Evangelische Predigten: Sammlung 2 Predigten über das christliche Leben [2. Aufl. Reprint 2021] 9783112393345, 9783112393338


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German Pages 177 [192] Year 1887

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Evangelische Predigten: Sammlung 2 Predigten über das christliche Leben [2. Aufl. Reprint 2021]
 9783112393345, 9783112393338

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Evangelische Predigten von

Grast Dryander, Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin.

Zweite Sammlung.

Zweite Auflage.

------------------------------

Bon«, bei Adolph Marcus. 1887.

Predigten über

das christliche Leden von

Ernst Dryander, Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin.

Zweite Auflage.

------------- —r-r—--------------

Bonn, bei Adolph Marcus. 1887.

Dem Kreise

meiner Csnsirmanden aus älterer und neuerer Zeit.

Uorrrde Der Wunsch, zu dem Umbau der Dreifaltigkeitskirche,

welcher im August des vorigen Jahres

begonnen, seiner

Vollendung entgegengeht, auch durch eigene Arbeit ein Scherf­ lein beizutragen, hat die Herausgabe der nachfolgenden Pre­

digten veranlaßt.

Ich übergebe dieselben meiner Dreifaltig­

keitsgemeinde mit der Bitte um freundliche Aufnahme und mit dem Wunsche, daß dieselben manchen! die Erinnerung an

Gottesdienste erneuern möchten, in welchen wir auch in der kirchlichen Zersplitterung Berlins das Bewußtsein einer Ge­ meinschaft des Glaubens

und der Liebe empfunden haben,

welche von dem äußeren Zusammenschlüsse einer organisirten

Gemeinde unabhängig ist.

Sollten auch Glieder meiner früheren Bonner Gemeinde diese Predigten lesen, so mögen sie dieselben als Zeugnisse unveränderter Verbundenheit auf dem Grunde gleichen Glau­ bens und als Grüße fortdauernder Liebe aufnehmen.

Berlin, im März 1886.

Der Berfaffer.

Zur zweiten Auflage. Schneller als ich erwarten durste, ist ein neuer Abdruck der Sammlung nöthig geworden.

Ich kann denselben nur

mit dem Gebetswunsche hinaussenden, es wolle Gottes Gnade das Wort an denen segnen, welche es lesen und auch der

nunmehr neu geschmückten Dreifaltigkeitskirchc die Gemeinde bewahren, die auf dem einen Grunde sich erbaut, von dem

diese Predigten zeugen wollen: Jesus Christus gestern und heute und derselbe in Ewigkeit! Berlin, im März 1887.

Der Verfasser.

Inhalt. Seite

I.

II.

III.

IV.

V. VI. VII. HI.

IX. X.

Die Wiedergeburt. Trinitatis 1884. — (Joh. 3, 1—8).................................................. 1 Suchet, was droben ist. Trinitatis 1883. — (Kol. 3, 1—4)........................................................ 14 Die Erneuerun g. 1. Sonntag nach Trini­ tatis 1883. — (Kol. 3, 5—11).......................... 28 Die Schönheit des christlichen Lebens. 2. Sonntag nach Trinitatis 1883. — (Kol. 3, 12—15).................................................................. 41 Alles im Namen Jesu. 6. Sonntag nach Trinitatis 1883. — (Kol. 3, 17) .... 56 Gesegnetes Beten. 15. Sonntag nach Trini­ tatis 1883. — (Kol. 4, 2—4)........................... 68 Das feste Herz. Sonntag nach Neujahr 1885. — (Hebräer 13, 9).............................................. 82 Kommet her zu mir alle, die ihr müh­ selig und beladen seid. Dritter Advent 1885. — (Matth. 11, 25—30) 95 Die Christfreude. Erster Weihnachtstag 1885. — (Lucas 2, 9—11)............................................ 108 Heute wirst du mit mir im Paradiese sein. Charfreitag 1885. — (Lucas 23, 39-43) 121

Seite

XI. Das offene Grab. Ostern 1888. — (Marc. 16, 1—8)......................................................................... 133 XII. Die Erscheinung des Herrn vor Elias. 18..Sonntag nach Trinitatis 1884. — 1. Kö­ nige 19, 1—18).................................................... 148 XIII. Nichts kann mich scheiden von der Liebe Gottes. Neujahr 1886. — (Römer 8, 38—39) 163

I. Trinitatisfest 1884. Die Wiedergeburt. Joh. 3, 1—8.

Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern,

mit Namen Nicodemus, ein Oberster unter den Juden, der tarn

zu Jesu bei der Nacht, und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn Niemand kann

die Zeichen thun, die du thust, cs sei denn Gott mit ihm.

Jesus

antwortete, und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir:

Es sei denn, daß Jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen.

ein

Mensch

wiederum

geboren

Nicodemus spricht zu ihm:

werden,

wenn er alt ist?

Wie kann

Kann

in seiner Mutter Leib gehen, und geboren

er auch

werden?

JesuS antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß Jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann

er nicht in das Reich Gottes kommen.

Was vom Fleisch geboren

wird, das ist Fleisch; und waS vom Geist geboren wird, das ist Geist.

Laß dich's nicht wundern,

müsset von neuem geboren werden.

daß ich dir gesagt habe:

Ihr

Der Wind bläset, wo er will,

und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt, und wohin er fährt.

Also ist ein Jeglicher, der auS

dem Geist geboren ist.

Mit dem heutigen Sonntage beginnt die festlose Hälfte

des Kirchenjahres; aber ihr erster Tag, das Trinitatisfest, schaut zunächst noch einmal auf die abgeschlossene Festhälfte zurück

und

faßt die einzelnen

vergangenen

Strahlen der

christlichen Feste in sich wie in einem Brennpunkte zu einer 1

2 Einheit zusammen.

Darum hat die Kirche vom alters her

diesem Sonntage ein Evangelium gegeben, welches das tiefste

Thema anschlägt, das Menschen beschäftigen kann,

und in

welches schließlich alle Töne christlicher Festpredigt, alle Ge­

danken göttlichen Heils ausllingen — das Thema von der

Wiedergeburt des Menschen.

Bist du aufs neue geboren,

wiedergeboren zu neuem Leben aus der Liebe des Vaters, welche die Weihnacht, durch die Erlösung des Sohnes, welche

Ostern, in der Kraft des heiligen Geistes, welche Pfingsten

uns verkündet hat? — das ist die Frage, in welche sich gleich­

sam der Ertrag unserer christlichen Feste zusammenfaßt. Legen wir sie nach dem heutigen Evangelium uns vor! Aber allerdings bedarf diese Frage, damit eine ersprieß­

liche Antwort auf sie erfolge, im besonderen Sinne hörender Ohren, stiller Herzen und empfänglichen Aufnehmens.

Es

ist ein verschwiegenes Nachtgespräch, zu dem der Herr in

unserem Evangelium den Nicodemus empfängt: ebenso still und unverworren mit Weltlärm und Weltsorge müssen unsere Herzen werden, wenn uns, wie dort dem Pharisäer, das Himmelreich

wenigstens ahnend

Nicodemus kommt zum Herrn

verständlich

werden

soll.

als ein Mensch voller Be­

denken, voll kühler, tastender Zurückhaltung,

aber doch als

einer, dem es um das Höchste zu thun ist, nämlich um das

Reich Gottes, und dem eben deshalb der Herr die großen Dinge des Himmelreiches auffchließen und verkündigen kann.

So laßt uns immerhin kommen auch mit unseren Zweifeln und Bedenken, wenn wir nur mit der Bitte kommen um heiligen Ernst für die tiefste Frage nach dem Heil und dem

Frieden der Seele, um offene Herzen für die Antwort auf die Frage:

wie werde ich von neuem geboren,

geboren für das Reich Gottes?

wieder­

8 Von der Wiedergeburt

reden wir.

Die

Tiefe des Wortes erlaubt uns nur die

schlichte Auslegung desselben; in seiner Auslegung aber ist hoffentlich auch für uns der Wegweiser enthalten, den wir

brauchen.

Es sind vornehmlich zwei Gedanken, die der Herr

uns sagt: wir müssen von neuem geboren werden,

wir können von neuem geboren werden.

Die Wiedergeburt ist beides, nothwendig, aber auch möglich für uns.

1. Es liegt in den wenigen, flüchtigen Strichen, mit wel­ chen der Evangelist die Gestalt des Nicodemus uns zeichnet, etwas überaus Charakteristisches.

„Meister, wir wissen, daß

du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn Niemand kann die Zeichen thun, die du thust," — so führt sich der Schrift­

gelehrte bei dem Herrn ein.

Er will ihn anerkennen als

gottgesandten Lehrer; seine Wunder haben ihn als solchen bei ihm beglaubigt.

Vermuthlich urtheilt er auch nicht nur

nach diesen äußeren Zeichen; auch die tiefgehende religiöse Bewegung, die von ihm aus unzweifelhaft über das Volk ansgeht, ist ihm ein solches.

Er hat sie tiefer

beobachtet

als andere — hier ist etwas, das wirklich unvermischt und

unverworren

mit weltlichen

Dingen

regungen sich hält, eine Bewegung, seinen Antheil hat.

Auch daß

der

und

politischen

Er­

an der Gottes Geist

Herr den

geistlichen

Machthabern entgegengetreten ist, hindert ihn nicht an seiner Anerkennung; er hat auch dafür sich den Wahrheitssinn be­

wahrt; er fühlt sich in der officiellen Religion des Phari-

säerthums nicht befriedigt; er hat ein tieferes Verlangen

4 nach einem lebendigen Hauche von oben.

Wenn aber hier

nun unzweifelhaft eine Bewegung ist, die aus dem oberen

Heiligthum stammt — sollte ihr Urheber nicht auch auf die Fragen seines Herzens die Antwort haben?

Nur — er

will sich nicht öffentlich mit ihm einlassen, sich nicht mit ihm

kompromittiren; darum geht er unter dem Schutze der Nacht zu ihm.

Und noch mehr — auch der Prophet von Galiläa

soll nicht merken,

was er eigentlich von ihm will; darum

will er nicht etwa sein Heilsverlangev ihm entdecken, er will

vielmehr ihn prüfen, ihn aushören, was an ihm sei.

So

beginnt er wie ein Weltmann seine Unterhaltung mit höf­ licher Anerkennung, als der

gemeinsamen Basis,

von der

aus er weiter gehen kann: „Wir wissen, Meister, daß du bist ein Lehrer, von Gott gekommen".

Ebenso charakteristisch ist nun aber auch die Antwort deS Herrn auf diese Einleitung: kein Wort dankender Er­ widerung der Höflichkeit, keine Anerkennung etwa über den

vornehmen Besuch, der sich zu ihm bemüht, keine Mittheilung über seine Absichten und Pläne, für welche er das Volk

zu gewinnen denke — wenn man es mit einer Menschenseele zu thun hat, die gerettet werden soll, ist die Zeit zu kost­

bar für Höflichkeiten.

Vielmehr mit dem

ganzen Ernst

prophetischen Tones gibt der Herr eine Antwort, die eigent­ lich keine ist und doch genau dahin trifft, wohin sie zielt:

„Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, es sei denn, daß Jemand von neuem geboren werde, so kann er das

Reich Gottes nicht sehen". Mit einer Forderung an den Herrn war Nicodcmus gekommen, und der Herr richtet umgekehrt eine Forderung

an ihn und zwar — wunderlich — gerade jene innerlichste

Forderung, die ihm bereits aus dem Munde des Täufers

5 so innerlich weckend entgegengetreten war, die Forderung, die er als den eigentlichen und bedeutsamen Kern der ganzen

religiösen Bewegung betrachtet, welche durch das Volk hin­ durchzittert, die Forderung, die auch in seiner eigenen Seele

einen lebendigen Wiederhall findet, auch wenn er sie noch

nicht an sich selbst gerichtet hat—: umkehren, neu werden, neu geboren werden!

Ja, diese Forderung enthält wirklich die rechte Ant­

wort auf das eigentliche Verlangen des Nicodemus; hat je eine Antwort das seelsorgerische Verständniß des Herrn, seinen tiefen prophetischen Ernst wie feine sündersuchende Liebe ge­

zeigt, so ist es diese.

Es ist, als wollte er sagen: ich ver­

stehe dich ganz, Nicodemus; ich kenne dein innerstes Anliegen; was du brauchst, ist nicht eine neue Erkenntniß, sondern ein

neuer Wille, nicht irgend eine Aufklärung über meine Person, die deine Bedenken hebt, sondern ein Klarwerden über dein

eigenes Ich

in seiner Friedlosigkeit und seinem Elend, die

du dir selbst nicht zu gestehen wagst.

Du willst das Gottes­

reich, ich weiß es; sieh, worauf es bei dirMnkommt, das ist — inneres Neuwerden, die sittliche Neugeburt! Ohne sie gibt

es keinen Weg ins Reich Gottes.

Der heilige Gott läßt sich

nicht antasten von unreinen Händen, er läßt sich nur schauen

von reinen Herzen.

Die ernste That der Buße, die Absage, die

du der Sünde gibst, die entschlossene Abkehr von ihr ist der erste Schritt in das Reich Gottes.

Th. Fr.! könnten wir mit

der. Gotteskraft des Herrn und mit dem Seelenverständniß des Heilandes doch den Nicodemusgestalten von heute,

die

mit ihrer Sehnsucht nach Heil und Frieden dastehen und im

Dunkel der Nacht, um nicht mit Kirchengehen und Bibellesen

sich als fromm zu kompromittiren, ihre hunderterlei Bedenk­

lichkeiten und Zweifel aussprechen, wie sie das nicht glauben

6 oder jenes nicht annehmen könnten, ins Gewissen rufen: am Willen liegt es, an der That der Buße, an der lebendigen

Erfahrung und Erkenntniß der Sünde. Wort: die Welt ist der Wille.

Dogmatik bei Seite,

Auch hier gilt das

Laßt alle Zweifelfragen der

aber stellt euch mit ganzem Ernst der

Frage gegenüber: Muß ich von neuem geboren werden? In der That hat Nicodemus so den Herrn verstanden;

gerade die Thorheit seiner Antwort beweist es: „Wie kann

ein Mensch geboren werden- wenn er alt ist? kann

er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und

geboren werden?" Meinen wir doch nicht, der Schriftgelehrte sei so un­

empfänglich für alles Göttliche gewesen, daß er nicht ge­ wußt hätte, wo der Herr eigentlich hinauswolle.

ihm neu sein, daß

nicht

Es mag

nur Zöllner und Sünder, son­

dern auch Pharisäer und Schriftgelehrte neu geboren wer­

aber es ist etwas in ihm, was ja dazu sagt.

den müßten;

Es mag ihm überraschend sein, daß sein Besuch und seine Würde im

hohen Rath so gar

keinen Eindruck auf den

Herrn macht, aber etwas in ihm spricht auch dazu eine Zu­ stimmung aus; er ist getroffen.

Es wird ihm schwer, daß

er, der anerkannte Lehrer, so als Schüler vor einem dastehen

muß,

der gar keinen öffentlichen Rang hat; auch daß dies

Gespräch, das

er sich

wie eine Gunstbezeugung seinerseits

gedacht hat, nun vielmehr mit seiner Demüthigung beginnt; aber bei alledem vermag er sich dem Stachel, der darin liegt,

nicht zu entziehen.



Ach, wie viele würden sich

treffen

lassen von dem Worte der Wahrheit, von dem heiligen Zu-

sammenllange des Wortes mit dem Zeugniß ihres Gewissens,

wäre es nur nicht gar zu demüthigend,

das zuzugestehen!

Das ist auch des Nicodemus Gefühl und darum wählt er

7 den gewöhnlichen Ausweg

ironisch

verlegener

die Thorheit dem Herrn zu:

er wird

„wie kann ein Mensch ge­

boren werden, wenn er alt ist?" zu dem

Menschen:

und schiebt mit dem Anschein überlegener Weisheit

Während sein Herz

allen Ja sagt, verwandelt er sich diese Frage des

Herzens in einen

theologischen Disput, eine kühle Ueber-

legung des Verstandes, als ob das Herz und das Gewissen nicht ebenso viel Recht hätten wie der Verstand, und als ob,

was sie empfinden, nicht genau ebenso wahr wäre, als was der Verstand in seine Begriffe zu fassen vermag.

Die Menschen würden sich nun auf eine solche Antwort hin abwenden und schnell mit dem absprechenden Urtheil fertig

sein, es fehle dieser kalten und verständnißlosen Seele an jeder Empfänglichkeit für das Reich Gottes. das nicht;

Der Herr thut

er sieht tiefer und schmiedet das Eisen, das in

der Tiefe schon warm wird, so kalt auch die Oberfläche scheint, er drückt den verborgenen Stachel nur fester ein und

wiederholt: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: es sei

denn, daß Jemand geboren werde aus dem Wasser

und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen".

Aus Wasser und Geist — auch das konnte Ricodemus

verstehen, so gut wie wir.

Er hatte ja die Taufe des Jo­

hannes miterlebt und vermuthlich nicht nur die Aktenstücke

gelesen, die nach dem Berichte jener Pharisäercommission über den Propheten aus der Jordanwüste im hohen Rathe mögen circulirt haben.

Vielleicht hatte er auch miterlebt, wie

Johannes einst Zöllner und Sünder zur Buße taufte, aber den Pharisäern die Taufe versagte, weil sie nicht von der stolzen Höhe ihrer Selbstgerechtigkeit herabsteigen und sich

demüthigen

wollten.

Und nun wiederholt gerade ihm der

8 Herr: „n ur aus der Buße die Neugeburt! demüthige Selbst­

erkenntniß,

Anerkenntniß deiner Armuth im Geiste, deiner

Unreinheit

vor Gott, Beugung vor dem Heiligen — das

ist der Anfang für dieses Neuwerden, der erste Schritt ins

Reich Gottes; das heißt abgewaschen werden in dem Was­

ser der Bußtaufe!

So wenig Erkenntniß der Herr verlangt,

so wenig er vor den Zweifeln und Bedenken zurückschreckt, die irgend Jemand zu ihm mitbringen kann, so wenig gibt er auf

diesem Punkte irgend etwas nach; hier fordert er

ganzen Ernst, ungetheilten Willen, Erkenntniß der Sünde

— der alten, die du dir nicht mehr anrechnest, wie der neuen, die dir auf der Seele brennt — er fordert: laß dich taufen,

d. h. laß dich abwaschen und reinigen durch die Buße.

Aber nun fügt er weiter hinzu: neu geboren werden

auch aus dem Geist.

Ach, wie manchmal hatte Nicodemus

vor seinen Schülern ausgelegt, was Joel geweissagt hatte:

„Ich will meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, spricht der Herr"; wie oft hatte er auch gehört, was Johannes von dem Messias verkündigte, der mit Geist und Feuer taufen

werde!

War denn das nicht die immer neu gemachte Er­

fahrung, dieselbe, die sich auch an uns noch wiederholt, daß

alle Vorsätze der Umkehr wieder zerbrechen, diese Gelübde

der Buße nicht Stand halten, daß die Wege, auf denen wir zur Sünde gehen, buchstäblich gepflastert sind mit den vor­ her zerschlagenen guten Vorsätzen? Neue Kraft, neues Leben

thut uns noth zum wirllichen Neuwerden; einen neuen Willen, einen neuen Geist aus der Höhe

brauchen wir, in dessen

Kraft ein Wollüstling von nun ab an der Keuschheit seine

Lust findet, oder ein Hochmüthiger in der Demuth seine Er­ quickung sucht.

Den aber gibt keiner sich selbst;

ich nur geschenkt

erhalten

durch eine

den kann

That des lebendigen

9 Gottes, welcher hungernde, durstende

Menschenseelen mit

seinem Geist aus der Höhe taufen kann und den Lebens­

odem für einen neuen Wandel zu geben vermag. — Willst du

es versuchen, dir selbst das zu geben, es zu erzwingen mit eigener Kraft — wohlan, thue es!

Es ist, als ob der Herr

derartiges in der Seele des Nicodemus läse; darum fügt er

hinzu: „was vomFleisch geboren wird, das istFleisch, und was vom Geist geboren wird, das ist Geist".

Fleisch vom Fleische, wie die Wurzel, so der Baum: ein arger Baum kann nicht gute Früchte bringen.

Du bist

Fleisch, so kann also aus dir keine Geistesfrncht reifen, so

bedarfst du,

damit die Frucht des heiligen Geistes in dir

wachse, der Neugeburt aus Wasser und Geist,

aus

Buße und Glauben-

Was für ein gewaltiges und richtendes Wort spricht doch der Herr damit über diesen fein gebildeten Nicodemus

und alle diese gebildeten klugen Leute von heute, ja über

das ganze Weltwesen aus: — du bist Fleisch! Ihr kennt ja

den Sinn der Schrift; Fleisch ist ihr diese gesammte Men­ schennatur mit ihren Sinnen und Trieben, ihrem Wünschen und Begehren, wie sie unter dem Banne der Sünde Vergänglichkeit steht.

und

Bleiben wir also nicht bei Zöllnern

und Sündern stehen, nicht etwa nur da, wo die Rohheit des

Fleisches unverhüllt und

erschreckend

unter uns sich zeigt;

nehmen wir das Edle in uns, das verfeinerte Wesen mit all seiner Bildung, seiner natürlichen Liebe und Liebenswürdig­

keit, mit seinem Streben nach Reinem und Gutem — auch

darüber spricht der Herr das Urtheil: — es ist Fleisch, innerlich

von Selbstsucht und Neid, von Unreinheit und Begierden, ja von Rohheit und Gemeinheit durchsetzt.

Sieh nur tief

genug in dich selbst, in die Welt deiner Beweggründe und

10 deines Trachtens hinein, durchforsche alle deine Beziehungen

zu anderen, frage nach den dunkeln

Stellen in deinem In­

wendigen, in die du keinen hineinsehen lässest, auch deine

Freunde nicht, auch dein Weib nicht, und dann gestehe: du

bist unter demselben Banne — Fleisch. Ziehe die eine Fleisches­

hülle ab, schlage der einen Sünde den Kopf ab — das Fleisch darunter und dahinter bleibt.

Du leidest unter

deiner eigenen Natur, du trägst ihre Leidenschaften vielleicht wie eine Last — aber sie bleibt, und ihr eigentlicher Unter­

grund ist — Fleisch. Du möchtest frei werden von dir selbst,

aber du sprengst deine Ketten nicht, du gibst dir nicht selbst ein neues Leben — du mußt von neuem geboren werden!

2. Wir müssen von Neuem geboren werden,

Herr zum Nicodemus. — Können wir es auch?

sagt der

„Kann

auch ein Mohr seine Haut wandeln oder ein Parder seine Flecken?" fragt der Prophet.

Kann auch der Mensch, der

einmal alt geworden ist, der seine Geschichte hinter sich hat, der sich also selbst zu dem gemacht und geprägt hat, was

er in einem langen Werdeprozeß geworden ist, diese seine

Geschichte auslöschen und noch einmal von neuem anfangen? Gewiß, Fr.! das natürliche Denken hat auf alle diese Fragen

lauter Nein.

Wie viel gehört schon dazu, zu glauben, daß

ein grober Sünder wirklich sich ändert; aber nun zu glauben,

daß die Beweggründe sich ändern, daß in ein Herz anstatt der Selbstsucht die Liebe, anstatt der Berechnung die selbst­

lose Hingabe, anstatt -er Unwahrhaftigkeit die Wahrheit ein­ ziehen könne, wie schwer ist das!

Wir müssen geradezu sagen:

bei Menschen ist es unmöglich; aber Gott Lob, wir dürfen

fortfahren: es ist möglich bei Gott.

Ja es würde kein

göttliches Müssen geben für diese Neugeburt, gäbe es nicht

11 auch für dieselbe eine gottgeschenktes Können.

Und auf dieses

Können weist der Herr wieder mit einem tiefen Worte hin.

„Laß dich's nicht wundern, daß ich gesagt habe,

ihr müsset von neuem geboren werden.

Der Wind

bläset, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wo­

hin er fährt:

also ist ein Jeglicher, der aus dem

Geist geboren ist". Ja, ein Geheimniß ist die Wiedergeburt, das über unsere

fünf Sinne hinausgeht, und man bedarf um es zu schauen

und zu ergreifen, noch ein anderes Auge und eine andere Hand, als die,

betasten.

welche

diese Erde schauen und diese Welt

Es handelt sich um himmlische Dinge, aber damit

um nicht weniger wirkliche Dinge. Ich sehe den Wind nicht; ich kann ihn nicht in die hohle Hand fassen und sprechen:

hier ist er — aber so gewiß er dennoch da ist, so gewiß ich

seine Wirkung wahrnehme, wenn er die Segel schwellt und die Wange kühlt oder durch die Blätter saust: so gewiß gibt

es auch unsichtbare Kräfte des göttlichen Geistes, durch welche

ein Menschenherz in eine neue Lebenssphäre versetzt und von neuem geboren wird.

Diese Wiedergeburt vollzieht sich in

der verborgenen Tiefe der Seele; da beginnt die Arbeit des Geistes Gottes wie ein sanftes stilles Sausen.

Dann aber

kann sein Wehen plötzlich anschwellen zum mächtigen Sturm, unter dem das Herz erzittert und auch der Starke sich beugen

muß mit dem Bekenntniß: du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen, du bist mir zu stark geworden

und hast gewonnen.

Was den Nicodemus nicht Ruhe finden

läßt in sich selbst, sondern in dunkler Nacht zu Jesus treibt,

was dich in schlaflosen Nächten die Hände hat falten lassen zu dem Nothschrei: mein Gott, rette, rette meine Seele! was

dich

immer wieder

zur Kirche

führt,

zum Gebet mit der

12 Gemeinde oder ins einsame Herzensgebet über deiner Bibel — es ist jenes stille, sanfte Sausen, die leise Arbeit des Geistes Gottes am inwendigen Menschen.

Und wiederum, was dem

Kerkermeister zu Philippi die Augen öffnet und ihn erschüttert

zu den Füßen des Paulus sinken läßt: „was muß ich thun, daß ich selig werde?" was dir die Augen geöffnet hat überden

Abgrund, an dem du standest, über die Friedlosigkeit, in der du dich verzehrtest, über die Sünde, welche von Gott dich schied, was dich hinaufschauen ließ, wie das von Schlangen­ bissen verwundete Israel zu dem ehernen Schlangenbilde, zu

dem erhöhten Menschensohne, um heil zu werden von deiner Seelenwunde —: es ist nichts anderes, als der Sturmwind des Geistes Gottes, der durch die Herzen braust. Wenn die

einen — ich erinnere an jene drei vorbildlichen Lebensläufe

des Paulus, des Augustin und des Luther — in schmerz­

lichem Kampfe mit dem Alten brechen, um so aus der Tiefe der Buße heraus zum Glauben und zu der seligen Gewiß­ heit zu gelangen, daß, wer in Christo ist,

zu einer neuen

Kreatur wird —: so ist es die Arbeit des göttlichen Geistes.

Und nichts anderes wiederum ist es, wenn bei jenen anderen

Naturen — ich nenne einen Johannes, einen Chrysostomus, Spener, Zinzendorf



still und

allmählich

Natur und

Gnade in einander fließen, ohne daß man den Augenblick

anzugeben vermöchte, in dem das neue Leben beginnt. heute dies Wort in deine Seele fällt

Wenn

und das Gewissen

weckt, daß du die Frage nicht los wirst: bin ich ein neuer Mensch geworden? wenn dann die Buße beginnt, Glaube wie eine Macht über dich

und der

kommt, und beide sich

einen zu dem Bekenntniß: Vater, ich habe gesündigt! — es ist in Kraft des Geistes Gottes der erste Schritt hinein in

das Leben der neuen Geburt aus Gott und seinem Geiste. Oder wenn aus einer ernsten Führung des Leidens, der

13 Zurücksetzung, der Kränkung, die du erlebt hast, die Er­

kenntniß reift, daß ein Stück des alten Menschen dabei ab­ gefallen ist nnd der neue Mensch stärker geworden —: es ist

das Jnnewerden, daß Gottes Geist dich wieder einen Schritt in das Leben der Wiedergeburt hineingeführt hat. Es ist wahr, noch spricht der Herr in unserem Text­ wort nicht davon, wie diese Wiedergeburt zu Stande kommt; er sagt nur, daß sie möglich sei; es sind wunderbare und

tiefe Worte, auf die ich schon hindeutete, in welchen er dar­ über weiter redet: „Wie Moses in der Wüste eine Schlange

erhöhet hat, also muß des Menschen Sohn erhöhet werden, auf daß alle, die an ihn glauben,

sondern das ewige Leben haben".

nicht verloren werden,

Wo ein geängsteter Geist im

Namen Jesu Christi die Sündenvergebung empfängt, da hebt das neue Leben der Wiedergeburt an.

Es ist Christus

selbst in der Kraft seines Geistes, der bei den Menschen an-

llopft und Buße und Glauben schenkt, um dann dem Glauben Vergebung und Gnade zu eigen zu geben und den Menschen

zu heiligen zu seiner Wohnstatt im Geist. heute nur bei dieser Gewißheit

stehen:

Bleiben wir für

eine Neugeburt ist

möglich und darum soll sie wirklich werden bei uns allen,

so gewiß ein Pfingsten für uns alle da ist, in dem der ver­

klärte Herr seinen Geist zu uns kommen lassen will.

Die

Frage, die wir am Pfingstfeste uns mitnahmen: habe ich den

heiligen Geist empfangen? verwandeln wir heute in die an­

dre:

bin ich wiedergeboren aus Gottes Geist,

so

daß eine neue Lebenskraft in mir waltet? Und Gott helfe uns, die rechte Antwort geben,

und lasse uns, wenn heute ein

Nein geantwortet werden müßte, dereinst ein demüthiges, aber

auch seliges Ja auf diese Frage finden.

Amen!

II. Trinitatisfest 1883. Suchet, was droben ist. Kol. 3, 1—4. Seid ihr nun mit Christo auferstanden, so suchet, was droben ist, da Christus ist, sitzend zu der Rechten Gottes.

Trachtet nach dem, das droben ist, nicht nach dem, das auf Erden ist. Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christo in Gott.

Wenn aber Christus, euer Leben, sich offenbaren

wird, dann werdet ihr auch offenbar werden

mit ihm in der

Herrlichkeit.

Theure Gemeinde!

Die verlesenen Textworte sind

der Anfang eines Kapitels, das mit einer Zartheit und Tiefe, einer Macht und Schönheit, wie wenig andere im

neuen Testament, den Aufruf zum neuen Leben an die Ge­ meinde richtet, durch welches sie als eine christliche sich er­ weisen soll, und die verschiedenen Seiten

des

christlichen

Lebens zur Anschauung bringt, welches dieselbe zu führen hat. Leuchtet aber das ganze dritte Kapitel des Kolosserbriefes

in besonderem Glanze, so geht derselbe doch vor allem von den ersten Worten desselben aus; alle einzelnen Tugenden, die Paulus nachher erwähnt, sind nur die verschiedenen Be­

thätigungen dessen, was er hier in das eine Wort zusammen­

faßt: suchet, was droben ist!

Die einzelnen Seiten des

christlichen Lebens, auf welche er im Verfolg des Kapitels

eingeht, sind nur die Früchte, gewachsen an dem Stamme

15 des in Gott verborgenen Lebens,

von dem er hier redet.

Ja, das ganze Friedensbild des christlichen Lebens, das er

entwirft, dieses Ausziehen des

alten, dieses Anziehen des

neuen Menschen, kann sich gar nicht entfalten, es sei denn auf dem Grunde der Voraussetzung, die Paulus hier mit

den Worten ausspricht: seid ihr mit Christo auf­ erstanden!

So enthalten also die vernommenen Worte

wie das Thema alles Nachfolgenden, so auch die Grund­ lage, auf der alles Andere sich aufbaut; sie eröffnen erst

das Verständniß für die Eigenart des

christlichen Lebens

und feiner Heiligung, weil sie die Voraussetzungen des christ­ lichen Lebens aufschließen.

Wie das Trinitatisfest, das wir

heute feiern, und das die festliche Hälfte des Kirchenjahres abschließt, noch einmal den Blick rückwärts wendet, und alle

die Gaben der vorangegangenen Feste in sich zusammenfassen will, um dann eine neue Kirchenjahrshälfte der Predigt des christlichen Lebens und Wandels aufzuschließen, so faßt dies

apostolische Wort die Fülle göttlicher Heilsgaben zusammen, um alle seine Strahlen hineinleuchten zu lassen in die ein­

zelnen Seiten des

neuen christlichen Lebens, welches von

nun an suchet, was droben ist.

Klingt manchem von uns

das Wort zunächst vielleicht fremdartig, geheimnißvoll: um so mehr laßt uns Gott bitten, daß er seine Tiefe uns auf­

schließe.

Wir hören aus ihm

die Mahnung zum neuen Leben: suchet, was

droben ist;

eine neue Grundlage, eine neue Richtung, eine neue Hoffnung und Erwartung — das sind die eigenthümlichen Züge, die Paulus an demselben hervorhebt.

16

1. Zweierlei, l. Fr., setzt der Apostel voraus als Grund­

lage für seine Ermahnung, wie für seine Verheißung.

Schein­

bar widersprechend drückt er beides aus, das erste: „seid ihr

nun mit Christo auferstanden" — das andere, das hier nachfolgt, aber der Sache nach jenem vorangeht, wenn er nämlich weiterhin sagt: „denn ihr seid gestorben".

Man muß einigermaßen die Ausdrucksweise des Apostels

kennen, um überhaupt zu verstehen, was er sagen will.

Es

ist ein bei Paulus immer wiederkehrender, tiefer Gedanke,

daß der Christ das Abbild, das geistige Nachbild

seines

Meisters sein und geistig das Leben seines Herrn an sich selbst wiederholen müsse.

So soll er auch mit ihm sterben

— selbstredend nicht äußerlich, sondern hinaussterben aus einer sündigen Welt und der Sünde absterben, und weiter

mit ihm auferstehen, nämlich zu einem neuen Leben, einem

Wandel im Geist und Licht.

Beides aber soll geschehen

vermittelst einer tief innerlichen Vereinigung, ja einer In-

einsbildung beider, so

eng und innig, daß kraft derselben

der Apostel von sich selbst das Wort sprechen konnte: „ich lebe nicht mehr, sondern Christus lebt in mir".

Indessen, th. Fr., mag uns damit immerhin der Ge­ danke des Apostels näher gebracht sein, verstehen werden wir denselben erst, wenn

noch ein Anderes hinzukommt.

Christliche Dinge versteht man in der Tiefe nur, wenn man sie erlebt.

Der Boden, auf dem das christliche Verständniß

wächst, ist die christliche Erfahrung.

Was Paulus meint,

werden wir insoweit verstehen lernen, als wir es erleben und erfahren, und so verwandelt sich die Voraussetzung, die der Apostel macht, in eine Frage, an unsere christliche Er-

17 fahrung gerichtet: seid ihr gestorben,

seid ihr auferstanden

mit Christo?

Indem Paulus diese Frage an uns

richtet, unter­

scheidet er also ein, doppeltes Leben im Menschen — und zwar nicht bloß ein äußeres und inneres, sondern auch im inwendigen, im Seelenleben, ein doppeltes Dasein, ein zwei­

faches Ich;

das

eine ausgefüllt und

geleitet allein von

Sorgen, Freuden, Kampf, Arbeit, Last und Lust dieser Welt,

gerichtet auf die

ein ausschließliches Kind

des Diesseits,

eigene Befriedigung durch

gute Tage und behagliches Fort­

kommen, — ein Leben also, das bei Allem, was Schönes darin sein mag, im letzten Grunde doch nur ein Leben der Selbst­ sucht ist, und das bei Allem, was Schweres darin sein kann, doch im tiefsten Grunde

Und

dieses

Genuß

gegeben

gerichtet bleibt.

auf den Genuß

Leben eines in Selbstsucht

gehaltenen,

nach

trachtenden Ich, meint Paulus, muß in den Tod werden

und

sterben.

Nur wenn es stirbt,

kann

jenes andere und höhere, das in uns auferstehen soll, zu seiner vollen Kräftigkeit gelangen, nämlich ein von Gott ge­

borenes Leben, von göttlicher Gnade genährt, das erfüllt ist mit den Kräften einer zukünftigen Welt, und doch zu gleicher Zeit diese irdische Welt

ganz in seinen Besitz.nehmen will,

um sie in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen und in

demselben zu verklären. Hiernach handelt es sich also bei der Frage:

seid ihr

gestorben? — nicht etwa nur um einen scharfen und viel­

leicht wunderlichen Ausdruck für den

anderen Gedanken:

hast du die Schwächen und Mängel abgelegt, die in dir sind? bist du besser geworden

als früher,

z. B. weniger

heftig, weniger eitel, weniger voll arger Lust, als sonst? — sondern es handelt sich um die Frage: steht noch in voller

2

18 Lebenskraft der Mittelpunkt deines alten Menschen, das ungebrochene, selbstsüchtige, in seinem Trotz gebundene, von Genußsucht

und

Gefallsucht

Murren umhergetriebene

gehaltene

alte

und

von

seinem

Ich, dieser

Ich?- Dieses

Mittelpunkt soll sterben! Ein neues Ich soll auferstehen.

Das heißt nicht weniger, als den Schwerpunkt des innern Menschen verlegen und ein neues Lebenscentrum schaffen,

das nun alle einzelnen Lebenskreise und Lebensbethätigungen leitet und regiert.

Das aber thust und vermagst du nun sicherlich nicht

aus eigener Kraft; noch nie hat das ein Mensch selbst vermocht; auch ein Paulus

durch

Den,

der

ihn mächtig

aus sich

hat es nur vollbracht

gemacht hat

Der Glaube an den gekreuzigten Christus,



Christus.

der sein Leben

gab für die Sünde der Welt, bewirkt einen Haß wider die Sünde, ein Betrübtsein über die Sünde, eine Gewissensnoth

unter der Sünde, vor denen das alte Ich seine Lebenskräftig­ keit verliert und allmählich abstirbt.

Und wiederum die Ge­

meinschaft mit dem auferstandenen und lebendigen Christus,

der sein Werk nicht unvollendet lassen will,

Lebenskraft, welche er

sondern die

errungen hat, in der Kraft seines

Geistes den Seinen mittheilt, wirkt eine Freude an Gott,

eine Hinkehr zum Herrn, ein Verkehren mit Gott, ein Fragen nach seinem Willen, eine Befriedigung in seiner Gemeinschaft, daß man sagen kann: das ist ein neues Leben, — das Auf­

erstehen eines neuen Ich mit Christo, was in mir sich vollzieht.

Mag dies alles ein verborgenes Leben sein, sofern eben der tiefste Grund des Seelenlebens die heilige Geburts­ stätte ist, wo sozusagen dieser neue Mensch das Licht der

Welt erblickt —dennoch bleibt es nicht verborgen.

Denn

19 wo dieses Leben geboren wird,

da wird von nun an dieses

innere Leben die Stätte unserer

tiefsten Kämpfe, unserer

innerlichsten Schmerzen, unserer reichsten Erquickung, es wird zugleich die Macht, welche am entscheidendsten und durch­ greifendsten unser Thun und

Handeln bestimmt.

Lassen,

unser Denken und

Und überall ist es allein der gekreuzigte

und auferstandene Christus, an welchem es sein Heil, seine Kraft und sein Vorbild hat.

Das bedeutet es: „ihr seid

mit Christo gestorben und auferstanden!"

Vielen nun wird das, was ich gesagt habe, auch jetzt noch unverständlich sein,

streng erscheinen.

manchem auch sehr schroff und

Wer eben die Religion und den Glauben

nur als eine liebliche und schöne Ausschmückung seines Da­ seins betrachtet, die er nicht entbehren mag, aber doch eben nur als eine Ausschmückung, dem ist ein Wort, das vom Sterben und Wiederauferstehen spricht, viel zu streng. fragen wir wiederum die eigene Erfahrung,

Aber

ob wir denn

auskommen können mit einem Glauben und einer Religion

die von alledem nichts weiß.

Gewiß, das Sehnen nach

etwas Besserem, als was diese Erde hat, das Fragen nach Frieden,

das Trachten nach einem Bleibenden im Wechsel

der Erscheinungen, das alles kann man haben ohne dies Sterben und Auferstchen — aber mehr auch nicht.

Aber nach

einer Sache hungern, ist noch nicht so viel als Sattwerden,

und sich nach etwas sehnen, heißt noch nicht befriedigt sein; es bleibt der unbefriedigte Zwiespalt der Knechtschaft und der Selbstsucht,

und

du

selbst

bleibst mit

allem diesen

Sehnen und Trachten nur ein halber Mensch!

Th. Fr.!

Wollen wir ganze Menschen werden, dann laßt uns den

Anker lösen, der uns an Sünde, Selbstsucht und Welt kettet, dann weg mit der feigen Furcht vor diesem Sterben

und

20 Kreuzigen des Fleisches und hinein in die Gemeinschaft mit Christo, der uns lösen und erlösen kann!

Nur so gewinnt unser Leben seinen neuen Mittelpunkt und seine neue Grundlage, nur so auch

2. die neue, klare und herrliche Richtung, welche Paulus mit den Worten ausdrückt:

„suchet, was

droben ist; trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf @ r'ben ist!"

Gewiß, es ist ein heiliger und vornehmer Zug, der mit diesem Trachten nach dem, was droben ist, durch das

Menschenleben hindurchgeht.

Aber um den Apostel ganz zu

verstehen, müssen wir uns klar werden, was der Gegensatz bedeutet, den er mit den Worten ausdrückt: „was droben

ist" — „nicht was auf Erden ist". Es sollte ja vor evangelischen Christen nicht noth­ wendig sein, den Apostel vor dem Mißverstand zu bewahren,

als wolle er ein Leben

der Weltflucht predigen, das aus

Angst vor der Sünde am liebsten in die Mönchszelle sich

sperrte und damit nothwendig unbrauchbar würde für die Arbeit der Erde.

Nein, lesen wir weiter, wie Paulus dies

Trachten nach dem, was droben ist, auseinanderlegt, was er schreibt von dem Tödten der Glieder, d. h. der Begierden, die auf Erden sind, von einem Anziehen des neuen Menschen,

von der Liebe, als dem Bande der Vollkommenheit, und dem

Frieden Gottes, der in den Herzen regiert; wie er weiter auf alle Lebensverhältnisse eingeht, Väter und Mütter, Knechte

und Herren unter den Ernst göttlicher Weisung stellt: —

und wir haben alle den Eindruck: wer s o nach dem trachtet, was droben ist, der ist sicherlich auch für die Erde ein brauch-

21 barer Mensch; er geht durch diese streitende Welt hindurch als ein Kind des Friedens und der Liebe und bleibt mitten

in der untreuen Welt ein Mensch der Treue auch für die

Dinge des irdischen Berufs.

Ja, wollte Gott, in Staat und

Schule, in unseren Werkstätten und in unseren Häusern, allent­

halben wäre ein solches Christenthum: — wir würden sicher­ lich auch über die Dinge dieser Welt weniger zu klagen haben.

Aber, l.

Fr., wir brauchen in der That nicht erst

weiter zu lesen, um den Apostel zu verstehen.

Als wollte

er dieses Mißverständniß ausschließen, setzt ja Paulus hin­ zu: suchet, was droben ist, da Christus ist, sitzend zu

der Rechten Gottes.

Wo euer Schatz ist, da wird

hat der Herr gesagt.

Quelle zurück.

auch euer Herz fein,

Das Leben kehrt immer zu seiner

Wer Christus und die Gemeinschaft seines

Heils als das Kleinod und als den Trost seines Lebens hat, dem muß und soll es ja in

allem Irdischen gegenwärtig

bleiben, daß er nicht dafür allein da ist, sondern für etwas Größeres und Höheres.

Er trägt im inwendigen Menschen

ein verborgenes Heiligthum,

eben jenes verborgene Leben,

das aus Gott lebt und in Gott seine Nahrung hat, und das Paulus darum ein

„in Gott verborgenes" nennt, und

das macht ihn der ganzen Welt überlegen. vergessen, daß

Er soll es nie

er, um mit Tersteegen zu reden,

über dem

„Kinderspiel am Weg" nicht das ewige Ziel vergessen darf; er soll sich an Freud und Leid dieser Welt nie

so völlig

ausgeben, daß nichts Höheres in ihm bliebe; er soll mitten im Glücke dieser Erde sich bewußt bleiben, daß dabei doch ein Punkt ist, der unausgefüllt bleibt, und für welchen alle

höchste Lust dieser Welt nicht ausreicht.

Er soll aber auch

mitten in Trübsal und Verfolgung der Welt im Auge be-

22 halten, daß er etwas von Gottes Trost und Gottes Kraft

in sich hat, was die ganze Welt ihm nicht zu nehmen ver­ mag; er soll seine tiefsten Freuden finden lernen nicht am Vergänglichen, sondern in diesem verborgenen Leben der Seele

und ihrem Zusammenhang mit der unsichtbaren Welt;

und

so soll er von der oberen Gottesstadt sprechen können, was der verbannte Sänger des alten Bundes in der trostlosen

Fremde von der irdischen Heimatstadt sprach:

„Vergesse ich

dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen!" Mt diesem überweltlichen Zuge aber, welcher allerdings

innerlich dieser ganzen Welt abgewandt und überlegen ist,

verbindet sich noch ein anderer.

Denn wer so hinauftrachtet,

dahin wo Christus ist, der darf nicht vergessen, auf welchem Wege ihm sein Herr dorthin vorangegangen ist, nämlich auf dem Wege des unverbrüchlichen Gehorsams, der Treue, der

Demuth, der Erniedrigung bis zum Tode am Kreuz, mit einer

Liebe, welche thatsächlich sich selbst verzehrt hat in der Hin­ gabe für die Brüder. den Christen nicht.

Einen andern Weg gibt es auch für

Das aber macht treu in allem, was das

irdische Leben fordern kann.

Es ist ganz richtig, das irdische

Leben ist für den Christen eine Schule, die er bis zur Ent­ lassungsprüfung für ein höheres und fteiheitlicheres Leben

durchmachen muß.

Aber, wenn einer eine Schule durchläuft

im festen Blicke auf das Ziel, so wird er dadurch sicherlich nicht untreuer in

der Erfüllung

gewissenhafter und treuer. schauung das irdische Leben

seiner

Pflicht, vielmehr

Wohl ist nach christlicher

nicht Selbstzweck,

An­

es ist der

Stoff, dem wir den himmlischen Geist einprägen sollen. Aber wird je einer sagen, daß je mehr einem Menschenleben dieses

himmlische Gepräge

aufgedrückt werde, um so nachlässiger

werde es den irdischen Dingen gegenüber und nicht vielmehr

23 um so getreuer, gewissenhafter, getroster?

Kann irgendwo

diese irdische Welt in allen ihren Verhältnissen und Be­ ziehungen von ihrem Jammer befreit, in

ihrem gesammten

Leben geweiht und in eine Friedensstätte umgewandelt wer­ den, so geschieht es nur durch Menschen,

die in der Nach­

folge eines Herrn, der sich selbst in heiligem Gehorsam hin­ gab, mit ganzem Ernst nach dem trachten,

Und ich sage

nochmals: denke dir

das

was droben ist.

in dein

eigenes

Haus, in den Kreis deiner Geschwister, deiner Kinder, deiner

Dienstboten hinein, denke es dir hinein in deine Werkstätte und alle Stellen und Stätten des Berufs, deines gesammten Wirkens, und wir werden sagen:

wie viel Noth und Elend

wie viel Aerger und Streit könnte uns erspart werden, wenn diese Lebensrichtung in uns die Oberhand gewänne, zu trach­ ten nach dem, was droben ist.

Und hier wird auch das klar: verborgenes

ich

sagte, es ist ein

Leben; so gewiß die Quelle verborgen ist,

aus der es kommt, und die Geistesadern verborgen sind,

aus denen dieses inwendige Leben der Seele sich mit gött­ licher Kraft füllt.

Aber dennoch bleibt es nicht verborgen;

es wird offenbar.

Indem Paulus dies Neue ein Leben

nennt, will er es ja kennzeichnen als eine Kraft. aber keine Kraft, die nicht wirkt.

Es

gibt

Diese Lebenskraft bricht

sich Bahn allen Hindernissen gegenüber.

Das Trachten und

Suchen, von dem Paulus spricht, ist kein bloß ohnmächtiges

Sehnen, Seufzen und Klagen,

sondern ein energisches Han­

deln, ein Einsetzen und ein Opfern.

Es gibt bestimmende

Menschen, die da, wo sie auftreten,

ganz von selbst ihrer

Umgebung den Stempel des eigenen Geistes aufzudrücken

pflegen.

In gewissem Sinne soll jeder Christ eine solche

bestimmende Persönlichkeit sein, das heißt, er soll seinem

24 eigenen Leben und Wandeln, seinem Dichten und Trachten, seinem Hause und seiner Umgebung diesen neuen Geist, die

aufprägen und so das

Kraft dieses seines inneren Lebens

Verborgene offenbaren. Und hier laßt mich nun die Frage richten: haben wir, l. F., dieses Kraftgefühl des inneren Lebens?

Wer nie ein

Gefühl seiner Lebenskraft hat, der ist entweder krank oder er altert und wird schwach; wer nie das Gefühl der innern

Kraft und der siegenden Freudigkeit für seinen innern Men­ schen hat, der ist entweder krank oder er altert.

Dem innern

Leben aber ist die Verheißung einer nicht alternden Jugend

gegeben.

Wohlan, trägt unser Christenthum nicht nur das

schwächliche Gepräge jenes Seufzens und Klagens, sondern

auch das der freudigen Erhebung mit dem Bewußtsein des Fortschreitens und Ueberwindens? ist unser Christenthum nicht nur jenes Sonntagschristenthum, das uns nur für

die etlichen Stunden befriedigt, die wir in der Kirche zu­

bringen, das aber jedesmal als ein unbehaglicher Gast sich erweist, wenn es in das alltägliche Leben hineintritt und da seine Stimme geltend macht,

oder ist unser Christenthum

eine thatsächliche Freude an Gott,

ein täglicher Zugang

zu ihm im Gebet, eine Erquickung im Aufschauen zu den

Bergen der Ewigkeit,

welche unser

ganzes Leben in allen

seinen Beziehungen zu heiligen und zu durchdringen vermag?

Ach, laßt uns, wenn wir auf manche dieser Fragen die Augen senken müssen, auch vor der That der Buße nicht zurück­ schrecken.

Auch das gehört mit zur Thatkraft des Trach­

tens nach dem, was droben ist.

Und nur wo lebendiges

Trachten und Suchen unserm Leben die Richtung nach oben gibt, wird auch

26 3.

die Hoffnung und Erwartung das Herz ausfüllen, auf welche der Apostel seine Leser hinweist, wenn er unsern Text

mit den Worten schließt: „wenn aber Christus, euer

Leben, sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit ihm in der Herrlichkeit".

Noch in anderm Sinne also soll das jetzt verborgene Leben offenbar werden, als hier im irdischen Wirken und

Schaffen.

Derselbe Christus,

der jetzt

verborgen in den

Seinen waltet, und dessen verborgenes Wirken darum von

der Welt immer wieder übersehen und verkannt wird, wird einst offenbar werden in Herrlichkeit. dieser Christus

unser Leben d.

Und wenn

h. der

anders

Mittelpunkt und

Inhalt unseres eigenen Lebens geworden ist, wenn anders

sein Wort von uns erfahren ward als die Kraft ewigen Lebens, und sein Geist uns Leben aus seinem Leben mit­

getheilt hat: — dann sollen auch wir mit ihm offenbar wer­ den in der Herrlichkeit.

Das Haupt kann seine Glieder, der

Meister seine Jünger nicht lassen.

Es ist dieselbe Verheißung

christlicher Hoffnung, die Johannes mit dem Worte aus­ spricht:

„es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden,

wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich

sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist!"

Mit

dem verherrlichten Christus auch wir offenbar in der Herr­ lichkeit; das Haupt und die Glieder herrlich vereint; alles,

„was hier kranket, seufzet und fleht", aufgelöst in Klarheit und Sieg; überwunden auch

alle die Kläglichkeit und Er­

bärmlichkeit des geistlichen Lebens mit seinen Anläufen und immer neuen Niederlagen,

mit seinen Vorsätzen und seiner

immer neuen Gebundenheit, mit seiner Glaubensohnmacht

26 und seiner

Sterbensangst, mit seinen immer neuen Ver­

suchungen und Kämpfen — th. (Sem., muß solche Hoffnung nicht Christenherzen höher schlagen machen? Und diese Hoff­

nung ist in Christo verbürgt: so gewiß das Reich Gottes einmal die Knechtsgestalt ablegt und ausbrechen wird wie

die Sonne am Mittag, so gewiß der König dieses Reiches nicht bloß ein verachteter und verkannter, sondern ein von

allen Zungen auf Erden angebeteter sein wird, so gewiß sollen auch die Seinen Theil haben an derselben Vollendung

und Herrlichkeit.

Dann sollen die Kinder Gottes austreten

als in Wahrheit Erlöste, welche die Welt unter ihrem Fuß

haben; dann wird das verborgene Leben des Herzens unge­ brochen hindurchleuchten durch die äußere Hülle, nicht mehr

verdeckt von Sünde und Gebrechlichkeit.

Dann werden sie

thatsächlich ihrem König gleich sein, Dulder wie er, aber auch

Ueberwinder wie er,

Inneres und Aeußeres einander ent­

sprechend, und das wird das Ende sein.

Wann es kommen

wird, wissen wir nicht; Zeit und Stunde, sagt der Herr, hat der Vater seiner Macht Vorbehalten; wir brauchen sie auch

nicht zu wissen.

Aber das wissen wir — was bis dahin

noch dazwischen liegt, darf für uns nichts anderes sein als

das Hineinwachsen in dies Ziel der himmlischen Berufung,

die Erziehung zu dieser seligen Ewigkeit; denn nichts wird uns dort verheißen, was nicht schon hier beginnt, und keine Geistesfrucht werden wir ernten, deren Erstlinge wir nicht schon hier empfingen.

In dieser Erziehung stehen wir und

sollen wir stehen, und daß wir mit aufgerichtetem Haupt

und nngetheiltem Herzen in diese heilige Zucht uns stellen, damit die Hand unseres Herrn von der Welt uns löse und

uns tüchtig mache zum Erbtheil seiner Heiligen im Licht, darin besteht unser Christenthum!

27 Th. Gem.! wer nun satt wird von der Erde und allem,

was er an ihr hat, dem mögen wir unverständlich bleiben aber in wem der

und vielleicht auch thöricht erscheinen; Hunger lebt, der durch

alles,

was die Erde ihm bietet,

nicht gefüllt werden kann, dem rufen wir mit dem Apostel

zu: trachte nach dem, das droben ist, da Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes! Empor die Herzen! Und immer inner­ licher und immer tiefer das Gebet:

Herr Jesu, mach' ein Ende

Und führ' uns aus dem Streit; Wir heben Haupt und Hände Nach der Erlösungszeit!

Amen.

III.

1. Sonntag nach Trinitatis 1883. Die Erneuerung. Kol. 3, 5—11.

So tobtet nun eure Glieder, die auf Erden sind,

Hurerei, Unreinigkeit, schändliche Brunst, böse Lust und den Geiz, welcher ist Abgötterei. Um welcher willen kommt der Zom Gottes über die Kinder des Unglaubens; in welchen auch ihr weiland ge­ wandelt habt, da ihr darinnen lebtet. Run aber leget Alles ab

von euch, den Zorn, Grimm, Bosheit, Lästerung, schandbare Worte aus eurem Munde. Lüget nicht unter einander; ziehet den alten Menschen mit seinen Werken aus und ziehet den neuen an, der da verneuert wird zu der Erkenntniß nach dem Ebenbilde deß, der ihn geschaffen hat; da nicht ist Grieche, Jude, Beschneidung, Bor­ haut, Ungrieche, Scythe, Knecht, Freier, fonbern Alles und in

Allen Christus.

Theure Gemeinde! Der Apostel hat im Beginn des Kapitels die gesammte Richtung, die ein Christenleben haben

muß, mit den Worten bezeichnet: „suchet, was droben ist" —

empor die Herzen!

Der

heutige Abschnitt

Mahnung in ihre einzelnen Theile.

zerlegt diese

Soll das Herz des

Christen droben sein, wo Christus ist, so müssen „die Glie­

der, die auf Erden sind" und an die Erde sich anklammern, von ihr losgerissen werden.

Ist das eigentliche Leben des

Christen jenes in Gott verborgene, inwendige Leben mit

Christo, so

ist unumgänglich, daß Alles

was dieses innere Leben hindern kann.

abgelegt werde,

Darum fordert der

29 Apostel mit schneidigen Worten auf, zu „tobten, was auf

Erden ist".

Er scheut sich nicht, mit heiligem Ernst alle

jene unheiligen Dinge mit Namen zu nennen, die wir uns selbst gern verbergen und die recht eigentlich das heidnische

Wesen ausmachen.

Er

läßt

keine Vermittelungsversuche,

keine Versuche des Zudeckens und kommen

zwischen

den Gegensätzen

der Bemäntelung aus­

des alten

und

neuen

Menschen, gegenüber der Thatsache, daß der alte Mensch

sterben muß, damit der neue auferstehe.

Er bespricht also

mit einem Wort das große Werk der Erneuerung des

Menschen.

Aber gerade daß er das so thut, wie er es hier thut,

daß er so wie es hier geschieht, zu einer Christengemeinde redet,- weist darauf hin, daß dieses Werk der Erneuerung nicht ein einmaliges ist, welches heute oder an irgend einem Zeit­ punkt für alle Zeiten sich vollziehen könnte, so daß es nicht

wiederholt zu werden brauchte, sondern daß nach ihm dieses Werk ein beständig zu thuendes, fortwährend zu vollziehen­

des sei.

Wie Luther in der ersten seiner 95 Thesen sagt:

„Christus will, Erden eine stete

daß das ganze Leben der Gläubigen auf

und

unaufhörliche Buße sein

soll", so

spricht auch der Apostel von einem Werke, welches das ganze

Leben hindurch von Stufe zu Stufe sich fortsetzen muß, das

also eine stete und unaufhörliche That der Gläubigen bleiben

soll.

Keiner unter uns hat es schon hinter sich, jeder unter

uns, so

verschieden die Stufen des geistlichen Lebens sein

mögen, auf denen wir stehen, hat darin an sich selbst noch eine Lebensaufgabe zu vollbringen.

So lange wir in einer

sündigen und versuchungsreichen Welt leben, hat auch der

Vollkommenste immer neue Gewissensschärfung nöthig wider

seine Sicherheit, immer neues Aufraffen von seiner Trägheit,

30 immer neues Klarwerden über seine eigene Blindheit.

So

ist es also die Fortsetzung jenes heiligen „Empor die Herzen!",

das der vorige Abschnitt gepredigt hat, wenn der Apostel

heute das große Werk der Erneuerung des Menschen

uns vorführt.

Lernen wir aus dem reichhaltigen und vielseitigen Ab­ schnitt zweierlei: zuerst den gewaltigen Gegensatz erkennen, auf dem

dies Werk der Erneuerung ruht; .

dann mit der Arbeit beginnen, durch welche das­

selbe ausgeführt wird.

1. Ich sage einen Gegensatz müssen wir zuerst recht er­

kennen, um an uns selbst dies Werk der Erneuerung voll­ ziehen zu können.

Worin besteht er?

Darin, m. Br., sind wir ja vermuthlich miteinander

einverstanden,

daß wir alle immer

besser werden sollen.

Keiner unter uns hält sich für unverbesserlich, weder nach der guten, noch nach der schlimmen Seite des Wortes.

Was

Luther einmal gesagt hat: „der Christ ist alle Zeit im Wer­

den, niemals im Wordensein", das unterschreiben wir auch,

und dieses Werden des Christen ist nichts anderes als sein beständiges Wachsthum in der Erneuerung und Heiligung. Aber in welchem Maße nun dieses Neuwerden uns nöthig

sei, in welcher Tiefe wir dieses Besserwerden, dieses „Entwerden von uns selbst", wie man es wohl ausgedrückt hat,

bedürfen, aus welchem Abgrunde heraus diese Emeuerung

31 den Menschen emporheben müsse, darüber werden wir sehr verschiedener Meinung sein, und gerade hierüber will Paulus uns verständigen. Da Hingt es nun gleich zuerst sehr ernst und scharf, wenn er von einem „Tödten der Glieder spricht, die auf Erden sind".

Zwar das verstehen wir ja wohl, daß,

wenn Paulus hier auf diese ganze

unheimliche'Welt der

Fleischessünden hinweist, er sicherlich nicht nur die groben Ausbrüche der Fleischeslust zurückdämmen will, wie Zucht

und Sitte sie von selbst verbieten,

und wie sie etwa den

Menschen auch in guter Gesellschaft unmöglich machen, weil sie das Brandmal des Lasters und der Gemeinheit ihm Nein, Paulus bezeichnet diese argen

auf die Stirn prägen.

Leidenschaften als „Glieder" — das heißt, als lebendige

Kräfte und Triebe, welche auch dann vorhanden sind, wenn ihre äußere Bethätigung gehemmt würde, nur daß sie dann

in

ein

befleckte

anderes

zurückziehen,

Gebiet sich

und etwa

Phantasie'zu ihrer Brutstätte machen

unheimliches

Feuer

Herzens anzünden. offenbar als in

der

in

innern

Ja, würden

oder

Gedankenwelt

die ein des

sie wirllich nicht anders

dem unheiligen Blick des Auges,

sie sind

dennoch da und sie müssen gelobtet werden, wenn man von ihnen frei werden will. Tödten aber thut weh und geht ohne

Kampf und Widerstand scharfe

und

nicht ab,

gewaltige Forderung,

und darum ist es eine

die Paulus

damit an

uns richtet. Aber er bleibt auch dabei nicht stehen, er geht tiefer;

indem er in die innere Welt des Herzens hineintritt, muß er ja sofort inne werden, was schon der Heiland gesagt hat,

daß nämlich alle die argen Gedanken und Fleischeslüste aus dem Herzen Hervorgeyen.

Da ist ihr Sitz, da haben si?

32 ihre Kraft.

Wenn wir von Trieben gesprochen haben —

Triebe weisen zurück auf den Baum, der sie treibt; wenn

der Apostel von Gliedern spricht — Glieder sind nur vor»

Handen an einem Organismus, einem lebendigen Mittelpunkt, der sie regiert.

Und sieh nun hinein in dich selbst und

zwar aufrichtig, so wie Gott dich will, nicht mit den vielen

Künsten, mit denen die Menschen sich vor sich selbst ver­ bergen;

belausche

dich in deinen

unbewachten Stunden;

bleibe nicht nur bei dem stehen, was Paulus zuerst nennt,

beim groben Schmutz der Fleischessünde, so groß ihre Macht sein mag auch da, wo man es nicht denken sollte; denke an

den Geiz, der die armseligen Güter der Welt zu seinen Götzen macht; nimm hinzu, was Paulus weiter nennt von Grimm und Bosheit,

Murren und Lästern,

Lügen und

Trügen — ich glaube, l. Fr., wir Alle gestehen, es haust in

uns ein ganzes Heer unreiner Geister und Triebe! Dann aber geh noch einen Schritt weiter: alle diese

argen Triebe weisen doch zurück auf die arge Wurzel, aus der sie hervorbrechen; alle die Glieder, die zu dieser Welt der Sünde mithelfen, ja, die eins dem andern dienen, um nur die

Befriedigung der sündlichen Lust zu erreichen, weisen auf den Mittelpunkt zurück, an dem sie Glieder sind.

Nicht einzelne

Leidenschaften sind es, die wir ablegen und tobten müssen; es ist ein Ich, ein alter Mensch, von dem sie erst ihre Kraft

empfangen, der sie erst innerlich mit einander verbindet, und z. B. die „schandbaren Worte" in den Dienst seiner Lust oder

die Lüge in den Dienst seines Geizes stellt, welcher in den Tod ge­

geben werden muß.

Wie das Fieber am Kranken nicht die

Krankheit selbst für sich ist, sondern nur das Symptom eines tiefer liegenden Uebels, so sind die Glieder, von denen Paulus

redet, so ist jede einzelne ausbrechende sündliche Lust, ja

33 dieses ganze von seinen verschiedenen Trieben umhergewor­

fene Herzensleben nur ein Symptom davon, daß noch ein alter Mensch da ist, der erst todt und begraben sein muß, ehe der neue werden kann.

„Ziehet den alten Menschen

mit seinen Werken aus und ziehet den neuen an, der da verneuert wird zu der Erkenntniß nach dem Ebenbilde deß, der ihn geschaffen hat" — so deckt Paulus die ganze Tiefe des Gegensatzes auf, von dem wir reden.

Am innersten Herzpunkt sollen wir anfangen; an

die Stelle des alten sündlichen Ich soll ein neuer Mensch

treten in göttlicher Aehnlichkeit; unter dem Sonnenschein gött­

licher Gnade soll ein neues Leben geboren und ein Lebens­

centrum geschaffen werden, das nicht mehr ein Herd des un­ reinen Feuers der Sinnlichkeit und Selbstsucht ist, sondern

von welchem ein neues Leben im Licht und in der Liebe ausgeht — das ist es, was Paulus von uns fordert. Dieser eine Gegensatz aber zwischen dem alten und dem neuen Menschen weist nun auf einen zweiten hin.

Es

handelt sich nicht bloß um einen sittlichen, sondern auch um einen religiösen Gegensatz; es gilt nicht nur, einen alten

Menschen auszuziehen — der kann nur

getödtet werden,

wenn der Mensch zugleich in ein neues Verhältniß zu

Gott tritt.

Darum sagt der Apostel von den Lüsten des

alten Menschen:

„um welcher willen kommt der Zorn

Gottes über die Kinder des Unglaubens". Bekennen wir zunächst, l. Fr.! — es sind ernste Worte,

wenn der Apostel hier von einem Zorne Gottes spricht.

Es

gibt also einen Zorn Gottes, das heißt einen heiligen Ab­ scheu des lebendigen Gottes vor der Sünde und darum eine

heilige Energie des lebendigen Gottes gegen die Sünder.

Er wäre nicht ein heiliger Gott, wäre ein solcher Zorn nicht

3

34 in ihm,

und keine kleinste Sünde gibt es,

gegenüber der sündlichen Lust, unsichtbar,

Herzens

kein Nachgeben

und wäre sie vor Menschen

und triebe sie nur in den Leidenschaften des

ihr Spiel, das nicht diesen heiligen Abscheu und

diesen Gegensatz Gottes herausriefe.

Wie oft spüren wir

es deutlich genug in der zerrissenen Friedlosigkeit unseres

Herzens, das seinen Begierden hingegeben ist, an dem Trüb»

sinn und der innern Verzweiflung, an der Gebetsunfähigkeit und der Unruhe des Herzens, die der Sünde folgen, daß wir unter dem heiligen Zorne, unter dem abgewandten Antlitz Gottes stehen, unter einem heiligen Auge,

das nicht mit

Wohlgefallen, sondern mit Betrübniß und mit Mißfallen auf uns ruht.

Nun sagt aber Paulus auch weiter: es gibt auch einen Zusammenhang zwischen der Sünde des Menschen und seinem

Unglauben.

Denn Glaube ist die Fähigkeit,

schauen und zu ergreifen.

Gott

zu

Jede bewußte Sünde tobtet diese

Fähigkeit und löscht den Glauben aus.

Man kann Gott

nicht schauen, wenn man Sünde in seinem Herzen hat, und nicht mit ihm reden, wenn sündliche Lust die Seele erfüllt.

So treibt also jede Sünde tiefer hinein in die Unfähigkeit, sich mit Gott zu vereinen, in den Unglauben, sie macht

„Kinder des Unglaubens".

Diesen Zorn Gottes aber wenden nicht wir.

Denn nicht

wir machen uns selbst wieder zu Kindern Gottes, nicht wir

befreien uns von dieser Macht des alten Menschen, der, wie es in einer anderen Stelle heißt, im Irrthum sich selbst ver­ derbet — Gott allein vermag das zu thun.

Einen neuen

Menschen, der gestaltet ist „nach dem Ebenbilde deß, der ihn geschaffen hat", nämlich Gottes, stellt Paulus darum in Gegensatz zum alten Menschen.

Gott hat uns, wie er im

35 ersten Kapitel frohlockt, errettet von der Obrigkeit der Finster­

niß und versetzt in das Reich seines lieben Sohnes, an wel­ chem wir haben die Erlösung durch sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden.

Der neue Mensch, den wir an­

ziehen sollen, ist ein Kind der Gnade, die in Christo Jesu

nicht mit uns nach unserer Sünde handelt.

In Christo ist

das Ebenbild dessen, der uns geschaffen hat, leibhaftig er­

schienen, damit durch ihn die in Sünde gebundene Menschheit befreit werde.

Diese That der Erlösung ist der Unter­

grund, auf dem das ganze Werk der Erneuerung anhebt. Und nun erst verstehen wir den Gegensatz, um den es sich handelt, in seiner Tiefe; es ist der Gegensatz von Sünde

und Gnade, der erkannt sein will, der aus der Sünde

heraus in die Gnade, und durch die Gnade in die Heiligung

Das ist der Weg der Erneuerung, den Paulus

hineinführt.

uns hier eröffnet.

Wohlan so laßt uns

2. die gewaltige Arbeit beginnen, mit der das Werk

der Eneuerung ausgeführt wird. Worin besteht nun diese Arbeit der Erneuerung? „So

tödtet nun

— antwortet der Apostel zuerst — eure

Glieder, die auf Erden sind".

Auf die Sünden der

Sinnlichkeit, die finsteren Mächte der Fleischeslust weist er hin.

Wohl besteht dieses heidnische Wesen nicht mehr in

der Mitte der Gemeinde;

es ist Gott Lob ein „weiland",

wo sie darinnen lebten und wandelten;

aber dennoch haben

sie noch immer nöthig, die Glieder zu totsten, die nach dem

alten Wandel und Leben sich zurücksehnen oder die Hand

ausstrecken.

Paulus weiß wohl, wie plötzlich auch die schein­

bar überwundene Sünde ihr Haupt wieder erheben und eine

36 Menschenseele berücken kann, und wie keiner, so lange diese Glieder

noch Leben in sich tragen, vor Rückfall und schwe­

rer Versuchung sicher ist.

Und in diesem Sinne gilt nun dieselbe Mahnung auch

uns.

Ich weise jetzt nicht darauf hin, daß dasselbe heidnische

Wesen von dem Paulus redet, noch immer mitten in der

Christenheit sein dunkles Spiel treibt, und nicht nur heid­ nisches Thun sich wiederholt, sondern auch eine völlig heidnische Anschauungsweise die Sünde zu rechtfertigen versucht.

weise uns vor Allem in unser eigenes Herz.

Ich

Stehen wirk­

lich Fleisch und Geist, das heißt die sinnliche Menschennatur

und der neue Gottesmensch in dir in rechtem Verhältniß? Nicht grobe Ausschreitungen allein fasse in's Auge; prüfe dich auf die Macht des Fleisches in dir, bei dem der Geist zur Ohnmacht verdammt ist unter der Knechtschaft der Be­ gierden und Leidenschaften, sie seien nun geistiger Natur!

sinnlicher oder

Prüfe dich auf jenes Gebundensein an die

Erde und ihre Lust oder Sorge, das unfähig macht zum

Aufschwung des Gebets!

Prüfe die Gedanken, mit denen

du beschäftigt bist, die Freuden, nach denen du trachtest, die Bücher, die du liesest, die Silber, an denen du dich erfreust

und an denen deine Phantasie sich nährt; prüfe mit einem

Wort den feinen Sinnengenuß, von dem du lebst; miß dein

inneres Trachten nach der Regel,

die Paulus an die Phi-

lipper schreibt: „was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht,

was keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend,

ist etwa ein Lob, dem denket nach"



und du

mußt es ja zugeben: es ist eine Macht der Fleischeslust in uns Allen,

von der der Apostel auch uns mit heiligem

Ernste mahnen muß: so tödtet nun eure Glieder, die auf Erden sind.

37 Und eine zweite Antwort gibt Paulus auf die Frage, worin diese Arbeit bestehe: „So legt nun von euch

ab — sagt er —Zorn, Grimm, Bosheit, Lästerung, schandbare Worte aus eurem

Munde und lüget

nicht untereinander" — auf die Sünden der Selbstsucht

und der Lieblosigkeit weist er hin: der Mensch der lieb­ losen Selbstsucht soll in den Tod gegeben werden. Auch hier spricht er nicht nur von besonderen und groben

Ausbrüchen des Hasses und des Zorns — wie denn allerdings

das Heidenthum wirklich ein Krieg aller gegen alle war —,

sie können bei uns zurückgehalten werden durch Erziehung, Anstand, gute Sitte.

Aber Paulus geht tiefer, er denkt an

alles unheilige Aufwallen, an den verhaltenen Grimm, den lieblosen Kaltsinn,

jene Verlleinerungssucht, die um jeden

Preis den Anderen herabsetzen will, an die böse Nachrede

und

feine Verläumdungskunst, die alles zum Argen kehrt,

an die Bosheit, die so llug das verletzende Wort zu finden weiß und so hämisch sich freut am Mißgeschick des Anderen,

an die Lügen, die so frech die Wahrheit verdrehen, etwa im

Interesse der Partei,

oder so

llug den eigenen Vortheil

herauszustellen verstehen zum Schaden des Bruders.

Und

denken wir an die Verbitterung, die selbst Christen von ein­

ander scheidet — wie es Christen gibt, die miteinander in einer Kirche beten,

und die man doch

nicht in dieselbe Ge­

sellschaft mit einander laden kann, weil sie sich nicht vertragen können; oder wie Christen zu einem Sakrament und einem

Altar kommen,

und doch

nicht im Stande sind, in einem

Hause einträchtig bei einander zu wohnen: und wer unter uns

wäre so rein, daß er nicht die Augen niederschlagen müßte und an das Wort des Jacobus denken: wer auch in keinem

Wort fehlet, der ist ein vollkommener Mann!

38 Beides nun aber, die Sünden der Sinnlichkeit wie der Selbstsucht, faßt Paulus zusammen in dem Worte: ziehet

den alten Menschen aus! ziehet ihn aus nicht einmal, sondern täglich, wenn er sich regt; zieht ihn nicht bloß auf

gewisse geweihte Stunden aus, sondern für das gewöhnliche

Leben mit seinem Treiben und Schaffen.

Es gibt aber nur

einen Weg, der dazu führt; der alte Mensch wird nur aus­

gezogen, indem der neue angelegt wird.

Nicht nach

einander geschieht beides, sondern miteinander.

Wandelt im

(Seift* dann werdet ihr die Lüste des Fleisches nicht voll­

bringen; wandelt in der Liebe, so wird Zorn, Grimm und Bosheit durch eine stärkere Macht von selbst überwunden;

gib dem alten Leben keine Nahrung mehr, so

erstirbt es

von selbst; schließe der wüsten Flamme der Sinnlichkeit die

Lebenslust ab, so erstickt sie; das neue Leben, das im Lichte

der Gnade gedeiht,

und sein Haupt zu Allem

emporhebt,

was göttlich ist, nimmt von selbst dem alten Menschen den Boden.

Gewiß, er weicht nicht ohne Kampf; er versucht

immer wieder aus den dunkeln Ecken, in die er sich flüchtet,

hervorzubrechen.

Wie hat auch ein ernster Christ immer

wieder seine schlimmen Stunden, in denen er auf's Neue unter die Macht und Bindung des alten Menschen geräth!

Es ist auch nicht einmal leicht, in sich selbst genau zu unter­ scheiden, was eigentlich dem alten oder dem neuen Menschen

angehöre. Mitten in die Frömmigkeit, in den Glaubcnseifer, in den Ernst der Bekehrung hinein mischt sich ein Stück von der Leidenschaft und Unduldsamkeit des alten Menschen und

will uns einreden, das sei der neue Mensch; mitten im

Heiligthum erhebt er plötzlich seine Stimme und wie oft glauben wir wirllich, dennoch der alte ist.

es sei der neue Mensch, während es Aber gleichwohl gilt: er ist dem Unter-

39 gange geweiht.

Auch solche Zeiten sittlicher Stockung sollen

überwunden werden in der Kraft des Herrn.

Stirbt der

alte Mensch.nicht völlig, so lange wir auf Erden sind, und

behalten wir hier immer ein Stück sündlicher Schlacke an

uns, er wird dennoch täglich auf's Neue in den Tod ge­ geben, und das eben meint Paulus mit feiner Forderung:

ziehet ihn aus! „Und ziehet den neuen Menschen an, welcher

erneuert wird nach dem Ebenbilde deß, der ihn

geschaffen hat!"

Wo das Bild Gottes uns ausgeprägt

wird in Heiligkeit und Liebe, da wird und wächst dieser neue Mensch. das.

Nicht aber auf zauberhafte Weise geschieht

Nein, in irdischer Gestalt ist ja das Bild Gottes uns

erschienen in Christo Jesu.

So heißt also Gottes Bild uns

aufprägen nichts anderes, als Christum und sein Bild zum Gepräge unseres inwendigen Lebens machen.

Die Gemein­

schaft Christi ist der Weg, auf dem der Mensch nach dem Bilde Gottes in uns geboren werden kann; sie ist die Sonne,

unter deren Licht er gedeiht.

Zu dieser Gemeinschaft aber

führt immer wieder nur der eine Zugang durch Buße und

Glauben hindurch: der Welt und allen bewußten Sünden absagen in heiliger Bußthat, das ist das eine; im Glauben die Hand ausstrecken

nach der Gnade Gottes, welche die

Sünden zudeckt, und Christum ergreifen als den Trost und

Hort unseres Lebens, das ist das andere.

Wenn so ein

neues Verhältniß zu Gott in Christo begründet ist, wenn

wir im Glauben Kinder der Gnade werden

anstatt Kinder

des Zorns, dann ist der neue Boden gewonnen, auf dem auch der neue Mensch wächst und gedeiht.

Er wächst in

der Kraft des Gebets, des Wortes, des Sakraments, und

er soll im Wachsen bleiben, auch durch alle Hindernisse hin-

40 durch dem Ziele entgegen, daß Christus sei alles und in allen.

Und mit diesem

neuen Menschen

und durch

ihn

wächst dann auch die neue Menschheit, in der neue Gemein­ schaftsbande auf diesem Grunde sich knüpfen, in welcher nicht mehr die natürliche Zusammengehörigkeit, nicht „Jude und

Grieche, Knecht und Freier, Ungrieche und Scythe"

das Bestimmende ist, sondern alles und in allen Christus, er das Ziel, er auch die Kraft!

Th. Gem.!

Es sind manche unter uns, die sich elend

und friedlos fühlen unter dem Druck des alten Menschen und sich sehnen nach der

herrlichen

Freiheit der Kinder

Gottes von aller Fleischeslust und Selbstsucht, manche, die

der Zeit harren, wo endlich ein neuer Mensch des Glaubens

das Haupt höher heben und sie emportragen wird über das arme Leben mit seinen Versuchungen und Kämpfen.

Seid

gewiß, der Herr will ihn uns schaffen; wie schwach der Funke sei, der ihm entgegenglimmt,

anfachen.

er will ihn doch zur Flamme

Ueberlassen wir ihm nur glaubend das Herz,

Er

wird uns nicht verlassen, bis er das Werk vollendet hat, das er angefangen, bis Christus in uns eine Gestalt ge­

wonnen und uns verklärt hat zu dem Bilde deß, der uns

geschaffen hat!

Amen.

IV.

2. Sonntag nach Trinitatis 1883. Die Schönheit des christlichen Lebens. Kol. 3, 12—15. So ziehet nun an, als die Auserwühlten Gottes, Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlich­ keit, Demuth, Sanftmuth, Geduld, und vertrage einer den andern,

und vergebet euch unter einander, so Jemand Klage hat wider den andern, gleichwie Christus euch vergeben hat, also auch ihr. Ueber alles aber ziehet an die Liebe, die da ist das Band der Voll­ kommenheit. Und der Friede Gottes regiere in euren Herzen, zu

welchem ihr auch berufen seid in Einem Leibe; und seid dankbar.

Theure Gemeinde!

Der vorhergehende Abschnitt

unseres Briefes hat auf den tiefen Gegensatz des alten und

des neuen Menschen den Blick uns richten heißen und hat mit ernsten und schneidigen Worten zu dem großen Werke der Erneuerung uns aufgerufen.

Der heutige Abschnitt legt

nun näher die einzelnen Züge des neuen Menschen dar und entwirft in der Form der Mahnung ein Bild des neuen Lebens, das dieser Mensch führt, aus dem es wie ein Frie­

denshauch uns entgegenweht, und das durch seine Herrlichkeit

von selbst die Herzen bewegt.

Soll ich mit einem Worte

bezeichnen, was an diesen Einzelzügen, die der Apostel uns

nennt, so unbeschreiblich anmuthend uns berührt, es sei nun,

42 daß er den neuen Stand der Christen schildert als der Aus­

erwählten, Heiligen und Geliebten,

oder daß er herzliches

Erbarmen, Freundlichkeit, Demuth, Sanftmuth und Geduld als den Schmuck derselben nennt, oder daß er in die dank­

bare Friedensstimmung uns hineinschauen läßt, welche die

Herzen der Gotteskinder ausfüllt —: ich würde sagen: es ist die Schönheit des christlichen Lebens, welche uns der Apostel vor Augen führt.

Schön ist ja dasjenige, was

durch sich selbst, durch seine eigene, innere und äußere Har­ monie die Herzen bewegt und gewinnt.

So ist es hier der Fall-

— Aber diese Schönheit erlangt man nun nicht etwa durch

einen geläuterten Geschmack, sondern nur durch eine göttliche Neuschaffung.

Wir geben sie uns nicht selbst, Gottes Gabe

ist es; ja wir verstehen nicht einmal diese Schönheit in ihrer

Tiefe — wir verstünden denn die Thaten göttlicher Gnade

und Barmherzigkeit, durch welche sie allein uns zu Theil werden kann.

Daß wir also anstimmen lernen, was der

Prophet sagt: „Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mich angezogen mit Kleidern des Heils und mit dem Rocke der Gerechtigkeit

bekleidet," — das ist unsere Aufgabe; daß wir in Wort und Werk die Tugenden des Herrn verkünden lernen, der uns

berufen hat von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Licht, — das ist die Herrlichkeit des neuen Lebens,

uns darlegt.

das Paulus

In diesem Sinne sprechen wir

von der Schönheit des neuen Menschen. Sie besteht in dem neuen Stande, in den Gott

die

Christen versetzt, in dem neuen Schmuck, mit dem

Gott die Christen umkleidet, in der neuen Stimmung, mit der Gott die Christenherzen erfüllt.

43

1. Es sind schöne und köstliche Worte, mit denen Paulus

mahnt: „so ziehet nun an herzliches Erbarmen — als die Auserwählten

Gottes, Heiligen und Geliebten".

Nicht erst seit dem Tage sind sie Auserwählte, wo zum ersten

Male das Licht einer neuen Erkenntniß

in ihre Seele fiel

und sie die Schmach der Sünden fühlen ließ, in denen sie, wie Paulus sagt, weiland gewandelt haben; sie sind vielmehr Auserwählte längst ehe sie ihren Entschluß faßten,

ehe sie waren — durch eine That göttlicher Gnade.

Zeit, im Schoße der Ewigkeit leuchtete in

ja noch

Vor aller

heiliger Liebe

in Gottes Herzen der Gedanke auf, eine Welt ins Dasein zu rufen zur Gemeinschaft seines Heils und

seiner Seligkeit;

wie der Apostel an einer anderen Stelle sagt: „er hat uns erwählt vor Grundlegung der Welt,

daß wir wären heilig

und unsträflich in der Liebe". — Und die, welche er so durch eine

That ewiger Barmherzigkeit auserwählt hat, die

keine Zeit zu Schanden machen kann, dieselben hat er auch zu Heiligen gemacht, das heißt nach der Ausdrucksweise der Schrift: nicht durch sich selbst sollen sie heilig sein —

sie waren es ja auch in der That nicht — sondern heilig und geheiligt Christus.

durch

die Gemeinschaft

mit dem

Heiligen,

In ihm hat Gott den Rathschluß der ewigen

Erwählung ausgeführt, den er gefaßt hat; durch ihn sind

sie dem Reiche der Finsterniß entnommen und in ein neues

lichtes Reich der Erlösung versetzt.

In seiner Gemeinschaft,

in welcher sie die Vergebung der Sünden haben,

beginnt

nun für sie ein neues Leben des Lichts und der Heiligung, in dem sie täglich durchleuchteter und heiliger werden sollen.

Und so als die Geheiligten Gottes sollen sie durch die Welt

44 gehen auch als seine Geliebten

die Liebe Gottes durch

den heiligen Geist, wie Paulus es ausdrückt,

ausgegossen

in ihr Herz, der Zugang zum Vater in allem Anliegen für

sie geöffnet, Nacht und Tag, die Treue des großen Erbarmers in allem ihnen gewiß — o wer es weiß, wie glücklich

und beseligt ein Mensch schon werden kann durch arme sün­ dige Menschenliebe,

der wird verstehen,

wie selig und wie

beglückt durch diese Welt des Jammers und der Leiden Christen

hindurchgehen können und hindurchgehen dürfen als die Ge­ liebten des großen Gottes und Vaters in Christo Jesu. Auserwählte Gottes, Heilige und Geliebte! — halten wir fest, th. Fr., daß also alles, was die Christen auszeichnet, nicht etwas ist, was sie thun, sondern was Gott für sie

gethan hat, und was sie nur in Demuth empfangen.

Aus­

erwählte, Heilige und Geliebte! — das ist der neue,

herr­

liche Stand, in den Gottes Gnadenrath die arme sündige Menschheit hinaufgehoben hat

ohne all' ihr Verdienst und

Würdigkeit, aus lauter Barmherzigkeit.

Als die Auserwähl­

ten, Heiligen und Geliebten Gottes haben sie das Kindes­

recht beim Vater, das Bürgerrecht im Himmel, jenen un­ beschreiblich hohen Adel, mit dem sie wie Könige durch die Welt gehen können, eines ewigen Erbtheils gewiß.

Ja, dieser

Adel wird nicht etwa verdunkelt oder verringert durch eine noch so geringe äußere Stellung, durch noch so drückende

äußere Niedrigkeit oder Armuth.

Erst hier wird ganz ver­

ständlich, was in den Versen vor unserem Texte der Apostel

von jener neuen Menschheit sagt, die durch den neuen Men­ schen entsteht, und was wir vor acht Tagen nur kurz be­ rühren konnten:

„da nicht ist Jude,

Scythe, Knecht, Freier, stus".

Grieche, Ungrieche,

sondern alles und in allen Chri­

In der Gemeinsamkeit des Christenstandes und der

45 Erlösung verschwinden alle anderen Standesunterschiede, sie

werden innerhalb ihres Bestehens durch eine viel mächtigere

und innerliche Einheit überragt, so daß sie wohl noch für den geringen Bereich des äußeren Lebens ihre Geltung be­

halten, aber das innere nicht mehr berühren.

Ob einer Herr

ist oder Knecht, reich oder arm,- vornehm oder gering, ge­

bildet oder ungebildet, König oder Bettler, alle diese Unter­

schiede, wie bedeutsam in sich, werden gleichgültig und nichts

bedeutend gegenüber dem Stande, den Gott allen gemeinsam in Christo Jesu anbietet und zu welchem er alle erheben will, die im Glauben seine erlösende Hand fassen — Auserwählte

Gottes, Heilige

und

Geliebte zu werden.

Ja laßt

uns, th. Gem., mit einstimmen in den Dank gegen die ewige

Barmherzigkeit Gottes, die so zu uns sich herabließ, um uns zu erhöhen zum seligen Christenstande.

Aber je höher wir uns gehoben wissen, um so ernster laßt uns auch die Forderung vernehmen, die damit an uns gerichtet wird.

pflichtet.

muß auch

Adel, lautet ein französisches Sprüchwort, ver­

Wem der Adel der Gotteskindschaft verliehen ist, der standesgemäß leben und würdig wandeln der

himmlischen Berufung, die er empfangen hat; er soll — das ist das Bild, welches Paulus braucht



auch standesgemäß

sich kleiden: weil ihr Auserwählte Gottes, Heilige und Geliebte seid, mahnt der Apostel, darum

2. „ziehet an herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, De­ muth, Sanftmuth, Geduld und vertraget einer den

andern, und vergebet euch untereinander, so jemand Klage hat wider den andern, gleichwie Christus euch

vergeben hat, also auch ihr"!

46 Da seht den neuen Schmuck, mit dem unser Gott seine

Kinder will umlleidet haben, da seht das heilige Gewand eines Christenmenschen, der seines Christenstandes werth ist.

Gewiß, l. Fr., dieser Schmuck

Augen des

natürlichen

Menschen

hat ja

auch in den

seinen Werth.

Es mag

vielleicht Menschen geben, die meinen, mit solcher Liebe und

Sanftmuth werde aus Erden nicht viel Großes ausgerichtet werden, weil, wie man sagt, alles Gewaltige nur aus der Leidenschaft stammt, und welche damit dieses

Christenthum

der Liebe und der Sanftmuth in die Kreise der Kleinen und Stillen im Lande verweisen wollen.

Ach es gibt doch Zeiten

genug, wo auch sie Gott danken würden, wenn sie mit Men­ schen zu thun hätten, die diesen heiligen Schmuck christlichen

Wandels an sich tragen.

Ja noch mehr! Etwas von diesem Schmuck tritt

uns

auch an dem Wandel und Wesen des natürlichen Menschen entgegen.

Er hat ein Mitleid, das diesem Erbarmen gleicht,

eine Liebenswürdigkeit, welche dieser Freundlichkeit ähnlich ist, eine Liebe, welche allen einzelnen Tugenden erst ihren rechten Werth gibt; noch nie hat man einen Menschen besonders ge­

lobt, weil er hartherzig oder hochmüthig ist. Dennoch, verstehen

wir recht : — was der Apostel fordert, unterscheidet sich nicht nur dem Grade nach von der natürlichen Liebenswürdigkeit

und dem natürlichen Mitleid, etwa

als eine besonders ge­

steigerte Liebenswürdigkeit, sondern der Art nach.

liche Moral ist eine durch und durch religiöse.

Die christ­

Der Schmuck,

den der Apostel uns anlegen heißt, ruht ausschließlich auf

jenem Grunde des neuen Christenstandes, zu dem Gott uns erhöht hat; ja er ist eigentlich nichts anderes, als der Wie­

derschein der Gemeinschaft, zu welcher Gott uns berufen hat,

in den verschiedenen Lebensverhältnissen, in denen wir stehen,

47 als das Hineinleuchten des Geistes Gottes in uns in die

verschiedenen Beziehungen der Menschen untereinander.

Das

herzliche Erbarmen, zu dem Paulus mahnt, ist der Wieder­ schein der Barmherzigkeit, mit der Gott uns auserwählt und

geheiligt hat.

Die Liebe zu dem Bruder, die sich in Demuth,

Sanftmuth, Freundlichkeit und Geduld zu den einzelnen herab­

neigt, ist nur der Wicderschein der herablassenden Liebe, mit

der der Vater uns

siegelt hat.

geliebt und als seine

Es sind seine Tugenden,

Geliebten ver­

die wir mit unserem

Wandel verkündigen sollen —: so ist es also Gottes Tugend, Christi Leben in uns,

das den heiligen Schmuck unseres

Lebens und Wandels bilden soll.

So ziehet nun an diesen heiligen Schmuck! — mahnt der Apostel; er will damit nicht sagen, daß

er nur von

außen etwa wie ein umhüllendes Kleid, das das Inwendige

verdeckt, umgelegt werden soll; nein,

dieses Gewand ist ge­

webt aus den feinsten Stoffen, aus den Lichtstrahlen, die von

dem Geiste Christi ausgehen;

ziehet es an — das heißt

also: machet Raum dem neuen Leben, das durch die Gnade

Jesu Christi in euch ist — damit es aus euch herausleuchten könne als herzliche Barmherzigkeit, Freundlichkeit, Sanftmuth, Geduld.

Ziehet an das »Herz des Erbarmens", wie cs wörtlich heißt — es soll dein Herz nicht kalt bleiben, wenn Lazarus vor deiner Thür liegt; es soll nicht müde werden,

wenn die Bittenden nicht aufhören tanten

anklopfen;

und immer neue Kollek-

es soll nicht hart sein, auch wenn

Elend, das dir entgegentritt, ein selbstverschuldetes ist.

das

Weit

geworden in der Liebe Christi, brennend in der selbsterfahre­

nen Liebe Gottes soll

es mehr thun als das —: es soll

auch das Geisteselcnd der Brüder mitfühlen, das Elend der

48 Menschen, die in ihrer Noth das verloren haben, worin ein

Mensch reich sein kann in der Armuth, die Schiffbruch am

Glauben gelitten haben und die nun ohne Gebet, ohne Gott, ohne geistliche Pflege, ohne Kirche, wie Tausende in unserer

kirchenarmen Stadt, versunken ins Diesseits,-dahingehen; mit­

fühlen soll es das Geisteselend der Verschuldeten, die von ihrer eigenen Verbitterung, ihrem Laster, ihrer Leidenschaft

wie mit Ketten gebunden sind, und

die vielleicht nicht ein­

mal mehr die Schmach der Ketten fühlen, welche sie tragen. Ziehet an dieses Herz der Barmherzigkeit als einen

Schmuck, aber nicht wie man zum Zweck besonderer Feier­

stunden einen Schmuck anlegt, nicht etwa nur für eine Komitösitzung zur Abhülfe irgend welcher brennenden Nothstände der Gegenwart; ziehet es an Tag für Tag, Stunde für Stunde; durchdringet euch mit dem Bewußtsein, daß diese Barmherzig­

keit unsere tägliche Verpflichtung ist, daß sie die Seele unseres

täglichen Thuns und Treibens sein soll, in seinem Kreise,

daß wir alle, jeder

ohne Ausnahme dazu in diese Welt herz­

loser Selbstsucht hineingestellt sind, um sie umzuwandeln in

eine Welt herzlichen Erbarmens, und daß diese Umwandelung anzufangen habe bei jedem in seinem eigenen Leben und sei­

nem wenn auch noch so kleinen Kreise.

Je persönlicher diese Aufgabe genommen wird, als eine, die an dem Genossen des eigenen Hauses zuerst zu lösen ist,

um so mehr wächst aus diesem herzlichen Erbarmen die Freundlichkeit hervor, von der Paulus spricht.

Sie ist

mehr als die natürliche Liebenswürdigkeit und Wohlerzogen­ heit, die gewinnenden Persönlichkeiten eignet; sie ist jene Virtuosität der Liebe, welche in den anderen sich zu ver­

setzen und auch den persönlich ihr unsympathischen Menschen so zu behandeln vermag, wie er es nöthig hat.

Die großen

49 Nothstände unserer Tage, die

man unter dem Namen der

socialen Frage zu begreifen Pflegt, hat ein bekanntes Wort

davon abgeleitet, daß die eine Hälfte der Menschheit nicht wisse, wie die andere lebt.

den

großen Dingen

wie den Armen

wahr,

Ach, l. Fr., cs ist nicht nur in daß die Reichen nicht wissen,

zu Muthe ist oder die Herren, wie die

Knechte empfinden — oft genug hat das auch in den kleinsten

und engsten Verhältnissen seine Wahrheit. doch Ehegatten neben einander her,

Wie oft gehen

und der eine weiß es

nicht, wie der andere lebt, unter welchen Lasten er seufzt und mit welchen Schwierigkeiten er kämpft, und nimmt sich viel­

leicht nicht einmal Mühe und Zeit, darüber nachzudenken.

Seht — wo die Freundlichkeit regiert,

die in die

Christi

die

Herzen

andern sich hineinversetzt, da lernt man

die Noth des andern mittragen, als wäre es unsere eigene.

Luther hat einst an einen Klosterbruder,

dem die Zucht­

losigkeit seiner Mönche Noth machte, das Wort geschrieben: „die Noth der Brüder lasse deine Noth sein und ihre Sünde sei deine Sünde".

Das lernt man, wenn man diese Freund­

lichkeit Christi kennt und in der Freundlichkeit dieses Mit­ empfindens wird auch die Noth überwunden im Kleinen und

auch endlich im Großen. Damit geht uns aber auch das

Verständniß

auf,

warum Paulus auf die Mahnung zur Freundlichkeit die

zur Demuth folgen läßt; denn wie muß doch durch dieses Sichhineinversetzen in den andern so

manches harte Wort,

zurückgehalten werden und wie manches hochmüthige Einher­ fahren sich beugen.

Wie wird man erinnert an die zehn­

tausend Pfund, die auf unserer eigenen Rechnung stehen und

wie manchmal — je freundlicher man in den andern sich hinein­ denkt, um so mehr — steigt die Schamröthe uns auf bei der

4

50 Frage: was wäre aus mir geworden bei den gleichen Ver­

Und das

suchungen wie die, welche der Bruder erfahren hat. ist die Wurzel der christlichen Demuth. dieser Gedanke machen, daß man

So demüthig kann

angesichts der Gefallenen

nur mit thränendem Auge sich selbst zu beugen weiß und vor Gott seine eigene Sünde bekennt.

Als Petrus verleugnet

hatte, da haben die andern Jünger sicherlich nicht hoffärthig

auf ihn herabgeblickt, sie haben alle im Gedächtniß der eigenen Schwäche demüthig an die eigene Brust geschlagen.

Wo des

Bruders Sünde uns nicht zu dem Pharisäergebete bringt:

ich danke dir, daß ich nicht bin wie jener! sondern zu dem

demüthigen Zöllnerbekenntniß, das der eigenen Sünde denkt, da ist wahre Demuth.

Und diese Demuth kann auch andern

die Hände reichen und Gefallene wieder aufrichten. Ja, was ist diese Demuth für eine gewaltige Kraft, und

wie haben die Menschen doch gar keine Ahnung, was christ­

liche Demuth ist, die sie für eine Tugend der Schwächlinge halten.

Aus ihr wächst die Sanftmuth und die Geduld

heraus, und die Sanftmüthigen, sagt der Herr, werden das

Erdreich besitzen, und ein Geduldiger, bezeugt der Prediger,

ist besser denn ein Starker.

Aus dieser Demuth heraus

wächst die Kraft, einander zu vertragen, auch Ecken und

Mängel,

auch

Irrweg

und

Irrthum

immer neuer Geduld zu tragen,

die

Anschauung

des Bruders

es eine

an einander

andere

ist

als

meine und sein Christenthum ein anderes Kleid als meine trägt, und so jene köstliche

zu lernen, schmerzlich

Ja,

es

die das

christliche Weitherzigkeit

die wir leider in christlichen Kreisen so

vermissen.

mit

zu vertragen, wenn

wächst

aus

dieser

oft

De­

muth mit ihrer Sanftmuth und Geduld das Größeste und

Schwerste^heraus, was es gibt, nämlich im Gedächtniß der

51 vergebenden Liebe Christi auch einander das wirkliche Unrecht

zu vergeben, das geschehen ist und zwar nicht so, wie Menschen

es zu thun Pflegen, die eine vergebene Sünde ansehen wie

das Grab eines lieben Todten, zu dem sie immer wieder zurückkehren müssen, um an ihn zu denken, sondern so voll­ kommen und vollständig,

wie Christus es gethan hat, daß

die Sünde begraben ist und das Gras darüber wächst, und

niemand mehr darnach fragt. Es ist schwer, th. Fr., bei dieser langen Perlenkette von

Tugenden nicht zu verweilen, über deren jede einzelne man Der Apostel schließt sie ab, in­

eine Predigt halten könnte.

dem er noch eine nennt, welche allen anderen erst Einheit

und Zusammenhalt gibt und in den einzelnen Vollkommen­

heiten der Barmherzigkeit, der Demuth und Geduld erst den vollkommenen Menschen zeigt, der, wie Paulus gesagt hat,

das Bild seines Gottes

und seines Heilandes in seinem

Wandel ausprägt, wenn er

schließlich

hinzufügt:

„über

alles aber ziehet an die Liebe, die da ist das Band

der Vollkommenheit." Jene einzelnen Tugenden sind Perlen, die ihren vollen Glanz erst zeigen, wenn sie zu einer Kette aufgereiht sind; die Liebe ist das Band, das die Kette zusammenhält.

Wer

sie anzieht, zieht alle Tugenden an und wiederum, wo die Liebe fehlt, und wenn du deinen Leib brennen ließest und

gäbest alle deine Habe den Armen, sind alle anderen Tugenden doch nur Schein.

Ziehet die Liebe an, indem ihr das eitle,

selbstsüchtige und liebeleere Herz, das immer wieder sich mit dem Schein der Liebe begnügt und selbst in seinen Liebes­ beweisen nur sich selbst liebt,

erneuern und erfüllen lasset

mit der Liebe Christi; leget sie täglich an als das Gewand, das dem neuen Menschen gebührt;

laßt sie hindurchscheinen

52 durch euren ganzen Verkehr, den häuslichen wie den öffent­

lichen, das Leben des Berufs, wie der Geselligkeit, durch die Stunden der Trübsal wie die der Freude und ihr habt alles,

was Paulus fordert.

Die Liebe ist schließlich der einzige

Schmuck, an dem der Herr seine Auserwählten erkennen will.

Selige Menschen, die so durch das Leben gehen, liebend mit der Liebe, mit der Gott sie geliebt hat! Sie sind ein Segen

für die Welt, in der sie leben; aber sie sind und bleiben auch die Gesegneten des Vaters.

Darauf weist

3. der Apostel hin, wenn er im Schlußwort des Textes uns einen Blick in die Herzensstimmung der Christen thun läßt, welche so

hindurchwandeln.

im Schmuck heiliger Liebe durch die Welt

„Der Friede Gottes," so schließt er,

„regiere in euren Herzen, zu welchem ihr auch be­

rufen seid in Einem Leibe, und seid dankbar." Der Friede Gottes — das

ist

Lebens, welches nach außen Liebe ist.

die Innenseite eines

Dieselbe heilige Liebe

Gottes, welche aus uns herausleuchtet als barmherzige, de­ müthige und geduldige Bruderliebe, wirft in das Innenleben

des Herzens eine Stimmung tiefen seligen Friedens zurück. Denn der Friede ist nach dem tiefen Sprachgebrauche der

Schrift nichts anderes als das innere Zeugniß dafür,

daß

wir Versöhnung haben mit Gott und Vergebung der Sünde

und damit auch die Gewißheit, daß alles, was von Gott uns scheidet, hinweggeräumt ist und der Zugang zum Vater

offen.

Er ist das Zeugniß, mit dem der Geist Gottes unserem

Geiste bezeugt, daß wir Gottes Kinder sind.

sagt die Schrift, haben keinen Frieden.

Die Gottlosen,

Umgekehrt aber wo

Gott ist und die Gewißheit seines Heils in der Erlösung

53 unseres Herrn Jesu Christi, da ist auch Friede im Herzen

und damit jene Stimmung seliger klarer Harmonie, in welcher

alle die schreienden Mißllänge des Lebens aufgelöst sind in dem einen vollen Klange: wir haben

Das soll das Gepräge unseres

Frieden mit Gott!

inneren Lebens sein.

Wir

wollen uns dabei hüten zu übertreiben;

wir leben in einer

Welt des Kampfes und des Streites, in

welcher selbst der

Friede Gottes nur auf dem Wege des Kampfes Raum ge­ winnen kann, und wir können dieselbe nicht ändern, und so lange eine solche Welt uns umgibt, so lange wird auch diese

Klarheit des Friedens und der Freude immer wieder getrübt

werden.

Auch Paulus hat nur mahnen können: ist es mög­

lich, so viel an euch ist, habt mit allen Menschen Friede! Wir leben in einer Welt hundertfacher Widerwärtigkeit und

Trübsal; wir müßten ja nicht von Fleisch und Blut sein, sollte das nicht immer wieder unsern Frieden stören. Gleichwohl bleibt eines: wo einmal der Friede Gottes Einkehr gehalten

hat, da ist eine Freistatt im inwendigen Menschen geschaffen, in welche die Welt und all' ihre Noth nicht hineindringen

kann, und je treuer wir immer wieder aus dem unruhigen

Treiben des Tages,

aus dem Kampf des Lebens und der

Parteien, aus Trübsal und Noth betend dieses innere Heiligthum aufsnchen, je gewisser und klarer wir nur immer wieder

als das Oberste und Wichtigste, ja als das für die Ewigkeit

einzig und allein Wichtige die Frage ansehen, wie wir zu Gott stehen und ob wir seiner gewiß sind, um so mehr werden

wir es erleben, daß diese Friedensstimmung wächst und daß der Friede, wie es wörtlich übersetzt heißt, den Sieg ent­

scheidet in unsern Herzen.

Halten wir uns immer wieder vor, daß wir dazu be­ rufen sind und zwar nicht nur die einzelnen, sondern wir

54 alle in Einem Leibe.

Was immer der Apostel an Gaben

und Gnaden den einzelnen Christen zuspricht, das zielt doch überall auf das Ganze, auf die Gemeinde, welche der Leib des Herrn und

Haupt ist.

an welchem

er,

der Herr das lebendige

Die Gabe des Friedens, zu der der Herr uns

berufen hat, legt uns zugleich die Pflicht auf, diesen Frieden zur festlichen Grundstimmung der Gemeinde zu machen, in die wir eingegliedert sind zu Einem Leibe und der wir als

lebendige Glieder dienen sollen, jeglicher mit seiner Gabe, die er empfangen hat.

lebendigen Gliedern,

Ja, dieser Leib des Herrn

mit seinen

diese Gemeinde mit ihrer Fülle von

Kräften, mit ihrem entfalteten Liebesleben, mit ihrem Reich­

thum an göttlichem Frieden mitten in der Welt des Streits

stellt erst vollendet die Schönheit des christlichen Lebens dar, von der wir reden und von welcher der einzelne Mensch

immer nur einen einzelnen Zug an sich trägt. Kommt uns nun, th. Fr., bei diesem Gedanken schmerz­ lich die Armuth zu Bewußtsein, in der wir leben, und will

es fast uns scheinen, als sei die Gemeinde gar nicht unter uns vorhanden, von der der Apostel redet — laßt uns um so eifriger die Schlußmahnung uns'einprägen, die Paulus an uns richtet: „seid dankbar!" Sie ist in der That das

Mittel, um den Frieden immer aufs neue zu gewinnen und zu bewahren, der uns geschenkt ist, und jenem Ideal christlicher

Gemeinschaft näher zu kommen.

wunderbare Kraft;

Es liegt ja im Danke eine

er stellt uns in köstlichem Glanze vor

Augen, was Gott uns gibt und stellt noch mehr in das

rechte Licht, was uns genommen wird; er ist das Ohr, mit dem wir aufhorchen auf „die wundervolle Lebensmusik, die

beständig sich hören läßt", wie einer es ausdrückt, und die wir im Weltlärm so oft überhören.

Laßt uns, die wir so

55 gern klagen und denen viel, vielleicht alles

das genommen

ist, was sie ihr Glück und ihre Erquickung genannt haben,

anfangen mit ganzem Ernst für das zu danken,

was Gott

uns gelassen hat! Laßt uns inne werden, wie es eitel Güte und Barmherzigkeit ist, daß er so

darauf für

viel uns ließ; laßt uns

achten, daß unsere Gebete nichts

sich noch

danken ließe!

auslassen,

wo­

Laßt uns auch die kleinen

Freuden dankbar aus Gottes Hand nehmen! Laßt uns vor allem danken für die Erquickung christlicher Gemeinschaft, die wir noch haben in unseren Gottesdiensten, in

der Zu­

gehörigkeit zu unserer theuren evangelischen Kirche!

Und

wir werden sicherlich immer wieder die Erfahrung machen,

daß im Dank unser Friede wächst, der Ruhe in Gott,

jene heilige Stimmung

die in Wahrheit sagen kann:

ich gebe

dir, was du mir nimmst und will nichts nehmen, als was

du mir gibst.

So wird das Christenherz das stille Meer,

das ruhig und friedevoll seine Lasten trägt wie Gott sie

auflegt und dem alles Kreuz des Lebens seinen nicht zu stören vermag.

So wird

auch

Frieden

aus lebendigen

Steinen die Gemeinde gebaut, in welcher, wie es im Psalm

heißt, Gott thront auf den Lobliedern seiner Kinder! Wohlan, th. Gem., haben wir anders von der Schön­ heit des christlichen Lebens und der seligen Harmonie, die in ihm waltet,

einen Eindruck empfangen —: laßt

uns

die

Hände falten und flehen, daß der Herr uns erleben lasse,

was wir gehört haben — daß er uns erhöhe zu dem seligen Stande seiner Kindschaft, daß er uns schmücke mit dem Glanze seiner Tugenden, daß er uns erfülle mit seinem

Amen.

Frieden!

V.

6. Sonntag nach Trinitatis 1883. Alles im Namen Jesu. Kot. 3, 17.

Und Alles, was ihr thut mit Worten oder mit

Werken, das thut Alles in dem Namen des Herrn Jesu, und dan°° ket Gott und dem Vater durch ihn.

Theure Gemeinde! Ich beginne mit derErwähnung

einer Unart, die vielfach unter den Christen von heute ver­ breitet ist.

Wir haben uns gewöhnt, nicht alles für voll zu

nehmen, was auf der Kanzel geredet wird und Pflegen na­

mentlich von dem heiligen Ernst ihrer sittlichen Forderun­

gen so viel abzuziehen, daß dieselben sich mit dem Behagen

des natürlichen Lebens einigermaßen vertragen. Es mag das bisweilen seinen Grund haben in einem

unwahren Kanzeltone und in den thatsächlich zu hoch gestei­ gerten Forderungen, richtet werden.

die von der Kanzel herab an uns ge­

Vielleicht findet es doch ebenso häufig seine

Begründung in einem Mangel an sittlichem Ernst bei uns selbst.

Wir wollen Sonntags eine Stunde der Erbauung

haben; aber wir scheuen uns,

den Ernst dieser Stunde mit

in das tägliche Leben hinüberzunehmen und auf dasselbe an­

zuwenden.

Wir möchten die Versenkung in Gott in unseren

Gottesdiensten nicht entbehren; aber wir haben eine geheime

57 Angst, es könne das Leben zu fromm, zu. göttlich werden,

wenn wir nun diese Gemeinschaft mit Gott auch in unser tägliches Leben hineinsenken wollten. Gerade davon aber redet

Paulus in dem verlesenen,

kurzen Worte an die Kolosser.

Der Apostel bleibt also nicht stehen bei der Mahnung zur

gottesdienstlichen Erbauung, die er unmittelbar vorher an seine Leser gerichtet hat: „lasset das Wort Christi unter euch reichlich wohnen in aller Weisheit" — nein, dieses Wort

Christi soll eine Kraft werden, um fortan alles im Namen

Jesu zu thun, auch das tägliche Leben in Wort und Werk

durch den Namen Jesu Christi zu heiligen. Es ist, l. Fr., eine vollkommen neue Betrachtungsweise, eine neue Sphäre der sittlichen Anschauung wie des sitt­ lichen Thuns, in welche der Apostel uns versetzt, wenn er

alles vorhergehende noch einmal zusammenfassend, die For­ derung an uns richtet: des Herrn Jesu!"

„thut Alles in dem Namen

An zwei Eigenschaften pflegt man die

wahrhaft neuen und schöpferischen Gedanken in der Welt zu

erkennen: an ihrer Einfachheit in sich selbst und an ihrer alles umfassenden Bedeutung.

Worte zu.

Beides trifft bei diesem apostolischen

Mit ihm gibt Paulus nicht eine neue, sittliche

Vorschrift; es ist ein neues sittlich-religiöses Lebensprin­ zip, das er ausspricht, aus welchem von selbst eine neue

Sittlichkeit, eine neue Lcbensanschauung und eine Heiligung

des

gesummten Lebens quillt.

Und dennoch ist, was der

Apostel sagt, so schlicht und einfach, daß ein Kind verstehen könnte, was er verlangt.

Wohlan, laßt uns der großen Forderung näher treten: Alles im Namen Jesu!

58

Wir fragen, was es heißt „im Namen Jesu handeln,"

wie weit sich dies „Alles" erstreckt, das im Namen Jesu gethan werden soll.

und sehen endlich: wie sich daraus von selbst ein Leben seliger Dankbarkeit entfalten müsse.

1. Wir fragen, was es heiße, im Namen Jesu zu han­

deln. — Es sollte ja wohl, th. (Sem., überflüssig sein, zu sagen, daß nicht deshalb schon ein Werk im Namen Jesu

gethan wird, weil man äußerlich diesen Namen dabei nennt, oder die Worte „im Namen Jesu" darüber schreibt.

Reich Christi besteht nie in Worten,

sondern

Das

in Kraft.

Eine todte Formel oder eine leere Phrase kann als solche nie christlich sein; vielmehr ist das Wort Christi erst dann bei

uns, wenn dasselbe zugleich Geist und Leben in uns wird. Was also Paulus meint, ist von vornherein nicht ein Wort,

das wir aussprechen sollten, sondern es ist eine Gesin­

nung, und das Wort nur der Ausdruck einer solchen ; der Apostel denkt an eine Bestimmtheit, eine bestimmte Richtung

des inwendigen Menschen, die sich bei uns finden soll. Damit ergibt sich schon von selbst, daß nicht jedes beliebige

Handeln im Namen Jesu vollbracht werden kann, sondern daß durch diese sittliche Bestimmtheit des Menschen auch der

sittliche Charakter des Thuns selbst bestimmt werden muß.

Eine unsittliche Sache wird nicht etwa dadurch gut, daß man den Namen Jesu darüber schreibt oder dabei ausspricht.

Wie furchtbare Dinge hat man im Namen des Herrn ge­ than; man hat Ketzer verfolgt, Bibeln verbrannt,

Gewalt

59 aller Art geübt — aber man hat dabei lediglich den Namen

des Hexrn mißbraucht, bisweilen gelästert, gewiß nicht in seinem Namen gehandelt.

Wohlan, was heißt es denn „im

Namen. Jesu handeln"? Wer im Namen seines Königs handelt, zum Beispiel

in seinem Amt als Gesandter, der tritt damit auf als sein

Bevollmächtigter, in seinem Auftrage; er handelt also auch in seines Königs Sinne und nach seines Königs Willen; wo nicht, so wäre er untreu in seinem Amte.

Aber er han­

delt dann auch geschützt von der Autorität seines Herrn, von seiner Kraft

getragen und unter Umständen geradezu an

seiner Statt.

Es ist daher nicht seine Ehre, seine Sache,

die er vertritt, sondern die seines Herrn; er setzt nicht seinen

Namen ein, sondern den seines Herrn; dessen muß er sich jeden

Augenblick bewußt bleiben, um so mehr, je wichtiger die

Sache ist, um welche es sich handelt. Verantwortlichkeit, aber

Darin ruht seine volle

auch seine Größe und seine Be­

deutung. Und das, Christen, ist nun euer Beruf!

Im Namen

Jesu handeln, das heißt, handeln als ein Bevollmächtigter, als ein Beauftragter Jesu Christi, des himmlischen Königs.

Seine Werkzeuge sind wir, sein Name wird über uns als

seinen Getauften genannt; um seine Sache, seine Ehre, sein

Reich handelt es sich bei unserm Thun, so gewiß wir alle nicht mehr unser eigen sind, sondern sein Eigenthum, mit seinem Blute erkauft.

So heißt denn aber auch in seinem

Namen handeln: in seinem Sinne und Geiste das thun, wo­ mit er uns beauftragt und was er uns befiehlt.

Das Ge­

bot des Apostels wird hier zur Frage, die an all' unser Thun sich richtet, wie es in jenem Pfeil'schen Liede heißt:

60 Herr, bei jedem Wort und Werke

Mahne mich dein Geist daran;

Hat auch Jesus so geredet? Hat auch Jesus so gethan? Es treibt uns das Wort des Apostels hinein in die

geistige Nachfolge des Herrn, dessen Auftrag und Wort uns bei allen unseren Worten und Werken vor Augen

stehen,

dessen Geistesart sich ihnen aufprägen, ja dessen Bild sich

in unserem Leben wiederholen soll, bis sich nichts mehr in

demselben findet, was nicht im Namen des Herrn könnte gethan werden. Aber noch einen Schritt weiter geht der biblische Ge­

danke.

Im Namen Jesu handeln, heißt nicht nur handeln

in der Erinnerung an einen erhaltenen Auftrag, wie der

Richter eben Recht spricht kraft der ihm

einmal übertra­

genen Pflicht, wie der Gesandte handelt in der getreuen

Erinnerung an die ihm gewordene Unterweisung; nein, Chri­ sten stehen ja nicht nur im Verhältniß der Erinnerung zu

Christo, sondern in einem Verhältniß lebendiger Gemein­ schaft zu einem im Geiste ihnen nahen Herrn.

Leben,

Von einem

verborgen mit Christo in Gott, das die Gläubigen

führen, hat Paulus im Anfänge des Kapitels geredet, d. h.

von einem inwendigen Leben, das seine Nahrung, seine Kraft, seine Entfaltung aus der Gemeinschaft mit Christo, seinem

Worte und seinem Sakramente empfängt.

Dieses Leben im

Geist und im Glauben ist nach einem bezeichnenden Ausdruck unseres Briefes der „Christus in uns", der in den Sei­

nen waltet, der aus einem Petrus geredet hat,

der heute

noch uns durch die Worte des Paulus Zeugniß gibt, dessen

Macht wir anschauen in einem Luther, in allen seinen Gläu­ bigen — und wer durch Buße und Glauben innerlich mit

61 ihm eins wird und seinem Geiste Bahn und Raum in sich

macht, wer also Christum selbst in sich aufnimmt als die bestimmende Kraft seines Lebens, der lernt damit von selbst

auch in seinem Sinne handeln,

Namen thun.

und damit alles in seinem

Laßt uns bedingungslos uns losreißen von

dem, was sündlich und selbstisch ist, und in die Gemeinschaft und die Gnade Jesu Christi eintreten; laßt uns bitten um

den Geist von oben, der Christum in uns verklärt — so thun wir auch Wort und Werk in seinem Namen; so wird

unser ganzes Leben von ihm bestimmt, ein Leben zur För­ derung seines Reichs und zur Verherrlichung seines Vaters.

2.

Damit haben wir aber indirekt schon unsere zweite

Frage beantwortet, wie weit sich dies „Alles" erstreckt, im Namen Jesu Christi soll gethan werden.

was

Denn ist es der innere Mensch selbst, der erfüllt werden soll von dem Geiste Christi, dann versteht es sich ja von selbst,

daß nun von diesem neuen Gepräge eines Handelns im Na­

men Jesu nichts ausgenommen werden darf; und darum

spricht der Apostel so scharf wie möglich es aus: was ihr thut,

thut insgesammt, Jesu!"

„Alles,

mit Worten oder mit Werken, das

ausnahmslos im Namen des Herrn

Er spricht damit den großen Gedanken der Einheit­

lichkeit des geistlichen Lebens und der einheitlichen Vergeistlichung unseres gesammten Lebens'/aus. Es gibt ja ein gewisses Gebiet im Leben, das religiöse,

für welches es sich der christlichen Betrachtung füglich von selbst ergibt, daß alles Handeln im Namen Jesu geschehen müsse.

Wir sollen predigen im Namen Jesu, das heißt, mit

der hohenpriesterlichcn, seelsorgenden Liebe, mit der der Herr

62 seine Erlösten umfaßt hat.

Wir sollen unsere Gottesdienste

im Namen des Herrn halten, das heißt, mit der Anbetung im Geiste und in der Wahrheit, die mit ihm und durch ihn angebrochen ist.

Wir sollen beten im Namen des Herrn

Jesu, das heißt, aus seinem Sinne und Herzen heraus, wie er es uns lehrt und wie er selbst gebetet hat.

Ich könnte

noch fortfahren: wir sollen große Entschlüsse und wichtige Entscheidungen fassen im Namen des Herrn, das heißt, sie

sollen geleitet werden von Jesu Geist und Sinn und nach der Richtschnur, ob sie gereichen zur Ehre seines Namens

Wie denn?

und zur Förderung des Reiches Gottes.

Gibt

es nun wirllich andere profane Lcbensgebiete, die sich durch sich selbst dem Handeln in seinem Namen und der Heiligung

durch denselben verschließen? Oder sind etwa die kleinen und schlechten Dinge des täglichen Lebens nicht werth, in Jesu Namen vollbracht zu werden?

So hat man ja wirllich un­

terschieden, und Priesterstand und Mönchthum für heiliger erllärt, als das

gewöhnliche Leben des

schlichten Laien.

Aber als habe Paulus diese Verkehrung vorausgesehen, spricht er an anderer Stelle noch stärker als hier es aus: ihr esset

nun oder ihr trinket, so thut es alles zu Gottes Ehre.

Ja, ihr esset nun oder ihr trinket, ihr möget schaffen oder ruhen, ihr möget Kinder warten oder Kinder erziehen, ihr

möget die Stube fegen oder das Land regieren,

ihr möget

leiden oder euch freuen, alles, was das Herz denkt,

der

Mund redet, die Hand beschickt — das alles thut im

Namen des Herrn Jesu! Christus

will nicht nur ein

Stück von dir, nicht, nur eine Seite deines Lebens,

dich selbst und will dich ganz.

er will

Es kann ein König wohl

eine Seite eines Menschen in Anspruch nehmen, seine Ge­ schicklichkeit etwa, seine Gewandtheit, seine Kenntnisse, seine

63 Bildung — die soll er verwerthen in seines Königs Namen;

was er sonst ist und hat, das behält er für sich, das ver­ werthet er in seinem eigenen Dienst.

Der Herr macht keine

solche Scheidung, er nimmt den innersten Menschen in An­

spruch und darum den ganzen Menschen, und so

gibt es

denn nichts, was nicht in seinem Namen gethan, unter die

Heiligung und unter Zucht dieses Namens gestellt werden

soll. — Es mag ein König eine Zeit lang Kraft und Dienst seines Dieners

fordern; nachher mag

für sich schaffen.

derselbe ruhen oder

Im Christenleben gibt es kein Ausruhen,

keine Zeit der Pensionirnng, es bleibt ein Wirken im Namen

des Herrn und ein Stehen im Dienste des Herrn bis zum letzten Athemzuge. Hiermit tritt nun aber auch das geringste Thun des Chri­

sten in eine überaus herrliche Beleuchtung.

Dieses unschein­

bare Leben, das lediglich in der äußerlichsten Arbeit verläuft,

wird dennoch, im Namen Jesu geführt, — d. h. aus seinem Sinne

heraus, in seinem Auftrage, in Treue gegen ihn — ein Dienst, so köstlich als irgend ein Priesterthum, ein Werk, das nicht

nur Menschen sondern Gott gethan ist.

Das allergeringste

Thun, und wäre es das eintönige Umdrehen des Rades in der Fabrik, oder das

tägliche Reinigen

der Stube, wird,

wenn es anders im Namen Jesu geschieht, vor Gottes Au­

gen

nicht geringer angesehen,

als die Arbeit des Denkers,

welcher der Weltentwickelung neue Bahnen ersinnt und viel­

leicht die Weltgeschichte in neue Wege lenken wird. Aber in demselben Maße, als durch diese Gemeinschaft mit Christo auch unser geringstes Thun geadelt wird zu einem bedeutsamen Stück der christlichen Persönlichkeit selbst,

in demselben Maße tritt auch an unser geringstes Thun da­

mit eine heilige Mahnung heran.

Allem gilt dieses „in

64 Jesu Namen".

Wohlan in deine Arbeitsstube,

in deine

Werkstätte, in deine Gespräche, in deine Gesellschaften,

in

deine Versammlungen, überall hin begleitet dich die heilige

Gestalt, in

deren Namen du wirken sollst.

Sie sieht mit

dir in deine Bücher hinein, sie belauscht mit dir deine innere

Welt, sie hört deine Worte, sie sieht deine leise Untreue, sie kennt das, was du vor den Leuten verbirgst. Fr.! Wo dieses

Wort vom Namen Jesu zur Lebenslosung wird, da gibt es

nichts mehr, was du reservieren könntest vor ihrem heiligenden Einfluß; es gibt schlechterdings nichts, das außerhalb dieser

göttlichen Atmosphäre bleiben könnte, in die dieselbe dich ver-

setzt.

Der Gedanke an den Herrn, an Gott Ringt mit an

bei allem Thun.

Es braucht nicht viel von Religion gespro­

chen zu werden, aber es wird alles religiös, das heißt, mit

Beziehung auf Gott gethan.

Es bleibt die Gebetsstimmung

und die Gebetsmöglichkeit mitten im Lärm des unruhigsten

Tagewerks.

Gibt es wohl eine heiligere, mächtiger andrin­

gende Mahnung, die das ganze ungetheilte Leben umfaßt? Gibt es aber auch, so müssen wir weiter fragen, 3.

eine Mahnung, die das Leben seliger

und

friede­

voller zu machen im Stande wäre?

Denn

was in

Form der Mahnung der Apostel hinzusetzt, das enthält zu­

gleich eine Verheißung, welche durch dieses Gepräge der

neuen Lebensführung im Namen Jesu zur Erfüllung gelangt: „Danksaget Gott und dem Vater durch ihn".

Ein

Leben, im Namen Jesu geführt, gestaltet sich von selbst zu einem Leben der Danksagung, welche

durch Christum Gott

dargebracht wird.

Wir haben neulich schon einmal hingewiesen auf die

65 wunderbare Kraft des Dankes, der durch sich selbst ein Leben

verwandeln und verklären kann zu Frieden Gottes.

einem Leben im seligen

Heute richtet das apostolische Wort unsern

Blick nach einer andern Seite. Wenn nämlich ein Leben

im Namen Jesu von selbst sich zur Danksagung gestaltet, so muß offenbar in einem solchen Leben ein überaus mächtiger Antrieb zum Danke liegen, es muß ein glückseliges Leben

sein.

Und das ist es allerdings.

Sein Grundton und sein

Grundgedanke wird dankbare Freude. Wer in Wort und Werk Jesu Namen verherrlicht, der

hat, was Jesus uns erworben hat, den Frieden mit Gott, die Gewißheit der Sündenvergebung, das Zeugniß: bei Gott in

Gnaden.

Durch das Alles aber empfängt er auch eine Fülle

von innerem Reichthum und Freudigkeit, von der ihm immer

wieder die Lippe in Lob und Dank übergehen wird.

Ver­

gleichet jene feurigen Ergüsse in den Briefen eines Paulus,

vergleichet das Gepräge, wie es etwa das Leben Luthers

trägt — es ist wirklich wahr: der Grundton eines Christen­ lebens kann nicht Trübsinn und Klage sein, sondern dankbare

Freude; sein Lebensinhalt kann nicht in Anfechtung und Kampf

aufgehen, sondern erhebt sich

in Jubel und Dank für die

unaussprechlichen Gaben seines Gottes.

Wer im Namen Jesu sein Leben führt, dem schwindet auch immer mehr der Anlaß zum Undank.

Er trägt eben

die Gewißheit in sich, daß sein Gott ihn den rechten Weg

führt; er vergleicht sich nicht mehr mit anderen,

er schaut

auf Gott und erwartet von ihm, was ihm gut ist.

So zieht

eine heilige Genügsamkeit ins Herz hinein, an der Murren

und Unzufriedenheit zerbrechen.

Es wird ausgetrieben, was

den Menschen undankbar macht, nämlich Sorge, Neid, Klein glaube und Verzagtheit.

So wenig wir uns denken können, b

66 daß je Sorge, Neid und Kleinglaube den Herrn am rechten Lobsingen und Danken gehindert haben, so wenig darf das

auch in einem Leben geschehen, das in seinem Namen geführt

Wäre der Platz auch noch so bescheiden, an den einer

wird.

gestellt ist: es ist eben derjenige, auf welchen sein Gott ihn

berufen hat, um im Namen Jesu zu wirken, darum für ihn gerade der rechte, um nach seinen Kräften beizutragen zur

Verherrlichung dieses Namens, und auch diese demüthige und

geringe Stelle soll ihm ein Anlaß immer neuen Danksagens werden.

Ja, man muß geradezu sagen, wer im Namen Jesu

wirkt, für den gibt es überhaupt keine Lage, in der das

Danken ihm unmöglich wäre. so gewiß er leiden kann,

Er kann danken auch im Leid,

um durch sein Leiden den Herm

zu verherrlichen. Kein Christ hat sicherlich die Verheißung, daß ihn weniger Leid und Trübsal treffen werde als andere, aber er besitzt das Geheimniß, auch in seinen schwersten Füh­

rungen, in denen es ihm vielleicht unmöglich gemacht wird für seinen Herrn zu wirken und zu schaffen, ihn durch sein Leiden

und sein Stillesein zu preisen.

Als die Apostel die ersten

Streiche um des Herrn willen gelitten hatten, da gingen sie, erzählt Lucas, fröhlich aus dem hohen Rathe, well sie wür­

dig gewesen waren, um seines Namens willen Schmach zu leiden.

Als die Reformation ihre ersten Märtyrer sah, da

stimmte Luther ein Jubellied an,

daß die Herrlichkeit der

apostolischen Kirche wiedergekehrt sei.

Was für ein über­

wältigendes Dankgefühl muß das sein, wenn selbst das Lei­

den ein Anlaß des. Preisens wird für eine neue eigenthüm­

liche Verherrlichung des Namens Jesu und eine neue bedeut­ same Förderung seines Reiches.

Es steht fest: die Quelle

eines Dankes, den das Leiden nicht auslöscht,

ist unver-

67 sieglich, und diese Quelle ist — ein Leben im Namen deS

Herrn -Jesu! So, m. Br.! lasset unS leben im Namen Jesu in Wort

und Werk, alles in seinem Namen thun und Gott dem Va­ ter danken durch ihn.

Dieser Dank soll die Probe sein

ob unser Leben wirklich das Gepräge seines Namens trägt.

Ist unser Dank noch matt, flügellahm, spärlich, herrscht bei uns noch Klagen, Noth und

selbstverzehrendes Begehren,

nehmet das als ein Zeichen, daß auch der Name Jesu noch nicht die Kraft ist, die unser Leben ausfüllt. eine heilige Mahnung,

Nehmet es als

mit neuem Entschluß und ganzer

Hingabe uns hineinzuleben in die Nachfolge unseres Herrn.

Je treuer auf seinen Wegen, um so mehr wird sein Name in uns die bestimmende Macht, um so reicher wird auch der Dank sein, um so größer der Friede!

Amen.

VI. 15. Sonntag nach Trinitatis 1883.

Gesegnetes Beten. Kol. 4, 2—4.

Haltet an am Gebet, und wachet in demselben

mit Danksagung; und betet zugleich auch für uns, auf daß Gott

uns die Thür des Worts austhuc, zu reden das Geheimniß Christi, darum ich auch gebunden bin, aus daß ich dasselbe offenbare, wie ich soll reden.

Theure Gemeinde!

Paulus hat seine christliche

Haustafel am Schluß des dritten Kapitels des Kolosser­

briefs mit den Ermahnungen geschlossen, die er an alle ein­ zelnen Stände richtet.

Je mehr nun sein Schreiben dem

Schlüsse zueilt, um so dringender legt er der ganzen Ge­

meinde alles ans Herz, was ihm noch zu sagen übrig ist.

Heute redet er vom Gebet.

Vom Gebet soll unsere Predigt

handeln und zwar sind es vier Gedanken, die der Apostel in diese Gebetspredigt verflochten haben will.

Er mahnt zum

Anhalten im Gebet, um unsere Bitten ernstlicher, zum Wachen, um sie heiliger, zum Danken, um sie gesegneter, zum Für­

bitten, um sie weitherziger und reicher zu machen.

Mit

dieser vierfachen Mahnung beantwortet er die Frage, wie unsere Gebete beschaffen sein müssen, damit sie vor

Gott wohlgefällige Gebete seien.

69 Wie oft, l. Fr.!

worden! derholen.

ist diese Frage schon beantwortet

Ich kann nichts Neues sagen, nur das Alte wie­ Es kommt aber auch gar nicht darauf an, daß

wir etwas Neues lernen, was wir noch nicht gedacht oder gehört haben, sondern darauf, daß wir mit heiligem Ernst

das thun, was wir längst gewußt, unzählige Male schon gehört und immer wieder vergessen haben.

Daß es uns an

diesem Thun noch fehle, wer unter uns wollte das leugnen?

So lange es noch unter uns Menschen gibt, die schon an­ gefangen hatten zu beten, aber das Gebet wieder wegwarfen,

weil es ihnen nicht half: so lange es unter uns Menschen gibt, welche zwar noch beten, aber mit dem deutlichen Be­

wußtsein, daß ihre kraftlosen Gebete weder über sie selbst noch über Gott eine Macht sind; so lange es Menschen gibt, die die Ursache für die Kraftlosigkeit ihrer Gebete nicht in sich selbst, sondern lediglich in Gott suchen—so lange werden auch

Gebetspredigten

nothwendig sein,

und

gerade

eine solche

Gebetspredigt, wie Paulus sie heute hält, wird den rich­ tigen Punkt treffen.

Sein Wort zeigt uns nämlich, wie

das Gebet nicht herausgenommen werden dürfe aus dem Zusammenhänge des gesammten christlichen Lebens, ja wie

man es geradezu in seinem innern Kern zerstören würde, wenn man es ablösen wollte von dem Untergründe des in­ wendigen Lebens.

In diesem Zusammenhänge zeigt uns

Paulus den innersten Weg, wirksam zu beten, so daß das

Gebet Gottes Herz bewegen und eine göttliche Kraft über unser Leben werden kann.

Wohlan, hat der Herr verheißen,

daß Gott seinen Geist geben wolle denen,

die ihn bitten,

— laßt uns ihn um den Beistand seines Geistes bitten,

wenn wir dem apostolischen Worte nachgehen und es zum

Prüfstein unsrer Gebete machen!

70 Wann werden unsere Gebete recht gesegnet sein?

Beantworten wir diese Frage nach dem Maß unseres Anhaltens im Gebet, unseres Wachens

in demselben, unseres Dankes und unserer Für­

bitten. 1.

Haltet an am Gebet —

dieses Wort schärft uns

offenbar zunächst ein regelmäßiges Beten ein; es stellt sich also in Gegensatz zu solchen Gebeten, die nur wie ein einzelner Nothschrei je und dann einmal aus einer gepreßten

Menschenseele Nothrufe

Nicht als wollten wir diese

sich losringen.

verachten oder verwerfen; nein, es steht wirklich

für alle geschrieben: „rufe mich an in der Noth"!

Es ist

wirklich etwas unbeschreiblich Großes, wenn ein Mensch — dieser kleine Mensch — seine Noth oder sein Glück über

diese ganze sichtbare Welt hinausruft in das Herz seines Gottes hinein.

Ja, hätte er das nur ein einziges Mal in

seinem Leben gethan, er hätte mit diesem einen Male sich über die ganze Kreatur erhoben und den Faden angeknüpft, der unter allen Geschöpfen ihn allein mit der Ewigkeit ver­

bindet.

Wenn

ein großer.deutscher Philosoph das Gebet

als ein Thun bezeichnet hat, dessen eigentlich jeder sich zu

schämen habe, der dabei überrascht werde, so hat er damit den höchsten Adel des Menschen für seine Schande erllärt

und nur dem Psalmwort einen „große Leute fehlen auch".

neuen Beleg hinzugefügt:

Und selig, sage ich, wir alle,

wenn es ausnahmslos von uns gilt: der Faden ist noch

nicht abgerissen, wir beten noch! Gleichwohl meint nun Paulus hier mehr als solche Bitten; er spricht von einem regelmäßigen Gebetsverkehr mit Gott, einem Anhalten am Gebet.

71 Verwechseln wir, l. Fr.! nicht

Bitten.

beständig Beten mit

Das Gebet ist mehr als eine Bitte.

haupt ein lebendiges

Verhältniß zu

Gott,

Wo über­

wo lebendige

Religion ist — denn Religion ist nichts anderes als „das

gewußte Band, das den Menschen mit Gott verbindet" —,

da ist ihre erste und natürlichste Aeußerung das Gebet.

Es

ist der Funke, der aufzuckt, wenn eine Menschenseele mit dem

unendlichen Gott sich

berührt.

Hast du überhaupt eine

lebendige Verbindung mit Gott, so muß auch täglich diese

Gebetsflamme aufleuchten.

Wenn sie das nicht thut, so

nimm es als ein ernstes Urtheil, daß dein Verhältniß zu

Gott nicht das richtige sein kann, daß deiner Religion das

Leben fehlt. Auf der andern Seite

ist aber das Gebet auch wie­

der die Nahrung, durch welche jenes Band mit Gott erst

recht gefestigt wird. Freund

Wie Eltern und Kinder, Freund und

erst durch den Verkehr mit einander recht verbun­

den werden, so wird erst durch das Gebet die Menschen­

seele eins mit ihrem Gott.

Darum darf auch dieser heilige

Gebetsverkehr nicht dem bloßen Zufall und der wechselnden

Stimmung allein überlassen bleiben; er muß vielmehr, damit er seinen Segen nicht verliere, in eine feste Ordnung gefaßt

werden.

Es gibt nämlich gewisse Zeiten, in denen schlechter­

dings das Gebet nicht

unterbleiben darf,

wenn nicht der

der mit Gott uns verbindet, immer dünner,

und

das Verhältniß zu ihm immer nebelhafter werden soll.

Ich

Faden,

denke vor allem an die Morgenstunde, wo du aus der Be­ wußtlosigkeit des Schlummers dich selbst wiedergewinnst, an die Abendstunde, wo aus der Verwirrung des Tages

die

Seele in sich selbst zurückkehrt, an den Sonntag, wo die in

der Wochenarbeit untergehende Seele sich selbst erfassen soll

72 in ihrem Gott. Ich habe damit nur die wichtigsten genannt

— lieber Mensch, sind wenigstens diese Gebetsstunden eine

unverbrüchliche Ordnung in deinem Leben?

Gegenüber der

Mahnung des Paulus, die nicht hier allein gesagt wird,

sondern fast in jedem seiner Briefe wiederkehrt: haltet an

am Gebet! — muß ich dich fragen, wie viel Zeit verwendest du auf deinen Verkehr mit Gott?

Ohne Zweifel, man kann

überall beten, mitten im Menschengewühl, mitten in der

Arbeit; man braucht für einen Gebetsseufzer wenig Zeit. Dennoch, soll dein Lämpchen nicht verlöschen,

so bedarfst

du einer bestimmten Zeit, welche nur fürdas Gebet da

ist!

Wie viel Sorgfalt und Treue verwenden wir auf die

vergänglichen Dinge in unserem Beruf, in unserem Geschäfts­

leben, — wie, und für unsern himmlischen Beruf hätten wir keine Zeit, keine Zeit für die Ewigkeit?! Wir haben

Zeit für unsere

Gesellschaften, für unsere« Vergnügungen,

für alles, was Interessantes täglich sich zuträgt und dessen

Bedeutung doch nur eine so vorübergehende ist, daß schon morgen kein Mensch mehr davon spricht — und wir finden

keine zehn Minuten morgens,

keine Viertelstunde abend-,

keine anderthalb Stunden Sonntags für unseren Gott?! Es ist merkwürdig, an welchen Kleinigkeiten das christ­

liche Leben inwendig ausdörren und verwelken kann.

Stehe

zehn Minuten früher auf, und die Zeit ist da; besser den Schlummer einbüßen, als den Frieden mit Gott.

Wenn du

abends klagst, daß du zerstreut und abgespannt bist — gehe doch nicht so weit aus aus dir selbst, daß du nicht wieder zu

dir selbst heimfinden kannst.

Laßt wie zwei unverrückbare

Pfeiler unseres christlichen Lebens die Morgenandachl und

Abendandacht in unserem Hause feststehen!

Wo sie fehlen,

steht das Haus in Gefahr, daß die brandenden Wogen der

73 Zeit ihm das innere Fundament

hinwegspülen,

und wir

weiter leben wie die Tausende in unserer großen Stadt, in

deren mühseliges und beladenes Leben wirklich kein Licht­ strahl mehr aus der Ewigkeit

hineinleuchtet.

Das meint

Paulus mit seinem: haltet an am Gebet!

Aber nein, nicht nur das



als könnten etwa die

Häuser, zu deren Ordnung Hausandacht und Kirchengehen Gott Lob, das alles berührt uns nicht, wir

gehört, sagen:

werden nicht davon getroffen. — Auch eine stehende Gebetssitte

kann versteinern;

kein Leben ist sicher vor dem Tode; ein

anhaltendes Gebet ist mehr als ein Gebet, das zehn Mi­

und abends in Anspruch nimmt.

nuten morgens

Unsere

Religion, d. h., unser Verhältniß zu Gott, soll doch nicht

nur zu bestimmten Stunden gleichsam aus der Schublade genommen und nachher wieder weggelegt werden, sondern

es soll unseren

dankenwelt

ganzen Menschen und unsere ganze

durchdringen

„Bezogenheit"

und

beherrschen.

Ge­

Es gibt eine

des inneren Menschen auf Gott, welche nie

aufhört, welche sein gesammtes Leben, sein Schreiben und

Rechnen, sein Kaufen und Verkaufen durchzieht, die ihn in seinen Gesellschaftssaal und in seine Studierstube begleitet,

die geradeso, wie ein großer Schmerz und ein großes Glück allenthalben ihre Spuren im Leben zurücklassen, auch un­ bewußt allem Denken und Thun sich aufprägt.

Wo diese

Gottbezogenheit des Gemüthes ist, da wird von selbst immer

wieder der Gebetsfunke aufflammen; nie wird es uns an der

bestimmten,

immer

wiederkehrenden,

inneren Weisung

fehlen: jetzt sammle dich und rede mit deinem Gott! es wird die regelmäßige Uebung des Gebets nur der Unter­

grund für eine Gebets stimm»ng werden, welche Zeitlebens,

wie eine verborgene Ewigkeit in uns,

uns überallhin be-

74 gleitet; wir werden es lernen, nicht nur bei bestimmten An­ lässen, auf einzelnen Höhepunkten der Noth oder der Freude

unsere Hände zu falten, sondern alles, was an wechselvollem

Thun den Tag ausfüllt, wird uns zum Gebet rufen; aus jeder Stimmung werden wir wieder in die Gebetsstimmung

unsere Stimmungen selbst werden uns neue

zurückkehren;

Anlässe werden zum Gebet, und weil wir so nie uns selbst verlieren werden, so werden wir auch nie unsere Gemein­

schaft mit Gott verlieren, in der wir allein wir selbst sind. — Das heißt im tiefsten Sinne: anhalten am Gebet.

2. Ein solches Gebet nun, das eigentlich ein beständiges

Aus- und Eingehen in der Welt des himmlischen Heiligthums ist, ist gar nicht möglich ohne ein Wachen. ein heiliges Hülfsmittel für

darum

der

Apostel

die

dieses

Mahnung:

Als

innerliche Gebet gibt

„wachet

in dem-

selbigen!'

Wie der Soldat in dunkler Nacht auf Posten zu wachen

hat, daß der Feind ihn nicht überfalle; wie der

Seemann bei nächtlicher Fahrt mit gespannter Wachsamkeit hinausspäht in die

Klippe Gefahr

stürmische See,

drohe, so

ob

keine

verborgene

soll mit offenem Auge und ge­

spannten Sinnen der Christ mitten in der Versuchungswelt

stehen, die ihn umgibt; und wie man in der Festung wacht,

daß nicht der Feind den einzigen Zugang abschneide, durch

den sie ihre Zufuhr erhält, so soll der Christ in seinen Ge­ beten wachsam sein, daß ihm nicht der Zugang gehindert

oder abgeschnitten werde zu dem oberen Heiligthum,

aus

dem seine Seele die Kräfte des ewigen Lebens empfängt.

75 Meint ihr, das wäre so einfach? Ach, warum ist denn jene Gebetsstimmung so selten,

oder so schnell wieder ver­

flogen, wenn sie kam? Warum werden so zahllose Gebete gethan, die auf ganz anderem Grunde sich erheben, als dem der heiligen Sehnsucht nach Gott?

Warum bleiben so un­

endlich viele unerhört, ungesegnet? Ich antworte: vor allem

deshalb, weil es uns an diesem Ernst heiliger Wachsamkeit fehlt. Laß mich,

um das klar zu machen, einen Augenblick

mithineintreten in dein Gebetskämmerlein. gelten,

was

Hosea vom Tempel sagt:

seinem heiligen Tempel,

Von ihm soll ja

„der Herr ist in

es sei fülle vor ihm alle Welt".

Ein heiliges Gepräge der Stille, des Alleinseins mit Gott

soll

einer betenden

Menschenseele aufgedrückt

lausche ich auf dein Gebet

deine Gebetsworte

sein.

Nun

— sieh', mitten hindurch durch

tönt noch der Lärm

das Gellapper des Haushalts,

des Marktes oder

Kingt das Geplauder der

Gesellschaft, aus der du kommst, schleichen sich die Leiden­ schaften des Tages,

unter denen du kämpfest; ja wie oft

geschieht es — während du die Worte des Gebets, des Vaterunsers sprichst, hörst du selbst kaum, was du betest —

und du Menschenkind meinst wirllich, Gott solle bei den

Gebeten sein, bei denen du selbst nicht mit deiner ganzen

Persönlichkeit zugegen bist? oder Bitten erhören, selbst kaum hörst?

sein

heiliges

Meinst du,

die du

der lebendige Gott könne

Antlitz spiegeln lassen in dem unreinen Ge-

woge deines von Leidenschaften bewegten Herzens? Ehe du

redest mit Gott, lerne

aufwachen aus dem Getreide der

Welt, schließe die Thüre

in deinem Gebetskämmerlein zu

und lasse deinen Vater zu dir reden, bis du im Stande bist, zu ihm zu sprechen. In solcher Sammlung beten, das

heißt wachen!

76 Aber Paulus denkt wohl an mehr. einmal auf dein Gebet.

Ich lausche noch

Es ist wahr: du bist gesammelt;

aber du betest ohne Freudigkeit, ohne Kraft.

Dein Gebet

ist wie eine Pflicht, die du mit Unlust thust, nicht mit

Freudigkeit.

Weißt du, was sich wie ein Bleigewicht an

deine Gebetsflügel anhängt?

Gott können nur die reinen

Herzen schauen und nur dem Aufrichtigen läßt es der Herr gelingen — und dir fehlt beides —

eine Stelle ist

vorhanden, wo du dein unreines Herz nicht reinigen lassen willst, ein Punkt, an dem du vor deinem Gott und vor dir selbst unaufrichtig bist!

Es ist ein Bann über dir, Israel

— hat der Herr einst zu seinem Volke gesprochen.

Es ist

ein Bann über deinem Herzen, der dich hindert dich aufzu­ schwingen zu deinem Gott.

Ein Lügner kann nicht beten,

ein Trotziger kann nicht mit Gott reden,

ein von unreiner

Lust bewegtes Herz kann nicht zu dem heiligen Gott auf­ schauen, unvergebene, mit Bewußtsein zurückbehaltene Sünde

tödtet das Gebet!

Wache über dich selbst, um diesen ver­

borgenen Punkt, den du von deiner Heiligung ausnehmen

willst, zu entdecken.

Wache über deinen Gebeten, daß nichts

sei, das sich nicht will von Gottes Geist durchleuchten lassen.

— Mit diesem Entschluß der Heiligung beten, das heißt:

wachen im Gebet. Und noch ein drittes Mal höre ich deinen Gebeten zu. Du betest ernst, anhaltend, immer wieder die eine Bitte um

ein geliebtes Leben, um Aenderung einer peinlichen Lage, um Errettung von äußerer Noth.

Gewiß, du darfst es;

Gott kann erretten; wie viele haben schon erfahren: „wenn die Stunden sich gefunden, bricht die Hüls' mit herein".

Macht

Dennoch — ich sehe im Hintergründe deiner Bitte

das trotzig erhobene Haupt: du mußt mir helfen; ich höre

77 die leise Bedingung zwischen

deinen Worten, die du Gott

stellst: wenn du mir nicht hilfst,' so sehe ich, daß das Gebet überflüssig ist, und werfe Gebet und Glauben fort.

Halt,

lieber Mensch, wie kann ein Gebet Gott wohlgefällig sein,

das ihm gleichsam die Pistole auf die Brust setzt und ihm

abpressen will, was er nur geben kann aus lauter Gnade und Barmherzigkeit.

Wache über dich selbst, damit du zu­

erst lernst, dich demüthig beugen Gottes

verlernst,

unter Gottes Willen, und

Willen unter den deinigen

beugen

Nur demüthige Gebete sind Gott wohlgefällig.

wollen.

zu So

demüthig beten heißt: wachen im Gebet!

3. In

einem

dritten verbürgt

uns Paulus den Segen

unserer Gebete, indem er mit dem Wachen enge zusammen­ schließt die Danksagung:

„wachet im Gebet mit Dank­

sagung". Wunderbar, das ist das erste Wort, das sich auf den Inhalt unserer Gebete bezieht,

und

dies erste Wort sagt

uns nicht, was wir bitten, sondern wie wir danken sollen;

es weist uns nicht auf die Armuth hin,

die wir vor Gott

bringen dürfen, sondern auf den Reichthum, den er uns ge­

schenkt .hat.

Und weiter: wunderbare Kraft des Dankes

beim Gebet — er vermag es, ein Gebet so innerlich zu gestalten, daß es den Sündenbann

überwindet, die Seele

sammelt und so ein gesegnetes, Gott wohlgefälliges Beten Verstehen wir nur recht, welchen Dank der Apostel

wird.

meint. Es ist ja ohne Zweifel wahr: wir haben alle Zeit mehr Ursach zu danken als zu bitten; wir würden dessen inne

werden, wenn wir nur anfangen wollten zu danken; wir

78 würden erst ganz verstehen, wie reich Gott im Geben und

Segnen ist, wenn wir jede empfangene Gabe im Dank auf

den Geber zurückbezögen.

Es würde uns erst das Auge

sich öffnen für die verborgenen Wunderwege Gottes, wenn

Es kann nicht zweifel­

wir ihrer keinen ohne Dank erlebten.

haft sein, daß wir nur deshalb so wenig von Gottes Aus­

hülfe erfahren, weil wir den Dank vergessen und meinen,

es müsse so sein, und darum sollten wir jeden Tag die be­ sonderen Ursachen des Dankes aufsuchen, die er uns bietet



immer reichlicher würde die Quelle des

Dankes uns

stießen.

Gleichwohl denkt Paulus hier

nicht an einzelne

Danksagungen fiir einzelne Wohlthaten; auch sie sind nur die Stufen, die zu dem Heiligthum hinaufführen, in das er

uns hineinsehen läßt.

Ueber den Dank für die Einzelführung

hinaus gibt es ein Danken, das auch auf dunkelen Wegen

dasselbe bleibt:— sieh, lieber Mensch, der große, allmächtige,

herrliche Gott will dein Gott sein; du darfst zu ihm reden wie ein Kind mit dem Vater. Ja, der seinem Wesen nach Geist ist, so unfaßbar, so unermeßlich, daß Worte und Namen für ihn

nur „Schall und Rauch" erscheinen —

er ist dir offenbar

und greifbar geworden in seinem Sohne Jesu Christo;

heilig ist,

der

ein Richter der Herzen, so ernst, daß .sündige

Menschen vor ihm nur fliehen können — er nimmt dich an,

wenn du nur zu ihm fliehst in Christo Jesu. diese einzelne Bitte erhört ist, so

Gleichviel ob

wie es mein verkehrtes

Wünschen verlangte, ob er wirklich die Hülfe so hat kommen lassen, wie ich sie begehrte, ob er mich durch Geben gesegnet

hat oder vielleicht

durch Nehmen

— du armer sündiger

Mensch darfst dennoch in jedem Falle gewiß sein, daß

deine Bitte sein Herz bewegt hat, in seine heilige Liebe auf-

79 genommen und bei ihm so treu verwahrt ist wie Kindesbitte in Vater- und Mutterherzen.

Und

siehe, dafür danken,

das heißt mehr, als Worte des Dankes sprechen, das heißt, vor ihm niederfallen: „ich bin zu gering aller Barm­

herzigkeit und Treue, die du an mir thust"; das heißt, vor ihm sich beugen: „wie soll ich vergelten alle deine Wohl­ that" ?—das heißt, danken mit der Hingabe des eigenen Willens und Herzens, und von diesem Danke kann man

sagen:

ja, er zerbricht wirllich den Bann und die Lust an

allem Unreinen, er lehrt beides: anhaltcn am Gebet und

wachen in demselben; er macht unsere Gebete erst innerlich

und wandelt sie um in eine Hingabe der Herzen an Gott; er zieht das Amen Gottes und seine Segnungen auf unsere

Gebete herab, er hebt aber auch

4. den Inhalt des Gebets dann weit über alles

liche hinaus und gestaltet

nur Persön­

dasselbe zu der Fürbitte, um

die am Schlüsse unseres Textwortes Paulus seine Kolosser

angeht: „Betet für mich, auf daß .Gott uns die Thür des Wortes aufthue, zu reden das Geheimniß Christi, darum ich auch gebunden bin, auf daß ich dasselbe

offenbare, wie ich reden soll". Nicht von einer Fürbitte im engeren Sinne ist die

Rede und

nicht von ihr, die eine besondere Betrachtung er­

heischen würde, will ich jetzt reden.

ist ein

Was Paulus fordert

Gebet für sein Amt, für das Laufen des Worts,

für die Siege

des Reiches Gottes durch seine Arbeit.

ist ein neuer, großartiger Gesichtskreis, den

Es

er den Betern

eröffnet — für ihre Keine Sorge bietet er ihnen die große

Sache des Reiches Gottes, für ihre Keinen Erfahrungen im

80 bescheidensten Kreise reicht er ihnen die Mitfreude über die Siege

Jesu

seufzen,

Christi.

Ihre Nöthe,

unter deren Last

sie

sollen sie vergessen über dem Anliegen, daß die

Fahne Jesu Christi weiter

getragen

und die Thür des

Worts aufgethan werde, um seinen Namen zu verherrlichen. Dasselbe gibt

also Paulus

hier als Ziel aller Gebete an,

was der Herr im Vaterunser uns hat erflehen heißen, daß nämlich Gottes Reich komme, sein Name geheiligt werde, sein Wille geschehe, und so seine Kraft sich offenbare.

Das

sind die tiefsten Bitten, die ein Mensch

Und

thun kann.

hier prüfet, l. Fr., euch selbst: für was beten wir? Heiliger, großer Gedanke, der ein christliches Gebet ausfüllen soll!

Es soll eine betende Menschenseele hinauf­

steigen zu ihrem Gott und soll seine Sache auf ihr Herz

nehmen, als wäre es ihre eigene! Ja, daß es in dir Licht werde, und die Finsterniß deiner Seele

weiche und Gottes

Reich zu dir komme — das darfst du zuerst beten.

Aber

dann soll das Gebet sich erweitern — daß es auch in an­ deren Licht werde, in deinem Hause, in deinem Kreise, in den Menschen, die Gott mit dir zusammenführt, daß dieser eine in Sünde und Leidenschaft Gebundene ein anderer werde, daß in diesem Kreise der Sünden und der Seufzer weniger

werden und die Gotteskraft sich offenbare, daß die zerspaltene

und zerrissene Kirche sich wieder zusammenschließe zu einer Gemeinschaft im Glauben und im Geiste, daß die Sieges­ kraft des Evangeliums die Welt erobere, und allen Mächten des Unglaubens

und des

Heidenthums gegenüber immer

wieder unser Glaube sich erweise als der Sieg, der die Welt

überwunden hat. Ueber solchem Bitten vergißt man alle jene

äußer­

lichen Forderungen, die wir so oft an Gott richten.

Denn

81 alle einzelnen Dinge, die wir erbitten könnten, laufen doch wieder in das Eine hinaus, daß nur an

uns und durch

uns sein Name verherrlicht werde und sein Reich komme.

zu uns

So kann es schließlich auch keine ungesegneten Ge­

bete mehr für uns geben;

denn wenn Gott das Mittel

abschlägt, das ich mit meinem endlichen Verstände ihm an­

es nicht zum

gebe, weil er eben besser weiß als ich, daß

Ziele führt: so will er den Grundgedanken meines Gebets doch erhören und durch Geben und Nehmen, durch gute und böse Tage dazu mithelfen, daß

sein heiliger Wille an

uns geschehe und sein göttliches Reich in

uns

aufgerichtet

werde. So beten können heißt in Wahrheit und immer ge­ segnet beten! Ich bin am Schlüsse.

Nicht darauf, sagte ich im An­

fang, kommt es an, daß wir Neues hören, nicht gedacht haben,

was wir noch

sondern daß wir das Alte thun,

wir alle schon wußten.

was

Lasset uns anfangen zu beten, und

wäre es noch so schwach, noch so unbehülflich — auch das Kind lernt erst allmählich gewisse Tritte thun, und kein Beter

wird zum Himmel aufsteigen, der nicht erst zagend die ersten

Sprossen dieser Leiter betreten hat.

Gott aber

wird auch

die schwache Bitte nicht unbeachtet lassen, sondern den Auf­

richtigen krönen mit seiner Erhörung!

Amen.

VII.

Sonntag nach Neujahr 1885.

Das feste Herz. Hebe. 13, 9.

Lasset

euch

nicht

mit mancherlei und fremden

Lehren umtreiben; denn es ist ein köstliches Ding, daß das Herz fest werde,

welches geschiehet durch Gnade, nicht durch Speisen,

davon keinen Nutzen haben, die damit umgehen.

Theure Gemeinde!

Vor wenigen Tagen sind wir in

das neue Jahr hineingetreten. Ihr laßt euch, nachdem wir am Sylvesterabend gemeinsam dem alten Jahr seinen Abschieds­ gruß gesagt haben, auch heute noch einen Wunsch für das

angetretene Jahr aussprechen.

Der Apostel hat den Aus­

druck gegeben für das, was ich uns Allen wünsche: ein

festes Herz. Ohne Zweifel fühlen wir alle, daß der Apostel Recht

hat, wenn er das ein köstliches Ding nennt; es gibt keine

höhere Gabe.

Ein Herz,

das fest geworden ist in seinem

Glauben und das nun durch eine Welt des Zweifels hin­

durchgeht, seines Willens und feiner Ueberzeugung gewiß; ein Herz, das fest geworden ist in seinem Wollen und das

nun

unbeugsam

bleibt

mitten

unter dm verführerischen

Stimmen zur Rechten und zur Linken;

das Herz, dieser

innerste Centralpunkt des menschlichen Wesens, von dem Denken,

Fühlen und Wollen gleicher Weise bestimmt wird,

83 fest geworden

und

in

sich

selbst geschlossen und dennoch

durchsichtig und klar — ein höheres Ziel kann uns allen nicht wohl gesteckt werden; ein köstlicheres Gut können wir unseren Kindern nicht wünschen. Und wenn wir beim Jahres­

anfang wohl Hinausschauen in weitere Gebiete — was thut unserer Kirche noth, damit sie das Salz im Leben unseres

Volkes werde, was unserem Staat, damit er unerschütter­

lich auf den sittlichen Grundlagen bleibe, die seine Gesund­

heit und seinen Bestand verbürgen?

Wir können mit dem

einen Worte antworten: — feste Herzen!

Aber, l. Fr., achten wir nun auch gleich darauf, auf welche Weise nach dem

wird.

apostolischen Wort ein Herz

fest

Auch der alternde Baum wird hart, unbiegsam, fest;

so kann wohl ein alternder Wille hart, starr und unbiegsam

werden, und

ist

doch nicht im

rechten Sinne fest.

Der

Apostel fügt seinem Preise des festen Herzens hinzu: „wel­

ches geschieht durch Gnade" — und wollt ihr dies un­

verständliche Wort euch deutlicher machen, nehmet hinzu, was unmittelbar vorhergeht, das Wort,

das wir am Neujahrs­

tage des vorigen Jahres uns zuriefen:

„Jesus Christus

gestern und heute, und derselbe auch in Ewigkeit"!

Es ist die-Erfahrung der Gnade, die von Christo aus­

geht, welche das Herz fest macht. werden wollen

wir sprechen,

von

Nur vou diesem Fest­ der Festigkeit,

die das

Herz an die Ewigkeit kettet.

Einen Menschen,

der fest geworden ist in einem be­

stimmten einheitlichen Gepräge seines Wollens und Wesens, pflegen wir wohl einen Charakter dessen

ganzes Leben

und Wesen

zu nennen; ein Mensch, bestimmt wird von dem

einheitlichen Mittelpunkte der Erfahrung der Gnade Jesu

Christi aus,

ist

ein christlicher Charakter.

Bewußte,

84 klare, charaktervolle Christen, christliche Charaktere sollen wir alle werden.

Laßt uns unser eigenes Bild denn vor die

Seele stellen, wenn wir

vom christlichen Charakter reden.

Er entfaltet sich, wo das Herz fest wird.

Dies Festwerden geschieht durch Gnade.

1. Wie köstlich es sei, daß das Herz fest werde, das hat

ein Petrus gewußt, als er in feiger Menschenfurcht drei­ mal den Herrn verleugnete und dann, getroffen von dem

Blick des Königs mit der Dornenkrone, bitterlich weinend hinausstürzte in Einsamkeit und Nacht.

Wie köstlich das

feste Herz sei, das hat ein Thomas erfahren, als er, von Charfreitagstrauer gehalten, in seinen Zweifeln hin und her geworfen wird, während die anderen Jünger längst schon

voll Osterfreude jubeln: er ist auferstanden, er lebt! Wie köstlich dies feste Herz sei, ein Paulus hat es gewußt, wenn er immer wieder trotz aller Anstrengung die Er­ fahrung macht: „Das Gute, das ich will, das thue ich

nicht, und das Böse, das ich nicht will, das thue ich"



bis er endlich hindurchdringt zu dem Siegesruf: „ich danke

Gott durch Jesum Christum, unsern Herrn". Gewußt hat es ein Augustin, der in allen Kämpfen mit feiner sinn­ lichen Natur nicht zum Ziele kommt und immer wieder mit

sich selbst paktirt: nur noch nicht gleich, nur noch ein wenig

möchte ich genießen — bis endlich der Stärkere den Starken überwindet und

er anzieht den Herrn Jesum Christum.

Dies feste Herz hat ein Luther gekannt, der der ganzen

Welt sein Keines Ich entgegensetzt, wo es mit Gott im

Bunde steht: ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen.

85 Und wie weit könnten wir die Reihe solcher festen Gottes­

männer, solcher christlichen Charaktere fortsetzen bis in unsere Tage hinein.

Eins

ist

bei allen dasselbe — so lange das

Herz nicht fest geworden ist, so lange sind

sie schwankende

Rohre: die Felsenmänner, an denen die Kirche des Herrn sich aufrichtet, die christlichen Charaktere, die das Gepräge ihres gewaltigen und durchleuchteten Wesens auf Jahrhunderte hinaus der gesammten Kirche aufprägen, werden sie erst, als ihr Charakter fest geworden ist durch Gnade.

Wir fragen: worin soll denn das Herz fest werden?

— und aus der Reihe tritt zuerst Petrus

auf und ant­

wortet uns: ein Festwerden des Herzens bedürft ihr gegen­ über der Furcht vor der Welt; die Festigkeit des Herzens

besteht in einer eigenthümlichen Freiheit, dem Freiwerden nämlich von Menschenfurcht — von der Furcht vor dem Urtheil der Leute. gültig sein.

Gewiß, dies Urtheil soll uns nicht gleich­

Auf der sittlichen Werthschätzung, also auf dem

Urtheile anderer über uns ruht das, was wir Ehre nennen,

und die Ehre ist ja gewiß ein sittliches Gut, das wir mit

ganzem Ernst bewahren sollen.

Aber ebenso wenig können

und dürfen diese Urtheile der Menschen allein uns binden und bestimmen.

Es ist ein anderes Urtheil, das für dich

entscheidende Bedeutung haben soll,

als das der Menschen,

nämlich das Urtheil deines Gewissens und zwar des an

Gott gebundenen und von Gott allein bestimmten Gewissens. Und wo nun die Furcht vor dem Urtheil der Menschen dich bestimmt, dein Gewissen zu verletzen und deinen Gott zu

verleugnen,

da wird diese Abhängigkeit von den Menschen

zu einer schmachvollen Knechtschaft.

Seien wir aufrichtig, l. Fr.,

wir alle kennen diese

Knechtschaft; sie ist der Bann auf deinem Christenthum im

86 Großen und im Kleinen.

Du hast deinem Hause gern das

Gepräge ernsten Christenthums geben Wollen — aber was

werden die Menschen dazu:sagen?!

Wie mancher arme

Hausvater hat um deswillen seine Hausandacht eingestellt oder nicht auszusühren

gewagt!

Du mißbilligst manches

in der Erziehung deiner Kinder, was ihnen an Zerstreuung,

an Genuß, an Vergnügen zu Theil wird;

mehr Ernst für

sie, mehr Sammlung für sie, das ist dein Anliegen, das ist dein Gebet sogar — aber was würden die Menschen davon urtheilen, wolltest du dich zurückziehen?! — Ach jene jämmer­

liche Stunde deines Lebens, die der Verleugnung des Petrus so ähnlich sieht an schmachvoller Feigheit und Lüge — was

hat diesen Brandflecken dein Gewissen

gebracht? war es

nicht die Angst vor dem Spott der Leute, war es nicht die Furcht vor

den Menschen?

Denken wir an die Macht der

Schlagworte in unseren Tagen, an den unglaublichen Zwang,

den die Partei ausübt, an die Scheu, sich irgendwie zu kompromittiren — wie viel Theil hat an dem allen die Furcht vor den Leuten, die charakterlose Knechtschaft des Herzens, dem das erste fehlt, wodurch es fest werden kann, nämlich

die Freiheit, sich aus sich selbst zu bestimmen.

Aber richten wir noch einmal die Frage: worin soll

das Herz

fest

werden?

Da treten

ein Paulus, ein

Augustin aus dem Chor der Genannten auf und antworten

uns:

fest

soll

es

werden

gegenüber der Macht

der

gegenüber dem sündlichen

eigenen Ich,

Lust; die Festigkeit

des Herzens besteht in einer eigenthümlichen Entschlossenheit

und Kraft auch dem eigenen inneren Menschen gegenüber: In dir ein edler Sllave ist,

Dem du die Freiheit schuldig bist!

87 Ach und nun seht unsere großen und tapferen Leute

in der Welt an, Namen, die von Tausenden genannt werden, vielleicht solche, die anderen zum Führer dienen, an denen andere sich halten sollen — und an der Kraft

gegenüber

ihrer eigenen Leidenschaft, an der Entschlossenheit gegenüber der Lust, die jenen edlen

Sllaven bindet,

gegenüber der

Selbstsucht, die ihn erstickt, wie fehlt es da so ganz!

Wie

hundertfach sind Menschen, die in dem Trotz ihres selbst­

gewissen Wesens einer ganzen Welt gegenüber muthig sind,

unbegreiflich feige und schwach, wenn es den Kampf gegen das eigene Herz und die eigene Lust gilt.

„In Jedem ist ein Bild deß, das er werden soll —: so lang du dies nicht bist, ist nicht dein Friede voll", heißt ein

Dichterwort.

Es ist das Bild, das dein Gott von dir sich

macht, in dem dein innerer Mensch mit seinen eigenthümlichen

Gaben, seiner eigenthümlichen Individualität, herausgeschält aus den Schlacken des sündlichen Wesens, zur Erscheinung kommt.

Und nun sieh dies Bild an in dir selbst, entstellt

von den Ausbrüchen unreiner, wüster Leidenschaft; nun fühle

immer wieder jene Selbstverachtung über die jämmerliche

Schwachheit, die ohne Damm die Leidenschaft einbrechen ließ; nun sieh die Regungen dieses inwendigen Menschen, gebunden von Sinnlichkeit, Eitelkeit, Selbstsucht, Ehrgeiz, die schließlich

seine Stimme nicht einmal mehr vernehmbar werden lassen,

weil sie völlig das Herz ausfüllen.

Du armer gebundener

Mensch, geknechtet von diesem sündlichen Ich mit seinen Leiden­ schaften, friedlos, zerrissen in dir selbst, — was dir fehlt ist —

ein festes Herz.

In dieser Beziehung hat Paulus in seiner

Darlegung Römer 7 der Erfahrung aller Zeiten Ausdruck ge­

geben.

In der Schilderung dieses von seiner eigenen Leiden­

schaft ohnmächtig hin- und hergezogmen Herzens sind die

88 Konfessionen Augustins ein Lebensbuch, das für alle Zeiten

Bedeutung behalten wird.

Werde fest in dir selbst, stark

gegen dich selbst; nur wo so das Herz fest wird, prägt sich der christliche Charakter.

Und ein drittes fügen wir hinzu, worin das Herz

fest werden muß — und alle Gottesmänner, denen das Herz fest geworden ist, geben uns dieselbe Antwort: es muß das Herz fest werden im Glauben; eine eigenthümliche Ge­

bundenheit macht das Wesen dieser Festigkeit aus, eine Ge­

bundenheit nämlich der Mensch

an den lebendigen Gott.

gebunden

ist an

Nur wenn

Gott, wird er frei von der

Welt; nur wenn er mit dem Stärkeren im Bunde steht, mit Gott, wird er stark gegen sich selbst.

Nie wird das Herz

fest, nie bilden sich eigenartige, christliche Charaktere, wenn

nicht eine starke und unerschütterliche Glaubensüberzeugung den ganzen Menschen beherrscht.

Es sind

zwei bedeutsame

Beobachtungen, die ein Schriftsteller gegenüber der Frage

macht, wann die wenigsten großen Menschen auftreten, die, stark und fest in sich selbst,

ein Halt für ihre Zeit und ihr

Volk werden — es sind die Zeiten der allgemeinen Skepsis, der Zweifelsucht und des Unglaubens gewesen! Und wiederum, sehen wir die großen Männer

der Welt durch,

an denen

eine ganze Zeit sich gehalten hat — wir finden unter ihnen,

wie verschieden die Ueberzeugung sein mag, die sie erfüllt,

keine Atheisten!

Was gibt dem Zeugniß der Apostel noch heute die

ungeschwächte Kraft

über die Herzen,

was

macht

einen

Luther noch heute zum Träger seiner Kirche? — es ist die

Macht, die von dem Zeugniß ihres persönlichen Christen­

thums,

ihres

Glaubens

ausgeht.

Mit der

Frage des

Zweifels auf den Lippen: was ist Wahrheit? hat Pilatus

89 feige den Heiligen preisgegeben und heuchlerisch den König der Wahrheit zur Kreuzigung überantwortet. Petrus, der dem hohen Rathe

entgegenhält:

„man

Wiederum ein

das Wort heiligen Trotzes

muß Gott mehr gehorchen

als

den

Menschen"; ein Paulus, der die halbe Welt für das Evan­ gelium von Christo

erobert;

ein Luther, der eine Kirche

gründet und ein neues Zeitalter heraufführen hilft — sie stehen auf ihrem festen, unerschütterlichen Glauben: ist Gott

wer mag wider uns sein?

für uns,

Starker, unerschütter­

licher Glaube thut uns allen noth — ich meine nicht einen Glauben, der in der Annahme eines Bekenntnisses, in dem

Fürwahrhalten

Glauben,

eines Lehrbegriffs

besteht, sondern

einen

der das Hineintreten in eine unsichtbare Geistes­

welt bedeutet, der ein geistiges Schauen und Erfassen des

unsichtbaren Gottes ist, einen Glauben, der kraft dieser Er­ fahrung gefeit ist

gegen eine Welt des Zweifels und der

muthig einer Welt voll Einwürfe und voller Halbbildung mit dem Zeugniß seiner eigenen Selbstgewißheit zu begegnen vermag: ich habe erfahren und erlebt, was ich glaube!

Wenn so das Herz fest wird in Gott,

der Mensch zum christlichen Charakter. diesen Glauben nicht in dir,

so prägt sich

Wiederum trägst du

so wird dir auch jene Frei­

heit von Menschenfurcht und jene Herrschaft über dich selbst fehlen.

Wohlan, um so ernster laßt uns denn hören, was

der Apostel uns weiter zu sagen hat, die Antwort nämlich auf die Frage,

wie es möglich

diesem Sinne fest werde.

sei, daß das Herz in

Es geschieht, sagt er, durch

Gnade!

2. Durch Gnade!

Worten

Ich

fühle

euch,

l. Fr., bei diesen

eine Art von Enttäuschung ab, die vielleicht um

so so größer ist, je ernster ihr euch gesagt habt, daß dieses feste Herz doch in Wirklichkeit ein köstliches Gut sei.

Durch

Gnade! — Das scheint euch wie eine Art Vertröstung auf eine zukünftige Welt,

nicht aber eine Mittheilung neuer

Kraft für die gegenwärtige; das kommt euch vor, wie eine Demüthigung, welche vielmehr den eigenen Willen und die

natürliche Kraft zerbricht, die gerade die

nicht aber wie eine Anstachelung,

äußerste Kraft herausfordert und entfaltet.

Und dennoch weiß der Apostel keinen andern Weg, als diesen: es geschieht durch Gnade.

Ja, wenn er hinznsetzt:

„nicht durch Speisen, davon keinen Nutzen haben, die damit

umgehen",

so will

Briefes sagen: es

er nach dem Zusammenhang unseres

geschieht nicht durch irgend eine äußere

Leistung, irgend ein äußeres Werk, das ihr vollbringt, und das darauf gesetzte Vertrauen, es geschieht allein durch etwas, was der Herr thut, allein durch die Gnade, nämlich die Gnade

des Herrn, den er eben genannt hat:

Jesus Christus,

und durch das Vertrauen, das ihr auf die Gnade setzt. Man muß nun zugeben:

nicht jedermann kann ohne

weiteres diesen Weg einschlagen.

Wer zum Beispiel wie

jener reiche Jüngling Matth. 19 der Ueberzeugung ist: die Gebote Gottes habe ich alle gehalten von Jugend auf!, oder

wer auch nur wie der Pharisäer Saul denkt, durch das Gesetz und

seine Erfüllung selig zu werden, der wird vor der Frage nach einer Gnade und einer Erlösung, wenn

sie mehr sein soll

als etwa eine Belehrung, kopfschüttelnd stehen bleiben und

vielleicht ihr den Rücken kehren; er braucht sie nicht.

Man

kann auch keinen Menschen zwingen» diesen Weg zu gehen; denn Gnade kann füglich nur einer suchen,

der sie braucht,

und darum kann im Grunde nur die eigene Erfahrung auf diesen Weg führen und keine fremde Weisung und Leitung.

91 Ja, man soll auch Niemand zwingen wollen, diesen Weg der Gnade zu gehen; im Gegentheil, wer

ohne Gnade,

ohne einen Erlöser, ohne die Gewißheit der Barmherzigkeit

seines Gottes auskommt,

gut, er möge es versuchen und

zwar so — hier ist das Ziel: — das Herz soll frei werden

von Menschenfurcht, von Sündendienst, von Zweifel, frei in Gott, stark in Gott, fest in Gott! und hier ist der Weg: —

zerbrich die Ketten, mit denen Welt, Sünde und Zweifel dich halten, hebe dich mit kühnem Entschluß selbst hinaus

über alles das Gemeine, was dich bindet, halte dich selbst

im Glauben unerschüttert,

kraft deines heiligen Willens;

dann tritt hin vor deinen Gott und sprich: siehe Herr, wie Du dies Herz haben willst, so bringe ich es Dir! es ist fest geworden im Kampf, fest im Glauben, fest wider alle

Stricke der Sünde, ich bin wie das große Vorbild, das ich mir nahm, das nicht seinen, sondern Deinen Willen that

und auf dem Dein Wohlgefallen ruht!

O selige, herrliche

Menschen, die so sprechen, die so sprechen können--------- wo sind sie?

Sind sie hier unter uns,

kennt ihr sie in eurer

Mitte, seid ihr ihnen je begegnet unter den Größesten im Reiche Gottes?

Ich kenne sie nicht und — seht tiefer und

forschet genauer nach: ihr kennet sie auch nicht, ihr findet sie nicht und findet sie nirgends in der Welt.

Und hier

ist der Grund, warum ihr sie nicht findet: —

Es wird ohne Zweifel unter uns solche geben, die noch nie diesen Versuch gemacht und darum von der Größe

der Aufgabe, um die es sich handelt,

von

der Höhe des

Ziels, das sie erreichen sollen, keine Ahnung haben. Denen kann man nur den Stachel in's Herz treiben:

erst lerne

überhaupt mit ganzem und heiligem Ernst das Trachten nach diesem festen Herzen,

erst dringe in die Tiefe der

92 Forderung,

die dein Gott an dich richtet;

dann urtheile

über die Kraft, welche du dieser Forderung entgegenbringst.

Es sind aber sicherlich auch solche unter uns, die bereits mit sich selbst und ihrer Leidenschaft gerungen und gestritten

haben, und denen das höchste Ziel in diesem festen Herzen

besteht, und eben diese sollen jetzt uns bezeugen, wie immer

wieder jeder neue Versuch, jeder neue Anlauf, wenn er das innerste Herz, die Erneuerung des Willens, in's Auge faßte, auch auf dasselbe Resultat hinauslief: ich will, aber ich ver­

mag es nicht;

die Kraft reicht nicht zu;

Ziel, zu schwer ist die Aufgabe.

zu hoch ist das

Ich kann wohl Auswüchse

abschneiden, Gewohnheiten ablegen, aber die innerste Ge­

sinnung zu ändern, ein neues Herz mir zu geben, vermag ich nicht.

Und unter dem Ernst dieses gewöhnlich noch

Trachtens pflegt man

eine andere Erfahrung zu machen.

Je

ernster der Mensch danach trachtet Gott zu nahen, um so mehr erwacht das Gefühl seiner Schuld, der Gedanke an unvergebene Sünde.

Es ist der Ernst der Heiligung selbst,

der zu dem Gefühl der Verwerflichkeit und der Verschuldung führt.

Wie sich die Erfahrung des Paulus wiederholt: ich

habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen, ich sehe aber ein anderes Gesetz

in meinen Gliedern, das

da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüthe — so auch

die andere, die in der Frage liegt:

ich elender Mensch, wer

wird mich erlösen? Und aus dieser Erfahrung heraus wird

das Bedürfniß nach einer rettenden Gnade, wird das Ver­ ständniß für

einen Erlöser geboren.

Wie der Ertrinkende

mit aller Kraft nach dem rettenden Tau, so greift dann der Mensch mit ganzer Kraft im Glauben nach der Gnade seines

Heilandes, die Schuld

zudeckt

und

neue

Kraft mittheilt.

93 Nicht nur etlichen Starken

bietet sie sich an, nein, allen,

auch den Schwächsten, und sie sollen stark werden. Es wird

der Weg der Demüthigung, des Verzagens an bet eigenen

Kraft und des Jnnewerdens der eigenen Schuld die enge Pforte, die hinauf führt zur Erfahrung der Kraft Gottes,

durch die einer alles vermag.

So zieht eine

heilige Furcht in die Seele ein vor

dem Gott, dessen Liebe an uns

nicht vergeblich sein darf,

und hebt das Herz hoch hinauf über der Menschen Urtheil und die Furcht vor sagen

so

demselben,

lernen: man muß Gott Mit dem Erleben

Menschen. verschuldetes

Gewissen

Leben

auslöschcn

zudeckt kann,

daß

mehr

der Gnade Gottes,

und kommt

eine

werden

die Sünde abzulegen,

neue

zu

Kraft

der

mannhaftem Laufe, zu

kämpfen und

eine Kraft, welche

schwersten Tugend, zu der Demuth, den Gelingen gibt.

den

die ein

welche seine Hände

um nun gegen Fleisch und Blut siegreich wirllich

als

auch ein Brandmal im

Dankbarkeit über den Menschen, durch stark und seine Kniee fest

mit Petrus

wir

gehorchen

zu der

Ernst und das

So wird durch die Gnade ein Band der

Gemeinschaft mit Gott geknüpft,

die eine Sache lebendiger

Erfahrung und täglichen Erlebens wird und die selbst ein

Zugang ist zum Vater und das Hineintreten in eine höhere Welt:

Das lebendige Schmecken und Empfinden dieser Kraft,

diefe Erfahrung der Gnade hat einen Paulus so stark ge­ macht, daß er aussprechen kann: ich vermag alles durch

den, der mich mächtig macht, Christus; diese Erfahrung hat einen Luther aus der Tiefe seines Bußgefühls hinaufgehoben

zum Helden seines Volkes.

christlichen Charakters,

Das ist die Grundlage eines

des neu geprägten

nun mit seinem neu gewordenen Willen

Menschen, der

und seiner neu ge-

94 wordenen Lebenskraft auch alle Beziehungen seines Lebens und Wirkens heiligen und durchdringen, von diesem lichten Mittelpunkte aus die ganze Lebensperipherie verklären soll. In dieser Durchdringung des ganzen Lebens mit der Kraft

der empfangenen Gnade besteht die Arbeit der Heiligung,

mit der wir hier auf Erden nie fertig werden, und die sich erst vollendet, wenn der Herr uns abruft zu einer seligen

Ewigkeit.

Diese Gnade quillt uns wie aus offenem Born

aus der Gemeinschaft Jesu Christi auch in dem neuen Jahre, das wir angetreten haben.

Freunde! es ist ein köstlich Ding, daß unsere armen Herzen fest werden; das haben wir in der Tiefe gefühlt.

Und soll ich noch hinzufügen, wer mir besonders vor Augen gestanden hat, so sage ich:

Wieder

führt dies

unsere Jugend, unsere Kinder.

erste Vierteljahr

eines neuen Jahres

Hunderte von Kindern unserer Gemeinde der Confirmation

entgegen.

Es ist unser Gebet,

ein leerer Schall sei, sondern bestimmende Kraft

auf

daß ihr Gelübde nicht nur eine bindende und ihr Leben

Jahre hinaus.

Ach,

daß Gottes

Gnade in ihnen schaffe dies feste Herz, fest wider Menschen­

furcht, fest im Kampfe mit dem eigenen Ich, fest im Glauben an die Gnade des Herrn, der das gute Werk,

das er an­

gefangen hat, nicht unvollendet lassen wird.

Mit ihnen

aber laßt uns alle die Kraft suchen, welche die Herzen fest

macht, frei von der Welt, stark in sich selbst, unerschütterlich

im Glauben



die Gnade Jesu Christi,

heute und derselbe ist in Ewigkeit!

Amen.

der gestern und

VIII.

Dritter Advent 1885.

Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Matth. 11, 25—80. Zu derselbigen Zeit antwortete Jesus, und

sprach: Ich preise Dich, Vater und Herr Himmels und der Erde, daß Du solches den Weisen und Klugen verborgen hast, und hast eS den Unmündigen geoffenbaret. Ja Vater; denn es ist also wohlgefällig gewesen vor Dir. Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater. Und Niemand kennet den Sohn, denn nur der Vater; und Niemand kennet den Vater, denn nur der Sohn, und

wem es der Sohn will offenbaren. Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmet

auf euch mein Joch, und lernet von mir; denn ich bin sarrstmüthig und von Herzen demüthig: so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.

Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.

Theure Gemeinde!

Keine Predigt hat so sehr ein

Recht, die lieblichsten Töne anzuschlagen, welche die Schrift

ihr bietet, die freundlichsten Seiten herauszukehren, die das Evangelium hat, als die des Advents.

Sie rüstet das Fest

der Freude im Himmel und auf Erden zu, dessen erfreuende

Kraft im Lauf der Jahrhunderte noch nicht geringer gewor­ den ist. Sie läutet die Weihnacht ein, die mit ihrem Licht auch in das dunkelste Herz hineinleuchten und es warm und dankbar machen will.' So mag es denn wohl adventlich lau-

96 ten, wenn wir unsrer Predigt die köstlichste Einladung zum Heil voranstellen, mit der jemals der Herr Mühseligen und

Beladenen seine Erquickung verheißen hat. Gewiß, wir müssen sagen: wo kam je ein ähnliches

Wort aus Menschenmund!

Es neigt sich herab

zu dem

trägt eine Kraft des

Geringsten und richtet ihn auf, es

Trostes in das traurigste Herz, es schließt auch die Unzu­

gänglichen mit seiner Freundlichkeit auf und macht sie auf

Ja selbst wer dem Worte nicht glaubt,

seine Kunde lauschen.

müßte doch wenigstens sagen: wenn das wahr wäre, dann wäre es göttlich; so müßte der sprechen, der der Heiland

der Welt ist.

Wohl, uns ist er der Heiland, und darum

empfinden wir es auch ganz: dies Wort stammt vom Himmel

und „trieft von Barmherzigkeit". —

Gleichwohl aber stellt nun der Herr vor diese köst­

liche Ladung ein anderes Wort, das ein neues und eigen­ thümliches Licht auf sie fallen läßt.

Mit einem Worte hei­

liger Majestät spricht er aus, daß es „den Weisen und

Klugen verborgen sei und nur den Unmündigen geoffenbaret."

Wie? möchten wir fragen,

wird denn

die Pforte, die noch eben allen Mühseligen und Beladenen

sich öffnete,

sofort wieder verengt?

schließt die Hand, die

noch eben zum Geben sich aufthat, sogleich sich wieder zu?

O,

th.

Fr., wenn

es

der Herr ausspricht, ein Adventswort sein?

ein

muß

königliches

es nicht

eben

Wort ist,

was

deshalb

auch

Verkündet uns nicht das Advents­

evangelium den König der Ehren, der den Einzug halten

will in seine Stadt? weist dasselbe nicht hin auf den könig­

lichen Richter, der Nachfrage halten und Rechenschaft for­ dern will über das, was wir mit seinem Heil gethan haben? Ja, können wir irgend der heilandhaften Größe seiner Ver-

97 Heißungen und seines Trostes glauben, wenn wir nicht auch

von ihm wissen, daß dieselbe auf einer königlichen Macht­

vollkommenheit und Erhabenheit ruht, die hoch über allem nur Irdischen und Menschlichen steht?

So wird denn ge­

rade die volle Huld und Freundlichkeit der Adventsverhei­

ßung uns erst recht verständlich, wenn uns zugleich die Er­

habenheit und Größe des Adventskönigs vor Augen geführt wird.

Diese königliche Gestalt Christi, wie sie ihre Herr­

schaft

in

unserer Seele aufrichten und uns erquicken will

mit der Fülle ihrer Gaben,

darum heute ins

wollen wir

Auge fassen —

Christus als der König des Advents — könig­

lich in dem Bewußtsein, das er ausspricht, wie in den Gaben, die er spendet,

soll uns verkündet werden. Hosianna nah und fern!

Eile bei uns einzugehen; Du Gesegneter des Herrn,

Warum willst du draußen stehen?

Hosianna! bist du da? Ja, du kommst, Hallelujah!

1. Soeben hat der Herr nach dem Berichte des Evange­

listen jenen Weheruf über die Städte Galiläas erhoben, die ihn verworfen hatten: „wehe dir, Chorazin! wehe dir, Bethsaida!

wären solche Thaten zu Tyrus

hen, als bei euch geschehen sind,

und Sidon

gesche­

sie hätten vor Zeiten im

Sack und in der Asche Buße gethan."

Aber es ist, als ob

eben an diesem Gegensatz der Verkennung

und Verwerfung 7

der Welt sich erst das volle königliche Bewußtsein in ihm entfaltete, das in ihm schlummert.

Gerade aus dem Wehe­

ruf bricht der Lobpreis des Vaters hervor, dem

es wohl­

gefällig gewesen, solches den Weisen und Klugen zu verber­ gen und nur den Unmündigen zu offenbaren.

An dem eige­

nen Erleben, dem zufolge die Schriftgelehrten, die Weisen

und Gewaltigen nach dem Fleisch ihn verwerfen, und die Fischer und Zöllner zu seinen Aposteln sich werben lassen,

geht ihm die Erkenntniß einer göttlichen Ordnung auf — so soll es sein; es soll den Weisen und Klugen verborgen,

es soll nur offenbar werden den Unmündigen. wahrhaft

königlicher Erhabenheit

Ja,

mit

spricht er wie ein Wort

des Gerichtes es aus, er, der von seinem Volke Verworfene

zu denen, die ihn verwerfen:

mir ist

alles

übergeben

von meinem Vater, beides, dieses Offenbaren und djeses Verhüllen; denn niemand kennet den Sohn denn nur der Vater, der in der Seele des Sohnes sich spiegeln kann wie in seinem eigenen Bilde und der darum den Sohn be­

rufen hat zur Ausführung seines Rathes — und niemand kennet den Vater, denn nur der Sohn, der selbst der

Abglanz der Herrlichkeit des Vaters, seiner Heiligkeit und seiner Liebe ist und der darum allein den Vater offenbaren

kann, wem er will.

Und er selbst, der Sohn, nimmt nun

die heilige Ordnung an, die dem Vater wohlgefällig gewesen ist: er will es verhüllen den Weisen und Klugen und nur

den Unmündigen offenbaren. Entnehmet, th. Fr., zunächst aus diesem Wort eine kö­

nigliche Erhabenheit über alles, was vor Menschen herrlich

und hoch geachtet wird.

Alle menschlichen Höhen, alle mensch­

liche Bildung und Weisheit imponiren dem Herm nicht einen Augenblick; er ist größer als das,

und

er hat Größeres.

99 Ob einer der erste ist in seinem Volke oder der letzte, ob er der weiseste Gelehrte ist oder der einfältigste Arbeitsmann, ob er Himmel und Erde mit seinen Gedanken umfaßt oder

im bescheidensten Kreise sein Leben zubringt, das führt ihn an und für sich dem Evangelium nicht näher und gibt ihm an und für sich keinerlei Anrecht auf dasselbe.

Ja, es ge­

fällt dem Herrn einmal alle diese prunkenden Flitter mensch­ licher Bildung, alle

diese glänzenden Hüllen

menschlicher

Weisheit, in denen wir so groß und erhaben uns vorkom­

men, gründlich zu zerreißen: — gegenüber dem Evangelium

und seiner Erkenntniß sind sie allzumal nichts, bedeuten sie unter Umständen weniger als nichts; sie können geradezu

Hindernisse werden, die den Weg zu ihm versperren. über .dem Evangelium kommt

Gegen­

es auf ganz andere Dinge

an, als auf das, was von Menschen groß erachtet wird;

verborgen

bleibt

es der

Weisheit der

Weisen

und

der

Mldung der Gebildeten und wird nur den Unmündigen

offenbar.

Verstehet aber weiter, was für eine Unmündigkeit — oder wie es wörtlich heißt, was für eine

„Einfalt" der

Herr fordert, um sein Evangelium zu offenbaren.

Er setzt

sicherlich keine Prämie auf die Einfalt des Verstandes; das

Evangelium hat keine Verheißung für den Mangel an Bil­

dung und Einsicht;

es schließt die höchste Vernunft ein, ja

eine Tiefe der Weisheit, welche die tiefsten Geister nicht aus­

gründen.

Es hat je und dann Richtungen in der Entwicke­

lung der christlichen Kirche gegeben, und es gibt ihrer noch

heute, welche menschlicher Bildung und Wissenschaft feind­

selig oder mißtrauisch gegenüber standen — das Evangelium selbst steht beiden nie feindselig gegenüber, es ist selbst Sauer­

teig der höchsten Bildung.

Ja, ich betone ausdrücklich, na-

100 mentlich gegenüber den jugendlichen Geistern, die sich so

leicht von großen und glänzenden Namen imponiren lassen:

es ist einfach nicht wahr, daß menschliche Bildung und eine gewisse Höhe menschlicher Weisheit und Erkenntniß mit Noth­ wendigkeit

dem Glauben

das Evangelium entfremde,

an

daß etwa das Christenthum

eine Religion für die Ungebil­

deten und Halbgebildeten wäre, während die Weisen und

Gelehrten über sie

Es gibt genau

hinausgehen dürften.

ebenso viel große Männer, die gläubige Christen waren und sind, als solche, die es nicht sind,

derheit,

was

man

ja

und es gibt in Son­

oft anzuzweifeln

pflegt, ebensoviel

große Naturforscher, die gläubige Christen waren oder sind, als

es

solche gibt,

Zeichen, daß

die

das nicht

sind,

zum deutlichen

die Wurzeln des Unglaubens nicht in der

Wissenschaft liegen, sondern in ganz anderen Punkten, näm­

lich im

Willen

und im Herzen.

Und daraus folgt nun

schon, daß der Herr nicht eine Eigenschaft des Verstandes meinen kann, wenn er die Einfältigen preist, sondern

sittliche Eigenschaft des Herzens. eine natürliche Begabung,

Diese Einfalt ist nicht

die einzelnen wenigen zukommt,

sondern sie ist eine erworbene Tugend,

sollen.

eine

Diese Einfalt kann

welche alle haben

der Geringste haben, das alte

Mütterchen, das nicht lesen und schreiben kann, und sie bleibt

zu gleicher Zeit der heilige Schmuck des gewaltigsten Geistes, der Himmel und Erde mit seinen Gedanken umspannt.

Ja,

sie ist erfahrungsmäßig der Schmuck, den gerade die Edel­

sten und Größesten oft tragen,

und der den Stufen der

Halbbildung und der eingebildeten Weisheit am häufigsten

zu fehlen scheint. Worauf der Herr also hinweist, das ist die heilige

Herzenseinfalt, die mit der Demuth verschwistert ist

und

101 welche gelernt hat, alles andere zurückzustellen über dem

Einen,

dem Fragen

Einfalt,

die

in

dem

nach

der Erkenntniß

ewigen Heil; es ist die

eigenen Schranken,

ihrer

ihrer Armuth, wo es um die Erkenntniß des Höchsten, ihrer

Ohnmacht, wo es um ein Begreifen des Ewigen, ihrer Un­ fähigkeit, wo

es um die

Räthsel des

Todes sich handelt,

ihre Hände demüthig ausstreckt, damit ein Größerer sie fülle

milden Offenbarungen seines Heils.

Ach, wie

haben

so die Größesten unter den Menschengeistern durstig und empfänglich in Kindeseinfalt an den Quellen göttlicher Offen­ barung zu Jesu Füßen gesessen, damit sie satt würden von dem Lebensstrom, der von ihm ausgeht! Und wie ist wie­

derum den Weisen und Klugen aller Zeiten das Geheimniß das sie fanden, verborgen geblieben, nicht etwa, weil sie zu

klug, sondern weil sie zu hochmüthig waren, um empfänglich zu sein für die schlichten und tiefen Worte, mit denen der Herr von himmlischen Dingen zu uns redet.

zu dem Feste, ist, das uns

das

mehr

als

irgend



O, l. Fr.,

eines ein Kinderfest

das Heil der Welt in dem Kindlein in der

Krippe zeigt, laßt uns einfältig werden wie Kinder; laßt nach

dem,

was

unsere Bibel aufschlagen;

laßt

uns

uns in Einfalt hungernd

ewiges Leben

gibt,

und

durstend

mit der Einfalt, die nichts begehrt als der Seele Heil,

im

Gottesdienst unsere Erbauung suchen; laßt uns einmal allen

Dünkel und Hochmuth ablegen und mit dem vollen Bewußt­ sein unserer Bedürftigkeit und Schwachheit wie Kinder in die Adventsbitte einstimmen:

Ach mache du mich Armen In dieser Heilgen Zeit

Aus Gnade und Erbarmen

Herr Jesu selbst bereit!

102 Scheint euch die Forderung zu beugend, zu demüthi­ gend, wohlan, so groß und königlich das Bewußtsein ist,

das der Herr damit ausspricht, so königlich will er

2. auch in den Gaben sein, die er dafür anbietet.

„Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken", spricht der

Herr.

In der That, wo ist doch, ich wiederhole es, ein

Wort in den Religionen,

in den Literaturen aller Völker,

das dem an die Seite zu stellen wäre? gewinnend ist es,

So zart und so

daß einem die Thräne dabei ins Auge

treten kann, und an dem Worte selbst auf einmal zum Be­ wußtsein kommen mag, wie elend und beladen wir eigentlich

sind.

Und wiederum ist es so königlich groß, so in seiner

schrankenlosen Verheißung alles überragend, daß wie von selbst an ihm der schwache Glaube heranwächst.

In beiden

Beziehungen können wir wohl verstehen, wie dieses Wort in

der Missionsgeschichte so zu sagen seine Spezialgeschichte hat, die für seine Macht und seine Größe Zeugniß

ablegt.

Es

hat aber auch, denke ich, seine Mission noch heute unter uns.

Mühselig und beladen — recht verstanden sind wir das

alle.

Ich denke etwa an die Särge, denen ich in diesen Tagen

gefolgt bin, mit sechs Kindern dem Sarge der Mutter, mit drei Schwestern dem des einzigen Bruders; ich denke an die

Siechbetten, die nur enden werden, wenn heilend der Tod das Auge schließen wird; ich denke an

alle die getäuschten

Hoffnungen, die nagenden Sorgen, an das Wirken und Mü­

hen ohne Frucht, an das

vergebliche Ankämpfen gegen den

Strom, an das verschwiegene Weh und den offenen Jammer,

103 an Neid und Streit, die nie aufhören; ich denke

an mehr

noch, was vor allem dich mühselig und beladen macht, an den Dämon der argen Leidenschaft in deiner eigenen Brust, an diese unbändige Natur mit ihrem Trotz und ihrem Ehr­

geiz:

ich denke an die leisen Borwürfe des Gewissens, an

die dunkeln Schatten, die auf deinem Leben ruhen; ich denke

daran, wie viele, namentlich

tiefer angelegte Menschen es

gestehen werden, daß sie wohl zeitweilig die innere Last und Mühsal, welche sie tragen, vergessen können — und das ist

dann ihr Glücklichsein — daß sie aber eine Erquickung, welche

fröhlich die Last aufnimmt und weiter trägt, bis einst der letzte Lebenstag anbricht, nicht haben und nicht finden. Und

nun — kann man es fassen? — nun kommt einer und stellt sich hin

als der Erretter ans aller Noth und

ruft sie zu

sich, alle, alle, die mühselig und beladen sind: ich will und ich kann euch

erquicken!

Jst's möglich? müssen wir

fragen; vermag er es auch? — Ja, Fr., er vermag's wirklich, denn er ist ein König.

Freilich, nicht so thut er es, daß er die Erde in ein

Paradies

des Wortes, straft,

hören.

und

verwandelte.

die Thatsachen

niemand

Nein,

würde

Wäre

heilt von

nun flugs

der

Gedanke

hätten es längst Lügen ge­

mehr innen

das thut, darum heilt er wirllich.

auf seine

Verheißung

Wurzel faßt der Herr

an der eigentlichen

die Sache an und

das

heraus,

und weil er

Hier ist sein Gedanke;

nimm ihn an, auch wenn er vorläufig dir fremd ist: — die

schwerste Last,

die

tiefste Mühsal ist die,

eins sind mit unserm Gott.

Last erst so bitter und so trostlos, trägen.

daß wir nicht

Das macht alle andere

daß wir ohne Gott sie

Und hier ist nun der erste Punkt, von dem er sagt:

ich will dich erquicken.

104 Aber auch da sind wir erstaunt, wie einfach das Mittel

ist, das er anwendet.

„Nehmet

auf euch mein Joch"/

so spricht er, lasset euch von mir leiten und führen, „lernxt

von mir sanftmüthig sein und von Herzen demü­ thig" — das ist alles. Der Weg sanftmüthigen und demü­ thigen Gehorsams gegen ihn ist das Heilmittel, das er für die Erquickung der Seele bietet.

Wem das sonderbar oder

lächerlich erscheint, und wer für dies Mittel zu stolz oder zu hochmüthig ist,

der trage nur ruhig seine Last und seine

Mühsal weiter — der Herr erquickt ihn nicht.

Aber wer

seine Hände ausstrecken kann, wenigstens mit der Ahnung,

daß hier der Weg des Friedens liegen könne: mein Heiland, lehre mich, so bin ich recht gelehret! — dem wird dieser Ge­ horsam der Weg

zur

Denn wie ist's doch?

Seelenruhe.

Lernet von mir, spricht er, ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig.

Er zeigt also nicht nur den Weg zum

Heile, er geht ihn selbst voran, er hat den Frieden, von dem er zu anderen spricht.

Sieh ihn

einmal mit stillem

Herzen an, wie er in schweigender Sanftmuth das Unrecht trägt ohne Bitterkeit und Haß, so heldenhaft und so willens­

stark; sieh ihn an, wie er in dienender, selbstvergessender De­ muth nichts für sich will, aber alles für die Menschen, die

er trotz ihres Undanks liebt; sieh ihn so an und — du siehst genau das, was dein Gott aus dir selbst machen will. Was

in dir wie ein dunkles Sehnen schlummert, ist in ihm ver­ wirklicht, das Bild deines Gottes.

Und gehe nun in heili­

gem Willensernst ein in seinen Sinn, in seine Nachfolge —

und

es geht noch heute wie damals

eine Kraft von ihm

aus, und ein geistiges Berühren findet statt, das ein neues Leben in uns wirkt.

Es öffnet sich das Auge für manchen

Schaden, den man kaum erkannt, für manchen Mangel, dessen

105 Größe man kaum geahnt hat; es erwacht an seinem heiligen

Bilde das Bewußtsein der Sünde und das Gefühl der Tren­

nung von Gott, aber es erwacht an demselben auch die Ge­ wißheit, daß der Weg des Friedens bei ihm ist und aus sei­ nem Worte ewiges Leben quillt.

So erst wird er ganz das,

was er sein will — nicht nur einer, der sanftmüthiger und

demüthiger war als wir, sondern der, welcher unser Heiland ist, in dem der lebendige Gott selbst heilend, tröstend, Sün­

den vergebend uns

nahe kommt,

und in dessen Liebe auch

unser Herz es lernt, Besseres liebhaben als sich selbst, näm­ lich ihn, und in der Liebe zu ihm vollbringen, was

kein

Gesetz uns abzuzwingen vermochte: sanftmüthig zu sein und

Das lernen heißt thatsächlich Er­

von Herzen demüthig.

quickung und Ruhe für die Seele finden.

Wenn wir nur

allein daran denken, wie viel Sorge und Mühe, die uns menschlicher Ehrgeiz Welt bereiten, nach

etwas

und Eitelkeit,

allein

Streit

dadurch hinwegfällt,

Höherem

muß man schon sagen:

und

Besserem

und Neid der daß

trachten

wir eben

lernen, so

es wächst die Ruhe für die Seele.

Aber noch in viel tieferem Sinne sollen wir es erfahren:

sein Joch ist sanft und seine Last ist leicht, Gebote

sind nicht schwer.

wollen,

so lange man draußen steht: —

Liebe Christi lebt, dem

friedvoll

und erquickend

seine

Wenn sie uns so Vorkommen wer

erst in der

sind sie nicht mehr schwer. in

sich

selbst

wird

ihr

verglichen mit der friedlosen Knechtschaft der Sünde

Wie

Joch,

und

der Welt. Mit dieser inneren Wendung aber nimmt dann auch das

äußere Leben eine andere Richtung an.

Was wir pre­

digen ist. nicht nur unpraktische Kanzelweisheit, die dem wirk­

lichen Leben gegenüber nicht Stand hielte; es ist recht eigent-

106 lich eine Weisheit, die täglich ihre Probe am Leben machen Es kann nämlich die äußere Last und die äußere Sorge

soll.

mit ihrem Druck auf das Leben dieselbe bleiben, so daß man

in dieser Hinsicht noch immer sagen kann: mühselig und be­

laden.

Aber welcher Unterschied für einen, der das Joch

Christi trägt!

Ihm wird die äußere Last nur das Zucht­

mittelin derHand des Herrn und sie hat ihr Maß an seinerLiebe, die uns nichts auferlegt, was uns zu schwer wäre.

so viel Kraft,

Genau

als wir brauchen, um es willig zu tragen,

wird er uns auch geben, und täglich schließen uns unsere Gebete die Kraftquellen auf, die uns nöthig sind.

Trage

nur dein Joch weiter sanftmüthig und von Herzen demüthig,

trage es weiter, ohne das Aufbrausen und Aufbäumen ge­

gen dasselbe, trage es als das Joch, das deinem Halse paßt, und ohne das du nur verkehrte Wege einschlagen wür­

dest; trage es nicht um der Menschen willen, aus deren Hand es dir zukam; sondern uni des Herrn willen, der im letzten

Grunde es aufgelegt hat —

und

auch dies Kreuz deines

Lebens wird dir eine leichte Last und ein sanftes Joch wer­

den; es wird uns gewiß,

daß „alles sich zu meinem Heil

muß wenden, weil alles mir aus seinen lieben Händen Md seinem liebereichen Herzen kommt".

So sprechen

wir es

aus

als

eine Gewißheit des

Glaubens, der auch die Welt mit seiner Kraft überwinden

kann: ja, überschwänglich kann

vents die Menschenseele Heiland, der das

Wort

heute in

der große König des Ad­

erquicken.

Es ist ein

deiner Last, in

lebendiger

deiner Noth dir

zuruft, das der Seher der Offenbarung ge­

sprochen hat: siehe, ich stehe vor der Thür und klopfe an,

so jemand

und

mir wird aufthun,

das Abendmahl

mit

zu dem will ich eingehen

ihm hallen und

er mit mir.

107 Laisset uns, th. (Sem., die Herzen ihm weit öffnen und in die: Adventsbitte einstimmen: Komm, o mein Heiland Jesu Christ, Mein's Herzens Thür dir offen ist; Ach zeuch mit deiner Gnade ein, Dein Freundlichkeit auch uns erschein', Dein heil'ger Geist uns führ' und leit' Den Weg zur ew'gen Seligkeit! Dem Namen dein, o Herr, Sei ewig Preis und Ehr! Amen.

IX.

Erster Weihnachtstag 1885. Die Christfreude.

O du fröhliche, O du selige, Gnadenbringende Weihnachtszeit; Welt war verloren,

Christ ist geboren: Freue dich, freue dich Christenheit!

Gnade, Barmherzigkeit und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesu Christo! Luk. 2, 9—11.

Amen.

Und siehe, des Herrw Engel trat zu ihnen, und

die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht; siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.

Theure Festgemeinde!

Auf einem Wort in dem

Engelsgruße, den wir gehört haben, ruht unwillkürlich unser Blick aus, zu ihm kehrt immer wieder die Betrachtung zu­

rück: „siehe, ich verkündige euch große Freude!" In der That, Freude ist der Grundton, der

alle Auslegung

des großen Weihnachtsthenras:

durch

Christ ist

109 geboren!

hindurchklingen

muß;

sie ist

gleichsam

die Be­

wegung, die durch alle Weihnachtspredigt den Herzen sich mittheilen soll.

Freuet euch in dem Herrn allewege, der

Herr ist nahe! —

glocke,

das war der Ton der letzten Advents­

die das Fest eingeläutet hat.

Nun verkündige ich

große Freude: er ist geboren! — das ist der Jubelruf der Weihnacht.

Evangelium, d.

Predigt uns verkündigen,

h. Freudenbotschaft soll jede

die heutige das Evangelium des

Evangeliums, die große Freude, die allem Volk widerfährt, die Freude, unter deren Eindruck die Kinder um den Christ­

baum jubeln: „o du fröhliche, o du selige, gnadenbringende

Weihnachtszeit!",

und von

deren Glanz umleuchtet noch

die Greise sagen dürfen wie Simeon: „Herr, nun lässest Du

Deinen Diener im Frieden fahren!", die Freude, welche erst alle menschliche Freude weiht und heiligt, und die noch in das traurigste Herz einen Strahl unvergänglichen Lichtes zu senden vermag, ja die Freude, die Hiinmel und Erde in

dem nie verklingenden Liede eint:

„Ehre sei Gott in der

Höhe und Friede auf Erden, und an den

Menschen ein

Wohlgefallen"!

Nicht als hätte das Menschenherzens

unverwüstliche Bedürfniß

nach Freude das

des

Weihnachtsevangelium

hervorgebracht, wie in der That gar manches heidnische Fest diesem Bedürfniß der Freude seinen Ursprung verdankt; —

es ist umgekehrt das

Weihnachtsfest gewesen, das dieser

armen und freudeleeren Welt eine unerschöpfliche Quelle der Freude erschlossen hat,

und alles, was Menschen zur Ver­

herrlichung des Festes zu thun pflegen, um einander Freude zu bereiten, ist lediglich der Wiederschein der großen Freude, welche der Engel verkündigt: „euch ist heute der Heiland

geboren!"

110 Ach, l. Fr., wir leben in einer Welt des Scheines, die immer wieder mit der glänzenden Schale sich begnügt

und den köstlicheren Kern übersieht, die durch den Schein sich täuschen läßt und das Wesen vergißt. auch hier.

So geht es

Wie ist gerade die unaussprechliche Freude des

Christfestes herabgezogen, ja selbst verunstaltet worden zur bloßen Freude häuslicher Gemeinschaft; wie ist für Unzählige

das Weihnachtsfest nur noch ein Familienfest; und wie geht über der lärmenden Lust dieser irdischen Freude, über Neid und Streit, Mühsal und Murren derer, welche diese Freude

entbehren, so vielen gerade das Beste verloren, nämlich die selige Freude, die keinem sich versagt, der sie recht erbittet. Laßt uns von dem Schein in die Wahrheit und in das

Wesen dringen — ja, es gibt eine Freude, die über

allen

menschlichen Kummer und alle menschliche Freude weit hinaus­ Von ihrer unvergleichlichen Tiefe wollen wir reden.

ragt.

Es lehre der Engelsgruß uns verstehen

die Christfreude als

den Kern aller wahren

Freude;

der Gang seiner Worte ist auch der unserer Betrachtung. Wie sollte nicht, th. Fr., eine Predigt auf offene Ohren

und Herzen zählen dürfen, die von Freude redet und Freude

bringt!

Für die Freude ist das Menschenherz geschaffen

wie der Vogel für die Luft und der Fisch für das Wasser; auf Freude hat es ein unveräußerliches Anrecht.

Ein Leben

das vollkommen leer an Freude geworden ist, hat keine Luft

mehr zu athmen, es siecht hin.

Glücklich kann nur ein Leben

gedeihen, es sei jung oder alt, wenn es in einer geistigen Luft der Freude aufwächst. Wohlan, worin besteht deine Freude, von der du lebst?

111 Manche werden als Antwort Hinweisen auf die Fest­

stunden, an denen unser Leben noch nicht arm geworden ist,

und gewiß wer wollte gerade

heute wohl leugnen, daß es

ein Stück Lebensfreude ist, wenn wir im Kreise des Hauses

uns gestern haben bewußt werden dürfen, wie viel wir noch

besitzen zum Lieben, wenn an der frohen Weihnachtslust der Kinder auch wir Alten wieder jung und froh geworden sind. Aber wir Älteren wissen ja doch, was unsere Kinder morgen oder übermorgen

schon merken

werden,

Freude vorübergeht; wir wissen,

wie schnell solche

wie alle diese Freude von

äußeren Verhältnissen, von Stimmung und Glück abhängig

bleibt; ja wir wissen mehr — wie solche Stunden doch eben nur Stunden sind, in denen wir im besten Falle das Elend

vergessen, das dahinter steht und das morgen wieder beginnt. Zum Troste für alle, die in

ihrer Vereinsamung und in

ihrem Leid diese Weihnachtsfreude nicht gehabt haben, sprechen wir-es aus: die rechte Freude ist das nicht, und sie kann eS nicht sein.

Denn das ist die andere Eigenthümlichkeit

des Menschenherzens: —es ist so groß, daß die ganze Welt es nicht völlig auszufüllen vermag,

daß alle Freude und

aller Genuß der Erde, die man immer hineinsenken mag, es

nicht voll befriedigt.

An jeder dieser Erdenfreuden nagt wie

ein Wurm die innere Angst, sie könne wieder verloren gehen; mitten ins Lebensglück hinein drängt sich die Todesfurcht;

es erhebt mitten im Lebensrausch die

Gerichtsangst ihre

Stimme — es gibt mir eins, was das Menschenherz ganz

ausfüllen und ganz beseligen kann: — das ist der Gott,

zu welchem es geschaffen ist, und die Freude, welche von ihm ihren Ausgang nimmt!

Und nun hört die Christbotschaft anheben: „fürchtet euch nicht!" — gleich als sollte alle geheime Furcht, die

112 den natürlichen Menschen beherrscht, die in seinen dunkelen Stimmungen und schweren Stunden ihn immer wieder über­

wie ein Schatten sich auf

seine Hoffnungen

legt, mit einem Schlage verbannt werden.

Ja, hier ist eine

wältigt und

Freude, die keine Furcht kennt, welche kein Vergehen und kein geheimer Ueberdruß erwartet: „siehe, ich verkündige euch große Freude!" — Wohlan, worin besteht sie? wie kann

sie unser eigen werden? Höret es aus Engelsmunde: „denn euch

ist

heute

der Heiland geboren,

welcher ist

Christus, der Herr, in der Stadt Davids".

Wie? möchten wir fragen,

ist das alles? worin liegt

denn hier eine unvergängliche Freude?

„Ein Heiland geboren" — nehmt, ich bitte euch,

das Wort in dem tiefen geschichtlichen Sinne, den es in dem Munde des Engels hat.

Der Heiland, auf den er hinweist,

ist der, auf welchen die Frommsten geharrt haben; der gleich­

sam die göttliche Antwort ist auf das Sehnen der Völker

nach einem, der einen neuen Himmel und eine neue Erde machen werde, Israels König und aller Heiden Trost.

Er

ist der Heiland, der Retter, der die Wunden der Mensch­ heit verbindet und heilt. Heiland,

Er ist nicht etwa ein politischer

der die Völker aus

der Knechtschaft befreit und

neue Formen des staatlichen Lebens mit sich bringen wird.

Er ist nicht ein socialer Heiland, der die Ketten der Sklaven bricht und Ströme von barmherziger Liebe über die zer­ tretene und zermarterte Menschheitshälfte ausgießt.

Er ist

nicht ein philosophischer Heiland, ber. eine neue Lehre von

reinerer Gotteserkenntniß und geläuterterer Moral ausspricht. Solche Heilande hat ja wohl je und je die Welt begehrt,

und begehrt sie noch heute und würde Thor und Thüren öffnen, wenn sie sich einstellten.

Und

gewiß,

wer möchte

113 auch nur einen Augenblick leugnen, daß Christus, recht ver­ standen,

das alles auch gewesen ist und wirklich das

alles auch gethan hat!

— es gibt in der That gar kein

einziges Gebiet des Lebens, auf dem nicht seine Segensspuren sichtbar wären!

Dennoch

der rechte Heiland, der Heiland

ist er doch eben nur darum, weil wir noch Größeres von ihm zu sagen haben und weil er noch Größeres und Inner­ licheres bringt

als alles dies.

Er faßt nicht

bloß

die

Staaten und ihre Erneuerung, nicht die Zustände und ihre Besserung, nicht die Lehren und ihre Läuterung ins Auge,

sondern den Menschen

selbst.

Er will das Herz neu

machen, von dem aus alles Denken, Wollen und Handeln

beherrscht wird; heilen will er, was am innersten Leben tod­ wund und verloren ist; retten will er nicht nur für eine Woran alle

kurze Spanne Zeit, sondern für die Ewigkeit.

Kraft jener menschlichen Heilande sich allezeit fruchtlos ver­ zehrt hat, das will er bringen — neues Leben in erstorbene

und verlorene Menschenseelen. Weil er das vermag, darum hat der Engel von großer Freude reden können.

Denn was ist eigentlich die Freude

im innerlichsten Sinne, von der wir sprechen?

Freude ist die zarte Blüthe, Die auf dunklem Grunde sprießt,

Wenn sich tief in das Gemüthe

Gottes Gnadenstrom ergießt;

Freud' ist Friede, der dem armen Menschenherzen Ruhe schenkt, Freud' ist himmlisches Erbarmen,

Das sich in die Seele senkt!

Und gerade diese Freude bringt der Herr; Er, der Ab­ glanz der Herrlichkeit und der Liebe des Vaters, bringt das

8

114 Erbarmen, das Sünden vergibt, und den Frieden der Ver­ söhnung mit Gott, und schließt den Menschen die Pforten

der Ewigkeit auf und erfüllt sie mit dem unaussprechlichen

Kinder

Bewußtsein,

eines unbeweglichen und

und Erben

ewigen Reiches zu sein.

So wird er der Bringer unver­

gänglicher Freude, der Heiland, der alles heilt! Und nun fasset noch das Wort, daß diese Freude und

dieses Heil

nach ausdrücklicher

Versicherung des Engels

allem Volk widerfahren soll. Gewiß, nur dann kann wirklich Heilung vom Herrn

ausgehen, wenn alle geheilt werden und keiner ausgenommen wird,

wenn der gemeinsamen Noth und

Schuld aller auch ein

der gemeinsamen

gemeinsames Heil aller entspricht.

Aber beachtet, wie großartig der Gedanke ist, der hiermit

ausgesprochen wird: es ist der Gedanke der Menschheit, mit dem unsere Zeit der Humanität so gern prunkt, als

hätte sie ihn erfunden.

das sind nicht erst

Nein,

wer ihn zuerst gedacht hat,

die Gelehrten von heute gewesen, auch

nicht jene stolzen Weisen

keine Ahnung hatten von

Griechenlands und Roms, dem

die

leisen Zuge der Liebe, der

die ganze Menschheit zu einem Ganzen verbinden soll. Es ist der Engel in der Weihnacht, es ist das Evangelium von Christo, dem Mensch gewordenen Sohne Gottes, welches

zuerst die Me n s ch h e i t als Ganzes, als den Gegenstand gött­ licher Liebe und als das Ziel göttlicher Heilsgedanken verstehen

gelehrt hat.

Das Christenthum ist die Neu schöpf ung

der Menschheit; erst das Evangelium von Christo ist die Geburtsstätte

echter

und

wahrer

Humanität.

Wo

dies

Evangelium gepredigt wird, da schlingt

sich leise ein Band

der Einigung um die ganze Menschheit;

in ihm ist sie be­

rufen zu einem Ziele göttlicher Kindschaft; in Christo, dem

115 erstgeborenen Bruder, werden sie alle zu Brüdern geweiht, und eine christliche Menschheit kann von nun an dem Apostel es nachsprechen: „hier ist kein Jude noch Grieche,

hier ist

kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib, denn ihr seid allzumal Einer in Christo Jesu!"

Und doch, l. Fr., so Großes und Herrliches wir vom Herrn sagen mögen — das alles ist noch nicht das Größeste,

ja es kann dies alles uns noch kalt und unberührt lassen, so lange wir nicht das

eine Wort recht verstehen: „Euch

ist heute der Heiland geboren!" Man kann draußen auf den Fluren den Sonnenschein

spielen sehen, aber man wird nicht warm davon, wenn man

nicht selbst unter seinen Strahlen steht.

bisweilen

an Christi Wort erinnern,

Sonntags M der Kirche hören,

So kann man sich man kann

es gern

man kann unter dem Ein­

fluß des Evangeliums stehen und seine Tiefe und Herrlich­

keit bewundern, aber

man wird nicht warm davon; mein

Heiland ist der Herr noch einzelne Augenblicke

nicht geworden; und wenn ich

des Dankes und

erlebe in dem Gedanken an das,

des Friedensgefühls

was mir in ihm geschenkt

ist: — von jener großen, unvergänglichen Freude, von welcher

der Engel redet,

und welche der Grundton

meines

auch

Lebens werden soll, weiß ich noch nichts; die kann ich nicht erfassen.

Dein unharmonisches Wesen haben jene

Augenblicke dir noch nicht verllärt, deine wärtigkeiten haben sie dir nicht leichter

kurzen

täglichen Wider­

gemacht,

in deine

Verzweiflung und in dein Leid haben sie noch kein Licht

geworfen.

Du Christgemeinde! an Einem fehlt es dir und

in dem Einen an allem: — dir ist der Heiland geboren —

was Gott allen gibt, sollst du dir aneignen, als deine Gabe, die dein Bedürfen stillt.

Heute ist er dir geboren,

116 heute für dich vorhanden, wo du ihn brauchest, wie er es

gestern war und in Ewigkeit.

Wir sollen ihn haben nicht

als eine geschichtliche Größe, nach der wir uns nennen, und

die zuerst etwas ausgesprochen hat, was wir alle nachsprechen, sondern als einen

ewig Lebendigen, der unauf­

hörlich den Quell seiner Freude und seines Friedens in die

kranken Menschenherzen hineinströmen läßt. — Mein Hei­ land ist mir geboren, das heißt: ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben mich scheiden kann von seiner Liebe; mein

Heiland ist er, das heißt: ich bin gewiß, daß diese Liebe eine

Kraft ist, welche mich frei macht von mir selbst, mich über­

windet und heiligt; mein Heiland — das heißt: ich bin gewiß, er wird mein Fürsprecher im Gericht sein, wie er mein Versöhner und mein Friede ist auf Erden, und er

schließt mir nach allem Kampfe dieser Zeit einst die selige Ewigkeit auf.

Ja, gewiß bin ich darum,

„daß ich beides,

mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben nicht mein,

sondern meines getreuen Heilandes Jesu Christi eigen bin", und abscheiden kann ich zu seiner Zeit, wie jener treue Zeuge, der diese erste Frage des Heidelberger Katechismus einst

niederschrieb, die Hand auf dem Herzen und auf den Lippen das Wort: certissimus, d. i. unerschütterlich gewiß! Und seht, th. Fr.! das bringt eine Freude ins Herz, die

unvergänglich ist, welche alle Noth und alle Sorge dieser Welt nicht auslöschen, welche selbst der Tod nicht völlig tödten kann, eine Freude, die in der That die Christen zu den seligsten, ja zu den eigentlich und einzig wirllich fröh­ lichen und freudigen Menschen macht.

Freude spricht der Gruß

Und

von dieser

des Engels: ich verkündige euch

große Freude! Wohlan denn, th. Fr., trägt unser Christenthum dies

117 Gepräge heiliger Freude an sich? wohl gemerkt, ich spreche

von einem Gepräge, das

ist einem Grundcharakter; ich

rede also nicht von Stimmungen, die vergehen

und welche

von Temperament und äußeren Umständen abhängen.

Nun ist wohl wahr,

wie der Sieg nicht ohne den

Kampf vorher sein kann, so erklingt auch dieser Ton heiliger Freude

nicht,

ohne daß wir durch

Schmerzes, der Beugung

die

Erfahrung

des

der Demüthigung vor der

die uns geschenkt wird, hindurchgegangen

Tiefe der Gnade,

sind.

und

Die rettende Gnade kann uns erst

ganz zu Theil

werden, wenn wir im demüthigen Gefühl der Sünde die Hand nach ihr haben ausstrecken lernen.

Nur der wird seines

Heilandes von Herzen froh, der krank und elend im Bewußt­ sein seiner Schuld das tiefe Bedürfniß nach einem Erlöser empfunden hat. Aber vergessen wir auch nicht: ein Christenthum, das

niemals über diesen Bußschmerz hinauskommt, sondern immer im Klagen und Sehnen zurückbleibt,

ohne sich zum Loben

und Danken emporzuschwingen, kann nicht das rechte sein. Wo das Evangelium so zu sagen in seiner Ganzheit, noch ungetheilt in seine

einzelnen Beziehungen uns verkündigt

wird, wie hier in der Botschaft der Weihnacht, da ist seine

Verkündigung ein Christenthum voll großer Freude. Laßt mich dann aber auch die Frage noch umkehren: hat

unsere Freude allezeit auch das Gepräge des Heiligen und des Christlichen an sich? — Verstehet

auch hier wohl: ich

meine nicht, daß wir uns nur an christlichen Dingen freuen

sollten; alles, was nur lieblich ist und wohllautet, ist uns

zur Freude gegeben. christliche Worte

Ich meine auch nicht, daß überall nur

sollten

wenn wir Christi sind.

geredet

werden; alles

ist

unser,

Aber daß überall durch jede Freude

118 doch etwas noch Höheres hindurchleuchte, wenn sie genossen wird mit Dank gegen die Freundlichkeit des Gottes, der sie

gibt, daß überall die Freude und Lust uns durch die un­ sichtbare Nähe des Herrn geweiht bleibe, und keine Freude

uns erfreulich dünke, bei der er nicht zugegen sein kann, daß

nie mitten im irdischen Glück

und Genusse uns das Be­

wußtsein verlasse, es sei noch ein größeres für uns.vor­

handen, und wir würden nicht ganz unglücklich werden, wenn auch dieses äußere und irdische uns genommen würde: das ist es, worauf diese Frage geht. Ja, heilige Schönheit

eines Christenlebens,

das so

durchleuchtet ist vom Weihnachtsglanz, und dem so der In­

halt der Christfreude der eigentliche Kem aller Lebensfreude geworden ist! ein neues

Wie bekommt davon doch überall das Leben

und ein seliges Ansehen!

Wo diese Freude ist,

da ist Freundlichkeit, wie denn der Apostel an die Phi­

lippe! zu der Mahnung: „freuet euch

in dem Herrn!" so­

fort die andere hinzusetzt: „eure Lindigkeit lasset kund sein

allen Menschen!"

Es ist die Liebe Gottes, die in der

Freundlichkeit gegen die Menschen wiederstrahlt, und wie

unbeschreiblich kann durch solche Freundlichkeit in Wort und Wesen ein Mensch wohlthun, im häuslichen, im Geschwisterkreise, im Verkehrsleben, allenthalben! — Wo diese Freude

ist, da

ist Geduld.

Große Freude läßt manchmal über

große Widerwärtigkeit hinwegsehen, und ein großes Glück

hält oftmals die Hand nieder, die sonst ungeduldig sich er­ heben würde.

In den Tagen der Weihnacht ist wohl auch

ein ungeduldiger Mensch zu langmüthigem Wesen geneigt.

Hier aber soll nun zur Lebensgewohnheit werden, was wir

von Natur nur in besonderen Augenblicken zu thun geneigt

sind: tragende,

vergebende, sanftmüthige und durch Sanft-

119 muth überwindende Liebe.

In Kraft der Christfreude wird

das ganze Leben ein Wandel nach dem Bilde des geduldigen Herrn. — Wo diese Freude ist, da ist auch kein Raum mehr

für die Sorge; Er sorgt für uns und kann die nicht ver­

hungern lassen, die er noch eben in heiliger That der Liebe als seine Kinder geadelt hat; er kann die nicht darben lassen, denen er in seinem Sohne sich gleichstellt.

Ach, wie kann

die Sorge einen so zu Boden drücken und den Schlaf rauben,

daß alle Tröstungen der Menschen nichts dagegen vermögen! Aber hier ist ein Sorgenbrecher, dem keine Sorge widerstehen kann, nämlich die Freude über den Herrn, der uns so kindlich

und freundlich ruhen heißt in des Vaters Hand und zu dem uns allenthalben der Zugang im Gebet offen steht. — Wo diese Freude ist, da ist endlich das Höchste, was ein Mensch

haben kann, der Friede, der ein Menschen herz

still

und

getrost machen kann mitten im Streit und Kampf des Lebens,

und welchen

keine äußere Last und keine äußere Lebens­

führung uns zu rauben vermag, durch den wir unter allen

Stürmen uns in Gott geborgen wissen und durch den auch die Furcht des Todes überwunden

wird.

Denn er selbst,

der Herr, der Mittelpunkt der Christfreude, ist der Friede­ fürst, der zu uns spricht: in der Welt habt ihr Angst, aber

seid getrost, ich habe die Welt überwunden; den Frieden

lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch, nicht gebe ich, wie die Welt gibt.

Ja, theure Christgemeinde, daß diese Freude, so ver­ standen, wirklich eine Kraft der Freude sein alle menschliche Freude

muß, welche

und auch alle menschliche Trübsal

weit überragt, davon mögen wir ja wohl einen Eindruck empfangen haben.

Möchten wir nur diese Freude als Leben

und Kraft in unsere Herzen hinein empfangen!

Gewiß, nicht

120 UM ein Gefühl, eine Empfindung handelt es sich, sondern um ein Leben, und dies Leben muß in uns geboren werden in Kraft eben dieser Erlösung, von der wir reden. Darum laßt unsere Sehnsucht nach dieser Freude sich in die Weihnachts bitte verwandeln: Drum Jesu, schöne Weihnachtssonne, Bestrahle mich mit deiner Gunst! Dein Licht sei meine Weihnachtswonne, Und lehre mich die Weihnachtskunst: Wie ich im Lichte wandeln soll, Und sei deS Weihnachtsglanzes voll! Amen.

X. Charfreitag 1885.

Heute wirst du mit mir im Paradiese sein! O Haupt voll Blut und Wunden, Voll Schmerz und voller Hohn!

O Haupt zum Spott gebunden

Mit einer Dornenkron'! O Haupt, sonst schön gekrönet Mit höchster Ehr' und Zier,

Jetzt aber höchst verhöhnet, Gegrüßet seist du mir! Luc. 23, 39—43.

Aber der Uebelthäter einer, die da gehenkt

waren, lästerte ihn, und sprach: Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns.

Da antwortete der Andere, strafte ihn, und sprach:

Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher

Berdammniß bist? Und zwar wir sind billig darinnen; denn wir

empfangen, was unsere Thaten werth sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt.

Und sprach zu Jesu: Herr, gedenke an

mich, wenn du in dein Reich kommst. Und Jesus sprach zu ihm:

Wahrlich, ich sage dir: heute wirst du mit mir im Paradiese sein.

Theure Charfreitagsgemeinde! Sieben Blätter, lautet ein Wort des heiligen Bernhard, hat Christus, unser

Weinstock, am Kreuze getrieben, nämlich die sieben Worte, wel­

che aus den Stunden der Qual und des langsamen Sterbens

122 uns aufbewahrt sind.

Sie sind doch nicht nur vergängliche

und verwehende Blätter; sie sind Zeugnisse einer Herrlichkeit ohne Gleichen, die am Kreuze sich offenbart hat; sie sind

wie sieben Pforten, durch welche die anbetende Charfreitags-

gemeinde in das Herz ihres Erlösers, in die Seelenarbeit der

erlösenden Liebe hineinblickt, die noch fortdauert, auch wo die Hände des Segens angeheftet sind an das Kreuz, und

der durchbohrte Fuß nicht mehr zum Wohlthun sich bewegt.

Hohenpriesterlich breitet sich das erste Kreuzeswort über das Volk, das ihn verworfen hat, und antwortet auf das

„kreuzige! kreuzige!"

mit einem:

wissen nicht, was sie thun!"

„vergib ihnen, denn sic

Aber nicht nur der Menge da

unten ist diese Fürbitte zu gute gekommen, sie deckt mit

ihrem Schutz auch noch den Genossen seiner Qual, den Schächer zu seiner Seite, und wunderbar! das zweite Wort am Kreuze darf ein Kön i gsw or t werden, das mit unvergleich­

licher Majestät diesem gekreuzigten Missethäter die Pforten des Paradieses aufschließt.

Es ist, th. Fr., ein köstliches Ding, daß unter den

Gestalten der Geretteten, die das neue Testament als die Siegesbeute des Menschensohnes uns vorführt, auch die des

Schächers sich befindet, eines gekreuzigten Verbrechers —

eine gewaltige Thatpredigt dafür, daß keine Stunde zur Buße zu spät ist, so lang es noch „heute" heißt, und daß

keine Sünde für die Vergebung zu groß ist, so lange der Glaube nur noch die Gnadenhand zu erfassen vermag, die bis in die tiefste Tiefe hinabreicht.

Charfreitag,

Dennoch soll heute, am

nicht auf diesem bußfertigen Schächer, nicht

auf den beiden Mitgekreuzigten, die wie die Vertreter zweier Menschheitsrichtungen das Kreuz des Herrn umgeben, unser Blick ausruhen; wir schauen hinauf zu dem Haupt voll Blut

123 und Wunden, zu dem Manne der Schmerzen in der Mitte,

zu dem Lamme Gottes, das der Welt Sünde, auch die des

Schächers, trägt.

Sein Lob, seinen Preis haben wir im

Auge, wenn wir

das königliche Wort des Herrn am Kreuze: Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im ParadieseUein! —

in den Mittelpunkt unserer Betrachtung stellen.

Der Herr

aber verleihe auch uns einen Antheil an der Huld, die er

dem Schächer gewährt hat!

Der Herr hängt also bereits

am Kreuz.

Der letzte

Akt des furchtbaren Trauerspiels hat begonnen — da hebt

eine zweite Kreuzigung an, die seiner Seele.

Zwar das Volk

schweigt betroffen, wie im Innersten erfaßt von dem unge­ heuren Schauspiel; es sind die Obersten, die Priester Jehovas,

die Wächter des Heiligthums, die den Spott anstimmen, der

noch oben am Kreuze sein Echo findet.

Er ist unter die

Uebelthäter gerechnet — was der Herr einst als eine be­

sondere, noch zu erfüllende Schmach seines Leidens bezeichnet

hatte, das

ist erfüllt worden, als man ihn in der Mitte

zweier Schächer kreuzigt.

Aber die Weissagung erfüllt sich

zum zweiten Male noch furchtbarer, als aus dem Munde

des Uebelthäters zu seiner Seite der Hohn der Priester aus­ genommen wird, und ein Mörder am Kreuz den Heiligen

des Herrn als seinesgleichen begrüßt: „bist du Christus, so

hilf dir selbst und uns!"

Und hier seht nun den ersten

Erweis einer königlichen Macht des Herrn: zu dem Hohne schweigt er in heiliger Gelassenheit; aber dennoch erweckt sich die verletzte Majestät ihren Vertheidiger — ein verurtheilter,

124 am Kreuz schmachtender Uebelthäter, der Schächer an seiner

Seite, wird der Anwalt, der für ihn eintritt. Was mag in der Seele des. Mannes vorgegangen sein!

Mögen wir Hülfslinien ziehen, so viel wir wollen, um seine Umkehr

uns verständlich

zu machen — der durch­

schlagende Beweggrund liegt doch in dem, was er hier selbst sagt:

„dieser hat nichts Ungeschicktes gehandelt!"

Er ist

offen gewesen für die Eindrücke der Heiligkeit des Herrn, die er hat schauen dürfen; die hellige Gelassenheit des Dulders,

die den andern herausfordert zu feinem grauenhaften Spott,

ihm hat sie die tiefste Seele bewegt.

Mag manches frühere

Erlebniß, manche alte Erinnerung wieder aufwachen, die ihm die Heiligkeit dieses Sterbens verstehen helfen; mag manche unllare Erwartung sich dazwischen schieben — jedenfalls

ist er der einzige, der im «göttlichen Hellsehen", wie einer es ausdrückt, im rechten Sinne die Ueberschrift liest, die

Pilatus über das Kreuz gesetzt hat, und darum ist er auch der einzige, der die Bitte an diesen König wagen kann:

„Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst".

So wird der gekreuzigte Schächer thatsächlich

die erste Siegesbeute, die der König des Himmelreichs am

Kreuze gewinnt, der Erstling der Ungezählten, welche nicht

der Wunderthäter Christus mit seiner Macht, nicht der Berg­ prediger Christus mit seiner Weisheit, welche dies Haupt voll Blut und Wunden mit seiner Leidensmacht und seiner Sanftmuth überwunden hat; und eben darum wird ihm das ge­

waltige Wort zu Theil:

„wahrlich, wahrlich, ich sage

dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein".

Beachtet bei diesen Worten zunächst, was für ein könig­

liches Bewußtsein und welch' eine königliche Gewißheit in der Seele des Herrn sie enthüllen!

125 Der von allen verlassen, verrathen, verleugnet, ver­

worfen in der Fieberqual des Kreuzes dem Tode entgegen­

geht, er weiß: mein ist das Paradies und die Verklärung und die wartenden Legionen der Engel in des Vaters Reich!

Mögen immer die Menschen ihm genommen haben, was man nehmen kann, bis auf den letzten Rest der Mannes­

ehre: sie können nicht nehmen, daß der Vater in ihm und er im Vater ist, daß er im vollendeten Glauben auch noch

am Kreuze sich in des Vaters Hand weiß, ja, daß er noch

am Kreuze die Hand des Vaters schaut, wie sie damit be­

schäftigt ist, das Thor des Paradieses ihm zu öffnen.

Ich

habe Menschen gekannt, bei denen in ihrem Alter alles Sin­

nen in das Eine sich sammelte, einer seligen Sterbestunde

freudig gewiß zu werden.

Seht, was sie aus sich selbst nicht

schöpften, was wir durch unsre eigene Weisheit nicht lösen, das besitzt der Herr; in ihm dürfen wir das Geheimniß

seligen Sterbens schauen; ihm verllärt sich das dunkle Thor des Todes zur lichten Pforte des Paradieses, und mitten in

die grauenhafte Qual des Missethätertodes hinein leuchtet

ihm das Licht seliger Ewigkeit. Dann aber seht weiter: es hat ja Menschen gegeben,

die durch ihn mit derselben Gewißheit des Heils gestorben

sind, und für welche der Tod nur der Uebergang in das vollendete Leben war und darum auch das Sterben ein Ge­

winn ; wir alle sollen es lernen. Aber der Herr spricht diese Gewißheit des Heils nicht nur für sich selbst aus; königlich verfügt er über das Paradies wie über sein Eigenthum,

und er verfügt darüber zu Gunsten des Schächers, der an seiner Seite am Kreuze hängt.

Diese durchbohrte Hand, die

nicht mehr zu zucken vermag zum Widerstand auf den Hohn der unten Stehenden mit ihrem: „steige herab vom Kreuz!"

126 — sie ist stark genug, die Thore des Paradieses zu öffnen,

welchem sie will.

Denkt das Wort hinein in den Mund irgend eines Menschen, in den Mund eines sterbenden Menschen, dem vor der furchtbaren Wirklichkeit des Todes doch endlich alle die

Illusionen zerreißen müssen, in denen er sich bis dahin viel­

leicht getäuscht hat und wir müssen sagen:

Lästerung!

es wird zur

Ja auch vom Herrn müssen wir aussprechen:

entweder ist dieses Wort der furchtbarste Frevel an dem all­ mächtigen Gott, vor dessen heiligem Angesichte er steht, ein

Frevel an dem Heilsverlangen eines armen Schächers, das er

mit grauenhafter Verblendung betrügt, oder aber es enthält die machtvolle Rechtfertigung des Königs-Titels, den Pilatus über seinem Haupte geschrieben hat, und es trägt in sich das

Bewußtsein einer Herrlichkeit, welche über alles Menschliche

weit hinausreicht und kraft deren er in königlicher Machtvoll­

kommenheit Kindesrechte verleihen darf in seines Vaters Reich!

Und dennoch, l. Fr.! königlicher als die Macht, welche dies Wort offenbart, ist noch ein anderes — die Unermeß-

lichkeit der Gnade, die aus ihm. herausleuchtet.

Fassen wir ganz was es heißt: einem gekreuzigten

Verbrecher,

einem rechtsgiltig verurtheilten Missethäter

wird das Paradies zugesprochen!

Es hat keine Bedeutung

dabei, wenn wir den Mann uns irgendwie besser zu machen suchen, als wäre etwa auch er ein unschuldig Gerichteter;

nein, er spricht es selbst zu deutlich aus: wir sind billig in unserer Verdammniß, wir empfangen, was unsere

Thaten werth sind. Und ihn, der sich selbst in vollem Maße nm seiner Thaten willen des Kreuzes werth achtet, ihn hält

der Herr des Paradieses und der Seligkeit werth — welch'

eine Unermeßlichkett der Gnade!

12? Beachtet außerdem wie die Zusage, die der Herr ihm

gibt, in jeder Hinsicht seine Sitte überbietet.

„Herr gedenke

an mich!" — fleht der Schächer, und in die Nacht seines selbstverschuldeten Elends fällt ein Strahl des Lichts, wenn er sich denkt, daß der, den er am Kreuze für seine Mörder

hat bitten hören, aus dessen Munde er auf dem Wege zum

Kreuz Worte himmlischen Erbarmens vernommen, seiner nicht vergessen werde.

Und wann soll er an ihn gedenken? —

„wenn du kommst in deinem Reiche", heißt es wörtlich dem Evangelisten.

bei

Irdisches, Sinnliches hat der Gekreuzigte

sich ohne Zweifel dabei gedacht, wie es damals in der all­

gemeinen Erwartung lag — vielleicht ein Reich, das in ferner Zukunft werde aufgerichtet werden, wenn dieser Gekreuzigte

die Messiaskrone sich auf das blutumflossene Haupt setzen werde.

Und der Herr antwortete ihm: heute noch wirst du

mit mir im Paradiese sein



o ihr fühlt nach, wie man

ihm in die Rede fallen möchte: wo, wo wird er mit dir sein?

— wie wir weiter fragen möchten: Herr, rede mehr —was ist das Paradies, wo du sein wirst und das du ihm verheißest?

wo ist der Ort, wo die sind, die in Frieden hinfahren aus aller Trübsal dieser Zeit? — Vergeblich —

wir hören nur

das eine: „mit mir wirst du im Paradiese sein" — und

in diesem einen hören wir doch genug!

Mit mir und da­

rum beim Vater, denn wo ich bin, da soll mein Diener auch

sein; mit mir, der nach den Leiden des Todes mit Herr­ lichkeit gekrönt wird und darum ohne Thränen, es wären denn die der Beschämung über so unverdiente Barmherzigkeit;

mit mir da, wo der Tod nicht mehr ist, noch Leid, noch Geschrei und Schmerzen; und das alles nicht erst in ferner unabsehbarer Ewigkeit — nein, juble auf, du armer zerquälter Mensch, heute, heute wirst du mit mir dort sein — „mit dm

128 Engeln jubiliren, ohn' Aufhören triumphiren".

Welch' eine

Unermeßlichkeit der Gnade!

Man fragt unwillkürlich: was hat doch nur der Mann geleistet? was für ein unbekanntes Verdienst bringt er mit, das ihn zu diesem Wort berechtigt? — und man kann nur

antworten: nichts, keines! er vermag nichts mehr wieder gut zu machen von dem,

was geschehen ist, seine Zeit ist um.

Es läßt sich auch nichts beschönigen von dem, was er gethan

hat; die Wirllichkeit ist zu furchtbar. am Kreuz, den vor der Welt

Was diesen Mann

verlorenen und bereits aus­

gestrichenen rettet und für eine selige Ewigkeit aufbewahrt,

ist kein Verdienst, sondern ganz allein schrankenlose, freie Gnade; es ist das Erbarmen eines Hohenpriesters, der, selbst versucht, Mitleid haben kann mit unserer Schwachheit und

unserer selbstverschuldeten Pein; es ist die Gnade eines Got­ tes, dessen Liebe genau so unendlich ist, wie seine Macht. Was der Herr als sein köstlichstes Wort ausgesprochen hat

— jene wunderbare Einladung, die

seit achtzehn Jahrhun­

derten in den Menschenherzen ihr Echo gefunden hat: kom­ met her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid! —

das wird hier zur That.

Die Versöhnung, welche der ster­

bende Schächer nicht mehr vollziehen kann, und die kein

Lebender vollzieht, und wenn er tausend Jahre lebte, voll­ bringt für ihn der sterbende Heiland.

So wird das Kreuz

der Gnadenthron, von dem die Vergebung ausgeht, und der

gekreuzigte Missethäter der Erstling derer, die unter der schrankenlosen Herrlichkeit der Gnade stehen, welche das Kreuz

verkündet.

Von nun an steht uns allen das Reich offen, in

das nicht die Gerechten, die Trefflichen, die Helligen der Erde eingehen, sondern arme Sünder und die besten der Menschen

nur dann, toemt sie arme und begnadigte Sünder geworden

129 sind.

So wird der Charfreitag

mit seinem tiefen

Emst

dennoch für uns ein Tag des Dankes und des demüthigen

Preises! Ja, es ist vollbracht! vollbracht ist das Werk der Versöhnung von Himmel und Erde, so daß kein Mensch, auch

der geringste nicht mehr zweifeln darf — es gibt eine Barm­

herzigkeit, die größer ist als der Welt Sünde, eine Gnade, welche Sünde zudeckt, auch wenn sie blutroth wäre; welche

Sünder rettet, auch wenn die elfte Stunde bereits geschlagen hätte, und zwar ohne ihr Verdienst,

aus lauter schranken­

loser Barmherzigkeit!

Ist euch, th. Gem.!

das Herz denn warm geworden,

oder sagt auch ihr noch — wunderliches Christenthum, das

alles wieder zurücknimmt,

was es noch

eben mit vollen

Händen gegeben hat!? Wie? ob hoch oder nieder, reich oder

arm, vor Menschen geachtet

oder

gerettet für

befleckt —

Zeit und Ewigkeit nur durch Gnade, durch nichts als

Gnade — das soll unser Evangelium sein!? Soll es denn

vergeblich sein, daß uns lein Mensch etwas Böses nachsagen kann, und daß wir so ernst darauf gehalten haben, daß kein

Flecken auf unserem Leben ruht? — Ach ja, lieben Freunde, es ist ein schweres Ding, allein Gnade begehren und de­

müthig bitten zu sollen, wo man ein Recht zu haben glaubt; die Demüthigung, die von dieser Verkündigung der Gnade unabtrennlich ist, ist nicht jedermanns Ding.

Sie war auch

nicht Sache des andern Schächers oder der selbstzufriedenen Hohenpriester; lieber Mensch! ist es die deine? — Täuschen

wir uns nicht; so königlich frei und schrankenlos die Gnade über alle sich breitet — auch sie fordert etwas, das man

mitbringen muß, ja die Kehrseite dieser königlichen Gnade ist

ein anderes Königsrecht, das Recht des Ausschlusses für die, welche das nicht mitbringen, was die Gnade fordert. — Und

9

130 das gerade ist es, was dieser Schächer uns Predigt, ja was ihn, den gekreuzigten Missethäter, vorbildlich macht für uns

unbescholtene und tadellose Leute — er ist fähig diese Gnade zu ergreifen; er vermag es durch den Ernst innerlicher Buße

und durch die wunderbare Kraft des Glaubens, die er beide uns vorlebt.

„Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicherVerdammniß bist"? — so hat er

seinen Gesellen gestraft — „und zwar wir sind billig

darinnen, denn wir empfangen, was unsere Thaten werth sind". Meint ihr wirklich, diese Bekenntnisse seien ihm

nur ausgepreßt durch die Marter des Kreuzes?

Warum

finden sie denn keinen Wiederhall bei dem andern? wamm

setzt er in furchtbarem Trotz noch sterbend den Kampf mit den Menschen fort, den er sein Leben lang geführt hat, nur

um so grauenhafter,

vergeblicher ist?

weil es ein völlig ohnmächtiger und

Nein, nicht aus der äußeren Noth kommt

die Buße, wie viel bußfertige Menschen müßte es doch sonst

in der Welt geben!

Denke an dein eigenes Leben — wie oft

hat dich der Druck, unter dem du seufzest, wohl zum Murren

gebracht, auch zum Verzweifeln, aber nicht zur Buße.

Buße

kann man nicht erzwingen; sie ist eine innere und freie That; sie ist nur da, wo ein Mensch anfängt Angst um seine Sün­

den zu haben, weil er wie dieser Schächer sich vor dem Gotte fürchtet, der die Sünde straft.

Sie ist da, wo ein Mensch

sich nicht mehr beruhigen kann mit dem Versuch, die Sünde

zu vergessen oder sie sich selbst zu vergeben, sondern wo der Gedanke an die Sünde so mächtig wird, daß er nicht anders kann,

als vor seinem Gott in die Knie zu

sinken, ihm

zu bekennen: ich habe gesündigt! und unter seinen züchtigen­ den Arm sich zu beugen.

Und wenn du nun dich selbst ver-

131 gleichst,

dir diese Angst vor Gott an hie Seele

wie selten

bringt und wie schwer ein Bekenntniß der Schuld dir von

den Lippen geht, wie schnell du bei der Hand bist, Gottes richtende Hand zu schwer zu finden, anstatt unter dem Kreuz zu sprechen: „wir sind billig darinnen"; wenn ich vergleiche,

wie der Mörder dort unter der Fieberqual des langsamen Sterbens keinen andern Gedanken hat, als den: „ich empfange,

was meine Thaten werth sind" — so muß man sagen: er hat eine nicht geringe Erkenntniß der Sünde und eine nicht

geringe Buße gehabt! Und nun spricht er weiter: „dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt".

Nun faßt er die eigene Sehn­

sucht in die Bitte zusammen: „Herr gedenke an mich in deinem Reich!

Fa, mag man noch soviel versuchen, sich

verständlich zu machen, wie er zu dieser Bitte gelangt: — immer bleibt es eine wunderbare und ergreifende That des Glaubens. Er schaut in dem Manne mit der Dornenkrone an seiner Seite eine Geistesgröße, die kein anderer auch nur ahnt;

es geht ihm an seiner heiligen Gestalt, verwüstet und

ge-

brandmarkt vom Fluch der Sünde wie er ist, eine Ahnung auf von einem Reiche der Heiligkeit und Gerechtigkeit, aus dem er um seiner Sünde willen ausgeschlossen ist; und den­ noch faßt er — und das ist das wunderbarste — mit diesem

Wort ein Zutrauen, daß in diesem Reiche eine Liebe walte, welche auch eines Verworfenen sich

noch erbarmen und ein

verlorenes Leben erretten könne! Das alles, wie unllar, wie erkenntnißlos auch

immer es herauswächst aus der buß­

fertigen Beugung unter Gottes Gericht, ist doch wirllich Glaube,

der mit ganzer Kraft nach dem rettenden Tau

greift, der aller Sichtbarkeit zum Trotz das Unsichtbare fest­ hält, als sähe er es.

In dieser That ganzer und unbedingter

132 Hinkehr zum Herrn wird er uns thatsächlich zum Vorbilde des Glaubens!

Gewiß, th. Gem.! — es werden niemals diejenigen

fehlen, denen dieser Weg der Schächerbuße und des Schächer­ glaubens zu demüthigend vorkommt, um ihn zu gehen.

Kreuze des Herrn

Am

scheiden sich noch heute die Wege der

Menschen; was die einen auf die Knie herabzieht zum Preise

der Gottesweisheit, die einen Weg des Heils und des Frie­ dens den Verlorenen eröffnet hat, das wird den andern zur

Thorheit und zum Aergerniß.

Wie Gott Lob der bußfertige

Schächer seine Nachfolger in jeder Charfreitagsgemeinde hat, die um den gekreuzigten Herrn sich sammelt, so sind auch die

andern noch immer da, welche

mit jenem trotzigen Misse­

thäter lieber den Weg der Selbsterlösung erwählen als eine

Erlösung durch Gnade, ja die in wahnsinniger Selbstver­ blendung die Gnade sich verbitten und schließlich lieber ver­

zweifeln, als durch sie sich retten lassen.

Sind wir, th.Gem.!

noch in Zweifel, auf welche Seite wir treten sollen? — Ich

meine,

wir haben gewählt!

sprechliche Gnade, dankend in

Dankend

für Gottes unaus­

tiefer Beugung auch dafür,

daß ein Schächer zum Propheten dieser Gnade geworden ist, damit auch der letzte sich nicht ausgeschlossen wisse, um so

seliger und freudiger in unserem Danke, je tiefer und de­ müthige! wir in Buße uns

beugen,

stimmen wir in die

Charfreitagsbitte ein, die der große Sternkundige Copernicus

zu seiner Grabschrift sich einst bestimmt hat: Nicht die Gnade, die einst dem Paulus verliehen, Nicht Verzeihung, wie sie dem Petrus zu Theil ward,

Nur was Du dem Schächer am Kreuze gespendet, Brünstig erfleh' ich!

Amen.

XL

Ostern 1885.

Das offene Grab. Christ ist erstanden Von der Marter alle; Deß sollen wir alle froh sein,

Christus will unser Trost sein! Halleluja. Amen.

Marc. 16, 1—8.

Und da der Sabbath vergangen war, kauften

Maria Magdalena und Maria Jacobi und Salome Specerei, auf daß sic kämen und salbeten ihn. Und sie kamen zum Grabe am ersten Tage der Woche sehr frühe, da die Sonne aufging. Und sie sprachen unter einander: Wer wälzt uns den Stein von des

Grabes Thür? Und sie sahen dahin, und wurden gewahr, daß der

Stein abgewälzt war; denn er war sehr groß.

Und sie gingen

hinein in das Grab, und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Kleid an; und sie entsetzten sich. Er aber sprach zu ihnen: Entsetzet euch nicht. Ihr suchet Jesum

von Nazareth, den Gekreuzigten; er ist auferstanden, und ist nicht hier.

Siehe da die Stätte, da sie ihn hinlegten.

Gehet aber hin

und saget es seinen Jüngern und Petro, daß er vor euch hin gehen wird in Galiläa; da werdet ihr ihn sehen, wie er euch ge­

sagt hat.

Und sie gingen schnell heraus, und flohen von dem

Grabe; denn es war sie Zittern und Entsetzen angekommen und

sagten Niemand nichts; denn sie fürchteten sich.

Theure Ostergemeinde!

Die alte Kirche hat einst

beides, Charfreitag und Ostern in ein Fest und unter einem

Namen zusammengefaßt und ersteres das Kreuzigungspassah,

134 letzteres das Auferstehungspassah genannt.

In der That

gehört beides eng zusammen: unser Osterjubel bricht heraus aus der Charfreitagstrauer,

und der Charfreitag wird erst

dann zum Erlösungsfeste der Menschheit, zum großen Ver­ söhnungstage zwischen Himmel und Erde, wenn ihm ein Ostertag folgt. Ostern ist, wie man es ausgedrückt hat, das Amen Gottes auf die That seines Sohnes; die Auferstehung

Jesu Christi ist gleichsam die feierliche Annahmeerklärung

des Vaters für das Opfer des Sohnes, die Rechtfertigung

des Heiligen wider die Anschuldigungen der Menschen.

So

wird erst Ostern der große Schlußakkord des Erlösungs­ werkes und die Bürgschaft, daß nun nicht mehr das Ver­ derben auf Erden herrschen soll und nicht der Tod den Sieg

behält, sondern das Leben. Und darum: so wenig die alternde

Erde des Frühlings müde wird, so wenig soll die christliche Gemeinde, und wenn Jahrtausende hingingen, müde werden,

den Osterpsalm anzustimmen, den Petrus ihr vorgesungen

hat: „Gelobet sei Gott, der nach seiner großen Barmherzigkeit

uns wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Todten!"

Wohlan denn,

theure Ostergemeinde, jubelst, dankest,

preisest du mit aus vollem Herzen? wie du stillbewegt, er­ griffen von einer Geistesschönheit ohne Gleichen, am Char­ freitag unter dem Kreuze des Herrn standest, stehest du so

auch dankend, preisend, erfaßt von einer Gottesthat ohne

Gleichen vor dem Grabe des auferstandenen Herrn? Halten wir recht fest: nicht die Erinnerung feiern wir an ein Er-

eigniß grauer Vergangenheit,

dessen Folgen zwar in die

Gegenwart hineinreichen, das aber, als ein längst vergangenes, von selbst den Zweifel und die Kritik herausfordert.

Der

lebendige Christus, den die Osterbotschaft verkündigt und den

135 wir feiern, ist ein ewig gegenwärtiger, er ist der Heilsgrund,

auf dem wir noch heute stehen, er ist die Heilskraft, von der mir täglich empfangen, er ist die Heilshoffnung, auf die wir alle harren.

Und darum laßt uns brennenden Herzens wie

einkt die Jünger von Emmaus, als wäre es heute geschehen, an bas Grab des Auferstandenen hintreten und in den Oster-

Psalm einstimmen:

„Gelobt sei Gott, der uns nach seiner

großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen

Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Todten!"

Das vernommene Festevangelium stellt uns vor die erste Osterbotschaft.

Noch ist von Osterpsalmen nicht die

Rede, noch ist die Ostersonne selbst nicht aufgegangen, noch tritt uns der Auferstandene nicht entgegen.

Alles ist, so zu

sagen, im Dämmerschein erster Ahnung: die kleine Osterge-

meinde, die um das Grab sich sammelt, kann, von Furcht

und Entsetzen gehalten, sich selbst noch nicht finden. hier Predigt, ist eigentlich

nur die Thatsache

des

Was

geöff­

neten Grabes und die Stimme, die aus seinem Dunkel her­ vordringt.

Hören wir, was sie verkündigt.

Wir hören

auS dem offenen Grabe des Auferstandenen Die Botschaft: er lebt! —

Den Auftrag: saget es seinen Jüngern! —

Die Verheißung: ihr werdet ihn sehen! mit andern Worten:

wir reden von der Auferstehung und

dem Heil, das mit ihr gegeben ist, von der Auferstehung

»nd der Kirche, die damit gegründet ist, von der Auferstehung und der Heilserfahrung des einzelnen, die in ihr verbürgt ist. 1. Versetzen wir uns auf einen Augenblick zurück in die

Charfreitagstrauer der Jünger.

Der letzte Akt des furcht-

136 baren Trauerspiels ist zu Ende; er ist todt — mit welchem Ausdruck mögen sie das sich immer wiederholt haben!

Es

ist keine gewöhnliche Trauer wie um einen geliebten Lehrer, nm einen theuren Freund, die sie erfüllt; dazu haben sie zu

Großes von ihm erwartet, zu Gewaltiges von ihm bereits erlebt, sie sind, wie Jemand es ausgedrückt, bereits zu sehr

Jünger. Es ist ein Zusammenbrechen ihrer Hoffnungen, ein Zusammenstürzen ihres gesammten Glaubensbestandes, was

sie erleben: Freund und Lehrer, Meister und König, Erlöser

und Erlösung, alles das haben sie verloren,

das alles ist

für sie hineingelegt in das dunkle Grab.

Die Frauen wollen nach ihrer Art wenigstens noch Liebe erweisen, so lange sie noch zu erweisen ist — wäre es

auch

nur noch an der entseelten Hülle.

zum Grabe.

Daher der Gang

Erst am Ziel erwacht ihre Sorge: wer wälzt

uns den Stein von des Grabes Thür? Aber was heute für

Tausende mitten in einer anbetenden Christenheit eine unge­ löste und unbeantwortete Frage bleibt, das wird ihnen be­

antwortet durch die Thatsache selbst.

Statt der Verwesung

leuchtet der Morgenglanz der Ewigkeit aus dem geöffneten

Grabe ihnen entgegen und staunend vernehmen sie mit auf-

gethanem Ohr die Botschaft aus einer andern Welt: „Ihr

suchet Jesum, den Gekreuzigten; er ist auferstanden und ist nicht hier.

Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten!"

Nichts, l. Fr., ist schwieriger, als die verschiedenen Be­ richte der Evangelisten über die Auferstehung zu vollkommenem

Einllang mit einander zu bringen — wenn hier von Furcht

und Zweifel berichtet wird, dort von Freude und Glauben,

hier von eiliger Flucht, dort von anbetendem Staunen.

Aber

gerade dieses unlösbare Durcheinander von Stimmungen und

Empfindungen ist das einzige, was dem Erlebniß selbst ent-

137 sprechen kann, der deutliche Wiederschein eines Ungeheuren,

das sie erlebt haben.

Und ob nun als zweifelnde Frage

ausgesprochen, ob in dämmernder Ahnung begriffen oder

endlich

in jubelndem Glauben anbetend erkannt, — eines

bricht doch bei allen durch und macht als Grundton der

gemeinsamen Ueberzeugung sich Bahn: das Grab ist leer, der Herr ist nicht da, er ist auferstanden, er lebt!

Machen wir den Inhalt uns Kör, den diese Botschaft für die Jünger einschloß.

Sie hatten die Freude miterlebt, als einst der Herr zu Nain den Jüngling seiner Mutter, als er dem trauernden

Vater Jairus sein Töchterlein wiedergab; sie hatten mit am Grabe des Lazarus zurückkehren sehen.

Herr noch

gestanden und den Todten ins Leben

Wie, sollte etwa in solcher Weise der

einmal ins Leben zurückkehren?

Sollte er noch

einmal mit ihnen wandeln, Worte des ewigen Lebens reden und Hände des Segens ausbreiten? Soll er vielleicht noch

einmal vor seinen Feinden sich verbergen, um dann aufs neue

dem Tode, wenn auch vielleicht in etwas sanfterer Gestalt zu erliegen? Gewiß, einen Lehrer hätten sie so ja wiederbe­

kommen, auch einen Freund und Meister auf ein Jahr, auf

etliche Jahre vielleicht.

Aber ist es wirklich das, was sie

wollen, was sie brauchen?

Nein, fragt sie selbst —: an die

Rückkehr des Herrn ins irdische Leben hat kein einziger

von ihnen auch nur gedacht.

Sie verstehen, sobald nur die

dämmernde Ahnung des Geschehenen ihnen aufgeht, daß es eine Botschaft aus einer andern Welt ist, die sie empfangen.

Sie werden es inne, daß der Herr selbst einer andern Welt angehören muß, als dieser irdischen. Auch dem Befangensten unter ihnen geht es auf, daß er nur dann der König des Himmelreiches, nur dann der Erlöser voll ewigen Lebens ist,

138 der er sein wollte, wenn er in einer andern Welt über dieser Todeswelt lebt und herrscht, ja daß eben darum das Grab ihn nicht halten kann, weil er aus einer Welt des Lebens

stammt, die stärker ist als der Tod.

blick die Auferstehung

Nehmt für einen Augen­

hinweg aus dem Leben des Herrn,

hinweg aus der Geschichte der Kirche und der Welt, laßt das

Leben des Herrn enden mit seinem letzten Seufzer am Kreuze: es ist vollbracht! — was wäre gewesen? Ohne Zweifel hätte das Bild

des Herrn eine geraume Zeit hindurch fortgelebt

in den Herzen der Seinen und sicherlich nicht ohne Segen.

Aber der Messias wäre er ihnen doch nicht geblieben; der König

von Israel, der Erlöser der Welt konnte er doch nicht sein; sie wären zurückgeblieben wie Schafe ohne Hirten, wie Glieder

ohne Haupt und darum ohne Kraft und Leben. Ein Petrus, dem

nie die Erinnerung an die Verleugnung vernarbte, hätte sie nie

zu einer Gemeinde versammelt; ein Johannes, der am tiefsten ihn zu erkennen geglaubt hatte, hätte am wenigsten sich in

dies Ende des Kreuzes finden können.

Wahrscheinlich würden

jüdische Schriftsteller uns berichten, daß unter der Herrschaft

des Pontius Pilatus ein gewisser Jesus gekreuzigt sei, der sich für Christus ausgegeben und eine nicht unbedeutende reli­

giöse Bewegung im Volke angerichtet habe. — Aber Evan­

gelien, welche die frohe Botschaft der Erlösung einer Welt

verkünden, hätten wir nicht; Apostel, welche diese Erlösung einer Welt verkündet hätten, wären nicht hinausgezogen, eine

Kirche hätte sich nicht erbaut, ein Christenthum wäre nicht in die Welt gekommen, eine christliche Welt nie in unserer Mitte erstanden.

Was von Kraft in jener Bewegung war,

wäre gründlich erstickt worden in der Schmach des Kreuzes.

Aber, th. Fr., er ist auferstanden am dritten Tage von den Todten! Hincingetreten ist eine obere Welt mitten in

139 die sichtbare, gegeben ist der Punkt außerhalb und oberhalb dieser irdischen Welt, von wo aus der Hebel angesetzt werden

kann, der diese sichtbare Welt und jede Weltanschauung des

bloßen Diesseits aus ihren Angeln hebt. Gesprochen ist das

göttliche Amen auf jedes Wort,

auf jedes Thun, ja,

auf

jeden Sterbensseufzer des Menschensohnes, er ist erwiesen als der Sohn Gottes, der Heiland der Welt; vollbracht ist

die Versöhnung, die Welt und Menschen neu macht durch

das neue Verhältniß zu Gott, das sie begründet; aufgeschlossen ist eine neue Welt der Hoffnung, zu der alle, die hiernach in dieser

Welt des Todes wallen, mit der Gewißheit aufschauen, daß das Haupt droben seine Glieder nicht läßt; auch die weinen,

können nun nicht mehr weinen als solche, die keine Hoffnung haben, — der Lebensfürst hat mit seinem Auferstehen

für

alle die an ihn glauben, den Weg des ewigen Lebens gebahnt. Es gilt von nun an kraft dieser neuen Lebensordnung, die

von der Auferstehung Jesu Christi ausgeht,

als Pilgerlied

aller Kinder Gottes

Welt du bist uns zu klein, — Er geht durch Jesu Leiten

Hin in die Ewigkeiten! — Soll ich alles in ein einziges Wort zusammenfassen? — Nach dem Tode eines großen Gelehrten, Blaise Pascal's, fand man

im Futter seines Kleides ein Pergament, das ihn nie verließ, und auf dem man die Worte las: Gewißheit! Freude! Gott Jesu Christi, nicht Gott der Gelehrten und Phi­

losophen — daß ich nie von ihm getrennt würde!

Es ent­

hielt die Erinnerung an eine Nacht, in der aus dem Philo­ sophen ein lebendiger Christ geworden war.

wißheit,

Seht — Ge­

Freude über den Vater Jesu Christi, der

durch ihn unser Vater ist, das ist der Inhalt unseres Lebens

140 durch die Botschaft des Osterevangeliums: er ist auferstanden, er lebt!

2. An diese Botschaft nun schließt sich unmittelbar der

Auftrag:

„gehet hin und saget es seinen Jüngern

und Petro!"

Sie sollen es nicht für sich behalten, das

versteht sich von selbst — und wer soll es schneller erfahren als die Apostel, wer unter ihnen wieder eher als Petrus,

der Petrus, der als ein Verleugner von seinem Herm ge­ schieden ist, und dem die Gewißheit der Auferstehung nicht

nur den verlorenen Meister selbst wieder schenkt, sondern auch die Gewißheit der Vergebung und Heilung für seine schwerste

Wunde. Bewundert immerhin, l. Fr., die heilige Zartheit dieser Heilandsliebe, die hier das verwundete und gedemüthigte Kind zuerst auffucht und unter allen, denen es verkündet werden soll, nur den einen namhaft macht: „saget es Petro!"

Es

liegt doch noch ein weiterer Gedanke in der Weisung: „saget

es seinen

Jüngern!" — In der That, das darf nicht

verborgen bleiben;

nicht für sich selbst ist der Herr aufer­

standen und hat des Grabes Riegel gesprengt, er ist aufer­ standen für die Seinen.

Wohl will

er nicht wieder neben

ihnen wandeln, wie er bisher

gethan hat, aber er will

gleichwohl in ihrer Mitte sein.

Eine neue Form geistiger

Verbindung und Gemeinschaft soll jetzt ihren Anfang nehmen,

eine Gemeinde soll sich bilden,

in der er selbst, der erhöhte

Herr, das Haupt ist und deren Ersllinge die Apostel sind. Ist er bis dahin der Lehrer gewesen, der mit seinen Jüngern wandelte,

jetzt will er erst der Heiland sein, der in seinen

Erlösten lebt.

War

Seinen voranging,

er bis dahin das Vorbild, das den so wird er nun das lebendige Haupt,

141 dessen Lebenskraft auch seine Glieder durchströmt und belebt.

Diese Durchdringung der Glieder mit dem Leben des Haup­

tes ist der Vorgang, durch welchen die Gemeinde gesammelt wird; die Gemeinschaft derer, die von der Kraft und dem

Geiste des lebendigen Herrn erfüllt und getragen werden, ist die Kirche; sie entsteht, wo das Leben Christi an seinen

Gliedern sich dem

offenbart.

So steigt die Kirche Christi aus

geöffneten Grabe des Auferstandenen empor: bereits

der Ostertag wird ihr Geburtstag. Es scheint nun allerdings, als ob wir damit in unsere

Geschichte wenigstens zu viel hineinlegten, denn von den Frauen heißt es ausdrücklich, daß sie, von Verwirrung und Furcht gehalten, zunächst diesen Auftrag nicht ausrichten.

Dennoch liegt in jedem mächtigen Erlebniß etwas, was zum

Aussprechen treibt, in diesem mehr, als in anderen.

Es ist

aus der Erfahrung heraus gedichtet, was Novalis singt:

Ich sag' es jedem, daß er lebt und auferstanden ist.

Daß er in unsrer Mitte schwebt und ewig bei uns ist; Ich sag' es jedem, jeder sagt es seinen Freunden gleich, Und bald an allen Orten tagt das neue Himmelreich. Die Menschen können nicht einmal dämpfen, was der

Herr hier zu thun gebietet.

Blickt nur wenige Wochen wei­

ter hinaus in der Entwickelung der Dinge — und derselbe

Petrus, dem hier die Auferstehung verkündigt werden soll, bezeugt gegenüber den Verboten des hohen Rathes von die­

sem Namen zu reden, „toirsönnen es ja nicht lassen, daß

wir nicht reden sollen, was wir gesehen und gehört haben!"

— Was in der gesammten apostolischen Verkündigung nach­ weislich den Grundton bildet, das ist die Erfüllung dieses

Auftrags: saget es seinen Jüngern!

Die Apostel predigen

nicht die Lehre des Herrn, sie verkündigen nicht sein un-

142 schuldiges Leiden und Sterben, sie predigen auch nicht eine

Lehre vom Herrn — sie treten auf als die Zeugen seiner

Auferstehung.

So nennen sie sich selbst; nur wer ein

Zeuge der Auferstehung sein kann,

kann Apostel werden.

Das Zeugniß von der Lebenskraft des auferstandenen Herrn

sammelt die Gemeinde, das überwindet die Widersacher, das hat selbst die Starken zum Raube.

Die Lebenskraft des

Auferstandenen in seinen Jüngern, welche sie heilig leben

und freudig sterben lehrt, ist es, welche thatsächlich diese Welt der Selbstsucht und der Hoffnungslosigkeit erobert, und vor welcher das morsche Heidenthum in seiner Ohn­ macht zusammenbricht.

Und wollen wir heute, th. Fr., irgendwo und irgend­

wie die Kirche des Herrn bauen und fördern, laßt es vor allem geschehen in Kraft dieses Auftrages, den auferstande­

nen Herrn zu verkündigen, in Wort und Werk Zeugen seiner Auferstehung zu werden.

Unser ganzes Christenthum ist im

Grunde nur ein fortlaufendes Jnnewerden des Lebens Christi,

und darum unsere Aufgabe die beständige Bezeugung seiner Lebenskraft in uns. Lehren über ihn,

Predigt schöne Lehren des Herrn oder

sie lassen die Menschen kalt;

aber ver­

kündet die Lebenskraft eines Lebendigen, der Menschenseelen

retten kann, verkündet ihn am Taufsteine als den lebendigen Heiland, in dessen Reich unsere Kindlein hineintreten sollen, damit er sie segne; predigt ihn am Traualtar als dm Herm, dessen Wort

und Kraft auch die Gemeinschaft der Herzen

verllärcn und unsere Häuser zu Tempeln Gottes weihen kann;

zeigt ihn an den Gräbem als den Lebensfürsten, der die Auferstehung und das Leben ist, und aus dem Tode unver­ gängliches Wesen an das Licht gebracht hat, und der darum

überschwänglich

trösten kann; bezeugt ihn mit mehr als

143 Worten, mit Wandel und Leben, in denen die Kraft einer

höheren Welt sichtbar wird, als den lebendigen Heiland — und es werden vielleicht die Menschen sich scheiden in Liebe

und Haß, in Gegensatz und Zustimmung; aber sie bleiben sicherlich nicht gleichgültig, nicht kalt, und darum werdet ihr

unter allen Umständen so die Kirche des Herrn bauen und

sein Reich fördern.

3. Aber allerdings, recht verstanden, kann dieser Auftrag: „saget es den Jüngern" gar nicht ausgerichtet werden, wenn

nicht zuvor irgendwie das Wort der Verheißung wahr ge­ worden, die der Engel hinzufügt:

„ihr werdet ihn sehen"!

Und thatsächlich ist dieser Auftrag von jenen Frauen an, die in Furcht und Entsetzen vielmehr sich verbergen, anstatt

zu verkündigen, niemals ausgerichtet worden,

ohne daß zu­

vor die Verheißung sich erfüllt hätte: „er wird vor euch hingehen in Galiläa".

Was haben denn die Jünger geantwortet auf die Ver­ kündigung der Frauen? Es däuchte ihnen, erzählt einer der

Evangelisten, als wären es Mährlein.

sehen und erfahren, da glauben sie. anders.

Erst als sie selbst

Es ist noch heute nicht

Sicherlich kann der Glaube nicht verwerflich sein,

bei dem einer glaubt auf das Zeugniß aller derer hin, welche durch Glauben und Geduld in Frieden heimgefahren sind —

wie viel besser jedenfalls als der vorwitzige Zweifel, der im

Handumdrehen verwirft, woran Jahrhunderte sich gehalten

haben.

Dennoch soll der volle Glaube nicht nur ein Hin­

nehmen sein auf das Zeugniß anderer; er muß seine Gewiß­ heit in sich selbst tragen.

Werde selbst lebendig durch den

Lebendigen, dann kannst du auch in freudigem Glauben seine Lebenskraft

andern bezeugen; empfinde

und erfahre sein

144 Leben an deinem eigenen Herzen, dann wird es dir zu einer

gebieterischen Pflicht des Glaubens, andern zu sagen und zu bezeugen: er lebt!

Es gibt schließlich für das gesammte

Christenthum nur einen einzigen Beweis, welcher Stich hält und unwiderleglich ist — den der Erfahrung. So gibt es auch

für das Osterevangelium nur einen Beweis, den kein stärkerer

Verstand durchbrechen kann — den der persönlichen Erfah­ rung.

Das weiß auch der Herr; er weigert sich dieser Probe

durchaus nicht, er spricht sie vielmehr als Verheißung aus, giltig für damals, wie für heute: „In Galiläa werdet

ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat!" Verstehet aber recht, was für ein Sehen eigentlich ge­

meint sei.

Man kann wohl fragen: warum der Herr in

Galiläa sich wolle sehen lassen, nicht in Jerusalem.

leicht darf man darauf Hinweisen,

Viel­

daß er die Seinen aus

dem volkreichen Gewühl der Hauptstadt, aus der Unruhe des Lebens herausheben und sie in die Stille und Einsam­

keit Galiläas führen will, um dort sich ihnen zu offenbaren. Jedenfalls ist so viel gewiß, daß geistliche Erfahrungen, jenes

Sehen und Jnnewerden des auferstandenen Herrn nie im Gewühl des Marktes, im Lärm des Lebens sich vollziehen

wird, sondern nur in der Stille eines in Gott versenkten

und gesammelten Herzens. uns einkehren.

In diese Stille heißt der Herr

Denn mag damals seine Lebenskraft mäch­

tiger, überwältigender, sichtbarer sich offenbart haben, — den­

noch wird noch heute sein Friedensgruß so lebendig erfahren wie am ersten Ostertage; noch heute gibt es brennende Her­

zen wie dort auf dem Wege nach Emmaus; ja, es kann noch heute der Herr den Menschen überwältigen, wie einst den

Thomas, daß er niedersinkt und ausruft: „mein Herr und mein Gott!"

145 Ihr habt die Schrift und in ihr das Bild, das die

Evangelien vom Herrn uns zeichnen; ihr habt das Geistes­ bild des neuen von ihm geschaffenen Lebens, wie es aus den

Briefen des neuen Testaments uns zurückstrahlt; — hundert­ mal habt ihrs gelesen und betrachtet ohne Bewegung.

Wa­

rum ward das heute oder zu irgend einer Zeit eures Lebens anders? warum nahm das todte Wort auf einmal Leben an, hier tröstend, dort richtend, hier zur Erkenntniß der ei­

genen Ohnmacht führend und Erlösungsbedürfniß weckend,

und dort wieder den Frieden

der Versöhnung versiegelnd

und die unermeßliche Liebe des Herrn erschließend?

Habt

ihr die Geisteskräfte hineingelegt, die auf einmal entbunden

wurden?

Ist es etwa nur eure tiefere Lebenserfahrung,

die heute das bessere Verständniß gab, und die euch einst­ mals noch gefehlt hat? Oder ist nicht vielmehr dies Wort

die Geistesbrücke, vermittelst welcher der Herr selbst, der der

Geist ist, den Weg zu der Seele

Herzen lebendig sich erweist?

findet und an unseren

Und dieses Jnnewerdcn des

Lebens Jesu Chrisü nenne ich ein Sehen des Herrn, das noch heute möglich ist.

Ihr habt die christliche Gemeinde, in der der Herr mit seiner Kraft, seinem Wort und seinem Sacrament noch

heute waltet; ihr wißt vielleicht kaum, was ihr an ihr habt, von

ihrer Kraft wenigstens habt ihr noch nichts gespürt. Hundert­ mal habt ihr diese Gottesdienste besucht und habt sie genau so

leer verlassen, als ihr gekommen wäret, vielleicht noch geärgert

durch das, was ihr hörtet. Aber warum wird das auf ein­ mal anders, heute oder in einer bestimmten Zeit eures Lebens?

Warum sind euch diese Gottesdienste jetzt wie das Anllopfen einer unsichtbaren Hand an euer Herz, warum ist euch das

Sacrament jetzt eine unentbehrliche Seelenspeise und das Ge10

146 bet ein Herzensbedürfniß?

Warum hat eine christliche Per­

sönlichkeit, die euch in den Weg kam, einen Stachel in euren Herzen zurückgelassen, den ihr nicht wieder los werden könnt

und der euch ein Anstoß zu einer ewigen Bewegung wird? Ist das wirklich nur, weil einer besser predigt, als der an­

dere? weil ihr gerade heute offener für solche Eindrücke wäret, als gestern?

Oder müssen wir nicht vielmehr sagen:

es ist der lebendige Christus selbst, der in den Seinen

waltet und durch sie seine Siege erkämpft, der in seiner Ge­

meinde sich lebendig, wirffam und gegenwärtig erweist? Und

so die Lebenskraft des Herrn inne werden,

das nenne ich:

ihn schauen im Geist! Kann man die Welle rückwärts fließen machen oder

die Zeit zurückgehen lassen? kann auch ein Menschenleben noch einmal von vom anfangen?

unmöglich.

Vor Menschen ist das

Aber vor Gott kann auch ein Leben in seinem

Alter aus den Angeln gehoben werdm und wieder gut ge­

macht, was gefehlt, wiedergebracht werden, was verloren war. Und wenn ein solches Menschenleben preisend bekennen kann: es ist alles neu geworden durch Christum meinen Heiland!-------- Freunde, von Todten geht keine

Kraft aus, nur von den Lebendigen — es ist ein Gmß des

auferstandenen Heilands und das erfahren heißt ihn sehen als den lebendigen!

Und ich füge hinzu: je stiller ein Herz wird, je heimath­ licher es sich fühlt in der Welt des Gebets, je mehr es inner­

lich in ernster Heiligung sich löst von dem, was irdisch und

sündlich ist, um so geübter wird es in diesem geistigen Schauen, um so leuchtender erblickt es das Auge seines Herm.

Im

Aufschauen zu ihm geht sein Leben in uns über, sein Geist

berührt den unsern und füllt ihn auf verborgenen Geistes-

147 wegen mit seiner Kraft.

So werden wir selbst

lebendig

durch die Kraft seines Lebens, so auch die rechten Zeugen seiner Auferstehung.

Ja, um brennende Herzen, die von sei­

nem Leben durchdrungen sind, laßt uns bitten: dann wird

auch durch uns sein Reich gebaut; dann jubeln

wir erst

voll und ganz mit der gläubigen Gemeinde den Osterpsalm: „Gelobt sei Gott, der uns wiedergeboren hat zu einer leben­ digen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den

Todten!"

Amen.

XII.

18. Sonntag nach Trinitatis 1884. Die Erscheinung des Herrn vor Elias. 1. Könige 19, 1—18.

Und Ahab sagte Jsebel an alles, was

Elia gethan hatte, und wie er hätte alle Propheten Baals mit

dem Schwerte erwürget.

und ließ ihm sagen:

Da sandle Jsebel einen Boten zu Elia

Die Götter thun mir dies und das, wo ich

nicht morgen um diese Zeit deiner Seele thue, wie dieser Seelen

einer.

Da er das sahe, machte er sich auf und ging,

wo er hin

wollte, und kam gen BerSeba in Juda, und ließ seinen Knaben

daselbst.

Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise, und kam

hinein und setzte sich unter eine Wachholder und bat, daß seine Seele stürbe und sprach: Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele; ich bin nicht bester, denn meine Väter.

Und legte sich und

schlief unter der Wachholder. Und siehe, der Engel rührete ihn, und sprach zu ihm: Stehe auf und iß.

Und er sahe sich um und stehe,

zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brod und eine Kanne mit Master.

Und

da

er gegeffen und getrunken hatte, legte er sich

wieder schlafen. Und der Engel des Herrn kam zum andem mal

wieder und rührete ihn, und sprach: hast einen großen

Weg vor dir.

Stehe auf und iß; denn du

Und

er

stand

auf und aß

und trank, und ging durch Kraft derselben Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis

an

den Berg Gottes Horeb;

daselbst in eine Höhle und blieb daselbst über Nacht.

und kam

Und siehe

das Wort des Herrn kam zu ihm und sprach zu ihm: Was machst

du hier, Elia?

Gott Zebaoth;

Er sprach:

ich habe geeifert um den Herrn, den

denn die Kinder Israel haben deinen Bund ver­

lassen, und deine Altäre zerbrochen, und deine Propheten mit dem

Schwerte erwürget;

und ich bin allein übrig geblieben, und sie

149 stehen darnach, daß sie mir mein Leben nehmen. heraus und

auf den Berg vor den Herrn.

tritt

Er sprach: Gehe

Und siehe, der

Herr ging vorüber und ein großer starker Wind, der die Berge

zerriß und die Felsen zerbrach, vor dem Herm her, der Herr aber

war nicht int Winde.

Nach dem Winde aber kam ein Erdbeben,

aber der Herr war nicht im Erdbeben.

Und nach dem Erdbeben

kam ein Feuer, aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem

Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. hüllte

Da das Elias hörte, ver­

er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging heraus und

trat in die Thür der Höhle.

ihm und sprach:

Und siehe, da kam eine Stimme zu

Was hast du hier zu thun, Elia?

Er sprach:

Ich habe um den Herrn, den Gott Zebaoth geeifert, denn die Kin­ der Israel haben deinen Bund verlassen, deine Altäre zerbrochen,

deine Propheten mit dem Schwert erwürget; und ich bin allein übergeblieben und sie stehen darnach, daß sie mir das Leben nehmen.

Aber der Herr sprach zu ihm: Gehe wiederum deines Wegs durch

die Wüste gen Damascus; und gehe hinein und salbe Hasael zum

Könige über Syrien,

und Jehu, den Sohn Mimst, zum Könige

über Israel, und Elisa, den Sohn Saphats, von Abel Mehola, zum

Und soll geschehen, daß, wer dem

Propheten an deiner Statt.

Schwert Hasaels entrinnet,

den

soll Jehu tödten, und wer dem

Schwert Jehu entrinnet, den soll Elisa tödten.

Und ich will lassen

überbleiben sieben Tausend in Israel, nämlich alle Kniee, die sich

nicht gebeugt haben vor Baal, und allen Mund, der ihn nicht geküsset hat.

Theure Gemeinde!

Ein

farbenreiches, prächtiges

Bild hat uns die vernommene Erzählung des alten Bundes vor Augen geführt.

Auf dem Hintergründe einer dunkeln

Zeit leuchtet eine Gottesoffenbarung auf, so

herrlich, wie

kaum eine zweite im alten Bunde ihr an die Seite gestellt

werden kann.

Mag ihre Form uns fremdartig sein, mag sich

im ersten Augenblick noch dem Verständniß entziehen, was

sie bedeutet, so viel ist klar,

daß hier neue Gottesgedanken

erschlossen werden sollen, die der Prophet noch nicht gedacht

hat.

Und wenn dies nicht geschieht im Sturmwind, nicht im

150 Feuer oder Erdbeben, sondern im Men, sanften Sausen, so können wir Kinder des neuen Testaments kaum anders, als hier die Art desselben Gottes anbeten, der sich heilend, er­

quickend, erlösend zu der Welt herabließ in Jesu Christo,

seinem Sohne: es ist ein Stück neues Testament im alten,

das uns in heiligem Gesicht gezeigt wird. Aber auch noch nach einer andern Seite wendet sich

der Blick.

Es ist der größeste Prophet des alten Bundes

nächst Moses, der diese Offenbarung empfängt, der Wieder­ hersteller der Theokratie, dessen Wort, mit Jesus Sirach zu reden, wie Feuer war und wie eine Fackel brannte, der wie

ein eherner Fels

mitten in die Wogen einer abgefallenen

Zeit hineingestellt scheint, damit sie an ihm sich brechen und

zerschellen sollen.

Und doch empfängt er diese höchste Offen­

barung nicht etwa in einem Augenblicke, wo er auch auf der Höhe seines Wirkens und seiner Erfolge steht, nicht etwa auf dem Gipfel des Karmel, als er mit mächtiger Glaubensthat

die Priester des Baal überwindet, oder da wo sein Wort dem

lechzenden Lande den Regen des Himmels erschließt — er erhält sie vielmehr in einem Augenblick tiefsten Verzagens, innerster

Demüthigung; und gerade diese Führung durch Mißerfolg und Verzweiflung hindurch ist es, welche allein ihn geschickt und

fähig macht, die ganze Tiefe der Heilsgedanken zu erfassen, die sich in dieser Offenbarung ihm auffchließen. Ihr versteht, th. Fr., wie darin ein Wink auch für uns

liegt! Aus der Tiefe will der wunderbare Gott immer die Menschen heben, denen er seine höchste Gnade offenbart; ge­ rade die, welche er hoch empor steigen lassen will, führt er

zuvor hinab und denen, welchen er die Tiefe feiner Hellsge­

danken offenbart, gibt er als Gegengewicht Stunden des Ver­

zagens und der Schwäche, wie andere sie nicht zu tragen

151 haben.

Folgen wir

aus diesem Gesichtspunkt heraus dem

Gange unserer Geschichte. Die Erscheinung des Herrn im stillen, sanften

Sausen steht uns im Mittelpunkt derselben; mit der Frage,

was sie uns zu sagen habe, suchen wir uns verständlich zu

machen ihre Vorgeschichte,

ihre Bedeutung und endlich ihre Mahnung und Weisung.

1. Nur mit wenigen Worten gedenke ich der Vorgeschichte

der Offenbarung Jehovas, die der Geschichte Israels ange­

hört.

Wir kennen die trostlosen Zustände des Landes zur

Zeit des Königs Ahab.

Durch die wilde Energie der Königin,

der phöilicischen Jsebel, ist der Dienst Jehovas fast ver­ drängt von dem sinnberauschenden Kultus des Baal und der

Astarte; anstatt der Psalmen Jehovas durchtönen die Lust­

gesänge der Götzen jene Haine und Hallen, mit denen Ahab

seine Residenz Samaria geschmückt hat.

Da tritt Elias auf,

ein Gerichtsverkündiger für König und Volk.

In dem Ge­

betskampfe auf Karmel überwindet er den Götzendienst des Baal und mit dem nicht endenden Rufe des Volks: der Herr

ist Gott, der Herr ist Gott! scheint mit einem Schlage das

Land zurückerobert zu sein für den lebendigen Gott.

Da

wird er auf einmal von der Höhe der Triumphe herabge­ schleudert: mit einem Eide verbindet sich Jsebel, dem Pro­

pheten das Schicksal der getödten Baalspriester zu bereiten. Mit derselben Schnelligkeit, mit der das Volk ihm vorher zugejauchzt hat, verläßt es ihn jetzt. Derselbe Prophet, der auf Karmel allein einem Heere getrotzt und im Namen Je-

152 hovas seinem Könige ms Angesicht gesprochen hat, begegnet uns jetzt, verlassen, auf der einsamen Flucht.

Und hier setzt mm

eine innere Vorgeschichte jener Offenbarung ein, die bedeut­

samer für uns ist, als diese äußere. Ja, wunderbare Sache — er, der hundertmal sein Leben

eingesetzt hat für seinen Gott, der weder- die Messer der Priester, noch den Zorn des tyrannischen Königs geachtet

hat — er flieht.

Verwechseln wir das nicht mit gewöhn­

licher Feigheit — nein, der Gott selbst, für den er streitet, hat ja seine Sache fallen lassen.

Der Feuer vom Himmel regnen

ließ auf sein Gebet, der hält jetzt sein Angesicht von ihm ab­

gewendet. Je höher sein Standort war, um so tiefer nun sein Sturz. Gerade im Augenblick des Sieges muß er inne werden:

ich habe vergeblich gearbeitet. Nicht nur er ist verloren, der

allem übrig geblieben war von allen bot Propheten Jehovas, sondern auch die Sache, für die er eintrat — wie? ist es

seltsam, wenn er da zusammenbricht? Es ist die Bezweiflung an einem Volk, das sich nicht will retten lassen; es ist die Verzweiflung an der eigenen Kraft, das Ziel zu erreichen;

ja, es ist die Verzweiflung an den unverständlichen Wegen

seines Gottes, die ihn zur Flucht treibt und ihm die Bitte auf die verzagenden Lippen legt: „Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele; ich bin nicht besser, denn meine Väter."

Es hat, th. Fr., etwas tief erschütterndes, wenn im Ge­ fühl vergeblicher Arbeit, eines verlorenen Lebens, unter der Wucht der Verkennung, der Verleumdung und Vereinsamung

ein Mann, zu. dem wir sonst hinaufgeblickt haben, willenlos und glaubenlos zusammenbricht mit dem Rufe: es ist genug!

Und hier steht vor uns ein Prophet, ja der größeste Pro­ phet des alten Bundes, der Felsenmann, an dem Tausende

sich aufgerichtet haben! Und dennoch ist es wie eine Art von

153 Trost auf ihn hinzusehen.

Ja, richten wir, die wir zu den

Geringsten uns rechnen, uns immerhin an dieser Heldengestalt auf.

Auch er kann zweifeln;

auch er hat gezweifelt; der

Prophet, in dessen Wirken Johannes der Täufer das Vorbild der messianischen Zeit erblickt, ist ein Mensch wie wir; er kann verzweifeln.

Nicht darüber haben wir uns zu schämen,

daß Stunden der Anfechtung und der Demüthigung über uns kommen, in denen der Boden uns gleichsam unter den Füßen hinweggezogen wird und alle Stützen uns brechen,

sondern darüber allein, wenn wir glaubenlos in diesen An­ fechtungen bleiben und mit zerbrochenem Glauben in den­

selben zu Grunde gehen, während vielleicht schon Gottes helfen­

der Bote neben uns

steht, — und gerade davor soll das

Vorbild des Elias uns bewahren.

Erschöpft ist er unter dem dürftigen Wüstenstrauche entschlummert.

Scheuen wir uns nicht, zu sagen: auch die

körperliche Abspannung trägt ihr Theil dazu bei, daß er an der Sache des Herrn verzweifeln kann.

Der Zusammenhang

zwischen Leib und Seele ist nun einmal so wunderbar und

geheimnißvoll organisirt, daß der müde, kranke Leib auch die Freudigkeit der Seele trübt; wie oft vermögen wir in uns

selbst kaum zu unterscheiden, was von rein körperlichen, phy­ sischen Einflüssen und was von der Unfähigkeit des Willens

und des Geistes ausgehe.

Wie oft möchte man einem hoff­

nungslosen, trauernden und verzweifelnden Menschen vor allem

nur eine Stunde des Schlummers und einen Bissen leiblicher Stärkung gönnen mehr als alle Trostgründe. So sendet es hier die Freundlichkeit Gottes seinem ermatteten Knecht.

Er

schläft; er wird aufgeweckt um zu essen, er schläft wieder; diese körperliche Erquickung ist in der That der erste Schritt, der ihn aus der Tiefe seiner Anfechtung herausführt.

154 Ein zweiter folgt: Es ist das vernichtende Gefühl der

Einsamkeit, das ihn zusammenbrechen ließ.

Er weicht nicht,

so lange er kämpft, so lange noch Menschen um ihn her sind;

aber er verträgt nicht, daß man ihn des Kampfes nicht mehr

werth erachtet, die völlige Verlassenheit: „ich bin allein übrig geblieben!"

Was will es doch auch sagen, in Dingen des

Glaubens sich vollkommen

einsam fühlen.

So

mächtige

tragende und bewahrende Kräfte von der Gemeinschaft des Glaubens und des Gebetes ausgehen, so verödend und er­

schlaffend wirkt immer das Gefühl:

ich stehe allein.

Wie

manche unter uns stehen wohl ihren Mann, so lange man sie nur als eine Macht anerkennt,

gegen die man streitet,

aber sie können es nicht ertragen, daß man sie einfach mit ihrem Glauben stehen läßt. Wie hunderffach wirkt das bei uns noch

etwas ganz anderes als bei Elias, nämlich nicht nur das Ge­

fühl der Verzweiflung an Gottes Sache, sondern an Gott selbst, an der Gebetserhörung, an der Gewißheit des Glau­ bens. Wie schnell sind namentlich jugendliche Geister bereit,

ihren Glauben jedem Spotte zu opfern, nur weil sie meinen,

sie ständen allein.

Aber dennoch soll es auch von solchen

Zeiten der Muthlosigkeit und der

erzagtheit, wie sie im

Leben der größesten Glaubensmänner aller Zeiten sich wieder­

holen, gelten: Gott läßt nicht versucht werden über Ver­ mögen.

Der Herr hat seine Boten auch in der Wüste, und

noch ehe dieser vereinsamte Mensch es weiß,

steht Gottes

Engel neben ihm und spricht seinem Diener Muth zu —

gleichviel ob dieser Engel ein treuer Freund ist, der dich auf­ richtet, oder ob Gott dir wie hier dem Propheten das Auge

aufthut für die unsichtbare Welt und dich gewiß macht: du bist bei mir im finstern Thal; dein Stecken und dein Stab

trösten mich! —

155 Aus diesem neu erwachenden Glauben heraus läßt nun

Jehova seinen Propheten einen weiteren Schritt thun, der ihn emporhcbt: er gibt ihm einen Auftrag, er soll an den

Berg Gottes, Horeb, gehen, dort soll er erfahren, was Gott mit ihm vorhat. Es kann nichts Einfacheres, nichts Schlichteres

geben, als das; aber gerade dies Einfachste und Schlichteste ist das richtige für ihn.

Er soll gleichsam wieder von vorn

anfangen und anstatt einer hohen Offenbarung gewürdigt zu werden, nur erst das Unscheinbarste lernen, im Kleinsten

treuen pünktlichen Gehorsam zu leisten.

Seht da auch euren

Weg, der aus den Stunden des Verzagens herausführt: es ist

der des treuen pünktlichen Gehorsams gegen die Gebote Got­ tes, die wir erkennen, gegen den Gotteswillen, der uns als

solcher feststeht.

Nicht darauf kommt es an, wie viel wir

leisten oder was sichtbar bleibt von unserer Arbeit, wie groß unsere eigenen Erfolge im Leben sind; vielleicht wird das

alles verweht wie Spreu vor dem Wind und nichts bleibt. Gott braucht für sein Reich nicht unsere Leistungen, aber er braucht unseren Gehorsam und unsere Treue, und während

wir Himmel und Erde bewegen möchten, um zu retten, was

zu retten ist, während wir Großes und Gewaltiges aussinnen

möchten; um neue und unerhörte Erfolge zu erzielen, ver­

langt der Herr nichts von uns, als Treue auch im Geringen, auch wenn es vor den Menschen völlig unsichtbar bleibt; Ge­ horsam auch da, wo wir ihn nicht verstehen, Beugung unsres unheiligen und trotzigen Willens unter seinen heiligen Willen.

Wer so im Kleinsten treu in seinem Gehorsam bleibt,

auch wo es ein Wandern durch die Wüste gilt, eine Tage­ reise nach der andern, auch wo innerlich dieser Gehorsam ihm einschneidet in das, woran seine Seele hängt, den wird gerade diese That des Gehorsams wieder einen Schritt weiter führen.

156 Denn es hat der Herr seinen besonderen Gedanken, wenn er seinen Propheten zum Horeb sendet.

Den Weg soll

er durch die schweigende Einöde hinziehen, den einst sein Volk gewandert ist.

Schritt für Schritt, Stätte für Stätte

wird diese Wüste für ihn Sprache und Rede annehmen und ihm die „alten Zeiten und die vorigen Wunder", wie es im Psalm

heißt, die Gnadenthaten Gottes an seinem Volke predigen. Wohlan, du verzagter, hoffnungsloser Mensch, gehe mit dem

Propheten in die Stille, da warte auf die Erfüllung des Wortes bei Hosea: „ich will sie in eine Wüste führen und

freundlich mit ihnen reden"; da höre in betender Stille

im Worte der Schrift die Stimme deines Herrn und die Verkündigung seiner Gnadenthaten.

So erleben wir noch

heute, daß die scheinbar dunkelsten und freudelosesten Wege, die wir geführt werden, gerade Wege besonderen Heils und

besonderer Gnade für uns werden, ja Wege, die zu Erfah­ rungen göttlichen Trostes und göttlicher Gemeinschaft führen,

wie sie ohne jene Trübsal uns schlechterdings nicht zu Theil geworden wären. —

2. So erlebt es der Prophet. Noch einmal ergeht an ihn

auf der heiligen Höhe des Sinai die Frage Jehovas: was

willst du

hier, Elias? —

als sollte ihm gesagt werden:

weißt du schon, wozu du hier bist und warum du hierher geführt werden mußtest? Verstehst du bereits die wunderbaren

Wege, die dein Gott mit dir geht?

Und merken wir uns,

th. Fr., eben das ist die Frage, die uns aus allem unserm Er­ leben, gutem und bösem, heraustönen soll, die wir vor Allem in

unserer Trübsal und unserer Vereinsamung vernehmen sollen; sie soll uns nachllingen, damit wir nichtsvergeblicherleben!

Merken wir uns aber auch

— so oft uns einmal deutlich

157 zum Bewußtsein kommt: ja, ich weiß, mein Gott,

warum

diese Trübsal über mich kam und was diese Anfechtung wollte— ebenso oft wird diese Erfahrung auch ein Vorbote großer Gnade sein.

Das verbürgt uns Elias. mit dem er jetzt antwortet:

Wie anders ist der Ton,

„sie haben deinen Bund ver­

lassen, deine Altäre zerbrochen,

deine Propheten

mit dem

Schwerte erwürgt und ich bin allein übrig geblieben und sie stehen danach, daß sie mir mein Leben nehmen."

Die That­

sache kann er nicht ändern, aber die Klage und Anllage ist

vorüber; die Verzweiflung ist überwunden; er harrt auf seinen

Herrn.

Und auf derselben Stelle, auf der einst Moses als

Mittler des alten Bundes betend vor Jehova stand, erhält er nun in wunderbarem Gesicht die Antwort des Herrn. Der

Herr geht vorüber und ein Sturmwind, der Berge zerreißt

und Felsen zersprengt, vor ihm her; aber der Herr war nicht in dem Sturm.

Es folgt das Erdbeben und das Feuer;

aber der Herr weilt nicht in ihnen.

Wohl sind auch Sturm

und Feuer in seiner Hand, Boten Jehovas, die starken Hel­

den, die seine Befehle ausrichten; auf Schritt und TM be­ gegnen wir in der Geschichte der Völker dem Feuer göttlicher

Gerichte oder den Stürmen göttlicher Strafgerechtigkeit, unter

deren gewaltigem Ernst die Welt erzittert; allenthalben nehmen wir auch ihre Spur wahr im Einzelleben, wenn Gottes Ge­

richt wie Sturm und Erdbeben den trotzigen Sinn beugt

und wie ein schmelzendes Feuer die unreinen und argen Ge­ danken des Herzens verzehrt.

Es geht kraft dieses heiligen

Gerichtsernstes eines strafenden, vergeltenden Gottes, der sich

nicht ungestraft verachten und verspotten läßt, eine Verkettung von Schuld und Strafe, von Sünde und Leid durch jedes Menschenleben hindurch; und wohl dem Menschen, der dabei

158 fühlt, daß er in der Hand seines Gottes ist.

alle sind nur Gottes Boten, nicht er selbst.

Aber — sie Auf das Feuer

folgt das stille, sanfte Sausen — da das Elias hörte, ver­ hüllte er sein Antlitz und trat hinaus an die Thür der Hütte.

Im stillen, sanften Wehen naht der Herr! Sülles, sanftes Sausen, das ist sein Wesen, seine Art.

Unter dem eisigen Nordsturm brechen die Eichen, und das Leben erstarrt; aber der milde, sanfte Frühlingshauch löst das Gebundene und weckt es zu neuem Leben.

Nicht eisiges,

vernichtendes Gericht, sondern lösender, erquickender, beleben­

der Hauch der Liebe, das ist das Wesen Jehovas. Erbarmen

mit der Welt, auch mit der Welt, über welche der Ernst seiner Gerichte zuvor dahin gebraust ist, das ist das Ende

der Wege Gottes.

Rettende erbarmende Liebe, auch gegen

das Volk, das seinen Bund brach und seine Altäre verließ;

Liebe, die mit ihrer Treue die Untreue überwindet, Liebe, die den Anllagen des Propheten ihre eigene unergründliche

Tiefe entgegenhält, das ist die eigentliche Weise des Herm,

vor dem Elias steht.

Was bereits Moses gehört, das ver­

nimmt Elias aus dem stillen, sanften Sausen heraus, das vyr seinem verhüllten Antlitz vorüberzieht: „barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte; Israel, mein erstgeborner Sohn, mein trautes Kind, es sollen wohl

Berge weichen

und Hügel

hinfallen, aber

meine

Gnade

soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer."

Und

du Gotteskind des neuen Bundes, meinst du, bei dir höre die Gnade auf? mag der Sturm der Anfechtung dich rütteln

— dennoch ein Erbarmer ist Gott.

Ja, mehr noch als ein

Elias hast du und weißest du: zu dir hat Jehova nicht nur geredet im Wort und Sinnbild, mit Feuer und Sausen; es

159 ist die Weise der unendlichen Liebe, daß Worte ihr nicht ge­

nügen, um sich selbst zu bezeugen, daß sie die Kluft zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch mit Thaten

des Erbarmens ausfüllt.

In stillem, sanften Sausen hat

Jehova, der treue, barmherzige Gott, besucht und erlöset sein Volk; er hat sein Antlitz schauen lassen in dem Sohne seiner Liebe, in Christo Jesu.

Und wieder nicht mit Worten allein,

mit Todestreue hat der Sohn Gottes besiegelt,

daß Er­

barmen das eigentliche Wesen des Vaters und Erlösung der

Welt das Ende seiner Wege ist.

Und wärest du allein übrig

geblieben von allen, die anbetend diese Liebe umfassen, und

schiene wirklich die Welt verloren

in Unglauben und Em­

pörung, ja, wäre die Liebe, die den Himmel zerrissen und

zu uns in's Elend sich herniedergelassen hat, scheinbar ver­ geblich

dieser Welt erschienen —

Friedens bleibt über ihr

dennoch der Bogen des

seine Erlösung wird Gott nicht

gereuen; ihm bricht sein Herz, daß er sich unserer erbarmen muß; der seines eigenen Sohnes nicht verschont hat um un­

sertwillen, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? — 3.

Das also hat der Prophet lernen sollen.

Ja, er hat

geeifert um den Herrn, den Gott Zebaoth; aber nun soll er

lernen, daß dieser Eifer nur die Spitze der Flamme sein

darf, welche die Liebe schlägt.

Er hat geeifert um seinen

Gott und das Leben für ihn eingesetzt, aber höher noch als diese That heldenhaften Eintretens steht die geduldige, aushar­

rende Liebe.

Wie der Gott, dem Elias dient, kein fressendes

Feuer ist, sondern erquickendes, sanftes Sausen, so soll er selbst lernen, niemanden und nichts aufgeben und verdammen,

an niemandem und an nichts verzagen.

Wer glaubt, sagt

160 die Schrift, der fliehet nicht.

Wer an die rettende Gnade und

Barmherzigkeit Gottes in Christo glaubt, der samt nicht ver­

zagen.

Wer an sich selbst durch

die Tage der Anftchtung

und Trübsal hindurch erfährt, daß auch im Dunkel Gottes Licht leuchtet, der kann nicht verzweifeln, auch nicht über

andere

Lieber Mensch, über deinem Kummer und deiner

Noth an deinen Kindern, über dem Gram um eine schwere

Zeit, dem Schmerz um den Abfall unseres Volkes von seinen

ewigen Heilsgütern und der Bangigkeit um alle Kämpfe, die

uns bevorstehen, waltet die Gewißheit der barmherzigen Liebe Gottes, die unter allen Umständen Menschenseelen erhalten

will und nicht verderben, welche ihr Reich bauen will und

nicht verwüsten.

Beten wir fleißiger als bisher

um die

Eliasstunden, in denen wir in das tiefste Herz, in das eigent­

liche Wesen unseres Gottes und unseres Heilandes hinein­ schauen,

in denen die Offenbarung der Gnade Gottes uns

herausleuchtet aus dem Angesichte Jesu Christi, und es wird auch in unser Leben mitten im Kampf jene heilige Stille

und Zuversicht einkehren, die

von Trotz

und Verzagtheit

gleich weit entfernt ist, die aber unerschütterlich in dem Glauben

ausharrt:

„Die treueste Liebe sieget, Am Ende fühlt man sie,

Weint bitterlich und schmieget Sich kindlich an dein Knie."

So ward es ja auch dem Propheten geboten; noch ein­ mal wird er gefragt: was thust du hier, Elias?

wiederholt, was er erlebt hat. einen anderen Sinn.

und er

Aber jetzt hat das Fragen

Nein, nicht um hier zu bleiben, nicht

um in seligem Genusse auszuruhen in der Nähe seines Gottes, ist er hier.

So lange er auf Erden ist, ist er auch im Kampf,

161 und so lange ihn sein Gott auf Erden läßt, so lange soll er

auch in unermüdlicher Arbeit seines Gottes Werk thun. Da­ rum erhält er die Mahnung: stehe auf und gehe wiederum deines Weges durch die Wüste gen Damaskus; gehe hin­

durch, trage deine Last, thue in stillem Gehorsam und immer neuer Treue, was dir geboten wird, auch wenn du nicht ab­ stellen kannst, was dein Leben in immer neue Verwickelungen

und Schwierigkeiten bringt; wirke in diesem neuen Geiste

sanfter, erquickender Liebe, den dein Gott dich gelehrt hat.

Wo dieser neue Geist einkehrt, wird wirklich auch das Leben ein anderes und auch sein Kreuz erscheint in anderem Licht.

Und noch ein weiteres wird

neu.

Es ist unmöglich, daß

Es gibt keine

dieses geduldige Harren der Liebe umsonst sei.

vergebliche Arbeit im Reiche Gottes; auch wenn wir die

Frucht nicht sehen,

Elias.

„Ich

sie ist dennoch da.

Auch das erfährt

will lassen übrig bleiben sieben Tausend in

Israel, spricht der Herr, nämlich alle Kniee, die sich nicht gebeugt haben vor Baal und allen Mund, der ihn nicht ge-

küsset hat."

Sie sind wirllich vorhanden; Elias hat keinen

einzigen von ihnen gekannt,

aber Gott hat sie alle gezählt

und ihre Namen angeschrieben im Himmel.

verborgene Frucht seines Wirkens.

Das war die

Es mögen noch dunklere

Zeiten Heraufziehen über die Welt, die sieben Tausend sind

übrig zu aller Zeit und in ihnen der heilige Stamm für die Zukunft.

Kein Jahrhundert ist so verlassen, daß nicht die

sieben Tausend darinnen wären, die ihre Kniee nicht gebeugt

haben vor den Götzen der Welt. Es ist nicht wahr,

Sie finden sich auch heute.

daß jemals Gottes Wort vollkommen

leer zurückkäme, wo es in Treue gepredigt wird.

Ein treues

Wort einer Mutter ist immer ein Same, der aufgeht, wenn

auch in unberechenbarer Zeit.

Jeder

ernste vorbildliche ii

162 Wandel ist immer eine Macht, die sich geltend machen wird

vielleicht da,

wo wir es nicht ahnen, und wären Jahr­

zehnte hingegangen, ohne daß wir eS haben wahrnehmen können.

Gerade da, wo wir es am wenigsten meinen, ist

vielleicht die verborgene Macht des Wortes am Größesten. Sterbend treibt das Weizenkorn seine Frucht; erblassend am

Kreuz, wo menschlich gesprochen, jede Frucht seines Wirkens

zerstört wird, hat der Herr seine Gemeinde seinen Triumph gefeiert.

gestiftet und

Halten wir aus, wohin immer der

Gott unseres Heils uns führt, wo immer er unsere Treue fordert, und womit immer er uns prüft, um uns zu läutern.

Wenn er uns demüthigt, macht er uns groß; wo er uns

beugt, reicht er uns den Schild seines Hells und führt zu

neuen Siegen.

Wohlan im Namen des Herrn, den Elias

nur ahnend von ferne schaut, im Namen des Gottes, der

der Vater Jesu Christi heißt, im Namen des Heilandes, der

die Welt überwunden hat, thut eure Hand nicht ab von dem Werke des Herrn; euer Werk hat seinen Lohn!

Amen.

XIII. Neujahr 1886.

Nichts kann mich scheiden von der Liebe Gottes.

Gnade, Barmherzigkeit und Friede sei mit euch von dem, der da war und der da ist und der da kommt! Ihm sei Ehre in der Gemeinde, die in Christo Jesu ist, nun und von

Ewigkeit zu Ewigkeit. Röm. 8, 38—39.

Amen. Denn ich bin gewiß,

daß weder Tod noch

Leben, weder Engel noch Fürstcnthum, noch Gewalt, weder Gegen­ wärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Creatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in

Christo Jesu ist, unserm Herrn.

Theure Gemeinde! In ein großes und gewaltiges Wort klingt das hohe Lied des Glaubens aus, das Paulus

Römer am achten anstimmt; es ist ein Wort, das jede dunkle Pforte erhellt, die eines neuen Jahres so gut, wie die der

dunkeln Ewigkeit, ein Losungswort, vor dem alle Unruhe und

alle Angst schwindet und in dessen Straft das müde Herz auffahren lernt mit Flügeln wie ein Adler.

Wir alle em­

pfinden: — ein solches Wort brauchen wir heute.

Ein neues

Jahr bricht an, einer der Abschnitte, in welche wir bei dem

unaufhaltsamen Vergehen der Dinge die Zeit zu theilen pflegen und durch welche wir gleichsam die Zeit selbst zwingen

164 möchten, einen Augenblick stille zu halten, um in der Flucht des Lebens uns

auf uns selbst zu besinnen-

Wir schauen

zurück auf das verflossene Jahr mit seiner Freundlichkeit und

seinem Ernst; wir schauen in beidem die Gnade Gottes, die

über uns waltet und die es macht, daß wir noch nicht gar

aus sind; wir schauen im Gedächtniß der Feier*), die über­ morgen unser Volk um seinen Kaiser schaart, auf ein Viertel­

jahrhundert zurück, das wie kein zweites unser Volk geeint,

erhöht, mit Ehren gekrönt hat.

Wir danken dem Gott der

Völker, der unseren kaiserlichen Herm zum Werkzeug seiner Gedanken gemacht hat und bitten ihn, daß

er sein Alter

behüte zum Segen unseres Volkes und mit der Krone es schmücke, die den Bewährten verheißen ist.

hinein in dieses neue Jahr.

So treten wir

Ob wir noch sein Ende erleben

werden, ob der Kreis, dessen Liebe jetzt uns trägt, an seinem Schlüsse noch vollzählig sein wird, oder ob wir an seinem

Ende vereinsamt da stehen werden — wir wissen es nicht. Ob uns Glück begegnen wird oder Wehe, Gewinn oder Ver­

lust, ob auch nur einer der Wünsche in Erfüllung geht, die wir gestern Abend oder heute in der Frühe einander zuge­

rufen haben, ob auch nur eine der Sorgen sich wendet, die

wir über die Schwelle des Jahres mit hinüber tragen, ob unser Vaterland und unser Volksleben noch ferner friedliche

Wege gehen wird, oder ob tiefe Erschütterungen von innen oder außen die vorhandene Zerklüftung werden ans Licht treten lassen — das

Nur eines können wir wissen,

noch gewaltsamer

alles wissen wir nicht.

eines sollen wir auch wissen,

nämlich das, was Paulus hier ausspricht — und dieses Eine kann uns genug sein, um freudigen Muthes hineinzuschauen

*) Das 25jährige Regierungsjubiläum des Kaisers.

165 in die dunkle Zukunft —: „ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstenthum,

noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünf­ tiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine an­ dere Creatur mag uns scheiden

von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn." Ja,

selige Menschen sind wir selbst unter Stürmen und Sorgen, die uns umgeben, wenn wir diese Worte ihm nachsprechen

fernen und wenn wir mit dieser Gewißheit hinübertreten ins neue Jahr.

Was es uns bringe, was es nehme — wer

mit dem Apostel sagen kann: ich bin gewiß, daß nichts

mich scheidet von der Liebe Gottes! der weiß auch: —

nichts kann mir schaden.

Freunde! solchen Glauben wollen

wir einander wünschen, vielmehr solchen Glauben wollen wir uns einer dem andern erbitten — das sei der Neujahrs­

wunsch, den wir jetzt betend einander zurufen! Unsere Losung, mit der wir hineintreten in das neue Jahr, soll lauten: Ich bin gewiß, daß nichts mich scheiden kann

von der Liebe Gottes in Christo Jesu; wir erbitten des Apostels Gewißheit: nichts

kann mich scheiden;

wir ziehen aus derselben für uns die Gewiß­ heit: nichts wird uns schaden! Jesu, geh' voran

Auf der Lebensbahn,

Und wir wollen nicht verweilen, Dir getreulich nachzueilen. Führ' uns an der Hand Bis ins Vaterland!

Amen.

166

1. Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? fragt der Apostel unmittelbar vor unserem Textwort und zählt die Feinde auf, die sich zwischen ihn und seinen Gott

drängen könnten, und die er doch weit überwindet —: «Trüb­ sal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße

oder Fährlichkeit oder Schwert."

Und wir sagen noch ein­

mal: selig, wer so ihm nachsprechen kann, — und empfinden

es für uns selbst als eine heilige Sehnsucht in der Tiefe:

daß wir ihm doch so nachsprechen lernten!

Wohlan, suchen

wir zuerst den Gedanken des Apostels ganz zu verstehen, da­ mit dann seine Erfahrung die unsrige werden könne!

Von Gottes Liebe, sagt Paulus, scheidet mich nichts. Merkt wohl auf dieses Wort!

Wir alle, die wir hier sind,

glauben an Gott, an seine Macht, an seine Weisheit. Du glaubst so, weil du so gelehrt bist; du glaubst so, weil dir

auf deiner Studierstube tiefer oder oberflächlicher erfaßt, der Gedanke aufging, daß doch alles seinen letzten Grund und seine zureichende Ursache haben müsse, haß die Ordnung den Ordner, die Schöpfung den Schöpfer voraussetze.

Du lässest

dir auch diese Ueberzeugung nicht stören durch seichte Ein­

reden, du hältst fest: es gibt einen Gott — sieh, nur eins fehlt diesem Gott, den du dir gemacht hast; es fehlt der elektrische Funke, der von ihm zu dir hinüberspringt, die er­ barmende Liebe, die von seinem Herzen in deines übergeht.

Dein Gott hat kein Herz und darum hast du kein Herz zu ihm; du meinst, von ihm geschaffen zu sein, und doch ist er so blaß und so ohnmächtig, als wäre er vielmehr das Pro­

dukt deiner eigenen Gedanken.

Und wie ohnmächtig und

kraftlos war auch der Gedanke an ihn, als die Noth über

167 dich hereinbrach, und die Sorge dich drückte, und der Tod

an dnner Thüre anpochte und dir das Liebste nahm.

Frage

dich stlbst—ist es dir da besonders beseligend vorgekommen,

bei allem, was dir genommen werden könnte, wenigstens un­ getrennt zu bleiben von diesem deinem Gott?

Leben und Kraft

ausgegangen

diesem zureichenden Grunde aller Dinge, ner, der alle

Ordnung,

Ist da auch

von dieser letzten. Ursache, von diesem Ord­

diesem Schöpfer, der

die

ganze

Schöpfung gemacht hat? Nein, wir fühlen: Trost ging von dem Gedanken nicht aus, Freudigkeit hat uns diese Gewiß­ heit nicht gebracht;

Glaubenswort:

Paulus meint Größeres mit seinem

nichts kann mich scheiden von der

Liebe Gottes!

Ja, ein Gott der Liebe ist der Gott des Apostels.

Das Herz, das in meiner Brust schlägt, sagt jemand, ist mir ein Bürge dafür, daß der Gott, der mich geschaffen hat, kein

Wesen ohne Herz sein kann.

Was trieb denn diesen gewal­

tigen und unermeßlichen Gott, daß er eine Welt ins Dasein

rief, Creaturen schuf, die ihn anbeten könnten, daß er mich ins Leben rief und daß sein Auge über mir wachte

auch im

verflossenen Jahre bis zu dieser Stunde? Ich antworte: es

ist seine Liebe.

Was ist der Grund, daß ich armer

unbedeutender Mensch

mit einer Zuversicht,

welche

und

keine

Grenze kennt, die Haare auf meinem Haupte von ihm ge­ zählt wissen darf, daß ich ihn beschäftigt

glauben kann mit

meinem Ergehen, wie ein Vater mit dem Ergehen eines lie­ ben Sohnes sich befaßt, daß ich glauben darf, jeder Kampf

meines Lebens, jeder Seufzer meines Herzens,

jede Sorge

meiner Seele finde ein lange anhaltendes Echo in seinem Herzen und werde von ihm mit erlebt, wie die Schmerzen

des Sohnes vom Herzen des Vaters?

Ich antworte: es

168 ist die Gewißheit, daß er ein Gott der Liebe ist.

Be­

greife, th. Gem.! ganz diesen Gedanken, und so gewiß es

schon selig ist, sich geliebt zu wissen von menschlicher Liebe,

so gewiß muß auch eine beseligende, ja eine überwindende Kraft von dem Gedanken ausgehen,

geliebt zu sein von

einem Gott der Liebe. Und dennoch, ich irre mich nicht, bleibt euer $er$ auch da noch kalt, eure Brust hebt sich im Grunde noch nicht höher.

Wie Paulus mitten in Noth und Tod, Kampf und

Streit dieser Welt in tiefer Ruhe, in seliger Freudigkeit aus­ rufen: weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges

noch Zukünftiges mag mich scheiden von dieser Liebe! — das vermögen wir nicht; dazu ist die Liebe, von der wir

sprechen, noch nicht warm genüg, dazu verbirgt sie sich zu ost hinter dem Ernst schwerer und dunkler Wege.

Ja, noch

andere Gedanken regen sich: wie oft hast du diese Gottes­

liebe zurückgestoßen, wo sie freundlich dich zog; wie oft hast du seine Freundlichkeit mit Undank vergolten, mit Sünde gelohnt!

Und doch ist diese Liebe Gottes eine durch und

durch heilige Liebe — kann denn dies Herz mit seiner ver­

borgenen Sünde, mit seiner heimlichen Lust, seinem friedlosen Gewissen wirklich noch ein Gegenstand göttlicher Liebe sein?

kann es wirklich im Bewußtsein, daß diese Liebe ganz ihm gehöre für Zeit und Ewigkeit,

von ihr mich scheiden?

aufjauchzen: nichts kann

Kann auch der verlorene Sohn

im Elend der Fremde der Liebe seines Vaters sich getrösten? Wer sagt ihm denn, daß er seine Liebe nicht verscherzt habe?

wer sagt mir, daß dieser Vater im Himmel mich aufnimmt und daß seine Liebe noch größer sei als meine Sünde?

Siehe, so hat auch Paulus gefühlt und darum setzt er ein

Wort hinzu, und dieses eine Wort ist es, was ihn gewiß

169 macht, daß kein Engel noch Fürstenthum noch Gewalt, daß keine andere Creatur ihn scheiden mag von seinem Gott:

dieser Gott hat seine Liebe versiegelt in Christo

Jesu, unserem Herrn! Es ist, liebe Christengemeinde, nichts Geringeres als die ganze Tiefe des Weihnachtsevangeliums, was in diesem

Worte uns erschlossen wird.

In heiliger Liebe zu dem Gott

der Treue und der Verheißung hat einst Abraham „seines

eigenen Sohnes nicht verschonet" und hat ihn als ein williges Opfer Gott dargebracht.

Daran

denkt wohl der Apostel,

als er unmittelbar vor unserem Texte dieselben Worte von dem Gotte aller Barmherzigkeit sagt: er hat „seines eigenen

Sohnes nicht verschonet" um unsertwillen, um einer sün­ digen und verlorenen Welt willen. Nicht mit Worten, sondern

mit Thaten der Erbarmung hat der lebendige Gott seine ewige Liebe leuchten lassen über der abgefallenen Welt, um

uns gewiß zu machen, daß das Ende seiner heiligen Wege nicht das Gericht sei, sondern die Rettung und die Erlösung. In dieser That der erlösenden Liebe besitzt Paulus eine

Kraft, welche größer ist als alles, Hohes und Tiefes, Gegen­ wärtiges und Zukünftiges und welche weder durch Leben noch Tod, weder Engel noch Fürstenthum noch Gewalt je über­

wunden werden kann.

Ja, durch diese That der erlösenden

Liebe in Christo Jesu, durch die Barmherzigkeit, welche arme

verlorene Menschen zu Erben ewigen Lebens beruft und den staubgeborenen Bürgern einer befleckten Welt den Zugang

zur Ewigkeit aufschließt, ersonnen vor aller Zeit im Urgründe der Ewigkeit, offenbar geworden in der Fülle der Zeiten in

Christo Jesu, ist die Frage unseres Heils entschieden worden, noch ehe wir waren. Diese erlösende Liebe Gottes in Christo

Jesu unserem Herrn, waltet über aller Zeit, auch über die-

170 fern Jahre.

Kein anderes Evangelium hat die Kirche dem

Neujahrstage geordnet als die Mittheilung der Thatsache,

daß das verheißene Kindlein Jesus genannt worden sei, d. i. Seligmacher; denn mit diesem einen wissen wir genug!

Durch gute und böse Tage, durch Trübsal und Freude, durch Entbehrung und Glück hindurch hat das vergangene Jahr uns geführt; aber durch alle diese Erlebnisse ging wie ein

unsichtbar verbindender Faden der Zug göttlicher Liebe und Gnade hindurch, die uns hat hinüberziehen wollen in die Ge­

meinschaft der erlösenden Liebe Christi.

Es wird auch im

neuen Jahre das Leben wieder seinen alten Gang nehmen: — die alten Glocken werden uns hierher zusammenrufen, die

alten Lieder und das alte Bibelwort werden uns erbauen,

Gutes und Böses wird in buntem Wechsel an uns vorüber­ ziehen;— aber durch das alles und in dem allem wird aufs

Neue noch innerlicher und tiefer als bisher die verborgene Gnade Gottes uns an die Seele dringen. An die Geschichte

göttlicher Barmherzigkeit, die im Himmel begann und die in das Kommen des Heilandes auslief, soll

sich eine andere

Geschichte göttlicher Erbarmung anschließen, die in dir selbst ihren Anfang und die auch in dir selbst ihr Ende und ihr

Ziel hat. Unter dem warmen Glanze göttlicher Liebe soll dir das Herz weich werden; laut werden soll dir die Stimme des Gewissens, wie wenig du sündiger,

trotziger Mensch solcher

Liebe werth wärest — so undankbar

für alle Gnade des

Herrn, so hart zur Umkehr, so unglaublich schnell zum Ver­

gessen, so leichtfertig im Sündigen!

Es soll dir an der

Tiefe deines Unwerths die Größe eines Erbarmens auf­ gehen, das nicht vor dir zurückschreckt, sondern sich zu dir

herabneigt. So soll dir aus Demüthigung und Buße heraus der Glaube wachsen, der die Gnade Jesu Christi ergreift, der

171 in heiliger Verwegenheit, mit Luther zu reden, trotzig und lustig wider Gott und alle Creatur, über diese ganze Welt

sich emporhebt, ja, der aller Sichtbarkeit, und aller Sünde zum Trotz hindurchbrechen kann zu dem Bekenntniß: nun bin ich gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder

Hohes noch Tiefes noch keine andere Creatur mag mich scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo

Jesu ist, unserm Herrn!

2. In der That unbeschreiblich großartig ist dieses Wort,

th. Fr.! mit dem der Apostel die ganze Welt in die Schranken

ruft, nur um triumphirend sie ihrer Ohnmacht zu überführen: nichts kann mich scheiden von der Liebe Gottes — darum kann nichts mir schaden!

Was nur immer schreckend oder lockend auf ihn ein­ stürmen mag, Dunkel des Todes oder Reiz des Lebens; was ihm nur immer sein Ziel verrücken mag und das Herz von der Liebe Gottes lösen, Engel oder Fürstenthum oder Gewalt, die

Geisterwelt oder die Weltgeister; was nur wankend machen kann im Glauben und Ausharren, die schwere Gegenwart oder die ernste Zukunft, der Glanz der Weltehre oder die Tiefe der

Weltschande — sie alle können nicht an ihn, sie haben nichts

an ihm;

„in dem allen", ruft er, „überwinden wir

weit, um deswillen, der uns geliebt hat".

Es gibt nur eine bleibende Macht, die alles überdauert

und der alles dienen muß, die Liebe Gottes und ihr Heil.

Die Geschichte der ganzen Creatur muß mithelfen, ja sie ist

nur zu dem Zwecke vorhanden, um die Gedanken dieser gött­ lichen Liebe zu verwirklichen. Wer an sie sich hält, den hält sie, sie läßt ihr Kind nicht, sie offenbart gerade da ihre volle

172 Herrlichkeit, wo sie von dem dunkeln Grunde menschlichen Elends und irdischer Sorge sich abhebt.

Ist es anders ein

Jahr göttlicher Gnade, das uns anbricht, und das uns aufs neue mit Gottes Liebe in Jesu Christo einen will, dann dürfen wir auch fröhlichen und trotzigen Glaubens mit dem

Apostel ausrufen: in allem, was uns treffen mag, überwin­ den wir weit; nichts kann uns schaden! Was erwartet uns denn? Ob das kommende Jahr uns

ein leichtes und fröhliches sein wird, leichter als andere, wer will das sagen? Es wird seine guten und seine schweren Tage

haben, wie immer.

Wie manche Last werden wir weiter

tragen bis ins Grab, wie manchen sauren Weg werden wir

gehen, wie wir ihn bisher gehen mußten, wie manchen schweren und doch fruchtlosen Kampf werden wir kämpfen, wie manchen Seufzer wird es kosten, wenn wir den schweren Karren weiter

ziehen, an den wir nun einmal gestellt sind.

Eins sage ich:

ist unter allem, was uns begegnen mag, auch nur eine Last,

ein Kampf, eine Mühe, eine Sorge die uns scheidet von der Liebe unseres Gottes? Nein, deren keines reicht an die

Seele, deren keines zerreißt das heilige Band, das mit dem Herrn uns verbindet und mit der Welt seines Friedens und

den Tröstungen seines Geistes.

In ihm wird auch die Last

zu einem Segen: er läßt nicht über Vermögen versuchen; er legt die Last auf, aber er hilft auch, er führt in die Hölle

und auch wieder heraus.

Gelobet sei der Herr täglich auch

in dem neuen Jahre; wir haben einen Gott, der da hilft

und einen Herrn Herrn, der im Tode errettet; ungeschieden von ihm kann nichts uns schaden! Aber wir haben noch ernstere Feinde, als die, welche

wir nannten, schwerere Kämpfe auch — es lockt die bunte, verführerische Welt um uns und sie verbindet sich mit Fleisches-

173 lust, Ehrgeiz, Geldgier, Hoffart in uns. in diesem Jahre thun,

Sie wird es auch

so gewiß wir uns selbst in die neue

Zeit mitgenommen haben.

O, wie hat doch deine Seele

Schaden genommen durch die Wollust, die an dir nagt; wie

hat Ehrgeiz und Eitelkeit, diese Sucht zu scheinen, und wäre

es auch nur im kleinsten Kreise, dein Herz so verödet und

leer gemacht von Liebe; wie bist du, edle Creatur, die du für Gott geschaffen wärest, herabgesunken, um Staub zu essen und

mit Vergänglichem und Irdischem dich zu plagen dein Leben

lang!

Wie war es nur möglich?

allein,

daß du zuvor dich

War es nicht dadurch

selbst geschieden

hast von der

Liebe deines Gottes und der Zucht seines Geistes?

die Welt über dich nicht mächtig werden:

Schirm und Schild!

Blut

sich

regt,

über sittliche Dinge

sind, euch

Ihr Jünglinge, wenn Fleisch

wenn jene

vielfach

jämmerlichen in

Soll

hier allein ist.

Ansichten,

und

die

euren Kreisen verbreitet

die Sünde als etwas selbstverständliches

und

dem Manne ziemendes vorhalten — es gibt nur einen

Weg für euch, zu stehen und zu siegen: flüchtet euch in die Liebe eures Gottes!

Unter Gottes Liebe stehen, das heißt,

unter der Zucht seines Geistes stehen, unter dem Ernst seines

Auges und damit in der Kraft heiliger Bewahrung! — Ihr Männer, wenn im Kampf des Lebens das ehrgeizige Trachten

euch überwinden will, wenn die Versuchung zur Untreue euch

anficht, wenn nicht mehr Wahrheit und Pflicht euch

vor Augen

stehen,

sondern nur noch das Interesse der

Partei, wenn Selbstsucht anstatt der Liebe, Genußsucht an­

statt der Verleugnung euch

überwältigen wollen — nur

einen Panzer gibt es, der decken und schirmen kann wider alle Pfeile des Bösewichts —: lasset euch wappnen mit der Liebe eures Gottes, die in Christo Jesu ist.

In der Liebe

174 Gottes stehen, in Buße und Glauben seiner Liebe theilhaftig

werden, das verleiht eine Kraft, welche allem Ansturm dieser Welt schlechterdings überlegen ist; seid dieser Liebe gewiß

und nichts kann euch schaden! — Ihr Frauen, wenn euch die Treue im Kleinen nicht mehr groß erscheint, und der stille

Dienst in der begrenzten Welt des Hauses nicht mehr daS köstlichste, wenn über den blendenden Flittem der Welt jmer

Schmuck des verborgenen Herzensmenschen euch seinen Glanz verliert, der nach dem Worte des Petrus in der unverrückten

Richtung auf Gott besteht mit sanftem und stillem Geist, wenn jene Krone selbstverleugnender Liebe, die euer Herr euch

auf das Haupt setzen will, euch werthlos dünkt

gegenüber

den blinkenden Diademen der Welt — nur einen Weg gibt es, um nicht euer bestes Theil zu verlieren in dieser Welt der

Eitelkeit und der Aeußerlichkeit: flüchtet euch hinein in die Liebe eures Gottes; in seiner Liebe stehen, das heißt, ewiger

und unbedingt werthvoller Güter inne werden; es heißt, die

Kraft einer Liebe in sich tragen, welche auch das geringste Werk adelt, auch das unscheinbarste Leben verllärt und be­ seligt, welche die Welt überwindet; seid gewiß — ungeschieden

von ihr kann nichts euch schaden! Wir heben noch höher das Auge:

welche

Mächte

kämpfen doch um unser Volk? — Fürstenthümer und Ge­ walten, Geister des Heils und des Umsturzes, Geister der Liebe und des Hasses, des Glaubens und des Unglaubens!

Dieser Kampf steht nicht still, auch wenn wir einmal einen Augenblick still stehen. Wir stehen inmitten eines gewaltigen,

unaufhörlichen Geistesringcns um die Zukunft unseres Volkes, ja um die Zukunft der Völker, und wir sind die berufenen Kämpfer, jeder einzelne von uns ein mitberufener, damit nicht

Haß, Umsturz und Unglauben die Oberhand behalten, son-

175 dem der Glaube, der der Sieg der Welt ist, sich auch über

unser Volk als eine Siegeskraft erweise. Christenvolk, welch'

ein heiliges Bewußtsein der Verantwortung, welch' ein Anspannm aller Kräfte zu heiliger Liebesarbeit, welch' ein furcht­

loser Bekennermuth, welch' ein heiliger Zusammenschluß aller Treuen zum

heiligen Streit um die ewigen Güter des

Glaubens und des Heils sollte bei dir sich finden! Ist es der

Fall?

Stehen wir wie eine siegende Streiterschaar, unge­

trübten Muthes, fest zusammengeschlossen, daß kein spähender

Feind die Lücken findet in unseren Reihen? Nur eine Waffe gibt es, der unzweifelhaft der Sieg verheißen ist: ergreift den

Schild des Glaubens, den Helm des Heils, das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes; von Gottes Liebe um­ schirmt laßt seine Liebe in die Welt hinausleuchten! Ein

Mensch voll Liebe ist immer stärker als ein Mensch voll

Haß; ein Mensch voll festen zuversichtlichen Glaubens ist unter allen Umständen den Menschen des Zweifels und des

Unglaubens innerlich überlegen; eine Kirche voll Glauben und Kräfte muß den Sieg behalten über eine Welt, welche

beides nicht hat und welche dennoch weder den Glauben noch die Liebe zu entbehren vermag.

Schärst diese Waffe immer

auf's neue hier in unseren Gottesdiensten, daheim im Um­ gang mit der Schrift;

werdet in

der

Gemeinschaft im

Glaubm eurer Kraft euch bewußt; senket euch immer tiefer

hinein in die unergründliche Liebe eures Gottes!

Es mag

sein, daß der Kampf noch viel ernster wird, als er jetzt ist, die Wunden schwerer, die Lücken größer, auch die Treuen im

Lande seltener — ungeschwächt bleibt dennoch die Losung be­ stehen: ungeschieden von der Liebe Gottes vermag nichts euch zu schaden!

Endlich — ein gemeinsamer Weg steht uns allen be-

176 vor; gemeinsam ist uns jeder Schritt, der uns der Ewigkeit

näher bringt.

Wann wird ihre Pforte sich uns öffnen?

Ach, im Blicke auf die eigene Unvollkommenheit, auf die Lebensarbeit,

die uns an der eigenen Seele noch zu thun

übrig ist, möchten wir noch eine Frist der Buße erflehen:

Herr, laß uns noch dieses Jahr, verlängere uns den Weg, den

wir zu gehen haben!

Die Hand

auf dem Haupte

unserer Kinder, Hand in Hand mit allen, welche wir lieb

haben, möchten wir hinein und hindurch wandern durch dieses Jahr — ob es uns verliehen wird, wir wissen es nicht.

Jedes Jahr macht wieder Plätze leer, die in seinem An­ fang noch besetzt waren; je älter wir werden, um so länger

wird die Reihe der Gräber, an denen wir vorübergeführt

werden; mancher unter uns

denkt an liebe Kranke, um

welche er die Sorge aus dem alten in das neue Jahr mit

hinübernimmt.

Aber das wissen wir, daß die Liebe Gottes,

die in Christo Jesu ist, auch die dunkelste Pforte erhellen

kann, die des Todes.

Wer als Losungswort seines Lebens

mit freudigem Glauben aussprechen kann: ich bin gewiß,

daß nichts mich scheidet von der Liebe Gottes! — der darf dies Wort auch noch als Inschrift auf seine Gräber

setzen lassen; auch von unsern Heimgegangenen steht es uns fest: sie sind nicht verloren; sie sind in Gottes Hand; un­ geschieden von Gottes Liebe, kann auch der Tod ihnen nichts

anhaben! Und was ihnen gilt, soll auch uns gelten. Wenn unser Stündlein kommt über kurz oder lang, wenn unsere Kraft ermattet und die thätige Hand erlahmt, wenn vor dem

brechenden Auge alles schwindet, was dieser Welt angehört — o selige Menschen dann wir alle, wenn wir auch dem letzten Feinde, dem Tode, gegenüberstehen können mit dem großen Paulusworte: ich bin gewiß, nichts, auch kein Ster-

177 ben kann mich scheiden von der Liebe meines Gottes

in

Christo Jesu; mit ihm kann auch der Tod nichts schaden!

So leite uns denn, th. Br.! des großen Gottes Gnade durch dieses neue Jahr hindurch als ein Bolk des Glaubens, das die Welt unter seinem Fuße hat und das mit immer neuer Gewißheit das Pilgerlied anstimmen kann:

Kein Engel, keine Freuden, Kein Thron, kein' Herrlichkeit,

Kein Lieben und kein Leiden,

Kein' Angst, kein Herzeleid:

Was man nur kann erdenken, Es sei klein oder groß,

Der keines kann mich lenken

Aus Deinem Arm und Schoß!

Amen.

____ _________ UniverfitätS-Buchdruckerei von Carl Georgi in Bonn.

Im Verlage von Adolph Marcus in Bonn ist erschienen:

Evangelische Predigten von

Ernst Dryander, Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin.

Zum Kesten der Inneren Misston.

Erste Sammlung. Dritte «»siege.

1886.

Preis: geheftet 2 Mark 50 Pfg. gebende» 3 Mark.