Evangelische Predigten: Ein Abschiedsgruß an die evangelische Gemeinde zu Bonn [Reprint 2020 ed.] 9783112365229, 9783112365212


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German Pages 193 [204] Year 1882

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Table of contents :
Vorrede
Inhalt
I. Der Gott des Friedens heilige euch! 5. Sonntag nach Trinitatis 1881 — (1. Thess. 5, 23. 24)
II. Die Entwickelung der Sünde. 13. Sonntag nach Trinitatis 1881. — (Jac. I, 13—16)
III. Seid geduldig. 6. Sonntag nach Trinitatis 1882. — (Jac. 5, 7-11
IV. Die seelenrettende Liebe. 9. Sonntag nach Trinitatis 1882. — (Jac. 5, 19. 20)
V. Der weltüberwindende Glaube. 14. Sonntag nach Trinitatis 1882. — (1. Joh. 5, 1—4)
VI. Wer den Sohn hat, der hat das Leben. 13. Sonntag nach Trinitatis 1882. — (1. Joh. 5, 11 — 13)
VII. Wenn Du mich demüthigst, machst Du mich groß. 4. Sonntag nach Trinitatis 1881. — (2. Sam. 22. 36
VIII. Christus und die guten Menschen. 2. Sonntag nach Epiphanias 1879. — (Matth. 19, 16-26)
IX. Die Verjüngung. Jubilate 1882. — (Jes. 40, 25—31)
X. Das Bild des christlichen Weibes. Septuagesimac 1880. — (1. Petri 3, 1—7)
XI. Vorbereitung zum h. Abendmahl. Gründonnerstag 1880. — (Joh. 17, 20—23)
XII. Das Wort vom Kreuz. Charfreitag 1878. — (1. Corinther 1, 21—25
XIII. Die Glaubensgeschichte der Jünger von Emmaus als ein Spiegelbild unsrer Seelengeschichte. 2.Ostertag 1880. — (Lucas 24, 13—35)
XIV. Die Stimmen Gottes am Jahresschlüsse. Sylvesterabend 1881. — (Psalm 95, 6—8)
XV. Wir leben oder wir sterben, wir sind des Herrn. Todtenfest 1880. — (Römer 14, 7—9)
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Evangelische Predigten: Ein Abschiedsgruß an die evangelische Gemeinde zu Bonn [Reprint 2020 ed.]
 9783112365229, 9783112365212

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Evangelische Predigten. Ein Abschiedsgruß an die evangelische Gemeinde z« Bonn von

Ernst Dryander, Pfarrer an der DreifaNigkeitSkirche in Berlin.

Zum Besten der innern Mission in der Gemeinde Bonn.

Bonn,

bei Adolph Marcus. 1882.

Dem Presbyterium

-er evangelischen Gemeinde Kann Herrn Pfarrer Krabb, den Aeltesten

Herren Berghauptmann Dr. Draffert, Geh. Justizrath Prof. Dr. Kälschner, Hauptmann a. D. G. Hermam, Consist.-Rath Prof. Dr. Krafft,

den Kirchmeistern Herren Rentner O. Trampetter und

Komig,

den Diakonen Herren Jllspector a. D. Kaffmann, Apotheker Kauffs,

Rentner W. Knngstras und H. Kchmichals

als ein Zeichen des Dankes «nd der bleibende« Geistesgemeinschast

gewidmet.

Vorrede. Wozu ich mich ohne einen besonderen Anlaß schwerlich

entschlossen habe würde, das haben vielfach geäußerte Bitte»

bei meinem Scheiden aus einem mir überaus theuren Wir­

kungskreise als eine Art Pflicht erscheinen lassen, der ich mich

nicht entziehe.

Ich übergebe daher etliche in den

letzten

Jahren gehaltene Predigten der Gemeinde als einen Gruß

des Abschieds lind als ein Unterpfand einer

Gemeinschaft,

welche durch die äußere Trennung nicht berührt wird.

Die

nur geringere Anzahl, welche ins Auge gefaßt war,

der

Wunsch,

möglichst der letzten Zeit angehörige Predigten zu

wählen, endlich die Kürze

der Zeit, welche die zufällig in

leserlicher Schrift bereits vorhandenen Manuscripte in erster Linie zu berücksichtigen gebot, haben der Auswahl Beschrän­

kungen auferlcgt, die sich auch im Gehalte der Sammlung fühlbar machen.

Namentlich sei damit eine gewisse Gleich­

artigkeit des Tones in den aus den letzten Monaten stam­ menden Predigten entschuldigt.

Die Gemeinde nehme sic

freundlich auf, nicht als eine Gabe, die für sich etwas sei,

sondern die lediglich die Erinnerung an geweihte Stunden den Hörern befestigen will. Der treue Gott aber segne, baue

und berathe die theure Bonner Gemeinde, Hirten, Aelteste und Glieder, daß sie eine Pflanzstätte evangelischen Lebens sei und bleibe, er umschirme ihre Jugend, er trage ihre Alten, er fördere ihre Gemeinschaft im Glauben und ihre

Arbeit in der Liebe — mein Herz und meine Fürbitte ge­

hören ihr für immer! Berlin, den 24. November 1882.

Dryander.

Inhalt. Seite

I.

II.

III. IV. V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

Der Gott des Friedens heilige euch! 5. Sonntag nach Trinitatis 1881 — (1- Thess. 5, 23. 24)............................................................ 1 Die Entwickelung der Sünde. 13. Sonn­ tag nach Trinitatis 1881. — (Jac. I, 13—16) 13 Seid geduldig. 6. Sonntag nach Trinitatis 1882. — (Jac. 5, 7-11).................................... 26 Die seelenrettende Liebe. 9. Sonntag nach Trinitatis 1882. — tJac. 5, 19. 20) . . . 37 Der weltüberwindendc Glaube. 14. Sonn­ tag nach Trinitatis 1882. — (1. Joh. 5, 1—4) 48 Wer den Sohn hat, der hat das Leben. 13. Sonntag nach Trinitatis 1882. — (1. Joh. 5, 11 — 13)..............................................................61 Wenn Du mich demüthigst, machst Du mich groß. 4. Sonntag nach Trinitatis 1881. — (2. Sam. 22. 36) 73 Christus und die guten Menschen. 2. Sonn­ tag nach Epiphanias 1879. — (Matth. 19, 16-26).................................................................. 85 Die Verjüngung. Jubilate 1882. — (Jes. 40, 25—31) ............................................. 100

Seite

X. XL

XII. XIII.

XIV. XV.

Das Bild des christlichen Weibes. Septuagesimac 1880. — (1. Petri 3, 1—7) ... 112 Vorbereitung zum h. Abendmahl. Grün­ donnerstag 1880. — (Joh. 17, 20—23) . . 126 Das Wort vom Kreuz. Charfreitag 1878. — (1. Corinther 1, 21—25)................................... 137 Die Glaubensgeschichte der Jünger von Emmaus als ein Spiegelbild unsrer Seelengeschichte. 2.Ostertag 1880. — (Lucas 24, 13—35) ................................................... 151 Die Stimmen Gottes am Jahresschlüsse. Sylvesterabend 1881. — (Psalm 95, 6—8) . 167 Wir leben oder wir sterben, wir sind des Herrn. Todtenfest 1880. — (Römer 14, 7—9) 179

I.

5. Sonntag nach Trinitatis 1881. Der Gott des Friedens heilige euch! I. Thess. 5, 23—24.

Er aber, der Gott des Friedens, heilige

euch durch und durch, und euer Geist ganz, sammt der Seele und Leib, müsse behalten werden unstriiflich auf die Zukunst unsers

Herrn Jesu Christi.

Getreu ist er, der euch rufet, welcher wird

es auch thun.

Theure Gemeinde!

Unter der großen Zahl von

Segenswünschen, in die die Apostel die Fülle des Heils für­ bittend zusammenfassen, ist keiner reicher, klarer, tiefer, als

dieses Wort, in das Paulus den Inhalt des ersten Send­

schreibens an die Gemeinde von Thessalonich

zusammen­

schließt — mit seinem Rückblick auf den Grund alles Heils:

getreu ist Gott, mit seinem Hinweis auf den Weg des Heils: er heilige euch durch und durch, mit seinem Ausblick auf

das Ziel des Heils in der Ewigkeit: unsträflich bis auf die Zukunft unsres Herrn Jesu Christi.

Laßt es denn nicht

blos ein Gebet sein, das Paulus für seine Thessalonicher

thut, sondern eine Fürbitte, die jetzt einer für den andern, jeder für alle in seinem Herzen bewegt;

betet es mit der

freudigen Gewißheit, daß Gott solche Gebete erhört, und es

geht von unsrer Morgenandacht heute eine Kraft der Heili­ gung und des Friedens aus, die wir als einen Sonntags­

segen mit in unsre Häuser nehmen können.

2 Es

ist

indeß noch ein

andrer

Gedanke,

der dies

Wort uns werth macht und es gerade in unsrer Gemeinde

der eingehenderen Betrachtung nahe legt.

wichtig,

Es ist überaus

daß alle die feststehenden Formeln und Gebets­

wünsche, die in unsren Gottesdiensten und unsren Liturgien

Vorkommen, nicht bloße Formen seien, sondern mit Geist er­

füllt und mit Leben und Kraft durchdrungen werden.

So

gilt es von jenen so oft unverstandenen Gesängen des Halle-

lujah, des Kyrie eleison, des Hosianna, ja selbst des Amen. So gilt es auch von dem Kanzelgruß, der unsre Predigten

zu beginnen pflegt und von dem Segenswort Aarons, das unsre Gottesdienste schließt.

Sie

alle sollen nicht blos

Formeln sein, sondern Gefäße für Glauben und Gebet, für

Lob und Sehnsucht der Gemeinde.

Jede Predigt, die uns

den Inhalt derselben recht zum Bewußtsein bringt, wird damit unsren Gottesdienst selbst geweihter und vergeistigter machen

und ihn mit Wahrheit und Leben erfüllen. Den Segenswunsch nun,

den wir soeben vernahmen,

sprechen wir regelmäßig auf dem Höhepunkte unsrer gottes­

dienstlichen Feier aus; er enthält den Gebetssegen, unter dem

jedesmal die

feiernde Gemeinde von unsren Abendmahlen

entlassen wird. Er will mit seinem: „der Gott des Friedens heilige euch" die köstliche Frucht bezeichnen, die wir von der

Gemeinschaft des Herrn im Sakrament mitnehmen sollen. Bor allen möchte ich darum den treuen Communicanten unter uns diesen Segen auslegen; nicht aber ihnen allein; möge

die Auslegung des

Segenswortes allen

die Stätte lieb

machen, an der ein solcher Reichthum des Heils gespendet wird. Wir schreiben nichts andres über unsre Predigt, Segenswunsch des Apostels selbst:

als den

3 Der Gott des Friedens heilige euch durch und

durch, daß euer Geist ganz sammt Seele und Leib unsträflich behalten werde bis

auf die

Zukunft unsres Herrn Jesu Christi!

Friedefürst, laß Deinen Frieden

Stets in unsrer Mitte ruhn! Amen. Bleiben wir zunächst bei dem Hauptgedanken stehen.

und

„Der Gott des Friedens heilige euch durch durch", d. i.

ganz und

nach allen Seiten,

gar,

„daß

euer Geist ganz sammt Seele und Leib werde un­ sträflich behalten". Eine vollkommene Heiligung erbittet

der Apostel für seine Gemeinde.

Es ist derselbe Gedanke,

den er kurz vorher so ausdrückt:

„das ist der Wille Gottes

an euch,

eure Heiligung", derselbe Gedanke, an den der

Hebräerbrief mahnt:

„jaget nach dem Frieden gegen jeder­

mann und der Heiligung,

Herrn sehen".

ohne welche wird niemand den

Es steht aber diese Mahnung nicht nur

als eine neben vielen andern.

Wie der Apostel mit seinem

Wunsche alles das zusammenfaßt, was er vorher im einzelnen erwähnt und geschrieben, so spricht er mit demselben nun

auch einen Grundgedanken der gesammten heiligen Schrift aus: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig." Heiligung,

ja ein Heiligwerden durch

und durch



gewiß fühlen wir alle, daß das etwas unbeschreiblich Großes

und Hohes ist.

Wir alle bitten Gott, daß er uns ganz

die Größe dessen offenbare, was er fordert,

ja daß er den

Inhalt dieser Forderung, geheiligt zu werden durch und durch,

uns als das größeste erscheinen lasse, was es giebt.

Zuvor

richten wir darum die Frage: was bedeutet es denn heilig zu

werden?

Wir nennen wohl einen heilig, der das Gute liebt und

4 thut, das Böse hasst und flieht.

Das ist allerdings nur

oberflächlich geredet, aber es hilft uns zunächst weiter. Um nämlich das Gute zu lieben und das Böse zu hassen, muß ich ja zuerst genau erkennen, was gut und böse ist.

Ich

muß das nicht blos an andern wissen, sondern vor allem an Ich muß es nicht blos

mir selbst.

an bösen Thaten er­

kennen, sondern ebenso an der bösen und argen Gesinnung,

die nicht zur That ward, und die vielleicht nie zur That

werden wird. — Weiter aber soll ich nun dieses erkannte Böse hassen und fliehen und dieses erkannte Gute lieben und thun.

Auch bei der That kommt es nicht blos auf das Aeußere an, sondern wieder auf das Innere und Unsichtbare, auf die

Gesinnung.

Nun vermag wohl der Wille manches

auch vieles über unser Thun; er merkwürdig wenig.

oder

über die Gesinnung vermag

Er vermag nicht, einen argen Sinn

und ein unreines Herz auszureißen und zu erneuern. Rein­

heit des Herzens

und der Gesinnung hat sich noch kein

Mensch aus sich selbst gegeben.

Alle unsere Willensan­

strengungen, das Böse zu hassen und innerste Lust zu haben

an dem, was geweiht, was keusch, was lieblich, was wohl

lautet, enden immer wieder mit dem Seufzer: ich elender

Mensch!

mit dem Hülferuf Augustins:

„gieb mir zuerst,

was du gebietest und dann fordere, was du willst". Es gilt indeß noch tiefer zu dringen.

Nämlich wer

sagt denn meinem schwankenden und unruhigen Herzen mit seinen dunkeln Leidenschaften und seinen irrenden Gedanken, diesem Herzen, dessen heiligste Regungen noch von Sünde

durchsetzt sind, was eigentlich heilig und gut ist? Das kann

sicherlich nur der, der selbst heilig ist, und der als der Heilige sich offenbart hat in Gesetz und Gewissen — Gott. Es ist

nun wahr,

Gott ist unsichtbar;

aber doch kann ich seine

Heiligkeit wahrnehmen; und zwar nicht nur im Donner des

Sinai oder in der Stimme des klopfenden Gewissens, die ich zum Schweigen bringen kann; auch nicht nur in jenem Gesicht

des Propheten, in welchem die Seraphim vor dem Glanz

seiner Heiligkeit ihr Angesicht verhüllen; nein, ich kann sie schauen in menschlicher Gestalt, in menschlichem Wesen und

Wandel, in dem fleischgewordenen Wort, das, wie einer es

ausdrückt, alles, was von dem unsichtbaren Gott sichtbar werden kann, zur Erscheinung bringt, nämlich seine Heilig­

keit und seine Liebe, — in unserm Herrn Jesu Christo.

Sieh

sein Bild an, wie die Schrift es giebt; sieh es an, wie man das Bild eines Geliebten ansieht, in das man sich hinein­

sinnt und

hincinlebt;

siehe zu gleicher Zeit diese Hoheit

gegenüber der Sünde, und diese Liebe gegenüber den Sündern, diese Macht und diese Demuth, diesen heiligen Zorn und diese

heilige Sanftmuth, diese Stille des betenden Herzens

und

diese Kraft rastlofen Wirkens, diese unbewegliche Ruhe in Gott und diese vollkommene Hingabe an die Menschen —

so werden wie er, von ihm lernen, ihm nachfolgen — das heißt heilig werden wie Gott, geheiligt werden ganz und gar,

durch und durch. Gesinnung

Christo ähnlich

und Wandel, das

in Wort und Werk, in

ist der Weg der Heiligung.

Stellt diese heilige Gestalt Christi, den Bergprediger mit seiner Gesetzesauslegung und den Heiland mit seiner Sünder­ liebe, den Heiligen und den Barmherzigen hinein in euer

Leben,

in das heutige Erleben, in euren Geschäftsverkehr,

in euren Haushalt, in eure Geselligkeit, in eure Men Stun­

den; laßt ihn euren innersten Träumen und Wünschen zu­

hören;

laßt

seine

Augen

ruhen

auf

den

verborgenen

Bildern eurer regellosen Phantasie-------- ist dieser Gedanke euch peinlich? ja müßt ihr davor erschrecken? möchtet ihr

6 lieber, wie Petrus, niedersinken: Herr, gehe von mir hinaus!

ich bin ein sündiger Mensch?



dann ahnt ihr, was es

heißt, heilig sein und heilig werden. Wir haben noch ein andres Wort zu beachten. „Durch

und durch", sagt Paulus, „heilige euch Gott!" und fügt sogleich erklärend hinzu: „daß euer Geist ganz, sammt

Seele und Leib unsträflich behalten werde".

Licht göttlicher Heiligkeit duldet keine Flecken, anleuchten und durchleuchten will.

Im Urtext ist ein Wort

gebraucht, das man sonst beim Opfer anwendete.

Opfer, das Gott geweiht wurde,

Das

die es nicht

Wie das

fehllos und fleckenlos sein

mußte „durch und durch", so sollen es die Menschen sein, die als ein lebendiges Opfer ungetheilt und ganz sich selbst

Gott darbringen.

Nicht in dem Sinne, als ob der aposto­

lische Wunsch lauter Sündlose voraussetzte: er könnte ja sonst

nirgends als erhört gelten.

Aber wie die Sonne, je höher

sie steigt, um so tiefer und vollkommener die Thäler und Niederungen durchdringt und von einem Schlupfwinkel zum

andern die giftigen Nebel verfolgt,

bis sie auf der Höhe

des Zeniths einmal auch in die dunkelste Schlucht hinunter­ leuchtet: so soll es im Christenleben sein.

Immer höher und

lebensmächtiger soll die Heiligkeit Gottes in Christo,

heilige Wille Gottes in ihm über uns aufgehen;

der

immer

sieghafter soll sie die verborgenen Schlupfwinkel der Sünde durchleuchten und ein Bollwerk der Sünde nach dem andern

zerstören; immer völliger soll diese heilige Lebenssonne uns

innerlich durchwärmen und tertiären,

„daß der Geist ganz,

sammt Seele und Leib unsträflich behalten werde bis auf die Zukunft unsres Herrn Jesu Christi".

Geist,

Seele und Leib

— so will Paulus

den

ganzen Menschen nach allen Seiten seines Wesens bezeichnen.

7 G ei st — das ist das Innerste in uns, für die Ewigkeit Bestinimte, zu bewahren haben.

das für Gott und

das Kostbarste also, was wir

Er soll verklärt und geheiligt werden

durch den Geist Gottes, der sich mit ihm vermählt, durch

die Lebenssonnc Christus,

unter deren Strahlen

nun ein

neues Leben aus Gott und für Gott sich entfaltet. diese Sonne wird verdunkelt,

Aber

dieser Gottesgeist zieht sich

zurück, sobald der für Gott bestimmte Menschengeist seine

eigne Bestimmung vergißt und sich der Sünde hingiebt. —

Und dann steigt der Apostel tiefer hinab, zur Seele, Leben der Sinne und Triebe, Phantasie.

der Leidenschaften

und

dem

der

Wer nur angefangen hat, an sich selbst zu

arbeiten, der weiß, was es heißt, diese Seclenwelt von Stim­ mungen und Empfindungen, von Lust und Leidenschaft, von

Trotz und Verzagen unter der heiligenden Zucht des Geistes

zu halten und sie in die Schule Jesu Christi zu stellen. Die Ungleichmäßigkeit des innern Lebens mit ihren auffallenden

Rückfällen in die Sünde, mit ihren starken Resten von sündlicher Leidenschaft auch da,

wo Gottes Arbeit am Herzen

unzweifelhaft begonnen hat, erklärt sich oft gerade daraus, daß dieses niedere Seelenleben nicht mit ganzem Ernst unter die Herrschaft des

Geistes Gottes gestellt wird.



Und

endlich noch eine Stufe tiefer: auch dein Leib soll unsträflich

behalten werden,

ein heiliges Opfer,

das Gott dargebracht

wird, ein Tempel seines Geistes, ein Knecht nicht fleischlicher Lust, sondern eines himmlischen Berufes.

Begebt eure Glieder,

schreibt Paulus anderwärts, zu Werkzeugen der Gerechtigkeit,

geheiligt im Dienste Gottes. Zu welchem Kampfe aber wird auch damit aufgerufen

gegen alles, was von der Welt ist,

Augenlust, Fleischeslust, hoffärtiges Wesen. Und nun, theure Freunde, endlich eine Frage.

„Der

8 Gott des Friedens",

sagt Paulus,

„heilige euch nach

Geist, Seele und Leib durch und durch". Theure Brüder, laßt uns einander fragen: möchte ich das wirklich au mir

und

für mich?

Ist Pauli Wunsch dein Gebet und zwar

das allerernstlichstc? zählige

So sonderbar es klingt, es giebt un­

Menschen, auch

Christen,

die

gradezu erschrecken

würden, wenn dies Gebet plötzlich erhört

und irgend eine

Lieblingssünde, irgend ein ehrgeiziger Traum, eine Rache oder

dergleichen ihnen genommen würde. Ach, ein Guter sein, nicht ein Böser — wer möchte das nicht! Aber, theure Freunde, heilig

sein, durch und durch geheiligt, den Gedanken der Sünde, an dem

im Geheimen das Herz hängt, nicht blos lassen,

sondern auch hassen —: der Gedanke ist so groß und so mächtig, daß der menschliche Wille aus sich selbst ihn nicht

einmal fassen würde, und daß in voller Tiefe ein blos mensch­

licher Wille ihn auch nicht zum Gegenstand seiner Bitte zu

machen vermag.

Darum Preis sei Gott, daß wir auch von

dem Apostel nicht nur auf uns selbst und unsre eigne Arm­

seligkeit verwiesen werden,

sondern auf die Friedens- und

Heilsgedanken des allmächtigen Gottes.

Er schafft beides,

das Wollen und das Vollbringen. „Er aber", sagt Paulus, „der Gott des Friedens, durch",

Er heilige euch durch und

und ausdrücklich fährt er noch fort:

„getreu ist

er, welcher euch rufet, welcher wird es auch thun".

Der Gott des Friedens — der Apostel weiß, warum er ihn so nennt.

Jede Sünde ist im Grunde eine Empö­

rung, eine Kriegserklärung gegen den heiligen Gott. Es ist

ein Kriegszustand, in dem sich diese Welt Gott gegenüber befindet, diese Welt, die er geschaffen hat, damit sein Reich

auf ihr gebaut werde.

Da kannst du nun kein andrer

werden, so lange dieser Gesammtzustand nicht aufgehoben,

9 und an Stelle des Krieges der Friede getreten ist. Das ist es, was der Gott des Friedens gethan hat.

Er hat nicht

etwa uns beleidigt, sondern wir ihn, und dennoch bietet er uns, als ein Gott des Friedens, Frieden an.

Er bietet ihn

an, nicht weil er des Kampfes müde wäre, sondern als eine

That der Erbarmung gegen die,

welche mit ihrer Empö­

rung sich selbst das Verderben schaffen.

Er bietet ihn auch

nicht an nur mit freundlich zusicherndem Wort, sondern mit Thaten göttlicher Barmherzigkeit.

Er hat Frieden gemacht

mit uns durch das Blut seines Sohnes und hat einen Bund

des Friedens mit uns geschlossen, in dem wir, die Verlornen, Vergebung der Sünden haben sollen. Da seht, liebe Freunde, den Grund unsres Heils und

den Quell unsrer Heiligung bei diesem Gotte des Friedens. Nicht wir

erretten uns,

sondern

Gottes Gnade

allein.

Wer immer selig wird, wird cs nur aus Barmherzigkeit. Aber diese Barmherzigkeit kann nun

ihr Werk nicht

halb

vollendet lassen, sie will die Begnadigten auch heiligen; in­

dem' Gott Frieden bietet, bietet er auch die Kräfte der Heili­

gung dar, welche nach Geist, Seele und Leib unsträflich be­

wahren bis an den Tag Jesu Christi. Denn wer im Glauben diesen Frieden annimmt, den Gott ihm bietet, der wird nun

nicht mehr von der geheimen Furcht vor dem lebendigen und heiligen Gott bewegt, sondern von tiefer Liebe und Hingebung

an den Erbarmer.

So wird das Menschenherz gleich einem

füllen See, der die Strahlen der Sonne in sich einsaugt und

durchwärmt wird bis auf den Grund. Es steht offen für die verborgenen Gnadenkräste, die Gott der Seele mittheilt, um sie durch und durch zu heiligen. Es lernt eine neue Art er-

hörlich zu beten und durch das Gebet Kräfte der Heiligung nach Geist, Seele und Leib zu empfangen.

Es wächst hinein

10 in die Gemeinschaft Jesu Christi fest wie die Rebe am Stamm; es empfängt im Glauben die Lebenskräfte aus der unsicht­

baren Welt.

Ein unbeschreiblicher Trost ist es aber dabei, wenn Paulus ausdrücklich hinzufügt: rufet,

„Getreu ist, der euch

welcher wird es auch thun".

Es kommen ja

immer wieder dürre Zeiten auch für die, welche bereits höher gestiegen sind.

Es wiederholen sich noch Schwankungen, die

man längst unter seinem Fuß zu haben glaubte. Wenn Gott recht ernste Opfer fordert und den Menschen vielleicht grade

wie es ihm am

an seinen verborgenen Sünden anfaßt,

wehesten thut, so kann einem auch das sanfte Joch Christi

wieder hart und drückend vorkommen.

In solchen Zeiten,

wo wir nichts wahrnehmen von den Fortschritten der Heili­

gung und nichts von den Kräften der Gnade empfinden, sollen wir uns flüchten in Gottes Treue.

Da liegt unsre

starke Zuversicht; er kann das gute Werk nicht unvollendet

lassen; er kann sich selbst nicht leugnen; er bringt hindurch

und wird es auch an uns thun zu seiner Zeit. Das alles flingt ja nun allerdings sehr demüthigend:

es ist nicht unser Werk, sondern Gottes Erbarmen.

Kein

andrer Mensch wird das auch je verstehen können, als wer sich selbst vor Gott gebeugt und Demuth gelernt hat. Nur wo Demuth ist, ist die Empfänglichkeit für Gottes Gnade. Aber doch ist damit nicht ausgeschlossen die volle Kraft und

der ganze Emst der Hingabe.

Gott wirkt es, aber nur an

den Wollenden; Gott heiligt, aber nur die sich durch seinen Geist heiligen lassen.

Laßt uns vor allem bitten um die

aufrichtigen und wollenden Herzen; so reich wird Gottes Gnade über dir sein, als dein Wille aufrichtig Herz in Demuth offen ist.

und dein

Damit versteht man auch,

wie

11 diese Heiligung

nicht etwas

mit einem Schlage Fertiges,

sondern ein beständig Wachsendes

und Werdendes ist, ein

Immer völliger werden an Erkennen, Wollen und Thun. Sie wächst an den Versuchungen selbst; was der Apostel

vorher geschrieben hat: „Niemand vergelte Böses mit Bösem, jaget dem Guten nach, betet ohne Unterlaß,

seid allezeit

fröhlich, seid dankbar in allen Dingen", — das alles wird

zusammengefaßt in dem Schlußwort: „der Gott des Friedens

heilige euch ganz".

Man kann aber auch sagen,

alle diese

Ermahnungen sind Stufen der Heiligung, die der Gott des

Friedens geben soll. Auf einen andren Gedanken noch weist

hin, den wir nur andeuten: „Geist,

der Apostel

Seele und Leib sollen

unsträflich behalten werden bis auf die Zukunft, d. i. die Wiederkunft



unsers Herrn Jesu Christi".

Unser

Brief ist von dem Gedanken an das Kommen des Herrn

durchzogen, wie kein zweiter im neuen Testament. Es handelt sich um seine Wiederkehr zum endlichen Gericht

und zur

Scheidung, und der Maßstab dieses Gerichts soll die Unsträfllichkeit von Geist, Seele und Leib sein, d. h. der Ernst

unsrer Heiligung. Wie wir gewuchert haben mit der Gnade, die Gott uns bot,

ob wir den Frieden annahmen, den er

gab, ob wir das Heil vergeblich empfangen haben, mit dem er uns retten wollte: das werden die Fragen sein, die der

Herr an uns richtet.

Vor den Schrecken

des Gerichts

flüchten wir uns in die Gewißheit seiner Gnade in Christo Jesu. Aber vergessen wir nicht, wem diese Gnade ein sichrer Schutz

sein soll:

„wer will die Auserwählten Gottes be­

schuldigen?" — bei dem muß sie sich bewähren als eine Kraft

der Heiligung. Und nun erinnere ich noch einmal an unsre Abend-

12 mahlsfeiern, an deinen letzten Abendmahlsgang.

Da hat

dies köstliche Segenswort dir noch einmal zusammengefaßt, was du empfingest.

Denn jedes Abendmahl erneuert den

Gnadenbund mit dem Gotte des Friedens und reicht uns die Seelenspeise heiligender Kräfte dar.

Wohl, so oft denn

bei unsren füllen Gängen zum Tisch des Herrn dies Wort

an unser Ohr klingt,

so oft laßt es nicht blos einen tiefen

und geweihten Segenswunsch sein, der wieder verklingt. Laßt es ein Wort sein, an dem wir die Früchte der Heiligung

prüfen, die in uns erwachsen sollen und durch das wir uns mahnen lassen an die Fortschritte im innern Leben, die jedes

Abendmahl in uns wirken will.

Wenn wir uns dann oft

demüthigen müssen vor der heiligen Tiefe dieses Grußes, laßt

uns grade dann um so treuer und fleißiger zu der Gnade

zurückkehren, die keinen Kommenden hinausstößt, und von ihr aufs neue Kräfte des Friedens und der Heiligung empfangen.

Laßt es uns wie eine Einladung aufnehmen, die uns immer wieder zurückruft zu unserm Herrn. Ja — er ist getreu, er wird es auch thun. Ihm sei Ehre jetzt und von Ewigkeit

zu Ewigkeit! Amen!

II. 13. Sonntag nach Trinitatis 1881. Die Entwickelung Jac. 1, 13—16.

Niemand sage, wenn er versucht wird, daß

er von Gott versucht werde.

zum Bösen.

der Sünde.

Denn Gott ist nicht ein Versucher

Er versucht niemand;

Sondern ein Jeglicher wird

versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizet und gelocket wird.

Darnach,

wenn die Lust empfangen hat,

gebieret sie die Sünde;

die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebieret sie den Tod.

Irret

nicht, liebe Brüder.

Kaum giebt es eine Frage, die so sehr zu jeder Zeit die Denker der Menschheit beschäftigt har, als die, welche der

vorliegende Text berührt — die Frage: woher das Böse in der Welt? So verschieden auch die Antworten sind, die man

gegeben hat:

jede hat nur in ihrer Weise die Größe des

Räthsels bestätigt, um das es sich handelt.

Auch der Apostel löst nicht das Unlösbare;

er giebt

nur gewisse Grenzlinien an, auf die es ankommt; er giebt an, woher das Böse nicht kommt und giebt damit den rechten

Weg an, seine Entstehung zu erklären.

Aber er thut das

wohlgemerkt nicht etwa, um dem menschlichen Denken will-

kommne Aufschlüsse zu geben. praktische Ziele im Auge.

Wie immer, hat er auch hier

Er hat im Anfang seines Briefs

den angefochtenen und gedrückten Christen eine Trostpredigt

14 von wunderbarer Kraft gehalten und hat die selig gepriesen, die die Anfechtung erdulden.

Nun aber wendet er die Rede

zu einem Ton heiligen Ernstes:

nicht alle sind ja so selige

Dulder; mancher hat gestrauchelt unter dem Ernst der An­

fechtung;

mancher ist matt geworden vor dem Ziel.

sollen nicht irren — nicht etwa Gottes Schuld ist es,

dessen Hand

auch die Anfechtungen sind,

in

wenn sie in der

Versuchung fallen, sondern nur ihre eigne.

verloren, als durch eigne Verschuldung.

Sie

Es geht keiner

Mag die Trübsal

von Gott kommen, die Sünde kommt nie von Gott; sie kommt aus der eignen argen Lust.

Davor sollen sie auf

der Hut sein, daß nicht diese Lust empfange und zur Sünde

vollendet, den Tod gebäre. Somit redet der Apostel also nicht im allgemeinen von

der Entstehung des Bösen, von der ersten Sünde die auf

Erden geschehen ist. Er geht in das persönlichste Gebiet der eignen Erfahrung hinein und zeigt einem jeden Einzelnen

den Ursprung seiner Sünde. Er klopft an das Persönlichste an, was es giebt, an das Gewissen, und fragt einen jeden

nach seiner Sünde.

Er redet für jeden aus seinen Erleb­

nissen heraus und wieder in seine Erfahrung hinein, indem er ihm die Entstehungsgeschichte seiner Sünde beschreibt.

Grade deshalb aber schildert sein Wort nicht nur etwas

Vergangenes; es schildert uns allen etwas, das wir gestern und heute selbst erlebt haben, und das wir morgen und übermorgen vielleicht wieder erleben werden. Es erzählt uns

allen unsre eigne innere Geschichte und richtet an uns alle

den gleichen Ernst heiliger Mahnung. Wir gehen ihr nicht aus dem Weg.

Unsre Zeit liebt

nicht das Wort Sünde und leugnet sich die Sache selbst nicht selten ab. Und doch wo keine Erkenntniß der Krankheit

15 und ihrer Ursachen ist, da kann auch keine Heilung sein. Mag

darum Jacobus uns heute predigen

Von der Entwickelungsgeschichte der Sünde, von ihrem Anfang, ihrem Fortgang, ihrem Ausgang.

1. „Niemand sage, wenn er versucht wird —" beginnt

Jacobus.

Von Anfechtungen ist vorher die Rede gewesen.

Im Griechischen steht für beides das gleiche Wort; in der Sache ist ein Unterschied. Die Anfechtung kommt von Gott

und führt zu Gott; darum „selig, wer sie erduldet".

Die

Versuchung kommt aus der Sünde und führt zur Sünde; darum muß man bitten: „führe uns nicht in Versuchung!"

Die Anfechtung prüft wohl den Menschen, aber als Ziel hat sie immer des Menschen Bewährung und darum kann man

es für Freude achten, in mancherlei Anfechtungen zu fallen. Die Versuchung prüft auch den Menschen, aber als Ziel hat sie des Menschen Fall und Verderben; darum gilt, was der

Apostel sagt, wie es wörtlich lautet: „Niemand der in Ver­

suchung steht, sage: von Gott werde ich versucht. Denn Gott kann nicht versucht werden vom Bösen, und er selbst versucht niemand." In der That, so hat man gradezu gesagt.

Seitdem

der erste Mensch es gewagt hat, die Schuld seiner Ueber-

tretung auf Gott zurückzuschieben: „Das Weib, das Du mir zugesellet hast, gab mir davon und ich aß" — haben die Menschen in immer neuer Wendung diese Rede wiederholt. „Ich bin nun einmal so wie ich bin" —

„die Umstände

die ich nicht herbeigeführt habe, waren so zwingend, daß ich nicht anders konnte".

Heuchlerisch haben sogar Christen bei

tiefem Fall geredet, als habe Gott seine bewahrende Hand

16 von ihnen abgezogen.

Ja noch mehr — man hat die Aus­

rede eines bösen Gewissens sich selbst eingeredet: „wer kann doch heilig sein, wie Gott.

der menschlichen Natur.

Die Sünde ist unabtrennlich von

Sie ist ein Glied im großen gött­

lichen Erziehungsplan der Menschheit; sie muß sein, so wie das Licht nicht ohne den Schatten sein kann; Gott selbst hat Wie? so ist also Gott der Versucher

es so angeordnet". zum Bösen?

Wißt ihr, liebe Freunde, was das heißt? Es

heißt nichts andres,

als die Sünde rechtfertigen; es heißt,

der Schuld ihr Gewicht, der Uebertretung ihren Ernst, dem

Gewissen seinen Stachel nehmen.

Denn mit welchem Recht

soll doch diese einzelne Sünde schwere Schuld sein, wenn die Sünde im ganzen unvermeidlich ist?

Oder mit welchem

Grunde soll eine schwere Schuld in der Tiefe gefühlt werden, wenn alle leichte Schuld im Grunde geleugnet wird? Ja es heißt eben damit noch mehr; es heißt auch den heiligen Gott selbst herabziehen in die unreine Welt, ihn wie jene heid­

nischen Gottheiten

der alten Welt theil nehmen lassen

an

der menschlichen Sünde und so die Achtung vor ihm zer­ stören; es heißt, das Band zerreißen, das uns mit Gott ver­

bindet, und das nur bestehen kann, wenn er ein heiliger und

herrlicher Gott ist, vor dem wir uns auch beugen.

„Irret

nicht, liebe Brüder; lauter gute und vollkommene Gabe

kommt von oben herab, von dem Gott, der ein Vater

des Lichts ist, bei dem keine Veränderung noch Wechsel ist.

Gott versucht niemand" — so zerreißt Jacobus die trüge­ rischen Schleier.

Gott.

nicht von

Von unten her ist die Sünde,

Der selbst nicht versuchbar ist, kann nicht andre ver­

suchen. Der Heilige kann nicht andre verführen.

Merken wir

wohl, meine Brüder: es giebt Buße für die Sünde; es giebt

Abbitte für die Sünde; es giebt auch Vergebung

für sie;

17 aber es giebt

keine Entschuldigung und Beschönigung für

die Sünde. Sie ist eine Empörung wider den heiligen Gott

und darum da rf sie nicht sein; darum kann sie nicht geduldet werden;

auch die geringste und kleinste

kann nicht bestehen

Mit sittlichem Ernst, mit einem

vor seinem heiligen Auge.

Genaunehmen mit der Sünde beginnt jede religiöse Vertiefung.

Anerkenntniß der Sünde als von etwas Furchtbarem, für das man verantwortlich ist vor Gott, das ist der Anfang

für das Nahen zu Gott.

Nur wer sie so zuerst in ihrem

Emst erkannt hat, wem dadurch das Gewissen geschärft und das Auge geöffnet ist für ihr Wesen, der wird dann auch

erkennen, woher sie kommt.

Und hier, liebe Freunde, laßt

uns die erste Frage an uns selbst richten — gegenüber aller

sittlichen Schwächlichkeit,

die es mit der Sünde so wenig

ernst nimmt, die von vornherein den schneidigen Ernst der

göttlichen Forderung auf das gewöhnliche Maß sich herab­ drückt,

die kein Kämpfen kennt wider die Sünde

— ist es

uns ganzer Ernst, die Sünde zu erkennen, wo sie auch sei, und zu fliehen, wie sie auch sei? Nur dann geht das aposto-

lischeWort uns auf: ein jeglicher wird versucht, wenn er von seinereignenLust gereizet undgelocket wird.

Die Sünde ist von unten her. In den dunklen Unter­ grund des eignen Herzens weist der Apostel;

da erhebt die

Versuchung ihr Haupt; da ist der Quell des Bösen. seiner Lust wird der Mensch gereizt und gelockt.

ist der Ausdruck ganz allgemein.

Von

Absichtlich

Es ist ebenso die Lust

des Hochmuths, der von Gott und dem Zwange seiner Gebote

los sein will, als die Lust der Sinnlichkeit, die für sich selbst

Befriedigung und Genuß sucht. Das sind die beiden Grund­ formen des Bösen.

So verschiedene Gestalten

nimmt die

Lust an, als die Menschen verschieden sind, in denen sie sich

18 erhebt, oder die Anlässe, bei denen sie sich erhebt.

lange Zeit schlummern: auf einmal erwacht sie.

Sie mag Man mag

sie überwunden glauben: plötzlich ist sie in derselben Stärke

wieder da. Nur Bilder sind es, die sie vorzaubert, nur Ge­

danken und Wünsche; aber mit ihrem Glanz und ihrer Farben­ pracht nehmen sie auch Verstand und Willen gefangen. Jetzt schießt sie plötzlich auf und überwältigt in furchtbarer Leiden­

schaft den Menschen in einem unbewachten Augenblick, und

dann wieder geht sie mit ihren versucherischen GedanKn, mit

ihren ehrsüchtigen Plänen, mit ihren Erregungen der Rach­ sucht, der Bosheit, des Geizes, der Wollust, wie schleichend uns nach und verscheucht selbst den Schlummer, bis sie Be­ friedigung findet.

Von seiner eignen Lust, sagt Jacobus;

o wie das

demüthigend klingt! Für den heiligen Gott ist das Böse ein Fremdes, für den Menschen ist es ein Eigenes. Wer kann

denn sagen, wann die Lust in ihn kam;

erwacht.

Sie

ist

auch

sie ist nur in ihm

dann unser Eigenes,

wenn

sie

von außen her entflammt wird, wenn hier ein arges Bild oder ein arges Buch, wenn dort ein schlimmer Freund reizt

und lockt, der Pfeil würde ja nicht zünden, wäre der Zunder nicht in uns. Verlernen wir es doch, theure Freunde, die Schuld

der eignen Lust auf andre zu schieben.

Ach wie oft braust

in einem zerschlagenen, unter dem Gewicht seiner Schuld

seufzenden Menschenkinde der Zorn auf gegen die schändlichen

Verführer, welche ihm den Anlaß gaben zur Sünde.

Und

wie oft ist es von da nur ein Schritt zum Zorn gegen den

Gott, der es zuließ, daß die Sünde geschah. Nein, die eigne

Lust war es und darum ist es deine eigne Schuld, und nur um so größer werden die Schmerzen, so lange du deinen Zorn gegen andre kehrst, anstatt gegen dich selbst und deine eigne Sünde.

19 Gereizt und gelockt wird der Mensch nach dem Zeugniß

des Apostels, also nicht gezwungen, nicht nothwendig über­ wunden. So erledigt sich wenigstens theilweise der Einwand,

den wir jetzt beiseite lassen, daß ich nämlich persönlich doch

keine Verantwortung haben kann für eine Lust, welche mir angeboren ist. Laß dich nicht gelüsten, sagt das Gebot. Wohl

stammt die Lust selbst schon aus der Sünde, wie jede Sünde ein Quell neuer, arger Lust ist. Es giebt noch abgesehen von

aller Thatsünde einen sündlichen Gesammtzustand und darum auch eine Gesammtschuld, die der Vergebung bedarf. Dennoch wird keiner verworfen, als für seine eigne Sünde.

Und wo­

her denn das klopfende Gewissen, als die Lust reizte? Woher denn der Zustand der Selbstverachtung, wenn die Sünde

gethan ist? Woher denn die bittern Thränen der Reue, die

das Geschehene ungeschehen machen möchten, noch einmal das Wort der Lüge zu uns zurückholen, noch einmal die Unschuld

des Herzens wiederherstellen — woher das alles, wenn nicht in uns das deutliche Bewußtsein vorhanden wäre: ich konnte

der Lust widerstehen; ich soll es und muß es.

Und selbst

wenn heute wirklich der Trieb der Lust unwiderstehlich war, wenn die Umstände dich mit Nothwendigkeit in die Sünde

hiueindrängten,

laßt uns dann eine Frage zuvor erwägen:

wodurch hatte diese Lust so unwiderstehliche Gewalt? wo­

durch bist du so geworden, daß du ihr nicht mehr wider­ stehen konntest? liegt nicht hinter dir eine Kette von Ver­ schuldungen, die dich erst so geprägt haben, wie du bist? Mit jeder einzelnen Schuld aber ist die Lust mächtiger ge­ worden und mit jedem neuen Nachgeben hast du es bestätigt,

daß sie deine eigne sei,

eine selbstgewählte

und gewollte,

mit andren Worten: auch diese Lust ist deine Schuld.

20 2. Wir haben damit, liebe Freunde, schon hinübergegriffen in das, was Jacobus von dem Fortgang der Sünde sagt.

„Darnach, wenn die Lust empfangen hat, gebieret sie die Sünde."

Beachten wir, daß der Apostel hier von

den einzelnen Thatsünden spricht.

Denn allerdings ist,

wie schon gesagt, diese empfangende Lust selbst schon eine

arge, also Sünde.

Aber doch steht gegenüber der Lust noch

immer das Gebot: Laß dich nicht gelüsten! laß der Sünde nicht ihren Willen, sondern herrsche über sie! So kann die Lust gebrochen werden, und so wird sie hundertfach überwunden.

Wo das nicht geschieht, wo — wie Jacobus sagt — die Lust empfangen hat, da gebiert sie die Sünde.

Und

fragen wir, was denn die Lust empfangen und wovon sie

befruchtet werden müsse, damit die Sünde geboren werde, so müssen wir antworten: den Willen.

Wo der Wille der

lockenden Lust zustimmt, da geschieht die Sünde.

Verstehen wir das wieder recht. Nur in seltenen Fällen

geschieht es so, daß in einem entscheidenden Augenblick dem Mllen gleichsam die Frage gestellt wird, auf die er sein klares Ja zu sprechen hätte.

Wir alle erinnern uns an Stunden,

in denen der Wille lauter Nein gesprochen hat, in denen

das Herz Köpfte und — dennoch entwich der Fuß nicht zur Flucht, dennoch haftete das Auge auf der lockenden und

reizenden Lust, dennoch geschah die Sünde.

Die meisten

Thatsünden geschehen nicht im Zustand des klaren Bewußt­ seins darüber, wie sündhaft sie sind, sondern in einem Zu­ stand

sittlicher Verdunklung,

der Wille bereits gebunden ist.

ja Betäubung, durch welche Wer das weiß, versteht erst

ganz die Bedeutung der immer wiederkehrenden Mahnung

21 zum Nüchternsein und zum Wachen, um in der Stunde der Versllchung seiner selbst

mächtig und Herr seines

eignen

Willens zu sein; er versteht die Bedeutung der bleibenden

Zucht des heiligen Geistes, die dazu tüchtig macht. Es giebt nun aber ein Organ im Menschen, das zwischen der begehrlichen Lust

und dem abweichenden Willen gleich­

sam den Vermittler macht und den furchtbaren Dienst der Betäubung und der Umnachtung des Willens vollzieht; das

ist die Phantasie. Sie ist eine ungeheure Macht, nichts Großes geschieht auf Erden ohne ihre Mitwirkung, ohne daß

alles Herrliche uns vor die Seele stellt :

sie

aber hat sie sich

einmal in den Dienst des Argen begeben, dann geschieht auch

keine Sünde ohne sie.

Sie stattet das Bild, das die Lust

uns vor die Seele zaubert, mit seiner berückenden Farben­

pracht aus, es sei nun Genuß und Wohlleben, es sei Ehre und Ansehen, es sei Gewinnen und Reichwerden; und wie

armselig ist oft die Sache, die sie so glänzend ausmalt! Aus ihr stammen die lockenden Stimmen, die das innere Ohr umtönen;

jetzt würde das alte Wort gelten: den An­

fängen widerstehe!

jetzt sollte die Mahnung dir ins Ohr

gellen: wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet! wenn es jetzt geschähe, wäre der Sieg errungen.

„In der

Versuchung", sagt ein Theologe, „hat der Augenblick eine unendliche Bedeutung." In diesem Augenblicke hast du noch die Kraft und schon im nächsten ist es zu spät. Du meintest

spielen zu können mit der Sünde, und auf einmal hat die

Flamme dich verzehrt.

Du hast dir eingeredet, du seiest

frei, noch brauchest du sie nicht zu thun; dachtest, hast du dich selbst schon betäubt.

indem du so

Wie viel Sünde

geschieht täglich, weil wir mit den kleinen Sünden scheuen

und spielen, bis sie auf einmal groß geworden uns über-

22 wältigen.

Wie viele Menschen giebt es, die den Bildern

ihrer Lust gegenüber stehen, wie der Fieberkranke seinen

Phantasien: er kann sie nicht bannen, so sehr sie ihn quälen.

Da ist dann der Wille schon gebunden.

Sein Ja wird ihm

erspart; die halbe Einwilligung zwingt ihn zur ganzen, die erste zur zweiten.

Er ist der Macht der Lust verfallen, aus

der nun mit Nothwendigkeit die Sünde geboren wird.

So

entsteht die Sünde.

Aber es ist noch ein Selbstbetrug, vor dem wir uns zu hüten haben.

Wir sprachen von einzelnen Thatsünden; auch

der Apostel spricht davon.

Aber diese einzelnen Sünden

sind keineswegs nothwendig auch äußere Thaten. In dem

Augenblick, wo der Wille willenlos wird und der Lust ihren

Willen läßt, ist die Sünde geschehen. auch wenn kein Mensch sie sieht.

Sie ist vollbracht,

Sie bleibt auch dann vor

Gottes Augen stehen, wenn Gott vielleicht ihre äußere Aus­

führung barmherzig verhindert.

Es kann einer vor Gott

gerichtet sein um Mordes, um Diebstahls, um Ehebruchs

willen, die lediglich in seinem Herzen geschehen sind, und wir müssen hinzufügen: auch in seinem eignen Gewissen kann

und muß einer um solcher willen gerichtet und vernichtet werden.

Es genügt also nicht, daß einer hinweist auf sein

unbescholtenes Leben;

vor Gott ist er damit nicht rein;

Gott sieht das Herz an.

Laßt mich hier den Gedanken

eines tiefen Schriftauslegers einfügen: Es giebt gar manche, die selbst äußerlich rein, über die Sünde andrer richten,

und dennoch spricht das Herz dabei: „wenn nur das Gebot oder die Schande nicht wäre, dann möchte ich wohl auch

so thun." So richten sie sich selbst, indem sie andre richten.

Ebenso tief aber und noch tiefer reicht Gottes heiliger Emst, wenn er die Sünden der Menschen prüft und richtet.

23

3. Und nun endlich das Ende, der Ausgang:

„Die

Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebietet sie

den Tod" — so der Apostel. endung der Sünde.

Er weist hin auf eine Voll­

Denn die Sünde ist nicht wie eine

Wolke, die vorüberzieht, und hinter der dann der

Himmel wieder zum Vorschein kommt.

blaue

Sie ist ein Gift, das

fortwirkt in dem Organismus, in den es einmal eingetreten ist.

Sie wächst weiter und wächst aus in dem, der sie ge­

than hat, wenn sie nicht getilgt und wieder gut gemacht wird.

Es ist allerdings ein Ausblick in die Zukunft, den der

Apostel damit thut.

Aber wir haben in den Anfängen, die

wir alle kennen, den Beweis dafür, daß er Recht hat.

Wir

kennen aus eigner Erfahrung die Macht, mit der eine Sünde

den Menschen umprägt.

Er bleibt nicht, wie er war; jede

That hat eine furchtbare rückwirkende Kraft auf die Macht

der Lust;

dieselbe wird größer.

Und damit trägt

Schritt vorwärts schon den nächsten in sich.

jeder

„Das eben ist

der Fluch der bösen That, daß sie fortzeugend Böses muß gebären"; das ist der furchtbare Kreislauf; es wird ein Leben unter der Sünde.

„Wisset ihr nicht",

schreibt Paulus,

„daß, wem ihr euch begebet zu Knechten im Gehorsam, deß

Knechte seid ihr, dem ihr gehorchet, entweder der Sünde zum Tode, oder des Gehorsams zur Gerechtigkeit?"

So wirkt

sich hier die Sünde aus bis zur Vollendung.

Nicht ein

Gedankenbild ist das, sondern eine Thatsache von furchtbar

ernster Wahrheit, die das Leben täglich neu bestätigt. Wenn sie aber vollendet ist, dann gebiert die Sünde den Tod.

Sie trägt ihn bereits in sich, wie das griechische

24 Wort andeutet. Er ist also bereits da und bereits wirksam;

vollendeten Erscheinung bringt sie ihn erst dann,

nur zur

wenn sie selbst vollendet ist.

Tod ist Auflösung des Lebens

und es giebt ebenso gut ein langsames Auflösen wie ein schnelles und plötzliches. Die Quelle alles Lebens ist Gott; was also von ihm scheidet, das löst das Leben auf und wirkt den Tod. So ist der Tod jeder, auch der kleinsten Sünde

Sold.

Als Adam in dem heiligen Gott nur noch den

Richter sieht, vor dem er fliehen will, vor dem er sich ver­ birgt, da hat bereits der Tod, die Scheidung von Gott, in ihm begonnen.

Das Kopfende Gewissen mit seiner Angst, die

Unfähigkeit zum Beten, wenn man gesündigt hat, die steigende

Unfähigkeit zum Glauben und zur Hingabe an Gott,

die

wachsende Entfremdung von Gott und seinem Reich, ja der zunehmende Widerwille gegen neue Züge göttlicher Gnade,

gegen die Erinnerungen an den Erlöser Christus, und auch gegen die, welche ihn uns nahe bringen — es sind ebenso

gut Todeszeichen, wie die äußern Krankheitssymptome Zeichen

des äußern Sterbens sind. Es sind Zeichen einer Scheidung von Gott, die sich in uns vollzieht, aber auch zugleich eines

Berworfenseins, das Gott an uns vollzieht. In dem Sinne hat Johannes gesagt: „Wer Sünde thut, der bleibet im

Tode"; er denkt an diesen innem Todeszustand des Geschicdenseins

von Gott und

von Christo.

Jacobus aber

geht noch einen Schritt weiter. Die vollendete Sünde gebiert den ewigen Tod, d. h. das Getrenntbleiben von dem Gott, vor dem kein Unreines bleiben kann, eine Scheidung,

für die das zeitliche Sterben nur ein Durchgang und ein

wichtiger Abschnitt ist,

die aber durch den zeitlichen Tod

nicht aufgehoben oder geändert wird.

Wo aber Scheidung

von Gott ist und damit vom Leben, da ist auch Scheidung

25 von Freude,

von Erquickung, von Befriedigung: Unselig­

keit — das ist das Ziel und das Ende der Sünde. Theure Gemeinde, wir sind am Ende unsres Textes.

Aber doch darf damit die Betrachtung nicht schließen.

Ja,

Gott Preis und Dank, daß sie damit nicht zu schließen

braucht.

Wir haben einen Gott, der da hilft, und einen

Herrn Herrn, der auch im Tode errettet. Gnade ist größer,

Die Macht der

als die Macht der Sünde.

Sie hat

hineingegriffen und diesen furchtbaren Ring von Versuchung und Sünde zerbrochen.

Wohl hat die Betrachtung

der

Sünde uns in die Tiefen unsres Herzens und seiner Ver-

derbniß

hineingewiesen.

Aber die Erlösung Jesu Christi

vermag auch die Tiefen des verderbten Menschenherzens zu Alle gute und vollkommene Gabe kommt von

erneuern.

oben herab.

Neben der Geschichte der Sünde, die sich in

uns vollzieht, giebt es auch eine Geschichte des Heils und

der Gnade in Christo, die sich in allen vollzieht, welche im

Glauben ihn ergreifen.

Apostel,

„Aus freiem Willen", jubelt der

„hat er uns gezeuget durch das Wort der Wahr­

heit, auf daß wir wären Erstlinge seiner Creaturen."

Wir

schauen die That seiner Gnade an in unsrem Herrn Jesu

Christo.

Die ihn anlaufen, werden nicht zu Schanden.

Welche der Sohn frei macht, die sind recht frei.

Laßt uns

seine Heilandshand im Glauben fassen; sie kann beides, unsre Schuld tilgen und unsre Ketten brechen.

Gott aber sei

Dank für seine unaussprechliche Gabe! Amen.

III. 6.

Sonntag nach Trinitatis 1882.

Seid geduldig. Jac. 5, 7—11.

So seid nun geduldig, liebe Brüder, bis auf

die Zukunft des Herrn. Siehe ein Ackermann wartet aus die köst­

liche Frucht der Erde, und ist geduldig darüber, bis er empfange

den Morgenregen und Abendregen. Seid ihr auch geduldig, und stärket eure Herzen; denn die Zukunft des Herrn ist nahe. Seufzet nicht wider einander, liebe Brüder, auf daß ihr nicht verdammt werdet. Siehe der Richter ist vor der Thür. Nehmet, meine lieben Brüder, zum Exempel des Leidens und der Geduld die Propheten, die zu euch geredet haben in dem Namen des Herrn.

Siehe, wir

preisen selig, die erduldet haben. Die Geduld Hiobs habt ihr ge­ hört, und das Ende des Herrn habt ihr gesehen; denn der Herr ist barmherzig und ein Erbarmer.

Wie der Apostel schon am Anfang seines Briefes ge­ boten hat die Anfechtung für lauter Freude zu halten, so

hebt er noch einmal am Schlüsse desselben eine Gedulds­ predigt an, nur daß er hier noch freundlicher mahnt, und daß man aus dem wiederkehrenden: so seid nun geduldig!

so recht sein Herz herausreden hört und die Erfahrung dessen, was er selbst erlebt hat.

„Geduld ist euch noth", schreibt der Hebräerbrief, „auf

daß ihr den Willen Gottes thut und die Verheißung erlanget" und was der Apostel damals seiner Gemeinde hat wünschen müssen, das könnte er noch heute ihr schreiben.

Unter wie

viel Noth uud Kummer, unter wie viel Mühe und Arbeit,

27 unter wie viel Anfechtung und Verzweiflung ist das einzige

Recept, das uns verordnet werden kann, das alte: Geduld ist

euch noth. Je mehr man das Leben kennen lernt mit seinen

Kämpfen, seinen Siegen und Niederlagen, mit dem, was es giebt und was es nimmt, mit dem, was man erreicht und

was immer unerreicht bleibt, um so mehr gewinnt die Mah­

nung an Gewicht: Seid geduldig, liebe Brüder!

Je älter

namentlich ein Christ wird, um so mehr sollte er nicht blos

diese Geduldsmahnung beherzigen, sondern auch das Gepräge heiliger Geduld an sich tragen. Und damit er es thue, dazu

soll jedem unter uns, in jedem Alter und jedem Stand die Geduldspredigt des Jacobus mithelfen.

Es ist keiner, auf

den sie nicht Anwendung fände: in unsren Aufgaben, in unsren Trübsalen, in

unsrem Glaubensleben,

in

unsrem

Verkehr miteinander, überall brauchen wir die Mahnung:

Seid geduldig! Laßt uns fragen, was sie bedeutet, und welcher Segen auf ihrer Erfüllung ruht.

1. Der Apostel meint nicht eine blos natürliche Gabe und ihre fleißige Uebung, wenn er mahnt: so seid nun ge­

duldig, liebe Brüder! Es ist wohl wahr, daß der eine mehr Anlage zur Geduld hat, als der andre, der von Natur heftig, auffahrend und ungeduldig ist.

Es ist ferner wahr,

daß man schon von dieser natürlichen Geduld bisweilen er­ lebt, was Salomo sagt:

„Ein Geduldiger ist besser, denn

ein Starker", und daß man sieht, was für eine überwindende

Kraft in der Geduld liegt.

Aber es ist auch eben so wahr,

daß einer solchen natürlichen Geduldsanlage eben so viele

28 Mängel, als Vorzüge nahe liegen, daß sie selbstverständlich

von der Jugend nicht in gleichem Maße wie vom Alter er­ wartet werden darf, und daß nach des Apostels Meinung

beide, die natürliche Anlage zur Geduld, wie zur Ungeduld

erst vertieft, verklärt und umgewandelt werden müssen zu einer Hähern, der christlichen Geduld.

Diese Meinung

spricht der Apostel damit aus, daß er mahnt:

nun geduldig, liebe Brüder,

So seid

bis auf die Zukunft des

Herrn. Hiernach besteht also das Eigenthümliche der christlichen

Geduld darin, daß sie auf das Kommen des Herrn wartet. Sie schaut bei allem ihrem Thun wartend und harrend auf zu Christo, dem Könige der Geduld, dem Anfänger und

Vollender des Glaubens; und die Gewißheit seiner Zukunft und damit die Sicherheit, daß er das empfangene Werk der Erlösung nicht unvollendet lassen könne — das giebt ihr ein so festes Standhalten, ein so unwandelbares Ausharren

und ein so unverdrossenes Wirken, daß sie nicht zu Schanden werden kann. Die christliche Geduld ist also aufs engste ver­

bunden mit dem Glauben, der, wie es im Hebräerbrief heißt,

den Unsichtbaren vor Augen hat, als sähe er ihn. Sie ruht auf diesem Glauben; nur wenn das der Fall ist, harrt sie wirklich bis

ans Ende aus;

alle andre nur menschliche

Geduld erlahmt früher und reißt ab. Nur diese Geduld, welche recht eigentlich der angewandte Glaube ist, wird auch die

köstliche Frucht der Geduld sehen. Wie der Apostel in einem

Bilde beschreibt: derAckersmann wartet auf die Frucht

der Erde; geduldig harrt er auf Frühregen und Spätregen, auf Wärme und Sonnenschein; er macht sie sich nicht; er kann nur darauf harren, daß ein andrer es giebt, und in der Zuversicht ausharren, daß nach Gottes Friedensge-

29

danken Saat und Erndte nicht aufhören werden. So ist die christliche Geduld das Harren auf den Herrn und die Ge­ wißheit, daß was zu seinem guten und heilsamen Rath nöthig

ist, nicht ausbleiben kann. Geduld ist der ausharrende Glaube,

der sich

von dem allmächtigen Gott den Frühregen und

Spätregen, geistliche Speise und Stärkung darreichen läßt; sie ist ein Glaube, der nicht verzagt, wenn dieser Segen auf

sich warten läßt; sie ist das kindliche aushaltende Vertrauen auf die göttliche Vaterführung auch da, wo die führende

Hand sich im Dunkel verbirgt.

Sie ist endlich die freudige

und unerschütterliche Hoffnung, daß die köstliche Frucht auch da in der Stille reife, wo die Wetter über die Fluren ziehen.

Damit ist nun schon angedeutet, daß diese Geduld aus­ harrenden Glaubens selbst nur in den schweren und ernsten Zeiten heranreift.

Da lernt eben der Ackersmann recht das

Harren auf die köstliche Frucht, wenn Früh- und Spätregen

ausbleibt und der noch zarte Halm unter der Sonnenglut verbrennt, oder wenn der herabströmende Regen mit seinen Fluten die keimende Saat vernichtet.

Da wird das geduldige

Harren zu einer schweren Kunst, wenn es wider die Natur geht. „So lange man", sagt ein Bolksfchriftsteller von heute'),

„vor dem vollen Brotschrank steht und so lange die Wege Gottes etlichermaßen mit unsrer Politik, Praktik und Specu-

lation übereinstimmen, so lange kann von der Geduld nicht

mehr die Rede sein, als von der Tapferkeit auf dem Parade­ platz.

Aber wenn die göttliche Weisheit sich vor unsren

Augen in Thorheit, seine Liebe in Grausamkit verwandelt, wenn seine Mühle so langsam mahlt und seine Uhr stille

steht (nach unsrem Ermessen), — ja dann ist's schwer und dann rüste dich, Mann!" Gewiß, viele tausende haben dabei 1) O. Funcke.

30 entdeckt, wie schwach das Glaubenscapital war, über das sie

verfügten,

und nicht nur schlichte Leute,

daran gescheitert.

in

die Geduld

auch Heilige sind

Es kommt in solchen Zeiten ein Moment das recht eigentlich dazu

hinein,

gehört,

nämlich die Demuth, die sich beugt, wenn Gottes Stürme über die Saat hinbrausen oder Gottes Wogen

das Herz

durchstürmen. Demuth aber ist die schwerste aller Tugenden.

Bis es einer lernt, ohne Murren und ohne Bitterkeit gegen

das Walten Gottes demüthig seine Last hinnehmen und sein Haupt beugen, innerlich fastend und doch äußerlich fröhlich, das Angesicht gewaschen und das Haupt gesalbt, schmachtend in Dürre und doch stille zu Gott, der hilft —: da muß mancher trotzige Eigenwille in den Tod gegeben und immer

wieder von vorn die Mahnung befolgt werden,

und Glauben auszuharren.

mit Beten

Grade dazu, daß man es lerne,

braucht Gott die Zeiten der Anfechtung und des Ernstes. Weil aber diese Schule schwer ist, darum fügt der Apostel

ausdrücklich hinzu: seid auch ihr geduldig und stärket eure

Herzen. Bilde sich doch niemand ein, Geduldigsein sei ein Zustand behaglicher Ruhe und Beschaulichkeit; Geduldigsein ist über­

haupt kein Zustand, sondern ein Thun, ernste Arbeit und

Willensanstrengung.

Und

dieser angestrengte Wille muß

gestärkt werden durch die Kraft des Gebets: „Dein Wille

geschehe! — ich will nichts mehr; — so nimm denn meine Hände und führe mich!"

Gestärkt werden muß das Herz

durch die unvergängliche Speise des Worts und des Sacraments. glaubend muß es sich stärken an der Gemeinschaft der göttlichen Gnade,

die in den Schwachen mächtig ist,

und an der Gewißheit, daß Gottes Werk immer seinen Lohn hat, utib daß es darum nicht nur als ein Wort der Er-

31 munterung,

sondern als ein Gebot der Pflicht gilt, was

dem Josua gesagt wird:

Siehe, ich habe dir geboten, daß

du getrost und sehr freudig seiest.

Herz auch

Stärken muß sich das

in der Geduld mit sich selbst und unverdrossen

aufs neue anheben, ungeschwächt durch gebrochene Vorsätze, unentmuthigt durch immer neuen Fall, so oft die Geduld ausgehen und das Zagen anfangen will.

Sieh, mit solchem

in aller Demuth freudigen, in der Beugung getrosten Herzen

betend und

glaubend auch da ausharren,

wo menschlichen

Gedanken nach ein Kreuz vielleicht bis ins Grab getragen

werden muß oder ein entschwundenes Glück niemals wieder­

kehren kann, das heißt in des Apostels Sinne: geduldig sein. Wir haben schon verstanden, meine Brüder, wie diese

Geduld, auch wenn sie gen Himmel schaut, doch eine gewaltige Kraft für die Erde ist und wie es grade an dieser Geduld recht klar werden kann, daß der Glaube auch eine Kraft ist,

welche das Leben leicht macht. Der Apostel weist das nach einer Seite hin auf, nach der

neue Geduld noth thut.

wider einander,

uns ganz besonders täglich

Er fährt fort:

liebe Brüder,

„Seufzet nicht

auf daß ihr nicht

verdammet werdet", d. h.: seid nicht bitter wider einander

und verklagt euch nicht unter einander, sondern traget mit einander in Geduld, einer des andren Last, einer des andren

Weise, auch einer des andren Sünde.

An dem Maß dieser

Geduld mit einander wird es sich bewähren,

in wie weit

wirllich die ausharrende Geduld mit Gott zusammenhängt. Damit eröffnet sich uns nun ein Gebiet der Mahnung und der Selbstprüfung so groß wie der Kreis, in dem wir stehen.

Seid geduldig — welchen himmlischen Friedenssinn muß dies Wort in unser häusliches Leben bringen!

Mann und

Frau, Eltern und Kinder, die Geschwister unter einander.

32 Hausfrau und Dienstboten, Herren und Knechte — es giebt kein Verhältniß der Ueberordnung, der Nebenordnung, das

im Segen und zum Segen bestehen könnte ohne die Geduld, die nicht nur verklagend und scheltend Fehler richtet, sondern

schweigend trägt, liebreich verweist und sieben mal siebzig mal zu vergeben bereit ist, die in der Arbeit am eignen Ich den Maßstab hat, wie geduldig sie mit andren sein muß. Wenn

der Schwall des Tages und das Gewirr

der

verschieden­

artigen Anforderungen in Beruf, Haushaltung, Verkehr dich

überwältigt und mehr als du leisten kannst, Begehr um Be­ gehr an dich gestellt wird: es giebt keine Kraft, um dich über Wasser zu halten, Gebetes holst,

als die du aus dem Kämmerlein des

die Geduld nämlich, die auch widerwärtige

Menschen freundlich aufnimmt, und das Unangenehme freudig thut, als Uebung in der Geduld von Gott gesandt. — Ich

denke insonderheit noch an eins, an unsre Arbeit in der Er­

ziehung

— betende Geduld, das ist ihre Seele; betendes

Ausharren, das mit Hoffen,

aber auch mit treuem Mühen

nie aufhört, das fest an des Kindes Heil glaubt,

aber auch

unermüdet für dieses Heil schafft: das ist die Kraft der

Geduld, der zu seiner Zeit die köstliche Frucht nicht fehlen wird. „Seufzet nicht wider einander, der Richter ist vor der Thür," sagt der Apostel. lassen,

Ihm sollen wir über­

was zu strafen und zu rächen ist.

Unser ist die

Geduld, aber in der Geduld auch Kraft und köstliche Frucht. Sanstmüthige werden das Erdreich besitzen.

Das weist

2. auf den Segen der Geduld hin,

auf den wir noch den

Blick richten. Allerdings redet der Apostel nicht in ausdrücklichen

33 Worten davon.

Er führt vielmehr Vorbilder und Exempel

der Geduld an, um damit zu geduldigem Ausharren zu er­ muntern.

Aber er kann dieselben ja nicht nennen ohne an

ihren heiligen Gestalten den Segen der Geduld eindringlicher

zu preisen als mit vielen Worten.

„Nehmet, meine lieben Brüder, zum Exempel — d. i. zum Vorbild des Leidens und der Geduld — die Propheten,

die zu euch geredet haben im Namen

des Herrn."

Der Apostel muß ins alte Testament zurück­

greifen, wenn er heilige Gestalten sucht. Uns ist die Zeugen­ wolke seitdem von Jahrhundert zu Jahrhundert größer ge­

worden; Jahr um Jahr fügt neue Gestalten hinzu; auch solche aus deinem Kreise treten hinein.

„Dieweil wir nun

eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasset uns die

Sünde ablegen, die uns anklebt", nehmt sie alle zum Bei­

spiel: — von Moses an, dem Manne des Gesetzes und des Zorns, der, wie es heißt, ein geplagter Mann war unter allen Menschen auf Erden und es lernen mußte, Geduld zu haben mit dem halsstarrigen Volk, bis auf Paulus, den

Prediger des Heils und der Gnade, der im täglichen Opfer seines ganzen Lebens seine Feuernatur zur Geduld erziehen lassen muß; von einem Elias an, dessen glühenden Eifer Jehovah selbst im stillen, sanften Sausen in den Geist der

wartenden

Geduld

einsührt,

bis auf

das

Donnerskind

Johannes, der an der Seite des Menschensohnes lernt, weß Geistes Kind er ist, und daß es gelte, Menschenseelen in

Geduld zu erretten, nicht zu verderben; von einem Jeremias

an, dieser Prophetengestalt voll Leid und Geduld, wie keine

zweite, bis auf einen Petrus, der durch tiefen Fall und Leid zur demüthigen Geduld mit sich und andern erzogen wird

— lauter Duldergestalten, von denen das Wort gilt: „Siehe,

34 wir preisen selig, die erduldet",

die durch Erdulden

heilig ausharrende Geduld gelernt haben.

Als der Seher

Johannes die Kirche des neuen Testaments schildern will, die über alle die Mächte, die sich ihr entgegenstellen, gesiegt

hat, da spricht er: Hier ist Geduld der Heiligen; hier sind, die da halten die Gebote Gottes und den Glauben an

Jesum;

und so sind die Todten selig, die in dem Herm

sterben. Das ist das Gepräge der Erlösten, das Siegel der

Kirche des neuen Testaments. Es ist keiner in ihr, dem nicht

dieser Zug heiliger Geduld aufgedrückt wäre. Darin aber liegt eine unbeschreibliche Verheißung für uns, die wir noch in der Schule der Geduld stehen.

Vielleicht steht manchem

unter uns ein stilles Dulderantlitz vor Augen,

das ihm

heilige Geduld ins Herz gepredigt hat, vielleicht ein Grab, von dem das Wort ihm entgegen leuchtet: Wir preisen selig,

die erduldet haben. Derselbe Weg soll auch der unsre sein. Wir sollen, wie der Hebräerbrief sagt, durch Glauben und Geduld Nachfolger derer werden, die treu in geduldigem Ausharren

bereits die Verheißung ererbt haben. Dieser Seligkeit näher zu kommen, das ist die köstliche Frucht der Geduld, auf die

wir warten.

Im Ausblick zu dieser Seligkeit liegt ein so

tiefer innerer Frieden, eine so Kare Ruhe, daß alle Wider­

wärtigkeiten der Welt sie uns nicht nehmen können. In der

Gewißheit, mit Glauben und Geduld dieser Seligkeit näher

zu kommen, gehört auch uns der Trost, den Jacobus in etwas anderem Sinne sagt: „dieZukunft des Herrn ist

nahe." Das ist ein Segen, den wir davon tragen. Auf welche Weise diese Segensfrucht reift, darauf weist nun namentlich das Beispiel Hiobs hin, an das der Apostel

erinnert.

Er ist ja sprüchwörtlich geworden für tiefes Leid.

Eins nach dem andren ist ihm abgefallen, wie Gott es zu-

35 ließ, Hab und Gut, Weib und Kind;

er bleibt bei seinem:

„der Name des Herrn sei gelobt." Da, als ihm das Schwerste auferlegt und er am eignen Leibe geschlagen wird, bricht wohl sein Groll aus;

aber er lernt doch

Leiden zum Ausschmelzen der Sünde dient,

auch, daß

das

zur Läuterung

aller Unreinheit und Verkehrtheit. Darum kann der Apostel auf „das Ende des Herrn" Hinweisen, d. h. das Ende,

welches der Herr dem Leiden Hiobs bereitete, als er sein Leid in Freude verwandelt und zweifach das Gewonnene

ihm erstattet. Sieh da den Segen, der in der heiligen Uebung

der Geduld liegt; sie läutert den trotzigen Menschen; sie schmilzt das Unreine aus.

Es giebt keine Zeit des gedul­

digen Ausharrens unter der Demüthigung, die nicht innerlich

den Menschen mit reichem Segen ausstattete. Er erhält ihn bereits noch ehe er es spürt. Er empfängt ihn in dem Trost, der von Tag zu Tage ihn trägt, in der Gewißheit, daß Gott

nicht versuchen läßt über Vermögen.

Jede Geduldsprobe, die

wir aushalten, versiegelt uns aufs neue ein Stück der Ver­ heißung: „derHerr ist barmherzig und ein Erbarmer."

Und lange schon, liebe Freunde, hat nun einer uns vor Augen gestanden, den Jacobus nicht nennt, und den man

fälschlich hat erwähnt finden wollen in dem Worte vom

„Ende des Herrn", der Herr aller Geduld, Jesus Christus. „Die Geduld dieses unsres Herrn achtet für eure Seligkeit" —

ruft Petrus seinen Lesern zu; es giebt kein Ausharren und

kein Beten, das an seiner Geduld nicht ein Vorbild hätte, kein geduldiges Sichdemüthigen, dem er nicht mit seinem Kreuze vorangegangen wäre, kein geduldiges Einandertragen

und reinigen, dem er nicht in seiner fußwaschenden Liebe den

Weg gewiesen hätte.

Laßt uns aufschauen zu ihm, der als

das Höchste von sich aussagt —nicht: ich kann Kranke heilen

36 und Todte erwecken und dem Sturm gebieten, sondern: ich

bin sanftmüthig und von Herzen demüthig, ein geduldiger

Herr.

Er ist nicht nur für sich selbst geduldig, er ist auch

der mitleidige Hohepriester, der in dem, worin er selbst ver­

sucht ist, helfen kann denen, die versucht werden, der, wie Paulus schreibt, unsre Herzen richten kann zu der Liebe

Gottes und zu der Geduld Christi.

Die Geduld, die

er in immer neuer tragender, ziehender, sündenvergebender Liebe mit uns gehabt hat, wird uns Maß und Kraft für die Geduld, die wir unter einander haben. Wer auf seine

Geduld harrt und seiner vergebenden Liebe theilhaftig wird,

der erhält damit auch für sich selbst die Kraft der geduldigen Liebe. So laßt uns denn nicht verzagen, allen Angefochtenen

und Betrübten unter uns laßt uns ermuthigend es zurufen: „siehe, wir preisen selig, die erduldet haben!"

Die

geduldigen Herzen sind es, in denen Christus und sein Heil

die bereitete Stätte findet und der Friede Gottes einkehrt. Darum: so seid nun geduldig, liebe Brüder! Amen.

IV.

9. Sonntag nach Trinitatis 1882. Die seelenrettende Liebe. Jac. 5, 19. 20.

Liebe Brüder, so Jemand unter euch irren

würde von der Wahrheit, und Jemand bekehrte ihn, der soll wissen,

daß wer den Sünder bekehret hat von dem Irrthum seines Weges, der hat einer Seele vom Tode geholfen,

und wird bedecken die

Menge der Sünden.

Es ist der letzte Ausklang des Jacobusbriefes, den wir gehört haben, schlichte Worte ohne Prunk und Klang, aber gleichwohl Worte, die aus der Tiefe des Evangeliums heraus

geredet sind, und in denen die ganze Herrlichkeit des Evan­ geliums wiederstrahlt.

Der Apostel schließt seinen Brief mit

einem Preise derLiebe, die Sünder bekehrt und Seelen errettet. Es giebt, l. Fr., verschiedene Religionen, welche den Trieb haben, sich auszubreiten und Gläubige zu gewinnen, in denen

man, wie ein Religionssorscher es

ausdrückt,

Schlag des Herzens der Menschheit spürt.

den leisen

Aber es giebt

nur eine einzige Religion, die das Verlangen kennt,

nicht

Anhänger, sondern Seelen zu gewinnen, nicht sich selbst zu vergrößern, sondern Menschen zu retten — das Christenthum.

Alle äußere Machtentfaltung, mit der das Evangelium von Christo da und dort aufgetreten ist oder auftritt, kann nur ihm

38 selbst Schaden bringen und es schwächen.

Aber seine ganze

Herrlichkeit, seine wahrhaft überirdische Macht kommt da zur Erscheinung, wo es in äußerer Niedrigkeit nichts will, als

Seelen gewinnen, Seelen retten. So schließt denn Jacobus,

indem er auf die Liebe weist, die Seelen errettet und Sünder bekehrt, in der That seinen Brief mit einem Wort, das in

die ganze Tiefe der mit Christo geborenen,

stammenden Liebe uns hineinblicken läßt.

aus Christo

Alle Höhen und

alle Tiefen der barmherzigen Bruderliebe durchmißt er, in­

dem er als ihr Ziel nicht das hinstellt, gesund zu machen und leibliches Elend zu heben, sondern der Seele vom Tode, zu helfen und ihrer Sünden Menge zu bedecken.

Wenn er

unmittelbar vor unsrem Schlußwort auf das Gebet des Glaubens hingewiesen hat, mit dem Elias, „ein Mensch wie wir", den Himmel geöffnet und wieder verschlossen hat, mit

dem der Mensch des Glaubens helfend und heilend an die

Krankenbetten treten mag: hier, will er gleichsam sagen, ist

ein noch größeres Glaubenswerk zu thun und eine noch größere Glaubenskraft einzusetzen — nämlich nicht blos an äußere Hülfe und an ein Bergeversetzen im äußern Sinne

zu glauben, sondern zu glauben an die Umkehr der Irrenden, an die Wiederkehr der Verlorenen,

an die Bekehrung der

Sünder, an die Rettung der Seelen aus dem Tode.

Glaubensmacht dieser Liebe wollen wir darlegen. wir, wie der Apostel

den Preis der seelenrettenden Liebe anstimmt.

Zweierlei hebt er heraus:

Seelen retten ist die Krone aller Bruderliebe;

Seelen retten ist der Lohn aller Bruderliebe.

Die Hören

39 1. Daß das Christenthum die Religion der Bruderliebe

sei, gilt ja als landläufig und selbstverständlich.

Wie ernst

hat Jacobus vor jenem lieblosen Glauben gewarnt, der zu

dem darbenden Bruder sprechen kann: wärmet euch, sättiget euch!

Gott berathe euch,

Wie freundlich hat er gemahnt

zu dem reinen und unbefleckten Gottesdienst vor Gott bent

und Waisen in ihrer Trübsal zu be­

Vater,

die Wittwen

suchen.

Hier nun vertieft der Apostel diese Gedanken und

hebt sie hinein in das eigentlich christliche Gebiet, indem er die Bruderliebe zeichnet als seelenrettende Liebe.

Wir kennen die Art des ?lpostcls.

concret, Beispiel aus dem Leben.

Bei ihm ist alles

„So Jemand

euch irren würde von der Wahrheit,

bekehrte ihn" — hebt er an.

unter

und Jemand

Dieser Jemand, der den

irrenden Bruder bekehrt, das bist du; dieser irrende Jemand, es ist der Bruder an deiner Seite, der Sohn, der Gatte in deinem Hause, der Freund, der dir zugeführt ist, der Mensch,

der zufällig deinen Lebensweg kreuzt. Weil der Apostel für alle ohne Ausnahme redet, darum redet er so allgemein von

Jemandem.

Irrende und ins Verderben eilende Brüder giebt

es ja überall; je weiter die Kirche ihre Grenzen ausgedehnt hat, um so mehr findet sich auch die Erscheinung,

daß ein

und derselbe Acker Waizen und Unkraut trägt, eine und die­

selbe Kirche Glaubende Verlorene umschließt.

und Nichtglaubende,

Gerettete und

Wir denken dabei keineswegs nur an

Verkommene und sittlich Verirrte, wie sie wohl an unsre Thür Köpfen und unsre Gefängnisse bevölkern. ja individueller, als

der Glaube;

keiner kann

Nichts ist für mich

glauben; keiner kann für mein Glauben einstehen; in einem

und demselben Hause scheiden sich die Herzen in Glauben und

40 Nichtglauben, in Wahrheit und Irrthum.

Brüder! die ihr

die Pflicht heiliger Bruderliebe anerkennt bis hinab zu dem Letzten und Elendesten, die ihr diese Liebe keinem entziehen

wollt, der nur auf den Namen Mensch noch Anspruch hat

— wollt ihr die Krone eurer Liebe sehen:

es ist

die

Liebe, die einen Sünder bekehrt von dem Irrthum seines Weges, die seelenrettende Liebe. Wir müssen uns nun allerdings ^vohl gestehen, liebe

Freunde, daß der allgemeine Beifall diesem Gedanken nicht eben

zufällt.

Seelen retten —wem das Christenthum nur die

allgemeine Duldung predigt, die Jedem seine Ansicht lassen

will, auch wenn er nun einmal eine andre Anschauung und

eine freiere Richtung hat als du und ich, der kann dies Wort nicht verstehen.

Denn dies Wort „Seelenrettung"

öffnet Tiefen, vor denen es dem natürlichen Menschen noth­ wendig unbehaglich wird, und bei denen es um ganz andre

Dinge sich handelt, als um verschiedene Ansichten und Rich-

tungen.

Der Gedanke der Seelenrettung stellt nicht mehr

Anschauung und Anschauung einander gegenüber, die beide ihren Werth haben mögen, sondern Irrthum und Wahrheit,

Verderben und Heil, Tod und Leben;

ja, er spricht mit

heiligem Ernst und mit voller Bestimmtheit von einem Irr­

thum und einem Verderben, dem die Seele, wenn sie nicht

gerettet wird, zum Opfer fällt; er setzt voraus, daß ein Mensch verloren gehen kann an seiner Seele, d. h. also, ver­ loren nicht nur für dies kurze Leben, sondern für die Ewig­

keit.

Sehet daraus, wie tief die Mahnung des Apostels

reicht, die eine solche Liebe gebietet. Liebe, welche Seelen rettet, entspringt nicht blos der natürlichen Liebenswürdigkeit eines

einnehmenden Wesens oder dem verblaßten Gedanken einer all­

gemeinen Menschenliebe; sie wurzelt in der Tiefe der christlich

41 energischen

Persönlichkeit,

Christenthums.

in

der Tiefe des

persönlichen

Wer Seelen retten will, der muß zunächst

was eine Seele werth ist; das aber kann er nur

wissen,

wissen aus der Angst um die Seligkeit seiner eignen Seele.

Nur wer dafür gezittert und darum gerungen hat, kann auch andre retten.

Wer an dem Irrthum seiner eigenen Wege

die Tiefen des Verderbens erkannt hat, in dem er stand, der lernt daraus das Erleben anderer verstehen; und wer an

sich selbst erfuhr: Gott hat mich gezeuget, neu geschaffen aus

dem Irrthum heraus durch das Wort der Wahrheit, wird

im Stande sein, anderen zu weisen.

zu dem gleichen Heil den Weg

Darum ist die seelenrettende Liebe die Krone

aller Bruderliebe, weil sie unmittelbar in der Erfahrung der

seelenerlösenden Liebe des Herrn wurzelt.

Nur der wird

sie üben, der auch diese an sich selbst erfuhr.

Noch ein andres aber müssen wir hinzufügen. Liebe, sagt Paulus in dem Hohenliede 1 Cor. 13, alles.

Die glaubt

Von keiner Liebe gilt das Wort in gleichem Maße

wie von der Liebe, welche Seelen rettet; es liegt in ihr ein ganz rückhaltloser Glaube an die Macht der evangelischen Wahrheit.

Sie glaubt nicht nur,

daß auch dieser irrende

Bruder für die Wahrheit bestimmt ist, sondern auch, daß diese Wahrheit stark genug ist, um ihn zu überwinden.

Es

mag schwer sein, mitten im Dunkel äußerer Trübsal den Glauben zu bewahren, daß Gott den Ausweg weiß; aber es

ist unendlich viel schwerer, einem Menschen gegenüber, der gehalten ist von den Ketten seiner Leidenschaft, geblendet

durch die Jrrgänge einer falschen Dialektik, gebunden durch

den Widerstand seines eignen Willens, doch noch weiter zu glauben,

daß er für die Wahrheit des Evangeliums werde

gerettet werden.

Es ist das ein Wunderglaube so groß, wie

42 irgend einer.

Er ist um so größer, möchte man sagen, je

genauer man die Größe der Bollwerke kennt,

die nieder­

zulegen sind, je weniger man von den verborgenen Bewegun­

gen der Seele sieht, also oft am schwersten grade den Nächst­ verbundenen,

Jenes

den eignen Angehörigen gegenüber.

Wort des Bischofs an die Monica:

„Ein Sohn so vieler

Gebete kann nicht verloren gehen" — wie richtet es doch die

Mahnung an die seelenrettende Liebe so vieler tausend Väter

und Mütter, Brüder und Schwestern, nicht müde zu werden

im Glauben an die überwindende Kraft der Wahrheit. Wenn wir so selten die Wunder solcher Bekehrungen erleben,

ach,

liebe Freunde, was wir erleben, zeigt wohl, daß Gottes Hand noch dieselbe ist, daß es uns aber an der aus Gott

gebornen Liebe, daß es unsrer Liebe an dem Ernst des Glaubens fehlt, der sie zur seelenrcttenden macht.

Wollen wir nach

den

Wegen dieser

Merken wir wohl, von Liebe sprechen wir.

Liebe

fragen?

Das ist kein

zufahrendes Drängen, auch kein hochmüthiges Richten; da­ mit kann man wohl Menschen abstoßen und verderben, aber

nicht gewinnen.

Liebe ist eine heilige Glut der Hingabe:

„ich wollte, ihr wäret wie ich" — die nothwendig anzieht und

erwärmt.

Nicht vieler Worte bedarf es dazu; der Apostel

hat gewußt, daß der heilige Wandel christlicher Frauen mit sanftem und stillem Geist auch ohne Worte den ungläubigen

Mann gewinnen kann, und wieder, daß durch den Glauben des Mannes mit seinem Emst auch das ungläubige Weib

geheiligt wird.

Wie kann doch das Bild einer geheiligten

Persönlichkeit mit der Macht ihrer Liebe einem nachgehen,

seelenrettend,

seelenbewahrend!

Wie manche Patriarchen­

gestalt kennen wir auch unter uns, von der so reiche Segens­ ströme rettender Liebe ausgegangen sind — sie hat vielleicht

43 ihre Bedeutung gehabt in deinem, in meinem Leben.

Aber

wir alle sind zu der gleichen Aufgabe berufen. Seelsorgende Liebe, das ist der Grundgedanke der christlichen Ehe; einer

soll den andern selig machen.

Seelenrettende Liebe soll die

Geschwister, die Familien untereinander verbinden; das gibt aller natürlichen Liebe erst ihre göttliche Weihe.

des andern Führer zum Guten sei ein Ideal christlicher Freundschaft!

recht anfangen!

und zum Leben, welch Nur daß wir lernen es

Drücke zuerst deinem Wandel das Gepräge

der Selbstlosigkeit auf, dann findet sich Wort.

Daß einer

auch

das rechte

Lerne zuerst die heilige Kunst der Liebe, dich in

Führung

und Stimmung

des andren hinein zu versetzen

und so ihn zu gewinnen mit der Weisheit, die auch warten kann und nicht alles auf einmal verlangt.

Lerne die Klug­

heit, die, was sie sagen will, nicht zu jeder Zeit, sondern

dann sagt, wenn Umstände und Zeit auch die Seele geöffnet haben für das mahnende Wort.

Lerne so das Schwerste,

unter Umständen wahr und scharf zu sein Liebe nicht zu verleugnen.

und dennoch die

Eine Regel vor allen: kein

mahnendes, strafendes, bittendes Wort mit einem Andern, bis wir für ihn vor Gott gestanden, bis wir betend den

Geist vollkommener Sanftmuth angelegt und uns selbst gedemüthigt haben im Gedächtniß der eignen

Schwachheit,

bis wir namentlich betend gewiß geworden sind, daß wirklich

kein andrer Gedanke uns treibt, als der seine Seele selig zu

machen.

Mir ist es eine ergreifende Mittheilung aus dem

Leben eines Landgeistlichen gewesen, wie er in einer völlig

todten Gemeinde anfing, für die einzelnen zu beten, für die ihm feindlichen zuerst und so beides fand: die Liebe, ihre

Seelen zu retten, und die Weisheit, ihnen nahe zu kommen. Wenn ich gewiß geworden bin,

sagt Jemand,

daß ich den

44 andern lieb habe, dann kann ich mit ihm über die Bekehrung

seiner Seele sprechen;

dieselbe Gewißheit muß

geworden sein, ehe wir es können.

auch uns

Nur wenn auch der

Bruder, den du gewinnen willst, den Eindruck heiliger Liebe zu den Seelen gewinnt, hat deine Liebe ihre Höhe erreicht.

2. Diese Liebe aberträgt auch ihren Lohn in sich.

Nicht

als ob der Apostel dafür eine absonderliche Verheißung zu

nennen wüßte; es braucht keine.

Die Thatsache des Rettens

der Seele ist selbst der Lohn. Heilige Größe des Gedankens, den

der Apostel ausspricht:

„Wer einen Bruder be­

kehret vom Irrthum seines Weges, der hat einer Seele vom Tode geholfen und wird bedecken der Sünden Menge!" Größeres

kann

eigentlich

nicht wohl gesagt werden.

Keiner, der dem Ertrinken nahe war, wird so leicht den Arm

wieder vergessen, der sich zu ihm hinabsenkte und ihn den

Fluchen wieder entriß.

Und ob das auch vorkäme — wer

zu dem andern sagen kann:

„Du hast mir meine Seele er­

rettet," vergißt es nicht wieder.

Er vergißt es nicht in der

Zeit, er vergißt es nicht für die Ewigkeit.

Jedes Hintreten

vor den Thron der Gnade muß ihn daran mahnen; jedes Gebet wird zu einem Dank auch dafür.

Wenn die Schrift

sagt, daß der Gerechten Gedächtniß im Segen bleibt, auch wenn sie heimgegangen sind: — welch ein Segen ruht auf dem

Gedächtniß dessen, der einer Seele vom Tode geholfen! Wie

mancher Sohn, wie manche Tochter hat am Grabe eines treuen Vaters oder einer frommen Mutter nicht blos den Zoll des Dankes ausgesprochen für alle selbstverleugnende

Elterntreue, sondern das größere Bekenntniß ablegen dürfen,

45 das bei den Engeln im Himmel Freude erregt: „Dir danke

ich meinen Glauben, mein Heil, meiner Seele Seligkeit." Welch ein Lohn aber ist das!

Und doch, l. Fr., ist das nur die eine Seite des Loh­ nes, daß uns ein Dank von Menschen dargebracht wird, inniger, tiefer, dauernder, als für irgend eine irdische Gabe.

Es liegt ein noch Höheres in dem Wort: „er hat einer

Seele vom Tode geholfen."

Meine Brüder! Gottes Werk

ist es, eine Seele zu retten, und Gottes Wunderthat allein, wenn ein Sünder vom Abgrund zurückgezogen, von seinen Fesseln befreit und in den Frieden der Versöhnung hinein­

geführt wird.

lung.

Gott aber bedient sich menschlicher Vermitt­

Wenn es nun deinem Wort, deinem Gebet, deinem

Suchen und Ausharren gelingt, so bist du ja das Werkzeug göttlicher Gnade geworden, ein Mittler seiner Heils gaben — wie Paulus es gradezu ausdrückt: Gottes Mitarbeiter.

Siehe da den höchsten Lohn!

Als der gefallene Petrus

wieder angenommen wird, da erhält er als Siegel der Ver­

gebung sein altes Amt der Seelenführung wieder zurück: „weide meine Schafe!" Willst du ein Siegel, daß Gott dich annimmt — du hast es, wenn er dich würdigt, in seelen­

rettender Liebe ein Mitarbeiter seines Heils, ein

Mehrer

seines Reichs, ein Mitzeuge seiner Gnade zu werden. Meinen wir nicht, das mache hochmüthig;

im Gegentheil, nur wo

man recht demüthig der eignet Rettung aus Gnaden sich bewußt ist, kann man ein Werkzeug der Gnade, werden.

„Nicht ich," sagt Paulus, „habe also gearbeitet, sondern die

Gnade Gottes, die mit mir ist."

Ja, je größer die Barm­

herzigkeit und die Gnade ist, die durch uns andern zu Theil

wird, um so mehr soll sie demüthigen: „Nicht uns, Herr, sondern deinem Namen gieb Ehre!" Nur wenn sie demüthig

46 macht, wirkt sie eine unversiegbare Freudigkeit des Wirkens für Gottes Reich. „Er wird bedecken

Jacobus hinzu.

der Sünden Menge," fügt

Nicht etwa seine eignen, als könnte die

Arbeit der seelenrettenden Liebe die eigne Seele entsühnen

und die Genugthuung für die Sünde leisten.

Es giebt ja,

wie ich eben sagte, gar keinen vollen Ernst seelenrettender

Liebe, der nicht ausginge von der Erfahrung der eigenen Versöhnung durch die Gnade Jesu Christi. Aber des Bruders Sünden wird er bedecken — so will der Apostel sagen. Das

sündige Leben des Bruders wird er gleichsam durch sein rettendes Thun verhüllen; der Menschen Augen.

er wird es zudecken schon vor

Wer einem Verachteten wieder zur

Ehre hilft, wer einem tief Gesunkenen wieder die Achtung

vor sich selbst beibringt, der deckt seiner Sünden Menge zu.

Er hält durch seine Liebe gleichsam schützend die Hand über ihn, daß der Menschen Urtheil ihn nun nicht mehr zerfleischen kann.

Er hebt ihn durch seine Liebe vor sich selbst, daß er

zu seiner eignen Errettung Zutrauen faßt.

Aber auch vor

Gottes Augen soll er seiner Sünden Menge bedecken. Denn

wer den Sünder hinzuführt zu dem offenen Born, der uns

wider alle Unreinigkeit quillt in dem Blute Jesu Christi, der

deckt damit seiner Sünden Menge. heiligen Arbeit seines

hat

Heilandes.

Er nimmt Theil an der

Ein

großer Theologe

von dem Geistlichen gesagt, er solle eine persönliche

Fortsetzung Jesu Christi selbst sein, sofern es seine Lebens­

aufgabe sei,

Seelen zum Herrn zu führen;

auch sagen:

jeder Christ soll darin eine persönliche Fort­

wir können

setzung seines Meisters sein, daß er in seelenrettender Liebe dem Bruder vom Tode hilft. So sollen wir es untereinander

thun, eine Gemeinde von Heiligen, in der das heilige Mit-

47 leiden der Liebe nicht aufhört, so lange noch ein Glied zu werben und zu retten ist für das Heil in Christo. Wunderbar bricht mit dem Wort der Brief des Jacobus

ab ohne Gruß, ohne Schlußwort, als sollte, wie ein Aus­ leger meint, das kurze nicht abgeschlossene Wort fortklingen

über alle Zeiten hin, auch zu uns allen, um uns zu mahnen

zum höchsten Thun der Liebe, der sündenbedeckenden, seelen­ rettenden Bruderliebe. Möchte es, wie es jetzt hineingeklungen ist in unser Herz, in ihm forttönen und uns selbst immer

aufs neue hinziehen zu dem Herrn, der uns geliebt hat, um

von ihm wieder ausgesandt zu werden zum Dienst seiner Liebe an andern in der Zuversicht:

Es kann nicht Ruhe werden Bis seine Liebe siegt,

Und jeder Kreis der Erden Zu seinen Füßen liegt. Amen.

V. 14. Sonntag nach Trinitatis 1882.

Der weltüberwindende Glaube. 1 Joh. 5, 1—4.

Wer da glaubet, daß Jesus sei der Christ,

der ist von Gott geboren. Und wer da liebet den, der ihn -geboren

hat, der liebet auch den, der von ihm geboren ist.

wir, daß wir Gottes Kinder lieben, seine Gebote halten. seine Gebote

Daran erkennen

wenn wir Gott lieben und

Denn das ist die Liebe zu Gott, daß wir

halten; und seine Gebote sind

nicht schwer.

Denn

Alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt; und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.

Theure Gemeinde! Es ttingt uns aus dem verlesenen apostolischen Wort eine Freudigkeit und eine Siegeszuversicht,

ja ein Triumphruf entgegen, die ohne Gleichen sind. „Unser Glaube, ruft Johannes aus, ist der Sieg, der die Welt überwunden hat!" Das ist dieselbe Welt, die, mit einem andern Worte des Apostels zu reden, im Argen liegt; dieselbe Welt, in der er mit geistesscharfem Auge bereits die

Spuren des nahenden Antichrist wahrnimmt; dieselbe Welt, über deren dichtes Dunkel nur da und dort, wie einzelne leuchtende Punkte, die kleinen Christengemeinden

verstreut

sind. Und über diese Welt schaut er den Sieg des Evan­ geliums bereits als vollzogene Thatsache und stimmt das Siegeslied an über den errungenen Triumph.

Man muß

sagen: entweder ist dies Wort eine ungeheure Narrheit, ein-

49 gegeben von den Einbildungen des Größenwahns, mit denen

auch der Irrglaube seine Anhänger je und je erfüllt hat; oder es enthält ein so ungeheures Bewußtsein von der Macht des Glaubens, daß wir es nur als eine Weissagung,

von Gottes Geist gewirkt, ansehen können. Wir sind nicht im Zweifel, wie wir es zu nehmen

haben: — welch ein Umschwung! Vor der Predigt jener zwölf Fischer von Galiläa sind die Tempel der Götter zerbrochen

und das Feuer ihrer Altäre verlosch; vor der Thorheit des Kreuzes hat die griechische Bildung die Waffen gestreckt und

vor dem Scepter des Gekreuzigten haben die römischen Welt­

herrscher sich gebeugt.

Ja, während jene ganze glänzende

alte Welt heute nur noch der Gegenstand mühsamer For­ schung für die Gelehrten ist, steht das Zeichen des Kreuzes

noch heute da als das Panier des Sieges, der die Welt

überwunden hat.

Wir fügen aber noch eins hinzu: die Stimmen sind ja heute nicht selten, die der Ansicht sind, es habe wohl damals das Evangelium einen wichtigen Fortschritt gebildet über das

alte Heidenthum hinaus; heute sei der menschliche Gedanke auch über die Welt des Evangeliums weit hinausgeschritten, und der Glaube, von dem Johannes rede, längst durch die Herrschaft der modernen Weltanschauung abgelöst, die ihrer­

seits der Sieg sei, der auch das Christenthum überwunden

habe.

Theure Freunde! Es bedarf nicht eben allzu großer

Geistesschärfe, um zu sehen, wie jeder Forffchritt der Welt über den Glauben hinaus sich immer als Rückschritt erwies;

wie eine Erlösung vom Glauben nur immer eine neue

Knechtung unter Sünde und Leidenschaft bedeutet hat. Ein Volk, das vom Glauben sich loslöst, verwildert und versinkt

rettungslos in ein neues Heidenthum der Welt- und

4

der

50 Menschenvergötterung.

Wie das Wort als eine erfüllte

Weissagung der alten Zeit gegenüber steht, so verkündet es

auch der neuen Weisheit von heute: Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.

Eine Frage aber drängt sich uns auf: Womit denn überwunden?

Der Glaube hat keine Waffen, keine Heere;

von äußerm Prunk ist er noch heute nicht umgeben — wehe ihm, wenn er es wäre!

Es sind innere, Geisteswaffen, mit

denen er siegt, eine verborgene geistige Herrlichkeit, durch die er überwindet, und fülle, Geistliches erfassende Herzen gehören

dazu, um sie zu verstehen.

Johannes will uns für dieselbe

das Auge öffnen; er weist uns im Glauben selbst die ver­ borgenen Geisteskräfte, die ihm den Sieg geben.

Merken

wir auf seine Rede: Unser Glaube ist der Sieg,

der die Welt

überwunden hat. Denn, so begründet Johannes, er giebt Kräfte eines Lebens, welches der Welt überlegen ist,

er giebt Kräfte der Liebe, welche die Welt nicht entbehren kann, er giebt Kräfte der Freudigkeit und des Gehorsams, welchen

die Welt nicht zu widerstehen vermag.

1. Daß

der Glaube eines Menschen, also das was sein

innerstes Herz ausfüllt, was seine Beweggründe regelt, was

sein Lebenstrieb ist, eine ungeheure Macht über den Menschen

hat, selbst da wo es ein Irrglaube ist, weiß jeder, der das Leben kennt.

Wie viel mehr wird es vom christlichen Glau­

ben gelten!

Unser Glaube, sagt Johannes, ist der Sieg.

Er erklärt sogleich, welches dieser Glaube sei:

„Wer da

51 glaubt, daß Jesus sei der Christ, der ist von Gott

geboren." Um geschichtliche Thatsachen also handelt es sich: Jesus ist der Christ, d. i. der Gesalbte Gottes.

Aber den

Inhalt dieser zeitlichen Geschichte versteht niemand,

der sie

nicht zurückverfolgt in eine ewige Geschichte, die hinter dieser

zeitlichen liegt. Gott ist die Liebe ; diese Liebe ist erschienen, ist persönlich

hineingetreten in diese arme Welt in Christo — so hat der Apostel kurz vorher auseinandergesetzt.

Jesum für den Christ

halten: das heißt ihn glauben als die persönlich erschienene Liebe Gottes. — Liebe aber ist um so größer, je geringer

und je niedriger der Gegenstand ist, zu dem sie sich herabläßt. Zu den Sündern hat sich die Liebe Gottes herabgeneigt; um Verlorne zu suchen, kam des Menschen Sohn.

So die

Liebe Gottes als Gnade empfinden und als Barmherzigkeit,

sich selbst als den Verlornen, der der Rettung bedarf, Jesum haben und glauben als den Sünderheiland, der auch mich,

den Letzten, annehmen und heilen will: das heißt Jesum als

den Christ glauben. — Diese Liebe ist endlich nicht nur eine vergangene, die einmal wie ein leuchtender Stern über diese Welt hinzog und dann wieder zurücktrat in die unsichtbare Welt.

Sie hat ein Reich der Gnade und der Erlösung ge­

stiftet, eine große unsichtbare Gemeinschaft des Heils, in die wir hineinversetzt sind im Glauben.

So Christum festhalten als

den lebendig in seinem Reiche gegenwärtigen und wirksamen, als das Haupt seines Leibes, der Gemeinde, als den ewigen

Sohn Gottes, der immer und überall sich zu Menschen herab­ läßt, um ihnen den Zugang zum Vater zu

heißt Jesum glauben als den Christ. der überwindet die Welt.

Denn,

öffnen: das

Und wer dies glaubt,

so begründet Johannes,

„wer da glaubt, daß Jesus sei der Christ, der ist von

52 Gott geboren,

und alles, was von Gott geboren

ist, überwindet die Welt."

„Er ist von Gott geboren" — soll offenbar heißen: er hat in sich ein Leben empfangen, das aus Gott stammt, so

wie das Kind das Leben der Eltern in sich trägt. Hüten wir

uns dabei vor einer Verwechslung, die sich immer wieder einschleicht.

Der Apostel will nicht sagen, daß dieser Glaube

eine neue Lehre, eine neue Bildung und Anschauung bringe.

Bildung kann wohl den Horizont eines Menschen erweitern,

aber sie kann nicht seinen Willen erneuen. Neue Anschauungen können wohl dem Menschen neue Ziele zeigen; aber sie

geben ihm noch nicht die Kraft, sie zu erreichen.

Um ein

Leben handelt es sich, aus Gott geboren, d. h. also, um eine neue bewegende von innen heraus alles durchdringende

Kraft, welche das Leben im Leben bilden will, und welche das Menschenleben wie ein Gefäß mit neuem, göttlichem Leben erfüllt. Diese Umwandlung aber leitet

Glauben.

der Apostel ab vom

„Wer da glaubt", sagt er, der bekommt diese

göttliche Lebenskraft.

Hüten wir uns auch hier vor einer

Verwechslung, die nicht minder verhängnißvoll ist.

Dieses

Glauben ist selbstverständlich nicht blos ein äußerliches Für­

wahrhalten, eine Sache für den Verstand.

Man kann die

ganze Bibel von Anfang bis zu Ende glauben und hat doch diesen Glauben nicht. Man kann noch so orthodox sein und steht dennoch diesem Glauben fern;

denn dieses Glauben

schließt ein eine Bewegung des innern Menschen zu dem

Geglaubten hin, ja einen Entschluß, sich dem Geglaubten innerlich anzuschließen und hinzugeben. Man kann geradezu sagen: dieser Glaube ist eine innere That der Hingabe an

das Geglaubte.

Wer an den Freund glaubt, gibt sich ihm

53 hin; wer an den Arzt und seine Kunst glaubt, überläßt sich

ihm; wer an Gott und seine Barmherzigkeit, wer an Jesum als den Christ und seine Erlösung glaubt, der giebt sich ihm

hin; er steht innerlich offen für das, was Gott ihm giebt. Damit

hängt

aber

ein

noch Größeres zusammen.

Es

ist die Art dieses Glaubens, daß er nun auch das Geglaubte in uns selbst hineinzieht und zum Beweggründe unsres Lebens

und Handelns macht. Sinne fühlen,

Wer nur an das glaubt,

was seine

der wird auch durch nichts andres getrieben

und bewegt werden, als durch das, was seinen Sinnen zu­ gänglich ist:

er wird ein im Sinnlichen lebender Mensch.

Wer an Gott und seinen Christ glaubt, der zieht damit Gott selbst und sein Heil in sich hinein; Gott reicht es ihm dar als den Untergrund eines neuen Lebens:

im Göttlichen lebender Mensch.

er wird ein

So giebt der demüthige,

bußfertige Glaube die göttlichen Lebenskräfte aus der zu­ künftigen Welt und damit ein Leben, welches durchaus dieser

Welt überlegen ist — er überwindet die Welt.

Heilige Ueberlegenheit, die ein Christ hat über die Welt! Das heißt nicht, daß er nicht Freude haben könnte an der Welt, an allem, was sie Schönes und Großes in sich schließt.

Aber es heißt, daß er nicht abhängig ist von dieser Welt und ihrer Freude; sie kann ihm genommen werden und er

wird doch nicht unglücklich, nicht freudlos; denn er hat Größeres, wovon er lebt: ein Leben aus Gott. Es kann

nicht heißen, daß er das Leid der Welt nicht mitfühlte; er trägt ihren Jammer, wie Andre auch; ja, er fühlt ihn mehr, denn er hat ein zarteres Herz. Aber er hat einen Trost in

sich, an den aller Jammer der Welt nicht hinanreicht: er

bleibt unter allen Stürmen der Angst stille zu Gott.

Es

heißt nicht, daß der Christ nicht auch die Versuchungen der

54 Welt zu bestehen habe; er hat Fleisch und Blut, wie andre auch; er kämpft, so lange erlebt. Aber betend und glaubend trägt er Kräfte von Gott in sich, die die Versuchung über­ winden; betend und glaubend ist er mit einem Panzer um­

schirmt, den die feurigen Pfeile der Versuchung nicht durch­

bohren.

Und wenn endlich diese ganze Welt mit ihrer Lust

vergeht: das, was ihm das Leben ausmacht, vergeht nicht; von diesem innern Leben des Glaubens gilt es: „Wenn sie

gleich alt werden, sollen sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein."

Während der natürliche Mensch das fliehende

Leben um jeden Preis halten will, kann ein Christ sich von der Erde lösen, die für ihn nur einen relativen Werth hat; er hat Größeres als sie; er hat den Himmel; so wird selbst

das

Sterben Gewinn.

Ach wie manchmal

ist ein ein«

fälliges Gotteskind mit seinem stillen, in Gott verborgenen

Leben, dessen Herzschlag das Gebet ist,

dessen Friede im

Weltsturm bleibt, weil es seinen Anker ausgeworfen hat in den stillen Grund der Ewigkeit, schon ein Gegenstand des Neides gewesen für ein Weltkind, das hier die Kraft eines

überlegenen Lebens fühlt.

Wie manchmal ist aber solcher

Neid auch schon in Haß umgeschlagen;

denn die Welt, wie

sie nun einmal ist, will nicht, daß Andre mehr und besseres haben, als sie selbst hat.

Und auch dieser Haß beweist nur

die heilige Ueberlegenheit, die das Evangelium über die Welt

hat.

Sie ist bereits besiegt; denn

„wer den Sohn hat",

sagt Johannes, „der hat das Leben!"

2. Und doch würde auf solchem Wege allein das Evan­ gelium die Welt nicht erobern.

Unverstanden,

vielleicht

gehaßt würden die Christen durch die Welt gehen, die sie

55 innerlich überragen, gäbe dieser Glaube nicht noch ein andres, nämlich Kräfte der Liebe, welche dieWelt gar nicht

entbehren kann. In einem Leben der Liebe besteht recht eigentlich das neue Leben, welches der Glaube wirkt. Denn

die Liebe Gottes ist, nach einem kühnen Ausdrucke des Apostels

Paulus, ausgcgossen über das Herz dessen, der glaubt. Unter

ihrem befruchtenden Strom wächst ein neues Leben hervor, ein neues Leben in der Liebe zu Gott.

Und dies Leben in

der Liebe Gottes wird offenbar in der Bruderliebe. da liebt den, der ihn geboren hat,

„Wer

— nämlich

Gott —,der liebt auchden, der von ihmgeboren i st" — nämlich den Bruder. Dieses Leben heiliger aus dem

Glauben stammender Bruderliebe ist es, welches die Welt

überwindet. Schauen wir zurück auf die Welt vor Christo.

Sie

wird uns so oft gezeigt im schimmernden Glanz der klassi­

schen Schönheit.

Aber hört genauer auf die Laute, die aus

ihr zu uns herüber dringen, und ihr hört das Seufzen der Elenden,

das Jammern der Verlassenen, die Klagen der

Kranken, das Hülfeflehen der Hungernden, das Murren der Sklaven.

Mögen da und dort Ansätze zur Erweisung einer

Barmherzigkeit sich finden, das Gesammturtheil muß lauten,

wie es ein Schriftsteller unsrer Tage ausgedrückt hat:

„es

ist eine Welt ohne Liebe." „Wozu dem Armen ein Almosen

geben? Du verlängerst nur seine Qual," sagt ein römischer

Dichter. Und ganz folgerecht; denn jede Weltanschauung des Diesseits ist, wie man mit Recht bemerkt hat, immer eine

Weltanschauung ohne Liebe, und ihr letzter Gedanke, daß, wer

nicht die Mittel zum Leben hat, ruhig sterben möge. Es ist das Recht des Stärkeren, der Kampf ums Dasein, ange­

wendet auf die sittliche Welt.

Und

wenn das

Heiden-

56 thum von heute das nicht leicht offen ausspricht, wenn es gern sich schmückt mit dem Mantel der Humanität, so borgt

es diese Hülle von dem Evangelium der Liebe, das mit

Christo in die Welt gekommen ist.

Denn den Gedanken der

Bruderliebe hat das Heidenthum nicht. Es hat für die Liebe

der Christen nur den ironischen Spott gehabt: „Ihr Meister hat sie überredet, daß sie alle untereinander Brüder seien." In diese liebeleere Welt nun tritt das Evangelium mit

seiner Liebeskraft: ein Evangelium heiliger Gottesliebe, die

in der Liebe Christi offenbar wird, eine Kraft heiliger Gottes­ liebe, die in Christo die Elendesten aufsucht.

Der Herr,

dessen Lebensarbeit der Evangelist mit den zwei Worten be­

zeichnet:

„er ging umher und that wohl",

der nicht kam

sich dienen zu lassen, sondern zu dienen, — er adelt den Dienst

der Liebe als die höchste Würde in seinem Reich. Wer immer

an ihn glaubt, wer mit durchzuckt wird von dem elektrischen Strom der Liebe, der von ihm ausgeht, er ist auch mit überredet, daß sie alle Brüder seien; er tritt mit ein in den

Dienst der Bruderliebe, in dem die Demüthigsten die Größesten sind.

Eben diese Liebe wird ihm das Zeichen,

Glaube echt ist;

daß sein

wo sie nicht ist, da ist der Glaube todt.

Wo der Herr seine Jünger das Licht der Welt heißt oder

das Salz der Erde, da deutet er vor allem auch hin auf die Kräfte der Liebe, mit denen sie die Welt erleuchten und

durchdringen sollen.

Von da aus

gewinnt es etwas so

Rührendes, wenn Paulus an die Corinther schreibt: „Richt viel Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viel

Edle sind berufen", nicht Vomehme und Reiche.

Nein, die

Liebe hat zuerst die Unterdrückten aufgesucht; die Mühseligm

und die Beladenen haben zuerst diese heilige Sprache der Liebe

verstanden;

die Liebeleeren, die Enterbten und Zertretenen

57 der damaligen Menschheit haben zuerst empfunden, daß mit

dem Evangelium

der Liebe auch für sie eine Erlösung in

die Welt eingetreten sei. So ist von unten herauf die Mensch­

heit erneut worden durch die Kräfte der Liebe, die zuvor von oben herab kamen.

gegenlechzt, so

Wie das diirre Land dem Regen ent­

hat die liebearme Welt der Botschaft eines

Glaubens entgegengedurstet, der Kräfte der Liebe in sich trug. Und, theure Freunde, seien wir gewiß, ungeschwächt gilt das noch heute. Die Macht der Liebe, die aus dem Glauben

kommt, kann die Welt schlechterdings nicht entbehren. Nehmt sie heute fort aus der Welt, und mit aller feiner Humanität,

mit allen seinen Erfindungen läge auch auf dem 19. Jahr­ hundert, wie auf dem ersten eine tiefe Nacht. Lassen wir uns

nicht verdrießen zu wiederholen, was Johannes nicht müde wird immer aufs neue zu sagen. Handelt es sich doch nicht um

immer neue Gedanken, die wir empfangen, sondern uin immer neue Thaten, die wir thun sollen.

Es giebt noch heute kein

mächtigeres, kein überwindenderes Zeugniß für die Herrlich­

keit unsres Glaubens, als die Arbeit demüthiger, dienender, fürbittender Liebe, für die er die Kraft einflößt. Denn Liebe braucht die Welt um zu leben;

jeder Glaube, der Kräfte

dieser Liebe giebt, hat darum bereits den Sieg in der Hand. Seine Hasser selbst können das nicht leugnen und müssen

sich beugen.

Habe ich vorhin gesagt, für den Christen habe

die Welt einen andren und geringern Werth als für andre,

so sage ich nun mit demselben Recht:

sie hat einen viel

größern; denn sie ist der Schauplatz für die Liebesarbeit in

der Kraft des Glaubens.

Vor etlichen Jahrzehnten starb in

Hamburg eine jener Heroinnen in der Arbeit der dienenden Liebe, Amalie Sieveking.

bei Tagesanbruch in

Nach ihrer Anordnung wurde sie

einem

sogenannten

Armenfarge

so

58 prunklos wie möglich begraben.

Aber was sie nicht hatte

verbieten können — eine Schaar von Hunderten und Tausen­ den folgte im Morgengrauen dem Sarge nach:

Arme, die

— eine leuchtende

sie ausgesucht, Kranke, die sie gepflegt

Spur der Liebesarbeit, die sie geübt. Können wir auch nicht

alle das Gleiche thun, merken wir uns doch: auch das kleinste Leben an unscheinbarster Stelle kann ausgefüllt werden mit

der Arbeit der Liebe, die aus dem Glauben kommt.

Auch

das kleinste und unwichtigste Verhältniß, auch der Dienst­

bote, der in deinem Hause lebt, auch der Besuch, der heute

an deine Thür klopft, soll Theil haben an der Liebesmacht, die der Glaube verleiht.

Arm und armselig ist nur der

Mensch, und wäre er noch so reich, dessen Glaube noch nie

sich in Kräften der Liebe offenbart hat. Reich ist der Aermste, der im Thun der selbstverleugnenden, tragenden, vergebenden Liebe einem andren das Bekenntniß

abzwingt:

„Seliger,

seliger Christenglaube, der solche Kräfte der Liebe giebt!"

3. In dem Allem aber, theure Freunde, liegt auch schon

eine Siegesfreudigkeit und eine Einfalt des Gehor­

sams,

der die Welt nicht widerstehen kann.

jedes Wort des Apostels klingt das hindurch. Gebote sind schwer. lehrt.

Durch

Nein, Gottes

Es ist die Liebe zu Gott, die sie halten

Wo Liebe ist, wird keine Aufgabe zu groß.

Wer

im Glauben der Liebe Gottes inne wird, die ihn durch Christenthum angenommen hat, erfährt:

Am Ende ist's doch gar nicht schwer, Ein sel'ger Mensch zu sein;

Man gibt sich ganz dem Herrm her

Und hängt an ihm allein.

59 Man ist nicht Herr, man ist nicht Knecht,

Man ist ein selig Kind, Und wird stets sel'ger, wie man recht

Den Herren lieb gewinnt. Es liegt in der That über einem Christenmenschen eine kindliche Fröhlichkeit und eine selige Harmonie des Wesens,

die andre nicht haben. Es ist wirklich wahr, rechtes Christen­ thum macht glücklich und damit liebenswürdig. Ein Christen­

thum, das finster, mürrisch, unnahbar macht, ist nicht das rechte. Ein Mensch, der mit voller Glaubensfreudigkeit sagen kann: nichts kann mich scheiden von Gottes Liebe; nichts ist mir zu schwer, was mein Gott mir auflegt; nichts kann

mir schaden, was ich in Gottes Namen thue — dem muß man auch seine innerliche Befriedigung und Seligkeit ab­

fühlen. Das alles aber hat etwas unendlich Anziehendes für die Welt; es bleibt ihr wie ein Stachel: diese Christen

haben etwas, was ich nicht habe und was ich doch von ganzer Seele suchen möchte, einen Frieden, den das Irdische nicht giebt. Wo eine solche Stimmung ist, bedarf es nur der

Freudigkeit und der Gewißheit des Sieges: „wir haben die Welt überwunden", um ihn davonzutragen. Wer nicht an den Sieg glaubt, hat ihn bereits verloren; wer an den Sieg

glaubt, hat ihn halb gewonnen. sachen doppelt.

Das gilt in Glaubens­

Wer in der Liebe Christi Gottes Gebote

hält, der erlebt an sich selbst seinen Glauben als den Sieg, der die Welt überwindet.

Und dieser Glaube wird ihm auch

zur unumstößlichen Zuversicht, daß er andre überwinden

werde.

Fürchten wir uns doch nicht in dieser Zeit mannig­

facher Kämpfe, in denen uns das kleine Häuflein der Treuen

bisweilen zu unterliegen scheint. Wer das Auge des Glaubens aufthut, dem geht es noch heute wie zu Elisa's Zeit: er

60 sieht, derer die bei uns sind, sind mehr, als derer die bei ihnen sind.

Er schaut mit heiliger Siegeszuversicht die

Schaaren der Bundesgenossen ringsum: die Glaubenssehn­ sucht der Welt, die nach einem bessern Leben verlangt, das

Liebebedürfniß der Welt, die ohne das Evangelium verloren wäre, das Seligkeitsbedürfniß der Welt, die in sich keine Ruhe

findet. Er schaut den lebendigen Herrn in der Höhe, der siegend bereits sein Kreuzesbanncr entfaltet auch über die, welche ihm noch fern sind. Wissen wir davon nichts, dann laßt mich, liebe Freunde, was ich zum Trost gesagt, zur Mahnung gestalten.

Es giebt nicht nur u m uns eine Welt zu überwinden, sondern

zuvor in uns.

Sie wird nicht besiegt, als durch den Glau­

ben, der aus der Buße und aus der Demüthigung geboren

wird. So laßt uns beginnen. Laßt uns den Wunderglauben lernen an die Gewißheit der eignen Rettung,

an die Um­

wandlung unsres Todes in Leben, unsrer Selbstsucht in

Liebe, unsrer Friedlosigkeit in Seligkeit, unsrer Schwachheit

in Kraft, und wir werden von selbst glauben an das nicht größere Wunder der Ueberwindung der Welt.

Laßt uns

erfahren die Kräfte des Glaubens, der Leben schafft und Liebe giebt, und wir triumphiren mit dem Apostel: „Unser

Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat!" Amen.

VI. 13. Sonntag nach Trinitatis 1882. Wer den Sohn hat, der hat das Leben. 1 Joh. 5, 11—13.

Und das ist das Zeugniß, daß uns Gott

das ewige Leben hat gegeben, und solches Leben ist

Sohne.

in

seinem

Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben; wer den

Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht.

ich euch geschrieben,

die ihr glaubet

Gottes, aus daß ihr wisset,

Solches habe

an den Namen des Sohnes

daß ihr das ewige Leben habet,

und

daß ihr glaubet an den Namen des Sohnes Gottes.

Theure Gemeinde!

„Unser Glaube ist der Sieg, der

die Welt überwunden hat!" so lautet der Zuruf des Apostels

im Anfang des Capitels, aus dem unser Text genommen ist. Daß er es ist, beweist eine christliche Welt, die unter der Wirkung des Evangeliums entstanden ist. Dennoch so unbestreitbar das Wort zu sein scheint,

bestritten ist es.

so

Ja, wir müssen sagen: so lange wird es

bestritten werden, als einer noch nicht am eignen Herzen jene siegende Kraft des Glaubens erfahren hat. Das ist der

Gedanke, auf den das verlesene apostolische Wort uns Hin­ weisen will. — Giebt es ein Zeugniß für die Wahrheit des

Evangeliums, das unwiderleglich durch alle menschlichen Ein­ wendungen die Anerkennung uns abzwingt? giebt es einen

Beweis für die Gewißheit der christlichen Dinge, den mensch­

licher Scharfsinn nicht zu zerbrechen vermag?

kann man

62 Gewißheit erlangen, daß Glaube an Christum, Gemeinschaft mit Gott, ewiges Leben nicht blos menschliche Vorstellungen sind, sondern ewige Wahrheit?

Auf alle diese Fragen ant­

wortet der Apostel mit einem Karen: Ja, es giebt einen

solchen Beweis, eine solche Gewißheit, aber man findet sie nur auf den« Wege, der allein unumstößliche Gewißheit giebt,

nämlich auf demWege der Erfahrung. Wer im wärmen­

den Glanze der Sonne steht, dem wird niemand hinweg­ beweisen, daß es eine Sonne giebt: er fühlt das Gegentheil. Wer das Kraftgefühl der Gesundheit hat, der braucht keine Beweise, daß er nicht krank ist; er trägt den Beweis in sich.

Wer satt ist, weiß von selbst, daß er nicht hungert; die Er­ fahrung sagt es ihm.

So sagt der Apostel:

Sohn hat, der hat das Leben."

„Wer den

Er steht unter dem

Strahl einer Geistessonne, die er sich nicht wegstreiten läßt; ihn trägt ein inneres Gefühl der Lebenskraft, das sich von selbst aufdrängt; ihn füllt ein Bewußtsein der Sättigung

und Befriedigung aus, gegen die alle Gründe ohnmächtig sind.

„Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat auch das

Leben nicht," und damit auch keine Gewißheit des Heils,

und hätte er tausend Beweise.

Wer ihn hat und in ihm

das Leben, der hat mehr als einen Beweis, er hat die Er­ fahrung des Lebens und damit die Gewißheit, Glaube der Sieg ist, der die Welt überwindet.

daß der

Bei diesem

großen Erfahrungsbeweis für die Wahrheit des Evangeliums

heißt uns das apostolische Wort heute verweilen. Der Gang seiner Gedanken ist auch der unsrer Bettachtung.

Wer den Sohn hat, der hat das Leben. Verstehen wir zuerst, was das heißt; sehen wir dann,

wie darin eine unumstößliche Gewißheit für unsren Glauben

63 liegt; hören wir endlich die Mahnung, die der Apostel daran

schließt.

1. „Und das ist", beginnt der Apostel, „das Zeugniß,

das Gott nämlich selbst für Christum ablegt, daß uns Gott das ewige Leben hat gegeben." Vierzig Mal, hat Jemand gezählt, kommt dieses Wort

„ewiges Leben" im neuen Testament vor; immer aber spricht

es nicht von etwas nur Jenseitigem, erst in der Ewigkeit Beginnendem, sondern von etwas, das bereits in diesem

Leben vorhanden ist und das tiefste Glück, die innerste Be­ friedigung desselben ausmacht.

zugleich etwas,

Wiederum immer meint es

das nicht mit diesem Leben stirbt und ver­

geht, sondern das in ein ewiges Dasein hinüberreicht und

uns recht eigentlich die Gewißheit giebt, daß wir für die Ewigkeit da sind.

Was ist nun eigentlich dieses ewige Leben, das uns ge­

geben werden soll? Ein alter griechischer Weiser hat gesagt, Leben sei die Selbstentfaltung eines jeden Wesens zu der in ihm an­

So gilt es schon in allen Gebieten der

gelegten Idee.

niedern Natur. Die lebendige Pflapze entfaltet sich aus dem

Keim zu der Gestalt, die in ihm angelegt ist; anders ist sie todt oder sie lebt nur halb, sie verkrüppelt.

So gilt es

noch viel mehr bei dem Menschen. Der Mensch aber ist nicht

allein dazu angelegt, zu essen und zu trinken, zu wachsen und zu lernen, zu schaffen und zu wirken für diese Welt. Nicht damit ist die Idee des Menschen erreicht, daß er ein

treuer Bürger, vater wird.

ein tüchtiger Beamter,

ein guter Familien­

Nicht das Fortkommen für diese Welt, und

64 stiege er noch so hoch, macht ihn zu dem, was Gott von

ihm will.

Als Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf

und zu seiner Aehnlichkeit, da gab er ihm seine eigenthüm­

liche Idee. Dieses inwendige Leben in Gott und zu Gott ist es, was dem Menschenleben erst das rechte Leben giebt, was

das äußere irdische Leben nach Gottes Gedanken erst lebenswerth macht.

Leben nach Gottes Bild, für Gott und zu

Gott, darum innerlich ausgefüllt sein mit dem, was in Gott

Bestand hat und zu Gott führt, auch das Irdische treiben und haben mit dem Gedanken, daß es nur ein Mittel sei

für dies ewige und göttliche Leben: das heißt Leben im

tiefsten Sinne des Wortes.

Freunde! Haben wir in uns dies Leben? Wir wollen jetzt absehen von den Unzähligen,

deren

Leben bis in die Tiefe hinab nur ausgefüllt ist mit Eitlem und Nichtigem, und die damit förmlich Verzicht leisten auf ihr Anrecht auf die Ewigkeit.

Aber sieh in dich selbst —

dies göttliche Leben, ach wie ist es in Fesseln geschlagen durch die Bande der Leidenschaften, die dich gefangen halten! wie

ist es so ohnmächtig geworden unter der herrschenden Macht

der Sünde, des Zorns, des Ehrgeizes, der Sorge, die dich ausfüllen!

Es giebt ja sogenannte schöne Naturen, die auch

in sittlichen Dingen wie zu harmonischem Ebenmaß angelegt

scheinen. Und doch ist keine unter ihnen, bei der nicht irgendwo

dies innerste und tiefste Leben plötzlich überwältigt würde von der Macht des Sinnlichen und Sündlichen.

Wie ein

Seufzer tiefer Sehnsucht ist es wohl in stillen Stunden aus

uns allen emporgestiegen: daß wir frei würden vom Dienst

des vergänglichen Wesens, befreit zu der Freiheit ewigen Lebens!

Wir haben gleichsam den Sklaven in uns gefühlt,

der seine Ketten rührt, das tiefere Lebensbedürfniß, das wir

65 in uns tragen.

Aber wer erlöst ihn? Nein, Leben, ewiges

Leben und darum tiefes, seliges Lebcnsgefühl haben wir in

uns nicht. Johannes bestätigt uns das, wenn er sagt: „Gott hat

uns solches Leben gegeben, und solches Leben ist in seinem Sohne."

Seht euch um unter den großen Gestalten der

Menschheit: einen Einzigen giebt es, der keine Fessel, keinen

Zwiespalt kennt, in dem ewiges Leben, Leben aus der Ewig­ keit ungehemmt waltet,

bei dem es herausbricht aus dem

Kindeswort: „Muß ich nicht sein in dem, was meines Vaters ist?"

und bei dem jeder Manneskampf nur Anlaß wird zu

einer neuen Offenbarung göttlichen Lebens.

Jesus Christus

hat das Leben, nach dem wir seufzen; er trägt die Ewigkeit in sich, die uns wie ein ferner Stern am Himmel leuchtet,

den wir nie erreichen. ewige Leben,

Ja,

so mächtig

flutet in ihm dies

daß Johannes im Evangelium geradezu von

ihm sagt: „In ihm ist das Leben."

Was nur im Menschen­

herzen hinstrebt zu Gott und zu seinem Licht, das ist gesammelt in Christi Leben.

So übermächtig ist dieses göttliche Leben

in ihm, daß der Tod ihn nicht halten kann, daß er die Pforten des Grabes sprengt.

Aber es ist in ihm nicht etwa nur, um

über die Erde hinzugehen und in der Erinnerung der Zeit­

genossen eine leuchtende Spur zu hinterlassen. ist erschienen in ihm", sagt Johannes,

„Das Leben

„auf daß ihr Ge­

meinschaft habet mit dem Vater und seinem Sohne

Jesu Christo".

Es ist erschienen in ihm als dem Haupte

des Leibes, einer Gemeinde, die von ihm

dasselbe Leben

empfangen soll. Wie der Stamm sein eignes Leben der Rebe

abgiebt, die er treibt, so will Christus, der Stamm einer

neuen Menschheit,

das eigne Leben, ewiges Leben abgeben

denen, die geistig sich von ihm treiben lassen.

Ein Leben

5

66 aus Gott will er in uns wirken,

das uns bleiben läßt in

dem, was des Vaters ist, das durch Kampf und Versuchung, trotz Sünde und Tod sich nur herrlicher entfaltet aus Gott

und für Gott, und das darum kein Tod wirllich geschieht, es ist wahr,

Herrn.

tödtet.

Daß es

ist'seine Sache, Sache des

Die Rebe kann nicht dem Stamm gebieten:

bring

mich hervor, sondern umgekehrt treibt der Stamm die Rebe.

Dennoch aber kann und muß der Mensch eins thun, nämlich sich öffnen, annehmen, ergreifen, wie die Schrift es nennt:

glauben — wer im Glauben den Sohn hat, der hat in

ihm das ewige Leben. Nun verstehen wir, was es sagen will: Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht; dies wahre, ewige

Leben hat er nicht.

Wie viel Ringen und Sehnen darnach

tritt uns oft bei den edelsten Menschen entgegen! Wie tönen

die Aeußerungen

der Sehnsucht darnach

aus allen Zeiten

der Menschheit heraus! Dennoch alles Funkensprühen giebt noch keine Flamme; das bloße Sehnen schafft das Leben

nicht, so wenig als der Hunger die Sättigung schafft. Nie­ mand erkennt den Vater, denn nur der Sohn, und wem es

der Sohn will offenbaren, hat der Herr selbst gesagt. Aber wer ihn hat, der versteht jenes Wort: „Da fing mein Leben an, als ich dich liebte."

Er trägt die Gewißheit in sich, daß

etwas Neues in ihm begonnen hat, das von Christo herrührt, und das niemand ihm umstoßen kann. Seht' da, theure Freunde, das Zeugniß, das Gott geben

will für das Evangelium seines Sohnes. Und dieses Zeugniß, sagen wir nun

2. ist

unwiderleglich

und unumstößlich.

braucht keines Beweises.

Wer es hat,

Kein Mensch kann zweifeln, ob er

67 ein Leben hat oder nicht, so wenig er füglich zweifeln kann, ob er satt ist oder nicht.

Verwechseln wir nicht immer aufS

neue dies Leben mit einer bloßen Ueberzeugung, die bedarf immer neuer Beweise und jeder scharfsinnigere Gegenbeweis

stößt sie um. Hier handelt cs sich um Thatsachen des innern

Lebens, an die überhaupt kein Beweis hinanreicht.

Geh in

dein eignes Leben hinein, um zu verstehen, was ich meine.

„Wer den Sohn hat, der hat das Leben." Worin offenbart sich dieses Leben?

Dies Leben, sage ich zuerst, offenbart sich in einem tiefen Frieden, der durch das Menschenherz

geht.

Friede

ist da, wo die Unruhe, Angst und Ungewißheit aufhört. Aber

er ist etwas Innerliches und darum kann er wohl bestehen

mitten in äußerer Unruhe und äußerer Ungewißheit. Aus uns selbst schöpfen wir diesen Frieden nicht. „Die Gottlosen haben keinen Frieden", spricht die Schrift.

Diese innere Dürre und

Trostlosigkeit, die zerfahrene Unruhe und Leidenschaft ist ja nur

das Zeichen, daß dieser Friede fehlt. Zu einem tiefen Sehnen nach diesem Frieden bringt es wohl der Mensch: „süßer Friede,

komm, ach komm in meine Brust!" Aber wer den Sohn hat, der hat ihn; denn alle Unruhe hört auf, wo die Vergebung der Sünden ist und Christus ist der Versöhner, der diese

Vergebung darreicht.

Wer den Sohn hat, der hat ihn;

denn alle Ungewißheit wird aufgehoben in der innern Ge­

wißheit, daß wir beides im Leben und im Sterben in der Hand eines

getreuen Heilandes sind,

dem nichts uns ent­

reißen kann; und dieser Heiland ist Christus. Wer den Sohn

hat, der hat ihn;

denn Friede im Herzen ist da, wo ein

Kindesverhältniß zu Gott begonnen hat, wo der Zugang zum Vater offen und damit das Gebet eine Erquickung und

eine Freude des Herzens geworden

ist und die wachsende

68 Liebe die Furcht austreibt. Dieses Kindesverhältniß zu Gott

aber begründet der Sohn, Brüdern geworden ist.

der der Erstling unter vielen

Und wer nun in dieser Gewißheit

lebt, und diesen Frieden im Herzen trägt, meint ihr wirklich, der bedürfe noch Beweise,

daß er sich auch nicht irre über

das, was er täglich erfährt? Ich sage weiter: Wer dieses Leben hat, dessen inwendiger Mensch wird von einer neuen und höchst bedeutsamen Kraft durchdrungen.

Es war wahrlich keine Redensart, als Paulus

schrieb: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus," und keiner der Philipper hat den Apostel Lügen

strafen können, als er dies „Alles" zerlegte: „ich kann niedrig

sein und kann hoch sein, beides, satt sein und hungern, beides, übrig haben und Mangel leiden."

Sprechen wir ihm das

nach; vielleicht fühlen wir sofort, wie sonderbar sich in unsrem Munde das Wort ausnimmt; aber lernen wir daran glauben,

daß wirklich für uns alle dies Leben eine Kraft ist, die unsre

Selbstsucht, unsren Geiz, unsre Bequemlichkeit aus den Angeln

zu heben und das Leben zu heiligen vermag.

Der Sohn,

der dieses Leben giebt, ist auch der Heiligmacher, und wo sein Leben ist, da beweist es sich als eine Kraft der Heiligung.

Fragt herum in der Welt, immer wieder begegnen wir solchen, die bekennen können: ich liebte einst meinen Genuß, mein

Vergnügen, meine Behaglichkeit über alles;

jetzt habe ich

eine höhere Liebe, der ich sie opfere. Ich war einst gehalten

von Zorn, Groll und Leidenschaft; nun vermag ich es, ihre Ketten zu zerbrechen. Ich war gehalten von Menschenfurcht;

nun habe ich Muth zu bekennen. Ich diente einst der Sünde, selbst wider meinen Willen, selbst knirschend that ich es —

nun diene ich Gott, meinem Herrn, von ganzem Herzen und mit williger Seele.

Wo immer aber solches Bekenntniß ab-

69 gelegt wird, wird es nur da sein, wo es durch das andre

Bekenntniß begründet wird: ich habe das Leben gefunden in

Jesu Christo, meinem Erlöser. Und ich sage endlich: Dieses Leben, das in Christo ist, offenbart sich in einer großen Hoffnung: es bewährt sich

im Tode.

Keine Weltanschauung hält die Probe aus,

nicht Stand hält gegenüber dem Tode.

die

Läßt sie uns da

im Stich, so ist sie nicht werth, zu bestehen, so mag sie ver­

sinken mit dem Heidenthum alter und neuer Zeit.

Das ist

der Prüfstein für das Evangelium. Welche Kraft des Lebens, die von ihm ausgeht!

Es giebt christliche Sterbebetten, an

deren Seite der Lebensfürst steht, der den Tod überwunden

hat, und an denen er mitten im Sterben eine Lebenspredigt hält;

— Sterbebetten, an denen der Tod einem vorkommt,

„wie der Umzug ins andre Zimmer", bei denen das Sterben Gewinn däucht, weil Christus das Leben war.

Nicht von

allen sage ich das, auch nicht von allen Christen. Wer will die Geheimnisse solcher Stunden ergründen,

und wie oft

verbirgt sich die Herrlichkeit hinter dem Dunkel menschlicher

Noth! Aber was der Herr auch nur an Einem klar macht, gilt gleichwohl von allen, die in ihm leben: sie können nicht

sterben; ihre Seele ruht in des Vaters Hand.

Welches

Gewicht hat die eine Thatsache, daß auf Christengräbern der

Spruch steht: „Wer an mich glaubt, wird leben, ob er gleich

stürbe."

Ich las dieser Tage in einer Reisebeschreibung die

Bemerkung, in Einem seien wir den Alten noch immer gleich, so

durchgreifend auch sonst in allen Dingen der Unterschied der

Betrachtungsweise sei,

schlafenen ;

in der Trauer nämlich um die Ent­

daher die tiefe Macht, mit der ihre Monumente

noch immer auf uns einwirken. Dennoch giebt es auch hier einen tiefen Unterschied. Wir weinen, sagt Paulus, nicht wie

70 „die andern, die keine Hoffnung haben".

Wir haben einen

Heiland, der den Tod überwunden, eine ewige Weltordnüng

an das Licht gebracht und in ein unvergängliches Reich uns

versetzt hat. Davon geht ein Trost aus, den kein Menschen­ wort ersetzen kann, ja der grade unsre Trauerzeiten zu Ge­ burtszeiten der innersten Glaubenserfahrung gestaltet und da, wo die sichtbaren Stützen brechen, eine innere Gewißheit des Lebens reifen läßt, welche unumstößlich ist.

8. Und das führt uns endlich noch mit kurzem Wort zu

der Mahnung, mit der der Apostel schließt: „Solches habe ich euch

geschrieben, die ihr glaubet

an den Namen des

Gottes, auf daß ihr wisset, daß ihr

das

ewige Leben habt und daß ihr glaubet an

den

Sohnes

Namen des Sohnes Gottes".

„Euch, die ihr glaubet, schreibe ich, damit ihr

glaubet."

Alles Haben dieses Lebens hängt also an einem

Einzigen, am Glauben.

Nur im Glauben haben wir es;

nur so viel als wir im Glauben den Sohn erfassen und sein Leben uns zu eigen machen, halten wir es. Der Glaube aber ist nicht ein Besitz, den man einmal erringen und dann

festhalten könnte;

er ist eine sittliche That und darum eine

immer neue That, ja ein immer neues Wagestück der sitt­ lichen Hingabe.

Wir, die wir glauben, müssen uns immer

wieder mahnen lassen, damit wir glauben.

Es giebt ja bei

jedem Menschen dürre Zeiten, wo man des Glaubens, den man hat, doch nicht gewiß ist.

Es giebt Zeiten sittlicher

Stockung, wo man von der Lebenskraft, die da ist, doch

nichts spürt.

Es giebt Zeiten der Anfechtung, wo man sich

von Gott verlassen glaubt,

während er neben einem steht,

71 und wo man unter dem Bewußtsein der Schuld, unter der

Last der Sorge,

unter dem Druck des Kreuzes so tief ge­

beugt ist, daß man sich nicht zu erheben vermag. In solchen

Zeiten ist

es

wichtig,

auf das Wort des

Apostels

das ewige Leben habt.

zu

daß ihr

achten: ich schreibe euch, auf daß ihr wisset,

Dies ewige Leben ist für uns da,

auch wenn wir es nicht spiiren.

Es ist vorhanden

als ein

uns selbst verborgener Besitz, so lange wir nur den Glauben nicht wegwerfen, und wir sollen glauben, daß wir es haben

auch ohne zu sehen und ohne zu fühlen.

In solchen Zeiten

sollen und dürfen wir uns an das Wort anderer halten, vor allem das der Schrift —: „Ich schreibe euch, damit ihr es wisset

— und wenn euch der Boden unter den Füßen schwände, ihr habt das ewige Leben"; wer den Sohn hat, der hat es, und

jeder hat den Sohn, der auch nur mit seinem zerbrochenen und schwankenden Herzen zu ihm kommt.

Denn fest steht sein

Wort: „Wer zu mir kommt, den will ich nicht hinausstoßen." Aber, liebe Freunde, damit solche Zeiten uns nicht un­

vorbereitet finden, so gilt es bei Zeiten glauben lernen. Ich

schreibe, sagt Johannes auf daß ihr glaubet. Aus Glauben in Glauben sollen wir eindringen.

Es

giebt aber keinen

Glauben an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes,

dem nicht die innere That der Buße voranginge. Jedesmal wenn wir uns irgendwo dieser That der Buße weigern, bleibt uns der Glaube fremd und wird uns

schwer.

Jedesmal

wo wir ein bestimmtes Stück des innern oder äußern Lebens,

eine einzige Leidenschaft, ein besonderes Verhältniß von der Buße ausnehmen wollen, verliert auch der Glaube seine

Krait.

Wenn jemand aufrichtig Gottes Willen thun will,

nichis als diesen Willen und in diesem Willen wo es noth

ist die Buße, dem wird auch, je mehr er sich kentten lernt,

72 der Weg der Buße zugleich der Weg des Glaubens werden.

Es wächst ihm die Freudigkeit und die Kraft sich einem Herrn

hinzugeben, der Verlorne errettet und Sünder annimmt. Es

wächst ihm der Glaube und das Vertrauen zu dem Helfer in aller Noth, dem Erlöser vom Bösen.

Wer aber an ihn

glaubt, wer ihn hat als seinen Trost in der Sündennoth

als seine Kraft in der Heiligungsarbeit, als seine Hoffnung

im Todesthal, der kann nicht verloren gehn; denn „werden

Sohn hat der hat das Leben."

Amen!

VII. 4. Sonntag nach Trinitatis 1881. Wenn Du mich demüthigst, machst Du mich groß. 2 Sam. 22. 36. Und giebst mir den Schild Deines Heils. Und wenn Du mich demüthigest, machest Du mich gras;.

Theure Gemeinde! Das kurze Wort, das ich soeben

unserer Andacht vorangestellt habe, hat nach wörtlicher Über­

setzung des Grundtextes einen etwas anderen Sinn.

Aber

es drückt in der vernommenen Fassung so vollkommen und

scharf einen wichtigen biblischen und namentlich neutestament-

Gedanken aus, daß ich es grade so zur Grundlage

lichen

unserer Betrachtung machen möchte.

Das Evangelium ist für den rein irdischen Verstand

voller Widersprüche.

Wenn der Herr nicht bloß in geist­

reicher Wendung, sondern in vollem Ernst die geistlich Armen, die Leidtragenden,

die Verfolgten selig preist, wenn er die

Unmündigen als

die Empfänger einer Weisheit nennt, die

den Weisen und Klugen verborgen bleibt — : so sind das lauter Gedanken, die dem natürlichen Sinn als Widerspruch erscheinen.

Wort

Sie alle noch überbietend spricht Paulus das

aus:

„Ich

will

mich

am

allerliebsten

meiner

Schwachheit rühmen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark".

Er spricht das nicht nur gelegentlich aus; er will

eben damit das eigentliche Geheimniß seines Wirkens dar-

74 Was für ihn die Quelle seiner Kraft ist, das muß

legen.

dem natürlichen Menschenverstand als das Gegentheil er­

scheinen.

Schwerlich kann eine stärkere Paradoxie ausge­

sprochen werden. Derselbe Ton wird geschlagen:

nun auch in unsrem Wort an­

wenn Du mich demüthigst,

machst Du

natürlichen

ist das ein­

mich groß. Für den

Menschen

fach eine Sonderbarkeit; für den Christen giebt es den Weg zur Größe an — wie löst sich der Widerspruch?

Allerdings nicht auf dem Boden des bloßen Verstandes

wächst die Lösung; sie entstammt einem tiefern Grunde, dem

des geistliche»! Lebens und der geistlichen Erfahrung.

Das

Geheimniß des Herrn ist bei denen, die ihn fürchten, heißt es im Psalm; das gilt auch hier. Es bedarf einer bestimmten

Gesinnung, eines sittlichen Wollens, um dasselbe zu erfassen. Der irdisch gesinnte Mensch kann in der Demüthigung nur Trauer, nur Lebenshemmung sehen;

der geistlich

weiß, daß grade da sein Gott ihm nahe Segensbahnen mit ihm einzuschlagen.

kommt,

gesinnte

um neue

Der irdisch gesinnte

Mensch steht dem Evangelium gegenüber wie einem Räthsel oder

einer Verirrung — ein philosophischer Schriftsteller

unsrer Tage hat die Demuth eine Tugend der Lumpe ge­ nannt; der geistlich gesinnte hat grade darin die Lösung der

Räthsel, das Geheimniß des Friedens mitten im Streit und

der Freude im Leid, den Weg zum Heil. So wird es denn zur Gewissensfrage über unsre Stellung zum Evangelium,

zum Maßstab für unsre geistliche Erfahrung, wenn ich frage:

was bedeutet unser Textwort für uns? Bitten wir Gott, daß sein Geist es uns öffne.

Dies Wort soll der Gegenstand

unsrer Erwägung sein:

Wenn Du mich demüthigst, machst Du mich groß.

75 Wir sagen: Seliges Demüthigen, das zum Großwerden führt. Seliges Großwerden, das aus der Demüthigung hervorgeht.

1. In großartigen Worten schildert oft die Schrift das

Walten des Gottes, der beides thut, demüthigen und

höhen,

er­

der die Gewaltigen vom Stuhle stößt und erhöhet

die Niedrigen, der die Hungrigen mit Gütern füllt und läßt die Reichen leer, der tobtet und wieder lebendig macht, in die

Hölle führt und wieder heraus. Von diesem äußerlich richten­ den Demüthigen ist hier zunächst nicht die Rede. Diese Demü­

thigung macht noch nicht nothwendig demüthig; die Ernie­ drigung

an sich macht noch niemanden groß.

vielmehr alle:

Wir wissen

es wohnt in jedem Menschenherzen ein dunk­

ler und finsterer Trotz; so oft Gottes Gerichte weich machen, ebenso oft machen sie auch hart. Ach wie hundertmal, und wenn

noch so schwer getroffen, steht der kleine Mensch dem ge­ waltigen, allmächtigen Gott gegenüber in seinem Trotz unge­ beugt und leugnet sich selbst die Gerichte ab, die eben über

ihn ergehen.

Durch wie manches Menschenleben, das unter

der züchtigenden und richtenden Hand Gottes steht, geht mehr oder weniger klar erkannt

dieser

Geist

des Wider­

spruchs, des Widerstrebens und des Trotzes hindurch. Dieses Trotzen und Aufbäumen ist es, was

das Leid so

schwer,

die Entsagung so bitter, die Stimmung so verzweifelt macht.

An diesem Trotz, der nicht opfern und sich nicht beugen

will, zerbricht dein Friede und dein Lebensglück.

Ach wie

viel immer neue Demüthigungen wird Gottes Erziehen noch brauchen, um durch dieselben dein Heiz auch demüthig zu machen.

In deine Hand ist es gelegt, ob und wann es

76 geschehen wird.

Wir können nur sagen — dann wird es

geschehen, wenn du sprechen lernst: Du Gott demüthigst mich!

So viel liegt in diesem Wort; es ist ein Gebet; das ist bedeutsam. Wer betet, der unterwirft sich Gott ; er thut

es

auch dann schon,

Unterwerfung bittet.

wenn er erst noch um den Geist der Wer trotzt, kann nicht beten, und wo

gebetet wird, hört der Trotz auf.

Wer betet,

glaubt auch;

er glaubt selbst dann schon, wenn er noch erst um Glauben

und Gewißheit riefe. Wo aber Glaube anfängt, hört immer die Verbitterung auf. „Wenn Du mich demüthigst," — das Wort schließt somit ein wunderbares Ineinander von

göttlichem und menschlichem Thun ein. Wer so betet, denkt

zunächst an alle äußern Demüthigungen, die er erfuhr; aber er weiß auch zugleich, daß Gott sie gesandt hat, um

ihn

demüthig zu machen, und betend beugt er sich also unter

die Gotteshand, die auf ihm liegt und lauscht der Gottes­ stimme, die zu ihm redet; er wird demüthig. Fragen wir, wie das geschieht? Wenn du mich demü­

thigest, heißt es; aber keiner unter uns bleibt ohne Demü­ thigung und die am wenigsten,

die Gott hoch heben will.

Sie vollziehen sich im Kleinen und im Großen, im Nehmen

und im Geben, heimlich oder öffentlich.

Hier nimmt Gott,

was Freude, Schmuck und Krone deines Lebens war, und

dort giebt er ein Kreuz, unter dem das Glück und der Glanz des Lebens erstirbt. Hier heißt er einen von seiner Höhe, von

Wohlstand und Sorgenlosigkeit in Noth und Enge herab­ steigen, und dort legt er mitten in äußerer Behaglichkeit dir einen verborgenen Druck auf, von dem keiner ahnt, wie tief er dich beugt und wie schmerzlich er einschneidet.

Hier ist

es die Feindschaft der Menschen, die dich quält, und dort

77 die Verhältnisse in deinem Hause,

das Kreuz an

deinen

Kindern, was dich innerlich zerreibt und zermürbt, ein Pfahl

im Fleisch, der grade dann bohrt, wenn du die Flügel heben willst, ein immer neues Mißlingen, auch wo du deine besten

Kräfte eingesetzt hast.

alle die Wege aufzählen,

Wer kann

auf denen Gott Menschen demüthigt; sie sind so verschieden

wie die Menschen selbst,

die er

daß sie alle ein Ziel haben:

auf ihnen führt; genug,

der eigne Wille soll gebeugt

Er allein will der Herr

werden unter den Willen Gottes.

sein, vor dem aller Trotz des selbstischen Eigenwillens zu verstummen, alles Widerstreben sich zu beugen hat. Weigere

dich dessen nicht;

laß deine Unterwerfung immer stiller,

immer williger, immer wortloser werden.

gläubiger Verzagen und Bitterkeit,

Versenke

Murren und

in das Gebet: Dir Gott halte ich still.

immer

Schelten

Du sollst erfahren:

er plagt nicht von Herzen Menschenkinder; wen er lieb hat,

den züchtigt er; auch in der Demüthigung walten seine Frie­ densgedanken;

denn wen er demüthigt, den macht er groß.

Aber noch tiefer geht der Gedanke. Dieser Gott, der demüthigt, ist ein heiliger Gott. mand ihn schauen.

Wir

Ohne Heiligung wird nie­

aber sind unheilig.

Ach,

liebe

Freunde, wie oft wird ein zartes Gewissen diese bestimmte

Demüthigung zurückbeziehen auf eine bestimmte Schuld! Wie

oft mag der Stachel, der am wehesten thut, der des er­ wachenden Gewissens sein, das deutlich ausspricht: du hast

es selbst verschuldet.

Aber

auch wo das nicht unmittelbar

der Fall wäre, nie beugt Gott den Menschen, ohne dabei

auf die sündigen Stellen des Herzens den Finger zu legen. Er thut keinen in das Feuer der Anfechtung, als damit ihm

seine Sünde ausgeschmolzen werde. Und dies in dem äußern Druck als Gottes eigentlichen Gedanken verstehen, den eignen

78 Trotz als Sünde fühlen, das Zerbrechen aller hochmüthigen Träume als Heimsuchung göttlicher Gerichte erfassen, nicht blos vor dem allmächtigen Gott sich beugen im Bewußtsein

der Ohnmacht, sondern vor dem heiligen Gott im Bewußt­ sein der Schuld, das erst ist tiefste Beugung und rechte

Demüthigung.

Merken

wir uns das namentlich für solche

Demüthigungen, die uns von Menschen angethan werden. Eine Zurücksetzung, verdient oder unverdient, eine ernste Wahrheit, vielleicht nicht grade mit Liebe gesagt, ein Ver­ leumden, das schwer wird zu tragen, auch das steht in Gottes

Hand und kommt aus Gottes Hand, der es zuläßt und in

seiner Weise braucht, um damit in uns einen wunden Fleck,

eine dunkle Stelle strafend und züchtigend zu berühren. Und willst du in dem Allen überwinden, so lerne vor Allem mit

dem Psalmisten sprechen: ich will schweigen und meinen Mund nicht aufthun und will murren lernen über meine eigne Sünde, auf die Gott mich Hinweisen will und ringen nach der Frucht der Heiligung, die daraus erwachsen soll.

Merken wir dann aber auch in noch tieferem Sinn: das

ist doch das letzte Ziel aller Demüthigungen, die Gott uns

auflegt oder zuläßt, daß

an denselben der Mensch nicht

nur auf diese oder jene einzelne Verschuldung und Verfeh­

lung aufmerken lerne, sondern daß er an ihr seine Sünde in der Tiefe fühlen lerne, die Paulus-Empfindung: ich elender

Mensch! daß gedemüthigten Geistes sein einiger Trost in der Zöllnerbitte liege: Gott sei mir Sünder gnädig! So hat es

Petrus gelernt in den Tagen der tiefsten Demüthigung seines

Lebens.

So hat es sich einem Paulus eingeprägt in jenen

Tagen der Blindheit von Damascus mit einer Gewalt, daß

er noch am Ende seines Lebens ohne Unwahrheit spricht: ich bin ein Vornehmster der Sünder! Und so schwer auch

79 solche Tage der Demüthigung und der Beugung sind, in

denen der ganze Mensch mit seiner Gerechtigkeit zusammen­ bricht, in denen er vielleicht an tiefem Fall oder drohender Schande die Tiefe der Sünde inne wird, die in ihm ist, in

denen er es darum lernt, nichts mehr für sich zu hoffen, als

von Gnade und von der Gnade allein: dennoch, die solche Tage erleben, sind nicht verloren; sie sind schon gerettet.

Selige Menschen sind es; sie werden zurückschauend einst wie Petrus, wie Paulus, wie Augustin, wie so viele Große

im Reiche Gottes bekennen dürfen:

„Ehe ich gedemüthiget

ward, irrete ich; nun aber halte ich Dein Wort." Da Du mich demüthigtest, machtest Du mich groß!

Ja, Du demüthigst mich! der nicht so sprechen soll.

Es giebt keinen unter uns,

In guten und in bösen Tagen,

in freundlichen und in ernsten Zeiten bleibt das der Grund­ gedanke göttlicher Menschenführung, daß er uns demüthige.

Lernen wir nur das Eine, uns ihm zu lassen;

bitten wir

um das stille, aufmerkende Herz, das seine Gedanken versteht,

um das willige Herz, das seiner Mahnung folgt.

Seliges

Demüthigen, das nur die Vorstufe der Erhöhung ist! Se­

liges Großwerden, das solcher Demüthigung folgt!

2. Gewiß, es ist kein äußerliches Großwerden. Von äußer­

licher Erhöhung gilt immer die einschränkende Bitte, die in

der Liturgie der Brüdergemeinde sich findet: „Vor unseligem

Großwerden behüte uns, lieber Herre Gott!" Wie oft ist die äußere Erhöhung nur ein Großwerden und ein Steigen auf

Kosten der Seelenruhe, ein Weltgewinn, bei dem die Seele Schaden nimmt.

Ein innerliches geistliches

meint das Schriftwort.

Großwerden

Das aber kann nur den Gedemü-

80 thigten zu Theil werden. Den Demüthigen giebt Gott Gnade.

Zu den Gefallenen neigt sich der Herr erbarmend

herab.

Auf die tiefste Demüthigung antwortet die tiefste Erbarmung.

O, liebe Freunde, man mag viel Herrliches vom Evangelium wissen, von seiner Moral, von seiner Anbetung im Geist und in der Wahrheit, von der Kraft seiner Gedanken: das Herz

des Evangeliums ist doch Erbarmung Gottes

in Christo,

ist Erlösung, Versöhnung, Sündenvergebung durch ihn, und

dies Allerheiligste des Evangeliums öffnet sich nur denen, die zerschlagenen und gedemüthigten Geistes sind.

Nur sie

sind die Großen, die dort zu jeder Zeit Zutritt haben. Sie gleichen

dem leeren Gefäß, das

ohne Unterlaß die Gnade

füllt. Sie sind die Hungernden und Durstenden, diebeständig

geladen sind an den Tisch, den Christus ihnen deckt, und die sich sättigen an den reichen Gütern seines Hauses. Bei Gott in Gnaden, den großen Hohenpriester zur Seite,

der sich

nicht schämt, uns Brüder zu heißen, ein Glied des Volkes, das Vergebung der Sünden hat, ein Bürger mit den Heiligen

und Gottes Hausgenosse sein: das ist das Großwerden, das

den Demüthigen zu Theil wird. Ein andres haben wir nicht zu erwarten; aber dieses ist groß genug, um alles daran zu

setzen.

Gewiß, wem jene Demüthigung, die vor Gott liegt,

nicht auf die eigne Gerechtigkeit, sondern auf Gottes große Barmherzigkeit, eine unbekannte Sache ist,, der kann diese Größe nicht verstehen.

Aber wer innerlich jene Beugung er­

fährt, dem wird diese Erhöhung das Größeste, wonach er

trachtet, das Höchste, um das er ringt.

Was hat einem

Petrus der Augenblick bedeutet, wo er aus der Demüthigung emporgehoben wird zu dem Dienst:

weide meine Lämmer,

oder einem Paulus jene stille Stunde der Begnadigung, die

die Apostelgeschichte nur

mit dem einen Worte zeichnet-

81 siehe,

er betet. Dieselbe Bedeutung hat für ein gedemüthigtes

Herz der Augenblick, in dem aus der Tiefe seiner Beugung sein Heiland es aufrichtet und ihm den Trost der sünden­

vergebenden Gnade zuspricht, in dem ihm in dem Gefühl der Be­ schämung wie der Erhöhung das Liedeswort verständlich wird:

„Du reichst uns Deine durchgrabene Hand,

Die so viel Treue an uns gewandt, Daß wir beim Drandenken beschämt dastehen

Und unser Auge muß übergehen

Von Lob und Dank."

Wer in Gnaden ist bei dem Vater, in Christo dieser Gnade gewiß, der ist groß!

Wenn Du mich demüthigst,machstDu mich groß. Groß bei Gott und darum auch groß im Verhältniß zur Welt. Die gedemüthigten Menschen sind die starken Menschen,

die einen unversiegbaren Trost haben auch in der äußern Noth und eine Kraft, alle äußere Drangsal zu überwinden. In der That, diese gedemüthigten Menschen, die stille zu Gott auch

den untersten Weg gehen, beherrschen die Dinge; dische liegt unter ihrem Fuß;

Schilde des Heils.

das Ir­

sie sind geschirmt von dem

Sie wissen nicht immer, warum die

Demüthigung über sie kommt und grade diese Trübsal über

sie hereinbricht; sie fragen auch nicht darnach; Gott weiß

es und seine Gedanken müßten ja nicht größer unsre, wenn auch wir es immer wissen sollten.

sein als

Aber eins

wissen sie immer, wozu das Kreuz ihnen aufgelegt wird — wenn Du mich demüthigst, machstDu mich groß — näm­ lich zu einer neuen, eigenthümlichen Erhöhung.

So steht

es fest: es liegt ein Segen darin. Es soll wieder ein Stück von der Macht der Welt für sie überwunden werden, indem

sie von ihr sich lösen.

Sie sollen wieder enger verbunden

6

82 dem Herrn, indem ein Band,

werden mit

Welt fesselte, zerrissen wird.

das sie an die

So werden sie hinausgehoben

über das Leid und hinauf in eine Gnade, die über alles ist.

Grade der Verlust an irdischem Gut hat dich vielleicht das ewige Gut und seinen Frieden finden lassen —

die Größe,

das war

zu der du aus der Demüthigung erhoben wurdest.

„In der Krankheit," sagte mir einmal eine Sieche, die 9 Jahre kein Glied gerührt hatte, „habe ich erst meinen Glauben ge­

funden," — das war die Erhöhung, zu der diese Beugung

den Weg gebahnt hatte.

Grade durch das Sterben eines

theuren Menschen ist dir erst der innerliche Geistessegen zu­ gekommen, den du von dem Lebenden nicht empfingst.

So

ist eine stille Trauerzeit voll scheinbarer Lebenshemmung

dir zu einer Zeit der innern Festigung und geistlichen Le­ benserhöhung geworden, und grade in der Entbehrung des Geliebten bist du mit deinem Glauben und Hoffen hinein­ gewachsen in die Ewigkeit.

Noch mehr: Wenn Du mich demüthigst, machst Du mich groß auch

bei den Menschen.

Demüthige Menschen

sind doch auch die Gnadenkinder den Menschen gegenüber. Es ist wohl wahr, daß die Welt kein Verständniß hat für

das, was eigentlich Demuth ist.

Man hört selten an einem

Menschen loben daß er demüthig sei.

Aber dennoch welch'

eine sittliche Kraft und sittliche Erhöhung liegt in der rechten Demuth! Wer vor Gott ein demüthigcs Kind ist, der wird da­ mit zugleich vor den Menschen ein Mann, einer, dem wohl

das Trotzen und die Ueberhebung fern liegt, aber ebenso auch Menschenfurcht und Schwäche.

Es wird auch durch die

rechte Demuth über Herz und Wesen eines Menschen wirk­

lich eine Art

Verklärung ausgegossen, eine Lauterkeit im

Verkehr mit andern, ein selbstloses, bescheidenes Zurücktreten,

83 eine Hingabe für andre, eine Festigkeit gegenüber den wech­

selnden Urtheilen der Menschen, wie sie sich ein blos mensch­ licher Wille nicht geben kann, und vor denen darum die Welt

Respect hat.

Das ist die Größe, die Gott seinen demüthi­

gen Kindern geben will. Wenn irgendwo das Christenthum eines Menschen, sein Leben und sein Wandel einen andren überwunden hat, immer wird die Größe am eindrucksvollsten

wirksam gewesen sein, die in der Demuth lag. Wenn Du mich demüthigst, nur dann machst

Du mich groß. Im Reiche Gottes führt kein andrer Weg zum Großwerden, als durch die Demüthigung hindurch, und

kein andres Großwerdcn giebt es als das,

Demuth besteht.

welches in der

Für die Jünger des Herrn sollen „keine

Throne errichtet werden,

die nicht zuvor Kreuze gewesen

sind", und jede neue Stufe der Erhöhung im Reiche Gottes wird darum immer wieder verbunden sein mit einer neuen

und

eigenthümlichen

Demüthigung,

ohne

welche

grade

diese Erhöhung gar nicht würde erreicht werden können. Ja wunderbares Großwerden!

Es gäbe keine

apostolische

Größe mit ihrer Macht bei Gott und ihrer Macht über die Menschen, wenn diese Apostel nicht zuvor apostolische Kelche

getrunken hätten.

Ein Paulus wäre nicht er selbst, wenn

er nicht den Pfahl im Fleisch an sich getragen hätte und nie

wäre die Antwort auf uns gekommen: „Laß dir an meiner

Gnade genügen; denn meine Kraft ist in dem Schwachen

mächtig" — wenn er nicht dreimal vergeblich gebetet hätte, daß er von ihm wiche.

Verstehen wir nun, liebe Freunde, warum

unser Kreuz und unsre Demüthigungen nicht aufhören können,

so lange wir auf Erden sind? Deshalb, weil dies Großwerden nicht aufhören, sondern in beständigem Wachsen bleiben soll bis in die Ewigkeit hinein. Du trägst dein Kreuz

84 Jahre lang;

aber du befindest dich dabei nicht nur,

wir vorhin sagten, unter der züchtigenden Hand

wie

Gottes,

sondern du bist auf dem Wege fortwährenden Großwerdens

bei Gott; du stehst in einer

Erziehung zur Herrlichkeit.

Giebt es etwas, das uns abhalten kann, ein Kreuz uns zu

verbitten, so ist es das: verschließe dir doch nicht den Weg zu deiner eigenen Erhöhung. Wenn Du mich demüthigst, machst Du mich groß.

Ein Ewigkeitslicht fällt von da aus auf jedes Chri­

stenleben. Was für eine gewaltige Aussicht! Unter dem tiefsten

Druck, in der dunkelsten Nacht geht unser Leben dem Lichte zu.

Kein Unheil,

das uns trifft, dringt bis an die Seele.

Was nur immer den Menschen demüthigen kann, muß enden mit Sieg,

mit

Großwerden

bei

Gott und

in

Reich, — wenn anders er sich nur demüthigen läßt.

seinem Eine

tiefe Ruhe muß der Gedanke hinein tragen in unser Leid;

erfahren wir sie? Wir ringen so oft so schwer, so vergeblich uns unter den dunkeln Willen Gottes zu demüthigen. Laßt uns einmal allein darauf das Auge richten, daß wir dies

Großwerden, diese Lebensentfaltung in Gott erfahren sollen, von der jene Beugung nur das kurze Vorspiel ist.

Nie ist

die Losung des Christenlebens rückwärts zum Verderben und

zum Berlorengehen, und würde noch so Großes uns genom­

men, sondern immer: vorwärts und aufwärts — näher zu Gott, tiefer ins Heil,

höher hinan zu dem Licht, vor dem

kein Dunkel mehr bleibt, und in dem jede unsrer Führungen

uns

als ein Heilsweg

erscheint.

So laßt es

uns denn

wagen, unsren Weg zu gehen durch Demüthigung zur Er­

höhung und

grade in den

Tagen der Demüthigung des

Dankes voll: „Du giebst mir den Schild Deines Heils und wenn Du mich demüthigst, machst Du mich groß!"

Amen.

VIII. 2.

Sonntag nach Epiphanias 1879.

Christus und die guten Menschen. Maith. 19, 16—26. Und siche, Einer trat zu ihm und sprach: Guter Meister, was soll ich Gutes thun, daß ich das ewige Leben möge haben? Er aber sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott. Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Da sprach er zu ihm: Welche? Jesus aber sprach: Du sollst nicht todten. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsches Zeugniß geben.

Ehre Vater und Mutter. Und: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. Da sprach der Jüngling zu ihm: Das habe ich Alles gehalten von meiner Jugend auf; was fehlt mir noch? Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe

was du hast, und gieb cs den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm, und folge mir nach. Da der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt von ihm; denn er hatte viele

Güter.

Jesus aber sprach zu seinen Jüngern: Wahrlich ich sage,

euch: Ein Reicher wird schwerlich in's Himmelreich kommen. Und weiter sagte ich euch: Es ist leichter, daß ein Kamee! durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher in's Reich Gottes komme.

Da das seine Jünger hörten, entsetzten sie sich sehr, und sprachen: Ja, wer kann denn selig werden? Jesus aber sah sie an, und sprach zu ihnen: Bei den Menschen ist es unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich.

Theure Gemeinde!

Wir sind gewohnt zu sagen

und es zu glauben, daß das Evangelium mit Allem verwandt

sei, was nur menschlich groß und edel ist, — daß also nichts wahrhaft menschlich Großes in der Tiefe fern sein könne

vom Reiche Gottes.

Wir haben Recht damit und doch —

wie viele unter uns haben schon eine andre Erfahrung ge-

86 macht.

Es begegnen uns Menschen im Leben, die wir für

groß angelegte Natnren halten. Es sind solche, bei denen wir von vorn herein überzeugt sind, daß sie am Gemeinen kein

Wohlgefallen haben können, daß vielmehr ihr ganzes Sinnen auf das Ideale gehen wird; Menschen von seltener Herzens­ güte, von unerschütterlicher Zuverlässigkeit und Pflichttreue,

von innerer, klarer Harmonie, kurz von so schönen Charakter­ eigenschaften, daß sie manchen Christen damit beschämen.

Und während sie nun allem offen stehen, was groß und schön ist, sind sie für Eins scheinbar vollkommen verschlossen — für

das Evangelium von Jesu Christo und seinem Reich.

Unleugbar

hat

das nicht nur

etwas tief schmerz­

liches, sondern auch etwas hoch befremdendes.

Wie oft sind

in der That unbefestigte Gemüther schon an dem Gedanken gestrauchelt: wie ist es möglich — hier ist ein Mensch, der

mir Vorbild ist in allem Möglichen, uns alle hundertfach

beschämend, und dennoch ist er nicht erst durch das Evange­ lium so geworden, er steht ohne das Evangelium auf dieser

Höhe; ja er lehnt das Evangelium mit seinen Kräften, die

es ihm bietet, ab.

Wie oft haben andre, namentlich diese

trefflichen Menschen, diese „schönen Naturen" selbst schweren Anstoß an der vermeintlichen Engherzigkeit genommen, daß

man diesen religiösen Mangel ihnen überhaupt als Mangel zurechnen könne und dieses Fehlen des Glaubens als einen Scheidungsgrund für die Gemeinschaft des innersten Lebens an­ sehen. Solche Fragen treten uns überall entgegen, oft aus dem

Munde der Nächstverbundenen. Sie erheben sich in uns selbst mit zwingender Gewalt. Was haben wir darauf zu erwiedern?

Das heutige Evangelium zeigt uns den Weg dazu.

Eben diese Frage ist gleichsam das Problem, welches es löst. Hier steht nämlich einer von den Menschen, wie wir sie schilderten,

87 vor dem Heiland. Wie wird, so sollten wir glauben, diese heilige Gestalt ihn anziehen; wie wird sie ihm aufgehen als das Licht seiner Seele! Und andrerseits sollte man sagen, das ist das Holz, aus dem auch der Herr sich seine Apostel schnitzt;

so wird er ihn behandeln.

Und — fast verstehen wir den

Heiland kaum, der sonst so freundlich sich zu dem Geringsten herabläßt, der liebreich schonend selbst das zerstoßene Rohr nicht zerbricht, der auch den letzten Rest des Guten aus dem

Menschen herausholt, hier ist er schroff,

fast abstoßend, so

daß es selbst die Jünger erschreckt; und vorläufig wenigstens

endet die Begegnung mit einem Mißklange, einer Trennung.

Gehen wir dem Gedanken nach, der den Herrn dabei leitet, um das rechte Verständniß für sein Verhalten zu gewinnen.

Es wird uns dann auch den Blick öffnen für das Verhalten jener guten Menschen zum Heiland, und uns zum Prüfstein werden für unser eignes Verhalten zum Herrn.

Christus und die guten Menschen sei unsre Aufschrift.

Ein dreifaches sagt das Evangelium

über ihr Verhältniß aus.

1.

Es giebt einen Anziehungspunkt zwischen beiden.

2. Es giebt einen Scheidungspunkt zwischen beiden.

3.

Diese Scheidung muß erkannt werden, um so ihn

auf ewig wiederzufinden. 1.

Es ist in der That eine durchaus liebenHwerthe und edle Erscheinung, die in dem Jünglinge vor uns Hintritt.

Inmitten der Fülle des Reichthums hat er

sich rein be­

wahrt von der Leichtfertigkeit der Jugend und einen Sinn,

der nach höherem Ziele trachtet, als irdischem Genuß. Bereits geehrt durch Anerkennung und Rang

unter den Menschen

88 — als einen Obersten bezeichnet ihn Lucas

— hat er sich

die Bescheidenheit bewahrt, die es weiß, daß sie noch nicht fertig ist und die fragt, wo sie lernen kann.

Er ist keiner

von den greisenhaften Jünglingen, wie wir ihnen heute be­ gegnen, die bereits alles kennen, alles wissen, alles genossen

haben; es lebt noch Begeisterung in ihm und das Ziel dieser

Begeisterung ist kein geringes:

„Guter Meister, was muß

ich Gutes thun, daß ich das ewige Leben möge haben?" — „Gutes thun,"

das heißt also etwas thun, wozu Vortheil,

Bequemlichkeit und Genuß nicht auffordern,

was vielleicht

dem allen zuwiderläuft. „Das ewige Leben haben," das heißt

also trachten nach dem Höchsten was Menschen zu theil werden kann. Gewiß, wer so sagen kann, der steht in der That höher

als die gleichgültige, begeisterungslose Masse,

als alle die

Menschen, denen über dem Trachten nach Vortheil und Genuß

nie der Gedanke gekommen ist an die Befriedigung ihrer un­ sterblichen Seele und das Verlangen nach einem Wachsthum

des inwendigen Menschen. In dem Sinne nennen wir auch solche Menschen gut; nicht weil sie fleckenlos wären — sie

würden das selbst zurückweisen — sondern weil in ihnen das klare, feste Trachten und der heilige Ernst vorhanden ist, in

Wichttreue und Frömmigkeit sich für ein ewiges Ziel tüchtig

zu machen.

Solche nun, sage ich, müssen sich angezogen

fühlen von der Person Jesu.

Christus ist der Gute.

Sie lieben das Gute und

Es giebt nicht einen einzigen wirklich

edlen Zug in dem Bilde, dem sie selbst nachleben, der nicht

in Jesu thatsächlich verwirklicht wäre. Offenbar

hat das auch der reiche Jüngling gefühlt.

Es war kein geringes Vertrauen, das er dem Herrn mit

seiner Frage entgegenbrachte.

Mit ihr deckt er wirllich sein

innerstes Herz vor ihm auf und läßt ihn in sein tiefstes

89 Streben hineinsehen, das er sonst vor ungeweihten Blicken

sorgfältig verborgen hat. Indem er ihn nach dem Höchsten fragt, traut er ihm zu, daß er über das Höchste ihm Aus­ kunft geben könne wie kein andrer.

L. Fr.! könntet ihr

euch entschließen durch alle die hemmenden Vorurtheile hin­

durch nur einmal bis zu der Person des Herrn selbst durch­ zudringen, und alles was ihr von ihm hört und seht, zu ver­

gleichen mit eurem eignen innersten und besten Trachten — hättet ihr Ernst genug, die Evangelien einmal lediglich darauf

hin zu lesen,

inwieweit Christi Wort und Bild euch die

Frage nach dem Guten beantworten und den Weg des Guten weisen könnte: es würde heute in euch dasselbe Ver­ trauen wachsen und eine Kraft der Anziehung von dem Herrn

ausgehen stärker noch als jener Jüngling sie erlebt hat; ihr

würdet inne werden, daß er deshalb über das Gute Auskunft

geben kann, wie kein andrer, weil er allein der Gute ist. Sagen wir nun aber weiter: dieselbe Anziehung, die

der Frager fühlt, empfindet auch der Herr. Er hat sich selbst bezeichnet als den, der gekommen sei die Verlorenen zu suchen,

Sünder und Zöllner selig zu machen. Aber welch ein Miß­

verstand, wollte einer daraus schließen, daß deshalb diese

Reinheit eines natürlich edlen Herzens nichts vor ihm gälte! Nein, vor ihm ist es etwas Großes, wenn ein Mensch durch

eine teilte Jugend hindurchkommt ohne tiefe Narbe und ohne

schmerzlichen Bruch.

Aus solchen Kreisen hat der Herr sich

seine Apostel gewählt, jene Fischerssöhne von Bethsaida. Es will nichts Geringes besagen, wenn Marcus von der Be­

gegnung mit den: reichen Jüngling erzählt: „Jesus sah ihn an und liebte ihn."

Und wo nur heute die Treue der Arbeit an dem eignen Selbst vorhanden ist, wo ernst im Kampfe wider das Un-

90 reine, wo Abscheu vor dem Bösen, wo Freude an dem, was

gerecht und lieblich, was keusch ist und

wohllautet,

wo

Trachten nach einer Gemeinschaft ewigen Lebens — mag sonst im Menschen sein, was da will

— da darf es noch

heute gesagt werden im Sinne eines heiligen Wohlgefallens: Jesus sieht einen solchen Menschen an und liebt ihn!

Diese Anziehung zwischen dem Herrn und dem Jüng­ ling ist auch keine nur augenblickliche.

Sie bleibt auch da,

wo der Jüngling zunächst eine Enttäuschung erlebt, und der

Herreinen leisen Tadel aussprechen muß.

mich gut?

„Was heißest du

Niemand ist gut denn der einige Gott," — so

weist er ihn scheinbar zurück. Nicht als wäre er selbst nicht

fähig, ihm den Weg, nach dem er begehrt zu zeigen und be­

dürfte selbst erst des wahrhaft gut en Meisters, der ihn lehrte. Weist er ihm doch gleich nachher

den Weg der Vollkom­

menheit eben in seiner Nachfolge. Vielmehr den Frager will er warnen, nicht so schnell fertig mit dem Wörtlein „gut" um sich zu werfen!

er fragt.

Thurm baut. gut ist?"

Er soll seinen Entschluß abwägen, ehe

Er soll die Kosten überschlagen, ehe

er seinen

„Du willst Gutes thun — weiß du was

Lerne aufschauen zu dem Gott, bei dem kein

Wechsel des Lichts und der Finsterniß ist.

Er ist der Gute

in vollkommenem Sinne. Wie kann er ihn denn in demselben

Sinne grüßen, den er ja doch nur als Lehrer anredet!



einen menschlichen

Mag sein, daß der Gedanke nur theil-

weise erst dem Jüngling aufgeht; so viel versteht er jeden­ falls, daß eben sein Ziel ihm höher gesteckt, seine Frage ihm vertieft werden soll. Daher seine Enttäuschung, als der

Herr ihm gleichwohl keinen andern Weg weist, als den der schlichten alten Gebote.

Daher auch die stolze Antwort:

„Die habe ich alle gehalten von Jugend auf!"

O,

91 er hätte sich ja wohl durch das erste Wort des Meisters weisen lassen können, daß der auch diese leichten Gebote in

schwererem Sinne verstehen werde, daß nicht bloß die Hand

tödte, sondern auch das giftige Wort der Zunge und der aufwallende Groll im Herzen;

daß nicht bloß der äußere

Mensch die Ehe breche, sondern schon die aufkeimende Be­ gierde des Herzens; daß das Verbot falschen Zeugnisses mehr

fordere als die Wahrheit der Rede, auch die Wahrhaftigkeit des ganzen Wesens und Seins; daß das große Gebot der Liebe diese anderen alle mit umschließe und die Wurzel aller

Gebote und aller Gesetzeserfüllung in sich trage.

Er hätte

dann sicherlich nicht so zuversichtlich geantwortet; er hätte vielleicht nicht weiter gefragt mit den Worten: „Was fehlt

mir noch?"

Aber er wäre auch nicht umgekehrt und hätte

dem Heilande seiner Seele den Rücken gewendet.

Er hätte

nicht, wie heute so viele, geurtheilt: zu ernst, zu schwer, zu mühevoll.

Nein, Jesus wäre sein Meister und sein Führer

geblieben.

Und —

th. Fr.!



blieben aus der Schaar

jener Guten auch nur etliche übrig, die so im innerlichen Sinne die Gebote verstehen und dennoch nicht davor zurück­

schrecken, sondern freudig, auch wo sie der Fehler sich bewußt

werden,

antworten:

Ich

wag's! —

wären unter uns

solche, die die Pflichttreue nicht nur auf äußere Pflichter­ füllung in Amt und Beruf ausdehnen wollten, sondern auf den inneren Menschen, auf die Beweggründe, die nur Gott

sieht, auf die verborgenen Lüste die kein Mensch kennt, auf die Zucht gegen das eigne Ich, — wären sie heute noch da, die

das Ziel annähmen, so hoch als der Heiland es steckt, nicht

blos Gutes thun, sondern gut werden wie Gott, heilig, wie Er heilig ist, und die es annähmen mit einer wirllichen

Begeisterung: — sie würden uns noch heute bestätigen: ja

92 es giebt eine tiefe Berührung zwischen meiner Seele und

dem Wort, dem Bilde Jesu Christi, der ich mich nicht ent­ ziehen kann, auch wenn ich noch so vielem fremd gegenüber­ stehe, das er geredet hat.

zu ihm hin, der stärker ist

das ich bei ihm finde.

Es treibt ein innerer Zug mich als alles das mir Anstößige,

Immer wieder muß ich ihn fragen;

immer höher steigt mir Achtung und heilige Verehrung vor seiner Gestalt. Jesus aber würde solche unter uns ansehen

und sie lieben.

2. Und doch beginnt grade an demselben Punkte, wo diese Kraft der Anziehung am höchsten sich bewährt, die der Herr

auf die natürlich edlen und guten Menschen ausübt, auch schon eine entschiedene Scheidung. Und das liegt nicht sowohl in dem scheinbar schroffen Auftreten des Herrn, es liegt viel­

mehr in der Natur der Sache selbst. Schon das erste Wort des Herrn über das Gute, als­ dann die Aufzählung der Gebote, hatten beide ein Bewußtsein

des Mangels, des Zitterns vor der Aufgabe erwecken wollen. Dunkel war das ja das Bewußtsein des Jünglings, er fragt

doch unbefriedigt noch mit dem Gefühl, nicht vollkommen zu sein: „Was fehlt mir noch?" Da braucht der Seelenarzt das

Messer am eigentlichen Krankheitsheerd: „Willst du voll­ kommen sein, so gehe hin, und verkaufe alles was

du hast und gieb es den Armen, so wirst du einen Schatz imHimmel haben, und komme und folge mir

nach."

Einen Augenblick mag der Jüngling gezaudert haben;

er setzt an; es entsteht em Kampf; soll er auch das wagen? — aber wo ist eine ähnliche Forderung erhört? ist das

93 wirklich der Weg zum Leben? — da kehrt er um. „Man kann", sagt ein geistvoller amerikanischer Prediger'), „einem Menschen

seine Hand abnehmen und er lebt weiter; man kann ihm den

Arm bis zur Schulter abnehmen und er lebt weiter;

man

kann ihn noch mehr verstümmeln und er lebt dennoch. Aber es giebt einen Punkt, den man nicht berühren darf, ohne

daß der Tod eintritt." — So kann man in dem geistigen Wesen eines Menschen dies und das antasten, ohne ihn

wesentlich zu verletzen; man kann das und jenes ihm weg­ nehmen und er läßt es geschehen; aber schließlich kommt ein

Punkt, den man nicht berühren darf, ohne das Centrum seines

Daseins zu verletzen. Viel hätte der Jüngling sich auflegen lassen an Fasten und Uebungen und Entsagungen, dies Eine

trifft das Centrum seines Daseins.

Das kann er nicht;

der Preis ist zu hoch: er ging betrübt von ihm, denn

er hatte viele Güter. Versteht ihr so den Gedanken des Herrn, theure Freunde?

Nicht den Reichthum an sich verwirft er als etwas Unvoll­ kommenes,

als wollte er ein weltscheues Mönchthum unter

den Seinen aufrichten, wie man oberflächlich und unverstän­

dig geurtheilt hat. Noch weniger will er etwa einen höhern Weg der Vollkommenheit über Gottes Gebote hinaus ange­

geben, den Weg einer eingebildeten Heiligkeit, die für etliche da wäre und für andre nicht, wie man es auf römischer Seite eben so oberflächlich und unverständig verkehrt hat.

Sondern aufdecken

will er mit ganzem scharfen Ernst den

Punkt, an dem dieser gute Mensch nicht gut ist, den selbe selbst noch nicht kennt und

doch seine ganze Tugend ihren Werth verliert.

1) Brecher.

der­

ohne dessen Erneuerung

Aufzeigen

94 will er den einen Punkt, der ihn in Täuschung erhalten hat über seine ganze Gesetzeserfüllung und seine Vortrefflichkeit.

Ganze Menschen will Christus in seiner Nachfolge! Ganze

Menschen verlangt der Preis des ewigen Lebens,

um den der Jüngling lief!

Vorbehalte

geben,

die

Es darf keine Ausnahmen und

nicht in den Dienst

dieser

einen

Aufgabe gestellt würden. Auf das innerste eigentliche Centrum des Wollens kommt es darum an: — ist dieses Centrum

für das du Alles einsetzest, auch dich selbst, der ewige Gott und die Uebereinstimmung mit ihm, oder ist es, wie ver­

steckt, wie verborgen auch immer doch die Lust an der Welt,

am Besitz, an allem dem Behagen, dem Genuß, der Macht, die dieser Besitz verleiht?

So ist es also im Grunde nur

das eine, alle anderen umschließende Gebot, was

der Herr

ihm vorlegt: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und

von ganzer Seele und aus allen deinen Kräften"; und die

Frage:

Hast du auch das gehalten?

deinen Gott oder dein Geld?

was liebst du mehr,

wie viel bist du im Stande

hinzugeben für den Gott, den Du über Alles zu lieben

meinst? — Und daß der Herr diese Gedanken nicht blos so zu sagen theoretisch ausspricht,

sondern daß er sie speciell

auf den Punkt anwendet, den der Seelenarzt als den dun­ kelsten erkennt, daß er sie einkleidet in eine äußere Forderung,

wie sie aus den Verhältnissen von damals folgte: eben darin liegt ihre einschneidende Kraft.

Lassen wir sie auch auf uns wirken! Sie nehmen andere

Gestalt und andere Worte an für jeden von uns; aber in jeden

dringen sie mit demselben Ernste.

Willst du voll­

kommen sein, so lege die geheimen Vorbehalte ab, die du dir gegenüber dem Ernst göttlicher Gebote machst; dringe in

das Versteck ein, das du dem Blicke des heiligen Gottes

95 entziehest;

thue ab die arge und wüste Lust, die deinen in­

nern Menschen bindet und die nicht bestehen kann mit der Liebe zu Gott;

reiß aus die irdische Liebe auch zu dem

Liebsten, wenn sie dir nicht zur Seligkeit hilft, sondern dich

von der Seligkeit abzieht; wirf hin die irdische Ehre und das Trachten darnach,

das Ringen nach Titel und Aner­

das Fragen und Richten nach

kennung,

Menschenurtheil,

das dir zum Gott wird anstatt des lebenden Herrn droben; wirf hin den Wissensstolz, den du anbetest an Gottes Stelle!

Wie viel soll ich nennen — hat doch jeder seinen

eignen

Preis, für den er feil ist und seinen eignen Punkt, an den er sich nicht rühren läßt,

den

er in der Stille von dem

scheinbar unbedingten Trachten nach dem, was gut ist, aus­ nimmt.

Und grade an diesem Punkte setzt Christus bei jedem

von uns mit seiner Forderung ein:

mache dein Herz neu! Hier gieb dir

Hier verlege Deinen eigenen Schwerpunkt!

ein neues

Centrum! Gieb es dir in der Liebe zu

dem

lebendigen Gott, die der Grundtrieb deines Wollens werden

soll.

Und dann komm und folge ihm nach,

Sinne der Gute ist.

Freunde!

der in diesem

Prüfen wir uns recht; wie

viele sind wohl unter uns, die nicht mit dem Bekenntniß

enden müssen wie jener Jüngling: ich kann es nicht, ich ver­

mag es auch nicht; alles will ich lassen,

nur grade dies

Eine nicht, nur den Hochmuth nicht, nur das Behagen nicht,

nur die Anerkennung nicht, nur diese Leidenschaft nicht. Und grade dieses Eine ist genug, um alles zu vergiften; um dieses

Gnen willen scheidest du schließlich mit all deinem edlen Streben,

mit aller deiner idealen Anlage,

mit aller deiner

Pflichttreue und deiner Herzensgüte dennoch von deinem Heilande und von deinem Heil.

96 3. Aber, th. Fr.!

dabei dürfen wir nicht stehen bleiben

und damit schließen, wie die evangelische Geschichte schließt. Wo

der Arzt schneidet, da will er heilen, und wo der

Herr scheinbar zurückstößt, da will er vielmehr nur um

so tiefer anziehen und um so unauflöslicher verbinden.

So

möchten wir es auch von dem Jüngling glauben, wie er

hier betrübt von dannen geht — er scheidet nicht für immer. Der Stachel, der in sein Herz geworfen ist, ist nach der Weis­ heit des Herrn auch die Handhabe, an der er ihn hält, durch die er ihn leitet, mit der er ihn zurückzieht. Nur freilich —

nicht mit der Begeisterung wird er zurückkehren, mit der er

zuerst gekommen war, nicht mehr gegürtet mit diesem Kraft­ überschuß feuriger Jugend. Von ihr gilt das Wort, das der Herr zu seinen Jüngem unmittelbar nach dem Fortgehen des „Wer kann denn

Jünglings spricht, als sie entsetzt fragen:

selig werden?" — „Bei den Menschen ist es unmög­ lich."

— Aber er wird kommen auf das andre Wort mit

dem der Herr fortfährt: „Aber bei Gott sind alle Dinge möglich!" Und wir alle dürfen daraufhin mit ihm kommen!

Darin liegt der Grund, warum erst

eine Scheidung

vom Herrn eintreten mußte, ehe er recht ihn finden konnte.

So tief muß der

Eindruck von

den

Forderungen

des

Herrn, von der Größe der Aufgabe, von dem Ernst seiner Ansprüche werden, daß das Feuer der rein natürlichen Be­ geisterung davor in

sich selbst

zusammenfällt.

Soll

ein

Mensch je in die Nachfolge Christi eintreten, nicht blos als

Schüler eines großen Lehrers, sondern als

der Weg, Wahrheit und Leben ist,

als

Jünger dessen,

Nachfolger seines

Erlösers, dann müssen ihm erst einmal die Gebote Gottes

97 unermeßlich geworden sein;

er muß vor ihnen im Bewußt­

sein seiner eignen Ohnmacht und Sünde im Staube liegen.

So lange einer sich noch einreden kann:

„die habe ich ge­

halten von Jugend auf"; so lange einer noch glauben kann: „die

alle

werde, ich

halten,

trotz

Mängel

etlicher

und

Schwächen, die ich bei mir finde" — so lange ist ein Er­

löser für ihn überflüssig.

ein Sokrates.

Für ihn genügt ein Moses oder

Aber wenn er an seiner

eignen Kraft ver­

zagen lernt und ihm über seiner eignen Tugend bange wird,

ja wenn ihm das beste, was er aus sich selbst bringen kann, in nichts zusammenschrumpft vor der Größe

dessen, was

Gott von ihm fordert, — dann steht er an der Pforte des

Heils; er streckt nach einem Erlöser die Hände aus.

Und

darum kann der Herr gar nicht anders, als ihm zuerst seine eigne Tugend und seine hohe Meinung von sich selbst zer­

brechen.

Grade bei solchen muß er es, die ohne grobe An­

stöße, ohne häßliche Flecken in der Reinheit ihres Strebens und in dem Ernst ihres Willens sich um so leichter über

die dunklen Stellen ihres inneren Menschen täuschen. Grade solchen ist diese Erfahrung am nöthigsten, bei denen in der That vieles Edle und Schöne sich findet, das

in ein aus

Gott geborenes Leben hinüberreicht, die aber eben darum dem Selbstbetrugs im innersten Grunde um so mehr ausgesetzt

sind.

Sie sollen das Schwerste lernen was es

Erkenntniß des eignen Ich,

macht.

Aber

sie

sollen das

giebt,

die

der eignen Sünde und Ohn­ nur

lernen,

müthig dem Herrn nachzufolgen, der diesen

um

dann

de­

ohnmächtigen

Willen neu zu schaffen und den Schwerpunkt des inwendigen

Lebens selbst zu verlegen vermag.

Aus dem Bedürfniß der

Hülfe heraus soll auch der Glaube an den Helfer wachsen.

7

98 Wo der Mensch klar wird über sein eignes Verlorensein, da beginnt auch das Flehen um die Erlösung.

Das ist der Punkt, an den die erziehende Weisheit des Herrn auch die „guten", ja auch die besten Menschen führen Es ist derselbe, mit dem

will.

er das große Programm

seines Reichs, die Bergpredigt anhebt: Selig sind, die da

geistlich arm sind d. h. die sich arm fühlen am Geist, denn ihrer ist das Himmelreich.

Einen andren Weg zum Heil

Auch der edelste Mensch kann nur durch die

giebt es nicht.

enge Pforte in das Reich Gottes eingehen.

Kein Mensch

wird selig, es sei denn aus Gnaden, und keiner bedarf der Gnade, der sich nicht als ein Sünder vor Gott gebeugt und

gedemüthigt hat. Aber wer vor

der Demüthigung nicht zurückschreckt

und auch das gebeugte Antlitz

wieder zu ihm erhebt: ich

bleibe fest und ich folge Dir nach! — der wird auch inne, daß er einen gütigen Meister erwählt hat. Wohl ist die Er­

ziehung, in die er an Jesu Seite, unter der Zucht des Schrift­ worts, in dem Aufschauen zu seinem heiligen Borbilde ein­

tritt, eine

immer

ausgeht,

der

Erziehung zu immer

Hörer wird die

eigne

Gedanke der

Sünden

werden

tieferer

Demuth.

Sünde,

und

Denn

das von Jesu

einem in dem Licht,

wird

immer mächtiger

göttlichen Heiligkeit.

Auch

groß und die unbekannten

die

kleinen

bekannt.

Es

lernt wohl einer mit Paulus immer aufs neue rufen: ich elender Mensch, wer wird mich erlösen? Aber immer tiefer

erschließt sich auch das. Verständniß der Gnade, die in uns vollbringt, was wir nicht vermögen.

Es

gehen von dem

Herrn auch täglich neue Kräfte der Vergebung und der Er­

quickung aus, die aus seiner Fülle uns Gnade um Gnade, Licht um Licht darreichen. Wer für ihn Opfer bringt, ver-

99 liert nichts, sondern er gewinnt alles.

Er hat Größeres zu

bieten als Lust und Gut dieser Welt: er kann sättigen mit

ewigem Leben.

Laßt uns in seine Schule eintreten und

seine Hand nicht lassen, auch wenn sie uns scheinbar hart

sich auflegt.

Er giebt, auch wo er nimmt;

sein Joch ist

dennoch sanft und seine Last ist leicht. Laßt sie uns tragen; so und nur so werden wir Ruhe finden für unsre Seelen. Amen.

IX.

Jubilate 1882.

Die Verjüngung. Jes. 40, 25—31.

Wem wollt ihr denn mich nachbilden, dem

ich gleich sei? spricht der Heilige.

Hebet eure Augen in die Höhe,

und sehet! Wer hat solche Dinge geschaffen, und führet ihr Heer

bei der Zahl heraus? Der sie alle mit Namen rufet.

Sein Ver­

mögen und starke Kraft ist so groß, daß nicht an Einem fehlen kann. Warum sprichst du denn, Jakob, und du Israel, sagst: Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht gehet vor

meinem Gott über? Weißt du nicht? Hast du nicht gehöret? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt; sein Verstand ist unausforschlich. Er giebt dem Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden.

Die

Knaben werden müde und matt, und die Jünglinge fallen. Aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln, wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden.

Das ist, theure Gemeinde, eins von den Schrift­ worten, über die schwer zu predigen ist,

weil seine Einfalt

und seine Herrlichkeit durch jedes Wort, das wir zusetzen, nur abgeschwächt werden kann; ein Wort, vor dessen Größe

man lieber betend stillsteht,

als daß man sie sich zerlegend

und unterscheidend auseinanderfaltet. In der That,

es bedarf keiner Erklärung;

sich selbst klar und verständlich.

es ist in

Es bedarf keiner Vermitte-

101 hing für unser Verständniß — wer überhaupt ein Verhält­

niß zn Gott hat, weiß, was ihm darin verheißen wird. Es

weist nns hin auf die Wunder Gottes in der Höhe und macht sie zur Bürgschaft und zum Unterpfand für seine

Mit großen Zügen preist es die

Wunder in der Tiefe.

der die Sterne lenkt,

Herrlichkeit des Herrn,

so daß jeder

ihm zustimmt, der noch den Namen Gottes denkt: aber es macht von da den Schluß, den nicht alle machen, auf die

Herrlichkeit, mit der Gott auch jedes einzelne Menschenleben, und wäre es das kleinste, führt und leitet.

Es verkündet

die nie ermüdende, nie erschlaffende Kraft, mit der der le­ bendige Gott die Welt trägt;

das Geheimniß,

aber es erschließt zugleich

wie diese unerschöpfliche Kraft auch mein

und dein werden, und unser Leben nun eine nie ermüdende, nie erschlaffende Kraft erhalten kann.

So ist es ja freilich,

wenn man so will, das Abc des Glaubens, das uns in diesem

Prophetenwort gepredigt wird.

Aber wir müssen gleich hin-

zusetzen: es wird uns in einer Weise gepredigt, daß man

inne wird, wie das Einfachste zugleich das Tiefste ist, und auf diesem Abc des Glaubens sich alle andre Glaubensge­

wißheit und Glaubenserkenntniß wie auf festem Grunde erst

aufbant.

Kurz, l. Fr., Kraft, Licht,

Trost,

Zuversicht

verkündet dies Wort in köstlicher Weise. Sind hier bedrückte, sorgende, trauernde, schwankende, gequälte Menschen — für sie will ich predigen.

Sind solche da, von denen das Wort

gilt: sie sind müde und matt und fallen — hier quillt ihnen der Born immer neuer verjüngender Kraft. So möchte ich es ausdrücken für Junge und Alte, für Fröhliche und Trau­

rige.

Der Prophet verkündet uns

das Geheimniß innerer Verjüngung. Er zeigt uns den Born

der Kraft, die uns verjüngt;

er

102 weist uns auf die Straft des Glaubens, die diesen Born uns

erschließt.

1. Zwei Dinge hat der Philosoph Kant für das Erha­ benste erklärt: den Sternenhimmel über uns und das Sitten­ gesetz in uns. Fast ist es, als hätte der Prophet Aehnliches

gedacht.

Er stellt seine Hörer unter das nächtliche Sternen­

zelt; da heißt er sie ihre Augen emporheben und sehen. Aus ungemessener Ferne

leuchten tausend mal tausend Welten

herab; sie schwimmen in stiller Pracht im unermeßlichen Ocean des Raumes.

Was meine Augen sehen, ist nur der

Anstoß für meine Phantasie, um ein Weltsystem an das andere zu reihen, eine Milchstraße sich an die andere schließen

zu lassen.

Was

ich höre von den Millionen Jahren, in

denen das Licht des letzten Sternes bis zu unserm Planeten

gelangt, alles das klingt mir wie das Stammeln der Men­

schenzunge, welche sich vergeblich bemüht, die Unendlichkeit auszudrücken.

Und während nun ich,

mit der Welt, die

ich bin und die ich in mir trage, zu gering bin, um ver­

glichen zu werden mit dem Tropfen, der im Eimer zurück­ bleibt, fragt der Prophet, den Blick auf die Welten droben

gerichtet:

„Wer hat solche

Dinge

geschaffen

und

ßühret ihr Heer bei der Zahl heraus, der sie alle

mit Namen rufet?" Wo Menschen mühsam forschen und Namen ersinnen, da hat der Herr der Heerschaaren längst auch den letzten Stern gezählt, von dem nie ein Menschen­

gedanke eine Ahnung haben wird.

Ihn lobten, wie es bei

Hiob heißt, die Morgensterne; er führt sie heraus am Fir­ mament, wie der Hirt seine Heerde.

So unverbrüchlich ist

die Ordnung, daß, wie es einer ausdrückt, noch nie ein mmsch-

103 licher Forscher, wenn beim Nachrechnen sein Facit nicht stimmte, auf den Gedanken kam, diese Ordnung sei gestört, sondern

nur darauf, daß er selbst sich irre. Und glaube, — so unver­ brüchlich die Ordnung, so gewaltig ist auch der Arm, welcher

sie trägt.

Schau hinein ins Dunkel des Firmaments, wie

Licht um Licht, Stern um Stern dir

auftaucht, bis du

schwindelnd das Auge abwendest. So faßt dich schwindelnd

das Gefühl der Unermeßlichkeit des Gottes, dessen Gedanke

harmonisch diese Sphären durchwaltet, und dessen Machtfülle schrankenlos über diese Welten sich ausgießt und sie hält. Wohl spricht der Prophet: „Sein Vermögen und starke Kraft ist so groß, daß es nicht an Einem fehlen

kann."

Und nun fährt der Prophet kurzweg fori: „Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: „mein Weg ist demHerrn verborgen, und mein Recht gehet

vor meinem Gott über?" — als wollte er sagen: soll, der die Welten

trägt,

nicht auch

dich tragen? der

Sterne zählt, deine Tage überzählen?

die

der im Großen so

unermeßlich ist, nicht auch unermeßlich sein in dem Geringsten? Und doch, — es ist wahr, daß hier eine Art Lücke in

dem Gedanken ist, daß wir hier dem Prophetenwort etwas ergänzend hinzufügen müssen.

O, Freunde!

daß Gott die

unendliche Kraft sei, das hat ja auch das Heidenthum ge­

ahnt.

Sie haben seine Stimme vernommen im rollenden

Donner und im heulenden Sturm und seine Hand gesehen

im zuckenden Blitz.

Eben darum sind sie geflohen vor diesem

furchtbaren Gott und haben mit grausenhaften Opfern ver­ sucht, seine Macht zu gewinnen und zu versöhnen.

Denn

dieser Gedanke: ich bin in der Hand einer unendlichen Macht

— nicht mehr,

als die Mücke, die eine Viertelstunde lang

104 im Sonnenschein ihre Flügel schillern läßt, und mein Leben ist nicht mehr als eine Spanne vor der Ewigkeit, in der die

unendliche Gottesmacht waltet — dieser Gedanke, sage ich,

ist ein furchtbarer, ist grauenerregend, wenn ich nicht noch ein andres weiß. Soll der Gedanke an diese göttliche Macht

mir der Quell innerer Verjüngung, immer neuer Stärkung

und Kraft sein, so muß ich wissen,

daß diese Macht in

den Händen der Liebe ist. Ja, Gott, der die Macht ist, ist auch die Liebe! Was

das Loblied der Schöpfung klingt, was das Jauchzen der

Morgensterne ihm zutönt, das ist der Preis seiner Liebe.

Wäre dieser Gedanke nicht wahr, ich würde gradezu sagen: wir wollen uns flüchten in den Zweifel; wir wollen weg­ werfen, was wir vom Glauben haben; denn es ist zermal­ mend, in der Hand einer blinden Macht zu stehen.

Aber

Gott Lob, dieser Gedanke ist wahr; er stammt vom Himmel und „trieft von Barmherzigkeit." Auch der Prophet hat ihn

gewußt; „Du, Herr, bist unser Vater und unser Erlöser. Von Alters her ist das Dein Name!" so ruft er aus. Aber gelobt

sei Gott, wir wissen ihn tiefer. Wir haben geschaut was er nur im Geist sah; mit unsern Händen, schreibt uns ein aposto­ lischer Gewährsmann, haben wir es betastet. Durchlest das

ganze neue Testament — es hat einen einzigen Gedanken, einen einzigen Zweck; es will uns die Bürgschaft geben, daß derGott

der unendlichen Macht dieunendliche Liebe ist. Dafür ist kein Unterpfand zu groß, kein Opfer zu schwer: er hat, sagt Paulus seines einzigen Sohnes nicht verschonet, sondern hat

ihn für uns Alle dahingegeben, damit er mit ihm uns alles schenke. Also hat Gott die Welt geliebt, schreibt Johannes, daß er seinen eingebornen Sohn gab. Es ist keine Macht in Gott,

die nicht gehalten und geleitet wäre von dem Gedanken seiner

105 unendlichen Liebe. Es ist kein Wallen und Neigen der Liebe in ihm, dem nicht die ungemessene Macht zur Verfügung

stände.

Darum kann Israel nicht sagen: mein Weg ist dem

Herrn verborgen.

So wenig der Hüter Israels über Feld

geht oder schlummert wie jener Baal zu Karmel — er wird

nicht müde noch matt: — sowenig kann er, wie's jemand ausdrückt,

gleichgültig zum Fenster hinausschauen, wie es

seinen Kindern ergeht.

Ob klein oder groß, das Unfaßbare

oder das Alltägliche — es ist überall sein Geistesodem, der alles durchdringt, und dieser Odem ist seine Liebe.

Da seht nun, liebe Freunde, den Quell der verjün­

genden, innerlich erneuenden. Kraft, die uns alle erquicken will.

Der Gott, der die Sterne lenkt, der die Enden der

Erde geschaffen hat, dessen Verstund unerforschlich — er hat mich lieb.

Habt ihr den Gedanken

jemals ernstlich durchgedacht

und durchgeglaubt? Er ist unbeschreiblich einfach.

Gott hat

mich lieb, d. h. ich bin für Gott etwas, was seines speciellsten

Interesses und der innersten Hingabe werth ist, zu dem er sich hinabneigt, um dem Müden Kraft zu geben und Stärke genug dem Unvermögenden.

Er hat mich lieb, d. h. also,

er versorgt mich wie ein- Vater sein Kind, wie ein Mann seinen Freund.

nicht müde,

Er beräth mich, wo ich schwanke; er wird

mein Klagen und Seufzen

zu hören;

ich bin

wirklich und wahrhaft der Gegenstand seiner unablässigen

Fürsorge. Als wäre ich der einzige Mensch auf Erden, darf

ich ihn meinen Gott nennen;

ja, ich darf, wie einer es

ausdrückt, „in meinen Gebeten ihn, ohne zu irren, mit ganzer Hingabe, mit meinem gegenwärtigen und zukünftigen Schicksal beschäftigt glauben,"

so daß auch kein Haar von meinem

Haupte fallen kann ohne seinen heiligen Willen.

Gott hat

106 mich lieb, d. h. er sagt zu mir: was mein ist, das ist dein;

meine Kraft, meine Stärke, meine Macht, die die Enden der Erde geschaffen und die Sterne trägt, sie ist auch dein.

Und nun frage ich, über mich und dich, wie der Pro­ phet hier fragt:

und du, Israel,

„Warum sprichst du denn, Jakob,

sagst: mein Weg ist dem Herrn

verborgen?" Gewiß es sind die dunkeln Wege, wo wir so sprechen; es sind die schweren Opferstunden, die diese Fragen

uns auspressen; es sind die Zeiten unaussprechlicher Ein­ samkeit und innerer Dürre, in denen diese Klage laut wird,

die Zeiten also, in denen wir nichts fühlen von dieser Liebe

Gottes. Wer überhaupt inneres Leben kennt, kennt sie auch. Ja, Gott selbst führt hinein, weil kein andrer Weg ist, den

Glauben zu

stärken, als Anfechtung und Kampf.

Aber,

theure Freunde, merken wir uns: Es kann wohl sein, daß

ich Gottes Weg nicht verstehe, und mein Recht mir wie

vergessen vorkommt. Es kann auch sein, daß ich für einen schweren Weg des Opfers und des Kreuzes, ja des Gerichts ansehe, was e r mir als einen Weg reichen Heils und neuer Gnade zugedacht hat.

„Sein Verstand ist eben unerforsch-

lich," sagt auch der Prophet.

Aber —

eins kann nicht

sein, nämlich, daß Gott nicht meinen Weg wüßte, und diesen Weg nicht zum Heil gestaltete.

Eins kann nicht sein,



daß auch nur ein einziges Seufzen meiner Seele, ein Opfer meines Lebens, ein Gebet meines Herzens nicht Gottes Herz

erreichte. Oder was hätte er aufgehört zu sein — die Macht etwa? Hebet doch

die Augen auf und schauet die Sterne!

Die Liebe etwa? Aber soll es denn umsonst sein, sagt Luther,

daß Gott seinen Sohn gegeben hat? Der Ewige wird nicht müde und matt, auch in seinem Erbarmen. die Schuld;

die Kraft ist da,

An uns liegt

auch für uns ist sie da.

107 Nur ausschüeßen müssen wir uns ihre Quellen. Der Prophet zeigt uns den Weg dazu:

Die Knaben werden müde

und matt; aber

2. die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie «umfahren mit Flügeln, wie Adler, laufen und nicht matt werden;

daß sie

daß sie wandeln,

und nicht müde werden. Sieh, darum hat der Gedanke an die Liebe und an

die Macht Gottes so wenig Kraft über uns, weil, uns dieser Schlüssel fehlt, durch den wir sie uns aufschließen: auf den Herrn zu harren. Verständigen wir uns, was das heißt. Es ist klar, daß dies Harren etwas Aehnliches ist, wie das, was sonst

Glauben genannt wird.

Nicht auf den Herrn harren, ist

offenbar ein Glaubensmangel, auf ihn harren eine Glaubens­ that. Dennoch ist es ein Vorzug, daß der Prophet hier nicht das Wort Glauben braucht, sondern Harren.

Denn

unter Glauben denken sich die Leute immer nur ein Annehmen und Meinen, ein Fürivahrhalten. Das Harren führt so­ gleich tiefer; denn Harren ist das heiße, sehnsüchtige Warten;

es drückt eine Stimmung tiefer Empfänglichkeit aus, eine innere Bereitschaft für den Kommenden, auf den man wartet. Wer also sagt: ich harre auf Gott, der streckt seine Hände voll innerer Sehnsucht aus nach dem Herrn, der empfindet das

tiefe Verlangen nach

der Nähe

und

Gemeinschaft

Gottes, das jenes Psalmwort mit unübertrefflicher Tiefe ausspricht:

„Meine Seele dürstet nach Gott,

lebendigen Gott."

nach dem

108 Wer so auf Gott harrt als feinen einzigen Hort und Trost,

der

hat auch schon, so zu sagen, andre

rungen hinter sich.

Erfah­

Er ist tief davon durchdrungen, daß

alles eigne Thun und Sorgen das Heil ihm nicht schafft;

darum harrt er auf den Herrn. Er hat es erlebt, daß alles eigne Planen die rechte Entscheidung nicht giebt; darum eben

harrt er auf Gott.

Er weiß, daß die eignen Vorsätze immer

wanken und die gebrochenen Vorsätze nur neue Schuld häufen; aber er harrt auf den Erbarmer.

Er sieht von allem, was

er erwartet, vielleicht das Gegentheil, statt des Lichtes nur das Thal der Todesschatten; aber er harrt auf Gottes Zu­ sage.

So ist Harren mehr als Glauben; es ist der aus-

hal tende Glaube; es ist der alle Schwierigkit und alle Anfechtung überwindende Glaube.

Wie der Wächter, der

nach schwerer Nacht auf den Morgen harrt, kein Auge ver­

wendet von dem fernen Osten, damit er den ersten Morgen­

strahl erspähe, so verwendet der harrende Glaube sein Auge nicht von dem Herrn, und wenn noch so vieles ihn abziehen

wollte. Wie der Wächter es weiß, zur rechten Stunde muß

der Morgen anbrcchen, so harrt der Glaube auf Gottes

Stunde, in der die Hülfe kommen muß. diesem Harren schon ein

Glaubens.

So liegt also in

Stück von der Bewährung des

Wer auf Gott harrt,

der legt gleichsam betend

sein Herz nieder vor Gott: fülle Du es mit Deiner Gnade! er verzichtet auf alles Eigene. Das aber ist es grade, was

Gott von uns fordert, damit ungehemmt seine Kraft in uns

einströme. So wird das Prophetenwort verständlich, wie es wörtlich lautet: „die auf den Herrn harren, erfrischen ihre

Kraft, heben Adlern gleich ihre Schwingen;" ihr Harren er­ schließt ihnen den Quell, der unerschöpflich aus Gottes Fülle sich selbst erneut,

der sie immer wieder verjüngt, daß sie

109 laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden. Und fragen wir nun: worin bestehtdiese neueKraft, mit der sie wie Adler ihre Schwingen heben? Ich antworte

zuerst: Wer auf den Herrn harrt, erhält dadurch immer

neue Kraft des Glaubens. Der ausharrende Glaube wirkt neuen Glauben.

Glauben heißt, den unsichtbaren Gott vor

Augen haben, als sähe man ihn; im Harren auf den Herrn

schärft sich das Auge, das in das Unsichtbare sieht.

Es

giebt schwere Stunden genug, wo die Knaben matt werden und die Jünglinge straucheln; wo auch Männer zerbrechen, wenn ihnen der Glaube brechen will und der Boden gleich­

sam einem unter den Füßen weicht. Wer dann ausharrend itnb betend sich niederwirft vor dem Herrn, dem wächst in der Anfechtung der Glaube.

Sie grade lehrt ihn aufs

Wort merken, und an der Erfahrung das Wort tiefer ver­ stehen.

An der Anfechtung richtet der Glaube sich auf und

streckt mit seinem:

„Dennoch bleibe ich stets an Dir" seine

Hand durch die Wolken hindurch.

An ihr hebt sich die

Schwinge, daß man auffährt mit Flügeln wie Adler. Man kann auf der Bergeshöhe stehen, den blauen Himmel über

sich, während unter einem im Thal die Wolken sich ballen und es wettert und blitzt.

So kann ein Christ im Glauben

sich über die Trübsal erheben und wie ein Adler auffahren im Glauben zur klaren Sonne göttlicher Liebe und Barm­

herzigkeit, während unter seinen Füßen immer neue Noth sich sammelt und neue Sturmeswetter sich bereiten; er hat sie

unter seinem Fuß.

Ich denke daran, wie dieser Spruch in

goldnen Lettern um zwei der Sonne zufliegende Adler ge­

schrieben, am Giebel des Glaubensbaues August Hermann Francke's, des Waisenhauses zu Halle, prangte.

Welch ein

110 Entwickelung des Mannes: Als Candidat im Zweifel auf

seinen Knieen im Gebet um Rettung aus feinem Elend zu dem Gott, den er nicht kannte, noch glaubte: „wenn anders

wahrhaftig ein Gott wäre," und dann der Gründer einer Anstalt, die vielen der Zeitgenossen wie eine in Stein ge­

hauene Gebetserhörung vorkam!

Das heißt aus Glauben

in Glauben auffahren mit Flügeln wie Adler.

Ich sage weiter:

Es geht durch dieses Harren auch

eine neue Kraft der Heiligung über den Menschen aus. Im Grunde ist dies nichts andres, als jenes. Denn rechtes

Glauben

ist ein Hineinleben

und ein Hineinwachsen in

die Gemeinschaft des lebendigen Gottes. Es giebt aber kein

Hineinleben in Gott ohne ein Leben und Wachsen in der Heiligung und in der Herzensreinheit.

ein Auffahren adlergleich;

Auch da giebt es

denn jede errungene Stufe und

jede empfangene Kraft ist nur der Ausgangspunkt für eine neue und zukünftige.

Jedes Nahen zu Gott im ausharren­

den Glauben hat zur nothwendigen Folge, daß Gott zu uns naht und uns Kräfte des Heils und der Heiligung giebt,

und jedes Ueberwinden, auch der kleinsten Sünde bringt wieder innerlich Gott näher und stärkt den ausharrenden Glauben.

Es kommt gar nicht darauf an, ob es eine große That be­ sonderer Selbstüberwindung ist oder ein Widerstehen gegen­

über einer besonders gefährlichen Versuchung.

Je unbeweg­

licher das innere Seelenauge harrend und hoffend zu Gott aufgeschlagen ist, harrend und hoffend den Herrn ansieht, von

dem alle erlösende Kraft ausgeht, um so mehr strömen die

verborgenen Gotteskräfte auch in die leisen Bewegungen des

Herzens, auch in die Welt der Phantasie, auch in das tägliche Thun des Lebens und geben die Kraft, heilig zu wandeln

111 und nicht müde zu werden, zu laufen in dem Kampf nm das Kleinod und nicht matt zu werden.

Wohlan denn,

th. Fr.,

ist dieses

Harren in uns?

Von einem Heben der Glaubensschwingen redet der Prophet,

das weit diese Erde hinter sich läßt und uns hinübertrügt

in die Ewigkeit.

Solche Kraft soll auch dein Glaube haben.

Wenn dein Glaube noch so klein und gering ist, daß dn

davon noch nichts erfahren hast, sicherlich der Glaube kennt eine andre Herrlichkeit und nimmt andern Flug.

Er zieht

unsres Gottes Macht in uns herab und hebt uns zu Gott

hinauf. Glauben

Nach solchem Glauben laßt uns trachten; um solchen laßt uns beten.

Uns erlahmt wohl noch leicht

die Schwinge; aber je mehr man sie braucht, um so stärker wird sie.

Gott heißt uns

noch nicht in die höchste Höhe

fliegen; er fordert nur, daß wir sie wirklich brauchen, damit der Flug doch immer kühner werde.

Aus Kraft in Kraft,

aus Glauben in Glauben — so sollen wir wandeln nicht müde werden, laufen und nicht matt werden. jedem unter uns gesagt.

und

Das ist

Ob alternd die Kraft uns versagt,

matter und matter der Puls des

äußern Lebens schlägt:

die auf den Herrn harren, behalten eine Jugend,, die nicht

altert.

Je älter sie werden,

und je ärmer dies Leben für

sie wird, um so höher heben sie ihre Flügel, und hinaus schwingt sich die Sehnsucht des Glaubens:

„Jerusalem, du

hochgebaute Stadt, wollt' Gott, ich wär' in dir!" bis endlich

der letzte Flügelschlag des Glaubens uns hinüberträgt und alles Harren sich verwandelt in ein seliges Schauen des

Herrn, der uns geliebt hat, deß das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit ist in Ewigkeit! Dahin bringe uns der barni-

herzige Gott aus Gnaden und lasse unser keinen dahinter bleiben! Amen.

X. Septuagesimae 1880. Das Bild des christlichen Weibes. 1

Petri 3, 1—7.

Desselben gleichen sollen die Weiber ihren

Männern Unterthan sein, auf daß auch die, so nicht glauben an

das Wort, durch der Weiber Wandel ohne Wort gewonnen werden,

wenn sie ansehen ihren keuschen Wandel in der Furcht; welcher Schmuck soll nicht auswendig sein mit Haarflechten und Goldum­

hängen oder Kleideranlegen, sondern der verborgene Mensch des

Herzens unverrückt, mit sanftem und stillem Geist, das ist köstlich vor Gott. Denn also haben sich auch vor Zeiten die heiligen Weiber geschmückt, die ihre Hoffnung auf Gott setzten, und ihren Männern Unterthan waren, wie die Sara Abraham gehorsam war und hieß ihn Herr; welcher Töchter ihr geworden seid, so ihr wohlthut, und nicht so schüchtern seid. Desselben gleichen, ihr Männer, wohnet bei ihnen mit Vernunft, und gebet dem weib­ lichen, als dem schwächsten Werkzeuge, seine Ehre als auch Milerben der Gnade des Lebens, auf daß euer Gebet nicht verhindert werde.

In die Welt des Hauses führt Petrus mit dem ver­

lesenen Worte uns ein. An die Männer und Weiber richtet

er seine Mahnung. Aber es ist hier nicht eigentlich das Bild

einer christlichen Ehe, das er uns vorführt, wie etwa Paulus

den Ephesern; er verweilt fast ausschließlich bei der Schilde-rung des christlichen Weibes.

Es ist, als ob er die Mah­

nung an die Männer, so nöthig sie ist, in diesem Falle nur

113 hinzufügte, um sie bei Ausübung des christlichen Berufes, den er den Frauen zuweist, zu Gehülfen derselben zu machen.

Wir vernachlässigen schwerlich die Aufgabe, welch e die Pre­ digt an allen hat, wenn wir dem Apostel folgend, bei diesem ersten Theile seiner Mahnung,

richteten

Worte stehen

bei dem an die Frauen ge­

bleiben.

weil

Nicht deshalb,

der

größere Theil der Kirchenbesucher aus Frauen besteht, ein

Verhältniß, das man wohl bisweilen ungekehrt sehen möchte

— vielmehr: „es heißt für den Mann reden, wenn man zum

Weibe redet/' sagt der geistvolle französische Prediger Adolph Monod, dessen Reden über die Bestimmung des Weibes

in aller Hand

zu sehen wünschte.

ich

Es ist eine Thatsache,

welche die Geschichte bestätigt, wenn derselbe ausspricht, der

größte Einfluß, den es auf Erden gebe, im Guten wie im Bösen, liege in der Hand der Frauen.

Welch' eine Macht,

die eine christliche Gattin, eine christliche Mutter, eine christ­

wo sie ihr

liche Jungfrau in sich trägt, da am stärksten,

selbst unbewußt ist — selig wir alle wenn wir sie erfahren

durften! So rede ich denn in der That zu allen, Männern

und Frauen, Jungen und Alten, wenn ich an des apostolischen Wortes das Bild des

den Zügen

christlichen Weibes

auszuführen versuche. Wie sie vor Petri Augen steht, möge

sie im Geist vor die unseren treten zur Lehr e, zur Mahnung,

hier vielleicht zur Beschämung, dort zum Trost. Drei Züge

hebt Petrus heraus; er zeichnet das Bild des christlichen Weibes in ihrem Beruf, mit ihrem Schmuck, mit ihrer Macht. 1.

Gewiß theilt jedes christliche Weib zunächst den allge­

meinen Christenberuf.

Sie ist mit berufen

zum Heil in

8

114 Christo;

sie ist mit erlöst zur Miterbin des Lebens.

ist kein Unterschied zwischen Mann

Hier

und Weib, 'Knecht und

Freiem — ihr seid allzumal Einer in Christo Jesu. Christus

und Tod zu der

hat auch die Frauen erlöst von Sünde

einen Gnade und hat eben damit grade sie aus schmachvoller Erniedrigung und sllavischer Abhängigkeit emporgehoben zu

der ihnen nach Gottes Willen gebührenden Ehre, des Mannes

Gehülfin zu sein.

Und für diese Gnade hat das Weib dem

Herrn gedankt, indem sie dem Evangelium seine standhaftesten Bekenner gab und seine machtvollsten Zeugen erzog, indem

sie wie eine Priesterin über dem Heiligthum des Glaubens wachte, wo der Streit der Männer es zu zerstören drohte, und auf dem Altar des Hauses und der Familie verborgen seine heilige Flamme nährte, wenn sie in den Tempeln zu

Christus hat auch ebenso gut den Frauen

verlöschen schien.

ein Vorbild gelassen, wie den Männern; schon ost hat man darauf hingewiesen, wie in ihm beides, männliche und weib­

liche Tugend harmonisch sich verschmelze,

und eben so gut

die energische weltüberwindende Kraft des Helden wie die

Alle Demuth des

des weiblichen Frauengestalten

tragenden Gehorsams und die Innigkeit

Gemüths sich offenbare.

Wie viel heilige

weist die Kirchengeschichte

auf, in deren

Allem, tiefen Wirken im wahrsten Sinne des Worts Chri­ stus selbst eine Gestalt gewonnen hat.

Gleichwohl ist nun

aber die Sphäre verschieden, innerhalb deren beide, Mann

und Weib ihren gemeinsamen Christenberuf ausüben sollen.

Wenn Petrus die christliche Frau sucht er sie da auf,

uns schlldern will, so

wo sie als iu ihrem eigenthümlichen

Wirkungskreise zu finden sein soll, nämlich in der Welt des Hauses, der Familie, der Ehe, und in Bezug darauf ver­ ordnet er:

„es

sollen die Weiber ihren Männern

115 Unterthan sein, wie die Sara Abraham gehorsam

war und hieß ihn Herr." Nicht nur eine zufällige Mahnung für ein zufälliges Verhältniß spricht Petrus damit aus, sondern einen Grund­

satz.

Die Welt des Hauses ist die Welt des Weibes.

das Haus ist sie bestimmt; Weibe," sagt

da liegt ihr Beruf.

Paulus, „gestatte ich nicht,

Für

„Einem

daß sie lehre";

er spricht vom öffentlichen Lehrberuf in der Gemeinde. Das öffentliche Leben gehört dem Manne; die Natur des Weibes ist dafür nicht gemacht; ihre Begabung reicht dafür nicht

aus; die Thatsachen beweisen, daß sie grade im öffentlichen

Wirken ihr bestes Theil, den Zauber der Weiblichkeit, ein­ büßt.

Mag es selbstverständlich immer Ausnahmen geben,

wie besondere Umstände auch besondere Erscheinungen Her­

vorrufen, die Regel bleibt, daß ihre Größe und damit auch ihr Beruf auf einem

andern Gebiete,

als dem des öffent­

lichen Wirkens liegt, nämlich in der engen Welt des Hauses, und das Grundgesetz desselben lautet:

seid Unterthan

den Männern! Es ist wahr, das klingt in den Ohren unsrer Zeit

überaus

bescheiden.

Aber vergeßt nicht,

ihr

christlichen

Frauen, daß eine Pflicht, welche das Evangelium uns auf­

legt, immer zugleich eine Ehre, und eine Stellung, welche

das Evangelium anweist, ein Ehrenposten ist, dem die Krone nicht fehlen wird.

Seid gewiß — wenn cs in unsrer Zeit

Frauen giebt, die diese Anschauung des eine veraltete

belächeln können,

Evangeliums als

so werfen sie mit dieser

scheinbar bescheidenen Pflicht zugleich die höchste Ehre und Krone fort, die Gott ihnen zugedacht hat.

Denn allerdings ist dieses Unterthan sein, von dem der

Apostel redet, keine sklavische Abhängigkeit.

Er redet ja zu

116 solchen, die insgesammt in Christo frei und Miterben des

ewigen Lebens geworden sind.

Er denkt also an Ehen,

in

denen die Gatten das Höchste und zugleich Innerlichste mit einander theilen, deren Gemeinschaft durch das Gebet mit

und für einander geheiligt wird.

Es ist die Kehrseite dieses

Unterthanseins, das den Frauen geboten wird, wenn an die Männer die Mahnung ergeht: „wohnet bei ihnen mit Ver­

nunft", d. i. mit der zarten Rücksichtnahme, welche die Liebe

giebt; ein Mann, der das nicht thut und sein Weib miß­ achtet, indem er den Sklavengehorsam fordert, erniedrigt damit sich selbst. — Dennoch bleibt immer diese Unterordnung

des demüthigen Gehorsams.

Wie

Sara gehorsam

dem

Abraham auf dem dunklen Pilgerpfade folgt, den er sie führt, so folgt die christliche Frau dem Manne, der das Haupt des Hauses ist.

Vielleicht ist ihr Schweres aufgelegt: sie bleibt

gehorsam; sie hat manches zu entbehren: sie harrt aus; der

ungläubige Mann verschließt sich dem Höchsten, was sie be­

gehrt,

der Gemeinschaft im Glauben an das Evangelium;

sie hat gebeten — vergeblich; nun schweigt sie, aber grade um ihres Glaubens willen bleibt sie unterthänig horsam: des Mannes Welt ist die ihre.

und ge­

Aber zugleich ent­

faltet sie in dieser demüthigen Unterordnung einen Reichthum und eine Herrlichkeit ihres Berufes, der weniges gleich kommt.

Das Leben des Hanfes ist das ihre;

dem prägt sie ihre

Weise auf; in die Keinen Erlebnisse und Dienste des Hauses legt sie den Reichthum der Liebe hinein, den Gott ihr in

das Herz gegeben hat, und weiß so auch das Geringste zu adeln.

Ihr fallen die Sorgen des Hauses am schwersten

auf das Herz;

sie trägt am reichlichsten seine Schmerzen.

Aber sie erbaut sich auch im Hause den Altar, auf dem sie

betend diese Sorgen niederlegt, und von dem sie täglich die

117 Kraft nimmt, ihre Schmerzen ohne Murren zu tragen und alle Last sich und anderen leicht zu machen durch die Freu­

digkeit der dienenden Liebe.

Besteht aber dies Unterthansein in der dienend en Liebe,

so eröffnet sich ja damit ein Gesichtskreis für den Beruf des Weibes, der über die engste Welt des eignen Hauses sofort

hinausweist.

Dieser Beruf hört nicht auf, wenn Gottes

Hand den Mann von ihrer Seite abfordert; höchstens soll

um so deutlicher die vereinsamte Frau sich bewußt werden, daß

sie nicht allein um der Menschen willen die dienende Liebe übt. sondern um Gottes willen. Dieser Beruf kann auch nicht erst

in der Ehe beginnen, sondern bereits in den Jahren der Jugend. Ihr Töchter, euer Wissen, eure Geschicklichkeit, eure

gesellige Bildung ist nur ein tönendes Erz oder eine klingende

Schelle,

ohne Werth für den Beruf, den Gott euch zuge-

wiescn hat, wenn ihr nicht auch die Kunst übt, euch selbst zu vergessen um der demüthigen dienenden pflegenden Liebe

willen. Es sind hier solche, die ans einem reichen Geschwisterkreise, vielleicht ans einem Kreise anvertrauter Kinder kommen, andere, denen kranke und alternde Eltern daheim weilen. Wie

viel schlagt ihr euch selbst ab, um dieser demüthigen Liebe willen, die ihr an ihnen zu

üben habt? — Dieser Beruf

der Liebe bleibt auch dann völlig derselbe, wenn Gott ein

Leben einsam ohne Ehe, ohne Familie geführt hat.

Die

Stätten, wo helfende Liebe noth thut, sind ungezählt, und wo Liebe ist, öffnet sich das Auge, um sie zu finden.

Es

mag Frauen geben, denen die Liebe fehlt; Frauen denen ein

Beruf fehlt, sollte und dürfte es nicht geben.

Christliche

Frauen, wenn mancher unter euch dieser Beruf der dienenden Liebe fehlt,

Lächelns,

ja, wenn er euch noch niedrig dünkt,

eher des

als der heiligen Begeisterung werth, laßt euch

118 von dem Apostel die Frage vorlegen, auf die er übergeht: welches ist

2. der Schmuck nach dem ihr trachtet? „Ihr Schmuck," schildert Petrus die christlichen Weiber,

„ist nicht auswendig mit Haarflechten oder Gold­

umhängen oder Kleideranlegen, sondern der ver­ borgene Mensch desHerzens unverrückt mit sanftem

und stillen Geist — das ist köstlich vor Gott." Selbstverständlich will Petrus damit nicht den Schmuck

verbieten, der sein Recht hat als der Ausdruck einer fest­ lichen Erhebung oder, wie ihn hier der Stand fordern mag

und dort die besondere Gelegenheit.

Aber wohl verwirft

er das Schmücken um des Schmuckes willen, um „derHaar­

flechten und des Kleideranlegens" willen; dieses Schmücken

hat bei der christlichen Frau keine Stätte mehr.

Denkt an

die Zeitvergeudung und Aufregung, an Sorge und Aerger,

an die Verschwendung und Begehrlichkeit, die mit diesem vielen

Schmücken zusammenhängen; versetzt euch in euren häus­ lichen Beruf mit seinen hunderterlei Anforderungen, denen

ihr um dieser Eitelkeit willen nun nicht genügen könnt, mit

den Ansprüchen der Kinder, die ihr anderen überlaßt; versetzt

euch mit eurem Schmuck in die Hütte des Armen, wo das Nothwendigste fehlt und der an eure Liebe gewiesen ist; und

dann sagt, ob dieses lieblose Schmücken noch ein Herz aus­ füllen kann und ausfüllen darf, dem der Beruf dienender Liebe in seiner Herrlichkeit aufgegangen ist;

fragt euch, ob

119 ihr ihn erkannt haben könnt, wenn euch jenes noch so voll­

kommen befriedigen kann.

Ich kenne eine christliche Anstalt,

die einen Theil ihrer Einnahmen der vereinfachten Kleidung

einer christlichen Frau zu danken hat — und wie viel ließe sich sagen, was über die Kleidung hinausge ht; seht hier einen

Weg für viele, um die Kräfte der helfenden Liebe zu ver­ doppeln! — Laßt mich aber auch noch Hinweisen auf die tiefe

Unwahrheit, die mit jenem Schmücken zusammenhängt; wer sich so schmückt, will ja gefallen, will mehr ausmachen

und ihr kennt die

als er ist, mehr scheinen als er kann,

Verwirrung

und Verwüstung,

die aus

dieser Sucht

zu

scheinen in unzähligen Häusern und Herzen angerichtet wird. Bor allem, christliche Schwestern, merket dies Eine: in dem­ selben Maße als euer Sinnen und Trachten nur auf den äußern Schmuck sich richtet, geht der innere Schmuck euch verloren, von dem Petrus redet, „der v erborgene Mensch

des Herzens, unverrrückt mit sanftem und stillen Geist, der köstlich ist vor Gott." Der verborgene Mensch

des Herzens — wir fühlen,

das sind herrliche Worte, die der Apostel sagt.

Er redet

da von einem Schmucke, der köstlicher ist, als alle Flitter, die den Leib umhüllen,

und der dennoch

dem Aermsten

bereit ist, der nach ihm trachtet; von einem Schmuck, nicht

ersetzt noch ersetzbar durch die glänzendste Bildung, die viel­

mehr ohne ihn leer und öde ist, und durch den dennoch auch der schlichteste und, weltlich gesprochen, ungebildete Sinn ge­

adelt und reich wird; von einem Schmuck, der angelegt wird vor Gott allein und für Gott allein,

getragen im Herzen

mit sanftem und stillem Geist, unverrückbar den Blick auf

den Herrn gerichtet, den darum auch das Alter nicht ablegt, der jedes Alter und jeden Stand ziert mit immer neuem

120 Glanz.

Dieser verborgene Mensch des Herzens ist es, der

über das ganze Thun des Menschen eine gewisse Verklärung

verbreitet, der erst die dienende Liebe so wohlthuend macht, die Freundlichkeit so erquickend, die Einfachheit so voll An­

muth, der unbewußt fesselt und anzieht und auch der Menschen

So haben sich vor Zeiten die heiligen Weiber

Liebe erwirbt.

geschmückt, von denen der Apostel redet. In diesem Geistes­

schmuck stehen die geheiligten Frauengestalteu vor unseren Blicken.

der Schrift

Wollt ihr ihnen gleich werden, so

merket, daß dieser verborgene Mensch des Herzens nur in der Stille des in Gott verborgenen Lebens heranwächst. Wie Maria laßt euch nieder zu den Füßen des Herrn und

lauscht auf das Eine, das noth ist. Aus Gnaden im Glau­ ben empfangen, geboren wenn Gottes Geist den unseren mit

seiner Kraft

erfüllt, genährt an Christi Kraft mit Wort,

Sacrament und Gebet, so laßt in euch dieses innere Leben

heranwachsen, das verborgen ist mit Christo in Gott, aus

dem ihr die

stille Klarheit nehmt, die neidlos

an allem

Glanz der Welt vorübergeht, weil sie besseres hat; die mit reinem Herzen

und keuschem Wandel durch diese sündige

Welt hindurchgeht, weil sie auf Gott den Blick gerichtet hält.

Dieser verborgene Mensch des Herzens ist köstlich vor Gott —

und giebt es köstlicheres, als dies zu wissen? — er ist auch

köstlich vor den Menschen — wie viele, die für sich selbst mit dem Glauben gebrochen haben, wissen

es doch, wie

dieser verborgene Glaubensmensch des Herzens der kostbarste

Schmuck edler Weiblichkeit und Jungfräulichkeit ist.

Sie

bestätigen Monod's Wort: „Die christliche Frau ist nicht

nur die beste,

sie ist auch die rein weibliche Frau."

Ja

dieser verborgene Mensch des Herzens mit seinem rein inner-

121 lichen Wirken, mit seiner von der Welt abgekehrten Weise

ist es, der der christlichen Frau

3. eine Macht und einen Einfluß über die Welt verleiht, die

unberechenbar sind.

Je stiller dieser verborgene Mensch

des Herzens alles regiert, je tiefer dieser Beruf am Hause erfaßt wird, um so unermeßlicher bis in die Ewigkeit reichend ist der Einfluß und die Macht des christlichen Weibes. Man

kann ihn nicht höher erheben, als es der Apostel hier thut, wenn er davon spricht, daß die Männer, die dem Wort

nicht glauben, sollen gewonnen werden durch der

Weiber Wandel

ohne Wort,

wenn sie

ansehen

ihren keuschen Wandel in der Furcht.

Heiliger Gedanke, daß der stille Wandel eines christlichen

Weibes für den Mann, der der Predigt des Wortes sich längst entzog, eine Predigt ohne Worte ist, der er sich schlechterdings

nicht entziehen kann, die er täglich zu hören und täglich zu

bewundern hat, der er mindestens seine Achtung nicht ver­ sagt, und die endlich noch einmal diese Achtung in Liebe verwandeln wird.

Aber auch heiliger Ernst der Mahnung,

daß der Unglaube des Mannes vielleicht nicht an der Kraft seiner Gründe, sondern an der Schwächlichkeit der Predigt

liege, die er aus dem Wandel seines Weibes vernimmt! So

wird unsre Predigt von der Macht des Weibes zur ernsten Mahnung, in Erweisung des Geistes und der Kraft mit stillem und sanftem Geist, in der Einfalt, die aus der Wahr­ heit quillt, das Evangelium in Fleisch und Blut zu ver­

wandeln

und so anstatt des Lehrens, das Paulus dem

Weibe verbietet, eine andre Art der Predigt sich anzueignen,

122 deren Einfluß ein unmeßbarer ist.

Wie viele Frauen von

jener Monica an, die nach Jahren der Thränen, der Geduld und der Gebete,

beide,

Gatten und Sohn an ihrer Seite

sehen durfte, sind so die Führer ihrer Männer geworden

und der Dank derselben ist ihnen nachgefolgt

bis in die

Ewigkeit. Eben Monica's Name aber erweitert unsre Betrachtung.

Die Mutter wird zum Apostel des Sohnes.

Das Beste,

was der Mensch hat, rührt so oft von der Mutter her; in

wie viel Wendungen hat selbst die Sprache diese Thatsache verarbeitet. Maße.

In christlichen Dingen gilt das in gesteigertem

Hundertmal hat man gesagt: aus den Kinderstuben

wird die Welt regiert;

es gilt auch:

wird die Welt erneut;

christliche Mütter, ihr seid die Prie­

aus den Kinderstuben

sterinnen dieses Heiligthumes, eurer Kinderstube.

Ihr betet

ohne Zweifel mit euren Kindern — wahrscheinlich ist keine

Mutter hier, die es nicht thut oder that — aber hat dieses

Kind auch den bleibenden Eindruck bekommen, nur mehr und

mehr vertieft in den Jahren des Verständnisses, daß dieses

Gebet euch ein heiliger Lebensernst war, ein Offenbarwerden des verborgenen Herzensmenschen, der in euch selbst war? —

Das Kind wächst heran, ein Sohn — ach wie schwer ist es jetzt Söhne zu erziehen! Batertreue vermag nur wenig; der

väterlichen Strenge verschließt sich so leicht das Kind; der

väterliche Ernst bedarf, wenn man so will,

eines Vermitt­

lers, damit er recht wirke; auch in der Seele eines Knaben

giebt es so manches, was der Vater nicht

leicht versteht,

zarte Saiten, die er leicht rauh und verletzend berührt. Aber die Mutter — sie kann das Herz des Kindes öffnen, ihr

soll

das Kind

seine Geheimnisse

anvertrauen, ihr

seine

Sorgen ausschütten dürfen, sie soll es als Vermittlerin auch

123 für seine Fehler anrufen dürfen; nie soll sie dabei den aus

aber auch nie die tiefe,

Gott geborenen Ernst verleugnen,

Vertrauen erweckende Liebe — christliche Mütter, werdet mit

einem Wort die Vertrauten eurer Kinder, eurer Söhne zu­ mal, dazu hat Gott euch berufen, dazu hat Gott euch ge­

macht; erfüllt diesen Beruf, und eure Macht über eure Kinder

wird

ohne Grenzen sein.

werden bei diesem Sohne

Es

Zeiten des Zweifels kommen, mit zur Kirche gehen, euch

euch zu Liebe wird er

aber

zu Liebe wird er das Arge

meiden, wenn über ihn die Versuchung mächtig wird. Euch

zu Liebe wird er, wie es Augustin von sich bekennt, den

Respect vor dem Namen Jesu nicht

verlieren,

auch wenn

innerlich die Lösung vom Kindes glauben beginnt, und dieser

Respect wird die Handhabe sein, an der Gott ihn aus der Verirrung wieder zurückführt. In dieser Gewißheit, in diesem

Glauben bleibet, auch wenn ihr zunächst das Gegentheil seht. Die Aussaat der Kinderjahre, die Thränen, mit denen

sie

sie gepflegt worden

ist,

begossen,

die Gebete,

können nicht verloren

mit denen gehen.

Wer

macht

überhaupt den

Geist eines Hauses! Wohl gilt es: „o selig Haus, wo Mann

und Weib in einer, in deiner Liebe eines Sinnes sind" — dennoch die innre Luft, die wir in diesem Hause athmen, die dies Haus uns so traulich,

diesen Kreis uns

so lieb

macht, ist in wie vielen Fällen das geistige Wesen der Frau, die in demselben waltet; sie prägt dem Hause seinen eigen­

thümlichen Geist auf. Wohlan, sorgt dafür, daß es ein am

Worte Gottes geheiligter, vom Geiste Gottes durchhauchter

sei — ihn werden eure Kinder mit hinausnehmen ins Leben; die Gebete, die ihr ihnen nachsendet, werden sie in ihm er­

halten und wer, sage ich noch einmal, wer will euren Ein­ fluß abmessen? —

124 Es wird schwer bei einem Thema abzubrechen, das un­

erschöpflich ist.

Es sind nicht blos Mütter, es sind auch

Schwestern hier.

Welch ein Segenseinfluß kann in einem

Hause von einer erwachsenen Tochter ausgehen, die in dem sanften und füllen Geist demüthiger Liebe wandelt.

Welch

eine Macht vermag die ältere Schwester über den Heran­ wachsenden Bruder auszuüben.

Ostern ist nicht mehr weit:

ein Kind aus dem Hause soll confirmirt werden, Vater und stehen ihm vielleicht fern, knabenhafte Zurückhal­

Mutter

tung macht ein Aussprechen unmöglich, aber die Schwester

hat sein Zutrauen: o wenn diese Schwester im Glauben stände, wenn

sie betend

die Geschwister

auf dem Herzen

trüge, wenn sie es vermöchte ohne geschwisterliches Meistern

doch anzuklopfen, zu leiten,

rührte Herz zu erwärmen,

zu weisen, das noch wenig be­

welch

ein Segen für diese Zeit

der Confirmation, welch eine Verheißung für die Zukunft.

Wohl dem der einen treuen Freund hat, steht in der Bibel. Dreimal selig der, der eine treue und fromme Gattin,

eine

treue und fromme Mutter, eine treue und fromme Schwester

hat, sie sind Glieder in der Kette, an der sein Gott ihn hält, sie sind es vielleicht, denen er dankend bekennen darf: Du

hast mir die Seele gerettet. Theure Gemeinde!

Theil

habe ich

wirklich nur

für einen

der Gemeinde geredet? Ich meine, wir alle strecken

die Hände aus nach derselben heiligenden Kraft des Evan­ geliums, die solchen Schmuck und solche Macht zu verleihen

vermag.

Wir alle tragen in uns das Gefühl, wie köstlich

die Gemeinschaft eines Hauses sein muß, das so von Christt

Geist durchdrungen und von den Kräften des Glaubens ge­ tragen ist, ein sülles Zoar in den Stürmen der Welt. Lernen

wir das unsrige dazu thun, daß unser Haus ihm gleich werde.

125 In welcher Stellung wir sind, wie wollen uns

heiligen

lassen durch Gottes Gnade, zum Dienst seines Reiches, uns

schmücken lassen am inwendigen Menschen

und nach der

Macht trachten, die nicht wir ausüben, sondern der Geist

Christi, der in uns wohnt! Amen.

XI.

Gründonnerstag 1880. Vorbereitung zum h. Abendmahl.

O Lamm Gottes unschuldig am Stamm des Kreuzes

geschlachtet, allzeit erfunden geduldig, wiewohl du wärest ver­ achtet, all' Sünd hast du getragen, sonst müßten wir verzagen: erbarm Dich unser! gieb uns deinen Frieden, o Jesu! Amen. Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern

Joh. 17, 20—23.

auch für die, so durch ihr Wort an mich glauben werden, auf daß sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir, und ich in dir;

daß auch sie in uns eins seien, auf daß die Welt glaube, du

habest mich gesandt.

Und ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit,

die du mir gegeben hast, daß sie eins seien, gleichwie wir eins sind, ich in ihnen, und du in mir, aus daß sie vollkommen seien in eins, und die Welt erkenne, daß du mich gesandt hast.

Glaubt ihr, theure Freunde! an die Macht der Für­ bitte? glaubt ihr, daß

eine gläubig betende Menschenseele

unsichtbare Bande um den zu schlingen vermag, für den sie bittet? Von der Antwort auf diese Frage wird es abhängen, welche Macht und welche Wichtigkeit ihr dem Gebetswort

beilegt, das wir eben aus dem Munde des Herrn vernomnten haben.

Aus dem hohenpriesterlichen Gebet des Heilands sind die verlesenen Worte entnommen.

Heiliger Anblick des be­

tenden Jesus! Zum letzten Male weilt er am Vorabend seines Todes im Jüngerkreise,

das Kreuz vor Augen.

Da hebt

127 er hohepriesterlich fürbittend die Hände auf,

um die dem

Vater zu befehlen, die er ihm bewahrt hat.

Aber immer

weiter dehnt sich der Gesichtskreis der Bitte; sie bindet sich

nicht mehr an die Gegenwart, sie richtet sich auf alle,

die

noch durch ihr Wort an ihn glauben werden; eine Gemeinde, ja eine Kirche sieht er im Geist erstehen, die um den Apostel sich schaart, wir alle, jeder einzelne mit darin eingeschlossen.

Freunde! mir ist es ein tragender und bewegender Gedanke, und wie vielen unter uns ebenso — wenn ich weiß, daß ein

kindlich glaubender,

geistlich tiefer Mensch mich auf fürbit-

trägt und meinen Namen mit nennt unter

tendem Herzen

der Zahl derer,

die er in die Gnadengemeinschaft seines

Gottes befiehlt. Und der dasselbe hier thut, der es für uns alle thut, ist mein Heiland, unser aller Heiland, der dieselbe

Herrlichkeit auch uns erfleht, die er seinen Aposteln erbittet.

Darum noch

einmal, l. Fr., die Frage:

Macht der Fürbitte, glaubt

glaubt ihr an die

ihr an die Macht dieses für­

bittenden Heilandswortes? Ich setze, um dieses Glauben zu erleichtern, noch eins

hinzu.

Jede Fürbitte wird erst dann gesegnet und recht er-

hörlich sein, wenn sie zugleich verbunden ist mit der Arbeit der Liebe an dem, für den sie bittet, wenn sie so gleichsam

Gott selbst den Weg der Erhörung ebenen hilft. So sollen wir Menschen es thun; so thut es aber in einzigem Maße der

fürbittende Hohepriester Jesus. Erhöht von der Erde zieht er die Seinen zu sich; auch zur Rechten des Vaters thronend geht er denen nach, die er gewinnen will.

Wer will die unsicht­

baren Wege zählen, auf denen dieses Nachgehen und dieses

Nahekommen unaufhörlich sich vollzieht!

Denken wir heute

nur an einen: auch in jedem Abendmahle tritt er an jeden einzelnen anklopfend, bittend, werbend heran.

Jedes Abend-

128 mahl ist eine Bürgschaft auch dafür, daß seine Fürbitte mehr sei, als ein bloßes Wort, daß sie Kraft und Leben sei.

Ja jedes Abendmahl, das uns im Geiste mit ihm eint, theilt

in der That das mit, was sein Gebet für uns erfleht.

Er

lasse es auch in diesem Abendmahle, zu dem wir uns rüsten, geschehen.

Das Abendmahl, sagen wir, verbürgt uns

den Segen seiner hohepriesterlichen Fürbitte, denn es giebt, was er erbittet: eine Gemeinschaft mit dem Herrn und

eine Gemeinschaft in dem Herrn, —

durch beides die Herrlichkeit, die er seinen Jüngern gegeben hat.

Christus in uns, wir eins unter einander in Christo:

das ist der Gedanke dieser Fürbitte,

das ist auch der in­

wendige Geistessegen des Abendmahls.

1. Allerdings trägt die Bitte des Herrn

eine Schranke

in sich, eine Bedingung und Voraussetzung,

die nicht der

Herr erfüllen kann, sondern die wir erfüllen müssen:

„Ich

bitte, sagt er, nicht allein für sie, sondern für alle,

die durch ihr Wo.rt an mich glauben werden." Diesen Glauben schafft nichtGott allein ohne uns; er ist auch eine freie That des Menschen, unsre That. Als solche, die glau­

ben, sind wir nun hier.

Wer

zum Abendmahl kommt, be­

kennt ja eben damit seinen Glauben; wer nicht glaubt, kann

nicht bekennen.

Wer das gesegnete Brod isset und den ge­

segneten Kelch trinkt, der bekennt damit, zwar ohne Worte aber doch laut und öffentlich durch eine eindrucksvolle That,

daß er ein Jünger Jesu ist, für den jene Bitte mit gilt. Er

bekennt, daß er einen Erlöser braucht von seiner Sünde, daß

129 er eine Erlösung aus Gnaden nöthig hat,

um zu Gott zu

kommen, und daß diese Gnade ihm geschenkt

ist durch den

Herm Jesum Christum, dessen Tod seine Versöhnung

und die Vergebung

der Sünde giebt.

Wer etwas

ist

völlig

andres mit seinem Abendmahlsgange bekennt, der kann es

vielleicht äußerlich mit genießen, aber er feiert nicht das, wozu die Gemeinde

nungsmahl unsres

Christi zusammenkommt, das BersöhHerrn Jesu

Schon

Christi.

aus dem

Anlaß ist jedes Abendmahl eine Aufforderung zu recht ernster Selbstprüfung, ob dieses Bekenntniß uns

voller Wahrheit komme.

aus lauterer und

Nicht so, als müßten wir in voll­

kommenem Maße das haben und verstehen,

was wir be­

kennen, sondern so, daß das, was wir bekennen wollen, mit aller Aufrichtigkeit bekannt wird, daß wir,

wie Paulus es

ausdrückt, nichts andres suchen, als des Herrn Tod zu ver­

kündigen,

den Tod unsres Heilandes zu unsrer Erlösung.

Und keine Bitte mag grade darum vor dem Abendmahl uns ernster am Herzen liegen, als die: Herr schenke

uns

ein

aufrichtiges und glaubendes Herz! Dieser Ernst aber steigert sich, wenn wir nun auf die Gaben achten, die der Herr denen zudenkt, welche durch das Wort seiner Apostel gläubig geworden sind.

Denn eben

diesen Glauben der Seinen will das Gebet des Herm em­ porheben zu einer höhern Stufe, auf der er vollendet wird

— wie er es bezeichnet, zu einem geistigen Eins werden mit ihm und durch ihn mit Gott. „Ich bitte für sie, sagt er, auf daß sie alle eins

seien, gleich tote Du Vater in mir und ich

in Dir,

daß auch sie in uns eins seien," und wie er bann toeiter

hinzufügt: „Ich in ihnen, und

Du in mir."



Wir

fühlen, das ist ein tiefer und geheimnißreicher Gedanke. Es

9

130 hat der Herr sonst davon nur in Bildern geredet, wenn er die Seinen die Reben nennt, die an ihm dem Weinstock wachsen, und aus ihm Kraft, Saft und Leben ziehen sollen,

wie er unmittelbar vor unsrem Kapitel gesagt hat: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben." Apostel ähnliches in Bildern

Es sprechen auch die

aus, wenn sie den Heiland

das Haupt der Gemeinde nennen, uns seine Glieder, die in

innerem Lebensz usommenhange mit dem Haupte stehen. Hier nun redet der Herr ohne Bild von dieser tiefen, innerlichen

Einheit, in die die Seinen mit ihm treten sollen, und durch ihn mit dem Vater, einer Lebenseinheit, wie sie jenes Wort des Apostel Paulus ausdrückt: ich lebe nicht mehr, sondern

Christus in mir und was ich lebe im Fleisch, das lebe ich in dem Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebet hat.

Dieses innerliche Einswerden mit Gott, so daß Gottes Bild

zurückstrahlt aus dem glaubenden Menschen und der Mensch

verllärt ist in das Bild dessen, der ihn geschaffen hat — das ist ja das große Ziel, für das Gott die Menschheit bestimmt

hat und dem die sündige Menschheit entgegen geführt werden

soll durch die Erlösung in Christo.

Dieses Einswerden in

Christo mit Gott, das ist also die Herrlichkeit, von der der

Herr hier redet, die er den Seinen geben will und gegeben

hat.

Diese Einigung nun vollzieht sich in wachsendem Maße

auf mannigfache Weise;

sie wächst,

wo immer die Kräfte

der Erlösung wirffam sind, wo im gläubigen Aufblick zu dem gekreuzigten Christus die Sünde vergeben und die Ver­

söhnung versiegelt wird und nun voll Frieden das Herz sich

öffnet für den füllen Einfluß des göttlichen Geistes; wächst unter allen Erfahrungen und Führungen,

sie

in denen

Gottes Leiten einen Menschen berührt und ihn tiefer hinein

leitet in die Erkenntniß des Heils und die Nachfolge Jesu

131 Christi; sie wächst, wo nur in stiller Verborgenheit die Ge­ meinde sich erbaut durch den treuen Gebrauch der Gnaden-

mitttel, des Wortes und des

Sacraments.

Eben darum

wächst sie auch durch jedes Abendmahl, das wir mit gläu­ bigem Herzen feiern.

Denn,

l.

Fr.!

das

Abendmahl

ist nicht

nur ein

Bekenntniß, das wir thun; wir müßten sonst ja sagen, daß

dieses Bekenntniß ebenso gut auch auf mannigfache andre

Weise vollzogen werden könnte.

Wohl sind es heilige Sinn­

bilder, wenn wir das Brod brechen und den Kelch theilen, aber es sind Sinnbilder unsichtbarer himmlischer Gnaden

und Güter, die in Wahrheit vorhanden und uns nahe sind.

Wie Paulus cs ausdrückt: „Der gesegnete Kelch, welchen wir segnen,

ist das nicht die Gemeinschaft des Blutes

Christi? Das gesegnete Brod, das wir brechen, ist das nicht

die Gemeinschaft des Leibes Christi?" Jeder Genuß von Brod und Kelch im Sakrament — will er sagen — bringt

uns hinein in die Gemeinschaft des Leibes und Blutes des

Herrn, d. i. in die Gemeinfchaft des für uns gekreuzigten Hei­ landes selbst.

Es

hat wohl die Kirche verschieden gedacht,

— und noch heute scheiden

Lehranschauungen

sich ja in diesem Punkte die

der Kirchen — über die A r t,

wie

in Verbindung bringe.

Aber

das Abendmahl mit Christo

darin sind sie zu allen Zeiten

einig

gewesen, daß, wer

mit hungerndem und dürstenden Herzen die heiligen Zeichen des für uns gebrochenen Leibes

gossenen Blutes empfange,

und des für uns ver­

damit das

Unterpfand seines

Antheils an der Versöhnung des Herrn erhalte und so wahr­ haft und wirklich hineintrcte in Verbindung

und Gemein­

schaft mit dem im Geiste gegenwärtigen Christus und durch ihn mit Gott.

Dasselbe will jeder

Abendmahlsgang uns

132 wahrhaft und wesentlich mittheilen, was hier der scheidende Heiland für die Seinen erbittet, daß er in ihnen sei, wie der Vater in ihm, daß auch sie eines seien in der Ge-

meinschaft mit ihm und mit dem Vater. Lebensverbindung, wie sie mit dem

Dieselbe innerliche

lebendigen Herrn im

Abendmahle uns zu Theil wird, meint der Herr mit der Herrlichkeit, die er den Seinen gegeben hat, wie er sie selbst

empfangen hat vom Vater. Es hängt nun freilich der Empfang

sprechlichen und geheimnißvollen Gabe von

lichkeit ab, die einer mitbringt.

dieser unaus­

der Empfäng­

Auch ist das Einswerden,

von dem der Herr redet, ein fortschreitendes, und kann darum

nicht

auf

einmal

vollendet

werden,

gegeben

die Empfänglichkeit mitgebracht würde.

selbst

wo

Es liegt vielmehr

in der Natur der Sache, daß erst durch die immer innigere Gemeinschaft mit Christo auch die Empfänglichkeit und das

Verlangen des Menschen

vertieft und vollendet wird,

und

ganz werden beide einander erst in der Ewigkeit entsprechen.

Das

aber,

l. Fr.!

gehört

grade

zu

der

wunderbaren

Barmherzigkeit des Herrn, ja das hat jedes Mahl uns ver­

siegelt, das er einst mit Zöllnern und Sündern eingenommen

hat und nicht blos mit Pharisäern

und Gerechten

— daß

er auch der geringsten Empfänglichkeit sich nicht versagen

will,

sondern soviel ihr geben von seiner Herrlichkeit als

sie zu fassen vermag.

Wir haben einen Heiland, der auch

den Schwächsten tragen und emporheben will, der grade den am höchsten hebt, der nichts begehrt als das Loos des be­ gnadeten Schächers. Und wäre es auch nur erst die unterste

Sprosse der Himmelsleiter, auf der wir ständen, lasset uns nur

hinaufsteigen; der Herr eilt uns entgegen.

ihm kommt, den stößt er nicht hinaus.

Wer zu

Wohl aber giebt es

133 wieder keine ernstere Bitte, als die: gieb mir ein empfäng­ liches, ein hungerndes, ein aufrichtiges Herz!

2. Wenn aber so, jedem nach dem Maße seines Glaubens, der lebendige Christus selbst sich und seine Erlösung mittheilt,

so versteht es sich ja von selbst, daß die, welche so eins wer­ den mit Christo, auch dadurch in Christo untereinander eins werden müssen.

Das ist der Gedanke, der das hohepriester-

liche Gebet des Herrn von Anfang bis zu Ende durchweht:

„auf daß sie alle eins seien, gleichwie wir eins sind"

eins in uns auch untereinander. In dieser Einigkeit der Gläu­ bigen im Herrn strahlt erst vollkomlnen die Herrlichkeit wieder,

die der Herr giebt; in dieser Einigkeit des Glaubens, dieser Ge­

meinschaft

in dem unsichtbaren, erstgeborenen Bruder, der

auch die Unbekannten einander nahe bringt, und die Fremd­ linge zu Brüdern macht, soll die neue Erscheinung in die durch Selbstsucht und Sünde zerspaltene Welt hineintreten, an der

dieselbe staunend das Werk des Vaters erkennen soll. „Auf

daß die Welt glaube, betet der Herr. —

du habest mich gesandt" —

Es ist wahr, wir können daran nicht

denken, ohne daß auf das schmerzlichste uns unsre Armuth und unsre Schuld zum Bewußtsein kommt.

Wieder und

wieder tönt es von des Heilands Lippen: „auf daß sie eins

seien, eins in uns, auf daß sie vollkommen seien in eines," und — welch eine Zerrissenheit, welches Streiten

und Zanken

der Christen untereinander wohin wir blicken! Dennoch laßt uns jetzt einmal auf das sehen, was wir noch haben, nicht auf das, was uns fehlt.

In jedem unsrer Gottesdienste

wird doch etwas offenbar von dem, was der Herr meint.

134 Denn in jedem Gottesdienste schlingt sich ein heiliges un­

sichtbares Band der Gemeinschaft im Herrn um alle, die ihn mit gläubigem Herzen mitfeiern.

Diese Gemeinschaft vermag

es thatsächlich, die Gegensätze auszugleichen, die Getrennten

zu verbinden, die Verschiedenheit der Interessen zu einigen

durch das eine, gemeinsame tiefste Interesse an dem Erlöser

und seinem Heil.

Mag das uns oft nicht zum klaren Be­

wußtsein kommen: in gesteigertem Maße, als ein klar ge­

fühlter bewußter Gedanke, ja als ein vom Herrn für uns

Erbetenes und Geschenktes soll uns diese Gemeinschaft im Herrn durchdringen bei

unsern Abendmahlsgottesdiensten.

Ja noch mehr: in unsern Willen soll dies Gebet des Herrn ausgenommen werden und als ein heiliger Wille soll

es uns durchdringen: wir sind eine große Gemeinschaft im Herrn, eine Gemeinschaft durch

Christum untereinander!

Auch der Geringste wird nicht verachtet, sondern ist mit um­ schlossen von diesem heiligen Bande. Es hört auf die Frage

nach Stand und Rang, nach reich und arm, nach vornehm oder gering.

Wir stehen allzumal als Sünder vor dem

heiligen Gott, aber auch allzumal als Begnadigte vor dem

barmherzigen Heiland. Es verstummt von selbst alles Richten und Verachten — oder wen willst du denn ausschließen, den dein Heiland aufnimmt?

über wen willst du dich erhaben

dünken an Würde und Höhe, an

christlicher Einsicht und

Gnade, dem dein Erlöser sich nicht versagt? Und wo nun die eine Seelenspeise wirklich alle erquickt und der eine

Lebensstrom, der von dem lebendigen Christus ausgeht, wahr­

haft alle berührt, da sollte eine solche Bereinigung mit dem Herrn nicht auch alle, die an ihr Theil haben, zusammenschließen

zu einer großen Gemeinschaft der Liebe, die stärker ist als die socialen Schranken und Borurtheile? Laß dir sagen, worin

135 du es zunächst erfahren sollst.

Es giebt keinen in sich wider­

sprechenderen Gedanken, als daß zwei Feinde mit einander zum Abendmahl gehen; wenn sie hier sich treffen, hören sie auf Feinde zu sein

und lernen einander vergeben, wie sie

selbst nach der Vergebung des Herrn die Hände ausstrccken. laß

in der vergebenden Liebe

sich das Einswerdcn offenbaren.

Und wenn der, an den du

So lerne auch du thun,

dabei denkst, nicht hier ist, wenn es dir vielleicht unmöglich

war ihn zu versöhnen,

wie du es wolltest



möglich ist,

daß du kommest fürbittend auch für ihn, daß du einst noch mit ihm am Altare stehen mögest eins im Herrn. — Familien

kommen in diesen Tagen zum Tische des Herrn, Herren und Diener treten an einen Altar, Reiche und Arme nahen sich

dem Heilande der Sünder -- wie viel Verhältnisse, die ge­ weiht und verklärt werden sollen zu einer Gemeins chaft heiliger Liebe im Herrn; wie viel aber auch, das dann abzubitten,

auszugleichen, wieder gut zu machen ist, damit am Abend­ mahlstisch nun eine neue Gemeinschaft im Herrn sich gründe.

Wohlan, hast du den Gliedern deines Hauses abgebeten, was du konntest? Willst du von nun an auch den wunderlichen Herrn in Demuth und Geduld

bisher dem gütigen dienen?

ertragen und treuer als

Willst du nicht vergessen, daß

die Genossen deines Hauses auch Mitgenossen des Heils und des Himmelreichs sind? Willst du der Armen gedenken, die der reiche Herr durch dich versorgen lassen will? Willst du

ergebener und gebeugter unter Gottes Hand dein Kreuz von

nun an tragen, auch das Kreuz

ohne Bitterkeit auf dich

nehmen, das menschliche Sünde dir bereitet? Liebe Freunde! Bon dem Ernst, mit dem wir diese Fragen uns stellen und beantworten, hängt der Segen ab, den wir von diesem Abend­

mahle mitnehmen werden, hängt die Herrlichkeit ab, die der

136 Herr uns geben will, hängt die Gemeinschaft im Herrn ab,

die wir unter einander haben sollen.

Merken wir: nur den

Bußfertigen giebt er feine Gaben. Nur die, welche das Herz

ihm öffnen,

machen seine Fürbitte erhörlich.

Wollen wir

von unsrem Altar hinweggehen, das Antlitz leuchtend von der

Herrlichkeit des Herrn, wie das des Moses, da er mit Gott geredet hatte, mit dem wir eins werden sollen in seinem

Sacrament, so laßt uns heute demüthig unsre Schuld be­

kennen und aufrichtig von allem uns scheiden, was seine Gemeinschaft hindert.

Wie viele Tausende sammeln sich in

diesen Tagen um den gekreuzigten Herrn, um seine Heils­

gaben zu empfangen. tende Gnade.

Ueber ihnen allen waltet seine fürbit­

Wir glauben an ihre Kraft auch für uns;

wir harren auf den Segen der von ihr ausgeht; wir flehen, daß an uns sich sein Gebet erfülle, auf daß wir alle eines

seien in ihm, wie er mit dem Vater; wir erbitten es auch

für diese Abendmahlsfeier! Der barmherzige Hohepriester aber erfülle seine Zusage und speise uns mit seinem Heil! Amen.

XII. Charfteitag 1878.

Das Wort vom Kreuz. 1 Corinther 1, 21—25.

Denn dieweil die Welt durch

ihre

Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch thörichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben. Sinte­

mal die Juden Zeichen fordern,

und die Griechen nach Weisheit

fragen. Wir aber predigen den gekreuzigten Christum, den Juden ein Aergerniß und den Griechen eine Thorheit, denen aber, die

berufen sind, beiden, Juden und Griechen, predigen wir Christum, göttliche Kraft und göttliche Weisheit. Denn die göttliche Thorheit

ist weiser, denn die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, denn die Menschen sind.

Theure Charfreitags-Gemeindc! Zur Feier des Herrn

sind wir beisammen; unter das Kreuz des sterbenden Hei­ lands hat uns soeben unser Passionslied versetzt; den Tod des Herrn wollen Hunderte unter uns heute im Sakrament

des Altars verkündigen.

So darf auch die Predigt keinen

andern Standort haben als unter dem Kreuze auf Golgatha

und kein anderes Thema anschlagen als was Paulus an die Corinther schrieb: „ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas

wüßte unter

euch, ohne allein Jesum Christum den Ge­

kreuzigten." Wunderbarer Mittelpunkt der Charfreitagsandacht, der

gekreuzigte Christus! Ein Gekreuzigter, von seiner Obrigkeit verurtheilt, von seinem Volk verworfen, von seinen Jüngern

138 verlassen, wird der Mittelpunkt, um den sich Tausende und Tausende schaaren, den Millionen mit immer neuer Liebe preisen: „sei mir tausendmal gegrüßet,

der mich je und je

geliebt", den Millionen in Demuth bitten: „Ich will

hier

bei Dir stehen, verachte mich doch nicht." Ein Gekreuzigter,

der anstatt des beanspruchten Königthums nur zum Hohne die Dornenkrone,

anstatt des

Huldigungsrufes

nur

das

„Kreuzige" findet, wird der Weltheiland, in dessen Namen

allen Völkern das Heil verkündet wird. Ein Gekreuzigter, der stirbt, gehaßt wie kein anderer Mensch, theilt von da an die ganze Menschheit in Liebe und Haß und wird in dieser Mensch­

heit wie nie ein Mensch geliebt, so daß, um das bekannte

Wort eines großen Eroberers anzuführen, wunderbar genug,

noch heute Unzählige bereit sein würden, für ihn zu sterben.

Ein Gekreuzigter endlich, den Juden einst ein Aergerniß und den Griechen eine Thorheit, noch heute von den einen ver­

folgt, von den andern verspottet, er ist zugleich der Mittel­ punkt aller der Gotteskraft und Gottesweisheit, in der an­ betend jede Charfreitagsgemeinde ausruht.

Das alles, th.

Gem., sind Gegensätze, die vor Augen liegen, sind That­

sachen, die man erklären muß.

Woher, so fragen wir, diese

Macht, die die Predigt von dem Gekreuzigten, das Wort

vom Kreuz über die Gemüther ausübt? Woher dieser Zauber,

der in dieser Gestalt des Gekreuzigten liegt, sei es die Men­ schen abzustoßen, sei es sie anzuziehen? Woher diese unglaub­

liche Thatsache, daß das Kreuz Christi zum Scheide- und Mittelpunkt der Weltgeschichte geworden ist, und noch immer

der Scheide- und Mittelpunkt

jeder Seelengeschichte wird

und werden soll? Laßt die Fragen ihre Antwort finden in dem Worte des Paulus, in der Charfreitagsandacht, für die

es uns Anleitung geben soll:

„Wir aber predigen den ge-

139 kreuzigten

Christum, den Juden ein

Aergerniß und

den

Griechen eine Thorheit, denen aber, die berufen sind, beiden,

Juden und Griechen,

predigen wir Christum, göttliche

Kraft und göttliche Weisheit." Das Wort vom Kreuz

wollen wir reden und hören; wir wollen anbeten: die

Gottesweisheit,

die

in

der

Thorheit

des

Kreuzes verborgen liegt, dieGotteskraft, die in derSchwachheit desKrenze s

sich offenbart. Gekreuzigter, laß mir Dein Kreuze

je länger desto lieber sein!

Amen.

1.

Laßt uns, mit einem scheinbar äußerlichen Hinweis beginnen.

In Corinth hat Paulus

gepredigt, der Stadt,

in der damals mehr als in irgend einer anderen der ganze

Reichthum hellenischen Lebens fluthete. Gesättigt mit Kunst

und Wissenschaft, übersättigt mit Genuß und Ueppigkeit jeder Art, ist sie nur um so mehr abgewandt allen höheren und

ewigen Interessen, es sei denn, daß dieselben in neuer geist­ reicher Art, in glänzender fesselnder Weise vorgetragen, noch einmal die verwöhnten Geister anzuziehen vermöchten. Wenn

irgendwo, sollten wir meinen,

müßte darum hier mit der

ganzen Macht glänzender Rede das Evangelium verkündet und seine gewinnendsten Seiten hervorgekehrt werden. wissen auch, wenn einer dazu im Stande war, so war

Wir es

Paulus, der an Schärfe des Geistes und Macht des Ge­

dankens jenen Philosophen von Corinth mehr als ebenbürtig gegenüber stand.

Und statt dessen — beginnt er mit dem.

140 was am allerschärfsten dem natürlichen Menschen widerspricht: er scheint der Ansicht zu sein, daß seine Predigt vielmehr

siegen und überwinden wird durch das, wodurch sie bei dem Menschen Anstoß erregt.

„Wir aber predigen", sagt er,

„den gekreuzigten Christus, den Juden ein Aerger­

niß und den Griechen eine Thorheit, denen aber, die berufen sind, beiden,Juden und Griechen, pre­

digen wir Christum, göttliche Kraft und göttliche

Weisheit." Wir müssen

zunächst sagen, wer so redet, der muß

aufs tiefste durchdrungen sein von der Macht seines Wortes; er hat viel Größeres für dasselbe einzusetzen als glänzende

Beweise, er setzt sich selbst ein; er vermag mehr als zu über­ reden, er überzeugt.

Nach Weisheit fragen die Griechen

und Paulus — bietet ihnen die „Thorheit des Kreuzes!" Nicht darin etwa lag die Thorheit, daß er einen Ge­

kreuzigten ihnen predigte;

den hätten sie ja immerhin ein­

reihen können in die Zahl ihrer Weisen; auch ihr Sokrates hatte den Giftbecher getrunken. Aber Paulus predigte diesen Gekreuzigten als den Heiland der Welt; er predigte in diesem

Gekreuzigten, seinem Leben wie seinem Sterben eine Offen­

barung des lebendigen Gottes zur Erlösung und Versöhnung der Welt.

Mit dem geringsten, ja wunderlichsten Mittel

von der Welt wollte er das Unerhörteste und Unglaublichste erreichen, Erlösung

und

Versöhnung

ligwerden derer, die daran glaubten.

der

Welt,

Da hörte

ein Se­

für

den

Griechen der Verstand auf und da fing für ihn die Thor­

heit an.

Und nicht für ihn allein,

— denn Paulus hat

hier nicht Völker vor Augen, die porübergehen, sondern Ge­

sinnungen, die zu allen

Zeiten dieselben sind.

Griechen von heute, und sie sagen:

Fragt die

Nennt diesen Christus

141 einen gekreuzigten Weltweisen, und wir geben ihm einen Platz über allen andern, die auf Erden glänzten; nennt ihn den

gekreuzigten Welterlöser und das Wort vom Kreuz die Pre­ digt zur Seligkeit, und ihr muthet uns eine Thorheit zu, die nicht zu verstehen ist.

Paulus

aber hat keine andre

Antwort für sie als jenes unendlich großartige Wort voll

heiliger Ironie: „weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es

Gott wohl, durch thörichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben." Und mit ihm beten wir in der

Thorheit dieser Predigt an die verborgene Weisheit Gottes;

ja, welch eine Tiefe des Reichthums, beides der Weisheit und Erkenntniß, die in dem Kreuze Christi verborgen liegt!

Worin liegt nun diese Weisheit?

Wir müssen um sie

zu zeigen zunächst scheinbar die Thorheit verschärfen, die in

der Predigt vom Kreuz liegt; denn das Wort vom Kreuz legt allenthalben zuerst seinen Finger auf eines, das dem

natürlichen Menschen am unangenehmsten ist und am meisten thöricht zu.sein scheint, auf die Thatsache der menschlichen

Sünde.

Nicht an das Wissen und den Verstand des Men­

schen wendet es sich, sondern an sein Gewissen und an sein

Herz; nicht von des Menschen Größe redet es, um ihn zu

erheben, sondern von des Menschen Elend zeugt es, um ihn zu demüthigen. Ja nicht blos, daß da und dort die Sünde

heraustrete bei etlichen Verlorenen unsres Geschlechts; es sagt von den Weisen wie von den Thoren, von den Griechen

wie von den Barbaren, von dem hochgebildeten Philosophen wie von dem letzten Sklaven: sie sind vor Gott allzumal verlorene, verworfene,

verdammte

Sünder.

Wunderlicher

Gedanke, daß ein rechtschaffener aufgeklärter gebildeter Mensch vor Gott ein verlorener, verdammter Sünder sei, so haben

142 sie damals gedacht, so denken sie heute!

Aber das Wort

vom Kreuz stellt nicht nur eine Behauptung auf,

iiberzeugen, und darum nimmt es leugnet,

es will

den, der diese Sünde

an der Hand und fuhrt ihn still und ernst unter

das Kreuz Jesu Christi; es zeigt ihm dieses Kreuz als das furchtbarste Denkmal menschlicher Schuld, an dem mit

unvertilgbarer Welt sei.

Schrift geschrieben

steht, wie sündig diese

Als jener griechische Philosoph Plato das merk­

würdige Wort sprach, wenn der vollkommen Gerechte einmal

erscheinen würde,

er glaube, diese Welt würde ihn geißeln

und nehmen und an das Kreuz schlagen,

den Stumpfsinn der großen Masse,

da dachte er an

die keine Ahnung habe

von der Seelengröße eines Weisen. Das Kreuz Christi aber

verkündet nicht nur den Stumpfsinn, sondern die der Welt.

Hier

sind es

Wächter des Rechtes

Sünde

thatsächlich die Gebildeten, die

und des Heiligthums, die nicht nur

einen Weisen, die den Heiligen Gottes verwerfen und an das Kreuz nageln.

Von den rohen Kriegsknechten an, die

unter dem Seufzen des Gemarterten Würfel spiesen, bis hin

zu Kaiphas, der dem Heiligen ins Angesicht lästert,

ver­

kündet das Kreuz des Herrn in jeder denkbaren Abstufung die

furchtbare Thatsache

menschlicher Sünde.

Gestalten aber sind nicht nur zufällige,

Alle diese

geschichtliche, sie

sind bleibende Typen, in denen wir alle uns wiederfin­ den. Das Kreuz Christi ist das Denkmal, das die Natur des

Menschenherzens uns aufdeckt, wie wir alle es in uns tragen:

auch deine Gleichgültigkeit gegen das Heilige, auch deinen inneren Widerwillen gegen den Ernst göttlicher Gebote, auch

deine verborgene Feindschaft gegen die Forderung gründlicher

Bekehrung.

Und daß das Kreuz Christi diese Macht und

Tiefe menschlicher Sünde und Schuld, daß der vollkommen

143 Reine mich die vollkommene Unreinigkeit zur Erscheinung

bringt, daß dieses Hinschlachten des Heiligen der Welt zeigt,

wie groß

ihr Verderben sei,

Weisheit Gottes,

die in



seht da den Anfang der

der Thorheit des

Kreuzes ver­

borgen ist.

Den Anfang der Weisheit, sage ich; denn allerdings

das ist die Weisheit, die der Arzt hat, wenn er zuerst dem Kranken zeigt, wie krank er eigentlich sei;

o wunderliche

Menschen, die diese Krankheit leugnen, nur weil es ihnen unbequem ist, sie einzugestehen! Thoren, die lieber eine That­

sache bestreiten, unter deren furchtbarem Drucke sie täglich seufzen, nur weil diese Thatsache

für sie eine demüthigende

ist. Und doch, liebe Freunde! — leugnet sie hundertmal, ich sage dennoch, ihr kennt sie. Immer hat die Menschheit diese

Krankheit gefühlt.

Auch jene heitern lebenslustigen Griechen,

die so gerne sich alle Schmerzen des Lebens verhüllten mit

dem Zauber ihrer Kunst,

haben den Zwiespalt des eignen

Herzens und den Druck der Schuld gefühlt und in erschüt­

ternden Klagen davon gezeugt.

Unendlich viel tiefer aber

wird dieser schmerzliche Zwiespalt heute empfunden — der

schmerzliche Zwiespalt nämlich zwischen einem besseren Wollen und einem schlechteren Können und Thun, das schmerzliche Fragen des Gewissens nach einem Frieden innerer Versöhnung,

wie ihn die Welt nicht kennt, das schmerzliche Ringen der

Seele nach der Gewißheit, daß die Welt dem Guten gehöre und nicht dem Bösen.

Wie viel von der unsteten Unruhe,

die die Menschen von heute beherrscht, mag im Grunde nur

darin liegen, daß sie keinen versöhnten Gott haben und keine Gewißheit über die Vergebung der Sünden.

Verhehle dir

darum nicht selbst die Wunden, an denen sich deine Seele

verblutet; gehe in dein eignes Herz und lerne sein tiefstes

144 Bedürfniß verstehen, sein Seufzen um Erlösung von der Last der Schuld. Dann aber schaue auf zum Kreuze Christi

und siehe da die Weisheit Gottes.

Sie zeigt die Sünde,

aber sie will sie heilen, sie deckt ihre furchtbarste Macht auf,

aber um sie zu brechen.

Was die Sünde der Menschheit

vollbracht hat, das verwandelt Gottes Weisheit in eine Er­ lösung von der Sünde, in den Erweis unergründlichen Er­ barmens; während die Menschheit den Herrn an das Kreuz

schlägt, der allein in reiner Liebe ihre ganze Schuld fühlt, giebt Gott ihn hin als das vollkommeneOpfer, das der

Welt Sünde trägt und hinwegnimmt.

Und während die

Welt sich selbst richtet in ihrer Weisheit, indem sie den Herrn der Herrlichkeit verwirft,

richtet Gottes Erbarmen in der

Thorheit des Kreuzes Christi eine neue Weisheit auf zur Ver­

söhnung und zur Bergebung der Sünden. Das tiefste Wort, das kein Mensch aus sich selbst und aus dem eignen Er­ kennen genommen hat, das hat Johannes unter dem Kreuze ge­

lernt und uns hinterlassen: „Gott istdie Liebe", die heilige Liebe, die zu gleicher Zeit Sünder und Sünde richtet und

Sünder rettet und annimmt.

Das ist die Weisheit Gottes,

die in der Thorheit des Kreuzes liegt; während die Systeme menschlicher Weisheit wechseln, bleibt dies System göttlicher

Weisheit, dasselbe, wie die Sonne am Himmel heute und alle Zeit, und zu jeder Zeit giebt es nach Frieden durstende, erlösungsbedürftige Menschen, die zu ihm kommen und in dieser Thorheit die Weisheit der Vollkommenen finden. Wäh­ rend die Systeme menschlichen Denkens immer nur etlichen

wenigen zugänglich sind, um die andern ihrem Irrwege zu

überlassen, zeigt diese Gottesweisheit sich darin als die voll­ kommene, daß sie allen Bildungsstufen gleicherweise verständ­

lich ist und ebenso gut vom Kinde ahnend erfaßt wird, wie

145

In der Weisheit ruhen wir

sie den Denker nicht losläßt.

anbetend aus unter dem Kreuz und wollen uns der Bitte nicht schämen: du treuer Heiland, laß uns in solcher Thor­

heit finden göttliche Weisheit, den Frieden deines Kreuzes

und die Versöhnung mit Gott; laß uns aber auch die heilige Gottcskraft erproben, die unsre Seele erneut und hinaufhebt zu dir.

2. Als eine Gotteskraft soll das Wort vom Kreuz sich

erproben, die in der Schwachheit sich offenbart. Zeichen haben die Juden gefordert als Proben seiner Kraft: Legionen

von Engeln etwa, die Himmel und Erde bewegen, eine irdische Reichsherrlichkeit, die ein äußeres Gottesreich aufrichtet. Und

als sie deren keines finden, als alle irdische Erwartung viel­ mehr untergeht in dem Schandzeichen des Kreuzes, da ver­

kehrt sich ihr Hoffen in Verfolgung, ihre Sehnsucht in Aer­ gerniß, und noch heute gehen Tausende ihnen nach denselben Weg. Sie fordern die Zeichen der Gotteskraft, die von

dem Gekreuzigten ausgehen, daß Glaube und Frömmigkeit nun auch belohnt werden mit irdischem Glück, daß das Wort

vom Kreuz nun auch äußerlich siege und überwinde. Und weil

es keine andern Zeichen giebt, als die in der Schwachheit des Kreuzes sich offenbaren und keine andre Kraft vom Kreuze ausgeht, als die in der Schwachheit mächtig ist, so bleibt

noch heute dasselbe Aergerniß und derselbe Haß. Aber den­

noch,

th. Fr.! ist das

Wort vom Kreuz eine Gottes­

kraft denen, die berufen sind, und die diesen Ruf haben

hineinllingen lassen in ein demüthig gewordenes, nach Frieden und Versöhnung durstendes Herz.

Seit dem Augenblicke,

wo ein Nicodemus, ergriffen von der Schönheit des Hauptes

10

146 voll Blut und Wunden,

wo ein Joseph von Arimathia,

erfaßt von der Herrlichkeit des Dorngekrönten, aus einem verborgenen Anhänger des Propheten

von Nazareth zum

offenen Jünger des gekreuzigten Christus wird, — von dem

Augenblicke an geht diese Gotteskrast von dem gekreuzigten

Christus aus durch alle Jahrhunderte hindurch.

Ja, was

diese ganze alte Welt mit ihrer Herrlichkeit, mit ihrer Bil­ dung und mit

ihrem Glanze, in etlichen Jahrhunderten

überwunden hat, stärker als all ihr Spott, stärker als alle

ihre Martern, das war die neue Kraft, die von dem Gekreu­ zigten ausging.

Das Bild des Gekreuzigten, das nach drei

Jahrhunderten in den Tempeln aufgerichtet wird an Stelle der alten Götter-Herrlichkeit, es wird das erhabenste Sinn­ bild der Gotteskraft, die in der Schwachheit des Kreuzes

sich offenbart.

Wäre diese Kraft nicht mehr vorhanden, —

diese Charfreitagsgemeinde hätte sich nicht versammelt, Charfreitags-Kirchen

unsre

würden veröden, unsre Charfreitags-

lieder nicht mehr ihren Zauber ausüben.

Es gäbe keine

Menschen mehr, die auf die Losung leben und sterben: „in meines Herzens Grunde Dein Nam' und Kreuz allein funkelt

all' Zeit und Stunde"! — Wollen wir aber theure Freunde, diese Kraft sehen, wollen wir sie erleben und erfahren, wohlan,

so laßt uns hinabsteigen in den Grund des eignen Herzens; da entfaltet sie

ihre Macht; da erweckt sie neues Leben.

Einen dreifachen Strom göttlicher Kraft laßt mich heraus­ heben, der von der Schwachheit des Kreuzes aus sich in die

gläubigen Menschenherzen ergießt, der auch in uns Kräfte eines neuen Lebens wecken soll.

Zuerst —

welches ist der tiefste und mächtigste Be­

weggrund deines Lebens, der tiefste und mächtigste Hebel

in dem Thun des natürlichen Menschen?

Jeder Menschen-

147 seltner muß antworten, es ist die Selbstsucht, die Liebe zum eignen Ich.

Und dennoch,

hier giebt es eine Kraft, die

stärker ist als dieser mächtigste Hebel, die diesen in sich selbst

verliebten und selbstsüchtigen Menschen aus sich heraus zu

heben und ihn zu

füllen vermag mit der Kraft heiliger

selbstverleugnender Liebe,

Kreuze lernt.

— die Liebe, die sich unter dem

Vollkommene Liebe wird erweckt durch voll­

kommene Liebe, die man empfängt.

Mancher unter uns

hat Gottes Liebe erkannt und gepriesen

in dem Geschicke

seines Hauses, in den freundlichen Führungen seines Lebens:

aber vollkommene Liebe hat er nicht darin gefunden, und er

konnte sie nicht finden, denn

es war noch

nicht die voll­

kommene Liebe Gottes, die er geschaut hat. Nun aber tritt hin unter das Kreuz;

aus der

tiefsten Verhüllung

der

Schmerzen und der Schande sieh am hellsten erstrahlen die

Macht der Liebe, die für die Mörder bittet und liebend bis an das Ende sich in den Tod giebt;

sieh an in der

Liebe des gekreuzigten Heilandes die Liebe Gottes, die des eignen Sohnes nicht schont und in Christo sich selbst giebt;

und dann lerne vor dieser gekreuzigten Liebe dem Johannes es nachstammeln:

zuerst geliebet."

„Lasset uns ihn lieben, denn er hat uns So lehrt das Kreuz lieben.

Es lehrt

den Herrn lieben. Aber die Liebe zu Christo, die vom Kreuz aus das Herz uns bewegt, wird sofort eine heilige bewewegende

Kraft der Bruderliebe.

Man liebt Christus nur

in den Brüdern; in dem Geringsten unter ihnen tritt er selbst uns entgegen. Liebe.

Aber als der Gekreuzigte lehrt er eine neue

Wie er das Leben gelassen

das Leben für die Brüder lassen.

hat, so sollen auch wir

Wer freudig im Aufblick

zu der gekreuzigten Liebe sich erwählt, was dem natürlichen Menschen das Schwerste dünkt, die demüthige Hingabe, die

148 in täglicher Geduld Sünden verzieht, wie sie selbst Vergegebung braucht, die in tragender Liebe auch mit dem Un­

liebenswürdigen auskommt, die im Dienen ihr heiliges Vor­ recht und das Kennzeichen der Nachfolge Christi hat, ja die so in täglichem Opfern des eignen Ich mit feiner Bequem­

lichkeit, seiner Genußsucht, seiner Selbstsucht das Leben für die Brüder lässet, um sie dem Herrn zuzuführen, der auch für sie am Kreuze starb, der vergilt mit dem allem die Liebe

des Herrn, der ihn zuerst geliebt. In diesem Strom heiliger Liebe aber, der am Kreuze des Herrn entspringt, welch' eine

Kraft, die sich in der Schwachheit offenbart! Und hier seht einen zweiten Strom göttlicher Kraft,

der vom Kreuz ausgegangen ist. Unter jeder Kanzel giebt es leidende Menschen, in jeden unsrer Gottesdienste kommen solche, die ein Trostwort

haben möchten und neue Kraft, um ihr Kreuz geduldig zu tragen. Tritt denn hin zum Kreuz des Herrn! Nichts zeigt

den Menschen mehr in seiner Ohnmacht als seine Unfähig­ keit zu leiden. Denn das Leiden hat ja für den natürlichen Menschen keinen rechten Sinn, es ist ihm nur Lebenshinderniß

und darum Verlust und Untergang. Aber tretet zum Kreuz; der am Kreuze hängt, fragt euch, ob ein Schmerz sei wie

sein Schmerz, leidend

und dennoch leidet er nach Gottes Willen;

grade erfüllt er den

arbeitet er,

erhabensten Beruf,

leidend

um die große Menge zur Beute zu gewinnen,

leidend erlöst er die Welt.

Von ihm lernet euer Kreuz in

heiliger Geduld auf euch zu nehmen nicht als ein Gewicht, das euch zerbrechen soll,

nicht als ein göttliches Strafge­

richt, sondern als ein heiliges Erziehungsmittel, das euch

helfen will unter dem Druck des zeitlichen Lebens das ewige zu finden.

Leidend nach Gottes Willen laßt euch das Bild

149 des leidenden

geduldigen Herrn in die Seele prägen.

In

eurem Kreuz schaut auf zu seinem Kreuz und unerschöpflich geht neue Kraft des geduldigen Leidens, geht neue Erfah­ rung der Gotteskraft von ihm aus, die in der Schwachheit

auch unseres Kreuzes sich offenbart.

Und endlich ein drittes: das Kreuz lehrt lieben und leiden, das Kreuz lehrt auch sterben.

Wir brauchen einen, der uns

lieben lehrt und leiden, wir könnens nicht anders; wir brauchen aber auch einen, der uns einmal „die Hand unter den Kops und das kann, wie der alte

legt, wenn wir sterben sollen";

Claudius es ausdrückt, unser Herr Jesus Christus überschwäng­ lich, und wir hätten keinen, von dem wir es lieber hätten; denn er ist eine heilige Gestalt,

die dem armen Pilger aufgeht

wie ein Stern in der Nacht.

Wo alle Mcnschenkraft zer­

bricht und aller Menschenglanz

Nacht des Todes;

des Kreuzes;

erlischt in der dunkelsten

da strahlt am vollendetsten die Macht

es theilt Leben mit auch im Tod.

Wer den

gekreuzigten Herrn fand als seinen Herrn, der hat das Leben

Wem Christus das Leben

auch wenn er stirbt.

ist und

das Leben im Leben ausmacht, dem wird auch das Sterben Gewinn.

Er

darf,

seines Heiles gewiß, mit dem Herrn

seine Seele betend befehlen in des Vaters Hände und gläu­

big fortfahren: denn Du hast mich erlöset, Herr, Du treuer Heiland.

Er stirbt dem Herrn, der „kann durch des Todes

Thüren träumend führen und macht uns auf einmal frei." Liebe Freunde! wir wollen uns hüten zu übertreiben; es

bleibt dabei, daß der Tod der letzte Feind ist.

Wir wissen

wohl, daß ein starker Glaube und eine ganze Hingabe dazu

gehört, um auch mit dem brechenden Auge die heilige Ge­

stalt des gekreuzigten

Erlösers festzuhalten.

nur flehen zu seiner Erbarmung:

„wenn ich

Wir können einmal soll

150 scheiden,

so scheide nicht von mir."

Aber dennoch steht es

uns fest: selig sind die Todten, die in ihm sterben von nun an, und selig tausend mal tausend, die an seinem Kreuz die Kunst seligen Sterbens gelernt haben.

Augenblick noch einmal des

Ich denke in diesem

theuren Mannes,

der von

dieser Kanzel so oft das Wort vom Kreuz gepredigt,

der uns allen von

seinem Sterbelager das

und

Wort gesandt

hat: „Sagt ihnen, daß meine Hoffnung allein steht auf den

barmherzigen Heiland." Theure Charfreitagsgemeinde! Wo solche Kraft erlebt

wird, da wird immer wieder das Bekenntniß

des Apostels

laut, mit dem wir begannen: So ich halte mich nicht dafür,

daß ich etwas wüßte, denn allein Jesum Christum und ihn als den Gekreuzigten.

Der Streit der Meinungen wird

fortdauern; den einen wird er ein Aergerniß sein, den andern eine Thorheit; nie aber wird auch fehlen die stille, heilige

Gemeinde, die unter seinem Kreuze anbetend sich sammelt,

die gläubig sich immer wieder versenkt in die Tiefen des Heils und der Gnade, die sich dort ihr erschließen; die ihn nicht nur preisen, nein täglich erfahren und erleben lernt als gött­

liche Kraft und göttliche Weisheit.

Berufen zu dieser Ge­

meinde sind wir alle; aufs neue ergeht der Ruf der Gnade in dieser Stunde an uns. Laßt uns ihm folgen, damit auch

uns das Wort vom Kreuz die Kraft werde,

macht. Amen.

die uns selig

XIII.

2. Ostertag 1880. Der Gott des Friedens, der von den Todten ausge­

führt hat den großen Hirten der Schafe, unsern Herrn Jesum Christum, der mache uns fertig zu thun Seinen Willen und schaffe in uns, was ihm gefällig ist durch Jesum Christum, welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. Lucas 24, 13—35.

Und siehe, zwei aus ihnen gingen an dem­

selben Tage in einen Flecken, der war von Jerusalem sechzig Feld­ weges weit, deß Name heißt Emmaus.

ander von allen

redeten,

diesen Geschichten.

Und sie redeten mit ein­

Und es geschah,

da sie so

und befragten sich mit einander, nahete Jesus zu ihnen,

und wandelte mit ihnen.

sie ihn nicht kannten.

Aber ihre Augen wurden gehalten, daß

Er sprach aber zu ihnen: Was sind das

für Reden, die ihr zwischen euch handelt unterweges und seid traurig? Da antwortete einer mit Namen Cleophas,

Bist du allein unter

und sprach zu ihm:

den Fremdlingen zu Jerusalem,

der nicht

wisse, was in diesen Tagen darinnen geschehen ist? Und er sprach

zu ihnen: Welches? Sie aber sprachen zu ihm: Das von Jesu von Nazareth, welcher war ein Prophet, mttchtig von Thaten und Worten, vor Gott und allem Volk; wie ihn unsere Hohenpriester und Obersten

überantwortet haben zur Berdammniß des Todes, und gekreuziget. Wir aber hofften er sollte Israel erlösen. Und über das Alles ist

heute der dritte Tag,

daß solches geschehen ist.

Auch haben uns

erschreckt etliche Weiber der Unsern; die sind frühe bei dem Grabe

gewesen, haben seinen Leib nicht gefunden, kommen, und sagen, sie haben ein Gesicht der Engel gesehen, welche sagen, er lebe.

Und

152 Etliche unter uns gingen hin zum Grabe und fanden es also, wie die Weiber sagten; aber ihn fanden sie nicht. Und er sprach zu ihnen: O ihr Thoren und träges Herzens, zu glauben allem dem, das die Propheten geredet haben; mußte nicht Christus solches

leiden, und zu seiner Herrlichkeit eingehen? Und fing an von Mose und allen Propheten, und legte ihnen alle Schriften aus, die von ihm gesagt waren. Und sie kamen nahe zum Flecken, da sie hin­

gingen; und er stellte sich, als wollte er weiter gehen. Und sie nöthigten ihn, und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend

werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein bei ihnen zu bleiben. Und es geschah, da er mit ihnen zu Tische saß,

nahm er das Brod, dankte, brach es und gab es ihnen. Da wurden ihre Augen geöffnet, und erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen. Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz

in uns, da er mit uns redete auf dem Wege, als er uns die Schrift öffnete? Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten wieder gen Jerusalem, und sanden die Elfe versammelt, und die bei ihnen waren, welche sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auf­ erstanden, und Simon erschienen. Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war, und wie er von ihnen erkannt wäre

an dem, da er das Brod brach.

Theure Gemeinde! Eine reiche Festzeit liegt hinter uns.

Unsre gefüllten Festkirchen, die Schaaren von Feiern­

den, die um den Tisch unsres Herrn sich versammelten, haben

es uns inne werden lassen, daß der Herr noch sein Volk auf

Erden hat! Eine Frage aber legt dieser letzte Festgottesdienst uns nahe : was nehmen wir aus dieser Festzeit mit hinweg?

sind diese Gottesdienste der letzten

Wochen uns nur ein

vorübergehender Genuß, diese Abendmahlsfeiern

nur eine

schnell wieder vorübergehende Erhebung gewesen, oder hat

beides, Gottesdienst und Abendmahl sich uns gestaltet zu einer neuen Lebenskraft, einem neuen Lebensantrieb, der uns bleibt und uns heiligt? In der Beantwortung dieser Fragen, meine ich, liegt die Aufgabe des heutigen Gottesdienstes.

153 Er soll alle die Töne, die an diesen Wochen angeschlagen

worden sind, noch einmal sammeln in einen starken heiligen Klang, der uns nachhallen und als stiller Festsegen uns be­

gleiten soll. Er soll alle die Eindrücke von Palmsonntag und

Gründonnerstag, von Charfreitag und Ostern zu einer beleben­ den Kraft gestalten helfen, die wir mit uns nehmen.

Zu

dem Zweck hält er uns die Geschichte der Jünger von Emmaus

vor.

des

Sie ist eine von den wunderbar zarten Erzählungen

neuen Testaments,

bei

denen

der

äußere Vorgang

fast nur die durchsichtige Hülle für ein inneres Erlebniß zu sein scheint, wie es zu allen Zeiten sich wiederholt.

diesem letzteren liegt ihr eigentlicher Kern.

geschichte

der

emmauntischen

Jünger

In

Die Glaubens­

wird

ein Spiegel­

bild für die Seelengeschichte unzähliger Menschen auch unter

uns.

In tieferem,

geistigeren Sinne als damals

uns die Bitte der Jünger in den Mund:

denn es will Abend werden."

legt sie

„bleibe bei uns,

In tieferem und geistigeren

Sinne lasse der große Osterfürst an uns sich wiederholen, was der Evangelist erzählt: „und er ging hinein bei ihnen

zu bleiben."

Wir betrachten

die Glaubensgeschichte der Jünger von Emmaus als ein Spiegelbild unsrer Seelengeschichte —

der Gang der Erzählung weist unsrer Predigt den Weg. Du aber o Herr, Bleib, ach bleib in unsrer Mitten,

Wie Dich Deine Jünger bitten; Bis Du uns getröstet hast

Bleibe, bleibe, theurer Gast! Amen.

154 1. Es ist der Abend des Ostertags.

Aus dem volkreichen

Gewühl der Hauptstadt und den furchtbaren Aufregungen

der letzten Tage haben zwei Jünger sich hinausgerettet. Wenn nach schwerem Erleben ein Mensch in die Stille geht, dann findet er wohl sich selbst wieder und damit Trost und Licht.

Den beiden Jüngern

hier geht es nicht so!

Daß sie die

Hauptstadt und den Jüngerkreis verlassen, ist wohl eher ein Zeichen, daß ihnen beides vollkommen abhanden gekommen

ist.

Es bedarf auch mehr in solcher Zeit, um aufzurichten,

als die Stille einer reizvollen und schönen Natur,

im Abendsonnenschein verklärt vor ihnen liegt.

wie sie

Auch der

gegenseitige Austausch vermag das nicht; ein Trostloser

kann nicht den andern trösten.

Darum als der seltsame

Fremdling sich zu ihnen gesellt, wird kein anderes Wort laut

als das der Klage; ihm;

von Jesu dem Nazarener erzählen sie

denn Christus der Messias ist er ihnen nicht mehr.

Sie bekennen sich allerdings ganz offen zu ihm, sie sprechen ihre Liebe zu ihm aus, sie weisen offen auf den schreienden

Widerspruch hin: einen Propheten, mächtig an Thaten und Worten vor Gott und allem Volk, haben

und

Hohenpriester überantwortet

zur

unsre Obersten

Berdammniß

des

Kreuzes; eins steht ihnen dennoch vollkommen fest —: wir

hofften, sagen sie, er sollte Israel erlösen;

nicht mehr;

damit ist alles gesagt.

aussprechlichen Begeisterung,

sie hoffen es

Drei Jahre einer un­

drei Jahre voll Hingebung,

mehr als sie auszudrücken vermögen, drei Jahre voll Hoff­

nung und voll Heil haben sie an seiner Seite gelebt,

nun

liegen sie hinter ihnen wie ein Traum, auf den ein furcht­

bares Erwachen gefolgt ist.

Schon ist der dritte Tag ver-

155 stossen: das Gerede der Weiber hat auf sie keinen Eindruck

gemacht; darum verlassen sie die Stadt;

die Consequenzen

mögen sie noch nicht ausdenken; aber gewiß ist: den Messias

Jehovas, den Gesalbten des Herrn, einen Erlöser hatten

sie zu finden gemeint, einen Erlöser haben sie verloren: er ist untergegangen in der Schande und in der Schmach des Kreuzes!

Bleiben wir hier einen Augenblick stehen.

Zweifelnde,

ja verzweifelnde Menschen haben wir vor uns;

aber solche

Zweifler, denen mit dem Zusammenbruch ihres Glaubens

und ihrer Hoffnungen auch das Herz

das Leben nun öde und trostlos

zerbrechen will und

vor Augen

steht.

Wie

selten sind sie heute, wo die Menschen mit nichts so schnell fertig werden, als mit ihren Zweifelskämpfen, wo sie den Glauben lächelnd ablegen, wie man die Kinderschuhe ablegt,

wenn man ihnen entwachsen ist, bis vielleicht eine schwere

Lebensschule erst sie merken läßt, daß sie nicht abgelegt haben,

was kindisch war, sondern was allein dem öden Leben Halt und Kraft geben kann.

Heute setzen uns die Menschen ruhig

auseinander, daß die Betrübniß der Jünger füglich eine über­ triebene war;

blieb ihnen doch die Erinnerung

an einen

lieben und theuren Meister, die kein Mensch ihnen nehmen

konnte; blieben ihnen doch als ein unentreißbarer Besitz die herrlichen Worte voll Geist und Leben, die er geredet hatte

und die auch ihnen den Weg des Lebens zeigen konnten — — wie denn? — haben sie wirklich Recht, die so reden? Verloren die Jünger nichts, wenn ihnen nur dies blieb, und verlieren wir nichts, wenn uns

mit ihnen nur dies Eine

bleibt, die Erinnerung? Ich antworte: ich brauche mehr als das.

Ich brauche

zuerst ein klares und unverrückbares sittliches Vorbild

das

156 meinem irrenden Auge aufgeht wie ein Stern in der dunk­

len Nacht — ich finde dieses Vorbild in meinem Herrn Christus.

Dieser Stern aber ist er mir nicht mehr, wenn

sein Leben untergehl im Dunkel des

Verbrechertodes! —

Ich brauche für mein Kämpfen und Ringen, für die tägliche

Last, die mein armes kleines Leben zu tragen hat, die Ge­

wißheit, daß

ich nicht bloß für die Erde da bin und für

die Erde arbeite und aussäe; ich brauche die Bürgschaft, daß

ich da bin für ein Ziel, das in der Ewigkeit liegt; ich brauche die Gewißheit, daß diese unsichtbare Welt da ist,

daß sie

hineintrat und hineinragt in diese Welt der Sichtbarkeit, um

uns schon in der Zeit der Ewigkeit theilhaftig zu machen. Ich schaue diese Welt in meinem Herrn Christus: er stammt aus der Ewigkeit, sein Wort bringt Klänge aus der Ewig­

keit; er öffnet den Zugang zu dieser Welt der Ewigkeit; in ihm bricht die Neuordnung der Dinge an, die jedem, auch

dem kleinsten Menschenleben sein Ziel und seinen Platz in der Ewigkeit anweist und verbürgt.

Aber ich habe diese

Bürgschaft nicht mehr, wenn er selbst hinging wie alle andern

in die Nacht des Todes, wenn alle seine unaussprechlichen

Verheißungen

Lügen gestraft wurden durch den Tod am

Kreuz. — Ich brauche die Gewißheit, daß ich einen gnädigen

Gott im Himmel habe und daß dieser heilige Herr mir meine Schuld nicht zurechnet;

nicht Worte brauche ich dafür, die

die Vergebung verkündigen; sie genügen nicht einem wachen Gewissen, sondern ich brauche Thaten, Bürgschaften, Versie­

gelung durch That und Kraft. meinen Herrn Christus,

Ich

empfange sie durch

der die Mühseligen und Beladenen

zu sich rief, der die Sünder annahm, der sterbend das Opfer brachte, das die Schuld tilgt.

Und nun geht aller

Trost und alle Vergebung unter in dem ungeheuren Wider-

157 spruch des eignen Sündertodes am Fluchholz des Kreuzes?

Laßt doch das Leben Christi an dem Punkt enden,

wo die

beiden Jünger von Emmaus stehen, und es bleibt für uns die Kunde von einem Rabbi Jesus von Nazareth, der schöne

Worte gesprochen, die zu dem Besten gehören, was die Wei­ sesten je geredet, die Ueberlieferung, daß dieser Rabbi durch

ein schändliches Spiel der Pharisäer einst unter dem Land­

pfleger Pontius Pilatus dem Kreuzestode überliefert wurde; aber für meinen und deinen Glauben, für unser innerstes Hoffen giebt er uns nichts; da bleibt nur ein unendliches

Sehnen, das niemals Befriedigung erhält, ein immer neues Fragen, das keine feste Antwort bekommt; alle Hoffnungen

auf die Ewigkeit schrumpfen zusammen zu einer Reihe von

menschlichen Vorstellungen,

die jeder Zeit wechseln, aber

Bürgschaft, Gewißheit giebt es nicht; es bleibt mir vielleicht

Vergebung,

die Hoffnung auf Gottes

und die Bürgschaft erhalte ich nicht.

aber die Gewißheit

Mit einem Wort: wir

haben keinen Erlöserund darum keine Erlösung, und jeder

arme Mensch kann seine Ketten von Last und Schuld nur

weiter tragen, bis sie ihm zu schwer werden und er darunter zusammenbricht.

Wer nun das alles lächelnd bei

schieben kann und sagen:

das macht mir nichts

Seite

aus, —

mit dem haben wir es nicht mehr zu thun, er ist noch nicht

reif

für

die

Predigt

des

Evangeliums.

Jeder

tiefere

Mensch aber ahnt es, auch wenn ihm die christliche Erfah­

rung noch abgeht: ein Leben

ohne Erlöser und ohne Er­

lösung ist ein Leben, das einen geheimen Schmerz, eine ge­ heime Trauer in sich trägt, die man zeitweilig

kann, die aber in stillen

Stunden immer

vergessen

wieder hervor­

bricht. Aber es giebt ja nun, l. Fr., allerdings auch solche

158 Menschen, die diesen beiden Jüngern von Emmaus gleichen, die gern glauben möchten, aber nur, wie sie meinen, nicht

glauben können.

Wie

jenen

groß;

die Widersprüche zu

Jüngern

erscheinen ihnen

wie jenen sind die Gedanken

ihnen zu seltsam und das Geschehene zu unvereinbar mit

dem,

was sie als

gesetzmäßig

und richtig ansehen.

Sie

finden es nicht grade schön, daß sie nicht glauben, sondern sie empfinden die Lücke, die damit in ihr inneres Leben ge­ rissen wird,

sie möchten nach einer helfenden Hand greifen

und sie können selbst neidisch vor einem stehen, der recht von ganzer Seele glaubt und in seinem Glauben den Frieden

hat.

Sehet, solchen können die Emmausjünger helfend ent­

gegen kommen;

sie können

ihnen bezeugen, daß bisweilen

nur dazu der Herr verloren wird, damit wir ihn ewig wieder­ finden.

Oft nämlich ist es grade der Uebergang zu einer

neuen tieferen und geistigeren Glaubensstufe und Glaubens­

form, unter dem der Glaube zerbricht;

da soll der Zweifel

nur der Durchgangspunkt werden zu einer festeren Gründung

im Glauben. Weil aber viele diese geistigere Form nicht gleich finden können, auch wohl vielen der rechte Ernst dazu fehlt,

da werfen sie den Glauben selbst weg, und meinen, mit dieser

Form sei der ganze Boden ihnen unter den Füßen wegge­

nommen.

Namentlich

jugendliche Gemüther verfahren oft

so; und doch wandelt vielleicht neben ihnen unerkannt bereits

der Herr selbst und forscht ihnen in's Herz hinein, ob's ihnen

Ernst ist, und während sie noch an allem zweifeln, fügt er

schon Stein auf Stein zu einem neuen Bau, wenn es anders an diesem Ernst nicht fehlt.

159

2. So geht es den beiden Jüngern. Rührendes Bild, das ihre Geschichte uns vorführt: unerkannt geht der Auferstandene neben ihnen und öffnet ihnen die Schrift; immer ahnungsvoller leuchtet das Verständniß in ihnen auf; immer heißer brennt

immer fragender ruht ihr Auge auf der

ihnen das Herz,

wundersamen Gestalt, bis die Bitte herausbricht:

bleibe bei

uns, denn der Tag hat sich geneigt, und er hineingeht, bei ihnen zu bleiben. — Aber beachten wir wohl, wie der Herr seine zweifelnden Jünger behandelt.

Gewiß, er versteht sie

vollkommen; er verfährt mit ihnen wie ein liebreicher scho­

nender Freund; richtet,

dennoch ist das erste Wort das er an sie

ein strafendes.

für einen Vorzug,

das Zeichen

ansieht als

Geistes,

Er hält ihren Zweifel nicht etwa

wie man heute bisweilen das Zweifeln

eines starken

und

aufgeklärten

sondern für einen Mangel; er spricht:

„O

ihr

Thoren und trägenHerzens, zu glauben allemdem,

das

die

Propheten

geredet haben."

Und wohl­

gemerkt, das worauf dieser Tadel hinzielt, ist nicht etwa ein

Mangel an

Einsicht, sondern

ihre Glaubensträgheit,

d. h. ein Mangel an ernstem, sittlichen Willen.

Siehe da

den Weg, auf dem der Zweifel überwunden werden soll. Es handelt sich, gelium um

th. Fr., bei dem

Glauben an das

eine unsichtbare geistige

Welt,

in

Evan­

die man

hineingehen und in der man leben muß, um sie zu ver­

stehen.

Wer dieses Hineintreten in sittlicher Trägheit sich

sparen und gleichsam nur von außen in sie hineinsehen will, der kann sie nicht erfassen, ja der soll nichts von ihrer Herrlichkeit wahrnehmen.

Dieses

Eintreten aber ist

eine

That des Willens; wer es ernst nimmt mit Gottes Gebot,

160 so weit er es nur erkennt: wer betet um die Kraft dieses Gehorsams, so ernst er zu beten vermag;

wer opfert, was

mit diesem Gehorsam sich nicht verträgt: — der tritt damit

in diese Welt ein.

Von dieser That des Willens aus geht

ihm ein neues Auge des Verständnisses auf;

es hebt sich

mit jeder Trägheit des Wollens, wie der Herr es hier aus­

drückt, auch die Thorheit der Einsicht. Diese Geisteswelt, in mir ist keine Einbildung, sie ist eine Wirklichkeit;

um so

mehr werde ich dieser Wirklichkeit inne, je ernster ich es

nehme mit dem betenden Gehorsam um Gottes Kraft und Wie? ist es denn dann nun

und um Gottes Gemeinschaft.

wunderbar, daß diese Geisteswelt sich in noch vollkommenerer

Weise offenbart hat als es in mir der Fall ist? oder viel­

mehr, kann sie überhaupt vorhanden sein, wenn sie nicht in noch herrlicherer, mächtigerer, vollkommenerer Weise da

ist, als es in mir der Fall ist? Und mit dieser Frage laß dir nun dieselbe Mahnung geben, die der auferstandene Herr

den Jüngern giebt,

„zu glauben allem dem, das

.Propheten geredet haben."

die

An die Schrift weist er

dich; sie ist die Urkunde der göttlichen Offenbarung; wer in sie mit betendem Ernst hineintritt, tritt in die Heilswelt göttlicher Offenbarung hinein; zu uns redet.

Wohlan,

so

es ist der Herr, der in ihr

thut was sie fordert.

Es ist

wunderbar, wie zunächst der Ernst sich vertieft, wie

das Gewissen wird, wenn man der Schrift lebt.

zart

so aus der Schrift und in

Es ist aber auch wunderbar, wie allmälig

eine neue und große Gedankenwelt aus der Schrift

uns

aufgeht und neben manchem, vor dem wir zunächst nur mit ehrerbietigem Schweigen stehen, doch immer klarer der eine große Entwicklungsgang des Reiches Gottes uns verständ­

lich wird, in dessen Zusammenhänge auch das Wort sich

161

öffnet:

„mußte

nicht Christus

also

seiner Herrlichkeit eingehen"?

leiden und zu

Und es ist endlich

wunderbar, wie immer klarer und deutlicher dieses Zeugniß der Schrift zusammenklingt mit dem innersten Bedürfniß

des Herzens nach Erlösung, nach Heiligung

und Frieden.

Nicht daß ich etwa meinte, in etlichen Stunden oder wenigen

Tagen würde diese

Erfahrung gemacht



dazu würde

wenigstens ein Ausleger gehören, wie der Herr es war und die dreijährige Vorbereitung, die die Jünger hatten.

Ich

meine vielmehr mit dem allem eine Arbeit und eine Erfah­ rung,

die das ganze Christenleben ausfüllt und die immer

mehr sich vollendet. Nur — wenn du von dieser Großartigkeit

der Schrift noch nie etwas spürtest, wenn aus ihr die Macht

und Herrlichkeit des Herrn, der in ihr waltet, noch nie dir

das Herz traf, dann frage ich allerdings: Wie lange ist es her, daß du überhaupt in deiner Bibel gelesen hast? hast du ein

persönliches Verhältniß zur Schrift? suchst du in täglichem Forschen in der Schrift? Da und dort hineinsehen, das wird

dich so wenig heimisch in dieser Welt machen,

als du von

Alpenluft gesundest, wenn du einmal vierundzwanzig Stunden

auf einem Alpengipfel gestanden hast. Eine evangelische Ge­ meinde ist eine Bibelgemeinde, die an dem Urquell der Offenba­

rung zu schöpfen versteht! Fange erst an treuer deine Bibel zu lesen, fange erst an betend zu lesen, lies mit dem Enffchlusse zu thun, was sie fordert — und dann sage ich, solchen Menschen

geht Christus zur Seite, auch unerkannt; Schrift, auch wenn du es nicht merkst.

er öffnet dir die

Immer wunderba­

rerer schließt dir das Schriftwort das tiefste Seelenbedürfen auf — und immer heiliger brennt dir das Herz von dem

Zusammenklange der Schrift mit der Sehnsucht des Herzens. Ich nenne noch ein zweites, wovon ich sage: unerkannt

11

162 geht der lebendige Christus neben uns. Er lebt und waltet als lebendiges Haupt in seiner Kirche, in der Gemeinschaft der an ihn Glaubenden,

die aus der Schrift sich baut.

Darum möchte ich jedem zweifelnden und trauernden Men­ schen sagen: hüte dich nur, daß du dich nicht von dieser Gemein­

schaft der Gläubigen, von der Kirche entfremdest. Auch wenn du noch nicht glaubst, auch wenn du meinst, nicht mehr so

glauben zu können, wie früher — komme! Fleißiges Kirchen­

gehen macht sicherlich noch keinen Christen; aber kein Christen­ thum bleibt auf die Dauer gesund, das von der Gemeinschaft des Glaubens und der Glaubenden sich zurückzieht. Wunder­

bar, je seltener du kommst, um so unbehaglicher fühlst du

dich, nicht blos im Gotteshause, nicht blos unter den Men­

schen, die dich verwundert ansehen — nein, auch in der Offen­ barungswelt, von der man spricht, in der Welt innerer Er­ fahrungen, von denen man redet, in der Gebetswelt, in der

man lebt.

Und umgekehrt, mögen lange Zeiten kommen, in

denen der Gottesdienst nicht seine Macht über dich ausübt,

und in denen du gleichgültig hinein- und leer wieder hinaus­ gehst, es kommen

auch wieder die andern Zeiten, wo des

Herrn Wind die verlöschende Flamme in deinem Herzen

wieder anfacht und der lebendige Herr, der auch in unserer

Gemeinschaft zugegen ist, bei Dir anklopft; es kommen Zeiten, wo dann das kalte Herz warm wird und anfängt zu bren­

nen, hier in Reue und Scham, dort in heiligem Entschluß

der Umkehr, dort in tiefer Sehnsucht nach Gewißheit des Glaubens und festem Heil.

Das sind die Frühlingszeiten,

in denen Gottes Geist selbst als der Säemann Körner in

das Herz streut, damit sie aufgehen, und wo dieser Geist selbst dich wieder zurückweist an die Schrift, damit du mit

einem Herzen brennend in Reue und Glauben niederfällst

163

vor dem Herrn, von dem sie zeugt; es sind die Zeiten, in denen nun in andrer Weise die Bitte laut wird: Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden! Bleibe bei uns, denn ohne dich ist die Welt mir dunkel und das Leben pfadlos

und irr, bleibe bei uns, denn durch

dich

wird auch das

Dunkel zum Licht und alle Sehnsucht still!

Das werden

die Zeiten, wo dann Christus nicht mehr unerkannt neben

dem Menschen hergeht, sondern wo du seine Hand mit kla­ rem Bewußtsein ergreifst:

„MeinHerr und mein Erlöser!"

wo er bei dir eingehet um das Abendmahl mit dir zu halten

und so

in seiner Gemeinschaft ein neues Leben beginnt.

3. Giebt es wieder ein zarteres und durchsichtigeres Bild als die Gastmahlsscene in dem kleinen stillen Hause zu Emmaus?

„Sie erkannten ihn an dem, da er das Brod brach." Nichts schlichteres kann es geben. Nicht das Sacrament des

Abendmahls ist damit gemeint; sie setzen sich nieder zur ein­

fachen Bewirthung, durch die Macht des Geistes, die Uebcrlegenheit der Persönlichkeit ist er, der Gast, von selbst zum Wirth

geworden; er spricht das Gebet, bricht das Brod — da er­ kennen sie ihn.

Das ist ganz bezeichnend. In solchen Zeiten be­

darf es keiner außerordentlichen Vorgänge, um den Herrn zu

erkennen und seine Berührung zu fühlen.

Wo innerlich ein­

mal die Bitte in tiefem Bedürfen aufstieg: Herr bleibe bei mir! wo das Herz brennt von Liebe und Sehnsucht, da ge­

nügt das

allerschlichteste Erlebniß, vielleicht ein Wort —

und die Binde fällt uns von den Augen und wir rufen mit Thomas: „Mein Herr und mein Gott!" Es ist wahr, man

kann solche Stunden nicht machen, sondern sie werden ge-

164 geben; wir gehen nicht hin zu einer solchen Stunde, der Herr kommt zu uns.

Und darum mutz man auf sie warten

und auch Geduld dazu haben für sich und für andere.

Es

kann sein, daß sie so unscheinbar, so verhüllt kommt, etwa im Dunkel einer schweren Trauerzeit oder einer tiefen Demü­

thigung, daß der Mensch sie selbst zuerst nicht erkennt und erst am Ende derselben an dem inneren Gewinn, den er da­

vontrug, merkt: es war der Herr. Es wirft auch manchmal

erst das Licht einer geweihten Stunde seine Strahlen nach

rückwärts, daß einer erst in ihrem Lichte erkennt, wie seine geheimen Schmerzen, seine innere Zerrissenheit und Unruhe

nur das unverstandene tiefe Bedürfniß

nach dem Erlöser

war, so wie hier die Jünger erst nachdem sie den Herrn er­ kannt haben, auch sich selbst verstehen: „brannte nicht unser

Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?"

Immer aber ist der Erfolg eines sol­

chen Erlebens ein Finden des Herrn, dem keine Trennung

folgt, und es geht darum eine Kraft von ihm aus, welche

das Leben neu gestaltet und verklärt zu einem Leben in der

Gemeinschaft mit dem Herrn. Seht noch einmal auf die Jünger; als sie hinausgehen nach Emmaus, da ist der leuchtende Abendsonnenschein ihnen dunkel; jetzt ist die dunkle Nacht hell genug, um eilends aus­ zustehen

und in das mörderische Jerusalem

zurückzueilen

und den andern zu verkündigen, was sie erlebt haben. wunderbar! sie haben es nicht allein erlebt.

Und

Frohlockend

kommen ihnen schon die andern Jünger mit der Botschaft

entgegen: „der Herr ist wahrhaftig auferstanden und Simoni erschienen." An dem Abende hat sich eine neue Art der Ge­

meinschaft auf Erden gebildet, nämlich eirie Gemeinschaft, die in gleichen Heilserfahrungen ihren Grund, in bent auf-

165 erstandenen und lebendigen Christus ihr Band hat, die Ge­ meinschaft der Kirche.

An dem Abend haben die Jünger

zuerst die Kraft des neuen Lebens gespürt, das von dem Auferstandnen her nun diese Kirche zu aller Zeit durchwaltet

und heiligt.

An

diesem Leben aber sollen wir alle Theil haben.

Wer in den Stunden des Heils den Herrn fand als den der ist nicht

lebendigen, der sein Werk an den Seinen hat,

mehr

allein: er wandelt nun

standncn.

Wir sollen leben

an

der Seite

des Aufer-

wie Menschen, die sein Auge

auf sich gerichtet

wissen, die seine strafende, warnende, er-

muthigende Rede

hören, die treusind bis in das Kleine,

weil sie auf ihn

schauen, — wie Menschen also,

große Verantwortung haben.

die eine

Wir sollen fortan durch

diese Welt gehen als solche, die in der Lebensgemeinschaft mit dem Herrn ein

Stück der unsichtbaren Welt in sich

tragen und die durch Glauben und Gebet immer neue Kräfte seines Geistes auf sich herabziehen; wir sollen leben als

solche, die in dem auferstandenen Christus eine große Hoff­ nung haben und darum auch im Schweren geduldig, in

aller Widerwärtigkeit getrost

nehmen und „auch in den

bleiben, ihr Kreuz

schwersten Tagen

auf sich

niemals über

Lasten klagen", gewiß, daß auch der Weg des Kreuzes zum Heil führt.

Als solche endlich sollen wir leben, die allent­

halben in Gemeinschaft stehen und Gemeinschaft finden mit

andern, die desselben Heiles theilhaftig sind und desselben

Weges wandeln. Wie wir es in den Tagen der Passion so oft gesungen: „Die wir allhier beisammen finden, schlagen

unsre Hände ein,

uns auf deine Marter zu verbinden" —

so wollen wir es jetzt auf's neue thun — durch seine Ge­ meinschaft weihen wir die unsre;

unsre kirchliche, unsre ehe-

166 liche, unsre häusliche, unsre Freundesgemeinschaft werde ge­ weiht durch die Gemeinschaft des auferstandnen Herrn, der

ihr Grund, ihr Halt, ihr Ziel ist.

So sind wir endlich auch der Erhörung gewiß, wenn wir zum Schluß noch einmal in anderem Sinne die Bitte

der Jünger an den

auferstandenen Herrn uns aneignen:

„bleibe bei uns, denn es will Abend werden!"

Keiner von

uns weiß, ob er noch einmal ein Osterfest erlebt, aber jeder,

der ernstlich sie nachspricht, soll erfahren, daß es um den

Abend bei ihm Licht ist.

Wer in der Gemeinschaft des

Lebensfürsten ist, braucht auch vor dem Dunkel des Todes nicht zu erschrecken.

Ob einer im Greisenalter dem Lebens­

abend schon nahe ist, ob er in der Jugend noch erst auf den

vollen Lebenstag harrt — es gilt allen die Verheißung als

Trost und Licht ihres Lebens: er bleibt bei uns auch im

Tod und nimmt unser Seufzen auf.

Und darum schließen

wir für diesen Tag und für alle Tage,

bis einst der letzte

Tag uns allen anbricht, mit der Bitte: Herr bleibe bei uns,

wenn es Abend werden will und der Tag sich neiget; laß,

je älter wir werden,

je mehr dies Leben seinem Schlüsse

zueilt, um so getroster uns

harren auf deine Verheißung:

ich will kommen und Wohnung bei dir machen und das

Abendmahl mit dir halten und du mit mir!

Amen.

XIV.

Sylvesterabend 1881. Die Stimmen Gottes am Jahresschlüsse. Herr Herr Gott, gnädig und barmherzig! Unser Leben fahret

dahin wie ein Strom, du aber bleibest wie du bist und deine Jahre nehmen kein Ende.

Herr Gott Zebaoth,

tröste uns,

lasse uns dein Antlitz leuchten, laß uns deine Stimme hören, sei uns nahe in dieser Stunde um unseres Heilandes Jesu

Christi willen, der gestern und heute und derselbe ist in Ewig­

keit! Amen. Psalm 95, 6—8. Kommt, laßt uns anbctcn, und kniccn, und nicdcrfallcn vor dein Herrn, der uns gemacht hat. Denn er ist unser Gott, und wir das Volk seiner Weide, und Schafe seiner

Hand. Heute, so ihr seine Stimme höret, so verstockt euer Herz nicht!

„Heute, schließt unser Psalmwort, „so ihr seine Stimme höret" — von diesem letzten Abende des dahin

eilenden Jahres verstehen wir das Wort.

Es giebt manche

Stunden, in denen Gottes Stimme uns vernehmlich ins Herz dringt, aber nicht viele, wie heute.

Ein Jahr ist wieder

dahingeschwunden; in wenigen Stunden ist seine letzte Secunde abgelaufen.

Wem nun aus der Chronik desselben mit dem,

was sie berichtet an Ernst und an Freundlichkeit, an Gewinn

168 und Verlust, an Sünden wie an Gnaden nichts anderes ent­

gegen klingt, als die Thatsache, daß alles vergänglich und

eitel ist;

wer unter dem pfeilschnellen Jagen der Zeit kein

anderes Gefühl hat, als zu vergessen, wie schnell sie zerrinnt, und darum sich über die Stunde des Wechsels hinüberzujubeln

sucht; wer das tiefe Bedürfniß, am Jahresabend auch aller menschlichen Liebe, die wir besitzen, gewisser zu werden, dazu

mißbraucht, einer einsamen Stunde vor seinem Gott aus dem

Wege zu gehen —: dem haben wir hier nicht viel zu sagen.

Wir hören aus den Stimmen, mit denen das vergangene Jahr uns entläßt, ein anderes heraus. Aus dem Ernst, der uns beschleicht,

aus den

Schauern der Vergänglichkeit, die

uns nahe kommen, aus der Stille der Selbstbesinnung,

zu

der die Sylversterglocken uns hierher geladen haben, aus dem Bedürfniß der Gemeinschaft, das enger unsre Kreise zusam­ menschließt, aus allem, worauf nur jetzt Erinnerung hastet

und Hoffnung hinschaut, tönt so deutlich und so machtvoll

wie selten Gottes Stimme uns

entgegen.

Nicht vor

Menschen stehen wir hier, sondern vor Gott.

Welch eine

Bedeutung also hat die Aufforderung:

„So ihr seine

„Stimme höret, so lasset uns anbeten und knieen

und niederfallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat" — welchen Ernst aber auch die Mahnung: „Heute am

Jahresabend, so ihr seine Stimme höret, so verstocket euer Herz nicht." Seelen.

Laßt sie ein Echo finden in euren

Auf

die Stimmen Gottes, die am Jahresschluß in unser

Ohr dringen, laßt uns lauschen und Gott mache das Herz uns still, recht zu vernehmen.

sie

169 „Kommt, laßtunsanbeten undknieenund nieder­ fallen vordemHerrn,deruns gemacht hat." Man kann

nicht tiefer in Demuth, nicht inniger im Glauben den Dank

aussprechen, der das Herz erfüllt. So hat ein Jakob empfun­ den,

als er, gebeugt durch die Fülle des Segens ausrief:

„Ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an deinem Knechte gethan hast."

So hat ein Samuel

es gefühlt, als er zu Mizpa sein Ebenezer aufrichtete: „Bis

hierher hat der Herr geholfen."

So hat es ein David ge­

than, als die Erhöhung seines Geschlechtes ihn nur um so

demüthiger bekennen heißt: „Wer bin ich, Herr, Herr, und was ist mein Haus, daß du mich bis hieher gebracht hast!"

Ach

unser Mund öffnet sich wohl viel eher zum Ausdruck der Klage und der Sorge; wohl, laßt uns jetzt einmal sie ver­ gessen und jenem schlichten Christen nachthun, der grade dann

zu danken sich vornahm, wenn das Herz von Sorge über­

strömen wollte.

hinter uns liegt;

Ja, es ist ein schweres Jahr gewesen, das die Verhältnisse waren so drückend; die

Arbeit noch so lahm und so knapp; die Sorge vielleicht groß.

Aber dennoch, der Gott, der dich gemacht hat, hat dich er­

halten; auf die Frage: „habt ihr je Mangel gehabt?" kannst du wie die Jünger antworten: „Nie, keinen!" — Es ist manche

Noth in dein Haus eingekehrt; vielleicht hörte die Krankheit

nicht auf; es gab andere Last, die noch schwerer drückte. Aber nun stehst du doch, du und dein Haus vor dem Herrn, der dich gemacht hat, erhalten und errettet, und keines fehlt im Kreise. Ich sage mehr: lies einmal hier im Geist die Chronik deines

Hauses, wie manche unter uns sie vielleicht nachher den Ihrigen im häuslichen Kreise vorlesen werden.

Sieh, wie die siebte

Noth verschwindet vor der Fülle des Segens, der zu ver­

zeichnen ist.

Geh die Bewahrungen durch, die du erfuhrst,

170 die Freundlichkeiten Gottes, die über dir leuchteten, die Liebe der Menschen, die dich trug, die Gemeinschaft der Deinen,

die reich und tief dich umgab.

Sieh, wie noch deine Kinder

fröhlich deinen Tisch wie Oelzweige umranken und das stille

Walten deines Weibes

dein Haus in Frieden baut!

Sieh

nicht auf das hin, was dir versagt wurde, sondern auf das,

was du hast und was dir blieb.

Merke vielmehr auf, wie

viel Freundlichkeit, die dir zugedacht war, du noch versäumt

hast, weil dir die Liebe fehlte,

die auch das Kreuz leicht

macht, ja die grade in Kreuzeszeiten sich bewährt, — weil dir das Auge fehlte, das auch im täglichen Ergehen Gottes

Freundlichkeit erkennt und überall Wunderhülfe wahrnimmt. Sieh,

nicht d u hast das alles gemacht — es war Gottes

Güte, die im grauen Haar dich behütete oder deine Jugend

trug. Nicht d u hast das besonders verdient — bist du etwa besser als der andre, der heute vor den Trümmern seiner Hoffnungen steht? sind wir besser als die hunderte, die in jenen furcht­

baren Katastrophen umkamen, von denen wir mit Schaudern lasen? Du freilich hast das alles hingenommen, als müßte

es so sein nnd als könnte es nicht anders kommen, obwohl doch

Trauer und Jammer oft genug warnend an deine

Pforte angeklopft haben.

Ja,

wie selten

rechten Dank deine Hand sich gefaltet!

hat doch zum

Wie selten ist das

Gefühl der unverdienten Freundlichkeit deines Gottes beugend

und beschämend über dich gekommen! Aber Mensch, sieh — wenn jetzt über dem allen dein Herz weich wird, wenn im Licht dieser Stunde auch nur ein Strahl göttlicher Freund­ lichkeit aus deinem Leben dir entgegen leuchtet:

sei gewiß,

es ist Gottes Stimme, die dir nahe kommen will; es ist die Stimme des Gottes, der thronen will über den Lobliedern seiner Kinder.

Sie bittet um deinen Dank! Lerne mit ein-

171 stimmen in den demüthigen Lobpreis: „Kommt, laßt uns

anbeten und knieen und niederfallen vor dem Herrn,

der uns gemacht hat."

Und nehmt von hier aus das

Dankgefühl mit hinein in den häuslichen Kreis: da schließt euch enger zusammen und weiht eure Sylvestergemeinschaft

durch heilige Lieder, durch ein: „Nun danket alle Gott," ein

„Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren," das im Wechsel der Zeit euch hinaufweist zur Ewigkeit.

Die Bibel

schlagt auf und lest den 90. und 121. Psalm. So anbeten und

knieen und niederfallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat, das heißt das Jahr wohl beschließen, Ausgang und Eingang

behütet von dem Hüter, der nicht schläft, noch schlummert. Aber doch, liebe Freunde, bleibt unser Psalm dabei

nicht stehen; er kann es nicht. Hätten wir für nichts weiter zu danken,

als daß unser armes Leben in seinem äußeren

Glück behütet worden, wie viele könnten dann eben nicht mit uns danken! und wie lange dürften wir es noch? Aber der

Psalmist kennt ein viel größeres.

Was treibt denn diesen

Gott, der die Sterne lenkt und Welten ordnet, sich auch um mein kleines Dasein zu kümmern? „Kommt", antwortet der Sänger darauf,

„laßt uns anbeten und knieen und nieder­

fallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat; denn er ist

unser Gott und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand!" Unser Gott!

— ja, wie hat doch der Sänger des

alten Bundes selbst kaum die Tiefe seiner Worte ermessen.

Er denkt an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der offenbarend sich herabließ und Abraham seinen Freund nannte. Er denkt an den Gott des Bundes,

der sein Volk sich er­

wählt hat zum Bundesvolk vor andern,

und der sich nicht

172 schämte, ihr Gott zu heißen und sie sein Volk und sein erst­ geborenes Kind.

Er denkt an den Gott vor dessen Walten

Moses anbetend ruft: „wie hat der Herr die Leute so lieb!"

aus dessen Herzen heraus Jesaias jeden einzelnen versiegelt:

„in

meine Hände habe ich dich gezeichnet!" Und doch wie

wenig erschöpft alles, woran er nur denken konnte, die Tiefe der Erbarmung, von der wir vor wenig Tagen mit einander

geredet haben.

Nicht nur die Theilnahme an einem Volke

des Bundes, nicht nur die Erlaubniß,

ihn unsern Gott zu

nennen, hat er uns gegeben — nein,

„also hat Gott die

Welt geliebt, daß er seinen

eingebornen

Sohn

gab."

Sich selbst giebt er in Christo der Welt; Gemeinschaft seines Lebens und seines Heils sichert er uns armen Eintagscrea-

turen zu; Fülle der Ewigkeiten giebt er uns, die er in Christo Jesu einer ewigen Erlösung werth hält.

Es ist nicht nur

ein Name, es ist ein neues Verhältniß, wenn wir es sagen: „Du bist unser Gott und unser Vater und wir das Volk

deiner Weide, erkauft durch die Treue des Hirten, der sein

Leben ließ für die Schafe — Schafe deiner Hand, ge­ wonnen und geweidet durch die Hand der Liebe, die dem

verlorenen nachging, bis sie es fand, und die das gefundene

erbarmend auf ihrer Achsel

heimtrug mit Freuden.

Das

Volk seiner Weide sind wir, nicht als Glieder irgend eines äußeren Volkes, nicht in Kraft irgend eines äußeren Vorrechtes, sondern als Menschen eines Glaubens, die nur annehmen,

was Gottes große Weihnachtsgabe ihnen bescheert, als Glieder

eines Reiches, zu dem

der große König sie berufen hat.

Christengemeinde! laß dich in diesem Augenblick der in den

letzten Stunden des Jahres schneller dahin rollenden Zeit hinaufheben in dies „stille selige Nun der Ewigkeit", in der dir das Bürgerrecht gegeben ist durch

Jesum Christum;

173 Gott ist dein Gott und wir sein Volk, seine Heerde, mit dem Blute des Erzhirten erkauft, und keiner ist ausgeschlossen,

der sich nicht selbst ausschließt.

Ja kommt, laßt uns an­

beten und knieen und niederfallen vor dem Herrn, der dazu uns gemacht hat!

Und nun sieh noch einmal zurück auf dein Leben. In diesem Licht, im Lichte der Weihnacht entdeckst du nicht bloß

hier und da einen Segen und eine Freundlichkeit Gottes, für die du zu danken hast; dein ganzes Leben ist ein einziger

Segen. Behütet warst du von seiner Hand wie ein Augapfel im Auge, geleitet wurdest du mit seinen Vateraugen; nicht die äußerliche Lebensgeschichte,' die das vergangene Jahr dir

wcitergeführt hat, ist die Hauptsache; durch alles Aeußerliche hindurch geht eine innere Geschichte, die sich zusammensetzt

aus Gnadenzügen und Gnadenleitungen unseres Gottes. Die Festzeiten des vergangenen Jahres, die die großen Gnaden-

thaten Gottes verkündigen, haben es uns aufs neue besiegelt: er ist unser Gott! Diese Gottesdienste mit ihren

Er­

quickungen, unser Altar mit seinen Gaben, jedes Gebet, zu

dem der Herr das Amen sprach, jeder Ernst und jede Freund­ lichkeit Gottes,

die

Buße wies,

unter der das Gewissen erwachte und auf jedes

Umkehren

aus

Zerstreutheit und

Verirrung zur Gemeinschaft seines Friedens hat uns aufs

neue gewiß gemacht: wir sind das Volk seiner Weide

und Schafe seiner Hand.

Nun hat das unruhige Le­

bensschifflein seinen Ankergrund in der Ewigkeit durch eine

That göttlicher Gnade, und dieser Grund hält auch, wenn noch so oft die Wellen es umherwerfen.

Diese Pilgerschaft

hat ihr Ziel nun in der Ewigkeit, und der Gott, erlösende Gnade nicht vergeblich einsetzen

durch alle Führungen,

will,

der seine wird

uns

dunkle wie lichte, diesem Ziele näher

174 bringen. Das ist der tiefere Segen, den wir erkennen sollen,

und wenn uns unter der Fülle dieses Segens das Haupt sich beugt, wenn es uns

zu Muthe werden will wie dort

dem Petrus als er rief: Herr gehe von mir hinaus; ich bin ein sündiger Mensch! — seid gewiß — grade dann sich vernehmbar

macht die Stimme des lebendigen Gottes und mahnt uns Laßt uns

an das Bekenntniß demüthigen Dankes:

knieen und niederfallen:

Er ist unser

Gott und wir das Volk seiner Weide! Aus allen Führungen heraus klingt diese Gottes­ stimme uns entgegen.

Ich denke an die,

welche besonderen

Anspruch habeu, heute Evangelium, d. i. Freudenbotschaft zu

hören, weil sie hierher gekommen sind mit gebeugtem Herzen, mit zerbrochenen Hoffnungen, mit schwerem Kreuz.

Ich ge­

denke an unsre Todten, an die 120 Todten, die dieses Jahr

aus unsrer Mitte abgerufen hat.

Ich denke an solche, um

die unsre ganze Gemeinde mitgetrauert hat, wie an die Ein­

samen, die kaum ein Zeichen trauernder Liebe zum Kirchhof

hinausgeleitete.

Ich gedenke der Plätze, die in diesem Got­

teshause leer geworden sind von treuen, frommen Hörern, die hörend zugleich mit die Gemeinde erbauten. Jedem stehen

zuerst die vor Augen die ihm nahe standen. Auch auf sie fällt

ein Strahl aus der Ewigkeit.

Das

Volk seiner Weide ist

gefeit gegen den Tod; er kann das Leben nicht tobten, das

aus Gott ist.

Ein Schiff, das in den Hafen eingelaufen

ist, ist nicht verloren, sondern gerettet. Selig sind die Todten,

die in dem Herrn sterben.

Es ist die Verheißung des Hirten

selbst: ich gebe ihnen das ewige Leben,

sie mir aus meiner Hand reißen.

und niemand wird

Vernehmt ihr die Gottes­

stimmen des Trostes, die daraus euch entgegenklingen? Auch die dunkelste Stunde soll nicht der Gewißheit entbehren: Ich

175 bin dein Gott und du das Kind meiner Weide.

In jedes

Erleben, auch das schwerste ist mit hineingeflochten der rothe Faden göttlicher Liebe,

Ja, ich will dich trösten mit Mut­

tertrost und mit Vatererbarmen; nicht die sind arm, denen

vieles genommen wird — sie haben den Trost von oben und die Gewißheit, daß in Gottes Rath auch das zum Heile ge­

Sondern die sind arm, die im Leid den Herrn nicht

reicht.

finden, der ein unbewegliches Reich über der Vergänglichkeit öffnet und die Bitterkeit in stille Ergebung, die Resignation

in demüthige Beugung verwandelt.

Könnt ihr Trauernden

noch nicht danken — ihr könnt knieen, ihr könnt nieder­ fallen vor dem Herrn, der auch wortlose Gebete versteht,

der in eurer Trübsal lichte Friedensgedankcn mit euch hat, und der euch hindurchhelfen will zu dem getrosten Bekennt­

niß:

Du bist unser Gott, und wir das Volk deiner

Weide!

Je freundlicher aber diese Gottesstimmen tönen, um so ernster fällt eins uns auf's Herz: Ist es nichts als Langmuth und Barmherzigkeit Gottes, die über uns waltet, sind es selbst in seinen Züchtigungen nur Gedanken der Liebe,

die er an uns vollzieht — wie gewaltig wird dann die Mahnung: heute, so ihr seine Stimme höret, so ver-

stocket euer Herz nicht, d. i. machet es nicht hart und taub für Gottes Stimme. Je größer die Gabe, die uns ge­

boten wird, um so ernster die Verantwortung, wenn wir sie zurückweisen.

Wohl, haben alle diese Stimmen Gottes, die

in unser Herz geklungen sind, Eingang darin gefunden? Hat unser Herz dieser suchenden, anklopfenden Gottesliebe wirk­ lich offen gestanden? Je ernster wir die Frage nehmen, um

so mehr müssen unsre Klagen zu Anklagen, unser Dank

zum Schuldbekenntniß werden.

Wie viel Undank und Ver-

176 stockung, wie viel Sünde und Schuld birgt auch dieses ab­ gelaufene Jahr in seinem Schooß!

Gottes Zuchtruthe war

über uns im Druck der Zeit, mancher ernste Gerichtsfinger Gottes hat sich über uns erhoben und wir — haben es mit unseren blinden Augen nicht einmal gesehen und mit

unseren verstockten Herzen nicht gemerkt. Gottes Freundlich­

keit mahnte: gieb mir dein Herz! Wir nahmen sie und ver­

gaßen mit hartem Sinn, wozu sie gesandt war.

Ueber uns

waltete das Erbarmen Gottes mit seinem Zuge zum Sohne;

haben wir den Zug der Gnade verstanden? kommen wir ge­

läuterter, innerlich besser, dem Heile in Christo näher aus diesem Jahre heraus, als wir es antraten? Oder ist es ein Jahr, das dir ein Brandmal in's Gewissen

gedrückt hat,

das dich noch im Alter schmerzen wird, ein Jahr neuen Widerstrebens,

Freunde!

neuer

Friedlosigkeit

und

neuer

Im Rückblick über ein Lebensjahr



Schuld?

wie viel

giebt es zu bekennen! wie viel giebt es abzubitten! wie viel

giebt es wieder gut und fortan besser zu machen!

Wie es

in den Dingen des irdischen Lebens eines Jahresabschlusses bedarf, damit die klare und übersichtliche Ordnung gewahrt werde, so bedarf es auch vor dem lebendigen Gott des

Jahresabschlusses.

Wehe dem, der ihn versäumt! es möchte

der Stand seines inneren Lebens in unheilbare Verwirrung

kommen.

Dieser Abschluß

aber kann nur in einem Zwei­

fachen bestehen, in der Bitte: habe Geduld mit mir! in dem Gelöbniß: nun

die Hand an den Pflug und nicht mehr

rückwärts gesehen! Was ich gelebet hab', das decke zu, was

ich noch leben soll, regiere du!

Und zu dem allem ergeht

die Mahnung: heute, so ihr seine Stimme höret, so verstocket euer Herz nicht, machet euer Herz nicht hart,

euer Ohr nicht taub, euren inneren Menschen nicht unempfind-

177 lief).

Trostloser Gedanke, — es kann der ewige Gott mit

Strömen der Liebe ein Menschcnherz überfluthen, er kann zu ihm reden mit den Lockungen herzbrechender Liebe und den­ noch

bleibt der

Mensch

kalt und hart.

O, l. Fr.! laßt

uns nicht warten auf Gottes Gericht, damit er uus demü­

thige und weich mache; laßt die Erfahrungen seiner unver­

dienten Liebe dazu ausreichen.

Habt ihr aber anders jetzt seine Stimme gehört,

ist

von ihrer Güte wie von ihrem Ernst das Gewissen wach geworden, steht jetzt in diesem Augenblicke das Herz offen:

laßt es nicht wieder hart werden!

Ehe es wieder erkaltet,

noch heute laßt euch durch Buße und Glauben versöhnen mit Gott um Christi willen.

Noch heute beweist diesen

Ernst der Versöhnung mit Gott in der Versöhnung unter­ einander.

Noch ist dieses Heute; keiner weiß, wie lange es

währt; keiner weiß, ob es auch nur morgen noch ist; jedes

Jahr begräbt ja ein Stück unseres Lebens und bringt uns

näher dem ewigen Ziel,

dem endlichen Gericht.

Keiner

weiß, ob dies Jahr nicht die letzte Spanne unseres Lebens

begräbt, ob unter den Plätzen, die im kommenden Jahre werden leer geworden sein, nicht auch der seine sich befinden

wird.

Laßt uus den Frieden Gottes suchen, so lange es

noch heute heißt. Laßt uns unter den Gebeten dieses Abends

das Bußgebet

nicht zurückweisen.

Laßt uns mit heiligem

Ernst die Frage an uns selbst richten, wofür wir Vergebung brauchen.

Keine

Rechnung

werde

unausgeglichen,

keine

Schuld ungetilgt mit hinübergenommen in das neue Jahr. Nur so gehen wir getrosten Herzens und aufgerichteten Hauptes der dunkeln Zukunft entgegen, weil wir der Gnade unseres

Herrn gewiß sind; nur so wissen wir, daß das kommende Jahr, was es auch bringe an Leid oder Freude, unter allen

12

178 Umständen ein neues Jahr des Heils und eine neue Frist der Gnade sein muß; nur so behalten wir in allem, was

es bringt und auflegt, was es zerbricht und was es nimmt,

doch unverloren die Gewißheit:

Er ist unser Gott und

wir dasVolk seinerWeide undSchafe seiner Hand! Ja, kommt, laßt uns anbeten und knieen und niederfallen vor diesem Gott, der dazu uns gemacht hat.

Amen!

XV.

Todtenfest 1880. Ich Weiß, wem ich vertraue,

Und, wenn mein Auge bricht, Daß ich ihn ewig schaue,

Ihn selbst von Angesicht. Er trocknet alle Thränen

So tröstend und so mild,

Und mein unendlich Sehnen Wird nur durch ihn gestillt. — Gelobt

Christi,

sei Gott und der Vater

unseres Herrn Jesu

der Vater der Barmherzigkeit und der Gott alles

Trostes, der uns tröstet in aller unserer Trübsal! Römer 14, 7—9. keiner

stirbt

ihm selber.

Leben nur,

sterben wir, so sterben wir dem Herrn.

sterben, so sind wir des Herrn.

storben,

Amen.

Denn unser keiner lebt ihm selber, und so leben wir dem Herrn:

Darum,

wir leben oder

Denn dazu ist Christus auch ge­

und auserstanden und wieder lebendig geworden, dast er

über Todte und Lebendige Herr sei.

Theure Gemeinde!

heute zu

Es ist leichter und es ist schwerer,

predigen als sonst.

Es

ist leichter, denn man

sollte meinen, daß heute mehr als sonst die Herzen dem

Evangelium offen stehen.

Das Wort hat sich nicht erst

180 Empfänglichkeit zu schaffen, es findet sie vor; wieviel trau­

ernde Menschen

sind heute hierhergekommen um Trost zu

suchen, mit dem Gebet:

„Herr Gott Zebaoth, tröste du uns,

laß uns dein Antlitz leuchten, daß wir genesen."

— Es ist

aber auch wieder schwerer heute zu predigen als sonst. Wir

denken an unsere Todten; schwere und tiefe Wunden hat das

vergangene Jahr uns geschlagen.

Ob ein müdes Leben im

Greisenalter eingegangen ist in die

ersehnte Ruhe, ob ein

Jugendleben abgeknickt ist in seiner Vollkraft und Blüthe,

ob mit Vater oder Mutter'Krone und Schmuck des Hauses hin­ weggenommen wurde oder mit einem Kindesleben der Sonnen­ schein eines Hauses erlosch, — die es traf fühlen tief und

schmerzlich die Lücken, und wie öde, wie vereinsamt, wie

anders das Leben geworden ist. — Ja, was bedeutet dabei

die kurze Spanne eines Jahres; auch alte Wunden brechen

wieder auf, auch liebe, längst entschlafene Gestalten treten heute vor unser geistiges Auge.

Und wenn wir dann Hin­

blicken auf das, was wir noch haben, und keiner weiß, wie

lange, — wenn wir denken an unser eignes Ende, und keiner weiß, wann es kommt, — ja, th. Fr.! mit welcher Kraft

muß die Predigt des Evangeliums gegürtet sein, um so viel Trauernden Trost, so viel Wunden Heilung zu bringen, um die Herzen mit Stillesein und Kraft auszurüsten wider

alle Todesbangigkeit und Todesfurcht! Bloßes Menschenwort

mag da verstummen und

Menschenmacht

Machtlosigkeit inne werden;

haben als das.

nur ihrer

aber Gott Lob, daß wir mehr­

Das Evangelium

die stärker ist als der Tod;

kann

ist eine Gotteskraft,

es erleuchtet mit seinem Licht

auch das Dunkel des Grabes; giebt es ein gewaltigeres Wort, als das, was der Apostel spricht: „Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem

181 Herrn.

Darum, wir leben oder wir sterben, so sind

wir des Herrn!" Gewiß, das Wort enthält viel Größeres als Trost, es

trägt die Ueberwindung des Todes in sich, es vernichtet

den Tod durch die Macht des Lebens. Wer mit dem Apostel

sprechen kann:

„wir sind des Herrn",

— der trägt ein

Ewiges in sich, das ihm weder das zeitliche Leben noch das zeitliche Sterben rauben kann. Wohlan, laßt uns sehen, ob das Wort hält was es verspricht. Die ihr Trost und

Licht sucht, stellt alles Leid und Weh, alles Grämen nnd

Sorgen, stellt Leben und Sterben selbst hinein in das Licht des Wortes: „Wir leben oder wir sterben, wir sind des Herrn!"

und ich sage: von dieser Losung aus fällt

1) ein Glanz ewigen Lebens auf unsere Todten

und auf unsern Tod: von dieser Losung aus strömt

2) eine Kraft göttlichen Trostes über unser Leben und unser Leid. —

1. Wir sagen zuerst: von der Losung aus „wir sind des Herrn"! fällt ein Glanz ewigen Lebens auf unsere Todten und auf unsern Tod. Aber freilich — damit unser Sterben

von diesem Lichte erhellt werde, muß zuvor unser Leben von

ihm verklärt werden. Machen wir uns Hur, was es bedeutet.

„Unser keiner lebt ihm selber, und keiner stirbt ihm selber" — beginnt der Apostel. Das Wort hat zunächst

einen Sinn, den keiner bestreiten kann.

Es heißt, wir leben

nicht aus uns selbst und nicht von uns selbst;

wir stehen

in der Hand einer höheren Macht, die über uns waltet.

182 Diese Macht ist nicht die des leblosen Geschicks.

blinden Zufalls

oder eines

Was wir Zufall und Schickung nennen,

steht vielmehr in der Hand des lebendigen

Gottes.

Aus

ihm leben, weben und sind wir; sein Aufsehen allein bewahrt

unsern Odem;

wenn er ihn zurückzieht, müssen wir vergehen;

Tod und Leben steht in seiner Hand.

Ob einer das leugnet,

ob er es glaubt, es ist eine Thatsache: unser keiner lebt, unser keiner stirbt ihm selber. Der Apostel spricht nun aber das Wort in anderem Sinne und anderem Zusammenhänge aus.

von der Abhängigkeit des Glaubens,

Weil das

ihrem Herrn stehen.

Er redet hier

in der

Christen zu

ganze Christenleben nach

allen seinen Seiten hin in beständiger Beziehung zum Herrn stehen soll, darum lebt und darum stirbt keiner ihm selber,

d. h. keiner lebt nur für willen.

sich selbst und um seiner selbst

Wir sind nicht etwa auf Erden wie die Mücke, die

einen kurzen Erdentag

schillern läßt,

lang ihre Flügel im Sonnenschein

um danach wieder der Vernichtung anheim

zu fallen. Wir sind für einen anderen da; leben wir, so leben

wir dem Herrn; wir leben für ihn und um seinetwillen. Und wer dieser Herr ist, für den wir da sind, das sagt der

Apostel gleich im nächsten Verse:

„Denn dazu ist Chri­

stus gestorben und auferstanden, daß er über Todte und Lebendige der Herr fei"

— wir leben für Chri­

stum und um Christi willen. Das ist nun ein unbeschreiblich großer Gedanke, denn

damit sagt der Apostel nicht nur, daß wir einem Vorbilde nachleben sollen, das ganz heilig ist;

auch

nicht nur, daß

wir einem Herrn zu gehorchen haben, dessen Macht bis in die Ewigkeit reicht.

Er verkündet ein Größeres;

wir leben

für Christum, das heißt, wir leben für einen, der aus Gott

183 war, der aber in heiliger Liebe in die Welt kam, um sie zu erlösen und seine Erlösten mit sich zu führen in die Heimath

bei Gott.

Wir leben für Christum,

das

heißt,

für einen Herrn, der sterbend der Sünde und

wir leben

auferstehend

des Todes Bande brach und mit Sterben und Auferstehen

den Zugang zu einer seligen Ewigkeit für alle geöffnet hat, die an ihn glauben.

Wir leben dem Herrn, das heißt also,

wir leben nun befreit von der Todesfurcht, er über uns erworben hat;

eines ewigen

lassen wird, das

Heils so gewiß, als er das Anrecht nicht

wir gehören ihm als unserm

Herrn, und unser einiger aber vollgültiger Trost im Leben und im Sterben ist, daß wir „mit Leib und Seele,

beides

im Leben und im Sterben nicht unser, sondern unseres ge­ treuen Heilandes Jesu Christi eigen sind." Was für ein wunderbarer Glanz fällt von da aus auf

unser armes Leben herab!

Wir werden gewiß gemacht, wir

sind nicht bloß für diese Erde da.

Ob

einer der Aermste

und Geringste auf Erden ist, er trägt einen unendlichen Reich­ thum in sich; er lebt einem Herrn, dem die Ewigkeit gehört.

Ob einer diese ganze Welt beherrscht — sic füllt ihn nicht aus, sie macht ihn nicht satt, der Herr, dem er gehört, zeigt

-ihm die Ewigkeit. bloßen Fortlebens.

Verwechselt das nicht mit dem Gedanken

Daß mit dem verwesenden Leibe nicht

auch die Seele des Menschen verwesen könne, daß sie nicht

mit der sterblichen Hülle sterbe, die man

verbrannte oder

einsargte, das haben sie zu allen Zeiten geahnt und gefolgert; denn Gott hat dem Menschen die Ewigkeit

schrieben,

ins Herz ge­

und nur in Zeiten ihres eignen Verfalls hat die

Menschheit sich von dem Unsterblichkeitsgedanken losgemacht. Hier aber handelt es sich um Größeres,

als um Ahnung

und Folgerung; hier ist die Gewißheit ewigen Lebens. Wer

184 Christo angehört, wer im Glauben mit ihm verbunden ist, der trägt thatsächlich durch ihn ewiges Leben in sich.

Er

empfängt von ihm einen göttlichen Lebensgehalt, welcher über diefe Welt und all' ihr Können weit hinausragt, eine

Kraft nämlich der Heiligung und des Friedens, ein Leben

mit dem auferstandenen Herrn verborgen in Gott und eine Berührung mit dem Geiste Gottes, durch den er rufen kann:

Abba, mein Vater, du lieber Vater! Wird aber so unser Leben verklärt durch die Gewiß­

heit, die wir im Glauben haben dürfen: wir sind des Herrn!

— lasset uns nun auch sehen, mit welchem Lichte diese Gewißheit auch unser Sterben erleuchten muß.

Denn die

Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe, die Lebensgemein­ schaft, die uns mit dem Erlöser Christus verbindet, kann ja gar keine Aenderung durch den Tod erleiden.

„Dazu eben,

sagt Paulus ausdrücklich, ist er gestorben und wieder leben­

dig geworden, daß er über Todte und Lebendige Herr sei." Als der Herr, der selbst die Riegel des Todes gesprengt hat,

hält er auch über uns seine starke Hand in den Schrecken des Todes und läßt die Seinen nicht allein auch im Thale

der Todesschatten. Es ist wahr, wir möchten so gerne wissen, wie er das thue und wie der Weg sei, den er uns leitet,

und wir er­

fahren nichts davon und sollen es nicht erfahren.

Genug,

daß dies Eine gewiß ist, was Paulus sagt: „ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes mag uns scheiden von

der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn." — Auch das ist wahr, wir möchten so gern mehr sehen können von dem Glanze ewigen Lebens, der auf unsere Sterbebetten

fällt.

Man hat es alle Zeit als eine besondere Gnade be-

185 trachtet, wenn das Sterben des Christen auch etwas offen­ barte von der todüberwindenden Macht seines Glaubens,

wenn

auch

auf ein brechendes Angesicht etwas von dem

Verklärungslichte fiel, das der Seele anbricht, die ihres Hei­ landes und ihres Gottes gewiß ist.

Wie selten ist das der

Fall! Aber dennoch bleibt ebenso gewiß, wem Christus das

Leben ist, d. h. wem Christus und

seine Gemeinschaft zum

eigentlichen Lebensinhalt geworden ist, dem geht dieser Le­ bensinhalt auch im Sterben nicht verloren.

Ihm wird das

Sterben Gewinn, der Todestag ein Geburtstag zur Ewig­

keit, der Ausgang aus diesem Leben, wie es die christliche

Welt genannt

hat, ein „Heimgehen" zum Daheimsein beim

Herrn; es wird das Sterben der Anbruch des Lebens, von dem selbst

die Schrift nur in den ahnungsvollen Bildern

heiliger Symbolik zu reden weiß. Und nun laßt uns mit diesem Gedanken Hinblicken auf die Sterbebetten,

Auch

ja auf die Grabstätten unserer Geliebten.

von ihnen gilt ja: wir leben

oder wir sterben, wir

sind des Herrn. Mag äußerlich nichts als Grauen und Vernich­ tung vorhanden sein: ihm leben alle Todten. Was das Grab

birgt, ist nur ihre Hülle, nicht sie selbst; sie sind des Herrn

und sie leben dem Herrn.

Das ist der Untergrund aller

der großen Verheißungen, die die Schrift hat, aller der mächtigen Worte, die in der That etwas von überirdischem

Glanze in sich und an sich tragen: das

ewige Leben

„Ich gebe den Meinen

und sie werden nimmermehr umkommen,

und niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen;" „ich

lebe und ihr sollt auch leben;"

„selig sind die Todten, die

in dem Herrn sterben von nun an." — Wir wollen dabei

nicht unsere Todten idealisiren. Wir sehen sie nicht auf ein­ mal als Heilige an, weil sie nicht mehr da sind.

Sie sind

186 Sünder wie wir; sie werden gerettet nur durch die erlösende

Gnade in unserm Herrn Jesu Christo, auf die auch wir hof­ fen. Aber bei wie vielen ist grade das, was wir an unseren Todten liebten, was ihr eigentliches inneres Leben ausmachte,

— die Vater- und Mutterliebe, die dich dein Leben lang auf Händen des Gebets getragen

hat, der verborgene Mensch

des Herzens unverrückt mit sanftem und stillem Geist, durch

den deine Gattin dir ein Wegweiser zum Heil und zum Glauben ward, der treue und feste Sinn,

mit dem dein

Gatte dir Halt und Stütze war auch int inneren Leben, das

lautere Trachten nach Herzensreinheit, das

du an einem

Kindesgemüth oder an deinem Freunde geliebt hast, — bei wie vielen, sage ich, ist grade das die Stelle, wo sie offen standen für die erlösende Gnade, die im Verborgenen in den Menschenkindern ihr Werk hat!

Und in diese Gnade hinein,

die über Bitten und Verstehen mit uns handelt, befehlen

wir sie, wenn wir über ihnen sagen: sie sind des Herrn! Ich gehe einen Schritt weiter und begegne manchem

Gedanken, der mir fragend entgegen kommt.

So wenig der

Tod die Gemeinschaft mit dem Herrn auflösen kann, so we­ nig hat er auch seiner Liebe eine Schranke ziehen können.

Wie mancher, der in dem Augenblicke dahingerafft wird, wo

er sein inneres Auge auffchlagen wollte zu

der Herrlichkeit

des Herrn, den er bis dahin nur ahnend gesucht hat.

Wie

mancher, der in seinem reinen und ernsten Forschen und Trachten nach Wahrheit und Reinheit nicht ahnt, daß er bereits auf der Linie steht, an deren Ende ihn Christus er­

wartet, der die Wahrheit und die Reinheit ist! O, L Fr.,

der Herr läßt auch solche nicht! Wo noch ein Funke mensch­ licher Empfänglichkeit ist, da ist auch die Flamme göttlicher

Liebe, die ihm entgegenschlägt,

um ihn anzufachen.

Gottes

187 Liebe wird nur gelobtet durch das vollkommene Widerstreben

des Menschen, und so lange noch diese Liebe über Menschen wallet, so lange dürfen wir auch noch für sie der Erlösung

harren und ans sie das Wort anwenden: siesinddesHerrn! Ja,

was

ist

das

für

ein

Licht

und

ewigen Lebens, der damit in die dunkle Welt

ein

Glanz

des To­

des und der Todten fällt! Der ganze Reichthum von Hoff­ nung und von Leben, den

das Evangelium in die Welt

gebracht hat, sammelt sich auf diesem einen Punkte. Kurz und

knapp hat Paulus den Unterschied zwischen Christ und Nicht-Christ mit dem Wort bezeichnen können: „Wir weinen'

nicht wie die andern, die keineH öffn ung haben." — Daran scheiden sich die Weltanschauungen in alter und neuer Zeit.

Christenvolk, du bist der Träger einer großen Hoffnung, da wo dem Heidenthum alle Hoffnung aufhört, im Tode — so

du anders die Gewißheit des Glaubens hältst: wir sind des Herrn!

Es ist wahr, man kann dieses Licht nur mit dem Äuge des Glaubens sehen und nur im Glauben dieser

Hoffnung froh werden.

Was

der

Herr am Grabe des

Lazarus zur Martha gesprochen hat, das gilt dir: „so du

glauben wirst, sollst du die Herrlichkeit Gottes

sehen."

Kein wichtigeres Gebet kann es darum für trauernde und

bekümmerte Menschen geben, als die Bitte um Glauben, um Glauben nur wie ein Senfkorn groß, um ein Fünklein nur

des Glaubens,

der Gottes Herrlichkeit schaut.

Es giebt

abcr auch keine ernstere Mahnung an alle zerschlagenen Her-

zer als die: lerne glaubend die Hand des Herrn erfassen; ferne alles in dir hinwegräumen, was dich an diesem Glau­ be» hindert.

Lerne betend und suchend so lange die Glau-

beishand ausstrecken, bis du erfährst, daß die Losung, „wir

188 leben oder wir sterben, wir sind des Herrn,"

wie sie

ver­

klärend ihr Licht wirft auf das Dunkel des Todes, auch

2. als eine Kraft göttlichen Trostes sich in deinem Leben

und in deinem Leid bezeugt.

Nur dem tiefsten Leid gegenüber kann die ganze Größe des Trostes offenbar werden, der hier geboten wird. Darum

lasset ruch, l. Fr.! noch einmal im Geiste in die stille Kammer versetzen, in der ein geliebtes Leben von der Erde Abschied genommen

hat.

Ermeßt und

durchlebt noch einmal den

ganzen Ernst und die ganze Schwere dessen, was ihr erlebt

habt.

Aber, wenn dann das Auge starr werden und ver­

zweifelnd das Herz sich aufbäumen will gegen den Stachel,

der dich zerfleischt, dann klammere dich mit allem, was du nur an Glaubenskraft au^utreiben vermagst, an dieses eine

Wort:

„wir leben oder wir sterben, wir sind des Herrn!"

Soll denn der Gott, der seines eignen Sohnes nicht ver­ schonet hat,

damit du sein eigen werdest, noch von Herzen

Menschenkinder plagen und betrüben können? Soll der Gott,

der in erlösender Liebe die Welt umfaßte, die Erlösten ver­ gessen und zerbrechen lassen in namenlosem Weh? Nicht

nur in den Zeiten des Sonnenscheins und des Glücks, auch in der Trauer und in der Todesnoth bist du und bleibst du des Herrn. Es mag vielleicht die Frage nach dem Warum

dieses Leids, die immer wieder in deiner Seele aufsteigt, dir

dein Leben lang unbeantwortet bleiben; das hat der Vater

seiner Weisheit und Macht Vorbehalten und wir lüften den Schleier nicht. Aber die Antwort erhältst du und fassest sie

im Glauben, daß Gottes Zeit die allerbeste Zeit ist um die

189 reif

gewordene Garbe heimzuholen

Scheuern.

in

seine

himmlischen

Die Gewißheit wird dir gegeben, daß wenn du

nur des Herrn bist, kein andrer Gedanke über dir walten kann als ein Gedanke des Friedens, daß nichts anderes dich treffen kann als die Zucht,

die aus der Hand der Liebe

kommt und die du deswegen nicht gering achten sollst; und daß darum auch dieser Weg, so dunkel und so schwer er ist, doch nur ein Weg des Heils sein kann.

Das alles aber

macht die Thränen milder fließen und nimmt dem Leid die Verbitterung; es ist eine Kraft göttlichen Trostes. —

Und noch auf eine andre Frage wird dir die Antwort gegeben, die nämlich, wozu das Leid dir gesandt ist. Dazu,

daß du tiefer als bisher

in die ganze Kraft des Wortes

hincingegründet werdest: wir sind des Herrn! Dies Wort selbst lehrt dich leiden nach

Gottes Willen.

Jedes Leid,

das getragen wird mit der stillen Beugung des Willens: ich bin des Herrn



wird

eine Glaubensschule, die uns

tiefer hineinführt in die Erfahrung des göttlichen Heils und uns fester als bisher mit dem Herrn verbindet. Wie mancher

hat schon das erlebt, wenn plötzlich alle die Stützen,

an

die er sich hielt zusammenbrachen, wenn mit einem schweren

Schlage alles genommen wurde, was hier das Herz aus­ füllte: — wie grade dann das vorher verschüttete Glaubens­

bedürfniß mit gewaltiger Macht sich regte und die Sehnsucht nach dem Herrn lebendig wurde,

der den Mühseligen und

Beladenen versprochen hat: ich will euch erquicken. Wie oft wiederholt sich die Erfahrung,

wenn vielleicht in monate­

langem Krankenlager täglich das Abrahamsopfer gebracht

werden muß oder in monatelangem Leiden täglich die Fragen

des Kranken wie das Hoffen des eignen Herzens auf das Gebet gewiesen werden müssen: „Herr wie d u willst, so schicks

190 mit mir" — daß eine solche Zeit eine ungeahnte Entfaltung des Glaubens und ein Wachsthum am inneren Menschen

mit sich bringt, wie wir es selbst kaum wissen.

Es sind

überhaupt nicht die Zeiten des Leidens, in denen wir am

ehesten innerlich zerbrechen und untergehen. Viel häufiger sind sie grade diejenigen, in denen wir innerlich hineinleben in Gottes Heilsgedanken, in denen das Gebet treuer, der Wille stiller

und demüthiger, der Glaube fester wird, in allem, Leben und Sterben, zu sprechen:

wir sind des Herrn.

Wem aber so

sein Leid selbst zum ewigen Gewinn, wem eine stille Trauer­ zeit zu einer Schule des Gebets und des Glaubens geworden ist, der hat wahrlich göttlichen Trost!

Göttlicher Trost heiligt den Menschen; auch dieser

thut es.

Wir erleben es ja wohl in tiefem Leid, wie einem

die Welt entwerthet wird und

so vieles, woran das Herz

hing, einem unendlich leer und nichtig vorkommt. viel tieferem Sinne wird das wahr, wenn

In wie

das Leid uns

tiefer in den Glauben hineinführt: wir sind des Herrn. Das

Wort hebt uns empor über die Welt.

Alle Angst und Noth

der Welt können uns wohl umringen, aber sie reichen nicht an die Seele: wir sind

des Herrn.

Alle Verlockung der

Welt, die Ehre die sie bietet, die Gunst

die sie verspricht,

der Genuß, den sie verheißt, alles was früher so große Ge­

walt über dich hatte, es kann dich nicht mehr überwinden: wir sind des Herrn. Wir haben eine bessere Krone, nach der wir trachten; wir haben einen höheren Preis, um den wir ringen; wir haben auch einen anderen Richter, vor dem wir

wandeln: wir sind des Herrn.

Der leidige Welttrost zieht

uns in die Welt und ihre Zerstreuung herab; Gottes Trost

hebt uns über die Welt hinaus.

Welttrost verführt so leicht

Gottes Stimme zu überhören; Gottes Trost heiligt. Welt-

191 tröst weist uns wohl hin auf das was wir behalten haben: Gottes Trost thut cs auch, aber um eine neue und heiligere

Gemeinschaft der Liebe zu gründen als bisher. Wir sind des

Wort nicht auch

Herrn!

Th.

Fr.!

liegt

in dem

ausgesprochen eine heilige und unendlich

zarte Gemeinschaft der Liebe, in

der wir mit einander

stehen sollen? Ach, wie oft wenn wir unserer Todten gedenken, ist grade das der Stachel unseres Leids,

daß wir zugleich

einer schweren Liebesschuld gedenken müssen,

mehr haben abtragen können.

die wir nicht

Jede versäumte Liebe thut

weh, und kann wohl ein Mensch einen andern, mit dem er

enge verbunden war, auf der Bahre liegen sehen, ohne auch an versäumte Liebe zu gedenken? Ist nun das nicht wieder gut zu machen, um so ernster laßt

uns die Mahnung zu

heiliger Liebe hören, die der Apostel uns mit seiner Lo­ sung zuruft: wir sind des Herrn! Das Tiefste was Menschen aneinander schließt und mit einander verbinden kann, ist die Gemeinschaft in einem Glauben, in einem Heil, in einem

Herrn.

Das giebt aller Gemeinschaft eine

heilige Weihe.

Wohlan, daß wir in diesem Herrn verbunden, der Ewigkeit entgegengehen, das ist die Mahnung, die heute an uns ergeht. Wir wollen

aneinander nicht nur das Zufällige und das

Vergängliche lieben,

Gesicht,

die schöne Gestalt oder das liebliche

sondern das was bleibt für die Ewigkeit,

wendigen Menschen, der des Herrn

den in­

Eigenthum ist.

Wir

wollen einander nicht nur lieben, um eine kurze Zeit mit einander fröhlich zu sein, sondern um uns zu haben und zu halten für die Ewigkeit, um einander zu befestigen in der

Gemeinschaft des Heils, das vom Herrn ausgeht. In welcher Art von Gemeinschaft wir immer stehen, Gatten, Geschwister, Freunde, Hausgenossen,

lasset uns einander lieb haben für

192 den Herrn, betend für einander, betend, mit einander.

wo es sein kann

So werden wir im Leid nicht ärmer werden

an Liebe, sondern reicher, weil zarter und innerlicher auf

den Herrn gerichtet.

So geht auch mit dieser neuen Kraft

heiliger Liebe ein Trost aus von der Losung: wir sind des Herrn.

Und wenn dann einer abgerufen wird, den wir lieb hatten, so offenbart sich noch einmal der

volle Trost des

Wortes: wir leben oder wir sterben,

wir sind des Herrn!

Er geht ja heim zu demselben Herrn,

dessen wir hier noch

harren,

auf

den

sich

das wartende

das Trachten des Herzens.

Auge

richtet

und

Er ist der eine Herr über Le­

bendige und Todte. In ihm halten wir auch den Zusammen­ hang mit unsern Entschlafenen fest; sie sind vorangegangen, wir folgen ihnen nach; wir bleiben auch einander unverloren für eine ewige Gemeinschaft,

wenn wir nur des einen

Herrn sind.

Und noch weiter ist der Gesichtskreis, der sich mit diesem Worte uns öffnet und der Trost,

der

von ihm ausgeht.

Nicht unsere Todten allein sind bei dem Herrn, der der Herr ist über Lebendige und Todte. „Ihr seid," sagt der He­

bräerbrief,

„gekommen zu der Menge vieler tausend Engel

und zu der Gemeine der Erstgeborenen, die im Himmel an­ geschrieben sind und zu den rechten."

Geistem der vollendeten Ge­

So viel ihrer schon aus der streitenden Kirche in

die triumphirende übergegangen sind und ihre Kleider nach

großer Trübsal der Zeit gewaschen haben

im Blute des

Lammes, „Apostel groß und Patriarchen hoch, auch Christen

insgemein, und was hier trug des schweren Kreuzes Joch und der Tyrannen Pein",

— sie stehen unter dem Herrn,

der sie leitet an den lebendigen Wasserbrunnen, und durch

193 ihn stehen wir mit ihnen in einem Zusammenhänge des

Glaubens, vereinigt zu Einer Gemeinde der Heiligen hier und dort. Ueber diese öde und oft vereinsamende Welt der Sicht­

barkeit hinaus schauen wir in eine zukünftige und unsichtbare. Ueber Lebendige und Todte, über noch Kämpfende und über

Vollendete, über die Ringenden wie über die zur Ruhe des Volkes Gottes Versammelten ist er der Herr und wird auch

an uns sein Werk nicht unvollendet lassen, wenn wir es glaubend festhalten: wir sind des Herrn. Unser keiner lebt ihm selber, unser keiner

stirbt ihm selber! Theure Freunde! Die Augen empor zum Herrn und die Herzen fest zu dem heiligen Entschluß: Dir Herr wollen wir leben, damit wir Dir auch, wenn unser

Stündlein kommt, sterben, daß cs im Leben wie im Sterben, in Zeit und Ewigkeit von uns gewiß sei: wir sind des Herrn!

Amen.

Univerfitäts-Buchdrnckerei von Carl Georgi in Bonn.