Einführung in die evangelische Dogmatik 3534150805, 9783534150809

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
A. Dogmatik und Dogma
I. Die Aufgabe der Dogmatik
1. Die Dogmatik der Reformatoren und des Altprotestantismus
a) Die Dogmatik der Reformatoren
b) Die Dogmatik des Altprotestantismus
2. Die Krise der altprotestantischen Dogmatik in der Aufklärung
3. Dogmatik als Darstellung des Glaubens
II. Das Dogma im Protestantismus
1. Das Dogma in seiner geschichtlichen Entwicklung
2. Dogmenkritik und Protestantismus
B. Zur Grundlegung der Dogmatik
I. Glaube
1. Martin Luthers Verständnis des rechtfertigenden Glaubens
2. Die lehrmäßige Ausgestaltung des Glaubensbegriffs in der altprotestantischen Theologie
3. Glaube als reflektiertes Endlichkeitsbewusstsein
a) Glaube als Akt der Person
b) Glaube als Gottesverhältnis
4. Die dogmatischen Inhalte als symbolischer Ausdruck religiöser Gewissheit
a) Gewissheit und Selbstbild
b) Religiöse Symbole
II. Offenbarung
1. Martin Luthers dialektisches Offenbarungsverständnis
2. Das Offenbarungsverständnis in der Theologie des Altprotestantismus
3. Offenbarung oder Religion?
a) Der Streit um natürliche und geoffenbarte Religion in der Aufklärung
b) Die Umformung des Offenbarungsbegriffs im Deutschen Idealismus
c) Von der geoffenbarten Religion zur Religionsgeschichte
d) Gottes Offenbarung als Kritik der Religion
4. Die Funktion des Offenbarungsbegriffs
a) Offenbarung als Geschichte
b) Offenbarung als Erschließungsgeschehen
c) Offenbarung als Selbstbeschreibung des Glaubensakts
III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik
1. Das Schriftverständnis Martin Luthers
a) Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn
b) Luthers Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift
2. Die Lehre von der Heiligen Schrift im Altprotestantismus
a) Der Begriff der Heiligen Schrift
b) Die Eigenschaften (=affectiones) der Schrift
c) Der Kanon der Schrift
3. Die Krise des Schriftprinzips
4. Historische Kritik und Normativität
a) Die Überwindung der Krise des Schriftprinzips durch die Konstruktion einer Universalgeschichte
b) Biblische Theologie und canonical approach
c) Rezeptionsästhetik
d) Die Bibel zwischen historischer Kritik und dogmatischer Geltung
C. Die materiale Dogmatik
I. Gott der Schöpfer
1. Luthers Gottesanschauung
a) Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis im Glauben
b) Alleinwirksamkeit und Liebe Gottes
c) Deus absconditus und deus revelatus
2. Die Gotteslehre der altprotestantischen Dogmatik
a) Gottes Sein, Wesen und Eigenschaften
b) Die Trinitätslehre
c) Der Lehrbegriff der Schöpfung
d) Die Lehre von der göttlichen Weltregierung
3. Die Umformung des Gottesgedankens in der Neuzeit
4. Ich glaube an Gott, den Schöpfer
II. Jesus der Christus
1. Das Christusbild Martin Luthers
a) Christusbild und Glaubensgerechtigkeit
b) Das christologische Dogma der alten Kirche
c) Luthers Umformung des altkirchlichen Dogmas
2. Der christologische Lehrbegriff der altprotestantischen Theologie
a) Die Personchristologie
b) Die Ämter Christi
c) Die Stände Christi
3. Die Auflösung der Zwei-Naturen-Christologie in der Aufklärung
4. Die Suche nach dem historischen Jesus
5. Die Aufnahme der Jesusforschung in die dogmatische Christologie
6. Christologie als Darstellung der Geschichtlichkeit des Glaubens
III. Der Heilige Geist und das Verständnis der Kirche
1. Das Kirchenverständnis Martin Luthers
a) Die Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche
b) Die Merkmale der Kirche
2. Das Kirchenverständnis der altprotestantischen Dogmatik
3. Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden
4. Dogmatik als begriffliche Selbstbeschreibung des Glaubensakts
Literatur
Personenregister
Sachregister
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Einführung in die evangelische Dogmatik
 3534150805, 9783534150809

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Christian Danz

Einführung in die evangelische Dogmatik

Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2010 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-15080-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-70579-5 eBook (epub): 978-3-534-70580-1

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. DOGMATIK UND DOGMA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die Aufgabe der Dogmatik . . . . . . . . . . . . 1. Die Dogmatik der Reformatoren und des Altprotestantismus . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Dogmatik der Reformatoren . . . . . . b) Die Dogmatik des Altprotestantismus . . . 2. Die Krise der altprotestantischen Dogmatik in der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dogmatik als Darstellung des Glaubens . . . .

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II. Das Dogma im Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Dogma in seiner geschichtlichen Entwicklung . . . . . . 2. Dogmenkritik und Protestantismus . . . . . . . . . . . . . .

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B. Zur Grundlegung der Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Martin Luthers Verständnis des rechtfertigenden Glaubens . 2. Die lehrmäßige Ausgestaltung des Glaubensbegriffs in der altprotestantischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . 3. Glaube als reflektiertes Endlichkeitsbewusstsein . . . . . . a) Glaube als Akt der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Glaube als Gottesverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die dogmatischen Inhalte als symbolischer Ausdruck religiöser Gewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gewissheit und Selbstbild . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Religiöse Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Martin Luthers dialektisches Offenbarungsverständnis . . . 2. Das Offenbarungsverständnis in der Theologie des Altprotestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Offenbarung oder Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Streit um natürliche und geoffenbarte Religion in der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Umformung des Offenbarungsbegriffs im Deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Von der geoffenbarten Religion zur Religionsgeschichte . d) Gottes Offenbarung als Kritik der Religion . . . . . . . . 4. Die Funktion des Offenbarungsbegriffs . . . . . . . . . . . a) Offenbarung als Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . b) Offenbarung als Erschließungsgeschehen . . . . . . . . c) Offenbarung als Selbstbeschreibung des Glaubensakts .

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Inhalt

III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik . . . . . . . . . . 1. Das Schriftverständnis Martin Luthers . . . . . . . . . . a) Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn . . . . . . . . . b) Luthers Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Lehre von der Heiligen Schrift im Altprotestantismus a) Der Begriff der Heiligen Schrift . . . . . . . . . . . . b) Die Eigenschaften (= affectiones) der Schrift . . . . . c) Der Kanon der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Krise des Schriftprinzips . . . . . . . . . . . . . . . 4. Historische Kritik und Normativität . . . . . . . . . . . a) Die Überwindung der Krise des Schriftprinzips durch die Konstruktion einer Universalgeschichte . . . . . b) Biblische Theologie und canonical approach . . . . c) Rezeptionsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Bibel zwischen historischer Kritik und dogmatischer Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Die materiale Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Gott der Schöpfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Luthers Gottesanschauung . . . . . . . . . . . . . . . a) Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis im Glauben b) Alleinwirksamkeit und Liebe Gottes . . . . . . . . c) Deus absconditus und deus revelatus . . . . . . . . 2. Die Gotteslehre der altprotestantischen Dogmatik . . a) Gottes Sein, Wesen und Eigenschaften . . . . . . . b) Die Trinitätslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Lehrbegriff der Schöpfung . . . . . . . . . . . d) Die Lehre von der göttlichen Weltregierung . . . . 3. Die Umformung des Gottesgedankens in der Neuzeit 4. Ich glaube an Gott, den Schöpfer . . . . . . . . . . .

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II. Jesus der Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Christusbild Martin Luthers . . . . . . . . . . . . a) Christusbild und Glaubensgerechtigkeit . . . . . . b) Das christologische Dogma der alten Kirche . . . . c) Luthers Umformung des altkirchlichen Dogmas . . 2. Der christologische Lehrbegriff der altprotestantischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Personchristologie . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Ämter Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Stände Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Auflösung der Zwei-Naturen-Christologie in der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Suche nach dem historischen Jesus . . . . . . . . 5. Die Aufnahme der Jesusforschung in die dogmatische Christologie . . . . . . . . . . . . . 6. Christologie als Darstellung der Geschichtlichkeit des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

III. Der Heilige Geist und das Verständnis der Kirche . . . . . . 1. Das Kirchenverständnis Martin Luthers . . . . . . . . . . a) Die Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Merkmale der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Kirchenverständnis der altprotestantischen Dogmatik 3. Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden . . . . . . . . . 4. Dogmatik als begriffliche Selbstbeschreibung des Glaubensakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Die Dogmatik gehört zu den klassischen Fächern der evangelischen Theologie. Gleichwohl ist ihr Status unter den Bedingungen der Moderne umstritten. Das vorliegende Buch möchte in die Themen und Probleme dieser Disziplin auf dem Hintergrund der Problemanforderungen der Moderne einführen. Den Ausgangspunkt bilden deshalb die grundlegenden Aussagen und Bestimmungen Martin Luthers und der altprotestantischen Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts. Deren Verständnis der Aufgabe einer theologischen Dogmatik sowie die von ihnen vorgenommenen Begründungen gerieten in der Aufklärung in eine tief greifende Krise, die eine völlige Reorganisation der Dogmatik nötig machte. Um sich ein eigenes Urteil über die evangelische Dogmatik zu bilden, ist es notwendig, sich mit der Problemgeschichte der theologischen Dogmatik seit der Reformation vertraut zu machen. Die vorliegende Einführung zeichnet nicht nur die überlieferten Bestimmungen und Grundlagen der Dogmatik und ihrer Umformungskrise in der Moderne nach, sondern skizziert auch Umgangsstrategien mit dieser Krise. Diese muss man nicht teilen, aber dem dargestellten Problemhorizont muss sich jede Bemühung um eine dogmatische Beschreibung des wesentlich Christlichen in der Gegenwart stellen. Das vorliegende Buch wäre ohne die vielfältigsten Anregungen und Hilfen nicht zustande gekommen. Zu danken habe ich Herrn stud. theol. Patrick Leistner (Wien) für seine Hilfen. Nicht in Worte zu fassen ist der Dank an meine Frau Uta-Marina Danz für alle ihre Unterstützung beim Schreiben dieses Buchs. Der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und ihrem Lektor, Herrn Dr. Bernd Villhauer, danke ich für die äußerst konstruktive Zusammenarbeit. Wien, Oktober 2009 Christian Danz

A. Dogmatik und Dogma In diesem ersten Kapitel soll es um den Begriff und die Aufgabe einer theologischen Dogmatik gehen. Die Dogmatik hat in den letzten 200 Jahren unter dem Einfluss von Aufklärung und Pietismus, Romantik und Historismus eine höchst wechselvolle Geschichte durchlaufen, die ihre Wahrnehmung in der Gegenwart erheblich verändert hat. Aus dem fest umrissenen Lehrsystem des Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts, das in Anlehnung an die Bibel und unter Rückgriff auf die aristotelische Philosophie konzipiert wurde, ist unter den Erkenntnisbedingungen der Moderne eine Beschreibung des frommen Subjekts in Form von Glaubenslehren mit erheblich geringerem Anspruch geworden. Freilich bedeuten diese Veränderungen nicht das Ende der theologischen Dogmatik, wohl aber deren kritische Umformung. In der protestantischen Theologie tritt seit Aufklärung und Pietismus unter Aufnahme von grundlegenden Motiven der Reformation der Erfahrungsbezug der Dogmatik, das Dabeisein des frommen Subjekts, in den Vordergrund. Mit der Betonung des Erfahrungsbezugs der Dogmatik in der Moderne wurde das intellektualistische und metaphysische Gepräge der Dogmatik des älteren Protestantismus aufgelöst. Dies hatte wiederum zur Folge, dass die Wahrnehmung der Dogmatik sich selbst pluralisierte. In der Gegenwart stehen die unterschiedlichsten Formen und Verständnisse von Dogmatik nebeneinander. Die Palette reicht von Konzeptionen der Dogmatik als kirchlicher Dogmatik über Christentumsdogmatiken bis hin zur Privatdogmatik ([65], S. 119–121; [75]). In diesen unterschiedlichen Verständnissen von Begriff und Aufgabe der Dogmatik spiegelt sich die hohe innere Pluralisierung der evangelischen Theologie, die in der Neuzeit geradezu zu ihrem Signum geworden ist. Das protestantische Verständnis der theologischen Dogmatik wird so geklärt, dass die modernen Problemanforderungen an diese theologische Disziplin in die Darstellung mit aufgenommen werden. Einzusetzen ist deshalb mit dem Verständnis der Dogmatik bei den Reformatoren und im alten Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts. Im Ausgang von den klassischen Bestimmungen der Dogmatik ist dann deren kritische Umformung in der Neuzeit in den Blick zu nehmen und der Frage nachzugehen, welche Bedeutung der theologischen Dogmatik unter den pluralistischen Bedingungen der Gegenwart zukommen kann. Im zweiten Unterabschnitt dieses ersten Kapitels wird das Verständnis des Dogmas im Protestantismus auf dem Hintergrund seiner Problemgeschichte zu erläutern sein.

Begriff und Aufgabe der Dogmatik

Beginn bei Reformatoren und Altprotestantismus

I. Die Aufgabe der Dogmatik Dogmatik ist eine akademische Disziplin im Fächerkanon der Theologie, wie sie an Universitäten gelehrt wird. Aus dieser institutionellen Anbindung

Dogmatik als Disziplin

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I. Die Aufgabe der Dogmatik

Frühchristliche Begriffsprägungen

ergibt sich ihre Aufgabe. Sie besteht in der „wissenschaftlichen Bearbeitung und Formulierung der Gedanken und Vorstellungswelt“ ([85], Sp. 106) der christlichen Religion. Die theologische Dogmatik dient der Entfaltung und Vermittlung des Lehrbestands der jeweiligen christlichen Konfessionen. Als eine derart eigenständige akademische Disziplin hat sich die theologische Dogmatik erst in der Neuzeit ausgebildet. Die Begriffsbildung ,dogmatische Theologie‘ oder theologia dogmatica, in Abgrenzung von der theologia moralis, stammt erst aus dem 17. Jahrhundert (dazu: [70], bes. Sp. 892; [80]). Geprägt wurde der Begriff ,Dogmatik‘ von dem lutherischen Theologen Georg Calixt (1586–1656). In seiner 1643 erschienenen Schrift Epitome theologia moralis grenzte er die theologia dogmatica von der theologia moralis ab ([57], S. 27; [80], S. 41 f.; [77]). Ein Jahr später wird der Begriff ,theologia dogmatica‘ von Johann Alting (1583–1644) zur Unterscheidung von der historischen Theologie verwendet. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts tritt dann der Begriff theologia dogmatica an die Stelle von älteren Bezeichnungen, unter denen der Inhalt der christlichen Lehre zusammenhängend dargestellt wurde. Obwohl also der Begriff ,Dogmatik‘ zur Kennzeichnung einer zusammenhängenden und systematischen Darstellung der christlichen Lehre erst sehr spät geprägt wurde, hat die sich in der Antike herausbildende christliche Theologie schon sehr früh damit begonnen, die Gehalte der christlichen Religion zusammenzufassen. Dies geschah allerdings zunächst unter anderen Leitbegriffen wie doctrina christiana, sacra doctrina, Sententiae, Summa theologiae oder Loci theologicae. Diese älteren Leitbegriffe knüpfen mehr oder weniger an den neutestamentlichen Begriff der ,Unterweisung‘ an (vgl. [57], S. 27–36). Der Begriff ,didaskalia‘ meint in den Pastoralbriefen den Inbegriff der apostolischen Unterweisung (vgl. Tit 1,9. 2,1; 1. Tim 1,10; 2. Tim 4,3). Diese Funktion der Unterweisung nahm der im 17. Jahrhundert geschaffene Begriff der Dogmatik auf, so dass man zunächst unter Dogmatik eine Unterweisung über die Gehalte des christlichen Glaubens, wie sie in der Bibel als der Heiligen Schrift niedergelegt sind, in ihrem Zusammenhang verstehen kann. In der Herausbildung und der Etablierung der Dogmatik als einer akademischen Disziplin in der frühen Neuzeit spiegelt sich sowohl der Umformungsprozess der modernen Gesellschaft als auch – infolge von deren Rückwirkungen auf den akademischen Lehrbetrieb – die zunehmende Professionalisierung von Wissenschaft.

1. Die Dogmatik der Reformatoren und des Altprotestantismus a) Die Dogmatik der Reformatoren Martin Luther

Von einer theologischen Dogmatik im eigentlichen Sinne kann bei Martin Luther noch nicht die Rede sein. Als eigenständige theologische Disziplin hat sich die Dogmatik erst später herausgebildet. Für Luther, der in Wittenberg von 1513 bis zu seinem Lebensende 1546 die ,lectura in biblica‘ innehatte, sind Dogmatik und biblische Theologie noch weitgehend synonym.

1. Die Dogmatik der Reformatoren und des Altprotestantismus

Gleichwohl kommt es bei Luther gegenüber dem überkommenen mittelalterlichen Theologieverständnis zu Umorientierungen, die sich nicht zuletzt darin niederschlagen, dass er Theologie in erster Linie als Auslegung der Heiligen Schrift versteht. Dieses Verständnis von Theologie hat sich Luther im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit der überlieferten scholastischen Theologie einerseits und der mittelalterlichen Kirche andererseits erarbeitet. Sieht man von den beiden Katechismen (1529) und den Schmalkaldischen Artikeln (1537) ab, dann hat Luther sein Verständnis von Theologie nicht in zusammenhängender systematischer Form dargestellt. Luther entfaltet sein neues Verständnis von Theologie ausschließlich in Gelegenheitsschriften, die auf konkrete Anlässe und Streitfragen Bezug nehmen, sowie in seiner akademischen Lehrtätigkeit als Ausleger der Bibel. Durch seine theologische Ausbildung in Erfurt und Wittenberg war Luther mit der spätmittelalterlichen Theologie sowie ihrem überkommenen scholastischen Lehrbetrieb vertraut. Dieser bestand im Wesentlichen in der Kommentierung mittelalterlicher theologischer Kompendien, allen voran des Sentenzenbuchs von Petrus Lombardus (1100–1160). Als junger Sententiarus hatte Luther selbst Vorlesungen über Petrus Lombardus zu halten. Allerdings treten in der Entwicklung Luthers bald andere Intentionen hervor, die sich zunehmend kritischer gegen die überlieferte scholastische Theologie und ihren Lehrbetrieb wenden. An der Wittenberger Universität, an der er 1512 promoviert wurde und an der er 1513 als Nachfolger seines Ordensoberen Johannes von Staupitz (1469–1524) die lectura in biblica übernahm, fand Luther ein kollegiales Umfeld vor, das Reformen des überlieferten theologischen Studienbetriebs aufgeschlossen war. Die Wittenberger Universität, die erst 1502 gegründet wurde, besaß eine klare humanistische Orientierung. Dem frühneuzeitlichen Humanismus ging es um eine Neubelebung der sprachlichen Wissenschaften. Das Losungswort des frühneuzeitlichen Humanismus, ad fontes, meint den Rückgang hinter die mittelalterlichen Entstellungen der Antike zu den Quellen. Dies ist nur durch Kenntnis der alten Sprachen möglich. In diesem dem Humanismus aufgeschlossenen Wittenberger Kontext und Wirkungskreis Luthers gewinnt sein neues Verständnis der Theologie Gestalt, welches in der Konsequenz nicht nur zum Bruch mit der scholastischen Theologie, sondern auch mit der spätmittelalterlichen Kirche führt. Luthers Auslegung der biblischen Schriften, zu der er durch die Übernahme der Wittenberger Professur verpflichtet war, ist verbunden mit einer wachsenden Kritik an der scholastischen Theologie seiner Zeit. In seinen Vorlesungen geht er zunehmend hinter die mittelalterlichen Kommentatoren auf den Urtext der Bibel sowie die Kirchenväter zurück. Bereits in seiner ersten Auslegung des Psalters in den Dictata super Psalterium von 1513 bis 1515 greift er auf die neuesten exegetischen Hilfsmittel zurück. Aber auch die Kirchenväter, allen voran Augustin, wurden von Luther nicht mehr durch die Brille der mittelalterlichen Kommentatoren gelesen, sondern im Original. Der Abstand zwischen Bibel und Kirchenvätern auf der einen Seite und der mittelalterlichen Theologie auf der anderen tritt immer stärker in sein Blickfeld. Mit dem Bewusstsein des Abstands dieser Theologie von der Bibel wird ihm aber auch die Notwendigkeit einer Umgestaltung der Theologie in Form

Luthers Auslegung klassischer Texte

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I. Die Aufgabe der Dogmatik

Neuverständnis der Theologie

einer Ersetzung der scholastischen Theologie durch eine an der Bibel und den Kirchenvätern orientierte Theologie zunehmend deutlicher. Die Bibel und Augustin sollen in der Theologie den Rang einnehmen, den in der scholastischen Theologie der mittelalterlich verstandene Aristoteles und seine Kommentatoren einnahmen. Mit dieser Akzentverschiebung sind weitreichende Folgen für das Verständnis der Theologie und ihres Studiums verbunden. Im Kern zielen sie auf eine Abschaffung des philosophischen Grundstudiums, welches durchgängig an der aristotelischen Philosophie orientiert war. Luther hat seine Kritik an der scholastischen Theologie und seine Vorschläge zur Reorganisation des Theologiestudiums nicht nur in seinen exegetischen Vorlesungen vorgetragen, sondern auch in akademischen Disputationen. In der Disputatio contra scholasticam theologicam vom September 1517 unterzieht er die scholastische Theologie und ihre philosophischen Grundlagen einer fulminanten Radikalkritik und skizziert ein neues, an der Bibel orientiertes Verständnis von Theologie. Der mittelalterlichen Aristotelesdeutung bestreitet er rundweg ihr Daseinsrecht in der Theologie. Es sei, wie Luther ausführt, „ein Irrtum zu sagen, ohne Aristoteles wird man kein Theologe“. Vielmehr gelte, dass man nur „ein Theologe“ wird, „wenn man es ohne Aristoteles wird“ ([25], Bd. 1, S. 25). Die spätere Heidelberger Disputation vom April 1518 nimmt diese Kritik auf und führt auf der Grundlage der Unterscheidung von Handeln Gottes und Handeln des Menschen das Programm einer dialektischen Offenbarungstheologie aus. Infolge seiner Kritik an der scholastischen Theologie arbeitet Luther ein an der Bibel orientiertes Verständnis von Theologie aus, welches auf die Erkenntnis Gottes im Glauben zielt. Dabei versteht Luther die Erkenntnis Gottes zugleich als Erkenntnis des Menschen. „Cognitio dei et hominis est sapientia divina et proprie theologica“ ([22], Bd. 40 II, S. 327). In der Theologie geht es um die Erkenntnis Gottes im Glauben und dies setzt die Unterscheidung von Handeln Gottes und Handeln des Menschen voraus. Die Theologie wird bei Luther zu einer an der Bibel orientierten Unterscheidungslehre. Das Vornehmen von Unterscheidungen, sei es der von Gott und Mensch oder Gesetz und Evangelium, macht den Theologen aus. Dieses Neuverständnis der Theologie als Unterscheidungslehre hat eine durchaus existentielle Zuspitzung. Die Theologie beschreibt die Gotteserkenntnis im Glauben und diese ist mit der wahren Selbsterkenntnis des Menschen untrennbar verbunden. Gotteserkenntnis und wahre Selbsterkenntnis fallen für Luther zusammen, so dass das Gottesbild Ausdruck des mit dem Glauben verbundenen neuen Selbstverständnisses des Menschen ist. Dadurch kommt es bei Luther im Unterschied zur mittelalterlichen Theologie zu einer Verinnerlichung der christlichen Religion. Die überlieferten theologischen Gehalte werden von Luther auf das Gewissen bezogen, welches von ihm von vornherein mit der Gottesbeziehung verbunden wird. Coram Deo und Gewissen im Sinne von conscientia sind für Luther geradezu identisch. Luther bezieht die Theologie auf die innere Selbsterkenntnis des Menschen. Der Glaubende erkennt sich als Sünder und vertraut nicht auf sich, sondern auf das göttliche Verheißungswort. Dieses Geschehen des Glaubens als einem inneren, existentiellen Geschehen hat die Theologie in den Augen Luthers zu explizieren.

1. Die Dogmatik der Reformatoren und des Altprotestantismus

Luther ersetzte das mittelalterliche Verständnis der Theologie, ihre diffizilen Zuordnungen und Unterscheidungen von Natur und Gnade, natürlicher und geoffenbarter Theologie, durch eine auf die Selbsterkenntnis des Menschen im Gottesverhältnis zielende Theologie. Das grundlegende Paradigma dieser Form von Theologie ist für Luther die Bibel.

b) Die Dogmatik des Altprotestantismus Die Entwicklung der Dogmatik in der Theologie des alten Protestantismus ist vor allem dadurch bedingt, dass dem theologischen Nachwuchs an den sich im späten 16. Jahrhundert konsolidierenden protestantischen Universitäten ein Leitfaden für die eigene theologische Ausbildung in die Hand gegeben werden musste. Dies geschah zunächst noch nicht unter dem Titel ,Dogmatik‘, sondern unter anderen Leitbegriffen wie ,Loci communes‘, ,Loci theologici‘, ,Theologia didactico-polemica‘ u. ä. Titeln. Die Dogmatik ist also zunächst ein Handbuch der theologischen Lehre, welches in methodischer Form die protestantische Sicht der christlichen Lehre als ein in sich geschlossenes Ganzes darstellt. Die Entstehung und Etablierung der Dogmatik als einer eigenständigen theologischen Disziplin hängt eng mit der Wahrnehmung dieses praktischen Erfordernisses zusammen. Die erste protestantische Dogmatik wurde von Philipp Melanchthon (1497–1560) 1521 vorgelegt und sie trägt den Titel Loci communes rerum theologicarum seu hypotyposes theologicae. Das Anliegen Luthers nimmt diese erste zusammenhängende dogmatische Darstellung der Theologie des Protestantismus darin auf, dass sie zum Studium der Heiligen Schrift anleiten will. Melanchthons Loci communes wollen eine Zusammenfassung des Gehalts der Bibel bieten. Im Vordergrund dieser Dogmatik steht das soteriologische Interesse: „Denn das heißt Christus erkennen: seine Wohltaten erkennen“ ([30], S. 23). Mit dieser soteriologischen Zuspitzung des dogmatischen Stoffs kommt es bei Melanchthon zu einer folgenreichen Reduktion. Die dogmatische Theologie wird auf das Heilsbewusstsein und die Heilsgewissheit des einzelnen Menschen konzentriert. Spekulative Themen wie die Trinität oder die Inkarnation treten zurück. Im Zentrum der Loci communes stehen in der Konsequenz der Organisation des dogmatischen Stoffs unter dem Leitbegriff der individuellen Heilsgewissheit Themen wie Gesetz, Sünde und Gnade. Melanchthon erörtert in seiner Darstellung der Lehre ohne großes systematisches Interesse zentrale Themenkomplexe (Loci) des Römerbriefs des Apostels Paulus. Einleitungsfragen, die in den späteren protestantischen Dogmatiken zunehmend breiteren Raum einnehmen, werden von Melanchthon nur knapp in der den Loci communes vorangestellten Introductio erörtert. Die Entwicklung der Dogmatik im Bereich des Luthertums knüpfte zunächst an die Loci communes von Melanchthon an, die bis 1559 in mehreren, stark umgearbeiteten Auflagen erschien. Dadurch etablierte sich die von Melanchthon in seinem Lehrkompendium gehandhabte Loci-Methode im akademischen Lehrbetrieb. Die grundlegende Lehrdarstellung des reformierten Protestantismus bildet Johannes Calvins (1509–1564) 1536 erstmals und 1559 in fünfter und letzter Fassung erschienene Institutio religionis christianae.

Beginn der protestantischen Theologenausbildung

Melanchthons erste Dogmatik

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I. Die Aufgabe der Dogmatik

Altprotestantische Dogmatik

Synthetische und analytische Methode

Für die Entstehung und Herausbildung der altprotestantischen Dogmatik sind drei Aspekte konstitutiv: zunächst die Loci communes von Melanchthon. Zweitens das Konkordienbuch von 1580. Mit der Konkordienformel von 1577 und dem Konkordienbuch kommt der Prozess der Bekenntnisbildung innerhalb der lutherischen Kirche zum Abschluss. Und schließlich ist drittens die Rezeption der aristotelischen Metaphysik durch die lutherischen und reformierten Dogmatiker seit dem Ende des 16. Jahrhunderts zu nennen. Luther und auch Melanchthon hatten die aristotelische Philosophie mehr oder weniger aus der Theologie verbannt. Melanchthon hatte allein der Logik und der Dialektik ein Bleiberecht in der Theologie zuerkannt. In dieser methodischen Beschränkung des Einflusses der Philosophie innerhalb der Theologie folgten die Theologen des alten Protestantismus zunächst dem Vorbild Melanchthons. Dies änderte sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Jetzt wurde die aristotelische Schulphilosophie auf breiter Front rezipiert und dies führt zur Ausgestaltung von umfassenden dogmatischen Lehrentwürfen. Die umfassenden theologischen Lehrentwürfe, die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts sowohl von lutherischen als auch von reformierten Theologen ausgearbeitet wurden, tragen aufs Ganze gesehen ein recht einheitliches Gepräge. Die Grundlage des dogmatischen Lehrsystems ist die Heilige Schrift, deren unbedingte Geltung in den Prolegomena der Lehrentwürfe unter Rückgriff auf die aristotelische Schulphilosophie ausgearbeitet wurde. Die aus der als unfehlbar eingestuften Heiligen Schrift gewonnene Wahrheitserkenntnis verband sich mit dem für die eigene Konfession erhobenen Absolutheitsanspruch. Den Bekenntnissen der jeweiligen Konfessionen, denen in den protestantischen Territorien gleichsam reichsrechtliche Geltung zukam, wurde ein hoher Stellenwert sowohl in der Theologie als auch in der Kirche beigemessen. Durch die Bekenntnisgebundenheit der Theologie wurden umfassende normative Leitbilder des Gemeinwesens etabliert. Theologische Dogmatik und Frömmigkeit waren im 17. Jahrhundert eng verzahnt. Ungeachtet des von den altprotestantischen Theologen betonten praktischen Charakters der theologischen Dogmatik und ihrer Ausrichtung auf das relativ homogene politisch-soziale Gemeinwesen, tragen diese Lehrentwürfe ein durchweg intellektualistisches Gepräge. Theologie ist Wissen oder Lehre von Gott. Die von der Theologie aus der Bibel geschöpften Lehren stellen das notwendige Heilswissen dar, ohne dessen Kenntnis der Mensch nicht zum Heil gelangen kann. In diesem Sinne wird der Theologiebegriff von dem Jenaer Lutheraner Johann Gerhard zu Beginn des 17. Jahrhunderts bestimmt. Theologie sei eine „aus dem Wort Gottes aufgebaute Lehre, durch die die Menschen unterrichtet werden im wahren Glauben und frommen Leben zum ewigen Leben“ ([14], Proem. 31). Und noch der spätorthodoxe lutherische Theologe David Hollaz versteht gut einhundert Jahre später die Theologie als eine „sapientia eminens practica“ („eine praktische Wissenschaft“), die „aus dem offenbarten Worte Gottes alles lehrt, was zum wahren Glauben an Christus zu erkennen und zur Heiligkeit des Lebens zu tun vonnöten ist dem sündigen Menschen, der die ewige Seligkeit erlangen will“ ([17], Proleg. I, q. 1). Melanchthon hatte in seiner Dogmatik den dogmatischen Lehrstoff durch die von ihm gehandhabte Local-Methode oder synthetische Methode nur in

1. Die Dogmatik der Reformatoren und des Altprotestantismus

einen losen inneren Zusammenhang gebracht. Eine nachhaltige Veränderung bedeutete erst die Einführung der analytischen Methode in die lutherische Theologie in den 20er Jahren des 17. Jahrhunderts. Diese Methode geht auf den reformierten Theologen und Philosophen Bartholomäus Keckermann (1571–1609) (Systema SS. Theologiae, Hanoviae 1602) zurück. Die analytische Methode, welche in der reformierten Theologie selbst wenig Zustimmung fand, wurde der lutherischen Theologie durch Georg Calixt vermittelt. Bei der analytischen Methode handelt es sich um die Schulmethode der damaligen praktischen Wissenschaften. Die Übernahme dieser Methode in die Theologie wurde dadurch erleichtert, dass man die Theologie in Analogie zur Medizin verstand. Methode

Beschreibung

synthetische Methode die Zusammenstellung der dogmatischen (Local-Methode) Lehrpunkte (Loci) geschieht durch Nebeneinanderstellung analytische Methode

der dogmatische Lehrstoff wird unter dem Leitgesichtspunkt des Ziels der Theologie aufgegliedert

Erst durch die Aufnahme der analytischen Methode war es möglich, den dogmatischen Lehrstoff in einen inneren geschlossenen systematischen Zusammenhang zu bringen. Den übergeordneten Gliederungsgesichtspunkt des theologischen Stoffs bildet das Ziel der Theologie (fines theologiae), den von Gott abgefallenen Menschen zum Heil zu führen. Durch die analytische Methode wird der Prozess des Heils bis hin zu seinem Ziel in seine inneren Bestandteile aufgegliedert und strukturiert. Das Ziel der Dogmatik ist der Heilsempfang und das zu heilende Subjekt ist der Mensch. Im Mittelpunkt der Dogmatik steht folglich der Weg der Heilung, so dass die Dogmatik die Grundlagen sowie die Mittel (media) der Heilung des Menschen thematisiert. In der Hochorthodoxie dient die Methode der Konstruktion des inneren Zusammenhangs des dogmatischen Lehrstoffs, der nun unter der Leitperspektive der Heilung des Menschen als in sich gestufter Restitutionsprozess entfaltet wird (heilsgeschichtliches Schema der Dogmatik). Die theologische Dogmatik wird als eine praktische Wissenschaft verstanden. Zugleich gewinnen im Verlauf des 17. Jahrhunderts Einleitungs- und Vorfragen (Prolegomena) der Theologie besonderes Gewicht. Sie sollen darlegen, wie verbindliche theologische Aussagen begründet und gewonnen werden können. Die ersten nachreformatorischen Dogmatiken kommen fast ohne Prolegomena aus. Sie begnügen sich mit einer knappen Vorrede. Melanchthon stellt seinen Loci communes lediglich eine kurze Einleitung voran und geht dann sofort zur Erörterung des dogmatischen Lehrstoffs über. Erst die lutherische und reformierte Hochorthodoxie des 17. Jahrhunderts baut die Prolegomena des theologischen Lehrsystems aus und stellt die Lehre vom Wort Gottes oder der Heiligen Schrift in das Zentrum der Grundlagenreflexion der Theologie. Die Schriftlehre bildet denn auch das Herzstück der Prolegomena der altprotestantischen Dogmatiken des 17. Jahrhunderts.

Theologische Dogmatik als praktische Wissenschaft

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I. Die Aufgabe der Dogmatik

Die Prolegomena der altprotestantischen Dogmatiken umfassen in der Regel 5 Themenkomplexe: 1. von der Theologie 2. von der Religion als dem Objekt der Theologie 3. von der Offenbarung als dem Prinzip der Theologie 4. von der Heiligen Schrift 5. von den Glaubensartikeln.

Auffindung der Wahrheit in der Bibel

An die Prolegomena schloss sich die materiale oder spezielle Dogmatik an. Sie entfaltet auf der Grundlage der in den Prolegomena erörterten Erkenntnisprinzipien den dogmatischen Lehrstoff. Auf der Grundlage der Bibel wird ein mit hohen normativen Ansprüchen versehenes Lehrsystem entfaltet. Das von der theologischen Dogmatik entfaltete Wissen soll allerdings einen praktischen Bezug haben. Luther folgend geht es in der Dogmatik nicht um ein Wissen von Gott an sich, sondern um Gott, wie er sich dem Menschen zu seinem Heil offenbart hat. Der Zweck der objektiven dogmatischen Lehre liegt also nicht in dieser, sondern in deren individueller Aneignung und Gewissheit. Aus diesem überlehrmäßigen Charakter der Dogmatik resultiert deren Verständnis als einer praktischen Wissenschaft. Allerdings ist das Verhältnis von Dogmatik und gelebter Religion so verstanden, dass Dogmatik und Religion nahezu identisch sind. Die individuelle Gewissheit enthält nichts anderes als das, was die Dogmatik beschreibt. Der theologischen Dogmatik des alten Protestantismus geht es nicht um religiöse Sonderlehren, sondern um die Wahrheit des Christentums. Diese wird in der Bibel gefunden und in Form eines theologischen Systems ausgestaltet. Die Wahrheit, welche von der Theologie dargestellt wird, ist Gott als das principium essendi (= Seinsprinzip) der Theologie. Die menschliche Theologie ist jedoch nicht mit Gott und der Theologie, die er von sich selbst hat, identisch. Als menschliche Theologie unterliegt sie der Bedingtheit und Fraglichkeit allen menschlichen Wissens. Die altprotestantischen Dogmatiker reflektieren die Endlichkeit ihrer eigenen theologischen Konstruktionen in ihrem Theologiebegriff dadurch, dass sie verschiedene Formen von Theologie unterscheiden. So hat nicht nur Gott selbst eine Theologie von sich selbst (= theologia archetypa), sondern auch die Engel und der Mensch vor und nach dem Fall haben Theologien. Ihre eigenen theologischen Systemkonstruktionen ordnen die altprotestantischen Theologen der Theologie der vernünftigen Geschöpfe zu, die im Unterschied zur urbildlichen Theologie Gottes als abbildliche Theologie (= theologia ektypa) verstanden wird. Als menschliche Theologie ist diese wandelbar und gehört zur theologia viatorum (= Theologie der Pilger). Die altprotestantischen Theologen unterschieden jedoch nicht nur zwischen der Theologie, die Gott von sich selbst hat, und einer gestuften Folge von abbildlichen Theologien. Auch die Theologie der menschlichen Pilger wird unterschieden in eine aus der Bibel gewonnene übernatürliche Theologie (= theologia supernaturalis) und eine natürliche Theologie (= theologia naturalis). Diese Unterscheidung im Theologiebegriff des Altprotestantismus ergibt sich aus den unterschiedlichen Quellen, aus denen das Wissen von Gott zustande kommt. Die Theologie Adams vor dem Fall kann nämlich nicht

1. Die Dogmatik der Reformatoren und des Altprotestantismus

auf einer göttlichen Offenbarung beruhen. Folglich muss sie in einem natürlichen Wissen des Menschen von Gott ihren Grund haben. Dieses natürliche Wissen des Menschen von Gott ist zwar durch den Abfall des Menschen von Gott verdunkelt, aber es wird von der Theologie als allgemeiner Explikationsrahmen in Anspruch genommen, in den die biblische Offenbarungstheologie eingezeichnet wird.

2. Die Krise der altprotestantischen Dogmatik in der Aufklärung Die dogmatischen Lehrentwürfe des alten Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts bieten eindrucksvoll geschlossene systematische Darstellungen des theologischen Stoffs mit einem hohen normativen Anspruch. Die theologische Dogmatik gab nicht nur die Glaubensgehalte vor, die von dem Einzelnen anzueignen und zu glauben waren, sondern sie konstruierte auch ein umfassendes verbindliches normatives Leitbild des Gemeinwesens. Die soziologischen Voraussetzungen dieser Form von theologischer Dogmatik liegen in einer noch wenig ausdifferenzierten gesellschaftlichen Einheitskultur, in der sich Religion und Sozialität stark durchdringen. In der europäischen Aufklärung kommt die altprotestantische Darstellung des theologischen Stoffs jedoch in eine fundamentale Krise. Die Gründe für diese Entwicklung sind außerordentlich komplex und vielschichtig, so dass eine rein binnentheologische Betrachtung, etwa der Lehrentwicklung, zu kurz greifen würde. Die in der frühen Neuzeit einsetzende und sich zunehmend beschleunigende gesellschaftliche Ausdifferenzierung wirkte im Zeitalter der europäischen Aufklärung in der Form auf die protestantische Universitätstheologie zurück, dass deren völlige Umbildung notwendig wurde. Die an die Aufklärung anknüpfende protestantische Theologie unterscheidet sich grundlegend von der protestantischen Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts, so dass man in der Theologiegeschichtsforschung zu Recht zwischen einem Alt- und Neuprotestantismus (Ernst Troeltsch) unterscheidet (siehe: [130]; [6]). Während der Altprotestantismus eine kirchlich geleitete Einheitskultur voraussetzte, zeichnet sich der Neuprotestantismus dadurch aus, dass er sich konstruktiv auf die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einlässt. Wissenschaftsgeschichtlich sind es vor allem zwei Aspekte, die in Folge der veränderten gesellschaftlichen Lage zur Krise der Dogmatik in der Neuzeit geführt haben: zum einen die Herausbildung und Einführung der historischen Kritik in die protestantische Theologie und zum anderen die erkenntnistheoretische Kritik an der überlieferten Metaphysik und der auf diese aufbauenden theologia naturalis (natürliche Theologie). Beide Aspekte zusammen führten zu einer vollständigen Umbildung der dogmatischen Theologie, und zwar sowohl im Hinblick auf deren methodische Grundlegung als auch ihre Geltungsdimension. Die Herausbildung der historischen Kritik und deren Anwendung auf die biblischen Grundlagen des Christentums ist eine Folge der Veränderungen des wissenschaftlichen Weltbilds in der frühen Neuzeit und sie vollzog sich nur schrittweise. Ihre Etablierung resultiert aus der zunehmenden Wahrneh-

Alt- und Neuprotestantismus

Historische Kritik

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I. Die Aufgabe der Dogmatik

Erkenntnistheoretische Kritik

mung der kulturalen Differenz zwischen der eigenen Gegenwart und der Bibel. Die Erfassung dieses zeitlichen Abstands führte in der protestantischen Theologie dazu, dass die Bibel in ihrem historischen Entstehungszusammenhang erforscht wurde. Für die theologische Dogmatik des Protestantismus ist mit dieser Entwicklung eine einschneidende Konsequenz verbunden. Sie besteht in der vollständigen Auflösung der methodischen Grundlage der dogmatischen Theologie des Altprotestantismus, nämlich der Lehre von der Heiligen Schrift. Die überlieferte theologische Dogmatik wurde jedoch nicht nur durch die historische Kritik umgeformt, sondern auch durch die erkenntnistheoretische an der theologia naturalis (natürliche Theologie). Die Theologie des alten Protestantismus zeichnete die aus der Bibel gewonnene Offenbarungstheologie (theologia revelata) in den Rahmen einer natürlichen Theologie ein. Der natürlichen Theologie zufolge hat jeder Mensch von Natur aus ein Wissen um Gott und die göttlichen Dinge. Durch die Erkenntniskritiken von David Hume (1711–1776) und Immanuel Kant (1724–1804) wurde dieses natürliche Wissen des Menschen um die göttlichen Dinge einer vernichtenden Kritik unterzogen und der Bereich geltender Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung restringiert. Dadurch wurde sowohl der Bezugsrahmen der überlieferten Dogmatik als auch der Gottesgedanke als Abschlussgedanke der klassischen Metaphysik destruiert. Das Zusammenspiel von historischer und erkenntnistheoretischer Kritik hat der überlieferten altprotestantischen Form der theologischen Dogmatik vollständig den Boden entzogen, so dass ein Umbau der Dogmatik notwendig wurde. Dadurch sollte in der Theologie auf die veränderten Erkenntnisbedingungen in der Moderne konstruktiv reagiert werden. Dies geschah in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch eine Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Theologie. Zwar hat sich auch die Theologie des alten Protestantismus als Wissenschaft verstanden und methodisch gearbeitet, aber im Zuge der Entstehung des historischen Bewusstseins und der Professionalisierung des Wissenschaftsbetriebs seit ca. 1770 kommt es in der protestantischen Theologie zur Ausbildung eines Verständnisses von Theologie, das sich explizit als Fachwissenschaft versteht. Mit der Etablierung dieses gegenüber dem Altprotestantismus neuen Verständnisses von Theologie wird die von der alten Dogmatik vorgenommene Identifizierung von Theologie und Religion aufgelöst. Damit wird aber auch das überlieferte Verständnis von Theologie als ,Gottesgelehrsamkeit‘, deren Voraussetzungen in der persönlichen Frömmigkeit des Theologen liegen, hinfällig. An die Stelle des überlieferten Theologiebegriffs, welcher an der Lutherischen Maxime oratio, meditatio, tentatio faciunt theologum orientiert ist, tritt ein Verständnis von Theologie als professioneller Fachwissenschaft, die als Wissenschaft von der gelebten Religion unterschieden ist. Die Unterscheidung von Theologie und Religion, die für den modernen Protestantismus geradezu konstitutiv ist, wurde von dem Halleschen Theologen Johann Salomo Semler (1725–1791) in die Theologie eingeführt. Semler unterschied im Interesse an der Ausarbeitung einer zeitgemäßen Theologie zwischen Theologie als professioneller Fachwissenschaft, die bestimmte Kenntnisse und Fertigkeiten voraussetzt, und der gelebten Religion und unterzieht die von der altprotestantischen Dogmatik vorgenommene Identifizierung von Dogmatik und Religion einer

2. Die Krise der altprotestantischen Dogmatik in der Aufklärung

scharfen Kritik ([74], S. 160-179; [153]). Durch die Identifizierung von Religion und Theologie, welche Semler zufolge nach Melanchthons Tod in der protestantischen Theologie eingetreten sei, werden Theologie und dogmatisches Lehrsystem selbst in den Rang von verbindlichen Glaubensartikeln gehoben. Die Unterscheidung von Theologie und Religion führt zu einer Neubestimmung der beiden Begriffe. Semler selbst versteht die Theologie als Fachwissenschaft, welche als solche stets veränderlich und damit entwicklungsfähig ist. Im Unterschied zur Theologie gehört die Religion dem praktischen Leben an. In der individuell wahrgenommenen Religion konzentriert sich für Semler der übergeschichtliche Wahrheitsanspruch der christlichen Religion. Durch die Unterscheidung von Theologie und Religion wird die Theologie nicht nur professionalisiert, sondern auch im Interesse ihrer konstruktiven Weiterentwicklung angesichts sich ändernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen von religiösen Wahrheitsansprüchen entlastet. Damit wird von Semler auf der Grundlage der Einbeziehung des historischen Denkens die Theologie als eine historische wissenschaftliche Disziplin verstanden, der die Aufgabe obliegt, die gelebte Religion über sich aufzuklären. Die auf dieser Grundlage konzipierte theologische Dogmatik kann dann freilich auch nicht mehr als eine Wissenschaft verstanden werden, die ein überzeitliches göttliches Wissen systematisiert. Aus ihr wird eine als Theorie subjektiver Frömmigkeit verstandene Glaubenslehre. Dieser Wandel im Selbstverständnis der Theologie und der theologischen Dogmatik, durch den den sich ändernden soziokulturellen Bedingungen auf eine konstruktive Weise in der Theologie selbst Rechnung getragen werden soll, etabliert ein Verständnis der Dogmatik als einer geschichtlich bedingten und folglich wandelbaren Disziplin. Diese mit Semler einsetzende Historisierung der theologischen Dogmatik führte am Ende des 18. Jahrhunderts in den unterschiedlichen theologischen Lagern zur Herausbildung von biblischen Dogmatiken, die von der kirchlichen Dogmatik mit höchst unterschiedlichen Intentionen unterschieden werden (vgl. [71], S. 23; [38]; [39]; dazu: [82]). Während die Einbeziehung der historischen Forschung in die Theologie zur Ausdifferenzierung der Theologie in unterschiedliche Einzeldisziplinen und zur Historisierung der sich nun als professionelle Fachwissenschaft verstehenden Theologie führte, war mit der Auflösung der überlieferten theologia naturalis eine andere Konsequenz verbunden. Die erkenntnistheoretische Kritik an der natürlichen Theologie führte am Ende des 18. Jahrhunderts zur Ersetzung der Metaphysik als methodischer Grundlage der Theologie. Deren Erbe trat die Religionsphilosophie an, die sich als Folge der erkenntniskritischen Auflösung der überlieferten natürlichen Theologie im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts als eigenständige akademische Disziplin etablierte. Allerdings wäre die Entstehung der Religionsphilosophie missverstanden, wollte man sie als eine bloße Ersetzung der natürlichen Theologie oder deren Fortführung mit anderen Mitteln verstehen. Mit der Konzeption von Religionsphilosophien am Ende des 18. Jahrhunderts sind gegenüber der überkommenen natürlichen Theologie völlig neue Fragestellungen und methodische Verfahren verbunden. Die Religionsphilosophie beschreibt nämlich nicht mehr wie die theologia naturalis und die Dogmatik des Altprotestantismus

Dogmatik zwischen Wissenschaft und Glaubenslehre

Historismus

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I. Die Aufgabe der Dogmatik

Begründung der Religionsphilosophie

jenseitige metaphysische Gegenstände, sondern das Gottesbewusstsein des Menschen. Die sich infolge der modernen Erkenntniskritik als methodischer Grundlage der modernen Theologie etablierenden Religionsphilosophien knüpfen mit der Erfahrungsbezogenheit der Religion sowohl an genuin reformatorische Motive als auch an die von Semler vorgenommene Unterscheidung von Theologie und Religion an. Semler, dem der neuere Protestantismus die Unterscheidung von Theologie und Religion verdankt, differenzierte auch den Religionsbegriff weiter aus. So unterschied er zwischen historischer und moralischer Religion einerseits und Privatreligion und öffentlicher, gesellschaftlicher Religion andererseits. Mit dieser religionssoziologischen Unterscheidung versuchte Semler, die voranschreitende Ausdifferenzierung und Individualisierung der Gesellschaft in sein Religionsverständnis aufzunehmen. Während die öffentliche Religion den kirchlichen Lehrbegriff umfasst, wie er in den symbolischen Büchern der jeweiligen Kirchen verankert ist, zielt die Privatreligion auf die eigene Einsicht und Überzeugung des Christen und ist vom Bildungsstand des Individuums abhängig. Die Unterscheidung der Religion von der Theologie, die von Semler im Interesse der Emanzipation und Stärkung der gelebten individuellen Religion vorgenommen wird, zeitigt Konsequenzen für die theologische Dogmatik. Sie wird zu einer Theorie der protestantischen Religion, der die Aufgabe obliegt, unter den veränderten Bedingungen der Moderne die Identität des Christentums zu beschreiben.

3. Dogmatik als Darstellung des Glaubens Unterscheidung von Theologie und Religion

In der Moderne wurde auf der Grundlage der Unterscheidung von Theologie und Religion die theologische Dogmatik zu einer reflexiven Beschreibung der christlichen Religion. Aufgabe der Dogmatik ist es, das materiale Wesen der christlichen Religion in einem systematischen Zusammenhang zu entfalten und die Identität des Christentums auf eine normative Weise zu bestimmen. Die methodische Grundlage bildet die Unterscheidung von Theologie und Religion. Diese Unterscheidung ist jedoch eine solche, die in der Theologie selbst vorgenommen wird. Sie unterscheidet sich im Interesse an der Selbständigkeit der gelebten Religion von dieser. Gegenüber der altprotestantischen Ineinssetzung von Dogmatik und Religion soll die gelebte Religion vor einer Bevormundung und normativen Abgleichung durch die Theologie geschützt werden ([86]). Die Emanzipation der Religion gegenüber der Theologie, wie sie von der Aufklärung geltend gemacht wurde, nimmt das reformatorische Motiv der Unvertretbarkeit des eigenen Glaubens und der individuellen Aneignung der Glaubensgehalte auf und führt es unter den veränderten soziokulturellen Bedingungen der Moderne weiter. Die theologische Dogmatik wird dadurch zu einer Theorie der Religion, der die Aufgabe obliegt, die Religion im Medium der Wissenschaft zu explizieren. Der Beitrag der Theologie insgesamt zur Erschließung der religiösen Lebenswelten der Moderne wird in der Gegenwart eher skeptisch beurteilt. Zwar war die Theologie in Europa über mehr als tausend Jahre allein für Thematisierung und Diskussion von Religion zuständig, aber seit der Aufklärung

3. Dogmatik als Darstellung des Glaubens

ist ihr dieses Alleinvertretungsmonopol in religiösen Angelegenheiten zunehmend durch Religionswissenschaften, Soziologie und Ethnologie strittig gemacht worden. Aufgrund der konfessionellen Ausrichtung der Theologie traut man ihr in der Gegenwart kaum noch eine unvoreingenommene Analyse der Religion zu. Daher sei den angeblich neutralen Religionswissenschaften die Bearbeitung des religiösen Felds zu überlassen, da Theologen bestenfalls ihren eigenen Glauben bekennen und an diesem auch nichtchristliche Religionen messen. Die Religionsentwicklung der Moderne hat scheinbar dazu geführt, dass die Dogmatik keinen Beitrag zur Aufklärung der Religion leisten könne. Diese Aufgabe sei von nicht-theologischen Wissenschaften zu übernehmen, da sie die Religion wesentlich angemessener beschreiben können als die theologische Dogmatik. Dieser Sicht ist aus mehreren Gründen zu widersprechen. Zunächst hat die theologische Dogmatik die Standortrelativität ihrer Sicht der Religion und ihrer Geschichte seit der Aufklärung in intensiven Methodendiskursen auf einem hohen Niveau reflektiert. Sodann sind auch die nicht-theologischen Beschreibungen der Religion, seien diese nun religionswissenschaftlich, soziologisch oder phänomenologisch, Konstruktionen der Religion und ihrer Binnensicht. Nicht spricht dafür, dass sie angemessener sind als die dogmatische Beschreibung der Religion. Wie gestaltet sich nun unter den Bedingungen der Unterscheidung von Theologie und Religion die Bedeutung der Dogmatik für eine konstruktive und angemessene Wahrnehmung der Religion? Um zu einer konstruktiven Erfassung der Religion zu gelangen, muss sich die Dogmatik als eine Beschreibung der Selbstsicht des Glaubensgeschehens verstehen. Auf eine reflexive Weise beschreibt sie den Glauben als das Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen als eines endlichen Wesens. Glaube und Religion werden dabei von der theologischen Dogmatik selbst schon als die sich durchsichtige Grundlegung des Selbst verstanden. Mit dem Gottesgedanken beschreibt der sich in seiner paradoxen Struktur verständlich werdende Mensch das Geschehen dieses Sich-Verständlich-Werdens ([87]). Indem die theologische Dogmatik den Glauben expliziert, beschreibt sie das stets inhaltlich bestimmte Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen. Auf diese Weise wird die Dogmatik selbst zu einer reflexiven Beschreibung des Geschehens des Glaubens in Form einer begrifflichen Rekonstruktion der Selbstsicht des Glaubensvollzugs als dem Geschehen des Sich-VerständlichWerdens des Menschen. Die materialen Inhalte der christlichen Religion sind von der Dogmatik als die symbolischen Medien auszuarbeiten, mit denen sich das sich selbst in seiner Tiefenstruktur erfassende und artikulierende Selbst beschreibt. Sie haben keine gegenständliche Funktion, sondern ihre Funktion liegt allein in der Selbstbeschreibung des Glaubens als dem unableitbaren Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen. Die Dogmatik als Darstellung der Inhalte der christlichen Religion ist also die Darstellung der in der Religion selbst schon auftretenden Durchsichtigkeit des Selbst im Gottesbezug. Eine solche theologische Dogmatik ist eine reflexive Theorie der Religion. Sie beschreibt in geltungsbezogener Weise das Geschehen des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen in der Unbedingtheit und Bedingtheit seines Bezugs auf sich selbst. Auf diese Weise nimmt die theologische Dogmatik die Entwicklungsge-

Selbstsicht des Glaubensgeschehens

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I. Die Aufgabe der Dogmatik

schichte der Religion in der Moderne auf, die zu einer zunehmenden Innenverlagerung, Vollzugsgebundenheit und Individualisierung der Religion führte, und wird selbst zu einer begrifflichen Theorie der Religion. Als Selbstdarstellung des christlichen Glaubens beschreibt die Dogmatik die Identität des Christentums.

II. Das Dogma im Protestantismus

Problematik des Dogmas

Die Dogmatik wird mitunter auch im Bereich der protestantischen Theologie als Wissenschaft von den Dogmen oder vom Dogma beschrieben ([57], Bd. 1, S. 18; [60], S. 15 f.). So bestimmte der dem liberalen Protestantismus des 19. Jahrhunderts zuzurechnende Theologe Richard Rothe (1799–1867) in seiner Schrift Zur Dogmatik die theologische Dogmatik als eine „Wissenschaft von den Dogmen“ ([79], S. 1). Solche Bestimmungen von Begriff und Aufgabe der Dogmatik sind auch in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts nicht unüblich. Karl Barth (1886–1968) bestimmt in seiner Kirchlichen Dogmatik die Dogmatik zwar nicht als Wissenschaft von den Dogmen, wie Rothe, wohl aber als „Wissenschaft vom Dogma“ ([43], S. 280). Dadurch scheint nun die Aufgabe einer theologischen Dogmatik näher bestimmt zu sein. Allein, der Protestantismus kennt im Unterschied zur römisch-katholischen Kirche keinen fest umrissenen Begriff des Dogmas. Die protestantischen Kirchen verfügen nämlich weder über eine lehramtliche Instanz, welche in der Lage wäre, ein Dogma endgültig zu fixieren, noch kennen sie den Begriff des Dogmas als eines Lehr- oder Glaubensgesetzes, wie die römisch-katholische Kirche. Für den römischen Katholizismus ist das Dogma „ein Satz, der Gegenstand der fides divina et catholica ist, also ein Satz, den die Kirche ausdrücklich durch das ordentliche Lehramt oder durch eine päpstliche oder konziliare Definition als von Gott geoffenbart so verkündigt, dass seine Leugnung Häresie ist“. ([78]) In diesem Sinne kann der Ausdruck ,Dogma‘ in der protestantischen Theologie keine Verwendung finden. Aufgrund der mit dem Begriff Dogma verbundenen Konnotationen ist es in der protestantischen Theologie notorisch umstritten, ob und wenn ja, in welchem Sinne man den Begriff Dogma überhaupt verwenden soll. Auch das römisch-katholische Verständnis des Dogmas als einem Satz, der Gegenstand der fides divina et catholica sei, ist eine durchaus neuzeitliche Auffassung. Wir gehen zunächst kurz auf die Begriffs- und Entwicklungsgeschichte des Dogmas ein, um dann die Frage nach dem Sinn des Dogmas in der protestantischen Dogmatik erörtern zu können.

1. Das Dogma in seiner geschichtlichen Entwicklung Der Begriff des Dogmas als einer lehramtlichen Entscheidung, wie er in der römisch-katholischen Kirche begegnet, ist erst in der Neuzeit entstanden und steht nicht am Anfang der Begriffsgeschichte. Geprägt wurde der Begriff nicht durch das Christentum, sondern wurde von diesem aus der antiken Kultur übernommen. In der antiken Literatur wird der Begriff auf unterschiedliche Weise gebraucht. Es kann wie das griechische Verb dokein im Sinne von

1. Das Dogma in seiner geschichtlichen Entwicklung

,was jemand meint‘ oder ,was jemanden gut dünkt‘ gebraucht werden ([68]; [69]). Bei Platon und in der Stoa steht der Ausdruck Dogma für eine feststehende Aussage im Sinne von decretum und bildet die Voraussetzung und die Grundlage des ethischen Verhaltens. Die stoische Grundüberzeugung der göttlichen Vorsehung, welche das Universum durchwaltet, wird als Dogma verstanden. In diesem Sinne spricht noch Johannes Calvin vom dogma stoicum. Der Ausdruck meint hier also so viel wie feststehende Lehrmeinung ([76]). Und solche dogmata gab es auch in anderen antiken Philosophenschulen. Dieser Sprachgebrauch von Dogma findet sich auch in den biblischen Schriften. In der Septuaginta und im Neuen Testament bezeichnet der Ausdruck dogma fixierte gesetzliche Bestimmungen. So können die Einzelgebote der Thora dogma genannt werden (Kol 2,14; Eph 2,15) oder obrigkeitliche Verordnungen (Lk 2,1). In allen diesen Fällen meint das Wort Dogma keine Lehraussage oder Offenbarungswahrheit, sondern rechtlich-gesetzliche Bestimmungen. Erst im 2. Jahrhundert wird der stoische Begriff des Dogmas als einer feststehenden Lehraussage von den christlichen Apologeten aufgenommen. Justin bezeichnet die Dogmen der Philosophenschulen als partikular. Sie seien weder göttlichen Ursprungs noch alt. Damit fehlen den Dogmen der Philosophen für Justin die Merkmale der Wahrheit. Der Ausdruck Dogma steht hier für die Kennzeichnung der falschen und damit häretischen Lehre. In diesem Sinne verwendet auch Augustin das Wort, und als Bezeichnung für häretische Lehren wird es bis in die Neuzeit verwendet. Auf die christliche Lehre wird der Begriff Dogma von Origenes angewandt. Er versteht die kirchliche Lehre als die wahre Philosophie und bezeichnet sie als dogmata theou. Durch die Verschränkung von hellenistischer Philosophie und überlieferter christlicher Religion bildet sich die Vorstellung von Lehrsätzen heraus, welche den Inhalt der christlichen Wahrheit in verbindlichen Sätzen formulieren. Solche identitätsstiftenden Fixierungen werden in Krisenzeiten notwendig, wenn die kulturelle oder religiöse Identität einer Gruppe durch äußere oder innere Pluralität gefährdet ist. Angesichts steigender gesellschaftlicher Komplexität in der hochgradig pluralistischen religionskulturellen Lage in der Antike, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb des äußerst heterogenen frühen Christentums, antworten dogmatische Lehrfixierungen ebenso wie die Kanonisierung von heiligen Texten auf die Frage „Wonach sollen wir uns richten?“ (Jan Assmann). Durch derartige Fixierungen, die immer das Resultat von kulturellen und religiösen Selektionsprozessen darstellen, wird die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden gezogen. Die Unterscheidung von Orthodoxie und Häresie entsteht folglich erst durch solche normativen Grenzziehungen. Auch die Identität des Christentums resultiert aus dem Prozess von Exklusion und Inklusion und liegt nicht als positive Gegebenheit vor. Die Herausbildung des Dogmas als verbindlicher kirchlicher Lehre im antiken Christentum lässt sich religionstheoretisch als eine normative Konstruktion der eigenen religiösen Identität durch Grenzziehung und Unterscheidung zum Fremden und Anderen verstehen, welches dann als falsche Religion oder als Häresie gilt ([73], Sp. 895). Diese Funktion hat auch die berühmte Formel des Vinzenz von Lerinum in seinem Commonitorium pro catholicae fidei antiquitate et universitate aus dem Jahre 434. Katholisch und damit verbindlich zu glauben sei, „quod ubique, quod

Historische Entwicklung des Dogmabegriffs

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II. Das Dogma im Protestantismus

Zentralfunktion der Bibel

Glaubensartikel

semper, quod ab omnibus creditum est“ („was überall, immer und von allen geglaubt worden ist“). Das Dogma sei, so Vinzenz von Lerinum, von Gott offenbart und der Kirche anvertraut, so dass es als Auslegungsnorm der Bibel fungiere. Erst in der Neuzeit, in Folge von Reformation und Aufklärung, kommt diese Formel des Vinzenz von Lerinum wieder zu Ehren. Die mittelalterliche Theologie hatte allerdings nicht an diesen Begriff des Dogmas als Bezeichnung der kirchlichen Lehre angeknüpft. Sie sprach von articuli fidei. Auch die Reformatoren bezeichneten die kirchliche Lehre nicht als Dogma oder Dogmen, sondern als articulus fidei. Infolge seiner Auseinandersetzung mit der römischen Kirche rückte bei Luther zunehmend die Bibel in den Rang einer sowohl der Kirche als auch dem kirchlichen Lehramt übergeordneten Norm. In seiner Assertio omnium articulorum von 1520 erklärt Luther, dass man „mit der Schrift als Richter ein Urteil fällen“ müsse, was aber nur möglich sei, wenn man der „Schrift in allen Dingen“ „den ersten Rang“ einräumt. Nur die Bibel sei, wie Luther fortfährt, „durch sich selbst ganz gewiss“, „ganz leicht zugänglich, ganz verständlich, ihr eigener Ausleger, alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend“ ([22], Bd. 7, S. 97 = [25], Bd. 1, S. 79–80). Mit der in eine theologische Prinzipienfunktion einrückenden Heiligen Schrift verbindet sich nicht nur eine Reduktion der lehramtlichen Fixierung der Glaubensartikel, sondern Luther bestreitet der Kirche geradezu, dass sie die Vollmacht hätte, Glaubensartikel zu schaffen ([22], Bd. 6, S. 508 = [25] Bd. 3, S. 23). Vielmehr sind alle Glaubensartikel in der Heiligen Schrift niedergelegt. Dass die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen in ihre Bekenntnisschriften, denen freilich nicht der Rang von kirchlichen Dogmen zukommt, die altkirchlichen Symbole und damit die überlieferte Trinitätslehre und Zwei-Naturen-Christologie aufgenommen haben, ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass Luther die altkirchlichen Symbole als schriftgemäß einstufte. Die lutherischen und reformierten Theologen des alten Protestantismus thematisieren die Glaubensartikel, die articulos fidei, am Ende der Prolegomena der Dogmatik. Darin folgen sie der von Luther vorgenommenen Überordnung der Bibel als der grundlegenden Norm (norma normans) von Theologie und Kirche und verstehen die Glaubensartikel als Zusammenfassung und Auslegungsregel der Bibel. Mit articulus fidei bezeichnete man den gesamten Inhalt der geoffenbarten Bibel. Dieser Inhalt der Offenbarung besteht jedoch nach der Auffassung der alten Dogmatiker des Protestantismus aus einzelnen Lehrsätzen und diese bezeichnen sie als die articulos fidei. In diesem Sinne definiert der spätorthodoxe Theologe David Hollaz die Glaubensartikel als den Inbegriff dessen, was der Christ zu glauben hat ([17] Proleg. II. q. 12). Insofern bilden die Glaubensartikel als Lehrsätze den Inhalt, der in der materialen Dogmatik behandelt wird. Zwar stammen die Glaubensartikel aus der Bibel, aber deren systematische Zusammenstellung ist das Werk des Theologen. Deshalb haben die Glaubensartikel den Status von Konklusionen, die aus dem in der Bibel niedergelegten Wort Gottes gefolgert werden. Diesen Inhalt der Dogmatik, verstanden als Schlussfolgerungen aus dem Wort Gottes, nennen die alten Theologen Dogma. Von den Glaubensartikeln, welche in der Dogmatik in ihrem inneren Zusammenhang dargestellt werden, unterscheiden die altprotestantischen Theologen die kirchlichen Symbole. Darunter verstehen sie die Gesamtheit

1. Das Dogma in seiner geschichtlichen Entwicklung

der Glaubensartikel, wie sie von der Kirche aufgestellt wurden. Die Symbole, denen in der lutherischen Orthodoxie eine hohe Bedeutung zukam, haben also die Funktion von öffentlichen Glaubenszeugnissen. Sie wollen darüber Auskunft geben, wie die Offenbarung zu einer bestimmten Zeit in der Kirche verstanden worden ist. In diesem Sinne heißt es in der Formula Concordia: „Die andere Symbola aber und angezogene Schriften sind nicht Richter wie die Heilige Schrift, sondern allein Zeugnis und Erklärung des Glaubens.“ Im Unterschied zur Bibel als norma normans sind die Symbole lediglich norma normata. Ihnen kommt eine abgeleitete Autorität zu und sie enthalten den rechten Sinn der Bibel. Die lutherischen Theologen unterscheiden Symbole der älteren und der neueren Zeit, nämlich die altkirchlichen und die spezifisch lutherischen Symbole. Die Symbole der älteren Zeit sind: 1. Symbolum Apostolicum – Inbegriff der apostolischen Lehre, allmählich erwachsen aus der Taufformel als Bekenntnis der Katechumenen, festgestellt im 4. Jahrhundert 2. Symbolum Nicaenum – nach den Beschlüssen von Nicäa 325 und von Konstantinopel 381 3. Symbolum Athanasianum – als Darstellung der durch Athanasius verteidigten Kirchenlehre; seit dem 7. Jahrhundert in der abendländischen Kirche geltend.

Diese drei altkirchlichen Symbole behielten auch im Protestantismus ihre Geltung, um die Übereinstimmung mit der alten Kirche zu unterstreichen. Die Symbole der neueren Zeit sind: 1. Confessio Augustana – deutsch und lateinisch verfasst von Melanchthon, unterzeichnet und übergeben von den evangelischen Ständen auf dem Reichstag zu Augsburg am 25. Juni 1530 2. Apologia Confessionis – lateinisch verfasst von Melanchthon gegen die katholische Confutatio auf demselben Reichstag 3. Articuli Smalcaldici – deutsch verfasst von Luther, unterzeichnet zu Schmalkalden 1537 4. Catechismus maior et minor Lutheri – 1529, deutsch aus Veranlassung der sächsischen Kirchenvisitation 5. Formula Concordiae – um innerprotestantische Kontroversen zu entscheiden und zur Ausscheidung des Calvinismus; verfasst von Jakob Andreä (1528–1590), Martin Chemnitz, Nikolaus Selnecker (1530–1592), David Chyträus (1531–1600) und Andreas Musculus (1514–1581) zu Klosterbergen 1579.

Diese Symbole sind zusammengefasst in der Concordia (Liber Concordiae), welche mit Vorrede und Unterzeichnung der evangelischen Stände der Kurfürst 1580 zu Dresden herausgab. Allerdings wurde lediglich die Confessio Augustana von allen lutherischen Kirchen anerkannt, während die Formula Concordiae von mehreren lutherischen Landeskirchen verworfen wurde. In der weiteren Entwicklung des Protestantismus wurde der Begriff ,Dogma‘ immer mehr als unzulänglich zur Beschreibung der normativen Gehalte der christlichen Religion verstanden, und im Zuge der Auseinandersetzung mit der Reformation und der Aufklärung gewinnt er in der römisch-katholischen Kirche einen immer höheren Stellenwert. Bestimmend wird in der

Ältere und neuere Symbole

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II. Das Dogma im Protestantismus

Abgrenzung gegen den Katholizismus

römisch-katholischen Kirche die Fassung, die dem Dogma Vinzenz von Lerinum gegeben hat, dessen Commonitorium pro catholicae fidei antiquitate et universitate 1528 neu ediert wird. Aber erst im 19. Jahrhundert setzt sich im Sprachgebrauch der römisch-katholischen Kirche der von Vinzenz geprägte Begriff des Dogmas gegenüber der älteren Bezeichnung articulus fidei durch. Im Gefolge des I. Vatikanischen Konzils wird unter dem Dogma ein Lehrsatz verstanden, der Kraft kirchlicher Sanktion oder direkter göttlicher Offenbarung Unfehlbarkeit beansprucht. Dem von dem kirchlichen Lehramt formulierten Dogma, und nur diesem, kommt für den Glauben des Einzelnen bindende und verpflichtende Autorität zu. Ein solches Verständnis des Dogmas ist im Protestantismus schon aus dem Grund nicht denkbar, weil er keine kirchliche Instanz kennt, die in der Lage wäre, ein solches Dogma verbindlich zu definieren. Auch dort, wo man innerhalb der protestantischen Theologie auf den Begriff des Dogmas zurückgreift, kann er nicht im Sinne eines von der Kirche mit quasi göttlicher Autorität formulierten Lehrsatzes verstanden werden. Protestantische Theologen wie Adolf von Harnack, Wilhelm Herrmann oder Ernst Troeltsch haben deshalb auf dem Hintergrund seiner neuzeitlichen Entstehungsgeschichte den Begriff Dogma als spezifisch katholischen Begriff für die protestantische Glaubenslehre abgelehnt ([84]). Der Ablehnung und berechtigten Kritik am Begriff des Dogmas auf dem Hintergrund seiner historiographisch rekonstruierten Problemgeschichte einerseits und seiner römisch-katholischen Fassung andererseits geht es freilich auch dem Protestantismus um eine normative Selbstreflexion der eigenen Religionskultur.

2. Dogmenkritik und Protestantismus

Adolf von Harnack

In der protestantischen Theologie ist es strittig, ob man den Begriff Dogma zur Beschreibung der normativen Dimension des Glaubensverständnisses heranziehen soll oder nicht. Nicht nur das römisch-katholische Verständnis des Dogmas zeichnet hierfür verantwortlich, sondern auch die historiographische Entdeckung der historisch-kontingenten Entstehungsbedingungen etwa der altkirchlichen ,Dogmen‘ der Zwei-Naturen-Lehre oder der Trinität sowie die übergeordnete Stellung der Schrift für die Lehrbildung innerhalb der protestantischen Theologie. Adolf von Harnack hatte in seinem Lehrbuch der Dogmengeschichte die Entstehung des altkirchlichen Dogmas als Hellenisierung des Christentums verstanden. Das dogmatische Christentum und das von ihm ausgebildete Dogma sei, so Harnacks berühmte Formulierung, „in seiner Conception und in seinem Aufbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums“ ([4], S. 20). Das dogmatische Christentum, wie es sich in der Antike herausgebildet hat, wertet Harnack als eine Entstellung des wahren Wesens des Christentums. Dieses erblicke er, wie er in seiner im Wintersemester 1899/1900 in Berlin gehaltenen Vorlesung Das Wesen des Christentums darlegte, in dem schlichten Evangelium Jesu ([4]). Die Überwindung des dogmatischen Christentums setzt für Harnack bereits mit der Reformation ein. Allerdings sei die Reformation in ihrer Kritik am dogmatischen Christentum auf halbem Wege stehen geblieben. Luther hat zwar mit dem Glauben die Innerlichkeit der Religion entdeckt, aber diese

2. Dogmenkritik und Protestantismus

Entdeckung wurde durch die von ihm beibehaltenen altkirchlichen Dogmen der Christologie und Trinitätslehre wieder verdeckt. Ihr Ziel, nämlich die völlige Befreiung des Christentums von den dogmatischen Bestimmungen, erreicht die Reformation erst im modernen Protestantismus. In ihm tritt das dogmatische Christentum zurück und die Religion wird als eine praktische Angelegenheit des Lebens verstanden. Die Dogmengeschichte, welche diesen Entwicklungsprozess der dogmatischen Lehrform des Christentums methodisch rekonstruiert, ist damit im Kern Dogmenkritik. Nun ist, wie die Diskussion um Harnacks Dogmengeschichte und die von ihm vorgeschlagene Wesensbestimmung des Christentums zeigt, weder seine historiographische Deutung des Wesens des Christentums noch eine andere Deutung der Geschichte frei von normativen Gegenwartsinteressen, welche nicht nur die Konstruktion der Geschichte und ihres Verlaufs steuern, sondern in diese auch immer mit einfließen. Bei Harnacks Deutung der Entstehung des dogmatischen Christentums fiel es denn auch nicht schwer zu zeigen, dass in seine Wesensbestimmung des Christentums grundlegende Überzeugungen der Theologie Albrecht Ritschls eingeflossen sind. Dessen ungeachtet legt sich freilich auf dem Hintergrund von Harnacks Überlegungen die Frage nahe, ob man die Offenbarung und den dieser korrespondierenden Glauben in seinem Kern mit Sätzen beschreiben kann, wie es ebenso das altprotestantische Verständnis der Glaubensartikel wie das römischkatholische Verständnis des Dogmas voraussetzt. Wo in der gegenwärtigen protestantischen Theologie an dem Begriff des Dogmas als zusammenfassendem Inbegriff der normativen Dimension des christlichen Glaubens festgehalten wird, da wird dieses nicht im Sinne eines Aussagegehalts oder eines fixierbaren Satzes verstanden. Geradezu klassisch für eine derartige Sicht des Dogmas in der neueren protestantischen Theologie ist Karl Barths Bestimmung des Dogmas in der Kirchlichen Dogmatik als eines eschatologischen Begriffs. Barth bestimmt das Dogma auf der Grundlage seiner offenbarungstheologischen Fassung der Theologie als „die Übereinstimmung der kirchlichen Verkündigung mit der in der Heiligen Schrift bezeugten Offenbarung“ ([43], Bd. I/1 S. 280). Aufgabe der Dogmatik ist es dieser Bestimmung zufolge nicht, inhaltlich fixierte Dogmen zu bestimmen, sondern nach der Übereinstimmung zwischen kirchlicher Verkündigung und der in der Bibel bezeugten Offenbarung zu fragen. Das Dogma ist dann nichts anderes als die Übereinstimmung dieser beiden Aspekte. Was Barth mit der Bestimmung des Dogmas im Blick hat, wird deutlich, wenn man seine offenbarungstheologische Grundlegung der theologischen Dogmatik berücksichtigt. Diese zielt auf das an die kirchliche Verkündigung gebundene, aber aus dieser unableitbare Geschehen des kontingenten Sich-Verstehens des Menschen im aktualen Glaubensvollzug. Barth löst den Offenbarungs- und den Glaubensbegriff in das aktuale Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen auf. Darin werden die konkreten Bestimmungen des Selbstverhältnisses zu Ausdrucksformen dieses freilich immer schon geschichtlich und kulturell eingebundenen Sich-Verstehens des Menschen. Da nun Barth die von der Bibel bezeugte Offenbarung als das gelungene Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen versteht, beinhaltet der Begriff des Dogmas nichts anderes als dieses an den aktualen und konkreten Selbstvollzug des Menschen gebundene Sich-Verstehen des Menschen.

Karl Barth: Dogma und Offenbarung

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II. Das Dogma im Protestantismus

Reflexivität des Glaubensvollzugs

Damit wird das Dogma von Barth nicht als eine Aussage verstanden, sondern als ein gleichsam übergeordneter Ausdruck für die mit dem Glaubensvollzug verbundene reflexive Erkenntnis im Selbstverhältnis des Menschen. Auch in der gegenwärtigen evangelischen Dogmatik wird das Dogma als ein reflexiver zusammenfassender Ausdruck und Inbegriff des Glaubensgeschehens in seiner geschichtlichen Einbindung verstanden. Selbstverständlich differieren die einzelnen Bestimmungen dessen, wie der Glaubensvollzug und seine Aufbaumomente genauer beschrieben werden. Bei grundsätzlicher Betonung der Erfahrungsbezogenheit des Glaubens, der seinen zusammenfassenden Ausdruck im Dogma findet, stellen Eilert Herms, Wilfried Härle, Christoph Schwöbel oder Konrad Stock die inhaltsbezogenen Momente des Glaubensvollzugs in den Vordergrund. Mit der christlichen Daseinsgewissheit, die sich im Glauben erschließt, wird dann ein christliches Wirklichkeitsverständnis verbunden ([50]; [73]; [98], S. 221). Das Dogma wird auch hier nicht als ein fixierbarer Satz verstanden, sondern „als Regel öffentlicher Kommunikation“ ([98], S. 219). In den Begriff des Dogmas ist die reformatorische Unterscheidung und Zuordnung von Geist und Wort bzw. innerer und äußerer Klarheit der Schrift aufgenommen, so dass es als eine zusammenfassende theologische Beschreibung des Glaubensvollzugs und seiner inneren Struktur sowie seiner Aufbaumomente verstanden wird. Diese übergeordnete Perspektive des Glaubensvollzugs als dem Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen in seiner inneren Struktur, das freilich immer schon konkret inhaltlich bestimmt ist, rückt auf diese Weise in den Rang eines Kriteriums, an dem die einzelnen Aussagen der Dogmatik zu messen sind. In diesem Sinne, also als Ausdruck der Reflexivität und Durchsichtigkeit des Glaubensvollzugs, kommt dem Dogma selbst eine dogmenkritische Funktion zu. Um die mit dem Glaubensvollzug verbundene dogmenkritische Funktion zu unterstreichen, kann freilich auch ganz auf den Begriff Dogma verzichtet werden ([55], Bd. 1, S. 82–87). Dies hat wiederum Folgen für das Verständnis der theologischen Dogmatik. Sie wird dann als Glaubenslehre verstanden, der natürlich ebenso eine normative Funktion zukommt. Auch die Glaubenslehre bezieht sich auf die gelebte Religion in einer regulativen Weise. Der Begriff Dogma ist innerhalb der protestantischen Theologie aufgrund seiner Entstehungsbedingungen einerseits und seiner römisch-katholischen Verwendung andererseits umstritten. Will man an dem Begriff festhalten, so wird dies nur so möglich sein, dass man ihn als einen zusammenfassenden Inbegriff des aktualen Glaubensvollzugs und der mit diesem verbundenen Reflexivität versteht ([86], S. 149). Der Begriff ist dann nichts anderes als ein reflexiver Ausdruck für den Glaubensvollzug in seiner geschichtlichen Einbindung. Er verknüpft also die beiden für das protestantische Glaubensverständnis konstitutiven Momente der inneren Unbedingtheit und der geschichtlichen Bedingtheit zu einem für die Dogmatik übergeordneten Gesichtspunkt. Die Dogmatik wird auf diese Weise zu einer reflexiven Beschreibung des Glaubensvollzugs und seiner Selbstdarstellung.

B. Zur Grundlegung der Dogmatik In dieser Einführung soll es um Grundthemen der evangelischen Dogmatik in einer problemgeschichtlichen Perspektive gehen. Die Dogmatik wird in der Neuzeit in zwei Teile untergliedert: die Prolegomena, welche die methodischen, erkenntnis- und prinzipientheoretischen Grundlagen der Dogmatik behandelt, und die materiale oder spezielle Dogmatik, welche die inhaltlichen Bestimmungen des christlichen Glaubens in ihrem systematischen Zusammenhang darstellt. In diesem Abschnitt werden mit dem Glaubensbegriff, dem Offenbarungsverständnis sowie der Lehre von der Bibel die Grundlagen der evangelischen Dogmatik auf dem Hintergrund ihrer Entwicklungsgeschichte im Protestantismus und den Problemanforderungen der Moderne erörtert.

I. Glaube Die theologische Dogmatik hat die Aufgabe, den christlichen Glaubens als das Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen in seiner Endlichkeit und Geschichtlichkeit darzustellen und in seinen einzelnen Aufbauelementen zu explizieren. Nun diente der Begriff des Glaubens im Christentum von Anfang an zur Selbstbeschreibung der christlichen Religion im Unterschied zu anderen Religionen ([118]; [115]). Doch erst durch Martin Luther wurde der Glaubensbegriff zu einem solchen Grundbegriff, in dem sich das Wesen des Christentums insgesamt zusammenfasst. Luther fokussierte die christliche Religion auf den Glauben des Einzelnen, so dass der Glaube zum Ganzen des christlichen Heils im Gottesverhältnis avanciert ([125]). Damit rücken das Dabeisein des Menschen, seine Subjektivität und Innerlichkeit in das Zentrum der religiösen Selbst- und Weltdeutung. Luther hat sich dieses Verständnis des Glaubens in seinen exegetischen Vorlesungen seit 1513 erarbeitet und durch dieses die mittelalterliche Aufspaltung des Glaubensbegriffs in fides informis (formloser Glaube), fides formata (der geformte Glaube, der durch Gnade und Liebe geprägte Wille), fides explicita (der ausgefaltete Glaube) und fides implicita (der unausgefaltete Glaube) ersetzt ([99], II–Iiq. 2a, 5c; [8], S. 463–465). Die altprotestantische Theologie hat an Luthers Glaubensverständnis angeknüpft und es unter Rückgriff auf die aristotelische Schulphilosophie lehrmäßig ausgestaltet.

Luther: Glaube als Grundlage des Christentums

1. Martin Luthers Verständnis des rechtfertigenden Glaubens Luthers neues Verständnis des Glaubens ist das Resultat seiner theologischen Entwicklung im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts. Am Ende dieser Ent-

Glaube als Gnade

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I. Glaube

wicklung steht die These, dass der Glaube selbst bereits die Gnade ist. Luther hat diese These in seiner Hebräerbriefvorlesung von 1517/18, also im unmittelbaren zeitlichen Kontext des Ablassstreits, ausgesprochen. In seiner Erklärung zu Hebr 7,12: „Denn wenn das Priestertum verändert wird, dann muß auch das Gesetz verändert werden“, führt er aus: „Aber der Glaube ist ja schon die gerecht machende Gnade“ ([27], Bd. 1, S. 316). Luthers neues Verständnis des Glaubens resultiert aus seiner Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Bußsakrament und versteht die Entstehung des Glaubens beim Einzelnen als das Ganze des Heils. Bereits in der ersten Psalmenvorlesung von 1513 bis 1515, den Dictata super Psalterium, hatte sich Luther ein von der mittelalterlichen Lehrtradition abweichendes Verständnis der Buße erarbeitet. Der Grundgedanke dieses neuen Bußverständnisses liegt darin, dass Luther das mit dem Sündenbewusstsein verbundene Schuldbewusstsein als Gericht Gottes versteht und es von allen äußerlichen sakramentalen Bezügen löst. Dass sich der Mensch als vollkommener Sünder vor Gott versteht, ist für Luther bereits ein Handeln Gottes am Menschen. Indem sich der Mensch jedoch als vollkommener Sünder vor Gott versteht und dies bekennt, gibt er dem Urteil Gottes über den Menschen recht. Diesen Gedanken hat Luther in der ersten Psalmenvorlesung und in der Römerbriefvorlesung von 1515 bis 1516 auf die vielfältigste Weise zum Ausdruck gebracht. So heißt es in der Erläuterung zu Ps 51, 8: „siehe, dir gefällt Wahrheit“. Von Gott wird allein der als gerecht erwiesen, „der sich selbst anklagt und verdammt und richtet. Der Gerechte nämlich ist zu allererst Ankläger, Verdammer und Richter seiner selbst. Und deshalb erweist er Gott als gerecht und läßt ihn siegen und überwinden.“ Der Gottlose und Ungerechte ist für Luther hingegen der, „der sich entschuldigt, verteidigt, rechtfertigt und zu retten sucht. Daher sagt er eben deswegen, er bedürfe Gott als Retter nicht und richtet (damit) Gott in seinen Worten und macht ihn ungerecht und klagt ihn als Lügner und Falschredner an“ ([27], Bd. 1, S. 54). Luther versteht das mit der Erkenntnis des eigenen vollkommenen Sünderseins vor Gott verbundene Bekenntnis der eigenen Sündhaftigkeit als Übereinstimmung mit dem Urteil Gottes und eben darin ist der Mensch gerecht oder hat Anteil an der Gerechtigkeit Gottes, wie Luther nur wenig später bemerkt. „Wer sich selbst richtet und die Sünde bekennt, erweist Gott als gerecht und wahr; denn er sagt das von sich, was Gott von ihm sagt. Und so stimmt er mit Gott überein und ist wahrhaftig und gerecht, wie Gott, mit dem er übereinstimmt. Denn beide sagen dasselbe. Gott aber spricht Wahres und Gerechtes: und er sagt dasselbe. Also ist auch er selbst mit Gott gerecht und wahrhaftig“ ([27], Bd. 1, S. 56). Die Gerechtigkeit Gottes wird von Luther in den Dictata super Psalterium, in der Römerbrief-, aber auch in der Galaterbriefvorlesung so verstanden, dass sie sich auf die Übereinstimmung in der Willensrichtung des Menschen mit Gott bzw. mit seinem Wort bezieht. Diese Übereinstimmung des Menschen mit dem Urteil Gottes über den Menschen versteht Luther als Glaube. Die Gerechtigkeit Gottes gewinnt so Gestalt im Menschen, dass er sich als ein Nichts vor Gott erkennt und genau darin, in der eigenen Selbstverdammung und Demütigung vor Gott, ist der Mensch gerecht und wahrhaftig. Damit ist bereits deutlich, dass Luther in sein neues Verständnis des Glau-

1. Luthers Verständnis des rechtfertigenden Glaubens

bens eine Antinomie aufnimmt. Der die Gerechtigkeit Gottes ergreifende Glaube kommt nämlich beim Menschen nie anders zustande als durch das Gericht Gottes. Das Gericht Gottes und die Gnade Gottes sind für Luther zwei Seiten eines Geschehens, dessen Entstehen auf Seiten des Menschen völlig unabhängig von der menschlichen Mitwirkung ist. Denjenigen, den Gott im Gericht tötet, also bei dem durch das Handeln Gottes die Erkenntnis der vollkommenen Sündhaftigkeit entsteht, den lässt Gott schon seiner Gnade teilhaftig werden. Luther hat diesem Gedanken in seinem Werk immer wieder neuen Ausdruck verliehen. Am häufigsten hat er sich dabei der Formulierung aus 1. Sam 2, 6 f. und 5. Mose 32, 39 bedient: „Ich werde töten und lebendig machen“ ([27], Bd. 2, S. 42). Diese frühe Fassung des die Gerechtigkeit Gottes ergreifenden Glaubens ist freilich noch durchzogen von überkommenen mittelalterlichen Vorstellungen und Begriffen der überlieferten Gnadenlehre. Erst in der Hebräerbriefvorlesung von 1517/18 ist Luther zu der abschließenden Erkenntnis gekommen, dass der Glaube das Ganze des christlichen Gottesverhältnisses darstellt ([108], S. 284). Mit dieser Einsicht wird die im Glauben liegende Heilsgewissheit zum methodischen Zentrum der gesamten Theologie und deren lehrmäßiger Ausdruck die Rechtfertigungslehre. Glaube und Verheißung, fides und promissio, werden jetzt als Korrelation verstanden. Luther bringt dies auf die Formel: ,Glaubst du, so hast du‘ ([26], Bd. 1, S. 243). Damit avanciert der Glaubensbegriff zum zusammenfassenden Inbegriff der christlichen Religion. Glaube ist das Vertrauen auf das göttliche Verheißungswort und dieses Vertrauen wird zum inneren Gravitationszentrum des Neuverständnisses des Christentums. Luther verlagert die Religion in die Selbstbeurteilung des individuellen Subjekts und löst sie von dem äußerlichen Sakramentalismus der mittelalterlichen Kirche. Glaube ist die sich am Orte des Subjekts kontingent aufbauende Erkenntnis des eigenen Abstands von Gott und zugleich das Vertrauen auf das göttliche Vergebungswort, in dem der Abstand überwunden ist. Glaube ist für Luther das unableitbare Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen in der Gebrochenheit allen seines Tuns und zugleich das Vertrauen auf das göttliche Vergebungswort. Die im Geschehen des Glaubens beim einzelnen Menschen zustande kommende Gewissheit erfasst sich im Gottesbild. Das Gottesbild wird auf diese Weise zum Ausdruck der Gewissheit des Menschen, von Gott trotz der bleibenden Gebrochenheit seines eigenen Handelns anerkannt zu sein. Dies ist der Sinn von Luthers bekannter Formel aus dem Großen Katechismus, dass Glaube und Gott „gehören zuhaufe“. „Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott“ ([1], S. 560). Nun entsteht der Glaube beim Einzelnen nicht durch sein eigenes Handeln, sondern er ist allein Gottes Werk im Menschen. Dass es beim einzelnen Menschen zur Entstehung grundlegender lebenstragender Gewissheit kommt, die sich freilich immer in einem Bild des Menschen von ihm selbst, der Welt und seines Gottesverhältnisses artikuliert, verdankt sich nicht seinem eigenen Handeln oder seinen eigenen Bemühungen. Vielmehr ist die Entstehung des eigenen Glaubens durch einen Bruch vermittelt. Das neue Verstehen seiner selbst und die neue Selbstdeutung des Glaubens sind keine Folge des bisherigen Lebens. Wenn nun Glaube und Gott zuhauf gehören, wie Luther betont,

„Glaubst du, so hast du.“

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I. Glaube

Bedeutung des individuellen Glaubensvollzugs

dann muss das Entstehen des eigenen Glaubens seinen Niederschlag im Gottesbild finden. Andernfalls würde das Gottesbild der Entstehung des eigenen Glaubens äußerlich bleiben und wäre dann auch kein Ausdruck des eigenen Glaubens und seiner unbedingten Gewissheit. Die sich durch einen Bruch mit dem bisherigen Leben aufbauende neue Kontinuität des Glaubens muss also ihren Ausdruck im Gottesbild finden. Es zeichnet nun die Tiefe und lebenserschließende Kraft von Luthers Gottesbild aus, dass er in seine Gottesanschauung diese Antinomie aufgenommen hat. Der eigene Glaube entsteht nur so, dass der Mensch sich in der Gebrochenheit seines Handelns verständlich wird. Diese sich beim einzelnen Menschen nur kontingent aufbauende Einsicht versteht Luther als das Gerichtshandeln Gottes. Die religiöse Selbstdeutung der kontingenten Entstehung des Schuldbewusstseins findet für Luther ihren zusammenfassenden Ausdruck in dem, wie er im Anschluss an Jes 28,21 sagt, fremden Werk Gottes. Die Selbsterkenntnis des Menschen und seine religiöse Deutung ist jedoch nur die eine Seite von Luthers Glaubensverständnis. Das fremde Werk Gottes zielt auf sein eigentliches Werk, nämlich das Vertrauen des Menschen auf das göttliche Vergebungswort. So wenig das Entstehen von eigener Gewissheit aus der Selbsterkenntnis des Menschen abgeleitet werden kann, so sehr zielt das fremde Werk Gottes auf sein eigentliches Werk. Beide Aspekte stehen in Luthers Gottesbegriff unvermittelt nebeneinander und ihre Spannung löst sich nur im Lebensvollzug des eigenen Glaubens auf. Allein im individuellen Glaubensvollzug erscheint Gott als Liebe und Barmherzigkeit und im Glauben kommt es zum Übergang vom Zorn zur Barmherzigkeit. Insofern kann gesagt werden, dass im Glauben als einem neuen, tieferen Sich-Verstehen des Menschen nicht nur der Mensch zu sich selbst kommt, sondern auch Gott sich erst als der verwirklicht, der er ist ([120], S. 95). Luther spitzt den Glauben auf das Geschehen des Sich-Durchsichtig-Werdens des Menschen zu. Das Gottesbild ist der Ausdruck des Zustandekommens des eigenen Glaubens. Im Gottesbild spricht sich der Glaube selbst aus und verständigt sich über sich selbst. Der Glaube des Einzelnen entsteht nun Luther zufolge nur aus der Kommunikation, deren Inbegriff das Wort Gottes ist. Obwohl der Glaube die Präsenz Gottes im eigenen Leben darstellt, ist das Zustandekommen dieser Unmittelbarkeit durch ein äußeres Medium vermittelt. Luther hat mit der von ihm vorgenommenen Verknüpfung von Glaube und Wort Gottes den Umstand im Auge, dass das Sich-Verstehen des Menschen immer an kommunikative Akte angebundenen ist. Der Kreislauf des eigenen Selbstverständnisses kann nur von außen unterbrochen werden. Allerdings muss das Wort den Menschen im Inneren treffen, denn nur so kann es zum Ausgangspunkt eines neuen Selbstverständnisses des Menschen werden. Die bloße Kenntnis der Glaubensinhalte reicht noch nicht aus. Dies führt zu einer Differenzierung im Glaubensbegriff. Luther unterscheidet zwischen fides historica (historischer Glaube) und fides apprehensiva (Christus ergreifender Glaube). Glaube im eigentlichen Sinne ist allein der Christus ergreifende Glaube. Nur er ist der rechtfertigende Glaube (fides iustificans) und er besteht in dem inneren Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen. Der Glaube und seine Entstehung beim einzelnen Menschen sind jedoch immer durch äußere Kommunikation und durch inhaltliche Bestimmungen bedingt. Diese äußere Kommunikation ist

1. Luthers Verständnis des rechtfertigenden Glaubens

somit zwar eine notwendige Bedingung für die Entstehung des eigenen Glaubens, aber die bloße Kenntnis des Evangeliums ist selbst noch nicht Glaube im eigentlichen Sinne.

Individualität und Objektivität

Glaube ist für Luther die individuelle Aneignung der Wahrheit. Erst im Christus ergreifenden Glauben wird sich der Mensch verständlich und kommt zur Wahrheit. Mit dieser Fassung des Glaubensverständnisses durch Luther ist ein Problem verbunden, welches die nachfolgende protestantische Theologie bis in die Gegenwart in Atem gehalten hat. Es besteht in der Frage, wie sich die individuelle Aneignung der Wahrheit so verstehen lässt, dass sie nicht selbst wieder als ein Werk des Menschen erscheint.

2. Die lehrmäßige Ausgestaltung des Glaubensbegriffs in der altprotestantischen Theologie Die Theologen des alten Protestantismus im 16. und 17. Jahrhundert haben an den von Luther ausgearbeiteten Begriff des Glaubens angeknüpft und ihn lehrmäßig ausgestaltet. Dabei halten sie an Luthers Einsicht fest, dass der wahre Glaube allein der rechtfertigende Glaube (fides iustificans) sei. Der historische Glaube (fides historica), also die Kenntnis der evangelischen Geschichte, sei für sich allein noch nicht der rechtfertigende Glaube. Allerdings spielen die inhaltlichen Bestimmungen des Glaubens schon bei Melanchthon für die Fassung des Glaubensbegriffs eine wesentlich stärkere Rolle als für Luther selbst. Jedenfalls werden sie nun ausdrücklich in die lehrmäßige Bestimmung des Glaubensbegriffs mit aufgenommen. In Anknüpfung an Luthers Erläuterung des dritten Artikels des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus, wo es heißt, ich glaube, „daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinen Herrn, gläuben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelion berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiliget und erhalten“ ([1], S. 511 f.), fächert bereits Melanchthon den Glaubensbegriff in die Momente notitia (Kenntnis), assensus (Zustimmung) und fiducia (Vertrauen) auf ([125], S. 91–148). In der zweiten Auflage der Loci communes rerum theologicarum aus dem Jahre 1535 bestimmt er den Glauben als „Vertrauen auf die um Christi willen verheißene Barmherzigkeit“ und erläutert diese Bestimmung dann weiter: „Jenes Vertrauen umfasst also auch die Kenntnisnahme von Christus, dem Sohn Gottes, und entweder einen Zustand oder eine Handlung des Willens, durch welche er die Zusage Christi will und annimmt und so in Christus Ruhe findet“ (P. Melanchthon, Loci communes rerum theologicarum [1535], CR 21, 422. Zit. nach [125], S. 93). Zum Glauben gehören für Melanchthon sowohl die durch die Verkündigung der Kirche vermittelte Kenntnis des Evangeliums von Jesus Christus als auch die willentliche Zustimmung des Einzelnen zu dieser Botschaft. Das Ziel dieses in sich gestuften Prozesses liegt freilich auch für Melanchthon in der durch den Heiligen Geist gewirkten Glaubensgewissheit, der fiducia, aber diese beinhaltet immer auch schon eine Kenntnis der historischen und dogmatischen Lehrgehalte sowie deren willentliche Akzeptanz. Notitia, assensus und fiducia

Melanchthons inhaltliche Bestimmung des Glaubensbegriffs

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I. Glaube

Johann Gerhard: Barmherzigkeit und Glaube

beschreiben also die inneren Aufbaumomente des Glaubens als einem durch die Wortverkündigung vermittelten Geschehen. In der altprotestantischen Dogmatik des 16. und 17. Jahrhunderts wurde Melanchthons Verständnis des Glaubens als eines in sich gestuften Prozesses, der die Momente der Kenntnis, der Zustimmung und des Vertrauens umfasst, aufgenommen und zunehmend mit den begrifflichen Mitteln der aristotelischen Ursachenlehren ausgeformt. Die wichtigste und umfassendste Bestimmung des Glaubens in den Lutherischen Bekenntnisschriften findet sich in Artikel 20 der Confessio Augustana und sie ist überschrieben mit Vom Glauben und guten Werken. Hier heißt es: „Dieweil nu die Lehre vom Glauben, die das Hauptstuck ist in christlichem Wesen, so lange Zeit, wie man bekennen muß, nicht getrieben worden, sondern allein Werklehre an allen Orten gepredigt, ist davon durch die Unseren solcher Unterricht geschehen: Erstlich, daß uns unser Werk nicht mugen mit Gott versuhnen und Gnad erwerben, sondern solchs geschieht allein durch den Glauben, so man glaubt, daß uns um Christus willen die Sunde vergeben werden, welcher allein der Mittler ist, den Vater zu versuhnen. Wer nun solchs vermeint durch Werk auszurichten und Gnad zu verdienen, der verachtet Christum und suchet ein eigen Weg zu Gott wider das Evangelium. […] Es geschieht auch Unterricht, daß man hie nicht von solchem Glauben redet, den auch die Teufel und Gottlosen haben, die auch die Historien glauben, daß Christus gelitten hab und auferstanden sei von Toten, sonder man redet von wahrem Glauben, der da glaubet, daß wir durch Christum Gnad und Vergebung der Sunde erlangen“ ([1], S. 76 f. u. 79). Der wahre Glaube ist das Christus ergreifende Vertrauen und nicht schon die Kenntnis der Geschichte Jesu Christi. Eine bloße Kenntnis der evangelischen Geschichte ist auch den Teufeln und den Gottlosen möglich. Zwar tritt damit in der lehrmäßigen Bestimmung des Glaubens in der Confessio Augustana durch Melanchthon die Kenntnisnahme als nicht ausreichend neben den Glauben, aber in der weiteren lehrmäßigen Ausgestaltung des Glaubensbegriffs in den altprotestantischen Dogmatiken bilden Kenntnisnahme und Zustimmung zusammen mit dem Vertrauen dessen konstitutive Bestandteile. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts definierte der Jenenser Theologe Johann Gerhard (1582–1637) in seinem 1613 erschienenen dritten Band der Loci theologici den Glaubensbegriff als ein solches vertrauensvolles Ergreifen der Barmherzigkeit Gottes, welches die Kenntnis des Evangeliums sowie die menschliche Zustimmung zu den Inhalten des Glaubens einschließt. Glaube, so Gerhard, sei „das vertrauensvolle Ergreifen der göttlichen Gnade oder der Barmherzigkeit durch Christus den Erlöser in der evangelischen Verheißung aus der durch den Heiligen Geist erkannten Wahrheit des göttlichen Wortes zum ewigen Leben, und umfaßt deshalb Kenntnisnahme, Zustimmung und Vertrauen“ ([14], Bd. 3, S. 350. Zit. nach [125], S. 362). Durch die von den altprotestantischen Dogmatikern vorgenommene Auffächerung des Glaubens in seine inneren Aufbauelemente notitia, assensus und fiducia werden freilich auch Aspekte des mittelalterlich-scholastischen Glaubensbegriffs, wie die fides informis (ungeformter Glaube) und die fides explicita (ausgefalteter Glaube), die von Martin Luther strikt abgelehnt wurden, wieder partiell rehabilitiert. Der Glaube wird von den Dogmatiken der altprotestantischen Orthodoxie

2. Glaubensbegriff in der altprotestantischen Theologie

als das Mittel oder die instrumentelle Ursache der Rechtfertigung verstanden und die Rechtfertigung als die Wirkung des Glaubens. „Wie Christus das Werk der Erlösung vollbracht hat, so ist es der heil. Geist, welcher uns das Mittel darreicht, durch welches wir uns dieselbe aneignen können. Das Mittel ist der Glaube, die Wirkung des Glaubens ist die Rechtfertigung“ ([37], S. 296). Der systematische Ort im Aufriss des dogmatischen Lehrsystems, an dem von den altprotestantischen Theologen der Glaubensbegriff in seiner inneren Struktur entfaltet wird, ist der ordo salutis (Heilsordnung). Er steht seit dem Wittenberger Theologen Johann Andreas Quenstedt (1617–1688) unter der Überschrift De gratia spiritus s. applicatrice und umfasst neben der Erörterung des Glaubensbegriffs sowie der Rechtfertigung eine Beschreibung der inneren Vorgänge, durch die sich die Rechtfertigung beim einzelnen Menschen aufbaut ([37], S. 294–365). Bei diesem Prozess der inneren Umwandlung des Menschen durch die von dem Heiligen Geist gewirkte Rechtfertigung unterscheiden die altprotestantischen Theologen: 1. vocatio (Berufung), 2. illuminatio (Erleuchtung), 3. regeneratio et conversio (Wiedergeburt und Bekehrung), 4. unio mystica (mystische Vereinigung) und 5. renovatio (das neue Leben). In den Erläuterungen des Glaubensbegriffs in der Theologie des alten Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts treten die inhaltliche und lehrmäßige Bestimmtheit des Glaubensinhalts stärker in den Vordergrund. Die in der Bibel niedergelegten und tradierten historischen und kognitiven Offenbarungsgehalte, die fides quae creditur (der Glaube, der geglaubt wird), stellen die für das ewige Heil des Menschen notwendigen übernatürlichen Offenbarungswahrheiten dar, welche dem in die Sünde verstrickten Menschen vorgegeben und von ihm durch einen willentlichen Akt des Glaubens (fides qua creditur) anzueignen sind. Das in den Lehrsystemen der altprotestantischen Theologie ausgearbeitete und im ordo salutis systematisierte Glaubensverständnis betont stärker, als dies bei Luther der Fall war, die inhaltlichen Bestimmungen des Glaubens. Die individuelle Aneignung wird somit als Aneignung einer vorgängigen objektiven Wahrheit verstanden. Dadurch tritt aber tendenziell der Gedanke des Werks in der Bestimmung des Glaubensbegriffs in den Vordergrund. Aus dem Glauben wird das intellektuelle Werk des Für-Wahr-Haltens von vorgegebenen religiösen Wahrheiten.

3. Glaube als reflektiertes Endlichkeitsbewusstsein Das Grundproblem des evangelischen Glaubensverständnisses liegt darin, die individuelle Aneignung der Wahrheit so zu beschreiben, dass sie nicht als eine Leistung des Menschen erscheint, die er zu erbringen hätte. Möglich ist dies nur so, dass der Glaube als unableitbares Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen und die Inhalte des Glaubens als Beschreibungen dieses Geschehens verstanden werden. Ein solches Verständnis des Glaubens knüpft an grundlegende Aspekte des reformatorischen Glaubensverständnisses an, wie sie oben erörtert wurden. Im Kern zielt der von Martin Luther ausgearbeitete Glaubensbegriff auf ein Verständnis des religiösen Glaubens als einer grundlegenden Weise menschlichen Sich-Verstehens. Das in der

Johann Andreas Quenstedt

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I. Glaube

Moderne in das Zentrum der religiösen Reflexion rückende individuelle Subjekt und die Betonung seines Erfahrungsbezugs darf durchaus als eine Konsequenz des von Luther ausgeführten Glaubensverständnisses gelten.

a) Glaube als Akt der Person Die theologische Lehrtradition des Protestantismus hat den Glauben als einen in sich strukturierten Prozess verstanden, der sich aus den drei Momenten notitia, assensus und fiducia aufbaut. Zwar zielt der Glaube auf die Gewissheit des Einzelnen, aber Gewissheitserfahrungen sind stets begeleitet von einem inhaltlich bestimmten Selbstverständnis. Der Glaube des Einzelnen artikuliert sich immer in einem Selbstbild, welches dieser von sich hat. Die von Melanchthon in die protestantische Theologie eingeführte Aufgliederung des Glaubens in die drei Momente notitia, assensus und fiducia ließ in der Neuzeit die Frage nach dem anthropologischen Ort des Glaubens aufkommen. Der religiöse Glaube ist mit inhaltlichen Aussagen und Überzeugungen verbunden. Ein reiner Fiduzialglaube ohne Inhalt, also ein reines ,dass‘ der Gewissheit, ist nicht möglich. Der Glaube artikuliert sich stets in einem bestimmten Bild von Gott, von der Welt und von sich selbst. Die theologische Lehrtradition des Protestantismus hatte dieses mit dem Glauben verbundene inhaltliche Moment seit Melanchthon in der Bestimmung der Kenntnisnahme, der notitia, in die Bestimmung des Glaubensbegriffs aufgenommen. Allerdings wäre es ein verhängnisvolles Missverständnis, den Kern des Glaubensverständnisses in einem theoretischen Urteil oder in einem erkennenden Akt zu erblicken. Als ein erkennender Akt würde sich der Glaube auf bestimmte Gegenstände, seien diese nun empirischer oder überempirischer Art, richten und der spezifische Akt des Glaubens würde darin bestehen, dass er diese Gegenstände für wahr hält. In einem solchen Verständnis des Glaubens als einem Für-Wahr-Halten etwa der Existenz Gottes oder der Auferstehung Jesu würde jedoch der Glaube als eine Art Wissen oder ein theoretisches Urteil aufgefasst werden. Der Glaube wäre dann ein Werk, wenn auch das frömmste, das der Mensch zu erbringen hätte. Innerhalb der protestantischen Tradition wurde der Glaube häufig in ethischen Kontexten bestimmt. Bereits Melanchthon hatte aufgrund seiner Affektenlehre dem Willen eine besondere Bedeutung für das Glaubensverständnis zuerkannt, insofern der Glaube im Sinne der fiducia nicht ohne eine individuelle willentliche Zustimmung (assensus) zur Kenntnis (notitia) der Geschichte Jesu Christi verstanden werden kann. Die dem Individuum vorgegebene Offenbarungswahrheit muss von diesem willentlich angeeignet und anerkannt werden. Wenn aber der Glaube als der Wille verstanden wird, die Glaubensinhalte für wahr zu halten, dann ist nicht mehr zu verstehen, was diesen von einem Werk unterscheiden soll. Der Glaube kann aber auch dem ästhetischen Vermögen des Menschen zugeordnet werden. Damit wird das von der protestantischen Tradition betonte Innerlichkeitsmoment des religiösen Glaubens in dessen Bestimmung aufgenommen. Der religiöse Glaube wäre dann weder als ein kognitiver noch als ein voluntativer Akt zu verstehen, sondern als ein Ausdruck von Emotionen und Gefühlen. Nun ist gar nicht zu bestreiten, dass der Glaube

3. Glaube als reflektiertes Endlichkeitsbewusstsein

seinen Ort in der Innerlichkeit des Menschen hat und mit starken Emotionen und Gefühlen verbunden sein kann. Allerdings ist der Glaube deshalb noch lange keine Emotion oder ein Ausdruck von Gefühlen. Diese in der neueren Theologiegeschichte vorgenommenen Zuordnungen des Glaubens zu einem spezifischen Bewusstseinsvermögen, sei es des theoretischen, des praktischen oder des ästhetischen, sind freilich mit dem Einwand konfrontiert, dass dadurch ein Aspekt zum dominanten Bestimmungsmerkmal des Glaubens erklärt wird. Selbstverständlich ist gar nicht zu bestreiten, dass in dem aktualen Glauben sowohl gegenstandsbezogene als auch praktische sowie affektive Momente miteinander verbunden vorkommen. Allerdings folgt daraus noch nicht, dass der religiöse Glaube einem der Bewusstseinsvermögen zugeordnet werden kann. Weiterführend sind daher solche Bestimmungen des Glaubens, welche diesen als einen Akt der ganzen Person verstehen. Darauf zielte bereits Luthers Bestimmung, dass es der Glaube sei, der die Person macht. Dieser Gedanke Luthers wurde unter den veränderten Erkenntnisbedingungen der Moderne von zahlreichen Theologen aufgenommen und lediglich unterschiedlich akzentuiert. So versteht Paul Tillich den Glauben in seinem Kern weder als einen theoretischen, noch als einen praktischen oder ästhetischen Akt, sondern als einen Akt der ganzen Person. „Glaube als Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht, ist ein Akt der ganzen Person. Er vollzieht sich in der Mitte des personalen Lebens, und alle Elemente des persönlichen Seins nehmen daran teil“ ([129], S. 114). Tillich ordnet mit seiner Formel von dem Glauben als einem Akt der ganzen Person diesen nicht einer speziellen Bewusstseinsfunktion zu, sondern dem Selbstverhältnis des Bewusstseins als solchem. Dieses wird bei Tillich zum Bezugspunkt des religiösen Glaubens. Karl Barth, dessen Bestimmung des Glaubens auf den ersten Blick himmelweit von der Bestimmung Tillichs unterschieden ist, verfährt im Grunde genommen nicht anders. Auch Barth löst den mit der göttlichen Offenbarung verknüpften Glauben von den einzelnen Bewusstseinsfunktionen ab und versteht ihn als ein Geschehen, welches auf das ganze Bewusstsein des Menschen bezogen ist. Allerdings, und dies macht den Unterschied zur Bestimmung des Glaubens bei Paul Tillich aus, beschreibt Barth den religiösen Akt mit religiösen Symbolen. Rudolf Bultmann schließlich hat dieser Fassung des Glaubens dadurch Ausdruck verliehen, dass er ihn als ein neues, tieferes Selbstverständnis versteht, welches sich unableitbar beim Menschen in seinem Lebensvollzug einstellt. „Das heißt aber: der Charakter des mir begegnenden Wortes muß der sein, daß er mir mein Selbstverständnis erschließt bzw. anbietet, daß er mir mich selbst verstehen lehrt, meinen Augenblick verstehen lehrt“ ([88], S. 158). Auch in den dogmatischen Bestimmungen des Glaubensbegriffs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird der Glaube als ein Akt der ganzen Person verstanden. Unterschiedlich akzentuiert werden dabei freilich die Näherbestimmungen des Glaubensvollzugs. Sei es als ein „Sichgründen der Existenz außerhalb ihrer selbst“ ([116], S. 232) durch das Wort Gottes, wie bei Gerhard Ebeling oder unter stärkerer Berücksichtigung des Erfahrungsaspekts bei Wilfried Härle und Eilert Herms als kontingente Erschlossenheit eines „daseinsbestimmende[n] Vertrauens“ ([50], S. 58), mit dem dann ein bestimmtes Wirklichkeitsverständnis verbunden sein soll.

Glaube auf die ganze Person bezogen

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I. Glaube

Die Lösung des Grundproblems des reformatorischen Glaubensverständnisses, welches den Glauben als individuelle Aneignung der Wahrheit versteht, kann nur so geschehen, dass der Glaube als ein Akt der ganzen Person verstanden wird. Nur auf diese Weise kommt der Glaube als ein unableitbares Geschehen in den Blick. Als das unableitbare Geschehen des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen kann der Glaube auch nicht mehr an bestimmte Bewusstseinsvermögen (religiöses Apriori) zurückgebunden werden. Glaube ist ein sich unableitbar beim einzelnen Menschen einstellendes neues und tieferes Verstehen seiner selbst, und in diesem neuen Selbstverständnis des Menschen liegen immer schon gegenstands-, handlungsbezogene und affektive Bestandteile ineinander. Wenn sich nämlich bei uns ein neues und tieferes Verständnis unserer selbst aufbaut, dann ist dies selbstverständlich immer von einem Bild unserer selbst begleitet, in dem sich unser Selbstverständnis Ausdruck verschafft und handlungsleitend wird. Und schließlich beinhaltet eine neue Deutung unserer selbst immer auch affektive Bestandteile. In diesem Sinne ist der Glaube ein Akt der ganzen Person, in dem eine solche Neudeutung der Person und seines Lebens in der Welt sich einstellt, welche das eigene Leben tragfähig zu orientieren vermag. Die Trennung von Glaube und Glaubensinhalten muss also aufgelöst werden. Die Inhalte des Glaubens sind Selbstbeschreibungen des Glaubensgeschehens und entstehen erst in dem Geschehen des Sich-Verstehens als dessen Beschreibung.

b) Glaube als Gottesverhältnis Der Glaube ist das Geschehen, in dem sich das menschliche Leben im Gottesverhältnis verständlich wird. Dieses Geschehen des Sich-Selbst-Neu-Verstehens ist freilich immer schon auf ein konkret bestimmtes Selbstverständnis des Menschen bezogen. Wir verstehen uns immer schon auf irgendeine Weise in unserem Leben und haben ein Bild von uns selbst und der Welt, das uns in unserem Handeln leitet. Der Glaube ist unableitbar in seinem Entstehen. Dass sich mir ein neues und tieferes Verständnis meiner selbst einstellt, kann ebenso wenig hervorgebracht werden wie eine Sinnerfahrung. Es stellt sich unableitbar ein. Dies bedeutet freilich nicht, dass in diesem Geschehen alle Aktivität des Menschen auf eine grundlegende Passivität zusammenschrumpft, wie in der gegenwärtigen Diskussion des Glaubensbegriffs gern hervorgehoben wird. Gegenüber derartigen Beschreibungen des Glaubens als eines ausschließlich passiven Konstitutionsgeschehens hatte bereits Albrecht Ritschl geltend gemacht, dass die „Anwendung passiver Prädicate auf den menschlichen Geist […] immer eine ungenaue Redeweise“ sei ([33], Bd. 3, S. 22). Auch die Bestimmung des Glaubens als eines passiven Konstitutionsgeschehens ist eine Deutung, die von der Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins Gebrauch macht. Vor allem löst diese Konstruktion das Grundproblem des protestantischen Glaubensverständnisses nicht, die individuelle Aneignung des Glaubens so zu beschreiben, dass sie nicht als ein Werk des Menschen erscheint. Die Unterscheidung von Glaubensgegenstand und Glaube sowie die Überordnung des Glaubensgegenstands fassen den Akt des Glaubens tendenziell als ein hinzukommendes Moment. Die bewusstseinstheoretische Verfassung des Glaubens ist deshalb angemessener

3. Glaube als reflektiertes Endlichkeitsbewusstsein

beschrieben, wenn er als ein unableitbares Sich-Verständlich-Werden des Menschen in seinem Leben bestimmt wird. Wenn der Glaube als ein solches Geschehen verstanden wird, das unhintergehbar an den aktualen Lebensvollzug eines Menschen gebunden ist, dann gilt auch, dass die Inhalte des Glaubens nicht als solche vorliegen, sondern erst im Akt des Glaubens als Glaubensinhalte entstehen. Aufgrund der Vollzugsgebundenheit des Glaubens und seiner Ausdrucksformen sind die Inhalte des Glaubens keine irgendwie vorfindlichen Größen, auf die sich der Glaube richtet, um durch diesen Bezug zum Glauben zu werden. Vielmehr ist zu sagen, dass Glaube und Gott gleichursprünglich sind, miteinander und zugleich entstehen. Dies war ja bereits der Gedanke Luthers, wenn er bei der Erläuterung des ersten Artikels des Glaubensbekenntnisses im Großen Katechismus darauf hinweist, dass Glaube und Gott zusammengehören. Glaube und Gott sind in dem Sinne gleichursprünglich, als sich das Geschehen des Glaubens im religiösen Gottesgedanken seinen Ausdruck verschafft und sich dadurch über sich selbst aufklärt. Im Gottesgedanken als dem Gegenstand des Glaubens beschreibt der Glaube sich selbst und die Unableitbarkeit seines Entstehens. Deshalb ist der Glaube Gottesverhältnis. Dass sich der Glaube im religiösen Gottesgedanken nicht nur sich selbst ausspricht, sondern sich auch über sich selbst aufklärt, hatte auf der Grundlage seiner Religionstheorie bereits Friedrich Schleiermacher in seiner Glaubenslehre hervorgehoben. Die von Schleiermacher als ein Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit im Paragraphen 4 seiner Glaubenslehre bestimmte Frömmigkeit werde nämlich nur dadurch ein „klares Selbstbewußtsein, indem zugleich diese Vorstellung wird“ ([34], § 4. 4, T. 1, S. 30). In der Gottesvorstellung spricht sich die Frömmigkeit nicht nur aus, sondern als Gottesbewusstsein wird die Frömmigkeit auch erst ein klares Selbstbewusstsein. Mit dieser Zuordnung von Glaube und Gottesgedanken nimmt Schleiermacher freilich auf dem Hintergrund der durch die Erkenntniskritik Immanuel Kants neu geschaffenen modernen Problemlage eine grundlegende Einsicht auf, wie sie bereits von Augustin und Luther ausgesprochen wurde. Sowohl von Augustin als auch von Luther wurde die Gotteserkenntnis des Glaubens mit der Selbsterkenntnis des Menschen verknüpft ([106], I/1). Glaube ist das Geschehen, in dem sich das menschliche Leben im Gottesverhältnis verständlich wird. Er ist das unableitbare Sich-Einstellen einer neuen, tragfähigen Deutung des eigenen Lebens. Die Transzendenz und Unbedingtheit Gottes symbolisiert die Unableitbarkeit menschlichen Sich-Verständlich-Werdens. Die Fremdheit und Andersheit Gottes ist der Ausdruck der dem Subjekt entzogenen Konstitution seiner selbst. Im Geschehen des Glaubens und seiner Selbstdarstellung im Gottesbegriff wird das Selbst erst es selbst, indem es die ihm entzogene Konstitution seiner selbst in sein eigenes Selbstverständnis aufnimmt. Allein aus diesem Grund wird der Glaube in der protestantischen Tradition des Christentums als das Geschehen verstanden, in dem sich der Mensch als ein endliches Wesen verständlich wird. Glaube ist also ein reflektiertes Endlichkeitsbewusstsein. Im unterscheidenden Bezug auf Gott erfasst sich der Mensch sowohl in der Unbedingtheit als auch Endlichkeit seiner Selbstbestimmung und wird sich auf diese Weise in seiner eigenen inneren Verfassung verständlich. Als reflektiertes Endlichkeitsbewusstsein ist er eine Weise der lebensweltlichen Aufklärung des Men-

Gottesverhältnis und Glaube

Selbstverhältnis im Glauben

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I. Glaube

schen über die Kontingenz und Faktizität seines eigenen Lebens in der Welt. Durch die Aneignung der Endlichkeit und Kontingenz seiner selbst wird der Mensch erst er selbst und kommt so zu seiner Wahrheit. In dieser mit dem Glauben als einem Sich-Verstehen des Menschen verbundenen Endlichkeitsreflexion liegt das beschlossen, was man die Vernunft des Glaubens genannt hat. Es liegt auf der Hand, dass die Vernunft des Glaubens wenig mit der Frage zu tun haben kann, wie die als übernatürliche Gegenstände verstandenen Inhalte des Glaubens mit der theoretischen Vernunft zusammenstimmen können.

4. Die dogmatischen Inhalte als symbolischer Ausdruck religiöser Gewissheit a) Gewissheit und Selbstbild Der Glaube als ein unableitbar sich einstellendes neues Selbstverständnis des Menschen im Gottesverhältnis ist immer mit einem neuen Bild des Menschen von sich selbst und seiner Welt verbunden. Gewissheitserfahrungen müssen gedeutet werden und sie finden ihren Ausdruck in einer neuen Deutung des Selbst und der Welt. In diesen Deutungen, in denen der Mensch grundlegende und lebenstragende Gewissheit für sich repräsentiert, klärt sich die religiöse Gewissheit über sich selbst und ihre Entstehung auf. Als Ausdruck des Sich-Verstehens des Menschen sind diese Lebensdeutungen die Inhalte des Glaubens. Sie liegen als Glaubensinhalte nicht vor, sondern werden erst im unableitbaren Entstehen des Glaubens zum Ausdruck des Glaubens und seines Sich-Verstehens. Auf diese Weise verständigt der Glaube sich durch seine inhaltlichen Ausdrucksformen über seine eigene unableitbare Entstehung und seine innere Struktur. Glaubensinhalte sind mit anderen Worten Formen der Selbstbeschreibung des Glaubens als einer neuen Lebensdeutung des Menschen. Ihre Funktion liegt darin, dass sich durch sie der Mensch als deutendes Wesen aufklärt. Die theologische Lehrtradition hatte diese mit dem Glaubensvollzug verbundene Dimension seiner inhaltlichen Bestimmung seit Augustin unter dem Titel fides quae creditur (der Glaube, der geglaubt wird) thematisiert. Dabei verstand sie bis zur Aufklärung die Glaubensinhalte, wie sie in der Bibel niedergelegt und in den Bekenntnissen zusammengefasst sind, als gleichsam unveränderliche ewige göttliche Wahrheiten, die vom Menschen fürwahr zu halten seien. Ein solches intellektualistisches Verständnis der Inhalte des christlichen Glaubens greift indes viel zu kurz und verstellt deren eigentliche Pointe. Denn als Selbstbeschreibungen und Ausdruck religiöser Gewissheit sind die Inhalte des Glaubens selbstverständlich menschliche Deutungen. Gewissheitserfahrungen können sich nur in selbst geschaffenen Bildern Ausdruck geben und sind ohne solche Bilder gar nicht möglich. Solche Ausdrucksformen des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen verstehe ich im Anschluss an Paul Tillich als religiöse Symbole. Für Tillich ist das Symbol „die Sprache der Religion“. „Es ist die einzige Sprache, in der sich die Religion direkt ausdrücken kann“ ([128], S. 237). Tillich ist freilich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht der einzige Theoretiker, der den Symbol-

4. Symbolischer Ausdruck religiöser Gewissheit

begriff aufgenommen und in die kulturphilosophische Debatte eingebracht hatte. Eine nicht minder anspruchsvolle Theorie des Symbols verdanken wir dem neukantianischen Philosophen Ernst Cassirer (1874–1945). Cassirer versteht alle Kulturgebiete von der Sprache über Mythos und Religion bis hin zu Wissenschaft und Technik als symbolische Formen. Solche symbolischen Formen sind Cassirer zufolge Leistungen des menschlichen Geistes, in denen er Sinn und Sinnlichkeit synthetisiert. Unter einer symbolischen Form sei „jede Energie des Geistes“ zu verstehen, „durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird“ ([109], S. 175). Symbole sind für Cassirer keine Abbilder der Wirklichkeit, sondern vom Menschen selbst geschaffene Bilder. Diese Synthesisleistung ist für den Menschen unhintergehbar. Wir leben und nehmen immer schon bedeutungsimprägniert wahr und können die Dimension von Sinn nicht hintergehen, sondern nur interpretieren und deuten. Solche Synthesen nennt Cassirer Symbole und diese Welt der kulturellen Symbole ist gleichsam unsere Lebenswelt. Verknüpfungen von Sinn und Sinnlichkeit stehen nun immer bereits in einem Bedeutungshorizont, durch den sie ihre symbolische Prägnanz erhalten ([110], S. 235). Ob ein konkretes Zeichen als ein religiöses Symbol oder als ein mathematisches oder wie auch sonst verstanden wird, liegt nämlich nicht schon in dem Zeichen als solchem beschlossen. Allein an dem Horizont, in dem ein Zeichen steht und in dem es von einem Menschen verstanden und interpretiert wird, entscheidet sich die spezifische Bedeutung des Zeichens. Erst der Gebrauch macht das Zeichen zu einem spezifischen Symbol und nicht schon dessen Substantialität. Die allgemeine Struktur des Symbols oder des Zeichens ist mindestens dreistellig, wie Charles Sanders Peirce (1839–1914), der Begründer der modernen Semiotik, herausgestellt hat. Das Verstehen eines Symbols ist also bereits ein in sich strukturierter und gestufter Prozess, für den die drei Aspekte der Bedeutung, des sinnlichen Mediums sowie der deutenden Interpretation konstitutiv sind. Da Symbole nur durch weitere Interpretationen zu verstehen sind, ist der kulturelle Interpretationsprozess von Symbolen unabschließbar.

b) Religiöse Symbole Symbolische Formen, so die grundlegende Einsicht Ernst Cassirers, sind vom menschlichen Geist geschaffene Bilder, in denen bereits eine Synthesis von Sinnlichkeit und Sinn vorliegt. Diese Struktur gilt auch für die religiösen Symbole. Auch diese sind vom Menschen geschaffene Bilder, die erst durch ihre Deutung zu religiösen Symbolen werden. Der religiöse Gehalt liegt also nicht als gleichsam substantielle Größe in dem sinnlichen Zeichen. Es darf als eine der großen Leistungen des jungen Martin Luthers verstanden werden, in Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Sakramentsverständnis, diesen funktionalen Charakter der religiösen Zeichen für die Selbstdeutung des Glaubens an dem Sakramentsbegriff herausgearbeitet zu haben. In seinem Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams von 1519 bestimmte Luther den Begriff des Sakraments als ein in sich gestuftes Geschehen. „Das heilige Sakrament des Altars und des heiligen wahren Leibes Christi hat auch drei Teile, die man wissen muß. Das erste ist

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I. Glaube

Sakrament und Symbol

das Sakrament oder Zeichen, das zweite die Bedeutung dieses Sakraments, das dritte der Glaube; wie denn in einem jeden Sakrament diese drei Teile sein müssen. Das Sakrament muß äußerlich und sichtbar sein, in einer leiblichen Form oder Gestalt. Die Bedeutung muß innerlich und geistlich sein, in dem Geist des Menschen. Der Glaube muß die beiden zusammen zu Nutzen und Gebrauch bringen“ ([26], Bd. 2, S. 53). Luther versteht das Sakrament nicht wie die mittelalterliche Lehrtradition als eine gleichsam objektiv vorliegende Substanz, sondern als ein in sich triadisch gestuftes Geschehen. Das Sakrament entsteht erst als ein Bestandteil des Geschehens des Glaubens, in dem der Mensch zugleich sich selbst und Gott versteht. Ohne den Glauben, dem das sinnliche Zeichen als Ausdruck dient, kann Luther zufolge nicht von einem Sakrament gesprochen werden. Unter Aufnahme von Motiven des Deutschen Idealismus sowie der Phänomenologie Edmund Husserls hat Paul Tillich nach dem Ersten Weltkrieg eine elaborierte Theorie des religiösen Symbols ausgearbeitet und zur Grundlage seiner Theologie und Kulturphilosophie gemacht ([112]). Auch für Tillich haben die religiösen Symbole dieselbe Struktur wie die kulturellen Symbole. Im Unterschied zu den kulturellen Symbolen beziehen sich für Tillich die religiösen Symbole nicht auf eine Gegenstandssphäre, sondern auf die symbolschaffende Tätigkeit des menschlichen Geistes. „Die religiösen Symbole sind vor den übrigen dadurch ausgezeichnet, daß sie Veranschaulichung dessen sind, was die Sphäre der Anschauung unbedingt übersteigt, des im religiösen Akt Letztgemeinten, des Unbedingt-Transzendenten“ ([127], S. 184). Die religiösen Symbole werden von Tillich als solche Symbole verstanden, die die Funktion haben, die Erfassung und Durchsichtigkeit des kulturellen Deutungsund Zeichenprozesses zu beschreiben. Sie dienen nicht der Beschreibung einer Gegenstandssphäre, sei diese nun historisch oder übernatürlich, sondern der Selbstbeschreibung und Selbstverständigung des sich in seiner symbolschaffenden und deutenden Tätigkeit verständlich werdenden Menschen. Glaube ist die Einsicht und das Sich-Verständlich-Werden des Menschen in seiner deutenden und symbolschaffenden Tätigkeit und dieses Verstehen bezeichnet sich selbst in spezifischen Ausdrucksformen. Die inhaltlichen Bestimmungen des christlichen Glaubens sind keine überzeitlichen Wahrheiten und auch keine Beschreibungen einer Gegenstandssphäre. Vielmehr fungieren die Glaubensinhalte (= fides quae creditur) als Selbstbeschreibungen des Glaubens als dem Geschehen des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen. Als Selbstbeschreibungen des Glaubens entstehen sie erst in und mit dem Geschehen des Glaubens und werden von diesem als Voraussetzungen des eigenen Glaubens angeeignet. Nur auf diese Weise kann das reformatorische Glaubensverständnis als individuelle Aneignung der Wahrheit so verstanden werden, dass die unumgängliche individuelle Aneignung nicht als Werk aufgefasst wird.

II. Offenbarung Der Offenbarungsbegriff wird zwar bereits von den Theologen des Altprotestantismus in den Prolegomena der Dogmatik als Grundlage der materialen

4. Symbolischer Ausdruck religiöser Gewissheit

Dogmatik behandelt, aber seine eigentliche Bedeutung erlangte der Offenbarungsbegriff erst in der Moderne, und zwar infolge der Krise des Schriftprinzips der alten Dogmatik. In der Theologie des 20. Jahrhunderts schließlich, auf dem Hintergrund der „Krisis des Historismus“ (Ernst Troeltsch), avancierte der Offenbarungsbegriff bis in die 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts zu dem theologischen Grundbegriff schlechthin, in dessen Klärung das eigentliche Thema der Theologie erblickt wurde. Während sich in den biblischen Schriften kein einheitliches Konzept von Offenbarung findet und auch die patristische Theologie nicht sonderlich an dem Begriff interessiert war, kommt es zu ersten Näherbestimmungen des Offenbarungsbegriffs im Mittelalter und dann vor allem in der Moderne ([133]; [57], Bd. 1, S. 234–251). Auch die inhaltliche Bestimmung des Offenbarungsbegriffs als Selbstoffenbarung Gottes ist erst jüngeren Datums. Wir verdanken sie dem Deutschen Idealismus. Wir werden zunächst die klassischen Lehrbestimmungen des Offenbarungsbegriffs bei Martin Luther und im Altprotestantismus erörtern und in einem zweiten Abschnitt unter der Überschrift Offenbarung und Religion Problemaspekte des Offenbarungsbegriffs in der gegenwärtigen Debatte diskutieren.

1. Martin Luthers dialektisches Offenbarungsverständnis In der Theologie Martin Luthers spielt der Offenbarungsbegriff keine sonderlich dominante Rolle. Jedenfalls wird man nicht sagen können, dass der Offenbarungsbegriff einen Grundbegriff der Theologie des Reformators darstellt. Allerdings hat der junge Luther auf dem Hintergrund seines neuen Bußverständnisses mit seiner theologia crucis (Theologie des Kreuzes) eine Konzeption von Gotteserkenntnis ausgearbeitet, die das methodische Fundament von dessen gesamter Theologie bildet. In der zweiten Psalmenvorlesung, den Operationes in Psalmos (1518–22), hat Luther sein aus dem Bußverständnis erwachsenes Verständnis des göttlichen Handelns auf die Formel „Crux sola est nostra theologia“ (Das Kreuz allein ist unsere Theologie) gebracht ([22], Bd. 5, S. 176; vgl. auch S. 217). Die theologia crucis darf als prägnanteste Fassung von Luthers Verständnis des göttlichen Offenbarungshandelns verstanden werden. Sie verknüpft auf der Grundlage seines Bußverständnisses soteriologische, christologische und theologische Aspekte zu einem in sich geschlossenen Gesamtbild. Was beinhaltet nun Luthers theologia crucis? In seiner Hebräerbriefvorlesung von 1517/18 hat Luther die unterschiedlichen Aspekte, aus denen sich sein Verständnis der theologia crucis aufbaut, in seiner Glosse zu Hebr 12, 11 („Alle Züchtigung aber, wenn sie da ist, dünkt uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein, aber hernach wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübt sind.“) zusammengefasst. Er schreibt hier: „Dies sind zwei Gegensätze, die in der Schrift häufig begegnen: Gericht und Gerechtigkeit, Zorn und Gnade, Tod und Leben, Übel und Gut. Und ,das sind die großen Taten des Herrn‘: ,Ein ihm fremdes Werk ist es, auf dass er sein Werk tue‘. ,Denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach‘.

Luthers Bußverständnis

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II. Offenbarung

Wundersam nämlich macht er das Gewissen fröhlich, nach Ps 4: ,In der Angst tröstest du mich‘, d. h. schaffst du mir einen weiten Raum. Ist es doch die Eingießung der Gnade, nach Röm 5: ,Erfahrung bringt Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zu Schanden werden‘. Dies ist die Theologie des Kreuzes, oder wie der Apostel sagt: ,Das Wort vom Kreuz, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit‘; denn sie ist ganz und gar verborgen vor ihren Augen“ ([23], Bd. 5, S. 374). Luther erläutert sein Verständnis der theologia crucis durch eine Verschränkung von Bibelzitaten aus unterschiedlichen Kontexten. Man darf in diesem Verfahren, wie Ulrich Barth gezeigt hat, den eigentümlichen modus loquendi von Luthers Theologie erblicken. Luther hat nämlich „schon recht früh einen Typus systematischer Exegese entwickelt, bei der Bibelstellen sozusagen als Stellvertreter oder Repräsentanten bestimmter theologischer Gedanken fungieren, die im Verlauf des Auslegungsdiskurses dann wie Quasi-Merkmale zu einem übergeordneten Begriff synthetisiert werden und dessen theologische Struktur bilden“ ([134], S. 100). Es sind insbesondere vier Bibelzitate, aus denen sich die Bestimmung der theologia crucis ergibt. Zunächst spielt Luther mit der Zitation von Mt 26,41 auf den sünden- und bußtheologischen Rahmen der theologia crucis an. Die Nennung des paulinischen Worts vom Kreuz am Ende ist in diesem Kontext zu verstehen. Die zweite relevante Stelle stellt das Jesajazitat dar und die hier begegnende Unterscheidung von einem opus alienum (fremdes Werk) und einem opus suum (eigenes Werk). Sie bezieht sich auf die Eigentümlichkeit des göttlichen Handelns. Luther verknüpft nun jedoch den Aussagegehalt von 1. Kor 1,19 und Jes 28,26 mit Ps 4,2.4: „Erkennet doch, daß der Herr seine Heiligen wundersam führt.“ Diese Verschränkung der drei Schriftstellen begegnet schon in den Dictata super Psalterium von 1513 bis 1515. Gott handelt wundersam in seinen Heiligen. Und schließlich verknüpft Luther den bisher vorgestellten Aussagenkomplex mit Röm 5,4 f.: „Geduld [bringt] Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ Die eigentümliche Struktur von Luthers theologia crucis ergibt sich aus der von ihm vorgenommenen Verknüpfung dieser vier Bibelstellen. Durch die Verbindung des paulinischen Worts vom Kreuz 1. Kor 1,19 mit Ps 4,4 gewinnt Luther die Bestimmung, dass das göttliche Handeln am Menschen wundersam sei und folglich vom natürlichen Menschen nicht verstanden werden könne. Gott handelt, wie am Kreuz Christi sichtbar wird, unter dem Gegenteil verborgen. Damit verkehren sich allerdings im Lichte des Kreuzes Christi alle Dinge in ihr Gegenteil. Die Handlungen des Menschen mögen äußerlich gut erscheinen, sie sind jedoch innerlich schlecht und das Handeln Gottes mag äußerlich schlecht erscheinen, es ist jedoch innerlich gut. Was Luther unter diesem Gesichtspunkt in seiner theologia crucis und insbesondere in der Heidelberger Disputation vom April 1518 als Gegensatz von göttlichem und menschlichem Handeln ausgeführt hat, ist nichts anderes als sein neu gewonnenes Verständnis der Buße. Sowohl beim göttlichen als auch beim menschlichen Handeln sind eine innere und eine äußere Dimension zu unterscheiden, die einer Dialektik von Sein und Schein unterliegen (vgl. [134], S. 108–113).

1. Luthers dialektisches Offenbarungsverständnis

Fügt man in die bisher erläuterten Aufbaumomente der theologia crucis, wie sie sich aus der Verknüpfung von 1. Kor 1,19 und Ps 4,4 ergeben, das Zitat von Jes 28,21 ein, dann kommt die Dimension des göttlichen Handelns in den Blick. Gott handelt Luther zufolge stets unter dem Gegenteil verborgen, so dass das wundersame Handeln Gottes dem natürlichen Menschen nicht erkennbar ist, sondern nur dem Glaubenden. Diesen eigentümlichen Charakter des göttlichen Handelns versteht Luther als eine Folge der Verkehrtheit des Menschen. Jes 28,21 und die hier begegnende, von ihm freilich zugespitzte Unterscheidung eines fremden und eines eigenen Werks Gottes, versteht Luther als eine generelle Aussage über das göttliche Handeln. Gott vollzieht sein fremdes Werk, um sein eigenes auszuführen. Er demütigt den Menschen, um ihn zu erhöhen, er tötet, um lebendig zu machen. Damit ist das Handeln Gottes immer nur indirekt und unter dem Gegenteil verborgen möglich. „Fremd ist sein Werk, auf dass er sein Werk tue“ ([22], Bd. 3, S. 246). Das fremde Werk Gottes (opus alienum) zielt also auf sein eigentliches Werk (opus suum). Aber „zu diesem seinem eigentlichen Werk selbst kann er nicht gelangen, wenn er nicht sein fremdes hinzunimmt“ ([23], Bd. 5, S. 350; dazu: [134], S. 113–117). Diese innere Zielgerichtetheit des fremden auf das eigene Werk Gottes liegt jedoch nicht offen zutage. Die innere Einheit und Zielgerichtetheit der beiden Werke Gottes zum Ausdruck zu bringen, ist der Sinn der Zitation der in Röm 5,4 f. ausgesagten Hoffnungsdimension, die für Luther konstitutiv zu seinem Glaubensbegriff hinzugehört.

Erkenntnis durch Glaube

Durch die Verschränkung der angeführten vier Bibelstellen – Ps 4,4; 1. Kor 1,19; Jes 28,21 und Röm 5,4 –, welche die inneren Aufbaumomente der theologia crucis bilden, beschreibt Luther die innere Dialektik der Entstehung der mit dem Glauben verbundenen Gotteserkenntnis als eines neuen Sich-Verstehens des Menschen. Insofern darf gesagt werden, dass Luthers Offenbarungsverständnis eine Beschreibung des in sich gestuften Geschehens des Glaubens darstellt.

2. Das Offenbarungsverständnis in der Theologie des Altprotestantismus In den theologischen Dogmatiken des alten Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts kommt dem Offenbarungsbegriff noch nicht die weite Funktion zu, die er infolge der seit der Aufklärung virulenten Krise des Schriftprinzips in der Theologie des 20. Jahrhunderts erhält. Ihm obliegt zunächst die Funktion, das Schriftprinzip zu begründen. Die klassische evangelische Dogmatik will Schriftdogmatik sein. Aus diesem Grund steht seit dem 16. Jahrhundert im Zentrum der Erörterungen der Prolegomena zur Dogmatik die Lehre von der Heiligen Schrift. Für den Protestantismus fungiert die als Heilige Schrift verstandene Bibel als Prinzip der Theologie. Dass die Schrift seit dem 16. Jahrhundert in den Rang einer Prinzipienfunktion einrückte, stellt eine Konsequenz des aus der Übernahme der aristotelisch geprägten Schulmetaphysik sich verändernden Wissenschaftsverständnisses dar. Von der Hochorthodo-

Offenbarung als Begründung des Schriftprinzips

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II. Offenbarung

xie wird die Theologie wie eine Naturwissenschaft nach analytischer Methode konstruiert. Da nun jeder wissenschaftlich zu behandelnde Gegenstand in seiner Gegebenheit begründet werden muss, muss man die Bedingungen angeben, die ihn zu dem machen, was er ist. Die alten protestantischen Theologen nennen solche Bedingungen principia. Ihnen unterliegt der Gegenstand als principiatum. Prinzipien wiederum können unterschieden werden nach ihrem Sein und nach ihrer Erkenntnis. Hieraus resultiert die Unterscheidung von principium essendi (Seinsprinzip) und principium cognoscendi (Erkenntnisprinzip): 1. principium essendi der Theologie = Gott 2. principium cognoscendi der Theologie = die Heilige Schrift.

Mit der Bestimmung der Heiligen Schrift als Erkenntnisprinzip der Theologie möchte die klassische protestantische Dogmatik an Luther anschließen. Für Luther stellt allein die Heilige Schrift, und weder die Kirche noch die Tradition oder das kirchliche Lehramt, die letzte Entscheidungsinstanz über alle theologischen Aussagen dar. Eindringlich zur Geltung gebracht hat dies Luther in seiner symbolträchtigen Stellungnahme auf dem Reichstag zu Worms am 18. April 1521. „Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde – denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht; es steht fest, daß sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben –, so bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte überwunden. Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen“ ([26], Bd. 1, S. 269). Luther hatte die individuelle Heilsgewissheit, die mit dem Rechtfertigungsglauben verbunden ist, in das Zentrum der Theologie gestellt. Die hierin liegende ,subjektive‘ Sprengkraft war jedoch für Luther dadurch begrenzt und in Zaum gehalten, dass das im individuellen Glauben liegende Heil an die Heilige Schrift als allgemeingültige und quasi objektive Appellationsinstanz zurückgebunden war. Der Begründung dieser allgemeinen und objektiven Appellationsinstanz gilt der Offenbarungsbegriff, der in den Prolegomena der Dogmatik lehrmäßig ausgestaltet wurde. Da es in den Prolegomena der altprotestantischen Dogmatik in erster Linie um die Heilige Schrift als dem principium cognoscendi der Theologie geht, interessiert zunächst die Frage, wie dieses Prinzip zustande kommt. Die Antwort darauf lautet: durch die göttliche Offenbarung. Der Offenbarungsbegriff wird folglich im Zusammenhang und im Interesse an der Begründung des Schriftprinzips thematisiert. Wir müssen zunächst die von den altprotestantischen Theologen vorgenommene begriffliche Bestimmung des Offenbarungsbegriffs erörtern. Er wird durch Unterscheidungen gewonnen, welche dem klassischen Schema der Begriffsbestimmung von Aristoteles folgt. Demnach ist ein Begriff dann bestimmt, wenn man das genus proximum und die differentia specifica angegeben hat. Definiert wird er also durch die Angabe von Gattung und artspezifischem Unterschied. Dementsprechend wird der Begriff der Offenbarung unterschieden in eine revelatio generalis s. naturalis (allgemeine oder natür-

2. Offenbarungsverständnis des Altprotestantismus

liche Offenbarung) und eine revelatio specialis et supernaturalis (spezielle und übernatürliche Offenbarung). Diese Unterscheidung nahmen die Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts aus der theologischen Lehrtradition auf. Das Motiv für diese Unterscheidung des Offenbarungsbegriffs in einen engeren und einen weiteren Offenbarungsbegriff kann man sich daran klar machen, dass der Überzeugung dieser Theologen zufolge in Christus zwar die letztgültige Heilsoffenbarung Gottes vorliegt, aber Gott sich doch auch schon vor dieser speziellen Heilsoffenbarung im Alten Testament offenbart hat und auch die Heiden ein Wissen von Gott haben. Die klassische biblische Belegstelle für eine natürliche Offenbarung Gottes entnahmen die protestantischen Theologen mit der theologischen Lehrtradition aus Röm 1,19–24. Paulus schreibt hier: „Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit der Schöpfung der Welt ersehen aus seinen Werken, wenn man sie wahrnimmt, so dass sie keine Entschuldigung haben. Denn obwohl sie von Gott wussten, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert. Da sie sich für Weise hielten, sind sie zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit einem Bild gleich dem eines vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere.“ Paulus spricht an dieser Stelle seines Römerbriefs von einer Offenbarung Gottes, die allen Menschen durch die Schöpfung zugänglich ist. Aus den Werken der Schöpfung hätte der Mensch, so Paulus, Gott erkennen können. Allerdings haben die Menschen, so Paulus weiter, diese natürliche Gotteserkenntnis dadurch verkehrt, dass sie Gott nicht als Gott anerkannt, sondern sich selbst an die Stelle Gottes gesetzt haben. An dem von Paulus im Römerbrief formulierten Gedanken einer allgemeinen und natürlichen Offenbarung hat nicht nur Luther zeitlebens festgehalten, sondern auch die lutherischen Bekenntnisschriften heben den Gedanken einer natürlichen Offenbarung ausdrücklich hervor. Mit dem Begriff einer natürlichen Offenbarung soll festgehalten werden, dass der Mensch auch unabhängig von der biblischen Offenbarung ein Wissen von Gott hat. Diese natürliche Gotteserkenntnis kommt nun auf zweierlei Weise zustande. Sie kann entweder angeboren oder erworben sein. Demzufolge unterscheidet man im Hinblick auf die natürliche Offenbarung: 1. notitia insita = eine angeborene Erkenntnis Gottes; zum Beispiel das innere Zeugnis des Gewissens von Gott 2. notitia acquisita = eine erworbene Erkenntnis Gottes; zum Beispiel ein aus der Naturerkenntnis gewonnenes Wissen um Gott als Schöpfer der Welt.

Die natürliche Offenbarung ist nun zwar eine Voraussetzung für die übernatürliche Heilsoffenbarung Gottes, aber für sich selbst ist sie nicht hinreichend. „Nicht die Natur“, so der altlutherische Theologe David Hollaz, „sondern die heilige Schrift ist das Prinzip des seligmachenden Glaubens“ ([17], Theol. part. I, cap. I, q. 8, prob. II = [7], S. 309). Hollaz räumt der natürlichen Offenbarung eine dreifache Funktion ein. „Die natürliche Gotteserkenntnis

Natürliche Offenbarung

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II. Offenbarung

Natürliche und übernatürliche Offenbarung

verspricht einen dreifachen Nutzen. Nämlich einen pädagogischen, sofern sie den Menschen dazu anleitet, jene Gemeinschaft (coetum) zu suchen, in der der wahre Gott Israels sich offenbart hat; einen didaktischen, weil sie, wenn sie verständig angewandt wird, nicht wenig tut zur Beleuchtung der offenbarten Gotteserkenntnis; einen paideutischen: dazu, die Sitten und die äußere Zucht in und außer der Kirche zu lenken“ ([17], Theol. part. I, cap. I, q. 7 = [7], S. 309). Der natürlichen Offenbarung kommt eine Vermittlungsfunktion zu. Sie vermittelt die besondere biblische Offenbarung Gottes mit einem universalen Allgemeinheitshorizont. Das allgemeine Wissen des Menschen von Gott aufgrund der natürlichen Offenbarung stellt den Explikationsrahmen der besonderen, biblischen Offenbarung dar. Die natürliche Offenbarung ist notwendig, aber nicht hinreichend. Ihre Grenze liegt darin, dass sie zwar das Wissen vermittelt, dass ein Gott sei, nicht aber, was Gott sei. Die natürliche Offenbarung gewährt mit anderen Worten keinen Einblick in das übernatürliche Geheimnis des Glaubens. Denn durch den Sündenfall ist das Licht der Vernunft verdunkelt. Daher muss die natürliche Offenbarung durch die übernatürliche Offenbarung ergänzt werden. Es besteht folglich zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Offenbarung ein bestimmtes Gefälle. Die übernatürliche Offenbarung bringt die natürliche zur Eindeutigkeit. Während die Natur zweideutig ist, ist die Heilsoffenbarung Gottes eindeutig. Zum seligmachenden Glauben führt nur die Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift. Diese Offenbarung ist im Unterschied zur natürlichen Offenbarung eine besondere und sie ergeht durch das Wort. Von ihr gilt, dass sie übernatürlich ist. Diese besondere und übernatürliche Offenbarung kann nun wiederum auf zwei verschiedene Arten verstanden werden. Denn wenn man sich die Frage vorlegt, wie die Offenbarung uns heute erreicht, dann muss man sagen, nur durch die Heilige Schrift, also auf eine vermittelte Weise. Damit ist der Gedanke einer zusätzlichen, über die Schrift hinausgehenden Offenbarung ausgeschlossen. Das entspricht konsequent der lutherischen These von der sola scriptura als der alleinigen normativen Instanz der Theologie. Die Verfasser der Heiligen Schrift, also die biblischen Autoren (Propheten und Apostel) können jedoch die Offenbarung nicht selbst wieder auf eine vermittelte Weise empfangen haben. Dies würde auf einen unendlichen Regress hinaus laufen. Wenn die Offenbarung an sie jedoch nicht auf eine vermittelte Weise gelangt ist, dann kann sie diese nur unmittelbar erreicht haben. Aus diesem Grund unterscheiden die altprotestantischen Theologen zwischen einer revelatio immediata (unmittelbare Offenbarung) und einer revelatio mediata (vermittelte Offenbarung): 1. revelatio immediata: die Offenbarung, welche die Verfasser der biblischen Schriften hatten. Dies ist die Inspiration oder Theopneustie. 2. revelatio mediata: die Offenbarung, welche in der Schrift vorliegt und durch die Schrift den Menschen in der jeweiligen Gegenwart erreicht.

Der Begriff der übernatürlichen Offenbarung wird von Johann Andreas Quenstedt als eine „von außen kommende göttliche Tat (actus divinus exter-

2. Offenbarungsverständnis des Altprotestantismus

nus)“ definiert, „durch die Gott sich der Menschheit durch sein Wort zur ihrer heilbringenden Unterweisung öffnet“ ([31], S. 32). Zusammenfassend lässt sich damit sagen, das Erkenntnisprinzip der Theologie ist die in der Heiligen Schrift niedergelegte und verschriftlichte göttliche Offenbarung. Diese ist das einzige Prinzip der Theologie. Der Offenbarung ist weder die Vernunft, noch die Tradition oder die Berufung auf die Übereinstimmung der Lehre der ältesten Kirche an die Seite zu stellen, noch sind von irgendeiner Seite her neue, sie vervollständigende Offenbarungen zu erwarten. 1. Unter Offenbarung wird in der altprotestantischen Theologie die Übermittlung einer Lehre verstanden. Gott offenbart dem Menschen etwas und dies ist der Inhalt der Schrift. 2. Von diesem Inhalt der Offenbarung hat dann zu gelten, dass er unfehlbar gewiss ist: „quidquid s. scriptura docet, infallibiliter certum est“. 3. Wenn von der Heiligen Schrift als der Offenbarung Gottes gilt, dass sie unfehlbar wahr ist, weil sie Gott als den alleinigen Urheber hat, dann kann die wahre christliche Gotteserkenntnis, nämlich die Theologie, nur der Schrift selbst entnommen werden. Die Theologie hat somit aus der Heiligen Schrift als dem Prinzip der Theologie alle dogmatischen Wahrheiten abzuleiten.

3. Offenbarung oder Religion? Der Offenbarungsbegriff der altprotestantischen Theologie hatte die Funktion der Begründung des Schriftprinzips als der maßgeblichen Instanz theologischer Urteilsbildung. In der protestantischen Theologie tritt die Schrift an die Stelle von Tradition, Kirche und päpstlichem Lehramt. Dadurch muss die Autorität der Schrift als einziger Quelle theologischer Aussagen begründet werden. Nun wurden jedoch schon bald die Schwierigkeiten dieser Konstruktion sowie des hierbei zugrunde gelegten Offenbarungsbegriffs ersichtlich. Der Umgang mit diesen Schwierigkeiten führte zu einem völlig veränderten Verständnis von Offenbarung. Die Prozesse, die zur Auflösung des überlieferten Offenbarungsbegriffs, der Offenbarung als Übermittlung übernatürlicher Lehren verstand, führten, waren vielschichtig und komplex. Insbesondere in den theologischen Debatten nach dem Ersten Weltkrieg wurde um die Frage gerungen, ob die methodische Grundlage der Theologie im Offenbarungs- oder im Religionsbegriff zu sehen sei. Diese Alternative zwischen Offenbarung oder Religion, welche die theologische Debattenlage im 20. Jahrhundert dominierte, hat ihre Wurzeln in der Entdeckung der Religionsgeschichte in der Aufklärung.

a) Der Streit um natürliche und geoffenbarte Religion in der Aufklärung Die Herausbildung des modernen Verständnisses der göttlichen Offenbarung ist vor allem das Resultat des Streits um natürliche und geoffenbarte Religion im 18. Jahrhundert. Die aus der Reformation resultierenden Konfessionsspaltungen führten zu einer religiösen Pluralisierung der europäischen Gesellschaften. Fortan koexistierten unterschiedliche religiöse Bekenntnisse

Begründung des Schriftprinzips

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II. Offenbarung

Der englische Deismus

Lessings Kritik

nebeneinander, die sich jeweils gegenseitig die Wahrheitsgrundlage bestritten. Konfessionsübergreifende normative Verbindlichkeiten konnten nur mehr im Rekurs auf Instanzen gewonnen werden, die dem Streit der unterschiedlichen Konfessionen um die wahre Auslegung des Christentums enthoben waren. Damit schied der Rückgriff auf die in der Bibel niedergelegte göttliche Offenbarung als Begründungsinstanz für gesamtgesellschaftlich verbindliche ethische Normen aus. Die zwischen den christlichen Konfessionen strittigen Deutungen der biblischen Offenbarung wurden ersetzt durch vermeintlich allgemeine und neutrale Größen wie Vernunft und natürliche Religion. Wichtige Impulse für diese Entwicklung gingen vor allem von dem englischen Deismus des 17. Jahrhunderts aus, der ersten von der kirchlichen Theologie unabhängigen Religionsphilosophie (dazu: [148]). Diese in sich äußerst heterogene Bewegung, deren wichtigste Vertreter Edward Herbert von Cherbury (1581–1648), John Locke (1632–1704), John Toland (1671–1722) und Matthew Tindal (1656–1733) sind, ersetzte zunehmend die biblische Offenbarung durch die natürliche Religion. Unter dieser verstanden die deistischen Denker die Geltungsgrundlage der positiven Religion, wie sie in der biblischen Offenbarung vorliegt. Diese, da sie zur Vernunftausstattung des Menschen gehört, ist nun das Eindeutige und die biblische Offenbarung die strittige und zweideutige Größe. Damit ist die von der altprotestantischen Theologie vorgenommene Zuordnung von natürlicher und übernatürlicher Offenbarung umgekehrt. Die Rezeption des englischen Deismus in der deutschen protestantischen Theologie des 18. Jahrhunderts war äußerst komplex und differenziert (vgl. [150]). Sie führte vermittelt über die Aufklärungstheologie (Übergangstheologie, Neologie und Rationalismus) schließlich zu einem völlig veränderten Verständnis der Offenbarung bei Friedrich Schleiermacher und in der Philosophie des Deutschen Idealismus. In diesen Debatten wurde erbittert über die Frage gestritten, ob die natürliche Religion hinreichend sei oder ob sie der Ergänzung durch eine übernatürliche göttliche Offenbarung bedürfe. Die klassischen Argumente der theologischen Apologetik im 18. Jahrhundert für den Ursprung des Christentums in einer übernatürlichen Offenbarung waren der Weissagungsbeweis, der Wunderbeweis sowie die schnelle Ausbreitung des Christentums (so: [145]). Gotthold Ephraim Lessing, der selbst eine höchst komplexe Haltung gegenüber dem überlieferten kirchlichen Christentum einnahm, kehrte in dem Breslauer Fragment Von der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion von 1760 die Standardbeweise der theologischen Apologetik für den übernatürlichen Ursprung der christlichen Religion geradezu um ([142], S. 235). Die Entstehung des Christentums, so Lessings Argument, lasse sich auch ohne Rekurs auf eine göttliche Offenbarung ganz natürlich erklären. Lessings frühe Kritik an dem Offenbarungsbegriff und der theologischen Apologetik ist freilich nicht dessen letztes Wort in dem Streit um natürliche und geoffenbarte Religion geblieben. Zum einen publizierte Lessing zwischen 1774 und 1778 Fragmente eines Ungenannten und löste dadurch den Fragmentenstreit aus. Bei diesen Fragmenten handelt es sich um Texte aus dem Nachlass des Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), der die natürliche Religion für hinreichend hielt und die geof-

3. Offenbarung oder Religion?

fenbarte Religion einer tiefgreifenden historischen Kritik unterzog. Allerdings hatte Reimarus bei seiner Kritik der geoffenbarten Religion den Offenbarungsbegriff der altprotestantischen Lehrtradition vor Augen. Zum anderen bezog Lessing mit seiner kleinen Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts im Jahre 1780 selbst Stellung zu dem Streit über natürliche und geoffenbarte Religion und arbeitete auf der Grundlage eines veränderten Offenbarungsbegriffs eine förmliche Rehabilitierung der geoffenbarten Religion aus, die für die weitere Debatte um den Offenbarungsbegriff konstitutiv wurde. „Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht“ ([143], § 2, S. 82). Der für die Debatte weiterführende Grundgedanke von Lessings Erziehungsschrift liegt in einem gestuften und geschichtsphilosophisch entfalteten Religionsbegriff ([136], S. 356 ff.). Im Unterschied zu Reimarus unterscheidet Lessing nämlich natürliche Religion und Vernunftreligion und vermittelt beide durch die positiven, geschichtlichen Religionen. Lessing unterscheidet drei Momente in seinem Religionsbegriff und gewinnt so die Möglichkeit, den Religionsbegriff geschichtsphilosophisch auszulegen und den Offenbarungsbegriff funktional zu würdigen. Am Ende des 18. Jahrhunderts geht die Neologie in den theologischen Rationalismus über. Mit Rationalismus bezeichnet man die Theologie der Spätaufklärung. Wichtige Vertreter des theologischen Rationalismus sind der Weimarer Gerneral-Superintentent und Oberhofprediger Johann Friedrich Röhr (1777–1848), der Hallenser Theologe Johann Heinrich Tieftrunk (1759–1837) sowie der Königsberger Philosoph Wilhelm Traugott Krug (1770–1842). Der theologische Rationalismus zeichnet sich durch die Behauptung aus, dass die menschliche Vernunft den Inhalt der Offenbarung aus sich selbst schöpfen kann. Die biblische Offenbarung wird also als eine sinnliche Einkleidung von Vernunftwahrheiten verstanden. Eben dies bestreitet der Supranaturalismus. Er bildet die Gegenposition zum Rationalismus und ist die Bezeichnung für eine theologische Strömung in der späten Aufklärung. Seine Hauptvertreter sind der Tübinger Theologe Gottlieb Christian Storr (1746–1805) und seine Schüler Friedrich Gottlieb Süskind (1767–1829), Johann Friedrich Flatt (1759–1821) sowie dessen Bruder Karl Christian Flatt (1772–1813). Im Unterschied zu den rationalistischen Theologen behaupten die supranaturalistischen Theologen, dass in der biblischen Offenbarung ein Inhalt vorliegt, der der Vernunft nicht von sich aus zugänglich ist. Immanuel Kant, dessen kritische Transzendentalphilosophie sowohl der Rationalismus als auch der Supranaturalismus voraussetzen, definierte beide Richtungen in seiner Religionsschrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 ([141], B 229 ff.). Der Streit zwischen Rationalismus und Supranaturalismus dreht sich somit um den Offenbarungsbegriff. Unterschiedlich wird von beiden Parteien lediglich die materiale Rolle der Vernunft beurteilt.

b) Die Umformung des Offenbarungsbegriffs im Deutschen Idealismus Die Philosophen des Deutschen Idealismus, die von der Ausbildung her allesamt ein Theologiestudium absolviert haben und mit dem Streit um

Theologischer Rationalismus

Theologischer Supranaturalismus

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II. Offenbarung

Fichtes Begründung der geoffenbarten Religion

Offenbarung in der Geschichte: Schelling und Hegel

natürliche und geoffenbarte Religion vertraut waren, knüpfen an Lessings geschichtsphilosophische Fassung des Offenbarungsbegriffs an. Sichtbar wird dieser problemgeschichtliche Hintergrund der späten Aufklärungstheologie bereits in Johann Gottlieb Fichtes Erstlingswerk, seinem Versuch einer Critik aller Offenbarung aus dem Jahre 1792. Unter Aufnahme von Kants Begründung der Religion in der Realisierungsdimension der praktischen Vernunft versuchte Fichte, in dieser Schrift eine vernunftkritische Begründung der geoffenbarten Religion zu leisten. Mit Lessing unterscheidet Fichte hierzu zwischen Vernunft-, Natur- und Offenbarungsreligion und ordnet diese Religionsformen unterschiedlichen Stufen des Moralbewusstseins zu. Der Offenbarungsreligion schreibt Fichte die Funktion zu, den Menschen allererst auf die Stufe der Moralität zu heben. Dabei versteht er unter Offenbarung, und zwar noch ganz im Sinne der theologischen Lehrtradition, die Ankündigung Gottes als Gesetzgeber der Moral in der Sinnenwelt durch eine „übernatürliche Causalität“ ([137], S. 41). Fichtes Versuch einer Begründung der moralischen Notwendigkeit der geoffenbarten Religion blieb freilich aus mehreren Gründen aporetisch. Nicht nur der von ihm vorausgesetzte supranaturalistische Offenbarungsbegriff, sondern auch die Einordnung der Offenbarung in eine Stufenfolge des Moralbewusstseins bleiben untaugliche Mittel, den Offenbarungsbegriff zu begründen. Denn Fichte vermag die Offenbarung nur so zu begründen, dass sie in dem Menschen durch eine übernatürliche Wirkung in der Sinnenwelt der Stimme der Moral zum Durchbruch verhilft. Erhebt er sich auf die Stufe des moralischen Bewusstseins, dann wird die Offenbarung überflüssig. Weiterführender für die in der späten Aufklärung geführten Debatten um natürliche und geoffenbarte Religion wurden erst die religionsphilosophischen Konzeptionen Friedrich Wilhelm Joseph Schellings (1775–1851) und Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831). Ihnen kommt das Verdienst zu, unter Aufnahme von Lessings geschichtsphilosophischem Offenbarungsbegriff nicht nur den überkommenen supranaturalistischen Offenbarungsbegriff aufgelöst, sondern den Offenbarungsgedanken mit der Geschichte verbunden zu haben. Im Unterschied zu Lessing legen freilich sowohl Schelling als auch Hegel ein durch die kritische Transzendentalphilosophie Kants hindurchgegangenes Verständnis von Vernunft zugrunde. Dabei wird Kants Vernunftbegriff so weitergeführt, dass in diesen selbst eine Geschichte eingeschrieben wird, so dass die Geschichte als der Prozess verstanden werden kann, in dem sich die Vernunft selbst in ihrer inneren Struktur erfasst. Erst hieraus resultiert dann ein Verständnis von Offenbarung als Selbstoffenbarung Gottes, welches in der theologischen Debatte des 20. Jahrhunderts zum entscheidenden Bestimmungsmerkmal des Offenbarungsbegriffs avancierte. Bei Schelling begegnet diese Verknüpfung von Offenbarung und Religionsgeschichte schon in seiner Magisterdissertation von 1792 und sie wird von ihm zunehmend weiter ausgearbeitet. In der 1809 erschienenen Schrift Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit spricht Schelling von einer Selbstoffenbarung Gottes und führte diesen Begriff in die philosophische und theologische Debatte ein ([146], Bd. 7, S. 401 f.). Eine nicht minder eindrucksvolle Neubestimmung des Offenbarungsbegriffs hat Hegel auf der Grundlage seines philosophischen Gesamtsystems in

3. Offenbarung oder Religion?

seiner Religionsphilosophie ausgearbeitet. Die Geschichte der Religion wird als eine solche Geschichte verstanden, in der sich der absolute Geist sukzessive in seiner inneren Struktur erfasst. Für Hegel ist dies im Christentum der Fall, da sich in der christlichen Gemeinde der Geist als solcher bewusst wird. „Das Wort und die Vorstellung des Geistes ist früh gefunden, und der Inhalt der christlichen Religion ist, Gott als Geist zu erkennen zu geben“ ([93], § 384, S. 314). Damit versteht Hegel den Prozess der Geschichte als eine fortgehende Selbstoffenbarung Gottes als Geist. Aufnahme in die Theologie hat diese Neubestimmung des Offenbarungsbegriffs bei den spekulativen Theologen Carl Daub (1765–1836) und Philipp Konrad Marheineke (1780–1846) gefunden. Daub ist der erste Theologe, der den Offenbarungsgedanken als Selbstoffenbarung Gottes versteht und die Theologie als Denken der Selbstoffenbarung Gottes konzipiert. Der Offenbarungsbegriff wird damit nicht mehr wie in der altprotestantischen Lehrtradition als eine Mitteilung von übernatürlichen Lehren verstanden, sondern als ein solches Geschehen, in dem Gott sich in der Geschichte selbst offenbart. Die Weltgeschichte wird sowohl von den idealistischen Philosophen als auch von den spekulativen Theologen als eine voranschreitende Selbstoffenbarung Gottes verstanden. Damit wird zwar der Offenbarungsbegriff mit der Geschichte verbunden, ein in den Debatten und Kontroversen um diesen Offenbarungsbegriff heftig umstrittener Punkt bleibt jedoch die Frage, wie sich in diesen Prozess der Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte die individuelle Aneignung der Offenbarung integrieren lässt. Denn scheinbar geht die Selbstoffenbarung Gottes über den Einzelnen hinweg. Auf dem Weg Gottes durch die Geschichte hin zu seiner Selbsterfassung als Geist schrumpft das Individuum zum bloßen Durchgangsstadium herab. Auf dem Hintergrund der kritischen Transzendentalphilosophie Immanuel Kants hatte der junge Friedrich Schleiermacher in seinen Reden Über die Religion von 1799 den Offenbarungs- sowie den mit diesem verbundenen Wunderbegriff der theologischen Lehrtradition aufgelöst. Der junge Schleiermacher versteht die Offenbarung als einen religiösen Deutungsbegriff und beschränkt damit sowohl das überlieferte Wunder- als auch das Offenbarungsverständnis auf seinen genuin religiösen Sinn ([124], S. 108). Offenbarung ist keine Mitteilung von übernatürlichen Lehren, sondern eine besondere Sicht der Welt, nämlich die, das Einzelne und Konkrete in eine Totalitätsdimension einzurücken und so am Einzelnen das Universum anzuschauen. Die religiöse Sicht der Welt wird dabei von dem jungen Schleiermacher selbst als Offenbarung verstanden und sowohl von der theoretischen als auch von der praktischen Weltsicht unterschieden. Auf diese Weise rückt in Schleiermachers Neubestimmung des Offenbarungsverständnisses der die Welt in ihrer Totalitätsdimension deutende individuelle Mensch in den Fokus. Auch die spätere Glaubenslehre versteht den Offenbarungsbegriff als eine religiöse Deutungskategorie, verbindet ihn jedoch stärker mit der bewusstseinstheoretisch reformulierten Christologie ([34], § 10 Zusatz, T. 1, S. 72). So sehr sich mit diesem Verständnis von Offenbarung auch sekundär Lehren verbinden können, so ist die Offenbarung in ihrem religiösen Sinne allein das Entstehen der Frömmigkeit beim einzelnen Individuum in seiner Beziehung auf Jesus von Nazareth.

Rezeption in der Theologie

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II. Offenbarung

c) Von der geoffenbarten Religion zur Religionsgeschichte

Manifestation und Inspiration (Rothe)

Ernst Troeltsch

Die historische und erkenntnistheoretische Kritik der Aufklärung hatte den überlieferten Offenbarungsbegriff der protestantischen Lehrtradition in den Debatten um natürliche und geoffenbarte Religion zunehmend aufgelöst. Im Resultat führte dies einmal zu einer Neubestimmung des Offenbarungsbegriffs als Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte und zum anderen zu einem Verständnis der Offenbarung als einer religiösen Deutungskategorie. Eine Verknüpfung beider Stränge liegt in der Bestimmung des Offenbarungsbegriffs von Richard Rothe vor, der Schleiermachers Religionsbegriff mit dem Gedanken der Selbstoffenbarung Gottes verknüpft. „Die Offenbarung ist ihrem Begriff zufolge Gottesoffenbarung; Gott, indem er sich offenbart, offenbart sich selbst; Gott und lediglich Gott ist der Gegenstand, den die göttliche Offenbarung offenbart, Gott und sonst nichts“ ([79], S. 60 f.). Das im Offenbarungsbegriff virulente Problem von Selbstoffenbarung Gottes und individueller Aneignung der Offenbarung durch den Glaubenden wird von Rothe so aufgenommen, dass er im Offenbarungsbegriff die beiden Momente Manifestation und Inspiration unterscheidet und miteinander verschränkt. Während der Begriff der Manifestation auf das von den biblischen Schriften überlieferte Handeln Gottes in der Geschichte zielt, hält der Begriff der Inspiration das Moment der individuellen Aneignung der biblischen Offenbarung fest. „Indeß an ihrem Ziel ist die göttliche Offenbarung doch mit der Manifestation noch nicht angelangt, sondern sie muß dazu dieses ihr äußeres und objectives Moment nothwendig noch durch ein inneres und subjectives ergänzen, das wir die Inspiration nennen wollen“ ([79], S. 67). Mit der Zuordnung von Gottes Offenbarung in der Geschichte und der individuellen Aneignung dieser Offenbarung im Glauben ist das Problem benannt, um das die Debatten um den Offenbarungsbegriff innerhalb der protestantischen Theologie bis in die Gegenwart kreisen. Dieses Grundproblem des Offenbarungsbegriffs wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch dadurch verschärft, dass die weitere Entwicklung der historischen Theologie die historischen Bestandteile des biblischen Offenbarungsbegriffs zunehmend aufgelöst hatte. In deren Folge wurde nicht nur die Verknüpfung von religiösem Offenbarungsbegriff und Geschichte brüchig, sondern auch das Christentum in die Religionsgeschichte eingerückt und als eine rein historische Erscheinung verstanden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konstatierte dann Ernst Troeltsch in seiner berühmten Abhandlung über Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte von 1902, dass das Christentum „in allen Momenten seiner Geschichte eine rein historische Erscheinung mit allen Bedingtheiten einer individuellen historischen Erscheinung wie die andern großen Religionen auch“ ([149], S. 165) sei. Unter den Bedingungen des modernen historischen Denkens lässt sich seine Geltung weder durch einen Rekurs auf eine übernatürliche Offenbarung noch durch begriffliche Konstruktionen wie im Deutschen Idealismus begründen ([149], S. 137). Für Troeltsch kann die Geltung des Christentums allein mit den methodischen Mitteln der Geschichtswissenschaft begründet werden, und zwar durch dessen Eingliederung in die Religionsgeschichte und einen inhaltlichen Vergleich mit anderen Religionen. Die Funktion des Offenbarungsbegriffs wandert damit in die Geschichtswissen-

3. Offenbarung oder Religion?

schaft aus. Die mit den Mitteln der historischen Forschung vorgenommene Begründung des Christentums überschreitet jedoch die Fachhistorie im engeren Sinne. Denn der zum Vergleich und zur Abstufung der Religionen in Anspruch genommene Maßstab kann selbst nicht der historischen Forschung entnommen werden. Er verdankt sich bereits einer wertenden Stellungnahme des Geschichtsphilosophen zur Geschichte und ist selbst durch die Geschichte bedingt. Troeltsch verbindet in seiner ethisch-religiösen Geschichtsphilosophie, welche die Geltung des Christentums begründen soll, objektive historische Forschung und eine subjektive wertende Stellungnahme zur Geschichte. Dieser geschichtsphilosophische Zirkel, der für jede Geschichtsdeutung unumgänglich ist, wird von Troeltsch in der Geschichtsphilosophie thematisiert. Die im Offenbarungsbegriff (vgl. [61], S. 41) liegende Konstellation von geschichtlicher Offenbarung und individueller Aneignung wird von Troeltsch so aufgenommen, dass er den Gehalt des Offenbarungsbegriffs in die wertende Stellungnahme des Geschichtsphilosophen zur Geschichte verlagert. In der Konstruktion von Troeltsch ist es die Geschichtsphilosophie, welche die Geschichtlichkeit und Wandelbarkeit aller Normen und Wahrheiten in der Geschichte erkennt. Der Religion bleibt diese Geschichtlichkeit selbst verborgen. Das Geschichtsbewusstsein der Geschichtsphilosophie und die Religion sind so aufeinander bezogen, dass sie einen methodischen Zirkel bilden. An diese Problemformulierung knüpft die weitere Debatte um den Offenbarungsbegriff an, und zwar so, dass der geschichtsphilosophische Zirkel, der in Troeltschs Reflexionen zur Methodologie der Geschichtswissenschaft steckt, in den Offenbarungsbegriff aufgenommen und der Religion entgegengesetzt wird.

d) Gottes Offenbarung als Kritik der Religion Im Hintergrund der nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Debatten über Religion oder Offenbarung steht Troeltschs Diagnose des modernen Historismus und sein eigener Versuch, die Krise des Historismus durch eine ethischreligiöse Geschichtsphilosophie zu bearbeiten. Die Autoren, die nach dem Weltkrieg in die theologische Debatte eingreifen und den Offenbarungsbegriff an die Stelle des Religionsbegriffs und die religionsgeschichtliche Einordnung des Christentums setzen, nehmen indes Troeltschs Diagnose des modernen Historismus auf. Sie sind jedoch entschieden der Meinung, dass die von Troeltsch vorgelegte Lösung unzureichend sei. Genau hierfür, nämlich für die konstruktive Bearbeitung des Problems des Historismus steht der Offenbarungsbegriff in der Theologie des 20. Jahrhunderts. In den Konzeptionen von so unterschiedlichen Theologen wie Karl Barth, Friedrich Gogarten, Rudolf Bultmann und Paul Tillich tritt in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts der Offenbarungsbegriff nicht nur an die Stelle des Religionsbegriffs, sondern er verbindet sich auch mit einer Kritik der Religion. Die Religion wird als eine menschliche Angelegenheit verstanden und der Offenbarung Gottes entgegengesetzt. Für Friedrich Gogarten zeichnet sich die Religion dadurch aus, die „ungeheuerlichste Anmaßung“ des Menschen zu sein, weil durch sie der absolute Gegensatz „zwischen Schöpfer und Geschöpf vom Geschöpf her“ ([138], S. 20) überbrückt werden soll.

Trennung zwischen Offenbarung und Religion

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II. Offenbarung

,,Abschaffung des Zuschauers``

Offenbarung als Sich-Verstehen des Menschen

Dialektische Theologie

Gegenüber der menschlichen Religion stellt die als Selbstoffenbarung Gottes verstandene Offenbarung die wahre Gotteserkenntnis dar. Die Offenbarung Gottes realisiert sich als Kritik und Aufhebung der Religion. Gottes Selbstoffenbarung in der Geschichte bildet die wahre methodische Grundlage der Theologie und nicht mehr den Begriff der Religion. An dieser grundbegrifflichen Umorientierung wird eine veränderte Fassung des Verständnisses der Theologie sichtbar. Von den Theologen, die nach dem Ersten Weltkrieg die Theologie ihrer Lehrergeneration der Kritik unterziehen, wird Theologie nicht mehr als eine Reflexion über den Glauben und seine Geschichte verstanden, sondern als eine reflexive Selbstbeschreibung des Glaubens als dem unableitbaren Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen. Ihren Ausdruck findet dieses neue Verständnis der Theologie in der von zahlreichen Autoren verwendeten Metapher von der Abschaffung des Zuschauers (vgl. [138], S. 3). Dieses neue, sich in dem Offenbarungsbegriff zusammenfassende Verständnis der Theologie ist in erster Linie als eine veränderte Antwort auf die von Troeltsch aufgeworfene Frage nach der Begründung von Normen und Wahrheiten angesichts der mit dem modernen Historismus verbundenen Einsicht in die Relativität aller geschichtlichen Normen und Wahrheiten zu verstehen. Diese neue Antwort liegt in der Konstruktion des Offenbarungsbegriffs beschlossen. Der Offenbarungsbegriff wird in den theologischen Debatten der 20er Jahre in einem strengen Gegenwartsbezug gefasst und dynamisiert. Dahinter steht das Interesse, die Offenbarung Gottes mit der Entstehung des Wissens um die Geschichtlichkeit zu verbinden. Die mit dem Geschehen der Offenbarung verknüpfte Entstehung des Glaubens ist das kontingente Innewerden des Menschen in seinem geschichtlichen Dasein und darin kommt er, wie es Rudolf Bultmann in seiner in den 20er Jahren gehaltenen Vorlesung Theologische Enzyklopädie ausdrückt, „erst zu sich selbst“ ([88], S. 89). Paul Tillich fasste dieses an den Vollzug des Sich-Verstehens des Menschen gebundene Geschehen der Offenbarung in der gleichen Zeit mit der Metapher des Durchbruchs ([58], S. 19). Im Geschehen der Offenbarung wird das Bild, welches der Mensch von sich und der Welt hat, gleichsam durchbrochen und zum neuen Ausdruck des mit der Entstehung des Glaubens verbundenen neuen Sich-Verstehens des Menschen als einem geschichtlichen Wesen. Der Offenbarungsbegriff fungiert als theologische Beschreibung des unableitbaren Geschehens des Sich-Verstehens des Menschen. Mit dieser Fassung des Offenbarungsbegriffs ist nun die Konsequenz verbunden, dass Offenbarung nichts Vorliegendes oder ein geschichtliches Faktum mehr meinen kann, sondern sie zielt auf das gegenwärtige, vollzugsgebundene aktuale Geschehen der Entstehung des Glaubens. Dieses Geschehen der Offenbarung Gottes wird insbesondere von den Theologen, die der Dialektischen Theologie zuzurechnen sind (Karl Barth, Friedrich Gogarten, Rudolf Bultmann), in dem Leitbegriff des Worts Gottes zusammengefasst (vgl. [44], Bd. I/1, S. 89; [88], S. 144; [138], S. 54–74). Das Wort Gottes als Inbegriff der Selbstoffenbarung Gottes stellt das Thema der Theologie dar. Die Wort-Gottes-Theologie, wie sie von Barth, Gogarten und Bultmann nach dem Ersten Weltkrieg ausgearbeitet wurde, wäre allerdings missverstanden, wenn man in ihr eine Rehabilitierung eines vormodernen substantiellen oder metaphysischen Wort-Gottes-Verständnisses erblicken

3. Offenbarung oder Religion?

wollte. Das Wort Gottes ist nämlich gerade keine fixiert vorliegende Größe, sondern der Ausdruck des unableitbaren Geschehens des konkreten SichVerstehens des Menschen im Gottesverhältnis im Vollzug seiner immer schon konkret bestimmten Selbstauslegung. Zum Wort Gottes wird das nur als Menschenwort auftretende Wort Gottes erst in seiner individuellen Aneignung im Glauben. Der Glaube entsteht also erst im aktualen Vollzug der individuellen Aneignung des Worts Gottes und zugleich wird sich der Glaube in diesem Geschehen dem Wort Gottes als seiner eigenen Voraussetzung ansichtig (dazu: [151], S. 5–12). Die innere Struktur des in dem Wort Gottes begründeten Glaubens als eines unableitbaren Geschehens des sich in seiner eigenen Geschichtlichkeit und Endlichkeit innewerdenden Menschen findet ihren Ausdruck und ihre Darstellung in der Christologie. Diese wird in der Theologie des 20. Jahrhunderts zum einzigen Inhalt der Selbstoffenbarung Gottes ([88], S. 95; [138], S. 58). Die Christologie wird von der Erforschung des historischen Jesus gelöst und nicht mehr als eine Reflexion über ein historisches Ereignis ausgearbeitet. Vielmehr wird die Christologie zu einer Darstellung des aktualen Glaubens und seiner eigenen Geschichtlichkeit. Auf Grund dieser Anbindung und Umfunktionalisierung der überlieferten dogmatischen Christologie an das gegenwärtige Geschehen des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen wird diese zum Inbegriff der Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte. Auch Karl Barths vor allem in der Kirchlichen Dogmatik ausgearbeitetes Verständnis der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus verbindet die Christologie mit dem unableitbaren Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen. Die von Barth strikt an das Wort Gottes gebundene und als Ereignis verstandene Gotteserkenntnis zielt auf nichts anderes als die Selbstdurchsichtigkeit des Menschen hinsichtlich der Gebrochenheit seines Selbstbezugs und seiner wahren Begründung im Gottesverhältnis. Das Ereignis der Gotteserkenntnis ist für Barth nicht nur konkret bestimmt, so dass es keine Offenbarung überhaupt geben kann, sondern für das Ereignis der Offenbarung ist eine innere triadische Struktur konstitutiv. „Gottes Wort ist Gott selbst in seiner Offenbarung. Denn Gott offenbart sich als der Herr und das bedeutet nach der Schrift für den Begriff der Offenbarung, daß Gott selbst in unzerstörter Einheit, aber auch in unzerstörter Verschiedenheit der Offenbarer, die Offenbarung und das Offenbarsein ist“ ([44], Bd. I/1, S. 311). Das sich immer nur konkret und individuell einstellende Verstehen Gottes als der wahren Selbsterkenntnis des Menschen baut sich durch die drei Momente Offenbarer, Offenbarung und Offenbarsein auf und ist der Unterschiedenheit der drei Momente ungeachtet die Einheit des Geschehens der Gotteserkenntnis. Denn jedes Verstehen ist durch ein Medium vermittelt, welches in seiner Bedeutung verstanden werden will. Ebenso gehören zum Gottesgedanken das Verstehen sowie ein Medium konstitutiv hinzu. Der Gehalt des Offenbarungsbegriffs ist damit die als Gotteserkenntnis gedeutete wahre Selbsterkenntnis des Menschen. Die Pointe dieses Offenbarungsbegriffs liegt nicht nur darin, dass sie für Barth zur Grundlage der Trinitätslehre wird, indem sich mit ihm die These verbindet, dass der Monotheismus nur als Trinitätslehre angemessen entfaltet werden kann, sondern auch in der damit verknüpften Christologie. In der Christologie stellt der Glaube als wahre Gotteserkenntnis sich selbst als Gotteserkenntnis dar.

Jesus Christus als Inhalt der Offenbarung

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II. Offenbarung

In den theologischen Debatten des 20. Jahrhunderts wird der Offenbarungsbegriff nicht nur dynamisiert und als Ereignis oder aktuales Geschehen verstanden, sondern auch strikt selbstbezüglich als das Geschehen und der Ausdruck der Entstehung des Glaubens ausgearbeitet. Deshalb tritt Gottes Offenbarung als die wahre Religion an die Stelle der menschlichen Religion, die eine Stufe des Bewusstseins repräsentiert, auf der sich dieses in seiner eigenen Geschichtlichkeit und in seinen Aufbauelementen noch nicht erfasst hat. Die für die theologische Debatte des 20. Jahrhunderts signifikante Ersetzung des Religionsbegriffs durch den Offenbarungsbegriff hat vor allem eine methodische Funktion. Durch den methodischen Ausgang von Gott und seiner Offenbarung soll die Unableitbarkeit und Kontingenz menschlichen Sich-Verstehens unterstrichen und von allen vermögenstheoretischen Anbindungen gelöst werden.

4. Die Funktion des Offenbarungsbegriffs Nachdem der Problemhorizont des Offenbarungsbegriffs in der neueren Theologie des Protestantismus erörtert wurde, sollen nun abschließend dessen Funktion und Konturen unter Aufnahme der Problemgeschichte besprochen werden. Dies wird in drei Abschnitten in Auseinandersetzung mit der Diskussion des Offenbarungsbegriffs in der gegenwärtigen evangelischen Theologie geschehen.

a) Offenbarung als Geschichte

Indirektheit der göttlichen Selbstoffenbarung

Einen grundlegenden Neueinsatz für die Debatte um den Offenbarungsbegriff in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts markiert das 1961 von Wolfhart Pannenberg in Zusammenarbeit mit Rolf Rendtorff, Willi Marxen und Trutz Rendtorff vorgelegte Programm ,Offenbarung als Geschichte‘. Es wendet sich direkt gegen den von der Dialektischen Theologie ausgearbeiteten kerygmatischen Offenbarungsbegriff und die mit diesem verbundene Zuspitzung auf das Wort Gottes. Demgegenüber versuchen die Autoren von Offenbarung als Geschichte, den Offenbarungsbegriff auf eine neue Weise mit der Geschichte und insbesondere mit der historisch-kritischen Methode zu verbinden. Mit diesem Programm sind weitreichende Konsequenzen verbunden. Einmal machen die Autoren und insbesondere Wolfhart Pannenberg geltend, dass der biblische Offenbarungsbegriff wesentlich komplexer und differenzierter ist, als es dessen von der Dialektischen Theologie vorgenommene Verengung der göttlichen Selbstoffenbarung auf das Wort Gottes erkennen lässt. Die Verknüpfung des Offenbarungsbegriffs mit der Geschichte resultiert aber erst aus einem zweiten Aspekt. Er besteht darin, dass die Offenbarung Gottes nach den biblischen Schriften nicht als direkte Offenbarung verstanden werden kann, sondern sie vollzieht sich „indirekt, durch Gottes Geschichtstaten“ ([144], S. 91). Die These von der Indirektheit der göttlichen Selbstoffenbarung hat, wie Pannenberg im Rückblick auf Offenbarung als Geschichte im ersten Band seiner Systematischen Theologie erläutert, die „systematische Funktion einer Integration der verschiedenen Offenbarungserlebnisse, von denen die biblischen Schriften Zeugnis geben“ ([57],

4. Offenbarungsbegriff in der gegenwärtigen Theologie

Bd. 1, S. 266). Erst hieraus ergibt sich für Pannenberg die Möglichkeit der Konstruktion einer sukzessiven Entwicklung der Offenbarungsgeschichte, die über die Herausbildung der Eschatologie und der jüdischen Apokalyptik ihren Zielpunkt erst am Ende der offenbarenden Geschichte findet. Das Ende der Geschichte ereignet sich freilich im Auftreten und Geschick Jesu bereits in der Geschichte. In der Geschichte Jesu geschieht, so Pannenberg, „das Ende aller Geschichte im voraus, als Vorwegnahme“ ([144], S. 98). Das von der jüdischen Apokalyptik erhoffte Ende der Geschichte, das Kommen des Reiches Gottes, verbunden mit der allgemeinen Auferstehung der Toten, hat sich vorauslaufend (proleptisch) bereits in der Auferweckung Jesu von den Toten ereignet. Pannenbergs These von der Historizität der Auferstehung Jesu von den Toten ist eine Konsequenz seiner Konstruktion des Offenbarungsbegriffs und der mit diesem verbundenen Universalgeschichte, die freilich nur von ihrem Ende her konstruiert werden kann. Da die Auferstehung Jesu ein historisches Ereignis darstellt, welches im Kontext der Offenbarungsgeschichte Israels steht, bedarf es keines religiösen Glaubens, um in dem Geschick Jesu die Offenbarung Gottes zu erkennen. „Vielmehr wird durch die unbefangene Wahrnehmung dieser Ereignisse der echte Glaube erst geweckt“ ([144], S. 101). Damit wird der Offenbarungsgedanke von Pannenberg so mit der Geschichte verbunden, dass diese zu einem Thema der historischen Wissenschaften wird. Der Glaube wird von Pannenberg ausdrücklich als eine Folge und Konsequenz der historischen Tatsachen verstanden. „Das Wissen von Gottes Offenbarung in der seine Gottheit erweisenden Geschichte muß also Grund des Glaubens sein“ ([144], S. 101). Pannenberg verbindet damit sowohl den Glaubens- als auch den Offenbarungsbegriff mit der real ablaufenden Geschichte. Die Auferstehung Jesu von den Toten versteht Pannenberg als die Vorwegnahme des Endes der Geschichte in der Geschichte. In ihr findet die Verkündigung Jesu von der nahen Gottesherrschaft nicht nur ihre Bestätigung, sondern in ihr erweist sich Gott in seiner Gottheit und Gerechtigkeit. Sie ist als historisches Ereignis allen religiösen Deutungen der Geschichte Jesu von Nazareth vorgeordnet. Auf diese Weise möchte Pannenberg entgegen der von der Dialektischen Theologie vorgenommenen Entkoppelung von Offenbarung und Geschichte beide wieder miteinander verbinden. Allerdings ist in der Konzeption von Offenbarung als Geschichte nicht nur der von Pannenberg zugrunde gelegte Geschichtsbegriff problematisch, insofern er die Prinzipien des modernen Geschichtsverständnisses suspendiert (Wahrscheinlichkeit, Analogie, durchgehende Korrelation der Ereignisse; siehe hierzu: [103], S. 731–739), sondern es werden auch Geschichtserkenntnis und religiöse Deutung ineinander geschoben.

b) Offenbarung als Erschließungsgeschehen Mit dem Offenbarungsbegriff ist das Problem des Verhältnisses von Offenbarung Gottes und individueller Aneignung der Offenbarung durch den Menschen verbunden. Bei Pannenberg wird die Frage der Zuordnung von Gottes Offenbarung in der Geschichte und individueller Aneignung der Offenbarung so gelöst, dass die Offenbarung Gottes in dem historischen Ereignis der

Pannenbergs Geschichtsbegriff

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II. Offenbarung

Offenbarung als Erschließungsgeschehen

Auferstehung jedem, der Augen hat zu sehen, gleichsam objektiv vorliegt. Die Aneignung der Offenbarung Gottes hat dies dann nur noch zu ratifizieren. Ein anderer Umgang mit der im Offenbarungsbegriff beschlossenen Konstellation liegt dann vor, wenn man Offenbarung im Anschluss an Luthers Deutung des rechtfertigenden Glaubens als Aneignung und Erschließungsweise unbedingter Gewissheit versteht. In diesem Sinne wird der Offenbarungsbegriff in der gegenwärtigen protestantischen Theologie von Hermann Deuser, Wilfried Härle, Eilert Herms und Christoph Schwöbel verstanden. Hermann Deuser definiert in seiner Kleinen Einführung in die Systematische Theologie den Offenbarungsbegriff geradezu als ein kosmisch-semiotisches Erschließungsgeschehen. „Offenbarung, definitorisch gesagt, bezeichnet das Vertrauenfinden und unbedingte Gewißwerden von seiner objektiven Seite her gesehen; der darin (subjektiv) vorliegende Aneignungsund Erschließungsvorgang ist der Rechtfertigungsglaube. Soll aber – sozusagen vom Gegenstand her – gesagt werden, was dabei angeeignet wird, so kann es sich hier nicht um ,etwas‘ im Sinne bestimmter Gegenständlichkeit (im empirischen oder abgegrenzt begrifflichen Verständnis des Wortes) handeln, sondern allein um die nicht-gegenständliche Erfahrung von unbedingter Gewißheit und Vertrauen vor allem anderen. Offenbarung kann deshalb nur meinen: Gottes Offenbaren oder Offenbarwerden für Menschen im Glauben“ ([45], S. 41). Die Offenbarung Gottes wird also von Deuser im strengen Sinne als eine Selbstoffenbarung Gottes verstanden. Gott offenbart nicht etwas, sondern sich selbst. Der Selbsterschließung Gottes in seiner Offenbarung entspricht der Glaube, der gleichsam in der subjektiven Aneignung der Offenbarung besteht. Der Offenbarungsbegriff steht dabei für die objektive Seite des Offenbarungsvorgangs und sie beinhaltet für Deuser den semiotisch-kosmischen Prozess der schöpferischen Möglichkeiten Gottes, in die der Mensch durch die Offenbarung eingerückt wird. Als Erschließungsgeschehen verstehen auch Eilert Herms ([139]), Christoph Schwöbel ([147]) und Wilfried Härle die Offenbarung Gottes. In seiner Dogmatik bestimmt Wilfried Härle den formalen Offenbarungsbegriff seinem Wesen nach als ein „Erschließungsgeschehen […], durch das einem Menschen (dem Offenbarungsempfänger) eine Person oder eine Sache in einer Weise zugänglich gemacht wird, die ihm bisher verschlossen war und die er sich auch nicht selbst erschließen konnte“ ([50], S. 82). Unter Offenbarung ist ein solches Geschehen zu verstehen, in dem sich einem Menschen eine Sache so erschließt, wie er es selbst sich nicht hätte denken können. Die religiöse Qualifizierung des Offenbarungsbegriffs liegt in dem Geschehen, dass sich einem Menschen grundlegendes, daseinsbestimmendes Vertrauen erschließt. Daseinsbestimmendes Vertrauen kann sich freilich nur an bestimmten inhaltlichen Bestimmungen erschließen und diese Dimension des Offenbarungsbegriffs wird von Härle, Herms und Schwöbel in dem Begriff eines Wirklichkeitsverständnisses aufgenommen, der mit der Offenbarung verbunden ist. „Das Gottesverständnis bedingt ein bestimmtes Weltverständnis, das ein bestimmtes Selbstverständnis einschließt und dadurch daseinsbestimmende Bedeutung erhält. Für diesen unauflöslichen Zusammenhang von Gottesverständnis, Welt- und Selbstverständnis werde ich künftig den Begriff ,Wirklichkeitsverständnis‘ verwenden“ ([50], S. 83). Mit der Offenba-

4. Offenbarungsbegriff in der gegenwärtigen Theologie

rung als einem aus der Perspektive des Menschen rein passiven Erschließungsgeschehen ist immer ein inhaltlich bestimmtes Wirklichkeitsverständnis, sind also bestimmte Aussagen über Gott, die Welt und den Menschen verbunden. Im Verständnis der Offenbarung als Erschließungsgeschehen wird diese als ein Geschehen verstanden, in dem sich dem Menschen ein daseinsbestimmendes Vertrauen erschließt, welches stets mit einem Wirklichkeitsverständnis verbunden ist. Dieses daseinsbestimmende Vertrauen ist der Glaube und er kommt zustande in einer ausschließlich passiven Konstitution. Damit wird in dieser Deutung des Offenbarungsbegriffs zwar die individuelle Aneignung der Offenbarung festgehalten, aber das Wirklichkeitsverständnis, welches sich dem Einzelnen in der Offenbarung allein passiv erschließen soll, liegt der individuellen Aneignung voraus. Ein Wirklichkeitsverständnis lässt sich jedoch keiner passiven Erschlossenheit entnehmen, sondern es verdankt sich immer einer aktiven Deutung von Sinnerfahrungen. Gravierender ist allerdings der Umstand, dass in dem Verständnis der Offenbarung als einem rein passiven Erschließungsgeschehen die Glaubensinhalte dem Glaubensakt vor- und übergeordnet und mit diesem erst sekundär verbunden werden.

c) Offenbarung als Selbstbeschreibung des Glaubensakts Die von der Theologie des 20. Jahrhunderts vorgenommene Er- und Entgegensetzung von Offenbarung und Religion ist nur scheinbar eine Alternative. Die Vertreter einer strikten Offenbarungstheologie wie Karl Barth, Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann wollten mit dem Offenbarungsbegriff die Unableitbarkeit, Kontingenz und Konkretheit menschlichen Sich-Verstehens thematisieren. Mit dieser Fragestellung wird auf dem Hintergrund der Problemanforderungen des 20. Jahrhunderts ein Grundmotiv des modernen Protestantismus, nämlich das Verständnis des Glaubens als dem wahren Selbstverständnis des Menschen, fortgeführt. Dem Offenbarungsbegriff kommt also in diesen Debatten eine ganz bestimmte Funktion zu. Die Entstehung des Glaubens ist nicht aus bestimmten Bewusstseinsvermögen abzuleiten, sondern der mit der Offenbarung Gottes verbundene Glaube ist ein Geschehen und nichts Vorliegendes. Der Glaube wird strikt selbstbezüglich als das Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen verstanden und die Glaubensinhalte werden als Selbstbeschreibungen dieses Geschehens bestimmt. Mit dem Offenbarungsbegriff wird der Glaube als das protestantische Verständnis von Religion thematisiert. Dieser ist jedoch nichts Vorfindliches, sondern an den Vollzug des Sich-Verstehens des Menschen gebunden. Eben weil der Glaube oder die Religion an den Vollzug des Sich-Verstehens gebunden ist und sich nicht davon ablösen lässt, gehört zum Offenbarungsbegriff der konkrete Mensch konstitutiv hinzu. Es gibt folglich keine Offenbarung überhaupt, sondern immer nur das konkrete Geschehen des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen in einer bestimmten Lebenssituation. Der Offenbarungsbegriff hat die Funktion, die Unableitbarkeit und mithin die Kontingenz des Geschehens des Sich-Verstehens des Menschen in einer religiösen Dimension zu beschreiben. Offenbarung ist also eine religiöse Selbst- und Weltdeutungskategorie. Paul Tillich hat diese religiöse Dimen-

Selbst- und Weltverständnis in der Offenbarung

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II. Offenbarung

sion des Offenbarungsbegriffs in seiner Systematischen Theologie prägnant in seiner Formel zusammengefasst, die Offenbarung sei „die Manifestation dessen, was uns unbedingt angeht“ ([59], Bd. 1, S. 134). Mit dem Offenbarungsbegriff beschreibt der Glaube sich selbst und sein unableitbares Entstehen. Die Offenbarung als ein konkretes gegenwärtiges Geschehen ist freilich immer inhaltlich bestimmt. Die theologische Lehrtradition des Protestantismus hatte diesen Aspekt als Frage nach dem Verhältnis von Offenbarung Gottes und individueller menschlicher Aneignung dieser Offenbarung thematisiert. Nun zeigt der Überblick über die Diskussion des Offenbarungsbegriffs seit der Aufklärung, dass die Bestimmung dieses Verhältnisses dann in unlösbare Aporien führt, wenn dieses Verhältnis in die zwei Momente einer objektiv vorliegenden Offenbarung Gottes und deren subjektiver Aneignung aufgelöst und dann gefragt wird, wie sich beide Momente zueinander verhalten. Vielmehr ist unter Aufnahme der Diskussion des Offenbarungsbegriffs im 20. Jahrhundert zu sagen, dass der Offenbarungsgedanke strikt an den Vollzug des Sich-Verstehens des Menschen zu binden ist. Dann sind jedoch die individuelle Aneignung der Offenbarung Gottes und die Entstehung der Offenbarungsinhalte gleichursprünglich. Die subjektive und die objektive Seite des Offenbarungsgeschehens liegen immer schon ineinander, so dass es ein Missverständnis des religiösen Offenbarungsverständnisses darstellt, wenn man von einer objektiv vorliegenden göttlichen Offenbarung in der Geschichte ausgeht und dann fragt, wie die individuelle Aneignung dieser Offenbarung hinzukommt. Vielmehr wird in der individuellen Aneignung der Offenbarung Gottes diese zugleich als die Voraussetzung des eigenen Glaubens durchsichtig. Der Glaube ist nicht nur ein neues und tieferes SichVerstehen des Menschen, sondern er wird sich durch die Ausrichtung auf die Offenbarung Gottes seiner selbst erst durchsichtig. Die inhaltlichen Bestimmungen der Offenbarung beschreiben somit nichts anderes als die Durchsichtigkeit, die der Glaube im Geschehen des Sich-Verstehens für sich ist. Aus diesem Grund hat die theologische Lehrtradition des Protestantismus im Anschluss an Luther den Offenbarungsbegriff durch die Doppelbestimmungen von Gesetz und Evangelium, Gericht und Gnade expliziert und die Christologie als Inbegriff der Offenbarung Gottes in der Geschichte verstanden. Denn wenn die Offenbarung Gottes das konkrete Geschehen des SichVerständlich-Werdens des Menschen ist, dann gehört zu diesem Geschehen, dass sich der Mensch in der Gebrochenheit und bleibenden Zweideutigkeit allen seines Tuns ansichtig wird und als solcher sich von Gott angenommen weiß. Jesus Christus ist freilich nicht allein deshalb die Offenbarung Gottes in der Geschichte, weil er der Ausdruck und die Darstellung des Geschehens des Glaubens ist. Das Geschehen des Glaubens steht immer in einer Geschichte. Geschichte ist aber nichts Vorliegendes oder ein gleichsam objektiv ablaufendes Realgeschehen, in dem sich Begebenheit an Begebenheit reiht. Vielmehr ist Geschichte eine Deutung des Geschehens aus der Gegenwart heraus. Die Geschichte entsteht erst in einem Akt der Deutung der Geschichte. Aber der Akt der Geschichtsdeutung, durch den Geschichte entsteht, steht seinerseits schon in der Geschichte und ist geschichtlich bestimmt. Der Offenbarungsbegriff nimmt dieses Ineinander von Deutung der

4. Offenbarungsbegriff in der gegenwärtigen Theologie

Geschichte und geschichtlicher Bestimmtheit jeder Deutung der Geschichte auf und entfaltet diesen Zirkel in der Christologie. In der Christologie als dem Inbegriff der Offenbarung Gottes in der Geschichte thematisiert der Glaube sein eigenes geschichtliches Eingebundensein. Zugleich repräsentiert der Glaube im Christus-Bild die Logik des Sich-Verständlich-Werdens im Vollzug dieses Sich-Verstehens. In einer um den Tod und die Auferstehung Jesu Christi fokussierten theologia crucis wird das Geschehen des Sich-Verstehens endlichen menschlichen Lebens selbst zum Thema der religiösen Reflexion.

III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik Der Heiligen Schrift kommt in der protestantischen Theologie seit ihren Anfängen bei Martin Luther eine geradezu fundamentale Bedeutung zu. Das in der Bibel niedergelegte Wort Gottes ist für den Protestantismus nicht nur die einzige Quelle aller theologischen Aussagen, sondern auch die alleinige Norm und Richtschnur von Theologie und Frömmigkeit. Die Bibel ist für den Protestantismus norma normans (maßgebende Norm der kirchlichen Lehre) im Unterschied zu den Bekenntnisschriften als norma normata (an der Bibel gemessene Lehrnorm) und gilt als Formalprinzip des Protestantismus im Unterschied zur Rechtfertigungslehre als Materialprinzip (dazu: [173]). Die lutherischen Bekenntnisschriften haben diese Grundlegungsfunktion der Heiligen Schrift nachdrücklich hervorgehoben, wenn es in der Formula Concordia von 1580 über die Prinzipienfunktion der Heiligen Schrift heißt, „Wir glauben, lehren und bekennen, daß die einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilt werden sollen, seind allein die prophetischen und apostolischen Schriften Altes und Neues Testament“ ([1], S. 767). Die Heilige Schrift der Bibel ist nach der Formula Concordia: 1. iudex (= Richter) 2. norma (= Richtschnur) 3. regula (= Maßstab) 4. lydius lapis (= Prüfstein) der theologischen und kirchlichen Lehre. Der Bibel sind, wie es in Abgrenzung zum Traditionsverständnis der römisch-katholischen Kirche heißt, die Traditionen „nicht gleich gehalten, sondern alle zumal miteinander derselben unterworfen“ ([1], S. 768).

Die von den Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche formulierte grundlegende Stellung der Bibel für die Theologie und die Kirchen des Protestantismus als dem einzigen Erkenntnisprinzip und der einzigen Norm in theologischen Fragen wurde von der Theologie des alten Protestantismus des 17. Jahrhunderts weiter ausgebaut. Die Prolegomena der altprotestantischen Dogmatiken unternahmen den Versuch, diese Prinzipienfunktion der Heiligen Schrift zu begründen. Durch die Offenbarung Gottes wird, wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, die Geltung der Heiligen Schrift als einem unfehlbar gewissen Prinzip begründet. Allerdings hat die Aufklärung diese

Grundlegungsfunktion der Heiligen Schrift

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III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik

Dogmatische Probleme durch Ende der Schriftautorität

Stellung der Heiligen Schrift als einer unfehlbaren Quelle theologischer Aussagen unwiederbringlich zerstört. Dies geschah zunächst durch die Anwendung der historischen Kritik auf die biblischen Schriften des Alten und Neuen Testaments. Dadurch wurde in einem komplexen historischen Prozess die Bibel zunehmend historisiert und das Schriftprinzip des alten Protestantismus entzaubert. Am Ende dieses Prozesses stellt sich die Bibel als religionsgeschichtlicher Text dar, der wie andere religiöse Texte allein aus seinem religionsgeschichtlichen Umfeld heraus verstanden werden muss. Damit ist freilich das Folgeproblem verbunden, welche normative Bedeutung die Bibel als ein historisch relatives religiöses Dokument für die Gegenwart noch haben kann und wie diese zu begründen ist. Mit der Auflösung der Schriftautorität in der Aufklärung sind für die Theologie des Protestantismus und seine Dogmatik gravierende Probleme verbunden, die man erahnen kann, wenn man sich die grundlegende Bedeutung der Schrift für die Reformatoren und die Theologie des alten Protestantismus vergegenwärtigt. Die seit der Aufklärung anhaltende ,Krise des Schriftprinzips‘ (Wolfhart Pannenberg) machte einen völligen Umbau der Theologie des Protestantismus und seiner methodischen Grundlagen erforderlich. Um die gegenwärtigen Problemanforderungen für die Bedeutung und Funktion der Bibel für die protestantische Theologie ausloten zu können, ist es unumgänglich, sich mit den Lehrbestimmungen der Schriftlehre des Protestantismus und der Krise dieser Schriftlehre vertraut zu machen.

1. Das Schriftverständnis Martin Luthers

Sola scriptura

„Man muss nämlich hier mit der Schrift als Richter ein Urteil fällen, was [aber] nicht geschehen kann, wenn wir nicht der Schrift in allen Dingen, die den Vätern beigelegt werden, den ersten Rang einräumen. Das heißt, dass sie durch sich selbst ganz gewiss ist, ganz leicht zugänglich, ganz verständlich, ihr eigener Ausleger [sui ipsius interpres] alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend“ ([25], Bd. 1, S. 81f). Im Zentrum der Theologie Martin Luthers steht, wie die zitierte Stelle aus Luthers Assertio omnium articulorum von 1520 unterstreicht, die Heilige Schrift. Das Wort Gottes sei die einzige Norm und Grundlage theologischer Aussagen. Sola scriptura – so lässt sich Luthers Überzeugung prägnant zusammenfassen. Diese alles beherrschende Stellung der Heiligen Schrift für die Theologie ist freilich erst das Resultat sowohl von Luthers theologischer Entwicklung in dem zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts als auch – damit verbunden – seiner Auseinandersetzung mit der römischen Kurie. Je mehr sich der Konflikt mit Rom am Ende des zweiten Jahrzehnts zuspitzte, umso mehr unterstreicht Luther die alleinige Prinzipienfunktion der Bibel für Theologie und Kirche. Schrift und Kirche treten für Luther nach 1517/18 auseinander, und zwar derart, dass die Bibel der Kirche und dem Lehramt vor und übergeordnet wird. Selbstverständlich gilt auch für die mittelalterliche Theologie, dass sie an der Schrift orientiert ist. Theologie ist sowohl für die scholastische Theologie als auch für Luther Auslegung vorgegebener autoritativer Lehrgrundlagen. Bereits der junge Luther hatte sich in seinen Erfurter Vorlesungen über die Sentenzen des Lombarden auf eine Vorrangstellung der „scriptura“ vor den

1. Das Schriftverständnis Luthers

„humanas rationes“ ([23], Bd. 5, S. 7) berufen. Allerdings steht diese von Luther behauptete Vorrangstellung der Schrift noch vollkommen im theologiegeschichtlichen Kontext seiner Zeit und Luther ist zu dieser Zeit noch fraglos davon überzeugt, dass Schrift und Kirchenlehre nicht in einem Gegensatz stehen.

a) Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn geht in ihrem Kern auf den patristischen Theologen Origenes (185–254) zurück. Origenes unterschied einen dreifachen Sinn der Schrift: (1) die einfachen Gläubigen erbaut der körperliche (somatische) oder geschichtliche Sinn der Heiligen Schrift; (2) die fortgeschrittenen Gläubigen begnügen sich nicht mit dem geschichtlichen Sinn der Schrift, sondern für sie ist der seelische (psychische) Sinn der Schrift und (3) den Vollkommenen schließlich ordnet Origenes den geistigen (pneumatischen) Schriftsinn zu. Mit dieser Unterscheidung und Zuordnung unterschiedlicher Sinne der Heiligen Schrift fasst Origenes eine Entwicklung innerhalb der alten Kirchen zusammen. Schon früh wurde nämlich innerhalb des Christentums zwischen dem Buchstaben der Schrift und einem höheren, geistigen Sinn der Schrift unterschieden. Diese Unterscheidung zwischen Geist und Buchstabe innerhalb der Bibel wurde für das frühe Christentum aus mehreren Gründen notwendig. Ich beschränke mich im Folgenden auf ein zentrales Grundmotiv. Die Auslegung der Bibel als einem zweiteiligen Kanon von Altem und Neuem Testament geschah im Horizont des Bekenntnisses zu Jesus Christus. Die einzige Möglichkeit, angesichts des zweiteiligen Kanons von Altem und Neuem Testament sowohl an dem Christusbekenntnis als auch an der inneren Einheit der gesamten Schrift festzuhalten, lag nun für das frühe Christentum darin, den Text des Alten Testaments so zu interpretieren, dass man über den bloßen Wortsinn des Textes hinausgeht. Auch das Alte Testament spricht von Jesus Christus, zwar nicht wörtlich, aber sehr wohl typologisch oder allegorisch. Auf dem Hintergrund des Bekenntnisses zu Jesus Christus und unter Voraussetzung der inneren Einheit der Schrift kann man das Alte Testament nicht mehr wörtlich, sondern nur noch allegorisch verstehen. Im Anschluss an Origenes wird die Unterscheidung von Buchstabe und Geist von Johannes Cassianus (gest. um 430) zur Lehre vom vierfachen Schriftsinn ausgebaut und in dieser Form bleibt sie für das Mittelalter bestimmend. Cassianus unterschied (1) den Literalsinn (littera, historica). Dieser bezieht sich auf die wörtliche Bedeutung der Schriftworte. So ist z. B. Jerusalem eine Stadt in Israel. (2) Der allegorische Sinn (allegoria) des Bibeltextes bezieht sich auf den Glaubenden und hat demzufolge den Status einer dogmatischen Interpretation des Bibeltextes. In der allegorischen Bedeutung meint Jerusalem keine Stadt in Israel mehr, sondern ist ein Bild für die Kirche. (3) Der tropologische Sinn (tropologia oder sensus moralis) bezieht sich auf die christliche Liebe, so dass es bei dem tropologischen Schriftsinn um eine moraltheologische Interpretation des Bibeltextes geht. Auf dieser Ebene meint Jerusalem weder eine Stadt in Israel noch ein Bild für die Kirche, sondern Jerusalem ist ein Bild der menschlichen Seele. Der letzte Schriftsinn ist (4) der anagogische Sinn (anagogia), bei dem es um die eschatologische

Origenes’ Schriftsinn

Johannes Cassianus

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III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik

Dimension einer Schriftstelle geht. Jerusalem steht hier als Bild der himmlischen Herrlichkeit. Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn: Bezeichnung

Lateinischer Name

Bedeutung

Beispiel „Jerusalem“

Literalsinn

littera, historica

wörtliche, historische Auslegung

Stadt in Israel

allegorischer Sinn

allegoria

Auslegung auf den Glauben = dogmatische Interpretation

Bild der Kirche

tropologischer Tropologia, Auslegung auf Sinn sensus moralis die christliche Liebe = moraltheologische Interpretation

Bild der menschlichen Seele

anagogischer Sinn

Bild der himmlischen Herrlichkeit

anagogia

Auslegung auf die Hoffnung = eschatologische Interpretation

Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn ist in einen Merkvers eingegangen, den sich die mittelalterlichen Theologiestudenten eingeprägt haben: „Littera gesta docet, quid credas allegoria. Moralis quid agas, quod tendas anagogia.“ (Der Buchstabe lehrt, was geschehen ist; die Allegorie, was zu glauben ist; der moralische Schriftsinn, was zu tun ist; der anagogische, was zu hoffen ist.)

b) Luthers Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift Luther eröffnete 1513 seine Vorlesung über den Psalter damit, dass er seinen Studenten in Form einer „PRAEFATIO IHESU CHRISTI“ das Schema des vierfachen Schriftsinns vor Augen stellte ([23], Bd. 5, S. 46–48 = [22], S. 12 f.; siehe hierzu [108], S. 276). In seiner ersten Psalmenvorlesung handhabte Luther nicht nur das überlieferte hermeneutische Verfahren der Interpretation des biblischen Textes geradezu selbstverständlich, sondern auch das übliche Verfahren der Kommentierung. Mit der mittelalterlichen Lehrtradition geht Luther davon aus, dass die Psalmen auf Christus bezogen sind. Sie sind vor allem Gebete Christi. Luther verstärkte allerdings bereits in der ersten Psalmenvorlesung die christologische Dimension der Psalmen. Dadurch kommt es im Verlauf der Vorlesung zu einer Veränderung des traditionellen Auslegungsschemas von dem vierfachen Schriftsinn. Diese Veränderung besteht darin, dass der tropologische Schriftsinn gegenüber dem allegorischen und dem anagogischen Schriftsinn die Oberhand gewinnt und der senus historicus zum Grundsinn der Schrift erhoben wird ([108], S. 276; [158], S. 547; [140], S. 33 f.). Der buchstäbliche Sinn des Psalters hat es mit Christus zu tun und der tropologische mit dem Evangelium. Auf diese Weise verknüpft

1. Das Schriftverständnis Luthers

Luther den wörtlichen Sinn der Schrift mit dem Verstehen der Schrift durch den Glaubenden. In seiner Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam hat Luther 1525 in De servo arbitrio sein Schriftverständnis in der Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift zusammengefasst. In dieser Lehre kommt der innere Zusammenhang von äußerem Schriftwort und innerer Erfahrung zur abschließenden Klärung. Mit der Unterscheidung und Zuordnung von äußerer und innerer Klarheit der Schrift gehen in diese Lehre zwei Aspekte von Luthers Schriftverständnis ein, die sich dieser in seinen exegetischen Vorlesungen seit der ersten Psalmenvorlesung erarbeitet hatte. Vergleichsweise einfach ist zunächst der Gehalt von Luthers Verständnis der äußeren Klarheit der Schrift zu bestimmen. Luthers Verständnis der claritas externa scripturae (äußere Klarheit der Schrift) ist das Resultat der von ihm 1518/19 vorgenommenen Auflösung der mittelalterlichen Lehre von dem vierfachen Schriftsinn, in deren Folge der sensus historicus von Luther zum Grundsinn der Schrift erhoben wird ([22], Bd. 5, S. 27 f.). Doch was versteht Luther unter der äußeren Klarheit der Schrift? Gleich in den ersten Abschnitten von De servo arbitrio erklärt Luther: „Ein und dieselbe Sache aber, ganz deutlich der ganzen Welt erklärt, wird in der Schrift mal mit klaren Worten ausgesagt, mal verbirgt sie sich hinter undeutlichen Worten. Nun macht es nichts, wenn die Sache am Licht ist, ob irgendein Zeichen in Dunkelheit liegt, weil ja unterdessen viele andere Zeichen am Licht sind“ ([22], Bd. 18, S. 606 = [25], Bd. 1, S. 237). Der Begriff claritas externa bezeichnet eine offenkundige Sache, die im Licht steht und die durch sprachliche Zeichen angezeigt wird. Luther hat dies in De servo arbitrio und auch sonst als Evidenz bezeichnet. Nun macht bereits das von Luther in diesem Zusammenhang angeführte Beispiel eines öffentlichen Brunnens, den man von den Seitengassen einer Stadt aus nicht sieht, deutlich, dass er mit Evidenz an das Vorliegen einer Sache in ihrer objektiven Bestimmtheit denkt ([22], Bd. 18, S. 606 = [25], Bd. 1, S. 237; [157], bes. S. 171 f.). Es ist hier also genauer von Sachevidenz zu reden, die sich auf die sprachlichen Zeichen überträgt, die diese repräsentieren ([22], Bd. 18, S. 641; [108], S. 277). Damit kann zusammenfassend gesagt werden, mit dem Terminus claritas externa wird von Luther die sich in dem Wortsinn der Schrift ausdrückende Sachevidenz bezeichnet ([22], Bd. 18, S. 641 u. 739). Mit der Klärung der claritas externa der Schrift ist jedoch Luthers Schriftverständnis noch nicht vollständig beschrieben. Dies wird sofort deutlich, wenn man folgende Stelle aus De servo arbitrio in Betracht zieht. „Was kann denn in der Schrift noch Erhabenes verborgen sein, nachdem die Siegel gebrochen sind und der Stein von der Tür des Grabes weggewälzt worden ist? Womit das höchste Geheimnis an den Tag getreten ist, dass nämlich Christus, der Sohn Gottes, Mensch geworden ist, dass Gott dreifaltig ist und ein einziger, dass Christus für uns gelitten hat und herrschen wird in Ewigkeit“ ([22], Bd. 18, S. 606 = [25], Bd. 1, S. 235). Die genannte Stelle ist nicht nur deshalb so aufschlussreich, weil sie den benennt, der in der Schrift offenkundig zutage tritt, nämlich den menschgewordenen Gott, Christus den Gekreuzigten, sondern auch weil sie den Zusammenhang von äußerer und innerer Klarheit der Schrift präzise benennt ([157], S. 190 f. u. 207 ff.). Für das Verständnis von Luthers Begriff der claritas interna (innere Klarheit

claritas externa scripturae

Luthers Begriff der Evidenz

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III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik claritas interna scripturae

der Schrift) und ihres Zusammenhangs mit der claritas externa ist auszugehen von folgender Bemerkung Luthers: „Wenn du von der inneren Klarheit sprichst, sieht kein Mensch auch nur ein Jota in den Schriften, es sei denn, er hätte den Geist Gottes“ ([22], Bd. 18, S. 609 = [25], Bd. 1, S. 239). Luther nimmt in sein Verständnis der claritas interna die von ihm in der ersten Psalmenvorlesung ausgearbeitete Unterscheidung von Geist und Buchstabe im Anschluss an 2. Kor. 3,6 – „der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ – auf, die er jedoch im weiteren Verlauf seiner theologischen Entwicklung durch die darin enthaltene Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ablöste. Worauf es in unserem Zusammenhang ankommt, ist nun, dass der Geist inwendig wirkt, jedoch in seinem Wirken auf den äußeren Buchstaben angewiesen ist. Der Geist bedient sich in seinem gewissmachenden Handeln des äußeren Buchstabens als einem Vehikel (vgl. [22], Bd. 18, S. 695). Das gewissmachende Handeln des Geistes besteht nun seinem Gehalt nach darin, dass er das durch die Sünde verfinsterte menschliche Herz umwendet. Der Heilige Geist überwindet die Selbstsüchtigkeit des menschlichen Herzens dadurch, dass er im Herzen des Menschen das Bild Christi aufrichtet und ihn so „in einem sehr süßen Hinreißen“ ([22], Bd. 18, S. 782 = [25], Bd. 1, S. 647) zu Christus hinzieht. Damit ist der Gehalt von Luthers Begriff der claritas interna der Schrift erreicht. Sie bezieht sich auf die Herzenserkenntnis ([22], Bd. 18, S. 609) und beinhalt die mit dem Rechtfertigungsglauben verbundene Heilsgewissheit, die als ein eigenes Wirken des Geistes im Inneren des Menschen verstanden werden muss. Die innere Klarheit der Schrift entspricht der äußeren Klarheit. Vermöge der inneren Klarheit der Schrift, nämlich der durch den Geist gewirkten Herzenserkenntnis, vermag der Mensch die äußere Klarheit der Schrift sowohl in ihren einzelnen Bestandteilen wie im Ganzen zu erfassen. Ohne die innere Klarheit bleibt aber auch jenes höchste Geheimnis in der Schrift, von dem oben bereits die Rede war, nämlich dass „die Siegel gebrochen, der Stein von des Grabes Tür gewälzt“ ([157], S. 182) ist, verborgen. Luther unterscheidet zwischen äußerer und innerer Klarheit der Schrift. Für das Verstehen der Schrift sind beide Aspekte konstitutiv. Das Verstehen der Heiligen Schrift ist das Werk des dreieinigen Gottes. Denn ohne dass Gott vermittelst des äußeren Worts durch den Heiligen Geist im Herzen des Menschen Christus als den menschgewordenen und gekreuzigten Gott Gestalt werden lässt, kommt es weder zur Gewissheit des Menschen noch zu einem Verstehen der Heiligen Schrift.

2. Die Lehre von der Heiligen Schrift im Altprotestantismus Die von Luther gegenüber der römischen Kirche zunehmend betonte alleinige Autorität der Heiligen Schrift in geistlichen und theologischen Fragen, die in der Lehre von der doppelten Klarheit der Heiligen Schrift ihre abschließende Gestalt gefunden hat, wird von den protestantischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts aufgenommen und zur Schriftlehre weiter ausgebaut

2. Lehre von der Heiligen Schrift im Altprotestantismus

(vgl. [37], S. 18–58). Die Heilige Schrift gilt den protestantischen Dogmatikern als der Ort, an dem die Offenbarung Gottes niedergelegt und uns übermittelt ist. Sie ist deshalb das principium cognoscendi (Erkenntnisprinzip) der Theologie. Die Heilige Schrift in ihrer Begründungsfunktion für die Theologie zu erörtern, ist die Aufgabe der Schriftlehre in den Prolegomena der Dogmatik. Demzufolge gehört es zu den grundlegenden Aufgaben der Schriftlehre, den Begriff der sacra scriptura (Heilige Schrift) zu definieren. Aus dieser Aufgaben- und Problemstellung resultiert der Aufbau des dogmatischen Lehrstücks De sacra scriptura. In der Lehre von der Heiligen Schrift geht es um drei Themenbereiche: 1. um den Begriff der Heiligen Schrift 2. um die Eigenschaften oder affectiones der Heiligen Schrift 3. um den Kanon der Heiligen Schrift. Diese Gliederung der Schriftlehre des alten Protestantismus resultiert zum einen aus der Abgrenzung von der römisch-katholischen Kirche und ihrer Betonung von Tradition und kirchlichem Lehramt als letzter Entscheidungsinstanz und zum anderen aus der Übernahme der aristotelischen Metaphysik zu Beginn des 17. Jahrhunderts.

a) Der Begriff der Heiligen Schrift In den Dogmatiken des Protestantismus des 17. Jahrhunderts wird die Heilige Schrift als das alleinige Erkenntnisprinzip sowie die einzige Norm und Richtschnur der christlichen Theologie verstanden und begründet. Der spätorthodoxe lutherische Theologe David Hollaz definierte diese Prinzipienfunktion der Heiligen Schrift folgendermaßen: „Die christliche Theologie gründet sich auf das allergewisseste Erkenntnisprinzip, nämlich auf die göttliche Offenbarung, und zwar nach dem heutigen Stande der Kirche, auf die vermittelte göttliche Offenbarung, die in den Schriften der Propheten und Apostel enthalten ist. Daher ist das absolut erste allumfassende Prinzip der Theologie: ,Was Gott offenbart hat, das ist unfehlbar wahr‘. Das relativ und für die gegenwärtige Zeit erste Prinzip der Theologie ist: ,Was die heilige Schrift lehrt, das ist unfehlbar gewiß.‘ […] Denn nachdem Gott gewollt hat, daß das, was von den offenbarten Dingen zur Seligkeit zu kennen nötig ist, in bestimmten Büchern zusammengefaßt werde, und dieweil neue Offenbarungen ausbleiben, gründet sich die Fertigkeit der Theologie auf jene alten Offenbarungen, die zu den Propheten und Aposteln unmittelbar geschehen und schriftlich aufgezeichnet sind, als auf das einzige und adäquate Prinzip“ ([17], Prol. III, q. 2 und prob. c. = [7], S. 310). An dieser Bestimmung des Schriftprinzips durch Hollaz, insbesondere an der von ihm vorgenommenen Unterscheidung zwischen einem ersten absoluten Prinzip der Theologie und einem relativen Prinzip der Theologie werden schon die Probleme und die Schwierigkeiten ersichtlich, vor die diese Schriftlehre sich gestellt sieht. 1. In der Schriftlehre geht es um die Offenbarung oder das verbum dei (Wort Gottes). Das Prinzip der Theologie ist allein das Wort Gottes, denn nur dieses wirkt den Glauben und nur von ihm gilt, dass es unfehlbar wahr ist.

Wort Gottes und Schrift

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III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik 2. Das Wort Gottes liegt jedoch nicht als solches vor, sondern allein in der Schrift. Es ist also nicht unmittelbar gegeben, sondern nur vermittelt durch die Schrift ist das Wort Gottes zugänglich. 3. Hieraus resultiert schließlich die Aufgabe, das Verhältnis von Wort Gottes und Schrift zu bestimmen. Das reformatorische Pathos hängt daran, dass das Wort Gottes der Kirche vor- und übergeordnet ist. Aber das Wort Gottes ist uns nur durch die Heilige Schrift, aber damit auch die Kirche vermittelt.

Ablehnung des Traditionsprinzips

Wie bewirkt Gott die Schrift?

Die protestantischen Theologen standen vor dem Problem, das Verhältnis zwischen Wort Gottes und Schrift zu klären. Denn wenn allein das Wort Gottes unfehlbar wahr und gewiss sein soll, aus welchem Grunde gilt dies auch von der Schrift? Sie ist ja nicht selbst Gott, sondern Wirkung Gottes. Die alten Dogmatiker lösen das Problem der Zuordnung von Wort Gottes und Schrift durch die Lehre von der Inspiration oder Theopneusti (nach 2. Tim 3,16). Die Schriftinspiration wird weder als eine Personal- noch als eine Realinspiration, sondern im strengen Sinne als eine Verbalinspiration verstanden. Gott gibt der Person des Bibelverfassers nicht nur einen impulsus (= Anstoß), er inspiriert auch nicht nur die res (= Inhalte), sondern die verba (= Worte). Für Johann Andreas Quenstedt (1617–1688) ist die Heilige Schrift ein Diktat (dictamen) des Heiligen Geistes und die menschlichen Schriftsteller fungieren als Hand (manus), Schreibfedern (calami) und Schreibtafeln (tabelliones) des Geistes ([31], Bd. 1, S. 55 u. 68). Die Inspirationslehre der altprotestantischen Dogmatik hat die Funktion, das Wort Gottes, welches den eigentlichen Gegenstand der Theologie bildet, mit der Schrift als dem Vehikel des Worts Gottes zu vermitteln. Erst aufgrund der Inspirationsvorstellung kann die Heilige Schrift geradezu als Wort Gottes definiert werden kann. Die Heilige Schrift wird in diesem Sinne von den altprotestantischen Theologen als das schriftlich aufgezeichnete Wort Gottes verstanden ([14], Bd. 1, S. 240). Zwischen der Schrift und dem Wort Gottes besteht kein realer Unterschied, da sie nichts anderes enthält als das Wort Gottes. Da die Heilige Schrift das Wort Gottes ganz und vollständig enthält, kann außerhalb der Schrift kein Wort Gottes gefunden werden. Damit ist der Gedanke einer über die Schrift hinausgehenden Offenbarungsquelle, wie er von der römisch-katholischen Theologie in Form des Traditionsprinzips vertreten wird, abgelehnt. Seit dem frühen 17. Jahrhundert wird diese Vermittlungsfunktion der scriptura (Schrift) als verbum externum (äußeres Wort) mit den begrifflichen Mitteln der aristotelischen Metaphysik interpretiert. Zur näheren Entfaltung dieses Verhältnisses greifen die altprotestantischen Theologen die aristotelische Lehre von den vier Ursachen auf und entwickeln auf dieser methodischen Grundlage die Schriftlehre der Dogmatik. Die aristotelische Ursachenlehre erlaubte den Theologen eine genaue Zuordnung und Unterscheidung von Wort Gottes und Schrift ([32], Bd. 1, S. 81–97). Die vier causae sind: (1.) causa efficiens (= Wirkursache), (2.) causa materialis (= Materialursache), (3.) causa formalis (= Formalursache) und (4.) causa finalis (= Zielursache). So unterscheiden die alten Dogmatiker etwa die Wirkursache in eine causa principalis (= Hauptursache) und eine causa instrumentalis (= werkzeugliche Ursache). Durch diese Unterscheidung sollen Gott als der alleinige Grund des Worts Gottes und die Schrift als causa efficiens prinincipalis (Gewirktes) einander auf differenzierte Weise zugeordnet werden. Gott ist zwar der

2. Lehre von der Heiligen Schrift im Altprotestantismus

alleinige Autor der Schrift, aber er hat bei der Hervorbringung der Schrift nicht unmittelbar gehandelt, sondern vermittelt. Das Wort Gottes ist durch eine causa efficiens instrumentalis (Instrumentalursache), nämlich die sancti dei homines (heilige Menschen = Propheten und Apostel) vermittelt. Die Aufnahme der aristotelischen Lehre von den vier Ursachen zur Explikation des Verhältnisses von Wort Gottes und Schrift erlaubte es, zeitenthobene Ewigkeit (= das Wort Gottes) und die Schrift auf eine differenzierte Weise zu verknüpfen. Die Bibel wird unter Aufnahme der aristotelischen Metaphysik als ein Werk des Heiligen Geistes verstanden, der, gebunden an den Buchstaben der Schrift, auch die Glaubensgewissheit bei dem einzelnen Menschen hervorbringt. Als prinzipielle Ursache der Schrift und des Wirksamwerdens der Schrift im Menschen durch den Glauben fungiert der Heilige Geist. Damit ist die Konsequenz verbunden, dass die Schrift als Ganze sich weder widerspricht noch etwas Unwahres im Hinblick auf empirische oder überempirische Sachverhalte enthält. Ja, die gesamte Schrift hat eigentlich nur einen einzigen Inhalt, nämlich das Evangelium von Jesus Christus.

b) Die Eigenschaften (= affectiones) der Schrift Die Schriftlehre der altprotestantischen Dogmatik erschöpft sich nicht in der Bestimmung des Wesens der Heiligen Schrift. Den zweiten Bestandteil der Schriftlehre bilden die Erörterungen ihrer Eigenschaften, der affectiones scripturae. Mit diesem Aufbau folgen die alten protestantischen Theologen dem Aufbau der Metaphysik. Diese behandelt zunächst das Sein im Ganzen (de ente in genere) und im Anschluss daran die Eigenschaften des Seins (affectiones entis). Die affectiones geben Auskunft über die reale Existenz oder Wirksamkeit dessen, von dem sie ausgesagt werden (vgl. [32], Bd. 1, S. 98). Die Lehre von den Eigenschaften der Schrift soll vor allem die Bedeutung der Bibel als theologisches Erkenntnisprinzip erläutern. Das Hauptthema der Lehre von den affectiones ist die Autorität (auctoritas) der Heiligen Schrift. Dabei geht es um die Begründung der Glaubensgewissheit und um die kontroverstheologische Frage, ob die Heilige Schrift hinreichend sei zur Begründung des Glaubens oder ob ihr Tradition und kirchliches Lehramt zur Seite zu stellen sind. Im Unterschied zur römisch-katholischen Theologie und Kirche ist für den Protestantismus die Schrift hinreichend zur Begründung der Glaubensgewissheit, da Gott selbst der alleinige Urheber und Autor der Schrift ist. Durch seinen Geist wirkt Gott sowohl die Schrift als auch den Glauben an die Autorität der Schrift. Den durch den Heiligen Geist im Menschen gewirkten Glauben an die Autorität der Schrift nennen die altprotestantischen Theologen im Anschluss an Johannes Calvin testimonium spiritus sancti (Zeugnis des Heiligen Geistes) und unterscheiden dieses Zeugnis in ein testimonium sancti internum et externum (inneres und äußeres Zeugnis des Heiligen Geistes). Luthers Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift findet auf diese Weise Eingang in das metaphysische Schema der Schriftlehre des Altprotestantismus. Die Autorität der Schrift bildet für die Schriftlehre des Altprotestantismus die wichtigste Eigenschaft. Die Abgrenzung von der römisch-katholischen Kirche macht es erforderlich, die Glaubensgewissheit auf ein unerschütterli-

Bibel als theologisches Erkenntnisprinzip

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III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik

ches klares und wahres Fundament zu stellen. Die weiteren Eigenschaften der Schrift, die von den Dogmatikern aufgeführt werden, variieren. Ihre Funktion besteht allein darin, die Autorität der Schrift zu begründen. Dabei unterscheiden die alten Dogmatiker zwischen affectiones scripturae primariae und secundariae (primäre und sekundäre Eigenschaften der Schrift). Affectiones scripturae primariae sind: 1. auctoritas = Vollmacht 2. perfectio s. sufficientia = Vollkommenheit oder Hinreichendheit 3. perspicuitas s. claritas = Deutlichkeit oder Klarheit 4. efficacia = die Heilswirksamkeit der Schrift.

(1.) auctoritas Unter der Autorität der Schrift verstehen die altprotestantischen Theologen ihre Wirksamkeit zum Heil (vgl. [37], S. 27–36). Es geht um die soteriologische Qualität der Schrift. Die auctoritas der Schrift hat ihr principium essendi allein in Gott. Die Inspirationslehre begründet die Schrift als principium cognoscendi. Dabei nehmen die alten Dogmatiker an dem Begriff der auctoritas eine Unterscheidung zwischen der: 1. auctoritas causativa = verursachende Vollmacht; die Schrift bringt im Menschen die Zustimmung zu ihr selbst hervor, und der 2. auctoritas normativa = normgebende Vollmacht; die Schrift ist die einzige Lehrnorm und der Richter in theologischen Streitfragen, vor. Die Schrift erweist sich als göttliche Autorität durch drei Zeugnisse: 1. testimonium spiritus sancti internum = das innere Zeugnis des Heiligen Geistes; die Schrift bezeugt sich selbst dem Glaubenden als Wort Gottes durch das innere Wirken des Geistes (= autopisti der Schrift) 2. kriteria interna = die inneren Kennzeichen der Schrift (ihr Alter, ihr Inhalt, die Göttlichkeit ihrer Wunder) 3. kriteria externa = die äußeren Kennzeichen der Schrift (Bezeugung der Schrift durch die Kirche).

Grundlegend ist freilich allein das testimonium spiritus sancti internum. Die kriteria interna und externa sind dem inneren Zeugnis des Geistes untergeordnet, und zwar aus dem Grund, weil sie einen nur menschlichen Glauben erzeugen und keinen göttlichen. Dieser kommt allein durch das innere Zeugnis des Heiligen Geistes zustande.

Die Heilige Schrift ist vollkommen und hinreichend

(2.) perfectio seu sufficientia Nach 2. Tim 3,16 ist die Heilige Schrift vollständig, wie die altprotestantischen Theologen in Abgrenzung zu dem Traditionsprinzip der römischkatholischen Kirche betonen (vgl. [37], S. 37–40). Die protestantischen Theologen sind der Meinung, dass der Kanon der Schrift alles enthält, was zur Erlangung des ewigen Lebens nötig ist. Die Schrift bedarf aufgrund der ihr eigenen Vollkommenheit und Hinreichendheit keiner Ergänzung durch andere Quellen, um den Willen Gottes zu erkennen. Diese perfectio wird mit Hinsicht auf das Heil ausgesagt und nicht überhaupt. Sie zielt auf den soteriologischen Gehalt der Schrift ([32], Bd. 1, S. 117). Allerdings sind die

2. Lehre von der Heiligen Schrift im Altprotestantismus

Eigenschaften der perfectio und sufficientia der auctoritas der Schrift untergeordnet. (3.) perspicuitas (efficacia) Die Darstellung des Worts Gottes als principium cognoscendi für das Heil und seine Ergreifung wendet sich gegen die römisch-katholische These, dass die Schrift ohne kirchliches Lehramt dunkel und für Laien unverständlich sei (vgl. [37], S. 40–49). Die Feststellung der Klarheit der Schrift, sofern es um die Mitteilung des Heilswegs geht, gehört daher zum festen Bestandteil der Schriftlehre der altprotestantischen Dogmatik. Die perspicuitas beziehen die altprotestantischen Theologen auf die Klarheit des Heils und des Wegs zu ihm. Als verbum dei ist die scriptura klar. Mit der Eigenschaft der Klarheit der Schrift wird Luthers These von der doppelten Klarheit der Schrift in die Schriftlehre aufgenommen. Der Bezugspunkt aller Aussagen über die Schrift ist das in der Schrift niedergelegte Wort Gottes und nicht die Schrift als solche. An die Behandlung der perspicuitas schließen sich Erörterungen über die Auslegung der Bibel, insbesondere der dunklen Stellen an. Dabei folgen die altprotestantischen Theologen der These Luthers, dass die Schrift sich selbst interpretiert (facultas scripturae se ipsam interpretandi). Die primariae affectiones bilden sowohl die Grundlage als auch die Folge der auctoritas und beziehen sich auf die glaubensschaffende Funktion der Schrift. Von den primären Eigenschaften der Schrift unterscheiden die altprotestantischen Theologen die sekundären Eigenschaften der Schrift (affectiones scripturae secundariae). Diese sekundären Eigenschaften beziehen sich auf die Integrität des Kanons oder die Übersetzbarkeit der Bibel und sind recht uneinheitlich. Im Fokus der Affektionenlehre stehen die durch die Schrift vermittelte Glaubensgewissheit sowie die kontroverstheologische Abgrenzung von dem katholischen Schriftverständnis bzw. Traditionsprinzip. Die Schriftlehre soll die von Luther betonte theologische Grundlegungsfunktion der Bibel begründen und gegenüber Einwänden verteidigen. Die Begründung der Glaubensgewissheit ist das zentrale Anliegen der altprotestantischen Lehre von der Heiligen Schrift in ihrer metaphysischen Gestalt.

c) Der Kanon der Schrift Das dritte große Thema, welches in der Schriftlehre der Prolegomena der altprotestantischen Dogmatik erörtert wurde, ist die Frage nach dem Kanon der Schrift (vgl. [37], S. 49–58; [11], Bd. 17, S. 562–570). Das mit der Kanonfrage verbundene Problem für die protestantische Theologie liegt darin, dass der biblische Kanon in seiner Doppelgestalt das Resultat von kirchlichen Entscheidungen im 4. Jahrhundert darstellt und folglich durch die kirchliche Tradition vermittelt ist. Damit sei dieser jedoch, so die römisch-katholische Polemik gegen das protestantische Schriftprinzip (sola scriptura), welches als alleiniges Prinzip von Theologie und Kirche fungieren soll, seinerseits durch die Tradition bedingt. Aus diesem Grund mussten die altprotestantischen Theologen den der Kirche vor- und übergeordneten Status des gesamten biblischen Kanons, seiner kirchlichen Vermitteltheit ungeachtet, zur Geltung bringen. Das entscheidende Argument bildet der Gedanke der Verbalinspira-

Sonderstatus des biblischen Kanons

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III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik

tion des gesamten Kanons. Die libri canonici (kanonische Bücher) sind die von Gott inspirierten Bücher des Alten und Neuen Testaments, die als Norm und Richtschnur des Glaubens und der Lehre dienen. Ihre auctoritas erweist sich allein dadurch, dass der Heilige Geist, welcher der Autor der Schriften des Alten und des Neuen Testaments ist, in dem Menschen den Glauben an die auctoritas der Schrift hervorbringt. Von den libri canonici unterscheidet die altprotestantische Schriftlehre die libri apocryphi (apokryphe Bücher). Damit sind vor allem alttestamentliche Schriften gemeint, „deren göttlicher Ursprung entweder zweifelhaft ist, oder von welchem erwiesen ist, daß kein solcher vorhanden“ ([37], S. 49). Diese Schriften sind, worauf Luther bereits hingewiesen hat, zwar nützlich für die erbauliche Lektüre, jedoch keine Grundlage für die Lehrbildung. Die Kanonizität der biblischen Schriften wird durch den Inspirationsgedanken begründet. Die Behauptung der Verbalinspiration der Schrift bezieht sich nicht auf einzelne Schriftstellen, sondern auf den gesamten zweiteiligen Kanon von Altem und Neuem Testament. Der Kanon in seiner Gesamtheit ist göttlich inspiriert. Eine untergeordnete Rolle für die Entscheidung der Frage, ob ein biblisches Buch in den Kanon gehört oder nicht, spielt das Zeugnis der ältesten Kirche. Grundlegend bleibt die dogmatische Konstruktion des Kanons in seinem Umfang. Allerdings haben die lutherischen Bekenntnisschriften im Unterschied zu den reformierten Bekenntnissen sowie dem Konzil von Trient keine Festlegung des Umfangs des Kanons der biblischen Schriften des Alten und Neuen Testaments vorgenommen.

3. Die Krise des Schriftprinzips

Tradition der kritischen Exegese

Im Jahre 1963 veröffentlichte Wolfhart Pannenberg einen Artikel mit dem Titel Die Krise des Schriftprinzips, in dem er die seit der Aufklärung anhaltende Umformungskrise des Protestantismus mit der Auflösung des Schriftprinzips in Zusammenhang bringt ([167], S. 13). Und in der Tat stellte die Auflösung des Schriftprinzips der altprotestantischen Theologie für den Protestantismus eine Grundlagenkrise ersten Ranges dar, an deren Folgen auch die gegenwärtige protestantische Theologie noch arbeitet. Das Dilemma für die protestantische Theologie besteht darin, dass einerseits der Bezug auf die Bibel für den Protestantismus seit seinen Anfängen geradezu konstitutiv ist und andererseits der von der altprotestantischen Dogmatik zum Schriftprinzip ausgebaute Schriftbezug unter den Bedingungen des modernen historischen Bewusstseins nicht mehr revitalisiert werden kann. Gewiss, die Auflösung des Schriftprinzips der alten Dogmatik geschah in einem komplexen Prozess, der je nach theologischer Position unterschiedlich beurteilt wird. Ebenso deutlich ist aber auch, dass die Theologie des Protestantismus, in welcher Form und Weise sie auch ausgestaltet wird, sich mit der Krise des Schriftprinzips auseinandersetzen muss. Eine Schrittmacherfunktion für die Auflösung des Schriftprinzips der alten Dogmatik und die Etablierung einer modernen Theologie kommt der biblischen Exegese zu ([153]; [163]; [175]). Die Anstöße zur historisch-kritischen Betrachtung der biblischen Schriften gingen von England, Holland und Frankreich aus. Isaac La Peyrère (1596–1676), Baruch de Spinoza

3. Die Krise des Schriftprinzips

(1632–1677), Richard Simon (1638–1712), Jean Le Clerec (1657–1736) und Jean Astruc (1684–1766) leisteten die entscheidenden und grundlegenden textkritischen Vorarbeiten. Sie untersuchten zum ersten Mal den Text der Bibel kritisch. Den Hintergrund bildeten die Wandlungen im Weltbild seit dem 16. Jahrhundert, und zwar nicht in erster Linie die neuen naturwissenschaftlichen Entdeckungen, sondern die Kenntnis fremder Kulturen. Dadurch wurde der zeitliche Abstand zwischen den biblischen Schriften und der eigenen Gegenwart zunehmend vor Augen geführt, so dass sich ein Distanzbewusstsein gegenüber der Bibel und ihrer Zeit etablieren konnte. Die großen Entdeckungsreisen im 16. Jahrhundert ließen Völker in das Blickfeld der Europäer treten, die in den biblischen Geschlechterchronologien und Völkertafeln weder vorkamen noch vorgesehen waren. Lassen sich die Eskimos auf die in der Noachitischen Völkertafel (Gen 10) notierten drei Völkerstammväter Sem, Ham und Japhet zurückführen, fragt Le Peyrère? ([170], S. 154. Zit. nach [175], S. 140). Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden diese Debatten in der deutschsprachigen Diskussion rezipiert. Der Versuch, die Veränderungen des Weltbilds mit dem biblischen Text in Einklang zu bringen, führte im 18. Jahrhundert zunehmend zu einer Emanzipation der biblischen Exegese von den Vorgaben der theologischen Dogmatik und damit zu einem Einzug des historischen Denkens in die Theologie. Den methodischen Ausgangspunkt für die Interpretation des biblischen Textes bildet nicht mehr die dogmatische Lehrform der Schriftlehre, sondern der biblische Text soll in seinem eigenen geschichtlichen Kontext verstanden werden. Grundlegend für diese Umorientierung von der Wahrheitsfrage nach dem Sinn des biblischen Textes und damit für die Entstehung der modernen Hermeneutik war Spinoza. In seinem Theologisch-politischen Traktat, der anonym im Jahre 1670 erschien, formuliert Spinoza als grundlegendes hermeneutisches Prinzip, dass nach dem Sinn des Textes unter Absehung von seinem Wahrheitswert zu fragen sei. Der Textinterpretation geht es bloß „um den Sinn der Rede, nicht um ihre Wahrheit“. „Der Sinn ist bloß aus dem Sprachgebrauch zu ermitteln oder aus solchen Erwägungen, die nur die Schrift als Grundlage anerkennen“ ([179], S. 237). Damit ist die Emanzipation der Exegese von der Dogmatik, die Differenz von Geschichte und Normativität formuliert. Am Ende des 18. Jahrhunderts hat sich dieser Grundsatz der modernen Hermeneutik in der protestantischen Theologie durchgesetzt und die biblische Exegese von der Dogmatik gelöst. Die Durchsetzung der historischen Betrachtung der Bibel und die Entstehung einer historisch verfahrenden Theologie sind äußerst vielschichtig verlaufen. Die historische Betrachtung der Bibel bei den protestantischen Theologen des späten 18. Jahrhunderts sollte die Geltung der Bibel auf eine neue Weise begründen, nämlich mit den Mitteln der historischen Kritik und nicht mehr mit dem Inspirationsgedanken der altprotestantischen Schriftlehre. Um auf dem Hintergrund des Bewusstseins um den zeitlichen und kulturellen Abstand zwischen dem biblischen Weltbild und der eigenen Gegenwart an der Bibel festhalten zu können, wurde die Bibel als ,alte Urkunde‘ verstanden. Die am Ende des 18. Jahrhunderts von dem Orientalisten Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827) und seinem Schüler Johann Philipp Gabler (1753–1826) ausgearbeitete Urkundenhypothese, die einen Meilenstein in

Spinozas Hermeneutik

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III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik

Von der Inspiration zur Forschung

der Pentateuchforschung darstellt, versteht die Bibel als eine Urkunde aus der Kindheit der Menschheit. Die von Eichhorn und Gabler verwendeten Begriffe ,Urkunde‘ sowie der von dem Göttinger Altphilologen Christian Gottlieb Heyne (1729–1812) übernommene Begriff des ,Mythos‘ haben dabei den Stellenwert von methodischen Leitbegriffen. Durch die Historisierung der Bibel und ihres nicht mehr mit der Gegenwart vermittelbaren Weltbilds soll an deren Wahrheit festgehalten werden. Die Aufnahme der historisch-kritischen Bibelforschung in der protestantischen Theologie des 18. Jahrhunderts hatte vor allem die Funktion, den Schriftbezug und die Bedeutung der Bibel unter den veränderten kulturellen und geistigen Bedingungen auf eine neue Weise zur Geltung zu bringen. Der Einzug des historischen Denkens in die Theologie im 18. Jahrhundert und dessen Anwendung auf die biblischen Grundlagen des Christentums stellt ohne Zweifel eine der großen Leistungen der protestantischen Theologie der Aufklärung dar. Sie hatte freilich ihren Preis. Im Zuge der Durchsetzung der historischen Betrachtungsweise der Bibel wird das Schriftprinzip des Altprotestantismus Schritt für Schritt abgebaut. Das Kanonprinzip und der dieses begründende Inspirationsgedanke werden von der historischen Theologie aufgelöst. Der erste, der mit dem Inspirationsverständnis der überlieferten theologischen Lehrtradition bricht, ist der Genfer Theologe und klassische Philologe Jean Alphone Turretini (1671–1737). 1728 legte er mit seiner Schrift Über die Methoden der Auslegung der heiligen Schrift die für die werdende Bibelwissenschaft grundlegende Methodenschrift vor, in der die hermeneutischen Probleme der Textauslegung auf mustergültige Weise reflektiert werden. Endgültig zum Durchbruch kommt die historische Betrachtung der Bibel bei den Hallenser Theologen Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757) und vor allem seinem Schüler Johann Salomo Semler. Während Baumgarten das altprotestantische Inspirationsverständnis vorsichtig durch die Unterscheidung von Offenbarung und Inspiration relativierte, wird es von Semler vollständig aufgelöst und durch historische Forschung ersetzt. Semler, dessen Bedeutung für die Herausbildung einer modernen historischen Theologie nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, knüpft an die von Baumgarten konzipierte Hermeneutik an und entwickelt sie zu einem grundlegenden Organon der historischen Disziplinen der Theologie weiter ([153], S. 187). Dabei erweitert Semler die bereits von dem Leipziger Theologen und klassischen Philologen Johann August Ernesti (1707–1781) in der Theologie durchgesetzte grammatische Interpretation der Bibel zu einer umfassenden hermeneutischen Theorie, welche auch die historische Dimension einbezieht. Der biblische Text ist für Semler nicht schon durch die philologisch-grammatische Analyse der Wortbedeutungen verstanden, sondern erst dann, wenn die biblischen Vorstellungsgehalte in den religiös-kulturellen Vorstellungswelten der jeweiligen Zeit rekonstruiert werden. Durch die von Semler vorgenommene methodische Verknüpfung von grammatischer und historischer Interpretation kommt es zur vollständigen Durchsetzung der historischen Kritik an den biblischen Texten. Die Folge ist, dass das Kanonprinzip der altprotestantischen Dogmatik aufgelöst wird. Welche biblische Schrift als kanonisch verbindlich gelten darf, ist für Semler, wie er in seiner Abhandlung von freier Untersuchung des Canon

3. Die Krise des Schriftprinzips

(1771–1775) ([176]) ausführt, keine Frage mehr, die dogmatisch zu entscheiden ist. Mit der historischen Untersuchung des gesamtbiblischen Kanons und seiner Entstehung wurde freilich auch der Abstand zwischen dem Alten und dem Neuen Testament bewusst. Die Entstehung der historischen Bibelwissenschaft im 18. Jahrhundert führte nicht nur zur zunehmenden Ablösung von den Vorgaben der Dogmatik, sondern auch zur Trennung von Altem und Neuem Testament mit der Folge, dass sich sowohl die alttestamentliche als auch die neutestamentliche Wissenschaft am Ende des Jahrhunderts als eigenständige Wissenschaftsdisziplinen der Theologie etablierten. Damit wurde die von der altprotestantischen Schriftlehre behauptete innere und einheitliche Gesamtaussage der Schrift aufgelöst. In seinem Versuch einer freiern theologischen Lehrart aus dem Jahre 1777 hatte Semler aus der geschichtlichen Einsicht in die Entstehung des Kanons die Konsequenz gezogen und das Alte Testament der „Geschichte und Wahrheit der jüdischen Religion“ zugeordnet. Diese Schriften haben, so Semler weiter, „mit der christlichen Religion keinen Zusammenhang; sie sind weder der Grund noch der Inhalt des Christentums“ ([177], § 37, S. 109). Damit ist die von der altprotestantischen Theologie behauptete innere Einheit und Widerspruchslosigkeit der Schrift von Semler aufgegeben. Semler löste die in den altprotestantischen Lehrsystemen auf höchst diffizile Weise konstruierte Verschränkung von Wort Gottes und Bibel endgültig auf. Was in der Bibel als Wort Gottes gelten kann, wird zur Aufgabe der historischen Rekonstruktion. Am Ende des 18. Jahrhunderts sind die Grundlagen der altprotestantischen Schriftlehre unwiederbringlich zerstört. Exegese und Dogmatik, historische Forschung und dogmatische Geltungsbehauptung der christlichen Religion sind auf eine Weise auseinander getreten, die es nicht mehr erlaubt, sie unmittelbar miteinander zu vermitteln. Die von der Dogmatik des Altprotestantismus in einen geradezu göttlichen Rang erhobene Bibel wurde im 17. Jahrhundert unter den Händen der historischen Kritik vollständig entzaubert. Aus dem göttlich inspirierten Buch wurde zunächst eine Urkunde aus der Kindheit des Menschengeschlechts und im 19. Jahrhundert ein religionsgeschichtliches Dokument, das genauso wie andere religionsgeschichtliche Texte nur aus seinem religions- und kulturgeschichtlichen Entstehungskontext heraus zu verstehen ist. Es liegt auf der Hand, dass die Erschüttung der Bibel, die für die Theologie des alten Protestantismus die alleinige Lehrgrundlage darstellte, einen weitreichenden Umbau der Grundlagen der protestantischen Theologie nach sich zieht.

4. Historische Kritik und Normativität Luthers Behauptung der Klarheit der Schrift führte in einem komplexen und keinesfalls eindimensionalen Prozess zur Durchsetzung der historisch-kritischen Methode innerhalb der protestantischen Theologie und im Resultat zur Auflösung des von dem Altprotestantismus im Anschluss an Luther ausgearbeiteten Schriftprinzips ([167], S. 14 f.). Seit dem 19. Jahrhundert hat die protestantische Theologie in immer neuen Anläufen versucht, diese Krise des Schriftprinzips konstruktiv zu bearbeiten. Ein Ende der Debatten ist, wie auch an jüngeren Untersuchungen zum Schriftprinzip deutlich wird, nicht

Trennung von Altem und Neuem Testament

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III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik Anhaltende „Krise des Schriftprinzips“

abzusehen (siehe [163]; [164]; [166]). Im Kern geht es bei dieser Debatte um das Verhältnis von Geschichte und Geltung, historischer Kritik und Normativität. Hinter dem als Krise des Schriftprinzips formulierten Problem steht das Auseinanderbrechen von biblischer Exegese und dogmatischer Theologie in der späten Aufklärung.

a) Die Überwindung der Krise des Schriftprinzips durch die Konstruktion einer Universalgeschichte

Pannenbergs Lösungsvorschlag

In seinem Beitrag Die Krise des Schriftprinzips von 1962 hatte Wolfhart Pannenberg nicht nur die Krise des Schriftprinzips als eine Grundlagenkrise ersten Ranges für die protestantische Theologie ausgemacht, sondern auch einen Therapievorschlag für diese Krise ausgearbeitet. Dieser Lösungsvorschlag knüpft an das von ihm kurz zuvor ausgearbeitete Programm ,Offenbarung als Geschichte‘ an. Darin wird die historische Erforschung der Bibel durch die historisch-kritische Methode als unabdingliche Voraussetzung der modernen Theologie von Pannenberg aufgenommen. Denn die historischkritische Methode und ihre Anwendung auf die biblischen Schriften stellt die „notwendig[e]“ Konsequenz von Luthers Lehre von der Klarheit der Schrift dar, der zufolge „jeder theologische Satz durch historisch-kritische Schriftauslegung zu begründen sei“ ([167], S. 15). Allerdings muss die historische Theologie auf eine neue Weise mit der dogmatischen Theologie zusammengeführt werden. Andernfalls brechen nicht nur biblische Exegese und dogmatische Theologie auseinander, sondern auch Geschichte und Glaube. Diese neue Verbindung von historischer Forschung und dogmatischer Theologie arbeitet Pannenberg in Auseinandersetzung mit der historischen Theologie des 19. Jahrhunderts, mit der Wort-Gottes-Theologie des 20. Jahrhunderts und auch mit der modernen philosophischen Hermeneutik (vgl. [168]). Das Auseinandertreten von Historie und urchristlichem Kerygma seit dem 19. Jahrhundert kann, so die Überzeugung von Pannenberg, nur durch eine neue Verbindung von Geschichte und Kerygma bearbeitet werden. Unter den Bedingungen der Neuzeit kann dies freilich nur im Ausgang und unter Aufnahme der historisch-kritischen Forschung geschehen. „Denn die einheitliche Sache der Schrift, in der für Luther die Schriftautorität gründete, ist für unser historisches Bewußtsein eben nicht mehr in den Texten, sondern nur noch hinter ihnen in Gestalt des einen Jesus zu finden, der in den verschiedenen Schriften des Neuen Testaments auf sehr verschiedene und nicht auszugleichende Weise bezeugt wird“ ([167], S. 16). Die Krise des Schriftprinzips ist für Pannenberg nur durch einen Rückgang hinter die Texte der Bibel zu bearbeiten, da nur so der von der historischen Forschung herausgearbeiteten Einsicht in den geschichtlichen Entstehungsprozess dieser Texte und der damit verbundenen Auflösung eines einheitlichen Gesamtinhalts der Schrift Rechnung getragen werden kann. Das grundlegende Argument für Pannenbergs Bewältigung der Krise des Schriftprinzips ist die These, dass die Auferstehung Jesu von den Toten ein historisches Ereignis ist, welches sich mit den Mitteln der historischen Forschung feststellen lässt ([167], S. 16). Pannenbergs Rekurs auf die Auferstehung Jesu als einem historischen Ereignis hat allein die Funktion, Geschichte und Deutung so zusammenfallen zu lassen, dass dieses Ereignis allen weiteren Deutungen

4. Historische Kritik und Normativität

vorgängig ist. Insofern expliziert das Gemeindekerygma lediglich das, was in der irdischen Verkündigung Jesu bereits implizit angelegt ist. Explizierbar ist dieses Ereignis freilich nur im Rahmen einer Überlieferungsgeschichte, welche die entsprechenden Vorstellungsgehalte bereitstellt. Die wichtigsten Stationen dieses Überlieferungsprozesses stellen die Herausbildung der alttestamentlichen Eschatologie und der Apokalyptik dar. Mit ihr ist die Hoffnung auf ein jenseitiges Ende der Geschichte und die allgemeine Auferstehung der Toten verbunden. Die Einheit der Schrift liegt damit für Pannenberg nicht mehr wie noch für Luther und den Altprotestantismus in der Schrift selbst, sondern hinter ihr, nämlich in der Gestalt des einen Jesus. Die Bibel wird als ein Medium der Überlieferungsgeschichte begriffen. Sie expliziert auf vielfältige und nicht harmonisierbare Weise, was implizit in der einen Gestalt Jesu angelegt ist. Dies geschieht in den neutestamentlichen Texten im Horizont der alttestamentlichen Überlieferungsgeschichte. Durch den Gedanken der Überlieferungsgeschichte wird das Neue mit dem Alten Testament verbunden. Die Überlieferungsgeschichte sei nämlich, so Pannenberg, als der „tiefere Begriff von Geschichte überhaupt anzusehen“ ([169], S. 88). Durch die These von der Auferstehung Jesu als einem historischen Ereignis, die Konstruktion einer Überlieferungsgeschichte sowie das Schema ,implizit-explizit‘ werden von Pannenberg historische Forschung und dogmatisches Geltungsinteresse auf höchst eigenwillige Weise wieder zusammengeführt. Pannenberg vermag somit die von der historischen Forschung durchgeführte Auflösung des altprotestantischen Schriftprinzips produktiv aufzunehmen. Allerdings ist damit noch nicht von Pannenberg dargelegt, inwiefern die biblischen Schriften auch noch für die Gegenwart von Interesse sein können. Mit der zeitlichen Distanz zwischen der Bibel und der Gegenwart, dem garstigen breiten Graben, ist der zweite Aspekt angesprochen, der mit der Krise des altprotestantischen Schriftprinzips verbunden ist. Er betrifft den hermeneutischen Aspekt im engeren Sinne. Dieser hermeneutische Aspekt ist nun freilich nicht, wie in der modernen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, durch die These einer Horizontverschmelzung zwischen dem Text und der eigenen Gegenwart zu überbrücken. Denn eine „Erweiterung des geistigen Horizonts des Auslegers“ in dem Sinne, dass „er den des zu verstehenden Textes mit umfasst“ ([167], S. 17), würde lediglich zu einer Einebnung dieser Kluft führen. Weiterführend kann also nur eine solche Konzeption sein, welche die Fremdsetzung des Textes mit seinem Gegenwartsbezug zu vermitteln in der Lage ist. Hierzu sei nur die Konzeption einer Universalgeschichte in der Lage, welche die überlieferten Texte und die eigene Gegenwart durch einen einheitlichen Geschichtsprozess miteinander verbindet. Dazu muss freilich gezeigt werden, dass auch noch die Moderne als ein Glied der urchristlichen Überlieferungsgeschichte verstanden werden kann. Möglich wird dies nur im Ausgang von der geschichtsphilosophischen These, dass mit der Auferstehung Jesu von den Toten in der Geschichte deren Ende vorweggenommen sei. Mit der Auferstehung Jesu von den Toten ist die Spannung zwischen dem bereits vorweggenommenen Ende der Geschichte in Jesus und dem noch ausstehenden Ende der Geschichte für die Menschheit verbunden, so dass „diese Differenz selbst ein Moment menschheitlicher Wirkung der in Jesus erschienenen Zukunft Gottes ist“ ([167], S. 18). Der

Gegenwartsbezug der Schrift

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III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik

Gedanke der Einheit der Geschichte stellt eine Konsequenz von Pannenbergs Konstruktion des in der Auferstehung Jesu vorweggenommenen Endes der Geschichte dar. Denn ein Ziel der Geschichte und damit diese als ein einheitlicher Gesamtprozess lässt sich nur nach dem Ablauf der Geschichte, also von deren Ende her konstruieren (vgl. [167], S. 19). Die Überwindung der Krise des Schriftprinzips stellt für Pannenberg eine Aufgabe der Geschichtsphilosophie dar. Zu bewältigen ist die neuzeitliche Krise der Schrift nicht durch eine Sistierung der historischen Forschung, sondern allein durch das Programm einer erneuerten Universalgeschichte. Diese lehrt, die Schrift als den Niederschlag eines Überlieferungsprozesses zu begreifen.

b) Biblische Theologie und canonical approach

Neue Kanon-Debatte

Unter gänzlich anderen methodischen Voraussetzungen gestaltet sich der Versuch einer konstruktiven Bewältigung der seit der Aufklärung anhaltenden Krise des Schriftprinzips in den in den letzten Jahren konzipierten biblischen Theologien. Die neuere Debatte um eine biblische Theologie knüpft zwar an ältere Fragestellungen an, wie sie etwa in dem großen Entwurf einer Theologie des Alten Testaments von Gerhard von Rad ([171]) auf der Grundlage einer heilsgeschichtlichen Konzeption in den 50er und frühen 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ausgearbeitet wurde, aber entscheidend sind vor allem neuere Entwicklungen. Zu verweisen ist insbesondere auf den cultural turn in den Geisteswissenschaften seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts sowie die intensiven Forschungen zum Übergang von oralen zu skripturalen Kulturen, wie sie etwa Jan Assmann mit seinen Studien zum kulturellen Gedächtnis vorgelegt hat ([152]). Diese Entwicklungen führten auch zu einer neuen Aufmerksamkeit auf den biblischen Kanon in der alt- und neutestamentlichen Exegese. Eine wichtige Rolle in diesen Debatten um eine gesamtbiblische Theologie des Alten und Neuen Testaments spielt der sogenannte canonical approach wie er u. a. von Brevard S. Childs vorgeschlagen wurde ([154]; [155]). Im Unterschied zur älteren Kanondebatte, die vor allem an dessen historischen Entstehungsbedingungen interessiert war, geht die neuere biblische Theologie methodisch von der Endgestalt des zweiteiligen biblischen Kanons aus und unterscheidet zwischen einem kanonischen Prozess und dem Akt der Kanonisierung ([156], S. 13). Den in dem kanonischen Prozess überlieferten Schriften eigne, wie Childs betont, selbst schon die Tendenz zur Fixierung. Diese liegt, so Hermann Spieckermann, in dem den biblischen Texten „eigene[n] Verbindlichkeitsanspruch“ ([178], S. 25). Das führt sowohl bei Childs als auch bei Spieckermann dazu, dass der methodische Ausgang von der Endgestalt des zweiteiligen biblischen Kanons sich mit einer Kritik an der historisch-kritischen Analyse der Entstehung des Kanons verbindet ([178], S. 26). Die biblischen Texte artikulieren einen ihnen eigenen Anspruch und diesem muss, wenn er nicht nivelliert werden soll, auch methodisch Rechnung getragen werden. Der canonical approach steht, wie in dem Jesusbuch von Joseph Ratzinger, im Dienste der Begrenzung der Reichweite der historischen Kritik. „,Kanonische Exegese‘ – Lesen der einzelnen Texte der Bibel in deren Ganzheit – ist eine wesentliche Dimension der Auslegung, die zur

4. Historische Kritik und Normativität

historisch-kritischen Methode nicht im Widerspruch steht, sondern sie organisch weiterführt und zu eigentlicher Theologie werden lässt“ ([172], S. 18). Der komplexe Entstehungsprozess des biblischen Kanons und die in diesem Prozess ausgeschiedenen apokryphen Schriften werden im Interesse an dem theologischen Anspruch des Kanons nicht berücksichtigt. Die historische Forschung wird auf diese Weise allerdings dogmatisch-theologisch überfrachtet und domestiziert. Die durch die historisch-kritische Forschung herbeigeführte Krise des Schriftprinzips soll durch den methodischen Ausgang von der Endgestalt des zweiteiligen biblischen Kanons gelöst werden. Die Kanonisierung sei, so wird argumentiert, als Ausdruck eines Überlieferungsprozesses zu verstehen, der selbst auf einen Abschluss drängt. Literar- und redaktionsgeschichtliche Fragen, die für die ältere historische Theologie eine zentrale Rolle gespielt und die zur Auflösung des altprotestantischen Schriftprinzips geführt hatten, treten in den neueren Debatten um eine biblische Theologie zurück. Der methodische Ausgang von der Endgestalt des biblischen Kanons wirft freilich auch die alte Frage nach der Einheit der Schrift wieder auf. Während sie Pannenberg mit einem komplexen methodischen Verfahren hinter dem Text der Schrift in dem in der Überlieferungsgeschichte Israels stehenden Geschick Jesu ausmachte, findet sie die biblische Theologie wieder in der Schrift selbst (vgl. [178], S. 28). Zwar soll auch in der biblischen Theologie an dem Unterschied von Altem und Neuem Testament festgehalten werden. Denn offensichtlich ist in dem Alten Testament gerade nicht von Jesus Christus die Rede. Aber mit der Aufnahme des Alten Testaments in den christlichen Kanon ist das hermeneutische Folgeproblem der inneren Einheit der Schrift verbunden. Die Frage nach der inneren Einheit der beiden Testamente wird von der biblischen Theologie so aufgenommen, dass in christlicher Perspektive Jesus Christus zwar der einheitliche Inhalt der beiden Testamente sei, aber eben auf unterschiedliche Weise ([178], S. 47). Mit dieser perspektivenrelativen Deutung der inneren Einheit der beiden Testamente durch die biblische Theologie ist die von Luther und dem Altprotestantismus geltend gemachte These erneuert, dass die Schrift einen einheitlichen Gesamtinhalt hat. Allerdings lässt sich dies nur um den Preis behaupten, dass man den christlichen Kanon geradezu hypostasiert und die christliche Re-Lektüre des Alten Testaments gegen die historisch-kritische sowie religionsgeschichtliche Rekonstruktion der biblischen Schriften ausspielt. Die durch die historisch-kritische Forschung heraufbeschworene Krise des Schriftprinzips wird damit durch deren dogmatische Sistierung gelöst.

c) Rezeptionsästhetik Als eine Antwort auf die neuzeitliche Krise des Schriftprinzips dürfen auch die unterschiedlichen Konzeptionen einer Rezeptionsästhetik gelten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst in der Rechts- und neueren Literaturwissenschaft ausgearbeitet und seit den 90er Jahren in der Theologie intensiv rezipiert wurden. Eine gewichtige Rolle für die Karriere des Rezeptionsbegriffs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt der Kreis ,Poetik und Hermeneutik‘ um die Konstanzer Schule (Wolfgang Iser, Hans Robert Jauß, Karlheinz Stierle u. a.), durch den der Rezeptionsbegriff zu einem

Einheit von AT und NT neu gedacht

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III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik

Rezeptionsforschung und Semiotik

Lesetheologien

methodischen Grundbegriff erhoben und mit dem ein Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft verbunden wird ([160]; [159]). In Ablösung von der traditionellen Hermeneutik und der von ihr ausgearbeiteten Konzeption einer Wirkungsgeschichte (Hans-Georg Gadamer) wird die konstitutive Stellung des Rezipienten von Texten im Vorgang des Verstehens in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Das Sinnverstehen von Texten und Kunstwerken wird von der neueren Literaturwissenschaft nicht mehr wie in den traditionellen Hermeneutiken als Aufnahme einer fixen und eindeutig bestimmten Sinnsubstanz verstanden, sondern diese Sinnsubstanz wird in den individuell gebrochenen und damit notwendig plural zu verstehenden Rezeptionsakt aufgelöst. Der Sinn eines Textes oder eines Kunstwerks liegt also nicht schon in diesem, sondern er konstituiert sich allererst im Akt des Lesens oder des Betrachtens des Kunstwerks. Unter Aufnahme von Einsichten der modernen Semiotik, wie sie von Charles S. Peirce und vor allem Umberto Eco ausgearbeitet wurde, tritt in der Rezeptionsästhetik an die Stelle von zweigliedrigen Modellen das triadische Schema von intentio auctoris, intentio operis und intentio lectoris (Autor, Werk und Rezipient). Der Rezeptionsbegriff, der in der neueren hermeneutischen Diskussion zu einem grundlegenden methodischen Schlüsselbegriff avancierte, soll die sinnkonstitutive Funktion des Interpreten von Texten und Kunstwerken betonen. Damit wird in der rezeptionsästhetischen Debatte die bereits in den sinntheoretischen Diskussionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte Einsicht aufgenommen, dass Sinn keine Gegebenheit darstellt, sondern nur in individuellen und kontextvariablen Akten der Sinngebung präsent ist, die in verschiebbaren Horizonten stehen. Die These von einer eindeutigen Bestimmtheit von Texten, wie sie etwa noch Luther und der Altprotestantismus selbstverständlich voraussetzten und in Anspruch nahmen, wird damit von der Rezeptionsästhetik zugunsten einer produktiven Unbestimmtheit von Texten verabschiedet. Denn der Sinn eines Textes konstituiert sich erst im Akt des Lesens und hierbei bringt der Rezipient immer schon seinen eigenen, kulturvariablen Sinnhorizont mit ein. Inzwischen wurde die Rezeptionsästhetik auch in der protestantischen Theologie rezipiert und in Form von Lesetheologien weitergeführt. Den Anfang machte der amerikanische Theologe Edgar McKnights mit seinem 1988 erschienenen Buch Postmodern Use of the Bible. The Emergence of Reader-Oriented Criticism ([165]). In den 90er Jahren wurden dann im deutschsprachigen Raum von Oswald Bayer, Klaas Huizing, Ulrich H. J. Körtner und Hermann Timm leserorientierte Hermeneutiken ausgearbeitet. In den Blickpunkt des Interesses rückt in den unterschiedlichen Konzeptionen der „inspirierte Leser“ ([161]). Damit tritt die altprotestantische Vorstellung einer den biblischen Texten inhärenten und eindeutig bestimmten Sinnsubstanz in der theologischen Rezeptionsästhetik zurück. Vielmehr erzeugt sich der Sinn des biblischen Textes erst im Vollzug des individuellen Lesens und damit auf eine notwendig plurale Weise. Dass sich freilich im Akt des Lesens dem Leser der Schrift ein Sinn erschließt, durch den er sich womöglich selbst versteht, ist unableitbar. Dieses im Akt des Lesens steckende Kontingenzmoment ist der funktionale Gehalt des Inspirationsbegriffs in den theologischen Lesetheologien. „Der Geist manifestiert sich im Akt des Lesens, so dass das Verstehen des Textes nicht die Leistung des Lesers, sondern ein sich zwischen

4. Historische Kritik und Normativität

Text und Leser abspielendes Geschehen ist, in welchem die tote Sinnspur des Geistes zu neuem Leben erweckt wird und zugleich den Leser erfasst, der seinerseits zu einem neuen Leben und einem neuen Verständnis seiner Existenz gelangt“ ([162], S. 48). Die rezeptionsästhetischen Lesetheologien verstehen sich als ein Umgang mit dem durch die historische Kritik an den biblischen Schriften in die Krise geratenen Schriftprinzip der altprotestantischen Dogmatik. Dem Auseinandertreten von Exegese und Dogmatik in der Moderne wird durch eine rezeptionsästhetische Weiterführung der hermeneutischen Theologie begegnet. Das Interesse an einer rezeptionsästhetischen Reformulierung des altprotestantischen Schriftprinzips lässt jedoch die historische Forschung im engeren Sinne zurücktreten.

d) Die Bibel zwischen historischer Kritik und dogmatischer Geltung Überblickt man die Debatten über die Krise des Schriftprinzips, wie sie seit der späten Aufklärung in der protestantischen Theologie geführt werden, so zeigen sie vor allem eines, nämlich, dass das von der altprotestantischen Dogmatik ausgearbeitete Schriftprinzip nicht mehr zu revitalisieren ist ([166], S. 146). Mit dieser Feststellung sind freilich weitreichende Konsequenzen verbunden, welche sowohl das Verhältnis von historischer und dogmatischer Theologie als auch den Status und den Ort der Schriftlehre in der protestantischen Dogmatik betreffen. Was zunächst den Ort der Schriftlehre in der Dogmatik betrifft, so ist zu sagen, dass die mit der historischen Kritik verbundene Auflösung des Schriftprinzips der altprotestantischen Dogmatik zu einer grundlegenden Verschiebung geführt hat. Die Thematisierung des Schriftbezugs der Theologie innerhalb des Aufbaus der Dogmatik verschob sich von den Prolegomena in die Lehre von der Kirche und damit in die Pneumatologie. Es darf als die geradezu epochale Leistung Friedrich Schleiermachers gelten, diese Umstellung auf dem Hintergrund und in Auseinandersetzung mit der historischen Kritik als Erster vorgenommen zu haben. In seiner Glaubenslehre ersetzt er in deren Einleitung die überkommene Schriftlehre vollständig durch eine Wesensbestimmung des Christentums (dazu: [174]). Die Bestimmung des Wesens des Christentums bildet das Konstruktionsprinzip von Schleiermachers Dogmatik. Methodischer Fluchtpunkt dieser Wesensbestimmung ist die Frömmigkeit, welche von Schleiermacher in den Paragraphen 3 bis 6 der zweiten Auflage der Glaubenslehre in einer religionsphilosophischen Theorie der Frömmigkeit expliziert wird. Das Wesen der christlichen Religion, welches Schleiermacher durch eine religionsgeschichtliche Konstruktion bestimmt, besteht darin, dass „alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung“ ([34], Leitsatz § 11, T. 1, S. 74). Damit wird von Schleiermacher die Grundlegung der Dogmatik nicht mehr wie im Altprotestantismus in Form einer Schriftlehre durchgeführt, sondern an deren Stelle tritt eine religionstheoretische Bestimmung des Wesens des Christentums. Auf diese Weise wird die Bibel von einer Begründungslast befreit, die sie unter den Bedingungen eines historisch kritischen Umgangs mit ihr nicht mehr zu tragen vermochte. Die Ersetzung der Schriftlehre als methodischer

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III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik

Schleiermachers Grundlegung

Grundlage der Dogmatik durch eine Wesensbestimmung des Christentums bildet jedoch nur den einen Aspekt von Schleiermachers Neubestimmung der Dogmatik. Ein zweiter, nicht minder bedeutender Aspekt darf darin gesehen werden, dass Schleiermacher die dogmatisch-theologische Behandlung der Bibel in die Lehre von der Kirche verschiebt. Erst dadurch kommt die religiöse Bedeutung der Bibel für die Frömmigkeit in den Blick. Die Einsichten der modernen Rezeptionsästhetik vorwegnehmend, bestimmt Schleiermacher das Verhältnis zwischen Bibel und Interpretanten so, dass es nicht die Schrift sei, welche den Glauben an sie vermittels des Heiligen Geistes hervorbringe, sondern umgekehrt, der Glaube an Christus bringt die Geltung der Schrift erst hervor ([34], Leitsatz § 128, T. 2, S. 284). Damit ist die Bibel von Schleiermacher als ein Medium der religiösen Selbstverständigung der Glaubenden verstanden. Schleiermachers Neubestimmung von Funktion und Stellung der Bibel in seiner Glaubenslehre trägt der durch die historische Forschung hervorgerufenen Krise des überkommenen Schriftprinzips auf eine konstruktive Weise Rechnung. Im Ausgang von seiner Neubestimmung der Aufgabe einer Dogmatik insgesamt ist es auch möglich, historische Bibelforschung und dogmatische Geltungsreflexion so zu verbinden, dass sowohl historische Kritik als auch die dogmatische Identitätsbestimmung des Christentums einbezogen werden. Schleiermachers Bestimmung der Bibel in der Glaubenslehre steht nicht nur im Horizont einer Wesensbestimmung des Christentums, sie hebt auch eindrücklich die methodologischen Probleme hervor, vor denen jeder Umgang mit der Bibel in der Gegenwart steht. Wir blicken immer aus der Gegenwart auf ein Buch zurück, das vor mehr als 2000 Jahren in einem überaus komplexen und höchst kontingenten Prozess entstanden ist. Diese zeitliche Differenz kann niemand überbrücken. Kein Mensch kann sich in seiner eigenen Lektüre der Bibel in ihre Zeit und ihre religiösen und kulturellen Bedingungen zurückversetzen und dabei seine eigenen gegenwärtigen Lebensbedingungen einfach vergessen machen. Das Bewusstsein um den zeitlichen Abstand zwischen der eigenen Gegenwart und der Welt der Bibel war es ja gerade, welches die historische Erforschung der Bibel in der Aufklärung hervorgebracht hat. Um die biblischen Texte zu verstehen, ist deren historische Erforschung und Rekonstruktion unumgänglich. Insofern wird man um das Urteil gar nicht herumkommen, dass die historisch-kritische Forschung für die Theologie die alternativlose Weise des Umgangs mit der Bibel in der Moderne ist. Eine Erweiterung der historischen Methode durch eine kanonische, wodurch jene erst zur Theologie werden soll, bricht ihr die Spitze ab. Die moderne historische Kritik hat freilich die Bibel als ein Dokument der Religionsgeschichte in den Blick gebracht, in dem sich die religiösen Selbstund Weltdeutungen von Menschen des vorderen Orients niedergeschlagen haben. In einem überaus komplizierten redaktionsgeschichtlichen Prozess sind diese Texte zunächst mündlich tradiert und schließlich verschriftlicht und dabei redaktionell in mehreren Schichten bearbeitet worden. In diesem Tradierungsprozess wurden Texte verworfen und andere aufgenommen. So entstanden die kanonischen Sammlungen, die wir heute als Bibel kennen. Sie sind durchweg normative Konstruktionen, mit denen auf bestimmte Krisenerfahrungen reagiert wird, sei es der mit der Zerstörung des Jerusalemer

4. Historische Kritik und Normativität

Tempels im Jahre 70 nach Christus verbundene Verlust des kultischen Zentrums des Judentums, der durch die Schaffung des jüdischen Kanons kompensiert wurde, oder die inneren und äußeren religiösen Konflikte im frühen Christentum, die durch Fixierung des neutestamentlichen Kanons reguliert wurden. Die historische Forschung, welche die biblischen Schriften als durch und durch kontingente Produkte der Religionsgeschichte versteht, wirft nun freilich die Frage auf, welche Bedeutung diese Texte für die Gegenwart haben können und worin deren Verbindlichkeit besteht? Unter den Bedingungen des modernen historischen Bewusstseins ist dieses Problem weder durch theologische noch durch metaphysische Konstruktionen zu überbrücken. Auch eine Dogmatisierung der Exegese, wie sie mit unterschiedlichen Akzenten von der biblischen Theologie vorgeschlagen wurde, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf diese Weise die historische Forschung und das durch sie aufgeworfene Problem lediglich sistiert wird. Im Unterschied zu solchen Tendenzen der Enthistorisierung der Theologie ist die historisch-kritische Erforschung der Schrift in das dogmatische Verständnis der Schrift aufzunehmen. Dabei ist von der Einsicht auszugehen, die bereits Schleiermacher in seiner christentumstheoretisch fundierten Neubestimmung des Schriftverständnisses zum Zuge gebracht hat und die um die Jahrhundertwende in den Historismusdebatten insbesondere von Ernst Troeltsch ([180]) und Max Weber ([181]) in ihren geschichtsmethodologischen Konsequenzen reflektiert wurde. In der Konstruktion von Geschichte lassen sich Faktum und Deutung, Genesis und Geltung nicht säuberlich trennen. In jede Geschichtskonstruktion, die ihren Ausgang immer von der eigenen Gegenwart nimmt, fließen schon gegenwärtige Interessen mit ein. Aber auch von den normativen Gehalten der Gegenwart gilt, dass sie geschichtlich geworden sind. Aus der geschichtsmethodologischen Einsicht in die Zirkelhaftigkeit jedes Bilds der Geschichte ist die Konsequenz zu ziehen, dass historische Forschung und dogmatische Konstruktion ein Wechselverhältnis bilden. Die historische Forschung leistet der dogmatisch-theologischen Thematisierung der Schrift nicht nur den Dienst, das Eigenrecht der Quellen gegenüber der dogmatischen Konstruktion in Erinnerung zu rufen, sondern auch den, die geschichtliche Bedingtheit und Kontingenz ihres eigenen Zugangs und Zugriffs auf die Bibel bewusst zu halten. Die Schriftlehre des alten Protestantismus lässt sich unter den Bedingungen des modernen historischen Denkens nicht mehr revitalisieren. Welche Funktion kann unter diesen Bedingungen die Bibel für die dogmatische Schriftlehre noch haben? Auch unter den Bedingungen des historischen Denkens der Neuzeit wird die Bibel nicht obsolet. Sie bleibt der Bezugspunkt der Theologie. Allerdings ändert sich der Bezug auf die Bibel. Aus dem göttlich inspirierten Buch wurde ein religionsgeschichtliches Dokument. An dieser Einsicht führt in der Gegenwart kein Weg mehr vorbei. Damit ändert sich aber auch die Funktion der dogmatischen Thematisierung der Bibel. In der Schriftlehre der Dogmatik wird mit dem Bezug auf die Bibel zugleich die Kontingenz aller inhaltlichen Bestimmungen des Sich-Verstehens des Menschen sowie die bleibende Notwendigkeit einer konkreten und inhaltlichen Bestimmtheit aller Selbstdeutungen menschlichen Sich-Verstehens zum Thema gemacht. Der Glaube als das Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen ist nicht nur, was seine Entstehung betrifft, unableitbar, sondern ebenso

Bibel als bleibender Bezugspunkt

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III. Die Schrift als Grundlage der Dogmatik

sind die inhaltlichen Formen, in denen der Glaube sich deutet, kontingent. Sie könnten damit grundsätzlich auch anderes sein. Die dogmatische Funktion der Schriftlehre liegt darin, dass in ihr nicht nur der Zirkel jeder Sinndeutung der Geschichte reflektiert wird, sondern auch die Kontingenz und geschichtliche Einbindung allen menschlichen Sich-Verstehens und seiner Beschreibungsformen ([87], S. 379–381).

C. Die materiale Dogmatik Die Aufgabe einer theologischen Dogmatik besteht in der Entfaltung des Glaubensbegriffs. Da das protestantische Verständnis des Glaubens, wie es oben dargestellt wurde, auf das Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen zielt, ist die theologische Dogmatik eine reflexive Selbstbeschreibung des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen. Damit ist freilich auch schon gesagt, dass die Inhalte der theologischen Dogmatik Formen der Selbstbeschreibung und Selbstdeutung des Menschen sind. Die religiösen Gehalte der christlichen Religion beschreiben die Aufbaumonente des Geschehens des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen in ihrem Zusammenhang. Diesen Zusammenhang auszuführen, ist die Aufgabe der materialen Dogmatik. Im Rahmen einer Einführung in die evangelische Dogmatik kann es freilich nicht darum gehen, alle inhaltlichen Bestandteile einer Dogmatik im Einzelnen zu erläutern. Das würde den Rahmen einer Einführung bei Weitem übersteigen. Wir konzentrieren uns im Folgenden exemplarisch auf die Gottesvorstellung, das Christusbild als Selbstbeschreibungsform des Glaubens sowie die Pneumatologie. Sie wird in dieser Einführung exemplarisch an dem protestantischen Kirchenverständnis erörtert.

Strukturelemente theologischer Dogmatik

I. Gott der Schöpfer Bereits bei der Diskussion des protestantischen Glaubensverständnisses sind wir auf den Gottesgedanken zu sprechen gekommen. In diesem Zusammenhang wurde gesagt, dass Glaube und Gott gleichursprünglich sind. Der Gottesgedanke in seinem religiösen Sinn entsteht zusammen mit dem Glauben. Dieser Zusammenhang von Glaube und Gott ist jetzt näher zu entfalten. Als Ausgangspunkt dient uns hierbei das Glaubensbekenntnis. Auch dieses hält den Zusammenhang von Gott und Glaube fest, wenn es heißt: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“ Wie in der bisherigen Darstellung, so werden auch in diesem Abschnitt die Gehalte der christlichen Religion im Ausgang von dem Lehrbegriff unter Einbeziehung des neuzeitlichen Problemhorizonts thematisiert.

1. Luthers Gottesanschauung a) Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis im Glauben Luthers Gottesanschauung stellt einen Bestandteil seines Bußverständnisses dar, wie er es sich seit 1513 in Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Bußtheologie sowie Bußpraxis erarbeitet hatte. Im Zentrum seiner frühen Bußtheologie steht die grundlegende Einsicht, dass sowohl die den Men-

Bußverständnis und Gottesbild bei Luther

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I. Gott der Schöpfer

Luthers Vernunftkritik

schen im Gewissen treffende Anklage als auch das Wort der Vergebung auf Gott selbst zurückzuführen sind. Weder die Entstehung des Sündenbewusstseins sowie des Schuldbewusstseins beim Einzelnen noch das Entstehen der Gewissheit des Glaubens kommen durch menschliche Mitbeteiligung zustande. Der Glaube ist also allein Gottes Werk im Menschen und er besteht in einem durch einen Bruch vermittelten neuen Selbstverständnis menschlichen Lebens vor Gott. Der Gottesgedanke wird damit von Luther strikt auf das innere Geschehen der Buße bezogen und kommt gleichsam als eine Selbstbeschreibung des mit dem Glauben verbundenen Sich-Verstehens des Menschen in den Blick. Genau diese Zuspitzung des Gottesgedankens auf das innere Geschehen der Buße ist für Luthers neu errungene Gottesanschauung grundlegend. Denn erst von diesem Gedanken aus wird deutlich, dass die Gottesanschauung das genaue Korrelat des Rechtfertigungsglaubens darstellt. Mit Luthers Neubestimmung des Gottesgedankens und seiner Verbindung mit dem Glauben sind eine Reihe gewichtiger Konsequenzen verbunden. Zunächst resultiert aus der von Luther vorgenommenen Verzahnung von Glaubensgerechtigkeit und Gotteserkenntnis, dass der Gottesgedanke nicht das Resultat einer theoretischen Spekulation sein kann. Das Gottesverhältnis erschließt sich dem Menschen weder durch müßiges Grübeln noch durch Spekulieren. Vielmehr ist das wahre Gottesverhältnis an den konkreten Lebensvollzug des Menschen gebunden und ein Ausdruck von dessen religiöser Gewissheit. An dieser engen Verknüpfung von religiöser Selbstdeutung und Gottesvorstellung hat nun zweitens Luthers zum Teil außerordentlich heftige Polemik gegen die menschliche Vernunft und deren Deklarierung als Hure ihren Anhalt. Freilich stellt Luther gar nicht in Abrede, dass die menschliche Vernunft den Gottesgedanken erfassen kann. In seiner Auslegung des Propheten Jona aus dem Jahre 1526 schreibt Luther, dass das „naturlich liecht der vernunfft“ so weit reicht, „das sie Gott fur eynen guetigen, gnedigen, barmhertzigen, milden achtet“. Allerdings fehlt es, wie Luther fortfährt, der Vernunft „an zwey grossen stucken“. Sie vermag nämlich den so erfassten Gedanken Gottes nicht auf den Lebensvollzug des Einzelnen zu beziehen. „Aber das er wolle oder willig sey, solchs an yhr auch zu thun, das kan sie nicht.“ Das andere Stück, in dem die Vernunft fehlt, erblickt Luther darin, dass die Vernunft zwar weiß, „das Gott ist“, aber nicht „wer odder wilcher es sey, der da recht Gott heyst“. Aus diesem Grund spiele die „vernunfft der blinden kue mit Gott und thut eytel feyl griffe und schlecht ymer neben hin, das sie das Gott heysst das nicht Gott ist, und widderumb nicht Gott heysst das Gott ist, wilchs sie keynes thet, wo sie nicht wuste, das Gott were, odder wuste eben, wilches odder was Gott were“. Deshalb sei es ein großer Unterschied, „wissen, das eyn Gott ist, und wissen, was odder wer Gott ist. Das erste weys die natur und ist ynn allen hertzen geschrieben. Das ander leret alleine der heylige geyst“ ([22], Bd. 19, S. 206 f.). Mit der Tradition geht Luther davon aus, dass dem Menschen auf Grund seiner Vernunft sowie des ins Herz geschriebenen Gesetzes eine natürliche Gotteserkenntnis sehr wohl möglich ist. Luthers Verständnis der natürlichen Gotteserkenntnis ist die Folge seiner Aufnahme und Umbildung des mittelalterlichen Gewissensbegriffs und seiner beiden Bestandteile syntheresis (=

1. Luthers Gottesanschauung

das Vermögen der Seele, sich zum Guten hinzuneigen) und conscientia (= praktische Anwendung der Grundsätze der syntheresis). Die syntheresis als das Vermögen der Seele, sich auf das Gute hin auszurichten, identifizierte Luther seit 1516 mit der natürlichen Vernunft und dem ins Herz geschriebenen Gesetz. Luther hat diese Anschauung von einer natürlichen Gotteserkenntnis des Menschen zeitlebens beibehalten, jedoch für religiös belanglos erachtet. In seinem frühen Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi aus dem Jahre 1519 kann Luther die religiöse Dimension der Gottesanschauung so zuspitzen, dass der bloße Gedanke der Existenz Gottes dahinter völlig zurücktritt: „was hilfft dichs / dz gott / gott ist / wan er dier nit eyn gott ist?“ ([22], Bd. 2, S. 137 = [23], Bd. 1, S. 155 f.). Religiös gehaltvoll ist nicht schon das Wissen um die metaphysische Existenz Gottes als solcher, sondern religiös bedeutsam wird der Gottesbegriff erst dann, wenn er mit dem eigenen Lebensvollzug verbunden wird, so dass er geradezu als Ausdruck der eigenen Gewissheit fungiert. Diese Dimension des Gottesgedankens erschließt sich freilich nicht der theoretischen Spekulation, sondern sie „leret alleine der heylige geyst“. Glaubensvollzug und Gotteserkenntnis sind von Luther aufs engste miteinander verzahnt. Dass der metaphysische Gottesgedanke hinter seine religiöse Bedeutung zurücktritt, bedeutet allerdings für Luther nicht, dass er diesen in seine religiöse Funktion auflöst. Vielmehr geht Luther mit der theologischen Tradition fraglos davon aus, dass Gott reines An-Sich-Sein sei. Der Gottesgedanke erschließt sich dem Menschen allein in seinem eigenen Lebensvollzug, und zwar so, dass darin das menschliche Leben zu einem Verständnis seiner selbst gelangt. Eben darin liegt die Pointe von Luthers Bußverständnis. In der Buße kommt der Mensch zu einem Verständnis seiner selbst als eines vollkommenen Sünders vor Gott. Gotteserkenntnis ist also zunächst Selbsterkenntnis des Menschen hinsichtlich seines Sünderseins vor Gott. Mit der Entstehung des Sündenbewusstseins ist das Schuldbewusstsein verbunden, welches Luther als das Gericht Gottes im Gewissen des Menschen versteht. Der Zorn Gottes über den Sünder ist daher kein zum Schuldbewusstsein hinzukommender äußerer Akt, sondern Moment des Schuldbewusstseins und seiner religiösen Selbstdeutung. Die Einsicht in den Abstand des Menschen von Gott ist der erste Aspekt der Gotteserkenntnis. Er liegt darin, dass dem Menschen die innere Selbstbezogenheit und Selbstsucht, die alles Handeln begleitet, bewusst wird. Mit der Dimension des Gerichts und des Zorns Gottes, der auf Seiten des Menschen die Verzweiflung korrespondiert, hat Luther in die sich im Gottesgedanken zusammenfassende religiöse Selbstdeutung den jedem vertrauten Umstand aufgenommen, dass menschliches Leben sich immer in der Spannung von Gelingen und Verfehlen bewegt. Nun führt Verzweiflung nicht automatisch zu Gewissheit und zu einer tragbaren Deutung eigenen Lebens. Dass es beim Menschen zum Aufbau von Gewissheit und einer tragfähigen neuen Selbstdeutung des eigenen Lebens kommt, ist für Luther ebenso unableitbar wie die Entstehung des Schuldbewusstseins. Das Entstehen von Gewissheit im Leben eines Menschen verbindet Luther mit der Barmherzigkeit und Gnade Gottes. Das Zustandekommen von Gewissheit ist freilich durch einen Bruch hindurch vermittelt, so dass die sich in dem Gericht Gottes artikulierende Selbster-

Gottesgedanke und Lebensvollzug

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I. Gott der Schöpfer

Gottes Zorn als Liebe

kenntnis des Menschen einen Bestandteil des neuen und nun tieferen Selbstverständnisses des Menschen vor Gott bildet. Erst von der sich beim Einzelnen einstellenden Gewissheit aus erscheint die eigene Verzweiflung als Gericht Gottes und der Zorn Gottes als seine Barmherzigkeit und Liebe. Gotteserkenntnis ist für Luther ein in sich gestuftes Geschehen. In diesem Geschehen stehen sich Gottes Zorn und Gottes Liebe unvermittelt gegenüber. Die Spannung zwischen dem göttlichen Zorn und seiner Liebe löst sich allein im Lebensvollzug des Glaubens als einem neuen Selbstverständnis des Menschen. Außerhalb dieses Vollzugs brechen Zorn und Barmherzigkeit Gottes gleichsam auseinander. Diese Antinomie, die Luther in sein Gottesbild aufgenommen hat und die ihm erst seine lebenserschließende Tiefe verleiht, lässt sich nicht in einer theoretischen Reflexion vermitteln oder auflösen. Sie löst sich nur im individuellen Glaubensvollzug auf. Allein hier erscheint Gott als ein Gott der Liebe. In De servo arbitrio hat Luther diese für seine Gottesanschauung konstitutive Antinomie prägnant auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt, dass „Gott seine ewige Güte und seine Barmherzigkeit unter ewigem Zorn, seine Gerechtigkeit unter Ungerechtigkeit“ verbirgt. „An dieser Stelle“, so Luther weiter, „liegt der höchste Grad des Glaubens: zu glauben, dass derjenige gütig ist, der so wenige rettet und so viele verdammt, zu glauben, dass derjenige gerecht ist, der uns nach seinem Willen notwendigerweise verdammungswürdig macht“ ([25], Bd. 1, S. 287).

b) Alleinwirksamkeit und Liebe Gottes

Allmacht Gottes

Luther hat in seine Gottesanschauung die Antinomie von Zorn und Barmherzigkeit aufgenommen, und zwar so, dass die Auflösung dieser Antinomie allein an das kontingente Zustandekommen von menschlicher Glaubensgewissheit gebunden ist. Aus diesem Gesichtspunkt ergeben sich sämtliche näheren Ausgestaltungen von Luthers Gottesbild. An erster Stelle ist der Gedanke der göttlichen Allmacht zu nennen, der für Luthers Gottesbild schlechterdings grundlegend ist. Die Allmacht Gottes ist freilich für Luther kein metaphysisches Gottesprädikat, sondern ein Implikat der Glaubensgewissheit. Ausgangspunkt des Verständnisses Gottes als allmächtigen Schöpfers und Wirkers der Welt ist die eigene Erfahrung des Glaubens. Seit der Römerbriefvorlesung von 1515/16 hat Luther den überlieferten Allmachtsgedanken zu der Vorstellung der Alleinwirksamkeit Gottes vertieft. Gott wirkt, wie Luther unter Aufnahme von Paulus sagt, „alles in allen“ (1. Kor 12,6). Würde Gott nicht in jedem Augenblick mit seinem Wirken und Willen in der Welt sein, dann würde die Welt ins Nichts zurückfallen. Für Luther fällt, wie er mehrfach formuliert, kein Blatt vom Baum ohne den wirkenden Willen Gottes. Auch der Mensch kann aus der Alleinwirksamkeit Gottes nicht heraustreten. Im Guten wie im Bösen ist der menschliche Wille durch die göttliche Alleinwirksamkeit bewegt. Ja, Luther führt in der Konsequenz seines Gottesbilds aus, dass Gott, da er „alles in allem bewegt und wirkt“, „auch notwendigerweise im Satan und im Gottlosen wirkt“ ([22], Bd. 18, S. 709 = [25], Bd. 1, S. 464 f.). Gott ist schlechthinnige Aktuosität und ununterbrochen am Wirken. Das Schöpfungshandeln Gottes versteht Luther nicht als ein einmaliges Setzen der Welt an ihrem Anfang, sondern als ein immerwährendes Schaffen und

1. Luthers Gottesanschauung

Erhalten Gottes (creatio continua). Gott überlässt sein Werk, nachdem er es geschaffen hat, nicht sich selbst, sondern gewährt ihm in ständiger Aktualität Sein und bewahrt es vor dem Chaos. Vermöge seiner Alleinwirksamkeit ist Gott in allem gegenwärtig und zugleich in seinem Willen und Wirken frei (vgl. [22], Bd. 26, S. 339). Beachtet man, dass die Bestimmung Gottes als eines allmächtigen, freien Willens, der alles in der Welt bewegt, ein Implikat der Glaubensgewissheit darstellt, so besagt die Bestimmung der göttlichen Alleinwirksamkeit, dass der Glaubende sich immer und überall in Gottes Hand wissen darf. Neben der Bestimmung Gottes als des allmächtigen Wirkers steht die Bestimmung Gottes als unveränderlicher Liebe. Gott ist für Luther reines Gutsein und er kann nie anders als gut handeln. Auch die Bestimmung Gottes als Liebe fußt auf der eigenen Gewissheitserfahrung. Dass Gott Liebe ist und sich in seinem Wort definitiv zur Liebe bestimmt hat, ist für Luther Basis und Grund des Trosts für das angefochtene Gewissen. In seiner Liebe ist Gott der Quellgrund alles Guten. Am häufigsten und eindrücklichsten hat Luther diesen Aspekt des Gottesgedankens in dem Bild zusammengefasst, dass wir in der Rechtfertigung Gott als „eitel Brunst und glühenden Backofen voller Liebe“ erfahren ([22], Bd. 36, S. 425). Dass Gott reine Gutheit und nichts als Gutheit ist, ist für Luther eine ewige Notwendigkeit. Gott ist unveränderlich. Wenn Gott jemanden liebt, dann liebt er ihn ewig und fest. Die stärksten Ausdrücke für diese Notwendigkeit der Unveränderlichkeit finden sich wiederum in De servo arbitrio von 1525. „Wir wissen sehr wohl, dass Gott nicht liebt oder hasst wie wir, weil wir ja in veränderlicher Weise sowohl lieben als auch hassen, er aber nach seiner ewigen unveränderlichen Natur liebt und hasst“ ([25], Bd. 1, S. 501 = [22], Bd. 18, S. 725). Luther schaut in „Gottes Willen eine immer sich gleichbleibende Beständigkeit, die durch die Unzuverlässigkeit und Launenhaftigkeit des menschlichen Willens nicht im Geringsten berührt wird“ ([185], S. 32). Luther verknüpft in seinem Gottesbild die allmächtige Freiheit des Herrn aller Dinge mit der Bestimmung der Notwendigkeit des wesenhaft Guten. Die Einheit dieser beiden antithetischen Momente in der Gottesanschauung lässt sich nicht gedanklich vollziehen, sondern sie liegt allein in dem mit dem Glaubensvollzug verbundenen Sich-Verstehen des Menschen in seinem Lebensvollzug. Gottes Wesen entzieht sich damit der Alternative von Notwendigkeit und Kontingenz, und zwar derart, dass Gott notwendig und kontingent im gleichen Sinne ist ([188], S. 87). Genau darin ist Luthers Gottesgedanke ein Ausdruck des Wesens der Frömmigkeit. Dass jemand glaubt oder sich versteht, ist kontingent. Aber diese Kontingenz des eigenen Sich-Verstehens fußt für Luther im unveränderlichen Handeln Gottes. Der Glaube rückte das kontingente Zustandekommen des eigenen Glaubens in eine Notwendigkeitsperspektive ein.

c) Deus absconditus und deus revelatus Luthers Gottesanschauung wäre nicht vollständig beschrieben, wenn man nicht neben der Verborgenheit Gottes in seiner Offenbarung noch den davon unterschiedenen Aspekt der verborgenen Verborgenheit Gottes berücksichtigte, wie er ihn insbesondere in seiner Streitschrift De servo arbitrio von

Güte Gottes

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I. Gott der Schöpfer

Glaube durch das Handeln Gottes

1525 entwickelte. Luther schreibt hier mit Bezug auf Ezechiel 18,24 – „Ich, Gott, will nicht den Tod des Sünders, sondern dass er sich bekehre und lebe“: „Er spricht von der gepredigten und dargebotenen Barmherzigkeit Gottes, nicht von jenem verborgenen und zu fürchtenden Willen Gottes, der nach seinem Ratschluss ordnet, welche und was für welche nach seinem Willen der gepredigten und dargebotenen Barmherzigkeit fähig und teilhaftig sind. Dieser Wille ist nicht zu erforschen, sondern mit Ehrfurcht anzubeten als ein in höchstem Grade verehrungswürdiges Geheimnis der göttlichen Majestät, ihm allein vorbehalten und uns verboten, weit frömmer als Korykische Höhlen von unendlicher Menge. […] Anders ist über Gott oder über den Willen Gottes zu disputieren, der uns gepredigt, offenbart, dargeboten und von uns verehrt wird, und anders über Gott, der nicht gepredigt, nicht offenbart, nicht dargeboten, nicht verehrt wird. So weit also Gott sich selbst verbirgt und von uns nicht gekannt werden will, geht er uns nichts an. Hier hat wahrlich jenes Wort Geltung: ,Was über uns ist, geht uns nichts an.‘“ ([22], Bd. 18, S. 684 f. = [25], Bd. 1, S. 405). Luther unterscheidet in der zitierten Stelle zwischen einem deus revelatus (geoffenbarter Gott) und einem deus absconditus (verborgener Gott). Dieser verborgene Gott, von dem Luther in De servo arbitrio spricht, unterscheidet sich von dem verborgenen Gott der theologia crucis. Denn hier ist der deus absconditus kein dialektischer Aspekt des deus revelatus, wie in der theologia crucis, sondern dieser deus absconditus ist von dem in der Offenbarung verborgenen Gott noch unterschieden. Es geht also um eine verborgene Verborgenheit Gottes. Man würde die von Luther in De servo arbitrio ausgeführte Unterscheidung zwischen dem deus absconditus und dem deus revelatus missverstehen, wenn man in ihr eine metaphysische Spekulation Luthers oder eine Aufnahme der spätmittelalterlichen Unterscheidung von potentia dei absoluta (absolute Macht Gottes) und potentia dei ordinata (geordnete Macht Gottes) sehen wollte (so: [193], S. 158). Der Ausgangspunkt dieser Unterscheidung liegt, wie Luther auch unmissverstehlich zu erkennen gibt, in der eigenen Glaubensgewissheit. Der Glaube entsteht jedoch bei dem Einzelnen nicht durch sein Handeln, sondern allein durch das Handeln Gottes am Einzelnen. Zum eigenen Glauben gehört, wie wir oben gesehen haben, immer der durch einen Bruch vermittelte Übergang vom Unglauben zum Glauben. Nur der Glaubende weiß sich als Sünder und darin als von Gott Gerechtfertigter. Der Glaube ist das Bewusstsein darum, dass sich grundlegende lebenstragende Gewissheit nicht durch das eigene Handeln einstellt, sondern dass der Glaube in der Alleinwirksamkeit Gottes gründet. Wenn aber Gott alles in allem wirkt, und zwar so, dass er auch im Gottlosen und im Satan wirkt, dann muss sowohl der Umstand des vormaligen eigenen Unglaubens als auch der Unglaube der anderen aus der Perspektive des eigenen Glaubens auf das Alleinwirken Gottes zurückgeführt werden. „Warum die einen vom Gesetz erreicht werden, die anderen nicht, so dass jene die angebotene Gnade annehmen und diese sie verachten – das ist eine andere Frage und sie wird von Ezechiel an dieser Stelle nicht behandelt“ ([22], Bd. 18, S. 634 = [25], Bd. 1, S. 405). Luthers Unterscheidung des deus absconditus von dem deus revelatus nimmt, wie die zitierte Stelle zeigt, in einer religiösen Perspektive das Problem auf, dass der Glaube beim Einzel-

1. Luthers Gottesanschauung

nen nur kontingent entsteht. Mit dem deus absconditus gibt Luther der Unableitbarkeit der Entstehung des Glaubens im Menschen in seinem Gottesbild einen Ort. Es geht damit in dieser Unterscheidung Luthers um eine religiöse Kontingenzthematisierung am Ort des Gottesgedankens, die ihre Pointe freilich darin hat, dass der Mensch nicht über die mit jedem menschlichen Leben unausweichlich verbundenen Kontingenzen spekulieren, sondern sich an den geoffenbarten Gott halten soll. Eine umfassende Perspektive, also der Standpunkt Gottes, ist für den Menschen aufgrund seiner Endlichkeit unerschwinglich. Deshalb soll er sich an den geoffenbarten und gepredigten Gott halten und allein deshalb gilt hier das sokratische Diktum ,Quae supra nos, nihil ad nos‘. Die Einführung des deus absconditus in De servo arbitrio dient allein der Vergewisserung des eigenen Heils angesichts der bleibend mit jedem menschlichen Leben verbundenen Kontingenzen.

2. Die Gotteslehre der altprotestantischen Dogmatik Luthers Gottesbild zeichnete sich dadurch aus, dass es strikt auf die Entstehung des eigenen Glaubens bezogen ist. Durch die in die Gottesanschauung aufgenommene Antinomie hat es seine beeindruckende Tiefe und lebenserschließende Kraft bekommen. Die Lehrentwicklung in der altprotestantischen Dogmatik hat nicht ohne Modifikationen an Luthers Gottesbild angeschlossen. In den Gotteslehren der altprotestantischen Lehrsysteme erscheint Gott unter Wiederaufnahme der aristotelischen Schulphilosophie als ein metaphysischer Abschlussgedanke. Darin wird nicht nur Luthers Gottesanschauung systematisiert, sondern in den heilsgeschichtlichen Aufbau der Dogmatik so eingebaut, dass er sowohl Anfang als auch Ende des theologischen Systems ist. Folglich setzt die theologische Dogmatik mit der Lehre von Gott ein. Im Einzelnen sind es fünf Themenkomplexe, die in der Gotteslehre behandelt werden: 1. die Lehre von dem Dasein, dem Wesen und den Eigenschaften Gottes 2. die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes 3. die Lehre von der Schöpfung 4. die Lehre von der Vorsehung 5. die Lehre von den Engeln, als den Dienern an den Werken Gottes. In den Gotteslehren der altprotestantischen Lehrsysteme geht es zunächst um eine Erörterung des Wesens und der Eigenschaften Gottes und erst im Anschluss daran um die Trinitätslehre. Dieser Aufteilung ungeachtet, ist man freilich der Meinung, dass sich das Wesen Gottes ohne Einbeziehung der Trinität nicht angemessen behandeln lasse. Mit der gesamten theologischen Lehrtradition ist man der Auffassung, dass das Spezifische des christlichen Gottesglaubens in dem Glauben an den dreieinigen Gott liegt. Der Grund dafür, dass man zunächst Gottes Wesen und erst im Anschluss daran die Trinitätslehre behandelt, ist der Augustinische Grundsatz, dass die Werke der Trinität nach außen ungeteilt seien. In seinem Welthandeln begegnet Gott dem Menschen in seinem ungeteilten göttlichen Wesen. Diesem Umstand ist der Aufbau der Gotteslehre geschuldet. Im Rahmen dieser Einführung können nur einige Grundzüge der altprotestantischen Gotteslehre erörtert werden.

Fünf Aspekte der Gotteslehre

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I. Gott der Schöpfer

a) Gottes Sein, Wesen und Eigenschaften a Das Sein Gottes Einen Bestandteil der dogmatischen Behandlung des Wesens Gottes bildet die Erörterung des Daseins Gottes und sie umfasst zumeist zwei Themenkomplexe: (1.) die Frage der Erkenntnis Gottes und (2.) die Gottesbeweise.

Zwei Quellen der Gotteserkenntnis

(1.) Die Erkenntnis Gottes Mit der theologischen Tradition gehen die altprotestantischen Theologen davon aus, dass dem Menschen schon von Natur aus ein Wissen von Gott zukommt. Dass Gott ist, ist noch eine selbstverständliche Grundüberzeugung, die nicht in Frage gestellt wird. Das Problem des Atheismus wird also noch nicht in den Dogmatiken thematisiert. Strittig zwischen den Konfessionen ist nicht die Existenz Gottes, wohl aber das rechte Verständnis Gottes. Das Wissen von Gott kommt auf eine zweifache Weise zustande, nämlich einmal durch die Natur und zum anderen durch die Offenbarung. Wir haben diese zwei Formen der Erkenntnis Gottes – die cognitio Dei naturalis et supernaturalis – schon im Zusammenhang des Offenbarungsbegriffs besprochen, so dass wir an dieser Stelle darauf verweisen können. Zum Heil führt freilich nur die geoffenbarte Gotteserkenntnis, während die natürliche Erkenntnis Gottes zweideutig ist und keine vollständige Gewissheit schafft. Sie ist aufgrund der Sündhaftigkeit des Menschen unvollkommen. (2.) Die Gottesbeweise Das zweite Thema, welches im Horizont der Frage nach der natürlichen Erkenntnis Gottes behandelt wird, sind die sogenannten Beweise vom Dasein Gottes. Die Gottesbeweise gehören zur natürlichen Gotteserkenntnis. Aus diesem Grund führen sie auch nicht zur vollen Gewissheit über das Dasein Gottes. Dessen wird der Mensch erst durch die Offenbarung, also durch die cognitio Dei supernaturalis, vollkommen gewiss. Der Status und die Beweiskraft der Gottesbeweise waren in der theologischen Tradition immer umstritten. Ihr Sinn liegt darin, die mit dem Glauben verbundene Gewissheit Gottes vor dem Forum der Vernunft einsichtig zu machen. Die theologische Tradition hat verschiedene Typen von Gottesbeweisen hervorgebracht. Diese unterschiedlichen Beweistypen lassen sich im Anschluss an Immanuel Kant in drei Grundtypen zusammenfassen (I. Kant, KrV B 618 f.). Kant unterscheidet drei Grundformen der Gottesbeweise: 1. den physikotheologischen Gottesbeweis: Ausgangspunkt = bestimmte Erfahrung 2. den kosmologischen Gottesbeweis: Ausgangspunkt = unbestimmte Erfahrung 3. den ontologischen Gottesbeweis: Ausgangspunkt = der Begriff Gottes.

Der physikotheologische und der kosmologische Beweis vom Dasein Gottes stimmen darin überein, dass sie von der Erfahrung ausgehen und mittels des Kausalitätsgedankens von der Wirkung auf Gott als letzte Ursache schließen. Diese beiden von der Erfahrung ausgehenden Beweisformen gehen schon auf die antike Philosophie zurück (Aristoteles, Stoa). Ihre für die theologische

2. Die Gotteslehre der altprotestantischen Dogmatik

Lehrtradition maßgebliche Gestalt erhielten sie durch Thomas von Aquin, der in seiner Summa theologiae fünf Wege (quinque viae) unterscheidet, das Dasein Gottes zu beweisen ([99], I q. 2 a.3). Alle fünf Wege des Thomas kommen darin überein, dass sie von der Erfahrung ausgehen und die Wirkung-Ursachen-Kette bis zu einer letzten Ursache hinaufsteigen. Die letzte Ursache, die selbst nicht mehr durch eine andere Ursache verursacht sein kann, identifiziert Thomas mit dem Gottesgedanken. Das Argument für den Schluss auf eine letzte Ursache besteht in der Annahme, dass es keinen infiniten Regress von Ursachen geben kann. Wenn es aber keinen infiniten Regress von Ursachen geben kann, dann muss es eine erste Ursache geben, von der gilt, dass sie selbst nicht verursacht ist. Von diesen Beweistypen, die von der Erfahrung ausgehen, unterscheidet Kant eine Beweisform, die von dem Begriff Gottes ausgeht und auf die Existenz dieses Begriffs schließt. Dies ist der sogenannte ontologische Beweis, der in seiner maßgeblichen Gestalt auf Anselm von Canterbury (Proslogion, 1080) zurückgeht. Ausgangspunkt des ontologischen Arguments ist der Begriff Gottes. Dieser wird von Anselm als etwas, „über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“ (= aliquid, quo nihil maius cogitari possit) bestimmt ([183], S. 51). Anselms Argument lautet: Gott ist das größte Denkbare. Als solches muss es existieren, da sonst etwas Größeres zu denken wäre, nämlich etwas, das im Verstand und in der Wirklichkeit ist. Man hätte, so Anselm, nicht Gott gedacht, wenn man ihn nicht als existierend denken würde. Zum Begriff Gottes gehört dessen Existenz. Andernfalls würde es etwas Größeres geben, aber dieses, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, soll ja nach der Bestimmung von Anselm Gott sein. b Das Wesen Gottes Während die Fragen nach der Gotteserkenntnis sowie zum Dasein Gottes formal noch in den Bereich der natürlichen Gotteserkenntnis gehören, bildet die Frage nach dem Wesen Gottes einen Bestandteil der geoffenbarten Gotteserkenntnis. Zwar geht man davon aus, dass schon die natürliche Gotteserkenntnis nicht nur zu der Erkenntnis führt, dass Gott ist, sondern auch zu bestimmten Wesensmerkmalen Gottes. Aber die natürliche Erkenntnis Gottes bleibt zweideutig und unvollständig. Allein die in der Schrift niedergelegte Offenbarung vermag zu der Gewissheit Gottes und zu einer Bestimmung des Wesens Gottes zu führen. Die in den altprotestantischen Dogmatiken ausgeführten Bestimmungen des Wesens Gottes verstehen sich als solche, die aus der Schrift entnommen sind. Freilich sind die Ausführungen über das Wesen und die Eigenschaften Gottes von dem Bewusstsein getragen, dass man auch aus der Schrift keine adäquate und vollständige Erkenntnis des Wesens Gottes gewinnt. Denn Gott ist kein Gegenstand der Erfahrung und folglich übersteigt eine Erkenntnis des Wesens Gottes das Fassungsvermögen des Menschen. Hierfür können sich die alten Dogmatiker auf die Schrift selbst berufen, die die Unbegreiflichkeit des göttlichen Wesens für den Menschen aussagt. Die klassischen Belegstellen sind 1. Tim 6,16 und Röm 11,33. Die Bestimmung des Wesens Gottes steht unter der Restriktion, dass Gott nicht im eigentlichen Sinne definiert werden kann ([32], Bd. 2, S. 61–75). Was Gott seinem Wesen nach, was er an sich ist, kann nicht in Begriffe

Gottesbeweis bei Thomas und Anselm

Bestimmung Gottes ohne Definition

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I. Gott der Schöpfer

gefasst werden, da es das Fassungsvermögen des Menschen übersteigt. Allein aufgrund der Heiligen Schrift sei eine Definition Gottes in einem weiteren Sinne möglich, die es erlaubt, Gott von anderen Wesen zu unterscheiden. Die grundlegende Bestimmung Gottes in den alten Dogmatiken lautet, und zwar in Übereinstimmung mit der theologischen Tradition, Gott ist „essentia spiritualis infinitia“ (= unendliches geistiges Wesen). Diese Wesensbestimmung Gottes versucht dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Gott das menschliche Fassungsvermögen übersteigt, aber man doch auch nicht offen lassen kann, was Gott ist. Daher bleiben nur die beiden Begriffe der essentia spiritualis und infinitas als Charakterisierungen. Dass Gott ein geistiges Wesen sei, kommt ihm nicht allein zu, sondern trifft auch auf andere geistige Wesen zu, etwa die Engel. Erst durch die hinzukommende Bestimmung der Unendlichkeit (infinitias) unterscheidet sich Gott von allen anderen Wesen.

Beschreibungen Gottes als des vollkommensten Wesens

Rückgriff auf Dionysius Areopagita

c Die Eigenschaften Gottes Die Lehre von den Eigenschaften oder Attributen Gottes möchte eine nähere Beschreibung des göttlichen Wesens geben, wie es in der Heiligen Schrift vorliegt (vgl. [37], S. 77–86; [40], S. 525–614). Dabei werden die Eigenschaften Gottes durchweg metaphysisch verstanden. Denn die Eigenschaften Gottes sind nicht etwas zu dem Wesen Gottes Hinzukommendes, was auch wegfallen könnte, ohne dass die Substanz Gottes alteriert würde. Die Eigenschaften beschreiben das göttliche Wesen nach seinen einzelnen Merkmalen, da der Mensch aufgrund der Beschränktheit seines Fassungsvermögens das Wesen Gottes nicht anders auffassen kann. Gleichwohl sind die von Gott ausgesagten Eigenschaften als unveränderlich und immer daseiend zu denken. In diesem Sinne definiert der altlutherische Theologe David Hollaz die Eigenschaften Gottes. Sie sind „jene Vollkommenheiten (perfectiones), die – gemäß unserem begrifflichen Vermögen – aus dem göttlichen Wesen von sich aus folgen. Sie sind nicht real von ihm geschieden und deswegen auch nicht wie Akzidentien (im Verhältnis zur Substanz) zu betrachten“ ([17], Theol. part. I, cap. I, q. 21). Die Eigenschaften Gottes sollen nichts anderes sein als Beschreibungen Gottes als des vollkommensten Wesens. Natürlich stellt sich auch bei den Eigenschaften Gottes das Problem, wie man zu diesen kommt, wenn doch von Gott gilt, dass er in einem unzugänglichen Licht wohnt. Weiterhin stellt sich die Frage, ob Eigenschaften, die ja aus dem Erfahrungsbereich aufgegriffen sind, überhaupt auf Gott angewandt werden können und wenn ja, in welchem Sinne. Kann man im gleichen Sinne (univok) von Gott wie von einem Menschen sagen, dass er gut ist oder muss der Begriff auf Gott in einem äquivoken Sinne gebracht werden? Wenn man den Begriff äquivok gebraucht, sagt man dann noch etwas Gehaltvolles über Gott aus? Die Dogmatiker des alten Protestantismus lösten dieses mit der Anwendung der Eigenschaften auf Gott verbundene Problem durch eine Aufnahme der mittelalterlichen Lehre von den drei Wegen der Gotteserkenntnis. Diese Lehre geht auf den neuplatonischen Theologen Dionysius Areopagita (um 500) zurück, und sie setzt voraus, dass, da Gott die Welt geschaffen hat, zwischen der Schöpfung und Gott als dem Schöpfer wenigstens eine entfernte Ähnlichkeit besteht. Eine methodisch vollzogene Überschreitung der

2. Die Gotteslehre der altprotestantischen Dogmatik

geschöpflichen Welt erlaube daher eine gewisse Annäherung menschlicher Sprache an Gott und eröffne die Möglichkeit einer positiven Bestimmung seines Wesens. In seiner Schrift Die Namen Gottes unterscheidet Dionysius Areopagita drei Wege, auf denen man zu Aussagen über Gott kommt.

1. via eminentiae: Alle Vollkommenheiten, die man in den Kreaturen findet, werden von Gott im höchsten Sinne ausgesagt. Beispiel: Der Mensch ist gut, Gott ist das Gute überhaupt. Die These lautet: was dem Geschöpf nur accidentaliter (zufällig) zukommt, kommt Gott essentialiter (wesentlich) zu. Für Gott gilt der Grundsatz: In Deum non cadit accidens. 2. via negationis: Hier handelt es sich um die ausdrückliche Negation von Unvollkommenheiten, wie wir sie bei den Kreaturen erkennen, im Wesen Gottes. Beispiel: Der Mensch ist endlich, Gott ist unendlich. 3. via causalitatis: Hier geht es um den Ursprung der Vollkommenheiten in Gott. Beispiel: Gott ist der Ursprung der menschlichen Gutheit.

Durch die viae eminentiae, negationis et causalitatis gelangt die alte Dogmatik zu ihren Eigenschaften Gottes. Auch die auf diese Weise gefundenen Eigenschaften Gottes können freilich nur in menschlicher Sprache formuliert werden. Aus diesem Grund wurden die Aussagen über Gott so verstanden, dass sie nicht direkt, wohl aber in bestimmter Weise auf Gott zutreffen. Menschliche Rede von Gott ist weder univok (= eindeutig) noch äquivok (= mehrdeutig), sondern analog. Bei dieser Unterscheidung geht es einerseits darum, eine Identität zwischen Gott und Weltwirklichkeit zu vermeiden. Dies wäre nämlich genau dann der Fall, wenn die Aussagen von Gott univok wären. Andererseits soll auch keine totale Verschiedenheit von Gott und Welt behauptet werden. Dies wäre aber der Fall, wenn die Aussagen über Gott äquivok wären. Die Analogie hat somit ihren Ort im Spannungsfeld zwischen Univozität (Eindeutigkeit) und Äquivozität (Mehrdeutigkeit). Aussagen über Gott sind analoge Aussagen. Die Analogielehre oder Lehre von der analogia entis wurde im Mittelalter von Thomas von Aquin ausgebildet, der die Unterscheidung von univoker, äquivoker und analoger Rede von dem griechischen Philosophen Aristoteles übernahm. Durch das Modell der analogen Rede von Gott ergibt sich für Thomas die Möglichkeit, den Status der Eigenschaften Gottes genauer festzulegen. Die religiöse Rede ,Gott ist wie ein Vater‘ ist folglich nicht in einem biologischen Sinne aufzufassen (univok), noch hat die Bezeichnung Gottes als Vater einen mehrdeutigen Sinn (äquivok), sondern das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen lässt sich analog zu dem Verhältnis zwischen Vater und Kind beschreiben. Die altprotestantische Theologie hat, im Unterschied zu Martin Luther, die auf Dionysius Areopagita zurückgehende scholastische Methode, Eigenschaften Gottes zu gewinnen, in der Lehre von dem Wesen und den Eigenschaften Gottes wieder aufgegriffen. Die durch die drei Wege gefundenen Eigenschaften Gottes können jedoch auf verschiedene Weise eingeteilt werden. Man unterscheidet die Eigenschaften Gottes in negative und positive Eigenschaften oder in solche, welche Gott beschreiben, wie er an sich ist, und in solche, welche ihn beschreiben in seinem Verhalten zur Welt.

Analogielehre zur Beschreibung Gottes

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I. Gott der Schöpfer

1. Die negativen oder absoluten Eigenschaften Gottes sind: unitas (Einheit), simplicitas (Einfachheit), immutabilitas (Unveränderlichkeit), immensitas (Unermesslichkeit), aeternitas (Ewigkeit), infinitas (Unendlichkeit). 2. Die positiven oder weltbezogenen Eigenschaften Gottes sind: vita (Leben), scientia (Wissen), sapientia (Weisheit), sanctitas (Heiligkeit), iustitia (Gerechtigkeit), veracitas (Treue/Wahrhaftigkeit), potentia (Macht), bonitas (Güte), perfectio (Vollkommenheit).

b) Die Trinitätslehre

Dogmatische Fassung der Trinität und deren Probleme

Mit der theologischen Lehrtradition gehen sowohl die Reformatoren als auch die altprotestantischen Dogmatiker davon aus, dass das Spezifikum des christlichen Glaubens in dem Glauben an den dreieinigen Gott besteht (vgl. [37], S. 87–109; [40], S. 401–524). Schon bei den Ausführungen über das Wesen Gottes war die Überzeugung leitend, dass dieses nur durch das Wirken des dreieinigen Gottes ad extra zu erfassen sei. In den opera trinitatis ad extra begegnet gleichsam das Wesen Gottes, da die Werke des dreieinigen Gottes nach außen ungeteilt sind ([32], Bd. 2, S. 59 f.). Die Reformatoren haben die altkirchlichen Bekenntnisse übernommen und damit auch das Dogma von dem dreieinigen Gott. In den Bekenntnisschriften der Lutherischen Kirche wird die Trinitätslehre als verbindliche Lehre festgehalten und es werden alle verdammt, die diese Lehre leugnen. Gleich der erste Artikel der Confessio Augustana stellt fest: „Erstlich wird einträchtiglich gelehrt und gehalten, lauts des Beschluß Concilii Nicaeni, daß ein einig gottlich Wesen sei, welchs genennt wird und wahrhaftiglich ist Gott, und seind doch drei Personen in demselben einigen gottlichen Wesen, gleich gewaltig, gleich ewig, Gott Vater, Gott Sohn, Gott heiliger Geist, alle drei ein gottlich Wesen, ewig, ohn Stuck, ohn End, unermessener Macht, Weisheit und Gute, ein Schöpfer und Erhalter aller sichtbarn und unsichtbarn Ding. Und wird durch das Wort Persona verstanden nicht ein Stuck, nicht ein Eigenschaft in einem andern, sondern das selbs bestehet, wie dann die Väter in dieser Sache dies Wort gebraucht haben“ ([1], S. 50). Gleichwohl sind mit der Trinitätslehre und ihrer lehrmäßigen Entfaltung auf dem Boden des Protestantismus Schwierigkeiten verbunden. Diese liegen vor allem darin, dass die Bibel die einzige Grundlage und Quelle der Theologie für den Protestantismus ist, aber die Trinitätslehre das Resultat der kirchlichen Lehrentwicklung darstellt. Der römisch-katholische Einwand gegen den ersten Artikel der Confessio Augustana lautet denn auch, ob der reformatorische Grundsatz sola scriptura das der Bibel fremde Glaubensmodell der Trinität zulasse. Aufgrund der Spannung zwischen der strengen Anbindung an die Heilige Schrift und der begrifflichen Lehrgestalt kommt es in den altprotestantischen Dogmatiken nur sehr zögerlich zur begrifflichen Ausgestaltung der Trinitätslehre. Signifikant ist Melanchthons Diktum aus der ersten Auflage der Loci communes von 1521, die Geheimnisse der Gottheit erforschen wir nicht, sondern beten sie an ([30], S. 19). Eine Integration dieses Lehrstücks in die altlutherische Dogmatik hat erst Johann Gerhard geleistet. Er versteht die Trinitätslehre als Implikat des Worts Gottes ([32], Bd. 2, S. 88–113).

2. Die Gotteslehre der altprotestantischen Dogmatik

Für die lutherischen und reformierten Theologen ist die Schrift die einzige Quelle theologischer Aussagen. Dabei gehen die Reformatoren selbstverständlich davon aus, dass die Heilige Schrift den Glauben an den dreieinigen Gott enthält. In der Bibel finden sich zwar triadische Formeln, jedoch keine Trinitätslehre im kirchlichen Sinne. Diese ist erst das Resultat der dogmatischen Lehrentwicklung der ersten vier Jahrhunderte. Die klassischen biblischen Belegstellen für die Trinität sind Mt 28,19; 1. Kor 12,4–6; 2. Kor 13,13; Eph 4,4–6. Eine Trinitätslehre als solche findet sich freilich nicht in der Bibel, sie kann jedoch als eine Konsequenz des christlichen Gottesgedankens aufgefasst werden. Das systematische Problem, welches die Trinitätslehre bearbeitet, besteht darin, das Verhältnis von Gott und Jesus Christus sowie dessen Vergegenwärtigung im Geist am Ort des Individuums zu klären. Damit ist die Konsequenz verbunden, die Gestalt Jesu sowie den Geist in den Gottesgedanken selbst mit aufzunehmen. Denn die christliche Grunderfahrung besteht ja darin, dass der Gottesgedanke mit der Geschichte Jesu von Nazareth verbunden wird. Dies hat nun wiederum Konsequenzen für den Gottesgedanken. Der streng monotheistische Gottesgedanke muss umgeformt werden. Die trinitarischen Auseinandersetzungen der frühen Kirche fanden zwischen 318 und 381 statt und haben mit dem Konzil von Konstantinopel 381 ihren Abschluss gefunden. Der Verlauf dieser Auseinandersetzung war im Einzelnen sehr kompliziert ([5], S. 1–51). Er führte über die Debatten um Subordinatianismus (Christus und der Geist werden Gott Vater untergeordnet) und Modalismus (Vater, Sohn und Geist sind Erscheinungsweisen des einen Gottes) zum kirchlichen Modell der Trinitätslehre. Dieses hält sowohl an der Wesensgleichheit (homousios) der drei göttlichen Personen als auch an der Einheit Gottes fest. Die kirchliche Trinitätslehre behautet also: 1. die Einheit Gottes, 2. eine Mehrheit von Personen in Gott und 3. die Wesensgleichheit der drei Personen. In dieser Form wurde die Trinität auf den beiden Konzilien von Nicaea (325) und Konstantinopel (381) lehrmäßig fixiert. Im Nicaenum heißt es von Jesus Christus: „Gott von Gott, Licht von Licht, wahrhaftiger Gott aus wahrhaftigem Gott, geboren, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater.“ Und das Bekenntnis von Konstantinopel ergänzt die Wesensgleichheit des Geistes. Die Reformatoren haben die überlieferte Lehrgestalt der Trinitätslehre, wie sie auf den Konzilien von Nicaea und Konstantinopel verbindlich fixiert wurde, übernommen. Die grundlegenden Bestimmungen der altprotestantischen Trinitätslehre sind essentia (Wesen) und persona (Person). Mit diesen Begriffen sollen von Gott sowohl Einheit als auch Mehrheit und Unterschied ausgesagt werden. Die dogmatische Lehrform der Trinität lautet: „Una divina essentia in tribus personis subsistit.“ In der Formel „Una divina essentia in tribus personis subsistit“ bezieht sich die Einheit auf das göttliche Wesen (essentia divina). Das göttliche Wesen kommt nur einem Einzigen zu. Daraus folgt, dass die Einheit von Vater, Sohn und Geist nicht drei Götter meint, denen jedem ein besonderes göttliches Wesen zukäme. Vater, Sohn und Geist sind in dem Sinne Gott, dass von jedem das ganze Gottsein ausgesagt wird. Daraus folgt, dass von jedem der drei die Gottheit und alle Eigenschaften Gottes ausgesagt werden müssen.

Umformung des monotheistischen Gottesgedankens

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I. Gott der Schöpfer

Inneres Verhältnis der göttlichen Personen und Weltbezug

Denn in Gott besteht kein realer Unterschied zwischen Wesen und Eigenschaften. Unter der Mehrheit in Gott ist also weder eine wesentliche Vielheit (pluralitas essentialis) noch eine zufällige Vielheit (pluralitas accidentalis) zu verstehen. Das Personsein tritt nicht erst als eine besondere Eigentümlichkeit (Bestimmtheit) zu dem Wesen Gottes hinzu. Die pluralitas bestimmen die alten Dogmatiker als eine pluralitas hypostatica seu personarum. Der Begriff der Person wird in der Trinitätslehre damit als Relation definiert. Jede der drei Personen ist als eine Relation und in diesem Sinne als ein für sich subsistierendes Subjekt aufzufassen. In dem einen göttlichen Wesen sind folglich drei Personen zu unterscheiden, wobei der Unterschied der Personen als ein wirklicher und realer aufzufassen ist. Mit dem als Relation bestimmten Personenbegriff ergibt sich nun die Möglichkeit, von jeder der trinitarischen Personen gewisse Eigentümlichkeiten auszusagen, durch die sie sich von den anderen unterscheidet. Diese Eigentümlichkeiten bezeichnen die alten Dogmatiker als character hypostaticus oder proprietas personalis (Eigentümlichkeiten der Person). Die Eigentümlichkeiten der Personen werden unterschieden in solche, die sich auf das innere Verhältnis der göttlichen Personen beziehen und solche, die sich auf das Wirken der Personen auf die Welt beziehen. Damit nimmt die altprotestantische Dogmatik die auf Augustin zurückgehende Unterscheidung von Werken der Trinität nach innen und nach außen auf. Von den opera trinitatis ad intra (Werken der Trinität nach innen) gilt, dass sie geteilt sind. Aus dem geteilten Wirken der Trinität nach innen resultieren die Unterschiede zwischen den trinitarischen Personen. Die proprietates internae deuten die inneren Unterschiede an, die unter den Personen selbst sind und beschreiben die Subsistenzweise der einzelnen Personen. Die unterschiedlichen Relationen bestimmen die einzelnen Personen und ihre Eigentümlichkeiten. Folglich beziehen sich die Eigentümlichkeiten der Personen nicht auf die gleiche Beschaffenheit der drei göttlichen Hypostasen, sondern ausschließlich auf ihr Verhältnis zueinander. Die Relationen, von denen die jeweiligen Eigentümlichkeiten oder Merkmale der drei göttlichen Personen abgeleitet werden, ergeben sich aus den innertrinitarischen Hervorgängen (processiones). Die innergöttlichen Hervorgänge sind: – die Zeugung (generatio) des Sohnes durch den Vater und – die Hauchung (spiratio) des Geistes durch den Vater und den Sohn. Die Frage, ob die Hauchung des Geistes durch den Vater allein oder durch den Vater „und den Sohn“ (filioque) gemeinsam geschieht, ist Gegenstand der Kontroverse zwischen den Westkirchen und der orthodoxen Kirche (1054 Kirchentrennung wegen des filioque) ([191]).

Diese innergöttlichen Hervorgänge sind einerseits die Voraussetzung des göttlichen Welthandelns und andererseits sind sie jeweils nur auf eine bestimmte Person zu beziehen. Allein der Vater zeugt, allein der Vater und der Sohn hauchen; weder der Sohn zeugt noch der Geist; der Geist haucht nicht. Die Vorgänge im Inneren der Trinität werden also auf die Personen aufgeteilt.

2. Die Gotteslehre der altprotestantischen Dogmatik

Aus der Zuordnung der innergöttlichen Hervorgänge ergeben sich die Eigentümlichkeiten der göttlichen Personen (notiones personales). Dem Vater kommen zu: – Ungezeugtsein bzw. Ungewordenheit – aktive Zeugung bzw. Vaterschaft im Hinblick auf den Sohn – aktive Hauchung im Hinblick auf den Geist. Dem Sohn kommen zu: – passive Zeugung oder Sohnschaft im Hinblick auf den Vater – aktive Hauchung im Hinblick auf den Geist. Dem Geist kommt zu: – passive Hauchung im Hinblick auf Vater und Sohn.

Von den Werken der Trinität ad intra (nach innen), aus denen sich die Eigentümlichkeiten oder Merkmale der Personen ergeben, werden die Werke ad extra (nach außen) unterschieden. Von den Werken der Trinität ad extra gilt, dass sie ungeteilt sind. In diesen Werken handeln alle drei göttlichen Personen zusammen. Obwohl die Werke nach außen allen Personen zugesprochen werden, können diese Werke einer Person vorrangig zugeordnet werden. Solche Zuordnungen nennen die alten Dogmatiker mit der theologischen Lehrtradition Appropriationen (Zueignungen). So wird die Schöpfung der Welt dem Vater zugeordnet, die Erlösung der Menschen dem Sohn und die Heiligung der Menschen dem Geist.

c) Der Lehrbegriff der Schöpfung Auf die Lehre von dem Dasein, dem Wesen und den Eigenschaften des dreieinigen Gottes folgt im Aufbau der Gotteslehre der altprotestantischen Dogmatik die Lehre von den Werken Gottes (vgl. [37], S. 110–117; [40], S. 616–717). Die Schöpfung der Welt wird als das erste Werk des dreieinigen Gottes ad extra verstanden und dem Vater als der ersten Person der Trinität in besonderer Weise zugesprochen. Das Apostolische und das Konstantinopolische Glaubensbekenntnis bekennen Gott den Vater als den „Schöpfer des Himmels und der Erde“. Obwohl die Schöpfung dem Vater zugesprochen wird, wirken in der Schöpfung der Welt alle drei trinitarischen Personen zusammen. Das frühe Christentum hat den Schöpfungsgedanken vom Judentum übernommen. Nach dem priesterlichen Schöpfungsbericht „schuf“ Gott am Anfang Himmel und Erde (Gen 1,1). Die neutestamentlichen Autoren haben diese Gottesvorstellung aufgenommen, aber so, dass sie mit dem Christusglauben verbunden wurde. Das Neue Testament bezeichnet Christus als das ewige Wort des Vaters und als Schöpfungsmittler (Joh 1,3; Kol 1,12–20; Eph 1,3–14). Im Verlauf der Theologiegeschichte wurde der biblische Schöpfungsglaube mit dem Gottesgedanken der philosophischen Tradition der Antike verbunden und mit den begrifflichen Mitteln der griechischen Philosophie ausgelegt. Von großem Einfluss auf die Schöpfungslehre der patristischen Theologie waren die Philosophien von Platon und Aristoteles. Platon konzipierte in seinem Dialog Timaeus einen Schöpfungsmythos, in dem ein demiurgischer Schöpfergott den Ideenkosmos in die Erscheinungswirklich-

Aufnahme des jüdischen Schöpfungsgedanken

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I. Gott der Schöpfer

Schöpfungsglaube und Heilsgewissheit

keit einprägt, und Aristoteles bestimmte das Göttliche als die erste unverursachte Ursache, welche die Welt in Bewegung hält ([184], S. 17–53). Die mittelalterliche Lehrentwicklung hat an die patristische Verknüpfung von biblischem Schöpfungsglauben und antiker Kosmogonie angeknüpft und Gott als causa prima der Welt bestimmt. Auch Luther hat die traditionelle Schöpfungstheologie übernommen, aber von seiner reformatorischen Grundeinsicht in den Glauben als das Ergreifen der Gerechtigkeit Gottes entscheidend modifiziert. Deutlich wird dies an seiner Auslegung des ersten Artikels des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus ([1], S. 510 f.). Der Schöpfungsglaube ist für Luther keine Spekulation über den Anfang und die Entstehung der Welt, sondern ein Bestandteil der Heilsgewissheit. Schöpfungsglaube und Heilsglaube sind also verbunden. Das Gefälle der Aussagen Luthers nimmt seinen Ausgang vom glaubenden Individuum („Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat“) und geht dann über zu den anderen Geschöpfen und der Lebenswelt. Der Gehalt des Schöpfungsglaubens besteht in dem Bewusstsein um die Nichtselbstverständlichkeit des eigenen Lebens sowie der Lebenswelt. Im Schöpfungsglauben wird die Kontingenz eigenen Lebens sowie der Lebenswelt in den Horizont Gottes eingerückt und auf diese Weise thematisiert. Die lutherischen Bekenntnisschriften haben den Schöpfungsgedanken übernommen. In dem ersten Artikel der Confessio Augustana wird Gott als „Schöpfer und Erhalter aller Dinge, der sichtbaren und unsichtbaren“ verstanden. Die Lehrentwicklung auf dem Boden des Protestantismus machte jedoch die von Luther vorgenommene Verbindung von Heilsgewissheit und Schöpfungsglaube wieder rückgängig. Die altprotestantischen Dogmatiker unterscheiden einen zweifachen Gebrauch des Begriffs creatio (Schaffen) in den biblischen Schriften, einen uneigentlichen und einen eigentlichen. Die biblischen Schriften sprechen nämlich auch dort von erschaffen, wo Gott die Lebewesen durch seinen Odem erhält (Ps. 104,30). Schaffen kann jedoch auch in einem uneigentlichen Sinne verwendet werden, nämlich dort, wo die göttliche Erneuerung des menschlichen Herzens gemeint ist (Ps 51,12; 2. Kor 5,17; Eph 2,10). Von diesem uneigentlichen Gebrauch von creatio unterscheiden die alten Dogmatiker einen eigentlichen Sinn von creatio. Dieser liegt in Gen 1,1 vor. Creatio im eigentlichen Sinne meint somit ausschließlich eine productio ex nihilo pure negativo ([32], Bd. 2, S. 164 f.). Mit dieser Unterscheidung von eigentlichem und uneigentlichem Schaffen ist die Konsequenz verbunden, dass der Schöpfungsglaube vom Heilsglauben abgelöst wird. Das göttliche Neuschaffen des menschlichen Herzens meint den altprotestantischen Theologen zufolge keine creatio im eigentlichen Sinne. Unter Schöpfung im eigentlichen Sinne versteht die altprotestantische Dogmatik ein Werk Gottes, welches dieser allein, ohne Mitwirkung irgendeiner Kreatur aus freiem Entschluss durch sein allmächtiges Schöpferwort vollbracht hat. In dem göttlichen Schaffen der Welt wirkt die Trinität ungeteilt. Gott ist also im eigentlichen Sinne des Worts Schöpfer der Welt. Damit soll jede Vorstellung eines von Ewigkeit her schon vorhandenen Stoffs, aus dem Gott die Welt gebildet oder gestaltet hätte, ausgeschlossen werden. Gott ist die alleinige Wirkursache (causa efficiens) der Schöpfung. Auch der Stoff, aus dem die Welt besteht, ist von Gott geschaffen. Darauf zielt das frühjüdische Theologumenon (2. Makk 7,28) der Schöpfung aus dem Nichts (creatio

2. Die Gotteslehre der altprotestantischen Dogmatik

ex nihilo). Es soll festhalten, dass nichts vorhanden gewesen sei, dessen sich Gott zur Weltbildung bedient habe. Da in Genesis 1 von einem bestimmten Anfang der Schöpfung gesprochen wird, ist die aristotelische Vorstellung einer von Ewigkeit her existierenden Welt oder Materie auszuschließen. Mit dem biblischen Schöpfungsbericht geht die altprotestantische Schöpfungslehre davon aus, dass die Welt nicht mit einem Mal entstanden ist, sondern in allmählicher Aufeinanderfolge. Die Durchführung des Lehrbegriffs der Schöpfung folgt dem in Gen 1 beschriebenen ordo creationis (Schöpfungsordnung). Daraus ergeben sich folgende Stufen der Schöpfung: a.) die Erschaffung der Materie, b.) die Ausscheidung der einzelnen aus nichts geschaffenen Stoffe, c.) die Anordnung der rohen Massen und ihre Bildung zu der Form, in welcher sie am Ende der Schöpfung vorlag. Die alte Dogmatik unterscheidet somit zwischen einer creatio immediata (unmittelbare Schöpfung) = die Erschaffung aus nichts und creatio mediata (vermittelte Schöpfung) = die Anordnung der bereits erschaffenen Masse. Dem Schöpfungshandeln Gottes ist keine Materie vorgegeben. Allerdings gilt dies nur für die creatio immediata, also den ersten Tag der Schöpfung. Die anderen fünf Schöpfungstage, von denen die biblische Schöpfungsgeschichte zu berichten weiß, setzen das coelum et terra aus Gen. 1,1 voraus. Alleinige Ausnahme bildet die Seele des Menschen, die die Dogmatiker auch als ex nihilo oder spezifisch ex deo herleiten ([32], Bd. 2, S. 163–184). Der Endzweck der Schöpfung ist die gloria Dei (Ehre Gottes) als causa finalis (Zweckursache) der Schöpfung. Unter den Geschöpfen nimmt der Mensch die höchste Stelle ein. Um seinetwillen ist alles in der Welt geschaffen. Der mittelbare Zweck der Schöpfung besteht in ihrem Gebrauch und Nutzen für den Menschen (= usus et utilitas hominum; nach Gen. 1,28). Wenn die Welt allein von Gott geschaffen ist, so folgt, dass alles in der Welt sehr gut war. Das Böse und die Übel in der Welt verdanken sich nicht dem schöpferischen Handeln Gottes, sondern sie sind durch die Freiheit des Menschen in die Welt gekommen. Aus den aufgeführten Einzelaspekten resultiert die lehrmäßige Definition des Schöpfungsbegriffs. Die Schöpfung ist „ein von außen kommendes Wirken des dreieinigen Gottes, durch das er alle sichtbaren und unsichtbaren Dinge im Zeitraum von sechs Tagen aus dem Nichts allein aufgrund des Befehls seines allerfreiesten Willens in seiner Allmacht und Weisheit hervorgebracht hat zum Lobe seines Namens und zum Nutzen der Menschen“ ([31], Bd. I (1685), 21691, S. 415).

Prozessuales Verständnis der Schöpfung

d) Die Lehre von der göttlichen Weltregierung Luther erläuterte im ersten Artikel des Glaubensbekenntnisses den Schöpfungsglauben unter dem Aspekt der göttlichen Welterhaltung. Dahinter steht die Überzeugung, dass Gott nicht als ein Baumeister zu verstehen sei, der sein Werk, wenn er es vollbracht hat, sich selbst überlässt. Von Gott gilt vielmehr, wie er die Welt gemacht hat, so erhält er sie auch und trägt immerwährend Sorge um sie. Nach der Überzeugung Luthers und der altprotestantischen Dogmatiker spricht die Schrift nie von der Schöpfung, ohne die in der Welt waltende Vorsehung einzubeziehen ([184], S. 88–95). Die Vorsehungslehre oder die Lehre von der göttlichen Weltregierung thematisiert die mit

Schöpfungsglaube und Welterhaltung

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I. Gott der Schöpfer

dem Glauben verbundene Gewissheit, dass in allem, was geschieht, nicht dumpfes Schicksal oder blinder Zufall zu sehen ist, sondern das Wirken Gottes. Darin liegt der Trost des Christen, dass er sich Gott als einen in der Welt stets Gegenwärtigen denken darf, der Sorge trägt für das Größte wie für das Kleinste und durch nichts gehindert ist, diese Sorge zu üben. Der Vorsehungsglaube ist somit wie der Schöpfungsglaube ein Bestandteil der Deutung der christlichen Heilsgewissheit. Er rückt die mit jedem menschlichen Leben unausweichlich verbundenen Kontingenzen und Differenzerfahrungen in den Horizont des göttlichen Wirkens. Die dogmatische Lehrgestalt der Vorsehungslehre entfaltet den Vorsehungsgedanken in verschiedenen Aspekten, die sich alle auf das Handeln des dreieinigen Gottes beziehen ([37], S. 117–134; [32], Bd. 2, S. 208–247). Die Vorsehung Gottes erweist sich darin, dass Gott: 1. das in der Welt Geschaffene erhält = conservatio 2. bei allem, was in ihr vorgeht, mitwirkt = concursus 3. alles in ihr lenkt und leitet = gubernatio.

Conservatio Die von Gott geschaffene Welt hat ihr Sein nicht in sich. Deshalb würde die Welt wieder in das Nichts zurückfallen, wenn Gott nicht alles in ihr erhält. Die geschaffenen Dinge haben nicht in sich selbst die Kraft ihrer Subsistenz, sondern haben sie nur so lange, als Gott ihnen dieselbe zukommen lässt. Unter dem Titel conservatio wird also die fortgesetzte Schöpfertätigkeit Gottes thematisiert. Die creatio lässt sich nach den altprotestantischen Theologen jedoch nur dem Begriff nach von der conservatio unterscheiden. In Gott ist das eine mit dem anderen gesetzt. Aus diesem Grund wird die conservatio auch als creatio continuata (kontinuierliche Schöpfung) bezeichnet.

Eingreifen Gottes: concursus und gubernatio

Concursus Die göttliche Vorsehung meint nach der Überzeugung der altprotestantischen Dogmatik aber noch mehr, als dass Gott die Welt schafft und erhält. Andernfalls müssten alle Veränderungen und Handlungen, die in der Welt vorgehen, ausschließlich auf die Geschöpfe zurückgeführt werden. Gott hätte folglich keinen weiteren Anteil daran, als den, den Geschöpfen die Kräfte und das Vermögen zum Handeln gegeben zu haben. Das Wirken Gottes in den innerweltlichen Vorgängen unterscheiden insbesondere die lutherischen Theologen im Unterschied zu den reformierten von Gottes Schöpfungshandeln, und zwar im Interesse der menschlichen Freiheit. Seit Melanchthon wird deshalb in der altprotestantischen Dogmatik die scholastische Unterscheidung von Erst- und Zweitursachen wieder aufgenommen. Auf dem Hintergrund dieser Unterscheidung kann gesagt werden, dass Gott bei den innerweltlichen Handlungen nicht wie bei Schöpfung und Erhaltung die einzige Ursache von dem ist, was geschieht. Gott ist die Mit-Ursache bei allen Handlungen, so dass bei allen kreatürlichen Handlungen diese ebenso Ursache sind wie Gott. Jede Veränderung in der Welt ist demnach sowohl auf die Kreatur als auch auf Gott zurückzuführen.

2. Die Gotteslehre der altprotestantischen Dogmatik

Gubernatio In der Lehre von der gubernatio wird der Zielaspekt des Vorsehungshandelns Gottes thematisiert. Gott wirkt nicht nur in allem, was geschieht, als mitwirkende Ursache, sondern er lenkt auch die Geschehnisse in der Welt auf ein Ziel hin, und zwar so, dass dabei die Freiheit des Menschen nicht außer Kraft gesetzt wird. Die conservatio bezieht sich auf das Sein und Bestehen der von Gott geschaffenen Dinge und die gubernatio auf die von diesen ausgehenden Handlungen. Gott leitet und lenkt sie nach seinem Willen, so dass sie seinen Zwecken entsprechen. In seiner Lenkung der Welt lässt Gott die Freiheit des Menschen gewähren, so dass seine Weltregierung durch die Art und Weise der Realisierung der menschlichen Freiheit bestimmt ist. Daher geschieht vieles, was nicht geschehen würde, wenn Gott der Freiheit des Menschen keinen Spielraum gewähren würde. Im Interesse an der menschlichen Freiheit, die Gott nach der Überzeugung der lutherischen Dogmatiker nicht hindern will, lässt er sich dazu bestimmen, verschiedene Wege einzuschlagen, um die Welt nach seinen Zwecken zu lenken. Im Interesse an der Wahrung der menschlichen Freiheit und deren Einbeziehung in das göttliche Vorsehungshandeln unterscheiden die lutherischen Dogmatiker vier Aspekte der gubernatio: 1. permissio = Zulassung: in der Welt geschieht Schlechtes und Böses, was Gott geschehen lässt, weil er seine Zwecke nicht mit Zwang durchsetzen will 2. impeditio = Verhinderung: Gott begnügt sich damit, das, was seinen Zwecken widerspricht, zu verhindern 3. directio = Lenkung: die aus der Freiheit des Menschen hervorgehenden Handlungen weiß Gott, nachdem sie geschehen oder von ihm zugelassen sind, so zu lenken, dass sie seinen Zwecken dienen 4. determinatio = Grenzsetzung: da Gott es ist, von dem alle Kraft und alles Vermögen zum Handeln stammt, kann er seine Zwecke auch dadurch erreichen, dass er da, wo die Handlungen der Menschen seinen Zwecken widersprechen, ihnen die Kraft dazu versagt oder sie in Grenzen hält. Von der Vorsehung im Allgemeinen, sofern sie die conservatio, den concursus und die gubernatio in sich befasst, gilt, dass sie sich auf alles erstreckt, aber nicht auf alles in gleicher Weise. In besonderer Weise bezieht sich die Vorsehung auf den Menschen und hier wieder insbesondere auf die Frommen.

3. Die Umformung des Gottesgedankens in der Neuzeit Die altprotestantische Dogmatik hatte den Gottesgedanken unter Aufnahme der aristotelischen Schulmetaphysik zu einem beeindruckenden System von hoher innerer Geschlossenheit ausgearbeitet. Diese innere Geschlossenheit der Gotteslehre verdankt sich vor allem der Verknüpfung von natürlicher und biblischer Offenbarungstheologie. Die Gotteslehre fungierte als Grundlage einer heilsgeschichtlich ausgerichteten Dogmatik, die zwischen Gotteslehre und Eschatologie, Ausgang der Welt aus Gott und Rückkehr der Welt zu Gott den gesamten dogmatischen Stoff anordnete. Allerdings geriet die metaphy-

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I. Gott der Schöpfer

Ende der klassischen Gotteslehre durch Hume und Kant

sische Form dieser Gotteslehre unter den Erkenntnisbedingungen der Neuzeit in eine tiefgreifende Krise, von der sie sich nicht mehr erholte. Die Kritik der Socianer, Unitarier und Deisten der frühen Neuzeit haben die überlieferte kirchliche Trinitätslehre der Kritik unterzogen und die geoffenbarte Religion durch die natürliche Religion und den natürlichen Gottesgedanken ersetzt. Die Erkenntnistheorien von David Hume (1711–1776) und Immanuel Kant (1724–1804) schließlich versetzten der metaphysischen Grundlage dieser Gotteslehre den endgültigen Todesstoß (vgl. [184], S. 95–125). David Hume unterzog auf der Grundlage seiner empirisch-sensualistischen Erkenntnistheorie in seiner Schrift An Enquiry Concerning Human Understanding von 1758 die Grundlagen der überlieferten natürlichen Theologie einer fulminanten Kritik. Humes Kritik war deshalb so folgenreich, weil sie an den Grundoperationen der überlieferten natürlichen Theologie ansetzte. Diese gewann nämlich den Gottesgedanken als metaphysisches Abschlussprinzip durch ein Rückschlussverfahren von den Wirkungen auf die diese hervorbringende letzte Ursache. Eben diesen Ursache-WirkungsZusammenhang löst Hume kritisch auf, indem er den Kausalitätsgedanken als eine Art Habitualisierung von Erfahrung versteht. „Wenn aber“, so Hume in seinem Enquiry Concerning Human Understanding, „viele gleichartige Fälle eintreten und derselbe Gegenstand immer dasselbe Ereignis zur Folge hat, beginnen wir den Begriff von Ursache und Verknüpfung zu bilden.“ Das Kausalitätsschema beruht Hume zufolge auf einer Gewohnheit bzw. stellt eine „gewohnheitsmäßige Verknüpfung“ dar und ist als solches eine Abstraktionsleistung des menschlichen Verstands ([186], S. 104). Dies gilt Hume zufolge ausdrücklich auch für die Gottesvorstellung. „Die Vorstellung Gottes, in der Bedeutung eines allwissenden, allweisen und allgütigen Wesens, entsteht aus der Besinnung auf die Operationen unseres Geistes und die grenzenlose Steigerung dieser Eigenschaften der Güte und Weisheit“ ([186], S. 34). Die Kritik an den erkenntnistheoretischen Grundlagen des überlieferten metaphysischen Gottesgedankens hat Hume sowohl in seiner Naturgeschichte der Religion von 1757 als auch in seinen posthum 1779 veröffentlichten Dialogen über die natürliche Religion auf die Religionsphilosophie übertragen. Gewiss, Humes Kritik richtet sich nicht in erster Linie gegen die metaphysische Gotteslehre der altprotestantischen Orthodoxie, sondern gegen die Vernunftreligion des englischen Deismus. Die von den Vertretern des englischen Deismus konstruierte natürliche Religion, die gleichsam zur Vernunftausstattung des Menschen gehört und die die zwischen den Konfessionen strittige Offenbarungsreligion als Geltungsgrundlage beerben soll, wird von Hume in seiner Naturgeschichte der Religion als ein bloßes sekundäres Konstrukt entlarvt. Die Religion fußt, wie Hume zeigt, nicht, wie die Deisten annahmen, auf der Vernunft des Menschen, sondern auf den Affekten Furcht und Schrecken. Mit seiner Erkenntniskritik hat Hume dem überlieferten metaphysischen Gottesgedanken die Grundlage entzogen. Die auch von der altprotestantischen Dogmatik herangezogenen Beweise vom Dasein Gottes verlieren auf dem Hintergrund der Humeschen Erkenntnistheorie jegliche Plausibilität. Nicht minder folgenreich für die überlieferte dogmatische Gotteslehre und ihren metaphysischen Rahmen war die von Immanuel Kant in der 1781 in erster Auflage erschienenen Kritik der reinen Vernunft. In seiner Vernunftkri-

3. Umformung des Gottesgedankens in der Neuzeit

tik erbringt Kant den Nachweis, dass intersubjektiv geltendes Wissen nur im Bereich der Erfahrung gewonnen werden kann. Grundlegend für diese von Kant vorgenommene Restriktion intersubjektiv geltenden Wissens ist dessen Zwei-Quellen-Theorie der Erkenntnis, der zufolge Erkenntnis aus dem Zusammenspiel von Anschauung und Begriff resultiert. Kants Zwei-QuellenTheorie der Erkenntnis darf ebenso als Kritik an der rationalistischen Schulphilosophie der Aufklärung als auch an dem englischen Empirismus verstanden werden. Während der Rationalismus geltende Erkenntnis allein aus Begriffen gewinnen möchte, ist für den Empirismus die sensualistisch verstandene Erfahrung die einzige Quelle der Erkenntnis. Für Kant hingegen kommt Erkenntnis allein durch das Zusammenspiel von Anschauung und Begriff zustande. Nur dort, wo diese beiden Größen zusammenkommen, liegt für Kant Erkenntnis vor. „Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. Anschauungen und Begriffe machen also die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können. […] Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (I. Kant, KrV B 74 f.) Mit der von Kant in Auseinandersetzung mit dem Rationalismus und Empirismus ausgearbeiteten Zwei-Quellen-Theorie der Erkenntnis sind weit reichende Folgen für die überlieferte Metaphysik und ihren Abschlussgedanken verbunden. Durch sie wird nämlich die Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung restringiert. Erhebt sich die Vernunft über den Bereich der Erfahrung, dann verstrickt sie sich nicht nur unweigerlich in Widersprüche, die sie nicht zu entwirren vermag, sie gelangt vor allem auch nicht mehr zu einer ausweisbaren Erkenntnis. Eine solche liegt nämlich nur dort vor, wo zu dem Begriff auch eine Anschauung hinzukommt. Von Gott haben wir nun zwar einen Begriff, den wir nach Kant auch als notwendigen methodischen Abschlussgedanken bilden müssen, allein, wir haben von Gott keine Anschauung. Wo wir jedoch nur einen Begriff und keine Anschauung haben, da haben wir auch keine Erkenntnis. Aufgrund der Zwei-Quellen-Theorie der Erkenntnis scheidet der Gottesgedanke aus dem Bereich möglicher Erkenntnisgegenstände vollständig aus. Überdies lässt sich von Gottes Existenz im Rahmen der Kantischen Erkenntniskritik mit Gründen weder positiv noch negativ etwas ausmachen. Der Gottesgedanke ist für die theoretische Philosophie Kants, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft ausgeführt ist, ein zwar notwendiger, aber dennoch nur regulativer Abschlussgedanke. Im Interesse der Vereinheitlichung des Wissens muss die Vernunft zu jedem Bedingten ein Unbedingtes suchen. Aber dieser Gottesgedanke der transzendentalen Theologie Kants, das transzendentale Ideal, hat allein die Funktion, dem Verstand in seinem Gebrauch regulativ das Ziel höchster systematischer Einheit vorzuhalten. Für die Denkbarkeit von Gegenständen ist dieses Ideal der Vernunft, also die Idee Gottes,

Vernunft und Erfahrung

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Ende der altprotestantischen Gotteslehre

eine notwendige transzendentale Voraussetzung, über deren Existenz lässt sich jedoch weder positiv noch negativ etwas ausmachen. Sowohl Humes als auch Kants Destruktion der überlieferten Metaphysik und ihres Abschlussgedankens haben die neuzeitliche Debatte um den Gottesgedanken auf eine völlig veränderte Grundlage gestellt. Die Krise, in welche die überlieferte dogmatische Gotteslehre und der von ihr explizierte Gottesgedanke unter den Erkenntnisbedingungen der Moderne geraten war, und die damit verbundenen Problemanforderungen an die dogmatische Erörterung des Gottesgedankens werden vor allem daran sichtbar, dass die Metaphysik als Grundlage des Gottesgedankens sowie der Offenbarungstheologie nicht mehr in Frage kam. Der Gottesgedanke, der von der altprotestantischen Dogmatik als ein weltjenseitiges Wesen gefasst wurde, von dem man seiner Transzendenz und Weltenthobenheit ungeachtet dennoch Aussagen machen konnte, wurde durch die Kantische Kritik in den Bereich des Unerkennbaren verbannt. Damit brach die gesamte altprotestantische Gotteslehre als in sich unhaltbar zusammen. Auf dem Hintergrund der durch die moderne Erkenntniskritik geschaffenen Problemanforderungen für die überlieferte Gotteslehre blieben im Grunde genommen lediglich zwei Auswege offen. Entweder man verschaffte der Erörterung des Gottesgedankens ein neues Fundament oder man ließ ihn ganz fallen. Den zweiten Weg haben im 19. Jahrhundert die verschiedenen Formen der radikal-genetischen Religionskritik eingeschlagen. Auf jeweils unterschiedliche Weise haben Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Siegmund Freud den Versuch unternommen, den Gottesgedanken aus nichtreligiösen Wurzeln abzuleiten. So kommt der Gottesgedanke bei Feuerbach als eine kontingente Wunschprojektion, bei Marx als Ausdruck der gesellschaftlichen Entfremdung des Menschen und bei Freud als Projektion infantiler Sehnsüchte in den Blick. In der modernen Religionskritik wird freilich lediglich die bereits von Hume und Kant geltend gemachte Einsicht nun religions- und christentumskritisch zum Zuge gebracht, dass der Gottesgedanke, wie jeder andere menschliche Gedanke auch, ein „Selbstgeschöpf“ der Vernunft sei (I. Kant, KrV B 612). Die Alternative zu der religionskritischen Entlarvung des Gottesgedankens als einer willkürlichen Projektion des Menschen liegt nun freilich nicht in der Reproduktion der altprotestantischen Gotteslehre mit anderen Mitteln, sondern allein in einer konstruktiven Umformung des Gottesgedankens, welche den Erkenntnisbedingungen der Neuzeit Rechnung trägt. Diesen Weg hat bereits Kant selbst eingeschlagen, indem er den theoretisch unerkennbaren Gottesgedanken im Rahmen seiner praktischen Philosophie einer Neubegründung zuführte. Zwar hat der Gottesgedanke auch in der Kantischen Ethikbegründung, wie sie in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten von 1785 und in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft von 1788 ausgeführt ist, keine begründungstheoretische Funktion inne. Vielmehr kommt der Gottesgedanke in Kants Religionsphilosophie erst bei der Anwendung der Moral auf den Menschen ins Spiel, also im Zusammenhang der Realisierungsaufgabe der Moral. Denn für den Menschen als einem sinnlich-endlichen Vernunftwesen entsteht bei der Realisierung der Moral die Aufgabe, seine Neigungsaffiziertheit sowie sein Glücksbedürfnis mit der sittlichen Forderung in Einklang zu bringen. Kants Gottesgedanke ist auf dieses Problem der

3. Umformung des Gottesgedankens in der Neuzeit

Realisierung der Moral durch den Menschen bezogen. Eine Vereinigung von natürlichem Glücksbedürfnis und auf Freiheit fußender Sittlichkeit lässt sich nämlich weder im Ausgang von der Natur noch von der Sittlichkeit konstruieren, sondern dieser Zusammenhang lässt sich nur „als notwendig“ postulieren (I. Kant, KpV A 225). Im Gottesgedanken repräsentiert sich der Mensch bei der Realisierung seiner sittlichen Aufgabe die in jedem sittlichen Handeln bereits vorausgesetzte Beziehbarkeit der Sittlichkeit auf die Natur. Ohne diese Voraussetzung wäre das sittliche Handeln unmöglich. Insofern darf der Kantische Gottesgedanke als eine Selbstdeutung der in jedem sittlichen Handeln bereits beanspruchten Bestandteile gelten. Die von Kant vorgelegte Reformulierung des Gottesgedankens als einem Bestandteil der Selbstvergewisserung des sittlichen Handelns bietet in der Tat einen gewichtigen Beitrag zur neuzeitlichen Debatte über den Gottesgedanken. Auch wenn man einräumt, dass die enge Anbindung des Gottesgedankens an das moralische Bewusstsein zu Problemen führt, so ist doch nicht zu übersehen, dass die bereits bei Kant erkennbare deutungstheoretische Reformulierung des überlieferten Gottesgedankens und die Herausarbeitung seiner Funktionalität für die Selbstaufklärung des praktischen Bewusstseins einen Ausweg aus der Krise des Gottesgedankens in der Neuzeit bietet. Freilich muss hierzu die Thematisierung des Gottesgedankens von der engen Bindung an das moralische Bewusstsein gelöst und auf das Selbstverhältnis im Bewusstsein insgesamt bezogen werden. Die Bedeutung Schleiermachers für die Theologie des modernen Protestantismus liegt nun genau darin, diesen Schritt bereits in seinem Erstlingswerk von 1799 vollzogen zu haben. In den Reden Über die Religion hat Schleiermacher im Anschluss an Kant die Metaphysik als Grundlage von Religion und Gottesgedanke ausgeschieden. Im Unterschied zu Kant, aber auch zur Religionsphilosophie des jungen Fichte, ist er der Meinung, dass auch die Moral nicht als Grundlage der Religion in Frage kommt. Und mit Fichte schließlich teilt Schleiermacher die Auffassung, dass die Religion die Grundlage des Gottesbegriffs darstellt. Schleiermacher hat die Entfaltung des Gottesgedankens in Form einer dogmatischen Gotteslehre auf eine völlig neue Grundlage gestellt, die den veränderten Erkenntnisbedingungen der Neuzeit Rechnung trägt. Ausgangspunkt ist für Schleiermacher das religiöse Bewusstsein des Menschen und dieses klärt sich mittels der Gottesvorstellung über sich selbst auf. Folglich sind auch die dogmatischen Bestimmungen der Gotteslehre keine Aussagen über einen transzendenten Gegenstand, sondern Bestimmungen des Gottesbewusstseins. „Christliche Glaubenssätze sind“, wie Schleiermacher im Leitsatz des Paragraphen 15 seiner Glaubenslehre schreibt, „Auffassungen der christlich frommen Gemütszustände in der Rede dargestellt“ ([34], § 15, T. 1, S. 105). Mit Schleiermachers Neubegründung der Dogmatik ist eine völlige Neugestaltung der überlieferten Gotteslehre verbunden, die den überkommenen Lehrbestand grundlegend umformt.

4. Ich glaube an Gott, den Schöpfer Jede lehrhaft dogmatische Darstellung des Gottesgedankens in der Moderne muss dem angedeuteten Problemhorizont Rechnung tragen. Eine unmittel-

Kants Gottesvorstellung

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I. Gott der Schöpfer

Gotteslehre und Funktionalität für den Glauben

Glaube und Sich-VerständlichWerden

bare Anknüpfung an Luthers Gottesverständnis oder an die Gotteslehre der altprotestantischen Dogmatik ist auf dem neuzeitlichen Problemhintergrund jedenfalls nicht mehr möglich. Damit ist freilich nicht das Ende der dogmatischen Gotteslehre eingeläutet, sondern lediglich die Aufgabe gestellt, diese einer kritischen Umformung zu unterziehen. Die protestantische Theologie hat sich im 20. Jahrhundert weitgehend dieser Aufgabe angenommen, auch da, wo sie mit geringen Modifikationen an dem überlieferten Aufriss der dogmatischen Gotteslehre festgehalten hat ([50], S. 235–302). Dies gilt nicht nur für die Gotteslehren, die von der Dialektischen Theologie ausgearbeitet wurden, sondern auch für die Gotteslehren von Wolfhart Pannenberg ([57], Bd. 1), Jürgen Moltmann ([189]; [190]) oder Eberhard Jüngel ([187]). Der Gottesgedanke wird in allen diesen Konzeptionen nicht mehr wie im Altprotestantismus als überweltlicher metaphysischer Gegenstand gefasst, von dem die dogmatische Gotteslehre Aussagen zu machen hätte, sondern er wird in seiner Funktionalität für den Glauben neu bestimmt. Die Unterschiede der dogmatischen Gotteslehren liegen allein darin, wie sie diese Funktionalität des Gottesgedankens im Einzelnen konstruieren und inhaltlich ausführen. Diese Umstellung von der Substanz zur Funktion, wie sie der moderne Protestantismus in der Ausarbeitung der Gotteslehre auf dem Hintergrund der Erkenntnisbedingungen der Neuzeit vorgenommen hat, ist im Folgenden aufzunehmen. Anzumerken ist freilich, dass mit der Funktionalität des Gottesgedankens ausschließlich dessen Funktion für den Glauben gemeint ist. Es geht also mit anderen Worten nicht um eine funktionale Religionstheorie. Bei der Darstellung des Glaubensverständnisses wurde ausgeführt, dass der Glaube ein Geschehen sei, in dem zusammen mit dem Glauben auch die Inhalte des Glaubens erst entstehen. Glaube ist nichts Vorfindliches, sondern das unableitbare Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen. Auch der Gottesgedanke in seiner religiösen Dimension entsteht zugleich mit dem Glauben. Der religiöse Gottesgedanke ist die symbolische Form, in der sich der Glaube als das Geschehen des Sich-Verständlich-Werdens über sich selbst verständigt und darin seine Selbsterfassung sich repräsentiert. Der Gottesbegriff ist also eine Selbstbeschreibung des Glaubensgeschehens. Seine Funktion für den Glauben ist es, dass sich dieser im Gottesbegriff selbst darstellt und sich mittels des Gottesbegriffs über sich selbst verständigt. In diesem Sinne hatte Luther und ihm folgend Schleiermacher den Gottesgedanken und den Glauben verbunden. Für Schleiermacher wird das religiöse Bewusstsein, wie er in der Glaubenslehre ausführt, nur dadurch „ein klares Selbstbewußtsein“, „indem [ihm] zugleich diese [sc. Gottes] Vorstellung wird“ ([34], § 5. 4, T. 1, S. 30). Durch die Ausbildung der Gottesvorstellung klärt sich das fromme Bewusstsein über sich selbst auf und wird dadurch erst ein klares Selbstbewusstsein. Glaube ist ein Gottesverhältnis und mit dem Gottesbegriff beschreibt der Glaube sein eigenes Sich-Verstehen. Der Glaube als ein Sich-Verständlich-Werden des Menschen bezieht sich freilich auf ein Selbstverständnis, welches der Mensch bereits hat. In unserem Leben verstehen wir uns immer schon auf irgendeine Weise und haben ein Verständnis von uns und unserem Leben. Dieses Bild seiner selbst begleitet und orientiert menschliches Leben. Im Geschehen des Glaubens wird das menschliche Selbstverständnis sich gleichsam reflexiv. Dieses Geschehen des sich in seinem Selbstverständnis Verständlich-Werdens bildet den Gehalt

4. Ich glaube an Gott, den Schöpfer

des reformatorischen Glaubensverständnisses. Für Luther bestand der Glaube in der individuellen Aneignung der Wahrheit. Zur Wahrheit kommt der Mensch aber nur so, dass er sich selbst in der Endlichkeit und Gebrochenheit seines Lebens verständlich wird. Das Selbst des Menschen ist diesem entzogen. Im Geschehen des Glaubens und seiner Darstellung im Gottesbegriff wird sich der Mensch in seiner paradoxen Verfasstheit als bedingte Unbedingtheit oder endliche Freiheit verständlich und kommt auf diese Weise zu sich selbst. Wenn der Gottesbegriff als eine Selbstbeschreibung des Glaubens und seines Sich-Verstehens verstanden wird, dann muss freilich der Gottesgedanke ebenfalls diese paradoxe Struktur aufweisen. Andernfalls würde er dem menschlichen Leben äußerlich bleiben und könnte nicht zur Selbstaufklärung menschlichen Lebens in seiner paradoxalen Verfasstheit beitragen. Gott ist der ganz Fremde und der ganz Eigene. Die dogmatischen Beschreibungen Gottes haben diesem Umstand dadurch Rechnung zu tragen versucht, dass sie in die Explikation des religiösen Gottesgedankens geradezu gegenläufige Momente aufgenommen haben. Gott ist zugleich offenbar und verborgen (Martin Luther), Grund und Abgrund (Paul Tillich), mysterium tremendum und fascinans (Rudolf Otto). Wenn der dogmatische Gottesbegriff als eine Selbstbeschreibung des Glaubens als dem Geschehen des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen neu formuliert werden muss, dann ist für die Explikation des Gottesgedankens die, wie es Emanuel Hirsch und ihm folgend Dietz Lange ausgeführt haben, „Denkform der Antinomie“ geradezu konstitutiv ([52], Bd. 1, S. 260; [55], Bd. 1, S. 367). Ohne die gegenläufigen Bestimmungen des Offenbaren und des Verborgenen kann der dogmatische Gottesbegriff kein Ausdruck des Glaubens und seines kontingenten Zustandekommens sein. Die überlieferte altprotestantische Lehre von den Eigenschaften Gottes und die in ihr vorgenommene Unterscheidung von Eigenschaften, die Gott an sich selbst zugeschrieben werden, und solchen Eigenschaften, die Gott in seinem Verhältnis zur Welt zukommen, versuchte dies ja, wenn auch mit völlig unzulänglichen metaphysischen Mitteln, ebenfalls auszudrücken. Auch im Glaubensbekenntnis kommt diese antinomische Spannung zum Ausdruck, wenn es heißt, „ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen“. Als Beschreibung der Selbstdurchsichtigkeit des Glaubens sind in die dogmatische Beschreibung des Gottesbegriffs die gegenläufigen Momente der Durchsichtigkeit und Tiefe aufzunehmen. Sie repräsentieren am Ort des Gottesgedankens die für den Menschen konstitutive Struktur bedingter Unbedingtheit, so dass der Gottesbezug als ein reflexives Bild des Glaubens von sich selbst und seiner unableitbaren Entstehung fungiert. Die dogmatische Gotteslehre ist eine reflexive Selbstbeschreibung des Glaubens als dem Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen in der Endlichkeit und Gebrochenheit seines Selbst- und Weltbezugs. Mit den bisherigen Ausführungen zum Glauben als Gottesverhältnis ist nun aber auch bereits die Brücke zum Schöpfungsglauben geschlagen. Denn wenn der Glaube das Geschehen des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen in der ihm eigenen Faktizität ist, dann wird im Gottesbezug eben diese Faktizität des Menschen als einer endlichen Freiheit selbst zum Thema. Der Mensch lebt immer in einer Welt, so dass sein Selbstverhältnis nie ohne ein Weltverhältnis ist. Der Schöpfungsglaube erweitert das Sich-Verständlich-

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I. Gott der Schöpfer

Trennung von Schöpfungsglauben und Kosmologie

Werden des Menschen zu einer Totalitätsdimension. Der Ausgangspunkt des Schöpfungsglaubens ist, wie es Martin Luther in seiner Erläuterung des ersten Artikels des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus geradezu paradigmatisch herausgestellt hat, das Sich-Verstehen des Menschen im Gottesbezug. „Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat“. Erst von dem eigenen Glauben geht Luther über zu „allen Kreaturen“. Der Schöpfungsglaube stellt eine Entschränkung des sich in seiner Endlichkeit und seiner Faktizität verstehenden Menschen dar und ist von allen kosmologischen Weltentstehungstheorien kategorial unterschieden ([184], S. 199–208). Die protestantische Theologie hat diese Differenz zwischen religiösem Schöpfungsglauben und wissenschaftlicher Kosmologie seit Schleiermacher nahezu einhellig in allen theologischen Lagern unterstrichen. So betont der Ritschl-Schüler Julius Kaftan in seinem um die Jahrhundertwende weit verbreiteten und mehrfach aufgelegten Lehrbuch der Dogmatik, dass jeder „Versuch kosmologischer Spekulation […] in der christlichen Glaubenslehre strengstens auszuschliessen“ sei ([18], S. 234). Auch Karl Barth, ganz der Ritschl-Schule verpflichtet, unterstreicht in der Kirchlichen Dogmatik den strikten Unterschied von Schöpfungsglaube und naturwissenschaftlichen Weltentstehungstheorien ([44], Bd. III/1, S. 22). Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde unter dem Eindruck der ökologischen Krise auch in der protestantischen Dogmatik wieder ein Anschluss an die naturwissenschaftliche Forschung gesucht. Insbesondere Hermann Deuser hat auf der Grundlage seiner Rezeption der Semiotik von Charles S. Peirce kosmologische Überlegungen in die von ihm vorgelegte Dogmatik aufgenommen. Auf diesem Hintergrund wird von Deuser der Schöpfungsprozess als ein kreativer kosmologischer Zeichenprozess interpretiert, der triadisch strukturiert ist. „Gott der Schöpfer also ist der bildhafte, an bestimmte Geschichten der biblischen Tradition gebundene und im ganzen symbolische Ausdruck für die überwältigende Erfahrung von Kreativität in der Welt aus Himmel und Erde“ ([45], S. 53). Das Thema des Schöpfungsglaubens ist für Deuser der kreative Prozess des Deutens selbst. Der religiöse Schöpfungsglaube stellt freilich keine Alternative zu naturwissenschaftlichen Weltentstehungstheorien dar, sondern ist kategorial von diesen zu unterscheiden. Er beinhaltet nichts anderes als eine religiöse Endlichkeitsreflexion. Der sich im Gottesbezug seiner Endlichkeit und Kontingenz innewerdende Mensch erweitert im Schöpfungsglauben diese Perspektive zu einer Totalitätsdimension. In der dogmatischen Beschreibung Gottes als des Schöpfers wird mit der Kontingenz des eigenen Lebens die Kontingenz der Welt als dem Raum, in dem jedes menschliche Leben unweigerlich gelebt werden muss, bewusst gehalten und zum Thema der religiösen Reflexion erhoben. Auf diese Weise wird die Endlichkeit, Bedrohtheit und Zufälligkeit des eigenen Lebens in einer Welt, die man sich weder ausgesucht hat noch jemals vollständig beherrscht, als der unausweichliche Ort der eigenen Lebensführung nicht nur durchsichtig, sondern auch in das eigene Selbstverständnis integrierbar. „Die Wahrheit ist also, daß der Glaube an Gott, den Schöpfer und die Liebe, sich nicht in der Auflichtung, sondern im Durchleben dieses Rätsels vollzieht“ ([52], Bd. 1, S. 234). Der Schöpfungsglaube beseitigt nicht die mit dem menschlichen Leben verbundenen Antinomien und Differenzerfahrungen, er macht sie als notwendige Bestandteile menschlichen Lebens in der Welt durchsichtig.

4. Ich glaube an Gott, den Schöpfer

II. Jesus der Christus Zwar ist es innerhalb der protestantischen Dogmatik unbestritten, dass die Christologie geradezu das Zentrum der dogmatischen Beschreibung des Glaubens bildet, aber die Problemanforderungen, unter denen dies in der Gegenwart geschieht, haben die überlieferte dogmatische Gestalt der Christologie vollständig aufgelöst. Die historische Forschung und deren Anwendung auf die biblischen Grundlagen sowie die Erkenntniskritik der Neuzeit haben das überlieferte dogmatische Christusbild der Kirche unwiederbringlich zerstört. In deren Folge traten nicht nur der historische Jesus und der dogmatische Christus zunehmend auseinander, sondern die überlieferte ZweiNaturen-Christologie wurde durch die Frage nach dem Verhältnis von Offenbarung und Geschichte ersetzt. Im Kern geht es in der Christologie also um das Verhältnis von Glaube und Geschichte und damit um einen Problemkomplex, der uns bereits bei der Erörterung der Grundlagen der protestantischen Dogmatik beschäftigt hat. Um die Problemanforderungen nachvollziehen zu können, unter denen die gegenwärtige dogmatische Beschäftigung mit der Christologie steht, ist es unumgänglich, sich mit der dogmatischen Lehrform der Christologie sowie ihrer in der Aufklärung einsetzenden Auflösung vertraut zu machen. Im ersten Unterabschnitt ist deshalb auf das Christusbild Martin Luthers einzugehen und im Anschluss daran auf die Lehrgestalt der Christologie in der altprotestantischen Dogmatik sowie deren Auflösung durch die Theologie der Aufklärung.

1. Das Christusbild Martin Luthers Die Christologie Martin Luthers stellt ihren Interpreten vor nicht geringe Schwierigkeiten. Auf der einen Seite tritt auf dem Hintergrund seines in der Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Kirche sich erworbenen neuen Verständnisses des Glaubens in starken Zügen ein Christusbild hervor, das die Menschheit Jesu Christi in den Mittelpunkt rückt. Auf der anderen Seite verknüpft Luther in der Ausgestaltung seines Christusbilds höchst unterschiedliche christologische Traditionen und Motive. Diese reichen von der altkirchlichen Vorstellung der Vergottung des Menschen und des Betrugs des Teufels über Elemente der mittelalterlichen Christusmystik bis hin zu Motiven der Versöhnungstheorie von Anselm von Canterbury. Dieser Umstand hat in der einschlägigen Lutherforschung zu höchst unterschiedlichen Rekonstruktionen der Christologie Luthers geführt. Man wird allerdings sagen müssen, dass Luther formell an der überlieferten Christologie festgehalten, diese jedoch auf der Grundlage seines neuen Verständnisses des Glaubens einer grundlegenden Neubestimmung unterzogen hat.

a) Christusbild und Glaubensgerechtigkeit Luthers Christusbild ist ihm aus seinem neuen Verständnis des die Gerechtigkeit Gottes ergreifenden Glaubens im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts erwachsen. Die Gerechtigkeit Gottes ist für Luther nicht mehr die Gerechtigkeit, durch die Gott selbst gerecht ist, sondern die, durch die er den Men-

Verknüpfung unterschiedlicher christologischer Traditionen

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II. Jesus der Christus

Wechselseitige Anerkennung von Gott und Mensch

schen gerecht macht. Der sich in der Buße als vollkommener Sünder vor Gott verständlich werdende Mensch gibt Gott recht und darin ist er gerecht. Die Gerechtigkeit Gottes ist der Glaube und in diesem Glauben ehrt Gott die Seele „und hält sie für fromm und wahrhaftig, und sie ist durch solchen Glauben auch fromm und wahrhaftig“, wie Luther in seinem Freiheitstraktat Von der Freiheit eines Christenmenschen von 1520 formuliert ([26], Bd. I, S. 245). Der Mensch gibt Gott in seinem Urteil über ihn, dass er Sünder sei, recht, und Gott gibt dem Menschen recht. Glaubensgerechtigkeit meint also für Luther, dass Gott den Menschen anerkennt und der Mensch Gott anerkennt. Diese wechselseitige Anerkennung von Gott und Mensch kommt durch das Wort Gottes zustande und der Inbegriff des Worts Gottes ist Jesus Christus. Glaubensgerechtigkeit ist für Luther Christusglaube. Diesen Grundzug seines Christusbilds hat Luther in der Formel zusammenfassen können, dass Jesus Christus ,mein Herr‘ ist. Eine der eindrücklichsten Formulierungen findet sich in Luthers Erläuterung des zweiten Artikels des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus aus dem Jahre 1529. Luther erklärt hier den zweiten Artikel des Credo: „Ich gläube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geborn, und auch wahrhaftiger Mensch von der Jungfrauen Maria geborn, sei mein Herr“ ([1], S. 511). In seiner Erläuterung des zweiten Artikels des Glaubensbekenntnisses nimmt Luther zwar das überlieferte Dogma von der wahren Gottheit und Menschheit der Person Jesu Christi auf, allerdings so, dass es gegenüber dem Glauben, dass Jesus Christus mein Herr ist, zurücktritt. Luthers Christusbild ist in der Tat weniger an der dogmatischen Konstruktion des Gottmenschen interessiert als an dem Vollzug des Glaubens, durch den im Inneren des Menschen Christus selbst Gestalt gewinnt. Luther stellt sein Christusbild ganz auf den Glaubensvollzug des einzelnen Menschen ein, so dass die historische Dimension sowie die metaphysische Konstruktion der Christologie zurücktreten. Luther unterscheidet in seinem Glaubensverständnis, wie wir gesehen haben, zwischen einem bloß historischen Glauben (fides historica) und dem Christus ergreifenden Glauben (fides apprehensiva). Aus diesem Grund ist es für Luther nicht genug, „wenn man Christi Leben und Werk obenhin und nur als eine Historie und Chronikengeschichte predigt“ ([26], Bd. 1, S. 250). Das bloße Fürwahrhalten der Geschichte Jesu, einschließlich Tod und Auferstehung sowie der dogmatischen Bestimmungen der Zwei-Naturen-Lehre sind für Luther gerade noch kein Glaube im eigentlichen Sinne. Ein solches Verständnis des Glaubens, wie es in der mittelalterlichen Theologie unter den Begriffen fides aquisita (erworbener Glaube) und fides infusa (gnadenhaft eingegossener Glaube) thematisiert wurde, ist für Luther nicht nur viel zu äußerlich, sondern bleibt auch noch ganz auf der Ebene dessen, was er Werkgerechtigkeit nennt. Im Unterschied zu diesem äußerlichen Glauben besteht der Christus ergreifende Glaube darin, dass durch ihn Christus im Inneren des Menschen, also in seinem Gewissen, Gestalt gewinnt ([22], Bd. 10, I/2, S. 31). In der Aneignung Christi durch den Menschen entsteht beim Einzelnen nicht nur der Glaube, sondern auch die Einsicht, dass Christus es ist, der, wie Luther sagt, dich sucht, „nit findistu yhn, er findet dich“ ([22], Bd. 10 I/2, S. 30). Christus wird also im Glauben von dem Einzelnen so angeeignet, dass er allein den Glauben hervorbringt ([108], S. 287).

1. Das Christusbild Luthers

Christus als Inhalt und Grund des Glaubens entsteht für Luther erst im aktualen Vollzug des Glaubens und ist außerhalb des Glaubens kein Gegenstand des Glaubens, sondern bestenfalls der Gegenstand eines bloßen Fürwahr-Haltens. Den Christus ergreifenden Glauben, in dem der Glaubende mit Christus eins wird, hat Luther in das Bild eines fröhlichen Wechsels zwischen Christus und dem Sünder gekleidet. Eine der schönsten Formulierungen dieses fröhlichen Wechsels von Christus, dem Bräutigam, und seiner Braut, der Seele, findet sich in dem Freiheitstraktat von 1520. „Hier erhebt sich nun der fröhliche Wechsel und Streit. Weil Christus Gott und Mensch ist, der noch nie gesündigt hat, und seine Frommheit unüberwindlich, ewig, allmächtig ist, so macht er die Sünde der gläubigen Seele durch ihren Brautring – das ist der Glaube – sich selbst zu eigen und tut nichts anderes, als hätte er sie getan. So müssen die Sünden in ihm verschlungen werden; denn seine unüberwindliche Gerechtigkeit ist allen Sünden zu stark“ ([26], Bd. 1, S. 246). Luther versteht den Glauben so, dass in seinem Geschehen Christus im Glauben Gestalt gewinnt und darin zum Bild des wahren Glaubens wird. Jesus Christus wird für Luther geradezu zu einer Selbstbeschreibungsform des eigenen Glaubens und des mit diesem verbundenen Sich-Verstehens des Menschen. Von hier aus wird auch verständlich, warum im Zentrum von Luthers Christusbild Kreuz und Auferstehung Jesu Christi stehen. Das um Kreuz und Auferstehung Jesu Christi zentrierte Christusbild Luthers repräsentiert dem Glaubenden nämlich nichts anderes als die Entstehung seines eigenen Glaubens in dem Geschehen der Buße. Zum Glauben, wenn anders er ein neues und tieferes Sich-Verstehen des Menschen sein soll, gehört unabdingbar das Bewusstwerden des eigenen Abstands von Gott sowie dessen Überwindung. Luthers Christusbild ist somit selbst schon der Ausdruck des Zustandekommens des eigenen Glaubens und dieser findet seinen zusammenfassenden Ausdruck in dem Bekenntnis, „Ich glaube, dass Jesus Christus sei mein Herr“.

b) Das christologische Dogma der alten Kirche Luther hat an dem überlieferten christologischen Dogma der alten Kirche formell festgehalten, es jedoch im Ausgang von seinem neuen Verständnis des Glaubens einer Neubestimmung unterzogen. Worin der Kern von Luthers Neubestimmung der überlieferten christologischen Lehrtradition besteht, wird deutlich, wenn man Luthers Fassung mit der überkommenen ZweiNaturen-Lehre vergleicht. Das christologische Dogma, wie es auf dem Konzil von Chalcedon im Jahre 451 dogmatisch fixiert wurde, ist das Resultat eines komplizierten Prozesses, der hier nicht im Einzelnen dargestellt werden kann ([5], S. 153–207; [8], Bd. 1, S. 205–246). Auch mit den Formeln des Konzils von Chalcedon kamen die christologischen Streitigkeiten der alten Kirche nicht zu Ende, sondern währten bis zur dogmatischen Fixierung des Dyotheletismus (zwei Willen in der Person des Christus) auf dem Konzil von Konstantinopel im Jahr 681. Die trinitarischen Auseinandersetzungen der alten Kirche hatten auf den Konzilien von Nizäa (325) und Konstantinopel (381) zur Feststellung der Wesensgleichheit (homousios) der drei göttlichen Personen geführt. Die drei Personen der Trinität sind im Vollsinne Gott und in ihrer Göttlichkeit einan-

Dogmatische Grundlagen in der alten Kirche

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II. Jesus der Christus

Wahrer Gott und wahrer Mensch

der gleich. Mit der dogmatischen Fixierung der Wesensgleichheit der trinitarischen Personen Vater, Sohn und Geist ist das Folgeproblem verbunden, wie das Verhältnis zwischen der Gottheit und der Menschheit in dem menschgewordenen Sohn als der zweiten Person der Trinität zu verstehen ist. Die Aporie, die es zu lösen galt, liegt darin, in einer Person Gottheit und Menschheit zu vereinigen, und zwar ohne dass die Gottheit oder die Menschheit nivelliert wird. Unter den durch die Trinitätslehre vorgegebenen Rahmenbedingungen gestaltete sich das Festhalten an der wahren Menschheit Jesu allerdings von Anfang an als äußerst ungünstig. Gleichwohl haftete das religiöse Interesse daran, wie es Athanasius von Alexandrien formulierte, dass der Mensch nur gerettet werden könne, wenn Christus auch wirklich Mensch sei. Christus darf nicht nur als Gott verstanden werden, sondern auch als ein Mensch im Vollsinne. Die Gleichgewichtung von Gottheit und Menschheit in Jesus Christus darf aber auch wiederum nicht dazu führen, dass die Personeneinheit des Erlösers in eine Zweiheit der Personen aufgelöst wird. Die zentrale christologische Frage der alten Kirche bestand also darin, Christus sowohl als wahren Gott und als wahren Menschen zu verstehen, ohne dass durch die Zweiheit der Naturen die Einheit der Person Jesu Christi in Frage gestellt wird. Die alte Kirche hat in ihren langwierigen christologischen Streitigkeiten die unterschiedlichsten Lösungsmodelle ausgearbeitet, um dieses Problem in den Griff zu bekommen. Die wichtigsten Parteien in dem christologischen Streit der alten Kirche repräsentieren die alexandrinische und die antiochenische Schule. Während die Christologie der Alexandriner göttliche und menschliche Natur in der Person des Christus stärker aneinanderrückte und die substantielle Einheit der Person Christi betonte, rückten die Antiochener die beiden Naturen weiter auseinander und betonten die Zweiheit der Naturen. Die Dogmengeschichte spricht deshalb von alexandrinischer Einigungs- und antiochenischer Trennungschristologie ([216], S. 295–305; [3], S. 67–81). Beide Seiten teilen die gemeinsamen Voraussetzungen, dass sie von dem Inkarnationsgedanken und von der Unterscheidung der menschlichen und der göttlichen Natur ausgehen. Die Bestimmungen werden jedoch in unterschiedliche konzeptionelle Rahmen eingefügt. Die alexandrinische Christologie zeichnet die zwei Naturen in ein Logos-Sarks-Schema ein und die antiochenische Christologie operiert mit einem Logos-Mensch-Schema. Die unterschiedlichen Schemen führen nun auf der alexandrinischen Seite dazu, dass hier die substantielle Einheit der beiden Naturen in der Person des Christus stärker betont wird. Das hat zur Konsequenz, dass die menschliche Natur Jesu gleichsam verflüchtigt wird. Dies ist insbesondere bei Apollinaris von Laodicea (310 – um 390) der Fall, der die Einheit der beiden Naturen im Logos-Sarks-Schema als Vergottung des Fleisches versteht und dadurch die menschliche Natur Christi aufhebt. Die antiochenischen Theologen Diodor von Tarsus (gest. 394), Theodor von Mopsuestia (gest. 428) betonen hingegen den Unterschied der beiden Naturen in Christus und verstehen deren Einheit nicht – wie die Alexandriner – als eine physische oder substantielle Einheit, sondern als eine moralische Vereinigung, eine Einheit im Willen. Das Konzil von Chalcedon stellt den Versuch dar, die Person des Christus so zu bestimmen, dass sowohl eine Vermischung der beiden Naturen als auch eine Trennung der Naturen in Christus vermieden wird. In dem Symbol

1. Das Christusbild Luthers

von Chalcedon heißt es: „In der Nachfolge der heiligen Väter also lehren wir alle übereinstimmend, unseren Herrn Jesus Christus als ein und denselben Sohn zu bekennen: derselbe ist vollkommen in der Gottheit und derselbe ist vollkommen in der Menschheit; derselbe ist wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch aus vernunftbegabter Seele und Leib; derselbe ist der Gottheit nach dem Vater wesensgleich (homoousios) und der Menschheit nach uns wesensgleich, in allem uns gleich außer der Sünde [vgl. Hebr. 4, 15]; derselbe wurde einerseits der Gottheit nach vor den Zeiten aus dem Vater gezeugt, anderseits der Menschheit nach in den letzten Tagen unsertwegen und um unseres Heils willen aus Maria, der Jungfrau und Gottesgebärerin [theotokos], geboren; ein und derselbe ist Christus, der einziggeborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar [en dyo physesin asygchytos, atreptos, adiairetos, achoristos] erkannt wird, wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt und sich in einer Person und einer Hypostase [eis hen prosopon kai mian hypostasin] vereinigt; der einziggeborene Sohn, Gott, das Wort, der Herr Jesus Christus, ist nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt, sondern ist ein und derselbe, wie es früher die Propheten über ihn und Jesus Christus selbst uns gelehrt und das Bekenntnis der Väter es uns überliefert hat.“ (Glaubensbekenntnis von Chalkedon, Enchiridon Symbolorum (DH) 301 f.; NR 178) Mit seinen Formeln bestätigt das Konzil von Chalcedon die trinitarischen Konzilien von 325/381. Die dort vorgenommene Behauptung der vollen Gottheit Christi wird allerdings durch die Behauptung seiner vollen Menschheit ergänzt. Jesus Christus ist zu bekennen als wahrer Gott, der in seiner Gottheit wesenseins (homousios) mit dem Vater ist. Zugleich ist Christus wahrer Mensch und seiner Menschheit nach wesenseins (homousios) mit uns. Von den zwei Naturen in der Person des Christus gilt im Hinblick auf ihre Unterschiedenheit, dass sie unvermischt und unverändert sind und im Hinblick auf die Personeinheit des Christus, dass sie ungeteilt und ungetrennt sind.

Angesichts dieser Formeln, die nichts als ein schlechter Kompromiss sind, überrascht es kaum, dass die christologischen Streitigkeiten der alten Kirche mit dem Konzil von Chalcedon nicht zu Ende gekommen sind. Das Symbol bietet keine positive Beschreibung der Personeinheit in Jesus Christus, sondern lehnt lediglich einseitige Bestimmungen als unangemessen ab.

c) Luthers Umformung des altkirchlichen Dogmas Das altkirchliche christologische Dogma hat die Person des Christus als eine metaphysische Einheit von zwei unterschiedenen Naturen verstanden. In seiner eigenen Christusanschauung hat Luther an das christologische Dogma angeknüpft. In seiner Schrift Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis aus dem Jahre 1528 schreibt er in Auseinandersetzung mit der Abendmahlslehre des Züricher Reformators Ulrich Zwingli (1484–1531): „Ob nu hie die alte wettermecherynn fraw vernunfft / der Alleosis grosmutter / sagen wu(e)rde / Ia die Gottheit kann nicht leiden noch sterben / Soltu antworten / Das ist war / Aber dennoch weil die Gottheit vnd menscheit ynn

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II. Jesus der Christus

Luthers Lösungsvorschlag

Christo eine person ist / so gibt die schrifft / vmb solcher personlicher einickeit willen / auch der Gottheit / alles was der menscheit widderferet / vnd widderumb / Vnd ist auch also ynn der warheit / Denn das mustu ia sagen / Die person (zeige Christum) leidet / stirbt / Nu ist die person warhafftiger Gott / drumb ists recht gered / Gottes son leidet / Denn ob wol das eine stu(e)ck (das ich so rede) als die Gottheit / nicht leidet / so leidet dennoch die person / welche Gott ist / am andern stu(e)cke / als an der menscheit“ ([24], Bd. 4, S. 82 f. = [22], Bd. 26, S. 321). Die zitierte Stelle aus Luthers Abendmahlsschrift von 1528 ist nun gleich in mehrfacher Hinsicht für sein Verständnis der Christologie aufschlussreich. Zunächst macht die Stelle deutlich, dass Luther an die überlieferten christologischen Formeln anknüpft. Gottheit und Menschheit bilden in Jesus Christus eine Person. Luther betont allerdings, und das ist der zweite hier zu nennende Aspekt, dass die Gottheit weder leiden noch sterben kann. Darin sei der alten Wettermacherin Frau Vernunft durchaus recht zu geben. Der Fortgang der zitierten Stelle scheint nun aber zu der Aussage der Vernunft im Widerspruch zu stehen, denn Luther sagt ja ausdrücklich, dass es recht geredet sei, Gottes Sohn leide. Wie ist das zu verstehen? Auf der einen Seite behauptet Luther die Leidensunfähigkeit Gottes, andererseits leidet Christus, der Sohn Gottes, als Einheit von Gott und Mensch. Die Auflösung dieses Widerspruchs findet sich, wenn man genauer hinsieht. Luther unterscheidet in der zitierten Stelle zwischen der Gottheit im Allgemeinen und der Person Jesu Christi. Allein von dieser, und nicht von der Gottheit im Allgemeinen, sagt Luther, er leidet und stirbt. Dies ist der dritte Aspekt, der an der beigebrachten Stelle aus der Abendmahlsschrift hervorzuheben ist, und er führt geradewegs ins Zentrum von Luthers Umformung der überlieferten Zwei-Naturen-Christologie. Die von Luther vorgenommene Unterscheidung zwischen der Gottheit und der Menschheit, unabhängig von deren Vereinigung in der Person Jesu Christi, und der konkreten Person Jesu Christi, in der die beiden Naturen vereinigt sind, ist eine Konsequenz seines Ansatzes bei dem biblischen Christusbild. Diese Unterscheidung, die für Luthers Aufnahme der Zwei-Naturen-Lehre grundlegend ist, begegnet nicht nur in der Abendmahlsschrift, sondern auch in anderen Texten wie der Streitschrift gegen den Löwener Theologen Latomus aus dem Jahre 1521 oder in den späten christologischen Disputationen Verbum caro factum est (Das Wort wurde Fleisch) aus dem Jahre 1539 oder in der Disputation De divinitate et humanitate Christi (Von der Gottheit und Menschheit Christi) von 1540. In der Person Jesu Christi, wie sie Luther dem biblischen Christusbild entnimmt, liegen die beiden Naturen vereinigt vor. Dadurch erweitern sowohl die Begriffe ,Gott‘ und ,Mensch‘ ihren Gehalt. Von der Gottheit und der Menschheit ist also ,außerhalb‘ der Person Jesu Christi anders zu reden als von deren Einheit in der Person Jesu Christi. Dieses Interesse an der Einheit der beiden Naturen in der Person Jesu Christi schlägt sich nun bei Luther vor allem darin nieder, dass, wie es in den Thesen von 1539 heißt, „im Reich des Glaubens […] in neuen Sprachen zu reden“ sei. „Bei den Artikeln des Glaubens ist die Empfindung des Glaubens zu betreiben, nicht der Verstand der Philosophen. Dann wird man wahrhaft erkennen, was es heißt: Das Wort ward Fleisch“ ([25], Bd. II, S. 467).

1. Das Christusbild Luthers

Luthers Hinweis, dass im Reich des Glaubens in ,neuen Sprachen‘ zu sprechen sei, macht deutlich, dass er die Personenchristologie im Horizont der Soteriologie versteht. Hinter dieses soteriologische Interesse tritt die metaphysische Konstruktion der Person des Christus als einer Einheit in zwei unterschiedlichen Naturen völlig in den Hintergrund. Luther bedient sich damit der überlieferten christologischen Terminologie – Natur und Person –, aber diese bildet lediglich die Oberflächensemantik. Unterhalb der überlieferten christologischen Terminologie wird die statische Zwei-Naturen-Lehre durch eine am Sich-Verständigen des Glaubens orientierte Sprachreflexion ersetzt ([188], S. 61). Die Pointe von Luthers Neuinterpretation der überlieferten Zwei-Naturen-Lehre als einer neuen Sprache des Glaubens liegt nun darin, dass sie gegenüber der christologischen Lehrtradition zu völlig neuen Aussagen gelangt. „1. Der (gemein-)christliche Glaube ist dieser, dass wir den einen Herrn Jesus als wahren Gott und [wahren] Menschen bekennen. 2. Aus dieser Wahrheit von der zweifachen Substanz und aus der Einheit der Person folgt jene sogenannte wechselseitige Anteilhabe der Eigenschaften [communicatio idiomatum], 3. so dass das, was dem Menschen zukommt, mit Recht von Gott, und andererseits das, was Gott zukommt, vom Menschen gesagt wird. 4. Wahrheitsgemäß wird gesagt: Dieser Mensch hat die Welt erschaffen, und: Dieser Gott hat gelitten, ist gestorben und begraben worden, usw.“ ([25], Bd. II, S. 471). In Luthers neuer Sprache des Glaubens wird die überlieferte Zwei-Naturen-Lehre zu einem Ausdruck der Einheit von Gott und Mensch im Glauben. Diese Einheit liegt als realisierte in der Person Jesu Christi vor und sie wird vom Menschen im Glauben angeeignet. Insofern stellt Luthers Umformung der Zwei-Naturen-Lehre nichts anderes als einen Ausdruck der Glaubensgerechtigkeit dar. Eben dies nötigt dann dazu, von Jesus Christus zu sagen, dieser Mensch ist Gott und Gott ist dieser Mensch.

Neuinterpretation der Zwei-NaturenLehre

2. Der christologische Lehrbegriff der altprotestantischen Theologie Die Lehrentwicklung auf dem Boden der altlutherischen Theologie hat an Luthers Neufassung der überlieferten Zwei-Naturen-Lehre angeknüpft und eine gegenüber der theologischen Tradition neue christologische Lehrbildung hervorgebracht ([37], S. 210 f.). Dies schlägt sich bereits im Aufbau der altprotestantischen Christologie nieder. Sie wird in drei Teile gegliedert: 1. die Person des Erlösers 2. das Amt des Erlösers 3. die Stände des Erlösers. Mit dieser Strukturierung des christologischen Lehrbegriffs erweitert die altprotestantische Christologie die überlieferte Lehrform. Während die altkirchliche Christologie auf die Person des Erlösers fokussiert war, ergänzte die mittelalterliche Christologie die Personchristologie durch die Lehre von dem Werk Christi. Die altprotestantische Christologie reformuliert unter Aufnahme des von Luther geltend gemachten soteriologischen Gesichtspunkts die

Erweiterung der Personchristologie

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II. Jesus der Christus

überlieferte christologische Lehrbildung durch die von ihr konstruierte Ämter- und Stände-Lehre.

a) Die Personchristologie

Bedeutung des Logos für die Erlöser-Person

Ebenso wie die lutherischen Bekenntnisschriften knüpft die altprotestantische Dogmatik an die christologischen Formeln des Konzils von Chalcedon an und thematisiert zunächst die Personchristologie als Voraussetzung von Christi Erlösungswerk ([37], S. 211–246; [40], Bd. 2, S. 76–240). Jesus Christus wird als eine Person in zwei Naturen verstanden. Die göttliche Natur hat Christus von Gott dem Vater von Ewigkeit her, die menschliche hat er von der Jungfrau Maria in der Zeit angenommen. Von den beiden Naturen in der Person des Christus gilt, dass jede in ihrer ganzen Wahrheit und vollen Integrität bleibt. Als wahrer Mensch nimmt Christus an allen natürlichen Schwachheiten teil, denen die menschliche Natur seit dem Fall unterworfen ist. Die Teilhabe an der Schwachheit der menschlichen Natur verstehen die altprotestantischen Dogmatiker jedoch nicht als eine natürliche Notwendigkeit. Vielmehr nimmt Christus aus freiem Willen an der Schwachheit der menschlichen Natur teil. Denn nur dadurch kann er der Mittler sein. Im Hinblick auf die menschliche Natur ist Christus zwar wahrer und vollständiger Mensch, aber aus der in ihm vorliegenden Verbindung von göttlicher und menschlicher Natur resultieren dann doch bestimmte Eigentümlichkeiten der menschlichen Natur (proprietates praerogativa) in Christus, die ihn von allen anderen Menschen unterscheiden. Im Unterschied zu allen Menschen zeichnet sich Christus durch seine Sündlosigkeit (impeccabilitas) aus. Die biblische Belegstelle für die Sündlosigkeit Christi ist Hebr 4,15. Begründet wird die Sündlosigkeit Christi durch die Jungfrauengeburt (Lk 1,35). Er ist zwar von einer menschlichen Mutter geboren, aber nicht von einem menschlichen Vater gezeugt. Aus diesem Grund ist seine menschliche Natur nicht dem Zusammenhang der Erbsünde unterworfen. Mit der Sündlosigkeit Christi ist nun die Konsequenz verbunden, dass seine menschliche Natur dem Tod nicht unterworfen ist. Folglich hat Christus den Tod freiwillig auf sich genommen. Die Person des Erlösers kommt für die altprotestantischen Theologen dadurch zustande, dass der Logos, die zweite Person der Gottheit, sich mit einer menschlicher Natur vereinigt, so dass die beiden Naturen eine Person bilden. Diesen Akt nennen die altprotestantischen Theologen unitio personalis (= personale Vereinigung) ([17], Theol. part. III, sect. I, cap. III, q. 19 = [7], S. 323). Die personale Vereinigung zwischen dem Logos und der menschlichen Natur wird so verstanden, dass sie nicht nur von der gesamten Trinität beschlossen wurde, sondern dass diese auch die Masse bereitet hat, aus welcher die menschliche Natur besteht. Realisiert wird die Vereinigung lediglich von der zweiten Person der Gottheit. Bei der Vereinung des Logos mit der menschlichen Natur ist der Logos das Personbildende. Er wird also als der Einigende und Tätige verstanden. Er hat ein aktives Verhältnis zur menschlichen Natur, während die menschliche Natur in einem passiven Verhältnis zu ihm steht. Unter Aufnahme der altkirchlichen Unterscheidung von Anhypostasie (Personlosigkeit der menschlichen Natur) und Enhypostasie (Existenz der menschlichen Natur in der göttlichen Person) versteht die altprotes-

2. Christologischer Lehrbegriff der altprotestantischen Theologie

tantische Christologie die menschliche Natur in Christus ohne eigene Personalität. Sie wird in die Person des Gottessohns aufgenommen und die Person der göttlichen Natur teilt sich der menschlichen Natur mit. Von dem Akt der personalen Vereinigung unterscheiden die altprotestantischen Dogmatiker die unio personalis seu hypostatica (feste Vereinigung der menschlichen und der göttlichen Natur). Durch die Tätigkeit des Logos wird die Hypostase der göttlichen Natur auch die Hypostase der menschlichen Natur und beide zusammen bilden eine Person, nämlich die des Erlösers. Diese Einigung der beiden Naturen versteht die altprotestantische Christologie als eine reale, personale und unauflösliche. Die beiden Naturen sind in der Person des Gottmenschen eine enge und unauflösliche Verbindung eingegangen, so dass keine ohne die andere oder außer der anderen gedacht werden kann. Freilich behalten die beiden Naturen ihr Wesen und ihre Eigentümlichkeiten, so dass die Naturen unvermischt bleiben. Die Naturen durchdringen einander (intima penetratio) ohne sich zu vermischen. Diese Durchdringung der Naturen bezeichnet die alte Dogmatik als communicatio naturarum ([17], Theol. part. III, sect. I, cap. III, q. 31 = [7], S. 324). Die communicatio naturarum bildet die Grundlage der Lehre von der communicatio idiomatum (wechselseitige Mitteilung der Eigenschaften). Diese Lehre, die eine für die lutherische Orthodoxie signifikante Neubildung darstellt, geht auf Martin Chemnitz (1522–1586) und dessen Schrift De duabus naturis in Christo von 1571 zurück ([212]). Chemnitz ist das Bindeglied zwischen Luther und der altlutherischen Theologie. Wie Luther betont auch Chemnitz die Einheit der Person des Christus und ordnet die Aussagen der Bibel über Christus auf sie hin und gelangt auf diese Weise zur Unterscheidung von drei Weisen (genera) der communicatio idiomatum, die in dieser Form von der altprotestantischen Dogmatik übernommen wird. Der spätorthodoxe Theologe David Hollaz definiert die communicatio idiomatum als das „wahrhafte und reale einander Anteilgeben an den Besonderheiten der göttlichen und menschlichen Natur in dem nach einer von beiden oder beiden Naturen benannten Gottmenschen Christus, wie aus dem persönlichen Einssein sich ergibt“ ([17], Theol. part. III, sect. I, cap. III, q. 37 = [7], S. 324). Nach dieser Lehre kann weder von einer der beiden Naturen eine Eigenschaft ausgesagt werden, welche nicht Eigenschaft der ganzen Person wäre, noch kann von einer der beiden Naturen eine Handlung ausgesagt werden, an welcher nicht auch die andere Natur teilnähme. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass sich dadurch das Wesen der jeweiligen Natur ändern würde. Die wechselseitige Mitteilung der Eigenschaften wird von der altlutherischen Theologie weder als eine sprachliche (verbalis) noch als eine titulare oder ideelle (intellectualis) verstanden. Vielmehr ist sie real, und zwar zwischen zwei real unterschiedenen aber nicht getrennten Substanzen. Die wechselseitige Mitteilung ist auch nicht zufällig oder vermischend, und auch nicht wesenhaft (essentialis) oder natürlich, sondern persönlich und übernatürlich. Die communicatio idiomatum findet zwischen den Naturen und der Person und zwischen den Naturen untereinander statt. Damit kann diese communicatio in drei Arten untergliedert werden.

Gottmensch mit unvermischten Eigenschaften

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II. Jesus der Christus

Die Lutheraner unterscheiden drei Genera der communicatio idiomatum: 1. genus idiomaticum – die Eigenschaften der beiden Naturen werden der ganzen Person beigelegt 2. genus maiestaticum – die menschliche Natur empfängt real Anteil an den Eigenschaften der göttlichen Natur 3. genus apotelesmaticum – jede der beiden Naturen ist an den besonderen Werken der anderen beteiligt.

(1) Das genus idiomaticum oder die Übereignung Dem genus idiomaticum zufolge werden „die Besonderheiten der göttlichen oder menschlichen Natur wahrhaft und real der ganzen Person Christi beigelegt […], die nach einer von beiden oder beiden Naturen benannt wird“ ([17], Theol. part. III, sect. I, cap. III, q. 40 = [7], S. 326). Aufgrund dieses Genus kann gesagt werden, der Sohn Gottes ist wahrhaft ein Leidender gewesen, gekreuzigt und gestorben. Es geht also darum, die Eigenschaften (idioma) der einen Natur der ganzen Person zuzusprechen. Nur so kann von der göttlichen Natur, die per definitiomen unveränderlich und damit leidensunfähig ist, gesagt werden, dass sie leidet, nämlich allein im Hinblick auf die Person des Christus. (2) Das genus maiestaticum oder die Vergottung Das genus maiestaticum beinhaltet die Mitteilung der Eigenschaften der göttlichen Natur an die menschliche. Dadurch, dass „der Sohn Gottes die Idiome seiner göttlichen Natur um des persönlichen Einsseins willen an die angenommene menschliche Natur wahrhaftig und real mitgeteilt hat“, wird gefolgert, dass „sie sie gemeinsam mit ihr besitze, gebrauche und danach benannt werde“ ([17], Theol. part. III, sect. I, cap. III, q. 45 = [7], S. 327). Als Grundlage der Mitteilung der Majestät an das Fleisch Christi gilt das persönliche Einssein, durch das der menschlichen Natur die göttliche Hypostase mitgeteilt ist. So kann nach diesem Genus von der menschlichen Natur ausgesagt werden, dass ihr aufgrund der Einigung mit der göttlichen auch wahrhaft göttliche, ungeschaffene und unendliche Gaben gegeben werden. Dem irdischen Christus kommen damit göttliches Wissen, göttliche Allmacht etc. zu. Die Eigenschaften der göttlichen Natur werden diesem Genus zufolge der menschlichen Natur mitgeteilt, jedoch nicht umgekehrt die Eigenschaften der menschlichen Natur der göttlichen. Die Ausbildung des genus maiestaticum stellt eine Konsequenz der lutherischen Abendmahlslehre dar, die auf die Realpräsenz des Leibes Christi im Abendmahl zielt. (3) Das genus apotelesmaticum oder die Gemeinschaft der Tätigkeit Das genus apotelesmaticum bezieht sich auf die Handlungen der Person des Christus und das darin waltende Verhältnis der Naturen. Von diesem Genus ist dann zu sprechen, „wenn in den Handlungen des Amts jede Natur Christi das ihr Eigene mit dem Anteilhaben der anderen Natur an der Handlung tut“ ([17], Theol. part. III, sect. I, cap. III, q. 61 = [7], S. 329 f.). Bei den Werken der einen Natur in Christus ist die andere beteiligt. So leidet und gehorcht im priesterlichen Amt das Fleisch, die göttliche Natur bejaht den Gehorsam und unterstützt die menschliche Natur. Die göttliche Natur des Logos vollbringt

2. Christologischer Lehrbegriff der altprotestantischen Theologie

die göttlichen Werke nicht allein, sondern sie eignet sich auch die Handlungen des angenommenen Fleisches zu. Folglich handelt die menschliche Natur im Mittleramt nicht nur nach ihren natürlichen Kräften, sondern auch nach der göttlichen Kraft, die sie aufgrund des persönlichen Einsseins mit dem Logos besitzt. Das genus apotelesmaticum setzt somit das genus idiomaticum und das genus maiestaticum voraus. In dieser Form ist communicatio idiomatum in die lutherischen Bekenntnisschriften aufgenommen worden. ([1], S. 1027 ff.) Im Unterschied zu den altlutherischen Theologen haben die reformierten Dogmatiker das genus maiestaticum aufgrund ihrer auf dem Extra Calvinisticum (fines non capax infinitium = das Endliche kann das Unendliche nicht aufnehmen) fußenden Abendmahlslehre abgelehnt. Den Lutheranern gilt gerade dieses Genus der Sicherung der von Luther in seiner Auseinandersetzung mit Zwingli geltend gemachten leiblichen Gegenwart des erhöhten Herrn im Abendmahl. Nicht gelehrt wurde in der altprotestantischen Orthodoxie das genus tapeinoticum (= die Teilhabe der göttlichen Natur an den Leiden der menschlichen), weil das der Vorstellung von der Unveränderlichkeit der göttlichen Natur widersprach. Die reformierten Theologen betonten stärker als die Lutheraner die Integrität der Naturen. Deshalb verstanden sie die communicatio idiomatum zwar nicht nur verbal, aber auch nicht gänzlich real.

b) Die Ämter Christi Das organisierende Zentrum der altprotestantischen Christologie bildete die auf Andreas Osiander (1494–1552) und Johannes Calvin zurückgehende Ämterlehre. In ihrem Horizont standen bereits die Ausführungen zur Person Christi. Das Werk der Erlösung konnte Christus nämlich nur deshalb vollbringen, weil in ihm göttliche und menschliche Natur in einer Person geeint sind. Das Erlösungswerk gilt den altprotestantischen Theologen als der alleinige Zweck der Menschwerdung. Diese soteriologische Funktion der Menschwerdung Christi wird in dem dritten Artikel der Confessio Augustana nachdrücklich unterstrichen. „Item, es wird gelehret, daß Gott der Sohn sei Mensch geworden, geborn aus der reinen Jungfrauen Maria, und daß die zwo Natur, die gottlich und menschlich, in einer Person also unzertrennlich vereiniget, ein Christus seind, welcher wahr Gott und wahr Mensch ist, wahrhaftig geboren, gelitten, gekreuzigt, gestorben und begraben, daß er ein Opfer wäre nicht allein fur die Erbsund, sunder auch fur alle andere Sunde und Gottes Zorn versohnet“ ([1], S. 54). Die Christologie wird unter dem soteriologischen Gesichtspunkt der Erlösung aufgebaut und in dem Mittleramt Christi zusammengefasst. Christus übte sein Amt so aus, dass er: 1. so lange er auf Erden weilte, den Menschen die Erlösung verkündigte und nach seinem Fortgang die kirchliche Verkündigung einsetzte 2. die Erlösung selbst vollbrachte und dadurch die Versöhnung mit Gott ermöglichte 3. nach seinem Fortgang die gestiftete Gemeinde der Erlösten erhält, mehrt, leitet und schützt.

Erlösungswerk als Zweck der Menschwerdung

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II. Jesus der Christus Prophet, Priester und König

Diese drei Funktionen oder Ämter entsprechen den biblischen Funktionen des Propheten, des Priesters und des Königs. Aus dieser heilsgeschichtlichen Anbindung des Amts Christi resultiert die Lehre von dem officium Christi triplex (dreifaches Amt Christi), dem officium propheticum, sacerdotale et regium ([37], S. 246–271). (1.) Das prophetische Amt – officium propheticum In das officium propheticum ist die Verkündigung des göttlichen Heilswillens durch den irdischen Christus aufgenommen. Mit dem prophetischen Amt binden die altprotestantischen Theologen das Wirken und die Verkündigung Jesu an die alttestamentlichen Propheten zurück. Wie diese lehrt und verkündigt Christus den Willen Gottes. Da Christus jedoch der Gottmensch ist, übte er dieses Amt auf eine viel vollkommenere und wirksamere Weise aus als alle ihm vorangegangenen Propheten. Nach seinem Weggang von der Erde hört es nicht auf, sondern wird durch die Kirche fortgesetzt. (2.) Das priesterliche Amt – officium sacerdotale Das zweite Amt Christi sehen die alten Dogmatiker in der Erlösung und der dadurch zustande gebrachten Versöhnung mit Gott. Darin übt Christus ein priesterliches Amt aus. Das Amt des Priesters besteht darin, Gott durch Opfer zu versöhnen und die Schuld der Menschen abzutragen. Allerdings brachte Christus nicht wie die Priester des Alten Bunds ein fremdes Opfer dar, sondern sich selbst. Daher ist Christus Priester und Opfer in einer Person. In der Ausgestaltung des priesterlichen Amts Christi nehmen die alten protestantischen Dogmatiker die mittelalterliche Versöhnungslehre (Satisfaktionslehre) auf, wie sie von Anselm von Canterbury (1033/34–1109) in seiner Schrift Cur Deus homo ausgearbeitet wurde und die einen nachhaltigen Einfluss auf die abendländische Christologie bis in die Neuzeit innehatte. In Cur Deus homo möchte Anselm mit vernünftigen Gründen den Nachweis der Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes in Christus erbringen. Dabei geht Anselm davon aus, dass der Mensch Gott die Unterwerfung unter seinen Willen schuldet, jedoch durch seine Sünde das, was er Gott schuldet, verweigert und dadurch Gottes Ehre verletzt hat. Deshalb ist der Mensch Gott zur Genugtuung seiner Schuld verpflichtet, aber er kann die verletzte Ehre Gottes selbst nicht wieder herstellen. Daraus ergibt sich nun das Dilemma, dass der Mensch Genugtuung leisten muss, es aber nicht kann. Wegen der Schwere der Schuld müsste die Genugtuung (Satisfaktion) darin bestehen, dass etwas aufgebracht wird, das größer ist als alles, was außerhalb von Gott existiert. Dies kann aber nur von Gott selbst geleistet werden. Da die geforderte Genugtuung nur von Gott selbst geleistet werden kann, sie aber vom Menschen geleistet werden müsste, musste Gott Mensch werden, um die Genugtuung für die Verletzung der Ehre Gottes zu leisten. Die von Christus als dem Gottmenschen geleistete Genugtuung besteht in der Hinnahme des Tods am Kreuz als des schwerstmöglichen Opfers. Da Christus nun aber sündlos ist, benötigt er den Ertrag dieses Opfers nicht für sich selbst, sondern dieser kann den Menschen zugute kommen, die mit ihm im Glauben verbunden sind. Die lutherischen Bekenntnisschriften haben die von Anselm von Canter-

2. Christologischer Lehrbegriff der altprotestantischen Theologie

bury in Cur Deus homo ausgearbeitete stellvertretende Genugtuungstheorie aufgenommen. In Artikel 4 der Confessio Augustana wird die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung formuliert. „Weiter wird gelehret, daß wir Vergebung der Sunde und Gerechtigkeit vor Gott nicht erlangen mogen durch unser Verdienst, Werk und Genugtun, sonder daß wir Vergebung der Sunde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnaden umb Christus willen durch den Glauben, so wir glauben, daß Christus fur uns gelitten habe und dass uns umb seinen willen die Sunde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird. Dann diesen Glauben will Gott fur Gerechtigkeit vor ihme halten und zurechnen“ ([1], S. 56). Die altprotestantische Christologie erörtert die Satisfaktionstheorie im priesterlichen Amt Christi unter zwei Gesichtspunkten: 1. der satisfactio (Genugtuung) 2. der intercessio (Fürbitte). (1) Die Genugtuung (satisfactio) wird verstanden als „ein Akt des priesterlichen Amts, dadurch Christus gemäß göttlichem Ratschluß mit allervollkommenstem tätlichem wie leidentlichem Gehorsam (oboedientia activa et passiva) der göttlichen Gerechtigkeit, die durch die Sünden der Menschen verletzt ist, genug getan hat, zu Ehren der göttlichen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, und zu Erwerb unsrer Gerechtigkeit und Seeligkeit“ ([17], Theol. part. III, sect. I, cap. III, q. 75 = [7], S. 337 f.). Die satisfactio umfasst somit zwei Gesichtspunkte, die sie inhaltlich näher bestimmen: a) oboedientia activa = tätiger Gehorsam b) oboedientia passiva = passiver Gehorsam. Unter dem tätigen Gehorsam (= oboedientia activa) wird die Erfüllung des göttlichen Gesetzes durch Christus verstanden. Stellvertretend für die Menschen hat Christus das Gesetz vollkommen erfüllt, so dass seine Gesetzeserfüllung dem Glaubenden von Gott zugerechnet werden kann. Der passive Gehorsam Christi (= oboedientia passiva) besteht darin, dass Christus die Sünden der ganzen Welt auf sich übertragen und die ihnen gebührenden Strafen freiwillig übernommen hat. Aufgrund seines stellvertretenden Strafleidens werden dem Glaubenden seine Sünden von Gott nicht als ewige Strafen angerechnet. In diesem Sinne ist der Tod Christi ein wahres Versöhnungsopfer (sacrificium propitiatorium). (2) Den zweiten Aspekt des priesterlichen Amts stellt die Fürbitte oder Vertretung (intercessio) dar. Diese besteht darin, dass „der Gottmensch Christus in Kraft seines gesamten Verdienstes für alle Menschen, insonderheit aber für seine Erwählten, wahrhaftig und eigentlich, aber ohne irgendwelche Minderung seiner Majestät, eintritt (interpellat), aufdaß er für sie erlange, davon er weiß, daß es ihnen leiblich und seelisch vornehmlich und heilsam sei“ ([17], Theol. part. III, sect. I, cap. III, q. 82 = [7], S. 338). Die Fürbitte umfasst zwei Gesichtspunkte. In der allgemeinen Vertretung bittet Christus den Vater für alle Menschen, dass ihnen die heilsame Frucht seines Tods zugeeignet werde. Die besondere Vertretung besteht darin, dass Christus für die Wiedergeborenen und Erwählten bittet, dass sie im Glauben und in der Heiligkeit bewahrt werden und wachsen.

Aufnahme der Genugtuungslehre des Anselm

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II. Jesus der Christus

(3.) Das königliche Amt Christi – officium regium Christus verkündigt nun nicht nur Gottes ewigen gnädigen Erlösungsratschluss und vollbrachte auch nicht nur selbst die Erlösung, sondern ihm ist die Herrschaft über die Welt gegeben. Darin erblicken die altprotestantischen Theologen das königliche Amt Christi. Die königliche Würde gebührt Christus als Gott zwar von Ewigkeit her, aber aufgrund seiner Menschwerdung nimmt auch seine menschliche Natur an der königlichen Herrschaft teil. Indem Christus König und Herr der Welt ist, erstreckt sich seine Herrschaft über alles, was in der Welt ist und die Welt angeht. Die Herrschaft Christi über die Welt gliedern die altprotestantischen Dogmatiker dreifach in: – regnum potentiae = Reich der Macht: Christus regiert in der ganzen Welt – regnum gratiae = Reich der Gnade: Christus regiert in der Kirche durch die Verkündigung und die Sakramente – regnum gloriae = Reich der Herrlichkeit: Christus regiert im Himmel ([7], S. 337).

c) Die Stände Christi

Knechtsgestalt und Herrlichkeit

Das Werk der Erlösung, zu dessen Vollbringung der Logos Mensch geworden ist, konnte nur durch Leiden und Tod zustande kommen. Die Zeit des Erdenlebens Christi thematisiert die altprotestantische Christologie im Anschluss an den Hymnus in Phil 2,5–11 als Stand der Knechtsgestalt Christi und unterscheidet ihn vom Stand der Erhöhung ([37], S. 271–293). Mit der Menschwerdung Christi ist somit ein doppelter Zustand Christi gegeben, ein Zustand der Knechtsgestalt und ein Zustand der Herrlichkeit. Der Zustand der Entäußerung (Kenosis/exinanitio – status exinanitionis) umfasst die Ereignisse von der Empfängnis Jesu bis zu seiner Grablegung. Während dieser Zeit war der fleischgewordene Logos allen Schwächen der menschlichen Natur unterworfen. Diese Unterwerfung unter die Bedingungen des irdischen Lebens bedeutet jedoch keine Abwesenheit der göttlichen Natur. Vielmehr hat Christus während seines Erdenwirkens seine Göttlichkeit lediglich eingeschränkt zur Geltung gebracht. Der Zustand der Erhöhung (exaltatio – status exaltationis) umfasst Auferstehung, Himmelfahrt und das Sitzen Christi zur Rechten des Vaters. Durch die Überwindung des Tods hat Christus alle Schwächen der menschlichen Natur abgelegt und macht von seiner Göttlichkeit uneingeschränkt Gebrauch. Zwischen den reformierten und lutherischen Theologen war die Frage strittig, ob die Höllenfahrt Christi (descensus ad inferos nach 1. Petr 3,19; Eph 4,9) zum Zustand der Erhöhung oder zum Zustand der Erniedrigung gehört. Während die Reformierten die Höllenfahrt Christi dem Stand der Entäußerung zuordneten, betrachteten die Lutheraner die Höllenfahrt Christi als Beginn der Erhöhung (De descensus ad inferos, [1], S. 1049–1053). Die Funktion der Höllenfahrt sehen die altlutherischen Dogmatiker nicht darin, dass Christus in der Hölle die Übel der Dämonen erleidet, sondern um über die Dämonen Triumph zu halten und die verdammten Menschen zu überführen, dass sie mit Recht im höllischen Kerker eingeschlossen würden. An der Deutung des Zustands der Erniedrigung entzündete sich 1616 zwischen den Theologen der Tübinger und Gießener Theologischen Fakultäten

2. Christologischer Lehrbegriff der altprotestantischen Theologie

ein Kenosisstreit ([7], S. 333–336). Beide Parteien setzten die lutherische Christologie mit der Bejahung des genus maiestaticum der communicatio idiomatum sowie die Beziehung der Erniedrigung auf die mit dem Sohn Gottes persönlich geeinte menschliche Natur voraus. Der Streit entzündete sich an der Frage, wie die mit der göttlichen Natur verbundenen Eigenschaften von dem Menschgewordenen im Stand der Erniedrigung zu verstehen seien. Die Frage gilt also nicht der Inkarnation des Logos, sondern der Bestimmung der Verborgenheit der göttlichen Natur während des irdischen Daseins Christi. In Frage stand, ob diese Verborgenheit auf einer bloßen Verhüllung beruht oder auf einer förmlichen Entäußerung, und betraf dieser Verzicht nur den Gebrauch oder den Besitz der göttlichen Majestät und ihrer Vollmachten? Die Tübinger Theologen behaupteten eine Verbergung der göttlichen Majestät während der Erdentage Christi und die Gießener lehrten eine radikale Entäußerung der göttlichen Majestät. Dieser Kenosisstreit wurde nicht gelöst (vgl. [60], S. 261). Er beleuchtet freilich schlaglichtartig die Aporien sowohl der altlutherischen Christologie als auch der Zwei-Naturen-Christologie insgesamt.

3. Die Auflösung der Zwei-Naturen-Christologie in der Aufklärung Der von den altprotestantischen Theologen konzipierte Lehrbegriff der Christologie bietet insgesamt zwar ein Bild von eindrucksvoller Geschlossenheit, aber die inneren Aporien dieser auf der altkirchlichen Zwei-Naturen-Lehre aufbauenden Christologie sind nicht zu übersehen. Nicht nur der zwischen der Tübinger und der Gießener Theologischen Fakultät zu Beginn des 17. Jahrhunderts entbrannte Kenosisstreit macht dies deutlich, sondern gleichsam die Durchführung der altprotestantischen Christologie lässt erkennen, dass das Festhalten am Menschsein Jesu Christi über dessen bloße Behauptung nicht hinauskommt. Aber auch die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung des Gottmenschen warf gravierende moralische Probleme auf, die sich nicht mehr überdecken ließen. Setzt sie doch voraus, dass Schuld, wie es Immanuel Kant in seiner Religionsschrift nannte, eine transmissible Größe vergleichbar einer Geldschuld sei, die sich von jedem Beliebigen einlösen lasse. Dies sei jedoch, so Kants grundlegender Einwand, mitnichten der Fall. Schuld sei gerade nicht übertragbar ([141], B 94 f.). Das sich seit der frühen Neuzeit wandelnde Weltbild, die Herausbildung der modernen Naturwissenschaften sowie das zunehmende Bewusstsein um den Abstand der eigenen Gegenwart zu der Zeit der Bibel führten dazu, dass das überlieferte dogmatische Christusbild zunehmend weniger Plausibilität für sich beanspruchen konnte. Die im Zusammenhang mit der Herausbildung der historischen Kritik stehenden Versuche, den historischen Jesus hinter dem dogmatischen Christusbild zu suchen, sind deshalb auch in erster Line als Versuche zu würdigen, diesen Plausibilitätsverlust konstruktiv zu bearbeiten. Freilich führte die Suche nach dem historischen Jesus nicht nur dazu, dass der dogmatisch konstruierte Christus der Christologie und der historische Jesus auseinander traten, sondern auch zur Auflösung der überlieferten christologischen Lehrform und der für diese konstitutiven Zwei-Naturen-Lehre.

Problem der altprotestantischen Christologie

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II. Jesus der Christus

Reimarus: Gegensatz zwischen Jesus und Christentum

Schleiermacher: Christus als Urbild der Frömmigkeit

Der Erste, der den Versuch unternommen hat, das Leben Jesu mit den Mitteln der historischen Forschung zu untersuchen, war der Hamburger Orientalist Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Zwischen 1774 und 1778 veröffentlichte Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) anonym sieben Fragmente aus dem Nachlass von Reimarus. Diese Fragmente des großen Ungenannten, insbesondere die über die neutestamentliche Geschichte (Über die Auferstehungsgeschichte; Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger) lösten den Fragmentenstreit aus. Reimarus unterscheidet zwischen der Religion Jesu und der Religion des Christentums. Diese stuft er als eine Erfindung der Jünger Jesu ein, während Jesus von ihm ins Judentum eingerückt wird. Jesus, so das Resultat der historischen Untersuchung der literarischen Quellen des Christentums, ging es um eine eschatologisch-messianische Erneuerung des Judentums und er ist, wie Reimarus in dem Fragment Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger ausführt, mit diesem Anliegen gescheitert. Dieses Trauma haben seine Jünger durch die Erfindung des Christentums bewältigt. Sie waren es, die die jüdisch-messianische Erwartung eines göttlichen Reichs in eine geistige Vorstellung umprägten und dem Tod Jesu die Bedeutung einer geistigen Erlösung gaben. Die Jünger Jesu stahlen seinen Leichnam, versteckten ihn und verkündigten, er sei auferstanden und werde bald wiederkehren. Bei Reimarus treten zum ersten Mal in der neuzeitlichen Geschichte des Christentums die geschichtliche Gestalt Jesus von Nazareth und das dogmatische Christusbild der Kirche in einen Gegensatz. Das Christentum und seine überlieferte Christologie haben zwar das Bild des geschichtlichen Jesus überformt, aber dieses dogmatische Christusbild lässt sich, wie eine rein historische Untersuchung der Bibel zeigt, auf den Jesus der Geschichte nicht zurückführen. Reimarus hatte den historischen Jesus und die Religion Jesu an die Stelle der christlichen Religion und ihrer Dogmatik gestellt und seinen Nachfolgern die Alternative historischer Jesus oder dogmatischer Christus, historisches Individuum oder überzeitliche Idee vorgelegt. Die weitere theologische Entwicklung im Bereich des Protestantismus arbeitet sich in der Tat an dieser Fragestellung ab. Lessing und Kant haben auf unterschiedliche Weise die Idee oder das Urbild Christi gegenüber dem historischen Individuum Jesus von Nazareth betont. Nach Lessings bekanntem Diktum können „zufällige Geschichtswahrheiten […] der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden“ ([211], S. 32). Und für Immanuel Kant ist Christus das Urbild oder Ideal der moralischen Vollkommenheit und darin „der allein Gott wohlgefällige Mensch“. Von ihm gilt, dass er in Gott sei von Ewigkeit her, „die Idee desselben geht von seinem Wesen aus, er ist insofern kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborner Sohn“ ([141], B 73). Die von Reimarus auf dem Hintergrund des erwachenden historischen Bewusstseins aufgeworfene Alternative führte in den christologischen Debatten zunächst dazu, dass das geschichtliche Individuum Jesus von Nazareth gegenüber dem Urbild oder der Idee des Christus zurücktritt. Schleiermacher kommt das Verdienst zu, die Idee des Christus mit dem geschichtlichen Individuum wieder verbunden und damit eine Antwort auf die von Reimarus aufgeworfene Alternative gegeben zu haben. Allerdings knüpft Schleiermacher in der Christologie seiner Glaubenslehre nicht direkt an den christologischen Lehrbegriff des Altprotestantismus an, sondern

3. Auflösung der Zwei-Naturen-Christologie in der Aufklärung

unterzieht die überlieferte Zwei-Naturen-Lehre sowie den in ihr zugrunde gelegten Naturbegriff einer Radikalkritik. Den Ausgangspunkt seiner Christologie bildet seine in der Einleitung der Glaubenslehre skizzierte religionstheoretische Bestimmung der Frömmigkeit als einem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Christus wird auf dieser methodischen Grundlage von Schleiermacher als Urbild der Frömmigkeit verstanden. Die im materialen Teil seiner Glaubenslehre ausgeführte Christologie nimmt diese religionstheoretische Fassung der Frömmigkeit auf und versteht das historische Individuum Jesus von Nazareth als die geschichtliche Realisierung des Urbilds der Frömmigkeit ([34], § 93, T. 2, S. 34). In seiner Reformulierung der ZweiNaturen-Lehre ersetzt Schleiermacher den Begriff der göttlichen Natur in Christus durch den Gedanken, dass in Jesus von Nazareth das niedere Selbstbewusstsein durchgängig und konstant durch das höhere Selbstbewusstsein bestimmt sei. Durch die von ihm vorgenommene Umformulierung der Zwei-Naturen-Lehre durch den Leitbegriff der Frömmigkeit, deren Konstanz in dem historischen Individuum Jesus von Nazareth von Schleiermacher als „ein wahres Sein Gottes in ihm“ verstanden wird ([34], § 96. 3, T. 2, S. 57), löst er freilich die mit diesem traditionellen Lehrstück verbundenen Aporien nur scheinbar. Denn auch der Schleiermachersche Jesus ist von doketistischen Tendenzen nicht frei, insofern sich die Konstanz des Gottesbewusstseins in Jesus nur durch die Preisgabe seines Menschseins zur Geltung bringen lässt. Die Stärke von Schleiermachers Neubestimmung der Christologie auf dem Hintergrund der durch die Aufklärung geschaffenen Problemlage, nämlich die Idee des Christus mit dem historischen Individuum Jesus von Nazareth wieder vereinigt zu haben, ist zugleich der Schwachpunkt seiner Konzeption, der in der Folgezeit der Kritik unterzogen wurde. Die geschichtliche Unhaltbarkeit der von Schleiermacher behaupteten Realisierung des Urbilds der Frömmigkeit in dem historischen Individuum Jesus von Nazareth aufgewiesen zu haben, ist der Beitrag des epochalen Jugendwerks von David Friedrich Strauß (1809–1874) mit dem Titel Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, dessen erster Band 1835 erschien und seinen Verfasser über Nacht zum berühmtesten und zugleich angefeindetsten Theologen Deutschlands machte. Die biblischen Berichte über Jesus werden von ihm wie schon zuvor von Reimarus der historischen Kritik unterstellt, um zu untersuchen, „ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen“ ([220], Bd. 1, S. V). Das Resultat dieser kritischen Prüfung der Evangelien fällt bei Strauß ernüchternd aus. Die Geschichte Jesu, wie sie in den Evangelien dargestellt ist, ist durch und durch ein von der frühen Gemeinde geschaffener Mythos, dem jegliche geschichtliche Grundlage abgeht ([220], Bd. 1, S. 72). Mit seiner mythischen Betrachtung der evangelischen Geschichte knüpft Strauß an so unterschiedliche Theoriekonzeptionen seiner Zeit an wie die mythische Schule, die Theologie seines Lehrers Ferdinand Christian Baur sowie die Philosophie G. W. F. Hegels und versteht den Mythos als eine notwendige Form des religiösen Bewusstseins. Die neutestamentlichen Mythen werden von Strauß im Unterschied zum theologischen Rationalismus nicht mehr als eine absichtliche Einkleidung von historischen Begebenheiten verstanden, sondern „als geschichtartige Einkleidungen urchristlicher Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage“, bei denen

Strauß: Die evangelische Geschichte als Mythos

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II. Jesus der Christus

sich historischer Kern und phantastische Einkleidung nicht mehr trennen lassen ([220], Bd. 1, S. 75). Die von Schleiermacher vorgenommene Verbindung von Christus-Idee und historischem Individuum Jesus wird von der Straußschen Kritik der Evangelien aufgelöst. Zwar ist Strauß in seinem ersten Leben Jesu noch davon überzeugt, dass von der kritischen Auflösung der evangelischen Geschichte deren dogmatischer Wahrheitsgehalt unbetroffen bleibt, insofern er mit den Mitteln der spekulativen Philosophie Hegels gleichsam wie Phoenix aus der Asche wieder auferweckt werden kann. Aber die von ihm in der berühmten ,Schlussabhandlung‘ seines Lebens Jesu sowie in seiner Schrift Die christliche Glaubenslehre von 1840/41 vorgelegte Rekonstruktion des christologischen Dogmas, der zufolge es „gar nicht die Art [sei], wie die Idee sich realisirt, in Ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten, und gegen alle andern zu geizen, sondern in einer Manchfaltigkeit von Exemplaren, die sich gegenseitig ergänzen, im Wechsel sich setzender und wieder aufhebender Individuen, liebt sie ihren Reichthum auszubreiten“ ([220], Bd. 2, S. 734), führte die Aporien, die der überlieferten Christologie anhaften, unmissverständlich vor Augen. Denn gerade der von Strauß unternommene Versuch, die Schleiermachersche Christologie und ihre historisch nicht haltbare Identifizierung des Urbilds mit einem historischen Individuum spekulativ zu reformulieren, machte die Unmöglichkeit einer dogmatischen Theorie der Person Christi offenbar.

4. Die Suche nach dem historischen Jesus

Albert Schweitzers Analyse

Die christologische Debatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darf geradezu als der Versuch angesehen werden, die durch Strauß aufgeworfenen Fragen konstruktiv zu verarbeiten. Was zunächst die im 19. Jahrhundert zahlreich unternommenen Versuche betrifft, ein Leben Jesu hinter den biblischen Berichten zu rekonstruieren und dieses zur Grundlage einer modernegemäßen Theologie zu erheben, so hat Albert Schweitzer diesen Forschungen in seinem 1906 erschienenen Werk Von Reimarus bis Wrede ein beeindruckendes Denkmal gesetzt. Allerdings hat Schweitzer in seinem Werk auch gemeint, das Scheitern der Bemühungen um den historischen Jesus konstatieren zu müssen. Der von der protestantischen Theologie zu Tage geförderte historische Jesus sei, wie Schweitzer in der Schlussbetrachtung seines forschungsgeschichtlich bedeutsamen Werks schreibt, eine „Gestalt, die vom Rationalismus entworfen, vom Liberalismus belebt und von der modernen Theologie in ein geschichtliches Gewand gekleidet wurde“ ([219], Bd. 2, S. 620). Statt des historischen Jesus, so das kritische Resümee Schweitzers über die Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts, lasse jedes Leben Jesu mehr über ihren Verfasser und seine Zeit als über den Mann aus Nazareth erkennen. Schweitzer weiß auch den Grund anzugeben, warum die bisherige Leben-Jesu-Forschung nicht ans Ziel gelangt sei ([219], Bd. 1, S. 47). In der Jesusforschung überlagern sich zwei unterschiedliche Interessen, aus denen die Verzeichnung des historischen Jesus resultiert. Auf der einen Seite sei für die Jesusforschung das historische Interesse leitend. Dieses verbinde sich jedoch mit einem religiösen Gegenwartsinteresse, welches Schweitzer in der Befreiung Jesu von den altkirchlichen dogmatischen Fesseln ausmacht.

4. Suche nach dem historischen Jesus

Schweitzer kommt freilich nicht nur das Verdienst zu, das methodische Dilemma der bisherigen Jesusforschung klar herausgearbeitet, sondern auch einen konstruktiven Umgang mit diesem Dilemma unterbreitet zu haben. Dieser besteht in der methodischen Entkopplung von historischem und religiösem Gegenwartsinteresse. Damit entkoppelt Schweitzer die Religion von der historischen Forschung und verschiebt Jesus von Nazareth in eine für die Gegenwart fremd anmutende Welt, die von dem Gedanken eines eschatologisch hereinbrechenden Endes der Welt beherrscht ist. Freilich hat diese Fremdsetzung der historischen Gestalt Jesu auch bei Schweitzer vor allem die Funktion, seine religiöse Gegenwartsbedeutung herauszuarbeiten ([219], Bd. 2, S. 624). Dem von angeblich Schweitzer eingeläuteten Ende der Leben-Jesu-Forschung ungeachtet, skizziert Schweitzer selbst in der Schlussbetrachtung seines Meisterwerks ein eigenes, nun konsequent eschatologisch ausgerichtetes Leben Jesu, welches freilich in der einschlägigen Forschung auf hohe Skepsis stieß. Nichtsdestotrotz hat Schweitzers Einschätzung der Leben-Jesu-Forschung und ihres vermeintlichen Scheiterns in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts Schule gemacht. Die sich nach dem Ersten Weltkrieg etablierende Dialektische Theologie hat die Suche nach dem historischen Jesus als Grundlage der Theologie als einen fatalen Irrweg der Theologie des 19. Jahrhunderts eingestuft. Bereits vor Schweitzers forschungsgeschichtlicher Bilanz der Leben-Jesu-Forschung im 19. Jahrhundert hatte der Hallenser Theologe Martin Kähler (1835–1912) diese Forschung als Holzweg deklariert und im Interesse an einer Rehabilitierung der dogmatischen Christologie den biblischen Christus als den wahren geschichtlichen Christus auserkoren. Der „wirkliche Christus“, so Kähler in seiner einflussreichen Schrift Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus aus dem Jahre 1892, sei allein „der gepredigte Christus. Der gepredigte Christus ist eben der geglaubte“ ([208], S. 44). Nach dem Ersten Weltkrieg wird Schweitzers These von dem Ende der Leben-Jesu-Forschung von der Dialektischen Theologie aufgenommen und die dogmatische Christologie von der historischen Jesus-Forschung abgelöst. Unter Anspielung auf Kählers berühmten Vortrag erklärte Karl Barth 1923 in seinem offenen Brief an Adolf von Harnack in der Christlichen Welt, „daß wir Christus nach dem Fleische nicht mehr kennen“ ([195], S. 346 f.). Schweitzers methodische Differenzierung von Historie und Religion ist hier zur Diastase von Glaube und Historie geworden. Aber nicht nur die dogmatische Theologie löst nach dem Ersten Weltkrieg die Christologie von der historischen Forschung, sondern auch die Exegese. In seinem 1926 erschienenen Jesus-Buch resümiert der der Dialektischen Theologie verbundene Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann die forschungsgeschichtliche Lage bezüglich des historischen Jesus. Ebenso wie Karl Barth ist Bultmann der Meinung, „daß wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können“ ([198], S. 11) und dass dies der eigentlichen Aufgabe der Theologie auch nicht zum Schaden gereicht. Denn man könne „nicht hinter das Kerygma zurückgehen“, um aus ihm als Quelle einen historischen Jesus zu rekonstruieren ([199], S. 208). Die „Verkündigung Jesu gehört“, wie Bultmann in seinem Hauptwerk, der Theologie des Neuen Testaments unterstreicht, allein „zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht

Trennung von Christologie und historischer Forschung

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II. Jesus der Christus

Die Jesus-Diskussion der 1950er Jahre

Suche nach der authentischen Jesuanischen Überlieferung

ein Teil dieser selbst“ ([201], S. 1). Zum Grundbegriff der dogmatischen Christologie avanciert der Begriff des Kerygmas. Die Christologie wird nicht als Beschreibung eines historischen Objekts konzipiert, sondern als eine Selbstbeschreibung des Glaubens und seines Bilds von seiner Geschichte. Erst in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde in der deutschsprachigen theologischen Debatte die auch theologisch notwendige Rückfrage nach dem historischen Jesus wieder eingeschärft. Es waren die Schüler Rudolf Bultmanns, die sich gerade im Interesse an der von Bultmann vertretenen Kerygma-Theologie nicht mit der historischen Skepsis ihres Lehrers zufrieden geben wollten. Im Jahre 1953 veröffentlichte Ernst Käsemann einen Beitrag mit dem Titel Das Problem des historischen Jesus, in dem er die theologische Notwendigkeit der Rückfrage nach dem historischen Jesus begründete. Deren theologische Notwendigkeit sieht Käsemann darin, dass ohne eine Rückbindung des verkündigten kerygmatischen Christus an den irdischen, historischen Jesus der verkündigte zu einem Mythos werde ([209], S. 203). Der neuen Frage nach dem historischen Jesus, wie sie von Käsemann aufgeworfen und von anderen neutestamentlichen Vertretern seiner Generation aufgenommen wurde, geht es also nicht um eine Begründung des christlichen Glaubens durch die historische Jesusforschung, sondern um die Kontinuität zwischen dem vorösterlichen Jesus und dem nachösterlichen Christus ([209], S. 203). Die historische Jesusforschung, wie sie in der deutschsprachigen protestantischen Theologie in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzte, möchte die sachliche Identität zwischen dem kerygmatischen Christus und dem irdischen Jesus herausarbeiten. Diese wird von den Forschern nahezu ausschließlich an der Verkündigung Jesu festgemacht (vgl. [197]). Um aus den neutestamentlichen Quellen, die sich durchweg der späteren Gemeindebildung verdanken, möglichst authentisches Gut aus der Jesusüberlieferung erschließen zu können, hatte bereits Ernst Käsemann ein formales Kriterium vorgeschlagen. „Einigermaßen sicheren Boden“, so Käsemanns Beschreibung des die Jesusforschung leitenden Differenzkriteriums, „haben wir nur in einem einzigen Fall unter den Füßen, wenn nämlich Tradition aus irgendwelchen Gründen weder aus dem Judentum abgeleitet noch aus der Urchristenheit zugeschrieben werden kann, speziell dann, wenn die Judenchristenheit ihr überkommenes Gut als zu kühn gemildert oder umgebogen hat“ ([209], S. 205). In der neutestamentlichen Überlieferung hat man dem von Käsemann vorgeschlagenen Differenzkriterium zufolge dann eine authentische Jesus-Tradition vor Augen, wenn sich Überlieferungen weder auf das antike Judentum noch auf die frühchristliche Gemeinde zurückführen lassen. Das in den neutestamentlichen Evangelien verarbeitete Überlieferungsmaterial muss also nach zwei Seiten hin kritisch untersucht werden, nämlich einmal auf seine Parallelen mit dem zeitgenössischen Judentum und zum anderen mit dem frühchristlichen Gemeindegut. Nur solche Überlieferungen, die sich weder mit jüdischem noch mit frühchristlichem Traditionsgut decken, können als authentisches Jesusgut gelten. Allerdings ist sich auch Käsemann darüber im Klaren, dass das vom ihm vorgeschlagene Differenzkriterium keinen Aufschluss darüber gibt, „was Jesus mit seiner palästinischen Umwelt und seiner späteren Gemeinde verbunden hat“ ([209], S. 205). Für die Jesusforschung der protestantischen Theologen nach dem Zweiten

4. Suche nach dem historischen Jesus

Weltkrieg spielte das von Käsemann vorgeschlagene Differenzkriterium eine zentrale Rolle. Es erlaubte dieser Forschergeneration, authentisches Jesusgut aus der neutestamentlichen Überlieferung herauszufiltern. Allerdings sind auch die Grenzen dieses Differenzkriteriums nicht zu übersehen. Konsequent angewandt führt es nämlich zu einer Isolierung der Gestalt Jesu von seinem religiösen und soziokulturellen Umfeld. Ein auf diese Weise erschlossener Jesus wird jedoch ebenso geschichtlich unverständlich wie der Gottmensch der christologischen Lehrtradition oder Schleiermachers geschichtliche Realisierung des Urbilds der Frömmigkeit. Insofern wird man sagen können, dass sich in dem Differenzkriterium das dogmatische Interesse an der Einzigartigkeit Jesu von Nazareth seinen methodischen Ausdruck verschafft hat. Zwar wird der historische Jesus sowohl in Differenz zum zeitgenössischen Judentum als auch zur frühchristlichen Gemeinde gesetzt, aber dadurch soll gerade die sachliche Kontinuität zwischen Jesus und seiner nachösterlichen Deutung durch die frühchristlichen Gemeinden herausgearbeitet werden. Im Interesse an der dogmatischen Christologie wird die von Schweitzer an der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts kritisierte Verknüpfung von Historie und Religion wieder aufgenommen, jedoch im Unterschied zur älteren Diskussion nicht im Interesse einer Emanzipation von der Dogmatik, sondern geradezu umgekehrt, im Interesse ihrer Begründung. Der gegenüber dem von Käsemann etablierten Differenzkriterium erhobene Einwand, bei diesem handle es sich um „verkappte Dogmatik“ ([221], S. 199), ist deshalb auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Es verwundert daher kaum, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg in der protestantischen Theologie einsetzende Jesusforschung über den deutschsprachigen Raum nur wenig Beachtung fand und schon bald durch neue Forschungsperspektiven überholt wurde. So setzte in den USA seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine intensive, interdisziplinär betriebene Debatte um den historischen Jesus ein, die auf dem Hintergrund der bisherigen Forschungsgeschichte als „third quest“, als dritte Runde in der Debatte um den historischen Jesus erscheint. Der neueren Jesusforschung steht nicht nur durch die Funde von Qumran und Nag Hammadi, die inzwischen ausgewertet waren, eine erweiterte Quellenbasis zur Verfügung, sie verfeinerte auch das Methodeninventar und löste sich von den dogmatisch-theologischen Engführungen der deutschsprachigen Debatte der fünfziger Jahre. Für die Rekonstruktion des historischen Jesus werden nun nicht mehr nur die kanonischen Evangelien herangezogen, sondern auch apokryphe Evangelien, wie das sogenannte Thomas-Evangelium, dessen Quellenwert einige Forscher als relativ hoch einschätzen. Die interdisziplinäre Ausrichtung der neueren Jesusforschung führte wiederum dazu, dass das stark theologisch motivierte Differenzkriterium Käsemanns in seinem Stellenwert zurücktritt. Von nahezu allen Forschern wird Jesus von Nazareth jetzt auf dem Hintergrund des hochkomplexen antiken Judentums verstanden und in das Judentum eingeordnet. „Daß Jesus Jude war und im Rahmen des zeitgenössischen Judentums betrachtet werden muß“, so der Neutestamentler Peter Müller den Forschungskonsens zusammenfassend, „gehört heute zu den Grunderkenntnissen der Rückfrage nach Jesus“ ([215], S. 5). Versuchte die ältere Jesusforschung die Kontinuität zwischen Jesus und dem Urchristentum herauszuarbeiten, so wird in der gegenwärtigen Forschung stärker die Kontinui-

Breitere Quellengrundlagen

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II. Jesus der Christus

Jesus, der Jude

tät Jesu mit dem Judentum und seinen unterschiedlichen religiösen Strömungen betont. „Was wir beobachten können“, so resümiert Gerd Theißen, „ist eine Revitalisierung der Zeichensprache der jüdischen Religion. Mit anderen Worten, Jesus lebte, dachte, wirkte und starb als Jude“ ([222], S. 49). Jüdische Forscher, wie Geza Vermes, betonen mit der Kontinuität Jesu mit dem zeitgenössischen Judentum den Abstand und die Diskontinuität mit dem Urchristentum ([224], S. 252–275). Während die Jesusforschung des 19. Jahrhunderts den geschichtlichen Jesus von den Fesseln des altkirchlichen Dogmas befreien wollte, ging es der Debatte um den historischen Jesus in den fünfziger Jahren vor allem darum, das dogmatische Christusbild auf den historischen Jesus zurückzuführen. Die gegenwärtige Jesusforschung wiederum möchte den historischen Jesus von theologischen Interessen freihalten. Freilich sind auch die Jesusbilder der gegenwärtigen Forschung höchst unterschiedlich und lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. Konsens besteht lediglich in der Einordnung Jesu in das zeitgenössische Judentum. Aber auch vor diesem Hintergrund heben sich höchst unterschiedliche Darstellungen des Manns aus Nazareth ab. So versteht, um nur einige prominente Beispiele der gegenwärtigen Forschung zu nennen, Geza Vermes Jesus als einen jüdischen Charismatiker, der in Galiläa wirkte, und die „Übereignung der Person an Gott und seinen Willen“ als Weise der Realisierung der Herrschaft Gottes auf Erden verkündigte ([224], S. 245). Der eschatologische Grundzug der Verkündigung Jesu, der von Albert Schweitzer und an ihn anknüpfend von einem Großteil der deutschsprachigen theologischen Forschung als geradezu signifikant für den historischen Jesus herausgestellt wurde, tritt bei Vermes ebenso zurück wie bei John Dominic Crossan. Crossan rekonstruiert Jesus von Nazareth als einen jüdischen Kyniker, der den Ausstieg aus der antiken Gesellschaft erprobte ([202], S. 553). Andere Forscher heben wiederum die eschatologische Grundstimmung als signifikant für den historischen Jesus hervor. Ed Parish Sanders etwa meint, dass Jesus ein „,radikaler Eschatologe‘ gewesen“ sei, der einen „entscheidenden Eingriff Gottes“ erwartete, „durch den sich die Verhältnisse von Grund auf ändern werden“ ([217], S. 383). Diese höchst unterschiedlichen Bilder des historischen Jesus, die von der gegenwärtigen Forschung gezeichnet werden, sind freilich alle dem Grundproblem der historischen Forschung geschuldet. Dieses besteht darin, dass die Vorstellung eines objektiven Geschichtsverlaufs eine bloße Abstraktion darstellt. In die Rekonstruktion der Vergangenheit fließen immer schon gegenwärtige Interessen mit ein. Jedes Geschichtsbild und jede Rekonstruktion der historischen Gestalt Jesus von Nazareth ist immer eine Deutung. Darauf hatte freilich bereits Albert Schweitzer mit seiner Beobachtung hingewiesen, dass sich in der Jesusforschung historisches und religiöses Interesse überlagern.

5. Die Aufnahme der Jesusforschung in die dogmatische Christologie Glaube und Geschichte

Hinter dem Problem historischer Jesus und dogmatischer Christus steht das Problem von Glaube und Geschichte. Die Theologie ist mit dem Auseinan-

5. Aufnahme der Jesusforschung in die dogmatische Christologie

dertreten von historischer Forschung und Glaube, historischem Jesus und dogmatischem Christus erst seit der Aufklärung konfrontiert. Die protestantische Theologie des 20. Jahrhunderts hat diese Problemstellung zunächst so bearbeitet, dass das dogmatische Christusbild von der historischen Forschung abgelöst und als ein Bild des Glaubens von seiner eigenen Geschichtlichkeit verstanden wurde. Aus diesem Grund war der historische Jesus für Rudolf Bultmann oder Karl Barth ohne jegliche theologische Relevanz. Die in den 50er Jahren neu einsetzende Debatte über den historischen Jesus führte jedoch nach einer langen Phase historischer Abstinenz auch in der Systematischen Theologie zu einer neuen Aufmerksamkeit auf die historische Forschung. So erklärte Gerhard Ebeling 1959 in seinem Aufsatz Die Frage nach dem historischen Jesus und das Problem der Christologie, dass sich die dogmatische Christologie der historischen Forschung stellen müsse, da es ihr nicht gleichgültig sein könne, ob der christliche Glaube einen Anhalt an der historischen Gestalt Jesu von Nazareth habe oder nicht ([204], S. 302). Die Systematische Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die durch die neue Frage nach dem historischen Jesus aufgeworfenen Frage- und Problemstellungen aufgenommen. Wie bereits Käsemann gehen auch die systematischen Theologen in ihren christologischen Konzeptionen von der Problemstellung aus, dass das nachösterliche Kerygma „einen Anhalt“ ([207], S. 219) an dem historischen Jesus haben muss. Wolfhart Pannenberg betont in seiner Systematischen Theologie, dass für eine zugleich historische und systematische Theorie der christologischen Tradition die Annahme entscheidend sei, „daß die christologischen Bekenntnisaussagen des Urchristentums sich in ihrem wesentlichen Inhalt als Explikation des dem Auftreten und der Geschichte Jesu implizit eigenen Bedeutungsgehalt verstehen lassen“ ([57], Bd. 2, S. 321). Fast ausnahmslos alle systematischen Theologen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wollen wie ihre exegetischen Kollegen das nachösterliche ChristusKerygma sowie die dogmatische Christologie in dem Auftreten des historischen Jesus verankern. Hierzu gehen sie von dem nachösterlichen Gemeindekerygma aus und spiegeln dieses in das Leben des vorösterlichen Jesus zurück. Beantwortet werden soll, wenn nun auch mit anderen Mitteln und unter anderen Voraussetzungen, die von Rudolf Bultmann in seiner Theologie des Neuen Testaments formulierte Frage, wie und in welchem Sinne, aus dem „Verkündiger […] der Verkündigte geworden“ ([201], S. 85) sei. Bei der Beantwortung dieser von Bultmann gestellten Frage orientieren sich die systematischen Theologen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an dem Schema explizit-implizit. Das nachösterliche Christusbekenntnis, und zwar einschließlich des späteren christologischen Dogmas sei bereits implizit in dem Auftreten und der Verkündigung des historischen Jesus angelegt und werde lediglich von der nachösterlichen Gemeinde expliziert. Die Formel von einer in dem Verhalten des irdischen Jesus bereits implizit enthaltenen Christologie geht auf Rudolf Bultmann zurück ([200], S. 174). Diese Formel wird seit den 50er Jahren aufgenommen, aber in einer gegenüber Bultmann verschiedenen Weise gebraucht. Sie wird nun mit dem historischen Jesus verbunden, wie er von der Forschung rekonstruiert werden kann. Durch das Entwicklungsschema von einer impliziten zu einer expliziten Christologie soll also die sachliche Kontinuität zwischen dem histori-

Implizite und explizite Christologie

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II. Jesus der Christus

Systematische Theologie ohne Jesusforschung

schen Jesus und dem nachösterlichen Gemeindekerygma festgehalten und unterstrichen werden. Diese Grundüberzeugung der systematisch-theologischen Christologie, die sich in dem Schema implizite und explizite Christologie ihren methodischen Ausdruck verschafft hat, wird freilich von Theologen unterschiedlich ausgearbeitet. Auf der einen Seite argumentieren Theologen wie Gerhard Ebeling und Eberhard Jüngel, dass das historische Rückfragen nach dem historischen Jesus für den christlichen Glauben zwar eine „Voraussetzung (conditio sine qua non)“ darstellt, aber selbst „niemals der Grund dogmatischer Verantwortung theologischer Gegenstände sein“ ([207], S. 215) könne. Der christliche Glaube, so die nun in einem hermeneutischen Gewand auftretende Grundüberzeugung, lasse sich nicht durch die historische Forschung begründen. Wohl aber bedarf der christliche Glaube der geschichtlichen Einbindung, da der Bezug auf die geschichtliche Gestalt Jesus von Nazareth für ihn geradezu konstitutiv ist ([205], S. 207). Auf der anderen Seite kann das Entwicklungsschema von impliziter und expliziter Christologie auch so aufgenommen werden, dass der historischen Forschung ein wesentlich höherer Stellenwert eingeräumt wird, als dies in den hermeneutischen Durchführungen des Schemas der Fall ist. Auf der Grundlage seines universalgeschichtlichen Offenbarungsverständnisses kommt der historischen Forschung für Wolfhart Pannenberg geradezu eine Begründungsfunktion für den christlichen Glauben zu. Aus diesem Grund insistiert Pannenberg auf der Grundlage einer Verschränkung von unterschiedlichen Theoriemomenten für die Historizität der Auferstehung Jesu von den Toten ([57], Bd. 2, S. 232 f.). Durch den mit den Mitteln der historischen Forschung zu erbringenden Nachweis der Historizität und Faktizität der Auferstehung Jesu von den Toten möchte Pannenberg die Kontinuität zwischen dem irdischen Jesus und dem nachösterlichen Christus bis hin zu dem altkirchlichen Dogma in die Geschichte selbst verlagern. Auf diese Weise soll die christologische und trinitarische Dogmenbildung der alten Kirche als eine notwendige Konsequenz und Entwicklung des irdischen Auftretens Jesu und seiner Verkündigung der nahe herbeigekommenen Gottesherrschaft verstanden werden. Das Entwicklungsschema von impliziter und expliziter Christologie führt zu dogmatischen Verengungen, weil das dogmatische Christusbild in den vorösterlichen Jesus zurückgespiegelt wird. Nun ist es allerdings prinzipiell nicht zu vermeiden, dass sowohl die historische Forschung im Allgemeinen als auch die Jesusforschung im Besonderen von einem sei es bewussten oder unbewussten Gegenwartsinteresse getragen ist und damit unweigerlich projektive Elemente enthält. Eben dieser Zirkel findet ja in dem Schema seinen Ausdruck. Durch das Schema gelingt es zwar, das seit der Aufklärung auseinander getretene Verhältnis von Geschichte und Glauben, von historischer Forschung und dogmatischer Christologie wieder zur Deckung zu bringen, allerdings um einen hohen Preis. Einerseits wird die historische Forschung unter dogmatischen Prämissen geführt und andererseits werden die historischen Fragen in der Dogmatik durch Repristination des überlieferten christologischen Lehrschemas sistiert. Die Folge ist, dass die Pluralität der neutestamentlichen Jesusüberlieferung auf zentrale dogmatische Topoi reduziert sowie eine notwendige Entwicklung von dem historischen Jesus zu dem

5. Aufnahme der Jesusforschung in die dogmatische Christologie

nachösterlichen Christusbild und der Zwei-Naturen-Lehre der Kirche konstruiert wird. Die Komplexität und Kontingenz der geschichtlichen Entwicklung des Urchristentums und seiner Christusbilder wird programmatisch zugunsten dogmatischer Eindeutigkeit ausgeblendet.

6. Christologie als Darstellung der Geschichtlichkeit des Glaubens Der dargestellte Problemhorizont der dogmatischen Christologie lässt sich, wie die Überlegungen zu der christologischen Debatte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich gemacht haben, nicht dadurch bewältigen, dass man die dogmatische Christologie in das historische Jesusbild zurückprojiziert und auf diese Weise das überlieferte christologische Lehrschema mit Modifikationen fortführt. Das seit der Aufklärung virulente Problem von Glaube und Geschichte, welches zu dem Auseinandertreten von historischem Jesus und dogmatischem Christus geführt hatte, würde so gerade keiner Lösung zugeführt, sondern lediglich verschleiert. Bezieht man die historische Jesusforschung in die dogmatische Entfaltung der Christologie ein, führt dies auch zu einer Neugestaltung des Aufbaus der dogmatischen Christologie. Diese kann dann nicht mehr in der für den Protestantismus klassischen Abfolge von Personchristologie, Ämter- und Stände-Lehre durchgeführt werden. Eine Neugestaltung der überlieferten Christologie ist aber auch noch aus anderem Grunde notwendig. Die Theologie des Protestantismus hatte seit ihren Anfängen Reserven gegenüber der altkirchlichen Christologie. Dies zeigte sich bereits bei Luther, auch wenn er formell an der überlieferten Zwei-Naturen-Christologie festgehalten hatte. Die Theologie der Aufklärung hatte dann die überlieferte Zwei-Naturen-Lehre einer radikalen Kritik unterzogen und diese durch das Verhältnis von Offenbarung und Geschichte ersetzt. Gleichwohl hat die protestantische Theologie von Schleiermacher bis in die Gegenwart aller Kritik an der Zwei-Naturen-Lehre ungeachtet in modifizierter Weise an ihr festgehalten. Nun zeigte die von David Friedrich Strauß in seiner Kritik an Schleiermachers Christologie vorgenommene spekulative Reformulierung der Zwei-Naturen-Christologie auf geradezu paradigmatische Weise die Aporien einer dogmatischen Theorie der Person Jesu Christi auf. Die Gründe dieser Aporie dürften freilich grundsätzlicherer Natur sein. Im Lichte der Goetheschen Formel ,Individuum es ineffabile‘ erscheint die dogmatische Personchristologie als ein Versuch, das einzulösen, „was generell sich als unmöglich zeigt, im speziellen Fall des Gott-Menschen möglich sein soll, nämlich die prädikative Konstruktion der Einheit, Identität und Individualität eines konkreten Menschen“ ([196], S. 276 f.). Damit kristallisieren sich zwei Problemanforderungen für die dogmatische Christologie heraus. Zum einen hat sie die Resultate der neueren Jesusforschung zu berücksichtigen und damit das Problem von Glaube und Geschichte auf eine angemessenere Weise zu bearbeiten, als es in der bisherigen christologischen Debatte der Fall war. Im Resultat läuft dies auf eine Ersetzung des die bisherige Debatte dominierenden Entwicklungsschemas von impliziter und expliziter Christologie hinaus. Und zum anderen hat die

Die Aporien der Personchristologie

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II. Jesus der Christus

Vielschichtigkeit der Person Jesu

systematisch-theologische Christologie den Aporien der Zwei-Naturen-Lehre konstruktiv durch eine Umformung der überlieferten christologischen Lehrtradition Rechnung zu tragen. Was zunächst die Aufnahme der neueren Jesusforschung in die Gestaltung der systematisch-theologischen Christologie betrifft, so ist bei der von der Forschung vielfach unterstrichenen Einsicht einzusetzen, dass uns die Gestalt Jesus von Nazareth nur in den vielfältigen Brechungen und Deutungen durch seine ersten Anhänger zugänglich ist. Im Neuen Testament finden sich höchst unterschiedliche und widersprechende Deutungen der Gestalt Jesu, die sich gerade nicht auf eine dominante Sicht reduzieren lassen. Die die christologische Diskussion sowohl in der exegetischen Forschung als auch in der Systematischen Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrschende „These von einer eindeutigen, einstimmigen persona Christi im Neuen Testament“ ist durch die Annahme „einer pluralistischen Traditionsgeschichte“ ([210], S. 36 u. 60) zu ersetzen. Der von der neueren exegetischen Forschung herausgearbeitete Befund einer pluralistischen Wahrnehmung und Überlieferung der Jesustraditionen, die sich nicht zuletzt in den höchst unterschiedlichen Jesusdarstellungen widerspiegelt, muss systematisches Gewicht erhalten. Dann zeigt sich jedoch, dass das Entwicklungsschema von impliziter und expliziter Christologie ungeeignet ist, das Verhältnis zwischen dem irdischen Jesus und dem nachösterlichen Christusglauben der frühchristlichen Gemeinde zu beschreiben. Die hochkomplexen Traditions- und Rezeptionsgeschichten der Gestalt Jesu, wie sie sich im Neuen Testament niedergeschlagen haben, lassen sich nicht mehr auf ein maßgebliches Jesusbild hinter diesen Rezeptionsprozessen zurückführen. Der historischen Jesusforschung kommt auf diese Weise eine Korrekturfunktion an der systematisch-theologischen Christologie zu. Ihre Einbeziehung in die systematisch-theologische Christologie verhindert vorschnelle Eindeutigkeitskonstruktionen der Christologie. Die Komplexität der Jesusüberlieferungen kann freilich nur dann von der systematischen Christologie ohne Reduzierungen aufgenommen werden, wenn sie das Schema impliziteexplizite Christologie durch ein solches deutungstheoretisches Modell ersetzt, welches die vielschichtigen Deutungen der Gestalt Jesu nicht unterläuft. Durch die Ersetzung des in der bisherigen Debatte favorisierten Entwicklungsschemas durch ein deutungstheoretisches Modell vermag die systematisch-theologische Christologie die moderne geschichtsmethodologische Diskussion in einem konstruktiven Sinne aufzunehmen. Geschichte ist nämlich, wie die Debatten um den Geschichtsbegriff seit Leopold von Ranke (1795–1886), Johann Gustav Droysen (1808–1884), Max Weber (1864– 1920) und Ernst Troeltsch (1865–1923) herausgestellt haben, kein objektiver Prozess, sondern immer deutende Erzählung, durch die Geschichte allererst konstituiert wird. „Erst diese Deutung der Überreste und Quellen sowie ihre Einordnung in einen vom Historiker entworfenen Zusammenhang“, so der Neutestamentler Jens Schröter die gegenwärtige geschichtsmethodologische Diskussion zusammenfassend, „verleiht den Überresten der Vergangenheit Bedeutung für die Gegenwart“ ([218], S. 203). Geschichte ist immer eine sinnstiftende Konstruktion, die von der Gegenwart ihren Ausgang nimmt und in diesem Lichte vergangene Ereignisse deutet. Ohne die Deutung und kon-

6. Christologie als Darstellung der Geschichtlichkeit des Glaubens

struktive Aneignung des Vergangenen gibt es keine Geschichte. Erst durch sinnstiftendes Erzählen werden bloße Vorgänge zu „Ereignissen von geschichtlicher Bedeutung erhoben“ ([59], Bd. 3, S. 345). Faktum und Deutung liegen in jedem Geschichtsbild untrennbar ineinander. Geschichte wird also erst durch einen sinnstiftenden Akt konstituiert. Allerdings stehen diese die Geschichte konstituierenden Deutungen selbst bereits in der Geschichte und sind durch diese bedingt. Die von Wolfhart Pannenberg geltend gemachte Einsicht in den überlieferungsgeschichtlichen Prozess, in dem jede Deutung von Vergangenem bereits steht, besitzt auch unabhängig von der von ihm selbst in seinem Geschichtsverständnis vorgenommenen Engführung ihre unumschränkte Bedeutung für ein angemessenes Verständnis von Geschichte und der Gestalt Jesu. Denn sie besagt ja, dass die die Geschichte konstituierende Deutung nicht willkürlich, sondern selbst bereits in eine Geschichte eingebunden ist. Die Aufgabe einer systematischen Christologie, welche sich in einer konstruktiven Weise auf die neutestamentliche Erforschung der Gestalt Jesus von Nazareth und der Entstehung des Christentums beziehen möchte, besteht also zunächst darin, dieses Ineinander von Faktum und Deutung in jedem Geschichtsbild aufzunehmen. Das Thema der Christologie ist der Zirkel von Deutung der Geschichte und geschichtlicher Einbindung dieser Deutung. Denn als Darstellung des Glaubens und seines geschichtlichen Bestimmtseins ist die Christologie selbst schon eine begriffliche Selbstbeschreibung der geschichtlichen Durchsichtigkeit des Selbst. In der Christologie klärt sich das Deuten der Geschichte über die im Akt des Deutens schon in Anspruch genommenen geschichtlich kontingenten Bestandteile sowie über die Notwendigkeit auf, dass Geschichte nur durch einen sinnstiftenden deutenden Akt zur Geschichte wird. Sodann ist der Glaube in seinem reformatorischen Verständnis die individuelle Aneignung der Wahrheit. Die individuelle Aneignung ist jedoch selbst ein Bestandteil der Wahrheit des Glaubens. Die Glaubensinhalte entstehen in dem Geschehen des Glaubens als dessen Selbstbeschreibung. Diese individualitäts- und geschichtsbezogene Dimension des Glaubens kommt in der Christologie zur Darstellung. Die Wahrheit des Glaubens liegt in dem unableitbaren Geschehen geschichtlichen SichVerstehens des Menschen. Im Christusbild repräsentiert der Glaube sein eigenes Eingebundensein in der Geschichte sowie die unumgängliche Notwendigkeit des individuellen Glaubensvollzugs. Die dogmatische Christologie ist keine Beschreibung einer historischen Gestalt, sondern die Selbstbeschreibung des Glaubens als einem individuellen geschichtlichen Geschehen. Das Bild Christi ist ein reflexiver Ausdruck des Glaubens, in dem dieser als das Geschehen des Sich-Verstehens sich selbst darstellt. Diese Funktionalität der Christologie für die Selbstbeschreibung des Geschehens des Glaubens kommt am adäquatesten zum Ausdruck in der von Martin Luther ausgearbeiteten theologia crucis. Sie beschreibt, wie oben dargestellt wurde, die antinomische Struktur des Geschehens des Glaubens. Im Ausgang von der theologia crucis ist die überkommene Lehrform der dogmatischen Christologie zu reformulieren. Allein auf diese Weise kann dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Thema der Christologie die Selbstdarstellung des Glaubens in seinem geschichtlichen Eingebundensein ist.

Dogmatische Christologie: Selbstbeschreibung des Glaubens als geschichtliches Geschehen

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II. Jesus der Christus

III. Der Heilige Geist und das Verständnis der Kirche Die theologische Dogmatik beschreibt das Geschehen des Glaubens in seiner inneren Struktur und seinen Aufbauelementen. Die inhaltlichen Bestimmungen des Glaubens dienen der Beschreibung des mit dem Geschehen des Glaubens verbundenen Sich-Verstehens des Menschen in seiner endlichen Unbedingtheit und Geschichtlichkeit. Sie haben eine Funktion für den Glauben, insofern sie die symbolischen Formen darstellen, in denen sich der Glaube als das Geschehen des Sich-Verstehens selbst beschreibt und darstellt. Religiöser Glaube ist eine elementare Weise der Endlichkeitsreflexion und der Aufklärung des Menschen über die bleibende Unverfügbarkeit der Sinnbedingungen seines Handelns. Mit dem Gottesbegriff beschreibt der Glaube sich selbst als das Geschehen seines Zustandekommens und im Christusbild repräsentiert der Glaube die bleibende Notwendigkeit, dass er sich selbst nur in einem selbst geschaffenen Bild seiner selbst über sich selbst aufklären kann. Das Geschehen des Glaubens ist unableitbar. Die theologische Lehrtradition hat die Unableitbarkeit menschlichen Sich-Verstehens sowie dessen geschichtliche Einbindung unter dem Titel des Heiligen Geistes zusammengefasst. Dogmatik ist so gesehen nichts anderes als eine begriffliche Beschreibung dieses Geschehens menschlichen Sich-Verstehens. Mit dem Heiligen Geist nimmt das Glaubensbekenntnis die Dimension des Beteiligtseins des Menschen in dem Geschehen des Glaubens in die religiöse Selbstbeschreibung des Glaubens mit auf. Dabei repräsentiert das Glaubensbekenntnis mit dem Heiligen Geist die Unableitbarkeit und Kontingenz der Entstehung des eigenen Glaubens. Diesen Aspekt hatte Martin Luther in seiner Erörterung des dritten Artikels des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus in den Vordergrund gehoben. „Ich gläube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinen Herrn gläuben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelion berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten“ ([1], S. 511 f.). Mit dem Heiligen Geist wird das Entstehen des Glaubens am Ort des Individuums zum Thema der Selbstbeschreibung des Glaubens im Glaubensbekenntnis. Der Glaube als das Geschehen des SichVerständlich-Werdens des Menschen ist zwar unabdingbar an die menschliche Selbstauslegung gebunden, aber dass sich menschliches Sich-Verstehen einstellt, ist unableitbar. Diese eigentümliche Struktur des Zusammenhangs von menschlicher Selbstauslegung und kontingenter Selbsterfassung, wie sie im Glaubensbekenntnis mit dem Heiligen Geist zum Thema der religiösen Selbstbeschreibung gemacht wird, soll im Folgenden im Ausgang von Überlegungen Luthers und unter Einbeziehung der neuzeitlichen Problemgeschichte exemplarisch an dem evangelischen Kirchenverständnis erörtert werden. Wir greifen damit einen zentralen Aspekt der Themen auf, die im dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses erörtert werden. Die Ekklesiologie (= Lehre von der Kirche) bietet sich aus zwei Gründen für eine exemplarische Darstellung der Pneumatologie (= Lehre vom Heiligen Geist) an. Zunächst kommt, wie an Luthers Erläuterung des dritten Artikels sichtbar wurde, der Zusammenhang

6. Christologie als Darstellung der Geschichtlichkeit des Glaubens

und Unterschied von der aus dem menschlichen Handeln unableitbaren inneren subjektiven Gewissheit und der äußeren Verkündigung des Evangeliums in dem evangelischen Kirchenverständnis prägnant zur Darstellung. Zum anderen darf gerade aufgrund dieser Zuordnung von innerer, subjektiver Gewissheit und äußerer Organisationsform das evangelische Kirchenverständnis als von Anfang an umstritten gelten.

1. Das Kirchenverständnis Martin Luthers In den Schmalkaldischen Artikeln von 1537 schreibt Luther auf der Grundlage seines neuen Verständnisses der Kirche, „es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und ,die Schäflin, die ihres Hirten Stimme hören‘ [Joh 10,3], denn also beten die Kinder: ,ich gläube eine heilige christliche Kirche.‘ Diese Heiligkeit stehet […] im Wort Gottes und rechtem Glauben“ ([1], S. 459 f.). Die Kirche, so Luthers grundlegende Bestimmung, sind die heiligen Gläubigen, die das Wort Gottes hören und glauben. Luthers Neubestimmung des Kirchenbegriffs resultiert aus seinem neuen Verständnis des Glaubens als einem Handeln Gottes im Menschen durch den Heiligen Geist. Gegenüber dem überlieferten mittelalterlichen Kirchenverständnis liegt mit der Fokussierung auf den Glauben eine völlige Neubildung des Kirchengedankens vor. Für den römischen Katholizismus ist die Kirche gleichsam die Verlängerung der Menschwerdung Gottes in der Geschichte. Dadurch fällt die wahre Kirche geradezu mit der empirisch-institutionellen Kirche zusammen. Im Unterschied zu diesem sakramentalen Verständnis der Kirche als einer Heilsinstitution nimmt Luther eine Differenzierung im Kirchengedanken vor. Aufgrund dieser Differenzierung fällt die wahre Kirche, nämlich die Gemeinschaft der Glaubenden, nicht mehr mit der empirisch-institutionellen Kirche zusammen. Der empirischinstitutionellen Gestalt der Kirche kommt lediglich eine Funktion zu, aus der sie ihre Legitimität bezieht. Diese besteht darin, dass sie die Aufgabe hat, das Evangelium zu verkündigen und die Sakramente zu verwalten. Gemeinschaft der Glaubenden und institutionell organisierte Verkündigung des Evangeliums, mit diesen Stichworten ist die Spannung namhaft gemacht, die mit Luthers Neubildung des Kirchengedankens verbunden ist.

a) Die Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche Die angedeutete Spannung zwischen der Evangeliumsverkündigung und der Gemeinschaft der Gläubigen ist aufgenommen in Luthers Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche, die bereits in Luthers erster Vorlesung über die Psalmen (1513–15) begegnet. Sie liegt in der Konsequenz von Luthers reformatorischem Verständnis des Glaubens. In seiner frühen Schrift Von beider Gestalt des Sakraments zu nehmen schreibt Luther, sein neu errungenes Glaubensverständnis zusammenfassend: „Yhr solt euch nicht meyster heysen auff erden / denn eyner ist ewer meyster / Christus / der meyster leret ym hertze / doch durch das eußerliche wort seyner prediger / die es in die oren treyben / aber Christus treybts in das hertz“ ([23], Bd. 2, S. 321). Die Verkündigung, so Luther, ist eine unumgängliche Bedingung für die Ent-

Glauben als Handeln Gottes im Menschen durch den Heiligen Geist

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III. Der Heilige Geist und das Verständnis der Kirche

Handeln Gottes und Handeln des Menschen

stehung des Glaubens des Einzelnen, aber aus der Verkündigung resultiert noch nicht der Glauben. Damit sind die Aufbauelemente von Luthers Kirchenverständnis prägnant zusammengefasst. Die Prediger treiben das Wort in die Ohren der Hörer. Damit aus dem in die Ohren getriebenen Wort Gottes der eigene Glaube entsteht, muss es Christus ins Herz des Menschen treiben. Wie sind diese Aufbauelemente nun in Luthers Unterscheidung und Zuordnung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche aufgenommen? In seinem 1519 veröffentlichten Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften kommt Luther auf die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche im Kontext von Ausführungen zum Sakramentsverständnis zu sprechen. Er schreibt hier, sein auf seinem neuen Glaubensverständnis fußendes neues Sakramentsverständnis zusammenfassend: „Deswegen ist es auch nützlich und nötig, daß die Liebe und Gemeinschaft Christi und aller Heiligen verborgen, unsichtbar und geistlich geschehe und uns nur ein leibliches, sichtbares, äußerliches Zeichen derselben gegeben werde. Denn wenn diese Liebe, Gemeinschaft und Beistand öffentlich wäre, wie der Menschen zeitliche Gemeinschaft, so würden wir dadurch weder gestärkt noch geübt, auf die unsichtbaren und ewigen Güter zu vertrauen oder sie zu begehren“ ([26], Bd. 2, S. 69). Luther unterscheidet zwischen der Liebe und Gemeinschaft Christi und aller Heiligen, welche, wie es in der zitierten Stelle heißt, verborgen, unsichtbar und geistlich sei, und einem leiblichen, sichtbaren und äußeren Zeichen. Diese Unterscheidung steht nun, was ihre Genese betrifft, in einem engen Zusammenhang mit der Herausbildung seines neuen Verständnisses des Glaubens als einem inneren Geschehen, das Gott im Gewissen des Menschen ohne seine Beteiligung hervorbringt. Die Grundunterscheidung, welche Luther in die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche aufgenommen hat, ist die zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln des Menschen. Diese Unterscheidung stand bereits im Zentrum von Luthers theologia crucis. Sie bildet auch das methodische Fundament von Luthers Kirchenverständnis. Der Glaube ist nämlich für Luther jederzeit etwas Inneres. Der Mensch ist jedoch in diesem Leben für Luther nie nur Gewissen, sondern immer auch äußerer Mensch. Er lebt in Sozialzusammenhängen, zunächst in seinem Leib und sodann mit seinen Mitmenschen. Nun ist im Glauben der innere Mensch gut und er lebt im Verborgenen. Der Glaubende ist aber immer auch äußerer Mensch, der in einem Leib lebt. Die Innendimension des Glaubens ist in dem äußerlichen, fleischlichen Menschen verborgen und nicht sichtbar. Der Glaube, so Luthers zusammenfassende Formulierung seiner theologia crucis, bezieht sich nicht auf die „sichtbaren Dinge“ ([25], Bd. 1, S. 287), sondern auf das Unsichtbare und Verborgene. Die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer bzw. verborgener Kirche reformuliert auf der Ebene der Gemeinschaft der Glaubenden das aus der theologia crucis resultierende Verhältnis von innerem und äußerem Menschen und entschränkt es zu einer universalen Gemeinschaft ([231], S. 297 f.). Auch die Verknüpfung, welche Luther zwischen den beiden unterschiedenen Aspekten seines Kirchenbegriffs vorgenommen hat, ergibt sich aus der Grundstruktur seiner theologia crucis. Das Handeln Gottes ist der theologia crucis zufolge zwar verborgen, was aber nicht heißen soll, gänzlich entzogen. Verborgen ist es „unter dem gegenteiligen Gegenstand, der

1. Das Kirchenverständnis Luthers

gegenteiligen Sinneswahrnehmung und Erfahrung“ ([25], Bd. 1, S. 287). Sichtbar ist lediglich, wie es in dem Abendmahlssermon von 1519 hieß, das leibliche, äußerliche Zeichen. Ebenso ist im Hinblick auf die Kirche allein die äußere Gemeinschaft der Glaubenden sichtbar. Sichtbare und verborgene Kirche, Innen- und Außendimension lassen sich Luther zufolge nicht trennen, wiewohl sie auch nicht zusammenfallen und zu unterscheiden sind. Von dem äußeren Menschen kann nicht auf dessen Inneres geschlossen werden. Allein Gott, der in das Herz des Menschen blickt, kennt die wahren Glaubenden. Ebenso ist auch die verborgene Kirche in dieser Welt immer an die sichtbare gebunden, ohne mit dieser zusammenzufallen. Mit diesen Zuordnungen ist freilich Luthers Kirchenverständnis noch nicht vollständig erläutert. Es muss noch ein grundlegender Aspekt aus dessen Schriftverständnis einbezogen werden. Erst dann lässt sich der Gehalt der von Luther in seinem Kirchenverständnis vorgenommenen Unterscheidung in seiner ganzen Tragweite erfassen. Grundlegend für Luthers Schriftverständnis war die Unterscheidung einer inneren und einer äußeren Klarheit der Schrift. Während die äußere Klarheit der Schrift sich auf die im Wortsinn der Bibel ausdrückende Sachevidenz bezieht, ordnet Luther die innere Klarheit der Schrift der Herzenserkenntnis zu und verbindet sie mit der Heilsgewissheit. Beide Formen der Klarheit der Schrift sind nun von Luther so aufeinander bezogen, dass der Heilige Geist in seinem Gewissheit schaffenden Handeln stets an das äußere Wort als Vehikel gebunden ist. Diese Unterscheidung geht nun derart in Luthers Kirchenverständnis ein, dass die beiden Klarheiten den von Luther unterschiedenen Aspekten des Kirchenbegriffs zugeordnet werden. „Doppelt“, so Luthers Formulierung in De servo arbitrio von 1525, „ist die Klarheit der Schrift“, nämlich eine „äußerlich im Amt des Wortes gesetzt, die andere in der Kenntnis des Herzens gelegen“ ([22], Bd 18, S. 609 = [25], Bd. 1, S. 239). Die äußere Klarheit der Schrift wird von Luther dem Predigtamt zugeordnet und die innere Klarheit der Herzenserkenntnis. Vermöge dieser Zuordnung unterscheiden sich nun die Geltungsbereiche der beiden Klarheiten der Schrift auf eine signifikante Weise. Die dem Predigtamt zugeordnete äußere Klarheit der Schrift ist öffentlich. Sie betrifft die Prediger, die das Wort Gottes in die Ohren treiben. Die innere Klarheit der Schrift hingegen betrifft den einzelnen Christen und sie ist im Unterschied zur äußeren Klarheit der Schrift gerade nicht öffentlich. Die Herzenserkenntnis, die daraus resultiert, dass Christus das von den Predigern ins Ohr getriebene Wort in das Herz treibt, ist zwar an die öffentliche Verkündigung gebunden, so dass sie für die Entstehung der Herzensgewissheit notwendig ist. Die öffentliche Verkündigung ist jedoch noch nicht hinreichend, da die Herzenserkenntnis durch ein eigenes Wirken des Heiligen Geistes im Inneren des Menschen zustande kommt. Er treibt Christus ins Herz des Menschen und lässt in ihm das Bild Christi entstehen. Die beiden Klarheiten der Schrift sowie deren Zuordnungen zum öffentlichen Predigtamt auf der einen und der innerlichen Herzensgewissheit des einzelnen Christen auf der anderen Seite repräsentieren nun genau die beiden von Luther in seinem Kirchenverständnis unterschiedenen Dimensionen aus der Perspektive seines Schriftverständnisses. Die öffentliche Verkündigung ist die Aufgabe der sichtbaren Kirche und die innere Herzenserkenntnis entspricht der verborgenen Kirche

Untrennbarkeit und Differenz von sichtbarer und verborgener Kirche

Innere Klarheit und äußere Klarheit

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III. Der Heilige Geist und das Verständnis der Kirche

als der Gemeinschaft der Glaubenden. Damit ist für Luther die sichtbare Kirche dort, wo das Wort Gottes verkündigt wird, und die verborgene Kirche umfasst diejenigen, bei denen das Wort Gottes durch das innere Wirken des Heiligen Geistes den Glauben hervorbringt. Diese Gemeinschaft der Glaubenden ist die allein wahre Kirche, aber sie ist auf das in der sichtbaren Kirche öffentlich verkündigte Wort Gottes bezogen, ohne jedoch mit dieser identisch zu sein.

b) Die Merkmale der Kirche

Institutionenkritik

Gemeindebegriff

Luther hat in seinen Schriften das Wort Kirche im Unterscheid zur Heiligen Schrift, der Klarheit zukommt, ein blindes, „undeutliches“ ([26], Bd. 5, S. 182) Wort genannt. Dass das Wort Kirche undeutlich ist, hat für den Reformator seinen Grund vor allem darin, dass es die innere Konstitution der Kirche durch das Handeln Gottes und damit die geistliche Dimension des Glaubens zum Verschwinden bringt. In dem Wort Kirche wird mit anderen Worten die Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche eingezogen. Dies hatte Luther bereits in seiner frühen Schrift Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig aus dem Jahre 1520 geltend gemacht ([26], Bd. 3, S. 24 f.). Das Wort Kirche bezieht sich für Luther viel zu sehr auf die äußerliche Dimension der Institution und ihrer Ordnungen und lässt die Dimension des Glaubens und damit die wahre Kirche, nämlich die Gemeinschaft der Glaubenden, vollständig zurücktreten. Aus diesem Grund erscheint Luther der Begriff Kirche völlig ungeeignet, das wahre Wesen der inneren Gemeinschaft der Gläubigen zum Ausdruck zu bringen. Er hat denn auch das Wort Gemeinde statt des undeutlichen Worts Kirche bevorzugt. Die Gemeinde ist die Versammlung derer, die das Wort Gottes hören und die eine communio sanctorum (= Gemeinschaft der Heiligen) bilden. Luther versteht diese communio sanctorum nicht im altkirchlichen Sinne als Gemeinschaft am Heiligen, sondern als eine Art Gütergemeinschaft der Gläubigen entsprechend dem Leitgedanken der Nächstenliebe ([225], S. 255). Die Pointe von Luthers Verständnis der Gemeinde liegt nun freilich nicht schon darin, dass er dadurch das Wort der Kirche ersetzt. Durch seine Begriffsbildung nimmt Luther auf der einen Seite die Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche auf, in dem sich die Gemeinschaft der Gläubigen auf die verborgene Kirche bezieht, und auf der anderen Seite wird in Konsequenz der genannten Unterscheidung jegliche Hierarchie aus dem Kirchenverständnis ausgeschlossen. Luther hatte diesen Gedanken schon in der ersten Psalmenvorlesung sich erarbeitet, aber erst im Zuge der 1517 einsetzenden Ablassstreitigkeiten die Konsequenzen auf die römische Kirche gezogen. Bereits in den Ablassthesen von 1517 ist sich Luther völlig darüber im Klaren, dass mit dem Evangelium keinerlei Hierarchie oder Herrschergewalt verbunden sein kann ([231], S. 211). Auch der Papst, so Luther in den Ablassthesen, habe keine besonderen Vollmachten und könne lediglich die von Gott bereits gewährte Sündenvergebung aussprechen ([26], Bd. 1, S. 28). Wenn sich aus dem Evangelium weder eine Hierarchie als göttliche Ordnung noch irgendwelche richterliche Gewalt ableiten lasse, dann kann der

1. Das Kirchenverständnis Luthers

Papst auch nicht das Oberhaupt der Kirche sein. Die „wahrhaftige Christenheit“, so Luther in seiner bereits genannten Schrift Von dem Papsttum zu Rom, habe „kein Haupt auf Erden“, das sie regiert, sondern „allein Christus im Himmel“ ([26], Bd. 3, S. 27). Dieser regiert allerdings nicht mit äußerlicher Gewalt, sondern im Herzen der Gläubigen. Mit der von Luther vorgenommenen Enthierarchisierung des Kirchenverständnisses ist nun der weitere Gedanke des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen verbunden. Wenn sich nämlich aus dem Evangelium weder eine Hierarchie noch eine sonstige Ordnung ableiten lässt, dann kann es auch keinerlei sakramentalen Unterschied zwischen Priestern und Laien geben. Angedeutet ist dieser Gedanke bereits in Luthers erster Psalmenvorlesung von 1513 bis 1515, die klarste Formulierung findet sich, nachdem der Konflikt mit Rom sich seit 1517 zunehmend verschärft hatte, in Luthers wirkungsmächtigster reformatorischen Programmschrift aus dem Jahre 1520 mit dem Titel An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung. „Alle Christen“, so Luther in der genannten Schrift, „sind wahrhaftig geistlichen Standes, und es ist zwischen ihnen kein Unterschied allein des Amts halber“. Und ein wenig später folgen dann die bekannten Sätze, „was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, daß es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht ist“ ([26], Bd. 1, S. 155 u. 156 f.). Der Priester hat ein Amt in der Gemeinde inne und dieses Amt unterscheidet den Priester von den Laien nicht durch eine unverlierbare sakramentale Weihe, einen character indelebiles (= unzerstörbare Eigenschaft) wie in der römisch-katholischen Kirche, sondern der Unterschied ist rein funktional. Der Priester ist nur durch seine Funktion der Verkündigung des Worts Gottes Priester. Die Notwendigkeit eines Amts in der Gemeinde ergibt sich für Luther allein aus dem Umstand, dass die Verkündigung geordnet geschehen muss, wenn das Wort Gottes sein Ziel erreichen soll. Es sind zwar „alle gleichermaßen Priester“, aber es soll „sich niemand selbst hervortun und sich unterwinden, ohne unsere Einwilligung und Wahl das zu tun, wozu wir alle die gleiche Vollmacht haben“ ([26], Bd. 1, S. 156 f.). Deshalb sollen nicht alle zugleich reden, sondern die Gemeinde soll sich Priester wählen, die dann stellvertretend für die Gemeinde die Funktion der Verkündigung übernehmen. In sein Verständnis der Kirche als Gemeinde hat Luther die von ihm geprägte Unterscheidung von sichtbarer empirischer Kirche und verborgener Kirche derart aufgenommen, dass die Gemeinde die Gemeinschaft derer ist, welche das Wort Gottes hören. Auf dieser Grundlage erfährt nun auch die überlieferte Lehre von den Merkmalen der Kirche (notae ecclesiae), durch die die wahre von der falschen Kirche sich unterscheidet, eine Umprägung. Denn aufgrund der Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche fällt die Gemeinschaft der Glaubenden nicht mehr mit der empirisch sichtbaren Kirche zusammen. Die Lehre von den notae ecclesiae hatte Augustin in seiner Auseinandersetzung mit dem Donatismus entwickelt und dabei vier Kennzeichen unterschieden, an denen man die wahre Kirche erkennt. Diese sind (1.) Einheit (unitas), (2.) Heiligkeit (sanctitas), (3.) Katholizität (catholicitas) und (4.) Apostolizität (apostolicitas). Die mittelalterliche Kirche hat diese vier Merkmale der wahren Kirche übernommen. Auch Luther knüpft an sie an, gibt diesen jedoch auf dem Hintergrund seiner Neubestimmung des Kir-

Glaube und Kirche

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III. Der Heilige Geist und das Verständnis der Kirche

Kennzeichen der Kirche

chenverständnisses eine neue Deutung. Infolge der von ihm vorgenommenen Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche können nämlich die von Augustin aufgeführten Kennzeichen der Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität nicht mehr auf die sichtbare Kirche angewandt werden, sondern nur noch auf die verborgene Kirche. Die wahre Kirche ist die verborgene und ihr kommen die Merkmale der Heiligkeit, Einheit, Katholizität und Apostolizität zu. Diese Kirche existiert allein als eine Gemeinschaft der Glaubenden in Christi Wort verborgen. Von den Kennzeichen der verborgenen Kirche unterscheidet Luther Kennzeichen der äußeren, sichtbaren Kirche, an denen die christliche Gemeinde erkannt werden kann. Die grundlegenden äußeren Kennzeichen der Kirche, die Luther immer wieder aufführt, sind die Verkündigung des Evangeliums und die Austeilung der Sakramente. Bereits in der frühen ekklesiologischen Schrift Vom Papsttum zu Rom aus dem Jahre 1520 schreibt Luther, die „zeichenn, da bey man euszerlich mercken kann, wo die selb kirch in der welt ist, sein die tauff, sacrament und das Evangelium“ ([22], Bd. 6, S. 301). Wortverkündigung und die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl erscheinen in allen Aufzählungen der äußeren Merkmale der Kirche, die in ihrem Umfang durchaus variieren, als die grundlegenden. Dies hat seinen Grund in Luthers Unterscheidung und Verschränkung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche auf der methodischen Grundlage seiner theologia crucis. Der Glaube ist stets an das äußere, sinnlich wahrnehmbare Wort sowie das entsprechend dem Wortverständnis konstruierte Sakramentsverständnis gebunden. Unabhängig von diesen äußeren Zeichen kann der Glaube als ein allein inneres Geschehen für Luther nicht zustande kommen, auch wenn er durch die äußere Verkündigung allein nicht im Einzelnen entsteht, sondern ausschließlich durch das Wirken des Heiligen Geistes im Herzen des Menschen. Aber dieses innere Wirken ist an den äußeren Vorgang gebunden.

2. Das Kirchenverständnis der altprotestantischen Dogmatik Die lutherischen Bekenntnisschriften sowie die altprotestantische Theologie haben das von Luther neu gebildete Kirchenverständnis aufgenommen und systematisch weiter ausgebaut. In den ekklesiologischen Artikeln der Confessio Augustana werden sowohl die von Luther vorgenommene Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche als auch die daraus resultierende Zuordnung der notae der Kirche aufgenommen. So heißt es in Artikel 7 der Confessio Augustana: „Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden. Dann dies ist gnug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden. Und ist nicht not zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche, daß allenthalben gleichformige Ceremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden“ ([1], S. 61).

2. Kirchenverständnis der altprotestantischen Dogmatik

Das Verständnis der Kirche resultiert nach der Confessio Augustana allein aus ihrer Funktion, das Evangelium zu verkündigen und die Sakramente zu verwalten. Allerdings bedarf gerade die Wahrnehmung dieser Funktion einer Institutionalisierung. Ohne Ordnungsstrukturen und Regelungen bis hin zu kirchenrechtlichen Ausgestaltungen kann auch im Protestantismus die Funktion der Evangeliumsverkündigung nicht aufrechterhalten werden. Die institutionelle Ausgestaltung der Evangeliumsverkündigung kann freilich keine heilsrelevante oder sakramentale Bedeutung haben und unterliegt folglich pragmatischen Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit. Luthers Gedanke der verborgenen Kirche wird von Artikel 8 der Confessio Augustana aufgenommen mit dem Hinweis, dass die christliche Kirche „eigentlich nichts anderes ist dann die Versammlung aller Glaubigen und Heiligen“ ([1], S. 62). Die Kirche im eigentlichen Sinne ist nicht die sichtbare empirische Kirche, sondern die Gemeinschaft der Gläubigen. Freilich ist diese Gemeinschaft der Gläubigen, wie es in der Apologie der Confessio Augustana betont wird, nirgends anders zu finden als in der sichtbaren Kirche (vgl. [1], S. 238). Die altprotestantische Theologie behandelt die Lehre von der Kirche (de ecclesia) im Aufriss der Dogmatik im Anschluss an die Christologie unter dem Leitgesichtspunkt der Vermittlung des von Christus dem Gottmenschen durch seinen Versöhnungstod gestifteten Heils in der Geschichte. ([37], S. 427–460) Es geht also in der Lehre von der Kirche um die von Christus gestiftete Gemeinde und deren Gestaltung. Dabei sind die altprotestantischen Theologen ebenso wie Luther selbst von der Überzeugung getragen, mit den aus der Reformation entsprungenen Kirchenbildungen keine Sonderkirchen oder Sekten gegründet, sondern die wahre katholische Kirche wieder zur Geltung gebracht zu haben.

Zentrale Bedeutung der Evangeliumsverkündigung

Die Hauptthemen, die von den altprotestantischen Dogmatikern in der Lehre von der Kirche entfaltet werden, sind: 1. ecclesia stricte et late dicta (= Kirche im engeren und weiteren Sinne) 2. ecclesia synthetica et repraesentativa (= Getaufte und Amtskirche) 3. ordo triplex hierarchicus (= Dreistände-Lehre).

Die für Luthers Kirchenverständnis grundlegende Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche wird in der altprotestantischen Dogmatik durch die Unterscheidung von ecclesia stricte et late dicta (Kirche im engeren und weiteren Sinne) aufgenommen. Die Kirche im engeren Sinne (= ecclesia stricte dicta) bezieht sich auf die Erwählten und nimmt Luthers Neubestimmung des Kirchengedankens als der Gemeinschaft der Glaubenden auf. Diese Gemeinschaft der Glaubenden ist auf der einen Seite durch das Erlösungsund Versöhnungswerk Christi gestiftet. Den ihrer eigenen Existenz voraus liegenden Grund erkennt die Gemeinde dadurch an, dass sie sich von ihm unterscheidet und Christus als Haupt und König der Gemeinde anerkennt. Auf der anderen Seite ist die Gemeinschaft der Glaubenden untereinander „durch das Band gemeinsamen Glaubens, gemeinsamer Hoffnung und gegenseitiger Liebe“ zu einer Gemeinde verbunden ([37], S. 428), die die Kirche im Sinne des Glaubensbekenntnisses bildet. Von dieser Kirche gilt, dass sie universal und ewig ist und somit die Gläubigen aller Zeiten umfasst ([31],

Kirche im engeren und weiteren Sinne

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III. Der Heilige Geist und das Verständnis der Kirche

Partikular-Kirchen

Synthetische Kirche

Bd. IV, S. 497 = [7], S. 373). Die Merkmale der Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität kommen der verborgenen Kirche als der Gemeinschaft der Heiligen und nicht der sichtbaren Kirche zu. Von dieser universalen Kirche des dritten Artikels des Glaubensbekenntnisses unterscheiden die altprotestantischen Theologen die Partikular-Kirchen, in denen die eine universale Kirche zur Erscheinung kommt. In dem Begriff der Partikular-Kirchen ist die von Luther von der verborgenen Kirche unterschiedene sichtbare Kirche aufgenommen. Diese Dimension von Luthers Kirchenverständnis bezeichnen die altprotestantischen Theologen als ecclesia late dicta (= Kirche im weiteren Sinne). Die Kirche im weiteren Sinne bezieht sich nicht nur auf die Erwählten, sondern auf alle Getauften und Berufenen. Sie umfasst also alle diejenigen, die zu der Kirche gehören, unabhängig davon, ob die Einzelnen „dem an sie ergangenen Ruf auch innerlich Folge geleistet“ ([37], S. 429) haben. Im Unterschied zur Kirche im engeren Sinne, also zur Gemeinschaft der Glaubenden, ist die Kirche im weiteren Sinne gerade nicht irrtumsfrei, ja auch nicht vor dem Abfall gefeit, wie es für die altprotestantischen Theologen an der römischen Partikular-Kirche ersichtlich ist. Jede Partikular-Kirche, so die Definition von Johann Andreas Quenstedt, „auch wenn sie von Petrus gepflanzt sein sollte, kann irren, auch in Fundamentalsachen, ja, kann nicht allein auf Zeit, sondern auch entgiltig abfallen, da keine von ihnen, und also auch nicht die römische, das Privileg der Unfehlbarkeit (Anhamartesia) empfangen hat“ ([31], Bd. IV, S. 497 = [7], S. 373). Die von den altprotestantischen Theologen vorgenommene Unterscheidung zwischen einer Kirche im engeren und einer Kirche im weiteren Sinne nimmt Luthers Unterscheidung zwischen verborgener und sichtbarer Kirche auf. Die Gemeinschaft der Glaubenden ist die in der Kirche im weiteren Sinne verborgene wahre Kirche, der die in dem Glaubensbekenntnis ausgesprochenen Merkmale zukommen. Obwohl diese Gemeinschaft der Glaubenden an die empirische Kirche zurückgebunden ist, muss sie von dieser unterschieden werden. Von den empirischen Partikular-Kirchen kann also nur synecdochice (= Redeform, in der ein Teil für das Ganze steht und umgekehrt) gesagt werden, dass sie una, sancta, catholica et apostolica sei ([37], S. 430). Die äußeren Merkmale, an denen man die wahre Kirche im Unterschied zur falschen erkennen kann, sehen die altprotestantischen Theologen mit Luther und den Bekenntnisschriften in der lauteren Verkündigung des göttlichen Worts und der rechten Verwaltung der Sakramente. Dieses durch die Unterscheidung von Kirche im engeren und weiteren Sinne explizierte Kirchenverständnis wird in der dogmatischen Entfaltung des Kirchenbegriffs durch eine weitere Binnendifferenzierung des Kirchenbegriffs ergänzt. Diese Differenzierung baut gleichsam Luthers funktionale Differenzierung von Priestern und Laien in das durch die Unterscheidung von Gemeinschaft der Glaubenden und empirischer Institution explizierte Kirchenverständnis ein. Dadurch soll der von Luther übernommene funktionale Charakter des Kirchenverständnisses mit seinem antihierarchischen Charakter in die dogmatische Explikation des Kirchenbegriffs aufgenommen werden. Luthers funktionale Unterscheidung von Priestern und Laien wird in der altprotestantischen Dogmatik durch die Unterscheidung von ecclesia synthetica et repraesentativa (Gesamtheit der Getauften und die Amtsträger) reformuliert. Die synthetische Kirche (= ecclesia synthetica) umfasst unterschieds-

2. Kirchenverständnis der altprotestantischen Dogmatik

los alle getauften Mitglieder der Kirche und sie ist in dieser Hinsicht mit der Kirche im weiteren Sinne identisch. Lehrmäßig definiert wird die ecclesia synthetica als „der ununterschiedene Kreis (coetus promiscuus) von Menschen, die durch die Predigt des Worts und die Verwaltung der Sakramente aus der Welt zum Reich Gottes und zur Teilnahme an den geistlichen und himmlischen Gütern berufen und versammelt sind, in dem äußerlichen Bekenntnis der wahren Lehre übereinstimmen, zur Ehre Gottes und zur ewigen Seligkeit der Berufenen selbst“ ([31], Bd. IV, S. 482 = [7], S. 372). Während die synthetische Kirche unterschiedslos alle Mitglieder der Kirche umfasst, bezieht sich die repräsentative Kirche (= ecclesia repraesentativa) auf eine Teilmenge der Gesamtheit der Glieder der Kirche, nämlich die Amtsträger oder den Lehrstand. Der Lehrstand unterscheidet sich von der Gesamtheit allein durch die von diesem übernommene Funktion der Verkündigung des Worts Gottes und der Verwaltung der Sakramente. Johann Andreas Quenstedt definiert die repräsentative Kirche als die „Versammlung der Lehrer und Vorsteher der Kirchen, sei es aller, sei es einzelner, welche die synthetische Kirche repräsentiert und von ihr gleichsam eine Idee darbietet und eine Abkürzung macht“ ([31], Bd. IV, S. 483 = [7], S. 372). In den Bestimmungen der repräsentativen Kirche, wie sie von den altprotestantischen Theologen ausgearbeitet wurden, wird freilich der Gedanke der Kirche als Heilsanstalt sowie der Amtskirche dominant. Denn die Amtsträger der Kirche repräsentieren gleichsam die Gesamtkirche. Die dogmatische Entfaltung des Kirchenbegriffs erfolgt in der altprotestantischen Dogmatik durch die Unterscheidungen von ecclesia stricte et late dicta sowie ecclesia synthetica et repraesentativa. Dadurch soll das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln im Kirchenbegriff aufgenommen werden. Die wahre Kirche als die Gemeinschaft der Heiligen gründet allein im Handeln Gottes durch den Heiligen Geist im Inneren des Menschen. Dieses den Glauben beim Einzelnen schaffende Handeln Gottes ist freilich an die kirchliche Verkündigung zurückgebunden, die auf diese Weise zu einem Bestandteil der dogmatischen Entfaltung des Kirchenbegriffs werden muss, jedoch nicht mit der Gemeinschaft der Glaubenden zusammenfällt. Dieser so entfaltete Kirchenbegriff wird von den altprotestantischen Dogmatikern abschließend in die als Schöpfungsordnungen verstandene frühneuzeitliche patriarchalische Sozialordnung eingegliedert. Dies geschieht in der Lehre vom ordo triplex hierarchicus (Lehre von den drei Ordnungen).

Repräsentative Kirche

Die drei Stände oder Ordnungen umfassen: 1. ordo ecclesiasticus (= Kirchenstand, Theologen) 2. ordo politicus (= der Stand der Obrigkeit) 3. ordo oeconomicus (= Haushaltsstand).

In der Unterscheidung der drei Stände folgen die altprotestantischen Theologen Luthers Zwei-Reiche-Lehre und der hier vorgenommenen Zuordnung und Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Regiment. In seiner 1528 erschienenen Schrift Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis hatte Luther eine Dreistände-Lehre konzipiert, in der er den Priester-, den Ehestand und die weltliche Obrigkeit als gottgewollte Ordnungen unterscheidet, in denen jeder

Geistliche und weltliche Ordnungen

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III. Der Heilige Geist und das Verständnis der Kirche

Mensch lebt. Diese von Luther ausgearbeitete Dreistände-Lehre wird in den altprotestantischen Lehrsystemen zu einer umfassenden normativen Konzeption der Sozialordnungen ausgebaut. Johann Andreas Quenstedt definiert den ordo triplex hierarchicus in seiner Theologia didactico-polemica folgendermaßen: „In der Kirche, die hier auf Erden streitet (in ecclesia in his terris militante) sind drei Ordnungen (ordines) oder Stände (status) von Gott eingesetzt, die man auch Hierarchien zu nennen sich gewöhnt hat: des kirchliche Amts (ecclesiasticus), der weltlichen Obrigkeit (politicus) und des Hausstandes (oeconomicus). Die Ordnung des Hausstandes dient der Vermehrung und Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts; die der weltlichen Obrigkeit seiner Verteidigung und Regierung; die des kirchlichen Amts der Förderung der ewigen Seeligkeit. Die erste ist den ungebundnen Lüsten entgegengesetzt, die zweite der Tyrannei und den Räubereien, die dritte den Ketzereien und Verderbnissen der Lehre“ ([31], Bd. IV, S. 393 = [7], S. 368). Die Lehre von den drei Ständen möchte die soziale Ausdifferenzierung der frühneuzeitlichen Gesellschaft mit dem reformatorischen Kirchengedanken verbinden. Nach reformatorischem Verständnis entsteht die Kirche allein aus dem Wort der Verkündigung durch das Wirken des Heiligen Geistes, der das Wort des Evangeliums ins Herz des Menschen einprägt. Die Verkündigung des Evangeliums durch die Institution der Kirche ist eine notwendige Bedingung hierfür, aber sie selbst bringt nicht den Glauben des Einzelnen hervor, da dieser allein das Werk Gottes im Menschen ist. Allerdings muss gerade um dieses Zwecks willen die Verkündigung geordnet geschehen, mithin institutionell organisiert werden. Diese Funktion obliegt dem Lehrstand (status ecclesiasticus). Er wird lehrmäßig als ein „heiliges und öffentliches Amt“ definiert, welches „göttlich eingesetzt und bestimmten und tüchtigen Personen durch Vermittlung einer rechtmäßigen Berufung (legitimae vocationis) anvertraut, aufdaß sie mit besonderer Gewalt versehen das ihnen übertragene Amt geziemt verwalten, d. i. das Wort Gottes lehren, die Sakramente austeilen und die kirchliche Zucht aufrechterhalten zur Förderung der Bekehrung und Seligkeit der Menschen und zur Ausbreitung der Ehre Gottes“ ([31], Bd. IV, S. 396 = [7], S. 368). Dem Lehrstand obliegt die Funktion der Verkündigung des Evangeliums sowie der Verwaltung der Sakramente. Diese äußere Funktion ist die Bedingung für die Entstehung des individuellen Glaubens. Auch die weltliche Obrigkeit (magistratus politicus) gilt den altprotestantischen Theologen mit Luther als von Gott eingesetzter Stand. Die klassische biblische Belegstelle für die göttliche Legitimität der weltlichen Obrigkeit ist Röm 13. Allerdings ist die weltliche Obrigkeit der protestantischen Grundüberzeugung zufolge dazu von Gott eingesetzt, die äußere Ordnung aufrecht zu erhalten, damit die auf die innere Gesinnung zielende Verkündigung der Kirche geschehen kann. Sie ist also auf die äußere politische Ordnung in ihrer Reichweite beschränkt und hat die Bösen im Zaum zu halten. Lehrmäßig wird die weltliche Obrigkeit von Johann Andreas Quenstedt definiert als „eine übergeordnete Gewalt, von Gott verordnet und mit dem Schwert bewaffnet, aufdaß sie Hüterin der beiden Tafeln des Gesetzes und den böse Handelnden zum Schrecken, den gut Handelnden zum Lobe diene“ ([31], Bd. IV, S. 424 = [7], S. 370). Die politische Ethik des Luthertums, wie sie sich in den lehrmäßigen Definitionen des magistratus politicus niederschlägt, beschränkt zwar den Staat auf die äußere politische Ordnung. In der Erfül-

2. Kirchenverständnis der altprotestantischen Dogmatik

lung dieser Aufgabe tut der Staat der Kirche einen Liebesdienst, damit die Kirche ihre Aufgabe erfüllen kann. Dieser Liebespatriarchalismus (Ernst Troeltsch) führte im Luthertum zu einer Obrigkeitsfixierung, die im landesherrlichen Kirchenregiment ihren signifikanten Ausdruck fand. In dem ordo oeconomicus (= Haushaltsstand) entfaltet die altprotestantische Dogmatik in der Lehre von der Kirche ihre Sozialethik. In der frühneuzeitlichen, patriarchalischen Gesellschaft beschränkt sich der ordo oeconomicus auf die Familie und hier in erster Linie auf die Ehe, die als ein von Gott eingesetzter Stand zum Zwecke der Fortpflanzung verstanden wird. Die lehrmäßige Definition des ordo oeconomicus bei Johann Andreas Quenstedt versteht die Ehe als „von Gott eingesetzte, durch die dazu nötige Einwilligung unauflösliche Verbindung eines Mannes mit einem einzelnen Weibe zu Einem Fleische, mit dem Zwecke, daß das menschliche Geschlecht durch Erzeugung von Nachkommenschaft erhalten werde, gegenseitiger Beistand aufrecht erhalten werde und Hurerei vermieden werde“ ([31], Bd. IV, S. 454 = [7], S. 371). Im ordo oeconomicus wird die Sozialdimension des Christen in einer normativen Perspektive zum Thema der ekklesiologischen Reflexion.

3. Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden Die materiale Dogmatik hat die Aufgabe, die inhaltlichen Bestimmungen des Glaubens als Selbstbeschreibungen des Glaubens als dem unableitbaren Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen in ihrem inneren Zusammenhang zu entfalten. Im Glaubensbekenntnis beschreibt der Glaube sich selbst als ein unableitbares und zugleich durch soziale Vermittlungen bedingtes Geschehen. Dieses Zugleich von sozialer Vermitteltheit und Unableitbarkeit der Enstehung des Glaubens ist das Thema der Pneumatologie. In der Pneumatologie wird diese Verschränkung selbst zum Thema der theologischen Dogmatik. Damit wird in der Pneumatologie die soziokulturelle und geschichtliche Einbindung des Glaubens und seines Entstehens zum Gegenstand der religiösen Selbstthematisierung des Glaubens. Wir haben diese für die Pneumatologie konstitutive Spannung exemplarisch an dem reformatorischen Kirchenverständnis erörtert. Für dieses ist von Anfang an eine innere Spannung konstitutiv, die in der Geschichte des Protestantismus zu unterschiedlichen Ausgestaltungen des Kirchenverständnisses geführt hat. Diese reichen von einem Verständnis der Kirche als Gemeinde bis hin zur Anstaltskirche. Der Glaube als das unableitbare Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen kommt nach protestantischer Überzeugung nur durch eine äußere Vermittlung zustande. Dieses Medium ist das verkündigte Wort sowie das dem Wort entsprechend verstandene Sakrament. Das äußere Wort kommt dann zum Ziel, wenn es beim Einzelnen den Glauben wirkt und sich darin überflüssig macht. Aber eben hierzu ist das äußere, durch soziale Kommunikation vermittelte Wort notwendig. Diese Spannung von äußerem Medium und innerer Gewissheit ist nicht nur für die Pneumatologie insgesamt konstitutiv, sondern auch, wie wir gesehen haben, für das protestantische Kirchenverständnis. Sie schlägt sich hier nieder in der unauflösbaren Spannung von sichtbarer und verborgener Kirche, von sozial eingebundenen Kommunikationsvorgängen und individueller Gewissheit und der Frage, welche Rolle

Liebespatriarchalismus

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III. Der Heilige Geist und das Verständnis der Kirche

Kirche als Organisation

die sozialen und institutionellen Organisationsformen für die Entstehung des individuellen Glaubens innehaben. Diese Spannung begegnet bereits in Luthers Kirchenverständnis. In der von Luther vorgenommenen funktionalen Zuordnung von äußerem Wort und innerem Glauben ist nämlich festgehalten, dass der Glaube als das Geschehen des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen ohne soziale Kommunikation nicht zustande kommen kann. So unentbehrlich die mitwirkende menschliche Sozialität und deren Organisation in Form von kirchlichen Institutionen für das Geschehen des Glaubens auch sind, so wenig sind sie selbst freilich konstitutiv für den Glauben. Dass sich in einem sozialen Kommunikationsprozesses bei Einzelnen ein neues und tieferes Verstehen ihrer selbst einstellt, ist ein gegenüber diesem Kommunikationsprozess überschüssiges Moment und aus diesem Grund weder ableitbar noch institutionalisierbar. Die religiöse Selbstthematisierung des Glaubens als dem unableitbaren Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen beschreibt dieses ZumZiel-Kommen des Worts als Wirken des Heiligen Geistes „ubi et quando visum est deo“ ([1], S. 58). Der Geist wirkt sein Werk nicht ohne äußere soziale Vermittlungen. Schon deshalb kann deren Gestaltung und Organisation nicht gleichgültig bleiben. Die protestantische Lehre von der Kirche steht damit vor der Aufgabe, den Glauben als das Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen so mit seinen sozialen und institutionellen Bedingungen zu verbinden, dass diese in ihrer funktionalen Notwendigkeit einsichtig werden. Die Entstehung des Glaubens ist zwar an soziale Kommunikationsformen gebunden, aber aus diesen gerade unableitbar. Allein im Interesse an dem überinstitutionellen Charakter des Glaubens sind dessen institutionellen Bedingungen zu thematisieren. Dies geschieht in der gegenwärtigen ekklesiologischen Debatte durch die Aufnahme des Organisationsbegriffs der neueren Organisationstheorie. Um einen „dringend erforderlichen theologischen Begriff[] der erfahrbaren sozialen Verfaßtheit des christlichen Glaubens“ auszuarbeiten, sei es unumgänglich, den „Organisationsbegriff in die Ekklesiologie“ ([230], S. 51) aufzunehmen. Das für die Debatte um das Kirchenverständnis weiterführende Moment, welches mit der Rezeption des Organisationsbegriffs verbunden ist, hat zwei Aspekte. Zum einen wird durch den neueren soziologischen Organisationsbegriff der für die ältere Debatte signifikante Gegensatz von Organisation und Religion, von Sozialität und Individualität überwunden. Denn der neuere Organisationsbegriff versteht die Einbindung in Organisationen geradezu als Bedingung für die Ausbildung einer eigenständigen Individualität. Die Alternative von Sozialität oder Individualität, wie sie die protestantischen Debatten um das Verständnis der Kirche im 20. Jahrhundert beherrschten, erweist sich aus der Perspektive des neueren Organisationsbegriffs als Abstraktion. Individualisierung und Sozialisierung sind zwei Seiten ein und derselben Sache. Zum anderen soll durch die Rezeption des Organisationsbegriffs in die Debatten um das Verständnis der Kirche deren empirische Gestaltungsbedürftigkeit unterstrichen werden. Angesichts immer knapper werdender Ressourcen und schwindender Mitgliederzahlen muss die Steuerungskompetenz der Kirche erhöht werden. Hierzu bietet sich der Organisationsbegriff geradezu an. Die verstärkte Aufmerksamkeit, die der Organisationsbegriff in jüngster

3. Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden

Zeit theologischerseits erfahren hat, verdankt sich dem Anliegen, die empirische Gestalt der Kirche als Sozialform des Christentums zu stärken. Dieses Anliegen ist freilich nicht erst jüngeren Datums. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Ernst Troeltsch in seiner Untersuchung über Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen auf die Bedeutung des Organisationsbegriffs für den Bestand des Christentums in seiner geschichtlichen Entwicklung aufmerksam gemacht und in der Organisationsform geradezu „die Überlegenheit des Kirchentypus über den Sektentypus und die Mystik“ erblickt. „Ohne Gemeindeorganisation und ohne Kultus“, so Troeltsch weiter, „ist das Christentum nicht fortpflanzungs- und zeugungsfähig. Jeder Rückzug auf den bloßen freischwebenden Geist und seine organisationslose Selbstdurchsetzung ist eine Utopie, die die wirklichen Bedingungen des Lebens verkennt und nur die Verflüchtigung und Entkräftung des Ganzen zur Folge hat“ ([232], S. 980). Die Entstehung des Glaubens beim Einzelnen ist immer an soziale Kommunikationsformen und Institutionen gebunden und führt auch wieder in sie hinein. Das Zustandekommen des Glaubens ist das Ziel des institutionalisierten kirchlichen Handelns, auch wenn dessen Entstehung unableitbar und somit nicht institutionalisierbar ist. Aus dieser Konstellation resultiert ein Verständnis der Kirche als Organisation, das seinen Ausgang von dem Glauben als dem unableitbaren Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen nimmt. Das Verständnis der Kirche als Organisation zielt darauf, die sichtbare Kirche als menschliche Handlungs- und Gestaltungsaufgabe zu begreifen und deren Strukturen zu stärken. Die Seite der menschlichen Mitwirkung am Zustandekommen des nur individuell zu lebenden Glaubens bedarf der bewussten Organisation und Gestaltung. Diese findet jedoch ihre Grenze an dem nur individuell zu lebenden Glauben als einem Selbstbewusstsein endlicher Freiheit. Aus diesem Grund gehört zum Verständnis der Kirche als Organisation das Moment ihrer Selbstaufhebung konstitutiv hinzu. Hieraus ist aber gerade nicht die Konsequenz zu ziehen, dass die Organisation lediglich vernachlässigbare Hilfsdienste leistet. Vielmehr kommt es darauf an, die mit dem Glauben verbundene christliche Freiheit „als spezifische Begründung eines zielbewussten, strukturierten und koordinierten Handelns zu verstehen“ ([229], Sp. 137). Damit ist eine wichtige Konsequenz im Hinblick auf das kirchliche Handeln und die Organisation der Kirche verbunden. Sie besteht darin, dass sich die Kirche auf eine reflektierte Weise zu dem für moderne Gesellschaften signifikanten Pluralismus von Lebensformen verhalten kann. Mit dem Glauben als einem individuellen Selbstbewusstsein endlicher Freiheit ist grundsätzlich ein Pluralismus von Lebensformen anerkannt, der sich gar nicht mehr in eine Gemeinschafts- oder Organisationsform einbinden lässt. Die Kirche ist als eine solche Organisation zu verstehen, der die Aufgabe einer Hermeneutik der Lebensformen obliegt. Ihre Aufgabe besteht darin, die unterschiedlichen christlich-religiösen Selbst- und Weltdeutungen auf ihre Funktion für den Aufbau eines reflektierten Selbstverhältnisses durchsichtig zu machen. Dadurch leistet sie einen Beitrag zur Aufklärung der stets im Plural auftretenden religiösen Deutungsvollzüge. Es liegt also in der Konsequenz des evangelischen Glaubensverständnisses, dass sich die Kirche als Institution und Organisation versteht. Die Eigenart der Organisation Kirche besteht freilich darin, dass sie eine Organisation

Institution und Glaube als Sich-Verstehen des Menschen

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III. Der Heilige Geist und das Verständnis der Kirche

Das Wort Gottes als Grund der Gemeinde

ist, die einen organisationstranszendenten Sinn hat. Die protestantische Tradition hat dies dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie das Wort Gottes als Grund der Gemeinde und die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden verstanden hat.

4. Dogmatik als begriffliche Selbstbeschreibung des Glaubensakts In der Geschichte des modernen Protestantismus hat die theologische Dogmatik eine wechselvolle Entwicklung durchlaufen. Am Ausgangspunkt steht eine Konzeption von Dogmatik als einem aus der Bibel geschöpften normativen Lehrsystem, welches nahezu mit Theologie zusammenfällt. Im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung der Theologie in einzelne Disziplinen wird die Dogmatik zunächst der historischen Theologie zugeordnet und mit voranschreitender Ausdifferenzierung der Gesellschaft der praktischen Theologie. Diese Entwicklung ist nicht als eine Auflösung der Dogmatik zu verstehen, sondern als deren Umformung zu einer modernegemäßen Gestalt. Die theologische Entwicklung im 20. Jahrhundert hat die beschriebene Entwicklung der theologischen Dogmatik weiter vorangetrieben und die Dogmatik als eine reflexive Beschreibung des Glaubensakts verstanden. Damit etabliert sich ein Verständnis der Dogmatik als einer theologischen Religionstheorie. Sie wird nicht mehr als Reflexion über die Religion verstanden, sondern als Selbstbeschreibung des Glaubensgeschehens in seiner konkreten, geschichtlichen Einbindung. Dadurch wird die theologische Dogmatik zu einer strikt selbstbezüglichen Theorie. Hinter dieser Neubestimmung der Dogmatik steht das Interesse, die theologische Dogmatik als eine begriffliche Theorie des unableitbaren Geschehens des Sich-Verständlich-Werdens des Menschen in seiner Endlichkeit und Gebrochenheit auszuarbeiten. Diese Selbstdurchsichtigkeit, welche der Glaube als das unableitbare Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen ist, beschreibt sich selbst mit symbolischen Formen, die in der Dogmatik dargestellt werden. Die theologische Dogmatik wurde auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung in der Geschichte des neueren Protestantismus zu einer reflexiven Selbstbeschreibung des religiösen Akts. Die Gehalte der Dogmatik werden als funktionale Bestimmungen des Glaubensgeschehens neu formuliert. Sie verweisen nicht auf eine Gegenstandssphäre, sondern sie sind die Medien der Darstellung des sich verständlich gewordenen menschlichen Lebens. Der Glaube als das Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen in seiner Endlichkeit und Bedingtheit stellt sich in den inhaltlichen Bestimmungen des Glaubens nicht nur selbst dar, sondern klärt sich mit diesen Ausdrucksformen auch über sich selbst auf. Die Glaubensinhalte und der Glaube entstehen aufgrund der Individualitäts- und Vollzugsgebundenheit zugleich. Das in dem reformatorischen Glaubensverständnis angelegte Problem, die notwendige individuelle Aneignung der Wahrheit des Glaubens nicht als eine menschliche Leistung (miss) zu verstehen, ist auf diese Weise gelöst. Eine als reflexive Beschreibung des Glaubensakts verstandene Dogmatik nimmt selbst schon eine religionshermeneutische Funktion wahr. Sie beschreibt nichts anderes als das Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen als einer endlichen Freiheit.

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III. Darstellungen der protestantischen Dogmatik im 20. Jahrhundert [41] Althaus, P., Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, 2 Bde., Gütersloh 1949. [42] Althaus, P., Grundriß der christlichen Lehre, Erlangen 41933. [43] Barth, K., Die christliche Dogmatik im Entwurf. Erster Band: Die Lehre vom Wort Gottes, Zürich 1982. [44] Barth, K., Die Kirchliche Dogmatik, Bde. I–IV, Zürich 1932–67. [45] Deuser, H., Kleine Einführung in die Systematische Theologie, Stuttgart 1999. [46] Ebeling, G., Dogmatik des christlichen Glaubens, 3 Bde., Berlin (Ost) 1986. [47] Elert, W., Der christliche Glaube. Grundlinien der lutherischen Dogmatik, Hamburg 41956. [48] Fritzsche, H.-G., Lehrbuch der Dogmatik, 4 Bde., Berlin 21984 ff. [49] Frey, C., Repetitorium der Dogmatik. Für Studierende der Theologie, Waltrop 61998. [50] Härle, W., Dogmatik, Berlin/New York 1995. 2 2000. [51] Herrmann, W., Dogmatik, Gotha/Stuttgart 1925. [52] Hirsch, E., Christliche Rechenschaft, 2 Bde., hrsg. v. H. Gerdes, Tübingen 1989. [53] Korsch, D., Dogmatik im Grundriß. Eine Einführung in die christliche Deutung menschlichen Lebens mit Gott, Tübingen 2000.

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Literatur schichtlichen Schule, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften Bd. 2), Aalen 1962 (= ND der 2. Auflage Tübingen 1922), S. 500–524. [103] Troeltsch, E., Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie. Bemerkungen zu dem Aufsatze „Über die Absolutheit des Christentums“ von Niebergall, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften Bd. 2), Aalen 1962 (= ND der 2. Auflage Tübingen 1922), S. 729–753. [104] Schelling, F. W. J., Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, Hamburg 2 1990. [105] Wagner, F., Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989. VI. Glaube [106] Augustin, Bekenntnisse, hrsg. v. W. Thimme, Stuttgart 1967. [107] Barth, U., Kants Religionsformel, in: C. Danz/ R. Langthaler (Hrsg.), Kritische und absolute Transzendenz. Religionsphilosophie und Philosophische Theologie bei Kant und Schelling, Freiburg/München 2006, S. 30–42. [108] Barth, U., Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens, in: NZSTh 34 (1992), S. 269–291. [109] Cassirer, E., Der Begriff der symbolische Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 81994, S. 171–200. [110] Cassirer, E., Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 101994. [111] Cassirer, E., Versuch über den Menschen. Einführung in die Philosophie der Kultur, Hamburg 1996. [112] Danz, C., Symbolische Form und die Erfassung des Geistes im Gottesverhältnis. Anmerkungen zur Genese des Symbolbegriffs von Paul Tillich, in: Das Symbol als Sprache der Religion. Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung Bd. 2. Hrsg. v. C. Danz/W. Schüßler/E. Sturm, Wien 2007, S. 59–75. [113] Ebeling, G., Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen 1959. [114] Ebeling, G., Die Klage über das Erfahrungsdefizit in der Theologie als Frage nach ihrer Sache, in: ders., Wort und Glaube Bd. III. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen 1975, S. 3–28.

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VII. Offenbarung

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[133] Balz, H./E. Herms/B. Kern-Ulmer/H.-D. Preuß/ G. Wießner, Art.: Offenbarung I–V, in: TRE Bd. 25, Berlin/New York 1995, S. 109–210. [134] Barth, U., Die Dialektik des Offenbarungsgedankens. Luthers Theologia crucis, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, S. 97–123. [135] Birkner, H.-J., Natürliche Theologie und Offenbarungstheologie. Ein theologiegeschichtlicher Überblick, in: NZSTh 3 (1961), S. 279–295. [136] Cyranka, D., Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung, Göttingen 2005. [137] Fichte, J. G., Versuch einer Critik aller Offenbarung, in: ders., Werke 1791–1794, hrsg. v. R. Lauth/H. Jacob (= J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Bd.I/1), Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 1–162. [138] Gogarten, F., Die religiöse Entscheidung, Jena 1921. [139] Herms, E., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992. [140] Hirsch, E., Initium theologiae Lutheri, in: ders., Lutherstudien Bd. 2, Waltrop 1998, S. 9–35. [141] Kant, I., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: ders., Werke Bd. 7, hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1983, S. 649–879. [142] Lessing, G. E., Von der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion, in: ders., Werke, 14. Theil. Theologische Schriften. Erste Abteilung, hrsg. v. C. Groß, Berlin o. J., S. 221–239. [143] Lessing, G. E., Die Erziehung des Menschengeschlechts in: ders., Freimäurergespräche und anderes. Ausgewählte Schriften, Weimar/Leipzig 1981, S. 81–103. [144] Pannenberg, W., Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: ders. (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte in Verbindung mit R. Rendtorff, U. Wilkens, T. Rendtorff, Göttingen 2 1963, S. 91–114. [145] Pfaff, C. M., Academische Reden über den Entwurf der Theologiae Anti-Deisticae, da die Ein-

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Literatur

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Personenregister Alting, Johann 12 Anselm von Canterbury 97, 115, 126–127 Apollinaris von Laodicea 118 Aristoteles 14, 96, 99, 103–104 Assmann, Jan 25, 82 Astruc, Jean 77 Athanasius von Alexandrien 27, 118 Augustin, Aurelius 13–14, 25, 41, 42, 95, 102, 147–148

Hegel, Georg Wilhelm F. 54–55, 131, 132 Herms, Eilert 30, 39, 62 Herrmann, Wilhelm 28 Heyne, Christian Gottlieb 78 Hirsch, Emanuel 113 Hollaz, David 16, 26, 49, 71, 98, 123 Huizing, Klaas 84 Hume, David 20, 108, 110 Husserl, Edmund 44

Barth, Karl 24, 29–30, 39, 57–59, 63, 114, 133, 137 Barth, Ulrich 46 Baumgarten, Siegmund Jacob 78 Baur, Ferdinand Christian 131 Bayer, Oswald 84 Bultmann, Rudolf 39, 57, 58, 63, 133, 134, 137

Iser, Wolfgang 83

Calixt, Georg 12, 17 Calvin, Johannes 15, 25, 73, 125 Cassianus, Johannes 67 Cassirer, Ernst 43 Chemnitz, Martin 27, 123 Childs, Brevard S. 82 Clerec, Jean Le 77 Crossan, John Dominic 136 Daub, Carl 55 Deuser, Hermann 62, 114 Diodor von Tarsus 118 Dionysius Areopagita 98–99 Droysen, Johann Gustav 140 Ebeling, Gerhard 39, 137 Eco, Umberto 84 Edward Herbert von Cherbury 52 Eichhorn, Johann Gottfried 77–78 Erasmus von Rotterdam 69 Ernesti, Johann August 78 Feuerbach, Ludwig 110 Fichte, Johann Gottlieb 54, 111 Flatt, Johann Friedrich 53 Flatt, Karl Christian 53 Freud, Siegmund 110 Gabler, Johann Philipp 77–78 Gadamer, Hans-Georg 81, 84 Gerhard, Johann 16, 36, 100 Gogarten, Friedrich 57–58 Härle, Wilfried 30, 39, 62 Harnack, Adolf von 28–29, 133

Jauß, Hans Robert 83 Jüngel, Eberhard 112, 138 Kaftan, Julius 114 Kähler, Martin 133 Kant, Immanuel 20, 41, 53–55, 96–97, 108–111, 129, 130 Käsemann, Ernst 134–135, 137 Keckermann, Bartholomäus 17 Körtner, Ulrich H. J. 84 Krug, Wilhelm Traugott 53 Lange, Dietz 113 Lessing, Gotthold Ephraim 52–54, 130 Locke, John 52 Luther, Martin 9, 12–16, 18, 26–28, 31–39, 41, 43–49, 62, 64, 65, 66–70, 73, 75, 76, 79–81, 83, 84, 89–95, 99, 104, 105, 112–117, 119–121, 123, 125, 139, 141–152, 154 Marheineke, Philipp Konrad 55 Marx, Karl 110 Marxen, Willi 60 McKnights, Edgar 84 Melanchthon, Philipp 15–17, 21, 27, 35, 36, 38, 100, 106 Moltmann, Jürgen 112 Müller, Peter 135 Nietzsche, Friedrich 110 Origenes 25, 67 Osiander, Andreas 125 Otto, Rudolf 113 Pannenberg, Wolfhart 60–61, 66, 76, 80–83, 112, 137, 138, 141 Paulus 15, 49, 92 Peirce, Charles Sanders 43, 84, 114 Peyrère, Isaac La 76, 77

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Personenregister Quenstedt, Johann Andreas 37, 50, 72, 150, 151 Rad, Gerhard von 82 Ranke, Leopold von 140 Ratzinger, Joseph 82 Reimarus, Hermann Samuel 52–53, 130–132 Rendtorff, Rolf 60 Rendtorff, Trutz 60 Ritschl, Albrecht 29, 40, 114 Röhr, Johann Friedrich 53 Rothe, Richard 24 Sanders, Ed Parish 136 Schelling, Friedrich Wilhelm J. 54 Schleiermacher, Friedrich Daniel E. 41, 52, 55, 56, 85–87, 111, 112, 114, 130–132, 135, 139 Schröter, Jens 140 Schweitzer, Albert 132–133, 135, 136 Schwöbel, Christoph 30, 62 Semler, Johann Salomo 20–22, 78–79 Simon, Richard 77 Spieckermann, Hermann 82

Spinoza, Baruch de 76, 77 Stierle, Karlheinz 83 Storr, Gottlieb Christian 53 Strauß, David Friedrich 131–132, 139 Süskind, Friedrich Gottlieb 53 Theißen, Gerd 136 Theodor von Mopsuestia 118 Thomas von Aquin 97, 99 Tieftrunk, Johann Heinrich 53 Tillich, Paul 39, 42, 44, 57, 58, 63, 113 Timm, Hermann 84 Tindal, Matthew 52 Toland, John 52 Troeltsch, Ernst 19, 28, 45, 56–58, 87, 140, 153, 155 Turretini, Jean Alphone 78 Vermes, Geza 136 Weber, Max 87, 140 Zwingli, Ulrich 119, 125

Sachregister Anhypostasie 122 assensus 35, 36, 38 Auferstehung der Toten 61, 81 Bekennntnis 16, 26, 27, 35, 36, 51, 65, 76, 89, 100, 101, 103, 104, 119, 126–127, 137, 142, 148, 151 Böse, das 105 Buße 32, 46, 90, 91, 116, 117 canonical approach 82–83 Christologie 26, 55, 59, 64–65, 115–141 communicatio idiomatum 121, 123–125, 129 communicatio naturarum 123 concursus 106, 107 conservatio 106, 107 creatio ex nihilo 104, 105 Deismus 52, 108 descensus ad inferos 128 deus absconditus 93–95 deus revelatus 93–95 Dogma 24–30, 100, 116–121, 132, 136–138 Dogmatik – Aufgabe der Dogmatik 11–24, 29, 31 – Begriff der Dogmatik 12, 24 Doketismus 131 Eigenschaften Gottes 98–100 Enhypostasie 122 Erlösung 85, 103, 125, 128, 130 Erwählung 149 Evangelium 64, 73, 143, 146–149 Extra Calvinisticum 125 fides apprehensiva 34, 116 fides historica 34, 35, 116 fides qua creditur 37 fides quae creditur 37, 42, 44 fiducia 35, 36, 38 filioque 102 Freiheit 93, 105–107, 111, 113, 155, 156 Gefühl 38–39, 41, 131 Gemeinde 55, 125, 146–149, 153, 156 genus apotelesmaticum 124, 125 genus idiomaticum 124, 125 genus maiestaticum 124, 125, 129 Geschichte 29, 35, 36, 51, 54–58, 60–61, 64–65, 77, 80–82, 84, 87, 88, 115, 131, 132, 134, 136–141, 143 Gesetz 14, 64, 90, 91, 94, 127, 152 Gewissen 14, 46, 48, 49, 90, 91, 93, 116, 144

Gewissheit 15, 18, 30, 33–35, 38, 42, 62, 70, 73, 75, 90–94, 96, 97, 104, 106, 143, 145, 153 Glaube 14, 16, 23, 28–42, 44, 47, 50, 58, 59, 60, 62–65, 73, 74, 86–90, 92–95, 100, 104, 106, 112–117, 121, 133, 136–139, 141–144, 148, 152–156 Gnade 32, 33, 46 Gottesbeweise 96–97 Gotteserkenntnis 14, 41, 45, 47, 49–51, 58, 59, 89–92, 96–100 gubernatio 106, 107 Heiliger Geist 37, 70, 72–74, 84–85, 100–103, 142, 143, 145, 148, 151, 152, 154 Heilsgeschichte 17, 107 Hermeneutik 77, 78, 80, 81, 83–84, 155 Historismus 21, 45, 57, 58, 87 Hoffnung 46, 68, 149 Homousie 101, 117, 119 Inkarnation 118 Inspiration 50, 56, 72, 74, 76, 78, 84 Jesus Christus – Auferstehung Jesu 61, 80, 128, 130, 138 – historischer Jesus 129–140 – Leben-Jesu-Forschung 132–133 Kanon 25, 67, 71, 75–76, 78, 82–83, 87 Kenosis 128, 129 Kerygma 81, 133, 134, 137 Kirche – sichtbare 143–148 – verborgene 143–150, 153–154 Leben 16, 34, 37, 39–41, 91–93, 95, 100, 112, 114 Logos 118, 122–125, 128 Methode – analytische Methode 17, 48 – dogmatische Methode 16–17 – historisch-kritische Methode 60, 78, 80, 83, 86 – synthetische Methode 16–17 Monotheismus 59, 101 natürliche Religion 52–53, 108 natürliche Theologie 18, 19, 20, 21, 108 notae ecclesiae 147, 148 notitia 35, 36, 49 oboedientia activa 127 oboedientia passiva 127

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Sachregister Offenbarung 18, 27, 29, 44–65, 71, 80, 96, 97, 115, 138 officium Christi – officium propheticum 126 – officium regium 126, 128 – officium sacerdotale 126 opera trinitatis ad extra 100, 102, 103 opera trinitatis ad intra 102, 103 ordo salutis 37 ordo triplex hierarchicus 149, 151 Organisation 154, 155 persona 100, 101, 140

status exaltationis 128 status exinanitionis 128 Sünde 36, 37, 50, 70, 91, 116, 117, 119, 122, 125–127, 146 Sündenerkenntnis 91, 94, 116 Supranaturalismus 18, 53, 54, 96 System 13, 16–18, 21, 26, 95, 109, 156 theologia crucis 45, 47, 65, 94, 141, 144, 148 Theologie 11–16, 18–24, 48, 51, 55, 58, 71, 86, 156 – historische Theologie 12, 56, 77, 78, 80, 156 Tradition 48, 51, 65, 71, 72, 74, 75 Trinitätslehre 26, 59, 95, 100–104, 117–119, 138

Realpräsenz 124 Rechtfertigung 31–37, 93 Rechtfertigungslehre 33, 65 regnum gloriae 128 regnum gratiae 128 regnum potentiae 128 Religion 18, 20–24, 29, 42, 51, 55, 57–58, 60, 63, 85, 133, 135, 156 Religionsgeschichte 55, 56 Religionsphilosophie 21, 22, 54–55 Rezeption 83, 84 Rezeptionsästhetik 83–85

Übel 45, 105 Überlieferungsgeschichte 81 unio personalis 123 unitio personalis 122 Universalgeschichte 61, 80–82

Sakrament 33, 43–44, 128, 143, 144, 148, 153 satisfactio 127 Satisfaktionslehre 126, 127 Schöpfung 49, 89–111, 113–114, 151 Schrift 13, 16–18, 26, 27, 47, 48, 50, 51, 65–88, 97, 98, 115 Schriftprinzip 47, 51, 66, 76, 78, 80, 82, 85 scriptura sacra 71 – affectiones scripturae 71, 73–75

Wahrheit 16, 18, 21, 25, 35, 37, 42, 44, 57, 58, 77, 130, 141 Wissenschaft 12, 16–18, 20, 21, 24, 43, 47–48, 114 Wort Gottes 16, 26, 34, 58–59, 66, 71–73, 79, 116, 143, 145–147, 156 Wunder 52, 55, 74

Vernunft 42, 50, 52–54, 90–91, 108–110, 130 Versöhnungslehre 126 via causalitatis 99 via eminentiae 99 via negationis 99 Vorsehung 25, 95, 105–107

Zirkel 57, 65, 87, 88, 138, 141 Zorn Gottes 34, 45, 91, 92