Homiletik: Eine evangelische Predigtlehre [Reprint 2010 ed.]
 9783110881264, 9783110131864

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Hans Martin Müller

Homiletik Eine evangelische Predigtlehre

W DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Müller, Hans Martin: Homiletik : eine evangelische Predigdehre / Hans Martin Müller. Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (De-Gruyter-Lehrbuch) ISBN 3-11-015074-3 brosch. ISBN 3-11-013186-2 Gb.

© Copyright 1995 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Diskettenkonvertierung und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin

Vorwort Die Predigtlehre hat in dem nun zu Ende gehenden Jahrhundert eine nicht geahnte Blüte erlebt. In dieser Zeit hat die öffentliche Rede durch eine früheren Epochen unvorstellbare Vielfalt von Kommunikationsmitteln Verbreitungsmöglichkeiten gefunden wie nie zuvor. Diese technisch zu erklärende Leichtigkeit, zu Wort zu kommen und Gehör zu finden, hat jedoch eher das unüberlegte Reden befördert und die Pflege der Sprache verkümmern lassen. Das gilt auch für die christliche Predigt. Dennoch hat die Mehrzahl der Prediger nicht vergessen, daß das persönliche Wort im Gegenüber zu urteilsfähigen, kritischen Hörern und in der Pflicht gegen den Auftrag der Kirche über den Fortbestand des christlichen Glaubens in unserer Zeit entscheidet. Diesen Predigern soll eine Predigtlehre helfen, zu diesem Wort zu finden. Wegweiser gibt es genug in der Geschichte der Predigt und ihrer Lehre, man muß sie nur zu finden und zu lesen wissen. Es genügt aber auch nicht, den Wegweiser gefunden und entziffert zu haben, den Weg muß man selber gehen. Die Homiletik stellt Kompaß und Landkarten bereit, schließlich auch Erfahrungsberichte derer, die anscheinend den Weg gefunden haben und gegangen sind. Mehr kann die Homiletik nicht tun, weniger darf sie nicht tun. Die hier vorgelegte Homiletik ist in diesem Sinne als Lehrbuch konzipiert: Es stellt in seinem historischen Teil die geschichtliche Entwicklung der homiletischen Theorie dar; in einem systematischen Teil sucht es den Ertrag dieser Entwicklung zusammenzufassen, wie er sich heute darstellt und wie er für die gegenwärtigen Aufgaben wirksam werden kann; in einem pragmatischen Teil endlich werden Versuche vorgestellt, diesen Aufgaben heute gerecht zu werden. So soll es vor allem Studenten und angehenden Predigern eine Hilfestellung bieten, sich auf diesem vornehmsten Praxisfeld des kirchlichen Amtes zurechtzufinden. Vielleicht entdeckt aber

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Vorwort

auch der eine oder andere geübte Prediger, wieviel er von den Gedanken der Vorväter gelernt hat und wie sehr er bis auf den heutigen Tag von ihnen zehrt, und macht sich bewußt, was er positiv und negativ in seiner Predigtarbeit erfahren hat und noch erfahren kann. Sola experientia docet, meinte Luther dereinst. Aber Lehren aus der Erfahrung muß man Dieben, wenn sie einem zur Lehre dienen sollen. Dazu möchte auch dieses Lehrbuch helfen. Es konzentriert sich dabei auf die evangelische Predigt im deutschen Sprachraum. Die Auffassung und Stellung der Wortverkündigung im Gottesdienst ist konfessionell und ökumenisch trotz mancherlei Annäherungen immer noch so unterschiedlich, daß diese Beschränkung im Blick auf den praktischen Wert einer Predigtlehre ratsam erschien. Ein Lehrbuch muß Bekanntes darstellen und damit wiederholen und zugleich zu weiteren eigenen Erkundungen anregen. Aus diesem Grund werden besonders in der Darstellung der Geschichte der Homiletik wichtige Schriften der homiletischen „Klassiker" in gebotener Kürze referiert. Dadurch soll auch eine Anregung gegeben werden, selbst zu den Quellen zurückzugehen. Um diesen Schritt zu erleichtern, habe ich die Zitierweise öfters gewechselt und dabei auch Übersetzungen oder modernisierte Wiedergaben der Quellentexte herangezogen. Der Kirchenhistoriker sollte sich daran nicht stoßen, sondern sich erinnern, daß die historische Arbeit in der Praktischen Theologie nicht Selbstzweck ist, sondern dadurch, daß sie das Interesse weckt, der Verbesserung der kirchlichen Praxis dienen will. Entstanden ist diese Predigtlehre aus der eigenen Praxis auf der Kanzel, in der Arbeit mit Studenten des homiletischen Seminars in Göttingen und Tübingen, im Austausch mit Vikaren des Predigerseminars Imbshausen und Predigern im Pastoralkolleg Freudenstadt. Ihnen allen habe ich zu danken. Besonderer Dank gebührt den Lehrern und väterlichen Helfern auf meinem Weg zur Predigt, vor allem Eduard Steinwand, Edgar Palion, Martin Doerne und Emanuel Hirsch, sowie den Kollegen in Tübingen, die mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben, zunächst Dietrich Rössler und KarlErnst Nipkow. Daß diese Predigtlehre nicht noch konservativer ausgefallen ist, als ihre Kritiker zu bemerken nicht anstehen werden, verdanke ich

Vorwort

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dem fruchtbaren Gedankenaustausch mit meinen jungen Mitarbeitern im homiletischen Seminar in Tübingen, neben anderen Antonia und Henry von Böse, Albrecht Beutel und Renate Kath. Am meisten habe ich aber vor allen anderen zu danken der bis zuletzt treuesten, aufmerksamsten und kritischsten Hörerin meiner Predigten, meiner Frau. Burgdorf, in der Passionszeit 1995 Hans Martin Müller

Inhaltsverzeichnis Vorwort

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Einleitung

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I.

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GESCHICHTLICHER TEIL

A. Die Anfänge Homiletische Spuren im Neuen Testament. Antike Redekultur und Rhetorik. Synagogaler Lehrvortrag. Populärphilosophische Diatribe. Apostolische Missionspredigt. Predigtcharisma und Predigtamt B.

C.

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Predigtlehre in der Alten Kirche 1. Altkirchliche Homiletik vor Augustin „Frühkatholizismus". Origenes. Taufpredigt. Chrysostomus. Predigt und pastorale Ethik 2. Augustins Predigtlehre De catechizandis rudibus: Inhalt und Hermeneutik der Taufkatechese. De doctrina christiana: Aufbau. Hermeneutik. Rhetorik. Bedeutung der Predigt . . .

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Predigt und Predigttheorie im Mittelalter Fortwirkung der antiken Redetradition. Missionspredigt: neue Aufgaben und Inhalte. Kreuzzugspredigt. Predigerorden. Artes praedicandi. Laienpredigt. Predigt und Mystik. Spätmittelalterliches Praedikantenwesen. Humanismus

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D. Die reformatorische Homiletik 1. Die Predigtlehre Luthers

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Inhaltsverzeichnis

a) Gottes Wort und mündliches Wort. Inneres und äußeres Handeln Gottes b) Predigt als Christuspredigt. Mündliches Wort als Medium des Evangeliums. Jesus Christus als Träger des Evangeliums, exemplum und sacramentum c) Schriftauslegende Predigt. Apostolizität. Scriptura sacra sui ipsius interpres. Schriftautorität . . . . Exkurs: Luthers Abwendung vom vierfachen Schriftsinn und die Neubegründung der Hermeneutik. . d) Gesetz und Evangelium in der Predigt. Zusammengehörigkeit und unterschiedliche Funktion. . e) Predigtarbeit als oratio, meditatio, tentatio. Das Gewissen des Predigers als Instrument der Predigt. Gebet, Meditation und Anfechtungserfahrung als lebendige Bewegung im Prediger. Luthers Predigtweise: biblisch, zentral, antithetisch 2. Reformatoren neben Luther Zwingli. Calvin: Bindung an die Schrift. Geisterfahrung. Inneres und äußeres Wort. Auswirkung auf die Praxis 3. Der Übergang zur Orthodoxie Melanchthon: Indiens tnahme der Rhetorik. Hyperius: Eigenständigkeit der Homiletik. Flacius: Hermeneutik. Gegenreformation

E.

Die Predigtlehre im Zeitalter von Orthodoxie, Pietismus, Aufklärung 1. Die altprotestantische Orthodoxie Stellung der Predigt im Gottesdienst. Schematismus. Usus-Lehre. Methodenstreit. Hauptmotive der orthodoxen Predigttheorie 2. Der Pietismus und die Homiletik Pietistische Kritik. Spener und Francke. Ausbildung zum Prediger. Kontroverse um den „frommen Prediger"

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Inhaltsverzeichnis

3. Die Homiletik der Aufklärung Verhältnis zur pietistischen Predigtauffassung. Demonstrationsverfahren. Formenlehre. Bengel. Semler: Akkommodationstheorie, öffentliche und private Religion. Einflüsse des Auslandes. Mosheim. Spalding. Reinhard. Rückblick F.

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Die Homiletik im 19. Jahrhundert 99 1. Die Predigtlehre Schleiermachers Stellung der Predigt im Gemeindeleben. Voraussetzungen: Neubestimmung der Religion. Predigt im christlichen Kultus. Stellung der Homiletik im theologischen Studium. Einzelprobleme. Schleiermacher als Prediger, Urteil der Nachwelt 100 2. Predigtlehren neben und nach Schleiermacher . . . 108 a) Nachwirkungen der Aufklärungshomiletik: Schott, Theremin 108 b) Vermittlungstheologische Predigtlehre: Schweizer, Nitzsch, G. Baur, Bassermann, Steinmeyer. . . . 109 c) Predigtauffassung der Erweckungsbewegung: allgemeine Lage, C. Harms, Tholuck, T. Christlieb 113 d) „Außenseiter": Vinet, Palmer, T. Harnack. P. Kleinert und der Ausklang der Homiletik des 19. Jahrhunderts 117

G. Die „moderne Predigt" Neue Aufgaben. Einfluß A. Ritschis. F. Niebergall: Predigtzwecke, Verhältnis zum Neuen Testament und zur Erfahrungswelt. Die Zukunft der Predigt. Spezielle Predigt: P. Drews, M. Schian. O. Baumgarten. Eigenart der liberalen Predigt

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H. Die Homiletik und die Dialektische Theologie . . . . 133 1. Der Streit um das Wesen der Predigt E. Thurneysen, K. Barth: Gottes Wort in Menschenmund. K. Fezer: Anthropozentrismus und Theozentrismus in der Predigt. Kritik (H. Faber) 134

XII

Inhaltsverzeichnis

2. Auswirkungen auf die Praxislehre Earths „Homiletik" und seine Lehre vom Worte Gottes. W. Trillhaas' „Evangelische Predigtlehre" unter dem Einfluß der Dialektischen Theologie 3. Seitenlinien H. Schreiner: Wortoffenbarung und Schöpfungsoffenbarung als Gehalt der Predigt. L. Fendt: Predigt als Amtsaufgabe, Ausrichtung auf die Reich-GottesVerkündigung. O. Haendler: Die Person des Predigers als Mittelpunkt der Homiletik. Einfluß der Tiefenpsychologie

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I.

Predigtprobleme der Gegenwart Nachwirkungen der Wort-Gottes-Theologie in der Hermeneutik: Bultmann, Ebeling. Bonhoeffers Erbe. E. Hirsch: Der Einzelne, Innerlichkeit, das Verhältnis des Menschlichen zum Christlichen. H. Urner. G. Wingren. Die „wirkliche Predigt": W. Trillhaas. D. Rössler. E. Lange: Funktion und Struktur des homiletischen Aktes, „Versprechen" von Überlieferung und Situation. R. Bohren. Die Wendung zu Einzelfragen der Homiletik . . . 157

II.

SYSTEMATISCHER TEIL

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Einleitung Verhältnis zur Dogmatik. Grundfragen und Aufbau der systematischen Homiletik

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A. Prinzipielle Homiletik 1. Der Grund der Predigt Christlicher Glaube und Sprache. Verhältnis zur Lehre vom Worte Gottes. Personaler Charakter des Glaubens. Predigt und Gespräch. Wort und Tat. Öffentlichkeit der Predigt 2. Der Gehalt der Predigt Sakramentaler Charakter der Predigt. Wirkung auf Herz und Gewissen. Gesetz und Evangelium in

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Inhaltsverzeichnis

der Predigt. Text und Situation. Sinn der Schriftbindung 3. Die Bedingungen der Predigt Missions- und Gemeindepredigt. Gottesdienstliche Situation. Das „homiletische Dreieck". Predigt als „Trialog". Der Prediger als Dolmetscher

B.

Materiale Homiletik 1. Allgemeine Erwägungen Gehalt und konkreter Inhalt der Predigt. Verhältnis und Bedeutung von Text und Situation. Textexegese und Situationsanalyse 2. Die homiletische Arbeit am Bibeltext a) Textfindung. Perikopenordnung. Kasualtexte. Mottopredigt b) Autorität des Textes auf dem Prüfstand der Predigt. Eigenes Recht des Textes. Geschichtliche Bedingtheit. Verhältnis zum Gesamtsinn der Bibel . c) Homiletische Bibelauslegung? Homiletisches und fachexegetisches Interesse. Unterscheidung von lehrenden und erzählenden Texten d) Erzählende Texte: Interpretierendes Nacherzählen. Beziehung auf die Mitte. Begegnungs- und Wundergeschichten. Evangelien als Hinführung auf Jesu Passion Exkurs: Die Predigt alttestamentlicher Texte . . . . e) Lehrende Texte: Parabolische und direkte Form der Lehre. Umsetzung in Anschauung. Konzentration auf das Zentrum. Paränesen: keine Morallehren, sondern „Alltagsliturgie". Gesetzespredigt: ihre Notwendigkeit, Hinweis auf die Vor-Gaben Gottes. Lehre und Lehrgesetz f) Kirchliche Lehre als Predigtgegenstand. Katechismuspredigt im Verhältnis zum Bibeltext: „Urgeschichte" als Veranschaulichung der Schöpfungslehre, Festtagspredigt als Auslegung des Glaubens-

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Inhaltsverzeichnis

bekenntnisses, Sakramente als Gegenstand der Lehrpredigt 232 3. Die theologische Auslegung der Situation 237 a) Text oder Situation als Ausgangspunkt der Predigtarbeit. Begriff der Situation. Ständepredigt, Hausstandspredigt. Widerspruch von Lebenserfahrung und Glaubenserfahrung. Grundsituation und Anfechtungssituation 237 b) Grundsituation und Kasualpredigt. Verhältnis zum Ritus. Gottesdienstliche Struktur der Kasualien. Textwahl. Taufe und Konfirmation. Trauung. Totenbestattung 243 c) Politische Predigt: Unterscheidung von Propaganda und Kerygma. Rücksicht auf die Mündigkeit der Gemeinde. Orientierung am biblischen Zeugnis 252 4. Die Verknüpfung von Text und Situation Predigt als „Verständigungsbemühung" nach E. Lange. Interdependenz von Schriftexegese und Situationsanalyse. Wirksamkeit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium 255 C.

Formale Homiletik 1. Zur Aufgabe der formalen Homiletik Formale Homiletik und Rhetorik. Ethische Indifferenz? „Naturgesetze" menschlicher Rede. Redegattungen und Aufgaben des Redners. Beziehungsgefüge der öffentlichen Rede. Gottesdienstliche Situation als Spezifikum der Predigtarbeit 2. Die Predigt als gottesdienstliche Rede a) Verhältnis von Predigt und Liturgie b) Die Lex orandi als „Verfassung" der Predigt. Gebundene und freie Form in der gottesdienstlichen Sprache zwischen Taufe und Abendmahl . . . . c) Predigt und ihre Sprache. Übersetzen und Dolmetschen. Instrumentaler und medialer Sprachgebrauch. Alltags Sprache und religiöse Sprache . . .

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Inhaltsverzeichnis

3. Das Beziehungssystem der Predigt a) Die Sache der Predigt und ihr Thema. Zentralgedanke. Leitmotiv. Erzählende Predigt. Selbheit, Einheit, Ganzheit der Predigt. Eigenrecht der Sache b) Der Hörer als Subjekt oder Objekt der Predigt. Psychische Mechanismen. Disparatheit der Gemeinde. Deutlichkeit und Verständlichkeit der Predigt im Blick auf den Hörer. Predigt als Dialog mit dem Hörer. Grenzen der dialogischen Form . . . c) Der Prediger als Dolmetscher. Seine „Ehrlichkeit" und „Menschlichkeit". Predigt und Seelsorge. Autorität des Predigers 4. Die formalen Einzelaufgaben der Predigtarbeit . . . a) Die „Aufgaben des Redners" als formaler Kanon für die Vorbereitung einer Predigt. Meditation als Spezifikum der Predigtvorbereitung b) Die Invention: Vom Text zur Predigt? Verhältnis von Exegese und Meditation nach Seitz und Lange. Meditationsregeln nach E. Hirsch c) Die übrigen munera rhetoris: Themafindung. Anordnung der Teile. Anfang und Schluß der Predigt. Wörtliche Konzipierung. Kontrolle der Sprache. Homiletisches Beweisverfahren. Beispiele und Erfahrungsberichte. Freier Vortrag und gottesdienstlicher Rahmen III. PRAGMATISCHERTEIL

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A. Die Predigt im Kirchenjahr 315 1. Das Kirchenjahr als homiletisches Strukturelement Religionsgeschichdiche und -phänomenologische Orientierung. Neue Einschätzung „heiliger Zeit" im Alten Testament. Ende der Gesetzes frömmigkeit im Neuen Testament: Kreuz und Auferstehung als Angelpunkt des Kirchenjahres. Kampfstellung christlicher Hochfeste . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1 5

XVI

Inhaltsverzeichnis

2. Kreuz und Auferstehung im Kirchenjahr a) Passion und Ostern: ihr dialektischer Bezug in Glaubenserkenntnis, Frömmigkeit und Predigt. Opfer und Zorn Gottes. Passionspredigt. Eschatologische Verknüpfung von Zeit und Ewigkeit . . b) Karfreitagspredigt: Meditation der Passionsgeschichte, Aufbau der Predigt. Epistolische und prophetische Texte zum Karfreitag c) Osterpredigt. Die Ostererscheinungen in Meditation und Predigt d) Österliche Freudenzeit und Pfingsten: Die „Polyphonic" der Pfingsttexte und -themen. Die Pfingstgeschichte als Predigtgegenstand. Der heilige Geist als Thema einer Lehrpredigt. Verknüpfung beider Motive 3. Advent, Weihnachten, Epiphanias Christgeburtsfeier, frömmigkeits- und dogmengeschichtlicher Zusammenhang a) Die drei Motive der Adventspredigt: Erwartung, Buße, Lobgesang b) Chancen und Gefahren der Weihnachtspredigt. Weihnachten oder Christgeburt. Epiphaniaszeit als „stille Zeit" 4. Die Feiertage der „festlosen Zeit" a) Lehrpredigt zum Trinitatissonntag und zum Gedenken der Reformation b) Seelsorgerliche Predigt zum Büß- und Bettag und zum Gedenktag der Entschlafenen

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B. Die Predigt zu typischen Texten und Anlässen . . . . 373 1. Die Predigt zum Erntedankfest und zum Jahreswechsel Mittelbare Beziehung der Feste zum christlichen Glauben. Verhältnis des Evangeliums zu Natur und Geschichte als Gehalt der Predigt 374

Inhaltsverzeichnis

XVII

2. Die Kasualansprache Vergewisserung und Orientierung im Lebenslauf als Skopus a) Sakrament als Zentrum der Taufansprache, Emanzipation und Selbstverantwortung in christlicher Freiheit als Thema der Konfirmationspredigt . . b) Die Traurede: Die Ehe als göttliche Vor-Gabe; ihre Annahme in christlicher Verantwortung c) Die Trauerrede und ihre Thematik: Irdisches Leben und die Tatsächlichkeit des Todes. Christlicher Ewigkeitsglaube als Grenzüberschreitung . . . . 3. Beispiele textgeleiteter Predigt a) Erzählende Texte: Hergang und Begegnung, Dialog und Maxime als homiletische Parameter. Das „Gefalle" des Textes. Alttestamendiche Erzähltexte b) Lehrende Texte: Mythus und Gleichnis als verborgene Lehrformen. Ihre Umsetzung in anschauliche Lehre c) Dogmatische Texte: Paränetische und strenger dogmatische Intention Anhang: Kirchenrechtliche Aspekte des Predigtdienstes

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Literaturübersicht

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Namenregister

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Bibelstellenregister

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Einleitung Die Homiletik als Theorie der Predigt ist wie die Praktische Theologie im ganzen eine verhältnismäßig junge Disziplin. Als terminus technicus taucht sie erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf. Der Sache nach ist sie freilich älter. Als ars praedicatoria, ars praedicandi oder oratorio, sacra versteht man sie als einen Spezialfall der Rhetorik, obwohl man sich der Unterschiede in der Art und Auffassung der öffentlichen Rede durchaus bewußt ist. Erst mit der Ausbildung einer Praktischen Theologie als einer Theorie der kirchlichen Praxis im 19. Jahrhundert wird auch die Homiletik zu einem festen Bestandteil der wissenschaftlich betriebenen Theologie. Ihren Ort in der theologischen Enzyklopädie gewinnt sie durch ihren Gegenstand, die Predigt. Ob sie ihren Platz innerhalb der theologischen Forschung und Lehre notwendig behaupten kann, hängt von der Stellung der Predigt im kirchlichen Handeln ab. Nur wenn die Predigt als unerläßlich für diese Praxis angesehen wird, gehört die homiletische Theorie mit Notwendigkeit zur theologischen Wissenschaft. Die Unerläßlichkeit der Predigt für die Praxis der Kirche ist nicht unmittelbar aus dem Kirchenbegriff abzuleiten, sondern zunächst geschichtlich begründet. Das gilt auch für das Kirchenverständnis der Reformation, wonach die Kirche die „Versammlung aller Gläubigen" ist, „bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden" (CA VII). Denn damit wird keine Wesensbestimmung gegeben, sondern lediglich beschrieben, daß die Kirche durch das Evangelium konstituiert wird: Wenn Kirche sein soll, muß das Evangelium laut werden. Freilich ist damit noch nicht gesagt, daß dies Lautwerden in Form der heute üblichen Kanzelrede zu geschehen habe. Vielmehr sind auch andere Formen der Kommunikation des Evangeliums ins Auge zu fassen, wie ja auch der Hinweis auf die Sakramente zeigt. Die Homi-

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Einleitung

letik hat auch darauf ihren Blick zu richten, wenn sie ihren Begriff und ihre Aufgabe eingrenzen und bestimmen will. Sie muß also zugleich historisch und systematisch vorgehen, wenn sie Begründung und Ausformung der Predigt in der kirchlichen Praxis bedenkt und ihre Theorie im Ganzen der Theologie entfaltet. Geschichtlich gesehen verdankt der chrisdiche Glaube seine Entstehung, Ausbreitung und seinen Fortbestand weder einem Ritus noch einem Kult oder einer sittlichen Observanz. Er beruht auch nicht auf einem Ideensystem, sondern auf einer „Botschaft", dem Evangelium von Jesus dem Christus. Es liegt im Wesen dieser Botschaft und in ihrer Zielrichtung auf den Glauben hin begründet, daß es durch Weitergabe von Person zu Person, also mit Hilfe menschlicher Sprache mitgeteilt und tradiert wird. Daß sich das Evangelium in Evangelienbüchern und in Form von Briefliteratur niederschlägt, ist ein sekundäres Phänomen. Man kann das Christentum nicht als eine Buchreligion im strengen Sinn verstehen. Jesus, der Träger des Evangeliums, hat nichts aufgeschrieben oder aufschreiben lassen. Wenn seine Geschichte und seine Wirksamkeit ohne sein Wort nicht denkbar sind1, dann ist dies Wort als Rede, nicht als Schrift zu verstehen. Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten wird von derselben Kommunikations for m bestimmt, wie schon Harnack in seinem gleichnamigen Werk deutlich macht: Die Dauer des Siegs des Christentums in der Geschichte ruht „auf einfachen Elementen: auf der Predigt von dem lebendigen Gott als dem Vater und auf dem Bilde Jesu Christi, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet".2 Die Aufgabe der Wortverkündigung ist den Aposteln, Propheten und Lehrern anvertraut. Sie sind „die von Gott gesetzten, das geistliche Leben der Gemeinden begründenden Prediger, und an sie schließen sich erst ... die Episkopen und Diakonen". Als „von Gott eingesetzte und der ganzen Kirche geschenkte Prediger" nehmen sie „den höchsten Rang" ein.3 1

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So ist es nicht nur aus theologischer, sondern auch aus religionsphänomenologischer Sicht. Vgl. M. Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, 2, 1987, S. 285 u.ö. A. v. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 4. A. 1924, ND 1980, S. 331. Ebd., S. 352 f.

Einleitung

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Die Stellung der Wortverkündigung und ihre Bedeutung für die kirchliche Praxis haben sich im Laufe der Christentumsgeschichte mannigfach gewandelt. Dennoch ist man immer wieder zu der einfachen Tatsache zurückgekehrt, daß der Glaube aus dem „Gehörten" und damit aus der „Predigt" kommt (Rom. 10, 17), die letztlich nichts anderes als diesen Glauben wecken will. Die Dialektik von Wort und Glaube ist es, die das Christentum von allen anderen Religionen unterscheidet. Daß neben der Predigt die Sakramente den christlichen Gottesdienst konstituieren, steht dazu nicht im Widerspruch. Sakramente sind eine besondere Gestalt des göttlichen Wortes und dadurch Träger des Heils. Als bloße Akte der Gottesverehrung oder als Übersetzung menschlicher Rede in eine andere Sinnessphäre verlieren sie ihren spezifischen Charakter als Gnadenmittel. Schon aus diesem Zusammenhang ergibt sich, daß das Wort Gottes nicht einfach mit der Predigt gleichgesetzt werden darf. Aber in der Predigt will das gleiche göttliche Wort lebendig werden wie in den Sakramenten. Der Begriff der Predigt darf so gesehen nicht auf die Kanzelrede beschränkt werden. Das göttliche Wort will auch in anderen Formen menschlichen Sprechens laut werden, so zum Beispiel im seelsorgerlichen Gespräch, in der Katechese oder in der Liturgie. Insofern hat Schleiermacher recht, wenn er die „gegenwärtig unter uns herrschende Form" der religiösen Rede, „wie wir sie eigentlich durch den Ausdruck Predigt bezeichnen, in dieser Bestimmtheit nur etwas Zufälliges" nennt.4 Aber das sagt noch nichts über ihre Bedeutung für die gegenwärtige kirchliche Praxis aus. Mag die Predigt als Kanzelrede auch „zufällig" entstanden sein, für unsere Zeit ist sie zur Erfüllung des Auftrags der Kirche das Evangelium zu verkünden, unersetzlich. Die Homiletik hat mit dafür zu sorgen, daß sie diesem Auftrag auch entspricht. Die geschichtliche Sicht reicht aber zur Bestimmung des Begriffs und der Aufgabe der Homiletik nicht aus. Sie bedarf als Teil der Theologie als Wissenschaft auch einer systematischen Begründung. In systematisch-theologischer Sicht hat der Dienst der Evangeliumsver4

Fr. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums ..., 1830, §284.

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Einleitung

kündigung nicht nur einen historisch zufälligen, sondern auch einen für die Existenz der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden notwendigen Grund in der göttlichen Stiftung („institutum est", sagt der 5. Artikel der Augsburgischen Konfession). Die Weitergabe des Evangeliums durch das mündliche Wort, von Person zu Person bringt den Charakter des Evangeliums als Zusage in einzigartiger Weise zum Ausdruck. Sie genügt sowohl dem Inhalt des Evangeliums als Zuwendung Gottes wie seiner Form als einer Erschließung des ganzen Menschen, wie er als Leib, Seele und Intellekt existiert. Die Mediatisierung der Anrede durch den Buchstaben, den Ritus und neuerdings durch die Tele-Elektronik machen deutlich, in welch hohem Maß das mündliche Wort in persönlicher unverstellter Begegnung allen anderen Kommunikations for men für die Mitteilung des Evangeliums überlegen ist. In ihrer kritischen Funktion hat die Homiletik darauf zu achten, daß diese Mitteilung ihrem Ursprung in der Zuwendung Gottes und ihrem Auftrag gemäß geschieht. Es ist ein Auftrag, der an die Kirche als ganze gerichtet ist. Die gesamte Gemeinschaft der Glaubenden ist also für die Erfüllung dieses Auftrags verantwortlich und damit wird die Verkündigung des Evangeliums zu einer öffentlichen, von allen mitverantworteten Aufgabe, die nicht der privaten Initiative allein überlassen werden kann. Auch dieser Aspekt der doctnna evangelü, ihre Verankerung in der Gemeinschaft, tritt in der Form der Kanzelrede besonders deutlich hervor. Die Predigtlehre wird sich also bemühen, auch den Öffentlichkeitscharakter und die öffentliche Wirksamkeit der Predigt zu betonen. Der Predigtdienst „auf der Kanzel" hat sich also als eine menschlich-geschichtliche Ausformung der göttlichen Stiftung herausgebildet. Als solcher ist er Gegenstand der Predigtlehre. Sie beschäftigt sich mit dieser zentralen und vielfältigen, aber nicht allumfassenden Gestalt der Kommunikation in der Kirche, die alle nicht ritualisierten Formen der an den öffentlichen Gottesdienst gebundenen menschlichen Rede zum Zweck der Dolmetschung des Evangeliums in sich begreift. Damit ist die poimenische und katechetische Gesprächsführung, die dem gleichen Zweck dient, kein eigentlicher Gegenstand der Predigtlehre. Daß nichtsdestoweniger eine gegenseitige Befruchtung zwischen diesen an die Sprache gebunde-

Einleitung

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nen kirchlichen Praxisformen und ein Austausch zwischen den damit befaßten wissenschaftlichen Disziplinen stattfindet, dürfte selbstverständlich sein. Die Predigtpraxis und die Homiletik als ihre Theorie stehen damit in Wechselwirkung. Die Praxis geht — nicht nur historisch — der Theorie zwar voraus, aber die Theorie wirkt kritisch auf die Praxis zurück. Das ist in der Darstellung der Homiletik zu entfalten. Ihre nächstliegende Aufgabe ist es, die Predigtpraxis als geschichtliches Phänomen zu erfassen, ihre historischen Umformungen nachzuzeichnen und die Voraussetzungen und Bedingungen zu kennzeichnen, unter denen diese sich vollziehen. Das aus der Geschichte gewonnene Gesamtbild muß sodann auf seine Stichhaltigkeit geprüft werden, indem man es auf die Prinzipien zurückführt, die für die eine Kirche gelten, die ihrem Ursprung und ihrem Auftrag treu bleiben will. Schließlich sind Kunstregeln zu entwickeln und zu erproben, die die Ausführung dieses Auftrages leiten können. Die Theorie der Predigt wird sich also phänomenologisch an der geschichtlichen Erscheinung und Entwicklung der Predigt, systematisch an der Lehre vom Worte Gottes und ihren Folgen für die kirchliche Praxis und pragmatisch an der Wechselwirkung von Theorie und praktischer Predigt orientieren. Auf dieser Basis ist die hier vorliegende Predigtlehre aufgebaut. In einem ersten Teil werden die Grundzüge der Predigttheorie in ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt. Es handelt sich also nicht um eine Predigtgeschichte, sondern um die genetische Entwicklung der die Predigtpraxis begleitenden Theorie. Begleitung heißt, daß die Theorie der Praxis das eine Mal reflektierend folgt, ein anderes Mal ihr normierend vorangeht. Im Laufe der Geschichte hat sich so ein Großteil der noch heute wirksamen Erkenntnisse herausgebildet. Die Predigttheorie tritt also in diesem Teil in ihrem Entstehungsprozeß vor Augen. Ein zweiter Teil versucht sodann, die genetisch entwickelte Theorie in ihrem systematischen Zusammenhang vorzuführen. Er orientiert sich dabei an der von Alexander Schweizer im vorigen Jahrhundert erstmals konsequent durchgeführten Dreiteilung in eine Prinzipienlehre, eine Lehre von den Predigtinhalten und eine Lehre von der Predigtform. Obwohl die Interdependenz vor allem von

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Einleitung

Form und Inhalt nicht von der Hand zu weisen ist, hat diese Einteilung den Vorzug der Übersichtlichkeit. Wiederholungen lassen sich dabei nicht ausschließen, sie erscheinen dann aber unter dem jeweils gewählten besonderen Aspekt. Der dritte, pragmatische Teil möchte an Einzelbeispielen aus Geschichte und Gegenwart zeigen, wie sich die Grundsätze und Regeln, die sich aus der historischen und systematischen Untersuchung ergeben haben, in der heutigen Predigtpraxis auswirken. Denn dieser Praxis will ja die gesamte Predigtlehre aufbauend und kritisch dienen. So sollte im ganzen ein gewissermaßen dreidimensionales Bild der Homiletik entstanden sein, in dem sich der genetische, der systematische und der praktische Aspekt ergänzen. Für sich allein genommen erlaubt jeder dieser Aspekte also nur eine bestimmte Sicht, die notwendig einseitig bleiben muß, auf die Predigtlehre. Das gilt besonders für den pragmatischen Teil, der ohne Klärung seiner Voraussetzungen nur begrenzten Nutzen für den Leser abwerfen wird. Der systematische Teil verleugnet nicht, daß er besonders an der reformatorischen Auffassung der Predigt ausgerichtet ist. Die Begründung dafür ist im geschichtlichen Teil gegeben, der also nicht Historic um ihrer selbst willen betreibt, sondern eine didaktische Absicht verfolgt. Er steht darum auch den anderen Teilen voran. Zugleich wird an ihm die Relativität aller Praxislehre, auch der heutigen, offenbar. Wir können heute vielleicht weiter sehen als unsere Vorväter, aber nur weil wir auf ihren Schultern stehen, und müssen obacht geben, dabei das Naheliegende nicht aus den Augen zu verlieren.

I. Geschichtlicher Teil „In der Entwickelung einer Ptedigttbeorie reflektirt sich erst allmählich die längst vorhandene homiletische Praxis und ringt nach wissenschaftlicher Selbsterkenntnis über die Gesetze ihres Vollzugs".5 So wahr dieser Satz auch ist — man wird nicht übersehen dürfen, daß es von den Anfängen der Predigtpraxis an bereits ein Nachdenken über Grund und Vollzug der Evangeliumsverkündigung gegeben hat. Auch wenn wir dies Nachdenken noch nicht als Wissenschaft in modernem Sinn bezeichnen können, darf die Theorie der Predigt daran nicht vorübergehen, sondern muß es in ihre Selbstreflexion aufnehmen. Zwar hat Schleiermacher recht mit seiner Behauptung: „Ausübung und Genuß (gehen) lange vorher, ehe die Anweisungen, wie das Werk anzufangen, und zu vollbringen sei, den engen Kreis der stillen vereinzelten Überlieferung des Meisters an den Schüler verlassen, und als zusammenhangende Lehre öffentlich ans Licht treten."6 Aber es ist nichtsdestoweniger nötig, diesen Prozeß der Bildung einer Predigtlehre in seinen Anfängen sich zu verdeutlichen. Diese Anfänge liegen im Neuen Testament selbst. Schon Paulus denkt über seine eigene Redegabe nach; die Reden der Apostelgeschichte zeichnen Idealtypen einer frühen Missionspredigt nach; der Brief an die Hebräer wird nach Meinung vieler Ausleger als Ausarbeitung einer frühen Gemeindepredigt aufgefaßt. In diesem Zusammenhang aber wird die Praxis selbst zum Gegenstand einer auch heute neu zu bildenden Theorie, und die Darstellung der Homiletikgeschichte muß deshalb immer wieder auf die Predigtgeschichte zurückgreifen.

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Christlieb, Art. Homüetik, RE 2. A., Bd. 6, S. 281. Schleiermacher, Einige Worte über die homiletische Kritik ... 1821, SW I. Abt. Zur Theologie, Bd. 5, S. 466

A. Die Anfänge Daß die Theorie der Praxis nachfolgt, zeigt sich besonders in der Homiletik der Alten Kirche, wo wir bis auf Chrysostomus und Augustin so gut wie keine ausführlicheren Reflexionen auf die Predigt kennen. Nun war aber die Verbreitung des christlichen Glaubens an die Verkündigung des Evangeliums vom Gekreuzigten und Auferstandenen gebunden, so daß man nicht daran vorbeigehen konnte, auch über das „Daß" und das „Wie" dieser Verkündigung nachzudenken. Spuren dieses Nachdenkens finden wir schon im Neuen Testament. Dabei ist der sog. Missionsbefehl nicht die einzige Spur. Zwar betont er, wenn er den Jüngern neben der Taufe die Lehre aufträgt, die Notwendigkeit der Predigt in welcher Gestalt auch immer. Aber schon in Mt. 10, 27 wird ausdrücklich die öffentliche Rede als Mittel der Ausbreitung des Evangeliums erwähnt, das sich nicht als Geheimlehre verstehen läßt. (Vgl. auch Lk. 12, 3; 16, 16; Joh. 8, 20). Der Sinn und das Verständnis der Gleichnisrede wird ausdrücklich erörtert. (Vgl. Mt. 7, 29; Mk. 4, 2.10 ff; Joh. 16, 25 ff). Die Vollmacht der Rede ist Gegenstand der Diskussion nicht nur in Bezug auf die Predigt Jesu (Mt. 7, 29; Lk. 4, 23; Joh. 3, 34; 8, 28.38), sondern auch bei Paulus (Rm. 15, 18, l.Kor. 2, 1-5). Eine „Homilie" führen uns die Jünger von Emmaus vor, denn sie „unterreden sich" ( ) auf dem Wege miteinander und mit dem Fremden, dessen Rede ihnen das Herz „brennen" läßt (Lk. 24, 14.32). Paulus wird ein Mangel an Redegabe nachgesagt, was ihn zum Nachdenken über die wahre, vom Geist getragene Wirksamkeit des Wortes Gottes in Menschenmund veranlaßt (2. Kor. 10, 10; 11, 6; Rm. 15, 18; 16,18; 1. Kor. 2,1-5; Kol 2, 4.8). Er stößt auf das Phänomen der Zungenrede und muß sich mit ihrer Hermeneutik auseinandersetzen (l.Kor. 14). Im Streit mit der Synagoge gewinnt die Gestalt des Schriftbeweises für ihn eine besondere Bedeutung. In ähnlicher Weise denkt er über die Tragweite von Vernunftgrün-

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den für die Evangeliumspredigt nach und macht auf die Dialektik von Wort und Glaube aufmerksam (Rm 10, 17; 2.Kor. 4, 13). AU diese Spuren reichen nicht aus, um daraus eine Homiletik des Neuen Testaments zu entwickeln. Aber sie führen uns zu den Wurzeln der Predigtlehre auch in heutiger Zeit und verdienen allein deswegen mehr Beachtung, als sie bisher in der Praktischen Theologie gefunden haben.7 Nicht nur der innere Zusammenhang von Glaube und Evangeliumsverkündigung veranlaßt uns, mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Anfänge zu achten, sondern auch die äußeren Bedingungen, unter denen die Ausbreitung des Evangeliums stattfand. Die christliche Mission traf auf Verhältnisse, die man als antike „Redekultur"8 bezeichnet hat. Sowohl die jüdische Religionsgemeinschaft mit der Synagoge als Gebets- und Lehrhaus wie auch die heidnische Zivilisation mit ihrer langen Tradition der öffentlichen Rede mußte dazu herausfordern, das Evangelium auch und vor allem lehr mäßig mit Hilfe der Sprache öffentlich zu propagieren. Die christliche Mission hätte in der römischen und hellenistischen Welt nur eine geringe Chance gehabt, hätte sie keine Rücksicht auf diese Redekultur genommen. Die antike Rhetorik hatte zudem eine ausgeführte Theorie der öffentlichen Rede hervorgebracht, die eine über viele Jahrhunderte reichende Wirkung auf die Predigttheorie ausübte. Auf diesem Hintergrund lassen sich auch die Grundzüge einer die Predigtpraxis begleitenden Reflexion lange vor Chrysostomus und Augustin nachzeichnen, selbst wenn man noch nicht von einer Predigttheorie sprechen kann. Das hat im vorigen Jahrhundert schon Paul Kleinert erkannt: „Der wachsthümliche Charakter des alten Kirchenlebens, der bei allem Drange zur Einheit doch dem freien Werden und Walten der verschiedenen Landes- und Sprachgeister weiten Raum und mannigfaltigsten Ausdruck gegeben, spiegelt sich auch in der ältesten Geschichte der christlichen Beredsamkeit. Aus 7

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Das Problem eines selbständigen Predigtgottesdienstes in der Alten Kirche hat neuerdings untersucht J. Chr. Salzmann, Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des chrisdichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten. WUNT 59, 1994. Rahn, Die rhetorische Kultur der Antike, in: Der altsprachliche Unterricht 10, 1967,5.23-49.

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verschiedenen Quellen flie en die Str me zusammen, welche schlie lich in der Leistung eines Chrysostomus und in der Theorie der christlichen Predigt, die Augustin in seinem (427 vollendeten) Buch de doctrina christiana niedergelegt, ihren Sammelpunkt gefunden haben, um von da aus wieder zu verrinnen und erst in den Jahrhunderten des Mittelalters durch neue Bildungen abgel st zu werden."9 Es ist allerdings auff llig, da die christliche Predigt zun chst nicht an die Schulrhetorik der Antike ankn pft, sondern sich aus anderen Quellen speist — auff llig, aber nicht unverst ndlich. Denn die Kunst der ffentlichen Rede im Altertum hatte drei Handlungsfelder, auf denen sie sich auswirken konnte, die ihren Sitz im Leben ausmachten und ihre Form bestimmten: den Gerichtshof, die Volksversammlung und die ffentliche Feier. An diesen Handlungsfeldern, die f r die christliche Predigt in der Regel keinen Raum boten, orientierte sich die antike Rhetorik als Theorie der ffentlichen Rede. Stil und Zielsetzung der Rede bestimmen sich von der Redesituation her. Die Gerichtsrede will die Wahrheit aufdecken und den Hergang kl ren; sie wendet sich an den Intellekt; ihre Form ist das docere, die lehrhafte, verst ndige Darlegung. Die politische Rede will in der Volksversammlung oder in einem anderen ffentlichen Gremium eine Entscheidung herbeif hren; sie wendet sich an die Entschlu kraft; ihre Form ist das movere, die Bewegung des Willens. Die Feierrede schlie lich will eine Gem tsbewegung (Trauer, Jubel, Begeisterung) erregen oder verst rken. Ihre Form ist das placere, die Erzeugung einer angemessenen Gem tslage, die mit „Wohlgefallen" nur unzul nglich wiedergegeben ist. Von diesen drei Aufgaben her lassen sich die griechischen Bezeichnungen dieser drei Redestile verstehen: das δικανικόν (von δίκη - Gerechtigkeit), das συμβουλευτικόν (von συμβουλεύω — beraten) und das έττιδεικτικόν (von έπιδείκνυμι — zur Schau stellen) γένος. 9

P. Kleinen, Abhandlungen und Vortr ge, 1889, S. 2 f. In der neutestamentlichen Forschung hat die Frage der „rhetorischen Situation" und der Bedeutung rhetorischer Stilmittel f r die formgeschichtliche Analyse neuerdings verst rkte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Vgl. J. Schoon-Jan en, Umstrittene .Apologien' in den Paulusbriefen, 1991, hier bes. die forschungsgeschichtlichen Partien.

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Es ist leicht zu begreifen, daß weder die Gemeindepredigt noch die Missionspredigt sich in die drei Redesituationen einordnen läßt und auch die dazu gehörenden Redestile für die Predigt letztlich nicht maßgebend sein können. Sie hat einen anderen Sitz im Leben und mußte von daher auch zu anderen Redeformen gelangen. Aber auch hier konnte sie sich auf Vorbilder stützen. Soweit wir sehen, hat sich die kirchliche Predigttradition an drei in der Gemeinde oder ihrem Umfeld verbreitete Formen der öffentlichen Rede angelehnt: 1. an den synagogalen Lehrvortrag (die derascha von drs — suchen, sich erkundigen; vgl. midrascK); 2. an den popularphilosophischen Vortrag (die diatribe, von — zerreiben; hier: sich die Zeit vertreiben, oder besser: mit „aufreibender" Beharrlichkeit Mühe an etwas wenden); 3. an das Vorbild der Apostel, vor allem ihre Missionspredigt. Natürlich handelt es sich bei allen drei Formen nicht um direkte Vorbilder, die von der Gemeindepredigt kopiert worden wären, aber doch um Traditionen, über die sie sich bei der Ausbildung ihrer Form nicht hinwegsetzen durfte, an denen sie sich vielmehr orientieren konnte. Mit dem Lehrvortrag der Synagoge teilt die christliche Predigt den Charakter der Schriftauslegung und eine praktisch-ethische Ausrichtung. Das Ziel des Synagogenvortrags war es, den heiligen Text „den Zuhörern einzuprägen und für die praxis pietatis im täglichen Leben anzuwenden".10 Die Synagogenpredigt ist aus dem Targum hervorgegangen, der Übersetzung des hebräischen Lesetextes in freier (!) Rede. Sie wurde im Laufe der Zeit immer aufwendiger ausgestaltet. Dabei bildete sich auch ein Predigerstand heraus, der nicht immer mit dem Rabbinat identisch war. Angesehene Prediger lehrten vielfach mit leiser Stimme und bedienten sich dann eines „Ausrufers" für das Volk.11 Ob diese Situation Mt. 10, 27 schon vorausgesetzt ist, wissen wir nicht. Die für den Synagogenvortrag charakteristische Kasuistik hat nur in ganz beschränktem Maß Eingang in die christliche Predigt gefunden. Dagegen wurde die Methode des Schriftbeweises einschließlich der dabei angewendeten 10

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A. Niebergall, Die Geschichte der christlichen Predigt, in: Leiturgia II, 1955, S. 191. G. Stemberger, Das klassische Judentum, 1979, S. 104-107.

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Hermeneutik mit ihrer Allegorese und Typologie angeeignet, wenn auch mit gegensätzlicher Zielsetzung. Die Diatribe war ein popularphilosophischer „Vortrag im Gesprächston". Er bot Lebenshilfe, Lebensberatung im umfassenden Sinn auch für die weniger gebildeten Zeitgenossen. Armut, Krankheit und Tod, Selbstbeherrschung und Erhebung über das Leiden waren u. a. die bevorzugten Themen12, die die Nähe zur kynischstoischen Philosophie verraten. Allerdings bedienten sich auch andere Philosophenschulen dieser Kommunikations art. Metaphorik und Gleichnisrede, Dichterzitate und Wortspiele sind Stilmittel der diatnbe, die auch im Neuen Testament verwandt werden. In der Areopagrede der Apostelgeschichte (17, 22 — 31) haben wir ein Beispiel vor Augen. Daß Paulus hier als «; als verlotterter Schwätzer abgetan wird, zeugt von dem geringen Ansehen, in dem die philosophischen Wanderprediger bei den gebildeten Zeitgenossen standen. Wenn auch keine Rede davon sein kann, daß die christliche Predigt auf derascha und diatribe zurückzuführen ist, konnte sie diese beiden verbreiteten Formen der öffentlichen und halböffentlichen Kommunikation nicht außer Acht lassen, sondern mußte sich mit ihnen abfinden und auseinandersetzen. Zum Synagogenvortrag trat die Missionspredigt der Apostel so in ein kritisches, zum populärphilosophischen Vortrag in ein Konkurrenzverhältnis. Über diese dritte Wurzel der altchristlichen Predigtpraxis, der apostolischen Missionspredigt, wissen wir wenig. Die Apostelgeschichte bietet zwar ein Reservoir an Predigtbeispielen, allerdings nicht in authentischer, sondern in stilisierter Form. Es fragt sich aber, ob es nicht schon in der Frühzeit eine „Predigttheorie" in Form von Musterpredigten gegeben hat, die die Apostelgeschichte ihren Stilisierungen zugrundelegen konnte.13 Auf jeden Fall mußte man sich schon in der Anfangszeit darüber klar geworden sein, daß die Missionspredigt bei Juden und Heiden verschiedene Ansatzpunkte und verschiedenes Anschauungsmaterial erforderte. Darüber sagt die Apostelgeschichte nur wenig aus. Aus dem Verhältnis der apostolischen Mis12 13

Vgl. Art. Diatribai, KP 2, S. 1577 Vgl. J. Roioff, Die Apostelgeschichte, NTD, Bd. 5, 1981, S. 49-51.

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sionspredigt zu derascha und diatnbe können wir aber trotz des unzulänglichen Materials Grundzüge für die frühchrisdiche Predigt erheben. Es sind dies vor allem ihre christologische Mitte und ihre pneumatische Grundlage. Daß die Zeugnisse des Alten Testaments mit der Methode des Schriftbeweises auf den gekreuzigten und auferstandenen Jesus von Nazareth hin ausgelegt werden, unterscheidet die apostolische Predigt vom Synagogenvortrag und bringt sie ihm gegenüber in ein kritisches Verhältnis. Hier liegt auch, wie J. Roioff feststellt, die Verknüpfung der frühen Missionspredigt mit der Verkündigung Jesu selbst: „Während seines irdischen Wirkens hatte Jesus seine Umkehrforderung mit der Ansage der von ihm vollmächtig repräsentierten Nähe der Gottesherrschaft, des befreienden endzeitlichen Handelns Gottes, verbunden (Mk. 1,15). Nach Karfreitag und Ostern konnten Heilsangebot und Umkehrforderung Israel gegenüber nicht mehr unter Absehung von Jesu Geschick vertreten werden; alles hing davon ab, ob es gelang zu zeigen, daß Jesus und seine Verkündigung nicht durch das Kreuz widerlegt waren! Entscheidenden Stellenwert hatten dabei die Auferweckung Jesu und seine Erhöhung zu Gott. Durch sie ist Jesus endgültig ins Recht gesetzt und die Umkehrforderung legitimiert worden. Nicht Gott hat Jesus widerlegt, sondern die Jerusalemer Juden und ihre Führer haben, indem sie ihn töteten, ihren Ungehorsam erwiesen. Deshalb gibt es für Israel nur noch eine Möglichkeit, zum Heil zu kommen, nämlich jetzt vor dem unmittelbar nahen Ende umzukehren zu Gott im Glauben an Jesus".14 Die christologische Mitte der frühchristlichen Predigt läßt sich also vorläufig als die Verschmelzung von Wort und Geschichte Jesu mit dem Kerygma vom Gekreuzigten und Auferstandenen kennzeichnen. Sie bestimmt den Charakter der christlichen Predigt und bringt sie in Gegensatz zur Lehre der Synagoge. Der Konflikt gewinnt an Schärfe dadurch, weil beide, die Missionspredigt und der Synagogenvortrag sich auf die gleiche Textgrundlage, das Alte Testament, berufen und sich der gleichen Auslegungsmethode bedienen. Sie beruhen auf der nicht historischen, J. Roioff, aaO. S, 51.

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sondern „allegorischen" Deutung alter, geheiligter Texte. Diese hermeneutische Methode war jedoch weder eine jüdische noch eine christliche Spezialität, sondern allgemein geübte Praxis der antiken Kultur, die erkenntnistheoretisch vor allem im Neuplatonismus begründet war, aber auch der Tora-Auslegung geläufig. l.Kor. 9, 7 ff. findet sich ein sprichwörtlich gewordenes Beispiel: „Du sollst dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden". Dies wohl als Tierschutzbestimmung gedachte Gebot aus Dt. 25, 4 wird von Paulus allegorisch ausgelegt mit der Begründung: „Sorgt sich Gott etwa um die Ochsen, redet er nicht vielmehr um unsertwillen?" Das ist das Auslegungsprinzip, das im Platonismus erkenntnistheoretisch untermauert wird: Die Ideenschau der alten Weisen sei in Mythen und „Fabeln" überliefert, die durch Auslegung nach allgemeinen Regeln dem Volk in Lebensgrundsätze verwandelt werden müßten. Der Theologe erzählt Göttergeschichten, verbleibt also im Narrativen; der Philosoph aber legt sie als Hermeneut aus und überführt sie in eindeutige Aussagen, die der Lebenspraxis dienlich sind. Grundsätzlich ist die Schriftauslegung der Synagoge davon nicht unterschieden, nur ihre erkenntnistheoretische Grundlage ist eine andere. Die Bedeutung der allegorischen Auslegung für die christliche Predigt wird uns noch öfter begegnen. Hier muß nur darauf hingewiesen werden, daß die christologische Mitte der Predigt in der Auslegung des Alten Testaments keineswegs von der Auslegungsmethode abhängig ist. Die Mitte stand für den christlichen Prediger von vornherein fest; die Auslegungsmethode teilte er dagegen mit seiner heidnischen und jüdischen Umwelt. Während die christologische Mitte das kritische Verhältnis der christlichen Predigt zur derascha der Synagoge bestimmt, ist es der pneumatische Grund, der sie von der philosophischen diatribe scheidet. Nicht Weisheit und Redekunst trägt die apostolische Verkündigung, sondern der Geist Gottes. Die beiden ersten Kapitel des 1. Korintherbriefs belegen dies ebenso eindrucksvoll wie die Pfingsterzählung der Apostelgeschichte. Wie ist dieser pneumatische Grund aufzufassen? Darüber ist auch deshalb gründlicher nachzudenken, weil das Verhältnis der Predigt zum heiligen Geist zu allen Zeiten in der Predigttheorie eine große Rolle gespielt hat und kontrovers behandelt worden ist.

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Seit dem Pfmgstwunder pflegt man „pneumatisch" mit „ekstatisch" gleichzusetzen. Daß dies falsch ist, läßt sich von Paulus selbst lernen. In 2. Kor. 12 muß er sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, es mangle ihm nicht nur an Redekunst, sondern auch an beweiskräftigen ekstatischen Erlebnissen. Paulus läßt keinen Zweifel daran, daß die Geistbegabung, das Charisma, die Voraussetzung der rechten christlichen Predigt ist. Aber diese charismatische Voraussetzung ist für ihn nicht an ekstatische Erlebnisse oder an Erscheinungen gebunden, steht vielmehr gelegentlich dazu in einem kritischen Verhältnis. In der Homiletik pflegt man diese Thematik wenig zu beachten und sie der Lehre vom kirchlichen Amt zu überlassen. Da die Gemeindeleitung historisch wie sachlich aber nicht vom Verkündigungsdienst getrennt werden kann, muß auch eine homiletische Besinnung die Bedeutung des Charismas für die Predigt beachten. Unter Charisma versteht das Neue Testament in der Regel kein absolut außergewöhnliches, gar ekstatisches Phänomen. Vielmehr handelt es sich bei den Charismen zunächst um allgemein bekannte Fähigkeiten wie etwa Redegabe, Führungskraft, Opfersinn. Sie werden von der christlichen Gemeinde als geschenkte, nicht erworbene Gottesgaben erkannt, deren sich der Christusgeist zugunsten der Gemeinde bedient. Indem die Gemeinde sie im Geist anerkennt und sie damit „in Dienst stellt", werden sie verwandelt: „Sie nützen nun nicht mehr ihrem Träger, sondern bauen die Gemeinde als Leib Christi auf, sind zu Wirkmitteln des Geistes geworden. Auch wenn keine Rangordnung aufgestellt wird, steht unter diesen erbauenden Wirkmitteln das Wort in einer eindeutigen Zentralposition. Das spezifische Charisma, das die Gemeinde im Heiligen Geist erbaut, ist die Predigt des Evangeliums."15. Die dazu nötige Begabung setzt nicht die wunderbare Übermittlung besonderer Fähigkeiten voraus, sondern ihre Indienstnahme durch den Herrn. Die Einzelcharismen, die in Bezug auf die Predigt genannt werden, sind die Glossolalie, die Prophetie und die Didaskalie. Die Zungenrede ist nach Paulus nicht von sich aus Geistesgabe zur Er15

H. M. Müller, Predigt als Charisma. In: Tr. Rendtorff (Hsg), Charisma und Institution, 1985, S. 442.

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bauung der Gemeinde, sondern dient der Selbsterbauung des Glossolalen. Erst die bersetzung macht sie f r die Gemeinde fruchtbar. Man k nnte hierin eine Analogie zum heidnischen Orakelspruch erblicken, der z. B. in Delphi erst durch einen priesterlichen prophetesy einen Aus-sprecher, bersetzt werden mu te. Man hat sich immer wieder bem ht, den Dienst des Propheten von dem des Lehrers zu unterscheiden: „W hrend die Lehrer die Schrift auslegen, die berlieferung von Jesus pflegen und die Glaubenss tze des Katechismus auslegen, reden die Propheten, ohne an Schrift und Tradition gebunden zu sein, allein auf Grund von Offenbarungen zur Gemeinde. Die διδασκαλία ist die Belehrung, die προφητεία Anrede in die praktische Situation hinein." Es wird dann weiter gefolgert, das eine Amt proklamiere die Gottesherrschaft und verk nde „die gro en Taten Gottes in Jesus Christus", das andere richte „den Willen Gottes mit der Welt und mit den einzelnen Glaubenden aus."16 Diese angenommene Arbeitsteilung scheint f r das Neue Testament h chst unwahrscheinlich. Schon die Paulusbriefe zeigen, da sich zumindest in der Person des Apostels beides vereinigt, die Lehre und die Prophetic, die Verk ndigung des Evangeliums und die Par nese. Wie soll auch die Gottesherrschaft ausgerufen werden, ohne da zugleich der Wille Gottes an die Gemeinde und den einzelnen Glaubenden ausgesprochen wird? Wie soll ein Prophet in „die praktische Situation hinein" reden, wenn er sich nicht an der Schrift oder an einem Herrenwort ausweisen kann und mu ? Da vom Sachgehalt her προφητεία und διδασκαλία unterschieden werden k nnen, ist indes nicht von der Hand zu weisen. Eine analoge Unterscheidung kennt der Synagogenvortrag, wenn hier halakha und haggada auseinandergehalten werden. Auch die diatnbe enthielt nicht nur vern nftige Lehre, sondern befa te sich vielfach mit der Propagierung von Aberglauben und Aberwitz, wie sich schon an der Reaktion der Athener Apg. 17 ablesen l t. Man kann sich vorstellen, da auch in der christlichen Predigt berlieferte Lehre und gegenw rtige Weisung auseinandertreten konnten. Das machte es dem Propheten und dem Lehrer aber erst recht zur Pflicht, den Zusammenhang zwischen beiden herzustellen, was wohl nicht im16

G. Friedrich, Art. προφήτης κτλ. ThWNT VI, S. 856.

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mer gelang. Angesichts dieser Lage lassen sich die beschwörenden Worte verstehen, mit denen Paulus die Korinther darauf hinweist, daß alles Reden und Tun in der Gemeinde durch den einen Geist gewirkt sein sollte. Hinter diesem Konflikt steht ein bis heute virulentes homiletisches Problem, die Annahme eines Gegensatzes zwischen „geistgewirkter" und „amtlicher" Rede. Ein solcher Gegensatz ist aber alles andere als plausibel. Denn erst wenn man die als geistgewirkte und die als vernunftgemäße Lehre unsachgemäß von einander scheidet, kann man auf den Gedanken kommen, eines Tages sei der Geist aus der Gemeinde gewichen, so daß man sich nach „allgemein gültigen Kriterien" umsehen mußte, „an denen man den falschen Propheten erkennen kann".17 In Wirklichkeit aber wich nicht der Geist aus den Gemeinden, sondern die ekstatischen Erscheinungen wurden in ihrer Zweideutigkeit problematisiert oder wurden abgestoßen. Daß dieser Prozeß nicht ohne schwere Erschütterungen ablief, ist sicher. Dabei ist aber die Unterscheidung der Geister selbst immer als Charisma angesehen worden, und „allgemeingültige Kriterien" wären in der Gemeinde nie und nimmer anerkannt worden, wenn man sich mit ihnen nicht gleichzeitig hätte auf den Geist berufen können. Die Konsolidierung der Gemeindeverhältnisse im zweiten Jahrhundert war nicht durch ein Verschwinden der Charismen provoziert, sondern stellte eher den Versuch dar, die charismatische Struktur zu verstetigen. Was als Gabe Gottes mit befreiender Wirkung in der Missions situation erlebt worden war, sollte der Gemeinde über die Zeiten hinweg erhalten bleiben. So bildete sich das Lehramt, der Kanon heiliger Schriften und die regula fidei heraus. Sie sind Erscheinungen ein und desselben Vorgangs, die auch das Verständnis der christlichen Predigt in der Folgezeit entscheidend mitgeprägt haben.

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Ebd. S. 858.

B. Predigtlehre in der Alten Kirche l. Altkirchliche Homiletik vor Augustin Während die enthusiastischen Strömungen, die die Kirche immer wieder an ihren charismatischen Ursprung erinnern wollten, den Geistbesitz an bestimmte Erscheinungsformen banden, etwa an die Glossolalie oder andere ekstatische Phänomene, suchte die entstehende Großkirche ihn im kirchlichen Amt zu verrechtlichen. Man faßte diesen Versuch lange Zeit mit den parallel laufenden Bemühungen um die Kodifizierung der Glaubensgrundlagen unter der wenig schmeichelhaften Bezeichnung Frühkatholizismus zusammen. Er hat im großen und ganzen der Kirche die Stellung in der Öffentlichkeit gesichert und ihr eine dauerhafte Organisation ermöglicht. Damit wurde die Kirche vor einer Auflösung in einem konturenlosen Synkretismus einerseits, vor einer Marginalisierung als esoterische Sekte andererseits bewahrt. Auch für die Predigt und ihre Bedeutung in Gemeinde und Mission hatte diese Entwicklung eine gewisse Tragweite. So band man den Geistbesitz an eine geordnete Amtsübertragung durch Weihe. Wenn diese sich auch in erster Linie auf die Sakramentsverwaltung auswirkte, so war sie doch nicht ohne Bedeutung für das Recht und die Pflicht zur Gemeindepredigt. Grundlage der rechten Predigt wird der lehramtliche Auftrag und die Bindung an den heiligen (kanonischen) Text. Die Predigt kann so nicht als eine freie pneumatische Schöpfung verstanden werden, sondern als Äußerung des in den Aposteln wirksam gewesenen Geistes. Ihre Verkündigung hatte sich in den prophetischen und apostolischen Texten niedergeschlagen und wurde nun durch das apostolische Amt weitergegeben. Der Geist der Apostel sollte sich gleichsam nachprüfbar in der Predigt aussprechen. Die Schriften der Apostel werden als „inspiriert" dem Alten Testament gleichgeachtet. Neben den Schriftbeweis aus dem Alten Testament tritt so das

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B. Predigtlehre in der Alten Kirche

Zeugnis des neutestamentlichen Kanons. Die Auslegung der Schrift ist Sache der allgemeinen, also der Großkirche, die durch das bischöfliche Amt spricht und sich mit Hilfe der apostolischen Schriften legitimiert. Der Prediger muß sich also auf die Schriftauslegung verstehen, er muß anerkannter und autorisierter „Schriftgelehrter" sein. Auch der Hörerkreis wandelt sich in dieser Zeit. Neben den Gemeindegliedern aus den unteren sozialen Schichten finden sich in stärkerem Maß Gebildete, die nach einer Vermittlung des apostolischen Kerygmas in ihre geistige Welt hinein verlangen und auch höhere Ansprüche an die Sprachgewalt des Predigers stellen. Die wachsende Zahl von Taufbewerbern benötigt Unterricht; er wird in Predigtform erteilt und erfordert eine systematische und didaktische Aufbereitung der Lehre. Es entstehen an den Zentralorten Katechetenschulen, die wie in Alexandrien eine Ausbildung der Prediger nach den Maßstäben der zeitgenössischen Wissenschaft anbahnen. Neben der Kenntnis von Kirchenlehre und der Heiligen Schrift vermitteln sie dem „Lehrstand" Hermeneutik und Rhetorik. Der „erste namentlich genannte und individuell zu erfassende Prediger der Kirche"18 in dieser durch Amt, Kanon und Theologie bestimmten Periode der Predigtgeschichte ist Origenes (185 — 254). Er erkannte als einer der ersten, „daß das Christentum über das soziale und kulturelle Getto, in dem es bislang verblieben war, hinauskommen mußte, um sich den vielen primitiven und vor allem auch intellektuell anspruchsvollen Attacken entziehen zu können, denen es dauern ausgesetzt war. Und dazu gehörte, daß sich das Christentum mit Hilfe von Bildung und Wissenschaft dem Anspruch der philosophischen Vernunft an den Glauben gewachsen zeigte".19 So stellt Origenes zunächst als Lehrer, dann auch als Prediger der christlichen Predigt die Aufgabe, die großen Themen der christlichen Lehre der Bildungswelt seiner Zeit zu vermitteln. Dadurch ist er eine prägende Kraft für die christliche Verkündigung geworden trotz des Streites, in den er mit seiner Theologie verwikkelt wurde. 18 19

A. Niebergall, aaO., S. 214 f. K. Pichler, SdKV Bd. 6, 201 f.

1. Altkirchliche Homiletik vor Augustin

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Seine Umstrittenheit speiste sich nicht aus dem Vorwurf mangelnder Texttreue oder aus dem Zweifel an seinen theologischen Fähigkeiten, sondern aus dem Problem der Amtsvollmacht. So hat man den origenistischen Streit „das erste berühmte Beispiel einer Rivalität und eines Konflikts zwischen der freien, nicht amtlichen Vollmacht eines unabhängigen ,Lehrers' mit der Autorität der über ihm stehenden kirchlichen Behörde" sehen wollen. Entscheidend sei dabei „die Frage nach der rechtlichen Stellung der origenistischen Schule im Verhältnis zur Lehrgewalt des Apostolischen' Bischofs" gewesen.20 Da sich Origenes dem Bischof Demetrios von Alexandrien nicht unterwerfen wollte, wurde er nicht zum Presbyter geweiht und durfte infolgedessen im Gottesdienst nicht predigen. In Jerusalem ließ man ihn trotz der Proteste des Demetrios zum Predigtamt zu und weihte ihn schließlich zum Presbyter. Das trug ihm Verbannung und Verketzerung durch die Alexandriner ein. Wir haben also gleich beim ersten großen Prediger der Alten Kirche den sich in der Geschichte der Kirche wiederholenden Streit um das Predigtrecht und die Bedeutung des Bischofsamtes für die „amtliche" Verkündigung vor uns. Bis auf den heutigen Tag ist der kirchenrechtliche Rahmen für das Verständnis und den Vollzug der Predigt von nicht geringer Bedeutung; denn hier stoßen die persönliche Verantwortung des Predigers für seine Predigt zusammen mit der gemeinsamen Verantwortung der Kirche und Gemeinde für die rechte Lehre. Daß letztere sich im Bischofsamt symbolisiert und schließlich konzentriert, ist in der Geschichte der Predigt immer wieder auf Kritik gestoßen. Das Lehrgebäude des Origenes ist Gegenstand der Theologieund Kirchengeschichte und nicht unmittelbar der Homiletik. Nur soviel gehört hierher: Es ist Origenes gelungen, die Grundthemen des Christentums der Bildungswelt seiner Zeit zu vermitteln und zugleich die Probleme, die das geistige Leben seiner Zeit beherrschten, für die Predigt fruchtbar zu machen. Die Frage nach der Unsterblichkeit und nach dem Verhältnis von Leib, Seele und Geist auf dem Hintergrund einer Metaphysik, die die Ideenwelt von der Sinnenwelt trennt, wird nun auch Predigtgegenstand. Von der Theo20

So H. v. Campenhausen, Griechische Kirchenväter, 1955, S. 55.

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B. Predigtlehre in der Alten Kirche

logic werden diese Themen auf dem Grund des biblischen Zeugnisses verhandelt und beherrschen weithin das Denken und die Verkündigung der Kirche im Osten. Dazu brauchte man aber eine Hermeneutik, die in der philosophischen Tradition verwurzelt war und die für diese Fragen „sperrigen" biblischen Texte aufschließen konnte. Diese von Origenes maßgebend mitgestaltete Hermeneutik sollte auf lange Zeit die kirchliche Lehre beherrschen. Bis über die Reformation hinaus gilt die allegorische Auslegung der Bibel als die eigentlich geisdiche, theologische Methode für den Umgang mit der Heiligen Schrift als eines Offenbarungszeugnisses. Diese Auslegung wurzelt in einem erkenntnistheoretischen Grund, der im Neuplatonismus mit einer groß angelegten Metaphysik verbunden wird. So weisen Weltauffassung und Hermeneutik eine analoge trichotomische Struktur auf: Gott als „Das Eine" emaniert zunächst die Ideenwelt, die im sensus spiritualis durch den voüg erkannt wird, sodann die Willens- und Sinnenwelt, die im sensus moralis der zugänglich ist, und schließlich als unterste Stufe die Materie, die sich im sensus Hieraus dem vermittelt. In diesem Zusammenhang ist die Leistung des Origenes zu würdigen. Origenes hatte den gleichen philosophischen Lehrer wie Plotin, der Begründer dieses neuplatonischen Systems, nämlich Ammonius Sakkas, einen ehemaligen Christen, der sich durch das Studium Platos beeinflußt später vom Christentum abgewandt hatte. Origenes versucht sozusagen im Gegenzuge das philosophische System dem Christentum zu vermählen. Er übernimmt die hermeneutische Methode der allegorischen Mythendeutung der Philosophie, wendet sie auf die biblischen Schriften an und baut sie für die schriftauslegende Predigt weiter aus: „So wie der Mensch aus Körper, Seele und Geist besteht, so hat die Schrift drei ähnliche Ebenen, die von Gott selbst zum Heil der Menschen so eingerichtet wurden. Die Ebene des Körpers entspricht der des Buchstabens, dem sensus literalis. Er wendet sich an jene, die noch Kinder in ihrem seelischen Leben sind und Gott noch nicht als ihren Vater kennen. Durch den sensus literalis wird Erbauung vermittelt. Die seelische Ebene wird erreicht, wenn eine Stelle in einer bestimmten, nicht buchstäblichen Anwendung auf die Hörerschaft interpretiert wird. ... Schließlich findet eine spirituelle Interpretation statt, wenn wir in einer Stelle

l. Altkirchliche Homiletik vor Augustin

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die wesentlichen Wahrheiten des christlichen Glaubens erkennen. Da die ganze Bibel inspiriert ist, findet sich überall der geistliche Sinn, der sensus spiritualis. Origenes war überzeugt, daß vieles in der Schrift überhaupt nicht im Literalsinn interpretiert werden könne. Solche sonst unverständlichen Schriftstellen enthalten Metaphern oder Figuren, damit sie allegorisch interpretiert werden sollen".21 Diese von Origenes oder / /3 genannten Redeformen sind nach seiner Auffassung vom Heiligen Geist selbst als „Stolpersteine" in die Schrift eingestreut worden, damit man nicht durch buchstabengetreue Auslegung von den göttlichen Gegenständen abgelenkt wird, wie Origenes im 4. Buch „De principiis" ausführt. Nun weiß Origenes, daß die allegorischen Verstehens formen viele Deutungen, auch Fehldeutungen ermöglichen. Aber das stört ihn nicht. Für ihn enthält die inspirierte Schrift mehr Sinn, als Menschen in Ewigkeit auszuschöpfen vermöchten. Der Geist Gottes hat viele Weisen, sich zu offenbaren. Seine Weisheit ist ohnehin in menschlicher Sprache nicht faßbar, sondern wird nur mit dem inneren Sinn geschaut. Diese Schau kann nach Origenes im Schriftstudium auch durch den Irrtum hindurch angeregt und befestigt werden. Die durch Origenes begründete Hermeneutik, auch wenn sie heute vielfach als skurril empfunden wird, hat die christliche Predigt letzten Endes an die Schriftauslegung gebunden und vor Erstarrung in bloßer Rezitation heiliger Texte bewahrt. Die Allegorese, die uns seit der Kritik der Reformatoren oft nur als loses Spiel erscheint, hat zu ihrer Zeit eine geistige Auseinanderetzung mit der Bibel ermöglicht, die damit Basis der Predigt geblieben ist. Erst als das neuplatonisch beeinflußte Weltbild ins Wanken geriet und zusammenbrach, mußte ein neues Verhältnis von Schrift und Predigt gewonnen werden. Das geschah erst langsam im Zusammenhang mit der Entwicklung eines historischen Bewußtseins zu Beginn der Neuzeit. 21

G. A. Kennedy, Classical Rhetoric and Its Christian and Secular Tradition from Ancient to Modern Times, 1980, S. 138f. Übersetzung vom Vf.

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B. Predigtlehre in der Alten Kirche

Die homiletische Situation in der Alten Kirche ist durch die gottesdienstliche Predigt einerseits, durch die Lehrpredigt vor Taufbewerbern andererseits gekennzeichnet. Da die Taufbewerber zusammen mit getauften Christen an der sog. Katechumenenmesse teilnahmen, können beide Predigtformen nicht strikt voneinander geschieden werden. Die Öffnung der christlichen Predigt zur antiken Bildungswelt ließ nicht nur die intellektuellen und formalen Anforderungen an die Predigt wachsen, sondern bedeutete zugleich eine weitere Öffnung zur Rhetorik als dem Vermittlungsinstitut weltlicher Bildung. Diese Entwicklung vollzog sich aber aus einer ambivalenten Grundhaltung heraus, die auch immer wieder Grenzziehungen und Abwehrbewegungen hervorrief. Die Taufkatechese22 sollte die Taufbewerber motivieren, sich von der heidnischen Glaubens- und Lebenswelt zu lösen, sie in die Liturgie einführen und damit den Gegensatz der zum heidnischen Opfergottesdienst einschärfen und in diesem Zusammenhang die zur heidnischen Morallehre kontroverse Ethik des Christentums vermitteln. Ganz ähnliche Aufgaben stellten sich auch der Gemeindepredigt, in der die Befestigung der Glaubenslehre einschließlich der Abwehr von Häresien hinzukam. Die Predigt gewann damit einen apologetischen Zug, der eine allzu einfache Verschmelzung des christlichen Glaubens mit der Philosophie und Weltanschauung der Zeit verhinderte. Diese zwiespältige Haltung gegenüber der antiken Bildung beherrschte auch noch das konstantinische Zeitalter, in dem die Zahl der Taufbewerber immens zunahm und die Differenz des christlichen Glaubens zum Zeitgeist schwieriger zu bestimmen war. Während auf der einen Seite so die Bildung als nebensächlich angesehen und die rhetorischen Künste kritisiert wurden, bedienten sich die Prediger ihrer gleichwohl in unterschiedlichem Maß. Die Kunst der öffentlichen Rede hatte zwar seit dem Ende der römischen Republik ihre politische und gesellschaftliche Funktion weitgehend eingebüßt, in der Predigt gewann sie nun aber 22

Einen leicht zugänglichen, ausgezeichneten Einblick in die Taufvorbereitung durch Katechesen gibt H. Lietzmann, Geschichte der alten Kirche, Bd 4, 1944, S. 93 ff. mit der Schilderung der Taufkatechesen des Kyrill von Jerusalem, die um 350 in der Grabeskirche gehalten wurden.

1. Altkirchliche Homiletik vor Augustin

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neue Bedeutung. Der Rhetorikunterricht hatte ohnehin den Untergang der Bürgerfreiheit als „Instrument der gehobenen Allgemeinbildung" überdauert.23 Seine Vielseitigkeit zeigt das Lehrbuch Quintilians auf eindrucksvolle Weise.24 Das Studium der Rhetorik diente als Einführung in Philosophie und Literatur, in die Kunst des gelehrten Diskurses und des literarischen Ausdrucks und war so auch für Prediger, Kontroverstheologen und Apologeten unerläßlich. An dieser Stelle muß für den Osten ein Prediger genannt werden, der sich auch gelegentlich zu homiletischen Problemen geäußert hat: Johannes Chrysostomus (ca. 350—407). Zwar ist es übertrieben, ihn einen Theoretiker der Predigt zu nennen, aber er hat sich doch als erster über die Predigt als Teil des priesterlichen Dienstes ausführlicher Gedanken gemacht. In seinem frühen Werk (Über das Priestertum) finden sich zahlreiche Hinweise pastoralethischer Art zur Predigtaufgabe. Chrysostomus meint, die Kraft Wunder zu wirken, sei in der Kirche erloschen. Deswegen stünde dem Prediger neben der guten Tat nur noch das Wort als Mittel zu Verfügung, die Seelen vom Verderben zu erretten. Grundlage für die Wirksamkeit des Predigtwortes ist für ihn das Wort Christi selbst. Dennoch bedarf der Prediger der Redefertigkeit, die durch Ausbildung einer Naturanlage erreicht werden könne. Den Einwand, der Apostel Paulus habe die Beredsamkeit nicht hoch eingeschätzt (2. Kor. 11,6), läßt Chrysostomus nicht gelten: Der Prediger darf sich nicht mit dem Apostel vergleichen, der auf Grund seines besonderen Charismas auf die Redegabe nicht angewiesen war. Allerdings solle sich der Prediger insofern ein Beispiel an Paulus nehmen, als dieser allen überflüssigen Redeschmuck vermieden und den einfachen Ausdruck gewählt habe. Diese Einfachheit des Ausdrucks sei aber nicht naturgegeben, sondern nur durch harte Arbeit an sich selbst zu erreichen. Dabei solle gerade der Begabtere den größeren Fleiß aufbringen, weil von ihm mit Recht eine höhere Leistung erwartet werde als vom Minderbegabten. Der Prediger darf sich auch nicht durch Lob oder Tadel der Menge beeinflussen las23 24

M. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, 1984, S. 65. Neuausgabe mit dt. Übersetzung durch die Wiss. Buchgesellschaft 1972.1975

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B. Predigtlehre in der Alten Kirche

sen, vielmehr sei ihm Mut zur Unpopularität vonnöten. Die Unabhängigkeit von der Menge erreiche der Prediger vor allem durch Selbstkritik und durch Aufmerksamkeit: Weil er der Hirte aller ist, muß er „nach allen Seiten tausend Augen" haben.25 Chrysostomus' Ausführungen zeigen, daß im Mittelpunkt der Predigervorbildung nicht die Redekunst selbst stand, sondern ihre Einbettung in strenge, seelsorgerlich bestimmte Vorschriften über die Lebensführung und die innere, ethisch verankerte Disposition eines Priesters. Ähnliches hatte der klassischen Rednerausbildung mit ihrem Ideal des vir bonus dicendipentus zwar nicht gefehlt, aber es gewinnt bei Chrysostomus doch zentrale Bedeutung und christliche Färbung. Soweit man es beurteilen kann, ist Chrysostomus als Prediger seinen eigenen Maximen gefolgt. Vor allem die Rücksicht auf den Beifall der Menge, auch die Rücksicht auf die Mächtigen waren ihm trotz der gesuchten Brillanz im Ausdruck fremd. Auch seine politischen Predigten verlieren ihre seelsorgerliche Abzweckung nicht aus den Augen. Berühmt sind seine sog. „Säulenpredigten" anläßlich der Unruhen in Antiochien, als die aufgebrachte Bevölkerung die Kaisersäulen gestürzt hatte und Repressalien befürchten mußte. Chrysostomus hat damals zur Buße und zur Unterwerfung geraten — nicht aus Hörigkeit gegenüber dem Kaiser, sondern um der Gemeinde einen Halt zu geben. Als Bischof von Konstantinopel hat er sich mutig gegen die politischen Machthaber gestellt, wenn er es für richtig hielt, und seine unbeugsame Haltung schließlich mit der Verbannung und dem Leben bezahlt. Luther hat sich bekanntlich negativ über Chrysostomus geäußert, der ihn durch seine Weitschweifigkeit enttäuscht hatte, als er ihn anläßlich seiner Vorbereitung auf die Vorlesung über den Hebräerbrief 1517 las. Zwanzig Jahre später urteilt er über ihn in einer Tischrede: „Credo Chrysostomum, summum rhetorem, habuisse auditorium copiosum, sed sine fructu docuisse. Nam docere debet esse primum et principale officium praedicatoris, ut ad rem argumenta et summa rei respiciat et auditorium erudiat; hoc facto tunc apte potest rhetoricari et exhortari".26 Für Luther ist hier das Rheto25 26

Über das Priestertum 111.12. Nr. 3975, August 1538, BoA 8, S. 209.

2. Augustins Predigtlehre

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rische gleichbedeutend mit äußerem Redeschmuck, den er bei Chrysostomus ebenso wahrnimmt wie seine Neigung zur Mahnrede. Das gefällt zwar dem Publikum, ist aber nach seiner Meinung nicht Hauptaufgabe des christlichen Predigers, der sich ganz der „Sache" und ihrer verständigen Darbietung hingeben soll.

2. Augustins Predigtlehre Augustin (354 — 430) hat die christliche Redepraxis als erster einer gründlicheren theoretischen Betrachtung unterzogen. Sein Einfluß auf die weitere Entwicklung der Predigtgeschichte bis in die Reformationszeit hinein ist beträchtlich gewesen. Die hier in Frage kommende Hauptschrift ist das aus vier Büchern bestehende Werk „De doctrina christiana", mit dem wir uns ausführlicher beschäftigen müssen. Dem heutigen Leser zugänglicher ist die kleine Schrift „De catechizandis rudibus", die man jetzt auf die Zeit kurz nach 404 datiert.27 Dies Büchlein ist keine Katechetik im heutigen Sinn, sondern eine Zusammenfassung von homiletischen Ratschlägen an einen verzagten Prediger, dessen Aufgabe die in Predigtform erteilte elementare Taufkatechese war. Die sog. Konstantinische Wende hatte insofern Auswirkungen auf die Predigtpraxis, als die Zahl der Taufbewerber sprunghaft gestiegen war und darum auch die Taufkatechesen stark vermehrt werden mußten. Sie konnten nicht mehr vom Bischof allein gehalten werden, sondern wurden auch Diakonen übertragen. In seinem Büchlein erteilt Augustin einem solchen von seiner Aufgabe überforderten Diakon namens Deogratias Ratschläge zur Gestaltung der Predigt vor den rüdes, den Anfängern im Glauben. Anders als in seinem homiletischen Hauptwerk spricht der Bischof hier mit feinem psychologischen Gefühl zu einem Mann, der nicht Rhetorik studiert hat. Ziel der Predigt vor den Anfängern im 27

In neuer deutscher Übersetzung: Vom ersten christlichen Unterricht, SdKV Bd. 7, 1985.

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B. Predigtlehre in der Alten Kirche

Glauben ist einmal die Vermittlung der heiligen Geschichte in Form der narratio und sodann die Hinführung zu einem christlichen Lebenswandel durch Einprägen derpraecepta. Augustin hat seinen praktischen Ratschlägen, zu denen unter anderem die Rücksicht auf den Bildungsstand und gesellschaftlichen Rang der Hörer und seelsorgerliches Zartgefühl zu zählen sind, zwei Musterkatechesen zum Thema „Über das wahre Glück" beigegeben. Sie folgen dem vorher festgelegten Aufriß. Nach einem Vorgespräch über die Motivation der Hörer und dem Hinweis, daß nicht weltliches Vergnügen, sondern Gott selbst, der in Christus erschienen ist, das wahre Glück bringt, wird im modus narrationis die Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zur Gegenwart dargelegt: Auf fünf alttestamentliche Zeitalter (Schöpfung bis Sintflut, Noah bis Abraham, Abraham bis David, David bis zur babylonischen Gefangenschaft, Babylon bis Jesus) folgt als sechstes und letztes das gegenwärtige von der Erscheinung Jesu Christi bis zu seiner Wiederkunft. Danach werden im modus praeapiendus et exhortatus die Auferstehungshoffnung, die Versuchungen des Christenlebens und die christliche Lebensführung behandelt. Recht ausführlich beschäftigt sich Augustin mit der Person des Predigers, dem er Hilfen bei Anfechtungen und bei dem von diesem geäußerten Überdruß an der Monotonie der eigenen Predigt zuteil werden läßt. Die für seine Hermeneutik so wichtige Unterscheidung von res und signum macht Augustin seinem Diakon in einfacher Weise am Beispiel des Salzritus klar. Im Aufnahmeritual bei der Taufe folgte der obsignatio enteis die bischöfliche Handauflegung und die datio saus, bei der dem Täufling eine Prise Salz auf die Zunge gegeben wird. Dazu sagt Augustin, das Sichtbare sei nur Zeichen für das göttliche Heilsgeschehen. Dieses sei unsichtbar und benötige ein Sichtbares zu seiner Darstellung. Durch die Segenshandlung werde die sichtbare Materie geheiligt und sei nun anders als im Alltagsgebrauch geistlich zu verstehen. Deogratias soll dem Taufbewerber sagen, „was die durch das Salz sinnbildlich dargestellte Würzung bei ihm bewirkt. Bei dieser Gelegenheit wollen wir ihn noch einmal daran erinnern, jedesmal, wenn er sogar in den heiligen Schriften etwas hört, was fleischlich klingt -selbst wenn er den Sinn nicht erkennt-, daran zu glauben, daß damit sinnbildhaft etwas Geistiges bezeichnet

2. Augustins Predigtlehre

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ist, etwas, was sich auf die heilige Lebensführung und das zukünftige Leben bezieht".28 Die Allegorese als hermeneutische Methode ist also für Augustin wie schon für Origenes kein geistvolles selbständiges Spiel mit Worten und Begriffen, sondern wird konsequent aus seiner theologischphilosophischen Grundanschauung heraus entwickelt. Diesen Zusammenhang stellt er in dem vierteiligen Werk „De doctrina christiana" dar, bei der es sich also nicht um eine Homiletik im engeren Sinn handelt. Vielmehr gibt Augustin hier dem gebildeten Leser einen Einblick in die christliche „Lehrweise", wie wir doctrina hier besser übersetzen, und ihre beiden Modi: „modus inveniendi quae intelligenda sunt, et modus proferendi quae intellecta sunt". (1,1) Die inventio behandelt er zunächst 396/7 in drei Büchern, denen erst dreißig Jahre später die Ausführung des modus proferendi, die eigentliche Homiletik also, als viertes folgt. Wir haben hier den ersten Versuch einer systematischen Darstellung des christlichen Lehrvortrags, wie man die Predigt auch bezeichnen kann, vor Augen. In den ersten drei Büchern bietet Augustin eine christliche Hermeneutik in neuplatonischer Färbung, im vierten eine Lehre von der Predigt in Anlehnung an die Rhetorik der Spätantike und in Auseinandersetzung mit ihr. Das vierte Buch hat man bald isoliert tradiert, obwohl es ohne die ersten drei nicht hinreichend zu verstehen ist. Es beherrschte in dieser Form die mittelalterliche Lehre von der Predigt im Westen. Hrabanus Maurus (gest. 856) vermittelte es hier der Klerikerausbildung. Als erstes Werk Augustins ist es 1456 unter dem Titel „De arte praedicandi" im Druck erschienen. Von dem lutherischen Reformprediger Kaspar Hedio erstmals ins Deutsche übersetzt, erschienen alle vier Teile des Werks 1532 in Straßburg unter dem Titel „Augustini des heyligen Bischofs IV Bücher von christlicher Leer". Im ersten Buch geht Augustin auf die Erkenntnislehre ein. Wichtigstes Moment ist ihm die philosophische Unterscheidung von res und signum und die theologische von uti und frui Deo. Res und signum unterscheiden sich durch ihre Selbständigkeit. Res bedeutet sich selbst und existiert „an und für sich". Als Beispiele nennt Augustin „Stein", „Holz", „Vieh". Solche Dinge (res) können aber auch 28

c. 50, SdKV Bd. 7, S.

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B. Predigtlehre in der Alten Kirche

als Zeichen (signa) auftreten, wenn sie nicht sich selbst, sondern etwas anderes bedeuten: So der Stein, den Jakob am Jabbok unter sein Haupt legt (Gen. 28,11); der Holzstab, den Moses am Bitterwasser ins Wasser wirft (Ex. 12, 25); das Schaf (Vieh), das Abraham anstelle Isaaks opfert (Gen. 22,13). Alle Wörter der Sprache sind signa, nämlich signa sonantia; für sich selbst bedeuten sie nichts, obwohl ihre akustischen Laute auch als res aufgefaßt werden können. Diese erkenntnistheoretische Unterscheidung verbindet Augustin nun mit der theologischen von uti und frui Deo. Frui bedeutet, einer Sache um ihrer selbst willen in Liebe anhängen; uti dagegen, sie zu einem außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck benutzen, also um etwas anderes mit ihrer Hilfe zu erlangen. Da es nun die höchste Bestimmung des Menschen ist, Gott um seiner selbst willen zu lieben und den Nächsten um Gottes willen, ist diefruitio Dei höchste Erfüllung des Menschseins. In ihrer Vollendung ist aber auch die Nächstenliebe eine fruitio; denn den Nächsten um Gottes willen zu lieben, unterwirft ihn nicht einem fremden Zweck, sondern stellt ihn in den Zusammenhang mit der höchsten Bestimmung des Menschen. Auf dem Wege zu diesem Ziel kennt Augustin allerdings auch Zwischenstufen, die einen usus rerum et hominum erlauben. Ziel der christlichen Lehre in Schriftauslegung und Predigt ist, die Menschen zu diesem Ziel der fruitio Dei zu führen, in der sich Erkenntnis und Sittlichkeit zu einer Einheit verbinden. Die Wörter der Heiligen Schrift sind in diesem Prozeß die signa, die auf die res, den höheren Sinn, verweisen. Letztlich kann dieser nur durch den Heiligen Geist erkannt werden. Um aber diese Hilfe des Geistes zu erlangen, ist Askese nötig, die Übung der Gottes- und Nächstenliebe und die Bekämpfung der Eigensucht, die den Nächsten als Mittel zum Zweck braucht. Askese allein genügt freilich nicht, es ist auch wissenschaftliche Methodik erforderlich, um die signa der Schrift richtig zu deuten. Wenn die alten Predigtlehren sich also so oft pastoralethischen Themen zuwenden, stehen sie in der Tradition dieses Zusammenhangs von aszetischer Spiritualität und wissenschaftlicher Methodik.29 29

Vgl. den Hinweis R. Seebergs auf den „Voluntarismus" in Augustins Frömmigkeit und Theologie, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd.II, 1923, ND 1965, S 416-437.

2. Augustins Predigtlehre

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Diese Methodik behandelt Augustin im zweiten Buch, wobei er durchaus auch „heidnische Künste" der Schriftauslegung dienstbar macht, so die Kenntnis der Sprachen, der fremden wie der Muttersprache30, und Sachkunde. Die notitia rerum erfordert Kenntnisse der Zahlensymbolik und der Musik (die zehn Saiten des Psalters werden z. B. mit den zehn Geboten in Verbindung gebracht). Geschichtskenntnisse sind nötig, um den ordo temporum zu verstehen. Dialektik, Logik und Rhetorik gehören zur Vorbildung des Predigers ebenso wie Kenntnis von Maßen und Gewichten. Dagegen sollen schädliche Künste, wie die Zukunftsdeutung aus den Sternen, gemieden werden, auch überflüssige, wie die Schauspielkunst. Die septem artes liberales, die Voraussetzung der mittelalterlichen Klerikerausbildung waren, sind hier schon vorgezeichnet. Der Kleriker mußte im Trivium die auf Sprachbeherrschung zielenden Fertigkeiten im Studium der Grammatik, Dialektik und Rhetorik lernen, im Quadrivium die zum Weltverständnis nötigen Künste der Arithmetik, der Musik, der Geometrie (dazu gehörte historische Länderkunde!) und Astronomie. Auf diesen freien, nicht zweckgebundenen Künsten baute das Studium der Heiligen Schrift, der kirchlichen Lehre und des Kirchenrechts auf. In Augustins Theorie gewinnen diese zunächst als zufällige Anhäufung von Kenntnissen und Fertigkeiten erscheinende Studieninhalte ihre innere Begründung und ihren Zusammenhang. Im dritten Buch entwickelt Augustin die eigentliche Hermeneutik: die Lehre von der Erkenntnis der wahren Heilsgüter, die in den Worten der Schrift „ent-deckt" werden müssen, indem man von den Zeichen der Sprache zum Sachgehalt des Heils vordringt. Augustin geht hier auf die ambigtiitas der Sprache ein, auf ihre Mehrdeutigkeit hinsichtlich Aussprache und Bedeutung, und erörtert ihre Übersetzungsmöglichkeiten. Dann erläutert er den servittts, die Knechtschaft der Juden und Heiden unter den Buchstaben. Wer dem Buchstaben verfallen ist, erkennt den wahren Sinn, die res, nicht. Den Juden dient diese Knechtschaft zum Heil, sie werden durch diesen Zuchtmeister zum Heil erzogen. Den Heiden dient sie zur Verblen30

„Contra ignota signa propria magnum remedium est linguarum cognitio". (II, 9.41)

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B. Predigtlehre in der Alten Kirche

düng, sie können nur durch Umkehr zum wahren Verständnis des inneren Sinnes der Schrift kommen. Die Allegorese bzw. die Figuraldeutung ist die Methode, mit der man den wahren Sinn hinter den Buchstaben erkennen kann. Freilich kann sie nicht willkürlich angewandt oder dem Spiel der Phantasie überlassen werden. Augustins Grundregel lautet: „Et iste omnino modus, ut quidquid in sermone divino neque ad morum honestatem, neque ad fidei veritatem proprie referri potest, figuratum esse cognoscas". (III. 10.14) Was also im Wortsinn (proprie) weder auf die Verbesserung der Sitten noch auf die Glaubenswahrheit bezogen werden kann, soll in seiner figurativen Bedeutung erkannt werden. Zur honestas morum gehört alles, was der Gottes- und Nächstenliebe dient, zur veritas fidei alles, was die Erkenntnis Gottes und des Nächsten fördert. Zugespitzt könnte man also sagen, daß die lebensdienliche und glaubensfördernde Aufgabe der Predigt hier zum Prinzip der Hermeneutik wird. Freilich reichen Augustins Regeln nicht, um ein willkürliches Ausufern der Auslegung zu verhindern. Im Mittelalter werden so weitere Kriterien entwickelt. Nach Thomas darf nur solches in der allegorischen Auslegung erhoben werden, was anderswo in der Schrift durch den Literalsinn belegt werden kann. Festzuhalten bleibt aber, daß Augustin im gesamten Auslegungsvorgang ein geistliches Geschehen sieht, dem man sich nur in aszetischer Haltung nähern kann und das dazu dient, in tieferes geisdiches Verstehen und Verhalten hineinzuführen, in die Liebe Gottes und des Nächsten durch die Erkenntnis Gottes und des Nächsten. Dies geistliche Geschehen ist aber in vernünftigen Regeln aufweisbar, wie z. B. in der Beachtung des Kontextes und des Generalskopus. Sie werden ergänzt durch theologische Bestimmungen, die u. a. die Unterscheidung von Gesetz und Verheißung nach dem Antagonismus von Spiritus und litera oder die ständige Rücksicht auf die Entsprechung von Jesus Christus und seiner Kirche betreffen.31 31

Hier greift Augustin auf die sieben Regeln des Tyconius in dessen Liber regularum zurück. Nach G. Ebeling handelt es sich dabei um „Hinweise auf heilsgeschichtliche Strukturen des Schriftinhaltes als Schlüssel zu dessen Verständnis". (Art. Hermeneutik in RGG 3.A., Bd. III, Sp. 249.

2. Augustins Predigtlehre

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Waren die ersten drei Bücher sozusagen der Vorbereitung auf die homiletische Aufgabe gewidmet, so das vierte dem modus proferendi oder der eigendichen Homiletik. Dabei lehnt sich Augustin an die antike Rhetorik, vor allem an Cicero an, sieht aber auch die Unterschiede. In der christlichen Beredsamkeit soll die sapientia die eloquentia regieren. Darum ist ihr Hauptbestreben die Klarheit, nicht der Redeschmuck. Allerdings braucht sie die Anmut der Rede nicht zu verachten. Vorbild sind für Augustin die biblischen Schriftsteller selbst. An ihnen kann man sehen, daß „die Weisheit aus der Brust des Weisen wie aus ihrem Hause hervortritt, und daß ihr wie eine unzertrennliche Dienerin auch ungerufen die Beredsamkeit folgt".32 Der Anklang an den älteren Cato ist unüberhörbar: Rem tene, verba sequuntur. Die clantas der Predigt beruht auf der claritas scripturae. Wenn die Schrift Dunkelheiten enthält, so ist dies kein Zufall: die Bibel will den Leser dadurch zum Nachdenken anreizen. (IV 8.22) Dies didaktische Mittel darf der Prediger aber nicht anwenden, er bemühe sich vielmehr um Schlichtheit, damit er die Schwierigkeit des Gegenstands nicht durch gewollte Dunkelheit erhöht. Die Aufgaben des Predigers im einzelnen werden von Augustin am Kanon Ciceros entwickelt. Wie der Redner im allgemeinen so richte auch der Prediger seine Rede nach der Gelegenheit aus. Die Redegelegenheiten der klassischen Rhetorik waren die Gerichtsrede, die Feierrede und die Rede bei der Volksversammlung. Ihnen entsprach die Redeweise und die Stimmlage des Vertrages, aber auch die Art des Zuhörens. Dies alles läßt sich in einem Schema zusammenfassen: Redegelegenheit

Redeweise

Redestil

Hörweise

Gerichtsrede Feierrede Volksrede

docere (probare) delectare flectere (movere)

subtile modicum vehemens

intelligenter libenter oboedienter

Augustin weiß, daß die genera dicendi der Rhetorik nur bedingt auf die Homiletik anwendbar sind. Da die christliche Predigt überhaupt 32

IV.6.10. Übersetzung von S. Mitterer, BKV Bd. 49, S. 169.

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B. Predigtlehre in der Alten Kirche

nur von erhabenen Dingen zu sprechen hat, wäre seiner Meinung nach das genus gründe oder vehement ihr angemessener Redestil. Da dies dem Hörer aber schwer erträglich ist, muß der Prediger seinen Redestil dauernd wechseln, „ut veritas pateat, placeat, moveat". (IV, 28.61) Wohlgemerkt, es ist die Wahrheit selbst, nicht die Person des Predigers, die diese Wirkung zeitigt. Streng genommen offenbart sich die Wahrheit nur docendo, die gelehrte Wahrheit aber soll aber zugleich erfreuen, die erkannte Wahrheit bestimmt und betätigt sodann den Willen. Obwohl Augustin der objektiven Darlegung der Wahrheit den Vorrang vor der Wirkung der Predigerpersönlichkeit einräumt, ist letztere nicht gleichgültig; sogar ein schlechter Prediger kann noch durch seinen lauteren Lebenswandel Gutes wirken. Umgekehrt aber macht ein guter Redner durch einen schlechten Wandel alles zunichte. Die noch heute oft gestellte Frage nach der Glaubwürdigkeit der Predigt findet hier in gewisser Weise eine Antwort. Augustin hält es für erlaubt, daß ungeschickte Prediger fremde Predigten benutzen. Seit dem 19. Jahrhundert hat man dies als Rechtfertigung einer „niederen Homiletik" getadelt. Stellt man jedoch in Rechnung, welch seltsame Blüten eine gewollte und unbesonnene Originalität getrieben hat, fällt eine eindeutige Beurteilung der augustinischen Einstellung dazu schwer. Der weitreichende Einfluß Augustins auf die Homiletik des Mittelalters und der Reformation ist nicht allein auf seine grundsätzlichen Erörterungen zum Predigtproblem zurückzuführen, sondern auch auf seine intensive Predigttätigkeit. Zum Prediger war Augustin in erster Linie durch den nordafrikanischen Bischof Valerius geworden. Dieser war ein Grieche, „welcher sich des Lateinischen zu wenig mächtig fühlte" und darum Augustin die Predigt übertrug, obwohl es in der nordafrikanischen Kirche Brauch war, daß Presbyter in Gegenwart des Bischofs keine Predigten hielten.33 Eine große Anzahl von Predigten Augustins sind durch stenographische Mitschriften überliefert, wodurch bis in unsere Zeit der Eindruck der lebendigen Rede in etwa nachvollzogen werden kann. Dem heutigen Verständnis geht allerdings die von Augustin in starkem Maß gepflegte allegorische Auslegung schwer ein. Der stilistische Unter33

H. Hering, Die Lehre von der Predigt, 1905, S. 28.

2. Augustins Predigtlehre

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schied zu den Schriften Augustins ist merklich: Die Sätze sind kürzer und prägnanter, Wortspiele kommen häufig vor, auch gereimte Prosa tritt auf. Weil ihm das Verständnis der Hörer am Herzen liegt, verzichtet Augustin weitgehend auf Redeprunk und verschmäht auch Anleihen bei der Volkssprache, dem Latein der früher punisch sprechenden Nordafrikaner, nicht. Die Predigten schließen sich oft an eine der drei üblichen gottesdienstlichen Lesetexte an; der Psalter und das Johannesevangelium scheinen dem Überlieferungsbestand nach bevorzugt worden zu sein. Der Höhepunkt der altkirchlichen Homiletik bedeutet zugleich ihr Ende. Nach Augustin sind für Jahrhunderte kaum noch stärkere Impulse zur Entfaltung einer Predigttheorie zu bemerken. Dies mag vor allem mit dem Rückgang der Predigttätigkeit infolge der veränderten historischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zusammenhängen, die einen anderen, weniger an der öffentlichen Rede orientierten Frömmigkeitsstil hervorbrachten. Allein schon die sprachlichen Verschiebungen der Völkerwanderungszeit (Augustin stirbt während der Belagerung Hippos durch die Wandalen!) lassen auch in der Kirche die Redekultur dahinsiechen. Die christliche Sitte und das Sakrament treten in den Vordergrund. Gregors „Regula pastoralis" zeigt das schon deutlich: Unter den Pflichten des Klerikers hat die Predigt keinen Vorrang mehr. Wo sie erwähnt wird, steht sie im Dienste der Gemeindeerziehung unter verengten Gesichtspunkten: Der Prediger ist der Herold, der die Gemeinde auf die Schrecken des Endgerichts vorbereitet. Die Vorherrschaft des Bußgedankens in der Volkspredigt des Mittelalters hat hier eine ihrer Wurzeln. Auch im Osten tritt die Predigt als Teil des Kultus zurück. Die griechische Rhetorik behauptet noch einen gewissen Platz im öffentlichen Leben, doch bringt der Einbruch des Islam diese Ansätze zum Erliegen, wenn auch die Rede im Kultus teilweise noch geübt wird.34

34

Vgl. hierzu G. A. Kennedy, Greek Rhetoric under Christian Emperors, 1983. Ds., „Classical Rhetoric and Its Christian and Secular Tradition from Ancient to Modern Times, 1980.

C. Predigt und Predigttheorie im Mittelalter In der Geschichte der Homiletik sind im Unterschied zur Predigtgeschichte diejenigen Fakten von besonderer Bedeutung, die die Entwicklung des Ptedigtverständnisses betreffen. Das Mittalter hat unter diesem Gesichtspunkt zur Predigttheorie wenig Neues beigetragen, dagegen tiefgreifende Veränderungen in der Predigtpraxis mit sich gebracht, die auch für die Neuformulierung der homiletischen Grundsätze durch die Reformation von Bedeutung waren. Diese Veränderungen lagen nicht in der Konsequenz der Entwicklung des neutestamentlichen Predigtverständnisses, sondern waren durch äußere Faktoren der geschichtlichen Lage bedingt. Die antike Predigttradition war mit dem Zusammenbruch des römischen Imperiums in der Völkerwanderung in gewisser Weise an ihr Ende gekommen. Die Ursache dafür lag weniger in der schwieriger gewordenen sprachlichen Verständigung mit Völkern, die die antiken Kultursprachen nicht beherrschten, als in den sich neu formierenden gesellschaftlichen Bedingungen, die der antiken Redekultur wenig Raum ließen. Auch die Lage der Kirche in der veränderten Welt erforderte eine andere religiöse und kirchliche Praxis, die auf die neuen Herausforderungen zu antworten vermochte. Es sind im wesentlichen drei Grundfaktoren auszumachen, die die Predigtpraxis des Mittelalters bestimmt haben: Der Wiederaufbau der Kirche nach den Wirren der Völkerwanderung im Zusammenhang mit der Germanen- und Slawenmission, im Hochmittelalter die Auseinandersetzung mit den neuen Laien- und Ketzerbewegungen, schließlich das gestiegene Bildungsbedürfnis im Klerus und im Bürgertum des späteren Mittelalters.35 Die Gesamtentwicklung ist jedoch gekennzeichnet durch ein Zurücktreten der Predigt 35

Speziell an der mittelalterlichen Predigt Interessierte finden eine erste Übersicht bei Joh. Bapt. Schneyer, Geschichte der katholischen Predigt, 1969.

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C. Predigt und Predigttheorie im Mittelalter

innerhalb des Gottesdienstes zugunsten einer dem Sakramentalen und der „Sittigung" des Einzelnen und der Gemeinden zugewandten kirchlichen Praxis. Dem ersten Grundfaktor, dem Wiederaufbau der Kirche im Zusammenhang mit der Germanen- und Slawenmission, verdankt die bereits genannte „Homiletik" des Hrabanus Maurus ihre Entstehung. Ihr Titel „De clericorum instructione" verrät schon, daß es sich hier nicht um eine eigentliche Predigtlehre handelt, sondern um ein allgemeines Hand- und Instruktionsbuch für Kleriker mit einem homiletischen Teil. Es ist wesentlich mit veranlaßt durch die Anordnungen Karls des Großen zur Kirchenorganisation. Sie sind als Reaktion auf die politische und kirchliche Lage im frühmittelalterlichen Europa zu verstehen. Sowohl in der Germanen- wie in der Slawenmission ging es weniger um die individuelle Bekehrung zum Christentum als um die Einübung einer neuen religiösen Observanz und eines neuen Sittenkodex für das Volk. Die Mission vollzog sich „von oben nach unten" durch „den korporativen Übertritt geschlossener Verbände zur Taufe". „Die eigentliche Bekehrung aber konnte sich nur in einem über Generationen andauernden Prozeß vollziehen."36 Die Missionspredigt wandte sich demgemäß an den König und seine adligen Gefolgsleute, die gottesdienstliche Predigt diente dann der Durchsetzung der neuen religiösen und sittlichen Normen in einer weitgehend von heidnischen Vorstellungen geprägten Gemeinschaft. Daß hier nur die elementarsten Glaubensund Sittenlehren zur Sprache kommen konnten, liegt auf der Hand. In einer schriftlosen Gesellschaft veränderte sich damit auch der Charakter der christlichen Botschaft: Sie wurde „einfacher", „archaisierend" und nahm Elemente heidnischer Religiosität in sich auf.37 Einen gewissen Aufschluß über die Predigttätigkeit im frühen Mittelalter gewinnen wir aus den Beschlüssen der Provinzialsynoden vor allem in Gallien und Germanien. Sie drängen immer wieder 36

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A. Angenendt, Die Mission im frühen Mittelalter, in: Bremen — 1200 Jahre Mission, hsg. v. D. Hägermann, Schriften der Wittheit zu Bremen NF Bd. 12, 1989, S. 61 — 86. Hier findet sich eine knappe und aufschlußreiche Darstellung der Missionsproblematik des frühen Mittelalters. Ebd. S. 83.

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darauf, die Predigt in der Volkssprache nicht zu vernachlässigen. Die Inhalte waren denkbar einfach: Man gab sich „mit der schlichten Erklärung des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunser und mit der Einschärfung der wesendichen Sittenregeln unter dem Gesichtspunkt des Weltgerichts"38 zufrieden. Die Sittenregeln waren sehr äußerlich gefaßt. Sie wendeten sich gegen die überkommenen heidnischen Auffassungen und Bräuche, vor allem gegen Blutrache, Verwandtenehen, Tieropfer, und suchten das Einhalten christlicher Feiertage u.a. zu sichern. Die Predigtbefugnis liegt traditionell beim Bischof. Da die Predigt aber alle erreichen soll, kann sie bei der großen Ausdehnung der Missionsgebiete nicht mehr allein vom Bischof wahrgenommen werden, sondern wird den Pfarrern zur Pflicht gemacht. Die Bischöfe sollen bei ihren Visitationen auf das Einhalten dieser Pflicht achten. Diakone erhalten die Erlaubnis, Väterlesungen anstelle der Predigt zu halten. Als Hilfsmittel dienen die Homiliarien, die ursprünglich für die klösterlichen Predigtgottesdienste bestimmt waren, bald aber auch für die Gemeindepredigten herangezogen wurden. Auch die Ausgestaltung der sonntäglichen Perikopenordnung erwies sich als Hilfe für ein geregeltes Predigtwesen. Trotz dieser energischen Ansätze, die Predigt als unerläßlichen Bestandteil des Gottesdienstes zu etablieren, ist augenscheinlich nicht viel dabei herausgekommen. „Die Bischöfe gaben sich damit zufrieden, wenn sie (die Priester) die bereits auf der Synode von Aachen 802 festgesetzten Pflichten einigermaßen erfüllten, wenn sie also das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser beherrschten, die Sakramente spenden konnten, sich auf den Kalender des Kirchenjahres verstanden und mit den entsprechenden Perikopen die dazu gehörenden Väterhomilien vorlesen konnten."39 Seit dem 10. Jahrhundert gehen die Synoden kaum noch auf das Predigtwesen ein. Es ist zu vermuten, daß die Predigt nicht mehr als unabdingbarer Bestandteil der „Vormesse" und damit des Meßgottesdienstes betrachtet wurde. Die Lesung der Meßperikopen reichte für den Wortteil des Gottesdienstes aus. Eine selbständige Schriftauslegung war 38 39

Schneyer, aaO., S. 101. Ebd, S. 103.

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C. Predigt und Predigttheorie im Mittelalter

für die meisten Kleriker eine Überforderung. Ihre Notwendigkeit konnte, nachdem die Missionierung beendet und die Durchsetzung christlicher Sitte gewährleistet war, für die Gemeindegottesdienste kaum mehr einsichtig gemacht werden. Die theologischen Studien verlagerten sich in die Klöster, wo auch die Predigt weiter gepflegt wurde. Erst die Kreuzzugspredigt wendet sich wieder an breitere Volksschichten. Als überragender Prediger der Zeit gilt Bernhard von Clairvaux. Dabei ist nicht sicher, worauf seine große Wirkung beruhte; denn es wird berichtet, daß er mit seinen lateinischen und französischen Predigten auch diejenigen zu begeistern vermochte, die ihn nur mit Hilfe eines Dolmetschers verstehen konnten. Doch diese „non-verbale" Wirkungskraft großer Prediger ist auch aus späteren Zeiten bis in die Gegenwart nicht unbekannt. Als Prinzip der Schriftauslegung, die die Predigt allerdings nicht durchweg beherrschte, diente nicht nur für Bernhard, sondern allgemein die allegorische Auslegung. Sie erscheint als höchste Stufe der Erkenntnis des Gotteswortes. Die niederste ist die „simplex ac plana historia", höher steht der moralis sensus, der noch als „Ausmünzung des sittlichen Gehalts der Schriftstellen" aufgefaßt wird, worüber sich dann das „arcanum theoreticae (mysticae) contemplationis" erhebt.40 In seinen Sermonen über das Hohelied hat Bernhard sich auch über sein eigenes Predigtverständnis geäußert. Die Kreuzzugspredigt ist aber wie die spätere Bußpredigt vielfach „Sonderveranstaltungen", vergleichbar den modernen Evangelisationen, vorbehalten, während der Meßgottesdienst auf die Predigt verzichten kann. Auf diese Wandlungen im Predigtverständnis weisen auch die Laienbewegungen des Hochmittelalters. Sie messen der schriftauslegenden Predigt eine hohe Bedeutung bei, weil sie hier ein Defizit der kirchlichen Praxis entdeckt haben und beseitigen wollen.41 Dabei steht aber weniger die Kritik an der Verweltlichung der Kirche, die durch die Berufung auf die Schrift bekämpft werden soll, im Vordergrund. Vielmehr ist dahinter das Bemühen um ein selbständi40 41

Ebd. S. 118. Vgl. R. Zerfaß, Der Streit um die Laienpredigt, 1974.

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ges inneres Erfassen der christlichen Wahrheit zu erblicken. Die Kurie setzte dem Widerstand entgegen, weil sie hier mit einem gewissen Recht ein gefährliches kirchenkritisches Element vermutete. Jedenfalls bemühten sich die Waldenser und anfänglich auch die mit Argwohn betrachtete franziskanische Bewegung vergeblich um Predigterlaubnis. Die kirchliche Gesetzgebung beschäftigte sich weit mehr mit dem Verbot der Laienpredigt als mit der Einschärfung der Predigtpflicht der Kleriker. Erst das IV. Laterankonzil 1215 erinnert wieder daran, bedroht aber sogleich diejenigen mit Strafe, „qui prohibiti vel non missi, praeter auctoritatem ab Apostolica sede vel catholico episcopo loci susceptam, publice vel privatim praedicationis officium ursurpare praesumpserint".42 Damit waren in erster Linie die Waldenser und die mit ihnen sympathisierenden Kreise gemeint. Die Bettelorden erkannten als erste, daß die Predigt ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung der Ketzerbewegungen war, und bemühten sich um Belebung der Predigt. Das hatte auch Auswirkungen auf die Predigttheorie, die nun die Glaubenslehre als Predigtaufgabe stärker in den Vordergrund stellt. Das wirkt sich jedoch zunächst weniger stark auf die Volkspredigt als auf die scholastische Predigt aus, die vornehmlich der Belehrung eines akademischen Bildungspublikums und der Klerikerausbildung diente. In diesem Umkreis entstehen in den Prothemata der Predigtsammlungen und in den artes praedicandi Lehrschriften zur Predigttheorie. Sie gehen in der Regel nicht viel über Augustin hinaus, geben kasuistische Regeln für die Volkspredigt und führen die scholastische Divisionsmethode als Prinzip des Predigtaufbaus ein. Die Volkspredigt wird in erster Linie als Ständepredigt gesehen, Alanus von Lilie definiert sie als „instructio morum et fidei". Die Humanisten haben später die scholastische Predigt verspottet, die ihnen als eine kunstvoll übersteigerte Entfaltung eines sorgsam aus einem Schriftwort herauspräparierten Themas erschien. Eine Sonderstellung nimmt die Predigt der Mystik ein, die in der Volkssprache gehalten wurde und durch ihre sprachschöpferische Energie auch wesentlich zur Bereicherung der religiösen Sprachfähigkeit beigetragen hat. Ziel der mystischen Predigt ist nicht Beleh42

DS 809.

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C. Predigt und Predigttheorie im Mittelalter

rung, sondern sie zielt durch „Andacht" auf meditative Vergegenwärtigung, die „Einbildung" der Geburt Gottes in die Seele. Diese Vergegenwärtigung ist nicht werkhaft zu verstehen, sondern geschieht in der „Abgeschiedenheit" und „Gelassenheit", in der der Mensch sich der Welt und ihrer Bilder entledigt und sich Gott „läßt". Der wirkungsmächtigste Prediger der deutschen Mystik ist Eckehart. Er „vertritt die Kohärenz zwischen innerem und äußerem Wort, wobei sich diese dem Innesein des verbums verdankt. Die Predigt ist für Eckehart Gotteswort. Sie ist von innen heraus ,gewortet' (DW I,66,2f). Sie hat daher ihre Autorität und Mächtigkeit und Eindeutigkeit."43 Eine Homiletik im engeren Sinn hat die Mystik allerdings nicht entwickelt. Die Wirkung ihrer Predigt war auf einen begrenzten Kreis beschränkt, ihre Neuansätze haben mittelbar auf die Predigt der Reformatoren Einfluß ausgeübt. Am Vorabend der Reformation kommt es zu einer Erneuerung der Predigt durch das Bürgertum der aufblühenden Städte, das nach Belehrung verlangt und geistige Ansprüche stellt. Hier werden Prädikaturen gestiftet, um eine regelmäßige Predigttätigkeit zu gewährleisten. Die Prädikanten benötigten eine theologische Ausbildung. Ihre Predigtgottesdienste waren vielfach ein Ausgangspunkt für die Reformation. Aus dieser Zeit sind auch Handbücher zu erwähnen, die den oft unerfahrenen Pfarrern helfen sollten, Predigten zu konzipieren und zu halten. Am bekanntesten ist das Manuale curatorum Joh. Ulrich Surgants von 1502. In seinem homiletischen Teil hängt es noch an der scholastischen Tradition, behandelt aber auch modern anmutende Themen wie Wesen und Inhalt der Predigt, die Person des Predigers, die Predigtpraxis „iuxta vulgäre theutonicum". Als Beispiel für ein Predigthandbuch im eigentlichen Sinn mag der „Tractatus de modo dicendi et docendi ad populum sacra seu de modo praedicandi" des Hieronymus Dungersheim (Landshut 1514) genannt werden. Im ersten Teil beschäftigt er sich mit der Person des Predigers. Hier werden in hergebrachter Weise die Lebensführung und die rechte innere Haltung (Vermeidung von Unaufrichtigkeit und Hochmut) behandelt. Ein zweiter Teil beschäftigt sich mit Form und Inhalt der Predigt: mit der Angemessenheit der Rede43

U. Kern, Art. Eckhart, TRE Bd. 9, S. 263.

C. Predigt und Predigttheorie im Mittelalter

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weise, der Einteilung des Predigtmaterials und der „Dilatation". Unter letzterer verstand man die Entfaltung des meist biblischen Predigtstoffes nach dem vierfachen Schriftsinn, die Vorführung des Disputs der Autoritäten, die Heranziehung von Gleichnissen und dergleichen. Ein besonderer Abschnitt „de coloribus" behandelt die Verwendung von Sprichwörtern, den Einsatz von Wiederholungen und der Ironie. Ein kurzer dritter Teil geht auf die Hörerschaft ein. Verbreitet sind in jener Zeit Predigtsammlungen; die bekannteste ist wohl das Werk des Johannes von Werden mit dem bezeichnenden Titel „Dormi secure". Auch der Humanismus versucht auf die Predigtpraxis einzuwirken. Noch 1535, als die reformatorische Predigt schon in Blüte steht, erscheint der von Erasmus schon seit längerem geplante „Ecclesiastes sive de ratione concionandi". Erasmus stellt hier das Werk des Predigers über das des Meßpriesters, will auch die Homiletik von der Rhetorik unterscheiden, geht im übrigen aber konventionell vor: Die in der Person des Predigers liegenden Voraussetzungen der Predigttätigkeit, die nach den Regeln der antiken Rhetorik erfolgende Erarbeitung und der dialektische Aufbau der Predigt sowie die Regeln für die Behandlung der christlichen Lebensführung werden in dem umfänglichen Werk dargestellt. Der starke Einfluß, der ihm zugeschrieben wird44, muß insofern als ambivalent eingeschätzt werden, als er die Vorherrschaft der antiken Rhetorik auch für die Homiletik der Reformationszeit zu befestigen half. Das hat sich für die Erarbeitung der Predigtaufgabe im evangelischen Sinn kaum als hilfreich erwiesen. Die Predigtpraxis des späten Mittelalters sollte unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache richten, daß selbst in einer ganz vom Sakramentalen und Ritualen bestimmten Zeit die Predigt nie völlig aus dem kirchlichen Leben verschwand und auch immer wieder Gegenstand theoretischer Erörterung gewesen ist. Doch erst die Reformation stellte sie wieder in den Mittelpunkt des Gottesdienstes der Gemeinde und gab ihr, wenn man so will, den Charakter eines Gnadenmittels zurück. 44

A. Niebergall, Die Geschichte der christlichen Predigt, in Leiturgia II, 1955, S. 278.

D. Die reformatorische Homiletik Die Reformation bringt eine gegenüber dem Mittelalter und der Alten Kirche neue Grundlegung der Predigt überhaupt. Mit Luthers „reformatorischer Entdeckung", der Vergebungsbotschaft des Evangeliums, wird auch „das Wesen der Predigt, ihr Sinn und ihre Aufgabe neu entdeckt, und daraus werden für das kirchliche Leben die entsprechenden Folgerungen gezogen".45 Das neue Verständnis der Heilszueignung in der Dialektik von Wort und Glaube führte zu einer völligen Neubestimmung des Gottesdienstes und und damit auch der Predigt als Zentrum der kirchlichen Praxis. Sie bestimmt das Leben der evangelischen Kirche bis heute. Die Leistung der Reformation für die Predigtlehre liegt also weniger in der Ausarbeitung einer neuen Predigttheorie als in der Neubelebung der Predigtpraxis, ihrer theoretischen Grundlegung und ihrer Fundierung im Bibelstudium. Die zentrale Stellung, die die Predigt im Leben der Kirche durch die Reformation erreicht hat, ist also unlösbar verknüpft mit der neuen Auffassung des Gottesdienstes und des kirchlichen Amtes. Der Gottesdienst wird gemäß dem Evangelium als Dienst Gottes an den Menschen verstanden, denen er sein Vergebungswort zuspricht, das dem vertrauenden Glauben ruft, und nicht als ein Werk, das die Menschen Gott darbringen. Aus diesem Verständnis entspringt die Kritik der Reformatoren an der Opfermesse und die Forderung, daß es keinen Gottesdienst ohne die Verkündigung des göttlichen Wortes geben könne. Auch das Sakrament wird als besondere Gestalt des Gotteswortes aufgefaßt, das dem Reichtum der göttlichen Gnade gemäß in vielerlei Formen laut wird, unter denen

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A. Niebergall, aaO. S. 257.

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D. Die reformatorische Homiletik

das mündliche Wort der Predigt die vornehmste ist.46 Das kirchliche Amt wird in diesem Zusammenhang als Predigtamt und nicht als Opferdienst verstanden. Eignung und Ausbildung zum kirchlichen Amt werden damit anderen Kriterien unterworfen. Das Studium der heiligen Schrift und die Fähigkeit zum sprachlichen Ausdruck sind jetzt die ersten Voraussetzungen für die Ausübung des kirchlichen Amtes. Die Darstellung der Predigtlehre muß wegen dieser Zusammenhänge in ihrem historischen Teil gleichsam im Vorgriff auf die prinzipielle Homiletik anhand der Zeugnisse der Reformation ausführlicher auf Begründungsfragen eingehen. Dabei stehen Luthers Äußerungen im Mittelpunkt. Die anderen Reformatoren sind, was die Prinzipien fragen anbelangt, entweder hinter Luther zurückgeblieben oder von ihm abhängig.

1. Die Predigtlehre Luthers Luther hat bekanntlich keine eigene Predigtlehre verfaßt. Sie ist auch nicht aus seinen verstreuten Äußerungen zu diesem Thema zu rekonstruieren47, sondern muß aus dem Gesamtzusammenhang 46 Ygi Schmalkaldische Artikel „Vom Evangelio": „Wir wollen nu wieder zum Evangelio kommen, welchs gibt nicht einerleiweise Rat und Hulf wider die Sunde; denn Gott ist reich in seiner Gnade: ersdich durchs mundlich Wort, darin gepredigt wird Vergebung der Sunde in alle Welt, welchs ist das eigentliche Ampt des Evangelii, zum ändern durch die Taufe, zum dritten durchs heilig Sakrament des Altars, zum vierden durch die Kraft der Schlüssel und auch per mutuum colloquium et consolationem fratrum, Matth. 18: ,Ubi duo fuerint congregati' etc." (BSLK S. 449). 47 E. Hirsch hat im 7. Band der Bonner Lutherausgabe unter der Überschrift „Selbstzeugnis" „Hilfen zur Einordnung von Luthers Predigt in das Ganze seiner Theologie und seines persönlichen Lebens, sowie zur genauen Abgrenzung seiner Zielsetzung für die Predigt gegen andere Zielsetzungen" (BoA 7, S. VII f) gesammelt. Nimmt man zu diesen Zeugnissen Luthers Vorreden zu den Postillen, zur Deutschen Bibel, zur Deutschen Messe und zum Kleinen Katechismus sowie Beispiele aus seinen Predigten hinzu, gewinnt man zwar keine „Homiletik", wohl aber einen ziemlich vollständigen Überblick über seine homiletischen Grundgedanken.

1. Die Predigtlehre Luthers

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seiner Theologie unter ständiger Rücksicht auf seine Predigtpraxis systematisch erfaßt werden. Damit mündete aber eine Darstellung der Homiletik Luthers letztlich in eine Darstellung seiner Theologie überhaupt. Dies kann abgesehen von den damit verbundenen prinzipiellen Schwierigkeiten in einem Abriß der Homiletikgeschichte naturgemäß nicht geleistet werden. Wir müssen uns also auf die für die Predigt im engeren Sinn bedeutsamen Aspekte beschränken. Auf die Predigtpraxis hat Luther vor allem durch das Beispiel gewirkt, wovon die Postillen ein deutliches Zeugnis ablegen, und durch seine exegetischen Vorlesungen. Hier hat er die Grundlagen für eine schriftauslegende Predigt geschaffen, die auch eines hermeneutischen Neuansatzes bedurfte. Darüber ist im folgenden zu handeln, wobei uns primär das praktisch-theologische Interesse leiten soll. Es geht also weniger um eine Darstellung der historischen Entwicklung, als um die systematische Erfassung der Grundgedanken Luthers zur Predigt. Es liegt in der Natur der Sache, daß dabei über die eigentliche Homiletik hinausgegriffen werden muß, da das Predigtverständnis sich nur im größeren Zusammenhang der Theologie Luthers erfassen läßt. Daraus ergeben sich für uns folgende fünf Schritte: a) Den Ausgangspunkt bildet die Lehre vom Worte Gottes.48 Sie ist für Luthers homiletische Grundgedanken insofern auschlaggebend, als in ihr die Dialektik von Wort und Glaube im Zusammenhang mit dem Akzent, den Luther auf das „mündliche Wort" bzw. das „verbum externum" legt, verhandelt wird. b) Das Wort Gottes wird von Luther in erster Linie christologisch verstanden. Das führt ihn zur inhaltlichen Bestimmung der Predigt als Christuspredigt. Die homiletische Bedeutung des „solus Christus" soll deshalb in einem zweiten Schritt bedacht werden. c) Jesus Christus als Träger des Evangeliums wird in der Bibel ursprünglich bezeugt, die aus diesem Grund für Luther in ihren beiden Testamenten als Heilige Schrift gilt. Reformatorische Predigt ist so immer schriftauslegende Predigt, wie es das Prinzip „sola scriptura" ausdrückt. Die Grundsätze der Schriftauslegung müssen 48

Darauf hatte schon A. Niebergall hingewiesen: aaO. S. 257.

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D. Die reformatorische Homiletik

darum als biblische Hermeneutik in der Predigtlehre behandelt werden. d) Über die Hermeneutik im engeren Sinn hinaus führt die für Luther grundlegende Unterscheidung von Gesetz und Evangelium im Verständnis des Wortes Gottes. Diese Unterscheidung ist auch die Basis für Form und Inhalt der Predigt. Eine systematisch aufgebaute Predigtlehre muß sie deshalb in einem eigenen Abschnitt berücksichtigen. e) Von besonderer Bedeutung für die gesamte Predigtarbeit sind für Luther die inneren Voraussetzungen auf Seiten des Predigers. Er hat sie in der bekannten Trias oratio, meditatio, tentatio zusammengefaßt. Sie sollen zum Abschluß der Darstellung von Luthers homiletischen Grundsätzen betrachtet werden. a) Gottes Wort und das mündliche Wort In seinen Klosterkämpfen hat Luther eine spezifisch christliche Erkenntnis am Evangelium neu gewonnen, die Erkenntnis, daß Gott mit uns Menschen nicht umgeht wie mit Sachen, sondern uns als Personen behandelt. Er stößt nicht herum, er „greift" nicht ein, sondern er „spricht" zu uns. Für die Praxis der Kirche und den Dienstcharakter ihres Amtes ist diese Erkenntnis von entscheidender Bedeutung. In der viel zitierten Formel aus dem 28. Artikel der Augsburgischen Konfession hat sie ihren bündigen Ausdruck gefunden: „Sine vi humana, sed verbo."49 Auch die Kirche und ihr Amt hat also keine anderen Mittel zu gebrauchen, den Glauben zu wecken und zu nähren, als der Herr der Kirche: Die Verkündigung des Evangeliums durch das mündliche Wort. Freilich hat „Wort" im theologischen Sinn auch für Luther eine umfassendere Bedeutung, als es in dieser Formel zum Ausdruck kommt. Die Tatsache, daß Gott den Menschen anredet, führt diesen zu der Erkenntnis, daß Gott mit „Vater" und „Herr", also als Person angeredet werden will. Sie hängt eng zusammen mit der Selbsterkenntnis des Menschen: Indem Gott ihn anredet, erfährt er sich selbst als Person. Die Gottesbeziehung ist eine personale Beziehung. 49

BSLK S. 124.

1. Die Predigtlehre Luthers

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Luther beschreibt die Anrede Gottes, die zur Selbsterkenntnis führt, als Gewissenserfahrung, wie sie ihm im sog. „Turmerlebnis" zuteil geworden ist. Es handelt sich bei dieser Erfahrung also nicht um eine aus psychischer Überspannung zu deutende Erleuchtung, sondern um eine in harter Arbeit am biblischen Text gewonnene Erkenntnis. Eine Erkenntnis jedoch, die zugleich eine innere Verwandlung bedeutet, also nicht nur den Intellekt, sondern die ganze Person betrifft. Aus diesem Grund kann sie Gewissenserfahrung genannt werden.50 Luther selbst hat immer wieder den Zusammenhang zwischen dem Angeredetwerden durch das äußere Wort Gottes im Medium des Bibeltextes oder der Predigt und der Entstehung des Gott „beim Wort nehmenden", vertrauenden Glaubens betont. Als ein Beispiel für viele mag hier sein Widerspruch gegen Karlstadt und seine Auffassung der „Geisterfahrung" stehen: „Wenn nun Gott sein heiliges Evangelium ausgehen lassen hat, handelt er an uns auf zweierlei Weise: einmal äußerlich, das andere Mal innerlich. Äußerlich handelt er an uns durchs mündliche Wort des Evangeliums und durch leibliche Zeichen, als da ist Taufe und Sakrament. Innerlich handelt er an uns durch den heiligen Geist und Glauben samt ändern Gaben; aber das alles dermaßen und in der Ordnung, daß die äußerlichen Stücke vorangehen sollen und müssen und die innerlichen hernach und durch die äußerlichen kommen, so daß ers beschlossen hat, keinem Menschen die innerlichen Stücke außer durch die äußerlichen Stücke zu geben. Denn er will niemand den Geist noch Glauben geben ohne das äußerliche Wort und Zeichen, das er dazu eingesetzt hat, ..."51 Diese „Ordnung", von der Luther hier spricht, ist keine willkürliche Setzung. Sie ist eng mit der Rechtfertigungslehre und der Lehre von der Glaubensgerechtigkeit verbunden. Nicht die innerliche Bereitung ist es, die dem Menschen das Wort Gottes aufschließt, vielmehr wird die innerliche Bereitschaft erst durch das Hören auf das 50

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Auf diesem Hintergrund hat K. Holl von Gewissensreligion bei Luther gesprochen: Vgl. Was verstand Luther unter Religion? (1917), Ges.Aufs. I, S. 1-110. Die Polemik gegen Holl beruht auf einem Vorurteil gegen den Gewissensbegriff. Wider die himmlischen Propheten, 1525, WA 18, 136. Hier zitiert nach LD 4, 147 f.

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D. Die reformatorische Homiletik

Wort geweckt. Es gibt also keine vorhergehende Disponierung, die vom Hörer zu leisten oder vom Prediger zu bewirken wäre, damit Gottes Wort wirksam werden kann. Andererseits ist die Alleinwirksamkeit des Wortes kein mechanischer, sondern ein personaler Vorgang, wie Luther es in unvergleichlicher Härte gegen Karlstadt vorgebracht hat: „Das ist aber unsere Lehre: daß Brot und Wein nichts helfe, ja daß auch der Leib und Blut im Brot und Wein nichts helfe. Ich will noch weiter reden: Christus am Kreuze mit all seinem Leiden und Tod hilft nichts, wenns auch aufs ,allerbrünstigste, hitzigste, herzlichste erkannt und bedacht' wird, wie Du lehrest, es muß über alles hinaus noch ein anderes da sein. Was denn? Das Wort, das Wort, das Wort (hörest Du Lügengeist auch?) das Wort tuts! Denn ob Christus tausendmal für uns gegeben und gekreuzigt würde, wäre es doch alles umsonst, wenn nicht das Wort Gottes käme und teilte es aus und schenkte mirs und spräche: das soll dein sein, nimm hin und habe es für dich."52 Daß Luther an dieser Stelle von Austeilung und Mitteilung spricht, ist kein Zufall. Er braucht, wenn er die Beziehung von Wort und Glaube kennzeichnen will, hier wie sonst mit Vorliebe Ausdrücke, die normalerweise auf das Sakrament deuten. Es ist also ganz richtig, von der sakramentalen Bedeutung des Wortes bei Luther zu sprechen.53 Mit demselben Recht kann man allerdings die Worthaftigkeit des Sakraments betonen: Auch das Sakrament wirkt nicht mechanisch „ex opere operato", sondern „ruft" dem Glauben, wie Luther es vor allem im Blick auf die Kindertaufe immer wieder hervorgehoben hat. Wenn Luther also das „mündliche Wort" als das hervorragende Gnadenmittel gegen „Schwärmer und Papisten", beide in einen Topf werfend, betont, so liegt der tiefere Grund dafür im articulus 52 53

Ebd. WA 18, 202 f.. Zitiert nach LD 4, 176 f. Vgl. O. Bayer, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, 1971. S. 274-297 u.ö. A. Beutel, In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis (HUTh 27), 1991, S. 446-451