Evangelische Jugendpflege: Ein Handbuch für evangelische Gemeindejugendarbeit [Reprint 2019 ed.] 9783111551951, 9783111182483


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German Pages 263 [268] Year 1913

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Table of contents :
Vorwort
§ 1. Die Umfrage
Erster Abschnitt. Die evangelische Jugend Hessens
§ 2. Die Zahl der evangelischen Jugend in Hessen
§ 3. Die Verteilung der evangelischen Jugend auf das Großherzogtum
§ 4. Die wirtschaftliche Lage der evangelischen Jugend in Hessen
§ 5. Die innere Lage der Jugend
§ 6. Die Ursachen der Not
§ 7. Psychologische Geographie
Zweiter Abschnitt. Die Pflicht der evangelischen Gemeinde und der Tatbestand
§ 8. Die Pflicht der evangelischen Gemeinde
§ 9. Einwände und Schwierigkeiten
§ 10. Geschichte und gegenwärtiger Bestand der evangelisch-kirchlichen Jugendarbeit in Hessen
Dritter Abschnitt. Evangelische Jugendpflege
§ 11. Der Grundsatz der Arbeit
§ 12. Wege zum Ziel
§ 13. Leiter, Helfer, Mitarbeiter
§ 14. Die Mitglieder
§ 15. Die Organisation
§ 16. Der Anfang
§ 17. Die Versammlungen
§ 18. Die Arbeitsgebiete
§ 19. Äußerlichkeiten
§ 20. Der Zusammenschluß
§ 21. Ausblick
Inhaltsverzeichnis
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Evangelische Jugendpflege: Ein Handbuch für evangelische Gemeindejugendarbeit [Reprint 2019 ed.]
 9783111551951, 9783111182483

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Evangelische Jugendpflege Lin Sandbuch

für evangelische Gemeindejugendarbeit von

Otto Page Pfarrassistent zu Offenbach am Main

Gießen 1913

Verlag von Alfred Töpelmann

vormals J. Ricker

Das Inhaltsverzeichnis befindet sich am Schlüsse des Buches.

Vorwort. Die vorliegende Arbeit verfolgt nicht den Zweck, die bis ins Un-

übersehbare angeschwollene Literatur über Jugendpflege zu vermehren. Sie entspringt vielmehr der Erkenntnis, daß es für die evangelische Kirche und Einzelgemeinde höchste Zeit ist, sich auf ihre Pflicht gegen die Heranwachsende Jugend zu besinnen und die Jugendarbeit energisch an­ zugreifen, wenn nicht die gesamte Jugend in allen möglichen Bestrebungen sehr verschiedenen Wertes festgelegt werden soll und die berufene Volks­ erzieherin, die Kirche, nicht mit leeren Händen dastehen will. Die Zeit drängt mit aller Macht zur Arbeit! Darum habe ich auch das vor­ liegende Buch mit größtmöglicher Beschleunigung zu Ende gebracht. Bei allen möglichen sonstigen Beanspruchungen und bei der Fülle des zu bearbeitenden Materials war das keine leichte Aufgabe. Eine riesige Vorarbeit war zu leisten, ehe an die Darstellung selbst herangegangen werden konnte. Zu einer erschöpfenden Durcharbeitung des Materials allein wäre eine voll zur Verfügung stehende Zeit von mindestens zwei Monaten erforderlich gewesen. So mußte die Arbeit im Drange vieler Geschäfte nach Möglichkeit erledigt und beschleunigt werden. Allzu starke Verzögerung der Herausgabe schien nicht angängig, einmal weil die Verhältnisse mit aller Schärfe dazu drängen, sobald als nur irgend möglich mit der evangelischen Jugendarbeit allgemein zu beginnen, sodann aber, um das vorliegende statistische Material, namentlich zu § 10, nicht veralten zu lassen. Die Beschränkung auf hessische Verhältnisse lege man nicht als Engherzigkeit aus. Mit allgemeinen Abstraktionen ist nun einmal nicht viel getan, und allgemeine Darstellungen über Jugendpflege gibt es schließlich in Masse. Sodann kann ein einzelner nur ein Urteil haben über die Verhältnisse, die er einigermaßen kennt. Ferner sollte An­ regung gegeben werden für ähnliche Untersuchungen und Darstellungen für andere geschlossene Gebiete — denn eine allgemeine, großzügige evangelische Jugendarbeit wird nur in solchen Gebieten möglich sein, wo die gleiche Arbeit geleistet oder versucht wurde wie hier für das Hessen­ land. Liegt hier schon ein gut Stück Bedeutung der Arbeit auch für

IV

SoTtoort.

außerhess i sche Gebiete, so darf wohl die Bedeutung der folgenden Ausführungen für die gesamt« evangelische Jugend­ arbeit betont werden. Denn im weitaus größten Teil sind sie von allgemeiner Gültigkeit, so vor allem der ganze dritte Abschnitt. Aber auch der zweite Abschnitt darf die allgemeine Beachtung aller an evangelischer Jugendpflege Interessierten beanspruchen, selbst § 10 „Geschichte und Bestand der evangelisch-kirchlichen Jugendarbeit in Hessen". Im übrigen besteht für alle evangelischen Gemeinden die gleiche Pflicht der Heranwachsenden Jugend gegenüber, und die „Ein­ wände und Schwierigkeiten" sind gewiß anderwärts dieselben wie bei uns. Ja sogar im ersten Abschnitt „Die evangelische Jugend Hessens" bestehen wohl die meisten Ausführungen ganz allgemein zu Recht, — nur daß die allgemeine Lage an hessischen Verhältnissen illustriert erscheint. So darf Wohl das vorliegende Buch weit über die Grenzen Hessens hinaus auf Beachtung rechnen. Der obersten Kirchenbehörde sei gedankt, daß sie die Arbeit durch ihr Entgegenkommen (Übersendung der Umfrage mit dem Berordnungsblatt und Hinweis in demselben) wesentlich förderte. Dank gebührt allen evangelischen Pfarrämtern, die sich der immerhin nicht kleinen Mühe der Beantwortung der Umfrage unterzogen. Besonderen Dank den Wenigen, di« durch ihre guten Wünsche und die Kundgabe ihres Berständnisses für die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Arbeit den Mut, der oft sinken wollte, stärkten! Dank vor allem dem Verlage, der die Herausgabe der Arbeit übernahm! Dank auch meinem Bruder Georg, der das ganze Manuskript in Schreibmaschinenschrift übertrug und bei

der Korrektur wertvolle Hilfe leistete. So hoffe ich zu Gott, daß das Buch sein bescheidenes Teil dazu beitragen dürfe, daß die Arbeit an unserer lieben evangelischen Jugend, vor allem im Hessenlande, überall mit vollem Ernst und rechtem Ver­ ständnis auf dem Boden der Gemeinde in Angriff genommen werde und sich mehr und mehr durchsetze. Gebe Gott, daß es gelinge, unserer Jugend neuen, starken, reinen, frohen Geist einzupflanzen. Sie braucht ihn nötiger als das tägliche Brot. Und wenn eine Erneuerung der Jugend möglich ist, so ist das unsere felsenfeste Überzeugung: sie kann nur durch den tiefen Geist echten Christentums erzeugt werden — und durch ihn muß und wird es gelingen. Das walte Gott!

Offenbach a. M., August 1913.

Otto Page.

§ 1. Die Umfrage. Tie vorliegende Arbeit beschäftigt sich nur mit bcr männlichen Jugend. Nicht als ob die Arbeit an der weiblichen Jugend weniger dringend und notwendig wäre. Aber die Arbeit an der männlichen und der weiblichen Jugend wird immer auf getrennten Wegen gehen müssen. Auch da, wo der wünschenswerte Weg der gemeinsamen Erziehung versucht wird, bleiben für die männliche und die weibliche Jugend große Sonderaus­ gaben. Auch dürften die Unterschiede zwischen der Heranwachsenden Jugend männlichen und weiblichen Geschlechts nicht gering sein, Psycho­ logisch zunächst, dann aber auch auf die wirtschaftliche Lage, die Stellung zum Elternhaus usw. gesehen. Hinzu kommt, daß die Pflege der weib­ lichen Jugend noch sehr in den Anfängen steckt und auf dem Boden der Gemeinde noch viel seltener betrieben wird als die der männlichen Jugend, so daß eine Arbeit, wie die vorliegende, kaum möglich gewesen wäre. Das eigentlich Entscheidende aber war, daß die Erfahrung des Verfassers durch seine vierjährige Tätigkeit im Wartburgverein Offenbach a. M. ganz auf dem Gebiet der männlichen Jugendpflege liegt. Die Umfrage bildet die Grundlage der ganzen Arbeit und gibt ihr auch ihr eigentümliches Gepräge. Es kam darauf an, nicht aus der Literatur das Brauchbare herauszulesen und gleichsam ein Extrakt von ihr zu bieten, sondern soweit es möglich war, auf die Ströme des Lebens selbst zu lauschen. Es ist nicht zweifelhaft, daß bei solchem Verfahren für die Praxis weit größerer Nutzen erwächst als bei jenem. Die Literatur ist dem Verfasser auf weite Strecken nicht unbekannt — über­ sehen kann sie kaum der Spezialist — aber mit Absicht ist sie so wenig als möglich direkt benutzt worden, wobei es natürlich ist, daß der Ver­ fasser nicht unbeeinflußt von ihr geblieben ist. Die Umfrage wurde durch einen Fragebogen bewerkstelligt. Dieser Fragebogen ging zunächst durch das Entgegenkommen des Großh. Ober­ konsistoriums mit dem Verordnungsblatt Nr. 2 von 1912 allen evan­ gelischen Pfarrämtern Hessens zu (Ende Februar, Anfang März). Die Umfrage ging unter dem Titel „Umfrage über Geschichte und gegen­ wärtigen Bestand der evangelischen Jugendarbeit in Hessen". Die Ab­ sicht war, nicht nur die gemeindlich oder wenigstens unter Beteiligung des Pfarrers betriebene evangelische Jugerckarbeit zu erfassen, sondern die evangelische Jugendarbeit in ihrem ganzen Umfange. Die Frage 116 des Fragebogens lautet: „Bestehen in der Gemeinde andere evangelische Page, Jugendpflege.

1

2

Die Umfrage.

Jugendvereinigungen unabhängig von Pfarrer und Kirche oder im Gegensatz zu ihnen? Welche?" Dazu war noch ausdrücklich eine Fuß­ note gemacht: „Bitte um genaue Antwort! Diesen Vereinen, die auch in die Umfrage einbezogen werden müssen, soll ein besonderer Frage-

bogen zugehen." Das war ein gekürzter Fragebogen, der nur die all­ gemeinen Fragen nach Zahl, Beruf, Selbständigkeit, Psychologie usw. der Jugend als ungeeignet wegließ. Aus die Angaben einiger zurück­ gesandter Fragebogen hin wurde an eine Reihe von in Betracht kommen­ den Vereinen dieser gekürzte Fragebogen gesandt. Darauf ist keine einzige Antwort eingetroffen. Es erscheint notwendig, diesen Sachverhalt zur Abwehr von Mißverständnissen festzustellen. Was die betreffenden Vereine zu ihrer durchaus ablehnenden Haltung ver­ anlaßt hat, soll nicht untersucht werden. Daß sie damit ihre Stellung zur Landeskirche dartun wollten, ist ja nicht ohne weiteres anzunehmen. Jedenfalls ist dem Verfasser durch diese tatsächliche Erfahrung erst recht dringend und leicht geworden, was ihm grundsätzlich schon lange fest­ stand: Evangelische Jugendarbeit ist landeskirchliche Arbeit und muß Gemeindearbeit sein. Selbst aber, wenn der Verfasser sich grundsätzlich auf die londeskirchliche Forderung in bezug auf die Jugendarbeit hätte be­ schränken wollen — hätte über die gesamte evangelische Jugendarbeit in Hessen berichtet werden müssen, über ihre Geschichte und ihren Bestand, ge­ wiß wäre von den seitwärts stehenden Vereinen manches zu lernen gewesen. Ein Bericht über sie ist aber einfach unmöglich gewesen, weil das Material fehlte — und zwar nicht durch die Schuld des Verfassers.

Was den Erfolg der Umfrage anbetrifft, so wäre zunächst einmal vom zahlenmäßigen Erfolg einiges zu sagen. Der erste beantwortete Fragebogen traf am 28. Februar 1912 ein, der letzte am 20. Januar 1913. Es war der 406. 442 waren zu erwarten, so daß immerhin 92% sämtlicher Gemeinden (bie Stadtgemeinden nach Parochieen gezählt) die Umfrage beantworteten, ein Resultat, das immerhin respek­ tabel ist. Freilich mußte die Bitte um Beantwortung viermal (!) noch wiederholt werden. Trotzdem der letzten Bitte (16. Dezember 1912) eine frankierte Antwortkarte beigegeben wurde, blieben 36 Antworten aus. Das mag mancherlei Gründe haben — nicht zuletzt den, daß eine Reihe Pfarrstellen unbesetzt waren, oder gerade wechselten. In einem Dekanat, aus dem dann doch noch 87 % Antworten einliefen, war geradezu be­ schlossen worden, die Umfrage „wegen ihres privaten Charakters un­ erledigt zu lassen". Man hielt wohl die Veröffentlichung manchen Materials für bedenklich und hatte Grund dazu durch manche ungeschickte Benutzung von durch Fragebogen erbetenem Material in früherer Zeit. Der Verfasser hofft, bei seiner Veröffentlichung den gebotenen Takt und die nötige Vorsicht nicht außer acht gelassen zu haben. Uber den Ein-

3

Die Umfrage.

gang der Fragebogen im einzelnen mag folgende Tabelle Auskunft geben. I. bedeutet darin: eingegangen bis zur ersten Bitte 28. April, II. bis zur zweiten 25. Juni, m. bis zur dritten 14. Oktober, IV. bis zur letzten 16. Dezember 1912. In der Rubrik „Gesamt" sind die Endzahlen an­ gegeben. Die Rubrik „Soll" gibt an, wieviel Antworten zu erwarten waren.

Dekanat

I.

II.

1III.

IV.

Gesamts Soll

1 1

0/ '°

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Alsfeld..................... Büdingen .... Friedberg .... Gießen..................... Grünberg .... Hungen..................... Lauterbach .... Nidda..................... Rodheim .... Schotten ....

7 9 3 8 11 7 7 4 11 2

11 15 7 14 15 11 14 9 12 9

16 16 13 15 18 13 17 18 13 17

17 16 16 16 18 16 18 19 14 17

19 20 18 20 20 19 20 19 18 18

20 23 20 24 21 20 21 20 20 18

95 87 90 83 95 95 95 95 90 100

1112. 13. 14. 15.

Oberhessen .... Alzey ..................... Mainz..................... Oppenheim.... Wöllstein .... Worms.....................

69 3 9 10 4 7

117 5 10 12 10 9

156 7 15 13 13 18

167 10 16 15 13 18

191 15 17 18 15 22

207 18 20 20 17 23

92 83 85 90 88 96

16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23.

Rheinhessen . . . Darmstadt .... Eberstadt .... Erbach..................... Groß-Gerau . . . Groß-Umstadt . . Offenbach .... Reinheim .... Zwingenberg . . .

33 0 4 10 9 2 7 4 5

46 6 8 10 10 2 10 8 7

66 10 14 15 13 5 13 13 12

72 11 15 15 15 7 15 13 13

87 13 16 18 18 13 15 17 18

98 14 17 18 19 15 16 18 19

89 87 94 100 95 87 94 94 95

Starkenburg . . . Hessen.....................

41 143

61 224

95 317

104 343

128 406

137 442

93 92

Nun der Wert der Umfrage. Selbstverständlich sind die 92 °/e Antworten nicht alle gleichwertig. Osters wurde nur auf einer Postkarte mitgeteilt, daß in der Jugendarbeit nichts geschieht. Ja, es sind sogar Fragebogen zurückgekommen, auf denen auch nicht ein einziger Strich geschrieben stand — nicht einmal der Name des Pfarrers. Auch die Beantwortung im einzelnen ist natürlich sehr ungleich. Nur wenige Fragebogen haben «ine wirklich vollständige Beantwortung er­ fahren. Der „120 Visitationsfragen" waren auch gar zu viele! Aber dem Verfasser hat es sich bestätigt, daß eine Umfrage mit allgemeinen Fragen völlig wertlos gewesen wäre, wie der Teil der Berichte beweist, die auf einer Karte mit wenig allgemeinen vorgedruckten Fragen gegeben wurden. Der eine faßt« die Frage so auf, der andere ganz anders. Eine Übersicht über das Material, eine Sichtung und Verwertung wäre 1»

4

Die Umfrage.

einfach ausgeschlossen gewesen — sie war ohnehin schon eine Riesenarbeit. Sogar der detailliert« Fragebogen hat noch oft genug Mißverständnis erfahren. Haben doch manche, die über Jugendarbeit nichts zu sagen hatten, über alle möglichen Vereine und Gemeindeveranstaltungen be­ richtet. — Rückfragen waren auf der anderen Seite ganz unmöglich. Einmal hätte die Schreibarbeit gar nicht geleistet werden können, denn an di« verschieden«» Pfarrämter wären die verschiedensten Rückfragen nötig gewesen. Sodann hätte auch ein nicht geringer finanzieller Mehr­ aufwand gemacht werden müssen. Und «Mich wär« die Übersicht namen­ los erschwert worden. — Hoffentlich liefern die nachfolgenden Aus­ führungen den Beweis, daß die Umfrage keineswegs umsonst gewesen ist. Für die etwa wieder einmal neu erfolgende Umfrage — und sie müßte in gewissen Zeiträumen regelmäßig angestellt werden — sei folgen­ des gesagt: sie ist nur möglich, wenn sie nicht mehr „rein privaten Charakter" trägt, sondern offiziell angestellt wird. Dann nur kann es gelingen, nicht nur ein zahlenmäßig, sondern auch sachlich vollständiges Material zu gewinnt. Die geeignete Stelle dafür wäre das evangelische Jugendpfarramt für Hessen, hinter dem selbstredend die oberste Kirchen­ behörde stehen müßte. Die Errichtung eines solchen evangelischen Jugend­ pfarramts kann ja ohnehin nur eine Frage der Zeit sein. Seine Auf­ gaben werden im Laufe der Darlegungen dargetan und auch noch vielleicht eine zusammenfassende Darlegung finden.

Erster Abschnitt.

Vie evangelische Jugend Ressens § 2. Die Zahl der evangelischen Jngeud in Hessen. Jugend ist hier im Sinne des Alters gefaßt, auf das sich die Be­ strebungen der Jugendpflege richten. 'Die untere Grenze ist das Kon­

firmationsalter bzw. die Schulentlassung, also das 14. Lebensjahr. Die obere Grenze ist mit 25 Jahren angenommen, nehmen wir das 25. Lebens­ jahr etwa als das „Heiratsjahr" an. Man könnte darüber streiten, ob

man nicht die Jugendpflege nur bis zum Zeitpunkt der Militärpflicht betreiben soll. Die Bestimmung der Grenze auf das 25. Lebensjahr wird aber doch mit guten Gründen weiter unten als richtig aufgezeigt werden. Wieviel männliche Jugendliche zwischen diesen Grenzen birgt nun unser evangelisches Hessenland? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht ganz leicht. Die Angaben der Umfrage schwanken in erheblichen Differenzen. Die niedrigste Angabe gibt 3 % an, die höchste 25 % in einer einzelnen Gemeinde! Es ist auf den ersten Blick klar, daß die erste Zahl viel zu niedrig, die zweite viel zu hoch ist, da es sich nur um die männliche Jugend handelt. Woher kommen die gewaltigen Unterschiede in den Angaben? Zunächst wohl daher, daß die meisten Zahlen auf Schätzungen beruhen, so möchte man sagen. Aber viele Zahlen sind gar nicht rund angegeben, sondern bis auf die Einer genau. Und schließlich kann es in kleinen Gemeinden nicht allzu schwer sein, wenigstens eine annähernd richtige Angabe zu machen. Und die Städte sind völlig außer Betracht gelassen. Woher also die Schwankungen? Daß der Anteil der männlichen Jugend tatsächlich in verschiedenen Orten um mehr als 20 % differiere, ist doch gänzlich unmöglich.

Die stark voneinander abweichenden Angaben sind

einmal darin begründet, daß sie gerade von kleinen und ganz kleinen Gemeinden herrühren. I« kleiner die Gemeinde ist, um so stärker machen sich ungenaue Angaben bemerkbar. Wenn z.B. in einer Gemeinde von 200 Seelen 20 Jugendliche vorhanden wären, also 10%, und der Be­ richterstatter gibt annäherungsweise 25 an, so ergibt das schon einen Unterschied von 2%%. Wenn dagegen in einer größeren Gemeinde von 2000 Seelen ebenfalls 10 %, also 200 Jugendliche wären, dieser

6

Die Zahl bet evangelischen Jugend in Hessen.

Berichterstatter gäbe auch 5 mehr an, also 205, so macht das nur einen Unterschied von 0,25 % aus! Dasselbe Bild ergibt sich natürlich bei zu geringen Angaben. Je kleiner die Gemeinde, um so erheblicher drückt sich der Fehler in der Prozentzahl aus. Und, wie gesagt, sind es zum weitaus größten Teil kleine Gemeinden, aus denen die Zahlen stammen. Dazu kommt noch etwas sehr Wesentliches. Es kommt darauf an, wie die Frage: „Wieviel konfirmierte junge Männer bis zu 25 Jahren zählt die Gemeinde?" aufgefaßt worden ist. Sie ist in der Tat verschieden aufgefaßt worden. Die einen geben di« Zahl der ortsanwesenden Jugendlichen ohne die auswärts Beschäftigten an, während die anderen die Zahl sämtlicher jungen Leute, die ihrer Geburt nach der Ge­ meinde angehören, also auch der dauernd oder vorübergehend nicht orts­ anwesenden mitteilen. Das wird aus einigen Angaben sehr deutlich. So wird aus einer Gemeinde mit *850 Seelen im Dekanat Eberstadt be­ richtet, daß dort 6 (!) Jugendliche seien — aber 50 auswärts sich be­ fänden ! Und die dritten geben die Zahl aller ortsanwesenden an, wobei die mitgezählt wurden, die als Arbeiter oder Knechte von auswärts dauernd oder vorübergehend am Orte arbeiteten, so daß naturgemäß die Zahl zu hoch erscheinen muß. Wenn man nun aber bedenkt, daß immerhin von etwa 2/a sämtlicher hessischer Gemeinden die Zahlen vorliegen, so muß doch ein gewiffer Aus­ gleich zwischen den Fehlern der Angaben bei einer Durchschnittsberechnung eintreten und sich schließlich doch ein einigermaßen richtiges Resultat er­ geben. Die folgenden Tabellen veranschaulichen die einzelnen Ergebnisse nach Provinzen und Dekanaten geordnet: I. Oberhessen.

Dekanat

1. Alsfeld . . 2. Büdingen. 3. Friedberg. 4. (Sieben . . 5. Grünberg. 6. Hungen. . 7. Lauterbach 8. Nidda . . . 9. Rodheim . 10. Schotten . Oberhessen . .

Zahl Zahl der der evang. Berichts­ gemein­ Ge­ den meinden

20 23 20 24 21 20 21 20 20 18 207

14 16 10 16 12 15 12 16 17 16 144

Gesamtzahl Gesamtzahl Durchder Evange­ der Jugend­ schnittSzadl lischen in den lichen In den der Jugend­ lichen in Berichts­ Berichts­ gemeinden Prozenten gemeinden

13 224 13 551 15 946 24 533 10 851 14 548 12 345 13 682 18 171 13 691 150542

1406 1330 1566 2300 1211 1346 1234 1227 1954 1103 14677

10,6 9,81 9,80 9,4 11,2 9,3 10,0 9,0 10,75 8,3 9,75

Niedrigste und höchste Prözentzahl der Jugend!, t.d. einzelnen BerichtSgemeinden

8—14 6—19 5 — 13 6 — 14 5 — 25 6—12 6—17 6—13 5 — 16 5 — 14 5 — 25

In Oberhessen lägen also Angaben über die Zahl der männlichen Jugendlichen aus 70 % der evangelischen Gemeinden vor, mit einem

prozentualen Durchschnitt von 9,75 % der Jugendlichen auf die gesamte

7

Di« Zahl der evangelischen Jugend in Hrffen.

evangelische Bevölkerung. Auffallend ist die Spannung in den Einzel­ berichten zwischen 5 und 25 %. Eine ähnlich große Differenz liegt aber auch bei den Berichten aus Starkenburg vor.

n. Rheinhessen. Gesamtzahl Zahl Zahl Der oer der Evange­ Berichts ­ evang. lischen in Den Ge­ gemein­ Berichts­ meinden den gemeinden

Dekanat

1. Alzey....

18 20

3. Oppenheim. 4. Wöllstein. . ' 5. Worms. . . |

20 17

Rheinhessen. . '

2. Mainz . . . 1

Gesamtzahl Niedrigste und Durch­ der Jugend­ schnittszahl höchste Prozent­ lich en in den der Jugend­ wahl der Jugendl. Berichts­ lichen in l.d. einzelnen Be­ gemeinden Prozenten richtsgemeinden

23

9 10 9 12 8

6 858 12 728 9 904 10 6^2 7 066

599 1268 926 1241 784

98

48

47 238

4818

i

8,7 9,96 9,35 11,60 11,9 10,19

6 — 14 7 — 13 6—13 6-16 6 — 18

ß —18

Also aus 50% der evangelischen Gemeinden Rheinhessens liegen Zahlen vor, der prozentuale Durchschnitt der Jugendlichen beträgt hier 10,19%-

in. Starkenburg. Gesamtzahl Zahl Zahl oer oer der Evange­ evang. Berichts- lisch en in den Ge­ gemein­ Berichts­ meinden den gemeinden

Dekanat

15 1. Darmstadt. 17 2. Eberstadt. . 18 3. Erbach . . . ! 19 4. Gr.-Gerau. ! 5. Gr.-Umstadt > 1 15 6. Offenbach . i 16 7. Reinheim. . 1 18 1 19 8. Zwingenberg | 137 Starkenburg . j

Niedrigste und Gesamtzahl Durch­ der Jugend­ schnittszahl höchste Prozent­ zahl der Jugend! lichen in den der Jugend­ Berichts­ lichen in i.d. einzelnen Be­ gemeinden Prozenten rich tSgemeinden

7 10 12 15 8 10 12 13

16 522 12 923 18 662 34 090 8 369 31 360 16 610 24 762

1667 1281 1918 3712 873 3150 1820 2330

10,9 9,91 10,27 10,88 10,41 10,04 10,95 9,4

87

163 298

16751

10,25

Faßt man das ganze Großherzogtum folgende Aufstellung:

Provinz

i

Zahl Zahl oer Der evang. Berichts­ Ge­ gemein­ meinden den

Gesamtzahl der Evange­ lischen in den Berichts­ gemeinden

ins Auge,

7 — 17 8 — 12 6-17 7 — 18 7 — 14 5 — 16 3-20 4-21

3 — 21

so ergibt

sich

Niedrigste und Durch­ Gesamtzahl der Jugend­ schnittszahl höchste Prozent­ der Jugend ­ zahl der Jugend!. lichen in den lichen in r.d. einzelnen Be­ Berichts­ gemeinden Prozenten richtsgemeinden

Oberhessen . . Rheinhessen. . Starkenburg. .

207 98 137

144 48 87

150542 47 238 163 298

14 677 4818 16 751

9,75 10,19 10,25

5 — 25 6 — 18 3-21

Hessen............

442

279

361 078

36 246

10,04

3—25

Der Anteil der evangelischen männlichen Jugend zwischen 14 und 25 Jahren an der evangelischen Gesamtbevölkerung beträgt also etwa 10 %. Wenn im Dezember 1910 Hessen etwa 848 000 Evangelische

8

Die Verteilung der evangelischen Jugend auf daS Grobherzogtum,

zählte, so müßten mithin etwa 84 800 männliche Jugendliche darunter gewesen sein. Di« Prozentzahl 10 müßte als Normal­ zahl angesehen werden. Tatsächlich verschiebt sich die Zahl durch Zuzug und Wegzug der Jugendlichen oft nicht unerheblich noch oben und nach unten. So wird in Jndustrieorten die Zahl steigen — und tatsächlich bezeugen das mehrere Angaben —, während an andern Orten, die viel Knechte nach auswärts, Arbeiter in die Fabrikstädte oder sonstige Angestellte liefern, die Zahl sinkt. So sind aus einer Ge­ meinde im Dekanat Erbach über 40% der Jugendlichen in den ver­ schiedenen Irrenanstalten des Landes als Pfleger, Wärter und sonstige Angestellte dauernd tätig, zählen also nicht mehr zur Heimatgemeinde. Doch von diesen „Auswanderern" wird noch ausführlich die Rede sein müssen.

§ 3. Die Verteilung der evangelischen Jugend ans daGroßherzogtum. Die Verteilung der evangelischen Jugend auf das Großherzogtum entspricht natürlich der der evangelischen Bevölkerung überhaupt. Es ist klar, daß die starke Abwanderung nach den Städten und Industriezentren die konfessionelle Lage ständig verändert, und zwar gerade in den Städten selber, während in den Landorten mit ihrer konstanten oder aber abnehmenden Bevölkerung die konfessionellen Verhältnisse keine allzu großen Veränderungen erleiden. Dazu kommt freilich, daß der Katholizismus eine starke zahlenmäßige Aufwärtsentwicklung zeigt. Wäh­ rend im Jahre 1828 die Katholiken 26 % der Bevölkerung ausmachten, ist ihre Prozentzahl bis zum Jahre 1910 auf 31 % gestiegen, während der Anteil der überwiegenden evangelischen Bevölkerung trotz starker Zunahme von 70 auf 66 % gefallen ist.1) Die auffallendste Erscheinung bei der konfessionellen Verschiebung ist die starke Zunahme des Katholi­ zismus in seither überwiegend evangelischen Gegenden und umgekehrt das starke Wachsen des Protestantismus in ehedem rein oder überwiegend

katholischen Strichen. So ist in der Stadt Worms der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung von 28,3 % im Jahre 1828 auf 31.7 % im Jahre 1910, im Kreis Worms (ohne Stadt) von 31 % auf 34,3 % gestiegen. Das Gegenbild zeigt Stadt und Kreis Mainz. Während in der Stadt Mainz die Evangelischen im Jahre 1828 nur 12,5 % der Bevölkerung ausmachten, int Kreise söhne Stadt) gar nur 11,9°/,, war im Jahre 1910 der Anteil der Evangelischen in der Stadt Mainz auf 37.8 %, im Kreise auf 19,1 % gestiegen. Von den drei hessischen Provinzen trägt Oberhessen am meisten 1) Die statistischen Angaben dieses Abschnittes sind den „Mitteilungen der Grotzh. Hess. Zentralstelle für die Landesstatistik" Nr. 921 entnommen.

Die Verteilung der evangelischen Jugend auf dad Broßherzogtum.

9

evangelischen Charakter. 1910 betrug der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung nur 8,7 %. Im Vogelsberg und seinen Ausläufern ist die Bevölkerung fast durchaus evangelisch, die Zahl der Katholiken ist in diesen Gebieten kaum nennenswert, selbst in den Städten nicht. Nach

der Wetterau zu und in ihr wird die konfessionelle Mischung stärker — hier ist ja auch ein Gebiet stärkeren Wanderns als im Vogelsberg. In der Südwestecke von Oberhessen liegt ein Gebiet sehr starker konfessioneller Mischung mit teilweise weit überwiegend katholischer Bevölkerung. Es ist alter kurmainzscher Boden. Ein zweiter solcher Strich, der aus seiner kurmainzschen Vergangenheit katholisch geblieben ist, liegt westlich von Friedberg und zieht sich bis nördlich Bad Nauheims. Einige versprengte Stücke des alten Bistums Fulda, die ihren katholischen Charakter bis heute bewahrt haben, sind Herbstein am Ostabhange des Vogelsberges und einige eng zusammenliegende Dörfer im Nordwesten von Alsfeld. Die Provinzialhauptstadt Gießen enthielt im Jahre 1910 86% evan­ gelische Bewohner. In Starkenburg macht die katholische Bevölkerung etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus. Hier ist di« konfessionelle Mischung naturgemäß auch im einzelnen stärker als in Oberhessen, und zudem sind hier größere Gebiete mit weit überwiegend katholischer Bevölkerung zu be­ obachten, die wohl alle ehemals zum Erzbistum Mainz gehörten. Dieses Gebiet beginnt etwa in der Nordostecke Starkenburgs mit dem über­ wiegend katholischen Rodgau, dem Landstrich, der von der Rodau durch­ flossen wird und sich auf dem rechten Rodauufer bis zum Main erstreckt. Das katholische Gebiet setzt sich sodann im Gersprenztal saufwärts) fort und reicht bis in den vorderen Odenwald hinein. Das zweit« große zu­ sammenhängende Gebiet mit überwiegend katholischer Bevölkerung liegt im Tal der Weschnitz, es zieht sich von der Südgrenze Hessens am Rhein entlang bis nach Gernsheim etwa, erfüllt die ganze Rheinebene bis zur Linie Gernsheim-Bensheim und reicht schließlich über die Linie BensheimHeppenheim über den Odenwald hinweg bis nach Hirschhorn am Neckar hin­ unter. Darmstadt, von einem Gebiet mit evangelischer Mehrheit umgeben, ist überwiegend evangelisch, 1910 waren mehr als drei Viertel der Bevölkerung evangelisch (79 %), während Offenbach, im MainRodgau-Gebiet gelegen, eine starke konfessionelle Mischung aufweist (über ein Drittel Katholiken). Rheinhessen zeigt die stärkste konfessionelle Mischung, das Ver­ hältnis von Evangelischen zu Katholiken ist hier etwa 1:1. Diese Mischung prägt sich auch im einzelnen sehr stark aus. Konfessionell be­ trachtet ist Rheinhessen «in wild zerklüftetes Gebiet. Die Konfessionen sind derartig durcheinander gesprengt, rein evangelische und rein katholische Einzelorte stehen hart nebeneinander, dazwischen stark gemischte

10

Die wirtschaftliche Lage der evangelischen Jugend in Heffen.

Bevölkerung, so daß es ganz unmöglich ist, zusammenhängende Gebiete mit einigermaßen einheitlichem Gepräge zusammenzufassen. Die beiden Städte Worms und Mainz zeigen dasselbe Bild: Worms hatte 1910 81,7 % Katholiken, Mainz 58%. Insgesamt verhielt sich 1910 die evangelische Bevölkerung des Groß­ herzogtums zur katholischen wie 2:1.

§ 4. Die wirtschaftliche Lage der evangelischen Jugend in Heffen. Die allgemeine wirtschaftliche die immer stärkere Abnahme der den stetig wachsenden Zustrom zur ja mit ihrem unsicheren, geringen

Lage wird heute gekennzeichnet durch landwirtschaftlichen Beschäftigung und Industrie. Die Landwirtschaft mußte Ertrag in den Hintergrund gedrängt

werden durch die Industrie, die schnellen, guten und meist auch gesicherten Verdienst verspricht. Darum zieht es gerade die Jugend zur Be­ schäftigung in der Industrie — dort sind sie durch eigenen Verdienst bald selbständige Leute, während sie in der Landwirtschaft in langer Abhängigkeit vom Elternhause bleiben. Auch lockt sie die Stadt oder der Jndustrieort mit seinen mannigfachen Zerstreuungen — Geld hat ja die in der Industrie beschäftigte Jugend genug in der Hand. Das städtische Wesen zieht die Jugend ganz besonders an, es imponiert ihr

gewaltig — sie hat noch kein reifes Urteil, um hinter der goldglänzenden Außenseite die schweren, düsterm Schatten zu sehen. Es kommt jetzt nicht darauf an, ob man den Zug der Jugend zur Industrie beklagen oder sich seiner freuen soll — zunächst kommt es auf die Feststellung der Tatsachen an. Der Wirklichkeit gilt's zunächst fest und wahrhaftig ins Auge zu blicken — und dann kann man erst sein Urteil in irgmdeinem Sinne abgeben — und handeln. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß der allgemeine Zug nach der Industrie auch die Jugend in unserem Hessenland ergriffen hat — die fortschreitende Industrialisierung unserer Jugend ist nicht zu leugnen. Wo finden wir in Hessen noch Gegenden, wo die Bewohner sich durchweg oder hauptsächlich von landwirtschaftlicher Betätigung ernährt? Das ist die erste Frage. Dabei ist nicht nur an reine Bauernorte gedacht, sondern die sind miteinbegriffen, wo neben Landwirtschaft auch Handwerk getrieben wird. Das ist häufig der Fall. Dmn die Landwirtschaft läßt dem Steuern vielfach Zeit, nebenher ein Handwerk zu treiben, namentlich in den für die Landarbeit stillen Monaten. Und umgekehrt gibt es auf dem Lande selten Handwerker, die nicht zugleich auch Landwirte wären. Das toegen seiner Fruchtbarkeit vielgepriesene Rheinhessen weist noch die meisten Bauerngemeinden auf. Sehr häufig ist bekannterweise in Rheinhessen neben dem Ackerbau der Weinbau, der hier als „Land-

Die wirtschaftliche Lage der evangelischen Jugend in Hessen.

11

wirtschaft" mitgerechnet ist.

Unter 59 evangelischen Gemeinden, aus denen Angaben über die Berufstätigkeit der Einwohner — insbesondere der Jugend — vorliegen, werden 24 als reine Bauerngemeinden be­ zeichnet, aus 5 weiteren wird das Handwerk neben der Landwirtschaft als Hauptberuf angegeben, so daß etwa gerade die Hälfte der Berichts­ gemeinden als Bauerngemeinden in Anspruch zu nehmen sind. In Oberhessen liegen die Verhältnisse schon ein wenig ungünstiger. Das mag überraschend klingen. Aber unter 164 evangelischen Gemeinden,

aus denen entsprechende Angaben zur Verfügung stehen, erscheinen nur 29 als reine Bauerngemeinden, während bei weiteren 40 das Handwerk als Haupttätigkeit der Bewohner hinzutritt. Zwei Fünftel aller Be­

richtsgemeinden sind also als Bauerngemeinden zu bezeichnen, immerhin ein Zehntel weniger als in Rheinhessen. Diese ländlichen Gemeinden durchziehen das ganze Gebiet, das vom Vogelsberg und seinen Ausläufern beherrscht wird, also das ganze östliche Oberhessen. Am geringsten ist die Landwirtschaft als ausschließliche oder doch weitaus überwiegende Beschäftigung in Starkenburg vertreten. Unter 105 Gemeinden werden nur 3 als reine Bauerngemeinden angegeben, während in 7 iveiteren zur Landwirtschaft noch das Handwerk hinzu­ kommt. Also unter 105 Berichtsgemeinden ganze 10, nicht einmal ein Zehntel, die noch frei sind von der Industrie! Sie liegen alle im Oden­ wald, teils in dem Winkel, den die untere Gersprenz dem Maine zu bildet, teils im mittleren hessischen Odenwald. Für das ganze Hessenland ergeben sich demnach unter 328 Berichts­ gemeinden 108 Bauerngemeinden, fast genau y3. In schroffem Gegensatz zu den Gemeinden, in denen Landwirtschaft und Handwerk die Hauptbeschäftigungen der Bevölkerung bilden, stehen

die Jndustriegemeinden. Darunter sind nicht nur die Ge­ meinden zu verstehen, in denen viele industrielle Betriebe sich befinden, sondern ganz gewiß auch die, aus denen der weitaus größte Teil der arbeitskräftigen Jünglinge und Männer in auswärtigen Fabriken, Berg­ werken, Eisenhütten usw. feinen Unterhalt sucht. Freilich wird auch in vielen dieser Jndustrieorte noch Landwirtschaft getrieben, aber sie ist so zurückgedrängt von der industriellen Arbeit, daß sie kaum noch in Betracht kommt. Vielfach hat an einem kleinen Landort die Errichtung einer einzigen Fabrik genügt, um eine Bauerngemeinde in einen Jndustrieort umzuwandeln — oder in der Umgegend eröffnete industrielle Betriebe veranlaßten bald die überwiegende Zahl der arbeitsfähigen Leute ganzer Orte, den schwierigen, unsicheren, geringen Ertrag abwerfenden Bauern­ berus zu vertauschen mit der viel bares Geld und weniger materielle

Sorgen bringenden Beschäftigung in der Industrie. Rheinhessen, das, wie eben gesagt, verhältnismäßig

die meisten

12

Die wirtschaftlich« Lage der evangelischen Jngend in Hessen.

Bauerngemeinden aufzuweisen hat, sollte umgekehrt die wenigsten Jndustriegemeinden zeigen. Zu bemerken ist vorher, daß, wie im ganzen Lande, die großen Städte außer Betracht geblieben sind, die ja alle als Industriestädte mit einer großen Zahl von Staats- und Stadtbeamten, Lehrern, Mittelständlern, höheren Schülern ihr ganz eigenes, schwer zu fastendes Gepräge haben. Unter den 59 Berichtsgemeinden Rhein­ hessens finden sich nur 9 Jndustriegemeinden, das sind etwa 15%. Diese Jndustrieorte sind auf 3 Stellen verteilt — und zwar um die Städte Alzey, Mainz und Worms! Dabei ist das Stadtgebiet von Mainz durchaus von der Industrie beherrscht; in Rheinhesten stehen also 9 Jndustriegemeinden 29 Bauerngemeinden gegenüber, das ist noch nicht ein Drittel. In Oberheffen sind unter 164 Berichtsgemeinden 23 Jndustrieorte zu zählen gegenüber 69 Bauerngemeinden. Das ist genau ein Drittel der Bauerngemeinden und etwa ein Siebentel der Berichtsgemeinden, genau 14 %. Also steht Oberhessen, soweit wenigstens die Angaben der Umfrage reichen, in der Zahl der Jndustriegemeinden noch hinter Rheinheflen zurück, das doch erheblich kleiner ist als Oberhesten. Das Haupt­ industriegebiet Oberheffens ist das Bereich der Main-Weser-Bahn, wie ja die Jndustrieorte naturgemäß vornehmlich an Bahnlinien liegen, die einen bequemeren Personen- und Güterverkehr ermöglichen. Die stärkste Industrialisierung dieses Gebietes weisen di« Südwestecke Oberhessens und die Gießener Gegend bis zur Nordgrenze Hessens auf. Die übrigen Jndustrieorte liegen ganz zerstreut. Hierher gehören einige der kleinen Städte, dann vereinzelte Orte, in denen einzelne große Werke (Berg­ werk, Steinbruch, Eisenhütte usw.) sich befinden.

Starkenburg hat entsprechend der überaus kleinen Zahl seiner Bauerngemeinden unter den Berichtsgemeinden eine überraschend große Zahl von Jndustriegemeinden aufzuwsisen. Es sind deren unter 105 Ge­ meinden nicht weniger als 35, das sind 33%%! Ihnen stehen nur 10 Bauerngemeinden gegenüber. Die Jndustrieorte Starkenburgs liegen außer im ganzen Ried hauptsächlich in der nördlichen Hälfte Starken­ burgs, namentlich das nördliche Viertel ist völlig der Industrie anheim­ gefallen — man denke nur an die Hauptort«, in denen die Industrie das ganze Leben der Bewohner beherrscht: Offenbach, Rüffelsheim, Gustavs­ burg — nicht zu vergessen das nahe Frankfurt. Aber auch an der Berg­ straße entlang liegen eine Reihe Jndustrieorte — und es ist nicht nur die Odenwälder Steinindustrie, die aus ihnen ihre Arbeitskräfte bezieht. Sodann läßt sich auch noch eine Linie ziehen von Pfungstadt etwa genau nach Osten — auch auf dieser Linie liegen ziemlich viele Industriegemeinden, ebenso befinden sich solche in der hessischen Neckarecke.

Die wirtschaftliche Lage der evangelischen Jugend in Hessen.

13

Wenn man ganz Hessen ins Auge faßt, so sind unter 328 Gemeinden 67 Jndustrieort«, also etwa 20%.

Nun erhielte man aber ein durchaus falsches Bild, wollte man nur

die beiden Gegenpole „Bauern"- und „Jndustrie"-Gemeinde berücksich­ tigen. Und wohin gehörte der Rest der Berichtsgemeinden, fast die Hälfte,

die weder als das ein« noch als das andere anzusehen sind? Sie ge­ hören einer dritten Gruppe von Gemeinden an, deren Bewohner zum Teil Landwirte und Handwerker sind, zum Teil aber auch Industriearbeiter, wobei —

wie auch sonst — von dem ganz geringen Prozentsatz der höheren Schüler und Studenten und sonstiger „höherer" Berufe abgesehen werden kann, da wiederum die Städte außer Rücksicht gelassen sind. Diese Gruppe der Gemeinden mit gemischten Berufen ist durchaus nicht klein. Gerade die große Zahl dieser Gemeinden zeigt uns die unaufhaltsam fortschreitende Industrialisierung des Hessenlandes. In besonders hohem Maße ist gerade die Jugend an diesem Prozeß beteiligt. Kein Wunder! Die Jugend mit ihrem großen Unternehmungsgeist ist eher geneigt, dem Neuen Konzessionen zu machen — ihr wird es auch leichter, sich den Banden altererbter Sitte zu entwinden als dem vorgeschrittenen Alter. So kann man es beobachten, wie in steigendem Maße aus Bauerngemein­ den vornchmlich die Jugend in die einheimische, weit mehr aber noch in die auswärtige Industrie geht — leichter, sicherer Verdienst, frühere Selbständigkeit, größere Unabhängigkeit von Scholle und Elternhaus lassen sie diesen Schritt noch nicht einmal als schwer empfinden. Verfolgen wir einmal diese Gruppe der Gemeinden mit gemischten Berufen durch unser Hessenland. In Rheinhessen sind es deren 21 unter 59 Berichtsgemeinden (36 %) gegen 29 Bauern- und 9 Industrie­ gemeinden. Also wäre hier die Landwirtschaft noch in sehr starkem Übergewicht. Die Bauerngemeinden mit mehr oder minder starkem Ein-

schlag von Industriearbeitern liegen zumeist in der weiteren Umgebung der größeren Städte, während die näher gelegenen ganz der Industrie onheimgefallen sind, wie das besonders in der Umgebung von Mainz

deutlich wird. Während in Rheinhessen die Zahl der reinen Bauerngemeinden die der gemischten noch um 8 übersteigt, weist Oberhessen schon 3 gemischte Gemeinden mehr auf als reine Bauerngemeinden, nämlich unter 164 Berichtsgemeinden 72 (44%) gegen 69 Bauerngemeinden und 23 Jndustriegemainden. Während diese gemischten Gemeinden im Nordosten Oberhessens seltener sind, häufen sie sich, je weiter man nach Südwesten vordringt, und geben schließlich dem Westen und Südwesten das charakte­

ristische Gepräge. Daß in Starkenburg die Industrialisierung am weitesten vorge-

14

Die wirtschaftliche Lage der evangelischen Jugend in Hessen.

schritten ist, zeigt sich daran, daß es die meisten Bauerngemeinden mit industriellem Einschlag zeigt: nämlich 60 unter 105 Berichtsgemeinden (57%) gegen 10 Bauerngemeinden und 35 Jndustriegemeinden. Ganz

Starkenburg ist von diesen industriellen Bauerngemeinden oder bäuer­ lichen Jndustriegemeinden durchsetzt. Im Ried und im Norden Starken­ burgs fehlen reine Bauerngemeinden durchaus. Nachdem di« drei Hauptgruppen, in di« sich die Gemeinden der Be­ schäftigung ihrer Bewohner nach einteilen lassen, und ihre Hauptverbrei­ tungsgebiete festgestellt sind, ist es gewiß interessant, die einzelnen Pro­ vinzen und Dekanate nach der Berufsverteilung zu betrachten. Dazu möge folgende Tabelle dienen: I. Rheinhessen. Zahl der Gemeinden mit Landwirt­ Landwirt­ Industrie schaft und schaft und ohne Land­ Handwerk Industrie wirtschaft

Dekanat

1. 2. 3. 4. 5.

Land­ wirtschaft

Zahl der Berichts­ gemeinden

Alzey .... Mainz . . . . Oppenheim . . Wöllstein . . . Worms . . . . ||

4 2 6 8 4

1 0 1 3 0

4 4 5 2 6

2 5 1 0 1

11 11 13 13 11

. |1

24

5

21

9

59

Rheinhessen

.

.

Di« geringste Zahl der Bauerngemeinden zeigen die Dekanate Mainz und Worms (2 bzw. 4), während sie dementsprechend die höchsten Zahlen der ganz oder teilweise von der Industrie eroberten Gemeinden auf­ weisen: Mainz 9, Worms 7. Dann folgen die Dekanate Alzey mit 5 Bauern- und 6 Jndustriegemeinden, Oppenheim mit 7 Bauern- und ebenfalls 6 Jndustriegemeinden, Wöllstein mit 11 Bauern- und 2 Jn­ dustriegemeinden, in denen aber die Landwirtschaft bzw. der Weinbau noch nicht ganz ausgeschaltet ist.

H. Oberhessen.

Dekanat

Zahl der Gemeinden mit Landwirt­ Landwirt­ Industrie schaft und schaft und ohne Land­ Handwerk Industrie wirtschaft

Land­ wirtschaft

8 8 1

Alsfeld .... Büdingen . . . Friedberg . . . Gießen .... Grünberg . . . Hungen . . . Lauterbach. . . Xxbba .... Rodheim . . . Schotten . . .

0 2 1 8 6 0 5

0

Oberhessen ....

29

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

4

2 1

3

2 7 6 10 11

9

6

5 3 2 1

4 7 9 10

40

72

Zahl der Berichts­ gemeinden

0

18 19 11 14 16 17 18 18 17 16

23

164

4

2 3 4 0 1 1 2

6

15

Die wirtschaftliche Lag« der evangelischen Jugend in Hessen.

Im Dekanat Gießen ist die Industrie am weitesten vorgedrungen, keine einzige Bauerngemeinde ohne Industriearbeiter befindet sich unter den Berichtsgemeinden, dagegen 14 Jndustriegemeinden, von denen in 10 noch mehr oder weniger Landwirtschaft getrieben wird. In ge­ ringem Abstand folgen die Dekanate Friedberg und Rodheim mit je 2 Bauerngemeinden und 9 bzw. 15 Jndustriegemeinden. Im Dekanat Rodheim scheint es besonders viele Eisenbahnarbeiter zu geben. Je mehr man in das Innere Oberhessens eindringt, um so mehr steigt die Zahl der Bauerngemeinden, während die der Jndustriegemeinden sinkt. Die Dekanate folgen in dieser Ordnung aufeinander: Grünberg mit 5 Bauernund 11 Jndustriegemeinden falle mit Landwirtschaft), Schotten (6 und 10, ebenfalls olle mit Landwirtschaft), Nidda (9 und 9), Büdingen (10 und 9), Hungen (10 und 7), Alsfeld (12 und 6) und Lauterbach (13 und 5). Tie große Zahl der Bauerngemeinden mit Industriearbeitern im Deka­ nat Schotten mag auffallen. Es handelt sich meist um Waldarbeiter.

III. Starkenburg. Zahr der Gemeinden mit Landwirt­ Landwirt­ Industrie schaft und schaft und ohne Land­ Handwerk Industrie wirtschaft

Dekanat

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Land­ wirtschaft

Darmstadt - - Eberstadt - - . Erbach .... Grost-Gerau . . Groß-Umstadt Offenbach . . . Reinheim . . . Zwingenberg . .

Starkenburg .

.

.

— 1

3



5 5 9 11

3 5 3 7 1 9 5 2

8 13 35 16 10 14 16 13

7

60

35

105

1 2 — 2

— 2 — — —



2 1

Zahl der Berichts­ gemeinden

5 7 9

9

In Starkenburg 4 Dekanate, bei denen sich unter den Berichts­ gemeinden keine einzige industriefreie Gemeinde findet! Es sind die

Gebiete, in denen sich schon vorzugsweise die reinen Jndustriegemeinden zeigten: Nordstarkenburg zwischen dem Main, soweit er hessisches Ge­ biet berührt, im Osten und Norden und dem Rhein im Westen mit den Dekanaten Offenbach (0 Bauerngemeinden, 14 Jndustriegemeinden), Groß-

Gerau (0 und 16), Darmstadt (0 und 8) und das ganze Ried bis zur Südgrenze Hessens mit dem Dekanat Zwingenberg (0 und 13). Und auch hier wieder die Tatsache: Je weiter die Gemeinden von der eisenbahn­ durchzogenen Ebene entfernt im Gebirge liegen, um so zahlreicher werden die Bauernorte zu ungunsten der Jndustrieorte, wobei Starkenburg allerdings durchweg eine auffallend starke Neigung zur Arbeit in der In­ dustrie zeigt: Dekanat Eberstadt mit 1 Bauerngemeinde, 12 Industrie­ gemeinden, Reinheim (2 und 16), Erbach (3 und 15). Eine Ausnahme scheint nur das ganz im vorderen Odenwald und in der Ebene sich er-

16

Die Wirtschaftliche Lage der evangelischen Jugend in Hessen,

streckende Dekanat Groß-Umstadt zu machen, in dem, soweit die Berichte reichen, 4 Bauern- und 6 Jndustriegemeinden zu zählen sind.

Wie stark die Verschiebung zugunsten der Jndustriebeschäftigung ist, mögen einige, dem „Statistischen Handbuch für das Großherzogtum Hessen" 1909 entnommene Zahlen zeigen, Rheinhessen waren im Jahre 1882 101157 männliche Bewohner in der Landwirtschaft beschäf­ tigt, im Jahre 1895 war ihre Zahl sogar etwas gestiegen auf 101999, um aber bis zum Jahr« 1907 auf 95 918 zu sinken. In dem gleichen Zeitraum vollzog sich in der Jndustriebevölkerung Rheinhessens umgekehrt «ine starke Steigerung: 1882 waren 100 636 männliche Bewohner in der Industrie beschäftigt, 1895 waren es 116172 und 1907 gar 150 702! Ebenso war die Steigerung der in Handel und Verkehr (Gast- und Schankwirtschaften eingerechnet! Beschäftigten sehr stark: 1882 39 793;

1907 66 219. In Oberhessen ist die gleiche Beobachtung zu machen: Die Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen sank von 138141 im Jahre 1882 auf 136 006 und bis 1907 gar auf 127 782, trotzdem Oberhessen in dieser Zeit «ine Bevölkerungszunahme von 48 901 Seelen aufzuweisen hatte (Rheinhessen: 90 651). Diese Zunahme kam ganz und gar der Jndustriebevölkerung zugut, die von 79 436 im Jahre 1882 in geringer Steigerung auf 79 614 in 1895 wuchs, 1907 aber auf die Höhe von 104184 hinaufschnellte, während die Zahl der in Hantel und Verkehr Tätigen von 20 224 auf 35 835 wuchs. Fast unglaublich aber klingen die Zahlen für Starkenburg, das von 1882 bis 1907 einen Bevölkerungs­ zuwachs von 166 544 Seelen hatte. Die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten fiel von 147 062 in 1882 auf 133 914, bis 1907 aber auf 118199. In der gleichen Zeit schnellte die Jndustriebevölkerung von 159 787 in 1882 auf 198 508 in 1895 empor, um bis 1907 mit unheim­ licher Schnelligkeit auf 287 485 zu wachsen! Die Zahl der im Handel und Verkehr Beschäftigten stieg von 38 614 auf 66 797! Für das ganze Großherzogtum stellt sich die Bewegung so dar: di« Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten geht von 386 360 in 1882 auf 371 919 in 1895 zurück und beträgt 1907 nur noch 341 899. In der gleichen Zeit wächst die Jndustriebevölkerung von 339 809 in 1882 auf 394 294 in 1895, um im Jahre 1907 nicht weniger als 542 371 zu zählen! Die Zahl der in Handel und Verkehr Angestellten betrug 1907 168 851, während sie sich 1882 nur auf 98 631 stellte! Dabei zeigt« das GroßHerzogtum von 1882 bis 1907 einen Zuwachs von 306 066 Seelen. Ganz charakteristisch ist die Zahl der im „häuslichen Dienste" Beschäftigten, das heißt der nicht im Hause des Dienstherrn wohnenden Dienstboten: In Rheinhessen beträgt ihre Zahl 5407 in 1882, aber 9122 in 1895! — und 1907 4174; in Starkenburg 5718 in 1882, 5101 in 1895, 3708 in 1907; in Oberhessen ist die Bewegung am auffallendsten: 1882 sind

SBfe wirtschaftliche Lage der evangelischen Jugend in Hessen.

17

3770 im häuslichen Dienste, 1895 noch 2173, 1907 aber nur noch 1799. Überraschend ist, wie die Industrialisierung seit dem Jahre 1895 fort­ geschritten ist — seit der Zeit ist sie kaum zum Stillstand gekommen — ganz sicher hoben sich die Zahlen in den letzten Jahren in der gleichen Richtung noch bedeutend verschoben.

Das ist eine Tatsache, die wir zunächst hinnehmen müssen, daß die Industrialisierung des Landes — wie überall, so auch in unserem Hessenlande — gewaltige Fortschritte gemacht hat und noch viel weiter Vor­ dringen wird — bis in die entlegensten Gebirgsdörfer. Man mag diese Erscheinung beklagen. Viele sehen auf diesen Prozeß mit großer Betrübnis. Weil sie in der fortschreitenden Zunahme der fabrikmäßigen Beschäftigung der Jugend den Grund erblicken zur wachsenden Verflachung und Verrohung der Jugend. Darüber wird später zu redest sein. Daß diese Entwicklung ihre Schattenseiten hat, ist nicht abzustretten. Bon einer ihrer unmittelbaren Folgeerscheinungen muß in diesen« Abschnitt noch die Rede sein: die Industrie ent reißt die Jugend ihrer Bodenständigkeit.

Das ist wirklich eine betrübliche Tatsache, daß ein großer Teil unserer Jugend durch die Industrie geradezu heimatlos geworden ist. Denn bei weitaus der Mehrzahl der Jndustriegemeinden liegt die Arbeitsstätte gar nicht am Heimatort — sondern die in der Industrie beschäftigte Jugend muß auswärts wandern zur Arbeitsstätte, zu Fuß, zu Rad, mit der Eisenbahn. Nicht als ob die Industrie überhaupt zuerst die Jugend aus der Heimat geführt hätte. Auch aus Bauerngemeinden ist schon lange «in gewisser Teil der Jugend ausgezogen, um draußen in der Landwirtschaft Beschäftigung zu suchen als Knechte — man denke an kinderreiche Bauernfamilien — immer sind einzelne auswärts gewesen, vorübergehend oder dauernd, beim Militär, als Schüler, Studenten, Schreiber, Kaufleute, Beamt« u. s. f. Solange diese „Auswanderer" in der geringen Minderzahl, sagen wir in einer Grenze von 10—20 % der gesamten Jugend bleiben, geht es noch an. Und es kann gewiß nichts schaden, wenn Heranwachsende junge Leute einmal „in die Welt" hinaus­ kommen und sich draußen umschauen, einen freieren Blick und größere Beweglichkeit gewinnen. Es ist ganz verständlich, wenn ein Bericht­ erstatter es beklagt, daß alle jungen Leute im Dorfe bleiben und „sonst nichts sehen". Das führt zur Vertrocknung und Versauerung. Es ist gar nicht zu bezweifeln, daß mancher junge Mensch erst an die rechte Stelle kam, wo er seine Fähigkeiten voll entwickeln konnte dadurch, daß

er aus der heimatlichen Enge hinauskam. Aber das muß doch als ent­ schieden ungesund und verhängnisvoll bezeichnet werden, wenn die Hälfte, drei Viertel oder gar noch mehr der Jugend vorübergehend oder dauernd von der Heimat fern ist. Das kommt wohl auch in Bauern- und HandPage, Jugendpflege.

2

18

Die wirtschaftliche Lage der evangelisch«» Jugend in Hessen.

Werkergemeinden vor. Die Umfrage weiß zu berichten, daß in OberHessen in zwei Bauerngemeinden und in drei Gemeinden, in denen neben der Landwirtschaft das Handwerk hervortritt, 30 %, in einer Bauern­

gemeinde und vier Bauerngemeinden mit Handwerk 40®/,, in 3 Gemeinden mit Landwirtschaft und Handwerk 50%, in ebensoviel«! gar 75 % auswärts sind, täglich oder die ganze Woche über gchen. Das sind unter 69 Gemeinden 16, aus denen eine größere Zahl als Knechte, Lehr­ ling«, Schüler, Schreiber usw. auswärts sind. Aus Rheinhessen wird uns nur aus einer Bauerngemeinde berichtet, daß 40 % außerhalb der Heimat ihre Beschäftigung suchen, aus Starkenburg aus einer Bauern­ gemeinde, aus der 30 %, aus einer, aus der 50 %, und aus einer, mit handwerklicher Beschäftigung neben der Landwirtschaft, aus der 75% der Jugend auswärts arbeitet. In den Gemeinden aber, wo die Jugend auch zum Teil oder ganz in der Industrie beschäftigt ist, ist es die Regel, 'bafj ein größerer Teil der Jugend, oft auch fast die gesamte Jugend nach auswärts zu ihrer Arbeitsstätte wandert. Eine Ausnahme machen nur di« Gemeinden, wo die Arbeitsstätte (Fabrik, Bergwerk, Hüttenwerk, Steinbruch usw.) am Orte ist, wie das ziemlich stark in Oberhessen der Fall ist. Dort gibt es 33 Jndustriegemeinden, in denen nur 10—20 % auswärts arbeiten, in Rheinhessen sind es 14, in Starken­ burg ebenfalls 14. Das sind eben die Jndustrieorte, zu denen neben den großen Städten der Zustrom der industriebeschäftigten Jugend fließt, wenn sie nicht ganz ins „Ausland" geht — wie man etwa int nordöst­ lichen Oberhessen viele „Westfalengänger", in Nordstarkenburg viele „Frankfurter" unter den Jugendlichen hat. Wie stark die Jugend durch die Industrie tatsächlich zum „Wandern" veranlaßt wird, mag folgende tabellarische Übersicht zeigen, soweit die auch hier nicht lückenlosen Be­ richt« reichen.

I. O b e r h e s s e n.

Dekanat

Alsfeld - . Büdingen. Friedberg. Gießen • Grünberg Hungen - Lauterbach Nidda. . . Rodheim . Schotten . Oberhessen . .

12. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Gemeinden mit Landwirtschaft und Industrie

i

Jndustriegemeinden ohne Landroirtf j)aft

Prozentzahl der Auswärtigen

i

Prozentzahl der Auswärtigen

30%

40%

60%



— 1 1 — 1

1 2

— — 1

1 1 1 —

1 2 7

75% | mehr | ! 30% 1 40%

2

3

3 2 —

1 1 2 1 —









4 — — 1 — — 11 6 |1 9 |1 11

50% | 75% | mehr

— — — 3 — —

1 — — — — —

— 1 — — — —

— — — 3 1

— — —

— 1 — — — 1 — 2 1 0

1

1

— 1 — —

— —

__

— 1 — — 1

_ — — 2 —







3

3 — 5



! 5

19

Die wirtschaftliche Lage der evangelischen Jugend in Helfen.

Also in 49 Jndustriegemeinden 30—100 % der Jugend auswärts! II. Rheinhessen. I 1

Dekanat

Gemeinden mit Landwirtschaft und Industrie

Jndustriegemeinden ohne Land­ wirtschaft

Prozentzahl der AuSwärti gen 30% | 40% | 60% | 76% mehr

Prozentzahl der AuSwärti gen 30% | 40% | 50% | 76% mehr

Alzey. . . . Mainz - - . Oppenheim. Wöllstein. . Worms. . .

1 1

Rheinhessen. -

2

1. 2. 3. 4. 5.

1













1

1



2

3 1

- 1 -







1

4

Entsprechend dem vorwiegend lankvirtschaftlichen Charakter Rhein­ hessens sind es hier verhältnismäßig weniger Jndustriegemeinden mit größerer Zahl der Auswärtigen.

HI. Starkenburg. Gemeinden mit Landwirtschaft und Industrie

Dekanat

Prozentzah l der AuSwärti gen 60% | 75% mehr

30% | 40%

1

1

1

2 1

4 1

2

5

9

1

5

2

1

1

1

1

1

IG

11-

7

2

1

2

1

3

1

1 1

1

1

2

1

7

] 2

1

3

1 1

-

. !i

1 2 1

1

1

Starkenburg

1 4 3 1 2 2 1 2

1 1

1

Darmstadt. Eberstadt. . Erbach - - Gr - Gerau. Gr.-Umstadt Offenbach . Reinheim. . Zwingenberg |

Prozcntzahl der Auswärtigen 30% | 40% | 60% | 75% | mehr 1

L 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Jndustriegemeinden ohne Land­ wirtschaft

1

1 1|

In Starkenburg sind es also gar 56 Gemeinden, aus denen der weitaus größere Teil zur Arbeitsstätte auswärts geht, darunter 9 mit 50 °/0, 21 mit 75 %, 14 mit noch größerem Prozentsatz der auswärtigen Jugend. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn in mancher Gemeinde über „Mangel an Jugend im Orte" geklagt wird. Von den schweren sittlichen Gefahren, die das viele Fernsein von Elternhaus und Heimat, die auswärtige Arbeit in der Fabrik, besonders in den großen Städten mit sich bringt, davon wird im folgenden Abschnitt zu reden sein. Was die wirtschaftliche Lage der Jugend im engeren Sinne angeht, also auf die Höhe des Verdienstes etwa ge­ sehen, so scheint es, den Berichten wenigstens nach, mit der Jugend durch­ schnittlich gut, sogar sehr gut zu stehen. Denn aus allen drei Provinzen liegen eine Reihe Berichte vor, die die wirtschaftliche Lage der Jugend als „sehr gut", „günstig" oder mindestens „befriedigend" bezeichnen; teil-

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Dir wirtschaftlich« Lage der evangelischen Jugend in Hcffcn.

Weise reden sie von „ansehnlichem Verdienst", „Wohlstand" oder „hin­ reichendem Auskommen" oder versichern, daß „keine wirtschaftlichen Not­ stände" vorliegen. Nur aus vier aller Berichtsgemeinden wird von einer schlechten Wirtschaftslage der Jugend berichtet: drei davon liegen im Odenwald. In der einen wird die wirtschaftliche Lage der Jugend als „mittelmäßig" bezeichnet, aus den beiden andern wird gemeldet, daß am Orte „sehr wenig Arbeitsverdienst" ist, bzw. daß am Orte die Möglich­ keit der Ernährung fehlt. Die vierte Gemeinde, aus der von schlechtem Verdienst der als Maurer und Erdarbeiter beschäftigten Jugend berichtet

wird, liegt in Oberhessen. Es scheint also mit der materiellen Loge der Hessen und ihrer Jugend doch nicht gar zu schlecht zu stehen. Eine andere Frage freilich ist die, nach der wirtschaftlichen Selbständigk«i t der Jugend. Dabei ist der Begriff Selbständigkeit nicht so aufzu­ fassen, wie es bei der Umfrage vielfach geschehen ist, nämlich als Grün­ dung oder übernahm« eines eigenen Betriebes oder wenigstens als Grün­ dung eines eigenen vom elterlichen unabhängigen Hausstandes. Sondern wirtschaftliche Selbständigkeit ist so zu verstehen, daß die Jugend über genügend Einkommen verfügt, um unabhängig von anderen auf eigenen Füßen stehen zu können, ohne daß es tatsächlich der Fall zu sein braucht. Aus der mißverständlichen Auffassung der „wirtschaftlichen Selbständigkeit" ist es auch nur erklärlich, daß aus einer Reihe reiner Arbeitergemeinden berichtet wird, daß die Jugend „nicht", „meist nicht" oder „im allgemeinen nicht" früh wirtschaftlich selbständig werde. Ja aus einer Gemeinde kommt gar die seltsame Angabe: „die meisten werden nie (!) wirtschaftlich selbständig", was doch wohl nur heißen kann, sie werden nie einen selbständigen Betrieb gründen oder übernehmen können, aber nicht, daß sie niemals sich selbst ernähren könnten! Im allgemeinen ist es die Regel, daß die im Handwerk und In­ dustrie beschäftigte Jugend viel früher selbständig ist, als die in der Land­ wirtschaft beschäftigte, und zwar die Industriearbeiter, soweit es sich um ungelernte Arbeiter handelt, noch vor dem 17. Lebensjahre, während die gelernten Arbeiter, die Handwerker und Kaufleute erst nach beendeter Lehre wirtschaftlich selbständig werden. Am spätesten werden noch die Bauernsöhne wirtschaftlich selbständig, die im landwirtschaftlichen Be­ triebe des Vaters bleiben, in den weitaus meisten Fällen erst nach der Verheiratung, kaum aber vor dem 25. Lebensjahr. Es ist ganz selbst­ verständlich, daß die jungen Bauernsöhne im engsten Verhältnis zum Elternhause bleiben müssen — ob das immer ein wirklich innerlich be­ gründetes Verhältnis ist, ist hier jetzt nicht die Frage — denn die Zu­ kunft des Bauernsohnes hängt eben von seinem Verhältnis zum Vater­ hause ab. Freilich, wo in einem Bauernhause viele Söhne sind, wird sich ein Teil von ihnen oder gor alle, außer dem ältesten, nach anderem

Die wirtschaftliche Lage der evangelischen Jugend in Hessen.

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Unterhalt umsehen müssen — sie werden Handwerker, oder, wenn es gute Köpfe sind, Schreiber, Kaufleute oder gar Lehrer und Beamte, be­ suchen höhere Schulen und studieren — oder aber, sie suchen sich das modernste Arbeitsfeld: sie gehen in die Fabrik, meist nach auswärts. Aber nicht nur Kinderreichtum kann die Ursache sein, daß mehr und mehr Bauernsöhne der Fabrikarbeit zuströmen. Das muß seinen Grund haben in der im allgemeinen immer geringer werdenden Rentabilität des land­ wirtschaftlichen Betriebes, den Weinbau miteingerechnet. Immer mehr Bauernsöhne vertauschen darum die unsichere, ungewissen Ertrag ab­ werfende landwirtschaftliche Arbeit mit der, sagen wir, sorgloseren, weit besseren Verdienst erzielenden Fabrikarbeit. Dazu kommt noch, was oben schon angedeutet wurde, daß die Beschäftigung in der Industrie die jungen Leute viel eher, ja um 8—10 Jahre früher, nicht nur wirtschaftlich selb­ ständig, sondern darum auch nach vielen Seiten unabhängiger macht, auch dem Elternhaus gegenüber — denn wer eigene Existenzmittel in aus­ reichendem Maße hat, kann jederzeit sich zu seinem eigenen Herrn machen.

Anders als bei den Bauernsöhnen gestaltet sich die wirtschaftliche Lage bei den Knechten, also solchen in der Landwirtschaft tätigen jungen Leuten, die gegen Bezahlung in fremden Betrieben arbeiten. Sie sind wirtschaftlich in ihrer Jugend zweifellos besser daran, als die Bauern­ söhne in der elterlichen Landwirtschaft. Und doch ist ihre Lage immer noch lange nicht so gut, wie die der Fabrikbeschäftigten. Darum auch die Leutenot auf dem Lande und der Zustrom fremder Landarbeiter. Auch sind die Knechte viel abhängiger von ihrer Arbeit und ihren Brotgebern, während der in der Fabrik Tätige gewiß über mehr sichere Freizeit ver­ fügt und bei weitem nicht in der engen, familiären Beziehung zu seinem Arbeitgeber steht, als der Knecht — obwohl das patriarchalische Ver­ hältnis auch da nur noch in geringem Maße vorhanden zu sein scheint. Um sich eine bessere wirtschaftliche Lage und mehr „Freiheit" zu ver­ schaffen, gehen die jungen Dörfler eben lieber in die Fabrik.

Je mehr in der Industrie Beschäftigte unter der männlichen Jugend eines Ortes sich befinden, um so besser gestaltet sich die wirtschaftliche Lage der Jugend, um so früher ist sie wirtschaftlich selbständig — gewiß

nicht, um es noch einmal ausdrücklich zu betonen, im Sinne eines eigenen Geschäftes oder Hausstandes, sondern in dem Sinne, daß sie, wenn sie es wollen, sich selbst erhalten können. Viele müssen es ja; diejenigen, die den ganzen Tag über dem Heimatorte fern sind, schon in weitem Maße, noch vielmehr diejenigen, die die ganze Woche über nicht nach Hause kommen, also nicht nur Eisenbahnfahrt und Mittagskost, sondern auch die Schlafstelle bestreiten müssen. Daß dadurch schon wieder ein wesent­ licher Teil des Verdienstes verbraucht wird, ist klar und beschränkt auch

wieder in gewissem Maße die Höhe des Verdienstes.

Am besten gestaltet

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Die innere Lage der Jugend.

sich also di« wirtschaftliche Lage der Jugend in reinen Jndustrieorten, in denen die Industrie, in der di« Jugend beschäftigt ist, am Platze ist, weniger günstig an den Jndustrieorten, von denen die Jugend erst zur Arbeitsstätte wandern muß, während die in der Landwirtschaft be­ schäftigte Jugend an wirtschaftlicher Selbständigkeit jener oft erheblich nachsteht (Knechte), die Bauernsöhne aber im elterlichen Betriebe finan­ ziell völlig abhängig sind. Damit ist natürlich noch kein Urteil darüber abgegeben, wie die größere oder geringere finanzielle Unabhängigkeit auf die Lebenshaltung der jungen Leute, vor allem auf ihr Innenleben,

einwirkt.

§ 5.

Die innere Lage der Jagend.

„Psychologie der Jugendlichen" — nur mit Zaudern kann man an die Aufgabe gehen, die innere Lage, das Seelenleben unserer Jugend zu zergliedern und aufzuzeigen. Wer möchte sagen, daß er lange und deutlich genug die Jugend beobachtet habe, um sie gründlich zu kennen? Wer will sich zutrauen, daß seine Ohren fein genug sind, um das Rauschen der Gewässer in der Brunnenstube der Seele klar und deutbar zu hören? Menschen zu kennen, das ist etwas unendlich Schweres, aber werdende Menschen in ihrem seelischen Sein und Werden zu erfassen, das scheint fast etwas Unmögliches. Wie will man lebendiges Werden oder werden­ des Leben auf Formeln ziehen? Beim zweiten Beobachtungsobjekt werden schon die Formeln zuschanden, die man bei dem ersten gewonnen zu haben glaubte. Jedes Schema versagt. Das Leben ist so mannigfach in Form und Farbe, daß man unter der verwirrenden Flut der Erscheinungen kaum noch einen festen Punkt findet. Der Schwierigkeiten sind zuviele. Zunächst einmal die ganz verschiedene wirtschaftliche Lage des Eltern­ hauses, in dem die Jugend aufwächst, die noch verschiedenere sittliche Sphäre, die sie atmet, die Einflüsse von draußen, — sodann tiefer liegend di« durchaus verschieden« Charakteranlage, die den Werdegang eines jungen Menschen in direkten Gegensatz bringen kann zu dem seines nächsten Freundes. Die innere Lage junger, werdender Menschen dar­ stellen zu sollen, ist eine riesenschwere Aufgabe, sie darstellen zu wollen, erscheint als Anmaßung, die Meinung, sie darstellen zu können, als ein luftiges Phantasiegebilde. Aber die Aufgabe muß in Angriff genommen werden — denn die steigende Klage um die Verrohung und Verflachung der Jugend zwingt, an der Quelle nachzuforschen. Vielleicht, daß dann manche Klage als zu vorlaut sich erweist, manche aber auch als zu zaghaft. Di« innere Lage der Jugend darzustellen, d. h., um es gleich zu sagen, ihr« ganze, schwere, harte Not sich vor den Augen ausbreiten.

Unsere Aufgabe, die Hessen-Jugend psychologisch zu erfassen, hat ihre

Die innert Lage der Jugend.

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besondere Schwierigkeiten — aber auch vielleicht ihre Vorzüge. Zu­ nächst die Schwierigkeiten: Es ist eigentlich erschreckend, wie wenig auch die Pfarrer die Jugend ihrer Gemeinde beobachten und darum kennen. Eine ganze Reihe Berichterstatter antwortet auf die Frage nach der Psychologie ihrer Jugend mit allgemeinen Phrasen: „wie überall" oder „die allgemein übliche", „die allgemein als bekannt vorauszusetzenden Eigenschaften der Landjugend", ja, ein Bericht rät sogar zum Studium der Bauernjugend zu einem Buche zu greifen; es heißt da: „Bauern­ jugend s. L'Houet". Andere geben an, daß sie „keine Fühlung mit der Jugend haben" — und ein Bericht läßt die Vogelstraußpolitik als die rötlichste erscheinen: „on n’en parle pas!“ Es ist eigentlich unverständ­ lich, wie man heutzutage, wo die Welt voll ist von Geschrei über wirkliche oder vermeintliche Jugendnot, so gänzlich verständnislos der Jugend gegenübersteht. Man höre nur, welche psychologischen Eigenheiten der Jugend hier und da zugeschrieben werden: sie ist „politisch freisinnig", „kirchlich, aber in liberalem Sinn", „dem Pfarrer und dem Lehrer gegen­ über höflich und freundlich" oder „der Kirchenbesuch ist gut". Gar nicht zu reden davon, daß viele Berichte über die psychologische Lage der Jugend gänzlich schweigen. Eine weitere Schwierigkeit, die aber meines Erachtens ein Vorzug ist, ist die Tatsache, daß nicht e i n Beobachter, sondern eine große Zahl verschiedener Beurteiler ihre Meinung gesagt haben. Man könnte sagen, jeder sieht doch die Jugend unter einem anderen Gesichtswinkel und darum gibt es immer verschieden gesehene Bilder. Das kann aber doch nur dem allgemeinen Bilde zugute kommen und es berichtigen — wobei vielleicht zugestanden werden muß, daß manches unbewußt gefärbte Urteil mit unterlaufen sein mag, weil nun einmal jeder durch seine eigene Brille sieht — aber gerade die Füll« der Einzelberichte gleicht diese

Einzelfehler wieder aus. Im übrigen wird gerade diesem Abschnitt niemand weiteste Nachsicht versagen, da es sich gerade hier nur um einen Versuch, die Lage recht zu erfassen, handeln kann.

Die Einzeldarstellungen spiegeln zunächst deutlich die beiden Ex­ treme der Beurteilung der Jugend wieder. Die einen haben nur «in Verdammungsurteil über die Jugend: sie ist „unverschämt, rücksichtslos und roh", so klingt es aus einer Arbeitergemeinde, „Stumpfheit und Un­ aufgeschlossenheit gegenüber geistigen Jntereffen, Hinterhältigkeit bei treuherzig scheinender Außenseite", so lauten „die psychologischen Eigenheiten" der Jugend aus einer stark industrialisierten Arbeitergemeinde, „sie ist ziemlich roh", so wird die Jugend aus einer noch recht bäuerlichen Ge­ meinde geschildert. Wenn diese generellen Urteile — sie ließen sich ver­ mehren — wirklich zuträfen, dann könnte man wirklich zu pessimistischer

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Dir innere Lage der Jugend.

Anschauung kommen, daß unsere Jugend unrettbar verloren ist. Aber auch die entgegengesetzte Betrachtungsweise fchlt nicht: die Jugend ist „ruhig, fleißig, brav, wohlgesittet", so lautet ein Bericht, und ein anderer weiß als Vorzüge der Jugend folgendes anzugeben: „Vaterlandsliebe, Frömmigkeit, Freude am Gesang". Ein« dritte Gruppe aber macht weder die Jugend zu Teufeln, noch zu Engeln, sie steht zwischen der schwarzen

und der rosigen Betrachtungsweise und ist etwa auf den Ton gestimmt: „ziemlich zuchtlos, wenn auch nicht in schlimmer Weise. Sie ist zu beeinfluffen". Das entspricht etwa dem Urteil Weigles-Essen: „unsere schulentlassene Jugend ist nicht verdorben. Sittenrein ist sie freilich nicht, wenigstens zu ihrem größten Teil". Wie gestaltet sich nun das Bild von der inneren Lage unserer Jugend in Hessen im einzelnen? Es ist hier nicht die Absicht, ein« „Psychologie der Jugendlichen" zu versuchen, wie sie uns in hervor­

ragender Weis« H. Bauer, Direktor in Berthelsdorf bei Herrnhut *) gezeichnet hat. Wenn nur jeder einmal dies Büchlein gelesen hätte, manches Urteil wäre gewiß ganz anders ausgefallen, namentlich manches harte Wort über die Jugend wäre mit besserem Verständnis bet Jüng­ lingsseele milder geworden. Eine ganze Reihe von Zügen, die als be­ sondere psychologische Eigenheit einer bestimmten Ortsjugend bezeichnet werden, lasten sich auf die psychologischen Grundzüge zurückführen, die Bauer entwickelt, dem sich die ganze Not der „normalen" Jugend aus der den ganzen Menschen revolutionierenden Pubertät ergibt, oder wie es ein anderer genannt hat, dem „Paroxismus der Pubertät". Der junge Mensch befindet sich in einem Stadium seltsamer Unausgeglichenheit, er

pendelt zwischen „Erregung und Abspannung", Ausgelassenheit und Träg­ heit hin und her. Der Uberschuß der Kräfte entlädt sich oft in allerlei Streichen. Gerade von denen wissen manche Berichte zu erzählen, daß „manche abends hier und dort allerhand Unfug treiben, indem sie kleine Tor« ausheben usw.", „daß sie beim Vergnügen etwas zu kleinen Ro­ heiten neigt sEinwerfen von Fensterscheiben)" und was dergleichen mehr ist. Auch der Freiheitsdrang und die Kritiklust an jeder Autorität, die die erwachende, als eigenes Ich sich bewußt werdende Seele charakteri­ siert, wird oft festgestellt. Hier mag eine Bemerkung Platz finden: „sie (die Jugend) will möglichst frei sein von jeder Autorität, zwingt aber selbst jedem jungen Mann chre Lebensformen als normale auf". Auch alle di« aus der Not des zwischen Kindheit und Mannheit hin- und her­ geworfenen Alters geborenen Torheiten finden ihren Beleg: das „Herrenspielen" wird erwähnt, oder es heißt: „ohne Zigarre geht so leicht keiner

1) „Psychologie Jünglingbundes.

der

Jugendlichen".

Buchhandlung

des

ostdeutschen

Die innere Lage der Jugend.

über di« Straße.

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Das ist, bis der Schnurrbart kommt, einstweilen

Kennzeichen des „Mannes", oder: „Großmannssucht; sie wollen eine Rolle spielen und in ihrem dunklen Drange verfallen sie dann auf

Radau und Herrnspielen im Wirtshaus". Auch die psychologische Tat­ sache tritt öfters in den Berichten zutage, daß die Jugend ein sehr keusches Gefühlsleben besitzt, und edle Gefühle lieber hinter Roheit versteckt, als sie zu zeigen, und trotz aller anscheinenden Gefühlsroheit doch über tiefe Gefühle verfügt, unter denen nicht zuletzt die Anhänglichkeit und Treue genannt zu werden verdienen. Auch alle Phasen religiösen Sinnes bei der Jugend von größter Empfänglichkeit bis zur fast völligen Unempfäng­ lichkeit treten aus den Berichten hervor. Hier heißt es: „sinniges Ge­ müt und religiöser Sinn, auch bei der männlichen Jugend", „die Jugend ist frisch, fröhlich, frei, aber nicht immer fromm", und dort: „die Jugend ist vielfach irreligiös". Dabei ist nicht zu vergessen, daß das Urteil über die Religiosität der Jugend von den schweren das schwerste ist. Es soll nun im folgenden versucht werden, zunächst die hessische Jugend psychologisch zu erfassen — nicht also „den Jugendlichen", wie Bauer es tut, und zwar zunächst der Eigenart der Orte nach, also etwa in den Extremen Bauerngemeinde und Jndustriegemeinde — sodann den Ursachen der psychologischen Erscheinungen nachzugraben (§ 6) — um dann den Versuch zu machen, Gebiete gleicher psychologischer Lage der Jugendlichen in Hessen zusammenzufasien — oder, um es so auszu­ drücken, eine psychologische Geographie zu geben, soweit es sich um die Jugend handelt (§ 7).

Die religiös-sittliche Lage der bäuerlichen Ju­ gend ist äußerlich genommen den Berichten nach durchschnittlich recht gut.

Sie wird als „ganz gut", „gut" und „befriedigend" bezeichnet. Eine Hauptrolle im Leben des Bauern und damit auch der Jugend

spielt die Arbeit. Faulheit kennt der Bauer kaum, und die Land­ wirtschaft hat ja Zeiten sz. B. die Ernte), wo auf dem Lande eine weit höhere Zahl der Arbeitsstunden erreicht wird als etwa in der Fabrik.

Schon früh wird die Landjugend an die landwirtschaftliche Arbeit ge­ wöhnt — die Kinder müssen bald fremde Arbeitskräfte ersetzen. So wird die Jugend von früh auf zum Fleiß und zur Arbeitstüchtigkeit erzogen. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die Bauernjugend als durchaus fleißig, arbeitssam und arbeitswillig geschildert wird. Dem Landjungen ist ja von früh auf durch das Beispiel der Eltern und seiner Umgebung der Arbeitstrieb eingeimpft. Und er weiß, wie nur mit größtem Fleiß

der Besitz zu erhalten ist, wie ohne große Anstrengungen der Betrieb der Landwirtschaft völlig unrentabel wäre. Die Neigung des Bauern geht aber sehr stark nach Wohlstand — nicht so sehr, um sich ein bequemes, schönes Leben zu schaffen — man will eben etwas vor sich bringen und

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Die innere Sage der Jugend.

nicht zu den Armen gehören. Und was der Bauer mit seiner harten Arbeit einmal erworben hat, von dem trennt er sich schwer — Wohl auch deshalb, weil er den Wert dessen zu schätzen weiß, was er mit saurer Mühe erkauft hat. Die bäuerliche Arbeit ist gewiß nicht leicht. Aber die Natur schreibt sie geradezu vor, sie teilt dem Bauern seine Arbeit ein — er braucht nicht allzugroße Gedankenarbeit zu leisten. Der Landarbeiter ist auch sehr viel mit seiner Arbeit allein — und zugleich viel mit -er Natur allein. Das gibt wohl dem Bauern etwas in sich Verschlossenes — einen Zug der Zurückgezogenheit in sich selber, auch etwas schwer Bewegliches. Eine gewisse geistige Uninteressiertheit und Schwerfällig­ keit, manchmal wird es sogar „Trägheit" genannt, ist die Folge. Da­ mit scheint auch ein gewisser Gleichmut und mangelnde Begeisterungsfähigkeit zusammenzuhängen. Wenn freilich erwähnt wird, die Bauernjugend sei „für nichts zu begeistern. Nur tanzen können sie zwei Tage und zwei Nächte durch", so muß man doch sagen, daß dieses „Charakteristi­ kum" für die Stadtjugend doch auch in weitem Maße gilt. Aber es ist wohl richtig, daß es der Bauernjugend sehr an geistiger Anregung fehlt, wenn man auch nicht immer gerade von „(Stumpfsinn" wird reden dürfen. Zweifellos aber bedürfte die Jugend in rein bäuerlichen Gemeinden starker geistiger Anregung, um sie dem geistigen Schlafe zu entreißen, ihre Interessen höher einzustellen, denn gerade der Mangel an „Sinn für Höheres" tritt öfters zutage.

Freilich die Schwerbeweglichkeit, die langsam und bedächtig vorwärtsschreitet, hat eine sehr erfreuliche Erscheinung im Seelenleben der Bauern zur unmittelbaren Folge. Das ist die Treue, mit der einmal Erfaßtes fe st gehalten wird. Gewiß ist der Bauernjugend «ine getoiff« inner« Unzulänglichkeit eigen, die sich manch­ mal fast als Hartnäckigkeit äußert, aber was einmal durch die harte Schale hindurchgedrungen ist, das wird so leicht nicht wieder fahren gelassen. Denn an Energie fehlt es dem Bauern nicht, wenn auch sein fester Wille manchmal als EisenköpfiFeit erscheinen mag. Freilich hat auch diese Zähigkeit des Festhaltens dunkle Kehrseiten — das ist einmal das Mißtrauen gegen alles Neue, das von außen her kommt, auch von Pfarrer und Lehrer — und dann, diese Beharrung erstreckt sich z. T. auf nicht gerade gute Sitten, man denke nur an das sexuelle Verhalten der Bauernjugend. Damit kommen wir auf die zweite Großmacht, die das Leben des Bauern und der bäuerlichen Jugend neben der Arbeit beherrscht. Das ist di« Sitte. Sie umschließt das ganze Leben, und ihr sich zu wider­ setzen, bedeutet soviel wie Ausgestoßensein. Und das ist für den Land­ bewohner das Schlimmste, bei seinen Ortsgenossen als verächtlich zu

Die innere Lage der Jagend.

gelten.

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Er hält gewaltig viel auf Ehre — Ehre und Bewahrung der

Sitte sind aber für ihn ein und dasselbe. Diese Unterwerfung unter di« überaus mächtige Sitte hat eine sehr wohltätige Folge für die Jugend. Ihr sind feste Grenzen gezogen für ihr Leben und Verhalten. Darum wird die Bauernjugend als „ruhig, brav, wohlgesittet" geschildert oder als „ruhig und wohlanständig". Ein Bericht meldet: „sie wachsen sich ziemlich ruhig aus". Und in der Tot wird ihnen die Sitte eine starke Hilfe sein, auch über die Revolution der Entwicklungsjahre in manchem besser hiwvegzukommen. Die Sitte läßt auch die Jugend sich beugen vor den hergebrachten Autoritäten, vor Elternhaus, Schule und Kirche. Denn in Bauerngemeinden ist auch die Jugend noch durchaus kirchlich, sie nimmt auch regelmäßig am Abendmahl teil. In mancher Gemeinde ist sogar noch die schöne Sitte des gemeinsamen Abendmahlganges der Jugend lebendig. Die Christenlehre wird regelmäßig besucht, bis zu 5 Jahren Dauer. Die bewahrende und erhaltende Macht der Sitte ist wohl nicht zu leugnen.

Nun aber wieder die Kehrseite. Die Sitte bewahrt und erhält nicht nur, sie nivelliert und verflacht auch. Sie wird zu einer Uniform für alle ohne Rücksicht auf die Individualität des einzelnen — sie muß geradezu die Individualitäten erschlagen. Es darf keiner sein, wie er ist, sondern so, wie die Sitte ihn zu fein zwingt. Damit soll nicht gesagt sein, daß der Heranwachsende Bauernjunge es empfindet, daß ihm — bildlich gesprochen — eine Jacke angezogen wird, die mancher als Zwangsjacke ansehen müßte. Aber in der Tat ist es doch so, was in mehreren Berichten zum Ausdruck kommt: „Es sind eben Herdenmenschen" oder „Herdentrieb. Was einer macht, tut auch der andere", so daß ein Berichterstatter sich gar folgendermaßen ausläßt: „Bäuerliche Sittlichkeit bzw. Unsittlichkeit: man tut, was alle gleichen Alters tun." Es gibt gar keine Einzelpersönlichkeiten mit eigenem Empfinden, Denken und Han­ deln: „die Einzelindividuen treten z. T. noch zurück hinter der Ortseigenart". Tas ist zweifellos eine recht betrübliche Erscheinung, und es fragt sich, ob der Verlust der Eigenpersönlichkeit nicht mit den Vorteilen, die die Herrschaft der Sitte mit sich bringt, zu teuer erkauft ist. Ob nicht da auch von einer inneren Not der Bauernjugend gesprochen werden kann, deren Bekämpfung manche Anstrengung und manches Opfer wert wäre? Man mißverstehe das nicht. Es wäre Frevel, die Sitte zerstören zu wollen, aber das ist die Frage, ob nicht dem Recht und dem Wert der Einzelpersönlichkeit innerhalb der Sitte Raum geschafft werden müffel Zumal von evangelisch-christlichem Standpunkte aus wird diese Forde­ rung nicht stark genug erhoben werden können. Man denke an das religiöse Gebiet. Die gute Kirchlichkeit ist, wie das auch niemand an­ nehmen wird, noch lange keine Gewähr für religiöses Leben, genau so

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Die innere Lage der Jugend.

wenig, wie Unkirchlichkeit ohne weiteres mit Irreligiosität gleichgesetzt werden darf. Religion ist doch eigenständiges Leben. Und das ist die große Gefahr, daß dies« durch die Sitte gehalten« Kirchlichkeit gar leicht zusammenbricht, wenn „Aufklärung" und Verhetzung die Jugend erreicht — weil das tief« Fundament fehlt. Daß di« Bauernjugend draußen tausendfach dieser Gefahr erliegt, ist ja doch Wohl eine Tatsache, die auch uns noch genügend beschäftigen wird. Hier liegt die Hauptaufgabe der Jugenderziehung auf dem Lande, kräftige, sittlich-religiöse Einzelpersön­ lichkeiten zu schaffen — ohne damit die Sitte einfach außer Kurs zu setzen, was ja auch Wohl schwer gelänge. Denn die Sitte ist es im wesentlichen, die die Bauernjugend vor groben Ausschreitungen bewahrt. Nnd das ist immerhin, wie gesagt, schon viel. Die, nach außen hin wenigstens gut erscheinende, sittliche Lage der Bauernjugend hat auch ihren Grund im engen Zusammenhang mit dem Elternhaus. Der Bauernsohn ist auf das engste mit dem Elternhause verknüpft — er soll einmal die väterliche Wirtschaft übernehmen, hat also ein sehr positives Interesse an der Gemeinschaft mit den Eltern. Eltern und Kinder sind auch sehr auf gemeinsame Arbeit angewiesen, und gemeinsamer Wohlstand lohnt die gemeinsame Arbeit. Und überdies ist die Sitte, die den Sohn naturgemäß bis zur Gründüng des eigenen Hausstandes in das Vaterhaus verweist und oft für immer, sehr stark. Es ist etwas ganz Natürliches, daß die Familie zu­ sammen lebt, arbeitet und feiert. Der Familiensinn scheint demnach in den Banerngemeinden recht stark ausgeprägt. Das Familienleben trägt vielfach noch patriarchalischen Charakter. Der Familienvater ist der Herr in seinem kleinen Staate, das Oberhaupt, nach dem sich alles richtet, sein Wort ist maßgebend, sein Wille entscheidet. Widerspruch ist Unnatur.

So ist es nicht zu verwundern, daß unter 79 Berichten aus Bauernund Handwerkergemeinden, die sich über das Verhältnis der jungen

Leute zum Elternhaus und umgekehrt äußern, 28 dieses Verhältnis als «sehr befriedigend", „gut", „pietätvoll" oder „freundlich" bezeichnen oder erklären: „sie leben mit den Eltern zufrieden". 12 Berichte sind etwas vorsichtiger, sie bezeichnen das Verhältnis zwischen Jugend und Eltern­ haus als „im allgemeinen" oder „im ganzen gut", 6 Berichte nennen es „befriedigend" oder „zufriedenstellend", 2 „ziemlich gut" und 2 besagen, daß „besondere Mißstände nicht zu verzeichnen" sind, oder das Verhältnis „erträglich scheint". Also im ganzen immerhin von 79 Berichten 50, die das Verhältnis zwischen Jugend und Elternhaus günstig beurteilen! Freilich auch hier und da fällt wie ein Wetterleuchten Licht in die Grundlage dieses guten Verhältnisses. Es ist di« Frage, ob das Ver­ hältnis der Eltern zu den Kindern und umgekehrt überall wirklich ein

Die innere Lage der Jugend.

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Gemeinschaftsverhältnis darstellt, ob es innerlich begründet ist in gegen­ seitiger Liebe und Achtung, und ob es auf gegenseitigem Pflichtbewußtsein beruht. Ein paar Äußerungen geben da doch zu denken. Es heißt ein­ mal, das Verhältnis zwischen Jugend und Elternhaus ist „streng recht­ lich nach überkommener Weise", also geordnet von Gesichtspunkten, di« dem Wesen der Familie nicht entspringen. Noch drastischer sagt es ein anderer Bericht: „die jungen Leute sind von den Eltern abhängig, sie müssen parieren". Wenn also auch das Familienleben oft vorbildlich zu sein scheint, so darf man sich doch nicht so ohne weiteres darüber hin­ wegtäuschen lassen, daß es nicht immer die reinsten Motive sind, die die Jugend ans Elternhaus fesseln. Es ist ganz klar, da, wo wirkliche Ab­ hängigkeit oder rechtliches Herkommen das Verhältnis erhält, da ist die erziehliche Wirkung des Elternhauses sehr stark herabgemindert — und das Verhältnis liegt viel mehr an der Oberfläche. Noch mehr zu denken ober gibt ein Wörtlein, das auch in den Be­ richten von reinen Bauern- und Handwerkergemeinden schon auftaucht: das ist das Wörtlein „noch". Man empfindet es schmerzlich, wenn eine solche Äußerung plötzlich auftritt: das Verhältnis ist „noch gesund. Pietät allerdings im Schwinden". Und das aus einer kleinen Bauerngemeinde, aus der noch nicht einmal der zehnte Teil der Jugend auswärts ist Und aus zwei weiteren Gemeinden derselben Art heißt es: das Verhältnis „könnte inniger" bzw. „besser sein". Ihnen schließt sich eine Reihe von Berichten an, die schon von einer recht bedenklichen Lockerung und Ent­ artung des Verhältnisses der Jpgend zum Elternhaus und auch umgekehrt zu berichten wissen: die Jugend steht den Eltern „ziemlich selb­ ständig" gegenüber, „zum Teil ist das Verhältnis der Jugend zum Elternhause gut, zum Teil sind die Burschen unbotmäßig" oder gar „sehr verschieden vom besten Einvernehmen bis zum offenen Streit, je nach Verhältnissen, Temperament und Alter". Das schmerzliche „Noch" wan­ delt sich also in ein schmerzlicheres „Schon" — schon hat selbst in kleinen Bauern- und Handwerkergemeinden das Verhältnis zwischen Jugend und Elternhaus bedenklich gelitten. Das aber ist bemerkens­ wert, daß in einer nicht kleinen Zahl von Berichten (13) die Schuld an dieser bedenklichen Entwicklung — den Eltern zugeschoben wird. Einige der Urteile mögen das belegen: „je nach der Zucht, die im Elternhause geübt wird, ist auch der Respekt größer oder geringer"; „die Eltern haben zu wenig Gewalt über sie"; „das Elternhaus hat nicht allzuviel Einfluß"; „die Eltern haben in den meisten Fällen allzuviel Nachgiebigkeit"; „die jungen Leute haben mehr Freiheit, wie früher"; „der Respekt der jungen Leute ist nicht sehr groß und die Zügel werden namentlich von den Eltern recht locker geführt"; „die Eltern sind besonders über Anwendung der freien Zeit zu gleichgültig und lässig, z. T."; „das Verhältnis ist vielfach

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Die innere Lage der Jugend.

-entartet, es fehlt sittliche Strenge und Zucht"; bis es endlich gar lakonisch heißt: „das Elternhaus hat den Einfluß auf die Söhne und Töchter ver­ loren". So hat in einer kleinen Bauern- und Handwerkergemeinde im Odenwald der Pfarrer in seinem Gemeindeblatt zu dem Ausruf sich ver­ anlaßt gesehen: „alle Welt redet heute von Jugendpflege, alle Zeitungen schreiben darüber, die Regierungen sinnen auf Rat, wie man der großen Verwahrlosung abhelfen könne, wo aber bleiben die Eltern, die doch in erster Linie für die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich sind?" Es bleibt daher doch ein wenig unverständlich, wie ein Berichterstatter, der di« Jugend als „ziemlich selbständig" dem Elternhaus gegenüber bezeichnet, jede Jugendarbeit ablehnen zu müssen glaubt mit der Begründung: „weil zunächst das Elternhaus die Pflicht hat zu wachen!" Über diese Eltern­ pflicht ist gewiß nicht zu diskutieren. Was aber dann, wo diese Pflicht

nur in der Theorie vorhanden ist?? Über das Verhältnis der Jugend zum Arbeitsherrn (Knechte) und Lehrmeister (Handwerker) liegen weniger Äuße­ rungen vor (12). Nur eine dieser Äußerungen weiß ohne Einschränkung zu sagen, daß „von feiten der Lehrmeister auf Zucht und Ordnung gesehen wird, der sich die Jugend fügt". Sonst aber wird berichtet, daß Arbeitgeber und Lehrmeister wenig Zucht üben, nur geringe Gewalt über die Jugend und nur mäßigen Einfluß auf sie haben. Das hat seinen guten Grund. Warum wehren sich die Arbeitsherrn nicht gegen die Un­ botmäßigkeit der jungen Knechte? Einfach wegen der Leutenot! Die Herrn wagen kein energisches Auftreten und lassen sich manche Respekt­ losigkeit gefallen, weil sie fürchten, die Arbeitskräfte zu verlieren. Darum behandeln sie di« Jugend schonend und lassen sie lieber ihre eigenen Wege gehen. Auf der anderen Seite wird auch darüber geklagt, daß manchmal den Lehrherrn viel mehr an der Ausnützung der Lehr­ jungen gelegen ist, als an deren Erziehung. Darüber läßt sich ein

Bericht so aus: „meine Bemühungen, sie (die fremden Lehrjungen) zur Katechismuslehre zu bringen, scheiterten an dem Ausnützungstrieb der Lehrherrn. Ausnahmen gab es." Die gute, alte Zeit, wo der Lehrjunge nicht nur in der handwerklichen Ausbildung seines Lehrmeisters stand, sondern auch unter dessen Erziehung und Aufsicht, scheint end­ gültig dahin. Damit ist gewiß der Jugend eine Stütze wehr entrissen, wenn auch, wie wohl zugegeben werden muß, die Erziehung durch den Lehrmeister manchmal seltsam genug ausgesehen haben mag. Auffallenderweis« wird von dem Heimatgefühl, das unter der ländlichen Bevölkerung so stark sein soll, wenig gesprochen. Es ist

ganz unzweifelhaft, daß der Bauer und auch die bäuerliche Jugend mit festeren Banden an seiner Heimat hängt, als der meist in Mietshäusern herumwandernde Städter. Sein Leben ist eng mit der Scholle ver-

Die innere Lage der Jugend.

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knüpft. Daß nur so selten in den Berichten das Heimatsgefühl betont wird, ist auch Wohl in der bäuerlichen Eigenart begründet, tiefe Gefühle keusch vor der Außenwelt zu verbergen und sie in der Tiefe um so treuer zu hegen. Es kann nicht so vereinzelt sein, wie es nach den Berichten aussieht, daß die Jugend mit ganzem Herzen an der Heimat hängt, und, wenn es Beruf und Lebensgang erlauben, „gern wieder in ihre schöne Heimat zurückkehrt".

Um so häufiger wird dagegen ein anderer Charakterzug der länd­ lichen Jugend hervorgehoben: der Trieb zur Kameradschaft und Geselligkeit. Liebliche Bilder steigen auf, wenn man liest: „Sommerabends verkehrt die Jugend auf der Straße am Dorfende stundenlang singend und scherzend miteinander!" Die „gute, alte Zeit" ist da noch in frischen Farben lebendig: um die Dorflinde schart sich die Jugend, Mädchen und Burschen, singen an den stillen Sommerabenden ihre schönen alten Lieder, die so traut durch die sinkende Dämmerung schweben — und wie sicher und sauber wissen sie zweistimmig zu singen, diese Gabe scheint der Dorfjugend angeboren — scherzen harmlos mit­ einander, bis die Nacht herniedersteigt. Auffallend ist der merkwürdig ost beobachtete Kastengeist in dieser Kameradschaftlichkeit. Sehr häufig verkehrt die Jugend nur innerhalb der einzelnen Jahrgänge mit­ einander, die sich streng getrennt voneinander halten. Sie bilden ihre „Kameradschaften" für sich. Es ist offensichtlich, daß hier alte Sitte ihr Szepter schwingt, die sich schwer durchbrechen läßt. In dieser Ab­ schließung einzelner Gruppen liegt schon ein Zug des Ungesunden. Das aber ist es nicht allein, was den an und für sich guten Trieb zur Ge­ selligkeit bedenkliche Formen annehmen läßt. Die „gute, alte Zeit" des freien, harmlosen Verkehrs an der Dorflinde scheint doch im großen und ganzen vorüber. Denn nur zu häufig verlegt die Jugend ihre gemein­ samen Zusammenkünfte in die Wirtshäuser. Welche Unsumme von Gefahren in diesem Zusammensein beider Geschlechter in der schweren dunstigen Wirtsstubenluft und in der Erhitzung der Sinne durch den Alkohol liegt, hat die Erfahrung nur zu oft traurig gelehrt. Ob da von der Harmlosigkeit des Verkehrs überhaupt noch etwas zu spüren ist? Tie Erotik steht zweifellos im Mittelpunkt dieser Wirtshauszusammenfünfte — und der aufgestachelte Geist der Sinnlichkeit beherrscht Unter­ haltung, Benehmen und Gebärden. Das Schlimmste ist, daß von irgend­ einer Aufsicht bei diesen gemeinschaftlichen Gelagen, wo der Schnaps und das „Fäßchen" die Situation beherrscht, in den meisten Fällen nicht

die Rede ist. Diese Zusammenkünfte sind zweifellos aus der Sitte der Spinn st ube herausgewachsen und nennen sich auch fast durchweg noch Spinnstuben. Aber nur noch verzweifelt wenig ist von der alten Sitte übriggeblieben, die Alte und Junge reihum in den Häusern zu-

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Die innere Lage der Jugend.

sammenführte — die Jungen arbeiteten, die Mädchen und Frauen spannen, die Alten führten ihre bedächtigen Gespräche und beteiligten sich Wohl auch an fröhlichem harmlosem Scherz, der unter den Jungen

sein Wesen trieb. Wohl wird „die Spinnstube" auch noch in den Häusern gehalten, nicht immer im Wirtshaus, aber auch in den Häusern fehlt jede Aufsicht. Es kann doch gewiß nicht nur an schwarzseherischem Urteil liegen, wenn fast alle Berichte über die verwüstenden Folgen des Spinnstubentreibens klagen. Freilich „in den Spinnstuben, wo die Eltern zugegen sind, geht's gesittet her. Dagegen, wo das nicht der Fall ist, nicht". Und es scheint in der Regel nicht der Fall zu sein. Wieder erhebt sich die ernst« Frage: „wo bleiben die Eltern?" Ein Bericht­ erstatter gibt darauf eine seltsame, aber gar nicht so unwahrscheinliche Auskunft: die Eltern begünstigen das unbeaufsichtigte Spinnstuben­ treiben — denn die Spinnstube ist «in ebenso bequemes, wie erfolg­ reiches „Heiratsbureau"! Eine Reihe Urteile mögen hier Platz haben: „Wirtshausbesuch, Spinnstuben, im übrigen hat man nicht zu klagen". „Roheit und Ausgelassenheit auf der Straße und in der Spinnstube"; die Jugend ist „roh und zügellos infolge Spinnstuben­ wesens und gemeinsamem Wirtshausbesuch der beiden Geschlechter"; „Abgesehen von den Spinnstubenfeiern und Fastnacht sind be­ merkenswerte Entgleisungen (in bezug auf den Alkohol) noch nicht vorgekommen." Wie verwüstend das Spinnstubentreiben auch auf sexuellem Gebiet wirkt, mögen zwei Urteile belegen: „in den Spinnstuben, d. h. nach denselben und nach den leider zu oft genehmigten Tanzvergnügen kommen traurige Entgleisungen vor;" und: „in den Spinnstuben ge­ schehen mitunter schändliche Dinge, die zuweilen den Strafrichter be­ schäftigen!" Der Grund zu diesen üblen Auswüchsen liegt eben darin, daß meist jede Aufsicht fehlt: „Anlaß zu größeren Klagen geben gerade die jüngsten Jahrgänge, etwa die 1b- bis 18 jährigen; in diesen Kreisen bringt die Spinnstube, die zurzeit so gut wie jeder Kontrolle und Auf­ sicht entbehrt, die wildesten Früchte;" „in den Spinnstuben fehlt jede Polizeiliche Aufsicht". Gegen diese erdrückende Mehrheit kommt auch das eine einzige einigermaßen günstig lautende Urteil über die Spinn­ stube nicht auf, das da besagt: „Spinnstubenbetrieb überall. Dabei gelegentlich derbes Wesen. Doch bewahrt die Spinnstube auch vor Schlechte m." Hier liegt zweifellos eine starke Jugendnvt gerade in den Landgemeinden vor, die durch die Sitte geradezu sanktioniert ist. Mancher Kampf ist schon gegen diesen Unfug geführt worden, aber eine Sitte umzustoßen, ist eine gar harte Sache, mag jene auch noch so schlecht sein. Die Erfahrung wird gar mancher machen, die ein Berichterstatter kundgibt: „Das Spinnstubenwesen mit seinen Biergelagen ist trotz der Gegenarbeit des Geistlichen mangels Eingreifen der Be-

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Hörden im Schwang." Freilich ein Bedenken liegt gegen den hier geforderten polizeilichen Eingriff vor: es mag wohl auf polizeilichem Wege gelingen, die Spinnstuben aufzuheben; wohin wird sich aber die Jugend in ihrem starken Geselligkeitstrieb dann flüchten? Am Ende ganz in das Dunkel, das sie überhaupt jeder Beobachtung entzieht.

Und dann?--------Die ausgesprochene „Spinnstube" ist in Oberhessen am weitesten verbreitet: in 30 Orten wird sie ausdrücklich erwähnt, auch in dem sehr stark der Industrie unheimgefallenen Dekanat Friedberg, während vom Dekanat Rodheim nirgendwo von der Spinnstube gesprochen wird, was ja nicht ihr Nichtvorhandensein beweist. Außerdem wird noch in acht Gemeinden das starke Gemeinschaftsgefühl betont. In Starkenburg wird die Spinnstube nur wenig erwähnt, sie scheint dort völlig zum ge­ meinsamen Wirtshausbesuch entartet zu sein — ebenso wie in Rhein­ hessen, wo die „Spinnstube" überhaupt nicht genannt wird. Noch zwei Fragen sollen zur Psychologie der Landjugend erörtert werden, die sexuelle Frage und die Alkoholfrage, abgesehen von der „Spinnstube". Die sexuelle Not ist ja die eigentliche Not der Heranwachsenden Jugend. Freilich ist es namenlos schwer, gerade auf diesem Gebiete ein zutreffendes Urteil zu erlangen. Denn die sexuelle Not schreit nicht laut in den Tag hinein, sie verbirgt sich scheu, nicht nur bei denen, die in grobe Sünde verfallen sind, sondern auch bei denen, die unter der unverstandenen Not der Entwicklungsjahre tief leiden, die sie zwischen höchster Lust und tiefstem Schmerzgefühl, jauchzender Erhebung und jammervoller Depression hin- und herstößt. Die Beobachtung ist deshalb ungeheuer schwierig. Manchmal, man kann ruhig sagen meistenteils, ahnen die nächsten Angehörigen nichts von der schweren Not der Jünglingsseele und haben keine Ahnung von der Qual, in der viele jungen Leute in der Entwicklungszeit leiden, oder auch von der geheimen Sünde, in die sie durch die „Aufklärung und Be­ lehrung guter Freunde" geraten sind und von der loszukommen sie in vergeblichem Kampfe sich vielleicht bis zur Verzweiflung abmühen. Wie soll da erst ein der Jugend bis zu gewissem Grade Fernstehender ein einigermaßen zutreffendes Urteil haben? Ihm fallen höchstens die gröbsten Ausschreitungen der vielleicht wirklich Schlechten ins Auge, während er vom Verzweiflungskampf der Guten gegen die sexuellen An­ stürme nichts sieht und ahnt. Ich sage ausdrücklich „der Guten": denn unter denen, die der geheimen Sünde gegen die Keuschheit verfallen sind, — man berechnet den Prozentsatz auf mindestens 75%! — ist eine große Schar Guter, die durch schlechtes Beispiel verführt wurden, ohne daß sie genügende oder überhaupt irgendwelche Einsicht in das Verderb­ liche oder Verwerfliche ihres Tuns gehabt hätten, weil ihnen jede AufPage, Jugendpflege.

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klärung in gutem Sinne fehlte. Also ist zu schließen, daß die sexuelle Not noch weit größer ist, als sich aus den Berichten ergeben kann — auch in den kleinen Bauerngemeinden.

Es ist nur zu begreiflich, daß gar manchmal die Beantwortung der Frage nach der sexuellen Lage der Jugend durch ein „schwer zu be­ antworten", „nichts bekannt" oder ähnliches abgelehnt wurde. Wenn von einer Seite gesagt wurde, das sei eine Frage für die Ärzte, so ist das sehr zu bezweifeln. Die Arzt« werden nur von den allergröblichsten Fällen der Ausschreitung Kenntnis haben. Es handelt sich hier um eine Erziehungsfrage, vielleicht um die brennendste, die die Jugend betrifft. Viele Antworten sind durch ein „wohl" oder „wahr­ scheinlich" verklausuliert, um zu zeigen, wie die Berichterstatter auf Ver­ mutung angewiesen waren. Andere sind unbrauchbar durch ihre ganz all­ gemein gehaltene Fassung: „wohl nicht bester und schlechter als anderswo"; „wie überall im Vogelsberg"; „wie durchschnittlich auf dem Lande" u. ä.

Und doch läßt sich ein Bild von der sexuellen Ver­ fassung der Jugend gewinnen auch für die Bauern- und Hand­ werkergemeinden — und zwar in der Hauptsache ein wenig er­ freuliches. Es ist schon auffallend, daß keine einzige Antwort vorliegt, die di« sexuelle Lage der ländlichen Jugend als gut bezeichnet. Höchstens kommt es zu einem „im allgemeinen gut"; „ver­ hältnismäßig günstig oder gut, mit Ausnahmen". Und auch hier wieder taucht das Gespenst „noch" auf, das auf eine bedenkliche Ab­

wärtsentwicklung hinweist: „Noch leidlich gut." Viele Berichte wagen gar nicht ein positives Urteil. In negativer Form ist der vorsichtige Bericht gehalten: „besondere sexuelle Not ist nicht bekannt"; „keine be­ sonderen Klagen"; „nichts Besonderes" — alles Ausdrücke, die immerhin zu denken geben. Eine recht beträchtliche Zahl von Berichten aber gibt rückhaltlos zu, daß es mit der Jugend in sexueller Beziehung „nicht zum Besten steht" oder „oft nicht ganz gut" (!), daß Verfehlungen, Ver­ gehungen, Verirrungen vorkommen. „Zeitweilig treten die Schäden zutage", heißt es, da und dort kommt aus einem kleinen Dorf die Kunde: „Wer sieht da hinein? Gegenwärtig ein 19 jähriger und eine 17 jährige bereits Eltern geworden." Oder es wird gesagt: „Der unbeaufsichtigte Verkehr zwischen Burschen und Mädchen führt zu den bedenklichsten Aus­ schweifungen." Bis es schließlich zu dem kurzen Urteil kommt: „schlecht", das wohl nach zwei andren Urteilen zu deuten ist: „Intaktheit bei den meisten unwahrscheinlich", „absolute Keuschheit bis zur Ehe ist kaum zu finden." Diese letzten Urteile mögen zu schwarz erscheinen — und doch werden sie kaum fehlgehen. Die harte Tatsächlichkeit wird ihnen recht geben. Hervorragende Kenner und Beobachter der Jugend haben sie schon früher anerkannt.

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Was ja immerhin die traurige Tatsache ein wenig erträglich macht für das Land, das ist doch das Fehlen des Raffinements und der Per­ versität. Weshalb noch lange nicht das Wort „ländlich-sittlich" zu Recht besteht. Die Landbevölkerung besitzt eine derbe Sinnlichkeit und die Jugend ist dort früh „aufgeklärt" durch die Beobachtungen, die sie in der Tierwelt anzustellen Gelegenheit hat. Das läßt gerade der ländlichen Jugend das sexuelle Geheimnis als etwas „Natürliches" er­ scheinen. Dazu kommt noch, daß man auf dem Lande „schon vor den Ohren der Kinder heikle Dinge offen bespricht". Aber die starke Sinn­ lichkeit wird „gezügelt durch starke Arbeit". Außerdem läßt gewöhnlich die Kleinheit des Dorfes grobe Ausschreitungen nicht so leicht auf­ kommen, wobei man immer wieder darauf Hinweisen muß, daß grobe Ausschweifungen absolut nicht den Maßstab für die sexuelle N o t der Jugend bilden können. Das Urteil aus einem oberhessischen Dorf ist güviß zutreffend: „Das Nichtvorhandensein bzw. sehr seltene Vor­ kommen unehelicher Kinder stimmt in dieser Richtung sehr bedenklich." Auch die „Sitte" zeigt auf diesem Gebiet ihren bewahrenden Ein­ fluß: Es wird mehrfach bezeugt, daß „die Bauernsöhne in diesem Punkte viel auf Ehre sehen", daß sie „ziemlich an sich halten", während es unter Knechten und Dienstboten, denen das Elternhaus fehlt und die Sitte schon weniger gilt, nicht immer besonders gut steht. In einem Punkt allerdings — und das ist sehr schwerwiegend — wird eine Unsitte mit scheinbar unausrottbarer Zähigkeit als Sitte fest­ gehalten: Der voreheliche Verkehr der Verlobten, der nach den Berichten in den ländlichen Gemeinden Hessens die Regel zu sein scheint. Freilich scheint es in diesen Gemeinden auch die Regel zu sein, daß „man sich die Treue hält und heiratet". Es soll auch nicht gar so selten vorkommen, daß die Burschen „womöglich die Eltern durch die Folgen eines Verhältnisses zur Einwilligung in eine mißliebige Ehe nötigen wollen". Übrigens scheint die Gepflogenheit des vorehelichen Verkehrs ein Überbleibsel der alten Anschauung zu sein, daß die Verlobung eigentlich die Eheschließung bedeutet. Nur aus einem Orte wird berichtet, daß „sitt­ liche Vergehungen im Brautstand n o ch als Schande empfunden werden". Auch hier wieder das schmerzliche „noch"! Mit der sexuellen Frage hängt aufs engste die Alkoholfrage zusammen. Was die unbeaufsichtigte Spinnstube so gefährlich macht, das ist eben der meist übermäßige Alkoholverbrauch dabei. Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß der Alkohol wirkt als Stimulanz für die Sinnlichkeit, er stört die Hemmungsgefühle und hebt die Widerstands­ kraft zum guten Teil, wenn nicht ganz auf. „Alkohol und Unsittlichkeit gehen zusammen", „der Alkohol ist eine Gefahr für die körperliche wie die moralische Entwicklung". Der Zusammenhang zwischen sexuellen



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Ausschreitungen und Alkoholgenuß bestätigt sich durch di« Umfrage. In den Orten, wo der Alkohol ein« große Rolle spielt, st«ht es auch in sitt­ licher Beziehung meist tedjt bedenklich, während da, wo der Alkoholgenuß im großen und ganzen in mäßigen Grenzen bleibt, auch die sittliche Lage besser ist. Auch das ist kaum zu bestreiten, daß starker Alkohol­ verbrauch die Energie lähmt, und von der traurigen geistigen Ödheit der Wirtshaushvckerei braucht man kaum zu reden.

Im großen und ganzen scheint in ländlichen Gemeinden di« Alkohol­ gefahr nicht im Übergewicht zu sein. Denn von 73 Berichten, die sich über die Alkoholgefahr aussprechen, lauten 44 günstig bzw. nicht völlig ungünstig. 29 beantworten di« Frage: „Ist der Alkohol eine besondere Gefahr für sie?" mit einem glatten Nein oder es heißt etwa: „Der Wirtshausbesuch ist sehr mäßig." „Das Wirtshaus spielt keine große Rolle",' „Alkoholmißbrauch gilt allgemein in der Gemeinde als Schande." Das 6etoeift immerhin noch gesunden Sinn in mancher ländlichen Gemeinde, wenn auch einmal betont wird, was ja wohl schr häufig ist, daß „die Eltern ein schlechtes Vorbild geben, indem sie bei Taufen, Kirchweihe, Hochzeit den Kindern alkoholhaltige Getränke" reichen. 15 weitere Be­ richte besagen, daß der Alkohol im allgemeinen nicht, wohl aber für einen Teil bzw. einen kleinen Teil oder für einzelne der Jugendlichen

eine Gefahr bildet. Allerdings spielt in diesen Gemeinden der Alkohol in der Woche kein« Rolle — aus manchen Orten wird berichtet, daß in der Woche, besonders auf den Arbeits- und Werkstätten, gar kein Alkohol genossen wird — dagegen am Sonntag und bei besonderen Anlässen (Tanzvergnügen, Festen, Kirchweihe usw.) scheint doch der Alkohol sein Unwesen zu treiben und zu allerlei Exzessen zu verleiten. — Den 44 Gemeinden, aus denen von einer besonderen Gefahr des Alkohols nichts berichtet wird, stehen 29 gegenüber, in denen von einer Alkohol­ gefahr gesprochen wird; und zwar wird in 17 dieser Berichte die Frage nach der Alkoholgefahr rundweg mit „ja" beantwortet. Dabei finden sich manche interessante Erklärungen: „Die Gefahr ist sehr groß"; „aber sehr". „17 Wirtschaften am Ort und noch einige in der nächsten Nachbarschast"; „keine Gelegenheit, di« anders als mit Alkohol gefeiert werden könnt«. Und die Gier nach Freibier! Daher die Macht der Wirte"; „das Fäßchentrinken ist ziemlich gebräuchlich". Besonders groß ist naturgemäß die Alkoholgefahr in den rheinhessischen Weinorten. Das Wirts­ haus spielt da weit weniger eine Rolle als anderswo. Aber bei der Arbeit und im Haus wird recht viel Wein getrunken. Ein Bericht aus einem rheinhessischen Weinort soll nicht verschwiegen werden. Tie Alkoholgefahr wird darin verneint: „Als Rheinhessen sind sie trunkfest. Hiesiger Ort durchaus mäßig." Wenn die Trunkfestigkeit der Maßstab sein sollt«, dann wäre der Begriff „mäßig" aber sehr, schr dehnbar.

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Bedauerlich ist nicht nur, daß di« Alkoholgefahr zunimmt, sondern vor allem, daß die Jugend an dem steigenden Wirtshausbesuch sehr stark beteiligt ist. Die geistestötende Kartenspielerei, der Tabaksqualm, das eigene Rauchen — wen hätte nicht der Schrecken vor der Zigarette im Munde der jungen Burschen erfaßt —, die oft auf niedrigster Stufe sichende Unterhaltung mit ihrer Plattheit, das alles verödet und ver­

wüstet di« Jungen an Leib und Seele. Das ist das Schlimme, daß „schon die jüngsten svon 14 Jahren an) das Wirtshaus frequentieren", daß „der Wirtshausbesuch stark ist, schon gleich nach der Konfirmation". „Es kommt vor, daß eben Konfirmierte schon ihr Stammglas in der Wirt­ schaft haben." Sie fühlen sich eben gerade dadurch als „Männer", weil sie ihr Mannestnm noch nicht auf andere Weise kundtun sönnen. Und noch etwas: Das Beispiel der Alten bringt st« zu ihrem den Erwachsenen so bubenhaft erscheinenden Gebaren — denn das Mannestum vieler Männer besteht schließlich auch nur im Stammglas und in der Zigarre! Und endlich: die Jungen haben sonst keine Gelegenheit zur Gesellig­ keit — das Wirtshaus ist die einzige Stätte, die sich ihnen außer dem Elternhause bietet. Wem wäre darum der Wunsch eines Berichterstatters nicht sehr be­ greiflich, der „eine Einschränkung des Alkoholgenusses" für „wünschens­ wert" hält? Ob nicht auch hier ein gewaltiges Arbeitsfeld sich eröffnet? Daß die Arbeit nicht vergeblich sein kann, beweist ein Zeugnis, wonach

„die jungen Leute mäßig geblieben sind, auch solche, wo im Elternhaus Hang vorhanden ist. Ein junger Mensch ist gerade dadurch abstinent geworden!" Jedenfalls stoßen die Berichte der Tatsachen jedes Vorurteil um, das die innere Lage der Jugend in ländlichen, von der Industrie sehr

wenig oder meist gar nicht berührten Gemeinden für ideal oder mindestens sehr günstig halten möchte. Es ist einfach nicht zu leugnen: auch in kleinen, noch völlig bäuerlichen Gemeinden muß unbedingt von Jugendnot gesprochen werden.

Wenn man nun dazu übergeht, die innereLageder Jugend in mehr oder weniger industrialisierten Gemeinden zu schildern, so bietet sich zunächst das Bild einer großen Mannigfaltig­ keit. Man wird ja gewiß nicht behaupten können, daß der Typus des Landjungen ein völlig einheitlicher wäre — die Individualität ist — Gott sei Dank! — oft genug stärker als der Typus — aber die innere Lage der bäuerlichen Jugend läßt sich doch geschlossener erfassen als die der Jugend in Gemeinden, die in größerem oder geringerem Maße von Ackerbau und Kleinhandwerk zur Industrie übergegangen sind. Und ge­ rade in den Gemeinden, wo «in Teil auch der Jugend wie früher im landwirtschaftlichen Berufe verblieben ist, während ein anderer sich der

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Jndustriearbeit zugewandt hat, ergibt sich ein sehr schwankendes Bild

von der inneren Lage der Jugend — eine Folge des Kampfes, den wir heutzutage schmerzlich genug auch im großen erleben, des Kampfes zwischen altem und neuem Geist, bäuerlicher Sitte und der „Sitte", die di« moderne Jndustriearbeit mit sich bringt — oder vielmehr noch sucht! Je stärker die Mischung Mischen Landwirtschaft und Industriearbeit in einer Gemeinde ist, um so mehr verwischen sich die bäuerlichen

Momente in der Jugendpsychologie, und um so mehr scheint eine innere Ratlosigkeit die Jugend zu erfassen. Nun scheint die oben festgestellte Neigung zu immer stärkerer Industrialisierung der Jugend nicht nur eine gewisse Verwirrung in die jugendliche Seele zu bringen, sondern geradezu» verheerend zu wirken. „Die Folgeerscheinungen beginnender Industrialisierung beginnen sich bemerkbar zu machen", so lautet ein Bericht über die psychologische Lage der Jugend eines Dorfes nächst einer Großstadt. Noch deutlicher spricht sich ein anderes Urteil aus: „Sie sind noch schlichte Leute, aber auch schon etwas angesteckt vom Treiben der jungen Leute in den Industriezentren." Daß di« fortschreitende Industrialisierung vorerst nur ungünstig auf das Seelenleben einzu­ wirken scheint, zeigen ein« Reihe Äußerungen aus gemischten Gemeinden: „In rein landwirtschaftlichen Betrieben ist die Jugend fleißig, sparsam und einfach. In reinen Arbeiterfamilien ist man weniger sparsam, und da man mehr Geld verdient, auch vergnügungssüchtiger und geht mehr ins Wirtshaus"; „in B. ist es besser, weil überwiegend gute Land­ wirtschaft"; „die landwirtschaftliche Jugend ist lenksamer als die industrielle". Es läßt sich aus den Berichten geradezu ein Gesetz hcrauslesen: Je weiter die Industrialisierung vorge­ schritten ist, um so mehr sinkt die innere Höhenlage

der Jugend. So wird aus Gemeinden mit immerhin noch über­ wiegender Landwirtschaft berichtet, daß die religiös - sittliche Lage der Jugend „gut" ist, oder es heißt: „noch viel kirchlicher Sinn. Die Christenlehre wird regelmäßig besucht. Roheiten, besonders bei Bauernsöhnen, selten« Ausnahme"; „mit wenig Ausnahmen ruhig und nüchtern"; „nicht gerade schlecht". Aus Gemeinden aber mit starkem industriellem Einschlag werden echt bäuerliche Merkmale als psychologische Eigenheiten der Jugend angegeben, als „echte Phlegmatiker" werden sie bezeichnet, oder di« Jugend wird so geschildert: „gutmütig, freundlich, aber etwas schwerfällig, geistig träge und viele noch ohne Interesse für andere als materielle Güter." Das starke Zusammen­ gehörigkeitsgefühl der einzelnen Altersjahrgänge, das Abhalten der Spinnstuben — freilich mit anscheinend starker Tendenz zu üblen Ausschtveifungen — wird in Gemeinden mit bis zu 75 °/0 jugendlicher Arbeiter betont, zugleich ein Beweis, daß der ländliche Charakter sich

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doch nicht allzuschnell verwischen läßt, daß die bäuerliche Sitte sich mit großer Zähigkeit zu behaupten wenigstens versucht. Dann kommen aber die Urteile, die in gemischten Gemeinden arge Schwankungen in der inneren Lage erkennen lassen, bis zum glatten Vernichtungsurteil: „Sitt­ lichkeit und Religion sind im Schwinden begriffen." Die religiös-sitt­ liche Lage ist „nicht immer befriedigend" oder „im allgemeinen wenig befriedigend", bis es heißt: „die Jugend ist meist roh" oder „völlig in­ different". Daß es auch hier Ausnahmen von der Regel gibt, darf nicht ivundernehmen. So kommt aus einem Städtchen mit durchweg industrieller Bevölkerung die Kunde über die religiös-sittliche Lage der Jugend: „im allgemeinen recht gut." Freilich wäre es auch zu gewagt, auf ein einzelnes Urteil allzuviel Gewicht zu legen. Wie schwer es ist, die innere Lage der Jugend in teilweise industrialisierten Gemeinden zu erfassen, mag ein Urteil belegen: die Jugend ist „offenherzig - derb, oft brutal, ehrsüchtig und empfindlich, aber auch gleichgültig. Hitzig bis nervös. Geistig gewandt, regsam, aber nicht tief, noch sehr treu. Gutmütig, viel Sinn für Humor, auch unbarmherzigen". Was die industrielle Jugend häufig auszeichnet, das ist zweifellos eine größere g e i st i g e Regsamkeit, als sie der Durchschnitt der bäuerlichen Jugend besitzt. Eine gewisse Beweglichkeit des Geistes und „relative Aufgewecktheit" eignet ihr. Freilich konzentriert sich das geistige Interesse meist auf den Beruf: „In der Berufsbildung herrscht entschieden Eifer und großer Ernst." Damit zusammen hängt die Energie und die Zielbewußtheit der Arbeiterjugend. Starkes Aufwärtsstreben ist bei ihr unverkennbar. Darum wird vielfach auch der Fleiß und die Arbeitsamkeit der Jugend in industriellen Gemeinden gerühmt. Mit der geistigen Gewandtheit freilich hat es eine eigene Bewandtnis: sie schlägt gern in Oberflächlichkeit um. So wird mehr als einmal über Mangel an Tiefe geklagt: „sie ist zu tieferem Nachdenken nicht fähig". Sie läßt sich leichter zu etwas begeistern wie die Bauern­ jugend — „ebenso leicht schwenkt sie wieder ab". Daneben wird freilich auch hin und wieder von merkwürdiger „Interesselosigkeit" gesprochen und von „stumpfsinnigem Dahinleben, das die Jungen kennzeichnet". Dieses Urteil mag mehrfach darin begründet sein, daß die Interessen der beobachteten Jugend grundverschieden sind von denen des Beobachters. „Geistig schwerfällig, oft geradezu trag. Abgesehen von einigen rühm­ lichen Ausnahmen ist nicht viel höheres Interesse vorhanden." Das scheint nach mehreren Urteilen Tatsache zu sein, daß die industrielle Jugend geistigen Dingen gegenüber oft sehr stark unempfänglich ist — so daß geradezu aus einem Orte als charakteristisches Zeichen der Jugend der „Stumpfsinn" genannt wird. Aus einer anderen stark industriali-

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sirrten Gemeinde wird ähnliches berichtet: „Stumpfheit und Unaufgeschlossenheit gegenüber geistigen Interessen." Es ist gar nicht zu be­ zweifeln, daß der -sehr stark ausgebildete Erwerbstrieb, das aufs Materielle gerichtete Streben im Verhältnis seiner Stärke das geistige Streben unterbindet. „Die Überschätzung des Äußerlichen" bedingt ganz gewiß eine Unterschätzung der inneren Werte, „die Geringschätzung der Religion". „Unter dem materialisti­ schen Einfluß der Industrie hat die Jugend fast gar keinen Sinn, noch weniger Interesse für religiös« Dinge." „Es fehlt durchweg der ernste, aufs Ewige gerichtete Sinn." „Die Jugend ist vielfach irreligiös." Nur überraschend selten wird einmal von religiösem Interesse der Jugend gesprochen. Diese geistige und innerliche Verflachung hängt zweifellos mit der Fabrikarbeit der Jugend zusammen. Die mechanische Arbeit läßt den Geist leer, sie mechanisiert den Menschen auch innerlich. Die

dauernde, oft noch nicht einmal sehr anstrengende, meist aus wenigen sich ständig wiederholenden Handgriffen bestehende Arbeit, bei der schließlich kein Denken mehr erforderlich ist, muß endlich geistige Stumpfheit erzeugen, mindestens aber verflachen und oberflächlich machen. Und die weitaus größte Mehrzahl der industriellen Jugend tut so gut wie gar nichts in ihrer Freizeit, diesen Mangel auszugleichen — ganz im Gegenteil! Die industrielle Jugend bedarf der geistigen Anregung ganz gewiß nicht weniger als die Bauernjugend — jene wegen der geistigen Verflachung, Zerstreuung und Stumpfheit, diese wegen Hier geistigen Trägheit und Schwerbeweglichkeit. Dabei soll besonders betont werden, daß nicht etwa allein der mechanischen Arbeit die Schuld gegeben werden soll für die geistige und religiöse Verödung der industriellen Jugend. Es wird noch auf manche andere Ursache hingewiesen werden müssen. Geistig oberflächlich, im ganzen materiell gerichtet, zeigt die industriell beschäftigte Jugend einen bedenklichen Mangel an Lebensernst. Nicht nur, daß die Jugend „lebhaft, leicht laut, zu kleinen Exzessen" geneigt ist — das ist ihr Recht, und kein echter Freun­ der Jugend, und zwar einer gesunden, fröhlichen Jugend, wird die „kleinen Exzesse" tragisch nHmen wollen. Es stimmt aber doch bitter ernst, wenn man immer wieder lesen muß: Die Jugend ist „unverschämt, rücksichtslos und roh", wenn immer und immer wieder von einer maß­ losen Steigerung der Vergnügungssucht, Genußsucht, des Leichtsinns der Jugend gesprochen wird, wenn die Jugend geschildert wird als „arbeitsscheu und genußsüchtig", protzig und frech, ihr Bildungsstreben als „minimal" bezeichnet wird. Geradezu ins Herz schneidet eine derartige Charakteristik der Jugend: „trinkt gern Alkohol, raucht früh Zigaretten, hat sehr ungeschliffene, oft rohe Elemente unter sich." Da­ gegen bedeutet es doch einen kärglichen Trost, wenn fortgefahren wird:

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„dabei meist gut begabt und im Durchschnitt auch anhänglich." Welche eindringliche Sprache redet ein Bericht aus einer kleinen Dorfgemeinde, der so sich ausspricht: „Sinnengenuß sTrinken, Rauchen, Kartenspielen usw.) hält das geistige und sittliche Streben nieder"! oder: „Sie ist zur Zuchtlosigkeit, Vcrgnügungs- und Genußsucht geneigt", wobei die innere Zerrissenheit der Jugend wieder deutlich hervortritt durch das weitere Urteil: „doch auf der anderen Seite doch nicht unzugänglich für gute Einflüsse und nicht unempfänglich für höhere Interessen". Sind denn am Ende nicht genug gute Einflüsse vorhanden, denen die Jugend doch zugänglich sein soll, um die Neigung zur Zuchtlosigkeit usw. zu über­ winden!? Warum besitzt die Jugend soviel „Widerstandslosigkeit gegen fremde Beeinflussung"?

Besonders gering scheint der Widerstand gegen di« Sinnlichkeit zu sein. In diesem Punkte bilden die Blätter der Umfrage geradezu traurige Dokumente. Sie sollen hier möglichst zahlreich zu Worte kommen, denn nicht entschieden genug kann der Finger auf dies« Wunde gelegt werden. Ziemlich reichhaltiges Material steht zur Verfügung, 111 Berichte aus Jnduftriegemeinden mit und ohne Landwirtschaft liegen vor.

Nur zwei dieser Bericht« wagen es, die sexuell« Lage der Jugend als rundweg „gut".zu bezeichnen! Der dritte schränkt sein „gut" schon durch den Zusatz ein: „Abgesehen von einzelnen Fällen." Nun kommen eine Reihe schon vorsichtigerer Urteile: „Im allgemeinen gut"; „scheinbar gut oder doch nicht schlimm"; „seither gut"; „wahrscheinlich ziemlich gut (!)"; „leidlich gut"; „dem Vernehmen nach gut"; einige weiter« Berichte besagen, daß „im allgemeinen kein Anlaß zur Klage" vorliegt. Noch vorsichtiger ist ein weiterer Bericht: „Sittlichkeit nicht schlecht, obwohl nicht glänzend." Und die Berichte sind doch auch nicht günstig zu nennen, die besagen: „nicht schlimmer wie anderwärts", oder „vielleicht besser als auf manchem Dorf" — sie zeigen doch nur, daß die Berichterstatter der Meinung sind, „ander­ wärts" stehe es gleich schlimm oder „auf manchem Dorf" noch viel schlimmer! Noch zweifelhafteren Charakters sind die Äußerungen dieses Stils: „Offenbare Verfehlungen treten wenig hervor"; „auffällige Aus­ schreitungen kommen nicht vor"; „von unsittlichen Vorkommnissen ist nichts bekannt"; „keine besonderen Ausschweifungen" usw. Hier hat ein Berichterstatter sofort das rechte Korrektiv selbst mitgegeben, indem er schreibt: „offenkundige Schäden treten wenig zutage, das darf einen nicht täuschen, als ob es in sexueller Be­ ziehung gut stünde." Nicht die „offenkundigen Schäden" be­ deuten die sexuelle Not. Tie verkriecht sich gerade ins geheime Dunkel und treibt dort ihr zerstörendes Wesen.

Rechnet man aber auch die vor-

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sichtigen Urteil« einmal zu den guten, so ergeben sich im ganzen 15; 22 sind mindestens zweifelhafter Natur — ihnen aber stehen nicht weniger als 74 Aussagen gegenüber, die die sexuelle Lage der Jugend in traurig-düsterem Lichte erscheinen lassen. — Es ist nicht zu be­ zweifeln, daß bei der heutigen Arbeiter- und der Großstadtjugend über­ haupt die Erotik eine gewaltige Rolle spielt. „Sexuelle Dinge füllen

vielfach den Kopf." Man spricht soviel von mangelnder sexueller Auf­ klärung — die fehlt der industriellen Jugend ganz und gar nicht — ganz im Gegenteil — nur empfängt sie die Aufklärung aus verkehrten Händen, in denen aus etwas Heiligem schmutzige Lüsternheit geworden ist. Man kann ruhig sagen, daß etwa schon mit 11 bis 12 Jahren die Jugend von Unberufenen in die sexuelle Atmosphäre hineingetrieben wird. Daß solche junge Menschen nur irregeleitet und verführt, ohne ernste und starke Aufklärung von berufener Seite zu empfangen und voller Scheu, sich an Eltern oder sonstwohin zu wenden, unglückliche Naturen werden, die den Seelennöten des Entwicklungsalters mit dreifacher Stärke aus­ gesetzt sind, ist nur zu klar. Die Jugend ist frühreif, „sie weiß sehr früh in allen Dingen Bescheid". Und kein Gegengewicht! Die Unter­ haltungen und Vergnügungen, die der Arbeiterjunge sucht, heben ihn gewiß nicht über den Schmutz hinaus: Kino, moderne Operette, das schlechte Variete, Schundliteratur, Schmutzbilder, Animierkneipen, be­ sonders eine gewisse ©orte von Ansichtskarten, Maskenbälle — das alles erhöht noch den sexuellen Reiz, dem die Jugend so wie so sehr stark aus­ gesetzt ist — und nicht zum wenigsten Alkohol und Nikotin! Unsere Jugend trinkt an vergifteten Brunnen! Das ist nicht ihre Schuld, son­ dern unsere! Manchmal will das Herz geradezu zu Eis erstarren, wenn man in der Eisenbahn oder im Wirtshaus, besonders auf dem Tanz­ boden die Gespräche der Jugend zufällig erlauscht, die Lieder hört, di« sie singen, und besonders die Scherze, mit denen sie sich unterhalten — die schlimmste Zote ist ihnen nicht zu schlecht. Die Jugend steht dauernd unter einem schwülen Bann, ihre Phantasie ist in einem ständigen Zu­ stand ungesunder Erhitzung. So wird vielfach berichtet, daß es „vielen an sittlichem Ernst fehlt", daß „allgemein ziemlich laxe Auffassung bei Burschen und Mädchen zu finden ist". Ausdrücklich wird mehrfach darauf hingewiesen, wie der ungesunde Zustand der Jugend gerade in Gesprächen und Liedern sich oft geradezu grauenvoll offenbart. Ein Bericht drückt sich sehr deutlich so aus: „Meist sehr schlechte Schweinereien sind der besonders beliebte Gesprächsstoff." Jedenfalls ist die Jugend, die schon durch die Entwicklungszeit sehr stark sexuell reizbar ist, ganz ungewöhnlich scharfen, sich täglich mehrenden Anreizungen von außen her ausgesetzt. Kein Wunder, daß sie so vielfach fällt. Es mag ja richtig sein, daß viele auf diesem Gebiete „mehr Maulhelden" sind.

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Ist das nicht schon traurig genug, daß das ganze Interesse der Jugend neben der Arbeit sich auf dieses Gebiet erstreckt? Man wird dem Urteil zustimmen müssen: „Die Jugend ist in sexueller Beziehung nicht rein. Bei vielen ist für schamlose Reden und unzüchtiges Treiben Empfäng­ lichkeit vorhanden." Aber beim Maulheldentum und bei den Dingen, die sich un­ kontrollierbar und im geheimen abspielen, bleibt es nicht einmal. In den Jndustrieorten, die mehr oder weniger ihren bäuerlichen Charakter bewahrt haben, wiederholen sich in diesem Punkte die bei den bäuerlichen Gemeinden überhaupt gemachten Beobachtungen: „Nach der Verlobung hält man geschlechtlichen Verkehr für erlaubt", wozu einmal der Zusatz gemacht wird: „niemand läßt sein Mädchen sitzen." Aus einer Gemeinde wird berichtet — das mag zur Illustrierung dienen —, daß im Jahre 1910 von 17 Paaren 7 heiraten „mußten"! Wie aber in sexueller Hin­ sicht die Verhältnisse in den Jndustrieorten ganz merklich schlechter sind als in Bauerngemeinden, zeigen solche Äußerungen wie diese: „vor­ ehelicher Verkehr Regel, namentlich bei Unbemittelten. Bei besseren (!) erkaufter Geschlechtsverkehr in Ort und Stadt — auch bei den Ver­ heirateten etwas Gewöhnliches." Wer hätte da nicht das Gefühl, daß er in einen bodenlos tiefen schwarzen Abgrund blickte?

Verschärfend kommt hinzu, daß die Beziehungen zum anderen Ge­ schlecht viel zu früh einsetzen. Wieviel ist in unserer Jugend heute noch zu spüren von jener keuschen beseligenden Jugendliebe, wie sie Schiller in seiner „Glocke" beschreibt? Es steckt gleich viel zuviel bewußte schwüle Sinnlichkeit in der „Liebe" der heutigen Jugend — und dazu häufig noch unbeherrschte Sinnlichkeit, nicht zu vergessen auf beiden Seiten! Darüber liegen traurige Berichte vor: „Mehrfache Vaterschaft Minder­ jähriger"; „Väter bereits mit 18 Jahren kommen vor"; „es fehlt nicht an Beispielen, daß noch nicht 20jährige Väter wurden"; „frühzeitiges Verhältnis, manchmal nicht ohne Folgen"; „Väter von der Militärzeit her". Auch wird viel von frühen Heiraten berichtet, eine der vielen Folgen der frühen wirtschaftlichen Selbständigkeit der industriellen Jugend. Die frühe Heirat mag manchen Nachteil haben, den Vorteil bringt sie gewiß mit sich, daß sie doch manchen sexuellen Exzeß verhütet.

Aus dem mittleren und südlichen Starkenburg wird viel berichtet von hohem Prozentsatz der unehelichen Kinder. Aus einer dieser Ge­ meinden wird berichtet: „Prozentsatz der unehelichen Geburten seit Jahr­ hunderten groß. Mütter von 17 und Väter von 18 Jahren. Viele Verheiratete geben ein sehr schlechtes Vorbild." Immer wieder die An­

klage gegen die Erwachsenen, die, anstatt pflichtgemäß die Jugend zu sichren, sie nur verführen durch ihr Beispiel! Aus einer anderen Ge­ meinde desselben Gebietes wird der Prozentsatz der unehelichen Geburten

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auf 8 bis 10% angegeben!! „Uneheliche Kinder sind keine Schande", so heißt es aus einer anderen Gemeinde mit der charakteristischen Be­ merkung: „wie die Alten fungen, so " Es sei nochmals be­ merkt, wie auch mehrere Berichterstatter feststellen, daß seltenes oder Nichtvorkommen unehelicher Geburten für die Güte der sittlichen Haltung

der Jugend nichts beweist, im Gegenteil den Verdacht aufsteigen läßt, daß „im Verborgenen um so mehr geschieht".

Dazu kommen noch 38 Berichte, die von einer traurigen sexuellen Korruption der Jugend in allen Tonarten zu melden wissen — und zwar

in den Jndustriegegenden aller drei Provinzen. Das Bedenkliche ist dabei, daß in den Jndustrieorten die Sitte auch in dieser Beziehung die Jugend nicht so in der Gewalt hat als in Bauerngemeinden — oder gar nicht mehr. Das ist eben das Traurigste, daß eine starke Tendenz zur Verschlechterung vorzuliegen scheint: „es scheint recht bergab zu gehen"; „es scheint, als ob man es leichter damit nähme als vor 10 bis 15 Jahren"; „in den letzten Jahren scheint's schlechter". Soll man ruhig dem Verfall zuschauen, der unser Volk bis ins innerste Mark treffen muß, dessen Spuren erschreckend sich zeigen? Oder soll man nicht mit allen Kräften dem Abwärtsgleiten sich entgegenstemmen? Nur aus einem einzigen oberhessischen Städtchen kommt die Nachricht: „sittliche Zustände nicht gerade die besten, aber gegen frühere Zeiten soll es doch besser geworden sein." Fast möchte man dem erdrücken­ den Gegenmaterial gegenüber sagen: „die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube." Auf den Parallelismus zwischen sexueller Verderbnis und Alkoholnot ist schon oben hingewiesen worden. Als Musterbeispiel mag jenes Urteil wiederholt werden über die sexuelle Lage der Jugend: „Prozent­ satz der unehelichen Geburten seit Jahrhunderten groß. Mütter von 17 und Väter von 18 Jahren. Viele Verheiratete geben ein sehr schlechtes Vorbild" — und dazu lese man nun das Urteil über die Alkoholgefahr: „Trunksucht ein Erblaster der Gemeinde — das schlechte Vorbild der Erwachsenen wirkt verderblich auf die jungen Leute." Es ist ganz erstaunlich, in welch weitem Maße in der Umfrage dieser Parallelismus nach der guten wie nach der schlechten Seite erhärtet wird. Daß dabei auch Ausnahmen vorkommen, ist klar. Im großen und ganzen ist in Jndustriegemeinden und industriali­ sierten Dorfgemeinden die Alkoholgefahr ganz erheblich größer als in bäuerlichen Verhältnissen. Das zeigen die 131 vorliegenden Berichte deutlich Alkohol Weitere es heißt

genug. 21 der Berichte antworten auf die Frage: „Ist der eine besondere Gefahr für sie?" mit einem glatten „nein". 21 Berichte reden von einer teilweise bestehenden Alkoholgefahr, da wohl: „die jungen Leute trinken ihr Glas Bier, aber eine

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ausgesprochene Alkoholgefahr sann nicht konstatiert werden"; „ge­ ringes Wirtshausleben außer Sonntags"; „hier und da Unmäßigkeit (KirHveihe, zweite Feiertage)". Bedenklicher klingt schon eine solche Äußerung: „viel im Wirtshaus, doch scheint es nicht Regel, die Grenzen der Mäßigkeit zu überschreiten." Bei den meisten Berichten dieser Gruppe wird angegeben, daß der Alkohol „für einige ältere, für wenige, vereinzelt, teilweise gewiß, nicht mehr als überall" eine Gefahr für die Jugend bildet. Diese 42 Berichte kommen, das scheint mir wichtig, nicht nur aus noch mehr oder weniger bäuerlichen Gemeinden mit indu­ striellem Einschlag, sondern zum Teil auch aus völlig industrialisierten Gemeinden.

Diesen 42 günstigen, bzw. relativ günstigen Berichten stehen nicht

weniger als 89 ungünstige entgegen. Viele Berichterstatter begnügen sich nicht einmal auf die Frage nach bestehender Alkoholnot mit einem einfachen „ja" zu antworten, da liest man: „o ja"!; „aber sehr"; „zweifellos"; „ganz entschieden" oder gar eine „schauderhafte". Dabei betonen auch ein paar Berichte, daß die Arbeiterjugend weit mehr der Alkoholnot unterliegt, als die Bauern und Winzer. Es wird geklagt einmal über stets wachsenden, sehr starken Wirtshausbesuch und

dann über den frühen Wirtshausbesuch der Jugend. Die industrielle Jugend scheint in der Tat ihre „freie Zeit ins Wirtshaus zu verlegen", wo sie die geistige Anregung, deren sie so sehr bedarf, ganz gewiß nicht findet. Es ist unbegreiflich, wie wenig öffentliche, polizeiliche Maß­ nahmen zur Einschränkung des Wirtshausbesuches der Jugend ergriffen werden. Hält man die Gefahr nicht für groß genug? Freilich mit ge­ setzlichen Maßnahmen erzielt man noch lange keine sittlich starke Jugend. Aber das Gesetz muß mindestens die gröbsten Schäden hintanhalten helfen. Es ist ganz außer Zweifel, daß die große Zahl der Wirtschaften die Jugend in immer größere Gefahr bringt. In mehreren Orten wird die Alkoholnot der Jugend geradezu der allzu­ großen Zahl der Wirtschaften zur Last gelegt, gewiß nicht mit Unrecht. Folgende wenige Zahlen mögen zur Illustrierung dienen: in einer Groß­ stadt kommen auf 143 Einwohner, nicht nur Erwachsene, 1 Wirtschaft, in einer Jndustriegemeinde nahe der Stadt kommen auf 4500 Ein­ wohner 12 Wirtschaften, wobei es heißt: „sie leben fast nur von jugend­ lichen Burschen", und in einem kleinen Landorte 27 bis 30 Wirtshäuser auf 2191 Seelen! Es ist zu vermuten, daß es anderwärts kaum besser steht! Hat man nicht den Mut der Konzessionsverweigerung und läßt lieber manches Menschenleben zugrunde gehen? Tie Bedürfnisfrage scheint lediglich eine leere Formalität zu sein. Oder ist die Aussicht auf die paar Mark Steuer so verlockend, daß man dafür ungemessene Kapitalien sittlicher Kraft und menschlicher Intelligenz in Kauf gibt?!

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Unbegreiflich ist ferner die Aufhebung der „Polizei- oder Feierabend­ stunde", die aus mehreren Orten gemeldet wird. Man macht es also der Jugend möglich, auch noch nach Kräften die Nacht zum Alkohol­ konsum auszunützen! Eher wär« der umgekchrte Weg empfehlenswert, daß man der Jugend mindestens bis zum 17. Jahr überhaupt das Be­ treten des Wirtshauses polizeilich verbietet, eine Forderung, die schon wiederholt erhoben worden ist. Daß allerdings mit gesetzlichen Maß­ nahmen nicht alles getan ist, liegt auf der Hand, denn das Alkoholtrinken kann kein Gesetz der Jugend verbieten. Trinkt sie nicht im Wirtshaus, so trinkt sie eben anderswo.

Die Gründe zu starken Wirtshausbesuchs der Jugend liegen ja auch tiefer. Vor allen Dingen wirkt hier das Beispiel der Alteren, insbesondere der Eltern. Was soll aus der Jugend eines Industrie­

ortes anders werden als Trinker, in dem die „Zahl der Trinker von jeher besonders in dem Alter von 35 bis 50 Jahren bedeutend gewesen ist"? „Die meisten hängen sich in diesen Jahren auf." Was wunder, daß unter vier Selbstmördern, die der Pfarrer dieser Gemeinde in kurzer Zeit beerdigte, zwei jugendliche Trinker waren? Es ist ganz unausdenkbar, wie gering das Verantwortlichkeitsgefühl für die Jugend bei den weitesten Kreisen unseres Volkes ist, wer denkt daran, daß unser Leben, ob wir's wollen oder nicht, unseren Heranwachsenden zum Vor­ bild dient, zum guten oder schlechten?

Dazu kommt der dem Deutschen scheinbar schwer auszurottende Sah: „Keine Geselligkeit ohne Alkohol"; „kein Vergnügen ohne Alkohol." Daß hinter diesen Sätzen eine geradezu trostlose Auffassung von „Ver­ gnügen" und Geselligkeit steckt, scheint di« Mehrzahl nicht einzusehen. Aber die Jungen lernen alles von den Alten: auch ihre Vergnügungen. Die Folgen bedenkt selten einer — aber sie machen sich nur zu sehr bemerkbar: Stumpfheit, Unfähigkeit zum Denken, Abneigung gegen geistige und geistliche Interessen, Bosheit und Hinterhältigkeit, Förderung des Leichtsinns, der Oberflächlichkeit, der Einbildung — ganz zu schweigen von der sexuellen Gefahr. An gar manchem Orte wird die „Wirtshaus­ verödung unverkennbar" sein. Besonders gefährlich ist der Alkohol bei den Wirtshauszusammenkünften der männlichen und weiblichen Jugend und in den Spinnstuben, di« auch in stark industrialisierten Gemeinden sich noch erhalten haben. „Sonntags nachmittags trifft sich die Jugend zum Teil im Wirtshaus smännliche und weibliche) und meist schon sofort nach der Schulentlassung." „14 jährige Knaben und Mädchen fangen bereits ohne Aufsicht Trinkereien in den Spinnstuben an." „Die Gesellschasten von Burschen und Mädchen, di« zusammengehen, auch ins Wirts­ haus, bilden ein« große Gefahr in sexueller Beziehung." Daß, wie ein Berichterstatter meint, die Gewohnheit von den Städten importiert sei,

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daß Burschen und Mädchen zusammen ins Wirtshaus gehen, dürfte ein Irrtum sein. Ein weiterer Umstand verstärkt die Alkoholgefahr. Das sind d i e vielen Vereine und Vereinchen, die in vielen Fällen „WirtsHausvereine" sind. Bei vielen steht schließlich doch nur das Trinken als Hauptzweck im Hintergrund. Der Hauptbeteiligte ist der Wirt. Auf dem Lande ist das namentlich sehr stark ausgeprägt. Es soll damit nicht gesagt sein, daß alle Vereine dieser Gefahr erliegen. Aber selbst bei vielen Sportvereinen ist es der Fall — erst werden im Freien große Wettspiele veranstaltet, und am nächsten Morgen in der Frühe wanken die „auswärtigen Gäste" nach der Bahn, nachdem der Sieg begossen wurde. Es ist auffällig, daß der Deutsche vielfach keinen anderen Aus­ druck seiner Freude zu geben weiß, als daß er sich betrinkt. Noch schlimmer ist es in der Nähe der Universitäts- und Hochschulstädte. Da wird das Studententreiben nachgebildet. „Burschenschaften" werden ge­ bildet, die dann die reinen „Saufklubs" sind.

Ganz trostlos sind zu alledem noch die vielen F e st e, deren Zahl von Jahr zu Jahr rapid zu steigen scheint, und deren Quintessenz immer wieder das Trinken ist. Selbst auf kleinen Dörfern wird an jedem Sonntag fast ein Fest gefeiert; womöglich geht's Samstags schon los — natürlich mit einem „Kommers" oder Sonntags mit einem „Früh­

schoppen". Über di« ganze Leere und Inhaltslosigkeit dieser sogenannten Volksfeste muß der Alkohol hinwegtäuschcn. Von diesem Betäubungs­ mittel wird denn auch ausgiebig Gebrauch gemacht, und gerade die „Jugend suchen manche Wirte bei den Festlichkeiten heranzuziehen", von ihr versprechen sie sich scheinbar ein gutes Geschäft. Es ist merkwürdig, daß nur alle diese übertriebenen Festfeiern genehmigt werden. Daß die häufigen Tanzmusiken nicht gerade eine sittliche Förderung für die Jugend bedeuten, liegt auf der Hand. Diese Tanzwut ist ja nicht nur eine Eigenart ländlicher Orte — im Gegenteil, dort gibt's eher nur einzelne Gelegenheiten — aber in der Stadt kennt diese schließlich geistestötende Beschäftigung fast keine Grenzen mehr.

Die Alkoholnot in industriellen Gemeinden ist ohne Zweifel bis zu einem gefährlichen Grade gestiegen — die Opfer des Alkohols auch unter der Jugend sind nicht gering. Es liegt „zum großen Teil an der Unaufgeklärtheit", sagen die einen. Wer soll denn diese Arbeit der Aufklärung leisten? Gerade in den gefährdeten Jahren ist der Halt der Schule verloren, das Elternhaus versagt häufig, gibt am Ende noch ein schlechtes Beispiel. Wer soll's tun? Die Belehrung in den Schulen scheint auch noch nicht intensiv genug zu sein. Was hilft

schließlich auch die theoretische Unterweisung? Wo soll die Jugend gesellig zusammenkommen? — Das Wirtshaus ist ja meist der einzige

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Ort, der sich ihnen dazu bietet. Wo sollen sie es denn lernen, Gefallen zu finden an edler Unterhaltung, anregender Belehrung und frisch-frohem Spiel ohne Alkoholgenuß, wo sollen sie's denn erfahren, daß man auch ohne Alkohol fröhlich sein kann — noch dazu ohne alle üblen Nein­ dinge, reiner und harmloser — wie man seine Ruhezeit wirklich zu einer Erholung des Leibes und der Seele machen kann? Ja, auch des Leibes. Nicht nur der Ruhe bedarf der Körper des Arbeiters, des Schreibers, des Kontoristen — gerade der Ausdehnung, der Betätigung. Tie ganze Woche eingeschlossen im engen Raum, in stickiger Luft, am Ende nur wenig Sonne im Arbeitsraum, über die Arbeit gebeugt, Stunde um Stunde — Tag um Tag — und der junge Mensch ist in der Entwicklung, braucht unmäßig Licht, Luft und Sonne, damit sein Körper die Umwälzungen der Entwicklungszeit gut überstehe — und dabei sitzt der junge Mensch auch noch die paar Stunden, die ihm die Arbeit noch läßt, in rauchiger Stube, bei stundenlangem, geistmordendem Skatspiel, die qualmende Zigarre im Munde beim Alkoholgenuß — und verkümmert innerlich und äußerlich. Hilfe tut not! dringend not! Taß auch die Jugend, was speziell die Alkoholnot angeht, nicht der Hilfe abgeneigt ist, zeigt die Tatsache, daß „der Einfluß der Abstinenzund Mäßigkeitsbewegung", wie es in einem Orte heißt, „auf die Jugend nicht zu verkennen ist". Aus einem anderen Orte kommt gar die kaum glaubliche Kunde, daß „allgemein der Verbrauch von Bier und Brannt­ wein abnimmt und die Wirtshäuser leerer werden". Daß namentlich in den Kreisen höherer Schüler die Antialkoholbewegung ihre Erfolge zu verzeichnen hat, ist unverkennbar. Womit nicht gesagt sein soll, daß es bei den höhern Schülern im Punkt Alkohol besser steht als bei der Arbeiterjugend oder kaufmännischen Jugend. Auch in sexueller Be­ ziehung besteht kaum ein Vorzug der höheren Schüler gegenüber der industriellen Jugend etwa — man kann da die traurigsten Erfahrungen machen, die evident zeigen, daß „Bildung" noch lange nicht gleichbedeutend ist mit sittlicher Kraft. Ein Zug, der die industrielle Jugend von der bäuerlichen deutlich abzuheben scheint, ist das verfrühte Selbständigkeits­ gefühl. Häufig wird von „einem starken Trieb oder Drang nach Freiheit und Ungebundenheit" gesprochen. Dieser Freiheitsdrang äußert sich in starkem Ungehorsam der Jugend gegen die Eltern — und nicht

nur gegen sie. Mehr und mehr werden gerade der industriellen Jugend alle Autoritäten sckstvankend. Jede Erziehung, jede Beeinflussung, jede Grenze, die ihr gezogen wird, erscheint ihr als unberechtigte Fessel, als widerrechtliche Beeinträchtigung eigenen Rechtes. „Man fragt vielfach nicht nach Autorität." „Es macht sich eben mehr und mehr der nach menschlicher und göttlicher Autorität wenig fragende Geist bemerkbar."

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Dabei ist das eigentümliche Merkmal dieses Freiheitsdranges und der Autoritätenverachtung, daß die Jugend selber Autorität sein will in ihrem Kreise, daß sie „möglichst frei sein will von jeder Autorität, aber jedem jungen Mann ihre Lebensformen als normale aufdrängen will". Über, dies sieht es mit dieser „Freiheit" oft sehr scheu aus. Denn, was die Jugend Freiheit nennt, ist oft genug nichts anderes als das Sichbeugen unter irreguläre Autoritäten — das Annehmen von draußen eindrin­ gender Lebensgewohnheiten oder des in gewissen Kreisen herrschenden Dones oder aber die Gebundenheit „an dörfliche oder berufliche Ver­ bände". Freilich nicht von überallher wird in solcher Weise von der ungesunden Selbständigkeit der Jugend berichtet, aus einer stark industrialisierten Gemeinde z. B., aus der die Hälfte der Jugend auswärts zur Arbeit geht, wird geschrieben: „Gleich der ganzen Gemeinde sind sie im allgemeinen noch von Ehrfurcht vor den unsichtbaren und sichtbaren

Autoritäten erfüllt." Wobei man den Passus „im allgemeinen noch" nicht übersehen darf. Es ist zweifellos, daß die bäuerliche Jugend unter stärkeren Autori­ täten steht, als die industrielle. Ebensowenig ist es zweifelhaft, daß die stärkere sittliche Bedrohung der industriellen Jugend, ja ihre sittliche Verrohung gerade in der niedrigen Achtung oder gar Verachtung jeglicher Autorität ihren Grund hat. Daß es zu den „Normalitäten" des Ent­ wicklungsalters gehört, daß das zur Selbständigkeit erwachende Ich sich gegen jede Begrenzung und Knebelung wehrt, hat Bauer gezeigt. Und gewiß liegt in dieser Abwehr der Autorität bis zu einem gewissen Grade ein gut Stück Nottvehr der reifenden Seele gegen die Einflüsse der Er­ wachsenen, die in ihrem Egoismus die selbständige Regung des Heranwachsenden unterdrücken und jede Seele nach ihrem Schema modeln möchten. Wenn aber Kritiklust an jeder Autorität bei einer gesunden Jugend auch normal genannt werden muß, so darf man doch nicht übersehen, daß die Auflehnung der industriellen Jugend gegen die Autoritäten das „Normale" doch bedenklich zu übersteigen scheint.

Schon in der Schule scheint dieser Freiheitsdrang sich merkwürdig auszuprägen: „Sie mucken gern auf, schon in den letzten Schuljahren." „In der Schule zeigt sich schon bei vielen ein vom Elternhaus direkt oder indirekt gepflegtes Auflehnen gegen Autorität." Freilich muß man ja gegen solche Urteile vorsichtig sein, da sie am Ende sehr stark auf persönlicher Anschauung über „Auflehnung" beruhen. Daß aber die kirchliche Autorität sehr stark geschwunden ist, das ist außer Frage. „Der unkirchliche Sinn ist in der Zunahme begriffen"; die Kirchlichkeit der Jugend ist „sehr schlecht"; die Jugend ist „gleichgültig" oder „indifferent", „wenig kirchlich", „antikirchlich", „unkirchlich", „kirchenscheu", sie hat „Mißtrauen gegen die Kirche"; die Page, Jugendpflege.

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Kirchlichkeit ist „mehr als mangelhaft", solche Urteile aus mehr oder weniger stark industriellen Gemeinden sind sehr häufig, während sie aus Bauerngemeinden völlig fehlen. Dabei sind es einzelne Gebiete, in denen die Kirchlichkeit der Jugend ganz erschreckend minimal ist. Dazu gehört fast ganz Rheinhessen — aber bezeichnenderweise besonders die völlig von der Industrie eroberten Gebiete. Aus dem Dekanat Offenb a ch z. B. liegen sechs Urteile über di« religiös - kirchliche Lage der Jugend vor (ohne Stadt Offenbach). Hier sind sie: die Jugend ist „un­ religiös", „nnkirchlich", „ablehnend", „zu 75% unkirchlich", „das kirchliche Interesse ist gleich Null". Das sechste Urteil aber lautet „religiös interessiert". Über das religiöse Interesse bei mangelhafter Kirchlich­ keit wird noch zu reden sein. Man würde allerdings unrecht tun, wenn man nur die ungünstigen Urteile berücksichtigen wollte. Es fehlt nämlich auch nicht an günstigen Urteilen, sogar aus sehr stark industrialisierten Gemeinden: Di« Kirchlichkeit der Jugend ist „noch vorhanden; gemein­ samer Abendmahlsgang der Jugend"; „ziemlich gut"; „gut"; ja sogar „sehr gut"! Letztere Angabe stammt aus einer bäuerlichen Industrie­ gemeinde, aus der mehr als drei Viertel der Jugend auswärts arbeiten. Hier und da wird geschrieben, daß noch kirchlicher Sinn unter der Jugend vorhanden ist, daß der Abendmahlsbesuch der Jugend keinen Rückgang erleidet. Auffallend ist die Tatsache, daß Christen- oder Katechismuslehre auch in den industriellen Gemeinden noch sehr starken Boden hat. Selbst aus Gemeinden, wo von Kirchenscheu der Jugend gesprochen wird, wird berichtet, daß die Christenlehre regelmäßig besucht wird. Also scheint das Urteil sehr begründet: „die Jugend ist noch zu gewinnen." Warum aber entwöhnt sich die Jugend, nachdem sie nicht mehr christenlehrpflichtig ist, so schnell des Kirchenbesuches? Die Ant­ wort ist eigentlich recht einfach. Solange die Kirche, d. h. Gemeinde und Pfarrer, sich an der Jugend betätigen, solange hat sie Interesse für Gemeinde und kirchliche Dinge. Dann bleibt sie, gerade in der Zeit des stärksten innern Selbständigwerdens, sich selbst überlassen — und die Unkirchlichkeit beginnt! Nur ein einziger Bericht aus einer durchaus der Industrie anheimgefallenen Gemeinde besagt, daß „die Jugend von 14 bis 17 Jahren völlig kirchenfeindlich" sei! Viel betrüblicher als die Tatsache der wachsenden Unkirchlichkeit der Jugend ist die Tatsache, daß auch der religiöse Sinn, das religiöse Interesse im Schwinden begriffen zu sein scheint. Hier ist wohl auf das „scheint" ein sehr starker Ton zu legen. Denn im großen und ganzen wird wohl der Maßstab für die Beurteilung des religiösen Interesses der Jugend der Kirchenbesuch gewesen sein. Welchen anderen Maßstab soll schließlich anch der Pfarrer eben für die Reli­ giosität der Jugend haben, wenn er gar keine Fühlung mit der Jugend

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hat, zumal wenn sie der Christenlehre entwachsen ist? Woher soll ein der Jugend Fernstehender ihr allerzartestes, innerlichstes Denken und Fühlen kennen, das die Jugend allgemeiner psychologischer Erfahrung nach noch dazu keusch im Innersten verschließt, dessen Vorhandensein sie durch eine stachelige Schale nach außen hin zu bemänteln sucht? Dazu kommt die Gefahr, daß man „Religiosität" verwechselt mit Anerkennung irgendeines dogmatischen Systems. Dafür ist die Jugend aber so gründlich als nur irgend möglich unempfänglich — Gott sei Dank! So darf man wohl der Beurteilung über die religiöse Lage der industriellen Jugend mit einigem Mißtrauen begegnen. Daß gerade die industrielle Jugend oft genug starkes religiöses Interesse hat, gerade im Stadium des erwachen­ den selbständigen Urteils und kritischer Betrachtung aller Erscheinungen viel mit religiösen Dingen sich beschäftigt, ist für den, der ein wenig in die Jugend hineinhorcht, ganz zweifellos. Freilich steht jenes oben an­ geführte Urteil, daß die Jugend wohl unkirchlich, aber „religiös interessiert" sei, ziemlich isoliert da. Aber darum ist es noch lange nicht falsch. Es wird mehrfach berichtet, daß die Jugend „fast keinen Sinn, noch weniger Interesse für religiöse Dinge habe", daß man „Geringschätzung der Religion" bei ihr beobachtet, daß sie „vielfach irreligiös sei", daß sie „die Religion als etwas Überflüssiges, als ein Mittel zur Volksverdummung betrachten". Gerade das letzte Urteil stimmt nach­ denklich. Ob es sich nicht vielfach um ein Nachplappern verhetzender Schlagworte handelt? Schlagworte aber dringen nicht in die Tiefe, sie hasten an der Oberfläche. Andere sind eben am Werke, destruktive Elemente, und tun ihre Arbeit — und die Gemeinde, was tut sie? — Es heißt da in drei Berichten: „Die Jugend ist religiöser Erziehung nicht geneigt", „sie ist ablehnend gegen religiöse oder kirchliche Beein­ flussung", „sie entzieht sich dem Pfarrer" — aber es gibt auch andere Urteile: „Im allgemeinen ist die Jugend ehrerbietig, dem Pfarrer usw. begegnen sie mit Respekt." „Trotz allem ist die L......................... er Jugend freundlich, anhänglich, gefügig, pietätvoll gegen die Lehrer und Pfarrer." Zusammenfassend wird man sagen müssen: die kirchliche Autorität i st sehr stark erschüttert und im Schwinden begriffen — religiöser Sinn scheint noch viel vor­

handen zu sein. In welchem Maße die Autoritäten für die heutige nichtbäuerliche Jugend schwankend geworden sind, zeigt sich vielleicht am deutlichsten

und erschreckendsten in der Stellung der industriellen Jugend zum Elternhause. Über das Verhältnis von Jugend zu Elternhaus und umgekehrt in industriellen Gemeinden liegen nicht weniger als 154 Berichte vor. Es steht nun nicht so, als ob jedes innere Verhältnis der Jugend zum Elternhause geschwunden wäre. 58 Berichte,

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also ein reichliches Drittel, beurteilen das Verhältnis günstig oder wenigstens relativ günstig. Und zwar stammen diese Urteile nicht nur aus Gemeinden mit geringem industriellem Einschlag, sondern teilweise aus völlig industrialisierten Gemeinden mit noch dazu zum Teil ganz erheblichem Prozentsatz Auswärtiger. 20 Berichte bezeichnen das Ver­ hältnis der Jugend zum Elternhaus als rundweg „gut", 22 fügen zu dem „gut" mehr oder minder einschränkende Bemerkungen hinzu: „nach unserem Wissen gut"; „im allgemeinen gut"; „gut mit wenigen Aus­ nahmen"; „abgesehen von einigen krassen Fällen gut". 9 Berichte urteilen über die Stellung der Jugend zum Elternhaus in diesem Tone: „befriedigend"; „im allgemeinen befriedigend"; „meist zufriedenstellend". 7 weitere Berichte urteilen teils sehr vorsichtig: „nichts Nachteiliges be­ kannt"; „soweit bekannt ein erträgliches"; zum größten Teil sind die Urteile bedenklicherweise negativ abgefaßt: „im allgemeinen nicht schlecht"; „nicht gerade schlimm im ganzen".

Eine Reihe von Berichten lassen geradezu hineinschauen in die Ent­ wicklung, die auf diesem Gebiete vor sich geht. Mit Betrübnis muß man feststellen, daß diese Entwicklung sich nicht zum Besseren wendet, sondern bergab führt — und zwar, so will's scheinen, rapid abwärts geht. Das Gespenst „Noch" geht hier sehr stark um. In diesem traurigen Wörtlein spiegelt sich die Entwicklung zum Schlechteren, die Tatsache, daß das Ver­ hältnis zwischen Jugend und Elternhaus in vielen industriellen Gemeinden sehr stark erschüttert ist, und daß der Rest des noch bestehenden guten Verhältnisses stark bedroht erscheint. Das Verhältnis ist „noch gut", „noch ziemlich gut". Die Jugend ist „noch zum größten Teil an die Familien anhängig". „Es sind noch Reste des patriarchalischen Systems vorhanden, aber sie sind auch bedroht." Die Verbindung der Jugend mit dem Elternhaus „fängt an sich zu lockern, es ist aber noch eine gewisse Pietät vorhanden". „Man klagt, daß Pietät und Gehorsam abnehmen." „Es wird nach und nach schlechter." Die Berichte lassen auch nicht den geringsten Zweifel darüber, in welchen Kreisen die Lockerung der Fannlienbande am meisten Fort­ schritte gemacht hat. Mit großer Deutlichkeit zeigt sich, daß in den Kreisen der I n d u st r i e b e v ö l k e r u n g die Achtung vor dem Elternhause ganz erheblich abgenommen hat, während bei der bäuerlichen Bevölkerung Autorität und Pietät im großen und ganzen noch das Feld behaupten. Diese Tatsache läßt sich aus der Umfrage stark belegen. „Tie

Landwirte stehen noch in engerem Verhältnis zum Elternhaus und zur Dienstherrschaft, auch die im Handwerk Beschäftigten, weniger die jungen Arbeiter." „In der Landwirtschaft und im Handwerk meist noch gut, das der in der Steinindustrie Beschäftigten dürfte besser sein." „Jeder Teil (Eltern und Jugend) geht in der Regel seine eigenen Wege; ein

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enges Familienleben ist kaum noch vorhanden, am meisten noch bei den besseren Bauernfamilien." „In den Häusern der geringeren Leute (Arbeiter, Schindler, Taglöhnerj ist die Autorität sehr gelockert, die jungen Leute sind die Herren, anders in der Landwirtschaft." Und nicht nur, daß in der jungen Arbeiterschaft das Band zwischen Eltern und Jugend mehr und mehr zerreißt, daß sich da „ein Geist der Insubordi­ nation und Rücksichtslosigkeit geltend macht" — vielen Bauernsöhnen dauert es viel zu lange, bis sie die Landwirtschaft des Vaters über­ nehmen sollen, sie warten gar nicht darauf, sondern heiraten und trennen sich völlig vom Elternhaus. Die Industrie erscheint als die Haupt­ schuldige an der traurigen Tatsache, die ein Bericht wohl etwas zu stark so ausspricht: „Nur selten besteht in Wahrheit noch ein Band zwischen

beiden." Wenn auch diese Anschauung vielleicht als etwas zu pessimistisch er­ scheint, es steckt doch viel mehr als ein Körnlein Wahrheit dahinter. Eine wahre Flut trauriger Schilderungen ergibt sich aus den Blättern der Umfrage: im ganzen 73, die 23 nicht mitgerechnet, die deutlich die Ab­ wärtsentwicklung verraten. Es bleibt nicht nur bei solchen allgemeinen Bemerkungen: „Es wird viel geklagt"; „manche bösen Erfahrungen liegen vor"; „einzelne böse Fälle deuten darauf hin, daß die Jungen nicht mehr die nötige Unterordnung besitzen". Die Klage wird erhoben, daß

das Verhältnis zwischen Jugend und Elternhaus „vielfach nicht das richtige ist", daß es „wärmer und inniger sein dürfte", daß „die Verbindung mit dem Elternhause sehr locker ist"; „die elterliche Autorität ist erschüttert", sie wankt in den Grundfesten, das ist das Motto, das durch alle diese Berichte hindurchzieht, die bezeichnenderweise weit in der Mehrzahl aus sehr stark oder völlig industrialisierten Gemeinden mit großen Prozentsätzen Auswärtiger stammen. „Die Autorität der Eltern wird wenig anerkannt", heißt es, „häufig fehlt der Jugend bald jede Autorität", bis zu dem geradezu trostlosen, erschütternden Urteil: „Die Autorität des Elternhauses ist — abgesehen von Ausnahmen — nicht vorhanden!" Eine erschreckende Pietätlosigkeit gegen das Elternhaus wird gar häufig beobachtet: „Der Respekt hat vielfach Not gelitten." „Den Eltern gegenüber oft Unabhängigkeit, wozu das andere Ge­ schlecht mithilft." „Die jungen Leute stehen dem Elternhaus sehr frei gegenüber", sind „frech und anmaßend", „mehr als gut unabhängig und vielfach unbotmäßig", „auf das Elternhaus wird nicht allzuviel Rücksicht genommen", „teils ist die Jugend kindlich untertan, teils und meistenteils aufbegehrend und widersetzlich", ja „in vielen Fällen die Eltern verachtend"! Dazu kommt erschwerend, daß die Unabhängigkeit der Jugend vom Elternhaus nicht etwa erst bei der Jungmännerwelt be­ ginnt, etwa mit der Gründung eines eigenen Hausstandes, die Jungen

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„verlieren sehr früh den Zusammenhang mit dem Elternhaus", „früh ist sie der Zucht des Elternhauses entwachsen", nur zu früh. Schon gleich nach der Schulentlassung fühlt sich der Junge als ein freier, selb­ ständiger, erwachsener Mann, der seine eigenen Wege zu gehen weiß, sie wenigstens geht. Selbst da, „wo man sich noch im allgemeinen mit den Eltern hält", wo das Verhältnis der Eltern zu den Kindern „meist noch patriarchalisch" begründet ist, „fragt man nicht viel nach Geboten und Mahnungen der Eltern, namentlich außerhalb des Elternhauses, man braucht sich in sittlicher Beziehung nichts mehr sagen zu lassen", man

fragt nicht nach den Ettern und „sperrt sich ab gegen elterliche Beein­ flussung zum Guten". Und wenn die Eltern doch nicht Nachlassen und mit Strenge auf die Jugend einzuwirken suchen, nun, man weiß sich dem elterlichen Einfluß zu entziehen, man zieht aus und mietet eine Schlaf­ stelle. In der Tat wohnt vielfach die Arbeiterjugend nicht mehr bei den Eltern, sondern in Schlafstellen — dann ist jeder Einfluß von feiten der Eltern ausgeschattet, sie sind „kaltgestellt". Man täte nun der Jugend bitter unrecht, wollte man ihr a l l e i n die Schuld an der tief bedauerlichen, stets wachsenden Entfremdung zwischen Jugend und Elternhaus zuschieben. Es ist seltsam, daß man eigentlich nur die Klagen der Eltern über ihre Kinder anhört — und nicht auch hier nach dem Grundsatz verfährt: auch die andere Partei muß gehört werden. Man macht bei jener Gepflogenheit die stille Voraussetzung, als ob die Ettern in idealer Weise ihre Pflicht täten, und die junge Generation allein verantwortlich wäre für ihre „undank­ bare und unkindliche" Abkehr vom Elternhause. Die Berichte aber reden teilweise (über 30) eine ganz andere Sprache. Sie bestätigen das Wort: „Das Böse liegt mitten zwischen zweien." Denn nicht nur das Ver­ hältnis der Kinder zu den Eltern ist alles andere als ideal — w i e steht's denn mit dem Verhältnis der Eltern zu den Kindern? „Das Verhältnis läßt beiderseits zu wünschen übrig", es ist „durchweg recht schlecht, und zwar in beiderlei Hinsicht: dem Elternhaus fehlt die Autorität und den jungen Leuten die Pietät. Es sucht jedes das Seine", das Verhältnis zwischen Jugend und Eltern­ haus ist ein solches „der Unterordnung im umgekehrten Verhältnis". Diese drei Urteile sprechen Bände! Hier liegt der tiefste Schaden: Das Elternhaus hat die Lockerung der Verbindung zwischen Jugend und Eltern mit auf dem Gewissen. Dabei muß man sich freilich bewußt bleiben, daß es Elternhäuser — Gott sei Dank! — gibt, „wo die sittlichen Voraussetzungen auf seilen der Eltern vorHanden sind", die Jugend verständig und stark zu erziehen — sie gibt es unter der Arbeiterbevölkerung ebensogut, wie sie in den sogenannten besseren Kreisen fehlen können! Aber die Tendenz, auf die Autorität

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gar zu schnell zu verzichten, der Jugend in unverständiger Weise Freiheit zu lassen, ist vielleicht weiter verbreitet, als mancher ahnt, als auch viel­ leicht die Berichte der Umfrage erkennen lassen, und gewiß nicht nur in den Kreisen der „geringen Leute"! Oft genug ist die Mißachtung den Eltern gegenüber nichts weiter als die Frucht mangelnder Erziehung in früher Jugend und in der Schulzeit. Woher sollten Kinder in den Jahren nach der Schulentlassung Achtung, Ehrfurcht und Gehorsam gegen die Eltern haben, wenn niemals ernstlich versucht wurde, mit Strenge und Kon­ sequenz die Kinder zum Gehorsam zu erziehen, wenn niemals der Ver­ such zur Lösung der „Gehorsamsfrage" ernstlich unternommen wurde? Nicht mit Unrecht wird das schlechte Verhältnis zum Elternhaus auf den „Mangel an Erziehung im Alter unter 14 Jahren" zurückgeführt. „Tie elterliche Zucht dürfte von allerfrühester Jugend an besser sein. Aus­ wüchse bei der vorschulpflichtigen und schulpflichtigen Jugend fast noch mehr als bei den Schulentlassenen." „Die jungen Leute haben größtenteils schon als Kinder viel freien Willen, die elterliche Autorität wird meist nicht zur Geltung gebracht; infolgedessen lassen sich die Kon­ firmanden nicht viel sagen, und Eltern und Lehrmeister sind vielfach zu schwach oder gleichgültig, abgesehen von Beruf und Ver­ dienst, ein Wort zu riskieren." Nur zwei Berichte wissen zu sagen, „daß die Eltern Einfluß haben und ihn auch üben", daß sie „noch Zucht und Regiment über ihre Söhne haben". Es wird darauf hingewiesen, daß „in bäuerlichen Familien in der Regel bessere Zucht herrscht", als bei den Arbeitern, aber auch hier erhebt sich die Klage, „die Jugend wird sich

zuviel selbst überlassen", namentlich bei den Spinnstuben, „zu ihrem größten eigenen Schaden". Das ist eine unbestreitbare Tatsache, daß die Jugend zuviel sich selbst überlassen ist. Die Eltern sind oft geradezu genötigt, die Autorität milde zu handhaben, um ein einigermaßen er­ trägliches Verhältnis zu den Heranwachsenden Söhnen zu haben. Sie verzichten lieber auf die Ausübung der elterlichen Gewalt. "Das ist nicht die Schuld der Jungen, sondern der Eltern — das ist „die Schuld aus früheren Jahren", wo die Anwendung der elterlichen Gewalt versäumt wurde. Ein herangewachsener Baum läßt sich nicht mehr biegen. Zahl­ reich sind diese die Eltern anklagenden Berichte: „Die Eltern lassen es häufig an der nötigen Autorität ihren Kindern gegenüber fehlen"; „die Eltern machen ihre Autorität wenig geltend"; „sie besitzen fast gar keine Gewalt über die Kinder"; „die Eltern sind schwach und deshalb die jungen Leute oft undankbar und ungehorsam gegen sie". Es ist eine traurige Erscheinung, daß die Eltern nicht nur keine Macht über ihre Kinder mehr haben, sie machen vielfach noch nicht einmal den B ersuch, die Zügel in den Händen zu behalten — sie haben am Ende

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in Wahrheit nie Einfluß auf ihre Kinder gehabt. Es mag wicht manchen Eltern so gegangen sein, daß sie vor der Anmaßung und Frechheit ihrer Jungen schließlich kapitulierten: „die Alten fügen sich mit der Zeit und werden gleichgültig." Aber wie groß ist die Zahl derer, die ihre Kinder wie das Unkraut im Straßengraben aufwachsen lassen: „viele wollen gar keinen Einfluß haben." Es ist freilich schwer und unbequem, über Heranwachsende junge Menschen zu wachen, Einfluß auf sie zu gewinnen nnd sie zu leiten. Die Bequemlichkeit war schon von jeher stärker als das Pflichtgefühl. Wieviel Eltern haben überhaupt nur eine leise Ahnung von der ungeheuren Verantwortung, die sie für ihre Kinder zn tragen haben! Namentlich nach der Schulentlassung greifen sie zu allerlei bequemen Ausflüchten: Jetzt ist er'alt genug, um zu wissen, was er zu tun hat. Man dichtet damit aus Faulheit dem Heranwachsenden Geschlecht die Reife an, um die es unter schweren Kämpfen ringt. Die Gefahr ist darum verzehnfacht. Aber es ist Tat­ sache: „Man läßt den jungen Leuten zuviel Freiheit." An und für sich ist das nicht so schlimm — aber deshalb ist die sehr bequeme Art, ihnen den Willen zu lassen, so unausdenkbar gefährlich, weil die jungen Leute nicht für die Freiheit erzogen sind. Besonders machen sich die Eltern wenig Sorge „um die Benutzung der freien Zeit". So wird auch ein bitteres Urteil verständlich, wie dieses: „Sie haben lveder Kraft noch Mut, den Herren Söhnen nach der Konfirmation noch krafwolle Erziehung angedeihen zu lassen." Das aber steht außer Zweifel: wenn die Jugend wirklich unbotmäßig geworden ist gegen das Elternhaus, so tragen die Eltern ein gut Stück Schuld mit daran. Tie jungen Leute stehen also int großen und ganzen in einem recht unerfreulichen Verhältnis zum Elternhaus, und umgekehrt scheint es nicht viel besser zu sein. Wie steht es aber um die Autorität der Lehrmeister, Arbeitgeber und Dien st Herren, in deren Hände die Jugend nach der Schulentlassung übergeht? Haben sie mehr Einfluß auf die Jugend, ersetzen sie den Mangel an Erziehung, der vom Elternhanse her besteht? Man kann fast mit einem runden Nein ant­ worten. Zwar erhebt sich auch hie und da einmal eine günstige Stimme: „Man hört von Ausschreitungen gegen Eltern oder Arbeitgeber selten." Ob man ein solches Urteil aber wirklich günstig nennen kann? Die ungünstigen Urteile überwiegen weit: „die Lehrmeister und Arbeitgeber haben wenig Autorität"; „das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und -nehmern ist lose"; „die Meister und Arbeitgeber klagen sehr". Ihre Klagen sind gar mannigfaltig: „vielfach macht sich ein Geist der In­ subordination und Rücksichtslosigkeit geltend." Und besonders häufig wird das Mißtrauen, ja die Feindseligkeit betont, die die Jugend gegen Lehrmeister und Dienstherren beseelt. Es ist schließlich nicht anders wie

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bei dem Verhältnis zum Elternhause auch: der Jugend fehlt die Pietät, dem Lehrmeister die Autorität. Auch hier ergibt sich die Beobachtung, daß in landwirtschaftlichen Betrieben die Dienstboten enger mit der Herrschaft verknüpft sind als der Arbeiter und Lehrling mit dem Arbeit­ geber und Lehrmeister. Gleichwohl wird freilich berichtet, daß „die Tienstherren über das Gesinde besonders Klage führen". Und doch scheint, zunächst auffallenderweise, das Verhältnis zwischen Lehrmeister und Jugend besser zu sein als das zwischen Eltern und Jugend. Dafür liegen eine ganze Reihe Zeugnisse vor, selbst wenn sie so vorsichtig sind wie folgendes: „das Ver­ hältnis zu den Lehrmeistern und umgekehrt gibt, wenn auch seltener (als das zu den Eltern) auch zu Klagen Anlaß." Andere Berichte äußern sich viel positiver: „die Autorität der Lehrmeister ist noch mehr vorhanden"; „die elterliche Autorität ist erschüttert, die der Lehrmeister besteht noch". Man könnte sich darüber freuen, daß wenigstens eine Autorität für die jungen Leute besteht. Es fragt sich nur, worauf sich dies5 Achtung gegenüber dem Lehrmeister bzw. Arbeit­ geber gründet, und sodann, wie die Autorität der Arbeitsherren geübt wird. Wenn man nach Antworten sucht, wird die Freude ganz erheblich herabgestimmt. Denn es zeigt sich, daß diese Achtung vor dem Arbeits­ herrn und seine Autorität durchaus nicht immer — oder soll man sagen: überhaupt nicht? — sittlich orientiert ist. „Vielleicht ist die Achtung gegen den Lehrmeister noch größer als gegen die Eltern, da ja von ihm und nicht weiter von den Eltern die berufliche Ausrüstung der jungen Menschen abhängt." „Die Autorität der Eltern wird wenig anerkannt, die des Lehrmeisters nur soweit es unumgänglich nötig ist." Wie weit reicht nun diese „unumgängliche Notwendigkeit"? „Gehorsam und Unterordnung bloß aus Nützlichkeitsgründen, um nicht die Stelle zu verlieren." Man pariert also mit knapper Not so weit, daß man nicht davongejagt wird! Oder aber „mit dem Arbeitgeber sucht man sich gut zu stellen, damit man gut bezahlt wird." Nur „Nützlichkeitsgründe" gelten! Kein Wunder, daß bei solchem Verhalten der Jugend, das nur das notwendigste Maß der Zucht darstellt, die Jugend „von den Meistern oft schirr zu behandeln ist". Und wenn tatsächlich der Arbeitsherr seine Autorität behauptet, so reicht sie doch nur so weit, als es sich um die Arbeit dreht — und nur für die Dauer der Arbeitszeit. „Außerhalb der Arbeit wird nicht viel nach dem Arbeitgeber gefragt." Die Klage erhebt sich, daß „die jungen Leute sich zu wenig in sittlicher Beziehung vom Lehrherrn sagen lassen". Wenn also die Jugend auf Lehrmeister, Arbeitgeber, Dienstherren noch mehr Rücksicht nimmt als auf die Eltern, so geschieht es oft genug aus egoistischen Gründen: um sich die Ausbildung nicht zu erschweren, die

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Stellung nicht zu verlieren, bessere Bezahlung zu erlangen. Im übrigen wird der Lehrmeister usw. kaum als Erzieher anerkannt. Darin liegt eine bedenkliche Fehlentwicklung. Das Elternhaus versagt häufig — einerlei warum — und der Arbeitgeber, der die Heranwachsende Jugend in den Händen hat — versagt, was die Erziehung der Jugend anbetrifft, ebenfalls. Daran ist wiederum nicht nur die Jugend schuld. Man kann mit einem gewissen Recht in der Entwicklung vom Kleinhandwerk zur Großindustrie die Ursache suchen. Früher trat der Lehrling nicht nur in die Lehre bei einem Meister ein, sondern geradezu in dessen Familie und damit auch in seine Erziehung. Durch das gemeinsame Wohnen, die gemeinsamen Mahlzeiten, Spaziergänge, kurz durch das dauernde Zu­ sammensein bildete sich einerseits bei dem Lehrling ein enges Verhältnis zu seinem Lehrmeister, und andrerseits fühlte sich der Lehrmeister durch­ aus verantwortlich für seinen Lehrling, und zwar nicht nur während der Arbeitszeit, sondern ebensogut während der Freizeit, besonders des Sonn­ tags. Dieses patriarchalische Verhältnis zwischen Lehrling und Lehrmeister, das sich dem vom Sohn zum Vater und umgekehrt näherte, ist sehr stark geschwunden. In kleinen Landorten mit handwerktreibender Bevölkerung findet es sich noch, z. B. in den kleinen Städtchen OberHessens. Da wohnen auch die Lehrlinge noch im Hause des Meisters. Betrüblicherweise kommt das immer mehr ab. „Die Lehrherren haben z. T. die Lehrlinge im Haus, aber nicht immer gern." Das mag auch daran liegen, daß die Jugend zu häufigen Klagen über „vorlautes Wesen und Unbotmäßigkeit" Anlaß gibt. Es scheint aber auch zweifellos da­ durch begründet zu sein, daß das Verantwortlichkeilsgefühl des Meisters gegenüber deut Lehrling nicht mehr in gleichem Maße vorhanden ist als früher. „Junge Leute von auswärts finden wenig Anschluß an Haus und Familie des Dienst- oder Lehrherrn." Oder man höre nur eine solche schwere Anklage wie diese: „Die Dienstboten haben oft kein rechtes Heim, wenn sie abends mit der Arbeit fertig sind. Anregung zur Sammlung meinerseits fand in der Gemeinde bis jetzt noch keinen Widerhall!" Also selbst da, wo die Dienstboten dauernd im Hause des Dienst­ herrn oder Lehrherrn sind, kümmert man sich nur darum, ob und wie sie ihre Arbeit tun. Zu weiterem scheint man sich nicht verpflichtet zu fühlen. Was soll da erst in den großen Fabriken werden, wo die Meister die Lehrlinge — und dazu noch in erheblicher Zahl! — nur während der Arbeitszeit beeinflussen können?! Dem Urteil ist nur zuzustimmen: „Da die meisten in die Fabrik gehen, ist von einer sittlichen Autorität des Arbeitgebers nicht die Rede." Da tragen die Persönlich­ keiten nicht so sehr die Schuld, als vielmehr die Verhältnisse, die die moderne Industrie nun einmal geschaffen hat. Selbst da, wo die Fabrik-

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leitung „für die jungen Leute etwas übrig hat", ist sie doch kaum im­ stande, für deren Erziehung direkt etwas zu tun, wenn auch dadurch die jungen Leute in freundlichem Verhältnis zu ihr stehen. Noch nicht einmal das ist immer der Fall, daß gute Behandlung seitens der Dienst­ herrschaft auch ein gutes Verhältnis der Lehrlinge und Dienstboten zu ihr begründet! Aber selbst da, wo es möglich wäre, „kümmern sich Lehrmeister und Arbeitgeber wenig um die jungen Leute". Die Meister und Dienstherrn haben auch heutzutage keine leichte Aufgabe der Jugend gegenüber. Wenn sie Zucht zu üben versuchen, „quittieren die Herrn den Dienst und laufen fort". Die Eltern, die dem Lehrmeister usw. zur Seite stehen sollten, haben keine Autorität. Was soll da der Lehrmeister machen? „Er muß sich nach der Jugend richten, die etwaiger Strenge zu begegnen weiß." Es gibt ja genug andere Arbeitsgelegenheit! Wenn nun noch hinzukommt, daß die Lehrherrn, Dienstherrn und Arbeitgeber „vielfach zu schwach oder gleichgültig sind, abgesehen von Beruf und Verdienst, ein Wort zu riskieren", was kann anders die Folge sein, als daß die Jugend, sich selbst überlassen, immer schlimmerer Entartung entgegengeht?!

§ 6. Die Ursachen der Not. Tie alten Autoritäten sind für die heutige Jugend wankend ge­ worden! Darum erscheint heute die Jugend roher und ungezogener als früher — und die Entwicklung scheint immer mehr abwärts zu drängen. Was hat die Autoritäten bei der Jugend ins Wanken gebracht? Man wird sagen: der Übergang zur Industrie! Liegt es in der Natur der Fabrikarbeit, daß sie eine innerliche Verrohung der Jugend mit sich bringen muß? Zweifellos mechanisiert und materiali­ siert die Fabrikarbeit. Aber man vergesse doch auch nicht das erziehliche Moment, das in dieser Arbeit liegt. Gerade in der Fabrikarbeit mit ihrem Maschinenbetriebe liegt eine eiserne Zucht. Sie erfordert das Zu­ sammennehmen der Kräfte, Selbstbeherrschung, Aufmerksamkeit und pein­ liche Ordnung. Gewiß, es ist mechanische Arbeit — aber sie erzieht auch zur Ordnung, Selbstbeherrschung, Kräfteanspannung. Freilich sinkt dies erziehliche Moment um so mehr, je mechanischer die Arbeit ist, je weniger sie den Kopf anstrengt, je spezialisierter sie ist. Dann geht das Interesse an der Gesamtarbeit völlig verloren — der Arbeiter wird schließlich zu einem lebendigen Werkzeug — und Geist und 'Seele leiden schweren Schaden. Es wird nicht so leicht sein über erziehlichen Wert oder Unwert der modernen Fabrikarbeit ein zutreffendes Urteil zu fällen. Vielleicht fallen zunächst die äußeren Begleiterscheinungen, die die fortschreitende Industrialisierung mit sich bringt, viel stärker ins Ge-

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wicht. Sie scheinen es in der Tat zu sein, die die tatsächliche, unauf Haltsame Steigerung der Jndustriearbeit für unsere Jugend Verhängnis voll werden läßt. Hier ist vor allen Dingen der schnelle, der auf unsere Jugend verheerend wirkt. lastet schwer auf ihr. „Die jungen Leute Hand, sie sind zu früh selbständig infolge

gute Serbiens! zu nennen Der „Fluch des Mammons' bekommen zuviel Geld in bb schnellen Verdienstes." Nui

darf man gewiß nicht sagen, das Geld müßte unter allen Umstände« der Jugend zum Verderben sein. Dos wäre übertrieben und ungerecht Tenn tatsächlich zeitigt der frühe, reichliche Verdienst auch seine gutei Folgen. Die Urteile über die Folge der frühen wirtschaftlichen Selb ständigkeil der Jugend für ihre Lebensanschauung und Lebenshaltunc gehen freilich weit auseinander. Die einen sehen überhaupt „keine be sonderen" Wirkungen davon. Oder die anderen begnügen sich mit all gemeinen Bemerkungen von den „bekannten Nachwirkungen". Die dritten die wirklich ein Urteil abgeben, kommen zu den widersprechendste« Resultaten. Es läßt sich geradezu eine Skala der Urteile aufstellen über die Folgen des Verdienstes der Jugend, die etwa folgende Punkte auf iveift: „schlimme nicht"; „im allgemeinen nicht zu klagen"; „einzelne Fällt ausgenommen, nicht besonders übel"; „mehr schlimme als gute"; „die selben schlimmen wie überall". Tas durchaus pessimistische Urteil ist aber nicht gerechtfertigt. sind die schlimmen Wirkungen weit, weit im Übergewicht. Aber müßten sie es auch sein? Eine ganze Reihe von Berichten wisse« auch günstige Wirkungen der baldigen wirtschaftlichen Selb ständigkeit der Jugend anzugeben: Der gute Verdienst ermöglicht bei’ jungen Leuten eine bessere Lebenshaltung, ohne daß sie sofort in Luxus und Ausschweifung verfallen müßten. „Der Arbeiterjugend fehlt es nich« an Geld, doch sind die Bedürfnisse nicht größer als in anderen Arbeiter dörfern." Nur Mißgunst könnte da von einer schlimmen Folge sprechen Es ist doch recht erfreulich, wenn „die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit' der Jugend wächst. Ferner wird durch den Verdienst der Eifer und bi« Strebsamkeit der Jugend gefördert. Es tun sich ihr ganz andere Möglich feiten der beruflichen und allgemeinen Weiterbildung auf. Der Besucl von Unterrichtskursen, Vorträgen, Konzerten usw. wird ihr möglich. Die Jugend kann sich auch mit ihrem Gelde ein gutes Buch kaufen und damit vielleicht eine Lieblingsneigung befriedigen. Gar mancher, bei „Bildungshunger", geistiges Streben besitzt, braucht nicht so ganz scheel zu sehen auf die, die vielleicht weit weniger begabt sind, denen aber durck günstige finanzielle Verhältnisse alle geistigen Genüsse zu Gebote stehen Tie Zahl derer wächst unter der Fabrikjugend, die durch ihren Verdiens! in den Stand gesetzt werden, sich emporzuschaffen. Die Jugend gewinn«

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auch infolge des frühen Verdienstes eine „größere Beweglichkeit". Auch wird nicht selten von der Sparsamkeit der Arbeiterjugend gesprochen, die sich mit einer gewissen Solidität und Sittsamkeit verbindet. Wo die Jugend wirklich spart, da kann sie sich für ihr späteres Fortkommen eine recht ansehnliche Grundlage schaffen, sich schließlich auch einmal selb­ ständig machen durch eigene Geschäftsgründung, sie hat auch später für die Familie einen Notgroschen und ist nicht gleich auf die Armenpflege angewiesen — und kann endlich auch sorgloser ins Alter blicken. An und für sich ist das frühe Geldverdienen der Jugend gar nichts Schreck­ liches — im Gegenteil, es könnte den größten Segen stiften. Es könnte! Tatsächlich ist in den weitaus meisten Fällen das Geld der Fluch für die Jugend.

Das ist der stillschweigend befolgte oder auch laut ausgesprochene Grundsatz: Wir verdienen viel Geld und darum geben wir viel Geld aus. Tie Jugend ist sehr bald ans Geldausgeben gewöhnt — und zwar ans leichtsinnige Geldausgeben. Sie verbraucht das selbst­ verdiente Geld zum größten Teile „selbstverständlich" auch für sich selbst. „Der Verdienst wird leichtsinnig verausgabt", „den Wert ihres Verdienstes wissen sie nicht zu schätzen", diese Urteile wiederholen sich vielfältig in allen möglichen Variationen bis zu dem drastischen, aber wohl zutreffen­ den Satze: „Vom Lohn darf nichts übrig bleiben." In Gemeinden mit gemischten Berufen bilden die leichtsinnig Geld Ausgebenden eine Gefahr für die anderen, etwa die Bauernsöhne: „von jenen werden die anderen ungünstig beeinflußt und zu Geldausgaben verleitet, die dem Ein­ kommen der Eltern nicht entsprechen." Die Bauernsöhne sind ja „knapp gehalten", „das Geldausgeben ist bei ihnen in Schranken gehalten", sie haben eben nicht viel oder gar kein Bargeld in der Hand, und sind von Vater und Mutter finanziell völlig abhängig — daher auch viel solider als die verdienende Jugend. Freilich mag man hinzusetzen: „Der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb."

Wofür gibt die Jugend das selbstverdiente Geld aus? Eine große Zahl Berichte gibt die Antwort: sie trägt ihr Geld ins Wirtshaus. Dort vergeuden sie ihren Verdienst, indem sie dem an Leib und Seele schweren Schaden bringenden Alkohol frönen. Sie legen ihr Geld in Gift an. Zu dem Alkohol tritt sofort das Nikotin, meist in seiner gefährlichsten Form — der Zigarette. Da man gleich nach der Konfirmation Geld verdient, ist man auch gleich trinkender und qualmender Stammgast im Wirtshaus. Die Tanzmusiken bilden noch eine besondere Anziehungskraft für die jungen Geldleute, sie können ja „nobel auftreten". Das frühe Geldverdienen ist ja auch den berühmten und berüchtigten Spinnstuben äußerst günstig — je mehr Geld für Alkohol da ist, desto schlimmer werden auch die Ausschreitungen. Im

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Wirtshaus lernen sie noch etwas, wozu ja auch Geld gehört, weil „es sonst keinen Reiz hat", das ist das Spielen. Auf dem Lande spielt man Karten in der „guten, alten Weise". In der Stadt aber werden gar häufig Glücksspiele um immerhin beträchtliche Summen angestellt! Manchmal sind die jungen Leute gerade vom Spielteufel besessen! Die Spielsucht ist erschreckend weit unter der Jugend verbreitet. So wird das Wirtshaus zum Mittelpunkt der Freizeit der in der Industrie be­ schäftigten Jugend, und zwar nicht nur der jungen Arbeiter, sondern ebenso der Kaufleute und Angestellten — und setzen wir's hinzu, gar vieler höherer Schüler. Die Folge des vielen Geldverdienens ist „starker Wirtshausbesuch mit den daraus entspringenden allgemeinen Lastern und Schäden". An vielen Orten wird es so sein, wie aus einer Ge­ meinde geklagt wird, daß die Jugend nicht nur am Samstag abend, sondern auch am Sonntagvormittag ihr Geld verjubelt. Massenweise

wird als Folge der frühen wirtschaftlichen Selbständigkeit die Dergnügungssucht bezeichnet. Die Jugend verdient Geld, sie will sich amüsieren. Sie tut das, wie sie es versteht — allerorten, hier naiver, dort raffinierter. Der Kinematograph spielt in den Städten eine traurige Rolle mit seinen verdunkelten Räumen, seinen gesucht zweideutigen, wild­ phantastischen, jämmerlich verlogenen, nervenaufpeitschenden Bildern — namentlich mit seinem „modernen Sittendrama". Schundbücher, so­ genannte „Lieder" sammlungen mit den neuesten „Schlagern", will sagen zotigen Gassenhauern, die ersteht sich der junge Mensch für sein Geld. „Vergnügen!" das ist seine Losung. Die Klagen sind der mannigfachsten

Art: „Unter der Jugend herrscht große Roheit", die Folgen des Geld­ verdienens sind „Genußsucht, Völlerei, rohes Betragen auf der Straße, Sonntagsschändung", sie „verbrauchen viel Geld für Genuß", die „Ver­ schwendungssucht" ist groß unter ihnen, „viel Geld wird ausgegeben für Unmäßigkeit und Luxus", „der leichte Verdienst wird Ursache von großer Üppigkeit und Verschwendung", er zeitigt „ein gegen früher gesteigertes

Genußleben, mehr Staat und Schwinden der Einfachheit". Diese Ur­ teile kommen nicht etwa aus der Großstadt, sondern aus in der Haupt­ zahl ganz kleinen, meist nur z. T. industrialisierten Gemeinden! Das letzte Urteil z. B. stammt aus einer am Abhang des Vogelsberges ge­ legenen Gemeinde mit 688 Einwohnern! „Leichtsinniger Wandel bis zur Entartung", so wirb aus einer Gemeinde mit 504 Seelen berichtet. Das Geld verleitet die Jugend zu Ausschweifungen, und ist die Ver­ anlassung zur Verflachung, Verrohung und Verderbnis der Jugend. Arbeit und „Vergnügen" — das sind die beiden Pole, zwischen denen ihr Leben sich bewegt. Die landwirtschaftlich tätige Jugend ist in einer besseren Lage — sie hat eben wenig oder gar kein Geld und „bleibt dadurch vor Überschreitungen ziemlich bewahrt".

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Das Geld treibt die Jugend auch sehr bald zur Teilnahme an der deutschen Unsitte der Vereinsmeierei. Es wird geradezu von einem „Auffluten des weltlichen Vereinslebens" gesprochen. Vereinsleben aber ist in 99 von 100 Fällen gleich Wirtshausleben. Die Fest­ lichkeiten sind die Hauptsache, und bei ihnen wiederum Alkohol und allerlei Ausschweifungen. Es herrscht eine seltsame „Veremsseligkeit" unter der Jugend, wie ein Berichterstatter hinzusetzt, „im schlimmen Zinne des Wortes". Dort wird dem „Vergnügen" massenweise gehuldigt. Nicht unbeträchtliche Geldopfer werden für die Vereine und ihre Vergnügungen gebracht. Besonders das Sportklubwesen steht — in Stadt und Land — in hoher Blüte. Und wie der „Sport" in diesen Vereinen und Klubs meist betrieben und begossen wird, kann man von einer veredelnden Wirkung selten sprechen. Eine besonders verhängnisvolle Folge der frühzeitigen wirtschaft­ lichen Selbständigkeit ist die frühe Heirat unreifer Menschen. Heiraten 21- bis 22 jähriger sind in manchen Gemeinden nichts Seltenes. Schlimm genug schon, daß „bald die Not über die Familie kommt, da nichts gespart wurde, und es schwer fällt, die früheren Gewohnheiten aufzugeben" oder weil man „mit dem Geld nicht haushalten kann". Die Heirat unreifer Menschen bedeutet aber eine nicht zu unterschätzende Gefahr für den Nachwuchs unseres Volkes. Wie sollten selbst ungefestigte, halb- oder unerzogene Menschen ohne Erfahrung starke, brauchbare, tüchtige Kinder heranziehen können? Die landwirtschaftlich tätige Jugend kann infolge der wirtschaftlichen Unselbständigkeit lange nicht so früh heiraten — wenigstens die Bauernsöhne nicht —, freilich spielt bei ihrer Verheiratung das Geld auch eine große Rolle — die Geldheirat scheint

das Normale zu sein! Ter frühe Verdienst ist ein Unglück für unsere Jugend. Nein, man muß tiefer graben. Das Geld könnte, wie oben angedeutet, für unsere Jugend ein großer Segen sein. Warum aber wendet sie ihren Verdienst so verkehrt an? Aus zwei sehr einfachen Gründen: einmal, weil sie an den Erwachsenen kein anderes Vorbild hat, und sodann, weil die Jugend nicht zum Gebrauch des Geldes erzogen ist. Daran liegt es. Die Jugend hat bis zur Schulentlassung kein Geld in den Händen — und nach der Schulentlassung verfügt sie oft über nicht gerade wenig. Wie soll sie damit nun fertig werden? Und wenn die schulpflichtige Jugend Geld in die Hand bekommt, lver leitet sie dann an, nun auch ordentlich damit umzugehen? Taschengeld — das heißt meist Naschgeld oder Vergnügungsgeld. Trotzdem ist der junge Mensch, der sein Geld „nur" vernascht, eine fast angenehme Erscheinung. Der Ver­ brauch des Taschengeldes wird meist gar nicht kontrolliert — und es wird „versäumt, ein Sparkassenbuch anzulegen und zur Sparsamkeit

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anzuleiten". Wer leitet aber die Jugend nach der Schulentlassung zur richtigen Verwertung ihres Geldes an? Die Frage steht wieder einmal vor uns: „Wo bleiben die Eltern?" Schon ist uns die erschreckende Tatsache entgegengetreten, daß das Elternhaus seine Autorität vielfach und fast vollständig eingebüßt hat. Mit die Hauptschuld an der Entfremdung der Jugend vom Elternhaus trägt das Geld, der frühe Verdienst. Die jungen Leute, die reichlich Geld verdienen, fühlen sich als Herren ihrer Lage. Sie sind finanziell unabhängig — und damit nach ihrer Meinung auch moralisch. Sie leben nicht vom Gelde ihrer Eltern — im Gegenteil, sie unterstützen sie noch oft — also haben die Eltern auch in ihr Tun und Lassen nichts dreinzureden, und wenn die Eltern doch noch — wenn auch meist viel, viel zu spät — eine strenge Erziehung versuchen, so

weiß die wirtschaftlich selbständige Jugend sich gut zu helfen: sie zieht ganz aus dem Elternhause aus, dessen Einfluß hört damit natürlich völlig auf. Für die Bauernjugend liegt die Sache nicht so einfach; sie ist sehr lange von den Eltern abhängig, finanziell und darum auch moralisch. Sich ihrem Einfluß auch durch lokale Trennung entziehen, hieße, sich um seine Zukunft bringen. Bei der in der Industrie beschäftigten Jugend aber kommt der frühe Verdienst dem psychologisch begründeten Freiheits., und Unabhängigkeitsdrange in gefährlicher Weise entgegen. Das spüren zuerst die Eltern. „Tie jungen Leute, namentlich die Fabrikarbeiter, die viel Geld verdienen, wollen sich vielfach von den Eltern nichts mehr sagen lassen." Die frühe „Selbständigkeit" macht sie leicht aufsässig gegen die Eltern, „die Eltern werden geringgeschätzt", „sie fragen nicht mehr nach den Eltern". „Ungehorsam, Unbotmäßigkeit, Geringschätzung gegen die Eltern" sind die Folgen der frühzeitigen Selbständigkeit der Jugend. Sie verliert mindestens innerlich den Zu­ sammenhang mit dem Elternhaus, wenn er auch äußerlich aufrechterhallen wird. Die frühe wirtschaftliche Unabhängigkeit zieht die moralische Unabhängigkeit tlach sich. Namentlich machen sie sich „in der Wahl der Vergnügen und Ausnutzung der freien Zeit früh selbständig vom Eltern­ haus". „Die Achtung vor den Eltern leidet und die Lust zu Vergnügungen und Genüssen, besonders zum Trinken, wird gestärkt." Es bedeutet ja nur die Umkehrung dieser Erscheinung, daß das Elternhaus wenig oder keinen nennenswerten Einfluß besitzt: diese betrübliche Tatfache wird in sehr vielen Berichten begründet mit der frühen wirtschaft­ lichen Selbständigkeit der Jugend. „Die frühe Selbständigkeit hat schlimme Folgen für die Autorität der Eltern"; „sie leidet not"; „Ein­ fluß und Autorität der Eltern ist beeinträchtigt". Anders unter der landwirtschaftlich tätigen Jugend: „sie steht unter dem guten Einfluß ihrer Eltern", weil sie finanziell abhängig ist. „Die Obhut des Eltern-

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Hauses ist ihnen ein guter Schutz." Wenn man auch hinter das „gut" in den beiden Urteilen vielleicht ein kleines Fragezeichen machen möchte — soviel ist sicher, die Jugend hat wenigstens einen Halt und eine Leitung. Und beides braucht die Jugend.

Daß das Verhältnis der Autorität zwischen Eltern und Kindern sich häufig gerade umgekehrt hat, ist auch mit eine Folge des frühen Verdienstes der Jugend. Freilich hat ja das frühzeitige Verdienen der Jugend für die Eltern seine gute Seite. Die Eltern finden in ihrer häufig bedrängten

Lage Hilfe und Unterstützung bei ihren Kindern. Diese helfen durch ihren Verdienst den Haushalt führen und nicht nur in ländlichen Gemeinden gilt das Wort von „gemeinschaftlichem Haushalt und gemeinsamem dazu Beitragen". Zur Ehre unserer arbeitenden Jugend sei es gesagt, daß nur in verschwindend wenig Fällen geklagt wird, daß „manche ihre Eltern nicht unterstützen", daß die jungen Leute „zum kleineren Teil" von ihrem Lohne nichts abliefern, oder daß „vom Verdienst, auch wo sie im Elternhaus wohnen, wenig abgegeben wird". Den weitaus meisten Berichten nach unterstützt die Jugend die Eltern mit ihrem Verdienst: „Viele stellen ihren Verdienst den Eltern ganz zur Verfügung." „In der Regel liefern sie den Verdienst den Eltern ab." „Die Kinder liefern einen großen Teil ihres Verdienstes ab, zuerst alles, dann den Hauptteil." „Ter Lohn wird in der Regel den Eltern gegeben, diese geben ein Taschengeld." Wozu, aus einer reinen Bauerngemeinde freilich, die Bemerkung gemacht wird: „Die Eltern verlangen bis zum 21. Jahre von ihren Kindern Lohn, Bezüge und Überwachung der Kassenbelege." „Sie geben den Eltern einen Teil ihres Lohnes zum Haushalt oder zum Sparen, ein Teil wird verjubelt" usw. usw.

Nun stellen sich aber auch tief bedenkliche Folgen dieser Beihilfe der Jugend zum Haushalte der Eltern ein. Einmal gibt es Eltern, die von ihren Kindern rundweg den ganzen Lohn bean­ spruchen, und sie so eigentlich um die ganze Frucht ihrer Arbeit bringen — und schließlich auch um die Arbeitsfreude. Dieser Elternegoismus geht denn doch zu weit und hat keine Berechtigung. Einen Teil seines Lohnes sollte der junge Mensch unter allen Umständen zu seiner Ver­ fügung haben — freilich mit der nötigen Beaufsichtigung und rechten An­ leitung zu seiner Verwertung. Was soll man dazu sagen, daß „manche Eltern mit mehreren verdienenden Kindern sich vorzeitig zur Ruhe setzen"?! Das ist einfach Ausbeutung. Ja, viele Eltern erziehen sich ihre Kinder nur als Geldverdiener — wenn die Kinder „endlich" eigenen Verdienst haben, so halten sie die „Erziehung" für beendet und sich für berechtigt, den Lohn der Kinder auf Heller und Pfennig zu beanspruchen. Tas Verhältnis zu den Kindern ist dann wesentlich finanziell begründet. Page, Jugendpflege.

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„Der Lohn wird abgeliefert, darauf dringen die Eltern, aber s o n st fehlt die Zucht für die Benutzung der freien Zeit." Umgekehrt glauben die Kinder ihrer Pflicht gegen die Eltern vollauf genügt zu haben, wenn sie ihren Lohn ganz oder teilweise den Eltern abliefern. „Vielfach werden die Eltern nicht gefragt, das Geld wird ihnen abgeliefert." So wird das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern vielfach rein materiell „nach Lohn und Arbeit gewertet". Eltern und Kinder stehen nicht mehr in enger, sittlicher Gemeinschaft mitein­ ander, sondern in einem finanziell begründeten Vertragsverhältnis. Verträge aber sind kündbar. Der schlimmste Schaden, der sich aus alledem ergibt, der das natür­ liche Zusammengehörigkeitsgefühl und die sittliche Bindung der Kinder an die Eltern völlig untergraben muß, ist der, daß die Eltern mehr oder­ weniger finanziell abhängig werden von ihren Kindern. So schön es ist, und so sehr es Pflicht der Kinder ist, „die Eltern möglichst frühzeitig der Sorge für sie zu überheben", so verhängnisvoll ist die wirt­ schaftliche Abhängigkeit der Eltern von den Kindern für die Familie und für die innere Verfassung unserer Jugend. „Die Eltern werden frühe unterstützt, geraten aber leicht in Abhängigkeit von den Söhnen." „Die Eltern werden wirtschaftlich abhängig von den Söhnen." Es bleibt auch hier die Frage, ob das so sein m u ß, ob nicht Wege sich finden ließen, auf denen die Jugend ihrer Pflicht gegen die Eltern genügen könnte, in finan­ zieller Hinsicht, ohne daß die Eltern ihren Kindern ganz ausgeliefert würden. Es ist im letzten Grunde wiederum nur die Frucht der Er­ ziehung von Kind auf, ob Eltern abhängig sind von ihren Kindern oder nicht. Wo eine rechte, ernste, sittliche Erziehung versucht wurde, da werden die Kinder sich niemals als Herrn ihrer Eltern fühlen. Mindestens liegt die Schuld wieder auf beiden Seiten. Soviel ist klar: Sobald die Eltern ihren Kindern geradezu die wirtschaftliche Existenz verdanken, ist ihre Autorität in größter Gefahr — und in weitaus den meisten Fällen bricht sie in nichts zusammen. „Das frühzeitige Geldverdienen macht die Jungen den Eltern gegenüber zu selbständig, da von ihrem guten Willen abhängt, ob und wieviel sie vom Verdienst an die Eltern abgeben wollen; daraus resultiert die Nachgiebigkeit der Eltern." Die Eltern wagen ein­ fach bei den schlimmsten Abwegen ihrer Kinder oft kein Wort der Zu­ rechtsetzung und Ermahnung, weil sie den Ausfall an Barunterstützung fürchten. Von sittlicher Erziehung ist keine Rede mehr. Die Eltern ver­ fallen in eine namenlose „Schwäche den verdienenden Söhnen gegenüber". „Die Eltern, die den Verdienst der jungen Leute in Anspruch nehmen, müssen sie gewähren lassen." „Tie Eltern sind sehr tolerant und geben den Söhnen Freiheit mit Rücksicht auf ihren Verdienst." Einmal heißt es sogar: „Ein Teil der Eltern betet die jungen Leute an,

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weil sie Verdienst bringen, und läßt ihnen die Zügel schießen, wodurch andere wieder schlecht beeinflußt werden." Nicht nur den Eltern gegenüber wird so die Jugend durch die frühe wirtschaftliche Selbständigkeit auch moralisch „selbständig" — d. h. sie läßt sich von den Eltern in ihre ganze Lebenshaltung nichts dreinreden. Ihr Selb st bewußt sein wächst überhaupt ins Unge­ messene und Ungesunde. Weil die jungen Leute Geld verdienen, darum kommen sie sich als in jeder Beziehung selbständige und fertige Menschen vor. Sie können sich ja auch alles leisten. „Geld regiert die Welt." Wiederum eine Schuld der Erwachsenen, die ja auch schließlich den Wert oder Unwert eines Menschen nach dem Gelde beurteilen. So „macht sich bei ihnen (den Jugendlichen) meist eine bedenkliche Früh- bzw. Unreife, sowie ein stark ausgeprägtes, unangebrachtes Selbstbewußtsein geltend". Die Jugend fühlt sich „frei". Das macht sie wiederum „auf­ begehrend und widersetzlich". Man hat „wenig Sinn dafür, daß man sich fügen muß, man fragt nicht nach anderen". Eine seltsame „Über­ hebung in Meinung und Ansicht" macht sich geltend, während die wirt­ schaftlich Abhängigen sich an Unterordnung und Autorität gewöhnen und eine „gewisse Bodenständigkeit" gewinnen. In dieser „Selbstüberhebung"' wird jede Autorität abgelehnt. Die einzige Autorität wird das Geld. „Emanzipation von aller Autorität" ist die Folge, besonders von der Kirche. Tenn „mit der Religion ist kein Geld zu verdienen". Der Bruch mit der Kirche, die „steigende Unkirchlichkeit" wird mehr als einmal in den Berichten mit der frühen wirtschaftlichen Selbständigkeit der Jugend begründet — und gewiß nicht zu unrecht. Noch einschneidendere Folgen für die innere Entwicklung unserer Jugend als die frühe wirtschaftliche Selbständigkeit hat eine andere Be­ gleiterscheinung der Beschäftigung in der Industrie: das ist die Wan­ derung der Jugend nach der vom Heimatsorte g e trennt liegenden Arbeitsstätte. In welchem Umfang diese „Auswanderung" sich vollzieht unter der Jugend des evangelischen Hessenlandes, das ist in § 4 dargetan worden. Hier handelt es sich jetzt darum, festzustellen, wie sie auf die innere Lage der Jugend wirkt. Einige Berichte besagen, daß sich an dies Auswärtsgehen der Jugend „keine besonderen" Folgen anschließen, teilweise mit der Begründung, daß „sie sich nicht vom Elternhause trennen" oder „jeden Abend nach Hause kommen". Andere sagen, daß sich „keine besonders auffälligen" Folgen daraus ergeben, eine ganze Reihe gibt auch an, daß sie „keine ungünstigen", „keine schlimmen", „keine besonders schlimmen", „nach­ teilige" oder „unangenehme" Folgen oder „keine besonderen llbelstände" beobachten konnten. Wiederum mit der Begründung, daß „die meisten zu Hause wohnen" oder „wenigstens Sonntags nach Hause kommen". 5*

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Tann aber kommen die Berichte, die doch schon etwas pessimistischer sehen: „noch keine schlimmen Folgen, sie sind aber zu befürchten", oder aber „die gewöhnlichen", „keine günstigen Folgen", bis es zu solchen Urteilen kommt, wie es etwa aus Oberhessen heißt: „Die Westfäler stehen in dem

Geruch, nicht viel zu taugen." Nun folgt aber eine geradezu erdrückende Mehrheit von Berichten, die von gar mancher bösen Folgeerscheinung zu reden wissen, die sich an diese tagtäglich oder wöchentlich sich wiederholende Hin- und Rückwande­ rung zur Arbeitsstätte und die Abwesenheit vom Heimatorte anschließt. Freilich einzelne Berichte weisen auch auf die g ü n st i g e n Wir­ kungen der Auswanderung der Jugend hin. Die Jugend ist so in der Lage, sich leichteren und besseren Verdien st zu schaffen. „Viele, die sich früher als Bauern mühsam ihr Brot verdient haben, haben jetzt besseren Verdienst. Viele Bauernsöhne waren früher nicht vollbeschäftigt, jetzt suchen sie auswärts Arbeit." Einige gehen auswärts, „weil der Lohn für die Knechte zu gering ist". Freilich kommt es dabei häufig vor, daß diese auswärts Arbeitenden der Heimat ganz verloren gehen: „manche kommen vom Militär nicht mehr zurück, weil zu Haus zu wenig Arbeitsverdienst ist". Aus einem oberhessischen Dorfe wird berichtet, daß die Auswärtsgehenden in der Fremde „meist ansässig werden". Auch auf den Vorteil, daß manche draußen besseren, leichteren Verdienst finden, fällt sofort ein Schatten: „Leichterer Verdienst, aber auch etwas mehr Leichtsinn", oder „gesteigerte Genußsucht und Leichtsinn infolge leichteren Verdienstes". Ein anderer Vorteil, den das Auswärtsgehen für die Jugend mit sich bringt, mag der sein, daß sie „eine größere Beweglichkeit" gewinnt. Ganz zweifellos erweitern sich den jungen Menschen, die etwas von der Welt sehen, der Umblick und der geistige Horizont ganz bedeutend. Ihre Urteilsfähigkeit wird gestärkt. Sie sehen ganz andere Möglichkeiten, im Leben vorwärts zu kommen, und die Lust mehr zu lernen wächst in ihnen. Man mag dem Urteil recht geben, das besagt: „es bleibt fast

alles im Dorf, die Folge ist die, die immer eintritt, wenn junge Leute nicht mal rauskommen. Sehen sonst nichts". Der geistigen Stumpfheit und Trägheit erwächst dadurch gewiß ein gutes Gegengewicht. Wenn man aber bedenkt, daß die meisten jungen Leute tagtäglich den Weg zur Arbeitsstätte hin- und zurückmachen, finden wir auch die Beobachtung be­ greif daß der Vorteil durch „eine gewisse Ruhelosigkeit" erkauft wird. Zweifellos trägt dieses Hasten zur Arbeitsstätte in der Frühe und die späte Heimkehr sehr stark zur „Nervosität" der Jugend bei. Vielen fehlt einfach die nötige Ruhezeit. Und wenn ihnen auch auf der anderen Seite Freizeit übrig bleibt, hindert die Müdigkeit sie, etwa geistig sich zu erholen und zu arbeiten. Die Übermüdung ist schließlich

Die Ursachen der Not.

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so groß, daß der junge Mensch, der in den Entwicklungsjahren gewaltige Kräfte umsetzt, körperliche und seelische, auch am Sonntag nur ein Be­ dürfnis kennt: Ruhe. Die bösen Folgeerscheinungen überwiegen aber nach den Berichten weitaus. Tie Auswärtsgehenden scheinen sich im Durchschnitt sehr unvorteilhaft von den Einheimischen zu unterscheiden. Als Folge des Auswärtsgehens wird „große Verrohung" oder „merkbar rohes Betragen" bezeichnet. Man darf schon die Bedeutung des Hinund Rückweges, der zu Fuß, zu Rad, per Eisenbahn zurückgelegt wird, nicht übersehen. Zweifellos bildet er ein wichtiges Moment für die ganze innere Entwicklung der jungen werktätigen Menschen. Hier auf dem Wege, da ist Zeit zu plaudern und sich zu unterhalten über dies und jenes — was während der Arbeitszeit nicht allzuhäufig der Fall sein wird. Ta treffen sich ganze Gesellschaften, auch das andere Geschlecht darunter — auch manche zweifelhaften Elemente dazwischen. Was bildet den Gesprächsstoff? Erotik, Zote, wenn's gut geht, die Arbeit und der Arbeitgeber — meist in üblem Sinne — oder sonst der liebe Nächste. Was kann man nicht alles erleben, wenn man in einem Arbeiterzuge mitten unter der Jugend sitzt! Wieviel Verdorbenheit und Roheit, wie­ viel schwüle, wilde Phantasie oder jämmerliche Ödheit, wieviel Schimpfen, Großtun und Prahlen! Man kann den unkontrollierbaren „Bildungs"einfluß des Weges von und zur Arbeitsstätte, namentlich den der Eisen­ bahnfahrt, kaum überschätzen. Und dieser Einfluß ist nicht gut. Viele Berichte bestätigen es: „bei der Eisenbahn kommen viel Unzuträglich­ keiten und Roheiten vor"; „das viele Eisenbahnfähren zuweilen in zweifel­ hafter Gesellschaft ist nicht förderlich"; „die tägliche Eisenbahnfahrt übt verheerenden Einfluß"; „schwere Schäden durch üble Gesellschaft auf Hinund Heimweg".

Sodann: die regelmäßige, tägliche oder wöchentliche Abwesenheit von dem Heimatort und Elternhaus kann gar nicht ohne Einfluß bleiben auf die Beziehung der Jugend zu Elternhaus und Heimat. Entweder sind die jungen Leute den ganzen Tag von der Heimat fern, früh morgens gehen sie zur Arbeit, spät abends kehren sie heim, oder sie sehen die ganze Woche ihr Elternhaus nicht, am Samstag abend kommen sie in den Heimatort, Montag früh gehen sie wieder auf eine Woche — kommt es doch mehr als an einem Ort vor, daß die jungen Leute gar nur stundenweise am Sonntag zu Hause sind. Die ganz natür­ liche Folge ist, daß „Einfluß und Autorität der Eltern beeinträchtigt wird". Man muß ja die ganze Woche ohne die Eltern fertig werden, die Jugend gewinnt so erfreulich an Selbständigkeit, aber „sie verlieren auch den Zusammenhang mit dem Elternhaus", „sie entwöhnen sich des Fa­ milienlebens". „Frühe Selbständigkeit und Entwachsen der elterlichen

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Die Ursachen der Not.

Aufsicht." „Die jungen Leute verlernen Zucht und Ordnung des Hauses." Es ist ganz klar, daß das Verhältnis der Jugend zum Elternhaus durch die dauernde Abwesenheit der Jugend stark notleidet, ja, daß die Jugend den Eltern entfremdet, mindestens aber früh der Aufsicht der Eltern

entzogen wird. Nicht nur dem Elternhause wird so die Jugend entfremdet, sie ver­ liert auch mehr und mehr die Fühlung mit der Heimat. „Tie Liebe zur Heimat geht allmählich verloren." „Sie gehen zum großen Teil der Heimat verloren", ja lösen sich völlig von ihr los. Sie werden zu Kosmopoliten, die überall und nirgends schließlich Heimatsrecht haben — und mit der Heimat bricht ihnen wieder eine wertvolle Stütze zu­ sammen. Denn es ist nicht nur von romantischen, sentimentalen GesichtsPunkten aus zu beklagen, daß die Jugend durch die Industrie heimatlos gemacht wird, daß sich die Bande, die jeden Menschen mit dem „Land, wo seine Wiege stand" verbinden, lockern und lösen — nein, die Jugend wird auch dadurch innerlich heimatlos. Wenn auch einmal, wie ein grünes Eiland aus weiter Wasserwüste hervorragt, in den Berichten zu lesen ist: „Die Auswärtigen kommen gern und oft in ihre schöne Heimat", so ist doch nicht zu verkennen, daß die Jugend durch die Industrie heimatlos wird, in dem Sinne, daß sie- em Einfluß und dem Bann der heimischen Sitte mehr und mehr entzogen wird. Das gilt auch von der kirchlichen Sitte. Die Auswärtigen sind die, „die für die Gemeinde am wenigsten zu haben sind". Sie sind zum größten Teil „entkirchlicht". „Die Verbindung mit der Kirche löst sich." Das zeigt sich auch äußerlich: „sie kommen an gewöhnlichen Sonn­ tagen nicht in die Kirche, an den hohen Festtagen allerdings zahlreich". „Sie sind mit manchem Stück des Gemeindelebens nicht in Fühlung", „sind kaum zur Gememdearbeit heranzuziehen". Die heimatliche Sitte wird ganz ohne Zweifel aber bei den Aus­ wärtigen rasch untergraben. Was lauschen sie dafür ein? Durch den stetigen Verkehr in den Industriezentren werden sie vor allem anspruchs­ voller. Die ländliche Einfachheit und gesunde Natürlichkeit schwindet mehr und mehr. Sie sehen und lernen viel Luxus und Verschwendung. „Sie nehmen städtische Allüren an in Kleidung, Aufwand, Trinken, Rauchen." Sie gewinnen „Lust zu städtischem Auftreten in Kleidung u. a." Die enge Berührung mit dem Großstadtleben läßt sie auch bekannt werden mit den „Vergnügungen" der Stadt und erweckt in ihnen die Neigung, es den Städtern gleichzutun. Der Kino, Schund­ literatur, schlechte Bilder und Ansichtskarten, das ausgedehnte WirtsHausleben, die Maskenbälle, das Variete mit seiner gesuchten, schlecht verhüllten Gemeinheit, das nächtliche Straßenleben, kurz das ganze Groß­

stadtleben mit seinem Hasten imfi) Jagen und all seinen seelenmordenden

Die Ursachen der Not.

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Auswüchsen beeinflußt die Jugend mächtig. Die heimische Sitte erscheint ihr als lächerliche Armseligkeit, engherzige Rückständigkeit. Tas Stadt­ leben mit seinem Glanz blendet sie — daß es falscher Glanz ist, merkt sie nicht. Es imponiert ihnen und sie wollen mittun. Wenn ja auch oft viel mehr Großtun und Prahlen mit den städtischen Abenteuern unter der Jugend sich breit macht, das Stadtleben raubt ihnen die alte Sitte — und macht sie nicht nur „lebenslustig und z. T. oberflächlich", sondern oft genug einfach haltlos und treibt sie Wahl- und willenlos allen möglichen „Vergnügungen" zu. Ein Bericht klagt: „Die Stadt macht sie vorlaut und frech." Wenn das alles wäre, wäre die Sache nicht besonders schlimm. Aber die Verführung ist furchtbar stark. Schon durch die zu­ fälligen „Bildungseinflüsse". Tas ganze Straßenleben der Stadt beeinflußt sie. Ob es nun die fein geputzten, geschniegelten, recht jugend­ lichen Herrlein sind, die kaum ohne ein Dämchen auf der Straße prome­ nieren, oder die Fensterauslagen, die Anschlagsäulen, die Kinoreklame mit ihren blutrünstigen oder zweifelhaften Bildern — alles wirkt auf den jungen Menschen — und auf den aus ganz ländlichen Verhältnissen stammenden mit doppelter und dreifacher Macht — es lockt ihn und reizt ihn zum Mitmachen. Auch darf man den Einfluß der schlechten Literatur nicht vergessen, man mag z. B. über Witzblätter denken, wie man will, daß sie aber zur günstigen Beeinflussung Heranwachsender Menschen ge­ eignet sind, wird keiner behaupten wollen. Man braucht nur einmal zu beobachten, was junge Leute mit Gier verschlingen — auch beim Militär lassen sich da traurige Erhebungen anstellen. Noch schlimmer natürlich

ist die Verführung durch „schlechte Gesellschaft, durch die bösen Elemente der Großstadt", die sich ein Vergnügen daraus machen, den jungen Ar­ beitskollegen oder Mitangestellten in die Geheimnisse der Großstadt einzuweihen, d. h. mit anderen Worten, zu verderben. Dazu kommt das Schlafgängertum mit seinen schweren Schattenseiten und sittlichen Ge­ fahren. Und bei alledem sind die jungen Leute meist ganz sich selbst über­ lassen ohne jede Leitung und Aufsicht. So beginnt in der Jugend ein

furchtbarer „Zwiespalt zwischen der guten, väterlichen Sitte und dem neuen, modernen Geiste" — der meist zuungunsten der väterlichen Sitte endet. Die sittlichen Anschauungen, die die jungen Leute mitbringen, werden wurzellos — sie sind völlig „innerlich heimatlos". Dazu kommt der ganze Jdeenkreis, der auf sie einstürmt. Die Verachtung jeglicher sittlichen Autorität, der praktische Materialismus, die Genußsucht, die Jrreligiösität, das der Jugend imponierende Phrasengewäsch — alle sitt­ lichen Begriffe werden relativiert, getrübt, umgestürzt. Tie alte Sitte und Sittlichkeit gilt als altmodisch und längst überholt. Und nicht nur die Auswärtigen verlieren den Zusammenhang mit der Heimatssitte — sie schleppen auch „den Unrat der Groß-

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Die Ursachen der Not.

städte " aufsLand hinaus, sie infizieren die Jugend der Heimat und bilden so eine schwere Gefahr. Sie bringen ihre Errungenschaften aus der Stadt mit in den Heimatort, in die Spinnstube usw.: „den Geist, der dort herrscht, bvingen sie auch hierher". „Sie bringen manches mit, was nichts taugt." „Sie suchen andere unter großartigen Verheißungen auch mit sich zu ziehen." „Die jungen Leute bringen von draußen mancherlei mit — schon di« eben der Schule Entlassenen ziehen alljährlich hinaus, was den Einflüssen dort zuzuschreiben ist. Unkirchlicher Sinn, Roheit und Zügellosigkeit sind in der Zunahme begriffen." „Aus den Städten

wird der Hang zum Luxus usw. auf das Land gebracht." „Die An­ schauungen der städtischen Jugend verbreiten sich auch hier." „Die laxe Moral der Großstadt, der praktische Materialismus kommt in den £tt, die Unsitten der Stadt werden eingeführt, sie bringen Aufklärungen, Meinungen, Liebhabereien usw. von auswärts mit." In der Heimat­ gemeinde Protzen sie mit ihrem Gelde und verführen auch andere zum leichtfertigen Geldausgeben. Der Wirtshausbesuch steigt durch sie, die „Aushäusigkeit" nimmt zu. Durch sie kommt in den Heimatort „Stadt­ parfüm, Oberflächenkultur, Warenhausramsch, Jrreligiöfität, Mangel an Pietät". Aus einem oberhessischen Orte kommt die charakteristische Klage: „Die Weltkurstadt auf der einen und die Halbmillionenstadt auf der andern Seite zerreiben uns die Sitten der Väter." Nur die bäuerlichen Handwerkergemeinden und die Landgemeinden mit ganz geringem industriellem Einschlag haben noch eine so starke Sitte, daß die fremden Elemente nicht durchdringen können. So heißt es etwa aus solchen Gemeinden: „daß sie (die Auswärtigen) auf die Gemeinde bösen Einfluß üben, läßt sich nicht sagen." „Seither konnten sich keine Folgen daran knüpfen, weil diese „Fremdlinge" sich hier nicht auf­ spielen dürfen, sie nicht durchdringen. Sie müssen sich unterordnen." „Die Betreffenden kommen stets nach einigen Jahren, wenn sie ein Stück Geld verdient haben, wieder zurück und fügen sich wieder in die Sitte des Dorfes." „Das in der Fremde Gesehene schleift sich rasch ab."

Den größten Schaden, den die Fabrikbeschäftigung für die Jugend, namentlich für die auswärtsarbeitende mit sich bringt, sehen sehr viele Berichte darin, daß die Jugend mit der Sozialdemokratie in Berührung kommt, „von sozialistischen Gedanken beeinflußt" wird, „dem sozialdemokratischen Geiste verfällt". Freilich ein Berichterstatter meint, es seien nur „ungesestigte Charaktere", die der Sozialdemokratie ver­ fallen. Jedenfalls stimmt es nicht immer, daß die Jugend dem sozial­ demokratischen Geiste „anheimfällt". Die Zahl derer, die sich der Sozial­ demokratie freiwillig anschließen, dürfte nicht einmal so groß sein. Aber die Zahl derer, die nicht freiwillig der sozialdemokratischen Organisation angehören, sondern in sie „hineingepreßt" n-erden, ist nicht gering. Es

Die Ursachen der Not.

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sind nicht nur Überredungskünste und geistige Waffen, durch die die jungen Leute von der Richtigkeit der sozialdemokratischen Welt» und Lebensanschauung „überzeugt" werden. Die Achtung vor der Überzeugung anderer zeigt sich bei der Partei, in der allein „Freiheit" zu Hause ist, oft in eigentümlichem Lichte. Oft ist das Verstecken des WerkZeugs und ähnliches noch ein „harmloses" Mittel, um die Jugend in die Sozialdemokratie hineinzuzwingen. Auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, daß die Zahl der „Mitläufer" sehr groß ist, d. h. derer, die sich weder aus politischen Gründen, noch aus der Überzeugung, daß die Sozialdemokratie die einzige di« Interessen der Arbeiter wahr­ nehmende Partei ist, ihr anschließen, sondern entweder aus rein wirt­ schaftlichen Gründen, um im Falle des Streiks usw. gesichert zu sein, oder — und das häufig — um sich der Möglichkeit, überhaupt Arbeit zu bekommen, und sich an der Arbeitsstelle behaupten zu können, nicht beraubt zu sehen, oder die Jugend bringt die von der Sozialdemokratie geforderten finanziellen Opfer, um nur Ruhe zu haben vor Verpöbelung, Hohn und Spott, kümmert sich im übrigen aber nicht im geringsten um die Partei und ihre Maximen, sondern geht ihre eigenen Wege. Andrer­ seits muß aber auch darauf hingewiesen werden, daß auch diejenigen, die von Hause aus gar nicht nach der Sozialdemokratie hin tendieren, sich

ihr auch nicht anschließen, doch beständig unter dem Einfluß sozialistischer Ideen stehen, in der Werkstätte, auf dem Weg von und zur Arbeits­ stätte usw. Die ganze Luft der Fabriken ist ja mit sozialdemokratischem Geiste erfüllt. Und es ist nicht nur so, daß nur die sozialistischen Ge­ danken durch ihr Dasein und durch die Gespräche der sozialdemokratisch Gesinnten auf die Jugend wirken, überall wird die Jugend systematisch verhetzt und aufgestachelt, durch Wort, Flugblatt und Schrift. Nur ein Urteil sei hierher gesetzt: „Ta die Sozialdemokratie bei uns rücksichtslos herrscht, sind die Jungen infam verhetzt und verbittert." Freilich, das muß anerkannt werden, und wird für die späteren Darlegungen von Wichtigkeit sein: Die Sozialdemokratie kommt dem stark ausgeprägten Rechtsgefühl der Jugend sehr stark entgegen, indem sie etwa in der „Arbeiterjugend" Fälle von Ausbeutungen, Übertretung der Gesetzes­ bestimmungen, die die Arbeit Jugendlicher regeln usw., ans Tageslicht zieht und den Schäden zu Leibe geht. Ob das aus dem lauteren Motiv, der Jugend zu ihrem Rechte zu verhelfen, geschieht oder nicht, das ist ja zunächst gleichgültig. Die Jugend merkt aber, hier wird für unser Interesse mit Nachdruck gekämpft. So seltsam auch oft genug die Folge­ rungen sind, die die „Sozialdemokratie" aus diesen „Fällen" zieht, und so merkwürdig die Beschuldigungen, die sie daran knüpft, der Eindruck

aus die Jugend ist unverkennbar, darin steckt werbende Kraft. Nun mag es Stimmen geben, die sagen: Der Einfluß der Sozial-

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Die Ursachen der Not.

demokratie trägt die Schuld daran, daß die Jugend, die im industriellen Leben steht, keine Autoritäten mehr anerkennen will, die Sozialdemokratie zerstört ihr die religiös-sittliche Grundlage. Aus den Berichten leuchtet, wenn auch oft zwischen den Zeilen, diese Ansicht hervor. Einmal wird ausdrücklich berichtet, daß die Jugend des Ortes ordentlich, fleißig, sparsam gewesen sei, bis ein sozialdemokratischer Weißbinder mit seinem verhetzenden Treiben begonnen habe, — seitdem sei die Jugend zusehends verroht. Es wäre ein Unrecht, solche Einzelurteile zu verallgemeinern und zu sagen: Der Sozialismus verdirbt die Jugend. Auf der anderen Seite verträgt aber auch ein ganz entgegengesetzter Bericht keine Ver­ allgemeinerung, der von den 12 auswärtigen Jugendlichen, die Sozial­ demokraten sind, folgendes zu sagen weiß: „Sie besuchen weniger das Wirtshaus als die anderen, viele gar nicht, sie sind anständig und sehr viel ruhiger als die Bauernsöhne. An den nächtlichen Exzessen beteiligen sie sich nie." Hier wird also — in einem Einzelfalle wenigstens — dem Sozialismus erziehliche Wirkung zuerkannt. Gerade in bezug auf den Alkohol muß man es der sozialdemokratischen Jugendarbeit nachrühmen, daß sie konsequent ist: sie schließt den Alkohol völlig aus. Freilich ist es trotzdem eine seltsame und übertriebene Schlußfolgerung aus dem Kampf gegen den Alkohol, der übrigens vielmehr politischen Hintergrund zu haben scheint, wenn die sozialistische Jugendbewegung von sich selber sagt: „Es gibt keine Bewegung, die mehr als die unsere bestrebt ist, die Jugend zu sittlich-reifen Menschen zu erziehen." Dahinter steckt der — übrigens auch sonst vertretene Grundsatz: Wenn der Alkohol ver­ schwunden ist, dann ist die Sittlichkeit (im weitesten Sinne) auch der Jugend gerettet. Das ist eine bedenkliche Einseitigkeit. „Sittlich reife" Menschen, das sind Menschen mit sicherem Eigenurtoil in allen Tingell. Hat die Sozialdemokratie wirklich das Bestreben, die Jugend zu selb­ ständigem Urteil zu erziehen? Ob man hier ja sagen darf, ist sehr

zweifelhaft.

Im Gegenteil, überall hat man bei der sozialistischen Be­

wegung den Eindruck, daß die urteilslose Jugend, und zwar die eben erst schulentlassene, für die sozialdemokratische Partei, also in strammer Einseitigkeit bearbeitet und zurechtgestutzt wird. „Sittlich reif" heißt

dann nichts anderes als „sozialistisch denkend und urteilend". Dabei ist wohl zu bedenken: der theoretische, wenn man so will „akademische" Sozialismus und dessen Popularisierung, der VulgärSozialismus, sind scharf zu unterscheiden. Dieser, der mit drastischen Schlagwörtern arbeitet, die ja die Jugend immer gern nachplappert und für hervorragende Weisheit hält, wirkt zweifellos nicht erziehlich, sondern ist eine Gefahr für die innere Lage der Jugend. Es kommt viel weniger darauf an, was der theoretische Sozialismus will, sondern darauf, wie der Sozialismus in -der breiten Masse praktisch aufgefaßt wird und

Die Ursachen der Not.

aus die Fabrikjugend wirkt.

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Von einer erziehlichen Wirkung kann des­

halb wenig die Rede sein, weil dieser Vulgär - Sozialismus von der Negation lebt und destruktive Tendenz aufweist. Vor allen Dingen wird man ihn nicht von der Schuld freisprechen können, daß er die Autoritäten der Jugend untergräbt. Einer der Fundamentalsätze des VulgärSozialismus ist der Satz: „Man darf sich heutzutage nichts gefallen lassen." Diese Stimmung steigert den ohnehin starken Freiheits- und Selbständigkeitsdrang der Jugend in ungesunder, gefährlicher Weise. „Die Jugend wird dank der sozialdemokratischen Aufklärung und Be­ arbeitung immer radikaler, auch unbotmäßiger gegen Autoritätspersonen." Die Jugend ist unter dem Einfluß der Sozialdemokratie zweifellos furcht­ bar empfindlich geworden — das gesunde, starke Rechtsempfinden wird Zur starken Empfindlichkeit, die sich bei der geringsten Be­ rührung in mehr oder minder starker Ablehnung jeden Einflusses geltend macht. Jede — auch noch so berechtigte, notwendige und verständige — Zucht wird als unberechtigter Eingriff in die persönliche Freiheit auf­ gefaßt. Das Schlagwort „Freiheit" wird schließlich aufgefaßt als völlige Ungebundenheit auch den inneren Autoritäten, dem Gewissen gegen­ über. Der Vulgär-Sozialismus enthält zweifellos die große Gefahr, daß er der Jugend die sittlichen Begriffe zersetzt und raubt, — Vaterlands­ liebe, Treue, Gehorsam, Nächstenliebe, Achtung vor anderer Überzeugung, Wahrhaftigkeit auch dem Gegner gegenüber, Gerechtigkeit, ganz gewiß

aber Selbstverleugnung, Entsagung, Lpser — das sind Begriffe, die oft genug heruntergezogen werden svgl. das sozialistische Lied von der „Treue") — oder nur in sozialistischer Betrachtungsweise gelten. So leiden alle Autoritäten — Elternhaus, Schule, Kirche,Staat — gewaltig not. Besonders richtet sich die Verhetzung des Vulgär - Sozialismus gegen die Religion, insbesondere gegen das Christentum. „Religion ist Privatsache" — zweifellos für eine politische Partei ein guter Grundsatz. Aber wie sieht es mit ihm in der Praxis aus? Materialismus, Darwinismus, Haeckelismus — die gelten als die allein mögliche und berechtigte „wissenschaftliche" Weltanschauung. Alles andere ist „Dummheit, Blödsinn, Heuchelei". Nur materielle Bedürfnisse bestehen Zu Recht — Ewigkeitswerte, innerer Gehalt, Seelenbedürfnisse, darüber ist man längst hinaus. Und gerade die Jugend wird in einseitiger Weise vollgepfropft mit materiellen Fragen, der Materialismus wird ihr in der rohesten Form angepriesen. Die Unzufriedenheit wird über alle Be­ rechtigung hinaus mit allen demagogischen Kniffen der Jugend nahe­ gebracht. Man lese nur die folgenden Auslassungen aus einem an die Jugend gerichteten sozialdemokratischen Flugblatte: „Überall fällt der Blick des Jugendlichen, namentlich in der elterlichen Wohnung, und bei seinen Kameraden, aus Knappheit an Geld und sonstige Dürftigkeit —

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Die Ursach en der Not.

kurzum auf das Elend -der arbeitenden Massen" und weiter unten: „Wir über rufen euch mit Heinrich Heine zu: „Ein neues Lied, ein bessres Lied, o Freunde will ich euch dichten, Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten. Es wächst hienieden Brot genug für alle Menschenkinder, Auch Rosen, Myrten, Schönheit und Lust und Zuckererbsen nicht minder. Ja, Zuckererbsen für jedermann, sobald die Schoten platzen, Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen."

Noch stärker ist die offene und versteckte sozialdemokratische Agitation gegen die Kirche, „die Verdummungsanstalt", in der die Pfarrer als die „Staatsbüttel die Geschäfte des Staates und des Kapitals be­ sorgen". Wieviel Verhetzung gegen Kirche und Religion der arbeitenden Jugend gerade in Werkstatt und Fabrik entgegentritt, das wird man kaum überschätzen können. „Aus Fabriken und Werkstätten wird der Hang zur Auflehnung wider staatliche und kirchliche Ordnung mit­ gebracht." „Unkirchlichkeit infolge Verhetzung durch die Sozial­ demokratie." Daß übrigens auch der sozialistischen Hetze gegen Religion und Kirche durchaus nicht immer und überall gelingt, Religiosität und Kirch­ lichkeit auszurotten, mögen zwei Urteile belegen: „Religiös interessiert, be­ sonders einige Kinder von Sozialdemokraten, denen von der Gegenseite die antichristliche Weltanschauung nahegebracht wird." Die „wissen­ schaftliche" Weltanschauung scheint die Jugend doch nicht recht zu be­ friedigen. Und das andere Urteil: „Die ganze Arbeiterschaft ist mit geringer Ausnahme von der Sozialdemokratie stark beeinflußt, so auch natürlich die Jugend. Das zeigt sich in Unkirchlichkeit, nicht Kirchen­ feindschaft. An Feiertagen kommen alle zur Kirche, die meisten auch zum heiligen Abendmahl." Wenn die Sozialdemokratie nur erst einmal lernen würde, politische, wirtschaftliche und religiöse Dinge zu trennen! Allerdings steht sie ja in der unseligen Verquickung von Religion und Politik nicht allein da. Dabei ist nicht zu vergessen, daß der praktische Materialismus eine allgemeine Strömung ist, die auch die „Gebildeten" in weitem Maße erfaßt hat. Nietzsche und Haeckel, das braucht man kaum zu sagen, gehören heute zum „Inventar" jedes höheren Schülers. Ebenso ist Unkirchlichkeil genug bei den „Gebildeten" zu finden. Der Vulgär-Sozialismus aber betreibt eine gewaltige Propaganda, nament­ lich unter der Jugend — und „verführt zur Irreligiosität und Un­ kirchlichkeit". Daß die sozialistische Beeinflussung die Autorität des Lehrund Arbeitsherrn stark unterwühlt, bedarf kaum der Er­ wähnung. So berechtigt mancher von der Sozialdemokratie erhobene Vorwurf auch sein mag, es ist ein unerhörter Frevel, wie die Jugend in den Klassenkampf und -haß systematisch hineingetrieben wird. Man lese nur die beiden folgenden Abschnitte aus sozialistischen Flugblättern:

Psychologische Geographie.

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. währen- ihr kaum das Notwendigste erhaltet: Brot zum Leben, Kleidung zum Kleiden, Zeit zur Ruhe, Pflege und Stärkung eures schwachen Körpers und Geistes, und euch so das Leben zum Jammertal werden muß, schwelgt ein kleiner Teil der Menschheit auf eure und der Maste Kosten im Überflüsse, den Freudenkelch des Lebens in vollen Zügen genießend" und: „Von frühem Morgen bis spät in die Nacht hinein müßt ihr in Fabriken, Werkstätten, Kontoren usw. schuften, nur um den Geldsack der Unternehmer zu füllen. Das ist euer Los." Wen wundern da noch die Klagen über das Mißtrauen, das die Jugend dem Lehrmeister und Arbeitsherrn entgegenbringt? Es sei ausdrücklich betont: die Sozialdemokratie trägt gewiß nicht allein die Schuld cm der inneren Notlage der Jugend. Die Industrie mit allen ihren Begleiterscheinungen ist die Hauptursache — die Jugend wird überhaupt bestürmt von einer ganzen Masse neuer, zersetzender ®cdanken, denen die alte Heimatssitte und -sittlichkeit bald erliegt. Und die neue Sitte, die Sitte der modernen Fabrikarbeit? Die ist noch nicht da! Der Jugend entfällt, sobald sie in die Industrie, namentlich die auswärtige, eintritt, jeglicher Halt — ganz neuem Geiste, ganz neuen Lebensbedingungen steht sie gegenüber, ein furchtbarer Zwiespalt bricht über die Jugend herein wie eine Sturmflut — niemand hilft ihr, eigenes Urteil hat sie noch keins, von einer sittlichen Autorität des Arbeitgebers ist in der Fabrik nicht die Rede — kein Wunder, wenn sie auf abschüssige Bahnen gerät. Die eigene Ratlosigkeit, die unreifen, mißverstandenen Ideen und Schlagworte bringen sie mit in die Heimat­ gemeinde, sie werden „zur Gefahr für die Heimatgemeinde", indem sie auch die dortige Jugend in den Zwiespalt und die Not hineinreißen.

§ 7. Psychologische Geographie. Es handelt sich hier um den Versuch, Gebiete, innerhalb deren die Jugend gleiche psychologische Erscheinungen zeigt, abzugrenzen und die Eigenart der Jugend innerhalb dieser Gebiete zu beschreiben. Das ist zweifellos ein schweres Unternehmen. Denn schließlich gibt es kein noch so kleines Gebiet, auf dem wirklich gleich geartete Menschen, noch dazu Jugendliche, zusammenwohnen. Gar zu viele Einflüsse verwirren und komplizieren die innere Lage der Jugendlichen derart, daß eine Zu­ sammenfassung fast unmöglich erscheinen möchte: die ganz verschiedene Eharakteranlage, verschiedene Erziehung, verschiedene wirtschaftliche Ver­ hältnisse des Elternhauses und des Jugendlichen selber; dann in weiterem Kreise: die örtlichen Einflüsse, die der Eigenart des Heimatortes ent­ springen — es ist nicht einerlei, ob die Jugend in einem modernen Badeorte oder einem noch ziemlich unberührten Bauernorte zu Hause ist, in einem kleinen ländlichen Jndustriedörfchen oder in einer Groh-

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Psychologische Geographie.

stabt; beide mögen noch so nahe beieinander liegen, die Jugend wird doch ganz verschieden geartet sein — sodann spielt auch die Geschichte, die ein Ort hinter sich hat, eine sehr bedeutsame Rolle. Zweifellos ist auch die Zusammensetzung der Berufe, die sich an einem Orte findet, von großer Bedeutung für die geistig-sittliche Höhenlage der Jugend. In einem kleinen Städtchen mit viel Beamten und darum viel höheren Schülern wird die Jugend ein ganz anderes Gesicht zeigen als in einem Bauerndorfe, und wieder ein ganz anderes in einem Jndustrieorte. Tie Beschäftigung stempelt auch die Seele der Jugend mit: Ob Knecht oder Bauernsohn, Handwerkslehrling oder Industriearbeiter, höherer Schüler oder Kaufmann, jeder Beruf beeinflußt die Seele des ihn Aus­ übenden. Die geographische Lage ist ebenfalls für die innere Gestaltung der Jugend nicht einerlei: Die Jugend eines weinfrohen Rheindorfes hat leichteres Blut als die auf den Bergen gewachsene Jugend des hohen Vogelsberges. Das macht die Sachlage so verwirrt, daß alle diese verschiedenen Einflüsse in buntem Wirrlvarr durcheinander wirken, sich kreuzen, sich verstärken oder aufheben. Es wäre eine lockende Aufgabe,

die freilich eine gewaltige Arbeit für sich bedeutete, die Bevölkerung unseres Landes psychologisch zu untersuchen und auch den Ursachen nachzugchen, die manchmal ganz nahe beieinander liegenden Orten einen grundverschiedenen Charakter geben. Daß das nicht nur in einzelnen Fällen vorkommt, beweist schon die Umfrage. Die psychologischen Eigen­ heiten der Jugend sind „schon hier in den Dörfern der Pfarrei ver­ schieden. Die einen haben unter ihrer Jungmannschaft noch mehr nüchternes Wesen, die anderen neigen zu Gelagen". Oder es heißt von ganz nahe beieinander liegenden Orten: „Die sittlich-religiöse Lage der Jugend ist in G . . . wenig befriedigend, in B . . . besser, weil über­ wiegend gute Landwirtschaft. Doch ziemlich ein Drittel industriell be­ schäftigt, besonders Steinbrüche"; „in O . . . gut, in R . . . läßt sie zum Teil viel zu wünschen übrig"; oder noch charakteristischer: „Tie G.er Jugend ist etwas laut, unbeholfen, auch wieder gutmütig, immerhin kirchlich; die E.er ist gewandter, energischer und zielbewußter, weniger kirchlich. In beiden Fällen getreues Abbild der Gemeinden seit alters." Trotz aller Schwierigkeiten, zu denen nicht zuletzt die in 8 5 angedeuteten Mängel der Berichterstattung gehören, soll der Versuch unternommen werden, unser Hessenland psychologisch - geographisch darzustellen und wenigstens in großen Zügen, soweit als möglich, größere Gebiete psycho­ logisch zu erfassen und zu schildern. Beginnen wir mit O b e r h e s s e n. Der Oberhessens, vom Vogelsberg beherrscht, zeigt Gepräge. Es ist im großen und ganzen das wirtschaftlich-handwerkliche Beschäftigung unter

n o r d w e st l i ch e Teil ein ziemlich einheitliches Gebiet, wo sich die landder Bevölkerung in hohem

Psychologische Geographie.

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Maße behauptet hat. Die Bevölkerung und mit ihr die Jugend zeigt also stark bäuerliches Gepräge. Es ist das Gebiet etwa der Dekanate Alsfeld, Lauterbach und Schotten. Die Jugend dieses Gebietes charak­ terisiert sich etwa folgendermaßen: Eine gewisse geistige Schwerfälligkeit und Trägheit haftet ihr an. Es ist schwer, sie zu begeistern. Geistiges Interesse ist wenig vorhanden. Sie geht in ihren ausgefahrenen Gleisen, gegen alles Neue ist sie mißtrauisch und verhält sich ablehnend dagegen. Die Jugend ist bäuerlich-konservativ, sie ist „wie die Alten, langsam und treu, bedächtig und energisch". Sie läßt einmal Erfaßtes so schnell nicht wieder fahren. An der Heimat und auch an der Religion und Kirche hängt sie mit großer Zähigkeit und ordnet sich völlig den her­ gebrachten Autoritäten unter, zeigt wenigstens ihre Zweifel nicht. Kritik kennt sie nicht viel. Tie Jugend ist nicht frech und anmaßend, eher schüchtern, im ganzen anständig. Auf der anderen Seite ist sie ver­ schlossen, zurückhaltend, schwer zugänglich. Ihre Gefühle verschließt sie meistens sorgfältig. Ihr Leben ist bestimmt von zwei Mächten: Arbeit und Sitte. Zwei Arten von Menschen sind der bäuerlichen Jugend un­ verständlich, hält sie für schlecht: die Faulen und die der Ortssitte sich nicht Fügenden. Hartnäckig hält sie an der alten Sitte fest, mag sie auch schlecht sein. Individualitäten haben keinen Raum bei ihr. Sie gelten als Narren und Sonderlinge. Der Herdentrieb beherrscht sie. So ist die Bauernjugend ziemlich ruhig, Arbeit und Sitte hält sie im Gleise. Sie ist auch schließlich lenksam, vor allen Dingen Autoritätspersonen gegenüber höflich und willig. Namentlich steht sie stark unter der Bot­ mäßigkeit des Elternhauses, von dem sie wirtschaftlich lange abhängig ist. Freilich scheint oft die Sitte in dieser Beziehung stärker zu sein als wirkliche kindliche Unterordnung und Liebe. Tie bäuerliche Jugend ist aber auch ziemlich unselbständig im Denken und Handeln, auch ihre Religiösität ist kaum eigenständig. Die Kirchlichkeit ist gut bei ihr. Die Sittlichkeit im engeren Sinne ist derb, vorehelicher Verkehr der Verlobten ist von der Sitte sanktioniert, die Treue wird aber gehalten; die Erotik steht im Mittelpunkt des Denkens und Empfindens — das Raffinement aber fehlt. Die Sitte zügelt die Sinnlichkeit. Ganz be­

sonders stark ausgeprägt ist in diesem Gebiete gerade der Geselligkeits­ trieb. Tas Gemeinschaftsgefühl ist ungeheuer stark. Allerdings zieht die Sitte einen seltsamen Kastengeist groß, der nur die einzelnen Jahr­ gänge bei Spaziergängen und in der Spinnstube sich vereinigen läßt.

Auch nach anderer Seite zeigt der Kameradschaftsgeist eine Tendenz ins Ungesunde: Die Spinnstube, das Zusammensein mit dem anderen Ge­ schlechte beim Alkohol im Wirtshaus oder im Privathaus scheint eine ernste Gefahr für die Jugend. Heißt es doch einmal: „In der Schule herrscht ziemlich Eifer und Regsamkeit. Wenig Ungezogenheit. Nach

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dem Eintritt in die Spinnstuben macht sich Trotz, Stumpfheit und Un­ zugänglichkeit geltend." Der Alkohol ist im großen und ganzen keine Gefahr für die Jugend — einzeln« Gemeinden scheinen aber doch stark bedroht. Von besonders hervortretenden tatsächlichen „Eigenheiten" wird nur aus einer Gemeinde im Dekanat Schotten berichtet: „Neigung zur Unmäßigk«it und Streitsucht" werden als solche angegeben. Wir gehen zu einem Gebiet über, das als ein breiter Streifen von Norden nach Süden ganz Oberhessen durchzieht: Das Übergangs ­ gebiet vom bäuerlichen Vogelsberg zu dem Industriegebiet und zur Wetterau. Es umfaßt etwa die Dekanate Grünberg, Nidda und Büdingen. Der industrielle Einschlag macht sich hier schon stark geltend. Auf der einen Seite wirken die Einflüsse der Industrie, auf der andern Seite — an den Abhängen des Vogelsberges — die bäuerlichen. Darum hat dieses Gebiet, jugendpsychologisch betrachtet, weniger Einheitlichkeit als der Nordwesten. Die beiden Typen sind vertreten: Bauerngemeinde und Jndustrieort. Dazwischen mehr oder minder stark industrialisierte Landorte mit größerem oder geringerem Prozentsätze Auswärtiger. So zeigen sich in vielen Gemeinden die „Eigenheiten bäuerlicher oder aus bäuerlichen Verhältnissen stammender Jugend". Vor allem das Herden­ menschentum und das Phlegma, die Schwerbeweglichkeit, die sich häufig mit festem Willen verbindet, geringer Sinn für Höheres, auch für edlere Unterhaltung. Daneben aber wird schon folgende Charakterisierung laut: „Begeisterung fürs Neue, aber von kurzer Dauer." Oder aus einer andern Gemeinde: „Lebhaft, neigt zur Vergnügungssucht und ist fremden Einflüssen und Vorbildern leicht zugänglich." Die bäuerliche Schwer­ beweglichkeit und Unzugänglichkeit schwindet mehr und mehr. Auch die bäuerliche Einfachheit und Sparsamkeit tritt zurück. Hier wird schon von Genußsucht, Putzsucht und Vergnügungssucht geredet. Tie Jugend hat auch das nötige Geld in den Händen — sie verdient in der Industrie und „das Taschengeld ist nicht kärglich, das die Eltern geben, wenn sie das übrige ausliefern". Aus diesen Gemeinden wird die Jugend als ruhig, fleißig, brav und wohlgesittet geschildert, aus jenen aber als „ziem­ lich roh", wild, immer frecher werdend. Diese Stimmen mehren sich. Die Sozialdemokratie beginnt Einfluß zu gewinnen. Die frühe Selb­ ständigkeit zeigt ihre Folgen. „Unbotmäßigkeit gegenüber dem Alter zeigt sich. Das Elternhaus verliert seine Autorität. Der Ungehorsam der Jugend nimmt zu. Nach menschlichen und göttlichen Autoritäten wird wenig gefragt." Daneben aber sagt wieder ein Bericht etwa: „Im allgemeinen ist die Jugend ehrerbietig, dem Pfarrer usw. begegnet sie mit Respekt." Mit der Sittlichkeit „scheint es recht bergab zu gehen", der Alkohol spielt eine größere Rolle, „die freie Zeit wird ins Wirts­ haus verlegt". Der Spinnstubenbetrieb zeigt auch hier noch den starken

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Geselligkeitstrieb — und auch seine traurigen Früchte zeitigt er, wie auch die zu häufigen Tanzvergnügen. Auch hier nur aus einer Ge­ meinde eine besondere Eigenheit — abermals ist es die Streitsucht! Die Wetterau, in der etwa die Dekanate Hungen, Friedberg und Rodheim liegen, hat ihr eigentümliches Gepräge. Sie ist der Industrie sehr stark anheimgefallen — zugleich ist der Gegensatz zwischen

Bauerntum und Industrie, auch unter der Jugend, kaum irgendwo schärfer als hier. Fast die gesamte Jugend der Wetterau geht in die auswärtige Industrie. Geld hat sie viel in den Händen und der Ein­ fluß der Sozialdemokratie ist sehr stark. Gerühmt wird an der Wetterauer Jugend Strebsamkeit im Beruf, Fleiß, Tüchtigkeit und Ge­ wandtheit. „Es scheint Energie und Streben bei ihr verbreitet." Außer­ halb ihres Berufes aber wird von Stumpfheit gesprochen, Unaufge­ schlossenheit gegenüber geistigen Interessen. Sie sind „zufrieden mit Bier und Zigarre und Wirtshausbesuch". Vor allem scheint der Wetterauer Jugend ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein eigen zu sein, das einmal geradezu als „Protzentum" bezeichnet wird, ein anderes Mal als Selbstherrlichkeit, die sich in einer starken Empfindlichkeit und ge­ ringer Verträglichkeit äußert. Daran tragen die hohen Löhne gewiß bei der fabrikbeschäftigten Jugend mit Schuld. Die Kehrseite dieser Überschätzung des Äußerlichen ist die Geringschätzung der Religion. „Sittlichkeit und Religion ist im Schwinden begriffen." Die Jugend wird sogar als „vielfach irreligiös" bezeichnet. Sehr stark wird auch der Freiheitsdrang bei der Wetterauer Jugend betont. Neigung zur völligen Ungebundenheit scheint stark ausgeprägt bei ihr. Autoritäten lehnt sie ab, sucht aber jedem ihre Lebensform aufzunötigen. Sie selber ist dabei „in ihren Anschauungen unfrei, unselbständig, viel ge­ bunden an dörfliche und berufliche Verbände". Mit der Überschätzung der materiellen Dinge und der Neigung zur Unabhängigkeit hängt auch mangelhafte Kirchlichkeit zusammen. Sogar von Kirchenfeindschaft der Jugend wird berichtet. Mißtrauen gegen Pfarrer und auch den Lehrer scheint nicht selten zu sein. Dafür aber wird mehrfach betont, daß die Wetterauer Jugend „den schlechten städtischen Einflüssen rückhaltlos offen" ist. „Der Sinnengenuß (Trinken, Rauchen, Kartenspiel usw.) hält das geistige und sittliche Streben nieder." Die Vergnügungssucht ist groß. Mehrfach wird die Jugend als roh und abstoßend bezeichnet. In sexueller Beziehung scheint es nicht gerade gut mit der Jugend zu stehen, der Alkohol eine nicht geringe Gefahr für sie zu sein. „Sie läßt sich die Sitte nicht mehr vom Elternhause übergeben, sondern vom Wirts­ haus." Dem Elternhaus steht die Jugend auch sehr frei gegenüber. Im allgemeinen wird noch gesagt, daß die Jugend hier „in Rede und Charakter etwas Derbes, ja Grobes hat, aber im allgemeinen gesund und Page, Jugendpflege.

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tüchtig ist", einmal wird auch die Freude am „Schabernacktreiben" hervorgchoben. Bliebe nun noch die völlig industrialisierte Umgebung Gießens. Auffallend ist die starke Betonung der sexuellen Notlage und der Alkoholgefahr. Mehr als sonst wird auf das rohe, zügellose Gebaren in der Spinnstube hingewiesen und auf den gemeinsamen Wirtshausbesuch der beiden Geschlechter. Sehr beliebt sind die „Saufklubs". Die „Versuchungen der werdenden Großstadt" wachsen. „Die Jugend ist vielfach der Verführung preisgegeben." Eine gewisse Oberflächlichkeit wird der Jugend nachgesagt: „Viel Neugierde, weniger Wißbegierde." Es sind eben meist typische Jndustriegemeinden, aus denen fast die gesamte Jugend täglich mit der Eisenbahn zur Arbeitsstätte wandert. Alle Schattenseiten der Jndustriebeschäftigung machen sich bei ihr geltend. Sie steht zudem fast ganz unter sozialdemokratischem Einfluß. Autori­ täten existieren kaum für sie: „sie mucken gern auf, schon in den letzten Schuljahren, sind nicht offen und betrachten die Religion als etwas Überflüssiges", als ein Mittel zur „Volksverdummung". Auf der

anderen Seite wird aber auch von dem gesunden oberhessischen kirchlichen Sinn gesprochen, von der Verschlossenheit und Tiefe des oberhessischen Volkscharakters, der sich auch in diesem Industriegebiet noch erhalten hat. So spiegelt sich in diesen Berichten das gewaltige Ringen des alten, riefen Volksgeistes gegen den gleichmachenden, materialisierenden Jndustriegeist, das sich auch in unserem kleinen Hessenvolke abspielt. Ein charakteristisches Stimmungsbild, wie dieser Kampf die Jugend innerlich zerreißt und zerfahren macht, gibt ein Berichterstatter aus einem Vororte Gießens: „Das Bild ist sehr mannigfaltig. Alle wollen den feinen Herrn am Sonntag markieren (Anzug, Auftretens. Man macht alle Vergnügen, wie sie kommen, mit. Viele besuchen heute die Gemeinschaftsversammlungen, morgen die Kirche, übermorgen den Ball

dieses oder jenes Vereins und so fort."

Starkenburg steht sehr stark unter dem Einfluß der Industrie, die bis ins entlegenste Odenwalddorf vorgedrungen ist. Die Abwande­ rung nach den Industriezentren ist sehr stark, dazu ist die Zahl der nur auswärts Arbeitendm, aber im Heimatort Wohnenden sehr groß. Nun leidet das zu zeichnende Bild auch sehr darunter, daß die Berichte aus Starkenburg über die psychologischen Eigenheiten der Jugend ziemlich mangelhaft sind. Trotzdem kann cs nicht Zufall sein, daß selbst im Odenwald von den im Vogelsberg so stark hervortretenden bäuer­ lichen Merkmalen nicht besonders viel hervortritt. Der nivellierende Geist, den die Jndustriebeschäftigung mit sich bringt, hat offenbar schon ein gutes Stück Arbeit getan. Eine größere Zahl von Berichten liegt airs dem mittleren Odenwald vor, aus dem Streifen etwa, der sich in

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der Breite Seeheim-Bensheim nach Westen hinzieht. Eigentümlich ist in diesem Gebiete die starke Betonung geistiger Schwerfälligkeit und Minderbegabung, ja der geistigen Trägheit. „Geistig uninteressiert", so wird da die Jugend geschildert, oder „die Schuljugend ist halb idiotisch. Schlechte Geistesveranlagung, in der Schule daher dumm und gutmütig. Später in der Großstadt roh, vergnügungssüchtig und ent­ kirchlicht." In einem anderen Orte wird die Jugend als „nicht sehr intelligent" bezeichnet und aus einer Gemeinde an der Bergstraße wird als Eigenheit der Jugend lakonisch der „Stumpfsinn" genannt. Die Charakteristik der Jugend aus einem anderen Orte, wo sie wenigstens als „zum Teil recht strebsam und nicht unbegabt" bezeichnet wird, fährt fort: „auch nicht religiös gleichgültig, aber auch nicht religiös inter­ essiert." „Es fehlt durchweg der ernste, aufs Ewige gerichtete Sinn", so heißt es aus einer anderen Gemeinde dieses Gebietes. Auch eine gewisse Energielosigkeit scheint unter der Jugend dieses Striches ver­ breitet: „Für straffe Organisation ist sie zu schlapp, schwerfällig, lassen sich gehen und treiben." Das klingt wieder zusammen mit zwei anderen Urteilen: „Tie hiesige Jugend ist verhältnismäßig leicht zu begeistern, aber die Begeisterung hält nicht lange an, sie ist manchmal wie ein Stroh­ feuer, das rasch aufslammt, aber auch rasch wieder vergeht." Neben diesem aus einer noch recht bäuerlichen Gemeinde des Odenwalds stam­ menden Urteil läßt sich eines von der Bergstraße so vernehmen: „Die Bevölkerung bleibt nicht lange bei einer Liebhaberei." Teilweise wird die Jugend auch als lebhaft, leicht laut, zu kleinen Exzessen geneigt, übermütig, im großen und ganzen aber als lenksam geschildert, auf der andern Seite wieder als leichtsinnig, genußsüchtig, zum großen Teil respektlos und roh. Schr charakteristisch ist eine Darstellung aus einem ganz im Westen des behandelten Gebiets liegenden Orte: „Die all­ gemeine Neigung des Volksschlags zur Umgehung der Schwierigkeiten, zur Unwahrhaftigkeit, Empfindlichkeit gegenüber Vorhaltungen, Scheu vor dem „Nachteil", d. h. der Nachrede, Unbeständigkeit; doch auch ein gewisses Geschick und mancherlei Interesse, wenn ihr die Dinge geeignet nahegebracht werden, Freude an turnerischen Leistungen, doch dabei viel Reflexion auf zu erringende Preise." In sexueller Hinsicht steht es in diesem Gebiete teilweise recht schlecht, der Alkohol spielt eine große Rolle. Die Industrie bringt viel Geld ein. Kirchlichkeit, Verhältnis zum Eltern­ haus usw. ist sehr verschieden, beides geht stellenweise bis zum reinen Nichts. Bis tief in den Odenwald hinein, man kann sagen über den ganzen Odenwald ist die Sozialdemokratie verbreitet. Die Orte haben meist eine so stark beruflich gemischte und darum auch innerlich ver­ schiedene Bevölkerung, daß von einer einheitlichen Jugend kaum ge­ sprochen werden kann. Im südwestlichen Odenwald, bis zum Neckar

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herunter, wird der „Drang der Jugend nach Freiheit" hervorgehoben: „unsere ganze Gegend trägt einen freiheitlichen Zug an sich, und so läßt sich auch die Jugend nicht gern etwas sagen." Innerlich noch zerrissener ist die Jugend in dem Übergangs­ gebiet vom Odenwald nach Nord-Starkenburg hin. Hier machen sich die Einflüsse der Industrie, di« ganz Nord-Starkenburg beherrscht, mit voller Wucht geltend und auch die Einflüsse der großen Städte. Aus einem Dorfe im vorderen Odenwald wird berichtet, die Jugend trägt „die typischen Züge der Arbeiterjugend". Dort „herrscht die Sozial­ demokratie rücksichtslos", und unter ihrem Einfluß und ihrer Bearbeitung wird die Jugend „immer radikaler, auch unbotniäßiger gegen Autoritäts­ personen". Verhetzung und Verbitterung der Jugend ist groß. Dem gleichen Einfluß wird auch die stark hervortretende religiös - sittliche Gleichgültigkeit zugeschrieben. Nur aus den mehr abseits gelegenen, von der Eisenbahn entfernteren Orten kommen etwas günstigere Berichte: „Die Jugend ist im allgemeinen fleißig und arbeitssam", oder „arbeitssam, nimmt auch gerne an weltlichen Vergnügungen teil". Unsittlichkeit und Alkohol scheinen hier gerade die Jugend zu verwüsten. NordStarkenburg ist als ein zusammenhängendes Industriegebiet zu bezeichnen. Aus den Orten, wo nicht die Fabriken am Platze sind, wie dies etwa in Offenbach, Rüsselsheim, Gustavsburg der Fall ist, strömen durchweg 3/t und mehr der Jugend zu den Jndustrieplätzen. Die Boden­ ständigkeit ist völlig verloren gegangen. Die Industriestädte strahlen ihren nicht guten Einfluß sehr stark auf das ganze Land aus. Der Mate­ rialismus beherrscht die Jugend. „Äußerlich geweckt, sind sie zu tieferem Nachdenken nicht fähig. Lebensernst ist wenig vorhanden." „Etwas leichtlebig und darum auch bald nach der Konfirmation religiös ziemlich indifferent." „Unter dem materialistischen Einfluß der Industrie fast keinen Sinn, noch weniger Interesse für religiöse Dinge." „Materialistisch, genußsüchtig, Bildungsstreben minimal." Das letzte Urteil ist besonders bemerkenswert gegenüber dem Gerede von dem gewaltigen Bildungshunger der Arbeiterjugend. Es heißt wohl gar einmal: „arbeitsscheu und genußsüchtig." Dabei ist die Jugend des Industrie­ gebiets „sehr selbständig". Autoritäten gibt es gar keine für sie. „Vor­ laut, spottsüchtig, ablehnend gegen religiöse oder kirchliche Beeinflussung." „Sie treten einem ungeniert entgegen und haben doch im Bewußtsein ihrer Roheit eine große Scheu vor jeder Annäherung." Die Sozialdemokratie leistet eine gewaltige Wühlarbeit im ganzen. Gebiete. — Frühreife, Verrohung, Frechheit, Nachäffung des städtischen Lebens und Treibens werden als Merkmale der Jugend bezeichnet. Sie gilt als „unverschämt, rücksichtslos und roh". „Früh aufgeklärt, Lust zu städti­ schem Auftreten in Kleidung und anderem, zum Teil zur Oberflächlich-

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feit neigend, ziemliche Widerstandslosigkeit gegen üble Beeinflussung." „Kaum ist die Jugend aus der Schule entlassen, so zeigt sich das Bestreben, es den Erwachsenen gleichzutun; das zeigt sich namentlich im Wirtshausbesuch und im Nachplappern der sozialdemokratischen Schlag­ worte; doch ist ihr Betragen im allgemeinen anständig." „Sie trinkt gern Alkohol, raucht früh Zigaretten, hat sehr ungeschliffene, oft rohe Elemente unter sich. Dabei meist gut begabt und durchschnittlich auch anhänglich." „Frühreife. In der Berufsbildung entschieden Eifer und großer Ernst." Alle Merkmale der Arbeiterjugend zeigen sich natur­ gemäß in diesem Industriegebiet, wie in anderen auch. In sexueller Beziehung steht es zum Teil geradezu traurig, und dem Alkohol wird gefrönt zum Verderben von Leib und Seele. Aus einem Jndustrieorte heißt es: „Der Alkohol ist eine große Gefahr, da viel Anlage zur Tuberkulose." Interessant ist noch ein Blick auf das R i e d. Im südlichen Ried wird im allgemeinen die Jugend gar nicht ungünstig beurteilt, trotzdem auch dort die Jndustriebeschäftigung weit verbreitet ist: „Trotz allem ist die Jugend freundlich, anhänglich, gefügig, pietätvoll gegen die Lehrer und Pfarrer." „Sinniges Gemüt und religiöser Sinn, auch bei der männlichen Jugend. Leider oft Mangel an Energie." „Hält sich im allgemeinen noch zur Kirche, keine Sozialdemokraten. Sittlichkeit nicht schlecht, obwohl nicht glänzend." „Läßt sich im allgemeinen von den Eltern leiten." Kommt man aber weiter nach Norden in die Nähe des eigentlichen Industriegebietes, sofort ändert sich das Urteil: „Starker Trieb nach Freiheit und Ungebundenheit." „Man fragt vielfach nicht nach Autorität." „Materialistisch, auf den Genuß gerichtet." Aller­ dings scheint es mit Sittlichkeit und Alkoholgefahr durchs ganze Ried hindurch gleich schlecht zu stehen. Am geschlossensten in ihrer Eigenart steht die Jugend in RHein­ tz c s s e n da. Der Rhein und der Wein scheinen ihre Eigenart zu be­ stimmen. Sie trägt viel von dem Wesen des „Rheinländers" an sich, den man gewöhnlich mehr rheinabwärts sucht. Der Grundzug der rhein­ hessischen Jugend ist eine gewisse Freude am Leben. Leichtlebig wird sie oft genannt. Ziemliche Aufgewecktheit und Lebhaftigkeit eignet ihr — große körperliche und geistige Gewandtheit. Lernlust und Strebsamkeit ist bei iHv verbreitet. Die oft schwere Arbeit des Wein- und Ackerbaues tut sie gern und fleißig. Bezeichnenderweise wird einmal gesagt: „Außer­ dem hebt man in Rheinhessen leicht, d. h. nimmt nichts schwer, aber auch leider nichts ernst." -Diese Leichtlebigkeit wird häufig zur Leichtfertig­ keit und zum Leichtsinn. Eine gewisse Oberflächlichkeit beherrscht das ganze Wesen des Rheinhessen. „Geistig gewandt, regsam, aber nicht tief, noch sehr treu." „Mangel an Tiefe und nachhaltigem Interesse." Die Rheinhessen sind keine besonders tiefen Naturen, namentlich der religiöse

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Sinn ist nicht stark ausgebildet. Ja, es wird gesagt: „wie die ganze Ge­ meinde, so ist auch die Jugend religiös vollkommen steriler Boden". Die freiprotestantische bzw. freireligiöse Propaganda wird mit dafür verant­ wortlich gemacht. „Die Jugend macht sich keine Sorgen für das Zeitliche, aber auch nicht für das Ewige." Die Jugend ist fast durchaus gutmütig. Sie wird auch als „ruhig und wohlanständig, arbeitsam und nicht un­ solid, freundlich und willig" geschildert. „Aber ohne Energie." „Wenig Beharrlichkeit in Dingen, die außerhalb der Berufsarbeit liegen." Der leichte Sinn läßt sie sich schnell für etlvas begeistern, „aber ebenso leicht schwenkt sie wieder ab." Nach Art der Rheinländer ist die rheinhessische Jugend auch leicht zugänglich, sie ist offenherzig, sie läßt sich auch leicht lenken zum Guten und zum Bösen, nur die Beharrlichkeit fehlt ihr. „Leicht zu gewinnen, leicht verloren." Neben der Gutmütigkeit besitzt sie aber auch eine gewisse Derbheit, ja Brutalität. „Geradheit und Ehrlichkeit, aber auch viel Derbheit." Für allerlei „Vergnügungen" hat sie viel Sinn. Die Jugend ist nach mehreren Berichten recht „frühreif".

Einen Hauptcharakterzug der rheinhessischen Jugend würde man übersehen, >venn man nicht das starke Selbstbewußtsein nennen wollte, das sich oft zu Eitelkeit, Einbildung, Protzentum und Frechheit steigert. Oft auch äußert es sich als merkwürdige Empfindlichkeit. Insofern kommt die rheinhessische Jugend der Wetterauer ziemlich nahe. Dieses Selbst­ bewußtsein hat auch eine gewisse niedrige Einschätzung der Autoritäten zur Folge. Der Rheinhesse neigt sehr zur Kritiklust, bei der Jugend mag sich diese oft als „vorlautes Wesen" und „Frechheit" äußern. Das Streben nach Unabhängigkeit und möglichst viel Verdienst wird hervor­ gehoben. Die Jugend ist „sehr selbständig". Sie kennt „kein Fragen nach Autorität". „Sie will sich selbst überlasten sein; einer religiös, sittlichen Bceinflustung durch den Pfarrer entzieht sie sich, woran in den meisten Fällen das Elternhaus schuld ist!" „Die Autorität des Pfarrers ist schwer zu behaupten, gerade der Jugend gegenüber." Aber es fehlt durchaus nicht an anderen Stimmen: „Pfarrer und Lehrer gegenüber sind sie höflich und freundlich. Kirchenbesuch der Heranwachsenden Jugend recht gut." „Frühreif, teilweise recht roh. Doch auch sehr brave, tüchtige junge Burschen, die freundlicher Belehrung und Ermahnung sehr zu­ gänglich sind. Die zur Christenlehre Verpflichteten kommen treu. Die älteren ziehen sich teilweise schnell vom kirchlichen Leben zurück und kommen selten in die Kirche." „Meist strebsam und geweckt, ziemlich zuchtlos, wenn auch nicht in schlimmer Weise. Sie ist zu beeinflussen und noch mehr für die Kirche zu gewinnen." — Endlich weist die rhein­ hessische Jugend noch einen Zug auf, der wohl in allen Weinbaugebieten der Bevölkerung eigen ist: sie ist neben ihrer Empfindlichkeit sehr leicht erregbar, sie hat hitziges Blut und eine nicht geringe Leidenschaftlichkeit.

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— Ta in Rheinhessen sehr viel Weinbau getrieben wird, ist der Alkohol eine ernste Gefahr für die Jugend. Es ist ganz zweifellos, daß der Weingenuß alle die angegebenen Eigenschaften stark fördert. Man darf frei­ lich nicht vergessen, worauf auch ein Berichterstatter hinweist, daß die Rheinhessen durch lange Gewohnheit „trunkfest" und dadurch auch in gewisser Weife gegen die Wirkungen des Alkohols gefeit sind. Der ge­ sellige Rheinhesse kann sich gar keine Geselligkeit ohne Wein denken. — In sexueller Hinsicht gilt vielfach die Sitte des Dorfes. Allerdings scheint in dieser Beziehung die Großstadt Mainz sehr ungünstig auf das Land, namentlich die Vororte, einzuwirken. Wie übrigens die Industrie in diesen meist durch sie emporgewachsenen Vororten verwüstend auf den Volkscharakter wirkt, zeigt ein Urteil aus einem Vorort, das dem sonstigen Charakter der Rheinhessen völlig widerspricht, wenn es sagt: „Merkwür­ dige Interesselosigkeit kennzeichnet die Jungen, stumpfsinniges Dahin­ leben." Jedenfalls ist der Gesamtcharakter der rheinhessischen Jugend kaum richtig gezeichnet, wenn ein Bericht nur ihre Schattenseiten hervor­ kehrt: „Sie ist vergnügungssüchtig, oberflächlich, unkirchlich und frech." Viel verständnisvoller ist dieses Urteil: „Sie ist frisch, fröhlich, frei, aber nicht immer fromm." Übrigens hat man auch die Frage aufgeworfen, inwieweit die politische Haltung — viel Freisinn — auf die innere Hal­ tung wirkt. Man wird aber hier ebenso, wie in der Frage des Frei­ protestantismus vorsichtig fein müssen, damit man nicht das Verhältnis von Ursache und Wirkung, Grund und Folge auf den Kopf stellt. Damit feien die psychologischen Betrachtungen vorläufig beendet. Psychologische Fragen werden ja im wetteren Verlaufe immer wieder auf­ tauchen und gestreift werden müssen. Wer aber die Jugend wirklich kennen lernen will, der wird sich weder aus Berichten noch aus Büchern unterrichten können. Ter muß selber mit liebevollem Verständnis und seinen, offenen Lehren auf die Ströme lauschen, die in der Tiefe der jugendlichen Seele rauschen. Viel wildes und trübes Gewässer wird er über Geröll und Schutt stürzen und schäumen hören — aber in der Tiefe vernimmt er auch das Murmeln feiner, echter, klarer Quellen. Freilich, sie scheinen stark verschüttet — aber wäre es nicht möglich, ihnen freie Bahn zu schaffen, daß sie anschwellen zu starken Strömen? Dazu braucht die Jugend Hilfe! Sie ist in schwerer Not und noch schwererer Gefahr. Wo sind die Hände, die sich helfend ausstrecken, wo sind die Herzen, die in warmen, starken Schlägen für die jungen Brüder gehen, wo sind die Köpfe, die sich zersinnen, wie Hilfe und Schutz zu schaffen sei? Wer soll unserer Jugend helfen, wer kann ihr helfen, wer darf ihr helfen?

Zweiter Abschnitt.

Die pflicht der evangelischen Gemeinde und der Tatbestand. § 8. Die Pflicht der evangelischen Gemeinde. „Das ernsteste Problem des Jahrhunderts klopft an di« Tore. Wir wollen nicht zu denen zählen, die sein Pochen leichtfertig überhören." Dieses Wort Richard Nordhausens gilt in vollem Umfange auch für die Kirche. Freilich, auch innerhalb der evangelischen Kirche gibt es noch viele, allzuviele, die das Pochen des Jugendproblems an die Tore unserer evangelischen Kirche nicht hören. Äußerst verwunderlich in einer Zeit, wo alles von Jugendnot und Jugendhilfe spricht, wo Staat und Re­ gierung, politische Parteien, der Jungdeutschlandbund, Turn-, Sport-, Pfadfindervereine, Wehrkraftvereine, Kriegerverbände, Gewerbevereine, Handlungsgehilfenverbände, kaufmännische Vereine sich um die Jugend mühen! Das Wort vom „Kampf um die Jugend" hat seine volle Be­ rechtigung. Schon das Geschrei und das Getue dieses Kampfes sollte di« evangelische Kirche aufmerksam machen. Will sie nicht eine Volkserzieherin sein? Geht sie die Jugend nichts an, um die man sich aus mehr oder weniger edlen Motiven reißt, die man mit allen Mitteln von allen Seiten an sich zu ziehen sucht? Gehört nicht der größte Teil dieser Jugend in ihren Kreis, trägt sie nicht die Verantwortung für große Scharen der Heranwachsenden Jugend? Gerade weil der Kampf um die Jugend seine bedenklichen Seiten hat, gerade weil man nicht die Überzeugung haben kann, daß überall die Jugend in all den mannigfachen Jugendorganisationen mit bewußter Absicht und in echter Uneigennützig­ keit erzogen wird, darum muß die evangelische Kirche doppelt auf dem Plan sein! Unter irgendeinen Einfluß kommt die Jugend heutzutage ganz gewiß. Ist es der evangelischen Kirche gleichgültig, darf es ihr, wenn anders sie noch den Anspruch erhebt, Volkserzieherin zu sein, gleich, gültig sein, unter welchen Einfluß die Heranwachsende Jugend gerät? Unsere Kirche hat in den Kampf um die Jugend dreinzureden, sie muß es, wenn sie nicht ihre eigene Existenz, ihre Daseinsberechtigung zum guten Teil selber verleugnen will. Oder will die evangelische Kirche

Die Pflicht der evangelischen Gemeinde.

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warten, bis die Jugend in allen möglichen — wenn auch noch so nütz, lichen Bestrebungen — festgelegt ist, und sie selber steht mit leeren Händen da? Diese Versäumnis würde sich wie keine andere bitter rächen! Die Kirche darf nicht abermals hintendreingehinkt kommen! Hier wäre das „zu spät" fürchterlich!

Nicht nur aus dem äußerlichen Grunde, weil viele sich um die Jugend streiten, soll die Kirche nicht zurückstehen, sondern weil sie die Überzeugung hat, daß sie mit dem Christentum, dessen Trägerin sie ist, der Jugend Kräfte geben kann, die ihr über die Nöte, die von innen und von außen her sie bedrängen, gut und sicher hinweghelfen kann. Das soll auch nur der Beweggrund sein, aus dem die Kirche sich der Jugend an­ zunehmen hat: ihr zu helfen mit den tiefen religiös-sittlichen Kräften, die ihr zu Gebote stehen. Nicht die Jugend wieder „kirchlich" zu machen im vulgären Sinn, d. h. sie wieder zur regeren Teilnahme am Gottesdienst und dem Abendmahl zu bringen. Sondern sie in den Bereich der hohen, ewigen, starken Kräfte zu beziehen, die der Jugend Halt und Stütze sein können. Deshalb müßte unsere Kirche zu allererst auf dem Plane sein, wenn es gilt, der Jugend Not zu steuern, weil ihr als der Kirche Jesu jede Not auf dem Herzen brennen muß und weil sie überzeugt ist, daß sie in der christlichen Religion der Jugend die guten Mächte der Hilfe zuführen kann. Wäre sie nicht mehr davon überzeugt — dann könnte sie ihre Pforten getrost schließen. Aber weil sie davon überzeugt ist, ist ihre Pflicht gegenüber der Heranwachsenden Jugend riesengroß!

Vielleicht möchte man sagen: „Die Kirche tut doch vieles, am Ende

genug an der Erziehung der Jugend! Man darf doch den Religionsunter­ richt der Schule nicht unterschätzen, vorher nehmen sich viele Gemeinden der Jugend in Kleinkinderschulen an, in vielen Orten werden Kinder­ gottesdienste gehalten, dann kommt di« Zeit des Konfirmandenunterrichts und die Konfirmation selber." Wer wollte alle diese Veranstaltungen und ihre erzieherische Wirkung in religiös-sittlichem Sinne leugnen! Aber sie fallen gar nicht in die eigentlich kritische Zeit, in die Notzeit. Es muß doch bedenklich stimmen, daß für gar viele die Konfirmation nicht

der Beginn eigenständig religiös-sittlichen Lebens ist, nicht der bewußte Eintritt in die evangelische Gemeinde — sondern vielmehr ein Abschluß, nach dem die Jugend sich religiös-sittlicher Beeinflussung und dem ganzen Gemeindeleben mehr oder weniger, oft aber gänzlich entzieht. Jetzt erst beginnt für die Jugend die ganze, schwere Not der Entwicklungsjahre, die den jungen Menschen von Grund aus seelisch revolutionieren. Selbst wenn es gar keine von außen kommenden Gefahren für das jugendliche Innenleben gäbe, diese innere Not wäre allein schon groß genug, daß man auf Hilfe sinnen müßte mit allen Kräften. Gewiß, die Jugend kommt auch ohne Halt und Leitung durch die Brandung der Entwick-

so

Die Pflicht der evangelischen Gemeind«.

lungszeit hindurch, schlecht und recht — oft aber auch als Wrack. Wenn geschloffene, feste, starke, ungebrochene Persönlichkeiten reifen sollen, dann darf man die Jugend nicht dem schweren, inneren Sturm allein überlassen und müßig auf das Resultat warten. Die Jugend ist überall in der Entwicklungszeit in der Gefahr, falsche Bahn einzuschlagen, oder zu verkümmern — und die inneren Wunden, die diese Zeit ihr schlägt, sind schwer — oder gar nicht mehr zu heilen. Wie schon gesagt, wenn selbst keine äußeren Gefahren unsere Jugend bedrohten, ihre innere Not fordert gebieterisch Hilfe. Es ist ganz unbegreiflich, daß es noch viele Gemeinden,

auch Pfarrer gibt, die noch kein Verständnis für die Not der Jugend haben und die Arbeit an der Heranwachsenden Jugend für nicht so drin­ gend nötig halten. Davon im nächsten Abschnitt noch mehr.

Nun aber kommen die zersetzenden Einflüsse von außen hinzu, die die Jugend mächtig bestürmen — und diese Einflüsse machen sich im Zeit­ alter der Freizügigkeit, ausgedehntester Verkehrsmöglichkeiten, rapid fort­ schreitender Industrialisierung, der Zeitung und des Buchdrucks bis in die entlegensten Gegenden hinein deutlich bemerkbar. Man braucht sich nur einen Augenblick in die Lage der eben schulentlasienen, konfirmierten Jugend hineinzuversetzen. Die Schule schließt ihre Pforten hinter ihr: -er Junge kommt sich vor wie ein Füllen, vor dem der schützende Zaun fiel — viele Wege tun sich auf. Wo soll's hinausgehen? Wie soll er sich in all dem bunten Wirrwarr von Meinungen und Ansichten, guten und schlechten Einflüssen zurechtfinden, wer soll ihm als Führer dienen im Chaos des Lebens? Der innere Zweifel an allen Autoritäten setzt ein, dazu stürzt eine Flut von Verhetzung und Verführung auf den jungen Menschen los. Auf dem Wege zur Arbeit, in der Werkstatt umschwirren ihn ganz neue Welten, die ihm manches Liebgewordene bedrohen, ihm die alte Sitte zerreiben und zerreißen. Die Großstadt verschlingt ihn am Ende — in ihrem Strudel fühlt er sich willenlos herumgerissen —, ihr Leben erscheint ihm als lockendes Ideal. Gewissenlose Verführer, schlechte Elemente reißen ihm alles Gute und Edle herunter und lehren ihn ihr eigenes, „freies, ungebundenes" Leben. Die Autoritäten werden zum Spott und Gelächter gemacht. Schlechte Bilder und Bücher, Wirtshaus, Variete, Kino — alles reißt und zerrt an dem jungen Menschen. Das Elternhaus versagt fast völlig. Der Lehrmeister wagt und will keine Er­ ziehung seines Lehrlings, in der Fabrik fehlt jede sittliche Autorität — Geld hat der junge Mensch genug — was Wunder, wenn er sich völlig

verirrt? In Darmstadt hat im Jahre 1909 Bauer gesagt: „Die innere Unbot­ mäßigkeit, die Autoritätslosigkeit der Jugend hat ihren Hauptgrund in dem Mangel großer, geschlossener geistiger und moralischer Autoritäten." Und von Gruber sagte: „. . . Lassen Sie mich aussprechen als meine

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innerste Überzeugung, daß wir mehr als jede andere Hygiene, moralische Hygiene brauchen." Wer soll der Jugend die großen Autoritäten bieten, wer moralische Hygiene an ihr treiben? Hier ist die legitimste und gegen­ wärtig brennendste Aufgabe der evangelischen Kirche und jeder evan­ gelischen Gemeinde, an der sie sich nicht vorbeidrücken darf. Sie h a t Autoritäten, die sie der Jugend bieten kann, sie hat Kräfte, die die Jugend vor innerer Verwahrlosung schützen und widerstandsfähig machen kann gegen die zerstörenden Einflüsse. Luther hat im Jahre 1524 in seiner Schrift: „An die Ratsherrn aller Stände deutschen Landes" das Wort geschrieben, das ungeheuer zeitgemäß klingt: „Es ist ja nicht mög­ lich, daß sich das tolle Volk sollte selbst lehren und halten; darum hat sie uns Gott befohlen, die wir alt und erfahren sind, was ihnen gut ist, und wird gar schwere Rechnung von uns für dieselben fordern." Die evangelische Kirche verleugnet das Erbe der Reformation, wenn sie sich ihrer Aufgabe an der Heranwachsenden Jugend entzieht! Viele aber berufen sich in der Umfrage auf Christenlehre, Gottes­ dienst und Seelsorge. Damit tue doch die Kirche ihre Pflicht an der konfirmierten Jugend. „Es bleibt als einzige, nicht zu übersehende Ein­ wirkung die Christenlehre von drei Jahrgängen Konfirmierter und der regelmäßige Predigtgottesdienst." „Die Jugend von 14 bis 17 Jahren nimmt mit wenigen Ausnahmen an der Christenlehre teil." „Es gelang mir, die Jugend in der Katechismuslehre gut zusammenzuhalten." „Die Christenlehre, von drei Jahrgängen regelmäßig besucht, wird als aus­ reichend angesehen." „Zudem übt der Geistliche durch die Christenlehre persönlichen Einfluß." So und ähnlich wird sehr häufig das Nichtvor­ handensein weiterer Arbeit an der Heranwachsenden Jugend begründet. Gewiß kann durch eine richtig betriebene Christenlehre manches geleistet werden. Aber bei weitem nicht alles. Selbst da, wo die konfirmierte Jugend geschlossen an der Katechismuslehre teilnimmt. Denn einmal handelt es sich nur um die 14- bis 17 jährigen, die durch sie beeinflußt werden können. Das eigentliche Problem liegt nicht bei dem Alter von 14 bis 17 Jahren, sondern bei dem von 17 bis 20 Jahren! Außerdem ist durch die Christenlehre nicht der persönliche Einfluß gewährleistet, der unbedingt notwendig ist. Auf diese Weise ist es kaum möglich, das Ver­ trauen des einzelnen zu gewinnen und für seine eigenen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen. Die Jugend ist ja so unendlich verschieden. Die Gefahr, der der eine erliegt, existiert vielleicht für den anderen gar nicht. Charakteranlage, Erziehung, soziale Verhältnisse, das alles fällt für den einzelnen schwer ins Gewicht. Der Pfarrer kommt auf diese Weise dem einzelnen einfach nicht nahe und die Möglichkeit eingehender persönlicher Beeinflussung fehlt. Je mehr die Jugend dem Pfarrer fernsteht, desto weniger nimmt sie ihm ab, desto weniger läßt sie sich be-

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einflussen. Und was sagt man zu solchen Berichten? „Wir haben jähr­ lich 50 Konfirmanden, in der Christenlehre sind nie mehr als 10 bis 12." „Die konfirmierte Jugend besucht zwei Jahre lang die Katechismus­ lehre, ist aber sonst ganz kirchenfremd." Vor allem aber ist die Frage: Was geschieht mit denen, die in den eigentlich kritischen Jahren von 17 bis 20 Jahren stehen? Hier klafft eine Lücke. Der Gemeindegottesdienst ist ja da. Aber es ist ja gerade die Zeit der Krisis, wo die Unkirchlich­ keit unter der Jugend am größten ist. Sie wird durch den Gottesdienst nicht erreicht. Und wenn auch: auch dort werden die Bedürfnisse des jungen Menschen nicht befriedigt. Das ist nur möglich auf Grund per­ sönlicher Vertrautheit. Die gewinnt aber der junge Mensch nur, wenn der Pfarrer, wenn die Gemeinde sich um ihn kümmert. Nur dann wird er auch der Einzelseelsorge zugänglich. Und umgekehrt kann der Pfarrer nur Seelsorge an den jungen Leuten treiben, wenn er ihr Denken und Fühlen versteht und ihr« Bedürfnisse erkundet hat. Das kann er nicht durch Christenlehre und Predigt, sondern nur durch persönlichen Um­ gang mit ihnen. Es ist eine einfache Tatsache, vor der es sich zu beugen gilt, die Jugend, namentlich von 17 bis 20 Jahren, ist im großen und ganzen unkirchlich und durch die üblichen kirchlichen Mittel entweder nicht zu erreichen oder doch nicht genügend und richtig zu beeinflussen. Wenn nun die evangelische Gemeinde nicht in anderer Weise mit der Jugend Fühlung zu halten sucht, sie ihre Wege gehen läßt, ohne sich weiter um sie zu kümmern, wie sollen dann die jungen Menschen später zu selb­ ständigen, lebendigen, tätigen Gliedern der Gemeinde werden? Der Grund für die Gleichgültigkeit und Kirchenscheu der Männer, die so viel beobachtet wird, liegt zum guten Teil darin, daß die Gemeinde sich der werdenden Männer in ihrem Ringen und Suchen, in ihren Nöten und Gefahren nicht angenommen hat. Di« Lücke, die in der Tat besteht, muß ausgefüllt werden. Die evangelische Gemeinde muß Wege suchen, die herarüvachsende Jugend zu sammeln, soweit es nur irgend möglich ist, sie in den Umkreis religiös, sittlicher Gedanken hineinzustellen auf eine Art, di« dem jugendlichen Wesen entspricht. Versäumt sie diese Pflicht, so untergräbt sie den Grund und Boden, auf dem sie steht. „Denn es ist eine ernste, große Sach«/ da Christo und aller Welt viel an liegt, daß wir dem jungen Volk helfen und raten. Damit ist dann auch uns und allen geholfen und geraten." (Luther, An die Ratsherrn.) Man sollte eigentlich hier gar nicht von einer Pflicht der Kirche und Gemeinde der Jugend gegenüber reden, sondern von einem Recht an ihr. Wenn die mannigfachsten Körperschaften sich um die Jugend bewerben, und unter ihnen gar manche, bei denen weder von der Absicht, noch von der Möglichkeit der Erziehung die Rede ist — wieviel mehr ist

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dann der christliche Geist berechtigt, der doch im höchsten Sinne den Willen und die Kraft zur Erziehung in sich trägt, die Jugend in seinen Bereich zu ziehen! Wenn also die Pflege der konfirmierten männlichen Jugend unbe­ dingte Pflicht und unveräußerliches Recht der Gemeinde ist, dann muß auch die Gemeinde die Trägerin dieser Arbeit sein. Eine Gemeinde­ aufgabe muß sie sein. Dieser Grundsatz scheint bis jetzt noch wenig durchgedrungen zu sein. In den meisten Fällen sind die Pfarrer allein bei dieser Arbeit. Ganz gewiß ist es nur recht, wenn der Pfarrer als verantwortlicher Vertreter der Gemeinde die Lücken zuerst sieht und die Aufgabe zuerst in die Hand nimmt. Aber unbedingt muß die Gemeinde hinter ihn treten und ihm die Arbeit tragen und leisten helfen. Vielfach wird die Arbeit an der Heranwachsenden Jugend als ein seltsamer Sport und ein sonderliches Steckenpferd des Pfarrers betrachtet — von der Gemeinde. Das ist ungesund! Und selbst da, wo man den Pfarrer ge­ währen läßt, auch seine Freude an seiner Jugendarbeit hat, ist dem Ge­ meindeprinzip noch nicht Genüge geschehen. Der Pfarrer muß bei dieser hochwichtigen Arbeit — es gibt zurzeit keine wichtigere — der Beauf­

tragte der Gemeinde sein, und derWilleder ganzen Gemeinde muß ihn tragen dabei. Man mag entgegenhalten: das ist das Ideal, aber viele Kirchenvorstände und Gemeinden haben kein Verständnis für die Jugendpflege. Tas mag in manchen Fällen stimmen — aber es ist nicht durchweg so. So wird aus einem größeren Orte berichtet, daß für die Arbeit an der Jugend besonders günstig ist: „Das freundliche Entgegen­ kommen vieler Gemeindemitglieder, das große Interesse, das der Kirchen­ vorstand an der Entwicklung des Vereins hat." Und der Verfasser weiß aus eigener Erfahrung, wie großem Verständnis beim Kirchenvorstand und einem großen Teil der interessierten Gemeindeglieder gerade für diese Arbeit zu begegnen ist. Gewiß liegt das mangelnde Verständnis sehr häufig daran, daß das Problem und die Möglichkeit der Hilfe durch die Gemeinde dem Kirchenvorstand noch gar nicht in voller Deutlichkeit gekommen ist. Hier liegt zunächst die Aufgabe des Pfarrers, aufklärend zu wirken und die Pflicht der Gemeinde herauszustellen und zu 6ctonen. Und wenn zunächst Gemeinde- und Kirchenvorstand ihr Interesse nur durch finanzielle Beihilfe zeigen. Freilich dadurch wird die Jugend­ arbeit noch lange nicht wirkliche Gemeindearbeit. Das wird sie erst, wenn die Gemeindeglieder je nach Gabe und Fähigkeit aktiv mitwirken. Hier ist ein hervorragendes Gebiet, wo die viel geforderte Laienbetäti­ gung einsetzen kann. Hier ist der Weg, auf dem nicht nur lebendige Ge­ meindeglieder erzogen werden können, sondern auf dem auch die Ge­ meinde der Erwachsenen zu einer tätigen, lebendigen werden kann. Gemeindearbeit muß die Jugendpflege sein. Das heißt: die Ge-

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meinde darf die Arbeit auch nicht freien Vereinen überlassen. Wenn sie sich etwa der Schuljugend annimmt, auch noch der Jugend von 14 bis 17 Jahren, wenn sie dann die Erwachsenen religiös-sittlich versorgt, warum sollte sie dann die dringende Arbeit an den 17- bis 25 jährigen andern überlassen? Es wird gerne und mit Dankbarkeit anerkannt, daß durch die freien Vereine, namentlich die von der inneren Mission ausgehenden, auf diesem Gebiete eine gewaltige Pionierarbeit geleistet worden ist. Jetzt aber ist es Zeit, daß die Gemeinde die Arbeit selbst in die Hand nimmt. Denn dies Bestehen der freien Vereine hat seine bedenklichen Schattenseiten. Wo am Ende noch mehrere solcher Vereine nebeneinander stehen, wie in größeren Städten, kann man traurige Er­ fahrungen machen: was da an gegenseitiger Herabsetzung, Konkurrenz­ machen, Mitgliederfang sich zeigt, ist im hohen Grade betrüblich. Die Gemeinde wird ja die freien Vereine weder verbieten noch auflösen können und wollen. Aber sie hat darum doppelt die Pflicht, von sich aus auf dem Boden der Gemeinde die Arbeit an der Jugend einheitlich zu organisieren. Da gibt es einen Jünglingsverein, der „weder von der inneren Mission, noch von der Landeskirche, noch einem ihrer Pfarr­ ämter abhängig sein will". Das ist unerträglich. Am allerwenigsten darf die Gemeinde die Jugendarbeit Vereinen überlassen, die sich gar in Gegensatz zu ihr stellen. So schreibt etwa ein Bericht von einem evan­ gelischen Verein, dem ein Jünglingsverein angegliedert ist: „Es besteht aber natürlich (!) ein tiefer Riß zwischen unseren »Pietisten* und dem größten Teil der übrigen Gemeinde." Das schreibt ein Gemeindepfarrer! Das ist ungesundeste Unnatur! Der Pfarrer ist doch nicht für einen kleinen Teil der Gemeinde und dessen Jugend da! Aus einem anderen Orte wird von einem „gut kirchlichen" Jünglingsverein der Gemeinde berichtet, daß er sich „von auswärtigen Brüdern bedienen läßt". Das bedeutet einfach die Selbstauslösung der Gemeinde! Auf

der anderen wollen, auch Pfarrer so treiben auf

Seite gibt es Vereine, die wirklich Gemeindevereine sein von dem Pfarrassistenten geleitet werden, deren Existenz der halbwegs verleugnet! Die Gemeinde muß Jugendarbeit der Grundlage der Gemeinde, und nicht in irgendwie

einseitiger Weise!

Auf dieser Grundlage betriebene Jugendarbeit hat auch selbstver­ ständlich eine ganz andere Stoß- und Werbekraft. Wenn die Gemeinde hinter der Arbeit steht, wird auch die Jugend der Gemeinde dafür zu haben sein. Hinter einer einseitig aufgefaßten Arbeit wird aber nie die ganze Gemeinde stehen, — und für sie wird immer nur ein Ausschnitt der Jugend zu haben sein. Die Erfahrung liegt mehrfach vor: „Ta der Leiter bei Abwesenheit des Pfarrers Gemeinschaftsmann ist, ist keine Aussicht, daß die Zahl der Mitglieder sehr wächst." Und aus einem

Einwände und Schwierigkeiten.

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anderen Orte: „Anfänge zur Sammlung der Jugend schon in der hiesigen »Gemeinschaft*. Diese stellt die Hälfte der Mitglieder heute noch, die übrigen aus der evangelischen Gemeinde (!). Mißtrauen gegen den Ver­ ein in beiden Lagern, da er nicht rein »gemeinschaftliche und auch nicht frei von der Gemeinschaft ist. Dies hemmt etwas das Blühen des Ver­ eins." Die einzige Lösung, die bleibt, ist eben, daß die Jugendarbeit gemeindlich organisiert wird, sie darf nicht nur einer Gruppe dienen. Die Gemeinde muß auch deshalb die Jugendarbeit tragen, damit deren ruhiger Fortgang gesichert ist. Sie muß wachen über den Geist der Arbeit; so kann auch nur der Fortbestand der Arbeit bei Pfarrer­ wechsel ermöglicht rverden. Die Jugendarbeit wird einen festen Rückhalt an der Gemeinde gewinnen und nicht ganz und gar mit der Persönlich­ keit des Pfarrers stehen und fallen. Dann sind auch solche Mißgriffe nicht mehr möglich, daß ein Pfarrer neben einem von den Vorgängern her bestehenden Jünglingsverein einen Jugendverein gründet, so daß dann nach mancherlei Krisen mit Mühe und Not wieder vereinigt werden muß! Zuletzt muß die Gemeinde für die Jugendarbeit vor allem die äußerlichen Grundbedingungen schaffen: die nötigen Räume mit allen Bedürfnissen und das nötige Geld. An finanzieller Not darf die Arbeit niemals leiden. Die Gemeinde muß schon um der großen Sache willen Opfer bringen, auch finanzielle — aber sie kommen ihr selber wieder zugute — sie baut sich selber damit auf.

§ 9. Einwände und Schwierigkeiten. Erfreulichertveise ist die Überzeugung von der Notwendigkeit der religiös-sittlichen Pflege der Jugend wenigstens in Pfarrerskreisen weit durchgedrungen. Das beweisen die einen durch die Tat, die anderen, die infolge ungünstiger Verhältnisse irgendwelcher Art noch nicht zur Verwirklichung ihres Planes kamen, durch ihre Worte. „Von der Not­ wendigkeit einer religiösen und sittlichen. Beeinflussung der konfirmierten Jugend bin ich durchdrungen", „Jugendpflege ist hier dringend nötig", „Sammlung tut dringend not", so und ähnlich kann man oft genug in den Berichten lesen. Aber es gibt doch eine ganze Reihe von Ein­ wendungen, die gegen eine von der Gemeinde betriebene Jugendpflege sich erheben, und zwar manche ernsthafter Natur. Wozu die selbstver­ ständlich nicht zu rechnen ist, die auf einem Bericht als Antwort auf die Frage, warum eine evangelische Jugendarbeit seither nicht zustande ge­ kommen sei, zu lesen ist. Sie lautet nämlich: „Es fehlt zurzeit an

Narren dazu"!! Der Einwand, der ja immer wieder gegen alle Jugendarbeit er­ hoben wird, ist der: „Die Jugend will sich a u s t o b e n , man

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EmwSnd« und Schwierigkeiten.

soll sie gewähren lassen." Gewiß, die Jugend ist die Zeit des gärenden Mostes, und sie weiß oft nicht, wohin mit ihrem Kraftüberschwcmg. Sie will sich austoben. Bleibt nur die Frage: Wie und wo tobt sie sich aus? Und wer ehrlich auf diese Frage Antwort sucht, der muß erst recht zur Überzeugung kommen, daß es doppelt notwendig ist, der Jugend Anleitung zu geben zum rechten Sichaustoben und sie zu be­ wahren vor allen möglichen finsteren Dingen, in denen die Jugend ge­ wöhnlich sich „austobt", ohne daß jemand nach ihr fragt. In dieser Allgemeinheit wird auch der Einwand nicht von verständigen Erziehern

erhoben. Aber in etwas milderer, meist negativer Form kehrt er doch wieder. „Vor allem will sich die Jugend nicht unterm Pfarrer und Lehrer sammeln, sondern sie will unter sich sei n." Die Grün­ dung eines Vereins war nicht möglich, „da die jungen Leute keinerlei Neigung dazu zeigten". „Sie unterblieb teils wegen völliger Interesse­ losigkeit der jungen Leute." „Es fehlt an einem Bedürfnis von feiten der Jugend, die ziemlich schwerfällig ist." „An dem Widerstand der Jungen, noch mehr mancher Eltern scheiterte es." „Mehrfache An­ regungen der jungen Männer waren erfolglos" usw. Das ist vielleicht richtig, daß ein Bedürfnis der jungen Leute nicht vorhanden ist — am Ende genau so wenig, als das Kind das „Bedürfnis" hat, die Schule zu besuchen. Freilich sind das ja grundverschiedene Dinge, Jugendpflege in unserem Sinne und Schule, und die Gemeinde hat keine Zwangsmittel — und das ist gut so. Aber wie soll die Jugend Bedürfnis nach etwas und Interesse an etwas gewinnen, was sie noch gar nicht kennt? Erst muß ihr doch einmal durch einen praktischen Versuch gezeigt werden, was man eigentlich mit ihr will. Jedenfalls hat die Jugend — und das werden alle bestätigen, die sie kennen — das Bedürfnis nach Leitung und Anlehnung, sie will geführt sein und verlangt im tiefsten Herzensgründe danach, wenn sie auch äußerlich gegen jede Leitung sich durchaus ablehnend verhält. Freilich, nicht zu vergessen, sie will geleitet und nicht gegängelt sein! Weit schwerwiegender ist ein anderer Einwurf: „Es ist zunächst die Pflicht des Elternhauses, zu wachen." Von zwei Orten wird denn auch berichtet, daß von einer besonderen Jugendarbeit abgesehen wurde aus dem Grunde, weil das Elternhaus seine Pflicht tut: „Tie jungen Leute haben genügenden Rückhalt an der eigenen Familie, auch von den Dienstboten gilt das hinsichtlich der Herrschaft." „Die Eltern tun im großen und ganzen ihre Pflicht." Und von einem Orte, wo eine evangelische Jugendarbeit besteht, wird als besonders günstig die „Unter­ stützung durch die Elternhäuser" hervorgehoben. Nun erhebt sich aber die Frage, die Luther schon in seiner Schrift „An die Ratsherrn" auf den gleichen Einwurf stellte: „Ja, wie wenn die Eltern solches aber nicht

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tun? wer soll's denn tun? Solls darum nachbleiben und die Kinder versäumt rverden?" Wie es mit dem Verhältnis von Jugend und Elternhaus und umgekehrt steht, ist oben dargetan worden. Ob man wirklich noch den Mut haben kann, im Vertrauen auf das Elternhaus zu sagen: wir brauchen nichts zu tun?! Leider kann man's nicht! Leider! Das Normale wäre es gewiß, daß die Jugend am Elternhaus Leitung und Rückhalt genug hätte. Aber sie hat ihn meist in Wirklichkeit nicht! Was nutzen die schönsten Theorien der harten Wirklichkeit gegenüber? Die Eltern, die sich „der Jugendarbeit widersetzen oder durch ihren Mangel an Interesse" sie unmöglich machen, das sind doch sicher nicht die, die selber das Nötige tun! Es ist gewiß eine große Schwäche unserer Zeit, die sich rächen wird, daß man bestrebt ist, den Eltern alle Verpflichtung und Verantwortung den Kindern gegenüber abzunehmen. Aber wo die Jugend, die Zukunft unserer Gemeinden, unseres Volkes auf dem Spiele steht, ist es unmöglich, die Hände in Unschuld zu waschen und zu sagen: die Eltern taten ihre Pflicht nicht. Wenn irgendwo, so gilt es hier einzuspringen. Mag es auch sein, daß durch eine aus­ gedehnte Jugendarbeit die Jugend dem Elternhause oft entzogen wird — ist es nicht in vielen, vielen Fällen ein Segen, wenn die Jugend der schwülen, ungemütlichen, verderbenden Atmosphäre so manchen Eltern* Hauses entzogen wird? Das ist sogar in vielen Fällen eine strikte Not­ wendigkeit um der Kinder willen. Sentimentale Gefühle müssen hier schweigen. Es muß zugestanden werden, daß alle Jugendarbeit nur ein Notbehelf ist. Bei tausend und abertausend Jugendlichen aber heißt es: entweder sie gehen innerlich zugrunde, oder wir tun etwas. Diese Verantwortung ist riesengroß und nicht um eines Grundsatzes willen zur Seite zu schieben.

Etwa 35 Berichte verneinen einfach die Bedürfnis­ frage nach einer Jugendpflege überhaupt, bezeichnen sie rundweg als „unnötig" oder sagen etwa: „Die Verhältnisse machen es nicht unbedingt nötig", „ein Bedürfnis scheint den leitenden Personen nicht vorhanden zu sein", „erscheint überflüssig", „ohne Zweck in unserer Gemeinde", „die Frage ist noch nicht brennend". Manchmal wird auch begründet, warum in diesen teilweise großen Gemeinden kein Bedürfnis nach Jugend­ pflege vorhanden sei. Einmal heißt es: „Lauter sogenannte bessere

Leute, deren männliche Jugend meist auswärts ist in Geschäften oder zum Studium. Fabrikarbeiter haben wir überhaupt nicht." Also scheinen die „sogenannten besseren Leute" genügend für ihre Jugend zu sorgen, während Fabrikarbeiter der Pflege bedürftig wären! Die Er­ fahrung aber kann den tiefer Blickenden auch eines ganz anderen be­ lehren. Und dann, die Jugend „sogenannter besserer Leute" ist nicht minder gefährdet als die Arbeiterjugend, vielleicht mit dem Unterschiede, Page, Jugendpflege.

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Einwüude und Schwierigkeiten.

daß dort das Raffinement ein wenig größer ist. Dann wird etwa gesagt: „Bei der Abgelegenheit der Gemeinde ist sie nachteiligen Wirkungen von außen nicht ausgesetzt." Oder: „Der Lebenswandel des größten Teils der Jugend bewegt sich in christlichen Bahnen." „Durch ihre Beschäftigung in der Landwirtschaft sind sie Werktags vollauf in Anspruch genommen. Ihr Verhalten an Sonn- und Feiertagen hat keinen Anlaß geboten, weitere kirchliche Beeinflussung stattfinden zu lassen." „Ver­ fehlt bei der Landjugend, die sowieso unter dem Bann der christlichen Kirche steht." „Wir haben hier noch di« üblichen Bauernverhältnisse." „Die Jugend ist noch kirchlich", „die Kirchlichkeit ist noch sehr gut", „die meisten haben wir noch im Gottesdienst". Alle diese Urteile ver­ kennen zunächst di« besondere Not der Entwicklungsjahre, die Hilfe derlangt, auch ohne daß besonder« Gefahren von außen drohen. Dann aber ist eins nicht zu überhören, was durch fast alle diese Berichte aus­ gesprochen oder unausgesprochen hindurchklingt: das „Noch". Bei dem unaufhaltsamen Fortschritt der Industrialisierung und dem rapiden Umsichgreisen zerstörender und zersetzender Einflüsie ist kein« Zeit zu ver­ lieren. Da wo in einer Gemeinde di« Jugend sich noch zur Kirche hält, auf Sitte und Ordnung etwas gibt, noch unberührt ist von zersetzendem Geist, da sollte man erst recht nicht die Hände in den Schoß legen und erst recht sie sammeln, um sie zu wappnen und zu stählen für die Zeit, wo der Sturm kommt! Vorbeugen ist leichter als Heilen! Unter diesen beiden Gesichtspunkten sei es gesagt: Selbst angenommen, es gäbe eine solche ideale Gemeinde, wo die Jugend in christlichen Bahnen geht, wo die Eltern restlos ihre Pflicht tun, und alle unter christlichem Geiste stehen — auch da wäre die Arbeit nicht „überflüssig" und „zwecklos". Die „Kleinheit" der Gemeinde ist erst recht nicht ausschlaggebend. Es gibt kleine Gemeinden, in denen die Jugend dringender der Hilfe bedarf als in mancher größeren! Manche sind auch der Ansicht, es genüg«, wenn die Jugend zur Mitwirkung bei Familienabenden, die von der evangelischen Gemeinde oder evangelischen Ver­ einen veranstaltet werden, herangezogen werde. „Bei Gemeinde-Familienabenden ist di« Jugend zur Mitwirkung — Vortragen von Gedichten — zu haben." „Beteiligung an Kirchengesangverein und Familienabenden" usw. Über die hohe Bedeutung der Gemeindeabende und die Notwendigkeit ihrer Veranstaltung ist kaum zu streiten. Aber Ebensowenig ist einzusehen, wie die Jugend durch aktive oder passive Beteiligung an Gemeindeabenden, die doch nur wenige Male im Winter abgehalten werden können, erzogen werden soll? Es ist wohl eine gut« Vorbereitung zur Sammlung der Jugend, wenn man sie bei der Veranstaltung von Gemeindeabenden zum Vortragen von Gedichten, Auf-

EinwLnd« und Schwierigkeiten.

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führungen, Chorgesang heranzieht, aber als ausreichende Jugendpflege

kann diese Heranziehung der Jugend unmöglich gelten. Schon eher läßt es sich hören, wenn gesagt wird, die Samm­ lung der Jugend in anderen evangelischen Ver­ einen, die nicht gerade ausgesprochen die Jugendpflege zum Ziele

haben, genüge. So wird in sechs Fällen auf die bestehenden Kirchen­ gesangvereine hingewiesen, in elf auf die Posaunenchöre, in drei der Berichtsgemeinden bestehen Kirchenchor und Posaunenchor nebeneinander. Dazu wird etwa bemerkt, Jugendpflege sei überflüssig, „da die gesamte Jugend dem Kirchengesangverein angeschlossen ist", „int Posaunenchor sind die christlichen jungen Leute, die sich sammeln lassen, aktive oder inaktive Mitglieder". Dazu werden noch folgende Erklärungen ab­ gegeben: „Doch gehören eine Anzahl (her Jugendlichen) zum gemischten Äirchenchor und zum Posaunenchor. Ihre Zugehörigkeit ist ein Be­ kenntnis und verbietet ihnen das Wirtshaus, Kirmes, Tanz und Spinn­ stube, während sie als Vereinsmitglieder an der Bibelstunde und Ver­ sammlungen in unserem Vereinshaus teilzunehmen haben, was auch regelmäßig geschieht. Auch die llbungsstunden werden mit Gebet be­ gonnen und beschlossen." Oder: „Es bestehen in der Pfarrei zwei gemischte Chöre sKirchenchör«) mit ca. 40 bzw. 20 Mitgliedern, die sich fast ausschließlich aus ledigen Personen zusammensetzen. Es kann die Tätigkeit dieser Vereine auch als eine Art Jugendpflege betrachtet wer, den, wenn der Dirigent sLehrer) versteht, auf die betreffenden Jugend­ lichen einzuwirken." Dazu ist folgendes zu sagen: Die Zahl der an Kirchenchören und Posaunenchören beteiligten Jugend wird naturgemäß immer beschränkt sein, einmal, da es sich nur um die musikalisch Be­ gabten handeln kann, sodann aber bei Posaunenchören, weil die Zahl der Instrumente beschränkt ist. So sind denn auch in den Posaunen­ chören meist nur wenige Jugendliche, zwei, vier usw. Sodann aber liegt der Zweck dieser Vereine doch zunächst auf dem musikalischen Gebiet und nicht auf dem erziehlichen. Es ist gewiß richtig, daß in diesen Vereinen Jugendpflege getrieben werden kann — „wenn es nun aber der Dirigent nicht versteht, auf di« Jugendlichen einzuwirken?" Und wie soll er denn auf die Jugendlichen, selbst wenn er es wollte und könnte, den nötigen Einfluß gewinnen und die Möglichkeit der Einwirkung, wo immer eine größere Zahl Erwachsener, meist eine Mehrzahl, an den Übungen teilnimmt? Es ist nicht recht einzusehen, in welcher Weis« dabei gerade den Bedürfnissen der Jugendlichen genügt werden könnte! Und wie nun gar die inaktiven Mitglieder beeinflußt werden sollen, ist gänzlich unerfindlich. Das größte Hindernis aber in solchem Rahmen, auch innerhalb der mehrmals vorkommenden evangelischen Vereine, die alle Altersstufen und Geschlechter umfassen, die Jugend wirklich religiös-

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Einwünde und Schwierigkeiten.

sittlich zu erziehen, ist eben der Umstand, daß man die Jugend, die unter sich sein will übrigens, niemals allein um sich hat, und ihren Be­ dürfnissen niemals Rechnung getragen werden kann. Etwas anderes ist es, wenn an den schlossen wird, wie es arbeit treiben wollte, geeignetes Lokal zur

Kirchengesangverein eine Jugendabteilung ange­ an einem Orte geschah, wo der Pfarrer Jugend­ 52 Jugendliche gesammelt hatte — aber kein Verfügung hatte. Für die Jugendvereinigung

wurden dann wenigstens noch Sonntag nachmittags „spezielle Spazier­ gänge" veranstaltet, während die Stimmbegabten sonst an den Übungen teilnahmen, die anderen bei Familienabenden Verwendung fanden. Auch die Beteiligung der Jugend an den Familien- und Vortrags­ abenden des Evangelischen Bundes, selbst wenn sie vollzählig wäre, kann nicht als ausreichende Jugendpflege betrachtet werden. Sie kann eine dauernde, persönliche Beeinflussung nicht ersetzen. Ganz verfehlt ist es, die Jugend zu einer ganz speziellen Arbeit heranzuziehen und sie dafür interessieren zu wollen, wie etwa sie durch einen Missionsverein oder Mäßigkeitsverein gewinnen zu wollen. Gegen die Güte und Notwendig­ keit dieser einzelnen Vereinsziele ist natürlich nichts einzuwenden — aber die Jugend durch einseitige Ziele fesseln zu wollen, ist verfehlt. Wer die Jugend kennt, wundert sich nicht, daß an der Vereinigung von Mrssionsfreunden nur die Schuljugend und ältere Gemeindeglieder teilnchmen. Man darf das jugendliche Denken und Fühlen auch nicht

vergewaltigen! Die Notwendigkeit einer von der evangelischen Gemeinde betriebenen Jugendpflege wird von überraschend vielen Seiten geleugnet mit Hinweis auf die bestehenden „weltlichen" Vereine, in denen die Jugend sich sammelt — wohlgemerkt nicht die Möglichkeit der Jugend­ pflege — davon später —, sondern die Notwendigkeit. „Es gibt genug andere Vereine, bei denen die Jugend Anschluß sucht und findet." „Weil neben unseren Vereinen, Gesangvereine, Turnverein und Kriegerverein, nicht nötig." „Die hiesige männliche Jugend ist schon in Vereinen organisiert. Da ich die Art des hiesigen Turnvereins und der Gesang­ vereine nicht mißbillige, tue ich nichts hier." Ein Berichterstatter gibt eine ausführliche Begründung dazu: „Ich habe schon mehrfach gelesen, die Jugend sei in diesem Alter viel mchr ethisch als religiös interessiert, und das ethische Moment kann (!) in dieser Art von Vereinen voll und ganz zu seinem Rechte kommen. Wir halten es schon für einen Gewinn, wenn die Jugend, die in ihrer sozialen Regellosigkeit destruktiven Ten­ denzen folgt, in einem Verein mit positiven Zielen gesammelt wird. Vollends aber halten wir unser Ziel erreicht, wenn ein solcher Verein von seelsorgerlichen Gesichtspunkten aus geleitet wird. Dabei ist's einerlei, ob der Verein ein Turn-, Gesangverein, Posaunenchor, Wanderklub

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oder sonst etwas dergleichen ist; wir haben dann die Jugend wenigstens beisammen und der Pfarrer kann, wenn er Lust und Gabe hat, seine Kräfte im Verein spielen lassen." Es ist nicht zu leugnen, daß das ethische Moment in diesen Vereinen zu seinem Rechte kommen kann. Wenn die Vereine „gediegen" sind, „üben sie doch auch eine gewisse Selbstzucht, das eifrige Turnen ist freudig zu begrüßen. Die älteren Gesangvereine haben veredelnden Einfluß auf die Jugend." Namentlich die Turnvereine werden häufig günstig beurteilt, soweit sie „gut geleitet" sind, so daß die Gründung eines evangelischen Jugendvereins nicht notwendig erscheint, oder gar dem Turnverein die Jugendarbeit vom Pfarrer „zugeschoben" wird. Oder der Turnverein wird als „gut deutsch und kirchenfreundlich" bezeichnet. Nicht selten wird sogar berichtet, daß der Pfarrer die Gründung eines Turnvereins angeregt hat, daß er Vorstandsmitglied oder Vorsitzender ist, mehrmals auch, daß er der Gründer ist. Viermal wird berichtet, daß die Jugendarbeit „im An­ schluß an den Turnverein getrieben wird". Leider schweigen die Be­ richte darüber, in welcher Weise das geschieht. Oder soll das als Jugendpflege gelten, wenn einmal hinzugesetzt wird: „Der Turnverein besucht die Familienabende" oder wenn der Pfarrer ab und zu eine Festrede im Turnverein hält und dabei gelegentlich einmal sagt: „daß Jahn die Turnvereine nicht bloß wegen der körperlichen und sittlichen Erstarkung, sondern auch zur Pflege der vaterländischen Gesinnung ins Leben gerufen habe?" Jedenfalls kann man zugeben, daß der Turnverein, auch andere Vereine, erzieherisch wirken können, daß namentlich das ethische Moment betont werden kann — wie religiös darin gearbeitet werden soll, ist nicht klar —, wenn der Pfarrer Einfluß auf die Vereine besitzt, nicht nur zahlendes, festredendes und mitseierndes Mitglied ist, sondern wirklich Einfluß auf die Gestaltung des alltäg­ lichen Vereinslebens und auf die Mitglieder persönlich hat und mit­ arbeitet. Es läßt sich dann mindestens „die Anwesenheit des Pfarrers dazu benutzen, die jungen Leute auf die ihnen drohenden Gefahren und ihre Folge aufmerksam zu machen" und „hier und da" bleibt gewiß der Erfolg nicht aus. Wenn der Pfarrer aber keinen Einfluß hat, dann

ist doch die erzieherische Wirkung des Vereins in Frage gestellt. Und solche Vereine, die „nicht sonderlich erzieherisch" wirken, gibt's doch schließlich auch — und noch dazu in erschreckendem Maße! Und wie dann, wenn der Pfarrer durch irgendwelche Verhältnisse genötigt ist, wie ein Bericht das tatsächlich sagt, „das Präsidium niederzulegen" und „auch der Lehrer gehen muß?" Sittliche Erziehung ist in den Vereinen wohl möglich, aber in der Tat ungeheuer selten, garantiert ist sie auf keinen Fall! Von religiöser Klärung und Weiterbildung ist wohl über­ haupt keine Rede. Ob man unter diesen Umständen wirklich, selbst wo

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ein gut geleiteter Turn- usw. Verein sich befindet, von feiten der Ge­ meinde auf Arbeit an der Jugend verzichten darf, die gerade dem religiösen Zweifel und der Verhetzung auf religiösem Gebiet stark ausgesetzt ist?! überhaupt scheint in weiten Pfarrerkreisen die Geneigtheit

zur Bildung interkonfessioneller Jugendvereine zu bestehen. „Volks­ bildungsvereine" werden vom Pfarrer gegründet und geleitet, an deren Vorträgen, Bibliotheken, Theateraufführungen usw. die Jugend teilhat, oder es werden auch besondere Jugendgruppen der Volksbildungs­ vereine gegründet. Ob man durch intellektuelle Weiterbildung auch das religiös-sittliche Niveau der Jugend heben kann? So segensreich die Wirksamkeit der Volksbildungsvereine auch ist, den sittlichen Verfall werden sie nicht aufhalten oder rückgängig machen. Die religiös-sittliche Erziehung der Jugend kommt dabei viel zu kurz, da das religiöse Moment mit großer Ängstlichkeit meist ausgeschaltet wird, wie auch vielfach die Büchereien beweisen. In dieser Beziehung ist der Bericht aus einem Orte, wo eine vom Pfarrer geleitete Jugendgruppe des Volks­ bildungsvereins besteht, außerordentlich charakteristisch. Zu Frage 56 des Fragebogens nach dem Grundsatz der Arbeit tvaren einige Winke zur Beantwortung untergedruckt, darunter auch „religiös-sittliche Erziehung aller Erreichbaren". Der betreffende Berichterstatter hat die Worte „religiös-sittlich" ausgestrichen und die drei übrig bleiben­ den unterstrichen!! An vielen Orten sind auch „Jungdeutschlandgruppen" vorgesehen. Ganz abgesehen davon, daß in der ganzen Jungdeutschland­ bewegung die körperliche Ausbildung an erster Stelle steht — z. B. steht in Nr. 17 des „Jungdeutschlandbundes", des offiziellen Organs, vom 1. Dezember 1912 folgendes zu lesen: „Ter Jungdeutschlandbund will keine Höchstleistungen einzelner erzielen, sondern eine allgemeine körper­ liche Entwicklung und den Gebrauch der Sinne fördern, dabei den Cha­ rakter der Jugend stärken" — ganz abgesehen davon ist doch mancherlei interessant. Aus einem Orte wird die Unmöglichkeit evangelischer Jugendarbeit mit „Schwierigkeiten politischer und religiöser Natur" begründet — aber „ein Jungdeutschlandverein ist in Aussicht genom­ men". Es ist erstaunlich, wie man sich bei solcher Lage etwas von dem politisch doch gewiß nicht unverdächtigten, wenn auch vielleicht unver­ dächtigen Jungdeutschland versprechen kann! Oder es heißt: für einen evangelischen Jugendverein „läßt die Spinnstube keinen Raum" — „ein Jungdeutschlandbund soll versucht werden". Oder aber: für eine evan­ gelische Jugendarbeit „liegen die einzelnen Orte (10) zu weit entfernt" — „es besteht ein Jugendverein im Anschluß an Jungdeutschland, ge­ gründet Vom Pfarrer"!! Difficile est, satyram non scribere! — Merkwürdig ist es auch, daß diese vom Pfarrer gegründeten oder ge­ leiteten „interkonfessionellen" Vereinigungen durchweg f a st nur, man

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kann fast sagen, nur evangelische Mitglieder haben — selbstverständlich ist das ja an Orten, wo die Bevölkerung durchaus evangelisch ist. Um so weniger ist es begreiflich, wie auch an rein evangelischen Orten „interkonfessionelle", vom Pfarrer geleitete Jugendvereine bestehen. Man sagt, so haben die Leute weniger Mißtrauen gegen den Pfarrer. Es ist doch sehr stark zu bezweifeln, daß das Mißtrauen gegen den Pfarrer schwindet, sobald er interkonfessionelle Arbeit treibt. Im Gegenteil, logischerweise sollte es sich dann nur noch verstärken! Das aber ist wohl ausschlaggebend: Zunächst i st der Pfarrer für seine Gemeinde da und hat die Aufgabe, der Jugend der Gemeinde in evangelisch-christlichem Sinne zu dienen. Die Gemeinde hat ein Recht darauf, das in erster Linie vom Pfarrer zu verlangen, ehe er weiteren Vereinigungen irgendwelcher Art dient! Es liegt gewiß kein Grund vor, die Absicht, auch die Jugend religiös-sittlich zu beeinflussen, hinter einem interkonfessionellen Deck­ mantel zu verbergen — und selbst wo die ganze Gemeinde evangelisch ist, und gerade da, sollte man mit seiner innersten Überzeugung nicht hinter dem Berge halten. Bei den gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen könnte sich ja auch die konfessionelle Lage der Jugend sehr ändern, und dann könnte der religiös-sittliche Einfluß ganz ausgeschaltet werden! Viele sind gewiß von der Notwendigkeit einer geordneten Jugendpflege durchdrungen, aber sie treiben doch keine praktische Arbeit, weil sie sagen: W i r erreichen doch nur wenige und nur weniges. „Man würde bei einer Gründung nur ganz wenige für den Verein gewinnen können." „Eine Sammlung der Konfirmierten wurde angestrebt, ist aber wegen Mangel an Beteiligung nicht zustande gekommen." „Wenn sich auch einzelne junge Leute zu Zusammenkünften usw. bewegen ließen, so würde solchen Veranstaltungen bald der Stempel der Muckerei aufgedrückt werden. Tas wäre der Zusammenbruch und eine Blamage für uns." „Der Pfarrer will nicht den wenigen »welt­ abgewandten^ jungen Leuten der Gemeinschaft dienen, sondern der ge­ samten Jugend." Es mag richtig sein und ist es gewiß, daß man nicht auf einen Anhieb die gesamte Jugend gewinnen kann. Vielleicht gelingt es, zunächst nur einen kleinen Bruchteil zu gewinnen. Freilich wäre es ideal, wenn die ganze Jugend sich zusammenfände. Aber ist nicht schon viel, sehr viel erreicht, wenn es nur einmal gelingt, einen festen Stamm großzuziehen? Ja, wird aber weiter eingewandt, gerade die, die es am nötigsten haben, erreichen wir nicht." „Die wenigen Verhetzten be­ kommen wir doch nicht in einen Verein." „Die jungen Leute, die zu einer derartigen Vereinigung kommen würden, stammen aus Familien, in denen gute Kindererziehung ist, die wenigen schwankenden kommen wenigstens in die Katechismuslehre und werden zu weiterem doch nicht

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zu haben fein; die, die schon in der Christenlehre Schwierigkeiten machen, kommen ohnehin zu einer weiteren Jugendlichen-Sammlung nicht." Daran ist auch etwas Richtiges. Es ist aber nicht zu vergessen, daß ein fester Stamm, der herangezogen wurde, von nicht zu unterschätzendem Einfluß auf die gleichalterigen Kameraden und deren Lebens­ haltung durch sein Vorbild sein kann — das wirkt am Ende erzieherischer als die direkte Beeinflussung durch den Pfarrer. Übrigens könnte man nach dem Grundsatz: „die es am nötigsten haben, erreichen wir nicht,

also wollen wir gar nicht erst anfangen" an gar manchen Orten, viel­ leicht auch überall die Gottesdienste aussetzen! Oder gilt es da nicht: wir wollen denen dienen, die sich dienen lassen wollen, und nach Möglich­ keit alle zu gewinnen suchen? Auch der Einwand: „Wir erreichen zu wenig" ist nicht stichhaltig. Erstens einmal muß der praktische Versuch zeigen, was zu erreichen ist. Die ihn gemacht haben, haben mit staunen­ der Freude gesehen, daß doch unsere Jugend im innersten Kern gut ist und sich erziehen läßt. Auf der anderm Seite entbindet die Aussicht auf mangelnden Erfolg noch lange nicht von der Pflicht! Aber vielfach beruhigt man sich mit der wirklichen oder angeblichen Aussichtslosigkeit und tut einfach nichts. „Wir versprechen uns wenig davon." „Weil der Versuch vollständig aussichtslos wäre." „Weil vielleicht nicht die Gründung, aber die Erhaltung des Vereins Schwierigkeiten hätte." „Besser keine Bereinigung, als eine mit trägem Leben, wobei der Unternehmer in Gefahr ist, sich lächerlich zu machen." „Die Nachfeier des Jugendvereinsabends findet doch in der Wirtschaft oder auf der Landstraße statt. Was soll dann die ganze Sache noch?" In solchen Äußerungen steckt doch eine seltsame Kleingläubigkeit, will sagen, Bertrauenslosigkeit auf etwas Großes und Gutes und auf die Wirkung einer vernünftigen, liebevollen Erziehung! Mit solchen Gründen könnte man jede religiös-sittliche Arbeit negieren, wenn man den praktischen Erfolg als letzten Maßstab anlegen wollte. Es ist am Ende auch hier der Satz gültig: „Nun suchet man nicht mehr an den Haushaltern, denn daß sie treu erfunden werden."

Mit dem Einwand: „wir erreichen nur wenige" hängt der andere zusammen: „wir dürfen die Jugend nicht z e r s p l i t t e r n." «In kleinen Gemeinden empfindet man dann die notwendige Spaltung schmerzlich." „Der Unterzeichnete möchte keinen Zwiespalt in die Ge­ meinde bringen und hofft durch Katechismuslehre, Predigt, Unterricht, durch Gewinnen der Eltern usw. segensreichen Einfluß ausüben zu können — zumal die Kirchlichkeit noch sehr gut ist." „Gefahr der Spaltung der Jugend in zwei Parteien, eine schwarze und eine rote, von denen die letztere dem Einfluß von Pfarrer und Kirche sich ganz entziehen würde." Die Gefahr der Zersplitterung ist zweifellos vor-

Einwände und Schwierigkeiten.

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Handen, aber es wird im wesentlichen auf den Geist der Jugendver­ einigung ankommen, vor allem auf das Geschick des Leiters, daß wenigstens die sich sammelnde Jugend nicht pharisäisch von der übrigen abrückt. Ein Berichterstatter zeigt einen Weg selber, um der Zersplitterung zu entgchen: beabsichtigt ist eine „lose Vereinigung. Ein organisierter Verein empfiehlt sich nicht, da er leicht zu Konventikeln oder zu unangenehmer Zersplitterung der Gemeinde führen würde." Auch der organisierte Verein muß nicht notwendigerweise zu einer „Zersplitterung" führen. Aber selbst wenn cs so wäre, dürfte man deshalb auf die ver­ zichten, die zu gewinnen sind? Der Grundsatz „alles oder nichts" gilt hier weniger als sonstwo. Außerdem ist ja heutzutage die Jugend der kleinsten Gemeinde durch allerlei Vereine, die noch dazu häufig orts­ politischen Charakter tragen, schon genug zersplittert. Hier könnte eine Gemeindejugendvereinigung höchstens wieder ausgleichend wirken. Und

eine gesunde Trennung ist doch einem ungesunden Mischmasch immerhin noch vorzuziehen! Unsere Arbeit ist ganz unnütz, so meinen manche, wenn uns nicht die Zwangsmittel des Staates zu Hilfe kommen. „Es fehlt der st a a t l i ch e Zwang." „Wir werden den Moment abwarten, da von seilen des Kreises (Staates) eine Jugendfürsorge in die Wege geleitet wird." Dabei ist wohl an eine ähnliche Einrichtung wie die Fortbildungsschule gedacht — leider sagen die Berichte nicht, wie sie sich den „staatlichen Zwang" denken. Es gibt ja auch sonst Leute genug, die sich nur vom staatlichen Zwang für die Jugendpflege überhaupt etwas versprechen. Wenn aber die evangelische Kirche mit Hilfe staatlichen Zwanges Jugend­ pflege treiben wollte, so wäre das der Anfang vom Ende. Das ist ja der Punkt, wo die Jugend am meisten verhetzt wird gegen die Kirche:

sie ist nichts weiter als ein Polizeiinstitut des Staates. Wenn diese Behauptung zur Tatsache würde, dann wäre der ganze Einfluß auf die Jugend verloren. Sie müßte sich ja den Zwangsmitteln fügen — aber innerlich würde sie sich mit allen Kräften gegen jeden Einfluß sträuben — religiös-sittliche Erziehung wäre einfach unmöglich gemacht. Denn wenn cs einen Todfeind der jugendlichen Seele gibt, so ist es der Zwang. Man würde ihr einfach Gewalt antun und sich allen Einfluß rauben. Tie Kirche muß unter allen Umständen bei ihrer Jugendpflege den Ein­ druck vermeiden, als handele sie unter staatlichem Befehl. Wenn der Staat aus gutem Willen auch evangelisch-kirchliche Jugendarbeit finanziell unterstützt, so wie etwa den Hessenbund, so dürfen daran unter keinen Umständen irgendwelche Gegenbedingungen geknüpft werden. Die evangelisch-gemeindliche Jugendpflege muß frei sein — und sie ist es auch. Und sie kommt gewiß, innerlich genommen, mit ihrer gegenseitigen Freiwilligkeit viel weiter. Eine andere Frage ist freilich die, ob nicht im

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Einwände und Schwierigkeiten.

Interesse der Jugend einzelnen Mißständen gegenüber der ge­ setzliche Zwang am Platze wäre. „Zur erfolgreichen und dringend nötigen Jugendpflege auf dem Land ist m. E. folgendes nötig: Sperrung der Wirtshäuser und Verbot des Schnaps- und Fäßchentrinkens in den Spinnstuben; etwas strafferes Anziehen der allzu schlappen Gesetzgebung hinsichtlich Straf- und Autoritätsrecht von Lehrer, Pfarrer und Jugend­

pfleger", so lauten u.a. die Forderungen eines Berichterstatters. Andere schließen sich mit ganz ähnlichen an: „Das Spinnstubenwesen ist mangels Eingreifen der Behörden noch im Schwang." „Solange die jungen Leute von 14 Jahren vom Staat die Erlaubnis haben, ins Wirtshaus zu gehen, solange kommen wir doch zu nichts, jedenfalls erreicht man die nicht, die es am nötigsten haben." An einzelnen Punkten könnte gewiß das Eingreifen der Behörden nichts schaden — man könnte noch manches hinzufügen sTanz, Kinematograph, Nikotin usw.) —, aber es ist nicht zu vergessen, daß das bloß« Verbot nichts nutzt. Einmal wird die Überwachung ungeheuer schwierig sein, sodann gibt es manches Mittel

zur Umgehung, und drittens kann das Verbot auch das Gegenteil des beabsichtigten Erfolgs bewirken: es reizt. Und dann, wenn die Alters­

grenze, wo das Verbot außer Kraft tritt, erreicht wäre, würden die Schäden am Ende noch viel schlimmer sein. Es liegt alles an einer durchgreifenden Erziehung, an drr Stärkung des sittlichen Urteils und der Erweckung und Zuführung sittlicher Kräfte. Das ist eine eminente Aufgabe der evangelischen Gemeinde, die doch gewiß die rechte Erziehung leisten kann: sittliche Erziehung auf religiöser Grundlage. Dazu braucht man nicht Gesetz und Polizei, sondern Erzieher, die kraft ihrer Persönlichkeit Macht haben über junge Herzen — denen schließt sich die Jugend auch gern an, wenn auch vielleicht nur langsam — Zwang aber in jeder Form stieße sie völlig ab. Ein Einwand sei, mehr der Kuriosität halber, noch erwähnt: „Die Kirche soll die Vereinsmeierei nicht unterstützen." „Einen Jungfrauenverein könnte man wohl gründen. Und wer die Vereins-

w u t hat, wird's ja auch tun." „Es bestehen zuviel Vereine, bin kein Freund von solchen Gründungen." Man sollte doch langsam dahinter

kommen, daß mehr und mehr Nachdruck auf die kirchliche Vereinsarbeit gelegt werden muß, wenn man wirklich lebendige Gemeinden schaffen will. Es wird auch ans kirchlichem Gebiet nichts anderes übrig bleiben, als dem Zug der Zeit folgend zu organisieren — und zwar nicht nur die Jugend. Außerdem ist es ein merkwürdiger Standpunkt, daß ein evangelischer Jugendverein mit dem Ziel der religiös-sittlichen Jugenderziehung unter das Kapitel „Vereinsmeierei" gehört! Ja, wenn Pfarrer und Gemeinde allerdings der Ansicht sind, daß ein Jugendverein eine Vereinsgründung int blödesten Sinne des Wortes sei, am Ende

Einwünde und Schwierigkeiten.

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gar ein Produkt der „Vereinswut", dann stellen sie sich ein trauriges Armutszeugnis aus. Wie soll man die „Vereinsmeierei", d. h. die Gründungswut von Vereinen ohne Daseinsberechtigung, ohne Sinn und Zweck, mit irgendeinem an den Haaren herbeigezogenen einigenden Ge­ sichtspunkt anders bekämpfen, als daß man gute Vereine gründet?

Darum müßte man eher sagen: um der Vereinsmeierei zu Leibe zu gehen, die gerade unter der Jugend die krassesten Blüten zeigt, muß die evangelische Gemeinde erst recht von sich aus Jugendarbeit treiben! Genug der Einwände! Neben sie treten eine ganze Reihe von Schwierigkeiten, die manchen, der von der dringenden Not­ wendigkeit der evangelischey Jugendarbeit überzeugt ist und fühlt, daß etwas geschehen müsse, doch von dem praktischen Versuche abhalten. So gibt mancher Bericht an: „Jugendarbeit ist unmöglich"; „an der männ­ lichen Jugend ist die Arbeit unmöglich"; „weil es nach reiflicher Er­ wägung unmöglich ist". „Das Nichtbestehen eines Jugendvereins hat wohl seinen Grund allein in der Schwierigkeit der Sache selbst." In der Umfrage wurde nun eine ganze Reihe von Schwierigkeiten er­ wähnt, die einer evangelischen Jugendpflege entgegenstehen. Sie sollen hier alle erörtert werden.

Zunächst die äußerlichen Schwierigkeiten. Am häufigsten wird die Unausführbarkeit einer evangelischen Jugendarbeit mit dem Raum­ mangel begründet, und zwar in nicht weniger als 52 Fällen. In 22 Fällen ist sogar die Raumnot das alleinige Hindernis gewesen, daß in der Jugendfrage nichts getan werden konnte! An den übrigen Orten spielten noch andere Gründe mit. Dazu kommen noch zwei Fälle, in denen wegen Entziehung des Versammlungslokals bzw. wegen einer anderweitigen Inanspruchnahme die bestehende Jugendarbeit eingestellt werden mußte, in einem weiteren Fall war das mangelhafte, ungeeignete Lokal mit ein Hauptgrund zur Auflösung. Auch aus den bestehenden Vereinen wird vielfach über Raummangel geklagt: „Mangel an einem hübschen Lokal." „An dem Lokal wird viel gemäkelt." „Lokal leider im Wirtshaus!" „Am empfindlichsten ist der Mangel eines geeigneten Lokals." „Anfangs ein Saal der Gewerbeschule, seit Juli 1910 Zimmer im alten Gebäude der Realschule. Beide Räume sind nicht gut geeignet. Im Winter werden wir wieder wandern müssen. Hoffentlich findet sich ‘bann ein geeignetes Lokal." Die Raumfrage ist allerdings eine Lebens­ frage für die Jugendarbeit. Wenn es auch gehen mag, eine Zeitlang sich ohne besonderen Raum zu behelfen, wie jener Pfarrer, der eine Jugendvereinigung von 52 Mitgliedern besaß, aber keinen Raum. Man kann nicht immer im Freien sein oder Familienabende halten. „Ohne geeignetes Lokal ist ein solcher Verein nicht zu halten." Das Wirtshaus, zu dem oft Zuflucht genommen wird, kann nicht den geeigneten Raum

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SmwLnde und Schwierigkeiten.

bieten. Denn selbst da, wo Miete bezahlt wird, „fühlt man sich doch dem Wirte gegenüber verpflichtet". Der stete Verkehr von und zum Vereinslokal durch di« Wirtschaft ist zu verführerisch. Außerdem ist die Gefahr schlimmer Störung zu groß, und die ganze Umgebung wird oft im schroffen Widerspruch stehen zu dem, was man bespricht und behandelt. — Das Schulhaus käme schon eher in Frage. Die Besorgnis, unangenehme Schulerinnerungen könnten den jungen Leuten den Aufenthalt in einem Schulsaal verleiden, braucht nicht allzu groß zu sein. Aber der Mißstand ist, daß man den Raum für die Versammlungen der Jugendlichen nicht entsprechend einrichten und ausschmücken kann; die Bänke sind auch meist sehr unbequem. Wenn ein „schönes, freundliches, altes Schulzimmer" zu haben ist, geht es schon eher an. Man vergesse auch nicht, daß es manchen unbenutzten Rathaus- und Schloßsoal gibt, der sich vielleicht eignet«. Tas Pfarrhaus ist nicht zu empfehlen, selbst wenn es Platz genug böte: die einen betreten es aus Scheu nicht gern, andere aus Abneigung. Di« idealste Lösung der Raumfrage wäre ein eigenes Jugendheim, wie sie ganz billig erstellt werden können, etwa einen größeren Saal, einige kleinere Nebenräume, Küche und Garderobe enthaltend. In zwei Gemeinden hat man die unbenutzte Pfarrscheuer einfach entsprechend umgebaut, ein Gedanke, der wohl ander­ wärts noch Nachahmung verdiente. Jedenfalls ist ein eigenes Jugend­ heim zu erstreben, in den Städten natürlich weiter ausgebaut mit Unter­ kunftsgelegenheit für Jugendliche und Wirtschaftsbetrieb (Soft). Denn auch die Jugend will ihre Heimat haben, die sie sich nach ihren Wün­ schen gestalten kann, wo sie allein Heimatsrecht hat. Darum ist ein eigenes Jugendheim dem Gemeindehaus noch vorzuziehen, das gewiß als Sammelpunkt der Gemeinde ebenfalls unbedingt notwendig ist. Zum mindesten müssen für die Jugendarbeit bestimmt« Räume dauernd zur Verfügung stehen. Von bestehenden Vereinen wird als ganz besonders günstiger Umstand berichtet, daß der Verein im Gemeindehaus «in eigenes Heim gefunden hat. Erfreulicherweise wird uns aus zwei Gemeinden berichtet sRimbach, Rumpenheim), daß Gemeindehäuser im Bau be­ griffen sind, in vier weiteren Gemeinden, die zum Teil schon über recht beträchtliche Kapitalien zu diesem Zweck verfügen, sind solche Bauten geplant sCrumstadt, Geiß-Nidda, Hungen, Wixhausen), in Winnerod ist ferner ein Konfirmandensaal in Aussicht genommen, in Hainichen der Ausbau eines Gemeindesaales, und aus allen Gemeinden wird berichtet, daß nach Ausführung der Bauten auch mit der Jugendarbeit begonnen werden soll und kann. Unsere Jugend muß vor allem ein Heim haben! Da erhebt sich aber die zweite Frage und die zweite Schwierigkeit: Woher sollen die Gemeinden das Geld dazu nehmen? Auch wenn man den Raum hat, braucht man immer noch Mittel zum Betrieb der Jugend-

Einwände und Schwierigkeiten.

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arbeit, und am Ende nicht geringe! Woher soll das Geld kommen? Der Geldmangel ist ja die eigentliche äußerliche Schwierigkeit. Und nicht nur erscheint er in vielen Fällen als Hindernis zum Beginn der Jugend­ arbeit, sondern auch in bestehenden Arbeiten als ein störendes Hemmnis. Zwar erheben sich auch andere Stimmen: „Geld immer knapp, doch war der Mangel zu überwinden." „Lokal- und Geldmangel sind gut überwunden worden." Wie ist der Geldmangel zu überwinden? Dem Grundsatz entsprechend, daß die Jugendpflege ein integrierender Be­ standteil evangelischen Gemeindelebens ist, muß auch die Kirchen­ gemeinde die Mittel dafür bereitstellen, soweit es notwendig ist. Wenn es auch hier und da Vorkommen mag, daß dem Kirchenvorstand Geld „abgerungen" werden muß, das nötige Verständnis für die Not­ wendigkeit der Jugendarbeit läßt sich schließlich überall, wo es nicht vor­ handen ist, herstellen. Wohl wäre es aber auch notwendig, daß die oberste Kirchenbehörde durch die Landessynode ausreichende Mittel bereitstellt zur Unterstützung finanziell schwacher Gemeinden, um auch dort Jugendpflege zu ermöglichen. Von ihr müßte auch vielleicht dafür gesorgt werden, daß armen Gemeinden zum Bau von Jugend­ heimen bzw. Gemeindehäusern zu geringem Zinsfuß mit langfristiger Amortisation Kapitalien gegeben tverden, sei es von der Landeshypo­ thekenbank, Landesversicherungsanstalt oder ähnlichen Instituten. Tie Gesamtkirche wird sich dieser Pflicht auf die Dauer nicht entziehen können. Sodann käme die politische Gemeinde als Unterstützerin in Betracht. Sie hat doch gewiß Interesse an jeder Jugenderziehung, die ihr vielleicht gar manche Lasten erspart. Namentlich kann es dort nicht schwer sein, ihre Unterstützung zu gewinnen, wo die ganze Ge­ meinde durchaus evangelisch ist. Auch die Krankenkassen usw. lassen sich schließlich zur Unterstützung bereitfinden. — In jeder Gemeinde finden sich doch auch wenigstens ein paar Leute, die soviel Interesse haben, daß sie größere oder kleinere Jahresbeiträge leisten. Auch darin darf unb muß das gemeindliche Moment der Arbeit betont werden. Schließ­ lich gibt es auch noch außerordentliche Möglichkeiten zur Geld­ beschaffung für Jugendarbeit, etwa die Veranstaltung von Verlosungen, die zu diesem Zwecke schon an mehreren Orten genehmigt wurden. Die Beiträge der Mitglieder können, wenn solche erhoben werden, doch nur wenig leisten. Jugendarbeit trägt sich nicht selber. Tiefere Schwierigkeiten bereitet die Frage: Wer soll nun die Arbeit tun? Die ganze Gemeinde trägt sie, aber einer muß sie leiten und am Ende auch leisten. Es ist ganz natürlich, daß der Pfarrer sich dieser Arbeit annimmt. Nun aber steht dem die Frage entgegen: Hat denn der Pfarrer noch Zeit und Kraft zu solcher Arbeit, die doch gar nicht so geringe Anforderungen stellt? Die Antwort wird

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TinwSnde und Schwierigkeiten.

selbstverständlich nach Größe und Schwierigkeit der Gemeinde, der der Pfarrer dient, verschieden ausfallen. In nicht wenig Fällen wird aber gesagt: „Der Pfarrer ist überlastet", namentlich am Sonntag, wo er sich doch der Jugend besonders widmen müßte. So unterbleibt die Arbeit ganz, „weil der Pfarrer für Sonntags sich außerstande fühlt zu der zu leistenden Arbeit". „Auch wird wohl Zeit und Kraft der Geistlichen Wohl kaum dazu reichen." „Die Kraft des Pfarrers reicht nicht aus." „Mangel an Zeit und Kraft." — Die Überlastung des Pfarrers kann begründet sein in der zu großen Seelenzahl, die er zu pastorieren hat — oder auch in der weiten Ausdehnung seines Kirch­ spiels. „Die große Arbeitslast der beiden Pfarrer, welche 7710 Seelen in zehn Orten mit zum Teil 1 bis P/2 stündigen Wegen zu versehen haben, bildet ein Haupthindernis." „Bei einer Zahl von 18 einzelnen Orten im Kirchspiel ist es unmöglich", Jugendarbeit zu treiben. „In den Filialen kann der Geistliche wegen der weiten Entfernungen und schwierigen Wege überhaupt keinen Verein gründen." „Die Gemeinde ist sehr zerstreut." Tas ist allerdings ein schwerer Mißstand. Auch unter dem Gesichtspunkt der Jugendversorgung dürften di« Kirchspiele nicht allzu große Ausdehnung haben. Die Notwendigkeit, Jugendarbeit zu treiben, wäre schon Grund genug, zu große Pfarreien zu teilen oder mindestens mehr Kräfte für sie zur Verfügung zu stellen. Daß übrigens auch in Pfarreien mit großer Seelenzahl oder weiter Ausdehnung Jugendarbeit möglich ist, das beweist manche Stadtgemeinde, wo der Pfarrer ohne Hilfe Jugendarbeit treibt, und auch eine Reihe Jugend­ vereine auf dem Lande. So bestehen solche wenigstens in den Muttergemeinden von Pfarreien mit sogar zehn und elf Filialen und in Mei Pfarreien kommt die Jugend von mehreren Orten eines Kirchspiels im Hauptort zusammen. Das läßt sich namentlich da bewerkstelligen, wo

die evangelischen Gemeinden des Kirchspiels, also auch deren Jugend zu einer Kirche kommen. Findet der Gottesdienst nachmittags statt, so läßt sich wenigstens am Sonntag die Jugend sammeln. — Ganz mißlich liegen die Verhältnisie da, wo der Pfarrer gar nicht in seiner Gemeinde wohnt. Das wird aus sieben Gemeinden bzw. Kirchspielen berichtet. „Der Geistliche, der fünf Gemeinden mit 4700 Seelen zu pastorieren hat, vermag allein, ohne Mithelfer, nach hiesigen Verhältnissen keinen Verein für männliche Jugend zu gründen, zumal er nicht in den Gemeinden wohnt" sKirchberg). „Die Gemeinden liegen 1 bis P/2 Stunden vom Wohnort des Pfarrers entfernt" fHerrnhaag). Ähnliches wird noch mitgeteilt aus Allendorf sLahn), Kreutzersgrund, Niederbessingen, Rinderbügen, sämtlich in Oberhessen, und Semd-Raibach in Starkenburg. Das ist auch aus manchem anderen Grunde ein Mißstand, der unter allen Umständen beseitigt werden

Einwände unb Schwierigkeiten.

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müßte. — Di« Schwierigkeiten sind noch andere: sie können auch in der Persönlichkeit des Pfarrers liegen. Einer ist nicht so leistungsfähig als der andere. Oder Alter und Kränklichkeit machen dem Pfarrer ein« Arbeit, die viel Nervenkraft und Frische erfordert, unmöglich, mag er auch noch so sehr von der Notwendigkeit und Dring­ lichkeit der Jugendhilfe überzeugt sein. Oder aber, der Pfarrer ist gar nicht organisiert für eine solche Arbeit, und das dürfte die tiefste Schwierigkeit sein. Das ist nun nicht in dem Sinne gemeint, wie «in Berichterstatter sagt, daß sein Vorgänger „für derartige neu­ zeitliche Erscheinungen" nicht zu haben war. Man kann es doch nicht als Rückständigkeit bezeichnen, wenn ein Pfarrer mit tiefem Ernst schreibt: „Zudem hat nur der ein Recht zu solcher Arbeit, der das Charisma dazu empfangen hat." Oder ähnlich: „Der Unterzeichnete fühlte sich nicht zum Gründer eines solchen Jugendvereins berufen, hat auch keine Anlage und Neigung dazu." „Die Freudigkeit hat bisher ge­ fehlt." Es ist gewiß richtig, was in einem Bericht gesagt wird: „Aussicht auf Erfolg hat die Sache nur, wenn der Pfarrer ein .ganzer Mann' ist, gerecht in allen Sätteln und ein« Hührer'-Persönlichkeit." Aber zu einer Führerpersönlichkeit kann sich keiner machen, der es nicht i st. — Ta der Pfarrer in vielen Gemeinden die Arbeit zum mindesten nicht allein leisten kann, die Arbeit aber unter allen Umständen in An­ griff genommen werden muß, so bleibt kein anderer Weg, als daß der Pfarrer Hilfskräfte gewinnt, die ihn in der Arbeit unterstützen, oder sie gegebenenfalls ganz übernehmen. Vor allem aber muß der Pfarrer di« Aufsicht über die Arbeit in den Händen haben, und dazu muß er von Jugendpflege etwas verstehen. Dafür müßte bei der Ausbildung der Theologen noch mehr getan werden, als jetzt geschieht. Denn Jugendarbeit ist ein unerläßliches Stück Gemeindearbeit, das sich immer mehr durchsetzen muß, wenn die Jugend dem Christentum ihr selbst zum Heil« «rhalten bzw. wi«dergewonnen werden soll. — Es muß natürlich zunächst verlangt tverden, daß der Pfarrer auch in der Jugendarbeit leistet, soviel er nur irgend vermag. Vielleicht kann er manche andere weniger wichtige außerordentliche Arbeit mehr beiseite setzen; denn hier ist eine der allerdringendsten. Und auch hier muß der Grundsatz gelten: Das Wichtigste und Notwendigste zuerst. Aber wenn die Kraft des Pfarrers nicht ausreicht, wenn „die vorhandenen Kräfte vor allen Dingen zunächst auf das Hauptamt als Prediger, Seelsorger und Lchrer verwandt werden müssen" und keine Kraft mehr für die Jugendarbeit bleibt, die doch wohl nicht als Nebenamt betrachtet werden darf, so muß sich der Pfarrer umsehen nach Schultern, di« ihm die Arbeit tragen helfen — wobei er nicht einfach warten darf, bis Hilfe kommt. Nun wird ja aus vielen Gemeinden die Klage erhoben, daß es „an willigen

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EinwLnde und Schwierigkeiten.

Mitarbeitern" mangelt, daß „die Kräfte schien, die den Pfarrer in der Leitung des Vereins unterstützen." „Es fehlt an aller Unterstützung durch die Gemeinde der Erwachsenen." „Es fehlt hier zu sehr an Leuten, die sich der Jugend in der rechten Weise annchmen." Auch aus

zwölf Orten, wo Jugendarbeit getrieben wird, kommt die Klage, daß „Hilfskräfte" fehlen oder „Helfer erwünscht wären". Aus einem Ver­ ein wird charakteristischerweife geschrieben: „Fehlen der Arbeitskräfte, nicht zwar für Vorträge, aber für dauernde, persönliche Mitarbeit und Opfer." Dieser betrübliche Umstand hat gewiß seinen Grund darin, daß einmal die Arbeit an der Jugend in ihrer Dringlichkeit und Allge­ meinheit sehr jungen Datums ist, sodann aber darin, daß von seilen der Pfarrer noch lange nicht genug geschieht, in ihren Gemeinden die Gewissen zu schärfen der nicht zu leugnenden Not gegenüber und die Gemeinde der Erwachsenen zum vollen Bewußtsein ihrer Verantwortlich­ keit und der traurigen Folgen ihrer Untätigkeit für die Jugend und sie selber zu bringen. Die Arbeit an der Jugend ist Pflicht der Gemeinde, also muß die Gemeinde helfen bei der Arbeit. Mitarbeit der Laien muß gefordert werden — der Pfarrer ist nicht die Gemeinde und die Pflicht der Gemeinde ist nicht nur sein« Pflicht. Ferner ist die Laienarbeit wertvoll, weil dann die Jugendpflege immer weniger auch unter der Jugend für eine Sonderliebhaberei des Pfarrers gilt, und sie ist zu begrüßen, weil die Gemeindeglieder mit ihren verschiedenartigen Gaben, Fähigkeiten und Berufen mannigfachste Bedürfnisse der Jugend befriedigen können. Wer kommt als „ L a i e n h e l f e r " für die Jugendarbeit in betracht? Zunächst die nach dem Pfarrer Verant­ wortlichen, also die Kirchenvorsteher und Kirchenge­ meindevertreter. In beiden Körperschaften gibt es gewiß einen oder den anderen, der zur Arbeit befähigt und auch bereit ist. Hier könnte auch die von den Vertretern der Kirchengemeinde oft gewünschte größere Aktivität praktisch werden. Daß „ein Verständnis und die Mit­ hilfe der Kirchenvorstände nicht zu erwarten ist", ist doch am Ende nicht so ohne weiteres richtig. Bei Neuwahlen wäre auch wohl dieser Gesichts­ punkt energisch ins Auge zu fassen. — Sodann wäre vor allem an die Lehrer zu denken. Freilich wird fast allgemein über die Passivität der Lehrer in der Jugendpflege geklagt. Damit ist nicht gesagt, daß das ein bleibender Zustand sein muß. Auf alle Fälle wär« es gut, wenn Pfarrer und Lehrer sich auch unter diesem Gesichtspunkt zu gemein­ samer Arbeit zusammenfänden. Jedenfalls ist es doch im höchsten Grade beklagenswert, daß ein Jugendverein dadurch zugrunde ging, daß sich Pfarrer und Lehrer über eine damit gar nicht zusammenhängende Sache völlig entzweiten! Daß die Lehrer sich aus Gründen der Parität an einer evangelischen Jugendarbeit nicht beteiligen könnten, ist wohl nicht

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Einwände und Schwierigkeiten.

stichhaltig. Denn sonst dürften sie auch keinen evangelischen Religions­ unterricht halten oder Organisten sein, dürften auch sonst keinem evangelischen Verein angehören und Kirchenchöre leiten! Überdies ist man ja auf politischem Gebiet nicht so ängstlich. Ich denke, hier wie dort darf der Lehrer auch durch seine tätige Mitarbeit seine Gesinnung zum Ausdruck bringen, um nicht zu sagen, dort wie hier ist es seine Pflicht. Die Lehrer dürften als Volkserzieher am wenigsten dem Problem, das die Heranwachsende Jugend stellt, aus dem Wege gchen. Man sage nicht: das wäre der Schularbeit zuviel. Die Arbeit, di« eine verständige Jugendpflege verlangt, ist durchaus anders geartet als die Schularbeit.

Es könnte der Stellung der Lehrer in der Gemeinde und der Jugend gegenüber nur förderlich sein, wenn sie sich mehr, als es geschieht, der Jugendarbeit annähmen, und der Vorteil, die Jugend ohne den Schulzwang und ihre Disziplinarmittel kennen und leiten zu lernen, wäre nicht gering anzuschlagen für die Berufstätigkeit des Lehrers,

dem in den obersten Klassen die Probleme der Entwicklungsjahre doch schon stark zu schaffen machen. — Aber weiterhin soll jedes Ge­ mein d e m i t g l i e d, das Gabe und Neigung dazu hat, sich der köst­ lichen Jugendarbeit widmen, di« trotz aller Schwierigkeiten frohe und tiefe Erfahrungen erleben läßt. In einer Gemeinde Starkenburgs ist es nur dadurch zu einer evangelischen Jugendarbeit gekommen, daß ein Laie sich der Sache annahm. Ihm gelang es auch, zwei Lehrer für die Arbeit zu gewinnen. Aus einem anderen Jugendverein wird als sehr förderlicher Umstand die „Beteiligung einiger älterer angesehener Leute aus der Gemeinde" erwähnt. Es gibt gar manchen, dem sein Beruf freie Zeit genug läßt zu dieser Arbeit und der auch den guten Willen hat, der Pfarrer muß in unermüdlicher Arbeit nur die rechten Leute finden und zu gewinnen suchen. — Es ist auch nicht zu vergessen, daß aus der Jugend selber mit der Zeit Helfer herangezogen werden können, die durch längere Mitgliedschaft eine vorzügliche Vorbildung für die Arbeit genossen haben. „Es wachsen einige treffliche Helfer aus dem Verein selbst heran, die erzieherisch wirken." Günstig ist „die MitHilfe älterer Mitglieder". — Nun wird aber auch von mehreren Seiten die Anstellung eines Berufsarbeiters verlangt. Ein Bericht­ erstatter verlangt u. a. zur Durchführung der „dringend nötigen Jugend­ pflege auf dem Lande": „Anstellung eines Jugendpflegers im Haupt­ berufe für alle Orte von 800 und mehr Einwohnern." Und ein anderer Berichterstatter bemerkt: „Die Kirche müßte hierzu besondere Organe anstellen, die von der Gesamtkirche ausgebildet würden." Es ist nicht zu leugnen, daß in den vier Städten, in denen unseres Wissens in Hessen Jugendpfleger im Houptamte angestellt sind, die Arbeit sehr ge­ fördert ist. Freilich ist es dabei sehr wesentlich, daß die richtigen PerPag», Jugendpflege.

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Einwände und Schwierigkeiten.

sönlichkeiten gefunden werden.

Nun wäre zu sagen: es wäre dringend

notwendig, daß zunächst in allen Städten und Industriezentren Jugend­ pfleger im Hauptberufe angestellt würden, oder noch besser Jugendpfarrer. Für das Land käme zunächst Wohl für Gemeinden von 800 Seelen der

Berufsarbeiter noch nicht in betracht. In einer so kleinen Einzelgemeinde kann der Pfarrer mit freiwilligen Helfern die Arbeit tun. Aber für größere Bezirke müßten Berufsarbeiter angestellt werden, die zunächst einmal die Arbeit organisieren und in die Wege leiten und den Gemeinden ihres Bezirks Rat und Kraft zur Verfügung stellen. Die Bezahlung eines solchen Berufsarbeiters, auf eine Reihe von Gemeinden verteilt, dürfte nicht allzuviel« Schwierigkeiten machen. Was aber als Mindestforderung aufgestellt werden muß, das ist «in Jugendgeistlicher für das ganze Land. Gerade jetzt, wo allenthalben in den evangelischen Gemeinden auf dem Gebiet der Jugendpflege es sich zu regen beginnt, ist ein solcher Berufsarbeiter unerläßlich. Eine Zentrale, die auf all« einschlägigen Fragen Auskunft zu erteilen imstande ist, Ratschläge zur Gründung von Jugendvereinen gibt, von der aus, namentlich persönlich, in noch untätigen, verständnislosen Gemeinden Werbetätigkeit getrieben wird, an die all« Berichte, Statistiken usw. kommen, so daß jederzeit eine Übersicht über die Arbeit in der Landeskirche vorhanden ist, und die eine mustergültige Materialsammlung für alle Gebiete anlegen muß — eine solche Zentrale ist dringend notwendig und wäre von größtem Segen. Tie materiellen Unkosten werden sich, wie bei jedem tüchtigen Jugendhelfer, vielfach durch ideellen Ertrag bezahlt machen. — Auch daran müßte gedacht werden, Stipendien auszusetzen, mit deren Hilfe junge, fähige Theologen hervorragende Jugendarbeiten selbst kennen lernen und ihre Erfahrung bereichern könnten (Frankfurt a. M., Stutt­ gart, Essen, Hamburg usw.). — Daß Pfarrassistenten die Arbeit leisten, namentlich in den Städten häufig, mag darin begründet sein, daß sie mehr Zeit und Kraft zur Arbeit haben als der sehr überhäufte Pfarrer selber, auch darin, daß sie schon durch ihr Alter größeres Verständnis für jugendliche Art, jugendliches Fröhlichsein und jugendliche Bedürfnisse haben. Und doch liegt darin ein gewisser Mangel. Die Assistenten wechseln zu häufig und ohn« eine gewisse Krise geht es bei dem Personenwechsel niemals ab. Das ist noch schlimmer, gerade­ zu verhängnisvoll in Gemeinden, die nur von einem Assistenten oder Verwalter versehen werden, also stetigem, raschem Pfarrerwechsel aus­ gesetzt sind. Es wäre sehr zu wünschen, auch im Interesse der Jugend, daß solche Stellen mehr und mehr verschwänden, d. h. zu Definitivstellen umgewandelt werden, was ja bei einzelnen Gemeinden schon geschehen ist. An einem Orte ist die Jugendarbeit durch den Assistentenwechsel ganz eingegangen, an anderen war sie schwer gefährdet. Auch Spezialvikariate

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Einwände und Schwierigkeiten.

und Pastorierung von Nachbargemeinden aus

sollten nicht zu

lange

dauern.

Neben die materiellen und persönlichen treten die örtlichen Schwierigkeiten. Immer wieder wird darum gestritten, wo die größeren Schwierigkeiten liegen: das Land glaubt bedeutend im Nach­ teil gegen di« Stadt zu sein — und die Stadt gegen das Land. Ein müßiger Streit! Einerlei, ob Stadt, ob Land, die Arbeit drängt und sie muß hier wie dort getan werden. Richtig ist, daß in der Stadt so gut wie auf dem Lande große Schwierigkeiten vorhanden sind. „Die engen dörflichen Verhältnisse" bieten gewiß ihre Schwierigkeiten, die Kleinstadt nicht weniger: „es ist schwer, in der Kleinstadt die vielen auseinander­ strebenden Element« zusammenzufassen". Wer aber wollte behaupten, daß die Großstadt leichterer Boden sei? Es wird in der Tat behauptet: „In der Stadt lassen sich Jünglingsvereine in christlichem Sinne errichten, auf dem Lande nicht." Man darf doch nicht vergessen, daß die Großstadt mit ihren tausend verschiedenen Einflüssen, der nervösen Hast, den ungeheuer vielen Ablenkungen und Zerstreuungen, den hunderterlei entgegengesetzten Geistesströmungen geradezu ein Hexenkessel ist, der die Jugend gar zu leicht in seinen Strudel zieht und sie allem Ernst ent­ fremdet. Auf der anderen Seite wird gesagt: Aus dem Lande brauchen mir auch eine evangelische Jugendarbeit gor nicht. Aber diese Frage ist nicht mit einem sarkastischen Lächeln und einer bequemen Handbewegung abgetan, wie ein Bericht etwa schreibt: Es besteht kein Verein, „weil meine Vorgänger wahrscheinlich der Meinung waren, daß nicht alles, was in der Großstadt wünschenswert sei, auf dem Lande mit einiger Gewalt erzwungen werden müsse". Tas ist wieder die alte, doch gar nicht mehr haltbare Ansicht von den „paradiesischen Zuständen" auf dem Lande. Schade ist, daß viele Berichterstatter so ganz allgemein von „klein­ örtlichen Schwierigkeiten" oder ähnlichem reden, ohne zu sagen, worin nun eigentlich di« Schwierigkeit der örtlichen Verhältnisse besteht. „Nach

Lage der Verhältnisse ist kirchliche Vereinsarbeit an der konfirmierten männlichen Jugend nicht möglich." „Es fehlen die Bedingungen." „Bei der Art der Gemeinde und der Jugend ist die Gründung kaum zu wagen." „Es ist kein Boden dafür da" usw. Aber viele Berichte lassen sich auch über die örtlichen Schwierig­ keiten aus, die angeblich ober wirklich eine evangelische Jugendarbeit unmöglich machen. Da erscheint zunächst die Un k i rch l i ch ke i t. Jugendarbeit wird nicht getrieben „wegen des unkirchlichen Geistes in der Gemeinde, der einen besonderen Zusammenschluß einiger junger Leut« geradezu unmöglich macht". Besonders häufig wird in Rhein­ hessen das Fehlen gemeindlicher Jugendarbeit mit der Unkirchlichkeit der

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Eiuwünde und Schwieriglciten.

Gemeinde begründet: „Gemeinde völlig unkirchlich." „Wiederholt ge­ machte Versuche hatten keinen dauernden Erfolg. Die Freiprotestantische Gemeinde hier Pflegt das kirchliche Leben wenig, betont sehr den Grundsatz persönlicher Freiheit, so ist auch in unserer Gemeinde das kirchliche und persönliche Leben nicht, wie es sein sollte, auch schon bei der Jugend." Was ja ein Grund ist, erst recht immer wieder die Arbeit zu versuchen. Aus einer anderen rheinhessischen Gemeinde heißt es: „Alter freiprotestantischer Boden, der einer konfessionellen Jugendvereinigung nicht geneigt ist." Aus Oberhesien und Starkenburg kommen ähnliche Be­ richte: „Für alle derartigen Vereinigungen herrscht bei der Jugend starke Abneigung." „Ein anderes Hindernis ist die religiös - gleich­ gültige Stimmung der Jugend." „Die Jugend selbst hat keinen Sinn für einen solchen Verein." Es kann nur wiederholt werden: der Gemeinde muß das Gewissen der Jugend gegenüber geweckt und geschärft werden und eine der Jugend gemäße Arbeit begonnen werden. Die Erfahrung wird sich auch anderwärts wiederholen: durch eine richtig be­ triebene Jugendpflege ist mancher unkirchliche Junge und auch Alte wiedergewonnen worden.

Hinderlich sind auch oft die politischen Verhältnisse, die viel­ leicht auf dem Dorfe stärker hervortreten als in der Großstadt — in der Kleinstadt ist es noch schlimmer — und die Gemeinde oft völlig spalten und trennen. Die „Ortspolitik" spielt eine besonders traurige Rolle. „Das Kirchspiel zerfällt in drei Dörfer, die sich mit altererbter Eifer­ sucht gegenüberstehen." „Große Parteisplitterungen hindern sehr, so­ weit ich sehen kann." „Unter den jungen Männern herrscht keine rechte Einigkeit, hervorgerufen durch Gemeindewahlen und manches andere." Die Zähigkeit, mit der solch „altererbte Eifersucht" sich hält, selbst wenn kein erkennbarer Grund mehr vorhanden ist, ist genug bekannt. Vor allem muß der Pfarrer in der großen wie in der kleinen Ortspolitik die von seinem Amte gebotene Neutralität wahren. Die Gemeinde muß ihn kennen als einen, der der ganzen Gemeinde gleichmäßig dient und sich von allem Parteitreiben fernhält. So kann er und seine Jugend­ arbeit zur Versöhnung der Gegensätze viel tun. Nur Vertrauen muß die Gemeinde zu ihm haben. Daß jede politische Neigung aus der Jugendarbeit ausgeschaltet sein muß, ist selbstverständlich. Politische Jugendgruppen, wenn sie auch erst mit dem 18. Lebensjahr einsetzen dürfen, sind nicht zu billigen, da sie die Jugend vorzeitig in einseitiger Weise bearbeiten und festlegen. Sehr im Wege können auch die sozialen Verhältnisse einer Gemeinde stehen: hie Bauer, hie Arbeiter — hie Kaufmann, hie Handwerker — solche Gegensätze sind manchmal in unglaublicher Schärfe ausgebildet. Auch hier ist der Pfarrer der Berufene, die Jugend ge-

Einwände und Schwierigkeiten.

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meinsam zu sammeln — freilich muß er in seiner ganzen Amts­ führung sich vor irgendwelchen unsozialen Äußerungen und Handlungen hüten, alle Schichten gleich behandeln — und das Vertrauen aller Schichten muß ihm werden, auch das der Jugend. Oft wird auch auf die kleine Zahl der Gemeindemitglieder und darum auch der Jugend hingewiesen. Es ist richtig, daß in einer Gemeinde von 500 oder noch weniger Seelen der Pfarrer schließlich die Jugend ohne besondere Jugendarbeit an sich fesseln und beeinflussen kann. Ist es darum ausgeschlossen, daß er die Jugend hin und wieder wenigstens zu gemeinsamer Betätigung zusammenbringt? Es braucht ja kein geschlossener Verein gegründet zu werden. Der Vorschlag wird gemacht, ein „Jugenddorfkasino" zu gründen, in dem die jungen Leute sich zwanglos mit dem Pfarrer zusammenfinden. Es ist ja nicht not­ wendig, daß große Massen zusammenkommen. Das Verhältnis zwischen Pfarrer und Jugend kann dadurch doch nur an Innerlichkeit gewinnen. Außerdem besteht evangelische Jugendarbeit auch schon in ganz kleinen Orten mit z. B. 527 und 557 Seelen!

Die größte Schwierigkeit gerade auf dem Lande ist die Macht der Sitte. Zunächst ganz allgemein: eine derartige Arbeit ist zu neu und ungewöhnlich. Man hat seither nichts Derartiges getan, wozu jetzt auf einmal solche Neuerungen einführen? Es liegt alles daran, daß die Neuerung genügend begründet wird, die Gefahren und die Not der Jugend immer wieder herausgestellt und betont werden. Und die Bildung einer neuen Sitte ist doch nichts so ganz Ungeheuerliches. Freilich viel Geduld und ausdauernd Arbeit ist notwendig. Schwerer ins GÄvicht fällt die unter der Dorfjugend herrschende Sitte. Sie bindet die Jungen genau so wie die Alten. „Keiner würde es wagen, sich anders zu verhalten als seine Altersklasse." „Wegen des Herdentriebs ist nichts zu machen." „Die Macht der Sitte hält auf dem Lande die Schwachen — selbständig sind sie all« nicht, die Sitte ist ihr Herr — ab, einzutreten." „Die dazu wohl geneigt wären, haben nicht den Mut, sich von der großen Masse zu trennen." Die Jahrgänge halten zu­ sammen, sie sind so exklusiv als nur möglich. Die „Kameradschaft" ist

ungeheuer stark. „Wir haben hier noch eine geschlossene Dorsjugend, d. h. die gleichalterigen gehen zusammen, einerlei, ob der Sohn des reichsten Bauern oder Knecht. Eine Trennung wäre undenkbar. Also müßten zum Verein alle gewonnen werden. Da dies nicht möglich ist, so ist die Gründung eines Vereins usw. zwecklos. Auch würden die Älteren nicht mit den Jüngeren gehen. Also wären drei bis vier Abteilungen nötig, auch dies ist in unseren kleinen Verhältnissen unmöglich." „Man kann auf

dem Dorfe keine Auslese machen: entweder hat man alle oder keine." „Ein ganzer Jahrgang würde nie einer christlichen Vereinigung bei-

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EinwLnde und Schwierigkeiten.

treten." Es ist doch fraglich, ob die Macht dieser keineswegs zu unter­ schätzenden Sitte nun nicht doch überschätzt wird. Es sind doch schließlich

überall, sofern der Pfarrer nur einigermaßen mit der Jugend Fühlung zu nehmen versteht, zunächst einzelne zu gewinnen, und von da aus ist weiterzukommen. Es ist auch schon gelungen. Dasselbe gilt Wohl von der so sehr gefürchteten S p i n n st u b e. „Wer kann gegen die Macht der Spinnstube an?" So lautet eine Klage. „Die Spinnstube läßt keinen Raum dafür." „Die Spinnstube, die ohne jede Aufsicht allen Gelüsten Spielraum läßt, wird vorgezogen." „Spinnstube macht das schon unmöglich, die den Jungen lieber ist, weil sie da ihre Freiheit haben." So und ähnlich wird in 22 Orten die Spinnstube als Hindernis jeder Jugendarbeit bezeichnet. Ztvei Berichte sind besonders interessant: „Die Macht der Spinnstube, die sich allerdings leise zu lockern beginnt, beherrscht noch die freie Zeit der Jugend." Der andere ist noch wichtiger: „Die Spinnstube bildet in diesem Alter (14 bis 16 Jahren) noch kein Hindernis." Also so unverwüstlich scheint die Spinnstube doch nicht zu sein. Und wenn das zweite Urteil recht hat — die Beobachtungen der Jugendpsychologen sind ihm geneigt; denn mit dem 17./18. Jahre beginnt erst eigentlich für den jungen Mann das Problem des anderen Geschlechts —, dann wäre es geboten, mit der konfirmierten Jugend sofort einzusetzen und nach dreijähriger Erziehung dürft« man wohl hoffen, sie zu halten. Man darf vielleicht doch ein wenig mehr Vertrauen auf den gesunden Kern der Jugend haben und auch auf den Erfolg ernster, verständiger Erziehungsarbeit, als es manchmal geschieht: „Die jungen Leute besuchen im Winter fast (!) alle die Spinnstuben, welche durch schr langen Bestand so eingebürgert sind, daß man darauf, wie auch die Kirchenvorsteher meinten, so leicht nicht von feiten der Jugend verzichten wird." Vielleicht ist auch ein anderer Weg gangbar, ja für kleine Dorfgemeinden der einzig richtige: die Spinnstube durch gesundere Versammlungen der Jugend, und zwar beiderlei Geschlechts, zu ersetzen. Sie „zu veredeln" mag aussichts­ los fein. Aber wenn es gelänge, beide Geschlechter zu organisieren, gemeinsame Zusammenkünfte mit edler Unterhaltung, fröhlichem Spiel und ernstem Wort zu veranstalten, wäre vielleicht die Jugend zu haben. Der Versuch ist tatsächlich in vier Fällen und, wie es scheint, mit gutem Erfolg unternommen worden. Es ließen sich vielleicht danebenher noch Einzelveranstaltungen für die männliche und die weibliche Jugend ge­ sondert treffen. Sie wären sogar unbedingt nötig. Über die „Koeduka­ tion" auf diesem Gebiete wird später noch zu reden sein, sie ist vielleicht mit Einschränkungen nicht nur auf dem flachen Lande geboten. Daß die Spinnstube keine unüberwindliche Schwierigkeit ist, beweist die Tat­ sache, daß es Vereine gibt, denen zwar die Spinnstube Schwierigkeiten macht, ohne aber ihr Dasein zu verhindern.

Einwände und Schwierigkeiten.

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Eine der allgemeinsten Schwierigkeiten, die in der Stadt wie auf dem Lande gleichmäßig hervortritt, ist das ungesund angeschwollene „Weltliche" Vereinsleben. Aus nicht weniger als über 50 Orten wird über das Überhandnehmen des Vereinstreibens geklagt. Aus der

Großstadt so gut wie vom kleinsten Bauernort. An vielen Orten ist tatsächlich die ganze Jugend in Vereinen aller Art festgelegt, so daß ein Herankommen an sie oft fast ganz unmöglich scheint. Es ist manchmal fast unglaublich, wieviel Vereine an einem Orte existieren. Von einem kleinen oberhessischen Städtchen wird von 29 Vereinen berichtet und aus einem Starkenburger Jndustrieort mit über 5000 Einwohnern wird folgendes Bild entrollt: „Zuviel Vereine: zwei Turnvereine, sechs Fuß­ ballklubs, ein Stemmklub, Radfahrer-, Ringer-, acht Gesangvereine, zwei Stenographenvereine, Rauch- und Spielklubs, eine Reihe kleinerer Gesellschaften"!! An ganz kleinen Orten existieren mehrere Turn- und Gesangvereine nebeneinander, die womöglich in scharfem Parteigegensatz gegeneinander stehen, so daß die Jugend in gehässigem Streit miteinander liegt. Aus einem oberhessischen Städtchen mit 2000 Einwohnern wird berichtet: „Die evangelischen Vereine haben hier keinen Bestand, da hier das Vereinsleben sehr blüht und jeder Jüngling in zwei, drei, vier weltlichen Vereinen Mitglied ist." Eine besonders traurige Blüte sind die „humoristischen Vereinigungen", oder wie sie auch in der Großstadt heißen: „Kabarettvereinigungen". Was in diesen Vereinen, die durch­ weg aus jungen Leuten bestehen, an „Humor" geleistet wird, kann man sich kaum schlimm genug vorstellen. Eigenartig sind auch die „eigenen jugendlichen Saufklubs mit Mitgliedern von 14 bis 20 Jahren, soge­ nannte .Burschenschaften*, die sich in allen Dörfern um Gießen herum" finden, Nachahmungen des studentischen Lebens! Aus einem Orte bei Gießen wird von einem solchen Klub gesagt: „er zählt nur (!) einige 30 Mitglieder. Immerhin bringt er viel sittlichen Schaden". Der Alkohol spielt ja auch in den anderen Vereinen eine gewaltige Nolle, namentlich bei den Festen, die geradezu „zahllos am Sonntag" gefeiert werden. — Daß das Vereinsleben so üppig wuchert, hat gewiß nicht seinen Grund darin, daß es erzieherisch auf die Jugend wirkt, sondern im Gegenteil, weil man sich dabei benehmen kann nach Herzenslust. Tie Vereine, die wirklich auf gute Sitte und Ordnung halten, haben auch um ihre Erhaltung zu kämpfen. „Die Jugend ist, namentlich am Sonntag, an schrankenlose Freiheit gewöhnt, deren Betätigung man im Wirtshaus und Vereinsleben sieht." Die vielen Veranstaltungen der Vereine „verleiten zu starken Geldausgaben und öfterem Alkoholgenuß,

finden auch nicht rechtzeitig ihr Ende. Es ist schwer, dieser tief eingerissenen Vereinsmeierei entgegenzutreten". „Der Anfang ist schwer, denn die jetzt florierenden Fußballklubs ziehen die Konfirmierten mächtig

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Einwände und Schwierigkeiten.

an und arbeiten nach Kräften, die Jugend an Leib und Seele zugrunde zu richten." — Nicht nur wird die evangelische Jugendpflege dadurch erschwert, daß die Freizeit der Jugend durch das Bereinsleben fast völlig in Anspruch genommen ist, di« Vereine verfolgen auch die evangelischen Bestrebungen mit Hohn, Spott und Haß, weil man offenbar die Kon­

kurrenz fürchtet. „Wer eintritt, kommt in den Bann." „Man nennt di« sevangelische) Jugendvereinigung »Tugendbund'." „Radfahr-, Fußball-, Turnverein« usw. vorhanden, nur ja nichts Kirchliches oder Christ­ liches, würde verhöhnt." „Auch sucht der Turnverein die jungen Leute für sich zu gewinnen unter Verhöhnung der christlichen Bestrebungen." Wenn der Pfarrer auf einen oder den anderen Verein, etwa Turn­ verein, solchen Einfluß gewinnen kann, daß er in diesem Rahmen seine Arbeit tun kann, so ist das vielleicht angängig, obwohl es in den aller­ seltensten Fällen möglich sein wird. Sonst aber muß versucht werden, zunächst einen Teil der Jugend zu gewinnen, und wenn die Jugendarbeit richtig betrieben wird, wird die Jugend auch bald ihre Freude daran haben. Sie wird bald merken, wo sie besser aufgehoben ist. Seltsam geradezu ist, daß aus drei Orten szwei in Oberhessen, einer in Starken­ burg) eine gewisse Abneigung der Jugend gegen jedes Vereinswesen fest­ gestellt wird: „Ein Teil der Jugend hält sich überhaupt von Vereinen fern". „Für Vereine scheint wenig Sinn vorhanden zu sein. Die be­ stehenden weltlichen Vereine führen ein kümmerliches Dasein." „Die jungen Leute empfinden jegliches Vereinswesen als Zwang." Begreiflich ist auch, daß an einem Ort mit einer Überfülle von Vereinen ein „Vorurteil gegen alle Vereinsgründungen" besteht.

Besonderen Widerstand findet die evangelische Jugendarbeit bei den Wirten, die — nicht mit Unrecht — eine Beeinträchtigung ihres Geschäftes wittern. Sie haben scheinbar häufig genug gar kein« Ahnung, daß sie nicht nur vom Gelde der Jugend leben, sondern auch auf Kosten von deren innerster Kraft sich bereichern. Der „Wirtsneid" hindert oft die Gründung eines evangelischen Jugendvereins. „Vor sechs Jahren regte ich den Gedanken einer christlichen Jugendvereinigung an. Starker Widerspruch seitens einiger Wirte." „Das Bestreben der in übergroßer Zahl vorhandenen Wirte geht dahin, derartige Vereine nicht aufkommen zu lasten." „Die Angst der Wirte" wird von einem bestehenden Verein als besondere Schwierigkeit bezeichnet. Und ein Berichterstatter, der eine evangelische Jugendarbeit in Angriff zu nehmen beabsichtigt, schreibt: „Das wird einen Kampf kosten, vor allem mit den Wirten." Ganz besonders groß ist die Schwierigkeit an den Orten, an denen die Sozialdemokratie herrscht. An vielen Orten bestehen sozialdemokratische Vereine, besonders viel „freie Turnerschaften", die natürlich durchaus politische Tendenzen verfolgen. Manchmal ist fast

Einwände und Schwierigkeiten.

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die ganze Jugend in diesen Vereinen organisiert. „Die Jugend ist schon von der Schule an für die roten Vereine «ingefangen." „Nichts zu machen, die konfirmierte männliche Jugend ist als Maurer- und Ar­ beiternachwuchs der sozialdemokratischen Partei anheimgegeben." „1910 sind mit Ausnahme von zwei alle Konfirmierten in den sozialdemokrati­ schen Turnverein eingetreten." Ist denn die Jugend an manchem Orte wirklich so elend verhetzt, daß der Pfarrer sich gar kein Vertrauen bei ihr erwerben kann? Das ist ja kaum möglich. Ob es nicht auch manch­ mal an den Pfarrern selber liegt? Freilich, wo die Sozialdemokratie ihr Zepter schwingt, da übt sie einen furchtbaren Terror aus, und dabei redet sie furchtbar viel von persönlicher Freiheit! Eine kleine Probe von der freiheitlichen Gesinnung der Sozialdemokratie gibt ein Bericht­ erstatter: „Viele und persönlich ganz liebe junge Leute blieben auch weg, weil ihnen von den .Organisierten' die Teilnahme verboten wird. .Wer zum Pfarrer geht, darf nicht zu uns', heißt es. Ein Vater z. B. erklärte seinem Jungen: .Wenn du ins Wirtshaus gehst, habe ich nichts dagegen; nur nicht zum Pfarrer.' Ein anderer erklärte, seinen Sohn verhauen zu wollen, wenn er den Pfarrhof nochmals betrete. In beiden Fällen waren es brauchbare, liebe Knaben, um die es sich handelte." Der Widerstand der Sozialdemokratie ist ja nun nicht gleich stark ver­ breitet. Es gibt evangelische Jugendvereine, die Söhne echter Sozial­ demokraten zu Mitgliedern haben. Dort haben di« Leute Achtung be­ kommen vor der evangelischen Jugendarbeit. Vor allen Dingen darf die evangelische Jugendarbeit nicht den Kampf gegen die Sozialdemo, kratie auf ihre Fahne schreiben, so wenig als der Pfarrer. Dieser muß nach Kräften in seiner Gemeinde sozial versöhnend zu wirken suchen, vor allem jede Sonderbehandlung von Sozialdemokraten vermeiden und

es auch wagen, für Gerechtigkeit und Wahrheit allen sozialen Schichten gegenüber aufzutreten. Es bleibt der Weisheit letzter Schluß: der Pfarrer muß alles tun, um das Vertrauen seiner ganzen Gemeinde zu gewinnen. „Wo das Vertrauen wächst, kommt der Verein von selbst." Der Schwierigkeiten sind nicht wenige und sie sind auch nicht klein. Aber tausendmal größer ist di« Aufgabe, die die Jugend der evangelischen Gemeinde in diesen Tagen stellt. Dieser Aufgabe zu dienen, ist kein Opfer, keine Anstrengung, kein Kampf zu schwer. Schwierigkeiten lassen sich auch überwinden — und wenn es einen zähen Kampf kosten sollte — gut! so laßt uns kämpfen! Nur wollen wir das Vertrauen nicht ver­ lieren, es ist im letzten Grunde nicht unsere Sache, nicht die Sache der Kirche — es ist Gottes Sache! Vor allen Dingen entheben die Schwierigkeiten nicht der Pflicht. Solange nicht versucht wurde ihrer Herr zu werden, solange nicht alle Wege gegangen wurden, sie zu über­ winden, solange noch ein Funke von Vertrauen auf den Sieg des Guten

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Beschichte u. gegenwärtiger Bestand d. «vang.-kirchl. Jugendarbeit in Heffen.

im Herzen glimmt — solange sind die Schwierigkeiten noch nicht unüberwindlich, keine! Nur daß jetzt der evangelischen Kirche nicht der Wille fehle, ihre brennendste Aufgabe fest in die Hand zu nehmen. Der Wille ist alles. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. „Wollen ist olles, wer aber nicht wollen will, 'bet verdient keine Schonung."

§ 10. Geschichte und gegenwärtiger Bestand der evangelisch­ kirchlichen Jugendarbeit in Heffen. Eine Geschichte der evangelisch-gemeindlichen Jugendpflege in Hessen läßt sich eigentlich noch nicht schreiben. Denn die auf der Grundlage der Gemeinde getriebene Jugendarbeit hat noch keine Geschichte, sic stammt erst aus allerneuester Zeit. Evangelische Jünglingsvereine, die auf kirchlichem Boden stehen wollten und standen, gibt es wohl einzelne auch in Hessen schon länger. Die Geschichte dieser nicht gemeindemäßig organisierten evangelischen Jugendarbeit in Hessen hätte wohl gleichsam als Unterbau der neuen Gemeinde-Jugendarbeit hier dargestellt werden müssen. Leider ist diese Darstellung dadurch unmöglich gemacht, daß, wie in § 1 bemerkt, keiner dieser Vereine auf die Umfrage geant­ wortet hat. Wohl haben auch einige ältere Vereine die Umfrage beantwartet: es sind lauter Vereine, die von landeskirchlichen Pfarrern ge­ leitet werden. Es muß überhaupt betont werden, daß, wenn hier von

Gemeinde- Jugendarbeit gesprochen wird, noch lange nicht überall in der Tat die Jugendarbeit von der Gesamtgemeinde getragen wird. Nur 36 % der in Frage kommenden Vereine werden finanziell vom Kirchenvorstand unterstützt, was ja noch lange nicht den gcmeindemäßigen Charakter der Jugendarbeit ausweist. Es bedeutet aber immerhin eine Anerkennung der Arbeit von seilen der Gemeinde. Und das ist schon viel. Wenn also hier von Gemeinde-Jugendarbeit die Rede ist, so sind Jugendbestrebungen damit gemeint, die vom Gemeindepfarrer ausgehen mit dem Willen und der Absicht, auf dem Boden der Gemeinde, nicht neben ihr oder gar im Widerspruch zu ihr die Arbeit zu treiben. Hoffent­ lich wird man bald allgemein von Gemeinde-Jugendarbeit im oben dargelegten idealen Sinn sprechen können! Der Gr ündung

Jahr

1860 1883 1887 1887 1891 1894 1894 1897

Art der Vereinigung

Ort

Christlicher Verein junger Männer Jugendverein „Feierabend" „Lehrlingsabend" „Wartburg-Verein" Cvang.JünglingS- u.Männerverein Konfirmiertenvereinigung der Matthäus - Gemeinde Jugendvergg. d. Martinsgemeinde „Evangelischer Jünglingsverein"

Holzheim (Der. Hungen) Friedberg Büdingen Gießen Worms

Datum

14.1. 14. X. 18. X.

17. X.

Gießen Darmstadt Lampertheim (Der. Zwingenberg)

Geschichte u. gegenwärtiger Bestand d. evang.-kirchl. Jugendarbeit in Hessen.

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Tie durch die Umfrage bekannt gewordene Geschichte der evangelischen Jugendarbeit in Hessen reicht bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück. Acht noch jetzt bestehende Jugendvereine fallen mit ihrer Gründung noch ins 19. Jahrhundert (siehe Tabelle S. 122). Diese acht Vereine stellen je zwei und zwei vier Typen evangelischer Jugendarbeit ihrer Entstehung, ihrer Arbeitsauffassung und ihrem Ziel nach dar. Der Christliche Verein junger Männer in Holzheim ist aus der „Gemeinschaft" entstanden. Sie hat den Anstoß zur Gründung eines Jugendvereins gegeben. Der Gesamtcharakter der Gemeinde kam ihr dabei sehr entgegen, so daß immer etwa J/3 oder darüber der Holzheimer Jugend in ihm sich sammelte. Vor­ sitzender des in seinem Geiste noch den Stempel der „Gemeinschaft" tragenden Vereins war immer ein Laie. Den Gemeinschaftscharakter hat auch der Verein mit großer Strenge festgehalten, so daß er eine Geschichte eigentlich nicht hat. Der Hauptnachdruck liegt auf der reli­ giösen Beeinflussung der Mitglieder. Die Bibelstunde ist das Zentrum des ganzen Vereinslebens. Diese Bibelstunde wird nur im Winter vom Pfarrer gehalten, sonst halten sie die älteren Männer abwechselnd mit einem „Bruder der evangelischen Gesellschaft". Außerdem gelten nur noch Gesang und Posaunenblasen als berechtigte Arbeitsgebiete. Wenn Vorträge gehalten werden, so finden sie in der Kirche durch Missionare statt. Sie haben demgemäß die äußere Mission zum Gegenstand: in Deutsch-Südwestafrika, Togo, Neu-Guinea, Armenien, auf den Sundainseln. In der ersten Woche jeden Jahres finden Gebetsversammlungen statt. Auch die Stellung zur Außenwelt entspricht ganz den Anschauun­ gen der „Gemeinschaft". „Wenn einer das Wirtshaus wieder aufsucht oder sonst dem Verein Unehre macht durch unchristlichen Wandel", wird er ausgeschlossen. Wenn die jungen Leute mit 25 Jahren dem Verein junger Männer entwachsen sind, treten sie in den Männerverein über, der „die gegebene Fortsetzung der Jugendvereinigung bildet". So steht dieser Verein zwar, wenn man so will, eng und einseitig in seiner Auffassung, aber geschlossen da. Auch der „Evangelische Jüng­ lingsverein" in Lampertheim ist auf dem Boden der „Ge­ meinschaft" erwachsen. Diesmal aber war es nicht die „Gemeinschaft" des Ortes, die den Anstoß gab, sondern eine auswärtige. Eine Anzahl junger Leute besuchte zusammen mit einem älteren Laien öfter die Greinersche Gemeinschaft in Worms. Das gab, namentlich auf An­ regung jenes Laien, den Pfarrern die Veranlassung zur Gründung des Vereins, dem sich zunächst sieben junge Leute, drei im Alter von 14 bis 17 und vier im Alter von 17 bis 21 Jahren, anschlossen. Da der Wunsch nach religiöser Vertiefung die jungen Leute zusammengeführt hatte, so bildete die Befriedigung dieses Wunsches die Hauptarbeit des

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Beschichte u. gegenmattiget Bestand d. evang.-ktrchl. Jugendarbeit in Heffen.

Vereins und gab ihm sein Gepräge. Der Lampertheimer Jünglings­ verein hat aber seinen Charakter in dieser engen Geschlossenheit nicht gewahrt. Seit dem Jahre 1902 erweiterte sich der Verein und sein Arbeitsziel. Ein neues Lokal, die neue Kinderschule statt des Pfarr­ hauses, gab den äußeren Rahmen. „Es wurde mehr das Spiel gepflegt als seither, es wurde geturnt und gesungen." Das gesellige Moment wurde mehr in den Vordergrund gestellt, ohne „jedoch das eine große Ziel aus dem Auge zu lassen: unter den Mitgliedern christliches Leben zu wecken und zu fördern". Ein Posaunenchor wurde gegründet, der aber den Verein in eine Krisis brachte. Der Posaunenchor, dem sich auch „Nichtmitglieder des Jünglingsvereins" angeschlossen hatten, trennte sich vom Verein und wurde selbständig 1906. Der Verein zählte in dieser Periode (1903 bis 1907) 30 bis 50 Mitglieder. Nun kamen Zeiten öfteren Wechsels der Pfarrer, wodurch schon ein Rückgang der Mit­ gliederzahl herbeigeführt wurde. Eine zweite Krisis aber entstand da­ durch, daß 1908 di« damalige Leitung meinte, durch die Betonung des spezifisch Religiösen fühle sich die Jugend abgestoßen. Der Leiter legte den Vorsitz nieder und gründete neben dem Jünglingsverein mit Neukonfirmierten eine Jugendvereinigung, „die das Religiöse dem späteren Alter überließ". Beide Jugendgruppen vereinigten sich jedoch später wieder unter dem Namen „Evangelischer Jünglingsverein und evangelische Jugendvereinigung". Beide Richtungen werden nach Möglichkeit bei der gemeinsamen Arbeit berücksichtigt. Da auch seit 1910 der Pfarrerwechsel ein Ende fand, wuchs der Verein seit 1912 auf 70 Mit­ glieder. Die Entwicklung des Lampertheimer Vereins ist symptomatisch für die evangelische Jugendbewegung — nicht nur in Hessen. Die Ent­ fernung des Vereins vom Gemeinschaftsstandpunkte der „Welt" gegenüber zeigt sich darin, daß das Theaterspiel und das Fußballspiel in den Vereinsbetrieb mit ausgenommen wird, und die Milderung der strengen Einseitigkeit darin, daß nicht der Besuch des Wirtshauses schlechthin als grobe Verfehlung gilt; im § 3 der Statuten heißt es: „Insbesondere wird von ihm (dem Mitglied) verlangt, daß es sich im Genuß geistiger Getränke keine Unmäßigkeit zuschulden kommen läßt." Der zweite Typus evangelischer Jugendarbeit wird von dem „Wartburg»Verein, Christlicher Verein junger Männer" in Gießen und dem „Evangelischen Jünglings- und Männerverein" in Worms vertreten. Beide Vereine sind unabhängig von der Gemeinschaft entstanden. Was sie den beiden erstgenannten Vereinen nähert, ist der zunächst verfolgte engbegrenzte Zweck: „intensive, religiöse Beeinflussung der einzelnen im kleineren Kreis" oder, wie es bei dem anderen Verein formuliert wird: „die konfirmierte männliche Jugend im christlichen Geiste und bei der evangelischen Kirche zu erhalten". Bei der zweiten

Beschichte u. gegenwärtiger Bestand d. evang.-kirchl. Jugendarbeit in Hessen.

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Zweckbestimmung klingt das Gemeindeprinzip, wenn auch in allgemeiner

„Das Hauptmittel zu diesem Zweck war natürlich

Form, schon leise an.

die Auslegung und Anwendung der heiligen Schrift und das Gebet. Weitere Mittel waren: 1. die Musik (Posaunenchor); 2. das Turnen; Leider liegen von dem Wormser

3. Familienabende und Ausflüge."

Verein nur sehr knappe Nachrichten vor.

Interessant ist, daß der „Evan.

gelische Jünglings- und Männerverein" zum Parochialverein geworden ist, nämlich für die Magnusgemeinde, nachdem auch in den

übrigen

Parochialgemeinden die Jugendarbeit begonnen wurde. Die Entwick­ lung hat also hier auf Gem«ind«arbeit hingedrängt. Der „Wart­ burg-Verein" in Gießen hat bezeichnenderweise «ine ganz ähnliche inner­ liche Entwicklung wie der Lampertheimer Jünglingsverein durchgemacht. „Später wurde das Ziel weiter gefaßt, um

Die Enge weitete sich.

möglichst vielen zu dienen.

Anpassung an die Eigenart der Jugend, Zwei über­

dabei allenthalben religiös-sittliche Beeinflussung erstrebt."

aus wichtige Momente, die die neuzeitliche Jugendpflege nicht

mehr

ungestraft außer acht lasten darf, machen sich hier geltend: Die Rücksicht

auf die jugendliche Art und der Gedanke der religiös-sittlichen Er­ ziehung nicht nur durch direkte religiöse Beeinslustung.

Heute betreibt

der „Wartburg-Verein" in Gießen fast alle Zweige der Jugendpflege. Im Jahre 1894 wird in zwei Städten zu gleicher Zeit die Jugend-

arbeit

auf

dem

Matthäusgemeinde D a r m st a d t.

Boden

zu

der

Gießen

Gemeinde

und

in

der

begonnen:

in

Martinsgemeinde

der

zu

Grundlage für die Arbeit in beiden Städten war die

Gemeindeeinteilung.

Die

„Konfirmandenvereinigung

der

Matthäus­

gemeinde" in Gießen — der Name ist etwas irreführend, da es sich um

Konfirmierte handelt — hat zur Aufgabe

„Pflege der in der Kon­

firmandenzeit begründeten Gemeinschaft mit Gott, der Gemeinde und untereinander und der dadurch gegebenen Gesinnung".

Nach § 7 des

1897 aufgestellten Statuts liegt die Leitung der Vereinigung dem Pfarrer der Gemeinde ob, dem ein Vorstand von 9 Mitgliedern zur Seite steht.

Die Vereinigung sammelt sich alle 14 Tage im Winter int Gemeindesaal, es wird gespielt, musiziert und gesungen und dann „irgendeine wichtige

Frage des Lebens besprochen", von Zeit zu Zeit werden auch Fragen des

sexuellen

Gebietes

behandelt;

eine

ausgesprochene

Bibelstunde

existiert nicht. Im Sommer werden hier und da Wanderungen ver­ anstaltet. In diesem Sinne und Geist wurde die Vereinigung seit ihrem Bestehen geleitet, besondere Wandlungen hat es keine gegeben, da der

Pfarrer, „der die Arbeit als gereiskr Mann begann, noch immer der

Leiter ist". In der Martinsgemeinde zu Darmstadt war es

„der Wunsch, der konfirmierten Jugend zu dienen, wie in der früheren

Gemeinde Büdingen", der zur Gründung einer Jugendvereinigung führte.

126

Geschichte u. gegenwärtiger Bestand d. evang.-lirchl. Jugendarbeit in Hessen.

In den Jahren 1905 und 1906 konnte wegen Überlastung der beiden Pfarrer die Jugendvereinigung nicht betrieben werden. Im Herbst 1907 konnte sie nach Anstellung eines Pfarrassistenten wieder eröffnet werden. Seit der Zeit hat sich die Jugendvereinigung zu einer voll ausgebauten Jugendarbeit ausgewachsen, di« mit ihren verschiedenen Zweigen die Jugend an fünf Abenden vereinigt. Die religiöse Beeinflussung blieb seither den gelegentlichen Reden des Leiters überlassen und dem Geist der ganzen Arbeit. Neuerdings sind Bibelstunden in Aussicht genommen. Neben diesen Jugendbestrebungen auf evangelischem Boden, die auf eine bewußt religiös-sittliche Erziehung der Jugend abzielten, entstanden schon ganz früh von evangelischen Geistlichen zwar geleitete, aber ihrem Wesen nach interkonfessionelle Jugendarbeiten, die auch auf religiös« Einwirkung verzichteten. Selbstverständlich standen sie auch nicht auf dem Boden der evangelischen Gemeinde. Ihr Zweck war, all­

gemein die Jugend zu sammeln, gute, geeignete Unterhaltung zu bieten und sie so vor schlechten Einflüsien in ihrer Freizeit zu bewahren. Auf solcher Grundlage wurde im Jahre 1883, am 14. Januar, von Pro­ fessor D. Diegel, Direktor des Predigerseminars, in Friedberg ein Jugendverein mit dem Namen „Feierabend" ins Leben gerufen. Der Gründer war Vorsitzender der „Evangelischen Vereinigung". Die

Jugendarbeit aber sollte ohne konfessionelle Schranken getrieben werden. Die 14—17 jährige Jugend sollte an den Sonntagabenden gesammelt werden zu Vorträgen, Spiel, Lesen, Gesang. Ein Grundzug war die „Ablehnung alles Vereinsmäßigen". Die Persönlichkeit des Leiters und einiger Mitarbeiter „ersetzten Verein und Statuten". Di« Folgen blieben nicht aus, wie überall, wo eine Arbeit ans einer Persönlichkeit beruht. Mit ihrem Abgang kommen sckstvere Krisen, wenn nicht «ine gleichstarke Persönlichkeit an ihre Stelle tritt. Die Schwankungen blieben nicht aus. Die religiös-sittliche Beeinflussung wurde immer noch zur Seite gestellt, zumal ein Jünglingsverein gegründet worden war, der aber

keinen Boden gewann und wieder einging. Dazu kam, daß trotz des interkonfessionellen Charakters des „Feierabend" immer nur wenige

Nichtevangelische Mitglieder waren, bis schließlich nach Gründung eines katholischen Jünglingsvereins gar keine .Katholiken mehr dem „Feier­ abend" angehörten. Di« festere Organisation kam fast von selbst mit dem „Schriftführer, Bücher- und Spieltvart". Bewußte religiös-sittliche Beeinflussung in Form von ernsten Besprechungen ist in Aussicht ge­ nommen. So hat sich bezeichnenderweise der „Feierabend" in Friedberg von einer losen, interkonfessionellen Jugendvereinigung zu einem betvußt evangelischen, fester organisierten Jugendverein entwickelt. — In den 80 er Jahren entstand in Büdingen eine zweite interkonfessionelle, vom evangelischen Pfarrer geleitete Jugendvereinigung (1887), ein so-

Geschichte u. gegenwärtiger Bestand d. evang.-kirchl. Jugendarbeit in Hessen. genannter „Lehrlingsabend".

127

„Es waren etwa 40 bis 50 junge Leute

im Alter von 14 bis 17 Jahren, die während der Wintermonate an den

Sonntagabenden in den Stunden von 6 bis 10 Uhr sich in einem Schulsaal zusammenfanden zu gemeinsamer Unterhaltung."

Der Zweck war,

die Jugend „möglichst vor dem Wirtshausleben zu bewahren" und ihr

am Sonntagabend „Gelegenheit zu gediegener Unterhaltung zu bieten" (Darbietung geeigneter Lektüre, Brettspiele, Gesellschaftsspiele, gemein­

samer Gesang, Erzählungen, Vorträge).

Merkwürdigerweise wurde als

Höhepunkt des Jahres die Weihnachtsfeier veranstaltet, „die ihren evangelischen Charakter natürlich nicht verleugnete". sogar israelitische Jünglinge!

An ihr beteiligten sich

In den 90 er Jahren blühte die Arbeit.

70 bis 80 Jünglinge erschienen regelmäßig.

Da kam mit dem Auf­

blühen der Büdinger Glasfabrik die sozialdemokratische Agitation, die

jungen Leute fanden mehr und mehr in der Fabrik Arbeit und traten unter sozialdemokratischem Einfluß in die verschiedenen Arbeitervereine ein.

Dazu kam die Spaltung des Turnvereins in zwei Vereine, die,

um sich gegenseitig das Wasser abzugraben, in den eingeführten Jugend­ riegen in der Veranstaltung von Festlichkeiten sich überboten und auf die Jugend mehr Zugkraft dadurch ausübten.

So ist die Arbeit der Lehr­

lingsvereinigung mehr und mehr zurückgegangen.

Auch daß der „Fort­

bildungsverein" die Arbeit an der männlichen Jugend

strebungen aufnahm, hat nichts daran geändert.

in

seine Be­

Höhere Schüler und

die Söhne der Sozialdemokraten sowie die Angehörigen der Turn- und Sportvereine schließen sich aus.

Die Frage erhebt sich angesichts dieser

Entwicklung, ob die Arbeit nicht weit mehr Stoßkraft und Zukunft gehabt hätte, wenn sie sich zu einem bewußt evangelischen Jugendverein ent­

wickelt hätte. Man könnte den Abschnitt bis zum Jahre 1900 etwa hinsichtlich der

evangelischen Jugendarbeit in Hessen die Zeit der einzelnen Ver­ suche nennen.

Mit der Jahrhundertwende ändert sich das Bild.

Mit

jedem Jahre wächst die Zahl der Jugendbestrebungen auf evangelischem

Boden.

Während in den Jahren 1901 und 1902 je ein Verein gegründet

wird, tun sich 1903 und 1904 je zwei neue auf, 1905 kommen sechs

weitere hinzu, 1906 weist fünf Neugründungen auf, 1907 deren drei, 1908 nur zwei, und 1909 beginnt wieder ein gewaltiger Aufschwung: neun neue Jugendarbeiten treten ins Leben, 1910 sind es drei, 1911 aber

wieder sieben, und 1912, soweit sie noch bekannt wurden durch die Um­ frage, ebenfalls sieben.

Dabei ist zu bemerken, daß auch manche Arbeit be­

gonnen wurde, die sich als nicht haltbar erwies. Folgende Zusammen­ stellung soll die Entwicklung im einzelnen zeigen. Zu beachten ist, daß mehrere Jugendarbeiten fehlen, von denen das Jahr der Gründung nicht

bekannt wurde.

128

Geschichte u. gegenwärtiger Bestand d. evang.-ttrchl. Jugendarbeit in Hessen.

Der (Brünbuna Jahr Datum

1901 1902 1903 1903 1904 1904 1905

1905 1905 1905 1905 1905 1906 1906 1906 1906 1906 1907

1907 1907 1908 1908 1909 1909 1909 1909 1909 1909

1909 1909 1909 1910 1910 1910 1911 1911 1911 1911 1911 1911 1911

Ort

Dekanat

Art der Bereinigung

Wartburg. EhristL Verein. Männer Evang. JünglingSverein Erbach Erbach Offenbach Evang. JünglingSverein Neu-Isenburg Christ! Verein ]. Männer 15. XL Roßdorf Darmstadt Christi. Verein j. Männer Alzey Alzey Evang. JünglingSverein 16. X. Arheilgen Darmstadt Ev. Jünglings- u. MänneOppenheim Nierstern verein Lauterbach „Christi. Verein" Stockhausen 15. II. Bad-Nauheim Friedberg Ev. Jugend- u. Männerverer Ev. Jugendvereinigung dc Darmstadt Darmstadt Petrusgemeinde Reinheim Evang. JünglingSverein Brensbach 17. XII. Beerfelden Christ!. Verem jung. Männc Erbach X)IV. Evang. JünglingSverein Mainz Weisenau Reinheim Männer- u. JünglingSverer Höchst Gr.-Umstadt Ev. Jünglings- u. Männe­ Lengfeld verein Evang. JünglingSverein Lauterbach Lauterbach Evang. Hugendverein ‘) IX. WormS-Neuhausen WormS Konfirnnertenvereinigung dc Gießen Gießen Johannesgemeinde Eberstadt Christl. Verein j. Männer Biebesheim (lose Organisation ohne Nam) Oppenheim SchwabSburg Evang. Jugendbund Mainz -Mombach Mainz > Ev. Jugendvereinigung dc Darmstadt Darmstadt PauluSgemeinde Zwingenberg Ev. Jünglings- u. Männe­ Bensheim verein Zwingenberg Evang. Jugendverein Heppenheim 3.1. Evang. Jugendverein Fränk.-Crumbach Reinheim 25. IV. Walldorf Gr.-Gerau Jugendvereinigung 2. V. Jugendvereinigung Eberstadt Seeheim 27. VI. Alsfeld Jugendabteilung des Evan. AlSfeld Bundes 14. VIII. Offenbach Wartburgverein Offenbach Jugendvereinigung ’) Herbst Vilbel Rodheim Feierabend ') XII. Friedberg - Fauer­ Friedberg bach Jugendverein Feierabend Offenbach Langen Evang. JünglingSverein Wald-Michelbach Erbach Freie Zusammenkünfte') Grünberg Winnerod Jugendvereinigung ') L Gr.-Gerau Nauheim Konfirmierten - Vereinigunf Reinheim Ostern Neustadt Evang. Jugendverein Gr.-Gerau Ostern Büttelborn (Lose Veremigung) Ostern Pfungstadt Eberstadt (Lose Vereinigung)') Herbst Merlau Grünberg Evang. Jugendverein 5. XL Gr.-Gerau Gustavsburg Freie Vereinigung Gr.-Gerau Kelsterbach

Darmstadt

Darmstadt

1) Genaue- Datum nicht bekannt. 2) Dem Namen nach interkonfessionell. 3) Knaben und Mädchen vereinigt.

Geschichte u. gegenwärtiger Bestand b. evang.-kirchl. Jugendarbeit in Heffen.

Der Gründuna

Ort

Jahr Datum

1912 1912 1912

21. I. 8. ni. 28. IV.

1912 1912 1912

5. V.

1912

Dekanat

Gr. - Gerau Mainz Worms

Gr. - Gerau Mainz Worms

Ruppertsburg Fürth Worms

Schotten Erbach WormS

Ober-Lais

Nidda

129

Art der Vereinigung Evang. Jugendvereinigung Wartourgverein Ev. Jugendvereinigung der Dreifaltigkeits- und Frie­ densgemeinde Jugendverein *) Jugendverein *) Jugendvereinigung d. Luther­ gemeinde Sammelnde Vereinigung

Was mag diesen schnellen Aufschwung veranlaßt haben? Wohl setzen sich alle vier Linien, die die Zeit vor 1900 aufweist, fort. Aber man kann nicht sagen, daß von einer derselben ein besonderer Anstoß ausgegangen sei. Wenn man auf die Begründungen achtet, die für die Entstehung der Jugendarbeiten gegeben werden, so erscheint wohl hier und da die innere Mission oder die Gemeinschaft als Anstoß, oder auch ganz besondere Anlässe werden aufgeführt. Aber immer häufiger erscheint als Anstoß für die Jugendarbeit die Not der Jugend und eine bestimmte Persönlichkeit. Zwei Momente wirken immer stärker: das sachliche und das persönliche. Die wachsende Not der Jugend wird gerade seit dem Jahre 1900 immer lebhafter diskutiert auf Kongressen, in Zeitschriften, Zeitungen — und es gibt immer mehr Persönlichkeiten, denen die Jugendfrage auf der Seele zu brennen beginnt. Eine allgemeine Jugendbewegung macht sich bemerkbar, die in stetem Wachsen begriffen ist, der Staat gibt Anregung für die Jugendarbeit, Jungdeutschland tritt auf den Plan. Staat und Jungdeutschland sind aber keineswegs die treibenden Kräfte gewesen, sie traten erst in die Jugendbewegung ein, als sie im Fluß war. Und daß die konfessionelle Jugendarbeit ihr Teil mit dazu beigetragen hat, daß die allgemeine Jugendbewegung in Fluß kam, ist Tatsache, ebenso, daß die konfessionelle Jugendpflege durch ihre lange Erfahrung die Grundzüge für alle Jugendarbeit ge­ liefert hat. Es beginnt eine starke Wechselwirkung zwischen konfessioneller und allgemeiner Jugendbewegung. Einzelne Personen und ganze Kreise, die jeder Jugendarbeit fern oder mißtrauisch gegenüberstanden, gewinnen Interesse dafür, so kommt es, daß nicht nur die Pfarrer, sondern auch die Gemeindeglieder mehr und mchr dem Jugendproblem sich zuwandten und sich zuwenden. So kam die Zeit vieler Gründungen auch von evan­ gelischen Jugendvereinigungen, weil sich verständige Pfarrer und Ge­ meinden sagten: Hier ist eine Frage, an deren Lösung wir mitwirken 1) Dem Namen nach interkoiisessioiiell. 2) Knaben und Mädchen vereinigt. Page, Jugendpflege.

9

130

Beschichte u. gegenwärtiger Bestand d. evang.-Nrchi. Jugendarbeit in Heffen.

dürfen und müssen. Die allgemeine Jugendbewegung hat so den Auf. schwung mH sich gebracht, wobei für unsere evangelische Jugendarbeit der Einfluß der sogenannten sehen ist.

„Hamburger Richtung" nicht zu über-

Interessant sind noch eine Reihe von Einzelberichten über den An­ stoß zum Beginn evangelischer Jugendarbeit. Aus drei Vereinen wird berichtet, daß die Jugend selber den Wunsch nach Zusammenschluß äußerte, nachdem der Pfarrer etwa in der Konfirmandenstunde von Jugendvereinen gesprochen hatte. In einem Falle haben sogar 20 junge Leute dem Pfarrer eine Liste überreicht mit der Bitte um Gründung eines Vereins. Mehrfach ist auch das Gefühl des Pfarrers maßgebend gewesen, daß er der Jugend seiner Gemeinde viel zu fern stehe und der Wunsch, Einfluß auf sie zu gewinnen: „Absicht des Pfarrers, mit der Jugend Fühlung zu behalten." „Wunsch, die Jugend zu ernster und christlicher Unterhaltung zu sammeln, sie zu lehren, wie sie ihre freien Abende in anregender Erholung verbringen könn«; ferner der Wunsch, die Jugend kennen zu lernen und Einfluß auf sie zu gewinnen." Auch der Gesichtspunkt der Gemeinde bricht kräftig durch: „Das Bestreben, tüchtige Glieder der evangelischen Gemeinde zu erziehen." Nicht zuletzt haben bestehende Vereine zu gleichen Gründungen an anderen Orten angeregt. So geht der evangelische Jünglingsverein in Arheilgen auf die Anregung des Wartburgvereins in Darmstadt zurück. Schwabsburg ist durch Nierstein angeregt. Fried­ berg-Fauerbach durch Friedberg. Ganz besonders bezeichnend ist das Beispiel des Dekanats Groß-Gerau, in dem an sechs verschiedenen Orten evangelische Jugendarbeit getrieben wird, das damit auch an der Spitze sämtlicher hessischer Dekanate marschiert. Hier geht ausgesprochener­ maßen in mehreren Fällen die Gründung der Vereine, die auch in ihrer

Arbeitsweise sich sehr nahestehen, auf bestehende Vereine zurück. Ganz besonders hat in dieser Beziehung der 1903 gegründete evangelische Jünglingsbund im Großherzogtum Hessen sHessenbund) fördernd gewirkt, besonders auch durch seine Bundesfeste. — Di« Gründungsgeschichte manchen Vereins entbehrt auch nicht der eigenartigen Züge. So gab in einer Gemeinde den Anstoß zur Sammlung der Jugend „ein an Fastnacht abgehaltener Festzug, in welchem von den jungen Leuten Kreuz und Grab in verhöhnender Weise dargestellt wurden". Die jetzt bestehenden Jugendvereine stellen nicht etwa eine ge­ schlossene Einheit dar. Nach ihrem Geist und ihrer Arbeitsart bieten sie alle nur denkbaren Möglichkeiten der Jugendarbeit dar. Bereine mit engbegrenztem pietistischem Geist und solche, in denen man auf direkte religiöse Beeinflussung verzichtet, — das sind die beiden Pole. Und zwischen ihnen die Vereine, di« mehr nach der einen oder nach der anderen

Geschichte u. gegenwärtiger Bestand d. evang.-ktrchl. Jugendarbeit in Hesten.

131

Seite neigen. Freilich, das, was schon die Entwicklung des Lampertheimer Jünglingsvereins

des

und

Gießener

Wartburgvereins

zeigte,

wird

immer mehr beobachtet bei der evangelischen Jugendarbeit: die An­

passung an die jugendliche Eigenart auf der einen Seite.

Es gibt kein Gebiet, auf dem Jugendfreude, Jugendkraft und Jugend­

mut sich betätigen kann, jugendliches Wesen nach Befriedigung strebt, das

nicht in den Betrieb der evangelischen Jugendarbeit übergegangen wäre. Die Vereine, die sich den berechtigten Forderungen jugendlicher Art

gegenüber verschlossen

in enger Einseitigkeit, sind nie recht

in Blüte

gekommen, im Gegenteil, sie sind es gerade, die teilweise an Mitglieder­ zahl erheblich zurückgegangen sind. Auf der anderen Seite ist es der

Grundsatz der Erziehung, der durchweg die Arbeit beherrscht,

und zwar der religiös-sittlichen Erziehung, religiöse

Beeinflussung

in

Bibelstunde,

sei

es nun durch direkte

Bibelbesprechung,

„ernsten

Plaudereien", oder indirekt durch den Geist des Leiters und der ganzen Gemeinschaft der jungen Leute.

Vielleicht lassen sich die bestehenden Vereine entsprechend den vier

für die Zeit vor 1900 festgestellten Typen in vier — allerdings mehr oder minder ineinander übergehende — Gruppen teilen.

Grundlage,

Geist und Arbeitsart ist in diesen Gruppen doch einigermaßen ver­ schieden.

Es sind, wie schon bemerkt, in diesen vier Gruppen die Linien

fortgesetzt, die vor 1900 schon hervortraten. Unter dem Einfluß der „Gemeinschaft" stehen, so­ weit die Umfrage es zu erkennen gibt, von den nach 1900 gegründeten Vereinen drei: der

„Evangelische Jünglings- und Männerverein" zu

Nierstein (1905), ein« lose Vereinigung, di« keinen besonderen Namen

trägt, in Schwabsburg, Dekanat Oppenheim (1907), und der „Christliche

Alle

Verein junger Männer" zu Biebesheim, Dekanat Eberstadt (1907). drei Vereine haben ihre Entstehung in der Gemeinschaft.

Ihr Ziel ist im

wesentlichen die „Sammlung der Guten", „der besseren Elemente".

Jni

dritten Verein wird diese Absicht im Statut ebenfalls deutlich aus­

gesprochen.

In §4 heißt es: „Jeder Jüngling oder Mann, der ein

Jünger Jesu ist, oder es zu werden wünscht und sich zu einem ordent­

lichen Lebenswandel verpflichtet, kann unter folgenden Bedingungen aus­

genommen werden . . ."

Der Verein

in Schwabsburg ist in

Entstehung von dem in Nierstein abhängig.

seiner

Die Vereine zu Schwabs­

burg und Biebesheim sind reine Gemeinschaftsvereine geblieben. In dem einen teilt sich der Pfarrer mit einem Mitglied der Gemeinschaft

in die Arbeit: alle 14 Tage im Winter hält der Pfarrer eine Bibel­ stunde, die übrigen Versammlungen, die immer auch Schriftlesung und Gebet enthalten, leitet der Laie, der auch die Gesamtleitung

Händen hat.

in den

In dem anderen Verein tritt der Pfarrer gänzlich zurück. 9*

132

Beschichte u. gegenwärtiger Bestand b. evang.-kirchl. Jugendarbeit in Heffen.

Ein Laie ist Vorsitzender, er hält auch sämtlich« Bibelstunden. Das Lokal (Kleinkinderschule) stellt der Kirchenvorstand, der Pfarrer ist Mit.

glied und beteiligt sich an der Arbeit nur am Weihnachtsfest durch eine Ansprache. Der Hauptakzent liegt auf der Beeinfluffung durch Schriftbetrachtung und Gebet, daneben wird nur die Posaunenmusik und das Zimmerspiel gepflegt. Der enge Rahmen der Vereine hält auch die Mitgliederzahl in engen Grenzen. Der Verein in Nierstein ist aus dem eng gefaßten Rahmen herausgetreten. Die Mitglieder stammen zur Hälfte aus der Gemeinschaft, zur Hälfte „aus der evangelischen Gemeinde". Der Ortspfarrer hat die Leitung selbst in den Händen, auch die der ein­ zelnen Versammlungen. Er hält die Bibelstunde, während Gebetsver­ sammlungen, wie in Biebesheim, ohne den Pfarrer stattfinden. Die Arbeit ist außerdem ziemlich ausgedehnt. Belehrende Vorträge, Turnen in der Pfarrscheuer, Wanderungen, Zimmerspiele und Spiel im Freien (Fußball), Vorlesen gehören in das Arbeitsprogramm des Vereins. Dieser hat einen Posaunenchor, aber nur für eigen« Veranstaltungen, während daneben noch «in Kirchen-Posaunenchor besteht, — ein Zeichen, daß man diese Vereinsarbeit trotz der starken Mitwirkung des Pfarrers nicht als eine Gemeinde arbeit in unserem Sinn bezeichnen kann. Die Kirchengemeinden leisten an allen drei Orten keinen finanziellen Beitrag zur Arbeit. Hervorzuheben ist die Stetigkeit dieser Vereine, die ihren Grund hat in der Treue der Mitglieder gegen ihren Verein. Sie beweist sich aber auch in der sich fast immer gleichbleibenden Mit­ gliederzahl. Geistesverwandt mit diesen Bestrebungen, wenn auch nicht aus der „Gemeinschaft" stammend, sind drei weitere Vereine: der Christ­ liche Verein junger Männer „Wartburg" in Darmstadt (1901), der Christliche Verein junger Männer in Alzey (1904) und der Christliche

Verein in Stockhausen, Dekanat Lauterbach (1905). Der letztgenannte Verein ist nicht nur für die Jugend bestimmt, sondern „jeder Kon­ firmierte ohn« Rücksicht auf Geschlecht, Alter und Stand" kann Mitglied werden. Der Wartburgverein in Darmstadt ist entstanden durch „Absplitterung von einem von der Stadtmission geleiteten Verein" und verdankt sein Entstehen „hauptsächlich dem Interesse und Unter­ nehmungsgeist des damaligen Vereinsgeistlichen für innere Mission". Der Verein sonderte sich damals ab, weil ihm der Geist des bestehenden Vereins zu eng war, und auch die Unterhaltung und körperliche Er­ ziehung zu ihrem Recht kommen sollten. Spielen, Turnen, Wandern, Vorträge, Unterrichtskurse, Familienabende wurden neben der „gemein­ samen Betrachtung der heiligen Schrift" in das Programm des Vereins ausgenommen. Trotzdem aber ist nach dem Berichte der Umfrage „der Geist von allem Anfang an ein »pietistischer^ gewesen und ist es auch

Geschichte u. gegenwärtiger Bestand b. evang.-kirchl. Jugendarbeit in Hessen.

geblieben." Vereins.

133

Außere Schwierigkeiten bilden ein starkes Hemmnis des Neuerdings ist auf Kosten der Kirchengemeinde ein Pfarr­

assistent zur Leitung des Vereins angestellt, somit der erste Jugend­

pfarrer im Großherzogtum Hessen.

Bemerkenswert ist die Charakteri-

sierung der Stellung des Vereins, daß er trotz dieser Aufwendung seitens

der Kirchengemeinde „weder von der inneren Mission noch von

der

Landeskirche oder einem ihrer Pfarrämter abhängig sein will".

Die

Lage des Vereins, der gegenwärtig nur ältere Mitglieder hat ssatzungsgemäß können junge Männer von 18 bis 40 Jahren Mitglieder sein),

scheint

auf eine Neugestaltung hinzudrängen,

besonders

da

in

allen

Parochialgemeinden Darmstadts Jugendarbeiten auf der Grundlage der Gemeinde im Gange sind. — Der Christliche Verein junger Männer

in Alzey wurde gebildet auf Anregung eines jungen Mannes, „der in

Frankfurt a. M. im Verein Nord-Ost Anschluß gefunden hatte".

Er

wurde der erste Leiter des Vereins, der folgende Veranstaltungen betrieb: Bibelstunde, biblische Besprechung, Gebetsvereinigung, Lese- und Spiel-

abende.

Ein von einem Mitglied gehaltener Stenographie- und Buch­

haltungskursus

ließ

die

Mitgliederzahl

ziemlich steigen.

(Laien) erwiesen sich teils durch persönliche Schuld,

Die Leiter

teils

durch

die

Schwierigkeit der Verhältnisse nicht als die geeigneten Persönlichkeiten, der enge Geist hatte unter den bestehenden Verhältnissen keine werbende

Kraft — so ist die Arbeit erheblich zurückgegangen. — Der Christliche

Verein Stockhausen besteht nach seinem Statut (§ 1) „aus christlichen Männern und Jünglingen, Frauen und Jungfrauen, welche sich innerhalb der evangelischen Landeskirche zu ihrer eigenen Förderung im christlichen Glauben und gottseligen Leben, sowie zur Mitarbeit an der Er­

bauung des Reiches Gottes verbunden haben".

Die Mitglieder Der-

pflichten sich: ,,a) den Gottesdienst und die Veranstaltungen des Vereins

(Bibelstunde, Übungsstunde) fleißig zu besuchen und letztere ohne be­

gründete Entschuldigung bei dem Dirigenten nicht zu versäumen; b) der ortsüblichen Spinnstube, dem Tanz und solchen Kameradschaften, welche

sich nicht

in

christlicher

Ordnung halten,

sernzubleiben;

c) herzliche

Kameradschaft unter sich zu halten und züchtig und keusch in Worten und Werken überall und jederzeit mit Gottes Hilfe sich zu beweisen; d) einen monatlichen Beitrag von 10 Pfennigen zu bezahlen (§ 3)."

Die Ge­

meinde verhält sich nach dem Bericht zum Verein „streng ablehnend". Vom Jahre 19 0 5 ab prägt sich in der nunmehr rasch empor-

blühenden evangelischen Jugendarbeit ein ganz neuer Zug aus.

Man könnte sagen, die Jugendarbeit wird freier.

Man achtet immer

stärker auf die Bedürfnisse der jugendlichen Seele, weil man sie selber

kennen zu lernen sich bemüht. Man trägt mehr und mehr den psycho­ logischen Eigenheiten des Jünglingsalters Rech-

134

Geschichte u. gegenwärtiger Bestand b. evang.-ktrchl. Jugendarbeit in Hessen.

nung. Der Umkreis der Jugendarbeit erweitert sich — während die unmittelbare religiöse Beeinflussung an Intensität verliert — äußerlich genommen wenigstens. Der tragende Grund bleibt bei alledem, wenn auch hier und da unausgesprochen, christlich-evangelischer Glaube und die Sittlichkeit des Christentums. Nur die Erziehungsart wird anders. Sie wird innerlicher. Man lernt dem persönlichen guten Einfluß des Leiters mehr vertrauen, den er nicht nur in der Bibel­ stunde u. ä., sondern vielleicht bester noch im ungezwungenen Verkehr mit der Jugend beim Spiel, bei der Wanderung, beim geselligen Zusammen­ sein mit ihnen geltend machen kann. Und man vergißt auch immer weniger diegegenseitigeErziehungsarbeit, die die Jugend sich selber leistet. Nichts mchr wird verschmäht, womit man edlen, guten, starken Regungen in der jugendlichen Seele entgegenkommen kann, um sie zu klären, zu festigen, zu stählen. Und als Grundbedingung des Erfolges aller Jugendarbeit erweist sich mehr und mehr das gegenseitige persönliche Vertrauen. Daneben macht sich immer mehr die Strömung bemerkbar, daß evangelische Jugendarbeit Gemeindearbeit sein muß — oder vielmehr sie wird es in der Tat. Nicht nur ein kleiner Kreis der Jugend wird zu beeinflusten gesucht, sondern möglichst die ganze Jugend der Gemeinde. Jugendvereine in diesem Sinn« sind schon einzelne vor 1905 ent­ standen. Aber mit diesem Zeitpunkte beherrschen diese Vereine fast völlig das Feld. Freilich Gemeindejugendvereine in idealem Sinne sind sie noch nicht alle — aber sie setzen sich, geleitet vom Gemeinde­ pfarrer, wenigstens nicht in Gegensatz zur Gemeinde und wollen zum Aufbau der Gemeinde beitragen. Diese Gruppe, die nach dem Be­ funde der Umfrage 1912 nicht weniger als 35 „Vereine" umfaßt, ist in ihrer Arbeitsart im übrigen nicht einheitlich. Von besonderer Be­ deutung ist ja, wo evangelische Jugendarbeit in Frage steht, die Art der religiösen Beeinflussung. In einem Teil der Vereine wird an einem besonderen Abend regelmäßig Bibelstunde gehalten (4) oder zeitweise nach Bedürfnis und Möglichkeit (4); bei anderen Vereinen füllt die Bibelbetrachtung oder Bibelbesprechung einen Teil der Versammlungsstunden aus, wo mehrmals wöchentlich Versammlungen stattfinden, wenigstens einmal die Woche (3); öfter wird auch die Vereinszusammenkunft regelmäßig oder häufig mit einer Andacht geschloffen (6); in wieder anderen Vereinen wird der Vortrag benutzt zur religiös-sittlichen Beein­ flussung, die Besprechung der im Fragekasten gestellten Fragen gibt Anlaß dazu oder eine vorgelesene Erzählung, Vorkommniffe im Verein, in der Gemeinde oder in der Welt werden in religiös-sittlicher Beleuchtung besprochen, in freier Unterhaltung allerlei Lebensfragen erörtert (11); aus sieben Vereinen wird von religiös-sittlicher Beeinflussung gar nicht

Geschichte u. gegenwärtiger Bestand d. evang.-Nrchl. Jugendarbeit in Hessen.

135

gesprochen und doch geben sie als Ziel an: „Religiös.sittliche Beein­

flussung aller Erreichbaren", „geistig gesunde und charaktervolle Menschen", oder es heißt im Statut: „Der Zweck des Vereins ist, die fonfir­

mierte männliche Sinne zu

Jugend möglichst zu

beeinflussen

usw."

sammeln,

in chr istl ich em

Als Mittel zu

diesem Zweck

wird „persönliche Einwirkung", „stete Berührung und Beeinflussung" angegeben (7).

Im übrigen werden alle möglichen Zweige jugendlicher

Betätigung in den Vereinen gepflegt, hier mehr, dort weniger, je nach Größe, Mitteln und Verhältnissen. Zwei

Jugendvereine

sind

an

bestehende

evangelische

Vereine von Erwachsenen angegliedert: in Alsfeld besteht

eine Jugendabteilung des Evangelischen

Bundes, die Leitung

liegt in den Händen eines „Beirats", des einzigen Gemeindemitgliedes,

das

sich zur Mitarbeit bereit finden ließ.

In Horchheim, Dekanat

Worms, besteht ferner eine Jugendabteilung des Kirchengesangvereins.

Da 52 junge Leute gesammelt waren, aber kein Lokal zur Verfügung stand, wurde vorläufig dieser Weg eingeschlagen. Den Mitgliedern blieben

Beiträge und Kosten erspart, die Bibliothek des Kirchengesangvereins

stand zur Verfügung, die Stimmbegabten nahmen an den llbungsstunden teil, die übrigen wurden zur Mitwirkung bei Familienabenden (Theater) herangezogen.

An Sonntagnachmittagen wurden mit den Jugendlichen

allein Spaziergänge veranstaltet.

Nach Lösung der Lokalfrage soll der

Jugendvereinigung eine straffere Organisation gegeben werden.

Jugendvereinigung ohne Lokal!

Eine

Allerdings ein Notbehelf, aber — es

gibt keine Schwierigkeit, die nicht zu überwinden wäre! Auch interkonfessionelle Jugendarbeit, getrieben von evan­

gelischen Pfarrern, wird neu in Angriff genommen: Vilbel 1909 und Ruppertsburg 1912. Aber einmal sind diese Jugendvereinigungen tatsächlich so gut wie evangelisch (R. ganz, V. ein Katholik als

Mitglied); ihr Ziel wird andrerseits bezeichnet als religiös-sittliche Er­ ziehung oder umfassend:

nationale und

„Zweck des

religiös-sittliche

Vereins

ist körperliche, geistige,

Förderung der (männlichen) Jugend."

Dabei lehnt Vilbel alle „Statuten und Prinzipien" ab und will „eine lose, auf Freiwilligkeit im weitesten Sinne des Wortes bestehende

Gesellschaft" sein, die „deshalb auch keine Geschichte hat", während Rup­

pertsburg einen festorganisierten Verein hat. Besondere Beachtung verdienen die Versuche, die mit der „Koedu­ kation" auf dem Gebiet der Jugendpflege gemacht wurden.

In vier

Gemeinden werden Knaben und Mädchen gleichzeitig gesammelt.

Be­

zeichnenderweise sind es ganz kleine Gemeinden, die den Versuch unter­ nahmen. Sie sind ja in besonderer Schwierigkeit der Jugendarbeit gegenüber: die kleine Zahl junger Leute und die Unmöglichkeit oder

136

Beschichte u. gegenwärtiger Bestand d. evang.-ktrchl. Jugendarbeit tu Hessen.

mindestens große Schwierigkeit, Knaben und Mädchen für sich allein zu sammeln. So wird auch di« auf dem Lande in kleinen Gemeinden kaum zu durchbrechende, zäh festgchaltene Kameradschaftlichkeit gewahrt. Es handelt sich um folgende Gemeinden: Winnerod (Dekanat Grünberg),

Merlau (ebendort), Wackernheim (Dekanat Mainz), Fürth (Dekanat Er» bach). In Winnerod versammelt« sich seit 1910 am Sonntag nachmittag alle zwei bis vier Wochen im Pfarrhaus der größte Teil der Jugendlichen, die zu den drei letzten Jahrgängen der Konfirmierten gehörten (90 an der Zahl). Die von den Filialen Gekommenen werden

im Pfarrhause mit Kaffee bewirtet. Dann werden gemeinsame Lieder gesungen, es wird gespielt im Zimmer mit den vorhandenen Brettspielen, oder «in Gesellschaftsspiel vereinigt alle oder man tummelt sich im Freien, im Pfarrobstgarten und im Wald. Dann wird eine Erzählung von Schmitthenner oder Erwin Gros vorgelesen, ein ernstes Wort mit religiös-sittlicher Zuspitzung wird gesprochen, ein religiöses Lied und ab und zu ein Abendgebet schließen die Zusammenkunft. Daneben werden im Pfarrhause noch Spinnstubenabend« gehalten nach Jahr­ gängen in Kvangloser Folge. Es ist nicht zu bezweifeln, daß hier ein Weg beschritten ist, der in kleinen ländlichen Verhältnisien zum Ziel führen kann — es ist wahrscheinlich der einzig richtige. In Winnerod ist übrigens beabsichtigt, mit der Zeit immer einen Jahrgang mehr hinzuzunehmen. Dieselbe Absicht besteht in Merlau, wo sich im Herbst und Winter 1911/12 alle Katechismuspflichtigen bis auf zwei Knaben des ältesten Jahrganges Mittwochs abends im Pfarrhause zu­ sammenfanden. Die Versammlung spielte sich etwa in folgenden Ab­ schnitten ab: Schriftbesprechung, Vorlesen, Spielen, Schlußandacht. In Wackernheim und Fürth liegen ähnliche Versuche vor. In der letzteren Gemeinde hat der Mangel an Knaben, die fast alle auswärts ein Geschäft lernen, zu dem „gemischten" Verein gedrängt, der sich sogar „schauspielerisch" mit Hans Sachsschen Stücken hervorgetan hat. Jedenfalls sind diese Versuche im höchsten Grade beachtenswert und an­ regend. Außerdem lagen noch aus elf Gemeinden Berichte von Bemühun­ gen, die männliche Jugend für sich zu sammeln, vor. Teils bestehen sie in zwanglosen Konsirmiertenvereinigungen, die sich um den Pfarrer sammeln, teils haben sie schon zu Bereinsgründungen geführt, die nach Abschluß der Umfrage zustande kamen (Ober-Lais (Dekanat Niddas, GroßSteinheim (Dekanat Offenbachs, Hammelbach (Dekanat Erbachs). Die Geschichte der einzelnen Vereine, die ja in den meisten Fällen nur sehr kurz ist, kann hier nicht weiter dargestellt werden. Sie redet von unsäglicher Mühe und vielen Widerwärtigkeiten, von vergeblichem Arbeiten und schönem Erfolg, von Mutlosigkeit und starkem

Geschichte it gegenwärtiger Bestand d. evang.-ktrchl. Jugendarbeit in Heffen.

137

Vertrauen, von stolzen Anfängen und stetem Wachstum, von schweren Trauerzeiten

Nur wenige

und frohen Festtagen.

„Vereine"

blieben

von Schwankungen, die teils sehr ernster Natur waren, verschont.

Hier

war es der mangelnde Ernst unter der Jugend, die nicht fand, was sie

suchte, und nachdem sie ihre Neugier befriedigt hatte, wieder abfiel, dort war im Gegensatz dazu eine Gruppe, die mehr „Entschiedenheit"

wünschte und zu einer erfolglosen

Neugründung austrat, da war es

sozialdemokratische

dort

Gegenagitation,

die

Mißgunst

der

anderen

Vereine, die mit Hohn und Spott, auch mit roher Gewalt den Jugend­ verein bekämpften, hier waren es kleinliche Reibereien und Eifersüchte­

leien, die manchen sich abkehren ließen, dort waren es grundsätzliche Streitigkeiten, die dem Bereinsleben Abbruch taten.

Von anderen Seiten

wird von einer erfreulichen Stetigkeit und stillem Wachstum berichtet.

Viele Einzelheiten werden bei der systematischen Darstellung der Arbeit zutage treten.

Auf eine Beobachtung sei aber an dieser Stelle

noch hingewiesen: die Zukunft eines Jugendvereins scheint sich nach einer Krisis zu entscheiden, die etwa nach drei Jahren des Bestandes

eintritt. Das zeigt die Mehrzahl der Vereine, aus denen die Mitglieder­ zählen der einzelnen Vereinsjahre mitgeteilt worden sind: nach drei Jahren etwa wird der Tiefstand erreicht — von da ab geht's entweder

auftvärts

oder

unaufhaltsam

abwärts.

Selbstverständlich

steht

diese

äußerliche Bewegung in ursächlichem Zusammenhang mit der inneren Entwicklung.

Auch

Erfahrung

diese

wird

man

sich

zunutze

machen

müssen — wie sonst, so soll auch hier dem Klugen die Geschichte eine Lehrmeisterin sein.

Zum Schluß soll noch eine statistische Übersicht der gegenwärtig be­ stehenden evangelisch-kirchlichen Jugendarbeiten im zu Eingang des Para­

graphen festgestellten Sinn gegeben werden. den Anfang des Jahres 1912.

Alsfeld Büdingen Friedberg Friedberg Friedberg

Alsfeld Büdingen Friedberg Fauerbach Bad-Nauheim

Gießen

Gießen

Art der Vereinigung

Jugendabt. d. Ev. Bundes 1909 1887 Jünglingsverein*) 1883 Feierabend 1909 Feierabend Ev. Jünglings - u. Männer- 1905 Verein 1887 Wartburgverein

!

Zahl der

Ort

Dekanat

Gründung

1

Oberhessen.

M itg lie d e r

I.

Sie gibt den Bestand für

Die Abkürzungen sind wohl verständlich.

26 — 30 25 10

460 — 660 150 470

67

158 1740

1) „interkonfessionell".

Art der Vereinigung

Ort

V

Gießen Gießen Grünberg Grünberg Hungen Lauterbach Lauterbach Nidda Rodheim Schotten

Gieß-Mathäusg. „ -Johannesg. Winnerod Merlau Holzheim Lauterbach Stockhausen Ober-Lais Vilbel Ruppertsberg

ltchen

Dekanat

cs c a jQ

||

««schichte u. gegenwärtig« Bestand d. evang.-kirchl. Jugendarbeit in Heffen. Zahl der II Jugend- |

138

«8

Übertrag 158 1740 — Konfirmiertenvereinigung 1894 46 — 1907 25 Konfirmiertenvereinigung 130 Lose Jugendvereinigung *) 1910 90 — Lose Jugendvereinigungl) 1911 — Christi. Verein j. Männer 1860 40 125 1906 36 406 JünglingSverein 84 1905 20 Christlicher Verein 55 1912 15 Lose Jugendorganisation 1909 50 398 Jugendvereinigung2) 1912 25 65 Jugendverein'-

505 3003

In Oberhessen bestehen also an 14 Orten 16 Jugendarbeiten, von evangelischen Pfarrern geleitet, mit insgesamt 505 Mitgliedern, wobei die Zahlen von Büdingen und Merlau fehlen. Läßt man einmal Gießen

aus der Berechnung und nimmt für Winnerod die Hälfte männliche Jugend, also 45, so ergäbe sich für 11 Orte, von denen die Zahlen bekannt sind, auf die ungefähre Zahl von 3003 männlichen Jugendlichen 322 in Jugendvereinen gesammelte Jugendliche — 10,72 % (mit Gießen: 8,11 °/0). Der Durchschnitt für die Stadt Gießen beträgt bei 138 gesammelten Jugendlichen auf etwa 2670 Jugendliche 5,11%, nimmt man ein in Gießen noch bestehendes, auf Antrag des Kirchenvorstandes vom Pfarrer geleitetes Bibelkränzchen mit 30 Mitgliedern hinzu, so er­ höht sich der Durchschnitt auf 6,29%.

Alzey Mainz Mainz Mainz Mainz Mainz Oppenheim

Alzey Weisenau Mombach Mainz Kastel Wackernheim Nierstein

Oppenheim Wöllstein

Schwabsburg Sprendlingen

Art der Vereinigung

Christ!. Verein j. Männer Evang. Jünglingsverein Evang. Jugendbund Wartburgverein Konfirmiertenvereinigung Sammlung der Kons. 0 Ev. Jünglings- u. MännerVerein Lose Organisation Jünglingsver. „Siegfried"

cs 5

jQ

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1

Jq"2 -

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1

Ort

1

Dekanat

Zahl der Mitglieder

1

II. Rheinhessen.

1904 16 1906 22 1908 50 1912 100 — — 1905 40

580 152 300 — — — 350

7 30

79 230

1907

265 1691

1) Knaben und Mädchen.

2) „interkonfessionell".

Worms

Worms Worms

Worms Worms

Art der Vereinigung

i

Zahl der

Ort

Dekanat

139

Mitglieder ||

II

Geschichte u. gegenwärtiger Bestand d. evcmg.-kirchl. Jugendarbeit in Heffen.

Überitrag 265 1691 WormS-Magnusg. Ev. Jünglings- u. Männer- 1891 50 Verein „ -Lutherg. Evang. Jugendvereinigung 1912 40 — „ -Dreifältig- Evang. Jugendvereinigung 1912 110 keits-u.Friedensg. 156 1906 40 Neuhausen Evang. Jugendverein 52 55 Horchheim Jugendabt. d. KirchengesangPereins 1902 557

In Rheinhessen bestehen also an 12 Orten 14 evangelische Jugend­ arbeiten mit zusammen 557 Mitgliedern; die Zahlen von Mainz-Kastel und Wackernheim fehlen dabei; der Durchschnitt ohne Mainz (Stadt) und Worms stellt sich bei 257 Beteiligten unter 1902 Jugendlichen in 8 Orten auf 13,51 %♦ Für Mainz (Stadt) allein ergibt sich ein Prozentsatz von nur 2,86 %, für Worms dagegen ein solcher von 7,97 %. Bezieht man die beiden Städte in die Durchschnittsberechnung ein, so ergibt sich, daß von der Gesamtzahl der Jugendlichen an zehn Orten durchschnittlich 7,04 % an evangelischen Jugendvereinigungen sich beteiligen. Was die zeitliche Entwicklung der evangelischen Jugend­ bewegung in beiden Provinzen betrifft, so hat sie in Oberhessen früher eingesetzt als in Rheinhessen und auch intensiver: bis 1894 bestehen schon 5 Jugendarbeiten, in Rheinhessen nur 1, wenn man den Lehrlingsverein und Jünglingsverein Mainz, die 1887 bzw. 1888 gegründet sind und durch ihren Zusammenschluß 1912 den Wartburgverein gebildet haben, hinzunimmt, höchstens 3. In Oberhessen verlautet nun von Neu­ begründungen von 1894 bis 1905 nichts — in Rheinhessen zeigt sich

eine ganz ähnliche Lücke 1891 bis 1904.

Starkenburg.

®

Darmstadt Darmstadt Darmstadt

Darmstadt

Darmstadt

Roßdorf Arheilgen Darmstadt-Mar­ tinsgemeinde Darmstadt



-Petrusg.

lichen

Zahl der Jugend­

cs c Jo 1

Zahl der

Ort

Dekanat

Art der Vereinigung

Mitglieder

1

HI.

Christi. Verein j. Männer 1903 Evang. Jünglingsverein 1904 Evang. Jugendvereinigung 1894

36 31 90

307 600 —

Christi. Verein j. Männer 1901 „Wartburg" Evang. Jugendvereinigung 1905

35



100

292

907

Geschichte u. gegenwärtiger Bestand b. evang.-ktrchl. Jugendarbeit tn Heffen.

5 x> c V V

lichen

Art der Vereinigung

Zahl der Jugend -

Ort

'

Dekanat

Zahl der M itglieder

1

140

Darmstadt Darmstadt Darmstadt Darmstadt Eberstadt Eberstadt Eberstadt Erbach Erbach Erbach Erbach Gr. - Gerau Gr. - Gerau Gr.-Gerau Gr. - Gerau Gr.-Gerau Gr. - Gerau Gr.-Umstadt

Gr.-Umstadt Offenbach Offenbach Offenbach Reinheim Reinheim Reinheim Reinheim Reinheim Zwingenberg Zwingenberg Zwingenberg Zwingenberg Zwingenberg

Ubertrag 292 907 Darmst.-Paulusg. Evang. Jugendvereinigung 1907 62 40 „ -Johannesg. Evang. Jugendvereinigung Evang. Jugendvereinigung 1912 „ - Stadtg. (im Entstehen) 10 600 Griesheim Konfirmiertenvereinigung 1911 Biebesheim Christl. Verein j. Männer 1907 26 210 Seeheim 1909 20 170 Jugendvereinigung 1911 Pfungstadt Jünglingsverein 25 760 Erbach 1902 90 200 Evang. Jünglingsverein Beerfelden Christl. Verein j. Männer 1905 20 191 Wald-Michelbach Evang. Jünglingsverein 1910 12 120 1912 Fürth Jugendverein ‘) 12 40 Walldorf 1909 15 150 Jugendvereinigung 1911 15 180 Büttelborn Evang. Jugendverein 21 108 1911 Gustavsburg Evang. Jugendverein 1911 15 400 Kelsterbach Konfirmiertenvereinigung 1911 18 170 Nauheim Jugendvereinigung 1912 24 480 Gr.-Gerau Evang. Jugendverein Lengfeld Evang. Männer- u. Jüng­ 1906 25 112 lingsverein 63 Evang. Jünglingsverein 18 Dieburg Evang. Jünglingsverein 1903 30 840 Neu-Isenburg 1909 300 — Offenbach (uniert) Wartburgverein 10 „ (frz. ref.) Konfirmiertenvereinigung Brensbach 1905 14 100 Evang. Jugendverein Männer - u. Jünglingsverein 1906 22 187 Höchst 1909 30 180 Fränk. - Crumbach Evang. Jugendverein 14 140 Konfirmiertenvereinigung 1911 Neustadt Freie Zusammenkünfte Oberau Evang. Jünglingsv. u.evang. 1897 70 660 Lampertheim Jugendvereinigung 8 120 1909 Heppenheim Jugendverein 1909 15 250 Bensheim Evang. Jünglingsverein 20 300 Auerbach Evang. Jugendverein 85 20 Freie Versammlungen Alsbach

1313 7723 Starkenburg übertrifft die beiden anderen Provinzen bei weitem. An

31 Orten bestehen 37 evangelische Jugendvereinigungen mit insgesamt 1313 Mitgliedern (ohne Überaus. Für die Stadt Darmstadt ergibt sich

ein Prozentsatz von 4,73 % (ohne die Jugendvereinigung der Stadt­ gemeinde), für Offenbach ein solcher von 7,67%; dies« Zahl wird nur von Worms um weniges übertroffen. Für die übrigen Vereinigungen, die auf 28 Orte mit zusammen 676 Mitgliedern bei einer Gesamtzahl von 7723 Jugendlichen entfallen, ergibt sich ein Durchschnitt von 8,75 %, 1) Beide Geschlechter vereinigt.

Geschichte u. gegenwärtiger Bestand d. evang.-kirchl. Jugendarbeit in Hessen.

141

die Städte miteingerechnet, sinkt er auf 7 %. — Der Zahl der Orte nach, an denen evangelische Jugendarbeit getrieben wird, steht das Deka­

nat Groß-Gerau obenan (6), der Zahl der Mitglieder nach das Dekanat Darmstadt (404 ohne Stadtgemeinde Darmstadt). — Auch in Starken­

burg zeigt sich die in den beiden anderen Provinzen beobachtete Lücke, sie geht von

1897

dann wächst die evangelische Jugend­

1901:

bis

bewegung langsam bis zum Jahre 1908, um mit dem Jahre 1909 sehr

stark anzuschwellen.

Gerade im Dekanat Groß-Gerau hat da die Arbeit

sehr intensiv eingesetzt.

ins Auge,

ganze Land

Faßt man das

Gesamtzahl von

2330 an 57 Orten

in 67

so

ergibt

sich

eine

Jugendvereinigungen ge-

Das macht sür das ganze Land einen Durch­

sammelten Jugendlichen.

schnitt von 7,16 % mit den Städten, 9,81 % ohne die Städte (von sechs Vereinigungen fehlen die Zahlen): dieses Ergebnis i st wahr­ Wenn man nun aber bedenkt, daß

haft erschreckend gering!

die Prozentsätze nicht von der gesamten evangelischen Jugendbevölkerung

berechnet sind, sondern nur nach der Gesamtzahl der Jugendbevölkerung der Orte, an denen evangelische Jugendarbeit getrieben wird, so wird

das Ergebnis noch viel kläglicher.

Rechnet man nämlich den Prozentsatz

der in den einzelnen Provinzen in evangelischen Jugendvereinigungen

gesammelten Jugendlichen auf die evangelische Gesamt jugendbevölkerung der Provinzen, so ergeben sich folgende Zahlen: für Oberhessen 1,68 %, für Rheinhessen 3,06%,

für

Starkenburg 3,36%!

Man

muß gewiß beachten, daß die Bewegung erst in ihrem Anfänge steht — aber

es

muß

noch viel

getan werden

und

es

muß

bald

getan

iverden! Bemerkenswert Städte. der

Stadt

sind

niedrigen

die

Prozentsätze

der

Diese Tatsache widerspricht doch deutlich der Meinung, in

sei

es

bei

weitem

treiben, als auf dem Lande.

leichter,

evangelische

Jugendarbeit

zu

In der Stadt ist gerade gegenwärtig die

Konkurrenz aller Jugendarbeiten ungeheuer groß.

Außerdem ist nicht

zu vergessen, daß, was auf dem Lande fast völlig fehlt, in der Stadt

nicht nur von feiten der evangelischen Gemeinde aus Jugendarbeit ge­ trieben wird, sondern auch von den

Stadtmissionen aus, daß Bibel­

kränzchen bestehen für die Schüler höherer Lchranstalten, christliche Ver­ eine junger Männer, Jugendbünde für entschiedenes Christentum, alles Veranstaltungen, die auf evangelischem Boden betrieben werden, aber meist dem landeskirchlichen Pfarramt und der Landeskirche mehr oder weniger sernstehen.

Wenn die Zahlen für diese Vereinigungen hätten

ermittelt werden können, wären für die Städte bessere Prozentsätze heraus­

gekommen.

Aber es handelt sich ja grundsätzlich hier um gemeindemäßig

betriebene evangelische Jugendarbeit, die sich gerade in den Städten mehr

142

Geschichte u. gegenwärtiger Bestand d. rvang.-kirchl. Jugendarbeit in Hessen.

und mehr Bahn bricht. Am besten scheint das Problem gemeindemäßiger Jugendarbeit in der Stadt in Offenbach a. M. gelöst. In dem Wart­

burgverein, der als Absplitterung eines Jugendvereins durch den Zusammenschluß der in den einzelnen Bezirksgemeinden bestehenden Kon­ firmiertenvereinigungen entstanden ist, arbeiten sämtliche Pfarrer mit. Der Wartburgverein ist entsprechend den Bezirksgemeinden in Bezirke eingeteilt. Diese Bezirke versammeln sich an einem Abend der Woche um ihren Bezirkspfarrer und Konfirmator. Hier soll auch das Zentrum der direkten religiösen Beeinflussung liegen. Alle anderen Veranstal­ tungen, Vorträge, Turnen, Schwimmen, Wanderungen, Kriegsspiele, musikalische Übungen, Feste, Bibliothek sind gemeinsam. Der Kirchen­ vorstand hat einen Berufsarbeiter für den Wartburgverein angestellt und leistet noch einen namhaften Geldzuschuß zu der Arbeit. Ihm wird auch Bericht erstattet über den Fortgang der Arbeit. In Darmstadt ist man anscheinend auf dem Wege zu dieser Gestaltung, während Mainz noch in den Anfängen ist und Worms jetzt erst mit den Jugendver­ einigungen in den einzelnen Teilgemeinden begonnen hat. In Gießen stehen die Jugendvereinigungen der Einzelgemeinden neben dem Wartburgverein, der ihre Zusammenfassung bilden müßte. Noch eins muß zu den Zahlen im allgemeinen gesagt werden: die bis jetzt betriebenen Jugendvereinigungen aller Art umfassen der weit­ aus überwiegenden Mehrzahl nach Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren, während sie die Jugend im Alter von 17 bis 25 Jahren oder auch nur bis zu 20 Jahren nur in geringem Maße zu halten und zu beeinflussen vermögen — und das ist das Problem, das gelöst werden muß. In 22 Vereinen, von denen darüber genaue Zahlen vorlagen, waren 715 junge Leute vereinigt, aber nur 165 von ihnen waren über 17 Jahre alt. Also nur 23 % ältere und 77% unter 17 Jahren. Gewiß liegt auch diese Verteilung bis zum gewissen Grad daran, daß die evangelische Jugendbewegung in Hessen noch jung ist. Aber auch schon länger bestehende Vereine haben es nicht fertiggebracht, die älteren zu halten. Es ist auch ein schwer zu lösendes Problem — aber die Lösung muß gelingen.

Di« Aussichten für die Zukunft scheinen nicht schlecht zu sein. Aus 22 Orten wurde die Absicht baldiger Inangriffnahme evan­ gelischer Jugendpflege in irgendeiner Form kundgegeben. Freilich fehlen selbst dann, wenn all« diese Gemeinden ihre Absicht zur Ausführung brächten, immer noch viele, viele Gemeinden. Es wäre vielleicht gut, wenn die oberste Kirchenbehörde immer wieder aus die Notwendigkeit und die Dringlichkeit der evangelisch-gemeindlichen Jugendpflege hin­ wiese. Erzwingen läßt sich allerdings auf diesem Gebiete weniger als sonstwo — und alle Gesetze und Verordnungen helfen nichts, wo die

Beschichte u. gegenwärtiger Bestand d. evang.-kirchl. Jugendarbeit in Hessen.

143

große Not der Jugend und die ernste Pflicht der Gemeinde ihr gegenüber nicht von den Gemeinden selber begriffen wird und nicht der ernste Wille

zur Tat schreitet.

Eine besonders betrübliche Erscheinung in der evangelischen Jugend­ arbeit Hessens bilden die erfolglosen Versuche und die zu­

grunde gegangenen Vereinigungen.

Aus 11 Gemeinden

Da heißt es z. B.: „Ein gemachter Versuch

wird von solchen berichtet.

ist trotz aller verschiedenen Hilfsmittel: Vereinslokal im evangelischen Gemeindehaus, große Bibliothek, eine Reihe von Spielen usw. gründlich Oder: „Ein früherer Verein war nicht lebensfähig."

gescheitert."

es da nicht an der Art des Anfangs gelegen hat?

Ob

Anderswo schlief

eine Jugendvereinigung wieder ein, weil mehrere Knaben wegblieben:

Auch ist das Freiheitsgefühl so groß, daß

„Die Leute hatten Mäuler.

sie sich auf die Dauer an keine Ordnung binden wollten."

Aus diesen

gescheiterten Versuchen läßt sich zweifellos manches lernen.

Eine dritte

Jugendvereinigung ging nach kurzer Zeit ein, „weil der Wechsel in der Gemeinde ganz außerordentlich groß ist und die gesellschaftlichen Gegen­ sätze ein Zusammengehen sehr erschweren".

Während hier die Gemeinde

Schwierigkeiten bot, waren es in anderen Gemeinden Raumnöte, die

In einer kleinen Gemeinde bestand ein

schöne Versuche vernichteten.

Jünglingsvercin von 12 Mitgliedern.

Da der benutzte Raum des Pfarr­

hauses nicht mehr zur Verfügung stand, beschränkte man sich auf das Ver­

teilen von Jugendblättern.

Eine andere Jugendvereinigung, die Knaben

und

vereinigte, wurde

Mädchen

„vollzählig"

obdachlos

und existenz­

unfähig, als ihr wegen Heirat des Lehrers mit Rücksicht auf dessen

Familie

der

Gemeinderatssaal

im

Schulhaus

entzogen

wurde!

An

wieder anderer Stelle ging ein „evangelischer Burschenbund" aus Mangel

an Hilfskräften wieder zugrunde.

Zwei weitere Jugendvereinigungen

hat die sozialdemokratische Agitation vernichtet.

Besonders bedauerlich

ist ein Fall, wo ein schon mehrere Jahre bestehender Jünglingsverein dadurch einging, daß es zwischen Pfarrer und Lehrer wegen ganz anderer Dinge Differenzen gab.

Jugendarbeit ist nun einmal nur da möglich,

wo persönliche Rücksichten zurückstehen und vor allem der auf rechtes

Vertrauen gegründete Mut zum Durchhalten nicht fehlt. Man darf wohl zusammenfassend sagen: Manches wird

auf

dem

Gebiet

gemeindemäßig

getriebener

evangelischer Jugendpflege schon geleistet, und auch der Eindruck wird richtig sein, daß es vorwärts geht.

Aber viele hab en noch die Hände in dem Schoß, wo

es

mit

beiden

Händen

und

allen

Kräften

zu

ar-

beiten gilt. Wer möchte die Verantwortung tragen, daß eine Pflicht, die sich geradezu mit Wucht auf-

144

Der Grundsatz der Arbeit.

drängte, zur Seite geschoben wurde? Es ist schon einmal richtig gesagt worden: „Keine Zeit war der Jugendarbeit je so günstig wie die jetzige." Nun, so laßt uns die Zeit auskaufen!

Dritter

Abschnitt.

6vangeliscbe Jugendpflege. 811. Der Grundsatz der Arbeit. Vor die evangelische Gemeinde tritt in oller Schärfe und Deutlich, keit di« Pflicht, für die zu ihr gehörende und in sie hineinwachsende Jugend alles zu tun, was in ihren Kräften steht, um deren Not zu steuern. Es handelt sich für die Jugendpflege der evangelischen Gemeinde gewiß auch um die wirtschaftliche und körperliche Not der Jugend. Was ihr aber am meisten auf dem Herzen brennen muß, das ist die tiefste Not der Jugend, di« zugleich die drohendste Gefahr für unser Vater­ land ist: die religiös - sittliche Not. Es gibt ja wohl Strömungen, die das Dogma aufstellen: man steuere nur der wirtschaftlichen Not der Jugend, und die innere Not wird von selbst aufhören. Diese Be­ trachtungsweise, die zweifellos auch ihr gut Stück Recht hat, übersieht, daß es, drastisch ausgedrückt, schlechte Kerle in allen wirtschaftlichen Verhältnissen gibt. Sie übersieht ferner, daß für die heutige Jugend, namentlich für die fabrikarbeitende, «her eine Not des „zu viel" als des „zu wenig" besteht. Weit überwiegen die Bestrebungen, die durch „körperliche Ertüchtigung" aller Jugendnot steuern wollen. Zu diesen Bestrebungen rechnet etwa der ganze Jungdeutschlandbund. Niemand wird leugnen, daß in der körperlichen Betätigung «i n wirksames Gegenmittel gegen die sexuelle Not etwa gegeben ist, ferner daß systematisch betriebene körperliche Betätigung auch erziehlich wirkt. Aber es scheint doch dieser Gesichtspunkt sehr stark übertrieben zu werden. Und wie dort ein gewisser Materialismus von der Besserung der wirt­ schaftlichen Verhältnisse alles erhofft, so scheint im Hintergründe dieser Bestrebungen di« Ansicht zu liegen, daß ein direkter mechanischer Zusammenhang zwischen Körper und Seele besteht, derart, daß — im

145

Der Grundsatz der Arbeit.

Ideal ausgedrückt — körperliche Vollkommenheit die innere Vollkommen­ heit zur unbedingten Parallele habe. Ein Trugschluß, dem man nicht lange Gegenbeweise entgegenzusetzen braucht.

Die Frage erhebt sich: Wie will und kann die evangelische Gemeinde grundsätzlich der religiös-sittlichen Not der Jugend abhelfen? Es ist schade, daß eigentlich bis jetzt noch nicht das rechte Wort für die Jugendbestrebungen gefunden ist. Jugendfürsorge, Jugendarbeit, Jugendhilf«, Jugendpflege — alle diese Bezeichnungen enthalten ein Moment, das gegen das Empfinden der Jugend verstößt. „Fürsorge" klingt so sehr nach, sagen wir, Zwangserziehung und „Hilfe" nach Wohltätigkeit — und für beides hat die Jugend wenig Empfänglich, feit. Der Stolz der Jugend muß respektiert werden. Niemals darf Jugendarbeit sich als „Wohltätigkeit" — am Ende auch noch ausgesprochenermaßen — geben. Das ließ« sich die Jugend nicht gefallen. Und mit Recht! Es träfe auch gar nicht das Wesen der Sache, da es sich um eine klare Pflicht der Gemeinde handelt und um ein Recht der Jugend. Am besten ist wohl der Ausdruck „Jugendpflege" — er ist deshalb auch beibehalten worden. Nach welchem Grundsatz will nun die Gemeinde Jugendpflege treiben? Darüber muß natürlich volle Klarheit herrschen. Zuerst muß klar sein, was mit der Arbeit erreicht werden soll. Es ist merkwürdig, daß hin und wieder in der Umfrage die Frage nach dem Grundsatz der Arbeit unbeantwortet blieb! Auf der anderen Seite ist von manchen Bericht­ erstattern eine ganze Reihe von Grundsätzen angegeben worden: „Be­ wahrung der Gefährdeten, Sammlung der Guten, religiös-sittliche Er­ ziehung aller." Wenn man nach dem Grundsatz der Arbeit fragt, kann es sich natürlich nur um einen handeln. Ferner widersprechen sich die drei Angaben als Grundsätze. Wenn ich die Gefährdeten zu büvahren suche, so ist das grundsätzlich etwas ganz anderes, wie wenn ich die Guten zu sammeln bemüht bin — fast etwas Gegensätzliches. Und wenn ich grundsätzlich alle religiös-sittlich erziehen will, kann es sich weder um die Bewahrung der Gefährdeten, noch um die Sammlung der Guten handeln. Sodann werden auch Angaben gemacht, die in ihrer allgemeinen Ausdrucksweise den Grundsatz der Arbeit nicht erkennen lassen, z. B.: „Sammlung der konfirmierten Jugend." Wenn es auch schwer sein wird, dem Durchschnitt der Gemeinde das Ziel evangelischer Jugendpflege klar zu machen, di« verantwortlichen Vertreter der Ge­ meinde müssen sich wohl völlig klar darüber sein. Eine negative Zielbestimmung der Jugendarbeit spricht von der Bewahrung der Jugend. Man sammelt die Jugend, bietet ihr Unterhaltung und Belehrung, um sie dem Straßenleben und dem Wirts­ haustreiben zu entziehen, um zu verhüten, daß sie anderswo ihre UnterPag«, Jugendpflege.

10

146

Der Grundsatz der Arbeit.

Haltung suche, wo sie schlechten Einflüssen ausgesetzt ist. So wird einmal als Ziel der Arbeit angegeben: „Die jungen Leut« zu unterhalten und zu bewahren" oder „Bewahrung vor schlechtem Einfluß auf der Straße und im Wirtshaus". Das gleiche Ziel spricht sich, wenn auch in anderen Worten, in einer solchen Angabe aus: „Pflege edler Geselligkeit." Das ist ja auch das Ziel, das dem Turchschnittsverständnis am leichtesten erreichbar ist: „die Jugend ist von der Straße weg und lernt nichts Schlechtes usw." Es ist nicht zu leugnen, daß es, abgesehen von allem anderen, eine Aufgabe des Schweißes der Edlen wert wäre, die Jugend dem stumpfsinnigen, verödenden Wirtshausleben zu entziehen, das „schlafende Heer" aufzuwecken, sie ferner vor der Kinoverrohung, der Straßengesellschaft usw. zu bewahren. Die Stunden, die die Jugend

in ordentlicher Umgebung und edler Geselligkeit verbringt, ist sie wenig­ stens vor üblen Einflüssen bewahrt. Wenn man aber fragt, ob solche Bewahrung als Bekämpfung der Jugmdnot genüge, so wird man kaum mit ja antworten können. Zweierlei ist zu bedenken: einmal, selbst wenn es gelänge die gesamte Jugend in bewahrendem Sinne zu sammeln, sie wird doch immer nur eine gewisse Zeit lang — vielleicht auch ein paar Jahre lang — in unseren Händen sein. Wobei noch fraglich ist, ob es möglich ist, die Jugend durch Unterhaltung aller Art auf die Dauer zu fesseln. Was wird aber dann mit ihnen, wenn sie früher oder später -der Bewahrung sich entzichen, wenn ihr unsere Unterhaltung nicht mehr genügt? In der Tat findet doch die Jugend Unterhaltung aller Art genug. Wird sie nicht, wenn sie sich uns ent­ zieht, um so eher und gründlicher den schlechten Einflüssen erliegen, denen wir sie sorgfältig entzogen haben? Wenn die Treibhauspflanze an die rauhe Luft kommt, leidet sie leicht empfindlichen Schaden! Schon von hier aus ist es sehr fraglich, ob der Grundsatz der Bewahrung genügt. Sodann aber ist es ja gar nicht möglich, die Jugend vor allen bösen Einflüssen zu bewahren, genau so wenig, wie man eine Heran­ wachsende Pflanze vor jedem widrigen Luftzuge schützen kann. Ein paar Stunden am Tag oder auch nur in der Woche einmal kann man die Jugend manchem schlechten Einfluß entzichen — aber sie vor aller schädigenden Beeinflussung zu bewahren, das ist ein Ding der Unmöglich­ keit. Dem Einfluß minderwertiger häuslicher Verhältnisse, böser Gesell­ schaft auf dem Wege von und zur Arbeit, der Verhetzung am Arbeits­ plätze, den „unkontrollierbaren Bildungseinflüssen" der Straße und der schlechten Lektür« kann man sie nicht völlig entziehen. Und das sind vielleicht die schlimmsten Gefahren. Mit dem Ziel der Bewahrung wird also zum mindesten nur halb« Arbeit getan. Andere wollen mit ihrer Jugendarbeit „Sammlung der Guten oder der

das Ziel verfolgen: Bekehrten." In

147

Der Grundsatz der Arbeit.

dieser Zielbestimmung liegt eigentlich schon der Verzicht auf Lösung des Problems der Jugendnot. Denn schließlich handelt es sich doch um die Gefährdeten und Schwankenden ebensosehr als um die „besseren Ele­ mente", ja gerade um sie. Wenn es wirklich „Gute" int gewöhnlichen Sinne des Wortes unter der Jugend gibt, so hat es doch am Ende wenig Wert, sie noch für sich zu sammeln. Was will man dann überhaupt mit ihnen? Höchstens sie vor dem Herabsinken bewahren — und damit sind wir wieder bei der ersten Zielbestimmung angelangt. Denn jede

„Bewahrung" setzt ettvas des Bewahrens Wertes voraus. Sodann aber bringt man junge Leute, die nach dem Grundsatz „Sammlung der Guten" sich zusammenschließen, in eine schwere Gefahr: nämlich in die des Hoch­ mutes und der Heuchelei, der Verachtung der sich Nichtanschließenden, die wohl oder übel als die „Schlechten" oder „Schlechteren" wenigstens erscheinen müssen. Zuletzt aber kann dieses Ziel nur gelten bei völliger Verkennung der jugendlichen Seele. Ein innerlich und äußerlich gesunder Junge will gar nicht „gut" sein, er sträubt sich dagegen, Tugend­ bolde sind ihm in innerster Seele zuwider. Sein Gefühl ist in dieser Beziehung auch nicht schlecht und falsch. Noch mehr spitzen sich diese Bedenken zu, wenn das Ziel noch spezieller als „Sammlung der Be­ kehrten" sich darstellt, wenn nur solche als Mitglieder ausgenommen

werden, die „Jünger Jesu sind, oder es zu werden wünschen", oder wie es klassisch die Pariser Basis ausspricht: „Die christlichen Jünglings­ vereine haben den Zweck, Jünglinge miteinander zu verbinden, welche Jesum Christum nach der heiligen Schrift als ihren Gott und Heiland anerkennen, in ihrem Glauben und Leben seine Jünger sein und gemein­ sam danach trachten wollen, das Reich ihres Meisters unter den Jüng­ lingen (jungen Männern) auszubreiten." Gefährlich aber geradezu ist es, wenn in einem Statut nicht als Zweck «ine Sammlung bewußter Jesusjünger hingestellt wird, sondern gar als Tatsache, wenn gesagt wird, daß der Verein „aus Jünglingen b e st e h t, welche sich zur Mitarbeit an der Erbauung des Reiches Gottes verbunden haben". Die schwere Gefahr liegt in der Verführung zum Pharisäertum und zur Heuchelei, in der Neigung zu dem Gedanken, hier seien lauter wahrhaftige Christen vereinigt und in der Folgerung, die Zugehörigkeit dazu beweise echtes Christentum. Man bedarf eigentlich gar nicht des Tatsachenbeweises, daß schon mancher, der «ine hervorragende Rolle in auf solcher Grundlage beruhenden Jugendvereinen spielte, zum „Demos" wurde, um zu begreifen, daß ein solcher Grundsatz eigentlich innerlich unmöglich ist. Oder welcher junge Mann könnte einfach von sich sagen: ich bin ein Jünger Jesu, oder wer soll darüber entscheiden, ob einer wirklich echter Christ und darum würdig sei, dem Jünglingsverein an­ zugehören? Ter Vorstand vielleicht? Tie Bescheidenheit echten Chri10*

148

Der Grundsatz der Arbeit.

stentums und seine Innerlichkeit erscheinen schwer gefährdet. Dazu kommt noch ein« schwere Mißachtung des jugendlichen Seelenlebens. Es ist gewiß richtig, daß es unter den Jugendlichen religiös tief ver­ anlagte Naturen gibt, die auch schon über religiöse Erlebniffe und Er­ fahrungen verfügen. Ob sie zahlreich sind, ist zweifelhaft. Die meisten sind eben in der Phase des Werdens auch auf religiösem Gebiet — sie sind nicht fertig, wie es jene Erklärungen hinstellen möchten. Eher sind sie vielen und harten Zweifeln in der Entwicklungszeit unterworfen. Das Kennzeichen dieser Zeit ist es aber gerade — nicht laut und offen vom tiefsten Erleben zu reden —, sondern das Innenleben keusch und tief in sich zu verschließen, und schließlich werden junge Leute dazu gebracht, von Dingen zu reden, die nicht in ihnen sind, von Erlebnissen, die vielen Erwachsenen noch fernliegen, ganz gewiß aber der Jugend — also unwahrhaftig zu werden. Selbst Wenn es aber möglich wäre, die größere Zahl der Jugend auf dieser Grundlage zu sammeln, dann wäre immer noch die Frage, ob durch die Art dieser Vereine, die sich ängstlich von „der Welt" abschließen, der Jugend eine Grundlage fürs ganze Leben gegeben werden kann. Es ist die Frage, ob sie nicht welt­ fremd wird, um, wenn sie in „die Welt" hinaus muß, ihr erst recht zum Opfer zu fallen. Es ist vielleicht möglich, die Jugend weltflüchtig zu machen — aber wir brauchen eine Jugend, die todttüchtig ist! Nirgendwo ist der Weizen vom Unkraut sauber zu halten — auch hier nicht.

Das ist das Ausschlaggebende: Wir brauchen eine weit tüchtige Jugend. Darin ist ja die Not der Jugend zum guten Teil begründet, daß sie nicht widerstandsfähig genug ist gegen alle möglichen Einflüsie, die auf sie einstürmen. Das ist gewiß nicht die Schuld der Jugend, daß sie größeren und härteren Gefahren ausgesetzt ist, als vielleicht früher, und daß sie in der Zeit des Werdens leichter geneigt ist, bösen Einflüssen zu verfallen. Mag man, wie es schon geschehen ist, als die Hauptfeinde der Jugend Alkoholismus, Unsittlichkeit und VereinsMeierei hinstellen, oder in der Verführung zur Irreligiosität die größte

Gefahr sehen, mag der Grund zur „Verrohung der Jugend" in der fortschreitenden Industrialisierung, in dem frühen Verdienste, der durch die auswärtige Arbeit bedingten Entfremdung von der Heimat und ihrer Sitte, in der allgemeinen Zersetzung sittlicher Begriffe liegen — ganz einerlei, soviel ist jedem Einsichtigen klar: unsere Jugend muß innerlich stark gemacht werden, klare Richtlinien müssen ihr gegeben werden, religiös-sittliche Kräfte müssen in ihr geweckt werden, sie muß religiössittlich beeinflußt werden, sie muß erzogen werden. Kraft braucht unsere Jugend, ein starkes Gewissen, große starke Ideale, einen starken Willen. Es ist falsch, den Kampf gegen eine der Jugend drohende

Der Grundsatz der Arbeit.

149

Gefahr aufzunehmen, gegen den Alkohol oder die Unsittlichkeit oder die Irreligiosität, sondern das ganze religiös-sittliche Niveau der Jugend muß gefördert werden, daß sie bös und gut klar unterscheiden lernt, und daß sie die Kraft gewinnt, sich frei für das Gute, Große, Edle, Wahrhaftige zu entscheiden. Von dieser Überzeugung muß evangelische Jugendarbeit getragen sein, daß im Christentum die Wahrheit und die Kraft steckt, die unserer Jugend not tut, und das muß ihr Ziel sein: religiös.sittliche Erziehung der Jugend. Nur so kann der innerlichen Verweichlichung der Jugend gesteuert werden, die ihren traurigsten Ausdruck in den Selbstmorden Jugendlicher, besonders von Schülern, findet. Diese unsäglich traurige Erscheinung ist keine Anklage gegen die Jugend, sondern eine schreiende Anklage gegen die Erwachsenen, die die Jugend mangelhaft oder gar nicht erziehen. Diesem Hauptziel: religiös-sittliche Erziehung der Jugend muß alles andere untergeordnet sein, alles, was in der Jugendarbeit geschieht, muß diesem Ziele dienen, das die Grundlage aller Arbeit sein muß. Es ist eine gewisse Unklarheit, wenn in 25 Berichten der Umfrage neben der religiös­ sittlichen Erziehung noch andere Ziele angegeben werden, etwa „allen Gefahren möglichst entgegenzuwirken, welchen sie unter den Versuchungen der Welt ausgesetzt sind" oder „Pflege edler Geselligkeit" o. ä. Alles muß für die Jugend in religiös-sittliche Beleuchtung und Beurteilung gerückt werden und di« Jugend zu eigener Urteilsfähigkeit erzogen werden. 25 Berichte haben auch als den Grundsatz der Arbeit die religiös-sittliche Erziehung aller Erreichbaren aufgestellt. Zwei Eigen­ formulierungen des Zieles seien noch mitgeteilt: „Heranbildung zu einem den Lebenskämpfen gewachsenen entschiedenen Christentum" und „geistig gesunde und charaktervoll« Menschen". Wenn aber religiös-sittliche Erziehung grundsätzlich das Ziel evangelischer Jugendpflege sein muß, dann kann auch von „interkonfessioneller" Arbeit keine Rede sein. Denn Religion in Reinkultur gibt es nicht, oder aber man verwechselt eine jammervolle Verwaschenheit mit Religion. Und gerade das evangelische Christentum mit dem Grundsätze der Weltüberwindung und Weltbeherrschung enthält die Kräfte, die unsere Jugend für das Leben in der Welt braucht.

Der Grundsatz: religiös-sittliche Erziehung bedarf noch einer Erlveiterung. Di« Arbeit soll und muß auf der Grundlage der Gemeinde betrieben werden. Also kann es sich bei evangelischer Gemeindejugend­ pflege grundsätzlich nur um die gesamte Jugend der Gemeinde han­ deln, nicht um einen besonderen Ausschnitt, weder nach der guten noch nach der schlechten Seite hin. Nähme man sich nur der „Guten" an — dann bliebe die Hauptaufgabe ungelöst, wollte man nur die „Schlechteren" oder „Gefährdeten" sammeln und erziehen, so beraubte

man sich eines der vorzüglichsten Erziehungsmittel — nämlich der gegen-

160 fettigen Erziehung.

Wege zum Ziel.

Das alles aber sind sekundäre Fragen.

Da evan­

gelische Jugendpflege grundsätzlich Gemeindearbeit sein muß, so gilt als ihr Grundsatz: religiös-sittliche Erziehung der Heranwachsenden Jugend der Gemeinde. Dieser Grund­

satz kommt voll nur in einem Bericht zutage, wo es nicht heißt: religiöse Erziehung aller Erreichbaren, sondern einfach: aller.

Das Gemeindeprinzip wird, allerdings nicht als Grundlage der Arbeit, sondern als ihr Ziel, mehrfach betont: „Pflege der in der Konfirmationszeit begründeten Gemeinschaft Mit Gott, der Gemeinde und untereinander und der dadurch gegebenen Gesinnung." „Die kon­ firmierte männliche Jugend im christlichen Geiste und bei der evan­ gelischen Kirche zu erhalten." „Heranbildung evangelischer gemeinde­ bewußter Persönlichkeiten." Niemand wird es der evangelischen Ge­ meinde streitig machen können, wenn sie hofft, daß sie durch ihre Erziehungsarbeit an der Jugend an ihr lebendige, tätige Gemeindeglieder gewinnt. Freilich das Hauptziel darf es nicht werden. Was die Ge­ meinde zur Arbeit treibt, ist die Erkenntnis der Notlage der Jugend und der Pflicht der Gemeinde ihr gegenüber, und die Überzeugung, daß sie die Kräfte hat, die der Jugend in ihrer schwierigen Lage helfen können. Daß die Jugend, um die die Gemeinde sich um der Jugend willen gemüht hat, lebendigen, tätigen Anteil an der Gemeinde und am kirchlichen Leben nimmt, ist zu wünschen und man darf es erhoffen.

§ 12. Wege zum Ziel. Das Ziel kann nur eins sein: religiös-sittliche Erziehung der Heranwachsenden Jugend der Gemeinde. Der Wege aber, die zu diesem Ziele führen, sind viele. Es gibt keilte Universalwege, die man gehen könnte — sie werden immer verschieden sein nach der Persönlichkeit der Arbeiter in der Jugendpflege und sie müssen verschieden sein je nach der Art der jungen Leute, die man vor sich hat, und je nach der inneren Lage der Gemeinde. Jedenfalls muß einer, der Jugendpflege treiben will, die Gemeinde und ihre Jugend durchaus kennen. Sonst gibt's Mißgriff über Mißgriff und Mißerfolg über Mißerfolg. Jeder muß

selbst die für feine Verhältnisse richtigen Wege suchen. Hier kann es sich nur darum handeln, gangbare Wege zu zeigen. Es gchört zu den Vorbedingungen jeder Jugendpflege, sich über die besonderen Bedürfnisse der örtlichen Jugend klar zu werden und die Wege, die zu ihrer religiössittlichen Erziehung eingeschlagen werden können. Wie jemand Jugend­ pflege treiben will, der die Frage nach dem grundsätzlichen Weg zum Ziel mit „mir unbekannt" beantwortet, ist einigermaßen rätselhaft. Das längst bekannte und in Jugendvereinen gebrauchte Mittel zur religiös-sittlichen Erziehung der Jugend ist die B i b e l st u n d e. Von

Wege zum Ziel.

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21 Vereinen wird auch als Hauptmittel der Erziehung „die Auslegung und Anwendung der heiligen Schrift", „die Sammlung um Gottes Wort", „die Erbauung aus Gottes Wort", „Betrachtung und Vertiefung in Gottes Wort", die „Darbietung des Wortes Gottes", „die gemein­ same Betrachtung der heiligen Schrift" angegeben. Vor allen Dingen ist zu fordern, daß die Bibelstunde der Erziehung diene. Sie soll nicht den Zweck haben, in methodistischem Sinne die Jugend zu bekehren. Man stempele nicht einfach die jungen Leute zu einer verlorenen Sünder­ rotte, die es zu retten gelte. Man kann nichts erzwingen, was wachsen muß. Christentum ist aber etwas, das wachsen und reifen muß. Man kann schließlich niemand leichter in irgendwelche gewünschte Stimmungen versetzen als die Jugend. Sie ist der Suggestion sehr zugänglich, auch der religiösen. Die Bibelstunde soll nicht zur Bekehrung treiben, son­ dern sie soll fördern und stärken, sie soll zum Guten lenken und Freude daran erwecken. Man soll keine Wirkungen machen wollen, die nicht da sind, oder nicht da sein können, sondern soll darauf vertrauen, daß das dargebotene Wort Gottes seine Wirkung tue, auch da, wo nicht die mündlich bezeugte Bekehrung erfolgt, die häufig genug dem Verdacht der Unwahrhaftigkeit und des augenblicklichen Stimmungsausdrucks, der wieder verfliegt, unterliegt. Es darf keine Nötigung in den religiösen Darbietungen liegen. „Es gibt kein Gutes, das nicht unwillkürliche Lebensäußerung ist. Alles Aufgenötigte wird Verzerrung. Nichts un­ angenehmer als die Verrenkung ins Tugendhafte." sLhotzky.) — Die Bibel darf auch nicht zum Gesetz gemacht werden. Die Bibelstunde bestehe nicht aus einer Kette von Verboten und Drohungen, sondern sie soll durchweht sein vom Geist« Jesu, der allein freie, selbständige, charaktervolle Menschen schaffen kann, und nicht unser Treiben und Drohen. — Die Bibelstunde halte sich von jeder Dogmatik

fern. Der gesunde Sinn der Jugend sträubt sich gegen theologische Auseinandersetzungen, sie hat keinen Sinn dafür. Das ist auch der Fehler der Pariser Basis, daß sie den theologischen Streit in die Jugendsache gebracht hat mit ihrer Formulierung „Jesum Christum nach der heiligen Schrift als ihren Gott und Heiland anerkennen". Mit Dogmatik ist unserer Jugend nicht zu helfen. Wenn es nicht ge­ lingt, lebendiges, tätiges Christentum, praktische Jesusnachfolge ihr nahezubringen, sie zu erschließen für die Kraft und den Geist des Christen­ tums, so ist nichts erreicht. — Verfehlt ist, die Bibelstunde einem einseitigen Zwecke dienstbar zu machen, ihr etwa den Inhalt einer Missionsstunde zu geben. Die Jugend ist für Einseitigkeiten nicht zu haben. Es ist unmöglich, sie auf die Dauer mit Missionsbetrachtungen und -Erzählungen zu fesseln. Auch widerspricht eine derartige Ge­ pflogenheit dem Charakter der Erziehung, den die Bibelstunde tragen

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muß. — Die Bibelstunde muß ihrem Inhalte nach den Bedürf-

nissenderJugend entsprechen. Daß man je nach der Auffassungs­ gabe der Jugend fprechen muß, ist klar. Folglich muß auch in die Er­ fahrungswelt der Jugend hineingegriffen werden, ihr Erleben, ihre Verhältnisse, ihre Nöte und Sorgen müssen unter das Licht des gött­ lichen Wortes gestellt werden. Praktische, ihrem Erfahrungskreis entstammende Beispiele, möglichst ausgeführte Geschichten, sollten zur Illu­ strierung des Bibelwortes dienen. — Die Bibelstunde muß vor allem das Christentum darbieten, wie es die Jugend nach ihrer seelischen Verfassung anspricht. Nicht als trübe, düstere, enge Lebensauffassung. Sondern das Starke, Begeisternde, Große und Frohe am Christentum muß ihr nahegebracht werden: daß der echte Christ «in Held ist, den keine Lebenserfahrungen, keine Verlockungen, mögen sie aus der eigenen Brust oder von außen her kommen, unter­ kriegen können, der sein eigenes klares Urteil hat, das ihm keiner mit seinem Geschwätz oder Drohen trüben kann, der in seinem Gewissen einen untrüglichen Wegweiser hat, dem er unter allen Umständen folgt. Für das Heldengroße an Jesus und am Christentum wird sich echte Jugend immer begeistern können. Daß zu Leiden und Entsagen mchr Kraft gehöre, als zum Genießen, daß die größten Helden die sind, die Herr über sich selber sind, über ihre Leidenschaften, das muß ihnen die Bibelstunde zeigen. Auch dos Recht zur Freude soll der Jugend klar zugestanden werden — „alles ist euer, ihr aber seid Christi" —, daß sie sich alles Großen, Guten, Echten, Schönen, Wahrhaftigen freuen darf, daß echte Freude emporhebt, und alle niedrige Freude verdirbt. Die Jugend soll es lernen, daß es nicht darauf ankommt, was der Mensch ist, sondern wie er ist, daß Gesinnung adelt und nicht Rang, Titel und Nome. Kraft und Freude, das müssen die zwei Pole sein, um die sich di« religiöse Betrachtung bewegt. Die Kraft des auf Gott Ver­ trauenden und von Jesus Geleiteten soll ihnen vor die Seele treten, und daß dem Jesusjünger nie rechte Freude fehlt, wie er sie trotz allen Schattens, auch trotz aller eigenen Schuld immer wieder gewinnen kann usw. — Auch die Apologetik darf nicht zu kurz kommen. Gerade an den Geschichten, die den Angelpunkt für allerlei Angriffe bilden, darf ja nicht vorübergegangen werden, wie z. B. an der Schöpfungsgeschichte. Die Jugend soll gewappnet werden, daß sie sich in der Werk­ statt, in der Eisenbahn, wo immer ihr Angriffe auf das Christentum begegnen, imstande ist, sich zu wehren.

sind die Bibelsagen kann, seine Zweifel Vorbringen und seine Entgegnungen. Unter allen Umständen muß volle Freiheit des Gedankenaustausches gewährt werden. Soviel Der Klärung und Festigung sehr dienlich besprechstunden, wo jeder seine Meinung

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Vertrauen muß der junge Mann zu dem Leiter haben, daß jede Meinung ernst genommen wird. Das muß Richtschnur des Leiters sein, daß jede auch noch so verkehrte und „ketzerische" Ansicht mit Ernst behandelt wird. Man widerlege sie auch nicht mit drohenden ausfälligen Bemerkungen, und tue unbequeme Äußerungen nicht kurz ab, sondern mit sachlichen Ausführungen, und vergesse nicht, daß das ernste, persönliche Zeugnis oft am tiefsten wirkt. Freilich zwei Gefahren unterliegt die Bibelbesprech­ stunde oft, die übrigens nur für die ältere Jugend in Frage kommt: der einen, daß überhaupt keine Diskussion zustande kommt. „Zu einer Bibelbesprechung ist es nie recht gekommen, dem Pfarrer gegenüber sind die jungen Leute doch meist schüchtern." Es ist vielleicht immer ein Zeichen für die Größe des Vertrauens, das die Jugend dem Pfarrer entgegenbringt, ob sie sich ihm gegenüber aus sich herauswagt. Außer­ dem ist es zunächst für die Jugend wohl etwas Ungewohntes, in das sie sich finden muß. Die zweite Gefahr ist, daß aus den Diskussionsabenden Disputierabende werden, bei denen einzelne Zungenfertige sich eine Freude daraus machen, mit allerlei Entgegnungen zu glänzen. Hier kommt es ganz auf das Geschick und den Takt des Leiters an, die Bibelbesprech­ stunde vor Verflachung zu bewahren. Sie hat unter allen Umständen den großen Vorteil, daß die jungen Leut« es lernen, ihre Meinung zu verteidigen, daß sie das Rüstzeug zur Verteidigung ihres Christentums gewinnen. Gegebenenfalls kann sich der Leiter auch einmal auf den Standpunkt des Gegners stellen; jedenfalls müssen die jungen Leute alles kennen lernen, was man gegen das Christentum sagt, und was vom Standpunkt des Christentums aus gegen die Angriffe zu sagen ist. Ein anderer Weg zur religiös-sittlichen Beeinflussung im engeren Sinne ist di« Andacht. In ihr wird nicht der biblische Text vor­ genommen und nach allen Seiten beleuchtet, sondern ein freies Bibel­ wort wird unter ganz besonderem Gesichtspunkt betrachtet. Sie steht

nicht selbständig da, sondern schließt oder eröffnet die Versammlungen. Meist ist das erstere der Fall. Das erscheint auch richtiger, daß man sich am Schluß, nachdem Spiel, Besprechung der Dereinsangelegenheiten, Vorlesen usw. erledigt ist, aus der Zerstreuung sammelt und die Jugend mit einem ernsten Gedanken entläßt. Freilich besteht bei dieser An­ ordnung die Schwierigkeit, daß die rechte, für ein ernstes Wort empfäng­ liche Stimmung nicht leicht herzustellen ist. Nun ist es ja ein Vorzug der Jugend, daß sie sich leicht von einer Stimmung in die andere umschalten kann. Wenn überdies zwischen sonstigen Dingen und der Schlußandacht dadurch eine genügende Pause «intritt, daß zunächst die benutzten Spiele, Bücher oder Gerät« beiseit« geschafft und Ordnung hergestellt werden muß, außerdem ein ernstes Lied die kurze Schlußandacht einleitet, so ist wohl der nötige Stimmungsuntergrund geschaffen.

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Nun bleibt aber die Frage: sollen Bibelstunde, Bibelbesprechung oder Andacht regelmäßig gehalten werden, in größeren Abständen oder nur je nach Bedürfnis? Vor einem muß man sich auf alle Fälle hüten: vor Überfütterung der Jugend. Tas gilt auch für die einzelne Bibelstunde. Sie darf sich auf keinen Fall zu lange ausdehnen. Die zeitliche Ausdehnung geschieht immer auf Kosten der Tiefenwirkung. Die Bibelbetrachtung muß sein wie ein erfrischendes Stahlbad — aber nicht wie ein« ausgedehnte Kur. Das ist auch die Schwierigkeit, wo eine besondere Bibelstunde gehalten wird, daß dann der Abend ausgefüllt

werden muß und die Gefahr der Länge und der Langeweile groß wird. Darum wär« es vielleicht geratener, die Bibelbesprechung in einen Abend einzufügen oder ihn damit zu schließen. Die ernst« Betrachtung an den Beginn des Abends zu legen, ist deshalb kaum ratsam, weil ihr Eindruck durch andere Dinge zu schnell verwischt wird. Was nun die Regel­ mäßigkeit der Bibelstunde angeht, so bars man unter keinen Umständen ein Gesetz daraus machen. Es gibt Stimmungen, sei es bei der Jugend, sei es bei dem Leiter, die ein Unterlassen der Bibelstunde usw. schlechter­ dings erfordern. Andrerseits lasse man sich auch nicht zuviel Freiheit: der Pfarrer darf auch seine Predigten nicht aussetzen, wenn ihm die Stimmung fehlt. Die Bibelstunde usw. braucht auch nicht wöchentlich gehalten zu werden, es gibt Vereine, wo sie nur 14 tägig oder monatlich stattfindet. Sie ganz „dem Bedürfnis" zu überlassen, scheint nicht ratsam.

Nun erheben sich aber Stimmen, die gegen jede direkte religiöse Beeinflussung, wie sie sagen, sich wenden. Nicht etwa, weil sie gegen die religiöse Beeinflussung wären, sondern weil sie glauben, anderweitig sei genug dafür gesorgt, oder mit Rücksicht auf die Verfassung der Jugend sei davon abzusehen; oder weil sie der Über­

zeugung sind, auf anderem Wege sei eher an die Jugend heranzukommen. So schreibt ein Berichterstatter: „Bidelstunden hatten wir keine. Meine Jungen gehen ja 3 Jahre in die Christenlehre, da ist Gelegenheit zur Behandlung biblischer Stoffe gegeben." Es handelt sich aber in der Bibelstunde für die Jugendlichen nicht darum, biblische Stoffe zu be­ handeln, sondern in ihnen lebendiges Christentum in ihrem kleinen Leben zu erwecken und zu fördern. Das ist in der Christenlehre erschwert, weil die nahe persönliche Beziehung nicht vorhanden ist und auch un­ möglich eine Besprechung, an der die Jugend sich fragend beteiligt, zu­ stande kommt. Und dann das Hauptbedenken: Was geschieht zur religiös­ sittlichen Erziehung der Jugend im Alter von 17 Jahren ab, wo die Zweifel erst recht kommen und eigenes Nachdenken stark einsetzt? Frei­ lich darf nie der Gedanke aufkommen, die Bibelstunde usw. sei ein Ersatz für den Gemeindegottesdienst. Eine Ergänzung dazu ist sie allerdings; denn im Gemeindegottesdienst kann nicht auf die Bedürfnisse der Jugend

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eingegangen werden, wie es notwendig ist. Aber als Ersatz darf die Bibelstunde für die Jugend nicht gelten — sonst würde ja durch die Jugendarbeit die Jugend kirchenfremd gemacht und der Gemeinde ein schlechter Dienst getan. Zu erwägen wäre für größere Verhältnisse die Einführung eines Jugendgottesdienstes, der auf die Jugend namentlich in der Predigt zugeschnitten wäre, entsprechend dem Kindergottesdienst für das frühere Alter, wobei aber wieder in Betracht zu ziehen ist, daß eine gegenseitige Aussprache fortfallen muß. Ernstere Bedenken liegen auch tiefer. Man sagt, die Jugend, mindestens im Alter von 14 bis 17 Jahren, bedarf der „Schonzeit". Diese Auffassung ist begründet in der psychologischen Anschauung, daß die Jugend mit ihrem Kraftüberschwang wenig Sinn für religiöse Dinge habe. Es ist aber immer die große Frage, ob diese Auffassung richtig ist. Allgemein richtig ist sie unter keinen Umständen. Wer den Versuch gemacht hat mit Bibelstunden usw., der weiß, welch tief­ angelegte Naturen es unter den Jugendlichen gibt. Es mag sein, daß die Bezeichnung „Bibelstunde, Bibelbesprechung, Andacht" der Jugend nicht immer paßt — man braucht ja eine solche Bezeichnung nicht zu wählen, man braucht auch die Bibelstunde nicht analog dem Gottesdienst mit Gesang und Gebet auszugestalten. Man kann das mit gutem Grund für nicht richtig halten. Auf der anderen Seite ist es kaum verständlich, wie der Leiter religiös-sittliche Erziehung treiben, religiös motivierte Sittlichkeit fördern will, wenn er auf jede „direkte" religiöse Beeinflussung verzichtet! Und dann, erwartet es die Jugend nicht gerade­ zu von ihrem Pfarrer, um den sie sich sammelt, daß er, der ihr Reli­ gionsstunde und Konfirmandenunterricht erteilte und sie konfirmierte, nun auch noch von den ernsten Dingen mit ihnen spricht? Muß es sie nicht sehr verwundern, wenn er nun auf einmal gänzlich davon schweigt?

Auch dieser Vorschlag hat seine ernsten Bedenken: man lasse die Jugend einmal zunächst gewähren und ein wenig sich austoben, wenn sie sich mehr geklärt und vertieft hat, dann beginne man mit religiöser Beein­ flussung in Bibelstunde und Besprechung oder sonstwie. Zunächst einmal braucht die Jugend gerade int Entwicklungsalter die stärksten Hilfen in all ihren Seelenschwankungen. Hier darf ihnen der Halt, die Kraft, die Klarheit des Christentums nicht versagt werden. Oder wer will leugnen, daß durch ernste religiöse Beeinflussung dem jungen Menschen eine starke Waffe gegen die Versuchungen von innen und außen her gegeben werden könne? Zweitens ist es furchtbar schwer, wenn nicht unmöglich, mit den 17 jährigen ernste, religiöse Arbeit zu treiben, nachdem man zwei oder drei Jahre lang völlig davon abgesehen hat. Nun wird sie's nicht mehr verstehen, warum da auf einmal mit diesen Dingen eingesetzt werden soll. Sie ist nicht daran gewöhnt und wird

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sich auch schwer daran gewöhnen. Man läuft im Gegenteil Gefahr, daß sich die Jugend, nadtbem sie drei Jahre unterhalten, belehrt usw. wurde,

nun einfach verläuft. Die Erfahrung hat schon mancher zu seinem Leidwesen machen müssen, daß die Jugend einfach versagte, „als sie merkte, daß der Pfarrer auch noch etwas anderes von ihnen wolle als Theaterspielen usw.". Und drittens: Jugendpflege ohne bewußte reli­

giös-sittliche Beeinflussung ist auf di« Dauer etwas ungeheuer Unbe­ friedigendes. Nachdem die Arbeit eine Zeitlang getrieben wurde, stellt sich das Gefühl ein, daß der Arbeit das Herz fehle und daß sie völlig

unzulänglich sei. Di« Erfahrung wiederholt sich immer wieder, daß eine ernste religiös-sittliche Erziehung ohne j«de direkte Beeinflussung unmöglich ist und wenig erreicht. Wie sollte der Pfarrer auch von dem Heiligsten und Besten, das er kennt, schweigen, der Jugend, der er alles Gute und Schöne und Echte vermitteln will, das Beste vorenthalten? Das kann ja gar nicht befriedigen. Symptomatisch ist die Tatsache, daß in einer Reihe von Vereinen, sogar „interkonfessionellen", die Ein­ führung von ernsten Besprechungen und Bibelstunden beabsichtigt ist. — Freilich eins muß unter allen Umständen verlangt werden gerade in anbetrachl der ungleichmäßigen religiösen Veranlagung der Jugend, daß der Besuch der Bibelstunde usw. f r e i g e st e l l t wird. Zwang wäre hier erst recht der Tod. Der Ansicht muß mit aller Entschiedenheit ent­ gegengetreten werden, daß die die Bibelstunde meidenden Jungen als solche zweiten Grades betrachtet werden. Wo die Bibelstunde im rechten Geist gehalten wird, — und darauf kommt alles an — kommen solche Gedanken des Pharisäertums überhaupt nicht auf. — Grundsatz sollte es sein, daß der Pfarrer die Bibelstunde hält und nicht ein Laie, oder daß mindestens der Pfarrer anwesend sei. Daß das eine oder andere ältere Gemeindemitglied — aber ja nicht zu viele — sich beteilige, ist wün­ schenswert. Das Zeugnis der Laien ist sehr eindrucksvoll für junge Leute. Aber ganz aus der Hand geben sollte der Pfarrer die Bibelstunde nicht. Man mag sagen: das widerspricht dem Prinzip des allgemeinen Priestertums. Man kann dagegen sagen, das ist auch in der Gemeinde nicht durchgeführt — und vor allem spricht die Praxis stark dagegen. — Was man mit Recht bekämpft, das sind die gemeinsamen G e betsstunden. Daß der Pfarrer in Bibelstunde oder Andacht mit den jungen Leuten betet, wenn er es für recht hält, wird niemand für verkehrt halten — noch weniger, wenn er mit einem jungen Menschen, den er mit seinen Nöten unter vier Augen bei sich hat, zum Gebet greift. Aber die Gebetsversammlungen widersprechen dem evangelisch­

religiösen Gefühl. Gebetsvirtuosentum ist nicht im Sinne des Christen­ tums und seines Stifters. Das Gebet ist etwas so Keusches und Zartes, daß es nicht vor die Öffentlichkeit gezerrt werden kann, ohne es seiner

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Innerlichkeit und seines Wertes zu berauben. Wer Gebetsversamm­ lungen aus eigener Erfahrung kennt, wird zu dem gleichen Urteil kommen.

Nun steht es ja so, daß viele, die die Bibelstunde, Bibelbesprechung und Andacht ablehnen, trotzdem nicht auf direkte religiöse Beeinfluffung verzichten. Sv wird aus 23 Vereinen, in denen keine Bibelstunde be­ steht, von er n st en Besprechungen berichtet, die im Anschluß an die Lektüre oder den Vortrag gehalten werden. Es handelt sich dabei nicht um lange Auseinandersetzungen, sondern um Hineinrücken in reli­ giöse Beleuchtung und religiöse Zuspitzung. Solche ernste Besprechungen können auch an jedes Zeitereignis angeknüpft werden. Die Zeitung be­ richtet, ein Milliardär habe sich aus Lebensüberdruß erschossen — die Frage kommt von selbst: Ist Reichtum das höchste Glück? Man erzählt aus dem Jndianerbuch Ohijesa und redet dann kurz vom Segen unserer christlichen Erziehung. Mag von der Herkunft des Tees gesprochen worden sein — man spricht davon, wie wir auf den Dienst vieler Men­ schen angewiesen sind, selber dienen müssen, und von der Größe des Dienens. Die Welt des Wassertropfens, die ein Vortrag vor Augen führte, vielleicht mit Lichtbildern, stimmt zur Bewunderung der Schöpfer­ macht Gottes im kleinsten wie im größten. Die Geschichte der Luft­ schiffahrt mit ihren vielen Opfern bringt auf den spezifisch christlichen Gedanken: die Menschheit und wir alle leben vom Opfer usw. Den Vortrag mag ein anderer Redner gehalten haben, nun wendet sich der Leiter mit einem vertiefenden warmen Wort an die Jugend, das ruhig in ein Bibclwort ausklingen kann. Auch Vereinsangelegenheiten, Un­ stimmigkeiten usw. können den Grund zu einer ernsten religiösen Be­ trachtung abgeben. Vergessen sei auch nicht der Fragekasten, der in vielen Vereinen besteht. Die darin niedergelegten Fragen werden immer viel Anregung geben. Sehr wertvoll ist auch die Anknüpfung an ernste Lektüre, z. B. an Tolstois „Auf Feuer habe acht", A. Suppers „Wie der Adam starb", Hesselbachers „Der Heinerle". Vorbildlich für solche „ernste Plaudereien", wie Zurhellen sie genannt hat, sind etwa die Bei­ spiele in Försters „Jugendlehre". Im Grunde genommen sind diese ernsten Besprechungen eine Art Umkehrung der Bibelstunde: diese geht vom Bibelwort aus, jene führen darauf hinaus. Auch da, wo Bibel­ stunden bestehen, sind solche ernsten Besprechungen als vorzügliches Mittel religiös-sittlicher Erziehung nicht zu verachten. Umgekehrt ist diese Art direkter religiös-sittlicher Beeinflussung überall anwendbar, geboten aber da, wo der Bibelstunde u. ä. im Geist der Gemeinde oder besonders der Jugend erhebliche Schwierigkeiten entgegenstehen. Der direkten religiös-sittlichen Beeinflussung gegenüber redet man neuerdings von einer indirekten. Gemeint damit ist die persön­ liche Beeinflussung der Jugend durch den Leiter. Aus acht Vereinen

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wird berichtet, daß der Leiter „durch persönlichen Verkehr mit der Jugend", „durch stete Berührung und Beeinflussung", „durch Einwirkung von Person zu Person, von Freund zu Freund", „durch seinen Personlichen Einfluß" die Jugend religiös-sittlich erziehen will. Aus drei weiteren Vereinen wird neben anderen Wegen noch einmal ausdrücklich die „Einzelseelsorge", die „persönliche Beeinflussung" hervorgehoben. Der Ausdruck „indirekte" erziehliche Beeinflussung ist dabei recht irre­ führend, denn eine direktere Einwirkung als die von Person zu Person läßt sich kaum denken. Dazu kommt, daß im Grunde genommen zwischen dieser Art der persönlichen Beeinflussung und der sogenannten direkten durch Bibelstunde usw. gar kein Gegensatz besteht. Denn auch bei der Darbietung des Wortes Gottes ist es doch letzten Grundes die religiöse Persönlichkeit, die wirkt, zum mindesten ist sie stark beteiligt. Religion ist niemals anders vermittelt worden und zu vermitteln gewesen als von Person zu Person, ganz besonders die Persönlichkeitsreligion Jesn Der Unterschied ist nur der, daß die einen auf „direkte" religiöse Hinweise oder wenigstens längere Belehrungen verzichten, während die anderen durch Auslegung und Anwendung der Heiligen Schrift erziehlich wirken wollen. Die indirekte Beeinflussung erhofft von dem unmittelbaren Eindruck der Geistesart und der Persönlichkeit des Erziehers alle Wirkung. Nun wird es ein unwiderleglicher Satz sein, daß zu jeder Erziehung, einerlei, welcher Mittel sie sich bedient, ErzieherPersönlichkeiten gehören, zu denen die Jugend Vertrauen haben kann und denen sie Achtung entgegenbringen muß. Es ist nicht zu bezweifeln, daß echte Erzieherpersönlichkeiten erzieherisch wirken von selbst, durch die Berührung mit der Jugend, ob sie wollen oder nicht. „Ich glaube, die echten Erzieher wissen überhaupt nichts von Erziehung, sondern wirken unbewußt und selbstverständlich nur ihre dienende Liebe aus, die selig ist, wenn sie dienen darf" (Lhotzky). Und ein weiteres Wort Lhotzkys hat zweifellos seine Richtigkeit: „Blicke und Gedanker sind Kräfte, die Menschen beeinflussen. Wir können, ohne ein Wor. zu sagen, mit unserem ganzen Wesen Menschen auf den Weg zur Voll­ kommenheit weisen." Werm die Jugend die innere Überlegenheit eines Menschen fühlt — und sie hat ein feines Organ dafür —, so läßt sie sich gern von ihm führen. Sie sieht in ihm ihr „Ideal" und wehe derr Jugenderzieher, in dem die Jugend nicht mehr ihr Ideal erkennt. Komm: ferner noch bei der Jugend das Gefühl hinzu, hier ist einer, der uns nicht verachtet, sondern an uns glaubt und uns vertraut, der unser Freund sein will, für uns Opfer bringt, dann ist der Einfluß eines solchen Erziehers grenzenlos, auch der „unbewußte". Die Gesinnunz und das Beispiel des Erziehers sind die wirksamsten Erziehungsmächte Darum hat es seine Berechtigung, wenn in einer Reihe von Vereine! die Erziehung ganz auf den persönlichen Einfluß gestellt wird.

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Freilich, wer das tut, muß davon überzeugt sein, daß er eine Erzieherpersönlichkeit im idealsten Sinne des Wortes ist, daß er sich berechtigt glaubt, alle sonstigen Erziehungsmittel beiseite zu setzen, daß er insbesondere eine starke religiöse Persönlichkeit ist, von der un­ mittelbar religiös-sittliche Wirkungen ausgehen. Wer so hoch von sich denken kann, der tue es. Gewiß wird aber auch der starke religiöse Einschlag in seinen Reden mit der Jugend sich nicht verleugnen: ernste Besprechungen werden ihm einfach Natur sein. Aber noch eins ist zu sagen: Wenn eine Erzieherpersönlichkeit es mit der Jugend zu tun hat, so wird die Jugend unbedingte Achtung vor ihm und unbegrenztes Vertrauen zu ihm haben. Dann kann die betreffende Persönlichkeit es aber auch wagen, der Jugend mit Bibelworten zu kommen — und sie

wird es auch tun. Es scheint, als bestände bei manchen Jugendarbeiten der Irrtum, als hieße „indirekte" Jugenderziehung soviel wie ängst­ lich schweigen von allen religiösen Dingen. Davon ist z. B. bei dem Begründer dieser Art, Clemens Schultz, nicht im geringsten die Rede — im Gegenteil, er sagt seinen jungen Leuten manches ernste religiöse Wort. Es kann sich nur um eine Verlegung des Schwerpunktes handeln, von außen nach innen. Der Gewinn, den die ganzen Verhandlungen über „direkte oder indirekte" religiöse Jugenderziehung gebracht haben, liegt zweifel­ los in der Erkenntnis, daß alle noch so eifrig angewandten äußerlichen Mittel versagen, wo nicht eine Persönlichkeit sich um die Jugend müht. Es braucht kaum noch besonders gesagt zu werden, wie wichtig auch in der Jugenderziehung die Einzelseelsorge ist. Es gibt Nöte, die man mit den jungen Menschen nur unter vier Augen besprechen kann. Die Jugend muß das unbedingte Vertrauen zu dem Leiter haben, daß sie mit all ihrer Not zu ihm kommen darf, Gehör und Rat bei ihm findet und auf sein Verständnis und seine Hilfe rechnen kann. In vielen Fällen ist es schon gelungen, Jungen, die besonders „schwierig" erschienen, so zu gewinnen, was in offener Versammlung niemals mög­ lich gewesen wäre.

Wenn von persönlicher Einwirkung die Rede ist, vergesse man auch „den erziehlichen Verkehr der Jugend unterein­ ander" nicht. Man darf wohl auf die Analogie der Kindererziehung Hinweisen: wo mehrere Kinder zusammen aufwachsen, erziehen sie sich auch untereinander. Immer wird es schließlich so sein, daß man wenig­ stens einige tiefer Angelegte und innerlich Festere unter seiner Jugend findet. Man darf ihrem Einfluß schon recht viel zutrauen. Nur muß alles darauf angelegt sein, daß die zunächst einmal bunt zusammen­ gewürfelte Gesellschaft zu einer echten Gemeinschaft werde. Dazu können im Verein mit der Persönlichkeit des Leiters die ernsteren, tiefgründi­

geren Jugendlichen sehr viel beitragen.

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Wenn aber der Verkehr der Jugendlichen untereinander ein nicht zu unterschätzendes Erziehungsmittel ist, dann muß auch der Jugend Gelegenheit gegeben werden, in gutem Geiste miteinander zu verkehren. Es wäre verfehlt, die Jugend nur zur Bibelstunde oder zur Missions, stunde zu sammeln — und damit die Arbeit für getan zu halten. So kann die Jugend unmöglich Einfluß aufeinander gewinnen. Dazu kommt, daß da, wo allein di« Bibelstunde die ganze Jugendarbeit ausmacht, die Gefahr einer äußerlichen Auffassung des Ghristseins liegt, das geradezu zu einer Theorie zu werden droht. Di« praktische Seite, die EinÜbung des Christentums fehlt. Darum müssen Veranstaltungen ge­ troffen werden, bei denen christlicher Sinn, christliche Freude und christlicher Liebesgeist sich üben und bewähren kann. Und endlich muß den Bedürfnissen gesunder, starker, froher, wissenshungriger Jugend unter allen Umständen Rechnung getragen werden. Sie soll ihre überschießende Kraft auswirken können, soll Gelegenheit haben, den Sinn für Abenteurerromantik zu befriedigen, soll ihrem Spieltrieb, und wo es sich um ältere Jugend handelt, dem Wissenstrieb nachgehen können und vor allem, sie soll Befriedigung finden für einen der stärksten Jugendtriebe, den Trieb nach Geselligkeit. Gleichgesinnte Kameraden will der Junge um sich haben, um mit ihnen toben, turnen, singen, wandern, spielen und lachen zu können. Dieser Grundsatz, daß den Bedürfnissen der Jugend Rechnung getragen werden müsse, setzt sich erfreulicherweise immer mehr durch. Unter den Vereinen, über die die Umfrage unterrichtet, ist kein einziger, der nicht irgendeinen Zweig jugendlicher Betätigung neben der Bibelstunde usw. ausgenommen hätte. Da gibt es Vorträge, Unterrichtskurse, Spiele im Zimmer und im Freien, Wanderungen, Kriegsspiel«, Turnen, Schwimmen, Sport, Musik und Gesang, Auf­ führungen und Familienabende, Bibliotheken und Zeitschriften usw. Es darf in echter Jugendarbeit grundsätzlich nichts fehlen, was Jugend er­ freuen, fördern und heben kann. Nur darf der Grundsatz religiös-sitt­ licher Erziehung nicht vergessen werden — alles, was geschieht, muß diesem Ziele dienen — und umgekehrt sei nichts verschmäht, was der Erzichung dienlich sein kann. Man muß sogar noch weitergehen: nichts, was dem großen Ziele nicht widerspricht, sei ausgeschlossen — aber „alles, was im Widerstreit mit diesem Ziel steht, unterbleibe gründsätzlich". Das ist evangelische Weite. In frohem Spiel, bei gemeinsamen Wanderungen, bei geselliger Unterhaltung wird der Pfarrer oder sonstige Leiter seine Jugend auch ganz anders kennen lernen. Und wenn die Jugend merkt, daß bei ihrem Pfarrer der Grundsatz herrscht: alles zu seiner Zeit, Frohsinn und Ernst, wenn sie erlebt, daß der Pfarrer Verständnis für ihr jugendliches Wesen hat und gar selber „mitmacht", so begründet sich das Vertrauensverhältnis erst recht, und dem Pfarrer

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ist Gelegenheit gegeben, seine Jugend besser zu beeinflussen, als es manch­ mal durch viele Bibelstunden möglich ist. Die Jugend lernt ihn schätzen als den guten Kameraden! Evangelische Jugendpflege soll bestrebt sein, Pflanzstätten zu schaffen echten, starken, reinen, sittlich-religiösen Lebens. Alle Bedingungen

sollen vorhanden sein, daß solches Leben frei wachsen und sich entfalten kann. Nur keine Treibhauskultur und keine Zwangserziehung! Der rechte Boden muß geschaffen werden, rechte Lust muß unsere Jugend umwehen, rechte Pflege muß ihr zuteil werden — und unsere Jugend

wird wachsen zu starken, sturmsicheren, widerstandsfähigen Bäumen. Unsere Jungen werden zu Männern werden. Noch zwei besondere Erziehungsfragen sollen hier kurz behandelt werden: die sexuelle Frage und die Alkoholnot. Zunächst die sexuelle Frage: das brennendste Problem der Entwicklungsjahre und auch vielleicht die tiefste Not der Jugend. Welchen Weg soll man ihr gegenüber beschreiten? Man sagt heute vielfach: den Weg der Auf­ klärung. Sexuelle Aufklärung ist zu einem Schlagwort geworden — wodurch natürlich noch lange nicht die sachliche Berechtigung erwiesen ist. Für die Jugendarbeit bestehen der sexuellen Aufklärung gegenüber doch einige Bedenken: die sexuelle Frage ist kein Thema, das man vor größeren Massen Jugendlicher behandeln darf. Viele würde eine solche öffentliche Besprechung ganz abstoßen, andere würden am Ende gereizt, und dritte, die das Problem noch nicht spürten, aufmerksam gemacht. Es kann sich nur um eine individuell getriebene Aufklärung handeln, etwa unter vier Augen — aber nicht erst durch den Leiter der Jugendarbeit, sondern durch die Eltern; der Sohn sollte durch den Vater, die Tochter durch die Mutter über das heilige Geheimnis unterrichtet werden. Denn loenn die Jugend in die Hände des Jugendpflegers kommt, ist es viel zu spät — dann haben die Jungen — leider! — keine Aufklärung mehr nötig. Eine andere Frage ist die, ob man nicht der reiferen Jugend Belehrung aus dem sexuellen Gebiet zuteil werden lassen soll. Diese Frage wäre zu bejahen. Das Problem ist am stärksten gerade in der Zeit von 17 bis 18 Jahren ab. Es ist unumgänglich, da den jungen Leuten von der Größe und Heiligkeit der Ehe und den Gefahren sexueller Verschlungen zu sprechen. Das letzte sollte man möglichst einen Arzt tun lassen, der natürlich auch über den nötigen Takt verfügen muß. Die Angst vor Entgleisungen hat wohl schon manchen vor dem Versuche zurückgeschreckt. Wie kann man aber nun allgemein der Jugend bei­ stehen im schweren Kampf mit dem Geschlechtstrieb? Abzulehnen ist strikte jede systematische Spezialbearbeitung auf diesem Gebiet, wie sie sich etwa im „Weißen Kreuz" darstellt. Dauernde systematische Beschäfti- • gung mit diesen Dingen hat auch ihre Gefahr. Es wird am Ende ein Page, Jugendpflege.

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Spiel mit dem Feuer und wirkt hinsichtlich der Beurteilung des Sexual-

lebens entweder verflachend oder zerstörend. Man darf auch nicht katholisierend jede sexuelle Regung zur schwarzen Sünde stempeln. Die tiefste Möglichkeit der Hilfe ist die Hebung des allgemeinen reli­ giös-sittlichen Niveaus. Es muß dafür gesorgt werden, daß reine Luft die Jungen umweht, daß sie sich für jeden Schmutz zu

gut halten lernen. Wenn die innere Reinheit und Kraft wächst, wenn das Gewissen geschärft wird, die Verantwortung für sich selbst und auch für andere — das ist sehr wichtig — der Jugend in die Seele geschoben wird, dann braucht man kaum speziell von den sexuellen Dingen zu reden. Man muß die Jungen stolz machen: nichts tun, was nicht jeder wissen und sehen dürfte; was man vor den Menschen verbergen muß, ist gewiß auch vor Gott unrecht — dafür sorgen, daß man jederzeit jedermann in die Augen schauen kann, ohne rot zu werden, den Mannesmut aufzeigen, der sich im Widerstande gegen jebe Versuchung offenbart, nicht nur in offener Feldschlacht, das Heldentum, das sich unter Umständen auch durch die Flucht beweisen muß. Das bloße Verbot nützt wenig, es reizt höch­

stens zur Übertretung. Auch die Belehrung ist kein Heilmittel — Ver­ standesgründe lassen sich schließlich durch Berstandesgründe überwinden. Hier hilft nur eins: sittliches Urteil und sittliche Kraft. Die müssen gestählt werden. Hier wird auch besonders di« Einzelseelsorge in Betracht kommen. Freilich birgt die Einzelbehandlung eines sexuell Gefährdeten eine nicht geringe Gefahr für den, der sie unternimmt. Vielleicht wäre am besten, einen solchen Gefährdeten mit noch einem oder mehreren ernsten älteren jungen Leuten vorzunehmen. Jedenfalls muß der Junge wissen, daß auch für dies« Not der Pfarrer oder Leiter nicht ein Verdammungsurteil, sondern Verständnis hat. Wo «in Junge sich mit seiner Not dem älteren Freunde anvertraut, da ist schon unendlich viel ge­ wonnen. Es kommt eben auch hier alles auf das Vertrauen, und zwar

auf das gegenseitige, an. Nicht zu übersehen ist das negative Mittel der Ablenkung. Der junge Mensch muß soviel als möglich beschäftigt werden, und zwar so, daß die überschüssige Kraft ihre Auswirkung findet. Jeder Junge sollte zu Turnen, Schwimmen, Rudern, jeder Art von Sport, Wandern usw. herangezogen werden. Ein besseres Gegenmittel gegen sexuelle Neigungen gibt es kaum. Die allgemeine körperliche Zucht wird zwar nicht alles tun, aber der Jugend den Kampf erleichtern. Noch ungelöst ist das Problem für die ältere Jugend. Das Problem des anderen Geschlechts tritt erst mit voller Stärke etwa mit dem 17. bis 18. Lebensjahre ein. Noch so starke Verbote aufzustellen, ist für die weitaus überwiegende Mehrzahl nutzlos. Es ist nun einmal

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eine Tatsache — und darum auch gottgewollt, daß in diesen Jahren der Zug zum anderen Geschlecht sehr mächtig wird: Jugend findet sich zu Jugend. Nun hat man sich von vornherein jede Erziehungsmöglichkeit abgeschnitten, wenn man unter allen Umständen in dem Verkehr zwischen Jüngling und Jungfrau etwas Unreines wittert. Diese „Verhältnisse" sind doch — Gott sei Dank — meist sehr harmloser Natur. Wenn es zu Entgleisungen kommt, so ist zwar nicht immer — aber sehr häufig unsere „Gesellschaftsmoral" mit ihrer Verlogenheit daran schuld, daß die Jugend durch das Vorurteil gegen den Verkehr der beiden Geschlechter miteinander oft geradezu genötigt wird, den Schutz der Nacht oder ein­ samer, stiller Winkel aufzusuchen. Ein junger Mann kann es ja kaum wagen, am Hellen Tage vor der Öffentlichkeit sich mit einem Mädchen

zu zeigen, ohne daß „die Leute böse Mäuler hätten". Dazu kommt, daß die ängstliche Trennung beider Geschlechter von früh auf den harm­ losen Verkehr unterbindet. — Jedenfalls ist es Tatsache, daß die ältere Jugend, auch da wo sie selbst in der Jugendarbeit mitarbeitet, in einem gewissen Alter abfällt, weil das andere Geschlecht in ihr Leben hinein­ getreten ist. — Aus alledem heraus sei ein Vorschlag gemacht, der gerade­ zu eine Notwendigkeit ist: Wir müssen der älteren Jugend Gelegenheit geben zu harmlosem Verkehr mit den Mädchen. Auf dem Lande ist dies ja leichter möglich: die Jugend wächst gemeinsam auf und wird gemeinsam unterrichtet. Sie ist an den harmlosen Verkehr gewöhnt. Den nun zu unterbinden ist eigentlich un­ verständig. Darum sollten in kleinen Landverhältnissen in der Jugend­ arbeit Knaben und Mädchen vereinigt bleiben. Unter Aufsicht sollten sie immer ein paar Stunden fröhlich sein können, ernste Beeinflussung, gute Belehrung empfangen und edle Unterhaltung genießen. Man sagt dagegen: lvas geschieht aber aus dem Heimwege? Wahrscheinlich gar nichts so furchtbar Schlimmes. Man muß nur dagegen fragen: was geschieht dann, iucnn man die Jugend den ganzen Abend oder Sonn­ tags sich selber überläßt? Wer so gar kein Vertrauen zur Jugend hat, so wenig ihre im Grunde harmlose Gesinnung kennt, so wenig von einer ernsten Erziehung erhofft — der lasse überhaupt die Finger von jeder Jugendarbeit. Man sagt: wenn etwas vorkommt, sind wir verantwort­ lich. Nur Böswilligkeit kann dem Leiter die Verantwortung in die Schuhe schieben. Freilich, man ist in der Jugendarbeit an diese Ver­ logenheit nachgerade gewöhnt: sonst darf das Schlimmste passieren, darum kümmert sich kein Mensch, und wer macht den Eltern über ihre Versäum­ nisse Vorwürfe? Wenn aber im Anschluß an eine Jugendversammlung draußen irgend etwas vorkommt, gleich wird gesagt: da sieht man's ja. Diese Verlogenheit wird sich aber wohl tragen lassen, wer Jugendarbeit treibt, muß ja so unendlich viel tragen lernen. — I n größeren n*

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Siege zum Ziel.

Verhältnissen und in der Stadt ist leider an eine gemeinsame

Jugendpflege nicht zu denken.

Hier ist die Trennung der Geschlechter

zu ängstlich durchgeführt — was natürlich das Gegenteil des Beab­ sichtigten büvirkt: bedauerlich früh beginnen die „Verhältnisse" und nicht

etwa nur in den sogenannten unteren Schichten, sondern gerade bei den höheren Schülern und Schülerinnen etwa. Und vielleicht hat der recht, der nicht immer für die Harmlosigkeit des Verkehrs die Hand ins Feuer legen möchte. Das aber ließe sich Wohl erreichen: ab und zu, oder viel­ leicht regelmäßig in nicht zu großen Abständen gemeinsame Veran st alt ungen für die männliche und die weibliche Jugend ins Werk zu setzen. Zunächst käme dafür nur die ältere Jugend in Betracht. Vielleicht darf dabei auch der Gedanke ausgesprochen werden, daß bei diesen gemeinsamen Veranstaltungen interner Art in Anwesenheit der Eltern ein Tanz erlaubt sei. In der Stadt ist das Tanzen der Jugend geradezu ein Problem. Die Tanzstunde mit all ihren Auswüchsen, zu denen namentlich die überreichen Extraveranstaltungen gehören, nimmt die jungen Leute ganz in Beschlag, für sonst etwas ist kaum noch Interesse da — zu ihrem eigenen Schaden. Dann beginnt die Zeit des Umherziehens in allen Tanzlokalen des Ortes und der Umgebung. Die „Tanzwut" grassiert. Die jungen Leute werden nicht auf ein Verbot achten — es wäre auch unevangelisch. Sie entgegnen einfach: „Tanzen wollen wir, wo sollen wir tanzen?" Wenn sie in dem Jugendverein niemals Gelegenheit dazu haben — sie werden sie anderswo suchen. Ob wir sie so ohne weiteres jedem beliebigen Tanzsaal ausliefern dürfen? Es ist mindestens eine Frage, die ernster Erwägung wert ist. Jedem, der praktisch Jugendpflege treibt, macht das Problem bitter zu schaffen. — Man vergesse ferner nicht den erzieherischen Einfluß, den die Anwesen­ heit des ganz anders gearteten Mädchens auf die jungen Burschen haben würde. Deren lautes, robustes Kraftwesen würde mindestens sehr stark gedämpft. — Darin aber ist gewiß ein nicht zu unterschätzendes Mittel zur Gesundung unserer Jugend zu erblicken: Schaffen wir Ge­ legenheit zu harmlosem Verkehr der beiden Geschlechter. Man mag auch die Jugend gemeinsam zu gemischten Jugendchören, Aufführungen u. dgl. heranziehen — nur, daß dann immer nur eine Auslese, nicht die Allgemeinheit in betracht kommt. Die andere schwierige Frage ist die A l k o h o l f r a g e. Viele meinen ja, mit der Alkoholnot sei jede sittliche Not beseitigt. Das ist

eine unberechtigte Übertreibung. Aber in tat Alkoholfrage muß etwas getan werden. Nur darf dem Fanatismus dabei kein Raum gelassen werden. Unsere Jugendvcreine dürfen kein« Blau-Kreuzvereine werden, so wenig als Weiß-Kreuzvereine. Es widerspricht von Grund aus dem Wesen der Jugend, sie mit irgendeinem einseitigen Interesse fesseln zu

Wege zum Ziel.

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wollen. Zudem ist ja der Standpunkt der Leiter in der Alkoholfrage sehr verschieden — Abstinenz und Mäßigkeit ringen um die Palme. Aber jedem einsichtigen Jugendpfleger ist es klar, daß man der Alkoholgefahr irgendwie entgegentreten muß. Zunächst kommt hier die Belehrung in betracht, über Alkoholgefahr und die Alkoholnot sollten in jeder Jugendarbeit öfter Vorträge gehalten werden. Hier unterliegt die Auf­ klärung keinem Bedenken. Nur darf keine wütende Agitation getrieben werden, die das Gegenteil von dem erreicht, was sie will. Es sei nur an Försters Wort in der „Lebensführung" erinnert: „Wer blieb nicht schon dem Alkohol treu aus bloßem Ärger über jene unfreie Art gewisser Abstinenten, in deren fanatischer Agitation sich doch nur eine neue Art von Unmäßigkeit äußert, die alle anderen Interessen im Innern ertötet?" — Aber auch hier wird die Belehrung allein nicht genügen, wenn nicht die sittliche Kraft gespannt wird. Wo namentlich ein erblich Belasteter um seine Befreiung kämpft, da ist eine eminente sittliche Kraft erforderlich. — Auf diesem Gebiete kann aber auch praktisch viel geleistet werden. Unbedingter Grundsatz muß sein, daß die Jugendarbeit vollständig alkoholfrei betrieben wird. Alkoholfreie Getränke zu billigem Preise können foilgehalten werden und in mehreren Vereinen, auch kleinen, hat man recht gute Erfahrungen damit gemacht. Auch soll und muß man versuchen, alkoholfreie Familienabende zu halten. Wo es geschehen ist, ist zum Staunen vieler der Beweis erbracht worden, daß zur frohen Geselligkeit gar nicht unbedingt Alkohol gehört, sondern daß man auch bei Tee, Kaffee und Kuchen sich vorzüglich — ja noch besser — unterhalten kann. Wenn auch vielleicht zunächst einige Väter streiken, sie werden sich' schon eines besseren besinnen. Wanderungen und Ausflüge sollten grundsätzlich alkoholfrei sein. — Ob man f ü r die ältere Jugend auch das Alkoholverbot aufrechterhalten soll, ist immerhin eine Frage. Die Gefahr ist die, daß sie nach dem „Vereins­ abend" im Wirtshaus Nachfeier halten. Aus diesem Grunde ist man hier und da auf den Gedanken gekommen, den jungen Männern mäßigen

Alkoholgenuß zu gestatten. Das ist natürlich nur da möglich, wo für die jungen Männer eigene Räume vorhanden sind. Da dürfen sie schließlich auch einmal eine Zigarre rauchen, während bei der anderen Jugend auch hier strikte Enthaltsamkeit während aller Zusammenkünfte usw. geboten ist. In einem Verein ist in der Beziehung ein interessanter Versuch gemacht worden. Auf Verlangen der Mitglieder des Vereins junger Männer war Apfelwein beschafft worden. In der ersten Zeit trank auch jeder sein Fläschchen. Nach einigen Wochen aber war kaum hier und da ein Apfelweintrinker zu sehen! Daß der Leiter sich des Alkohols und Nikotins da enthält, wo er es von der Jugend verlangt, ist ja so selbstverständlich, daß es kaum erwähnt zu werden braucht. — Jeden-

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Leiter, Helfer, Mitarbeiter.

falls muß unter allen Umständen auch der sexuellen und Alkoholgefahr gegenüber der Grundsatz der Erziehung gewahrt werden. Mit Verboten ist nichts zu erreichen, höchstens daß die Jugend, solange sie unter den Augen des Leiters ist, sich entsprechend verhält. Aber das Ziel muß sein, widerstandsfähige und Willensstärke Menschen heranzu­ ziehen, die überall und jederzeit als Männer bestehen können, die auch dann, wenn sie der Jugendpflege entwachsen sind, so erzogen sind, daß sie eine Grundlage für ihr ganzes Leben gewonnen haben. Das aber muß die tragende Grundüberzeugung aller evangelischen Jugendarbeit sein: echte, starke, große Charaktere wachsen am besten auf dem Boden des Christentums. Unsere Jugend kann nur dann stark, rein und gut werden, wenn es gelingt, sie in die Nachfolge Jesu zu bringen, wenn sein Geist und seine Kraft in ihnen zündet und brennt.

§ 13. Leiter, Helfer, Mitarbeiter. Evangelische Jugendarbeit ist grundsätzlich Aufgabe der evangelischen Gemeinde. Sie muß also auch dafür sorgen, daß die Jugendpflege von den rechten Männern in die Wege geleitet und getrieben wird. In erster Linie kommt natürlich der Pfarrer als Beauftragter der Gemeinde in betracht. Der Seelsorger der Gemeinde soll auch die Seelsorge an der Jugend üben, denn Jugendpflege im evangelischen Sinne ist nichts anderes als Seelsorge. Der Pfarrer kennt auch die Jugend durch den Religionsunterricht und vielleicht den Kindergottesdienst. Er kennt, zu­ mal in kleineren Gemeinden, die häuslichen und sozialen Verhältnisse der Jugend und steht in enger Fühlung mit den Familien, loas einen nicht zu unterschätzenden Vorteil für die Jugendarbeit bedeutet. Ferner besitzt er auch eine weitgehende Allgemeinbildung, die den Pfarrer besonders geeignet zur Jugendpflege macht. Durch die Leitung des Pfarrers ist ja auch wohl der religiös-sittliche Charakter der ganzen Arbeit am besten gewährleistet. Er sollte auch am meisten Verständnis für jugendliches Seelenleben besitzen und vor allem die nötige Beobachtungsgabe. Denn daran liegt in der Jugendarbeit alles, die Jugend und ihr Innenleben richtig zu beurteilen und die ganze Arbeit danach einzurichten. Sonst ist der Mißerfolg sicher. Nun ist es ja richtig, daß die Jugendarbeit noch ganz besondere Forderungen an den Leiter stellt. Goldene Worte über die zur Leitung der Jugend befähigten Männer hat Bauer in Darmstadt 1909 ge­ sprochen: „Wo aber nehmen wir die Männer her, die unsere gewerbliche Jugend erziehen? Durch Studium, Prüfungen, Besoldung und Titel werden sie nicht gewonnen. Männer müssen es sein von freiem Mute, von ungebrochenem Charakter, fähig und willig, ihr Bestes zu erschließen, nicht wie weisheitgepanzerte Feiglinge hinter dem Bollwerke des Käthe-

Setter, Helfer, Mitarbeiter.

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ders, Männer voll Liebe zur Jugend ohne Verliebtheit, Männer voll lichten Frohsinns und tiefem Ernst, Männer vor allem mit der Wünschel­ rute für die goldenen Schätze in den Herzen unserer schwerbedrohten und doch so lieben deutschen Jugend." Das sind eigentlich Forderungen, wie sie an jeden Pfarrer gestellt werden müssen, der auch nicht „durch Studium, Prüfungen, Besoldung und Titel" gewonnen wird. Das erste, was ein Jugendpfleger besitzen muß, ist unbegrenz­ tes Vertrauen zur Jugend. Das ist zweifellos die „Wünsche!rute", mit der man ihr das Herz auftun kann — und nur mit ihr allein. Mit Vertrauen gewinnt man Vertrauen. Wer auf diesem Wege nicht das Herz der Jugend gewinnen kann, der wird nie fruchtbare Arbeit an ihr tun können. Wer nur Schlechtigkeit an der Jugend sieht, der verzichte auf alle Jugendpflege. Froher und fester Glaube an die Jugend ist die unumgängliche Vorbedingung. Und dieser Glaube ist auch das wirksamste Erziehungsmittel, das es der Jugend gegenüber überhaupt gibt. Wenn es noch ein Mittel gibt, das in der jugendlichen Seele zweifellos verborgene Gold zutage zu fördern, so ist es solch un­ begrenztes Vertrauen. Dieses Vertrauen aber muß sich paaren mit ernster Zucht. Tas Vertrauen darf nicht zur Schwächlichkeit werden. Zwei Gefahren unterliegt immer jeder Jugendleiter: der einen, daß er der Jugend zu sehr nachgibt und sich so der Erziehungsmöglichkeit beraubt, der anderen, daß er die Jugend „schulmeistern" will und sie dadurch gründlich abstößt. Der Freiheitsdusel und die Schulmeisterei sind beide der Jugendarbeit gleich todfeind. Die Jugend begehrt Freiheit und sie bedarf der Autorität. Dieses Grundproblem muß jeder Jugend­ arbeiter lösen. Es ist aber mit keiner noch so schönen Theorie zu lösen — sondern nur durch die Persönlichkeit des Leiters. Nur die rechte Persönlichkeit findet immer die haarscharfe Grenze zwischen Autorität und Freiheit — diese Grenze kann nicht ohne ernste Gefahr überschritten werden, weder nach rechts noch nach links. Gehorsam und Freiwilligkeit, das sind die beiden Grundpfeiler, auf denen die Jugenderziehung beruht. Auf einen allein kann man sie nicht gründen. Zucht braucht unsere, der Gefahr der Verweichlichung ausgesetzte Jugend unbedingt, sie muß sich dem stählenden Zwange fügen lernen, sich Autoritäten beugen können. Wer aber solche Zucht üben will, der braucht unbedingt das ganze Ver­ trauen der Jugend und zur Jugend.

Zur Jugendarbeit gehört eine Unsumme von Geduld und Freudigkeit. Die Früchte reifen gar langsam und bleiben oft ge­ nug unsichtbar. Darum braucht der Jugendarbeiter starken Glauben an die unbedingte Wirksamkeit des Guten und an sein Wachstum auch da, wo es sich nicht kontrollieren läßt. Zur Jugendarbeit gehören Menschen, die sich durch keinen Mißerfolg entmutigen lassen, die bei

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Setter, Helfer, Mitarbeiter.

hundertmaligem Mißlingen Kraft und Freudigkeit haben, das 101. Mal von neuem zu beginnen. Nicht minder groß muß der O p f e r s i n n

des Jugendarbeiters sein. Viel Freizeit und Persönliche Liebhaberei muß er opfern können. Er muß manches andere, was sich ihm bietet, drangeben können um der Jugend willen. Aber solches Opfer beweist auch seine werbende Kraft, hier wie vielleicht sonst nirgendwo. Es gewinnt die Jugend, es ist der Weg z»l ihr. Aber das sind ja nur eigentlich integrierende Bestandteil« echten Christentums. Auf seinem Boden wachsen ja Vertrauen, Freiheit, ernste Zucht, Geduld, Opfermut, Selbstlosigkeit. Darum ist auch vielleicht die Jugenderziehung auf religiösem Grunde die dauerhafteste und aussichts­ reichste. — Es ist klar, daß jeder Jugendarbeiter der ihm anvertrauten Jugend überlegen sein muß, aber seine Überlegenheit nicht absichtlich fühlen lassen darf. Die Jugend muß sie selbst spüren. Überlegenheit auf allen Gebieten: vor allem an Charakterbildung und Selbstzucht, an Lebenserfahrung — aber auch an Bildung. Letzten Grundes müßte der Jugendarbeiter «ine enorme Vielseitigkeit besitzen, ja ein Genie sein. Nach alledem ist es wohl richtig, daß, zumal in kleinen Verhältnissen, der Pfarrer der geeignete Mann ist, die Jugendpflege in die Hand zu nehmen. Jeder Pfarrer muß heutzutage Jugendgeistlicher sein. Mindestens muß der Pfarrer Fühlung mit der Jugendarbeit seiner Gemeinde haben und an einem Zweige mitarbeiten — etwa di« religiös­ sittliche Beeinflussung in engerem Sinne muß seine Arbeit sein, wo er aus irgendwelchen Gründen nicht die ganze Arbeit leisten kann. Und das sei gleich gesagt, dazu wird er in den wenigsten Fällen imstande sein. Aber selbst in großen Gemeinden, wo ein Berufsarbeiter für die Jugend­ pflege angestellt ist, darf der Pfarrer der Arbeit nicht ganz fern­ stehen, er muß mit dabei tätig sein, nicht nur in Sitzungen und bei Festen, sondern in der laufenden Arbeit selbst. Zwei Extremen darf der Pfarrer nicht verfallen: gar nichts tun und alles allein tun wollen. Das erste richtet sich von selbst. Das zweite wird ohne Schaden für di« Arbeit selten durchgeführt werden können. Denn ohne ständige, regelmäßige Arbeit ist der Erfolg gering oder gleich null. Tatsächlich steht es so, daß in den weitaus meisten Vereinen der Pfarrer Leiter der Jugendarbeit ist oder mindestens als Vorsitzender die Verantwortung trägt. In einer ganzen Reihe von Jugendvereinigungen tut er aber auch die ganze Arbeit allein. Wer soll ihm denn bei der Arbeit helfen? Der Pfarrer muß unbedingt Helfer haben, es könnte ja auch der Fall eintreten, daß der Pfarrer aus irgendwelchen Gründen gar nicht an der Arbeit sich beteiligen könnte, was ja kaum Vorkommen dürfte.

Aber schließlich m u ß es ja der Pfarrer nicht sein.

Es könnte

Leiter, Helfer, Mitarbeiter.

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ja auch sonst irgendein dafür begabter Mann die Jugendarbeit tun — aber Pfarrer und Gemeinde müssen unbedingt hinter der Arbeit stehen. Vor allem muß eine Person leitend an der Spitze stehen. Sonst ist die Stetigkeit und die Geschlossenheit der Arbeit nicht garantiert. Es ist nicht richtig, wenn etwa zwei Pfarrer abwechselnd die Arbeit leiten. Selbstverständlich sind für jeden Jugendarbeiter die oben ange­ deuteten Grundforderungen unerläßlich. Da es sich bei der evangelischen Jugendarbeit um religiös-sittliche Erziehung handelt, muß es Grundsatz sein, daß alle Helfer, einerlei, welche Arbeit sie in der Jugendpflege tun, innerlich bewußt auf religiösem Boden stehen.

Nächst dem Pfarrer kämen die Lehrer als Helfer in betracht. Aus neun Vereinen wird von der eifrigen verständnisvollen Mitarbeit der Lehrer berichtet, zum Teil wird ihnen warme Anerkennung für ihre Mitwirkung gezollt. Aus vielen Orten aber wird berichtet, daß die Lehrerschaft sich gänzlich fernhält, „kein Interesse für christliche Jugend­ pflege" habe usw. Hie und da beruht auch die Ablehnung der Mit­ arbeit durch die Lehrer auf dem schlechten Verhältnis zum Pfarrer — doppelt bedauerlich, wenn unter persönlichen Reibereien eine ernste, gute Sache leiden muß. Es ist aber nicht zu bezweifeln, daß die Lehrer sich zur Mitarbeit an vielen Orten noch heranziehen lassen und gerne bereit sind, mitzuhelfen. Freilich ist es sehr bedenklich, wenn aus einem Orte berichtet wird, daß die Lehrer „auf Wunsch des Schulinspektors" sich beteiligen wollen. Hilfe, die nicht auf völliger Freiwilligkeit beruht, ist in der Jugendarbeit ganz wertlos, sie verdirbt mehr als sie nützt. Auf jeden, der „auf Wunsch" von oben her mittut, soll man ja verzichten. Eins sollte man bei der Mitarbeit der Lehrer wohl berücksichtigen: man soll niemals Lehrer zur Mitarbeit an der Jugend heranziehen, die sie im Fortbildungsunterricht oder in höheren Schulen im Unterricht haben. Denn dann besteht die große Gefahr, daß die Jugend schließlich dem Lehrer zuliebe sich beteiligt, auch allerlei Vorteile herauszuschlagen hofft, und auch für den Lehrer selber könnte es nicht ohne Gefahr sein. Helfer an der Jugendarbeit kann aber schließlich jedes G e meindeglied sein, sofern es auf religiösem Boden steht, sittlich ein­ wandfrei ist und sich zur Jugendarbeit eignet. Arbeitgeber und Lehr­ herren könnten so in Fühlung mit den jungen Leuten treten, es würde ein ganz anderes Verhältnis werden. Arbeitgeber und Lehrmeister be­ kämen ein ganz anderes Verständnis für die Jugend, das Vertrauen der Jugend zu ihnen wüchse und die beiderseitigen Klagen würden sich min­ dern. Tatsächlich, helfen schon an manchen Orten Gemeindeglieder frei­ willig mit. Hier ist es ein pensionierter Beamter, der sich mit der Jugend beschäftigt, dort beaufsichtigt ein älterer Mann die Turnstunde, „Handwerksmeister, deren Lehrlinge im Verein sind, beaufsichtigen die

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Letter, Helfer, Mitarbeiter.

Jugendlichen", „bei der Verhinderung des Pfarrers ist ein älteres Gemoindeglied zur Aufsicht da", „ein Ingenieur arbeitet bei den Abenden mit", hier leitet ein Hutmacher den Turnunterricht, dort ein Buchhalter einen Stenographenkursus usw. Nun ist es ja leichter, für einen Vortrag ab und zu eine freiwillige Kraft zu gewinnen, für Führung einer Wanderung, Leitung eines Kriegs­ spieles usw. Dauernde freiwillige Mitarbeiter sind viel schwerer zu finden. Man könnte daran denken, solche dauernde Mitarbeiter für ihre aufgewendete Zeit zu bezahlen, wie man ja auch Leiter von Posaunenund Kirchenchören besoldet. An und für sich ist natürlich dagegen nichts einzuwenden. Nur ist große Vorsicht am Platze, daß nicht schnöde Selbst­ sucht zur Mitarbeit reizt. Wer nicht ein rechtes warmes Herz für die Jugend hat, dessen Arbeit nutzt auch nichts, wenn sie bezahlt wird. Man sollte warten, wie ein freiwillig Mitarbeitender sich bewährt und dann erst sollte man an Bezahlung denken. Unter allen Umständen muß bei allen Helfern der oberste Grundsatz festgehalten werden: religiös-sittliche Erziehung der Jugend. Wo es möglich ist, sollte man Berufsarbeiter anstellen. Notwendig ist es in allen größeren Gemeinden, vor allem in den Städten, und für größere Landbezirke. In vier Städten Hessens sind jetzt Berufs­ arbeiter für die Jugendpflege angestellt: in Gießen, Offenbach und Mainz Diakone, in Darmstadt ein Pfarrassistent als Jugendgeistlicher. Hoffentlich gelingt es mit der Zeit, mehr Jugendpfarrstellen zu gründen, und zwar definitiv besetzte. In den Städten ist Jugendarbeit im

Nebenamt unmöglich, oder es kann nur halbe Arbeit getan werden. Außerdem liegen in den Städten noch andere ernste Aufgaben: Fürsorge für die gefährdete Jugend, Jugendgerichtshilfe usw. Die Arbeit in der Stadt mit der großen Masse der Jugendlichen, der weiten Verzweigung der Arbeit und den viel stärkeren Widerständen erfordert eine ganze Kraft, zumal die Pflege der weiblichen Jugend mit derselben Energie in Angriff genommen werden muß als die der männlichen. Notwendig ist sie nicht minder. Die wertvollste Hilfe erwächst aber schließlich aus dem Kreise

der Jugendlichen s e l b st. In dem Wartburgverein zu Frankfurt am Main besteht ein ausgedehntes „Mitarbeiter"-System. Erfunden worden ist die Mitarbeit Jugendlicher von Frankfurt gerade nicht. Schon in den ältesten Vereinen sind jugendliche Mitglieder bei der Jugend­ arbeit tätig gewesen. Aber ausgebaut wurde diese Mitarbeit der Mit­ glieder zum System durch den Wartburgverein zu Frankfurt. Von Frank­ furt aus ist dann das Mitarbeitersystem in mehrere* hessische Vereine übergegangen, vor allem in die Wartburgvereine Offenbach und Mainz, deren beide Vereinsleiter (Diakone) ihre Schulung in Frankfurt er­

halten haben.

Letter, Helfer, Mitarbeiter.

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Nicht nur der Mangel an Hilfskräften ist der Grund, aus dem es angezeigt erscheint, die Jugend selber zur Mitarbeit heranzuziehen. Ihr Drang zur Aktivität, zur Selbstbetätigung fordert es geradezu. Reifen­ der Jugend ist es überall da einfach unerträglich, wo sie zur Passivität verdammt ist. Sie will nicht immer etwas mit sich tun lasten, sie will selber etwas tun. Sie will Subjekt sein und nicht Objekt. Sie hat ein ganz anderes Interesse an einer Sache, bei der viel von ihr selbst abhängt, wenn ein Stück Verantwortlichkeit auf sie übertragen wird. Die Jugend wird auch eine Sache, die sie selbst mitträgt, ganz anders zu verteidigen wissen als eine, an der sie nicht aktiv teilhat. Man kann geradezu sagen: überall d a wird die Jugendarbeit nicht vorwärtsgehen, wo es nicht gelingt, die

Jugend zur Mitarbeit heranzuziehen. Eine Zeitlang wird das Neue sie fesseln, wenn sie aber alles durchgekostet hat, dann sucht sie nach neuer Unterhaltung. Vor allem aber ist nicht zu über­ sehen, daß die praktische Arbeit das vorzüglichste Erziehungsmittel ist, das es geben kann. Selbstzucht, Opfersinn, Gemeinschaftsgeist, Ver­ träglichkeit kann hier die Jugend vorzüglich lernen. Sie kann auch manches heilsamerweise dabei verlernen: Stolz, Hochmut und Selbst­ überhebung. Die Grenzen eigener Fähigkeit und eigenen Könnens wird sie sehen, Selbstbescheidung üben lernen. Freilich darf man von werdender Jugend nicht mehr verlangen, als sie geben und leisten kann. Man muß immer daran denken, daß es werdende Jugend ist, die noch lange nicht über sicheres, klares Urteil verfügt, die noch nicht die Reife des Mannes hat, weil sie sie nicht haben kann. Die Jungen sind auch nicht alle gleich: da sind jüngere, die ein überraschend ernstes, tiefgründiges Wesen haben, und ältere, die die Kinderschuhe noch lange nicht ausgezogen haben. Der eine ist mit 16 Jahren aus den Flegeljahren heraus, der andere steckt mit 20 Jahren noch mitten drin. Hier in der rechten Auslese, die rechten Jungen an die rechte Arbeit zu stellen, wird an die Menschenkenntnis und auch an die Objektivität, die Unparteilichkeit des Leiters die höchste Anforderung gestellt. Besonders darf nur die Reife und die Fähigkeit für die Auswahl der Mitarbeiter maßgebend sein, und unter keinen Umständen Name und Stand. Die praktische Erfahrung zeigt, daß die Jugend sich dem gerechten Urteil des Leiters gerne und willig fügt. Jede Ungerechtigkeit empört sie ebensosehr.

Dabei ist zu beachten, daß der Mitarbeiter Bewegungs­ freiheit haben muß. Er darf nicht das Werkzeug des Leiters sein, das mechanisch gehorcht und automatisch abschnurrt. Tie Mitarbeiter müssen dazu erzogen werden, eigene Gedanken zu haben, selbständige Vor­ schläge zu machen und auch selbständig zu handeln. Sie dürfen nicht in

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Setter, Helfer, Mitarbeiter.

eine Zwangsjacke gesteckt werden. Darf auf der einen Seite nicht die Selbständigkeit der mitarbeitenden Jugend erdrückt werden, darf sie nicht zum willenlosen Automaten erniedrigt werden, so darf ihr auf der anderen Seite nicht zu viel Spielraum gelassen werden, damit die ganze Arbeit nicht leidet, auseinanderfällt oder auch an einer oder der anderen Stelle grundverkehrt getan wird. Es hat sich hie und da schon bitter

gerächt, daß jungen Leuten zuviel in die Hand gegeben wurde. Hier bewegt sich eben der Leiter wieder auf einer Linie, scharf wie des Messers Schneide, wie fast überall in der Jugendarbeit. In dem Leiter

muß eine gewiss« Großzügigkeit vorhanden sein. Er muß die jungen Leute möglichst selbständig arbeiten lassen, darf sie nicht auf Schritt und Tritt nörgelnd beengen, muß auch hinnehmen können, wenn sie einmal etwas anders machen, als er es sich dachte, falls kein Schaden daraus entstehen kann — er muß es verstehen, die jungen Leute eigene Er­ fahrungen machen zu lassen. Jederzeit aber müssen die Fäden der ganzen Arbeit in der Hand des Leiters zusammenlaufen, bei aller Zurückhaltung, die er seinen Mitarbeitern gegenüber üben muß,

muß er die Zügel in den Händen behalten — aber nur das Ende der Zügel! Die Zweifelsfrage drängt sich auf: Können denn die jungen Leute Mitarbeit in der Jugendpflege leisten? Theo­ retisch gibt's darauf keine Antwort, weder ja noch nein. Die Praxis sagt aber: ja, sie können es. Es ist für manchen Zweifler eine über­ raschende Erfahrung gewesen, mit welchem Ernst mancher junge Mann sein Amt aufgefaßt und durchgeführt hat. Man muß nur die Ämter nach Gaben und Kräften austeilen. Es gibt Vereine, deren Existenz ohne die Mitarbeiter geradezu gefährdet wäre. Wobei nicht besonders gesagt zu werden braucht, daß keiner ohne trübe Erfahrungen mit seinen Mitarbeitern bleiben wird. Sie müssen auch erst herangezogen, für die Mitarbeit erzogen werden. Selbstverständlich ist ja wohl, daß zunächst die älteren in Betracht kommen, die schon durch den Verein hindurch­ gegangen sind oder wenigstens eine gewisse Zeit ihm angehört haben und durch ihr Verhalten eine gewisse Gewähr für Ernst und Tauglichkeit ge­ boten haben. Die Mitarbeiter müssen auch stetig angeleitet werden. Besondere Mitarbeitersitzungen müssen abgehalten werden, und zwar häufiger, nicht etwa alle Vierteljahre, wie es in einem Verein geschieht, sondern möglichst wöchentlich. Diese Sitzungen dürfen nicht nur mit geschäftlichen Dingen ausgefüllt werden, so wichtig auch das Kleinste ge­ nommen und so ernst es besprochen werden muß, sondern da müssen auch prinzipielle Fragen erörtert werden; etwa: „Was ist von einem Mit­ arbeiter zu verlangen?", „Die Behandlung schwieriger Mitglieder", „Wie beschäftige ich meine Mitglieder?", „Das Ziel unserer Arbeit" usw.

Letter, Helfer, Mitarbeiter.

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In diesen Sitzungen muß auch Anerkennung und Tadel seine Stätte haben in offener, gegenseitiges Aussprache. Noch eine Frage könnte aufgeworfen werden: Haben denn die jungen Leute die nötige Autorität? Sie sind doch selbst Jugend unter Jugend. Sie haben sie nicht alle. Sie haben überhaupt nicht irgendeine äußerliche Autorität außer der, die ihnen der Rückhalt an der Leitung gibt. Disziplinarmittel, die sie selbständig handhaben können, haben sie auch nicht. Tie Erfahrung wiederum zeigt, daß trotz­ dem den Mitarbeitern die Autorität nicht fehlt — es ist mehr eine kameradschaftliche Autorität, wenn man so sagen darf. Es liegt alles daran, daß der Leiter die rechten jungen Leute findet, die doch eine ge­ wisse Überlegenheit über die übrige Jugend haben. Der beugt sich die Jugend immer. — Auch sage man nicht: die Mitarbeiter werden zu sehr nicht etwa ihrer Freizeit beraubt, sondern ihr Beruf leidet am Ende darunter. Die Erfahrung wird jeder, der solche zu machen Gelegenheit hat, bestätigen, daß die tüchtigsten Mitarbeiter auch die Berufstüchtigsten sind. Nun aber die Hauptfrage: Zu welcher Arbeit können sie herangezogen werden und wieviele soll man als Mitarbeiter heranziehen? Grundsatz muß es sein, m ö g l i ch st viele als Mitarbeiter zu gewinnen. Ein Bericht sagt gar, daß alle Mitarbeiter sind. Das muß auch in gewissem Sinne so fein, daß eine Jugendvereinigung eine Arbeitsgemeinschaft ist, in der keine Drohnen geduldet werden. Das ist die große Kunst und die Lösung des Problems, die Jugend zu gewinnen und bei der Sache zu halten: möglichst alle beschäftigen. So sind im Wartburgverein zu Offenbach von 275 Mitgliedern 93 als Mitarbeiter tätig (einzelne haben mehrere Ämter), im Wartburgverein zu Mainz 31 von 100, in der Jugendvereinigung der Petrusgemeinde zu Darmstadt gibt es 36 Mitarbeiterämter (100 Mit­ glieder), im Jünglingsverein zu Neu-Isenburg 8 (30 Mitglieder) usw. Es gibt umgekehrt eine Reihe von Vereinen, die gar keinen jugendlichen Mitarbeiter haben — es sind meist solche, die auch nicht vorwärts kommen. Eine große Zahl von Jugendvereinigungen — es sind die weitaus meisten — haben nur vereinzelte Mitarbeiter. Das ist verkehrt. Sie begeben sich des wirksamsten Mittels, die Jugend zu fesseln und die Arbeit wirklich intensiv zu gestalten. Die Mitarbeiter müssen nämlich, namentlich in großen Vereinen, die Fühlung mit dem einzelnen Mit­ glied aufrechterhalten, die der Leiter nicht haben kann. Durch die Mitarbeiter erreicht der Leiter auch den letzten. Ferner können die Mitarbeiter die Fühlung mit dem Elternhaus durch Besuche bewahren, auch das kann der Leiter nicht immer. Sie können unter ihren Kame­ raden auch eine wirksame Werbetätigkeit entfalten. Rechte Mitarbeiter

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Letter, Helfer/ Mitarbeiter.

bilden die Kerntruppe der Jugendarbeit, die nach außen von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.

innen

und nach

Wenn man möglichst viele beschäftigen will, so muß auch Arbeit für viele da sein. Was können die Mitarbeiter an Arbeit leisten? Sehen wir einmal zu, was sie tatsächlich in den Vereinen tun. Folgende Arbeitszweige für Mitarbeiter werden angegeben: Vorsteher der Bezirke, Gruppenleiter, Vertrauensmänner, Vorsteher der Abteilungen (Wander-, Radfahr-, Spiel-, Schwimm-, Musik- usw. Ab­ teilung), Bibliothekar oder Bücherwart, Spielleiter, Turntvart, Kassen­ wart oder Rechner, Schriftführer, Vereinsordner, Vereinspfleger, Zeugwart, Spielwart. Aus zwei Vereinen wird auch berichtet, daß ein Mit­ glied als „Vereinsdiener" fungiert, wobei in dem einen Falle auch noch eine Bezahlung desselben (15 Pfennige für den Bestellgang) festgesetzt ist. Das bedeutet eine schwere Verkennung der Art der Jugendvereine. Hier sind sie alle Diener im Verein, die sich gegenseitig dienen wollen. Vor allem muß alle Mitarbeit der Jugend freiwillig sein, von Bezahlung darf kein« Rede sein. Das wäre der Anfang vom Ende. Die für die Mitarbeiter in betracht kommenden Arbeitszweige seien noch kurz durchgesprochen, in den folgenden Abschnitten wird ja immer wieder darauf hingewiesen werden müssen. Vor allen Dingen handelt es sich um den Grundsatz der S e l b st v e r w a l t u n g. Heranwachsende Menschen wollen ihre Angelegenheiten selbst in der Hand haben. Aufzwingen lassen sie sich nichts. Sie wollen auch nicht stumm bei allem sein, sie wollen mitraten und mittun. Di« Notwendigkeit der Vereinseinteilung wird im Kapitel Organisation zu besprechen sein. Alle Gruppen bekommen aus chrer Mitte einen Vorsteher oder Führer, den die Gruppe sich selber wählt. Der Leiter hat das Bestätigungsrecht. Dieser Vorsteher, Grup­ penführer, Gruppenleiter ist die Mittelsperson zwischen Leiter und Gruppe. Er ist für seine Gruppe verantwortlich, hält Sitzungen mit ihr, in der geschäftlich« Dinge besprochen werden und alle Vereins­ angelegenheiten. Er hat seine Mitglieder zusammenzuhalten, die Säu­ migen zu mahnen, die Wegbleibenden zu besuchen; die Verbindung mit dem Elternhaus zu halten. Er führt auch die Liste über die Anwesen­ heit seiner Gruppenmitglieder bei allen Veranstaltungen. Die Wünsche und Anträge seiner Gruppe übermittelt er dem Leiter. Er hat stets für Ordnung in seiner Gruppe zu sorgen, einerlei, ob er mit ihr allein ist oder in größerem Verbände. Ihm kann noch ein Schriftführer, ein Kassenwart, ein Spielwart, ein Bücherwart und ein Ordner zur Seite stehen, so daß jede Gruppe schon eine ganze Reihe Mitarbeiter haben kann. Je nach der Zahl der Gruppen vervielfacht sich ihre Zahl. Nun muß selbstverständlich darauf gehalten werden, daß Mitarbeiter nur so weit ernannt werden, als Arbeit für sie da ist, und umgekehrt, daß sie

Leiter, Helfer, Mitarbeiter.

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ihre, wenn auch noch so geringfügige Arbeit treu und gewissenhaft tun. Der Schriftführer berichtet über die Sitzungen der Gruppe und ihre besonderen Veranstaltungen, der Kassenwart nimmt die Beiträge ent­ gegen, bucht sie und verrechnet sie mit dem Hauptkassenwart, er nimmt auch freiwillige Beiträge an und hat die Ausgaben der Gruppe zu er­ ledigen, der Spielwart gibt die Spiele aus, schreibt die Namen der Entleiher in ein Heft und nimmt die Spiele nach Besichtigung wieder zurück, der Bücherwart teilt etwa vorhandene Zeitschriften und Bücher aus, worüber er ebenfalls Buch zu führen hat, der Ordner hat dafür zu sorgen, daß bei Beginn der Versammlung das Lokal in Ordnung ist und auch nach Schluß wieder in Ordnung kommt usw. In jedem Jugend­ verein bilden sich sodann von selbst einzelne Gruppen je nach ihrer Lieb­ haberei. Die einen turnen, die anderen fahren Rad, schwimmen, wandern, spielen Fußball, musizieren, lesen. Für jede dieser Abteilun­ gen, die wieder für sich stehen, wird ein Vorsteher gewählt, ein Kassen­ wart, ein Schriftführer, vielleicht noch ein paar Beisitzer: dieser Vorstand setzt die Übungsabende fest, bestimmt die Wandertage und die Touren, Wettspiele mit anderen Vereinen, trifft Bestimmungen für die Einteilung der Übungsstunden, je nach der Art der Abteilung. Dazu gehört selbswerständlich ein Turnwart, ein Schwimmwart, ein Spielwart, ein Dirigent usw. Ordner gehören zu jeder Abteilung: für den Turn­ saal, die Schwimmhalle, den Spielplatz usw. Tie Möglichkeit, wirklich fruchtbare Ämter zu finden, ist geradezu unbegrenzt. Dazu kommen die Vereinsbücherwarte, Kassewvarte, Spielwarte, Schriftführer usw. Außerdem werden vielleicht besondere Ausschüsse gebildet: Bibliotheks­ ausschuß, Werbeausschuß, Wirtschaftskommission usw. Es ist ja nicht so, daß man alle diese Gruppen, Abteilungen und Ausschüsse erzwingen müßte, um die jungen Leute ausgiebig zu beschäftigen — obwohl das ein ausreichender Grund dazu wäre! — sie ergeben sich mit der Zeit alle von selbst.

Den Mitarbeitern wird vor allem ihr Amt dringend ans Herz gelegt, daß sie es mit Treue, Gewissenhaftigkeit und Brüderlichkeit aus­ üben. Sie sollen ihren Stolz darein setzen, ihr Amt auszufüllen und sich durch ihre gute Führung das Vertrauen der Mitglieder und Leitung erwerben. Man muß sie auch immer darauf Hinweisen, daß sie sich

durch ihr Verhalten ihres Amtes würdig erweisen müssen und für die anderen ein gutes Vorbild aufstellen müssen. Bedenklich ist es wohl, ihnen den Grundsatz an die Hand zu geben: ihr arbeitet an der Jugend und tut ein großes Werk. „Arbeit der Jugend an der Jugend", das ist

gewiß ein richtiger Grundsatz — aber für die erwachsenen Leiter ist er Richtlinie, nicht für die jugendlichen Mitarbeiter. Sie sollen sich als Kameraden der anderen nichtbeamteten Jugendlichen fühlen, aber nicht

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Die Mitglieder.

als ihre Erzieher. Man darf keinen falschen Stolz großziehen. Der Erziehung bedürfen auch die Mitarbeiter noch. Oder wen berührt es nicht peinlich, wenn in einer Satzung zu lesen ist: „zur Aufrechterhal­ tung der Ordnung hat ein Glied über das andere zu wachen und eines das andere in brüderlicher Liebe zu ermahnen", oder noch stärker — inzwischen allerdings gestrichen — in einer anderen Satzung: „zur AusÜbung der Disziplin sind berechtigt und verpflichtet: 1. die Vereins­ mitglieder, 2. der Vereinsvorstand. Die Mitglieder sind verpachtet, über die Beobachtung der Vereinsordnungen und über das Privatleben der einzelnen gegenseitige Kontrolle zu üben und sich auf Verstöße in freundschaftlicher Weise aufmerksam zu machen "!? Spionentum und Denunziantenwesen großzuziehen, ist eine sehr bedenkliche Sache? Niemand wird des Mitarbeitersystems entraten können, der die

Jugend wirklich auf die Dauer fesseln und halten will. Di« Arbeit des Leiters wird ja dadurch nicht leichter und kleiner. Aber die Jugend wird in fruchtbarer Selbstbetätigung befriedigt und kann durch nichts besser erzogen werden, überdies ist es ein untrüglicher Prüfstein für einen Jugendarbeiter, ob es ihm gelingt, mit der Zeit junge Menschen zu erziehen, daß sie imstande sind, mit vollem Verständnis das Ziel unserer Jugendarbeit zu ersassen und mit Treue und Hingebung mitzuarbeiten.

§ 14. Die Mitglieder. Als Grundsatz evangelischer Jugendpflege wurde festgestellt: reli­ giös-sittliche Erziehung der Heranwachsenden Jugend der Gemeinde. Grundsätzlich gilt also die Jugendpflege der gesamten Jugend der Gemeinde, nicht nur der männlichen, sondern auch der weiblichen. In ländlichen Verhältnissen wird bei dem starken kameradschaftlichen Ver­ kehr der beiden Geschlechter die Koedukation das Gegebene und Aussichtsreiche sein. Darüber ist oben (§ 12 Schluß) schon gesprochen worden, daß solche gemeinsame Erziehung da, wo sie einigermaßen möglich ist, auch im Hinblick auf die sexuelle Not wünschenswert ist. Der Anfang ist ja in mehreren Vereinen bereits gemacht, damit auch di« Möglichkeit gemeinsamer Sammlung der Jugend beiderlei Geschlechts erwiesen. Es ist geradezu selbstverständlich, daß an dieser Arbeit auch Frauen, vor

allem die Pfarrfrau, sich beteiligen. Da es sich hier nur um die männliche Jugend handelt, sei über ihre Sammlung noch einiges gesagt. Grundsätzlich gehören alle Jugend­ lichen in das Gebiet der Jugendpflege. Nun mag man sagen: sie sind aber nicht alle besonderer Pflege bedürftig. Gewiß ist es richtig, daß doch eine gewisse Zahl junger Leute eine so gute Erziehung vom Ellernhause her und einen so starken Rückhalt am Elternhaus« haben, daß man von ihnen wohl absehen könnt«. Dabei sei gleich bemerkt, daß

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Di« Mitglieder.

darunter nicht schlechtweg die höheren Schüler, die Kaufleute oder sonst ein „gehobener" Stand zu verstehen ist. In den einfachsten Kreisen gibt es sehr wohlerzogene, sittlich starke junge Leute und in den sogenannten besseren Kreisen sehr unerzogene, haltlose Burschen. Nun wäre schon die große Schwierigkeit, die, die „es nicht nötig haben", herauszusuchen. Selbst wenn das möglich wäre, dürfte man sie aber nicht ausschalten. Denn wie sollte man denn die mehr oder minder Schwankenden erziehen, wenn man nicht die Festeren und Festen ihnen zur Gesellschaft geben könnte? Die gegenseitige Erziehung ist doch die wirksamste. Außerdem ist auch in diesen Gefestigteren e i n Zug stark genug, um ihnen Lust zur Teil­ nahme an der Vereinigung mit Gleichalterigen zu machen: der Trieb zur Geselligkeit und Kameradschaft. Den kann auch das Elternhaus nicht befriedigen. Warum sollen sie endlich nicht an dem teilhaben, was ihnen die Jugendarbeit an Schönem, Edlem und Ernstem zu bieten hat? Es kann Gefestigten gewiß nicht schaden, wenn der Grund noch tiefer

gelegt wird. Ungleich schwieriger ist die Entscheidung nach der anderen Seite. Wenn allen di« Jugendpflege gilt, dann gehören nicht nur die Ge­ fährdeten, sondern auch die schon irgendwie Gestrauchelten in ihren Bereich, dann darf grundsätzlich überhaupt kein junger Mann abgewiesen werden. In dieser Beziehung sind die Statuten, soweit solche vorliegen, durchweg zu eng gefaßt. Da heißt es: „Mitglied des Vereins kann jeder konfirmierte junge Mann werden, der einen sittlichen Lebenswandel führt." So lautet die Satzung betreffs Mitgliedschaft bei einer ganzen Reihe von Jugendvereinen. Bei anderen werden noch mehr Bedin­ gungen gestellt: Mitglied kann werden „jeder konfirmierte evangelische Jüngling der Gemeinde L., der 1. zu seinem Beitritt die Zustimmung seiner Eltern bzw. Pflegeeltern erbringt, 2. die Satzungen des Vereins und die Versammlungsordnung anerkennt und beobachtet, 3. den fest­ gesetzten Mitgliederbeitrag entrichtet und sich 4. verpflichtet, auch außerhalb des Vereins ein ernstes christliches Leben zu führen" usw. Nur in einem einzigen Statut ist das Richtige grundsätzlich gewahrt. Da heißt es einfach: „Ordentliches Mitglied kann jeder Jüngling der Gemeinde werden." In fünf Vereinen werden tatsächlich keine Aufnahmesuchenden abgewiesen, aus acht Vereinen wird berichtet, daß Abweisungen „bis jetzt nicht nötig", „noch nicht vorgekommen" sind, also doch möglich sind, und zwar „auf Beschluß des Vorstandes" oder „nach Abstimmung", aus zwei Vereinen wird von „seltenen Abweisungen" berichtet. Sieben Berichterstatter geben auch die Gründe zur Abweisung Aufnahmesuchender an: „wenn sie als Gefahr für den Verein erschienen"; „wenn voraus­ zusehen, daß sie dem Verein Unehre machen würden"; „wenn der Verein den Eindruck hat, daß die Betreffenden die Vereinsarbeit unterwühlen"; Page, Jugendpflege.

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Die Mitglieder.

„nur, wenn sittlich verwerflich"; „bei leichtsinnigem Lebenswandel, und wenn Gefahr ist, daß der Neueintretende den anderen Mitgliedern Schaden ist. Mitglieder entscheiden selbst darüber"; „wenn man von vorn-

herein überzeugt sein muß, daß die Aufnahme zur Schädigung des Vereinslebens — Verführung anderer usw. — führen würde"; „Un­ tüchtigkeit. Wenn einer nur Fußball spielen will". Nun darf man nicht übersehen, daß evangelische Jugendpflege Erziehungsarbeit sein soll, imß sie es als Ziel betrachten muß, auch di« Schwankenden und gerade sie zu festigen. Das Vertrauen darf nicht fehlen, daß schließlich jeder noch guten Einflüssen zugänglich ist, namentlich wenn er in einen Kreis «intritt, in dem ein guter, klarer Geist herrscht. Es ist immer zu bedenken, daß ein Junge, der sich der Jugendvereinigung anschließt, den Geist derselben anerkennt und ihm sich zu unterwerfen bereit ist. Daß aus einem „Halbstarken" nicht in kurzer Frist ein „Starker" wird, ist selbstverständlich. Aber schon manches Mal hat sich herausgestellt, daß junge Leute, gegen deren Aufnahme man begründete Bedenken haben konnte, sich Prächtig entwickelten und zu Stützen der Jugendarbeit wurden. Außerdem ist es keine kleine Verantwortung, einem Jungen den Beitritt zu versagen: ob nicht dadurch der schon Schwankende zum Fall erst recht gedrängt wird, in schlechte Gesellschaft genötigt und erst recht haltlos gemacht wird!? Grundsätzlich ist zunächst keinem der Beitritt zu verweigern, man kann ja schließlich eine Probezeit einführen, die aber selbst bei der besten Führung absolut keine Garantie bietet. Ob bei dauernd schlechtem Verhalten einer im Kreise der anderen bleiben kann oder ausgeschlosien werden muß, ist eine Frage, die beim Kapitel Organisation besprochen werden muß. Freilich, das ist ein schlechter Trost, daß manche soviel bewußtes oder unbewußtes Selbsturteil haben, daß sie „von selbst wegbleiben". „Flegel, di« nicht in unserem Sinn mittun, bleiben von selbst weg." Hier erhebt sich die Sonderfrage, der im Rahmen dieser Arbeit nicht nähergetreten werden kann, wie solche sich gänzlich Ab­ schließende in erziehlichen Einfluß zu bringen sind. Unserer Ansicht nach sollte man es versuchen, sie geradezu zum Anschluß zu ermuntern, im Vertrauen, daß das Gute auch in ihnen zum Durchbruch kommt. „Eine schöne Menschenseele finden, ist Gewinn: ein schönerer Gewinn ist, sie erhalten, und der schönst' und schwerste, sie, die schon verloren

war, zu retten."

Evangelische Jugendpflege muß auch darauf bedacht sein, d i e Jugend aus allen Schichten und Ständen zu vereinigen. Wenn irgendwie in unseren elend zerrisienen Verhältnissen eine soziale Versöhnung anzubahnen ist, so ist es in der Jugendarbeit. Jugend trägt ja den schönen Zug an sich, daß sie — im großen und ganzen

Die Mitglieder.

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wenigstens — noch nicht nach den sozialen Unterschieden fragt, die ja durch unsere Teilung in höhere, Mittel- und Volksschulen bedenklich unterstrichen werden, bei der ja nicht immer die Befähigung, sondern oft genug der Geldbeutel den Ausschlag gibt. Vom evangelisch-christ­ lichen Standpunkt aus ist jede Jugendpflege zu verwerfen, die nur einer Klasse dienen will, seien es die höheren Schüler, seien es die Fabrikarbeiter, seien es die Kaufleute. Jeder Stand, auch unter den Jugend­ lichen schon, hat seine Vorzüge und seine Schwächen, ihr Zusammensein ist zur gegenseitigen Erziehung und zur Gewinnung gegenseitiger Achtung unbedingt notwendig. Eine evangelische Jugendvereinigung, in der unter 62 Mitgliedern „52 Schüler, ein Bürgermeistereigehilfe, ein Ministerialgehilfe, ein Bankbeamter, 3 Schriftsetzer, Mechaniker und Schlosser" sich befinden, ist einfach ungesund. Es ist ja leider Tatsache, daß die soziale Kluft vielfach vergrößert wird durch Sondersammlungen höherer Schüler in allen möglichen Vereinen. Evangelische Jugendarbeit darf dieses unsoziale Gebaren nicht mitmachen. Und wenn auf irgend­ einem Boden sozialer Ausgleich möglich ist, so ist es auf religiöser Grundlage.

Hier ist auch die Frage zu erörtern, ob jugendliche Angehörige anderer Konfessionen oder Religionen aufnahme­ berechtigt sein sollen. Es ist klar, daß unter der Jugend anderer Kon­ fessionen und Religionen keine Werbearbeit für die evangelische Jugendarbeit getrieben werden darf. Proselytenmacherei ist unbedingt ab­ zulehnen. Aber es kann doch der Fall eintreten — und er ist in der Tat schon häufig eingetreten —, daß etwa katholische Jünglinge sich der evangelischen Jugendvereinigung anschließen wollen, auch Freireligiöse oder Juden. 26 Vereine nehmen grundsätzlich keine Andersgläubigen aus, 3 Vereine nehmen sie „auf Wunsch" „als Gäste" auf, einer von ihnen hat tasächlich Katholiken und Juden als Gäste, 16 Vereine nehmen grundsätzlich Angehörige anderer Konfessionen auf, acht von ihnen haben aber tatsächlich nur evangelische Mitglieder, während die anderen acht eine ganz geringfügige Minderzahl Andersgläubiger in ihren Reihen zählen (fünf je einen Katholiken) usw. Nicht einzusehen ist, warum man

Angehörige anderer Konfessionen und Religionen abweisen soll, wenn sie den Wunsch haben, sich an der evangelischen Jugendarbeit zu be­ teiligen. Freilich soll man sie dann nicht als „Gäste aufnehmen, die natürlich kein Stimmrecht" haben, sondern als vollberechtigte Mitglieder. Namentlich an solchen Orten, die bis auf eine kleine Minorität evan­ gelisch sind, kann man die Jugend dieser Minorität wohl nicht aus­ schließen. Soviel Andersgläubige werden nirgends beitreten, daß dem Charakter der Jugendarbeit Gefahr droht.

Die wichtigste Frage ist aber die nach der Altersgrenze der 12*

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zur Jugendpflege heranzuziehenden Jugend nach unten und nach oben. Die Altersgrenze nach unten ist di« Konfirmation. Gerade für die gewerblich und in der Industrie tätige Jugend ist die Konfirmation bzw. Schulentlassung der bedeutsamste Einschnitt. Die Stütze, die die Schule beit Jungen bot, fällt fort. Sie genießen Plötzlich große Freiheit und werden ganz anders als in der Schulzeit allen möglichen Einflüssen ausgesetzt. Sie treten in ihren Beruf «in, kommen in die Werkstätten oder Fabriken, sind genötigt nach auswärts zur Arbeitsstätte zu wandern. Das Elternhaus verliert gewaltig an Einfluß und meist hat auch die Jugend gleich Geld in den Händen. In dieser ersten Zeit, wo die Jugend normalerweis« mitten in den Flegeljahren steht, wo sie leicht allen Ein­ flüssen verfällt, hat sie am meisten Halt nötig. Sie ist auch zu diesem Zeitpunkt leichter zu gewinnen und zu beeinflussen als später, wo sie — etwa vom 17. bis 18. Lebensjahr an — der Leitung und Erziehung nicht minder bedarf. Von der Konfirmation ab sind sie ja auch theo­ retisch selbständige Glieder der Gemeinde oder besser Heranwachsende. Die Gemeinde hat also ein besonderes Recht und eine besondere Pflicht, sich ihrer von da ab anzunehmen. In der Tat wird von 48 Vereinen die Konfirmation als unterste Grenze für die Jugendpflege angegeben, und nur ein Verein setzt sie auf 18 Jahre fest. Die Jugend unter dieser Altersgrenze gehört noch nicht in das eigentliche Gebiet der Jugendpflege, obwohl «ine ganze Reihe von Jugendbestrebungen Jüngere, manchmal sogar in der Mehrzahl, zu Mitgliedern haben. Etwas anderes ist es, wenn, wie etwa in Offenbach, die Jüngeren, also noch nicht konfirmierte Schüler, in einer besonderen Abteilung an ihren freien Nachmittagen gesammelt werden und eine besondere Schülerabteilung bilden. Die Angehörigen dieser Schüler­ abteilung wachsen dann geradezu von selbst in den eigentlichen Jugend­ verein hinein. Umstrittener als die Grenze nach unten ist die Grenze nach

oben. Es handelt sich jetzt nicht um die Feststellung, wie lange tat­ sächlich di« Jugend den Jugendvereinigungen angehört, sondern wie lange sie ihr grundsätzlich angehören sollte. In 12 Vereinen besteht keine Grenze nach oben, in 7 Vereinen können die Jugendlichen bleiben, „solange sie wollen", oder „nach Belieben", „bis zu jedem Alter" (3), „ad infinitum“ (3), „bis ans Ende", „dauernd" (4); also 29 Vereine verzichten auf eine Grenzfestsetzung nach oben. Von 6 Vereinen wird eine obere Grenze angegeben: drei geben 40 Jahre als oberste Grenze an, einer die Verheiratung, einer das Alter von 24 Jahren, einer das von 18 Jahren. Wenn man aber nun sieht, wie lange die Jugend tatsächlich den Vereinen angehört, so ergibt sich doch ein krasser Widerspruch gegen die Theorie. Denn, abgesehen von einigen wenigen,

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die bis ins Mannesalter hinein der Sache treu blieben, ist die totsächliche Grenze viel niedriger. Dabei ist zu beachten, daß es sich darum handelt, wie lange der Durchschnitt bleibt, und nicht etwa einzelne Aus­ nahmen. Nun ist ja die Schwierigkeit, daß die meisten Vereine zu jung sind, um die nötigen Erfahrungen gemacht zu haben. Von den Vereinen, die Mitteilung darüber machen konnten, gibt ein Verein 50 Jahre als

Höchstgrenze an, einer 36 Jahre, drei geben als Höchstgrenze 25 Jahre an, einer 22, zwei 21, vier 20 und zwei 19 Jahre. Daneben werden noch folgende allgemeine Angaben gemacht: Die Mitglieder bleiben „meist bis zur Militärzeit", „bis zur wirtschaftlichen Selbständigkeit oder Weg­ zug", „bis sie B. verlassen oder heiraten", „bis zur Verheiratung". Sieht man einmal von den Wegziehenden ab, so bleiben zwei Gründe, die die oberste Grenze regulieren: die Militärzeit und die Heirat. Daß die Arbeit txr Jugendpflege nicht getan ist, wenn die Jugend bis zum 17. oder 18. Jahre erreicht wird, ist jetzt wohl allgemein anerkannt. Mit diesem Alter werden die Gefahren am stärksten, Alkohol- und sexuelle Gefahr ganz besonders, die Zweifel regen sich am lautesten und — die Verhetzung wird am ärgsten. Hier beginnt auch die schwerste Lücke „zwischen Schulbank und Kaserne". Es muß gelingen, die Jugend über 17 Jahre zu halten — das Mitarbeitersystem ist dafür ein vorzügliches Mittel. Ob aber nicht die Jugendpflege genug getan hat, wenn sie die Jugend bis zum Eintritt zum Militär in ihrem Bereich behält? Dort kommt der junge Mann doch in eine starke Zucht. Nur wer selbst Soldat gewesen ist, kann hier sein Urteil abgeben — und der weiß, daß die Gefahren, die dem Soldaten drohen, ungeheuer schwerwiegend sind. Ja, aber die Jugend geht doch auswärts zum Militär? Gewiß meist! Aber die Zugehörigkeit zu dem Jugendverein ihrer Heimat, die Ver­ bindung mit dem Leiter und den alten Kameraden, die brieflich und durch Übersenden des Vereins- oder Bundesblattes aufrecht erhalten wird, kann eine starke Stütze für den Soldaten sein. Dabei ist natürlich die Frage aufzuwerfen, die auch nur gestreift werden kann, ob in Garnisonstädten nicht von feiten der evangelischen Gemeinden, natürlich mit starker Beihilfe von anderer Seite, besonders von der Militärbehörde selber, eigene Soldatenpflege eingerichtet werden soll. Dazu kommt, daß ein Teil der Jugend überhaupt nicht zum Militärdienst herangezogen wird. Die vom Militär Zurückkehrenden gehören dann wieder einfach zum Jugendverband. Wie lange soll nun die Jugend nach der Militärzeit bleiben? Zu hoch darf die Grenze nicht gesetzt werden. Reifes Mannestum gehört, abgesehen von den Helfern und Leitern, nicht mehr allgemein unter die „Jugend", sie paßt nicht mehr dazu, beide fühlen sich nicht wohl. Ihre Interessen sind grundverschieden. Für die, die eine gewisse Grenze überschritten haben, ist der Männerverein am Platze. Diese Grenze

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Wär« aber festzusetzen auf di« Verheiratung bzw. das 25. Lebensjahr. Für di« vom Militär Heimkommenden hat der Jugendverein vor allem die Aufgabe, sie wieder in der Gemeinde und unter den Kameraden heimisch zu machen, den Übergang vom Militär zum „Zivil" zu vermitteln. Außerdem sind gerade die „gedienten" jungen Leute sehr gut als Mitarbeiter im Jugendverein zu gebrauchen als Turnwarte, Kri«gsspielleiter usw. Die Disziplin, der Ordnungssinn, die ganze Erziehung, di« sie vom Militär mitbringen, befähigen sie besonders zur Mitarbeit. Als Jugend, die in den Bereich der Jugendpflege gehört, wäre also die konfir­ mierte Jugend bis zur Verheiratung bzw. zum 25. Lebensjahre anzusehen.

§ 15, Die Organisation. Das Organisationsproblem wird von der einen Seite über- und von der anderen Seite unterschätzt. Überschätzt wird es von denen, die meinen, alles hinge von der rechten Art der Organisation ab. Viel kann davon abhängen, aber alles hängt von den leitenden Persönlichkeiten ab. Sind nicht die rechten Männer am rechten Platz, so versagt auch das

idealste System — wenn es ein solches gäbe. Unterschätzt wird die Organisationsfrage von denen, die sich nicht viel Kopfzerbrechen über die Organisation der Jugendarbeit machen und einfach nach dem „Vereins"system mit einem Vorstand aus den üblichen Personen sich zufrieden geben. Sie vernachlässigen den Gesichtspunkt der Selbst­ betätigung der Jugend. Das tun aber die am Ende noch mehr, die mit einem gewissen Fanatismus sich als Feinde jeder Organisation in der Jugendarbeit bekennen. Schließlich stellt es sich vielleicht heraus, daß beide unrecht haben und daß ein dritter kein allgültiges Schema aufzu­ stellen weiß. Aber vielleicht läßt sich doch ein gangbarer Weg finden. Zunächst soll vom tatsächlichen Bestände ausgegangen werden. So­ genannte organisationslose Vereinigungen scheint es 17 zu geben. Man muß sagen „scheint". Denn so ganz „organisationslos" sind sie all« nicht. Z. B. in einer Jugendvereinigung, deren Bericht etwas ingrimmig gegen alle „Organisation" gestimmt ist, wird Beitrag erhoben. Als Merkmal organisationsloser Vereinigungen ist hier, um überhaupt «ine Möglichkeit der Scheidung zu gewinnen, zweierlei ge­ nommen: das Fehlen eines Vorstandes und von Statuten. Diese Merk­ male also treffen bei 17 „Jugendvereinigungen" zu, von denen aber einige den Namen „Jugendverein" tragen, während andere als lose Konfir­ mandenvereinigungen namenlos sind, die dritten aber „Jünglingsverein" heißen. Die Grenzen erweisen sich hier schon als recht fließend. Leider

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wir- die „Organisationslosigkeit" kaum einmal begründet. Da heißt es einmal: „Die Bereinigung hat keine Statuten und Prinzipien, sondern ist eine lose auf Freiwilligkeit im weiteren Sinne des Wortes bestehende Gesellschaft". Oder es wird wirklich einmal eine Begründung gegeben: „Eine Organisation haben wir nicht, und können sie den seitherigen Er­ fahrungen nach bei der Kleinheit unserer Verhältnisse auch nicht brauchen. Wir müssen uns damit begnügen, immer wieder in persönlicher Arbeit an die Jungen heranzukommen." Oder: „Die freie Form ist hier mehr versprechend." Warum, wird leider auch hier nicht gesagt. Auch nicht in dem Bericht aus einem Ort, wo Jugendarbeit angeblich nicht möglich ist: „Um einen .Verein' könnte es sich nicht drehen, eher um eine Art .Jugenddorfkasino'." Ein anderer Bericht ober bringt wenigstens eine Begründung: beabsichtigt ist „eine lose Vereinigung. Organisierter Verein empfiehlt sich nicht, da er leicht zu Konventikeln oder zu unan­ genehmer Zersplitterung der Gemeinde führen würde". Diese Begrün­ dung scheint auch mehr theoretischer als praktischer Natur. Ob wirklich die Gemeinde einen so feinen Unterschied wird machen können? Nun die andere Seite: 26 Vereine haben einen vereins­ mäßigen Vorstand, und zwar besteht er bei 21 Vereinigungen aus Mit­ gliedern, allerdings wird er bei drei Vereinen „aus älteren Mit­ gliedern" (2) oder aus „drei alten Mitgliedern" (1) gebildet. Die Zahlen der Vorstandsmitglieder sind völlig verschieden: 3, 4, 5, 6, 8, 9, 10, 11. Die Größe des Vereins scheint im wesentlichen für die Zahl ausschlag­ gebend. Bei fünf Vereinen sind bei dem Vorstand außer dem Leiter auch noch andere Erwachsene beteiligt: etwa außer „den fünf ältesten Mitgliedern" noch der Rechner (2), bei einem nominell interkonfessionellen Verein außer „den Leitern der Sektionen" und dem Pfarrer noch der Bürgermeister, die Lehrer, ein Vorstandsmitglied des Krieger- und des Gesangvereins, bei zwei Vereinen, die Männer und Jünglinge ver­ einigen, außer einer Minderzahl Jugendlicher eine Mehrzahl Erwachsener. Hochinteressant ist, daß mehrere dieser Jugendarbeiten als „lose und zwanglose Vereinigung" begannen, „allmählich aber die Notwendig­ keit eines festen Zusammenschlusses" empfanden und sich deshalb straffer organisierten. Auch ein Berichterstatter, der jetzt Jugendpflege zu treiben beabsichtigt, will diesen Weg gehen, nämlich „eine christliche lose Kon­ firmandenvereinigung" zu gründen „mit dem Ziel eines christlichen Vereins von Jungfrauen und jungen Männern". Ein anderer Verein hatte „von Anfang an feste Vereinsform mit losen Statuten". Bedeut­ sam ist hier das Zeugnis eines Berichterstatters: „Ich hatte zwei Winter lang die Konfirmanden auf meinem Zimmer zu Spiel und Unterhaltung, auch zu gelegentlichen Ausflügen gesammelt, mir schien dies Unorgani­ sierte besser für die hiesigen Verhältnisse zu passen. Ich bin jetzt

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Die Organisation.

anderer Meinung. Wenn ich hier bliebe, würde ich eine feste Organisation, einen Verein, ins Leben rufen. Anders ist die Sache wertlos und verläuft im Sande." Welche der beiden Richtungen hat nun recht? Ein gewisses Recht können beide für sich beanspruchen. Da die ganze Jugend­ pflege auf strenger Freiwilligkeit unter Vermeidung jeden Zwanges auf­ gebaut sein muß, haben die Organisationsfeinde scheinbar volles Recht. Man schaffe der Jugend Gelegenheit zu ernster Förderung, guter Unter­ haltung, edler Geselligkeit, frohem Spiel im Zimmer und im Freien — und überlasse es ihr, die gebotene Gelegenheit freiwillig zu benutzen. Nur kein Zwang. Statuten und alle Vereinsform ist überflüssig und vom Übel. Diesem Standpunkt kommt sogar unsere Auffassung von

einer die ganze Jugend der Gemeinde umfassenden evangelischen Jugend­ pflege sehr entgegen. Denn wenn grundsätzlich die ganze Jugend der Gemeinde in den Bereich der Jugendarbeit gehört, dann ist ein Jugendve re in ein Widersinn. Denn der Begriff „Verein" schließt immer eine Absonderung Gleichgesinnter von der großen Masse in sich. Wie die evangelische Gemeinde den Erwachsenen in dem regelmäßig abgehaltenen Gottesdienst usw. Gelegenheit zur Erbauung bietet, die jedes Glied nach Bedürfnis und Neigung benutzen kann, so muß die evangelische Gemeinde auch ihrer Jugend Gelegenheit zur Förderung, Weiterbildung, Geselligkeit usw. darbieten. Wer die Gelegenheit dazu benutzen will, benutzt sie eben. Also scheint dem Prinzip der Organisationslosigkeit volles Recht zuzukommen. Aber auch die andere Seite hat ihr Recht. Einmal sagt die praktische Erfahrung: „Ohne irgendeine Organisation schafft ihr nichts. Der Jugendarbeit fehlt ohne sie das Rückgrat. Tie ganze Arbeit erreicht nichts und versagt. Die Vereinsform ist die allein dauerhafte." Sodann darf man aber auch nicht vergessen, daß Erziehung nur durch stetige Beeinflussung möglich ist. Wenn ich morgen eine ganz anders zusammen­ gesetzte Gesellschaft Jugendlicher vor mir habe als heute, und über­ morgen wieder eine ganz andere, wie soll da eine Erziehung möglich sein? Wenn die Jungen kommen und gehen, wie sie wollen, und auch so ost es ihnen paßt, manche nur drei- bis viermal im Jahre, wie sollen sie da beeinflußt werden? Die Taubenschlagsmanier fördert gewiß die Erziehung nicht: sie macht sie einfach illusorisch. Ferner aber ist der erziehliche Einfluß der Organisation nicht hoch genug anzuschlagen. Ohne Ordnung keine Erziehung. Bei einer durchgeführten Organisation lernt der einzelne erst sich fügen, sich eingliedern in einen größeren Verband, er lernt erst, daß eine Gemeinschaft unmöglich ist, wo nicht einer dem andern sich unterordnet. Die Jugend versteht es auch besser, wie es ohne Ordnung nirgends geht, weder in der politischen Gemeinde,

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noch im Staat, noch im Völkerleben, weder in der Kirchengemeinde noch in der Landeskirche. Somit stehen wir vor dem Problem: Organisation und doch keine Organisation. Wo ist die Lösung? Die Lösung liegt in dem Mitarbeitersystem. Einen Vorstand zu bilden, nur damit einige ihren Ehrgeiz befriedigen können, soll man den Vereinsmeiern über­ lassen. Den Vorstand, wenn zunächst einmal diese Bezeichnung bei­ behalten werden soll, sollen alle Jugendlichen bilden, die in der Mit­ arbeit stehen: also alle Bezirksvorsteher, Gruppenleiter, Spiel-, Turn-, Kassen-, Bücher-, Zeugwarte, Schriftführer, Abteilungsleiter usw. Grundsätzlich sollten das lauter Jugendliche sein, also im Alter bis höchstens 25 Jahre. Dieser Mitarbeiterkreis oder- Mit-

a r b e i t e r r a t ist der Träger der eigentlichen Arbeit unter der Ober­ leitung des Leiters. Die erwachsenen Helfer bilden einen Vorstand für sich, der alle Vereinsangelegenheiten zuvor berät, der Mitarbeiterrat befaßt sich dann mit ihnen, oder macht seinerseits Vorschläge, die den Vorstand zu beschäftigen haben. Letzte und oberste Instanz ist der Kirchenvorstand. Diese parlamentarische Organisation wird auch der Jugend am meisten zusagen. Sie verbindet Freiheit und Ordnung in hervorragender Weise, ermöglicht die Selbstbetätigung weiter Kreise Jugendlicher und legt ein gut Teil Pflicht und Verantwortung auf ihre Schultern. In der Tat ist diese parlamentarische Verfassung in einer Reihe von Vereinen angebahnt, teilweise auch durchgeführt. So in Offenbach — Wartburgverein. In Isenburg besteht ein „Geschäftsausschuß", der sich aus allen Mitgliedern zusammensetzt, die Ämter haben. Oder in der Petrusgemeinde in Darmstadt besteht ein „Vorstand aus sogenannten Vertrauensmännern, auf je 6 bis 8 Mitglieder kommt ein Vertrauens­ mann". In Worms-Neuhausen setzt sich der Vorstand aus den be­ amteten Mitgliedern „und allen über 18 Jahre alten" zusammen. In kleineren Verhältnissen ist das vielleicht möglich, alle über 18 Jahre

alten zum Mitarbeiterkreis heranzuziehen — es hat aber auch da seine bedenklichen Seiten: denn Mitarbeiter müssen lauter ernste, tüchtige junge Leute sein. Das sind aber doch nicht in jedem Falle alle über 18 Jahre alten. Daß der Mitarbeiter ein älteres Mitglied sein muß, ist oben (§ 13) dargelegt worden. Jüngere können aber schon bei ernster Veranlagung als Hilfsmitarbeiter herangezogen werden, nehmen an den Sitzungen und der Arbeit teil, und werden so zu Mitarbeitern erzogen. Es gibt auch manches Amt, das man schon einem Jüngeren anvertrauen kann, z. B. die Ausgabe der Spiele, das Ordnen des Lokals usw. Jeder aber, und wenn er auch das scheinbar unbedeutendste Amt bekleidet, wird zu den Mitarbeiterbesprechungen herangezogen. Dort wird auch in

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allen immer wieder der tragende Grund der Arbeit herausgestellt und besonders ernste Erziehungsarbeit geleistet werden können. Nur muß

der Leiter der rechte Mann sein mit dem rechten und gerechten Verständnis dafür, was Jugend im allgemeinen und der einzelne im be­ sonderen leisten kann — und was man nicht von ihm verlangen kann. Auf diese Weise kann mit der Zeit eine ideale Arbeitsgemeinschaft ge­ schaffen iverden. Die Mitarbeiterorganisation hat auch den großen Vorzug, daß sie sich selbst in den kleinsten Verhältnissen durchführen läßt. Nimmt man eine Jugendvereinigung von 20 Mitgliedern an, so ließen sich etwa zwei Gruppen bilden zu je 10 Jungen, jede Gruppe hat einen Gruppenführer, jeder Gruppenführer einen Helfer — vier Mitarbeiter. Nun wird noch ein Spielwart bestimmt, ein Ordner, «in Kassenwart, ein Bücher­ wart, auch ein Turnwart. Der Schriftführer, der die Sitzungsprotokolle schreibt und auch von jeder regelmäßigen oder besonderen Vereinsver­ anstaltung kurzen schriftlichen Bericht abfaßt, darf nicht fehlen. Nehmen wir außerdem noch an, es ist noch eine Gruppe besonderer Literatur­ freunde da, die ein Kränzchen bilden. Das bekommt auch seinen Vor­ steher und es sei, um ein wenig komplizierte Verhältnisse zu veran­ schaulichen, auch noch eine Musikgruppe da. Auch sie hat Vorsteher, Kassenwart, Schriftwart und noch einen Zeugwart. Also hätten unter 20 Mitgliedern 15 Mitglieder Ämter. Ist das nicht Unsinn? Eine Armee von Offizieren ohne Soldaten! Es ist nur fraglich, ob nicht eine Armee von Offizieren etwas Ideales wäre! Und zudem ist die Sache nicht so gefährlich wie sie aussieht: Ist allgemeine Versammlung mit Spiel und Unterhaltung, so sind nur folgende Mitarbeiter be­ schäftigt: die beiden Gruppenführer und ihre Helfer, der Spielwart und der Ordner, also sechs Mitarbeiter, die anderen sind dabei nur Mitglicder. Beim Turnen hat der Turnwart die Leitung, die Gruppen­ leiter sorgen für Ordnung, die anderen sind nur Turner, einerlei ob sie sonst Spielwart, Bücherwart, Kassewvart oder sonstwas sein mögen. Es ist ganz klar, daß nicht alle zu gleicher Zeit bei der gleichen Ver­ anstaltung als Mitarbeiter fungieren können — aber für die verschie­ denen Ämter sind möglichst verschiedene Mitglieder zu Mitarbeitern zu wählen — der Leiter bestätigt oder ernennt, wenn keine rechte Wahl zustandekommt. — Das gibt dann ein wunderbares, segensreiches Zusammenwirken. Je größer die Jugendvereinigung ist, um so mehr muß e in geteilt werden. Nichts ist für die Jugendarbeit verhängnisvoller,

als Massenerziehung treiben wollen. Sonst geht alle Intimität ver­ loren. Jeder Junge muß persönlich beachtet und mit ihm persönliche Fühlung behalten werden — eben durch die Mitarbeiterschar.

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Leiter allein kann es gar nicht. Die Arbeitslast würde ihn schließlich erdrücken. Er muß eine Schar selbständig Mitarbeitender haben, die imstande ist, ihn zu vertreten. Auch von dieser Seite ist das Mitarbeiter­ system und eine ins kleinste gehende Einteilung zu fordern — also Dezentralisation. Aber immer muß der Leiter und auch der Vorstand sder erwachsenen Helfer) die Übersicht behalten, es darf kein Teilchen der Arbeit geben, das ihnen entgeht. Vor allem muß einer Gefahr begegnet werden: daß die Abteilungen sich nicht als selbständige Vereine auftun, z. B. Musik-, Radfahr-, Fußball-, Wanderabteilung usw. So sind Posaunenchöre schon mehrfach abgesplittert, auch ab und zu eine Fußbollspielergruppe. Spricht diese Gefahr nicht gegen die Bildung besonderer, bestimmten Zwecken dienender Abteilungen? Viel mehr spricht zweifellos dafür vor allem die dadurch gebotene Möglichkeit weitest­ gehender Selbstbetätigung und Selbswerwaltung. Man kann jener Gefahr auch gut begegnen: einmal unterliegen alle Abteilungsbeschlüsse über Statuten, Veranstaltungen usw. der Bestätigung des Vorstandes, der möglichste Weitherzigkeit gewiß zeigen, aber unnachsichtlich alles ablehnen muß, was gegen den Gesamtgeist evangelischer Jugendarbeit verstößt. Sodann aber bietet eins dem Leiter die Möglichkeit, in den Mitarbeitern das starke Gefühl der Zugehörigkeit zur evangelischen Jugendvereinigung zu erhalten: die Mitarbeiterbcsprechung, an der alle Mitarbeiter ja teilnehmen müssen. Hier muß es immer wieder ausgesprochen werden und tatsächlich zum Ausdruck kommen: in erster Linie sind wir Mitarbeiter der evangelischen Jugendvereinigung, in zweiter Linie erst Vorsteher der Radfahr-, Turn-, Wander- usw. Abteilung. Dies Be­ wußtsein muß das Geschick des Leiters stets in seinen Mitarbeitern wach­ erhalten können: die evangelische Jugendvereinigung ist das Haus, jede Gruppe oder Abteilung ist eine Stube in diesem Haus — das Haus ist ohne die Stuben undenkbar und die Stuben ohne das Haus. Eine Einteilung ist, auch in kleinen Verhältnissen, unbedingt not­ wendig: die Gründung einer Jugend- und einer Jung­ männerabteilung. Sie ist' aus psychologischen Gründen un­ umgänglich. Die Umfrage hat sich mit dieser Frage besonders befaßt, ob ein Unterschied zwischen den 14- bis 17 jährigen etwa und den älteren Jugendlichen zu beobachten ist. 169 brauchbare Antworten sind ein­ gelaufen. 72 Berichterstatter haben keinen, oder keinen wesentlichen Unterschied zwischen den 14- bis 17 jährigen und den Älteren beobachtet. Bezeichnenderweise sind dabei nur 3 Berichterstatter, die selbst Jugend­ arbeit treiben. Also ist wohl in den weitaus meisten Fällen das negative Urteil im Mangel an Beobachtungsmöglichkeit begründet. Einige Be­ richte setzen ihrem „Nein" noch nähere Ausführungen hinzu, etwa „ein Geist beherrscht alle Jahrgänge". Oder „ein besonderer Unterschied der

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Geistesart scheint nicht zu bestchen. Selbst die Verheirateten wirken nur wenig ernster". Von 14 Berichterstattern ist die Frage nach dem Unterschied nicht im psychologischen Sinn, sondern mehr äußerlich auf­ gefaßt worden. Ihr Augenmerk richtet sich darauf, ob die Jugend des verschiedenen Alters unter sich selbst einen Unterschied macht. Maßstab dafür bildete der Verkchr untereinander. Während ein Bericht sagt: „Die Dvrfsitte ist kaum ausgebildet" und einer vom Verkehr der ver­ schiedenen Alter untereinander berichtet, reden die anderen 12 von einer Trennung in der Geselligkeit. 5 Berichte melden, daß „die einzelnen Jahrgänge fast nur unter sich verkehren" in Kameradschaften und Spinn­ stuben, während „ein Unterschied oder Gegensatz zwischen Älteren und Jüngeren nicht zu bestehen scheint". 7 Berichte aber sprechen gerade

von einer Trennung im Verkehr zwischen den Älteren und den Jüngeren. „Die jüngeren Jahrgänge .gehen' für sich allein und die älteren auch." Und zwar sind es die älteren, die sich absondern. „Der Gedanke an die Militärzeit spielt eine große Rolle dabei." Aber vor allem scheint es ein gewisses Herrengefühl der Älteren zu sein, das sie von den Jüngeren sich absondern läßt: die 14- bis 17 jährigen „gelten nicht als voll und ebenbürtig". „Erst mit dem 17. Jahre wird einer als Bursche an­ gesehen, doch schleichen sich körperlich Entwickeltere schon früher in deren Reihen ein." Also schon angesichts dieser äußeren Beobachtung wäre es ratsam, in der Jugendarbeit besondere Abteilungen für die Älteren und Jüngeren einzurichten — für jeden Jahrgang besonders ist es nicht möglich — und auch nicht wünschenswert. Aber diese äußerliche Trennung im Verkehr hat ihre tiefe psycho­ logische Begründung. Unzweifelhaft bestehen tiefgreifende psychologische Unterschiede zwischen der Jugend im Alter von 14 bis 17 Jahren etwa und der älteren, ohne daß sich natürlich die Alters­ grenzen ganz genau festlegen lassen. 85 Berichte stellen psychologische Unterschiede zwischen den beiden Altersstufen fest. Nur drei von ihnen bewegen sich in allgemeinen Ausdrücken: „Unterschied wie im all­

gemeinen",- „natürlich der normale"; „kein anderer, als der, den die größere oder geringere Zahl der Jahre naturgemäß mit sich bringt". Alle übrigen Berichte schildern den Unterschied. Dieser stellt sich so dar: das Alter von 14 bis 17 Jahren ist das Alter der ausgesprochenen Flegeljahre. Und zwar sind die 14- bis 15 jährigen „meist noch recht kind­ lich", das verrät auch in der praktischen Arbeit ihre Freude an jedem Spiel. Sie sind auch „im allgemeinen gut leitbar". Die Jüngeren zeigen „noch mehr kirchlichen Sinn und Unterordnung unter die ge­ gebenen Autoritäten". Sie sind „kirchlicher und der Beeinflussung zu­ gänglicher". Auch das Verhältnis zum Geistlichen ist „noch ein relativ gutes". Die Jugend entzieht sich ja wohl in diesem Alter gerne der

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Aufsicht, ist „aber einem guten Wort noch immer zugänglich". Freilich fehlt es auch nicht an entgegenstehenden Urteilen: die Jugend von 14 bis 17 Jahren ist »völlig kirchenfeindlich', »mißtrauisch' und entzieht sich gern jeglicher Leitung und verabscheut jede Bevormundung. — Im großen und ganzen herrschen in diesem Alter die Flegeljahre. Zwar wird einmal erklärt, daß „die Neukonfirmierten etwas zurückhaltender sind als die übrige Jugend", aber im übrigen sind die Schilderungen der 14- bis 17 jährigen Jugend auf den Ton der Flegeljahre gestimmt. Sie ist: „albern, unreif, ausgelassen, mutwillig, am lautesten, am schlimmsten, weniger gesittet und anständig, geräuschvoll und zu aller­ hand Streichen aufgelegt, radaulustig, frecher als die ältere, oft noch wilder und ungezogener als die ältere, sie treibt es am tollsten, sie ist besonders unverständig." „Bei den Jüngeren herrscht mehr Zügellosigkeit und falscher Freiheitsdrang", „sie sind leichter ge­ neigt, ihre größere Selbständigkeit zu mißbrauchen" und „zeigen eine gewisse Neigung, nach Art der Alteren sich zu führen und gern mitzu­ machen". Die Hauptschäden treten bei den kaum aus der Schule Ent­ lassenen zutage — kurz, sie sind „naturgemäß noch mit den Fehlern der Flegeljahre behaftet" und sind, „wie wohl meistens, die ärgsten Flegel". „Die Jüngeren bis zu 20 Jahren unterscheiden sich sehr unvorteilhaft von den Alteren." Nun liegt die Grenze kaum erst bei 20 Jahren — abgesehen von denen, die spät oder nie aus den Flegeljahren kommen. „Mit 18 Jahren tritt eine Besserung ein." Von den über 17 jährigen wird einmal gesagt: „sie kommen dann allmählich aus dem sehr charakteristisch auf­ tretenden Stadium der Flegeljahre heraus." Freilich, von heute auf morgen wird die Jugend nicht reif und aus dem „Flegel" ein Mann — aber die weitaus überwiegende Mehrzahl der Berichte weiß von einem merkbaren, wohltuenden Unterschied der über 17 Jahre alten von den Jüngeren zu sagen: sie sind „wohlanständiger, ruhiger und zurück­ haltender, int Betragen anständiger, sie nehmen sich doch weit mehr zusammen, wenigstens nach außen hin, sie werden solider, sind meist etwas ruhiger und besonnener, im allgemeinen sparsamer, weniger zu Ausschreitungen geneigt, gesetzter und ernster — sie sind reifer". Wenn so das äußere Verhalten schon Anzeichen gibt für die stabiler gewordene innere Lage — so darf man doch nicht ohne weiteres annehmen, das Alter über 17 Jahre sei leichter zu behandeln als das frühere. Das Gegenteil ist vielleicht richtig. Denn nun „ist auch das Selbst­ bewußtsein stark entwickelt, sie wollen doch mehr als »Herren' gelten". Ein charakteristisches Beispiel dafür, daß die ältere Jugend eine andere Behandlung erfahren muß als die im großen und ganzen noch einfach zu leitende Jugend von 14 bis 17 Jahren erzählt ein Bericht: „Die

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älteren Jahrgänge halten es, scheint es, mit ihrer Würde als junge Männer unvereinbar, in der Christenlehre sich wie Schulbuben ab­

fragen zu lassen. Sie kommen wichl in die Kirche, setzen sich aber bei die Gemeinde, um dem lästigen Fragen aus dem Wege zu gehen. Reli­ giöses Interesse scheint aber auch vorhanden zu sein " Sie sind dann in der Tat über das „Schulbuben"-Alter hinaus, sie verlieren mehr und mehr den Geschmack an kindlicher Unterhaltung und am kindlichen Spiel. Es ist nicht nur bei ihnen ein Herren-SpielenWollen, sondern tatsächlich eine innere Wandlung zur Reife. Und wenn sich diese unbewußt geltend machende Überlegenheit auch in der selt­ samen Erscheinung zeigt, daß sie nun „den Ton angeben" wollen. Das hat seine innerliche Begründung. — Öfter wird betont, daß die ältere Jugend „schon verständiger, vernünftiger" wird. „Den Älteren kommt allmählich der Verstand." Dies Wort gilt in seiner ganzen Bedeutung: der Verstand gewinnt in der Tat das Übergewicht, die wuchernde Phantasie tritt zurück. Geistige Bedürfnisse stellen sich in größerem Maße ein. „Bei den 14- bis 17 jährigen ist der Eifer um Weiter­

bildung vielfach gering, im ganzen ist bei ihnen das geistige Leben weniger entwickelt als später." Die Bedürfnisse der älteren Jugend sind grundverschieden von denen der Jüngeren, die sich mehr austoben wollen. Bei den Alteren wacht das eigene Urteil auf, dem man nicht mehr mit einem kurzen Wort begegnen kann, sondern mit Gründen. Bei ihr „beginnt bewußtes Annehmen oder Ablehnen religiösethischer Anschauungen". Wer sie recht zu behandeln weiß, als reifende junge Männer, dessen Wort und dessen Einfluß werden sie auch zu­ gänglich, — man muß sie nach ihrer Eigenart „zu nehmen" wissen. Für die ältere Jugend beginnt das Problem des anderen Geschlechts zum beherrschenden zu werden. Sie finden auch am Wirtshausleben mehr Gefallen als die Jüngeren. Wenn des erwachenden Geistes und Urteils sich niemand annimmt, verödet die Jugend oder verfällt ein­ seitiger Verhetzung. Diese gewinnt bei der älteren Jugend leicht an Boden, weil ihr Probleme jetzt aufsteigen, brennend werden und nach Lösung und Klärung verlangen, die der jüngeren Jugend noch ganz fernliegen. Aus alledem erhellt, daß die ältere Jugend ganz anderer Nahrung und Behandlung bedarf als die jüngere. Vereinzelte Urteile (4) kehren den Spieß um: „Die Flegeljahre treten erst nach dem 17. Jahre ein", „je älter, desto slegelhafter". Sie verallgemeinern aber gewiß nur Einzelfälle! Man kann den Älteren einfach nicht gerecht werden, wenn man sie nicht von der „Jugend" trennt und besonders versammelt und beeinflußt. Als Mitarbeiter zu dienen, das befriedigt sie wohl, und auch durch die obige Darlegung ist ihre besondere Eignung wohl neu dar­ getan. Aber einmal kann nicht überall die gesamte ältere Jugend in

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der Mitarbeit stehen — und, was Wohl zu beachten ist, sie kann auch nicht immer nur zur Arbeit herangezogen werden; sie kann nicht immer ausgeben, sie muß auch empfangen. Also neben der Jugendvereinigung muß eine Jungmännervereinigung, ein Jungmänner­ verband — wie man's nennen will — bestehen. Viele Vereine klagen, daß die Alteren jedesmal, wenn die Neukonsirmierten kommen, zum größten Teil die Jugendvereinigung meiden — und alle diese Vereine haben keine besondere älter« Abteilung! Die ältere Jugend will nun einmal nicht mit der arg gärenden Jugend dauernd zusammen sein als Geleitete — als Mitleitende wohl — und sie hat berechtigte, innere, wenn auch unbewußte Gründe dazu. — In 17 Vereinen besteht eine ältere Abteilung neben der Jugendabteilung. Der Übertritt vollzieht sich meist — und das ist Wohl richtig — mit dem vollendeten 17. Jahre oder beendeter Lehre. Das vollendete 16. Lebensjahr ist etwas zu tief gegriffen — das 18. zu hoch. In 5 Vereinen ist die ältere Abteilung vollständig sinn- und wertlos, weil sie weder eigene Leitung, noch eigene Versammlungen hat. Sie steht nur formell auf dem Papier. Auch dürfen die Sonderversammlungen des Jungmännerverbandes nicht „selten" sein, sondern ganz regelmäßig. Das Niveau der religiösen und geistigen Beeinflussung muß hier viel höher liegen, Probleme müssen aufgeworfen und diskutiert werden, Tagesfragen werden besprochen, und vor allem der religiös-sittliche Grund mit allem Ernste betont. Eigene Meinungen müssen und dürfen laut werden — es darf kein Unterrichten und Belehren mehr sein, sondern vielmehr ein freies, tiefes Zusammen­ arbeiten. Der Boden ist tiefer geworden, nun kann man auch tiefer graben und ernster säen. — Der Jungmännerverband muß auch seine eigenen Räumlichkeiten besitzen, in denen er sein Heim hat. — Selbstverständlich gibt es auch eine ganze Reihe Veranstaltungen, an denen Jugendvereinigung und Jungmännerverband sich gemeinsam beteiligen — nicht nur die Feste und Feiern, sondern auch Vorträge, Wanderungen, Turnstunde, Freispiel usw. Aber ohne besondere Abteilung für die ältere Jugend mit eigener Leitung und Verwaltung wird es nicht gelingen, die Jugend über 17 Jahren im Durchschnitt zu halten. Jugendvereinigung und Verein junger Männer aber bedürfen der weiteren Einteilung, namentlich in großen Gemeinden, etwa in der Stadt. Dabei mag bemerkt werden, daß eine Einteilung der Städte in Parochien mit eigenem Kirchenvorstand und eigener Ver­ waltung der Jugendpflege günstiger ist, als «ine solche in Bezirke. Jedenfalls ist die Parochie oder der Bezirk die gegebene Einteilungs­ norm. Jeder Bezirk hat seinen jugendlichen Vorsteher, >der Bezirks­ pfarrer ist auch der Leiter des Jugendbezirks. Zu gemeinsamen Ver-

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anstaltungen kommen die Bezirke, di« jeder ein eigenes Lokal haben, im Zentrallokal zusammen, an Sonntagen, zu gemeinsamen Turn-, Musik-, Schwimmübungen, Vorträgen, Wanderungen, Festen. Jeder Bezirk hat seine Jugendvereinigung und seinen Jungmännerverband. Beide haben ihren besonderen Vorsteher. Jeder Bezirk oder in kleineren Gemeinden die ganze Vereinigung, und zwar beide, Jugend und junge Männer, werden in Gruppen geteilt. Gruppenvorsteher sind junge Männer, ausnahmsweise Angehörige des Jugendvereins. Eine Gruppe zählt nicht mehr als 8, höchstens 10 Mitglieder. Die Gruppen wählen sich einen Führer, der Leiter bestätigt ihn. Die Gruppen teile man nun nicht etwa nach äußerlichen Gesichtspunkten ein, wie nach der Größe, nach dem Alter, oder gar durchs Los. Der Leiter und auch der Vor­ steher muß seine Jugend so kennen, daß die Gruppe nicht einseitig zu­ sammengesetzt ist, weder nach der sozialen Seit«, noch nach der inneren Veranlagung, daß nicht einmal lauter „Schwierige" in einer Gruppe zusammen sind. In großen Verhältnissen wird man dafür sorgen, daß die Gruppenmitglieder und der Gruppenführer nicht allzuweit von­ einander wohnen. Jede Gruppe hält ihre eigene Gruppensitzung unter dem Vorsitz des Gruppenführers, jeder Bezirk die seinige unter dem Vor­ steher. Der Inhalt dieser Sitzungen wird im wesentlichen Geschäftliches sein. Der Leiter muß von den Sitzungen und ihrer Tagesordnung vorher verständigt sein, alle Beschlüsse unterliegen seiner Genehmigung. Ilbrigens sei man deutsch und sage nicht „Sektionen", wie das in einer Bereinigung geschieht. Neben dieser Einteilung geht die Einteilung in Abteilungen, wo sich das Bedürfnis fühlbar macht: Wander-, Turn-, Radfahr-, Musikabteilung, literarisches Kränzchen, Spielabteilung. Die Mitglieder dieser Abteilungen gehören natürlich einer Gruppe an, die Gruppen­ einteilung ist das Primäre. In den Abteilungen werden sich meist Altere und Jüngere vereinigen. Nur in den allergrößten Verhältnissen wird man getrennte Abteilungen für beide Altersstufen schaffen können. Jede Abteilung hat wiederum Vorsteher, Kassenwart, Schriftführer, event. Zeugwart, eigene Versammlungen, deren Beschlüsse ebenfalls der Be­ stätigung des Leiters bzw. Vorstandes unterliegen. Alle Mitglieder, die irgendein Amt haben, also alle Mitarbeiter, vereinigen sich in besonderen Mitarbeitersitzungen — die Vorsteher vielleicht noch in besonderen Vorstehersitzungen — unter dem Leiter. Die „Instanzen" sind also: Gruppe, Bezirk, Abteilung, Mitarbeiter­

sitzung: die „Volksvertretung". Der Vorstand, das sind sämtliche er­ wachsene Helfer, bildet das „Herrenhaus", wenn man so will — und der Kirchenvorstand: die „Regierung". 28 Vereine haben es bis jetzt versäumt, irgendwie eine Organisation

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einzuführen, darunter nicht gerade kleine. Das ist ein Fehler, der sich rächt. Namentlich die Älteren sind auf diese Weise nicht zu halten. Uber ein paar Einzelfragen muß beim Punkt Organisation noch gesprochen werden. Zunächst über Aufnahme und Ausschluß. Grundsätzlich sind alle Jugendlichen der Gemeinde Mitglieder des Jugendverbandes. Oder soll man besser sagen, wie eine Vereinigung — „Jungmannschaft"? „Jugendvereinigung" soll der Name für die Ber­ einigung der 14- bis 17 jährigen sein, kann also für die Gesamtver­ einigung nicht mehr in Betracht kommen. „Verein" sollte man eigentlich vermeiden. „Jugendgemeinde" ist auch schließlich ein Name, wenn auch kein idealer. Sagen wir einmal: „Jugendverband". Also alle 14- bis 17 jährigen sind grundsätzlich Mitglieder der Jugendvereinigung und die 17- bis 25 jährigen des Iungmännerverbandes. Grundsätzlich. So wie jeder erwachsene Evangelische der evangelischen Gemeinde zugehört, ob er sich an ihren Lebensäußerungen beteiligt oder nicht. In der Praxis wird es ja nie gelingen, alle zu vereinigen. Es wäre deshalb vielleicht doch ratsam, diejenigen Jugendlichen, die erklären, sich regel­ mäßig beteiligen zu wollen, in eine Liste einzuschreiben und als „ein­ geschriebene Mitglieder" zu bezeichnen. „Mitglied" ist ja auch nicht der ganz treffende Ausdruck — aber den wird's kaum geben. Die ein­ geschriebenen Mitglieder bedürfen ja eigentlich auch nicht der Aufnahme. Aber es ist doch zu bedenken, daß der Aufnahmeakt, wenn er feierlich mit ernster Rede, ernstem Lied („Dir öffnet sich jetzt unsere Brust") gestaltet wird, einen ernsten, tiefen Eindruck machen kann, namentlich, wenn die Aufzunehmenden mit Handschlag sich zur Treue verpflichten. Tie „Statuten", wo solche bestehen, unterschreiben zu lassen, ist vielleicht eine unjugendlich gedachte bureaukratische Maßregel. Schön ist der Gedanke, jeden bei seiner Aufnahme eine kurze Lebensbeschreibung ins „Vereins"-Album schreiben zu lassen. Besonders dürfte eine Aufnahme­ feier für die Neukonfirmierten auf keinen Fall fehlen. In vielen Jugendvereinigungen ist eine Probezeit eingeführt von ganz verschiedener Dauer bei den verschiedenen Vereinen: 8 Tage (1), 14 Tage (1), 3 Wochen (2), 4 Wochen (12), 5 Wochen (1), einige Wochen (2), einige Wochen bis Monate (1), 3 Monate (2), 3/4 Jahr (1), längere Zeit (1), oder auch ganz unbestimmt nach dreimaligem Besuch der Vereinsabende; hier ist wohl der Besuch dreier aufeinander folgender Abende gemeint. In 25 Jugendvereinigungen ist also Probezeit ein­ geführt. Sie erstreckt sich auf Beobachtung des „allgemeinen Verhaltens", von „Treue, Vereinsbesuch, Benehmen, Anstand und Willigkeit, Be­ teiligung am Vereinsleben, sittliches Verhalten, tadellose Führung". Alle diese Gründe mitsamt der ganzen Probezeit widersprechen dem Grundsatz, daß es sich um Jugendarbeit im Sinne der Erziehung handelt. Page. Jugcadpflegc.

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Außerdem bietet «ine längere oder kürzere Probezeit keine Gewähr und Sicherheit. Für einige Zeit kann sich schließlich jeder einmal zusammen­ nehmen. 18 Vereinigungen sehen von einer Probezeit ab — mit Recht. Eine tiefgreifende Frage ist die des Ausschlusses. Können Mitglieder ausgeschlossen werden und in welchem Falle? Richtiger ge­ fragt: Kann Mitgliedern der Besuch der Versammlungen und Veranstal­ tungen verboten werden? Es handelt sich natürlich wieder um die grundsätzliche Frage. In einer ganzen Reihe von Vereinen ist die Mög­ lichkeit des Ausschlusses satzungsgemäß gewahrt, in vielen ist auch der

Ausschluß tatsächlich erfolgt. Folgende Gründe werden für den mög­ lichen bzw. tatsächlichen Ausschluß angegeben: anstößiger Lebenswandel und Vernachlässigung der Vereinsordnung (4), Statutenverletzung (1), dauerndes oder stillschweigendes Fernbleiben (5), dauernde Ablehnung der Beitragszahlung ohne finanzielle Not (1), unwürdiges Verhalten (1), Roheit, Unbotmäßigkeit, Gehorsamsverweigerung (7), Diebstahl (3), Unsittlichkeit (1). Auch in dieser Frage kann der Erziehungscharakter rechter Jugendarbeit nicht genug hervorgehoben werden. Auf keinen Fall darf man mit dem Ausschluß gleich bei der Hand sein. In einem Statut wird auf Evangelium Matth. 18, 15—17 hingewiesen. Gut! Aber man übersehe nicht, was etwa im gleichen Kapitel im Vers 11—14 steht. Man könnte einen Grund zum Ausschluß gelten lassen: wenn alle Er­ ziehung, alle Beeinflussung unter vier Augen, alle Ermahnung durch den Vorstand versagt, und wenn der Betreffende andere gefährdet und verführt. Aber dann darf man den Betreffenden nicht einfach hinaus­ setzen. Damit ist nichts erreicht. Sondern dann muß die Gemeinde dafür sorgen, daß für einen solchen Jungen geeignete Erziehungsmaßregeln getroffen werden: Fürsorge- oder Zwangserziehung. Es gilt das­ selbe, was zur Abweisung gesagt wurde. Wir dürfen keinen von der Gemeinschaft der anderen ausschließen auf die Gefahr hin, daß er nun ohne jeden Halt ganz verloren geht. Vor allem muß unsere Jugend dazu erzogen werden, nicht jeden, der einmal strauchelte, selbst wenn er bestraft wurde, als einen Ausgestoßenen zu betrachten und wie einen Aussätzigen zu meiden. Es ist schlimm genug, daß vielen Bestraften die lieblose Gesellschaftsmoral den Rückweg zu einem geordneten Leben ab­ schneidet und sie aufs neue auf den Weg des Verbrechens stößt. In unseren Vereinigungen soll jene Grundstimmung der verzeihenden, suchen­ den und hoffenden Liebe herrschen, wie sie im Sinne Jesu ist. Außer­ dem sind solche Fälle so ernst und schwer, daß man ihre Beurteilung nicht der Jugend, nicht dem Mitarbeiterrat und auch nicht einem jugend­ lichen Schiedsgericht überlassen darf. Man mag vielleicht im Mit­ arbeiterkreis darüber sprechen — auch das ist vielleicht nicht einmal

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rötlich. Hier müssen die Erwachsenen, der Leiter und der Vorstand mit allem Ernst und aller Liebe auf den rechten Erziehungstveg sinnen. Hier mag auch gleich die Frage kurz gestreift werden: Was ge­ schieht mit der Jugend, wenn sie aus dem Jugend­ verbände ausscheidet, also normalerweise mit dem 25.Lebensjähre? An zehn Orten bestehen evangelische Männervereine oder evan­ gelische Vereine, in die sie dann übertreten kann. An vielen und den

meisten Orten ist die Frage noch nicht brennend geworden. Vielerorts wird mit der Zeit aus dem Jugendverband ein Männerverband heraus­ wachsen. In jeder Gemeinde sollte ein solcher bestehen, aber wiederum als Gemeindeveranstaltung. Wenn man auch sagen kann: wenn die Jugend wirklich bis zum 25. Lebensjahr im Jugendverband bleibt, ist

sie hoffentlich stark und gefestigt genug. Aber sie wird selber das Be­ dürfnis haben, die Gemeinschaft fortzusetzen. Dazu müßte unter allen Umständen Gelegenheit sein, eben in einem Männerverband. — Eine andere Frage ist die: Was kann man für die aus der Gemeinde Wegziehenden tun? Wenn der Leiter und einzelne Mitglieder in stetem brieflichen Verkehr mit einem nach auswärts Ge­ zogenen bleiben, so ist das schon etwas. Womöglich sollte ihm auch das etwa bestehende Gemeinde- oder Jugendblatt zugestellt werden. Das genügt aber nicht. Es bleibt ein Weg: Wegziehende müssen an ihre neue Gemeinde und deren Jugendverband überwiesen werden. Vier Vereine tun es nach ihren Berichten auch. Der Hessmbund hat sich auch dieser Sache angenommen und Überweisungskarten herausgegeben. Solche Überweisung ist ja natürlich nur bei größeren zusammengeschlosse­ nen Verbänden möglich. Die Überweisung darf nicht vergessen werden. Der Hessenbund müßte auch ein Wanderbuch herausgeben, das den Weg­ ziehenden mitgegeben werden könnte. Soldaten können auch auf die Soldatenheime hingewiesen werden. Vor allem vergesse man nicht, den Wegziehenden, seien es Rekruten, Studenten, auswärts Stellung An­ nehmende, eine herzliche ernste Abschiedsfeier im alten Kreise zu veran­ stalten und ihnen noch ein ernstes Wort mit auf den Weg zu geben. Auch die Frage des Beitrages sei kurz erörtert. Grundsätz­ lich hat die Kirchengemeinde die Jugendarbeit finanziell zu tragen, ferner die Gemeindeglieder durch freiwillige Beiträge. Auf andere Wege ist früher hingewiesen worden. Hier ist die Frage: Soll die Jugend Beitrag zahlen oder nicht? Praktisch sicht dem nichts im Wege; in fast allen Vereinigungen werden Beiträge von der Jugend in der Höhe von 5 bis 50 Pfennigen pro Monat bezahlt. Man könnte aber «inwenden, daß das grundsätzlich nicht richtig sei, die Finanzierung sei durchaus Pflicht der Gemeinde. Das ist auch richtig. Aber es handelt sich in der Jugend­ sache doch um eine Arbeit, die ganz neu den Gemeinden erwächst und nicht 13*

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gerade geringe Kosten erfordert. Tie Gemeinde müßte also erhöhte Steuer aufbringen. Vorläufig ist es vielleicht möglich, diese Steuer von den Eltern der im Jugendverband zusammengeschlossenen Jugend zu erheben in Gestalt eines Jahresbeitrages. Die Eltern können ja schließ­ lich nicht dankbar genug für diese Arbeit sein. Auf der anderen Seite soll man doch vielleicht nicht von einer Beitragszahlung der Jugend, so­ weit sie dazu imstande ist, absehen. Denn was nichts kostet, achtet man auch weniger. Wofür man aber Opfer bringt, das ist einem wert. Auch könnten besser situierte Jugendliche freiwillig höhere Beiträge zahlen, ohne daß ihnen freilich dafür auch nur die geringste Bevorzugung zuteil werden darf. Unsere Jugend muß zum Opferbringen für die Gemein­ schaft erzogen werden. Sie hat auch meist Geld. Umgekehrt darf kein Junge, der oder dessen Eltern nicht in der Lage sind Beitrag zu zahlen, abgewiesen werden. Jedenfalls können die Kirchengemeinden nicht alle gleich das ganze Geld für die Jugendarbeit aufbringen — mit der Zeit muß es doch so werden. Da muß zunächst die private Opferwilligkeit eintreten. Hoffentlich verstummen bald solche Klagen: „Trotzdem für Zwecke des Amüsements von Gebildeten und Ungebildeten in S. namhafte Summen aufgebracht werden, hat sich bis jetzt niemand gefunden, der für diese Arbeit etwas gegeben hat." Es ist Zeit, daß die Gewissen erwachen! Ein mehrfach begangener, und zwar erfolgreich begangener Weg ist, aus der Gemeinde unter st ützende Mitglieder zu gewinnen, also die private Opferwilligkeit zu organisieren. 9 Vereinigungen haben mehr oder weniger unterstützende Mitglieder, bei acht zahlen sie regel­ mäßige Beiträge, bei einer leisten sie Zuschüsse, „wenn Ebbe in der Kasse ist". An drei weiteren Orten ist die Einrichtung geplant. In Offen­ bach ist die Sache so organisiert, daß aus der Zahl der unterstützenden

Mitglieder ein „Verwaltungsrat" gewonnen ist, dessen wesentliche Auf­ gabe die Beschaffung der Finanzen und die Vertretung des Wartburg­ vereins nach außen ist, während er mit den inneren Vereinsangelegen­ heiten sich nicht zu befassen hat. Er hat vor allen Dingen nach außen zu wirken, das Verständnis und die Opferwilligkeit aller Kreise zu ge­ winnen für die Jugendarbeit. An drei Orten besteht ja auch eine solche Körperschaft, „Beirat" oder „Rat der Pfleger" genannt. Dort scheint aber dieser „Rat" mehr die Funktionen des Mitarbeiterkreises oder des Vorstandes in unserem Sinne zu haben. „Verwaltungsrat" ist wohl der passendste Ausdruck. Er verwaltet vor allem das durch unterstützende Mitglieder eingehende Geld. Nun noch ein Wort zu dm „Statuten". Sie «sind keines­ wegs ein notwendiger Bestandteil der Jugendarbeit. Sie können sogar^ wie das in einzelnen Fällen tatsächlich eintrat, zu einer fatalen Zwangs-

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jade werden. Die Jugendarbeit ist etwas so Lebendiges, das man nicht so leicht in Paragraphen fassen kann. Sie erfordert Bewegungsfreiheit in weitestem Maße. Namentlich Jugendarbeit in unserem Sinn ist statutarisch nicht leicht zu fassen. Trotzdem kann es wünschenswert sein,

die Richtlinien und das organisatorische Gerüst in Satzungen niederzulegen. Aber es geht auch ohne sie — manchmal besser als mit ihnen. Tie meisten Jugendvereinigungen arbeiten auch ohne Statut. Es kann aber zur Erhaltung der Tradition dienlich sein, was nicht zu übersehen ist, und vor Seitensprüngen bewahren, namentlich beim Personenwechsel. Nur sollen Satzungen nicht am Beginn der Arbeit stehen, sondern der Niederschlag mehrjähriger Erfahrung sein. Sonst kommt man aus den Satzungsänderungen nicht heraus, und vor lauter Satzungsberatungen >vird die eigentliche Arbeit vergessen. Wo man Satzungen aufstellt, sehe man darauf, daß sie wirklich in deutscher Sprache abgefaßt sind.

816. Der Anfang. Das ist der schwierigsten Fragen eine: Wie fange ich denn nun mit der Jugendarbeit an? Es gibt gar manche Gemeinden, in denen Pfarrer und Äirchenvorstand von der Notwendigkeit baldigster Inangriff­ nahme der Jugendpflege durchdrungen sind. Nur wissen sie keinen An­ fang zu finden. Und hier besteht das Sprichwort vollauf zu Recht: „Aller Anfang ist schwer." Ein Schema des Anfangs, das für alle Verhältnisse gültig wäre, läßt sich nicht aufstellen. Dazu sind die Verhältnisse im einzelnen viel

zu verschieden: der Geist der Gemeinden, die Zucht der Jugend, die Eigenart der Bevölkerung, die kirchliche Lage, die wirtschaftlichen Verhältnisse sind ganz gewiß nicht überall gleich. Sie können schon in den verschiedenen Teilen derselben Stadt verschieden sein und eine verschiedene Art des Beginns der Arbeit und auch der ganzen Arbeit bedingen. Und schließlich ist all« Theorie grau! Darum soll bei den Einzelfragen zuerst die Praxis das Wort haben. Zweifellos ist es zunächst richtig, daß der Pfarrer, der Jugendarbeit auf dem Boden der Gemeinde treiben will, „die Gemeinde erst gründlich kennen" muß und — daß er ihr Vertrauen haben muß. Das läßt sich

natürlich auch von heute auf morgen nicht erwerben. Mit den Gemeinde­ verhältnissen und insbesondere der Art der Jugend muß der Pfarrer zuerst gut vertraut sein, damit er nicht böse Mißgriffe macht. Auch läßt sich nicht einfach eine Methode, mit der man anderwärts vielleicht glänzende Erfahrungen machte, auf beliebige Verhältnisse anwenden — an einem anderen Orte versagt sie vielleicht vollständig. Was sagt die Praxis über den Anfang? Mehrere Vereinigungen haben gleich mit fester Vercinsform und mehr oder minder

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straffen Satzungen begonnen. Da wurden die Konfirmierten zunächst „auf das Zimmer" geladen, „um mit ihnen über die Gründung eines Vereins zu beraten". Oder im Gründungsprotokoll eines Vereins ist zu lesen: „Nach den vorbereitenden Versammlungen am 7., 14., 21., und 28. September, in welchen über den Zweck des Jünglingsvereins, sowie seine Statuten beraten wurde, konnte am 17. Oktober 1... zur Gründung des Vereins selbst geschritten werden." An einem anderen Orte lud der Pfarrer zu einer Versammlung ein, in der die Gründung vollzogen wurde, 25 unterzeichneten sich. Es ist zweifelhaft, ob das richtige Wege sind. Mit Statutenberatung und -annahme sollte man gewiß nicht be­ ginnen; irgend etwas in Formeln zu fassen, was noch gar nicht da ist, ist eine bedenkliche Sache. Die Gefahr ist sehr groß, daß unter allen möglichen Beratungen kein rechtes Leben auskommen kann. Wie oben schon gesagt, sollten Satzungen den Niederschlag mehrjähriger Erfahrung bilden, nachdem die Verhältnisse sich geklärt und gefestigt haben. Die Er­ fahrung spricht auch dagegen: denn ein Verein, dem gleich bei der Grün­ dung „Statuten, die auf städtische Verhältnisse zugeschnitten sind", aufgezwungen wurden, seufzt schwer unter dieser Fessel, da „sie sich schwer ändern lassen". Wenn man mit Statuten beginnt, muß man immer ein fremdes Vorbild nehmen, da man ja eigene Erfahrung noch nicht hat — so stellt sich's bald heraus, daß der in den Satzungen gegebene Rahmen hier zu eng und dort zu weit ist. Die Satzungsänderungen, die doch gewiß kein erquickliches Thema für eine Jugendvereinigung sind, be­ schäftigen dann jede Versammlung fast, wie es in einem Verein tatsächlich der Fall war. Das hemmt jede frische Entwicklung. — Zu einer Bersammlung zwecks Gründung einladen aber kann man nur, wenn der Boden vorher genügend vorbereitet wurde. Sonst kann man's erleben, daß die Versammlung entweder mangels Beteiligung überhaupt nicht zu­ stande kommt, oder nicht zum Ziel führt. Nach einem solchen Fehlschlag wird man sobald nicht wieder mit der gleichen Sache kommen können.

Die Vorarbeit ist für den Anfang das allerwichtigste. Von ihr hängt alles ab. Eine Reihe von Jugendvereinigungen hat, ehe an

eine Gründung herangegangen wurde, solche Vorarbeit in sammelnden Vereinigungen geleistet. Vor der Gründung „versammelten sich die letzt­ jährigen Konfirmanden, denen sich einige ältere junge Leute zugesellten, wöchentlich einmal abends in der Pfarrwohnung, bei welchen Zusammen­ künften gespielt und gelesen wurde. Die Gründung, die bei einem Ge­ meindeabend verkündigt wurde, bei welchem auch der Jugendverein thea­ tralisch mitwirkte, brachte Mitgliederzuwachs". Oder der Anfang wird so geschildert: „Im Sommer 19 . . wurde von mir in der Christenlehre eine Aufforderung zu freiwilligen Zusammenkünften im Pfarrhause er­ lassen, dem drei bis fünf Christenlehrpflichtige folgten; am Schlüsse der

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Christenlehre erfolgte eine nochmalige Aufforderung, worauf sieben bis zehn ziemlich regelmäßig kamen; es wurden Spiele auf einer Wiese ver­ anstaltet, besonders Kriegsspiele, denen eine Stunde der Belehrung und geistigen Unterhaltung voranging. Beim Gemeindeabend führten einige Mitglieder einen Schwank von Hans Sachs auf, die Sache wurde in weitere Kreise getragen durch einen Vortrag von Professor Schoell." Erst dann erfolgte die eigentliche Gründung. Ähnlich wird aus noch anderen Vereinigungen berichtet, daß zuerst einige gesammelt wurden, und mit ihnen eine Zeitlang gearbeitet wurde, ohne daß an eine Grün­ dung gedacht wurde. Mehrere Arbeiten stehen noch in diesem Anfangs­ stadium der „sammelnden Vereinigung" darin, um sich später erst zu konstituieren. Dieser Weg ist zweifellos richtiger als die vorhergehend beschriebenen. „Erst muß in losem Zusammenkommen vorgearbeitet werden." Unbedingt richtig ist es, wenn ein Berichterstatter schreibt: „Erst muß ich einen ganz sicheren Stamm von tatsächlich christ­ lichen jungen Leuten haben." Wenn auch der Ausdruck „tatsächlich christ­ lich" ein wenig bedenklich klingt, grundsätzlich istesderrechte Weg, den auch ein anderer Berichterstatter mit Bewußtsein gegangen ist: „Bis jetzt haben wir noch eine ganz lose Organisation. Wir hoffen nach der diesjährigen Konfirmation das Doppelte der Mitgliederzahl zu erhalten und somit langsam einen festen Stamm zu bekommen, so daß eine inten­ sivere Tätigkeit möglich wird." Tas ist das erste: einige ernstere, festere, junge Leute für die Sache zu gewinnen, und zwar am besten durch persönliche Fühlung, einen S t a m m z u b i l d e n. Zu groß anfangen, ist ein schwerer Fehler. Erst muß ein Pflänzlein da sein, das feste Wurzeln gefaßt hat — dann erst kann es wachsen und sich ausdehnen. Zuerst muß ein Sauerteig geschaffen werden, dann erst darf man die Masse kommen lassen! Sonst steht man einer großen unübersehbaren, ungeordneten Schar gegenüber, mit der man nichts Rechtes anzufangen weiß, weil man allein steht — und sie verläuft sich wieder. Erst einige gewinnen, persönlich mit ihnen ver­ kehren, sie beeinflussen, sie festigen und klären — dann ha t man g l e i ch d i e e r st e n M i t a r b e i t e r! Es ist gar kein Unglück, wenn zunächst wenige zu erreichen sind, sie kann man aber um so intensiver beeinflussen. Wenn man mit großer Quantität beginnt, geht's sicher auf Kosten der Qualität. Dieser Stamm ist dann auch die Kerntruppe, die bei allen Schwankungen und Krisen, die in der Anfangszeit unver­ meidlich und unausbleiblich sind, den festen Punkt in der Erscheinungen Flucht bildet. Von diesem Stamm aus kann auch etwas Eigenständiges wachsen und werden — alles „Gemachte" ist ja doch völlig wertlos und haltlos. Wenn der kleine Kreis festgeworden ist, dann kann man in die

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Weite gehen. Wie sann man nunweitereKreise Jugend­ licher für die Sache gewinnen? Zunächst werden weitere junge Leute durch persönliche Berührung mit den Stammleuten und dem Leiter, gewöhnlich dem Pfarrer wohl, gewonnen werden können. Tann können aber auch besondere Veranstaltungen dazu dienen: durch Kon­ firmandenausflüge kann die Jugend an dem gemeinsamen Beisammensein Gefallen finden, man kann ihnen sagen: Wie schön wäre es, wenn wir öfters solche Ausflüge machen könnten. Sie sagen's wohl selber, wenn der Ausflug in rechter Weise veranstaltet war mit Spielen und auch einem ernsten Wort, Deklamationen und Liedern. Es wird ein Konfir­ mandenkaffee abgehalten, gesungen, gespielt, gelesen, Rätsel geraten — man muß nur verstehen, der Jugend gleich etwas zu bieten. Da soll ein Familienabend gehalten werden: die Jugend wird zu Deklamationen, zum Gesang oder auch zu einer Theateraufführung herangezogen. Die ge­ meinsamen Vorbereitungen, Besprechungen, Proben knüpfen manches Band und lassen eine Fortsetzung der Gemeinschaft wünschenswert er­ scheinen. Auf diese Art ist eine Jugendvereinigung in neuester Zeit geradezu unwillkürlich und ungesucht entstanden. Vielleicht besteht an einem Nachbarort eine Jugendvereinigung. Wenn sie ein Fest feiert, be­ sucht man es mit der Jugend; sie wird selbst den Wunsch äußern, auch so frisch-fröhlich zu turnen, zu singen, und mit ihrem Pfarrer in Verbin­ dung zu stehen wie jene. Oder wenn gar eines der schönen Jahresfeste des Hessenbundes in der Nähe gefeiert wird, wo ein paar hundert fröh­ liche Burschen zusammenkommen, erst zu ernster Feier im Gotteshaus, dann zu fröhlichem Spiel und zur herrlichen Nachfeier — das wird seine Wirkung nicht verfehlen. Auch auf diesem Wege sind schon Jugendver­ einigungen entstanden. — Dann sind aber auch direkte Werbemittel zur Hand: Jugendpflege soll Gemeindesache sein, also kann auch durch Ver­ kündigung im Gottesdienste emgeladen werden. Die Predigt muß sich mit dem Jugendproblem, der Aufgabe der Kirche und der Verantwortung jedes einzelnen dem Heranwachsenden Geschlecht gegenüber befassen. Auch ein Familienabend der Gemeinde kann durch einen auswärtigen Redner, womöglich mit Lichtbildern, wie sie der Wartburgverein Offenbach besitzt, und der Hessenbund hoffentlich bald sammelt, Jugendnot und Jugend­ pflege ins rechte Licht rücken. Wo kirchliche Nachrichten in den Zeitungen erscheinen, wird auch der Jugendverband mitausgeführt und seine Ver­ anstaltungen bekanntgemacht. Ter Pfarrer und die Mitarbeiter können

durch Hausbesuche für die Sache wirken. In der Konfirmandenstunde darf die Jugendsache nicht unbesprochen bleiben, bei den Konfirmandenbesuchen des Pfarrers, die ja überall eingeführt zu sein scheinen, darf bei den Eltern die Einladung ihres Sohnes zur Beteiligung nicht vergessen werden, Zweck, Ziel, Art der Arbeit muß ihnen klargelegt werden, denn

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der schiefen Urteile sind Legion. Für die Konfirmanden wird dann ein extraschöner Konfirmandenabend vom Jugendverband veranstaltet, in dem ihnen möglichst alle Seiten der Betätigung vorgeführt werden. Schon an diesem Abend muß es ihnen heimisch und gemütlich im Jugendbetrieb gemacht werden. Überhaupt müssen die zum erstenmal Anwesenden kameradschaftlich und gut behandelt werden, alle sich schon Beteiligenden müssen sich Mühe geben, daß die „Neuen" den denkbar besten Eindruck haben und gerne wiederkommen. Die Meister und Lehrherren können aufgefordert werden, ihre Lehrjungen und Gesellen aufmerksam zu machen, die Mitglieder selber können in Werkstatt, Fabrik, Schreibstube

usw. viel wirken. Besonders sind die Zuziehenden nicht zu ver­ gessen. In einigen Städten läßt sich die Kirchengemeinde sowieso alle

Adressen Zuziehender vom Meldeamt gegen Entgelt herausschreiben, um sie auf die Gemeindeveranstaltungen, Gottesdienste, Pfarrzugehörigkeit usw. aufmerksam zu machen. Die Adressen der zuziehenden Jugendlichen müßten an die Leiter gegeben werden, die geeignete Maßnahme zu ihrer Einladung treffen. Ein besonderer Werbeausschuß könnte unter den Jugendlichen gebildet werden (Mitarbeiter!), der auch die Aufgabe hätte, Zuziehende zu besuchen, persönlich mitzubringen. In kleineren Ver­ hältnissen ist das noch leichter möglich als in großen. Schriftliche Ein­ ladungen oder gar gedruckte helfen dagegen erfahrungsgemäß sehr wenig. In 20 Vereinen wird auf die Zuziehenden besonderes Augenmerk gerichtet, freilich nicht bei allen systematisch, sondern nur bei Überweisung. Man bedenke aber, wie viele, namentlich vom Lande in die Stadt gezogene junge Leute vor allen möglichen Gefahren, ja vor dem Fallen bewahrt werden können. Wenn sie gleich guten Anschluß finden, geraten sie nicht in schlechte Gesellschaft. — Der Möglichkeiten sind viele. Auch die Jugendfeste und -feiern sollten in der Presse nicht zu selten und in falscher Bescheidenheit besprochen werden. Überhaupt kann der Leiter der Presse nicht entraten — auch an dieser Stelle muß immer im rechten

Sinne über Jugendfragen berichtet werden. Vor allem aber muß der Jugendbetrieb in allen seinen Teilen so ausgestaltet sein, daß er werbende Kraft besitzt. Es muß eine Ehre sein und eine Freude, an ihm teil­ nehmen zu dürfen. Tas beste Werbemittel sind immer die Jugend­

lichen selber, die mit Freude und Begeisterung bei der Sache sind — und zugleich tüchtige, ordentliche Menschen sind. Wenn gesagt wurde, daß die Satzung nicht das Wesentliche des An­ fangs ist, so denke man nicht, daß es überhaupt ohne Organisa tion geht. Die Mitarbeiter müssen gleich ihre Arbeit

beginnen — der Rahmen muß da sein, in den sich die Jugend einfügen kann. Sonst geht in der Unordnung alles Leben und alle Erziehungs­ möglichkeit unter. Mit dem Wachsen des Jugendverbandes, d. h. der Zahl

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der sich Beteiligenden, muß auch der Mitarbeiterkreis erweitert werden. Man wird ja Wohl nicht sofort genügend ideale Mitarbeiter haben, sie werden aber mit der Zeit heranwachsen. Man mag sich anfangs auch einmal mit jüngeren Mitarbeitern behelfen. Später erst eine Organi­ sation schaffen wollen, schafft schwere Krisen — die Beispiele beweisen es. Ein sehr wichtiger Grundsatz ist: Von vornherein mit der ernsten Arbeit beginnen. Wer da meint, er handele schlau, wenn er erst einmal mit Spiel, Unterhaltung, Belehrung, Ausflügen, Festen usw. die Jugend sammelt, um dann später, wenn er sie habe, die tiefere, religiös-sittliche Arbeit zu beginnen, der wird furchtbare Ent­ täuschungen erleben. Entweder gelingt es ihm überhaupt nicht mehr, die Arbeit zu vertiefen, die auf die Dauer nicht befriedigt — oder er setzt, wenn er es erzwingen muß, die Jugendarbeit den schwersten Krisen aus. Beispiele warnen! Von vornherein muß die religiöse Grundlage scharf herausgestellt werden. Man baut ja auch wohl kein Haus, ehe man das Fundament gelegt hat. Eher z u ernst beginnen, und mit wenigen, als mit vielen und oberflächlich. Freilich darf man auch nicht in den gegen­ teiligen Fehler verfallen, der Jugend nur Religiöses zu bieten. Beides muß sein Recht haben: jugendliche Art und der Grundsatz religiös-sittlicher Erziehung. Alle Übertreibung, einerlei nach welcher Seite, ist ein Übel. Was man für den Anfang vor allen Dingen braucht, das ist der Mut und die Kraft des Durchhalte ns. Gerade bald nach dem Anfang stellen sich schwere Schwankungen ein. Die Jugend strömt vielleicht in Scharen herbei — aber auf die Flut folgt die Ebbe. Die einen bleiben weg, wenn ihre Neugierde befriedigt ist, die anderen finden nicht, was sie suchen, den dritten geht's zu anständig zu, es gibt MeinungsVerschiedenheiten unter den jungen Leuten, da geht einer, weil er nicht zum Mitarbeiter gemacht wurde, dort ein anderer, weil er nicht mit Theater spielen durfte, da schwenkt auch einmal ein Mitarbeiter ab, auf den man großes Vertrauen setzte. Da gibt es manchmal Tiefpunkte — und nicht nur am Anfang. Wer aber das Vertrauen zur Sache nicht verliert, der kommt auch durch. „Nur die Sache ist verloren, die man aufgibt." Nach den Tiefpunkten kommen auch wieder Höhepunkte — auf jedes Wellental folgt ein Wellenberg. Der Glaube an den Sieg des Guten ist unbezwinglich. Namentlich gegen einen Feind brauchen Leiter und Mitarbeiter eine zähe Kraft: gegen den Spott und den Hohn. Gerade auf dem Dorf ist der Spott „der schlimmste Feind". Da hagelt es mit „Zuckerwasserverein", „Mucker", „Tugendbund", „Pfarrersbuwe" usw. ustv. Namentlich da ist es schlimm, wo von sozialdemokratischer Seite gehetzt wird. Mancher Leiter kann ein „schönes" Liedlein davon singen! Wenn der Spott nichts fruchtet, greift man auch zu derberen Mitteln. Auf den Spott folgt die Bekämpfung in Wort und

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Schrift. Wenn der Jugendarbeit schon die Ehre der Bekämpfung wider­ fährt, dann hat sie schon gewonnen. Ernsthafte Bekämpfung ist schon Anerkennung. Nur ein Grundsatz gilt, den auch die Jugend gut versteht: Schweige und arbeite! Dann verstummen auch allmählich die Angriffe, von wem sie auch gekommen sein mögen. Vor allem muß man für diesen Kampf den festen Stamm haben, auf den man sich verlassen kann. „Man muß wenigstens einen Mann haben, der feststeht, wenn man beginnen will. Dieser wird dann der Kristallisationspunkt*. Als der erste Sturm losbrach, fielen alle ab — nur er stand fest — nach und nach kamen die anderen." Ein ermutigendes Zeugnis sondergleichen! Zur Mutlosigkeit hat evangelische Jugendarbeit keinen Grund! Die „Kinderkrankheiten" bleiben nirgends aus. Es kriselt immer wie­ der einmal. Nur das Steuerruder fest in der Hand halten. Vertrauen und Liebe sind Zauberkräfte — und es gibt einen Glauben, der Berge versetzt... Noch eine Spezialfrage zum Anfang: Mit welchem Jugendalter soll man beginnen? Mit den Neukonfirmierten oder sämtlichen Christenlehrpflichtigen, mit den Älteren oder mit Jüngeren und Älteren? Tatsächlich haben 20 Vereinigungen ihre Arbeit mit Neu­ konfirmierten allein begonnen, 7 nur mit Älteren, 14 mit Neukonfir­ mierten und Älteren (bei 3 waren es „wenige" Ältere), 5 mit Christen­ lehrpflichtigen aller Jahrgänge (3 bis 5). Zunächst muß festgehalten werden, daß der erste Anfang nur mit wenigen Stammleuten gemacht tverden muß. Das müssen ernstere, reifere junge Leute sein — also auch

nicht zu junge. Wenn man dann einen festen Kern hat — dann tue man die Tore weit auf und lade ein. Es ist klar, daß die Neukonfirmierten immer am leichtesten zu haben sein werden. Sie stehen mit Pfarrer und Gemeinde in enger Fühlung, die nicht allzu schwer weiter gepflegt und vertieft werden kann. Sie wachsen mit den Jahren ja zu Älteren heran. Die Erfahrung hat aber gezeigt, daß auch die Älteren, wenn auch viel­ leicht langsamer, sich anschließen. Nur muß ihren besonderen Bedürf­ nissen, ihrer von den Jüngeren sie unterscheidenden Eigenart Rechnung getragen werden. Dann bleiben sie auch. Nicht nur das Sprichwort: „Ende gut — alles gut" hat seine Be­ rechtigung, sondern auch seine Variation „Anfang gut — alles gut". Die Jugendarbeit muß gut vorbereitet sein, Klarheit über Ziel und Weg muß vorhanden sein, eine, wenn auch noch so kleine Stammtruppe muß gewonnen sein — dann fröhlich und vertrauensvoll ans Werk! Nicht übereilen, damit man Herr der Sache bleibt — nichts versäumen, damit durch unsere Schuld nichts mißrät — nichts verzögern — denn frischer Wagemut erreicht mehr als alle Grübelei. Und: „Herr, dir in die Hände Sei Anfang und Ende, Sei alles gelegt!"

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§ 17. Die Lersammlungeu. Um die Jugend erziehen zu können, muß man sie nicht nur sammeln, sondern auch häufig um Leiter und Helfer und unter sich versammeln. Wenn durch diese Versammlungen wirklich Erziehungsarbeit geleistet werden soll, müssen sie vor allen Dingen regelmäßig abgehalten werden, nicht willkürlich und sporadisch. Ohne Ordnung keine ErZiehung. Die Versammlungen sollten unter allen Umständen das ganze Jahr hindurch durchgeführt werden. In 39 Jugendvereinigungen geschieht es auch, wenngleich 2 für den Sommer einschränkende Bemerkungen machen. 8 unterbrechen die Arbeit im Sommer vollständig, 1 für 3 Monate, 1 für 3 bis 4 Monate, 6 für den ganzen Sommer. Tie Unterbrechung hat den Nachteil, daß man geradezu immer wieder von neuem anfangen muß; und gar mancher verläuft sich während dieser Zeit. Warum aber unterbrechen diese Jugendvereinigungen überhaupt ihre Arbeit? Mehrmals wird es begründet: „Im Sommer sind die Jungen noch weniger zu bekommen." „Im Sommer dauert die Wein­ bergsarbeit zu lang." „An den Sommerabenden gehen die jungen Leute spazieren." „Weil die bessere Jahreszeit durch Arbeit oder Vergnügungen im Freien solche Versammlungen erschwert." Aus zwei Vereinen, die das ganze Jahr hindurch betrieben werden, wird berichtet: „Nur Juni und Juli nicht so regelmäßig" und „im Sommer schlecht besucht, da die jungen Leute gern im Freien bleiben". Gut; wenn die jungen Leute gern im Freien bleiben, warum wird dann nicht der Vereinsbetrieb ein­ fach ins Freie verlegt? Am Ende gibt es auch Höfe und Gärten, in die man ein paar Tische und Stühle bringen kann — dann noch ein paar Lampions an Drähten aufgehängt — und die schönste italienische Nacht ist fertig. Wie singt, liest, spielt und erzählt sich's so gut an einem solchen Sommerabend! Da gibt's manchmal wunderbare Stimmungen! Es gibt ja auch manchmal schlechte Sommer, wo man gar nicht so gern im Freien bleibt — dann wird eben die Versammlung im gewohnten Raum gehalten. Und wenn die Weinberge lange Arbeit in der Woche erfordern, am Sonntag wird doch nicht gearbeitet? Aber in die Stube setzen? Bewahre! Da werden Ausflüge gemacht, da wird im Freien gespielt und geturnt oder die Sonntagsversammlung an eine lauschige Stelle im Wald verlegt — da kann man sogar ernst-religiös reden, auch Andacht halten — und noch besser als in der Stube. In einer Vereini­ gung werden auch während der Ferienzeit „möglichst alle 14 Tage Spaziergänge und Ausflüge gemacht". Auf alle Fälle muß der Ver­ such gemacht werden, auch im Sommer Versammlungen zu halten — und es gelingt, wo es recht angefangen wird. Es ist sogar leichter als im

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Winter, weil durch Freispiel, Ausflüge, Schwimmen, Wettspiele, Feste im Freien, Picknicks viel mehr Gelegenheit ist, Abwechslung zu schaffen. Eine erfolgreiche Erziehung ist nur möglich bei ununterbrochen fortge­ setzter Arbeit. Wie oft sollen Versammlungen stattfinden? Tat­ sächlich finden, soweit die Berichte reichen, bei 1 Jugendvereinigung alle 2 bis 4 Wochen Versammlungen statt, bei 4 alle 14 Tage, bei 26 wöchent­ lich einmal, bei 11 wöchentlich zweimal (bei 1 im Winter nur einmal), bei 7 wöchentlich dreimal (bei 1 im Winter nur zweimal), bei 1 viermal, bei 2 fünfmal und bei 5 täglich (darunter 1 ländliche Jugendvereinigung). Grundsätzlich sollte die Jugend so oft als möglich gesammelt werden. Freilich ist das nur möglich, wo in der Jugendarbeit alle möglichen Arbeitsgebiete betrieben werden. Tenn wollte man die Jugend immer auf dieselbe Weise beschäftigen, würde tödliche Langeweile bald der ganzen Arbeit ein Ende gemacht haben. Es mag aus mancherlei Gründen nicht überall angehen, der Jugend jeden Tag Gelegenheit zur Zusammenkunft zu geben und sie zu beschäftigen; eins müßte aber möglich sein: den Ver­ einsraum auch an den freien Tagen bzw. Abenden offenzuhalten und Spiele und Bücher bereitzuhalten. Die Jugend müßte immer wissen, wo sie ihre Freizeit zubringen kann, daß sie eine Stätte hat, wo sie sich jederzeit wenigstens aufhalten kann. Sonst ist sie oft auf die Straße und das Wirtshaus angewiesen. Gegenwärtig halten nur 4 Vereini­ gungen ihr Lokal ständig offen — sie haben aber eigene Häuser bzw. Räume. Auch aus diesem Grunde müßten die Jugendverbände eigene Heime besitzen! Jedenfalls müssen die Bereinsräume nach Möglichkeit der Jugend zur Verfügung stehen an den Abenden, an denen keine offi­ ziellen Veranstaltungen stattfinden. Mitarbeiter können ganz gut die Aufsicht führen. — Als Mindestforderung muß eine wöchent­ liche Versammlung angesehen werden. Sonst ist an die Bildung einer Gemeinschaft zwischen Leiter und Jugend, Jugend und Jugend nicht zu denken. Außerdem wirkt die wöchentliche Regelmäßigkeit günstig auf den Besuch, der „Irrtum" und die „Vergeßlichkeit" in bezug auf den Ver­ sammlungsabend ist eher ausgeschlossen.

An welchem Tage bzw. welchen Tagen sollen Ver­ sammlungen stattfinden? Auf jeden Fall muß am Sonn­ tag sich die Jugend versammeln, und zwar sollte auf diesem Tage der Schwerpunkt der Arbeit liegen. Der Sonntag ist ja für den Pfarrer der unbequemste Tag, aber an ihm ist die Arbeit am notwendigsten: da hat die Jugend die meiste Zeit und ist den meisten Versuchungen und größten Gefahren ausgesetzt. Es muß eben für Helfer gesorgt werden, daß regel­ mäßige Sonntagszusammenkünfte möglich sind. Da steht auch genug Zeit zur Verfügung, um den Inhalt der Versammlung möglichst reich gestalten

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zu können. Festgestellt sei, daß nur 3 Vereinigungen am Sonntag nicht zusammenkommen. Welche anderen Abende in der Woche noch besetzt werden sollen, darüber entscheidet das Bedürfnis und die Ver­ hältnisse. Es sei nur geraten, da, wo zwei oder drei Abende benutzt werden, die Versammlungen nicht zu nahe beieinanderzulegen, etwa in eine Hälfte der Woche, sondern sie möglichst auf die Woche zu verteilen. Zu welchen Stunden sollen die Versammlungen abgehalten werden? Die Versammlungen finden tatsächlich meist abends statt. Das ist für die Werktage ganz selbstverständlich. Sie fallen dann etwa in die Stunden von 8, 8y2 Uhr bis 93/4, 10 oder auch 10y2 Uhr. Für die Jugendvereinigung dürfte 10 Uhr die geeignete Schlußzeit sein, für den Jungmännerverband 10V2 oder 11 Uhr. Auf dem Land wird ja der Schluß früher angesetzt werden müssen als in der Stadt, die lange wacht und lange schläft. Die Versammlungen sollen nicht zu kurz sein, sich aber auch nicht übermäßig lange ausdehnen. Sonntags beginnen die Versammlungen gewöhnlich früher, um 7 oder 7y2 Uhr. Nun ist aber die große Frage, ob es genügt, die Jugend Sonntags nur in den Abendstunden zusammenkommen zu lassen. In 6 Jugendvereini­ gungen wird die Jugend auch tatsächlich von 3 bis 10 Uhr beschäftigt — und das ist das Nichtige. Freilich Helfer sind dazu nötig — die braucht man aber unter allen Umständen. Es wird da etwa erst im Freien ge­ spielt oder ein Spaziergang gemacht, bei schlechtem Wetter im Zimmer mit Brett- oder Gesellschaftsspielen, Lesen und Musizieren die Zeit ver­ bracht, am Abend wird dann etwa ein Vortrag gehalten, Geschäftliches besprochen, eine ernste Besprechung oder Bibelstunde gehalten, gesungen und vorgelesen. Wo diese Einrichtung getroffen ist, daß die Jugend Sonntag mittags und abends sich zusammenfindet, wird es auch notwendig sein, ein einfaches Abendbrot für sie bereitzuhalten gegen geringes Ent­ gelt. Nicht als ob nun alle zwangsweise ihr Abendbrot im Lokale ein­ nehmen sollten — wer nach Hause zum Abendbrot geht, wird ganz gewiß nicht davon abgehalten. Aber gerade in den Städten macht man die Erfahrung, daß gar manche Jugendliche, auch solche aus sogenannten besseren Kreisen, vor verschlossener Tür ständen, wenn sie nach Hause gingen. Da gehen die Eltern eben ihre Wege. Wenn man solche jungen Leute nicht ins Wirtshaus treiben will, muß eben in der angegebenen Weise für sie gesorgt werden. Jedenfalls verdient dies Moment mehr Beachtung, als sie ihm nach der Beantwortung der Umfrage zuteil wird. — Versammlungen nur am Sonntag nachmittag müssen unbedingt als unzureichend bezeichnet werden. Dann doch lieber nur am Sonntag abend. In 7 Vereinen finden nur Nachmittagsver­ sammlungen statt von 3 bis 6, 4 bis 7, 5 bis 7, 3 bis 8 Uhr. Das ist

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verfehlt. — Daß die Versammlungen pünktlich beginnen müssen, sollte selbstverständlich sein. Um einer ordentlichen Zeiteinteilung willen muß darauf gehalten werden. Die Jugend muß dazu erzogen werden, daß sie pünktlich kommt. Erziehung zur Pünktlichkeit ist gewiß ein Haupt­ stück der Erziehung überhaupt. Fast noch wichtiger ist, daß die Ver­ sammlungen pünktlich zur fe st gesetzten Zeit schließen, damit die Eltern eine Kontrolle haben. Die Zeit des Schlusses muß allgemein, vor allem den Eltern, bekannt sein. Man darf der Jugend keine Ausrede für zu langes Ausbleiben durch selteneren oder häufigeren zu späten Schluß geben — aber auch nicht durch zu frühen Schluß die Gelegenheit bis zur Zeit, wo sie von den Eltern erst erwartet werden, allerlei ungehörige Dinge zu treiben. Wenn die Eltern diese Kontrolle nicht üben, die ihnen an die Hand gegeben ist, und sich nicht darum kümmern, wenn ihre Söhne, namentlich die jüngeren, zu spät heim­ kommen, so ist das nicht die Schuld der Jugendarbeit, sondern dann ver­ säumen sie einfach eine elementare Pflicht. Nach Hause begleiten kann der Leiter nicht jeden einzelnen, auch die Helfer und Mitarbeiter können's nicht. Eine andere Frage ist, ob nicht dann, wenn sich doch Mißstände herausstellen durch die Unaufmerksamkeit oder Schwäche der Eltern, nicht der Leiter seine Jugend der Reihe nach zu Hause abliefert — auch Helfer und Mitarbeiter können dazu herangezogen werden. Immerhin ist das ja nur in kleineren Verhältnissen möglich. Oder man beauftragt wenig­ stens Helfer, Mitarbeiter oder zuverlässige Jugendliche, den einen oder den anderen, der gerne über die Schnur haut, nach Hause zu be­ gleiten. Von besonderer Bedeutung ist der Versammlungsraum. Wo nur e i n Raum zur Verfügung steht, muß sich die Arbeit schon allerlei Beschränkungen auferlegen. Es müßten mindestens drei Räume vorhanden sein: ein größerer für die allgemeinen Versammlungen, einer als Bücherei-, Lese- und Schreibzimmer, in dem besonders Ruhe herrschen muß, ein Sitzungszimmer, damit während anderer Veranstaltungen auch eine Sondersitzung noch stattsinden kann. Dieses Sitzungszimmer kann

auch als besonderer Raum für den Leiter und die Helfer dienen, wo sie, getrennt von den anderen, auch einmal unter vier Augen mit einem jungen Menschen reden können. Eine gesonderte Garderobe und eine kleine Küche (Teeabende, Abendbrot, Nachmittagskaffee) sind wünschens­ wert. Über die Raumbeschaffung ist oben schon gesprochen worden. Gegenwärtig sind die Jugendverbände in den mannigfachsten Räumen untergebracht: Als Kuriosum steht die Jugendvereinigung da, die über­ haupt kein Lokal hatte, und doch bestand. Drei Vereinigungen sammelten sich in gemieteten Gasthauszimmern, drei in gemieteten Privathäusern, eine in einem freiwillig zur Verfügung gestellten Privathaus, vier

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(fünf) im Pfarrhaus«. Sechs Vereinigungen haben ihre Stätte in Schul­ lokalen, «in« im Gewerbezeichensaal, vier in sonstigen städtischen Räumen, eine im Rathaussaal. Nicht weniger als acht Bereinigungen haben in der Kleinkinderschule Unterkunft gefunden, eine int Schwesternhaus. Drei Vereinigungen bietet ein evangelisches Bereinshaus Obdach, zehn steht ein Konfirmandensaal (Gemeindesaal) zur Verfügung, weitere zehn haben ihr Heim im Gemeindehaus bzw. der ausgebauten Pfarrscheuer. Das Ideal eines eigenen Hauses hat nur ein Verein erreicht, aber di« Lage, in die er durch die Erwerbung des eigenen Hauses gekommen ist, ist alles andere als ideal. Die Forderung eigener Jugendheime soll noch einmal ausdrücklich betont werden. Es wäre Sache des Hessen­ bundes und auch der hessischen Jugendhelfervereinigung, einmal Pläne und Kostenvoranschlägc für Jugendheime bearbeiten zu lassen und herauszugeben. — Es sei hier nur noch einiges über die Einrichtung der Räume gesagt: Licht, Lust und Weite sind Fundamentalbedingungen. Es kann nicht hell genug sein in den Räumen des JugendVerbandes — am Tag und am Abend. Übersichtlichkeit des Raumes ist weitere Forderung — keine Verwinkelungen und unnötige Ecken. Tie

Wände einfach, aber freundlich und hell — möglichst künstlerisch guter Anstrich und keine Schreckenstapeten! Guter Wandschmuck — ja aber nicht zuviel! — darf nicht fehlen. Die Möbel sollen einfach und praktisch fein — weder schulmäßig noch wirtshausmäßig noch salonartig. Gegen den Luxus wird man ja kaum anzukämpfen haben. Zu einfach darf die Einrichtung aber auch nicht sein. Behaglich muß alles fein. Man er­ schrecke nur nicht, wenn man von Jugendvereinigungen hört, die — wenigstens für ihre jungen Männer — sogar Zimmer mit Sofa und Sessel eingerichtet haben. Es ist richtig: die Jugend soll nicht nur wegen der Behaglichkeit und Schönheit der Räume kommen — man mute ihr aber auch nicht zu, daß sie an jedem beliebigen ungemütlichen, womöglich moderigen, dunklen Lokal ihre Freude habe. Man mute der Überzeugungstreue der Jugend keine zu starke Belastungsprobe zu. Wenn man „in zwei Löchern des alten Hauses der Gemeinde" Jugend­ arbeit treiben soll, ist es weder für die Jugend noch für den Leiter er­ freulich. Ein mangelhaftes Lokal kann alle Arbeit erfolglos machen. Wo die Geldmittel so knapp sind, daß keine Möbel gekauft werden können, versuche man es einmal, um Überlassung alter, unbenutzter Möbel in der Gemeinde zu bitten. Hier und da sind mit diesem Verfahren nicht schlechte Erfolg« erzielt worden. Ein Klavier oder Harmonium zur Begleitung der Lieder ist unumgänglich notwendig. Jedenfalls müssen alle Möbel gediegen sein, nicht nur im Sinne der in Anbetracht der Benutzer notwendigen Festigkeit, sondern auch möglichst im Sinne guten Geschmacks. Am besten wäre es, wenn der Haupt-

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TQum auch zugleich als Turnraum vorgesehen wäre und zu diesem Zwecke eingerichtet. Tas ist tatsächlich mehrfach der Fall. Wenn auch an manchen Orten bereitwilligst Turnsäle zur Verfügung gestellt werden, muß doch hie und da hohe Miete bezahlt werden. Manch unliebsames Vorkommnis wäre so zu vermeiden. Wer hat die Leitung der Versammlungen? Nach Möglichkeit selbstverständlich der Leiter. Er hat auch, soweit es geht, bei den Versammlungen anwesend zu sein, die ein Helfer oder Mit­ arbeiter leitet — natürlich hat er dann die gebotene Zurückhaltung zu üben. Namentlich da, wo ein jugendlicher Mitarbeiter die Leitung hat lTurnen, Gruppen» oder Abteilungssitzungen), soll er nicht fortwährend dreinreden und denMitarbeiter selbständig walten lassen — außer natürlich, wenn sein Eingreifen unbedingt notwendig erscheint. Große Versammlungen wird man am besten niemals einem Mitarbeiter anver­ trauen. Tenn die Leitung einer solchen, namentlich die Aufrecht­ erhaltung der Disziplin, ist manchmal kein kleines Kunststück, besonders am Anfang. Bei rechter Erziehung kann mit der Zeit die Disziplin mustergültig werden — freilich nicht in dem Sinne, daß lautlose Stille herrscht, was selbstverständlich bei Verhandlungen, Vorträgen und Be­ sprechungen notwendig ist. Aber ungesund wäre es, wenn die Jugend bei allgemeiner Unterhaltung, Brett- und Gesellschaftsspielen sitzen wollte wie in der Kirche. Sie tut es auch nicht. Jugendarbeiter dürfen nicht allzuempfindliche Ohren haben, dagegen müssen sie aber dauerhafte Nerven mitbringen. Freiheit und Strenge muß die Leitung gleich gut zu handhaben wissen — wieder einmal die scharfe Linie! Jugend­ liche Art muß ja zu ihrem Recht kommen. Sie ist nun einmal gern laut und ihre Fröhlichkeit hat immer eine derbe Note. Wer jeden, der einmal pfeift oder während des Vortrages einmal spricht, zu einem Ver­ brecher stempelt, der Disziplinierung verdient, der wird bald die ge­ samte Jugend hinausdiszipliniert habew. Die Jugend muß spüren, daß ihrer Art keine Zwangsjacke angelegt werben soll. Sie wird dankbar dafür sein. Gewähren lassen, so weit es geht, dürfte das Richtigste — und Erziehlichste sein. „Freiheiten sind entgegengebrachtes Vertrauen. Tas weckt im Menschen die edlen Triebe und darf nicht zurückgezogen werden, auch wenn es gelegentlich mißbraucht würde................ Aber in dem Maße, als es bewahrt wird allen Mißbräuchen zum Trotz, löst es wahre, gute Geistesnatur aus und hilft die Herrlichkeit des Menschen offenbaren" sLhotzky). Freilich darf dieses Gewährenlassen nicht Schwäche sein — sondern der Leiter muß jeden Augenblick auch Herr der Situation sein. Unerbittlich muß er sein bei wirklichen Frechheiten und Roheiten. Ta darf er auch einmal vor einer Ausschließung aus der Versammlung nicht zurückschrecken. Vor einem muß er sich aber T'sltU- Jugendpflege.

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hüten: daß ihn die Selbstbeherrschung verläßt und der Zorn ihn über­ mannt Das reizt erstens einmal die Jugend zu Versuchen, den Leiter „hochzubringen", sodann ist es völlig wirkungslos und endlich — es verdirbt die Jugend. Denn jeder Fehler des Leiters vergrößert sich in

den Jugendlichen ins Mehrfache. Wenn es unter der Jugend beim Spiel usw. Streitigkeiten gibt, hat der Leiter mit guten, gerechten und nachdrücklichen Worten zu entscheiden — wenn er der rechte Mann ist, unterwirft sich die Jugend seiner Entscheidung gern. — Überall muß der Leiter beobachten und auch im innerlichen Sinn leiten. Das Gespräch der Mitglieder darf er nicht in Klatsch und Tratsch und kleinliche Schwätzereien ausarten lassen. Der Leiter darf ja nicht auf einem Thron sitzen und regieren, sondern muß beständig mit der Jugend sich beschäftigen — und zwar nicht nur mit einzelnen den ganzen Abend hindurch — sondern einmal spielt er mit dieser Gruppe, dann unterhält er sich mit jener usw. Kleine Sonderversammlungen in der Ecke, wo nur gewispert und geflüstert wird, darf er besonders nicht dulden — es gibt keine Geheimniskrämerei. Vor allem darf das lieblose Reden der Mitglieder übereinander nicht aufkommen — das ist schlimmer, als wenn einmal einer seiner Lungenkraft eine Rekordleistung abzunötigen sucht. Der Leiter muß eben eine Erzieherpersönlichkeit sein, pädagogisch und psychologisch bewandert. Es ist manchmal schwerer, 30 Jungen zu leiten, als ein Regiment Soldaten zu kommandieren.

Was soll nun der Inhalt der Versammlungen bilden? Es handelt sich hier nicht um Versammlungen, die besonderen Einzelzwecken dienen, etwa Bibelstunde, Turnen, Gesang, Posaunenchor, Streichorchester, Unterricht usw. Bei denen ist Verlauf und Inhalt durch ihren besonderen Zweck bestimmt. Hier stehen die allgemeinen Versammlungen in Frage, wie sie an manchen Orten nur gehalten toerden, wo also gar keine besonderen Zwecken dienende Versammlungen gehalten werden. Ob man damit auskommt, ist ja eine andere Frage. Besondere Gelegenheit zum Turnen sollte mindestens geboten werden. Tenn das Turnen im Rahmen einer allgemeinen Versammlung zu be­ treiben, wie es mehrfach geschieht, ist nicht sehr praktisch. Die Nichtturner werden dadurch zu sehr gestört und es ist auch gar nicht genügend Zeit vorhanden, um wirklich ernsthaft turnen und dann auch noch anderes vornehmen zu können. — Die allgemeinen Versammlungen werden fast durchweg mit Spiel und allgemeiner Unterhaltung begonnen, in mehreren Fällen wird erst „Geschäftliches" verhandelt, in anderen steht der Vortrag oder die Bibelstunde an der Spitze. Am praktischsten ist es wohl, die Versammlung mit Spiel und allgemeiner Unterhaltung zu beginnen, Bücher, namentlich illustrierte Zeitschriften, werden aus­ gegeben, nach Belieben können Brett- oder Gesellschaftsspiele vorgenommen

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werden, ein Schießstand mit Luftgewehren kann im Betrieb sein usw. Dieser Anfang hat den Borteil, daß noch eine gewisse Zeit zur Samm­ lung bleibt und Störungen des Vortrages oder der ernsten Besprechung vermieden werden. Wenn auch auf Pünktlichkeit streng gesehen wird, es gibt doch immer Nachzügler, auch von solchen, die spät von der Arbeit kommen, nicht nur etwa die Unordentlichen. Wenn die für Spiel und allgemeine Unterhaltung gegebene Zeit um ist, wird Ordnung geschafft. Ter Bücherwart sorgt, daß er alle Bücher, der Spielwart, daß er alle Spiele zurückerhält. Der Ordner waltet seines Amtes, die Gruppen­ führer nehmen ihre Gruppen zusammen. Denn während des folgenden Verlaufs ist es praktisch, namentlich des Geschäftlichen wegen, daß die Gruppen beieinander sitzen, womöglich an getrennten Tischen, während bei der allgemeinen Unterhaltung alle gemeinsam spielen usw. Nach­ dem Ordnung eingetreten ist, werden Vereinsangelegenheiten besprochen. Nach deren Erledigung wird ein gemeinsames Lied gesungen, um die rechte Stimmung für den nun folgenden Vortrag oder die vorzulesende Geschichte herzustellen. Dann beschließt eine ernste Ansprache oder An­ dacht den Abend, zu der wieder ein Lied, diesmal ein ernstes, religiöses überleitete. So werden die jungen Leute im Verlauf des Abends von der Weite und Zerstreuung in die Tiefe und Sammlung geführt, und mit einem ernsten Gedanken entlassen, vielleicht auch mit einer in der Schlußansprache aufgeworfenen Frage, die zu Überlegung und Nach­ denken Anlaß gibt. Geschickterweise kann zu der Schlußansprache etwa eine geeignete Frage aus dem Fragekasten, also eine von der Jugend selbst gestellte dienen. Der Fragekasten ist überhaupt ein vorzügliches Mittel, die Bedürfnisse, Zweifel und Nöte der Jugend kennen zu lernen, wenn er ernst gehandhabt wird, und wenn der Leiter es versteht, hinter die gestellten Fragen zu schauen und in der jugendlichen Seele durch diese Fragen hindurch zu lesen. Wenn nun eine zeitliche Ein­ teilung vorgeschlagen werden soll, so wäre vielleicht folgende Ein­ teilung am Platze bei einer Dauer von 2l/4 Stunden: 1. Spiel und allgemeine Unterhaltung 3/4 Stunde- 2. Geschäftliches 72 Stunde; 3. Vortrag 72 Stunde; 4. Andacht 7< Stunde; blieben 1/4 Stunde für Gesang, Herstellung der Ordnung usw. — Es ist natürlich nicht möglich, ein allgemein gültiges Programm aufzustellen. Es kann z. B. vor­ kommen, daß nichts Geschäftliches zu besprechen ist. Die Zeit wird dann anders ausgenützt, dem Spielen mehr Raum gelassen, die Vorlesung bzw. der Vortrag etwas ausgedehnt oder ein paar Lieder werden ge­ sungen. Es liegt im Interesse des Leiters und der Jugend, daß eine bestimmte Ordnung eingehalten wird. Die Jugend hat dann ihre feste Gewohnheit und der Leiter einen vorgezeichneten Weg, den er nicht ohne Not verlassen sollte — auch für den Leiter schadet eine gewisse 14*

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Nötigung nichts. Die Praxis ist nicht zu empfehlen, die ein Berichterstatter so beschreibt: „Eine festgelegte Schablone gibt es nicht. Ist gerade Begeisterung zum Spielen, dann wird auch einmal den ganzen Abend gespielt." Die Erziehung zur Selbstbeherrschung ist doch das Wichtigste der ganzen Jugendarbeit — wenn auch die „Begeisterung zum Spiel" einmal groß ist, schadet es gar nichts, wenn Leiter und Jugend dennoch ihre festgelegte Ordnung wahren. So werden auch Streitigkeiten vermieden: denn am Ende wollen die einen weiterspielen, die anderen singen, die dritten Vortrag hören — das wird durch eine vernünftige Ordnung von vornherein abgeschnitten. Mancher Abend wird so vor einer unausbleiblichen Verstimmung bewahrt. — Unerläßlich ist für den Leiter eine gründliche Vorbereitung für jede Versammlung. Dazu sollte er auch in erster Linie seine Mitarbeiter erziehen. Auf gut Glück in eine Versammlung zu kommen und sich schlecht und recht durch* zuarbeiten, gibt dem Ganzen das Gepräge der Unsicherheit und damit des Unerziehlichen. Der Leiter muß sich klar sein über jeden Teil des Abends und auch über seine Gesamtanlage. Kleinigkeiten wirken oft schlimmer als große Dinge. Wenn ein Lied gesungen werden soll und der Leiter muß erst in halber Verzweiflung minutenlang suchen, das kann für den ganzen Abend die Ordnung und die Stimmung umwerfen. Auf der anderen Seite lassen sich durch gute Vorbereitung sehr eindrucks­ volle Zusammenstellungen schaffen. Daß das Lied etwa zur Andacht oder Bibelbetrachtung passen muß, ist wohl klar. Man muß aber auch schließ­ lich für den Vortrag oder die Geschichte ein einigermaßen brauchbares Lied haben. So ist z. B. bei der Jugend ein starker Eindruck erzielt worden durch das Vorlesen von Kleists „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege" und den folgenden Gesang von „Was blasen die Trompeten?", dem dann die Verlesung von La Roches „Todesritt" mit dem Lied „Morgenrot, Morgenrot" folgte. Die Wirkung war tief. — Monatlich einmal kann, wenn es notwendig ist — wie in größeren Vereinigungen, eine besondere Versammlung zur Besprechung der Vereinsangelegen­ heiten, etwa des Monatsprogrammes, größerer Ausflüge, des Jahres­ festes usw., veranstaltet werden. Auch vielleicht eine Generalversammlung am Anfang des Jahres. Die Jugend sitzt dabei nach Bezirken, Gruppen usw. je nach der Einteilung. — Daß der Leiter die Jugend mit Hand­ schlag einzeln begrüßt und verabschiedet, sollte eine Selbstverständlich­ keit sein. Eine viel diskutierte Frage ist die nach der Kontrolle. Grundsätzlich wäre nach unseren Anschauungen von der gemeindlichen Jugendpflege eine Kontrolle des Besuchs überflüssig. Wer kommt, ist eben da, und wer geht, geht eben. Das gäbe in der Praxis natürlich einen „Taubenschlag". Mit allem Nachdruck muß vor allem darauf ge*

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halten werden, daß die Teilnehmer auch die ganze Versammlung mit­ machen, nicht etwa vor dem Vortrag sich drücken. Nur auf ganz ernst­ hafte Entschmldigungsgründe hin, die beim Leiter der Versammlung vor­ zubringen sind, darf von der weiteren Teilnahme dispensiert werden. Das ist keine Gewaltmaßregel, sondern eine erzieherische Maßnahme. Zum Besuch der Versammlungen überhaupt wird, das ist genug betont, keiner gezwungen. Soll nicht aber jedesmal festgestellt werden, wer die Versammlung besucht? Das muß unter allen Umständen geschehen. Sonst könnte etwa der Besuch der Jugendversammlung den Eltern und dem Meister gegenüber zum Vorwand für irgend etwas, womöglich Licht­ scheues, benutzt werden. Andererseits sind die Jugendleiter den Eltern usw. gegenüber schuldig, daß sie jederzeit Auskunft geben können, ob ihr Sohn oder Lehrling an dem und jenem Abend die Versammlung besucht hat. Und endlich, wo die Jugend weiß, daß Kontrolle geübt wird, wirkt die Kontrolle erzieherisch. Soweit die Mitteilungen hier­ über reichen, wird in 18 Vereinigungen keine Kontrolle geübt, in 2 zu­ weilen, in 21 dagegen wird der Besuch kontrolliert und in 1 ist die Ein­ richtung der Kontrolle in Aussicht genommen. W i e soll die Kontrolle ausgeübt werden? In 10 Jugendvereinigungen wird Kontrolle durch eine Anwesenheitsliste geübt, die der Schriftführer oder ein älteres Mit­ glied führt, in einem Falle tragen die Besucher beim Kommen ihren Namen selbst in ein Buch ein, in 1 Vereingiung ist ein „Kontrolleur" angestellt und in 1 übt der Vorsitzende „unauffällige Kontrolle". In einer größeren Vereinigung wird die Kontrolle durch die Gruppenführer aus­ geübt. Das ist auch zweifellos der beste Weg, wenn die M i t a r b e i t e r mit der Feststellung der Anwesenden betraut werden. In ihren Listen merken sie an, ob der Betreffende teilgenommen hat oder nicht. Die Kontrolle hat natürlich erst dann Sinn, wenn sie in Verbindung mit dem Elternhaus geübt wird. Einseitige Kontrolle, wie sie nach den Mitteilungen in 5 Vereinigungen besteht, hat höchstens statisti­ schen Wert. Nun soll keineswegs die Kontrolle so gehandhabt werden, daß jedesmal den Eltern schriftliche Mitteilung gemacht würde vom Nichterscheinen ihres Sohnes. Das wäre verkehrt und stieße die Jugend ab. Es geschieht auch in keiner einzigen Vereinigung. Mitteilung wird nur gemacht „bei längerem Fehlen", „bei öfterem Fernbleiben", „bei verdächtigem Fehlen" — und zwar nur „ausnahmsweise" oder „ge­ legentlich". Wenn ein Mitglied, das regelmäßig kam, Plötzlich versagt — dann ist es einfache Pflicht des Leiters, nicht etwa den Eltern schrift­ liche Mitteilung zu machen, sondern persönlich mit ihnen zu sprechen. Die Verbindung des Leiters mit dem Elternhaus kann über­ haupt nicht genug gepflegt werden. Dadurch lernt er die Eigenart so manches „schwierigen" Jungen verstehen — ein Blick ins Elternhaus

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löst manchmal ganze Rätsel — und er lernt dann auch einen solchen Jungen recht behandeln und erziehen. Wo aber die rechte Verbindung mit dem Elternhaus besteht, da ist die Mitteilung an die Eltern betreffdes Besuches ihres Sohnes sehr einfach — da werden die Eltern sich selbst erkundigen, ob ihr Sohn regelmäßig kommt, oder ihn entschuldigen. Von einer schriftlichen, offiziellen Mitteilung ist unter allen Umständen abzusehen. Über alle Veranstaltungen, ihren Verlauf, Inhalt, die Teilnehmer­ zahl, Leitung usw. wird am besten eine Chronik geführt. Nicht nur weil solche Aufzeichnungen wunderschöne Erinnerungen vermitteln, son­ dern weil dadurch eine festgelegte Tradition geschaffen wird, die für die Fortarbeit von großem Werte ist, namentlich, wenn etwa die Leiter wechseln.

§ 18. Die ArbeitsgebieteAuf welchen Gebieten soll evangelische Jugendpflege sich nun be­

tätigen? Der oberste Grundsatz ist und bleibt: religiös-sittliche Er­ ziehung der Jugend der Gemeinde. Daß diese Erziehung kaum ohne ernste, bewußt religiöse Beeinflussung möglich ist, ist festgestellt. Aber ebenso, daß sie ohne Betätigung auf anderen Gebieten weder auf die Dauer noch wirksam durchgeführt werden kann. Nun könnte man fragen, welche Gebiete kommen denn für die Jugendpflege in betracht? Man zähle sie einmal auf, damit man den Umkreis sehe! Diese Auf­ zählung kann man sich sparen. Denn Jugendpflege muß und soll alle Gebiete umfassen, die im Bereich jugendlicher Art liegen, alle Be­ tätigungen, durch die die Jugend erzogen werden, in religiös-sittlichem Urteil geübt werden kann. Das aber ist schließlich bei allen Betätigungen möglich Grundsätzlich ausgeschlossen von der Jugendpflege nur ist alles, was der religiös-sittlichen Erziehung hinderlich ist, von ihr zu betreiben ist zunächst alles, was die Erziehung fördert, und möglich alles, was sie nicht hindert. Also ist das Gebiet der Jugendpflege fast unbegrenzt? Das ist es auch in der Tat. Theoretisch wenigstens.

Tatsächlich kann ja die Jugendarbeit nicht überall in der gleichen umfassenden Weise getrieben werden. In den großen Städten wird das möglich sein. Aber auch in kleineren und Landgemeinden könnte noch viel umfassender gearbeitet werden, als es in der Tat geschieht.

Nur hüte man sich vor dem Schema. Es muß nicht irgend etwas in B. getrieben werden, weil A. es auch treibt. Gar mancherlei Fak­ toren bestimmen die Art der Arbeit gemeinsam und nicht ein einzelner. Vor allem ist ber Geist der Gemeinde von grundlegender Be­ deutung — man kann und darf nicht einfach gegen ihre Art Jugend­ arbeit treiben wollen, man wär« damit fertig, ehe man begonnen hätte.

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Man kann auch nicht Geist und Art einer Gemeinde von heute auf morgen umstempeln, wenn das notwendig erscheint, sondern man muß erziehen — übrigens ist eine Gemeinde am leichtesten zu erziehen, wenn man die Jugend erzieht, die noch erziehbar ist. Unter allen Umständen muß an die Art der Gemeinde angeknüpft werden, sonst ist — wie über­ haupt keine rechte kirchliche Arbeit — auch keine rechte Jugendpflege nröglich. Dazu kommt die Eigenart der Jugend, die ja, wie gezeigt, ganz und gar nicht überall dieselbe ist — sie ist ebenfalls mit­ bestimmend, und zwar sehr stark muß man ihr Rechnung tragen — so­ wohl nach der einen Seite, daß man ihr zusagende Gebiete zunächst in Angriff nimmt, sodann nach der anderen, daß man die Jugend nach den ihr vielleicht besonders eignenden Fehlern erziehen muß. Als dritter wichtiger Faktor tritt die Persönlichkeit des jeweiligen Leiters hinzu. Die Arbeit wird jeweils ihr Gepräge von ihm empfangen, aber alleinbestimmend darf sie nicht dafür sein. Die Jugend­ arbeit darf nicht unter dem persönlichen Geschmack des Leiters leiden. Er darf nicht Gebiete, die ihm persönlich besonders zusagen, eifrig pflegen und andere, die ihm ferneliegen, einfach übersehen oder vernachlässigen. Er käme damit wohl sehr häufig an den Interessen der Jugend vorbei.

Für die Gebiete, die dem Leiter nicht liegen, hat er ja seine Helfer und muß sie haben. Daß er ihnen auf ihrem Felde freie Hand lassen muß, ist klar; bevormunden darf er sie nicht; gemeinsame Besprechungen und persönlicher Verkehr halten den Zusammenhang dauernd aufrecht. Nur daß der Grundsatz religiös-sittlicher Erziehung niemals außer acht ge­ lassen werde, dafür muß er Sorge tragen. Der Leiter muß eben ein gut Teil Selbstbescheidung besitzen — und auch die anderen Faktoren gebührend berücksichtigen. Ein Grundsatz mag noch betont werden: Jugendarbeit kann nicht vielseitig genug sein. Die Jugend ist einmal nicht durch Einseitigkeit zu fesseln, und nicht alle haben die gleichen Interessen. Jugendarbeit muß schließlich allen Interessen etwas zu bieten haben, damit jeder einen Punkt hat, der ihn besonders an den Jugendverband fesselt. Mit der Zeit wird seine Einseitigkeit sich schon abschleifen, und er wird auch für andere Dinge Interesse gewinnen. Weitherzig sein! Engherzigkeit kann nur verbilden, aber nicht erziehen! Alle Kräfte, seelische, geistige, körperliche, sollen sich entfalten können — nichts darf verkümmern, alles muß Luft und Raum zur Betätigung haben. Im folgenden sollen nun unter den Gesichtspunkten Unterhaltung, Belehrung, Körperpflege, soziale Fürsorge und Erziehung die Arbeits­ gebiete, abgesehen von dem schon erörterten der religiösen Einwirkung, durchgesprochen werden. Selbswerständlich kann nicht eine bis ins kleinste gehende Darstellung gegeben werden — schon über manches eng-

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begrenzte Gebiet ließen sich Bücher schreiben, und sind auch schon ge. schrieben worden, etwa über das Kriegsspiel oder Wanderungen oder die Bücherei für Jugendliche. Meist kann es sich nur um grundsätzlich« Auseinandersetzungen und praktische Winke drehen.

1. Unterhaltung. Das vorzüglichste Unterhaltungsmittel für die Jugend ist das Spiel. Es ist eine Freude, zu sehen, wie auch ältere junge Leute noch gern sich dem Spiel widmen. Bei den Jüngeren ist der Spieltrieb ohnedies noch stark entwickelt. Das Spiel ist für die Jugendarbeit völlig unentbehrlich. Nicht nur, weil es ein gern benutztes Mittel der Unter­ haltung ist, sondern einmal bietet es einen seinen Weg zu dem Herzen der Jugend. Der Leiter, der es fertigbringt, mit seiner Jugend wieder die alten Spiele der Kindheit zu spielen, der wird ihre Herzen bald erobert haben. Ferner aber offenbart sich die Art eines Jungen kaum irgendwo besser als im Spiel. Das hat man bald heraus, ob man einen gewandten oder schwerfälligen, leichtsinnigen oder nach­ denklichen, oberflächlichen oder gewissenhaften, vor- oder nachbedachten, eifersüchtigen oder bescheidenen, rechthaberischen oder nachgiebigen, jäh­ zornigen oder sich selbst beherrschenden Menschen vor sich hat. Man kann die Jugend fast treffsicher darnach beurteilen, w i e sie spielt — auch daran, was sie gern spielt. Der eine greift gern zu den leichten Kinderspielen — und der andere zum Schach etwa, zu dem ernstes Nachdenken und «ine gewisse Schulung gehört. Sodann aber ist das Spiel ein nicht zu unterschätzendes Erziehungsmittel. Da lernt man systematisch denken, klug vorausberechnen, scharf beobachten. Noch größer ist der

sittliche Gewinn: Beim Spiel wird man — ohne Wort, eben durch die Sache selbst — zur Selbstbeherrschung erzogen, seine Gedanken und seine Pläne nicht ohne weiteres preiszugeben, die Zunge im Zaum zu halten,

dann zur Unterordnung: wer sich nicht fügt, verdirbt das Spiel, zur Selbstbescheidung: neidlos anerkennen, daß es ein anderer besser kann, zu geistesgegenwärtigem Handeln: sich durch keine Situation verblüffen lassen und ausdauernd auf einen Ausweg sinnen, zur Überwindung von Schwierigkeiten, zu planvollem Vorgehen, zu gemeinsamem Arbeiten. Wen man noch zu einem ordentlichen Spiel bringen kann, der ist noch zu erziehen. Freuen wir uns, wenn auch die älteren auch gern zu einem ernsten Spiel greifen — die allzu kindlichen Spiele mögen sie natürlich nicht mehr — es sind nicht die schlechtesten, die trotz ihres „Alters" noch gern spielen: „Wenn eure Kinder mit 14, 16, 18 Jahren un­ später noch spielen mögen, so stört sie nicht. Denn das sind gewöhnlich die Menschen, die draußen in der ernsten Welt ihr Werk angreifen mit froher Kinderkraft und die mit naivem Lächeln bewältigen, was dem

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Pedanten unmöglich schien" (Otto Ernst). Gewiß wollen wir die Jugend im Spiel nicht stören, sondern sie dazu anleiten. Grundbedingung ist, daß der Leiter alle Spiele selbst spielen kann und die Spielregeln ganz genau kennt. Ter Leiter braucht gar nicht unbesieglich zu sein — im Gegenteil, wenn er niemals verliert, hat die Jugend bald keine Lust mehr mit ihm zu spielen. Aber er muß doch „Autorität" sein, jederzeit muß er regelrecht im Zweifelsfalle entscheiden können. — Grundsätzlich darf nicht um Geld gespielt werden, einerlei wozu es verwandt werden sollte. Der Junge, der zum Spiel schon den Reiz des Geldes braucht, ist schon bedenklich verdorben. — Etwas anderes ist es mit den Z i m m e r w e t t s p i e l e n, die man jedes Jahr veranstalten sollte. Die Jungen melden die Spiele, an denen sie sich beteiligen wollen. Alle spielen nun miteinander, die sich für das gleiche Spiel gemeldet haben; wer am wenigsten besiegt wurde, bekommt den Preis. Den völlig Unbesiegten kann man auch zum „Meister" ernennen. „Schachmeister" klingt gar nicht übel. Tie Preise bestehen natürlich niemals in Geld, sondern etwa in dem Spiel, in dem gesiegt wurde. Das hat den Vorteil, daß sich das Spiel in der Familie den Platz wieder erobert, den es sehr stark ein­ gebüßt zu haben scheint. Solche Zimmerwettspiele wirken ungeheuer anregend auf die Spiellust — Aufgabe des Leiters ist es, die Jugend namentlich zur Beschäftigung mit den ernsten Spielen Quartett, Schach,

Dame, Mühle, Halma anzuleiten. Sie haben selbswerständlich tieferen erzieherischen Wert als ein einfaches Würfelspiel. Namentlich das Ouartettspiel Pflege man eifrig: es ist auch kein übles Mittel zur Fort­ bildung und Belehrung (Dichter-, Komponisten-, geschichtliches, geo­ graphisches usw. Quartett). — Die Spiele müssen künstlerisch möglichst gut sein. Es gibt eben z. B. hervorragende Quartette! Außerdem nehme man niemals die billigsten Spiele und auch nicht allzu leicht zu beschädigende; dauerhaft und haltbar müssen sic sein. Jugendliche Hände fassen nicht immer allzu zart an. Daß trotzdem auf ordentliche Behandlang der Spiele gedrungen wird, ist selbswerständlich. — Nun könnte man fragen: lvas sollen wir der Jugend zum Spielen geben? In der Umfrage sind von 26 Vereinigungen die dort benutzten Spiele genannt worden. 2 Vereinigungen besitzen gar keine Spiele — unbegreiflicherweise. Die Spiele sind hier geordnet nach der Zahl ihrer Nennung in der Umfrage: Halma (24), Mühle (20), Schach (18), Quartett (18), Dame (17), Festung (8), Domino (6), Würfelspiele (5), Salta (5), Schnipp.Schnapp (3), Glocke und Hammer (3), Reisespiel (2), Lotto (2), Poch, Roulette, Tischbillard, Tischkegelspiel, Tivoli, Kriegs­ spiel, Kugelbrett, Wettrennen, Eisenbahnspiel, Nummerspiel (je 1). Es muß dafür gesorgt werden, daß nicht nur einzelne Spiele, sondern solche in größerer Zahl, die beliebteren mehrfach vorhanden sind. Leider ist

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di« Frage nach den Spielen, die mit Vorliebe gespielt werden, nicht ein­ gehend beantwortet worden. Es zeigt sich aber deutlich, daß im großen und ganzen die Jugend mehr Sinn für die ernsteren Spiele hat. Würfelspiele hat sie dagegen im allgemeinen nicht gern. Als mit Vor­ liebe gebrauchte Spiele werden von 21 Vereinigungen genannt: Quartett (11), Mühle (9), Schach (7), Halma (6), Domino (2), Würfel­

spiele (2), Dame, Festung, Frage und Antwort, Glocke und Hammer, Salta, Tischbillard (je 1). — Neben den Einzelspielen und den Spielen für kleinere Gruppen (Halma, Quartett) bilden die sogenannten Ge­

sellschaftsspiele eine gute Unterhaltung. Sie sind besonders da am Platze, wo die allgemein« Unterhaltung ins Stocken kommt und eine gewisse Spielmüdigkeit sich zeigt. Die Jugend setzt sich im großen Kreis um den Leiter, der selbstverständlich mittut, und nun geht's los. Ein Verein lehnt die Gesellschaftsspiele ab wegen der zu großen Unruhe. So ein wenig Unruhe ist gar nicht so schlimm, und traurig, wenn der Leiter es nicht fertig bringt, die notwendige, leidliche Ruhe herzustellen. In 21 Vereinigungen sind Gesellschaftsspiele beliebt, auch Pfänderspiele, di« durchaus nicht ungeeignet sind. Im Gegenteil — das Auslosen und Loskäufen der Pfänder gibt zur schönsten Unterhaltung Anlaß. Folgende Gesellschaftsspiele werden aufgeführt: alle Arten Ratespiele (Gegenstände, Personen, Li«der, Rätsel, Tätigkeiten), schwarze Kunst, Ring­ herumgehenlassen, Wörter mit verschiedener Bedeutung, Sprech-, Rechen-, Nachahmungsspiel«, ja und nein, die einfachst« Frage der Welt, auch Schreibspiele. — Neben die Zimmerspiele treten, namentlich im Sommer, die Spiele im Freien. Für sie gilt das gleiche, was oben vom Spiel gesagt wurde. Hier gesellt sich noch der Vorzug körper­ licher Bewegung in der freien Luft hinzu. Der Leiter, und wenn es auch der Pfarrer ist, geniere sich nicht, recht fröhlich mitzutun. In 32 Vereinigungen werden der Umfrage nach Freispiele betrieben. Freilich sollte es nicht so sein wie in 4 Vereinigungen, wo nur bei Spazier­ gängen, Ausflügen oder gar nur „bei den üblichen Jahresausflügen" Freispiele veranstaltet werden. Die Ausflüge und Spaziergänge damit zu beleben, ist zweifellos sehr richtig. Aber im Sommer sollte öfter, womöglich regelmäßig, Gelegenheit zum Austoben im Freien sein. Da­ mit soll selbstverständlich nicht gesagt sein, daß das Spiel in ein Toben ausarten soll. Im Gegenteil, der Leiter hat die Pflicht, namentlich bei Sportspielen jede gesundheitsschädigende Überanstrengung zu verhüten. Ordnungsgemäß und regelrecht muß gespielt werden und für gewandte Leitung und «inen brauchbaren Schiedsrichter, wo er notwendig ist, ge­ sorgt werden. Der Leiter aber sorge dafür, daß nicht der Sportkoller unter der Jugend sich breitmacht. Sportfexen ziehen wir keine groß. Der Leiter muß dafür Sorge tragen, daß nicht ein Spiel bis zum

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Überdruß getrieben wird, namentlich, daß einzelne Gruppen nur ein Spezialspiel betreiben. Es muß öfter gewechselt und auch zwischendurch immer wieder einmal ein gemeinsames Spiel für alle arrangiert werden. Im übrigen ist gegen alle Arten Sportspiele, auch gegen Wettspiele mit anderen Jugendverbänden kaum etwas einzuwenden. Nur darf die Jugendvereinigung nicht zu einem Fußballklub u. ä. werden. Eine solche Veräußerlichung muß das Geschick des Leiters hintanzuhalten

wissen. An allgemeinen Freispielen und Sportspielen werden genannt: Faustball (13), Fußball (9), Barlauf (7), Schleuderball (6), Schlagball (6), Wettlauf (4), Humpelfuchs, Krokett, Staffettenlauf, Tamburinball (je 2), Freiwolf, Greifen, Räuber und Gendarm, Speerwerfen, Verstecken im Wald (je 1). — Freilich muß zum Freispiel auch der notwendige Platz zur Verfügung stehen. Es ist unbedingt erforderlich, daß die Jugend­ arbeit, so wie sie Räume braucht, auch Spielplätze zur Verfügung hat. Und zwar möglichst etwas abseits vom großen Verkehr, auch nicht ohne Schatten — Wiesen am Waldrande sind sehr geeignet — mit einer Schutzhülle zur Aufbewahrung der Geräte, Kleider und zum Schutz bei plötzlichem schlechtem Wetter. Selbswerständlich müssen für die ver­ schiedenen Ballspiele die nötigen Einrichtungen vorhanden sein. 4 Ver­ einigungen spielen auf Exerzierplätzen (Darmstadt, Mainz), 2 in Höfen, 4 auf gepachteten Spielplätzen, 1 auf dem Gemeindebleichplatz, 1 auf der Gemeindewiese, 1 auf dem allgemeinen Spielplatz, an einem Ort hat die Oberförsterei „eine schöne Wiese am Wald unentgeltlich zur Ver­ fügung gestellt". Das beste ist jedenfalls, wenn die evangelische Jugend­ vereinigung über ihren eigenen Spielplatz verfügt, um Reibereien mit Sportvereinen usw. zu vermeiden. Die Plätze müssen natürlich so groß sein, daß mehrere Spiele nebeneinander möglich sind. Um geordnetes Spiel zu betreiben, kann, wie oben angedeutet, eine besondere Spiela b t e i l u n g gegründet werden, mit einem Vorstand, der für die richtige Einteilung des Platzes und der Zeit, für ein regelrechtes Programm zu sorgen hat. Zur Unterhaltung und zugleich zur Belehrung dient weiter das V o r l e s e n. Vielfach, namentlich in kleinen Landgemeinden, wird man allerdings zunächst die Erfahrung machen, von der zwei Berichterstatter zu berichten wissen: „Ich habe Versuche gemacht mit kleinen spannenden Erzählungen, bin aber davon abgekommen: die Müdigkeit der Leute, die meist hart arbeiten müssen, ist zu groß. Ich habe den Eindruck, daß die Mitglieder beständig selbst mitarbeiten müssen. Selbst die spannendste Erzählung vermochte das Interesse der nicht unbegabten Mitglieder nicht dauernd .wach' zu erhalten." Der andere Bericht sagt: „Keine ganzen Bücher werden vorgelesen, weil dabei erfahrungsgemäß die Mitglieder einschlafen. Kurze Geschichten, Erzählungen, am besten mit spannendem

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Ereignis oder humoristischem Einschlag." Es ist ganz klar, daß vieler­ orts die Jugend zum Hören erzogen werden muß und zum Verstehen. Man muß eben beginnen mit kurzen, packenden, ereignisreichen Geschichten, mit „prägnanten Novellen". Keine mit allzu feinen psychologischen Zergliederungen, das versteht di« Jugend noch nicht. Es muß viel passieren in den Geschichten; Abenteurerkühnheit und unerschrockener Wagemut, Heldenmut in jeder Form, das zicht die Jugend an. Nur so kann der Kampf gegen die Schundliteratur erfolgreich geführt werden, wenn der Jugend nicht nur gute Bücher angeboten, sondern auch vor­

getragen werden. Daß alles Borgelesene psychologisch wahrhaftig und sittlich «inwandfrei sein muß, ist selbstverständlich. Psychologisch wahr­ haftig ist aber nicht alles, was einen frommen Titel hat. Es gibt auch eine religiöse Pseudoliteratur! Mit dem Vorlesen allein ist es auch noch nicht getan: es gilt aufmerksam zu machen auf die Schönheiten, das Wertvoll«, das Typische, das beispielmäßig Gute und Schlechte — um so zum Verstehen und zum rechten eigenen Lesen zu erziehen. Die Lese­ lust soll dadurch Anregung finden, und zwar die Lust, gute, werwolle Bücher zu lesen. Der Geschmack ist nicht anders zu bilden als durch gutes Beispiel. Manchmal wird die Jugend die seltsamsten Bücher „schön" finden. Man wird ihnen auch nicht immer so ganz verständlich machen können, warum ein Buch „Schund" ist. Man wage dann einfach ein glattes Urteil: „Das ist Schund." So kann man der Jugend vielleicht

den Geschmack daran verderben. — Die Hauptkunst ist das Vor­ lesen selber. Ja, das ist eine schwere Kunst. Vor den Augen der Hörer muß das Gelesene sich dramatisch gestalten — die Geschichten dürfen nicht vorgelesen, sie müssen rezitiert, in gewissem Sinn „gespielt" werden. In der Stimme des Vorlesenden muß es seufzen, weinen, lachen, jubeln, muß das Entsetzen und die Freude wohnen, muß alles gemalt werden. Ter Leser muß die Geschichte miterleben und sie seine Hörer miterleben lassen. Ja, eigentlich sollten die Geschichten gar nicht gelesen, sondern erzählt, frei reproduziert werden. Das zieht viel mehr, ist viel eindrucksvoller, wenn der „Vorleser" die Hände und die Augen frei hat und jeder die Empfindungen, die sich klar auf seinem Gesichte spiegeln, sehen kann. Die praktische Erfahrung lehrt ja, daß die Jugend viel eher bittet: „Erzählen Sie uns etwas!" als: „Lesen Sie uns etwas vor!" Wer am Buche sklavisch klebt und mit monotoner Stimme herleiert, wird die ausdrucksvollst« Geschichte um ihren Eindruck bringen. Dieses Freireproduzieren ist freilich nicht leicht, vielleicht ist es eine Gabe — aber in gewissem Sinn ist es doch zu lernen. Jedenfalls muß der Vorleser die Geschichte so beherrschen, daß er einigermaßen frei vom Buche ist. Er muß sie nicht bloß vorher einmal durchgehen, sondern für sich laut gelesen haben. Wo das „Vorlesen" einigermaßen richtig

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betrieben wird, ist ein Mißerfolg fast ausgeschlossen. Durch die freie Reproduktion wird auch manche Geschichte brauchbar, die an und für sich gut und werwoll eine oder die andere zum Vorlesen ungeeignete Stelle enthält. Man kann sie vermeiden. Nicht zu vergessen ist das Lesen mit verteilten Rollen. Leichtere, dem Fassungsvermögen an­ gepaßte Dramen sollten ab und zu so gelesen und kurz, nicht in schulmäßiger Zerpflückung, besprochen werden. Die Erfahrungen auf diesem Gebiete sind nicht ungünstig. Es schadet ja auch nichts, wenn die oft geradezu negative Lesegewandtheit gefördert wird. Dabei müßten alle beschäftigt werden, nicht nur die guten Leser. Wie fein ist's dann, wenn man ein so gelesenes und durchgearbeitetes Stück einmal zusammen aufsührt! Die Spieler werden dann ein ganz anderes Verständnis haben. — Ideal ist es, wenn der Leiter oder Helfer selber so viel Gestaltungskraft und Erfindungsgabe besitzt, daß er selber Erzählungen dichtet. Oder er erzählt aus seinem eigenen Leben, von seiner Heimat, seinen Reisen, seinen Lehr- und Wanderjahren. Er läßt auch andere, etwa Jugendliche selbst, einmal von ihren Erlebnissen berichten. Es brauchen ja nicht stilistische Kunstleistungen zu sein. Je urwüchsiger und einfacher, desto besser. — In 36 Vereinigungen wird vorgelesen, in 3 davon „manchmal" oder „selten"; in 19 gar nicht. Das ist als ein Fehler zu bezeichnen. — Was soll denn nun „vorgelesen" werden? Hier kann natürlich nicht eine Zusammenstellung brauchbarer Literatur gegeben werden. Was an dem einen Ort für die Jugend paßt, ist an dem anderen vielleicht nicht zu brauchen. Nur die allgemeine Richtschnur sei betont: Erziehlich wertvolle Literatur muß es unter allen Umständen sein und der Auffassungsgabe der Jugend angepaßte. Im übrigen gibt's kaum eine Beschränkung. Nicht richtig ist es jeden­ falls, nur Missionsschriften etwa benutzen zu wollen. Vielseitigkeit ist auch hier notwendig, auch gesunder Humor darf hier zu seinem Rechte kommen. Am meisten interessiert die Jugend nach den in der Umfrage niedergelegten Erfahrungen Kriegsgeschichten, Biographien, Entdecker­ und Erfindergeschichten, Abenteuer. Folgende Autoren sind gelesen worden: Dickens, Ebner-Eschenbach, Eyth, Frenssen, Freytag, Frommel, Gerok, Glaubrecht, Gros, Hesselbacher, Horn, Lagerlöf, Liliencron, Phi­ lippi, Pistorius, Polenz, Raabe, Rosegger, Schmitthenner, Seidel, Sohnrey, Steinhaufen, Supper, Sven Hedin, Tanera, Tolstoi, Weitbrecht, Zahn. — Zur allgemeinen Unterhaltung greift die Jugend auch gern zu illustrierten Zeitschriften aller Art. Man beschafft sie leicht, indem man in der Gemeinde um Überweisung nicht mehr gebrauchter Zeitschriften bittet, läßt sie in starke Bände binden, und legt sie auf. Man kann auch gelegentlich einmal eine Partie ersteigern. Die Jugend hat diese „Bilderbücher" gar gern — und wenn ab zu etwas Humoristisches

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darin zu finden ist, greift sie doppelt gern danach. — Hier fei auch kurz di« Frage nach einer eigenen Bücherei erörtert. 9 Berichterstatter smd der Ansicht, daß die am Ort bestehende Volksbibliothek genüge; an einigen Orten hat die Jugend freie Benutzung. So ohne weiteres richtig ist das gar nicht, sondern nur da, wo wirklich nur für Jugendliche ge­ eignete Bücher in die Hände der Jugend kommen. Es ist fraglich, ob man überall davon überzeugt sein kann. Dann ist aber immerhin noch

keine Garantie gegeben, daß die rechten Bücher in die rechten Hände kommen. Ein an für sich gutes Buch kann dennoch Schaden anrichten, wenn es in falsche Hände gerät. Der Leiter des Jugendverbandes kennt die Jugend viel genauer, und ist darum eher in der Lage, die Jugend richtig mit Büchern zu versehen, ist wenigstens nicht allzu großen und vielen Mißgriffen ausgesetzt. Freilich, wo es, wie in einer Gemeinde, möglich ist, daß ein Teil der Volksbücherei, soweit sie sich eignet, dem Leiter zur Verfügung gestellt wird, sind die Bedenken beseitigt. Der Versuch, eigene Büchereien zu gründen, sollte nirgends unterbleiben. Tatsächlich bestehen 31 Jugendbüchereien mit 20 bis 1200 Bänden. Wenn man von den 24 Zahlen der in ihnen gesammelten Bücher den Durchschnitt nimmt, ergibt sich immerhin eine Durchschnittszahl von 212 Bänden für je eine Bücherei. Sie sind beschafft worden teils durch die Gemeinden, teils durch Schenkungen und freiwillige Gaben, teils durch Anschaffungen aus der Kasse. Kein Buch sollte in die Bücherei eingestellt werden, das der Leiter nicht selber kennt. Mindestens muß es von maßgebender, zuverlässiger Seite empfohlen sein. Der Leiter sollte aber beide gleichgut kennen: seine Jugend und seine Bücher — dann wird auch die Bücherei großen Segen stiften. Besonders sei hin­ gewiesen auf die deutsche Dichter-Gedächtnisstiftung, die Schatzgräber­ bücher sDürerbund) und die Wiesbadener Volksbücher, die sich natürlich nicht unbesehen alle eignen. Zwei Büchereien sind von dem Verein für Verbreitung von Volksbildung-Berlin geliefert worden, eine durch die Schriftenvertriebsanstalt, G. m. b. H. (Abteilung: Zentralverein zur Gründung von Volksbibliotheken, Berlin SW. 68, Alte Jakobstraße 129). Auch die Flugschriften des Türerbundes Nr. 37 und 101 dürften von Nutzen sein.

Eines der edelsten Mittel der Unterhaltung ist zweifellos die Musik jeder Art. Obenan steht der gemeinsame Gesang, nicht etwa der Kunstgesang, sondern das einstimmig gesungene Lied; auf dem Lande scheint ja die Jugend eine natürliche Gabe, zweite Stimme zu singen, zu besitzen. Die Jugend singt ja so gern — freilich sie singt meistens mehr laut als schön. Namentlich in den jüngeren Jahren von 14 bis 15 Jahren singt sie oft alles mehr als rein und klar. Was aber tut's? Echte Jugend ohne ein Lied, ein ernstes oder frohes, jedes zu

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seiner Zeit, ist überhaupt nicht denkbar. Nicht nur, wenn man in Gottes schöne Natur hinauszieht, sondern auch in der trauten Abendstunde, beim gemütlichen oder ernsten Zusammensein soll gesungen werden. Gesellig­ keit ohne Gesang ist undeutsch. Leider ist der Liederschatz, namentlich in bezug auf Text, bei unserer Jugend nicht allzu groß. Darum ist es doppelt wert, daß in den Jugendverbänden viel gesungen wird. Man führe ganze Liederstunden, ja Liederabende ein, wo nach freier Wahl Lieder gesungen und auch neue nach Text und Melodie gelernt werden. Das bringt Abwechslung und erfahrungsgemäß haben die jungen Leute solche Stunden und Abende gern — sie bürgern sich sehr schnell ein. Was sollen wir singen? Vor allem unsere schönen Choräle und unsere guten Volkslieder. Gassenhauer und modernes Operettengedudel sind grundsätzlich ausgeschlossen. Keinesfalls aber irgendeines unserer Volkslieder, selbst wenn es von Liebe redet, d. h. singt. Sie singen schließlich alle davon. Sie auszuschließen, heißt nicht erziehen, sondern verkümmern. Wenn unsere Jugend — Gott sei's geklagt — diese Lieder mit unreinen Gedanken singt, um so mehr sollen sie mit dem Leiter ge­ sungen werden, laut und frisch — tvenn irgendwie, so gewinnen sie viel­ leicht so ihre Harmlosigkeit wieder und werden der schwülen Atmosphäre enthoben. Nur keine ungesunde Prüderie großziehen! — Überall sollte ein Begleitinstrument vorhanden sein, sonst geht's schlecht mit dem Gesang. — Ein Liederbuch sollte überall eingeführt sein, und zwar ein nicht zu engherziges. Wir sind ja in Hessen jetzt in der guten Lage, ein brauchbares Liederbuch, das dazu billig ist, zu besitzen, in „Teutsche Lieder für frohe und ernste Stunden", herausgegeben vom evangelischen Kirchengesangverein für das Großherzogtum Hessen mit 127 Liedern (26 geistlichen und 101 weltlichen). Warum soll ferner unser Gemeindegesangbuch, besonders auch sein Anhang, nicht auch unserer evangelischen Jugendarbeit dienen? Gegenwärtig werden, soweit die An­ gaben reichen, folgende Liederbücher in den Jugendvereinigungen ge­ braucht: Bundesliederbuch (Ostdeutscher Jünglingsbund) in 10 Vereini­ gungen, Liederbuch für evangelische Jugendvereine (Evangelischer VerlagHeidelberg) in 7, Reichslieder in 4, Frankfurter Liederbuch in 3, Deutsche Lieder sEvangelischer Kirchengesangverein für das Großherzogtum Hessen),

Kleine Missionsharfe, Psennigsdorf-Heimatklänge (Evangelisches Ver­ einshaus-Dessau) in je 2, Albert, Deutsche Lieder für Schule und Haus, Anhang zum hessischen Gesangbuch, Daniel von Cölln-Heimatfreude 2., Hosianna, Wandert und singt, in je einer Vereinigung. Also, soweit bekannt, 12 verschiedene Liederbücher! Hoffentlich wird durch die „Teutschen Lieder" des evangelischen Kirchengesangvereins im Groß­ herzogtum Hessen die Einheitlichkeit gefördert. — Der mehrstimmige Chorgesang sollte nach Möglichkeit gepflegt werden. Allerdings

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hat er fast unüberwindliche Schwierigkeiten an dem weder nach der Tiefe noch nach der Höhe ausreichenden Stimmenmaterial. Wenn man noch Mädchenstimmen hinzuziehen kann — was ja, wie oben angedeutet, nicht nur aus musikalifchen Rücksichten wünschenswert ist — geht es eher; am besten dreistimmig vielleicht, da kaum Bässe unter den jungen Leuten zu haben sind. Vielleicht ließen sich auch für die oberen Stimmen Schüler heranziehen. Wo freilich ältere junge Leute in größerer Zahl vorhanden sind, läßt sich ein Männerchor auch vierstimmig zusammenbringen. Die Schwierigkeiten machen es auch verständlich, daß nur in ganz wenig Set­ einigungen Chöre bestehen, und zwar in 7, davon sind aber 2 keine aus­ gesprochenen Jugendchöre. Die Chöre werden meist freiwillig geleitet, die Jugendchöre sogar alle, und zwar von einem älteren Mitglied, einem Lehrer, auch von dem leitenden Pfarrer. Die Zahl der „musikalischen" Pfarrer scheint überhaupt größer zu sein, als man gemeinhin annimmt, besonders unter der jüngeren Generation. Es ist darauf zu achten, daß man als Chorleiter Leut« gewinnt, die der Sache überhaupt nahestehen und nicht etwa nur Kunstmusik treiben wollen. Der Gedanke der Er­ ziehung muß überall betont werden. Musik aber ist gewiß «ine erziehende Kunst. Sie ist für die Gemütsbildung von nicht zu unterschätzendem Werte. Außerdem wirkt sie auch noch in anderer Beziehung erziehlich: Hier wird's, wie vielleicht sonst nirgends klar, wie nur bei einträchtigem Zusammenarbeiten etwas Gutes geschafft werden kann, wie alle unter ein großes Ganze sich stellen müssen, um etwas zu erreichen, daß nicht jeder Leiter und „Tonangeber" sein kann, daß es auch solche geben muß, die zweite Stimme singen und spielen, wie die zweite ohne die erste nichts ist und wie die erste durch die zweite erst Fülle und Wohlklang erhält — das soziale Moment tritt stark hervor. Vielleicht wirkt nichts sonst so sozial ausgleichend, als die Musik. Die Achtung vor dem Können und die Beurteilung danach wird gewonnen und nicht nach Äußerlichkeiten. Musik verbindet — nicht nur die Ausübenden, sondern auch Hörer und Ausübende untereinander. Nicht vergessen sei auch die starke Propa­

gandawirkung der Musik. Damit sind schon die stärksten Zweifler an der Jugendpflege überwunden worden: durch die Freude am frisch-fröh­ lichen Musizieren. Es ist auch für die Jugend selbst ungeheuer an­ ziehend und belebend, durch eigene Kraft zur Unterhaltung und Freude beitragen zu können — und wenn auch die eigen ausgeübte Musik nur schlecht und recht ist, sie wird immer viel mehr Eindruck und Freude machen als das schönste Konzert einer noch so berühmten, bezahlten Kapelle etwa. Familienabende können so eine schöne Bereicherung und Abwechslung erfahren, auch die Gemeindegottesdienste, die ja dem musikalischen Elemente erfreulicherweise immer mehr Raum lassen, können so durch Gesang, Posaunen- oder Streichmusik vertieft und verschönert wer-

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Di« «rbettSgebirt«.

den. Nur wolle man keine künstlerischen Höchstleistungen weder erwarten, noch erzielen wollen. Sondern in unseren Jugendverbänden soll allen Gaben Gelegenheit gegeben werden, sich auszuwirken und für die All­ gemeinheit angewandt zu werden. Darum sind nicht die besseren auszulesen, sondern alle, di« irgendwie dazu sich eignen, zusammenzunehmen nach dem Grundsatz: Selbstbetätigung so vieler als nur irgend möglich. — Neben die Vokalmusik tritt die Instrumentalmusik. Po­ saunenchöre evangelischer Jugendvereinigungen bestehen 11 mit 7 bis 18 Mitgliedern (im Durchschnitt etwas mehr als 8 Mitglieder), 4 sind geplant, in jtoei Orten spielen Mitglieder der Jugendvereinigung in be­ stehenden Posaunenchören mit. In steigendem Wachstum scheint sich die Pflege der Streichmusik in der Jugendarbeit zu befinden. An 17 Orten wird sie gepflegt in der mannigfachsten Besetzung von Violine und Klavier ab bis zur vollen Orchesterbesetzung. Auch Celli und Bäsie finden sich öfters, die Ouartettbesetzung tritt mehrmals auf. Komisch erschütternd klingt die Angabe eines Berichterstatters: „Ab und zu ein nervenerschütterndes Quartett." Man wird öfters den guten Willen für die Tat nehmen müssen. Aber bei einigermaßen ernsthafter, geschickter Arbeit läßt sich manches erreichen. Auch Zither- und Mandolinenmusik wird gemacht, auch Wandermusik in der von den Wandervögeln bekannten Art. Die Trommler- und Pfeiferchöre kommen ebenfalls mehr in Auf­ nahme. Wenn auch ein Berichterstatter seufzend berichtet, daß seine Ber­ einigung „leider" über 2 Trommeln und 4 Pfeifen verfügt, so ist es doch etwas sehr Schönes, wenn bei Märschen und Kriegsspielen der Jugend­ verband mit seinen Spielleuten an der Spitze ein- und auszichen kann. Es wirkt auch sehr fördernd auf die Marschdisziplin und hilft die Müdigkeit überwinden. Nur keine zu zarten Nerven! Die taugen nichts für Jugendarbeit. Die Hauptsache ist, daß die jungen Leute ihre Freude daran haben — sie treiben auch ihre Musik gern und mit Feuereifer — wcnn's auch manchmal kein Kunstgenuß ist, den sie zu bieten haben. Im Kapitel Unterhaltung sollen auch die F e st e und Feiern noch Erwähnung finden. Sie sollen Höhepunkte sein, müssen darum auch in jeder Beziehung als solche ausgestaltet sein. Man sage nicht: Das Festefeiern ist in der Jugendarbeit ganz überflüssig; es werden schon genug Feste gefeiert. Gewiß — es wird Wohl viel gefeiert, aber Feste, wirkliche, echte Feste, selten. Die Jugendfeste sollen Vorbilder sein, sie sollen zeigen, daß man auch ohne die Üblichen üblen Nebenerscheinungen, die bei den Durchschnittsfesten die Hauptsache sind, feiern kann, und wie man recht und wahrhaft Feste feiert, die nicht aufreiben und Kraft verbrauchen, sondern neue Kräfte geben und als schöne Erinnerung lange anregend wirken. Wir müssen sogar viele Feste feiern. Soll die Jugendarbeit anderen Festen Konkurrenz machen? In gewißem Page. Jugendpflege.

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226 Sinne: jo.

Die Arbeitsgebiete.

Der Jugend müssen für sie geeignete Feste veranstaltet

werden, um sie nicht den ungeeigneten auszuliefern. Z u viel Feste sind auch nicht gut, denn immerhin erfordert jedes sein gut Teil Vorberei­ tungen, diese und die notwendigen Proben usw. stören am Ende auch den regelmäßigen Betrieb; darum nicht zu oft; aber so oft als möglich. Denn Feste bilden auch eine willkommene Abwechslung, sie erhöhen auch wieder das Interesse der Jugend und das gemeinsame Arbeiten und Borbereiten flicht die Beziehungen enger. Nur dürfen die Feste nicht zu gleichartig sein. Die Weihnachtsfeier, die ja wohl überall gefeiert wird, hat ja ihr besonderes liebes Gepräge. Brennende Tannenbäume müssen in den Saal, womöglich für jede Gruppe einer, den sie selbst schmückt, und noch ein großer. Das gibt eine wundersame feierlich-frohe Stim­ mung, wenn gar 8 bis 10 brennende Christbäumchen auf den Gruppen­ tischen stehen. Als zweites, wohl überall gefeiertes Fest kommt das Stiftungs- oder besser Jahresfest in betracht. An ihm sollte ein be­ sonderer, der Jugendsache gewidmeter Gottesdienst nicht fehlen. Im Sommer mag noch «in Waldfest oder sonst ein Sommerfest, bei dem frohe

Spiele den Mittelpunkt bilden, gehalten werden. Vielleicht gelingt es so, echte Volksfest« mit Gesang, Spiel und Rede zu schaffen. Und warum es nicht mit dem Freilichttheater versuchen? Im Winter finden natürlich mehrere Familienabende statt, die in kleineren Gemeinden von selbst zu Gemeindeabenden werden und in größeren auch nicht anders aufgefaßt werden sollen. Andere Feste und Feiern in kleinerem Rahmen, vielleicht nur im Kreise der Jugend veranstaltet, finden an vaterländisch bedeutsamen Tagen statt, oder aus sonst irgendwelchen Anlässen. — Der Verlauf der Feste wird natürlich ganz verschiedenartig sein. Ge­ meinsamer Gesang, auf den man nie verzichten soll, musikalische Ver­ träge aller Art, möglichst von Mitgliedern dargeboten, bilden den Rahmen. Ein Vortrag, möglichst mit Lichtbildern, tritt hinzu, den, soweit es durchzuführen ist, ein fremder Redner hält, während der Leiter mit einem ernsten Wort nicht fehlen darf. Den Abschluß bildet vielleicht ein Theaterstück, auch Deklamationen sind bei Jungen und Alten sehr beliebt. Man wird eben je nach Kräften und Mitteln sich einrichten müssen. — Eins aber sollte auch in den kleinsten Verhältnissen durchzuführen ver­ sucht werden: einheitliche Programme. Die ganze Feier um einen Gedanken gruppieren, e i n Thema mit allen Ausdrucksmitteln beleuchten. Schneegestöberprogramme sind geschmacklos und erziehen darum gewiß nicht zum Geschmack. Ein gewisses Stilgefühl muß der Leiter haben oder einer seiner Helfer, dem das besonders liegt. An Weihnachten ist ja das Thema schnell gegeben und leicht innezuhalten. Aber man versuche es auch sonst, den Abend unter einen bestimmten Gesichtspunkt zu stellen, dem alles Gebotene, Vortrag, Gedichte, Musik,

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Die Arbeitsgebiete.

Gesang sich unterordnet. Solche Themen wären etwa: „Der Frühling", „Ter Sonntag", „Helden", „Heimat", „Arbeit", „Das Vaterland" usw. Oder einzelne Persönlichkeiten bestimmen den Abend: Schiller, Uhland, Blücher, Körner. Die im Verlag des ostdeutschen Jünglingsbundes erscheinende Sammlung „Der Familienabend" und die im Verlag Perthes-Gotha herausgegebene Reihe „Volksabende" mögen Anhalt geben. Auch die Sammlung „Der deutsche Spielmann" ist dabei von großem Nutzen. Allerdings erfordern solche Abende Arbeit, viel Arbeit — bringen aber auch viel Befriedigung. Sie haben eine ganz andere Durchschlagskraft als irgendein Allerweltskram. — Soll Theater gespielt werden? Die Jugend ist sehr gerne mit dabei, das ist ja schließlich kein entscheidender Grund. Aber man muß ihr entgegen­ kommen, soweit es geht. In 10 Vereinigungen wird kein Theater ge­ spielt — leider werden keine Gründe angegeben. Nur 4 Berichte aus Vereinigungen, in denen früher Aufführungen veranstaltet oder versucht wurden, geben praktische, nicht prinzipielle Gründe an, die zur Aufgabe führten. Gewisse Gefahren bietet das Theaterspielen gewiß — nun, wie eben rundweg alles. Die Eitelkeit der Mitwirkenden werde zu sehr genährt oder aber Jugendvereinigungen seien keine Theaterklubs. Der zweiten Gefahr kann man begegnen, wenn eben nicht zu oft thea­ tralische Aufführungen veranstaltet werden — und das erste ist eine Erziehungsfrage. Es ist nur fraglich, ob das Theaterspielen nicht auch der Erziehung dienlich gemacht werden kann; einmal der Geschmacks­ bildung. Unter allen Umständen muß psychologisch Wertvolles gewählt

werden, nicht grobe, tendenziöse Machwerke und nichts Seichtes. Kein Schund! Es ist auch nicht alles brauchbar, was unter der Flagge „für christliche Jünglingsvereine" usw. geht. Uber alles die Wahr­ haftigkeit. Zweifellos wirkt die Aufführung guter Stücke erzieherisch auf den Geschmack. Aber auch in sittlicher Beziehung (in weiterem Sinn) ist der erziehliche Gewinn vielleicht gar nicht so gering. Das Theater­ spielen erzieht stark zur Selbstbeherrschung, die Jugend bekommt ein gesundes Selbstbewußtsein, sie lernt es, sich frei zu bewegen und vor weiteren Kreisen aufzutreten, sie lernt es aber auch, sich in andere Menschen hineinzufühlen und andere Art zu achten und zu verstehen. Das gemeinsame Zusammenwirken erzieht zum Gemeinschaftsgefühl. Dann vergesse man nicht den erziehlichen Wert wertvoller Stücke auch für die Hörer. So manches gute Wort aus aufgeführten Theaterstücken wird auch zum geflügelten Wort, das so leicht nicht vergessen wird. Hinderlich sind vielleicht die praktischen Schwierigkeiten. Können die jungen Leute wirklich die Gestalten, die sie darstellen sollen, in der ganzen Tiefe erfassen? Man muß es eben verstehen, sie in den Gehalt der Stücke und der handelnden Personen hineinzuführen. Einwand: „Eine tiefere 15*

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Auffassung der Stück« könnte nur mit einem Zeitaufwand erreicht »er­ ben, den der Geistliche in Rücksicht auf die Gesamtgemeinde nicht verantworten kann." Gegenfrage: Muß es denn immer der Pfarrer sein? An manchen Orten hat sich ein Lehrer mit Eifer und gutem Gelingen dieser Aufgabe angenommen. Es ist wirklich erstaunlich, was die Jugend bei richtiger Arbeit auf diesem Gebiete leistet — auch in Dorfgemeinden, nicht etwa nur in der Stadt. Eine weitere Schwierigkeit ist die Rollen­ verteilung. „Der gekränkte Ehrgeiz" spielt oft die größte Rolle. Wo er zu ernstlichen Zwistigkeiten führt, ist eben im Verhältnis von Leiter und Jugend etwas nicht in Ordnung. Vor allem muß der Leiter streng gerecht bei der Verteilung der Rollen sein, er darf die „vornehmen" Rollen nicht an die „vornehmen" jungen Leute geben, sondern an die, die sie durchführen können. Wo „Unfug", „Unzuverlässigkeit" und „Unbeständigkeit" das Zustandekommen verhindern, hat die Jugendarbeit noch wenig geleistet. Der Hinweis fei nicht vergessen, daß hier wieder ein Gebiet ist, auf dem man die Jugend beider Geschlechter zu harmlosem Verkehr bringen kann. — Dann: Woher Kostüme und Deko­ rationen? Denn wenn Theater gespielt wird, muß es auch „richtig"

gemacht werden. Die fertigt die Jugend eben selbst an. In mehreren Vereinigungen war das mit die schönste Zeit, wo aus eigener Kraft in gemeinsamer Arbeit die Kostüme und Requisiten hergestellt wurden. Sogar haben Jungen selbst mit Virtuosität di« Nähmaschine gehandhabt! Mit den einfachsten Mitteln läßt sich oft vieles erreichen — es liegt nur am Geschick des Leiters. Am Handfertigkeitsabend kann man sich einmal ausschließlich damit befassen, alles Nötige herzustellen. — In 35 Ver­ einigungen wurde jährlich ein- bis dreimal Theater gespielt. Es ist erstaunlich, an welche Aufgaben man sich gewagt hat: Götz von Berlichingen; Zriny, Das neue Reich sNithack-Stahn), Es werde Licht sBurk). Die Frage: Was soll aufgeführt werden? kann natürlich nicht mit Aufzählung der brauchbaren Literatur hier beantwortet werden. Das ist eine Aufgabe für sich. Allgemein ist oben schon einiges gesagt worden.

Es sei auf den literarischen Ratgeber des Dürerbundes für die Dilettanten­ bühne hingewiesen, auf den Verlag des ostdeutschen Jünglingsbundes, auf das von Weitbrecht herausgegebene Verzeichnis der für evangelische Vereine geeigneten Literatur und die Jugend- und Volksbühne, heraus­ gegeben von Matzdorf im Verlag Strauch-Leipzig. Eine Reihe der in Jugendvereinigungen schon aufgeführten Stücke sei immerhin zusammen­ gestellt: Burk, Hans Müsebeck, Es werde Licht; Friedenburg, Treu Herr, Treu Knecht; Goethe, Götz; H e y s e, Kolberg; Junker Jörg; Jäger, Wartburgfestspiel (einzelne Teile); Körner, Joseph Heyderich (3), Nachtwächter (5), Zriny (einmal ganz, 1 Szenen); Köstlin, Der Wahrheitssucher (3); Lauxmann, Weihnachten in der

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grauen Mühle, In der Christnacht vor PariS; Lehmann, Deutsch und frei; Nithack-Stahn, Deutsche Weihnachten, Luther in Oppen­ heim (3), Das neue Reich; Hans Sachs, verschieden« Schwänke (16); Schiller, Tellszenen (3); Schlüter, Des Handwerksburschen Weih­ nachtsabend; Schneideck, Freiwillige vor; Wendt, Carmilhan (3). — Die Feste der evangelischen Jugendvereinigungen sollen unter dem Zeichen echten, reinen, jugendlichen Frohsinns auf ernster Grundlage stehen, unter möglichstem Ausschluß aller üblen „festlichen" Neben­ erscheinungen, möglichst auch des Alkohols. — Von großer Bedeutung sind auch die gemeinsamen Feste verschiedener Jugendvereinigungen,

wie sie in großem Maßstabe der Hessenbund feiert, wie sie aber auch schon von einigen Nachbarvereinen veranstaltet wurden, z. B. Büttelborn, Isenbürg, Langen, Nauheim, Walldorf. Das gemeinsame Fest dieser Ver­ einigungen spielte sich in drei Abteilungen ab: Wettspiele, ernste Feier, Saalfeier. So kann es auf glänzende Werse gelingen, den Gememschaftssinn zu fördern, voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu dienen und

neuen Mut zu gewinnen. 2. Belehrung.

Die Meinung, daß unserer Heranwachsenden Jugend die Belehrung auf gar manchem Gebiete nichts schaden könne, wird wohl kaum auf Widerspruch stoßen. Man tut auch weder der Volksschule, noch der Fort­ bildungsschule, noch sonst irgendeiner unrecht, wenn man feststellt, daß die allgemeine Durchschnittsbildung unserer Jugend manche Lücke auf­ weist. Die praktische Erfahrung redet da gar manchmal eine traurige Sprache. Nun soll nicht etwa behauptet werden, die Jugendpflege könne mit ihrer Belehrung mehr ausrichten als etwa die Schule — aber man bedenke, daß unsere Jugend zum größten Teil mit 14 Jahren die Schule, mit 17 die Fortbildungsschule verläßt, und damit ihre Bildung so gut wie abgeschlosien ist, d. h. sie bildet sich — wiederum zum größten Teile — kaum weiter. Ausgenommen die berufliche, fachliche Bildung. Dazu kommt, daß es manches Gebiet gibt, das die Schule nicht bearbeiten kann, soll sie den ohnehin nicht geringen Anforderungen genügen. Endlich aber soll die Jugendarbeit denen, die nicht durch ihre geistige Veranlagung, sondern aus finanziellen Gründen von „höherer" Bildung ausgeschlossen sind, Gelegenheit geben, sich weiterzubilden und emporzuarbeiten — auch ein bedeutsam Stück sozialer Arbeit im tiefsten Sinne des Wortes. Es ist die Frage, ob die freiwillig ergriffene Weiterbildung nicht viel wirk­ samer werden kann als irgendeine zwangsweise — oder vielmehr, es ist

keine Frage. Was kann die Jugendarbeit zur Belehrung und Weiterbildung ihrer Jugend tun?

An erster Stelle wären hier die belehrenden Vor»

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Dt« Arbeitsgebiete.

träge zu nennen. „Vorträge": dieser Ausdruck ist mit Vorsicht auf. zufassen. In den seltensten Fällen wird es sich um Vorträge im üblichen Sinne handeln können: Redner, Redepnlt, Manuskript, fein ausgedachte und aufgebaute Rede usw. Dazu ist unsere Jugend nicht erzogen. Auf Lies« Art kann man höchstens im Kreise höherer Schüler und in den großen Städten, wo man daran gewöhnt ist, an die Jugend herankommen. Im allgemeinen muß es sich vielmehr um im Plaudertone vorgebrachte Erzählungen handeln, bei denen der Redner, besser der Erzähler, nicht fern von seinen Hörern hinter dem Katheder verschanzt thront, sondern in ihrem Kreis« sitzt und — ja, nun eben erzählt. „Reden" darf er auf keinen Fall. Bei dieser Art fallen auch die Schwierigkeiten mit der Disziplin fort, die ohnehin minimal sind, wenn spannend, intereffant und jugendgemäß gesprochen wird. In größerem Kreise muß ja mehr zu dem alten Modus gegriffen werden. Und es ist auch da nicht allzuschwer, die Jugend zum Hören zu erziehen. Denn das ist erst einmal notwendig. Es ist auch hier und da glänzend gelungen. Wenn es sich um einen kleineren Kreis handelt, braucht man die Jugend auch gar nicht zum Stillschweigen zu verdammen. Wer eine vernünftige Frage hat, die Zweifel beheben, Unklarheiten beseitigen kann — er frage nur. Und der Redner wird auch dann mit der Zeit von der Jugend lernen, was sie hören will und wie sie es hören will. In jedem Falle sollten Fragen nach dem Vortrag gestattet sein — jeder Vernünftige wird sich freuen, wenn Fragen kommen, die das Verständnis der Jugend beweisen. Wenn zuviel Fragen, die mangelnde Auffassung verraten, gestellt werden, dann trägt die Schuld — der Redner! Die „Vorträge" dürfen nie zu lang sein und nie lang­ weilig. Eine Einschränkung: wenn sie nicht langweilig sind, hört die Jugend gern auch lang zu. Jeder Redner sollte ein feines Gefühl dafür haben, wann das „gähnende Gespenst" im Anzug ist; dann sollte er, selbst auf die Gefahr gelinder Gewaltsamkeit hin, lieber bald schließen, wenn es nicht gelingt, durch Erzählung von etwas besonders Spannendem das Interesse neu zu beleben. Sonst verwirkt er seine Beliebtheit bei der Jugend und damit seine ganze Wirksamkeit. Wie verhütet man die Langeweile? Run, ein AllerWeltskraut ist dagegen nicht gewachsen; es wird immer und überall intetesselose Jugendliche geben, die sich stets langweilen, wenn sie sich nicht „auswirken" können. Aber manches läßt sich tun. Einmal durch spannende Erzählung. Es muß viel passieren. Keine langen Schilderungen und Beschreibungen. Dramatisch muß sich alles aufbauen — alles muß wie eine „Geschichte" wirken. Der Redner biete alle Phantasie auf, selbst auf die Gefahr hin, daß einmal nicht alles bis aufs Haar „historisch" oder „wissenschaftlich" ist. Keine langen Zahlen und

Die Arbeitsgebiete.

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Nummernreihen. Die Geschichte etwa muß mehr „anekdotisch" behandelt werden, Geographie als Reiseerzählung, bei der allerlei geschieht, was mit der Geographie vielleicht recht wenig zu tun hat. Sodann wehrt überhaupt die Veranschaulichung der Langttveile und Interesselosigkeit. Da ist zunächst das Bild, auch die Tabelle und die graphische Darstellung; vor allem auch das L i ch t b i l d, das namentlich für größere Kreise unentbehrlich ist. Lichtbilderapparate müßten mindestens für nicht allzugroße Bezirke zur abwechselnden Benutzung zur Verfügung stehen. Weiter dienen zur Veranschaulichung: Vorzeigen von Gegenständen, das Experiment. Wer allgemein über Elektrizität redet, wird bei vielen vorbeireden. Wer aber vor den Augen der Jugend die Elemente ansetzt, die Apparate zusammensetzt, dann eine telephonische Verbindung herstellt — und dann die Jungen von einem Zimmer ins andere telephonieren läßt — der wird keinen Interesselosen mehr um sich haben. Ob man nicht auch gar den Kinematographen dienstbar machen sollte? Man erschrecke nicht! Und wenn nun auch hinterdrein noch ein paar gute humoristische Darstellungen gezeigt werden? Jedenfalls ist der Kino der beste Veranschaulicher — man könnte auch da geschmacks­ bildend wirken und vielleicht dem Kinogift gut wehren: „Wir haben selbst einen Kino, tausendmal besser als die andern." Am leichtesten kann man der Jugend das verbieten, was man ihr selber — besser bietet! — Selbstverständlich, aber noch lange nicht allgemein beachtet, ist es, daß das Gebotene der Auffassungsgabe und der Inter­ essensphäre der Jugend entspricht. Beides ist sich durch­ aus nicht überall gleich. Wer z. B. die Jugend, die vorwiegend Interesse für technische Fragen hat, beständig mit geschichtlichen Vorträgen füttern wollte, würde kläglich Fiasko machen. Wobei nicht gesagt werden soll, daß das etwa vorhandene einseitige Interesse der Jugend allein bestim­ mend sein soll. Im Gegenteil — da ist erst recht eine Erziehungsaufgabe vorhanden, das Interesse seiner Einseitigkeit zu entkleiden und auch auf andere Gebiete zu leiten — aber anknüpfen muß man daran und langsam weitergehen. — Darin, daß die Vorträge der Auffassungsgabe der Jugend angepaßt sein müssen, ist auch die Forderung eigener Vorträge begründet — man kann sich nicht damit genügen lassen, die Jugend auf Vorträge für die Erwachsenen hinzuweisen und sie dahinzu­ führen. Es ist doch ein großer Unterschied. Was sollen die Vorträge leisten? Es gibt strikte Gegner der Vorträge, die sagen, sie leisten gar nichts und können nichts leisten. Das trifft wohl nur auf verkehrt angefaßte, steifbeinige „Borträge" zu. Man muß es halt verstehen; daß durch Vorträge, überhaupt intellektuelle Bearbeitung die sittliche Kraft der Jugend nicht besonders gehoben werden kann, ist jedem Erzieher klar. Die Vorträge sollen gewiß

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belchren. Neues lernen lassen, den Jnteressenkreis und den Horizont er­ weitern, der geistigen Verflachung wehren. Sie sollen zum Nachdenken, aber auch zu eigenem „Studium" anregen. Niemals darf aber das Grundmotiv aus den Augen gelassen werden, daß sie sittlich klärend und anregend wirken sollen, auch da, wo nicht Weltanschauungs- und sitt­ liche Fragen zur Behandlung stehen, nach Goethes Wort: „Alles, was unseren Geist befreit, ohn« uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich." Darum muß die Auswahl der Redner vorsichtig ge­

troffen werden. Wer soll nun die Vorträge halten? Soweit es irgend möglich ist, der Leiter — nicht. Der hat zuviel mit der Jugend zu tun, sie kennt ihn zu gut. Auch die „Ein"-heit der Person wirkt schließlich langweilend; der Leiter soll aber immer ein ernstes, religiös-sittliches Wort zu dem Vortrag sagen. Freilich, wo kein anderer Redner oder solche nicht in genügender Zahl aufzutreiben sind, muß der Leiter heran. Er muß eben alles können. — Aber schließlich ist es am leichtesten für Vorträge Helfer zu gewinnen. Ungesund ist, wenn selbst in Städten mit hoher Intelligenz der Leiter „alles macht", wie es tatsächlich ab und zu der Fall ist. Daß sich in allen Kreisen gerade für diese Arbeit Bereitwillige finden, zeigt die Tatsache, daß sich folgende Berufe schon an ihr tatsächlich beteiligt haben: Arbeiter, Architekten, Beigeordnete, Eisenbahn­ beamte, Handwerker, Lehrer, Missionare, Naturwissenschaftler, Philologen, Studenten, Telegraphensekretäre, Theologen. Es wäre doch merkwürdig, wenn jemand aus der Gemeinde sich sträubte, der Jugend von seiner Arbeit, seinem Wissen, seinen Reisen und Erlebnissen mitzuteilen.

Man darf nur nicht von vornherein voraussetzen, daß niemand dazu bereit ist! Man sollte mehr, als es geschieht (nur in drei Vereinigungen), den Versuch machen, ältere Mitglieder heranzuziehen. Der Hochmutsteufel kommt schon nicht auf, wenn der Leiter am Platze ist; und wenn seine Jugend Vertrauen zu ihm hat, wird auch keiner aus gekränktem Ehrgeiz fernbleiben. Dazu bemerkt sei noch, daß der einheimische oder auswärtige Redner nicht als „Redner" kommen darf, sondern als Freund der Jugend. Wenn er sich das Vertrauen der Jugend gewinnen will, muß er das beweisen dadurch, daß er schon eine Zeitlang vor Beginn seines Vortrages oder gleich zu Anfang der Versammlung sich zur Jugend gesellt und sich mit ihr unterhält, spielt usw. Ebenso darf er auch nicht nach seinem Vortrag mit einer Verbeugung abtreten, sondern muß noch ein Weilchen unter ihr bleiben. Er wird verehrt werden! Um sich immer geeignete Leute zu Vorträgen bereitzuhalten, kann man auch eine Vortragsvereinigung für den Jugendverband bilden aus Männern, die allen möglichen Berufen entstammen. Die Vereinigung kommt in größeren Zeiträumen zusammen und stellt etwa ein Vortrags-

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Programm fest, damit nicht einseitig gearbeitet wird. Nicht etwa Vor­ tragsserien sollen bestimmt werden — das ist nichts für die Jugend — jeder Vortrag muß abgeschlossen sein für sich. Aber über einen gewissen Plan könnte man sich einigen.

Welchen Gebieten sollen die Stoffe für die Vor­ träge entnommen werden? Die Antwort ist leicht: allen; unter besonderer Betonung des die lokale Jugend vielleicht besonders Interessierenden. Auf einzelne Gebiete sei kurz hingewiesen: zunächst die Heimatgeschichte. Dafür ist mehr und intensiveres Interesse vorHanden als für ferner liegende Dinge. Wenn besonders geschichtlich be­ deutsame Ort« vorhanden sind, wird auch einmal die Vortragsstätte dort­ hin verlegt! — Dann die vaterländisch« Erziehung. Nur keine Politik! Die reifere Jugend muß man gewiß auch mit dem poli­ tischen Leben vertraut machen — aber „unparteiisch"! Verständnis für die Aufgaben, Pflichten und Leistungen von Staat und Gemeinde — und auch für die des Staatsbürgers muß geweckt werden. Aber nur keine trocken« Bürgerkunde. Verfassungsfragen sind schwer für die Jugend zu behandeln. Man muß praktisch dabei verfahren — an Hand konkreter Beispiele sWahl usw.). — Die Kunst sollte auch nicht zu kurz kommen. Die großen Künstler mit ihren Werken sollten öfter zu Wort kommen. Steindrucke und Meisterbilder sKunstwart) in Wechselrahmen sollten die Wände zieren — bei Verlosungen sollten niemals gute Reproduktionen berühmter Meisterwerke fehlen, wie auch gute Bücher. Auch ab und zu einmal ein« Wanderkunstausstellung veranstalten! — über die Mannig­ faltigkeit der Gebiete, aus denen Vorträge gehalten werden können, gebe folgende Übersicht tatsächlich gehaltener Vorträge ein Bild und zugleich den Beweis ernster Arbeit: Weltanschauung,

Lebensauffassung

und

Chri-

st en tum: Wo kommen wir her? Der Sinn unseres Lebens. Das Rätsel des Todes. Letzt« Worte berühmter Männer. Vom Leben nach dem Tode. Menschen- oder Gottessohn? Warum mußte Jesus sterben? Ist Jesus auferstanden? — Buddhismus und Christentum, Nietzsche und das Christentum. Die Adventisten. Hexen- und Gespmsterglauben. Von der Freiheit eines Christenmenschen. Religion Privatsache? — Die

Kirche und das Geld. Der junge Mann und das Geld. Freundschaft. Geselligkeit. Anstand. Unsere Zeitung.

Willenskraft.

Christliche Liebestätigkeit: Organisation der Inneren Bodelschwingh.

Mission.

Kirchengeschichte: Leben Jesu. Wie sah Jesus aus? (Mit zahlreichen Bildern.) Mönchklöster. Bilder aus der Reformationsge­

schichte.

Luther.

Calvin.

Bauernkrieg.

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Die Arbeitsgebiete.

Mission: Südwestafrika. Armenien. Neuguinea. Togo. Japan. Sundainseln. Heidenmission. Weltgeschichte: Burenkrieg. Andreas Hofer. Napoleon. Pompeji. Kriegsführung im Mittelalter. Kulturgeschichte: Entstehung der Familiennamen. Entwick­ lung des Wohnhauses. Totenbestattung bei den Indianern. Literaturgeschichte: Schiller. Kleist. Reuter. Rosegger. Kunstgeschichte: Ludwig Richter. Liszt. Heimische Bauweise. Wandschmuck. Deutsche Geschichte: Ritterzeit und Burgen. Deutsch« Göttersagen. Friedrich der Große. Königin Luise. Das Unglücksjahr 1806/07. Freiheitskriege. Arndt. Jahn. Freiherr vom Stein. Bis­ marck. Krieg 1870/71. Die Schlachtfelder von Metz. Kaiser Wilhelm I., n. Das deutsche Volk. Die deutsche Marine. Naturwissenschaft: Erdbeben und Vulkane. Kometen und Weltall. Planeten. Reise durch den Himmelsraum. Gottes Wunder in der Schöpfung. Geschichte eines Wassertropfens. Das Gehirn. Der Schutz der Tiere in der Natur. Reisen und Erdbeschreibung: Hamburg. München. Reise durch den Harz, durch die Pfalz, nach Böhmen. Ausflug in den Schwarzwald. Schweizerfahrt. Reise nach Italien. Romreise. Palästina. Rußland. Land und Leute in der Türkei. Konstantinopel. Marokko. Japan. China. Technik und Industrie: Luftschiffahrt. Flieger. Flug­ schiff«. Verkehrsmittel. Eisenbahnwesen. Das Motorrad. Zündholz­ fabrikation. Porzellanmanufaktur. Wie ein« Zigarre entsteht (mit Vor­ führung). Eindruck von einem Hütten- und Walzwerk. Entwicklung der Schußwaffen. Hochseefischerei. Franklin. Werner Siemens. Zeppelin. Soziale Fragen: Wirtschaftsleben. Konsumvereine. Gewerk­ schaften. Hygienische Fragen: Alkohol. Mäßigkeit. Reinheit des Leibes. Tuberkulose. Allerlei: Briefmarken. Der Belehrung dienen außer Vorträgen auch Besuche großer Fabrikanlagen, von Gaswerk, Elektrizitätswerk usw., Führungen durch Museen und Bildersammlungen. Über alles die Anschauung! In manchen Vereinen sind auch Kurse zur Weiterbildung eingerichtet. Nun fehlt es ja heute nicht an Gelegenheit etwas zu lernen, sich weiterzubilden, und es wird auch darauf hingewiesen, daß die Jugend sonst genug Gelegenheit zur Weiterbildung findet, also solche in der Jugendvereinigung zu bieten, überflüssig sei. So ganz überflüssig ist es doch nicht: wenn eigene Kurse zur Weiterbildung eingerichtet werden,

Di« Arbeitsgebiete. beteiligt sich gar mancher, der sonst nicht daran denken würde.

235 Begabte,

aber Lernfaule, kann man stramm heranziehen, Wankelmütige zur Aus­ dauer bringen. Sodann wird durch freiwillige Leitung dieser Kurse durch Helfer oder Mitglieder eine gewaltige finanzielle Erleichterung erreicht, so daß gar mancher sich weiterbildet, dem sonst die Mittel fehlten (Englisch, Französisch, Buchführung). Ein Stück sozialer Hilfe, das nicht unterschätzt werden darf — der Jugend aber, die einigermaßen die Gabe und Ausdauer hat, wesentlich «mporhelfen kann und auch das öffentliche Urteil der Jugendarbeit sehr geneigt macht. Davon später mehr. In zehn Vereinigungen wurden Stenographiekurse abgehalten, in zwei sind solche geplant, m einem ein Zeichenkursus, in zwei französische Kurse. Hier ist ein Gebiet, das noch viel mehr bebaut werden muß. Buch­ führung und Englisch müßten hinzukommen, Korrespondenz, Rechnen usw.

Sollte man nicht für Lehrlinge, die sich auf die Gesellenprüfung vor­ bereiten, entsprechende Kurse einrichten? Wie steht es mit der Grün­ dung von Fachabteilungen, auf denen z. B. vielerorts die Stärke der katholischen Jugendarbeit beruht? Sollte man nicht für mittellose Be­ fähigte Vorbereitungskurse zum Einjährigenexamen einrichten, dessen Be­ stehen vielleicht nicht von unwesentlicher Wirkung auf ihre Stellung im Berufe wäre? Unsere Jugendarbeit soll der Jugend helfen — warum nicht auch für das bessere Fortkommen im Berufe? — Für ein Gebiet besonders Interessierte (Geographie, Geschichte, Literatur, Kunst) fasse man in entsprechenden Abteilungen zusammen. — Wer soll d i e Arbeit l e i st e n? Stenographie, Französisch, Buchhaltung usw. können ältere Mitglieder übernehmen, auch finden sich da immer frei­ willige Helfer, wie in gar mancher Vereinigung, deren Liebhaberei auf einem der Gebiet« liegt. Dann müssen die Lehrer, die Gebildeten über­ haupt heran — wenn es gelingt, die Gewissen aufzuwecken, kann es nicht fehlen. — Eine besondere Anregung zur geistigen Beschäftigung gibt der Wartburgverein in Offenbach a. M., der übrigens jetzt sogar „Esperando" betreibt. Bei seinen Handfertigkeitswettbewerben werden auch schriftliche Arbeiten zugelafsen, Aufsätze. Eine schriftliche Haus­ arbeit mit selbst gewähltem Thema und eine unter Aufsicht gefertigte Pflichtarbeit mit gestelltem Thema muß dazu geliefert werden. Der Ehrgeiz ist manchmal ein sehr guter Lehrmeister! Der „Handfertigkeitsabend" sei nicht vergessen. In zwei Vereinigungen ist er eingeführt. Die sich beteiligende Jugend kommt an einem Abend wöchentlich zusammen und je nach Lust und Wahl klebt, leimt, hämmert, sägt sie, macht Kerbschnittarbeiten usw. Ein oder meh­ rere gewandte Handwerker oder Arbeiter, unterstützt von den jugendlichen Gesellen der verschiedenen Handwerke, können die Abende ganz gut leiten und Anleitung und Hilfe bieten. Modellierarbeiten aus Pappe,

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Dir Arbeitsgebiete.

Laubsägearbeiten, Heinere Apparate, Tischlerarbeiten mögen angefertigt

werden. Die Ergebnisse der größeren oder kleineren Kunst werden dann im Frühjahr zu einer öffentlichen Ausstellung vereinigt, in einer kleinen Feier werden anerkennende Preis« ausgeteilt — das eifert die Jugend sehr an. Es ist eine Freude, zu sehen, mit welchem Feuereifer die Jugend schafft. Man kann ihr ja kaum eine ihr zusagender« nützliche UnterHaltung geben als eigen« Arbeit. Und was eigenes Können hervor­ gebracht, bringt ihr große Freiwe, innere Befriedigung, stärkt ihr Zu­ trauen zum «igelten Können, überdies wird die Abwechslung dankbar begrüßt — und di« Jugend lernt wieder etwas, was sie braucht: nämlich die freie Zeit gut und nützlich anzuwenden, statt sie zu verschlafen oder zu vergeuden, sie lernt Freude ziehen aus der freien Zeit anstatt Reue und Leid über verbummelte Stunden oder auch solche, in denen sie sich an den Schmutz verloren. 3. Körperpflege. «Körperliche Ertüchtigung", das ist das Schlagwort, unter dem für weite Kreise das Ziel der Jugendpflege sich darstellt. Nicht als ob man

diesen Zweig der Jugendarbeit erst hätte entdecken müssen. Turn- und Sporwereine haben längst auf diesem Gebiete etwas geleistet. Ja, für manchen sehr erstaunlich, gerade di« „konfessionellen" Verein« haben hier nicht zurückgestanden, sie haben sogar längst schon Kriegsspiele veran­ staltet, lange ehe man vom Pfadfindertum und ähnlichen Unternehmungen etwas ahnte. Gehört Turnen und Sport, Wandern usw. in das Gebiet evangelischer Jugendarbeit? Ganz zweifellos. Der Mensch hat nicht nur von Gott Seele und Geist erhalten, sondern auch seinen Körper. Und der jugendliche Körper braucht heutzutage mehr Ausbildung denn je. Nicht etwa nur darum, damit sie militärtauglicher wird. Sondern weil unsere Jugend in Gefahr ist, zu verweichlichen — und damit auch ihre innere Kraft einzubüßen. Wir sind weit davon entfernt, den Irrtum mitzumachen, daß körperliche Erziehung gleichbedeutend sei mit Erziehung überhaupt. Dieser gegenwärtig mit großem Enthusiasmus gepflegte Irrtum wird sich schon wieder richtigstellen. Aber nicht zu bezweifeln ist, daß körperliche Ausbildung jeder Art, die den Menschen zur körperlichen Beherrschung befähigt, ihn auch zur inneren Selbstbeherrschung erzieht — also «in gutes Hilfsmittel der Jugenderziehung ist. Vor allem ist die straffe körperliche Erziehung dazu angetan, den widerlichen weibischen Zug, den unsere männliche Jugend mehr und mehr an den Tag legt ssiehe Kleidung!), zu bekämpfen und auszumerzen. Das Modenarrentum wird nachgerade

Die Arbeit»gebiete.

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zur Landplage. Unsere Jugend muß ihre natürliche Freude an körper­ licher Betätigung wiedergewinnen. Sie hat's nötig, weil sie zum aller­ größten Teil zur Stubenhockerei gezwungen ist oder zur Fabrikarbeit. Wer jeden Tag so und soviel Stunden in muffigen Stuben, lärmtosenden und stauberfüllten Fabrikräumen gebeugt und gebückt arbeiten muß, dem muß ein Gegengewicht geboten werden — darum möglichst hinaus in die freie Natur mit der körperlichen Betätigung. Die Lunge muß sich ausweiten können, durch den Beruf nicht angestrengte Muskelgruppen müssen betätigt werden. Die Sinn« müssen gestählt werden. Wind und Wetter soll die Jugend trotzen können und nicht jedes Zuglüftchen ängstlich meiden. Die Volksgesundheit verlangt es, daß die Jugend sich frisch und froh in freier Luft körperlich bewegen kann. Nur so werden die Volkskrankheiten, Alkohol, Tuberkulose, sexuelle Not, mit bekämpft wer­ den können. Die Jugend muß irgendwie die strotzende, überschäumende, tatendürstige Kraft loswerden können. Hier kann sie es und wird so eher vor Ausschweifungen geschützt. Der junge Mensch in den Entwick­ lungsjahren hat ja fast kein« Möglichkeit der Entwicklung — überall Einengung und zu wenig Freiheit, freie Stunden, in denen er sich körperlich auswirken kann. Aus diesen Andeutungen ergibt sich, daß körperliche Erziehung in der Jugendarbeit nicht nur zulässig, sondern notwendig ist. Freilich darf sie nur als Erziehungsarbeit getrieben werden. In 21 Vereini­ gungen begnügt man sich damit, daß «in Teil der Jugendlichen im Turnverein z. B. turnt. Man kann aber begründete Bedenken haben, ob in allen Turn- und Sportvereinen die körperliche Betätigung als eine wahrhaft sittliche Arbeit aufgefaßt wird. Gewiß, man kann nicht konfessionell oder interkonfessionell turnen. Aber der Geist, in dem die körperliche Betätigung getrieben wird, gibt den Ausschlag. In evangelischen Jugendverbänden muß gewiß das Turnen usw. systematisch betrieben werden, nicht nur als eine Spielerei, etwa um einen Teil des Abends auszufüllen, sondern unter sachverständiger Leitung, mit richtigem Ernst und wirklich ausgiebig. Aber nicht um Höchstleistungen und Preise zu erzielen. Sondern um der äußeren und inneren Gesundheit der Jugend willen. Darum braucht man noch lange nicht den Wettbewerb auszu­ schließen. Er bildet «ine gewaltige Aneiferung. In Offenbach wird z. B. jedes Jahr ein Wetturnen und Wettschwimmen abgehalten. Die Jugend soll es auch lernen, neidlos besieres Können anzuerkennen. Aber das Grundmotiv darf di« Preisjägerei nicht sein, weder bei den Jugendleitern, noch bei der Jugend selbst. Selbstverständlich ist, daß es keine „wertvollen" Preise bei Wettbewerben gibt, sondern nur Diplom und Kranz. Zunächst kommt das Turnen in betracht. Wie schon gesagt:

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Die Arbeitsgebiete.

regelmäßige Turnabende unter sachgemäßer Leitung erfüllen allein ihren Aveck, und zwar, soweit als irgend möglich im Freien, im Sommer wenig­

stens. Geeignete Räume, einen eingerichteten Spielplatz und einen zum Turnsaal schnell umzuwandelnden Saal muß jeder Jugendverband be­ sitzen, auch die nötigen Geräte. In 4 Vereinigungen Wird nur im Sommer geturnt. Das ist um so weniger richtig, als im Winter die Möglichkeiten zur Bewegung gegenüber dem Sommer stark beschränkt sind. In 14 Vereinigungen wird das ganze Jahr Turnstunde gehalten: in einem dreimal wöchentlich, in 3 zweimal, in 10 einmal. Mindestens sollte einmal wöchentlich geturnt werden. — Die Leitung der Turn­ stunde hat in 8 Vereinigungen ein Mitglied. Das dürfte nicht überall genügen, wenn nicht eine besondere Ausbildung erfolgt ist — auch die militärische Ausbildung genügt kaum. Der Hessenbund etwa müßte in den einzelnen Provinzen oder noch kleineren Bezirken fachmännisch ge­ leitete Vorturnerkurse veranstalten, so daß auch Mitarbeiter die syste­ matische Arbeit treiben lernen. In einer Vereinigung ist ein freiwilliger Helfer Turnwart, in einem ein Lehrer freiwillig), in einem ein Mit­ glied des Männerturnvereins, in dreien der Vorsitzende (gebiente Sol­ daten), in einem ein bezahlter Turnlehrer (Offenbach-Wartburg). In Offenbach (Wartburg) sind aber jugendliche Vorturner Riegenführer. — Eigene Turnsäle (bzw. als Turnsäle eingerichtete Räume) haben 6 Vereinigungen zur Verfügung, 4 benutzen Schulturnhallen (eine muß dafür für 50 Abende 110 Mark bezahlen!!), 3 turnen im Pfarrhofe, 1 im Schulhofe. Eigene unabhängig« Turnsäle wären höchst wünschenswert. — Eigene Geräte haben 12 Vereinigungen zur Verfügung in verschiedener Zahl: Sprunggeräte 19, Reck 8, Barren 7, Stäbe 5, Han­ teln 3, Stoßkugel 3, Pferd, Stemmgewichte je 2, Keulen 1, Kletter­ stangen (Taue) 1. — In nur wenigen Vereinigungen turnt die Mehrzahl der Mitglieder. Ein Mittel, den Eifer zu beleben, sind zweifellos die volkstümlichen Übungen, an denen auch die Ungewandten sich beteiligen können: Wettlauf, Kugelstoßen, Diskuswerfen, Speerwerfen, Stemmen, Weitsprung, Stabhochsprung usw. Dieses volkstümliche

Turnen sollte vor allem in unseren Jugendvereinigungen gepflegt werden. Jedenfalls müssen, wenn irgend möglich, alle herangezogen werden. Das gilt auch von den schon oben erwähnten Sportspielen. Nicht Mustermannschaften heranzubilden, darf ihr Zweck fein, sondern allen die Möglichkeit zur körperlichen Betätigung auf dem der Jugend zusagenden Gebiete zu geben. Sie soll aber auch dazu angehalten und erzogen werden. — Leider wird auch das Schwimmen sehr wenig betrieben, das doch eine vorzügliche Leibesübung darstellt. Die Radfahrer

sammele man zu Tourenfahr ten — ja keine Radrennen veranstalten!

Wo es geht, kann auch gerudert werden. Im W i n t e r fehlt es auch nicht

Die Arbeitsgebiete.

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an der Möglichkeit außer dem Turnen im geschlossenen Raume, sich im Freien körperlich zu betätigen: Schneeballschlacht, Schlittschuhlauf, Rodeln bieten der Jugend gesunde und beliebte Erholung. — Nur in allem keine Sportfexerei! Keinen Fanatismus, keine Einseitigkeit, die für sonst nichts Interesse und Zeit hat als für irgendeinen Spezialsport. Bor gesundheitsschädigenden Übertreibungen muß ernstlich gewarnt werden. Wo der Leiter selbst sich beteiligt, wird schon an und für sich dafür gesorgt werden, daß solche nicht Vorkommen. Der Leiter aber wird gewiß auch hierzu Helfer brauchen. Er trage Sorge, nur vernünftigen, zuverlässigen Leuten die Jugend anzuvertrauen, sonst ist der Schaden erheblich viel größer in körperlicher und in sittlicher Beziehung als der Nutzen. Ein weiteres Feld körperlicher Betätigung für alle bieten die Wanderungen. Wir können die Jugend nicht genug in Berührung mit der wahren, freien Natur bringen. Vielleicht gewinnt so die oft verkünstelte Jugend ihre eigene Natur da draußen auch wieder. „Alles Ungute im Herzen der Menschen müßte, meine ich, sich verflüchtigen bei der Berührung mit der Natur — diesem unmittelbaren Ausdruck des Schönen und Guten" (lolftoi). Freilich damit ist nichts getan, daß die Jugend hinauskommt und mit blinden Augen und stumpfem Gefühl durch die schönste Gegend läuft. Die Jugend muß die Natur sehen und genießen lernen. Nur der rechte Führer kann sie dazu erziehen. Die Jugend soll auch so die engere und weitere Heimat kennen lernen, damit sie nicht in China besser Bescheid weiß, als in 20 km Umkreis ihres Heimatsortes. Kein Ausflug sollte unternommen werden, ohne daß damit auch ein geistiger Gewinn verbunden ist. Unterwegs soll zwar die Jugend nicht „gsschulmeistert" werden, aber aufmerksam soll sie ge­ macht werden auf die Schönheiten der Natur, ihre Wunder im großen und im kleinen, ihre Zweckmäßigkeit usw. Da wird vielleicht an einer schönen Waldwiese haltgemacht — und nun wird auch ein ernstes Wort geredet: Vom Lichthunger alles Lebendigen oder von der wunderbaren Lebensgemeinschaft im Walde usw. Die Wanderungen lassen sich auch noch sehr gut beleben durch Veranstaltung von Freispielen, Kriegs­ spielen, Schnitzeljagden, oder durch gesangliche und deklamatorische Dar­ bietungen. Besonders beliebt ist die S ch n i tz e l j a g d. Von einem Punkte aus werden zwei verschiedene, aber gleichlange Wege, die nach dem gleichen Ziel führen mit bunten Papierschnitzeln bestreut, wobei

zur Irreführung auch Seitenwege etwa 50 bis 100 Meter weit mit Schnitzeln bestreut werden. Zu gleicher Zeit gehen dann beide Parteien, in die die Wanderer eingeteilt wurden, los. Welche zuerst den bezeich­ neten Weg bis zum Endpunkt zurückgelegt hat, trägt den Sieg davon. Das Laufen ist dabei verboten. Oder man sammelt sich unter einer

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Die Arbeitsgebiet«.

schönen Eiche und singt dort «in paar Wald- und Wanderlieder, ein paar passende Gedicht« werden vorgetragen, der Führer sagt ein paar ernste Worte. — Grundsätzlich sollte das „Einkehren" möglichst vermieden werden. Proviant und Getränk (fein Alkohol!) wird mitgenommen. Bei Tagestouren wird draußen abgekocht — die Jungen stellen mit ihrem Spirituskocher oft üppige Gastmähler her. Der Alkohol sollte von den Wanderungen ganz verbannt sein. In der Tat werden auch die meisten Wanderungen alkoholfrei gehalten. Man verbiete der Jugend den Alkohol nicht einfach, sondern vor der Wänderung wird ausgemacht: „Wir wollen einmal sehen, ob wir nicht ohne Alkohol durchkommen." — Die Musik sollte nicht fehlen. Trompete, Mmwharmonika, Guitarre und Mandoline geben gute Unterhaltung und lassen die Müdigkeit leicht überwinden. Und vor allem: singet! — Wo der ganze Sonntag zur Wanderung benutzt wird, läßt es sich unschwer so einrichten, daß unterwegs der Gottesdienst besucht werden kann. Es sei denn, daß der Pfarrer mit dabei sein und draußen einen Wald­ gottesdienst halten kann, auf den womöglich überhaupt aufmerksam gemacht wurde, so daß sich vielleicht noch manche andere hinzugesellen. — In vielen Bereinigungen werden auch mehrtägige Wänderungen veranstaltet, durch ein ganzes Gebirge etwa hindurch. Auf solchen Wanderungen erstarkt das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Leiter und Jugend sowie Jugend und Jugend sehr, die Hilfsbereitschaft wird wachgerufen — und man lernt sich vortrefflich kennen, übernachtet wird in Freiquartieren, die durch Vermittlung des dortigen Pfarramtes vielleicht beschafft werden, was liebenswürdigerweise schon öfter ge­ schehen ist — ober gemeinsam in einem Saale mit Stroh und Decken; das ist gewiß nicht teuer. Di« Jungen vergessen eine solche Wanderung lange nicht. Sie kommen auch gern einmal aus dem ewigen Einerlei heraus und gehen frisch und gestärkt an Leib und Seele wieder heim. — Man lasse nur unter der Jugend nicht den unangenehmen Typus des Wanderers aufkommen, dem man jetzt öfter begegnet, der sich im Wald und auf der Heide, in der Eisenbahn und im Gasthaus benimmt, als ob er ganz allein auf der Welt wäre und sich in einer gewissen Auffallsucht gefällt in Kleidung und Benehmen. — Zur Erziehung gehört es auch, daß nicht planlos Wiesen und Bäume geplündert, die Landschaft nicht mit Papier und allerlei Schalen ver­ schandelt und die Waldstille nicht durch Gröhlen und Schreien gestört wird. Achtung und Liebe zur Natur und zu ihrem Schöpfer sollen die Wanderungen uns einbringen. — Von nur wenig Vereinigungen werden keine Wanderungen veranstaltet. Von den übrigen zwei- bis fünfzehnmal im Jahre, von einer im Sommer allsonntäglich. Nur im Sommer ins Freie, auf den Spielplatz oder in die Natur! Wanderungen mögen

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so oft als möglich veranstaltet werden, auch ab und zu ein Familien­ ausflug. Für höhere Schüler können auch kleinere oder größere FerienWanderungen eingerichtet werden. Es wär« auch eine Frage, ob nicht der Heffenbund in schöner Lage im Gebirge ein Heim für Ausflügler und Wanderungen erstellen sollte und sich mit der Veranstaltung größerer Wanderfahrten, an denen sich Angehörige aller Jugendvereinigungen beteiligen könnten, befassen sollte! Was aber an körperlicher Betätigung unsere Jugend erfahrungs­ gemäß am liebsten hat, das sind die K r i e g s s p i e l e. Mag auch die Hetzpreffe über die „öde Kriegsspielerei" und „klägliche Soldatennach­ äfferei" und den „militärischen Unterwürfigkeitssinn" sich ereifern. Die Herren, die sich so auslassen, haben wohl ihre eigen« Jugend, wo das Jndianerspiel ihre höchste Freude war, vergessen. Sie werden mit all ihrem Greifer und Gezeter echte jugendliche Art nicht totschlagen, die nun einmal für Räuberromantik viel Sinn hat und einen über­ strömenden Tatendrang in sich trägt. Freilich darf das Kriegsspiel nicht wirklich zur „Soldatennachäfferei" werden. Aber in jener Presse werden ja bekanntlich keine Unterschiede gemacht — ihr Eifer macht sie blind. Wer gegen wirklich jugendlich betriebenes Kriegsspiel sich er­ eifert, ist ein Philister, einerlei aus welchem Lager er stammt. Wer die Jugend kennt und versteht, der verfällt gar nicht auf Soldatennach­ äfferei. Wir lehnen sie scharf und grundsätzlich ab. Uniformierung „sieht ja ganz schön aus", ist aber höchst überflüssig und unsozial, weil nicht alle Eltern sie bezahlen können. Das Tragen von Waffen, einerlei ob gefährlich oder nicht, ist ein blanker Unfug. Auch das militärische Exerzieren verwerfen wir — die Jugend muß noch genug exerzieren, wenn es Zeit ist! Lächerlich ist der Vorwurf, die Jugend würde zum „Menschenmord" durch das Kriegsspiel erzogen. Man zeige mir einmal den jungen Menschen, der beim Anstürmen gegen den „Feind" bei unseren Kriegsspielen an Mord und Totschlag denkt!! Das fällt ja keinem von ferne ein! — Aber das ist richtig, daß das Kriegsspiel von großem erzieherischem Werte ist. Schon die körperlichen Vorteile sind nicht gering anzuschlagen: die Schärfung der Sinne sAuge und Ohr), Erhöhung der Körperkraft und der körperlichen Gewandtheit, der Zähig­ keit, das Standhalten gegen Wind und Wetter. Noch mehr die innere Erziehung: die zähe Verfolgung eines Zieles, Geistesgegenwart in un­ berechenbar auftretenden Situationen, die Überwindung aller Schwierig­ keiten — das lernt man beim Kriegsspiel. Da lernt man auch Selbstbeherrschung slautlos, ohne Geräusch vorwärtskommen), sich im Zaume halten — da lernt man spielend den Gehorsam nicht aus blödsinnigem Unterwürfigkeitsgeiste, sondern aus der Erkenntnis, daß nur gemein­ sames Vorgehen und gegenseitige Unterordnung zum Ziel führen. Da Page, Jugendpflege.

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Die ArbritS-ebtete.

Wird das Pflichtbewußtsein gestärkt: einer für alle, alle für einen. Wo einer versagt, kann alles verloren gehen. Hier kann auch einer zeigen, ob man sich auf ihn verlassen kann: einmal ob er das Notwendige unter allen Umständen tut, dann, ob er in seinen Beobachtungen und An­ gaben zuverlässig ist. Und darum hat die Jugend das Kriegsspiel gern, weil sie dort ihren Wagemut und ihre Kühnheit beweisen kann, weil es ihr nun einmal einen eigenen Reiz gewährt, den „Feind" auszukund­ schaften, von steter „Gefahr" umlauert, sich durch das Dickicht anzu­ schleichen usw. Zuletzt und doch nicht zuletzt sei auf das soziale Moment hingewiesen: die gemeinsame Aufgabe verbindet alle ohne Rücksicht auf Stand, Beruf, soziale Lage miteinander, dort sind sie am ehesten alle Brüder. — Beim Kriegsspiel muß vor allem die Jugend zum Handeln kommen. Jugendliche find die Führer, die Gruppm haben natürlich auch beim Kriegsspiel ihren gewohnten Gruppenleiter zum Führer. Die Jugend soll ja handeln lernen und sich jeder Situation gewachsen zeigen. Der Leiter oder sonstwer, auch wenn Offiziere sich beteiligen, wie das hin und wieder -er Fall war, haben nur die Lage festzustellen und die Aufgaben zu geben. Aktiv ist die Jugend. — Welche Aufgaben soll man stellen? Die Aufgaben müssen alle einen bestimmten erziehlichen Wert haben — sie müssen so gestellt werden, daß die Jugend wirklich eine geistige Arbeit dabei zu leisten hat. Also nicht einfach sagen: Die X - Schneise ist von da bis dahin vom Feinde besetzt — ihr sollt durchbrechen. Sondern etwa so: In dem Waldgebiet zwischen folgenden Schneisen ist „Feind" gesichtet worden. Ihr sollt ihn suchen, seine Stärke und seine Stellung feststellen und ihn zu vertreiben suchen. Die andere Abteilung bekommt die Aufgabe: In jenem Waldgebiet sich eine geeignete Stellung zu suchen und zu verteidigen. Dazu gchört natürlich, durch Vorposten und Patrouillen festzustellen, woher der „Feind" kommt, auf welchen Punkt der Stellung er sich wendet, wo die Hauptmacht herkommt, ob ein Scheinangriff er­ folgt usw. Einzelausführungen müssen natürlich hier unterbleiben. Es sollte nur angedeutet werden, daß Aufgaben gestellt werden müssen, bei denen die Jugend nicht nur eine körperliche Arbeit, sondern auch eine geistige zu leisten hat. — Nach welchem Gesichtspunkt wer­ den nun die Entscheidungen getroffen? Natürlich ist jede Balgerei ausgeschlossen. Auf der anderen Seite darf man der Jugend nicht das Verständnis für einen fein ausgekniffelten Schieds­ spruch zumuten. Ein von ihr kontrollierbarer Maßstab muß vorhanden sein. Am einfachsten ist die Entscheidung durch die Zahl. Wo zwei Abteilungen „Rot" und „Blau" (durch Bänder, am Oberarm sichtbar getragen, gekennzeichnet) zusammentreffen, werden beide Abteilungen aus­ gezählt. Diejenige, die mehr als V/„ mal so stark ist als die andere,

Die Arbeitsgebiete.

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kann die andere gefangen nehmen, die di« Bänder abgeben muß. Also wenn eine rote Abteilung von 76 Mann auf eine blaue von 50 trifft, werden die Blauen gefangen genommen; denn l1/, von 50 ist 75, 76 ist noch eins mehr — also ist die nötige Überzahl vorhanden. Hätte die rote Abteilung nur 75 Mann gehabt, so hätten sich beide zurückziehen müssen. Die Jugend gewöhnt sich schnell an diese Art der Entscheidung.

Sie hat so einen Maßstab, den sie selbst kontrollieren kann und ihrem scharf ausgeprägten Gerechtigkeitsgefichl kann Genüge getan werden — und es muß natürlich unter allen Umständen geschehen. Einzelheiten können hier nicht weiter dargelegt werden. — Eine Reihe Schiedsr i ch t e r, zu denen der Leiter eigentlich nicht gehören soll, sind den Abteilungen zugeteilt. — Selbstverständlich darf kein Flurschaden gemacht werden; trotzdem darf man wünschen, daß „Wald- und Feld­ gesetz" nicht allzustreng gehandhabt würden. — Mittags wird draußen abgekocht oder der mitgebrachte Proviant verzehrt, eine ernste Feier ge­ halten und vielleicht nach einer Schnitzeljagd mit Lampions, Trommler und Pfeifer voran heimmarschiert. — Sehr schön ist es, wenn ver­ schiedene Jugendverbände gegeneinander auf den Kriegspfad ziehen, oder gar die Jugendverbände ganzer Bezirke. Im Leben des Hessenbundes ist das große Herbstkriegsspiel gegen die „Frankfurter" immer ein Höhepunkt. — Wie oft soll man Kriegsspiele veran st alten? Nicht zu oft — sonst erlahmt das Interesse. Viel­ leicht zweimal im Jahre in größerem Rahmen und dann sonst noch bei Ausflügen in kleinerem Maßstabe. Damit beginnt man überhaupt am besten, daß man auf Spaziergängen und Wanderungen kleine Aufgaben stellt und Anleitung gibt. Etwa so: An das Ende einer Schneise wird eine Abteilung aufgestellt, di« andere soll in einiger Entfernung die Schneise überschreiten, während jene Abteilung dann über ihre Beob­ achtungen sZeit, Zahl, Richtung) zu berichten hat. Es wird gezeigt, wie man Deckung gewinnt, eine offene Straße richtig und möglichst ungesehen überschreitet, wie man Spuren beobachtet usw. — In nur 12 Ver­ einigungen werden Kriegsspiele veranstaltet. Es sollte überall geschehen.

Denn sie bilden, richtig jugendgemäß ohne Übertreibung und Soldaten, spielerei durchgeführt, eine jugendlicher Art entsprechende Betätigung — und zugleich ein wertvolles Erziehungsmittel. 4.

Soziale Fürsorge und Erziehung.

Auf dem sozialen Gebiet liegen auch für die Jugendarbeit brennende Aufgaben, und zwar auf dem sozialen Gebiet in des Wortes spezieller Bedeutung. In der evangelischen Jugendarbeit ist von jeher soziale Arbeit für die Jugend geleistet worden — aber fast ausschließlich im weiteren Sinne des Wortes.

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Die Arbeitsgebiete.

Eine Fürsorge, die wohl in allen Vereinigungen, auch in denen, von denen es nicht ausdrücklich berichtet wird, geübt wird, ist daS Besuchen kranker Mitglieder. In den meisten Vereini­ gungen geschieht das nur durch den Pfarrer. Das ist selbswerständlich, daß der Seelsorger wie allen Kranken auch der kranken Jugend dient. Hier liegt aber eine vorzügliche Möglichkeit zur Erziehung der Jugend zu echt sozialer Gesinnung in christlichem Sinne. Es ist nicht richtig, wenn der Leiter allein kranke Jugendliche besucht. Vor allem muß daS auch zur Aufgabe der zuständigen Mitarbeiter, Gruppenführer usw. ge­ macht werden — aber auch der übrigen Jugend. Sie soll es lernen, hilfsbereites Christentum praktisch zu betätigen. Man leit« sie an, dem kranken Kameraden durch den Besuch eine Freude zu machen, ihm ein Stück der Freizeit zu opfern, mit ihm «ine Stunde im Spiel oder in der Unterhaltung zu verbringen, ihm aus einem guten Buche vorzulesen und ihm auch durch kleine Liebesgaben Freude zu machen. Wir müssen unsere Jugend zum Opfersinn und zur Opferfähigkeit für andere, nicht nur für die Kranken, überhaupt die Ärmeren, Schwächeren erziehen, um dem kalten Egoismus, der in der Jugend oft sehr stark sich äußert, zu begegnen. So ist es auch schon in einzelnen Vereinigungen Sitte, daß die Kameraden sich int Krankheitsfälle besuchen. Die Gesunden sollen mit den Kranken mitfühlen lernen und ihnen das, was sie durch ihr Kranksein entbehren müssen, ersetzen: „Einer trage des andern Last." Hier erhebt sich die Frage, ob nicht auch die Kranken, soweit es nötig ist, materiell unter st ützt werden sollen. Diese Frage ist un­ bedingt zu bejahen. Nur in 4 Vereinigungen geschieht es tatsächlich. Die Mittel hierzu wären besonders aus freiwillig aufgebrachten Gaben zu decken. Bei allen Versammlungen, Ausflügen usw. sollte man der Kranken und Schwachen gedenken und eine Sammelbüchse ausschließlich zu diesem Zwecke bereit haben — an geeigneten Stellen der Versamm­ lungsräume müßte eine solche mit entsprechender Aufschrift angebracht sein. Man kann, nein, man muß einen Schritt weitergehen: überhaupt die w i r t s ch a f t l i ch Schwächeren müssen, soweit es möglich ist, unter­ stützt und gehalten werden. Nicht nur, daß jedem, auch dem unbe­ mitteltsten Mitglied« di« Teilnahme an allen Veranstaltungen der Bereinigung ermöglicht werden muß. Das ist gleichwohl schon von ungeheurer Wichtigkeit. Entweder müssen alle Veranstaltungen ganz frei sein. Das wird nicht immer möglich sein. Man denke an Ausflüge usw. Oder aber es müssen Mittel vorhanden sein, für die Wirtschaftlich Schwachen aufzukommen. Hier ist ein vorzügliches Feld, wie unter der Jugend das soziale Gewissen geweckt werden kann. Es muß wach werden. Und wenn es nicht unter der Jugend erwacht — wann dann? Hier in dem Jugendverband muß es für di« wirtschaftlich

Die Arbeitsgebiete.

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Bessergestellten eine Selbstverständlichkeit werden, sich um den Schwächeren zu kümmern und ihm das zu ermöglichen, was ihm nicht durch eigene Schuld versagt, den anderen nicht durch eigenes Verdienst er­ möglicht ist. Hier muß di« Tat christlicher Nächstenliebe geübt wer­ den — das Opferbringen für andere — auch materielle Opfer. Man könnte etwa von den finanziell von zu Hause Bessergestellten eine Extragäbe geben lassen, auch freiwillige Sammlungen veranstalten, um Mittel zu gewinnen. Oder sollte man «ine Art Steuer einführen? Je nach Verdienst bzw. Taschengeld eine Abgabe berechnen — eine Progressiv­ steuer vielleicht? Natürlich nicht, um die allgemeinen Unkosten zu be­ streiten, sondern nur für die Minder- oder Unbemittelten, um ihnen die Teilnahme an allen Veranstaltungen zu ermöglichen. Auch müssen die Jugendlichen erzogen werden, bei besonders freudigen Anlässen (Genesung, Versetzung, bestandene Prüfung, gelungene Arbeit usw.) auch durch ein« Geldgabe oder sonstige Spende ihrem Dank und ihrer Freude Ausdruck zu geben — und nicht etwa durch eine solenn« Sauferei. — Selbstverständlich dürfte die Unterstützung an wirtschaftlich Schwächere bei Ausflügen, zur Beschaffung von Sportkleidung, wenn sie allgemein üblich ist, der Wanderausrüstung usw. unter keinen Umständen den Stempel des Almosens tragen. Es brauchens nicht alle, sondern nur der Leiter und wenig Vertraute, vielleicht eine dazu gewählte Kommission unter besonderer Heranziehung Jugendlicher, zu wissen, wer unterstützt wurde, wie oft und wie hoch. Ein« Abrechnung erfolgt freilich — aber ohne Namensnennung. Ebenso sollte die Ab­ rechnung der Gaben ohne sie erfolgen — Jugend soll sich gewöhnen zu geben und zu opfern, ohne nach öffentlicher Anerkennung zu geizen, sie soll aus sozialem Gefühl, aus echter Nächstenliebe geben und opfern, nicht nur dann, wenn es an die große Glocke gehängt wird. Zu stiller Tatliebe soll sie erzogen werden, daß die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut. Wenn ein Geschlecht heranwachsen soll, das Verständnis für die sozial« Frage, den Willen zu ihrer Lösung in sich trägt und den Weg dazu findet, dann muß evangelisch-christliche Jugendarbeit ihrer Jugend das soziale Empfinden und die sozial« Tat nahebringen, die beide Grund­ bestandteile des Christentums sind. — Noch ein Schritt weiter sei getan: überhaupt soziale Hilfe den wirtschaftlich Schwachen unter der Jugend, Unterstützung in jeder Form, den Befähigten, finanziell aber Leistungsunfähigen auch schließlich die Mittel zur Weiterbildung ge­ währen, die in der Jugendarbeit durch ihre Helfer nicht geboten wer­ den kann. Die Jugendverbände müßten also über besondere Unterstützungskassen verfügen, deren Aufgaben sehr mannigfach wärenDazu gehört« auch, zuverlässigen, tüchtigen jungen Leuten durch Vor-

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Dir Arbeitsgebiete.

schüsse etwa di« Geschäftsgründung möglich zu machen. Durch ange. messene Ratenzahlungen wären die Darlehen wieder zu tilgen. Ebenso müßte durch dieß; llnterstützungskasse finanzielle Beihilfe für jugendliche Arbeitslos« möglich werden. Die Mittel dazu müßten eben durch langsame Ansammlung von freiwilligen Gaben, Überschüssen, Erträgnissen von Festen und Familienabenden beschafft werden. Es sei nochmals betont, daß die Jugend selber wesentlich durch eigene Gaben dazu beitrage — sie soll nicht nur soziales Empfinden haben, sie soll Taten tun lernen,

Taten -er gegenseitigen Hilfe, der Liebe. Damit kämen wir zu dem K a s s e n w e s e n in der Jugendarbeit überhaupt. Da ist zunächst die Sparkasse. Sie dient in hervorragender Weise zur Weckung des Sparsinnes. Man sage nicht: wozu brauchen wir eigene Sparkassen? Es gibt ja genug derartige öffentliche und private Unternehmungen: Städtische Sparkasse, genossenschaftliche Sparkassen, Schul-, Kriegervereins- ußv. Sparkassen. Die Jugend­ verbände brauchen aus erzieherischen Gründen eigene Spar­ kassen. Die Jugend kann viel eher zum Sparen angehalten werden. Die Sparkasse bildet geradezu ein« Kontrolle, wie die Jugend mit ihrem Geld umgeht. Und sie zum rechten Gebrauch des Geldes zu erziehen, ist eine der allerersten Notwendigkeiten. Sodann aber gibt die eigene Sparkasse die Möglichkeit zur Erziehung zum Geldausgeben dadurch, daß sie Einfluß gewährt auf die ihr Geld zurückverlangende Jugend. Wenn die Jugend zur Kirmes, zum Markt usw. auf der öffentlichen Sparkasse ihr sauer erspartes Geld abhebt, dann muß es ihr anstandslos ausgehändigt werden und es geschieht natürlich auch. Anders, wenn etwa bei dem Leiter das Geld abgehoben werden muß: Er kann fragen, wozu es der Junge braucht, namentlich bei größeren Beträgen, er kann seinen erzieherischen Einfluß geltend machen. Die Erziehung zum Geld­ ausgeben darf überhaupt bei keiner sich bietenden Gelegenheit (Ausflug, Familienabend) vergessen werden. Die Jugend soll Achtung gewinnen vor verdientem Geld, und es nicht am Automat, für Zigaretten usw. einfach „zum Fenster hinauswerfen". Endlich gibt die Sparkasse die Möglichkeit, ein« Reihe junger Leute zu beschäftigen mit den schriftlichen Arbeiten, Einträgen in di« Sparbücher, Übertragen in die Kassenbücher usw. Das Geld lass« man der Jugend niemals in den Händen. Tsian

führe sie nicht in Versuchung. Im Wartburgverein in Offenbach a. M. ist eine doppelte Einrichtung getroffen: Es besteht eine Pfennigsparkasse und eine Sparkasse. Für die Pfennigsparkasse werden Marken zu 10 Pf. abgegeben, di« in ein besonderes Büchlein eingeklebt werden. Sind 20 Marken geklebt — damit ist ein Blatt gefüllt — wird der Betrag von 2 Mark auf die Sparkasse überschrieben und verzinst. Daneben können in die Sparkasse Geldbeträge eingezahlt werden, die dann auf ein

Die Arbeitsgebiete.

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besonderes Sparkassenbuch des Wartburgvereins angelegt werden. Äußerem bestehen noch Sparkassen in 4 Vereinigungen. — Der Wart­ burgverein in Offenbach a. M. hat noch eine besondere Einrichtung ge­ troffen, der noch erhöhter erziehlicher Wert zukommt: Die PflichtSparkasse. Jedes beitrctende Mitglied verpflichtet sich, einen be­ stimmten Beitrag wöchentlich, mindestens 50 Pfennige, in die Kasse zu zahlen. Die Beiträge können statutengemäß nicht vor der Militärzeit bzw. dem entsprechenden Alter abgehoben werden. Die Kasse hat den ausgesprochenen Zweck, für die Militärzeit sich einen Notgroschen zu sparen. Man kann auf diese Einlagen auch erhöhten Zinsfuß, viel­ leicht auch Prämien gewähren. — In 12 Vereinigungen bestehen auch Reisekassen. Sie dienen nicht dem Zweck, Unbemittelten die Teilnahme an großen Ausflügen zu ermöglichen, sondern um den Jugendlichen Gelegenheit zu geben, für kostspielige Ausflüge längere Zeit vorher in kleinen Einzelbeträgen die nötige Summe anzusammeln. Sie ver­ folgen also einen erziehlichen und einen sozialen Zweck. — Außerdem besteht in einer Vereinigung eine Weihnachtssparkasse. Jeden­ falls bietet das Sparkassenwesen eine vorzügliche Handhabe zur Er­ ziehung zum rechten Geldgebrauch. Ein weiteres Gebiet sozialer Fürsorge ist die Wohnungs­

frage. Hier kommen vor allem die Waisen und die Auswärtigen in betracht, d. h. solche, deren Eltern nicht am gleichen Orte wohnen. Im

Schlafgängertum stecken schwere sittliche Gefahren. Die jungen Leute werden auch häufig nicht richtig versorgt, haben wenig oder gar keine Pflege, nicht die nötige Reinlichkeit um sich, nicht genügende nahrhafte

Kost. Die Leitung des Jugendverbandes muß hier Aufsicht üben und Abhilfe schaffen. In richtiger Weise ist das allerdings nur möglich, wo ein „Ledigenheim" zur Verfügung steht mit Logierräumen, Speisesaal, Bad, Aufenthaltsräumen usw. Solche Heime müssen in

Großstädten und an Jndustrieorten geschaffen werden. In kleineren Gemeinden genügt die Aufsicht und Besorgung genügender Wohnungen und Kosthäuser. Em Wohnungsnachweis im Dienste des Jugend­ verbandes ist überall notwendig, durch den nicht bloß freie, sondern auch brauchbare, in jeder Beziehung einwandfreie Wohnungen und Kost­ häuser vermittelt werden. Hier handelt es sich schon gar nicht mehr um soziale Hilfe für die wirtschaftlich Schwächeren und durch ihre äußer« Lag« Gefährdeten — sondern um soziale Hilfe, soziale Arbeit an der Jugend überhaupt, man kann auch ruhig sagen: um ein großes Stück „Innerer Mission" an der Jugend. Das Gebiet weitet sich aber noch stark, wenn man die soziale Lage der Jugend weiter überdenkt. Die Berufswahl und die

Lehrstellenvermittlung,

die

Stellenvermittlung

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Die Arbeitsgebiete.

überhaupt gehört hierher. Berufswahl ist ja eine Frage, die eigentlich vor die Zeit des Jugendpflegealters fällt — aber sie ist so entscheidend und wichtig, daß sie »mbedingt mit in den Umkreis der Jugendpflege ausgenommen werden muß. Ist die Berufswahl nicht die Sache der Jugend selbst und vor allem der Eltern? Gewiß. Aber oft genug sind bei der Entscheidung der Eltern oberflächliche, unsachliche Gründe für die Berufswahl maßgebend. Und die Jugend hat in den seltensten Fällen eigene Klarheit darüber, welchem Beruf sie zuneigt, in welchem sie ihre Befriedigung finden kann, und welchen sie am besten ausfüllen kann. Oft werden auch aussichtslos«, überfüllte Berufe gewählt, weil man sich nicht vorher mit der tatsächlichen Lage bekannt machte. Für die die Schule Verlassenden, also di« Konfirmanden, aber auch für höhere Schüler muß eine Beratungsstelle geschaffen

werden, von der Gemeinde aus. Geeignete Mitglieder sind Pfarrer, Arzt, Lehrer, tüchtige Handwerker. Sie müßten nach den verschiedensten, ihrem Gebiet« entsprechenden Gesichtspunkten die Jugendlichen gewissenhaft beraten. Wie viele junge Leute verkümmern, weil sie an einen falschen Platz gestellt wurden und damit „ihren Beruf verfehlt haben"! Das ist das traurigste, was es geben kann.

Eng mit der Berufswahl hängt die Lehrst« llenvermittl u n g zusammen. Die gewerbsmäßige Stellenvermittlung genügt nicht. Denn hier ist individuelle Behandlung nötig. Die Lehrmeister müssen auch nach ihrer Individualität berücksichtigt werden, nicht nur di« Jugend. Möglich ist eine solch« Lehrstellenvermittlung nur, wenn eine Organi­ sation über das ganze Land geschaffen wird. Pfarrer GoetheWörrstadt hat damit den Anfang gemacht?) Die Sache ist auch von der Hessischen Jugondhelfervereinigung bereits in die Hand genommen worden — nun muß, auch mit Hilfe der Behörden, geistlichen und weitlichen, und des Hessenbundes «in systematischer Ausbau geschaffen werden. Jedes Dekanat muß seinen Vertrauensmann hoben — so hat es auch Goethe gedacht — der die freien und einwand­ freien Lehrstellen mit Hilfe der Pfarrämter in seinem Dekanat sammelt. Was an Lehrstellen im eigenen Dekanate notwendig ist, wird beseht, die überbleibenden müssen weitergegeben werden. Das ist nur möglich, wenn ein« Z e n t r a l st e l l e für jede Provinz oder zunächst wenigstens für das ganze Land geschaffen wird, an die alle unbesetzten Stellen und auch all« Anfragen nach gewünschten Stellen kommen. Nur so ist es möglich, zu verhüten, daß ein Junge, weil in dem ihm liegenden Berufe keine Lehrstelle zur Hand war, in irgendeinen gerade sich bietenden Beruf

1) Auf sein Flugblatt zur Verteilung an die Jugend, das sich mit der Berufswahl beschäftigt, sei besonders aufmerksam gemacht.

Die Arbeitsgebiete.

249

hineingesteckt wird. Alle auch durch die Vertrauensleute direkt besetzten Stellen müßten an diese Zentral« gemeldet werden. Der Segen einer solchen Einrichtung wäre unermeßlich. Eine Stellenvermittlung für Gesellen, ausgelernte Kaufleute usw. wäre ja leicht damit zu verbinden. Wer die Praxis kennt, weiß, daß sie ein Bedürfnis ist. Denn oft genug wäre der Leiter dankbar, wenn er eine oder die andere Stelle zur Hand hätte. — In 22 Vereinigungen wird ja wohl schon Rat bei der Berufswahl erteilt und Lehrstellen werden vermittelt — aber die Hälfte der Berichte weisen einschränkende Bemerkungen auf: „gelegentlich, zuweilen, nicht offiziell, auf Verlangen, selten, unter Umständen". Der Kreis zieht sich noch enger. Eine Arbeit, die bitter notwendig ist, ist die Arbeit auf sozialem Gebiet im speziellsten Sinne des Wortes. Die Sozialdemokratie hat ihren Erfolg in der Jugendarbeit und mit der „Arbeiterjugend" wesentlich ihrem Ein­ treten für Jugendschutz und Jugendrecht zuzuschreiben. Aus welchen Motiven sie die „Fälle" von Übertretung der Gesetze zum Schutze der gewerblich tätigen Jugend ausfindig macht und der Öffentlichkeit über­ gibt, ist ja eine andere Frage. Mer die Jugend sieht und merkt, daß hier zu ihrem Schutze, in ihrem Interesse gehandelt wird. Die Sozial­ demokratie spielt auch gelegentlich gerade diese ihre Tätigkeit agitatorisch aus für die freie Jugendorganisation gegen die christliche Jugendarbeit. So heißt es in einem Flugblatt an die schulentlassene Jugend Berlins: „Wir fragen die gesamte Jugend Berlins: Haben die christlichen Jüng­ lingsverein« auch nur in einem einzigen Fall einen gefährlich be­ drängten Jugendlichen vor Ausbeutung oder Mißhandlung seitens eines profitsüchtigen Unternehmers geschützt? Nein! Nichts, gar nichts haben sie getan für die Linderung des so drückenden Loses der arbeitenden Jugend. . . . Sie, die christlichen Jünglings- und Jungfrauenvereine, lullen die arbeitende Jugend ein, um sie über ihr« elende Lage hinweg­ zutäuschen, schneiden die Jugend ab vom öffentlichen Leben, halten die Jugend ab von der modernen Wissenschaft, ersticken den so gering vorhandenen Feuergeist der Jugend, erziehen die Jugend zu Kopfhängern, Duckmäusern, Schwächlingen, die sich ohne Murren ausbeuten, mißhandeln, unterdrücken, knechten lassen. Und an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! " Es erübrigt sich, auf die schmähenden Ver­ hetzungen einzugehen. Nur bleibt uns die Frage: Tun wir genug zum Schutze der Jugend? Daß nichts geschieht, ist eine über­ triebene Behauptung. Von echten Jugendarbeitern ist in gar manchem Falle der Ausbeutung, ungesetzlichen Beschäftigung und Mißhandlung der Jugend entgegengetreten worden. Wobei man ja auch einmal die Gegenfrage stellen könnte, was die Sozialdemokratie zu der Mißhandlung

250

Äußerlichkeiten.

christlicher Lehrlinge und Gesellen durch Arbeiter und Meister ihrer Richtung zu sagen weiß? Oder ist das „etwas anderes"? — Tun wir genug zum Schutze der Jugend? Gewiß, in christlichen Kreisen wird nicht alles an die groß« Glocke gehängt, was für die Jugend getan wird, und mit mächtigem Tamtam verkündet. Aber trotzdem wird man auf jene Frage mit nein antworten müssen. Nun soll ganz und gar nicht das Motiv zum Jugendschutz sein, der Sozialdemokratie das Wasser abzugraben und die Arbeiterjugend dadurch zu gewinnen. Das Motiv ist: wo die Jugend in Nöten ist, drängt uns christliche Liebe ihr zu

helfen und ihr Recht zu schaffen. Wir sind die ersten, die gegen den „Raubbau", wie es Richard Nordhausen genannt hat, die Jugend schützen wollen. Daß sie oft genug ausgenutzt, ungesetzlich beschäftigt, auch miß­ handelt wird, scheint nicht zweifelhaft. Nun, so wollen wir für das Recht der Jugend kämpfen, daß ihr« ohnehin knappe Freizeit nicht unrechtmäßig beschnitten wird, daß sie durch Überanstrengung und Dauerarbeit an Leib und Seele nicht verkümmere, daß sie die für ihre Entwicklung so imbebingt notwendige Zeit zur Erholung, zur körperlichen und geistigen Betätigung gewinne. Evangelische Jugendpfleger sollten sich nicht scheuen, jeder Übertretung der Schutzgesetzgebung für die ge­ werblich tätige Jugend, wenn sie nicht auf gütlichem Wege zu beseitigen ist, mit Anwendung aller Mittel zu bekämpfen, wenn sich der Kampf auch gegen einflußreiche Unternehmer richtet. Dazu gehört vor allen Dingen, daß der Leiter und di« Helfer über dies« Gesetzgebung unter­ richtet sind. Dazu gehört auch, daß die Jugend selber diese Gesetz­ gebung kennen lernt. Ihr soll überhaupt Verständnis vermittelt wer­ den für die wirtschaftlichen und sozialen Fragen; die Jugend soll es wissen, daß die, denen sie sich anvertraut, für ihr Recht bis zum äußersten eintreten. In dieser Linie liegt auch der Kampf gegen die Sonntagsbeschäftigung der Jugend — einerlei ob es sich um Zeichen­ schule, Gewerbeschule, Kontor- oder Werkstattarbeit handelt. Die evan­ gelischen Verbände sollten sich mit aller Energie dagegen einsetzen! Der Staat, der sich jetzt der Jugendpflege so nachdrücklich annimmt, kann unmöglich vor einer gesetzlichen Regelung zurückscheuen. Zur sozialen Hilfe gehört auch, daß die in den Jugendverbänden zusammengeschlossene Jugend gegen U n f a l l v e r s i ch e r t ist für alle Veranstaltungen. Die Unfallversicherung ist ja jetzt durch den Jung­ deutschlandbund zu sehr billigem Preise möglich.

8 19. Äußerlichkeiten. Es gibt Äußerlichkeiten von doch nicht geringem innerem Werte. Auch in der Jugendarbeit. Ganz kurz sei auf einige hingewiesen. Zunächst das eigene Blatt. Es entspringt der Notwendigkeit, die

Äußerlichkeiten.

251

Veranstaltungen des Jugendverbandes allgemein bekannt zu machen, und verfolgt den Zweck, über di« Arbeit und die Veranstaltungen auf dem Gebiete der Jugendpflege zu berichten. Das scheinen ja Äußerlichkeiten zu sein — sie sind's doch nicht. Denn die Bekanntgabe dessen, was der Jugendverband bietet, hat doch gewiß werbende Kraft, ebenso die Darstellung dessen, was in der Arbeit geleistet wurde. Zudem bient das Blatt dazu, Verständnis für die Jugendarbeit in weitere Kreise zu tragen und die Gewissen zu schärfen, der Not der Jugend gegenüber zur Pflicht der Mithilfe die ganze Gemeinde zu mahnen, zur Mitarbeit aufzurufen und Wege zu zeigen, wie jeder einzelne mit seinen Gaben und Kräften helfen kann. Also hat das Blatt seinen großen Wert. Da evangelische Jugendarbeit grundsätzlich Gemeindearbeit sein soll, und als Pflicht der Gemeinde statuiert wurde, ist der richtige Ort zu den Ver­ öffentlichungen über all« di« Jugendarbeit betreffenden Fragen das Gemeindeblatt. Es sollte auch aus diesem Grunde in keiner Gemeinde schien. Die Umfrage berichtet aber, daß nur in einer einzigen Gemeinde, in der evangelische Gemeindejugendpflege getrieben wird, ein Gemeindeblatt erscheint. Dagegen haben 4 Vereinigungen nach den Be­ richten eigene Blätter, und zwar die Wartburgvereine in Darmstadt, Mainz und Offenbach a. M., außerdem der christliche Verein junger Männer in Roßdorf. Die Blätter der Wartburgvereine erscheinen monatlich, enthalten vor allem das Monatsprogramm, Berichte über alle Veranstaltungen, religiöse Betrachtungen und sonstige Beiträge. Ein großer Teil der Druckkosten wird durch Inserate gedeckt. — Man über­ sehe nicht den großen Wert des eigenen Blattes bzw. Gemeinde­ blattes, in dem ein stets bestimmter Teil für die Jugendarbeit Vorbehalten sein müßte, für die Jugendarbeit selbst. Einmal werden die sich noch Fernhaltenden immer wieder mit dem Leben und Treiben des Jugend­ verbandes im Zusammenhang gehalten durch seine Berichte. Sodann dient es als gutes Werbemittel für all« Zuziehenden. Und endlich ist es ein vorzügliches Band zwischen den auswärts Weilenden und der Heimatgemeinde und ihrer Jugend. Sie verlieren so den Sinn für die Heimat nicht so leicht — ihn der Jugend zu erhalten, tut wahrlich not — das Blatt bringt den Heimatgeist und den im Jugendverband Herrschenden Geist mit und kann so zur Bewahrung und Stärkung der fern von der Heimat weilenden Jugend dienen. Dann das Abzeichen. Es verliert freilich seinen Sinn, wenn di« gesamte Jugend der Gemeinde grundsätzlich dem Jugendverband angehört. Nicht etwa, weil „eine Absonderung der Jünglingsvereins­ mitglieder im Interesse der Gesamtgemeinde nicht erwünscht scheint", wie es in dem Bericht eines Vereins heißt, der früher das Abzeichen des Hessenbundes trug. Es ist nicht recht abzusehen, warum gerade das

252

Der Zusammenschluß.

Abzeichen die Jugend in einen gewissen Gegensatz zur Gemeinde bringen soll. Und di« an dem evangelischen Jugendverband sich Beteiligenden sind auch ohn« Abzeichen als solche bekannt und schließlich abgesondert von der anderen Jugend. Aber ist das Abzeichen nicht ein Bekenntnis? Wer das Abzeichen trägt, der ist auch genötigt, sein Sichhalten zum Jugendverband zu vertreten und wird nicht so leicht geneigt, Spott und Sticheleien gegenüber seine Zugehörigkeit zu verleugnen. Das Zeichen verrät ihn, bildet also eine moralische Nötigung. Es ist doch gewiß auch denkbar, daß das Abzeichen einen jungen Menschen vor manchem bewahrt durch den Gedanken: mit diesem Abzeichen kannst du da und dort nicht hingehen, dazu paßt es zu schlecht. Es kann also zur inneren Stärkung dienen und zum Rückhalt werden. Ferner ist das Abzeichen, gerade das gemeinsame Abzeichen des Hessenbundes, ein schönes Zeug­ nis der großen Zusammengehörigkeit und ein Erkennungszeichen, das Gleichgesinnte überall zusammenführt. Unter diesen Gesichtspunkten er­ scheint ims Abzeichen gar nicht als etwas Allzuäußerliches und seine Beibehaltung wünschenswert, namentlich da, wo die regelmäßig sich Beteiligenden „eingeschrieben" werden. Sie sollen's nur ruhig tragen. Und dann die Fahne. Sie bildet das Zeichen der gemeinsamen Sache, zu der alle treu stehen, die sich um die Fahne scharen. Die Jugend hängt nun einmal an solchen Äußerlichkeiten; wie gesagt, es sind ja nicht nur Äußerlichkeiten. Es braucht ja keine kostbare, gold- und silberbestickte Fahne zu sein. Dafür hat die Jugend gar nicht so viel Sinn. Aber eine Fahne, die man mit zu den Ausflügen und zu den KriegSspielen nehmen kann als sichtbares Zeichen. Ja, jede Gruppe sollte ihre einfache Fahne haben, als ein Panier, um das sie sich immer

wieder sammelt — ein Zeichen der Einheit und Zusammengehörigkeit. Doch genug der Äußerlichkeiten.

§ 20. Der Zusammenschluß. Wenn evangelische Jugendarbeit ausdrücklich Gemeindearbeit sein soll, wozu ist dann noch ein Zusammenschluß notwendig? Jede Gemeinde treibe für sich nach Maßgabe der örtlichen Verhältnisse ihre Arbeit, das genügt ja vollständig; wäre es nur erst soweit. So richtig es ist, daß Jugendarbeit nicht schematisch, sondern in jeder Beziehung individuell getrieben werden muß, ebenso unbestreitbar ist es auch, daß vielleicht nirgendswo der Zusammenschluß notwendiger ist als hier. Und zwar nach zwei Richtungen hin: der Zusammenschluß der Leiter und der Zusammenschluß der Jugend. Zunächst der Zusammenschluß der Leiter, Helfer, Mitarbeiter. Jugendarbeit treiben ist «ine Kunst, die nicht jeder ohne weiteres aus­ üben kann. Und mag einer in irgendeiner Richtung noch so begabt

Der Zusammenschluß.

253

sein — ohne eine gewisse Schulung wird er nie etwas Richtiges, Segensreiches leisten können. Aber auch für die schon Erfahreneren ist der gegenseitige Austausch unbedingt notwendig. Warum sollen die Erfahrungen einzelner nicht der Gesamtheit zugute kommen? Warum vor allen Dingen jeden einzelnen von neuem allerlei schmerzliche Er­ fahrungen machen lassen, die andere schon überwunden haben und zu deren Überwindung sie den Weg zu zeigen toiffen? Der Zusammenschluß der Leiter, Helfer und Mitarbeiter ist notwendig, damit ein« Stätte geschaffen ist, wo die Probleme der Jugendarbeit von Berufenen dar­ gelegt und allgemein besprochen werden, wo praktische Wege gezeigt und in gemeinsamer Besprechung Schwierigkeiten gelöst werden. Diese theoretische Arbeit ist unbedingt notwendig, und zwar die ununterbrochene gemeinsame theoretische Arbeit, damit man den Zusammenhang mit der allgemeinen Arbeit nicht verliert, immer wieder neue Wege sieht, immer wieder sich in die Arbeit vertieft. Dabei ist es nicht genug, daß ab und zu einzelne Vorträge und Diskussionen stattfinden — sondern es müßten auch regelmäßige Kurse über all« die evangelische Jugendpflege betreffenden Fragen gehalten werden, die besonders für Anfänger un­ erläßlich wären. Denn mit dem Experimentieren und dem Drauflos­ wirtschaften ist's eine böse Sache. Die Jugend ist zu schade dazu, es wird bei verkehrter Arbeit wenig oder nichts erreicht, gar viel verdorben und damit der Erfolg für lange Jahre am Ende in Frage gestellt. Also gründliche Ausbildung und ebenso eifrige Weiterbildung in allen Fragen der Jugendpflege. Diese Kurse wären vor allem von den jungen Theo­ logen zu besuchen, von denen gar manche darunter seufzen, daß sie für die Jugendarbeit keine spezielle Vorbildung genossen haben und nun rat- und darum tatlos sind. Diese Arbeit ist kaum an das Prediger­ seminar zu verweisen, das schon fast überlastet ist mit Arbeit. Die Universität aber kann sich gewiß mit dieser praktischen Spezialfrage nicht ausreichend beschäftigen. Es ist auch deshalb der Weg der Kurse geboten, weil da die mannigfachsten, auf dem Gebiet« der Jugendpflege bewährten Männer zu Worte kommen können und die Besprechung um so fruchtbringender wird, je mehr die verschiedensten Erfahrungen ausge­ tauscht werden können, je mehr die verschiedensten Lebensalter zusammen­ arbeiten. Vor allem müßten diese Kurse an Orten gehalten werden, wo das praktische Beispiel nicht fehlt, wo durch Besuche, und zwar längere Beteiligung an praktischer Arbeit, nicht nur augenblickliche Paradebesuche, praktische Studien auf allen Gebieten die Theorie ergänzt werden können. Dieser Zusammenschluß der Jugendarbeiter mit seinen großen, wichtigen Aufgaben braucht für Hessen gar nicht mehr geschaffen zu werden: er besteht schon in der „Hessischen Jugendhelfervereini­ gung". Derzeitiger Vorsitzender ist Professor D. Dr. Schnell, Direktor

254

Der Zusammenschluß.

des Predigerseminars in Friedberg. Di« Hessische Jugendhelfervereini­ gung hat sich nach mancher Debatte ausdrücklich zur evangelischen Jugendpflege bekannt. Sie hat auch die oben angedeuteten Hauptaufgaben in Angriff genommen. Sie mußt« nur in der angegebenen Rich­ tung weitergehen und regelmäßige Kurse veranstalten. Zu ihren Auf­ gaben gehört auch die durchgreifende psychologische Erforschung der Hesienjugend nach den einzelnen Gebieten des Hessenlandes, wie sie in diesem Buche nur einmal in großen Umrissen versucht werden konnte. Ferner die Aufstellung von Rednerlisten, daß auch auswärtige Redner zur Verfügung sind. Weiter sollten Ausschüsse gebildet werden, die sich mit einzelnen notwendigen Aufgaben zu befassen haben: Schaffung einer Fachbibliothek, Aufstellung von Verzeichnissen der für die Jugendbüche­ reien geeigneten Literatur, insbesondere auch der zur Aufführung in Jugendverbänden geeigneten dramatischen Literatur usw. Mit der Lehrstellenvermittlung, die erst in den Arbeitsplan ausgenommen wurde und noch des weiteren Ausbaues bedarf, hat sich die Jugendhelfervereinigung auch auf das Gebiet der sozialen Arbeit im engeren Sinne begeben. Eine besondere Aufgabe, die durch ihren Vorsitzenden bei der letzten Tagung am 7. April 1913 in Offenbach a. M., die gemeinsam mit der des Heffenbundes stattfand, angedeutet wurde, ist die, Verständnis für die Jugendarbeit in weitere Kreise zu tragen; etwa die Presie beständig mit einschlägigen Artikeln zu versehen, aber auch an Orten, wo noch keine evangelische Jugendarbeit besteht, solche in die Wege zu leiten usw. Neben diesem Zusammenschluß der Jugendarbeiter mit dem Haupt­ zwecke der Aus- und Weiterbildung, der in der Hessischen Jugendhelfer­ vereinigung gegeben ist, der somit auch alle Jugendarbeiter angehören sollten, ist der Zusammenschluß der Jugendverbände selber notwendig und auch er besteht schon im „evangelischen Jünglingsbund im Großherzogtum Hessen", „Hessenbund" genannt. Der­ zeitiger Vorsitzender ist Pfarrer Müller-Offenbach a. M. Der Hessen­ bund ist im Jahre 1903 gegründet mit 9 Vereinen, wuchs bis 1905 auf 16, 1910 waren es 18 Vereine mit 851 Mitgliedern, 1912 aber 31 Ver­ eine mit 1568 Mitgliedern, denen mittlerweile wiederum mehrere nach­ gefolgt sind. Nach manchen inneren Schwankungen ist der Hessenbund mit Bewußtsein der Vertreter der landeskirchlichen Jugend­ arbeit güvorden; das hat auch wohl seinen bedeutenden Aufschwung ermöglicht, und es ist zu hoffen und zu wünschen, daß er immer mehr an Ausdehnung gewinnt. Denn der Zusammenschluß der Jugend ist notwendig. Der Hessenbund ist der Träger der praktischen Arbeit, die Jugendhelfervereinigung der theoretischen. Der Hessenbund hat das Verdienst, daß er eigentlich die Jugendarbeit mit in Fluß ge­ bracht hat und die zerstreuten Vereinigungen gesammelt und gestärkt hat.

Der Zusammenschluß.

255

„Einigkeit macht stark" ist ein gutes Motto für ihn. Nicht nur, daß er den Jugendarbeitern im Bewußtsein, daß noch gar manche mit ihnen auf dem Plane waren und genau so Freud und Leid erfuhren wie sie, immer wieder Mut und Kraft zur Arbeit stählte und über manche Frage der praktischen Arbeit Klärung brachte — vor allem ist seine Bedeutung groß für die Jugend. Die Bundesfeste, die jährlich abgehalten in Worms, Offenbach, Bad Nauheim, Nierstein, Arheilgen, Höchst i. O., Groß-Gerau stattfanden, haben eine durch nichts zu ersetzende Gemeinschaft unter den im Bunde zusammengeschlossenen Jugendlichen geschaffen. Dadurch ist das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit unter der Jugend stark und unverlierbar geworden. Da wird es immer von neuem klar: wir stehen nicht vereinzelt und allein da, sondern «ine stets wachsende Schar gleichgesinnter Brüder steht mit uns auf dem gleichen Boden und schart sich um die gleiche Fahne. Die Jugend aus den verschiedensten Gegenden unseres Hessenlandes mit den verschiedensten Verhältnissen aller Art lernt sich so kennen und lieben. Das Bundesabzeichen ist Symbol der inneren Zusammmgehörigkeit. Neuerdings ist das Band zwischen den einzelnen Bereinigungen durch Schaffung eines monatlich erscheinenden Bundesorgans, der „Hessen-Jugend", noch enger und zu­ gleich dauernd sichtbar geworden. — Der Hessenbund ist eine Arbeits­ gemeinschaft. Nicht nur, daß die in gemeinsamer Arbeit Stehenden ihre Erfahrungen austauschen, sich anregen und gegenseitig den Mut zum Weiterarbeiten stärken können — wie wohl dieser Vorteil nicht gering zu achten ist. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Arbeiten, die der einzelne Leiter der Jugendvereinigung allein nicht lösen kann. Hierzu gehört die Haftpflichtversicherung für die Leiter, Helfer und Mitarbeiter, kurz für alle in dem Jugendbetriebe etwa er­ folgenden Unfälle, aus denen eine gesetzliche Haftpflicht hergeleitet werden kann. Dann ein weiteres Stück sozialer Arbeit: die Unfallver­ sicherung, die für alle von Jugendlichen im Umkreise der Jugend­ arbeit erlittenen Unfälle, auch solche, die keine Haftpflicht nach sich ziehen, aufkommt. Sie wird jetzt im Anschluß an den Jungdeutschlandbund geregelt. Der Hessenbund gewährt ferner finanzielle Bei­ hilfen an bedürftige Vereinigungen. Da ihm von dem Staatszuschuß zur Jugendpflege ein größerer Betrag zur Verfügung gestellt wurde, der sich hoffentlich noch erhöht, so ist er jetzt in der Lage, Beihilfen in größerem Umfange zu leisten. Übrigens werden Beträge aus dem Staatszuschuß nur durch den Hessenbund vergeben, nicht noch nebenher. Auch auf den einzelnen Arbeitsgebieten beginnt der Heftenbunt», nachdem innere Schwierigkeiten beseitigt sind, seine Tätigkeit. Zu­ nächst auf dem Gebiete der Körperpflege. Ein „Turn- und Spiel ausschuß" wurde gegründet, der einen freien „Turn- und

256

Der Zusammenschluß.

Spielverband des Rhein-Main-Gaues" ablöste. Seine Organisation ist folgendermaßen: das ganze Land ist zurzeit in acht Kreise eingeteilt, dem sich Frankfurt als 9. Kreis angliedert. Die Bereinigungen eines jeden Kreises wählen einen Kreisobmann. Die Kreisobmänner bilden den Turn- und Spielausschuß des Hessenbundes. Die Obmänner wählen aus sich einen „geschäftsführenden Ausschuß". Der Turn- und Spielausschuß hat den Zweck, das Turnen und Spielen nach Kräften zu förbeut, ihm da, wo es noch nicht betrieben wird, Eingang zu verschaffen, Turnfeste mit Wetturnen und Wettspielen zu veranstalten usw. Es wird so auch möglich sein, auf dem Gebiete der Sportspiele nun wohl auch die Bundesmeisterschaft auszutragen. Besonders wird der Turn- und Spiel­ ausschuß eS sich zur Aufgabe machen müssen, das schulgerechte Turnen und Spielen zu fördern durch Abhalten von Vorturnerkursen usw., auf die an anderer Stelle schon hingewiesen wurde. — Sollte es nicht auch möglich sein, zur Belebung und Förderung der Zimmerspiele eine ähnliche Organisation zu schaffen? Zunächst wird z. B. im Schach die „Vereinsmeisterschaft" ausgetragen, die Vereinsmeister tragen die Bezirksmeisterschaft aus, die Bezirksmeister die Landesmeisterschäft. — Alle Aufgaben, die nur durch große Organisationen möglich sind, muß der Hessenbund zu den seinen machen, also auch an der Organisation der Stellenvermittlung mitarbeiten. Er braucht sie doch für seine Jugend. Es wird überhaupt eine ganze Reihe von Aufgaben geben, die Jugendhelfervereinigung und Hessenbund gemeinsam aufnehmen müssen, wie gerade diese. Zu diesen gemein­ samen Arbeiten gehört vor allem die Veranstaltung der regel­ mäßigen Kurse, wie auch im Frühjahr 1910 in Frankfurt a. M. schon ein solcher gemeinsam abgehalten wurde. Die Zusammenarbeit wird ja um so leichter sein, je mehr der Hessenbund alle Jugendverbände und die Jugendhelfervereinigung alle Jugendarbeiter umfaßt: es werden im wesentlichen dieselben Leute sein, die dort praktisch verwerten, was sie hier theoretisch verarbeitet haben, und die wieder hier theoretisch ver­ werten, was sie dort praktisch erarbeitet haben. So gibt es eine glänzende Wechselwirkung der Arbeit in beiden Verbänden. Es stehen dem Hesienbund auch noch eine Reihe Aufgaben bevor: einige seien genannt: Durchführung eines Überweisungs­ systems. Überweisungskarten sind bereits hergestellt, es muß nun aber auch streng darauf gesehen werden, daß die Überweisung an das Pfarramt des zukünftigen Wohnortes wirklich erfolgt. — Der verziehen­

den Jugend müßte ein Wanderbuch in die Hand gegeben werden, in dem alle Heflenbundsvereine mit den genauen Adressen verzeichnet sein müßten, das zugleich ein Personale sowie Angaben über Dauer der Mitgliedschaft, innegchabte Ämter und eine Art Führungszeugnis

257

Der Zusammenschluß.

enthielte. So kann das Wanderbuch als Legitimation in fremden Ver­ einigungen dienen und zugleich dem Leiter der Vereinigung, in die der Fremde eintritt, wertvolle Winke über die Persönlichkeit und die Ver­ wendbarkeit des Zuziehenden als Mitarbeiter bieten. — Die Sol­ datenfürsorge ist ebenfalls eine vom Hessenbund in Angriff zu nehmende Aufgabe mit Hilfe der betreffenden Gemeinden und Garni­ sonspfarrämter. — Auf die Einrichtung eines Ferienheims, das Hessenbundwanderern längeren Aufenthalt bieten und auch Jugend­ arbeitern zugleich zur Erholung dienen könnte, sei nochmals verwiesen. — Vor allem könnte der Hessenbund eine reicher« propagandistische Tätigkeit vielleicht entfalten oder die Mittel dazu bieten. Der Bund wirkt ja an und für sich schon propagandistisch namentlich durch seine Bundesfeste, die ja mehrfach den Anstoß zur Gründung von Jugendvereinigungen gaben. Mehrere Vereine bekunden auch, daß „der Zutritt zum Hessenbunde stark fördernd wirkte". Vielleicht könnte noch manches geschehen, um die Jugendsache populär zu machen. Dazu gehört etwa Schaffung geeigneter Lichtbilderserien aus dem Vereins- und Bundesleben. Der Wartburgverein in Offenbach a. M. besitzt bereits eine schöne Reihe. So könnte man Alten und Jungen Freude an der Sache erwecken. Der Hessenbund könnte überhaupt sich nach und nach eine Reihe Lichtbilderserien anlegen, sowie einen Licht­ bilderapparat zum Verleihen an die einzelnen Jugendverbände. Nun ist es aber ausgeschlossen, daß alle Aufgaben vom Hessenbund und der Jugendhelfervereinigung geleistet werden, sofern nicht «ine der beiden Organisationen einen besoldeten hauptamtlichen Vorsitzenden hätte. Das wird ja am Ende nicht einmal wünschenswert sein. Aber eine „Zentralstelle für evangelische Jugendpflege" müßte geschaffen werden, die in engster Verbindung mit beiden Organi­ sationen arbeitete. Es ist schon in anderem Zusammenhang von dieser Zentralstelle und ihren Aufgaben hin und wieder in diesem Buche ge­ sprochen worden. Hier müßte die Fachbibliothek vereinigt werden, hier müßte eine lückenlose Materialsammlung über alle Einrichtungen der Jugendvereinigungen vorhanden sein, um einiges zu nennen: Sta­ tuten, Programme, Blätter, Bericht«, Sparkasseneinrichtungen usw. Hi«r müßte Auskunft über alle einschlägigen Fragen geholt werden können, hier könnten auch die Fäden der Lehrstellenvermittlung zusammenlaufen. Bedienung der Presse, überhaupt systematische Propaganda gehörten mit zu den Hauptaufgaben der Zentrale. Hessenbund und Jugendhelfer. Vereinigung arbeiten denn auch energisch daran, einen Berufsarbeiter anzustellen; und zwar ist di« Absicht, darauf zu dringen, daß ein Jugendpfarramt fürs ganze Land zunächst einmal ge­ schaffen werde. Dieses soll seinen Sitz in einer der größeren Städte Page, Jugendpflege.

17

258

Ausblick.

haben, so daß dem Landesjugendpfarrer der stete Zusammenhang mit der Praxis bliebe. Die Schaffung dieses Jugendpfarramtes ist eine dringende Notwendigkeit. Der Anschluß des Hessenbundes an den „Weltbund" ist bisher nicht gelungen, trotzdem die „Pariser Basis" in die Statuten Aufnahme gefunden hatte, nicht „als formeller Bestandteil" der Bundessatzungen, sondern als „Einheitsband der im Weltbund zusammengeschlossenen Ver­ eine". Damit hatte der Hessenbund sich nur die Stellung des Süd­ bundes, des Ostbundes und des Zentralausschusses für Innere Mission zu eigen gemacht. Man hatte sich auch freudig zu der schönen Er­ klärung des Südbundes bekannt, „auf dem Boden weitherzigen Ver­ trauens" an der Jugend unseres Volkes zu arbeiten. Man scheint aber bisher diesen Boden noch nicht überall gefunden zu haben. Der Hessenbund ist dem neugegründeten Jungdeutschlandbund bei­ getreten, sein Vorsitzender wie auch der der Hessischen Jugendhelfer­ vereinigung sind Mitglieder des engeren Landesausschusses. Ebenso ist der Vorsitzende des Hessenbundes in den „Landesausschuß für Jugend­ pflege" berufen worden.

§21. Ausblick. Wer den Stand der evangelischen Jugendpflege in Hessen durch nähere Beziehungen zu den in ihr Arbeitenden kennt, nicht nur zahlen­ mäßig, sondern nach der inneren Auffassung, wer zugleich in Betracht zieht, daß die konfessionelle Jugendarbeit sich einer steigenden Achtung erfreut, der kann nicht pessimistisch in die Zukunft blicken. Das Interesse und Verständnis für die Jugendarbeit ist in allen Kreisen im Wachstum begriffen. Aus nicht wenigen Gemeinden wird berichtet, daß die Jugendarbeit „sehr begrüßt" wurde, daß die Gemeinde ihr „sehr

freundlich" gegenübersteht und sie „sehr günstig" beurteilt, in einigen Gemeinden wird das „warme Interesse" der Kirchenvorstände rühmend hervorgehoben. Jetzt ist es an der Zeit, daß die Gemeinden ihre Pflicht tun, sie zunächst erkennen. Da ist es in erster Linie Aufgabe der Pfarrer, das Gewissen der Gemeinden zu wecken und zu schärfen. Die Gemeinden können sich der dringenden Aufgabe nicht länger verschließen und sie werden es auch nicht tun. Evangelische Jugendarbeit muß sich durch ihren Ernst, ihre Treue, ihre Uneigennützigkeit, ihren Opsergeist die Achtung aller Kreise erkämpfen — sie hat sie schon vielfach erkämpft und sie wird sie weiter erringen. Sie wird siegen über Feind­ schaft, Spott und Hohn — denn es ist eine durchaus große, gute, edle Sache. Daß es nur jetzt nicht an denen fehle, die wissen, was auf dem Spiele steht. Der Pflug steht bereit — in Gottes Namen di« Hand daran gelegt und in treuer, ehrlicher, mutvoller Arbeit gerade Furchen

Ausblick.

259

gezogen. Und guten Samen in die Furchen gestreut! Geduld und Ver­ trauen — die Saat geht auf — die Frucht wird kommen — der große Herr des Lebens wird auch diese Saat segnen — alles liegt an der Treue der Arbeiter und an Gottes Segen. Uns leuchtet der Glaube an den Sieg des Guten und das große Wort strahlt über unserer Arbeit: Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt über­ wunden hat.

'-Sucbbnirferei des Waisenhauses in Halle a. b. Oaale.

Inhaltsverzeichnis. Seite III — IV 1—4

Vorwort § 1. Die Umfrage

Erster Abschnitt.

Die evangelische Jugend Hessens § § § § § §

2. 3. 4. 5. 6. 7.

5—87

Die Zahl der evangelischen Jugend in Hessen Die Verteilung der evangelischen Jugend auf das Großherzogtum Die wirtschaftliche Lage der evangelischen Jugend in Hessen . . Die innere Lage der Jugend Die Ursachen der Not Psychologische Geographie

5 8 10 22 59 77

Zweiter Abschnitt.

Die Pflicht der evangelischen Gemeinde und der Tatbestand . § 8. Die Pflicht der evangelischen Gemeinde § 9. Einwände und Schwierigkeiten § 10. Geschichte und gegenwärtiger Bestand der Jugendarbeit in Hessen

. 88—144 88 95

evangelisch-kirchlichen

122

Dritter Abschnitt.

Evangelische Jugendpflege §11. § 12. § 13. § 14. § 15. § 16. § 17. § 18.

§ 19. § 20. §21.

Der Grundsatz der Arbeit Wege zum Ziel Leiter, Helfer, Mitarbeiter Die Mitglieder Die Organisation Der Anfang Die Versammlungen Die Arbeitsgebiete 1. Unterhaltung 2. Belehrung 3. Körperpflege 4. Soziale Fürsorge und Erziehung Äußerlichkeiten Der Zusammenschluß Ausblick

144—259

144 150 166 176 182 ..........................................197 204 214 216 229 236 243 250 252 258

Verlag von Alfred Täpelmann

(vormals I. Ricker) m Gießen

Natechismustafeln herausgegeben von Direktor

Karl (Eger

Professor Dr.theoL,

des Predigerseminars in Friedberg

in Dessen

17 Tafeln, umfassend die 10 Gebote mit Beschluß und die drei Artikel mit ihren Erklärungen In Schulfraktur zweifarbig (schwarz und rot) auf Leinwandpapier gedruckt

Alle Tafeln sind 100 cm. breit, ihre Länge wechselt je nach der Menge des Textes; die größte Länge beträgt 140 cm. Jede Tafel ist mit Stäben und Ösen versehen.

Tafel Tafel

Tafel

1 — 11, die 10 Gebote und der Schluß der Gebote.................................... M. 20.— 12 — 17, die drei Glaubensartikel mit ihren Erklärungen......................... HL 1(4.— 1—17, wenn zusammen bezogen................................................................... HL

52.50

3m folgenden erörtert der Herausgeber selber, aus welchen unterrichtlichen Gesichtspunkten dieses Tafel­ werk entstanden ist. Die verkleinerte Wiedergabe einiger Tafeln möge sein Wort noch weiter erläutern. Z\

A ie unverkennbaren Fort­ schritte, die in den beiden letztenJahrzehnten in derMethodik des Ratechismusunterrichts im Sinne immer stärkerer Befreiung vom mechanisch-verbalistischen und begriffsspalterischen Verfahren zugunsten einer lebensvollen sachlichen Behandlung er­ zielt worden sind, sind nach

Das erste Gebot. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Was ist das? Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.

was denn doch sehr bedenklich erscheint, auf das sorgfältige Memorieren desRatechismustextes verzichten wollte: wird überhaupt noch Ratechismusunterricht gegeben, einerlei ob „selbständiger" oder „anleh­ nender", dann ist eine geflissent­ liche Auseinandersetzung mit dem Ratechismustext, die immer die Gefahr der oben

dem Urteil Sachverständiger der Praxis dieses Unter­ richts vielfach weniger zugute gekommen, als man annehmen

erwähnten Mißstände in sich birgt, unvermeidlich. viele Praktiker des Ratechismusunterrichts suchen der

Immer wieder gerät der Unterrichtende, auch wenn

angedeuteten Gefahr zu entgehen und die gewissenhafte Berücksichtigung des Ratechismustextes mit den Ansprüchen freier, lebendiger sachlicher Behandlung zu vereinigen, in­

sollte.

er von den besten gegenteiligen Absichten beseelt ist, un­ willkürlich in eine mühsame, ihn und die Rinder belastende Auseinandersetzung mit dem Katechismus-Wort! aut, in eine zeitraubende und wenig anregende Einprägung dieses Wortlauts hinein - und scheint hineingeraten zu müssen, wenn er überhaupt den Rindern auch den Ratechismustext als festen Besitz vertraut machen will. Und selbst wenn man,

dem sie das pädagogische Grundprinzip der Anschauung auch für die Aneignung des Ratechismustextes zu hülfe rufen und den jeweils zu behandelnden Ratechismusabschnitt, möglichst übersichtlich und auch schon grammatisch und sach­ lich gegliedert, an die Tafel anschreiben. Daß das

Um den im herbst 1910 erschienenen Ratechisrnustafeln noch größere Verbreitung zu sichern, werden die preise von jetzt ab auf nur 12, 8 und 20 Mark festgesetzt. Mai 1912.

Das zweite Gebot. Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht unnützlich führen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht

Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, -ah wir IDcrbotl

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bei feinem Namen sondern denselben nicht fluchen, in allen Nöten anrufen, schwören, beten, loben zaubern, und danken. lügen oder trügen, Verfahren vorteilhaft ist, beweist die Praxis. Aber es ist nicht nur umständlich und zeitraubend, sondern auch sehr mangelhaft. Die Schrift an der Tafel gibt den Kindern Keine wirklich ins Buge fallende, sie besonders interessierende und auch in ihrer Gliederung leicht zu erfassende Anschauung - abgesehen davon, daß bei größeren Katechismusabschnitten, wie bei den Erklärungen der Glaubensartikel, das Anschreiben des Ganzen überhaupt so gut wie undurchführbar ist. Ich habe deshalb vor einigen Jahren für den Katechis­ musunterricht, den die Mitglieder des Predigerseminars in der hiesigen Volksschule unter meiner Leitung zu erteilen haben, zunächst die einzelnen Gebote mit ihren Erklärungen, später auch die Glaubensartikel mit Erklärung, in geeigneter Druckschrift auf Wandtafeln (Karten) zeichnen lassen und diese im Unterricht verwandt. Die Erfolge haben mich selbst überrascht als ein neuer Beleg für den Satz, daß das Aller­ einfachste oft das Allerwirksamste ist. Obgleich ein von noch unerprobten Lehrkräften, dazu unter häufigem wechsel der Lehrperson - ein Kandidat unterrichtet nur etwa 8-10 Stunden hintereinander - erteilter Katechismusunterricht unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen steht, wird tat­ sächlich jetzt sowohl nach selten der unterrichtlichen Behand­ lung wie auch nach feiten der Einprägung des Katechismus­ textes durchaus Befriedigendes geleistet. Sobald ein neuer Katechismusabschnitt behandelt wird, erscheint die dazu ge­ hörige Tafel und wird von den Kindern stets mit Interesse begrüßt. Der Streit der Methodiker, ob das Katechismus­ wort den Ausgangspunkt oder den Abschluß der unterricht­ lichen Entwicklung zu bilden hat, schlichtet sich spielend, in­ dem der Katechismustext mit seinen von vornherein den Kindern in klarster Gliederung entgegentretenden einzelnen Teilen lediglich die Überschriften zu den einzelnen Ab­ schnitten der sachlichen Behandlung unter die Augen rückt, ohne daß ein längeres vorgängiges verweilen bei den Katechismusbegrifien im ganzen und im einzelnen notwendig oder auch nur rätlich wäre. Daß die Einprägung eines den Kindern während einer längeren Reihe von Stunden man denke besonders an die Erklärungen zu den Glaubens­ artikeln - in eindrucksvoller Anordnung vor Augen hängen­ den Stückes sich geradezu automatisch, während der sachlichen Behandlung selbst, vollzieht und nur einiger Anregung, Nachhülfe und Kontrolle bedarf, leuchtet ohne weiteres ein.

Ich habe mich durch wiederholte Kontrolle überzeugt, daß der Katechismustext tatsächlich noch nach mehreren Jahren „fitzt". Und dabei ist doch dem größten Feind eines war­ men und lebendigen Katechismusunterrichts, der Ver­ wechslung zwischen Katechismusunterricht und Einpauken des Textes, die Wurzel abgeschnitten. Erwähnung verdient noch die bei einem den Kindern anschaulich vor Augen stehenden Katechismustext für den Lehrer vorhandene Bewegungs­ freiheit hinsichtlich der Art der Behandlung der einzelnen Textstücke - ohne daß doch darüber der Text selber zerfließt und den Kindern verloren geht.*) Die gemachten günstigen Erfahrungen, sowie wiederholte wünsche aus den Kreisen unterrichtender Praktiker haben mich veranlaßt, Herrn Verlagsbuchhändler Töpelmann in Gießen zur buchhändlerischen Herausgabe der Tafeln (Karten) zum l.und 2. Hauptstück in unterrichtstechnisch und ästhetisch einwandfreier Form anzuregen. Die beigefügten Verkleine­ rungen geben einen Eindruck von dem, was die Tafeln an anschaulicher und auch begrifflich klarer Darstellung des Textes zu leisten imstande sind. Sie dürften sich nicht nur für den Katechismusunterricht in Volks- und höheren Schulen, sondern auch für den kirchlichen Unterricht, speziell auch zum Aufhängen in kirchlichen Räumen für den Konfirmandenunterricht, eignen. Auf tadellose, schöne und leserliche Schrift und auf vorzügliche Qualität des verwandten Leinwandpapiers (Papyrolin) hat der Verleger besondern wert gelegt, so daß die Tafeln allen An­ sprüchen, auch hinsichtlich der Dauerhaftigkeit, gerecht werden. Friedberg i. h.

R. Eger.

*) Ganz besonderen wert dürften die Tafeln da haben, wo, wie etwa in viasporaklassen oder in wenig gegliederten Schulsystemen, disparates Schülermaterial am Uatechismusunterricht beteiligt ist, und da, wo die für das betr. Uatechismusstück zur Verfügung stehende Zeit beschränkter ist.

&L----------------------------------------------------------Der Schluß der Gebote.

Was sagt nun Gott von diesen Geboten allen? Er sagt also: Ich, der Herr, dein Gott, bin ein Listiger Gott, -er über die, so mich hassen, die Sünde der Sätet Heimsucht an den Kindern bis ins drstte und vierte Glied; aber denen, so mich lieben und meine Gebote halten, tue ich wohl in tausend Glied. Was ist das? Gott dräuet zu strafen alle, die diese Gebote übertreten; darum sollen wir uns fürchten vor feinem Zorn und nicht wider solche Gebote tun. Er verheißet aber Gnade und alles Gute allen, die solche Gebote hatten; darum sollen wir ihn auch lieben und verttauen und gerne tun nach feinen Geboten.

Der zweite Artikel. Von der Erlösung. Ich glaube an Jesum Christum. Gottes eingebornen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist vom heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria,

A

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gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, niedergefahren zur Hölle,

am dritten Tage wieder auferstanden von den 3 ausgefahren gen Himmel, Koten, sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Joon dannen er kommen wird i zu richten die Lebendigen und die Toten.

Was ist bas? Ich glaube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr, | der mich verlornen und verdammten Menschen 1 erlöset hat, erworben, gewonnen 1 Don allen Sünden, vom Tod und von der Gewalt des Teufels, | nicht mit Gold oder Silber, Tsondern mit seinem heiligen teuren Blut 1 und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben, aus daß ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, ^gleichwie er ist auferstanden vom Tode, lebet und regieret in Ewigkeit. Das ist gewißlich wahr.

Mitteilungen des Verlags von Alfred Töpelmann in Gießen Laut Verordnungsblatt für die ev. Landeskirche imGroßh. Dessen Mr. 1 Toorn 16.Dej. 19101

hat das Großh. t)ess. Gberkonfistorium die Katechismustafeln als Lehrmittel für den Katechismusunterricht in Volks- und höheren Schulen empfohlen und zugelassen, mit Zustimmung des

Großh. Ministeriums des Innern, Abt. für Schulangelegenheiten. Bezüglich der Kosten ist da-

bei bestimmt, daß dieselben im Allgemeinen, wie bei den übrigen Lehrmitteln, die Schule trägt; in Fällen, in denen es angebracht scheint, eine Beschaffung der Tafeln für den kirchlichen Unter-

richt zu erwirken, ist genehmigt, daß diese auf Kosten des örtlichen Kirchenfonds stattfinden kann.

Die Genehmigung zur Einführung der Tafeln in andern Landeskirchen und in den Schulanstalten anderer deutscher Staaten steht zu erwarten.

gflr den Reg.-Vez. Merseburg ist die Genehmigung bereits inzwischen erfolgt; vgl. Amtliches Schul­ blatt WO, Nr. N. Wo es die Verhältnisse bedingen, und besonders wo beschränkte Mittel den Rnkauf erschweren, dürfte die besorgende Handlung (gleich dem Verlage) bereitwillig Zugeständnisse hinsichtlich der Verrechnung machen (Ratenzahlungen, Verteilung auf zwei Rechnungsjahre).

Der Verlag erbietet sich zu jeder etwa noch gewünschten Ruskunft über die Tafeln und verschickt diesen Prospekt an alle, die ihr Interesse dafür kundgeben.

Ruch bittet der Verlag alle, die in den Ratechismustafeln ein wertvolles Hilfsmittel beim Unterricht er­ kennen, an ihrem weitern Rekanntwerden mitzuwirken und versendet auf Wunsch diesen Prospekt.

Umstehend Bestellschein.

Line gute Anleitung zur Behandlung des Katechismusunterrichts bietet Pfarrern und Lehrern die

Evangelische Iugendlehre Ein l)ülssbuch zur religiösen Iugendunterweisung nach Luthers Kleinem Katechismus (1. und 2. Hauptstück)

Professor

Großoktav VII U.370 S.

Kail Eger Dr. theol.,

Geh. IN. 4.80 Eeb. HL 5.50

Direktor des predigerseminars zu Friedberg in Dessen

(Einige hier abgedruckte Urteile mögen dartun. welch freudige Zustimmung zu seinem Luche der Verfasser allerorten gefunden hat. Der Zweck dieser „kalechelischen Skizze" ist Anleitung und Er­ ziehung der Pfarrer und Lehrer zu einer individuellen, auf die Bedürfnisse und Interessen der Kinötr gerichteten Behandlung der Katechismus. Die Schrift soll kein nor­ mativer Mu st er und keine bequeme oder vo11ständige Ma­ terialsammlung sein, sondern sie will in der Form von praktischen Beispielen, deren sklavische Nachahmung Eger selber als schimpflichsten Mißbrauch bezeichnet, auf die Schwierigkeiten aufmerksam machen, die der inneren Aneignung der Matechirmusgedanken bei Kindern hinderlich sind, und auf Stimmungen und Gedanken Hinweisen, die für Kinder im Vordergrund stehen, so leicht sie auch von theologisch ge­ schulten Erwachsenen übersehen werden. Man kann der Arbeit des geschulten Theologen und Pädagogen nur die weiteste Verbreitung wünschen, da hier durch die Praxis manch theoretisches Bedenken gegen die religiöse Fruchtbar­ keit des Katechismus unterricht» widerlegt und die Schwie­ rigkeiten glücklich überwunden sind.

Das Buch ist, wie alle», was Eger schreibt, gediegen und gründlich, und wird vor allem dem Anfänger, aber auch jedem, der Lust und Bedürfnis hat. seine Vorbereitung zum Katechismusunterricht einem Bad der Erneuerung zu unterziehen, empfohlen. .Württemberg. Sdjulmodjrnbtatf. Nicht Vorlagen zur bloßen Nachahmung sollen hier dargeboten, sondern es soll Anregung zum Nachdenken über die erfolgreiche Ge­ staltung de; eigenen Unterrichts gegeben werden. In diesem Sinn werden da; erste und da; zweite Hauptstück ihrem Wortlaut nach in strenger Gedankenarbeit und trefflicher praktisch-pädagogischer Aus­ führung behandelt. Man wird für den auf genauen Anschluß an den Katechismustert aufgebauten Unterricht nicht leicht eine gleich meisterhafte Anleitung finden. p. Ihr. 4l|ent)ans im .protehantenblatt*.

Ich wünschte wohl, daß da; Buch nicht nur in den Kreisen der Pastoren, sondern namentlich auch auf den Lehrerseminaren und in der Lehrerwelt die Beachtung finden möchte, die es verdient.

Oberlehrer Lic. £«op. 51 d) a r n a di (Vertin» im .