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German Pages 177 [192] Year 1887
Evangelische Predigten von
Grast Dryander, Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin.
Zweite Sammlung.
Zweite Auflage.
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Bon«, bei Adolph Marcus. 1887.
Predigten über
das christliche Leden von
Ernst Dryander, Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin.
Zweite Auflage.
------------- —r-r—--------------
Bonn, bei Adolph Marcus. 1887.
Dem Kreise
meiner Csnsirmanden aus älterer und neuerer Zeit.
Uorrrde Der Wunsch, zu dem Umbau der Dreifaltigkeitskirche,
welcher im August des vorigen Jahres
begonnen, seiner
Vollendung entgegengeht, auch durch eigene Arbeit ein Scherf lein beizutragen, hat die Herausgabe der nachfolgenden Pre
digten veranlaßt.
Ich übergebe dieselben meiner Dreifaltig
keitsgemeinde mit der Bitte um freundliche Aufnahme und mit dem Wunsche, daß dieselben manchen! die Erinnerung an
Gottesdienste erneuern möchten, in welchen wir auch in der kirchlichen Zersplitterung Berlins das Bewußtsein einer Ge meinschaft des Glaubens
und der Liebe empfunden haben,
welche von dem äußeren Zusammenschlüsse einer organisirten
Gemeinde unabhängig ist.
Sollten auch Glieder meiner früheren Bonner Gemeinde diese Predigten lesen, so mögen sie dieselben als Zeugnisse unveränderter Verbundenheit auf dem Grunde gleichen Glau bens und als Grüße fortdauernder Liebe aufnehmen.
Berlin, im März 1886.
Der Berfaffer.
Zur zweiten Auflage. Schneller als ich erwarten durste, ist ein neuer Abdruck der Sammlung nöthig geworden.
Ich kann denselben nur
mit dem Gebetswunsche hinaussenden, es wolle Gottes Gnade das Wort an denen segnen, welche es lesen und auch der
nunmehr neu geschmückten Dreifaltigkeitskirchc die Gemeinde bewahren, die auf dem einen Grunde sich erbaut, von dem
diese Predigten zeugen wollen: Jesus Christus gestern und heute und derselbe in Ewigkeit! Berlin, im März 1887.
Der Verfasser.
Inhalt. Seite
I.
II.
III.
IV.
V. VI. VII. HI.
IX. X.
Die Wiedergeburt. Trinitatis 1884. — (Joh. 3, 1—8).................................................. 1 Suchet, was droben ist. Trinitatis 1883. — (Kol. 3, 1—4)........................................................ 14 Die Erneuerun g. 1. Sonntag nach Trini tatis 1883. — (Kol. 3, 5—11).......................... 28 Die Schönheit des christlichen Lebens. 2. Sonntag nach Trinitatis 1883. — (Kol. 3, 12—15).................................................................. 41 Alles im Namen Jesu. 6. Sonntag nach Trinitatis 1883. — (Kol. 3, 17) .... 56 Gesegnetes Beten. 15. Sonntag nach Trini tatis 1883. — (Kol. 4, 2—4)........................... 68 Das feste Herz. Sonntag nach Neujahr 1885. — (Hebräer 13, 9).............................................. 82 Kommet her zu mir alle, die ihr müh selig und beladen seid. Dritter Advent 1885. — (Matth. 11, 25—30) 95 Die Christfreude. Erster Weihnachtstag 1885. — (Lucas 2, 9—11)............................................ 108 Heute wirst du mit mir im Paradiese sein. Charfreitag 1885. — (Lucas 23, 39-43) 121
Seite
XI. Das offene Grab. Ostern 1888. — (Marc. 16, 1—8)......................................................................... 133 XII. Die Erscheinung des Herrn vor Elias. 18..Sonntag nach Trinitatis 1884. — 1. Kö nige 19, 1—18).................................................... 148 XIII. Nichts kann mich scheiden von der Liebe Gottes. Neujahr 1886. — (Römer 8, 38—39) 163
I. Trinitatisfest 1884. Die Wiedergeburt. Joh. 3, 1—8.
Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern,
mit Namen Nicodemus, ein Oberster unter den Juden, der tarn
zu Jesu bei der Nacht, und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn Niemand kann
die Zeichen thun, die du thust, cs sei denn Gott mit ihm.
Jesus
antwortete, und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir:
Es sei denn, daß Jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen.
ein
Mensch
wiederum
geboren
Nicodemus spricht zu ihm:
werden,
wenn er alt ist?
Wie kann
Kann
in seiner Mutter Leib gehen, und geboren
er auch
werden?
JesuS antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß Jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann
er nicht in das Reich Gottes kommen.
Was vom Fleisch geboren
wird, das ist Fleisch; und waS vom Geist geboren wird, das ist Geist.
Laß dich's nicht wundern,
müsset von neuem geboren werden.
daß ich dir gesagt habe:
Ihr
Der Wind bläset, wo er will,
und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt, und wohin er fährt.
Also ist ein Jeglicher, der auS
dem Geist geboren ist.
Mit dem heutigen Sonntage beginnt die festlose Hälfte
des Kirchenjahres; aber ihr erster Tag, das Trinitatisfest, schaut zunächst noch einmal auf die abgeschlossene Festhälfte zurück
und
faßt die einzelnen
vergangenen
Strahlen der
christlichen Feste in sich wie in einem Brennpunkte zu einer 1
2 Einheit zusammen.
Darum hat die Kirche vom alters her
diesem Sonntage ein Evangelium gegeben, welches das tiefste
Thema anschlägt, das Menschen beschäftigen kann,
und in
welches schließlich alle Töne christlicher Festpredigt, alle Ge
danken göttlichen Heils ausllingen — das Thema von der
Wiedergeburt des Menschen.
Bist du aufs neue geboren,
wiedergeboren zu neuem Leben aus der Liebe des Vaters, welche die Weihnacht, durch die Erlösung des Sohnes, welche
Ostern, in der Kraft des heiligen Geistes, welche Pfingsten
uns verkündet hat? — das ist die Frage, in welche sich gleich
sam der Ertrag unserer christlichen Feste zusammenfaßt. Legen wir sie nach dem heutigen Evangelium uns vor! Aber allerdings bedarf diese Frage, damit eine ersprieß
liche Antwort auf sie erfolge, im besonderen Sinne hörender Ohren, stiller Herzen und empfänglichen Aufnehmens.
Es
ist ein verschwiegenes Nachtgespräch, zu dem der Herr in
unserem Evangelium den Nicodemus empfängt: ebenso still und unverworren mit Weltlärm und Weltsorge müssen unsere Herzen werden, wenn uns, wie dort dem Pharisäer, das Himmelreich
wenigstens ahnend
Nicodemus kommt zum Herrn
verständlich
werden
soll.
als ein Mensch voller Be
denken, voll kühler, tastender Zurückhaltung,
aber doch als
einer, dem es um das Höchste zu thun ist, nämlich um das
Reich Gottes, und dem eben deshalb der Herr die großen Dinge des Himmelreiches auffchließen und verkündigen kann.
So laßt uns immerhin kommen auch mit unseren Zweifeln und Bedenken, wenn wir nur mit der Bitte kommen um heiligen Ernst für die tiefste Frage nach dem Heil und dem
Frieden der Seele, um offene Herzen für die Antwort auf die Frage:
wie werde ich von neuem geboren,
geboren für das Reich Gottes?
wieder
8 Von der Wiedergeburt
reden wir.
Die
Tiefe des Wortes erlaubt uns nur die
schlichte Auslegung desselben; in seiner Auslegung aber ist hoffentlich auch für uns der Wegweiser enthalten, den wir
brauchen.
Es sind vornehmlich zwei Gedanken, die der Herr
uns sagt: wir müssen von neuem geboren werden,
wir können von neuem geboren werden.
Die Wiedergeburt ist beides, nothwendig, aber auch möglich für uns.
1. Es liegt in den wenigen, flüchtigen Strichen, mit wel chen der Evangelist die Gestalt des Nicodemus uns zeichnet, etwas überaus Charakteristisches.
„Meister, wir wissen, daß
du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn Niemand kann die Zeichen thun, die du thust," — so führt sich der Schrift
gelehrte bei dem Herrn ein.
Er will ihn anerkennen als
gottgesandten Lehrer; seine Wunder haben ihn als solchen bei ihm beglaubigt.
Vermuthlich urtheilt er auch nicht nur
nach diesen äußeren Zeichen; auch die tiefgehende religiöse Bewegung, die von ihm aus unzweifelhaft über das Volk ansgeht, ist ihm ein solches.
Er hat sie tiefer
beobachtet
als andere — hier ist etwas, das wirklich unvermischt und
unverworren
mit weltlichen
Dingen
regungen sich hält, eine Bewegung, seinen Antheil hat.
Auch daß
der
und
politischen
Er
an der Gottes Geist
Herr den
geistlichen
Machthabern entgegengetreten ist, hindert ihn nicht an seiner Anerkennung; er hat auch dafür sich den Wahrheitssinn be
wahrt; er fühlt sich in der officiellen Religion des Phari-
säerthums nicht befriedigt; er hat ein tieferes Verlangen
4 nach einem lebendigen Hauche von oben.
Wenn aber hier
nun unzweifelhaft eine Bewegung ist, die aus dem oberen
Heiligthum stammt — sollte ihr Urheber nicht auch auf die Fragen seines Herzens die Antwort haben?
Nur — er
will sich nicht öffentlich mit ihm einlassen, sich nicht mit ihm
kompromittiren; darum geht er unter dem Schutze der Nacht zu ihm.
Und noch mehr — auch der Prophet von Galiläa
soll nicht merken,
was er eigentlich von ihm will; darum
will er nicht etwa sein Heilsverlangev ihm entdecken, er will
vielmehr ihn prüfen, ihn aushören, was an ihm sei.
So
beginnt er wie ein Weltmann seine Unterhaltung mit höf licher Anerkennung, als der
gemeinsamen Basis,
von der
aus er weiter gehen kann: „Wir wissen, Meister, daß du bist ein Lehrer, von Gott gekommen".
Ebenso charakteristisch ist nun aber auch die Antwort deS Herrn auf diese Einleitung: kein Wort dankender Er widerung der Höflichkeit, keine Anerkennung etwa über den
vornehmen Besuch, der sich zu ihm bemüht, keine Mittheilung über seine Absichten und Pläne, für welche er das Volk
zu gewinnen denke — wenn man es mit einer Menschenseele zu thun hat, die gerettet werden soll, ist die Zeit zu kost
bar für Höflichkeiten.
Vielmehr mit dem
ganzen Ernst
prophetischen Tones gibt der Herr eine Antwort, die eigent lich keine ist und doch genau dahin trifft, wohin sie zielt:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, es sei denn, daß Jemand von neuem geboren werde, so kann er das
Reich Gottes nicht sehen". Mit einer Forderung an den Herrn war Nicodcmus gekommen, und der Herr richtet umgekehrt eine Forderung
an ihn und zwar — wunderlich — gerade jene innerlichste
Forderung, die ihm bereits aus dem Munde des Täufers
5 so innerlich weckend entgegengetreten war, die Forderung, die er als den eigentlichen und bedeutsamen Kern der ganzen
religiösen Bewegung betrachtet, welche durch das Volk hin durchzittert, die Forderung, die auch in seiner eigenen Seele
einen lebendigen Wiederhall findet, auch wenn er sie noch
nicht an sich selbst gerichtet hat—: umkehren, neu werden, neu geboren werden!
Ja, diese Forderung enthält wirklich die rechte Ant
wort auf das eigentliche Verlangen des Nicodemus; hat je eine Antwort das seelsorgerische Verständniß des Herrn, seinen tiefen prophetischen Ernst wie feine sündersuchende Liebe ge
zeigt, so ist es diese.
Es ist, als wollte er sagen: ich ver
stehe dich ganz, Nicodemus; ich kenne dein innerstes Anliegen; was du brauchst, ist nicht eine neue Erkenntniß, sondern ein
neuer Wille, nicht irgend eine Aufklärung über meine Person, die deine Bedenken hebt, sondern ein Klarwerden über dein
eigenes Ich
in seiner Friedlosigkeit und seinem Elend, die
du dir selbst nicht zu gestehen wagst.
Du willst das Gottes
reich, ich weiß es; sieh, worauf es bei dirMnkommt, das ist — inneres Neuwerden, die sittliche Neugeburt! Ohne sie gibt
es keinen Weg ins Reich Gottes.
Der heilige Gott läßt sich
nicht antasten von unreinen Händen, er läßt sich nur schauen
von reinen Herzen.
Die ernste That der Buße, die Absage, die
du der Sünde gibst, die entschlossene Abkehr von ihr ist der erste Schritt in das Reich Gottes.
Th. Fr.! könnten wir mit
der. Gotteskraft des Herrn und mit dem Seelenverständniß des Heilandes doch den Nicodemusgestalten von heute,
die
mit ihrer Sehnsucht nach Heil und Frieden dastehen und im
Dunkel der Nacht, um nicht mit Kirchengehen und Bibellesen
sich als fromm zu kompromittiren, ihre hunderterlei Bedenk
lichkeiten und Zweifel aussprechen, wie sie das nicht glauben
6 oder jenes nicht annehmen könnten, ins Gewissen rufen: am Willen liegt es, an der That der Buße, an der lebendigen
Erfahrung und Erkenntniß der Sünde. Wort: die Welt ist der Wille.
Dogmatik bei Seite,
Auch hier gilt das
Laßt alle Zweifelfragen der
aber stellt euch mit ganzem Ernst der
Frage gegenüber: Muß ich von neuem geboren werden? In der That hat Nicodemus so den Herrn verstanden;
gerade die Thorheit seiner Antwort beweist es: „Wie kann
ein Mensch geboren werden- wenn er alt ist? kann
er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und
geboren werden?" Meinen wir doch nicht, der Schriftgelehrte sei so un
empfänglich für alles Göttliche gewesen, daß er nicht ge wußt hätte, wo der Herr eigentlich hinauswolle.
ihm neu sein, daß
nicht
Es mag
nur Zöllner und Sünder, son
dern auch Pharisäer und Schriftgelehrte neu geboren wer
aber es ist etwas in ihm, was ja dazu sagt.
den müßten;
Es mag ihm überraschend sein, daß sein Besuch und seine Würde im
hohen Rath so gar
keinen Eindruck auf den
Herrn macht, aber etwas in ihm spricht auch dazu eine Zu stimmung aus; er ist getroffen.
Es wird ihm schwer, daß
er, der anerkannte Lehrer, so als Schüler vor einem dastehen
muß,
der gar keinen öffentlichen Rang hat; auch daß dies
Gespräch, das
er sich
wie eine Gunstbezeugung seinerseits
gedacht hat, nun vielmehr mit seiner Demüthigung beginnt; aber bei alledem vermag er sich dem Stachel, der darin liegt,
nicht zu entziehen.
—
Ach, wie viele würden sich
treffen
lassen von dem Worte der Wahrheit, von dem heiligen Zu-
sammenllange des Wortes mit dem Zeugniß ihres Gewissens,
wäre es nur nicht gar zu demüthigend,
das zuzugestehen!
Das ist auch des Nicodemus Gefühl und darum wählt er
7 den gewöhnlichen Ausweg
ironisch
verlegener
die Thorheit dem Herrn zu:
er wird
„wie kann ein Mensch ge
boren werden, wenn er alt ist?" zu dem
Menschen:
und schiebt mit dem Anschein überlegener Weisheit
Während sein Herz
allen Ja sagt, verwandelt er sich diese Frage des
Herzens in einen
theologischen Disput, eine kühle Ueber-
legung des Verstandes, als ob das Herz und das Gewissen nicht ebenso viel Recht hätten wie der Verstand, und als ob,
was sie empfinden, nicht genau ebenso wahr wäre, als was der Verstand in seine Begriffe zu fassen vermag.
Die Menschen würden sich nun auf eine solche Antwort hin abwenden und schnell mit dem absprechenden Urtheil fertig
sein, es fehle dieser kalten und verständnißlosen Seele an jeder Empfänglichkeit für das Reich Gottes. das nicht;
Der Herr thut
er sieht tiefer und schmiedet das Eisen, das in
der Tiefe schon warm wird, so kalt auch die Oberfläche scheint, er drückt den verborgenen Stachel nur fester ein und
wiederholt: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: es sei
denn, daß Jemand geboren werde aus dem Wasser
und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen".
Aus Wasser und Geist — auch das konnte Ricodemus
verstehen, so gut wie wir.
Er hatte ja die Taufe des Jo
hannes miterlebt und vermuthlich nicht nur die Aktenstücke
gelesen, die nach dem Berichte jener Pharisäercommission über den Propheten aus der Jordanwüste im hohen Rathe mögen circulirt haben.
Vielleicht hatte er auch miterlebt, wie
Johannes einst Zöllner und Sünder zur Buße taufte, aber den Pharisäern die Taufe versagte, weil sie nicht von der stolzen Höhe ihrer Selbstgerechtigkeit herabsteigen und sich
demüthigen
wollten.
Und nun wiederholt gerade ihm der
8 Herr: „n ur aus der Buße die Neugeburt! demüthige Selbst
erkenntniß,
Anerkenntniß deiner Armuth im Geiste, deiner
Unreinheit
vor Gott, Beugung vor dem Heiligen — das
ist der Anfang für dieses Neuwerden, der erste Schritt ins
Reich Gottes; das heißt abgewaschen werden in dem Was
ser der Bußtaufe!
So wenig Erkenntniß der Herr verlangt,
so wenig er vor den Zweifeln und Bedenken zurückschreckt, die irgend Jemand zu ihm mitbringen kann, so wenig gibt er auf
diesem Punkte irgend etwas nach; hier fordert er
ganzen Ernst, ungetheilten Willen, Erkenntniß der Sünde
— der alten, die du dir nicht mehr anrechnest, wie der neuen, die dir auf der Seele brennt — er fordert: laß dich taufen,
d. h. laß dich abwaschen und reinigen durch die Buße.
Aber nun fügt er weiter hinzu: neu geboren werden
auch aus dem Geist.
Ach, wie manchmal hatte Nicodemus
vor seinen Schülern ausgelegt, was Joel geweissagt hatte:
„Ich will meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, spricht der Herr"; wie oft hatte er auch gehört, was Johannes von dem Messias verkündigte, der mit Geist und Feuer taufen
werde!
War denn das nicht die immer neu gemachte Er
fahrung, dieselbe, die sich auch an uns noch wiederholt, daß
alle Vorsätze der Umkehr wieder zerbrechen, diese Gelübde
der Buße nicht Stand halten, daß die Wege, auf denen wir zur Sünde gehen, buchstäblich gepflastert sind mit den vor her zerschlagenen guten Vorsätzen? Neue Kraft, neues Leben
thut uns noth zum wirllichen Neuwerden; einen neuen Willen, einen neuen Geist aus der Höhe
brauchen wir, in dessen
Kraft ein Wollüstling von nun ab an der Keuschheit seine
Lust findet, oder ein Hochmüthiger in der Demuth seine Er quickung sucht.
Den aber gibt keiner sich selbst;
ich nur geschenkt
erhalten
durch eine
den kann
That des lebendigen
9 Gottes, welcher hungernde, durstende
Menschenseelen mit
seinem Geist aus der Höhe taufen kann und den Lebens
odem für einen neuen Wandel zu geben vermag. — Willst du
es versuchen, dir selbst das zu geben, es zu erzwingen mit eigener Kraft — wohlan, thue es!
Es ist, als ob der Herr
derartiges in der Seele des Nicodemus läse; darum fügt er
hinzu: „was vomFleisch geboren wird, das istFleisch, und was vom Geist geboren wird, das ist Geist".
Fleisch vom Fleische, wie die Wurzel, so der Baum: ein arger Baum kann nicht gute Früchte bringen.
Du bist
Fleisch, so kann also aus dir keine Geistesfrncht reifen, so
bedarfst du,
damit die Frucht des heiligen Geistes in dir
wachse, der Neugeburt aus Wasser und Geist,
aus
Buße und Glauben-
Was für ein gewaltiges und richtendes Wort spricht doch der Herr damit über diesen fein gebildeten Nicodemus
und alle diese gebildeten klugen Leute von heute, ja über
das ganze Weltwesen aus: — du bist Fleisch! Ihr kennt ja
den Sinn der Schrift; Fleisch ist ihr diese gesammte Men schennatur mit ihren Sinnen und Trieben, ihrem Wünschen und Begehren, wie sie unter dem Banne der Sünde Vergänglichkeit steht.
und
Bleiben wir also nicht bei Zöllnern
und Sündern stehen, nicht etwa nur da, wo die Rohheit des
Fleisches unverhüllt und
erschreckend
unter uns sich zeigt;
nehmen wir das Edle in uns, das verfeinerte Wesen mit all seiner Bildung, seiner natürlichen Liebe und Liebenswürdig
keit, mit seinem Streben nach Reinem und Gutem — auch
darüber spricht der Herr das Urtheil: — es ist Fleisch, innerlich
von Selbstsucht und Neid, von Unreinheit und Begierden, ja von Rohheit und Gemeinheit durchsetzt.
Sieh nur tief
genug in dich selbst, in die Welt deiner Beweggründe und
10 deines Trachtens hinein, durchforsche alle deine Beziehungen
zu anderen, frage nach den dunkeln
Stellen in deinem In
wendigen, in die du keinen hineinsehen lässest, auch deine
Freunde nicht, auch dein Weib nicht, und dann gestehe: du
bist unter demselben Banne — Fleisch. Ziehe die eine Fleisches
hülle ab, schlage der einen Sünde den Kopf ab — das Fleisch darunter und dahinter bleibt.
Du leidest unter
deiner eigenen Natur, du trägst ihre Leidenschaften vielleicht wie eine Last — aber sie bleibt, und ihr eigentlicher Unter
grund ist — Fleisch. Du möchtest frei werden von dir selbst,
aber du sprengst deine Ketten nicht, du gibst dir nicht selbst ein neues Leben — du mußt von neuem geboren werden!
2. Wir müssen von Neuem geboren werden,
Herr zum Nicodemus. — Können wir es auch?
sagt der
„Kann
auch ein Mohr seine Haut wandeln oder ein Parder seine Flecken?" fragt der Prophet.
Kann auch der Mensch, der
einmal alt geworden ist, der seine Geschichte hinter sich hat, der sich also selbst zu dem gemacht und geprägt hat, was
er in einem langen Werdeprozeß geworden ist, diese seine
Geschichte auslöschen und noch einmal von neuem anfangen? Gewiß, Fr.! das natürliche Denken hat auf alle diese Fragen
lauter Nein.
Wie viel gehört schon dazu, zu glauben, daß
ein grober Sünder wirklich sich ändert; aber nun zu glauben,
daß die Beweggründe sich ändern, daß in ein Herz anstatt der Selbstsucht die Liebe, anstatt der Berechnung die selbst
lose Hingabe, anstatt -er Unwahrhaftigkeit die Wahrheit ein ziehen könne, wie schwer ist das!
Wir müssen geradezu sagen:
bei Menschen ist es unmöglich; aber Gott Lob, wir dürfen
fortfahren: es ist möglich bei Gott.
Ja es würde kein
göttliches Müssen geben für diese Neugeburt, gäbe es nicht
11 auch für dieselbe eine gottgeschenktes Können.
Und auf dieses
Können weist der Herr wieder mit einem tiefen Worte hin.
„Laß dich's nicht wundern, daß ich gesagt habe,
ihr müsset von neuem geboren werden.
Der Wind
bläset, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wo
hin er fährt:
also ist ein Jeglicher, der aus dem
Geist geboren ist". Ja, ein Geheimniß ist die Wiedergeburt, das über unsere
fünf Sinne hinausgeht, und man bedarf um es zu schauen
und zu ergreifen, noch ein anderes Auge und eine andere Hand, als die,
betasten.
welche
diese Erde schauen und diese Welt
Es handelt sich um himmlische Dinge, aber damit
um nicht weniger wirkliche Dinge. Ich sehe den Wind nicht; ich kann ihn nicht in die hohle Hand fassen und sprechen:
hier ist er — aber so gewiß er dennoch da ist, so gewiß ich
seine Wirkung wahrnehme, wenn er die Segel schwellt und die Wange kühlt oder durch die Blätter saust: so gewiß gibt
es auch unsichtbare Kräfte des göttlichen Geistes, durch welche
ein Menschenherz in eine neue Lebenssphäre versetzt und von neuem geboren wird.
Diese Wiedergeburt vollzieht sich in
der verborgenen Tiefe der Seele; da beginnt die Arbeit des Geistes Gottes wie ein sanftes stilles Sausen.
Dann aber
kann sein Wehen plötzlich anschwellen zum mächtigen Sturm, unter dem das Herz erzittert und auch der Starke sich beugen
muß mit dem Bekenntniß: du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen, du bist mir zu stark geworden
und hast gewonnen.
Was den Nicodemus nicht Ruhe finden
läßt in sich selbst, sondern in dunkler Nacht zu Jesus treibt,
was dich in schlaflosen Nächten die Hände hat falten lassen zu dem Nothschrei: mein Gott, rette, rette meine Seele! was
dich
immer wieder
zur Kirche
führt,
zum Gebet mit der
12 Gemeinde oder ins einsame Herzensgebet über deiner Bibel — es ist jenes stille, sanfte Sausen, die leise Arbeit des Geistes Gottes am inwendigen Menschen.
Und wiederum, was dem
Kerkermeister zu Philippi die Augen öffnet und ihn erschüttert
zu den Füßen des Paulus sinken läßt: „was muß ich thun, daß ich selig werde?" was dir die Augen geöffnet hat überden
Abgrund, an dem du standest, über die Friedlosigkeit, in der du dich verzehrtest, über die Sünde, welche von Gott dich schied, was dich hinaufschauen ließ, wie das von Schlangen bissen verwundete Israel zu dem ehernen Schlangenbilde, zu
dem erhöhten Menschensohne, um heil zu werden von deiner Seelenwunde —: es ist nichts anderes, als der Sturmwind des Geistes Gottes, der durch die Herzen braust. Wenn die
einen — ich erinnere an jene drei vorbildlichen Lebensläufe
des Paulus, des Augustin und des Luther — in schmerz
lichem Kampfe mit dem Alten brechen, um so aus der Tiefe der Buße heraus zum Glauben und zu der seligen Gewiß heit zu gelangen, daß, wer in Christo ist,
zu einer neuen
Kreatur wird —: so ist es die Arbeit des göttlichen Geistes.
Und nichts anderes wiederum ist es, wenn bei jenen anderen
Naturen — ich nenne einen Johannes, einen Chrysostomus, Spener, Zinzendorf
—
still und
allmählich
Natur und
Gnade in einander fließen, ohne daß man den Augenblick
anzugeben vermöchte, in dem das neue Leben beginnt. heute dies Wort in deine Seele fällt
Wenn
und das Gewissen
weckt, daß du die Frage nicht los wirst: bin ich ein neuer Mensch geworden? wenn dann die Buße beginnt, Glaube wie eine Macht über dich
und der
kommt, und beide sich
einen zu dem Bekenntniß: Vater, ich habe gesündigt! — es ist in Kraft des Geistes Gottes der erste Schritt hinein in
das Leben der neuen Geburt aus Gott und seinem Geiste. Oder wenn aus einer ernsten Führung des Leidens, der
13 Zurücksetzung, der Kränkung, die du erlebt hast, die Er
kenntniß reift, daß ein Stück des alten Menschen dabei ab gefallen ist nnd der neue Mensch stärker geworden —: es ist
das Jnnewerden, daß Gottes Geist dich wieder einen Schritt in das Leben der Wiedergeburt hineingeführt hat. Es ist wahr, noch spricht der Herr in unserem Text wort nicht davon, wie diese Wiedergeburt zu Stande kommt; er sagt nur, daß sie möglich sei; es sind wunderbare und
tiefe Worte, auf die ich schon hindeutete, in welchen er dar über weiter redet: „Wie Moses in der Wüste eine Schlange
erhöhet hat, also muß des Menschen Sohn erhöhet werden, auf daß alle, die an ihn glauben,
sondern das ewige Leben haben".
nicht verloren werden,
Wo ein geängsteter Geist im
Namen Jesu Christi die Sündenvergebung empfängt, da hebt das neue Leben der Wiedergeburt an.
Es ist Christus
selbst in der Kraft seines Geistes, der bei den Menschen an-
llopft und Buße und Glauben schenkt, um dann dem Glauben Vergebung und Gnade zu eigen zu geben und den Menschen
zu heiligen zu seiner Wohnstatt im Geist. heute nur bei dieser Gewißheit
stehen:
Bleiben wir für
eine Neugeburt ist
möglich und darum soll sie wirklich werden bei uns allen,
so gewiß ein Pfingsten für uns alle da ist, in dem der ver
klärte Herr seinen Geist zu uns kommen lassen will.
Die
Frage, die wir am Pfingstfeste uns mitnahmen: habe ich den
heiligen Geist empfangen? verwandeln wir heute in die an
dre:
bin ich wiedergeboren aus Gottes Geist,
so
daß eine neue Lebenskraft in mir waltet? Und Gott helfe uns, die rechte Antwort geben,
und lasse uns, wenn heute ein
Nein geantwortet werden müßte, dereinst ein demüthiges, aber
auch seliges Ja auf diese Frage finden.
Amen!
II. Trinitatisfest 1883. Suchet, was droben ist. Kol. 3, 1—4. Seid ihr nun mit Christo auferstanden, so suchet, was droben ist, da Christus ist, sitzend zu der Rechten Gottes.
Trachtet nach dem, das droben ist, nicht nach dem, das auf Erden ist. Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christo in Gott.
Wenn aber Christus, euer Leben, sich offenbaren
wird, dann werdet ihr auch offenbar werden
mit ihm in der
Herrlichkeit.
Theure Gemeinde!
Die verlesenen Textworte sind
der Anfang eines Kapitels, das mit einer Zartheit und Tiefe, einer Macht und Schönheit, wie wenig andere im
neuen Testament, den Aufruf zum neuen Leben an die Ge meinde richtet, durch welches sie als eine christliche sich er weisen soll, und die verschiedenen Seiten
des
christlichen
Lebens zur Anschauung bringt, welches dieselbe zu führen hat. Leuchtet aber das ganze dritte Kapitel des Kolosserbriefes
in besonderem Glanze, so geht derselbe doch vor allem von den ersten Worten desselben aus; alle einzelnen Tugenden, die Paulus nachher erwähnt, sind nur die verschiedenen Be
thätigungen dessen, was er hier in das eine Wort zusammen
faßt: suchet, was droben ist!
Die einzelnen Seiten des
christlichen Lebens, auf welche er im Verfolg des Kapitels
eingeht, sind nur die Früchte, gewachsen an dem Stamme
15 des in Gott verborgenen Lebens,
von dem er hier redet.
Ja, das ganze Friedensbild des christlichen Lebens, das er
entwirft, dieses Ausziehen des
alten, dieses Anziehen des
neuen Menschen, kann sich gar nicht entfalten, es sei denn auf dem Grunde der Voraussetzung, die Paulus hier mit
den Worten ausspricht: seid ihr mit Christo auf erstanden!
So enthalten also die vernommenen Worte
wie das Thema alles Nachfolgenden, so auch die Grund lage, auf der alles Andere sich aufbaut; sie eröffnen erst
das Verständniß für die Eigenart des
christlichen Lebens
und feiner Heiligung, weil sie die Voraussetzungen des christ lichen Lebens aufschließen.
Wie das Trinitatisfest, das wir
heute feiern, und das die festliche Hälfte des Kirchenjahres abschließt, noch einmal den Blick rückwärts wendet, und alle
die Gaben der vorangegangenen Feste in sich zusammenfassen will, um dann eine neue Kirchenjahrshälfte der Predigt des christlichen Lebens und Wandels aufzuschließen, so faßt dies
apostolische Wort die Fülle göttlicher Heilsgaben zusammen, um alle seine Strahlen hineinleuchten zu lassen in die ein
zelnen Seiten des
neuen christlichen Lebens, welches von
nun an suchet, was droben ist.
Klingt manchem von uns
das Wort zunächst vielleicht fremdartig, geheimnißvoll: um so mehr laßt uns Gott bitten, daß er seine Tiefe uns auf
schließe.
Wir hören aus ihm
die Mahnung zum neuen Leben: suchet, was
droben ist;
eine neue Grundlage, eine neue Richtung, eine neue Hoffnung und Erwartung — das sind die eigenthümlichen Züge, die Paulus an demselben hervorhebt.
16
1. Zweierlei, l. Fr., setzt der Apostel voraus als Grund
lage für seine Ermahnung, wie für seine Verheißung.
Schein
bar widersprechend drückt er beides aus, das erste: „seid ihr
nun mit Christo auferstanden" — das andere, das hier nachfolgt, aber der Sache nach jenem vorangeht, wenn er nämlich weiterhin sagt: „denn ihr seid gestorben".
Man muß einigermaßen die Ausdrucksweise des Apostels
kennen, um überhaupt zu verstehen, was er sagen will.
Es
ist ein bei Paulus immer wiederkehrender, tiefer Gedanke,
daß der Christ das Abbild, das geistige Nachbild
seines
Meisters sein und geistig das Leben seines Herrn an sich selbst wiederholen müsse.
So soll er auch mit ihm sterben
— selbstredend nicht äußerlich, sondern hinaussterben aus einer sündigen Welt und der Sünde absterben, und weiter
mit ihm auferstehen, nämlich zu einem neuen Leben, einem
Wandel im Geist und Licht.
Beides aber soll geschehen
vermittelst einer tief innerlichen Vereinigung, ja einer In-
einsbildung beider, so
eng und innig, daß kraft derselben
der Apostel von sich selbst das Wort sprechen konnte: „ich lebe nicht mehr, sondern Christus lebt in mir".
Indessen, th. Fr., mag uns damit immerhin der Ge danke des Apostels näher gebracht sein, verstehen werden wir denselben erst, wenn
noch ein Anderes hinzukommt.
Christliche Dinge versteht man in der Tiefe nur, wenn man sie erlebt.
Der Boden, auf dem das christliche Verständniß
wächst, ist die christliche Erfahrung.
Was Paulus meint,
werden wir insoweit verstehen lernen, als wir es erleben und erfahren, und so verwandelt sich die Voraussetzung, die der Apostel macht, in eine Frage, an unsere christliche Er-
17 fahrung gerichtet: seid ihr gestorben,
seid ihr auferstanden
mit Christo?
Indem Paulus diese Frage an uns
richtet, unter
scheidet er also ein, doppeltes Leben im Menschen — und zwar nicht bloß ein äußeres und inneres, sondern auch im inwendigen, im Seelenleben, ein doppeltes Dasein, ein zwei
faches Ich;
das
eine ausgefüllt und
geleitet allein von
Sorgen, Freuden, Kampf, Arbeit, Last und Lust dieser Welt,
gerichtet auf die
ein ausschließliches Kind
des Diesseits,
eigene Befriedigung durch
gute Tage und behagliches Fort
kommen, — ein Leben also, das bei Allem, was Schönes darin sein mag, im letzten Grunde doch nur ein Leben der Selbst sucht ist, und das bei Allem, was Schweres darin sein kann, doch im tiefsten Grunde
Und
dieses
Genuß
gegeben
gerichtet bleibt.
auf den Genuß
Leben eines in Selbstsucht
gehaltenen,
nach
trachtenden Ich, meint Paulus, muß in den Tod werden
und
sterben.
Nur wenn es stirbt,
kann
jenes andere und höhere, das in uns auferstehen soll, zu seiner vollen Kräftigkeit gelangen, nämlich ein von Gott ge
borenes Leben, von göttlicher Gnade genährt, das erfüllt ist mit den Kräften einer zukünftigen Welt, und doch zu gleicher Zeit diese irdische Welt
ganz in seinen Besitz.nehmen will,
um sie in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen und in
demselben zu verklären. Hiernach handelt es sich also bei der Frage:
seid ihr
gestorben? — nicht etwa nur um einen scharfen und viel
leicht wunderlichen Ausdruck für den
anderen Gedanken:
hast du die Schwächen und Mängel abgelegt, die in dir sind? bist du besser geworden
als früher,
z. B. weniger
heftig, weniger eitel, weniger voll arger Lust, als sonst? — sondern es handelt sich um die Frage: steht noch in voller
2
18 Lebenskraft der Mittelpunkt deines alten Menschen, das ungebrochene, selbstsüchtige, in seinem Trotz gebundene, von Genußsucht
und
Gefallsucht
Murren umhergetriebene
gehaltene
alte
und
von
seinem
Ich, dieser
Ich?- Dieses
Mittelpunkt soll sterben! Ein neues Ich soll auferstehen.
Das heißt nicht weniger, als den Schwerpunkt des innern Menschen verlegen und ein neues Lebenscentrum schaffen,
das nun alle einzelnen Lebenskreise und Lebensbethätigungen leitet und regiert.
Das aber thust und vermagst du nun sicherlich nicht
aus eigener Kraft; noch nie hat das ein Mensch selbst vermocht; auch ein Paulus
durch
Den,
der
ihn mächtig
aus sich
hat es nur vollbracht
gemacht hat
Der Glaube an den gekreuzigten Christus,
—
Christus.
der sein Leben
gab für die Sünde der Welt, bewirkt einen Haß wider die Sünde, ein Betrübtsein über die Sünde, eine Gewissensnoth
unter der Sünde, vor denen das alte Ich seine Lebenskräftig keit verliert und allmählich abstirbt.
Und wiederum die Ge
meinschaft mit dem auferstandenen und lebendigen Christus,
der sein Werk nicht unvollendet lassen will,
Lebenskraft, welche er
sondern die
errungen hat, in der Kraft seines
Geistes den Seinen mittheilt, wirkt eine Freude an Gott,
eine Hinkehr zum Herrn, ein Verkehren mit Gott, ein Fragen nach seinem Willen, eine Befriedigung in seiner Gemeinschaft, daß man sagen kann: das ist ein neues Leben, — das Auf
erstehen eines neuen Ich mit Christo, was in mir sich vollzieht.
Mag dies alles ein verborgenes Leben sein, sofern eben der tiefste Grund des Seelenlebens die heilige Geburts stätte ist, wo sozusagen dieser neue Mensch das Licht der
Welt erblickt —dennoch bleibt es nicht verborgen.
Denn
19 wo dieses Leben geboren wird,
da wird von nun an dieses
innere Leben die Stätte unserer
tiefsten Kämpfe, unserer
innerlichsten Schmerzen, unserer reichsten Erquickung, es wird zugleich die Macht, welche am entscheidendsten und durch greifendsten unser Thun und
Handeln bestimmt.
Lassen,
unser Denken und
Und überall ist es allein der gekreuzigte
und auferstandene Christus, an welchem es sein Heil, seine Kraft und sein Vorbild hat.
Das bedeutet es: „ihr seid
mit Christo gestorben und auferstanden!"
Vielen nun wird das, was ich gesagt habe, auch jetzt noch unverständlich sein,
streng erscheinen.
manchem auch sehr schroff und
Wer eben die Religion und den Glauben
nur als eine liebliche und schöne Ausschmückung seines Da seins betrachtet, die er nicht entbehren mag, aber doch eben nur als eine Ausschmückung, dem ist ein Wort, das vom Sterben und Wiederauferstehen spricht, viel zu streng. fragen wir wiederum die eigene Erfahrung,
Aber
ob wir denn
auskommen können mit einem Glauben und einer Religion
die von alledem nichts weiß.
Gewiß, das Sehnen nach
etwas Besserem, als was diese Erde hat, das Fragen nach Frieden,
das Trachten nach einem Bleibenden im Wechsel
der Erscheinungen, das alles kann man haben ohne dies Sterben und Auferstchen — aber mehr auch nicht.
Aber nach
einer Sache hungern, ist noch nicht so viel als Sattwerden,
und sich nach etwas sehnen, heißt noch nicht befriedigt sein; es bleibt der unbefriedigte Zwiespalt der Knechtschaft und der Selbstsucht,
und
du
selbst
bleibst mit
allem diesen
Sehnen und Trachten nur ein halber Mensch!
Th. Fr.!
Wollen wir ganze Menschen werden, dann laßt uns den
Anker lösen, der uns an Sünde, Selbstsucht und Welt kettet, dann weg mit der feigen Furcht vor diesem Sterben
und
20 Kreuzigen des Fleisches und hinein in die Gemeinschaft mit Christo, der uns lösen und erlösen kann!
Nur so gewinnt unser Leben seinen neuen Mittelpunkt und seine neue Grundlage, nur so auch
2. die neue, klare und herrliche Richtung, welche Paulus mit den Worten ausdrückt:
„suchet, was
droben ist; trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf @ r'ben ist!"
Gewiß, es ist ein heiliger und vornehmer Zug, der mit diesem Trachten nach dem, was droben ist, durch das
Menschenleben hindurchgeht.
Aber um den Apostel ganz zu
verstehen, müssen wir uns klar werden, was der Gegensatz bedeutet, den er mit den Worten ausdrückt: „was droben
ist" — „nicht was auf Erden ist". Es sollte ja vor evangelischen Christen nicht noth wendig sein, den Apostel vor dem Mißverstand zu bewahren,
als wolle er ein Leben
der Weltflucht predigen, das aus
Angst vor der Sünde am liebsten in die Mönchszelle sich
sperrte und damit nothwendig unbrauchbar würde für die Arbeit der Erde.
Nein, lesen wir weiter, wie Paulus dies
Trachten nach dem, was droben ist, auseinanderlegt, was er schreibt von dem Tödten der Glieder, d. h. der Begierden, die auf Erden sind, von einem Anziehen des neuen Menschen,
von der Liebe, als dem Bande der Vollkommenheit, und dem
Frieden Gottes, der in den Herzen regiert; wie er weiter auf alle Lebensverhältnisse eingeht, Väter und Mütter, Knechte
und Herren unter den Ernst göttlicher Weisung stellt: —
und wir haben alle den Eindruck: wer s o nach dem trachtet, was droben ist, der ist sicherlich auch für die Erde ein brauch-
21 barer Mensch; er geht durch diese streitende Welt hindurch als ein Kind des Friedens und der Liebe und bleibt mitten
in der untreuen Welt ein Mensch der Treue auch für die
Dinge des irdischen Berufs.
Ja, wollte Gott, in Staat und
Schule, in unseren Werkstätten und in unseren Häusern, allent
halben wäre ein solches Christenthum: — wir würden sicher lich auch über die Dinge dieser Welt weniger zu klagen haben.
Aber, l.
Fr., wir brauchen in der That nicht erst
weiter zu lesen, um den Apostel zu verstehen.
Als wollte
er dieses Mißverständniß ausschließen, setzt ja Paulus hin zu: suchet, was droben ist, da Christus ist, sitzend zu
der Rechten Gottes.
Wo euer Schatz ist, da wird
hat der Herr gesagt.
Quelle zurück.
auch euer Herz fein,
Das Leben kehrt immer zu seiner
Wer Christus und die Gemeinschaft seines
Heils als das Kleinod und als den Trost seines Lebens hat, dem muß und soll es ja in
allem Irdischen gegenwärtig
bleiben, daß er nicht dafür allein da ist, sondern für etwas Größeres und Höheres.
Er trägt im inwendigen Menschen
ein verborgenes Heiligthum,
eben jenes verborgene Leben,
das aus Gott lebt und in Gott seine Nahrung hat, und das Paulus darum ein
„in Gott verborgenes" nennt, und
das macht ihn der ganzen Welt überlegen. vergessen, daß
Er soll es nie
er, um mit Tersteegen zu reden,
über dem
„Kinderspiel am Weg" nicht das ewige Ziel vergessen darf; er soll sich an Freud und Leid dieser Welt nie
so völlig
ausgeben, daß nichts Höheres in ihm bliebe; er soll mitten im Glücke dieser Erde sich bewußt bleiben, daß dabei doch ein Punkt ist, der unausgefüllt bleibt, und für welchen alle
höchste Lust dieser Welt nicht ausreicht.
Er soll aber auch
mitten in Trübsal und Verfolgung der Welt im Auge be-
22 halten, daß er etwas von Gottes Trost und Gottes Kraft
in sich hat, was die ganze Welt ihm nicht zu nehmen ver mag; er soll seine tiefsten Freuden finden lernen nicht am Vergänglichen, sondern in diesem verborgenen Leben der Seele
und ihrem Zusammenhang mit der unsichtbaren Welt;
und
so soll er von der oberen Gottesstadt sprechen können, was der verbannte Sänger des alten Bundes in der trostlosen
Fremde von der irdischen Heimatstadt sprach:
„Vergesse ich
dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen!" Mt diesem überweltlichen Zuge aber, welcher allerdings
innerlich dieser ganzen Welt abgewandt und überlegen ist,
verbindet sich noch ein anderer.
Denn wer so hinauftrachtet,
dahin wo Christus ist, der darf nicht vergessen, auf welchem Wege ihm sein Herr dorthin vorangegangen ist, nämlich auf dem Wege des unverbrüchlichen Gehorsams, der Treue, der
Demuth, der Erniedrigung bis zum Tode am Kreuz, mit einer
Liebe, welche thatsächlich sich selbst verzehrt hat in der Hin gabe für die Brüder. den Christen nicht.
Einen andern Weg gibt es auch für
Das aber macht treu in allem, was das
irdische Leben fordern kann.
Es ist ganz richtig, das irdische
Leben ist für den Christen eine Schule, die er bis zur Ent lassungsprüfung für ein höheres und fteiheitlicheres Leben
durchmachen muß.
Aber, wenn einer eine Schule durchläuft
im festen Blicke auf das Ziel, so wird er dadurch sicherlich nicht untreuer in
der Erfüllung
gewissenhafter und treuer. schauung das irdische Leben
seiner
Pflicht, vielmehr
Wohl ist nach christlicher
nicht Selbstzweck,
An
es ist der
Stoff, dem wir den himmlischen Geist einprägen sollen. Aber wird je einer sagen, daß je mehr einem Menschenleben dieses
himmlische Gepräge
aufgedrückt werde, um so nachlässiger
werde es den irdischen Dingen gegenüber und nicht vielmehr
23 um so getreuer, gewissenhafter, getroster?
Kann irgendwo
diese irdische Welt in allen ihren Verhältnissen und Be ziehungen von ihrem Jammer befreit, in
ihrem gesammten
Leben geweiht und in eine Friedensstätte umgewandelt wer den, so geschieht es nur durch Menschen,
die in der Nach
folge eines Herrn, der sich selbst in heiligem Gehorsam hin gab, mit ganzem Ernst nach dem trachten,
Und ich sage
nochmals: denke dir
das
was droben ist.
in dein
eigenes
Haus, in den Kreis deiner Geschwister, deiner Kinder, deiner
Dienstboten hinein, denke es dir hinein in deine Werkstätte und alle Stellen und Stätten des Berufs, deines gesammten Wirkens, und wir werden sagen:
wie viel Noth und Elend
wie viel Aerger und Streit könnte uns erspart werden, wenn diese Lebensrichtung in uns die Oberhand gewänne, zu trach ten nach dem, was droben ist.
Und hier wird auch das klar: verborgenes
ich
sagte, es ist ein
Leben; so gewiß die Quelle verborgen ist,
aus der es kommt, und die Geistesadern verborgen sind,
aus denen dieses inwendige Leben der Seele sich mit gött licher Kraft füllt.
Aber dennoch bleibt es nicht verborgen;
es wird offenbar.
Indem Paulus dies Neue ein Leben
nennt, will er es ja kennzeichnen als eine Kraft. aber keine Kraft, die nicht wirkt.
Es
gibt
Diese Lebenskraft bricht
sich Bahn allen Hindernissen gegenüber.
Das Trachten und
Suchen, von dem Paulus spricht, ist kein bloß ohnmächtiges
Sehnen, Seufzen und Klagen,
sondern ein energisches Han
deln, ein Einsetzen und ein Opfern.
Es gibt bestimmende
Menschen, die da, wo sie auftreten,
ganz von selbst ihrer
Umgebung den Stempel des eigenen Geistes aufzudrücken
pflegen.
In gewissem Sinne soll jeder Christ eine solche
bestimmende Persönlichkeit sein, das heißt, er soll seinem
24 eigenen Leben und Wandeln, seinem Dichten und Trachten, seinem Hause und seiner Umgebung diesen neuen Geist, die
aufprägen und so das
Kraft dieses seines inneren Lebens
Verborgene offenbaren. Und hier laßt mich nun die Frage richten: haben wir, l. F., dieses Kraftgefühl des inneren Lebens?
Wer nie ein
Gefühl seiner Lebenskraft hat, der ist entweder krank oder er altert und wird schwach; wer nie das Gefühl der innern
Kraft und der siegenden Freudigkeit für seinen innern Men schen hat, der ist entweder krank oder er altert.
Dem innern
Leben aber ist die Verheißung einer nicht alternden Jugend
gegeben.
Wohlan, trägt unser Christenthum nicht nur das
schwächliche Gepräge jenes Seufzens und Klagens, sondern
auch das der freudigen Erhebung mit dem Bewußtsein des Fortschreitens und Ueberwindens? ist unser Christenthum nicht nur jenes Sonntagschristenthum, das uns nur für
die etlichen Stunden befriedigt, die wir in der Kirche zu
bringen, das aber jedesmal als ein unbehaglicher Gast sich erweist, wenn es in das alltägliche Leben hineintritt und da seine Stimme geltend macht,
oder ist unser Christenthum
eine thatsächliche Freude an Gott,
ein täglicher Zugang
zu ihm im Gebet, eine Erquickung im Aufschauen zu den
Bergen der Ewigkeit,
welche unser
ganzes Leben in allen
seinen Beziehungen zu heiligen und zu durchdringen vermag?
Ach, laßt uns, wenn wir auf manche dieser Fragen die Augen senken müssen, auch vor der That der Buße nicht zurück schrecken.
Auch das gehört mit zur Thatkraft des Trach
tens nach dem, was droben ist.
Und nur wo lebendiges
Trachten und Suchen unserm Leben die Richtung nach oben gibt, wird auch
26 3.
die Hoffnung und Erwartung das Herz ausfüllen, auf welche der Apostel seine Leser hinweist, wenn er unsern Text
mit den Worten schließt: „wenn aber Christus, euer
Leben, sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit ihm in der Herrlichkeit".
Noch in anderm Sinne also soll das jetzt verborgene Leben offenbar werden, als hier im irdischen Wirken und
Schaffen.
Derselbe Christus,
der jetzt
verborgen in den
Seinen waltet, und dessen verborgenes Wirken darum von
der Welt immer wieder übersehen und verkannt wird, wird einst offenbar werden in Herrlichkeit. dieser Christus
unser Leben d.
Und wenn
h. der
anders
Mittelpunkt und
Inhalt unseres eigenen Lebens geworden ist, wenn anders
sein Wort von uns erfahren ward als die Kraft ewigen Lebens, und sein Geist uns Leben aus seinem Leben mit
getheilt hat: — dann sollen auch wir mit ihm offenbar wer den in der Herrlichkeit.
Das Haupt kann seine Glieder, der
Meister seine Jünger nicht lassen.
Es ist dieselbe Verheißung
christlicher Hoffnung, die Johannes mit dem Worte aus spricht:
„es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden,
wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich
sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist!"
Mit
dem verherrlichten Christus auch wir offenbar in der Herr lichkeit; das Haupt und die Glieder herrlich vereint; alles,
„was hier kranket, seufzet und fleht", aufgelöst in Klarheit und Sieg; überwunden auch
alle die Kläglichkeit und Er
bärmlichkeit des geistlichen Lebens mit seinen Anläufen und immer neuen Niederlagen,
mit seinen Vorsätzen und seiner
immer neuen Gebundenheit, mit seiner Glaubensohnmacht
26 und seiner
Sterbensangst, mit seinen immer neuen Ver
suchungen und Kämpfen — th. (Sem., muß solche Hoffnung nicht Christenherzen höher schlagen machen? Und diese Hoff
nung ist in Christo verbürgt: so gewiß das Reich Gottes einmal die Knechtsgestalt ablegt und ausbrechen wird wie
die Sonne am Mittag, so gewiß der König dieses Reiches nicht bloß ein verachteter und verkannter, sondern ein von
allen Zungen auf Erden angebeteter sein wird, so gewiß sollen auch die Seinen Theil haben an derselben Vollendung
und Herrlichkeit.
Dann sollen die Kinder Gottes austreten
als in Wahrheit Erlöste, welche die Welt unter ihrem Fuß
haben; dann wird das verborgene Leben des Herzens unge brochen hindurchleuchten durch die äußere Hülle, nicht mehr
verdeckt von Sünde und Gebrechlichkeit.
Dann werden sie
thatsächlich ihrem König gleich sein, Dulder wie er, aber auch
Ueberwinder wie er,
Inneres und Aeußeres einander ent
sprechend, und das wird das Ende sein.
Wann es kommen
wird, wissen wir nicht; Zeit und Stunde, sagt der Herr, hat der Vater seiner Macht Vorbehalten; wir brauchen sie auch
nicht zu wissen.
Aber das wissen wir — was bis dahin
noch dazwischen liegt, darf für uns nichts anderes sein als
das Hineinwachsen in dies Ziel der himmlischen Berufung,
die Erziehung zu dieser seligen Ewigkeit; denn nichts wird uns dort verheißen, was nicht schon hier beginnt, und keine Geistesfrucht werden wir ernten, deren Erstlinge wir nicht schon hier empfingen.
In dieser Erziehung stehen wir und
sollen wir stehen, und daß wir mit aufgerichtetem Haupt
und nngetheiltem Herzen in diese heilige Zucht uns stellen, damit die Hand unseres Herrn von der Welt uns löse und
uns tüchtig mache zum Erbtheil seiner Heiligen im Licht, darin besteht unser Christenthum!
27 Th. Gem.! wer nun satt wird von der Erde und allem,
was er an ihr hat, dem mögen wir unverständlich bleiben aber in wem der
und vielleicht auch thöricht erscheinen; Hunger lebt, der durch
alles,
was die Erde ihm bietet,
nicht gefüllt werden kann, dem rufen wir mit dem Apostel
zu: trachte nach dem, das droben ist, da Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes! Empor die Herzen! Und immer inner licher und immer tiefer das Gebet:
Herr Jesu, mach' ein Ende
Und führ' uns aus dem Streit; Wir heben Haupt und Hände Nach der Erlösungszeit!
Amen.
III.
1. Sonntag nach Trinitatis 1883. Die Erneuerung. Kol. 3, 5—11.
So tobtet nun eure Glieder, die auf Erden sind,
Hurerei, Unreinigkeit, schändliche Brunst, böse Lust und den Geiz, welcher ist Abgötterei. Um welcher willen kommt der Zom Gottes über die Kinder des Unglaubens; in welchen auch ihr weiland ge wandelt habt, da ihr darinnen lebtet. Run aber leget Alles ab
von euch, den Zorn, Grimm, Bosheit, Lästerung, schandbare Worte aus eurem Munde. Lüget nicht unter einander; ziehet den alten Menschen mit seinen Werken aus und ziehet den neuen an, der da verneuert wird zu der Erkenntniß nach dem Ebenbilde deß, der ihn geschaffen hat; da nicht ist Grieche, Jude, Beschneidung, Bor haut, Ungrieche, Scythe, Knecht, Freier, fonbern Alles und in
Allen Christus.
Theure Gemeinde! Der Apostel hat im Beginn des Kapitels die gesammte Richtung, die ein Christenleben haben
muß, mit den Worten bezeichnet: „suchet, was droben ist" —
empor die Herzen!
Der
heutige Abschnitt
Mahnung in ihre einzelnen Theile.
zerlegt diese
Soll das Herz des
Christen droben sein, wo Christus ist, so müssen „die Glie
der, die auf Erden sind" und an die Erde sich anklammern, von ihr losgerissen werden.
Ist das eigentliche Leben des
Christen jenes in Gott verborgene, inwendige Leben mit
Christo, so
ist unumgänglich, daß Alles
was dieses innere Leben hindern kann.
abgelegt werde,
Darum fordert der
29 Apostel mit schneidigen Worten auf, zu „tobten, was auf
Erden ist".
Er scheut sich nicht, mit heiligem Ernst alle
jene unheiligen Dinge mit Namen zu nennen, die wir uns selbst gern verbergen und die recht eigentlich das heidnische
Wesen ausmachen.
Er
läßt
keine Vermittelungsversuche,
keine Versuche des Zudeckens und kommen
zwischen
den Gegensätzen
der Bemäntelung aus
des alten
und
neuen
Menschen, gegenüber der Thatsache, daß der alte Mensch
sterben muß, damit der neue auferstehe.
Er bespricht also
mit einem Wort das große Werk der Erneuerung des
Menschen.
Aber gerade daß er das so thut, wie er es hier thut,
daß er so wie es hier geschieht, zu einer Christengemeinde redet,- weist darauf hin, daß dieses Werk der Erneuerung nicht ein einmaliges ist, welches heute oder an irgend einem Zeit punkt für alle Zeiten sich vollziehen könnte, so daß es nicht
wiederholt zu werden brauchte, sondern daß nach ihm dieses Werk ein beständig zu thuendes, fortwährend zu vollziehen
des sei.
Wie Luther in der ersten seiner 95 Thesen sagt:
„Christus will, Erden eine stete
daß das ganze Leben der Gläubigen auf
und
unaufhörliche Buße sein
soll", so
spricht auch der Apostel von einem Werke, welches das ganze
Leben hindurch von Stufe zu Stufe sich fortsetzen muß, das
also eine stete und unaufhörliche That der Gläubigen bleiben
soll.
Keiner unter uns hat es schon hinter sich, jeder unter
uns, so
verschieden die Stufen des geistlichen Lebens sein
mögen, auf denen wir stehen, hat darin an sich selbst noch eine Lebensaufgabe zu vollbringen.
So lange wir in einer
sündigen und versuchungsreichen Welt leben, hat auch der
Vollkommenste immer neue Gewissensschärfung nöthig wider
seine Sicherheit, immer neues Aufraffen von seiner Trägheit,
30 immer neues Klarwerden über seine eigene Blindheit.
So
ist es also die Fortsetzung jenes heiligen „Empor die Herzen!",
das der vorige Abschnitt gepredigt hat, wenn der Apostel
heute das große Werk der Erneuerung des Menschen
uns vorführt.
Lernen wir aus dem reichhaltigen und vielseitigen Ab schnitt zweierlei: zuerst den gewaltigen Gegensatz erkennen, auf dem
dies Werk der Erneuerung ruht; .
dann mit der Arbeit beginnen, durch welche das
selbe ausgeführt wird.
1. Ich sage einen Gegensatz müssen wir zuerst recht er
kennen, um an uns selbst dies Werk der Erneuerung voll ziehen zu können.
Worin besteht er?
Darin, m. Br., sind wir ja vermuthlich miteinander
einverstanden,
daß wir alle immer
besser werden sollen.
Keiner unter uns hält sich für unverbesserlich, weder nach der guten, noch nach der schlimmen Seite des Wortes.
Was
Luther einmal gesagt hat: „der Christ ist alle Zeit im Wer
den, niemals im Wordensein", das unterschreiben wir auch,
und dieses Werden des Christen ist nichts anderes als sein beständiges Wachsthum in der Erneuerung und Heiligung. Aber in welchem Maße nun dieses Neuwerden uns nöthig
sei, in welcher Tiefe wir dieses Besserwerden, dieses „Entwerden von uns selbst", wie man es wohl ausgedrückt hat,
bedürfen, aus welchem Abgrunde heraus diese Emeuerung
31 den Menschen emporheben müsse, darüber werden wir sehr verschiedener Meinung sein, und gerade hierüber will Paulus uns verständigen. Da Hingt es nun gleich zuerst sehr ernst und scharf, wenn er von einem „Tödten der Glieder spricht, die auf Erden sind".
Zwar das verstehen wir ja wohl, daß,
wenn Paulus hier auf diese ganze
unheimliche'Welt der
Fleischessünden hinweist, er sicherlich nicht nur die groben Ausbrüche der Fleischeslust zurückdämmen will, wie Zucht
und Sitte sie von selbst verbieten,
und wie sie etwa den
Menschen auch in guter Gesellschaft unmöglich machen, weil sie das Brandmal des Lasters und der Gemeinheit ihm Nein, Paulus bezeichnet diese argen
auf die Stirn prägen.
Leidenschaften als „Glieder" — das heißt, als lebendige
Kräfte und Triebe, welche auch dann vorhanden sind, wenn ihre äußere Bethätigung gehemmt würde, nur daß sie dann
in
ein
befleckte
anderes
zurückziehen,
Gebiet sich
und etwa
Phantasie'zu ihrer Brutstätte machen
unheimliches
Feuer
Herzens anzünden. offenbar als in
der
in
innern
Ja, würden
oder
Gedankenwelt
die ein des
sie wirllich nicht anders
dem unheiligen Blick des Auges,
sie sind
dennoch da und sie müssen gelobtet werden, wenn man von ihnen frei werden will. Tödten aber thut weh und geht ohne
Kampf und Widerstand scharfe
und
nicht ab,
gewaltige Forderung,
und darum ist es eine
die Paulus
damit an
uns richtet. Aber er bleibt auch dabei nicht stehen, er geht tiefer;
indem er in die innere Welt des Herzens hineintritt, muß er ja sofort inne werden, was schon der Heiland gesagt hat,
daß nämlich alle die argen Gedanken und Fleischeslüste aus dem Herzen Hervorgeyen.
Da ist ihr Sitz, da haben si?
32 ihre Kraft.
Wenn wir von Trieben gesprochen haben —
Triebe weisen zurück auf den Baum, der sie treibt; wenn
der Apostel von Gliedern spricht — Glieder sind nur vor»
Handen an einem Organismus, einem lebendigen Mittelpunkt, der sie regiert.
Und sieh nun hinein in dich selbst und
zwar aufrichtig, so wie Gott dich will, nicht mit den vielen
Künsten, mit denen die Menschen sich vor sich selbst ver bergen;
belausche
dich in deinen
unbewachten Stunden;
bleibe nicht nur bei dem stehen, was Paulus zuerst nennt,
beim groben Schmutz der Fleischessünde, so groß ihre Macht sein mag auch da, wo man es nicht denken sollte; denke an
den Geiz, der die armseligen Güter der Welt zu seinen Götzen macht; nimm hinzu, was Paulus weiter nennt von Grimm und Bosheit,
Murren und Lästern,
Lügen und
Trügen — ich glaube, l. Fr., wir Alle gestehen, es haust in
uns ein ganzes Heer unreiner Geister und Triebe! Dann aber geh noch einen Schritt weiter: alle diese
argen Triebe weisen doch zurück auf die arge Wurzel, aus der sie hervorbrechen; alle die Glieder, die zu dieser Welt der Sünde mithelfen, ja, die eins dem andern dienen, um nur die
Befriedigung der sündlichen Lust zu erreichen, weisen auf den Mittelpunkt zurück, an dem sie Glieder sind.
Nicht einzelne
Leidenschaften sind es, die wir ablegen und tobten müssen; es ist ein Ich, ein alter Mensch, von dem sie erst ihre Kraft
empfangen, der sie erst innerlich mit einander verbindet, und z. B. die „schandbaren Worte" in den Dienst seiner Lust oder
die Lüge in den Dienst seines Geizes stellt, welcher in den Tod ge
geben werden muß.
Wie das Fieber am Kranken nicht die
Krankheit selbst für sich ist, sondern nur das Symptom eines tiefer liegenden Uebels, so sind die Glieder, von denen Paulus
redet, so ist jede einzelne ausbrechende sündliche Lust, ja
33 dieses ganze von seinen verschiedenen Trieben umhergewor
fene Herzensleben nur ein Symptom davon, daß noch ein alter Mensch da ist, der erst todt und begraben sein muß, ehe der neue werden kann.
„Ziehet den alten Menschen
mit seinen Werken aus und ziehet den neuen an, der da verneuert wird zu der Erkenntniß nach dem Ebenbilde deß, der ihn geschaffen hat" — so deckt Paulus die ganze Tiefe des Gegensatzes auf, von dem wir reden.
Am innersten Herzpunkt sollen wir anfangen; an
die Stelle des alten sündlichen Ich soll ein neuer Mensch
treten in göttlicher Aehnlichkeit; unter dem Sonnenschein gött
licher Gnade soll ein neues Leben geboren und ein Lebens
centrum geschaffen werden, das nicht mehr ein Herd des un reinen Feuers der Sinnlichkeit und Selbstsucht ist, sondern
von welchem ein neues Leben im Licht und in der Liebe ausgeht — das ist es, was Paulus von uns fordert. Dieser eine Gegensatz aber zwischen dem alten und dem neuen Menschen weist nun auf einen zweiten hin.
Es
handelt sich nicht bloß um einen sittlichen, sondern auch um einen religiösen Gegensatz; es gilt nicht nur, einen alten
Menschen auszuziehen — der kann nur
getödtet werden,
wenn der Mensch zugleich in ein neues Verhältniß zu
Gott tritt.
Darum sagt der Apostel von den Lüsten des
alten Menschen:
„um welcher willen kommt der Zorn
Gottes über die Kinder des Unglaubens". Bekennen wir zunächst, l. Fr.! — es sind ernste Worte,
wenn der Apostel hier von einem Zorne Gottes spricht.
Es
gibt also einen Zorn Gottes, das heißt einen heiligen Ab scheu des lebendigen Gottes vor der Sünde und darum eine
heilige Energie des lebendigen Gottes gegen die Sünder.
Er wäre nicht ein heiliger Gott, wäre ein solcher Zorn nicht
3
34 in ihm,
und keine kleinste Sünde gibt es,
gegenüber der sündlichen Lust, unsichtbar,
Herzens
kein Nachgeben
und wäre sie vor Menschen
und triebe sie nur in den Leidenschaften des
ihr Spiel, das nicht diesen heiligen Abscheu und
diesen Gegensatz Gottes herausriefe.
Wie oft spüren wir
es deutlich genug in der zerrissenen Friedlosigkeit unseres
Herzens, das seinen Begierden hingegeben ist, an dem Trüb»
sinn und der innern Verzweiflung, an der Gebetsunfähigkeit und der Unruhe des Herzens, die der Sünde folgen, daß wir unter dem heiligen Zorne, unter dem abgewandten Antlitz Gottes stehen, unter einem heiligen Auge,
das nicht mit
Wohlgefallen, sondern mit Betrübniß und mit Mißfallen auf uns ruht.
Nun sagt aber Paulus auch weiter: es gibt auch einen Zusammenhang zwischen der Sünde des Menschen und seinem
Unglauben.
Denn Glaube ist die Fähigkeit,
schauen und zu ergreifen.
Gott
zu
Jede bewußte Sünde tobtet diese
Fähigkeit und löscht den Glauben aus.
Man kann Gott
nicht schauen, wenn man Sünde in seinem Herzen hat, und nicht mit ihm reden, wenn sündliche Lust die Seele erfüllt.
So treibt also jede Sünde tiefer hinein in die Unfähigkeit, sich mit Gott zu vereinen, in den Unglauben, sie macht
„Kinder des Unglaubens".
Diesen Zorn Gottes aber wenden nicht wir.
Denn nicht
wir machen uns selbst wieder zu Kindern Gottes, nicht wir
befreien uns von dieser Macht des alten Menschen, der, wie es in einer anderen Stelle heißt, im Irrthum sich selbst ver derbet — Gott allein vermag das zu thun.
Einen neuen
Menschen, der gestaltet ist „nach dem Ebenbilde deß, der ihn geschaffen hat", nämlich Gottes, stellt Paulus darum in Gegensatz zum alten Menschen.
Gott hat uns, wie er im
35 ersten Kapitel frohlockt, errettet von der Obrigkeit der Finster
niß und versetzt in das Reich seines lieben Sohnes, an wel chem wir haben die Erlösung durch sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden.
Der neue Mensch, den wir an
ziehen sollen, ist ein Kind der Gnade, die in Christo Jesu
nicht mit uns nach unserer Sünde handelt.
In Christo ist
das Ebenbild dessen, der uns geschaffen hat, leibhaftig er
schienen, damit durch ihn die in Sünde gebundene Menschheit befreit werde.
Diese That der Erlösung ist der Unter
grund, auf dem das ganze Werk der Erneuerung anhebt. Und nun erst verstehen wir den Gegensatz, um den es sich handelt, in seiner Tiefe; es ist der Gegensatz von Sünde
und Gnade, der erkannt sein will, der aus der Sünde
heraus in die Gnade, und durch die Gnade in die Heiligung
Das ist der Weg der Erneuerung, den Paulus
hineinführt.
uns hier eröffnet.
Wohlan so laßt uns
2. die gewaltige Arbeit beginnen, mit der das Werk
der Eneuerung ausgeführt wird. Worin besteht nun diese Arbeit der Erneuerung? „So
tödtet nun
— antwortet der Apostel zuerst — eure
Glieder, die auf Erden sind".
Auf die Sünden der
Sinnlichkeit, die finsteren Mächte der Fleischeslust weist er hin.
Wohl besteht dieses heidnische Wesen nicht mehr in
der Mitte der Gemeinde;
es ist Gott Lob ein „weiland",
wo sie darinnen lebten und wandelten;
aber dennoch haben
sie noch immer nöthig, die Glieder zu totsten, die nach dem
alten Wandel und Leben sich zurücksehnen oder die Hand
ausstrecken.
Paulus weiß wohl, wie plötzlich auch die schein
bar überwundene Sünde ihr Haupt wieder erheben und eine
36 Menschenseele berücken kann, und wie keiner, so lange diese Glieder
noch Leben in sich tragen, vor Rückfall und schwe
rer Versuchung sicher ist.
Und in diesem Sinne gilt nun dieselbe Mahnung auch
uns.
Ich weise jetzt nicht darauf hin, daß dasselbe heidnische
Wesen von dem Paulus redet, noch immer mitten in der
Christenheit sein dunkles Spiel treibt, und nicht nur heid nisches Thun sich wiederholt, sondern auch eine völlig heidnische Anschauungsweise die Sünde zu rechtfertigen versucht.
weise uns vor Allem in unser eigenes Herz.
Ich
Stehen wirk
lich Fleisch und Geist, das heißt die sinnliche Menschennatur
und der neue Gottesmensch in dir in rechtem Verhältniß? Nicht grobe Ausschreitungen allein fasse in's Auge; prüfe dich auf die Macht des Fleisches in dir, bei dem der Geist zur Ohnmacht verdammt ist unter der Knechtschaft der Be gierden und Leidenschaften, sie seien nun geistiger Natur!
sinnlicher oder
Prüfe dich auf jenes Gebundensein an die
Erde und ihre Lust oder Sorge, das unfähig macht zum
Aufschwung des Gebets!
Prüfe die Gedanken, mit denen
du beschäftigt bist, die Freuden, nach denen du trachtest, die Bücher, die du liesest, die Silber, an denen du dich erfreust
und an denen deine Phantasie sich nährt; prüfe mit einem
Wort den feinen Sinnengenuß, von dem du lebst; miß dein
inneres Trachten nach der Regel,
die Paulus an die Phi-
lipper schreibt: „was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht,
was keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend,
ist etwa ein Lob, dem denket nach"
—
und du
mußt es ja zugeben: es ist eine Macht der Fleischeslust in uns Allen,
von der der Apostel auch uns mit heiligem
Ernste mahnen muß: so tödtet nun eure Glieder, die auf Erden sind.
37 Und eine zweite Antwort gibt Paulus auf die Frage, worin diese Arbeit bestehe: „So legt nun von euch
ab — sagt er —Zorn, Grimm, Bosheit, Lästerung, schandbare Worte aus eurem
Munde und lüget
nicht untereinander" — auf die Sünden der Selbstsucht
und der Lieblosigkeit weist er hin: der Mensch der lieb losen Selbstsucht soll in den Tod gegeben werden. Auch hier spricht er nicht nur von besonderen und groben
Ausbrüchen des Hasses und des Zorns — wie denn allerdings
das Heidenthum wirklich ein Krieg aller gegen alle war —,
sie können bei uns zurückgehalten werden durch Erziehung, Anstand, gute Sitte.
Aber Paulus geht tiefer, er denkt an
alles unheilige Aufwallen, an den verhaltenen Grimm, den lieblosen Kaltsinn,
jene Verlleinerungssucht, die um jeden
Preis den Anderen herabsetzen will, an die böse Nachrede
und
feine Verläumdungskunst, die alles zum Argen kehrt,
an die Bosheit, die so llug das verletzende Wort zu finden weiß und so hämisch sich freut am Mißgeschick des Anderen,
an die Lügen, die so frech die Wahrheit verdrehen, etwa im
Interesse der Partei,
oder so
llug den eigenen Vortheil
herauszustellen verstehen zum Schaden des Bruders.
Und
denken wir an die Verbitterung, die selbst Christen von ein
ander scheidet — wie es Christen gibt, die miteinander in einer Kirche beten,
und die man doch
nicht in dieselbe Ge
sellschaft mit einander laden kann, weil sie sich nicht vertragen können; oder wie Christen zu einem Sakrament und einem
Altar kommen,
und doch
nicht im Stande sind, in einem
Hause einträchtig bei einander zu wohnen: und wer unter uns
wäre so rein, daß er nicht die Augen niederschlagen müßte und an das Wort des Jacobus denken: wer auch in keinem
Wort fehlet, der ist ein vollkommener Mann!
38 Beides nun aber, die Sünden der Sinnlichkeit wie der Selbstsucht, faßt Paulus zusammen in dem Worte: ziehet
den alten Menschen aus! ziehet ihn aus nicht einmal, sondern täglich, wenn er sich regt; zieht ihn nicht bloß auf
gewisse geweihte Stunden aus, sondern für das gewöhnliche
Leben mit seinem Treiben und Schaffen.
Es gibt aber nur
einen Weg, der dazu führt; der alte Mensch wird nur aus
gezogen, indem der neue angelegt wird.
Nicht nach
einander geschieht beides, sondern miteinander.
Wandelt im
(Seift* dann werdet ihr die Lüste des Fleisches nicht voll
bringen; wandelt in der Liebe, so wird Zorn, Grimm und Bosheit durch eine stärkere Macht von selbst überwunden;
gib dem alten Leben keine Nahrung mehr, so
erstirbt es
von selbst; schließe der wüsten Flamme der Sinnlichkeit die
Lebenslust ab, so erstickt sie; das neue Leben, das im Lichte
der Gnade gedeiht,
und sein Haupt zu Allem
emporhebt,
was göttlich ist, nimmt von selbst dem alten Menschen den Boden.
Gewiß, er weicht nicht ohne Kampf; er versucht
immer wieder aus den dunkeln Ecken, in die er sich flüchtet,
hervorzubrechen.
Wie hat auch ein ernster Christ immer
wieder seine schlimmen Stunden, in denen er auf's Neue unter die Macht und Bindung des alten Menschen geräth!
Es ist auch nicht einmal leicht, in sich selbst genau zu unter scheiden, was eigentlich dem alten oder dem neuen Menschen
angehöre. Mitten in die Frömmigkeit, in den Glaubcnseifer, in den Ernst der Bekehrung hinein mischt sich ein Stück von der Leidenschaft und Unduldsamkeit des alten Menschen und
will uns einreden, das sei der neue Mensch; mitten im
Heiligthum erhebt er plötzlich seine Stimme und wie oft glauben wir wirllich, dennoch der alte ist.
es sei der neue Mensch, während es Aber gleichwohl gilt: er ist dem Unter-
39 gange geweiht.
Auch solche Zeiten sittlicher Stockung sollen
überwunden werden in der Kraft des Herrn.
Stirbt der
alte Mensch.nicht völlig, so lange wir auf Erden sind, und
behalten wir hier immer ein Stück sündlicher Schlacke an
uns, er wird dennoch täglich auf's Neue in den Tod ge geben, und das eben meint Paulus mit feiner Forderung:
ziehet ihn aus! „Und ziehet den neuen Menschen an, welcher
erneuert wird nach dem Ebenbilde deß, der ihn
geschaffen hat!"
Wo das Bild Gottes uns ausgeprägt
wird in Heiligkeit und Liebe, da wird und wächst dieser neue Mensch. das.
Nicht aber auf zauberhafte Weise geschieht
Nein, in irdischer Gestalt ist ja das Bild Gottes uns
erschienen in Christo Jesu.
So heißt also Gottes Bild uns
aufprägen nichts anderes, als Christum und sein Bild zum Gepräge unseres inwendigen Lebens machen.
Die Gemein
schaft Christi ist der Weg, auf dem der Mensch nach dem Bilde Gottes in uns geboren werden kann; sie ist die Sonne,
unter deren Licht er gedeiht.
Zu dieser Gemeinschaft aber
führt immer wieder nur der eine Zugang durch Buße und
Glauben hindurch: der Welt und allen bewußten Sünden absagen in heiliger Bußthat, das ist das eine; im Glauben die Hand ausstrecken
nach der Gnade Gottes, welche die
Sünden zudeckt, und Christum ergreifen als den Trost und
Hort unseres Lebens, das ist das andere.
Wenn so ein
neues Verhältniß zu Gott in Christo begründet ist, wenn
wir im Glauben Kinder der Gnade werden
anstatt Kinder
des Zorns, dann ist der neue Boden gewonnen, auf dem auch der neue Mensch wächst und gedeiht.
Er wächst in
der Kraft des Gebets, des Wortes, des Sakraments, und
er soll im Wachsen bleiben, auch durch alle Hindernisse hin-
40 durch dem Ziele entgegen, daß Christus sei alles und in allen.
Und mit diesem
neuen Menschen
und durch
ihn
wächst dann auch die neue Menschheit, in der neue Gemein schaftsbande auf diesem Grunde sich knüpfen, in welcher nicht mehr die natürliche Zusammengehörigkeit, nicht „Jude und
Grieche, Knecht und Freier, Ungrieche und Scythe"
das Bestimmende ist, sondern alles und in allen Christus, er das Ziel, er auch die Kraft!
Th. Gem.!
Es sind manche unter uns, die sich elend
und friedlos fühlen unter dem Druck des alten Menschen und sich sehnen nach der
herrlichen
Freiheit der Kinder
Gottes von aller Fleischeslust und Selbstsucht, manche, die
der Zeit harren, wo endlich ein neuer Mensch des Glaubens
das Haupt höher heben und sie emportragen wird über das arme Leben mit seinen Versuchungen und Kämpfen.
Seid
gewiß, der Herr will ihn uns schaffen; wie schwach der Funke sei, der ihm entgegenglimmt,
anfachen.
er will ihn doch zur Flamme
Ueberlassen wir ihm nur glaubend das Herz,
Er
wird uns nicht verlassen, bis er das Werk vollendet hat, das er angefangen, bis Christus in uns eine Gestalt ge
wonnen und uns verklärt hat zu dem Bilde deß, der uns
geschaffen hat!
Amen.
IV.
2. Sonntag nach Trinitatis 1883. Die Schönheit des christlichen Lebens. Kol. 3, 12—15. So ziehet nun an, als die Auserwühlten Gottes, Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlich keit, Demuth, Sanftmuth, Geduld, und vertrage einer den andern,
und vergebet euch unter einander, so Jemand Klage hat wider den andern, gleichwie Christus euch vergeben hat, also auch ihr. Ueber alles aber ziehet an die Liebe, die da ist das Band der Voll kommenheit. Und der Friede Gottes regiere in euren Herzen, zu
welchem ihr auch berufen seid in Einem Leibe; und seid dankbar.
Theure Gemeinde!
Der vorhergehende Abschnitt
unseres Briefes hat auf den tiefen Gegensatz des alten und
des neuen Menschen den Blick uns richten heißen und hat mit ernsten und schneidigen Worten zu dem großen Werke der Erneuerung uns aufgerufen.
Der heutige Abschnitt legt
nun näher die einzelnen Züge des neuen Menschen dar und entwirft in der Form der Mahnung ein Bild des neuen Lebens, das dieser Mensch führt, aus dem es wie ein Frie
denshauch uns entgegenweht, und das durch seine Herrlichkeit
von selbst die Herzen bewegt.
Soll ich mit einem Worte
bezeichnen, was an diesen Einzelzügen, die der Apostel uns
nennt, so unbeschreiblich anmuthend uns berührt, es sei nun,
42 daß er den neuen Stand der Christen schildert als der Aus
erwählten, Heiligen und Geliebten,
oder daß er herzliches
Erbarmen, Freundlichkeit, Demuth, Sanftmuth und Geduld als den Schmuck derselben nennt, oder daß er in die dank
bare Friedensstimmung uns hineinschauen läßt, welche die
Herzen der Gotteskinder ausfüllt —: ich würde sagen: es ist die Schönheit des christlichen Lebens, welche uns der Apostel vor Augen führt.
Schön ist ja dasjenige, was
durch sich selbst, durch seine eigene, innere und äußere Har monie die Herzen bewegt und gewinnt.
So ist es hier der Fall-
— Aber diese Schönheit erlangt man nun nicht etwa durch
einen geläuterten Geschmack, sondern nur durch eine göttliche Neuschaffung.
Wir geben sie uns nicht selbst, Gottes Gabe
ist es; ja wir verstehen nicht einmal diese Schönheit in ihrer
Tiefe — wir verstünden denn die Thaten göttlicher Gnade
und Barmherzigkeit, durch welche sie allein uns zu Theil werden kann.
Daß wir also anstimmen lernen, was der
Prophet sagt: „Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mich angezogen mit Kleidern des Heils und mit dem Rocke der Gerechtigkeit
bekleidet," — das ist unsere Aufgabe; daß wir in Wort und Werk die Tugenden des Herrn verkünden lernen, der uns
berufen hat von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Licht, — das ist die Herrlichkeit des neuen Lebens,
uns darlegt.
das Paulus
In diesem Sinne sprechen wir
von der Schönheit des neuen Menschen. Sie besteht in dem neuen Stande, in den Gott
die
Christen versetzt, in dem neuen Schmuck, mit dem
Gott die Christen umkleidet, in der neuen Stimmung, mit der Gott die Christenherzen erfüllt.
43
1. Es sind schöne und köstliche Worte, mit denen Paulus
mahnt: „so ziehet nun an herzliches Erbarmen — als die Auserwählten
Gottes, Heiligen und Geliebten".
Nicht erst seit dem Tage sind sie Auserwählte, wo zum ersten
Male das Licht einer neuen Erkenntniß
in ihre Seele fiel
und sie die Schmach der Sünden fühlen ließ, in denen sie, wie Paulus sagt, weiland gewandelt haben; sie sind vielmehr Auserwählte längst ehe sie ihren Entschluß faßten,
ehe sie waren — durch eine That göttlicher Gnade.
Zeit, im Schoße der Ewigkeit leuchtete in
ja noch
Vor aller
heiliger Liebe
in Gottes Herzen der Gedanke auf, eine Welt ins Dasein zu rufen zur Gemeinschaft seines Heils und
seiner Seligkeit;
wie der Apostel an einer anderen Stelle sagt: „er hat uns erwählt vor Grundlegung der Welt,
daß wir wären heilig
und unsträflich in der Liebe". — Und die, welche er so durch eine
That ewiger Barmherzigkeit auserwählt hat, die
keine Zeit zu Schanden machen kann, dieselben hat er auch zu Heiligen gemacht, das heißt nach der Ausdrucksweise der Schrift: nicht durch sich selbst sollen sie heilig sein —
sie waren es ja auch in der That nicht — sondern heilig und geheiligt Christus.
durch
die Gemeinschaft
mit dem
Heiligen,
In ihm hat Gott den Rathschluß der ewigen
Erwählung ausgeführt, den er gefaßt hat; durch ihn sind
sie dem Reiche der Finsterniß entnommen und in ein neues
lichtes Reich der Erlösung versetzt.
In seiner Gemeinschaft,
in welcher sie die Vergebung der Sünden haben,
beginnt
nun für sie ein neues Leben des Lichts und der Heiligung, in dem sie täglich durchleuchteter und heiliger werden sollen.
Und so als die Geheiligten Gottes sollen sie durch die Welt
44 gehen auch als seine Geliebten
die Liebe Gottes durch
den heiligen Geist, wie Paulus es ausdrückt,
ausgegossen
in ihr Herz, der Zugang zum Vater in allem Anliegen für
sie geöffnet, Nacht und Tag, die Treue des großen Erbarmers in allem ihnen gewiß — o wer es weiß, wie glücklich
und beseligt ein Mensch schon werden kann durch arme sün dige Menschenliebe,
der wird verstehen,
wie selig und wie
beglückt durch diese Welt des Jammers und der Leiden Christen
hindurchgehen können und hindurchgehen dürfen als die Ge liebten des großen Gottes und Vaters in Christo Jesu. Auserwählte Gottes, Heilige und Geliebte! — halten wir fest, th. Fr., daß also alles, was die Christen auszeichnet, nicht etwas ist, was sie thun, sondern was Gott für sie
gethan hat, und was sie nur in Demuth empfangen.
Aus
erwählte, Heilige und Geliebte! — das ist der neue,
herr
liche Stand, in den Gottes Gnadenrath die arme sündige Menschheit hinaufgehoben hat
ohne all' ihr Verdienst und
Würdigkeit, aus lauter Barmherzigkeit.
Als die Auserwähl
ten, Heiligen und Geliebten Gottes haben sie das Kindes
recht beim Vater, das Bürgerrecht im Himmel, jenen un beschreiblich hohen Adel, mit dem sie wie Könige durch die Welt gehen können, eines ewigen Erbtheils gewiß.
Ja, dieser
Adel wird nicht etwa verdunkelt oder verringert durch eine noch so geringe äußere Stellung, durch noch so drückende
äußere Niedrigkeit oder Armuth.
Erst hier wird ganz ver
ständlich, was in den Versen vor unserem Texte der Apostel
von jener neuen Menschheit sagt, die durch den neuen Men schen entsteht, und was wir vor acht Tagen nur kurz be rühren konnten:
„da nicht ist Jude,
Scythe, Knecht, Freier, stus".
Grieche, Ungrieche,
sondern alles und in allen Chri
In der Gemeinsamkeit des Christenstandes und der
45 Erlösung verschwinden alle anderen Standesunterschiede, sie
werden innerhalb ihres Bestehens durch eine viel mächtigere
und innerliche Einheit überragt, so daß sie wohl noch für den geringen Bereich des äußeren Lebens ihre Geltung be
halten, aber das innere nicht mehr berühren.
Ob einer Herr
ist oder Knecht, reich oder arm,- vornehm oder gering, ge
bildet oder ungebildet, König oder Bettler, alle diese Unter
schiede, wie bedeutsam in sich, werden gleichgültig und nichts
bedeutend gegenüber dem Stande, den Gott allen gemeinsam in Christo Jesu anbietet und zu welchem er alle erheben will, die im Glauben seine erlösende Hand fassen — Auserwählte
Gottes, Heilige
und
Geliebte zu werden.
Ja laßt
uns, th. Gem., mit einstimmen in den Dank gegen die ewige
Barmherzigkeit Gottes, die so zu uns sich herabließ, um uns zu erhöhen zum seligen Christenstande.
Aber je höher wir uns gehoben wissen, um so ernster laßt uns auch die Forderung vernehmen, die damit an uns gerichtet wird.
pflichtet.
muß auch
Adel, lautet ein französisches Sprüchwort, ver
Wem der Adel der Gotteskindschaft verliehen ist, der standesgemäß leben und würdig wandeln der
himmlischen Berufung, die er empfangen hat; er soll — das ist das Bild, welches Paulus braucht
—
auch standesgemäß
sich kleiden: weil ihr Auserwählte Gottes, Heilige und Geliebte seid, mahnt der Apostel, darum
2. „ziehet an herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, De muth, Sanftmuth, Geduld und vertraget einer den
andern, und vergebet euch untereinander, so jemand Klage hat wider den andern, gleichwie Christus euch
vergeben hat, also auch ihr"!
46 Da seht den neuen Schmuck, mit dem unser Gott seine
Kinder will umlleidet haben, da seht das heilige Gewand eines Christenmenschen, der seines Christenstandes werth ist.
Gewiß, l. Fr., dieser Schmuck
Augen des
natürlichen
Menschen
hat ja
auch in den
seinen Werth.
Es mag
vielleicht Menschen geben, die meinen, mit solcher Liebe und
Sanftmuth werde aus Erden nicht viel Großes ausgerichtet werden, weil, wie man sagt, alles Gewaltige nur aus der Leidenschaft stammt, und welche damit dieses
Christenthum
der Liebe und der Sanftmuth in die Kreise der Kleinen und Stillen im Lande verweisen wollen.
Ach es gibt doch Zeiten
genug, wo auch sie Gott danken würden, wenn sie mit Men schen zu thun hätten, die diesen heiligen Schmuck christlichen
Wandels an sich tragen.
Ja noch mehr! Etwas von diesem Schmuck tritt
uns
auch an dem Wandel und Wesen des natürlichen Menschen entgegen.
Er hat ein Mitleid, das diesem Erbarmen gleicht,
eine Liebenswürdigkeit, welche dieser Freundlichkeit ähnlich ist, eine Liebe, welche allen einzelnen Tugenden erst ihren rechten Werth gibt; noch nie hat man einen Menschen besonders ge
lobt, weil er hartherzig oder hochmüthig ist. Dennoch, verstehen
wir recht : — was der Apostel fordert, unterscheidet sich nicht nur dem Grade nach von der natürlichen Liebenswürdigkeit
und dem natürlichen Mitleid, etwa
als eine besonders ge
steigerte Liebenswürdigkeit, sondern der Art nach.
liche Moral ist eine durch und durch religiöse.
Die christ
Der Schmuck,
den der Apostel uns anlegen heißt, ruht ausschließlich auf
jenem Grunde des neuen Christenstandes, zu dem Gott uns erhöht hat; ja er ist eigentlich nichts anderes, als der Wie
derschein der Gemeinschaft, zu welcher Gott uns berufen hat,
in den verschiedenen Lebensverhältnissen, in denen wir stehen,
47 als das Hineinleuchten des Geistes Gottes in uns in die
verschiedenen Beziehungen der Menschen untereinander.
Das
herzliche Erbarmen, zu dem Paulus mahnt, ist der Wieder schein der Barmherzigkeit, mit der Gott uns auserwählt und
geheiligt hat.
Die Liebe zu dem Bruder, die sich in Demuth,
Sanftmuth, Freundlichkeit und Geduld zu den einzelnen herab
neigt, ist nur der Wicderschein der herablassenden Liebe, mit
der der Vater uns
siegelt hat.
geliebt und als seine
Es sind seine Tugenden,
Geliebten ver
die wir mit unserem
Wandel verkündigen sollen —: so ist es also Gottes Tugend, Christi Leben in uns,
das den heiligen Schmuck unseres
Lebens und Wandels bilden soll.
So ziehet nun an diesen heiligen Schmuck! — mahnt der Apostel; er will damit nicht sagen, daß
er nur von
außen etwa wie ein umhüllendes Kleid, das das Inwendige
verdeckt, umgelegt werden soll; nein,
dieses Gewand ist ge
webt aus den feinsten Stoffen, aus den Lichtstrahlen, die von
dem Geiste Christi ausgehen;
ziehet es an — das heißt
also: machet Raum dem neuen Leben, das durch die Gnade
Jesu Christi in euch ist — damit es aus euch herausleuchten könne als herzliche Barmherzigkeit, Freundlichkeit, Sanftmuth, Geduld.
Ziehet an das »Herz des Erbarmens", wie cs wörtlich heißt — es soll dein Herz nicht kalt bleiben, wenn Lazarus vor deiner Thür liegt; es soll nicht müde werden,
wenn die Bittenden nicht aufhören tanten
anklopfen;
und immer neue Kollek-
es soll nicht hart sein, auch wenn
Elend, das dir entgegentritt, ein selbstverschuldetes ist.
das
Weit
geworden in der Liebe Christi, brennend in der selbsterfahre
nen Liebe Gottes soll
es mehr thun als das —: es soll
auch das Geisteselcnd der Brüder mitfühlen, das Elend der
48 Menschen, die in ihrer Noth das verloren haben, worin ein
Mensch reich sein kann in der Armuth, die Schiffbruch am
Glauben gelitten haben und die nun ohne Gebet, ohne Gott, ohne geistliche Pflege, ohne Kirche, wie Tausende in unserer
kirchenarmen Stadt, versunken ins Diesseits,-dahingehen; mit
fühlen soll es das Geisteselend der Verschuldeten, die von ihrer eigenen Verbitterung, ihrem Laster, ihrer Leidenschaft
wie mit Ketten gebunden sind, und
die vielleicht nicht ein
mal mehr die Schmach der Ketten fühlen, welche sie tragen. Ziehet an dieses Herz der Barmherzigkeit als einen
Schmuck, aber nicht wie man zum Zweck besonderer Feier
stunden einen Schmuck anlegt, nicht etwa nur für eine Komitösitzung zur Abhülfe irgend welcher brennenden Nothstände der Gegenwart; ziehet es an Tag für Tag, Stunde für Stunde; durchdringet euch mit dem Bewußtsein, daß diese Barmherzig
keit unsere tägliche Verpflichtung ist, daß sie die Seele unseres
täglichen Thuns und Treibens sein soll, in seinem Kreise,
daß wir alle, jeder
ohne Ausnahme dazu in diese Welt herz
loser Selbstsucht hineingestellt sind, um sie umzuwandeln in
eine Welt herzlichen Erbarmens, und daß diese Umwandelung anzufangen habe bei jedem in seinem eigenen Leben und sei
nem wenn auch noch so kleinen Kreise.
Je persönlicher diese Aufgabe genommen wird, als eine, die an dem Genossen des eigenen Hauses zuerst zu lösen ist,
um so mehr wächst aus diesem herzlichen Erbarmen die Freundlichkeit hervor, von der Paulus spricht.
Sie ist
mehr als die natürliche Liebenswürdigkeit und Wohlerzogen heit, die gewinnenden Persönlichkeiten eignet; sie ist jene Virtuosität der Liebe, welche in den anderen sich zu ver
setzen und auch den persönlich ihr unsympathischen Menschen so zu behandeln vermag, wie er es nöthig hat.
Die großen
49 Nothstände unserer Tage, die
man unter dem Namen der
socialen Frage zu begreifen Pflegt, hat ein bekanntes Wort
davon abgeleitet, daß die eine Hälfte der Menschheit nicht wisse, wie die andere lebt.
den
großen Dingen
wie den Armen
wahr,
Ach, l. Fr., cs ist nicht nur in daß die Reichen nicht wissen,
zu Muthe ist oder die Herren, wie die
Knechte empfinden — oft genug hat das auch in den kleinsten
und engsten Verhältnissen seine Wahrheit. doch Ehegatten neben einander her,
Wie oft gehen
und der eine weiß es
nicht, wie der andere lebt, unter welchen Lasten er seufzt und mit welchen Schwierigkeiten er kämpft, und nimmt sich viel
leicht nicht einmal Mühe und Zeit, darüber nachzudenken.
Seht — wo die Freundlichkeit regiert,
die in die
Christi
die
Herzen
andern sich hineinversetzt, da lernt man
die Noth des andern mittragen, als wäre es unsere eigene.
Luther hat einst an einen Klosterbruder,
dem die Zucht
losigkeit seiner Mönche Noth machte, das Wort geschrieben: „die Noth der Brüder lasse deine Noth sein und ihre Sünde sei deine Sünde".
Das lernt man, wenn man diese Freund
lichkeit Christi kennt und in der Freundlichkeit dieses Mit empfindens wird auch die Noth überwunden im Kleinen und
auch endlich im Großen. Damit geht uns aber auch das
Verständniß
auf,
warum Paulus auf die Mahnung zur Freundlichkeit die
zur Demuth folgen läßt; denn wie muß doch durch dieses Sichhineinversetzen in den andern so
manches harte Wort,
zurückgehalten werden und wie manches hochmüthige Einher fahren sich beugen.
Wie wird man erinnert an die zehn
tausend Pfund, die auf unserer eigenen Rechnung stehen und
wie manchmal — je freundlicher man in den andern sich hinein denkt, um so mehr — steigt die Schamröthe uns auf bei der
4
50 Frage: was wäre aus mir geworden bei den gleichen Ver
Und das
suchungen wie die, welche der Bruder erfahren hat. ist die Wurzel der christlichen Demuth. dieser Gedanke machen, daß man
So demüthig kann
angesichts der Gefallenen
nur mit thränendem Auge sich selbst zu beugen weiß und vor Gott seine eigene Sünde bekennt.
Als Petrus verleugnet
hatte, da haben die andern Jünger sicherlich nicht hoffärthig
auf ihn herabgeblickt, sie haben alle im Gedächtniß der eigenen Schwäche demüthig an die eigene Brust geschlagen.
Wo des
Bruders Sünde uns nicht zu dem Pharisäergebete bringt:
ich danke dir, daß ich nicht bin wie jener! sondern zu dem
demüthigen Zöllnerbekenntniß, das der eigenen Sünde denkt, da ist wahre Demuth.
Und diese Demuth kann auch andern
die Hände reichen und Gefallene wieder aufrichten. Ja, was ist diese Demuth für eine gewaltige Kraft, und
wie haben die Menschen doch gar keine Ahnung, was christ
liche Demuth ist, die sie für eine Tugend der Schwächlinge halten.
Aus ihr wächst die Sanftmuth und die Geduld
heraus, und die Sanftmüthigen, sagt der Herr, werden das
Erdreich besitzen, und ein Geduldiger, bezeugt der Prediger,
ist besser denn ein Starker.
Aus dieser Demuth heraus
wächst die Kraft, einander zu vertragen, auch Ecken und
Mängel,
auch
Irrweg
und
Irrthum
immer neuer Geduld zu tragen,
die
Anschauung
des Bruders
es eine
an einander
andere
ist
als
meine und sein Christenthum ein anderes Kleid als meine trägt, und so jene köstliche
zu lernen, schmerzlich
Ja,
es
die das
christliche Weitherzigkeit
die wir leider in christlichen Kreisen so
vermissen.
mit
zu vertragen, wenn
wächst
aus
dieser
oft
De
muth mit ihrer Sanftmuth und Geduld das Größeste und
Schwerste^heraus, was es gibt, nämlich im Gedächtniß der
51 vergebenden Liebe Christi auch einander das wirkliche Unrecht
zu vergeben, das geschehen ist und zwar nicht so, wie Menschen
es zu thun Pflegen, die eine vergebene Sünde ansehen wie
das Grab eines lieben Todten, zu dem sie immer wieder zurückkehren müssen, um an ihn zu denken, sondern so voll kommen und vollständig,
wie Christus es gethan hat, daß
die Sünde begraben ist und das Gras darüber wächst, und
niemand mehr darnach fragt. Es ist schwer, th. Fr., bei dieser langen Perlenkette von
Tugenden nicht zu verweilen, über deren jede einzelne man Der Apostel schließt sie ab, in
eine Predigt halten könnte.
dem er noch eine nennt, welche allen anderen erst Einheit
und Zusammenhalt gibt und in den einzelnen Vollkommen
heiten der Barmherzigkeit, der Demuth und Geduld erst den vollkommenen Menschen zeigt, der, wie Paulus gesagt hat,
das Bild seines Gottes
und seines Heilandes in seinem
Wandel ausprägt, wenn er
schließlich
hinzufügt:
„über
alles aber ziehet an die Liebe, die da ist das Band
der Vollkommenheit." Jene einzelnen Tugenden sind Perlen, die ihren vollen Glanz erst zeigen, wenn sie zu einer Kette aufgereiht sind; die Liebe ist das Band, das die Kette zusammenhält.
Wer
sie anzieht, zieht alle Tugenden an und wiederum, wo die Liebe fehlt, und wenn du deinen Leib brennen ließest und
gäbest alle deine Habe den Armen, sind alle anderen Tugenden doch nur Schein.
Ziehet die Liebe an, indem ihr das eitle,
selbstsüchtige und liebeleere Herz, das immer wieder sich mit dem Schein der Liebe begnügt und selbst in seinen Liebes beweisen nur sich selbst liebt,
erneuern und erfüllen lasset
mit der Liebe Christi; leget sie täglich an als das Gewand, das dem neuen Menschen gebührt;
laßt sie hindurchscheinen
52 durch euren ganzen Verkehr, den häuslichen wie den öffent
lichen, das Leben des Berufs, wie der Geselligkeit, durch die Stunden der Trübsal wie die der Freude und ihr habt alles,
was Paulus fordert.
Die Liebe ist schließlich der einzige
Schmuck, an dem der Herr seine Auserwählten erkennen will.
Selige Menschen, die so durch das Leben gehen, liebend mit der Liebe, mit der Gott sie geliebt hat! Sie sind ein Segen
für die Welt, in der sie leben; aber sie sind und bleiben auch die Gesegneten des Vaters.
Darauf weist
3. der Apostel hin, wenn er im Schlußwort des Textes uns einen Blick in die Herzensstimmung der Christen thun läßt, welche so
hindurchwandeln.
im Schmuck heiliger Liebe durch die Welt
„Der Friede Gottes," so schließt er,
„regiere in euren Herzen, zu welchem ihr auch be
rufen seid in Einem Leibe, und seid dankbar." Der Friede Gottes — das
ist
Lebens, welches nach außen Liebe ist.
die Innenseite eines
Dieselbe heilige Liebe
Gottes, welche aus uns herausleuchtet als barmherzige, de müthige und geduldige Bruderliebe, wirft in das Innenleben
des Herzens eine Stimmung tiefen seligen Friedens zurück. Denn der Friede ist nach dem tiefen Sprachgebrauche der
Schrift nichts anderes als das innere Zeugniß dafür,
daß
wir Versöhnung haben mit Gott und Vergebung der Sünde
und damit auch die Gewißheit, daß alles, was von Gott uns scheidet, hinweggeräumt ist und der Zugang zum Vater
offen.
Er ist das Zeugniß, mit dem der Geist Gottes unserem
Geiste bezeugt, daß wir Gottes Kinder sind.
sagt die Schrift, haben keinen Frieden.
Die Gottlosen,
Umgekehrt aber wo
Gott ist und die Gewißheit seines Heils in der Erlösung
53 unseres Herrn Jesu Christi, da ist auch Friede im Herzen
und damit jene Stimmung seliger klarer Harmonie, in welcher
alle die schreienden Mißllänge des Lebens aufgelöst sind in dem einen vollen Klange: wir haben
Das soll das Gepräge unseres
Frieden mit Gott!
inneren Lebens sein.
Wir
wollen uns dabei hüten zu übertreiben;
wir leben in einer
Welt des Kampfes und des Streites, in
welcher selbst der
Friede Gottes nur auf dem Wege des Kampfes Raum ge winnen kann, und wir können dieselbe nicht ändern, und so lange eine solche Welt uns umgibt, so lange wird auch diese
Klarheit des Friedens und der Freude immer wieder getrübt
werden.
Auch Paulus hat nur mahnen können: ist es mög
lich, so viel an euch ist, habt mit allen Menschen Friede! Wir leben in einer Welt hundertfacher Widerwärtigkeit und
Trübsal; wir müßten ja nicht von Fleisch und Blut sein, sollte das nicht immer wieder unsern Frieden stören. Gleichwohl bleibt eines: wo einmal der Friede Gottes Einkehr gehalten
hat, da ist eine Freistatt im inwendigen Menschen geschaffen, in welche die Welt und all' ihre Noth nicht hineindringen
kann, und je treuer wir immer wieder aus dem unruhigen
Treiben des Tages,
aus dem Kampf des Lebens und der
Parteien, aus Trübsal und Noth betend dieses innere Heiligthum aufsnchen, je gewisser und klarer wir nur immer wieder
als das Oberste und Wichtigste, ja als das für die Ewigkeit
einzig und allein Wichtige die Frage ansehen, wie wir zu Gott stehen und ob wir seiner gewiß sind, um so mehr werden
wir es erleben, daß diese Friedensstimmung wächst und daß der Friede, wie es wörtlich übersetzt heißt, den Sieg ent
scheidet in unsern Herzen.
Halten wir uns immer wieder vor, daß wir dazu be rufen sind und zwar nicht nur die einzelnen, sondern wir
54 alle in Einem Leibe.
Was immer der Apostel an Gaben
und Gnaden den einzelnen Christen zuspricht, das zielt doch überall auf das Ganze, auf die Gemeinde, welche der Leib des Herrn und
Haupt ist.
an welchem
er,
der Herr das lebendige
Die Gabe des Friedens, zu der der Herr uns
berufen hat, legt uns zugleich die Pflicht auf, diesen Frieden zur festlichen Grundstimmung der Gemeinde zu machen, in die wir eingegliedert sind zu Einem Leibe und der wir als
lebendige Glieder dienen sollen, jeglicher mit seiner Gabe, die er empfangen hat.
lebendigen Gliedern,
Ja, dieser Leib des Herrn
mit seinen
diese Gemeinde mit ihrer Fülle von
Kräften, mit ihrem entfalteten Liebesleben, mit ihrem Reich
thum an göttlichem Frieden mitten in der Welt des Streits
stellt erst vollendet die Schönheit des christlichen Lebens dar, von der wir reden und von welcher der einzelne Mensch
immer nur einen einzelnen Zug an sich trägt. Kommt uns nun, th. Fr., bei diesem Gedanken schmerz lich die Armuth zu Bewußtsein, in der wir leben, und will
es fast uns scheinen, als sei die Gemeinde gar nicht unter uns vorhanden, von der der Apostel redet — laßt uns um so eifriger die Schlußmahnung uns'einprägen, die Paulus an uns richtet: „seid dankbar!" Sie ist in der That das
Mittel, um den Frieden immer aufs neue zu gewinnen und zu bewahren, der uns geschenkt ist, und jenem Ideal christlicher
Gemeinschaft näher zu kommen.
wunderbare Kraft;
Es liegt ja im Danke eine
er stellt uns in köstlichem Glanze vor
Augen, was Gott uns gibt und stellt noch mehr in das
rechte Licht, was uns genommen wird; er ist das Ohr, mit dem wir aufhorchen auf „die wundervolle Lebensmusik, die
beständig sich hören läßt", wie einer es ausdrückt, und die wir im Weltlärm so oft überhören.
Laßt uns, die wir so
55 gern klagen und denen viel, vielleicht alles
das genommen
ist, was sie ihr Glück und ihre Erquickung genannt haben,
anfangen mit ganzem Ernst für das zu danken,
was Gott
uns gelassen hat! Laßt uns inne werden, wie es eitel Güte und Barmherzigkeit ist, daß er so
darauf für
viel uns ließ; laßt uns
achten, daß unsere Gebete nichts
sich noch
danken ließe!
auslassen,
wo
Laßt uns auch die kleinen
Freuden dankbar aus Gottes Hand nehmen! Laßt uns vor allem danken für die Erquickung christlicher Gemeinschaft, die wir noch haben in unseren Gottesdiensten, in
der Zu
gehörigkeit zu unserer theuren evangelischen Kirche!
Und
wir werden sicherlich immer wieder die Erfahrung machen,
daß im Dank unser Friede wächst, der Ruhe in Gott,
jene heilige Stimmung
die in Wahrheit sagen kann:
ich gebe
dir, was du mir nimmst und will nichts nehmen, als was
du mir gibst.
So wird das Christenherz das stille Meer,
das ruhig und friedevoll seine Lasten trägt wie Gott sie
auflegt und dem alles Kreuz des Lebens seinen nicht zu stören vermag.
So wird
auch
Frieden
aus lebendigen
Steinen die Gemeinde gebaut, in welcher, wie es im Psalm
heißt, Gott thront auf den Lobliedern seiner Kinder! Wohlan, th. Gem., haben wir anders von der Schön heit des christlichen Lebens und der seligen Harmonie, die in ihm waltet,
einen Eindruck empfangen —: laßt
uns
die
Hände falten und flehen, daß der Herr uns erleben lasse,
was wir gehört haben — daß er uns erhöhe zu dem seligen Stande seiner Kindschaft, daß er uns schmücke mit dem Glanze seiner Tugenden, daß er uns erfülle mit seinem
Amen.
Frieden!
V.
6. Sonntag nach Trinitatis 1883. Alles im Namen Jesu. Kot. 3, 17.
Und Alles, was ihr thut mit Worten oder mit
Werken, das thut Alles in dem Namen des Herrn Jesu, und dan°° ket Gott und dem Vater durch ihn.
Theure Gemeinde! Ich beginne mit derErwähnung
einer Unart, die vielfach unter den Christen von heute ver breitet ist.
Wir haben uns gewöhnt, nicht alles für voll zu
nehmen, was auf der Kanzel geredet wird und Pflegen na
mentlich von dem heiligen Ernst ihrer sittlichen Forderun
gen so viel abzuziehen, daß dieselben sich mit dem Behagen
des natürlichen Lebens einigermaßen vertragen. Es mag das bisweilen seinen Grund haben in einem
unwahren Kanzeltone und in den thatsächlich zu hoch gestei gerten Forderungen, richtet werden.
die von der Kanzel herab an uns ge
Vielleicht findet es doch ebenso häufig seine
Begründung in einem Mangel an sittlichem Ernst bei uns selbst.
Wir wollen Sonntags eine Stunde der Erbauung
haben; aber wir scheuen uns,
den Ernst dieser Stunde mit
in das tägliche Leben hinüberzunehmen und auf dasselbe an
zuwenden.
Wir möchten die Versenkung in Gott in unseren
Gottesdiensten nicht entbehren; aber wir haben eine geheime
57 Angst, es könne das Leben zu fromm, zu. göttlich werden,
wenn wir nun diese Gemeinschaft mit Gott auch in unser tägliches Leben hineinsenken wollten. Gerade davon aber redet
Paulus in dem verlesenen,
kurzen Worte an die Kolosser.
Der Apostel bleibt also nicht stehen bei der Mahnung zur
gottesdienstlichen Erbauung, die er unmittelbar vorher an seine Leser gerichtet hat: „lasset das Wort Christi unter euch reichlich wohnen in aller Weisheit" — nein, dieses Wort
Christi soll eine Kraft werden, um fortan alles im Namen
Jesu zu thun, auch das tägliche Leben in Wort und Werk
durch den Namen Jesu Christi zu heiligen. Es ist, l. Fr., eine vollkommen neue Betrachtungsweise, eine neue Sphäre der sittlichen Anschauung wie des sitt lichen Thuns, in welche der Apostel uns versetzt, wenn er
alles vorhergehende noch einmal zusammenfassend, die For derung an uns richtet: des Herrn Jesu!"
„thut Alles in dem Namen
An zwei Eigenschaften pflegt man die
wahrhaft neuen und schöpferischen Gedanken in der Welt zu
erkennen: an ihrer Einfachheit in sich selbst und an ihrer alles umfassenden Bedeutung.
Worte zu.
Beides trifft bei diesem apostolischen
Mit ihm gibt Paulus nicht eine neue, sittliche
Vorschrift; es ist ein neues sittlich-religiöses Lebensprin zip, das er ausspricht, aus welchem von selbst eine neue
Sittlichkeit, eine neue Lcbensanschauung und eine Heiligung
des
gesummten Lebens quillt.
Und dennoch ist, was der
Apostel sagt, so schlicht und einfach, daß ein Kind verstehen könnte, was er verlangt.
Wohlan, laßt uns der großen Forderung näher treten: Alles im Namen Jesu!
58
Wir fragen, was es heißt „im Namen Jesu handeln,"
wie weit sich dies „Alles" erstreckt, das im Namen Jesu gethan werden soll.
und sehen endlich: wie sich daraus von selbst ein Leben seliger Dankbarkeit entfalten müsse.
1. Wir fragen, was es heiße, im Namen Jesu zu han
deln. — Es sollte ja wohl, th. (Sem., überflüssig sein, zu sagen, daß nicht deshalb schon ein Werk im Namen Jesu
gethan wird, weil man äußerlich diesen Namen dabei nennt, oder die Worte „im Namen Jesu" darüber schreibt.
Reich Christi besteht nie in Worten,
sondern
Das
in Kraft.
Eine todte Formel oder eine leere Phrase kann als solche nie christlich sein; vielmehr ist das Wort Christi erst dann bei
uns, wenn dasselbe zugleich Geist und Leben in uns wird. Was also Paulus meint, ist von vornherein nicht ein Wort,
das wir aussprechen sollten, sondern es ist eine Gesin
nung, und das Wort nur der Ausdruck einer solchen ; der Apostel denkt an eine Bestimmtheit, eine bestimmte Richtung
des inwendigen Menschen, die sich bei uns finden soll. Damit ergibt sich schon von selbst, daß nicht jedes beliebige
Handeln im Namen Jesu vollbracht werden kann, sondern daß durch diese sittliche Bestimmtheit des Menschen auch der
sittliche Charakter des Thuns selbst bestimmt werden muß.
Eine unsittliche Sache wird nicht etwa dadurch gut, daß man den Namen Jesu darüber schreibt oder dabei ausspricht.
Wie furchtbare Dinge hat man im Namen des Herrn ge than; man hat Ketzer verfolgt, Bibeln verbrannt,
Gewalt
59 aller Art geübt — aber man hat dabei lediglich den Namen
des Hexrn mißbraucht, bisweilen gelästert, gewiß nicht in seinem Namen gehandelt.
Wohlan, was heißt es denn „im
Namen. Jesu handeln"? Wer im Namen seines Königs handelt, zum Beispiel
in seinem Amt als Gesandter, der tritt damit auf als sein
Bevollmächtigter, in seinem Auftrage; er handelt also auch in seines Königs Sinne und nach seines Königs Willen; wo nicht, so wäre er untreu in seinem Amte.
Aber er han
delt dann auch geschützt von der Autorität seines Herrn, von seiner Kraft
getragen und unter Umständen geradezu an
seiner Statt.
Es ist daher nicht seine Ehre, seine Sache,
die er vertritt, sondern die seines Herrn; er setzt nicht seinen
Namen ein, sondern den seines Herrn; dessen muß er sich jeden
Augenblick bewußt bleiben, um so mehr, je wichtiger die
Sache ist, um welche es sich handelt. Verantwortlichkeit, aber
Darin ruht seine volle
auch seine Größe und seine Be
deutung. Und das, Christen, ist nun euer Beruf!
Im Namen
Jesu handeln, das heißt, handeln als ein Bevollmächtigter, als ein Beauftragter Jesu Christi, des himmlischen Königs.
Seine Werkzeuge sind wir, sein Name wird über uns als
seinen Getauften genannt; um seine Sache, seine Ehre, sein
Reich handelt es sich bei unserm Thun, so gewiß wir alle nicht mehr unser eigen sind, sondern sein Eigenthum, mit seinem Blute erkauft.
So heißt denn aber auch in seinem
Namen handeln: in seinem Sinne und Geiste das thun, wo mit er uns beauftragt und was er uns befiehlt.
Das Ge
bot des Apostels wird hier zur Frage, die an all' unser Thun sich richtet, wie es in jenem Pfeil'schen Liede heißt:
60 Herr, bei jedem Wort und Werke
Mahne mich dein Geist daran;
Hat auch Jesus so geredet? Hat auch Jesus so gethan? Es treibt uns das Wort des Apostels hinein in die
geistige Nachfolge des Herrn, dessen Auftrag und Wort uns bei allen unseren Worten und Werken vor Augen
stehen,
dessen Geistesart sich ihnen aufprägen, ja dessen Bild sich
in unserem Leben wiederholen soll, bis sich nichts mehr in
demselben findet, was nicht im Namen des Herrn könnte gethan werden. Aber noch einen Schritt weiter geht der biblische Ge
danke.
Im Namen Jesu handeln, heißt nicht nur handeln
in der Erinnerung an einen erhaltenen Auftrag, wie der
Richter eben Recht spricht kraft der ihm
einmal übertra
genen Pflicht, wie der Gesandte handelt in der getreuen
Erinnerung an die ihm gewordene Unterweisung; nein, Chri sten stehen ja nicht nur im Verhältniß der Erinnerung zu
Christo, sondern in einem Verhältniß lebendiger Gemein schaft zu einem im Geiste ihnen nahen Herrn.
Leben,
Von einem
verborgen mit Christo in Gott, das die Gläubigen
führen, hat Paulus im Anfänge des Kapitels geredet, d. h.
von einem inwendigen Leben, das seine Nahrung, seine Kraft, seine Entfaltung aus der Gemeinschaft mit Christo, seinem
Worte und seinem Sakramente empfängt.
Dieses Leben im
Geist und im Glauben ist nach einem bezeichnenden Ausdruck unseres Briefes der „Christus in uns", der in den Sei
nen waltet, der aus einem Petrus geredet hat,
der heute
noch uns durch die Worte des Paulus Zeugniß gibt, dessen
Macht wir anschauen in einem Luther, in allen seinen Gläu bigen — und wer durch Buße und Glauben innerlich mit
61 ihm eins wird und seinem Geiste Bahn und Raum in sich
macht, wer also Christum selbst in sich aufnimmt als die bestimmende Kraft seines Lebens, der lernt damit von selbst
auch in seinem Sinne handeln,
Namen thun.
und damit alles in seinem
Laßt uns bedingungslos uns losreißen von
dem, was sündlich und selbstisch ist, und in die Gemeinschaft und die Gnade Jesu Christi eintreten; laßt uns bitten um
den Geist von oben, der Christum in uns verklärt — so thun wir auch Wort und Werk in seinem Namen; so wird
unser ganzes Leben von ihm bestimmt, ein Leben zur För derung seines Reichs und zur Verherrlichung seines Vaters.
2.
Damit haben wir aber indirekt schon unsere zweite
Frage beantwortet, wie weit sich dies „Alles" erstreckt, im Namen Jesu Christi soll gethan werden.
was
Denn ist es der innere Mensch selbst, der erfüllt werden soll von dem Geiste Christi, dann versteht es sich ja von selbst,
daß nun von diesem neuen Gepräge eines Handelns im Na
men Jesu nichts ausgenommen werden darf; und darum
spricht der Apostel so scharf wie möglich es aus: was ihr thut,
thut insgesammt, Jesu!"
„Alles,
mit Worten oder mit Werken, das
ausnahmslos im Namen des Herrn
Er spricht damit den großen Gedanken der Einheit
lichkeit des geistlichen Lebens und der einheitlichen Vergeistlichung unseres gesammten Lebens'/aus. Es gibt ja ein gewisses Gebiet im Leben, das religiöse,
für welches es sich der christlichen Betrachtung füglich von selbst ergibt, daß alles Handeln im Namen Jesu geschehen müsse.
Wir sollen predigen im Namen Jesu, das heißt, mit
der hohenpriesterlichcn, seelsorgenden Liebe, mit der der Herr
62 seine Erlösten umfaßt hat.
Wir sollen unsere Gottesdienste
im Namen des Herrn halten, das heißt, mit der Anbetung im Geiste und in der Wahrheit, die mit ihm und durch ihn angebrochen ist.
Wir sollen beten im Namen des Herrn
Jesu, das heißt, aus seinem Sinne und Herzen heraus, wie er es uns lehrt und wie er selbst gebetet hat.
Ich könnte
noch fortfahren: wir sollen große Entschlüsse und wichtige Entscheidungen fassen im Namen des Herrn, das heißt, sie
sollen geleitet werden von Jesu Geist und Sinn und nach der Richtschnur, ob sie gereichen zur Ehre seines Namens
Wie denn?
und zur Förderung des Reiches Gottes.
Gibt
es nun wirllich andere profane Lcbensgebiete, die sich durch sich selbst dem Handeln in seinem Namen und der Heiligung
durch denselben verschließen? Oder sind etwa die kleinen und schlechten Dinge des täglichen Lebens nicht werth, in Jesu Namen vollbracht zu werden?
So hat man ja wirllich un
terschieden, und Priesterstand und Mönchthum für heiliger erllärt, als das
gewöhnliche Leben des
schlichten Laien.
Aber als habe Paulus diese Verkehrung vorausgesehen, spricht er an anderer Stelle noch stärker als hier es aus: ihr esset
nun oder ihr trinket, so thut es alles zu Gottes Ehre.
Ja, ihr esset nun oder ihr trinket, ihr möget schaffen oder ruhen, ihr möget Kinder warten oder Kinder erziehen, ihr
möget die Stube fegen oder das Land regieren,
ihr möget
leiden oder euch freuen, alles, was das Herz denkt,
der
Mund redet, die Hand beschickt — das alles thut im
Namen des Herrn Jesu! Christus
will nicht nur ein
Stück von dir, nicht, nur eine Seite deines Lebens,
dich selbst und will dich ganz.
er will
Es kann ein König wohl
eine Seite eines Menschen in Anspruch nehmen, seine Ge schicklichkeit etwa, seine Gewandtheit, seine Kenntnisse, seine
63 Bildung — die soll er verwerthen in seines Königs Namen;
was er sonst ist und hat, das behält er für sich, das ver werthet er in seinem eigenen Dienst.
Der Herr macht keine
solche Scheidung, er nimmt den innersten Menschen in An
spruch und darum den ganzen Menschen, und so
gibt es
denn nichts, was nicht in seinem Namen gethan, unter die
Heiligung und unter Zucht dieses Namens gestellt werden
soll. — Es mag ein König eine Zeit lang Kraft und Dienst seines Dieners
fordern; nachher mag
für sich schaffen.
derselbe ruhen oder
Im Christenleben gibt es kein Ausruhen,
keine Zeit der Pensionirnng, es bleibt ein Wirken im Namen
des Herrn und ein Stehen im Dienste des Herrn bis zum letzten Athemzuge. Hiermit tritt nun aber auch das geringste Thun des Chri
sten in eine überaus herrliche Beleuchtung.
Dieses unschein
bare Leben, das lediglich in der äußerlichsten Arbeit verläuft,
wird dennoch, im Namen Jesu geführt, — d. h. aus seinem Sinne
heraus, in seinem Auftrage, in Treue gegen ihn — ein Dienst, so köstlich als irgend ein Priesterthum, ein Werk, das nicht
nur Menschen sondern Gott gethan ist.
Das allergeringste
Thun, und wäre es das eintönige Umdrehen des Rades in der Fabrik, oder das
tägliche Reinigen
der Stube, wird,
wenn es anders im Namen Jesu geschieht, vor Gottes Au
gen
nicht geringer angesehen,
als die Arbeit des Denkers,
welcher der Weltentwickelung neue Bahnen ersinnt und viel
leicht die Weltgeschichte in neue Wege lenken wird. Aber in demselben Maße, als durch diese Gemeinschaft mit Christo auch unser geringstes Thun geadelt wird zu einem bedeutsamen Stück der christlichen Persönlichkeit selbst,
in demselben Maße tritt auch an unser geringstes Thun da
mit eine heilige Mahnung heran.
Allem gilt dieses „in
64 Jesu Namen".
Wohlan in deine Arbeitsstube,
in deine
Werkstätte, in deine Gespräche, in deine Gesellschaften,
in
deine Versammlungen, überall hin begleitet dich die heilige
Gestalt, in
deren Namen du wirken sollst.
Sie sieht mit
dir in deine Bücher hinein, sie belauscht mit dir deine innere
Welt, sie hört deine Worte, sie sieht deine leise Untreue, sie kennt das, was du vor den Leuten verbirgst. Fr.! Wo dieses
Wort vom Namen Jesu zur Lebenslosung wird, da gibt es
nichts mehr, was du reservieren könntest vor ihrem heiligenden Einfluß; es gibt schlechterdings nichts, das außerhalb dieser
göttlichen Atmosphäre bleiben könnte, in die dieselbe dich ver-
setzt.
Der Gedanke an den Herrn, an Gott Ringt mit an
bei allem Thun.
Es braucht nicht viel von Religion gespro
chen zu werden, aber es wird alles religiös, das heißt, mit
Beziehung auf Gott gethan.
Es bleibt die Gebetsstimmung
und die Gebetsmöglichkeit mitten im Lärm des unruhigsten
Tagewerks.
Gibt es wohl eine heiligere, mächtiger andrin
gende Mahnung, die das ganze ungetheilte Leben umfaßt? Gibt es aber auch, so müssen wir weiter fragen, 3.
eine Mahnung, die das Leben seliger
und
friede
voller zu machen im Stande wäre?
Denn
was in
Form der Mahnung der Apostel hinzusetzt, das enthält zu
gleich eine Verheißung, welche durch dieses Gepräge der
neuen Lebensführung im Namen Jesu zur Erfüllung gelangt: „Danksaget Gott und dem Vater durch ihn".
Ein
Leben, im Namen Jesu geführt, gestaltet sich von selbst zu einem Leben der Danksagung, welche
durch Christum Gott
dargebracht wird.
Wir haben neulich schon einmal hingewiesen auf die
65 wunderbare Kraft des Dankes, der durch sich selbst ein Leben
verwandeln und verklären kann zu Frieden Gottes.
einem Leben im seligen
Heute richtet das apostolische Wort unsern
Blick nach einer andern Seite. Wenn nämlich ein Leben
im Namen Jesu von selbst sich zur Danksagung gestaltet, so muß offenbar in einem solchen Leben ein überaus mächtiger Antrieb zum Danke liegen, es muß ein glückseliges Leben
sein.
Und das ist es allerdings.
Sein Grundton und sein
Grundgedanke wird dankbare Freude. Wer in Wort und Werk Jesu Namen verherrlicht, der
hat, was Jesus uns erworben hat, den Frieden mit Gott, die Gewißheit der Sündenvergebung, das Zeugniß: bei Gott in
Gnaden.
Durch das Alles aber empfängt er auch eine Fülle
von innerem Reichthum und Freudigkeit, von der ihm immer
wieder die Lippe in Lob und Dank übergehen wird.
Ver
gleichet jene feurigen Ergüsse in den Briefen eines Paulus,
vergleichet das Gepräge, wie es etwa das Leben Luthers
trägt — es ist wirklich wahr: der Grundton eines Christen lebens kann nicht Trübsinn und Klage sein, sondern dankbare
Freude; sein Lebensinhalt kann nicht in Anfechtung und Kampf
aufgehen, sondern erhebt sich
in Jubel und Dank für die
unaussprechlichen Gaben seines Gottes.
Wer im Namen Jesu sein Leben führt, dem schwindet auch immer mehr der Anlaß zum Undank.
Er trägt eben
die Gewißheit in sich, daß sein Gott ihn den rechten Weg
führt; er vergleicht sich nicht mehr mit anderen,
er schaut
auf Gott und erwartet von ihm, was ihm gut ist.
So zieht
eine heilige Genügsamkeit ins Herz hinein, an der Murren
und Unzufriedenheit zerbrechen.
Es wird ausgetrieben, was
den Menschen undankbar macht, nämlich Sorge, Neid, Klein glaube und Verzagtheit.
So wenig wir uns denken können, b
66 daß je Sorge, Neid und Kleinglaube den Herrn am rechten Lobsingen und Danken gehindert haben, so wenig darf das
auch in einem Leben geschehen, das in seinem Namen geführt
Wäre der Platz auch noch so bescheiden, an den einer
wird.
gestellt ist: es ist eben derjenige, auf welchen sein Gott ihn
berufen hat, um im Namen Jesu zu wirken, darum für ihn gerade der rechte, um nach seinen Kräften beizutragen zur
Verherrlichung dieses Namens, und auch diese demüthige und
geringe Stelle soll ihm ein Anlaß immer neuen Danksagens werden.
Ja, man muß geradezu sagen, wer im Namen Jesu
wirkt, für den gibt es überhaupt keine Lage, in der das
Danken ihm unmöglich wäre. so gewiß er leiden kann,
Er kann danken auch im Leid,
um durch sein Leiden den Herm
zu verherrlichen. Kein Christ hat sicherlich die Verheißung, daß ihn weniger Leid und Trübsal treffen werde als andere, aber er besitzt das Geheimniß, auch in seinen schwersten Füh
rungen, in denen es ihm vielleicht unmöglich gemacht wird für seinen Herrn zu wirken und zu schaffen, ihn durch sein Leiden
und sein Stillesein zu preisen.
Als die Apostel die ersten
Streiche um des Herrn willen gelitten hatten, da gingen sie, erzählt Lucas, fröhlich aus dem hohen Rathe, well sie wür
dig gewesen waren, um seines Namens willen Schmach zu leiden.
Als die Reformation ihre ersten Märtyrer sah, da
stimmte Luther ein Jubellied an,
daß die Herrlichkeit der
apostolischen Kirche wiedergekehrt sei.
Was für ein über
wältigendes Dankgefühl muß das sein, wenn selbst das Lei
den ein Anlaß des. Preisens wird für eine neue eigenthüm
liche Verherrlichung des Namens Jesu und eine neue bedeut same Förderung seines Reiches.
Es steht fest: die Quelle
eines Dankes, den das Leiden nicht auslöscht,
ist unver-
67 sieglich, und diese Quelle ist — ein Leben im Namen deS
Herrn -Jesu! So, m. Br.! lasset unS leben im Namen Jesu in Wort
und Werk, alles in seinem Namen thun und Gott dem Va ter danken durch ihn.
Dieser Dank soll die Probe sein
ob unser Leben wirklich das Gepräge seines Namens trägt.
Ist unser Dank noch matt, flügellahm, spärlich, herrscht bei uns noch Klagen, Noth und
selbstverzehrendes Begehren,
nehmet das als ein Zeichen, daß auch der Name Jesu noch nicht die Kraft ist, die unser Leben ausfüllt. eine heilige Mahnung,
Nehmet es als
mit neuem Entschluß und ganzer
Hingabe uns hineinzuleben in die Nachfolge unseres Herrn.
Je treuer auf seinen Wegen, um so mehr wird sein Name in uns die bestimmende Macht, um so reicher wird auch der Dank sein, um so größer der Friede!
Amen.
VI. 15. Sonntag nach Trinitatis 1883.
Gesegnetes Beten. Kol. 4, 2—4.
Haltet an am Gebet, und wachet in demselben
mit Danksagung; und betet zugleich auch für uns, auf daß Gott
uns die Thür des Worts austhuc, zu reden das Geheimniß Christi, darum ich auch gebunden bin, aus daß ich dasselbe offenbare, wie ich soll reden.
Theure Gemeinde!
Paulus hat seine christliche
Haustafel am Schluß des dritten Kapitels des Kolosser
briefs mit den Ermahnungen geschlossen, die er an alle ein zelnen Stände richtet.
Je mehr nun sein Schreiben dem
Schlüsse zueilt, um so dringender legt er der ganzen Ge
meinde alles ans Herz, was ihm noch zu sagen übrig ist.
Heute redet er vom Gebet.
Vom Gebet soll unsere Predigt
handeln und zwar sind es vier Gedanken, die der Apostel in diese Gebetspredigt verflochten haben will.
Er mahnt zum
Anhalten im Gebet, um unsere Bitten ernstlicher, zum Wachen, um sie heiliger, zum Danken, um sie gesegneter, zum Für
bitten, um sie weitherziger und reicher zu machen.
Mit
dieser vierfachen Mahnung beantwortet er die Frage, wie unsere Gebete beschaffen sein müssen, damit sie vor
Gott wohlgefällige Gebete seien.
69 Wie oft, l. Fr.!
worden! derholen.
ist diese Frage schon beantwortet
Ich kann nichts Neues sagen, nur das Alte wie Es kommt aber auch gar nicht darauf an, daß
wir etwas Neues lernen, was wir noch nicht gedacht oder gehört haben, sondern darauf, daß wir mit heiligem Ernst
das thun, was wir längst gewußt, unzählige Male schon gehört und immer wieder vergessen haben.
Daß es uns an
diesem Thun noch fehle, wer unter uns wollte das leugnen?
So lange es noch unter uns Menschen gibt, die schon an gefangen hatten zu beten, aber das Gebet wieder wegwarfen,
weil es ihnen nicht half: so lange es unter uns Menschen gibt, welche zwar noch beten, aber mit dem deutlichen Be
wußtsein, daß ihre kraftlosen Gebete weder über sie selbst noch über Gott eine Macht sind; so lange es Menschen gibt, die die Ursache für die Kraftlosigkeit ihrer Gebete nicht in sich selbst, sondern lediglich in Gott suchen—so lange werden auch
Gebetspredigten
nothwendig sein,
und
gerade
eine solche
Gebetspredigt, wie Paulus sie heute hält, wird den rich tigen Punkt treffen.
Sein Wort zeigt uns nämlich, wie
das Gebet nicht herausgenommen werden dürfe aus dem Zusammenhänge des gesammten christlichen Lebens, ja wie
man es geradezu in seinem innern Kern zerstören würde, wenn man es ablösen wollte von dem Untergründe des in wendigen Lebens.
In diesem Zusammenhänge zeigt uns
Paulus den innersten Weg, wirksam zu beten, so daß das
Gebet Gottes Herz bewegen und eine göttliche Kraft über unser Leben werden kann.
Wohlan, hat der Herr verheißen,
daß Gott seinen Geist geben wolle denen,
die ihn bitten,
— laßt uns ihn um den Beistand seines Geistes bitten,
wenn wir dem apostolischen Worte nachgehen und es zum
Prüfstein unsrer Gebete machen!
70 Wann werden unsere Gebete recht gesegnet sein?
Beantworten wir diese Frage nach dem Maß unseres Anhaltens im Gebet, unseres Wachens
in demselben, unseres Dankes und unserer Für
bitten. 1.
Haltet an am Gebet —
dieses Wort schärft uns
offenbar zunächst ein regelmäßiges Beten ein; es stellt sich also in Gegensatz zu solchen Gebeten, die nur wie ein einzelner Nothschrei je und dann einmal aus einer gepreßten
Menschenseele Nothrufe
Nicht als wollten wir diese
sich losringen.
verachten oder verwerfen; nein, es steht wirklich
für alle geschrieben: „rufe mich an in der Noth"!
Es ist
wirklich etwas unbeschreiblich Großes, wenn ein Mensch — dieser kleine Mensch — seine Noth oder sein Glück über
diese ganze sichtbare Welt hinausruft in das Herz seines Gottes hinein.
Ja, hätte er das nur ein einziges Mal in
seinem Leben gethan, er hätte mit diesem einen Male sich über die ganze Kreatur erhoben und den Faden angeknüpft, der unter allen Geschöpfen ihn allein mit der Ewigkeit ver
bindet.
Wenn
ein großer.deutscher Philosoph das Gebet
als ein Thun bezeichnet hat, dessen eigentlich jeder sich zu
schämen habe, der dabei überrascht werde, so hat er damit den höchsten Adel des Menschen für seine Schande erllärt
und nur dem Psalmwort einen „große Leute fehlen auch".
neuen Beleg hinzugefügt:
Und selig, sage ich, wir alle,
wenn es ausnahmslos von uns gilt: der Faden ist noch
nicht abgerissen, wir beten noch! Gleichwohl meint nun Paulus hier mehr als solche Bitten; er spricht von einem regelmäßigen Gebetsverkehr mit Gott, einem Anhalten am Gebet.
71 Verwechseln wir, l. Fr.! nicht
Bitten.
beständig Beten mit
Das Gebet ist mehr als eine Bitte.
haupt ein lebendiges
Verhältniß zu
Gott,
Wo über
wo lebendige
Religion ist — denn Religion ist nichts anderes als „das
gewußte Band, das den Menschen mit Gott verbindet" —,
da ist ihre erste und natürlichste Aeußerung das Gebet.
Es
ist der Funke, der aufzuckt, wenn eine Menschenseele mit dem
unendlichen Gott sich
berührt.
Hast du überhaupt eine
lebendige Verbindung mit Gott, so muß auch täglich diese
Gebetsflamme aufleuchten.
Wenn sie das nicht thut, so
nimm es als ein ernstes Urtheil, daß dein Verhältniß zu
Gott nicht das richtige sein kann, daß deiner Religion das
Leben fehlt. Auf der andern Seite
ist aber das Gebet auch wie
der die Nahrung, durch welche jenes Band mit Gott erst
recht gefestigt wird. Freund
Wie Eltern und Kinder, Freund und
erst durch den Verkehr mit einander recht verbun
den werden, so wird erst durch das Gebet die Menschen
seele eins mit ihrem Gott.
Darum darf auch dieser heilige
Gebetsverkehr nicht dem bloßen Zufall und der wechselnden
Stimmung allein überlassen bleiben; er muß vielmehr, damit er seinen Segen nicht verliere, in eine feste Ordnung gefaßt
werden.
Es gibt nämlich gewisse Zeiten, in denen schlechter
dings das Gebet nicht
unterbleiben darf,
wenn nicht der
der mit Gott uns verbindet, immer dünner,
und
das Verhältniß zu ihm immer nebelhafter werden soll.
Ich
Faden,
denke vor allem an die Morgenstunde, wo du aus der Be wußtlosigkeit des Schlummers dich selbst wiedergewinnst, an die Abendstunde, wo aus der Verwirrung des Tages
die
Seele in sich selbst zurückkehrt, an den Sonntag, wo die in
der Wochenarbeit untergehende Seele sich selbst erfassen soll
72 in ihrem Gott. Ich habe damit nur die wichtigsten genannt
— lieber Mensch, sind wenigstens diese Gebetsstunden eine
unverbrüchliche Ordnung in deinem Leben?
Gegenüber der
Mahnung des Paulus, die nicht hier allein gesagt wird,
sondern fast in jedem seiner Briefe wiederkehrt: haltet an
am Gebet! — muß ich dich fragen, wie viel Zeit verwendest du auf deinen Verkehr mit Gott?
Ohne Zweifel, man kann
überall beten, mitten im Menschengewühl, mitten in der
Arbeit; man braucht für einen Gebetsseufzer wenig Zeit. Dennoch, soll dein Lämpchen nicht verlöschen,
so bedarfst
du einer bestimmten Zeit, welche nur fürdas Gebet da
ist!
Wie viel Sorgfalt und Treue verwenden wir auf die
vergänglichen Dinge in unserem Beruf, in unserem Geschäfts
leben, — wie, und für unsern himmlischen Beruf hätten wir keine Zeit, keine Zeit für die Ewigkeit?! Wir haben
Zeit für unsere
Gesellschaften, für unsere« Vergnügungen,
für alles, was Interessantes täglich sich zuträgt und dessen
Bedeutung doch nur eine so vorübergehende ist, daß schon morgen kein Mensch mehr davon spricht — und wir finden
keine zehn Minuten morgens,
keine Viertelstunde abend-,
keine anderthalb Stunden Sonntags für unseren Gott?! Es ist merkwürdig, an welchen Kleinigkeiten das christ
liche Leben inwendig ausdörren und verwelken kann.
Stehe
zehn Minuten früher auf, und die Zeit ist da; besser den Schlummer einbüßen, als den Frieden mit Gott.
Wenn du
abends klagst, daß du zerstreut und abgespannt bist — gehe doch nicht so weit aus aus dir selbst, daß du nicht wieder zu
dir selbst heimfinden kannst.
Laßt wie zwei unverrückbare
Pfeiler unseres christlichen Lebens die Morgenandachl und
Abendandacht in unserem Hause feststehen!
Wo sie fehlen,
steht das Haus in Gefahr, daß die brandenden Wogen der
73 Zeit ihm das innere Fundament
hinwegspülen,
und wir
weiter leben wie die Tausende in unserer großen Stadt, in
deren mühseliges und beladenes Leben wirklich kein Licht strahl mehr aus der Ewigkeit
hineinleuchtet.
Das meint
Paulus mit seinem: haltet an am Gebet!
Aber nein, nicht nur das
—
als könnten etwa die
Häuser, zu deren Ordnung Hausandacht und Kirchengehen Gott Lob, das alles berührt uns nicht, wir
gehört, sagen:
werden nicht davon getroffen. — Auch eine stehende Gebetssitte
kann versteinern;
kein Leben ist sicher vor dem Tode; ein
anhaltendes Gebet ist mehr als ein Gebet, das zehn Mi
und abends in Anspruch nimmt.
nuten morgens
Unsere
Religion, d. h., unser Verhältniß zu Gott, soll doch nicht
nur zu bestimmten Stunden gleichsam aus der Schublade genommen und nachher wieder weggelegt werden, sondern
es soll unseren
dankenwelt
ganzen Menschen und unsere ganze
durchdringen
„Bezogenheit"
und
beherrschen.
Ge
Es gibt eine
des inneren Menschen auf Gott, welche nie
aufhört, welche sein gesammtes Leben, sein Schreiben und
Rechnen, sein Kaufen und Verkaufen durchzieht, die ihn in seinen Gesellschaftssaal und in seine Studierstube begleitet,
die geradeso, wie ein großer Schmerz und ein großes Glück allenthalben ihre Spuren im Leben zurücklassen, auch un bewußt allem Denken und Thun sich aufprägt.
Wo diese
Gottbezogenheit des Gemüthes ist, da wird von selbst immer
wieder der Gebetsfunke aufflammen; nie wird es uns an der
bestimmten,
immer
wiederkehrenden,
inneren Weisung
fehlen: jetzt sammle dich und rede mit deinem Gott! es wird die regelmäßige Uebung des Gebets nur der Unter
grund für eine Gebets stimm»ng werden, welche Zeitlebens,
wie eine verborgene Ewigkeit in uns,
uns überallhin be-
74 gleitet; wir werden es lernen, nicht nur bei bestimmten An lässen, auf einzelnen Höhepunkten der Noth oder der Freude
unsere Hände zu falten, sondern alles, was an wechselvollem
Thun den Tag ausfüllt, wird uns zum Gebet rufen; aus jeder Stimmung werden wir wieder in die Gebetsstimmung
unsere Stimmungen selbst werden uns neue
zurückkehren;
Anlässe werden zum Gebet, und weil wir so nie uns selbst verlieren werden, so werden wir auch nie unsere Gemein
schaft mit Gott verlieren, in der wir allein wir selbst sind. — Das heißt im tiefsten Sinne: anhalten am Gebet.
2. Ein solches Gebet nun, das eigentlich ein beständiges
Aus- und Eingehen in der Welt des himmlischen Heiligthums ist, ist gar nicht möglich ohne ein Wachen. ein heiliges Hülfsmittel für
darum
der
Apostel
die
dieses
Mahnung:
Als
innerliche Gebet gibt
„wachet
in dem-
selbigen!'
Wie der Soldat in dunkler Nacht auf Posten zu wachen
hat, daß der Feind ihn nicht überfalle; wie der
Seemann bei nächtlicher Fahrt mit gespannter Wachsamkeit hinausspäht in die
Klippe Gefahr
stürmische See,
drohe, so
ob
keine
verborgene
soll mit offenem Auge und ge
spannten Sinnen der Christ mitten in der Versuchungswelt
stehen, die ihn umgibt; und wie man in der Festung wacht,
daß nicht der Feind den einzigen Zugang abschneide, durch
den sie ihre Zufuhr erhält, so soll der Christ in seinen Ge beten wachsam sein, daß ihm nicht der Zugang gehindert
oder abgeschnitten werde zu dem oberen Heiligthum,
aus
dem seine Seele die Kräfte des ewigen Lebens empfängt.
75 Meint ihr, das wäre so einfach? Ach, warum ist denn jene Gebetsstimmung so selten,
oder so schnell wieder ver
flogen, wenn sie kam? Warum werden so zahllose Gebete gethan, die auf ganz anderem Grunde sich erheben, als dem der heiligen Sehnsucht nach Gott?
Warum bleiben so un
endlich viele unerhört, ungesegnet? Ich antworte: vor allem
deshalb, weil es uns an diesem Ernst heiliger Wachsamkeit fehlt. Laß mich,
um das klar zu machen, einen Augenblick
mithineintreten in dein Gebetskämmerlein. gelten,
was
Hosea vom Tempel sagt:
seinem heiligen Tempel,
Von ihm soll ja
„der Herr ist in
es sei fülle vor ihm alle Welt".
Ein heiliges Gepräge der Stille, des Alleinseins mit Gott
soll
einer betenden
Menschenseele aufgedrückt
lausche ich auf dein Gebet
deine Gebetsworte
sein.
Nun
— sieh', mitten hindurch durch
tönt noch der Lärm
das Gellapper des Haushalts,
des Marktes oder
Kingt das Geplauder der
Gesellschaft, aus der du kommst, schleichen sich die Leiden schaften des Tages,
unter denen du kämpfest; ja wie oft
geschieht es — während du die Worte des Gebets, des Vaterunsers sprichst, hörst du selbst kaum, was du betest —
und du Menschenkind meinst wirllich, Gott solle bei den
Gebeten sein, bei denen du selbst nicht mit deiner ganzen
Persönlichkeit zugegen bist? oder Bitten erhören, selbst kaum hörst?
sein
heiliges
Meinst du,
die du
der lebendige Gott könne
Antlitz spiegeln lassen in dem unreinen Ge-
woge deines von Leidenschaften bewegten Herzens? Ehe du
redest mit Gott, lerne
aufwachen aus dem Getreide der
Welt, schließe die Thüre
in deinem Gebetskämmerlein zu
und lasse deinen Vater zu dir reden, bis du im Stande bist, zu ihm zu sprechen. In solcher Sammlung beten, das
heißt wachen!
76 Aber Paulus denkt wohl an mehr. einmal auf dein Gebet.
Ich lausche noch
Es ist wahr: du bist gesammelt;
aber du betest ohne Freudigkeit, ohne Kraft.
Dein Gebet
ist wie eine Pflicht, die du mit Unlust thust, nicht mit
Freudigkeit.
Weißt du, was sich wie ein Bleigewicht an
deine Gebetsflügel anhängt?
Gott können nur die reinen
Herzen schauen und nur dem Aufrichtigen läßt es der Herr gelingen — und dir fehlt beides —
eine Stelle ist
vorhanden, wo du dein unreines Herz nicht reinigen lassen willst, ein Punkt, an dem du vor deinem Gott und vor dir selbst unaufrichtig bist!
Es ist ein Bann über dir, Israel
— hat der Herr einst zu seinem Volke gesprochen.
Es ist
ein Bann über deinem Herzen, der dich hindert dich aufzu schwingen zu deinem Gott.
Ein Lügner kann nicht beten,
ein Trotziger kann nicht mit Gott reden,
ein von unreiner
Lust bewegtes Herz kann nicht zu dem heiligen Gott auf schauen, unvergebene, mit Bewußtsein zurückbehaltene Sünde
tödtet das Gebet!
Wache über dich selbst, um diesen ver
borgenen Punkt, den du von deiner Heiligung ausnehmen
willst, zu entdecken.
Wache über deinen Gebeten, daß nichts
sei, das sich nicht will von Gottes Geist durchleuchten lassen.
— Mit diesem Entschluß der Heiligung beten, das heißt:
wachen im Gebet. Und noch ein drittes Mal höre ich deinen Gebeten zu. Du betest ernst, anhaltend, immer wieder die eine Bitte um
ein geliebtes Leben, um Aenderung einer peinlichen Lage, um Errettung von äußerer Noth.
Gewiß, du darfst es;
Gott kann erretten; wie viele haben schon erfahren: „wenn die Stunden sich gefunden, bricht die Hüls' mit herein".
Macht
Dennoch — ich sehe im Hintergründe deiner Bitte
das trotzig erhobene Haupt: du mußt mir helfen; ich höre
77 die leise Bedingung zwischen
deinen Worten, die du Gott
stellst: wenn du mir nicht hilfst,' so sehe ich, daß das Gebet überflüssig ist, und werfe Gebet und Glauben fort.
Halt,
lieber Mensch, wie kann ein Gebet Gott wohlgefällig sein,
das ihm gleichsam die Pistole auf die Brust setzt und ihm
abpressen will, was er nur geben kann aus lauter Gnade und Barmherzigkeit.
Wache über dich selbst, damit du zu
erst lernst, dich demüthig beugen Gottes
verlernst,
unter Gottes Willen, und
Willen unter den deinigen
beugen
Nur demüthige Gebete sind Gott wohlgefällig.
wollen.
zu So
demüthig beten heißt: wachen im Gebet!
3. In
einem
dritten verbürgt
uns Paulus den Segen
unserer Gebete, indem er mit dem Wachen enge zusammen schließt die Danksagung:
„wachet im Gebet mit Dank
sagung". Wunderbar, das ist das erste Wort, das sich auf den Inhalt unserer Gebete bezieht,
und
dies erste Wort sagt
uns nicht, was wir bitten, sondern wie wir danken sollen;
es weist uns nicht auf die Armuth hin,
die wir vor Gott
bringen dürfen, sondern auf den Reichthum, den er uns ge
schenkt .hat.
Und weiter: wunderbare Kraft des Dankes
beim Gebet — er vermag es, ein Gebet so innerlich zu gestalten, daß es den Sündenbann
überwindet, die Seele
sammelt und so ein gesegnetes, Gott wohlgefälliges Beten Verstehen wir nur recht, welchen Dank der Apostel
wird.
meint. Es ist ja ohne Zweifel wahr: wir haben alle Zeit mehr Ursach zu danken als zu bitten; wir würden dessen inne
werden, wenn wir nur anfangen wollten zu danken; wir
78 würden erst ganz verstehen, wie reich Gott im Geben und
Segnen ist, wenn wir jede empfangene Gabe im Dank auf
den Geber zurückbezögen.
Es würde uns erst das Auge
sich öffnen für die verborgenen Wunderwege Gottes, wenn
Es kann nicht zweifel
wir ihrer keinen ohne Dank erlebten.
haft sein, daß wir nur deshalb so wenig von Gottes Aus
hülfe erfahren, weil wir den Dank vergessen und meinen,
es müsse so sein, und darum sollten wir jeden Tag die be sonderen Ursachen des Dankes aufsuchen, die er uns bietet
—
immer reichlicher würde die Quelle des
Dankes uns
stießen.
Gleichwohl denkt Paulus hier
nicht an einzelne
Danksagungen fiir einzelne Wohlthaten; auch sie sind nur die Stufen, die zu dem Heiligthum hinaufführen, in das er
uns hineinsehen läßt.
Ueber den Dank für die Einzelführung
hinaus gibt es ein Danken, das auch auf dunkelen Wegen
dasselbe bleibt:— sieh, lieber Mensch, der große, allmächtige,
herrliche Gott will dein Gott sein; du darfst zu ihm reden wie ein Kind mit dem Vater. Ja, der seinem Wesen nach Geist ist, so unfaßbar, so unermeßlich, daß Worte und Namen für ihn
nur „Schall und Rauch" erscheinen —
er ist dir offenbar
und greifbar geworden in seinem Sohne Jesu Christo;
heilig ist,
der
ein Richter der Herzen, so ernst, daß .sündige
Menschen vor ihm nur fliehen können — er nimmt dich an,
wenn du nur zu ihm fliehst in Christo Jesu. diese einzelne Bitte erhört ist, so
Gleichviel ob
wie es mein verkehrtes
Wünschen verlangte, ob er wirklich die Hülfe so hat kommen lassen, wie ich sie begehrte, ob er mich durch Geben gesegnet
hat oder vielleicht
durch Nehmen
— du armer sündiger
Mensch darfst dennoch in jedem Falle gewiß sein, daß
deine Bitte sein Herz bewegt hat, in seine heilige Liebe auf-
79 genommen und bei ihm so treu verwahrt ist wie Kindesbitte in Vater- und Mutterherzen.
Und
siehe, dafür danken,
das heißt mehr, als Worte des Dankes sprechen, das heißt, vor ihm niederfallen: „ich bin zu gering aller Barm
herzigkeit und Treue, die du an mir thust"; das heißt, vor ihm sich beugen: „wie soll ich vergelten alle deine Wohl that" ?—das heißt, danken mit der Hingabe des eigenen Willens und Herzens, und von diesem Danke kann man
sagen:
ja, er zerbricht wirllich den Bann und die Lust an
allem Unreinen, er lehrt beides: anhaltcn am Gebet und
wachen in demselben; er macht unsere Gebete erst innerlich
und wandelt sie um in eine Hingabe der Herzen an Gott; er zieht das Amen Gottes und seine Segnungen auf unsere
Gebete herab, er hebt aber auch
4. den Inhalt des Gebets dann weit über alles
liche hinaus und gestaltet
nur Persön
dasselbe zu der Fürbitte, um
die am Schlüsse unseres Textwortes Paulus seine Kolosser
angeht: „Betet für mich, auf daß .Gott uns die Thür des Wortes aufthue, zu reden das Geheimniß Christi, darum ich auch gebunden bin, auf daß ich dasselbe
offenbare, wie ich reden soll". Nicht von einer Fürbitte im engeren Sinne ist die
Rede und
nicht von ihr, die eine besondere Betrachtung er
heischen würde, will ich jetzt reden.
ist ein
Was Paulus fordert
Gebet für sein Amt, für das Laufen des Worts,
für die Siege
des Reiches Gottes durch seine Arbeit.
ist ein neuer, großartiger Gesichtskreis, den
Es
er den Betern
eröffnet — für ihre Keine Sorge bietet er ihnen die große
Sache des Reiches Gottes, für ihre Keinen Erfahrungen im
80 bescheidensten Kreise reicht er ihnen die Mitfreude über die Siege
Jesu
seufzen,
Christi.
Ihre Nöthe,
unter deren Last
sie
sollen sie vergessen über dem Anliegen, daß die
Fahne Jesu Christi weiter
getragen
und die Thür des
Worts aufgethan werde, um seinen Namen zu verherrlichen. Dasselbe gibt
also Paulus
hier als Ziel aller Gebete an,
was der Herr im Vaterunser uns hat erflehen heißen, daß nämlich Gottes Reich komme, sein Name geheiligt werde, sein Wille geschehe, und so seine Kraft sich offenbare.
Das
sind die tiefsten Bitten, die ein Mensch
Und
thun kann.
hier prüfet, l. Fr., euch selbst: für was beten wir? Heiliger, großer Gedanke, der ein christliches Gebet ausfüllen soll!
Es soll eine betende Menschenseele hinauf
steigen zu ihrem Gott und soll seine Sache auf ihr Herz
nehmen, als wäre es ihre eigene! Ja, daß es in dir Licht werde, und die Finsterniß deiner Seele
weiche und Gottes
Reich zu dir komme — das darfst du zuerst beten.
Aber
dann soll das Gebet sich erweitern — daß es auch in an deren Licht werde, in deinem Hause, in deinem Kreise, in den Menschen, die Gott mit dir zusammenführt, daß dieser eine in Sünde und Leidenschaft Gebundene ein anderer werde, daß in diesem Kreise der Sünden und der Seufzer weniger
werden und die Gotteskraft sich offenbare, daß die zerspaltene
und zerrissene Kirche sich wieder zusammenschließe zu einer Gemeinschaft im Glauben und im Geiste, daß die Sieges kraft des Evangeliums die Welt erobere, und allen Mächten des Unglaubens
und des
Heidenthums gegenüber immer
wieder unser Glaube sich erweise als der Sieg, der die Welt
überwunden hat. Ueber solchem Bitten vergißt man alle jene
äußer
lichen Forderungen, die wir so oft an Gott richten.
Denn
81 alle einzelnen Dinge, die wir erbitten könnten, laufen doch wieder in das Eine hinaus, daß nur an
uns und durch
uns sein Name verherrlicht werde und sein Reich komme.
zu uns
So kann es schließlich auch keine ungesegneten Ge
bete mehr für uns geben;
denn wenn Gott das Mittel
abschlägt, das ich mit meinem endlichen Verstände ihm an
es nicht zum
gebe, weil er eben besser weiß als ich, daß
Ziele führt: so will er den Grundgedanken meines Gebets doch erhören und durch Geben und Nehmen, durch gute und böse Tage dazu mithelfen, daß
sein heiliger Wille an
uns geschehe und sein göttliches Reich in
uns
aufgerichtet
werde. So beten können heißt in Wahrheit und immer ge segnet beten! Ich bin am Schlüsse.
Nicht darauf, sagte ich im An
fang, kommt es an, daß wir Neues hören, nicht gedacht haben,
was wir noch
sondern daß wir das Alte thun,
wir alle schon wußten.
was
Lasset uns anfangen zu beten, und
wäre es noch so schwach, noch so unbehülflich — auch das Kind lernt erst allmählich gewisse Tritte thun, und kein Beter
wird zum Himmel aufsteigen, der nicht erst zagend die ersten
Sprossen dieser Leiter betreten hat.
Gott aber
wird auch
die schwache Bitte nicht unbeachtet lassen, sondern den Auf
richtigen krönen mit seiner Erhörung!
Amen.
VII.
Sonntag nach Neujahr 1885.
Das feste Herz. Hebe. 13, 9.
Lasset
euch
nicht
mit mancherlei und fremden
Lehren umtreiben; denn es ist ein köstliches Ding, daß das Herz fest werde,
welches geschiehet durch Gnade, nicht durch Speisen,
davon keinen Nutzen haben, die damit umgehen.
Theure Gemeinde!
Vor wenigen Tagen sind wir in
das neue Jahr hineingetreten. Ihr laßt euch, nachdem wir am Sylvesterabend gemeinsam dem alten Jahr seinen Abschieds gruß gesagt haben, auch heute noch einen Wunsch für das
angetretene Jahr aussprechen.
Der Apostel hat den Aus
druck gegeben für das, was ich uns Allen wünsche: ein
festes Herz. Ohne Zweifel fühlen wir alle, daß der Apostel Recht
hat, wenn er das ein köstliches Ding nennt; es gibt keine
höhere Gabe.
Ein Herz,
das fest geworden ist in seinem
Glauben und das nun durch eine Welt des Zweifels hin
durchgeht, seines Willens und feiner Ueberzeugung gewiß; ein Herz, das fest geworden ist in seinem Wollen und das
nun
unbeugsam
bleibt
mitten
unter dm verführerischen
Stimmen zur Rechten und zur Linken;
das Herz, dieser
innerste Centralpunkt des menschlichen Wesens, von dem Denken,
Fühlen und Wollen gleicher Weise bestimmt wird,
83 fest geworden
und
in
sich
selbst geschlossen und dennoch
durchsichtig und klar — ein höheres Ziel kann uns allen nicht wohl gesteckt werden; ein köstlicheres Gut können wir unseren Kindern nicht wünschen. Und wenn wir beim Jahres
anfang wohl Hinausschauen in weitere Gebiete — was thut unserer Kirche noth, damit sie das Salz im Leben unseres
Volkes werde, was unserem Staat, damit er unerschütter
lich auf den sittlichen Grundlagen bleibe, die seine Gesund
heit und seinen Bestand verbürgen?
Wir können mit dem
einen Worte antworten: — feste Herzen!
Aber, l. Fr., achten wir nun auch gleich darauf, auf welche Weise nach dem
wird.
apostolischen Wort ein Herz
fest
Auch der alternde Baum wird hart, unbiegsam, fest;
so kann wohl ein alternder Wille hart, starr und unbiegsam
werden, und
ist
doch nicht im
rechten Sinne fest.
Der
Apostel fügt seinem Preise des festen Herzens hinzu: „wel
ches geschieht durch Gnade" — und wollt ihr dies un
verständliche Wort euch deutlicher machen, nehmet hinzu, was unmittelbar vorhergeht, das Wort,
das wir am Neujahrs
tage des vorigen Jahres uns zuriefen:
„Jesus Christus
gestern und heute, und derselbe auch in Ewigkeit"!
Es ist die-Erfahrung der Gnade, die von Christo aus
geht, welche das Herz fest macht. werden wollen
wir sprechen,
von
Nur vou diesem Fest der Festigkeit,
die das
Herz an die Ewigkeit kettet.
Einen Menschen,
der fest geworden ist in einem be
stimmten einheitlichen Gepräge seines Wollens und Wesens, pflegen wir wohl einen Charakter dessen
ganzes Leben
und Wesen
zu nennen; ein Mensch, bestimmt wird von dem
einheitlichen Mittelpunkte der Erfahrung der Gnade Jesu
Christi aus,
ist
ein christlicher Charakter.
Bewußte,
84 klare, charaktervolle Christen, christliche Charaktere sollen wir alle werden.
Laßt uns unser eigenes Bild denn vor die
Seele stellen, wenn wir
vom christlichen Charakter reden.
Er entfaltet sich, wo das Herz fest wird.
Dies Festwerden geschieht durch Gnade.
1. Wie köstlich es sei, daß das Herz fest werde, das hat
ein Petrus gewußt, als er in feiger Menschenfurcht drei mal den Herrn verleugnete und dann, getroffen von dem
Blick des Königs mit der Dornenkrone, bitterlich weinend hinausstürzte in Einsamkeit und Nacht.
Wie köstlich das
feste Herz sei, das hat ein Thomas erfahren, als er, von Charfreitagstrauer gehalten, in seinen Zweifeln hin und her geworfen wird, während die anderen Jünger längst schon
voll Osterfreude jubeln: er ist auferstanden, er lebt! Wie köstlich dies feste Herz sei, ein Paulus hat es gewußt, wenn er immer wieder trotz aller Anstrengung die Er fahrung macht: „Das Gute, das ich will, das thue ich
nicht, und das Böse, das ich nicht will, das thue ich"
—
bis er endlich hindurchdringt zu dem Siegesruf: „ich danke
Gott durch Jesum Christum, unsern Herrn". Gewußt hat es ein Augustin, der in allen Kämpfen mit feiner sinn lichen Natur nicht zum Ziele kommt und immer wieder mit
sich selbst paktirt: nur noch nicht gleich, nur noch ein wenig
möchte ich genießen — bis endlich der Stärkere den Starken überwindet und
er anzieht den Herrn Jesum Christum.
Dies feste Herz hat ein Luther gekannt, der der ganzen
Welt sein Keines Ich entgegensetzt, wo es mit Gott im
Bunde steht: ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen.
85 Und wie weit könnten wir die Reihe solcher festen Gottes
männer, solcher christlichen Charaktere fortsetzen bis in unsere Tage hinein.
Eins
ist
bei allen dasselbe — so lange das
Herz nicht fest geworden ist, so lange sind
sie schwankende
Rohre: die Felsenmänner, an denen die Kirche des Herrn sich aufrichtet, die christlichen Charaktere, die das Gepräge ihres gewaltigen und durchleuchteten Wesens auf Jahrhunderte hinaus der gesammten Kirche aufprägen, werden sie erst, als ihr Charakter fest geworden ist durch Gnade.
Wir fragen: worin soll denn das Herz fest werden?
— und aus der Reihe tritt zuerst Petrus
auf und ant
wortet uns: ein Festwerden des Herzens bedürft ihr gegen über der Furcht vor der Welt; die Festigkeit des Herzens
besteht in einer eigenthümlichen Freiheit, dem Freiwerden nämlich von Menschenfurcht — von der Furcht vor dem Urtheil der Leute. gültig sein.
Gewiß, dies Urtheil soll uns nicht gleich
Auf der sittlichen Werthschätzung, also auf dem
Urtheile anderer über uns ruht das, was wir Ehre nennen,
und die Ehre ist ja gewiß ein sittliches Gut, das wir mit
ganzem Ernst bewahren sollen.
Aber ebenso wenig können
und dürfen diese Urtheile der Menschen allein uns binden und bestimmen.
Es ist ein anderes Urtheil, das für dich
entscheidende Bedeutung haben soll,
als das der Menschen,
nämlich das Urtheil deines Gewissens und zwar des an
Gott gebundenen und von Gott allein bestimmten Gewissens. Und wo nun die Furcht vor dem Urtheil der Menschen dich bestimmt, dein Gewissen zu verletzen und deinen Gott zu
verleugnen,
da wird diese Abhängigkeit von den Menschen
zu einer schmachvollen Knechtschaft.
Seien wir aufrichtig, l. Fr.,
wir alle kennen diese
Knechtschaft; sie ist der Bann auf deinem Christenthum im
86 Großen und im Kleinen.
Du hast deinem Hause gern das
Gepräge ernsten Christenthums geben Wollen — aber was
werden die Menschen dazu:sagen?!
Wie mancher arme
Hausvater hat um deswillen seine Hausandacht eingestellt oder nicht auszusühren
gewagt!
Du mißbilligst manches
in der Erziehung deiner Kinder, was ihnen an Zerstreuung,
an Genuß, an Vergnügen zu Theil wird;
mehr Ernst für
sie, mehr Sammlung für sie, das ist dein Anliegen, das ist dein Gebet sogar — aber was würden die Menschen davon urtheilen, wolltest du dich zurückziehen?! — Ach jene jämmer
liche Stunde deines Lebens, die der Verleugnung des Petrus so ähnlich sieht an schmachvoller Feigheit und Lüge — was
hat diesen Brandflecken dein Gewissen
gebracht? war es
nicht die Angst vor dem Spott der Leute, war es nicht die Furcht vor
den Menschen?
Denken wir an die Macht der
Schlagworte in unseren Tagen, an den unglaublichen Zwang,
den die Partei ausübt, an die Scheu, sich irgendwie zu kompromittiren — wie viel Theil hat an dem allen die Furcht vor den Leuten, die charakterlose Knechtschaft des Herzens, dem das erste fehlt, wodurch es fest werden kann, nämlich
die Freiheit, sich aus sich selbst zu bestimmen.
Aber richten wir noch einmal die Frage: worin soll
das Herz
fest
werden?
Da treten
ein Paulus, ein
Augustin aus dem Chor der Genannten auf und antworten
uns:
fest
soll
es
werden
gegenüber der Macht
der
gegenüber dem sündlichen
eigenen Ich,
Lust; die Festigkeit
des Herzens besteht in einer eigenthümlichen Entschlossenheit
und Kraft auch dem eigenen inneren Menschen gegenüber: In dir ein edler Sllave ist,
Dem du die Freiheit schuldig bist!
87 Ach und nun seht unsere großen und tapferen Leute
in der Welt an, Namen, die von Tausenden genannt werden, vielleicht solche, die anderen zum Führer dienen, an denen andere sich halten sollen — und an der Kraft
gegenüber
ihrer eigenen Leidenschaft, an der Entschlossenheit gegenüber der Lust, die jenen edlen
Sllaven bindet,
gegenüber der
Selbstsucht, die ihn erstickt, wie fehlt es da so ganz!
Wie
hundertfach sind Menschen, die in dem Trotz ihres selbst
gewissen Wesens einer ganzen Welt gegenüber muthig sind,
unbegreiflich feige und schwach, wenn es den Kampf gegen das eigene Herz und die eigene Lust gilt.
„In Jedem ist ein Bild deß, das er werden soll —: so lang du dies nicht bist, ist nicht dein Friede voll", heißt ein
Dichterwort.
Es ist das Bild, das dein Gott von dir sich
macht, in dem dein innerer Mensch mit seinen eigenthümlichen
Gaben, seiner eigenthümlichen Individualität, herausgeschält aus den Schlacken des sündlichen Wesens, zur Erscheinung kommt.
Und nun sieh dies Bild an in dir selbst, entstellt
von den Ausbrüchen unreiner, wüster Leidenschaft; nun fühle
immer wieder jene Selbstverachtung über die jämmerliche
Schwachheit, die ohne Damm die Leidenschaft einbrechen ließ; nun sieh die Regungen dieses inwendigen Menschen, gebunden von Sinnlichkeit, Eitelkeit, Selbstsucht, Ehrgeiz, die schließlich
seine Stimme nicht einmal mehr vernehmbar werden lassen,
weil sie völlig das Herz ausfüllen.
Du armer gebundener
Mensch, geknechtet von diesem sündlichen Ich mit seinen Leiden schaften, friedlos, zerrissen in dir selbst, — was dir fehlt ist —
ein festes Herz.
In dieser Beziehung hat Paulus in seiner
Darlegung Römer 7 der Erfahrung aller Zeiten Ausdruck ge
geben.
In der Schilderung dieses von seiner eigenen Leiden
schaft ohnmächtig hin- und hergezogmen Herzens sind die
88 Konfessionen Augustins ein Lebensbuch, das für alle Zeiten
Bedeutung behalten wird.
Werde fest in dir selbst, stark
gegen dich selbst; nur wo so das Herz fest wird, prägt sich der christliche Charakter.
Und ein drittes fügen wir hinzu, worin das Herz
fest werden muß — und alle Gottesmänner, denen das Herz fest geworden ist, geben uns dieselbe Antwort: es muß das Herz fest werden im Glauben; eine eigenthümliche Ge
bundenheit macht das Wesen dieser Festigkeit aus, eine Ge
bundenheit nämlich der Mensch
an den lebendigen Gott.
gebunden
ist an
Nur wenn
Gott, wird er frei von der
Welt; nur wenn er mit dem Stärkeren im Bunde steht, mit Gott, wird er stark gegen sich selbst.
Nie wird das Herz
fest, nie bilden sich eigenartige, christliche Charaktere, wenn
nicht eine starke und unerschütterliche Glaubensüberzeugung den ganzen Menschen beherrscht.
Es sind
zwei bedeutsame
Beobachtungen, die ein Schriftsteller gegenüber der Frage
macht, wann die wenigsten großen Menschen auftreten, die, stark und fest in sich selbst,
ein Halt für ihre Zeit und ihr
Volk werden — es sind die Zeiten der allgemeinen Skepsis, der Zweifelsucht und des Unglaubens gewesen! Und wiederum, sehen wir die großen Männer
der Welt durch,
an denen
eine ganze Zeit sich gehalten hat — wir finden unter ihnen,
wie verschieden die Ueberzeugung sein mag, die sie erfüllt,
keine Atheisten!
Was gibt dem Zeugniß der Apostel noch heute die
ungeschwächte Kraft
über die Herzen,
was
macht
einen
Luther noch heute zum Träger seiner Kirche? — es ist die
Macht, die von dem Zeugniß ihres persönlichen Christen
thums,
ihres
Glaubens
ausgeht.
Mit der
Frage des
Zweifels auf den Lippen: was ist Wahrheit? hat Pilatus
89 feige den Heiligen preisgegeben und heuchlerisch den König der Wahrheit zur Kreuzigung überantwortet. Petrus, der dem hohen Rathe
entgegenhält:
„man
Wiederum ein
das Wort heiligen Trotzes
muß Gott mehr gehorchen
als
den
Menschen"; ein Paulus, der die halbe Welt für das Evan gelium von Christo
erobert;
ein Luther, der eine Kirche
gründet und ein neues Zeitalter heraufführen hilft — sie stehen auf ihrem festen, unerschütterlichen Glauben: ist Gott
wer mag wider uns sein?
für uns,
Starker, unerschütter
licher Glaube thut uns allen noth — ich meine nicht einen Glauben, der in der Annahme eines Bekenntnisses, in dem
Fürwahrhalten
Glauben,
eines Lehrbegriffs
besteht, sondern
einen
der das Hineintreten in eine unsichtbare Geistes
welt bedeutet, der ein geistiges Schauen und Erfassen des
unsichtbaren Gottes ist, einen Glauben, der kraft dieser Er fahrung gefeit ist
gegen eine Welt des Zweifels und der
muthig einer Welt voll Einwürfe und voller Halbbildung mit dem Zeugniß seiner eigenen Selbstgewißheit zu begegnen vermag: ich habe erfahren und erlebt, was ich glaube!
Wenn so das Herz fest wird in Gott,
der Mensch zum christlichen Charakter. diesen Glauben nicht in dir,
so prägt sich
Wiederum trägst du
so wird dir auch jene Frei
heit von Menschenfurcht und jene Herrschaft über dich selbst fehlen.
Wohlan, um so ernster laßt uns denn hören, was
der Apostel uns weiter zu sagen hat, die Antwort nämlich auf die Frage,
wie es möglich
diesem Sinne fest werde.
sei, daß das Herz in
Es geschieht, sagt er, durch
Gnade!
2. Durch Gnade!
Worten
Ich
fühle
euch,
l. Fr., bei diesen
eine Art von Enttäuschung ab, die vielleicht um
so so größer ist, je ernster ihr euch gesagt habt, daß dieses feste Herz doch in Wirklichkeit ein köstliches Gut sei.
Durch
Gnade! — Das scheint euch wie eine Art Vertröstung auf eine zukünftige Welt,
nicht aber eine Mittheilung neuer
Kraft für die gegenwärtige; das kommt euch vor, wie eine Demüthigung, welche vielmehr den eigenen Willen und die
natürliche Kraft zerbricht, die gerade die
nicht aber wie eine Anstachelung,
äußerste Kraft herausfordert und entfaltet.
Und dennoch weiß der Apostel keinen andern Weg, als diesen: es geschieht durch Gnade.
Ja, wenn er hinznsetzt:
„nicht durch Speisen, davon keinen Nutzen haben, die damit
umgehen",
so will
Briefes sagen: es
er nach dem Zusammenhang unseres
geschieht nicht durch irgend eine äußere
Leistung, irgend ein äußeres Werk, das ihr vollbringt, und das darauf gesetzte Vertrauen, es geschieht allein durch etwas, was der Herr thut, allein durch die Gnade, nämlich die Gnade
des Herrn, den er eben genannt hat:
Jesus Christus,
und durch das Vertrauen, das ihr auf die Gnade setzt. Man muß nun zugeben:
nicht jedermann kann ohne
weiteres diesen Weg einschlagen.
Wer zum Beispiel wie
jener reiche Jüngling Matth. 19 der Ueberzeugung ist: die Gebote Gottes habe ich alle gehalten von Jugend auf!, oder
wer auch nur wie der Pharisäer Saul denkt, durch das Gesetz und
seine Erfüllung selig zu werden, der wird vor der Frage nach einer Gnade und einer Erlösung, wenn
sie mehr sein soll
als etwa eine Belehrung, kopfschüttelnd stehen bleiben und
vielleicht ihr den Rücken kehren; er braucht sie nicht.
Man
kann auch keinen Menschen zwingen» diesen Weg zu gehen; denn Gnade kann füglich nur einer suchen,
der sie braucht,
und darum kann im Grunde nur die eigene Erfahrung auf diesen Weg führen und keine fremde Weisung und Leitung.
91 Ja, man soll auch Niemand zwingen wollen, diesen Weg der Gnade zu gehen; im Gegentheil, wer
ohne Gnade,
ohne einen Erlöser, ohne die Gewißheit der Barmherzigkeit
seines Gottes auskommt,
gut, er möge es versuchen und
zwar so — hier ist das Ziel: — das Herz soll frei werden
von Menschenfurcht, von Sündendienst, von Zweifel, frei in Gott, stark in Gott, fest in Gott! und hier ist der Weg: —
zerbrich die Ketten, mit denen Welt, Sünde und Zweifel dich halten, hebe dich mit kühnem Entschluß selbst hinaus
über alles das Gemeine, was dich bindet, halte dich selbst
im Glauben unerschüttert,
kraft deines heiligen Willens;
dann tritt hin vor deinen Gott und sprich: siehe Herr, wie Du dies Herz haben willst, so bringe ich es Dir! es ist fest geworden im Kampf, fest im Glauben, fest wider alle
Stricke der Sünde, ich bin wie das große Vorbild, das ich mir nahm, das nicht seinen, sondern Deinen Willen that
und auf dem Dein Wohlgefallen ruht!
O selige, herrliche
Menschen, die so sprechen, die so sprechen können--------- wo sind sie?
Sind sie hier unter uns,
kennt ihr sie in eurer
Mitte, seid ihr ihnen je begegnet unter den Größesten im Reiche Gottes?
Ich kenne sie nicht und — seht tiefer und
forschet genauer nach: ihr kennet sie auch nicht, ihr findet sie nicht und findet sie nirgends in der Welt.
Und hier
ist der Grund, warum ihr sie nicht findet: —
Es wird ohne Zweifel unter uns solche geben, die noch nie diesen Versuch gemacht und darum von der Größe
der Aufgabe, um die es sich handelt,
von
der Höhe des
Ziels, das sie erreichen sollen, keine Ahnung haben. Denen kann man nur den Stachel in's Herz treiben:
erst lerne
überhaupt mit ganzem und heiligem Ernst das Trachten nach diesem festen Herzen,
erst dringe in die Tiefe der
92 Forderung,
die dein Gott an dich richtet;
dann urtheile
über die Kraft, welche du dieser Forderung entgegenbringst.
Es sind aber sicherlich auch solche unter uns, die bereits mit sich selbst und ihrer Leidenschaft gerungen und gestritten
haben, und denen das höchste Ziel in diesem festen Herzen
besteht, und eben diese sollen jetzt uns bezeugen, wie immer
wieder jeder neue Versuch, jeder neue Anlauf, wenn er das innerste Herz, die Erneuerung des Willens, in's Auge faßte, auch auf dasselbe Resultat hinauslief: ich will, aber ich ver
mag es nicht;
die Kraft reicht nicht zu;
Ziel, zu schwer ist die Aufgabe.
zu hoch ist das
Ich kann wohl Auswüchse
abschneiden, Gewohnheiten ablegen, aber die innerste Ge
sinnung zu ändern, ein neues Herz mir zu geben, vermag ich nicht.
Und unter dem Ernst dieses gewöhnlich noch
Trachtens pflegt man
eine andere Erfahrung zu machen.
Je
ernster der Mensch danach trachtet Gott zu nahen, um so mehr erwacht das Gefühl seiner Schuld, der Gedanke an unvergebene Sünde.
Es ist der Ernst der Heiligung selbst,
der zu dem Gefühl der Verwerflichkeit und der Verschuldung führt.
Wie sich die Erfahrung des Paulus wiederholt: ich
habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen, ich sehe aber ein anderes Gesetz
in meinen Gliedern, das
da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüthe — so auch
die andere, die in der Frage liegt:
ich elender Mensch, wer
wird mich erlösen? Und aus dieser Erfahrung heraus wird
das Bedürfniß nach einer rettenden Gnade, wird das Ver ständniß für
einen Erlöser geboren.
Wie der Ertrinkende
mit aller Kraft nach dem rettenden Tau, so greift dann der Mensch mit ganzer Kraft im Glauben nach der Gnade seines
Heilandes, die Schuld
zudeckt
und
neue
Kraft mittheilt.
93 Nicht nur etlichen Starken
bietet sie sich an, nein, allen,
auch den Schwächsten, und sie sollen stark werden. Es wird
der Weg der Demüthigung, des Verzagens an bet eigenen
Kraft und des Jnnewerdens der eigenen Schuld die enge Pforte, die hinauf führt zur Erfahrung der Kraft Gottes,
durch die einer alles vermag.
So zieht eine
heilige Furcht in die Seele ein vor
dem Gott, dessen Liebe an uns
nicht vergeblich sein darf,
und hebt das Herz hoch hinauf über der Menschen Urtheil und die Furcht vor sagen
so
demselben,
lernen: man muß Gott Mit dem Erleben
Menschen. verschuldetes
Gewissen
Leben
auslöschcn
zudeckt kann,
daß
mehr
der Gnade Gottes,
und kommt
eine
werden
die Sünde abzulegen,
neue
zu
Kraft
der
mannhaftem Laufe, zu
kämpfen und
eine Kraft, welche
schwersten Tugend, zu der Demuth, den Gelingen gibt.
den
die ein
welche seine Hände
um nun gegen Fleisch und Blut siegreich wirllich
als
auch ein Brandmal im
Dankbarkeit über den Menschen, durch stark und seine Kniee fest
mit Petrus
wir
gehorchen
zu der
Ernst und das
So wird durch die Gnade ein Band der
Gemeinschaft mit Gott geknüpft,
die eine Sache lebendiger
Erfahrung und täglichen Erlebens wird und die selbst ein
Zugang ist zum Vater und das Hineintreten in eine höhere Welt:
Das lebendige Schmecken und Empfinden dieser Kraft,
diefe Erfahrung der Gnade hat einen Paulus so stark ge macht, daß er aussprechen kann: ich vermag alles durch
den, der mich mächtig macht, Christus; diese Erfahrung hat einen Luther aus der Tiefe seines Bußgefühls hinaufgehoben
zum Helden seines Volkes.
christlichen Charakters,
Das ist die Grundlage eines
des neu geprägten
nun mit seinem neu gewordenen Willen
Menschen, der
und seiner neu ge-
94 wordenen Lebenskraft auch alle Beziehungen seines Lebens und Wirkens heiligen und durchdringen, von diesem lichten Mittelpunkte aus die ganze Lebensperipherie verklären soll. In dieser Durchdringung des ganzen Lebens mit der Kraft
der empfangenen Gnade besteht die Arbeit der Heiligung,
mit der wir hier auf Erden nie fertig werden, und die sich erst vollendet, wenn der Herr uns abruft zu einer seligen
Ewigkeit.
Diese Gnade quillt uns wie aus offenem Born
aus der Gemeinschaft Jesu Christi auch in dem neuen Jahre, das wir angetreten haben.
Freunde! es ist ein köstlich Ding, daß unsere armen Herzen fest werden; das haben wir in der Tiefe gefühlt.
Und soll ich noch hinzufügen, wer mir besonders vor Augen gestanden hat, so sage ich:
Wieder
führt dies
unsere Jugend, unsere Kinder.
erste Vierteljahr
eines neuen Jahres
Hunderte von Kindern unserer Gemeinde der Confirmation
entgegen.
Es ist unser Gebet,
ein leerer Schall sei, sondern bestimmende Kraft
auf
daß ihr Gelübde nicht nur eine bindende und ihr Leben
Jahre hinaus.
Ach,
daß Gottes
Gnade in ihnen schaffe dies feste Herz, fest wider Menschen
furcht, fest im Kampfe mit dem eigenen Ich, fest im Glauben an die Gnade des Herrn, der das gute Werk,
das er an
gefangen hat, nicht unvollendet lassen wird.
Mit ihnen
aber laßt uns alle die Kraft suchen, welche die Herzen fest
macht, frei von der Welt, stark in sich selbst, unerschütterlich
im Glauben
—
die Gnade Jesu Christi,
heute und derselbe ist in Ewigkeit!
Amen.
der gestern und
VIII.
Dritter Advent 1885.
Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Matth. 11, 25—80. Zu derselbigen Zeit antwortete Jesus, und
sprach: Ich preise Dich, Vater und Herr Himmels und der Erde, daß Du solches den Weisen und Klugen verborgen hast, und hast eS den Unmündigen geoffenbaret. Ja Vater; denn es ist also wohlgefällig gewesen vor Dir. Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater. Und Niemand kennet den Sohn, denn nur der Vater; und Niemand kennet den Vater, denn nur der Sohn, und
wem es der Sohn will offenbaren. Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmet
auf euch mein Joch, und lernet von mir; denn ich bin sarrstmüthig und von Herzen demüthig: so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.
Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.
Theure Gemeinde!
Keine Predigt hat so sehr ein
Recht, die lieblichsten Töne anzuschlagen, welche die Schrift
ihr bietet, die freundlichsten Seiten herauszukehren, die das Evangelium hat, als die des Advents.
Sie rüstet das Fest
der Freude im Himmel und auf Erden zu, dessen erfreuende
Kraft im Lauf der Jahrhunderte noch nicht geringer gewor den ist. Sie läutet die Weihnacht ein, die mit ihrem Licht auch in das dunkelste Herz hineinleuchten und es warm und dankbar machen will.' So mag es denn wohl adventlich lau-
96 ten, wenn wir unsrer Predigt die köstlichste Einladung zum Heil voranstellen, mit der jemals der Herr Mühseligen und
Beladenen seine Erquickung verheißen hat. Gewiß, wir müssen sagen: wo kam je ein ähnliches
Wort aus Menschenmund!
Es neigt sich herab
zu dem
trägt eine Kraft des
Geringsten und richtet ihn auf, es
Trostes in das traurigste Herz, es schließt auch die Unzu
gänglichen mit seiner Freundlichkeit auf und macht sie auf
Ja selbst wer dem Worte nicht glaubt,
seine Kunde lauschen.
müßte doch wenigstens sagen: wenn das wahr wäre, dann wäre es göttlich; so müßte der sprechen, der der Heiland
der Welt ist.
Wohl, uns ist er der Heiland, und darum
empfinden wir es auch ganz: dies Wort stammt vom Himmel
und „trieft von Barmherzigkeit". —
Gleichwohl aber stellt nun der Herr vor diese köst
liche Ladung ein anderes Wort, das ein neues und eigen thümliches Licht auf sie fallen läßt.
Mit einem Worte hei
liger Majestät spricht er aus, daß es „den Weisen und
Klugen verborgen sei und nur den Unmündigen geoffenbaret."
Wie? möchten wir fragen,
wird denn
die Pforte, die noch eben allen Mühseligen und Beladenen
sich öffnete,
sofort wieder verengt?
schließt die Hand, die
noch eben zum Geben sich aufthat, sogleich sich wieder zu?
O,
th.
Fr., wenn
es
der Herr ausspricht, ein Adventswort sein?
ein
muß
königliches
es nicht
eben
Wort ist,
was
deshalb
auch
Verkündet uns nicht das Advents
evangelium den König der Ehren, der den Einzug halten
will in seine Stadt? weist dasselbe nicht hin auf den könig
lichen Richter, der Nachfrage halten und Rechenschaft for dern will über das, was wir mit seinem Heil gethan haben? Ja, können wir irgend der heilandhaften Größe seiner Ver-
97 Heißungen und seines Trostes glauben, wenn wir nicht auch
von ihm wissen, daß dieselbe auf einer königlichen Macht
vollkommenheit und Erhabenheit ruht, die hoch über allem nur Irdischen und Menschlichen steht?
So wird denn ge
rade die volle Huld und Freundlichkeit der Adventsverhei
ßung uns erst recht verständlich, wenn uns zugleich die Er
habenheit und Größe des Adventskönigs vor Augen geführt wird.
Diese königliche Gestalt Christi, wie sie ihre Herr
schaft
in
unserer Seele aufrichten und uns erquicken will
mit der Fülle ihrer Gaben,
darum heute ins
wollen wir
Auge fassen —
Christus als der König des Advents — könig
lich in dem Bewußtsein, das er ausspricht, wie in den Gaben, die er spendet,
soll uns verkündet werden. Hosianna nah und fern!
Eile bei uns einzugehen; Du Gesegneter des Herrn,
Warum willst du draußen stehen?
Hosianna! bist du da? Ja, du kommst, Hallelujah!
1. Soeben hat der Herr nach dem Berichte des Evange
listen jenen Weheruf über die Städte Galiläas erhoben, die ihn verworfen hatten: „wehe dir, Chorazin! wehe dir, Bethsaida!
wären solche Thaten zu Tyrus
hen, als bei euch geschehen sind,
und Sidon
gesche
sie hätten vor Zeiten im
Sack und in der Asche Buße gethan."
Aber es ist, als ob
eben an diesem Gegensatz der Verkennung
und Verwerfung 7
der Welt sich erst das volle königliche Bewußtsein in ihm entfaltete, das in ihm schlummert.
Gerade aus dem Wehe
ruf bricht der Lobpreis des Vaters hervor, dem
es wohl
gefällig gewesen, solches den Weisen und Klugen zu verber gen und nur den Unmündigen zu offenbaren.
An dem eige
nen Erleben, dem zufolge die Schriftgelehrten, die Weisen
und Gewaltigen nach dem Fleisch ihn verwerfen, und die Fischer und Zöllner zu seinen Aposteln sich werben lassen,
geht ihm die Erkenntniß einer göttlichen Ordnung auf — so soll es sein; es soll den Weisen und Klugen verborgen,
es soll nur offenbar werden den Unmündigen. wahrhaft
königlicher Erhabenheit
Ja,
mit
spricht er wie ein Wort
des Gerichtes es aus, er, der von seinem Volke Verworfene
zu denen, die ihn verwerfen:
mir ist
alles
übergeben
von meinem Vater, beides, dieses Offenbaren und djeses Verhüllen; denn niemand kennet den Sohn denn nur der Vater, der in der Seele des Sohnes sich spiegeln kann wie in seinem eigenen Bilde und der darum den Sohn be
rufen hat zur Ausführung seines Rathes — und niemand kennet den Vater, denn nur der Sohn, der selbst der
Abglanz der Herrlichkeit des Vaters, seiner Heiligkeit und seiner Liebe ist und der darum allein den Vater offenbaren
kann, wem er will.
Und er selbst, der Sohn, nimmt nun
die heilige Ordnung an, die dem Vater wohlgefällig gewesen ist: er will es verhüllen den Weisen und Klugen und nur
den Unmündigen offenbaren. Entnehmet, th. Fr., zunächst aus diesem Wort eine kö
nigliche Erhabenheit über alles, was vor Menschen herrlich
und hoch geachtet wird.
Alle menschlichen Höhen, alle mensch
liche Bildung und Weisheit imponiren dem Herm nicht einen Augenblick; er ist größer als das,
und
er hat Größeres.
99 Ob einer der erste ist in seinem Volke oder der letzte, ob er der weiseste Gelehrte ist oder der einfältigste Arbeitsmann, ob er Himmel und Erde mit seinen Gedanken umfaßt oder
im bescheidensten Kreise sein Leben zubringt, das führt ihn an und für sich dem Evangelium nicht näher und gibt ihm an und für sich keinerlei Anrecht auf dasselbe.
Ja, es ge
fällt dem Herrn einmal alle diese prunkenden Flitter mensch licher Bildung, alle
diese glänzenden Hüllen
menschlicher
Weisheit, in denen wir so groß und erhaben uns vorkom
men, gründlich zu zerreißen: — gegenüber dem Evangelium
und seiner Erkenntniß sind sie allzumal nichts, bedeuten sie unter Umständen weniger als nichts; sie können geradezu
Hindernisse werden, die den Weg zu ihm versperren. über .dem Evangelium kommt
Gegen
es auf ganz andere Dinge
an, als auf das, was von Menschen groß erachtet wird;
verborgen
bleibt
es der
Weisheit der
Weisen
und
der
Mldung der Gebildeten und wird nur den Unmündigen
offenbar.
Verstehet aber weiter, was für eine Unmündigkeit — oder wie es wörtlich heißt, was für eine
„Einfalt" der
Herr fordert, um sein Evangelium zu offenbaren.
Er setzt
sicherlich keine Prämie auf die Einfalt des Verstandes; das
Evangelium hat keine Verheißung für den Mangel an Bil
dung und Einsicht;
es schließt die höchste Vernunft ein, ja
eine Tiefe der Weisheit, welche die tiefsten Geister nicht aus
gründen.
Es hat je und dann Richtungen in der Entwicke
lung der christlichen Kirche gegeben, und es gibt ihrer noch
heute, welche menschlicher Bildung und Wissenschaft feind
selig oder mißtrauisch gegenüber standen — das Evangelium selbst steht beiden nie feindselig gegenüber, es ist selbst Sauer
teig der höchsten Bildung.
Ja, ich betone ausdrücklich, na-
100 mentlich gegenüber den jugendlichen Geistern, die sich so
leicht von großen und glänzenden Namen imponiren lassen:
es ist einfach nicht wahr, daß menschliche Bildung und eine gewisse Höhe menschlicher Weisheit und Erkenntniß mit Noth wendigkeit
dem Glauben
das Evangelium entfremde,
an
daß etwa das Christenthum
eine Religion für die Ungebil
deten und Halbgebildeten wäre, während die Weisen und
Gelehrten über sie
Es gibt genau
hinausgehen dürften.
ebenso viel große Männer, die gläubige Christen waren und sind, als solche, die es nicht sind,
derheit,
was
man
ja
und es gibt in Son
oft anzuzweifeln
pflegt, ebensoviel
große Naturforscher, die gläubige Christen waren oder sind, als
es
solche gibt,
Zeichen, daß
die
das nicht
sind,
zum deutlichen
die Wurzeln des Unglaubens nicht in der
Wissenschaft liegen, sondern in ganz anderen Punkten, näm
lich im
Willen
und im Herzen.
Und daraus folgt nun
schon, daß der Herr nicht eine Eigenschaft des Verstandes meinen kann, wenn er die Einfältigen preist, sondern
sittliche Eigenschaft des Herzens. eine natürliche Begabung,
Diese Einfalt ist nicht
die einzelnen wenigen zukommt,
sondern sie ist eine erworbene Tugend,
sollen.
eine
Diese Einfalt kann
welche alle haben
der Geringste haben, das alte
Mütterchen, das nicht lesen und schreiben kann, und sie bleibt
zu gleicher Zeit der heilige Schmuck des gewaltigsten Geistes, der Himmel und Erde mit seinen Gedanken umspannt.
Ja,
sie ist erfahrungsmäßig der Schmuck, den gerade die Edel
sten und Größesten oft tragen,
und der den Stufen der
Halbbildung und der eingebildeten Weisheit am häufigsten
zu fehlen scheint. Worauf der Herr also hinweist, das ist die heilige
Herzenseinfalt, die mit der Demuth verschwistert ist
und
101 welche gelernt hat, alles andere zurückzustellen über dem
Einen,
dem Fragen
Einfalt,
die
in
dem
nach
der Erkenntniß
ewigen Heil; es ist die
eigenen Schranken,
ihrer
ihrer Armuth, wo es um die Erkenntniß des Höchsten, ihrer
Ohnmacht, wo es um ein Begreifen des Ewigen, ihrer Un fähigkeit, wo
es um die
Räthsel des
Todes sich handelt,
ihre Hände demüthig ausstreckt, damit ein Größerer sie fülle
milden Offenbarungen seines Heils.
Ach, wie
haben
so die Größesten unter den Menschengeistern durstig und empfänglich in Kindeseinfalt an den Quellen göttlicher Offen barung zu Jesu Füßen gesessen, damit sie satt würden von dem Lebensstrom, der von ihm ausgeht! Und wie ist wie
derum den Weisen und Klugen aller Zeiten das Geheimniß das sie fanden, verborgen geblieben, nicht etwa, weil sie zu
klug, sondern weil sie zu hochmüthig waren, um empfänglich zu sein für die schlichten und tiefen Worte, mit denen der Herr von himmlischen Dingen zu uns redet.
zu dem Feste, ist, das uns
das
mehr
als
irgend
—
O, l. Fr.,
eines ein Kinderfest
das Heil der Welt in dem Kindlein in der
Krippe zeigt, laßt uns einfältig werden wie Kinder; laßt nach
dem,
was
unsere Bibel aufschlagen;
laßt
uns
uns in Einfalt hungernd
ewiges Leben
gibt,
und
durstend
mit der Einfalt, die nichts begehrt als der Seele Heil,
im
Gottesdienst unsere Erbauung suchen; laßt uns einmal allen
Dünkel und Hochmuth ablegen und mit dem vollen Bewußt sein unserer Bedürftigkeit und Schwachheit wie Kinder in die Adventsbitte einstimmen:
Ach mache du mich Armen In dieser Heilgen Zeit
Aus Gnade und Erbarmen
Herr Jesu selbst bereit!
102 Scheint euch die Forderung zu beugend, zu demüthi gend, wohlan, so groß und königlich das Bewußtsein ist,
das der Herr damit ausspricht, so königlich will er
2. auch in den Gaben sein, die er dafür anbietet.
„Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken", spricht der
Herr.
In der That, wo ist doch, ich wiederhole es, ein
Wort in den Religionen,
in den Literaturen aller Völker,
das dem an die Seite zu stellen wäre? gewinnend ist es,
So zart und so
daß einem die Thräne dabei ins Auge
treten kann, und an dem Worte selbst auf einmal zum Be wußtsein kommen mag, wie elend und beladen wir eigentlich
sind.
Und wiederum ist es so königlich groß, so in seiner
schrankenlosen Verheißung alles überragend, daß wie von selbst an ihm der schwache Glaube heranwächst.
In beiden
Beziehungen können wir wohl verstehen, wie dieses Wort in
der Missionsgeschichte so zu sagen seine Spezialgeschichte hat, die für seine Macht und seine Größe Zeugniß
ablegt.
Es
hat aber auch, denke ich, seine Mission noch heute unter uns.
Mühselig und beladen — recht verstanden sind wir das
alle.
Ich denke etwa an die Särge, denen ich in diesen Tagen
gefolgt bin, mit sechs Kindern dem Sarge der Mutter, mit drei Schwestern dem des einzigen Bruders; ich denke an die
Siechbetten, die nur enden werden, wenn heilend der Tod das Auge schließen wird; ich denke an
alle die getäuschten
Hoffnungen, die nagenden Sorgen, an das Wirken und Mü
hen ohne Frucht, an das
vergebliche Ankämpfen gegen den
Strom, an das verschwiegene Weh und den offenen Jammer,
103 an Neid und Streit, die nie aufhören; ich denke
an mehr
noch, was vor allem dich mühselig und beladen macht, an den Dämon der argen Leidenschaft in deiner eigenen Brust, an diese unbändige Natur mit ihrem Trotz und ihrem Ehr
geiz:
ich denke an die leisen Borwürfe des Gewissens, an
die dunkeln Schatten, die auf deinem Leben ruhen; ich denke
daran, wie viele, namentlich
tiefer angelegte Menschen es
gestehen werden, daß sie wohl zeitweilig die innere Last und Mühsal, welche sie tragen, vergessen können — und das ist
dann ihr Glücklichsein — daß sie aber eine Erquickung, welche
fröhlich die Last aufnimmt und weiter trägt, bis einst der letzte Lebenstag anbricht, nicht haben und nicht finden. Und
nun — kann man es fassen? — nun kommt einer und stellt sich hin
als der Erretter ans aller Noth und
ruft sie zu
sich, alle, alle, die mühselig und beladen sind: ich will und ich kann euch
erquicken!
Jst's möglich? müssen wir
fragen; vermag er es auch? — Ja, Fr., er vermag's wirklich, denn er ist ein König.
Freilich, nicht so thut er es, daß er die Erde in ein
Paradies
des Wortes, straft,
hören.
und
verwandelte.
die Thatsachen
niemand
Nein,
würde
Wäre
heilt von
nun flugs
der
Gedanke
hätten es längst Lügen ge
mehr innen
das thut, darum heilt er wirllich.
auf seine
Verheißung
Wurzel faßt der Herr
an der eigentlichen
die Sache an und
das
heraus,
und weil er
Hier ist sein Gedanke;
nimm ihn an, auch wenn er vorläufig dir fremd ist: — die
schwerste Last,
die
tiefste Mühsal ist die,
eins sind mit unserm Gott.
Last erst so bitter und so trostlos, trägen.
daß wir nicht
Das macht alle andere
daß wir ohne Gott sie
Und hier ist nun der erste Punkt, von dem er sagt:
ich will dich erquicken.
104 Aber auch da sind wir erstaunt, wie einfach das Mittel
ist, das er anwendet.
„Nehmet
auf euch mein Joch"/
so spricht er, lasset euch von mir leiten und führen, „lernxt
von mir sanftmüthig sein und von Herzen demü thig" — das ist alles. Der Weg sanftmüthigen und demü thigen Gehorsams gegen ihn ist das Heilmittel, das er für die Erquickung der Seele bietet.
Wem das sonderbar oder
lächerlich erscheint, und wer für dies Mittel zu stolz oder zu hochmüthig ist,
der trage nur ruhig seine Last und seine
Mühsal weiter — der Herr erquickt ihn nicht.
Aber wer
seine Hände ausstrecken kann, wenigstens mit der Ahnung,
daß hier der Weg des Friedens liegen könne: mein Heiland, lehre mich, so bin ich recht gelehret! — dem wird dieser Ge horsam der Weg
zur
Denn wie ist's doch?
Seelenruhe.
Lernet von mir, spricht er, ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig.
Er zeigt also nicht nur den Weg zum
Heile, er geht ihn selbst voran, er hat den Frieden, von dem er zu anderen spricht.
Sieh ihn
einmal mit stillem
Herzen an, wie er in schweigender Sanftmuth das Unrecht trägt ohne Bitterkeit und Haß, so heldenhaft und so willens
stark; sieh ihn an, wie er in dienender, selbstvergessender De muth nichts für sich will, aber alles für die Menschen, die
er trotz ihres Undanks liebt; sieh ihn so an und — du siehst genau das, was dein Gott aus dir selbst machen will. Was
in dir wie ein dunkles Sehnen schlummert, ist in ihm ver wirklicht, das Bild deines Gottes.
Und gehe nun in heili
gem Willensernst ein in seinen Sinn, in seine Nachfolge —
und
es geht noch heute wie damals
eine Kraft von ihm
aus, und ein geistiges Berühren findet statt, das ein neues Leben in uns wirkt.
Es öffnet sich das Auge für manchen
Schaden, den man kaum erkannt, für manchen Mangel, dessen
105 Größe man kaum geahnt hat; es erwacht an seinem heiligen
Bilde das Bewußtsein der Sünde und das Gefühl der Tren
nung von Gott, aber es erwacht an demselben auch die Ge wißheit, daß der Weg des Friedens bei ihm ist und aus sei nem Worte ewiges Leben quillt.
So erst wird er ganz das,
was er sein will — nicht nur einer, der sanftmüthiger und
demüthiger war als wir, sondern der, welcher unser Heiland ist, in dem der lebendige Gott selbst heilend, tröstend, Sün
den vergebend uns
nahe kommt,
und in dessen Liebe auch
unser Herz es lernt, Besseres liebhaben als sich selbst, näm lich ihn, und in der Liebe zu ihm vollbringen, was
kein
Gesetz uns abzuzwingen vermochte: sanftmüthig zu sein und
Das lernen heißt thatsächlich Er
von Herzen demüthig.
quickung und Ruhe für die Seele finden.
Wenn wir nur
allein daran denken, wie viel Sorge und Mühe, die uns menschlicher Ehrgeiz Welt bereiten, nach
etwas
und Eitelkeit,
allein
Streit
dadurch hinwegfällt,
Höherem
muß man schon sagen:
und
Besserem
und Neid der daß
trachten
wir eben
lernen, so
es wächst die Ruhe für die Seele.
Aber noch in viel tieferem Sinne sollen wir es erfahren:
sein Joch ist sanft und seine Last ist leicht, Gebote
sind nicht schwer.
wollen,
so lange man draußen steht: —
Liebe Christi lebt, dem
friedvoll
und erquickend
seine
Wenn sie uns so Vorkommen wer
erst in der
sind sie nicht mehr schwer. in
sich
selbst
wird
ihr
verglichen mit der friedlosen Knechtschaft der Sünde
Wie
Joch,
und
der Welt. Mit dieser inneren Wendung aber nimmt dann auch das
äußere Leben eine andere Richtung an.
Was wir pre
digen ist. nicht nur unpraktische Kanzelweisheit, die dem wirk
lichen Leben gegenüber nicht Stand hielte; es ist recht eigent-
106 lich eine Weisheit, die täglich ihre Probe am Leben machen Es kann nämlich die äußere Last und die äußere Sorge
soll.
mit ihrem Druck auf das Leben dieselbe bleiben, so daß man
in dieser Hinsicht noch immer sagen kann: mühselig und be
laden.
Aber welcher Unterschied für einen, der das Joch
Christi trägt!
Ihm wird die äußere Last nur das Zucht
mittelin derHand des Herrn und sie hat ihr Maß an seinerLiebe, die uns nichts auferlegt, was uns zu schwer wäre.
so viel Kraft,
Genau
als wir brauchen, um es willig zu tragen,
wird er uns auch geben, und täglich schließen uns unsere Gebete die Kraftquellen auf, die uns nöthig sind.
Trage
nur dein Joch weiter sanftmüthig und von Herzen demüthig,
trage es weiter, ohne das Aufbrausen und Aufbäumen ge
gen dasselbe, trage es als das Joch, das deinem Halse paßt, und ohne das du nur verkehrte Wege einschlagen wür
dest; trage es nicht um der Menschen willen, aus deren Hand es dir zukam; sondern uni des Herrn willen, der im letzten
Grunde es aufgelegt hat —
und
auch dies Kreuz deines
Lebens wird dir eine leichte Last und ein sanftes Joch wer
den; es wird uns gewiß,
daß „alles sich zu meinem Heil
muß wenden, weil alles mir aus seinen lieben Händen Md seinem liebereichen Herzen kommt".
So sprechen
wir es
aus
als
eine Gewißheit des
Glaubens, der auch die Welt mit seiner Kraft überwinden
kann: ja, überschwänglich kann
vents die Menschenseele Heiland, der das
Wort
heute in
der große König des Ad
erquicken.
Es ist ein
deiner Last, in
lebendiger
deiner Noth dir
zuruft, das der Seher der Offenbarung ge
sprochen hat: siehe, ich stehe vor der Thür und klopfe an,
so jemand
und
mir wird aufthun,
das Abendmahl
mit
zu dem will ich eingehen
ihm hallen und
er mit mir.
107 Laisset uns, th. (Sem., die Herzen ihm weit öffnen und in die: Adventsbitte einstimmen: Komm, o mein Heiland Jesu Christ, Mein's Herzens Thür dir offen ist; Ach zeuch mit deiner Gnade ein, Dein Freundlichkeit auch uns erschein', Dein heil'ger Geist uns führ' und leit' Den Weg zur ew'gen Seligkeit! Dem Namen dein, o Herr, Sei ewig Preis und Ehr! Amen.
IX.
Erster Weihnachtstag 1885. Die Christfreude.
O du fröhliche, O du selige, Gnadenbringende Weihnachtszeit; Welt war verloren,
Christ ist geboren: Freue dich, freue dich Christenheit!
Gnade, Barmherzigkeit und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesu Christo! Luk. 2, 9—11.
Amen.
Und siehe, des Herrw Engel trat zu ihnen, und
die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht; siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.
Theure Festgemeinde!
Auf einem Wort in dem
Engelsgruße, den wir gehört haben, ruht unwillkürlich unser Blick aus, zu ihm kehrt immer wieder die Betrachtung zu
rück: „siehe, ich verkündige euch große Freude!" In der That, Freude ist der Grundton, der
alle Auslegung
des großen Weihnachtsthenras:
durch
Christ ist
109 geboren!
hindurchklingen
muß;
sie ist
gleichsam
die Be
wegung, die durch alle Weihnachtspredigt den Herzen sich mittheilen soll.
Freuet euch in dem Herrn allewege, der
Herr ist nahe! —
glocke,
das war der Ton der letzten Advents
die das Fest eingeläutet hat.
Nun verkündige ich
große Freude: er ist geboren! — das ist der Jubelruf der Weihnacht.
Evangelium, d.
Predigt uns verkündigen,
h. Freudenbotschaft soll jede
die heutige das Evangelium des
Evangeliums, die große Freude, die allem Volk widerfährt, die Freude, unter deren Eindruck die Kinder um den Christ
baum jubeln: „o du fröhliche, o du selige, gnadenbringende
Weihnachtszeit!",
und von
deren Glanz umleuchtet noch
die Greise sagen dürfen wie Simeon: „Herr, nun lässest Du
Deinen Diener im Frieden fahren!", die Freude, welche erst alle menschliche Freude weiht und heiligt, und die noch in das traurigste Herz einen Strahl unvergänglichen Lichtes zu senden vermag, ja die Freude, die Hiinmel und Erde in
dem nie verklingenden Liede eint:
„Ehre sei Gott in der
Höhe und Friede auf Erden, und an den
Menschen ein
Wohlgefallen"!
Nicht als hätte das Menschenherzens
unverwüstliche Bedürfniß
nach Freude das
des
Weihnachtsevangelium
hervorgebracht, wie in der That gar manches heidnische Fest diesem Bedürfniß der Freude seinen Ursprung verdankt; —
es ist umgekehrt das
Weihnachtsfest gewesen, das dieser
armen und freudeleeren Welt eine unerschöpfliche Quelle der Freude erschlossen hat,
und alles, was Menschen zur Ver
herrlichung des Festes zu thun pflegen, um einander Freude zu bereiten, ist lediglich der Wiederschein der großen Freude, welche der Engel verkündigt: „euch ist heute der Heiland
geboren!"
110 Ach, l. Fr., wir leben in einer Welt des Scheines, die immer wieder mit der glänzenden Schale sich begnügt
und den köstlicheren Kern übersieht, die durch den Schein sich täuschen läßt und das Wesen vergißt. auch hier.
So geht es
Wie ist gerade die unaussprechliche Freude des
Christfestes herabgezogen, ja selbst verunstaltet worden zur bloßen Freude häuslicher Gemeinschaft; wie ist für Unzählige
das Weihnachtsfest nur noch ein Familienfest; und wie geht über der lärmenden Lust dieser irdischen Freude, über Neid und Streit, Mühsal und Murren derer, welche diese Freude
entbehren, so vielen gerade das Beste verloren, nämlich die selige Freude, die keinem sich versagt, der sie recht erbittet. Laßt uns von dem Schein in die Wahrheit und in das
Wesen dringen — ja, es gibt eine Freude, die über
allen
menschlichen Kummer und alle menschliche Freude weit hinaus Von ihrer unvergleichlichen Tiefe wollen wir reden.
ragt.
Es lehre der Engelsgruß uns verstehen
die Christfreude als
den Kern aller wahren
Freude;
der Gang seiner Worte ist auch der unserer Betrachtung. Wie sollte nicht, th. Fr., eine Predigt auf offene Ohren
und Herzen zählen dürfen, die von Freude redet und Freude
bringt!
Für die Freude ist das Menschenherz geschaffen
wie der Vogel für die Luft und der Fisch für das Wasser; auf Freude hat es ein unveräußerliches Anrecht.
Ein Leben
das vollkommen leer an Freude geworden ist, hat keine Luft
mehr zu athmen, es siecht hin.
Glücklich kann nur ein Leben
gedeihen, es sei jung oder alt, wenn es in einer geistigen Luft der Freude aufwächst. Wohlan, worin besteht deine Freude, von der du lebst?
111 Manche werden als Antwort Hinweisen auf die Fest
stunden, an denen unser Leben noch nicht arm geworden ist,
und gewiß wer wollte gerade
heute wohl leugnen, daß es
ein Stück Lebensfreude ist, wenn wir im Kreise des Hauses
uns gestern haben bewußt werden dürfen, wie viel wir noch
besitzen zum Lieben, wenn an der frohen Weihnachtslust der Kinder auch wir Alten wieder jung und froh geworden sind. Aber wir Älteren wissen ja doch, was unsere Kinder morgen oder übermorgen
schon merken
werden,
Freude vorübergeht; wir wissen,
wie schnell solche
wie alle diese Freude von
äußeren Verhältnissen, von Stimmung und Glück abhängig
bleibt; ja wir wissen mehr — wie solche Stunden doch eben nur Stunden sind, in denen wir im besten Falle das Elend
vergessen, das dahinter steht und das morgen wieder beginnt. Zum Troste für alle, die in
ihrer Vereinsamung und in
ihrem Leid diese Weihnachtsfreude nicht gehabt haben, sprechen wir-es aus: die rechte Freude ist das nicht, und sie kann eS nicht sein.
Denn das ist die andere Eigenthümlichkeit
des Menschenherzens: —es ist so groß, daß die ganze Welt es nicht völlig auszufüllen vermag,
daß alle Freude und
aller Genuß der Erde, die man immer hineinsenken mag, es
nicht voll befriedigt.
An jeder dieser Erdenfreuden nagt wie
ein Wurm die innere Angst, sie könne wieder verloren gehen; mitten ins Lebensglück hinein drängt sich die Todesfurcht;
es erhebt mitten im Lebensrausch die
Gerichtsangst ihre
Stimme — es gibt mir eins, was das Menschenherz ganz
ausfüllen und ganz beseligen kann: — das ist der Gott,
zu welchem es geschaffen ist, und die Freude, welche von ihm ihren Ausgang nimmt!
Und nun hört die Christbotschaft anheben: „fürchtet euch nicht!" — gleich als sollte alle geheime Furcht, die
112 den natürlichen Menschen beherrscht, die in seinen dunkelen Stimmungen und schweren Stunden ihn immer wieder über
wie ein Schatten sich auf
seine Hoffnungen
legt, mit einem Schlage verbannt werden.
Ja, hier ist eine
wältigt und
Freude, die keine Furcht kennt, welche kein Vergehen und kein geheimer Ueberdruß erwartet: „siehe, ich verkündige euch große Freude!" — Wohlan, worin besteht sie? wie kann
sie unser eigen werden? Höret es aus Engelsmunde: „denn euch
ist
heute
der Heiland geboren,
welcher ist
Christus, der Herr, in der Stadt Davids".
Wie? möchten wir fragen,
ist das alles? worin liegt
denn hier eine unvergängliche Freude?
„Ein Heiland geboren" — nehmt, ich bitte euch,
das Wort in dem tiefen geschichtlichen Sinne, den es in dem Munde des Engels hat.
Der Heiland, auf den er hinweist,
ist der, auf welchen die Frommsten geharrt haben; der gleich
sam die göttliche Antwort ist auf das Sehnen der Völker
nach einem, der einen neuen Himmel und eine neue Erde machen werde, Israels König und aller Heiden Trost.
Er
ist der Heiland, der Retter, der die Wunden der Mensch heit verbindet und heilt. Heiland,
Er ist nicht etwa ein politischer
der die Völker aus
der Knechtschaft befreit und
neue Formen des staatlichen Lebens mit sich bringen wird.
Er ist nicht ein socialer Heiland, der die Ketten der Sklaven bricht und Ströme von barmherziger Liebe über die zer tretene und zermarterte Menschheitshälfte ausgießt.
Er ist
nicht ein philosophischer Heiland, ber. eine neue Lehre von
reinerer Gotteserkenntniß und geläuterterer Moral ausspricht. Solche Heilande hat ja wohl je und je die Welt begehrt,
und begehrt sie noch heute und würde Thor und Thüren öffnen, wenn sie sich einstellten.
Und
gewiß,
wer möchte
113 auch nur einen Augenblick leugnen, daß Christus, recht ver standen,
das alles auch gewesen ist und wirklich das
alles auch gethan hat!
— es gibt in der That gar kein
einziges Gebiet des Lebens, auf dem nicht seine Segensspuren sichtbar wären!
Dennoch
der rechte Heiland, der Heiland
ist er doch eben nur darum, weil wir noch Größeres von ihm zu sagen haben und weil er noch Größeres und Inner licheres bringt
als alles dies.
Er faßt nicht
bloß
die
Staaten und ihre Erneuerung, nicht die Zustände und ihre Besserung, nicht die Lehren und ihre Läuterung ins Auge,
sondern den Menschen
selbst.
Er will das Herz neu
machen, von dem aus alles Denken, Wollen und Handeln
beherrscht wird; heilen will er, was am innersten Leben tod wund und verloren ist; retten will er nicht nur für eine Woran alle
kurze Spanne Zeit, sondern für die Ewigkeit.
Kraft jener menschlichen Heilande sich allezeit fruchtlos ver zehrt hat, das will er bringen — neues Leben in erstorbene
und verlorene Menschenseelen. Weil er das vermag, darum hat der Engel von großer Freude reden können.
Denn was ist eigentlich die Freude
im innerlichsten Sinne, von der wir sprechen?
Freude ist die zarte Blüthe, Die auf dunklem Grunde sprießt,
Wenn sich tief in das Gemüthe
Gottes Gnadenstrom ergießt;
Freud' ist Friede, der dem armen Menschenherzen Ruhe schenkt, Freud' ist himmlisches Erbarmen,
Das sich in die Seele senkt!
Und gerade diese Freude bringt der Herr; Er, der Ab glanz der Herrlichkeit und der Liebe des Vaters, bringt das
8
114 Erbarmen, das Sünden vergibt, und den Frieden der Ver söhnung mit Gott, und schließt den Menschen die Pforten
der Ewigkeit auf und erfüllt sie mit dem unaussprechlichen
Kinder
Bewußtsein,
eines unbeweglichen und
und Erben
ewigen Reiches zu sein.
So wird er der Bringer unver
gänglicher Freude, der Heiland, der alles heilt! Und nun fasset noch das Wort, daß diese Freude und
dieses Heil
nach ausdrücklicher
Versicherung des Engels
allem Volk widerfahren soll. Gewiß, nur dann kann wirklich Heilung vom Herrn
ausgehen, wenn alle geheilt werden und keiner ausgenommen wird,
wenn der gemeinsamen Noth und
Schuld aller auch ein
der gemeinsamen
gemeinsames Heil aller entspricht.
Aber beachtet, wie großartig der Gedanke ist, der hiermit
ausgesprochen wird: es ist der Gedanke der Menschheit, mit dem unsere Zeit der Humanität so gern prunkt, als
hätte sie ihn erfunden.
das sind nicht erst
Nein,
wer ihn zuerst gedacht hat,
die Gelehrten von heute gewesen, auch
nicht jene stolzen Weisen
keine Ahnung hatten von
Griechenlands und Roms, dem
die
leisen Zuge der Liebe, der
die ganze Menschheit zu einem Ganzen verbinden soll. Es ist der Engel in der Weihnacht, es ist das Evangelium von Christo, dem Mensch gewordenen Sohne Gottes, welches
zuerst die Me n s ch h e i t als Ganzes, als den Gegenstand gött licher Liebe und als das Ziel göttlicher Heilsgedanken verstehen
gelehrt hat.
Das Christenthum ist die Neu schöpf ung
der Menschheit; erst das Evangelium von Christo ist die Geburtsstätte
echter
und
wahrer
Humanität.
Wo
dies
Evangelium gepredigt wird, da schlingt
sich leise ein Band
der Einigung um die ganze Menschheit;
in ihm ist sie be
rufen zu einem Ziele göttlicher Kindschaft; in Christo, dem
115 erstgeborenen Bruder, werden sie alle zu Brüdern geweiht, und eine christliche Menschheit kann von nun an dem Apostel es nachsprechen: „hier ist kein Jude noch Grieche,
hier ist
kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib, denn ihr seid allzumal Einer in Christo Jesu!"
Und doch, l. Fr., so Großes und Herrliches wir vom Herrn sagen mögen — das alles ist noch nicht das Größeste,
ja es kann dies alles uns noch kalt und unberührt lassen, so lange wir nicht das
eine Wort recht verstehen: „Euch
ist heute der Heiland geboren!" Man kann draußen auf den Fluren den Sonnenschein
spielen sehen, aber man wird nicht warm davon, wenn man
nicht selbst unter seinen Strahlen steht.
bisweilen
an Christi Wort erinnern,
Sonntags M der Kirche hören,
So kann man sich man kann
es gern
man kann unter dem Ein
fluß des Evangeliums stehen und seine Tiefe und Herrlich
keit bewundern, aber
man wird nicht warm davon; mein
Heiland ist der Herr noch einzelne Augenblicke
nicht geworden; und wenn ich
des Dankes und
erlebe in dem Gedanken an das,
des Friedensgefühls
was mir in ihm geschenkt
ist: — von jener großen, unvergänglichen Freude, von welcher
der Engel redet,
und welche der Grundton
meines
auch
Lebens werden soll, weiß ich noch nichts; die kann ich nicht erfassen.
Dein unharmonisches Wesen haben jene
Augenblicke dir noch nicht verllärt, deine wärtigkeiten haben sie dir nicht leichter
kurzen
täglichen Wider
gemacht,
in deine
Verzweiflung und in dein Leid haben sie noch kein Licht
geworfen.
Du Christgemeinde! an Einem fehlt es dir und
in dem Einen an allem: — dir ist der Heiland geboren —
was Gott allen gibt, sollst du dir aneignen, als deine Gabe, die dein Bedürfen stillt.
Heute ist er dir geboren,
116 heute für dich vorhanden, wo du ihn brauchest, wie er es
gestern war und in Ewigkeit.
Wir sollen ihn haben nicht
als eine geschichtliche Größe, nach der wir uns nennen, und
die zuerst etwas ausgesprochen hat, was wir alle nachsprechen, sondern als einen
ewig Lebendigen, der unauf
hörlich den Quell seiner Freude und seines Friedens in die
kranken Menschenherzen hineinströmen läßt. — Mein Hei land ist mir geboren, das heißt: ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben mich scheiden kann von seiner Liebe; mein
Heiland ist er, das heißt: ich bin gewiß, daß diese Liebe eine
Kraft ist, welche mich frei macht von mir selbst, mich über
windet und heiligt; mein Heiland — das heißt: ich bin gewiß, er wird mein Fürsprecher im Gericht sein, wie er mein Versöhner und mein Friede ist auf Erden, und er
schließt mir nach allem Kampfe dieser Zeit einst die selige Ewigkeit auf.
Ja, gewiß bin ich darum,
„daß ich beides,
mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben nicht mein,
sondern meines getreuen Heilandes Jesu Christi eigen bin", und abscheiden kann ich zu seiner Zeit, wie jener treue Zeuge, der diese erste Frage des Heidelberger Katechismus einst
niederschrieb, die Hand auf dem Herzen und auf den Lippen das Wort: certissimus, d. i. unerschütterlich gewiß! Und seht, th. Fr.! das bringt eine Freude ins Herz, die
unvergänglich ist, welche alle Noth und alle Sorge dieser Welt nicht auslöschen, welche selbst der Tod nicht völlig tödten kann, eine Freude, die in der That die Christen zu den seligsten, ja zu den eigentlich und einzig wirllich fröh lichen und freudigen Menschen macht.
Freude spricht der Gruß
Und
von dieser
des Engels: ich verkündige euch
große Freude! Wohlan denn, th. Fr., trägt unser Christenthum dies
117 Gepräge heiliger Freude an sich? wohl gemerkt, ich spreche
von einem Gepräge, das
ist einem Grundcharakter; ich
rede also nicht von Stimmungen, die vergehen
und welche
von Temperament und äußeren Umständen abhängen.
Nun ist wohl wahr,
wie der Sieg nicht ohne den
Kampf vorher sein kann, so erklingt auch dieser Ton heiliger Freude
nicht,
ohne daß wir durch
Schmerzes, der Beugung
die
Erfahrung
des
der Demüthigung vor der
die uns geschenkt wird, hindurchgegangen
Tiefe der Gnade,
sind.
und
Die rettende Gnade kann uns erst
ganz zu Theil
werden, wenn wir im demüthigen Gefühl der Sünde die Hand nach ihr haben ausstrecken lernen.
Nur der wird seines
Heilandes von Herzen froh, der krank und elend im Bewußt sein seiner Schuld das tiefe Bedürfniß nach einem Erlöser empfunden hat. Aber vergessen wir auch nicht: ein Christenthum, das
niemals über diesen Bußschmerz hinauskommt, sondern immer im Klagen und Sehnen zurückbleibt,
ohne sich zum Loben
und Danken emporzuschwingen, kann nicht das rechte sein. Wo das Evangelium so zu sagen in seiner Ganzheit, noch ungetheilt in seine
einzelnen Beziehungen uns verkündigt
wird, wie hier in der Botschaft der Weihnacht, da ist seine
Verkündigung ein Christenthum voll großer Freude. Laßt mich dann aber auch die Frage noch umkehren: hat
unsere Freude allezeit auch das Gepräge des Heiligen und des Christlichen an sich? — Verstehet
auch hier wohl: ich
meine nicht, daß wir uns nur an christlichen Dingen freuen
sollten; alles, was nur lieblich ist und wohllautet, ist uns
zur Freude gegeben. christliche Worte
Ich meine auch nicht, daß überall nur
sollten
wenn wir Christi sind.
geredet
werden; alles
ist
unser,
Aber daß überall durch jede Freude
118 doch etwas noch Höheres hindurchleuchte, wenn sie genossen wird mit Dank gegen die Freundlichkeit des Gottes, der sie
gibt, daß überall die Freude und Lust uns durch die un sichtbare Nähe des Herrn geweiht bleibe, und keine Freude
uns erfreulich dünke, bei der er nicht zugegen sein kann, daß
nie mitten im irdischen Glück
und Genusse uns das Be
wußtsein verlasse, es sei noch ein größeres für uns.vor
handen, und wir würden nicht ganz unglücklich werden, wenn auch dieses äußere und irdische uns genommen würde: das ist es, worauf diese Frage geht. Ja, heilige Schönheit
eines Christenlebens,
das so
durchleuchtet ist vom Weihnachtsglanz, und dem so der In
halt der Christfreude der eigentliche Kem aller Lebensfreude geworden ist! ein neues
Wie bekommt davon doch überall das Leben
und ein seliges Ansehen!
Wo diese Freude ist,
da ist Freundlichkeit, wie denn der Apostel an die Phi
lippe! zu der Mahnung: „freuet euch
in dem Herrn!" so
fort die andere hinzusetzt: „eure Lindigkeit lasset kund sein
allen Menschen!"
Es ist die Liebe Gottes, die in der
Freundlichkeit gegen die Menschen wiederstrahlt, und wie
unbeschreiblich kann durch solche Freundlichkeit in Wort und Wesen ein Mensch wohlthun, im häuslichen, im Geschwisterkreise, im Verkehrsleben, allenthalben! — Wo diese Freude
ist, da
ist Geduld.
Große Freude läßt manchmal über
große Widerwärtigkeit hinwegsehen, und ein großes Glück
hält oftmals die Hand nieder, die sonst ungeduldig sich er heben würde.
In den Tagen der Weihnacht ist wohl auch
ein ungeduldiger Mensch zu langmüthigem Wesen geneigt.
Hier aber soll nun zur Lebensgewohnheit werden, was wir
von Natur nur in besonderen Augenblicken zu thun geneigt
sind: tragende,
vergebende, sanftmüthige und durch Sanft-
119 muth überwindende Liebe.
In Kraft der Christfreude wird
das ganze Leben ein Wandel nach dem Bilde des geduldigen Herrn. — Wo diese Freude ist, da ist auch kein Raum mehr
für die Sorge; Er sorgt für uns und kann die nicht ver
hungern lassen, die er noch eben in heiliger That der Liebe als seine Kinder geadelt hat; er kann die nicht darben lassen, denen er in seinem Sohne sich gleichstellt.
Ach, wie kann
die Sorge einen so zu Boden drücken und den Schlaf rauben,
daß alle Tröstungen der Menschen nichts dagegen vermögen! Aber hier ist ein Sorgenbrecher, dem keine Sorge widerstehen kann, nämlich die Freude über den Herrn, der uns so kindlich
und freundlich ruhen heißt in des Vaters Hand und zu dem uns allenthalben der Zugang im Gebet offen steht. — Wo diese Freude ist, da ist endlich das Höchste, was ein Mensch
haben kann, der Friede, der ein Menschen herz
still
und
getrost machen kann mitten im Streit und Kampf des Lebens,
und welchen
keine äußere Last und keine äußere Lebens
führung uns zu rauben vermag, durch den wir unter allen
Stürmen uns in Gott geborgen wissen und durch den auch die Furcht des Todes überwunden
wird.
Denn er selbst,
der Herr, der Mittelpunkt der Christfreude, ist der Friede fürst, der zu uns spricht: in der Welt habt ihr Angst, aber
seid getrost, ich habe die Welt überwunden; den Frieden
lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch, nicht gebe ich, wie die Welt gibt.
Ja, theure Christgemeinde, daß diese Freude, so ver standen, wirklich eine Kraft der Freude sein alle menschliche Freude
muß, welche
und auch alle menschliche Trübsal
weit überragt, davon mögen wir ja wohl einen Eindruck empfangen haben.
Möchten wir nur diese Freude als Leben
und Kraft in unsere Herzen hinein empfangen!
Gewiß, nicht
120 UM ein Gefühl, eine Empfindung handelt es sich, sondern um ein Leben, und dies Leben muß in uns geboren werden in Kraft eben dieser Erlösung, von der wir reden. Darum laßt unsere Sehnsucht nach dieser Freude sich in die Weihnachts bitte verwandeln: Drum Jesu, schöne Weihnachtssonne, Bestrahle mich mit deiner Gunst! Dein Licht sei meine Weihnachtswonne, Und lehre mich die Weihnachtskunst: Wie ich im Lichte wandeln soll, Und sei deS Weihnachtsglanzes voll! Amen.
X. Charfreitag 1885.
Heute wirst du mit mir im Paradiese sein! O Haupt voll Blut und Wunden, Voll Schmerz und voller Hohn!
O Haupt zum Spott gebunden
Mit einer Dornenkron'! O Haupt, sonst schön gekrönet Mit höchster Ehr' und Zier,
Jetzt aber höchst verhöhnet, Gegrüßet seist du mir! Luc. 23, 39—43.
Aber der Uebelthäter einer, die da gehenkt
waren, lästerte ihn, und sprach: Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns.
Da antwortete der Andere, strafte ihn, und sprach:
Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher
Berdammniß bist? Und zwar wir sind billig darinnen; denn wir
empfangen, was unsere Thaten werth sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt.
Und sprach zu Jesu: Herr, gedenke an
mich, wenn du in dein Reich kommst. Und Jesus sprach zu ihm:
Wahrlich, ich sage dir: heute wirst du mit mir im Paradiese sein.
Theure Charfreitagsgemeinde! Sieben Blätter, lautet ein Wort des heiligen Bernhard, hat Christus, unser
Weinstock, am Kreuze getrieben, nämlich die sieben Worte, wel
che aus den Stunden der Qual und des langsamen Sterbens
122 uns aufbewahrt sind.
Sie sind doch nicht nur vergängliche
und verwehende Blätter; sie sind Zeugnisse einer Herrlichkeit ohne Gleichen, die am Kreuze sich offenbart hat; sie sind
wie sieben Pforten, durch welche die anbetende Charfreitags-
gemeinde in das Herz ihres Erlösers, in die Seelenarbeit der
erlösenden Liebe hineinblickt, die noch fortdauert, auch wo die Hände des Segens angeheftet sind an das Kreuz, und
der durchbohrte Fuß nicht mehr zum Wohlthun sich bewegt.
Hohenpriesterlich breitet sich das erste Kreuzeswort über das Volk, das ihn verworfen hat, und antwortet auf das
„kreuzige! kreuzige!"
mit einem:
wissen nicht, was sie thun!"
„vergib ihnen, denn sic
Aber nicht nur der Menge da
unten ist diese Fürbitte zu gute gekommen, sie deckt mit
ihrem Schutz auch noch den Genossen seiner Qual, den Schächer zu seiner Seite, und wunderbar! das zweite Wort am Kreuze darf ein Kön i gsw or t werden, das mit unvergleich
licher Majestät diesem gekreuzigten Missethäter die Pforten des Paradieses aufschließt.
Es ist, th. Fr., ein köstliches Ding, daß unter den
Gestalten der Geretteten, die das neue Testament als die Siegesbeute des Menschensohnes uns vorführt, auch die des
Schächers sich befindet, eines gekreuzigten Verbrechers —
eine gewaltige Thatpredigt dafür, daß keine Stunde zur Buße zu spät ist, so lang es noch „heute" heißt, und daß
keine Sünde für die Vergebung zu groß ist, so lange der Glaube nur noch die Gnadenhand zu erfassen vermag, die bis in die tiefste Tiefe hinabreicht.
Charfreitag,
Dennoch soll heute, am
nicht auf diesem bußfertigen Schächer, nicht
auf den beiden Mitgekreuzigten, die wie die Vertreter zweier Menschheitsrichtungen das Kreuz des Herrn umgeben, unser Blick ausruhen; wir schauen hinauf zu dem Haupt voll Blut
123 und Wunden, zu dem Manne der Schmerzen in der Mitte,
zu dem Lamme Gottes, das der Welt Sünde, auch die des
Schächers, trägt.
Sein Lob, seinen Preis haben wir im
Auge, wenn wir
das königliche Wort des Herrn am Kreuze: Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im ParadieseUein! —
in den Mittelpunkt unserer Betrachtung stellen.
Der Herr
aber verleihe auch uns einen Antheil an der Huld, die er
dem Schächer gewährt hat!
Der Herr hängt also bereits
am Kreuz.
Der letzte
Akt des furchtbaren Trauerspiels hat begonnen — da hebt
eine zweite Kreuzigung an, die seiner Seele.
Zwar das Volk
schweigt betroffen, wie im Innersten erfaßt von dem unge heuren Schauspiel; es sind die Obersten, die Priester Jehovas,
die Wächter des Heiligthums, die den Spott anstimmen, der
noch oben am Kreuze sein Echo findet.
Er ist unter die
Uebelthäter gerechnet — was der Herr einst als eine be
sondere, noch zu erfüllende Schmach seines Leidens bezeichnet
hatte, das
ist erfüllt worden, als man ihn in der Mitte
zweier Schächer kreuzigt.
Aber die Weissagung erfüllt sich
zum zweiten Male noch furchtbarer, als aus dem Munde
des Uebelthäters zu seiner Seite der Hohn der Priester aus genommen wird, und ein Mörder am Kreuz den Heiligen
des Herrn als seinesgleichen begrüßt: „bist du Christus, so
hilf dir selbst und uns!"
Und hier seht nun den ersten
Erweis einer königlichen Macht des Herrn: zu dem Hohne schweigt er in heiliger Gelassenheit; aber dennoch erweckt sich die verletzte Majestät ihren Vertheidiger — ein verurtheilter,
124 am Kreuz schmachtender Uebelthäter, der Schächer an seiner
Seite, wird der Anwalt, der für ihn eintritt. Was mag in der Seele des. Mannes vorgegangen sein!
Mögen wir Hülfslinien ziehen, so viel wir wollen, um seine Umkehr
uns verständlich
zu machen — der durch
schlagende Beweggrund liegt doch in dem, was er hier selbst sagt:
„dieser hat nichts Ungeschicktes gehandelt!"
Er ist
offen gewesen für die Eindrücke der Heiligkeit des Herrn, die er hat schauen dürfen; die hellige Gelassenheit des Dulders,
die den andern herausfordert zu feinem grauenhaften Spott,
ihm hat sie die tiefste Seele bewegt.
Mag manches frühere
Erlebniß, manche alte Erinnerung wieder aufwachen, die ihm die Heiligkeit dieses Sterbens verstehen helfen; mag manche unllare Erwartung sich dazwischen schieben — jedenfalls
ist er der einzige, der im «göttlichen Hellsehen", wie einer es ausdrückt, im rechten Sinne die Ueberschrift liest, die
Pilatus über das Kreuz gesetzt hat, und darum ist er auch der einzige, der die Bitte an diesen König wagen kann:
„Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst".
So wird der gekreuzigte Schächer thatsächlich
die erste Siegesbeute, die der König des Himmelreichs am
Kreuze gewinnt, der Erstling der Ungezählten, welche nicht
der Wunderthäter Christus mit seiner Macht, nicht der Berg prediger Christus mit seiner Weisheit, welche dies Haupt voll Blut und Wunden mit seiner Leidensmacht und seiner Sanftmuth überwunden hat; und eben darum wird ihm das ge
waltige Wort zu Theil:
„wahrlich, wahrlich, ich sage
dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein".
Beachtet bei diesen Worten zunächst, was für ein könig
liches Bewußtsein und welch' eine königliche Gewißheit in der Seele des Herrn sie enthüllen!
125 Der von allen verlassen, verrathen, verleugnet, ver
worfen in der Fieberqual des Kreuzes dem Tode entgegen
geht, er weiß: mein ist das Paradies und die Verklärung und die wartenden Legionen der Engel in des Vaters Reich!
Mögen immer die Menschen ihm genommen haben, was man nehmen kann, bis auf den letzten Rest der Mannes
ehre: sie können nicht nehmen, daß der Vater in ihm und er im Vater ist, daß er im vollendeten Glauben auch noch
am Kreuze sich in des Vaters Hand weiß, ja, daß er noch
am Kreuze die Hand des Vaters schaut, wie sie damit be
schäftigt ist, das Thor des Paradieses ihm zu öffnen.
Ich
habe Menschen gekannt, bei denen in ihrem Alter alles Sin
nen in das Eine sich sammelte, einer seligen Sterbestunde
freudig gewiß zu werden.
Seht, was sie aus sich selbst nicht
schöpften, was wir durch unsre eigene Weisheit nicht lösen, das besitzt der Herr; in ihm dürfen wir das Geheimniß
seligen Sterbens schauen; ihm verllärt sich das dunkle Thor des Todes zur lichten Pforte des Paradieses, und mitten in
die grauenhafte Qual des Missethätertodes hinein leuchtet
ihm das Licht seliger Ewigkeit. Dann aber seht weiter: es hat ja Menschen gegeben,
die durch ihn mit derselben Gewißheit des Heils gestorben
sind, und für welche der Tod nur der Uebergang in das vollendete Leben war und darum auch das Sterben ein Ge
winn ; wir alle sollen es lernen. Aber der Herr spricht diese Gewißheit des Heils nicht nur für sich selbst aus; königlich verfügt er über das Paradies wie über sein Eigenthum,
und er verfügt darüber zu Gunsten des Schächers, der an seiner Seite am Kreuze hängt.
Diese durchbohrte Hand, die
nicht mehr zu zucken vermag zum Widerstand auf den Hohn der unten Stehenden mit ihrem: „steige herab vom Kreuz!"
126 — sie ist stark genug, die Thore des Paradieses zu öffnen,
welchem sie will.
Denkt das Wort hinein in den Mund irgend eines Menschen, in den Mund eines sterbenden Menschen, dem vor der furchtbaren Wirklichkeit des Todes doch endlich alle die
Illusionen zerreißen müssen, in denen er sich bis dahin viel
leicht getäuscht hat und wir müssen sagen:
Lästerung!
es wird zur
Ja auch vom Herrn müssen wir aussprechen:
entweder ist dieses Wort der furchtbarste Frevel an dem all mächtigen Gott, vor dessen heiligem Angesichte er steht, ein
Frevel an dem Heilsverlangen eines armen Schächers, das er
mit grauenhafter Verblendung betrügt, oder aber es enthält die machtvolle Rechtfertigung des Königs-Titels, den Pilatus über seinem Haupte geschrieben hat, und es trägt in sich das
Bewußtsein einer Herrlichkeit, welche über alles Menschliche
weit hinausreicht und kraft deren er in königlicher Machtvoll
kommenheit Kindesrechte verleihen darf in seines Vaters Reich!
Und dennoch, l. Fr.! königlicher als die Macht, welche dies Wort offenbart, ist noch ein anderes — die Unermeß-
lichkeit der Gnade, die aus ihm. herausleuchtet.
Fassen wir ganz was es heißt: einem gekreuzigten
Verbrecher,
einem rechtsgiltig verurtheilten Missethäter
wird das Paradies zugesprochen!
Es hat keine Bedeutung
dabei, wenn wir den Mann uns irgendwie besser zu machen suchen, als wäre etwa auch er ein unschuldig Gerichteter;
nein, er spricht es selbst zu deutlich aus: wir sind billig in unserer Verdammniß, wir empfangen, was unsere
Thaten werth sind. Und ihn, der sich selbst in vollem Maße nm seiner Thaten willen des Kreuzes werth achtet, ihn hält
der Herr des Paradieses und der Seligkeit werth — welch'
eine Unermeßlichkett der Gnade!
12? Beachtet außerdem wie die Zusage, die der Herr ihm
gibt, in jeder Hinsicht seine Sitte überbietet.
„Herr gedenke
an mich!" — fleht der Schächer, und in die Nacht seines selbstverschuldeten Elends fällt ein Strahl des Lichts, wenn er sich denkt, daß der, den er am Kreuze für seine Mörder
hat bitten hören, aus dessen Munde er auf dem Wege zum
Kreuz Worte himmlischen Erbarmens vernommen, seiner nicht vergessen werde.
Und wann soll er an ihn gedenken? —
„wenn du kommst in deinem Reiche", heißt es wörtlich dem Evangelisten.
bei
Irdisches, Sinnliches hat der Gekreuzigte
sich ohne Zweifel dabei gedacht, wie es damals in der all
gemeinen Erwartung lag — vielleicht ein Reich, das in ferner Zukunft werde aufgerichtet werden, wenn dieser Gekreuzigte
die Messiaskrone sich auf das blutumflossene Haupt setzen werde.
Und der Herr antwortete ihm: heute noch wirst du
mit mir im Paradiese sein
—
o ihr fühlt nach, wie man
ihm in die Rede fallen möchte: wo, wo wird er mit dir sein?
— wie wir weiter fragen möchten: Herr, rede mehr —was ist das Paradies, wo du sein wirst und das du ihm verheißest?
wo ist der Ort, wo die sind, die in Frieden hinfahren aus aller Trübsal dieser Zeit? — Vergeblich —
wir hören nur
das eine: „mit mir wirst du im Paradiese sein" — und
in diesem einen hören wir doch genug!
Mit mir und da
rum beim Vater, denn wo ich bin, da soll mein Diener auch
sein; mit mir, der nach den Leiden des Todes mit Herr lichkeit gekrönt wird und darum ohne Thränen, es wären denn die der Beschämung über so unverdiente Barmherzigkeit;
mit mir da, wo der Tod nicht mehr ist, noch Leid, noch Geschrei und Schmerzen; und das alles nicht erst in ferner unabsehbarer Ewigkeit — nein, juble auf, du armer zerquälter Mensch, heute, heute wirst du mit mir dort sein — „mit dm
128 Engeln jubiliren, ohn' Aufhören triumphiren".
Welch' eine
Unermeßlichkeit der Gnade!
Man fragt unwillkürlich: was hat doch nur der Mann geleistet? was für ein unbekanntes Verdienst bringt er mit, das ihn zu diesem Wort berechtigt? — und man kann nur
antworten: nichts, keines! er vermag nichts mehr wieder gut zu machen von dem,
was geschehen ist, seine Zeit ist um.
Es läßt sich auch nichts beschönigen von dem, was er gethan
hat; die Wirllichkeit ist zu furchtbar. am Kreuz, den vor der Welt
Was diesen Mann
verlorenen und bereits aus
gestrichenen rettet und für eine selige Ewigkeit aufbewahrt,
ist kein Verdienst, sondern ganz allein schrankenlose, freie Gnade; es ist das Erbarmen eines Hohenpriesters, der, selbst versucht, Mitleid haben kann mit unserer Schwachheit und
unserer selbstverschuldeten Pein; es ist die Gnade eines Got tes, dessen Liebe genau so unendlich ist, wie seine Macht. Was der Herr als sein köstlichstes Wort ausgesprochen hat
— jene wunderbare Einladung, die
seit achtzehn Jahrhun
derten in den Menschenherzen ihr Echo gefunden hat: kom met her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid! —
das wird hier zur That.
Die Versöhnung, welche der ster
bende Schächer nicht mehr vollziehen kann, und die kein
Lebender vollzieht, und wenn er tausend Jahre lebte, voll bringt für ihn der sterbende Heiland.
So wird das Kreuz
der Gnadenthron, von dem die Vergebung ausgeht, und der
gekreuzigte Missethäter der Erstling derer, die unter der schrankenlosen Herrlichkeit der Gnade stehen, welche das Kreuz
verkündet.
Von nun an steht uns allen das Reich offen, in
das nicht die Gerechten, die Trefflichen, die Helligen der Erde eingehen, sondern arme Sünder und die besten der Menschen
nur dann, toemt sie arme und begnadigte Sünder geworden
129 sind.
So wird der Charfreitag
mit seinem tiefen
Emst
dennoch für uns ein Tag des Dankes und des demüthigen
Preises! Ja, es ist vollbracht! vollbracht ist das Werk der Versöhnung von Himmel und Erde, so daß kein Mensch, auch
der geringste nicht mehr zweifeln darf — es gibt eine Barm
herzigkeit, die größer ist als der Welt Sünde, eine Gnade, welche Sünde zudeckt, auch wenn sie blutroth wäre; welche
Sünder rettet, auch wenn die elfte Stunde bereits geschlagen hätte, und zwar ohne ihr Verdienst,
aus lauter schranken
loser Barmherzigkeit!
Ist euch, th. Gem.!
das Herz denn warm geworden,
oder sagt auch ihr noch — wunderliches Christenthum, das
alles wieder zurücknimmt,
was es noch
eben mit vollen
Händen gegeben hat!? Wie? ob hoch oder nieder, reich oder
arm, vor Menschen geachtet
oder
gerettet für
befleckt —
Zeit und Ewigkeit nur durch Gnade, durch nichts als
Gnade — das soll unser Evangelium sein!? Soll es denn
vergeblich sein, daß uns lein Mensch etwas Böses nachsagen kann, und daß wir so ernst darauf gehalten haben, daß kein
Flecken auf unserem Leben ruht? — Ach ja, lieben Freunde, es ist ein schweres Ding, allein Gnade begehren und de
müthig bitten zu sollen, wo man ein Recht zu haben glaubt; die Demüthigung, die von dieser Verkündigung der Gnade unabtrennlich ist, ist nicht jedermanns Ding.
Sie war auch
nicht Sache des andern Schächers oder der selbstzufriedenen Hohenpriester; lieber Mensch! ist es die deine? — Täuschen
wir uns nicht; so königlich frei und schrankenlos die Gnade über alle sich breitet — auch sie fordert etwas, das man
mitbringen muß, ja die Kehrseite dieser königlichen Gnade ist
ein anderes Königsrecht, das Recht des Ausschlusses für die, welche das nicht mitbringen, was die Gnade fordert. — Und
9
130 das gerade ist es, was dieser Schächer uns Predigt, ja was ihn, den gekreuzigten Missethäter, vorbildlich macht für uns
unbescholtene und tadellose Leute — er ist fähig diese Gnade zu ergreifen; er vermag es durch den Ernst innerlicher Buße
und durch die wunderbare Kraft des Glaubens, die er beide uns vorlebt.
„Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicherVerdammniß bist"? — so hat er
seinen Gesellen gestraft — „und zwar wir sind billig
darinnen, denn wir empfangen, was unsere Thaten werth sind". Meint ihr wirklich, diese Bekenntnisse seien ihm
nur ausgepreßt durch die Marter des Kreuzes?
Warum
finden sie denn keinen Wiederhall bei dem andern? wamm
setzt er in furchtbarem Trotz noch sterbend den Kampf mit den Menschen fort, den er sein Leben lang geführt hat, nur
um so grauenhafter,
vergeblicher ist?
weil es ein völlig ohnmächtiger und
Nein, nicht aus der äußeren Noth kommt
die Buße, wie viel bußfertige Menschen müßte es doch sonst
in der Welt geben!
Denke an dein eigenes Leben — wie oft
hat dich der Druck, unter dem du seufzest, wohl zum Murren
gebracht, auch zum Verzweifeln, aber nicht zur Buße.
Buße
kann man nicht erzwingen; sie ist eine innere und freie That; sie ist nur da, wo ein Mensch anfängt Angst um seine Sün
den zu haben, weil er wie dieser Schächer sich vor dem Gotte fürchtet, der die Sünde straft.
Sie ist da, wo ein Mensch
sich nicht mehr beruhigen kann mit dem Versuch, die Sünde
zu vergessen oder sie sich selbst zu vergeben, sondern wo der Gedanke an die Sünde so mächtig wird, daß er nicht anders kann,
als vor seinem Gott in die Knie zu
sinken, ihm
zu bekennen: ich habe gesündigt! und unter seinen züchtigen den Arm sich zu beugen.
Und wenn du nun dich selbst ver-
131 gleichst,
dir diese Angst vor Gott an hie Seele
wie selten
bringt und wie schwer ein Bekenntniß der Schuld dir von
den Lippen geht, wie schnell du bei der Hand bist, Gottes richtende Hand zu schwer zu finden, anstatt unter dem Kreuz zu sprechen: „wir sind billig darinnen"; wenn ich vergleiche,
wie der Mörder dort unter der Fieberqual des langsamen Sterbens keinen andern Gedanken hat, als den: „ich empfange,
was meine Thaten werth sind" — so muß man sagen: er hat eine nicht geringe Erkenntniß der Sünde und eine nicht
geringe Buße gehabt! Und nun spricht er weiter: „dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt".
Nun faßt er die eigene Sehn
sucht in die Bitte zusammen: „Herr gedenke an mich in deinem Reich!
Fa, mag man noch soviel versuchen, sich
verständlich zu machen, wie er zu dieser Bitte gelangt: — immer bleibt es eine wunderbare und ergreifende That des Glaubens. Er schaut in dem Manne mit der Dornenkrone an seiner Seite eine Geistesgröße, die kein anderer auch nur ahnt;
es geht ihm an seiner heiligen Gestalt, verwüstet und
ge-
brandmarkt vom Fluch der Sünde wie er ist, eine Ahnung auf von einem Reiche der Heiligkeit und Gerechtigkeit, aus dem er um seiner Sünde willen ausgeschlossen ist; und den noch faßt er — und das ist das wunderbarste — mit diesem
Wort ein Zutrauen, daß in diesem Reiche eine Liebe walte, welche auch eines Verworfenen sich
noch erbarmen und ein
verlorenes Leben erretten könne! Das alles, wie unllar, wie erkenntnißlos auch
immer es herauswächst aus der buß
fertigen Beugung unter Gottes Gericht, ist doch wirllich Glaube,
der mit ganzer Kraft nach dem rettenden Tau
greift, der aller Sichtbarkeit zum Trotz das Unsichtbare fest hält, als sähe er es.
In dieser That ganzer und unbedingter
132 Hinkehr zum Herrn wird er uns thatsächlich zum Vorbilde des Glaubens!
Gewiß, th. Gem.! — es werden niemals diejenigen
fehlen, denen dieser Weg der Schächerbuße und des Schächer glaubens zu demüthigend vorkommt, um ihn zu gehen.
Kreuze des Herrn
Am
scheiden sich noch heute die Wege der
Menschen; was die einen auf die Knie herabzieht zum Preise
der Gottesweisheit, die einen Weg des Heils und des Frie dens den Verlorenen eröffnet hat, das wird den andern zur
Thorheit und zum Aergerniß.
Wie Gott Lob der bußfertige
Schächer seine Nachfolger in jeder Charfreitagsgemeinde hat, die um den gekreuzigten Herrn sich sammelt, so sind auch die
andern noch immer da, welche
mit jenem trotzigen Misse
thäter lieber den Weg der Selbsterlösung erwählen als eine
Erlösung durch Gnade, ja die in wahnsinniger Selbstver blendung die Gnade sich verbitten und schließlich lieber ver
zweifeln, als durch sie sich retten lassen.
Sind wir, th.Gem.!
noch in Zweifel, auf welche Seite wir treten sollen? — Ich
meine,
wir haben gewählt!
sprechliche Gnade, dankend in
Dankend
für Gottes unaus
tiefer Beugung auch dafür,
daß ein Schächer zum Propheten dieser Gnade geworden ist, damit auch der letzte sich nicht ausgeschlossen wisse, um so
seliger und freudiger in unserem Danke, je tiefer und de müthige! wir in Buße uns
beugen,
stimmen wir in die
Charfreitagsbitte ein, die der große Sternkundige Copernicus
zu seiner Grabschrift sich einst bestimmt hat: Nicht die Gnade, die einst dem Paulus verliehen, Nicht Verzeihung, wie sie dem Petrus zu Theil ward,
Nur was Du dem Schächer am Kreuze gespendet, Brünstig erfleh' ich!
Amen.
XL
Ostern 1885.
Das offene Grab. Christ ist erstanden Von der Marter alle; Deß sollen wir alle froh sein,
Christus will unser Trost sein! Halleluja. Amen.
Marc. 16, 1—8.
Und da der Sabbath vergangen war, kauften
Maria Magdalena und Maria Jacobi und Salome Specerei, auf daß sic kämen und salbeten ihn. Und sie kamen zum Grabe am ersten Tage der Woche sehr frühe, da die Sonne aufging. Und sie sprachen unter einander: Wer wälzt uns den Stein von des
Grabes Thür? Und sie sahen dahin, und wurden gewahr, daß der
Stein abgewälzt war; denn er war sehr groß.
Und sie gingen
hinein in das Grab, und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Kleid an; und sie entsetzten sich. Er aber sprach zu ihnen: Entsetzet euch nicht. Ihr suchet Jesum
von Nazareth, den Gekreuzigten; er ist auferstanden, und ist nicht hier.
Siehe da die Stätte, da sie ihn hinlegten.
Gehet aber hin
und saget es seinen Jüngern und Petro, daß er vor euch hin gehen wird in Galiläa; da werdet ihr ihn sehen, wie er euch ge
sagt hat.
Und sie gingen schnell heraus, und flohen von dem
Grabe; denn es war sie Zittern und Entsetzen angekommen und
sagten Niemand nichts; denn sie fürchteten sich.
Theure Ostergemeinde!
Die alte Kirche hat einst
beides, Charfreitag und Ostern in ein Fest und unter einem
Namen zusammengefaßt und ersteres das Kreuzigungspassah,
134 letzteres das Auferstehungspassah genannt.
In der That
gehört beides eng zusammen: unser Osterjubel bricht heraus aus der Charfreitagstrauer,
und der Charfreitag wird erst
dann zum Erlösungsfeste der Menschheit, zum großen Ver söhnungstage zwischen Himmel und Erde, wenn ihm ein Ostertag folgt. Ostern ist, wie man es ausgedrückt hat, das Amen Gottes auf die That seines Sohnes; die Auferstehung
Jesu Christi ist gleichsam die feierliche Annahmeerklärung
des Vaters für das Opfer des Sohnes, die Rechtfertigung
des Heiligen wider die Anschuldigungen der Menschen.
So
wird erst Ostern der große Schlußakkord des Erlösungs werkes und die Bürgschaft, daß nun nicht mehr das Ver derben auf Erden herrschen soll und nicht der Tod den Sieg
behält, sondern das Leben. Und darum: so wenig die alternde
Erde des Frühlings müde wird, so wenig soll die christliche Gemeinde, und wenn Jahrtausende hingingen, müde werden,
den Osterpsalm anzustimmen, den Petrus ihr vorgesungen
hat: „Gelobet sei Gott, der nach seiner großen Barmherzigkeit
uns wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Todten!"
Wohlan denn,
theure Ostergemeinde, jubelst, dankest,
preisest du mit aus vollem Herzen? wie du stillbewegt, er griffen von einer Geistesschönheit ohne Gleichen, am Char freitag unter dem Kreuze des Herrn standest, stehest du so
auch dankend, preisend, erfaßt von einer Gottesthat ohne
Gleichen vor dem Grabe des auferstandenen Herrn? Halten wir recht fest: nicht die Erinnerung feiern wir an ein Er-
eigniß grauer Vergangenheit,
dessen Folgen zwar in die
Gegenwart hineinreichen, das aber, als ein längst vergangenes, von selbst den Zweifel und die Kritik herausfordert.
Der
lebendige Christus, den die Osterbotschaft verkündigt und den
135 wir feiern, ist ein ewig gegenwärtiger, er ist der Heilsgrund,
auf dem wir noch heute stehen, er ist die Heilskraft, von der mir täglich empfangen, er ist die Heilshoffnung, auf die wir alle harren.
Und darum laßt uns brennenden Herzens wie
einkt die Jünger von Emmaus, als wäre es heute geschehen, an bas Grab des Auferstandenen hintreten und in den Oster-
Psalm einstimmen:
„Gelobt sei Gott, der uns nach seiner
großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen
Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Todten!"
Das vernommene Festevangelium stellt uns vor die erste Osterbotschaft.
Noch ist von Osterpsalmen nicht die
Rede, noch ist die Ostersonne selbst nicht aufgegangen, noch tritt uns der Auferstandene nicht entgegen.
Alles ist, so zu
sagen, im Dämmerschein erster Ahnung: die kleine Osterge-
meinde, die um das Grab sich sammelt, kann, von Furcht
und Entsetzen gehalten, sich selbst noch nicht finden. hier Predigt, ist eigentlich
nur die Thatsache
des
Was
geöff
neten Grabes und die Stimme, die aus seinem Dunkel her vordringt.
Hören wir, was sie verkündigt.
Wir hören
auS dem offenen Grabe des Auferstandenen Die Botschaft: er lebt! —
Den Auftrag: saget es seinen Jüngern! —
Die Verheißung: ihr werdet ihn sehen! mit andern Worten:
wir reden von der Auferstehung und
dem Heil, das mit ihr gegeben ist, von der Auferstehung
»nd der Kirche, die damit gegründet ist, von der Auferstehung und der Heilserfahrung des einzelnen, die in ihr verbürgt ist. 1. Versetzen wir uns auf einen Augenblick zurück in die
Charfreitagstrauer der Jünger.
Der letzte Akt des furcht-
136 baren Trauerspiels ist zu Ende; er ist todt — mit welchem Ausdruck mögen sie das sich immer wiederholt haben!
Es
ist keine gewöhnliche Trauer wie um einen geliebten Lehrer, nm einen theuren Freund, die sie erfüllt; dazu haben sie zu
Großes von ihm erwartet, zu Gewaltiges von ihm bereits erlebt, sie sind, wie Jemand es ausgedrückt, bereits zu sehr
Jünger. Es ist ein Zusammenbrechen ihrer Hoffnungen, ein Zusammenstürzen ihres gesammten Glaubensbestandes, was
sie erleben: Freund und Lehrer, Meister und König, Erlöser
und Erlösung, alles das haben sie verloren,
das alles ist
für sie hineingelegt in das dunkle Grab.
Die Frauen wollen nach ihrer Art wenigstens noch Liebe erweisen, so lange sie noch zu erweisen ist — wäre es
auch
nur noch an der entseelten Hülle.
zum Grabe.
Daher der Gang
Erst am Ziel erwacht ihre Sorge: wer wälzt
uns den Stein von des Grabes Thür? Aber was heute für
Tausende mitten in einer anbetenden Christenheit eine unge löste und unbeantwortete Frage bleibt, das wird ihnen be
antwortet durch die Thatsache selbst.
Statt der Verwesung
leuchtet der Morgenglanz der Ewigkeit aus dem geöffneten
Grabe ihnen entgegen und staunend vernehmen sie mit auf-
gethanem Ohr die Botschaft aus einer andern Welt: „Ihr
suchet Jesum, den Gekreuzigten; er ist auferstanden und ist nicht hier.
Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten!"
Nichts, l. Fr., ist schwieriger, als die verschiedenen Be richte der Evangelisten über die Auferstehung zu vollkommenem
Einllang mit einander zu bringen — wenn hier von Furcht
und Zweifel berichtet wird, dort von Freude und Glauben,
hier von eiliger Flucht, dort von anbetendem Staunen.
Aber
gerade dieses unlösbare Durcheinander von Stimmungen und
Empfindungen ist das einzige, was dem Erlebniß selbst ent-
137 sprechen kann, der deutliche Wiederschein eines Ungeheuren,
das sie erlebt haben.
Und ob nun als zweifelnde Frage
ausgesprochen, ob in dämmernder Ahnung begriffen oder
endlich
in jubelndem Glauben anbetend erkannt, — eines
bricht doch bei allen durch und macht als Grundton der
gemeinsamen Ueberzeugung sich Bahn: das Grab ist leer, der Herr ist nicht da, er ist auferstanden, er lebt!
Machen wir den Inhalt uns Kör, den diese Botschaft für die Jünger einschloß.
Sie hatten die Freude miterlebt, als einst der Herr zu Nain den Jüngling seiner Mutter, als er dem trauernden
Vater Jairus sein Töchterlein wiedergab; sie hatten mit am Grabe des Lazarus zurückkehren sehen.
Herr noch
gestanden und den Todten ins Leben
Wie, sollte etwa in solcher Weise der
einmal ins Leben zurückkehren?
Sollte er noch
einmal mit ihnen wandeln, Worte des ewigen Lebens reden und Hände des Segens ausbreiten? Soll er vielleicht noch
einmal vor seinen Feinden sich verbergen, um dann aufs neue
dem Tode, wenn auch vielleicht in etwas sanfterer Gestalt zu erliegen? Gewiß, einen Lehrer hätten sie so ja wiederbe
kommen, auch einen Freund und Meister auf ein Jahr, auf
etliche Jahre vielleicht.
Aber ist es wirklich das, was sie
wollen, was sie brauchen?
Nein, fragt sie selbst —: an die
Rückkehr des Herrn ins irdische Leben hat kein einziger
von ihnen auch nur gedacht.
Sie verstehen, sobald nur die
dämmernde Ahnung des Geschehenen ihnen aufgeht, daß es eine Botschaft aus einer andern Welt ist, die sie empfangen.
Sie werden es inne, daß der Herr selbst einer andern Welt angehören muß, als dieser irdischen. Auch dem Befangensten unter ihnen geht es auf, daß er nur dann der König des Himmelreiches, nur dann der Erlöser voll ewigen Lebens ist,
138 der er sein wollte, wenn er in einer andern Welt über dieser Todeswelt lebt und herrscht, ja daß eben darum das Grab ihn nicht halten kann, weil er aus einer Welt des Lebens
stammt, die stärker ist als der Tod.
blick die Auferstehung
Nehmt für einen Augen
hinweg aus dem Leben des Herrn,
hinweg aus der Geschichte der Kirche und der Welt, laßt das
Leben des Herrn enden mit seinem letzten Seufzer am Kreuze: es ist vollbracht! — was wäre gewesen? Ohne Zweifel hätte das Bild
des Herrn eine geraume Zeit hindurch fortgelebt
in den Herzen der Seinen und sicherlich nicht ohne Segen.
Aber der Messias wäre er ihnen doch nicht geblieben; der König
von Israel, der Erlöser der Welt konnte er doch nicht sein; sie wären zurückgeblieben wie Schafe ohne Hirten, wie Glieder
ohne Haupt und darum ohne Kraft und Leben. Ein Petrus, dem
nie die Erinnerung an die Verleugnung vernarbte, hätte sie nie
zu einer Gemeinde versammelt; ein Johannes, der am tiefsten ihn zu erkennen geglaubt hatte, hätte am wenigsten sich in
dies Ende des Kreuzes finden können.
Wahrscheinlich würden
jüdische Schriftsteller uns berichten, daß unter der Herrschaft
des Pontius Pilatus ein gewisser Jesus gekreuzigt sei, der sich für Christus ausgegeben und eine nicht unbedeutende reli
giöse Bewegung im Volke angerichtet habe. — Aber Evan
gelien, welche die frohe Botschaft der Erlösung einer Welt
verkünden, hätten wir nicht; Apostel, welche diese Erlösung einer Welt verkündet hätten, wären nicht hinausgezogen, eine
Kirche hätte sich nicht erbaut, ein Christenthum wäre nicht in die Welt gekommen, eine christliche Welt nie in unserer Mitte erstanden.
Was von Kraft in jener Bewegung war,
wäre gründlich erstickt worden in der Schmach des Kreuzes.
Aber, th. Fr., er ist auferstanden am dritten Tage von den Todten! Hincingetreten ist eine obere Welt mitten in
139 die sichtbare, gegeben ist der Punkt außerhalb und oberhalb dieser irdischen Welt, von wo aus der Hebel angesetzt werden
kann, der diese sichtbare Welt und jede Weltanschauung des
bloßen Diesseits aus ihren Angeln hebt. Gesprochen ist das
göttliche Amen auf jedes Wort,
auf jedes Thun, ja,
auf
jeden Sterbensseufzer des Menschensohnes, er ist erwiesen als der Sohn Gottes, der Heiland der Welt; vollbracht ist
die Versöhnung, die Welt und Menschen neu macht durch
das neue Verhältniß zu Gott, das sie begründet; aufgeschlossen ist eine neue Welt der Hoffnung, zu der alle, die hiernach in dieser
Welt des Todes wallen, mit der Gewißheit aufschauen, daß das Haupt droben seine Glieder nicht läßt; auch die weinen,
können nun nicht mehr weinen als solche, die keine Hoffnung haben, — der Lebensfürst hat mit seinem Auferstehen
für
alle die an ihn glauben, den Weg des ewigen Lebens gebahnt. Es gilt von nun an kraft dieser neuen Lebensordnung, die
von der Auferstehung Jesu Christi ausgeht,
als Pilgerlied
aller Kinder Gottes
Welt du bist uns zu klein, — Er geht durch Jesu Leiten
Hin in die Ewigkeiten! — Soll ich alles in ein einziges Wort zusammenfassen? — Nach dem Tode eines großen Gelehrten, Blaise Pascal's, fand man
im Futter seines Kleides ein Pergament, das ihn nie verließ, und auf dem man die Worte las: Gewißheit! Freude! Gott Jesu Christi, nicht Gott der Gelehrten und Phi
losophen — daß ich nie von ihm getrennt würde!
Es ent
hielt die Erinnerung an eine Nacht, in der aus dem Philo sophen ein lebendiger Christ geworden war.
wißheit,
Seht — Ge
Freude über den Vater Jesu Christi, der
durch ihn unser Vater ist, das ist der Inhalt unseres Lebens
140 durch die Botschaft des Osterevangeliums: er ist auferstanden, er lebt!
2. An diese Botschaft nun schließt sich unmittelbar der
Auftrag:
„gehet hin und saget es seinen Jüngern
und Petro!"
Sie sollen es nicht für sich behalten, das
versteht sich von selbst — und wer soll es schneller erfahren als die Apostel, wer unter ihnen wieder eher als Petrus,
der Petrus, der als ein Verleugner von seinem Herm ge schieden ist, und dem die Gewißheit der Auferstehung nicht
nur den verlorenen Meister selbst wieder schenkt, sondern auch die Gewißheit der Vergebung und Heilung für seine schwerste
Wunde. Bewundert immerhin, l. Fr., die heilige Zartheit dieser Heilandsliebe, die hier das verwundete und gedemüthigte Kind zuerst auffucht und unter allen, denen es verkündet werden soll, nur den einen namhaft macht: „saget es Petro!"
Es
liegt doch noch ein weiterer Gedanke in der Weisung: „saget
es seinen
Jüngern!" — In der That, das darf nicht
verborgen bleiben;
nicht für sich selbst ist der Herr aufer
standen und hat des Grabes Riegel gesprengt, er ist aufer standen für die Seinen.
Wohl will
er nicht wieder neben
ihnen wandeln, wie er bisher
gethan hat, aber er will
gleichwohl in ihrer Mitte sein.
Eine neue Form geistiger
Verbindung und Gemeinschaft soll jetzt ihren Anfang nehmen,
eine Gemeinde soll sich bilden,
in der er selbst, der erhöhte
Herr, das Haupt ist und deren Ersllinge die Apostel sind. Ist er bis dahin der Lehrer gewesen, der mit seinen Jüngern wandelte,
jetzt will er erst der Heiland sein, der in seinen
Erlösten lebt.
War
Seinen voranging,
er bis dahin das Vorbild, das den so wird er nun das lebendige Haupt,
141 dessen Lebenskraft auch seine Glieder durchströmt und belebt.
Diese Durchdringung der Glieder mit dem Leben des Haup
tes ist der Vorgang, durch welchen die Gemeinde gesammelt wird; die Gemeinschaft derer, die von der Kraft und dem
Geiste des lebendigen Herrn erfüllt und getragen werden, ist die Kirche; sie entsteht, wo das Leben Christi an seinen
Gliedern sich dem
offenbart.
So steigt die Kirche Christi aus
geöffneten Grabe des Auferstandenen empor: bereits
der Ostertag wird ihr Geburtstag. Es scheint nun allerdings, als ob wir damit in unsere
Geschichte wenigstens zu viel hineinlegten, denn von den Frauen heißt es ausdrücklich, daß sie, von Verwirrung und Furcht gehalten, zunächst diesen Auftrag nicht ausrichten.
Dennoch liegt in jedem mächtigen Erlebniß etwas, was zum
Aussprechen treibt, in diesem mehr, als in anderen.
Es ist
aus der Erfahrung heraus gedichtet, was Novalis singt:
Ich sag' es jedem, daß er lebt und auferstanden ist.
Daß er in unsrer Mitte schwebt und ewig bei uns ist; Ich sag' es jedem, jeder sagt es seinen Freunden gleich, Und bald an allen Orten tagt das neue Himmelreich. Die Menschen können nicht einmal dämpfen, was der
Herr hier zu thun gebietet.
Blickt nur wenige Wochen wei
ter hinaus in der Entwickelung der Dinge — und derselbe
Petrus, dem hier die Auferstehung verkündigt werden soll, bezeugt gegenüber den Verboten des hohen Rathes von die
sem Namen zu reden, „toirsönnen es ja nicht lassen, daß
wir nicht reden sollen, was wir gesehen und gehört haben!"
— Was in der gesammten apostolischen Verkündigung nach weislich den Grundton bildet, das ist die Erfüllung dieses
Auftrags: saget es seinen Jüngern!
Die Apostel predigen
nicht die Lehre des Herrn, sie verkündigen nicht sein un-
142 schuldiges Leiden und Sterben, sie predigen auch nicht eine
Lehre vom Herrn — sie treten auf als die Zeugen seiner
Auferstehung.
So nennen sie sich selbst; nur wer ein
Zeuge der Auferstehung sein kann,
kann Apostel werden.
Das Zeugniß von der Lebenskraft des auferstandenen Herrn
sammelt die Gemeinde, das überwindet die Widersacher, das hat selbst die Starken zum Raube.
Die Lebenskraft des
Auferstandenen in seinen Jüngern, welche sie heilig leben
und freudig sterben lehrt, ist es, welche thatsächlich diese Welt der Selbstsucht und der Hoffnungslosigkeit erobert, und vor welcher das morsche Heidenthum in seiner Ohn macht zusammenbricht.
Und wollen wir heute, th. Fr., irgendwo und irgend
wie die Kirche des Herrn bauen und fördern, laßt es vor allem geschehen in Kraft dieses Auftrages, den auferstande
nen Herrn zu verkündigen, in Wort und Werk Zeugen seiner Auferstehung zu werden.
Unser ganzes Christenthum ist im
Grunde nur ein fortlaufendes Jnnewerden des Lebens Christi,
und darum unsere Aufgabe die beständige Bezeugung seiner Lebenskraft in uns. Lehren über ihn,
Predigt schöne Lehren des Herrn oder
sie lassen die Menschen kalt;
aber ver
kündet die Lebenskraft eines Lebendigen, der Menschenseelen
retten kann, verkündet ihn am Taufsteine als den lebendigen Heiland, in dessen Reich unsere Kindlein hineintreten sollen, damit er sie segne; predigt ihn am Traualtar als dm Herm, dessen Wort
und Kraft auch die Gemeinschaft der Herzen
verllärcn und unsere Häuser zu Tempeln Gottes weihen kann;
zeigt ihn an den Gräbem als den Lebensfürsten, der die Auferstehung und das Leben ist, und aus dem Tode unver gängliches Wesen an das Licht gebracht hat, und der darum
überschwänglich
trösten kann; bezeugt ihn mit mehr als
143 Worten, mit Wandel und Leben, in denen die Kraft einer
höheren Welt sichtbar wird, als den lebendigen Heiland — und es werden vielleicht die Menschen sich scheiden in Liebe
und Haß, in Gegensatz und Zustimmung; aber sie bleiben sicherlich nicht gleichgültig, nicht kalt, und darum werdet ihr
unter allen Umständen so die Kirche des Herrn bauen und
sein Reich fördern.
3. Aber allerdings, recht verstanden, kann dieser Auftrag: „saget es den Jüngern" gar nicht ausgerichtet werden, wenn
nicht zuvor irgendwie das Wort der Verheißung wahr ge worden, die der Engel hinzufügt:
„ihr werdet ihn sehen"!
Und thatsächlich ist dieser Auftrag von jenen Frauen an, die in Furcht und Entsetzen vielmehr sich verbergen, anstatt
zu verkündigen, niemals ausgerichtet worden,
ohne daß zu
vor die Verheißung sich erfüllt hätte: „er wird vor euch hingehen in Galiläa".
Was haben denn die Jünger geantwortet auf die Ver kündigung der Frauen? Es däuchte ihnen, erzählt einer der
Evangelisten, als wären es Mährlein.
sehen und erfahren, da glauben sie. anders.
Erst als sie selbst
Es ist noch heute nicht
Sicherlich kann der Glaube nicht verwerflich sein,
bei dem einer glaubt auf das Zeugniß aller derer hin, welche durch Glauben und Geduld in Frieden heimgefahren sind —
wie viel besser jedenfalls als der vorwitzige Zweifel, der im
Handumdrehen verwirft, woran Jahrhunderte sich gehalten
haben.
Dennoch soll der volle Glaube nicht nur ein Hin
nehmen sein auf das Zeugniß anderer; er muß seine Gewiß heit in sich selbst tragen.
Werde selbst lebendig durch den
Lebendigen, dann kannst du auch in freudigem Glauben seine Lebenskraft
andern bezeugen; empfinde
und erfahre sein
144 Leben an deinem eigenen Herzen, dann wird es dir zu einer
gebieterischen Pflicht des Glaubens, andern zu sagen und zu bezeugen: er lebt!
Es gibt schließlich für das gesammte
Christenthum nur einen einzigen Beweis, welcher Stich hält und unwiderleglich ist — den der Erfahrung. So gibt es auch
für das Osterevangelium nur einen Beweis, den kein stärkerer
Verstand durchbrechen kann — den der persönlichen Erfah rung.
Das weiß auch der Herr; er weigert sich dieser Probe
durchaus nicht, er spricht sie vielmehr als Verheißung aus, giltig für damals, wie für heute: „In Galiläa werdet
ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat!" Verstehet aber recht, was für ein Sehen eigentlich ge
meint sei.
Man kann wohl fragen: warum der Herr in
Galiläa sich wolle sehen lassen, nicht in Jerusalem.
leicht darf man darauf Hinweisen,
Viel
daß er die Seinen aus
dem volkreichen Gewühl der Hauptstadt, aus der Unruhe des Lebens herausheben und sie in die Stille und Einsam
keit Galiläas führen will, um dort sich ihnen zu offenbaren. Jedenfalls ist so viel gewiß, daß geistliche Erfahrungen, jenes
Sehen und Jnnewerden des auferstandenen Herrn nie im Gewühl des Marktes, im Lärm des Lebens sich vollziehen
wird, sondern nur in der Stille eines in Gott versenkten
und gesammelten Herzens. uns einkehren.
In diese Stille heißt der Herr
Denn mag damals seine Lebenskraft mäch
tiger, überwältigender, sichtbarer sich offenbart haben, — den
noch wird noch heute sein Friedensgruß so lebendig erfahren wie am ersten Ostertage; noch heute gibt es brennende Her
zen wie dort auf dem Wege nach Emmaus; ja, es kann noch heute der Herr den Menschen überwältigen, wie einst den
Thomas, daß er niedersinkt und ausruft: „mein Herr und mein Gott!"
145 Ihr habt die Schrift und in ihr das Bild, das die
Evangelien vom Herrn uns zeichnen; ihr habt das Geistes bild des neuen von ihm geschaffenen Lebens, wie es aus den
Briefen des neuen Testaments uns zurückstrahlt; — hundert mal habt ihrs gelesen und betrachtet ohne Bewegung.
Wa
rum ward das heute oder zu irgend einer Zeit eures Lebens anders? warum nahm das todte Wort auf einmal Leben an, hier tröstend, dort richtend, hier zur Erkenntniß der ei
genen Ohnmacht führend und Erlösungsbedürfniß weckend,
und dort wieder den Frieden
der Versöhnung versiegelnd
und die unermeßliche Liebe des Herrn erschließend?
Habt
ihr die Geisteskräfte hineingelegt, die auf einmal entbunden
wurden?
Ist es etwa nur eure tiefere Lebenserfahrung,
die heute das bessere Verständniß gab, und die euch einst mals noch gefehlt hat? Oder ist nicht vielmehr dies Wort
die Geistesbrücke, vermittelst welcher der Herr selbst, der der
Geist ist, den Weg zu der Seele
Herzen lebendig sich erweist?
findet und an unseren
Und dieses Jnnewerdcn des
Lebens Jesu Chrisü nenne ich ein Sehen des Herrn, das noch heute möglich ist.
Ihr habt die christliche Gemeinde, in der der Herr mit seiner Kraft, seinem Wort und seinem Sacrament noch
heute waltet; ihr wißt vielleicht kaum, was ihr an ihr habt, von
ihrer Kraft wenigstens habt ihr noch nichts gespürt. Hundert mal habt ihr diese Gottesdienste besucht und habt sie genau so
leer verlassen, als ihr gekommen wäret, vielleicht noch geärgert
durch das, was ihr hörtet. Aber warum wird das auf ein mal anders, heute oder in einer bestimmten Zeit eures Lebens?
Warum sind euch diese Gottesdienste jetzt wie das Anllopfen einer unsichtbaren Hand an euer Herz, warum ist euch das
Sacrament jetzt eine unentbehrliche Seelenspeise und das Ge10
146 bet ein Herzensbedürfniß?
Warum hat eine christliche Per
sönlichkeit, die euch in den Weg kam, einen Stachel in euren Herzen zurückgelassen, den ihr nicht wieder los werden könnt
und der euch ein Anstoß zu einer ewigen Bewegung wird? Ist das wirklich nur, weil einer besser predigt, als der an
dere? weil ihr gerade heute offener für solche Eindrücke wäret, als gestern?
Oder müssen wir nicht vielmehr sagen:
es ist der lebendige Christus selbst, der in den Seinen
waltet und durch sie seine Siege erkämpft, der in seiner Ge
meinde sich lebendig, wirffam und gegenwärtig erweist? Und
so die Lebenskraft des Herrn inne werden,
das nenne ich:
ihn schauen im Geist! Kann man die Welle rückwärts fließen machen oder
die Zeit zurückgehen lassen? kann auch ein Menschenleben noch einmal von vom anfangen?
unmöglich.
Vor Menschen ist das
Aber vor Gott kann auch ein Leben in seinem
Alter aus den Angeln gehoben werdm und wieder gut ge
macht, was gefehlt, wiedergebracht werden, was verloren war. Und wenn ein solches Menschenleben preisend bekennen kann: es ist alles neu geworden durch Christum meinen Heiland!-------- Freunde, von Todten geht keine
Kraft aus, nur von den Lebendigen — es ist ein Gmß des
auferstandenen Heilands und das erfahren heißt ihn sehen als den lebendigen!
Und ich füge hinzu: je stiller ein Herz wird, je heimath licher es sich fühlt in der Welt des Gebets, je mehr es inner
lich in ernster Heiligung sich löst von dem, was irdisch und
sündlich ist, um so geübter wird es in diesem geistigen Schauen, um so leuchtender erblickt es das Auge seines Herm.
Im
Aufschauen zu ihm geht sein Leben in uns über, sein Geist
berührt den unsern und füllt ihn auf verborgenen Geistes-
147 wegen mit seiner Kraft.
So werden wir selbst
lebendig
durch die Kraft seines Lebens, so auch die rechten Zeugen seiner Auferstehung.
Ja, um brennende Herzen, die von sei
nem Leben durchdrungen sind, laßt uns bitten: dann wird
auch durch uns sein Reich gebaut; dann jubeln
wir erst
voll und ganz mit der gläubigen Gemeinde den Osterpsalm: „Gelobt sei Gott, der uns wiedergeboren hat zu einer leben digen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den
Todten!"
Amen.
XII.
18. Sonntag nach Trinitatis 1884. Die Erscheinung des Herrn vor Elias. 1. Könige 19, 1—18.
Und Ahab sagte Jsebel an alles, was
Elia gethan hatte, und wie er hätte alle Propheten Baals mit
dem Schwerte erwürget.
und ließ ihm sagen:
Da sandle Jsebel einen Boten zu Elia
Die Götter thun mir dies und das, wo ich
nicht morgen um diese Zeit deiner Seele thue, wie dieser Seelen
einer.
Da er das sahe, machte er sich auf und ging,
wo er hin
wollte, und kam gen BerSeba in Juda, und ließ seinen Knaben
daselbst.
Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise, und kam
hinein und setzte sich unter eine Wachholder und bat, daß seine Seele stürbe und sprach: Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele; ich bin nicht bester, denn meine Väter.
Und legte sich und
schlief unter der Wachholder. Und siehe, der Engel rührete ihn, und sprach zu ihm: Stehe auf und iß.
Und er sahe sich um und stehe,
zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brod und eine Kanne mit Master.
Und
da
er gegeffen und getrunken hatte, legte er sich
wieder schlafen. Und der Engel des Herrn kam zum andem mal
wieder und rührete ihn, und sprach: hast einen großen
Weg vor dir.
Stehe auf und iß; denn du
Und
er
stand
auf und aß
und trank, und ging durch Kraft derselben Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis
an
den Berg Gottes Horeb;
daselbst in eine Höhle und blieb daselbst über Nacht.
und kam
Und siehe
das Wort des Herrn kam zu ihm und sprach zu ihm: Was machst
du hier, Elia?
Gott Zebaoth;
Er sprach:
ich habe geeifert um den Herrn, den
denn die Kinder Israel haben deinen Bund ver
lassen, und deine Altäre zerbrochen, und deine Propheten mit dem
Schwerte erwürget;
und ich bin allein übrig geblieben, und sie
149 stehen darnach, daß sie mir mein Leben nehmen. heraus und
auf den Berg vor den Herrn.
tritt
Er sprach: Gehe
Und siehe, der
Herr ging vorüber und ein großer starker Wind, der die Berge
zerriß und die Felsen zerbrach, vor dem Herm her, der Herr aber
war nicht int Winde.
Nach dem Winde aber kam ein Erdbeben,
aber der Herr war nicht im Erdbeben.
Und nach dem Erdbeben
kam ein Feuer, aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem
Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. hüllte
Da das Elias hörte, ver
er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging heraus und
trat in die Thür der Höhle.
ihm und sprach:
Und siehe, da kam eine Stimme zu
Was hast du hier zu thun, Elia?
Er sprach:
Ich habe um den Herrn, den Gott Zebaoth geeifert, denn die Kin der Israel haben deinen Bund verlassen, deine Altäre zerbrochen,
deine Propheten mit dem Schwert erwürget; und ich bin allein übergeblieben und sie stehen darnach, daß sie mir das Leben nehmen.
Aber der Herr sprach zu ihm: Gehe wiederum deines Wegs durch
die Wüste gen Damascus; und gehe hinein und salbe Hasael zum
Könige über Syrien,
und Jehu, den Sohn Mimst, zum Könige
über Israel, und Elisa, den Sohn Saphats, von Abel Mehola, zum
Und soll geschehen, daß, wer dem
Propheten an deiner Statt.
Schwert Hasaels entrinnet,
den
soll Jehu tödten, und wer dem
Schwert Jehu entrinnet, den soll Elisa tödten.
Und ich will lassen
überbleiben sieben Tausend in Israel, nämlich alle Kniee, die sich
nicht gebeugt haben vor Baal, und allen Mund, der ihn nicht geküsset hat.
Theure Gemeinde!
Ein
farbenreiches, prächtiges
Bild hat uns die vernommene Erzählung des alten Bundes vor Augen geführt.
Auf dem Hintergründe einer dunkeln
Zeit leuchtet eine Gottesoffenbarung auf, so
herrlich, wie
kaum eine zweite im alten Bunde ihr an die Seite gestellt
werden kann.
Mag ihre Form uns fremdartig sein, mag sich
im ersten Augenblick noch dem Verständniß entziehen, was
sie bedeutet, so viel ist klar,
daß hier neue Gottesgedanken
erschlossen werden sollen, die der Prophet noch nicht gedacht
hat.
Und wenn dies nicht geschieht im Sturmwind, nicht im
150 Feuer oder Erdbeben, sondern im Men, sanften Sausen, so können wir Kinder des neuen Testaments kaum anders, als hier die Art desselben Gottes anbeten, der sich heilend, er
quickend, erlösend zu der Welt herabließ in Jesu Christo,
seinem Sohne: es ist ein Stück neues Testament im alten,
das uns in heiligem Gesicht gezeigt wird. Aber auch noch nach einer andern Seite wendet sich
der Blick.
Es ist der größeste Prophet des alten Bundes
nächst Moses, der diese Offenbarung empfängt, der Wieder hersteller der Theokratie, dessen Wort, mit Jesus Sirach zu reden, wie Feuer war und wie eine Fackel brannte, der wie
ein eherner Fels
mitten in die Wogen einer abgefallenen
Zeit hineingestellt scheint, damit sie an ihm sich brechen und
zerschellen sollen.
Und doch empfängt er diese höchste Offen
barung nicht etwa in einem Augenblicke, wo er auch auf der Höhe seines Wirkens und seiner Erfolge steht, nicht etwa auf dem Gipfel des Karmel, als er mit mächtiger Glaubensthat
die Priester des Baal überwindet, oder da wo sein Wort dem
lechzenden Lande den Regen des Himmels erschließt — er erhält sie vielmehr in einem Augenblick tiefsten Verzagens, innerster
Demüthigung; und gerade diese Führung durch Mißerfolg und Verzweiflung hindurch ist es, welche allein ihn geschickt und
fähig macht, die ganze Tiefe der Heilsgedanken zu erfassen, die sich in dieser Offenbarung ihm auffchließen. Ihr versteht, th. Fr., wie darin ein Wink auch für uns
liegt! Aus der Tiefe will der wunderbare Gott immer die Menschen heben, denen er seine höchste Gnade offenbart; ge rade die, welche er hoch empor steigen lassen will, führt er
zuvor hinab und denen, welchen er die Tiefe feiner Hellsge
danken offenbart, gibt er als Gegengewicht Stunden des Ver
zagens und der Schwäche, wie andere sie nicht zu tragen
151 haben.
Folgen wir
aus diesem Gesichtspunkt heraus dem
Gange unserer Geschichte. Die Erscheinung des Herrn im stillen, sanften
Sausen steht uns im Mittelpunkt derselben; mit der Frage,
was sie uns zu sagen habe, suchen wir uns verständlich zu
machen ihre Vorgeschichte,
ihre Bedeutung und endlich ihre Mahnung und Weisung.
1. Nur mit wenigen Worten gedenke ich der Vorgeschichte
der Offenbarung Jehovas, die der Geschichte Israels ange
hört.
Wir kennen die trostlosen Zustände des Landes zur
Zeit des Königs Ahab.
Durch die wilde Energie der Königin,
der phöilicischen Jsebel, ist der Dienst Jehovas fast ver drängt von dem sinnberauschenden Kultus des Baal und der
Astarte; anstatt der Psalmen Jehovas durchtönen die Lust
gesänge der Götzen jene Haine und Hallen, mit denen Ahab
seine Residenz Samaria geschmückt hat.
Da tritt Elias auf,
ein Gerichtsverkündiger für König und Volk.
In dem Ge
betskampfe auf Karmel überwindet er den Götzendienst des Baal und mit dem nicht endenden Rufe des Volks: der Herr
ist Gott, der Herr ist Gott! scheint mit einem Schlage das
Land zurückerobert zu sein für den lebendigen Gott.
Da
wird er auf einmal von der Höhe der Triumphe herabge schleudert: mit einem Eide verbindet sich Jsebel, dem Pro
pheten das Schicksal der getödten Baalspriester zu bereiten. Mit derselben Schnelligkeit, mit der das Volk ihm vorher zugejauchzt hat, verläßt es ihn jetzt. Derselbe Prophet, der auf Karmel allein einem Heere getrotzt und im Namen Je-
152 hovas seinem Könige ms Angesicht gesprochen hat, begegnet uns jetzt, verlassen, auf der einsamen Flucht.
Und hier setzt mm
eine innere Vorgeschichte jener Offenbarung ein, die bedeut
samer für uns ist, als diese äußere. Ja, wunderbare Sache — er, der hundertmal sein Leben
eingesetzt hat für seinen Gott, der weder- die Messer der Priester, noch den Zorn des tyrannischen Königs geachtet
hat — er flieht.
Verwechseln wir das nicht mit gewöhn
licher Feigheit — nein, der Gott selbst, für den er streitet, hat ja seine Sache fallen lassen.
Der Feuer vom Himmel regnen
ließ auf sein Gebet, der hält jetzt sein Angesicht von ihm ab
gewendet. Je höher sein Standort war, um so tiefer nun sein Sturz. Gerade im Augenblick des Sieges muß er inne werden:
ich habe vergeblich gearbeitet. Nicht nur er ist verloren, der
allem übrig geblieben war von allen bot Propheten Jehovas, sondern auch die Sache, für die er eintrat — wie? ist es
seltsam, wenn er da zusammenbricht? Es ist die Bezweiflung an einem Volk, das sich nicht will retten lassen; es ist die Verzweiflung an der eigenen Kraft, das Ziel zu erreichen;
ja, es ist die Verzweiflung an den unverständlichen Wegen
seines Gottes, die ihn zur Flucht treibt und ihm die Bitte auf die verzagenden Lippen legt: „Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele; ich bin nicht besser, denn meine Väter."
Es hat, th. Fr., etwas tief erschütterndes, wenn im Ge fühl vergeblicher Arbeit, eines verlorenen Lebens, unter der Wucht der Verkennung, der Verleumdung und Vereinsamung
ein Mann, zu. dem wir sonst hinaufgeblickt haben, willenlos und glaubenlos zusammenbricht mit dem Rufe: es ist genug!
Und hier steht vor uns ein Prophet, ja der größeste Pro phet des alten Bundes, der Felsenmann, an dem Tausende
sich aufgerichtet haben! Und dennoch ist es wie eine Art von
153 Trost auf ihn hinzusehen.
Ja, richten wir, die wir zu den
Geringsten uns rechnen, uns immerhin an dieser Heldengestalt auf.
Auch er kann zweifeln;
auch er hat gezweifelt; der
Prophet, in dessen Wirken Johannes der Täufer das Vorbild der messianischen Zeit erblickt, ist ein Mensch wie wir; er kann verzweifeln.
Nicht darüber haben wir uns zu schämen,
daß Stunden der Anfechtung und der Demüthigung über uns kommen, in denen der Boden uns gleichsam unter den Füßen hinweggezogen wird und alle Stützen uns brechen,
sondern darüber allein, wenn wir glaubenlos in diesen An fechtungen bleiben und mit zerbrochenem Glauben in den
selben zu Grunde gehen, während vielleicht schon Gottes helfen
der Bote neben uns
steht, — und gerade davor soll das
Vorbild des Elias uns bewahren.
Erschöpft ist er unter dem dürftigen Wüstenstrauche entschlummert.
Scheuen wir uns nicht, zu sagen: auch die
körperliche Abspannung trägt ihr Theil dazu bei, daß er an der Sache des Herrn verzweifeln kann.
Der Zusammenhang
zwischen Leib und Seele ist nun einmal so wunderbar und
geheimnißvoll organisirt, daß der müde, kranke Leib auch die Freudigkeit der Seele trübt; wie oft vermögen wir in uns
selbst kaum zu unterscheiden, was von rein körperlichen, phy sischen Einflüssen und was von der Unfähigkeit des Willens
und des Geistes ausgehe.
Wie oft möchte man einem hoff
nungslosen, trauernden und verzweifelnden Menschen vor allem
nur eine Stunde des Schlummers und einen Bissen leiblicher Stärkung gönnen mehr als alle Trostgründe. So sendet es hier die Freundlichkeit Gottes seinem ermatteten Knecht.
Er
schläft; er wird aufgeweckt um zu essen, er schläft wieder; diese körperliche Erquickung ist in der That der erste Schritt, der ihn aus der Tiefe seiner Anfechtung herausführt.
154 Ein zweiter folgt: Es ist das vernichtende Gefühl der
Einsamkeit, das ihn zusammenbrechen ließ.
Er weicht nicht,
so lange er kämpft, so lange noch Menschen um ihn her sind;
aber er verträgt nicht, daß man ihn des Kampfes nicht mehr
werth erachtet, die völlige Verlassenheit: „ich bin allein übrig geblieben!"
Was will es doch auch sagen, in Dingen des
Glaubens sich vollkommen
einsam fühlen.
So
mächtige
tragende und bewahrende Kräfte von der Gemeinschaft des Glaubens und des Gebetes ausgehen, so verödend und er
schlaffend wirkt immer das Gefühl:
ich stehe allein.
Wie
manche unter uns stehen wohl ihren Mann, so lange man sie nur als eine Macht anerkennt,
gegen die man streitet,
aber sie können es nicht ertragen, daß man sie einfach mit ihrem Glauben stehen läßt. Wie hunderffach wirkt das bei uns noch
etwas ganz anderes als bei Elias, nämlich nicht nur das Ge
fühl der Verzweiflung an Gottes Sache, sondern an Gott selbst, an der Gebetserhörung, an der Gewißheit des Glau bens. Wie schnell sind namentlich jugendliche Geister bereit,
ihren Glauben jedem Spotte zu opfern, nur weil sie meinen,
sie ständen allein.
Aber dennoch soll es auch von solchen
Zeiten der Muthlosigkeit und der
erzagtheit, wie sie im
Leben der größesten Glaubensmänner aller Zeiten sich wieder
holen, gelten: Gott läßt nicht versucht werden über Ver mögen.
Der Herr hat seine Boten auch in der Wüste, und
noch ehe dieser vereinsamte Mensch es weiß,
steht Gottes
Engel neben ihm und spricht seinem Diener Muth zu —
gleichviel ob dieser Engel ein treuer Freund ist, der dich auf richtet, oder ob Gott dir wie hier dem Propheten das Auge
aufthut für die unsichtbare Welt und dich gewiß macht: du bist bei mir im finstern Thal; dein Stecken und dein Stab
trösten mich! —
155 Aus diesem neu erwachenden Glauben heraus läßt nun
Jehova seinen Propheten einen weiteren Schritt thun, der ihn emporhcbt: er gibt ihm einen Auftrag, er soll an den
Berg Gottes, Horeb, gehen, dort soll er erfahren, was Gott mit ihm vorhat. Es kann nichts Einfacheres, nichts Schlichteres
geben, als das; aber gerade dies Einfachste und Schlichteste ist das richtige für ihn.
Er soll gleichsam wieder von vorn
anfangen und anstatt einer hohen Offenbarung gewürdigt zu werden, nur erst das Unscheinbarste lernen, im Kleinsten
treuen pünktlichen Gehorsam zu leisten.
Seht da auch euren
Weg, der aus den Stunden des Verzagens herausführt: es ist
der des treuen pünktlichen Gehorsams gegen die Gebote Got tes, die wir erkennen, gegen den Gotteswillen, der uns als
solcher feststeht.
Nicht darauf kommt es an, wie viel wir
leisten oder was sichtbar bleibt von unserer Arbeit, wie groß unsere eigenen Erfolge im Leben sind; vielleicht wird das
alles verweht wie Spreu vor dem Wind und nichts bleibt. Gott braucht für sein Reich nicht unsere Leistungen, aber er braucht unseren Gehorsam und unsere Treue, und während
wir Himmel und Erde bewegen möchten, um zu retten, was
zu retten ist, während wir Großes und Gewaltiges aussinnen
möchten; um neue und unerhörte Erfolge zu erzielen, ver
langt der Herr nichts von uns, als Treue auch im Geringen, auch wenn es vor den Menschen völlig unsichtbar bleibt; Ge horsam auch da, wo wir ihn nicht verstehen, Beugung unsres unheiligen und trotzigen Willens unter seinen heiligen Willen.
Wer so im Kleinsten treu in seinem Gehorsam bleibt,
auch wo es ein Wandern durch die Wüste gilt, eine Tage reise nach der andern, auch wo innerlich dieser Gehorsam ihm einschneidet in das, woran seine Seele hängt, den wird gerade diese That des Gehorsams wieder einen Schritt weiter führen.
156 Denn es hat der Herr seinen besonderen Gedanken, wenn er seinen Propheten zum Horeb sendet.
Den Weg soll
er durch die schweigende Einöde hinziehen, den einst sein Volk gewandert ist.
Schritt für Schritt, Stätte für Stätte
wird diese Wüste für ihn Sprache und Rede annehmen und ihm die „alten Zeiten und die vorigen Wunder", wie es im Psalm
heißt, die Gnadenthaten Gottes an seinem Volke predigen. Wohlan, du verzagter, hoffnungsloser Mensch, gehe mit dem
Propheten in die Stille, da warte auf die Erfüllung des Wortes bei Hosea: „ich will sie in eine Wüste führen und
freundlich mit ihnen reden"; da höre in betender Stille
im Worte der Schrift die Stimme deines Herrn und die Verkündigung seiner Gnadenthaten.
So erleben wir noch
heute, daß die scheinbar dunkelsten und freudelosesten Wege, die wir geführt werden, gerade Wege besonderen Heils und
besonderer Gnade für uns werden, ja Wege, die zu Erfah rungen göttlichen Trostes und göttlicher Gemeinschaft führen,
wie sie ohne jene Trübsal uns schlechterdings nicht zu Theil geworden wären. —
2. So erlebt es der Prophet. Noch einmal ergeht an ihn
auf der heiligen Höhe des Sinai die Frage Jehovas: was
willst du
hier, Elias? —
als sollte ihm gesagt werden:
weißt du schon, wozu du hier bist und warum du hierher geführt werden mußtest? Verstehst du bereits die wunderbaren
Wege, die dein Gott mit dir geht?
Und merken wir uns,
th. Fr., eben das ist die Frage, die uns aus allem unserm Er leben, gutem und bösem, heraustönen soll, die wir vor Allem in
unserer Trübsal und unserer Vereinsamung vernehmen sollen; sie soll uns nachllingen, damit wir nichtsvergeblicherleben!
Merken wir uns aber auch
— so oft uns einmal deutlich
157 zum Bewußtsein kommt: ja, ich weiß, mein Gott,
warum
diese Trübsal über mich kam und was diese Anfechtung wollte— ebenso oft wird diese Erfahrung auch ein Vorbote großer Gnade sein.
Das verbürgt uns Elias. mit dem er jetzt antwortet:
Wie anders ist der Ton,
„sie haben deinen Bund ver
lassen, deine Altäre zerbrochen,
deine Propheten
mit dem
Schwerte erwürgt und ich bin allein übrig geblieben und sie stehen danach, daß sie mir mein Leben nehmen."
Die That
sache kann er nicht ändern, aber die Klage und Anllage ist
vorüber; die Verzweiflung ist überwunden; er harrt auf seinen
Herrn.
Und auf derselben Stelle, auf der einst Moses als
Mittler des alten Bundes betend vor Jehova stand, erhält er nun in wunderbarem Gesicht die Antwort des Herrn. Der
Herr geht vorüber und ein Sturmwind, der Berge zerreißt
und Felsen zersprengt, vor ihm her; aber der Herr war nicht in dem Sturm.
Es folgt das Erdbeben und das Feuer;
aber der Herr weilt nicht in ihnen.
Wohl sind auch Sturm
und Feuer in seiner Hand, Boten Jehovas, die starken Hel
den, die seine Befehle ausrichten; auf Schritt und TM be gegnen wir in der Geschichte der Völker dem Feuer göttlicher
Gerichte oder den Stürmen göttlicher Strafgerechtigkeit, unter
deren gewaltigem Ernst die Welt erzittert; allenthalben nehmen wir auch ihre Spur wahr im Einzelleben, wenn Gottes Ge
richt wie Sturm und Erdbeben den trotzigen Sinn beugt
und wie ein schmelzendes Feuer die unreinen und argen Ge danken des Herzens verzehrt.
Es geht kraft dieses heiligen
Gerichtsernstes eines strafenden, vergeltenden Gottes, der sich
nicht ungestraft verachten und verspotten läßt, eine Verkettung von Schuld und Strafe, von Sünde und Leid durch jedes Menschenleben hindurch; und wohl dem Menschen, der dabei
158 fühlt, daß er in der Hand seines Gottes ist.
alle sind nur Gottes Boten, nicht er selbst.
Aber — sie Auf das Feuer
folgt das stille, sanfte Sausen — da das Elias hörte, ver hüllte er sein Antlitz und trat hinaus an die Thür der Hütte.
Im stillen, sanften Wehen naht der Herr! Sülles, sanftes Sausen, das ist sein Wesen, seine Art.
Unter dem eisigen Nordsturm brechen die Eichen, und das Leben erstarrt; aber der milde, sanfte Frühlingshauch löst das Gebundene und weckt es zu neuem Leben.
Nicht eisiges,
vernichtendes Gericht, sondern lösender, erquickender, beleben
der Hauch der Liebe, das ist das Wesen Jehovas. Erbarmen
mit der Welt, auch mit der Welt, über welche der Ernst seiner Gerichte zuvor dahin gebraust ist, das ist das Ende
der Wege Gottes.
Rettende erbarmende Liebe, auch gegen
das Volk, das seinen Bund brach und seine Altäre verließ;
Liebe, die mit ihrer Treue die Untreue überwindet, Liebe, die den Anllagen des Propheten ihre eigene unergründliche
Tiefe entgegenhält, das ist die eigentliche Weise des Herm,
vor dem Elias steht.
Was bereits Moses gehört, das ver
nimmt Elias aus dem stillen, sanften Sausen heraus, das vyr seinem verhüllten Antlitz vorüberzieht: „barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte; Israel, mein erstgeborner Sohn, mein trautes Kind, es sollen wohl
Berge weichen
und Hügel
hinfallen, aber
meine
Gnade
soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer."
Und
du Gotteskind des neuen Bundes, meinst du, bei dir höre die Gnade auf? mag der Sturm der Anfechtung dich rütteln
— dennoch ein Erbarmer ist Gott.
Ja, mehr noch als ein
Elias hast du und weißest du: zu dir hat Jehova nicht nur geredet im Wort und Sinnbild, mit Feuer und Sausen; es
159 ist die Weise der unendlichen Liebe, daß Worte ihr nicht ge
nügen, um sich selbst zu bezeugen, daß sie die Kluft zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch mit Thaten
des Erbarmens ausfüllt.
In stillem, sanften Sausen hat
Jehova, der treue, barmherzige Gott, besucht und erlöset sein Volk; er hat sein Antlitz schauen lassen in dem Sohne seiner Liebe, in Christo Jesu.
Und wieder nicht mit Worten allein,
mit Todestreue hat der Sohn Gottes besiegelt,
daß Er
barmen das eigentliche Wesen des Vaters und Erlösung der
Welt das Ende seiner Wege ist.
Und wärest du allein übrig
geblieben von allen, die anbetend diese Liebe umfassen, und
schiene wirklich die Welt verloren
in Unglauben und Em
pörung, ja, wäre die Liebe, die den Himmel zerrissen und
zu uns in's Elend sich herniedergelassen hat, scheinbar ver geblich
dieser Welt erschienen —
Friedens bleibt über ihr
dennoch der Bogen des
seine Erlösung wird Gott nicht
gereuen; ihm bricht sein Herz, daß er sich unserer erbarmen muß; der seines eigenen Sohnes nicht verschont hat um un
sertwillen, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? — 3.
Das also hat der Prophet lernen sollen.
Ja, er hat
geeifert um den Herrn, den Gott Zebaoth; aber nun soll er
lernen, daß dieser Eifer nur die Spitze der Flamme sein
darf, welche die Liebe schlägt.
Er hat geeifert um seinen
Gott und das Leben für ihn eingesetzt, aber höher noch als diese That heldenhaften Eintretens steht die geduldige, aushar
rende Liebe.
Wie der Gott, dem Elias dient, kein fressendes
Feuer ist, sondern erquickendes, sanftes Sausen, so soll er selbst lernen, niemanden und nichts aufgeben und verdammen,
an niemandem und an nichts verzagen.
Wer glaubt, sagt
160 die Schrift, der fliehet nicht.
Wer an die rettende Gnade und
Barmherzigkeit Gottes in Christo glaubt, der samt nicht ver
zagen.
Wer an sich selbst durch
die Tage der Anftchtung
und Trübsal hindurch erfährt, daß auch im Dunkel Gottes Licht leuchtet, der kann nicht verzweifeln, auch nicht über
andere
Lieber Mensch, über deinem Kummer und deiner
Noth an deinen Kindern, über dem Gram um eine schwere
Zeit, dem Schmerz um den Abfall unseres Volkes von seinen
ewigen Heilsgütern und der Bangigkeit um alle Kämpfe, die
uns bevorstehen, waltet die Gewißheit der barmherzigen Liebe Gottes, die unter allen Umständen Menschenseelen erhalten
will und nicht verderben, welche ihr Reich bauen will und
nicht verwüsten.
Beten wir fleißiger als bisher
um die
Eliasstunden, in denen wir in das tiefste Herz, in das eigent
liche Wesen unseres Gottes und unseres Heilandes hinein schauen,
in denen die Offenbarung der Gnade Gottes uns
herausleuchtet aus dem Angesichte Jesu Christi, und es wird auch in unser Leben mitten im Kampf jene heilige Stille
und Zuversicht einkehren, die
von Trotz
und Verzagtheit
gleich weit entfernt ist, die aber unerschütterlich in dem Glauben
ausharrt:
„Die treueste Liebe sieget, Am Ende fühlt man sie,
Weint bitterlich und schmieget Sich kindlich an dein Knie."
So ward es ja auch dem Propheten geboten; noch ein mal wird er gefragt: was thust du hier, Elias?
wiederholt, was er erlebt hat. einen anderen Sinn.
und er
Aber jetzt hat das Fragen
Nein, nicht um hier zu bleiben, nicht
um in seligem Genusse auszuruhen in der Nähe seines Gottes, ist er hier.
So lange er auf Erden ist, ist er auch im Kampf,
161 und so lange ihn sein Gott auf Erden läßt, so lange soll er
auch in unermüdlicher Arbeit seines Gottes Werk thun. Da rum erhält er die Mahnung: stehe auf und gehe wiederum deines Weges durch die Wüste gen Damaskus; gehe hin
durch, trage deine Last, thue in stillem Gehorsam und immer neuer Treue, was dir geboten wird, auch wenn du nicht ab stellen kannst, was dein Leben in immer neue Verwickelungen
und Schwierigkeiten bringt; wirke in diesem neuen Geiste
sanfter, erquickender Liebe, den dein Gott dich gelehrt hat.
Wo dieser neue Geist einkehrt, wird wirklich auch das Leben ein anderes und auch sein Kreuz erscheint in anderem Licht.
Und noch ein weiteres wird
neu.
Es ist unmöglich, daß
Es gibt keine
dieses geduldige Harren der Liebe umsonst sei.
vergebliche Arbeit im Reiche Gottes; auch wenn wir die
Frucht nicht sehen,
Elias.
„Ich
sie ist dennoch da.
Auch das erfährt
will lassen übrig bleiben sieben Tausend in
Israel, spricht der Herr, nämlich alle Kniee, die sich nicht gebeugt haben vor Baal und allen Mund, der ihn nicht ge-
küsset hat."
Sie sind wirllich vorhanden; Elias hat keinen
einzigen von ihnen gekannt,
aber Gott hat sie alle gezählt
und ihre Namen angeschrieben im Himmel.
verborgene Frucht seines Wirkens.
Das war die
Es mögen noch dunklere
Zeiten Heraufziehen über die Welt, die sieben Tausend sind
übrig zu aller Zeit und in ihnen der heilige Stamm für die Zukunft.
Kein Jahrhundert ist so verlassen, daß nicht die
sieben Tausend darinnen wären, die ihre Kniee nicht gebeugt
haben vor den Götzen der Welt. Es ist nicht wahr,
Sie finden sich auch heute.
daß jemals Gottes Wort vollkommen
leer zurückkäme, wo es in Treue gepredigt wird.
Ein treues
Wort einer Mutter ist immer ein Same, der aufgeht, wenn
auch in unberechenbarer Zeit.
Jeder
ernste vorbildliche ii
162 Wandel ist immer eine Macht, die sich geltend machen wird
vielleicht da,
wo wir es nicht ahnen, und wären Jahr
zehnte hingegangen, ohne daß wir eS haben wahrnehmen können.
Gerade da, wo wir es am wenigsten meinen, ist
vielleicht die verborgene Macht des Wortes am Größesten. Sterbend treibt das Weizenkorn seine Frucht; erblassend am
Kreuz, wo menschlich gesprochen, jede Frucht seines Wirkens
zerstört wird, hat der Herr seine Gemeinde seinen Triumph gefeiert.
gestiftet und
Halten wir aus, wohin immer der
Gott unseres Heils uns führt, wo immer er unsere Treue fordert, und womit immer er uns prüft, um uns zu läutern.
Wenn er uns demüthigt, macht er uns groß; wo er uns
beugt, reicht er uns den Schild seines Hells und führt zu
neuen Siegen.
Wohlan im Namen des Herrn, den Elias
nur ahnend von ferne schaut, im Namen des Gottes, der
der Vater Jesu Christi heißt, im Namen des Heilandes, der
die Welt überwunden hat, thut eure Hand nicht ab von dem Werke des Herrn; euer Werk hat seinen Lohn!
Amen.
XIII. Neujahr 1886.
Nichts kann mich scheiden von der Liebe Gottes.
Gnade, Barmherzigkeit und Friede sei mit euch von dem, der da war und der da ist und der da kommt! Ihm sei Ehre in der Gemeinde, die in Christo Jesu ist, nun und von
Ewigkeit zu Ewigkeit. Röm. 8, 38—39.
Amen. Denn ich bin gewiß,
daß weder Tod noch
Leben, weder Engel noch Fürstcnthum, noch Gewalt, weder Gegen wärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Creatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in
Christo Jesu ist, unserm Herrn.
Theure Gemeinde! In ein großes und gewaltiges Wort klingt das hohe Lied des Glaubens aus, das Paulus
Römer am achten anstimmt; es ist ein Wort, das jede dunkle Pforte erhellt, die eines neuen Jahres so gut, wie die der
dunkeln Ewigkeit, ein Losungswort, vor dem alle Unruhe und
alle Angst schwindet und in dessen Straft das müde Herz auffahren lernt mit Flügeln wie ein Adler.
Wir alle em
pfinden: — ein solches Wort brauchen wir heute.
Ein neues
Jahr bricht an, einer der Abschnitte, in welche wir bei dem
unaufhaltsamen Vergehen der Dinge die Zeit zu theilen pflegen und durch welche wir gleichsam die Zeit selbst zwingen
164 möchten, einen Augenblick stille zu halten, um in der Flucht des Lebens uns
auf uns selbst zu besinnen-
Wir schauen
zurück auf das verflossene Jahr mit seiner Freundlichkeit und
seinem Ernst; wir schauen in beidem die Gnade Gottes, die
über uns waltet und die es macht, daß wir noch nicht gar
aus sind; wir schauen im Gedächtniß der Feier*), die über morgen unser Volk um seinen Kaiser schaart, auf ein Viertel
jahrhundert zurück, das wie kein zweites unser Volk geeint,
erhöht, mit Ehren gekrönt hat.
Wir danken dem Gott der
Völker, der unseren kaiserlichen Herm zum Werkzeug seiner Gedanken gemacht hat und bitten ihn, daß
er sein Alter
behüte zum Segen unseres Volkes und mit der Krone es schmücke, die den Bewährten verheißen ist.
hinein in dieses neue Jahr.
So treten wir
Ob wir noch sein Ende erleben
werden, ob der Kreis, dessen Liebe jetzt uns trägt, an seinem Schlüsse noch vollzählig sein wird, oder ob wir an seinem
Ende vereinsamt da stehen werden — wir wissen es nicht. Ob uns Glück begegnen wird oder Wehe, Gewinn oder Ver
lust, ob auch nur einer der Wünsche in Erfüllung geht, die wir gestern Abend oder heute in der Frühe einander zuge
rufen haben, ob auch nur eine der Sorgen sich wendet, die
wir über die Schwelle des Jahres mit hinüber tragen, ob unser Vaterland und unser Volksleben noch ferner friedliche
Wege gehen wird, oder ob tiefe Erschütterungen von innen oder außen die vorhandene Zerklüftung werden ans Licht treten lassen — das
Nur eines können wir wissen,
noch gewaltsamer
alles wissen wir nicht.
eines sollen wir auch wissen,
nämlich das, was Paulus hier ausspricht — und dieses Eine kann uns genug sein, um freudigen Muthes hineinzuschauen
*) Das 25jährige Regierungsjubiläum des Kaisers.
165 in die dunkle Zukunft —: „ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstenthum,
noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünf tiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine an dere Creatur mag uns scheiden
von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn." Ja,
selige Menschen sind wir selbst unter Stürmen und Sorgen, die uns umgeben, wenn wir diese Worte ihm nachsprechen
fernen und wenn wir mit dieser Gewißheit hinübertreten ins neue Jahr.
Was es uns bringe, was es nehme — wer
mit dem Apostel sagen kann: ich bin gewiß, daß nichts
mich scheidet von der Liebe Gottes! der weiß auch: —
nichts kann mir schaden.
Freunde! solchen Glauben wollen
wir einander wünschen, vielmehr solchen Glauben wollen wir uns einer dem andern erbitten — das sei der Neujahrs
wunsch, den wir jetzt betend einander zurufen! Unsere Losung, mit der wir hineintreten in das neue Jahr, soll lauten: Ich bin gewiß, daß nichts mich scheiden kann
von der Liebe Gottes in Christo Jesu; wir erbitten des Apostels Gewißheit: nichts
kann mich scheiden;
wir ziehen aus derselben für uns die Gewiß heit: nichts wird uns schaden! Jesu, geh' voran
Auf der Lebensbahn,
Und wir wollen nicht verweilen, Dir getreulich nachzueilen. Führ' uns an der Hand Bis ins Vaterland!
Amen.
166
1. Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? fragt der Apostel unmittelbar vor unserem Textwort und zählt die Feinde auf, die sich zwischen ihn und seinen Gott
drängen könnten, und die er doch weit überwindet —: «Trüb sal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße
oder Fährlichkeit oder Schwert."
Und wir sagen noch ein
mal: selig, wer so ihm nachsprechen kann, — und empfinden
es für uns selbst als eine heilige Sehnsucht in der Tiefe:
daß wir ihm doch so nachsprechen lernten!
Wohlan, suchen
wir zuerst den Gedanken des Apostels ganz zu verstehen, da mit dann seine Erfahrung die unsrige werden könne!
Von Gottes Liebe, sagt Paulus, scheidet mich nichts. Merkt wohl auf dieses Wort!
Wir alle, die wir hier sind,
glauben an Gott, an seine Macht, an seine Weisheit. Du glaubst so, weil du so gelehrt bist; du glaubst so, weil dir
auf deiner Studierstube tiefer oder oberflächlicher erfaßt, der Gedanke aufging, daß doch alles seinen letzten Grund und seine zureichende Ursache haben müsse, haß die Ordnung den Ordner, die Schöpfung den Schöpfer voraussetze.
Du lässest
dir auch diese Ueberzeugung nicht stören durch seichte Ein
reden, du hältst fest: es gibt einen Gott — sieh, nur eins fehlt diesem Gott, den du dir gemacht hast; es fehlt der elektrische Funke, der von ihm zu dir hinüberspringt, die er barmende Liebe, die von seinem Herzen in deines übergeht.
Dein Gott hat kein Herz und darum hast du kein Herz zu ihm; du meinst, von ihm geschaffen zu sein, und doch ist er so blaß und so ohnmächtig, als wäre er vielmehr das Pro
dukt deiner eigenen Gedanken.
Und wie ohnmächtig und
kraftlos war auch der Gedanke an ihn, als die Noth über
167 dich hereinbrach, und die Sorge dich drückte, und der Tod
an dnner Thüre anpochte und dir das Liebste nahm.
Frage
dich stlbst—ist es dir da besonders beseligend vorgekommen,
bei allem, was dir genommen werden könnte, wenigstens un getrennt zu bleiben von diesem deinem Gott?
Leben und Kraft
ausgegangen
diesem zureichenden Grunde aller Dinge, ner, der alle
Ordnung,
Ist da auch
von dieser letzten. Ursache, von diesem Ord
diesem Schöpfer, der
die
ganze
Schöpfung gemacht hat? Nein, wir fühlen: Trost ging von dem Gedanken nicht aus, Freudigkeit hat uns diese Gewiß heit nicht gebracht;
Glaubenswort:
Paulus meint Größeres mit seinem
nichts kann mich scheiden von der
Liebe Gottes!
Ja, ein Gott der Liebe ist der Gott des Apostels.
Das Herz, das in meiner Brust schlägt, sagt jemand, ist mir ein Bürge dafür, daß der Gott, der mich geschaffen hat, kein
Wesen ohne Herz sein kann.
Was trieb denn diesen gewal
tigen und unermeßlichen Gott, daß er eine Welt ins Dasein
rief, Creaturen schuf, die ihn anbeten könnten, daß er mich ins Leben rief und daß sein Auge über mir wachte
auch im
verflossenen Jahre bis zu dieser Stunde? Ich antworte: es
ist seine Liebe.
Was ist der Grund, daß ich armer
unbedeutender Mensch
mit einer Zuversicht,
welche
und
keine
Grenze kennt, die Haare auf meinem Haupte von ihm ge zählt wissen darf, daß ich ihn beschäftigt
glauben kann mit
meinem Ergehen, wie ein Vater mit dem Ergehen eines lie ben Sohnes sich befaßt, daß ich glauben darf, jeder Kampf
meines Lebens, jeder Seufzer meines Herzens,
jede Sorge
meiner Seele finde ein lange anhaltendes Echo in seinem Herzen und werde von ihm mit erlebt, wie die Schmerzen
des Sohnes vom Herzen des Vaters?
Ich antworte: es
168 ist die Gewißheit, daß er ein Gott der Liebe ist.
Be
greife, th. Gem.! ganz diesen Gedanken, und so gewiß es
schon selig ist, sich geliebt zu wissen von menschlicher Liebe,
so gewiß muß auch eine beseligende, ja eine überwindende Kraft von dem Gedanken ausgehen,
geliebt zu sein von
einem Gott der Liebe. Und dennoch, ich irre mich nicht, bleibt euer $er$ auch da noch kalt, eure Brust hebt sich im Grunde noch nicht höher.
Wie Paulus mitten in Noth und Tod, Kampf und
Streit dieser Welt in tiefer Ruhe, in seliger Freudigkeit aus rufen: weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges
noch Zukünftiges mag mich scheiden von dieser Liebe! — das vermögen wir nicht; dazu ist die Liebe, von der wir
sprechen, noch nicht warm genüg, dazu verbirgt sie sich zu ost hinter dem Ernst schwerer und dunkler Wege.
Ja, noch
andere Gedanken regen sich: wie oft hast du diese Gottes
liebe zurückgestoßen, wo sie freundlich dich zog; wie oft hast du seine Freundlichkeit mit Undank vergolten, mit Sünde gelohnt!
Und doch ist diese Liebe Gottes eine durch und
durch heilige Liebe — kann denn dies Herz mit seiner ver
borgenen Sünde, mit seiner heimlichen Lust, seinem friedlosen Gewissen wirklich noch ein Gegenstand göttlicher Liebe sein?
kann es wirklich im Bewußtsein, daß diese Liebe ganz ihm gehöre für Zeit und Ewigkeit,
von ihr mich scheiden?
aufjauchzen: nichts kann
Kann auch der verlorene Sohn
im Elend der Fremde der Liebe seines Vaters sich getrösten? Wer sagt ihm denn, daß er seine Liebe nicht verscherzt habe?
wer sagt mir, daß dieser Vater im Himmel mich aufnimmt und daß seine Liebe noch größer sei als meine Sünde?
Siehe, so hat auch Paulus gefühlt und darum setzt er ein
Wort hinzu, und dieses eine Wort ist es, was ihn gewiß
169 macht, daß kein Engel noch Fürstenthum noch Gewalt, daß keine andere Creatur ihn scheiden mag von seinem Gott:
dieser Gott hat seine Liebe versiegelt in Christo
Jesu, unserem Herrn! Es ist, liebe Christengemeinde, nichts Geringeres als die ganze Tiefe des Weihnachtsevangeliums, was in diesem
Worte uns erschlossen wird.
In heiliger Liebe zu dem Gott
der Treue und der Verheißung hat einst Abraham „seines
eigenen Sohnes nicht verschonet" und hat ihn als ein williges Opfer Gott dargebracht.
Daran
denkt wohl der Apostel,
als er unmittelbar vor unserem Texte dieselben Worte von dem Gotte aller Barmherzigkeit sagt: er hat „seines eigenen
Sohnes nicht verschonet" um unsertwillen, um einer sün digen und verlorenen Welt willen. Nicht mit Worten, sondern
mit Thaten der Erbarmung hat der lebendige Gott seine ewige Liebe leuchten lassen über der abgefallenen Welt, um
uns gewiß zu machen, daß das Ende seiner heiligen Wege nicht das Gericht sei, sondern die Rettung und die Erlösung. In dieser That der erlösenden Liebe besitzt Paulus eine
Kraft, welche größer ist als alles, Hohes und Tiefes, Gegen wärtiges und Zukünftiges und welche weder durch Leben noch Tod, weder Engel noch Fürstenthum noch Gewalt je über
wunden werden kann.
Ja, durch diese That der erlösenden
Liebe in Christo Jesu, durch die Barmherzigkeit, welche arme
verlorene Menschen zu Erben ewigen Lebens beruft und den staubgeborenen Bürgern einer befleckten Welt den Zugang
zur Ewigkeit aufschließt, ersonnen vor aller Zeit im Urgründe der Ewigkeit, offenbar geworden in der Fülle der Zeiten in
Christo Jesu, ist die Frage unseres Heils entschieden worden, noch ehe wir waren. Diese erlösende Liebe Gottes in Christo
Jesu unserem Herrn, waltet über aller Zeit, auch über die-
170 fern Jahre.
Kein anderes Evangelium hat die Kirche dem
Neujahrstage geordnet als die Mittheilung der Thatsache,
daß das verheißene Kindlein Jesus genannt worden sei, d. i. Seligmacher; denn mit diesem einen wissen wir genug!
Durch gute und böse Tage, durch Trübsal und Freude, durch Entbehrung und Glück hindurch hat das vergangene Jahr uns geführt; aber durch alle diese Erlebnisse ging wie ein
unsichtbar verbindender Faden der Zug göttlicher Liebe und Gnade hindurch, die uns hat hinüberziehen wollen in die Ge
meinschaft der erlösenden Liebe Christi.
Es wird auch im
neuen Jahre das Leben wieder seinen alten Gang nehmen: — die alten Glocken werden uns hierher zusammenrufen, die
alten Lieder und das alte Bibelwort werden uns erbauen,
Gutes und Böses wird in buntem Wechsel an uns vorüber ziehen;— aber durch das alles und in dem allem wird aufs
Neue noch innerlicher und tiefer als bisher die verborgene Gnade Gottes uns an die Seele dringen. An die Geschichte
göttlicher Barmherzigkeit, die im Himmel begann und die in das Kommen des Heilandes auslief, soll
sich eine andere
Geschichte göttlicher Erbarmung anschließen, die in dir selbst ihren Anfang und die auch in dir selbst ihr Ende und ihr
Ziel hat. Unter dem warmen Glanze göttlicher Liebe soll dir das Herz weich werden; laut werden soll dir die Stimme des Gewissens, wie wenig du sündiger,
trotziger Mensch solcher
Liebe werth wärest — so undankbar
für alle Gnade des
Herrn, so hart zur Umkehr, so unglaublich schnell zum Ver
gessen, so leichtfertig im Sündigen!
Es soll dir an der
Tiefe deines Unwerths die Größe eines Erbarmens auf gehen, das nicht vor dir zurückschreckt, sondern sich zu dir
herabneigt. So soll dir aus Demüthigung und Buße heraus der Glaube wachsen, der die Gnade Jesu Christi ergreift, der
171 in heiliger Verwegenheit, mit Luther zu reden, trotzig und lustig wider Gott und alle Creatur, über diese ganze Welt
sich emporhebt, ja, der aller Sichtbarkeit, und aller Sünde zum Trotz hindurchbrechen kann zu dem Bekenntniß: nun bin ich gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder
Hohes noch Tiefes noch keine andere Creatur mag mich scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo
Jesu ist, unserm Herrn!
2. In der That unbeschreiblich großartig ist dieses Wort,
th. Fr.! mit dem der Apostel die ganze Welt in die Schranken
ruft, nur um triumphirend sie ihrer Ohnmacht zu überführen: nichts kann mich scheiden von der Liebe Gottes — darum kann nichts mir schaden!
Was nur immer schreckend oder lockend auf ihn ein stürmen mag, Dunkel des Todes oder Reiz des Lebens; was ihm nur immer sein Ziel verrücken mag und das Herz von der Liebe Gottes lösen, Engel oder Fürstenthum oder Gewalt, die
Geisterwelt oder die Weltgeister; was nur wankend machen kann im Glauben und Ausharren, die schwere Gegenwart oder die ernste Zukunft, der Glanz der Weltehre oder die Tiefe der
Weltschande — sie alle können nicht an ihn, sie haben nichts
an ihm;
„in dem allen", ruft er, „überwinden wir
weit, um deswillen, der uns geliebt hat".
Es gibt nur eine bleibende Macht, die alles überdauert
und der alles dienen muß, die Liebe Gottes und ihr Heil.
Die Geschichte der ganzen Creatur muß mithelfen, ja sie ist
nur zu dem Zwecke vorhanden, um die Gedanken dieser gött lichen Liebe zu verwirklichen. Wer an sie sich hält, den hält sie, sie läßt ihr Kind nicht, sie offenbart gerade da ihre volle
172 Herrlichkeit, wo sie von dem dunkeln Grunde menschlichen Elends und irdischer Sorge sich abhebt.
Ist es anders ein
Jahr göttlicher Gnade, das uns anbricht, und das uns aufs neue mit Gottes Liebe in Jesu Christo einen will, dann dürfen wir auch fröhlichen und trotzigen Glaubens mit dem
Apostel ausrufen: in allem, was uns treffen mag, überwin den wir weit; nichts kann uns schaden! Was erwartet uns denn? Ob das kommende Jahr uns
ein leichtes und fröhliches sein wird, leichter als andere, wer will das sagen? Es wird seine guten und seine schweren Tage
haben, wie immer.
Wie manche Last werden wir weiter
tragen bis ins Grab, wie manchen sauren Weg werden wir
gehen, wie wir ihn bisher gehen mußten, wie manchen schweren und doch fruchtlosen Kampf werden wir kämpfen, wie manchen Seufzer wird es kosten, wenn wir den schweren Karren weiter
ziehen, an den wir nun einmal gestellt sind.
Eins sage ich:
ist unter allem, was uns begegnen mag, auch nur eine Last,
ein Kampf, eine Mühe, eine Sorge die uns scheidet von der Liebe unseres Gottes? Nein, deren keines reicht an die
Seele, deren keines zerreißt das heilige Band, das mit dem Herrn uns verbindet und mit der Welt seines Friedens und
den Tröstungen seines Geistes.
In ihm wird auch die Last
zu einem Segen: er läßt nicht über Vermögen versuchen; er legt die Last auf, aber er hilft auch, er führt in die Hölle
und auch wieder heraus.
Gelobet sei der Herr täglich auch
in dem neuen Jahre; wir haben einen Gott, der da hilft
und einen Herrn Herrn, der im Tode errettet; ungeschieden von ihm kann nichts uns schaden! Aber wir haben noch ernstere Feinde, als die, welche
wir nannten, schwerere Kämpfe auch — es lockt die bunte, verführerische Welt um uns und sie verbindet sich mit Fleisches-
173 lust, Ehrgeiz, Geldgier, Hoffart in uns. in diesem Jahre thun,
Sie wird es auch
so gewiß wir uns selbst in die neue
Zeit mitgenommen haben.
O, wie hat doch deine Seele
Schaden genommen durch die Wollust, die an dir nagt; wie
hat Ehrgeiz und Eitelkeit, diese Sucht zu scheinen, und wäre
es auch nur im kleinsten Kreise, dein Herz so verödet und
leer gemacht von Liebe; wie bist du, edle Creatur, die du für Gott geschaffen wärest, herabgesunken, um Staub zu essen und
mit Vergänglichem und Irdischem dich zu plagen dein Leben
lang!
Wie war es nur möglich?
allein,
daß du zuvor dich
War es nicht dadurch
selbst geschieden
hast von der
Liebe deines Gottes und der Zucht seines Geistes?
die Welt über dich nicht mächtig werden:
Schirm und Schild!
Blut
sich
regt,
über sittliche Dinge
sind, euch
Ihr Jünglinge, wenn Fleisch
wenn jene
vielfach
jämmerlichen in
Soll
hier allein ist.
Ansichten,
und
die
euren Kreisen verbreitet
die Sünde als etwas selbstverständliches
und
dem Manne ziemendes vorhalten — es gibt nur einen
Weg für euch, zu stehen und zu siegen: flüchtet euch in die Liebe eures Gottes!
Unter Gottes Liebe stehen, das heißt,
unter der Zucht seines Geistes stehen, unter dem Ernst seines
Auges und damit in der Kraft heiliger Bewahrung! — Ihr Männer, wenn im Kampf des Lebens das ehrgeizige Trachten
euch überwinden will, wenn die Versuchung zur Untreue euch
anficht, wenn nicht mehr Wahrheit und Pflicht euch
vor Augen
stehen,
sondern nur noch das Interesse der
Partei, wenn Selbstsucht anstatt der Liebe, Genußsucht an
statt der Verleugnung euch
überwältigen wollen — nur
einen Panzer gibt es, der decken und schirmen kann wider alle Pfeile des Bösewichts —: lasset euch wappnen mit der Liebe eures Gottes, die in Christo Jesu ist.
In der Liebe
174 Gottes stehen, in Buße und Glauben seiner Liebe theilhaftig
werden, das verleiht eine Kraft, welche allem Ansturm dieser Welt schlechterdings überlegen ist; seid dieser Liebe gewiß
und nichts kann euch schaden! — Ihr Frauen, wenn euch die Treue im Kleinen nicht mehr groß erscheint, und der stille
Dienst in der begrenzten Welt des Hauses nicht mehr daS köstlichste, wenn über den blendenden Flittem der Welt jmer
Schmuck des verborgenen Herzensmenschen euch seinen Glanz verliert, der nach dem Worte des Petrus in der unverrückten
Richtung auf Gott besteht mit sanftem und stillem Geist, wenn jene Krone selbstverleugnender Liebe, die euer Herr euch
auf das Haupt setzen will, euch werthlos dünkt
gegenüber
den blinkenden Diademen der Welt — nur einen Weg gibt es, um nicht euer bestes Theil zu verlieren in dieser Welt der
Eitelkeit und der Aeußerlichkeit: flüchtet euch hinein in die Liebe eures Gottes; in seiner Liebe stehen, das heißt, ewiger
und unbedingt werthvoller Güter inne werden; es heißt, die
Kraft einer Liebe in sich tragen, welche auch das geringste Werk adelt, auch das unscheinbarste Leben verllärt und be seligt, welche die Welt überwindet; seid gewiß — ungeschieden
von ihr kann nichts euch schaden! Wir heben noch höher das Auge:
welche
Mächte
kämpfen doch um unser Volk? — Fürstenthümer und Ge walten, Geister des Heils und des Umsturzes, Geister der Liebe und des Hasses, des Glaubens und des Unglaubens!
Dieser Kampf steht nicht still, auch wenn wir einmal einen Augenblick still stehen. Wir stehen inmitten eines gewaltigen,
unaufhörlichen Geistesringcns um die Zukunft unseres Volkes, ja um die Zukunft der Völker, und wir sind die berufenen Kämpfer, jeder einzelne von uns ein mitberufener, damit nicht
Haß, Umsturz und Unglauben die Oberhand behalten, son-
175 dem der Glaube, der der Sieg der Welt ist, sich auch über
unser Volk als eine Siegeskraft erweise. Christenvolk, welch'
ein heiliges Bewußtsein der Verantwortung, welch' ein Anspannm aller Kräfte zu heiliger Liebesarbeit, welch' ein furcht
loser Bekennermuth, welch' ein heiliger Zusammenschluß aller Treuen zum
heiligen Streit um die ewigen Güter des
Glaubens und des Heils sollte bei dir sich finden! Ist es der
Fall?
Stehen wir wie eine siegende Streiterschaar, unge
trübten Muthes, fest zusammengeschlossen, daß kein spähender
Feind die Lücken findet in unseren Reihen? Nur eine Waffe gibt es, der unzweifelhaft der Sieg verheißen ist: ergreift den
Schild des Glaubens, den Helm des Heils, das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes; von Gottes Liebe um schirmt laßt seine Liebe in die Welt hinausleuchten! Ein
Mensch voll Liebe ist immer stärker als ein Mensch voll
Haß; ein Mensch voll festen zuversichtlichen Glaubens ist unter allen Umständen den Menschen des Zweifels und des
Unglaubens innerlich überlegen; eine Kirche voll Glauben und Kräfte muß den Sieg behalten über eine Welt, welche
beides nicht hat und welche dennoch weder den Glauben noch die Liebe zu entbehren vermag.
Schärst diese Waffe immer
auf's neue hier in unseren Gottesdiensten, daheim im Um gang mit der Schrift;
werdet in
der
Gemeinschaft im
Glaubm eurer Kraft euch bewußt; senket euch immer tiefer
hinein in die unergründliche Liebe eures Gottes!
Es mag
sein, daß der Kampf noch viel ernster wird, als er jetzt ist, die Wunden schwerer, die Lücken größer, auch die Treuen im
Lande seltener — ungeschwächt bleibt dennoch die Losung be stehen: ungeschieden von der Liebe Gottes vermag nichts euch zu schaden!
Endlich — ein gemeinsamer Weg steht uns allen be-
176 vor; gemeinsam ist uns jeder Schritt, der uns der Ewigkeit
näher bringt.
Wann wird ihre Pforte sich uns öffnen?
Ach, im Blicke auf die eigene Unvollkommenheit, auf die Lebensarbeit,
die uns an der eigenen Seele noch zu thun
übrig ist, möchten wir noch eine Frist der Buße erflehen:
Herr, laß uns noch dieses Jahr, verlängere uns den Weg, den
wir zu gehen haben!
Die Hand
auf dem Haupte
unserer Kinder, Hand in Hand mit allen, welche wir lieb
haben, möchten wir hinein und hindurch wandern durch dieses Jahr — ob es uns verliehen wird, wir wissen es nicht.
Jedes Jahr macht wieder Plätze leer, die in seinem An fang noch besetzt waren; je älter wir werden, um so länger
wird die Reihe der Gräber, an denen wir vorübergeführt
werden; mancher unter uns
denkt an liebe Kranke, um
welche er die Sorge aus dem alten in das neue Jahr mit
hinübernimmt.
Aber das wissen wir, daß die Liebe Gottes,
die in Christo Jesu ist, auch die dunkelste Pforte erhellen
kann, die des Todes.
Wer als Losungswort seines Lebens
mit freudigem Glauben aussprechen kann: ich bin gewiß,
daß nichts mich scheidet von der Liebe Gottes! — der darf dies Wort auch noch als Inschrift auf seine Gräber
setzen lassen; auch von unsern Heimgegangenen steht es uns fest: sie sind nicht verloren; sie sind in Gottes Hand; un geschieden von Gottes Liebe, kann auch der Tod ihnen nichts
anhaben! Und was ihnen gilt, soll auch uns gelten. Wenn unser Stündlein kommt über kurz oder lang, wenn unsere Kraft ermattet und die thätige Hand erlahmt, wenn vor dem
brechenden Auge alles schwindet, was dieser Welt angehört — o selige Menschen dann wir alle, wenn wir auch dem letzten Feinde, dem Tode, gegenüberstehen können mit dem großen Paulusworte: ich bin gewiß, nichts, auch kein Ster-
177 ben kann mich scheiden von der Liebe meines Gottes
in
Christo Jesu; mit ihm kann auch der Tod nichts schaden!
So leite uns denn, th. Br.! des großen Gottes Gnade durch dieses neue Jahr hindurch als ein Bolk des Glaubens, das die Welt unter seinem Fuße hat und das mit immer neuer Gewißheit das Pilgerlied anstimmen kann:
Kein Engel, keine Freuden, Kein Thron, kein' Herrlichkeit,
Kein Lieben und kein Leiden,
Kein' Angst, kein Herzeleid:
Was man nur kann erdenken, Es sei klein oder groß,
Der keines kann mich lenken
Aus Deinem Arm und Schoß!
Amen.
____ _________ UniverfitätS-Buchdruckerei von Carl Georgi in Bonn.
Im Verlage von Adolph Marcus in Bonn ist erschienen:
Evangelische Predigten von
Ernst Dryander, Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin.
Zum Kesten der Inneren Misston.
Erste Sammlung. Dritte «»siege.
1886.
Preis: geheftet 2 Mark 50 Pfg. gebende» 3 Mark.