Augustus eine lex provinciae bzw. ein senatus consultum von höchster staats- wie prinzipatsrechtlicher Relevanz; entgegen Wolters, ebd. 72 reflektiert die Erweiterung des pomerium nicht die Provinzialisierung Germaniens, sondern Territorialzugewinn in Italien (Kehne 2002, 314); das Einzige, was neben spekulativen Hineindeutungen in dubiose archäologische Befunde bleibt, sind versprengte Vokabeln in Werken des 2. Jhs. (Tacitus’ vetus provincia in einer indirekten Rede des Germanicus; Florus haltlose, faktenverzerrende rhetorische Schwafeleien, die schon die unsinnige Suche nach den anachronistischen 50 Drususkastellen sowie die unselige und völlig unnötige Debatte über den Verlauf der Varusschlacht auslösten) denen keinerlei Beweiskraft zukommt. 102 Zur Kontroverse um die in der communis opinio zu Recht verworfenen Einrichtung einer provincia Ger­ mania unter Augustus siehe aus der relevanten althistorischen Forschungsliteratur bes. K. Christ, Zur augusteischen Germanienpolitik, Chiron 7 (1977), 149–205, bes. 189 ff.; Timpe 1970, 86 f.; Ch.-M. Ternes, Römisches Deutschland, Stuttgart 1986, 66 ff.; K.-W. Welwei, Römische Weltherrschaftsideologie und augusteische Germanienpolitik, Gymnasium 93 (1986), 118–137 (auch in: ders., Res publica und Imperium. Kleine Schriften zur römischen Geschichte, Stuttgart 2004, 230–249); Kehne 1989, 160 mit Anm. 130, 260; R. Wolters, Römische Eroberung und Herrschaftsorganisation in Gallien und Ger­ manien, Bochum 1990, 199 f.; A. Becker Rom und die Chatten, Darmstadt – Marburg 1992, 164, 177 f., 186; D. Kienast, Augustus, Darmstadt 31999, 364 ff.; H. Callies, Zur augusteisch-tiberianischen Ger­ manien­­politik, in: J. Bleicken (Hrsg.), Colloquium aus Anlass des 80. Geburtstages von Alfred Heuß, Kall­münz 1993 (Frankfurter Althistorische Studien 13), 135–141; E. S. Gruen, The Expansion of the Empire Under Augustus, CAH2 10 (1996), 147–197, hier 182 u. 187; P. Kehne, Die Eroberung Galliens, die zeitweilige Unterwerfung Germaniens, die Grenzen des Imperium Romanum und seine Beziehungen zu germanischen gentes im letzten Jahrzehnt der Forschung, Germania 75 (1997), 265–284, bes. 268 Anm. 20, 273 u. 276 f.; J. Deininger, Germaniam pacare. Zur neueren Diskussion über die Strategie des Augustus gegenüber Germanien, Chiron 30 (2000), 749–773, bes. 767 f.; Kehne 2002, bes. 298 (die Forschungsübersicht), 313 f., 316, 318 u. 320; K.-P. Johne, „Schon ist die Elbe näher als der Rhein“. Zur Diskussion um die Elbgrenze des Imperium Romanum, Gymnasium 115 (2008), 237–250, hier 247 f. 103 Kehne 2000a, 61 ff.; Kehne 2017, 93 u. 96 mit Anm. 3–5; R. Aßkamp, Aliso und Haltern, ebd. 102–104. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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wird dieses spezielle Problem bereits durch die derzeitige gesonderte Betrachtung des römischen Fundhorizontes bis zur spätaugusteisch-frühtiberianischen Zeit umgangen.104 VIII. Für den alternativen Begriff barbaricum105 spräche zunächst seine bereits für die Antike sicher bezeugte, vielfach historiographisch und sogar inschriftlich106 dokumentierte Verwendung. Er ist ähnlich flexibel wie der der *Germania libera und bietet ebenfalls die Vorteile, von transitorischen Entwicklungsstufen zu abstrahieren und zu jedem gewünschten Zeitpunkt ausschließlich das in Frage kommende Gebiet außerhalb der römischen Herrschafts- und Verwaltungsgrenzen zu erfassen – falls gewünscht sogar in seiner Totalität. Der größte und entscheidende Vorteil des Begriffs barbaricum ist der, jenseits der Donau nicht allein die (hauptsächlich) von Germanen besiedelten Regionen zu indizieren, sondern die von getischen, dakischen und sarmatischen Völkern mit abzudecken – was gleichfalls für das vorrömische und jeweils nicht-okkupierte Britannien und Dakien gilt.107 Insbesondere dieser Umstand erzwang angesichts des breiter angelegten europäischen Untersuchungsraumes geradezu die Verwendung dieses Terminus für das eingangs zitierten RGK-Projektes, für dessen gewünschten Gegenstandsbereich die Klassifizierung „freies Germanien“ zu eng und damit verfehlt wäre.108 Da barbaricum für die translimitanen Räume Europas keine räumliche Einengungen aufweist, bietet es der Archäologie und der Alten Geschichte folglich eine breitere Untersuchungs- und Aussagebasis, die vorteilhaft von Ethnien und geographischen Beschränkungen abstrahiert. Problematisch ist (auch hierbei) erstens die notwendige Kenntnis über den jeweiligen Stand der Reichsausdehnung; zweitens vermehrt die für jede Raumerfassung erforderliche zeitliche Einordnung für das „Barbaricum“ die kleinschrittige Differenzierung um etliche für das „freie Germanien“ nicht relevanten Regionen, vor allem in und um Siebenbürgen, im Banat, in der Walachei, der Moldau, aber auch in der Theißebene. Schlimmer noch als diese räumlichen Implikationen ist drittens der Umstand, dass der Ausdruck barbaricum nicht nur für die Kaiserzeit gültig ist, was das europäische barbaricum für die voraugusteische räumlich noch

104 J.-S. Kühlborn, Germaniam pacavi – Germanien habe ich befriedet. Archäologische Stätten augusteischer Okkupation, Münster 1995. 105 Seltener wird der Ausdruck barbaria (mit den Bedeutungen: Ausland, meton. die Fremden, Barbaren und kulturelle Barbarei) verwendet: G. Walser, Die römische Überlieferung vom staatlichen und kulturellen Zustand der Barbaria, Carnuntina 3 (1955), 195–201; I. Weiler, Orbis Romanus und Barbaricum, Carnuntum Jb. 1963/64, 34–39; T. Mantovani, Tra romani e „barbari“. Le percezione della frontiera e il controllo del Danubio lungo il limes Valeriae, RSA 22/23 (1992/93), 107–135; zu „Rom und die Barbaren des Nordens“ im 1. –2. Jh. allg. siehe Timpe 1996/2006. 106 T. Sarnowski, Barbaricum und ein bellum Bosporanum in einer Inschrift aus Preslav, ZPE 87 (1991), 137–144. 107 Bzw. er schließt begriffslogisch nicht gleich die Gebiete aus, die nicht von Germanen besiedelt waren, wie z.B. die britannischen, getischen und dakischen sarmatischen Regionen jenseits des Kanals und jenseits der Donau – und wenn man so will auch jenseits der Reichsgrenzen in Afrika. Im Prinzip ist er also auch auf die externen Regionen in Schottland, Nordafrika und Arabien und etwa der Kaukasusregion anzuwenden. Hinderlich ist er von diesem Gegenstandsbereich her nur dort, wo allein das germanische Siedlungsgebiet gemeint sein soll – was nun nicht dazu führen sollte, hierfür die Ausdrücke *Germania barbara/barbarica bzw. *barbaricum Germanicum einzuführen. 108 Schnurbein 1992, 10 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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einm­al erheblich erweitert.109 Um wenigstens ein Mindestmaß an geographischer Zuordnung zu gewährleisten, ist viertens die Indizierung einer bestimmten Epoche fast immer unabdingbar. Fünftens kann das geographisch Unspezifische auch nachteilig sein, da es durch zusätzliche, meist wiederum geographische Attribute wie „europäisch“ oder „mitteleuropäisch“ konkretisiert werden muss. Bedenklich ist sechstens, dass jedes noch so redliche Bemühen um eine bewertungsneutrale Verwendung der Bezeichnung barbaricum dessen pejorativen Gehalt und dessen deklassierende Bedeutung nicht abzuschütteln vermag. Wenn also nicht explizit (zugleich) ein kulturelles und/oder zivilisatorisches Gefälle angezeigt werden soll, wird dieser Ausdruck besser vermieden – zumal sich während des 1. Jahrhunderts des Prinzipats die kulturellen und zivilisatorischen Verhältnisse diesseits und jenseits von Rhein und Donau nicht allerorten so gravierend unterschieden, dass solche rigorose Differenzierung (überhaupt) gerechtfertigt wäre.110 IX. Eine alternative und begrifflich vielleicht weniger strittige Lösung zur Erfassung eines verbindlichen geographischen Untersuchungsgebietes bestände darin, nicht kulturell oder politisch bedingte Begriffe wie barbaricum oder „freies Germanien“ zu benutzen, sondern gleich eine einigermaßen feststehende, weitreichende und geographische Größe, wie sie Tacitus’ Germania omnis darstellt. Für deren Verankerung in der römischen geographischen Tradition spricht, neben der erwähnten Analogie einer Gallia omnis, dass wahrscheinlich schon Agrippa in seinen geographischen commentarii die Bezeichnung Germania omnis verwendete, wie das Auftauchen dieses Terminus in der Divisio orbis terrarum nahe legt.111 Wenn hier trotzdem von Tacitus’ Ger­mania gesprochen wird, ist das nicht nur durch die erhaltene Monographie bedingt, sondern durch sein weiter nach Osten reichendes Germanien.112 Im Westen, Süden, Südosten und Norden, wo sie bis zum Oceanus reicht, der Inseln und Landzungen mit umschließt, hält sich Tacitus’ Germania omnis – wie oben schon ausgeführt – an die von der geo- und ethnographischen Tradition bereits vorgegebenen Grenzen. Tacitus schildert (Germ. 1,1) die Germania omnis als teils durch naturgegebene Größen wie Flüsse, Gebirge und den Ozean, teils durch Nachbarvölker (Galli, Raeti, Pannonii, Sarmati, Daci) begrenzt, wo doch – wäre es Tacitus um Formallogik gegangen – territoriale Größen wie Gallia, Raetia, Pannonia, Sarmatia oder Dacia erforderlich gewesen wären (so Germ. 27,2).113 Eine präzi109 Hinzu zählten u. a. die Gallia omnis, sämtliche Gebiete nördlich wie östlich Alpen und nördlich der Pro­ vinz Macedonia, fast die gesamte Donauregion und Teile Illyricums. 110 Wenn diese Begriffsverwendung gleichwohl bei unseren osteuropäischen Kollegen dominiert, wirken hier womöglich politische Ereignisse und Ideologien des 20. Jahrhunderts weiter. Einerseits war es im staatlichen Sozialismus Osteuropas zeitweise inopportun oder sogar offiziell untersagt, eine ehemalige germanische Besiedlung auf den Territorien der modernen slawischen Staaten auch nur zu erwähnen. Inzwischen ist dieses Problem durch die volle Reintegration der osteuropäischen Frühgeschichte und Althistorie in die internationale Forschungsgemeinschaft beseitigt. Andererseits ist es weiterhin sehr verständlich, dass man eigene Territorien wegen der geradezu unvermeidlichen Assoziationen nicht unter „freies Germanien/ freies Deutschland“ oder „Großgermanien/Großdeutschland“ subsumiert sehen möchte. 111 Div. orb. 11; Much ³1967, 29. Zur Herkunft der Divisio orbis aus Agrippas Commentarii siehe oben Anm. 48. 112 Siehe oben zu Anm. 52. 113 Perl 1990, 126 f. versteht diese Verwendung von Ethnien „im geographischen Sinn“ als variatio, also Stilmittel eines jegliche exakte Fachterminologie weitestgehend meidenden Autors: „Selbst die einfache Landesbeschreibung ist kunstvoll stilisiert, um die Aufmerksamkeit des Lesers von Anfang an zu fesseln.“ © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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se räumliche Erfassung der Germania omnis wird eigentlich nur dadurch erschwert, dass Tacitus ihre Ostgrenze geographisch nicht explizit bestimmt,114 sondern nur sehr vage umschreibt.115 Das steht nicht im Widerspruch zur Germania libera, reduziert aber die Übertragbarkeit der taciteischen Germania in unsere Geographie. Den Erfordernissen der nachvollziehbaren räumlichen Abgrenzung eines archäologischen Untersuchungsbereichs genügt sie im Osten nur eingeschränkt. Aber abgesehen davon deckt sich ihre Differenzierung der sorgsam getrennten Sphären Galliens und Germaniens jedoch im Wesentlichen mit den geographischen Vorstellungen, die wir den Werken von Livius, Agrippa, Strabon, Velleius Paterculus, Pomponius Mela, Plinius d.Ä. und Ptolemaios direkt entnehmen oder für diese zumindest interpolieren können.116 Somit stellt Tacitus’ Germania omnis im Gegensatz zu anderen eine hinreichend umrissene und für die Markierung eines realistischen Untersuchungsgebietes besser geeignete geographische Größe dar. Weitere für diese Darlegung wichtige Kriterien sind erstens die stringente Ausklammerung der domitianischen Provinzen Germania inferior und Germania superior, obwohl er dortige Ger­ manen durchaus erwähnt (Tac. Germ. 28). Zweitens, dass Tacitus’ am „Topos“117 vom Rhein als Trennscheide der Gallier und Germanen festhält (Germ 1,1), und diese Vorstellung seiner Be­schreibung konsequent sogar dort zugrunde liegt, wo er die aus der Germania nach Gallien (in Gallias) eingewanderten Stämme behandelt (Germ. 27,2 u. 28118). Von diesen waren Vangionen, Triboker, Nemeter, Ubier und Bataver (Germ. 28,4–29,1) für ihn zweifellos Germanen (Germ. 28,4: haud dubie Germanorum populi), die aber nicht in einer linksrheinischen Germania, sondern in den Galliae leben. Drittens ist wichtig, dass Tacitus trotz seines Festhaltens an einer anachronistischen Rheingrenze119 der Expansion des Imperium Romanum Rechnung trägt und seine Germania omnis folgerichtig um die Gebiete der Batavi und Mattiaci (Germ. 29,1–2) reduziert, die er als Teil des Römischen Reiches (pars Romani imperii) bezeichnet;120 ebenso klammert er das im Rhein-Donau-Dreieck gelegene provinzialisierte Limes-Land aus, dessen Bevölkerung

114 Auf die Gründe, die vielleicht mit einer anderen antiken geographischen Vorstellung (wie einem im Norden bis zum Kaspischen Meer reichenden Ozean) zusammenhängen mögen, kann hier leider nicht weiter einzugegangen werden. Siehe dazu u. a. allg. O. A. W. Dilke, Greek and Roman Maps, London 1985, 31 ff., 39 ff. u. 56 ff. und speziell K. Langlouis, Raumauffassung und geographisches Weltbild in der römischen Politik von Pompeius bis Trajan, Masch. Diss. Tübingen 1951, 6 ff., 55 ff., 70 ff., 86 ff.; R. Dion, Explication d’un passage des „res gestae divi Augusti“, in: J. Heurgon et al. (Hrsg.), Mélanges d’archéologie, d’épigraphie et d’histoire offerts à J. Carcopino, Paris 1966, 249–270; Lennartz 1969, 6 ff. und D. Timpe, s.v. Entdeckungsgeschichte, RGA 7 (1989), 307–388. 115 Tacitus sucht wie oben (Abschnitt III) bereits ausgeführt sogar Zuflucht im Politisch-Psychologischen, da die Trennscheide zw. Germanen und Sarmaten in Ermangelung geographischer Fixpunkte nicht nur ethnisch oder sozial bedingt ist, sondern mutuo metu (Germ. 1,1). Perl 1990, 127, der bei der nach Osten geographisch offenen Abgrenzung an „Ödlandgrenzen“ denkt, interpretiert dieses mutuus metus als „wohl gesuchte Umschreibung für die deserta Sarmatiae.“ 116 Much 1918, 557; Lennartz 1969, 6 ff., 11 ff., 36 ff., 63 ff., 99 ff. 117 So Perl 1990, 127. Vgl. oben Anm. 25. 118 Hierbei erörtert er auch die Vorstellung von nach Germanien eingewanderten Galliern (Gallos in Ger­ maniam transgressos), wozu er z.B. die Helvetier und Boier zählt (Germ. 28,2). 119 Dazu Perl 1990, 127. 120 Wobei das Imperium Romanum zu diesen wohl noch lange Zeit völkerrechtliche Beziehungen unterhielt: Kehne 2000b, 326. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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e­­r ohnehin nicht zu den Germanen zählen möchte (non numeraverim inter Germaniae populos: Germ. 29,3).121 Erst die Gegend der Chatten wird Germania genannt (Germ. 30,1). Wir haben hier eine Klimax von pars Romani imperii (Bataverinsel) über in sua ripa (Mattiaker-Gebiet) zur Germania (Chatten­­land) (Germ. 28,1–30,1) bei der die Unabhängigkeit von Rom immer größer wird, während im selben Maße die Macht des Reiches immer mehr schwindet. Zudem schafft es Tacitus hier einerseits sehr präzise die staatsrechtlichen Verhältnisse zu indizieren, andererseits zugleich sehr subtil den Eindruck zu verwischen, das Imperium Romanum erstrecke sich in nennenswertem Umfang auf Germanien – was wohl als Kritik an Domitians Germanienpolitik und Erfolgspropaganda (Germ. 37,5; vgl. Agr. 39,1) gewertet werden darf. Linksrheinisches Gebiet ist in Tacitus’ Germania also nirgendwo122 identisch mit der Germania omnis, wenngleich der Germanen-Name seiner Vorstellung nach hierher rührt (Germ. 2,3). X. Fazit Für die Alte Geschichte und zahlreiche weitere Bereiche der Altertumskunde besteht der Vorteil des Begriffs „Freies Germanien“ gerade in seiner doppelten Flexibilität. Der Grund, „weshalb diese Schöpfungen [sc. ‚Freies Germanien‘ und ‚Germania libera‘] auf Resonanz stießen, dürfte nicht zuletzt an der semantischen Flexibilität liegen“, wie Helmut Neumaier treffend erkannte: Sie umreißen nämlich beides, eine bestimmte und zugleich unpräzise geographische Situation, und sie wahren eine gewisse Neutralität, als sie durch keinerlei nähere ethnische oder politische Differenzierung der germanischen Welt belastet werden.123

In historisch-politischer Hinsicht ist die Bezeichnung „freies Germanien“ vorteilhaft flexibel, da sie für jeden beliebigen Zeitpunkt einen bestimmten territorialen Entwicklungsstand des Imperium Romanum involviert und für Fachkundige keiner zusätzlichen räumlichen Interpolation bedarf. Abstrakt und zugleich sehr konkret meint „freies Germanien“ stricto sensu für jeden beliebigen zeitlichen Kontext immer nur jene germanischen Gebiete, die Rom aktuell gerade nicht okkupiert oder dauerhaft provinzialisiert hatte.124 Setzt man also das Wissen über die oben für unseren Bereich skizzierte territoriale Entwicklung des Imperium Romanum und die militärischen Besetzungen transrhenanischer und transdanubischer Gebiete voraus, bedarf es außer der chronologischen keiner weiteren geographischen Spezifizierung. Bestimmungen wie das „freie 121 Die Suebi Nicrenses erwähnt er hier vielleicht deswegen nicht, weil sie als genuine Germanen seine Auffassung stören würden, dass das sog. Dekumatenlandes nicht zur Germania omnis gehöre. 122 Eine geringfügige Unstimmigkeit ist allenfalls die Passage Germ. 3,2, wo Tacitus die Sage referiert, Ulixes [i.e. Odysseus] hätte auch Germaniae terras betreten und in Asciburgium einen Altar geweiht. 123 Neumaier 1997, 53. 124 In diesem Sinne wird der Begriff z.B. verwendet von Goetz – Welwei 1995, 6: „Im Hinblick auf die unter­schiedliche Entwicklung in diesen Provinzen [i.e. Germania inferior und Germania superior] und den nicht unter römischer Herrschaft stehenden Gebieten unterscheidet die Forschung zwischen einem römischen und einem ‚freien‘ Germanien (‚Germania libera‘)“; vgl. 21 ff. u. 168 ff. In diesem Sinne u. a. auch E. Demougeot, La formation de l’Europe et les invasions barbares, Vol. 1: Des origines germaniques à l’avènement de Dioclétien, Paris 1969, 151; D. Timpe, s.v. Elbe, RGA² 7 (1989), 103. Ähnl. R. Wolters, Zum Waren- und Dienstleistungsaustausch zw. dem Römischen Reich und dem Freien Germanien in der Zeit des Prinzipats – Eine Bestandsaufnahme, 2 Teile, MBAH 9/1 (1990), 14–44; 10/1 (1991), 78–132; anders dann R. Wolters, Römische Funde in der Germania magna und das Problem römisch-germanischer Handelsbeziehungen in der Zeit des Prinzipats, in: Franzius 1995, 99–117. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Germanien“ in claudischer Zeit oder unter Kaiser Domitian wären demnach auch geographisch weitgehend eindeutig und international verbindlich. Der Begriff „freies Germanien“ ist somit hinreichend präzise und für jede flexible Betrachtung nützlich. Gleichwohl noch vorhandene Bedenken lassen sich durch einfache Alternativen ausräumen. Wie gezeigt meint das womöglich auf Agrippa zurückgehende und von Tacitus wohl in bewusster Anknüpfung an Caesar125 reaktivierte Kompositum Germania omnis den oder doch zumindest einen weitgehend gleichen geographischen Raum wie die ‚Germania libera‘.126 Zusammen mit dem Begriff barbaricum hat er im Gegensatz zu allen anderen diskutierten Ausdrücken den unbestreitbaren Vorteil, eindeutig antiken Ursprungs, sogar genuin römisch zu sein. Im Gegensatz zur *Germania libera ist Germania omnis räumlich jedoch immer statisch und bedarf zur verständlichen Anwendung jeweils dort einer geographischen Reduzierung, wo nicht das oben ausgelotete territoriale Maximum gemeint ist. „Freies Germanien“ ist jederzeit völlig unproblematisch durch zutreffende Negationen wie das „nicht-provinziale“ oder „nicht-provinzialisierte“ oder „nicht römisch okkupierte Germanien“ zu ersetzen – was jedoch keineswegs für die Negation „nicht-romanisiertes Germanien“ gilt. Barbaricum ist ebenfalls ein eindeutiger antiker Begriff, der im selben Verständnis wie *Ger­ mania libera ebenfalls immer nur den Raum meint, in dem weder direkte römische Präsenz noch römische Provinzialorganisation im staatsrechtlichen Sinne existierte. Vorteilhaft am Bar­ baricum-Begriff ist, dass er zum einen eine einst reale antike Perspektive beinhaltet, auch wenn diese nicht immer die wahren kulturellen und/oder zivilisatorischen Verhältnisse wiedergibt; zum anderen, dass er ethnisch nicht limitiert ist. Sein geographischer Radius kann daher weit über den des „freien Germanien“ hinausreichen und so viele andere geographische Räume einschließen. Bedenken sind angesichts des dem Begriffs immer inhärenten pejorativen Charakters zwar prinzipiell berechtigt, heute jedoch bei seiner umsichtigen Verwendung unnötig. Nicht nur aufgrund ihrer problematischen Herleitung aus einem bei Ptolemaios vermutlich nur singulären Kompositum und ihrer zu geringen geographischen Größe sollte die Be­ zeichnung *Germania magna strikt gemieden werden, schon deshalb weil sie in Osteuropa ungewollt Erinnerungen an fatale politische Ereignisse und Ideologien des 20. Jahrhunderts weckt oder wecken könnte, wenn dortige Gebiete (wieder) unter „Großgermanien“ subsumiert und Assoziationen mit „Großdeutschland“ geradezu unvermeidlich werden. Bibliographie127 Beck 1986 = H. Beck (Hrsg.), Germanenproblem in heutiger Sicht, Berlin – New York 1986. Beck et al. 1998 = H. Beck et al. (Hrsg.), Die Germanen. Studienausgabe, Berlin 1998 (RGA²: Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde). Christ 1965/1983 = K. Christ, Germanendarstellung und Zeitverständnis bei Tacitus, Historia 14 (1965), 62–73; jetzt in: Römische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 2, Darmstadt 1983, 140–151. Cuntz 1923 = O. Cuntz, Die Geographie des Ptolemaeus. Galliae Germania Raetia Noricum Pannoniae Illyricum Italia. Handschriften, Text und Untersuchung, Berlin 1923. 125 Ausdrücklich so Much ³1967, 30; Perl 1990, 23 (siehe oben Anm. 38) u. Rives 1999, 99. Dass Tacitus dann in wohl ebenso bewusster Abgrenzung zu Caesars Beschreibung, die auf Binnengliederung zielt und keine äußere Abgrenzung vornimmt, letzteres an den Anfang stellte, betont zu Recht Lund 1991a, 1870; wenig überzeugend bestritt dieser anderenorts (Lund 1991b u. 1995) Caesar als Vorbild. 126 So auch Perl 1990, 24. 127 Eingang in die Bibliographie hat nur wiederholt zitierte Literatur gefunden. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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‚Germania magna‘ statt ‚Germania libera‘ und Germania omnis

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Lund 1990 = A. A. Lund, Zum Germanenbild der Römer. Eine Einführung in die antike Ethnographie, Heidelberg 1990. Lund 1991a = A. A. Lund, Zur Gesamtinterpretation der ‚Germania‘ des Tacitus, ANRW II 33.3 (1991), 1858–1988 u. 2347–2382. Lund 1991b = A. A. Lund, Kritischer Forschungsbericht zur ‚Germania‘ des Tacitus, ANRW II 33.3 (1991), 1989–2344 u. 2347–2382. Much 1918 = R. Much, s.v. Germani, RE Suppl. III (1918), 557. Much ³1967 = Die Germania des Tacitus, erl. v. R. Much, Heidelberg 1937; 3. Aufl. hrsg. v. W. Lange, Heidelberg 31967. Müllenhoff ²1920 = Die Germania des Tacitus, erl. v. K. Müllenhoff, Berlin ²1920 (Deutsche Altertums­ kunde 4). Neumaier 1997 = H. Neumaier, ,Freies Germanien‘/‚Germania libera‘ – Zur Genese eines historischen Begriffs, Germania 75 (1997), 53–67. Perl 1990 = Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahr­tausends u. Z., Tl. 2: Tacitus, Germania. Lat. und dt. v. G. Perl, Ost-Berlin 1990. Radnoti-Alföldi 1997 = M. Radnoti-Alföldi, Germania magna nicht libera. Notizen zum römischen Wortgebrauch, Germania 75 (1997), 45–52. Rives 1999 = Tacitus, Germania, transl. with introd. and comm. by J. B. Rives, Oxford 1999. Scardigli 1998 = B. Scardigli, s.v. Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde I. Geschichte, B; Germania (Provinzname) – Germania Magna (§ 6–9), RGA² 11 (1998), 245–259; jetzt in: H. Beck et al. (Hrsg.), Die Germanen. Studienausgabe, Berlin 1998 (RGA²: Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, 65–79. Schnurbein 1992 = S. v. Schnurbein – M. Erdrich, Das Projekt. Römische Funde im mitteleuropäischen Barbaricum, dargestellt am Beispiel Niedersachsens, BerRGK 73 (1992), 5–27. Schnurbein 2004 = S. v. Schnurbein, Germanien in römischer Sicht. Germania magna und die römischen Provinzbezeichnungen, in: H. Beck et al. (Hrsg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch– deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin – New York 2004, 25–36. Stupperich 1995 = R. Stupperich, Bemerkungen zum römischen Import im sogenannten Freien Ger­ manien, in: G. Franzius (Hrsg.), Aspekte römisch-germanischer Beziehungen in der frühen Kaiser­zeit. Vortragsreihe zur Sonderausstellung „Kalkriese – Römer im Osnabrücker Land“ 1993 in Osna­brück, Espelkamp 1995, 45–98. Timpe 1970 = D. Timpe, Arminius-Studien, Heidelberg 1970. Timpe 1989 = D. Timpe, Die Absicht der Germania des Tacitus, in: H. Jankuhn – D. Timpe (Hrsg.), Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, Teil 1, Göttingen 1989, 106–127. Timpe 1995 = D. Timpe, Die Germanen und die fata imperii, in: D. Timpe, Romano-Ger­manica. Gesammelte Studien zur Germania des Tacitus, Stuttgart – Leipzig 1995, 203–228. Timpe 1996/2006 = D. Timpe, Rom und die Barbaren des Nordens, in: M. Schuster (Hrsg.), Die Be­ gegnung mit dem Fremden, Stuttgart – Leipzig 1996, 34–50 [auch in: Timpe 2006, 42–62]. Timpe 1998: D. Timpe, Germanen, in: Beck et al. 1998, 2–65; auch in: s.v. Germanen, Ger­mania, Ger­ manische Altertumskunde I. Geschichte, A; Germanen, historisch (§ 1–5), RGA² 11 (1998), 181–245. Timpe 2006/2008 = D. Timpe, Römische Geostrategie im Germanien der Okkupationszeit, in: J.S. Kühlborn (Hrsg.), Rom auf dem Weg nach Germanien. Geostrategie, Vormarschtrassen und Logistik, Internationales Kolloquium in Delbrück-Anreppen vom 4. bis 6. November 2004, Mainz 2008 (Bodenaltertümer Westfalens 45), 199–236 [zuvor publiziert in: Timpe 2006, 265–317]. Timpe 2006 = D. Timpe, Römisch-germanische Begegnung in der späten Republik und frühen Kaiserzeit. Voraussetzungen – Konfrontationen – Wirkungen. Gesammelte Studien, Leipzig 2006. Walser 1956 = G. Walser, Caesar und die Germanen, Wiebaden 1956.

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Sozialismus in der Antike? Nicht nur eine wissenschaftsgeschichtliche Frage * Hans Kloft I. In der Geschichtswissenschaft, besonders in der Wirtschaftsgeschichte jeglicher Epoche, ist die Verwendung angemessener Begriffe e benso n otwendig w ie d iffizil und oft ums tritten. Die Auseinandersetzung begleitet die Alte Geschichte von Beginn an, man mag an das epochemachende Werk von August Boeckh über die Staatshaushaltung der Athener denken, das vor 200 Jahren erschienen ist,1 an die berühmt-berüchtigte Bücher-Meyer-Kontroverse um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, in der heftig um den Gesamtcharakter der antiken Wirtschaft gestritten wurde,2 nicht zuletzt an eine neue Begrifflichkeit in der Ära nach Finley, die besonders in den angelsächsischen Ländern Anwendung fand. Sie versucht, die vom Nobelpreispreisträger D. C. North (1920–2015) entwickelte „Institutionenökonomik“ auf Zustände der Alten Welt umzusetzen,3 Distribution und Redistribution, Kapitalismus und Geldwirtschaft, Pfadabhängigkeit (path dependence), Bruttoinlandsprodukt (growth domestic product, GDP),4 sind Beispiele dafür, dass Anschluss an eine zeitgenössische Wirtschaftstheorie gesucht wird, um auch die Zustände der Alten Welt besser zu verstehen, sie anschlussfähig und vermittelbar zu machen. Dabei bildet die Überlieferung der Quellen in ihrer gesamten Breite die unentbehrliche Waagschale um zu prüfen, wie tragfähig die Begriffe und Abstraktionen sind, die so zeitgemäß daher zu kommen scheinen. II. Die Vorüberlegungen gelten einem Begriff, der scheinbar veraltet ist, der im 19. und 20. Jahr­ hundert Konjunktur besaß und auch Beachtung in der Alten Geschichte gefunden hat. Wir sprechen vom Sozialismus, konkret vom antiken Sozialismus, der bekanntlich eine fundamentale ökonomische Dimension besitzt. Wenn Werner Sombart den Sozialismus einmal als den „geistigen Niederschlag der modernen sozialen Bewegung“ bezeichnet hat, dann hebt er einmal auf das theoretische Konstrukt ab, zum anderen auf die konkreten Umsetzungsbemühungen, die mit der Theorie in einem spannungsvollen Verhältnis stehen.5 Diese sehr allgemeine und nach Konkretisierung verlangende Bestimmung bildet für unsere Zwecke eine erste Orientierung.

*

Die folgenden Gedanken fußen auf meinem Artikel „Sozialismus“ (Kloft 2003a) und meinem Beitrag zur Fest­schrift für Manfred Hahn, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bremen (Kloft 2003b). Manfred Hahn galt als Spezialist des sog. vormarxistischen Sozialismus und hatte über Jahre eine enorme Materialsammlung zusammen gebracht, ist aber nie zu einer größeren Darstellung gekommen. Manfred Hahn starb 2015. 1 Zu Boeckh s. Hansen 2012, 119 ff.; Pritchard, 2015, 1 f., 4 f., 8, 115. 2 Zusammenfassend mit Literatur Schneider 1999, 551 ff. 3 Greifbar vor allem in Scheidel 2007, 110, 114, 121 f., 135, 142 f . u. ö. 4 Temin 2013, 195 ff. 5 Sombart 71919, 15. Zur Einordnung Lenger 32012, 84 ff. u. 285 ff. Weiter zu den Definitionsversuchen Hellmann 1994, 807 ff. (mit Literatur). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Als „intellektuellen Proteus“ hatte Joseph A. Schumpeter in seinem einflussreichen Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie den Sozialismus bezeichnet6 und damit den maritimen Alten, den Seher und Verwandlungskünstler aus der griechischen Mythologie in Erinnerung gerufen, den die Bremer als trübselige, sinistre Nebenfigur am schönen, von W. Otto geschaffenen Neptunsbrunnen auf dem Domshof kennen. Der „niemals trügende Meergreis“, wie Proteus in der Odyssee heißt, besaß die Gabe, sich immer wieder in verschiedene Tiere und Elemente zu verwandeln, um so den Menschen und ihrem Begehren nach Aufhellung der Zukunft zu entkommen.7 Und so hat auch der Sozialismus ganz unterschiedliche Gesichter und Konturen, ob man ihn als reale Staats- und Gesellschaftsform, als eine epochenspezifische Formationsgröße oder als ideologisches Konstrukt im Kampf der Parteien und Weltanschauungen versteht. Wolfgang Schieder sprach im Rahmen des Lexikon der historischen Grundbegriffe von einem „zukunftsorientierten Bewegungsbegriff“, der von Beginn an stark theoretisch überformt, perspektivisch, mit einem heutigen Modewort: ‚visionär‘ ausgerichtet war und keinen Bezug auf eine historische Realität vorweisen konnte.8 Folge­richtig gab es für ihn auch keine klare Unterscheidung von utopischem und wissenschaftlichem Sozialismus, ein Differenzanspruch, der gerade an der Universität Bremen erhebliche Konsequenzen besaß und nach 1989 mehr oder weniger obsolet wurde.9 Die Unterscheidung betrifft freilich die Sache als solche nicht. Die jüngere politische Entwicklung in Südamerika und vor allem in China unterstreicht das Bemühen, dem Sozialismus, oder was dafür ausgegeben wird, Leben einzuhauchen, wobei seine Proteusgestalt besonders in China auffällig ist: Eine hybride Mischung von sozialistischer Partei- und Planwirtschaft, gekoppelt mit Zügen einer kapitalistischen Privatwirtschaft und einer nur leicht verbrämten diktatorischen Führung des ersten Vorsitzenden Xi Jinping.10 Was die wissenschaftsgeschichtliche Überlieferung des Begriffs angeht, so kommt der Person und dem Werk des Juristen und Sozialökonomen Lorenz von Stein (1815–1890) eine zentrale Rolle in der Begriffsbildung und der Deutung zu.11 Für von Stein war der Sozialismus ein durch und durch neuzeitliches Phänomen, das sich theoretisch aus der französischen Philosophie, praktisch aus dem Aufkommen des Industrieproletariats herleitete und in dieser Verbindung einen wissenschaftlichen Charakter beanspruchen durfte. Der Begriff Wissenschaft zielte in diesem Horizont auf die Eigenschaft des Sozialismus als reale gesellschaftliche Größe, die der wissenschaftlichen Analyse und der thematischen Reputation zugänglich gemacht werden sollte. III. Lorenz von Stein erteilte damit implizit all den Versuchen eine Absage, dem Sozialismus Wurzeln zuzusprechen, die über Neuzeit und Mittelalter hinaus bis in die Antike hineinreichen sollten. Die Auffassung von einer historischen Kontinuität, die von den alten Griechen, von Platon über Thomas Morus bis zu den Frühsozialisten reichte, ehe der Sozialismus seine entscheidende Prägung durch Marx und Engels fand, hat nicht nur Karl Kautsky populär ge6 7 8 9 10

Schumpeter 21950, 267. Hom. Od. 4,364 ff.; Nilsson 1995, 240 f. Schieder 1984, 923. Vgl. Saage 1997, 125 ff., weiter Schöler 1999. Vgl. den Wikipedia-Artikel Kommunistische Partei Chinas und A. Landwehr, China erfindet den reichen Kommunismus, www.n-tv.de/politik. 11 von Stein 21847; Schieder 1984, 947 f. sowie zur Person Koslowski 2013, 154 ff. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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macht, ein Stammbaumdenken, das lange Zeit zum geistigen Haushalt der Arbeiterbewegung gehörte und sie als legitimen Erblassverwalter einer langen kulturellen Entwicklung begriff.12 Die geschichtlichen, und damit auch die antiken Vorlagen schienen für den historisch Gebildeten des 18. und 19. Jahrhunderts auf der Hand zu liegen. Der Mensch als „sociale animal et in commune genitus“, auf Geselligkeit und Gemeinschaft angelegt, mit der Anlage und Verpflichtung zum Wohltun – dieses stoische Welt- und Menschenbild, das Seneca in der römischen Kaiserzeit formulierte, liegt den Begriffen socialis – socialitas zugrunde, das in der neuzeitlichen Naturrechtslehre aufgegriffen wurde und über den Philanthropismus der Zeit auch eine helfende Dimension erhielt.13 Gemeineigentum, damit verbunden Gleichheit und Gütergemeinschaft und ein Leben in Einfachheit und Tugend waren laut Plutarch Grundzüge der vorbildlichen spartanischen Verfassung, die dem legendären Staatsmann Lykurg zugeschrieben wurden.14 Aristophanes wendet die Umverteilung des Besitzes und die Übernahme der Herrschaft durch die Frauen in seiner Komödie Die Ekklesiazusen ins Lächerliche; beides scheitert am realen, kleinlichen Besitzdenken der attischen Bürger und Bürgerinnen. Inwieweit hinter dem aristophanischen Stück und Platons Politeia mit ihrer Propagierung des Gemeineigentums, der Frauen- und Kindergemeinschaft ein allgemeiner öffentlicher Diskurs in Athen stand, muß nach Lage der Dinge offenbleiben.15 Schließlich besitzt auch das Ur­ christentum eine bedeutende, auf Gemeineigentum und Hilfstätigkeit zielende Dimension, die ihren Ausgang vom sog. christlichen Liebeskommunismus in der Apostelgeschichte (4,32–37) nimmt, von den Kirchenvätern in mannigfacher Weise aufgegriffen und für die Paränese zur christlichen caritas genutzt wurde.16 Man kann darüber streiten, ob dieser urchristliche Liebeskommunismus in der unmittelbaren Erwartung der Wiederkunft des Herrn über die individuelle Selbstheiligung hinausreichen konnte und eine soziale wie ökonomische Neuordnung überhaupt im Bereich seiner Denkmöglichkeiten lag. Ernst Troeltsch hat dies mit Nachdruck in der Auseinandersetzung mit Karl Kautsky, mit Robert von Pöhlmann und Lujo von Brentano bestritten,17 wobei sich das caritative christliche Engagement im Verlauf der Zeit unverkennbar auch in Institutionen und ökonomischen Hilfsfonds verdichtete, freilich unter weitgehender Wahrung der bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung.18 In radikaler Form haben dann die vielfältigen Armutsbewegungen des Mittelalters auf den für sie vorbildlichen Charakter der Urgemeinde zurückgegriffen und eine vita communis propagiert, die neben Platons Politeia auch für Thomas Morus und seine Utopia einen wichtigen realen Bezugspunkt darstellte.19

12 Kautsky 31913; Hahn 1992, 361 ff. Der Band enthält eine umfassende Würdigung des einflussreichen Pro­pagators der Schriften von Marx und Engels, kurz zu ihm DBE 5 (1997), 477 f. 13 Die Definition bei Sen. Ben. 7,1,7; Ruben – Brossmann 1995, 1166 f. 14 Zu Lykurg Plut. Lyk. 8 ff., Hodkinson 2000. 15 Zu Aristophanes und den Ekklesiazusen Kloft 2015, 423 ff. 16 Zu Apg 4,32 ff. und zur Liebestätigkeit in der frühchristlichen Gemeinde Stegmann 1995, 193 f.; Drewer­ mann 2011, 221 ff. (mit aktueller Zuspitzung). 17 Troeltsch 1912 [ND 1994], 15 ff.; 49 ff., 134 f. Zum Werk und zur Person Rendtorff 2002, 134 f. 18 von Harnack 41924, 170 ff. 19 Zu Thomas Morus, der in seiner Utopia auf Platon, Aristoteles, Plutarch und andere antike Autoren zurück­ griff, Kühn-Cheu 2014, 639 ff. (mit Literatur). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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IV. Dies ist in der Hauptsache der Stoff, eine dünne Quellenbasis, von der aus sich ein antiker Sozialismus als Antwort auf die soziale Frage formen ließ.20 Bruno Hildebrand (1812–1878), einer der führenden Vertreter der älteren geschichtlichen Schule der Nationalökonomie in Deutschland, versteht die „socialen Wirtschaftstheorien“, die mit Platon und dem urchristlichen Kommunismus ihren Anfang nehmen, als notwendige und zugleich unzulängliche Ant­worten auf die sich entwickelnde Geldwirtschaft.21 Seine eindringliche Studie Die sociale Frage der Vertheilung des Grundeigenthums im klassischen Alterthum22 spürt der allmählichen Monopolisierung des Grund und Bodens durch eine Landaristokratie nach, die durch den Staat nicht mehr einzubinden war und so das Ende der Alten Welt einleitete. Das antike Muster signalisiert Handlungsbedarf für die eigene Zeit: Auch für uns kann und wird die Zeit kommen, in der es Pflicht der Staatsgewalt ist, dem Aufkauf und der Monopolisierung des Grundeigenthums durch die Gesetzgebung entgegenzutreten.23

Die Vision ist bekanntlich ein frommer Wunsch bis heute geblieben. Einflußreicher als Hildebrand ist Wilhelm Roscher (1817–1894), der Archeget der historischen Schule der Nationalökonomie, mit seinen Deutungen des antiken Sozialismus und Kom­ mu­nismus gewesen. Bereits 1845 hat er sich kritisch über Sozialismus und Kommunismus ge­äußert24 und dies mit den Verhältnissen in Griechenland und Rom begründet, eine Kritik, die sich wie ein roter Faden durch seine populärwissenschaftlichen Werke zieht. In seiner an Thuky­dides und Aristoteles ausgerichteten „Politik“, die im Untertitel den bezeichnenden Zu­ satz Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie trug, und in seinen „Grundlagen der Nationalökonomie“ nennt Roscher fünf allgemeine Bedingungen, welche den Kommunismus und Sozialismus in der Antike hervorgerufen haben und die über die Antike hinaus Geltung beanspruchen dürfen: - Ein hoher Gegensatz von Arm und Reich; - ein hoher Grad von Arbeitsteilung; - ein hohes Anspruchsdenken der niederen Klassen als Folge der demokratischen Bewegung; - eine Erschütterung des Rechtsempfindens; - eine Abnahme von Religiosität und Sittlichkeit.25 Diese Krisenerscheinungen haben sich nach Roscher im Griechenland des 4. und 3. Jahr­ hunderts v.Chr., in der Zeit der Agonie der römischen Republik, dann im Zeitalter der Re­ formation und schließlich im 18. und 19. Jh. verdichtet.26 Aus den Entartungen lassen sich die „Vorbeugungs- und Heilmittel gegen die plutokratisch-proletarische Volkskrankheit“27 entwickeln, wie es in seiner Politik heißt (Roscher 1933, 472 ff.), wobei er an genossenschaftliche 20 Adler 1920, 1 ff. u. 266 f. (mit Literatur). 21 Hildebrand 1848, 98 ff. u. 325 f. Zu ihm Salin 1967, 132 f. 22 Hildebrand 1869, 1 ff. 23 Hildebrand 1848, 155. 24 Roscher 1845, 540 ff. Zu ihm Kurz 2005, 39 ff. 25 Roscher 31908, 446 ff. 26 Roscher 241906, 215 ff. Dieses Standardwerk hat seit der 22. Auflage 1896 Robert Pöhlmann weiter be­ treut und bibliographisch erweitert, es stellt eine Fundgrube der politischen Ökonomie für das 19. Jahr­ hundert dar. 27 Roscher 31908, 472. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Assoziationen, an Hebung der Hausindustrie, an Sanierung der Großstädte und an die Hebung der Landwirtschaft denkt. Die Tatsache, dass Roscher in seiner mangelnden Quellenkritik und seiner Überschätzung, die nicht nur die antiken Autoren, sondern auch seine eigene Person betraf, ein eher schwacher Theoretiker der historischen Schule gewesen ist, war kein Hinderungsgrund für seine enorme Breitenwirkung, die sein publizistisch begabter Schüler Robert (von) Pöhlmann auf dem Gebiete der Alten Geschichte zu nutzen und zu übertragen verstand. V. Sein Standardwerk Geschichte des antiken Sozialismus und Kommunismus, 1893 zum ersten Mal erschienen, dann 1908 und zuletzt 1925 posthum unter dem Titel Geschichte des Sozialismus und der sozialen Frage in der antiken Welt 28 von Friedrich Oertel herausgegeben, gibt den allgemeinen und vagen Vorbehalten Roschers das notwendige historische Gerüst, spitzt die Problematik zu und aktualisiert den sozialen Konflikt, was sich nicht nur in seiner Begriffswahl äußert. Der Sozialismus erscheint als konsequente Folge des demokratischen Prozesses in Griechenland, der bereits im 6. Jahrhundert v.Chr. einsetzt; er zielt auf die Beseitigung der gesellschaftlichen Ungleichheiten, auf Umverteilung des Eigentums und ist gewissermaßen die Antwort auf die Plutokratisierung des Adels (1,123 ff.), die sich in einer Mammonisierung und einer Herrschaft des Kapitals fortsetzt (1,205 ff.). Dazu bildet die Massenarmut, der Pauperismus, die notwendige Kehrseite, die in den sozialrevolutionären Entwürfen, wie sie die Komödie des Aristophanes und die Staatsromane eines Theopomp und Jambulos bieten, ihr theoretisches Gerüst besitzt. Auch Rom kannte Klassenherrschaft, Massenarmut und Forderungen nach Umverteilung des Reichtums, auf die es zeitgemäße Antworten gab, von denen das Christentum die weltgeschichtlich bedeutsamste war (2,464 ff.). Jesu von Nazareth, der „Messias der Armen“ (2,468) hatte sich gegen Besitz und Erwerb, gegen einen „extremen Kapitalismus“ gewandt (2,473) und im kommenden Gottesreich als Seligkeit die Gleichheit und Gemeinschaft der Kinder Gottes verkündet. In seiner Nachfolge hatte sich der Liebeskommunismus der Urgemeinde entwickelt (2,481 ff.). Die christlichen Literaten des 2., 3. und 4. Jahrhunderts haben in ihren Traktaten ein Leben in der Fülle der Güter entworfen, eine vita copiosissima (2,494 f. nach Lact. Div. Inst. 7,24), in den Worten von Pöhlmanns ein kommunistisches Paradies auf Erden. Der Urchristliche ist für ihn nur eine Spielart des antiken Sozialismus und wie dieser ein Irrwahn. Derselbe Glauben, der noch heute in zahllosen Menschenherzen kaum weniger lebendig ist, als einst in der römischen Kaiserzeit die Hoffnung der Christen auf das ‚Königtum Gottes‘ – die größte Massen­illusion der Weltgeschichte (2,508).

Dies war nicht mehr und nicht weniger als ein Deutungsangebot des Althistorikers für die Ver­werfungen der eigenen Zeit und mittelbar ein Kampf um eine zeitgemäße Sozialpolitik. Als Schüler von Wilhelm Roscher rückt er nahe an die Vorstellungen der sogenannten Katheder­ sozialisten heran.29 Die aktualisierenden Implikationen seiner zweifellos „epochemachenden Leistungen“ (Oertel), die Theologen, Ökologen und Historiker, eben auch Sozialisten vom Schlage Karl Kautskys 28 von Pöhlmann 31925 (herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Friedrich Oertel; aufgenommen in Oertel 1975, 40 ff.). Zu Pöhlmann 2012, 997 ff. 29 Zu den sog. Kathedersozialisten vgl. Albrecht 1961, 10 ff.; Henning 1996, 787 ff.; Salin 1967, 141 ff. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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natürlich gesehen;30 und die wohlfeile Kritik, der sich der Althistoriker von Pöhlmann bis auf die heutige Zeit erfreut, lebt in der Substanz von den Einwänden, welche seine Zeitgenossen gegen ihn erhoben haben. Friedrich Oertel hat sie im Nachwort zur dritten Auflage mit großer Vollständigkeit gesammelt und in seinem Kommentar mit den Überspitzungen auch den realen Sozialismus zurückgenommen und lediglich der „sozialen Frage“ eine gewisse Existenz­ berechtigung in der Antike eingeräumt31; der aber sei im antiken Kontext keine reale Ver­ besserung oder gar Aufhebung zugewachsen, sondern sie sei in „sozialer Resignation“ geendet und in philosophisch-religiöse Sphären ausgewichen.32 Die Frage nach einem antiken, griechischen Sozialismus hat Oertel dann in einem Beitrag für die Kriegsvorträge an der Universität Bonn 1944 noch einmal aufgenommen. Dessen Ziel sei die Abstellung der sozialen Ungerechtigkeit durch Umschichtung gewesen (136). Die Lösung der Konflikte sah er in einem organischen Staat, in dem das Sozialprinzip freiwillig von allen Seiten anerkannt wurde und in der Unterordnung unter einem wirklichen Führer. Ihn haben die Griechen nur einmal in der Gestalt des Perikles besessen (148 f.). Das Ideal eines geistig und sittlich überragenden Führers, das Oertel, einer der bedeutendsten deutschen Wirtschaftshistoriker der Alten Welt am Schluss beschwor, schlug den Bogen zur eigenen Zeit und trug dabei durchaus paränetische Züge. VI. Die intensive Auseinandersetzung um die Historisierung des modernen Sozialismus und seine Verschränkung mit vorindustriellen Gesellschaftsentwürfen war kein Gelehrtenstreit im Umkreis der historischen Zunft an den Universitäten. Schon 1891 hatte (von) Pöhlmann in einem Beitrag zur „Allgemeinen Zeitung“ auf die Notwendigkeit hingewiesen, an den Schulen auf eine moderne politische Erziehung hinzuwirken, für welche die Antike wichtige Exemplare bereithält: Die Geschichte zeigt an einer Fülle überaus lehrreicher Beispiele, dass die Idee, durch den Willen der jeweiligen Mehrheit auf die Dauer einen einheitlichen, an Freiheit und Gleichheit Aller und der sozialen Gerechtigkeit dienenden Staatswillen schaffen zu können, ein Phantom ist.33

Und er ist sich klar darüber, dass das antike Massenelend eine Folge ökonomischer, politischer und sozialer Fehlentwicklungen darstellt, und dass die Systemfehler der Alten Welt dem zukünftigen Staatsbürger die Augen öffnen können für die soziale Not der eigenen Zeit und für ein Programm, das mit staatlichen Mitteln einen gerechten Ausgleich zwischen Arm und Reich herbeiführt.34 Von Pöhlmanns Plädoyer für eine aktualisierende antike Sozial- und Wirtschaftsgeschichte muß man zusammen sehen mit den neuen Schulvorgaben Wilhelms II., der 1891 auf eine Priorität der vaterländischen, der deutschen Geschichte vor der griechisch-römischen drang und sie auch durchsetzte.35 Die Aversion und die Furcht vor der Sozialdemokratie und ihren Lehren war beiden Entwürfen gemeinsam. Als pädagogische Leitlinien für die Schulen hat sie Heinrich Wolf (1885–1942), Professor an einem Düsseldorfer Gymnasium, in seinem 30 31 32 33 34 35

Kautsky 1913, 23 f.; Kloft 1992, 336. Oertel 1975a, 19 ff. Die noch immer lesenswerte Zusammenfassung 38 f. Oertel 1975b, 101ff. Zu ihm Palme 2012, 899. von Pöhlmann 21911, 21. von Pöhlmann 21911, 34 f. Landfester 1988, 200 ff. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Lehrbuch „Geschichte des antiken Sozialismus und Individualismus“ auf der Grundlage des von Pöhlmannschen Werkes zusammengefasst, eine Veröffentlichung, die 1909 im Bertelsmann Verlag zu Gütersloh ver­triebenen Gymnasialbibliothek erschien. 36 Der Sozialismus in Athen folgt, so der Verfasser, aus dem allgemeinen gleichen Stimmrecht, ein „furchtbares Machtmittel gegen die wohlhabende Minderheit“. „Die politische Demokratie wurde zur Sozialdemokratie“ (Wolf 1909, 50). In den politischen Komödien des Aristophanes offenbart sich der Sozialismus der Proletarier (Wolf 1909, 65ff.), besonders in der „berühmten Kommunistenkomödie“, der Ekklesiazusen (75). Hier wie auch an den meisten anderen Stellen lebt die pädagogische Handreichung des Schulmanns von Pöhlmanns Geschichte des antiken Sozialismus und Kommunismus. Auch dieser bewertete die Komödie als Ausdruck eines proletarischen Utopismus und erkannte als Ziel den „kommunistischen Himmel des Pöbels, die Saturnalien der Kanaille“ (I, 321), die von den Vergemeinschaftsutopien eines Herrn Bebel nicht so weit entfernt seien (I, 319). Die politische und moralische Entrüstung verdecken die Schwächen der Analysen eines antiken Sozialismus, die schon in der Frühzeit an einer sauberen und adäquaten Begriffsbildung litten. Die Unzulänglichkeiten betreffen zum einen die zentralen Größen Sozialismus – Staats­ sozialismus – Proletariat – Pauperismus – Kapitalismus, Plutokratie und Klassenkampf, die ihre Prägung und ihren Agitationscharakter vornehmlich dem 19.  Jahrhundert und seinen Problemen verdanken. Eine Auseinandersetzung mit derartigen Schlagworten ist nötig und sinnvoll und kann über Oertel hinaus dabei den Klassenkampf, das Proletariat, den Kapitalismus ins Auge fassen, 37 die es angeblich in der Antike schon gegeben hat; aber man kann den Kreis durchaus erweitern: Darf man die unbezweifelbaren Formen der Armut mit dem Begriff Pauperismus belegen, wie es bei Pöhlmann durchgehend geschieht? Pauperismus erwächst offensichtlich als ein Problem der wachsenden Industriegesellschaft, das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer drängender wurde und, wie F. W. Henning formulierte, nach Lösungen der sozialen Frage suchte.38 Auch sie beruht auf den sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen des 19. Jahrhunderts, und wenn Friedrich Oertel den Begriff in den 20er Jahren des vorherigen Jahrhunderts für zutreffend fand, dann nur in der Begrenzung eines Sozialismus auf Teilung, welche die Wirtschafts­ ordnung und das Privateigentum der Zeit nicht berührte. Wer und wie hätte in Analogie zur Neuzeit antworten können? Es gab nicht die Arbeiterschaft, es gab keine entsprechende Organisationsstruktur und Programmatik, keine Fabriken und Industrieformen, für welche die griechischen ergasteria herhalten mussten. Edgar Salin (1892–1974), der hochgebildete Ökonom, hatte in seiner Kritik an Pöhlmann und an einem antiken Sozialismus auf die unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen als Ganze abgehoben: Nur in der Moderne gibt es Wirtschaftskrisen als rationale Störungen eines rationalen Prozesses – in allen anderen Zeiten erscheinen Krisen als natur- oder gottgesandte Nöte oder als Folgen politischen Geschehens. Nur dort aber, wo wirtschaftliche Krisen als die Folge von Mängeln der Gesellschaftsordnung erscheinen, nur dort ist die Möglichkeit, der Anlaß und Antrieb vorhanden, 36 Wolf 1909; Kloft 2013, 23 ff. 37 Zu G. E. M. de Ste. Croix, The Class Struggle in the Ancient Greek World, London 1981 s. Brunt 1982, 158 ff. u. Schuller 1983, 403 ff. Salvioli 21922 (mit einem Vorwort von K. Kautsky); Kloft 2012, 171 ff. Zum Charakter des Kapitals in Rom Temin 2013 (Anm. 4), 208 ff. Zum Proletariat Hillmann 1994, 695 ff. mit Literatur. 38 Henning 1996, 739 u. 1094 ff. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Hans Kloft eine neue ökonomische Ordnung wissenschaftlich zu konstruieren – nur dort also gibt es den Boden der ‚wissenschaftlichen Weltanschauung‘ des Sozialismus – nur dort auch gibt es den Boden für die wirtschaftliche Klasse des Proletariats.39

VII. Man könnte an dieser Stelle die Bemühungen um einen antiken Sozialismus und seinen Befürworter Robert (von) Pöhlmann ad acta legen, als Phase einer abgegoltenen Wirtschafts­ geschichte, die uns heute nichts mehr zu sagen habe. Damit würde man beiden: der Sache wie der Person nicht gerecht. Pöhlmann hatte für seine Beweisführung in großer Fülle die Denkmodelle und theoretischen Entwürfe, die es in der Dichtung, in der Rhetorik und in der Geschichtsschreibung gab, herangezogen, „die systematische historische Würdigung des griechischen Utopismus“, die Karl Christ als eine Hauptleistung des Althistorikers gewürdigt hat.40 Mit dem Etikett des Utopismus wird freilich das für Pöhlmann so zentrale Quellen­ material auf eine andere, ungefährlichere Ebene gehoben, eine halbwegs abgesicherte philologische Landschaft, deren Beziehungen zur Realität kaum sauber zu bestimmen ist. Man kann für diesen Sachverhalt den informativen Band der DDR-Historiker Rigobert Günther und Reimar Müller heranziehen, der sich in Wort und Bild den Utopien der hellenistischrömischen Antike widmete und 1988 als bundesrepublikanische Lizenzausgabe herauskam.41 Die Utopie erscheint, gemessen an der Qualität des wissenschaftlichen Sozialismus einerseits als „Sozialutopie“, als „überholte Denkform“. Sie tat notwendigerweise als reine „Kopfgeburt“ in die Welt, weil Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse keine andere Spiegelung zuließen.42 Das ist nun brav marxistisch gedacht. Trotzdem sei andererseits nicht abzustreiten, dass die Utopien eine ernstzunehmende Dimension aufwiesen. Besonders in Zeiten radikaler Zuspitzung der Widersprüche konnte von der Utopie eine mobilisierende Wirkung ausgehen, die unmittelbar zur Aktion führte. (191)

Die Feststellung, die im abschließenden Kapitel Utopie und soziale Bewegungen getroffen wird, lässt das Spannungsverhältnis von Utopie und Realität, von Theorie und Praxis einfach so stehen und hält den Leser im Ungewissen, wofür er sich zu entscheiden hat: Für die Wirksamkeit der Utopie oder für ihren illusionären Charakter, der sich aus den sozioökonomischen Verhältnisse mit Notwendigkeit ergebe. Die Frage angesichts eines so festgestellten Defizits ist freilich, ob der Anspruch an die Leistung eines utopischen Denkens damit nicht zu hoch angesetzt ist. Die heruntergeschraubten Er­wartungen heben heute auf eine „Veränderungsstrategie der kleinen Schritte“ ab (Saage), betonen das Gedankenlabor, eine Freisetzung des Kontrafaktischen und das Anregungspotential (Waschkuhn), das die Utopien zu mobilisieren vermögen: Sozusagen ein Achten auf die Zwischentöne, eine Sensibilität für die Grauzone zwischen Vision und Wirklichkeit.43 Mit einem solchen eher „mageren Ergebnis“ kann man freilich auf dem politischen Markt von heute 39 Salin 1925, 53. Heute würde man nicht mehr so unbekümmert der Rationalität des modernen Wirtschafts­ prozesses das Wort reden. Zu Salin Föllmi 2005, 372 f. 40 Christ 1972, 245; Christ 2006, 30 ff. 41 Günther – Müller 1988. 42 Günther – Müller 1988, 8. 43 Saage 22008, 91 ff.; Waschkuhn 2003, 7 ff. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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nicht recht reüssieren. Utopien gelten vielfach als Ausgeburten linker Spinner, als ungedeckte Schecks auf eine Zukunft, die kaum Chancen besitzen, eingelöst zu werden. VIII. Es sei gestattet, an dieser Stelle zu Robert (von) Pöhlmann zurückzukehren. Er war in seiner Art ein Überzeugungshistoriker, der cum ira et studio schrieb wie manche seiner Zeitgenossen auch und nichts von einer „eunuchenhaften Objektivität“ (Droysen) hielt, die einen eigenen Standpunkt verleugnete. Was (von) Pöhlmanns provokante Darstellung eines antiken Sozialismus bewirkt hatte, war, wie das Nachwort von Friedrich Oertel zeigt, ein breiter Diskurs um die Zulässigkeit einer Instrumentalisierung von Geschichte, die Frage nach leitenden Erkenntnisinteressen, nach typischen Verlaufsformen und Strukturen: ein Interesse, das etwa zur gleichen Zeit Max Weber durch die Konstruktion eines Idealtypus zu beleben wusste. Weber hat, wenn nicht einen Sozialismus, so doch einen Kapitalismus in der Alten Welt für möglich gehalten,44 wobei freilich beide mit einem unterschiedlichen Instrumentarium arbeiteten. Pöhlmanns Hermeneutik zielte darauf ab, über die herkömmlichen Gattungsgrenzen hinweg die einzelnen Teile: die Mosaiken aus Roman und Geschichtswerken, aus Reden und philosophischen Traktaten als Zeugnisse eines historischen Gesamtprozesses neu zusammenzufügen und geistige Strömungen auszumachen, welche die historische Entwicklung begleiteten. Das Verfahren erinnert an die Bemühungen um das Phänomen eines kollektiven Gedächtnisses, das seine Spuren in ganz unterschiedlichen literarischen Formen, Institutionen und Personen abgelagert habe und von den Einzelheiten her zu konturieren sei. In Weiterführung der Ideen von Maurice Halbwachs (1877–1945) hat vor allem Jan Assmann dies Vorgehen über den Rahmen der Ägyptologie hinaus fruchtbar gemacht.45 Auch wenn man das Verfahren und die Ergebnisse nicht uneingeschränkt teilt, die im Umkreis einer modernen Erinnerungskultur getroffen werden: sie führen uns doch auf die sozialen Probleme der griechischen und römischen Welt zurück. Probleme gab es in reicher und bedrückender Form: Armut und Hunger, Vertreibung und Enteignung, Konflikte zwischen unterschiedlichen Ethnien und Religionen, zwischen sozialen Gruppen unter- und miteinander. Sie begleiten und prägen die antike Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, man mag an die solonische Zeit, an die späte römische Republik, an die Armut in Stadt und Land während der römischen Kaiserzeit denken.46 Aber gibt es für sie einen gemeinsamen Schlüssel, gibt es Klassenkampf, Sozialismus, eine soziale Frage? Gustav von Schmoller (1837–1917), der bedeutende und einflussreiche Nationalökonom des Kaiserreiches, hat in seinem nachgelassenen Werk Die soziale Frage auch die sozialen Probleme in Griechenland und Rom in seine Argumentation einbezogen.47 Deren Lösung sah er nicht in einer sozialistischen Programmatik, sondern in einer klugen Politik der Staatsgewalt, die vom Ziel eines Gemeinwohls geleitet sei.48 Auch bei ihm ruhen die Verallgemeinerungen und his44 45 46 47 48

Kloft 2013. Halbwachs 1996; Assmann 22004; Assman 72013; Schraten 2011. Dazu Drexhage – Konen – Ruffing 2002, 172 ff. u. 279 ff. von Schmoller 1918. von Schmoller 1918, 521 ff. Das Fazit zur Antike 622, generell 628 ff. Von Schmoller glaubt an einen Aus­ gleich der Klassengegensätze und an eine Durchsetzung von Sozialreformen und von sozialer Gerechtigkeit durch eine starke Staatsgewalt. Zu ihm Borchardt 2007, 260 ff., der in ihm einen Verfechter einer „paternalistisch staatlichen Sozialpolitik“ sieht. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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torischen Lehren auf Voraussetzungen, die zeitgebunden waren und deren Überzeugungskraft heute weitgehend verloren gegangen ist. Trotzdem bleibt der Respekt vor den Leistungen eines Forschers vom Range eines Robert (von) Pöhlmanns bestehen, dessen „eigenwillige Methode“ (K. Christ) vielleicht doch nicht so abwegig war, wie viele Kritiker meinten. Er vertrat in seinen Arbeiten die Vernetzung von Sozial-, Wirtschafts- und Mentalitätsgeschichte (die freilich seinerzeit so nicht hieß) und bediente sich einer Quelleninterpretation, die man unter der Zielrichtung „kollektives Gedächtnis“ für diskutierbar halten kann. Schon in seiner ersten bedeutenden Arbeit zur „Überbevölkerung der antiken Großstädte“ interessierte er sich für die sozialen und ökonomischen Folgen eines urbanen Wachstums und leistete eine Zustandsbeschreibung, die mal als qualitative Demographie bezeichnen kann und damit neue Ufer in der Althistorie erschloss.49 Es sind die Fragen an die Geschichte der Alten Welt, die er als politisch interessierter Zeitgenosse aufwarf. Dies war und ist auch in unseren Augen sein großes Verdienst, die wir seine Antworten nicht mehr teilen können. Bibliographie Adler 1920 = G. Adler, Geschichte des Sozialismus und Kommunismus, Bd. 1, Leipzig 1920. Albrecht 1961 = G. Albrecht, s. v. Verein für Socialpolitik, HDSW 11 (1961), 10–26. Assmann 22004 = J. Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 22004. Assmann 72003 = J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 72003. Borchardt 2007 = K. Borchardt, s.v. von Schmoller, NDB 23 (2007), 260–262. Brunt 1982 = P. A. Brunt, A Marxist View of Roman History, JRS 72 (1982), 158–163. Christ 1972 = K. Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff, Darmstadt 1972. Christ 2006 = K. Christ, Klios Wandlungen, die deutsche Althistorie vom Neuhumanismus bis zur Gegen­ wart, München 2006. Drewermann 2011 = E. Drewermann, Die Apostelgeschichte, Wege zur Menschlichkeit, Ostfildern 2011. Drexhage – Konen – Ruffing 2002 = H.-J. Drexhage – H. Konen– K. Ruffing, Die Wirtschaft des römischen Reiches (1.–3. Jahrhundert), Berlin 2002. Föllmi 2005 = A. Föllmi, s.v. Salin, E., NDB 22 (2005), 372–373. Günther – Müller 1987 = R. Günther – R. Müller, Sozialutopien der Antike, Leipzig 1987. Hahn 1992 = M. Hahn, Der Stammbaum. Karl Kautskys Entwurf der Geschichte des Sozialismus, in: J. Rojahn –T. Schelz – H. J. Steinberg (Hrsg.), Marxismus und Demokratie, Frankfurt a.M. – New York 1992, 361–369. Halbwachs 1996 = M. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1996. M. Hansen, s. v. Boeckh, A., DNP Suppl. 6 (2012), 119–122. von Harnack 41924 = A. von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums, Leipzig 41924. Hellmann 1994 = K. H. Hellmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1994. Henning 1996 = F. W. Henning, Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands II, Pader­born 1996. Hildebrand 1848 = B. Hildebrand, Nationalökonomie der Gegenwart und der Zukunft, Frankfurt a.M. 1848. Hildebrand 1869 = B. Hildebrand, Die sociale Frage der Vertheilung des Grundeigenthums im klassischen Alterthum, Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik 12 (1869), 1–25. Hodkinson 2000 = S. Hodkinson, Property and Wealth in Classical Sparta, London 2000. Huber 1895= J. Huber, Der Sozialismus, Rückblick auf das Alterthum, München 1895. Kaiser – Klinger 2000 = J. Chr. Kaiser – E. Klinger, s.v. Sozialismus, TRE 31 (2000), 542–556. Kautsky 1913 = K. Kautsky, Vorläufer des neueren Sozialismus I, Stuttgart 1913. 49 Christ 1972, 206 ff.; Kloft 2017, 45 ff. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Sozialismus in der Antike?

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Hans Wilhelm Stein . Ein (fast) vergessenes Stück „Caesarenwahn“ von 1930 Florian Krüpe Nicht nur der Poet und Schriftsteller, aber er ganz besonders beweist, daß in einem Leben Platz ist für mehrere Biographien.1

Vorbemerkung Für einen Althistoriker ist es eine merkwürdige Mischung höchst unterschiedlicher Quellen und Texte, die sich da auf dem eigenen Schreibtisch versammelt: Neben den bekannten Literaten der Kaiserzeit wie Tacitus oder Sueton oder Cassius Dio liegen Exzerpte aus Akten von NSSondergerichtsprozessen, neben Biographien über Caligula und Theodor Mommsen solche über Baldur von Schirach und Walther Rathenau. Es ist eine auf den ersten Blick merkwürdige Melange aus Ideengeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Alter und Neuer Geschichte – und eine Reise in die Entstehungsgeschichte eines Topos. Und all das vor der Kulisse von Caligula, dem vermeintlichen Musterbeispiel für exaltierte Psychopathen unter Roms Cäsaren. Wo, wann und wie entsteht eine Idee? Einfach so, als Eingebung? Als Musenkuss eines kreativen Menschen, eines Dichters gar? Weil ein bestimmtes Klischee in der älteren Literatur vorangelegt ist? Weil sie Bestandteil einer gemeinsamen Erziehung ist? Weil die Idee auf der Hand bzw. auf der sprichwörtlichen Straße liegt und damit in aller Munde? Oder weil die Konstellation bestimmter Personen im persönlichen Umfeld dazu einlädt, sich damit auseinander zu setzen? Solche und ähnliche Fragen führten im Vorfeld dieser Studie zu einer kleinen Zeit­reise in die Wissenschaftsgeschichte, gewissermaßen auf der Suche nach den Stationen der Ent­stehungsgeschichte des Topos „Caesarenwahn“ und gleich mehreren an­hängigen Fragen­komplexen: Wie hat sich in der Forschungsliteratur – v.a. in der deutschen – des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Topos Caesarenwahn verbreitet? Existiert quasi eine „historiographische Urquelle“ für diesen terminus technicus, oder fußen die zahlreichen Monographien und Auf­ sätze über dieses Thema rein auf den antiken Vorlagen? Wie sind die historiographischen Argu­ mentations­ketten angelegt? Wie lange hat sich dieser Topos in der Geschichtswissenschaft gehalten, wann „kam er aus der Mode“, wann wurde er – wenn dies überhaupt geschah – verworfen? Und – gewissermaßen als eine Projekt-Überfrage: Ist „Caesarenwahn“ wirklich primär ein antiker Topos oder nicht eher ein neuzeitlicher, lediglich antik verbrämter? Diese Reise ist nicht abgeschlossen,2 sie ließ einen jedoch an einer Reihe von Werken und Autoren Station machen, darunter dem eines seinerzeit unbekannten Autors namens „Hans Wilhelm Stein“, dessen „dramatisches Gedicht“ Caesarenwahn von 1930 neugierig machte und der hier und heute Gegenstand einer kleinen gewissermaßen paradigmatischen Mikrostudie sein

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Nooteboom 2016, 9. Eine umfängliche Arbeit zur historiographischen Genese des Topos „Caesarenwahn“ ist in Vorbereitung. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Florian Krüpe

soll. Erschienen im Bruno Volger Verlag Leipzig in begrenzter Auflage,3 gedruckt in Langensalza in Thüringen, erhielt der in schmucker Bindung gehaltene Band eine Titelzeichnung des wie der Autor in Saaleck ansässigen Architekten August Pfisterer. Gewidmet wurde er sehr persönlich Claire Jacobi, einer mit Stein mehr oder minder intensiv verbundenen Apothekerin, die offenbar seinerzeit die Druckkosten für den Caesarenwahn übernommen hatte.4 Synopsis Angelegt als 4-Akter treten in diesem Stück nacheinander auf: Caligula, Drusilla (seine Schwester), Claudius (sein Onkel, späterer Kaiser), Messalina (dessen spätere Gattin), „ein Ägypter“ (Isis-Priester), Helicon (ein Freigelassener), Cassius Chaerea (Präfekt der Prätorianer), Seneca, ein unbenannter Konsul sowie weitere unbenannte Soldaten, Sklaven, Priester, Juden, ein Dichter, ein Günstling und der „Dämon des Todes“. Das Drama spielt im Jahre 41 n.Chr., also dem Todesjahr Caligulas. Eine Halle im kaiserlichen Palast in Rom mit weitem Rundblick auf die Stadt Rom. Im Hintergrunde das Kapitol. Caligula liegt auf einem Ruhebett, eine Leyer im Arm, der er einzelne Akkorde entlockt. Vor ihm stehen andächtig und ehrfurchtsvoll zuhörend der ägyptische Freigelassene Helicon, sein Finanzminister und Vertrauter, sowie der Präfekt der kaiserlichen Garde, der Prätorianer Cassius Chaerea. Caligula, ein Mann von 31 Jahren, der einen Lorbeerkranz auf dem Haupte trägt, wirft die Leyer mißgestimmt zu Boden. Helicon springt eilends hinzu, hebt sie sorgfältig auf und legt sie auf einen danebenstehenden Tisch.

Abb. 1: Titelbild Caesarenwahn (1930) 3 4

Steins andere Werke erschienen nach seiner eigenen Aussage mit jeweils 1.000–3.000 Exemplaren: „alle im Selbstvertrieb verkauft“; LASA, MER C 141 Halle, Nr. 71a, Vernehmungsprotokoll Bl. 156). In seiner Vernehmung v. 12.6.1935 erklärt dies Stein den Vernehmungsbeamten (LASA, MER C 141 Halle, Nr. 71a, Bl. 155). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Hans Wilhelm Stein

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Abb. 2: Reproduktion aus erster Seite des Dramas Caesarenwahn (1930)

1. Akt Szenen 1–2: Caligula ist Roms überdrüssig. Er sieht sich in der Tradition Marc Antons, weiß sich im Besitz absoluter Macht und träumt von einer Brücke, die Palatin und Kapitol verbindet, um das „alte Rom“ unter und hinter sich zu lassen: Durchschweif ich Rom, so wat ich im Morast. / Ich suche Männer, und ich finde Schmeichler / Um mich sind nur Schmarotzer, Schwätzer, Heuchler; / Rom ist in tiefster Seele mir verleidet.

Er will sich verheiraten und holt sich dazu den Rat des Isis-Priesters ein; sie soll jung und edlen Blutes sein und ihm einen Erben schenken. Der Ägypter ziert sich und traut sich nicht zu raten („Sucht ihr nur Schönheit, sucht ihr Geist und Wissen? / Wollt ihr euch nur berauschen und küssen“?). Nach längerer Diskussion rät er ihm sich innerhalb der Familie zu verheiraten, in der Tradition der Ptolemäer („Vererbung hob auf’s höchste ihre Tugend / Vererbung wahrt dem Blute ew’ge Jugend“). Er verweist auf Geschwisterbeziehungen innerhalb der römischen Götterwelt und empfiehlt Caligula die Vermählung mit einer seiner drei Schwestern. Caligula zögert zunächst, sieht sich an ältere Gesetze gebunden, es reizt ihn jedoch der offene Eklat mit dem Senat. Schließlich wählt man Drusilla aus, Caligula freut sich auf die Gesichter der patres: Drusilla? Gut. Und eisern ist mein Wollen. / Ich lache; – Menschen, Götter mögen grollen.

3. Szene: Es erscheint Seneca, im Stück ein Mann im Alter von 50 Jahren. Caligula begrüßt ihn freundlich und respektvoll. Seneca bitte um Gnade für einen Freund, der wegen Majestäts­ verbrechen angeklagt sei, was Caligula wegen der Schärfe dessen Schmähschriften brüsk zurückweist. Seneca schmeichelt und mahnt ihn, doch es gelingt ihm nicht den Jähzorn des jungen Mannes einzufangen. Nachdem er das Todesurteil über seinen Freund vernehmen muss, prophezeit er Caligula ein ähnliches Ende, woraufhin dieser ihn mit seinen Heiratsplänen konfrontiert. 4. Szene: Der Ägypter und Seneca streiten über die vermeintliche „Blutschande“: Nur fester er des Blutes Bandes knüpft / und reiner nur pflanzt sein Geschlecht er fort.

Seneca: „In Rom ist für Barbarenbrauch kein Ort.“ Seneca sieht ihn „außer Sinnen“:

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Florian Krüpe Es will mich dünken Caesar sei von Sinnen, / Er ist nicht mehr er selbst, er spricht im Wahn. / Der Wahn läßt ihn ins Ungemessene greifen, / Es schwirren die Gedanken gleichwie Bienen, / Hoch über alle Götter will er schweifen / Und nicht begreift er: Herrschen ist gleich Dienen. / So gräbt er Rom und sich ein frühes Grab, / uns alle aber zieht er mit hinab.

5. Szene: In einem Monolog sinniert der Ägypter über Seneca nach, er sieht ihn als Gefahr für seine Pläne, die darin bestehen, Caligula am Ende grandios scheitern zu lassen, um dann selbst, als letzter Nachfahre der Pharaonen, deren Herrschaft neu zu errichten. 6. Szene: Drusilla (im Stück 23) und Messalina (17) flanieren im kaiserlichen Garten: Drusilla wird als Verkörperung einer vornehmen Römerin geschildert, dunkles Haar, dunkle Augen, Messalina dagegen als „rassige Blondine“, als „leichtes Mädchen“. Beide warten dort auf „ihre“ Männer: die ältere auf Cassius Chaerea, den Gardepräfekten, Messalina auf Claudius. Messalina gibt Drusilla Verhaltenstipps: Die Männer sind aus einem seltsam’ Holz. / Zuerst sind sie auf unsre Liebe stolz. / Sie zu gestehen, zeig’ Dich sonder Eile , / Sie spüren sonst nur Langeweile. / Der Mann darf kosen, grollen unter Tränen, / Darf girren, fluchen, nur darf er nicht gähnen.

Drusilla träumt von einer Zukunft mit Chaerea, Messalina selbst spielt nur mit Claudius. 7. Szene: Claudius erscheint, ein „Bücherwurm“, von Messalina neckisch mit „Onkel Clau­ dius“ angesprochen, auch mit „Kürbis“, was ihn schmerzt. Er fühlt sich und seine Arbeit gering geachtet, hegt aber Gefühle für Messalina. Er kritisiert Caligula, nennt ihn „Stiefelchen“, und wirft ihm Versagen bei einigen Bauprojekten vor. Messalina verlacht ihn, ohne ein „Amt“ dürfe er sich ihr nicht wieder nähern. 8./9. Szene: Chaerea und Drusilla treffen sich und kommen zusammen. Chaerea will bei Caligula um die Hand Drusillas bitten, dieser gibt ihm aber keine Gelegenheit dazu; er lauscht lieber schmeichlerischen Versen eines Dichter und bestaunt die Künste zweier Fechter. Einer der beiden gibt sich als germanischer Fürst zu erkennen. Caligula betrachtet lüstern dessen kraftvollen Körper, auch Messalina wirft ein Auge auf ihn. Claudius erscheint in der Szene und will den Kaiser Messalinas wegen um die Prätur bitten, er wird von Caligula verspottet: Getroster möcht’ ich einem Elefant / Ein Saitenspiel an seinen Rüssel drücken, / als Claudius mit des Amtes Toga schmücken.

Caligulas Entourage verspottet Claudius. Dieser verweist verzweifelt auf seine historischen Forschungen, seine Erfindungen im Bereich der Schrift. Caligula scheucht ihn fort. 10. Szene: Chaerea dringt immer noch nicht zu Caligula durch, dieser verkündet vor einer großen Gruppe seine Heiratspläne. Messalina träumt kurz davon die Auserwählte zu sein, hat jedoch Angst vor den Launen des „Gottes“ Caligula. Drusilla wird öffentlich als Auserwählte benannt, Chaerea ist vor den Kopf gestoßen und verflucht den Kaiser. 2. Akt 1./2. Szene: Drusilla und Chaerea beschließen zu fliehen. Drusilla ist zutiefst verzweifelt ob der Pläne ihres Bruders. Seneca rührt das Schicksal der beiden Liebenden, er will ihnen zur Flucht verhelfen. Sie trennen sich. 3. Szene: Ein Zenturio überbringt Caligula die Nachricht, dass Drusilla auf der Flucht aufgehalten wurde und sie sich das Leben genommen habe. Caligula deklamiert Zeilen auf die

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Tote, Seneca zeigt seine Erschütterung ob der Ereignisse. Er wird der Mitwisserschaft verdächtigt und von Caligula des Hofes verwiesen. 4. Szene: Der Ägypter triumphiert über seinen Gegner, der Dichter dichtet immer weitere Verse auf Caligula, der im Überschwang beschließt, den Tempel der Juden zu plündern. Widersprüche seines Beraters werden weggewischt: Erbärmliche Lakaien, Sklaventross. / Weit überragt an Klugheit euch mein Roß. / Zum Konsul mach ich’s in diesem Saal. / Ihr Senatoren holt es aus dem Stall. / Vor ihm sollt ihr euch gleich in Ehrfurcht neigen. / Ich werde meine Herrscherfaust euch zeigen.

Caligula lässt den Konsul sich entblößen und legt seinem Pferd dessen Toga um. Der Ägypter sieht sich seinen Umsturzplänen näher: Erst siebzig Jahr sind’s, seit Oktavian / Bei Aktium sich eine Welt gewann. / Was blieb vom Sieger, dem das Erdenrund / zu Füßen lag? Ein alter Schwachkopf und / ein Narr, der sich ein Gott zu sein vermißt / Allein von seinem Stamme übrig ist.

5./6. Szene: Drei alte Juden im Gespräch, die sich ob der Schändung ihres Tempels durch ein Bildnis Caligulas entsetzt zeigen und ihm den Kredit sperren wollen – er sei maßlos, habe er doch das Erbe des Tiberius, mehr als 100 Millionen Sesterzen in einem Jahr, verprasst. Sie verbünden sich mit Chaerea, der Zeuge ihres Gesprächs wird und mit ihrem Geld und ihrer Unterstützung eine Verschwörung auf die Beine stellen soll. 7. Szene: Seneca und Claudius, Seneca in Eile, er will fliehen. Claudius fleht ihn, seinen Freund an, zu bleiben. Seneca hält wenig von dessen „Beziehung“ zu Messalina, Claudius macht deutlich, dass er sich zu Höherem berufen fühlt. 8. Szene: Der vorhin beschämte Konsul, Helicon und Chaerea treffen zusammen. Helicon berichtet von den geplanten massiven Steuererhöhungen, der Regierungsstil des Kaisers verschlinge ungeheure Summen. Ein Zenturio erscheint, der den Sold für die Prätorianer einfordert, den Helicon nicht ausbezahlen kann. Chaerea springt vermeintlich ein. 9. Szene: Der Konsul und Chaerea verabreden ein Attentat auf Caligula, mithilfe der Garde, die nun auf der Gehaltsliste von Chaerea steht. 10. Szene: Der Ägypter und Messalina treffen aufeinander, er will ihr die für Drusilla gedachte Rolle andienen. Sie will nicht und schlägt ihm halb scherzhaft vor, Caligula solle sich stattdessen mit Isis vermählen. Der Ägypter nimmt diese Idee auf. 11. Szene: Caligula wirft nun seinerseits ein Auge auf Messalina. Mühevoll kann sie ihn abwehren. Er ist verzweifelt: Ein ungestilltes Sehnen in mir gärt / Mich selber aus mir selbst neu zu gestalten, / Das hieße wirklich wie ein Gott zu walten. / Beim Zeus, untragbar wird mein Drang.

12./13. Szene: Bei einer zufälligen nächtlichen Begegnung berichtet Caligula dem Ägypter von seinem Traum, ein neues Rom am Nil zu errichten. Ferner will er verschiedene Wunder der Antike in Ägypten neu errichten: den Koloss von Rhodos, die Sphinx, alles siebenmal so groß. Um seinen Thron sieht er alle anderen Götter, Jehova, Zeus, Osiris und Apoll. Der Ägypter bestärkt ihn darin. In einer absurden Miniszene spricht er zu den Zuschauern: Er sieht sich auf des höchsten Gottes Sitz. / Der Caesar hat ein Recht auf Aberwitz.

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3. Akt In einer opulenten Inititationsszene, die den kompletten Akt einnimmt, begibt sich Caligula im Isistempel in die (eventuell fingierte?) Unterwelt, wo er den alten Göttern, allen voran Isis, die Treue schwört. Mit dem Totengott konfrontiert will Caligula zunächst fliehen, schlägt dann aber fast verzweifelt mit einer Fackel nach ihm und bezwingt ihn dadurch. Wieder an der Oberfläche beschließt er als Gott zusammen mit Isis zu herrschen und nimmt die Sonnenkrone als Zeichen dafür an. In einem Anflug von Wahnsinn zerstört er ein verhülltes heiliges Bild, das dem Be­trachter die Wahrheit und die eigene Zukunft zeigt. 4. Akt Die germanische Praetorianergarde sinniert über ein aufkommendes Gewitter, man nimmt es als böses Omen und vermeint dort ein göttliches Zeichen zu erkennen; sie vertrauen aber auf ihren Anführer, Chaerea. Dieser beschließt mit dem herabgewürdigten Konsul zusammen das gewaltsame Ende des Kaisers, man gibt als Tageslosung „Freiheit!“ an die Soldaten aus. Derweil inszeniert Caligula mit Sonnenkrone und Isisstatue sich und seine neue göttliche Macht. In diese Szene hinein platzt Chaerea mit seinen Soldaten, die erst Helicon töten und sich dann mit den Anwesenden Gefechte liefern. Caligula ruft Isis und Jupiter an, während der Ägypter tödlich verwundet wird, den Soldaten aber die verächtliche Parole „Caesarenwahn“ entgegenruft. Im Anschluss an das Massaker wird Claudius hinter einem Vorhang entdeckt und zum Augustus akklamiert. Im Hintergrund wird Caligula ermordet. Letzte Szene und letzter Monolog gehören dem sterbenden Ägypter. In wechselnden Versformen schildert das Drama somit den schleichenden Verfall des jungen Kaisers. Er wird wahnsinnig, gefördert und manipuliert durch den ägyptischen Isis-Priester, der Caligula auch dazu bringt, sich von seinem Umfeld und seinem väterlichen Berater Seneca zu entfremden. Das Drama folgt den bekannten Stereotypen, wie sie in der antiken Literatur bereits angelegt und für das Publikum der 30er Jahre leicht zu rezipieren sind: Gaius wird wahnsinnig durch die Erkenntnis absoluter Macht und absoluter Einsamkeit; sein Verhältnis zu den Juden ist konfliktträchtig, seine Faszination für Ägypten in den Quellen nachweisbar; Claudius ist ein durch die Gegend stolpernder naiver Büchernarr, der als „Kürbis“ verspottet wird; Drusilla nimmt sich das Leben, weil sie ihren Bruder heiraten soll, doch zugleich in Chaerea verliebt ist. Chaerea schließlich rächt zusammen mit den Prätorianern seine geliebte Drusilla, indem er am Ende den wahnsinnigen Kaiser tötet, welcher gemäß einer bissigen Be­ merkung bei Cassius Dio somit unmittelbar erfahren muss, dass er doch kein Gott ist.5 Die historischen Figuren und ihre Pendants im Drama Auch wenn ein Drama keinen Anspruch auf historische Genauigkeit erhebt und nicht mit diesen Maßstäben bewertet werden sollte, seien einige kleinere Quervergleiche zwischen den „historischen“ und den „literarischen“ dramatis personae gestattet, insbesondere dort, wo sich das Drama seine diesbezüglichen Freiheiten nimmt. Drusilla und Chaerea waren nach allem, was wir wissen kein Paar. Auch wenn der „historische Chaerea“, ein römischer Praetorianertribun, ganz offensichtlich in die Verschwörung des Jahres 41 n.Chr. involviert war,6 so fehlen doch jegliche Hinweise auf eine solche Motivlage. Flavius 5 6

Cass. Dio 59,30,1. Ios. ant. 19,1,3 ff.; Suet. Cal. 56,2; Cass. Dio 59,29,1 ff. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Josephus, Sueton und Cassius Dio betonen zwar emotionale Motive, insbesondere Kränkungen und Demütigungen,7 letztere berichten jedoch unisono, dass Drusilla mit Aemilius Lepidus verheiratet gewesen sei.8 Diesem habe Caligula sie „weggenommen“ und ein inzestuöses Verhältnis mit ihr begonnen,9 was in der modernen Forschung als Element der Stigmatisierung Caligula verstanden und berechtigt in Frage gestellt wird.10 Zeitweilig soll Caligula seine Schwester als seine rechtmäßige Ehefrau behandelt haben – hier an dieser Stelle wandelt das Drama auf den Pfaden der historischen Vorlagen.11 Als Drusilla am 10. Juni 38 n.Chr. starb erhielt sie ein funus publicum und wurde als erste Frau in der Geschichte des Kaiserhauses divinisiert, wobei der Mann, der ihre Himmelfahrt bezeugte, ähnlich wie einst bei Augustus eine außerordentlich hohe Geldsumme erhalten haben soll.12 Außerdem wurde ihr zu Ehren ein eigener Kult mit einer eigenen Priesterschaft in Leben gerufen13 und ein goldenes Bild von ihr in der Kurie aufgestellt.14 Vor dem Staatsbegräbnis war sogar Staatstrauer angeordnet worden.15 Ihr Gatte M. Aemilius Lepidus hielt Drusilla die Leichenrede, nicht jedoch ihr Bruder, der angeblich nicht willens und nicht in der Lage dazu war. Er nahm nicht einmal an ihrem Begräbnis teil, was zeitgenössische Autoren teilweise heftig kritisieren.16 Dies muss schon verwundern, denn nach Ansicht diverser Kommentatoren stellten alle drei Schwestern für ihn, den kinderlosen Kaiser, wichtige Verbündete dar – v.a. Drusilla sei bereit gewesen, die dynastische Politik in seinem Sinne zu stabilisieren.17 Steins Caesarenwahn endet ja quasi mit dem Tode Caligulas, wir erfahren nichts über das weitere Schicksal seiner Akteure, insbesondere das von Chaerea. Unsere historischen Quellen sind hier aussagekräftiger: Die Mörder Caligulas, so auch Chaerea, wurden auf Befehl des neuen Kaisers, Claudius, hingerichtet – so lautete eine seiner ersten Regierungsanweisungen. Claudius 7 8 9 10 11 12

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Ios. ant. 19,1,3 ff.; Suet. Cal. 56,2; Cass. Dio 59,29,2 u. 6. Suet. Cal. 24,1; Cass. Dio 59,11,1. Ebd. Hurley 1993, 97 (kaum Gründe für den in den Quellen geschilderten Zusammenbruch des Kaisers; selbst frühe, Caligula-feindliche Quellen wie Seneca oder Philo wüssten nichts von einem in­z estuösen Verhältnis). Suet. Calig. 24,1. Cass. Dio 59,11,1–5. Divinisierung am 23.9.38 n.Chr: CIL VI 2028; vgl. Wood 1995, passim; Kornemann 1960, 248: „Dies hat zu der Merkwürdigkeit geführt, daß die erste Apotheose nach Augustus’ Vergottung einer Frau zuteil geworden ist, und zwar nicht Livia, was im Sinne des Augustus gewesen wäre, sondern dieser unbedeutenden Drusus-Enkelin.“ Herz 1981a, 326; 335: Da Tiberius diese Ehre Livia nicht zugestand, habe Drusilla eine „exzeptionelle Stellung (...) bei der Ausformung des römischen Herrscherkultes“. Vgl. auch Wesch-Klein 1993, 27; Lindsay 1993, 110; Rosborough 1920, 38; Herz 1981b, passim. Cass. Dio 59,11,3. Herz 1981a, 328. Der Fortbestand des Kultes sei jedoch durch die politische Ent­ wicklung stark beeinträchtigt worden: „Nach dem Tode Caligulas dürfte auch dieses Gremium obsolet geworden sein, obwohl sich die damnatio memoriae nach dem Tode Caligulas nicht ausdrücklich auf Drusilla erstreckte.“ Laut Vittinghoff 1936, 102–103 erfolgte keine offizielle damnatio; im kultischen Bereich habe es jedoch außerordentliche Umwälzungen gegeben, die natürlich Auswirkungen auf andere Familienmitglieder gehabt habe. Vgl. auch Krüpe 2011, 143–150 Cass. Dio 59,11,2. Es handelt sich um eine außerordentliche Ehre für eine Frau; eine weitere Statue, die im Venustempel plaziert worden sein soll, erscheint in der Dio-Stelle ohne Materialangabe; „es ist fraglos das templum Veneris Gentricis (der Stammutter der iulischen Familie) auf dem Forum Iulium gemeint“ (Herz 1981a,, 327). Zur Einhaltung vgl. Senec. Dial. 11 (ad Polyb.) 17,5; Suet. Cal. 24,2; Cass. Dio 59,11,5–6. Vgl. Senec. Dial 11 (ad Polyb.) 17,4. Ferrill 1991, 109: „Caligula was too distraught even to attend.“ Hurley 1993, 97. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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soll sich über den Tod des Vorgängers zwar gefreut haben, konnte aber die Vorgänge natürlich nicht dulden, schon aus Sorge um die eigene Sicherheit nicht, so Cassius Dio, weil es ein Kaisermord war. Daher habe Claudius Chaerea so behandelt, als hätte dieser einen Attentats­ versuch gegen ihn selbst unternommen.18 Gleich, welche Darstellung man bemüht: Claudius bleibt eine merkwürdige Figur unter Roms Kaisern.19 Häufig kränkelnd, als stammelnd und stotternd beschrieben,20 aber keineswegs ungebildet, im Gegenteil,21 keine charismatische Persönlichkeit, kein „Leader“, ein von „Sklaven und Frauen Getriebener“,22 mit einem bespöttelten Privatleben23 und einem ausgeprägten philologischen Interesse24 war er beim Tode Caligulas der unwahrscheinlichste Nach­ folger. Er war zudem einer, der auf diesen Posten auch nicht wirklich vorbereitet worden war – aber eben der letzte verbliebene Kandidat.25 Die Umstände seiner Akklamation sind bis auf Details richtig wiedergegeben und in historischen Romanen und Filmen ähnlich aufgegriffen worden.26 Im Alter von 50 zu diesen Würden gelangt war er in vielen Dingen und Eigenschaften das absolute Gegenteil seines Vorgängers, der ihn den Quellen zufolge tatsächlich so schlecht behandelt haben soll wie es auch im Stück dargestellt wird.27 Anders als im Stück dargestellt fand die Hochzeit mit Messalina jedoch schon 38 oder 39 statt, für ihre gemeinsamen Kinder Octavia und Britannicus werden die Jahre 40 und 41 als Geburtsdaten benannt. Wie in den Quellen benannt ist Messalina auch im Stück recht jung (jünger als 20). Den Spitznamen „Kürbis“ allerdings verdankt Claudius einer deutlich späteren Satire auf sich, der Apocolocyntosis,28 deren bissig-ironische Schilderungen gerade auf die Zeitgenossen außerordentlich komisch gewirkt haben müssen und für die mittlerweile Seneca als Autor akzeptiert ist,29 die ihren Titel jedoch vermutlich Cassius Dio verdankt.30 Messalinas laszive Darstellung im Stück folgt den Stereotypen der antiken Literatur, die in ihr eine viel zu mächtige nymphomanische Frauengestalt sahen, eine femme fatale, der ihr Mann heillos verfallen gewesen

18 Cass. Dio 60,3,4. So auch Christ 42002, 215; Winterling 2003, 165–166: „Kein neuer Kaiser hätte den Mörder seines Vorgängers ungestraft lassen können, ohne seine eigene Sicherheit durch dieses Exempel zu gefährden.“ 19 Ronning 2011, 262. 20 Suet. Claud. 30. Kierdorf 1997, 68: „(…) keineswegs schwachsinnig, aber noch in fortgeschrittenen Jahren hinkte er auffällig, konnte weder seinen Kopf noch seine Hände ruhig halten, sprach undeutlich und stotternd und verlor bei Erregung völlig die Kontrolle über sich.“ 21 Cass. Dio 60,2,2. 22 Cass. Dio 60,2,4 ff. 23 Tac. ann. 11,13,1. 24 Kierdorf 1997, 68. 25 Kierdorf 1997, 67–68. 26 Es sei nur verwiesen auf Robert (von Ranke-) Graves, I, Claudius / Claudius the God (beide 1934) mit seinen medialen Umsetzungen. 27 Kierdorf 1997, 69: „Die Hofgesellschaft trieb mit dem etwas vertrottelten älteren Herrn ihre schlechten Späße; und die Zwangsmitgliedschaft in einem neuen Priester-Kollegium für den Kult des Caligula, die mit einem enormen ‚Eintrittsgeld‘ verbunden war, ruinierte Claudius’ nicht unbeträchtliches Vermögen.“ 28 Vgl. hierzu Kraft 1966, passim. 29 Parker 1946, 46–47 kann dies mit anderen Reden aus der Jugend Neros belegen, die auch Seneca geschrieben habe (mit Verweis auf Cass. Dio 61,3,1; Tac. ann. 13,11). 30 Cass. Dio 60,35,2. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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sei.31 Nach einer Reihe teilweise auch bewusst öffentlichkeitswirksamer Affären wurde sie im Oktober 48 n.Chr. hingerichtet und verfiel danach der damnatio memoriae.32 Seneca verkörpert im Stück eher den „elder statesman“, dabei ist dies die Rolle, die er erst unter Nero einnehmen sollte: Er ist zwar in der Regierungszeit Caligulas Quaestor und Mitglied des Senats und immerhin schon 40, aber die bei Stein relativ eng beschriebene Bindung zwischen den beiden scheint es nicht gegeben zu haben. Sein rascher Aufstieg provozierte im Gegenteil eher Misstrauen und Neid seitens Caligula.33 Cassius Dio zufolge wäre um ein Haar auch Seneca unter den Opfern einer Hinrichtungswelle gewesen, nur weil er zuvor im Senat mit einer Rede geglänzt hatte.34 Einzig der falsche Hinweis auf seine schwere Erkrankung und den nahenden Tod habe ihn gerettet. Helicon, im Stück ein zwar skrupelloser, aber letztlich machtloser ägyptischer „Diener“ Caligulas, historisch gesehen wohl eher kein Sklave mehr, sondern einer von mehreren mächtigen Freigelassenen am Hofe Caligulas,35 erscheint insbesondere im Bericht Philons von Alexandria über die jüdische Gesandtschaft nach Rom (40 n.Chr.).36 Für Winterling gehört er zum Kreis der Vertrauten des Kaisers, übernahm eine Art Leibwächterfunktion und kontrollierte den Zugang zu Caligula – etwas, das uns im Stück so ähnlich dargestellt wird. Auch Albert Camus’ Caligula (1938, uraufgeführt 1945) interpretiert Helicon in eben dieser Richtung,37 der bekannte Philosoph und Schriftsteller führt seine Version maßgeblich auf Sueton zurück.38 Ein anderer Ägypter bleibt bei Stein namenlos, trägt aber fraglos auch Züge von Helicon: der ägyptische Isis-Priester. In zumindest einer Textstelle bei Cassius Dio erscheint eine ähnlich nebulöse Gestalt, wird jedoch nur angedeutet, dort überlebt er den gewaltsamen Tod des Herrschers.39 Zu guter Letzt Gaius Caesar Germanicus, der Nachwelt besser bekannt unter seinem Spitznamen ‚Caligula‘, der tatsächlich am 24. Januar des Jahres 41 n.Chr. das Opfer einer Verschwörung wurde: Unter Führung des „historischen“ Cassius Chaerea ermordete eine Gruppe von Prätorianern ihn, seine Frau Caesonia und seine Tochter während der Palatinischen Spiele.40 Nach seiner Ermordung wurde er in aller Eile in den Lamischen Gärten eingeäschert und bloß oberflächlich beigesetzt, angeblich sogar „nur halb verbrannt“ wie Sueton in seiner Caligula-Vita spöttisch 31 Iuv. 6,115–132; Plin. nat. hist. 10,172; Tac. ann. 11,30,2; 12,7,3; Cass. Dio 60,14,2–4; 60,18,1–2; Steg­ mann 1999, 366–367: „schon in der antiken Literatur als habgierige, grausame und v.a. sexuell lüsterne Frau gezeichnet.“ 32 Vgl. Krüpe 2011, 168–170. 33 Clarke 1965, 66. 34 Cass. Dio 59,19,7. 35 So zu Recht Vössing 2004, 514; Winterling 2003, 116. 36 Phil. Leg. 165–168; 175–176; 205–206. 37 Camus 2013, Caligula, 3. Akt, 3. Szene: „Beenden wir dieses Spiel, Gajus. Wenn du mich nicht anhören willst, gehört es zu meiner Rolle, trotzdem zu sprechen. Pech, wenn du mich nicht hörst.“ / 4. Akt, 6. Szene: „Verachte nur den Sklaven, Cherea! Er steht über deiner Tugend, denn er kann noch diese erbärmlichen Herrn lieben, den er gegen eure edlen Lügen, eure eidbrüchigen Münder verteidigen wird...“ 38 Camus 1959. 39 Cass. Dio 59,29,4: „Ebenso prophezeite ein Ägypter Apollonius in seinem Heimatland das Schicksal des Herrschers; er wurde deshalb nach Rom geschickt und Gaius gerade an dem Tag vorgestellt, an dem er sterben sollte.“ 40 Suet. Cal. 56,2; 58; Cass. Dio 59,29,6 ff.; Ios. ant. 19,46–48; 99–114; Senec. de const. sap. 18,3; Analyse der Vorfälle bei Winterling 2003, 166–170. Frau und Tochter kommen bei Stein gar nicht vor, bei Camus dagegen spielt die Caesonia eine enorm wichtige Rolle. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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z­u berichten weiß.41 Erst später ließen seine Schwestern die Leiche exhumieren und endgültig beisetzen.42 Stein macht ihn in seinem dramatischen Gedicht älter (31) als er zum Zeitpunkt seiner Ermordung war (28), wobei nicht zu klären ist, warum er dies tut und auf welche möglicherweise fehlerhafte Quelle oder Notiz er dabei zurückgegriffen haben könnte. Steins Caligula ist ein Konglomerat der Entartungen und Auswüchse, die wir bei den bekannten Literaten und Autoren finden, er lässt sich keinem allein zuschreiben, sondern bedient sich diverser Folien von Vorurteilen und Klischees. Wenn der sterbende Kaiser bei Stein am Ende seines Lebens beispielsweise Iuppiter anruft findet sich dies analog bei Sueton43, andere Szenen wiederum erinnern eher an Tacitus oder Cassius Dio. Vermeintliche religiöse oder religionspolitische Motive wie bspw. die im Caesarenwahn immanente Begeisterung für Isis wurden, wie Christian Ronning zu Recht kritisiert, zwar in der Forschung aufgegriffen und weiterentwickelt, entbehren aber einer belastbaren Quellenbelegen.44 Steins Caligula ist eine Figur mit vielen historiographischen und literarischen Facetten; keineswegs ungewöhnlich, aber durchaus mit individuellen Zügen. „Caesarenwahn“ Es ist hier nicht Zeit und Ort eine vollständige Bilanz des dritten Kaisers zu ziehen, ein Aspekt muss jedoch naturgemäß besonders herausgegriffen werden, denn Caligulas Name ist nahezu unwiderstehlich mit dem Wahnsinn verbunden, in den Köpfen aktueller wie ehemaliger Menschen. Kaum jemand kommt an diesem Topos vorbei, hierzu genügt ein Blick in aktuelle Fachlexika.45 Labiler Charakter und psychische Erkrankung scheinen Stand der Forschung und lassen sich bei den antiken Autoren leicht finden und zusammen tragen: Die Zeitgenossen Seneca und Philo sprechen wie später auch Sueton von furor, inasania und manía, von dementia und paraplexia,46 spätere Autoren wie Flavius Iosephus und der Ältere Plinius von mania und insania,47 Tacitus konstatiert eine turbata mens, Sueton eine fehlende valitudo animi bzw. mentis zu.48 Lediglich übersetzt demnach: „Wahnsinn“, „Raserei“, „Verrücktheit“, „verwirrter Verstand“, „Unwohlsein von Körper und Geist“. Auf moderne Termini übertragen klingen die Berichte der antiken Autoren dann wie eine Checkliste für Psychopathen: Grausamkeit, Laster, Sadismus, Hochmut, Hybris, ausgelebte Minderwertigkeitskomplexe, Missbildungen an Körper und Geist, Schizophrenie, Verschwendungssucht, „bipolare Störung“, Epilepsie, Erkrankung des Gehirns, Perversion der Macht usw. usf. Es gilt festzuhalten: „Caesarenwahn“ wird hier nicht gelistet, er ist kein antiker Begriff, er erscheint als terminus technicus bei keinem der genannten Autoren. Will man den Begriff jedoch etablieren, muss man auf eben diese Textstellen

41 Suet. Cal. 59. 42 Vgl. zur Ermordung und den weiteren Ereignissen Scherberich 1995, 211–231. Von Vittinghoff mit den Worten kommentiert, Claudius habe es entweder gestattet oder „übersehen“ (1936, 103 Anm. 476). 43 Suet. Cal. 58,3. 44 Ronning 2011, 257–258. Vgl. nur Köberlein 1962, 13 („deutliche Hinneigung zur Ägypterei“, „im Banne ägyptisierender Vorstellungen“). 45 Vgl. die im Anhang zitierten Artikel aus dem DNP bzw. Lexikon der antiken Medizin. 46 Philo Leg. 76; 93; Senec. de ira 1,20,9; 3,19,3; 3,21,5; Dial. 2,18,1. 47 Ios. ant. 19,208; Plin. nat. hist. 36,113. 48 Tac. an. 6,20,1; 6,45,3; 11,3,2; 15,72,2; Suet. Cal. 50,2; 51,1; 55,1 ff. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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referenzieren. Die antiken Quellen dienen dann als ärztliches Bulletin, der Althistoriker mutiert zu einer Art Dr. House, wenngleich auf Basis einer echten Ferndiagnose ...49 Eigentlich verbietet sich dies von selbst,50 doch gerade Caligula gilt als Lichtgestalt der sog. „Imperial Madness“, welche in den letzten über weit über 100 Jahren eben auch mit Methoden der Psychoanalyse untersucht wurde. Die oben genannten Literaten und Historiker der frühen wie auch der hohen Kaiserzeit müssen bei einer solchen Herangehensweise als Stichwortgeber für psychologisch-soziologische Problemfelder und Traumatisierungen (schwierige Kindheit, Alkoholismus oder sexuelle Ausschweifungen) herhalten, die im Einklang mit Caligulas angeblicher Epilepsie sowie einer weiteren schweren Krankheit das wunderbar einleuchtende und stimmige Gesamtbild eines geisteskranken, egoistischen, brutealen und ausschweifenden Tyrannen ergeben. Carl Pelman beispielsweise, Professor der Psychiatrie an der Universität Bonn, deklarierte den Caesarenwahnsinn 1912 schlicht zur „Berufspsychose“, Caligula als Spross zweier alter und entarteter Familien habe den Gedanken nicht ertragen, Beherrscher der Welt zu sein.51 „Schizoid wenn nicht gar schizophren“, diagnostizierte auch der Medizinhistoriker Albert Esser 1958.52 Arther Ferrill, der Verfasser einer maßgeblichen Biografie aus dem Jahre 1991, hielt Caligula für „crazy“.53 Werner Eck sprach 1993 in seiner Biografie der Jüngeren Agrippina von dem „ganz offensichtlichen Wahnsinn“ des Kaisers. „Imperial madness“ schrieb ihm Zvi Yavetz in einem 1996 erschienenen Aufsatz zu.54 Paul Schrömbges hat schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass sich die CaligulaForschung in den letzten Jahren wieder ein wenig stärker in Richtung einer politischen, mit Gründen der Staatsräson erklärenden Beurteilung verschoben hat, die deutlicher als bislang die Wurzeln des „Caesarenwahn-Topos“ aus den antiken Quellen herausgearbeitet hat. Zu diesen Vertretern zählt sicherlich auch Aloys Winterling, aus dessen Feder eine der jüngeren CaligulaBiographien stammt und der für eine „Rationalisierung des Scheusals“ wirbt – oder Mischa Meier in einem Beitrag für ZDF History.55 Schrömbges widerspricht jedoch der Annahme, dass es möglich sei, ein geschlossenes Persönlichkeitsbildes Caligulas zu rekonstruieren. Letztlich 49 So geschehen bspw. bei Strasburger 1982, 1109 (er empfiehlt eine psychologische Schulung des Histori­ kers); vgl. dazu Ronning 2011, 254: „Hier, anhand der „kranken“ Persönlichkeit des Cali­g ula, war nichts Geringeres a1s eine Pathologie des Prinzipats zu entdecken. Das Aufkommen der Psychia­trie und Nerven­heilkunde in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts – und damit eines neuen Instrumentariums der Deutung – tat sein Übriges. Man meinte nun, aus den Nachrichten bei Sueton und Cassius Dio die Genese einer kranken Seele wissenschaftlich korrekt nachzeichnen zu können. Statt die antiken Berichte einfach nur nachzuerzählen, hielt man einen zeitgemäßen Schlüssel zu ihrer Deutung und Re-Narrativierung in der Hand.“ 50 So zu Recht Kurz 2005, 185. 51 Pelman 31912, 93–117. 52 Esser 1958, 139. 53 Ferrill 1991, 118 („breakdown of a previously tormented mind“); 139; 165. 54 Yavetz 1996, passim. 55 https://www.zdf.de/dokumentation/zdf-history/caesarenwahn-die-droge-der-macht-102.html: „Er befällt vor allem die Mächtigen: der Cäsarenwahn. Wer von ihm getrieben ist, glaubt quasi göttlich zu sein. „ZDF-History“ rekonstruiert die gigantomanischen Pläne von Kaisern und Diktatoren.“ Darin Mischa Meier [T.C. 00:09:49–00:10:21]: „Ob Caligula wahnsinnig gewesen ist lässt sich wahrscheinlich aus heutiger Perspektive überhaupt nicht mehr klären, weil wir über seinen medizinischen Zustand nicht gut genug informiert sind. Es ist jedenfalls auffällig, dass alle seine noch so skurrilen Handlungen und auch noch so zynischen Umgangsformen mit den Senatoren, sich doch erklären lassen, wenn man ein bisschen © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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sei die Überlieferung des kaiserlichen Wahnsinns nur eine „[...] Abfolge jeweils eigenständiger Gaius-Bilder, die lediglich durch eine oberflächliche Phänomenstruktur, durch ein mehr oder weniger abgestimmtes Anekdotengefüge jene Einheitlichkeit vermittelt, die als Grundlage der historiographischen Beurteilung der Person des Kaisers dient.“56 Der Versuch, ein historischauthentisches Bild des Kaisers Caligula zu entwerfen, sei hierdurch in weite Ferne gerückt; allenfalls Grundzüge seien erkenn- und verwertbar. Und abschließend: Caligulas Wahnsinn entzieht sich aufgrund der Quellenlage dem Zugriff des Historikers und erweist sich als Topos; er wird zum Gegenstand literar- und ideengeschichtlicher Forschung.57

An dieser Stelle sind wir. Vielleicht etwas frustriert, aber mit dem Thema nicht am Ende, denn wie Florian Sittig jüngst feststellte: „Cäsarenwahnsinn hat Konjunktur!“58 Die antiken literarischen Quellen werden intensiver Würdigungen unterzogen, die modernen wissenschaftlichen auch, doch reicht das möglicherweise nicht, wenn man auch in Betracht ziehen muss, dass Terminus und Symptomatik Neuschöpfungen der Neuzeit sind. Nun ist hier nicht der Ort, zu viele Diskussionen und Vermutungen über die historiographische Urquelle dieses Topos anzustellen, zumal es sich hier noch um work in progress handelt, aber ganz kommt man an diesem Problem nicht vorbei. Gemeinhin stößt immer wieder auf die These,59 es sei Gustav Freytag gewesen (1816–1895), ein deutscher Schriftsteller und nationalliberaler Reichstagsabgeordneter, der in seinem Werk „Die verlorene Handschrift“ 1864 den Boden hierfür bereitet habe:60 (…) »Ew. Hoheit würden, ich bin überzeugt, mit dem größten Anteil die verschiedenen Formen dieser Seelenkrankheit betrachten, und Höchstdieselben würden in andern Zeiträumen der Vergangenheit, ja in früheren Zuständen unseres eigenen Volkes viele bedeutsame Seitenbilder finden.« »Sie nehmen also eine besondere Krankheit an, welche nur die Regenten befällt?« frug der Fürst, »die Mediciner werden Ihnen für diese Entdeckung besonderen Dank wissen.« »In der That,« rief der Professor eifrig, »ist die furchtbare Bedeutung dieser Erscheinung noch viel zu wenig gewürdigt, keine andere hat auf das Schicksal der Nationen so unermeßlichen Einfluß geübt. Was Pest und Krieg verdarben, ist wenig gegen die verhängnisvolle Verwüstung der Völker, welche durch dies besondere Leiden der Herrscher angerichtet wurde. Denn diese Krankheit, welche noch lange nach Tacitus unter den römischen Imperatoren wütete, ist kein Leiden, welches auf das alte Rom beschränkt war, Sie ist zuverlässig so alt, wie die Despotien des Menschengeschlechts, sie befiel auch später in den christlichen Staaten zahlreiche Herrscher, sie brachte in jeder Zeit anders geformte, groteske Gestalten hervor, Sie war durch Jahrtausende der Wurm, welcher, in der Hirnschale eingeschlossen, das Mark des Hauptes verzehrte, das Urteil vernichtete, die sittlichen Empfindungen zerfraß, bis zuletzt nichts übrig blieb, als der hohle Schein des Lebens. Zuweilen wurde es Wahnsinn, den auch der Arzt nachweisen kann, aber in zahlreichen anderen Fällen hörte die bürgerliche Zurechnungsfähigkeit nicht auf und der geheime Schaden barg sich sorgfältig. Es gab Zeiträume, wo nur einzelne festgefügte Seelen sich völlige Gesundheit bewahrten, und wieder

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auf die politischen und die strukturellen Hintergründe des frühen Principats also der frühen Kaiserzeit blickt.“ Schrömbges 1988, 189. Schrömbges 1988, 190. Sittig 2016, 229. So zuletzt auch Sittig 2016, 230. Freytag 1955, 4. Buch, Kap. 6 („Ein Kapitel aus der verlorenen Handschrift“), hier 433 (München 1955). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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andere Jahrhunderte, wo ein frischer Luftzug aus dem Volke die Häupter, welche das Diadem trugen, frei erhielt. Ich bin überzeugt, wer den Beruf hat, die Zustände späterer Zeit genau zu untersuchen, wird im Grunde denselben Verlauf der Krankheit selbst noch in den milderen Formen unserer Bildung erkennen. Meinem Leben liegen diese Beobachtungen fern, auch zeigt der römische Staat allerdings die abenteuerlichsten Formen der Krankheit, denn dort sind die größten Verhältnisse und eine so mächtige Entfaltung der Menschennatur in Tugend und Verkehrtheit, wie seitdem selten in der Geschichte.« »Den Herren Gelehrten aber macht es besondere Freude, diese Leiden früherer Herrscher ans Licht zu stellen?« frug der Fürst. »Sie Sind gewiß lehrreich für alle Zeiten,« fuhr der Professor sicher fort, »denn sie prägen durch furchtbare Beispiele die Wahrheit ein, daß der Mann, je höher er steht, um so stärkere Schranken nötig hat, welche die Willkür seines Wesens bändigen. (…)

Ich glaube nicht an diese inventio e nihilo, und möchte andere Traditionslinien vorschlagen. Doch nehmen wir zunächst die bisherige Erklärung als gegeben an: Wenn wir Freytag, dem dichtenden Historiker, die Invention des Begriffs zuschreiben wollten müssten wir den Blick auf sein Umfeld lenken – und dieses wäre ausgesprochen inspirierend: Seit Studientagen war Gustav Freytag mit Heinrich von Treitschke und Theodor Mommsen befreundet,61 wie zahlreiche Briefe dokumentieren, auch solche mit ihrem gemeinsamen Verleger Salomon Hirzel.62 In diese akademischen Zirkel gehörten mehr oder minder unmittelbar die großen Althistoriker-, Archäologen- und Philologenpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts hinein, als da wären Johannes Classen (1805–1891) und August Böckh (1813–1869), vor allem aber Otto Jahn (1813–1869) und Moriz Haupt (1808–1874),63 zu deren Schülern wiederum nahezu alle gehörten, die in dieser Zeit neben Mommsen Rang und Namen hatten: Otto Benndorf (1838–1907), Hugo Blümner (1844–1919), Eugen Bormann (1842–1917), Conrad Bursian (1830–1883), Karl Dilthey (1839–1907), Wolfgang Helbig (1839–1915), Adolf Michaelis (1835–1910), Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900), Eugen Petersen (1836–1919) und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf (1848–1931).64 Enge Kontakte bestanden auch zu Karl Otfried Müller (1797–1840) und zu Jahns Lehrer Karl Lachmann (1793–1851). In diesen Zirkel hinein gehörten auch Jacob und Wilhelm Grimm (1785–1863 bzw. 1786–1859). In großem Umfang wurden ihre Briefwechsel untereinander ediert, sie zeugen von einem regen Austausch nicht nur über editorische Vorhaben, sondern auch über verschiedenste (alt-)historische Themen und tagespolitische Diskussionen,65 und wären lohnende Fundgruben für Netzwerkanalysen. Abseits der Verlegerszene und der akademischen Zirkel waren Themen aus der Antike auch in den sog. „literarischen Salons“ verbreitet, in denen insbesondere Mommsen regelmäßiger Gast war.66 Er, Multiplikator und Knotenpunkt zahlreicher Netzwerke,67 befand sich in regem

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Rebenich 2007, 62; Galler – Matoni 1994–1995, Bd. I, 10. Galler – Matoni, 1994–1995, passim. Galler – Matoni 1994–1995, 300. Entsprechende Kommunikation findet sich in zahlreichen Briefeditionen. Freytag ließ sein Manuskript der „Fabier“ vor der Veröffentlichung von Mommsen und Jahn auf Fakten­ treue prüfen: Galler – Matoni, 1994–1995, Bd. I, 18; 208. 66 Rebenich 2007, 211–215. 67 Er sei nur verwiesen bspw. auf Demandt 1992, passim. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Austausch mit zahlreichen Vertretern aus Wissenschaft, Gesellschaft und Politik, ein Milieu das als förderlich für Diskussionen aller Art angesehen werden muss. Sollte dort „Caesaren­ wahn“ thematisiert worden sein, war es danach sicherlich bald in aller Munde. Und Mommsen hat es nachweisbar thematisiert, wenngleich nur am Rande und in einer eher politischen Stoßrichtung.68 Doch schon lange vor Freytag und Mommsen gab es tiefgehende Traditionslinien: Man kennt gemeinhin die klassischen Überlieferungsgeschichten antiker Quellen und ihrer Autoren: Kon­serviert durch die Jahrhunderte mittels immer neuer Kopien und Kopisten, gesammelt in großen wie kleinen Bibliotheken, vieles verloren, manches zum Glück nicht, wieder entdeckt durch die besondere Zuneigung der Humanisten der Renaissance zur Antike. Bücherjäger wie Poggio Bracciolini oder Niccoló Niccoli durchstöberten Europas Bibliotheken nach bibliophilen Schätzen und brachten gemeinsam mit zahlreichen exilierten griechischen Gelehrten eine Wiedergeburt antiker Ideen und eine Wiederentdeckung antiker Schriften auf den Weg. Giovanni Aurispa beispielweise gelang es über 200 Kodizes aus Konstantinopel nach Italien zu überführen, darunter auch Cassius Dio.69 Dichter wie Petrarca oder Boccaccio rezipierten lebhaf­t antike Literaten und Historiker und schlossen die Überlieferungslücken der Jahr­ hunderte.70 Seit dem 15. Jahrhundert waren antike Stoffe und Themen demnach wieder leichter zugänglich – ohne dass der Begriff „Caesarenwahn“ eine Verselbständigung erfahren hätte. Was wir greifen können ist lediglich der sog. „furor principum“, der in verschiedenen Quellen angesprochen wird. Also doch eine kreative Neuschöpfung durch Freytag? Ohne dem Dichter seine Schöpferkraft absprechen zu wollen: Die Wurzeln liegen tiefer … François-Joseph de Champagny (1804–1882), französischer Historiker und Publizist, Mitglied der Académie Française kreierte in seinem Werk Histoire des Césars bereits 1841 den Begriff der „manie imperiale“.71 Das vierbändige Werk mit mehreren Fortsetzungen bis in die Spätantike hinein erlebte zwei Auflagen und wurde intensiv rezipiert – und damit die Sentenz seines Autors, dass grundsätzlich jedem Kaiser ein gewisser Wahn nachzusagen sei. Schon einige Jahre später war es Ferdinand Gregorovius (1821–1891), der Autor des mediaevistischen „Bestsellers“ Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, der in seinem mehrbändigen Werk Wanderjahre in Italien (1856–1857) angesichts seiner Schilderung der Insel Capri räsonnierte: Tiberius war der erste eigentliche Monarch nach Augustus, der noch in den Formen der Republik regiert hatte. Er erbte eine schon sklavisch gewordene Menschheit. An der Schlechtigkeit der Welt ging er selbst zugrunde. Caligula wurde bei dem Gedanken wahnsinnig, Herrscher der Erde zu sein, und dauerte nur wenig Jahre. Das ist kein Wunder. Denn diesen Menschen warf eines Tags der Zufall die Welt mit allen ihren Genüssen vor die Füße; sie wurden darüber sinnlos, sie hätten die Erde auf einmal ausschlürfen mögen wie ein Ei. Nach den Bürgerkriegen und nach Augustus trat eine Stille in der Weltgeschichte ein, die wüsteste Pause im Leben der Menschheit, da die Alte Welt unaufhaltsam verrottete. Augustus war groß und glücklich, weil er seine Herrschaft errungen hatte; seine Nachfolger waren elend, weil sie nichts zu erstreben hatten. Auf einmal in den Besitz eines schon längst eroberten Weltreichs gesetzt, wussten sie nicht, womit sie ihre Tage hinbringen sollten, denn auch der Genuss des Herrschens wird unerträglich, wenn ihn nicht Mühe würzt 68 69 70 71

Mommsen, Bd. 2,2, 31887, 759. Schreiner 1994, 623–633. Nur exemplarisch sei verwiesen auf Greenblatt 2011. de Champagny 1837, 742. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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und Entbehrung unterbricht. Caligula überbrückte im Wahnsinn das Meer, Claudius ward ein Bücherwurm, Nero steckte Rom in Brand und spielte dazu die Zither, er machte Verse und wollte wenigstens als Wagenlenker und Komödiant etwas gelten. In jener Periode des antiken Weltschmerzes finden wir hintereinander Tiberius, Caligula, Claudius und Nero, Dämonen und Verrückte, weil das Räderwerk der Geschichte stille hielt. Beispiellos teuflisch wäre die Natur, schaffte sie solche Ungeheuer nacheinander grundlos und als ein abgeschmackter Zufall.72

Johannes Scherr (alias Jedediah Semmelziege, Iogann Serr, Ilius Pamphilius, Jeremia Sauer­ ampfer, Zacharias Zinnober; 1817–1886), ein deutscher Kulturhistoriker und Autor, hatte 1862–1863 eine dreibändige Blücher-Biographie vorgelegt, in der er dem Kaiserwahnsinn Napo­leons gleich ein ganzes Kapitel des 2. Buches widmete.73 Sein Zeitgenosse und Historikerkollege, Victor Duruy (1811–1894), Historiker und Unter­ richts­minister unter Napoleon III., verfasste ungefähr um dieselbe Zeit eine umfängliche Histoire de Romains jusqu’à la mort de Théodose (1870–1879), die von Gustav Friedrich Hertz­berg ins Deutsche übersetzt und ebenfalls intensiv rezipiert wurde: letzterer, Professor für Alte Geschichte an der Universität Halle verfasste eine leicht komprimierte Fassung dieses ur­sprünglich siebenbändigen Werkes und brachte damit auch die bemerkenswerten Passagen über den „Caesarenwahn“ noch stärker als ohnehin schon in die deutsche Althistorie ein.74 Für Duruy und Hertzberg war Caligula ein „unsinniger Tyrann“ und „bösartiger Frevler“, der dem Prinzipat mit all seiner Macht­fülle aufgrund innerer Labilität schlicht nicht gewachsen war. Ihre Darstellung soll es ge­ wesen sein, die Quidde zu seinem berühmten Caligula inspiriert habe.75 In diese Zeit gehört dann auch die Rezeption durch Gustav Freytag, doch schon vor ihm hatte es andere Literaten gegeben, die sich des Sujets angenommen hatten: Karl Gutzkow (1811–1878), den Freytag 1846 kennen lernte und zu dem er in den 50er Jahren eine Hassliebe ent ­wickelte,76 hatte bereits 1835 mit Nero ein Drama auf die Bühne gebracht, das inhaltlich und rezeptorisch eine Reihe von Anknüpfungspunkten zwischen dem letzten Kaiser der iulischclaudischen Dynastie und dem Wittelsbacher Ludwig I. lieferte.77 Das Thema „Caesarenwahn“ war also Mitte des 19. Jahrhunderts mitnichten „innovativ“, das war es lediglich hinsichtlich seiner Verankerung mit tagespolitischen Fragestellungen, in seiner Melange aus Literatur, Wissenschaft und politischer Instrumentalisierung, die in dieser Radikalität in den Jahrhunderten zuvor nicht existiert hatte.78 Diese Rahmenbedingungen wa72 Gregorovius 41874, 371–372. 73 Hier zitiert nach der 2. Auflage, Leipzig 1865 (http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10069141_00005.html): „Die fixe Idee der Weltherrschaft trat also in frecher Nacktheit hervor: der Kaiserwahnsinn war ganz offenkundig ausgebrochen und hörte mehr und mehr auf, ein „Wahnsinn mit Methode“ zu sein.“ (437) „Es unterliegt gar keinem Zweifel, der Kaiserwahnsinn begann den Genius des Mannes mehr und mehr zu verdunkeln. Wie er, was seine innere Politik anging, übersah, daß Frankreich die Last eines solchen Kaiserthrons unmöglich in die Länge tragen könnte, so häuften sich auch in seinem Walten und Schalten nach Außen die Irrthümer, Mißgriffe, Thorheiten und Rohheiten.“ (439). 74 Vgl. Kloft 2001, 106. 75 Kloft 2001, 106. 76 Galler – Matoni 1994–1995, Bd. I, 9; 159–160 u.v.a. Vgl. Schofield 2011, 169–182. 77 Über den Erfolg des Stücks ist wenig bekannt: Grimm vermutet bestenfalls ein verlustfreies Geschäft für den Verlag, denn da es nicht der Zensurbehörde vorgelegt worden war, durfte es in Preußen nicht erscheinen (Grimm 2010, 77; 140; 214). 78 Quidde 1926b/2001, 81; 87; Kloft 2001, 104. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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ren es, die sich für die Ausbreitung des Topos als besonders förderlich erwiesen wie Hans Kloft in seinem Beitrag Caligula – ein Betriebsunfall im frühen Prinzipat festgestellt hat: (...) vielen Literaten und Historikern des 19. Jahrhunderts ging es im allgemeinen weniger um theoretische Einsichten als um politische und gesellschaftliche Praxis, die in der vergangenen Geschichte ihr Anschauungs- und Explikationsfeld besaß. Hier hat man die geistige Atmosphäre, welche der begrifflichen Fassung des Caesarenwahns, der als solcher keine neue Erscheinung darstellte, förderlich war: eine liberale Grundstimmung, welche die gegenwärtige Form der Monarchie wenn nicht aufzuheben, so doch konstitutionell in einen verfassungsmäßigen Gesamtrahmen zu überführen trachteten, eine umfassende historische Bildung, welche nichts weniger als antiquarisch war und die Lehren aus der Geschichte auf die eigenen Verhältnisse für zulässig und geboten hielt; ein wacher Sinn und ein scharfes analytisches Vermögen, politische Phänomene der eigenen Zeit zu deuten und in ein größeres historisches Kontinuum zu stellen. Dabei suchte man durch Anleihen bei der N­aturwissenschaft und der Medizin, wie im Falle des Caesarenwahns, den historischen Prozessen ein größeres Maß an Allgemeingültigkeit zu sichern (...)79

Lassen wir dies hier und heute einmal so stehen und werfen wir einen Blick auf die weitere Ent­wicklung. Der Begriff war in der Welt, und er übte eine bemerkenswerte Faszination aus. Friedrich Wiedemeister (1833–1895), Doktor der Medizin, betrieb wissenschaftliche Studien an Irrenanstalten in Hildesheim und Osnabrück und veröffentlichte 1875 eine Schrift mit dem Titel Der Caesarenwahnsinn der julisch-claudischen Imperatorenfamilie, geschildert an den Kaisern Tiberius – Caligula – Claudius – Nero (Hannover 1875). Er konnte bei Caligula auf Basis einer Analyse der antiken Quellen gleich mehrere Geisteskrankheiten ferndiagnostizieren. Cali­gula als Spross der in dieser Hinsicht vermeintlich auffälligen julischen und claudischen Familien sei das Opfer einer „hereditären Familiendisposition zu Geisteskrankheit, Epilepsie und angeborener Geistesschwäche“,80 die „grause Wildheit seiner Triebe“ habe sich zunächst in Ver­ folgungswahn, später Größenwahn und Monomanie manifestiert.81 Es sei schön zu sehen, wie stabil die Krankheitsbilder über die Jahrtausende geblieben seien.82 Zu den Architekten dieses Topos zählt auch ein junger Historiker Ende des 19. Jahrhunderts, dessen notwendige berufliche Umorientierung maßgeblich mit dem Caesarenwahn verknüpft war: 83 Ludwig Quidde (1858–1941) hatte in den Jahren 1877–1881 Geschichte, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Straßburg und Göttingen studiert und war 1881 mit einer Arbeit zu König Sigmund und das Deutsche Reich 1410–1419 promoviert worden. Unmittelbar danach wurde er Mitarbeiter in der Edition der Reichstagsakten (ältere Reihe, d.h. Dokumente des Heiligen Römischen Reiches), dann 1887 zum außerordentlichen Mitglied der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt, im Herbst 1889 verantwortlicher Redakteur der Edition als Nachfolger Julius Weizsäckers. 1888 begründete er als Herausgeber die Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (DZG). 1890 wurde er zum leitenden Sekretär des Preußischen Historischen Instituts nach Rom be79 80 81 82 83

Kloft 2001, 108. Wiedemeister 1875, 94. Wiedemeister 1875, 98. Wiedemeister 1875, XI. Die folgenden stark gerafften biographisch-wissenschaftlichen Daten und Informationen gehen auf die Abhandlungen von Holl (2001 u. 2007), Kloft (2001) und Feeser (2001) zurück, die Quiddes vielfältige Stationen und den sog. Caligula-Skandalvor Jahren exzellent erschlossen haben. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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rufen und zum Professor ernannt. 1892 kehrte er nach München zurück und wurde in die Historische Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften aufgenommen. In München organisierte er mit Hilfe der DZG 1893 auch den Ersten Deutschen Historikertag. Bis dahin war es also eine glänzende Karriere. Mit seiner 1894 veröffentlichten Studie Caligula – Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn, die über 30 Auflagen erlebte und zu einer der erfolgreichsten Schriften der wilhelminischen Ära wurde,84 erreichte er eine bemerkenswerte Popularität, in erster Linie deswegen, weil seine scheinbar althistorische Untersuchung eine kaum verhüllte Satire auf Wilhelm II. war.85 Mit dem Stoff war er seit 1889 beschäftigt gewesen, wie er einem Studienfreund via Brief aus demselben Jahr mitteilte.86 Er war mit dieser Assoziierung nicht alleine87 und führte sie Jahre später u.a. auf das o.g. Werk von Hertzberg zurück, ferner auf eine Jugendfotografie des Kaisers, die dieser handschriftlich mit dem Caligula-Zitat „oderint dum metuant“ versehen habe.88 Die letztlich erst von der „Kreuzzeitung“ mit dem Vorwurf der Majestätsbeleidigung zum Skandal aufgebauschte Angelegenheit89 führte zum jähen Abbruch von Quiddes wissenschaftlicher Laufbahn. Seine Ächtung als Historiker durch die deutschen Fachkollegen90 erzwang auch die Einstellung der DZG mit einem letzten Band für 1894/1895. Juristisch war Quidde wegen seines Caligula nichts nachzuweisen; aber bald nach dem Skandal wurde er wegen der Äußerung, es sei eine „Lächerlichkeit und politische Unverschämtheit“, eine Gedenkmedaille auf Kaiser „Wilhelm den Großen“ zu stiften, denn dann müsse man ja wohl auch von „Wilhelm dem Kleinen“ sprechen, der Majestätsbeleidigung angeklagt und zu einer dreimonatigen Haftstrafe in München-Stadelheim verurteilt.91 In der Folgezeit wurde er zu einem der ersten europäischen Friedensaktivisten und erhielt zusammen mit Ferdinand Buisson 1927 den Friedensnobelpreis.92 Quidde gebührt die Ehre, eine Art Kanon der Erscheinungsformen des Caesarenwahns ausdifferenziert zu haben. Die „Züge der Krankheit“, so führt er aus, bestanden in „Größenwahn, gesteigert bis zur Selbstvergötterung, Missachtung jeder gesetzlichen Schranke und aller Rechte 84 Quidde 1926b/2001, 61: Nur eine Woche nach Erscheinen des berühmten Kreuz-Zeitungsartikels waren 24 Auflagen gedruckt worden, insgesamt mehr als 150.000 Exemplare: „Buchhändler, die damals im Sortimentsbuchhandel tätig waren, haben mir oft gesagt, der Absatz müsse in die Hunderttausende gegangen sein; denn einen solchen Erfolg, wie den des Caligula, hätten sie nie erlebt. (…) Von den Gymnasiasten und Backfischen angefangen, die, wie mir mancher jetzt fast Fünfzigjährige erzählt, das Schriftchen heimlich unter der Schulbank lasen, bis zu den Leuten im weißen Haar, vom Arbeiter bis zum hohen Beamten, General und Gelehrten, jeder mußte den Caligula haben.“ 85 Vgl. Kohlrausch 2009, 122: „Vermittelt über das römische Beispiel konnte Quidde eine Reihe kräftiger Bilder für die Merkwürdigkeiten Wilhelms II. ins Spiel bringen. Der direkte Bezug von Quiddes »Caligula« zum Inhaber des Thrones begründete dabei den Reiz der Schrift. Sechs Jahre nach der Thronbesteigung Wilhelms II. wurde zum ersten Mal öffentlich die Erfahrung des gänzlich neuen Regierungsstils Wilhelms II. aufgegriffen. Nicht zuletzt deshalb verkaufte sich der »Caligula« innerhalb weniger Wochen ca. 200000-mal und wurde damit zur erfolgreichsten politischen Lektüre des Kaiserreichs überhaupt.“ 86 Holl 2007, 94. 87 Röhl 41995, 20–21. 88 Holl 2007, 95; Quidde 1926b/2001, 56. 89 Holl 2007, 96. 90 Quidde 1926b/2001, 66ff. Vgl. auch Feeser 2001, passim sowie die Materialien und Dokumente im Sammel­ band von Holl – Kloft – Feeser 2001 (164–197), die harsche Reaktionen von Zeitgenossen und Kollegen dokumentieren. 91 Holl 2007, 98–99; Quidde 1926b/2001, 72–80. 92 Holl 2007, insbes. Kap. V u. VI. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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fremder Individualitäten, (in) ziel- und sinnlose(r) brutale(r) Grausamkeit.“93 Während sich diese Elemente „auch bei anderen Geisteskranken“ fänden, sei der Kaiser der Musterfall für den Befund des „Caesarenwahnsinns“.94 Er unterscheide sich von üblichem Wahnsinn darin, „dass die Herrscherstellung den Keimen solcher Anlagen einen besonders fruchtbaren Boden bereitet und sie zu einer sonst kaum möglichen ungehinderten Entwicklung kommen lässt (...)“ Mit beißendem Spott resümiert Quidde: Wenn darauf jetzt vom sichern Port zurückblicken, dann dürfen wir trotz allem wohl sagen, dass wir doch heute [...) politisch ein schönes Stück weiter gekommen sind.95

Sein Caligula referenziert aktiv auf Freytags Verlorene Handschrift.96 Quidde und Freytag gemein ist eine entscheidende Neuerung in der Klassifizierung des Caesarenwahns: die medizinisch-naturwissenschaftliche Dimension wird mit der fast zwangsläufigen und unausweichlichen (!) Degeneration des Herrschers verknüpft, wodurch das Phänomen eine fast prognostische Wertigkeit erhält.97 Für Christian Ronning ist mit Quiddes Caligula ein „wirkmächtiges Para­ digma“ in die Welt gekommen, das Caligula als Referenzfigur für Caesarenwahn endgültig eta­bliert habe.98 Quidde selbst nannte im Rückblick sein skandalumwittertes Werk eine formal wissen­schaftlich historische Arbeit, dem Wesen nach aber fraglos eine Satire.99 Sein Ziel sei es ge­wesen, „(...) dem Leser klarzumachen, wie bedenklich, bezeichnend diese Züge im Charakter und in der Handlungsweise des Kaisers seien, Züge, über die man im Publikum sich wunderte, sich ärgerte, lachte, spottete, auch entrüstete, ohne sich aber klarzumachen, wie ernst man sie doch als Symptome einer dem Ernst des öffentlichen Lebens nicht gewachsenen Persönlichkeit an so hoher Stelle zu nehmen habe.“100 Noch radikaler in seinen Auslegungen und aus demselben Jahr wie Quidde (1894) stammend war Felix Schmitts Abhandlung über Caligula in der Reihe Gekrönte Häupter: Zur Naturgeschichte des Absolutismus, die jedoch fast vollständig unbeachtet blieb und ebenfalls auf Freytag referenziert.101 Der Caligula Steins steht also in einer Reihe von einschlägigen Ver­ öffentlichungen, zu denen man auch Hans von Hentig Über den Cäsarenwahnsinn. Die Krank­ heit des Kaisers Tiberius (1925) oder Bubi von Hanns Sachs (1932) rechnen müsste, der von einem „verlorenen Ich“ spricht,102 oder Cäsarenwahn und Blutrausch von Johann Parsenow, in 93 94 95 96 97 98 99 100 101

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Quidde 1926a/2001, 42. Quidde 1926a/2001, 42. Quidde 1926a/2001, 51. Quidde 1926a/2001, 43: „(…) dem Leser wird die packende Szene aus Gustav Freytags „Verlorener Hand­ schrift“ in Erinnerung sein, wo der weltfremde Professor ahnungslos dem geisteskranken Fürsten aus Tacitus das Bild seines Lebens entwickelt.“ Kloft 2001, 108–109. Ronning 2011, 255–256. Quidde 1926b/2001, 68. Quidde 1926b/2001, 81. Erstaunlich bei Sätzen wie diesem: „Nicht der Wahnsinn der Erzähler, der sich in ungeheuren Ausgeburten einer blutgierigen Phantasie gefällt, sondern der Wahnsinn der Cäsaren selbst tritt uns in diesen Bildern entgegen. Aber die römischen Cäsaren, ihre wahnwitzigsten Grausamkeiten und Ausschweifungen sind keine vereinzelten Erscheinungen in der Geschichte. Von Epoche zu Epoche wiederholt sich dieselbe Erscheinung in anderer Form (…), aber im Innern wesensgleich.“ (Schmitt 1894, 3–4) Vgl. auch Kohlrausch 2005, 152. Sachs 1930, 128–130. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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letzter Konsequenz aber auch die skandalumwitterte Caligula-Verfilmung aus dem Jahr 1979, die so mancher Hauptdarsteller später gern aus seiner Vita gestrichen hätte,103 und viele andere Stücke, die seitdem den Stoff verarbeitet haben.104 Allen Schriften ist gemein, dass sie den nunmehr etablierten Begriff durchweg „historisch belegen und [damit] politisch argumentieren“.105 Auf alle diese „Vorarbeiten“, auf dieses verfestigte wissenschaftliche und literarische Fundament kann Stein also gründen, auf Rezipienten dieser Traditionslinien kann er bauen, auch auf die vielen Leser von Henryk Sienkiewicz’ Quo Vadis, dessen Nero-Bild zumindest in Facetten auch bei ihm durchscheint, als er vermutlich ab Ende der 20er Jahre seine Version eines Caligula erschafft. Biographische Skizze Hans Wilhelm Stein Hans Wilhelm Stein wird am 15.10.1875 in Magdeburg geboren.106 Schulbesuchen in Magde­ burg, Elberfeld, Malmedy, Prenzlau und Anklam (der Vater wird öfter versetzt) folgt 1895 das Abitur. Er beginnt 1895 ein Studium der Rechtswissenschaften in Berlin, und wechselt dann an die Universität Jena. Dort ist er Mitglied des Kösener Korps Saxonia. Nach zwei Jahren wechselt er zurück an die Universität Berlin, bricht dort sein Studium 1898 aber vorerst ab. 1898-1899 absolviert er ein Volontariat bei einem kaufmännischen Unternehmen in Hamburg (Blohmer & Grafe) und wird im Anschluss daran dort bis 1901 als Kommis weiter beschäftigt. In diesem Jahr wechselt er als Faktoreileiter einer anderen Firma, Fischer & Lemke, nach Monrovia, kehrt jedoch 1902 schon wieder zurück, nach eigener Auskunft wegen Fieber und Malaria. 1903 wird er dann Leiter einer deutschen Spedition in Rotterdam, die Filiale dort wird jedoch 1904 aufgelöst. Nunmehr 29jährig nimmt er zwischen 1905–1907 das Jurastudium in Jena wieder auf und schließt es 1907 mit der Direktpromotion ab. Das Thema seiner Arbeit lautet Voraussetzungen und Rechtswirkungen der Handelsgebräuche. 1907 wird er Syndikus des Verbandes Deutscher Steindruckereibesitzer in Leipzig, 1908 Geschäftsführer des Verbandes. 1913 verliert er jedoch seine Stelle wegen Unterschlagungen und Urkundenfälschungen, wird am 12.6.1914 zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt, wovon er neun Monate bereits in Untersuchungshaft gesessen hatte. Die fehlenden drei Monate werden ihm erlassen, da er sich 1914 als Kriegsfreiwilliger meldet. Mit Grund für seine finanziellen Probleme sind seine Ambitionen als Burgherr: zwischen 1912 und 1915 bezieht er seinen Wohnsitz auf Burg Saaleck bei Naumburg und baut diese Burg systematisch zu einer romantischen Dichterklause aus – wofür er jedoch kein Geld hat und sich regelmäßig bei Lieferanten und Handwerkern verschuldet. Den ersten Weltkrieg erlebt er als Beteiligter an den Schlachten an der Somme 1916/1917, wird dort jedoch verwundet und im Dezember 1917 für ein Jahr als kriegsuntauglich und arbeitsverwendungsunfähig der Front verwiesen. Nach eigener Aussage erhält er das Eiserne Kreuz II. Klasse, die Silberne St. HeinrichsMedaille sowie einige Jahre später das Frontkämpfer Ehrenzeichen.

103 Hawes 2009, 191. 104 Dazu Weil 2017, passim; demnächst: Sittig 2018. 105 Kloft 2001, 109. 106 Diese und die folgenden Angaben entstammen mehreren offensichtlich sehr intensiven Befragungen durch die Behörden, in deren Rahmen Stein umfängliche Selbstauskünfte erteilen musste: LASA MER C 141 Halle Nr. 71a-1. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Abb. 3: Porträt und Autograph von Hans Wilhelm Stein

In den Jahren 1918–1922 wird er Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei DNVP, nach eigener Aussage sei er sogar Mitbegründer, Redner und Geschäftsführer gewesen. 1923 wird er Mitglied des völkischen Schutz- und Trutzbundes. Als dieser 1929 in die NSDAP überführt wird geht er „mit“, seine Mitgliedsnummer 149.395 weist ihn als Anhänger der frühen Phase aus. 1925 tritt er zudem der „Romantischen Gemeinde“ des Verlegers und Schriftstellers Fritz Werneck-Brüggemann bei. Es folgt ein Bruch in seinem Leben, dazu später mehr. Nach den Wahlerfolgen der NSDAP 1933 baut Stein Saaleck zu einer nationalsozialistischen „Heldengedenkstätte“ aus. 1933/34 wird er Mitglied im Wiking-Bund, 1934/1935 Mitglied im Reichsverband der Baltikums- und Freikorpskämpfer. Schon 1936 wird er jedoch aus der

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NSDAP ausgeschlossen, wegen parteischädigenden Verhaltens. 1939 wird er verhaftet und 1940 nach dem sog. „Heimtücke-Gesetz“ und wegen Meineides zu drei Jahren Haft ver­urteilt. Man entzieht ihm den Doktorgrad und schließt ihn aus der Reichs­schrifttums­kammer aus. Er stirbt am 29.10.1944 auf Burg Saaleck. Den Zusatz „von Stein-Saaleck“ wählt er nach eigener Aus­sage ohne Genehmigung und nur als Schriftststellername, um sich von 28 anderen Steins in Kürschners Gelehrenkalender abzusetzen, von denen die meisten Juden seien. In seinem Leben hat Stein drei Ehen geschlossen: eine erste hielt von 1902–1915, eine zweite 1922–1931. Aus ihr geht eine Tochter hervor, der eines seiner Bücher gewidmet ist. Diese Ehe wird 1931 annulliert, weil Stein seiner zweiten Frau seine Vorstrafe verschwiegen hatte und das Gericht ihr zugestand, dass man ihr unter solchen Umständen ein Weiterführen der Ehe nicht zumuten könne. 1937 heiratet er erneut, diese Ehe hält dann bis zu seinem Tode. Sein vergleichsweise bescheidenes Œuvre umfasst nur 12 Werke, vorwiegend Dichtung, aber auch landesgeschichtliche Beiträge, wozu dann auch einige Jahrgänge Berg, Burg und Wald. Eine Monatsschrift für Thüringen als Herausgeber zu rechnen sind, die zwischen 1921 und 1944 erschien. Sie enthielt auch eine Vorabversion eines weiteren Antikendramas, Tiberius, das nie erschien und lediglich als Vorabdruck einer kleineren Öffentlichkeit vorgestellt wurde.107 An einem anderen Theaterstück mit dem Titel Juda wandert durch die Zeiten108 soll er noch bis zu seiner Verhaftung gearbeitet haben, ebenso an Getürmte Steine an der Mosel, einer 2000jährigen Geschichte des Mosellandes.109 Brüche In Steins Biographie sind drei Brüche festzustellen, die sein Leben zwischen 1919 und 1944 prägen sollten: Neben der Verurteilung wegen Untreue und Unterschlagung, die insbesondere auf seinen Lebensstil und die umfangreichen Renovierungen der Burg zurückzuführen sind, sind es die Ereignisse des Jahres 1922 und dessen Folgen, die sich über Ereignisse des Jahres 1933 bis in die 40er Jahre hinein strecken. Der Mord an Rathenau Am 24. Juni 1922 wird in Berlin der Reichsaußenminister Walther Rathenau erschossen, von Mitgliedern der sog. O.C., der Organisation Consul, einer nationalistischen, antisemitischen Terrororganisation.110 Hervorgegangen aus der Brigade Ehrhardt hat die O.C. das Ziel durch politische Morde das demokratische System der jungen Weimarer Republik zu destabilisieren, um insbesondere die Versailler Verträge zu revidieren.111 Militärisch organisierte Kader, mehrheitlich ehemalige Offiziere des Deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine sowie der Freikorps, straff organisiert, wird die O.C. von Reichsregierung und Reichswehrführung zunächst geduldet, mutmaßlich weil diese hoffen, mit ihr und ähnlichen Bünden die Rüstungs­

107 1921, 3. Heft, 172–180. 108 „(...) er schildert darin den Kampf des Judentums um die Erringung der Weltmacht und die völkische Gegenwehr der ersten Nationalsozialisten.“ (LASA MER C 134, 1907/3, Bl. 9). 109 LASA MER, C 141 Halle, Nr. 71a Bl. 157. 110 Sabrow 1999, 42: „die vielleicht schlagkräftigste und zugleich geheimnisvollste Vereinigung der politischen Rechten“, „ein gefährlicher Gegner der Republik“. Vgl. auch Sabrow 1994, 27–44. 111 Sabrow 1999, 51. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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beschränkungen des Versailler Vertrags unterlaufen zu können. 1921 wird Matthias Erzberger ermordet,112 1922 dann Rathenau.113

Abb. 4: Fahndungsplakat nach dem Mord an Rathenau 112 Sabrow 1999, 66–80; Sabrow 1994, 17–26; 49–55. 113 Sabrow 1999, 81–91; Sabrow 1994, 86–102. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Zwei seiner Attentäter, Erwin Kern und Hermann Fischer, flüchten in einer chaotischen Flucht nach Saaleck, wo sie sich Unterstützung erhoffen und zunächst auch erhalten. Aufgrund früherer Aktivitäten der Gruppe galt Stein als vertrauenswürdiger Helfer.114 Er nimmt die Attentäter auf und begibt sich am darauf folgenden Tage, dem 14. Juli, gemeinsam mit seiner Frau nach München, um dort in Absprache mit dem steckbrieflich gesuchten Chef der O.C., Hermann Ehrhardt, deren weitere Flucht zu organisieren. Sie verabreden einen Fluchtplan und Stein erhält von Ehrhardt Geld, um Fischer und Kern neu auszustatten, sowie falsche Pässe und zwei Pistolen. Dann kehrt er am 17. Juli nach Saaleck zurück.115 Dort spitzen sich die Ereignisse zu. Kriminalbeamte umstellen nach einer Meldung über merk­würdige Vorkommnisse116 die Burg, sie geben nach Sichtung der beiden Flüchtigen Schüsse auf das obere Stockwerk ab, einer davon trifft Kern tödlich am Kopf. Fischer legt, ja: drapiert ihn auf Steins Ehebett, legt sich dann offensichtlich neben ihn und tötet sich selbst durch einen Schuss in den Kopf.117 Dem in den späten Abendstunden überraschend eintreffenden Ehepaar Stein verbieten die Beamten den Zutritt zum Tatort, erstaunlicher Weise werden sie jedoch nicht verhaftet und nicht durchsucht.118 Erst am kommenden Tag wird Stein unter Arrest gestellt, wegen starker Vermutungen, er sei in die ganze Sache verwickelt. Er wird am 25. Juli nach Berlin überführt119 und bleibt bis zum 29. Juli in Untersuchungshaft, wird dann aber wieder entlassen. Er bestreitet alle Vorwürfe; er sei zwar deutschnational, gehöre aber keiner politischen Organisation an und verabscheue den politischen Mord.120 Ab dem 24.10. wird vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig verhandelt, gegen insgesamt 15 Personen. Stein wird freigesprochen, seine Entrüstung könne unmöglich geheuchelt sein.121 Das Gericht folgt seiner so Haufe „fadenscheinigen und im Detail zutiefst widersprüchlichen Argumentation“122, wonach er noch vor der Ankunft von Fischer und Kern auf Saaleck mit seiner Ehefrau spontan bei regnerischem Wetter und trotz drückender Geldsorgen zu einer verspäteten Hochzeitsreise nach München aufgebrochen. Die beiden Attentäter hätten sich wi-

114 Vgl. Haufe 2004, 56–57. 115 LASA MER C49 Nr. 52, Bl. 44. Der Kriminalbeamte notiert, dass Stein am 13. gegen 8 Uhr morgens Saaleck verlassen habe, seine Ehefrau zwei Stunden später, man habe Post geholt und der Postangestellten erklärt, man führe nach Berlin, die kranke Mutter besuchen, die Reise habe aber dann nach Nürnberg und München geführt. 116 LASA MER C49 Nr. 52, Bl. 38/39: Es hatte Hinweise bei der Polizei von zwei Gästen der benachbarten Rudelsburg gegeben, sie hätten Licht auf Burg Saaleck gesehen – obwohl nach ihrem Kenntnisstand Burgherr Stein verreist sei. Bei einem Spaziergang hätten sie daraufhin die Burg beobachtet und zwei verdächtige männliche Personen wahrgenommen, die den steckbrieflich gesuchten Rathenau-Mördern ähnelten. Am Vormittag des folgenden Tages, dem 17. Juli, machten sich daher zwei Kriminalbeamte nach weiteren Nachforschungen in Bad Kösen auf den Weg zur Burg. 117 Vgl. Haufe 2004, 57; LASA MER, C49 Nr. 52, Bl. 43; 49 ff. (Protokoll der Auffindesituation), nach Er­ stürmung der entsprechenden Etage. 118 LASA MER C49 Nr. 52, Bl. 44; 46 („zweifellos […] als Helfershelfer die Flucht von Fischer und Kern unterstützt“); Haufe 2004, 58. 119 Linzer Volksblatt 25.7.1922, 4. 120 Linzer Tagespost, 25.10.1922; Die Rote Fahne 25.10.1922. 121 Sabrow 1994, 196. 122 Haufe 2004, 58. So auch Sabrow 1994, 197–198 („ungereimt“; „schlechterdings unbegreiflich, wie das Ge­ richt ihnen Glauben schenken konnte“), insbesondere angesichts einer Schrotschussverletzung bei Kern. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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derrechtlich Zutritt zur Burg verschafft, indem sie den Blitzableiter hochgeklettert seien.123 Er erhält eine Entschädigung für die unschuldig erlittene U-Haft, in der Presse laufen für ihn günstige Berichte um: Der Schriftsteller Dr. Stein, der einsame Romantiker auf der Burgruine Saaleck, ist der Inhaber der Turnwohnung, in der Kern und Fischer, umstellt von Kriminalbeamten und Sipoleuten, geendet haben. Als er von seiner Hochzeitsreise mit seiner jungen Frau in später Nacht heimkommt, findet er eine schöne Bescherung vor: (…) Nach dem Gehörten kann man mit Sicherheit annehmen, daß Stein unschuldig ist. (…) Ueber die grausige Einquartierung war niemand entsetzter als Stein und seine junge Frau. Stein ist Dramatiker und Balladendichter. Die ungewöhnliche Situation, in die er auf seinem einsamen Burgturm geraten ist, wird ihn vielleicht anregen… Das wäre doch wenigstens eine kleine Entschädigung für den ausgestandenen Schreck und für die Untersuchungshaft, die er vor seinem, Freisprich absitzen musste.124

In den folgenden Jahren klagt Stein gegen die Stadt Halle wegen Ersatz der Schäden des Polizeieinsatzes in Höhe von annähernd 700 Goldmark. Vor Gericht wird keine Schuld­zuweisung gegeben, die Klage zunächst abgewiesen, denn der beklagte Polizeibeamte sei zum Zeitpunkt des Einsatzes noch im Staatsdienst gewesen, die Stadt Halle daher nicht zu Zahlungen zu verpflichten.125 Die Revisionsklage gegen den Preußischen Staat geht lange zwischen den Instanzen, Parteien und Anwälten hin und her, intern wird eine Teilschuld des Beamten diskutiert, am Ende zieht Stein jedoch seine Berufung zurück. Er wird am 29.5.1925 entsprechend verurteilt („Berufungsverlust“), er trägt die Kosten des Verfahrens – d.h. auch die der Gegenseite – was er nicht kann, zum wiederholten Male in seinem Leben leistet er einen Offenbarungseid.126 Nach eigener Aussage ist er seit Juli 1924 völlig erwerbsunfähig und leidet an einer Nervenentzündung, auch seine Frau sei schwer krank und leide unter den Folgen einer schweren Operation.127 In der Weimarer Republik ist es verboten, den Mord an Rathenau zu verherrlichen; wer es dennoch tut kann wegen Verstoß gegen das Republikschutzgesetz verurteilt werden wie der Schriftleiter Wilhelm Weiß und die Schriftsteller Ludwig Binz und Joseph Malzer, die aufgrund eines Artikels in den völkischen Zeitschriften Der Frontkrieger und Arminius zu je rund drei Monaten Haft verurteilt werden. Die inkriminierten Ausgaben werden eingezogen.128 Für Stein besteht also zunächst keine Chance, aus seiner mehr oder minder bekannten Mithilfe an den Ereignissen Kapital zu schlagen – die Zeiten ändern sich jedoch ...

123 Prager Tageblatt Nr. 25 v. 26.10.1922, S. 6, „H.N.“. Sabrow bleibt zu Recht skeptisch, die Akten dokumentieren eine Turmhöhe von mehr als 20 m und einen versperrten Ausgang von der Zinne zum Turm (Sabrow 1994, 196). 124 Prager Tageblatt Nr. 25 v. 26.10.1922, S. 6, „H.N.“. 125 Urteil v. 21.3.1924. Ferner findet sich den Akten ein bemerkenswertes Belobigungsschreiben des Re­ gierungs­präsidenten an die Kriminalbeamten Halle/Saale, denen ein „besonders bewiesener Diensteifer“ attestiert wird, ferner „umsichtiges Verhalten“, „Schnelles Zugreifen“, „besondere Anerkennung“, „(...) hohe Genugtuung, daß wesentlich durch ihre Bemühungen ein Verbrechen, daß das ganze Deutsche Volk innen- und aussenpolitisch (sic!) in die schwersten Gefahren gebracht hat, gesühnt wurde, ein Umstand, der wesentlich zur innenpolitischen Beruhigung beigetragen hat.“ 126 LASA MER, C134, Nr. 1907/3, Bl. 13. 127 LASA MER C 49 Halle, Bl. 72. 128 So die AZ am Abend, 26.4.1927. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Vorkämpfer der Bewegung? Auch für Hans Wilhelm Stein wird 1933 in gleich mehrfacher Hinsicht ein wichtiges, ein änderndes Jahr. Im Zuge der Machtübernahme der Nationalsozialisten erhalten die RathenauMörder Fischer und Kern ein ehrendes Gedächtnis als „tote Helden“ der „Bewegung“: „Das neue Deutschland war wie ein Sturmwind dahergekommen und hatte mit seiner frischen Luft die Gemüter gereinigt“, schreibt die Romanreihe Die Fahne hoch! Die braune Reihe, die mit Heft 14 den Ereignissen auf Saaleck eine ganze Ausgabe widmet. Eben dort findet sich auch eine Beschreibung der Feierlichkeiten des Jahres 1933:129 Am 17. Juli 1933, dem Todestag der Attentäter, inszeniert man auf der Burg Saaleck eine Ge­denk­feier. Am Wohnturm auf der Burg wird dabei eine Gedenktafel enthüllt. Stein und der ehemalige O.C.-Chef Ehrhardt halten Weihereden und die aufmarschierte SS übernimmt symbolisch das Erbe der Toten. Gegen Abend treffen SA-Stabschef Ernst Röhm und SS-Reichs­ führer Heinrich Himmler im festlich geschmückten Dorf Saaleck ein. Auf den Saale-Wiesen sind 5000 Mann SS angetreten. Himmler und Röhm schreiten die Front ab und begeben sich dann zur Grabstätte von Fischer und Kern auf dem Saalecker Friedhof, wo ein so genannter „Ehren­sturm“ der 35. SS-Standarte Kassel mit Musikzug aufmarschiert. Nach Trauermarsch und Trommelwirbel halten Ehrhardt, Röhm und Himmler Gedenkreden, während auf Burg Saal­eck die Reichskriegsflagge gehisst wird. In den Reden werden die Mörder zu heldenhaften Vor­kämpfern und Vorbildern der SA und der SS überhöht. Zahlreiche Kränze werden niedergelegt. Zuletzt schmücken junge Mädchen aus den Reihen des BDM das Grab mit Blumen. Dann marschieren die 5.000 Mann SS bei Marschmusik und Gesang durchs Dorf. Dies habe gezeigt, heißt es im bereits genannten Heft Drama auf Saaleck, „daß die Zeit feigen Sich-Duckens in Deutschland vorüber ist“.130 Kern und Fischer könnten nun ruhig schlafen – Deutschland marschiere.131 Saaleck wird immer weiter zu einer nationalen Erinnerungsstätte verklärt: Noch 1933 werden die Überreste von Fischer und Kern umgebettet, der Führer selbst stiftet einen repräsentativen Grabstein.132 In den Folgejahren idealisiert und vernebelt auch Stein seine Rolle immer weiter. Bei Dichter-Abenden der Gesellschaft für Romantik E.V. Rudolstadt133 liest er zusammen mit dem befreundeten Dichter Werneck aus seinen Werken, darunter aus der Schrift 25 Jahre Burgherr auf Saaleck: Rettung der Burg. Die Wahrheit über die Rathenau-Richter. Zwischen Leben und Tod in den Kerkern der Judenrepublik (1922/23). Sein Freund und Verleger jubelt ihn zu einem der heldischen Dichter der Zeit hoch.134 Zu dieser Zeit befindet sich Stein, zumindest

129 130 131 132 133

Zwischen 1933 und 1934 erschienen insgesamt 44 Ausgaben zum Preis von 15 Pfennig. Die Fahne hoch! Die braune Reihe, Heft 14, 23. Die Fahne hoch! Die braune Reihe, Heft 14, 24. Haufe 2004, 60–61. Akten Merseburg: „Man bittet um regen Besuch, besonders aus den Kreisen: Gesellschaft für Romantik, NS-Kultur-Gemeinde, Thüringer-Wald-Verein, Bund der Thür. Berg-, Burg- und Waldgemeinden, Frei­ korps-, Baltikum- und Langemarck-Kämpfer, Grünes-Korps, Kyffhäuser, NS-Kriesgopfer-Ver­sorgung, NSDAP-Gliederungen, Wehrmacht, Lehrerschaft, Rundfunkhörer, Bühne, Presse, Schrifttum, Druck­ gewerbe, Buchhandel, usw.“ 134 Burg Saaleck in Geschichte, Sage, Dichtung, Rudolstadt 1935, 54–66. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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gefühlt, auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere, auch im Radio findet er statt wie entsprechende Programmhinweise zeigen.135 Er hat scheinbar alles richtig gemacht.136

Abb. 5: Titel von Heft 14 der Romanreihe Die Fahne hoch! Die braune Reihe („Das Drama von Saaleck“)

Schirachs Schuss und die Folgen Doch der nächste Bruch sollte rasch folgen: Bereits am 12. April 1933 hatte der Reichsjugendführer der NSDAP, Baldur von Schirach, während einer Tagung der HJ in einem Gastzimmer des Hotels „Kurgarten“ in Bad Kösen auf ein Führerbild geschossen.137 Für diese spektakuläre Tat gibt er später als Begründung an, er sei darüber empört gewesen, „daß man es wagte ein so 135 „Radio Wien. Illustrierte Wochenschrift der österreichischen Radioverkehrs AG“ (6.10.1933 „Ich bin der Doktor Eisenbart“; 27. Jänner 1934 zum Thema „Der Wald im deutschen Volksmärchen“; 7. April 1934: „Burg Saaleck. Ein Dreiergespräch“; 1. Mai 1936 „liest aus eigenen Werken“; 22.1.1937 „Stein-Saaleck, Burgherr und Dichter der Burg Saaleck. Aus Leben und Werk“) 136 „Stein jedenfalls konnte sich in seinem Ambitionen und seiner Hybris bestätigt fühlen“ (Haufe 2004, 60). 137 Vgl. Haufe 2004, 62; LASA MER C 134 Halle, Nr. 1907/1-3, Bl. 140; LASA MER C 141 Halle, Bl. 212. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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schlechtes B­ild vom Führer aufzuhängen“138. Stein erfährt zwar erst ein Jahr später über Dritte von diesem Vorfall, er erstattet aber bei der örtlichen Polizei Saalecks Strafanzeige.139 Zu seinem Befremden wird die Anzeige nicht bearbeitet, was er wiederholt als Pflichtverletzung brand­ markt, insbesondere bei Kneipenabenden mit Bekannten und Freunden.140 Im folgenden Jahr, am 5. Mai 1935, besuchen der kommissarische Leiter des Sächsischen Ministeriums für Volks­ bildung, Gauamtsleiter Arthur Göpfert, sowie einige Untergebene die Burg Saaleck. Man ist auf dem Weg zur „Tagung der Deutschen Christen“ in Weimar.141 Göpfert und seine Begleiter lassen sich von Stein die Burg und insbesondere die Erinnerungsorte der Rathenaumörder zeigen; der Hausherr lädt sie anschließend zu einer Flasche Wein ein. Aus einer werden mehrere Flaschen, der Hausherr rezitiert aus seinen Dichtungen und erwähnt dann auch den Schuss auf das Führerbild und seine Anzeige.142 Im späteren Verfahren geben die teils hochrangigen Ministerialbeamten in Erinnerung an diesen Abend an, sie seien peinlich berührt gewesen, bald aufgebrochen, man könne sich kaum erinnern, auch die Zahl der geleerten Weinflaschen variiert stark.143 Stein allerdings erinnert sich genau – und deutlich anders. In seinem vor Gericht als Beweismittel zitierten Tagebuch fand sich mit Datum dieses Gespräches der Eintrag: Ungeheures Gelächter! Es sieht so aus, als ob der Herr Führer und Reichskanzler Adolf Hitler auch homosexuell sei. Daraus würde sich das Totschweigen der Sache dieses Schiratzki, Reichsjugendführers Baldur von Schirach, erklären. Zum Teil auch die Sache Röhm.144

Noch am gleichen Tag erzählt Stein weiteren Besuchern, vor kurzem habe ihn ein sächsischer Minister wieder verlassen, der geäußert habe, Hitler sei homosexuell und Schirach „die Hure des Führers“. DAS sei auch der Grund, weshalb nichts wegen seiner Anzeige unternommen worden sei. Einer dieser Besucher, ein Referendar namens Hans Tag, kolportiert die Geschichte anlässlich eines Treffens ehemaliger Freikorpskämpfer am 5. Juli 1935 in Bad Kösen im angetrunkenen Zustand. Daraufhin wird gegen Hans Tag ein Strafverfahren eingeleitet, bei dem Stein als Zeuge und unter Eid aussagen muss, leugnet und infolge dessen wegen parteischädigenden Verhaltens Anfang 1936 aus der NSDAP ausgeschlossen wird.145 Die Ereignisse aus der Schirach-Affäre holen Stein schließlich ein. Die Staatsanwaltschaft am Sondergericht Halle lässt ihn am 1. Juni 1939 verhaften, im Juni und Juli wird er fast täg-

138 LASA MER C 134 Halle, Nr. 1907/1-3, Bl. 140; 160 ff. Die Behörden stellten abschließend fest, der unangenehme Vorfall habe auch daran gelegen, dass der Pächter sich erst in letzter Minute vor der Tagung bemüht habe, ein gutes Bild des Führers zu bekommen, was ihm infolge der Kürze der Zeit nicht mehr möglich gewesen sei (176 ff.). Der Reichsjugendführer habe ihm anschließend ein besseres übergeben lassen. 139 LASA MER C 134 Halle, Nr. 1907/1-3, Bl. 140; LASA MER C 141 Halle, Bl. 212. 140 LASA MER C 141 Halle, Bl. 212. 141 LASA MER C 134 Halle, Nr. 1907/1-3, Bl. 140. 142 LASA MER C 134, Bl. 106 ff. 143 LASA MER C 134, Bl. 106 ff. 144 LASA MER C 134, Bl. 135; 176. 145 LASA MER C 134 1907/1 Bl. LASA MER C 141 Halle, Nr. 71a-1, Bl. 38 ff. Stein versucht dennoch, sich weiter als „Motor der Bewegung“ darzustellen und veröffentlicht 1938 eine neue Darstellung des Mord­ komplotts gegen Rathenau unter dem Titel „Burg Saaleck. Die Türme des Schweigens“, („Machwerk“, Haufe [2004, 6] nicht unberechtigt) mitsamt der „dem Führer und Reichskanzler Adolf Hitler in Dank­ barkeit gewidmeten“ Versdichtung „Die Rathenau-Richter“. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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lich vernommen, oft in Anwesenheit eines Staatsanwaltes.146 Verhört werden auch ehemalige Freunde, Bekannte, Polizeibeamte, Lieferanten, Gesinnungsgenossen – teilweise auch deren Frauen, die Aktenkonvolute sind stattlich. Die Broschüren Burg Saaleck in Geschichte und Türme des Schweigens werden mit Beschluss vom 25.7.1939 von der Verbreitung im Regierungsbezirk Merseburg ausgeschlossen, die Aufnahme in die Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums veranlasst: (...) weil die Schriften Steins nicht den wahren Verhältnissen und Begebenheiten entsprechen, sondern lediglich dazu dienen sollen, aus dem Heldentod Kerns und Fischers für sein eigenes Ansehen und seinen eigenen Erwerb Kapital zu schlagen. Darüber hinaus ist auch ein Verbot des sonstigen Schrifttums Steins angeregt worden. (Gestapo Halle an Oberstaatsanwalt Rothe)147

Das Sondergericht verurteilt ihn am 22. April 1940 wegen Vergehens gegen das so genannte „Heimtücke-Gesetz“ und wegen Meineides in dem Verfahren gegen Hans Tag trotz eines nur in Teilen zu Protokoll gegebenen Geständnisses zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren, wobei ihm seine Verdienste als „völkischer Vorkämpfer“ immer noch strafmildernd angerechnet werden.148 Insbesondere bei Äußerungen über angebliche homosexuelle Neigungen des Führers reagieren die Sondergerichte ausgesprochen empfindlich.149 Die Zerstörung von Mensch und Autor: Schriftenverbot, Internierung, akademische Herabsetzung Vier Wochen später ergeht ein Schreiben der Gestapo Halle an den Dekan der Juristischen Fakultät Jena mit der Aufforderung, auf Grund der Verurteilung Steins eine Aberkennung des Doktorgrades zu prüfen. Weitere vier Wochen später entzieht ihm die Universität Jena den Doktorgrad. In einer Sitzung vom 28.6. entscheiden der Rektor, Staatsratspräsident Astel, sowie die Proff. Hämel, Scheffer, Schultze-von Lasaulx (Jurist), Hahland und Eisenhuth, Stein seien durch das ihnen übermittelte Urteil Meineid und Heimtücke nachgewiesen worden: Die ihm nachgewiesenen Beschimpfungen und Verunglimpfungen des Führers stellen eine besonders ehrlose Handlungsweise dar, die noch verschärft wird durch den Meineid, der er in diesem Zusammenhang geleistet hat. Durch sein Verhalten hat sich Stein des Tragens eines deutschen akademischen Grades unwürdig erwiesen. Die Entziehung des Doktorgrades ist gemäß §12 der Promotionsordnung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und gemäß §4 des Gesetzes über die Führung akademischer Grade vom 7.6.1939 (RGBl. I.985) geboten.150

Spätere schriftliche Widersprüche von Hans Wilhelm Stein und seiner Ehefrau Anita, die gegen den Beschluss der Universität Beschwerde einlegen, werden seitens der Universität und dem Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 28.10.1940 als unbegründet

146 LASA MER C 134, Bl. 3 ff. 147 LASA MER C 134, Bl. 66 ff. Schon vorher, mit Wirkung vom 4.7., waren beide beschlagnahmt, mit Ver­weis auf §1 Verordnung zum Schutze von Volk und Staat v. 28.2.1933 (Reichsgesetzblatt 1, S. 83). In der An­k lage erwähnt sind alle Werke, Stand 1940, ferner „drei nicht veröffentlichte Werke“, auch die Auf­nahme in die Liste schädlichen Schrifttums. 148 LASA MER C 134 Halle, Nr. 1907/1-3, Bl. 183. 149 Dörner 1998, 189; 191. Nach der Schlacht von Stalingrad drohte bei entsprechenden Äußerungen sogar die Todesstrafe. 150 LASA MER C 134 Halle, Nr. 1907/1-3, Bl. 208. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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zurück­gewiesen.151 Sie ist es auch, die mehrfach Gnadengesuche an den Führer richtet, so auch im August 1940.152 Bei der „inneren, vollbejahenden Einstellung“ ihres Mannes gegenüber dem Führer sei es ganz undenkbar, dass er irgendeine gegen ihn persönlich gerichtete Äußerung mit vollem Bewusstsein getan hätte. Dies sei vollkommen unvereinbar mit seiner hohen Verehrung für ihn, von der sie aus vertrautesten Gesprächen seit Jahren wisse. Seine ganze innere positive Einstellung für Führer und Reich bürge dafür, dass er niemals dem Führer oder der Bewegung habe schaden wollen. Sicher sei er unbekümmert und manchmal unüberlegt, niemals die Folgen ängstlich bedenkend, vielleicht missverständlich, er sei aber auch von anderen fälschlich oder absichtlich entstellt worden. Und zudem: Er habe doch für die NSDAP Positives geleistet und sei niemals wankend in seiner NS-Gesinnung gewesen: Das innerste Wesen meines Mannes offenbart sich, wie bei jedem Künstler in seinen Schriften und in den Lebensäusserungen und in der Haltung den Menschen gegenüber, die ihm am nächsten stehen, wozu ich in erster Linie seit Jahren gehöre.

Unter dem Entzug der Bücher, von deren Verkauf sie lebe, leide sie sehr, ihr Mann zudem unter dem Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer und seiner akademischen Degradierung.153 Die Antwort der Gauleitung der NSDAP (Merseburg) auf ein weiteres Gnadengesuch vom 11.12.1940 fällt heftig aus:154 Stein sei anders als von ihm behauptet nicht Träger von Eiser­ nem Kreuz II. Klasse und Silberner St. Heinrichsmedaille; auch sei er bei Entlassung nur Schütze gewesen, nicht Vizewachtmeister wie behauptet. Der 1937 zugesprochene Ehrensold in Höhe von 300 RM, weil er früher größere Mengen Waffen und Munition für die damaligen Wehrverbände auf Saaleck verwahrt habe, sei aberkannt worden letztlich wegen Trunksucht und „Ausschweifungen unwürdigster Art“. Seine Rolle bei den Ereignissen um Kern/Fischer sei nicht mehr zu klären, er habe daraus aber ein blendendes Geschäft gemacht. Es sei bedauerlich, dass es bis heute nicht gelungen sei, die Todesstätte der beiden von seinem Namen zu befreien u­nd ihn und seine Frau aus der Burg zu entfernen.155 Steins Darstellungen gegenüber Besuchern über die Ereignisse von 1922 seien unwahr und aufschneiderisch.156 Man beruft sich auf den Schlussbericht der ermittelnden Kriminalbehörde Halle vom Juni 1939, in dem es auf 30 Seiten heißt:157 Stein sei stark dem Alkohol verfallen, halte permanent politische Reden bei den unmöglichsten Gelegenheiten, die bei jedem Nationalsozialisten Anstoß erregen müssten; darunter auch gehässige Seitenhiebe auf die Bewegung. Fahrten auf die Burg in geschlossenen Gruppen seien daher durch die Gauleitung verboten worden. Ferner sei er wegen permanenter Angriffe gegen örtliche Parteidienststellen in die Warnkartei des Führers aufgenommen worden. Stein sei egoistisch, arrogant, überheblich, charakterlich fehlerhaft, 151 Universitätsarchiv Jena, Bestand K, Nr. 270, Bl. 132. 152 LASA MER C 134 Halle, Nr. 1907/3, Bl. 7 ff. 153 LASA MER C 134 Halle, Nr. 1907/1-3, Bl. 210. Über diesen wurde endgültig am 28.10.1940 entschieden (vorab bereits am 4.7. mitgeteilt); das entsprechende Schreiben („erforderliche Zuverlässigkeit und Eignung“ nicht vorhanden auf Basis des Urteils) untersagt jede Betätigung als Schriftsteller; im Über­ tretungsfalle greifen Strafbestimmungen. 154 LASA MER C 134, Nr. 1907/3, Bl. 12 ff. 155 Besitzer der Burg sei im übrigen Staatsminister v. Feilitzsch, Bückeburg. 156 „Und daß er aus dem heldischen Einsatz und Sterben dieser Freiheitskämpfer noch insofern Kapital herausschlägt, indem er für die Besichtigung der Burg und das Verweilen an der Sterbestätte Eintritt erhebt, sei noch nebenbei erwähnt.“ (ebd., Bl. 14) 157 LASA MER C 134, Nr. 1907/3, Bl. 160 ff. (auf 30 Seiten). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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rücksichtslos, niedrig und gemein, hämisch, provokant, geltungsbedürftig, verantwortungslos, lügnerisch, ein Hochstapler und Falschspieler, ein pathologischer Lügner, notorisch pleite. Man könnte fast mit dem Thema dieses Beitrags sagen: er sei wahnsinnig. Der letzte Vorhang Der Vorhang ist gefallen, der letzte Akt dieses „Caesarenwahns“ gespielt – auch wenn dieser offenbar nie auf die Bühne gekommen ist.158 Der Wahnsinn des Caligula wird hier nicht nur im Stück selbst deutlich, sondern vor allem im Wahnsinn seiner Zeit, in dem seiner Akteure, die – aus welchen Gründen auch immer – Hybris, Selbstüberschätzung und Fanatismus gezeigt haben. Die Perversion des NS-Staates zeigt sich hier in Form einer bis in dörfliche Strukturen, Freundschaften, ja: Familien hinein agierenden destruktiven Kraft, die Vieles will, doch wenig schafft. Sie demonstriert aber auch in bemerkenswerter Art und Weise, wie sehr Mikrogeschichten Zusammenhänge zwischen höchst unterschiedlichen Menschen kreieren: Rathenau, Ehrhardt, Dithmar, Kern und Fischer, Hitler, Schirach, Stein, Tag, lokale Polizei­ beamte, hohe Ministerialbeamte, Wirtsleute, Ehefrauen, Schwestern, Schwiegereltern,... ein Mikrokosmos (teilweise) gescheiterter Existenzen, radikalisierter Überzeugungstäter und „kleiner Fische“, die allesamt unter die Räder dieser Geschichte(n) gekommen sind. Einige gewollt und selbst gewählt, andere ohne eigenes Verschulden und ohne Chance den Mechanismen zu ent­fliehen, durch die sie massiven Verhören, Zuchthausaufenthalten und Berufsverboten unter­ worfen wurde. Im Zentrum dieses kleinen Kosmos’, im Knotenpunkt dieser Netzwerke, befindet sich mit Stein ein Schriftsteller, ein Dichter, ein Landeshistoriker, ein politischer Mensch, der mit und in nahezu allem gescheitert ist ... und der für diese hier geschilderten Entwicklungen mindestens ein beschleunigender Katalysator, teilweise aber Hauptverantwortlicher gewesen ist. Aus­ gerechnet er verarbeitet im Jahre 1930 mit seinem Caligula ein Thema, das Größe und Fall eines Mächtigen zum Inhalt hat und mit den prophetischen Worten des sterbenden Isis-Priesters endet: Wahn ist die Quelle jeglichen Erlebens / Wenn Losung nicht, so doch Lösung allen Strebens.

Hans Wilhelm Stein war schon früh ein politischer Mensch. War seine Anzeige gegen Schirach Selbstüberschätzung oder Pflichtbewusstsein? Schwer zu sagen, vielleicht war sie in gewisser Weise Ausdruck eines eigenen Wahnsinns und eigener Hybris. In seinem vor Gericht inkriminierten Tagebuch, das seine abfälligen Äußerungen über Hitler, Schirach und andere dokumentierte, bilanzierte er angesichts der Ereignisse der Jahre 1935/1936: Das 3. Reich?! In dem Intelligenz Vorbelastung ist, na ich danke, indessen: ein unwiderlegter Beweis dafür, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird.159

Anders als bei Camus können wir nicht nachweisen, dass Stein unmittelbar unter dem Eindruck von bspw. Sueton dieses Stück geschrieben hat.160 Stein ist kein Camus, kein Quidde, sein Cali­ gula kein Mittel der Systemkritik. Alle Möglichkeiten hierzu lässt er aus, eine zweite Auflage 158 Stein will mehrere Stücke ans Altenburger Landestheater geschickt haben, von dort sei jedoch nie eine Reaktion gekommen: Vernehmungsprotokoll v. 12.6.1935 (Bl. 155–156). 159 LASA MER C134, 1907/2, Bl. 224. 160 Fleischer 1998, 10. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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war undenkbar, aus finanziellen wie strukturellen, aus politischen wie persönlichen Gründen. Die heute greifbaren Exemplare des Caesarenwahns mit ihren persönlichen Widmungen zeigen zum einen den geringen literarischen impact dieses Werkes, aber auch die durchaus vorhandene Wirkung des Verbots von 1939 und damit die Folgen des persönlichen Schicksals seines Autors. Vielleicht kam aus eben diesen Gründen der Caligula auch in den Jahren nach 1930 nie auf die Bühne: Der Autor hatte kein größeres Interesse mehr daran, es half ihm nicht, und schlimmer noch: Man hätte ihn ja falsch verstehen können … Abbildungsnachweis Abb. 1 & 2: H. W. Stein, Caesarenwahn. Ein dramatisches Gedicht, Leipzig 1930. Abb. 3: H. W. Stein, Aus dem Burggemach. Balladen und Gedichte. Mit einem Bildnis des Verfassers und Zeichnungen von Else Schwöbel, August Pfisterer und Heinrich Pfisterer, Eckartsberga 1939. Abb. 4: Fahndungsplakat nach dem Mord an Rathenau (Bundesarchiv 002-009-023). Abb. 5: Die Fahne hoch! Die braune Reihe, Heft 14.

Bibliographie Œuvre Hans Wilhelm Stein Ahasver, Halle/Saale 1921. Berg, Burg und Wald, Halle, Saale 1921. Aus dem Burggemach. Ausgewählte Dichtungen, Leipzig 1927, NA Eckertsberga 1939. Die Geister der Burg Saaleck. Eine epische Dichtung in fünf Gesängen. 1927. Markgraf Ekkehard – ein deutscher Kaisertraum. Geschichtliche Dichtung in rhythmischer Prosa. Leipzig 1928 [NA Naumburg 1945]. Ritterburgen und Schlösser über der Weser, Halle, Saale 1929. Caesarenwahn. Ein dramatisches Gedicht, Leipzig 1930. Burg Saaleck in Geschichte. Sage und Dichtung, Rudolstadt 1935. Darf der Herr Baron die Schafe hüten?, Berlin 1935. Burg Saaleck. Die Türme des Schweigens, Eckartsberga 1938. Ritterburgen und Schloesser über der Mosel, 1944. Die Apotheke zum Tor des Lebens, Naumburg 1945.

Quellen Strafprozessakten, Handakten und Ermittlungsakten bezüglich der Sondergerichtsverfahren gegen Dr. Stein, Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung 3 – Merseburg, LASA, MER, C 134 Halle, Nr. 1907/13; LASA, MER, C 141 Halle, Nr. 71a/1-5, 71b. LASA, MER, C 48 Ie, Nr. 1070 (1924–1927), LASA, MER, C 49, Nr. 2 (1922), Nr. 3 (1922–1924) Hurley 1993 = D. W. Hurley, An Historical and Historiographical Commentary on Suetonius’ Life of C. Caligula, Atlanta 1993 (American Classical Studies 32). Lindsay 1993 = H. Lindsay, Suetonius’ Caligula. Introduction and Commentary, Bristol 1993. Rosborough 1920 = R. Rosborough, An Epigraphical Commentary on Suetonius’ Life of Gaius Caligula, Philadelphia 1920.

Sekundärliteratur Camus 1959 = A. Camus, Vorwort zu Dramen, übers. v. G. G. Meister, Hamburg 1959. de Champagny 1837 = F. de Champagny, Les Césars, hier: Caligula, Revue des Deux Mondes 12 (1837), 735–768. Clarke 1965 = G. W. Clarke, Seneca the Younger under Caligula, Latomus 24 (1965), 62–69.

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Demandt 1992 = A. Demandt, Alte Geschichte in Berlin 1810–1960, in: R. Hansen – W. Ribbe (Hrsg.), Geschichtswissenschaften in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen, Berlin et al. 1992 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 82), 149–209. Dörner 1998 = B. Dörner, „Heimtücke“: Das Gesetz als Waffe. Kontrolle, Abschreckung und Ver­folgung in Deutschland 1933–1945, Paderborn 1998. Eck 1997 = W. Eck, s.v. Caligula,DNP 2 (1997), 937–939. Feeser 2001 = G. Feeser, Der zeitgenössische Diskurs über die „Caligula“-Schrift, in: K. Holl – H. Kloft – G. Fesser (Hrsg.), Caligula – Wilhelm II. und der Caesarenwahnsinn. Antikenrezeption und wilhelminische Politik am Beispiel des „Caligula“ von Ludwig Quidde, Bremen 2001, 153–163. Ferrill 1991 = A. Ferrill, Caligula. Emperor of Rome, London 1991. Fleischer 1998 = M. Fleischer, Zwei Absurde. Camus’ Caligula und Der Fremde: Eine Interpretation, Würz­burg 1998. Greenblatt 2011 = St. Greenblatt, Die Wende. Wie die Renaissance begann, München 2011. Gregorovius 41874 = F. Gregorovius, Wanderjahre in Italien, Leipzig 41874. Grimm 2010 = J. Grimm, Karl Gutzkows Arrivierungsstrategie unter den Bedingungen der Zensur (1830–1847), Frankfurt a.M. 2010 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 51). Haufe 2004 = R. Haufe, „Die Geister der Burg Saaleck“. Der „Burgherr“ Hans Wilhelm Stein im Schnitt­punkt von völkischer Bewegung und Heimatbewegung, in: Rudelsburg – Saaleck – Kyff­ häuser. Protokollband der wissenschaftlichen Tagungen 14.–16. Juni 2002 in Bad Kösen und 13.–15. Juni 2003 in Bad Frankenhausen, Halle, Saale 2004 (Deutsche Erinnerungslandschaften 1. Beiträge zur Regional- und Landeskultur Sachsen-Anhalts 32), 50–72. Hawes 2009 = W. Hawes, Caligula and the Fight for Artistic Freedom. The Making, Marketing and Im­ pact of the Bob Guccione Film, London 2009. Herz 1981a = P. Herz, Diva Drusilla. Ägyptisches und Römisches im Herrscherkult zur Zeit Cali­gulas, Historia 30 (1981), 324–336. Herz 1981b = P. Herz, Die Arvalakten des Jahres 38 n.Chr. Eine Quelle zur Geschichte Kaiser Cali­gulas, BJ 181 (1981), 89–110. Holl – Kloft – Fesser 2001 = K. Holl – H. Kloft – G. Fesser (Hrsg.), Caligula – Wilhelm II. und der Cae­ saren­wahnsinn. Antikenrezeption und wilhelminische Politik am Beispiel des „Caligula“ von Ludwig Quidde, Bremen 2001. Holl 2001 = K. Holl, Ludwig Quidde. Ein Lebensbild, in: K. Holl – H. Kloft – G. Fesser (Hrsg.), Caligula – Wilhelm II. und der Caesarenwahnsinn. Antikenrezeption und wilhelminische Politik am Beispiel des „Caligula“ von Ludwig Quidde, Bremen 2001, 9–39. Holl 2007 = K. Holl, Ludwig Quidde (1858–1941). Eine Biografie, Düsseldorf 2007 (Schriften des Bun­ des­a rchivs 67). Kierdorf 1997 = W. Kierdorf, Claudius, in: M. Clauss (Hrsg.), Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian, München 1997, 67–76. Kloft 2001 = H. Kloft, Caligula – ein Betriebsunfall im frühen Prinzipat, in: K. Holl – H. Kloft – G. Fesser (Hrsg.), Caligula – Wilhelm II. und der Caesarenwahnsinn. Antikenrezeption und wilhelminische Politik am Beispiel des „Caligula“ von Ludwig Quidde, Bremen 2001, 89–116. Köberlein 1962 = E. Köberlein, Caligula und die ägyptischen Kulte, Meisenheim 1962 (Beiträge zur Klassischen Philologie 3). Kohlrausch 2005 = M. Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation, Berlin 2005. Kohlrausch 2009 = M. Kohlrausch, Medienskandale, in: J. Requate (Hrsg.), Das 19. Jahrhundert als Medien­gesellschaft, München 2009, 116–129. Kornemann 1960 = E. Kornemann, Tiberius, Stuttgart 1960. Krüpe 2011 = F. Krüpe, Die Damnatio memoriae – Über die Vernichtung von Erinnerung. Eine Fall­ studie zu Publius Septimius Geta (189–211 n.Chr.), Gutenberg 2011. Kurz 2005 = J. Kurz, s.v. Caesarenwahnsinn, in: K.-H. Leven (Hrsg.), Lexikon der antiken Medizin, München 2005, 184–185. Martin 2005 = U. Martin, Der Hochstapler Hans Wilhelm Stein. Kriminalerzählungen, Halle 2005. Mommsen 31887 = Th. Mommsen, Römisches Staatsrecht, Bd. 2, Leipzig 31887. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Referenzierungen von Antike auf frühneuzeitlichen Medaillen . Das Beispiel Englands zur Zeit der ‚Glorious Revolution‘ Ulrich Niggemann Für einen Frühneuzeithistoriker, der sich an einer Festschrift für einen Althistoriker beteiligt, bietet es sich an, seinen Gegenstand aus der nahezu unendlichen Vielfalt von Antikebezügen in der europäischen Frühen Neuzeit zu wählen. Das gilt umso mehr, wenn die Festschrift mit Hans-Joachim Drexhage einem Altertumswissenschaftler gewidmet ist, der an der PhilippsUniversität Marburg eben auch in der Tradition einer intensiven Beschäftigung mit rezeptionshistorischen Fragestellungen steht. Setzt man sich in diesem Sinne mit Fragen nach der Rezeption, Referenzierung und Imagination von Antike im England des 17. Jahrhunderts auseinander, so stößt man zunächst vor allem auf die revolutionären Umbrüche der Jahrhundertmitte. In zahlreichen Flugschriften und Traktaten wurde die gegenwärtige Situation, der sich zuspitzende Konflikt zwischen Krone und Parlament durch Rekurs auf und Verargumentierung von Antike analysiert. Insbesondere nach der Hinrichtung König Karls I. am 30. Januar 1649 mehrten sich in der Publizistik Stimmen, die die aktuelle Lage mit der Gründung der römischen Republik nach der Vertreibung der Tarquinier verglichen und das republikanische Rom zum Vorbild eines englischen Commonwealth erklärten.1 Schaut man sich hingegen die medialen Repräsentationen der sogenannten „Glorious Revo­ lution“2 von 1688/89 an, so ist das Bild etwas unklarer. Andreas Pečar stellt zwar in seiner Arbeit über die biblizistische Sprache in England und Schottland fest, daß im Gegensatz zur Revolution der Jahrhundertmitte die Sprache der Glorious Revolution vor allem von republikanischen Mustern geprägt gewesen sei3, doch in der Forschung herrscht ansonsten eher ein anderes Bild vor. Seit den Arbeiten von Gerald Straka in den 1960er Jahren, und insbesondere mit Tony Claydons 1996 erschienener Dissertation überwiegt die Einschätzung, daß die Publizistik im Umfeld von 1688/89 vor allem von biblizistischen Sprech- und Deutungsmustern geprägt war, daß Bezüge zur Heilsgeschichte, aber auch zur Endzeit ganz wesentlich die Debatten prägten und Konfession zu einem ganz zentralen Element der Argumentation wurde.4 Für Referenzen auf die klassische Antike, wie sie die politische Ideengeschichte der Jahre 1642 bis 1660 wesentlich prägten, blieb hier eigentlich wenig Platz, wohl auch weil die Diskurse der Jahrhundertmitte als radikal tabuisiert waren, die Gründung einer Republik kaum zur Debatte stand und die konfessionellen Konflikte in England und Europa die Revolution mit ausgelöst hatten. Trotz dieser Feststellung lassen sich vor allem in den visuellen Medien Rekurse auf Antikes finden. Das gilt in besonderer Weise für die zahlreichen Medaillen, die im zeitlichen Umfeld von 1688/89 geprägt wurden, so daß sich die Frage einerseits nach den gattungsspezi1

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Vgl. dazu etwa Fink 21962; Pocock 2003; Skinner 1998; Nippel 1980, 258–265; Niggemann 2012a. Zu den Entwicklungen in England, die seit 1642 in zwei blutige Bürgerkriege, den Sturz und die Hinrichtung des Königs und die Etablierung einer Republik mündeten, vgl. einführend Greyerz 1994, 162–196; Hill 2002, 109–190; Woolrych 2002; Kishlansky 1997, 134–186. Zum Begriff Niggemann 2012b. Pečar 2010, 7 f. Straka 1962a u. 1962b; Claydon 1996; sowie mit ähnlicher Stoßrichtung Rose 1999. Vgl. den Forschungs­ stand zusammenfassend auch Niggemann 2017, 31 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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fischen Zwängen, andererseits aber auch nach den Funktionen dieser Referenzierungen innerhalb der laufenden Debatten stellt. Um diesen Fragen nachgehen zu können, müssen kurz einige Hinweise auf das mediale Spektrum der Debatten um den Moment 1688/89 gegeben werden. Zudem gilt es, einige Überlegungen zum Medienverständnis und zur Rolle der Medien im ausgehenden 17. Jahr­ hundert anzustellen (I.). Sodann sollen die Medaillen der Glorious Revolution in ihrer Ma­ terialität und ihrem Format betrachtet werden (II.). Einen eigenen Punkt der Erörterung stellen die lateinischen Umschriften sowie die Symbolik antikisierender Figuren­darstellungen und anderer Referenzen auf den Medaillen dar (III.). Schließlich sind einige einordnende Über­legungen bezüglich der Bedeutung und Funktion von Antikerekursen in Bezug auf die Medaillen der Glorious Revolution anzustellen (IV.). Bei allen weiteren Erörterungen ist freilich immer zu beachten, daß es die Antike als solche nicht gab, ebensowenig wie das Mittelalter oder die Neuzeit. Jenseits der Binsenweisheit, daß Epochen heuristische Konstrukte des Historikers sind, ist darauf hinzuweisen, daß unser drei­teiliges Epochen­schema Produkt eines spezifischen historischen Moments ist, in dem die frühen Humanisten, wie etwa Francesco Petrarca, sich von der Scholastik und dem zeitgenössisch gebräuch­lichen Latein abwandten und in den Textzeugnissen einer weitaus früheren Zeit ein Ideal und Vorbild sahen. In dieser Wertschätzung luden sie die Zeugnisse als „antik“ auf, als Zeugnisse einer vergangenen goldenen Zeit, während sie zugleich eine „nachantike“ Zeit, ein „medium tempus“ konstruierten, das normativ abgewertet wurde.5 Nun ist aber eben diese Aufladung enorm wirkmächtig geworden. Wenn also im folgenden von „Antike“ oder „Antikem“ die Rede ist, dann ist damit nie eine Epoche als solche gemeint, die man essentialistisch fassen könnte, sondern das jeweils zeitgenössische Konstrukt oder die jeweils aktualisierte Imagination, die ihrerseits Aufschluß geben kann über das je eigene Zeitverständnis, die Verortung des Eigenen in der Geschichte und die Bedeutung von Geschichtlichem überhaupt. Das ist es, worüber die hier betrachteten Zeugnisse Auskunft geben, und darauf müssen wir uns beschränken. I. Die Debatte um die Glorious Revolution zeichnet sich durch eine enorme mediale Vielfalt aus. Insbesondere mit der Zuspitzung der innenpolitischen Situation seit dem Sommer 1688 kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Medienproduktion, als sieben Anglikanische Bischöfe aufgrund ihres Protests gegen die Toleranzpolitik des katholischen Königs Jakob II. inhaftiert wurden und fast zeitgleich gegen alle Erwartung ein männlicher Thronerbe zur Welt kam. Die Landung Wilhelms III. von Oranien, Generalstatthalter der Niederlande und Ehegatte der ältesten Tochter Jakobs II. aus erster Ehe, der Zusammenbruch von Jakobs Regime, die Flucht der königlichen Familie nach Frankreich, die Einberufung eines irregulären Parlaments, der Convention, und schließlich die Krönung Wilhelms III. und Marias II. am 11. April 1689 vervielfachten die Medienerzeugung.6 In Hunderten von Flugschriften, politischen Traktaten und Predigten wurden unterschiedliche, zum Teil konkurrierende Deutungen ausgebreitet und 5 6

Vgl. Hinz 2000, 541 f.; Hirschi 2008, 610 f.; Stierle 2012, 274–288; Silk, Gildenhard, Barrow 2014, 20 f.; Günther 1975, 627; Jaeger 2009, 159–161. Zur Glorious Revolution vgl. Greyerz 1994, 219–239; Kishlansky 1997, 263–286; Cruickshanks 2000; Harris 2006, 239–363; Pincus 2009; sowie die Sammelbände Schwoerer 1992 u. Israel 1991. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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verhandelt.7 England, insbesondere London, verfügte im ausgehenden 17. Jahrhundert über ein kommerzielles und ausdifferenziertes, für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung zugängliches Mediensystem. Insbesondere entlang der Fleetstreet und rund um die St. Paul’s Kathedrale existierten zahlreiche Druckereien und Buchhandlungen, wo Drucke günstig erworben werden konnten, hinzu kamen die zahlreichen Kaffeehäuser, die in London, anders als in Paris, allen gesellschaftlichen Schichten offenstanden, und die zur Lektüre und gemeinsamen Diskussion von Zeitungen, Flugblättern und Flugschriften einluden.8 Medien hatten somit einen erheblichen Einfluß auf die Wirklichkeitswahrnehmung und -deutung der Zeitgenossen, sie trugen zur Prägnanzbildung und Sedimentierung von Wahrnehmung und Erinnerung bei. Dabei stellten Predigten gewissermaßen ein Leitmedium dar. Sie bildeten nicht nur einen beträchtlichen Teil des gedruckten Materials, sondern sie verweisen auch auf das Zusammen­ spiel von gesprochenem Wort und gedrucktem Text.9 Über die rein textlichen Medien hinaus spielte ein breites Spektrum visueller Medien eine wichtige Rolle in der revolutionären Massen­ kommunikation. Relativ einfach gehaltene Drucke, darunter auch Kartenspielsets mit politischen Botschaften, konnten rasch und kostengünstig verbreitet werden.10 Daneben kamen aufwendige Flugblätter mit Kupferstichen auf den Markt. Diese wurden oft auf dem europäischen Kontinent hergestellt, insbesondere in den Niederlanden, aber auch in Frank­ reich.11 Generell wird man also davon ausgehen können, daß die Ereignisse in England eine trans­nationale Medienproduktion auslösten, die auch nach England zurückwirkte. In den Niederlanden, in Frankreich und im römisch-deutschen Reich gab es offenkundig einen Markt für Medienerzeugnisse, die die Revolution zum Thema hatten. Gerade angesichts der politischen und militärischen Lage in Europa und des 1688 ausbrechenden Neunjährigen Kriegs vermag dies auch kaum zu verwundern, waren doch Nachrichten und Debatten über die außenpolitische Lage stets ein wichtiger Teilaspekt des Medienmarkts.12 Die Ereignisse in England – das war abzusehen – hatten einen Einfluß auf die militärische Lage und waren schon deshalb von Interesse. Daneben spielte auch der Konfessionskonflikt eine wichtige Rolle. Das gilt gerade für Frankreich, das in den Jahren zuvor seine restriktive Politik gegenüber der protestantischen Minderheit im Land noch einmal verschärft und ihr im Edikt von Fontainebleau die legale Existenz entzogen hatte.13 Entscheidend an der medialen Debatte war, daß sie Bilder und Narrative vom Ereigniskomplex der Revolution produzierte und im kollektiven Gedächtnis verankerte. Dabei fand eine starke Selektion und Simplifizierung des Geschehens statt, das auf zentrale Episoden reduziert wurde. Die Episoden, die mit Blick auf das kollektive Erinnern auch als „Memoreme“ gefaßt werden können, wurden mit Bedeutung für das Ganze aufgeladen und führten teleologisch und klimaktisch auf die Etablierung des postrevolutionären Regimes und die Krönungs Wilhelms von 7 Insbesondere Goldie 1980, 486–489. Außerdem Sharpe 2013, 353–408; Niggemann 2017, 72–106. 8 Zum Medienmarkt und seinen sozialen Bedingungen vgl. Winkler 1993; Pincus 1995; Knights 2005, 220–271. 9 Zur Bedeutung der Predigt als Kommunikationsmedium vgl. die Beiträge bei Ferrell – McCullough 2000 sowie Hunt 2010. 10 Vgl. Schwoerer 1977; Cillessen 1997a; Sharpe 2013, 341–501; Niggemann 2017, 72–86. 11 Vgl. Schwoerer 1977, 860; Cillessen 1997b, 11–35, hier 11; Esser 2008, 62; Sharpe 2013, 312. 12 Vgl. Schultheiss-Heinz 2004, 121. Zum Krieg von 1688 bis 1697, der oft auch als „Pfälzischer Krieg“ bezeichnet wird, vgl. Malettke 2012, 419–447. 13 Vgl. dazu Labrousse 1985, 167–195; Boisson – Daussy 2006, 205–220 u. Niggemann 2011, 25–30. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Oranien und seiner Frau Maria hin. Die Sinnproduktion fand also durch historisches Erzählen statt, sie ergab sich aus einer in sich stimmigen und sinnhaften Geschichte.14 Ganz unterschiedliche zum Teil konkurrierende oder sich ergänzende Deutungsmuster fanden in den jeweils verbreiteten Bildern und Narrativen ihren Niederschlag.15 Auch die Medaillen waren Teil dieser vielfältigen Medienproduktion und der Versuche, Deutungen anzubieten. Dabei hatte die Medaillenproduktion ihr Zentrum in den Niederlanden, aber auch deutsche, französische und dänische Provenienzen sind nachweisbar.16 Zweifellos handelte es sich um Medailleure, die für einen europäischen Markt produzierten und die nicht primär ihren eigenen politischen Standpunkt einbrachten, sondern marktorientiert arbeiteten.17 England bildete aber zweifellos einen wichtigen Zielraum dieser Produktion, insbesondere aufgrund der engen Bindung niederländischer Produzenten an das Haus Oranien. Medaillen waren zweifellos als Propagandamedien von Bedeutung, v.a. aber waren sie Erinnerungsobjekte par excellence, deren Aufgabe darin bestand, denkwürdige Ereignisse im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Die Medaille ist eine seit dem 14. Jahrhundert greifbare Kleinplastik, die ganz dezidiert auf Vorbilder der antiken Münzen zurückgeht, jedoch zumeist größer ist und keine Zahlungsfunktion besitzt. Als Sammlerstücke wurden sie aufbewahrt, in Schaukästen gezeigt und vermutlich auch diskutiert.18 Der begrenzte Raum, der dem Medailleur bei der Gestaltung zur Verfügung stand, brachte es mit sich, daß die zu vermittelnden Botschaft stark codiert und in Kombination aus ikonischen Bildern und knappen Texten auf den Punkt gebracht werden mußten. Genau darin liegen Reiz und Wirkung der Medaillen. Medaillen konnten an einen ausgewählten Empfängerkreis verschenkt werden, oft wurden sie aber für einen Markt produziert.19 II. Die zahlreichen Medaillen, die im Kontext und in der direkten Folge der Revolution geprägt wurden, verbreiteten einerseits gegenwartsbezogene Botschaften, dienten also der politischen Legitimation und Akzeptanzerzeugung, zugleich hielten sie Ereignisse für die Zukunft fest, waren also ein wichtiges Medium der kollektiven Erinnerung.20 Zahlreiche Medaillen wurden sowohl in Gold als auch in Silber ausgeprägt, um unterschiedliche Käuferschichten anzusprechen, in selteneren Fällen finden sich auch billige Bleivarianten, die vielleicht sogar kostenlos verbreitet wurden, so etwa im unmittelbaren Vorfeld der Revolution, als an den Widerstand von sieben anglikanischen Bischöfen gegen die – von vielen als letztlich prokatholisch interpretierte – Toleranzpolitik Jakobs II. erinnert wurde.21 Die Medaille mit der Umschrift „The 14 Vgl. dazu ausführlich Niggemann 2017, 72–106; und speziell zum Konzept der Memoreme, das versucht, den Kompositcharakter kollektiver Erinnerung auf den Punkt zu bringen, ebd. 41. 15 Zu den unterschiedlichen Deutungen und dahinter stehenden politischen Ideen ganz Grundlegend Kenyon 1977, 5–82; Goldie 1980; und stärker mit Blick auf die Erinnerungskultur Niggemann 2017, 125–220. 16 Überblick bei Woolf 1988, 10–32; Sharpe 2013, 434–443. 17 Niggemann 2017, 86. 18 Allgemein zur frühneuzeitlichen Medaille und ihrer Funktion Fried 2008; Schumann 2003, 321–325; Stegu­weit 1995, 63–124; Scher 1994; Sommer 2007, 147 f.; und spezieller zu England im späten 17. Jahr­ hundert: Schwoerer 1977, 868. 19 Fried 2008, 210–212. 20 Niggemann 2017, 86 f. 21 Zur Problematik der Toleranzpolitik Jakobs II., der unterstellt wurde, sie diene eigentlich der Ent­ machtung der Anglikanischen Kirche und der schleichenden Rekatholisierung Englands, vgl. Goldie © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Gates of Hell shall not prevail“ erschien dabei nicht nur als Bleivariante, sondern war auch – für Medaillen ganz untypisch – mit einer englischsprachigen Umschrift versehen – ein deutlicher Hinweis auf eine Adressierung an eine breite, nicht lateinischsprachige Bevölkerung.22 Gerade vor dem Kontrast dieses Sonderfalls wird deutlich, was die Medaille der Revolution üblicherweise charakterisierte: Sie verfügte meistens über ein Herrscherportrait auf dem Avers und einer Ereignisdarstellung auf dem Revers. Zudem gibt es zumeist eine lateinische Umschrift, bisweilen zusätzlich noch ein Textfeld auf dem Revers. Auf dem Avers wurden in der Regel die Herrschernamen festgehalten, so etwa im Fall der Krönungsmedaille von Jan Roettier, die entsprechend der Doppelkrönung Wilhelms und Marias ein Doppelportrait aufweist, mit der Umschrift „GVLIELMVS.ET.MARIA.REX.ET.REGINA“. Die Umschrift auf dem Revers kommentiert die dargestellte Szene mit den Worten „NE TOTVS ABSVMATVR“, und hält in dem Textfeld den Anlaß fest: „INAVGVRAT.11.AP.1689“, also die Krönung des Herrscherpaares am 11. April 1689.

Abb. 1: Medaille von Jan Roettier, NE TOTVS ABSVMATVR, o.O. 1689.

Eine andere Medaille stellte auf dem Avers den geflüchteten König Jakob II. dar und kennzeichnete ihn als „REX.FUGITIV.“ – den Haarzopf für die Reise in einem Beutel zusammengebunden.23 Bisweilen zeigte auch bereits der Avers statt eines Herrscherportraits eine figürliche Darstellung und entfernte sich damit etwas vom antiken Münzvorbild. So konnten Medaillen Wilhelm zeigen, der den drei Königreichen – dargestellt als weibliche Allegorie – die Hand reichte oder Wilhelm wurde gezielt mit Ludwig XIV. kontrastiert, so daß die beiden Medaillenseiten als einander entgegengesetzte Bildflächen genutzt wurden.24 Die Größen der Medaillen variierten zwischen 3,7 cm und 5,8 cm. Teilweise handelt es sich um sehr kunstvoll 1991; Niggemann 2016. 22 Gates of Hell 1688. Vgl. mit Abbildung Niggemann 2017, 116. 23 Mit Abbildung Niggemann 2017, 89. 24 So etwa Smeltzing 1691 (unten Abb. 3). Das andere angesprochene Beispiel stammt von Robert Arondeaux; vgl. dazu Niggemann 2017, 87 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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gearbeitete Stücke mit hohen Reliefs. Solche Prunkstücke stammten freilich kaum einmal aus England selbst, sondern eher aus den Niederlanden, etwa aus der Werkstatt von Jan Smeltzing.25 III. Es wurde bereits festgestellt, daß Medaillen nur begrenzten Raum boten, so daß Botschaften in prägnanter Form auf den Punkt gebracht werden mußten. Das heißt, daß Medaillen im Gegensatz zu vielen anderen Medien keine Narrative entfalten konnten. Anders als visuelle Medien wie Stiche oder ganze Stichserien konstruierten sie keine Bilderfolgen. Vielmehr arbeiteten sie mit Anspielungen und einer zu dechiffrierenden Symbolsprache, d.h. sie appellierten direkt an individuelle sowie kollektive Wahrnehmungen, Deutungen und Erinnerungen und prägten sie zugleich mit. Dabei fokussierte dieses Medium auf ganz bestimmte Einzelereignisse, die gewissermaßen als verdichtete Schlüsselmomente präsentiert wurden und als assoziativer Anker für Erinnerung fungieren konnten. Wie die Botschaften codiert wurden, soll nun an drei Beispielen kurz aufgezeigt werden. Bei der bereits gezeigten Medaille von Jan Roettier handelt es sich um eine von insgesamt 28 Medaillen, die anläßlich der Krönung Wilhelms und Marias geprägt wurden (Abb. 1).26 Die offizielle Krönungsmedaille Roettiers wurde im Kontext der Krönungsfeierlichkeiten verbreitet und zeigt die Portraits Wilhelms und Marias sowie auf der Rückseite den Sturz Jakobs, der als Phaeton mit dem Sonnenwagen dargestellt wird. Wer die antikisierende Anspielung decodieren konnte, mochte zu der Interpretation gelangen, daß Jakob zu hoch hinausgewollt hatte und zum Schutz des Gemeinwohls von Zeus vom Wagen gestürzt wurde. Dies vermittelt auch die Umschrift „NE TOTVS ABSVMATVR“. Antike Mythologie und die daraus gewonnenen Bilder wurden also genutzt, um ein gegenwärtiges Geschehen möglichst präzise auf den Punkt zu bringen. Gleichzeitig wurde mit dieser Referenzierung von Antike jedoch auch noch mehr erreicht: Sie diente der Inszenierung sowohl des Medailleurs als auch der englischen Monarchie, die damit angeschlossen wurde an seit dem Humanismus gängige Schemata klassischer Bildung. Die Enträtselung des Motivs, die eben eine Kenntnis antiker Mythologeme voraussetzte, schuf somit einen gemeinsamen Rahmen zwischen dem dargestellten Herrscherpaar und dem gebildeten Publikum. Antike Codierungen ermöglichten also Kommunikation, indem sie eine potentiell als exklusiv empfundene Sprachebene schufen. Freilich barg diese Art der Codierung auch Gefahren, wie gerade in der Diskussion um die Krönungsmedaille von Jan Roettier deutlich wird. Die Medaille enthielt nämlich keinen Hinweis, der die Zuordnung Jakobs II. zu Phaeton eindeutig gemacht hätte, vielmehr war eben dies eine Leerstelle, und anscheinend Gegenstand von hitzigen Debatten. In der offiziellen Lesart verwies Phaeton auf Jakob, der aufgehalten werden mußte, damit nicht alles zerstört werde, ein klares und verbreitetes Argument für die Legitimität der Revolution, die somit als letzte und sogar göttliche Rettung vor der Zerstörung des englischen Protestantismus und der Freiheit Englands erschien. Doch konkurrierende Deutungen lasen die Medaille als Warnung an Wilhelm, der „not by permission, but by violence“ den Thron an sich gerissen habe und

25 Überblick etwa bei Woolf 1988. Einzelne Stücke sind abgebildet und besprochen bei Sharpe 2013 u. Niggemann 2017. Wichtig zudem der Katalog des British Museum, London, abrufbar unter http://www. britishmuseum.org/research.aspx (abgerufen am 16.12.2017). 26 Roettier 1689. Vgl. zu den Krönungsmedaillen Schwoerer 1977; Niggemann 2017, 89. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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dementsprechend Gefahr lief, von Gott gestürzt zu werden.27 Der Gedanke, Wilhelm und seine Unterstützer könnten die Strafe Gottes auf sich ziehen, war offenkundig präsent und wurde insbesondere auch in den französischen und jakobitischen Medien formuliert.28 Solche konkurrierenden Deutungen konnten über die antik-mythologische Figur des Phaeton ausgetragen werden, indem sie einen Referenzrahmen bildete, der für unterschiedliche Lager verfügbar war. Hinzuweisen ist zudem auf eine Medaille von Anton Meybusch, deren Revers Wilhelm lorbeerbekränzt und in römischer Rüstung zeigt, der den drei knienden Allegorien der Königreiche England, Schottland und Irland einen Freiheitshut überreicht. Die Umschrift lautet in erkennbarer Variation des Julius Caesar zugeschriebenen „Veni, Vidi, Vici“: „VENI.VICI. LIBERTATEM.REDDIDI“ (Abb. 2).29

Abb. 2: Medaille von Anton Meybusch, GVLIELMVS. III. D. G. MAG. BRIT. FRAN. ET. HIB. REX, o.O. 1689.

Die Medaille wurde anläßlich der Declaration of Rights geprägt, also jener Erklärung, die Wilhelm und Maria von der Convention im Zuge ihrer Proklamation zu König und Königin von England vorgelegt wurde und die im Oktober 1689 in der Bill of Rights Gesetzeskraft erhielt. Die Declaration of Rights schrieb grundlegende Rechte fest, die freilich schon zuvor als gewohnheitsrechtlich angesehen wurden. Dazu zählte die regelmäßige Einberufung des Parlaments, das Recht der freien Meinungsäußerung der Parlamentarier, die Ächtung eines Stehenden Heeres in Friedenszeiten und ähnliches mehr.30 Diese Rechte, die als Freiheitsrechte dargestellt wurden, wurden hier durch den Freiheitshut symbolisiert. Freiheitsmütze oder Freiheitshut und die zu Boden gefallenen Fesseln gehören zweifellos zu den wichtigsten Freiheitssymbolen, die in der visuellen Kommunikation des Herbstes und Winters 1688/1689 nachzuweisen sind. Sie finden 27 Roettier 1689. Zur Diskussion Letter from a Gentleman 1689, 2. Vgl. auch Woolf 1988, 27; Nürnberger 2003, 137 f.; Sharpe 2013, 437. 28 Vgl. Niggemann 2017, 161 f. 29 Meybusch 1689. Vgl. Woolf 1988, 25 f. 30 Immer noch grundlegend Schwoerer 1981. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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sich v.a. im Kontext antikisierender Darstellungen auf Medaillen und anderen Bildmedien.31 Bekanntlich handelt es sich bei der Freiheitsmütze um ein antikes Symbol, das wohl seit der Nachahmung des berühmten Brutus-Denars durch Lorenzino de’Medici im neuzeitlichen Bilddiskurs präsent ist und seither in verschiedenen Aneignungssituationen aufgegriffen wurde. Der Freiheitshut knüpft an diese Symbolik an, greift aber auch den eidgenössischen, aus der Wilhelm-Tell-Legende stammenden Geßlerhut auf.32 Die lateinische Umschrift wie auch der Freiheitshut verwiesen also auf die Wilhelm III. zugeschriebene restaurative Absicht und Wirkung.33 „LIBERTATEM.REDDIDI“ bezieht sich auf eine Freiheit, die bereits seit unvordenklicher Zeit existiert habe, die aber in jüngster Zeit durch die Regierung Jakobs II. fast zerstört worden sei. Diese Freiheit gibt Wilhelm III. den drei Königreichen zurück. Gleichzeitig wird jedoch auch ein weiteres Narrativ adressiert, denn die Rückgabe der Freiheit war nur möglich durch den Sieg Wilhelms über Jakob. Die Rückgabe der Freiheit ließ sich also aus dem Recht des erfolgreichen Eroberers herleiten, worauf sowohl die Anlehnung an das Caesar-Wort hinweist als auch ganz explizit das Verb „vincere“ in der Umschrift. Versuche, die Glorious Revolution als erfolgreiche Eroberung zu deuten und Wilhelms Herrschaftsanspruch aus dem Recht des Eroberers herzuleiten, gab es in der öffentlichen Debatte durchaus, sie blieben indes ambivalent, ein besonders prominenter Versuch des Bischofs von Salisbury, Gilbert Burnet, wurde sogar auf Befehl des Oberhauses vom Henker verbrannt.34 Diese Ambivalenz des Eroberungsnarrativs wird auch bei der Medaille von Anton Meybusch deutlich. Sie zeigt auf dem Avers das Profil Wilhelms mit Lorbeerkranz und römischer Uniform – immer auch ein Hinweis auf die militärische Tüchtigkeit. Auf dem Revers erscheint Wilhelm als siegender Kriegsherr, der zwar das Recht des Eroberers nicht in Anspruch nimmt, indem er den drei Königreichen die Freiheit gibt, aber ließ sich diese Freiheit nicht auch als Freiheit von Wilhelms Gnaden verstehen? Was war die Freiheit wert, so konnte man fragen, wenn sie demütig kniend in Empfang genommen werden mußte?35 Ähnlich wie die Krönungsmedaille von Jan Roettier eröffnete also auch diese Medaille einen Diskursraum, in dem grundsätzlich konkurrierende Deutungsmuster formuliert und über Referenzierungen von Antike ausgetragen werden konnten. Das Militärische und Heroische spielte freilich auf den Medaillen auch sonst eine wichtige Rolle – hier durchaus in enger Verbindung zu zahlreichen anderen Mediengattungen. Dabei stand nicht nur sein selbstloses Handeln zur Rettung Englands im Mittelpunkt, sondern es wurde in Gedichten und visuellen Medien, bisweilen auch in Predigten, eine typologische Sprache gewählt, die den Fürsten von Oranien als antiken oder mythologischen Helden erscheinen ließ.36 Zu den zentralen Begriffen gehörte dabei derjenige der „glory“ bzw. das Adjektiv „glorious“, das sowohl im Terminus der „Glorious Revolution“ als auch in der Kombination

31 Für Beispiele Niggemann 2017, 87–89, 178 f. 32 Vgl. Niggemann – Ruffing 2013; außerdem Metzler 2001; Roeck 2006, 1190–1192; sowie speziell zur Medaille des Lorenzino de’Medici: Gordon 1975, 283–287. 33 Meybusch 1688/1689. Vgl. auch Schwoerer 1981, 261. 34 Goldie 1980, 517; Kenyon 1977, 31. 35 Quentin Skinner hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es eine Linie im englischen Freiheitsverständnis der Frühen Neuzeit gab, die nur eine sichere, nicht in der Abhängigkeit von Monarchen stehende Freiheit als Freiheit verstand; Skinner 1998, 68–77 u. 2013. 36 Dazu Niggemann 2017, 97–99. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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­ ­it Wilhelm III. aufscheint („our glorious King William“, „our glorious deliverer“ etc.).37 Doch m was meint dieses Attribut, das in der Sprache der Zeit auch sonst populär gewesen zu sein scheint, überhaupt? Wie viele andere Begriffe und ihre Attribute ist selbstverständlich auch „glorious“ von semantischen Ambiguitäten geprägt. Insbesondere das Substantiv „glory“ konnte den Kriegsruhm meinen, der erfolgreichen Feldherren und dem roi connétable38 zu eigen war. Diese Wortbedeutung war zentral auch für die Beschreibung der Taten Wilhelms, der im Neunjährigen Krieg (1689–1697) durchaus persönlich an der Front war. Zudem konnte sie ein Gegengewicht gegen die ‚gloire‘, die Ludwig XIV. von Frankreich beanspruchte, darstellen.39 Diese Konkurrenzsituation zeigt sich nicht nur in der Gegenüberstellung des „OPPRESSOR“ (Ludwig  XIV.) und des „LIBERATOR“ (Wilhelm  III.) auf einer Medaille Jan Smeltzings von 1691 (Abb. 3),40 sondern auch in der in der Publizistik geäußerten Kritik an der „Glory“ Ludwigs XIV., die mit dem Laster des Stolzes verbunden werden konnte und sich etwa in der brutalen Unterdrückung seiner protestantischen Untertanen gezeigt habe.41 Sie sei zudem eine Usurpation der „Glory of Heaven“.42

Abb. 3: Medaille von Jan Smeltzing, GUILELMUS III LIBERATOR FLORENS, o.O. 1691.

Der Lichtgestalt Wilhelms wird also auf dem Revers der Medaille die düstere Figur Ludwigs entgegengestellt, ein klarer Hinweis, daß die Medaille wohl eher außenpolitisch Position bezog und somit in den Zusammenhang der Kriegspropaganda gehört, was aber nicht ausschließt, 37 Niggemann 2012b. 38 Vgl. zum Kriegerkönig, der besonders auch in der englischen Monarchie eine wirkmächtige Idee darstellte, insbesondere Schonhorn 1991, 4; Smith 2004, 95–100 u. 2006, 22 f. 39 Vgl. Labatut 1984, 101–118; Burke 1992, 5, 71–83. 40 Smeltzing 1691. Dazu auch Niggemann 2017, 237. 41 Etwa Lloyd 1689, 28 f.; [Defoe] 1689, 10 f. Zur Ambivalenz des Ruhms, der eben nicht angestrebt werden durfte, um als Tugend betrachtet zu werden, vgl. auch Tischer 2012, 156–158. 42 So die Formulierung bei Bates 1695, 17. Auch Richard Steele stellte die wahre, von irdischem Applaus un­abhängige „glory“ den „trivial Glories and light Ostentations of Power“ gegenüber; Steele 1701, 92 f. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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daß sie auch im Kontext der Allegiance Controversy rezipiert werden konnte. Wilhelm wurde hier mit einer Reihe von Attributen des Heroischen versehen. Die Spolien zu seinen Füßen verweisen auf seine Siege, die drei Schilde auf die Königreiche England, Schottland und Irland. Die römische Rüstung und das erhobene Schwert symbolisieren die militärische Tüchtigkeit. Zwar trägt auch Ludwig XIV. eine römische Rüstung, doch sein Schwert besteht aus zusammengerafften Münzen, eine angezündete Granate verweist auf das destruktive Potential, ebenso wie die in Rauch gehüllte Festung von Mons. Christusmonogramm und Freiheitsmütze in der Standarte Wilhelms weisen zudem seine guten Absichten – die Wiederherstellung des Christentums und der Freiheit – aus. Die Umschrift „HIS.ARMIS.TRIA.REGNA.PARAT“ thematisiert den Erhalt der Königreiche durch Wilhelms positives und heroisches Eingreifen. Es gehörte allerdings zu den grundlegenden Deutungsmustern der Glorious Revolution, die Ereignisse nicht allein menschlichem Handeln zuzurechnen, sondern sie als göttliche oder providentielle Intervention zu interpretieren. Die Revolution wurde in zahlreichen Predigttexten, aber auch in Medien nicht-geistlicher Provenienz als Resultat göttlichen Handelns in der Welt gedeutet. Wilhelm III. war in dieser Interpretation das Werkzeug, das Instrument Gottes, mit dem dieser England in höchster Not gerettet, aber auch generell den Protestantismus vor einem aggressiven und expansiven Katholizismus bewahrt habe.43 Die Medaille von Jan Smeltzing argumentierte ebenfalls in dieser Weise, indem sie dämonische Kreaturen vor Wilhelm und dem Licht der Vorsehung fliehen ließ.44 Auch hier verbinden sich wieder antikatholische Motive, die den Katholizismus mit dem Dunklen und Dämonischen assoziieren, mit providentialistischen Mustern, indem Wilhelm im Licht steht und in der linken Hand eine Standarte hält, die mit der Freiheitsmütze wie auch mit dem Christus-Monogramm versehen ist. Wilhelm erscheint als Befreier wie auch als Vorkämpfer für den wahren Glauben, doch die Strahlen der Sonne deuten eben zugleich – wenn auch dezent – die Unterstützung des Himmels an. Eine solche heilsgeschichtliche Deutung der Revolution stand dabei nicht im Widerspruch zu einer eher militärisch-heroischen Deutung, antikisierende Symbole und Referenzen konnten sehr wohl eine enge Verbindung zu christlich-heilsgeschichtlichen ikonographischen Elementen eingehen, wobei das Christusmonogramm selbst eine Referenz auf das spätantike Christentum und insbesondere auf Konstantin I. darstellt.45 IV. Der Rekurs auf Antikes, wie er sich in den Medaillen der Glorious Revolution darstellt, war alles andere als singulär. Vielmehr waren solche symbolischen Referenzen im Europa der Frühen Neuzeit fast allgegenwärtig und spielten insbesondere in der Repräsentation monarchischer Herrschaft eine überragende Rolle.46 Die Darstellung in antikisierenden Rüstungen und Gewändern, der Rückgriff auf lateinische Inschriften, die Anspielungen auf mythologische Themen gehörten zum Standardrepertoire herrscherlicher Kommunikation, sie waren Teil eines Gestus, dessen allgemeine Bedeutung und Funktion noch viel zu wenig explizit thematisiert worden ist. 43 Zu dieser Deutung Claydon 1996, 28–52; Rose 1999, 19–28; Niggemann 2017, 128–163. 44 Smeltzing 1691. 45 Wilhelm III. erscheint konsequenterweise auch als „Constantinus redivivus“; etwa bei Whittel 1693. Vgl. auch Esser 2008. 46 Niggemann – Ruffing 2013; für Beispiele aus dem Habsburgischen Herrschaftsbereich Schumann 2003. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Anhand der Medaillen der Glorious Revolution lassen sich aber dennoch einige Be­ob­ achtungen anstellen. Sie waren eben auch Teil einer intermedialen Kommunikationsstrategie, deren Aufgabe darin bestand, eine neue politische Situation zu deuten und mit Sinn zu versehen, und gerade in solchen Umbruchssituationen mußte der Gebrauch von Symbolen reflektiert werden, konnte ein rein habitueller Rückgriff nicht mehr genügen. Die Verwendung römischer Rüstungen und mythologischer Elemente mochte wenig innovativ sein, die Nutzung von Symbolen wie der Freiheitsmütze hingegen verwies auf die Bildsprache der niederländischen Republik, wo solche Symbole bereits seit dem niederländischen Aufstand gegen Spanien adaptiert wurden. Das Antike darin war immer noch für jeden erkennbar, es bildete gerade für die Gebildeten einen Diskursrahmen, der zum Dechiffrieren der Codes einlud und damit zu einem aktiven Umgang mit den Botschaften, die ins antikisierende Bild verschlüsselt wurden. Zugleich waren es aber neuzeitliche Traditionen der Symbolverwendung, die hier wirksam wurden. Damit aber ist etwas sehr Generelles gesagt: So sehr frühneuzeitliche Medaillen und andere visuelle Medien auch von Referenzen auf Antikes durchdrungen waren, lassen sich doch diese Referenzen nicht loslösen von den spezifisch frühneuzeitlichen Nutzungstraditionen. Das gilt für die Verwendung der Medaille selbst, die in ihrer Gestaltung antiken Münzen nachempfunden ist, zugleich aber eine neue Medientradition ausbildete. Es gilt aber ebenso sehr auch für die verwendeten visuellen Codes oder die lateinischen Inschriften. Antikes ist dabei immer gegenwärtig, ja bildet den diskursiven Rahmen, innerhalb dessen die eigene Gegenwart kommunikativ ausgedeutet und vermittelt wird. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Medaille von Jan Roettier, NE TOTVS ABSVMATVR, o.O. 1689; © Trustees of the British Museum, London. Abb. 2: Medaille von Anton Meybusch, GVLIELMVS. III. D. G. MAG. BRIT. FRAN. ET. HIB. REX, o.O. 1689; © Trustees of the British Museum, London. Abb. 3: Medaille von Jan Smeltzing, GUILELMUS III LIBERATOR FLORENS, o.O. 1691; © Trustees of the British Museum, London.

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Römer – Slawen – Germanen. Anton von Premerstein und die Geschichte als Argument für die aktuelle Politik* Kai Ruffing Es gehört zu der Tragik des reichen Gelehrtenlebens Anton von Premersteins, daß sein sich der Eigenart und Entstehung der Herrschaft des Augustus widmendes opus magnum Vom Werden und Wesen des Prinzipats zwei Jahre nach seinem Tod im Jahre 1935 durch seinen Schüler Hans Volkmann veröffentlicht wurde.1 Wohl nicht zuletzt durch die editorische Bearbeitung Volkmanns,2 aber auch durch den – wie zu zeigen sein wird – späten Zeitpunkt der Veröffentlichung und die damit einhergehenden Irrungen und Wirrungen der Zeitläufte gerieten Premerstein und sein Werk unter den Verdacht, wesentlich durch den Aufstieg der NSDAP in Deutschland beeindruckt gewesen zu sein und gar Augustus als eine Art Hitler dargestellt zu haben. Ganz in diesem Sinne äußerte Donald McFayden in einer 1938 erschienenen Rezension den Vorwurf, Augustus sei bei Premerstein „Der Führer!“.3 Ende der 40er Jahre wurde Premerstein von Lily Ross Taylor als Gegner der Nationalsozialisten betrachtet, sein Werk bzw. seine dort geäußerten Ansichten aber als deutlich durch das Erleben der NS-Diktatur geprägt angesehen.4 Und auch Ines Stahlmann hat in ihrer sich der Forschungsgeschichte in bezug auf den Prinzipat widmenden Monographie die Frage aufgeworfen, ob der Titel der Mono­graphie an Erwin von Beckerath, Wesen und Werden des faschistischen Staates, das im Jahr 1927 veröffentlicht wurde, angelehnt war.5 Ferner ventiliert sie die Frage, inwieweit Premer­ steins Arbeit durch die NS-Propaganda bzw. sein eigenes Erleben des Aufkommens der NSDiktatur bei der Entwicklung seiner Positionen beeindruckt war.6 Hinsichtlich dieser Fragen kann man freilich mit guten Gründen die Ansicht formulieren, daß Premerstein zum einen schon Anfang der 20er Jahre seine Ideen niedergelegt hatte und auch den Titel seiner Arbeit deutlich vor Erscheinen des Beckerathschen Machwerks geprägt hat. Seine Positionen dürften dabei wesentlich durch das eigene Erleben des Zusammenbruchs der beiden Kaiserreiche geprägt gewesen sein.7 Dies zeigt nicht nur der hier im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehende Briefwechsel, dem sich entnehmen läßt, daß Vom Werden und Wesen des Prinzipats bereits in den Augen seines Verfassers 1927 kurz vor seiner Vollendung stand (s.u. I.7), eine Ansicht, die er später revidierte und Ende 1928 ins Auge faßte (s.u. II.5), sondern es läßt sich auch Äußerungen Volkmanns entnehmen, der wiederum in den 20er Jahren in einer engeren Verbindung mit Premerstein stand. Volkmann, dessen Bekenntnis zum NS-Staat in seiner wissenschaftlichen Arbeit der Zeit so weitreichend war, daß er eine Erforschung des Prinzipats aus dem

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Ich danke Katharina Schaal (Universitätsarchiv Marburg) sehr herzlich für die Möglichkeit, den Brief­ wechsel hier publizieren zu können. Premerstein 1937. Vgl. Ruffing 2018, 179–180. Vgl. McFayden 1938, 240. Vgl. Taylor 1949, 48–49. Vgl. Stahlmann 1988, 233 Anm. 156. Vgl. Stahlmann 1988, 129. Vgl. Ruffing 2018, 180–182. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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‚Römertum‘ u­nd den ‚blutgebundenen Kräften‘,8 mithin also auf der Grundlage der sogenannten rassischen Geschichtsschreibung postulierte, hatte 1938 in einer Veröffentlichung in den Neuen Jahr­büchern für Antike und deutsche Bildung geäußert, Premerstein hätte seine Deutung des Prinzipats im Kern bereits 1922 entwickelt, seine Arbeit sei aber deshalb so bestechend, weil sie zeige, daß auch der NS-Staat nicht allein durch staatsrechtliche Dimensionen zu erfassen sei, sondern auch aus seinem „(...) organischen Wachsen (...)“ zu verstehen sei.9 Die Interpretation ist also eine umgekehrte: Nicht Premerstein war durch die Entstehung der NS-Diktatur zu seinen Ergebnissen gekommen, sondern seine Interpretation der Herrschaft des Augustus könne dazu dienen, die Eigenart des NS-Staates zu erfassen und zu verstehen, wodurch es Volkmann ist, der implizit Hitler mit Augustus gleichsetzte.

Abb. 1: Anton von Premerstein – Porträt 8 9

Vgl. Volkmann 1942, 249. Vgl. Volkmann 1938a, 17. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

Römer – Slawen – Germanen. Anton von Premerstein

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Nun ist der hier betrachtete Briefwechsel nicht allein vor dem Hintergrund der Entstehung von Premersteins Hauptwerk von Interesse. Vielmehr ist es darüber hinaus lohnend, ihn vor dem Hintergrund der Verargumentierung von Alter Geschichte in politischen Belangen und Premersteins Position dazu,10 desweiteren hinsichtlich der Forschungsgeschichte zur MarcusSäule kurz in den Blick zu nehmen. Dies gilt um so mehr aufgrund der Personen, die hier einen brieflichen Austausch traten. Mit Anton von Premerstein ist dies einer der führenden Forscher zur Geschichte der Römischen Kaiserzeit, mit Friedrich Koepp einer der führenden deutschen Archäologen und mit Erich Gierach ein Germanist, der nicht nur als Fachfremder die Alte Geschichte für seine politischen Zwecke einspannte, sondern auch im NS-Staat Karriere machte und bis zu seinem Tod und darüber hinaus trotz seiner Vergangenheit und trotz seiner Schriften und nicht zuletzt trotz seiner antitschechischen, antijüdischen und antiliberalen Gesinnung bis in die 60er Jahre Ansehen in der Wissenschaft genoß.11 So wird im folgenden zunächst kurz auf die hier publizierten Archivalien einzugehen sein, um dann die Beteiligten mit ihrer universitären Vita in der gebotenen Kürze näher zu betrachten. Schließlich wird der Briefwechsel selbst vor dem Hintergrund der Verargumentierung der Alten Geschichte für die Arbeit Premersteins an der Marcus-Säule näher in den Blick zu nehmen sein. Die im Anhang transkribierten Dokumente befinden sich heute im Universitätsarchiv Marburg und bilden einen Bestandteil des Nachlasses Premersteins.12 Ihr Vorhandensein in seinem Nachlaß verdanken sie der Tatsache, daß Premerstein an einer größeren Veröffentlichung zur Markus-Säule arbeitete, deren Fertigstellung sein frühzeitiger und überraschender Tod im Jahr 1935 verhinderte. Premerstein bewahrte die Korrespondenz für seine Arbeit an der Marcus-Säule auf. Dabei hatte er es sich offensichtlich zur Gewohnheit gemacht, seine eigenen Briefe bzw. solche Dritter, die er an seinen Korrespondenzpartner weiterleitete, noch einmal abzuschreiben respektive eine Kopie derselben anzufertigen. Auf diese Weise liegt hier sowohl die Sender- als auch die Empfängerüberlieferung vor. Premersteins Korrespondenzpartner Friedrich Koepp wurde 03.02.1860 in Biebrich geboren und studierte nach dem Besuch des Gymnasiums in Wiesbaden Altphilologie und Archäologie sowie dann auch Alte Geschichte in Bonn und Göttingen. Im Jahr 1883 wurde er mit einer Arbeit über die Gigantomachie promoviert und habilitierte sich im Jahr 1892 in Berlin mit einer Arbeit Über die Beziehungen Griechenlands zu Persien bis auf Alexander. Im Jahr 1896 erhielt er einen Lehrauftrag für Alte Geschichte und Archäologie an der Westfälischen WilhelmsUni­versität Münster, an der er 1906 zum Ordinarius ernannt wurde. Im schönen Münster­ land beteiligte er sich von 1899-1916 an den Ausgrabungen von Haltern, um dann von 1916 bis 1924 die Römisch-Germanische Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts in Frankfurt zu leiten. Wie auch die Korrespondenz mit Premerstein zeigt, zog er sich nach seiner Ent­pflichtung nach Göttingen zurück, wo er am 09.05.1944 verstarb. In seinen Publikationen widmete sich Koepp unter anderem dem Römischen Deutschland. Im Zuge dessen verfaßte er nicht nur ein Buch über die Römer in Deutschland, das drei Auflagen erfuhr, sondern übernahm auch für den Bildatlas Germania Romana13 die Kapitel Bauten des römischen Heeres, Grabdenkmäler und Weihedenkmäler.14 Koepps besagte Interessen auf dem Gebiet des römi10 11 12 13 14

Zum Begriff der Verargumentierung vgl. Niggemann – Ruffing 2011a, 14–17 u. 20–22. Zu dieser Charakterisierung Gierachs vgl. Janota 2000, 145. UAM 312/3/24 Nr. 1 Römisch Germanische Kommission 1922. Vgl. Grimm 2012. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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schen Deutschlands werden den nur ein Jahr älteren Premerstein und ihn in Kontakt treten haben lassen, hatte ersterer doch seit frühester Jugend dezidierte Interessen an der Erforschung des Donauraums in römischer Zeit.15 Darüber hinaus betrachtete Koepp die Archäologie als eine geschichtliche Wissenschaft,16 während Premerstein das archäologische Quellenmaterial nicht nur ganz selbstverständlich in seine Forschungen miteinbezog, sondern auch selbst von 1906 bis 1912 erster Sekretär des K. K. Österreichischen Archäologischen Instituts in Athen gewesen war.17 Koepp behandelte in seiner nicht allzu umfänglichen Monographie selbstverständlich auch die Donaugrenze,18 so daß also eine gemeinsame fachliche Interessenlage der beiden Gelehrten gegeben war. Selbstverständlich erörterte Koepp auch kurz die Marcus-Säule, deren Reliefs er – wie übrigens auch Premerstein – als eine historische Bildchronik verstand.19 Angemerkt sei, daß sich Koepp mit offenkundigem Mißfallen dem Thema Varus-Schlacht näherte: Die Varusschlacht! Mag dem Patrioten bei dem Namen die Brust schwellen: dem Geschichtsschreiber muß der Mut sinken beim Gedanken an so manche Bemühungen seiner Vorgänger um dieses Ereignis! Mit Beschämung gedenkt er der alten Kollegen, die es so ungenau, mit Beschämung vieler neuen, die es so genau erzählt haben, so mancher wohlgemeinten Schriftstellerleistung, der man kein besseres Motto geben könnte als Scheffels Vers: „In Westfalen trank er viel, drum aus National­ gefühl hat er’s angefertigt.“ Die Literatur über die Varusschlacht fällt meist zusammen mit der über das Kastell Aliso, aber sie hat vor ihr doch einen Vorzug: man kann ihr eher aus dem Wege gehen.20

Mit einer gewissen spöttischen Distanz referiert Koepp dann auch die Versuche, die VarusSchlacht zu lokalisieren, und äußert sich in diesem Kontext auch zu den Münzfunden auf Gut Barenau bei Bramsche, die er für eine Lokalisierung der Schlacht dort allerdings für nicht aussagekräftig hält.21 Ja, er hält es in historischer Sicht sogar für irrelevant, an welchem Ort die Schlacht stattfand: Was an der Varusschlacht groß und wichtig ist, darüber besteht kein Streit und keine Unklarheit. Ob Varus aber bei Detmold oder bei Barenau, bei Iburg oder sonstwo geschlagen worden ist, ob seine Schuld größer oder geringer war, das ist im Grunde gleichgültig.22

Auch wenn Koepp in der Einleitung zu seinem Werk einen gewissen Pathos in Sachen ‚Ger­manen‘ an den Tag legt und auch wenn er die ‚Germanen‘ kurzerhand als Vorfahren der Deutschen betrachtet,23 scheint er dennoch gegen nationalistische Vereinnahmungen römischer Geschichte Vorbehalte gehabt zu haben, wie jedenfalls seine im Jahr 1905 getätigten Äußerungen zur Varus-Schlacht zeigen, welche ja nun eigentlich wie kein anderes Ereignis in der wechsel­vollen Geschichte von Germanen und Römern geeignet war, germanophilen Schwärmereien sowie

15 16 17 18 19 20 21 22 23

Vgl. Ruffing 2018, 165. Vgl. Grimm 2012, 137. Vgl. Ruffing 2018, 165. Vgl. Koepp 1905, 72–73 sowie 77–82. Vgl. Koepp 1905, 80–82. Vgl. Koepp 1905, 24. Vgl. Koepp 1905, 26–28. Vgl. Koepp 1905, 24. Vgl. Koepp 1905, 3–4. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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eine­r nationalen Interpretation und Verargumentierung anheimzufallen.24 Koepps offenkundige Weigerung, in diesem für ein weiteres Publikum geschriebenen Buch in einen solchen Tenor zu verfallen, sondern die Bemühungen um die Lokalisierung der Varus-Schlacht mit einer gewissen ironischen Distanz zu betrachten, und auch keineswegs ein Heldenlied auf Arminius anzustimmen, verdient vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Fach Geschichte an Universität und Schule zwischen 1900 und 1905 um so größere Beachtung. Im Jahr 1890 hatte Kaiser Wilhelm II. auf einer Schulkonferenz in Berlin gefordert, man solle die Schulbildung nationaler gestalten und keine jungen Griechen und Römer in der Schule erziehen. Ein Resultat der Konferenz war neben der Kürzung des Stundendeputats für den altsprachlichen Unterricht eine beabsichtigte Politisierung des Geschichtsunterrichts. Gegen dieselbe leisteten die deutschen Historiker und Althistoriker Widerstand, der zwischen 1893 und 1895 zu den ersten Versammlungen deutscher Historiker geführt hatte. In der universitär betriebenen Geschichte reagierte man mit einem starken Gegenwartsbezug im eigenen Schaffen,25 der beispielsweise im Falle von Robert von Pöhl­mann soweit ging, daß er die Alte Geschichte als Handlungsorientierung für die eigene Gegen­wart ansah: Das Ziel, welches hier der Schule mit erneuter Energie vor Augen gestellt ward, daß alle Bildung, welche sie zu ermitteln hat, nicht bloß Erkenntnis schaffen, sondern auch durch die Erkenntnis bestimmend auf das Handeln einwirken soll, daß insbesondere das geschichtliche Wissen zugleich dem volleren Verständnis des Lebens und der Gegenwart dienen soll, dieses Ziel wird keine Schule außer acht lassen, die sich bewußt ist, Bürger des modernen Staates zu erziehen.26

Und dieses Ziel gedachte Pöhlmann insbesondere durch die Bildung an den Gegenständen der Alten Geschichte zu erreichen, sieht er doch in der humanistischen Bildung „(...) ein kräftiges Korrektiv (...) gegen jene einseitige Befangenheit der Geister in naturwissenschaftlichen Denk­ formen, die man mit Recht als den Zopf des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet hat.“27 Und wenig später: (...) ganz wird sich der einseitig naturwissenschaftlich Gebildete schwerlich von der Neigung emanzipieren können, die menschlich sozialen Phänomene durch die Kategorien einer mechanischen Weltansicht begreifen zu wollen.28

Dabei wurde ihm insbesondere die Alte Geschichte zum Gegenstand, durch den man nicht nur politische Entwicklungen der eigenen Zeit erkennen, sondern durch den man auch Handlungs­ optionen für die Gegenwart gewann: Wie anders der an der Antike politisch Geschulte! Er hat an der Beobachtung dieser unendlich feiner und tiefer verzweigten moralischen und gesellschaftlichen Erscheinungen jene Zurückhaltung in der Aufstellung von Werturteilen gelernt, welche eben den Mann von politischer Bildung charakterisiert. Dadurch ist er auch von vornherein bewahrt vor jener blinden Überschätzung der Gegenwart und Unterschätzung der Vergangenheit, welche recht eigentlich das Kennzeichen der einseitig naturwissenschaftlichen Gedankenrichtung und der politischen Unbildung unseres Jahrhunderts ist. Für jene Beschränktheit, welche den Maßstab der Kulturhöhe allein in dem Umfang menschlicher 24 25 26 27 28

Vgl. dazu Losemann 2008 u. 2010. Vgl. Schneider 2016, 275–278. Vgl. Pöhlmann 1895, 1–2. Vgl. Pöhlmann 1895, 27. Vgl. Pöhlmann 1895, 28. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Kai Ruffing Herrschaft über die Naturkräfte erblickt (...), hat er nur ein mitleidiges Lächeln. Denn er hat an den Thatsachen und Zusammenhängen der politischen und moralischen Welt gelernt, er hat es erlebt und innerlich empfunden, daß der Inhalt unseres Lebens noch durch ganz andere Dinge bestimmt ist, als durch die Herrschaft über die Natur. Er hat ferner durch die Erkenntnis dieser Zusammenhänge gelernt, nicht bloß der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart und der Zukunft gerecht zu werden. Er hat die Grundlagen gewonnen für die Erhebung zu jener höheren Stufe politischer Einsicht, welche mit sicherem Takte zu erkennen weiß, was politisch notwendig, was möglich und unmöglich ist, welche das, was „gemacht“ werden kann, zu scheiden weiß von dem, was aus dem Leben des Volkes selbst erwächst und erwachsen muß.29

Wie dem auch sei, Koepp widerstand in seinem Buch solchen Versuchungen zur Gänze und stand offensichtlich einer Vereinnahmung der Geschichte für die politischen Belange der eigenen Zeitläufte mit einer gewissen Skepsis gegenüber. Auch darin ist er Premerstein nicht unähnlich gewesen, auch wenn letzterer der archäologischen Forschung außerhalb der eigenen Landes­ grenzen eine politische Dimension beimaß, die sich freilich nicht auf die Rekonstruktion und die Interpretation der Vergangenheit, sondern auf handfeste politische und wirtschaftliche Vorteile in der eigenen Zeit bezog.30 Ganz anders Erich Gierach, dessen Wirken auf dem Gebiet der sudetendeutschen Geschichtsund Kulturforschung, um eine eher euphemistische Terminologie zu gebrauchen, bezeichnenderweise bis tief in die bundesrepublikanische verherrlicht wurde, während seine Forschungen auf seinem eigentlichen Gebiet, der Germanistik nämlich, weit weniger Beachtung fanden.31 Gierach wurde 23.11.1881 in Bromberg geboren und studierte Germanistik und Romanistik in Prag und Bonn. Im Jahr 1907 wurde er Lehrer an der Reichenberger Handelsakademie, wurde 1908 von Carl von Kraus promoviert und 1910 Professor an der besagten Handelsakademie. Im Jahr 1921 wurde er als ordentlicher Professor für ältere deutsche Sprache und Literatur an die Universität Prag berufen, ohne sich bis zu diesem Zeitpunkt habilitiert zu haben. Sein dementsprechendes Habilitationsgesuch war zuvor von derselben Universität aus formalen Gründen abgelehnt worden. Offensichtlich fühlte er sich nach der Machtübernahme der NSDAP in Deutschland aufgrund seines sudetendeutschen Aktivismus in der Tschechischen Republik nicht mehr sicher, fürchtete gar um sein Leben, und nahm daher 1936 den Ruf an die LudwigMaximilians-Universität an, an der er bis zu seinem Tod am 16.12.1943 tätig war.32 Gierach war bereits 1935 in die Sudetendeutsche Partei eingetreten und trat unmittelbar nach seiner Übersiedlung nach München in die NSDAP ein.33 Wie bereits erwähnt, wurde Gierach (in der Diktion seiner Schüler) insbesondere durch seinen „Volkstumskampf“ – der Titel seiner Festschrift lautete denn auch Wissenschaft im Volks­ tums­kampf 34 – für die Sudeten bekannt und noch – horribile dictu – in der Bundesrepublik gewürdigt. So bezeichnete ihn der Münsteraner Professor für Volkskunde Bruno Schier in einem Gedenkartikel, der im Jahr 1962 veröffentlicht wurde, als einen „(...) der uner­schrockensten Kämpfer für das Lebensrecht des deutschen Volkes und seiner hohen Schulen in Böhmen (...)“.35 29 30 31 32 33 34 35

Vgl. Pöhlmann 1895, 28–29. Vgl. Ruffing 2018, 170–171. Vgl. Bonck 1995, 262. Vgl. Bonck 1995, 264–266 mit Anm. 34. Vgl. Bonck 1995, 266. Vgl. Bonck 1995, 261 Anm. 17. Schier 1962, 571. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Zeitlebens habe auf ihm die Schwere des Grenzlandschicksals gelastet, die für sein wissenschaftliches, ‚volksbildnerisches‘ und politisches Handeln maßgeblich gewesen sei.36 Als Gierach nach dem 1. Weltkrieg 1919 aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte, „(...) fand er seine deutsch-böhmische Wahlheimat militärisch besetzt und politisch geknechtet vor. Während weite Kreise in Ratlosigkeit und Verzweiflung verharrten, sammelte Gierach eine Schar Gleichgesinnter um sich, die eine politische Einigung und Befreiung des Sudetendeutschtums durch die Forderung nach dem versprochenen, aber vorenthaltenen Selbstbestimmungsrecht anstrebten. In diesem Kampf, der nur mit geistigen Waffen geführt werden konnte, verteidigte Gierach in mehreren wissenschaftlichen Flugschriften unerschrocken das Heimatrecht der Sudetendeutschen gegenüber den Ansprüchen des tschechischen Imperialismus (...) Der politischen Propagandalüge vom jungen Kolonisten- und Emigrantentum der Sudetendeutschen trat er mit dem Aufbau einer volksgeschichtlich ausgerichteten Heimatforschung entgegen, deren Ergebnisse er in das gesamte Erziehungswesen der Sudetendeutschen einbaute.“37 Nach seiner Berufung zum Professor an der Universität Prag, habe Gierach einen Kreis von gleich­ gesinnten Philologen und Historikern um sich geschart, und seine Bemühungen dement­ sprechend stärken können. Dazu habe auch und gerade die Erforschung der keltischen und marko­mannischen Besiedlung Böhmens gehört, die „(...) die ein wichtiges Argument bei der Ab­wehr des tschechischen Alleinanspruches auf Böhmen darstellt [sic!] (...)“, weswegen auf An­ trag Gierachs eine Professur für Vor- und Frühgeschichte in Prag eingerichtet worden sei.38 Wohl­gemerkt, diese Lobeshymne auf Gierach wurde 1962 veröffentlicht, obwohl er nicht nur dem Nationalsozialismus äußerst positiv gegenüberstand, ja das Münchner Seminar für deutsche Philologie in ein germanisches Institut umzuwandeln trachtete,39 sondern sich auch der „rassenkundlichen Erforschung der deutschen Bevölkerung“ verschrieben40 und den Kontakt zum Ahnenerbe des SS gesucht hatte, um ein Handbuch der Germanenkunde zu realisieren!41 Dieses Handbuch war übrigens auf zunächst 15–20 Bände konzipiert, später stand dann auch ein Quellenwerk im Umfang von 50 Bänden im Raum.42 Wie gesehen bildeten also die Markomannnen in den Augen Gierachs ein wesentliches Argument für die bereits frühe erfolgte „deutsche Besiedlung Böhmens“, aus der er die sudetendeutschen Rechte gegenüber den in seinen Augen „minderwertigen“ Slawen ableitete, die er im übrigen für zur Staatsbildung völlig unfähig hielt.43 Anton von Premerstein wurde am 06.04.1869 in Laibach (heute Ljubljana) geboren, studierte von 1887–1891 Klassische Philologie und Alte Geschichte in Wien, wo er 1893 sub auspiciis imperatoris promovierte. Von 1895–1905 war er Beamter an der K. K. Hofbibliothek in Wien. Während dieser Zeit erwarb er 1887 nebenbei den Doktor der Rechte und habilitierte sich 1899 mit einer Arbeit über die Anfänge der Provinz Mösien. Wie bereits erwähnt war er von 1906 zweiter bzw. dann erster Sekretär des K. K. Österreichischen Archäologischen Instituts in 36 Schier 1962, 572. 37 Schier 1962, 573. 38 Schier 1962, 573–574. – Zu Gierachs diesbezüglichen Konzeptionen und Aktivitäten vgl. Bonck 1995, 266–282. 39 Vgl. Beck 2012, 92. 40 Bonck 1995, 268 u. 273. 41 Bonck 1995, 279. 42 Vgl. Beck 2012, 92. Zu diesem geplanten Handbuch vgl. Simon 1998. 43 Vgl. Bonck 1995, 272. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Athen, von wo aus er an die Deutsche Universität in Prag berufen wurde. Nach einer Tätigkeit als Delegierter für die Kriegsgefangenenfürsorge in der Schweiz wurde er im Jahr 1916 an die Philipps-Universität Marburg berufen, wo er bis zu seinem Tod am 06.02.35 die Professur für Alte Geschichte innehatte. Premerstein war, wie bei seiner adeligen Herkunft und als ehemaliger Kavallerieoffizier in der K. K.-Armee nicht anders zu erwarten, eher konservativ und nach eigenem Bekunden politisch nicht aktiv. Freilich kam auch er nach 1933 nicht ohne Verbeugung vor dem System aus. So unterzeichnete er mit vielen anderen Marburger Hochschullehrern den „Ruf an die Gebildeten der Welt“ des NS Lehrerbundes Sachsen und wurde – wie viele andere Marburger Hochschullehrer – Förderndes Mitglied der SS und des NS Lehrerbundes. Insgesamt kann man auf der Grundlage der Akten sowie seiner Veröffentlichungen Karl Christs Schlußfolgerung teilen, daß Premerstein sich gegenüber dem Nationalsozialismus der Zurückhaltung befleißigte.44 Darüber hinaus teilte er Gierachs Aversion gegenüber Slawen keineswegs, sprach er doch Slowenisch und war er doch korrespondierendes Mitglied der Bel­ grader Akademie der Wissenschaften.45 Premerstein war ein äußerst produktiver Gelehrter; so umfaßt die von seinem Schüler Hans Volkmann verfaßte Publikationsliste nicht weniger als 93 Einträge, wobei die Rezensionen nicht mitgezählt wurden.46 Er selbst charakterisierte seine hauptsächlichen Forschungsgebiete in dem von ihm anläßlich seiner Berufung nach Marburg verfaßten Lebenslauf folgendermaßen: (...) griechische und römische Geschiche und Altertumskunde hauptsächlich im Anschlusse an das epigraphische Material; topographische und antiquarische Erschließung der Donauländer, Griechen­ lands und Kleinasiens durch Reisen, zum Teil auch durch Ausgrabungen; daneben auch einige philologische, paläographische und staatsrechtliche Studien.47

Dabei schlossen die philologischen und paläographischen Studien auch die Papyrologie ein. Seine ohne Zweifel bedeutendste wissenschaftliche Leistung war die Gewinnung der Lesung „Post id tem[pus omnibus aVCTÓritate praestiti (...)“ in Kapitel 34,2 der Res Gestae Divi Augusti, die er aus einem der 1916 von W. M. Ramsay publizierten neuen Fragmente zum Tatenbericht aus dem pisidischen Antiocheia gewann.48 Premersteins Veröffentlichung dieser und anderer Neufassungen des Textes waren Anlaß zu einer intensiven Zusammenarbeit zwischen ihm und Ramsay, die in der Veröffentlichung des Antiochenum im Jahr 1927 mündete.49 Diese Veröffentlichung war es nun, die die hier publizierte Korrespondenz in Gang brachte. Offensichtlich hatte Premerstein Koepp gegenüber verlauten lassen, daß er sich mit der Absicht trug, ein Buch zur Markus-Säule zu schreiben. Ausführliche Vorarbeiten zu diesem Unterfangen finden sich dann übrigens auch in Premersteins Nachlaß. Offensichtlich war Koepp mit der Ausgabe der Reliefs der Markus-Säule, die anläßlich des Kaiserbesuchs in Rom im Jahr 1896 44 Vgl. zur Premersteins Vita Ruffing 2018, 164–169. Zu seiner Berufung vgl. Ruffing 2013. Zu Leben und Werk vgl. ferner Volkmann 1938b; Christ 1972; Christ 1977; Christ 1982, 128–133; Losemann 1983; Losemann 2001; Losemann 2012. 45 Vgl. Ruffing 2018, 169. 46 Vgl. Volkmann 1938b, 94–99. 47 UAMR, 307d Nr. 2326. 48 Vgl. Ramsay 1916, 111–129; Premerstein 1924, 98 u. 103–106. – Der Text in eckigen Klammern bezeichnet Lücken des Ancyranum, Maiuskeln sind Ergänzungen auf der Grundlage des Antiochenum. 49 Ramsay – Premerstein 1927. Vgl. dazu Ruffing 2018, 172–174. Siehe Abbildung 2 mit Premersteins reconstructio textus des Kapitels 34. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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e­ntstanden war,50 eher unzufrieden und betrieb die Erstellung einer neuen Handausgabe (I.1). Die besagte Ausgabe stellt bis heute, jedenfalls soweit es die Tafeln angeht, den Stand der Dinge dar.51 Jedenfalls hatte Koepp bei Premerstein einen Nerv getroffen, denn der zeigte sich sogleich angetan von der Idee, zumal er der Ansicht war, die Szenen des Reliefbandes mit der historiographischen Überlieferung in Übereinstimmung bringen zu können, eine Sicht der Dinge, die die heutige archäologische Forschung nicht ohne weiteres teilt, da die Szenen nicht in chronologischer Reihenfolge aufgeführt sind, sondern so angeordnet sind, daß jeweiligen Kontexte die totale römische Überlegenheit sowie die Unausweichlichkeit des römischen Sieges betonen und einer Verherrlichung des Kaisers dienen, die bis zu seiner Darstellung als Herrscher der Welt reicht.52 Ein besonderer Fokus des Bildprogramms der Säule liegt dabei auf dem Verhältnis von Mark Aurel zu seinen Soldaten und seinen Fähigkeiten sowie Leistungen als Oberbefehlshaber und Feldherr.53

Abb. 2: Premersteins Notizen zum 34. Kapitel der Res Gestae Divi Augusti

Doch zurück zum Briefwechsel zwischen Premerstein und Koepp: Premerstein wiederum hatte davon gehört, daß Gierach in Prag ebenfalls der Säule widmen wollte (I.2). Koepp antwortete 50 Petersen – Domaszewski – Calderini 1896. 51 Vgl. Griebel 2013, 7–11 mit der Forschungsgeschichte zur Markus-Säule, die übrigens deutlich weniger intensiv als die Trajans-Säule beforscht wurde. Zu dieser vgl. zuletzt den reichen Sammelband von Mitthof, Schörner 2017 sowie die wundervolle Publikation des Reliefbandes von Stefan 2015. Zur Markus-Säule im Rahmen der der Bau-Politik Mark Aurels vgl. Mattern 2017, 265. 52 Vgl. Pirson 1996; Griebel 2013, 204. 53 Vgl. Griebel 2013, 204–205. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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darauf unter anderem, er selbst wolle sich an dem Unterfangen bestenfalls durch Anregung desselben beteiligen und man müsse sich selbstverständlich mit Gierach in Ver­bindung setzen, denn ein solches Unternehmen dürfe nicht doppelt angegangen werden (I.3). In der Tat erkundigte sich Premerstein nun bei Gierach nach dessen Plänen (II.1), der ihm auch auf das Bereitwilligste antwortete und ihm gleich die der politische Wichtigkeit seines Tuns vor Augen stellt: Seit dem Umsturze in Böhmen hat die Geschichte des Deutschtums in den Sudetenländern an nationaler und politischer Bedeutung gewonnen. Die Tschechen bauen ihre Ansprüche auf ganz Böhmen auf „historische“ Rechte [sic!] auf und behaupteten womöglich, Ureinwohner hier zu sein, jedenfalls aber vor den Deutschen das ganze Land bewohnt zu haben. Da nun die Slaven frühestens gegen Ende des 6. Jhs. einwanderten und ein halbes Jahrtausend vorher hier schon Germanen wohnten, hat die Geschichte der alten Deutschen für das Unwägbare in der Politik von heute erhöhte Bedeutung.

Hernach trug er ihm die weitgespannten Pläne einer drei Bände umfassenden Veröffentlichung vor, die diese Aussage historisch untermauern sollte. Mit dem Schreiben ließ er Premerstein eine Flugschrift zugehen, die er über die Reliefs der Markus-Säule verfaßt hatte (II.2). Diese war im Jahr 1923 unter dem Titel Die Markussäule. Bildliche Darstellungen der alten Deutschen in Böhmen und Mähren erschienen. Wie nicht anders zu erwarten, wird in diesem Machwerk, das übrigens gänzlich ohne Fußnoten auskommt, die Alte Geschichte als Be­ gründung für die politischen Ansprüche der Gegenwart mißbraucht: Die Frage nach dem Recht der Erstgeburt ist im Ringen der Völker um ihre Selbständigkeit gewiß nicht von ausschlaggebender Bedeutung, aber sie hat hohen Wert für das Rechtsgefühl des Volkes, das seinen Anspruch auf seine Wohnsitze auch geschichtlich begründet sieht.54

Marbod wird bei Gierach zum deutschen König, womit er die begründet, daß Böhmen um die Zeitenwende ein deutsches Land geworden sei.55 Später wendet er sich dann der MarkusSäule selbst zu. Hier würden „(...) wirkliche Germanen, wirkliche Sarmaten (...)“ dargestellt, „(...) nicht einfach unterschiedslose „Barbaren“ (....)“; dies seien nun alte Deutsche aus den Sudeten­ ländern.56 Freilich fühlte Gierach die vermeintlichen Deutschen von den Griechen und Römern schlecht behandelt: Die Griechen und Römer haben sich in ihren bildlichen Dar­stellungen nicht dazu aufschwingen können, auch dem Gegner volle Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Immer erscheinen nur die Römer als die Sieger, die Feinde als die Besiegten. Deren Tapferkeit, deren Erfolge werden mit Schweigen übergangen und so sehen wir auch die Germanen auf der Markussäule nur als Besiegte oder sich unterwerfend. Aber die Geschichte gibt uns genügende Kunde, wie tapfer die alten Deutschen ihre Heimat verteidigten.57

Freilich lobt er die Darstellung der germanischen Frauen ebenso („Das Haar der Frauen hängt meist in schönem, welligen Fall bis in den Rücken [...]“)58 wie diejenige der germanischen Edlen, 54 55 56 57 58

Gierach 1923, 1. Gierach 1923, 3 Gierach 1923, 7. Gierach 1923, 7. Gierach 1923, 8. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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denen der Künstler schöne, echt deutsche Gesichter gegeben habe.59 Einige Zeilen später widmet er sich erneut der Darstellung der Germanen: Kraftvolle Gestalten mit prächtigen Häuptern sind es, welche der römischen Gewalt zum Opfer fallen. Was mag ihre Schuld gewesen sein? Sicherlich nichts anderes, als daß sie ihre Heimat und Freiheit zu verteidigen suchten. Und das hat in den Augen der Unterdrücker immer als todwürdiges Verbrechen gegolten.60

Und am Schluß seiner Ausführungen resümiert er: Noch heute steht auf dem Säulenplatze zu Rom das Markusdenkmal als ein wuchtiges Zeugnis, daß Böhmen und Mähren vor der Slawenzeit deutsche Länder waren.61

Derartig krude Einlassungen konnten einem nüchternen Wissenschaftler wie Premerstein, dessen Abhandlungen sich eher wie juristische Gutachten lesen, nur mißfallen. Jedenfalls leitete er den Brief an Koepp weiter und ließ an seinem Unbehagen gegenüber den Plänen des Kollegen Gierach keinen Zweifel aufkommen; insbesondere mißfiel ihm aber die Nutzung der Wissenschaft für politische Zwecke: (...) endlich erscheint mir bei aller Sympathie für die deutschen Stammesgenossen in den Sudeten­ ländern die Verquickung einer wissenschaftlichen Arbeit mit den politisch-nationalen Gesichts­ punkten als wenig wünschenswert. (I.4).

So erteilte er ihm auch in dem weiteren Briefwechsel eine höfliche Absage (II.3–6), zumal das Unternehmen einer neuen Ausgabe nicht zuletzt an Bedenken scheiterte, die gegenüber dem Plan geltend gemacht wurden (I.6). Premerstein erteilte also der politischen und nationalen Nutzung Geschichtswissenschaft eine klare Absage. Nun ist die politische Nutzung von Geschichte und Archäologie respektive die Verargumentierung von Geschichte ein in derselben weithin zu beobachtendes Phänomen. Man denke in diesem Kontext etwa nur an die Selbststilisierung Mussolinis als neuer Augustus und Begründer eines neuen Imperium Romanum;62 diese Verargumentieurung römischer und v.a. imperialer Geschichte war freilich nicht erst Frucht des Faschismus, sondern in Gestalt der romanità schon seit der Gründung des italienischen Nationalstaats und v.a. nach Beginn seines Ausgreifens nach Nordafrika und Eritrea im Jahr 1911 gegeben und stand in einer Wechselbeziehung zur Fachwissenschaft.63 Italien war dabei beileibe kein Sonderfall, wie die bereits oben erwähnte Germanentümelei in Deutschland seit dem Ende des 19. Jh. zeigt, die selbstverständlich in der NS-Zeit einen Höhepunkt fand.64 Angemerkt sei, daß auch die Wilhelm II. gewidmete Edition der Marc Aurel-Säule von Petersen, v. Domaszewski und Calderini aus dem 59 Gierach 1923, 10 mit Bezug auf Szene 59 in der Zählung von Petersen. Depeyrot 2010 unterteilt die Dar­stellungen auf der Säule in 126 Szenen, während in der Archäologie die von Petersen vorgenommene Unter­teilung in 116 Szenen weiterhin kanonisch ist: siehe den Katalog bei Griebel 2013, 219–425. 60 Gierach 1923, 10 mit Bezug auf Szene 61 in der Zählung von Petersen. 61 Gierach 1923, 12. 62 Vgl. etwa Schumacher 1988; Scriba 1995; Giardina – Vauchez 2000, 212–296; Lamers – Reitz-Josse 2016. 63 Vgl. Ruffing 2014, 432–433. 64 Vgl. etwa Losemann 2008; Losemann 2010; Krebs 2011; Focke-Museum 2013; Gasche 2014. – Ein weiteres Beispiel bildet die breite Rezeption der Antike im revolutionären Amerika und den USA. Vgl. exempli gratia die Beiträge in Niggemann – Ruffing 2011b u. Meckler 2006. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Jahr 1910 nicht zuletzt auch in diesem Kontext zu sehen sein wird, galten die Reliefs der Säule doch als früheste bildliche Darstellung der Germanen, denen die Aufmerksamkeit der Editoren vor allem galt.65 So ist denn auch die insbesondere archäologische Erforschung der Herkunft der Slawen und ihrer Ausbreitung nicht frei von politischen Interpretationen, wurde doch im 19. und 20. Jh. bis in die Sowjetzeit hinein auch und gerade in intellektuellen Kreisen der slawischen Nationalstaaten heftig darum gerungen, wo der Ursprung aller Slawen zu suchen sei.66 Auch die Vereinnahmung der Germanen und Slawen in den politischen Auseinandersetzungen vor allem im Gefolge der Veränderungen der politischen Grenzen nach dem 1. Weltkrieg beschränkte sich nicht auf den hier nur behandelten Gebrauch der Alten Geschichte als Argument in den Diskussionen in der Tschechischen Republik, sondern kann etwa auch in Polen beobachtet werden.67 Die Verargumentierung von Germanen und Slawen im tagespolitischen Geschehen war also in der Zeit des Briefwechsels zwischen Premerstein und Koepp sowie Premerstein und Gierach gang und gäbe und wurde insbesondere mit den Mitteln der Archäologie geführt, da die antiken Schriftquellen zu den Slawen nur sehr überschaubare Informationen lieferten.68 Premer­ stein jedoch wollte sich an dieser Vereinahmung der Wissenschaft nicht beteiligen. Dies ist um so bemerkenswerter, als in dem Nachruf auf Premerstein, der 1935 in den Mitteilungen des Marburger Universitätsbundes publiziert wurde, insbesondere auf sein ‚Deutschbewußtsein‘ abgestellt wurde, das ihm als ‚Grenzdeutschem‘ auch „(...) in der Zeit tiefer Erniedrigung der engeren und weiteren Heimat (...)“ zu eigen gewesen sei.69 Premerstein also, der sich gegen die Verargumentierung der Wissenschaft in Fragen der aktuellen Politik gestellt hatte, wurde als Wissenschaftler eben einer solchen Verargumentierung zugeführt. Die letztere ist um so eigentümlicher, als Premerstein nicht nur Mitglied der Belgrader Akademie der Wissenschaften war,70 sondern auch in freundlichem Kontakt mit altertumswissenschaftlichen Kollegen in den aus dem Zusammenbruch von Österreich-Ungarn hervorgegangenen Staaten stand. Dies zeigt etwa ein Briefwechsel mit dem in seinem Geburtsort Laibach, nunmehr Lubljana, (wissenschaftlich) beheimateten Balduin Saria, mit dem er sich 1933 über Krainer Inschriften austauschte und mit dem er durch den serbischen Althistoriker Nikola Vulić in Verbindung gebracht worden war.71 Jedoch kam auch Anton von Premerstein nicht an Verbeugungen vor dem jeweiligen Zeit­ geist vorbei, wie etwa ein Vortrag zeigt, den er während des 1. Weltkrieges an der Philipps-Uni­ versität Marburg hielt,72 auf den an anderer Stelle einzugehen sein wird. Dem auf die politische Nutzung der Wissenschaft für politische Probleme der eigenen Zeitläufte und die nationalistische Nutzung der Germanen als Argument abstellenden Zeitgeist verschloß er sich in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts jedenfalls. Freilich war und ist es auch und vielleicht gerade in der Wissenschaft nicht immer einfach, wider den Stachel des jeweiligen Zeitgeistes zu löcken. 65 66 67 68 69 70 71 72

Vgl. Griebel 2013, 7. Vgl. Heather 2011, 353–355. Vgl. Heather 2011, 354. Vgl. Heather 2011, 351. Vgl. Stengel 1935, 36. Vgl. Ruffing 2018, 169. UAM 312/3/24 Nr. 57. UAM 312/3/24 Nr. 58. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Anhang: Die Korrespondenz zwischen Anton von Premerstein und Friedrich Koepp sowie Anton von Premerstein und Erich Gierach (UAM 312/3/24 Nr. 1). I) Briefwechsel Anton von Premersteins mit Friedrich Koepp 1.) Brief (handschriftlich) von Koepp an Premerstein vom 31.01.1927 Göttingen Schildweg 17 31. I 27 Sehr verehrter Herr Kollege, für Ihren freundlichen Brief sage ich Ihnen meinen herzlichsten Dank, ganz besonders auch für die Absicht, mir auf dem Umweg über die G(öttinger) g(elehrten) Anzeigen ein Exemplar ihrer Ausgabe des M(onumentum) A(ntiochenum) zuzusenden, von der ich noch gar nicht gehört hatte, daß sie bereits erschienen ist. Natürlich würde ich mich sehr freuen, das Buch zu besitzen; ob ich etwas Vernünftiges dazu zu sagen haben werde, ist mir aber sehr fraglich. Ich will heute mit Prof Joachim, dem Herausgeber der G. g. A., sprechen. Wenn er noch kein Exemplar hat und es (unleserlich) schon vergeben hat, wird er es gern anfordern; vielleicht befürworten Sie dann, wenn es nötig ist, die Berücksichtigung seiner Bitte. Ich bin eben für eine Arbeit über das römische Relief, die von Sievekings Arbeit in der Arndtfestschrift73 und von Snijders Aufsatz über den Bogen von Benevent74 ausgeht und für die griechische Kunst etwas mehr zu (unleserlich) soll. Es wird aber noch eine Weile dauern, bis ich damit fertig werde. Da Sie eine Arbeit über die Marcussäule vorhaben, wird Sie das folgende interessieren. Da ich bei der erneuten Beschäftigung mit der Trajanssäule wieder einmal Gelegenheit hatte, mich davon zu überzeugen, daß die Publikation der Marcussäule doch eigentlich unannehmbar ist – weniger ihrer Kostspieligkeit und Unhandlichkeit wegen als wegen der fürchterlichen Zer­ stückelung der Darstellung und der Entstellung durch Zerstörung und Ergänzung, wie sie die Aufnahme nach dem Original mit sich brachte – und da Reinarth seine Umzeichnungen nach Bartoli gemacht hat, wodurch sie auch wissenschaftlich nicht brauchbar sind, machte ich Bruckmann75 den Vorschlag, nach Petersens Tafeln eine Handausgabe in Umzeichnungen etwa in Größe der Textabbildungen bei Petersen und mit Benutzung dieser herzustellen. Als Bruckmann darauf nicht einging (die große Ausgabe ist übrigens vergriffen!), wandte ich mich an Rodenwaldt,76 der die Anregung an Amelung77 weitergab. Beide stehen dem Vorschlag wohlwollend gegenüber, und Rodenwaldt hat mich ersucht, ihn vor der diesjährigen Plenarversammlung in Erinnerung zu bringen. Die Aufgabe ist nicht ganz leicht, da man aus jeder Tafel Petersens nur den mittleren Teil herausnehmen darf, soweit noch keine wesentliche Verkürzung bemerklich ist, und diese Stücke dann zusammensetzen muß. Aber auf andere Art kann man doch nicht dazu kommen. Es käme darauf an, in Rom – denn am besten wäre es doch natürlich, wenn die Arbeit dort gemacht würde – einen Zeichner, womöglich einen archäologisch gebildeten Zeichner 73 74 75 76

Sieveking 1925. Snijder 1926. Gemeint ist der Eigentümer des Bruckmann-Verlags. Gerhardt Rodenwaldt war von 1922 bis 1932 Prtäsident des DAI und einer der bedeutendsten Vertreter seines Faches in der ersten Hälfte des 20. Jh.: vgl. zu diesem Sünderhauf 2008 u. 2012. 77 Walter Amelung war seit 1921 Leiter des DAI in Rom; vgl. zu diesem Diebner 2012. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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oder einen zeichnenden Archäologen zur Verfügung zu haben. Diese geplante Handausgabe müßte natürlich einen kurzen Text haben. Petersens Beschreibung in der großen Ausgabe wäre für den archäologischen Text ganz geeignet, da sie knapp gehalten ist und Bruckmann würde den Nachdruck wohl gestatten. Als historischer Kommentar statt des Domaszewskischen wäre dann Ihre beabsichtigte Arbeit wohl sehr geeignet. Was meinen Sie? Es würde meinem Vorschlag bei der Z.D. gewiß zur Empfehlung dienen, wenn man das in Aussicht stellen könnte. Mit bestem Gruß Ihr ergebener F. Koepp 2.) Brief (maschinenschriftlich) von Premerstein an Koepp vom 03.02.1927 Handschriftlich in der linken oberen Ecke: D | Prof. Dr. F. Koepp | Göttingen, Schildweg 17 Marcus Säule Handschriftlich in der rechten oberen Ecke: Marburg/Lahn, Uferstr.10, den 3.2.27 Hoch geehrter Herr Kollege! Für Ihren freundlichen Brief sage ich Ihnen herzlichen Dank, ganz besonders auch für Ihre liebenswürdige Bereitwilligkeit, die Besprechung unseres Büchleins Monum.Antioch. in den Götting.Anzeigen zu übernehmen. Ich habe die Überzeugung, dass diese in Ihren Händen am besten geborgen ist. Ich habe deshalb heute an den Verleger geschrieben und ihn ersucht, ein Exemplar sofort an den Schriftleiter Prof. Joachim zu senden, falls dieses noch nicht etwa geschehen ist. Mit begreiflichem Interesse habe ich von Ihren wichtigen Ausführungen über Ihre Pläne,78 die die römische Reliefkunst im allgemeinen und besonders die Marcus[[X]]Säule betreffen. Grundsätzlich bin ich gerne bereit, den historischen Kommentar zu den Reliefs der Säule zu übernehmen, und danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir durch diesen Vorschlag entgegenbringen. Ich kann nur sagen, dass nach meinen bisherigen Ergebnissen das Bild des Krieges, auf der Säule viele [sic] einfacher klarer und überzeugender mir hervorzutreten scheint als bei Domaszewski, bei dem alles in kleine Episoden sich zersplittert und wir eigentlich vergeblich nach den Hauptkämpfen des Krieges suchen, die ja schliesslich aus der literarischen Ueberlieferung, so trümmerhaft sie auch sein mag, ziemlich sicher hervorgehen. Die Hauptaufgabe besteht darin, die Ueberlieferung und die Säulenreliefs in richtige Uebereinstimmung, natürliche ohne jeden [sic] gewaltsame Interpretation, zu bringen. Nun bin ich allerdings für dieses laufende Jahr mit bereits eingegangenen Verpflichtungen anderer Art belastet und könnte nicht wieder an das Studium der Säule[[n]] herangehen; hätte es also soweit Zeit mit dem historischen Kommentar, dass ich spätestens etwa Ostern 1928 an die Arbeit gehe? Dann liesse sich die Sache wohl in einigen Monaten bis zum Jahresende 1928 erledigen; Einzeluntersuchungen, die den Kommentar zu sehr belasten würden, könnte ich schließlich in einem besonderen größeren Aufsatz oder einer kleineren Broschüre „Historische Studien zur Marcus-Säule“ ablagern. Wie wprden [sic] Sie sich, verehrtester Herr Kollege, zu diesem Arbeitsplan stellen? Noch muss ich hinzufügen, dass ich vor etwa anderthalb Jahren von befreundeter Seite hörte, dass der Germanist der Prager Deutschen Universität, Prof. Dr. Gierach, auch die Absicht 78 Premerstein hat hier das Prädikat zum Hauptsatz vergessen. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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hat, die Reliefs herauszugeben und mit Erläuterungen zu begleiten, wobei allenfalls – wie jener Freund meinte – eine Mitarbeit meinerseits ins Auge zu fassen wäre. Ich habe es bisher unterlassen, mich mit Herrn Gierach ins Einvernehmen zu setzen; halten Sie es für nützlich, dass ich entweder direkt oder durch Vermittlung an ihn mit der Anfrage herantrete, was eigentlich[[e]] seine Absichten sind; oder wollen vielleicht Sie selbst bei ihm anklopfen? Erwünscht wäre es jedenfalls, zu wissen, ob etwa ein Konkurrenzunternehmen im Gange ist, und vielleicht ein Zusammengehen in diesem Falle herbeizuführen. Soviel für heute; mit nochmaligem Dank für all die wertvollen Anregungen Ihres Schreibens und besten Empfehlunge [sic] Ihr ergebenster 3.) Brief (handschriftlich) von Koepp an Premerstein vom 04.02.1927

Göttingen Schildweg 17 4. II 27

Sehr verehrter Herr Kollege, für Ihren freundlichen Brief danke ich Ihnen bestens und muß darauf gleich mit einigen Zeilen antworten. 1.) habe ich mit Prof. Joachim noch nicht gesprochen, da ich ihn zweimal nicht erreichen konnte, will es aber morgen von neuem versuchen. Ich stelle mir vor, daß die gewünschte Besprechung keine große Arbeit erfordert, da kein Grund sein wird, auf die Probleme des M. A. einzugehen, so daß ich es wohl leisten kann (auch ohne mich in den G. g. A. allzu breit zu machen!). 2.) habe ich mich in Betreff der Marcussäule vielleicht nicht deutlich ausgedrückt. Meine jetzige Arbeit bezieht sich gar nicht auf die Marcussäule und bei dem Plan, von dem ich schrieb, hatte ich auch nicht vor mich anders als durch die Anregung zu beteiligen. Aber für diese schien mir mehr Aussicht auf Zustimmung und Geldbewilligung der Zentraldirektion, wenn ich sagen könnte, daß Sie eventuell bereit wären, geschichtliche Erläuterungen beizusteuern. Daß Sie dazu erst im nächsten Jahr im Stande wären, ist kein Hinderungsgrund. Denn wenn die Sache etwa im Frühjahr des nächsten Jahres von der Z.D. ernstlich ins Auge gefasst werden sollte, so wird sicher ein Jahr vergehen bis die Zeichnungen zur Reproduktion bereitliegen – im günstigsten Fall! In Rom wäre natürlich archäologischer Beirat nötig, und der Archäologe, der ihn gibt, würde dann auch bei der Publikation zu beteiligen sein, soweit der archäologische Teil überhaupt über den Abdruck von Petersens Beschreibung hinausgeht. Sehr wichtig ist aber nun was Sie von der Absicht des Herrn Gierach schreiben. Davon wußte ich nichts, kannte nicht einmal den Namen. Mit ihm muß man sich natürlich in Verbindung setzen, und ich wäre sehr dankbar, wenn Sie das tun wollten, so daß ich bei meiner Eingabe an die Z.D. schon genauer sagen könnte, wie die beiden Absichten zu vereinigen wären. Denn daß sie vereinigt werden müssen, ist selbstverständlich. Die Sache darf nicht zweimal unternommen werden. Das Interesse des Herrn Gierach wird ja doch vermutlich hauptsächlich auf dem Somatischen (?) der Germanen beruhen und damit wäre er vielleicht berufen, den archäologischen Kommentar wertvoll zu ergänzen. Daß er im Stande wäre, eine wirkliche Ausgabe, wie sie sein muß (nicht etwa Autotypien nach Petersens Tafeln, oder gar nur eine Auswahl) ins Werk zu setzen, kann ich mir gar nicht vorstellen. Denn ganz einfach ist das nicht. Mit ergebensten Grüßen Ihr F. Koepp

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4.) Brief (maschinenschriftlich) von Premerstein an Koepp vom 21.02.1927 Handschriftlich in der linken oberen Ecke: Direktor | Prof. Dr. F. Koepp | Göttingen, Schildweg 17 Marburg a.d.Lahn. Uferstr.10. d. 21.2.27 Hochverehrter Herr Kollege! Im Verfolg unseres bisherigen Briefwechsels über die Handausgabe der Marcus-Säule erlaube ich mir Ihnen beifolgend die Abschrift eines Schreibens des Herrn Kollegen E. Gierach von der Prager deutschen Universität, zu überreichen, worin er seine Pläne ausführlich darlegt (s. II.2). M.E. hat er die Sache in einen zu grossen Rahmen gespannt, wobei aber nur ein Drittel der Reliefs, die Darstellungen der Germanen selbst, in Betracht kommen sollen; auch steht er auf dem Standpunkt, dass eine geographische Bestimmung des Zuges der Römer nach den Reliefs überhaupt unmöglich ist, sodass sich mein historischer Kommentar überhaupt erübrigen würde, und endlich erscheint mir bei aller Sympathie für die deutschen Stammesgenossen in den Sudetenländern die Verquickung einer wissenschaftlichen Arbeit mit den politisch-nationalen Gesichtspunkten als wenig wünschenswert. Soviel ich urteilen kann, müsste die Arbeit zunächst auf Ihre Anregung vom archäologischen Institut allein unternommen werden. Späterhin könnte ja ein Teil der Zeichnungen Herrn Gierach zur Benutzung überlassen und dafür gewiss auch bei den jetzigen schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen eine entsprechende Entschädigung in Aussicht genommen werden. In der Hauptsache aber müssten wir, glaube ich, unabhängig von dem Gierach’schen Unternehmen vorgehen. Damit will ich nicht gesagt haben, dass ich nicht etwa späterhin Herrn Gierach für seinen Text behilflich bin, vorausgesetzt, dass das Deutsche Institut keine Einwendungen erhebt. Wollen Sie mir, verehrtester Herr Kollege, Ihre Ansicht über die Sache mitteilen, damit die Sache beim Institut durch Ihre Anregung bald in Gang kommt. Ich habe schon nach anderer Seite Schritte dafür getan, dass ich allenfalls im Jahre 1928 von einer anderen Verpflichtung noch frei bleiben kann. In besonderer Verehrung mit verbindlichen Grüssen Ihr sehr ergebener 5.) Brief (handschriftlich) von Koepp an Premerstein vom 24.02.1927

Göttingen Schildweg 17 24. II 27

Verehrter Herr Kollege, für Ihren Brief mit der Einlage Prof. Gierachs sage ich Ihnen besten Dank. Ich bin ganz Ihrer Ansicht und Sie werden damit einverstanden sein, daß ich beide Briefe an Rodenwaldt schicke. Sie werden der Entscheidung über den Vorgang sicher günstig sein. Ihr Mon. Ant. ist mir durch die G. g. A. vor einigen Tagen zugegangen; ich habe aber, augen­blicklich mit einer anderen Arbeit beschäftigt, erst einen Teil lesen können. Sobald ich – hoffentlich in einigen Wochen – die andere Arbeit vom Hals habe, werde ich daran gehen. Mit bestem Gruß Ihr sehr ergebener F. Koepp.

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6.) Brief (handschriftlich) von Koepp an Premerstein vom 25.07.1927

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Göttingen Schildweg 17 25. Juli 27

Sehr verehrter Herr Kollege, Längst ich Ihnen beifolgenden Brief Rodenwaldts schicken sollen. Aber er hat mich auf der Reise erreicht und ist dann leider, nachdem ich anfangs dieses Monats zurückgekehrt war, unter andere Papiere geraten, so daß er mir erst heute wieder zu Gesicht kommt. Ich erbitte ihn mir nach Kenntnisnahme zurück. Eilig ist ja (mir wenigstens!) die Sache gar nicht und ließe sich im Herbst besprechen, besonders wenn Sie wie ich hoffe, auch zur Philol. Vers. kommen. Rodenwaldt ist insofern nicht ganz im Bilde, als ich mich ja an Bruckmann zuerst gewandt hatte, dort aber kein Interesse für die Ausgabe fand. Rodenwaldts eigener Vorschlag würde zwar die Unzugänglichkeit des Denkmals mindern, die sonstigen Übelstände nicht beheben, am Ende noch durch verminderte Deutlichkeit etwas vermehren. Bruckmann würde gegen das „Plagiat“ vielleicht nichts haben, da er die Auflage ausverkauft hat. Aber es würde dann das, was nur notwendig oder doch höchst wünschenswert erscheint, sicherlich niemals geschehen. Deshalb würde es mir besser scheinen zu warten. Die Schwierigkeiten sind natürlich nicht gering. Die Besprechung Ihrer Ausgabe des Mon. Antioch. habe ich noch vor meiner Abreise vor etwa sieben Wochen abgeschickt. Sie konnte aber noch nicht zum Druck kommen. Mit herzlichen Grüßen Ihr F. Koepp Beilage (maschinenschriftlich, Abschrift des Originals): Auszug aus einem Schreiben von Prof. G. Rodenwaldt an Prof. Dr. F. Koepp, Göttingen (Archäo­loisches Institut) Tgb.-Nr. 2142/25. Berlin, 23. Juni 1927. In der Frage der Markussäule werden Etatsorgen geltend gemacht, u.a. das ungeheure Anziehen der Preise in Italien, daher können wir mit unserem römischen Etat in diesem Jahre sehr viel weniger anfangen. Weitere Bedenken: Ist schon ein Verlag in Aussicht genommen? Würde Bruckmann den Verlag der zeichnerischen Wiedergabe übernehmen? Die Zeichnung müsste während ihrer ganzen Ausführung durch einen Archäologen mit beaufsichtigt werden. Eine Hauptschwierigkeit scheint darin zu liegen, dass sie alle Details, z.B. die der Bewaffnung, mit größter[[t]] Genauigkeit enthalten müsste – eine ausserordentlich schwierige und langwierige Arbeit, die auch ein ziemlich grosses Format erfordern würde. Sehr viel billiger wäre es, gewissermassen eine editio minor zu machen, indem man nach den Lichtdrucktafeln gute Autotypin herstellen liesse und auf diese Weise bei doppelseitigem Druck auf Kunstdruckpapier in ein bis zwei Alben die ganzen Reliefs hätte. Sollte eine solche Ausgabe in die von Curtius und mir geplante Bibliotheca Artis Antiquae Aufnahme finden können, wo wir Serien von Kunstwerken in Heften von ca. je 60 ganzseitigen Abbildungen publizieren wollen. Allerdings ist hierfür eine kurze [[A]]n­leitung geplant, während bei der Markussäule eine historische Betrachtung erforderlich wäre. Allenfalls können wir die Angelegenheit bei der Philologen-Versammlung besprechen.

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7.) Brief (maschinenschriftlich) von Premerstein an Koepp vom 28.07.1927 Handschriftlich in der linken oberen Ecke: F. Koepp, | Göttingen Marburg/Lahn, Deutschhausstr.28 den 28. Juli 1927.

Hochgeehrter Herr Kollege! Haben Sie herzlichen Dank für Ihr sehr geschätztes Schreiben vom 25.d.Mts und für die gewährte Einsichtnahme in das Schreiben Rodenwaldts, welches ich Ihnen beifolgende zurückreiche. Auch ich halte es für das Zweckmässigste, die Sache im Herbst anlässlich der PhilologenVersammlung mündlich zu besprechen; aller Wahrscheinlichkeit nach komme auch ich nach Göttingen und werde nicht verfehlen, mit Ihnen Fühlung zu nehmen. Mein Arbeitsprogramm für die nächste Zeit habe ich so eingerichtet, dass ich nach Fertigstellung einer Untersuchung über den Prinzipat des Augustus auf jeden Fall die Arbeit an der Markussäule wieder aufnehmen will – selbst den ungünstigen Fall mit inbegriffen, dass zunächst die von Ihnen vorgeschlagene zeichnerische Aufnahme des Reliefs noch nicht zustande käme. Andererseits bin ich überzeugt, dass dieser Plan schließlich doch verwirklicht wird; In der Hoffnung, Sie, hochverehrter Herr Kollege, seinerzeit in Göttingen begrüßen zu können, bin ich mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochschätzung Ihr ergebenster II. Briefwechsel Anton von Premersteins mit Erich Gierach 1.) Brief (maschinenschriftlich) Premersteins an Gierach vom 14.02.27 Handschriftlich in der linken oberen Ecke: Prof. Dr. E. | Gierach, Reichenberg | Böhmen, | Nibelungengasse Sehr verehrter Herr Kollege! Von meinem Wiener Kollegen und Reisegenossen Josef Keil habe ich vor geraumer Zeit vernommen, dass Sie in irgendeiner Form eine grössere Untersuchung über die Marcus-Säule in Rom – allenfalls verbunden mit Abbildungen – ins Auge gefasst haben. Ich selbst habe mich Jahre hindurch mit den Problemen der Säule, vor allem der historischen Ausdeutung der Darstellungen beschäftigt, wobei ich vielfach zu Ergebnissen gelangt bin, die von denen Domaszewskis beträchtlich sich entfernen. Nunmehr habe ich durch einen Zufall erfahren, dass Prof. Koepp, der frühere Direktor des Römisch-Germanischen Instituts in Frankfurt die Anregung zu einer Umzeichnung und neuen Behandlung der Reliefs an massgeblicher Stelle geben will; es soll eine Art Handausgabe [[an]] neben der bisherigen grossen Ausgabe von Petersen und Domaszewski werden. In diesem Zusammenhang wäre es nun für uns beide ausserordentlich wichtig zu erfahren, ob Ihrerseits der Plan einer neuen Arbeit über die Reliefs noch besteht oder ob er wegen der Ungunst der Verhältnisse hat zurückgestellt werden müssen. Klar ist es, dass namentlich eine Herausgabe der Bilder nicht zweimal unternommen werden dürfte, sicherlich würde sich eine Möglichkeit bieten, durch geeignetes Einvernehmen etwa Ihrerseits vorhandene Pläne mit den unsrigen zu vereinigen. Vielleicht haben, verehrtester Herr Kollege, die Freundlichkeit, mir möglichst bald mitzuteilen, welches Ihre gegenwärtigen Pläne sind und worauf Ihre besonderen Interessen hinsichtlich

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der Marcus-Säule sich richten – ob vielleicht auf eine Darstellung des körperlichen Aussehens und der Tracht der dargestellten Germanen und die germanischen Rechtsbräuche, die an ein paar Stellen des Reliefs entgegentreten. Ihrer freundlichen Antwort mit lebhaften Interesse entgegensehend, in vorzüglicher Hochachtung Ihr verbindlichst grüssender sehr ergebener 2.) Abschrift (maschinenschriftlich) des Briefes von Gierach an Premerstein vom 16.02.1927 Handschriftlich in der Mitte der Seite: (Abschrift) Univ.-Prof. Dr.E. Gierach. Reichenberg (Böhmen) Nibelungenstr. 3

Reichenberg, 16. Febr. 1927.

Hochverehrter Herr Kollege! Seit dem Umsturze in Böhmen hat die Geschichte des Deutschtums in den Sudetenländern an nationaler und politischer Bedeutung gewonnen. Die Tschechen bauen ihre Ansprüche auf ganz Böhmen auf „historische“ Rechte [sic] auf und behaupteten womöglich, Ureinwohner hier zu sein, jedenfalls aber vor den Deutschen das ganze Land bewohnt zu haben. Da nun die Slaven frühestens gegen Ende des 6. Jhs. einwanderten und ein halbes Jahrtausend vorher hier schon Germanen wohnten, hat die Geschichte der alten Deutschen für das Unwägbare in der Politik von heute erhöhte Bedeutung. Deshalb plante und plane ich eine umfassende Monographie über die Markomannen und Quaden, u.zw. in 2 Bänden: der erste soll die Quellen ihrer Geschichte, der zweite die Darstellung derselben umfassen. Der erste gliedert sich in 3 Teile: 1. die geschriebenen Quellen – der Teil liegt im Ms. vor; 2. die bildlichen Darstellungen – im wesentlichen die Reliefs der Markus-Säule; 3. die Bodenfunde. Dieser 3. Teil hat die Ausführung bisher verzögert; denn ich bin der Anschauung, dass die Geschichte eines germanischen Stammes heute nicht mehr geschrieben werden darf ohne die Ausnutzung der vor- und frühgeschichtlichen Funde. Einen Prähistoriker, (dessen Hilfe ich unbedingt bedarf) besitzt unsere Universität nicht; wohl aber hat die Regierung uns die Ernennung eines solchen vor vier Jahren zugesagt, die Berufung aber leider immer wieder hinausgeschoben, obwohl die Verhandlungen abgeschlossen sind. Was nun den zweiten Teil, die Markussäule, anbe[[trifft]]langt, so war geplant, über die Säule und ihre Geschichte nur zusammenfassend zu berichten, aber möglichst alles auszuschöpfen, was für die Germanen aus den Abbildungen zu entnehmen ist. Denn es sind doch die ältesten sicher bezeugten Germanendarstellungen, die wir besitzen, und sie scheinen mir bisher stark vernachlässigt. Es sollten Abbildungen aller Tafeln beigegeben werden, welche für die Germanen Bedeutung haben, ungefähr ein Drittel. Den Zug der Römer aus den Reliefs geographisch zu bestimmen, halte ich für unmöglich. Wenn Sie es übernehmen würden, ein Buch dieser Art zu schreiben, würden sie unserem Grenzlanddeutschtum einen bedeutenden Dienst erweisen. Es könnte neben einem allgemeinen Werke über die Säule sehr wohl bestehen. Vielleicht liesse es sich gleichzeitig mit dem allgemeinen Werke herstellen und dadurch Kosten bei der Bilderstellung ersparen. Vielleicht liesse auch sich das allgemeinere Werk in unseren Gesamtrahmen aufnehmen, wodurch jedenfalls die

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Verbreitung gefördert werden dürfte. Wollen Sie mir bitte mitteilen, wie Sie über diese [[Frage]] Dinge denken. Vor einigen Jahren verfaßte ich eine Flugschrift, um das Deutschtum hier auf die Säule aufmerksam zu machen, ich lasse sie Ihnen gleichzeitig zugehen. In ausgezeichneter Hochachtung Ihr gez. Gierach. 3.) Brief (maschinenschriftlich) von Premerstein an Gierach 04.03.1927 Handschriftlich in der linken oberen Ecke: Prof. Dr. E. Gierach Marburg, den 4. März 1927. Uferstr. 10 Hochverehrter Herr Kollege! Nehmen Sie meinen verbindlichen Dank für Ihr hochgeschätztes Schreiben vom 16. vorigen Mts. Es war mir von hohem Werte, durch Ihre Freundlichkeit Genaueres über Ihre Pläne hinsichtlich der Markus-Säule zu erfahren. Der von Prof. Koepp (Göttingen) mir mitgeteilte Plan geht dahin, eine Umzeichnung der gesamten Abbildungen des großen Werks von Petersen und Domaszewski herstellen zu lassen und auf diese Weise eine Handausgabe des Denkmals zu veranstalten, zu welcher auch die archäologische Untersuchung von Petersen und ein neuer historischer Kommentar, den Koepp von mir erwartet, hinzukommen sollen. Es soll also das ganze Denkmal herausgegeben werden (im Rahmen der Veröffentlichungen des Deutschen Archäologischen Instituts); infolgedessen wird sich zunächst diese Handausgabe mit Ihren Plänen nicht sogleich in Einklang bringen lassen. Aber vielleicht würde Ihnen, für Ihre Zwecke diese Handausgabe insofern dienlich sein können, als sie seinerzeit nach ihrem Erscheinen vom Deutschen Arch. Institut die Benutzung der für Sie in Betracht kommenden Teile der Umzeichnung gegen ein zweifellos nur mässiges Entgelt erlangen könnten. Ausserdem wird dann jedenfalls auch mein Text vorliegen, der dann für den Bearbeiter dieses Teils Ihrer Veröffentlichung immerhin als Vorarbeit wird dienen können. Gerne würde ich mich selbst erbötig machen, Ihnen den von Ihnen gewünschten Text zu liefern; aber meine sonstigen Verpflichtungen werden mich schwerlich dazu kommen lassen, und so wage ich kein Versprechen zu geben, um dann nicht späterhin enttäuschen zu müssen. Immerhin glaube ich doch, dass die Veröffentlichung des Instituts, wenn sie auch allem Anschein nach unabhängig von der Ihrigen [[r]]erscheinen wird, Ihre Zwecke fördern wird, die auch mir bei meinen grossen Sympathien für das Grenzlanddeuschtum sehr am Herzen liegen. Es heisst also hier zunächst getrennt marschieren, um aber schliesslich vereint zu schlagen. Ihre schöne Schrift über die Germanen-Darstellungen auf der Säule war mir ausserordentlich willkommen; sie zeugt von vertiefter Anschauung der gegebenen Germanentypen, von der man mancherlei lernen kann. Nehmen Sie auch dafür meinen herzlichen Dank. In vorzüglicher kollegialer Hochachtung Ihr sehr ergebener N.S. Sie sagen in Ihrem Schreiben, dass Sie es für unmöglich halten, den Zug der Römer aus den Reliefs geographisch zu bestimmen. Diese Ansicht muss sich jeder bilden, der die bisherigen

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so widersprechenden Ortsbestimmungen im Auge hat. Indessen glaube ich, dass bei sorgfältiger Verbindung der literarischen Ueberlieferung und der Reliefdarstellungen doch an den meisten Punkten Sicherheit – wenigstens über die allgemeine Richtung des römischen Vormarsches – zu erzielen ist. 4.) Brief (maschinenschriftlich, Frakturschrift) Gierachs an Premerstein vom 12.03.1927 Reichenberg, 12. März 1927 Hochverehrter Herr Kollege! Haben Sie meinen besten Dank für Ihre Mitteilungen vom 4. d. [sic] Wenn es Ihnen doch möglich sein sollte, den Text zu unserem geplanten Werke zu liefern, so werden wir Ihre Mitarbeit mit Freuden annehmen. In dem ich der geplanten Ausgabe mit Spannung entgegen sehe, verbleibe ich in ausgezeichneter Hochachtung Ihr sehr ergebener Gierach 5.) Brief (maschinenschriftlich, Frakturschrift) Gierachs an Premerstein vom 10.04.1928 mit handschriftlichem Auszug der Antwort Premersteins auf der Rückseite Stempel in der linken oberen Ecke: Prof. Dr. E. Gierach | Reichenberg (Böhmen) | Nibelungenstr. 8 Darunter handschriftlicher Vermerk Premersteins: 13/4.28. Reichenberg, 10. April 1928 Hochverehrter Herr Professor! Vor einiger Zeit wechselten wir Briefe über die „Markussäule“, nun hörte ich, daß das geplante Unternehmen nicht zustande komme. Ich erlaube mir darum die Anfrage, ob Sie nicht geneigt wären, den hiesigen Plan aufzunehmen und die Markomannen- und Quadengeschichte aus den Bildwerken der Säule zu erläutern. Das Buch müßte eine allgemeine Besprechung der Säule, eine Übersicht über den Marko­ mannen- und Quaden-K±rieg und eine ausführliche Darstellung alles dessen, was für die Ge­ schichte und Kultur der Markomannen und Quaden von Bedeutung ist, enthalten. Alle dafür wichtigen Abbildungen, also etwa 80 Bilder, wären beizugeben. In Anbetracht der außerordentlichen Bedeutung, die ein solches Buch für unser Deutschtum auch vom nationalen Standpunkt hätte, würde ich Sie sehr bitten, den Plan einer eingehenden Erwägung zu würdigen. In ausgezeichneter Hochachtung Ihr ergebenster Gierach (links daneben handschriftlicher Vermerk Premersteins: Auszug der Ant­ wort umstehend) Rückseite: Antwort am 7/5.28 (Auszug) Die Arbeit über den Prinzipat dürfte erst Ende 1928 fertig werden, dann erst Markus-Säule und zwar zunächst Einzeluntersuchungen als notwendige Grundlage, danach Darstellung für erweiterte Kreise.

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Übrigens enthält die MSäule auch Kämpfe mit Wandalen u. Sarmaten; diese wohl auch zu behandeln. Grundsätzlich nicht abgeneigt! Aber vorderhand die Frage meiner Beteiligung nicht spruchreif! Schlage vor, Verhandlungen in Jahresfrist – etwa Mitte 1929 – wieder aufzunehmen, sicher­ lich werden wir da einem (unleserlich) Entschluß u. Ergebnis kommen können.

Abb. 3: Brief Gierachs an Premerstein vom 10.04.1928 (II.5)

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6.) Postkarte (maschinenschriftlich, Frakturschrift) Gierachs an Premerstein vom 18.05.1928 Hochgeehrter Herr Professor! Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief. Ich werde mir also erlauben, nächstes Jahr um diese Zeit noch einmal bei Ihnen anzufragen. Es würde mich um unser Sudetendeutschtum willen außerordentlich freuen, wenn Sie Ihre so wertvolle Arbeitskraft in den Dienst unserer Sache stellen wollten, Vorderhand für Ihre grundsätzliche Bereitschaft herzlich dankend, zeichnet in vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebenster Gierach Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Anton von Premerstein – Porträt; © Hessisches Staatsarchiv Marburg. Abb. 2: Premersteins Notizen zum 34. Kapitel der Res Gestae Divi Augusti; © Hessisches Staatsarchiv Marburg. Abb. 3: Brief Gierachs an Premerstein; © Hessisches Staatsarchiv Marburg.

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Römer – Slawen – Germanen. Anton von Premerstein

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„Gegen den Willen des Fachvertreters (...)“. Eine althistorische Habilitation in Kiel im Jahre 1924 Josef Wiesehöfer Im Frühjahr des Jahres 1924, nur ein Jahr nach seiner Promotion in Göttingen, stellte Ernst Meyer an der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel das Gesuch auf Habilitation. Obgleich das Verfahren noch im selben Sommer erfolgreich abgeschlossen werden konnte, zeigen unsere erhaltenen Quellen, nicht zuletzt die Korrespondenz am Verfahren beteiligter Personen,1 dass es dabei nicht ohne Schwierigkeiten abgegangen sein kann. Dass der Autor eben dieses Thema zur Würdigung der Verdienste des Jubilars gewählt hat, wird nicht nur der so Geehrte verstehen. Ernst Meyer,2 am 21. Februar 1898 in Pinneberg geboren und am 18. November 1975 in Zürich verstorben, hatte am Christianeum in Altona, das auch Theodor Mommsen besucht hatte, sein Abitur abgelegt und war dort auch mit den alten Sprachen in exzellenter Weise vertraut gemacht worden. Sein 1916 in Kiel begonnenes Medizinstudium – Meyer wollte wegen seiner dezidierten zoologischen Interessen Kolonialarzt werden – musste er wegen des Krieges abbrechen und stattdessen als Fußartillerist dienen. In den Kämpfen am Chemin des Dames, vor Ypern und bei Arras eingesetzt und verletzt, bekleidete er zuletzt den Rang eines Vizefeldwebels und kehrte nach kurzer freiwilliger Tätigkeit im sogenannten Grenzschutz Ost Anfang 1919 nach Hause zurück. Noch im selben Jahr nahm er dann ein Studium der Alten Geschichte, Klassischen Philologie, Archäologie und Ägyptologie auf – Studienorte waren Hamburg und Göttingen –, und schloss es bereits 1923 mit der Promotion an der Georgia Augusta ab; daneben erlernte er im Eigenstudium weitere orientalische Sprachen. Die von Ulrich Kahrstedt3 betreute Dissertation Die Grenzen der hellenistischen Staaten in Kleinasien, die nicht zuletzt durch Auswertung des Inschriftenmaterials die dortigen „territorialen Verhältnisse(.) der einzelnen Mächte zueinander“ im 3. und beginnenden 2. Jahrhundert v.Chr. zu klären bemüht war, erschien im Druck allerdings erst 1925,4 ein Umstand, der für unseren Fall noch bedeutsam werden wird. Im Vorwort der Arbeit spricht Meyer davon, dass das Manuskript im September 1923 abgeschlossen gewesen sei;5 die Arbeit sollte ursprünglich, vermittelt durch den Zürcher 1

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Hier sind vor allem die Briefe und Karten Felix Jacobys an Ernst Meyer aus den Jahren 1923 und 1924 zu nennen, die aus einem Teil des Nachlasses Ernst Meyer stammen. Dieser Teil wird für die Übergabe ins Universitätsarchiv Zürich vorbereitet und ist zur Zeit in den Händen des Historischen Seminars der Universität Zürich, Abteilung Alte Geschichte, Lehrstuhl Prof. Dr. Beat Näf. Briefe und Karten werden im Folgenden nach dem Datum der Abfassung zitiert. Der Gesamtnachlass Ernst Meyer befindet sich im Universitätsarchiv der Universität Zürich. Im Landesarchiv in Schleswig und im Universitätsarchiv Zürich ließen sich keine weiteren Unterlagen zum Habilitationsvorgang des Jahres 1924 in Kiel ermitteln. Ich danke Herrn Kollegen Näf sehr herzlich für die Einsicht in die Korrespondenz und für weitere Auskünfte. Zu danken habe ich auch Martin Göllnitz (Universität Mainz) und Martin Akeret (Uni­ versitätsarchiv Zürich). Zu Ernst Meyer s. Christ 1982, 334–337; 1983, 137–150; Maier 1994; Näf 2012. Zu Ulrich Kahrstedt s. Christ 1982, 150–154; Heuss 1962/1995; Meyer 1962; Näf 1986, 244–250; Wegeler 1996, 89–98; Lehmann 2001; Baltrusch 2012. Zürich 1925; Zitat: S. VII. S. VIII. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Josef Wiesehöfer

Latinisten Ernst Howald, im Seldwyla-Verlag in Zürich – Verlagsleiter war Karl Hönn6 – erscheinen, doch hatten sich Schwierigkeiten ergeben. Noch im selben Jahr 1923 wendet sich, wie ein Antwortschreiben Felix Jacobys vom 26. Okto­ ber deutlich macht, Meyer an den großen Philologen7 und erkundigt sich bei diesem nach den Möglichkeiten einer Habilitation in Kiel. Jacoby betont, in dieser Angelegenheit auch be­reits mit dem althistorischen Fachvertreter Hugo Prinz8 gesprochen zu haben; sie beide seien einer Habilitation „nicht abgeneigt“, die Sache liege seines Erachtens „sehr einfach“. Im Folgen­den zählt Jacoby die Voraussetzungen auf, die für ein Verfahren zu erbringen sind: a) eine – möglichst gedruckt vorliegende – Dissertation, b) eine Habilitationsschrift. Bei letzterer gibt Jacoby den Rat, statt der in ihrer Bearbeitungszeit unwägbaren „Rhodischen Prosopographie“ doch eher „die kleinen Spezialuntersuchungen“ in Betracht zu ziehen. Auch seien die Aussichten in Kiel be­ züglich einer Beschäftigung günstig. Darauf bedacht, „nicht im voraus in die domäne des Koll. Prinz ein(zu)greifen“, schlägt Jacoby folgendes Vorgehen vor: Sie machen sich sofort an Ihre habilitationsschrift. sobald eine fertig ist, kommen Sie mit ihr, der dissertation (die dann hoffentlich ausgedruckt ist; sonst mit den vorhandenen bogen) u. den nötigen papieren sofort hierher. dann lernen wir uns ungezwungen und ohne vorgreifen meinerseits persönlich kennen u. Sie übergeben Ihre meldung dem Dekan persönlich, wobei das weitere verfahren, das nicht lange zu dauern braucht, geregelt werden kann. vielleicht lässt es sich auch so einrichten, dass Prinz u. ich mit Ihnen zum Dekan gehen; jedenfalls aber, dass wir alle drei zusammenkommen.

In einem Brief vom 1. Januar 1924 beantwortet Jacoby weitere Fragen des Kandidaten: Er weist zum einen noch einmal darauf hin, dass das Vorliegen einer gedruckten Dissertation oder zu6 7

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Zu Hönn s. Büchner 1972. Zu Felix Jacoby s. Ampolo 2006; Chambers 1990; Mensching 1989 u. 2003; Most 1997; Wittram 2004; Schlunke 2009; Rösler 2010; Rengakos 2015. Der private Nachlass von Jacoby befindet sich in den Händen von G. Schepens in Leuven. Zu Ehren von Jacoby, der 1934 die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel verlassen und schließlich nach Oxford emigrieren musste, und den seine Universität nach dem Krieg mit einer Festschrift (Navicula Chiloniensis, Leiden 1956) und der Ehrensenatorwürde zu ehren suchte, findet jedes Jahr die sog. „Kieler Felix-Jacoby-Vorlesung“ statt, in der international namhafte Vertreter der Altertumswissenschaften auf den von Jacoby beackerten Feldern gewichtige, später publizierte Vorträge halten. Zu Prinz s. demnächst Wiesehöfer, im Druck. Hugo Prinz (* 8. Januar 1883 in Stettin; † 19. März 1934 in Kiel) hatte nach dem Besuch des Wilhelms-Gymnasiums in Stettin in Freiburg und Leipzig studiert und war im Breisgau 1906 von Ernst Fabricius mit einer Arbeit zu den „Funde(n) aus Naukratis. Beiträge zur Archäologie und Wirtschaftsgeschichte des 7. und 6. Jh. v.Chr.“ (erschienen: Leipzig 1908) promoviert worden. Vom 1. November 1906 bis zum 1. April 1908 war er durch Eduard Meyers Vermittlung wissenschaftlicher Hilfsarbeiter bei den Berliner Museen gewesen. 1908/09 hatte er das Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts erhalten. Meyer hatte bald darauf durchgesetzt, dass Prinz 1911/1912 an den Ausgrabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft in Assur und Babylon als Bearbeiter der Kleinfunde (Terrakotten, Siegelzylinder, Keramik) teilnahm. Vergeblich hatte er zuvor versucht, seinen Schützling als Nachfolger Leopold Messerschmidts auf die Kustodenstelle der Vorderasiatischen Abteilung der Berliner Museen zu hieven und ihm dabei günstige Bedingungen zu verschaffen. Am 25. Oktober 1910 erfolgte Prinz’ Habilitation in Breslau (Habilitationsschrift: Astralsymbole im altbabylonischen Kulturkreise). Im Wintersemester 1914/1915 vertrat er die Professur von Max L. Strack in Kiel; nach dessen Kriegstod war er dann vom 17. April 1915 bis zu seinem Tode 19 Jahre später Ordinarius für Alte Geschichte an der CAU. Enge Verbindungen knüpfte Prinz in jener Zeit zu den liberalen Mitgliedern des Instituts für Weltwirtschaft ebendort und den Kieler Mitgliedern der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“. Bei Prinz studierte im übrigen im Jahre 1931 auch Karl Hampl (Deglau 2017, 54–57). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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mindest von Druckfahnen „conditio sine qua non“ sei; ganz offensichtlich hat ihm Meyer von seinen Schwierigkeiten mit dem Seldwyla-Verlag berichtet. Zum anderen teilt Jacoby Meyer mit, dass seiner Meinung nach nichts gegen die Stellung eines Antrags auf das Reisestipendium des DAI für das Jahr 1924/25 spreche, außer vielleicht, wenn der Reiseantritt gleich auf eine auf den Herbst 1924 verschobene Habilitation erfolge. Ein Brief Jacobys vom 4.3.1924 lässt erkennen, dass Meyer immer noch in Händel mit dem Verlag verstrickt – Jacoby gibt ihm diesbezügliche Ratschläge, die auf Vermittlungs­bemühungen von Kahrstedt und Howald hinauslaufen – und dass die offizielle Meldung zum Habilitations­ verfahren in Kiel deshalb immer noch nicht erfolgt ist. In einem weiteren Schreiben vom 15. April deutet Jacoby an, dass er den Dekan – Professor Ewald Wüst, Diluvialgeologe und o. Professor für Paläontologie und Geologie,9 – veranlasst habe, Meyer Anfang Mai persönlich zwecks Übergabe der Meldung und der Unterlagen zu empfangen. „ich hoffe meinerseits auf erledigung bis pfingsten. es ist dringend wünschenswert, dass von der dissertation soviel wie irgend möglich vorliegt.“ Für Jacoby völlig überraschend (Brief vom 9.5.1924) – Prinz, der offensichtlich informiert war, hatte ihn nicht in Kenntnis gesetzt, wohl aber der Dekan und zeitgleich brieflich Meyer selbst – zog Ernst Meyer am 7. Mai sein Habilitationsgesuch zurück und machte Jacoby damit jegliches weitere Vorgehen unmöglich. Aus dem Brief kann man darauf rückschließen, dass der Aufenthalt Meyers in Kiel (7.5.), der wohl auch der Habilitationsmeldung gegolten hatte, auch der Grund für des Kandidaten „erste Verwirrung“ (so lautet Jacobys Formulierung) gewesen sein muss: Der Brief Meyers an den Dekan wurde in Kiel verfasst, und Prinz wusste ja offensichtlich um die Zurückziehung des Gesuchs. Ein Brief Jacobys an Meyer vom 12.5. (nach einer Besprechung des Verfassers mit Prinz) macht deutlich, was konkret geschehen sein muss: Prinz war „ernsthaft gekränkt“ darüber gewesen, dass Meyer seine Meldung offiziell eingereicht hatte, „ohne ihn (als Fachvertreter, J.W.) nochmals um seine ansicht und zustimmung zu befragen.“ Prinz werde aber, so Jacoby im Brief vom 12.5., „Ihrer habilitation keinen widerstand leisten.“ Jacoby, der das Vorgehen Meyers selbst als einen „Formfehler“ ansieht, gibt dem Habilitanden nun den folgenden Rat: schreiben Sie gleich an Prinz einen brief, in dem Sie diesen formfehler zu entschuldigen bitten u. Ihren wunsch ausdrücken, im einklang mit ihm hier arbeiten zu dürfen. Sie können das tun, ohne sich etwas zu vergeben. das resultat wird allseitig ein erfreuliches sein, da Prinz eine sanguinische und gelegentlich launenhafte, aber au fond gutmütige u. liebenswürdige persönlichkeit ist. schreiben Sie bitte so, dass Prinz den brief vor dienstag hat.

Zuletzt gibt Jacoby in diesem Brief Meyer noch Ratschläge bzgl. des Themas der Probevorlesung: Er solle kein Thema aus dem Gebiet der hellenistischen Geschichte wählen, also dem Gebiet, dem Dissertation und Habilitation zuzurechnen waren. Am 18. Mai schreibt Jacoby Meyer, er freue sich, nun endlich („zunächst inoffiziell“) dessen Schriften in Händen zu halten und ihn demnächst persönlich kennen zu lernen – das war bislang offensichtlich noch nicht geschehen! Wie man dem Brief entnehmen kann, stand nun wohl auch das Problem der noch nicht gedruckten Dissertation einer Habilitation nicht länger im Wege. Jacoby rät Meyer weiterhin, bei seinem nächsten Besuch in Kiel die Kollegen 9

Zu Wüst, der kurz nach Prinz 1934 in Kiel an Lungenkrebs verstarb, s. Prange 1985. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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(F­riedrich Wilhelm) Wolters (o. Professor f. Mittlere und Neuere Geschichte),10 (Friedrich Hermann) Rö(h)rig (!) (o. Professor f. Mittelalterliche und Neuere Geschichte)11 (mit dem er bereits über ihn, Meyer, gesprochen habe), Christian Jensen (o. Professor f. Klassische Philologie)12 und evtl. noch Eduard Fraenkel (o. Professor f. Klassische Philologie)13 zu besuchen. Die Habilitationskommission werde, so teilt Jacoby weiter mit, wohl auf schriftlichem Wege bestimmt. In einem Kartengruß Jacobys vom 6.6. ist von einem Erfolg Meyers die Rede; dieser wird mit dem Zuschlag des Reisestipendiums gleichzusetzen sein.14 Am 18.6. (vgl. Karte Jacobys an Meyer vom selben Tag) beschloss die Fakultät Meyers Zulassung zum Colloquium, der demnach die Annahme der Habilitationsschrift (Unter­ suchungen zur Chronologie der ersten Ptolemäer auf Grund der Papyri) vorausgegangen sein muss. „als neues Thema [des Colloquiums, J.W.] wird uns ‚Aegypter u. Hethiter‘ genehm sein.“ Zum letzten Mal kommt Jacoby in einem Kartengruß an Ernst Meyer vom 20.7.1924 auf das Habilitationsverfahren zurück. In ihm gibt er Meyer den Rat, zu seiner Antrittsvorlesung – das Colloquium war von Meyer in der Woche zuvor erfolgreich absolviert worden – Professor Prinz explizit persönlich einzuladen: (...) wenn Sie ihn mit ein paar worten ansprechen, wieviel wert Sie auf sein erscheinen legen. vielleicht in der form: der dekan habe die vorlesung auf Mittw. etc. angesetzt; u. Sie hofften sehr, dass ihm dass (!) in seinen dispositionen passen würde, da Sie wert etc. Sie vergeben sich mit einem solchen briefe jedenfalls nichts, im gegenteil.

Versucht man, ein Fazit aus der Korrespondenz Jacoby-Meyer bzgl. des Habilitationsverfahrens zu ziehen, so ergibt sich, dass Meyer in Jacoby einen klugen und effizienten Ratgeber und Unter­stützer besessen hat, in Prinz eine Person, die als engster Fachvertreter ernstgenommen, vor allem nicht übergangen werden wollte. Bis zum Ende der Korrespondenz äußert Jacoby immer wieder Verständnis für Prinz’ Verhalten, bittet Meyer, ein gutes Verhältnis zu ihm anzustreben. Das Verfahren selbst erscheint als schwierig, zunächst wegen des (ungedruckten) Zustands der Dissertation, später wegen Prinz’ Verhalten, das aber nicht ohne weiteres als unge­ bührlich erscheint, hätte Jacoby Meyer sonst doch wohl nicht eine Einladung von Prinz zur Antritts­vorlesung angeraten. Wie ganz anders stellt sich die Angelegenheit dar in einem Brief von Meyers Doktorvater Ulrich Kahrstedt an seinen Lehrer Eduard Meyer vom 20.7.1924: Mein Schüler Ernst Meyer aus Hamburg, der das Stipendium hat, hat sich vergangene Woche in Kiel habilitiert. Es war ein toller Kampf, Prinz hat alle seine Briefe unbeantwortet gelassen, dann ging die Sache über Jacoby, der sie durchgesetzt hat. Prinz hat darauf die Arbeit 2 Monate im Hause behalten und schliesslich erklärt, sie genüge ihm nicht. Dann ist die Arbeit gegen das Votum von Prinz von der Fakultät einstimmig angenommen worden, weil Prinz nichts anderes sagen konnte, 10 11 12 13

Zu Wolters, einer der zentralen Figuren des George-Kreises, s. Schlüter 2012. Zu Rörig s. Wolf 1996, 314–318; Pauler 2003; Noodt 2007. Zu Jensen s. Baader 1974. Zu Fraenkel, der später Jacobys Emigration und damit Rettung bewerkstelligen helfen sollte, s. Berner – Pait 2012. 14 Dieses Reisestipendium für das Jahr 1924/5 (http://www.dainst.org/de/dai/geschichte/geschichte-derstipendien [abgerufen am 20.3.2018]) – weitere Stipendiaten waren Carl Blümel, Walter-Herwig Schuch­ hardt und Joseph Vogt – führte Meyer, zusammen mit Friedrich Matz, zum ersten Mal nach Griechenland, das ihm „zur zweiten Heimat“ werden sollte (Christ 1982, 334). © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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als sie sei zu kurz, er verlange ein Werk etwa im Umfang von Ottos Tempel u Priester! Dann forderte Prinz, dass M. [i.e. Ernst Meyer, J.W.] im Probevortrag neue Entdeckungen brächte, sodass der Dekan, dem Jacoby das steckte, vor Eintritt in die Tagesordnung die einschlägigen Statuten verlesen musste. Im Colloquium kam es vor, dass P. ‚falsch‘ sagte und sofort andere protestierten, es sei richtig. Zur Sitzung selbst musste P. erst durch den Pedell geholt werden, während der Habilitand wartete, bis er anfangen konnte! Es muss ganz toll gewesen sein. Und Ernst Meyer, der sich natürlich sehr unbehaglich fühlte, schreibt ganz erstaunt, wie alle immer freundlicher zu ihm geworden seien, je widerspenstiger Pr. [i.e. Prinz, J.W.] wurde. Im Ganzen aber doch sehr unerfreulich, dass solche Gegensätze derartige Formen annehmen. Jedenfalls bin ich froh, dass die Sache geschafft ist, hoffentlich hält Ernst Meyer nun seine Stellung in Kiel recht geschickt: unbehaglich muss es sein, gegen den Willen des Fachvertreters habilitiert zu werden.15

Man fragt sich zunächst, woher Kahrstedt seine Informationen über das Verfahren bezogen hat: von Ernst Meyer selbst? Einem Mitglied der Kieler Fakultät? Vieles spricht für Meyer („Und Ernst Meyer [...] schreibt ganz erstaunt [...]“). Pikant an der Angelegenheit ist, dass zwischen Prinz und Eduard Meyer, wie zwischen Kahrstedt und seinem Lehrer, seit vielen Jahren eine enge Beziehung bestand. Vieles von dem, was Kahrstedt behauptet, lässt sich mangels Parallelüberlieferung nicht über­ prüfen, doch kann man Jacobys Briefen immerhin soviel entnehmen, dass Prinz nicht aus Prinzip diese Habilitation zu verhindern trachtete, dass er durchaus auch Argumenten zu­gäng­lich war (wird „keinen Widerstand leisten“). Den unbeantworteten Briefen kann man ent­gegen­halten, dass sich Meyer und Prinz in Kiel Anfang Mai getroffen haben müssen. In der Formulierung „sie [die Arbeit, J.W.] genüge ihm nicht“ mag sich der Umstand widerspiegeln, dass a) die spätere Habilitationsschrift ja bereits im November 1923 abgeschlossen war, als noch nicht wirklich feststand, welche Arbeit überhaupt eingereicht werden würde; dass b) der Umfang der Arbeit – in der gedruckten Fassung ist sie 90 Seiten lang – Prinz gleichfalls wohl nicht zufriedenstellte. Unglaubwürdig erscheint Kahrstedts Behauptung, Prinz habe die Habilitationsschrift zwei Monate gekannt und sei dann zu einem ablehnenden Urteil gekommen. Jacoby jedenfalls erhielt die Arbeit (inoffiziell !) erst Mitte Mai, und die Abstimmung fand bereits Mitte Juni statt. Selbst wenn Prinz die Arbeit bereits Anfang Mai erhalten haben sollte (unmittelbar vor dem Rückzug des Habilitationsgesuchs), so übertriebe Kahrstedt hier deutlich. Da Prinz als einziger Fachvertreter vor Ort zweifellos ein schriftliches Gutachten verfasst und darin sicher nicht nur auf die Kürze der Arbeit verwiesen hat, wie Kahrstedt behauptet, ist sicher eine gewisse Skepsis Kahrstedts gesamtem Brief gegenüber angebracht. So könnte etwa auch die „Tollheit“ der Probevorlesung dadurch in einem anderen Licht erscheinen, dass Hugo Prinz als ein ausgesprochener Minoer- und Hethiterspezialist zu gelten hat, der als ein solcher etwa von Eduard Meyer in einem Vorwort zu einem Teilband seiner Geschichte des Altertums lobend erwähnt wird.16 Wenn diese Kritik an den Inhalten des Probevortrags von den Kollegen nicht geteilt wurde, mag dies auch mit Prinz’ Stellung in der Fakultät, über die wir so gut wie nichts wissen, oder Jacobys Unterstützung für den Kandidaten bereits im Vorfeld gelegen haben. Ob auch

15 Brief U. Kahrstedt an Ed. Meyer vom 20.7.1924 (https://www.kohring-digital.de/mediapool/28/282725/ data/Kahrstedt/1924Kahrstedt.pdf; abgerufen am 20.3.2018). 16 So führt Eduard Meyer u.a. 1913 im Vorwort zur dritten Auflage der zweiten Hälfte des ersten Bandes aus: „Dabei hat mir HUGO PRINZ mehrfach geholfen; vor allem aber danke ich ihm für eine Reihe sehr wertvoller und fördernder Bemerkungen über die Denkmäler der Chetiter.“ © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

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Josef Wiesehöfer

die wohl eher liberalen politischen Ansichten von Prinz17 und die deutlich kon­servativeren von Jacoby, Kahrstedt und Ernst Meyer18 (sowie den meisten Mitgliedern der Kieler Fakultät) bei der Auseinandersetzung in Wort und Tat eine Rolle gespielt haben könnten, wagt der Autor nicht zu entscheiden. An Jacobys Fürsorglichkeit für Ernst Meyers Fortkommen besteht kein Zweifel, sie ergibt sich aus seinen Briefen und wird ja auch von Kahrstedt lobend erwähnt. Es verwundert deshalb schon, dass sich Jacobys Name weder in Ernst Meyers Vorwort zur schließlich 1925 im Orel Füssli-Verlag zu Zürich gedruckten Dissertation, noch in dem zur Habilitationsschrift findet, die im selben Jahr bei Teubner in Leipzig und Berlin (ND 1971) erschien. An Meyers besonderen wissenschaftlichen Qualitäten, der „sorgfältige(n) Quellenarbeit“, seinem „intensive(n) Interesse an Fragen der Topographie und v.a. der ant. Staatlichkeit“19, die ihm 1927 den Ruf nach Zürich eintrugen und sein universalgeschichtlich ausgerichtetes Œuvre bestimmten, ändert dieser Umstand freilich nichts. Bibliographie Ampolo 2006 = C. Ampolo (ed.), Aspetti dell’opera di Felix Jacoby, Pisa 2006 (Seminari e Convegni 3). Baader 1974 = G. Baader, Jensen, Christian (klassischer Philologe), Neue Deutsche Biographie 10 (1974), 408–409. Baltrusch 2012 = E. Baltrusch, s.v. Kahrstedt, Ulrich, DNP Suppl. 6 (2012), 638–639. Berner – Pait 2012 = H.-U. Berner – M. Pait, s.v. Fraenkel, Eduard, DNP Suppl. 6 (2012), 415–417. Büchner 1972 = K. Büchner, s.v. Hönn, Karl, Neue Deutsche Biographie 9 (1972), 346–347. Chambers 1990 = M. Chambers, Felix Jacoby, in: W. W. Briggs – W. M. Calder III (eds.), Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia, New York – London 1990, 205–210. Christ 1982 = K. Christ, Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1982. Christ 1983 = K. Christ, Römische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 3: Wissenschafts­ geschichte, Darmstadt 1983. Deglau 2017 = C. Deglau, Der Althistoriker Franz Hampl zwischen Nationalsozialismus und Demo­ kratie. Kontinuität und Wandel im Fach Alte Geschichte, Wiesbaden 2017 (Philippika 115). Göllnitz 2018 = M. Göllnitz, Der Student als Führer? Handlungsmöglichkeiten eines jungakademischen Funktionärskorps am Beispiel der Universität Kiel (1927–1945), Ostfildern 2018. Heuss 1962/1995 = A. Heuss, Nachruf auf U. Kahrstedt (1962), in: A. Heuss, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1995, 742–744. Lehmann 2001 = G. A. Lehmann, Ulrich Kahrstedt, 1888–1962, in: K. Arndt – G. Gottschalk – R. Smen (Hrsg.), Göttinger Gelehrte. Die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Bildnissen und Würdigungen 1751–2001, Bd. 2, Göttingen 2001, 402–403. Maier 1994 = F. G. Maier, s.v. Meyer, Ernst, Neue Deutsche Biographie 17 (1994), 333–334. 17 Dafür gibt es zwar keinen schriftlichen Beweis, doch sprechen Prinz’ reger Umgang mit Bernhard Harms und weiteren Mitgliedern des Instituts für Weltwirtschaft, dem Kreis um Ferdinand Tönnies und den Kieler Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ebenso dafür wie der Umstand, dass Prinz 1933 augenscheinlich distanziert auf das neue Regime reagierte. Zumindest verzichtete er auf ein politisches Lippenbekenntnis. Seine Unterschrift findet sich weder auf der „Erklärung von 300 Hoch­schul­ lehrern für Adolf Hitler“ vom 4. März 1933 noch auf dem „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ vom 11. November 1933. Auch eine von insgesamt 16 Kieler Professoren und Dozenten am 28. Februar 1933 veröffentlichte „Kieler Erklärung“ unterzeichnete Prinz nicht. In dieser Erklärung erklärten sich die Kieler Hochschullehrer „freudig“ bereit, gemeinsam mit der nationalen Studentenschaft am „Aufbau des neuen Reiches“ mitzuwirken und sich an der „ernsthaften Bekämpfung aller volkszerstörenden marxistischen Einflüsse auf Geist und Seele unseres Volkes“ zu beteiligen (vgl. Göllnitz 2018, 136–137). 18 Näf 1995, 297. 19 Näf 2012, 821. © 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447110877 — ISBN E-Book: 9783447197830

„Gegen den Willen des Fachvertreters (...)“

679

Mensching 1989 = E. Mensching, Texte zur Berliner Philologie-Geschichte IV: Felix Jacoby (1876–1959) und Berliner Institutionen 1934–1939, in: E. Mensching, Nugae zur Philologie-Geschichte, Bd. 2, Berlin 1989, 17–59. Mensching 2003 = E. Mensching, Finkenkrug, Neuseeland und Oxford. Über Felix Jacoby und seine Familie 1938/39, in: E. Mensching, Nugae zur Philologie-Geschichte, Bd. 13, Berlin 2003, 42–53. Meyer 1962 = E. Meyer, Ulrich Kahrstedt †, Gnomon 34 (1962), 428–431. Most 1997 = G. W. Most (ed.), Collecting Fragments – Fragmente sammeln, Göttingen 1997 (Aporemata: Kritische Studien zur Philologiegeschichte 1). Näf 1986 = B. Näf, Von Perikles zu Hitler? Die athenische Demokratie und die deutsche Althistorie bis 1945, Bern et al. 1986 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfs­wissen­ schaften 308). Näf 1995 = B. Näf, Deutungen und Interpretationen der griechischen Geschichte in den Zwanziger Jahren, in: H. Flashar (Hrsg.), Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und Impulse, Stuttgart 1995, 275–302. Näf 2012 = B. Näf, s.v. Meyer, Ernst, DNP Suppl. 6 (2012), 821–822. Noodt 2007 = B. Noodt, Fritz Rörig (1882–1952). Lübeck, Hanse und die Volksgeschichte, Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 87 (2007), 155–180. Pauler 2003 = R. Pauler, s.v. Rörig, Fritz, Neue Deutsche Biographie 21 (2003), 736–737. Prange 1985 = W. Prange, Wüst, Ewald, Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck, Bd. 1, Neumünster 1985, 333–334 . Rengakos 2015 = A. Rengakos, Felix Jacoby, Robert Fowler und die Anfänge der griechischen Geschichts­ schreibung, Gymnasium 122 (2015), 233–248. Rösler 2010 = W. Rösler, Felix Jacobys Promotion an der Berliner Universität, Klio 92 (2010), 422–426. Schlüter 2012 = B. Schlüter, Friedrich Wolters, in: A. Aurnhammer et al. (Hrsg.), Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 3, Berlin – New York 2012, 1774–1779. Schlunke 2009 = O. Schlunke, „unter den so traurig veränderten weltumständen“. Der Altertums­wissen­ schaftler Felix Jacoby in Finkenkrug (1935–1939), Heimatjahrbuch 2010 für Falkensee und Um­ gebung (2009), 76–80. Wegeler 1996 = C. Wegeler, „… wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik“. Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921–1962, Wien 1996. Wiesehöfer, im Druck = J. Wiesehöfer, Hugo Prinz. Ein althistorischer ‚Wanderer zwischen den Welten‘, in: J. Fouquet et al. (Hrsg.), Festschrift für R. Stupperich, Frankfurt a.M. Wittram 2004 = A. Wittram, Fragmenta. Felix Jacoby und Kiel. Ein Beitrag zur Geschichte der Kieler Christian-Albrechts-Universität, Frankfurt a.M. et al. 2004 (Kieler Werkstücke, Reihe A 28). Wolf 1996 = U. Wolf, Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie, Stuttgart 1996 (Frankfurter historische Abhandlungen 37).

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Indices Quellen Literarische Quellen Aelianus NA 5,50 NA 14,7 Poikilia 9,25

114 110 304

Aelius Aristides or. 1,75–321 or. 3 or. 26,40–50 or. 26,70 or. 26,94–95 §§ 11–13 (ed. Klein 1981)

558 558 557 249 557 20

Apostelgeschichte 4,32 ff. 27,37

589 26

Ammianus Marcellinus 23,6,6 31,5,16–17

396 432

Apicius 6,1

110

Appian civ. pr. 5 civ. 1,10 civ. 2,48 civ. 2,90 civ. 3,7 civ. 4,8,64 civ. 4,10,75 civ. 4,11,88 civ. 4,12,100–101 civ. 4,16,118 civ. 5,1 civ. 5,69 f. civ. 5,72 civ. 5,98 civ. 5,100

68 446 448 248 353 352 352 352 352 352 351; 352 19 19 20 19

Mithr. 78,344 Mithr. 93

175 19

Aretaios p. 69

124

Aristophanes Ach. 20–21 Ach. 32–36 Ach. 34–36 Ach. 719–958 Ach. 734–735 Ach. 812–814 Ach. 842–843 Ach. 928 Ach. 929–958 Eccl. 424 Eccl. 816–822 Eccl. 819–820 Equ. 314–318 Equ. 319–321 Equ. 480 Equ. 650 Equ. 1006–1009 Equ. 1196–1264 Nub. 12–24 Nub. 638–640 Nub. 835 Nub. 860–864 Nub. 862–864 Pax 119–123 Pax 252–254 Pax 373 f. Pax 987–1015 Pax 1009–1010 Pax 1227–1239 Pax 1241 Schol. Vesp. 169 Vesp. 169–181 Vesp. 300–302

164 165 163 163; 164 161 161 164 160 160 165 162 160 165 165 165 160 165 166 163 165 162 163 161 161 165 163 163 164 166 166 164 164 161

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Indices

Vesp. 304–305 Vesp. 488–500 Vesp. 606–612 Vesp. 785–795 Vesp. 1125‒1132

161 162 161 162 451

Aristoteles 297 Ath. pol. 2,2 Ath. pol. 5 40 Ath. pol. 6 41; 297 41 Ath. pol. 9 Ath. pol. 11 40 Ath. pol. 12,4 298 Ath. pol. 16,2–4 304 Ath. pol. 1255b30–37 152 Ath. pol. 1328b37–1329a2 37 oec. 1344a27–29 152 eth. Nic. 1,3 39 HA 488B 421 Arrian an. 1,12,4–5 an. 2,4,7 an. 7,30,3 Parth. Fr. 67 Per. 1,2–3 Athanasius apol. sec. 49,3 Athenaios deipn. 4,145e deipn. 5,200 f. deipn. 6,265b–c deipn. 9,388 F deipn. 12,519a

416 415; 416 416 25 420 97 110 111 301 423 113

Aurelius Victor 39,23 u. 28 235 39,38 235 92,2–3 432 Ausonius ecl. 6 171

epist. 7 71 epist. 9 71 technopaegnion 12 171 Caesar bell. Afr. 42 264 bell. Afr. 69,5 264 448 civ. 3,1,2–3 civ. 3,1,3 448 Gall. 1,1 567 564 Gall. 1,2,4 Gall. 1,19,3 567 Gall. 1,28,4 567 Gall. 1,30,1 567 Gall. 1,31,3 567 Gall. 1,31,16 567 Gall. 1,33,4 567 Gall. 1,35 567 Gall. 1,43,7 567 Gall. 1,44,7 567 Gall. 1,45,3 575 Gall. 1,46,4 567 Gall. 2,3,4 564 Gall. 3,8,1 68 Gall. 4,4,1 564 Gall. 4,16 564 Gall. 4,20 68 Gall. 5,2,4 564 Gall. 6,1,5 567 Gall. 6,2,3 564 Gall. 6,5,5 564 Gall. 6,11–28 564 Gall. 6,13,1 567 Gall. 6,16,1 567 Gall. 6,21 288 Gall. 6,24,2 564 Gall. 6,32,1 564 Gall. 7,65,4 564 Gall. 8,25,2 565 Cassius Dio 36,20–37 19 41,37 448 45,13,1–3 353

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Indices

47,47,2 352 48,18–19 19 49,31,4 353 52,30 192 53,12,6 565 53,33 21; 389; 395 54,1,4 21 54,9 396 55,10 21; 309; 315 56,18,1–3 565 56,29,2 315 59,11 605 59,17,2 28 59,19,7 607 604; 605; 607 59,29 59,30,1 604 60,2 606 60,3,4 606 60,14,2–4 607 60,18,1–2 607 60,35,2 606 61,3,1 606 62,5,4 74 68,32,1 f. 248 69,8,1a 248 72,4 250 73,21,1 111 77,1,3–5 111 78,8,4 252 378; 379; 384; 385 78,12,1 252 78,22 78,23 252 79,35 252 Catull 66,54 111 Chronicon paschale 504,20–505,2

222

Cicero ad Q. fr. 3,1,10 Att. 4,16,7 Att. 16,11,4

67 67 439

Catil. 2,18–23 448 fam. 7,7,1 67 leg. agr. 1,21 442 off. 1,6 439 off. 1,7 439 off. 1,9 439 off. 1,26 441 off. 1,43 441 off. 1,64 441 442; 443 off. 1,76 off. 1,85 450 off. 1,90 439 442; 443 off. 1,109 off. 1,151 37 off. 1,152 439 off. 1,161 439 440 off. 2,2–4 off. 2,16 439 off. 2,27 441 off. 2,29 442 off. 2,31 443 off. 2,32 443 442; 443 off. 2,43 off. 2,51 439 off. 2,52 443 off. 2,53 443 off. 2,54 443 off. 2,57 443 off. 2,59 443 439; 443 off. 2,60 off. 2,63 444 off. 2,64 443 off. 2,65 444 off. 2,72 444 444 off. 2,72–85 off. 2,73 444 off. 2,74 445; 447 off. 2,75 445 off. 2,76 439 off. 2,77 445 off. 2,78 445 off. 2,79 446; 450 off. 2,80 446 off. 2,81 446

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683

684

Indices

off. 2,82 446 off. 2,83 446; 447 off. 2,84 447; 448 off. 2,85 449 off. 2,86 439 off. 2,88 439 off. 3,1 439 off. 3,2 441 off. 3,3 439 off. 3,4 441 off. 3,6 439 off. 3,7 439 off. 3,8 439 off. 3,9 439 off. 3,10 439 439 off. 3,12 off. 3,18 439 off. 3,33 439 off. 3,83 441 pro L. Valerio Flacco 29 19 pro lege Manilia 29–35 19 Sest. 99 448 442; 444 Sest. 103 315 Tusc. 1,86 Tusc. 3,48 443 Tusc. 4,5 442 Clemens v. Alexandria Paed. 3,4 421 Curtius Rufus 3,5,1–4 415 3,6,18 417 10,5,9–14 417 Demosthenes 4,40–41 419 9,31 419 9,111 419 35,10 10 Deuteronomium 14,15

110

Divisio orbis terrarum 11 580 Diodor 2,50,4 ff. 109 2,53,2 421 3,31–33 222 9 41 16,9 336 336 16,73,1 f. 16,83,1 336 17,31,4–6 415 Diogenes Laertius 1,45–62 41 3,28 413 Dionysios Halicarnasseus 1,37,2 318 14,3 568 Dion Chrysostomos 1,150 554 32 247 Dioskurides De materia medica 2,188 86 Epitome de Caesaribus 1,3 22 1,5 22 1,6 21 32,4 223 Eubolus frag. 115

113

Eusebius vita Const. 1,8,3 vita Const. 4,7,1 hist. eccl. 4,2 hist. eccl. 6,19,16 hist. eccl. 7,11 hist. eccl. 8,17,3

238 242 248 252 224; 225; 253 234

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Indices

Eutropius 7,5 390 9,22 235; 253 9,23 235 Galen de alim. fac. 3,20,8

110

Gellius 11,1,2 175 Historia Augusta Ant. 5,4 224 250 Aur. 21,2 Aur. 32,2 f. 253 Aur. 33,4 f. 230 Carac. 6,2 f. 252 Claud. 11,1 f. 253 Claud. 16 434 Gall. 4 223; 224; 228; 253 429 Gall. 5,6 Gall. 26,4 224 Gord. 3,7,4 111 Gord. 26 224 Hadr. 12,1 248 Heliog. 22,1 110 Heliog. 28,4 110 Heliog. 30,2 110 Heliog. 32,4 110 Pius 5,4 f. 249 Pius 7,11 249 224 Prob. 12,3 Prob. 17 224; 253 224; 233 Prob. 19 230 quatt. tyr. 2,3 quatt. tyr. 3,3 230 quatt. tyr. 4,2 110 quatt. tyr. 5 229 quatt. tyr. 6,2,6 111 Sept. 15,2 224 trig. tyr. 3,6 224 trig. tyr. 22 223; 224; 253 trig. tyr. 26,4 224

685

Herodot 1,8,2 424 1,12,2 424 1,29 f. 40 1,30–34 41 1,136,2 402 1,155,4 405 1,180 123 1,182–200 140 3,12,4 404 3,65,6 408 3,85–86 408 4,101 123 4,165 109 4,192 109 5,101–102 406 7,22,2 400 7,27 420 7,36 123 7,66,2 400 7,74 406 7,187,2 402 Herodian 1,15,5 109 1,79–81 303 4,4,6 252 4,6,4 f. 252 4,8,6–8 252 4,9,2–9 252 Hesiod erg. 311 41 erg. 602 299 42 erg. 617–693 Hieronymus chron. ad an. 292 chron. ad an. 293 chron. ad an. 298

234 253 253

Hiob 39,18 111

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Indices

Historia Monachorum in Aegypto 1 97

11,3,17 221 Char. Mans. 1 395

Homer Il. 6,232–236 422 Il. 9,458–483 300 Il. 18,550 299 424 Od. 1,122 Od. 4,364 ff. 588 Od. 4,644 299 Od. 6,85‒94 459 Od. 8,159–164 37 Od. 9,70 123 418 Od. 11,487–491 Od. 11,538–540 419 Od. 12,39–46 422 Od. 15,415–484 37

Isokrates or. 4,85 407 or. 7,16 41 or. 16,33 313

Horaz ars 180–182 ars 325–330

423 171

Iosephos 396 ant. 15,105 ant. 15,299–315 28 ant. 16,253 395 ant. 16,270 391 ant. 18,39–42 389; 395 389 ant. 18,40 ant. 18,40–42 392; 393 390 ant. 18,42 ant. 18,44 395 ant. 19,1,3 ff. 604 ant. 19,46–48 607 ant. 19,99–114 607 ant. 19,205–207 32 ant. 19,208 608 bell. Iud. 1,409 f. 31 bell. Iud. 2,383 22 bell. Iud. 2,386 22 Vita 3,15 26 Isidor 11,2,129–131

222

Iustin 11,8,3–9 415 42,5 390; 393 Iuvenal 4,140–143 71 6,40 f. 171 6,115–132 607 Jeremia 50,39 109 Johannes 1,1–3 85 Johannes Malalas 11,23 249 Jordanes Get. 18,101 Get. 18,103

435 432

Josua Stylites 20 237 Ktesias Pers. F1b (Lenfant 2004) 402; 404 Pers. F1oβ (Lenfant 2004) 404 Pers. F1pα (Lenfant 2004) 404 Pers. F1pδ* (Lenfant 2004) 404 Pers. F5 (Lenfant 2004) 400 Pers. F5 (Stronk 2010) 401; 402; 407 Pers. F6 (Lenfant 2004) 400 Pers. F6b* (Lenfant 2004) 404–407 Pers. F6c* (Lenfant 2004) 400; 401 Pers. F6d*(Lenfant 2004) 400; 401

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Indices

Pers. F8d* (Lefant 2004) 408 Pers. F15 (Lenfant 2004) 403; 404 Pers. T3b (Lenfant 2004) 399 Pers. T5b (Lenfant 2004) 399 Pers. T7a (Lenfant 2004) 399 Lactantius Div. Inst. 7,24

591

Leviticus 11,16 110 Liber Pontificalis 20 98 Livius 8,22,8 549 21,54,4–8 264 21,63 37 36,42,8 357 39,4 356 356 45,38,12 Lucan 1,453–454 7,432–433 7,432–436 7,434–435

289 573 573 573

Lukian Alex. 2 416 Alex. 5 422 420 Bis Acc. 14,27,34 Bis Acc. 30–31 423 Bis Acc. 31 419 Cal. 17 416 DM 10,8–9 413 DM 10,9 413 DM 14,1 416 DM 15 419 DM 20,6 422 Dom. 1 415; 418 Dom. 2–4 418 Dom. 4 418

Dom. 5 420 Dom. 5–6 419 Dom. 10 419 Dom. 11 421 Dom. 12–13 422 Dom. 13 422 Dom. 16 422 423 Dom. 18–19 Dom. 20 424 424 Dom. 22–31 Dom. 23 423 423 Hist. Conscr. 2 Hist. Conscr. 12 416 Hist. Conscr. 17 413 Ikarom. 30 413 Ind. 4 419 Ind. 19 420 419 Merc. Cond. 25 navig. 5 25; 29 Nec. 16 413 Par. 42 419 Par. 56 419 413 Peregrin. 15 Peregrin. 43–44 422 Pisc. 11 413 Pisc. 19 420 Pisc. 31 413 Pisc. 37 413 Pisc. 41 413 Pisc. 42 413 423 Rh. Pr. 6 Rh. Pr. 9 419 Rh. Pr. 10 419 Rh. Pr. 17 419 Rh. Pr. 21 419 Rh. Pr. 22 423 Somn. 12 419 Symp. 11–47 413 Symp. 39 422 VH 2,19 422 VH 2,31 424 Pomponius Mela 1,19 568

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687

688

Indices

3,25 568 3,33 568 Matthäus 20,2 317 Nonius 195 13 Oppianos kyn. 3,482–503

111

Oreibsios Ecl. 97,15

124

Orosius 6,19,15 346 7,12,6 f. 248 7,25,4–8 253 7,25,8 235 Ovid Met. 13,802

421

Panegyrici Latini 8[5],5,2 235 9[4],21,2 235 Pausanias 1,7,2 226 1,9,6 68 1,20,7 555 1,25,8 555 5,21,12–14 312 5,24,9 312 9,31,1 111 11,36,6 555 Petros Patrikios Cont. Dio. Frg. 4 228 exc. de sentent. 264 228 Frg. 160 228

Petronius sat. 76 f. sat. 137,4

23 114

Pherekrates F 150 423 Philon Leg. 76 608 Leg. 93 608 607 Leg. 165–168 Leg. 175–176 607 Leg. 205–206 607 Philostratos Ap. 4,32 37 Ap. 5,43 314 Peri gymnastikes 43–44 318 Platon Euthyphr. 4c Phaidr. 230 B Phaidr. 253 C–256 E rep. 371d symp. 215 A–219 symp. 218 E Tim. 20e

301 420 421 403 421 421; 422 41

Plautus Persa 199

111

Plinius maior nat. hist. praef. 6 nat. hist. praef. 16 nat. hist. 2,167 nat. hist. 4,80 nat. hist. 4,81 nat. hist. 4,100 nat. hist. 4,105 nat. hist. 4,106 nat. hist. 4,109 nat. hist. 5,33 nat. hist. 5,39 nat. hist. 5,43

451 451 568 568 568 568 568 568 568 266 226 222

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Indices

nat. hist. 5,46 nat. hist. 6,100 nat. hist. 6,101 nat. hist. 6,104 nat. hist. 6,192 nat. hist. 7,138 nat. hist. 8,191 nat. hist. 8,195 nat. hist. 8,219 nat. hist. 9,137 nat. hist. 9,169 nat. hist. 10,1 nat. hist. 10,2 nat. hist. 10,56 nat. hist. 10,143 nat. hist. 10,172 nat. hist. 11,114 nat. hist. 11,130 nat. hist. 11,155 nat. hist. 12,129 nat. hist. 12,135 nat. hist. 12,14 nat. hist. 12,43 nat. hist. 12,45 nat. hist. 13,20 nat. hist. 16,201 f. nat. hist. 16,249 f. nat. hist. 19,3–5 nat. hist. 19,5 nat. hist. 19,20 nat. hist. 19,21 nat. hist. 19,48 nat. hist. 20,72 nat. hist. 20,195 nat. hist. 20,207 nat. hist. 21,30 nat. hist. 21,44 nat. hist. 21,132 nat. hist. 21,169 nat. hist. 23,65 nat. hist. 23,93 nat. hist. 24,96 nat. hist. 25,20 f. nat. hist. 25,52

221 87 10 87 238 453 451 456 451 458 71 109 110 109 109 607 453 109 109 458 170 85; 86 457 457 451 28 289 23 455 458 456 459 452; 459 454; 459 456 455 459 454; 455; 459 454; 459 452 454; 459 459 71 459

689

nat. hist. 26,138 nat. hist. 27,52 nat. hist. 28,66 nat. hist. 28,91 nat. hist. 28,174 nat. hist. 29,96 nat. hist. 31,20 nat. hist. 31,94 f. nat. hist. 32,62 nat. hist. 33,39 nat. hist. 33,45 nat. hist. 33,164 nat. hist. 34,164 nat. hist. 35,150 nat. hist. 36,40 nat. hist. 36,113 nat. hist. 38,45

453; 459 454; 459 110; 452 452 452 110 568 62 71 353 174 457; 458 71 451 113 608 350

Plinius minor epist. 10,40,2 epist. 10,118,1–3 epist. 10,119

311 311 311

Plutarch 415 Alex. 19,1–2 Alk. 4,3 421 421 Alk. 135 E Ant. 24 351 Ant. 39 357 Ant. 56 351 Ant. 61 351 Ant. 67 352 352 Brutus 25 Brutus 32 352 Brutus 38 353 Brutus 39 352 Brutus 44 352 Caes. 23,3 67 Cato maior 21 37 Luc. 14,1 175 Lyk. 8 ff. 589 mor. 334 B–C 419 mor. 813 e 554 Pobl. 11,4 175

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690

Indices

Pomp. 11 19 Sol. 1 40; 42 Sol. 2 41 Sol. 3 39 Sol. 13 300 Sol. 14 40; 42 Sol. 15 40; 41; 43 Sol. 22 43 Sol. 25 40 Thes. 25 298 41 Tim. 22e Periplus Maris Erythraei 2 207; 220–222 4 246 6 30; 87 7 30 8 87 10 87 17 30 19 85 24 30;87 28 30 30 87 39 30 39 87 48 86 48–49 87 49 30; 87 53 87 55–56 87 56 30 Pollux 7,151 300 Polybios 5,14 551 6,30,6 124 9,28–39 551 10,25 551 21,28,9 124

Priskos Frg. 21 218; 237 Frg. 22 237 Prokopios PB 1,19,29 PB 1,19,30 PB 1,19,34 PB 1,19,35 f. PB 1,20,1

235; 236 238 236 237 99

Ptolemaios geogr. 2,9,2 geogr. 2,9,8 geogr. 2,11,1 geogr. 2,11,3 geogr. 2,11,6 geogr. 8,6,1 geogr. 8,6,2 geogr. 8,7,2

568 567 567; 568 568 566 566 566–568 562

Quintus v. Smyrna Posthomerica 5,80–82

124

Sallust hist. 3,48,19

316

Seneca 28 Brev. vit. 18,5 de const. sap. 18,3 607 De ira 1,20,9 608 De ira 2,15,1 573 De ira 3,19,3 608 De ira 3,21,5 608 Dial. 2,18,1 608 Dial. 11,17 605 epist. 6,5 423 epist. 41,3 289 epist. 77,1 f. 24 epist. 80,7 316 Sophokles Trach. 1058

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554

Indices

Strabon 2,5,8,115 f. 67 2,5,12 85 2,5,30 568 3,3,1 27 4,4,1,194 68 4,4,2 568 4,5,3,200 67 5,4 30; 309 6,4,2 390 7,1 568 7,2,4 568 7,2,4–3,1 568 7,3,1 568 7,294 288 12,8,14 196 16,1,28 390 16,4,11 109 17,1 f. 222 17,1,7 29 17,1,26 27 17,1,45 85 17,1,54 396 17,2 222; 238 17,14 222 17,22 226 17,52 238; 239 17,52–54 222 17,53 222 17,54 221 Sueton 22 Aug. 18,2 Aug. 21,3 391 Aug. 98,2 19 Aug. 98,5 315 Caes. 17,1 67 Cai. 16,3 28 Cal. 24 605 Cal. 46 47 Cal. 50,2 608 Cal. 51,1 608 Cal. 55,1 ff. 608 Cal. 56,2 604

691

Cal. 58 607; 608 Cal. 59 608 Claud. 18,2 9 Claud. 18,4–19 25 Galba 6,2 571 Iul. 26 350 Iul. 42,2 448 Tib. 9,1 396 Symmachos epist. 2,77

68

Synesios epist. 129,5 epist. 134

114 109

Synkellos 466,1–7 429 Tacitus 58 Agr. 12,5 Agr. 15,3 567 54 Agr. 24,1 Agr. 28,1 567 ann. 1,3,6 575 ann. 1,50–51 289 ann. 1,59 290 ann. 1,61 290 ann. 2,1 390; 392; 394 289 ann. 2,12 ann. 2,25 290 ann. 2,3 396 394 ann. 2,42,3 ann. 2,87,1 28 ann. 2,88,2 572 ann. 3,54,6–8 21 ann. 4,73 289 ann. 6,13,1 28 ann. 6,20,1 608 ann. 6,30,2 571 ann. 6,45,3 608 ann. 11,3,2 608 ann. 11,13,1 606

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692

Indices

ann. 11,16,2 573 ann. 11,30,2 607 ann. 12,7,3 607 ann. 12,27,2 571 ann. 13,11 606 ann. 13,53,2 f. 64 ann. 13,56,2 571 290 ann. 13,57 ann. 14,30 289 ann. 15,13,2 575 ann. 15,33 315 ann. 15,72,2 608 Germ. 1,1 567–569; 575; 580; 581 582 Germ. 2,3 Germ. 7,2 290 Germ. 9 288 290 Germ. 10 Germ. 11,1 573 Germ. 27,2 580; 581 564; 565; 581; 582 Germ. 28 581 Germ. 29,1–2 Germ. 37 573; 575; 576; 582 289 Germ. 39 Germ. 40 290; 291 79 Germ. 41 Germ. 44,1 573 Germ. 45,6 573 Germ 46,1 569 hist. 1,12,1 571 hist. 1,49,4 571 hist. 1,52,1 571 hist. 4,14,2 289 hist. 4,15,1 289 hist. 4,17 571 hist. 4,22,2 290 hist. 4,26 53 hist. 4,61,2 290 hist. 4,64 291 hist. 4,65 291 hist. 5,17 291 hist. 5,20 290 hist. 5,21 290 hist. 5,22,3 290

Tertullianus Adv. Marcionem 2,20,2 f. 317 Theodoretos hist. rel. 26,12

339

Theopompos Phil. 17 301 Theophanes AM 5782

234

Theophrast hist. plant. 1,10,4 hist. plant. 4,3,5 hist. plant. 4,35 ff.

455 114 109

Tyrtaios Fr. 6 302 Valerius Maximus 415 3,8,ext. 6 Varro l.l. 5,172 174 Vegetius mil. 2,19 171 mil. 4,39 9 Velleius Paterculus 2,94 390; 396 2,122,1 396 2,123,1 315 Virtuv 2,5,1 30 5,12,2 30 Xenophon an. 1,2,7 402 an. 1,5,2 f. 109 Hell. 1,6,7 407 Hell. 3,4,19 405

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Indices

Hell. 5,1,17 407 Hell. 7,1,38 420 hipp. 1,1 150 hipp. 2,7 148 hipp. 3,2 148 hipp. 4,6 147 hipp. 5,9–15 147 147 hipp. 6,2–3 hipp. 6,3 147 hipp. 9,2 147 150 hipp. 9,8–9 Kyr. 1,2,11 268; 276 276 Kyr. 1,2,16 Kyr. 1,3,4–5 268 Kyr. 1,3,8 275 Kyr. 1,3,11 276 Kyr. 1,4,5 402 Kyr. 1,6,9–10 147 Kyr. 1,6,9–18 147 Kyr. 1,6,12 147 Kyr. 1,6,16–17 269 Kyr. 1,6,18 148 Kyr. 1,6,26 147 Kyr. 1,6,35 f. 273 Kyr. 2,1,29 270 Kyr. 2,3,22 272 Kyr. 2,3,24 272 Kyr. 3,2,11 273 Kyr. 3,3,40–43 266 Kyr. 3,3,43–45 267 Kyr. 4,1,9 274 Kyr. 4,1,10–24 274 Kyr. 4,2,28–33 274 Kyr. 4,2,34–38a 274 Kyr. 4,2,38b–41 275 Kyr. 6,2,21 270 Kyr. 6,3,7–8 264 Kyr. 6,3,21 265 Kyr. 6,4,2–11 266 Kyr. 6,4,13–19 266 Kyr. 7,1,1 266 Kyr. 7,2,1–7 273 Kyr. 8,1,23–24 267 Kyr. 8,1,34–39 402

Kyr. 8,1,37–39 269 Kyr. 8,1,44 271 Kyr. 8,6,12 269 Kyr. 8,7,28 275 Kyr. 8,8,9 276 mem. 2,8,3 152 mem. 3,1,6–7 148 147 mem. 3,4,1–12 mem. 3,4,8 147 Oec. 1–6 145 Oec. 1,4–5 146 Oec. 3,2–3 147 Oec. 5,11–20 268 Oec. 7–9 145 Oec. 7–21 145 Oec. 8,1–2 148 Oec. 8,3 148 Oec. 8,4 148 148 Oec. 8,4–7 Oec. 8,5 148 Oec. 8,6 148 Oec. 8,8 148 Oec. 8,9 149 149 Oec. 8,10 Oec. 8,11 149 Oec. 8,11–16 149 Oec. 8,16 149 Oec. 8,19 150 Oec. 8,20 150 Oec. 9,2 150 150 Oec. 9,6–10 Oec. 9,8 150 150 Oec. 9,9–10 Oec. 9,10 152 Oec. 9,12 152 Oec. 9,14–15 150 Oec. 9,17 150 Oec. 12–14 145 Oec. 12,9 152 Oec. 12,14 154 Oec. 12,20 153 Oec. 13,6–12 153 Oec. 14,1 152 Oec. 14,3–10 155

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693

694

Indices

Oec. 15,1 Oec. 15–19 Oec. 21,3 Oec. 21,4–8 Oec. 21,12 Symp. 2,4 vect. 6,1–3

152 145 147 147 153 405 268

Zonaras 1,2,23 429 12,31 234 Zosimos 429 1,29,2–3 1,38,1 228 1,44 253 1,61,1 229 1,71,1 253 Papyri und Ostraka BGU 1/22 247 1/45 251 1/46 250 1/75 251 1/157 251 1/242 250 1/256 248 1/321 252 2/388 249 2/389 252 2/454 250 2/515 250 2/589 249 3/731 250 3/759 248 3/769 250 3/816 119 3/871 251 3/935 253 4/1036 247 4/1087v 92 9/1898 92 11/2061 252

11/2068 250 11/2069 253 13/2240 248 13/2242 251 15/2459 253 15/2461 250 BKU 3/350 219 ChLA 4/233 223 4/265 229 CPR 121; 122; 127 1/27 7/42 93 10/63 120 14/53 95 19/54 70 FHN 3/314 97 3/317, 10–12 95 3/322 95 KSB 1/242 250 O.Ber. 3/266 219 O.Bodl. 2/1968 70 O.Claud. 1/48–82 210 4/851 213 inv. 488 213; 249 inv. 529 216; 243 inv. 830 216; 243 inv. 7226 213; 249 inv. 7255 213; 250

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Indices

O.Did. 18 217 27 206; 207; 212; 249 32 208 33 215 34 215 35 206 36 descr. 208 39 208 40 206; 207; 213; 231; 244 205–207; 209; 41 215; 217; 218; 220 206; 207; 209; 42 215; 216; 220 206–209; 215; 43 216; 217; 220; 243 44 206; 207; 213; 230; 243; 251 46 206–210; 215–217; 219, 220 47–51 210 48 217 49 217 51 217 53 217 55 217 60 217 62 208; 217 63 211 83 217 85 215 87 215 91 215 95 215 96 215 103 211 119 215 148 211 187 208 210 211 233 206 240 217

327 95 328 95 343 217 346 208 361 217 372 217 391 217 396 217 399 25 400 217 416 217 428 217 442 217 444 217 447 217 453 217 461 217 462 217 O.Dinv. 687 213; 251 O.Eleph. DAIK 171 92 317 98 O.Frange 101 94 O.Krok. 1/1 217 1/3 217 1/5 217 1/6 211; 217; 247 1/8 211; 247 1/10 211; 217; 247 1/13 217 1/14 211 1/24–26 211 1/26 211; 230; 247 1/27 217 1/28–31 211 1/30 217 1/33 211

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Indices

1/40 211 1/41 211; 217; 247 1/42 211; 217; 247 1/44 217 1/47 211–214; 217; 242; 247 1/49 211; 212; 216; 222; 243; 247 211; 212; 247 1/50 1/51 211; 212 210; 213; 247 1/60 1/61 210; 247 1/74 211 1/86 217 1/87 211–213; 248 1/88 216; 217 1/93 214; 247 214; 215; 242 1/94 1/97 217 1/102 211

P.Amh. 1/34 251 2/66 248 2/77 249

O.MyHo. inv. 512 inv. 543

P.Bodl. 1/61(d) 121

222 222; 231

O.Petr.Mus. 191 70 267 255 311 255 O.Tait 1 Petr. 224 30 240 30 289 30 290 30 O.Xer. inv. 570 216; 243 inv. 601 216 inv. 620 216 P.Aberd. 177 251

P.Apoll 94 101 P.Athen. 38 249 P.Bagnall 8 213; 250 P.Berl.Leihg. 2/40 249 P.Bingen 45 22 77 25–27; 30

P.Brem. 1 248 11 248 26 248 28 V 247 37 248 40 247 P.Brook. 3 248 P.Cair. Zen. 1/59054 13 1/59092 13 P.Cair. Isid. 63 253 P.Cair.Mich. 2/17 249

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Indices

697

2/18 250

3/141 250

P.Choix. 5 248 P.Col. 10/266 250

P.Giss. 1/27 248 1/40 252 1/82 248 2/47 89

P.Coles 22 250

P.Giss. Apoll. 6

P.Coll. Youtie 2/71 255

P.Grenf. 1/47 249

P.David 7 223

P.Hamb. 1/10 251 1/95 248 4/240 248

P.Dub. 14 251 18 223; 252 P.Erl. 27 251 52 V 234 P.Erl.Diop. 3 234 P.Fay. 107 248 108 250 P.Flor. 1/9 252 1/58 252 1/59 252 P.Fouad 1/26 249 P.Gen. 12/3 250 1²/16 252 2/107 249

89; 94

P.Harr. 1/98 92 2/192 249 P.Heid. 3/237 252 P.Heid. Arab. 2/69 100 P.Horak 14 92 P.Köln 1/52 229 1/53 229 2/101 70 3/143 250 3/147 10 10/410 92 10/417 223 P.Köln Ägypt. 13 219

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Indices

P.Kron. 6 249 P.Lips. 1/97 114; 115 1/102 89 2/147 250 P.Lond. 2/157a 251 2/214 253 2/342 250 2/358 249 2/363 250 2/378 11 3/748 descr. 239 7/1941 13 7/2141 13 P.Louvre 1/2 248 1/3 252 2/102 247 P.Lugd. Bat. 13/6 11 P.Lund. 4/13 252 P.Mert. 1/26 229 2/65 248 2/83 251 P.Mich. 3/174 249 3/175 250 6/423 251 6/425 251 7/455 V 252 8/466 92 8/473 247 8/478 247

9/525 248 9/527 250 10/581 248 P.Mil. Vogl. 2/47 248 4/222 249 P.Münch. 3/66 248 3/73 249 P.Oslo 2/22 248 121; 122; 127 2/56 3/84 249 P.Oxy. 1/36 90 1/43 239; 240 1/69 250 3/500 248 4/835 99 6/915 70 6/920 110 6/921 119; 122; 127 8/1115 233 8/1120 253 8/1121 253 9/1194 229 9/1201 223 10/1272 249 12/1408 252 12/1412 233 12/1468 223 12/1511 descr. 240 12/1517 92 12/1556 252 12/1557 252 12/1583 121; 127 14/1637 223 15/1705 120 20/2274 253 31/2563 250

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Indices

31/2568 229 33/2672 252 33/2681 226 34/2710 223 34/2728 94 34/2729 95 36/2758 247 38/2852 247 38/2853 252 40/2938 223 121; 126; 128 42/3060 42/3062 120;128 43/3111 227 43/3112 223 43/3113 229 44/3189 99 46/3289 252 46/3290 223; 227 226; 227; 253 46/3292 48/3401 95 50/3561 249 54/3731 92 54/3733 92; 93 54/3739 92 54/3765 92 54/3766 92 54/3773 93 58/3926 252 60/4071 262 64/4441 92 66/4534 120 75/5064 93 P.Prag. 3/209 250 3/220 250 P.Princ. 2/29 252 3/132 252 3/155 252 P.Quseir 28 88

P.QuseirArab 1/60 100 P.Ross. Georg. 3/9 94 2/20 249 2/30 92 P.Ryl. 2/110 223 2/116 250 2/122 248 2/394 V 251 P.Sakaon 31 253 36 253 P.Sarap. 1 248 P.Sijp. 12 252 16 249 P.Strasb. 1/5 253 4/222 251 4/233 252 4/241 251 4/242 248 4/285 251 4/590 235 5/392 223 5/393 223 5/401bis 248 6/216 248 7/633 251 P.Tebt. 2/304 249 2/330 251 2/331 248 2/332 250

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700

Indices

P.Thmouis 1 250 P.Thomas 14 249 P.Turner 47 98 50–53 70 P.Vet. Aelii 10 252 11 252 P.Wisc. 1/3 223 1/33 249 PSI 4/292 253 4/298 253 4/387 120 4/428 13 7/807 253 8/883 248 10/1128 253 13/1323 249 13/1331 70 16/1626 249 PSI Congr. 12/1264 98 17/19 92 SB 1/4101 241; 253 3/6257 206; 207; 218; 221; 238 3/6952 250 4/7464 252 4/7469 250 5/7575 127 5/7994 70 5/8697 219

5/8945 223 6/9238 251 6/9296 99 6/9372 99 6/9421 253 6/9458 251 8/9834b 122; 128 8/9853 250 10/10218 247 12/10925 252 12/10928 251 12/11008 250 12/11113 251 12/11256 249 12/12678 250 14/11391 251 14/11650 249 14/11904 250 14/11906 24 14/11957 206; 207; 218; 219; 221; 238 92 14/11964 14/12199 249 14/12695v 93 16/12470 247 16/12515 70 16/12579 251 16/12589 251 16/12942 122 16/12949 252 18/13167 85 18/13633 219 20/14178 121 20/14229 223 20/14263 88 20/14401 249 20/14679 251 20/14975 251 20/15036 251 22/15781 249 24/15922 121; 126; 128 24/16252 249 24/16297 252 26/16458 92

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Indices

Sel.Pap. 1/36 120 2/357 229 SPP 3/132 206; 218; 238 5/5 229 5/6 220 5/119 229 20/15 127 20/45 227; 231 22/54 252 22/117 255 W.Chr. 7 206 273 90 WO 119; 120; 127 64 67 120; 127 Inschriften, Graffiti und Tabulae AE 1893, 31 46 1913, 242 66 1914, 234 176 1919, 78 281 1919, 97 51 1922, 116 51; 55; 75; 76 71 1929, 102 1929, 183 66 1931, 27 73 1936, 3 51 1946, 256 66 1953, 269 46 1954, 16 72 1955, 146 174 1957, 126 207 1969/1970, 436 7 1973, 362 49; 76 1973, 364 47; 76 1973, 365 48; 62 1973, 367 48

1973, 370 1973, 372 1973, 375 1973, 378 1973, 380 1975, 630 1975, 646 1975, 647 1975, 650 1975, 651 1975, 652 1975, 653 1975, 654 1975, 655 1976, 454 1976, 459 1976, 585 1977, 171 1977, 512 1978, 498 1980, 218 1981, 654 1982, 186 1983, 720 1983, 721 1983, 722 1984, 919 1984, 920 1986, 694 1989, 635 1990, 169a 1990, 819 1991, 1132a 1994, 1279 1997, 1162 1998, 954 1999, 1121 2000, 574 2000, 620 2000, 980 2001, 971 2001, 1458 2001, 1460 2001, 1462

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701

45; 56; 57; 72; 76 53; 76 62 48 47 48; 56 48; 56 48 48; 64; 76 46; 51; 76 48 49 48 53 7 47 76 29 46 7 207 47 13 47 46 46 372 372 181 7 13 207 61 49 48 66; 76 77 7 174 76 7 49 48 48; 56

702

Indices

2001, 1464 2001, 1466 2001, 1468 2001, 1475 2001, 1489 2001, 1505 2002, 882 2003, 1046 2003, 1055c 2004, 967 2005, 946 2006, 796 2007, 560 2009, 693 2010, 975 2010, 1005 2013, 952 2013, 1241

47; 76 48 48; 53 48 53 73 46 61; 74 53 46 173 170 7 61 63 76 61 174

Anth. Gr. 7,379 31 9,708 31 CAG 57,2,193 69 CIG III 5069 240 CIL III 4418 207 III 8134 207 240 III 14148 III 14165 12 IV 5123 170 V 892 281 V 3106 7 VI 266 183 VI 1624 223 VI 1799 391 VI 2028 605 VII 30 51 VII 33 47 VII 36 51

VII 248 51; 52; 54; 75; 76 VII 288 51 VIII 4508 175 VIII 5775 207 VIII 6244 207 VIII 8310 207 VIII 12152 207 174 VIII 17408 VIII 26491 7 VIII 26492 7 X 1613 23 X 1631 23 X 1784 23 X 1797 23 X 1943 23 X 1950 23 X 2007–2018 23 X 2336 23 X 2404 23 XI 276 7 XI 390 49 XI 391 49 XI 978 173 XI 6117 317 XIII 542 69 XIII 634 75 XIII 1906 73 XIII 1911 64 XIII 1954 64 XIII 1966 63 XIII 2029 77 XIII 2033 64; 73 48 XIII 2182 XIII 2259 48 XIII 2612a 71 XIII 3037 69 XIII 3168 69 XIII 3222 71 XIII 3540 47 XIII 3542–3544 47 XIII 3666 76 XIII 3703 f. 76 XIII 3705 69 XIII 4157 76

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Indices

XIII 4335 XIII 4336 XIII 4481 XIII 4564 XIII 5005 XIII 5116 XIII 5303 XIII 5705 XIII 6524 XIII 7067 XIII 7300 XIII 7588 XIII 7836 XIII 8105 XIII 8164a XIII 8204 XIII 8348 XIII 8350 XIII 8353 f. XIII 8568 XIII 8707 XIII 8725 XIII 8789 XIII 8793 XIII 8815 XIII 11179 XIII 11319 XIV 102 XIV 170 XIV 448 XVI 20 XVI 82

66 73 76 69 64 77 77 69 73 66 76 73 73 64 76 48 72 73 76 69 292 53 48 45; 57; 72; 76 66 64 66 29 223 29 571 51

DNb §§ 8–9

402

FIRA III Nr. 165

183

Graff. Phil. 301 410 416 417

241 241 241 241

703

I.Did. 6 9

206 206

I.Pan. 87

214

I.Phil. II 128 II 181

234 241

IG II2 2311 XIV 748

319 309

IGB II, 524 II, 543 II, 556 II, 560 II, 768 II, 856 II, 868 V, 4368 V, 5163 V, 5180

282 282 282 282 281 281 281 281 282 282

IGLNovae 8 91

7 283

IGR I 448 I 449

309 309

IGRR III 1056 p. 397

170

ILB 133 159 378 382 406

283 49; 62 271 281 282

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704

Indices

417 281 421 281 ILCV 20 7 ILNovae 4 7 ILS 818 7 842 391 997 571 1015 571 1433 223 1998 571 2910 47 3293 7 3859 7 4586a 51 4751 45; 72 4757 66 4760 291 4811 53 5474 174 5957 571 7028 63 7030 64 7062 46; 54 7522 46 7523 51; 75 7531 73 8908 214 8995 220; 234 ILS3 6087 316 ILTG 141 51 ILTun 594 207 601 207

1398 7 Inschr. Ephes. 2,211 28 IvO 56 309 OGIS I 210 II 654 II 674

240; 241 220; 234 85; 90

R.Gest.div.Aug. 5,1–2 21 15 21; 317 27 396 32 390; 391 34 654; 655 RIB 12 51 140 51 522 52; 74 606 51 662 f. 52 1593 291 2404 71 2412 172 2443 72 2456 52; 74 2492 52; 61 SEG 7, 381–430 118 7, 417 118 35, 1483 181 37, 110 f. 312 56, 1359 311 Tab. Vindol. 84 74 86 75 154 55; 56

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Indices

155 69 182 66; 74 185 52 186 50; 66; 74 190 57; 74; 75 191 75 197 55; 69 202 60 203 57; 59; 61; 75 204 74 208 57; 61; 74 233 74; 75 56; 69; 72 255 299 69 301 55; 72 55; 57; 60; 61; 74 302 309 52 314 52 316 52 319 74 343 52; 55 344 56 482 66 581 66 628 66 642 52 649 52 659 56 679 61; 74 Tab. Vindon. 4 207 TPSulp 45 28 51 23; 28 52 23; 28 60 13 106 26 Writing Tablets WT7 54 WT38 55 WT 44 55

705

WT45 55; 173 WT50 55 WT53 55 WT55 55 WT56 55 WT70 173 WT72 66; 173 WT76 55 Rechtstexte Digesten 14,2,2,2 11 34,2,25,10 13 34,1,6 316 39,4,16,7 86 49,15,7,1 574 49,15,24 575 50,5,3 25 Edictum Diocletiani 4,46 176 7,54‒63 451 8 185 9 185 10 185 Codex Theodosianus 13,5,7 22 Gaius inst. 1,32c

25

Keilschrifttexte RIME 1.9.9.1 SAA 2, 6 SAA 3, 11 SAA 3, 25

133 134 137 137

Personen Alföldi, Andreas 513; 514; 519; 536 Altheim, Franz 496; 519; 530; 532; 536 Amelung, Walter 659

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706

Indices

Antonescu, Mihai 511; 514; 519;521; 526 Apostolides, Herkos 482 Apostolides, Renos 482 Badian, Ernst 487 Bayer, Erich 485 Bayer, Karl 477 499 Bengtson, Hermann Benndorf, Otto 611 Benoist-Méchin, Jacques 472–474; 485; 487 Berve, Helmut 470–473; 479; 482; 487; 493; 494; 512; 529 622 Binz, Ludwig Blümner, Hugo 611 Böckh, August 611 Bogner, Hans 530 Bormann, Eugen 611 Bormann, Martin 530 Bosch, Clemens 537 Bosworth, Albert Brian 487–489 Bouché-Leclercq, Auguste 466; 467; 472; 487; 489 487 Bowersock, Glen W. Brentano, Lujo von 589 Buisson, Ferdinand 615 Bultmann, Rudolf 535 Burnet, Gilbert 640 Bursian, Conrad 611 Busche, Jürgen 480; 481 607 Camus, Albert Champagny, François-J. de 612 Classen, Johannes 611 Ricardo, David 131 Dilthey, Karl 611 Domaszewski, Alfred v. 657; 660; 664; 666 Dovifat, Emil 509; 510 Drexler, Hans 496; 520 Drexler, Karl 529; 530 Droysen, Gustav 465–489; 507; 595 Duruy, Victor 613 Egger, Rudolf 512

Ehrenberg, Viktor 537 Ehrhardt, Hermann 619; 621; 623; 628 Engels, Friedrich 588 Erzberger, Matthias 620 Fischer, Eugen 526–528 Fischer, Hermann 621–623; 626–628 676 Fraenkel, Eduard Frank, Walter 502 Freytag, Gustav 610 Friedländer, Paul 535 Fritz, Kurt von 534 Gamillscheg, Ernst 511 Gierach, Erich 649 Giesecke, Heinz-Eberhard 533 Glaser, Konrad 530 Göpfert, Arthur 625 Gregorovius, Ferdinand 612 Grimm, Jacob 572; 611 611 Grimm, Wilhelm Günther, Hans F. K. 506; 507; 527 594 Günther, Rigobert Gutzkow, Karl 613 Hampl, Franz 499 Hampl, Karl 674 Harder, Richard 529 Pleket, Harry W. 313; 315; 319 611 Haupt, Moriz Hegel, Georg W. Fr. 467; 473; 475; 479; 480; 482; 484; 486; 488 611 Helbig, Wolfgang Hellmann, Fritz 530 Hentig, Hans von 616 Herbig, Reinhard 530 Hertzberg, Gustav Fr. 613; 615 Heydrich, Reinhard 495–497 Hildebrand, Bruno 590 Himmler, Heinrich 496; 623 Hindenburg, Paul von 468; 475 Hitler, Adolf 493; 506; 508; 512; 625; 628; 647; 648; 678 Hönn, Karl 674

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Indices

Hügel, Eckhard 523 Humboldt, Alexander v. 475 Irwahn, Fritz 503 Jacoby, Felix 673–678 Jaeger, Werner 529 Jahn, Otto 611 Jensen, Christian 676 673 Kahrstedt, Ulrich Kautsky, Karl 588; 589; 591 535; 536 Kerényi, Karl 536 Kerényi, Magda Kern, Erwin 621–623; 626–628 487 Kimmich, Flora Koepp, Friedrich 649 Kolokotronis, Theodoros 547 Küsters, Alfred 533 Lachmann, Karl 611 Löffler, Hermann 525; 533 508 Lutz, Günther Malzer, Joseph 622 Marg, Walter 534 Marx, Karl 588 Maschke, Erich 496 Mayer, Theodor 512 Meybusch, Anton 639 Meyer, Eduard 468; 674; 676; 677 673–678 Meyer, Ernst 611 Michaelis, Adolf Miltner, Franz 496 Moltke, Helmuth K. B. v. 469 Mommsen, Theodor 611 Moravcsik, Gyula 535; 536 611 Müller, Karl Otfried Müller, Reimar 594 Niebuhr, Barthold Georg 470; 476; 480 Nietzsche, Friedrich W. 611 Norden, Eduard 537 North, Douglass Cecil 587 Oertel, Friedrich 591 Orend, Misch 522 Payen, Pascal 485 Petersen, Eugen 611; 657; 659 Pleyer, Kleo 502

707

Pöhlmann, Robert von 589–596; 651 Prast, Otto-Ernst 498 Premerstein, Anton von 674–669 Prinz, Hugo 674; 677 Quidde, Ludwig 613–616; 628 Rathenau, Walther 599; 619–623; 625; 628 534 Regenbogen, Otto Roces, Wenceslao 475 Rodenwaldt, Gerhardt 659; 662–664 637; 638; 640 Roettier, Jan 623; 625 Röhm, Ernst 676 Röhrig, Friedrich H. Roscher, Wilhelm 590 Rosenberg, Arthur 468; 469 522; 523; 525 Roth, Fritz 512; 513 Roth, Hermann 499; 500–506; 508 Rubin, Berthold 616 Sachs, Hanns Salin, Edgar 593 Schadow, Johann G. 475 Scherr, Johannes 613 Schirach, Baldur von 599; 624; 625; 628 512 Schmitt, Carl Schmitt, Felix 616 Scriba, Giovanni 5 Smeltzing, Jan 638 Smith, Adam 131 Speidel, Wilhelm 514 Stein, Hans Wilhelm 599; 600; 605; 607; 608; 616–619; 621–628 588 Stein, Lorenz von Strack, Paul L. 532 Straub, Johannes 533 Supprian, Karl 512 Taeger, Fritz 478–480 Tag, Hans 625; 626 Tarn, Willliam W. 349; 487 Morus, Thomas 588 Trautmann, Erika 496 Troeltsch, Ernst 589 Turowski, Ernst 500 Vogt, Joseph 676

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708

Indices

von Schmoller, Gustav 595 Wais, Gerhard 533 Weber, Wilhelm 493–539 Weiß, Wilhelm 622 Weizsäcker, Julius 614 Werner, Helmut 533 Wickert, Lothar 530 Wiedemeister, Friedrich 614 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich v. 611

Wittmann, Willi Wolf, Heinrich Wolsey, Thomas Wolters, Friedrich W. Wruck, Waldemar Wüst, Ewald Wüst, Walther Zelter, Carl Friedrich Zucker, Hans

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533 592 507 676 532 675 496; 520 475 537